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Full text of "Imago. Zeitschrift für Anwendung der Psychoanalyse auf die Geisteswissenschaften V 1917 Heft 2"

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MAGO 


ZEITSCHRIFT FÜR ANWENDUNG. 
DER. PSYCHOANALYSE AUF DIE 
GEISTESWISSENSCHAFTEN 


HERAUSGEGEBEN VON 
PROF. DR SIGM.FREUD 
REDIGIERT VON 
DE OTTO RANK u.DE HANNS SACHS 


V. JAHRGANG / 1917 
HERT 2 


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‚HUGO HELLER & ce 


. LEIPZIG u.WIEN-I-BAUERNMARKT 3 


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IE. UNREGELMASSIGKEITEN IM ERSCHEINEN UND IM UM- 

FANGE DIESER ZEITSCHRIFT, WELCHE UNS DURCH DIE 

KRIEGSLAGE AUFERLEGT SIND, WOLLEN DIE P. T. ABONNEN- 

TEN FREUNDLICHST ENTSCHULDIGEN. DAS VERSAUMTE WIRD 

NACH WIEDERKEHR NORMALER ZUSTÄNDE NACHGEHOLT 
WERDEN. 


Für die REDAKTION bestimmte Zusdriften und Sendungen wollen an 
Dr. HANNS SACHS, Wien XIX., Pyrkergasse 1, adressiert werden. 


»IMAGO« erscheint SECHSMAL jährlih im Gesamtumfang von 
24—30 Bogen und kann für M. 15°— = K 18°— pro Jahrgang durch 
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& CIE. in Wien I, Bauernmarkt 3, abonniert werden. Einzelne Hefte 
werden nicht abgegeben. 

Audh wird en GEMEINSAMES ABONNEMENT auf 
»IMAGOs und die »INTERNATIONALE ZEITSCHRIFT FÜR 
ÄRZTLICHE PSYCHOANALYSE« zum ermäßigten Gesamtjahres- 
preis von M. 30°— = K 36‘— eröffnet. 

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von »IMAGO« werden im Preise erhöht, so daß der komplette Jahrgang 
nunmehr M. 18°— = K 21'60, gebunden M. 22:50 = K 27°— kostet. 

. ORIGINAL -EINBANDDECKEN mit Lederrüken sind zum 
Preise von M. 3>— = K 360 durch jede gute Buchhandlung, sowie 
direkt vom Verlage zu beziehen. 


Copyright 1917. HUGO HELLER © CIE., Wien I, Bauernmarkt 3. 


MA G-0 


ZEITSCHRIFT FÜR ANWENDUNG DER PSYCHO- 
ANALYSE AUF DIE GEISTESWISSENSCHARTEN 


HERAUSGEGEBEN VON PROF. DR. SIGM. FREUD 


SCHRIFTLEITUNG: 
V,.2. DR. OTTO RANK /DR. HANNS SACH 191 


ESTER ETHERNET LECKERE HERE EHERTRERERENERERLOLKENTOEOKEOECHLTERNTEN 


Eine Kindheitserinnerung aus »Dichtung und 


W ahrheit«. 


Von SIGM. FREUD (Wien). 


»Wenn man sich erinnern. will, was uns in der frühesten 
Zeit der Kindheit begegnet ist, so kommt man oft in den Fall, 
dasjenige, was wit von anderen gehört, mit dem zu verwechseln, 
was wir wirklich aus eigener anschauender Erfahrung besitzen.« 
Diese Bemerkung madht Goethe auf einem der ersten Blätter 
der Lebensbeschreibung, die er im Alter von sechzig Jahren. auf- 
zuzeihnen begann. Vor ihr stehen nur einige Mitteilungen über 
seine »am 28. August 1749, mittags mit dem Glokenschlag zwölf« 
erfolgte Geburt. Die Konstellation der Gestirne war ihm günstig 
und mag wohl Ursadhe seiner Erhaltung gewesen sein, denn er 
kam »für todt« auf die Welt, und nur durch vielfahe Bemühungen 
brahte man es dahin, daß er das Licht erblikte. Nach dieser Be- 
merkung folgt eine kurze Schilderung des Hauses und der Räum= 
lichkeit, in welcher sich die Kinder — er und seine jüngere Schwester 
— am liebsten aufhielten. Dann aber erzählt Goethe eigentlich nur 
eine einzige Begebenheit, die man in die »früheste Zeit der Kind- 
heit« (in die Jahre bis vier?) versetzen kann, und an welde er eine 
eigene Erinnerung bewahrt zu haben scheint. 

Der Bericht hierüber lautet: »und mich gewannen drei gegen- 
über wohnende Brüder von Odhsenstein, hinterfassene Söhne des 
verstorbenen Scultheißen, gar lieb, und beschäftigten und neckten 
sih mit mir auf mancherlei Weise.« 

»Die Meinigen erzählten gern allerlei Eulenspiegeleien, zu denen 
mich jene sonst ernsten und einsamen Männer angereizt. Ih führe 
nur einen von diesen Streihen an. Es war eben Topfmarkt gewesen 
und man hatte nicht allein die Küche für die nächste Zeit mit 
solhen Waren versorgt, sondern auh uns Kindern dergleichen 
Geschirr im kleinen zu spielender Beschäftigung eingekauft. An 


Imago V/2 4 


50 : Sigm. Freud 


einem shönen Nachmittag, da alles ruhig im Hause war, trieb ich | 
im Geräms (der erwähnten gegen die Straße gerichteten Örtlichkeit) 
mit meinen Schüsseln und Töpfen mein Wesen und da weiter nichts 
dabei herauskommen wollte, warf ih ein Geschirr auf die Straße 
und freute mich, daß es so lustig zerbrah. Die von Odhsenstein, 
welche sahen, wie ich mich daran ergötzte, daß ich so gar fröhlich 
in die Händchen patscte, riefen: Noch mehr! Id säumte nicht, so= 
gleih einen Topf und auf immer fortwährendes Rufen: Noch mehr! 
nah und nach sämtlihe Schüsselhen, Tiegelhen, Kännchen gegen 
das Pflaster zu schleudern. Meine Nachbarn fuhren fort, ihren Bei- 
fall zu bezeigen und ih war hödlih froh ihnen Vergnügen zu 
machen. Mein Vorrat aber war aufgezehrt, und sie riefen immer: 
Nod mehr! Ich eilte daher straks in die Kühe und holte die 
irdenen Teller, welche nun freilih im Zerbrechen ein noc lustigeres 
Schauspiel gaben, und so lief ih hin und wieder, brachte einen 
Teller nach dem anderen, wie ich sie auf dem Topfbrett der Reihe 
nach erreihen konnte, und weil sich jene gar nicht zufrieden gaben, 
so stürzte ih alles, was ih von Gesdirr erschleppen konnte, in 
gleihes Verderben. Nur später erschien jemand zu hindern und zu 
wehren. Das Unglück war geschehen, und man hatte für so viel zer- 
brohene Töpferware wenigstens eine lustige Geschichte, an der sich 
besonders die shalkischen Urheber bis an ihr Lebensende ergötzten.« 
Dies konnte man in voranalytishen Zeiten ohne Anlaß zum 
Verweilen und ohne Anstoß lesen, aber später wurde das analy= 
tishe Gewissen rege. Man hatte sih ja über Erinnerungen aus 
der frühesten Kindheit bestimmte Meinungen und Erwartungen 
gebildet, für die man gerne allgemeine Gültigkeit in Anspruch nahm. | 
Es sollte nicht gleihgültig oder bedeutungslos sein, welche Einzel- \ 
heit des Kindheitslebens sich dem allgemeinen Vergessen der Kind= 
heit entzogen hatte. Vielmehr durfte man vermuten, daß dies im 
Gedächtnis Erhaltene auch das Bedeutsamste des ganzen Lebens- 
abschnittes sei, und zwar entweder so, daß es solhe Wichtigkeit 
schon zu seiner Zeit besessen oder anders, daß es sie durch den 
Einfluß späterer Erlebnisse nachträglih erworben habe. | 
Allerdings war die hohe Wertigkeit solcher Kindheitserinne= 
rungen nur in seltenen Fällen offensictlih. Meist erschienen sie 
gleihgültig, ja nichtig, und es blieb zunächst unverstanden, daß es 
gerade ihnen gelungen war, der Amnesie zu trotzen, auh wußte 
derjenige, der sie als sein eigenes Erinnerungsgut seit langen Jahren 
bewahrt hatte, sie so wenig zu würdigen wie der Fremde, dem er 
sie erzählte. Um sie in ihrer Bedeutsamkeit zu erkennen, bedurfte 
es einer gewissen Deutungsarbeit, die entweder nachwies, wie ihr 
Inhalt durh einen anderen zu ersetzen sei, oder ihre Beziehung zu | 
anderen, unverkennbar wichtigen Erlebnissen aufzeigte, für welce 
sie als sogenannte Deckerinnerungen eingetreten waren. 
In jeder psychoanalytishen Bearbeitung einer Lebensgeschichte 
gelingt es, die Bedeutung der frühesten Kindheitserinnerungen in 


Eine Kindheitserinnerung aus »Dichtung und Wahrheit« 51 


solher Weise aufzuklären. Ja, es ergibt sich in der Regel, daß 
gerade diejenige Erinnerung, die der Änalysierte voranstellt, die er 
zuerst erzählt, mit der er seine Lebensbeichte einleitet, sich als die 
wichtigste erweist, als diejenige, welde die Schlüssel zu den Ge- 
heimfähern seines Seelenlebens in sich birgt. Aber im Falle jener 
kleinen Kinderbegebenheit, die in »Dichtung und Wahrheits erzählt 
wird, kommt unseren Erwartungen zu wenig entgegen. Die Mittel 
und Wege, die bei unseren Patienten zur Deutung führen, sind uns 
hier natürlih unzugänglih, der Vorfall an sih scheint einer auf- 
spürbaren Beziehung zu wichtigen Lebenseindrücken späterer Zeit 
nicht fähig zu sein. Ein Schabernak zum Schaden der häuslichen 
Wirtschaft, unter fremdem Einfluß verübt, ist sicherlich keine passende 
Vignette für all das, was Goethe aus seinem reichen Leben mit- 
zuteilen hat. Der Eindruck der vollen Harmlosigkeit und Beziehungs- 
losigkeit will sih für diese Kindererinnerung behaupten, und wir 
mögen die Mahnung mitnehmen, die Anforderungen der Psydho- 
analyse nicht zu überspannen oder am ungeeigneten Orte vorzu= 
bringen. 

So hatte ih denn das kleine Problem längst aus meinen Ge- 
danken fallen lassen, als mir der Zufall einen Patienten zuführte, 
bei dem sih eine ähnlihe Kindheitserinnerung in durdhsichtigerem 
Zusammenhange ergab. Es war ein siebenundzwanzigjähriger, hoch- 
gebildeter und begabter Mann, dessen Gegenwart durh einen 
Konflikt mit seiner Mutter ausgefüllt war, der sih so ziemlich auf 
alle Interessen des Lebens erstrekte, unter dessen Wirkung die 
Entwicklung seiner Liebesfähigkeit und seiner selbständigen Lebens- 
führung schwer gelitten hatte. Dieser Konflikt ging weit in die 
Kindheit zurück, man kann wohl sagen, bis in sein viertes Lebens= 
jahr. Vorher war er ein sehr shwädliches, immer kränkelndes Kind 
gewesen, und doc hatten seine Erinnerungen diese üble Zeit zum 
Paradies verklärt, denn damals besaß er die uneingeschränkte, mit 
niemandem geteilte Zärtlichkeit der Mutter. Als er noh nidt 
vier Jahre war, wurde ein — heute noch lebender — Bruder ge- 
boren, und in der Reaktion auf diese Störung wandelte er sich zu 
einem eigensinnigen, unbotmäßigen Jungen, der unausgesetzt die 
Strenge der Mutter herausforderte. Er kam auch nie mehr in das 
rihtige Geleise. 

Als er in meine Behandlung trat — niht zum mindesten 
darum, weil die bigotte Mutter die Psychoanalyse verabsheute —,- 
war die Bifersuht auf den nahgeborenen Bruder, die sich seinerzeit 
selbst in einem Attentat auf den Säugling in der Wiege geäußert 
hatte, längst vergessen. Er behandelte jetzt seinen jüngeren Bruder 
sehr rücksichtsvoll, aber sonderbare Zufallshandfungen, durch die er 
sonst geliebte Tiere wie seinen Jagdhund oder sorgsam von ihm 
gepflegte Vögel plötzlih zu schwerem Schaden brachte, waren wohl 
als Nacdıklänge jener feindseligen Impulse gegen den kleinen Bruder 
zu verstehen. 


4° 


® 


52 Sigm. Freud 


Dieser Patient berichtete nun, daß er um die Zeit des Atten- 
tats gegen das ihm verhaßte Kind einmal alles ihm erreihbare Ge= 
shirr aus dem Fenster des Landhauses auf die Straße geworfen 
hatte. Also dasselbe, was Goethe in Dichtung und Wahrheit aus 
seiner Kindheit erzählt! Ih bemerke, daß mein Patient von fremder 
Nationalität und nicht in deutscher Bildung erzogen war, er hatte 
Goethes Lebensbeschreibung niemals gelesen. 

Diese Mitteilung mußte mir den Versuh nahe legen, die 
Kindheitserinnerung Goethes in dem Sinne zu deuten, der durch 
die Geschichte meines Patienten unabweisbar geworden war. Aber 
waren in der Kindheit des Dichters die für solhe Auffassung er- 
forderlihen Bedingungen nachzuweisen? Goethe selbst macht zwar 
die Aneiferung der Herren von Odhsenstein für seinen Kinder- 
streih verantwortlih. Aber seine Erzählung selbst läßt erkennen, 
daß die erwachsenen Nachbarn ihn nur zur Fortsetzung seines 
Treibens aufgemuntert hatten. Den Anfang dazu hatte er spontan 
gemadt, und die Motivierung, die er für dies Beginnen gibt: »Da 
weiter nichts dabei (beim Spiele) herauskommen wolltes, läßt sich 
wohl ohne Zwang als Geständnis deuten, daß ihm ein wirksames 
Motiv seines Handelns zur Zeit der Niederschrift und wahrscheinlich 
aud lange Jahre vorher nicht bekannt war. 

Es ist bekannt, daß Joh. Wolfgang und seine Schwester 
Cornelia die ältesten Überlebenden einer größeren, recht hinfälligen 
Kinderreihe waren. Herr Dr. Hanns Sachs war so freundlich, mir 
die Daten zu verschaffen, die sich auf diese früh verstorbenen Ge= 
schwister Goethes beziehen. 


Geschwister Goethes: 

a) Hermann Jakob, getauft Montag, den 27. November 1752, 
erreichte ein Älter von sechs Jahren und sechs Wocen, beerdigt 
13. Januar 1759. 

b) Katharina Elisabetha, getauft Montag, den 9. Septem= 
ber 1754, beerdigt Donnerstag, den 22. Dezember 1755 
(ein Jahr vier Monate alt). 

c) Johanna Maria, getauft Dienstag, den 29. März 1757 und 
beerdigt Samstag, den 11. August 1759 (zwei Jahre vier Mo- 
nate alt). (Dies war jedenfalls das von ihrem Bruder ge- 
rühmte sehr shöne und angenehme Mädcen.) 

d) Georg Adolph, getauft Sonntag, den 15. Juni 1760, be- 
erdigt, acht Monate alt, Mittwodh, den 18. Februar 1761. 


Goethes nädste Schwester, Cornelia Friederica 
Christiana, war am 7. Dezember 1750 geboren, als er fünf- 
viertel Jahre alt war. Durch diese geringe Altersdifferenz ist sie als 
Objekt der Eifersuht so gut wie ausgeschlossen. Man weiß, daß 
Kinder, wenn ihre Leidenschaften erwacen, niemals so heftige 
Reaktionen gegen die Geschwister entwickeln, welhe sie vorfinden, 
sondern ihre Abneigung gegen die neu Ankommenden richten. Auch 


Eine Kindheitserinnerung aus »Dichtung und Wahrheit« 53 


ist die Szene, um deren Deutung wir uns bemühen, mit dem zarten 
Alter Goethes bei oder bald nach der Geburt Corneliens un= 
vereinbar. 

Bei der Geburt des ersten Brüderchens Hermann Jakob war 
Joh. Wolfgang dreieinviertel Jahre alt. Ungefähr zwei Jahre später, 
als er etwa fünf Jahre alt war, wurde die zweite Schwester ge- 
boren. Beide Altersstufen kommen für die Datierung des Gesdirr- 
hinauswerfens in Betracht, die erstere verdient vielleicht den Vorzug, 
sie würde auch die bessere Übereinstimmung mit dem Falle meines 
Patienten ergeben, der bei der Geburt seines Bruders etwa drei- 
dreiviertel Jahre zählte. 

Der Bruder Hermann Jakob, auf den unser Deutungsversuh 
in solher Art hingelenkt wird, war übrigens kein so flüchtiger Gast 
in der Goethescen Kinderstube wie die späteren Geschwister. Man 
könnte sich verwundern, daß die Lebensgeshihte seines großen 
Bruders nicht ein Wörtchen des Gedenkens an ihn bringt, Er wurde 
über sechs Jahre alt und Joh. Wolfgang war nahe an zehn Jahre, 
als er starb. Dr. Ed. Hitschmann, der so freundliih war, mir 
seine Notizen über diesen Stoff zur Verfügung zu stellen, meint: 

»Auch der kleine Goethe hat ein Brüderchen nicht 
ungern sterben gesehen. Wenigstens berichtete seine Mutter 
nah Bettina Brentanos Wiedererzählung folgendes: ‚Sonderbar fiel 
es der Mutter auf, daß er bei dem Tode seines jüngeren Bruders 
Jakob, der sein Spielkamerad war, keine Träne vergoß, er schien 
vielmehr eine Art Ärger über die Klagen der Eltern und Ge- 
schwister zu haben, da die Mutter nun später den Trotzigen fragte, 
ob er den Bruder nicht lieb gehabt habe, lief er in seine Kammer, 
brachte unter dem Bett hervor eine Menge Papiere, die mit Lektionen 
und Geshichtchen beschrieben waren, er sagte ihr, daß er dies alles 
gemacht habe, um es dem Bruder zu lehren.’ Der ältere Bruder 
hätte also immerhin gern Vater mit dem Jüngeren gespielt und ihm 
seine Überlegenheit gezeigt.« 

Wir könften uns also die Meinung bilden, das Gesdirrhin- 
auswerfen sei eine symbolishe, oder sagen wir es richtiger: eine 
magische Handlung, durh welche das Kind (Goethe sowie mein 
Patient) seinen Wunsch nach Beseitigung des störenden Rindring- 
lings zu kräftigem Ausdruck bringt. Wir brauchen das Vergnügen 
des Kindes beim Zerscellen der Gegenstände nicht zu bestreiten, 
wenn eine Handlung bereits an sich lustbringend ist, so ist dies 
keine Abhaltung, sondern eher eine Verlokung, sie auch im Dienste 
anderer Absichten zu wiederholen. Aber wir glauben nicht, daß es 
die Lust am Klirren und Brehen war, welche solhen Kinderstreihen 
einen dauernden Platz in der Erinnerung des Erwachsenen sichern 
konnte. Wir sträuben uns auch nicht, die Motivierung der Handlung 
um einen weiteren Beitrag zu komplizieren. Das Kind, welces das 
Geschirr zerschlägt, weiß wohl, daß es etwas Schlechtes tut, worüber 
die Erwachsenen scelten werden, und wenn es sich durch dieses 


54 Sigm. Freud 


Wissen niht zurüchalten läßt, so hat es wahrsceinlich einen Groll 
gegen die Eltern zu befriedigen, es will sih schlimm zeigen. 

Der Lust am Zerbrehen und am Zerbrohenen wäre auch 
Genüge getan, wenn das Kind die gebredhlihen Gegenstände ein- 
fah auf den Boden würfe. Die Hinausbeförderung durch das Fenster 
auf die Straße bliebe dabei ohne Erklärung. Dies »Hinaus« scheint 
aber ein wesentliches Stück der magischen Handlung zu sein und 
dem verborgenen Sinn derselben zu entstammen. Das neue Kind 
soll fortgeschafft werden, durchs Fenster mögliherweise darum, 
weil es durchs Fenster gekommen ist. Die ganze Handlung wäre 
dann gleichwertig jener uns bekannt gewordenen wörtlihen Reaktion 
eines Kindes, als man ihm mitteilte, daß der Storh ein Geshwisterz 
chen gebradt. »Er soll es wieder mitnehmen«, lautete sein Bescheid. 

Indes, wir verhehlen uns nicht, wie mißlih es — von allen 
inneren Unsicherheiten abgesehen — bleibt, die Deutung einer 
Kinderhandlung auf eine einzige Analogie zu begründen. Ich hatte 
darum auch meine Auffassung der kleinen Szene aus »Dicdtung 
und Wahrheits durch Jahre zurücgehalten. Da bekam ich eines 
Tages einen Patienten, der seine Analyse mit folgenden, wortgetreu 
fixierten Sätzen einleitete: 

»Ich bin das älteste von acht oder neun Geschwistern!., Bine 
meiner ersten Erinnerungen ist, daß der Vater, in Nadhtkleidung 
auf seinem Bette sitzend, mir lachend erzählt, daß ich einen Bruder 
bekommen habe. Ich war damals dreidreiviertel Jahre alt; so groß 
ist der Altersunterschied zwischen mir und meinem nächsten Bruder. 
Dann weiß ih, daß ich kurze Zeit nachher (oder war es ein Jahr 
vorher)? einmal verschiedene Gegenstände, Bürsten, — oder war 
es nur eine Bürste? — Schuhe und anderes aus dem Fenster auf 
die Straße geworfen habe. Ih habe aud nod eine frühere Erinne- 
rung. Als ich zwei Jahre alt war, übernadtete ih mit den Eltern 
in einem Hotelzimmer in Linz auf der Reise ins Salzkammergut. 
Ih war damals so unruhig in der Nacıt und madte ein solches 
Geschrei, daß mich der Vater schlagen mußte.« 

Vor dieser Aussage ließ ich jeden Zweifel fallen. Wenn bei 
analytisher Einstellung zwei Dinge unmittelbar nacheinander, wie 


in einem Atem vorgebraht werden, so sollen wir diese Annähe- 


rung auf Zusammenhang umdeuten. Es war also so, als ob der 
Patient gesagt hätte: Weil ich erfahren, daß ich einen Bruder be= 
kommen habe, habe ich einige Zeit nachher jene Gegenstände auf 
die Straße geworfen. Das Hinauswerfen der Bürsten, Schuhe usw. 
gibt sich als Reaktion auf die Geburt des Bruders zu erkennen. 


! Ein flüctiger Irrtum auffälliger Natur. Es ist nicht abzuweisen, daß er 
bereits durch, die Beseitigungstendenz gegen den Bruder induziert ist. (Vgl. 
Ferenczi: Über passagere Symptombildungen während der Analyse, Zentralbl. 
f. Psychoanalyse. II., 1912.) 

® Dieser den wesentlichen Punkt der Mitteilung als Widerstand annagende 
Zweifel wurde vom Patienten bald nachher selbständig zurückgezogen. 


Eine Kindheitserinnerung aus »Dichtung und Wahrheit« 55 


Es ist auh nicht unerwünscht, daß die fortgeschafften Gegenstände 
in diesem Falle niht Geschirr, sondern andere Dinge waren, wahr= 
scheinlich solhe, wie sie das Kind eben erreihen konnte... Das 
Hinausbefördern (durchs Fenster auf die Straße) erweist sich so als 
das Wesentliche, der Handlung, die Lust am Zerbrehen, am Klirren 
und die Art der Dinge, an denen »die Exekution vollzogen 
wird«, als inkonstant und unwesentlich. 

Natürlich gilt die Forderung des zusainmenbanges auh für 
die dritte Kindheitserinnerung des Patienten, die, obwohl die früheste, 
an das Ende der kleinen Reihe gerückt ist. Es ist leicht, sie zu er- 
füllen. Wir verstehen, daß das zweijährige Kind darum so unruhig 
war, weil es das Beisammensein von Vater und Mutter im Bette 
nicht leiden wollte. Auf der Reise war es wohl nicht anders mög- 
fih, als das Kind zum Zeugen dieser Gemeinshaft werden zu 
lassen. Von den Gefühlen, die sih damals in dem kleinen Eifer- 
süctigen regten, ist ihm die Erbitterung gegen das Weib verblieben, 
und diese hat eine dauernde Störung seiner Liebesentwiclung zur 
Folge gehabt. 

