MAGO
ZEITSCHRIFT FÜR ANWENDUNG.
DER. PSYCHOANALYSE AUF DIE
GEISTESWISSENSCHAFTEN
HERAUSGEGEBEN VON
PROF. DR SIGM.FREUD
REDIGIERT VON
DE OTTO RANK u.DE HANNS SACHS
V. JAHRGANG / 1917
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‚HUGO HELLER & ce
. LEIPZIG u.WIEN-I-BAUERNMARKT 3
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IE. UNREGELMASSIGKEITEN IM ERSCHEINEN UND IM UM-
FANGE DIESER ZEITSCHRIFT, WELCHE UNS DURCH DIE
KRIEGSLAGE AUFERLEGT SIND, WOLLEN DIE P. T. ABONNEN-
TEN FREUNDLICHST ENTSCHULDIGEN. DAS VERSAUMTE WIRD
NACH WIEDERKEHR NORMALER ZUSTÄNDE NACHGEHOLT
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Für die REDAKTION bestimmte Zusdriften und Sendungen wollen an
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»IMAGOs und die »INTERNATIONALE ZEITSCHRIFT FÜR
ÄRZTLICHE PSYCHOANALYSE« zum ermäßigten Gesamtjahres-
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direkt vom Verlage zu beziehen.
Copyright 1917. HUGO HELLER © CIE., Wien I, Bauernmarkt 3.
MA G-0
ZEITSCHRIFT FÜR ANWENDUNG DER PSYCHO-
ANALYSE AUF DIE GEISTESWISSENSCHARTEN
HERAUSGEGEBEN VON PROF. DR. SIGM. FREUD
SCHRIFTLEITUNG:
V,.2. DR. OTTO RANK /DR. HANNS SACH 191
ESTER ETHERNET LECKERE HERE EHERTRERERENERERLOLKENTOEOKEOECHLTERNTEN
Eine Kindheitserinnerung aus »Dichtung und
W ahrheit«.
Von SIGM. FREUD (Wien).
»Wenn man sich erinnern. will, was uns in der frühesten
Zeit der Kindheit begegnet ist, so kommt man oft in den Fall,
dasjenige, was wit von anderen gehört, mit dem zu verwechseln,
was wir wirklich aus eigener anschauender Erfahrung besitzen.«
Diese Bemerkung madht Goethe auf einem der ersten Blätter
der Lebensbeschreibung, die er im Alter von sechzig Jahren. auf-
zuzeihnen begann. Vor ihr stehen nur einige Mitteilungen über
seine »am 28. August 1749, mittags mit dem Glokenschlag zwölf«
erfolgte Geburt. Die Konstellation der Gestirne war ihm günstig
und mag wohl Ursadhe seiner Erhaltung gewesen sein, denn er
kam »für todt« auf die Welt, und nur durch vielfahe Bemühungen
brahte man es dahin, daß er das Licht erblikte. Nach dieser Be-
merkung folgt eine kurze Schilderung des Hauses und der Räum=
lichkeit, in welcher sich die Kinder — er und seine jüngere Schwester
— am liebsten aufhielten. Dann aber erzählt Goethe eigentlich nur
eine einzige Begebenheit, die man in die »früheste Zeit der Kind-
heit« (in die Jahre bis vier?) versetzen kann, und an welde er eine
eigene Erinnerung bewahrt zu haben scheint.
Der Bericht hierüber lautet: »und mich gewannen drei gegen-
über wohnende Brüder von Odhsenstein, hinterfassene Söhne des
verstorbenen Scultheißen, gar lieb, und beschäftigten und neckten
sih mit mir auf mancherlei Weise.«
»Die Meinigen erzählten gern allerlei Eulenspiegeleien, zu denen
mich jene sonst ernsten und einsamen Männer angereizt. Ih führe
nur einen von diesen Streihen an. Es war eben Topfmarkt gewesen
und man hatte nicht allein die Küche für die nächste Zeit mit
solhen Waren versorgt, sondern auh uns Kindern dergleichen
Geschirr im kleinen zu spielender Beschäftigung eingekauft. An
Imago V/2 4
50 : Sigm. Freud
einem shönen Nachmittag, da alles ruhig im Hause war, trieb ich |
im Geräms (der erwähnten gegen die Straße gerichteten Örtlichkeit)
mit meinen Schüsseln und Töpfen mein Wesen und da weiter nichts
dabei herauskommen wollte, warf ih ein Geschirr auf die Straße
und freute mich, daß es so lustig zerbrah. Die von Odhsenstein,
welche sahen, wie ich mich daran ergötzte, daß ich so gar fröhlich
in die Händchen patscte, riefen: Noch mehr! Id säumte nicht, so=
gleih einen Topf und auf immer fortwährendes Rufen: Noch mehr!
nah und nach sämtlihe Schüsselhen, Tiegelhen, Kännchen gegen
das Pflaster zu schleudern. Meine Nachbarn fuhren fort, ihren Bei-
fall zu bezeigen und ih war hödlih froh ihnen Vergnügen zu
machen. Mein Vorrat aber war aufgezehrt, und sie riefen immer:
Nod mehr! Ich eilte daher straks in die Kühe und holte die
irdenen Teller, welche nun freilih im Zerbrechen ein noc lustigeres
Schauspiel gaben, und so lief ih hin und wieder, brachte einen
Teller nach dem anderen, wie ich sie auf dem Topfbrett der Reihe
nach erreihen konnte, und weil sich jene gar nicht zufrieden gaben,
so stürzte ih alles, was ih von Gesdirr erschleppen konnte, in
gleihes Verderben. Nur später erschien jemand zu hindern und zu
wehren. Das Unglück war geschehen, und man hatte für so viel zer-
brohene Töpferware wenigstens eine lustige Geschichte, an der sich
besonders die shalkischen Urheber bis an ihr Lebensende ergötzten.«
Dies konnte man in voranalytishen Zeiten ohne Anlaß zum
Verweilen und ohne Anstoß lesen, aber später wurde das analy=
tishe Gewissen rege. Man hatte sih ja über Erinnerungen aus
der frühesten Kindheit bestimmte Meinungen und Erwartungen
gebildet, für die man gerne allgemeine Gültigkeit in Anspruch nahm. |
Es sollte nicht gleihgültig oder bedeutungslos sein, welche Einzel- \
heit des Kindheitslebens sich dem allgemeinen Vergessen der Kind=
heit entzogen hatte. Vielmehr durfte man vermuten, daß dies im
Gedächtnis Erhaltene auch das Bedeutsamste des ganzen Lebens-
abschnittes sei, und zwar entweder so, daß es solhe Wichtigkeit
schon zu seiner Zeit besessen oder anders, daß es sie durch den
Einfluß späterer Erlebnisse nachträglih erworben habe. |
Allerdings war die hohe Wertigkeit solcher Kindheitserinne=
rungen nur in seltenen Fällen offensictlih. Meist erschienen sie
gleihgültig, ja nichtig, und es blieb zunächst unverstanden, daß es
gerade ihnen gelungen war, der Amnesie zu trotzen, auh wußte
derjenige, der sie als sein eigenes Erinnerungsgut seit langen Jahren
bewahrt hatte, sie so wenig zu würdigen wie der Fremde, dem er
sie erzählte. Um sie in ihrer Bedeutsamkeit zu erkennen, bedurfte
es einer gewissen Deutungsarbeit, die entweder nachwies, wie ihr
Inhalt durh einen anderen zu ersetzen sei, oder ihre Beziehung zu |
anderen, unverkennbar wichtigen Erlebnissen aufzeigte, für welce
sie als sogenannte Deckerinnerungen eingetreten waren.
In jeder psychoanalytishen Bearbeitung einer Lebensgeschichte
gelingt es, die Bedeutung der frühesten Kindheitserinnerungen in
Eine Kindheitserinnerung aus »Dichtung und Wahrheit« 51
solher Weise aufzuklären. Ja, es ergibt sich in der Regel, daß
gerade diejenige Erinnerung, die der Änalysierte voranstellt, die er
zuerst erzählt, mit der er seine Lebensbeichte einleitet, sich als die
wichtigste erweist, als diejenige, welde die Schlüssel zu den Ge-
heimfähern seines Seelenlebens in sich birgt. Aber im Falle jener
kleinen Kinderbegebenheit, die in »Dichtung und Wahrheits erzählt
wird, kommt unseren Erwartungen zu wenig entgegen. Die Mittel
und Wege, die bei unseren Patienten zur Deutung führen, sind uns
hier natürlih unzugänglih, der Vorfall an sih scheint einer auf-
spürbaren Beziehung zu wichtigen Lebenseindrücken späterer Zeit
nicht fähig zu sein. Ein Schabernak zum Schaden der häuslichen
Wirtschaft, unter fremdem Einfluß verübt, ist sicherlich keine passende
Vignette für all das, was Goethe aus seinem reichen Leben mit-
zuteilen hat. Der Eindruck der vollen Harmlosigkeit und Beziehungs-
losigkeit will sih für diese Kindererinnerung behaupten, und wir
mögen die Mahnung mitnehmen, die Anforderungen der Psydho-
analyse nicht zu überspannen oder am ungeeigneten Orte vorzu=
bringen.
So hatte ih denn das kleine Problem längst aus meinen Ge-
danken fallen lassen, als mir der Zufall einen Patienten zuführte,
bei dem sih eine ähnlihe Kindheitserinnerung in durdhsichtigerem
Zusammenhange ergab. Es war ein siebenundzwanzigjähriger, hoch-
gebildeter und begabter Mann, dessen Gegenwart durh einen
Konflikt mit seiner Mutter ausgefüllt war, der sih so ziemlich auf
alle Interessen des Lebens erstrekte, unter dessen Wirkung die
Entwicklung seiner Liebesfähigkeit und seiner selbständigen Lebens-
führung schwer gelitten hatte. Dieser Konflikt ging weit in die
Kindheit zurück, man kann wohl sagen, bis in sein viertes Lebens=
jahr. Vorher war er ein sehr shwädliches, immer kränkelndes Kind
gewesen, und doc hatten seine Erinnerungen diese üble Zeit zum
Paradies verklärt, denn damals besaß er die uneingeschränkte, mit
niemandem geteilte Zärtlichkeit der Mutter. Als er noh nidt
vier Jahre war, wurde ein — heute noch lebender — Bruder ge-
boren, und in der Reaktion auf diese Störung wandelte er sich zu
einem eigensinnigen, unbotmäßigen Jungen, der unausgesetzt die
Strenge der Mutter herausforderte. Er kam auch nie mehr in das
rihtige Geleise.
Als er in meine Behandlung trat — niht zum mindesten
darum, weil die bigotte Mutter die Psychoanalyse verabsheute —,-
war die Bifersuht auf den nahgeborenen Bruder, die sich seinerzeit
selbst in einem Attentat auf den Säugling in der Wiege geäußert
hatte, längst vergessen. Er behandelte jetzt seinen jüngeren Bruder
sehr rücksichtsvoll, aber sonderbare Zufallshandfungen, durch die er
sonst geliebte Tiere wie seinen Jagdhund oder sorgsam von ihm
gepflegte Vögel plötzlih zu schwerem Schaden brachte, waren wohl
als Nacdıklänge jener feindseligen Impulse gegen den kleinen Bruder
zu verstehen.
4°
®
52 Sigm. Freud
Dieser Patient berichtete nun, daß er um die Zeit des Atten-
tats gegen das ihm verhaßte Kind einmal alles ihm erreihbare Ge=
shirr aus dem Fenster des Landhauses auf die Straße geworfen
hatte. Also dasselbe, was Goethe in Dichtung und Wahrheit aus
seiner Kindheit erzählt! Ih bemerke, daß mein Patient von fremder
Nationalität und nicht in deutscher Bildung erzogen war, er hatte
Goethes Lebensbeschreibung niemals gelesen.
Diese Mitteilung mußte mir den Versuh nahe legen, die
Kindheitserinnerung Goethes in dem Sinne zu deuten, der durch
die Geschichte meines Patienten unabweisbar geworden war. Aber
waren in der Kindheit des Dichters die für solhe Auffassung er-
forderlihen Bedingungen nachzuweisen? Goethe selbst macht zwar
die Aneiferung der Herren von Odhsenstein für seinen Kinder-
streih verantwortlih. Aber seine Erzählung selbst läßt erkennen,
daß die erwachsenen Nachbarn ihn nur zur Fortsetzung seines
Treibens aufgemuntert hatten. Den Anfang dazu hatte er spontan
gemadt, und die Motivierung, die er für dies Beginnen gibt: »Da
weiter nichts dabei (beim Spiele) herauskommen wolltes, läßt sich
wohl ohne Zwang als Geständnis deuten, daß ihm ein wirksames
Motiv seines Handelns zur Zeit der Niederschrift und wahrscheinlich
aud lange Jahre vorher nicht bekannt war.
Es ist bekannt, daß Joh. Wolfgang und seine Schwester
Cornelia die ältesten Überlebenden einer größeren, recht hinfälligen
Kinderreihe waren. Herr Dr. Hanns Sachs war so freundlich, mir
die Daten zu verschaffen, die sich auf diese früh verstorbenen Ge=
schwister Goethes beziehen.
Geschwister Goethes:
a) Hermann Jakob, getauft Montag, den 27. November 1752,
erreichte ein Älter von sechs Jahren und sechs Wocen, beerdigt
13. Januar 1759.
b) Katharina Elisabetha, getauft Montag, den 9. Septem=
ber 1754, beerdigt Donnerstag, den 22. Dezember 1755
(ein Jahr vier Monate alt).
c) Johanna Maria, getauft Dienstag, den 29. März 1757 und
beerdigt Samstag, den 11. August 1759 (zwei Jahre vier Mo-
nate alt). (Dies war jedenfalls das von ihrem Bruder ge-
rühmte sehr shöne und angenehme Mädcen.)
d) Georg Adolph, getauft Sonntag, den 15. Juni 1760, be-
erdigt, acht Monate alt, Mittwodh, den 18. Februar 1761.
Goethes nädste Schwester, Cornelia Friederica
Christiana, war am 7. Dezember 1750 geboren, als er fünf-
viertel Jahre alt war. Durch diese geringe Altersdifferenz ist sie als
Objekt der Eifersuht so gut wie ausgeschlossen. Man weiß, daß
Kinder, wenn ihre Leidenschaften erwacen, niemals so heftige
Reaktionen gegen die Geschwister entwickeln, welhe sie vorfinden,
sondern ihre Abneigung gegen die neu Ankommenden richten. Auch
Eine Kindheitserinnerung aus »Dichtung und Wahrheit« 53
ist die Szene, um deren Deutung wir uns bemühen, mit dem zarten
Alter Goethes bei oder bald nach der Geburt Corneliens un=
vereinbar.
Bei der Geburt des ersten Brüderchens Hermann Jakob war
Joh. Wolfgang dreieinviertel Jahre alt. Ungefähr zwei Jahre später,
als er etwa fünf Jahre alt war, wurde die zweite Schwester ge-
boren. Beide Altersstufen kommen für die Datierung des Gesdirr-
hinauswerfens in Betracht, die erstere verdient vielleicht den Vorzug,
sie würde auch die bessere Übereinstimmung mit dem Falle meines
Patienten ergeben, der bei der Geburt seines Bruders etwa drei-
dreiviertel Jahre zählte.
Der Bruder Hermann Jakob, auf den unser Deutungsversuh
in solher Art hingelenkt wird, war übrigens kein so flüchtiger Gast
in der Goethescen Kinderstube wie die späteren Geschwister. Man
könnte sich verwundern, daß die Lebensgeshihte seines großen
Bruders nicht ein Wörtchen des Gedenkens an ihn bringt, Er wurde
über sechs Jahre alt und Joh. Wolfgang war nahe an zehn Jahre,
als er starb. Dr. Ed. Hitschmann, der so freundliih war, mir
seine Notizen über diesen Stoff zur Verfügung zu stellen, meint:
»Auch der kleine Goethe hat ein Brüderchen nicht
ungern sterben gesehen. Wenigstens berichtete seine Mutter
nah Bettina Brentanos Wiedererzählung folgendes: ‚Sonderbar fiel
es der Mutter auf, daß er bei dem Tode seines jüngeren Bruders
Jakob, der sein Spielkamerad war, keine Träne vergoß, er schien
vielmehr eine Art Ärger über die Klagen der Eltern und Ge-
schwister zu haben, da die Mutter nun später den Trotzigen fragte,
ob er den Bruder nicht lieb gehabt habe, lief er in seine Kammer,
brachte unter dem Bett hervor eine Menge Papiere, die mit Lektionen
und Geshichtchen beschrieben waren, er sagte ihr, daß er dies alles
gemacht habe, um es dem Bruder zu lehren.’ Der ältere Bruder
hätte also immerhin gern Vater mit dem Jüngeren gespielt und ihm
seine Überlegenheit gezeigt.«
Wir könften uns also die Meinung bilden, das Gesdirrhin-
auswerfen sei eine symbolishe, oder sagen wir es richtiger: eine
magische Handlung, durh welche das Kind (Goethe sowie mein
Patient) seinen Wunsch nach Beseitigung des störenden Rindring-
lings zu kräftigem Ausdruck bringt. Wir brauchen das Vergnügen
des Kindes beim Zerscellen der Gegenstände nicht zu bestreiten,
wenn eine Handlung bereits an sich lustbringend ist, so ist dies
keine Abhaltung, sondern eher eine Verlokung, sie auch im Dienste
anderer Absichten zu wiederholen. Aber wir glauben nicht, daß es
die Lust am Klirren und Brehen war, welche solhen Kinderstreihen
einen dauernden Platz in der Erinnerung des Erwachsenen sichern
konnte. Wir sträuben uns auch nicht, die Motivierung der Handlung
um einen weiteren Beitrag zu komplizieren. Das Kind, welces das
Geschirr zerschlägt, weiß wohl, daß es etwas Schlechtes tut, worüber
die Erwachsenen scelten werden, und wenn es sich durch dieses
54 Sigm. Freud
Wissen niht zurüchalten läßt, so hat es wahrsceinlich einen Groll
gegen die Eltern zu befriedigen, es will sih schlimm zeigen.
Der Lust am Zerbrehen und am Zerbrohenen wäre auch
Genüge getan, wenn das Kind die gebredhlihen Gegenstände ein-
fah auf den Boden würfe. Die Hinausbeförderung durch das Fenster
auf die Straße bliebe dabei ohne Erklärung. Dies »Hinaus« scheint
aber ein wesentliches Stück der magischen Handlung zu sein und
dem verborgenen Sinn derselben zu entstammen. Das neue Kind
soll fortgeschafft werden, durchs Fenster mögliherweise darum,
weil es durchs Fenster gekommen ist. Die ganze Handlung wäre
dann gleichwertig jener uns bekannt gewordenen wörtlihen Reaktion
eines Kindes, als man ihm mitteilte, daß der Storh ein Geshwisterz
chen gebradt. »Er soll es wieder mitnehmen«, lautete sein Bescheid.
Indes, wir verhehlen uns nicht, wie mißlih es — von allen
inneren Unsicherheiten abgesehen — bleibt, die Deutung einer
Kinderhandlung auf eine einzige Analogie zu begründen. Ich hatte
darum auch meine Auffassung der kleinen Szene aus »Dicdtung
und Wahrheits durch Jahre zurücgehalten. Da bekam ich eines
Tages einen Patienten, der seine Analyse mit folgenden, wortgetreu
fixierten Sätzen einleitete:
»Ich bin das älteste von acht oder neun Geschwistern!., Bine
meiner ersten Erinnerungen ist, daß der Vater, in Nadhtkleidung
auf seinem Bette sitzend, mir lachend erzählt, daß ich einen Bruder
bekommen habe. Ich war damals dreidreiviertel Jahre alt; so groß
ist der Altersunterschied zwischen mir und meinem nächsten Bruder.
Dann weiß ih, daß ich kurze Zeit nachher (oder war es ein Jahr
vorher)? einmal verschiedene Gegenstände, Bürsten, — oder war
es nur eine Bürste? — Schuhe und anderes aus dem Fenster auf
die Straße geworfen habe. Ih habe aud nod eine frühere Erinne-
rung. Als ich zwei Jahre alt war, übernadtete ih mit den Eltern
in einem Hotelzimmer in Linz auf der Reise ins Salzkammergut.
Ih war damals so unruhig in der Nacıt und madte ein solches
Geschrei, daß mich der Vater schlagen mußte.«
Vor dieser Aussage ließ ich jeden Zweifel fallen. Wenn bei
analytisher Einstellung zwei Dinge unmittelbar nacheinander, wie
in einem Atem vorgebraht werden, so sollen wir diese Annähe-
rung auf Zusammenhang umdeuten. Es war also so, als ob der
Patient gesagt hätte: Weil ich erfahren, daß ich einen Bruder be=
kommen habe, habe ich einige Zeit nachher jene Gegenstände auf
die Straße geworfen. Das Hinauswerfen der Bürsten, Schuhe usw.
gibt sich als Reaktion auf die Geburt des Bruders zu erkennen.
! Ein flüctiger Irrtum auffälliger Natur. Es ist nicht abzuweisen, daß er
bereits durch, die Beseitigungstendenz gegen den Bruder induziert ist. (Vgl.
Ferenczi: Über passagere Symptombildungen während der Analyse, Zentralbl.
f. Psychoanalyse. II., 1912.)
® Dieser den wesentlichen Punkt der Mitteilung als Widerstand annagende
Zweifel wurde vom Patienten bald nachher selbständig zurückgezogen.
Eine Kindheitserinnerung aus »Dichtung und Wahrheit« 55
Es ist auh nicht unerwünscht, daß die fortgeschafften Gegenstände
in diesem Falle niht Geschirr, sondern andere Dinge waren, wahr=
scheinlich solhe, wie sie das Kind eben erreihen konnte... Das
Hinausbefördern (durchs Fenster auf die Straße) erweist sich so als
das Wesentliche, der Handlung, die Lust am Zerbrehen, am Klirren
und die Art der Dinge, an denen »die Exekution vollzogen
wird«, als inkonstant und unwesentlich.
Natürlich gilt die Forderung des zusainmenbanges auh für
die dritte Kindheitserinnerung des Patienten, die, obwohl die früheste,
an das Ende der kleinen Reihe gerückt ist. Es ist leicht, sie zu er-
füllen. Wir verstehen, daß das zweijährige Kind darum so unruhig
war, weil es das Beisammensein von Vater und Mutter im Bette
nicht leiden wollte. Auf der Reise war es wohl nicht anders mög-
fih, als das Kind zum Zeugen dieser Gemeinshaft werden zu
lassen. Von den Gefühlen, die sih damals in dem kleinen Eifer-
süctigen regten, ist ihm die Erbitterung gegen das Weib verblieben,
und diese hat eine dauernde Störung seiner Liebesentwiclung zur
Folge gehabt.
Als ih nach diesen beiden Erfahrungen im Kreise der psycho=
analytishen Gesellshaft die Erwartung äußerte, Vorkommnisse
solher Art dürften bei kleinen Kindern nicht zu den Seltenheiten
ehören, stellte mir Frau Dr. v. Hug-Hellmuth zwei weitere
Bungen zur Verfügung, die ich hier folgen lasse:
Zum Hinauswerfen von Gegenständen aus dem Fenster
durch kleine Kinder.
I.
Mit zirka dreieinhalb Jahren hatte der kleine Erich »urplötzlih« die
Gewohnheit angenommen, alles, was ihm nicht paßte, zum Fenster hinaus-
zuwerfen. Äber er tat es auch mit Gegenständen, die ihm nicht im Wege
waren und ihn nichts angingen. Gerade am Geburtstag des Vaters — da
zählte er drei Jahre viereinhalb Monate — warf er eine schwere Teigwalze,
die er flugs aus der Küche ins Zimmer geschleppt hatte, aus einem Fenster
der im dritten Stockwerk gelegenen Wohnung auf die Straße. Einige Tage
später ließ er den Mörserstößel, dann ein Paar schwerer Bergschuhe des
Vaters, die er erst aus dem Kasten nehmen mußte, folgen!.
Damals machte die Mutter im siebenten oder achten Monate ihrer
Schwangerschaft eine fausse couche, nach der das Kind »wie ausgewechselt
brav und zärtlih still« war, Im fünften oder sechsten Monate sagte er
wiederholt zur Mutter: »Mutti, ich spring’ dir auf den Bauch« oder »Mutti,
ih drück’ dir den Bauch ein«. Und kurz vor der fausse coudhe, im Oktos
ber: »Wenn ih schon einen Bruder bekommen soll, so wenigstens erst
nah dem Christkindl.«
ı Immer wählte er schwere Gegenstände,
bo Sigm. Freud
I.
Eine junge Dame von neunzehn Jahren sibt spontan als früheste
Kindheitserinnerung folgende:
»Ih sehe mich furchtbar ungezogen, zum Hervorkriehen bereit, unter
dem Tische im Speisezimmer sitzen. Auf dem Tische steht meine Kaffee-
scale, — ich sehe noch jetzt deutlich das Muster des Porzellans vor mir
— die ih in dem Augenblick, als Großmama ins Zimmer trat, zum
Fenster hinauswerfen wollte,
Es hatte sich nämlich niemand um mich gekümmert, und indessen
hatte sich auf dem Kaffee eine »Haut« gebildet, was mir immer fürchterlich
war und heute nod ist.
An diesem Tage wurde mein um zweieinhalb Jahre jüngerer Bruder
geboren, deshalb hatte niemand Zeit für mic.
Man erzählt mir noch immer, daß ich an diesem Tage unausstehlich
war, zu Mittag hatte ich das Lieblingsglas des Papas vom Tische geworfen,
tagsüber mehrmals mein Kleidhen beschmutzt und war von früh bis
abends übelster Laune. Auch ein Badepüppcen hatte ich in meinem Zorne
zertrümmert.«
Diese beiden Fälle bedürfen kaum eines Kommentars, Sie be-
stätigen ohne weitere analytische Bemühung, daß die Erbitterung
des Kindes über das erwartete oder erfolgte Auftreten eines Kon-
kurrenten sih in dem Hinausbefördern von Gegenständen durch
das Fenster wie. auch durh andere Akte von Schlimmheit und
Zerstörungssuht zum Ausdruck bringt. In der ersten Beobadtung
symbolisieren wohl die sschweren Gegenstände« die Mutter selbst,
gegen welche sich der Zorn des Kindes richtet, so lange das neue
Kind noch nicht da ist. Der dreieinhalbjährige Knabe weiß um die
Schwangershaft der Mutter und ist nicht im Zweifel darüber, daß
sie das Kind in ihrem Leibe beherbergt. Man muß sich hiebei an
den »kleinen Hans« «(Jahrb. f. Psychoanalyse, Bd. I, 1909) erinnern
und an seine besondere Angst vor shwer beladenen Wagen!, An
der zweiten Beobachtung ist das frühe Alter des. Kindes, zweiein-
halb Jahre, bemerkenswert.
enn wir nun zur Kindheitserinnerung Goethes zurückkehren
und an ihrer Stelle in »Didhtung und Wahrheit« einsetzen, was
wir aus der Beobachtung anderer Kinder erraten zu haben glauben,
so stellt sich ein tadelloser Zusammenhang her, den wir sonst nicht
entdeckt hätten. Es heißt dann: Ih bin ein Glückskind gewesen,
das Schicksal hat mih am Leben erhalten, obwohl ich für tot zur
ı Für diese Symbolik der Schwangerschaft hat mir vor einiger Zeit eine
mehr als fünfzigjährige Dame eine weitere Bestätigung erbracht. Es war ihr wieder-
holt erzählt worden, daß sie als kleines Kind, das kaum sprechen konnte, den
Vater aufgeregt zum Fenster zu ziehen pflegte, wenn ein schwerer Möbelwagen auf
der Straße vorbeifuhr. Mit Rücksicht auf ihre Wohnungserinnerungen läßt sich
feststellen, daß sie damals jünger war als zweidreiviertel Jahre, Um diese Zeit
wurde ihr nächster Bruder geboren und infolge dieses Zuwacdses die Wohnung
gewechselt. Ungefähr gleichzeitig hatte sie oft vor dem Einschlafen die ängstliche
Empfindung von etwas unheimlich Großem, das auf sie zukam, ‘und dabei »wurden
ihr die Hände so dicke.
Y
|
Eine Kindheitserinnerung aus »Dichtung und Wahrheite 67
Welt gekommen bin. Meinen Bruder aber hat es beseitigt, so daß
ih die Liebe der Mutter nicht mit ihm zu teilen brauchte. Und
dann geht der Gedankenweg weiter, zu einer anderen in jener
Frühzeit Verstorbenen, der Großmutter, die wie ein freundlicher,
stiller Geist in einem anderen Wohnraum hauste.
Ih habe es aber schon an anderer Stelle ausgesprochen:
Wenn man der unbestrittene Liebling der Mutter gewesen ist, so
behält man fürs Leben jenes Eroberergefühl, jene Zuversicht
des Erfolges, welche nicht selten wirklih den Erfolg nad sic zieht.
Und eine Bemerkung solher Art wie: Meine Stärke wurzelt in
meinem Verhältnis zur Mutter, hätte Goethe seiner Lebensge-
schichte mit Recht voranstellen dürfen.
58 Dr. H. Protze
Der Baum als totemistisches Symbol in der Dichtung.
Von Dr. H. PROTZE «zurzeit Bad Ems).
eit sih die psychoanalytishe Wissenschaft, unter dem Vorgang
Freuds, der Erforshung der totemistischen und tabuistishen
Phänomene zugewandt hat, sind in der psychoanalytischenLiteratur
mehrfach Fälle von sogenanntem »individuellen Totemismus« mitgeteilt
worden, zuletzt meines Wissens von Abraham in seiner Arbeit Ȇber
Einschränkungen und Umwandlungen der Schaufust« (Jahrbuch 1919.
Unter. anderem bespriht Abraham dort den Fall eines Psydho-
neurotikers, welcher, in Träumen wie in Wachphantasien, die Er-
scheinungen eines ausgesprohenen Baumtotemismus bot.
Über ein Gegenstük hiezu, ein analoges Gebilde aus dem
Gebiet der dichterischen Produktion, möhte ih im folgenden
Näheres berichten. Bin solches fand ich in der Erzählung des früher
viel gelesenen, jetzt wohl wenig mehr bekannten österreichischen
Schriftstellers Kar! Post! (Charles Sealsfild) sDie Prärie am
Jacintos, einem selbständigen Fragment aus des Dichters Roman
»Das Kajütenbuh«e. — Dies Phantasiestück, äußerlich betrachtet
nichts weiter als die Schilderung eines Reiseabenteuers, erweist sich
bei näherer Musterung als eine symbolische Darstellung unbewußten
Erlebens, eben in jener eigenartigen, an den Pflanzentotemismus der
Primitiven gemahnenden Form, dabei ist besonders bemerkenswert,
daß die Dichtung ihre totemistishe Symbolik gleichsam selbst
kommentiert, insofern ihr sonstiger Inhalt auf diejenigen infantilen Ten-
denzen und Einstellungen, in denen die Psychoanalyse die Wurzeln
totemistischer Bildungen vermutet, mit unverkennbarer Deutlichkeit
hinweist. -— Gerade wegen letzterer Eigenheit, vermöge deren die
‚Dichtung zur Verifikation der psychoanalytischen Hypothese über den
Ursprung des Totemismus beiträgt, möchte ich sie im folgenden in extenso
wiedergeben, es dürfte jedoh, da die Erzählung an eine bestimmte
Episode in des Dichters Leben anknüpft, und auch sonst Züge aus
dessen realen Erleben verwertet, zweckmäßig sein, einige Daten aus
der Biographie des Autors voranzustellen.
ahı der mir vorliegenden, leider sehr summarishen bio
graphishen Skizze wurde der Dichter Karl Post! 1793 in einem
kleinen Dorfe in Mähren, wo sein Vater die Würde eines Dorf-
richters (»Gemeindevorstehers«) bekleidete, geboren. Der Vater, eine
harte, derbe Bauernnatur, erzog ihn mit eiserner Strenge, weshalb
der Knabe zuweilen dem elterlihen Hause entfloh und sich tagelang
in der durh Naturshönheit ausgezeichneten Umgebung seines
Heimatdorfes umhertrieb. Hier wurden, meint der Biograph, die
Keime zu seiner späteren, namentlich in Natur-Scilderungen brillieren-
den, poetishen Produktion geweckt.
Schon im frühen Älter von 8 Jahren wurde Postl, auf Wunsch
seiner Mutter, aber audı seinen eigenen Wünschen gemäß, für den
Der Baum als totemistishes Symbol in der Dichtung 59
geistlichen Stand bestimmt, und bezog nod als Knabe das Jesuiten-
gymnasium zu Znaim, um Ordenspriester zu werden. Er gelangte
auc ohne besondere Zwischenfälle zum Ziele, entsagte jedod plötzlich,
ohne zwingenden äußeren Anlaß, in seinem neunundzwanzigsten Jahre
der Priesterwürde, brach alle Beziehungen zu seinem Orden, wie
auch zu seinen Angehörigen ab und begab sih nah Amerika, wo
er den Namen Charles Sealsfild annahm. — Dort führte er ein
unstetes Leben, wechselte häufig Wohnsitz und Beruf, hielt sich
unter anderem längere Zeit in Texas auf, wo er den mißlingenden
Versuh machte, sih als Farmer anzusiedeln, und kehrte 1832 nad
Europa zurück. — Nadı abermaligen längeren Irrfahrten in England
und Frankreih madte er sih scließlih in der Schweiz seßhaft,
nahm aber in der Folgezeit nodh dreimal längeren Aufenthalt in
Amerika, um dann endgültig in die Schweiz zurückzukehren und
dort seine Tage zu beschließen. — Verheiratet war Postl nict.
Über etwaige sonstige erotishe Beziehungen ist nichts bekannt, —
Ein bemerkenswerter Zug seiner vielseitigen literarischen
Tätigkeit ist, neben anderen, seine ausgesprohene Vorliebe für
Napoleon I. Er redigierte, obwohl Österreicher, zeitweise in
Neuyork eine Zeitung, die der Propagierung bonapartistischer
Ideen und Interessen in Amerika dienen sollte, und trat auch später
zu den in der Schweiz lebenden Napoleoniden in Beziehung. —
Wir werden bei einem Manne, den wir, anscheinend un=
motivierter Weise, sein Vaterland und Vaterhaus, seinen Vaters=
namen — und seinen Beruf als Pater aufgeben sahen, eine stark
negative Einstellung zum Vater vermuten dürfen. Hören wir nun
die Dihtung. —
Ein junger Amerikaner, aus dem Norden der Union, der
zwecks Gründung einer Farm in Texas weilt (hierin also ein Eben-
bild des Dichters), unternimmt gegen den Rat eines erfahrenen älteren
Mannes ohne Begleitung einen Ritt in die Prärie und verirrt sich
dort. Nah langem Umherreiten gelangt er, inmitten der Wildnis,
an einen sehr großen, alten Baum von majestätisher Schönheit,
»von dessen mächtigen Zweigen Tausende von Flechten jenes eigen-
artigen, silbergrauen, spanischen Mooses, die wie wallende Greisen-
bärte aussehen, herabhängen«.
Der Baum führt, wie man später erfährt, unter den Ansiedlern
den Namen »Der Patriarchs. — Nachdem der Jüngling dies Natur-
phänomen eine Weile mit ehrfürhtigem Staunen, aber auch mit Be=
klemmung, »mit einem Gefühl, das peinliher Angst nahe verwandt
ist«, betrachtet hat, eilt er weiter, ohne aber den ersehnten Aus-
weg aus der Prärie finden zu können. Endlih, nach tagelangem
Umherirren, macht er die peinlihe Entdeckung, daß er sih wieder
in unmittelbarer Nähe jenes Baumes, des Patriarchen, befindet,
den er, wie durch einen tücischen Zauber gebannt, fortwährend
umkreist hat. Verzweifelt, bewußtlos briht er unter demselben
zusammen,
60 Dr. H. Protze
Als er wieder zu sich kommt, findet er sih in den Armen
eines Prärienjägers, der ihn durh einen stärkenden Trank wieder
zum Leben erweckt hat, und mit dem er dann die Reise fortsetzt. —
Dieser Lebensretter, der Jäger Bob, wird von da an der Hauptheld
der Erzählung. — Er madht dem jungen Reisenden von Anfang
an einen unheimlichen, grausigen Bindruk, »als ob er eine sehr
schwere Tat, etwa einen Brudermord, begangen haben könne« und
nun »von gräßlicher Gewissensangst gepeinigt werde«. Aud führt
er verworrene Reden, in denen der »Patriarh« wieder und wieder
erwähnt wird. — Scließlih beichtet der unheimliche Geselle, daß
er vor kurzem einen älteren Mann, einen »Familienvater«, dessen
reich gefüllte Geldkatze seinen Neid erregte, unter dem »Patriarhen«
ermordet und dort verscharrt hat, — Seitdem kann er nirgends Ruhe
finden. Er irrt planlos umher, aber immer wieder zieht es ihn mit
magisher Gewalt zu dem Baume hin, er- kann nicht von ihm
loskommen. Und wenn er ferne von ihm ist, erscheint ihm der
»Patriarhs als Gespenst, in Gestalt eines riesigen, weißbärtigen,
zürnenden, alten Mannes, hinter welchem dann noch dasSchein-
bild des ermordeten Familienvaters, Rache drohend, aufs
taucht. — Diese Qualen sind dem Mörder jetzt unerträglih ge-
worden, und er bittet seinen Reisegenossen, ihn zu einem in der
Nähe wohnenden, besonders vertrauenswürdigen Richter zu geleiten,
dem er sih entdecken und den er veranlassen will, die Strafe für
seine Untat an ihm vollziehen zu lassen, eine Strafe, die er sich
selber ausgedadt hat und die darin bestehen soll, daß er an dem
»Patriarchens aufgehängt wird,
Hatten wir in der Figur des Mörders eine »Verdoppelungs
des anfänglichen, mit dem Dichter. identishen Helden der Erzählung
zu erbliken, so wird der nunmehr auftretende Richter als ein
Duplikat des Vateridoles kenntlih gemaht. Wir erfahren, daß
vor der Tür seines Hauses ebenfalls ein »Lebenseihenbaums, ein
Gegenstük zum »Patriarhens, sich erhebt, ferner daß er selbst ein
älterer Mann von hocdragendem, majestätishem Wudhse ist, und
daß er sein Richteramt in würdigen, zugleih aber wohlwollend-be-
häbigen, kurzum »patriarhalishen« Formen führt.
Er spriht denn auh zunächst dem beichtenden Verbrecher in
väterliher Weise zu, entschließt sih dann aber dodh, den Urteils-
spruh zu fällen und ihn in der gewünschten Weise vollziehen zu
lassen. — Die Erhängung am »Patriarhens durch den Richter und
seine Helfer, wird dramatish geschildert. — Dann, ganz am Schluß,
nimmt die Erzählung plötzlih eine versöhnlihe Wendung. Der
Mörder, shon in der Schlinge hängend und fast erstickt, macht den
Richtern verständliih, daß er noh Wichtiges zu sagen habe, man
löst ihn los, er wird durch die besonderen Bemühungen des Vater-
Richters wieder zum Leben erweckt, und teilt diesem nun eine be=
deutsame, auf den unmittelbar bevorstehenden Befreiungsaufstand
des Landes Texas bezüglihe Nadriht mit, eine Nadhridht, durch
nn te mn A
Der Baum als totemistisches Symbol in der Dichtung 6i
die er dem Ricter und seinen Helfern, sämtlih Teilnehmer
an einer dahinzielenden Verschwörung, das Leben rettet, und
das Mißlingen ihrer Pläne verhütet. Zum Dank sprechen sie ihn auf
der Stelle der Strafe ledig und akzeptieren ihn als Mitkämpfer.
Im weiteren Verlauf des Romans (denn hiemit schließt die
Teilerzählung) erfährt man dann noch, daß der Verbreder, im Verein
mit dem Richter und dem jungen Reisenden, im Befreiungskampfe
Wunder der Tapferkeit verrichtet und schließlih in den Armen des
Richters den Heldentod stirbt.
Wie eingangs bemerkt, ist unser Phantasiestück in seinen Grund-
linien so durchsichtig, daß es eines analytishen Kommentars kaum
mehr bedarf. Der Baum ist unverkennbares Vatersymbol, und zwar
ein Symbol mit totemistishen Zügen, er erscheint einerseits als
Objekt abergläubisher Verehrung, anderseits als ein furhterregendes,
Race drohendes, Opfer heishendes Wesen. Letztere Qualitäten
erlangt er im Zusammenhang einer wenig verhüllten Vatermords=-
phantasie.
Das Inzestmotiv kommt in der Dichtung scheinbar niht zum
Ausdruck. Um sein Vorhandensein aufzuzeigen, muß ih den oben
erwähnten Parallelfall vergleihend heranziehen. Jener Neurotische,
von dessen Baumtotemismus Abraham berichtet, produziert u. a.
Wadträume, in denen er selbst als Baum im elterlichen Garten
steht und dort feste Wurzeln geschlagen hat. — Im Gegensatz
dazu steht sein reales Erleben, in welchem er sich »sozusagen be=
ständig auf der Flucht vor dem Mutterinzest befindets, daher von
ständiger Unruhe geplagt wird und nirgends seßhaft werden kann.