Als ih nach diesen beiden Erfahrungen im Kreise der psycho= 
analytishen Gesellshaft die Erwartung äußerte, Vorkommnisse 
solher Art dürften bei kleinen Kindern nicht zu den Seltenheiten 

ehören, stellte mir Frau Dr. v. Hug-Hellmuth zwei weitere 
Bungen zur Verfügung, die ich hier folgen lasse: 


Zum Hinauswerfen von Gegenständen aus dem Fenster 


durch kleine Kinder. 


I. 


Mit zirka dreieinhalb Jahren hatte der kleine Erich »urplötzlih« die 
Gewohnheit angenommen, alles, was ihm nicht paßte, zum Fenster hinaus- 
zuwerfen. Äber er tat es auch mit Gegenständen, die ihm nicht im Wege 
waren und ihn nichts angingen. Gerade am Geburtstag des Vaters — da 
zählte er drei Jahre viereinhalb Monate — warf er eine schwere Teigwalze, 
die er flugs aus der Küche ins Zimmer geschleppt hatte, aus einem Fenster 
der im dritten Stockwerk gelegenen Wohnung auf die Straße. Einige Tage 
später ließ er den Mörserstößel, dann ein Paar schwerer Bergschuhe des 
Vaters, die er erst aus dem Kasten nehmen mußte, folgen!. 

Damals machte die Mutter im siebenten oder achten Monate ihrer 
Schwangerschaft eine fausse couche, nach der das Kind »wie ausgewechselt 
brav und zärtlih still« war, Im fünften oder sechsten Monate sagte er 
wiederholt zur Mutter: »Mutti, ich spring’ dir auf den Bauch« oder »Mutti, 
ih drück’ dir den Bauch ein«. Und kurz vor der fausse coudhe, im Oktos 
ber: »Wenn ih schon einen Bruder bekommen soll, so wenigstens erst 


nah dem Christkindl.« 


ı Immer wählte er schwere Gegenstände, 


bo Sigm. Freud 


I. 


Eine junge Dame von neunzehn Jahren sibt spontan als früheste 
Kindheitserinnerung folgende: 

»Ih sehe mich furchtbar ungezogen, zum Hervorkriehen bereit, unter 
dem Tische im Speisezimmer sitzen. Auf dem Tische steht meine Kaffee- 
scale, — ich sehe noch jetzt deutlich das Muster des Porzellans vor mir 
— die ih in dem Augenblick, als Großmama ins Zimmer trat, zum 
Fenster hinauswerfen wollte, 

Es hatte sich nämlich niemand um mich gekümmert, und indessen 
hatte sich auf dem Kaffee eine »Haut« gebildet, was mir immer fürchterlich 
war und heute nod ist. 

An diesem Tage wurde mein um zweieinhalb Jahre jüngerer Bruder 
geboren, deshalb hatte niemand Zeit für mic. 

Man erzählt mir noch immer, daß ich an diesem Tage unausstehlich 
war, zu Mittag hatte ich das Lieblingsglas des Papas vom Tische geworfen, 
tagsüber mehrmals mein Kleidhen beschmutzt und war von früh bis 
abends übelster Laune. Auch ein Badepüppcen hatte ich in meinem Zorne 
zertrümmert.« 


Diese beiden Fälle bedürfen kaum eines Kommentars, Sie be- 
stätigen ohne weitere analytische Bemühung, daß die Erbitterung 
des Kindes über das erwartete oder erfolgte Auftreten eines Kon- 
kurrenten sih in dem Hinausbefördern von Gegenständen durch 
das Fenster wie. auch durh andere Akte von Schlimmheit und 
Zerstörungssuht zum Ausdruck bringt. In der ersten Beobadtung 
symbolisieren wohl die sschweren Gegenstände« die Mutter selbst, 
gegen welche sich der Zorn des Kindes richtet, so lange das neue 
Kind noch nicht da ist. Der dreieinhalbjährige Knabe weiß um die 
Schwangershaft der Mutter und ist nicht im Zweifel darüber, daß 
sie das Kind in ihrem Leibe beherbergt. Man muß sich hiebei an 
den »kleinen Hans« «(Jahrb. f. Psychoanalyse, Bd. I, 1909) erinnern 
und an seine besondere Angst vor shwer beladenen Wagen!, An 
der zweiten Beobachtung ist das frühe Alter des. Kindes, zweiein- 
halb Jahre, bemerkenswert. 

enn wir nun zur Kindheitserinnerung Goethes zurückkehren 
und an ihrer Stelle in »Didhtung und Wahrheit« einsetzen, was 
wir aus der Beobachtung anderer Kinder erraten zu haben glauben, 
so stellt sich ein tadelloser Zusammenhang her, den wir sonst nicht 
entdeckt hätten. Es heißt dann: Ih bin ein Glückskind gewesen, 
das Schicksal hat mih am Leben erhalten, obwohl ich für tot zur 


ı Für diese Symbolik der Schwangerschaft hat mir vor einiger Zeit eine 
mehr als fünfzigjährige Dame eine weitere Bestätigung erbracht. Es war ihr wieder- 
holt erzählt worden, daß sie als kleines Kind, das kaum sprechen konnte, den 
Vater aufgeregt zum Fenster zu ziehen pflegte, wenn ein schwerer Möbelwagen auf 
der Straße vorbeifuhr. Mit Rücksicht auf ihre Wohnungserinnerungen läßt sich 
feststellen, daß sie damals jünger war als zweidreiviertel Jahre, Um diese Zeit 
wurde ihr nächster Bruder geboren und infolge dieses Zuwacdses die Wohnung 
gewechselt. Ungefähr gleichzeitig hatte sie oft vor dem Einschlafen die ängstliche 
Empfindung von etwas unheimlich Großem, das auf sie zukam, ‘und dabei »wurden 
ihr die Hände so dicke. 


Y 
| 


Eine Kindheitserinnerung aus »Dichtung und Wahrheite 67 


Welt gekommen bin. Meinen Bruder aber hat es beseitigt, so daß 
ih die Liebe der Mutter nicht mit ihm zu teilen brauchte. Und 
dann geht der Gedankenweg weiter, zu einer anderen in jener 
Frühzeit Verstorbenen, der Großmutter, die wie ein freundlicher, 
stiller Geist in einem anderen Wohnraum hauste. 

Ih habe es aber schon an anderer Stelle ausgesprochen: 
Wenn man der unbestrittene Liebling der Mutter gewesen ist, so 
behält man fürs Leben jenes Eroberergefühl, jene Zuversicht 
des Erfolges, welche nicht selten wirklih den Erfolg nad sic zieht. 
Und eine Bemerkung solher Art wie: Meine Stärke wurzelt in 
meinem Verhältnis zur Mutter, hätte Goethe seiner Lebensge- 
schichte mit Recht voranstellen dürfen. 


58 Dr. H. Protze 


Der Baum als totemistisches Symbol in der Dichtung. 
Von Dr. H. PROTZE «zurzeit Bad Ems). 


eit sih die psychoanalytishe Wissenschaft, unter dem Vorgang 

Freuds, der Erforshung der totemistischen und tabuistishen 

Phänomene zugewandt hat, sind in der psychoanalytischenLiteratur 
mehrfach Fälle von sogenanntem »individuellen Totemismus« mitgeteilt 
worden, zuletzt meines Wissens von Abraham in seiner Arbeit Ȇber 
Einschränkungen und Umwandlungen der Schaufust« (Jahrbuch 1919. 
Unter. anderem bespriht Abraham dort den Fall eines Psydho- 
neurotikers, welcher, in Träumen wie in Wachphantasien, die Er- 
scheinungen eines ausgesprohenen Baumtotemismus bot. 

Über ein Gegenstük hiezu, ein analoges Gebilde aus dem 
Gebiet der dichterischen Produktion, möhte ih im folgenden 
Näheres berichten. Bin solches fand ich in der Erzählung des früher 
viel gelesenen, jetzt wohl wenig mehr bekannten österreichischen 
Schriftstellers Kar! Post! (Charles Sealsfild) sDie Prärie am 
Jacintos, einem selbständigen Fragment aus des Dichters Roman 
»Das Kajütenbuh«e. — Dies Phantasiestück, äußerlich betrachtet 
nichts weiter als die Schilderung eines Reiseabenteuers, erweist sich 
bei näherer Musterung als eine symbolische Darstellung unbewußten 
Erlebens, eben in jener eigenartigen, an den Pflanzentotemismus der 
Primitiven gemahnenden Form, dabei ist besonders bemerkenswert, 
daß die Dichtung ihre totemistishe Symbolik gleichsam selbst 
kommentiert, insofern ihr sonstiger Inhalt auf diejenigen infantilen Ten- 
denzen und Einstellungen, in denen die Psychoanalyse die Wurzeln 
totemistischer Bildungen vermutet, mit unverkennbarer Deutlichkeit 
hinweist. -— Gerade wegen letzterer Eigenheit, vermöge deren die 
‚Dichtung zur Verifikation der psychoanalytischen Hypothese über den 
Ursprung des Totemismus beiträgt, möchte ich sie im folgenden in extenso 
wiedergeben, es dürfte jedoh, da die Erzählung an eine bestimmte 
Episode in des Dichters Leben anknüpft, und auch sonst Züge aus 
dessen realen Erleben verwertet, zweckmäßig sein, einige Daten aus 
der Biographie des Autors voranzustellen. 

ahı der mir vorliegenden, leider sehr summarishen bio 
graphishen Skizze wurde der Dichter Karl Post! 1793 in einem 
kleinen Dorfe in Mähren, wo sein Vater die Würde eines Dorf- 
richters (»Gemeindevorstehers«) bekleidete, geboren. Der Vater, eine 
harte, derbe Bauernnatur, erzog ihn mit eiserner Strenge, weshalb 
der Knabe zuweilen dem elterlihen Hause entfloh und sich tagelang 
in der durh Naturshönheit ausgezeichneten Umgebung seines 
Heimatdorfes umhertrieb. Hier wurden, meint der Biograph, die 
Keime zu seiner späteren, namentlich in Natur-Scilderungen brillieren- 
den, poetishen Produktion geweckt. 

Schon im frühen Älter von 8 Jahren wurde Postl, auf Wunsch 
seiner Mutter, aber audı seinen eigenen Wünschen gemäß, für den 


Der Baum als totemistishes Symbol in der Dichtung 59 


geistlichen Stand bestimmt, und bezog nod als Knabe das Jesuiten- 
gymnasium zu Znaim, um Ordenspriester zu werden. Er gelangte 
auc ohne besondere Zwischenfälle zum Ziele, entsagte jedod plötzlich, 
ohne zwingenden äußeren Anlaß, in seinem neunundzwanzigsten Jahre 
der Priesterwürde, brach alle Beziehungen zu seinem Orden, wie 
auch zu seinen Angehörigen ab und begab sih nah Amerika, wo 
er den Namen Charles Sealsfild annahm. — Dort führte er ein 
unstetes Leben, wechselte häufig Wohnsitz und Beruf, hielt sich 
unter anderem längere Zeit in Texas auf, wo er den mißlingenden 
Versuh machte, sih als Farmer anzusiedeln, und kehrte 1832 nad 
Europa zurück. — Nadı abermaligen längeren Irrfahrten in England 
und Frankreih madte er sih scließlih in der Schweiz seßhaft, 
nahm aber in der Folgezeit nodh dreimal längeren Aufenthalt in 
Amerika, um dann endgültig in die Schweiz zurückzukehren und 
dort seine Tage zu beschließen. — Verheiratet war Postl nict. 
Über etwaige sonstige erotishe Beziehungen ist nichts bekannt, — 

Ein bemerkenswerter Zug seiner vielseitigen literarischen 
Tätigkeit ist, neben anderen, seine ausgesprohene Vorliebe für 
Napoleon I. Er redigierte, obwohl Österreicher, zeitweise in 
Neuyork eine Zeitung, die der Propagierung bonapartistischer 
Ideen und Interessen in Amerika dienen sollte, und trat auch später 
zu den in der Schweiz lebenden Napoleoniden in Beziehung. — 

Wir werden bei einem Manne, den wir, anscheinend un= 
motivierter Weise, sein Vaterland und Vaterhaus, seinen Vaters= 


namen — und seinen Beruf als Pater aufgeben sahen, eine stark 
negative Einstellung zum Vater vermuten dürfen. Hören wir nun 
die Dihtung. — 


Ein junger Amerikaner, aus dem Norden der Union, der 
zwecks Gründung einer Farm in Texas weilt (hierin also ein Eben- 
bild des Dichters), unternimmt gegen den Rat eines erfahrenen älteren 
Mannes ohne Begleitung einen Ritt in die Prärie und verirrt sich 
dort. Nah langem Umherreiten gelangt er, inmitten der Wildnis, 
an einen sehr großen, alten Baum von majestätisher Schönheit, 
»von dessen mächtigen Zweigen Tausende von Flechten jenes eigen- 
artigen, silbergrauen, spanischen Mooses, die wie wallende Greisen- 
bärte aussehen, herabhängen«. 

Der Baum führt, wie man später erfährt, unter den Ansiedlern 
den Namen »Der Patriarchs. — Nachdem der Jüngling dies Natur- 
phänomen eine Weile mit ehrfürhtigem Staunen, aber auch mit Be= 
klemmung, »mit einem Gefühl, das peinliher Angst nahe verwandt 
ist«, betrachtet hat, eilt er weiter, ohne aber den ersehnten Aus- 
weg aus der Prärie finden zu können. Endlih, nach tagelangem 
Umherirren, macht er die peinlihe Entdeckung, daß er sih wieder 
in unmittelbarer Nähe jenes Baumes, des Patriarchen, befindet, 
den er, wie durch einen tücischen Zauber gebannt, fortwährend 
umkreist hat. Verzweifelt, bewußtlos briht er unter demselben 
zusammen, 


60 Dr. H. Protze 


Als er wieder zu sich kommt, findet er sih in den Armen 
eines Prärienjägers, der ihn durh einen stärkenden Trank wieder 
zum Leben erweckt hat, und mit dem er dann die Reise fortsetzt. — 
Dieser Lebensretter, der Jäger Bob, wird von da an der Hauptheld 
der Erzählung. — Er madht dem jungen Reisenden von Anfang 
an einen unheimlichen, grausigen Bindruk, »als ob er eine sehr 
schwere Tat, etwa einen Brudermord, begangen haben könne« und 
nun »von gräßlicher Gewissensangst gepeinigt werde«. Aud führt 
er verworrene Reden, in denen der »Patriarh« wieder und wieder 
erwähnt wird. — Scließlih beichtet der unheimliche Geselle, daß 
er vor kurzem einen älteren Mann, einen »Familienvater«, dessen 
reich gefüllte Geldkatze seinen Neid erregte, unter dem »Patriarhen« 
ermordet und dort verscharrt hat, — Seitdem kann er nirgends Ruhe 
finden. Er irrt planlos umher, aber immer wieder zieht es ihn mit 
magisher Gewalt zu dem Baume hin, er- kann nicht von ihm 
loskommen. Und wenn er ferne von ihm ist, erscheint ihm der 
»Patriarhs als Gespenst, in Gestalt eines riesigen, weißbärtigen, 
zürnenden, alten Mannes, hinter welchem dann noch dasSchein- 
bild des ermordeten Familienvaters, Rache drohend, aufs 
taucht. — Diese Qualen sind dem Mörder jetzt unerträglih ge- 
worden, und er bittet seinen Reisegenossen, ihn zu einem in der 
Nähe wohnenden, besonders vertrauenswürdigen Richter zu geleiten, 
dem er sih entdecken und den er veranlassen will, die Strafe für 
seine Untat an ihm vollziehen zu lassen, eine Strafe, die er sich 
selber ausgedadt hat und die darin bestehen soll, daß er an dem 
»Patriarchens aufgehängt wird, 

Hatten wir in der Figur des Mörders eine »Verdoppelungs 
des anfänglichen, mit dem Dichter. identishen Helden der Erzählung 
zu erbliken, so wird der nunmehr auftretende Richter als ein 
Duplikat des Vateridoles kenntlih gemaht. Wir erfahren, daß 
vor der Tür seines Hauses ebenfalls ein »Lebenseihenbaums, ein 
Gegenstük zum »Patriarhens, sich erhebt, ferner daß er selbst ein 
älterer Mann von hocdragendem, majestätishem Wudhse ist, und 
daß er sein Richteramt in würdigen, zugleih aber wohlwollend-be- 
häbigen, kurzum »patriarhalishen« Formen führt. 

Er spriht denn auh zunächst dem beichtenden Verbrecher in 
väterliher Weise zu, entschließt sih dann aber dodh, den Urteils- 
spruh zu fällen und ihn in der gewünschten Weise vollziehen zu 
lassen. — Die Erhängung am »Patriarhens durch den Richter und 
seine Helfer, wird dramatish geschildert. — Dann, ganz am Schluß, 
nimmt die Erzählung plötzlih eine versöhnlihe Wendung. Der 
Mörder, shon in der Schlinge hängend und fast erstickt, macht den 
Richtern verständliih, daß er noh Wichtiges zu sagen habe, man 
löst ihn los, er wird durch die besonderen Bemühungen des Vater- 
Richters wieder zum Leben erweckt, und teilt diesem nun eine be= 
deutsame, auf den unmittelbar bevorstehenden Befreiungsaufstand 


des Landes Texas bezüglihe Nadriht mit, eine Nadhridht, durch 


nn te mn A 


Der Baum als totemistisches Symbol in der Dichtung 6i 


die er dem Ricter und seinen Helfern, sämtlih Teilnehmer 
an einer dahinzielenden Verschwörung, das Leben rettet, und 
das Mißlingen ihrer Pläne verhütet. Zum Dank sprechen sie ihn auf 
der Stelle der Strafe ledig und akzeptieren ihn als Mitkämpfer. 

Im weiteren Verlauf des Romans (denn hiemit schließt die 
Teilerzählung) erfährt man dann noch, daß der Verbreder, im Verein 
mit dem Richter und dem jungen Reisenden, im Befreiungskampfe 
Wunder der Tapferkeit verrichtet und schließlih in den Armen des 
Richters den Heldentod stirbt. 

Wie eingangs bemerkt, ist unser Phantasiestück in seinen Grund- 
linien so durchsichtig, daß es eines analytishen Kommentars kaum 
mehr bedarf. Der Baum ist unverkennbares Vatersymbol, und zwar 
ein Symbol mit totemistishen Zügen, er erscheint einerseits als 
Objekt abergläubisher Verehrung, anderseits als ein furhterregendes, 
Race drohendes, Opfer heishendes Wesen. Letztere Qualitäten 
erlangt er im Zusammenhang einer wenig verhüllten Vatermords=- 
phantasie. 

Das Inzestmotiv kommt in der Dichtung scheinbar niht zum 
Ausdruck. Um sein Vorhandensein aufzuzeigen, muß ih den oben 
erwähnten Parallelfall vergleihend heranziehen. Jener Neurotische, 
von dessen Baumtotemismus Abraham berichtet, produziert u. a. 
Wadträume, in denen er selbst als Baum im elterlichen Garten 
steht und dort feste Wurzeln geschlagen hat. — Im Gegensatz 
dazu steht sein reales Erleben, in welchem er sich »sozusagen be= 
ständig auf der Flucht vor dem Mutterinzest befindets, daher von 
ständiger Unruhe geplagt wird und nirgends seßhaft werden kann. 

Was zunächst dies letztere anlangt, so finden wir die gleiche 
Eigentümlichkeit im Leben unseres Dichters wieder. Aud er ist ein 
ewiger Wanderer. Einmal freilih versucht er sih als Farmer, also 
offenbar für die Dauer, seßhaft zu mahen, und zwar im Lande 
Texas, jenem Lande, dessen »jungfräulihe, unberührte Schönheit« 
er an verschiedenen Stellen seiner Schriften in glühenden Farben 
schildert. 

Gerade an diese Episode seines Lebens knüpft unsere Br- 
zählung an. Der Held derselben wird als Träger der gleihen Absicht 
eingeführt, aber schon beim ersten Betreten des »jungfräulichen« 
Bodens kommt er in Konflikt mit dem »Patriarhens, der die er- 
sehnte Position des »Wurzelns« in diesem Boden bereits innehat, 
Im Anschluß daran entspinnt sih dann die lange Verirrungs-, 
Vatermords- und Bestrafungsphantasie, die damit schließt, daß sich 
die beiden Helden der Dichtung an der Eroberung des Landes 
beteiligen, 

Bs ist offensichtlih, daß wir hier, mit geringer Abweichung, 
die gleihen Vorstellungsverknüpfungen vor uns haben: Der Baum 
der Vater, das Erdreich die Mutter, das »Wurzeln« das »sih seß- 
haft machen« — besonders als Ackerbauer — gleichbedeutend 
mit dem Inzest. 


62 Dr, H. Protze 


Zudem wird klar, daß unsere Dichtung, gleih den Phantasien 
jenes Neurotishen, auch deshalb als totemistisches Gebilde be- 
zeichnet werden kann, weil sie eben nicht bloße Phantasie ist, 
sondern in wesentlihem und bis in Einzelheiten determiniertem 
Zusammenhang steht mit einem das Leben ihres Urhebers be- 
herrschenden psydischen Zwang. 

ließlih möchte ih noc auf eine, wie mir scheint bedeutsame, 
Besonderheit im Aufbau der Dichtung hinweisen. Der Vater- 
mörder, der dann von dem Vater-Richter an dem Vater-Baum ge- 
opfert wird, erscheint im ersten Teil der Erzählung als der Retter 
des anderen, gleichfalls in Ungehorsam (= Auflehnung) gegen den 
Vater befindlihen Jünglings, und als dessen Erlöser aus dem Banne 
des »Patriarhens, er erscheint ferner, im Verein mit dem Vater- 
Richter als Held im Befreiungskampfe. In diesen Zügen erinnert 
die Dichtung, mutatis mutandis, an jene völkerpsychologisch so wichtige 
Abwandlungsform des primitiven Totemismus, an den Mythus 
von der Opferung des Erlösers. Die Ähnlichkeit mit der uns ge= 
fäufigsten Variation dieses Mythus geht sogar überraschend weit, 
denn wir finden, um nur einige Züge hervorzuheben, auh in 
unserer Dihtung die Auferweckung vom Tode durh einen 
wohlwollenden Vater=Vertreter (der vorher den freiwilligen Opfer- 
tod ausdrücklich gebilligt hat), ferner das Zusammenwirken mit 
diesem an einem großen Erlösungswerk und die schließlihe Ver- 
klärung. 


Spiegelzauber 63 


Spiegelzauber. 
Von DR. GEZA RÖHEIM (Budapest). 


Motto; »Tat tvam asi« (Das bist du) Chändogya 
Upanishad. VI. 9-15, 
«Siehe P. Deussen: Sechzig Upani- 
shad’s des Veda. 1905. 166—170.) 


»Das Selbst, fürwahr, soll man sehen, soll man hören, soll man verstehen, ı 


soll man überdenken, o Maitreyi, fürwahr, wer das Selbst gesehen, gehört, ver- 


standen und erkannt hat, von dem wird diese ganze Welt gewußt.« Brihadäranyaka- 


Upanishad. II. 5.b. IV. 6. 

(Vgl. Geldner: Die Religion der Inder in Bertholet: Religionsgeshicht- 
lihes Lesebuch. 1908. 177 und Deussen: Sechzig Upanishad’s des Veda. 1905, 
417, 483.) 


I. Spiegel und Kind. 


a) Negative Riten. 


ines der wichtigsten Ergebnisse der Freudschen Forschung ist 

die Dreistufentheorie der Libidoentwicklung. Als erste Haupt- 

stufe kennzeichnet Freud die autoerotishe. »Dieselbe entsteht 
in Anlehnung an eine der lebenswictigen Körperfunktionen, sie kennt 
noch kein Sexualobjekt und ihr Sexualziel steht unter der Herrshaft 
einer erogenen Zone«!. Aud bei der zweiten Stufe wendet sih die 
Libido dem eigenen Ih zu, doch unterscheidet sih diese von der 
früheren dadurch, daß das Individuum bereits um einen Schritt weiter- 
geht, indem es das eigene Ic personifiziert, um sich selbst oder viel- 
mehr sein Ebenbild lieben zu können. Man nennt diese Stufe mit 
einer aus der Narkissossage gewählten Bezeichnung Narzissismus 
»Die Iclibido heißen wir im Gegensatz zur Objektlibido auh nar- 
zißtishe Libido« .,., »Die narzißtishe oder Iclibido erscheint uns 
als das große Reservoir, aus welhem die Objektbesetzungen aus- 
geschickt‘ und in welches sie wieder einbezogen werden, die nar- 
zißtische Libidobesetzung des Ichs als der in der ersten 
Kindheit realisierte Urzustand?, welhe durch die späteren 
Aussendungen der Libido nur verdeckt wird, im Grunde hinter den- 
selben erhalten geblieben ist«®, Die dritte Stufe ist die Objektwahl, 
nämlich die völlig entwickelte normale Sexualität, bei welcher die 


1 5. Freud: Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie 1915, 46, »Spiegelzauber« 
erscheint zugleich in ungarischer Sprache als Heft 2 der »Nepflelektani Dolgozatoks 
(Völkerpsydologishe Arbeiten), 

% Von mir gesperrt. 

® Freud: I. c. 79, 


Die drei Haupt- 
stufen in der Ent- 
wicklung der Li- 
bido. Der Nar- 
zißmus. 


64 Dr. Geza Röheim 


Libido das gesuchte Objekt in der Außenwelt, im anderen Geschlechte 
findet. Schon der der Narkissosmythe entnommene Terminus läßt 
ahnen, daß die in der zweiten Entwiclungsstufe herrschende psychische 
| Einstellung auch für den Spiegelzauber ihre Geltung hat. Vor allem 
bleibt es Tatsadhe, daß die autoerotishe Personifikation im Einzel- 


Die Kindheit als feben durch die der Objektwahl vorausgehende Periode, das Kindes- 


Lebensalter. alter am vollkommensten vertreten wird?, Dem entspriht auch 
die hervorragende Rolle, welche das Kind im Spiegelzauber und 
Spiegeltabu spielt. Da aber das Tabu die Kehrseite des Magischen 
ist®, so bekommen wir, wenn wir statt des Magishen den Wunsch 
einsetzen“, eine durch die Hemmung des Wunsces entstandene 
Phobie®. Mit anderen Worten: verboten werden muß nur das, 
worauf sih unsere Wünsche richten. Dem Verbot des Spiegel- 
schauens entspricht der kindiihe Wunsch nach seinem Ebenbilde. Bei 
den Hienzen darf man das noch nicht einjährige Kind nicht in den 
Spiegel schauen oder es abbilden lassen‘. In England finden sich 
audh in den Kreisen der Gebildeten viele, die es nicht gerne sehen, 
wenn der Säugling sich im Spiegel betrachtet”. In Lincolnshire hatte 
eine junge Frau starke Angst, ihr kleines Kind könnte sich zufällig 


!ı Vgl. S. Freud: Drei Abhandlungen zu Sexualtheorie 1915. Über die 
narzißtishe Stufe im Besonderen: S. Freud: Zur Einführung des Narzißmus, 
Jahrbuch der Psychoanalyse 1914. VI. 1-24. D. s.: Sammlung kleinerer Schriften 
zur Neurosenlehre 1913. III. 249, O.Rank: Ein Beitrag zum Narzissismus. Jahre 
buh für psychoanalytishe und psychopathologishe Forschungen. 1911, II. 
401-426. Freud: Eine Kinaheitserinnerung des Leonardo da Vinci, 1910. 36. 
I. Sadger: Ein Fall von multipler Perversion. Jahrbuch 1910, II. 112, Den Zu- 
sammenhang zwischen Narzissismus und Seelenbegriff hat ©. Rank nachgewiesen, der 
auch die Spiegelwahrsagung von diesem Standpunkte aus behandelt. ©, Rank: Der 
Doppelgänger. Imago. 1914. 99—164. Mance Zitate verdanke ich der freundlichen 
Mitteilung des Herrn M. Jellinek (Budapest). Die Abkürzung F. F, bedeutet 
die im ungarischen Nationalmuseum aufbewahrte handscriftliche Sammlung der 
ungarischen Sektion des internationalen Folkloristishen Forsherbundes (Folklore 
Fellows) und der Stadtname daneben den betreffenden Lokalverein. »Ethn.« ist. 
die atpnestapbias, (Ung.) das Organ der ungarishen Gesellshaft für Völker- 
unde. 

® Vgl. H, von Hug-Hellmuth: Aus dem Seelenleben des Kindes. Schriften 
zur angewandten Seelenkunde., XV, 1913, 9, 

®R. R. Marett: The Threshold of Religion 1909, 85. 115, 

* Der große Zauberer vermag durch seinen bloßen Willen Bäume zu ent= 
wurzeln. Merker: Die Masai 1904. 21. 27. Wenn jemand großes Begehren 
nach irgend einer Obstgattung hat, beschleunigt er damit wirklich ihr Austeifen, 
W, ©. Roth: Superstition, Magic and Medizine (North Queensland Ethno- 
graphy Bulletin Nr. 5). 1903. 27. »Jeder Mensch hat eine Minute am Tage des 
Wunsches Gewalt. j. W. Wolf: Beiträge zur deutschen Mythologie, 1852, 
I. 237, In Hawai tötet der Fluch des Zauberers. R. Neuhauß: Anthropolo- 
gishe Untersuhungen in Ozeanien. Verh. d. Ges, f. Ethn. 1885, 29, 

5 Vgl. über das Tabu Freud: Totem und Tabu 1913, 

° I. Thirring-Waisbecker: Zur Volkskunde der Hienzen. Ethnologische 
Mitteilungen aus Ungarn, 1896. V, 16. 

"WW. Hazlitt: Brands Popular Antquities of Great Britain 1905, I. 275. 
Es bedeutet Unglück, wenn das Kind in den Spiegel schaut, solange es noch nicht 
gehen kann. S. ©. Addy: Household Tales. 1895, 102, E, M. Leather: The 
Folk=Lore of Herefordshire 1912. 113. 


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en en mn m u U a de ge en nn 
Spiegelzauber 65 


im Spiegel erblicken, ihre Mutter tröstete sie: »Wenn es nur zufällig 
hineinschaut, hat das nichts zu bedeuten, doh wenn man dem Kinde das 
eigene Bild im Spiegelzeigt, sokann das ihm allerdings Unglück bringen«!. 
In Rußland dürfen Kinder nicht in den Spiegel shauen, sonst könnten sie 
nicht ruhig schlafen?. Der amerikanishe Volksglaube meint, ein Kind, 
das sich im Spiegel erblickt, ehe es das erste Lebensjahr vollendet 
hat, werde ein Leben voller Sorgen führen®. In allen diesen Tabus 
verrät sich das unbewußte Wissen* der narzißtischen Einstellung, da 
sie die zu erwartenden Gefahren der durch das Spiegelshauen ge- 
förderten narzißtischen Fixierung betonen. Am dharakteristishesten 
und unbedingt treffend ist der im sächsishen Erzgebirge verbreitete 
Volksglaube, daß kleine Mädchen, die sich häufig im Spiegel betrachten, 
stolz und eitel werden’. In Meiderih darf man das Kind nicht in den 
Spiegel schauen lassen, weil es sonst eitel wird. Im Voigtland herrscht die 
Anschauung, ein nod nicht einjähriges Kind, das sich im Spiegel beschaut, 
werde sein ganzes Leben lang eitel sein’. Eitel wird das Kind, wenn es 
vor Vollendung des erstenLebensjahres in denSpiegel schaut,in derPfalz, 
in der Rheinpfalz, in Sachsen, leichtfertig in der Oberpfalz, hochmiütig in 
Sclesien, en °, in Sachsen, Thüringen, Baden, Voigtland, Meck- 
lenburg und in der Pfalz°. Läßt man das Kind unter einem Jahr in den 
Spiegel sehen, so wird es stolz!, InWales darf man das Kind nicht in 
den Spiegel schauen lassen, bevor es nihtreden kann, sonst wirds eitef!1, 
Im Voigtland darf es nicht in den Mond schauen, weil es mondsüdtig 
wird:2. Beachtenswert ist hier die Erklärung der Mondsüdhtigkeit aus 
der Sehnsucht nach dem Monde, beziehungsweise nach dem durh den 
Mond vorgestellten Objekt, in diesem Falle das eigene Ebenbild, 
In Westböhmen soll das noch nicht einjährige Kind nicht in den Spiegel 


! M. Peacock: Scraps of English Folklore, Folk-Lore 1909. 218, 

2 W.R.S. Ralston: The Songs of the Russian People. 1872. 117. 

® Knortz: Amerikanischer Aberglaube der Gegenwart 1913, 42, 

* Die Sanktion der Verbote entspricht daher entweder unmittelbar oder auf dem 
Umwege der verdrängten Komplexe, d.h. symbolisch, einer intrapsycischen Realität, 

5 E. John: Aberglaube, Sitte und Brauch im sächsischen Erzgebirge 1909, 57. 

° Dirksen: Aus Meiderih Zeitschr. d. V. f. Volksk. IV. 326. Im selben 
Sinne verwendet von L, Kaplan: Grundzüge der Psychoanalyse 1914. 221, 

” Köhler: Volksbraudh, Aberglaube, Sagen im Voigtlande. 1867, 424, 

° K. Haberland: Der Spiegel im Glauben und Brauch der Völker, Zeitschr. 
f. Völkerpsychologie XIII. 341. Nah G. Lammert: Volksmedizin und medizinischer 
Aberglaube in Bayern. 1869. 119. Bavaria, IV. 257. Wuttke: Volksaberglaube., 
392. Vgl. J. W. Wolf: Beiträge zur deutschen Mythologie, 1852. I, 208, 

® Wuttke: Der deutsche Volksaberglaube, 1900, 392, Bartsch: Sagen, 
Märchen und Gebräuche aus Medilenburg. 1880. II. 53, 

'° Die gestriegelte Rockenphilosophie. 1759. Kap. XXVIIL, p. 39. 

!! Trevelyan: Folk=Lore and Folk Stories of Wales. 1909. 268. 

'2 Joh. Aug. Ernst Köhler: Volksbraudh, Aberglauben, Sagen und andere 
alte Überlieferungen im Voigtlande, 1867. 423, Ölsnitz. 

\® Vgl. I. Sadger: Über Nachtwandeln und Mondsudht. Schriften zur an= 
gew, Seelenkunde, XVI. 1914, Zu Mond = Mutter vgl. Ist ein Kind einmal ab=- 
gesetzt, so darf es nicht wieder angelegt werden, sonst wird es mondsüdhtig. 
Thüringen. Wuttke: I. c. 393, Bevor das Kind abgesetzt ist, darf die Mutter 
nicht verreisen, sonst wird es mondsüctig. D. s. ebenda, 392, 


Imago V/2 3 


Das unbewußte 
Wissen in den 
Tabu. 


66 Dr. Geza Röheim 


schauen, weil es sonst furchtsam wird (Schönwerth, Nallesgrün), oder 
hocdhmütig (Hochofen), oder schielend (Karlsbad, Duppau) !. Die mit dem 
Narzissismus eng zusammenhängenden Komplexe der aktiven und pas- 
siven Schaulust erscheinen zum erstenmal in dem letzten Tabu, und zwar 
als Talionstrafe des Sihbeschauens. In Disznöshorvät hält man dafür, daß 
man dem Säugling keinen Spiegel in die Hand geben darf, weil er sonst 
erblindet?, in Besenyötelke deshalb nicht, weil er sonst schielen wird. Der 
an der Cserta herrschende Volksglaube schaltet in diesem Komplexe 
wieder den Himmelsspiegel ein, denn hier heißt es, daß das Kind, das 
man ins Mondlicht hält und in den Mond schauen Jäßt, schielen wird*. 
Wie in Shönwerth und in Nallesgrün die Furdtsamkeit, hält man in 
Kisvarda die Weinerlichkeit des Kindes für eine Folge des Indenspiegel- 
schauens®. Die Furctsamkeit ist als Reaktionsbildung des narzißti- 
schen Selbstgefühles zu deuten. In Ost- und Westpreußen wird dasKind, 
das in den Spiegel schaut, krank, in Franken”, in der Bakonygegend und 
in dem Bäcser Komitat muß es sterben®. Jetzt vermögen wir die ab=- 
schrekende Wirkung des Spiegelbildes auh schon des Nakeren zu be- 
stimmen; die Eigenliebe des Kindes erschauert, wenn es sein Spiegelbild, 
d. h. sein zweites Ic in fremder Hand sieht. Das Spiegelschauen fördert 
natürlich die Entwicklung des visuellen Typus, und zwar dessen extreme, 
halluzinatorishe Form, die Gefühlsbetontheit des Selbstshauens dient 
als motorisces Element bei der Wiederbelebung der Deckerinnerungen. 
So haben es beispielsweise die Wenden nicht gerne, wenn das noch 
nicht einjährige Kind besonders um die Mittag- und Abendzeit allein 
bleibt? und in einen Spiegel sieht, da es Gespenster sehen und vor allem 
ershreken würde'®. In Schlesien darf man das Kind unter einem Jahr 


1 John: Sitte, Brauh und Volksglaube im deutschen Westböhmen. 1905. 109. 

2 Fäbiän: Nepköltesi gyüjtemeny (Volksdichtung-Sammlung). Särospatak 
F. F. 1914. 38. 

3 Berze-Nagy: Babonäk etc. Besenyötelken, (Aberglaube und Gebräuche 
in Besenyötelke.) Ethn. 1910. 26. Vgl. Dr. Julius Meszäros: A magyar kerek 
tükör. (Der ungarishe Rundspiegel) Neprajzi Ertesitö. (Anzeiger der Ethn. Abt. 
des ung. Nationalmuseums) 1914. 240. 

+ Gönczi: Göcsej. 1914, 142, 

5 Rubovszky: Nepköltesi gyüjtemeny Kisvarda közsegböl (Gesammelte 
Volksdihtung aus der Gemeinde Kisväarda) Szabolcser Komitat. Eger. F. F. 34. 

® Haberland: Spiegel. Zeitschr. f. Völkerps. XIII. 541. Wuttke: Volksaber=- 
glaube. 1900. 392. Tettau und Temme: Die Volkssagen Ostpreußens, Litauens 
und Westpreußens. 1837. 282. 

” Haberland: Ebenda 341. E. L. Rochholz: Alemannishes Kinderlied 
und Kinderspiel aus der Schweiz. 1857. 318. 

8 J. Käldy: Bakonymegyei babonäk &s szöläsmödok (Aberglaube und Redens= 
arten im Bakonyer Komitat). Ethn. 1908. 284. J. Nagy: Bäcsmegyei babonäk 
(Aberglaube im Bäcser Komitat). Ebenda. 1896. 96. Vgl. Dr. Julius M&szäros: 
Der ungarische Rundspiegel Neprajzi Ertesitö. 1914. 240, 

°» Vgl. Haberland: Die Mittagsstunde als Geisterstunde. Zeitschr. f. 
Völkerps. 1882. 310—324. 

1° W, v. Schulenburg: Wendische Volkssagen und Gebräuche. 1880. 233. 
»Wenn Kinder unter einem Jahr in den Spiegel sehen, so bekommen sie Vor- 
ahnungen und werden furhtsam«. Schulenburg: Wendishes Volkstum, 1882. 
109. Läßt man ein Unmündiges in den Spiegel schauen, so wird’s ein Narr. Rochs 
holz: Alemannishes Kinderspiel und Spiel in der Schweiz. 1857, 317. 


Spiegelzauber 67 


niht mit Blumen schmücken, noh in den Spiegel schauen lassen, 
weil es sonst bald stirbt oder eitel wird, oder aber später außer- 
gewöhnlihe Dinge (Gespenster) sehen wird‘, 

Die folgenden Tabus betonen die fixierende Wirkung der nar- 
zißtischen Einstellung, die sich tatsächlich jeder psychisch determinierten ? 
Wandlung entgegenstellen kann. In Felnemet, wenn das kleine Kind 
in den Spiegel shaut, wird es shwer zahnen®. In den Komitaten 
Nögräd* und Bäcs® wachsen dem in den Spiegel schauenden Säug- 
ling die Zähne nicht aus‘. In Schwaben wird das kleine Kind, das 


1 P. Drechsler: Sitte, Brauh und Volksglaube in Schlesien 1903, I, 212. 

? Die unbewußte kollektive Apperzeption macht keinen Unterschied zwischen 
körperlichen und seelischen Erscheinungen, hier ist also alles psychisch determiniert, 

> Szekely: Magyar Nephagyomänyok Gyüjtemenye (Sanımlung ungarischer 
Volksüberlieferungen). Eger. F, F. 1914. 18. 

* Kaunitz: Babonäk (Aberglauben) Magyar Nyelvör. II. 277. 

5 Nagy: Bäcsmegyei babonäk <Aberglauben im Bäcser Komitat). Ethn, 
1896. 96, Meszäros: Der ungarische Rundspiegel Neprajzi Ertesitö. 1914, 240, 

% Der Zahn ist hier wie so oft ein Penissymbol. Vgl. Stekel: Die Sprache 
des Traumes. 1911. 221—231. Das mit einem Zahn geborene Kind wird glücklich 
sein und Zauberer werden, aber nur wenn es im Alter von sieben Jahren im 
Ringen mit den älteren Zauberern (tältos) den Zahn zu bewahren vermag td. h. 
wenn es sih nicht kastrieren läßt). Istvänffy: A borsodi maty6 n&p &lete (Leben 
des Matyövolkes in Borsod), Ethn. VII. 364, Ipolyi: Magyar Mythologia (Un- 
garishe Mythologie). 1854. 449, Das Zahnausshlagen und die Riten der Circum-, 
beziehungsweise Subincisio sind gleihwertige Bestandteile der australischen Männer= 
weihen. Vgl. über Beschneidung als Kastrationsäquivalent Reik:; Die Pubertäts- 
riten der Wilden. Imago. 1915. 125. Über Beschneidung = Haarabschneiden = 
Zahnausschlagen bei Primitiven und Kindern, vgl. S. Freud: Totem und Tabu. 
1913. 141. «Siehe aucı weiter unten über Nägelabschneiden.) Es ist bezeichnend, 
daß bei den Gringai die Mutter den ausgeshlagenen Zahn des Knaben auf- 
bewahrt (A. W. Howitt: The Native Tribes of South-Bast Australia, 1904. 
575), wohl als symbolishen Ersatz des ihr endgültig entrissenen Knaben. 
Desgleihen bei dem Kamilaroi J. Fraser: The Aborigines of New South 
Wales. 1892. 14. Vgl. die Wenden, bei denen die Mutter den Zahn 
des Knaben, der Vater den des Mädchens verschluckt. (Ploß-Renz: Das 
Kind. 1912. I. 53. 58) Die Kaitish werfen den ausgeschlagenen Zahn 
in die Richtung des »Alcheringa Lagerplatzess der Mutter. (Spencer and Gillen: 
The Northern Tribes of Central Australia. 1904. 589. Alcheringa Lagerplatz= die 
Gegend, wo sich in der mythishen Urzeit die Heroen aufhielten, deren einer sich 
in der Mutter reinkarniert hat.) Nach Kaitish und Unmatjera Überlieferung bradhten 
die Alcheringa-Heroen ihre Vorhäute in ihren Nanjabäumen (Lebensbaum) unter. 
Derselbe. Ebenda. 341. »Am Goulbourn River sieht man eine ungewöhnliche An- 
zahl abgestorbener Bäume. Jeder tote Baum repräsentiert ein Mitglied des erloschenen 
Stammes. Die Zähne werden bei der Initiation ausgeschlagen und der Mutter über= 
geben, sie verbirgt die Zähne in den Rinden eines jungen Gummibaumes.« (Zu 
Mutter und Baum vgl. Jung: Wandlungen und Symbole der Libido. 1912, 240, 
254.) »Im Falle nun die Person, welcher der Baum auf diese Art gewidmet ist, 
stirbt, wird vom Fuße die Rinde abgestreifts, R. Oberländer: Die Eingeborenen 
der australischen Kolonie. Globus IV. 281. Die Kastrationsbedeutung des Zahn- 
ausschlagens läßt diese Gewohnheit als Strafe oder als Zeihen der Sklaverei er= 
klärlih erscheinen, R. Lasch: Die Verstümmlung der Zähne in Amerika. Mitt. 
d. anthr. Ges. in Wien. 1901. S. A. 16. H.H. Bancroft: The Native Races of 
the Pacific States of North America. 1875. I. 764. Vgl. auh H. von Ihering: 
Die künstliche Deformierung der Zähne. Zeitschrift für Ethnologie. XIV. 1882, 
213—262. J. G. Frazer: Totemism and Exogamy. 1910. IV. 180—195. 


5° 


Narzißmus und 
Fixierung. 


68 Dr. Göza Röheim 


man zum Fenster schiebt, niht wacsen!, In Panjab dürfen Kinder, 
besonders wenn sie im Wachsen sind, nicht in den Spiegel schauen‘. 
Eine Gruppe der Verbote bezieht sih auf das Sprachvermögen. In 
Mecklenburg darf das kleine Kind nicht in den Spiegel shauen, weil 
es sonst im Reden schwerfällig wird?. In Ostpommern lernt das 
Kind unter einem Jahr das Reden nicht, wenn es in den Spiegel 
schaut‘. In Göcsej läßt man nicht zu, daß der ganz junge Säugling 
in den Spiegel schaue, weil ihm sonst die Sprache versagt’. In 
Gibraltar heißt es, daß, wenn man das Kind vor dem Spiegel 
wäscht, lernt es erst spät reden®. In Somlöväsärhely darf man den 
Säugling nicht vor den Spiegel stellen, weil er das Reden nicht 
lernt‘, In Nagyszalonta darf das kleine Kind, so fange es noch 
nicht reden kann, nicht in den Spiegel shauen, weil es sonst mit 
einem Male zu reden beginnt, dann aber für immer stumm bleibt®. 
»Wenn ein Kind in den Spiegel sieht, so nicht sprechen kann, 
ist nicht guts®. In Nagypalugya glaubt man, daß das Kind 
stumm!®, in Meclenburg, daß es stottern wird'!, in Rußland, daß 
es spät reden lernt!?., Im Voigtland dürfen Kinder unter zwei 
Jahren nicht miteinander spielen, weil sonst das eine schwer 
reden lernt‘, Hier übernimmt das eine. Kind als Doppel- 
gänger des andern die Rolle des Spiegelbildes. Bezeichnend ist 
folgende Angabe: noch nicht einjährige Kinder sollen einander 
nicht küssen, weil sonst keines das Reden erlernt (Karlsbad, 


1 Grimm: Deutshe Mythologie. III. 435. Vgl. J. W. Wolf: Beiträge zur 
deutschen Mythologie. 1852. I. 208. 

® Mündlich mitgeteilt vom Herrn Umrau Sing Shergill: Vgl. »A dild 
is never shown a looking glass ...... if he sees his reflection, he will become 
unwell. If however he insists upon having it, it will be turned the reverse side«. 
M. N. Venkataswami: Hindu Notes, Folk-Lore XI, 218. 

>» K. Bartsch: Sagen, Märchen usw. aus Meclenburg. 1880, II. 53. 

* ©. Knoop: Volkssagen, Erzählungen, Aberglauben und Märchen aus 
dem östlihen Hinterpommern. 1885. 156. 

5 Gönczi: Göcsej, 1914. 143. 

® Seligmann: Der böse Blick. 1910. I. 180, 

” L. Nagy: Nephit, babonäk, &s nepszokäsok Somlöväsärhelyen. (Volks= 
glauben, Aberglauben und Volksbrauh in Somlöväsärhely.) Päpa. F. F. 
1914. 4. 

8 S. Oltyän: Babonagyüjtemeny (Aberglauben-Sammlung) Nagyszalonta 
F.F.I.a. Vgl. den plötzlich zum Reden gebrachten stummen Wecselbalg. Gönczi: 
Göcsej, 1914. 319. Grimm: Deutsche Mythologie, 1875, I. 388. 

° Grimm: Deutshe Mythologie. 1878. II. 477. Aus des uralten jungen 
Leiermatz lustigem Korrespondenzgeist. 1668. p. 170—176. 

1% Istvanffy: Liptömegyei töt babonäk. (Siowakischer Aberglauben im Lip= 
tauer Komitat.) Ethn. 1912. XIII. 35. Dr. Julius Meszäros: Der ungarishe Rund- 
spiegel Neprajzi Ertesitö. 1914. 240, 
sa EEE Volksaberglaube. 392. Haberland: Spiegel. Zt. f. Vps. 