Was zunächst dies letztere anlangt, so finden wir die gleiche
Eigentümlichkeit im Leben unseres Dichters wieder. Aud er ist ein
ewiger Wanderer. Einmal freilih versucht er sih als Farmer, also
offenbar für die Dauer, seßhaft zu mahen, und zwar im Lande
Texas, jenem Lande, dessen »jungfräulihe, unberührte Schönheit«
er an verschiedenen Stellen seiner Schriften in glühenden Farben
schildert.
Gerade an diese Episode seines Lebens knüpft unsere Br-
zählung an. Der Held derselben wird als Träger der gleihen Absicht
eingeführt, aber schon beim ersten Betreten des »jungfräulichen«
Bodens kommt er in Konflikt mit dem »Patriarhens, der die er-
sehnte Position des »Wurzelns« in diesem Boden bereits innehat,
Im Anschluß daran entspinnt sih dann die lange Verirrungs-,
Vatermords- und Bestrafungsphantasie, die damit schließt, daß sich
die beiden Helden der Dichtung an der Eroberung des Landes
beteiligen,
Bs ist offensichtlih, daß wir hier, mit geringer Abweichung,
die gleihen Vorstellungsverknüpfungen vor uns haben: Der Baum
der Vater, das Erdreich die Mutter, das »Wurzeln« das »sih seß-
haft machen« — besonders als Ackerbauer — gleichbedeutend
mit dem Inzest.
62 Dr, H. Protze
Zudem wird klar, daß unsere Dichtung, gleih den Phantasien
jenes Neurotishen, auch deshalb als totemistisches Gebilde be-
zeichnet werden kann, weil sie eben nicht bloße Phantasie ist,
sondern in wesentlihem und bis in Einzelheiten determiniertem
Zusammenhang steht mit einem das Leben ihres Urhebers be-
herrschenden psydischen Zwang.
ließlih möchte ih noc auf eine, wie mir scheint bedeutsame,
Besonderheit im Aufbau der Dichtung hinweisen. Der Vater-
mörder, der dann von dem Vater-Richter an dem Vater-Baum ge-
opfert wird, erscheint im ersten Teil der Erzählung als der Retter
des anderen, gleichfalls in Ungehorsam (= Auflehnung) gegen den
Vater befindlihen Jünglings, und als dessen Erlöser aus dem Banne
des »Patriarhens, er erscheint ferner, im Verein mit dem Vater-
Richter als Held im Befreiungskampfe. In diesen Zügen erinnert
die Dichtung, mutatis mutandis, an jene völkerpsychologisch so wichtige
Abwandlungsform des primitiven Totemismus, an den Mythus
von der Opferung des Erlösers. Die Ähnlichkeit mit der uns ge=
fäufigsten Variation dieses Mythus geht sogar überraschend weit,
denn wir finden, um nur einige Züge hervorzuheben, auh in
unserer Dihtung die Auferweckung vom Tode durh einen
wohlwollenden Vater=Vertreter (der vorher den freiwilligen Opfer-
tod ausdrücklich gebilligt hat), ferner das Zusammenwirken mit
diesem an einem großen Erlösungswerk und die schließlihe Ver-
klärung.
Spiegelzauber 63
Spiegelzauber.
Von DR. GEZA RÖHEIM (Budapest).
Motto; »Tat tvam asi« (Das bist du) Chändogya
Upanishad. VI. 9-15,
«Siehe P. Deussen: Sechzig Upani-
shad’s des Veda. 1905. 166—170.)
»Das Selbst, fürwahr, soll man sehen, soll man hören, soll man verstehen, ı
soll man überdenken, o Maitreyi, fürwahr, wer das Selbst gesehen, gehört, ver-
standen und erkannt hat, von dem wird diese ganze Welt gewußt.« Brihadäranyaka-
Upanishad. II. 5.b. IV. 6.
(Vgl. Geldner: Die Religion der Inder in Bertholet: Religionsgeshicht-
lihes Lesebuch. 1908. 177 und Deussen: Sechzig Upanishad’s des Veda. 1905,
417, 483.)
I. Spiegel und Kind.
a) Negative Riten.
ines der wichtigsten Ergebnisse der Freudschen Forschung ist
die Dreistufentheorie der Libidoentwicklung. Als erste Haupt-
stufe kennzeichnet Freud die autoerotishe. »Dieselbe entsteht
in Anlehnung an eine der lebenswictigen Körperfunktionen, sie kennt
noch kein Sexualobjekt und ihr Sexualziel steht unter der Herrshaft
einer erogenen Zone«!. Aud bei der zweiten Stufe wendet sih die
Libido dem eigenen Ih zu, doch unterscheidet sih diese von der
früheren dadurch, daß das Individuum bereits um einen Schritt weiter-
geht, indem es das eigene Ic personifiziert, um sich selbst oder viel-
mehr sein Ebenbild lieben zu können. Man nennt diese Stufe mit
einer aus der Narkissossage gewählten Bezeichnung Narzissismus
»Die Iclibido heißen wir im Gegensatz zur Objektlibido auh nar-
zißtishe Libido« .,., »Die narzißtishe oder Iclibido erscheint uns
als das große Reservoir, aus welhem die Objektbesetzungen aus-
geschickt‘ und in welches sie wieder einbezogen werden, die nar-
zißtische Libidobesetzung des Ichs als der in der ersten
Kindheit realisierte Urzustand?, welhe durch die späteren
Aussendungen der Libido nur verdeckt wird, im Grunde hinter den-
selben erhalten geblieben ist«®, Die dritte Stufe ist die Objektwahl,
nämlich die völlig entwickelte normale Sexualität, bei welcher die
1 5. Freud: Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie 1915, 46, »Spiegelzauber«
erscheint zugleich in ungarischer Sprache als Heft 2 der »Nepflelektani Dolgozatoks
(Völkerpsydologishe Arbeiten),
% Von mir gesperrt.
® Freud: I. c. 79,
Die drei Haupt-
stufen in der Ent-
wicklung der Li-
bido. Der Nar-
zißmus.
64 Dr. Geza Röheim
Libido das gesuchte Objekt in der Außenwelt, im anderen Geschlechte
findet. Schon der der Narkissosmythe entnommene Terminus läßt
ahnen, daß die in der zweiten Entwiclungsstufe herrschende psychische
| Einstellung auch für den Spiegelzauber ihre Geltung hat. Vor allem
bleibt es Tatsadhe, daß die autoerotishe Personifikation im Einzel-
Die Kindheit als feben durch die der Objektwahl vorausgehende Periode, das Kindes-
Lebensalter. alter am vollkommensten vertreten wird?, Dem entspriht auch
die hervorragende Rolle, welche das Kind im Spiegelzauber und
Spiegeltabu spielt. Da aber das Tabu die Kehrseite des Magischen
ist®, so bekommen wir, wenn wir statt des Magishen den Wunsch
einsetzen“, eine durch die Hemmung des Wunsces entstandene
Phobie®. Mit anderen Worten: verboten werden muß nur das,
worauf sih unsere Wünsche richten. Dem Verbot des Spiegel-
schauens entspricht der kindiihe Wunsch nach seinem Ebenbilde. Bei
den Hienzen darf man das noch nicht einjährige Kind nicht in den
Spiegel schauen oder es abbilden lassen‘. In England finden sich
audh in den Kreisen der Gebildeten viele, die es nicht gerne sehen,
wenn der Säugling sich im Spiegel betrachtet”. In Lincolnshire hatte
eine junge Frau starke Angst, ihr kleines Kind könnte sich zufällig
!ı Vgl. S. Freud: Drei Abhandlungen zu Sexualtheorie 1915. Über die
narzißtishe Stufe im Besonderen: S. Freud: Zur Einführung des Narzißmus,
Jahrbuch der Psychoanalyse 1914. VI. 1-24. D. s.: Sammlung kleinerer Schriften
zur Neurosenlehre 1913. III. 249, O.Rank: Ein Beitrag zum Narzissismus. Jahre
buh für psychoanalytishe und psychopathologishe Forschungen. 1911, II.
401-426. Freud: Eine Kinaheitserinnerung des Leonardo da Vinci, 1910. 36.
I. Sadger: Ein Fall von multipler Perversion. Jahrbuch 1910, II. 112, Den Zu-
sammenhang zwischen Narzissismus und Seelenbegriff hat ©. Rank nachgewiesen, der
auch die Spiegelwahrsagung von diesem Standpunkte aus behandelt. ©, Rank: Der
Doppelgänger. Imago. 1914. 99—164. Mance Zitate verdanke ich der freundlichen
Mitteilung des Herrn M. Jellinek (Budapest). Die Abkürzung F. F, bedeutet
die im ungarischen Nationalmuseum aufbewahrte handscriftliche Sammlung der
ungarischen Sektion des internationalen Folkloristishen Forsherbundes (Folklore
Fellows) und der Stadtname daneben den betreffenden Lokalverein. »Ethn.« ist.
die atpnestapbias, (Ung.) das Organ der ungarishen Gesellshaft für Völker-
unde.
® Vgl. H, von Hug-Hellmuth: Aus dem Seelenleben des Kindes. Schriften
zur angewandten Seelenkunde., XV, 1913, 9,
®R. R. Marett: The Threshold of Religion 1909, 85. 115,
* Der große Zauberer vermag durch seinen bloßen Willen Bäume zu ent=
wurzeln. Merker: Die Masai 1904. 21. 27. Wenn jemand großes Begehren
nach irgend einer Obstgattung hat, beschleunigt er damit wirklich ihr Austeifen,
W, ©. Roth: Superstition, Magic and Medizine (North Queensland Ethno-
graphy Bulletin Nr. 5). 1903. 27. »Jeder Mensch hat eine Minute am Tage des
Wunsches Gewalt. j. W. Wolf: Beiträge zur deutschen Mythologie, 1852,
I. 237, In Hawai tötet der Fluch des Zauberers. R. Neuhauß: Anthropolo-
gishe Untersuhungen in Ozeanien. Verh. d. Ges, f. Ethn. 1885, 29,
5 Vgl. über das Tabu Freud: Totem und Tabu 1913,
° I. Thirring-Waisbecker: Zur Volkskunde der Hienzen. Ethnologische
Mitteilungen aus Ungarn, 1896. V, 16.
"WW. Hazlitt: Brands Popular Antquities of Great Britain 1905, I. 275.
Es bedeutet Unglück, wenn das Kind in den Spiegel schaut, solange es noch nicht
gehen kann. S. ©. Addy: Household Tales. 1895, 102, E, M. Leather: The
Folk=Lore of Herefordshire 1912. 113.
Pl
en en mn m u U a de ge en nn
Spiegelzauber 65
im Spiegel erblicken, ihre Mutter tröstete sie: »Wenn es nur zufällig
hineinschaut, hat das nichts zu bedeuten, doh wenn man dem Kinde das
eigene Bild im Spiegelzeigt, sokann das ihm allerdings Unglück bringen«!.
In Rußland dürfen Kinder nicht in den Spiegel shauen, sonst könnten sie
nicht ruhig schlafen?. Der amerikanishe Volksglaube meint, ein Kind,
das sich im Spiegel erblickt, ehe es das erste Lebensjahr vollendet
hat, werde ein Leben voller Sorgen führen®. In allen diesen Tabus
verrät sich das unbewußte Wissen* der narzißtischen Einstellung, da
sie die zu erwartenden Gefahren der durch das Spiegelshauen ge-
förderten narzißtischen Fixierung betonen. Am dharakteristishesten
und unbedingt treffend ist der im sächsishen Erzgebirge verbreitete
Volksglaube, daß kleine Mädchen, die sich häufig im Spiegel betrachten,
stolz und eitel werden’. In Meiderih darf man das Kind nicht in den
Spiegel schauen lassen, weil es sonst eitel wird. Im Voigtland herrscht die
Anschauung, ein nod nicht einjähriges Kind, das sich im Spiegel beschaut,
werde sein ganzes Leben lang eitel sein’. Eitel wird das Kind, wenn es
vor Vollendung des erstenLebensjahres in denSpiegel schaut,in derPfalz,
in der Rheinpfalz, in Sachsen, leichtfertig in der Oberpfalz, hochmiütig in
Sclesien, en °, in Sachsen, Thüringen, Baden, Voigtland, Meck-
lenburg und in der Pfalz°. Läßt man das Kind unter einem Jahr in den
Spiegel sehen, so wird es stolz!, InWales darf man das Kind nicht in
den Spiegel schauen lassen, bevor es nihtreden kann, sonst wirds eitef!1,
Im Voigtland darf es nicht in den Mond schauen, weil es mondsüdtig
wird:2. Beachtenswert ist hier die Erklärung der Mondsüdhtigkeit aus
der Sehnsucht nach dem Monde, beziehungsweise nach dem durh den
Mond vorgestellten Objekt, in diesem Falle das eigene Ebenbild,
In Westböhmen soll das noch nicht einjährige Kind nicht in den Spiegel
! M. Peacock: Scraps of English Folklore, Folk-Lore 1909. 218,
2 W.R.S. Ralston: The Songs of the Russian People. 1872. 117.
® Knortz: Amerikanischer Aberglaube der Gegenwart 1913, 42,
* Die Sanktion der Verbote entspricht daher entweder unmittelbar oder auf dem
Umwege der verdrängten Komplexe, d.h. symbolisch, einer intrapsycischen Realität,
5 E. John: Aberglaube, Sitte und Brauch im sächsischen Erzgebirge 1909, 57.
° Dirksen: Aus Meiderih Zeitschr. d. V. f. Volksk. IV. 326. Im selben
Sinne verwendet von L, Kaplan: Grundzüge der Psychoanalyse 1914. 221,
” Köhler: Volksbraudh, Aberglaube, Sagen im Voigtlande. 1867, 424,
° K. Haberland: Der Spiegel im Glauben und Brauch der Völker, Zeitschr.
f. Völkerpsychologie XIII. 341. Nah G. Lammert: Volksmedizin und medizinischer
Aberglaube in Bayern. 1869. 119. Bavaria, IV. 257. Wuttke: Volksaberglaube.,
392. Vgl. J. W. Wolf: Beiträge zur deutschen Mythologie, 1852. I, 208,
® Wuttke: Der deutsche Volksaberglaube, 1900, 392, Bartsch: Sagen,
Märchen und Gebräuche aus Medilenburg. 1880. II. 53,
'° Die gestriegelte Rockenphilosophie. 1759. Kap. XXVIIL, p. 39.
!! Trevelyan: Folk=Lore and Folk Stories of Wales. 1909. 268.
'2 Joh. Aug. Ernst Köhler: Volksbraudh, Aberglauben, Sagen und andere
alte Überlieferungen im Voigtlande, 1867. 423, Ölsnitz.
\® Vgl. I. Sadger: Über Nachtwandeln und Mondsudht. Schriften zur an=
gew, Seelenkunde, XVI. 1914, Zu Mond = Mutter vgl. Ist ein Kind einmal ab=-
gesetzt, so darf es nicht wieder angelegt werden, sonst wird es mondsüdhtig.
Thüringen. Wuttke: I. c. 393, Bevor das Kind abgesetzt ist, darf die Mutter
nicht verreisen, sonst wird es mondsüctig. D. s. ebenda, 392,
Imago V/2 3
Das unbewußte
Wissen in den
Tabu.
66 Dr. Geza Röheim
schauen, weil es sonst furchtsam wird (Schönwerth, Nallesgrün), oder
hocdhmütig (Hochofen), oder schielend (Karlsbad, Duppau) !. Die mit dem
Narzissismus eng zusammenhängenden Komplexe der aktiven und pas-
siven Schaulust erscheinen zum erstenmal in dem letzten Tabu, und zwar
als Talionstrafe des Sihbeschauens. In Disznöshorvät hält man dafür, daß
man dem Säugling keinen Spiegel in die Hand geben darf, weil er sonst
erblindet?, in Besenyötelke deshalb nicht, weil er sonst schielen wird. Der
an der Cserta herrschende Volksglaube schaltet in diesem Komplexe
wieder den Himmelsspiegel ein, denn hier heißt es, daß das Kind, das
man ins Mondlicht hält und in den Mond schauen Jäßt, schielen wird*.
Wie in Shönwerth und in Nallesgrün die Furdtsamkeit, hält man in
Kisvarda die Weinerlichkeit des Kindes für eine Folge des Indenspiegel-
schauens®. Die Furctsamkeit ist als Reaktionsbildung des narzißti-
schen Selbstgefühles zu deuten. In Ost- und Westpreußen wird dasKind,
das in den Spiegel schaut, krank, in Franken”, in der Bakonygegend und
in dem Bäcser Komitat muß es sterben®. Jetzt vermögen wir die ab=-
schrekende Wirkung des Spiegelbildes auh schon des Nakeren zu be-
stimmen; die Eigenliebe des Kindes erschauert, wenn es sein Spiegelbild,
d. h. sein zweites Ic in fremder Hand sieht. Das Spiegelschauen fördert
natürlich die Entwicklung des visuellen Typus, und zwar dessen extreme,
halluzinatorishe Form, die Gefühlsbetontheit des Selbstshauens dient
als motorisces Element bei der Wiederbelebung der Deckerinnerungen.
So haben es beispielsweise die Wenden nicht gerne, wenn das noch
nicht einjährige Kind besonders um die Mittag- und Abendzeit allein
bleibt? und in einen Spiegel sieht, da es Gespenster sehen und vor allem
ershreken würde'®. In Schlesien darf man das Kind unter einem Jahr
1 John: Sitte, Brauh und Volksglaube im deutschen Westböhmen. 1905. 109.
2 Fäbiän: Nepköltesi gyüjtemeny (Volksdichtung-Sammlung). Särospatak
F. F. 1914. 38.
3 Berze-Nagy: Babonäk etc. Besenyötelken, (Aberglaube und Gebräuche
in Besenyötelke.) Ethn. 1910. 26. Vgl. Dr. Julius Meszäros: A magyar kerek
tükör. (Der ungarishe Rundspiegel) Neprajzi Ertesitö. (Anzeiger der Ethn. Abt.
des ung. Nationalmuseums) 1914. 240.
+ Gönczi: Göcsej. 1914, 142,
5 Rubovszky: Nepköltesi gyüjtemeny Kisvarda közsegböl (Gesammelte
Volksdihtung aus der Gemeinde Kisväarda) Szabolcser Komitat. Eger. F. F. 34.
® Haberland: Spiegel. Zeitschr. f. Völkerps. XIII. 541. Wuttke: Volksaber=-
glaube. 1900. 392. Tettau und Temme: Die Volkssagen Ostpreußens, Litauens
und Westpreußens. 1837. 282.
” Haberland: Ebenda 341. E. L. Rochholz: Alemannishes Kinderlied
und Kinderspiel aus der Schweiz. 1857. 318.
8 J. Käldy: Bakonymegyei babonäk &s szöläsmödok (Aberglaube und Redens=
arten im Bakonyer Komitat). Ethn. 1908. 284. J. Nagy: Bäcsmegyei babonäk
(Aberglaube im Bäcser Komitat). Ebenda. 1896. 96. Vgl. Dr. Julius M&szäros:
Der ungarische Rundspiegel Neprajzi Ertesitö. 1914. 240,
°» Vgl. Haberland: Die Mittagsstunde als Geisterstunde. Zeitschr. f.
Völkerps. 1882. 310—324.
1° W, v. Schulenburg: Wendische Volkssagen und Gebräuche. 1880. 233.
»Wenn Kinder unter einem Jahr in den Spiegel sehen, so bekommen sie Vor-
ahnungen und werden furhtsam«. Schulenburg: Wendishes Volkstum, 1882.
109. Läßt man ein Unmündiges in den Spiegel schauen, so wird’s ein Narr. Rochs
holz: Alemannishes Kinderspiel und Spiel in der Schweiz. 1857, 317.
Spiegelzauber 67
niht mit Blumen schmücken, noh in den Spiegel schauen lassen,
weil es sonst bald stirbt oder eitel wird, oder aber später außer-
gewöhnlihe Dinge (Gespenster) sehen wird‘,
Die folgenden Tabus betonen die fixierende Wirkung der nar-
zißtischen Einstellung, die sich tatsächlich jeder psychisch determinierten ?
Wandlung entgegenstellen kann. In Felnemet, wenn das kleine Kind
in den Spiegel shaut, wird es shwer zahnen®. In den Komitaten
Nögräd* und Bäcs® wachsen dem in den Spiegel schauenden Säug-
ling die Zähne nicht aus‘. In Schwaben wird das kleine Kind, das
1 P. Drechsler: Sitte, Brauh und Volksglaube in Schlesien 1903, I, 212.
? Die unbewußte kollektive Apperzeption macht keinen Unterschied zwischen
körperlichen und seelischen Erscheinungen, hier ist also alles psychisch determiniert,
> Szekely: Magyar Nephagyomänyok Gyüjtemenye (Sanımlung ungarischer
Volksüberlieferungen). Eger. F, F. 1914. 18.
* Kaunitz: Babonäk (Aberglauben) Magyar Nyelvör. II. 277.
5 Nagy: Bäcsmegyei babonäk <Aberglauben im Bäcser Komitat). Ethn,
1896. 96, Meszäros: Der ungarische Rundspiegel Neprajzi Ertesitö. 1914, 240,
% Der Zahn ist hier wie so oft ein Penissymbol. Vgl. Stekel: Die Sprache
des Traumes. 1911. 221—231. Das mit einem Zahn geborene Kind wird glücklich
sein und Zauberer werden, aber nur wenn es im Alter von sieben Jahren im
Ringen mit den älteren Zauberern (tältos) den Zahn zu bewahren vermag td. h.
wenn es sih nicht kastrieren läßt). Istvänffy: A borsodi maty6 n&p &lete (Leben
des Matyövolkes in Borsod), Ethn. VII. 364, Ipolyi: Magyar Mythologia (Un-
garishe Mythologie). 1854. 449, Das Zahnausshlagen und die Riten der Circum-,
beziehungsweise Subincisio sind gleihwertige Bestandteile der australischen Männer=
weihen. Vgl. über Beschneidung als Kastrationsäquivalent Reik:; Die Pubertäts-
riten der Wilden. Imago. 1915. 125. Über Beschneidung = Haarabschneiden =
Zahnausschlagen bei Primitiven und Kindern, vgl. S. Freud: Totem und Tabu.
1913. 141. «Siehe aucı weiter unten über Nägelabschneiden.) Es ist bezeichnend,
daß bei den Gringai die Mutter den ausgeshlagenen Zahn des Knaben auf-
bewahrt (A. W. Howitt: The Native Tribes of South-Bast Australia, 1904.
575), wohl als symbolishen Ersatz des ihr endgültig entrissenen Knaben.
Desgleihen bei dem Kamilaroi J. Fraser: The Aborigines of New South
Wales. 1892. 14. Vgl. die Wenden, bei denen die Mutter den Zahn
des Knaben, der Vater den des Mädchens verschluckt. (Ploß-Renz: Das
Kind. 1912. I. 53. 58) Die Kaitish werfen den ausgeschlagenen Zahn
in die Richtung des »Alcheringa Lagerplatzess der Mutter. (Spencer and Gillen:
The Northern Tribes of Central Australia. 1904. 589. Alcheringa Lagerplatz= die
Gegend, wo sich in der mythishen Urzeit die Heroen aufhielten, deren einer sich
in der Mutter reinkarniert hat.) Nach Kaitish und Unmatjera Überlieferung bradhten
die Alcheringa-Heroen ihre Vorhäute in ihren Nanjabäumen (Lebensbaum) unter.
Derselbe. Ebenda. 341. »Am Goulbourn River sieht man eine ungewöhnliche An-
zahl abgestorbener Bäume. Jeder tote Baum repräsentiert ein Mitglied des erloschenen
Stammes. Die Zähne werden bei der Initiation ausgeschlagen und der Mutter über=
geben, sie verbirgt die Zähne in den Rinden eines jungen Gummibaumes.« (Zu
Mutter und Baum vgl. Jung: Wandlungen und Symbole der Libido. 1912, 240,
254.) »Im Falle nun die Person, welcher der Baum auf diese Art gewidmet ist,
stirbt, wird vom Fuße die Rinde abgestreifts, R. Oberländer: Die Eingeborenen
der australischen Kolonie. Globus IV. 281. Die Kastrationsbedeutung des Zahn-
ausschlagens läßt diese Gewohnheit als Strafe oder als Zeihen der Sklaverei er=
klärlih erscheinen, R. Lasch: Die Verstümmlung der Zähne in Amerika. Mitt.
d. anthr. Ges. in Wien. 1901. S. A. 16. H.H. Bancroft: The Native Races of
the Pacific States of North America. 1875. I. 764. Vgl. auh H. von Ihering:
Die künstliche Deformierung der Zähne. Zeitschrift für Ethnologie. XIV. 1882,
213—262. J. G. Frazer: Totemism and Exogamy. 1910. IV. 180—195.
5°
Narzißmus und
Fixierung.
68 Dr. Göza Röheim
man zum Fenster schiebt, niht wacsen!, In Panjab dürfen Kinder,
besonders wenn sie im Wachsen sind, nicht in den Spiegel schauen‘.
Eine Gruppe der Verbote bezieht sih auf das Sprachvermögen. In
Mecklenburg darf das kleine Kind nicht in den Spiegel shauen, weil
es sonst im Reden schwerfällig wird?. In Ostpommern lernt das
Kind unter einem Jahr das Reden nicht, wenn es in den Spiegel
schaut‘. In Göcsej läßt man nicht zu, daß der ganz junge Säugling
in den Spiegel schaue, weil ihm sonst die Sprache versagt’. In
Gibraltar heißt es, daß, wenn man das Kind vor dem Spiegel
wäscht, lernt es erst spät reden®. In Somlöväsärhely darf man den
Säugling nicht vor den Spiegel stellen, weil er das Reden nicht
lernt‘, In Nagyszalonta darf das kleine Kind, so fange es noch
nicht reden kann, nicht in den Spiegel shauen, weil es sonst mit
einem Male zu reden beginnt, dann aber für immer stumm bleibt®.
»Wenn ein Kind in den Spiegel sieht, so nicht sprechen kann,
ist nicht guts®. In Nagypalugya glaubt man, daß das Kind
stumm!®, in Meclenburg, daß es stottern wird'!, in Rußland, daß
es spät reden lernt!?., Im Voigtland dürfen Kinder unter zwei
Jahren nicht miteinander spielen, weil sonst das eine schwer
reden lernt‘, Hier übernimmt das eine. Kind als Doppel-
gänger des andern die Rolle des Spiegelbildes. Bezeichnend ist
folgende Angabe: noch nicht einjährige Kinder sollen einander
nicht küssen, weil sonst keines das Reden erlernt (Karlsbad,
1 Grimm: Deutshe Mythologie. III. 435. Vgl. J. W. Wolf: Beiträge zur
deutschen Mythologie. 1852. I. 208.
® Mündlich mitgeteilt vom Herrn Umrau Sing Shergill: Vgl. »A dild
is never shown a looking glass ...... if he sees his reflection, he will become
unwell. If however he insists upon having it, it will be turned the reverse side«.
M. N. Venkataswami: Hindu Notes, Folk-Lore XI, 218.
>» K. Bartsch: Sagen, Märchen usw. aus Meclenburg. 1880, II. 53.
* ©. Knoop: Volkssagen, Erzählungen, Aberglauben und Märchen aus
dem östlihen Hinterpommern. 1885. 156.
5 Gönczi: Göcsej, 1914. 143.
® Seligmann: Der böse Blick. 1910. I. 180,
” L. Nagy: Nephit, babonäk, &s nepszokäsok Somlöväsärhelyen. (Volks=
glauben, Aberglauben und Volksbrauh in Somlöväsärhely.) Päpa. F. F.
1914. 4.
8 S. Oltyän: Babonagyüjtemeny (Aberglauben-Sammlung) Nagyszalonta
F.F.I.a. Vgl. den plötzlich zum Reden gebrachten stummen Wecselbalg. Gönczi:
Göcsej, 1914. 319. Grimm: Deutsche Mythologie, 1875, I. 388.
° Grimm: Deutshe Mythologie. 1878. II. 477. Aus des uralten jungen
Leiermatz lustigem Korrespondenzgeist. 1668. p. 170—176.
1% Istvanffy: Liptömegyei töt babonäk. (Siowakischer Aberglauben im Lip=
tauer Komitat.) Ethn. 1912. XIII. 35. Dr. Julius Meszäros: Der ungarishe Rund-
spiegel Neprajzi Ertesitö. 1914. 240,
sa EEE Volksaberglaube. 392. Haberland: Spiegel. Zt. f. Vps.
12 Dr. Julius M&szäros: A magyar kerek tükör. (Der ungarishe Rund-
pie. Sean Ertesitö (Anzeiger der Ethn. Abt. des ung. Nationalmuseums).
ıs Köhler: Volksbraud. etc. im Voigtlande. 423. Ölsnitz.
Spiegelzauber 69
Duppau)!. In Mecklenburg: wenn zwei Kinder, die die Wörter
noh nicht richtig auszusprechen vermögen, einander küssen, werden
sie niemals richtig reden lernen?. Der Abwehrcarakter des Tabu
gegen die narzissistishe Fixierung geht deutlih aus der Fassung
aus Eger hervor, der gemäß das Kind nicht in den Spiegel shauen
soll, bevor es reden kann, weil es sonst das Reden niemals
erlernt?.
Um aber das Inhaltlihe des Fixierungsbegriffes näher zu be-
stimmen, muß ich auf eine andere, wenn auch vorläufig hypothetische
Determinante hinweisen. Laut der Mecklenburger Angabe wird das
in den Spiegel schauende Kind nicht stumm, sondern ein Stotterert,
Nun ließe sich aber auh nach unveröffentlihten Forschungen Freuds
das neurotishe Stottern aus der analerotishen Zurückhaltung der
Wörter erklären®. Den Zusammenhang zwischen der analen Erotik
und dem Narzissismus hat Freud schon früher festgestellt‘, er läßt
sih vielleiht noch augenfälliger mit folkloristishem und ethnologi-
schem Material beleuchten‘. Von unseren Tabu wären die folgen-
den in diesem Zusammenhange zu erwähnen: In Semjen wird das
vor den Spiegel gehaltene Kind fausig®. In Diösgyör: wer nadts
1 John: Sitte, Brauch und Volksglaube im Deutshen Westböhmen. 1905.
209, Das zweite Kind entspriht auch der Todesbedeutung des Doppelgängers.
Wenn in Wales Kinder, die noch nicht reden können, einander küssen, wird das
eine von ihnen binnen einem Jahre sterben. Trevelyan: Folklore und Folk-Stories
of Wales. 1909. 265. Kinder unter einem Jahre dürfen einander nicht anfassen,
oder küssen, oder nicht miteinander spielen, sonst lernt eines derselben nicht sprehen
(Schlesien, Wetterau, Böhmen, Voigtland) oder stirbt (Thüringen) oder beide
wachsen nicht mehr (Erzgebirge). Wuttke: Der deutsche Volksaberglaube. 1900.
394, J. W. Wolf: Beiträge zur deutschen Mythologie. 1882. I, 208.
» K, Bartsch: Sagen, Märchen und Gebräuche aus Medlenburg. 1880, II. 51.
Ein neugeborenes Kind soll ein anderes, das noch nicht reden kann, nicht küssen,
denn sonst wird das Neugeborene schwer reden lernen. Derselbe: Ebenda. II, 42.
» P, Läzär: Gyüjtese. Eger. F. F. 66. Ebenso darf in Pamproux das Kind
noch nicht in den Spiegel schauen, wenn es noh nicht reden kann, weil es sonst
stumm bleiben wird. Souche&: Croyances. 1881. ex Seligmann: loc. cit. I. 180.
* Das Kitzeln ist gleichfalls eine Reizung der erotishen Zonen, (Vgl.
I. Sadger: Haut-, Schl:imhaut- und Muskelerotik. Jahrbuch für psychoanal. For-
schungen. 1912. III. 528. »Wenn’s einer Frau im Anus juckt, so wird sie von
den Männern gelobt.« S. Revai: Baranyai babonäk. Ethn. 1905. 297.) Das Kind
darf man nicht kitzeln, weil es stottern wird. Rochholz: Alemannisches Kinderlied
und Kinderspiel aus der Schweiz. 1857. 318.
5 Dr. S. Ferenczi: Schweigen ist Gold. Int. Zeitschrift für ärztliche Psycho-
analyse. 1917.
® Freud: Sammlung kleiner Schriften zur Neurosenlehre. 1913. III. 50. 216.
? Ich meine damit, aus der europäischen Volkskunde: die Schätze tragenden
Kobolde, aus der allgemeinen Ethnologie: den Krankheitszauber vermittels Körper-
ausscheidungen und Abfälle, deren Behandlung in diesem Sinne ih mir vorbehalte.
‚ ° K. Sütö: Lakodalmi köszöntök nepdalok, nepmesek &s babonak gyüjte-
menye (Sammlung von Hochzeitssprühen, Volksliedern, Volksmärcen und Aber
glauben), Särospatak. F. F, 1915. 175. Vgl. den feurigen Drachen, der die Menschen
mit stinkendem Schmutz, mit Pferdemist (Oldenburg, Meclenburg, Thüringen)
oder mit Läusen und Ungeziefer übershüttet. Wuttke: loc. cit. 45. In Wetterau,
wenn’s einem von Läusen träumt, so bekommt man Geld. J. W, Wolf: Beiträge
zur deutschen Mythologie, 1852. I. 239,
Analerotik.
Spiegelschau
er Kinder.
Tg 0 I 0 en
70 Dr. Geza Röheim
in den Spiegel schaut, wird magenleidend!, Ein Kind muß abends
nicht in den Spiegel sehen, sonst steht der Teufel hinter ihm?. Nah
den auf das Kindesalter bezüglihen Spiegeltabus können wir auf
jene Riten übergehen, an denen sich der hinter der Hemmung ver-
borgene Wunsch dartun läßt. Während in den behandelten negativen
Riten das Kind dem Spiegel gegenüber passiv magisch war, d.h.
Objekt einer magischen Wirkung, läßt die nun folgende Gruppe das
Kind in einer aktiv magischen Situation erscheinen, wie es auf
dem Wege des Spiegels eine magishe Wirkung auf die Spiegel-
bilder der Dinge ausübt,
b) Positive Riten.
Wenn in Indien jemand Unsichtbares sehen will, behält er laut
der Sämavidhanabrahmana (Handbuch der altindishen Magie 3,
4, % ein noch nicht mannbares Mädchen“ und einen Spiegel eine
Nadt hindurch bei sich, und singt über den Spiegel einen Zauber-
sprudh, Bei Anbruch der Morgendämmerung wiederhole er die Be-
shwörung, wishe sich den Mund ab® und befehle dem Mädchen
1 Szekely: Magyar nephagyomänyok gyüjtemenye (Sammlung ungarischer
Volksüberlieferungen). Eger. F. F, 1914, 19.
® Grimm: Deutsches Wörterbuch. 1899, X, 2226, Nach Schütze: IV. 164, Auf
Analerotik deutet das Erscheinen des Teufels hinter dem Kinde, worüber weiter unten,
® Die aktive und passive Magie, desgleihen die positiven und negativen
Riten sind verwandte Ausdrücke, die ih hier als termini technici einführen möchte.
Eine nähere Untersuchung des Gegenstandes würde dartun, daß stets dieselben
Objekte und Subjekte, von denen die magishe Wirkung ausgeht, zugleich der von
anderen ausgehenden magischen Wirkung am stärksten ausgesetzt sind. Das ist bloß ein
Sonderfall des Gesetzes der psychischen Polarität oder Ambivalenz. Vgl.
L. Kaplan: Grundzüge der Psychoanalyse, 1914. 174, Derselbe: Psycdhoanalytische
Probleme. 1916. 1—16. (Nadhträglih bemerke ich die Einteilung in negative und
positive Riten schon bei A. van Gennep: Les Rites de Passage. 1909. 11.)
* »Kanyäm adrstarajasams, Böhtlingk bringt das Beiwort mit dem Worte
»adarsa« (Spiegel) in Zusammenhang und übersetzt es mit »blanks, Zachariae:
Zur indischen Witwenverbrennung, Zeitschr. d. V. f. Volkskunde. 1905, 84. Viel-
leicht ist das jungfräulihe Mädchen gleichzeitig leuchtend und strahlend, da sie ihr
eigenes narzißtisch idealisiertes Ebenbild noch nicht verloren hat? Die Galeläresen
glauben, daß heranwachsende Knaben und Mädchen nicht in den Spiegel schauen
dürfen, weil der Spiegel sie ihrer Schönheit beraubt. ]J._G. Frazer: Taboo and the
Perils of the Soul, 1911. (Golden Bough, Part. II.) 93. Zitiert nah I. van Baarda:
Fabelen, Verhalen en Overleveringen der Galelareezen. Bijdragen tot de Taal-
Land- en Volkenkunde van Nederlandsch=Indie. XLV. 1895. 462, Im rumänischen
Märden kommt ein Spiegel vor, der den hineinschauenden Helden all seiner Kraft
und Schönheit beraubt. L. Sainenu: Basmele Romane. 1895, 552. 553,
5 Dieser Satz ist zumindest zweideutig. Vergleihe zum Zusammenhang
zwischen Coitus und Spiegelschau folgendes aus den ungarischen Hexenprozeßakten.
Der Seher erblikt in seinem Nagel die Genitalien dessen, der den Schatz versteckt
hat und daß dieser dabei mit seiner Frau den Beischlaf ausübte. Den Schatz kann
nur der heben, der beim Graben dasselbe tut. Komäromy: Magyarorszägi Bo=s
szorkänyperek, Okleveltära. (Ungarländische Hexenprozeßakten.) 1910. 251.
° Er entfernt die gefährlichen Spuren der magischen Worte. So pflegt z. B.
derjenige, welcher Übles geträumt hat, sein Gesicht abzuwischen. H. Oldenburg:
Die Religion der Veda. 1894, 490, oder er badet. I. von Negelein: Der Traum=
schlüssel des Jagaddeva. 1912, 35,
u —
Spiegelzauber ‘ 71
»Siehe« (d. h. in den Spiegel oder in ein mit Wasser gefülltes Ge-
fäß) und das Mädchen wird sehen!. Laut Bellanger de Lespinay
pflegt man in Pondichery aud heute noch durch einen kleinen Knaben
oder eine Jungfrau wahrsagen zu lassen in der Weise, daß man sie
nachts in einer verlassenen Pagode in ein mit Öl beschmiertes glänzen-
des Kupfergefäß schauen läßt?. Die kanonishen Schriften des Bud-
dhismus nennen das Spiegelshauen »ädäsapafha«, d. h. »Spiegel-
befragen«, den damit parallelen Ritus »kumäripafihas, das »Mädcden-
befragens. Die Gottheit, an die man die Fragen richtet, steigt in
den Spiegel, beziehungsweise in das Mädcden®. Die Malaien glauben,
daß nur ein Kind, welhes schon seiner Jugend halber noch nicht
gelogen haben konnte, im Wasserspiegel die verborgenen Dinge
sehen kannt. Leo Africanus berichtet über die Zauberer in Fez
»Alii aquam catino vitreo infusam olei guttula admixta, Jucidam et
transparentem reddunt, in qua tamquam in speculo daemones se
videre affırmant, . .. quorum nonnulli in itinere sunt, ali rivum
transmittunt, alii terrestre proelium gerunt, quos ubi quietos videt,
de rebus quas scire cupit, interrogat; daemones porro nutibus
respondent . ... Vitreum illud vas pueris interdum vix octavum
egressis annum in manum dant, a quibus num hunc vel illum dae=
monem viderint, interrogant«°. Die Hindus und indischen Moham-
medaner nennen den Zauberspiegel »unjoun«, d. h., »lampe noire«.
Wollen sie die Art der quälenden Krankheit erfahren, so geben sie
einem Kinde ein »unjoun« in die Hand, und dort sieht das Kind
die gräßlihe Fratze des Krankheitsdämons°. Der Falashazauberer
schreibt das Wort »Allah« in den Sand und ein junges Kind muß
starr auf die Buchstaben schauen und den Geisterkönig anrufen.
Der letztere erscheint, fährt in den in Trance gefallenen Knaben
und beantwortet die an ihn gerichteten Fragen. In der Regel stellt
man vor den Knaben Wasser oder einen Spiegel, damit er statt
in den Sand, dorthinein schaue’. Ähnliches finden wir auch im
ı Zachariae: Zur indishen Witwenverbrennung. Zeitschr. d. V. f. Volksk.
1905. 84. Vgl. auch die Tintenschau. Der Wahrsager im Panjab schreibt Zauber=
sprüche auf Papier und gießt darüber einen großen Tintenflek, Er gibt einem
kleinen Kinde Blumen in die Hand und sagt: »Zitiere die vier Schutzgeister«.
Crooke: Popular Religion and Folklore of Northern India, 1896. 153. 154. Vgl.
Lefebure: Le miroir dencre dans fa magie arabe. Revue Africaine. 1905. 209. eit.
Doutt&: Magie et Religion dans !’Afrique du Nord. 1909. 388. E, W. Lane:
Sitten und Gebräuche der heutigen Ägypter (übers. Zenker). II. 93.
®H. Froidevaux: Une seance de divination A Pondichery. Actes du
Onzieme Congres international des Orientalistes. 1897. 271-276.
3T, W Rhys=-Davids: Buddhist Suttas. Sacred Books of the East. XI.
1881. 199. Zachariae: Loc. cit. 84. R. O. Franke: Dighanikaya. 1913. 20.
ı W, Skeat: Malay Magic 1900, 539.
s Leo Africanus: Africae descriptio. 1632. (Elzevir.) 335, 336.
8 Maury: La Magie et [Astrologie dans l’Antiquit& et au Moyen Age.
1864. 441 nach Qanoon e isfam publ. Herklots. 378.
? Et. Combe: Quelques coutumes des populations Soudanaises. Revue
de [Historie des Religions 1911. 324. Vergleihe: E. Doutte: Magie et Religion
dans l’Afrique du Nord. 1909. 590.
re EBERLE
72 Dr. Geza Röheim
> = ni ee MEERE: VS WEEEN
Altertum des Okzidents, Varro erwähnt es mit der Bemerkung,
diese Art Wahrsagerei stamme aus Persien!, Didius Julianus be-
nützt es, um des Schlachtes Ausgang zu erfahren set ea, quae ad
speculum dicunt fieri, in quo pueri praeligatis oculis incantato
vertice respicere dicuntur. Julianus fecit, funcque puer vidisse dici-
tur et aduentum Severi et Juliani decessionem«:. Orientalishes und
Okzidentalisches trifft sich in schönster Harmonie in den demotischen
auberpapyri, der Magier sitzt in einem finstern Raum auf zwei
neuen Ziegeln, zwischen seinen Füßen der Knabe, dem er die
gen mit der Hand verdeckt. Der Spiegel wird hier nicht erwähnt?.
ines der Geheimnisse von »Albert fe Grand« besagt, man müsse
in das mit klarem Wasser gefüllte Glasgefäß ein »enfant vierge«
hineinshauen lassen’, Aus doctor Hartliebs «leibarztes herzog
Albrehts von Bayern. 1455) »Bud aller verboten Kunst« entnimmt
Grimm folgendes: »cap. 88. Die maister und irgleihen die treiben
die kunst auch in ainem schlechten spiegel und lassen kinder dar-
ein sehen, »auh treibt man die sach in ainem schönen glanzen
pulierten swert«. »So soll das ain swert sein, das vil leut damit
ertöt sein, so komen die gaist dester ee und pelder.« »wann man
und beginnt auf dem ihm bezeichneten Ackerfeld oder Gartengrund
herumzugehen, bis es auf einem Fleck stehen bleibt und erklärt, der
! Augustinus: De Civitate Dei. VII. 35, (I, Stoer. 1596. p. 435.)
? Spartianus: Didius Julianus. VII, 9. (Historiae Augustae Scriptores.
Sex. Argentorati. 1677. 163.)
> A. Abt: Die Apologie des Apuleius von Madaura. 1908. 236, 237.
* Brand: Popular Antiquties of Great Britain I. 274,
5 E. Lambelet: Les Cröyances populaires au Pays d’Enhaut. Schweize-
risches Ardiv für Volkskunde XI. 1908, 122,
° J. Grimm: Deutsche Mythologie. III. 1878. 431. Ähnliches über »ge=-
pulierten cristallen oder parillen« ebenda.
? Szekely: Magyar Nep hagyomänyok Gyüjtemenye (Sammlung Unga=-
tischer Volksüberlieferungen). 1914. Eger F. F: 11.
® M.M.R. Varga: Szarvasvideki babonäk, Aberglauben aus der Gegend
von Szarvas.) Ethn. 1908. 162
° B. Szivös: Alföldi kinoskeresök (Schatzsucher im Alföld). Ethn. XXIII, 34,
u Hr 1 Se u ee er ae
r Spiegelzauber 73
Schatz bestehe aus Gold oder Silber, befinde sih in einem Faß
oder in anderem Gerät, sei zwei Klafter tief unter der Erde ver-
graben und werde von einem Hunde solcher oder solcher Rarbe
bewacht. Dann beginnt man die Erde aufzugraben und wenn man
sih der angegebenen Tiefe bereits nähert, sucht man einen Hund,
der dem von dem Kinde erwähnten in der Farbe ähnlich ist, tötet
ihn und schmiert sein Blut auf dem Boden der Grube, In Pärkäny
hatte man im Erdboden eines Baumes Gold vermutet. »Man rief
ein magisch begabtes (tältos) Mädchen, es möge mit dem Stahl-
spiegel schauen. Das Mädden sieht, daß unter der Erde an einem
großen Balken mit einer Kette ein Kessel angebunden ist, in diesem
befindet sih das Geld. Auf dem Balken sitzt ein Büffel, der nachts
auf dem Grunde des Bauern stets zur Tränke geht. Sie können
aber den Schatz nicht erreihen, denn wie sie graben, geht der
Büffel mit dem Balken und dem Kessel immer weiter, John of
Salisbury verzeichnet, als er noh Kind gewesen, habe ihn ein
Geistliher zuweilen in einen mit Chrisma_ bestrichenen glänzenden
Kelh schauen lassen, damit er wahrsage. Die anderen Kinder
hätten denn auch in dem Kelch verschiedene Nebelbilder ge=-
schaut, ihn aber, der stets nur einen glatten Kelch gesehen,
habe man später gar nicht mehr gerufen®. Den Dieb oder den
gestohlenen Gegenstand kann man ausfindig machen, wenn
man einem »unschuldigen« Knaben ein mit Weihwasser gefülltes
Glasgefäß in die Hand gibt und der Knabe mit dreimaliger
Verbeugung sagt: »Du heiliger Engel, Du schneeweißer Engel,
durch meine Keuscheit und deine Heiligkeit zeige mir den Dieb«*.
1 Jancsö &s Somogvi: Arad Värmegye Monographiäja (Monographie
des Komitates Arad) III. 1912. Abt. 1. S. 344, Wenn man den Schatz nicht findet.
so hat sich das Kind in der Farbe des Hundes geirrt: Die schatzhütenden Tiere
sind Seelentiere, also wohl symbolische Vertreter der Vaterimago. Den Schatz im
Schoße der Mutter Erde erlangt man aber durch das Töten des schatzhüten-
den Hundes, bezüglicherweise seines Ebenbildes, mit anderen Worten des Vaters,
Beim erwachsenen Manne kehrt das Motiv in der Retributionsform wieder: der
Graf muß seine Söhne verlieren, wenn er den Schatz heben will. R. Kühnau:
Sclesishe Sagen. III. 1913. 620. Die zu opfernden Hühner (Vgl. F. S. Krauss:
Volksglaube und religiöser Brauch der Südslawen. 1890. 103. B, Szivös: Alföldi
kincskeresök (Schatzsucher im Alföldy. Ethn. XXI. 30. In einer finnischen Varis
ante wird das Blut von »9 Brüderns gefordert, doc der betreffende berichtigt die
Forderung »9 Hähnes. A. Bän: A kincskereses a nephitben, (Schatzsuhen im
Volksglauben.) Ethn. 1915. 34. In Torda hütet eine Henne mit ihren Küdlein
(Ersceinungsform der Hexe) das Geld und es gehört das Blut von neun Brüdern
(d. h. 9 Küdhlein) dazu, um es zu heben. Jankö: Torda, Aranyossz&k, Toroczkö
magyar nepe, 1893. 244. Scheftelowitz: Das stellvertretende Huhnopfer (1914)
sind wohl symbolische Äquivalente für ein Menschenleben.
.... Györffy: Babonäs hiedelmek a feketekörösvölgyi magyaroknäl (Aber-
slubiede Anschauungen bei den Ungarn im Tal der Schwarzen-Körös). Ethnogr.
® Soldan-Heppe: Geschichte der Hexenprozesse. 1911. I. 97. Bastian:
Der Mensch in der Geschichte. 1860. II. 149.
4 Montanus: Die deutschen Volksfeste, Volksbräuhe und deutscher Volks»
glaube. 1854. 117 ex Fehrle: Die kultishe Keuscheit im Altertum, 1910. 59,
Nagelschau.
74 Dr. Göza Röheim
Ganz dasselbe berichtet Rimuald: man nehme einen Spiegel
oder eine Phiofe und eine Weihkerze und indem man die Formel
»Ange blanc, ange saint, par ta saintet€ et par ma virginite,
montre moi qui a pris telle chose« hersagt, erblikt man das
Bild des Diebes in der Phiole!, Der »Höllenzwangs verpflichtet
denjenigen, welcher die Spiegelshau unternehmen will, zu_drei-
tägiger Enthaltsamkeit?:. Wollte man den Aufenthalt des Diebes
durh die Kristallschau ermitteln, ließ man einen etwa zehnjährigen
Knaben, der noch unbeflekt und ein ehelih geborenes Kind
sein mußte, in den Kristall schauen®. In Pembridge ließ man
im Jahre 1671 ein unschuldiges Mädchen (oder einen unbefleckten
Knaben)» um Mitternaht in den Kristall schauen, damit sie
darin den Dieb sehen mögent. Bodinus erzählt den Fall eines
Nürnberger Bürgers, der ein junges Kind in den Kristallring
schauen ließ >.
Im Mittelalter zitierte man Erscheinungen niht nur in den
Kristall und in den Spiegel, sondern auh in die flahe Hand. Im
finsteren Zimmer schmierte man die Hand mit Öl und Ruß ein
und beim Licht der Kerzen sah man die Erscheinung. Wenn der
Betreffende das Gesiht aus der Hand eines Knaben schauen wollte,
flüsterte er dem Kinde ins rechte Ohr, dreimal die Namen »Gar-
diab, Fardiar, Ipodhars®. Spanische Hexen zeigten das gewünschte
Gesicht, ob es nun ein Lebender, oder ein Toter sein modte, in
einem Spiegel oder im Nagel eines Kindes’, In den Hexenprozeß-
akten von Debreczen tritt neben dem Stahlspiegel, durch welchen
das Mädden die Schätze erbliken soll, als subsidiärer Ritus auch
das Kratzen der beiden Daumennägel auf‘. In Toulouse las ein
t L. Maury: La Magie et L’Astrologie dans l’Antiquite et au Moyen
Age. 1864. 441 nach Rimuald: Consil. in caus. graviss. 414t. IV. p. 254. Vgl.
bei Cardanus: De rerum varietate. 1556. p. 1089 »per tuam sanctitatem et
meam virginitatems. .
2 Kiesewetter: Faust in der Geschichte und Tradition 1893. 464, 465
Vgl. ebenda, 490.
en Hieron. Cardanus: De rerum varietate. 1556. 1088. Lib, XVI.
cap. 93.
% Leather: The Folklore of Herefordshire. 1912. 66.
5 J. Bodin; De Magorum Daemonomania. Vom Ausgelasne Wütigen
Teufelsheer Alferhand Zauberern. etc. 1586. Ebendort auch Nagelschau. Es fohnt
sich die Erklärung Bodinus über die Rolle der Jungfräulichkeit in der Magie an-
zuführen: »Dann dieser Unrein Geist nimmt sih an als belieb er au die reine
Jungfrauschaft, damit er Leut durch solche Mittel von ihrer zarten Jugend auff
mög an sich ziehen: Auch zum theil dardurh die Vermehrung des Mensch-
lichen Geschlechts hinderen und zerstören. Und nicht desto minder und er
deß reitzt er die Personen, so er gewinnet zur Sodomy und unkeusch-
heit wider die Natur an.s p. 227.
6 Kiesewetter: Faust in der Geschichte und Tradition. 1893. 490.
” Schorfer: Die Novellen des Cervantes. 1907. II. 237 ex Soldan-
Heppe: Geschichte der Hexenprozesse. II. 158.
® F. Szell: Törvenykezesi adatok alföldi babonäkröl. (Gerichtsakten über
Aberglauben aus dem Alföld., Ethn. 1892. III. 113.
Spiegelzauber 75
Portugiese aus dem Nagel eines Kindes verborgene Dinge!. Laut
Bodinus kann das Nagelshauen nur »ein jung Kind, das nie kor-
rumpiert wordens, vollbringen®?. In Märmaros finden wir wieder das
siebente Kind, das diesmal nicht mit dem Stahlspiegel, sondern
durch den Mittelfinger der rechten Hand das Geld erblidt®, Man
muß den Nagel des Mittelfingers der rechten Hand mit Mohnöl
bestreihen und durch diesen hindurhschauen‘. In der Plattensee-
gegend bestreiht man den Nagel des siebenten Kindes mit
Eidedhsenöl und in diesem sieht es das verborgene Geld’. In
Aranyosszek bestreiht man dem siebenten Kind den bunten Nagel
mit Leinöl, führt es abends hinaus in die Gemarkung und wo es
laut aufkreischt, dort befindet sih der Schatz‘. Im Szöklerland:
wenn man dem siebenten siebenjährigen Kinde den Daumennagel
mit weißem Mohnöl bestreiht und es dann unter ein Leintuh
hüllt, vermag es anzugeben, wo sich das Geld in der Erde befindet’.
Gleichfalls in Aranyosszek muß man um den Annentag herum bei
Vollmond, vor der Morgendämmerung, auf dem Baucde kriechend
Springwurzel suhen, womit man sih den Nagel bestreicht, um
durch diesen hindurch das im Schoß der Erde verborgene Geld zu
shauen®, In Felsö Boldogfalva: wenn man dem siebenjährigen
Knaben den Daumennagel der rechten Hand mit Mohnöl bestreict,
wird das Kind, wie durh ein Glas durh den Nagel sehen und
den in der Erde vergrabenen Schatz finden®. Der oben angeführte
Doctor Hartlieb berichtet (1455) »Die kunst pyromancia treibt man
gar mit manigerlei weis und form. etlih maister der kunst nemen
ain rains kind und setzen das in ir schoss, und lassen das in seinem
nagel sehen und beschweren das chind und den nagel mit ainer
großen beswerung, und sprehen dan dem dind in ain ore driu
uncdunde wort der ist ains Oriel1% (cap. 83)«. Ferner »mer ist ain
! Hazlitt: Popular Antiquities 1905. I. 274. In hac oleo ac fulligine impolluti
pueri unguem illinebant et usque solem versus obverso certum quid submurmurantes
videbant que cupierant. Quendam militem Hispanum novi, qui Bruxellis in ungue suo
elassem e portu Corunnae soluentum et paullo post procellis vehementer afflictam
velut in speculo, clare ostendebat. M. Delrius: Disquisitionum magicarum libri sex.
1603. Tomus secundus. Lib. IV. C. II. Q. VI. Lec. IV. 6 Punkt. S. 170. 171.
? ]. Bodin: De Magorum Daemonomania 1586. 227.
® P. Visky: Babonak (Aberglauben), Nyelvör. VII. 206,
* Versenyi: Adalekok a gyermekröf valo magyar n£phithez. (Beiträge
zum ungarischen Volksglauben über das Kind.) Ethn. 1894. 111.
° J. Jankö: A balatonmelleki fakossäg neprajza. (Ethnographie der Ans
wohner des Balaton.) 1902. 408.
° J. Jankö: Torda, Aranyosszek, Toroczkö magyar nepe. (Das ungarische
Volk in Torda, Aranyosszek und Toroczkö.) 1893. 344.
an Benkö: Häromszeki babonak. (Aberglauben im Häromszek.) Ethn.
°J. Jank6: Torda, Aranyosszek. I. c. 1893. 344,
° D. Baläsy: Szekely kincsäsö babonäk. (Szekler Schatzgräber-Aberglauben.)
Ethn. 1897. 296. Udvarhelyer Komitat.
'° Vgl, »the spryte Oryance< im Kristall G. F. Black: Scottish Charms
and Amulets. Proc. Soc, Ant. Scot. XXVII, 436.
Keuschheit als
Vorbedingung
der Visionen.
76 Dr. Geza Röheim
trugenlicher fist in der kunst, das die maister nemen öl und russ
von ainer pfannen und salben audh ain rains Kind die haut... .
und heben die hand an die sunnen, da die sunn darein schein oder
sie heben kerzen gegen der hend und lassen das ind darein sehen«
(cap. 84, usw.)!. Geiler von Kaisersberg verzeichnet: Man habe den
Nagel eines Kindes mit Öl bestrihen, der Sonne zugewandt und
daraus gewahrsagt. Wenn man aber nicht in den Nagel des Kindes
schaut, muß wenigstens der Nagelbeshauer ein Kind oder eine un=
beflekte Jungfrau sein?.
Von dieser Ritengruppe ausgehend, können wir die Keusch-
heit als Bedingung des magishen Handelns, besonders beim
Schauen der verborgenen Dinge, als Steckenbleiben im visio-
nären Narzißmus — im Sinne einer nicht erreichten erotischen
Objektwahl erklären. Zum Fernshauen, zur Entdekung ver=
borgener Gegenstände dient in Indien ein Knabe, dessen Körper
günstige Omina zeigt?. In Nürnberg pflegten im sechzehnten Jahr-
hundert die Menschen einander damit zu bedrohen: »Rede die
Wahrheit oder ich gehe zu dem kleinen Mann!« Der kleine Mann
erschien im magischen Kristall und zeigte den Menschen alles, aber
das Männchen selbst konnte in dem Kristall nur ein unbefleckter
Knabe schauen‘. Laut der Lku’ügen Sage kann man auf dem
Berge Ngäa’k’un auc jetzt noch den Strik sehen, an dem sic
1 Grimm: Deutsche Mythologie. 1878. II. 431. Vgl. den Text bei S.
Riezler: Geschichte der Hexenprozesse in Bayern. 1896. 333. Vgl. ebenda, 330
über »Jdromancia« mit einem reinen Kind. »Am Sonntag vor Sonnenaufgang geht
man zu drei fließenden Brunnen und schöpft aus jedem ein wenig Wasser in ein
fauteres poliertes Glas... ., brennt Kerzen davor und tut dem Wasser Ehre
an wie Gott selber«.
2 A. Hermann: A köröm a nephitben. (Der Fingernagel in Volksglauben.)
Ethn. 1893. 119. E. L. Rochholz: Afemannishes Kinderlied und Kinderspiel
aus der Schweiz. 1857. 107. Rubin: Geschichte des Abergfaubens. 129, nad
Geiler von Kaisersberg: Ameis. Bl. 39. Das den Schöpfungssagen eigene
Motiv vom Verluste der Hornhaut als Folge des Verlustes der Unschuld, des
Sündenfalles entspricht völlig dem im Ritus nahgewiesenen Zusammenhang zwischen
Nagelschauen, Unbefledtheit und Kindheit. Psychologish einwandfrei ist die Auf-
fassung der Sage, die das Aufhören des sich selbst bewundernden, den ganzen
Leib als eine spiegelnde Fläche (Fingernagel) apperzipierenden Narzissismus vom
ersten Coitus her datiert. Die Hornhaut der Urzeit des Menschengesdledtes ist
natürlich eine Projektion der Kindheitserinnerungen ins Kollektive. Vgl. die Sage
bei Dähnhardt: Sagen zum alten Testament (Natursagen 1.). 1907. 226.
Munkäcsi: A szegedvideki magyar vilägteremtesi regek valtozatai. (Varianten
zu den Scöpfungssagen aus Szeged.) Ethn. V. 266, Schreiner: A vogul
kozmogönia eredetehez. (Zum Ursprung der wogulischen Kosmogonie.) Ebendort:
1892. 296. F. Gönczi: Göcsej. 1914. 181. Carra de Vaux: L’Abröge des
Mervailles. 1898. 76.
»>H. Tawney: The Katha Sarit Sagara. 1884. II. 149. Das oben Gesagte
bedarf allerdings einer einschränkenden Klausel. Die Visionen gehören teilweise
nicht mehr dem rein narzißtishen Stadium an, jedenfalls ist aber die Keuscheit
als Bedingung der Visionen mit Bezug auf Onaniephantasien zu deuten.
* Hartland: The Legend of Perseus. Il. 15, 16. Bertsch: Welt“
ei Volkssage und Volksbrauch. 1910, 138. Pröhle; Deutsche Sagen.
879. 232. ; :
Spiegelzauber 177
die irdishen Gattinnen der Sterne vom Himmel herunterließen. Aber
nur ein solher Jüngling kann ihn schauen, der jedes Tabu streng
einhält, viel badet und nocdı niemals ein Weib berührt hat!, Aud
den heiligen Gral kann nur der keusche Held erbliden?, Die
Zauberin und Seherin Ilona Borsi mied die Männer, »daß ihre
Kunst die Wirksamkeit nicht verliere«®. Kassandra, Pythia
und die vielen anderen Seherinnen des Altertums sind Jung-
frauen*, Gemahlinnen Apollos, eines Gottes, nämlich ihrer eigenen,
ins Übernatürlihe projizierten heterosexuellen Abspaltung®. Bei den
Shuswap konnte der herangewadsene Jüngling die Shamanenweihen,
die in der Traumerscheinung des Schutztieres gipfelten, nur dann
durhmaden, wenn er noch kein Weib berührt hatte, Sowohl bei
Knaben, als audı bei Mäddhen würde der geschledtliche Verkehr
die Materialisierung des Schutzgeistes, mit anderen Worten die
Vision, unmöglih machen‘. Bei den Haida nimmt der zur Sca-
manenweihe bestimmte nur sehr wenig Nahrung zu sih und ent=
hält sich gänzlich des Weibes. Schließlih trübt sich sein Geist ein
wenig, er redet unverständlihes Zeug und schaut verborgene Dinge”.
Dann wird er als Schamane anerkannt.
Die Rolle des mit dem Spiegel abwechselnden Fingernagels
beansprudt ebenfalls einige Worte. Vom Standpunkt des Narzissis=
mus ist der Nagel ein besonders geeignetes Objekt, denn außer
der spiegelnden Flähe wird ihm noch ein Libidozushuß, durch die
Zugehörigkeit zum eignen Leibe, zuteil. Bezeichnend ist der Schweiger
Valle slacbe, ein Kind, das noh nicht in den Spiegel geschaut
hat, könne in der linken Handflähe das eigene Antlitz schauen.
Man darf dem Kinde keinen Strauß in die nd geben, weil es
sonst eitel wird, »denn so oft sie dabei auf ihre Händden nieder-
schauen, beschauen sie sih selbst drinnen und lächeln mit herzlihem
ı F. Boas: Indianishe Sagen von der Nordpazifishen Küste Amerikas.
1895, 63.
2 Malory: Le Morte d’Arthur. Book. XIII. Ch. XVI, .
® Lehoczky: Beregvärmegye Monographiäja. (Monographie des Komitates
Bereg.) II, 1881. 248.
* Fehrle: Die kultishe Keuschheit im Altertum. 1910, 7. 78, et, pa.
® Vergleihe: Freud: Zur Einführung des Narzißmus. Jahrbuh für
Psychoanalyse. VI. 1914. 15.
° J. Teit: The Shuswap. (Jesup North Pacific Expedition.) 1909, 589, 590.
‘ Dawson: Report on the Queen Charlotte Islands. 1880. 127. Zitiert
nah Frazer: Totemism and Exogamy. 1910. II. 437, IR. Swanton: Contri»
butions to the Ethnology of the Haida <(Jesup North Pacific Expedition. Vol. V,
P. 1.). 1905. 40. Über die Enthaltung vom Coitus und die magishe und mystische
Bedeutung der Unbeflecktheit im allgemeinen, vgl. J. G. Frazer: Taboo and
the Perils of the Soul. 1911. 5, 6. 11. 142, 157, 158, 161. 163-167. 175. 178.
179. 181. 188. 191-198. 200-204. 207. 220. 221. 272. 293. Fehrle: Die kul-
tishe Keuscheit im Altertum. 1910. E, Crawley: The Mystic Rose. 1902.
188—190. 228. 343-346, Westermarck: The Origin and Development of
the Moral Ideas. 1908. II. 406-421. A. Abt: Die Apologie des Apuleus von
ur und die antike Zauberei (Rel, Vers, u, Vorarb. IV. 2.). 1908. 161.
184, b :
Die narzißtische
Bedeutung des
Nagels.
78 ET Dr. Geza Röheim
Wohlgefallen«!. Die auf dem Körper befindlihe spiegelnde Ober-
fläche steht in näherer Beziehung zum AÄutoerotismus, der sih nur
unter fangsamen Übergängen in den Kultus des vom eigenen Leibe
losgelösten zweiten Ihs, in den Narzissismus umwandelt. Des-
halb hält man in der Gegend an der Cserta dafür, das Kind er»
blike sich eine Zeitlang in den Fingern, könne sich aber hingegen
im Spiegel oder im Löffel nicht sehen. In Nagylengyel kann das
Neugeborne, bis man ihm nicht Geld, einen Spiegel oder ein Bi?
in die Hand legt, sih in der Handflähe schauen?. Von dem Kinde,
das im Traum fact, sagt man, es spiele mit seinem Schutzengel‘.
Der Schutzengel entspricht in der Sprahe der Psychoanalyse natür-
fih der narzissistishen Abspaltung. Der Szöreger Volksglaube
meint, mit dem Kinde unterhält sich sein Engel, auch dann, wenn
es nicht schläft, sondern auf die Finger schauend laht. Man sagt
dann auch, das Kind spiele mit seinem goldenen Apfel. In Öszent-
ivän spielt das Kind, wenn man es nicht in den Spiegel schauen
läßt, ehe es einen Zahn bekommt, mit dem goldenen Apfel, den
sein Schutzengel ihm zeigt; es laht dann auf und schaut auf die
Fingers. Während der Spiegel und der Schutzengel die symboli-
schen Vertreter des Narzissismus sind, weist das Abwedseln
des goldenen Apfels mit dem Spiegel auf die Rolle, welche
der Mutter-Imago in der Entstehungsgeshichte des Narzissismus
ı E,L. Rochholtz: Afemannisches Kinderlied und Kinderspiel aus der
Schweiz, 1857. 318. Zum Blumenstrauß, vgl. Kinder unter einem Jahre soll man
nicht abbilden und nicht bekränzen, ihnen überhaupt keine Blumen geben, sonst
sterben sie bald (Rheinlande, Westfalen, Thüringen, Schlesien, Süddeutschland), sie
dürfen nicht an Blumen riechen, sonst verlieren sie den Geruh (Erzgebirge).
Wuttke: I. c. 394. Das Sterben deutet wohl auf sympathetische Identifikation
mit der dahinwelkenden Blume, das letztere aber auf die Verdrängung der ur«
sprünglich übermäßigen Riechlust, welche wiederum ein Ableger der analerotischen
Triebe zu sein scheint. Vgl. »Sieht abends man bei Lichtershein, Nodh in den
Spiegel stolz hinein, Schaut reizend wie ein Blumenstrauß, Gifthauchend, Satanas
herauss. Steiger: Sitten. 139, bei Wander: IV. 693. ex Grimm: Deutsches
Wörterbuch. 1899. X. 2226. Blumen gibt man dem Kind in die Hand bei der
Tintenschau (miroir d’encre). Crooke: Popular Religion and Folklore of Northern
India. 1896. 153, 154.
2 Das Ei als Spiegel kommt in einer bogomilishen Schöpfungssage vor-
K. K. Grass: Die russishen Sekten. I. Die Gottesleute oder Chüsten. 1907. 633.
Vergleiche übrigens das Motiv »Rieseneiseele«, Röheim: A külsö lelek &s syno=
nimäi a nepmeseben. (Die Außenseele und ihre Synonima im Märden.) Ethn.
1915, 299. Köhler: Kleinere Schriften zur Märdenforshung. 1898. 57, 158-161,
348, 404. Frobenius: Zeitalter des Sonnengottes. 1904 391. Mogk: Das Ei
im Volksbraud und Volksgfauben. Zt. d. V. f. Vk. 1915. 217, 218. J. G. Frazer:
oa an Beautiful. (The Golden Bough. P. VIL) 1913. II. 106, 110, 125,
132, ö
> Gönczi: Göcsej. 1914. 142. »Geld« wird natürlih ebenfalls der
spiegelnden Oberflähe halber verwendet, außerdem aber führt eine Assoziations=
reihe von Geld zum Ei, wobei. das Mittelglied (Exkremente) der Verdrängung
anheimfällt.
+ L. Kälmäny: Boldogasszony, ösvalläsunk istenasszonya. (»Unsere liebe
Fraus, eine Göttin unserer Urreligion.) 1885. 21.
5 L, Kälmäny: Ebenda. 22,
Spiegelzauber 79
zukommt!, In Szöreg sagt man, solange das Kind nicht die Katze
fängt, spiele es stets mit dem goldenen Apfel?. Den goldenen Apfel
gebe die heilige Jungfrau, also die Mutter Gottes dem Kinde in die
Hand, »Christus der Herr hat mit dem goldenen Apfel gespielt, die
heilige Jungfrau hat ihm denselben in dieHand gegeben. Man nennt ihn
den goldenen Apfel des Jesuskindess?. Der Spiegel verdrängt den
oldenen Apfel, die Handflähe, den Fingernagel von seiner Stelle.
Die Schöpfungssage der Pawnee projiziert diese Spiegel-Nagelvor-
stellung auf die Götter. Tirawa erschafft den Menschen und gebietet
ihm, mit zusammengepreßten Daumen nah Norden zu weisen.
Auf dem Nagel des Daumens bleibt der Abdruk des Gesichts
der »vier Götter des Nordens« zurück. Im Ritus symbolisieren auf
vier Säulen gelegte Muscheln und eine Scheibe aus Muscheln die
auf dem Nagel des Urmenschen sichtbaren Göttergesihte und die
Götter selbst‘. Die Wichtigkeit, die dem Nagel vom Gesichtspunkte
des kindlichen Narzissismus, beziehungsweise bereits vom Auto-
erotismus innewohnt, zeigt schon die Verbreitung der Tabus des
Nagelschneidens5. In Göcsej darf man den Nagel des kleinen Kindes
1 Vgl. Sadger: Psydiatrisch-neurologisches in psychoanalytisher Beleuch«
tung. Zentralblatt für das Gesamtgebiet der Medizin. 1908. 11-12. Zitiert nad
O. Rank: Ein Beitrag zum Narzissismus. Jahrbuch. III. 411.
® Die erotishe Bedeutung des Apfels wird von Kälmäny sehr wohl erkannt,
wenn er ihn mit dem Brautapfel in Verbindung bringt. Kälmäny: Ebenda. 22,
Vergleihe des weiteren Röheim: A fuczaszek. (Der Hexenstuhl,) Neprajzi
Ertesitö. (Anzeiger des ethnographishen Museums.) 1916. 31-37. Der goldene
Apfel ist hier speziell die Mutterbrust, während die Katze der Vagina gleichzu-
Ben wäre. Siehe Röheim: A fuczaszek. (Der Hexenstuhl.) Ebenda. 1916,
® L. Kälmäny: Boldogasszony. 1885. 23, Vgl. das Motiv der Schatzsagen,
Eine Mutter verliert ihr Kind beim Schätzesuchen, nad Jahr und Tag findet sie
es wieder, siehe da, das Kind spielt mit einem goldenen Apfel. (Das Spielen mit
dem Apfel ist eben das Finden der Mutterbrust, dasselbe wird einmal symbolisch,
einmal unmittelbar erzählt) Vgl. R. Kühnau: Schlesische Sagen. III. 1913, 578,
600, 602, 609, 615, 623, 637, 651, 652, 654, 657, 659, 667, 755. Zum Apfel
des Jesuskindes vgl. die rumänishe Überlieferung Dähnhardt: Natursagen.
1909. II. 79.
* G. A. Dorsey: The Pawnee. Mythology. Carnegie Institution, Publ.
Nr. 59. 1906. 28. Diese Götter verleihen dem Urmenshen die »power« (mana?)
sih ein Weib zu erschaffen. Dorsey: Ebendaselbst. (Der narzissistishe Weg der
Libidoübertragung!) Hinsichtlih der Muscel vergleihe die Wakandamuscel
der Kansa. (Dorsey: A Study in Siouan Cults. Bureau of Ethnology. Rep. XI.
372), ferner die »Muscelgesellshaften«e der Omaha, Menonimi usw. A. C.
Fletcher and F. la. Flesche: The Omaha Tribe (XXVII, Report. Bureau
of Ethnology). 1911. 509-565. W. I. Hoffmann: The Menomini Indians (XIV,
Report). 1896. 102. P. Radin: The Ritual and Significance of the Winnebago
Medicine Dance. Journal of American Folk=Lore, 1911. 159. 182-187, 190-193.
St. R. Riggs: Dakota Grammar, Texts and Ethnography. (Contributions to
North American Ethnology, IX.) 1893. 228. Ferner: P, Sebillot: Legendes,
Croyances et Superstitions de fa Mer. 1886. II. 275-278. Nork: Etymologisch-
symbolisch-mythologisches Realwörterbuh, 1845. III. 208.
5 Hier berühren wir schon das Gebiet der sympathetishen Magie, auf die
ich behufs einheitlicher Erklärung im ähnlihen Sinne anderwärts zurückzukehren
Gelegenheit finden werde.
80 Dr. Geza Röheim
nicht stutzen, weil es sonst diebish wird!, In Pommern deshalb
nicht, weil es sonst unglücklich wird?. In Schlesien beißt im ersten
Jahre die Mutter des Kindes die Nägel ab®, denn wenn sie das
nicht tut, wird das Kind zum Selbstmörder, wenn man ihm aber
vor dem vollendeten ersten Lebensjahre die Nägel stutzt, oder das
Haar schneidet, wird es unglüclih*. Man kennt dieses Tabu auch
in Tirol®, und mit verschiedenen Begründungen überall in ganz
Deutscland®. In Medilenburg erstrekt sih das Verbot auf das
Haar und die Nägel?, ebenso in Böhmen, denn man schneidet dem
Kinde den Verstand, das Glük ab, oder es wird sich später mit
irgend einem scharfen Werkzeuge schneiden®, In der Gironde
schneidet man die Nägel des erstgeborenen Sohnes unter einem
Rosenbaum, wenn man nad ihm ein Mädchen erwartet®. In Here-
fordshire!°, in Vorkt! und in Wales ist es verboten, dem nodh nicht
1 Gönezi: Göcsej. 1914. 142, Das Nagelschneiden ruft das Gefühl des
Beraubtseins, des Mangels hervor; das Stehlen als Symptomhandlung, dient zur
Behebung dieses Unlustgefühles und die gestohlenen Objekte bilden einen
symbolishen Ersatz der verlorenen Körperteile. (Eine Erklärung der
Kleptomanie? Vgl. W. Stekel: Die sexuelle Wurzel der Klfeptomanie. Zeit=
schrift für Sexualwissenshaft. 1908. 588-600. ©. Pfister: Anwendungen
der Psychoanalyse in der Pädagogik und Seelsorge. Imago. 1912. 61.) Ver-
gleihe noch die magische Bedeutung der gestohlenen Gegenstände, die offenbar
die Objektivierung der beim Stehlen empfundenen Gefühlsspannung ist. Siehe:
Sebillot: Le Folk-Lore de France, 1906, II. 241, 487. P. Drechsler: Sitte,
Brauh und Volksglaube in Schlesien. 1906, II. 99, 113, 243, 255. 261. 300,
Wuttke: Der deutsche Volksaberglaube, 1900. 89. 171. 203. 364, 492. 513, 522.
537. 616. 650. 652. 658. 673. 702. 703. 711. 8. Strackerjan: Aberglaube und
Sagen aus dem Herzogtum Oldenburg. II. 1909, 219, A, John: Sitte, Braudh und
Volksglaube im deutshen Westböhmen. 1905. 265. Thos. 1, Westropp:
A Folklore Survey of County Clare. Folk-Lore, 1911. 57. A. R, Wright:
Secret Societies and Fetishism in Sierra Leone, Folk-Lore. 1907. 427. J-=EL
Weeks: Notes on Some Customs of the Lower Congo People. Folk-Lore. 1908,
419. Sartori: Diebstahl als Zauber. Schweiz. Arc. f. Vk. XX. 380. In Indien
versammeln sich bei Diebstahlsverdachte die Familienmitglieder und reiben ihre
Daumennägel aneinander, wodurh auf einem derselben der Name des Diebes
leserlih wird. F. A. Wiese: Indien. 1836/37. II. 464 ex Haberland: Spiegel.
Zt. f. Vps. XIII. 337. Hier finden wir also den mit dem Stehlen assoziativ ver-
bundenen Nagel in der Umkehrung als Spiegel zum Auffinden des Diebes.
2 ©. Knopp: Volkssagen, Erzählungen, Aberglauben, Gebräuhe und
Märcden aus dem östlihen Hinterpommern, 1885. 157. »Man schneidet ihm das
Glück ab.« Erzgebirge, Wuttke: I. c. 392. Glük (hier) — Idlibido.
3 Drechsler: Sitte, Brauch und Volksglaube in Schlesien. I. 1903, 215,
* E. John: Aberglaube, Sitte und Brauh im sächsischen Erzgebirge. 1909.
39. Über den Zusammenhang zwischen Selbstmordimpulse und Narzißmus vgl.
Rank: Der Doppelgänger-Imago, 1914.
5 N J. Zingerle: Sitten, Bräuche und Meinungen des Tiroler Volkes,
1857. 4.
° Wuttke: Volksaberglaube, 692.
"K. Bartsch: Sagen, Märdhen und Gebräuche aus Medienburg.
1880. II. 51.
® A. John: Sitte, Brauch etc, im deutschen Westböhmen. 1905. 109.
® Sebillot: Folk-Lore de France, II. 391.
1% Leather: The Folk-Lore of Herefordshire. 1912, 113,
115. ©. Addy: Household Tales with other Trational Remains, 1895, 102,
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Spiegelzauber 8
al hrigen Kinde die Nägel zu stutzen, weil es sonst diebisch
wird!,
Die bisherigen Resultate zusammenfassend, können wir die
auf das Kind bezüglichen Spiegeltabus als Verdrängungsformen
des Narzissismus und der Schaulust, das Spiegelschauen aber als
ungehemmtes Hervorbrehen derselben Triebe deuten. An Stelle
der unzensurierten Wunscbetätigung könnten wir unter Annahme
der von Rank in einem analogen Falle vorgenommenen Ein-
teilung auh die Rückkehr des Verdrängten aus der Verdrän-
gung setzen?. Die beiden Erklärungen sind eigentlich gar nicht ver=
schieden, denn beide gehen von der positiven Seite, von dem Wunsche
aus und erklären aus diesem den negativen Ritus, mit anderen
Worten die Verdrängung. Im Hinblick darauf, daß unser Material
sih auf das Kindesalter bezieht, dürfen wir wohl in den positiven
Riten berectigterweise eine primäre und nicht eine tertiäre Bildungs-
stufe erbliken®. Diese unsere Auffassung wird auh durch die Beob-
ahtungen der Kinderpsychologie bestätigt. Laut Sully erkennt das
vor den Spiegel gehaltene Kind nicht sofort sein eigenes Ebenbild.
»Schon in der zehnten Woche lächelt es seinem Ebenbilde zu.«
Anfangs, ja sogar noch einige Monate hindurh betrachtet das Kind
sein Ebenbild als ein selbständiges Objekt, lächelt ihm manchmal
zu, als ob es vor einem Fremden stehen würde, ja es küßt es so=
gar oder — wie sich dieses mit einem kleinen (fünfzehn Monate
alten) Mädchen zugetragen -— schenkt es ihm allerlei, wobei es
»Ta« (Danke! als Zeihen der Annahme) sagt‘. Die Erklärung
! Trevelyan: Folk-Löre and Folk-Stories of Wales. 1909, 267. Ver=
gleiche noch die Tabus bei M. Toeppen: Aberglauben aus Masuren. 1867. 82.
Schönwerth: Aus der Oberpfalz, 1859, III, 252, Gönczi: Göcsej. 1914, 206,
Adler: Allerlei Brauch und Glauben aus dem Geiselthal. Zeitschrift des Vereins
für Volkskunde. 1904. 429. J. W. Wolf: Beiträge zur deutschen Mythologie,
1852. I. 208, 209, » Wenn ein Kind unter einem Jahre in den Spiegel shaut, so
zahnt es schwer, und solange darf man ihm auch die Nägel nicht abschneiden.«
“Über Zahn und Spiegel vgl. oben) Moldovän: A magyarorszägi romänok.
(Die Rumänen in Ungarn.) 1913. 149. »Unter einem Jahre darf man einem Kinde
nichts abschneiden, z. B. auch keinen Heftel vom Kleide, sonst schneidet man ihm
von seinem Olüce etwas ab.« Ebendort Nagel und Stehlenlernen. J»ASE.
Köhler: Volksbrauh, Aberglauben, Sagen etc. im WVoigtlande. 1867. 424.
Seyfarth: Aberglaube und Zauberei in der Volksmedizin Sachsens. 1913. 58.
R. Andree: Braunschweiger Volkskunde. 1901. 292. Nagy: Bäcsmegyei babonäk,
(Aberglauben aus dem Komitat Bäcs.) Ethn. 1896. 97. Zu den Spiegeltabus
Koben) vgl. noh: »Der Spiegel muß verhängt werden, denn er bebt vor seinem
Spiegelurangutang (Schneider)«. Rank: Doppelgänger. Imago. 1914 107. »Sieht
ein kleines Kind viel in den Spiegel, so wird’s ein Affe« R. Andree: Braun
schweiger Volkskunde. 1901. 293.
2 O. Rank: Die Nactheit in Sage und Dichtung. Imago, 1913. 445,
° Nämlih: 1. Wunsch, 2. Verdrängung, 3, Rückkehr des Verdrängten.
* Sully: Studies of Childhood. 1912. 112, vgl. S. 309, Vgl. Jekels:
Narzissismus bei einem kleinen Kinde. Int. Zt. £ ärztl. Psychoanalyse, 1913,
375, 376. Vgl. noch die Experimente mit Affen vor dem Spiegel. Ch. Darwin:
The Descent of Man. 1898. II. 443. Hachet-Souplet: Untersuchungen über
die Psychologie der Tiere. 1909. 106.