12 Dr. Julius M&szäros: A magyar kerek tükör. (Der ungarishe Rund- 
pie. Sean Ertesitö (Anzeiger der Ethn. Abt. des ung. Nationalmuseums). 
ıs Köhler: Volksbraud. etc. im Voigtlande. 423. Ölsnitz. 


Spiegelzauber 69 


Duppau)!. In Mecklenburg: wenn zwei Kinder, die die Wörter 
noh nicht richtig auszusprechen vermögen, einander küssen, werden 
sie niemals richtig reden lernen?. Der Abwehrcarakter des Tabu 
gegen die narzissistishe Fixierung geht deutlih aus der Fassung 
aus Eger hervor, der gemäß das Kind nicht in den Spiegel shauen 
soll, bevor es reden kann, weil es sonst das Reden niemals 
erlernt?. 

Um aber das Inhaltlihe des Fixierungsbegriffes näher zu be- 
stimmen, muß ich auf eine andere, wenn auch vorläufig hypothetische 
Determinante hinweisen. Laut der Mecklenburger Angabe wird das 
in den Spiegel schauende Kind nicht stumm, sondern ein Stotterert, 
Nun ließe sich aber auh nach unveröffentlihten Forschungen Freuds 
das neurotishe Stottern aus der analerotishen Zurückhaltung der 
Wörter erklären®. Den Zusammenhang zwischen der analen Erotik 
und dem Narzissismus hat Freud schon früher festgestellt‘, er läßt 
sih vielleiht noch augenfälliger mit folkloristishem und ethnologi- 
schem Material beleuchten‘. Von unseren Tabu wären die folgen- 
den in diesem Zusammenhange zu erwähnen: In Semjen wird das 
vor den Spiegel gehaltene Kind fausig®. In Diösgyör: wer nadts 


1 John: Sitte, Brauch und Volksglaube im Deutshen Westböhmen. 1905. 
209, Das zweite Kind entspriht auch der Todesbedeutung des Doppelgängers. 
Wenn in Wales Kinder, die noch nicht reden können, einander küssen, wird das 
eine von ihnen binnen einem Jahre sterben. Trevelyan: Folklore und Folk-Stories 
of Wales. 1909. 265. Kinder unter einem Jahre dürfen einander nicht anfassen, 
oder küssen, oder nicht miteinander spielen, sonst lernt eines derselben nicht sprehen 
(Schlesien, Wetterau, Böhmen, Voigtland) oder stirbt (Thüringen) oder beide 
wachsen nicht mehr (Erzgebirge). Wuttke: Der deutsche Volksaberglaube. 1900. 
394, J. W. Wolf: Beiträge zur deutschen Mythologie. 1882. I, 208. 

» K, Bartsch: Sagen, Märchen und Gebräuche aus Medlenburg. 1880, II. 51. 
Ein neugeborenes Kind soll ein anderes, das noch nicht reden kann, nicht küssen, 
denn sonst wird das Neugeborene schwer reden lernen. Derselbe: Ebenda. II, 42. 

» P, Läzär: Gyüjtese. Eger. F. F. 66. Ebenso darf in Pamproux das Kind 
noch nicht in den Spiegel schauen, wenn es noh nicht reden kann, weil es sonst 
stumm bleiben wird. Souche&: Croyances. 1881. ex Seligmann: loc. cit. I. 180. 

* Das Kitzeln ist gleichfalls eine Reizung der erotishen Zonen, (Vgl. 
I. Sadger: Haut-, Schl:imhaut- und Muskelerotik. Jahrbuch für psychoanal. For- 
schungen. 1912. III. 528. »Wenn’s einer Frau im Anus juckt, so wird sie von 
den Männern gelobt.« S. Revai: Baranyai babonäk. Ethn. 1905. 297.) Das Kind 
darf man nicht kitzeln, weil es stottern wird. Rochholz: Alemannisches Kinderlied 
und Kinderspiel aus der Schweiz. 1857. 318. 

5 Dr. S. Ferenczi: Schweigen ist Gold. Int. Zeitschrift für ärztliche Psycho- 
analyse. 1917. 

® Freud: Sammlung kleiner Schriften zur Neurosenlehre. 1913. III. 50. 216. 

? Ich meine damit, aus der europäischen Volkskunde: die Schätze tragenden 
Kobolde, aus der allgemeinen Ethnologie: den Krankheitszauber vermittels Körper- 
ausscheidungen und Abfälle, deren Behandlung in diesem Sinne ih mir vorbehalte. 

‚  ° K. Sütö: Lakodalmi köszöntök nepdalok, nepmesek &s babonak gyüjte- 

menye (Sammlung von Hochzeitssprühen, Volksliedern, Volksmärcen und Aber 
glauben), Särospatak. F. F, 1915. 175. Vgl. den feurigen Drachen, der die Menschen 
mit stinkendem Schmutz, mit Pferdemist (Oldenburg, Meclenburg, Thüringen) 
oder mit Läusen und Ungeziefer übershüttet. Wuttke: loc. cit. 45. In Wetterau, 
wenn’s einem von Läusen träumt, so bekommt man Geld. J. W, Wolf: Beiträge 
zur deutschen Mythologie, 1852. I. 239, 


Analerotik. 


Spiegelschau 
er Kinder. 


Tg 0 I 0 en 


70 Dr. Geza Röheim 


in den Spiegel schaut, wird magenleidend!, Ein Kind muß abends 
nicht in den Spiegel sehen, sonst steht der Teufel hinter ihm?. Nah 
den auf das Kindesalter bezüglihen Spiegeltabus können wir auf 
jene Riten übergehen, an denen sich der hinter der Hemmung ver- 
borgene Wunsch dartun läßt. Während in den behandelten negativen 
Riten das Kind dem Spiegel gegenüber passiv magisch war, d.h. 
Objekt einer magischen Wirkung, läßt die nun folgende Gruppe das 
Kind in einer aktiv magischen Situation erscheinen, wie es auf 
dem Wege des Spiegels eine magishe Wirkung auf die Spiegel- 
bilder der Dinge ausübt, 


b) Positive Riten. 


Wenn in Indien jemand Unsichtbares sehen will, behält er laut 
der Sämavidhanabrahmana (Handbuch der altindishen Magie 3, 
4, % ein noch nicht mannbares Mädchen“ und einen Spiegel eine 
Nadt hindurch bei sich, und singt über den Spiegel einen Zauber- 
sprudh, Bei Anbruch der Morgendämmerung wiederhole er die Be- 
shwörung, wishe sich den Mund ab® und befehle dem Mädchen 


1 Szekely: Magyar nephagyomänyok gyüjtemenye (Sammlung ungarischer 
Volksüberlieferungen). Eger. F. F, 1914, 19. 

® Grimm: Deutsches Wörterbuch. 1899, X, 2226, Nach Schütze: IV. 164, Auf 
Analerotik deutet das Erscheinen des Teufels hinter dem Kinde, worüber weiter unten, 

® Die aktive und passive Magie, desgleihen die positiven und negativen 
Riten sind verwandte Ausdrücke, die ih hier als termini technici einführen möchte. 
Eine nähere Untersuchung des Gegenstandes würde dartun, daß stets dieselben 
Objekte und Subjekte, von denen die magishe Wirkung ausgeht, zugleich der von 
anderen ausgehenden magischen Wirkung am stärksten ausgesetzt sind. Das ist bloß ein 
Sonderfall des Gesetzes der psychischen Polarität oder Ambivalenz. Vgl. 
L. Kaplan: Grundzüge der Psychoanalyse, 1914. 174, Derselbe: Psycdhoanalytische 
Probleme. 1916. 1—16. (Nadhträglih bemerke ich die Einteilung in negative und 
positive Riten schon bei A. van Gennep: Les Rites de Passage. 1909. 11.) 

* »Kanyäm adrstarajasams, Böhtlingk bringt das Beiwort mit dem Worte 
»adarsa« (Spiegel) in Zusammenhang und übersetzt es mit »blanks, Zachariae: 
Zur indischen Witwenverbrennung, Zeitschr. d. V. f. Volkskunde. 1905, 84. Viel- 
leicht ist das jungfräulihe Mädchen gleichzeitig leuchtend und strahlend, da sie ihr 
eigenes narzißtisch idealisiertes Ebenbild noch nicht verloren hat? Die Galeläresen 
glauben, daß heranwachsende Knaben und Mädchen nicht in den Spiegel schauen 
dürfen, weil der Spiegel sie ihrer Schönheit beraubt. ]J._G. Frazer: Taboo and the 
Perils of the Soul, 1911. (Golden Bough, Part. II.) 93. Zitiert nah I. van Baarda: 
Fabelen, Verhalen en Overleveringen der Galelareezen. Bijdragen tot de Taal- 
Land- en Volkenkunde van Nederlandsch=Indie. XLV. 1895. 462, Im rumänischen 
Märden kommt ein Spiegel vor, der den hineinschauenden Helden all seiner Kraft 
und Schönheit beraubt. L. Sainenu: Basmele Romane. 1895, 552. 553, 

5 Dieser Satz ist zumindest zweideutig. Vergleihe zum Zusammenhang 
zwischen Coitus und Spiegelschau folgendes aus den ungarischen Hexenprozeßakten. 
Der Seher erblikt in seinem Nagel die Genitalien dessen, der den Schatz versteckt 
hat und daß dieser dabei mit seiner Frau den Beischlaf ausübte. Den Schatz kann 
nur der heben, der beim Graben dasselbe tut. Komäromy: Magyarorszägi Bo=s 
szorkänyperek, Okleveltära. (Ungarländische Hexenprozeßakten.) 1910. 251. 

° Er entfernt die gefährlichen Spuren der magischen Worte. So pflegt z. B. 
derjenige, welcher Übles geträumt hat, sein Gesicht abzuwischen. H. Oldenburg: 
Die Religion der Veda. 1894, 490, oder er badet. I. von Negelein: Der Traum= 
schlüssel des Jagaddeva. 1912, 35, 


u — 


Spiegelzauber ‘ 71 


»Siehe« (d. h. in den Spiegel oder in ein mit Wasser gefülltes Ge- 
fäß) und das Mädchen wird sehen!. Laut Bellanger de Lespinay 
pflegt man in Pondichery aud heute noch durch einen kleinen Knaben 
oder eine Jungfrau wahrsagen zu lassen in der Weise, daß man sie 
nachts in einer verlassenen Pagode in ein mit Öl beschmiertes glänzen- 
des Kupfergefäß schauen läßt?. Die kanonishen Schriften des Bud- 
dhismus nennen das Spiegelshauen »ädäsapafha«, d. h. »Spiegel- 
befragen«, den damit parallelen Ritus »kumäripafihas, das »Mädcden- 
befragens. Die Gottheit, an die man die Fragen richtet, steigt in 
den Spiegel, beziehungsweise in das Mädcden®. Die Malaien glauben, 
daß nur ein Kind, welhes schon seiner Jugend halber noch nicht 
gelogen haben konnte, im Wasserspiegel die verborgenen Dinge 
sehen kannt. Leo Africanus berichtet über die Zauberer in Fez 
»Alii aquam catino vitreo infusam olei guttula admixta, Jucidam et 
transparentem reddunt, in qua tamquam in speculo daemones se 
videre affırmant, . .. quorum nonnulli in itinere sunt, ali rivum 
transmittunt, alii terrestre proelium gerunt, quos ubi quietos videt, 
de rebus quas scire cupit, interrogat; daemones porro nutibus 
respondent . ... Vitreum illud vas pueris interdum vix octavum 
egressis annum in manum dant, a quibus num hunc vel illum dae= 
monem viderint, interrogant«°. Die Hindus und indischen Moham- 
medaner nennen den Zauberspiegel »unjoun«, d. h., »lampe noire«. 
Wollen sie die Art der quälenden Krankheit erfahren, so geben sie 
einem Kinde ein »unjoun« in die Hand, und dort sieht das Kind 
die gräßlihe Fratze des Krankheitsdämons°. Der Falashazauberer 
schreibt das Wort »Allah« in den Sand und ein junges Kind muß 
starr auf die Buchstaben schauen und den Geisterkönig anrufen. 
Der letztere erscheint, fährt in den in Trance gefallenen Knaben 
und beantwortet die an ihn gerichteten Fragen. In der Regel stellt 
man vor den Knaben Wasser oder einen Spiegel, damit er statt 
in den Sand, dorthinein schaue’. Ähnliches finden wir auch im 


ı Zachariae: Zur indishen Witwenverbrennung. Zeitschr. d. V. f. Volksk. 
1905. 84. Vgl. auch die Tintenschau. Der Wahrsager im Panjab schreibt Zauber= 
sprüche auf Papier und gießt darüber einen großen Tintenflek, Er gibt einem 
kleinen Kinde Blumen in die Hand und sagt: »Zitiere die vier Schutzgeister«. 
Crooke: Popular Religion and Folklore of Northern India, 1896. 153. 154. Vgl. 
Lefebure: Le miroir dencre dans fa magie arabe. Revue Africaine. 1905. 209. eit. 
Doutt&: Magie et Religion dans !’Afrique du Nord. 1909. 388. E, W. Lane: 
Sitten und Gebräuche der heutigen Ägypter (übers. Zenker). II. 93. 

®H. Froidevaux: Une seance de divination A Pondichery. Actes du 
Onzieme Congres international des Orientalistes. 1897. 271-276. 

3T, W Rhys=-Davids: Buddhist Suttas. Sacred Books of the East. XI. 
1881. 199. Zachariae: Loc. cit. 84. R. O. Franke: Dighanikaya. 1913. 20. 

ı W, Skeat: Malay Magic 1900, 539. 

s Leo Africanus: Africae descriptio. 1632. (Elzevir.) 335, 336. 

8 Maury: La Magie et [Astrologie dans l’Antiquit& et au Moyen Age. 
1864. 441 nach Qanoon e isfam publ. Herklots. 378. 

? Et. Combe: Quelques coutumes des populations Soudanaises. Revue 
de [Historie des Religions 1911. 324. Vergleihe: E. Doutte: Magie et Religion 
dans l’Afrique du Nord. 1909. 590. 


re EBERLE 
72 Dr. Geza Röheim 


> = ni ee MEERE: VS WEEEN 


Altertum des Okzidents, Varro erwähnt es mit der Bemerkung, 
diese Art Wahrsagerei stamme aus Persien!, Didius Julianus be- 
nützt es, um des Schlachtes Ausgang zu erfahren set ea, quae ad 
speculum dicunt fieri, in quo pueri praeligatis oculis incantato 
vertice respicere dicuntur. Julianus fecit, funcque puer vidisse dici- 
tur et aduentum Severi et Juliani decessionem«:. Orientalishes und 
Okzidentalisches trifft sich in schönster Harmonie in den demotischen 

auberpapyri, der Magier sitzt in einem finstern Raum auf zwei 
neuen Ziegeln, zwischen seinen Füßen der Knabe, dem er die 
gen mit der Hand verdeckt. Der Spiegel wird hier nicht erwähnt?. 


ines der Geheimnisse von »Albert fe Grand« besagt, man müsse 
in das mit klarem Wasser gefüllte Glasgefäß ein »enfant vierge« 
hineinshauen lassen’, Aus doctor Hartliebs «leibarztes herzog 
Albrehts von Bayern. 1455) »Bud aller verboten Kunst« entnimmt 
Grimm folgendes: »cap. 88. Die maister und irgleihen die treiben 
die kunst auch in ainem schlechten spiegel und lassen kinder dar- 
ein sehen, »auh treibt man die sach in ainem schönen glanzen 
pulierten swert«. »So soll das ain swert sein, das vil leut damit 
ertöt sein, so komen die gaist dester ee und pelder.« »wann man 


und beginnt auf dem ihm bezeichneten Ackerfeld oder Gartengrund 
herumzugehen, bis es auf einem Fleck stehen bleibt und erklärt, der 


! Augustinus: De Civitate Dei. VII. 35, (I, Stoer. 1596. p. 435.) 

? Spartianus: Didius Julianus. VII, 9. (Historiae Augustae Scriptores. 
Sex. Argentorati. 1677. 163.) 

> A. Abt: Die Apologie des Apuleius von Madaura. 1908. 236, 237. 

* Brand: Popular Antiquties of Great Britain I. 274, 

5 E. Lambelet: Les Cröyances populaires au Pays d’Enhaut. Schweize- 
risches Ardiv für Volkskunde XI. 1908, 122, 

° J. Grimm: Deutsche Mythologie. III. 1878. 431. Ähnliches über »ge=- 
pulierten cristallen oder parillen« ebenda. 

? Szekely: Magyar Nep hagyomänyok Gyüjtemenye (Sammlung Unga=- 
tischer Volksüberlieferungen). 1914. Eger F. F: 11. 


® M.M.R. Varga: Szarvasvideki babonäk, Aberglauben aus der Gegend 
von Szarvas.) Ethn. 1908. 162 


° B. Szivös: Alföldi kinoskeresök (Schatzsucher im Alföld). Ethn. XXIII, 34, 


u Hr 1 Se u ee er ae 
r Spiegelzauber 73 


Schatz bestehe aus Gold oder Silber, befinde sih in einem Faß 
oder in anderem Gerät, sei zwei Klafter tief unter der Erde ver- 
graben und werde von einem Hunde solcher oder solcher Rarbe 
bewacht. Dann beginnt man die Erde aufzugraben und wenn man 
sih der angegebenen Tiefe bereits nähert, sucht man einen Hund, 
der dem von dem Kinde erwähnten in der Farbe ähnlich ist, tötet 
ihn und schmiert sein Blut auf dem Boden der Grube, In Pärkäny 
hatte man im Erdboden eines Baumes Gold vermutet. »Man rief 
ein magisch begabtes (tältos) Mädchen, es möge mit dem Stahl- 
spiegel schauen. Das Mädden sieht, daß unter der Erde an einem 
großen Balken mit einer Kette ein Kessel angebunden ist, in diesem 
befindet sih das Geld. Auf dem Balken sitzt ein Büffel, der nachts 
auf dem Grunde des Bauern stets zur Tränke geht. Sie können 
aber den Schatz nicht erreihen, denn wie sie graben, geht der 
Büffel mit dem Balken und dem Kessel immer weiter, John of 
Salisbury verzeichnet, als er noh Kind gewesen, habe ihn ein 
Geistliher zuweilen in einen mit Chrisma_ bestrichenen glänzenden 
Kelh schauen lassen, damit er wahrsage. Die anderen Kinder 
hätten denn auch in dem Kelch verschiedene Nebelbilder ge=- 
schaut, ihn aber, der stets nur einen glatten Kelch gesehen, 
habe man später gar nicht mehr gerufen®. Den Dieb oder den 
gestohlenen Gegenstand kann man ausfindig machen, wenn 
man einem »unschuldigen« Knaben ein mit Weihwasser gefülltes 
Glasgefäß in die Hand gibt und der Knabe mit dreimaliger 
Verbeugung sagt: »Du heiliger Engel, Du schneeweißer Engel, 
durch meine Keuscheit und deine Heiligkeit zeige mir den Dieb«*. 


1 Jancsö &s Somogvi: Arad Värmegye Monographiäja (Monographie 
des Komitates Arad) III. 1912. Abt. 1. S. 344, Wenn man den Schatz nicht findet. 
so hat sich das Kind in der Farbe des Hundes geirrt: Die schatzhütenden Tiere 
sind Seelentiere, also wohl symbolische Vertreter der Vaterimago. Den Schatz im 
Schoße der Mutter Erde erlangt man aber durch das Töten des schatzhüten- 
den Hundes, bezüglicherweise seines Ebenbildes, mit anderen Worten des Vaters, 
Beim erwachsenen Manne kehrt das Motiv in der Retributionsform wieder: der 
Graf muß seine Söhne verlieren, wenn er den Schatz heben will. R. Kühnau: 
Sclesishe Sagen. III. 1913. 620. Die zu opfernden Hühner (Vgl. F. S. Krauss: 
Volksglaube und religiöser Brauch der Südslawen. 1890. 103. B, Szivös: Alföldi 
kincskeresök (Schatzsucher im Alföldy. Ethn. XXI. 30. In einer finnischen Varis 
ante wird das Blut von »9 Brüderns gefordert, doc der betreffende berichtigt die 
Forderung »9 Hähnes. A. Bän: A kincskereses a nephitben, (Schatzsuhen im 
Volksglauben.) Ethn. 1915. 34. In Torda hütet eine Henne mit ihren Küdlein 
(Ersceinungsform der Hexe) das Geld und es gehört das Blut von neun Brüdern 
(d. h. 9 Küdhlein) dazu, um es zu heben. Jankö: Torda, Aranyossz&k, Toroczkö 
magyar nepe, 1893. 244. Scheftelowitz: Das stellvertretende Huhnopfer (1914) 
sind wohl symbolische Äquivalente für ein Menschenleben. 

....  Györffy: Babonäs hiedelmek a feketekörösvölgyi magyaroknäl (Aber- 
slubiede Anschauungen bei den Ungarn im Tal der Schwarzen-Körös). Ethnogr. 
® Soldan-Heppe: Geschichte der Hexenprozesse. 1911. I. 97. Bastian: 

Der Mensch in der Geschichte. 1860. II. 149. 

4 Montanus: Die deutschen Volksfeste, Volksbräuhe und deutscher Volks» 
glaube. 1854. 117 ex Fehrle: Die kultishe Keuscheit im Altertum, 1910. 59, 


Nagelschau. 


74 Dr. Göza Röheim 


Ganz dasselbe berichtet Rimuald: man nehme einen Spiegel 
oder eine Phiofe und eine Weihkerze und indem man die Formel 
»Ange blanc, ange saint, par ta saintet€ et par ma virginite, 
montre moi qui a pris telle chose« hersagt, erblikt man das 
Bild des Diebes in der Phiole!, Der »Höllenzwangs verpflichtet 
denjenigen, welcher die Spiegelshau unternehmen will, zu_drei- 
tägiger Enthaltsamkeit?:. Wollte man den Aufenthalt des Diebes 
durh die Kristallschau ermitteln, ließ man einen etwa zehnjährigen 
Knaben, der noch unbeflekt und ein ehelih geborenes Kind 
sein mußte, in den Kristall schauen®. In Pembridge ließ man 
im Jahre 1671 ein unschuldiges Mädchen (oder einen unbefleckten 
Knaben)» um Mitternaht in den Kristall schauen, damit sie 
darin den Dieb sehen mögent. Bodinus erzählt den Fall eines 
Nürnberger Bürgers, der ein junges Kind in den Kristallring 
schauen ließ >. 

Im Mittelalter zitierte man Erscheinungen niht nur in den 
Kristall und in den Spiegel, sondern auh in die flahe Hand. Im 
finsteren Zimmer schmierte man die Hand mit Öl und Ruß ein 
und beim Licht der Kerzen sah man die Erscheinung. Wenn der 
Betreffende das Gesiht aus der Hand eines Knaben schauen wollte, 
flüsterte er dem Kinde ins rechte Ohr, dreimal die Namen »Gar- 
diab, Fardiar, Ipodhars®. Spanische Hexen zeigten das gewünschte 
Gesicht, ob es nun ein Lebender, oder ein Toter sein modte, in 
einem Spiegel oder im Nagel eines Kindes’, In den Hexenprozeß- 
akten von Debreczen tritt neben dem Stahlspiegel, durch welchen 
das Mädden die Schätze erbliken soll, als subsidiärer Ritus auch 


das Kratzen der beiden Daumennägel auf‘. In Toulouse las ein 


t L. Maury: La Magie et L’Astrologie dans l’Antiquite et au Moyen 
Age. 1864. 441 nach Rimuald: Consil. in caus. graviss. 414t. IV. p. 254. Vgl. 
bei Cardanus: De rerum varietate. 1556. p. 1089 »per tuam sanctitatem et 
meam virginitatems. . 

2 Kiesewetter: Faust in der Geschichte und Tradition 1893. 464, 465 
Vgl. ebenda, 490. 

en Hieron. Cardanus: De rerum varietate. 1556. 1088. Lib, XVI. 
cap. 93. 
% Leather: The Folklore of Herefordshire. 1912. 66. 

5 J. Bodin; De Magorum Daemonomania. Vom Ausgelasne Wütigen 
Teufelsheer Alferhand Zauberern. etc. 1586. Ebendort auch Nagelschau. Es fohnt 
sich die Erklärung Bodinus über die Rolle der Jungfräulichkeit in der Magie an- 
zuführen: »Dann dieser Unrein Geist nimmt sih an als belieb er au die reine 
Jungfrauschaft, damit er Leut durch solche Mittel von ihrer zarten Jugend auff 
mög an sich ziehen: Auch zum theil dardurh die Vermehrung des Mensch- 
lichen Geschlechts hinderen und zerstören. Und nicht desto minder und er 
deß reitzt er die Personen, so er gewinnet zur Sodomy und unkeusch- 
heit wider die Natur an.s p. 227. 

6 Kiesewetter: Faust in der Geschichte und Tradition. 1893. 490. 

” Schorfer: Die Novellen des Cervantes. 1907. II. 237 ex Soldan- 
Heppe: Geschichte der Hexenprozesse. II. 158. 

® F. Szell: Törvenykezesi adatok alföldi babonäkröl. (Gerichtsakten über 
Aberglauben aus dem Alföld., Ethn. 1892. III. 113. 


Spiegelzauber 75 


Portugiese aus dem Nagel eines Kindes verborgene Dinge!. Laut 
Bodinus kann das Nagelshauen nur »ein jung Kind, das nie kor- 
rumpiert wordens, vollbringen®?. In Märmaros finden wir wieder das 
siebente Kind, das diesmal nicht mit dem Stahlspiegel, sondern 
durch den Mittelfinger der rechten Hand das Geld erblidt®, Man 
muß den Nagel des Mittelfingers der rechten Hand mit Mohnöl 
bestreihen und durch diesen hindurhschauen‘. In der Plattensee- 
gegend bestreiht man den Nagel des siebenten Kindes mit 
Eidedhsenöl und in diesem sieht es das verborgene Geld’. In 
Aranyosszek bestreiht man dem siebenten Kind den bunten Nagel 
mit Leinöl, führt es abends hinaus in die Gemarkung und wo es 
laut aufkreischt, dort befindet sih der Schatz‘. Im Szöklerland: 
wenn man dem siebenten siebenjährigen Kinde den Daumennagel 
mit weißem Mohnöl bestreiht und es dann unter ein Leintuh 
hüllt, vermag es anzugeben, wo sich das Geld in der Erde befindet’. 
Gleichfalls in Aranyosszek muß man um den Annentag herum bei 
Vollmond, vor der Morgendämmerung, auf dem Baucde kriechend 
Springwurzel suhen, womit man sih den Nagel bestreicht, um 
durch diesen hindurch das im Schoß der Erde verborgene Geld zu 
shauen®, In Felsö Boldogfalva: wenn man dem siebenjährigen 
Knaben den Daumennagel der rechten Hand mit Mohnöl bestreict, 
wird das Kind, wie durh ein Glas durh den Nagel sehen und 
den in der Erde vergrabenen Schatz finden®. Der oben angeführte 
Doctor Hartlieb berichtet (1455) »Die kunst pyromancia treibt man 
gar mit manigerlei weis und form. etlih maister der kunst nemen 
ain rains kind und setzen das in ir schoss, und lassen das in seinem 
nagel sehen und beschweren das chind und den nagel mit ainer 
großen beswerung, und sprehen dan dem dind in ain ore driu 
uncdunde wort der ist ains Oriel1% (cap. 83)«. Ferner »mer ist ain 


! Hazlitt: Popular Antiquities 1905. I. 274. In hac oleo ac fulligine impolluti 
pueri unguem illinebant et usque solem versus obverso certum quid submurmurantes 
videbant que cupierant. Quendam militem Hispanum novi, qui Bruxellis in ungue suo 
elassem e portu Corunnae soluentum et paullo post procellis vehementer afflictam 
velut in speculo, clare ostendebat. M. Delrius: Disquisitionum magicarum libri sex. 
1603. Tomus secundus. Lib. IV. C. II. Q. VI. Lec. IV. 6 Punkt. S. 170. 171. 

? ]. Bodin: De Magorum Daemonomania 1586. 227. 

® P. Visky: Babonak (Aberglauben), Nyelvör. VII. 206, 

* Versenyi: Adalekok a gyermekröf valo magyar n£phithez. (Beiträge 
zum ungarischen Volksglauben über das Kind.) Ethn. 1894. 111. 

° J. Jankö: A balatonmelleki fakossäg neprajza. (Ethnographie der Ans 
wohner des Balaton.) 1902. 408. 

° J. Jankö: Torda, Aranyosszek, Toroczkö magyar nepe. (Das ungarische 
Volk in Torda, Aranyosszek und Toroczkö.) 1893. 344. 
an Benkö: Häromszeki babonak. (Aberglauben im Häromszek.) Ethn. 

°J. Jank6: Torda, Aranyosszek. I. c. 1893. 344, 

° D. Baläsy: Szekely kincsäsö babonäk. (Szekler Schatzgräber-Aberglauben.) 
Ethn. 1897. 296. Udvarhelyer Komitat. 

'° Vgl, »the spryte Oryance< im Kristall G. F. Black: Scottish Charms 
and Amulets. Proc. Soc, Ant. Scot. XXVII, 436. 


Keuschheit als 
Vorbedingung 
der Visionen. 


76 Dr. Geza Röheim 


trugenlicher fist in der kunst, das die maister nemen öl und russ 
von ainer pfannen und salben audh ain rains Kind die haut... . 
und heben die hand an die sunnen, da die sunn darein schein oder 
sie heben kerzen gegen der hend und lassen das ind darein sehen« 
(cap. 84, usw.)!. Geiler von Kaisersberg verzeichnet: Man habe den 
Nagel eines Kindes mit Öl bestrihen, der Sonne zugewandt und 
daraus gewahrsagt. Wenn man aber nicht in den Nagel des Kindes 
schaut, muß wenigstens der Nagelbeshauer ein Kind oder eine un= 
beflekte Jungfrau sein?. 

Von dieser Ritengruppe ausgehend, können wir die Keusch- 
heit als Bedingung des magishen Handelns, besonders beim 
Schauen der verborgenen Dinge, als Steckenbleiben im visio- 
nären Narzißmus — im Sinne einer nicht erreichten erotischen 
Objektwahl erklären. Zum Fernshauen, zur Entdekung ver= 
borgener Gegenstände dient in Indien ein Knabe, dessen Körper 
günstige Omina zeigt?. In Nürnberg pflegten im sechzehnten Jahr- 
hundert die Menschen einander damit zu bedrohen: »Rede die 
Wahrheit oder ich gehe zu dem kleinen Mann!« Der kleine Mann 
erschien im magischen Kristall und zeigte den Menschen alles, aber 
das Männchen selbst konnte in dem Kristall nur ein unbefleckter 
Knabe schauen‘. Laut der Lku’ügen Sage kann man auf dem 
Berge Ngäa’k’un auc jetzt noch den Strik sehen, an dem sic 


1 Grimm: Deutsche Mythologie. 1878. II. 431. Vgl. den Text bei S. 
Riezler: Geschichte der Hexenprozesse in Bayern. 1896. 333. Vgl. ebenda, 330 
über »Jdromancia« mit einem reinen Kind. »Am Sonntag vor Sonnenaufgang geht 
man zu drei fließenden Brunnen und schöpft aus jedem ein wenig Wasser in ein 
fauteres poliertes Glas... ., brennt Kerzen davor und tut dem Wasser Ehre 
an wie Gott selber«. 

2 A. Hermann: A köröm a nephitben. (Der Fingernagel in Volksglauben.) 
Ethn. 1893. 119. E. L. Rochholz: Afemannishes Kinderlied und Kinderspiel 
aus der Schweiz. 1857. 107. Rubin: Geschichte des Abergfaubens. 129, nad 
Geiler von Kaisersberg: Ameis. Bl. 39. Das den Schöpfungssagen eigene 
Motiv vom Verluste der Hornhaut als Folge des Verlustes der Unschuld, des 
Sündenfalles entspricht völlig dem im Ritus nahgewiesenen Zusammenhang zwischen 
Nagelschauen, Unbefledtheit und Kindheit. Psychologish einwandfrei ist die Auf- 
fassung der Sage, die das Aufhören des sich selbst bewundernden, den ganzen 
Leib als eine spiegelnde Fläche (Fingernagel) apperzipierenden Narzissismus vom 
ersten Coitus her datiert. Die Hornhaut der Urzeit des Menschengesdledtes ist 
natürlich eine Projektion der Kindheitserinnerungen ins Kollektive. Vgl. die Sage 
bei Dähnhardt: Sagen zum alten Testament (Natursagen 1.). 1907. 226. 
Munkäcsi: A szegedvideki magyar vilägteremtesi regek valtozatai. (Varianten 
zu den Scöpfungssagen aus Szeged.) Ethn. V. 266, Schreiner: A vogul 
kozmogönia eredetehez. (Zum Ursprung der wogulischen Kosmogonie.) Ebendort: 
1892. 296. F. Gönczi: Göcsej. 1914. 181. Carra de Vaux: L’Abröge des 
Mervailles. 1898. 76. 

»>H. Tawney: The Katha Sarit Sagara. 1884. II. 149. Das oben Gesagte 
bedarf allerdings einer einschränkenden Klausel. Die Visionen gehören teilweise 
nicht mehr dem rein narzißtishen Stadium an, jedenfalls ist aber die Keuscheit 
als Bedingung der Visionen mit Bezug auf Onaniephantasien zu deuten. 

* Hartland: The Legend of Perseus. Il. 15, 16. Bertsch: Welt“ 
ei Volkssage und Volksbrauch. 1910, 138. Pröhle; Deutsche Sagen. 

879. 232. ; : 


Spiegelzauber 177 


die irdishen Gattinnen der Sterne vom Himmel herunterließen. Aber 
nur ein solher Jüngling kann ihn schauen, der jedes Tabu streng 
einhält, viel badet und nocdı niemals ein Weib berührt hat!, Aud 
den heiligen Gral kann nur der keusche Held erbliden?, Die 
Zauberin und Seherin Ilona Borsi mied die Männer, »daß ihre 
Kunst die Wirksamkeit nicht verliere«®. Kassandra, Pythia 
und die vielen anderen Seherinnen des Altertums sind Jung- 
frauen*, Gemahlinnen Apollos, eines Gottes, nämlich ihrer eigenen, 
ins Übernatürlihe projizierten heterosexuellen Abspaltung®. Bei den 
Shuswap konnte der herangewadsene Jüngling die Shamanenweihen, 
die in der Traumerscheinung des Schutztieres gipfelten, nur dann 
durhmaden, wenn er noch kein Weib berührt hatte, Sowohl bei 
Knaben, als audı bei Mäddhen würde der geschledtliche Verkehr 
die Materialisierung des Schutzgeistes, mit anderen Worten die 
Vision, unmöglih machen‘. Bei den Haida nimmt der zur Sca- 
manenweihe bestimmte nur sehr wenig Nahrung zu sih und ent= 
hält sich gänzlich des Weibes. Schließlih trübt sich sein Geist ein 
wenig, er redet unverständlihes Zeug und schaut verborgene Dinge”. 
Dann wird er als Schamane anerkannt. 

Die Rolle des mit dem Spiegel abwechselnden Fingernagels 
beansprudt ebenfalls einige Worte. Vom Standpunkt des Narzissis= 
mus ist der Nagel ein besonders geeignetes Objekt, denn außer 
der spiegelnden Flähe wird ihm noch ein Libidozushuß, durch die 
Zugehörigkeit zum eignen Leibe, zuteil. Bezeichnend ist der Schweiger 
Valle slacbe, ein Kind, das noh nicht in den Spiegel geschaut 
hat, könne in der linken Handflähe das eigene Antlitz schauen. 
Man darf dem Kinde keinen Strauß in die nd geben, weil es 
sonst eitel wird, »denn so oft sie dabei auf ihre Händden nieder- 
schauen, beschauen sie sih selbst drinnen und lächeln mit herzlihem 


ı F. Boas: Indianishe Sagen von der Nordpazifishen Küste Amerikas. 
1895, 63. 

2 Malory: Le Morte d’Arthur. Book. XIII. Ch. XVI, . 

® Lehoczky: Beregvärmegye Monographiäja. (Monographie des Komitates 
Bereg.) II, 1881. 248. 

* Fehrle: Die kultishe Keuschheit im Altertum. 1910, 7. 78, et, pa. 

® Vergleihe: Freud: Zur Einführung des Narzißmus. Jahrbuh für 
Psychoanalyse. VI. 1914. 15. 

° J. Teit: The Shuswap. (Jesup North Pacific Expedition.) 1909, 589, 590. 

‘ Dawson: Report on the Queen Charlotte Islands. 1880. 127. Zitiert 
nah Frazer: Totemism and Exogamy. 1910. II. 437, IR. Swanton: Contri» 
butions to the Ethnology of the Haida <(Jesup North Pacific Expedition. Vol. V, 
P. 1.). 1905. 40. Über die Enthaltung vom Coitus und die magishe und mystische 
Bedeutung der Unbeflecktheit im allgemeinen, vgl. J. G. Frazer: Taboo and 
the Perils of the Soul. 1911. 5, 6. 11. 142, 157, 158, 161. 163-167. 175. 178. 
179. 181. 188. 191-198. 200-204. 207. 220. 221. 272. 293. Fehrle: Die kul- 
tishe Keuscheit im Altertum. 1910. E, Crawley: The Mystic Rose. 1902. 
188—190. 228. 343-346, Westermarck: The Origin and Development of 
the Moral Ideas. 1908. II. 406-421. A. Abt: Die Apologie des Apuleus von 
ur und die antike Zauberei (Rel, Vers, u, Vorarb. IV. 2.). 1908. 161. 
184, b : 


Die narzißtische 
Bedeutung des 
Nagels. 


78 ET Dr. Geza Röheim 


Wohlgefallen«!. Die auf dem Körper befindlihe spiegelnde Ober- 
fläche steht in näherer Beziehung zum AÄutoerotismus, der sih nur 
unter fangsamen Übergängen in den Kultus des vom eigenen Leibe 
losgelösten zweiten Ihs, in den Narzissismus umwandelt. Des- 
halb hält man in der Gegend an der Cserta dafür, das Kind er» 
blike sich eine Zeitlang in den Fingern, könne sich aber hingegen 
im Spiegel oder im Löffel nicht sehen. In Nagylengyel kann das 
Neugeborne, bis man ihm nicht Geld, einen Spiegel oder ein Bi? 
in die Hand legt, sih in der Handflähe schauen?. Von dem Kinde, 
das im Traum fact, sagt man, es spiele mit seinem Schutzengel‘. 
Der Schutzengel entspricht in der Sprahe der Psychoanalyse natür- 
fih der narzissistishen Abspaltung. Der Szöreger Volksglaube 
meint, mit dem Kinde unterhält sich sein Engel, auch dann, wenn 
es nicht schläft, sondern auf die Finger schauend laht. Man sagt 
dann auch, das Kind spiele mit seinem goldenen Apfel. In Öszent- 
ivän spielt das Kind, wenn man es nicht in den Spiegel schauen 
läßt, ehe es einen Zahn bekommt, mit dem goldenen Apfel, den 
sein Schutzengel ihm zeigt; es laht dann auf und schaut auf die 
Fingers. Während der Spiegel und der Schutzengel die symboli- 
schen Vertreter des Narzissismus sind, weist das Abwedseln 
des goldenen Apfels mit dem Spiegel auf die Rolle, welche 
der Mutter-Imago in der Entstehungsgeshichte des Narzissismus 


ı E,L. Rochholtz: Afemannisches Kinderlied und Kinderspiel aus der 
Schweiz, 1857. 318. Zum Blumenstrauß, vgl. Kinder unter einem Jahre soll man 
nicht abbilden und nicht bekränzen, ihnen überhaupt keine Blumen geben, sonst 
sterben sie bald (Rheinlande, Westfalen, Thüringen, Schlesien, Süddeutschland), sie 
dürfen nicht an Blumen riechen, sonst verlieren sie den Geruh (Erzgebirge). 
Wuttke: I. c. 394. Das Sterben deutet wohl auf sympathetische Identifikation 
mit der dahinwelkenden Blume, das letztere aber auf die Verdrängung der ur« 
sprünglich übermäßigen Riechlust, welche wiederum ein Ableger der analerotischen 
Triebe zu sein scheint. Vgl. »Sieht abends man bei Lichtershein, Nodh in den 
Spiegel stolz hinein, Schaut reizend wie ein Blumenstrauß, Gifthauchend, Satanas 
herauss. Steiger: Sitten. 139, bei Wander: IV. 693. ex Grimm: Deutsches 
Wörterbuch. 1899. X. 2226. Blumen gibt man dem Kind in die Hand bei der 
Tintenschau (miroir d’encre). Crooke: Popular Religion and Folklore of Northern 
India. 1896. 153, 154. 

2 Das Ei als Spiegel kommt in einer bogomilishen Schöpfungssage vor- 
K. K. Grass: Die russishen Sekten. I. Die Gottesleute oder Chüsten. 1907. 633. 
Vergleiche übrigens das Motiv »Rieseneiseele«, Röheim: A külsö lelek &s syno= 
nimäi a nepmeseben. (Die Außenseele und ihre Synonima im Märden.) Ethn. 
1915, 299. Köhler: Kleinere Schriften zur Märdenforshung. 1898. 57, 158-161, 
348, 404. Frobenius: Zeitalter des Sonnengottes. 1904 391. Mogk: Das Ei 
im Volksbraud und Volksgfauben. Zt. d. V. f. Vk. 1915. 217, 218. J. G. Frazer: 
oa an Beautiful. (The Golden Bough. P. VIL) 1913. II. 106, 110, 125, 
132, ö 

> Gönczi: Göcsej. 1914. 142. »Geld« wird natürlih ebenfalls der 
spiegelnden Oberflähe halber verwendet, außerdem aber führt eine Assoziations= 
reihe von Geld zum Ei, wobei. das Mittelglied (Exkremente) der Verdrängung 
anheimfällt. 

+ L. Kälmäny: Boldogasszony, ösvalläsunk istenasszonya. (»Unsere liebe 
Fraus, eine Göttin unserer Urreligion.) 1885. 21. 

5 L, Kälmäny: Ebenda. 22, 


Spiegelzauber 79 


zukommt!, In Szöreg sagt man, solange das Kind nicht die Katze 
fängt, spiele es stets mit dem goldenen Apfel?. Den goldenen Apfel 
gebe die heilige Jungfrau, also die Mutter Gottes dem Kinde in die 
Hand, »Christus der Herr hat mit dem goldenen Apfel gespielt, die 
heilige Jungfrau hat ihm denselben in dieHand gegeben. Man nennt ihn 
den goldenen Apfel des Jesuskindess?. Der Spiegel verdrängt den 
oldenen Apfel, die Handflähe, den Fingernagel von seiner Stelle. 
Die Schöpfungssage der Pawnee projiziert diese Spiegel-Nagelvor- 
stellung auf die Götter. Tirawa erschafft den Menschen und gebietet 
ihm, mit zusammengepreßten Daumen nah Norden zu weisen. 
Auf dem Nagel des Daumens bleibt der Abdruk des Gesichts 
der »vier Götter des Nordens« zurück. Im Ritus symbolisieren auf 
vier Säulen gelegte Muscheln und eine Scheibe aus Muscheln die 
auf dem Nagel des Urmenschen sichtbaren Göttergesihte und die 
Götter selbst‘. Die Wichtigkeit, die dem Nagel vom Gesichtspunkte 
des kindlichen Narzissismus, beziehungsweise bereits vom Auto- 
erotismus innewohnt, zeigt schon die Verbreitung der Tabus des 
Nagelschneidens5. In Göcsej darf man den Nagel des kleinen Kindes 


1 Vgl. Sadger: Psydiatrisch-neurologisches in psychoanalytisher Beleuch« 
tung. Zentralblatt für das Gesamtgebiet der Medizin. 1908. 11-12. Zitiert nad 
O. Rank: Ein Beitrag zum Narzissismus. Jahrbuch. III. 411. 

® Die erotishe Bedeutung des Apfels wird von Kälmäny sehr wohl erkannt, 
wenn er ihn mit dem Brautapfel in Verbindung bringt. Kälmäny: Ebenda. 22, 
Vergleihe des weiteren Röheim: A fuczaszek. (Der Hexenstuhl,) Neprajzi 
Ertesitö. (Anzeiger des ethnographishen Museums.) 1916. 31-37. Der goldene 
Apfel ist hier speziell die Mutterbrust, während die Katze der Vagina gleichzu- 
Ben wäre. Siehe Röheim: A fuczaszek. (Der Hexenstuhl.) Ebenda. 1916, 

® L. Kälmäny: Boldogasszony. 1885. 23, Vgl. das Motiv der Schatzsagen, 
Eine Mutter verliert ihr Kind beim Schätzesuchen, nad Jahr und Tag findet sie 
es wieder, siehe da, das Kind spielt mit einem goldenen Apfel. (Das Spielen mit 
dem Apfel ist eben das Finden der Mutterbrust, dasselbe wird einmal symbolisch, 
einmal unmittelbar erzählt) Vgl. R. Kühnau: Schlesische Sagen. III. 1913, 578, 
600, 602, 609, 615, 623, 637, 651, 652, 654, 657, 659, 667, 755. Zum Apfel 
des Jesuskindes vgl. die rumänishe Überlieferung Dähnhardt: Natursagen. 
1909. II. 79. 

* G. A. Dorsey: The Pawnee. Mythology. Carnegie Institution, Publ. 
Nr. 59. 1906. 28. Diese Götter verleihen dem Urmenshen die »power« (mana?) 
sih ein Weib zu erschaffen. Dorsey: Ebendaselbst. (Der narzissistishe Weg der 
Libidoübertragung!) Hinsichtlih der Muscel vergleihe die Wakandamuscel 
der Kansa. (Dorsey: A Study in Siouan Cults. Bureau of Ethnology. Rep. XI. 
372), ferner die »Muscelgesellshaften«e der Omaha, Menonimi usw. A. C. 
Fletcher and F. la. Flesche: The Omaha Tribe (XXVII, Report. Bureau 
of Ethnology). 1911. 509-565. W. I. Hoffmann: The Menomini Indians (XIV, 
Report). 1896. 102. P. Radin: The Ritual and Significance of the Winnebago 
Medicine Dance. Journal of American Folk=Lore, 1911. 159. 182-187, 190-193. 
St. R. Riggs: Dakota Grammar, Texts and Ethnography. (Contributions to 
North American Ethnology, IX.) 1893. 228. Ferner: P, Sebillot: Legendes, 
Croyances et Superstitions de fa Mer. 1886. II. 275-278. Nork: Etymologisch- 
symbolisch-mythologisches Realwörterbuh, 1845. III. 208. 

5 Hier berühren wir schon das Gebiet der sympathetishen Magie, auf die 
ich behufs einheitlicher Erklärung im ähnlihen Sinne anderwärts zurückzukehren 
Gelegenheit finden werde. 


80 Dr. Geza Röheim 


nicht stutzen, weil es sonst diebish wird!, In Pommern deshalb 
nicht, weil es sonst unglücklich wird?. In Schlesien beißt im ersten 
Jahre die Mutter des Kindes die Nägel ab®, denn wenn sie das 
nicht tut, wird das Kind zum Selbstmörder, wenn man ihm aber 
vor dem vollendeten ersten Lebensjahre die Nägel stutzt, oder das 
Haar schneidet, wird es unglüclih*. Man kennt dieses Tabu auch 
in Tirol®, und mit verschiedenen Begründungen überall in ganz 
Deutscland®. In Medilenburg erstrekt sih das Verbot auf das 
Haar und die Nägel?, ebenso in Böhmen, denn man schneidet dem 
Kinde den Verstand, das Glük ab, oder es wird sich später mit 
irgend einem scharfen Werkzeuge schneiden®, In der Gironde 
schneidet man die Nägel des erstgeborenen Sohnes unter einem 
Rosenbaum, wenn man nad ihm ein Mädchen erwartet®. In Here- 
fordshire!°, in Vorkt! und in Wales ist es verboten, dem nodh nicht 


1 Gönezi: Göcsej. 1914. 142, Das Nagelschneiden ruft das Gefühl des 
Beraubtseins, des Mangels hervor; das Stehlen als Symptomhandlung, dient zur 
Behebung dieses Unlustgefühles und die gestohlenen Objekte bilden einen 
symbolishen Ersatz der verlorenen Körperteile. (Eine Erklärung der 
Kleptomanie? Vgl. W. Stekel: Die sexuelle Wurzel der Klfeptomanie. Zeit= 
schrift für Sexualwissenshaft. 1908. 588-600. ©. Pfister: Anwendungen 
der Psychoanalyse in der Pädagogik und Seelsorge. Imago. 1912. 61.) Ver- 
gleihe noch die magische Bedeutung der gestohlenen Gegenstände, die offenbar 
die Objektivierung der beim Stehlen empfundenen Gefühlsspannung ist. Siehe: 
Sebillot: Le Folk-Lore de France, 1906, II. 241, 487. P. Drechsler: Sitte, 
Brauh und Volksglaube in Schlesien. 1906, II. 99, 113, 243, 255. 261. 300, 
Wuttke: Der deutsche Volksaberglaube, 1900. 89. 171. 203. 364, 492. 513, 522. 
537. 616. 650. 652. 658. 673. 702. 703. 711. 8. Strackerjan: Aberglaube und 
Sagen aus dem Herzogtum Oldenburg. II. 1909, 219, A, John: Sitte, Braudh und 
Volksglaube im deutshen Westböhmen. 1905. 265. Thos. 1, Westropp: 
A Folklore Survey of County Clare. Folk-Lore, 1911. 57. A. R, Wright: 
Secret Societies and Fetishism in Sierra Leone, Folk-Lore. 1907. 427. J-=EL 
Weeks: Notes on Some Customs of the Lower Congo People. Folk-Lore. 1908, 
419. Sartori: Diebstahl als Zauber. Schweiz. Arc. f. Vk. XX. 380. In Indien 
versammeln sich bei Diebstahlsverdachte die Familienmitglieder und reiben ihre 
Daumennägel aneinander, wodurh auf einem derselben der Name des Diebes 
leserlih wird. F. A. Wiese: Indien. 1836/37. II. 464 ex Haberland: Spiegel. 
Zt. f. Vps. XIII. 337. Hier finden wir also den mit dem Stehlen assoziativ ver- 
bundenen Nagel in der Umkehrung als Spiegel zum Auffinden des Diebes. 