Imago V/2 6
m.
Zusammen-
fassung der
bisherigen Er-
gebnisse.
"Verfahren, daß sie audh
Das Infantile in
der psychischen
Einstellung des
Sehers,
Die Seher der
Primitiven.
32 Be: Dr. Göra Röhem
Sullys: Das Kind, das sein Ebenbild im Spiegel anlähelt und küßt,
es überdies noh beschenkt und die Geschenke im Namen des
Ebenbildes auh annimmt‘, erkenne nicht seine eigene Identität mit
dem Bild im Spiegel, läßt sih also kaum annehmen. Wir möchten
im Gegenteil sagen, das Kind handle deshalb so, weil es sih er-
kennt. Eben darin sehe ich das Übergewicht der auf die Psydho-
analyse gestützten Erklärungen gegenüber dem bisher gebräudlichen
die geringen Einzelheiten als verständ-
lihe, den gesamten Zusammenhang aber als einen determinierten,
notwendigen erscheinen läßt.
ll. Der Spiegel des Sehers.
In den jetzt folgenden positiven Riten sind die Seher Er-
wachsene, die der Beihilfe von Kindern nicht mehr bedürfen. Wir
können gleih hinzufügen, sie bedürfen ihrer deshalb nicht, weil sie
selbst in ihrem Innern genügend von dem infantilen Narzissismus
und der Schaulust bewahrt haben. Sie haben sich dieses Stadium
entweder so bewahrt, daß sie die Verdrängung dieser Wünsche
überhaupt niemals vollzogen haben, oder. aber deshalb, weil ihre
ursprünglihe psydhishe Einstellung die Hemmungen durhbrehend
aus der Verdrängung zurückkehrt. Vom Standpunkte des erwad-
senen Sehers ausgehend, läßt sih auch unschwer eine neue psycdo-
logishe Erklärung der bei der Spiegelshau beteiligten Kinder
gewinnen, wenn wir sie nämlich autosymbolish als Objektivationen
des Infantilen im Seelenleben der Erwachsenen betrachten. Bei den
verschiedenen Abarten der Schamanen, Zauberer und Priester ist
das Spiegel- und Kristallshauen so sehr verbreitet?, daß wir mit
dessen Hilfe geradezu den psydishen Sondertypus des Sehers
ı Wir finden eine primitive narzissistishe Wurzel des Opfers in dieser
Form, die dem eigenen Selbste opfernd die Freude des Empfangens mit dem
Stolz des Gebens vereint und mit dem Schmelz der Entsagung überzieht. In Rom
ist der Geburtstag das Fest des Genius’, der verbrauchte Weihrauh und Kuchen
das dem Genius dargebrahte Opfer. H. Usener: Götternamen. 1896. 297.
Wissowa: Religion und Kultus der Römer. 1902. 155. Schmidt: Geburtstag
im Altertum. 1908. 9. 23. Die Batak opfern Geschmeide, Kleider, Speisen, lebende
Tiere usw., dem eigenen »tondi«e. J. Warneck: Die Religion der Batak. 1905.
55-60. Die Tshi bringen am Geburtstage der eigenen Seele Opfer dar. A. B.
Ellis: The Tshi Speaking People. 1887. 15. 149, 153-157, zitiert bei Crawley:
The Idea of the Soul. 1909, 175. Die Asaba opfern »ihrem Glük«. I, Parkinson:
On the Asaba People of the Niger. Journ. Antrop. Inst. XXXVI 312-314.
Vergleiche die Opfer der Tshi und Ewe an das eigene »Aklama« (Seele, Glück,
Schutzgeist). Westermann: Die Begriffe Seele, Geist und Schicksal bei dem Ewe
und Tshivolk. A. R. W. VIII. 105. 106. Hinsichtlih des dem persönlichen Schutz=
geist dargebrachten Opfers vergleihe Waitz: Anthropologie der Naturvölker.
1859. II. 182. 1. L, Wilson: Western Africa. 1856. 387. F. Boas: The Eskimo
of Baffın Land and Hudson Bay. Am. Mus. Nat. Hist. 1901. XV. 156. 511.
W, Bogoras: The Chukcee. (Jesup Nort-Pac. Exp. Vol. VII) II. Religion.
1907. 422.
2 Leider war mir N. W. Thomas: Crystal-Gazing 1909 zurzeit nicht
zugänglich.
Be
Spiegelzauber 83
abgrenzen können. Bei den Euahlayi in Australien gebraucht der Australien und
Schamane zum Kristallshauen den größten und wertvollsten der j
Zaubersteine, aus dem der »yowee« (Seele) aufsteigt, um den
Menschen, von dem wir etwas zu wissen wünschen, aufzusuchen
und uns sein Bild im Kristall zu zeigen!. Diese »gubberah« sind
gescliffene, halb durchsichtige Kristalle, in denen die wiswirreenun,
die Weisesten der Seher, Vergangenheit und Zukunft und die
Bilder der verborgenen Dinge sehen?. Murri-kangaroe erzählt die
Geschichte seiner Weihe, bei der sein Vater die Quarzkristalle, die
er ihm später in Wasser trinken ließ, in den Körper zauberte.
»After that I used to see things that my mother could not see«®,
In West Maitland (Westaustralien) krieht der Seher in die ge-
scliffene Steinkugel, um den zu erwartenden Ausgang des Uhnter-
nehmens zu sehen. Die Fijier kennen ein Kristall, woraus das Heilmittel
jeder Krankheit ersichtlich ist5. In Tahiti gräbt der Priester ein Loc in
den Boden des Zimmers und gießt Wasser hinein. Dann bringt ihm die
Gottheit die Seele des Diebes und läßt sie sich im Wasser spiegeln®.
In Samoa fängt Sinasengi die Schatten der Ereignisse in ihrem
Zaubertümpel und fixiert sie an der Wasserflähe. Wer den Stein,
der den Tümpel bedeckt, entfernt, sieht Tänze, Wettspiele, Kämpfe
und Versammlungen im Wasserspiegel”., Die Medizinmänner in
Nias benützen silberne Spiegel. Der Schamane in Borneo
trägt den magischen Stein, der ihm die Ursahen der Krankheiten
anzeigt, im Zaubersäkchen?. Er schaut in den »bata ilau« (Stein
des Lichtes) und erblickt dort, wo sich die Seele des Kranken be-
findet und welche Riten seine Gesundheit wieder herstellen könnten".
Die übernatürlihe Macht des Kristalles zeigt das Wesen der Krank-
ı K. L. Parker: The Euahlayi Tribe. 1905, 36.
2» K. L. Parker: The Euahlayi Tribe, 1905, 26,
®> A. W. Howitt: The Native Tribes of South Bast Australia, 1904.
406. Wiradyuri. In den Weihen sceint eine Übertragung auf den Vater stattzu=
finden, wobei der Jüngling übergangsweise in eine passive, weibliche Rolle ges
drängt wird. »He placed two large quartz crystals against my breast and they
vanished into me, I do not know how they went, but I felt them going
through me like warmth.« Von nun ab sieht er die Geister der Toten und
erbt auch den individuellen Totem seines Vaters. Ebenda,
* A. Lang: The Making of Religion. 1909. 83, Vgl. dazu über den Stein
im Körper des Schamanen. Röheim: A varäzserö fogalmänak eredete, Ursprung
des Manabegriffes) 1914. 57-60. In diesem Falle findet eine Umkehrung des
ursprünglichen Motives statt (Vgl. Freud: Traumdeutung. 1911. 257 und L.
Frobenius: Die Weltanshauung der Naturvölker. 1896. 396), der Zauberer
vershwindet im Zauberstein.
5 D. Jenness: The Magic Mirror: a Fijian Folk Tale. Folk-Lore. 1913. 233,
° Ellis: Polynesian Researches. 1830. II. 240.
” G. Turner: Samoa. 1884. 101, 102,
® Folk-Lore. 1910. 2.
° MH. Ling=-Roth: The Natives of Sarawak and British North Borneo.
1896. I. 269,
1 BE. H. Gomes: Seventeen Years among the Sea Dayaks of Borneo,
1911, 165, 166.
6°
Amerika.
84 Dr. Geza Röheim
heit und ermöglicht das Zurücholen der fliehenden Seele!. Bei den
Lenguas in Südamerika verlangen die Träumer oft die Hilfe des
Zauberers, besonders wenn ihre Seele auf der Wandershaft von
bösen Geistern belästigt wurde. Sie glauben nämlich, daß dieser in
der spiegelnden Flähe seiner glänzenden Metallohrringe die Schatten
der vorbeiziehenden Geister sehe?. Bei den Huille-he in Südamerika,
ebenso wie im europäishen Volksglauben sind es die Schatzgräber,
die einen glatten schwarzen Stein anstarren®., Der lossakeed der
Apaden hat keine Theorie für die Operationsweise des Kristalles
und sagt nur soviel, daß er darin alles sehe, was er wolle. In
Yucatan heißt der Wahrsager h’men (aus dem Zeitworte men =
wissen). Er ist »der Wissendes, der sein Wissen auh in Taten
umsetzt. Seine wichtigste Handhabe ist der Zaztun (zaz = hell,
durchsichtig, tun = Stein). Unter Hersagen im altertümlihen Dialekte
gehaltener Zaubersprühe und Verbrennen von Copal wird der
Quarzkristall oder ein anderer durcdsictiger Stein geweiht, und
auf diese Weise Vergangenheit und Zukunft widergespiegelt, der '
Seher aber, der seinen Blick in die durchsichtigen Tiefen des Steines
dringen läßt, sieht dort die verlorenen Gegenstände, erfährt das
Schicksal der Abwesenden und erblickt den dem Fragenden feindlich
esinnten Zauberer®. Der heilige Obsidian der Cakquicel, ihr
tammesorakel, steht nah ihren Sagen in mystishem Zusammen-
hang mit dem Ursprung des Menscengesclectes®. Die Cherokee
finden den Ulünsu’ti (durchsichtig), d. h. den Kristall im Kopfe der
Uktena »der scharfblikendens« Schlange. Im Besitze eines solchen
Kristalles kann man die »little peoples (Zwerggeister) zitieren. Der
Kristall bringt Glük in der Liebe, bei der Jagd, beim Regenmachen
und allen anderen Unternehmungen, sein Hauptzwecd aber ist, den
Blik in die Zukunft zu gewähren, denn die Zukunft spiegelt sich
im durchsichtigen Kristalle wie der Baum im glatten Spiegel des
vorbeifließenden Baches. Der Zauberer erblikt im Kristalle die ge-
suchte Person oder Ereignis und je nach der Entfernung des Bildes
von der Oberfläche stellt er die räumliche oder zeitliche Entfernung fest”.
ı Ling-Roth: Natives of Sarawak, 1896. I. 273.
2 W, Barbrooke-Grubb: An Unknown People in an Unknown Land,
1911. 149.
® Fitzroy: Adventure. Il. 389 ex Lang: The Making of Religion. 1909. 84.
* Bourke: The Medicine Men of the Apache. Rep. Ethn. Bureau. 1887/88,
IX, 461.
5 D. G. Brinton: Essays of an Americanist. 1890. 165.
%# E. S. Hartland: The Legend of Perseus. 1895. II. 17.
? Mooney: Myths of the Cherokee. XIX. th. Report. Bureau of Ethn. 1900.
289, 460, 461. Das Räumliche wird also ins Zeitliche projiziert, beziehungsweise das
Zeitlihe wird vom Unbewußten auch räumlich apperzipiert. Die schlafende Schlange
zu erbliken bedeutet den Tod, aber nicht dem Zauberer, der den Schlangenstein
«Uläßsu’ti) sucht, sondern seiner Familie. Ebenda. 298. Das schlafende Wundertier
ist wohl das Verdrängte, Schlummernde im Zauberer, denn wenn er dieses erblickt,
d.h. die endopsydhische Zensur durhbricht, werden die Todeswünsche frei, und seiner
Wünsche Gewalt bringt seiner Familie den Tod. Zu den Schlangen, deren Anblick tot=
bringend ist, vgl. Dorsey: A Study of Siouan Cults. Rep. Ethn. XI. 1894. 393, 441.
ge
Spiegelzauber > 85
Die Tuscarora legen einen Kristall in Wasser, worauf auf dessen
Spiegel das Bild des bösen Zauberers ersceint!'. Die Latoka
haben durchsichtige Steine, die ihnen den Dieb zeigen?. Die Gangas
in Westafrika zitieren das Bild des Diebes in einem Spiegel, der Afrika.
an dem Baude des Fetishes angebraht ist”. Der Befestigungsort
des Spiegels weist auf den Baud als Seelensitz hin, wie dies schon
Haberland rihtig bemerkt hat‘. Der. Manganja-Seher schüttelt den
mit Kieselsteinen gefüllten Kürbis und shöpft dann seine Antwort
aus dem im anderen Kürbisse befindlihen Holz-, Bein- und Glas-
stükchen?’. Die Seher der Malimba schauen Zauberer und Ver-
breder in einer mit Wasser gefüllten Schüssel®. Die Wadschagga
haben fünf Klassen von Wahrsagern. Die erste ist die der Wasser-
seher. Der Wasserseher schöpft Wasser mit einem großen Schöpf-
löffel, und schlägt dieses Wasser dann mit einem Drazänenblatt,
wobei er unverwandt in das bewegte Wasser schaut, bis ihm darin
der Geist erscheint, dem das en lSkbrrde Opfer zu bringen ist”.
Die Boloki gießen Wasser in die Zaubershüssel und nad-
dem sie den Seelen und Geistern ein Palmweinopfer bringen,
erscheinen diese in der Schüssel, welche aber nur vom Schamanen
betrachtet werden darf®. Lobengula, der Matabelehäuptling pflegte
in einen tiefen Teich zu schauen, um den Ausgang der Schlacht
zu erkunden’. Die Kagoropriester gießen Mehl in ein mit Wasser
gefülltes Gefäß und wahrsagen daraus!‘, Bei den Zulus schaut der
Häuptling in einem Beken die Zukunft!! und in Madagaskar findet
sih das Wahrsagen aus Kristall!?, In China steigt die Gottheit in Asien.
das mit reinem Wasser gefüllte Gefäß, in ihrem Namen beantwortet
Er ES E. A. Smith: Myths of the Iroquois. II. Rep. Bureau of Ethn. 1883.
2 J. O. Dorsey: A Study of Siouan Cults. XI. Report. 1894. 447,
® A. Bastian: Der Papua. 1885. 69. Pechuel-Loesche: Die Loango=
ton. 1907. IL 365, 366. R. H. Nassau: Fetihism in West=-Africa.
* K. Haberland: Der Spiegel, Zt. f. Vps. XIII. 1882. 330. In Guiana
legt man dem Toten einen Spiegel aufs Herz. R. Schomburgk: Journal of the
Ethnological Society. 1848. I. 275. Der chinesische Kriegsgott Quanti hat ein
Glasstük am Bauch. Smith: Basler Missionsmagazin. 1848, 125. Beide ex Haber-
land; loc. cit.
> H. W. Garbutt: Native Witchcraft and Superstition in South Africa.
Journ. -Anthr. Inst. 1909. 558.
® Schneider: Die Religion der afrikanishen Naturvölker. 1891. 244. Das
Ausland. 1888 145. h
” Gutmann: Wahrsagen und Traumdeuten bei den Wadshagga. Globus.
XCIH 1907. 166.
8 J. H. Weeks: Among Congo Cannibals. 1913. 286.
® M. R. Cox: An Introduction to Folk=Lore. 1897. 25.
A. I. N. Tremearne: Notes on Some Nigerian Head Hunters. Journ.
Anthr. Inst. 1912. 160.
H Callaway: The Religious System of the Amazulu. 1870. 341.
2 .'® Lang:. Making of Religion. 1909, 84, 85 nah Flacourt: L’Histoire
de la Grand Ile Madagascar. 1661. 76.
Er re FT I Er FERN
86 Dr. Geza Röheim
das Medium die gestellten Fragen!, und taoistishe Zauberer trugen
Spiegel am Rücken®. In Hinterindien hat man im Inventar eines
Kabuizauberers einen Spiegel gefunden, der wahrscheinlich dazu
diente, die Seele des zum Opfer bestimmten Menschen aufzufangen‘.
Ein wesentliher Bestandteil des Shamanenkleides bei den Golden
und auh bei den Karagassen Südsibiriens ist der runde Bronze-
spiegelt. Der Zauberer der Tshuwaschen erblikt die Ursahe der
Krankheit aus einem Glas Wasser, und dasselbe Verfahren findet
sih auc bei den Tscheremissen®. Die Syrjänen entdecken den Dieb
oder verborgene Schätze durh Wassershau’. Bei den Tataren in
Kazan sieht der Zauberer aus dem Spiegel, wo das Gestohlene sih
befindet und wer den Kranken verhext hat®. Kalikuter Magier zeigten
dem Volke in einem mit Wasser gefüllten Gefäße Vasco de Gamas
ankommende Sciffe?. Die Geisterbeshwörer in Tibet schauen die
Ankunft Gottes aus ihren Spiegeln!. Laut Angabe Ibn Khaldouns
bedarf der wahrhaftige Seher keiner äußeren Hilfe, um den über
unsere sinnlihen Wahrnehmungen gelegten Schleier zu durchdringen,
während die übrigen, weniger een (Seher) alle ihre Per-
zeptionen in einen einzigen Sinn, in das Gesicht verdictend, ihr Ziel
zu erreichen traten. In dem Nebelscleier, der sih zwishen dem
Seher und den Spiegel herabläßt, sehen sie dann mit ihren geistigen
Augen das Gewollte!!, Aud die Malaien kennen die Hydromantie,
doch wie es scheint, durch arabishe Vermittlung. Die Beschreibung
Swettenhams zumindest spriht von einem Araber, der es unter-
nimmt, nad dreitägiger Einsamkeit, Fasten und Gebet den Ort
anzugeben, wo sich ee gestohlene Gut befindet. Er nimmt in die
Hand ein beschriebenes Papierblatt, auf das er Wasser gießt, in
1 Goltz: Zauberei und Hexenkünste, Spiritismus und Chamanismus in
China, Mitteilungen der deutshen Gesellschaft für Natur und Völkerkunde Ost-
asiens. VI. 28 ex Zachariae: Witwenverbrennung. Zt. d. V. f. Vk. 1905. 84.
:J. J. M, de Groot: The Religious System of China. Vol. VI. Book. II.
1910. 1000.
» T. C. Hodson: The Naga Tribes of Manipur. 1911. 142,
„* Meszäros: A magyar kerek tükör. (Der ungarische Rundspiegel.) Nep-
rajzi Ertesitö. 1914. 13 nah V.K. Vasiliev: Kratkii oderk karagasov. 1910, 29.
® Meszäros: A csuvas ösvalläs emlekei. (Urreligion der Tschuwascen.)
1909. 269.
° Mikhailowski: Shamanism in Siberia and European Russia, Journ.
Anthr. Inst. 1894. XXIV. 155. Nah Rychkov: Zhurnal ili dnyevnyya zapiski. 86.
”D. R. Fuchs: Eine Studienreise zu den Syrjänen. Keleti Szemfe, XVI. 98.
| ® M£&szäros: A magyar kerek tükör. (Der ungarische Rundspiegel.) Nepr.
Ert. 1915. 40. Nach eigenen Sammlungen. Diese Parallelen sind allerdings nicht
»asiatish« im geographischen Sinne, aber doh wohl im kulturhistorisch-ethno-
graphischen.
® E. S. Hartland: The Legend of Perseus. 1895. II. 16. Avebury: The
Origin of Civilisation. 1902. 263 nah De Faira: Astleys Collection of
Voyages. I. 63.
1% Zachariae: Witwenverbrennung. Z. v. V. f. Vksk. 1905. 84. Zitiert
nah Waddell: Buddhism of Tibet. 1895. 482.
.0.',Vgl. Rubin: Gescicte des Aberglaubens. 31. A. Lang: The Making
of Religion. 1909. 340-343 bringt nah Lefebure den ganzen Text.
Spiegelzauber 87
welhes er hineinstarrt, worauf ihm ein altes Männden ersceint,
ein Dshin, der ihm sodann auf der Wasserflähe die ganze Dieb-
stahlsszene vorspielt. Laut Pausanias erfuhren die Griehen in
Patrai beim Heiligtum der Demeter das Schicksal des Kranken in
der Weise, daß sie einen Spiegel auf die Oberfläche des Wassers
niedergleiten ließen und je nachdem, wie der Kranke in dem Spiegel
recht bei Fleishe oder aber bleih und shwad erschien, prophezeite
man ihm Genesung oder Tod. In Kyaneai in Lykien befand sich
eine Quelle, wo derjenige, welcher hineinshaute, alles sah, was er
zu wissen wünschte?. Pythagoras (550 ante Chr.) soll um Voll-
mond aus einem blank polierten Spiegel die Katoptromantie be=
trieben haben?. In Rom nannte man diese Weissager »specularii«*,
und deren Existenz ist noh um das Jahr 450 (post Christum) in
Irfand bezeugt’. Die um 1270 entstandene »Summa de officio in-
quisitionis« erwähnt die mit Spiegeln, Schwertern, Fingernägeln,
Eifenbeinkugeln, Wasser, Ringen usw. betriebene Zauberei‘. Im
Jahre 1326 erläßt Papst Johann die »Super illius speculas, in der
er die Menschen tadelt, die den Dämonen opfern, in Ringe,
in Spiegel und Fläschhen, Dämonen einscließen und von
diesen Antwort auf ihre Fragen, Hilfe in ihrer Not erwarten”.
In 1398 werden diese Praktiken von der theologischen Fakultät in
Paris als Götzendienst verurteilt?. Im Jahre 1411 schreibt Vintler
in den »Pluemen der Tugent« »und will die sehen in die Spiegel,
Manigen wunderleihen triegels®, in 1471 wird in Frankfurt eine
Frau der Zauberei geziehen, die angeblih aus dem Spiegel die
gestohlenen Gegenstände erkennt‘. Thomas von Haselbah erwähnt
gleichfalls den Zauberspiegel, der den Dieb anzeigt: »Item omnino
reprobantur benedictiones speculorum ad inueniendum furtum«!".
Ebenso berichtet Gervasius von Tilbury in den Otia imperialia
über Spiegel und Schwertklingen beim Wahrsagen'?., Audh der
ı W, Skeat: Malay Magic. 1900, 38. 539,
2 Pausanias: VII. 21. 12, 13. Erwähnt bei W. E. Hazlitt: Brands
Popular Antiquities of Great Britain. 1905. I. 274, der nah Potter: Greek
Antiquitates: 1. 315 zitiert.
»M.R. Cox: An Introduction to Folk=Lore. 1897. 26.
* Ducange: Glossarium mediae et infimae latinitatis. VII. 1886. 549.
5 A. Maury: La Magie et Astrologie dans !’Antiquite et au Moyen
Age. 1864. 438. £
° J. Hansen: Zauberwahn, Inquisition und Hexenprozeß im Mittelalter.
1900. 242. .
" Hansen: Ebenda. 255. »cum morte foedus ineunt et pacium faciunt
cum inferno.«
s Maury: La magie, 1864. 440.
% Zingerle: Sitten, Bräuche und Meinungen des Tiroler Volkes. 1857. 196,
197. Zeile 314, 315 in Zingerles Ausgabe.
1% Soldan-Heppe: Geschichte der Hexenprozesse. 1911. I. 231. Hansen:
Quellen und Untersuchungen zur Geschichte des Hexenwahns im Mittelalter. 1901. 579.
Mitteilungen des Vereins für Geschichte und Altertumskunde von Frankfurt. V1.1881.72.
ıı A, Franz: Die kirchlichen Benediktionen im Mittelalter. 1909. I. 469.
2? Maury: |. c. 440.
Der Spiegel
des Sehers in
Europa. Alter-
tum und
Mittelalter.
Spiegel und
Seher im heu-
tigen Volks-
glauben,
88 Dr; Geöza Röheim
en re...
primitive Steinspiegel taucht neuerdings auf in der Wahrsagung aus
dem glänzenden Stück Kohle oder Stein. Einen solhen gescliffenen
tein nennt Butler den Spiegel des Teufels! In Bayern verbietet
im Jahre 1611 Maximilian solche Praktiken, wie das »wahrsagen
durch spiegel oder glass oder durdh dristall oder parillen«. Be-
sonders die »fahrenden Schülers betrieben solhes?. Anno 1564
bekennt ein altes Weib in Görlitz, daß sie einen Zauberspiegel
besäße, mit dessen Hilfe sie verlorene Sachen wieder verschaffen
könnte®, In Mecklenburg legt Kröger am 13. Oktober 1570 in
einem Hexenprozesse das Geständnis ab, wie er die Kristallschau
gelernt hat. Wenn er den Namen des Verdäctigten weiß, nimmt
er den Kristall und beshwört ihn. »Der hillige liham, dat hillige
testament, dat sacrament und der leve vader im hemmel, do dik
up, im namen dess vaderss, des sohns und des hilligen geistes.«
Dann erscheint im Kristall ein weißer Engel, sowie das Bild des
Sculdigen und der Engel zeigt auf den Menschen“. Bei Gertrud
Schwarth (23. Dezember 1587) hat man Haselruten und Kristall
gefunden, diesen hat sie beim Besuh von Kranken entnommen,
ob die Stunde eine glücklihe oder unglüklihe sein werde>,
Chettle (1592) erwähnt gleichfalls den magischen Kristall und nad
Akten aus der Zeit der Königin Elisabeth von England erscheint,
»the spryte Oryance« im Kristall und zeigt, wo sich das verborgene
Geld befindet‘. Laut Pico di Mirandola kann man aus einem
astrologishen Spiegel die Zukunft ersehen. Potet und Cagliostro
bedienten sich gleichfalls dieses Mittels der Prophezeiung’, In
Mecklenburg, in Ostpreußen, in Friesland, in Schlesien zeigt der
Magier dem Fragenden im Zauberspiegel die gesuchte Hexe, den Dieb
oder den zukünftigen Gatten®. In Leeminster gab es einen »weißen
Hexenmeister«, der in den Kristall (Beryliy shaute und daraus auf
die gestellten Fragen antwortete. Aubrey bescreibt einen solchen
»Berill«, der sich im Besitze Sir Edward Harleys befand, In dem
1 Hazlitt: Brands Popular Antiquities. 1905. I. 46. Kiesewetter: Faust
in der Geschichte und Tradition. 474.
® Ebermann: Zur Aberglaubenliste in Vintlers Pfuemen der Tugent. Zt.
d. Ver. f. Volksk, 1913, 134,
- ®R. Kühnau: Sclesische Sagen. 1913. III. 258,
* K. Bartsch: Sagen, Märchen und Gebräude aus Medklenburg. 1880. II. 8,
® Bartsch: Ebenda. II. 33. Laut dem Texte läßt sih der Nebensatz
eher auf die Rute beziehen.
°G. F. Black: Scottish Charms and Amulets. Proceed. Soc. Ant. Scot.
XXVIL 436. f
?” Rubin: Geschichte des Aberglaubens. 31: Maury: La magie et [’Astro-
logie. 1864. 441. Vgl. noch Grimoire ou la Magie Naturelle. A. La Haye. 309,
P. G. Schott: Magia universalis naturae et artis. 1677. IV. 553. M, Delrius:
Disquisitionum magicarum libri sex. 1603, Tomus Secundus. Lib. IV. C. IL Q.
V126,19..170. 217100M: J. Praetorius: Der abenteuerliche Glücstopf. 1669.
XXV.Cap. 188. N. Remi gius: Daemonolatria oder Beschreibung von Zauberern
und Zauberinnen. 1693. II. 314,
® Wuttke: Volksaberglaube, 245. 246,
” Leather: The Folk-Lore of Herefordshire. 1912, 66.
MR Spiegelzauber 89
Kristall erblikte man das Heilmittel oder die Beschreibung des zu
beobadıtenden Verfahrens. Engel meldeten dem Besitzer seine
Todesstunde. Der Berill ist eine vollständige Sphäre. An den vier
Eden sind die Namen Gabriel, Raphael, riel und Michael ange-
bradıt!. In den Ardennen geht der Mensch, der behext worden ist,
zum »marecdal de Verlees, der ihm in einem Spiegel das Bild des-
jenigen zeigt, welcher ihm den bösen Zauber zugefügt hat?. In
Böhmen zeigt ein in den »Erzspiegel« (Hexenspiegel — nekroman-
tisher Spiegel), der Wunderdoktoren oder »weiser Männer« ge=
worfener Blik den Dieb (Schönwerth, Egerland)®, Der weise Mann
oder die kluge Frau schaut in den Stein, in den Kristall oder in
den Spiegel, murmelt seine Beshwörungen und sieht die Gesicte‘.
In Scleswig-Holstein stellt der Hexenmeister ein Sieb über
das Wasser und erkennt den Dieb darin’. Aus Deslawen gehen
manhe nah Saaz, ja sogar nah Wien zu einem ehemaligen
Scarfricter, denn dieser besitzt einen solhen Zauberspiegel®. Der
Darmstädter Scharfrihter sieht die verirrte Frau in einem Eimer
Wasser”. Im Tal von Harmersbadh sieht der »Hetlishsbur« in dem
aus reinem Bergkristall angefertigten »Bergspiegel« jede Krankheit
und deren Heilmittel. Nodh berühmter ist der »Schwabendoktor«
in Kinzigthal und in der Murgegend, der gleichfalls mit dem Berg-
spiegel arbeitet. Der Schmied von Waldulm hat von ihm nur einen
fehlerhaften »Bergspiegel« bekommen, deshalb ist sein Ruhm aud
minder groß. Auh das Elzthal hat seinen » Weltspiegel«-Inhaber.
Andere ließen den Fragesteller in Glas shauen. Nach Meyer zeigten
solche Spiegel ursprünglich die in der Tiefe der Berge verborgenen
Schätze und erst später auch die Diebe, die Hexen und die bösen
Zauberer®. Diese Annahme ist jedenfalls irrig, denn ein Vergleich
mit den primitiven Völkern beweist den entgegengesetzten Gang
der Entwicklung. Bemerkenswert ist auch die Rolle des Schmiedes
als Seher?. Im Jahre 1629 geriet in Calbah ein »krystallseher und
zauberer« namens Breull in Untersuchungshaft, weil er mehrere
1 Aubrey: Miscellanies. 1696. 129-131. Die Angabe aus 1645, zitiert
Hazlitt: I. c. I. 275 und Leather: I. c. 66.
2 A. Harou: Traditionnisme de la Belgique. La Tradition. 1903. 129.
> A. John: Sitte, Brauch und Volksglauben im deutshen Westböhmen.
1905. 276.
2 * John:. Ebenda. D. s.: Volksglauben im Egerlande, Zeitschr. f. österr.
Volksk. VI. 118, a
5 Müllenhoff: Sagen, Märden etc. von Scleswig-Holstein. 1845. 200,
Bertsch: Weltanschauung, Volkssage und Volksbrauh 1910. 137.
$ John: Sitte, Brauch etc. im deutshen Westböhmen. 1905. 277.
"J. W. Wolf: Hessishe.Sagen. 1853. 63 ex Bertsch: I. c. 137,
Bea a H. Meyer: Badishes Volksleben im neunzehnten Jahrhundert. 1900.
. 564.
® Vgl. R. Andree: EthnographischeParallelen und Vergleiche. 1878.153— 159.
©. Schrader: Sprachvergleichung und Urgeschicte. 1906. II. 13-28, A: P, Zvon=
kov: Oterk vjerovanij krestyän Jelatomskavo ujezda Etn. Obozr. 1889. II. 71.
B. Gutmann: Der Schmied und seine Kunst im animistishen Denken. Zeitschrift für
Ethnologie. 1912. 81-93. A. E. Crawley: The Idea of the Soul. 1909. 111, 116.
Schoß der Erde
und
Mutterschoß.
9 Dr. Göza Röheim
Frauen der Hexerei beschuldigte!. Er bekennt, den Kristall von
einem Schmied in Altengronau, den man auch »der weise Mann«
zu nennen pflegte, bekommen zu haben. In dem Kristall ist ein
kleines, schwarzes »Dingelchens, wenn das zittert, kann man aus
ihm erfahren, was dem Vieh fehlt. Die Spiegelshau kann nicht nur,
wie bei den Schatzsuhern, nah dem Schoß der Erde, sondern in
den Mutterschoß gerichtet sein, und es ist wohl kaum zu bezweifeln,
daß wir darin die Urform des Brauhes gefunden haben, aus
welhem das Schauen in den Schoß der Mutter Erde erst durch
Übertragung entstanden 'sein kann. Die Zigeuner erkennen das
Geschlecht des zu gebärenden Kindes, indem sie durch einen Trichter
auf eine polierte Bleiplatte shauen, zuweilen sehen sie auf dieser
auch das Gesicht des Dämons, der die von den Wehen ergriffene
Frau quält?. Bei den Ga schaut der Wongtshä in einem Topfe
mit Wasser die Ahnenseele, welche in einem Neugeborenen wieder
zur Welt gekommen ist®, In Westafrika geht eine Eingeborne, die
im Geheimen das Weib eines Europäers geworden war, zum
Seher. Dieser sagt ihr aus dem Zauberspiegel, sie werde von einem
Weißen geliebt, und er sehe in ihrem Schoß zwei Kindert.
Der »Bergspiegel« zeigt die Lage des Schatzes im Schoß der Erde
an und schützt vor den schatzhütenden Geistern, sowie vor dem
bösen Blick der Hexen’. Nach dem ungarishen Volksglauben sieht
derjenige, der am Gründonnerstag von der Frühe bis zum Abend
mit einem Spiegel in der Hand auf einem Grabe sitzt, eine kleine
Flamme in dem Spiegel, zum Zeichen, daß er noch im selben Jahre
einen Schatz finden wird‘. Gleihfalls nach dem ungarishen Volks-
glauben besitzen die Hexen einen solchen Spiegel, durch den hin-
durch sie jeden in der Erde befindlichen Schatz sehen’. Zu Pfingsten
kauft man vor Sonnenaufgang ohne zu handeln einen Spiegel und
schreibt darauf die Worte — oh + Holon + Taller + Ihatal -- Thaler
+ Theja + ganelei®. Der Spiegel ist zwar im allgemeinen das
Attribut der »Hexenrieher«, der Seher, da aber die verschiedenen
Typen der Priester und Zauberer ineinanderfließen, kann der
Spiegel auch den Zwedken der Hexe dienstbar sein. In Nieder-
österreich weiß der Volksglaube von neun » Walpurgisnähten«, so
bezeihnet man nämlich die der Walpurgisnacht vorausgehenden neun
ı W. Crecelius: Frau Holda und der Venusberg. Zeitschrift für deutsche
Mythologie und Sittenkunde. I, 1853. 272.
® Wlislocki: Volksglaube und religiöser Brauch der Zigeuner. 1893. 94.
® W. Schneider: Die Religion der afrikanishen Naturvölker. 1891. 259.
Nadı H. Bohner: Im Lande des Fetisch. 1890. 146, 219, 221, 224.
*R. H. Nassau: Fetihism in West-Africa, 1904. 134,
5 G. Graber: Sagen aus Kärnten. 1914. 221.
° A. Hermann: Der volkstümlihe Kalenderglaube in Ungarn. Zeitschrift
des Vereins für Volkskunde. 1894. 393. 394,
” Ipolyi: Magyar Mythologia. (Ungarische Mythologie.) 1854. 442.
® ]. Wieder: Kincsäsö babonäk &s räolvasäsok. (Aberglauben und Zauber-
formeln beim Schatzgraben.) Ethn. 1890. I. 248. Vgl. noch über Schatzspiegel im
vorigen Kapitel. S. 70, 72, 74, 75.
Spiegelzauber 91
Nädte!, Während dieser Zeit wird die heilige Walpurga durd die Geister
verfolgt. In Mank hat einmal ein Mann eine weiße Frau gesehen,
mit feurigen Schuhen, fangem wallendem Haar, auf dem Haupt eine
goldene Krone, die von einer auf weißem Pferde reitenden Gestalt
verfolgt wurde, und die Verfolgte hielt in den Händen einen Spiegel
und ein Spindel, diese war die heilige Walpurga. Während dieser
neun Tage können die Hexen von der Heiligen verschiedene Dinge
erbitten, namentlih Walpurgis-Spiegel, -Fäden, -Kräuter und -Blumen.
Die Walpurgis-Spiegel sind kleine dreiekige Spiegel aus denen sich
jedes erfolgende Ereignis im vorhinein ersehen läßt. St. Walpurga
trägt außer dem Spiegel auch eine Spindel mit sehr feinen Fäden.
Ein solher Faden vermag den Menschen aus der Gefahr zu er-
retten. Die Kräuter werden öfters mit Sand auf eine Pflugschar
gelegt und über Feuer gestellt. Sobald das Gemenge anfängt übel
zu riehen, so muß derjenige erscheinen, an den man denkt. Die
Blumen erhöhen die Schönheit der Mädchen, der Faden dient zum
Wahrsagen in Liebesangelegenheiten?. Obschon das differenzierende
Moment in der psychischen Einstellung des Zauberers im Vorherrshen
der Befriedigungsform? zu suchen ist, im Gegensatz zu den neurotischen
Hemmungen der Tabu, so behält das Gesetz der Ambivalenz doch
ihre Gültigkeit und die negativen Tendenzen lassen ihre Spuren im
Ritus zurük. In Neuenburg zeigt der »Erdspiegel« den Teufel,
dodı vorher müssen zwei Tiere hineinshauen, die der gräßliche
Anblick sofort tötet‘. Laut Albertus Magnus muß in jeden Zauber-
spiegel zuerst ein Hund oder eine Katze hineinshauen, damit dem-
jenigen, der zuerst hineinschaut, kein Unglük treffe’. In einer aus
dem Ende des seczehnten Jahrhunderts stammenden deutschen
Handscrift finden wir denn auch die Anleitung, daß der Mensch,
!ı Vergleihe hinsichtlih der entsprechenden ‚neuntägigen Winterperiode.
Röheim: A Iuczaszek. (Der Hexenstuhl.) Ne£prajzi Ertesitö. 1916. »Am 1. Mai
oder neun Tage vorher und neun Tage nachher, ebenso am Luzetage kommen die
Hexen und wollen sih etwas borgen, was beim Vieh gebraucht wird, damit sie
einem etwas antun können, da darf man ihnen nichts borgen, vor allem kein
Feuer, kein Salz. (Vgl. Jones: Die Bedeutung des Salzes. Imago. I. 361. Das
Feuer natürlich im selben Sinne zu deuten)«. W. v. Schulenburg: Wendische
Volkssagen und Gebräuche. 1880. 159, 160, Vgl ebenda. 246, 247 über die
Periode neun Tage vor Weihnachten. In diesen Tagen soll man die verschiedenen
Liebesorakel unternehmen aber.auch wachen wieder die Hexen (die Vertreterinnen
der mit negativem Vorzeichen versehenen Mutterimago),; funktionell entsprechen
sie der Regression, daher ist ihr Auftreten am meisten zu befürchten, zur selben
Zeit, wo man die Liebesorakel unternimmt, d. h die Libido zum Objekt fort=
schreiten soll.
2 Th, Vernaleken: Alpensagen. 1858. 109-112.
» Vgl. Rank: Die Nadtheit in Sage und Dichtung. Imago. 1913. 455,
Anderseits bildet diese vom Durcdscnittlihen abweichende Befriedigung die
Kompensation anderer, gleichfalls außergewöhnlicher Hemmungen. Vgl. A. Horn-
effer: Der Priester. 1912, I. 28. 46. Disharmonie.
* Schönwerth: Aus der Oberpfalz. 1859. III. 41.
>» K. Haberland: Der Spiegel im Glauben und Brauch des Volkes. Zeit-
schr. f. Völkerps. XIII. 339, Nah Albertus Magnus: Ägyptische Geheimnisse
für Menschen und Vieh. II, 19.
Die verate-
ung beim
e Seher.
Die Seherin
von Dormänd,
Die psychische
Konstitution
des Sehers,
2 Dr. Geza Röheim
bevor er den Zauberspiegel gebraucht, einen Hund oder eine Katze:
hineinshauen lassen möge!. Alle diese Gebräuche deuten auf die
neurotishe Verdrängung. Die Berechtigung einer auf die Psydıo-
pathologie gestützten Methode wird durh den Fall der Seherin
von Dormänd nur bekräftigt. Diese dormänder Seherin vermochte
jedem über seine Toten Aufklärung zu geben: wo der Tote ruht,
wo sich seine Seele befindet usw., mit einem Wort, sie bekundet
sih als richtige Visionärin. Das Totensehen wurde bei ihr durch
folgendes Trauma wacgerufen. Die Beschreibung sagt: Diese ihre
»Begabung« zeigte-sich schon in ihrem Mädcenalter, sie und ihre
Mutter kämmten sich eines Morgens, da sie aber nur einen Spiegel
hatten, kämmte sich die Mutter vor diesem, die Tochter aber vor
dem Glasdeckel des Marienbildes. Wie sie sih kämmen, erscheint
auf der Glasplatte ein Totenkopf, worauf das Mäddhen in Ohn-
macht fiel und erst nach längerer Zeit konnte man sie wieder zum
Leben bringen. Von diesem Augenblik an sieht sie die Toten. Sie
sagt dem Erzbischof, daß seine Mutter in der Nähe von Trencsen
begraben ist und in den Armen ein kleines Kind hält, worauf der
Erzbishof ihr verbietet, den Leuten Aufklärung über ihre Toten
zu geben?. Wenn wir nun eine einheitlihe Erklärung der ganzen
Situation versuchen, so kommen als auslösende Momente des Toten-
sehens eine Regression der Libido, die in der unzweifelhaft
narzißtisch gefärbten Lage des Kämmens vor dem Spiegel auf-
tritt? und funktionell durch das Erscheinen des Totenkopfes sym-
bolisiert wird, und die sexuelle Rivalität mit der Mutter in
Betradht*. Unter Berücksichtigung der Rolle, welche die Mutter
ı C. Bartsch: Zauber und Segen. Zeitschrift für deutsche Mythologie.