2 ©. Knopp: Volkssagen, Erzählungen, Aberglauben, Gebräuhe und 
Märcden aus dem östlihen Hinterpommern, 1885. 157. »Man schneidet ihm das 
Glück ab.« Erzgebirge, Wuttke: I. c. 392. Glük (hier) — Idlibido. 

3 Drechsler: Sitte, Brauch und Volksglaube in Schlesien. I. 1903, 215, 

* E. John: Aberglaube, Sitte und Brauh im sächsischen Erzgebirge. 1909. 
39. Über den Zusammenhang zwischen Selbstmordimpulse und Narzißmus vgl. 
Rank: Der Doppelgänger-Imago, 1914. 

5 N J. Zingerle: Sitten, Bräuche und Meinungen des Tiroler Volkes, 
1857. 4. 

° Wuttke: Volksaberglaube, 692. 

"K. Bartsch: Sagen, Märdhen und Gebräuche aus Medienburg. 
1880. II. 51. 

® A. John: Sitte, Brauch etc, im deutschen Westböhmen. 1905. 109. 

® Sebillot: Folk-Lore de France, II. 391. 

1% Leather: The Folk-Lore of Herefordshire. 1912, 113, 

115. ©. Addy: Household Tales with other Trational Remains, 1895, 102, 


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Spiegelzauber 8 


al hrigen Kinde die Nägel zu stutzen, weil es sonst diebisch 
wird!, 

Die bisherigen Resultate zusammenfassend, können wir die 
auf das Kind bezüglichen Spiegeltabus als Verdrängungsformen 
des Narzissismus und der Schaulust, das Spiegelschauen aber als 
ungehemmtes Hervorbrehen derselben Triebe deuten. An Stelle 
der unzensurierten Wunscbetätigung könnten wir unter Annahme 
der von Rank in einem analogen Falle vorgenommenen Ein- 
teilung auh die Rückkehr des Verdrängten aus der Verdrän- 
gung setzen?. Die beiden Erklärungen sind eigentlich gar nicht ver= 
schieden, denn beide gehen von der positiven Seite, von dem Wunsche 
aus und erklären aus diesem den negativen Ritus, mit anderen 
Worten die Verdrängung. Im Hinblick darauf, daß unser Material 
sih auf das Kindesalter bezieht, dürfen wir wohl in den positiven 
Riten berectigterweise eine primäre und nicht eine tertiäre Bildungs- 
stufe erbliken®. Diese unsere Auffassung wird auh durch die Beob- 
ahtungen der Kinderpsychologie bestätigt. Laut Sully erkennt das 
vor den Spiegel gehaltene Kind nicht sofort sein eigenes Ebenbild. 
»Schon in der zehnten Woche lächelt es seinem Ebenbilde zu.« 
Anfangs, ja sogar noch einige Monate hindurh betrachtet das Kind 
sein Ebenbild als ein selbständiges Objekt, lächelt ihm manchmal 
zu, als ob es vor einem Fremden stehen würde, ja es küßt es so= 
gar oder — wie sich dieses mit einem kleinen (fünfzehn Monate 
alten) Mädchen zugetragen -— schenkt es ihm allerlei, wobei es 
»Ta« (Danke! als Zeihen der Annahme) sagt‘. Die Erklärung 


! Trevelyan: Folk-Löre and Folk-Stories of Wales. 1909, 267. Ver= 
gleiche noch die Tabus bei M. Toeppen: Aberglauben aus Masuren. 1867. 82. 
Schönwerth: Aus der Oberpfalz, 1859, III, 252, Gönczi: Göcsej. 1914, 206, 
Adler: Allerlei Brauch und Glauben aus dem Geiselthal. Zeitschrift des Vereins 
für Volkskunde. 1904. 429. J. W. Wolf: Beiträge zur deutschen Mythologie, 
1852. I. 208, 209, » Wenn ein Kind unter einem Jahre in den Spiegel shaut, so 
zahnt es schwer, und solange darf man ihm auch die Nägel nicht abschneiden.« 
“Über Zahn und Spiegel vgl. oben) Moldovän: A magyarorszägi romänok. 
(Die Rumänen in Ungarn.) 1913. 149. »Unter einem Jahre darf man einem Kinde 
nichts abschneiden, z. B. auch keinen Heftel vom Kleide, sonst schneidet man ihm 
von seinem Olüce etwas ab.« Ebendort Nagel und Stehlenlernen. J»ASE. 
Köhler: Volksbrauh, Aberglauben, Sagen etc. im WVoigtlande. 1867. 424. 
Seyfarth: Aberglaube und Zauberei in der Volksmedizin Sachsens. 1913. 58. 
R. Andree: Braunschweiger Volkskunde. 1901. 292. Nagy: Bäcsmegyei babonäk, 
(Aberglauben aus dem Komitat Bäcs.) Ethn. 1896. 97. Zu den Spiegeltabus 
Koben) vgl. noh: »Der Spiegel muß verhängt werden, denn er bebt vor seinem 
Spiegelurangutang (Schneider)«. Rank: Doppelgänger. Imago. 1914 107. »Sieht 
ein kleines Kind viel in den Spiegel, so wird’s ein Affe« R. Andree: Braun 
schweiger Volkskunde. 1901. 293. 

2 O. Rank: Die Nactheit in Sage und Dichtung. Imago, 1913. 445, 

° Nämlih: 1. Wunsch, 2. Verdrängung, 3, Rückkehr des Verdrängten. 

* Sully: Studies of Childhood. 1912. 112, vgl. S. 309, Vgl. Jekels: 
Narzissismus bei einem kleinen Kinde. Int. Zt. £ ärztl. Psychoanalyse, 1913, 
375, 376. Vgl. noch die Experimente mit Affen vor dem Spiegel. Ch. Darwin: 
The Descent of Man. 1898. II. 443. Hachet-Souplet: Untersuchungen über 
die Psychologie der Tiere. 1909. 106. 


Imago V/2 6 


m. 


Zusammen- 
fassung der 
bisherigen Er- 
gebnisse. 


"Verfahren, daß sie audh 


Das Infantile in 

der psychischen 

Einstellung des 
Sehers, 


Die Seher der 
Primitiven. 


32 Be: Dr. Göra Röhem 


Sullys: Das Kind, das sein Ebenbild im Spiegel anlähelt und küßt, 
es überdies noh beschenkt und die Geschenke im Namen des 
Ebenbildes auh annimmt‘, erkenne nicht seine eigene Identität mit 
dem Bild im Spiegel, läßt sih also kaum annehmen. Wir möchten 
im Gegenteil sagen, das Kind handle deshalb so, weil es sih er- 
kennt. Eben darin sehe ich das Übergewicht der auf die Psydho- 
analyse gestützten Erklärungen gegenüber dem bisher gebräudlichen 

die geringen Einzelheiten als verständ- 
lihe, den gesamten Zusammenhang aber als einen determinierten, 
notwendigen erscheinen läßt. 


ll. Der Spiegel des Sehers. 


In den jetzt folgenden positiven Riten sind die Seher Er- 
wachsene, die der Beihilfe von Kindern nicht mehr bedürfen. Wir 
können gleih hinzufügen, sie bedürfen ihrer deshalb nicht, weil sie 
selbst in ihrem Innern genügend von dem infantilen Narzissismus 
und der Schaulust bewahrt haben. Sie haben sich dieses Stadium 
entweder so bewahrt, daß sie die Verdrängung dieser Wünsche 
überhaupt niemals vollzogen haben, oder. aber deshalb, weil ihre 
ursprünglihe psydhishe Einstellung die Hemmungen durhbrehend 
aus der Verdrängung zurückkehrt. Vom Standpunkte des erwad- 
senen Sehers ausgehend, läßt sih auch unschwer eine neue psycdo- 
logishe Erklärung der bei der Spiegelshau beteiligten Kinder 
gewinnen, wenn wir sie nämlich autosymbolish als Objektivationen 
des Infantilen im Seelenleben der Erwachsenen betrachten. Bei den 
verschiedenen Abarten der Schamanen, Zauberer und Priester ist 
das Spiegel- und Kristallshauen so sehr verbreitet?, daß wir mit 
dessen Hilfe geradezu den psydishen Sondertypus des Sehers 


ı Wir finden eine primitive narzissistishe Wurzel des Opfers in dieser 
Form, die dem eigenen Selbste opfernd die Freude des Empfangens mit dem 
Stolz des Gebens vereint und mit dem Schmelz der Entsagung überzieht. In Rom 
ist der Geburtstag das Fest des Genius’, der verbrauchte Weihrauh und Kuchen 
das dem Genius dargebrahte Opfer. H. Usener: Götternamen. 1896. 297. 
Wissowa: Religion und Kultus der Römer. 1902. 155. Schmidt: Geburtstag 
im Altertum. 1908. 9. 23. Die Batak opfern Geschmeide, Kleider, Speisen, lebende 
Tiere usw., dem eigenen »tondi«e. J. Warneck: Die Religion der Batak. 1905. 
55-60. Die Tshi bringen am Geburtstage der eigenen Seele Opfer dar. A. B. 
Ellis: The Tshi Speaking People. 1887. 15. 149, 153-157, zitiert bei Crawley: 
The Idea of the Soul. 1909, 175. Die Asaba opfern »ihrem Glük«. I, Parkinson: 
On the Asaba People of the Niger. Journ. Antrop. Inst. XXXVI 312-314. 
Vergleiche die Opfer der Tshi und Ewe an das eigene »Aklama« (Seele, Glück, 
Schutzgeist). Westermann: Die Begriffe Seele, Geist und Schicksal bei dem Ewe 
und Tshivolk. A. R. W. VIII. 105. 106. Hinsichtlih des dem persönlichen Schutz= 
geist dargebrachten Opfers vergleihe Waitz: Anthropologie der Naturvölker. 
1859. II. 182. 1. L, Wilson: Western Africa. 1856. 387. F. Boas: The Eskimo 
of Baffın Land and Hudson Bay. Am. Mus. Nat. Hist. 1901. XV. 156. 511. 
W, Bogoras: The Chukcee. (Jesup Nort-Pac. Exp. Vol. VII) II. Religion. 
1907. 422. 

2 Leider war mir N. W. Thomas: Crystal-Gazing 1909 zurzeit nicht 
zugänglich. 


Be 


Spiegelzauber 83 


abgrenzen können. Bei den Euahlayi in Australien gebraucht der Australien und 
Schamane zum Kristallshauen den größten und wertvollsten der j 
Zaubersteine, aus dem der »yowee« (Seele) aufsteigt, um den 
Menschen, von dem wir etwas zu wissen wünschen, aufzusuchen 
und uns sein Bild im Kristall zu zeigen!. Diese »gubberah« sind 
gescliffene, halb durchsichtige Kristalle, in denen die wiswirreenun, 
die Weisesten der Seher, Vergangenheit und Zukunft und die 
Bilder der verborgenen Dinge sehen?. Murri-kangaroe erzählt die 
Geschichte seiner Weihe, bei der sein Vater die Quarzkristalle, die 
er ihm später in Wasser trinken ließ, in den Körper zauberte. 
»After that I used to see things that my mother could not see«®, 
In West Maitland (Westaustralien) krieht der Seher in die ge- 
scliffene Steinkugel, um den zu erwartenden Ausgang des Uhnter- 
nehmens zu sehen. Die Fijier kennen ein Kristall, woraus das Heilmittel 
jeder Krankheit ersichtlich ist5. In Tahiti gräbt der Priester ein Loc in 
den Boden des Zimmers und gießt Wasser hinein. Dann bringt ihm die 
Gottheit die Seele des Diebes und läßt sie sich im Wasser spiegeln®. 
In Samoa fängt Sinasengi die Schatten der Ereignisse in ihrem 
Zaubertümpel und fixiert sie an der Wasserflähe. Wer den Stein, 
der den Tümpel bedeckt, entfernt, sieht Tänze, Wettspiele, Kämpfe 
und Versammlungen im Wasserspiegel”., Die Medizinmänner in 
Nias benützen silberne Spiegel. Der Schamane in Borneo 
trägt den magischen Stein, der ihm die Ursahen der Krankheiten 
anzeigt, im Zaubersäkchen?. Er schaut in den »bata ilau« (Stein 
des Lichtes) und erblickt dort, wo sich die Seele des Kranken be- 
findet und welche Riten seine Gesundheit wieder herstellen könnten". 
Die übernatürlihe Macht des Kristalles zeigt das Wesen der Krank- 


ı K. L. Parker: The Euahlayi Tribe. 1905, 36. 

2» K. L. Parker: The Euahlayi Tribe, 1905, 26, 

®> A. W. Howitt: The Native Tribes of South Bast Australia, 1904. 
406. Wiradyuri. In den Weihen sceint eine Übertragung auf den Vater stattzu= 
finden, wobei der Jüngling übergangsweise in eine passive, weibliche Rolle ges 
drängt wird. »He placed two large quartz crystals against my breast and they 
vanished into me, I do not know how they went, but I felt them going 
through me like warmth.« Von nun ab sieht er die Geister der Toten und 
erbt auch den individuellen Totem seines Vaters. Ebenda, 

* A. Lang: The Making of Religion. 1909. 83, Vgl. dazu über den Stein 
im Körper des Schamanen. Röheim: A varäzserö fogalmänak eredete, Ursprung 
des Manabegriffes) 1914. 57-60. In diesem Falle findet eine Umkehrung des 
ursprünglichen Motives statt (Vgl. Freud: Traumdeutung. 1911. 257 und L. 
Frobenius: Die Weltanshauung der Naturvölker. 1896. 396), der Zauberer 
vershwindet im Zauberstein. 

5 D. Jenness: The Magic Mirror: a Fijian Folk Tale. Folk-Lore. 1913. 233, 

° Ellis: Polynesian Researches. 1830. II. 240. 

” G. Turner: Samoa. 1884. 101, 102, 

® Folk-Lore. 1910. 2. 

° MH. Ling=-Roth: The Natives of Sarawak and British North Borneo. 
1896. I. 269, 

1 BE. H. Gomes: Seventeen Years among the Sea Dayaks of Borneo, 
1911, 165, 166. 


6° 


Amerika. 


84 Dr. Geza Röheim 


heit und ermöglicht das Zurücholen der fliehenden Seele!. Bei den 
Lenguas in Südamerika verlangen die Träumer oft die Hilfe des 
Zauberers, besonders wenn ihre Seele auf der Wandershaft von 
bösen Geistern belästigt wurde. Sie glauben nämlich, daß dieser in 
der spiegelnden Flähe seiner glänzenden Metallohrringe die Schatten 
der vorbeiziehenden Geister sehe?. Bei den Huille-he in Südamerika, 
ebenso wie im europäishen Volksglauben sind es die Schatzgräber, 
die einen glatten schwarzen Stein anstarren®., Der lossakeed der 
Apaden hat keine Theorie für die Operationsweise des Kristalles 
und sagt nur soviel, daß er darin alles sehe, was er wolle. In 
Yucatan heißt der Wahrsager h’men (aus dem Zeitworte men = 
wissen). Er ist »der Wissendes, der sein Wissen auh in Taten 
umsetzt. Seine wichtigste Handhabe ist der Zaztun (zaz = hell, 
durchsichtig, tun = Stein). Unter Hersagen im altertümlihen Dialekte 
gehaltener Zaubersprühe und Verbrennen von Copal wird der 
Quarzkristall oder ein anderer durcdsictiger Stein geweiht, und 
auf diese Weise Vergangenheit und Zukunft widergespiegelt, der ' 
Seher aber, der seinen Blick in die durchsichtigen Tiefen des Steines 
dringen läßt, sieht dort die verlorenen Gegenstände, erfährt das 
Schicksal der Abwesenden und erblickt den dem Fragenden feindlich 
esinnten Zauberer®. Der heilige Obsidian der Cakquicel, ihr 
tammesorakel, steht nah ihren Sagen in mystishem Zusammen- 
hang mit dem Ursprung des Menscengesclectes®. Die Cherokee 
finden den Ulünsu’ti (durchsichtig), d. h. den Kristall im Kopfe der 
Uktena »der scharfblikendens« Schlange. Im Besitze eines solchen 
Kristalles kann man die »little peoples (Zwerggeister) zitieren. Der 
Kristall bringt Glük in der Liebe, bei der Jagd, beim Regenmachen 
und allen anderen Unternehmungen, sein Hauptzwecd aber ist, den 
Blik in die Zukunft zu gewähren, denn die Zukunft spiegelt sich 
im durchsichtigen Kristalle wie der Baum im glatten Spiegel des 
vorbeifließenden Baches. Der Zauberer erblikt im Kristalle die ge- 
suchte Person oder Ereignis und je nach der Entfernung des Bildes 
von der Oberfläche stellt er die räumliche oder zeitliche Entfernung fest”. 

ı Ling-Roth: Natives of Sarawak, 1896. I. 273. 

2 W, Barbrooke-Grubb: An Unknown People in an Unknown Land, 
1911. 149. 

® Fitzroy: Adventure. Il. 389 ex Lang: The Making of Religion. 1909. 84. 

* Bourke: The Medicine Men of the Apache. Rep. Ethn. Bureau. 1887/88, 
IX, 461. 

5 D. G. Brinton: Essays of an Americanist. 1890. 165. 

%# E. S. Hartland: The Legend of Perseus. 1895. II. 17. 

? Mooney: Myths of the Cherokee. XIX. th. Report. Bureau of Ethn. 1900. 
289, 460, 461. Das Räumliche wird also ins Zeitliche projiziert, beziehungsweise das 
Zeitlihe wird vom Unbewußten auch räumlich apperzipiert. Die schlafende Schlange 
zu erbliken bedeutet den Tod, aber nicht dem Zauberer, der den Schlangenstein 
«Uläßsu’ti) sucht, sondern seiner Familie. Ebenda. 298. Das schlafende Wundertier 
ist wohl das Verdrängte, Schlummernde im Zauberer, denn wenn er dieses erblickt, 
d.h. die endopsydhische Zensur durhbricht, werden die Todeswünsche frei, und seiner 
Wünsche Gewalt bringt seiner Familie den Tod. Zu den Schlangen, deren Anblick tot= 
bringend ist, vgl. Dorsey: A Study of Siouan Cults. Rep. Ethn. XI. 1894. 393, 441. 


ge 


Spiegelzauber > 85 


Die Tuscarora legen einen Kristall in Wasser, worauf auf dessen 
Spiegel das Bild des bösen Zauberers ersceint!'. Die Latoka 
haben durchsichtige Steine, die ihnen den Dieb zeigen?. Die Gangas 
in Westafrika zitieren das Bild des Diebes in einem Spiegel, der Afrika. 
an dem Baude des Fetishes angebraht ist”. Der Befestigungsort 
des Spiegels weist auf den Baud als Seelensitz hin, wie dies schon 
Haberland rihtig bemerkt hat‘. Der. Manganja-Seher schüttelt den 
mit Kieselsteinen gefüllten Kürbis und shöpft dann seine Antwort 
aus dem im anderen Kürbisse befindlihen Holz-, Bein- und Glas- 
stükchen?’. Die Seher der Malimba schauen Zauberer und Ver- 
breder in einer mit Wasser gefüllten Schüssel®. Die Wadschagga 
haben fünf Klassen von Wahrsagern. Die erste ist die der Wasser- 
seher. Der Wasserseher schöpft Wasser mit einem großen Schöpf- 
löffel, und schlägt dieses Wasser dann mit einem Drazänenblatt, 
wobei er unverwandt in das bewegte Wasser schaut, bis ihm darin 
der Geist erscheint, dem das en lSkbrrde Opfer zu bringen ist”. 
Die Boloki gießen Wasser in die Zaubershüssel und nad- 
dem sie den Seelen und Geistern ein Palmweinopfer bringen, 
erscheinen diese in der Schüssel, welche aber nur vom Schamanen 
betrachtet werden darf®. Lobengula, der Matabelehäuptling pflegte 
in einen tiefen Teich zu schauen, um den Ausgang der Schlacht 
zu erkunden’. Die Kagoropriester gießen Mehl in ein mit Wasser 
gefülltes Gefäß und wahrsagen daraus!‘, Bei den Zulus schaut der 
Häuptling in einem Beken die Zukunft!! und in Madagaskar findet 
sih das Wahrsagen aus Kristall!?, In China steigt die Gottheit in Asien. 
das mit reinem Wasser gefüllte Gefäß, in ihrem Namen beantwortet 


Er ES E. A. Smith: Myths of the Iroquois. II. Rep. Bureau of Ethn. 1883. 

2 J. O. Dorsey: A Study of Siouan Cults. XI. Report. 1894. 447, 

® A. Bastian: Der Papua. 1885. 69. Pechuel-Loesche: Die Loango= 
ton. 1907. IL 365, 366. R. H. Nassau: Fetihism in West=-Africa. 

* K. Haberland: Der Spiegel, Zt. f. Vps. XIII. 1882. 330. In Guiana 
legt man dem Toten einen Spiegel aufs Herz. R. Schomburgk: Journal of the 
Ethnological Society. 1848. I. 275. Der chinesische Kriegsgott Quanti hat ein 
Glasstük am Bauch. Smith: Basler Missionsmagazin. 1848, 125. Beide ex Haber- 
land; loc. cit. 

> H. W. Garbutt: Native Witchcraft and Superstition in South Africa. 
Journ. -Anthr. Inst. 1909. 558. 

® Schneider: Die Religion der afrikanishen Naturvölker. 1891. 244. Das 
Ausland. 1888 145. h 

” Gutmann: Wahrsagen und Traumdeuten bei den Wadshagga. Globus. 
XCIH 1907. 166. 

8 J. H. Weeks: Among Congo Cannibals. 1913. 286. 

® M. R. Cox: An Introduction to Folk=Lore. 1897. 25. 

A. I. N. Tremearne: Notes on Some Nigerian Head Hunters. Journ. 
Anthr. Inst. 1912. 160. 

H Callaway: The Religious System of the Amazulu. 1870. 341. 
2 .'® Lang:. Making of Religion. 1909, 84, 85 nah Flacourt: L’Histoire 
de la Grand Ile Madagascar. 1661. 76. 


Er re FT I Er FERN 
86 Dr. Geza Röheim 


das Medium die gestellten Fragen!, und taoistishe Zauberer trugen 
Spiegel am Rücken®. In Hinterindien hat man im Inventar eines 
Kabuizauberers einen Spiegel gefunden, der wahrscheinlich dazu 
diente, die Seele des zum Opfer bestimmten Menschen aufzufangen‘. 
Ein wesentliher Bestandteil des Shamanenkleides bei den Golden 
und auh bei den Karagassen Südsibiriens ist der runde Bronze- 
spiegelt. Der Zauberer der Tshuwaschen erblikt die Ursahe der 
Krankheit aus einem Glas Wasser, und dasselbe Verfahren findet 
sih auc bei den Tscheremissen®. Die Syrjänen entdecken den Dieb 
oder verborgene Schätze durh Wassershau’. Bei den Tataren in 


Kazan sieht der Zauberer aus dem Spiegel, wo das Gestohlene sih 


befindet und wer den Kranken verhext hat®. Kalikuter Magier zeigten 
dem Volke in einem mit Wasser gefüllten Gefäße Vasco de Gamas 
ankommende Sciffe?. Die Geisterbeshwörer in Tibet schauen die 
Ankunft Gottes aus ihren Spiegeln!. Laut Angabe Ibn Khaldouns 
bedarf der wahrhaftige Seher keiner äußeren Hilfe, um den über 
unsere sinnlihen Wahrnehmungen gelegten Schleier zu durchdringen, 
während die übrigen, weniger een (Seher) alle ihre Per- 
zeptionen in einen einzigen Sinn, in das Gesicht verdictend, ihr Ziel 
zu erreichen traten. In dem Nebelscleier, der sih zwishen dem 
Seher und den Spiegel herabläßt, sehen sie dann mit ihren geistigen 
Augen das Gewollte!!, Aud die Malaien kennen die Hydromantie, 
doch wie es scheint, durch arabishe Vermittlung. Die Beschreibung 
Swettenhams zumindest spriht von einem Araber, der es unter- 
nimmt, nad dreitägiger Einsamkeit, Fasten und Gebet den Ort 
anzugeben, wo sich ee gestohlene Gut befindet. Er nimmt in die 
Hand ein beschriebenes Papierblatt, auf das er Wasser gießt, in 


1 Goltz: Zauberei und Hexenkünste, Spiritismus und Chamanismus in 
China, Mitteilungen der deutshen Gesellschaft für Natur und Völkerkunde Ost- 
asiens. VI. 28 ex Zachariae: Witwenverbrennung. Zt. d. V. f. Vk. 1905. 84. 

:J. J. M, de Groot: The Religious System of China. Vol. VI. Book. II. 
1910. 1000. 

» T. C. Hodson: The Naga Tribes of Manipur. 1911. 142, 

„* Meszäros: A magyar kerek tükör. (Der ungarische Rundspiegel.) Nep- 
rajzi Ertesitö. 1914. 13 nah V.K. Vasiliev: Kratkii oderk karagasov. 1910, 29. 

® Meszäros: A csuvas ösvalläs emlekei. (Urreligion der Tschuwascen.) 
1909. 269. 

° Mikhailowski: Shamanism in Siberia and European Russia, Journ. 
Anthr. Inst. 1894. XXIV. 155. Nah Rychkov: Zhurnal ili dnyevnyya zapiski. 86. 

”D. R. Fuchs: Eine Studienreise zu den Syrjänen. Keleti Szemfe, XVI. 98. 

| ® M£&szäros: A magyar kerek tükör. (Der ungarische Rundspiegel.) Nepr. 
Ert. 1915. 40. Nach eigenen Sammlungen. Diese Parallelen sind allerdings nicht 
»asiatish« im geographischen Sinne, aber doh wohl im kulturhistorisch-ethno- 
graphischen. 

® E. S. Hartland: The Legend of Perseus. 1895. II. 16. Avebury: The 
Origin of Civilisation. 1902. 263 nah De Faira: Astleys Collection of 
Voyages. I. 63. 

1% Zachariae: Witwenverbrennung. Z. v. V. f. Vksk. 1905. 84. Zitiert 
nah Waddell: Buddhism of Tibet. 1895. 482. 

.0.',Vgl. Rubin: Gescicte des Aberglaubens. 31. A. Lang: The Making 
of Religion. 1909. 340-343 bringt nah Lefebure den ganzen Text. 


Spiegelzauber 87 


welhes er hineinstarrt, worauf ihm ein altes Männden ersceint, 
ein Dshin, der ihm sodann auf der Wasserflähe die ganze Dieb- 
stahlsszene vorspielt. Laut Pausanias erfuhren die Griehen in 
Patrai beim Heiligtum der Demeter das Schicksal des Kranken in 
der Weise, daß sie einen Spiegel auf die Oberfläche des Wassers 
niedergleiten ließen und je nachdem, wie der Kranke in dem Spiegel 
recht bei Fleishe oder aber bleih und shwad erschien, prophezeite 
man ihm Genesung oder Tod. In Kyaneai in Lykien befand sich 
eine Quelle, wo derjenige, welcher hineinshaute, alles sah, was er 
zu wissen wünschte?. Pythagoras (550 ante Chr.) soll um Voll- 
mond aus einem blank polierten Spiegel die Katoptromantie be= 
trieben haben?. In Rom nannte man diese Weissager »specularii«*, 
und deren Existenz ist noh um das Jahr 450 (post Christum) in 
Irfand bezeugt’. Die um 1270 entstandene »Summa de officio in- 
quisitionis« erwähnt die mit Spiegeln, Schwertern, Fingernägeln, 
Eifenbeinkugeln, Wasser, Ringen usw. betriebene Zauberei‘. Im 
Jahre 1326 erläßt Papst Johann die »Super illius speculas, in der 
er die Menschen tadelt, die den Dämonen opfern, in Ringe, 
in Spiegel und Fläschhen, Dämonen einscließen und von 
diesen Antwort auf ihre Fragen, Hilfe in ihrer Not erwarten”. 
In 1398 werden diese Praktiken von der theologischen Fakultät in 
Paris als Götzendienst verurteilt?. Im Jahre 1411 schreibt Vintler 
in den »Pluemen der Tugent« »und will die sehen in die Spiegel, 
Manigen wunderleihen triegels®, in 1471 wird in Frankfurt eine 
Frau der Zauberei geziehen, die angeblih aus dem Spiegel die 
gestohlenen Gegenstände erkennt‘. Thomas von Haselbah erwähnt 
gleichfalls den Zauberspiegel, der den Dieb anzeigt: »Item omnino 
reprobantur benedictiones speculorum ad inueniendum furtum«!". 
Ebenso berichtet Gervasius von Tilbury in den Otia imperialia 
über Spiegel und Schwertklingen beim Wahrsagen'?., Audh der 


ı W, Skeat: Malay Magic. 1900, 38. 539, 

2 Pausanias: VII. 21. 12, 13. Erwähnt bei W. E. Hazlitt: Brands 
Popular Antiquities of Great Britain. 1905. I. 274, der nah Potter: Greek 
Antiquitates: 1. 315 zitiert. 

»M.R. Cox: An Introduction to Folk=Lore. 1897. 26. 

* Ducange: Glossarium mediae et infimae latinitatis. VII. 1886. 549. 

5 A. Maury: La Magie et Astrologie dans !’Antiquite et au Moyen 
Age. 1864. 438. £ 

° J. Hansen: Zauberwahn, Inquisition und Hexenprozeß im Mittelalter. 
1900. 242. . 

" Hansen: Ebenda. 255. »cum morte foedus ineunt et pacium faciunt 
cum inferno.« 

s Maury: La magie, 1864. 440. 

% Zingerle: Sitten, Bräuche und Meinungen des Tiroler Volkes. 1857. 196, 
197. Zeile 314, 315 in Zingerles Ausgabe. 

1% Soldan-Heppe: Geschichte der Hexenprozesse. 1911. I. 231. Hansen: 
Quellen und Untersuchungen zur Geschichte des Hexenwahns im Mittelalter. 1901. 579. 
Mitteilungen des Vereins für Geschichte und Altertumskunde von Frankfurt. V1.1881.72. 

ıı A, Franz: Die kirchlichen Benediktionen im Mittelalter. 1909. I. 469. 

2? Maury: |. c. 440. 


Der Spiegel 
des Sehers in 
Europa. Alter- 

tum und 

Mittelalter. 


Spiegel und 
Seher im heu- 
tigen Volks- 
glauben, 


88 Dr; Geöza Röheim 
en re... 


primitive Steinspiegel taucht neuerdings auf in der Wahrsagung aus 
dem glänzenden Stück Kohle oder Stein. Einen solhen gescliffenen 

tein nennt Butler den Spiegel des Teufels! In Bayern verbietet 
im Jahre 1611 Maximilian solche Praktiken, wie das »wahrsagen 
durch spiegel oder glass oder durdh dristall oder parillen«. Be- 
sonders die »fahrenden Schülers betrieben solhes?. Anno 1564 
bekennt ein altes Weib in Görlitz, daß sie einen Zauberspiegel 
besäße, mit dessen Hilfe sie verlorene Sachen wieder verschaffen 
könnte®, In Mecklenburg legt Kröger am 13. Oktober 1570 in 
einem Hexenprozesse das Geständnis ab, wie er die Kristallschau 
gelernt hat. Wenn er den Namen des Verdäctigten weiß, nimmt 
er den Kristall und beshwört ihn. »Der hillige liham, dat hillige 
testament, dat sacrament und der leve vader im hemmel, do dik 
up, im namen dess vaderss, des sohns und des hilligen geistes.« 
Dann erscheint im Kristall ein weißer Engel, sowie das Bild des 
Sculdigen und der Engel zeigt auf den Menschen“. Bei Gertrud 
Schwarth (23. Dezember 1587) hat man Haselruten und Kristall 
gefunden, diesen hat sie beim Besuh von Kranken entnommen, 
ob die Stunde eine glücklihe oder unglüklihe sein werde>, 
Chettle (1592) erwähnt gleichfalls den magischen Kristall und nad 
Akten aus der Zeit der Königin Elisabeth von England erscheint, 
»the spryte Oryance« im Kristall und zeigt, wo sich das verborgene 
Geld befindet‘. Laut Pico di Mirandola kann man aus einem 
astrologishen Spiegel die Zukunft ersehen. Potet und Cagliostro 
bedienten sich gleichfalls dieses Mittels der Prophezeiung’, In 
Mecklenburg, in Ostpreußen, in Friesland, in Schlesien zeigt der 
Magier dem Fragenden im Zauberspiegel die gesuchte Hexe, den Dieb 
oder den zukünftigen Gatten®. In Leeminster gab es einen »weißen 
Hexenmeister«, der in den Kristall (Beryliy shaute und daraus auf 
die gestellten Fragen antwortete. Aubrey bescreibt einen solchen 
»Berill«, der sich im Besitze Sir Edward Harleys befand, In dem 


1 Hazlitt: Brands Popular Antiquities. 1905. I. 46. Kiesewetter: Faust 
in der Geschichte und Tradition. 474. 
® Ebermann: Zur Aberglaubenliste in Vintlers Pfuemen der Tugent. Zt. 
d. Ver. f. Volksk, 1913, 134, 
- ®R. Kühnau: Sclesische Sagen. 1913. III. 258, 
* K. Bartsch: Sagen, Märchen und Gebräude aus Medklenburg. 1880. II. 8, 
® Bartsch: Ebenda. II. 33. Laut dem Texte läßt sih der Nebensatz 
eher auf die Rute beziehen. 
°G. F. Black: Scottish Charms and Amulets. Proceed. Soc. Ant. Scot. 
XXVIL 436. f 


?” Rubin: Geschichte des Aberglaubens. 31: Maury: La magie et [’Astro- 
logie. 1864. 441. Vgl. noch Grimoire ou la Magie Naturelle. A. La Haye. 309, 
P. G. Schott: Magia universalis naturae et artis. 1677. IV. 553. M, Delrius: 
Disquisitionum magicarum libri sex. 1603, Tomus Secundus. Lib. IV. C. IL Q. 
V126,19..170. 217100M: J. Praetorius: Der abenteuerliche Glücstopf. 1669. 
XXV.Cap. 188. N. Remi gius: Daemonolatria oder Beschreibung von Zauberern 
und Zauberinnen. 1693. II. 314, 

® Wuttke: Volksaberglaube, 245. 246, 

” Leather: The Folk-Lore of Herefordshire. 1912, 66. 


MR Spiegelzauber 89 


Kristall erblikte man das Heilmittel oder die Beschreibung des zu 
beobadıtenden Verfahrens. Engel meldeten dem Besitzer seine 
Todesstunde. Der Berill ist eine vollständige Sphäre. An den vier 
Eden sind die Namen Gabriel, Raphael, riel und Michael ange- 
bradıt!. In den Ardennen geht der Mensch, der behext worden ist, 
zum »marecdal de Verlees, der ihm in einem Spiegel das Bild des- 
jenigen zeigt, welcher ihm den bösen Zauber zugefügt hat?. In 
Böhmen zeigt ein in den »Erzspiegel« (Hexenspiegel — nekroman- 
tisher Spiegel), der Wunderdoktoren oder »weiser Männer« ge= 
worfener Blik den Dieb (Schönwerth, Egerland)®, Der weise Mann 
oder die kluge Frau schaut in den Stein, in den Kristall oder in 
den Spiegel, murmelt seine Beshwörungen und sieht die Gesicte‘. 
In Scleswig-Holstein stellt der Hexenmeister ein Sieb über 
das Wasser und erkennt den Dieb darin’. Aus Deslawen gehen 
manhe nah Saaz, ja sogar nah Wien zu einem ehemaligen 
Scarfricter, denn dieser besitzt einen solhen Zauberspiegel®. Der 
Darmstädter Scharfrihter sieht die verirrte Frau in einem Eimer 
Wasser”. Im Tal von Harmersbadh sieht der »Hetlishsbur« in dem 
aus reinem Bergkristall angefertigten »Bergspiegel« jede Krankheit 
und deren Heilmittel. Nodh berühmter ist der »Schwabendoktor« 
in Kinzigthal und in der Murgegend, der gleichfalls mit dem Berg- 
spiegel arbeitet. Der Schmied von Waldulm hat von ihm nur einen 
fehlerhaften »Bergspiegel« bekommen, deshalb ist sein Ruhm aud 
minder groß. Auh das Elzthal hat seinen » Weltspiegel«-Inhaber. 
Andere ließen den Fragesteller in Glas shauen. Nach Meyer zeigten 
solche Spiegel ursprünglich die in der Tiefe der Berge verborgenen 
Schätze und erst später auch die Diebe, die Hexen und die bösen 
Zauberer®. Diese Annahme ist jedenfalls irrig, denn ein Vergleich 
mit den primitiven Völkern beweist den entgegengesetzten Gang 
der Entwicklung. Bemerkenswert ist auch die Rolle des Schmiedes 
als Seher?. Im Jahre 1629 geriet in Calbah ein »krystallseher und 
zauberer« namens Breull in Untersuchungshaft, weil er mehrere 


1 Aubrey: Miscellanies. 1696. 129-131. Die Angabe aus 1645, zitiert 
Hazlitt: I. c. I. 275 und Leather: I. c. 66. 
2 A. Harou: Traditionnisme de la Belgique. La Tradition. 1903. 129. 
> A. John: Sitte, Brauch und Volksglauben im deutshen Westböhmen. 
1905. 276. 
2 * John:. Ebenda. D. s.: Volksglauben im Egerlande, Zeitschr. f. österr. 
Volksk. VI. 118, a 
5 Müllenhoff: Sagen, Märden etc. von Scleswig-Holstein. 1845. 200, 
Bertsch: Weltanschauung, Volkssage und Volksbrauh 1910. 137. 
$ John: Sitte, Brauch etc. im deutshen Westböhmen. 1905. 277. 
"J. W. Wolf: Hessishe.Sagen. 1853. 63 ex Bertsch: I. c. 137, 
Bea a H. Meyer: Badishes Volksleben im neunzehnten Jahrhundert. 1900. 
. 564. 
® Vgl. R. Andree: EthnographischeParallelen und Vergleiche. 1878.153— 159. 
©. Schrader: Sprachvergleichung und Urgeschicte. 1906. II. 13-28, A: P, Zvon= 
kov: Oterk vjerovanij krestyän Jelatomskavo ujezda Etn. Obozr. 1889. II. 71. 
B. Gutmann: Der Schmied und seine Kunst im animistishen Denken. Zeitschrift für 
Ethnologie. 1912. 81-93. A. E. Crawley: The Idea of the Soul. 1909. 111, 116. 


Schoß der Erde 
und 
Mutterschoß. 


9 Dr. Göza Röheim 


Frauen der Hexerei beschuldigte!. Er bekennt, den Kristall von 
einem Schmied in Altengronau, den man auch »der weise Mann« 
zu nennen pflegte, bekommen zu haben. In dem Kristall ist ein 
kleines, schwarzes »Dingelchens, wenn das zittert, kann man aus 
ihm erfahren, was dem Vieh fehlt. Die Spiegelshau kann nicht nur, 
wie bei den Schatzsuhern, nah dem Schoß der Erde, sondern in 
den Mutterschoß gerichtet sein, und es ist wohl kaum zu bezweifeln, 
daß wir darin die Urform des Brauhes gefunden haben, aus 
welhem das Schauen in den Schoß der Mutter Erde erst durch 
Übertragung entstanden 'sein kann. Die Zigeuner erkennen das 
Geschlecht des zu gebärenden Kindes, indem sie durch einen Trichter 
auf eine polierte Bleiplatte shauen, zuweilen sehen sie auf dieser 
auch das Gesicht des Dämons, der die von den Wehen ergriffene 
Frau quält?. Bei den Ga schaut der Wongtshä in einem Topfe 
mit Wasser die Ahnenseele, welche in einem Neugeborenen wieder 
zur Welt gekommen ist®, In Westafrika geht eine Eingeborne, die 
im Geheimen das Weib eines Europäers geworden war, zum 
Seher. Dieser sagt ihr aus dem Zauberspiegel, sie werde von einem 
Weißen geliebt, und er sehe in ihrem Schoß zwei Kindert. 
Der »Bergspiegel« zeigt die Lage des Schatzes im Schoß der Erde 
an und schützt vor den schatzhütenden Geistern, sowie vor dem 
bösen Blick der Hexen’. Nach dem ungarishen Volksglauben sieht 
derjenige, der am Gründonnerstag von der Frühe bis zum Abend 
mit einem Spiegel in der Hand auf einem Grabe sitzt, eine kleine 
Flamme in dem Spiegel, zum Zeichen, daß er noch im selben Jahre 
einen Schatz finden wird‘. Gleihfalls nach dem ungarishen Volks- 
glauben besitzen die Hexen einen solchen Spiegel, durch den hin- 
durch sie jeden in der Erde befindlichen Schatz sehen’. Zu Pfingsten 
kauft man vor Sonnenaufgang ohne zu handeln einen Spiegel und 
schreibt darauf die Worte — oh + Holon + Taller + Ihatal -- Thaler 
+ Theja + ganelei®. Der Spiegel ist zwar im allgemeinen das 
Attribut der »Hexenrieher«, der Seher, da aber die verschiedenen 
Typen der Priester und Zauberer ineinanderfließen, kann der 
Spiegel auch den Zwedken der Hexe dienstbar sein. In Nieder- 
österreich weiß der Volksglaube von neun » Walpurgisnähten«, so 
bezeihnet man nämlich die der Walpurgisnacht vorausgehenden neun 


ı W. Crecelius: Frau Holda und der Venusberg. Zeitschrift für deutsche 
Mythologie und Sittenkunde. I, 1853. 272. 

® Wlislocki: Volksglaube und religiöser Brauch der Zigeuner. 1893. 94. 

® W. Schneider: Die Religion der afrikanishen Naturvölker. 1891. 259. 
Nadı H. Bohner: Im Lande des Fetisch. 1890. 146, 219, 221, 224. 

*R. H. Nassau: Fetihism in West-Africa, 1904. 134, 

5 G. Graber: Sagen aus Kärnten. 1914. 221. 

° A. Hermann: Der volkstümlihe Kalenderglaube in Ungarn. Zeitschrift 
des Vereins für Volkskunde. 1894. 393. 394, 

” Ipolyi: Magyar Mythologia. (Ungarische Mythologie.) 1854. 442. 

® ]. Wieder: Kincsäsö babonäk &s räolvasäsok. (Aberglauben und Zauber- 
formeln beim Schatzgraben.) Ethn. 1890. I. 248. Vgl. noch über Schatzspiegel im 
vorigen Kapitel. S. 70, 72, 74, 75. 


Spiegelzauber 91 


Nädte!, Während dieser Zeit wird die heilige Walpurga durd die Geister 
verfolgt. In Mank hat einmal ein Mann eine weiße Frau gesehen, 
mit feurigen Schuhen, fangem wallendem Haar, auf dem Haupt eine 
goldene Krone, die von einer auf weißem Pferde reitenden Gestalt 
verfolgt wurde, und die Verfolgte hielt in den Händen einen Spiegel 
und ein Spindel, diese war die heilige Walpurga. Während dieser 
neun Tage können die Hexen von der Heiligen verschiedene Dinge 
erbitten, namentlih Walpurgis-Spiegel, -Fäden, -Kräuter und -Blumen. 
Die Walpurgis-Spiegel sind kleine dreiekige Spiegel aus denen sich 
jedes erfolgende Ereignis im vorhinein ersehen läßt. St. Walpurga 
trägt außer dem Spiegel auch eine Spindel mit sehr feinen Fäden. 
Ein solher Faden vermag den Menschen aus der Gefahr zu er- 
retten. Die Kräuter werden öfters mit Sand auf eine Pflugschar 
gelegt und über Feuer gestellt. Sobald das Gemenge anfängt übel 
zu riehen, so muß derjenige erscheinen, an den man denkt. Die 
Blumen erhöhen die Schönheit der Mädchen, der Faden dient zum 
Wahrsagen in Liebesangelegenheiten?. Obschon das differenzierende 
Moment in der psychischen Einstellung des Zauberers im Vorherrshen 
der Befriedigungsform? zu suchen ist, im Gegensatz zu den neurotischen 
Hemmungen der Tabu, so behält das Gesetz der Ambivalenz doch 
ihre Gültigkeit und die negativen Tendenzen lassen ihre Spuren im 
Ritus zurük. In Neuenburg zeigt der »Erdspiegel« den Teufel, 
dodı vorher müssen zwei Tiere hineinshauen, die der gräßliche 
Anblick sofort tötet‘. Laut Albertus Magnus muß in jeden Zauber- 
spiegel zuerst ein Hund oder eine Katze hineinshauen, damit dem- 
jenigen, der zuerst hineinschaut, kein Unglük treffe’. In einer aus 
dem Ende des seczehnten Jahrhunderts stammenden deutschen 
Handscrift finden wir denn auch die Anleitung, daß der Mensch, 


!ı Vergleihe hinsichtlih der entsprechenden ‚neuntägigen Winterperiode. 
Röheim: A Iuczaszek. (Der Hexenstuhl.) Ne£prajzi Ertesitö. 1916. »Am 1. Mai 
oder neun Tage vorher und neun Tage nachher, ebenso am Luzetage kommen die 
Hexen und wollen sih etwas borgen, was beim Vieh gebraucht wird, damit sie 
einem etwas antun können, da darf man ihnen nichts borgen, vor allem kein 
Feuer, kein Salz. (Vgl. Jones: Die Bedeutung des Salzes. Imago. I. 361. Das 
Feuer natürlich im selben Sinne zu deuten)«. W. v. Schulenburg: Wendische 
Volkssagen und Gebräuche. 1880. 159, 160, Vgl ebenda. 246, 247 über die 
Periode neun Tage vor Weihnachten. In diesen Tagen soll man die verschiedenen 
Liebesorakel unternehmen aber.auch wachen wieder die Hexen (die Vertreterinnen 
der mit negativem Vorzeichen versehenen Mutterimago),; funktionell entsprechen 
sie der Regression, daher ist ihr Auftreten am meisten zu befürchten, zur selben 
Zeit, wo man die Liebesorakel unternimmt, d. h die Libido zum Objekt fort= 
schreiten soll. 

2 Th, Vernaleken: Alpensagen. 1858. 109-112. 

» Vgl. Rank: Die Nadtheit in Sage und Dichtung. Imago. 1913. 455, 
Anderseits bildet diese vom Durcdscnittlihen abweichende Befriedigung die 
Kompensation anderer, gleichfalls außergewöhnlicher Hemmungen. Vgl. A. Horn- 
effer: Der Priester. 1912, I. 28. 46. Disharmonie. 

* Schönwerth: Aus der Oberpfalz. 1859. III. 41. 

>» K. Haberland: Der Spiegel im Glauben und Brauch des Volkes. Zeit- 
schr. f. Völkerps. XIII. 339, Nah Albertus Magnus: Ägyptische Geheimnisse 
für Menschen und Vieh. II, 19. 


Die verate- 
ung beim 
e Seher. 