III. 330. Vgl. dasselbe in Ungarn. S. Wieder: Kincsäsö babonäk &s raolvasäsok.
(Aberglauben und Zauberformeln beim Scaatzgraben.) Ethn. 1890. I. 248. »Völe-
genyidezes.« (»Bräutigamzitierung.«) 1910. 39.
2 E.Benköczy: Egervideki babonäk. (Aberglauben in der Egerer Gegend.)
Ethn. 1907, 102. Das »Können« (tehetseg = Können, Fähigkeit in der Literatur-
sprahe Talent) der weisen Frau aus Novaj stammt daher, daß sie eines Sonntags
sich eilends für den Kirchgang vorbereitete. Sie fand in der Schnelligkeit den Spiegel
nicht und band sich vor dem Glase eines Heiligenbildes das Tuch zureht. (Nach
anderen hat sie beim Kämmen in das Glas des Heiligenbildes wie in einen Spiegel
geschaut.) In dem Heiligenbilde aber sah sie statt des eigenen Gesichts einen Toten=
kopf und von da an wurde sie Totenseherin. (Halottlät6 = Totenseherin heißen
diese Frauen, da ihre Sehergabe sich überwiegenderweise zu den Toten hinwendet.)
Wenn dies tatsählih die Geschichte der weisen Frau von Novaj wäre, würde
dies in hohem Maße die Wahrscheinlichkeit der im Text entwickelten Theorien
bestätigen. Aber der Aufzeihner weiß, daß dies auch.die Geschichte der Toten-
seherin von Dormänd ist und seiner Meinung nah wird sie irrtümlih über die
von Novaj erzählt. Soviel steht aber fest, daß auch in den Visionen der novajer
Totenseherin die Mutter Gottes neben dem Toten vorkommt, J. Fekete: Tudös-
asszonyok. (Weise Frauen.) Ethn. 1910, 291.
° Vgl. weiter unten die Liebesorakel.
* Die Mutter bekommt den Spiegel, die Tochter bloß ein Ersatzobjekt. Die
Situation entspricht dem Anfangsmotiv des Schneewittchentypus (vgl. ©. Rank:
Ein Beitrag‘ zum Narzissismus. Jahrbuch für psydoanalytishe und psydhopatho=
logishe Forschungen. III. 1. 1911. 406), insoferne Mutter und Tochter. hier Rivalen
Spiegelzauber 93
Gottes in diesen Visionen spielt, können wir dem noch hinzufügen,
daß hinter der Rivalität mit der Mutter ein Sich=identifizieren,
eine positive Libidoströmung der Mutter gegenüber zu vermuten
wäre, während sich anderseits der Totenkopf als ein aus abge-
lehnter Liebe entsprungener Todeswunsch darstellt. Ganz klar
läßt sih aber aus alldem der Kern herausheben, eine Art experi-
mentelle Verifizierung des Grundgedankens dieses Kapitels, daß
nämlih das Differenzierende in der psychischen Konstitus
tion des Sehers im Narzißmus zu suchen ist!. Ferner ist es
auh wahrsceinlih, daß diese Totenseherinnen, deren Schaulust ur-
sprünglich wohl auf Lebende, in erster Reihe auf die Eltern gerichtet
war, indem sie. nun ihre Affektivität und Interesse auf die Dahin=
geschiedenen übertragen, dasselbe auh den Lebenden entziehen
müssen. So hält z. B. die jäszberenyer Totenseherin die Augen
stets niedergeshlagen, als ob sie dem Blick Fremder ausweichen
wollte und pflegt träumerish vor sih hinzushauen. Sie sieht seit
Vollendung des siebenten Lebensjahres Geister und hat sich bereits
so sehr an sie gewöhnt, daß ihre fortwährende Gegenwart sie nicht
im geringsten in ihren Verrichtungen stört?. Der Narzißmus ist im
allgemeinen bei den Frauen mehr ausgesprohen und die bisher
bekannten Totenseher in Ungarn sind alle Frauen’. Das Tabu des
Voghin zeigt den Narzißmus schon im Stadium der Verdrängung,
denn wenn das Bild des in Wasser, in Öl, in einem Spiegel oder
in zerlassener Butter schauenden VYoghin sich ohne Haupt zeigt,
oder wenn ihm der Kopf scief sitzt, bedeutet dies den nahen Tod
des Sehers*. Ebenso ist dem zukünftigen Zauberer, beziehungsweise
sind, aber umgekehrt, denn bei der dormänder Totenseherin ist die bewegende
Kraft der Handlung der Neid der Tochter, bei Schneewittchen »die verzweifelte
Gegenwehr der Mutter (Rank: Ebenda.). Vgl. Bolte-Polivka: Anmerkungen
zu den Kinder- und Hausmärcen, 1913. I. 450-464, E. Böklen: Schneewittchen-
studien. I. (Mythologische Bibliothek. III. 2.) 1910. II. (Ebenda. VII. 3.) 1915.
L. Ciorbea: Apa tineretelor si alte Povesti Poporale. 1904. 85, I. Läzär: Als
söfeher värmegye monografiäja. 1899. I. 2. 597. Gewissermaßen ein männliches
Gegenstük zum Motiv »Schönheitswettstreit« findet sih in einem orientalischen
Märdentypus. Vgl. Solymossy: A szep ember meseje. (Das Märchen des
schönen Mannes.) Ethn. 1916. 257-275.
! Außerdem noc in der Schaulust, die sich als Partialtrieb sehr leicht mit
dem Narzißmus verbindet. Das narzißtish gesteigerte Selbstgefühl durchbricht
leichter die Hemmungen, die sih dem Bewußtwerden und noch mehr dem Erzählen
der unbewußten Phantasiebildungen entgegenstellen, das Selbstshauen fördert die
Tendenz des Visualisierens
® A. Nyäry: A halottlätö. (Die Totenseherin.) Ethn. 1908. 94.
3» A Nyäry: Ebenda. 95. In Besenyötelke findet sih aber doh ein Mann
als Totenseher. Berze Nagy: Babonäk, babonäs alakok &s szokäsok Besenyötel=
ken. «Aberglauben, abergläubishe Gestalten und Gebräuche in Besenyötelke.)
Ethn. 1910. 27. Etwas anders liegt die Sache bei den Primitiven, die Männer be-
sitzen hier auch unter den Sehern das Übergewicht.
* Zachariae: Zur indishen Witwenverbrennung. Zeitschrift des Vereins
für Volkskunde. 1905. 84, zitiert: Särngadharapaddhati. 4576. A. Bertholet:
Religionsgeschictlihes Lesebuch. 1908. Geldner: Die Religion der Inder. 133,
zitiert Aiteraya- ÄAranyaka. 3. 2, 10,
Weiteres zum
Thema des ver-
drängten
Narzißmus.
Das unbewußte
Wissen.
94 Dr. Geza Röheim
Priester verboten, das eigene Spiegelbild zu schauen!, Gleicfalls
mit negativem Vorzeichen erscheinen dieselben Gefühle bei einem
dalmatinishen Seher, nahdem die übermäßig energishe Verdrän-
gung seine eigene Neigung zum Selbstbespiegeln in feindlidie Ein-
stellung gegenüber ähnliher Gefühle der anderen gewandelt hat.
Wenn die Fechsung schleht war, pflegte der alte Radivoj, der be-
rühmte Seher, zu sagen: Verfluht sei, wer den Spiegel dem Volk
gebraht hat! Wenn es keinen Spiegel gäbe, würden die Ähren
zweimal im Jahre reifen. Die Mädchen vergaffen sich in ihr eigenes
Spiegelbild, flechten sich noch mehr Haare in den Schopf und des- .
halb versengt die Sonnenglut alles auf Feld und Flur?.
Die bisher angeführten Beispiele zeigen das unbewußte Funk-
tionieren der Psyche des Sehers. Da der Fragende aber häufig un-
bewußt die Antwort auf das, was er vom Seher erfragen will,
sehr wohl weiß, ist es natürlih, daß solche Antworten die größte
Wirkung erzielen, die dieses verdrängte Wissen auf die Oberfläche
bringen®, Deshalb schaut der Seher häufig nicht selbst in den
Zauberspiegel, sondern überläßt es dem Fragenden, daraus die aus
dem eigenen Unbewußten hervorbrehende Antwort abzulesen,
Mande der östlihen Cherokee erklären die auf solhe Weise ge-
wonnene Offenbarung als zutreffend. Drei Cherokee gingen zum
Medizinmann, der sie in den Ulüäsu’ti (Kristall, Schlangenstein)
bliken läßt. Alle drei sehen am Grund des Kristalls ihre eigene
Gestalt. Der roten Linie folgend, steigen die Gestalten langsam im
Kristall, doc nur eine erreiht die Oberflähe, die beiden anderen
kommen nur bis zur mittleren Linie und sinken dann auf den
Grund zurük. Es kam so wie der Medizinmann voraussagte, denn
nur der Erzähler, dessen Ebenbild die Oberflähe erreicht hatte,
überlebte den Feldzug‘. In Wagawaga wird folgendes aus Awai-
ama stammendes Verfahren angewendet, um einen vermuteten Ehe-
brudh zu beweisen. Der rote Saft der Blätter des »Popori«-Baumes
wird in ein altes Gefäß oder eine Schüssel gedrückt. In der Ein-
samkeit seines eigenen Hauses starrt dann der Mann in die Schüssel,
dort sieht er das Bild seiner Frau und das ihres Geliebten, und
wenn die Frau trotzdem leugnet, so läßt er sie in die Flüssigkeit
RE sE Jolly: The Institutes of Vishnu. (Saced Books of the East. VII.)
880. 226.
2 F.S. Krauss: Tausend Märhen und Sagen der Südslawen. 1914. I.
376. Beachtenswert ist die Verknüpfung zwischen dem narzißtischen, also unfruct-
baren Spiegelshauen und der Unfruchtbarkeit der Erde. Das Steckenbleiben im
Narzissismus wird durch die Sonne, als Vertreter der Vaterimago, bestraft (vgl.
dazu Kapitel VIII). Die Objektliebe ist ja beim Mädchen die Wiederbelebung der
Vaterimago, der Konflikt ist also der Konflikt des Narzißmus und des »Änleh-
nungstypus«. Vgl. S. Freud: Zur Einführung des Narzißmus. Jahrbuch für
Psychoanalyse. VI. 1914. 15.
s Vgl. Silberer: Lekanomantische Versuche. Zentralblatt für Psychoanalyse.
II. 1912, 383, 438, 566.
* J. Mooney: Myths of the Cherokee. (XIX. Annual Report of the
Bureau of Am. Ethn.) 1900. 461.
Dies ezauker \ 95
schauen und sie erblikt darin ihr eigenes Gesicht nebst dem ihres
Geliebten. Der, den man durch dieses Verfahren entdeckt, traut sic
nicht seine Shuld zu leugnen »inside belong him no good, man
he savy«!, d. h. man appelliert zum Unbewußten als oberste In-
stanz. In St. Gildas, wenn jemand wissen will, ob der Hund, der
ihn gebissen, toll war oder nicht, so geht er zur Quelle und wenn
er an Stelle seines Ebenbildes im Wasserspiegel einen Hund er-
blikt, so ist: die Tollwut schon in ihm. Am Cap Sizun läuft
der Gebissene dreimal um die Kapelle vom hig. Tugen und
blikt dann in den Wasserspiegel, wenn er dort sein eigenes
Antlitz erblikt, ist alles in Ordnung, wenn aber das Spiegelbild
des Hundes sih zeigt, so war dieser schon früher beim
Heiligen, der nun keine Macht mehr über die Tollwut besitzt?,
Der Zauberspiegel (in Thüringen Erdspiegel, in Kärnten Berg-
spiegel) ist in der Regel ein mit Schieber verscließbarer, ein-
faher, viereckiger Glasspiegel, das charakteristishe Werkzeug des
»Venedigers«. In Württemberg schreibt die weise Frau oder der
weise Mann den Taufnamen des Fragestellers auf einen Zettel,
dann schickt er den Betreffenden in ein anderes Zimmer, wo er im
Spiegel Erscheinungen, wahrsceinlih Verstorbene sieht, die auf
seine Fragen Antwort geben. Ein solcher Spiegel erhält seine
Zauberkraft dadurh, daß man ihn um Mitternaht vor das Gesicht
eines Leichnams hält®. Es ist bemerkenswert, daß die Spiegelschau,
offenbar infolge der suggestiven Wirkung des Prestige des magischen
Gegenstandes und des Sehers, gerade die am stärksten verdrängten
Vorstellungen auf die Oberflähe bringt. So zeigt z. B. der Sicht-
spiegel des Mannes in Schwarzwasser die wahren Diebe, »Leute,
von denen man es kaum geglaubt hättest. Zwei Dorfbewohner be-
gaben sih nacı Swansea, Weizen zu verkaufen, unterwegs aber
scliefen sie ein und jemand stahl den Weizen aus ihren Säcken,
das Geld aus ihren Taschen. Sie gingen darauf zu Dr. Harris, dem
berühmten Seher. Dieser führte sie im Zimmer im Kreise herum
und hielt ihnen einen runden Spiegel vor, damit sie hineinshauen
mögen. Sie sahen in dem Spiegel nicht das eigene Gesicht, sondern
die Landstraße, auf der sie gekommen waren, sich selbst, wie sie
scliefen, und einen ihrer Nolan, den zu verdäctigen sie nie
gewagt hätten, wie er. den Weizen und das Geld stiehlt’. In
G. Seligmann: The Melanesians of British New Guinea. 1910.
654, 655.
® P Sebillot: Le Folk=Lore de France. II. 1905. 245. In Saint-Segal gilt
gerade das Entgegengesetzte: Wenn. er den Hund im Wasserspiegel erblickt, bleibt
er gesund. In Saint Gildas kann man sich loskaufen, wenn man einen Hahn opfert.
Ebenda. Vgl. ante über ähnliche stellvertretende Opfer beim Schatzsuhen, und
auh Ferenczi: Ein kleiner Hahnemann. Int. Zeitschr. f. ärztl. Psychoanalyse.
1913. 240. ;
3 Wuttke: Volksaberglaube. 245,
4ıR. Kühnau: Sclesishe Sagen. 1913. III. 203, 204.
5 Trevelyan: Folk-Lore and Folk-Stories of Wales. 1909. 215, 216,
en
96 Dr. Geza Röheim
Schweigershausen wurde einem Mann sein Bienenkorb gestohlen.
Er geht zum »weisen Mann« nach Gieboldshausen und dieser läßt
ihn in den Spiegel schauen. Dort sieht er den eigenen Bruder mit
dem Bienenkorb!. In Flums zeigt der Zauberer dem Bestohlenen
auf sein Begehren im Berg- oder Weltspiegel den Dieb, dort sieht
er, wie der Teufel an einer Furke seinen eigenen Bruder herhält:.
In Medlenburg zeigt der Spiegel bei der Frage nach der Hexe,
welche das Vieh oder die Menschen behext hat, häufig die Mutter
der Fragenden®. Eine Rauriser Sage erzählt, daß der weise Mann
in einem Glas Wasser das entfernte Heim zeigt und die auf dem
Hausdadh herumgehende Hexe, wie sie einen Eimer Wasser in den
Hof schüttet. Dieses hat das Vieh verzaubert‘. Ebenso zeigt der
Zaüberer von St. Triphon in einer französishen Sage den Ver-
zauberer der Kühe im Spiegel, doch früher muß der Beleidigte
schwören, daß er keine bösen Gedanken gegen seinen Feind haben
wird®. In Platznau sieht ein Hirte, wie das »Venedigermandels
Gold wäscht und er bringt ihm den goldtragenden Sand nad
Venedig. In einem fürstlichen Palaste sieht er den Venediger wieder
und dieser zeigt ihm in seinem Spiegel, was seine Frau zu Hause
un und Müller: Niedersächsische Sagen und Märchen. 1855,
172, 5
® W. Manz: Volksbrauh und Volksglaube des Sarganserlandes. (Schriften
der schweizerischen Gesellschaft für Volkskunde Nr. 12.) 1916, 115, 116.
®» Wuttke: Volksaberglaube. »Der dreizehnjährige Sohn des Opfermannes
zu Geitelde, Hans Reinhart wollte (1661) die Hexen sehen. Er setzt sich in der
Walpurgisnaht auf einen hölzernen dreibeinigen Schemel, fährt damit in des
Teufels Namen dreimal um das Dorf und setzt sih am Kreuzweg im Kreis,
Endlih kommt ein grausamer Windsturm und darin sechs alte Weiber, die
wollten ihn aus dem Kreise ziehen. Er nannte dann sechs Frauen aus Geitelde,
darunter die eigene Mutter als Hexen. R. Andree: Braunschweiger Volks=
kunde. 1901. 381, 382 und Soldan-Heppe: Geschichte der Hexenprozesse,
1911. I. 371. Beide nah H. Rhamm: Hexenglauben in braunschweigi-
shen Landen (Wolfenbüttel). 1892. 94. Vgl. Röheim: A Iuczaszek. (»Der
Hexenstuhl«.) Neprajzi Ertesitö, 1915. 8, 9. A. Löwenstimm: Aberglaube
und Strafrecht. 1897. 47. Wenn wir nun bedenken, daß die häufigste Be-
shuldigung, welhe man gegen die Hexen ins Feld führt, daß sie »virosque ne
uxoribus, et mulieres, ne viris actus coniugales reddere valeant, impedires.
J. Hansen: Quellen und Untersuhungen zur Geschichte des Hexenwahns. 1901.
25. »viros ad coeundum maleficio reddunt impotentes«. Ebenda. 294 (vgl. eben=-
da: 97, 108, 129, 141, 210, 245, 260, 262, 283, 289, 295, 296, 320, 339, 350,
417, 452, 577 und Komäromy: Magyarorszägi Boszorkänyperek Okleveltära.
1910. 2, 5, 18, 38, 85, 87, 156, 157, 175, 176, 194, 195, 209, 244, 245, 264,
508, 509, 514, 530, 678) und daß die psychische Impotenz wirklich durch eine
Fixierung der Libido an die Mutter entstehen kann. (Vgl. Ferenczi: Lelekelemzes
(Psydoanalyse). 1914. 60), so werden wir das Erscheinen der Mutter im Spiegel
als eine endopsyhishe Wahrnehmung deuten. Von diesem Standpunkt aus fällt
ein ganz neues Licht auf den charakteristishen Zug der Hexenprozesse, daß die
nächsten Angehörigen einander des Malefiziums beschuldigen. Vgl. noh C. G.
Jung: Wandlungen und Symbole der Libido. 1912. »Mutter, furchtbare« im Index.
* M. Andree-Eysn: Volkskundlihes aus dem bayrisch=österreichischen
Alpengebiet. 1910. 212, 213.
re 5 J. Jegerlehner: Sagen aus dem Unterwallis. (Schr. d. schweiz. Ges. 6.)
1909, 56.
Spiegelzauber 97
madt. Das war der Bergspiegel, mit dessen Hilfe er das Gold im
Berge gesehen hatte. Als der Hirte versucht, die Goldmacerkunst
zum eigenen Besten zu betreiben, vershwindet allesı, Zu einem
Mann in Grund kamen jedes Jahr Leute aus Venedig, schauten in
den Spiegel und sahen darin alles, was in den Bergen verborgen
war, Der Gastgeber wußte dies und stahl den Spiegel. Er sah
auch darin, daß das Innere des Iberg lauter Eisen ist und das
Ganze auf Wasser shwimmt. Aber in der Frühe bemerkten die
Venediger den Diebstahl, nahmen den Spiegel zurük und kamen
niemals wieder in diese Gegend. Der Dieb verlor das, was er an den
Venedigern stets verdient hatte?. In Edwein belaushte ein Bauer
einen Fremden, wie er im Sande Gold wush und ahmte ihm nad.
Er geht mit dem Golde nah Salzburg, da ruft plötzlich einer
aus dem Fenster und ladet den Bauer ins Haus hinein. »Du, rühre
nicht an meinem Sande, denn ih erschieße dih«, sagt der Fremde.
Dann zeigt er ihm seinen Spiegel und in diesem sieht der Bauer
sein Gehöft, seine Kühe und seinen Hirten?. Die Spiegelshau be-
lebt die Erinnerungsbilder und diese bedeuten die esansenheir,
das niht Bewußte und dunkel Geahnte und diese vertreten Gegen-
wart und Zukunft. Der Venediger nimmt den Bergmann mit in
seinen glänzenden Palast, wo er ihn vor einen Spiegel führt. In
dem Spiegel sieht der Bergmann sich selber, wie er um die Hand
seiner jetzigen Frau wirbt, wie er seine Braut zum Altar führt
und noc vieles andere, was er schon längst vergessen hatte, was
er sih aber jetzt ins Gedächtnis zurückruft. Dann führt ihn der
Venediger vor einen anderen Spiegel, in diesem sieht er sein Heim,
seine Frau und seine Kinder, die weinen und jammern, weil sie
ihn für tot halten. Dieser Anblick greift ihm so sehr ans Herz, daß
er in Tränen ausbricht. Schließlich zeigt ihm der dritte Spiegel die
Zukunft, Er lebt mit seiner Familie in Hülle und Fülle,
aber seine Habsudt stoßt ihn wieder in das Elend zurück. »Siehst
du, sagt ihm der Venediger, das letzte wird nicht erfolgen, wenn
du mir gehorsam bleibst.« Natürlich hält der Bergmann das Tabu
nicht ein und die geträumten Schätze verschwinden’. Wie im Spiegel
des Venedigers, so zeigt sich die Zukunft öfters im Spiegel, und
jeder Versuch, dem Schicksal zu entrinnen, bleibt vergeblich, was
ı I. N. Alpenburg: Deutsche Alpensagen. 1861, 204, 205.
® Wrubel: Sammlung bergmännisher Sagen. 1882. 98, 99.
® Andree-Eysen: Volkskundlihes aus dem bayrisch-österreihishen
Alpengebiete. 1910. 212. Vgl. auh W. Manz: Volksbrauh und Volksglaube
des Sarganserlandes. (Schrift. d. Schweiz. Ges. f. Volksk, 12) 1916, 146. C.
Meyer: Der Aberglaube des Mittelalters. 1884, 283.
* Hinsichtlih der drei Spiegel, die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft
zeigen, vgl. I. Bibö: A szämok jelentese &s a gondolkodäs alapformäinak törtenete.
(Die Bedeutung der Zahlen und die Geshichte der Grundformen des Denkens.)
Neplelektani dolgozatok. (Völkerpsycologische Arbeiten.) 1. 1917. 16-21, 33, 34,
27, 37, 44, 49, 74.
5 Wrubel: Ebenda. 93-98: Nah Ey: Harzmärdhenbud. 40.
Imago V/2 7
DE Te nn
98 Dr. Geza Röfieim
von der Sprahe der Sage ins Psydologishe umscrieben der de-
terminierenden Gewalt des Unbewußten gleihkommt. Eine Jungfrau
sieht in einer großen kristallenen Kugel, daß der Bräutigam mit
der Pistole auf sie zielt und dann auf sich selbst. Sie verlobt sich
daraufhin mit einem anderen, aber die Vision bewahrheitet sich
doh!. Die Vision im Spiegel drückt die unbewußten Befürchtungen
des Mädchens, die es vor dieser Verlobung hegt und die
dann durh die Lösung der Verlobung in der Tat die Ober-
hand gewinnen, aus. Das folgende Beispiel zeigt wieder, wie der
Verdadht zur Gewißheit wird. In Llandovery ging ein Knedt zum
Seher und wollte erfahren, wer den in Verlust geratenen Widder
estohlen habe. Der Seher zeigt ihm in einem großen Spiegel den
Na seines Herrn. Er sagte ihm, daß nach drei Tagen abends
neun Uhr der Dieb am Fuße eines Berges ihm entgegenkommen
und sagen werde: »Hier ist der Widder deines Herrn, er hatte
sih in die Ferne verirrt und ich habe ihn gefunden.« Und so ge=
schah es audh?. In Steinitz hatte ein .kluger Mann einen Zauber-
spiegel, zu dem ging ein Schäfer aus Schleife, um in den Spiegel
zu sehen, weil ihm eine Hexe am Vieh und auch sonst viel
Schaden tat. Aber der kluge Mann wollte dem Schäfer den Spiegel
nicht zeigen, weil, wer hineinsieht, einen großen Schrecken kriegt.
Denn der Böse hält die Hexe im Spiegel vor sich und sieht ihr
über die Schulter. Dem Fragenden erscheinen im Sichtspiegel des
Mannes zu Schwarzwasser fünf verschiedene Bilder vom Schmuggler-
zuge. Er sieht auch seine Frau mit den Schmugglern und beobachtet
die Gesellschaft bis zu ihrer Ankunft im Lager auf dem Rotenberge.
Dann geht er zum Rotenbergwirt, der zeigt ihm die Lagerstätte,
welche genau so aussah wie er sie im Spiegel gesehen hatte‘. Auf
Jahrmärkten werden eine Art von Guckkästen aufgestellt, in denen
jedermann die zukünftige Geliebte oder den Bräutigam im Spiegel
sehen kann’. Hier wird gewiß der Ursprung des Schrankes der
Siebenbürger Zigeuner zu suchen sein, von dem sie selbst sagen,
er sei »für die Weißen« angefertigt. Der Apparat besteht aus
einem kleinen Schranke, in welchem eine von außen drehbare vier-
seitige Walze angebracht ist, über der Walze ist ein Spiegel be-
festigt, einem in der Seitenwand des Schrankes befindlihen Guk-
loche gegenüber. Auf zwei Seiten der vierseitigen Walze ist je ein
Bild eines Mannes oder Weibes angebradt. Wenn nun der Fra=-
gende durh das Loh in den Schrank sieht, so erblickt er sein
Gesicht im Spiegel, weil eben die bilderlose Seite der Walze dem
Spiegel zugekehrt ist, die Frau lenkt die Aufmerksamkeit des
Fragenden ab, so daß er abermals in den Schrank blickend das
> W. von Schulenburg: Wendishes Volkstum. 1882. 88,
* R. Kühnau: Schlesishe Sagen. 1913, III. 204-206.
5 Wuttke: Ebenda. 246.
Spiegelzauber 99
Bild, das sih auf der inzwischen gedrehten Walze befindet, im
Spiegel sieht. Natürlih nur trübe und vershwommen, so daß die
Einbildungskraft dann was immer daraus heraussehen kann!.
Da das im Spiegel erscheinende Ebenbild das zweite Ich des Aralogiezauber.
Individuums ist, kann der Seher den in den Spiegel zitierten Dieb
oder die Hexe auc verletzen. In der Nähe von Hohenstein zeigt
der »Oberhexer« für einen Gulden die Hexe, von der man behext
ist und bestraft sie auch gleich. Er schneidet dem Spiegelbild Nase
und Ohren ab, damit man die Hexe solher Art erkennen könne,
doh über Wunsh des Verzauberten schneidet er ihr auh den
Hals ab?. Wenn jemand in Nikolivin (Gouvernement Jaroslav)
beleidigt worden ist, so geht er zu einem Wahrsager. Der läßt ihn
in ein Glas Wasser sehen, in dem nad einiger Zeit das Bild seines
Feindes erscheint, der Beleidigte stiht nun womöglich in die Augen
oder wenigstens in das Gesiht des Bildes und so kann er seinen
Gegner an derselben Stelle verletzen?. In Gieboldshausen zeigt der
weise Mann dem Fragesteller im Spiegel den Bruder als Dieb des
Bienenkorbs. Der Wahrsager frägt: »Soll er nun sterben oder soll
er ihm einen Arm oder einen Fuß abschneiden?« Der Geschädigte
antwortet auf all das mit Nein, er will den Bruder nicht so streng
bestrafen. Schließlih einigen sie sih dahin, daß sein Körper an-
shwellen möge, bis er beinahe erstickt, dann aber soll er genesen‘.
Im Kanton Zürih gab es einen Bezirksrihter, der den in den
Zauberspiegel zitierten Dieb auch gleih umbradte’. In Edwein
schießt der Venediger mit der Pistole auf das Spiegelbild der Kuh,
zur selben Stunde steht zu Hause die Kuh des Bauern um‘. Im
CI. Kapitel des Gesta Romanorum findet sih das Motiv des
Ebenbildes gedoppelt, nämlih in der Form des Spiegels und des
Wadsbildes. Die Frau eines Ritters, der das Heilige Grab besuchen
will, verliebt sih in einen Kleriker »der wohl in der schwarzen
Magie erfahren war« und von der Frau aufgefordert, ein Bild mit
Namen des Ritters macht. Als der Gatte in Rom ankommt, ver-
ständigt ihn ein gewisser, »kluger Meister«” von der drohenden
ı Wlislocki: Volksglaube und religiöser Brauch der Zigeuner. 1893. 94, 95.
®21. W. Kostolowski: Race für eine Beleidigung. Ardiv für Anthro-
pologie. Bd. XXXIII. 1906. 306 (Etn. Obozr. 1902. Nr. IV.).
> M. Toeppen: Aberglauben aus Masuren. 1867. 39.
* Schambach-Müller: Niedersächsische Sagen. 1855. 172, 173.
> Wuttke: I. c. 246. Schweizerishes Archiv für Volkskunde. II. 269.
° Andree-Eysn: Volkskundlihes etc. 1910. 212. %
? Laut anderen Texten Virgilius, vgl. Charles Swan: Gesta Romanorum.
11.65. Deslongchamp: Essai sur les fables indiennes. 1838. 1. 153. 1. G. Büsching:
Erzählungen, Dichtungen, Fastnadtsspiele und Schwänke des Mittelalters. I. 130.
All diese zitiert G. Huth: Die Reisen der drei Söhne des Königs von Seren-
dippo. Zeitschrift für vergleichende Literaturgeshicte. 1890. N. F. III. 310. »Ein
kluger Meister« in der ungarischen Fassung. Katona: Gesta Romanorum. Übers.
Haller (R. M. K. XVII). 1900. 295-297 und in H. Oesterley: Gesta Ro-
manorum. 1872. 428. Vgl. ebenda. 727. Parallelen zu den Wacsbildern und
J. G. Th. Grässe: Gesta Romanorum. 1905. II. 266. Bodinus: De magorum
daemonomania. 1586. 27, 387 —390.
7°
L. j
100 Dr. Göza Röheim
Gefahr. Er läßt ein Bad bereiten und den Ritter sich hineinsetzen.
Nacdher aber gab er ihm einen hellpolierten Metallspiegel in die
Hand, der ihm Wunderdinge zeigte. Er sieht in seinem Hause den
Mönd, der ein ihm ähnliches Bild von Wachs gemadt hat, dieses
an die Wand gestellt und nun mit einem Pfeil durhbohren will.
Der Meister gebietet ihm, noch bevor jener den Pfeil abschnellt, ins
Wasser unterzutauhen, denn so kann er das Bild nicht treffen.
Der Versuh wiederholt sih dreimal, bis der zurückscnellende Pfeil
den Mönd tötet!. Das Wasser wehrt dem Zauber, dies dürfte
die geschützte Lage der Leibesfruht im Muttershoß symboli-
sieren, wenn sih der Ritter im Wasser versteckt, folgt ihm auch
sein Ebenbild in die Abgesclossenheit vor den bösen Zauberern
der Außenwelt:.
ı Katona: Gesta Romanorum. (Text der Übersetzung von I. Haller.
R. M. K. XVIIL) 1900. 295-297. J. G. Th. Grässe: Gesta Romanorum. 1905,
I. 181-184. Vgl. dasselbe Grimm: Deutsche Mythologie. Vierte Ausgabe. 1877.
II. 913 aus »Schimpf und Ernst. cap. 272.
2 Das Wasser bricht des Zaubers Macht, hebt den Einfluß der Dämonen
auf, es bildet die wichtigste Grenze (vgl. A. van Gennep: Les Rites de Passage.
1909.) zwischen den beiden Welten des Profanen und Heiligen. Bei der Rückkehr
vom Begräbnis läuft man in Tahiti ins Meer, taucht im Wasser unter und wirft
die Kleider hinein. Ellis: Polynesian Researhes. 1830. I. 403. Audh nah dem
sakralen Bogenschießen wird gebadet, ebenda. 301 und das Tabu kann man durch
Waschen entfernen J. Cook: A Voyage to the Pacific Ocean. 1785. I. 410.
Der Priester der Matamba wirft die Witwe einigemal ins Wasser, damit die Seele
des Mannes darin ertrinken und die Frau in Ruhe lassen soll. W. Sonntag:
Die Totenbestattung. 1878. I 113 und genau dasselbe geschieht in Celebes.
G. A. Wilken: Das Haaropfer Revue coloniale internationale. II. 1886. 248, 249,
D. s.: De Verspreide Gescriften. II. 427. In Borneo waschen die Kenyah die
Krankheit, die aus dem Übertreten des Tabu stammt, mit dem Bfute eines Opfer-
huhns und mit Wasser weg. Ch. Hose and W. Mc. Dougall: The Pagan
Tribes of Borneo. 1912. II. 128. In Minehasa vertreibt das Wasser die Krank»
heitsdämonen und schützt vor dem bösen Zauber. Wilken: Haaropfer. I. c. 251.
Geschriften. II. 429. Die Bangalas bespritzen Bäume und Flußufer mit heiligem
Wasser beim Anblick der ersten Europäer, die sie für böse Geister halten.
H. M. Stanley: The Congo and the Founding of its State. 1885. II. 106. Die
Karen ziehen einen Faden über den Bad für die Seele, E. B, Tylor: Primitive
Culture, 1903. I. 442. König Guntrams Seele verläßt im Traum seinen Leib in
Tiergestalt, aber den Bach kann es ohne Hilfe nicht überschreiten. J. Grimm:
Deutsche Mythologie. 1877. II. 905. Die Baschkiren glauben, daß der Fiebergeist
kein Wasser überschreiten kann. S. Roudenko: Traditions et Contes Badkires,
Revue des Traditions Populaires. XXIV. 1909. 132. Fließendes Wasser zum Ver-
treiben der bösen Mächte kennt sowohl die hebräishe wie auch die assyrische
Magie. R. C. Thompson: Semitic Magic. 1908. 185, 188. (Vgl. ebenda im
Index »Water« und »Washing«.) Fieberfrost heilt man, indem man ihn in eine
Weide hineinhaudt, aber man darf über kein Wasser gehen. Grimm: Deutsche
Mythologie. III. 475. Will man die Hexen sehen, so darf man am Weg kein
Wasser überschreiten. Kühnau: Sclesishe Sagen. II 1913. 34. Langer:
Deutsche Volkskunde aus dem ‘östlihen Böhmen. VI. 1901. 203. Hat man sie
aber schon gesehen, so soll man schnell trachten, unter der Traufe oder übers
Wasser zu gelangen, dann können einem die Hexen nichts anhaben. Drechsler:
Sitte, Brauh und Volksglaube in Schlesien. 1906. II. 246. Man sieht in der-
Andreasnaht des Zukünftigen Bild im Brunnen, aber nur, wenn man keine Wasser-
leitung überschreitet. Hoffmann-Krayer: Feste und Bräuche des Schweizer-
volkes. 1913. 96. In Guldal ist es wegen der Hexen gefährlih, den Arbeitern am
Spiegelzauber 101
Wir können jetzt auf jene Riten übergehen, mit deren Hilfe
ein gewöhnlicher Spiegel in einen magishen umgewandelt werden
kann. Da sich an jeden Spiegel gewisse Wünsche und Besorgnisse
heften, deren Objektivierung nur in der Form magisher Qualitäten
erfolgen kann, handelt es sih hier bloß um eine Steigerung der
magischen Eigenschaften. Wir können aud hier, wie im allgemeinen
bei jedem steigernden Ritus das Hineinspielen des Begriffs der
Zauberkraft (Mana) voraussetzen, ohne uns mit dieser Erklärung
zufrieden zu geben. Aus den aufzuzählenden Beispielen erhellt, daß
Felde Milh über einen Bach zu tragen. K. Liebrecht: Zur Volkskunde. 1879.
316. Die Bangalas überschreiten einen Bah, um sich vor der Seele der beerdigten
Verwandten zu schützen. J. H. Weeks: Notes on Some Customs of the Ban«
gala Tribe Folk-Lore. 1908. 93. Anderseits dürfen gerade die Totenträger nicht
über Wasser. F. D. Bergen: Current Superstitions Journal of American Folk=
Lore. 1889. 14. Bei den Weihnahtsumzügen der »Rusalki-Gesellschaftens der
Bulgaren dürfen die Mitglieder bei ihren Wanderungen von Dorf zu Dorf nicht
ins Wasser treten. Wenn ein Bach ihren Weg versperrt und sie ihn nicht über=
springen oder umgehen können, so lassen sie sich hinübertragen. Strausz: Die
Bulgaren. 1898. 357. In Nordungarn glaubt man, daß die Feen zwar bei der
Quelle hausen, doh das Wasser nicht überschreiten können. Z. Elek: Gömör-
megyei babonäk. (Aberglauben aus Gömör.) Ethn. VII. 1896. 288. In Irland
kann sich einer, dem Feen oder Gespenster nachsetzen, in vollkommener Sicherheit
fühlen, sobald er fließendes Wasser überschritten hat. W. I, E. Wentz: The
Fairy Faith in Celtic Countries. 1911. 38. »It is a well-known fact, that witches,
or any evil spirits, have no power to follow a poor wight any farther than the
middle of the next running stream.«e R. A. Willmott: The Poetical Works of
Robert Burns. 1856. 154. Tam o’ Shanter. »If you can interpose a brook betwixt
you and witches, spectres or even fiends, you are in perfect safety. It is a firm
article of popular faith, that no enchantment can subsist in a living stream.« W.
Scott: Lay of the Last Minstrel, Canto. IN. Vers. XIII. Anmerkung. (The
Poetical Works of Sir Walter Scott. Albion Edition. p. 680.) An den Banks-
inseln verrichtet jeder seine Notdurft im Meere, weil das Wasser den Zauberer
verhindert, der Exkremente habhaft zu werden und mit ihrer Hilfe den Menschen
zu töten. Codrington: The Melanesians. 1891. 203. Kranke Kinder, die im
Heilen begriffen sind, darf man vierzig Tage lang über kein Wasser tragen.
Strausz: Bolgär nephit (Volksglaube der Bulgaren). 1897. 346. Die Ehsten spritzen
ein paar Tropfen vom ersten Badewasser des Kindes auf das Fenster, damit
Mondschein und Dämmerung dem Kinde nicht shaden sollen. Wiedemann: Aus
dem inneren und äußeren Leben der Ehsten. 1876. 307. Vgl. ferner Goldziher:
Wasser als Dämonen abwehrendes Mittel. Archiv für Religionswissenschaft. 1910.
XII. 20 Sartori: Das Wasser im Totengebrauce. Zeitschrift des Vereins für
Volkskunde. XVII. 1908. 353, 375. J. G. Frazer: On certain Burial Customs
as illustrative of the Primitive Theory of the Soul, Journ. of the Anthr. Inst.
1885. 80. E. Crawley: The Mystic Rose. 1902. 198-200. E. B. Tylor:
Primitive Culture. 1903. II. 429-434. Georgi: Beschreibung aller Nationen des
russischen Reiches. 1776. 32, 34. Scheftelowitz: Die Sündentilgung durch
Wasser, Ardiv für Religionswissenshaft. 1914. 353—412. Usener: Heilige Hand-
lung. Ebenda. VII. 1904. 290. D. Westermann: Über die Begriffe Seele, Geist
Schicksal bei dem Ewe=- und Tscivolk, A. R. W. VII. 106. A. W. Howitt:
Native Tribes of South Bast Australia. 1904. 461. W. Crooke: An Indian
Ghost Story. Folk=Lore. XII. 282. D. s.: Popular Religion and Folk-Lore of
Northern India, 1896. II. 25. Skeat: Malay Magic. 1900. 77, 81, 277-279, 347,
348, 387, 399-401, 424. E. Samter: Geburt, Hochzeit und Tod. 1911. 85-89.
A. van Gennep: Les Rites de Passage. 1909, 39, 134, 136, 138, 191, 227,
R, Pettazzoni: I primordi della Religione in Sardegna. Ardiv für Religions«
Steigernde
Riten.
102 Dr. Geza Röheim
man das Ziel auf dem Wege des Berührungszaubers (conta-
gious magic) erreicht, indem nämlih der Spiegel mit einem Toten
in Berührung kommen muß, von welchem er gewisse Bigenschaften
übernehmen kann. Die Vorstellung des Spiegels, der alles zeigt,
eine Objektivierung des Wunsches der Lebenden, alles zu sehen,
verschmelzt leiht zu einem Komplex mit der Vorstellung über die
Verstorbenen, die als Ersatz für den Tod ihres Leibes, nebst vielem
anderen auch die Fähigkeit der Allsichtigkeit besitzen. Ein großer
Teil der infantilen Schaulust wird ja gerade den Eltern, den Toten
gegolten haben, nun wird diese Schaulust in eine entsprechende
wissenschaft 1913. 333. W. H. Bird: Ethnographical Notes about the Buccaneer
Isfanders. Anthropos. 1911. 177. (Wasser vernichtet die Kraft des gegen das
Ebenbild gerichteten Zaubers.) Nassau: Fetihism in West-Africa. 1904. 219.
Moldovan: Alsöfeher varmegye romän nepe. (Die Rumänen im Komitat Alsö-
feher.) 1899. 223. Wlislocki: Volksglaube und religiöser Brauch der Zigeuner.
1891. 113. I. Doolittle: Social Life of the Chinese. 1867. II. 373. Furness:
Folk-Lore in Borneo. 1899. 24. F. Boas: Chinook Texts. (Bureau of Ethnology.)
1894. 209. Milne: Shans at Home. 1910. 34, 35. Nicholas: Reise nah Neus
seeland. 1891. 41. W. E. H. Barrett: Notes on the Customs of the Wa-Giri-
ama, Journ, Anthr. 1911. 33, 34. Z. Nuttal: Mexican Superstitions. Journ. Am.
Folk-Lore. X. 277. Hornyänszky: A pröfetai ekstasis &s a zene. (Extase der
Propheten und die Musik.) 1910. 56 Laistner: Das Rätsel der Sphinx. 1889, I.
116, 117. Strausz: Vilägteremtesi mondäk a bolgär nephagyomänyban. (Schöp-
fungssagen in den bulgarischen Volksüberlieferungen.) Ethn. 1896. 209. Ich habe
früher die Ansicht vertreten, daß diese Eigenschaften des Wassers aus dem Er-
leihterungsgefühl zu erklären sind, die man bei seelischer Erregung, Fieber oder
brennenden Wunden verspürt, wenn man sie mit dem Wasser in Berührung
bringt. Die »Bösen« (Geister oder Menschen) oder die böse Zauberkraft ist die
Ursache aller dieser Hitzegefühle, ist selbst ein übernatürlihes Feuer und wird
somit durch ein ebenfalls magishes Wasser gelöscht. Röheim: A varäzserö fo=
galmänak eredete, (Ursprung des Manabegriffes.) 1914. 225, Die Deutung dürfte
ja aufrechtzuhalten sein, sie reiht etwa bis in die psychische Schichte des Vorbe-
wußten. Wenn wir aber die Bedeutung des Wassers als Grenze des Jenseits
(Wassergrab etc.) mit in Betraht ziehen (vgl. ©. Rank: Der Mythus von der
Geburt des Helden. 1909.), so dürfen wir doh annehmen, daß das unbewußte,
halb physishe Weiterleben der Erinnerung an die geschützte Lage im Uterus die
tiefste Wurzel dieser Vorstellungen bildet. Die weit verbreitete Sitte der Taufe,
die zweite Wassergeburt des Kindes stellt ganz sicher, wie Jung es richtig bemerkt,
eine Nachahmung der Geburt dar (C. G. Jung: Wandlungen und Symbole der
Libido. 1912. 306, vgl. E. Thurston: Castes and Tribes of Southern India.
1909. 52), sie deutet aber auch den Weg der Übertragung vom Frucdtwasser
auf die Gewässer der Außenwelt an, wobei ihre dämonenabwehrende Kraft den
»missing link< der ganzen Beweisführung herstellt. Vgl, über Taufgebräuce
Pfannenschmidt: Das Weihwasser. 1870. Krohn: A finnugor nepek pogäny
istentisztelete. (Heidnischer Kultus der finnish-ugrishen Völker.) 1908. 183, 185.
Mikhailovski: Shamanism in Siberia and European Russia. Journ. Anthr. 1894.
148. W. Taurat: Die Zauberei der Basotho. 1910. 12. L. R. Farnell: The
Evolution of Religion. 1905. 56, 57, 88, 162. W.E. Roth: Marriage Ceremonies
and Infant Life. (North Queensland Ethnography Bulletin. 10.) 1908. 14. K. L.
Parker: The Euahlayi Tribe. 1905. 52. R. Parkinson: Dreißig Jahre in der
Südsee. 1907. 70, 71, 437, 442, 530. H. Zahn: Die Jabim. 294, St. Lehner:
Bukaua. 400. (R. Neuhauss: Deutsch Neu-Guinea. 1911. III) D.G. Brinton:
Myths of the New World. 1908. 144-151. A. v. Gennep: Les Rites de
Passage. 1909. 88-90. Nassau: Fetihism in West-Africa. 1904. 212, 213.
Ploss-Renz: Das Kind in Brauh und Sitte der Völker. 1911. I. 294-323,
Spiegelzauber 103
magische Fähigkeit umgewandelt und auf die Toten projiziert!.
Wer in der Weihnachtsnadht, vor der Mitternahtsstunde einen am
St. Nikolaustage »unbeshrien« gekauften Spiegel vergräbt, wird
nach einem Jahre einen »Bergspiegel« erlangen, der alle Schätze der
Erde zeigt”. Um die Spitzbuben sehen zu können, kaufen die
Wenden einen Spiegel, ohne etwas abzuhandeln, und graben ihn
unter einen Galgen, wo schon Menschen erhängt wurden, neun
Nächte fang ein, und zwar jede Nact an einer verschiedenen Stelle.
Die letzte Nacht, wenn man den Spiegel abholen will, kommt der
Teufel (&ert) und hält ein Buch hin, in dem muß man sich unter-
schreiben®. In Desfawen kauft man, ohne zu handeln, einen Spiegel
und sowie jemand im Dorfe stirbt, legt man den Spiegel mit nadı
abwärts gekehrter Spiegelplatte auf sein Grab. Nacı einem Monate
hebt man ihn aus und der zetberspiege| zeigt jetzt jeden Diebs-
anschlag oder feindliche Absicht. Den Toten, in dessen Grab der
Spiegel war, muß man anrufen: »Josef, ic bitt dich, zeig mir den,
der das oder das gestohlen hat.« Darauf erblidt man im Spiegel
die Gestalt des Diebes‘. In Baden vergräbt man einen an den vier
Eden mit dem Kreuzzeihen versehenen Spiegel in Gegenwart
zweier Zeugen, ohne dabei ein Wort zu reden, in mondheller
Nadıt auf dem Kreuzwege. Wenn man ihn solange dort läßt, bis
drei Leichen darüber fahren, wird daraus ein Bergspiegel’. In
Vohenstrauß öffnet man um Mitternaht das Grab des Selbst-
mörders® und legt den Spiegel auf dessen Antlitz. Man muß ihn
drei Tage und drei Nächte hindurh dort liegen lassen und dann
in einer einsamen Waldquelle abwaschen. Man bekommt dann einen
»Erdspiegel«, aus welhem man alles sehen kann, was man nur
will. Ein solcher Spiegel zeigt die verborgenen Schätze, die Erz-
lager, die Quellen, das gestohlene Gut und den Aufenthaltsort der
Seelen in der Unterwelt!. Außer den Selbstmördern sind die im
Wocenbett verstorbenen Frauen geeignet, den Spiegel in einen
magischen zu verwandeln®. Beim Thema des Schatzsucens habe
ich bereits die Möglichkeit der symbolishen Übertragung von der
Mutter auf die Mutter Erde angedeutet. Wir können jetzt bereits
ı Dazu kommt noch das Motiv der infantilen Furht vor dem allsehenden
Auge des Vaters. Vgl. 7. und 8. Kapitel unten.
2 Birfinger: Volkstümlihes aus Schwaben. 1861. I. 337.
3 W. v. Schulenburg: Wendishes Volkstum. 1882. 87, 88.
4 A. John: Sitte etc. im deutschen Westböhmen, 1905. 276, 277.
5 E. H. Meyer: Badisches Volksleben. 1900. 563, 564.
° Vgl. über den im Augenblik des Selbstmordes erscheinenden Doppel-
gänger. ©. Rank: Der Doppelgänger. Imago. 1913. 99, 108, 117. Vgl. aud
Seefried-Gulgowski: Von einem unbekannten Volke in Deutschland. 1911. 190,
: Schönwerth: Aus der Oberpfalz. 1859. III. 218.
s Vgl. dieRolle der schwangerenFrau bei derSpiegelshau. Kiesewetter:
Faust in der Geschichte und Tradition. 1893. 466. »Adhibebatur puer impollutus
aut mulier praegnans.< P. G. Schott: Magia universalis naturae et artis. 1677.
IV. Lip. VI. II. 533, ferner bei den Spiegelschauverboten, hinsichtlih der Frauen
im Kindbett, ebenda. Siehe die Erklärung, ebenda und im Kapitel Reinkarnation,
104 Dr. Geza Röheim
mit größerer Bestimmtheit darauf hinweisen, daß man mit Hilfe des
von der verstorbenen Mutter erlangten Spiegels in den
Schoß der Mutter Erde hineinschauen kann!, Im 72. Kapitel
des »Höllenzwanges« wendet man sich bei der Spiegelshau an Sancta
Helena®. Hinter dem Rücken eines keushen Knaben kniet der
Beshwörer und bittet die Heilige, daß sie »durh die Liebe, die
du zu deinem Sohne Constantinum gehabt hast usw., im Kristall
die gesuchte Vision offenbare«®, Dann erscheint im Kristall ein
Engel, der die Fragen des Knaben beantwortet. Das alles soll
geschehen »in ortu Solis, cum iam Sol emerserit et aer fuerit
serenus et clarass‘. Es ist klar, daß in den folgenden Riten
die im Kindbett verstorbenen Frauen gleihsam den Prototypus
des Weibes, die Mutter darstellen. In Thüringen kauft man,
ohne zu feilshen, einen durch ein kleines Deckblatt verscließbaren
Spiegel und wartet, bis sih eine im Kindbett verstorbene Frau
findet, die am Charfreitag begraben wurde. Wer den magischen
Spiegel erlangen will, geht bloß mit einem Mantel bekleidet um
elf Uhr in den Friedhof. Bei der Friedhofsmauer wirft er den
Mantel ab und springt ganz splitternakt über die Mauer. Im
Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes steckt
er den Spiegel mit nach abwärts gekehrtem Spiegelblatt in das Grab
und das Gesicht dem Spiegel zugewendet, geht er rüclings schrei-
tend zurück. Er muß dies drei Nächte hindurch wiederholen, in der
dritten Nacht entsteht ein Gewitter. Jetzt nimmt er bereits »in
Dreiteufelsnamen« den Spiegel heraus und geht, das Spiegelblatt an
seinen Leib pressend, rüclings schreitend damit fort. Mittlerweile
uält der Teufel den Menschen ab, doch dafür besitzt er jetzt schon
den Zauberspiegel, der den Dieb, die verborgenen Schätze zeigt und
die Hexe erkennt usw.°. In Neukirchen legt man sich mit dem
Rücken auf das Grab einer Wöcnerin, unter sich einen Spiegel,
Die Frau kann den Spiegel nicht ertragen und stößt ihn heraus,
! Vgl. die Erklärung, die Wünsch zur ersten Silbe des Wortes Erd-
spiegel gibt und über das Spiegelorakel im Heiligtum der Erdmutter Demeter.
R. Wünsch: Ein Odenwalder Zauberspiegel, Hessische Blätter für Volkskunde.
re ee Ferner A. Abt: Die Apologie des Apufeus von Madaura,
2 Vgl. ihre Legende bei E. Lucius: Die Anfänge des Heiligenkults in
der christlihen Kirche, 1904, 107, 505.
> C. Kiesewetter: Faust in der Geschichte und Tradition. 1893. 466, 467.
Re Hier, Cardanus: De rerum varietate. 1556. 1088, 1089. Lib. XVI
cap. 93.
5 Vgl. ihre Rolle in der mexikanischen Mythologie. W. Lehmann: Die
fünf im Kindbett gestorbenen Frauen des Westens und die fünf Götter des Südens
in der mexikanishen Mythologie. Zeitschrift für Ethnologie. 1905, 848,
° Wuttke: I. c. 245, 246. Weinhold: Zur Entwicklung des Heidnishen
Ritus. 1896. 9. E.L. Wucke: Sagen, von der mittleren Werra. 1864. II. 29.
Das Rükwärtsscreiten symbolisiert die Regression, und zwar in diesem Falle die
Regression in der Richtung des Narzißmus und der auf den Teufel projizierten
infantilen Komplexe. Deshalb beginnt der Ritus im Namen der Dreifaftigkeit und
endet in »Dreiteufelsnamen«.
Spiegelzauber 106
so wird daraus ein »Erdspiegel«. Jeder glänzend polierte Gegen-
stand kann für diesen Zweck benützt werden!. Die auf die An-
fertigung des »Erdspiegels« bezügliche Anleitung des »Höllenzwanges«
weicht von dem bisherigen insofern ab, daß der die Zauberkraft
erteilende Verstorbene hier ein Mann ist. Kapitel LXVII handelt,
»wie man einen Erdspiegel madt, alles in der Erde verborgene
Gut darinnen zu sehen«?.. An einem Freitag muß man, ohne zu
feilshen®, einen neuen Spiegel kaufen. Man muß ihn im eigenen
Namen im Friedhof auf das Antlitz eines verstorbenen Marines
eingraben und adt Freitage lang dort lassen. Am neunten Freitag
nehme ihn heraus, geh damit an einen Kreuzweg und lege ihn »in
dreyer Geister Namen« in die genaue Mitte des Kreuzweges. Jetzt
! Schönwert: Aus der Oberpfalz. 1859. III. 218.
2 Die Schätze gehören natürlih den Seelen der Unterwelt, deshalb bedarf
es für den Spiegel der Kraft einer Seele. Vgl. A. Bän: A kincskereses a nephit-
ben. (Das Schatzsuchen im Volksglauben.) Ethn. 1915. 28.
3 Eine Erklärung für diese außerordentlich verbreitete Regel wird ebenfalls
gegeben, »damit dir ihn kein Geist tadeln kann«. Kiesewetter: 463. Wer
handelt, bewertet den Gegenstand, den er kaufen will, geringer, d. h. er setzt dessen
Wert auc objektiv herab Vgl. J. A.E. Köhler: Volksbrauh, Aberglauben etc.
im Voigtlande. 1867. 364. R. Reichhardt: Die deutshen Feste in Sitte und
Braudh. 1911. 55. Benköczy: Egervideki babonäk. (Aberglauben aus Eger.)
Ethn. 1907. 101. Die Geister, die den gekauften Spiegel tadeln. könnten, sind auch
hier, wie stets, die eiizierten Komplexe des Käufers, für die also die Größe des
gebrahten Opfers den subjektiven (d. h. also auch magishen) Wert des Gegen-
standes bestimmt.
+ Besser als mit den »im eigenen Namens durchgeführten Ritus kann man
die seelishe Attitude des Narzißmus kaum charakterisieren. In diesem Falle ist
der Ritus eher progressiv oder stagnierend, denn der Spiegel wird »im eigenen
Namen« vergraben und dann »in dreyer Geister Namens am Kreuzweg hingelegt.
Infolgedessen entfällt das Motiv des Rückwärtsgehens. Außer der Regression kann
das Rückwärtsgehen auch das Rückgängigmahen des Gescehenen bedeuten, z. B.:
Man »kiiegt das Messen«, wenn man nur in einem Schuh läuft, man kann jedoch
‚dadurch vorbeugen, daß man den nämlichen Weg wieder zurücläuft. P. Drechsler:
Sitte, Brauh und Volksglaube in Schlesien. II. 1996. 312. Vgl. D. s.: Mitteilungen
der Gesellschaften für schlesishe Volkskunde. VII. 45. Die Regression ist ja
auch ein Rückgängigmacen des intrapsychish Geschehenen. Das Rückwärtsgehen
wird als Zurückgehen in den Mutterleib gedeutet von M. Jellinek: A sarü
eredete. (Ursprung des Schuhes.) 1917. Vgl. Silberer: Probleme der Mystik und
ihrer Symbolik. 1914. 175. Wenn ein Kindermädhen mit dem Kinde auf
dem Arm rückwärts geht, bevor dasselbe laufen kann, so lernt das Kind
schwer gehen. Veckenstedt: Wendische Sagen, Märchen und abergläubische
Gebräuche. 1880. 447. Das bulgarishe Kind darf beim ersten Ausgang
aus dem Hause nicht rückwärts hinausscreiten. Strausz: Die Bulgaren.
1898. 298. Kinder, die rückwärtsgehen, graben zwar nicht sich selbst,
sondern den Eltern das Grab. Drechsler: Sitte, Braud. I. 216. Wuttke: I. c.
394 als Analogiezauber zu deuten ist; dadurch sollen die Eltern auh rückwärts-
gehen, d h. sterben. Vgl. noh: »Wenn ein Anfall von Fallsucht auftritt, so
dreht man den Spiegel um (Wuttke: 334). Man will hier den Doppelgänger, der
sih gewissermaßen »verkehrt« und dadurch den epileptischen Anfall hervorgerufen
hat, durch abermaliges Umkehren in die alten Bahnen bringens, Negelein: Bild,
Spiegel und Schatten im Volksglauben. Archiv für Religionswissenschaft. V. 29.
h., wenn wir die Rolle der Regression im Krankheitsbild der Epilepsie
berücksichtigen, so bedeutet das Wenden des Spiegels den Versuch, die Richtung
der Libidoströmung wieder ins Progressive zu wenden.
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106 Dr. Geza Röheim
muß man sich die Hilfe Ariels und Marbuels verschaffen, die die
Tiefen der Erde auftun und die schatzhütenden »Stammgeister«
vertreiben. Schließlich bleibt der Spiegel noch weitere neun Freitage
hindurh im Grabe, dann muß man ihn herausnehmen und ohne
hineinzushauen folgendes sagen: Bannung. »Ih N. banne dich
Geist Ariel, dich Geist Aciel, dich Geist Marbuel, in meinen
Spiegel durh Rore + ipse + Loisant + et Dortam + Bolaimy +
Acom + Coelum + Quiavitit + Sammas + Restacia + o Adonay +
o Jehova + prasa Deus.« Und so fort in einer unendlihen Litanei,
die eingangs genannten drei Geister (»drey Fürsten«) bittet man,
im Spiegel zu bleiben und die Welt der verborgenen Schätze zu
offenbaren. Aber Mephisto hat an all dem noch nicht genug, denn
wenn die drei Geisterkönige bereits glücklih in den Spiegel gebannt
sind, fordert er, »daß du ihn (nämlih den Spiegel) auf einen Altar
bringst, daß die Geister, von einer ordinierten Person konsekriert
werden, damit sie dir die Wahrheit anzeigen«. Drei Sonntage bleibe
der Spiegel auf dem Altare, aber man muß adt haben, daß in-
zwishen keine »Leihen-Konsekrations darauf stattfinde, denn
sonst ist die ganze Mühe vergeblih gewesen!, Eine Handschrift
aus dem Anfang des siebzehnten Jahrhunderts zeigt den seltenen
Fall, daß man den Ausgangspunkt eines Teils des Ritus im Volks-
märchen suchen muß. Die Anleitung besagt, »sich unsichtbar zu
machen, auch Fortunatusbeutel und einen glüclichen Spiegel zu
bekommens«, Kaufe am Charfreitag, ohne zu handeln, drei shwarze
Hennen, koche sie, ohne dabei ein Wort zu reden, an einem ver=
borgenen Orte gar und trage sie nach Sonnenuntergang »unuer-
meldt« dorthin, wo sich der Weg spaltet, grabe drei Löcher und
in jedes stecke ein gekochtes Huhn. Am Morgen, wenn du zurüc=
kommst, findest du im ersten Loch einen Ring, wenn du diesen an
deinem Finger oder Halse umdrehst, bist du unsichtbar, solange,
bis den Ring nicht Wasser trifft. Im zweiten Loch findest du
einen Gulden, so oft du diesen auch ausgibst, wird daneben
immer ein anderer sein. Im dritten Loch findest du einen Spiegel,
in welhem du alles, was du willst, siehst, aber du mußt zuerst
einen Hund oder eine Katze hineinshauen lassen®. Abgesehen
von den aus dem Fortunatusmärden hiehergelangten Zügen weisen
die näctlihe Stunde, die Gruben, der sih spaltende Weg® und
! Kiesewetter: Faust in der Geschichte und Tradition. 1893. 463, 464.
® C.Bartsch: Zauber und Segen. Zeitschrift für deutsche Mythologie. III. 330.
’ Vgl. über Kreuz- und Sceidewege. Roscher: Hekate. Ausf. Lexikon.
I. 1890, 1891, 1894. Gruppe: Griechische Mythologie und Religionsgescicte.
1906. I. 761. Il. 1291. F. Boll: Griehishe Gespenster. Ardhiv für Religions=
wissenschaft. XII. 149-151 (Lekanomantie auf dem Kreuzwege). R. C. Thomp=
son: Semitic Magic. 1908..177, 201. Oldenberg: Die Religion des Veda. 1894.
267, 268, 442, 495, 497, 510, 562. (Auf dem Kreuzwege errichtet man dem König
einen Grabhügel.) W. Crooke: The Popular Religion and Folk-Lore of Northern
India. 1896. I. 78, 165. A. Maury: La Magie et l’Astrologie. 1864. 176, 177.
F. S. Krauss: Slawische Volksforshungen. 1908. 38. Drechsler: Sitte, Brauc. etc.
und Volksglaube in Schlesien, 1903. I. 1906. II. Laut Index. Wuttke: Volks=
Spiegelzauber 07,
das Opfer schwarzer Hühner! auch hier auf den chtonishen Vor-
stellungskreis.
Bevor wir die Märchenvarianten des Seherspiegels berücksichtigen,
wollen wir der materiell-ethnographishen Seite der Frage, dem so-
genannten Formkriterium? einen kurzen Exkurs widmen. In Österreich
finden wir den dreieckigen W alpurgisspiegel®. In Thüringen den viereckigen
Zauberspiegel*. In Lechrain den »Bergspiegel«, ein mit Weihwasser
gefülltes »Uringlas« und den Erdspiegel, eine runde Metallscheibe?,
abergfaube. 89 und laut Index. Wlislocki: Volksgfaube und religiöser Brauc der
Magyaren. 1893. 166. P. Sebillot: Le Folk-Lore de France. I. 80, 206-208,
210, 288. III. 36, 86, 123, 135, 240, 487. A le Braz: La Legende de la Mort
chez les Bretons Armoricains. 1902. I. 56, 172. (Vernichtungszauber an drei Kreuz-
wegen. II. 314, 390, 396.) J. H. Weeks: Notes on Some Customs of the Lower
Congo People. Folk-Lore. XIX. 423 (Zwillinge, durch den Blitz erschlagene
Menschen und Selbstmörder bestattet man am Kreuzwege. Vgl. die oben zitierten
griehishen Quellen und E. Rohde: Psyce. 1907. I. 320, II. 83, 410). B. Gutt=-
mann: Die Opferstätten der Wadshagga. A. R. W. XII. 98 (Opfer der herum=
irrenden Seelen). Abiose: Some West-African Customs. Folk-Lore. XVII.
1907. 871 (Das krähende Huhn tötet man und verzehrt es auf dem Kreuzwege).
J. H. Weeks: The Congo Medicine Man. Folk-Lore. 1910. 454. E. M. Leather:
The Folk-Lore of Herefordshire. 1912..83, 122, 123. W. Crooke: King Midas
and his Ass’s Ears. Folk-Lore 1911. 185. E. Westermarck: The Origin and
the Development of the Moral Ideas. 1908. II. 256 (Begräbnis). Lippert: Die
Religion der europäischen Kulturvölker. 1881. 310. Der Kreuzweg ist die auto=
symbolische Projektion der seelischen Spaltung, der einander kreuzenden Impulse,
welche die sih an die Bewohner der Unterwelt wendende gerährliche Zeremonie,
d. h. die Introversion, begleiten. Dieselbe Erklärung gibt Silberer: Probleme der
Mystik und ihrer Symbolik. 1914. 171 über Scheidewege im Märden.
ı Vgl.I. Scheftelowitz: Das stellvertretende Huhnopfer. 1914. F. Dörfler:
Kakas, tyuk &s tojäs a magyar nöphitben. (Hahn, Huhn und Ei im ungarischen
Volksglauben.) Ethn. VI. 205. Blau: Huhn und Ei im Glauben des Volkes im
oberen Angeltale. Zeitschrift für österreibische Volkskunde. 1902 Fehrle: Der Hahn
im Aberglauben. Hessische Blätter für Volkskunde. XVI. 65. Wasiljew: Über-
sicht über die heidnishen Gebräuche, Aberglauben und Religion der Wotjaken.
Mem de la Soc. Finno-Ougrienne. XVIIL. 1902. 108. A. Strausz: Bolgär n£phit.
Bulgarischer Volksglaube.) 1897. 340. G. Moldovän: A magyarorszägi romä=
nok. (Die ungarländishen Rumänen.) 1913. 491. Wlislocki: Volksglaube und
religiöser Brauch der Magyaren. 1893. 166. Marienescu: Az äldozatok. (Die
Opfer.) Ethn. II. 56. Vgl. auch oben über Huhnopfer und Schatzgräberei.
2 Dem Formkriterium wird im Lager der »Kulturkreisler« eine außerordent=
lih übertriebene Bedeutung zugeschrieben. Vgl. Gräbner: Die Methode der
Ethnologie, 1911. Dr. Meszäros, geht in seiner öfter zitierten Abhandlung (Der
ungarishe Rundspiegel. Neprajzi Ertesitö. 1914, 1915.) von der Annahme aus,
der runde, grifflose Spiegel sei ausschließlih dem Kulturkreis der Völkerwanderung
eigen und somit seien auch die westungarishen Formen auf China zurückzuführen.
> Th. Vernaleken: Alpensagen. 1885. 109-112.
t Wuttke: Volksaberglaube. 245.
5 Leoprechting: Aus dem Ledrain. 1855. 93, 94. Zum Uringlas mit Weih-
wasser, vgl. Scot: Discoverie of Witchcraft. 1651. 188. Bourke-Krauss=-Jhm:
Der Unrat in Sitte, Brauh etc. der Völker. Beiwerke zum Studium der Anthro-
pophyteia. VI. 1913. 222. Eine besondere Determinante für das »Uringlas« bildet
natürlich die magische, beziehungsweise vom Standpunkte der infantilen Sexualität, die
affektive Bedeutung des Urins. Die Mongolen halten, um zu dem als Arznei hodh=
geschätzten Schildkrötenurin gelangen zu können, dem Tiere einen Spiegel vor, worauf
dieses beim Anblick seines Ebenbildes ihnen das Gewünschte abgibt. Seligmann:
Der böse Blick. 1910. I, 182, nah Kirilow: Bote für Sozialhygiene. 1892. 103.
Ethnographisch-
kultur-
historisches.
108 Dr. Geza Röheim
also eben jener Typus, der nah Dr. Meszäros auf den dinesi=
shen Ursprung hindeutet. Ebenso wie Europa nicht aus-
scließlih die Heimat der viereckigen oder mit einem Griff ver-
sehenen runden Typen bildet, finden wir auch im nahen Orient
nebeneinander die runden und eigen, gestielten und grifflosen
Formen!. Im fernen Westen, in Wales finden wir ebenfalls den
Rundspiegel?. Von allen diesen aber wissen wir nicht sicher, ob sie
niht zu dem gestielten, runden Typus gehört haben, die Grifflosig-
keit ist aber ganz sicher bei dem odenwalder Zauberspiegel. Dieses
Exemplar wurde in Breitenbrunn aufbewahrt, es diente zum Sehen
in die Zukunft, sowie auh zum Schatzsuhen. Nur ein am weißen
Sonntag? geborner Mensch kann ihn benützen und auch dieser muß
ihn anfangs vor den Augen halten und mit dem Hut zudecen.
Das Ganze ist ein rundes Lederfutteral im Durchmesser von
sieben Zentimeter mit ein Zentimeter hohem Rand, dazu gehört
ein Deckel aus Fensterglas und ein rundes Papierblatt, auf welchem
auf das achtzehnte Jahrhundert deutende Buchstaben sichtbar sind.
In das Lederfutteral füllt man Erde (deshalb Erdspiegel). Auf diese
legt man das Papierblatt und darauf die Glasscheibe, auf welcher
die gewünschte Vision erscheint. In der Mitte des Papierblattes ist
der »Drudenfuß«, das Hexagramm sichtbar, die Buchstaben aber
ergänzt Wünsch folgendermaßen: [Eli] as [pro] phet [a]. Das
Hexagramm umgeben die Planeten‘. Das Hexagramm ist in ein
Quadrat gefaßt, in dessen vier Ecken wir die Namen der vier
Erzengel sehen. Das Quadrat ist von zwei konzentrishen Kreisen
umgürtet, im inneren Kreise befinden sih die Namen der vier
Evangelisten, im äußeren Kreise ist die Schrift nur zur Hälfte les=
bar... Jehova +... Alpha et Omega’. Die Formel können wir
nah Quellen aus dem sechzehnten Jahrhundert dahin ergänzen
»+ om Elohim + Adonai + EI Zebaoth + Agla Jehova + Alpha
+ Omega®. Aus Haute-Gruyere ist ein mit ähnfiher Formel ver-
sehener Spiegel bekannt. Die ganze folgende Beschreibung stammt
ı M. Reinaud: Monumens arabes, persans et turcs. 1825. II. 393, 394.
China wird hingegen tatsählih durch den runden Typus charakterisiert (R-
Wilhelm: Chinesische Spiegel. Ostasiatishe Zeitschrift. II. 65-87).
2 Trevelyan: Folk-Lore and Folk-Stories of Wales. 1909, 215, 216.
® Invocavit: der erste Sonntag der Fastenzeit. Der Zusammenhang
zwishen der Geburt am Fastensonntag und der Spiegelshau haben wir wahr=
sceinlih in dem dem Sehen vorausgehenden Ritus des Fastens zu sucen.
Wer »an einem goldenen Sonntage« in den »Erdspiegel« schaut, soll unter einem
gewissen Zeihen in der zwölften Stunde geboren sein. Leoprechting: Aus
dem Ledrain. 1855. 93. Haberland: I. c. 338.
* Vgl. den nad astrologischen Prinzipien verfertigten Zauberspiegel des
Pico di Mirandola. S. Rubin: Geschichte des Aberglaubens, 31. M, Reinaud:
Monumens arabes, persans et turcs. 1828. II. 404-417. Miroir astrologique.
5R. Wünsch: Ein Odenwalder Zauberspiegel. Hessishe Blätter für
Volkskunde. 1904, 155.
6 W. Mannhardt: Zauberglaube und Geheimnisse im Spiegel der Jahr-
hunderte. 1909. 165. Die Ergänzung ist nah Wünsh, obshon in der Quelle
die Formel sid nicht auf einen Spiegel, sondern auf einen magischen Kreis bezieht.
Vgl. zum Ganzen Zt. d. V. f. Vk, 1913. 223,
Spiegelzauber 109
aus dem französishen »Grand Grimoire«. Sie hat den Titel »Secret
magique, rare et surprenant, Maniere de faire le miroir de Sala=-
mon! propre a toute divination«. Solange als der Spiegel verfertigt
wird, darf man keine »action charnelles begehen weder in der Tat,
noch in Gedanken. Wir finden hier also wieder den oben behan-
delten Zusammenhang zwishen Narzißmus, Spiegelshau und
Keuscheit. Doch neben der individual=psydhologishen Erklärung
erscheint dies natürlih auch als Ausfluß der christlich-mittelafterlihen
Weltanschauung, wie dies die folgende Regel zeigt, die viele mild-
tätige, fromme Handlungen vorschreibt. »Dann nimmt man eine
glänzend gescliffene, ein wenig konkave Stahlplatte und schreibt
mit dem Blute einer weißen Taube? in die vier Ecken die Namen
Jehova, Elohim, Mebiaton (sic), Adonai und wickelt sie in reine,
weiße Leinwand. Wenn man den Neumond sieht?, geht man in
der ersten Stunde nach Sonnenuntergang zum Fenster und sagt
andädtig: »O Eternel, O Roi £&ternel, Dieu ineffable qui avez cree
toutes choses, par amour et par un jugement occulte, pour la sant&
de ’homme, regardez-moi, N. votre serviteur tres indigne et mon
intention et daignez m’envoyer l’ange Anael sur ce miroir quil
! Der berühmte magishe Ring des Königs Salamon (Salzberger: Die
Salamonssage in der semitishen Literatur. 1907. Kap. II.) scheint sich im euro=
päishen Folk-Lore in den Spiegel Salamons verwandelt zu haben. So in zwei
russishen Salomosagen bei Dr. Meszäros: A magyar kerek tükör. (Der unga=
rische Rundspiegel.) Ertesitö. 1914. 238. Ferner: »Oglinde fu Solomonu Imperatus.
Saineanu: Basmele Romäne. 1895. 771. Auch auf dem Odenwalder Spiegel
befindet sich das Sigillum Salamonis. Der Spiegel gleitet in den Typus des Fortu-
natusmärchen hinüber und erscheint dort als Wunscgegenstand neben dem Ring.
(A. Aarne: Vergleichende Märcenforshungen. Mem. Soc. F, Un. XXV. 1908.
34.) Der alles zeigende Spiegel und der unsichtbar-mahende Ring (©. Rank: Die
Nacktheit in Sage und Dichtung. Imago. 1913. 438) sind komplementäre Symbole,
denn der mit Hilfe des Ringes unsichtbar gewordene Mensch befriedigt die eigene
Schaulust: Gyges belauscht die-nackte Königin. I. c. Der Spiegelshau analog ist
das Schauen durch den Ring oder durch eine Spalte. (H. Bertsch: Weltanschauung,
Volkssage und Volksbraud. 1910. 138, 139.) Vgl. Feilberg: Der böse Blick in
nordischer Überlieferung. Zt. d. V. f. Vk. 1901. 429. Den Spiegel Salamonis erwähnt
noch Reichardt: Vermischte Beiträge zur Beförderung einer näheren Einsicht in
das gesamte Geisterreih. 1781. I. 518, zitiert bei Kiesewetter: Faust. 334.
® Mit dem Taubenblute vertreibt man die Warzen und sonstigen Aus-
shläge, es ist also offenbar das Symbol der auch anderwärts betonten Reinheit.
Vgl. Wuttke: I. c. 343, 119.. Die Taube ist im allgemeinen Symbol des
Heiligen Geistes und als solcher Gegner des Teufels. (Vgl. übrigens E. Jones:
Die Empfängnis der Jungfrau Maria durch das Ohr. Jahrbuch der Psychoanalyse.
1914. V1. 187, 188.) Intrapsychisch aufgefaßt entspricht ihre Rolfe der Sublimierung,
besonders der teuflishen, der schwarzen (analerotischen) Wünsche, Vgl. den
Kampf der Taube und des Raben um die Seele (Autosymbolish), E.M. Leather:
The Folk-Lore of Herefordshire. 1912. 166. Strackerjan: Aberglauben und
Sagen aus dem Herzogtum Oldenburg. 1909. I. 320. Ipolyi: Magyar Mythologia.
(Ungarische Mythologie.) 1854. 359. Die Hexen vermögen die Gestalt eines jeden
Tieres anzunehmen, nur nicht die der Taube. Drechsler: Sitte, Brauh usw. II.
123. Strackerjan: Aberglaube etc. aus Oldenburg. 1909. I. 403. H. v. Wlis-
locki: Märchen und Sagen der transsylvanischen Zigeuner, 1886. 105. R. Kühnau:
Sclesishe Sagen. 1911. II. 559, III. 1913. 226.
> Vgl. den Zauberkreis am Neumondfreitag. Kiesewetter: Faust. 1893. 447.
110 Dr. Geza Röheim
mande, commande et ordonne & ses compagnons et a vos sujets
que vous avez faits ö& Tout-puissant, qui avez &t&, qui tes et qui
serez eternellement qu’en votre nom ils jugent et agissent dans
la droiture pour m/instruire et me montrer ce que je leur deman-
drais. Man nimmt entsprehend wohlriehende glühende Kohle und
spricht: unter Erwähnung der Cherubim und Seraphim ein neues
Gebet, in welchem man Anael in einer der vorigen ähnlihen Weise
anruft. Das muß man achtundvierzig Tage hindurh wiederholen.
Nach Ablauf der actundvierzig Tage, manchmal auch schon
früher, erscheint Anael in Gestalt eines herrlihen Knaben! und be-
fiehlt seinen Genossen, dem Eigentümer des Spiegels Gehorsam zu .
leisten. Vor dem Gebrauch muß man den Spiegel stets mit Safran
duftig machen und mittels der Zauberformel Anael zitieren’. Dem
französishen Verfahren entspricht vollkommen das des »Höllen-
zwangs«®, das seinerseits wieder dem ungarishen Stahlspiegel zum
Muster diente. Der Titel des Kapitels lautet: »Ein Experiment
von einem stählernen Spiegel seu Divinatio Specularis.« Fertige
einen Stahlspiegel an, das heißt, nimm ein rundes Blehstück als
Spiegel und laß es schleifen bis es völlig glänzend wird. Dann nimm
einen anderen Stahlspiegel, einen ebenso großen, doch dieser soll
nicht glänzend sein und lege ihn auf die andere Seite, ohne hinein=
zuschauen. Es bedarf auch eines Stück Holzes oder, wenn dieses
nicht vorhanden ist, eines Papiers, über welches der Geistlihe das
Evangelium Johanni lesen muß, aber der Geistlihe muß sich vor-
her drei Tage des Weibes enthalten haben, au. soll das Papier-
blatt mit Weihrauch beräucert, mit Weihwasser besprengt worden
sein. Aus dem Papier schneide ein rundes Blatt heraus, genau so
groß, daß es dem Spiegel entspricht; auf dieses aber schreibe in
den ersten Kreis Alpha et Omega, Adonay, in den zweiten
Tetragrammaton, Sabaoth, Emanuel, in den dritten »Verbum caro
factum este. »Der schwarze Circul oder Umkreis aber soll haben
eben diese Namen in einem Umkreisse durch das Widerspiel.« Der
Geistliche liest drei Messen über dem Spiegel, dann das Evangelium
Johanni und, wenn er zu den Worten kommt »Verbum caro fac-
tum ests, macht er über den Spiegel das Kreuzzeihen und sagt
ı Der in Gestalt eines herrlihen Kindes erscheinende Engel dürfte ein
idealisiertes Biect der infantilen Persönlichkeit des Spiegelshauers sein. Vgl. den
»kleinen Mann« der Nürnberger Sage, der aber nur dem keuschen Knaben er=
sceint. E. S. Hartland: The Legend of Perseus. 1895. II. 15. »He who owns
a crystal can call one of the Little People to him at any time and make him do
his Bidding.« Mooney: Myths of the Cherokee. (XIX. Report.) 1900. 460. Laut
der Sage war einer dieser Zwerggeister einst ein Knabe, der in den Wald entlief
und nun, um seine nekischen Spiele ausführen zu können, immer unsichtbar bleiben
will, Ebenda: 334, 335. Das Nekishe im Wesen der Puc’s et Consortes deutet
auf ihren Ursprung aus dem Infantilen.
2 T. Lambelet: Les croyances populaires au Pays=d’-Enhant. Schweize-
rishes Archiv für Volkskunde. 1908. XII. 123. -
s Der »Grimoir ist offenbar der direkte Vorläufer des Höllenzwangs«
Kiesewetter: Faust. 345.
En EEE us
___
im nn.
Spiegelzauber 111
die »Beschwörung« her. Ein anderer, als der Eigentümer, darf nicht
in den Spiegel schauen, denn der Spiegel würde dadurch beflekt
werden!. Aber auch der Eigentümer des Spiegels kann das Ge-
wünschte im Spiegel nur dann sehen, wenn er in reiner Kleidung
und in unbeflektem Zustande hineinschaut?. Schon die in den ver-
schiedenen Varianten figurierenden Namen (die vier Erzengel? usw.)
deuten gleichfalls auf eine einheitlihe Quelle. Bei einer Geisterbe-
shwörung in Wales besprengt der Beshwörer Teppih, Tisch und
Kristall mit dem eigenen Blute und zitiert den Geist, den er hier
Phanael «vgl. Anael) nennt, »by the power of the holy names
Aglaen, Eloi, Sabbathon, Anepituraton, Jah... ., Immanuel ...,
Sadai...‘ in den »fleckenlosen« Kristall’, Die gesamte Überliefe-
rung weist nad Osten hin, nicht die primitive, allgemein-menscliche
Zauberei, sondern die gelehrte Magie des hellenistishen Zeitalters
gibt die gemeinsame Urquelle ab. Auch arabische Handsdriften
wissen von auf den Spiegel geschriebenen Koranworten, durch die
der in den Spiegel schauende Kranke gesund wird; man macht den
Spiegel duftig (vgl. ante. über ‚den Safran), beschwört die Engel
und Erzengel, an den Rand des Spiegels schreibt man den Namen
der vier Erzengel (Gabriel, Michael, Asrael® und Asrafel), man
fastet sieben Tage und schließt sich von der Außenwelt ab, worauf
über Beshwörung der Engel im Spiegel erscheint, um den Wunsch
des Beshwörers zu erfüllen, Wie der deutsche Höllenzwang im
Abhängigkeitsverhältnis steht gegenüber dem französischen Grimoire,
so läßt sich auch der literarishe Einfluß auf die ungarishe münd-
lihe Überlieferung und deren Abhängigkeit vom Deutschen voraus-
setzen. Die hohe Schule der Magie hat trotz ihrer aus dem Orient
stammenden Elemente in Europa offenbar denselben Weg zurüc-
gelegt, wie die systematische Hexenverfolgung vom Westen nacı
Osten®. Aud in den Stahlspiegel des ungarischen Schatzgräbers
läßt man ein Kind schauen?, wir finden hier ebenfalls die auf den
! Vgl.: Der Spiegel wird flekig, wenn eine menstruierende Frau hinein-
schaut, Plinius: Historia Naturalis. Lib. VII. Cap, XV.
2 Kiesewetter: Faust in der Geschichte und Tradition. 1893, 464, 465.
Die Betonung der Reinheit ist vielleicht eine Verdrängungsform der Analerotik.
Vgl. weiter unten das Verwenden von Safran, um den Spiegel duftig zu macen.
® Vgl. ante beim Beryli Aubrey: Miscellanies und die Verbreitung der
Erzengelnamen in den Papyri, besonders eben bei der Lekanomantie. A. Abt:
Die Apologie des Apuleius von Madaura, 1908. 257,
* Über den Namen Jao Sabaoth in den Zauberworten. Abt: Ebenda. 254.
®J. C. Davis: Ghost-Raising in Wales. Folk-Lore. XIX. 328.
% Aciel, Azernel, Azarel, Azael und ähnliche Namen in den mittelalterlihen
Zauberbühern. Kiesewetter: Ebenda. 406, 407. et pa.
” M. Reinaud: Monumens arabes, persans et turcs. 1828, 1. 401, 402.
® F, Hansen: Zauberwahn, Inquisition und Hexenprozeß im Mittelalter.
1900, 113, 19.
® M.M.R. Varga: Szarvasvideki babonäk. (Aberglauben aus der Szar-
vaser Gegend) Ethn. 1908. 162. F. Szell: Törvenykezesi adatok alföldi babo-
näkröl. (Gerichtsakten über Aberglauben im ungarischen Tiefland.) Ethn. 1892.
113. Dr. Meszäros: I. c. Ertesitö. 1915. 46.
Der Spiegel im
Märchen als
Objektivierung
der kindlichen
Schaulust.
112 Dr. G&a Röhelm
Spiegel geschriebenen Zauberworte und ähnlich wie bei den Deutschen
as Vergraben am Kreuzweg, und das vorherige Hineinshauen-
lassen durh einen Hund!. Aud jene-Voraussetzung Dr. Möszäros’,
daß der grifflose Rundspiegel nur auf dem von der Völkerwande-
rung berührten Gebieten figuriert, ist nicht stihhaltig. Auf isoliertes
Vorkommen weist er selbst hin? und er würde gewiß dessen Vor-
kommen in Wales, im Odenwald, in Lecdrain gleichfalls hieher ein-
reihen. Ih war nicht in der Lage, derzeit behufs Anstellung von
Vergleihen die Museen Österreihs abzusudhen, aber ih habe
Dr. Trebitsch in der Ethnographischen Abteilung des ungarischen
Nationalmuseums die westungarischen Spiegelhölzer gezeigt und ihn
gebeten, sih für dieses Thema in Wien weiter interessieren zu
wollen. Seine Antwort lautete, daß das Museumsmaterial zurzeit nicht
zugänglich sei, aber laut Professor Haberlandts mündlihen Angaben
schreibe er, daß der grifflose Rundspiegel in den Alpenländern sehr
häufig vorkommt. Wie also die ungarishen magishen Stahlspiegel
und der darangeknüpfte Volksglaube sih als aus den Westen
stammend erweist, so ist auh anzunehmen, daß auch die west=
ungarischen Spiegelhölzer eher zu ihren heutigen westlihen Nadı-
barn, als zu den Spiegeln aus der Periode der Völkerwanderung,
sowie zu den chinesischen in Verwandtschaft stehen. Der grifflose
runde Typus war übrigens seinerzeit auch in Mitteleuropa vor=
herrshend. Weinhold erwähnt neben den Spiegeln mit Griff die aus
»grifflosen runden Kapseln« bestehenden, die man auf einer Schnur
befestigt zu tragen pflegte®, und die deutschen Spiegel sind im all-
gemeinen ursprünglih runde polierte Bronze-, Silber- oder Stahl-
spiegel. Die letzteren standen noch im fünfzehnten Jahrhundert in
Gebrauch‘. Der Glasspiegel war wohl shon im dreizehnten Jahr-
hundert gebräudlic, aber nur in der Form kleiner runder Kapseln’.
Zweifellos gehören die alles zeigenden Spiegel der Märcen,
die gewöhnlih in der Gesellshaft anderer » Wunscobjektes vor=
kommen, in ein und dieselbe Kategorie mit dem Spiegel des Sehers
und spielen gleichzeitig dem infantilen Charakter des Märdens ent=-
sprehend die Rolle der Objektivation der kindlihen Schaulust. In
einem russishen Märchen wird ein kleines Mädchen durd die älteren
Schwestern umgebracht, damit sie ihm den silbernen Teller, in
welhem es herrlihe, ferne Gegenden, Städte, Flüsse, Wälder,
ı ], Wieder: Kincsäsö babonäk. (Schatzgräber-Aberglauben.) Ethn. 1890. 248,
2 M. Moore: Carthage of the Phoenicians. 1905. 91. E.B. Tylor: Early
History of Mankind. 1870. 255. E. Seler: Gesammelte Abhandlungen zur
amerikanishen Sprach- und Altertumskunde. II. 850, 852. III. 412. (Meszäros:
I. c. 1914. 19, 20.)
3K, Weinhold: Die deutshen Frauen in dem Mittelalter. 1882. II. 338.
ıK. Weinhold: Ebenda. II. 336. A. Schultz: Das höfishe Leben zur
Zeit der Minnesinger. 1879. I. 176.
5 A. Schulz: I. c. I. 176, 177. Auf der Rückseite des einen Spiegels die
allegorishe Abbildung von »vrouwe Minnes. Vgl. noh F. Hottenroth: Hand-
buch der deutshen Tracht. 557.
Bee
Spiegelzauber 118
Meere, mädtige Berge und wundershöne Himmel sieht!, weg-
nehmen können. In einem rumänishen Märchen schickt die böse
Schwiegermutter zu den mit Sonnen- und Mondsymbolen? geborenen
Kindern der Shwiegertochter die alte Hebamme, auf,deren Zureden
hin das Mädchen von seinem Bruder folgendes verlangt: 1. Vogel-
milh. 2. Den Spiegel der Lamia®. 3. »Die Schöne der Weltst, Zum
selben Typus gehört ein ungarishes Märchen. Der goldhaarige
Königssohn ist traurig. 1. Weil er den Vogel haben will, der
Goldwasser trinkt. 2. Weil ihm der Spiegel fehlt, aus welchem
er die ganze Welt sehen könnte. 3. Weil er das Fräulein des
Meeres haben will. Den Spiegel bewahen zwölf Teufel, die nur
um Mitternacht zehn Minuten schlafen. Das Zauberpferd zeigt ihm
im Spiegel eine Steinmauer: »Dort wohnt eine sündhafte Frau, ich
spuce sie stets an, wenn ich dieses Weges gehe.« »Spuc’ nicht
mehr hin, das ist deine eigene Mutter«’,. In einer neugriedhischen
Variante shit die alte Königin, um die Kinder aus der Welt zu
schaffen, zur Tochter eine Hebamme, die dieser einredet, es fehle
ihr zum vollen Glük noh: 1. Der Zweig, welcher Musik macht.
Den hüten zwei Drachen, die jeden verschlingen, aber um Mitternacht
schlafen sie mit aufgesperrten Rahen, da muß man ihnen in den
Racden schießen. Die Sonne und der Morgenstern bringen ihn her-
bei. 2. Der Spiegel, in welhem man alle Dörfer, alle Städte, alle
Länder und Prinzen sehen kann. Den hüten vierzig Drahen, die
um Mitternacht schlafen. 3. Den Vogel Dikjeretto, welcher alle
Sprahen der Welt versteht und wenn er in den Spiegel schaut,
sagen kann, was auf der ganzen Welt die Menschen reden. Der
Vogel versteinert durch seinen Blik beide Geschwister, die Hemden,
die sie zu Hause gelassen, färben sih schwarz. Den Vogel vermag
nur das Mädchen selbst zu holen, die sih ihm von rückwärts
nähert, wobei sie nackt sein muß. Sie weckt die Geschwister aus
der Versteinerung, der Vogel erzählt dem König das Vorgefallene‘.
1J. A. Macculloch: The Childhood of Fiction. 1905. 35, zitiert T. L
Naake: Sfavonic Fairy Tales. 1874. 170. Zur Vision, vgl.: in Wales erscheinen
im Kristall verschiedene Gesichte, ausgetretene Pfade (Die ausgelaufenen Bahnen!
Die Visionen sind ja symbolische Erinnerungsbilder, deren Wiederersheinen am
ausgetretenen Pfade erfolgt.) mit ruhig einherwandelnden Männern, Frauen, Flüsse,
Brunnen, Berge und Meere. Am sonnbescienenen Hügelabhang weidet der Hirte
seine Herde, sieht man unzählige Tiere, Vögel, Ungetümer. J. €. Davies:
Ghost-Raising in Wales. Folk-Lore. XIX. 329.
2 Vgl. Prato: Sonne, Mond und Sterne als Schönheitssymbole in Volks-
märchen und in Liedern. Zeitschrift des Vereins für Volkskunde. 1895. 363. 1896. 24,
® Vgl. Synodus S. Patricii et Auxentii cap. 16. Christianus, qui crediderit
esse Lamiam in Speculo, quae interpretatur striga, usw. Ducange: Glossarium
mediae et infimae latinitatis, VII. 1886. 549. Specularii. 5
* Frumösa pämintului, Sainenu: Basmele Romäne. 1895, 411.
> L. Kälmäny: Ipolyi Arnold mesegyüjtemenye. (A. Ipolyis Märcen-
sammlung.) 1914. 318—323,-
° 1. G. v. Hahn: Griedhishe und albanishe Märchen. 1864. II. 40-49.
Aarne: Verzeihnis. F, F. Communications Nr. 3. Typus. 707. Bolte=Polivka:
Anmerkungen zu den K. u. H. M. II. 1915. 380-394. Der Spiegel auch in einer
Imago V/2 8
114 Dr. Geza Röheim
Es läßt sich leicht erraten, daß der Wundervogel, der musizierende
Zweig, der alles offenbarende Spiegel, die Schönste der Welt, alle
dasselbe bedeuten, nämlich eben »die Shönste der Welts. Bei ein=
gehender Analyse ließen sih die Verzweigungen sämtlicher Motive
verfolgen, doch mangelt es uns hiezu an Raum, aud bedürfen wir
ihrer nicht. Es genügt der Hinweis, daß schon die beiden Protago-
nisten des Schauspiels, Bruder und Schwester, darauf deuten, daß
die den Symbolismus herbeiführende Verdrängung den inzestuösen
Wünschen der Kindheit gilt" und daß das In-den-Spiegel-shauen
auh hier gewissermaßen ein reduziertes Symbol der erotischen
Triebe darstellt.
III. Spiegel und Herrscher.
Das Zepter der schottishen und der ungarishen Könige wird
durdh eine Kristallkugel gekrönt, deren Gestalt an den zu magischen
Zwecken benützten »Beryli« erinnert?:. Zwishen den Welteroberern
Asiens ist es Timur Lenk, der mit dem Spiegel als Brustshmuck
abgebildet wird® und für das Haus der Baberiden war die auf dem
Bruststük der Kleidung angebrahte Shmucsceibe derart charakte-
ristish, daß man die königlihe Familie geradezu die mit dem
»Spiegel« nannte*. In Afrika binden die Kabinda zum Zwecke der
Wahrsagerei Spiegel auf ihre Hausgötzen. Quenquea, der König
türkishen Variante (Jakob: Türkische Bibliothek. II. 22. Bolte: 389.) und in
einem swanetishen Märdhen (Ebenda. Etn. Obozr: VII. 153.) und in einem
serbischen (Ebenda. 384. Dvorovit: 91-94. Blume, der Spiegel der Feenkönigin,
die Feenkönigin selbst).
ı Im Märden wird die Wunscerfüllung durch eine doppelte Projizierung
bewerkstelligt. Die Tochter projiziert ihre gefährlihen Wünsche auf das einflüsternde
alte Weib (Mutter-Imago), der Bruder, der die Wunschgegenstände holt, auf die
Schwester, deren Wünsche er erfüllt. Die Mutter-Imago ist in eine feindliche
(Schwiegermutter, alte Hebamme) und in eine erotisch betonte Form (Schwester-
Meerfräulein) gespaltet. (In der ungarischen Variante zeigt ja der Spiegel nicht den
Prinzen oder die Schöne, sondern das Bild der Mutter) Für die Identität der
Schwester mit der Schönen der Welt spricht ein Parallelmotiv, demgemaß die drei
magischen Gegenstände, unter ihnen der Spiegel von den Freiern eben der
Schönen der Welt gebraht werden. (Vgl. Macculloch: The Childhood of Fic=
tion. 1905. 36, siehe weiter unten.) Das Mädchen wünscht ja eigentlih sich selbst
(Meerfräulein), deshalb muß es auch selbst die Aufgabe lösen (Narzißmus). Die
dabei geforderte Entblößung ist die naturgemäße Ergänzung der Schaufust (Spiegel).
Drachen, Symplegaden, der versteinernde Vogel (Medusa) bezeichnen den Weg,
auf welchem eine eingehendere Analyse fortschreiten könnte, Zu dem Spiegel des
Sehers im Märchen, vgl. noh Afanassjev-Meyer: Russishe Märchen 1906.
l. 105. Röna=-Sklarek: Ungarishe Volksmärdhen. 1909. Neue Folge. 227.
2 G. F. Black: Scottish Charms and Amulets. Proceed Soc. Ant. Scot.
XXVII. 1893. 436. Ebenda. XXIV. 98, 116. Ipolyi: A magyar szent korona
es a koronäzäsi jelvenyek. (Die heilige ungarische Krone und die Krönungs-
insignien.) 1886. 208. Im Kristall sind Fabeltiere eingraviert, ferner ein angeblich
»kabalistishes« Zeichen.
£ 3 Dr. Me&szäros: A magyar kerek tükör. (Der ungarische Rundspiegel.)
Ertesitö. 1915. 35, nah T. Mann: Der Islam einst und jetzt. 93.
4 Dr. Me&szäros: Ebenda nah A. Racinet: La costume historique.
1888. III. Unter dem Zeichen ) »de la famille de celles dites ä miroirs«,
—_
Spiegelzauber 115
von Remba, wollte sih um keinen Preis von seinem Spiegel
trennen, denn er glaubte, daß, wenn der Spiegel bricht, aud sein
Lebensfaden sofort abreißt!. Der dritte Typus also, auf den wir
im Zusammenhang mit dem Spiegel hinweisen können, ist nach dem
Kinde und nad dem Seher der König. Den Ursprung des Königtums Kane Reraler
aus der gesellshaftlidhen Schichte der Zauberer hat Frazer meisterhaft zung der infan-
nachgewiesen, in den früheren Ausführungen aber vermocten wir "hantasien auf
darauf hinzudeuten, daß die Fähigkeit des Sehers aus dem zähen un
Festhalten an dem infantilen Narzißmus und Schaulust, oder aber Königtums,
aus dem Rüdfall in diese verständlih wird. Wir dürften kaum
irren, wenn wir dieselbe psychische Konstellation auch bei der könig-
lihen Kategorie der Zauberer voraussetzen. Die Allmachtsphantasien
des Kindes werden bei den Königen der Primitiven realisiert? und
die Selbstanbetung des Kindes wird durh die Anbetung eines
Volkes abgelöst?. Dem König bleibt auf Erden nichts anderes zum
Anbeten, als das eigene Ih, die augenfälligste Form dieser An-
betung ist das selbstgefällige Betrachten des Ebenbildes im Spiegel.
In Indien gehörte das Schauen in den Spiegel zu den gewöhnlichen,
alltäglichen Pflihten des Königs. »Gesalbt und geshmüct beshaue
er sein Gesicht im Spiegel.« Nachdem der Landesfürst den Göttern
und seinen Lehrern gehuldigt, einem Brahminen eine trähtige Kuh
BeSNEnEt, sein Gesicht in zerlassener Butter oder in einem ie
etrachtet hat, möge er erkunden, in welchem Sternzeihen der
Mond steht usw.*. Vor Beginn eines Bee ist die Zeremonie
der königlihen Spiegelschau von besonderer Wichtigkeit’. Das erste
Morgengeshäft Krsnas ist, unter die Brahminen tausend Kühe zu
verteilen, glückbringende Gegenstände zu berühren und in einen
glänzenden Spiegel zu schauen‘. Das Pantschatantram beschreibt die
Königswahl der Vögel und erwähnt unter den für die Krönung
ı W. W. Reade: Savage Africa. 1863. 542. Macculloch: The Child-
hood of Fiction. 1905. 123. Vgl. über die spiegeltragenden Häuptlinge. Pechuel-
Loesche: Loango-Expedition. III. 2. 1907. 366.
2 Die Sondergötter der Könige sind die ins Übernatürlice projizierten
Vertreter ihrer eigenen Persönlichkeit, der Gott der Könige ist der König der
Götter, oder der Ahnherr der Könige, der König des mythischen Zeitalters,
3 Eine Novelle von Jan Maclaren führt den Titel: »His Majesty Baby.«
4 Zachariae: Zur indischen Witwenverbrennung. Zeitschrift des Vereins
für Volkskunde. 1905. 81. Agnipuräna. 234, 6, 7.
5 I. v. Negelein: Der Traumsclüssel des Jageddevva, (Rel, Vers, u.
Vorarb. XII. 4.) 1912. Jogayatra. 2. 23.
% Zachariae: Witwenverbrennung. Ztschr. d. V, f. V. 1905. 81. Mahab=-
harata, XII. 53. 7. Unter den acht gfükbringenden Gegenständen (mangala) figu=
tiert in der Regel aucı der Spiegel (die andern sind z. B.: svastika, Sonnenschirm,
Thron, gefülfter Krug, Muschel, Lampe usw.). Zachariae: Ebenda. 78. Vgl.
über dieselbe Bedeutung dieser Gegenstände (Spiegel usw.) im Traume, I. v.
Negelein: Der Traumscfüssel des Jagaddevva (Rel. v. u. V. XI. 4). 1912.
126, 127. Auc in Tibet figuriert der Spiegel an erster Stelle unter den act
Glücsobjekten. L. A. Waddell: The Buddhism of Tibet. 1895. 393. In Indien
unterzieht sich der Haupttrauernde einer Reinigungszeremonie, bei welcher er ver=
schiedene glückbringende Gegenstände, z. B. einen Spiegel berührt. Zachariae:
I. c. 76. In Bombay ist der Barbier sehr gnädig, wenn er gestattet, daß der
8”
16 DyGsaRdkın
nötigen glückbringenden Gegenständen auh den Spiegel!. Das
Märchen nimmt offenbar seinen Ausgang von den indishen Ge=
bräuden desselben Zeitalters, denn nach der Agnipurana muß der
König bei der Krönung in den Spiegel shauen®. Audh bei den
gewöhnlihen Menschen steigert das Schauen in den Spiegel das
Selbstbewußtsein oder das Glück ebenso, wie bei den Königen.
In GudZerat kann man dem durh den Unglückstag verursahten
bösen Schicksal ausweihen, wenn man in den Spiegel schaut oder
Reis ißt?. Außerhalb Indiens ist der Königsspiegel am besten
aus Ostasien belegt. In Japan werden dem Mikado gelegentlich der
Thronbesteigung die Regalia überreiht: Der Spiegel, das Schwert
und der Edelstein. Von diesen hält Aston den letzteren für eine
spätere Zutat‘. Die feierlihe Überreihung ist von dem Hersagen
der Worte Amaterasus begleitet,; die man natürlih im Sinne
eines übernatürlihen Vorbildes für den irdischen Vorgang auffaßt:
»Mein Kind, wenn du diesen Schatzspiegel siehst, achte das so, als
ob du mic selbst sähest«°. Mit dem königlichen Spiegel ist zu ver-
gleihen vor allem der »sonnenförmige Spiegel«, der »mitama« der
Urmutter der Mikados, der Sonnengöttin®, Das mitamashiro (»Sinn=-
bild des Geistes) oder shintai (Körper Gottes)? läßt sich als Eben-
bild Gottes auffassen. Nach dem Mythos hat man diesen Spiegel
vor die Höhle gelegt, um Amaterasu, die Urmutter der Mikados,
welche die Welt in Finsternis gehüllt hielt, damit hervorzulocen,
nämlih, um damit das Spiegelbild der Sonne aufzufangen. Bisher
»Patient« einen vershämten Blick in den Spiegel werfe. K. Boeck: Durch Indien
ins verschlossene Land Nepal. 1903. 122. Der Barbier gibt übrigens den Spiegel
nicht gern aus der Hand, denn die Begegnung mit ihm bedeutet nur dann Glück,
wenn er mit seinem Spiegel versehen ist. Zachariae: Ebenda. 76.
ı Th. Benfey: Pantschatantra. 1859. II. 224.
2 Zachariae: |. c. 82. Agnipuräna. 218. 28.
> Campbell: Indian Antiquary. XXV. 78. Zitiert bei Zachariae: I. c.
78. Das »Glüks ist wahrscheinlich nichts anderes als die Objektivierung des ge=
steigerten Selbstbewußtseins. k
+ W.G. Aston: Shinto. 1905. 135. Die maga-tana, nämlich eine Kristall-
kugel, ist das Ebenbild der Seele des Weibes, das Schwert das der Seele des
Mannes, und der Spiegel das Symbol der Seele der Sonnengöttin. G. Bonsquet:
Le Japon de nos jours. 1877. Zitiert bei Wlislocki: Vom wandernden Zigeuner-
volke. 1890. 220. D. Brauns: Japanishe Märhen und Sagen. 1885. 134. Die
Kristalfkugel und der Rundspiegel sind nahverwandte Varianten.
5 K. Florenz: Japanishe Mythologie. 1901. 199, 200. In alten Zeiten
soll der Kaiser den Spiegel ins Haar gesteckt haben, wahrsceinlih als Amulett.
Die mexikanishen Götter Tezcatlipoca und Huitzilopodtli tragen runde Spiegel
an der Schläfe. E. Seler: Gesammelte Abhandlungen zur amerikanischen Spradh-
und Altertumskunde. 1908. III. 280-282 und bei den Lenguas dienen die Ohr=
gehänge der Medizinmänner als Spiegel. W. Barbrooke-Grubb: An Unknown
People in an Unknown Land. 1911. 149. Nach einer anderen Variante: »Meine
Seele ist die Wahrheit und wenn du in diesen Spiegel schaust, wirst du die
Wahrheit sehen.«e G. Bonsquet: Le Japon de nos jours. 1877, zitiert bei Wlis=
locki: Vom wandernden Zigeunervolke. 1890. 220.
° Aston: Shinto. 1905. 70. »mistama« = »Erlauchter Geist, Seele«. K.
Florenz: Japanishe Mythologie. 1901. 287.
” Aston: I. c. 100. Florenz: I. c. 98.
Spiegelzauber 117
also könnten wir den Spiegel als Symbol der Urmutter der
Herrscherfamilie auffassen. Nach japanisher Auffassung ist nämlich
der Spiegel die Seele der Frau, das Schwert die des Mannes!.
Auf alten Gräbern finden wir häufig die heute die Regalia bildenden
drei Insignien, das Schwert, den Spiegel und den Edelstein?. Wenn
also die Symbole des japanishen Herrshers sih in ein weibliches
(Spiegel) und in ein männliches (Schwert) spalten, so ist damit der
bisexuell-autoerotishe Charakter dieser Regalia angedeutet. Es
scheint, daß die Herrsherwürde und der Spiegel auh in China in
irgend einem Zusammenhang standen. Laut dem Si-King-tsah-ki
hat Kaiser Süen (87 ante Christum), als er im Älter von zwei
Monaten, in den großen Hexenprozeß verwickelt, in den Kerker
geworfen wurde?, auf seinem Körper einen die Dämonen zeigenden
und glükbringenden Zauberspiegel getragen. Zum Andenken daran
hat er, nachdem er, erlöst aus dieser gefährlihen Situation, den
Thron bestiegen, den Spiegel ständig in der Hand gehalten‘. Wenn
wir die bereits behandelten indishen und japanishen Parallelen be=
achten, erscheint es sehr wahrsceinlih, daß der Spiegel früher auch
in China zu den kaiserlihen Insignien gehörte und daß die obige
Sage ursprünglih einen Zug des kaiserlihen Rituells erklären soll.
Der Spiegel als königlihes Symbol war einst gewiß weiter
verbreitet, denn Überlebsel davon sind in der Sage nachweisbar.
Die Aufzählung der Sagen wollen wir gleichfalls mit einem asiati=
schen Herrscher beginnen. Der legendäre Priester Johannes des
Mittelalters, in welchem Oppert den Korkhan Karakhitais erblickt,
beschreibt seinen Zauberspiegel folgendermaßen: »Ante foras palacii
nostri iuxta locum in quo pugnantes agonisant est speculum pretiose
magnitudinis et quod per gradus viginti quinque ascenditur ... In
summitate vero supreme columne, est speculum, tali arte conse=
cratum quod omnes macdinationes et omnia quae pro nobis vel
contra nos et adiacentibus et subiectis nobis provinciis fiunt, a
contuentibus liquidissime videri et agnosci possunt. Custoditur
autem a tribus millibus armatorum, tam, in die quam in nocte, Ne
forte aliquo casu frangi possit et deiici«. Der zweite mythisce
Weltherrsher, an den sih das Spiegelmotiv knüpft, ist der Jama
oder Husrava von Iran, in dessem aus sieben Spiegeln bestehen-
Der königliche
Spiegel in der
age.
ı W. Müller: Japanisches Mädchen im Knabenfest. Zeitschrift für Ethno»
logie: 1911. 572.
® H. Florenz: Japanishe Analen. 1903. 260.
: ®]1. 1. M. de Groot: The Religious System of China. Book. II. Vol. V.
1907. 842.
* 1.1. M. de Groot: Religious System. Book. II. Vol. VI. 1910. 1001.
.? Epistola Presbyteri Joannis. 184-200. Oppert: Der Presbyter Johannes.
1870. 175, 176. Laut Joannes de Hese. »Est ibi etiam speculum continens tres
lapides precioses quorum unus acuit visum, alter sensum, tercius experientiam,
ad quod sunt efecti quattor doctores qui intuendo ipsum omnia sciunt que fiunt
in mundo.« Ebenda. 42. Vgl. G. Huth: Die Reisen der drei Söhne des Königs
von Serendippo. Ztschr. f. Vgl. Literaturgesch. 1890, III. 309,
118 Dr. Göza Röheim
den Kelche sich, die Ereignisse der sieben Weltgürtel spiegelten'.
Der in sieben Teile geteilte mystishe Kelh Dschemsdids entspricht
nämlih dem »Weltenspiegels Kai Chosrus, der die sieben Welte
gegenden zeigt?. In der SR haar kehrt Kai Chosru, der Schah,
nachdem er zu Ormuzd gebetet hatte, daß er sein Reich vor Ahriman
beschütze, in seinen Palast zurück und von Glorienschein umgeben.
»Trat zu dem Weltenbeher hin der Schah,
Indem er alle sieben Kischwers sah,
Das Weltall sah er in dem Zauberischen
Vom Widderzeichen an bis zu den Fischen;
Er sah die Himmel, die sich ewig schwingen,
Sah das Warum und Wie von allen Dingen
Sah Mond, Saturn und Mars und Nahid rollen
Und durh den Zauber, den Geheimnisvollen
Ward alles was verborgen ist, ihm klar
Und die verhüllte Zukunft offenbar« 3.
Alexander der Große hatte auf dem Pharos in Alexandria einen
Spiegel, der ihm das Land Rum zeigte, die Inseln des Meeres, die
ankommenden und abfahrenden Sciffe, ferner alles, was die
Menschen taten. Christlihe Schiffe können in den Hafen von
Alexandria erst gelangen, seit ein Griehe den Spiegel zerbrocden
hat‘. Offenbar ist auch in der folgenden Sage Alexander der Große
gemeint: in der Stadt Ca am Nilufer befand sich eine Säule, dar-
auf ein Spiegel, in welher der König der Stadt Ca alle irdischen
Dinge sah°. In einer anderen Variante heißt der reichste König der
Erde Saurid, dieser hatte aus einer Mischung verschiedener Ble-
! G. Hüsing: Die iranische Überlieferung und das arische System. 1909.
Myth. Bibl. II. 2. 31. V. Jäkel: War der magische Spiegel im Besitztum der
Vorzeit? Internationales Zentralblatt für Anthropologie. 1903. 262, 263.
® A. F. v. Schack: Heldensagen von Firdusi. 1855. 71. Über die sieben
Weltgegenden Yast. 10, 15. F, Wolff: Avesta. 1910, 200. Vgl. die Goldpfeifen,
deren sieben Löcher den sieben Weltgegenden entsprehen: wenn der König in
ein solches Lodh hineinpfeift, erscheint vor ihm alles, was in den betreffenden
Weltgegenden geschieht. Carra de Vaux: Avicenne. 1900. 294,
® Schack: Heldensagen. 1851. 466, so findet er den in Gefangenschaft
geratenen Bissen am Ende der Welt. Vgl. weiter unten den Spiegel der Königs-
tochter und den versteckten Freier im Märden.
* Oppert: Der Presbyter Johannes. 1870, 42, Liebrecht: Zur Volks-
kunde. 1879. 89, (Masudi, Benjamin von Tudela. I. 155. ed. Asher. Early Tra=
vels in Palestine. Ed Wright. 1848.) L. Deslongchamps: Essai sur les fables
indiennes. 1838. 152—154. Guignes: Notices et Extraits des Manuscrits. I. 25
ex Huth: Ztscr. f. vgl. Lit. 1890. 308,
5 Liebrecht: I. c. 88. Orient und Okzident. I. 335. Eine andere Variante
spricht von mehreren Spiegeln, von denen ein Teil dazu dient, die Seeungeheuer
davon abzuhalten den Strandbewohnern Böses zuzufügen, andere wieder werfen
die Sonnenstrahlen auf die Schiffe des Feindes zurück und verbrennen die Schiffe,
in anderen kann man die auf dem jenseitigen Strande des Meeres befindlichen
Städte sehen, wieder andere zeigen ganz Ägypten und geben an, wo sich eine
gute Ernte erwarten läßt. Carra de Vaux: L’Abrege des Merveilfes. 1898. 282.
Gleichfalls Sa ließ in Memphis einen Spiegel anfertigen, der die Zukunft zeigt,
besonders, wo Dürre zu erwarten ist und wo eine gute Ernte.
—
Spiegelzauber 119
———
mente einen Spiegel machen fassen, der alles zeigte, was unter den
sieben Himmelszonen geshah, wo man den Acer begoß und wo
nicht. Dieser Spiegel stand auf einer grünen Marmorsäule in der
Stadt Amsüs (Emesa)!. Die Sage haftet auh an anderen mythischen
Herrshern,; so an Nekraus?, an Misraim, dessen Spiegel für den
Spiegel Alexandriens zum Muster gedient haben soll®, an Koftarim®
und an Kersounos, dessen Spiegel auf die Schiffe seine Anziehungskraft
äußerte und sie solcher Art zur Mautbezahlung zwang, damit das
Schiff dann weiterfahren könne, mußte man den Spiegel verhüllen’.
In Konstantinopel befand sih ein magiscer Spiegel, den Kaiser
Leo der Weise hatte anfertigen lassen, in welchem alles klar zu
sehen war, was auf der Welt sich ereignete, ja sogar auch das,
was die Menschen erst planten. Als dann jemand Midael beim
Gelage meldete, der Spiegel zeige, wie sich die Griehen rüsten,
um gegen Konstantinopel zu ziehen, ließ er den Spiegel in Stücke
schlagen, um in seiner Unterhaltung nicht gestört zu werden‘, Die
neunte Erzählung des »Liber de septum sapientibus« berichtet, daß
Virgilius in Rom »erexit columnam et super columnam posuit
speculum, in quo repraesentabantur omnes apparatus omnes con«
gregationes quae fiebant ad destructionem civitatis«”. In naher
Verwandtschaft zur Säule des Virgilius und des Priesters Johannes
steht die magishe, runde Säule des Chateau Merveille, welche
Klinshor aus dem Lande des Feirefis entwendet hatte:
! Carra de Vaux: L’Abrege des Merveilles. 1898. 201. Liebrecht:I.c. 88.
Orient und Okzident. I. 331.
?2 Carra de Vaux: L’Abröge des Merveilles. 1898. 175.
> Carra de Vaux: I. c. 234. Den Spiegel läßt ein ihm feindlich gesinnter
König rauben und zerschlagen.
35m =s.: 1. c. 238, 250.
5 D. s.: 1.c. 281. Vgl. auch über diese ägyptischen Spiegel auh M. Reinaudi
Momunens arabes, persans et turcs. 1828. II. 418, 419. L. Deslongchamps:
Essai sur les fables indiennes. 1838. 153.
8 Liebrecht: Zur Volkskunde. 1879. 85. Zeitschrift für deutsche Philo-
IKeie: II. 177. Neugriehishe Sagen. (Aus einem in 1763 in Venedig gedruckten
uche.)
? Huth: Die Reisen der drei Söhne des Königs von Serendippo. Ztschr.
f. vgl. Lit. 1890. III. 309. K. Gödeke: Orient und Okzident. III. 1866. 412.
Huth gibt zahlreiche Nachweise über Spiegel in den englishen, französischen und
italienishen Versionen des Buches der »Sieben weisen Meister«. In dem Bud
»Seven Sages« (ed. Wright. 1845. Percy Society LIII.) macht den Spiegel Merlin,
anderwärts ist überall Virgilius der Anfertiger. Über von Virgilius stammende
Gegenstände ähnlicher Bestimmung Huth: I. c. 313. Vier Totenköpfe. (Mass-
mann: Kaiserchronik. 1854. III. 448.) Jede Säule entspricht einer römischen Provinz
und wenn in irgend einer dieser Provinzen ein Aufstand ausbricht, beginnt die
Glocke zu fäuten. (L. Deslongchamp: Essai sur les fables indiennes. 1838. 151. Die
sieben weisen Meister. Die fünfte Rede der Kaiserin. Von dem Kaiser Octavianus.
Benz: Die deutshen Volksbücder. 1911. 70. »Mit teuflisher Kunst hat er ein
Standbild verfertigt...., welches Bild jedermanns geheim gehaltene Versündigung
dem Kaiser meldete « Gesta Romanorum: Regi Magyar Könyvtär. (Alte ungarische
ee Nr a 204. Teil LVII. Vgl. J. G. Th. Grässe: Gesta Romanorum.
5.1. 83, IL 261:
120 Dr. Geza Röheim
»Inmitten dieser Herrlichkeit,
Stand eine Säule, groß und breit,
Da sah er, was er nie gesehen,
Die Lande sih im Spiegel drehen,
Sah Berg und Tal vorübergleiten
Und Leute stehn und gehn und reiten;«
Arnive erklärt Gawan den Ursprung und die Rätsel der spiegelnden
Säule:
»Es sei Geflügel, sei Getier,
Wer fremd, wer heimisch im Revier,
Zu Wasser und Gefilde,
Ersceint im Spiegelbilde« 1,
Es scheint, als ob die Einleitung des neugriehishen Märcens, laut
welhem der König einen solchen Spiegel hat, der ihn alle dem
Reiche nahenden Feinde anzeigt, ein Widerhall der byzantinischen
Sage wäre. Einmal hatte ein Orkan den Spiegel fortgeweht und
der »Drakos« hängte ihn in seinem Garten auf einen großen Apfel-
baum, damit, wenn jemand Äpfel stehlen käme, der Spiegel die
Wächter rufe. Der jüngste Prinz geht zur Mittagszeit, als der
Drade scläfi, zu dem Baume hin, doh als er den einen Apfel
berührt, erklingt der Spiegel?.
! Parzival übers. W. Hertz: 1914. XII. 310, 311. Vgl. die Übersetzung
von Pannier: Parzival Reclam. XII. 589-592. S. 187—189. (Der Ursprung aus
dem Lande des Feirefis zeigt die Einwirkung der Sage von dem mythischer
orientalischen Herrscher, dem Presbyter Johannes auf die Gralsage. (Vgl. Oppert:
Der Presbyter Johannes. 1870. 219) Gewiß befand sih unter den Regalia des
Herrschers von Karakhitai, der bei den angrenzenden Herrshern in Ost=, Süd-
und Mittelasien nachgewiesene Spiegel. Im Zusammenhang mit dem hispanischen
Schauplatz der Gralssagen (Vgl. Oppert: I. c. 203.) erscheint die arabische Sage,
beachtenswert die den Tisch Salomonis nach einem Palast in Spanien verlegt. Neben
dem aus Gold angefertigten mit kostbaren Steinen geshmücten Tisch befindet sich
der Zauberspiegel, der die sieben Weltgegenden zeigt. Carra de Vaux: L’Ab-
rege des Merveilles. 1898, 122.
?1.G. v. Hahn: Griechische und albanishe Volksmärchen. 1864. 1. 284-286.
Vgl. zum Parallelismus zwischen Apfel und Spiegel folgendes aus dem Briefe
des Presbyter Johannes: »In extremitatibus vero super culmen pallacii sunt duo
poma aurea, in unoquoque sunt duo carbunculi ut splendeat aurum in die et
carbunculi fuceant in nocte, 161-164 s. Oppert: I. c. 174. Vgl. noc Apfel
und Spiegel im Liebeszauber, ferner oben den goldenen Apfel des Jesuskindes.
Vom wahren Wesen der Kinderseele 121
Vom wahren Wesen der Kinderseele.
Bedeer von De iv HUG-HELLMUTH,
I.
Von frühem Lieben und Hassen,
ist ein Maß für die unbewußte Anerkennung der Richtigkeit des
Bestrittenen. So erklärt sih auch gut die hartnäckig böse Stimmung
des Laien gegen den »Ödipuskomplex«, gegen die ambivalente
Gefühlseinstellung des Kindes zu den Eltern, seine der Erotik ent-
springende Identifikation mit Vater oder Mutter und nicht weniger gegen
die von unbewußter Sinnlichkeit keineswegs immer freie elterliche Liebe
zu Sohn oder Tochter.
Und darum ist jede Bestätigung dieser psychoanalytishen Erkennt-
nisse aus dem Alltag, aus den Werken feinfühliger Autoren wertvoll und
es mögen in der nachstehenden Zusammenstellung eine Reihe solher Belege
Platz finden, zunächst einiges aus der direkten Kinderbeobachtung:
I. Ein vierjähriger Knabe, der an der Mutter mit großer Zärtlichkeit
hängt, im Vater aber in erster Linie eine zu fürchtende stärkere Madt
erblikt, die man wohl »auc gern hat, weil es eben der Papa ists, sagt:
»Wenn ich groß bin, kauf’ ih mir und der Mama eine Kuh, die den
Papa beißt,«
Die Zusammenstellung »mir und der Mama« ist bezeichnend genug
für die kindliche Auffassung über die Zusammengehörigkeit der Familien-
mitglieder. Gerade vom Vater aber wurde der Knabe wegen seiner starken
exhibitionistischen und onanistischen Gelüste wiederholt derb bestraft. Die
Kindern, besonders Knaben sehr geläufige Vorstellung, das Kuheuter sei
dem namenlosen' und doch als so wichtig gefühlten Teil des eigenen
Körpers gleih, mag neben der Größe des Tieres Anlaß sein, daß der
Knabe gerade eine Kuh zur Vollstreckerin seiner Rahegedanken gegen den
Vater wählt, Auh wurde dem Kinde wiederholt die Drohung ausge-
sproden, ein Hund werde ihm die »schlimmen Fingers abbeißen. Was der
Hund an ihm vollziehen soll, muß an dem großen Vater mit den großen
Händen natürlich ein entsprechend großes Tier tun.
II. Zwei Knaben von fünf und drei Jahren gilt es als größte Freude,
des Morgens, sobald der Vater das elterlihe Schlafzimmer verlassen hat,
in Mutters Bett zu schlüpfen. Der Besitz ihres Körpers wird genau zuge-
teilt und keiner darf in das Gebiet des andern auch nur mit einem Finger
hinüberlangen. Jeder solchen Übertretung folgt ein erbitterter Kampf — auf
dem Körper der Mutter. Die Neigung zum Vater richtet sih nach der
jeweiligen eingebildeten Bevorzugung des Konkurrenten durch die Mutter.
Die Grundstimmung gegen ihn ist bei beiden Knaben eine ausgesprochen
"feindliche, eifersüctige.
Der eine der beiden Söhne stirbt in seinem sechzehnten Lebensjahr,
der andere bleibt zeitlebens an die Mutter fixiert, deren Einstellung zu ihm
! Frühzeitig tritt die Frage nach dem »ordentlihene oder »wirklichen«
Namen des in der Kinderstube nacı seiner vorläufigen Funktion benannten Penis auf.
D' Erbitterung, mit welcher der Widerstand gegen eine Sache arbeitet,
122 Dr. H v. Hug-Hellmuth
sih in dem typischen Verhalten der Schwiegermutter gegen die Frau des
Sohnes kundgibt.
Mit dreißig Jahren fällt ihm bei einem Gang durh die Stadt eine
Dame, die vor ihm geht, so angenehm auf, daß er ihr folgt, Wie er sie
an einer Straßenecke einholt und sie eben ansprechen will, wendet sie den
Kopf und er erkennt in ihr mit Bestürzung — seine Mutter.
III. Die eigentümlihe Gewohnheit mancher Kinder, einen Elternteil
beim Vornamen zu rufen, findet sih in überwiegender Mehrzahl bei
Knaben der Mutter gegenüber, selten bei Mädchen zum Vater, fast nie aber
"nennt meines Wissens ein Kind den gleichgeshlechtlihen Elternteil mit
dem Rufnamen. Es handelt sich eben dabei um eine Identifikation mit dem
letztern und um unbewußte heterosexuelle Anziehung.
IV. Da, soviel mir bekannt ist, noch keine Beobahtung über die
Entwicklung des Ödipuskomplexes bei Kindern, die infolge einer Trennung
der elterlihen Ehe nur unter der mütterlihen Obhut — die väterliche
allein kommt aus äußeren Gründen kaum in Betraht — aufwuchsen, mit=
geteilt wurde, sei folgender Fall berichtet:
Die Eltern eines Knaben trennen ihre Ehe, als dieser drei Jahre alt.
Das Kind bleibt bei der Mutter, liebt sie zärtlich, ist aber bis zu seinem
sechsten Lebensjahr von großer Sehnsucht nach seinem Vater erfüllt, wenn=
gleih sich schon in dieser frühen Zeit oft eine scharfe Kritik über das
Fernsein des Vaters bemerkbar macht. Trotz aller Vorsiht und feinen
Taktes der Mutter entnimmt der aufgewecte Junge aus erlauschten Ge-
sprähen mit Familienmitgliedern und Freunden, daß der Vater keine
schöne Rolle gespielt und Frau und Kind einfah im Stiche gelassen
habe. So nistet sih nah und nach neben der Sehnsucht ein tiefer Haß
gegen den Vater in seiner Seele ein, der ihn trotz zärtlicher Briefe, die er
an den Vater schreibt, gelegentlih — mit sieben Jahren — in böse Worte
ausbrecen läßt: »Wenn ich groß bin und mein Papa alt ist und zu mir
betteln kommt, werd’ ich sagen: Ich geb’ dir nichts, denn wie ih klein
war, hast du dich auch niht um mich und um die Mutter gekümmert.
Geh nur wieder fort.«
Und doc wieder, wenige Tage später drängt er auf einer Reise mit
der Mutter, da sie den Aufenthaltsort des Vaters berühren, zu einem
Besuch bei ihm, hofft ihn auf dem Bahnhof zu sehen, ist während des
Weges von hier zum Hotel ganz aufgeregt und glaubt in jedem Passanten
den Vater zu erkennen. So streiten Liebe und Haß um die Herrschaft in
der kindlichen Seele und machen sie frühreif, verwirrt und müde,
Und trotz der zärtlihen Liebe zur Mutter steht der Knabe mand-
mal auf Vaters Seite, so wenn ihm ihre Kleidung zu einfach scheint und
er sagt: »Wenn wir nach X. (der Stadt, in welcher der Vater lebt) fahren,
mußt du aber ein schönes Kleid anziehen, damit du dem Papa gefällst,
wenn wir ihn sehen.« Er bemängelt häufig ihre Toilette, sieht nicht gern,
wenn sie erhitzt oder übermüdet von ihrem Beruf nach Hause kommt und
will ihr, wenn er groß ist, schöne Kleider und Hüte kaufen und »viele
Flaschen Parfüm, damit du recht gut duftest«.
Aus diesem Falle und dem ähnlih verlaufenden Geschik eines
kleinen Mädchens läßt sih entnehmen, daß in Kindern, deren Eltern ge-
trennt leben, gegen den abwesenden, d. i. für ‘das Kind schuldigen Teil
neben einem offenkundigen Haß eine tiefe oft unbewußte Sehnsucht nicht
zum Schweigen kommt, ja daß diese sich gerade in den Haß hülft, um sich
Ausdruck zu verschaffen, Dr. H. v. Hug-Hellmuth.
Vom wahren Wesen der Kinderseele 123
I.
Eine Kinderbeobadtung.
Es sei hier einiges von einem jetzt dreijährigen Mädchen berichtet,
das keine Bevorzugung oder Besonderheit in seiner analen, urethralen oder
genitalen Trieblokalisation zeigt, in der Mundzone sich aber gleich anfangs
auffallend »trinkfaul« zeigte,. keine Anstrengung machte, die Mutterbrust
reichlih auszunützen, so daß nach wenigen Monaten zur Milchnahrung aus
Fläshchen übergegangen werden mußte, wonach der Säugling aufblühte.
Eine Shwäcde der Eßlust, ein Sträuben bei den Mahlzeiten zeigt sih an=-
dauernd. Das Kind ist trotzdem von gutem Aussehen und nascht Bonbons
und Obst gelegentlich gern, Zum letzten Geburtstag wünschte es sich »einen
Tag nicht essen zu müssen«. Man hat deutlich den Eindruk, daß hier
nicht das Bedürfnis des Organismus nach Nahrung, sondern ein vermutlich
ererbt minderwertiger Eßtrieb die Hauptrolle spielt. Sadomasocdhismus,
Schau- und Exhibitionsneigung treten gar nicht hervor. Von neurotischer
Angst trat nichts in Erscheinung außer eine lebhafte Angst, mit einer laut
schlagenden Stehuhr allein im Zimmer zu bleiben. Dies trat ein, nachdem
die bis dahin harmlos geliebte Uhr durch Monate beim Uhrmacher gewesen
war. Die Abwesenheit war dem Kinde aufgefallen. Ein großes Interesse
für alle Uhren, besonders Turmuhren, auh auf Bildern, entsprang von
dorther. Die Neurose hat sich etwa mit eineinhalb Jahren entwickelt und
hält in abgeschwächter Form, auch mit Spott über sich selbst, noch an.
Ängstigend scheint vor allem das laute Schlagen dieser Repetieruhr zu
wirken, was sich analog beim plötzlihen Ertönen des Tischtelephons im
gleihen Zimmer einstellt. Die Angst wird schlimmer nach einem gelegent-
lihen strafenden Angefahrenwerden des Kindes, was am häufigsten (wenn
auch im ganzen selten) von Seite der Mutter geschieht. Diese gibt übrigens
auch laute Klänge von sich, — sie ist nämlich Sängerin. Das Personifizieren,
Beleben, Animisieren der Uhr scheint Voraussetzung dieser Phobie zu sein.
Die ihm gegebene Beruhigung: »Es ist ja nur eine Maschine mit Räderns,
wiederholt das Kind gern zur Selbstberuhigung.
Die Uhr scheint wie ein Symbol für strafende Autorität zu wirken,
wie sie etwa auf einen Wilden wirkte. So wirkte einmal die rotglühende
Sonnenkugel hinter dem Nebel oder starker Wind, ein großes flatterndes
Blatt auf das Kind.
Aber warum hat die Uhr erst nach ihrer Abwesenheit so gewirkt!?
Die, wenn audı nur entfernte Möglichkeit, daß hinter der Uhrenphobie
Gedanken gegen die Mutter stecken, legt uns nahe, über die Zeichen der
Ödipuseinstellung bei der Kleinen zu berichten. i
Als Voraussetzungen muß betont werden, daß der Vater — wie
meist — durch seine häufige Abwesenheit Raritätswert genießt, die Mutter
als Haupterzieherin oft auch verbieten oder kritisieren und gelegentlich zum
Weinen bringen muß. Die Mutter wäscht, badet und frisiert das Kind —
was neben Lust= auch Schmerzgefühle erregt. Das Zureden, Zwingen zum
Essen hängt mit oben Angeführtem zusammen.
Trotz dieser fördernden Prämissen erscheint die Ablehnung der Mutter
bei Gelegenheit deutlih. Wenn der Vater mit dem Kind spielt oder ihm
erzählt, verrät es manchmal, daß das Eintreten oder Teilnehmen der Mutter
ihm unangenehm ist und weist die Mutter hinaus. Dies geschah anfangs
deutlich, jetzt nur andeutungsweise, mit Unterdrüken (Ähnlihes geschah
nie bei umgekehrter Situation). Es fiel auch einmal zögernd die Äußerung
124 Dr. H. v. Hug=Hellmuth
m ee a FE
zur Mutter: »Ich mag dih nicht — wenn du nervös bist!«, mit Anknüpfen
an ein aufgeschnapptes Wort. Scharf ist auh die Kritik der Kleidung der
Mutter, einfache oder rauhe und unsceinbare Bekleidung macht manchmal
die Mutter dem Kinde unsympathisch,; es schickt die Mutter hinaus, sich
umkleiden!
Trotz alledem ist die Mutter ein beliebter, lustiger, immer was Neues
erzählender oder singender Kamerad.
Der eigentliche Kamerad, mit dem man spontan jubelnd hetzt, den
man gelegentlich schlägt, neckt, dem das Kind alles nahmacht und mit dem
es sic identifiziert, ist das Kindermäddhen!. Für seine Kleider und Hüte,
für seine Einkäufe, Telephongespräche, für seine Tätigkeit wie Wäsce-
waschen, Aufräumen, Kehren und Wischen besteht nicht nur größtes
Interesse, sondern höchstes, oft unmittelbar folgendes Bedürfnis, es ihr
nachzutun. In diesen narzißtischen Phantasien, in denen die mahnenden
Worte des Kindermädhens — vom Kind gegenüber der Puppe nachgesagt
werden, das Setzen, Heben, Legen, Fahren genau wiederholt wird, besteht
das eigentliche, lebhafteste, eingesponnenste Spielen des Kindes. Hierin
läßt es sih nur ungern stören, bezieht die Erwachsenen als Ersatz von
Phantasiepersonen mit ein, sagt dabei den Eltern »Sie« oder »Herr
Doktor« und »Gnädige Frau« und ist wie abwesend! Man gewinnt den
Eindruck größter Ähnlichkeit mit dem halluzinierenden Tun Psycotiscer,
die, abgewendet von der Wirklichkeit, »einen Traum leben«. Beginnt diese
identifizierende, nahahmende Tätigkeit, so wird sie oft begründet mit »Ich
muß jetzt z. B. aufräumen«. In dieses geschäftige Tun flüchtet das Kind
auch gern, wenn die Großen, etwa weil Besuch da ist, sih mit ihm nicht
abgeben. Auc Tätigkeiten der Mutter werden nachgemacht und die Identi-
fikation ist auch hier deutlich. Wie aus einer Kombination von Identifizie-
rung mit der Mutter und doch Bevorzugung des Vaters scheint es zu ent-
springen, daß das Kind den Vater (nur diesen) gern mit seinem Vornamen
ruft, und ausnahmsweise zu den Eltern ins Bett gehoben, beim Vater liegen
will, respektive an Stelle der Mutter in deren Bett. Nachgeahmt wird frei-
lih auch z.B. ein Mädchen, das tags vorher zur Laute gesungen hat. Das
Befriedigende »Ih tu es auch!, ich kann es auch!« sieht man dem Kind
vom Gesicht ab. Es zieht Kinder seines Geschlechts vor, fürchtet sih vor
den »bösen Bubens. Charakteristisch ist auch ein selbstgefällig konstatie=
rendes Fragen nach einem geglückten Tun: »Was hab’ ic jetzt getan? !«
Multaretuli.
II.
Kinderszene.
Die Analyse weiblicher Patienten hat shon oft dazu geführt, eine
Phantasie früher Kinderjahre wieder bewußt zu machen, in der sich das
kleine Mädchen als Mutter mehrerer Kinder sah. Man hat das Bestehen
solher »unkindlicher« Phantasien als Suggestionsprodukt der Analyse be-
zeichnet und ihnen, ebenso wie dem zugrunde liegenden Wunsch des Kindes,
die Stelle der Mutter einzunehmen, die dem geliebten Vater Kinder geboren
‘ Für_dieses ruhige, langweilige Mädchen, das dem Wunsh der Eltern
gemäß von Zärtlichkeiten absieht, besteht offenbar große Neigung. Das Kind hat
ganz von selbst ihm Kosenamen gegeben, z. B. Ninerl, Nannerl u. dgl. Es ist
seit der Geburt im Hause und liebt das Kind sehr,
Vom wahren Wesen der Kinderseele 125
hat, jeden Glauben versagt. Es ist deshalb nicht ohne Interesse zu sehen,
wie gut die vorurteilslose Kinderbeobahtung mit den Resultaten der Analyse
übereinstimmt, um so mehr, als es sih um Ereignisse zu Beginn des vorigen
Jahrhunderts handelt, die gewiß nicht durch eine Voreingenommenheit zu=
gunsten der Analyse veranlaßt wurden.
In dem Buce »Gabriele Humboldt, Ein Lebensbilds ist ein Brief
Wilhelm von Humboldts vom Mai 1804 enthalten, in welchem dieser
seiner Gattin von Rom aus über die bei ihm zurückgebliebenen Kinder Mit-
teilung macht (S. 48). »Sie (die vierjährige Tochter Adelheid und die zwei-
jährige Gabriele) sind allerliebst zusammen, die Adel geht wie mit ihrem
Kinde mit ihr um und sorgt dafür, daß sie alle Tage spazieren gehen
muß. Erst fragt sie mich deutsh um Erlaubnis und dann geht sie zu
Vicenza: ‚Dice cosi: dovete andare a spasso, ma nel sole nol’« (Er sagt
so: Ihr sollt spazieren gehen, aber in der Sonne nicht.) Durch dieses Be-
nehmen, die Fürsorge um die kleine Schwester, die Einholung der Wünsche
des Hausherrn in der den andern unverständlihen Sprahe und die Weiter-
gabe seiner Befehle zeigt die kleine Adelheid niht nur, wie Humboldt
ganz richtig empfindet, ihre mütterlihe Einstellung zur Schwester, sondern
auch dem Vater gegenüber, da sie, soweit es ihr möglich ist, die abwesende
Hausfrau kopiert. Immerhin ließe sich dies vielleiht noch mit der Phrase
abtun, daß sie eben das Bedürfnis habe, die Große zu spielen und An-
ordnungen zu geben, statt ihnen zu gehorchen.
Es folgt aber bald darauf in Marino, das die Familie als Sommer-
frische aufgesucht hat, eine Szene, die keine Mißdeutung mehr zuläßt.
Humboldt schreibt (S. 50): »Die Adel hat hier einen ganz sicheren Balkon,
auf dem sie manchmal steht, und der nach der Straße geht. Von da herab
hält sie Konversationen mit den Kindern, die sih unten versammeln, wirft
auch wohl manchmal einen Bajocco hinunter, aber selten, weil sie das
Aufheben liebt, Neulich hatte sie eine göttlihe Szene. Sie erzählte den
Kindern sehr weitläufig, daß sie in Paris geboren wäre — das ließen sie
nun so hingehen — daß sie einen Mann hätte — da lacıten sie shon —
und daß sie sechs Kinder hätte, Darüber machten die unten einen großen
Lärm. Adel nahm das aber so übel, daß sie sih auf die Erde warf und
fürchterlich weinte. Wie sie indes sah, daß das Weinen nicht half, sprang
sie auf einmal auf, lief wieder hin und schimpfte aus vollem Halse:
‚Maledette bestie‘ und Gott weiß was für entsetzliche Schimpfwörter und
immer dazwischen: ‚E vero, & vero, ho sei creature‘, zum Todlacen .. .«
Es ist anzunehmen, daß die kleine Adelheid Humboldt, ein Kind von
bemerkenswert hoher Intelligenz, ebensoviel Einsiht wie die Straßenjugend
von Marino besaß und die Unmöglichkeit ihrer mehrfahen Mutterschaft
zu erkennen vermochte. Wenn sie trotzdem mit solcher Zähigkeit an dieser
»Kinderlüges festhielt und dem Hohn und Unglauben einen so außer-
ordentlich starken Leidenschaftsausbruch entgegensetzte, so geht dies offen-
bar nicht auf intellektuelle Motive zurück, sondern auf die Affektstärke,
mit der sie an jener Phantasie hing. Zur vollen Aufklärung des Falles
ist nur die Angabe hinzuzufügen, daß ihre Mutter, die sich in Paris auf-
hielt, eben damals einem sechsten Kinde das Leben gab,
Hanns Sachs,
126 ES Dr. H. v. Hug-Hellmuth
IV.
Änatole France über die Seele des Kindes.
Mitgeteilt von Dr, J. HÄRNIK, derzeit im Felde.
Ferenczi hatte es vor wenigen Jahren unternommen', den
Seelenkenner und Philosophen Anatole France als einen der wenigen
großen Vorläufer Freuds im Erfassen und in der Schilderung seelischer
Vorgänge darzustellen. Einige Ansichten über psycisches Geschehen, die
intime Psychologie in der Erzählung verwicelt-rätselhafter menschlichen
Handlungen, Ausführungen über die Genese der Geisteskrankheiten — von
Ferenczi mit geübter Hand ausgewählt — haben, durch ihre auffallende
Übereinstimmung mit der psychoanalytishen Betrachtungsweise, überraschend
und überzeugend gewirkt. Gleihsam ergänzend zu diesem Referat möchte
ih nun die Aufmerksamkeit des psychoanalytischen Publikums auf eines
der schönsten und ergreifendsten Bücher dieses Meisters lenken, welces
»Das Buch meines Freundess betitelt, Beobachtungen und Reflexionen
über die seelische Entwicklung des Kindes enthält, und schon mehr als
hundertunddreißig Auflagen erlebt hat.
Das Bud zerfällt in zwei Teile: Im ersten Teil gibt der Verfasser,
allem Anschein nach, seine eigenen Kindheitserinnerungen, der zweite Teil
enthält Beobachtungen über das Gebaren und die Entwicklung seines
kleinen Töchterchens, Suzanne, Alle seine feinen Bemerkungen, viele ent=
zückende Einzelheiten bei Seite lassend, will ih hier nur den Inhalt des
schönen Kapitels ausführlih wiedergeben, in dem uns France die Ge-
shichte Andres, eines kleinen Freundes seiner Tochter, schliht und er-
greifend erzählt. Eine Geschichte, die wie eine Kindheitserinnerung anmutet,
welche als Ergebnis einer psychoanalytischen Sitzung zutage gefördert wird.
Andre ist der Sohn des berühmten Arztes Doktor Treviere. Der
Vater aber starb, als der Junge noch sehr klein war und so blieb er mit
seiner Mama allein. Dem netten, munteren Knaben tut die Großstadtluft
nicht wohl, daher führt ihn die Mutter auf das Land, zu den Großeltern
des Kindes.
Andre ist der schönen, jungen Mutter sehr zugetan, Das bezeugt
unter anderem diese kleine Szene, die den ersten Abend am Dorfe
abschließt:
»Sie zog Andre die Kleider aus.
— Nun, sagte sie ihm, verrihte dein Gebet.
Er murmelte:
— Mama, ic liebe dic.
Und, mit diesem Geständnis, den Kopf fallen fassend und die
beiden Fäuste schließend, schlief er in Frieden ein,
Es kommen nun schöne, glückliche Tage der Sommerfrishe. Doch
wird das friedliche Beisammensein bald durch das Auftaudhen eines alten
Bekannten gestört, des benachbarten Fabriksbesitzers Lassalle, Der Junge
scheint ihn als Störenfried zu betrachten, er empfängt ihn schlecht, ist mit
ihm unhöflich, und äußert sich über den Herrn, der der jungen Frau und
auch ihren Schwiegereltern sehr gefällt, folgendermaßen:
Im ersten Jahrgang des Zentralblattes für Psychoanalyse,
? A. F. Le livre de mon ami. Paris, Calmann-Levy, editeurs.
|
Vom een Mean a ndlreede 127
— Er ist garstig, der Herr. Worauf er natürlich tüchtig geschimpft wird.
Aber die Neigung der jungen Frau für ihren Verehrer wächst von
Tag zu Tag und bis der Herbst kommt, wirbt er in einem schönen Brief
um ihre Hand. Sie liest ihn an einem kühlen, stürmischen Herbstabend
nachdenklich und voller Sehnsucht nach verlorener Zärtlichkeit.
Sie erinnert sich an ihren verstorbenen Mann. Dann dachte sie wieder nach.
— Eine Frau kann nicht ganz allein einen Knaben erziehen...
Andre wird einen Vater haben.
— Mama!
Bei diesem Ruf, der aus dem kleinen Bette kam, fuhr sie erschreckt
zusammen.
— Was willst du, Andre? Du bist recht unruhig heute,
— Mama, ich dachte an etwas.
— AÄnstatt zu schlafen... An was?
— Papa ist tot, nicht wahr?
— Ja, mein armes Kind.
— Also wird er nicht mehr zurückkommen?
— Äh! nein, mein Lieber.
— Nun, Mama, das ist doh ein Glük. Denn, ih liebe dih so
sehr, siehst du, Mama, so sehr, daß ich dich für alle beide liebe, Und
wenn er zurückkäme, könnte ich ihn gar nicht mehr lieben.
Sie betrachtete ihn einige Zeitlang mit Unruhe und fiel in den
Lehnstuhl zurük, wo sie, den Kopf in den Händen, unbeweglich blieb.
Mehr als zwei Stunden lang schlief shon das Kind beim Geräusch
des Gewitters, als sie sih ihm nähernd ganz leise seufzte:
— Sclafe! Er wird niht zurückkommen.
Und doch kam er, zwei Monate später, zurük. Er kam zurück
in der kräftigen Gestalt des Herrn Lassalle, des neuen Herrn des Hauses.
Und der kleine Andre fing wieder an, bleih zu werden, abzumagern
und der Mattigkeit zu verfallen,
Jetzt ist er schon geheilt. Und er liebt sein Kindermädchen wie er
früher seine Mutter geliebt hat. Er weiß nicht, daß sein Kindermädchen
einen Liebhaber hält.« —
Ih habe den Schluß des Kapitels wörtlich hieher gesetzt, und habe
eigentlih zur Erzählung des Meisters keine Bemerkung hinzuzufügen, da
sie für sich selbst spricht und jedem Psychoanalytiker lebensgetreu er-
scheinen muß. Es soll auh nur noch, da es einen Einblik in die ver-
schlungenen Wege der künstlerischen Formgebung gewährt, die Erwähnung
eines Details folgen, das im ersten Teile des Buches die Aufmerksamkeit
fesselt. Bei der Schilderung der eigenen Kindheitserinnerungen sehen
wir nämlih das Prinzip der Verdrängung mit der ganzen Kraft
walten, indem hier der Verfasser — der doch das Verhältnis des Sohnes
zur Mutter im Sinne der Psychoanalyse auffaßt und darstellt — diese erste
und wichtigste Stufe in der erotischen Entwicklung gleichsam überspringt.
Der kleine Pierre Noziere nämlich, der Held dieses ersten Teiles, dessen
Verhältnis zu seiner Mutter mit wunderbar zarten, feinen Linien gezeichnet
ist, verliebt sich zuerst (mit etwa vier bis fünf Jahren) in »die Dame in
Weißs, die neben ihnen wohnt. Aucd vertreibt er einmal, als eifersüchtiger
Nebenbuhler unerwartet auftretend, einen Herrn Arnold, der eben um die
Liebe dieser Dame wirbt. Hier wird also die erotishe Objektwahl des
jungen Knaben schon in der Form der Übertragungsliebe unseren
Augen vorgeführt.
128 Dr. H. v. Brida
V.
Eine Kindheitserinnerung Alexander Dumas‘.
Der Verfasser des »Grafen von Monte Christo« erzählt in seinen
»Memoiren« von dem starken Eindruk, den der Tod seines Vaters auf
ihn als Kind gemacht habe. Alexander war damals vier Jahre alt geworden.
Er liebte seinen Vater, den berühmten Reitergeneral und Kampfgenossen
Bonapartes, »grenzenlos«, wie er selbst sagt. » Vielleicht war diese grenzen«
lose Verehrung in jenem Alter des Gefühlslebens — das Alter der Liebe
möchte ich es heute nennen — nichts weiter als naives Erstaunen über
diesen herkulishen Wuchs, über diese gigantishe Kraft, die ich ihn so oft:
entfalten sah, vielleiht war es auch nur eine kindish stolze Bewunderung
für seinen gestickten Ro, seinen dreifarbigen Federbusch und seinen großen
Säbel, den ich kaum von der Stelle heben konnte ,..« Als der General,
den Napoleon mit Vorliebe »Herkuless nannte, dem Sterben nahe war,
wurde der kleine Alexander zu einem Onkel gebraht. Dumas erzählt
nun, daß er nach einer sehr unruhig verbrahten Nacht geweckt wurde:
»Dann vernahm ich ohne zu wissen, was sie bedeuten sollten, die Worte:
‚Mein armes Kind, dein Väterchen, das dich so sehr geliebt, ist tot.’ Ich
blieb einen Augenblick nachdenkend. Obwohl nodh ein Kind und schwach
an Einsicht, fühlte ich dennoch, daß ein verhängnisvolles Breignis in meinem
Leben eingetreten sei. Im nächsten Augenblik, wo ich mich unbemerkt
sah, ging ich meinem Onkel auf und davon und lief geradewegs zu meiner
Mutter. Die Türen standen offen, ich trat ein, ohne von jemand gesehen
oder bemerkt zu werden. Ich erreichte die kleine Kammer, in der die
Waffen aufbewahrt wurden. Dort bemädtigte ich mich eines Gewehres,
das meinem Vater gehörte, und das man mir versprodhen hatte, wenn ich
einmal groß sein würde. Mit diesem Gewehr schleppte ih mic die Treppe
hinauf. Im ersten Stock begegnete ich meiner Mutter, Sie kam eben aus
dem Zimmer, wo der Tote lag. ‚Wo gehst du hin?‘, fragte sie erstaunt,
mich hier zu sehen, während sie mich bei meinem Onkel wähnte, ‚Ich
gehe in den Himmel‘, erwiderte ih. ‚Wie? Du gehst in den Himmel” —
‚Ja, laß mich, Mutter.” — ‚Aber, was willst du denn im Himmel, mein
armes Kind?’ — ‚Ih will den lieben Gott tot machen, weil er unser
Väterchen tot gemadt hat.” Man hatte mir nämlich bei meinem Onkel
gesagt, daß der liebe Gott meinen Vater zu sich genommen habe und daß
der liebe Gott im Himmel wohne,«
Diese Kindheitsreminiszenz darf uns an typische Rachephantasien bei
Neurotikern erinnern, welhe oft nach des Vaters Tod auftauchen. Die
Person, an welcher der Vater geräht werden soll, ist selbst eine Ersatz-
figur des Vaters und ihr wendet sich der unbewußte Sohneshaß zu, während
das durch Selbstvorwürfe reaktiv gesteigerte Liebesgefühl des Sohnes im
Verlangen nah Rahe für den Dahingeschiedenen befriedigt werden soll,
Rank hat das Wirken ‘dieses Projektionsmechanismus in seiner Änalyse des
Hamlet dargestellt‘, In unserer Kinderphantasie ist an die Stelle des alten
Dänenkönigs und Claudius der tote Vater und ein noh höherer getreten:
ein Wesen, das sich auf den ersten Blick als deifizierter Vater manifestiert.
Das Motiv der Vaterrahe ist hier so gewendet, daß die abgespaltene
Vaterimago, an der Rache geübt werden soll, ein Objekt stärkster Ehr-
furht und Verehrung ist: der »liebe« Gott. Wir haben durch die Psydo=
! Das Inzestmotiv in Dichtung und Sage. Wien 1912, S, 57 #.
Vom wahren Wesen der Kinderseele 129
analyse erfahren, daß auch den Ersatzfiguren des Vaters die ambivalente
Gefühlseinstellung gewidmet ist. An unserem Beispiel finden wir dafür wieder
eine Bestätigung: denn dem lieben Gott gilt nicht nur der kindlihe, ur-
sprünglih dem Vater selbst zugewendete Todeswunsh, sondern auch die
Sohnesliebe. Wenn sich der Vierjährige als Racheobjekt gerade dieses
höchste Wesen wählt, so dürfen wir daran erinnern, daß er seinen Vater
grenzenlos verehrt, ja angebetet (sadore«) hat. Niemand Geringerer durfte
die Stelle des übermäßig verehrten und unbewußt beneideten und gehaßten
Vaters einnehmen. Wir haben durch die Forschungen Freuds die Psydho-=
genese des Gottesbegriffes tiefer erfassen gelernt: der von der primitiven
Urhorde ermordete Vater wurde als Gott wieder erweckt, und zwar in
anthropomorpher Gestalt. Dieser wurde bestraft und gezüctigt, wenn er
den Seinen nicht half oder ihnen gar Unglück sandte; Revolutionen gegen
die Gottheiten gehören zu den häufigen Vorgängen der primitiven Religionen.
Das Emporrücken des toten Vaters an die Stelle Gottes findet in unserer
kleinen Kindergeshichte eine Parallele.
Es sei schließlih noch darauf verwiesen, daß auch in der geplanten
Race der neurotisch-infantile Kompromißcarakter erkennbar ist. Denn zur
Ausführung seiner Absicht bemäctigt sich der kleine Junge jenes Gewehres,
das dem Vater gehörte (Verbotübertretung unmittelbar nach des Vaters
Tode), er eignete es sih so an, als ob er gerade jetzt und durch des
Vaters Tod »groß« geworden wäre. Gerade jenes Instrument aber, das er
widerrehtlih, gegen des Vaters Gebot an sich genommen hat, soll der
Race für den Vater dienen. Diese Aneignung aber gibt uns einen Finger-
zeig, wem ursprünglih der Gewehrshuß zugedaht war. So mengen sic
also gerade in jene Handlung, welcher der Liebe und Verehrung des
Sohnes gelten soll, Züge, welhe den entgegengesetzten Tendenzen des
Trotzes und der revolutionären Feindseligkeit dienen,
Dr, Theodor Reik.
VI.
Mutter—Sohn, Vater— Tochter,
Ein reizendes Büchlein von Meta Schoepp »Mein Junge und ich«!
läßt uns die feine Brotik im Verhältnis zwischen einer Mutter und ihrem
Söhncen in so klaren Worten schauen, daß diese schönen Stellen zitiert
zu werden wohl verdienen. Der kleine Junge, der »nur das gern ißt, was
die Mama gern ißt«, vertraut ihr auf dem blauen Sofa, auf dem die
beiden eine Welt für sich erleben, sein süßestes Geheimnis an: »Liebling,
ih will dich heiraten. Eine andere mag ich nict.«
»Ad, Fritzchen, das geht ja nicht. Erstens habe ich schon einen
Mann. Und zweitens muß doch der Mann immer ein bißchen älter sein als
die Frau. Willst du dir’s niht noch überlegen?«
»Und er überlegte sich’. Am nächsten Tag sagte er mir Bescheid,
Er stieg dazu aus seinem Bettchen in meines, lag gedankenvoll einige Zeit
in meinem Arm und wartete, daß der Vater das Zimmer verließ, Denn
in seiner Gegenwart kann man sih doch keine Geheimnisse erzählen!
Kaum ist also der Vater gegangen, da fängt er an — »Ich werde nun gar
.nicht heiraten, Liebling.« »Ad, wie schade! Ich hatte mih schon so auf
ı Berlin, Concordia, Deutsche Verlagsanstalt, 1910.
Imago V/2 9
130 Dr. H. v. Hug-Hellmuth
deine kleine Frau gefreut! Warum denn nicht?« »Sie könnte vielleicht
keine gute Mutter für meinen Jungen sein.«
»Und drei Jahre später, mit sechs oder sieben, ist seine Weltanschau=
ung noch düsterer geworden: »Ich heirate nicht«, sagt er — »zuerst sind
die Frauen immer sehr nett. Und nachher sind sie ganz anders.«
»Ad,x sagt das Fräulein, »dann wirst du ja ein langweiliger Jung-
geselle!«
Er überlegt.
»Nein. Meine Frau ist dann einfah schon gestorben. Und als
Admiral«e — das will er werden — »kann ich gar keine Frau brauden.
Dann habe ich einen Kod.«
Und bei einem sangreichen Spaziergang durch den Wald, da die
Mutter sein Lieblingslied »die beiden Grenadieres vorschlägt:
»Nein, die kann ich nicht mehr leiden.«
»Warum denn nicht?«
»Weil sie keine guten Papas sind. Was sollen dann nun ihre Jungen
anfangen? Mamas sind überhaupt viel besser als Papas. Hermann sagt —
das war ein Freund — »er mag Papas überhaupt nicht, die hauen bloß.«
»Aber deiner ist doch so gut!«
»Ja. Aber hauen tut er aud,«
Äber aus der zärtlichen Neigung zur Mutter lodert gelegentlich böser
Haß. Der kleine Wicht weiß, daß er Mutter bei der Arbeit nicht stören
dürfe. Und trotzdem will er gerade da der Mutter »bloß 'nen Kuß geben«.
»Und nad einigen guten Ratschlägen über Zeitanwendung wird die Tür
wieder geschlossen.«
Einen Augenblick Ruhe. Aber dann erhebt sich ein Geschrei und
Wehklagen und eine verzweifelte Stimme heult:
»Du liebst mich nicht mehr! Du liebst mich nicht mehr!«
Adieu Arbeit! »Aber Mäushen — — ic liebe dich! Ich liebe dich!
Nur wenn Mama arbeitet — —«
»Nein, ich hab’s schon immer gewußt, daß du mic nicht liebst !«
Gegenseitige Liebesbeteuerungen und Versöhnung. —
»Warum hat dir der liebe Gott eigentlich goldene Haare gegeben?«,
fragte er mich. Er sah so gern zu, wenn ich mein Haar kämmte. Wenn
die Sonne darauf fiel, leuchtete es und dann mußte er es küssen,
Ih seufzte: »Etwas Schönes wollte er mir wohl aud geben.«
Wir verkehrten an dem Morgen sehr höflich miteinander, bis — ja,
bis auf einmal Meinungsverschiedenheiten ausbrahen ... — Da wurde er
wütend. »Und du hast überhaupt kein goldenes Haar, Lieblings, schreit
er, »Hexenhaar hast du!«
u > er er TE EN ESEERPER
Sohn, der väterlichen zur reifenden Tochter.
Als der kleine vierjährige Fritz zum erstenmal sein Persönlichkeits-
gefühl zur Geltung bringt in der Behauptung: »Wenn Papa und Liebling
Vom wahren Wesen der Kinderseele 131
Schrei so ein kleiner Mensch eine Persönlichkeit ist; ah, dachte ih, nun
geht er seine eigenen Wege! Nun hat er schon seine eigenen Gedanken!
Wie wird das später werden! Eines Tages wird er mir nicht mehr
gehören! Eines Tages wird er eine Geliebte haben und seine
Mutter wird er besuchen, wenn er gerade Zeit übrig hat! Nur
für eine andere Frau haben wir unsere Söhne geboren! Ih dachte
gar nicht daran, daß diese Geliebte noch gar nicht geboren war; aber ich
hatte einen richtigen Haß auf das unbekannte Geschöpf, das
mir meinen Sohn nehmen wollte.s —
Diese eifersühtige Liebe der Mütter ist der heimliche Grund, warum
sie ihre Knaben so lange im Kittelkleidhen gehen, das Haar in Locken
wachsen lassen ...
Wie aber auch die Gefühle des Vaters zur heranwachsenden Tochter
sich eines sexuellen Untertones nicht immer erwehren können, davon spricht
Geijerstam in seinem Roman »Frauenmadhts ein feines Wort: »Ein
Vater, der allein gelassen wird mit seiner Tochter, bekommt leicht in seinem
Benehmen dem Kinde gegenüber ein gewisses Etwas, das zeigt, wie wenig
er den Untershied des Gesclechtes zwischen ihnen vergessen kann. So
weit ih zurückdenken kann, war Grethen für mich immer das kleine
weiblihe Wesen, sie war es von den ersten Tagen an, wo sie sih nach=-
denklich in der Metallplatte der Ofentür spiegelte oder mich bat, mit ihr
zu spielen, ich sei ihr kleines Kind...
Hier, gerade hier stand sie jeden Mittag, wenn ich nach Hause kam,
sie stand ruhig und wartete, bis ich mich meines Überroks entledigt
hatte, um sich mir dann in die Arme zu werfen, mehr wie ein liebendes
Weib als wie ein Kind... Sie war schon ein kleines Weib, während sie
noch ein Kind war, ..* Dr. H. v. Hug-Hellmuth.
Bucdrucerei Cari Fromme, G. m. b. H., Wien V.
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25 PSYCHOANALYTIC.
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DIE PSYCHOANALYTISCHE HOCHSCHULE IN BERLIN
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Im dritten Jahrgang erscheint:
"Internationale Zeitschrift für
ärztliche Psychoanalyse,
Offizielles Organ der Intern. Psydıhoanalytischen Vereinigung.
Herausgegeben von
Prof. Dr. SIGM. FREUD.
Redigiert von
Dr. S. FERENCZI (Budapest), Prof. ERNEST JONES (London)
und Dr. OTTO RANK (Wien).
Jährlih 6 Hefte 24—30 Bogen stark M. 18° — = K 21:60.
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Kürzlich erschien:
Probleme der Mystik und ihrer
Symbolik.
Von HERBERT SILBERER.
18 Bogen, mit mehreren Abbildungen, geheftet M. 9— = K 10'80,
in Halbfranz geb. M. 12°— = K 142%.
INHALT. I. Einfeitender Teit. 1. Die Parabola. 2. Traum- und Märdendeutung. =
— il. Analytischer Teil. 1. Psycdhoanalytishe Deutung der Parabola. 2. Alchemie. - =
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3. Hermetishe Kunst. 4. Rosenkreuzerei und Freimaurerei. 5. Das Problem der mehr=
fahen Deutung. — IH. Synthetischer Teil. 1. Introversion und Wiedergeburt.
A. Verinnerlihung und Introversion. B. Folgen der Introversion, C. Wiedergeburt. 2. Das
mystische Ziel. 3. Königlihe Kunst. — Anmerkungen. — Quellen. — Index,
Dieses tiefshürfende Werk hält mehr, als der bescheidene Titel verspricht. Es führt
insinnerste Wesen der Mystik selbst und gibt endgültige Aufschlüsse.
Durdh die Anwendung der psychoanalytiscl,en Methode gelangt der Autor
zu ebenso überraschenden als zwingenden Ergebnissen. Die Bildersprahe der Mystik =
(wovon uns das Werk zahlreiche Beispiele aus seltenen Quellen vor Augen führt) Z
“ist schon an sich teils wegen ihrer Kuriosität, teils wegen der Größe und Schönheit =
ihrer Gedanken bemerkenswert. In der Beleuchtung des Verfassers aber entfalten =
die Rätselworte der Mystiker, Alchemisten und Rosenkreuzer erst ihre volle Z
Kraft, und die Zusammenhänge zwischen erotisch und mystisch reli- =
giöser Symbolik treten klar zutage. Insbesonders auh wird das Wesen und 3
die Symbolik der Freimaurerei, sowie ihr Ursprung in eine ganz neue =
Beleuchtung gerückt, wobei den Verfasser ein reiches historisches und philosopbi- =
sches Wissen unterstützt. =
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Inhalt des zweiten Plehzs
SIGM. FREUD (Wien): Eine Kindheitserinnerung aus »Dicdtung und
Wahrheits.
Dr. H. PROTZE (zurzeit Bad Ems): Der Baum als totemistisches
Symbol in der Dicitung.
Dr. GEZA RÖHEIM Budapest): Spiegelzauber.
VOM WAHREN WESEN DER KINDERSEELE. Redigiert von
Dr. H. v. Hug-Hellmuth.
Von frühem Lieben und Hassen. (Dr. H, v. Hug-Hellmuth.)
Eine Kinderbeobahtung. (Multaretuli.)
Kinderszene, (Hanns Sachs.)
Anatofe France über die Seele des Kindes, (Dr. J. Härnik.)
Eine Kindheitserinnerung Alexander Dumas’. (Dr. Theodor Reik.)
Mutter—Sohn, Vater—Todter. (Dr. H, v. Hug-Hellmuth.)
Nachdruck verboten.
ı WIENER GRAPHISCHES KABINETT
HUGO HELLER, WIEN L, BAUERNMARKT NR. 3
Zur Subskription ist gestellt:
SIGMUND FREUD.
Porträtradierung von MAX POLLAK.
Plattengröße 472/,:47%/, em, Papiergröße 85:63 cm.
Es werden insgesamt nur 50 Exemplare von der Kupferpfatte gezogen, und zwar
Nr. 1—25 auf kaiserlih Japan, Nr. 26—50 auf van Geldern-Bütten.
Jedes Blatt ist vom Künstler handschriftlich signiert und numeriert.
Der Subskriptionspreis beträgt für die Abzüge auf kais. Japan 100 K = 85 M.
für die Abzüge auf van Geldern-Bütten 60 X = 50 M.
Ein ausgezeichnetes Porträt und hervorragendes Kunstwerk, das auch losgelöst
vom gegenständlichen Interesse besteht und fesselt, bietet hier der trefflihe Wiener Ra-
dierer den Sammlern und Kunstfreunden. Die Aufgabe des künstlerischen Porträtisten,
den geistigen Gehalt einer Persönlichkeit auszuschöpfen und sichtbar zu machen, ist in
= diesem Kunstblatte nahezu restlos Ben,
DELELTERL FRAU RAAREET TEL) r N
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BUCHDRUCKEREI CARL FROMME, % M.B.H. IN WIEN,