Die Seherin 
von Dormänd, 


Die psychische 
Konstitution 
des Sehers, 


2 Dr. Geza Röheim 


bevor er den Zauberspiegel gebraucht, einen Hund oder eine Katze: 
hineinshauen lassen möge!. Alle diese Gebräuche deuten auf die 
neurotishe Verdrängung. Die Berechtigung einer auf die Psydıo- 
pathologie gestützten Methode wird durh den Fall der Seherin 
von Dormänd nur bekräftigt. Diese dormänder Seherin vermochte 
jedem über seine Toten Aufklärung zu geben: wo der Tote ruht, 
wo sich seine Seele befindet usw., mit einem Wort, sie bekundet 
sih als richtige Visionärin. Das Totensehen wurde bei ihr durch 
folgendes Trauma wacgerufen. Die Beschreibung sagt: Diese ihre 
»Begabung« zeigte-sich schon in ihrem Mädcenalter, sie und ihre 
Mutter kämmten sich eines Morgens, da sie aber nur einen Spiegel 
hatten, kämmte sich die Mutter vor diesem, die Tochter aber vor 
dem Glasdeckel des Marienbildes. Wie sie sih kämmen, erscheint 
auf der Glasplatte ein Totenkopf, worauf das Mäddhen in Ohn- 
macht fiel und erst nach längerer Zeit konnte man sie wieder zum 
Leben bringen. Von diesem Augenblik an sieht sie die Toten. Sie 
sagt dem Erzbischof, daß seine Mutter in der Nähe von Trencsen 
begraben ist und in den Armen ein kleines Kind hält, worauf der 
Erzbishof ihr verbietet, den Leuten Aufklärung über ihre Toten 
zu geben?. Wenn wir nun eine einheitlihe Erklärung der ganzen 
Situation versuchen, so kommen als auslösende Momente des Toten- 
sehens eine Regression der Libido, die in der unzweifelhaft 
narzißtisch gefärbten Lage des Kämmens vor dem Spiegel auf- 
tritt? und funktionell durch das Erscheinen des Totenkopfes sym- 
bolisiert wird, und die sexuelle Rivalität mit der Mutter in 
Betradht*. Unter Berücksichtigung der Rolle, welche die Mutter 


ı C. Bartsch: Zauber und Segen. Zeitschrift für deutsche Mythologie. 
III. 330. Vgl. dasselbe in Ungarn. S. Wieder: Kincsäsö babonäk &s raolvasäsok. 
(Aberglauben und Zauberformeln beim Scaatzgraben.) Ethn. 1890. I. 248. »Völe- 
genyidezes.« (»Bräutigamzitierung.«) 1910. 39. 

2 E.Benköczy: Egervideki babonäk. (Aberglauben in der Egerer Gegend.) 
Ethn. 1907, 102. Das »Können« (tehetseg = Können, Fähigkeit in der Literatur- 
sprahe Talent) der weisen Frau aus Novaj stammt daher, daß sie eines Sonntags 
sich eilends für den Kirchgang vorbereitete. Sie fand in der Schnelligkeit den Spiegel 
nicht und band sich vor dem Glase eines Heiligenbildes das Tuch zureht. (Nach 
anderen hat sie beim Kämmen in das Glas des Heiligenbildes wie in einen Spiegel 
geschaut.) In dem Heiligenbilde aber sah sie statt des eigenen Gesichts einen Toten= 
kopf und von da an wurde sie Totenseherin. (Halottlät6 = Totenseherin heißen 
diese Frauen, da ihre Sehergabe sich überwiegenderweise zu den Toten hinwendet.) 
Wenn dies tatsählih die Geschichte der weisen Frau von Novaj wäre, würde 
dies in hohem Maße die Wahrscheinlichkeit der im Text entwickelten Theorien 
bestätigen. Aber der Aufzeihner weiß, daß dies auch.die Geschichte der Toten- 
seherin von Dormänd ist und seiner Meinung nah wird sie irrtümlih über die 
von Novaj erzählt. Soviel steht aber fest, daß auch in den Visionen der novajer 
Totenseherin die Mutter Gottes neben dem Toten vorkommt, J. Fekete: Tudös- 
asszonyok. (Weise Frauen.) Ethn. 1910, 291. 

° Vgl. weiter unten die Liebesorakel. 

* Die Mutter bekommt den Spiegel, die Tochter bloß ein Ersatzobjekt. Die 
Situation entspricht dem Anfangsmotiv des Schneewittchentypus (vgl. ©. Rank: 
Ein Beitrag‘ zum Narzissismus. Jahrbuch für psydoanalytishe und psydhopatho= 
logishe Forschungen. III. 1. 1911. 406), insoferne Mutter und Tochter. hier Rivalen 


Spiegelzauber 93 


Gottes in diesen Visionen spielt, können wir dem noch hinzufügen, 
daß hinter der Rivalität mit der Mutter ein Sich=identifizieren, 
eine positive Libidoströmung der Mutter gegenüber zu vermuten 
wäre, während sich anderseits der Totenkopf als ein aus abge- 
lehnter Liebe entsprungener Todeswunsch darstellt. Ganz klar 
läßt sih aber aus alldem der Kern herausheben, eine Art experi- 
mentelle Verifizierung des Grundgedankens dieses Kapitels, daß 
nämlih das Differenzierende in der psychischen Konstitus 
tion des Sehers im Narzißmus zu suchen ist!. Ferner ist es 
auh wahrsceinlih, daß diese Totenseherinnen, deren Schaulust ur- 
sprünglich wohl auf Lebende, in erster Reihe auf die Eltern gerichtet 
war, indem sie. nun ihre Affektivität und Interesse auf die Dahin= 
geschiedenen übertragen, dasselbe auh den Lebenden entziehen 
müssen. So hält z. B. die jäszberenyer Totenseherin die Augen 
stets niedergeshlagen, als ob sie dem Blick Fremder ausweichen 
wollte und pflegt träumerish vor sih hinzushauen. Sie sieht seit 
Vollendung des siebenten Lebensjahres Geister und hat sich bereits 
so sehr an sie gewöhnt, daß ihre fortwährende Gegenwart sie nicht 
im geringsten in ihren Verrichtungen stört?. Der Narzißmus ist im 
allgemeinen bei den Frauen mehr ausgesprohen und die bisher 
bekannten Totenseher in Ungarn sind alle Frauen’. Das Tabu des 
Voghin zeigt den Narzißmus schon im Stadium der Verdrängung, 
denn wenn das Bild des in Wasser, in Öl, in einem Spiegel oder 
in zerlassener Butter schauenden VYoghin sich ohne Haupt zeigt, 
oder wenn ihm der Kopf scief sitzt, bedeutet dies den nahen Tod 
des Sehers*. Ebenso ist dem zukünftigen Zauberer, beziehungsweise 


sind, aber umgekehrt, denn bei der dormänder Totenseherin ist die bewegende 
Kraft der Handlung der Neid der Tochter, bei Schneewittchen »die verzweifelte 
Gegenwehr der Mutter (Rank: Ebenda.). Vgl. Bolte-Polivka: Anmerkungen 
zu den Kinder- und Hausmärcen, 1913. I. 450-464, E. Böklen: Schneewittchen- 
studien. I. (Mythologische Bibliothek. III. 2.) 1910. II. (Ebenda. VII. 3.) 1915. 
L. Ciorbea: Apa tineretelor si alte Povesti Poporale. 1904. 85, I. Läzär: Als 
söfeher värmegye monografiäja. 1899. I. 2. 597. Gewissermaßen ein männliches 
Gegenstük zum Motiv »Schönheitswettstreit« findet sih in einem orientalischen 
Märdentypus. Vgl. Solymossy: A szep ember meseje. (Das Märchen des 
schönen Mannes.) Ethn. 1916. 257-275. 

! Außerdem noc in der Schaulust, die sich als Partialtrieb sehr leicht mit 
dem Narzißmus verbindet. Das narzißtish gesteigerte Selbstgefühl durchbricht 
leichter die Hemmungen, die sih dem Bewußtwerden und noch mehr dem Erzählen 
der unbewußten Phantasiebildungen entgegenstellen, das Selbstshauen fördert die 
Tendenz des Visualisierens 

® A. Nyäry: A halottlätö. (Die Totenseherin.) Ethn. 1908. 94. 

3» A Nyäry: Ebenda. 95. In Besenyötelke findet sih aber doh ein Mann 
als Totenseher. Berze Nagy: Babonäk, babonäs alakok &s szokäsok Besenyötel= 
ken. «Aberglauben, abergläubishe Gestalten und Gebräuche in Besenyötelke.) 
Ethn. 1910. 27. Etwas anders liegt die Sache bei den Primitiven, die Männer be- 
sitzen hier auch unter den Sehern das Übergewicht. 

* Zachariae: Zur indishen Witwenverbrennung. Zeitschrift des Vereins 
für Volkskunde. 1905. 84, zitiert: Särngadharapaddhati. 4576. A. Bertholet: 
Religionsgeschictlihes Lesebuch. 1908. Geldner: Die Religion der Inder. 133, 
zitiert Aiteraya- ÄAranyaka. 3. 2, 10, 


Weiteres zum 
Thema des ver- 
drängten 
Narzißmus. 


Das unbewußte 
Wissen. 


94 Dr. Geza Röheim 


Priester verboten, das eigene Spiegelbild zu schauen!, Gleicfalls 
mit negativem Vorzeichen erscheinen dieselben Gefühle bei einem 
dalmatinishen Seher, nahdem die übermäßig energishe Verdrän- 
gung seine eigene Neigung zum Selbstbespiegeln in feindlidie Ein- 
stellung gegenüber ähnliher Gefühle der anderen gewandelt hat. 
Wenn die Fechsung schleht war, pflegte der alte Radivoj, der be- 
rühmte Seher, zu sagen: Verfluht sei, wer den Spiegel dem Volk 
gebraht hat! Wenn es keinen Spiegel gäbe, würden die Ähren 
zweimal im Jahre reifen. Die Mädchen vergaffen sich in ihr eigenes 
Spiegelbild, flechten sich noch mehr Haare in den Schopf und des- . 
halb versengt die Sonnenglut alles auf Feld und Flur?. 

Die bisher angeführten Beispiele zeigen das unbewußte Funk- 
tionieren der Psyche des Sehers. Da der Fragende aber häufig un- 
bewußt die Antwort auf das, was er vom Seher erfragen will, 
sehr wohl weiß, ist es natürlih, daß solche Antworten die größte 
Wirkung erzielen, die dieses verdrängte Wissen auf die Oberfläche 
bringen®, Deshalb schaut der Seher häufig nicht selbst in den 
Zauberspiegel, sondern überläßt es dem Fragenden, daraus die aus 
dem eigenen Unbewußten hervorbrehende Antwort abzulesen, 
Mande der östlihen Cherokee erklären die auf solhe Weise ge- 
wonnene Offenbarung als zutreffend. Drei Cherokee gingen zum 
Medizinmann, der sie in den Ulüäsu’ti (Kristall, Schlangenstein) 
bliken läßt. Alle drei sehen am Grund des Kristalls ihre eigene 
Gestalt. Der roten Linie folgend, steigen die Gestalten langsam im 
Kristall, doc nur eine erreiht die Oberflähe, die beiden anderen 
kommen nur bis zur mittleren Linie und sinken dann auf den 
Grund zurük. Es kam so wie der Medizinmann voraussagte, denn 
nur der Erzähler, dessen Ebenbild die Oberflähe erreicht hatte, 
überlebte den Feldzug‘. In Wagawaga wird folgendes aus Awai- 
ama stammendes Verfahren angewendet, um einen vermuteten Ehe- 
brudh zu beweisen. Der rote Saft der Blätter des »Popori«-Baumes 
wird in ein altes Gefäß oder eine Schüssel gedrückt. In der Ein- 
samkeit seines eigenen Hauses starrt dann der Mann in die Schüssel, 
dort sieht er das Bild seiner Frau und das ihres Geliebten, und 
wenn die Frau trotzdem leugnet, so läßt er sie in die Flüssigkeit 


RE sE Jolly: The Institutes of Vishnu. (Saced Books of the East. VII.) 
880. 226. 

2 F.S. Krauss: Tausend Märhen und Sagen der Südslawen. 1914. I. 
376. Beachtenswert ist die Verknüpfung zwischen dem narzißtischen, also unfruct- 
baren Spiegelshauen und der Unfruchtbarkeit der Erde. Das Steckenbleiben im 
Narzissismus wird durch die Sonne, als Vertreter der Vaterimago, bestraft (vgl. 
dazu Kapitel VIII). Die Objektliebe ist ja beim Mädchen die Wiederbelebung der 
Vaterimago, der Konflikt ist also der Konflikt des Narzißmus und des »Änleh- 
nungstypus«. Vgl. S. Freud: Zur Einführung des Narzißmus. Jahrbuch für 
Psychoanalyse. VI. 1914. 15. 

s Vgl. Silberer: Lekanomantische Versuche. Zentralblatt für Psychoanalyse. 
II. 1912, 383, 438, 566. 

* J. Mooney: Myths of the Cherokee. (XIX. Annual Report of the 
Bureau of Am. Ethn.) 1900. 461. 


Dies ezauker \ 95 


schauen und sie erblikt darin ihr eigenes Gesicht nebst dem ihres 
Geliebten. Der, den man durch dieses Verfahren entdeckt, traut sic 
nicht seine Shuld zu leugnen »inside belong him no good, man 
he savy«!, d. h. man appelliert zum Unbewußten als oberste In- 
stanz. In St. Gildas, wenn jemand wissen will, ob der Hund, der 
ihn gebissen, toll war oder nicht, so geht er zur Quelle und wenn 
er an Stelle seines Ebenbildes im Wasserspiegel einen Hund er- 
blikt, so ist: die Tollwut schon in ihm. Am Cap Sizun läuft 
der Gebissene dreimal um die Kapelle vom hig. Tugen und 
blikt dann in den Wasserspiegel, wenn er dort sein eigenes 
Antlitz erblikt, ist alles in Ordnung, wenn aber das Spiegelbild 
des Hundes sih zeigt, so war dieser schon früher beim 
Heiligen, der nun keine Macht mehr über die Tollwut besitzt?, 
Der Zauberspiegel (in Thüringen Erdspiegel, in Kärnten Berg- 
spiegel) ist in der Regel ein mit Schieber verscließbarer, ein- 
faher, viereckiger Glasspiegel, das charakteristishe Werkzeug des 
»Venedigers«. In Württemberg schreibt die weise Frau oder der 
weise Mann den Taufnamen des Fragestellers auf einen Zettel, 
dann schickt er den Betreffenden in ein anderes Zimmer, wo er im 
Spiegel Erscheinungen, wahrsceinlih Verstorbene sieht, die auf 
seine Fragen Antwort geben. Ein solcher Spiegel erhält seine 
Zauberkraft dadurh, daß man ihn um Mitternaht vor das Gesicht 
eines Leichnams hält®. Es ist bemerkenswert, daß die Spiegelschau, 
offenbar infolge der suggestiven Wirkung des Prestige des magischen 
Gegenstandes und des Sehers, gerade die am stärksten verdrängten 
Vorstellungen auf die Oberflähe bringt. So zeigt z. B. der Sicht- 
spiegel des Mannes in Schwarzwasser die wahren Diebe, »Leute, 
von denen man es kaum geglaubt hättest. Zwei Dorfbewohner be- 
gaben sih nacı Swansea, Weizen zu verkaufen, unterwegs aber 
scliefen sie ein und jemand stahl den Weizen aus ihren Säcken, 
das Geld aus ihren Taschen. Sie gingen darauf zu Dr. Harris, dem 
berühmten Seher. Dieser führte sie im Zimmer im Kreise herum 
und hielt ihnen einen runden Spiegel vor, damit sie hineinshauen 
mögen. Sie sahen in dem Spiegel nicht das eigene Gesicht, sondern 
die Landstraße, auf der sie gekommen waren, sich selbst, wie sie 
scliefen, und einen ihrer Nolan, den zu verdäctigen sie nie 
gewagt hätten, wie er. den Weizen und das Geld stiehlt’. In 


G. Seligmann: The Melanesians of British New Guinea. 1910. 
654, 655. 

® P Sebillot: Le Folk=Lore de France. II. 1905. 245. In Saint-Segal gilt 
gerade das Entgegengesetzte: Wenn. er den Hund im Wasserspiegel erblickt, bleibt 
er gesund. In Saint Gildas kann man sich loskaufen, wenn man einen Hahn opfert. 
Ebenda. Vgl. ante über ähnliche stellvertretende Opfer beim Schatzsuhen, und 
auh Ferenczi: Ein kleiner Hahnemann. Int. Zeitschr. f. ärztl. Psychoanalyse. 
1913. 240. ; 

3 Wuttke: Volksaberglaube. 245, 

4ıR. Kühnau: Sclesishe Sagen. 1913. III. 203, 204. 

5 Trevelyan: Folk-Lore and Folk-Stories of Wales. 1909. 215, 216, 


en 


96 Dr. Geza Röheim 


Schweigershausen wurde einem Mann sein Bienenkorb gestohlen. 
Er geht zum »weisen Mann« nach Gieboldshausen und dieser läßt 
ihn in den Spiegel schauen. Dort sieht er den eigenen Bruder mit 
dem Bienenkorb!. In Flums zeigt der Zauberer dem Bestohlenen 
auf sein Begehren im Berg- oder Weltspiegel den Dieb, dort sieht 
er, wie der Teufel an einer Furke seinen eigenen Bruder herhält:. 
In Medlenburg zeigt der Spiegel bei der Frage nach der Hexe, 
welche das Vieh oder die Menschen behext hat, häufig die Mutter 
der Fragenden®. Eine Rauriser Sage erzählt, daß der weise Mann 
in einem Glas Wasser das entfernte Heim zeigt und die auf dem 
Hausdadh herumgehende Hexe, wie sie einen Eimer Wasser in den 
Hof schüttet. Dieses hat das Vieh verzaubert‘. Ebenso zeigt der 
Zaüberer von St. Triphon in einer französishen Sage den Ver- 
zauberer der Kühe im Spiegel, doch früher muß der Beleidigte 
schwören, daß er keine bösen Gedanken gegen seinen Feind haben 
wird®. In Platznau sieht ein Hirte, wie das »Venedigermandels 
Gold wäscht und er bringt ihm den goldtragenden Sand nad 
Venedig. In einem fürstlichen Palaste sieht er den Venediger wieder 
und dieser zeigt ihm in seinem Spiegel, was seine Frau zu Hause 


un und Müller: Niedersächsische Sagen und Märchen. 1855, 
172, 5 

® W. Manz: Volksbrauh und Volksglaube des Sarganserlandes. (Schriften 
der schweizerischen Gesellschaft für Volkskunde Nr. 12.) 1916, 115, 116. 

®» Wuttke: Volksaberglaube. »Der dreizehnjährige Sohn des Opfermannes 
zu Geitelde, Hans Reinhart wollte (1661) die Hexen sehen. Er setzt sich in der 
Walpurgisnaht auf einen hölzernen dreibeinigen Schemel, fährt damit in des 
Teufels Namen dreimal um das Dorf und setzt sih am Kreuzweg im Kreis, 
Endlih kommt ein grausamer Windsturm und darin sechs alte Weiber, die 
wollten ihn aus dem Kreise ziehen. Er nannte dann sechs Frauen aus Geitelde, 
darunter die eigene Mutter als Hexen. R. Andree: Braunschweiger Volks= 
kunde. 1901. 381, 382 und Soldan-Heppe: Geschichte der Hexenprozesse, 
1911. I. 371. Beide nah H. Rhamm: Hexenglauben in braunschweigi- 
shen Landen (Wolfenbüttel). 1892. 94. Vgl. Röheim: A Iuczaszek. (»Der 
Hexenstuhl«.) Neprajzi Ertesitö, 1915. 8, 9. A. Löwenstimm: Aberglaube 
und Strafrecht. 1897. 47. Wenn wir nun bedenken, daß die häufigste Be- 
shuldigung, welhe man gegen die Hexen ins Feld führt, daß sie »virosque ne 
uxoribus, et mulieres, ne viris actus coniugales reddere valeant, impedires. 
J. Hansen: Quellen und Untersuhungen zur Geschichte des Hexenwahns. 1901. 
25. »viros ad coeundum maleficio reddunt impotentes«. Ebenda. 294 (vgl. eben=- 
da: 97, 108, 129, 141, 210, 245, 260, 262, 283, 289, 295, 296, 320, 339, 350, 
417, 452, 577 und Komäromy: Magyarorszägi Boszorkänyperek Okleveltära. 
1910. 2, 5, 18, 38, 85, 87, 156, 157, 175, 176, 194, 195, 209, 244, 245, 264, 
508, 509, 514, 530, 678) und daß die psychische Impotenz wirklich durch eine 
Fixierung der Libido an die Mutter entstehen kann. (Vgl. Ferenczi: Lelekelemzes 
(Psydoanalyse). 1914. 60), so werden wir das Erscheinen der Mutter im Spiegel 
als eine endopsyhishe Wahrnehmung deuten. Von diesem Standpunkt aus fällt 
ein ganz neues Licht auf den charakteristishen Zug der Hexenprozesse, daß die 
nächsten Angehörigen einander des Malefiziums beschuldigen. Vgl. noh C. G. 
Jung: Wandlungen und Symbole der Libido. 1912. »Mutter, furchtbare« im Index. 

* M. Andree-Eysn: Volkskundlihes aus dem bayrisch=österreichischen 
Alpengebiet. 1910. 212, 213. 

re 5 J. Jegerlehner: Sagen aus dem Unterwallis. (Schr. d. schweiz. Ges. 6.) 

1909, 56. 


Spiegelzauber 97 


madt. Das war der Bergspiegel, mit dessen Hilfe er das Gold im 
Berge gesehen hatte. Als der Hirte versucht, die Goldmacerkunst 
zum eigenen Besten zu betreiben, vershwindet allesı, Zu einem 
Mann in Grund kamen jedes Jahr Leute aus Venedig, schauten in 
den Spiegel und sahen darin alles, was in den Bergen verborgen 
war, Der Gastgeber wußte dies und stahl den Spiegel. Er sah 
auch darin, daß das Innere des Iberg lauter Eisen ist und das 
Ganze auf Wasser shwimmt. Aber in der Frühe bemerkten die 
Venediger den Diebstahl, nahmen den Spiegel zurük und kamen 
niemals wieder in diese Gegend. Der Dieb verlor das, was er an den 
Venedigern stets verdient hatte?. In Edwein belaushte ein Bauer 
einen Fremden, wie er im Sande Gold wush und ahmte ihm nad. 
Er geht mit dem Golde nah Salzburg, da ruft plötzlich einer 
aus dem Fenster und ladet den Bauer ins Haus hinein. »Du, rühre 
nicht an meinem Sande, denn ih erschieße dih«, sagt der Fremde. 
Dann zeigt er ihm seinen Spiegel und in diesem sieht der Bauer 
sein Gehöft, seine Kühe und seinen Hirten?. Die Spiegelshau be- 
lebt die Erinnerungsbilder und diese bedeuten die esansenheir, 
das niht Bewußte und dunkel Geahnte und diese vertreten Gegen- 
wart und Zukunft. Der Venediger nimmt den Bergmann mit in 
seinen glänzenden Palast, wo er ihn vor einen Spiegel führt. In 
dem Spiegel sieht der Bergmann sich selber, wie er um die Hand 
seiner jetzigen Frau wirbt, wie er seine Braut zum Altar führt 
und noc vieles andere, was er schon längst vergessen hatte, was 
er sih aber jetzt ins Gedächtnis zurückruft. Dann führt ihn der 
Venediger vor einen anderen Spiegel, in diesem sieht er sein Heim, 
seine Frau und seine Kinder, die weinen und jammern, weil sie 
ihn für tot halten. Dieser Anblick greift ihm so sehr ans Herz, daß 
er in Tränen ausbricht. Schließlich zeigt ihm der dritte Spiegel die 
Zukunft, Er lebt mit seiner Familie in Hülle und Fülle, 
aber seine Habsudt stoßt ihn wieder in das Elend zurück. »Siehst 
du, sagt ihm der Venediger, das letzte wird nicht erfolgen, wenn 
du mir gehorsam bleibst.« Natürlich hält der Bergmann das Tabu 
nicht ein und die geträumten Schätze verschwinden’. Wie im Spiegel 
des Venedigers, so zeigt sich die Zukunft öfters im Spiegel, und 
jeder Versuch, dem Schicksal zu entrinnen, bleibt vergeblich, was 


ı I. N. Alpenburg: Deutsche Alpensagen. 1861, 204, 205. 

® Wrubel: Sammlung bergmännisher Sagen. 1882. 98, 99. 

® Andree-Eysen: Volkskundlihes aus dem bayrisch-österreihishen 
Alpengebiete. 1910. 212. Vgl. auh W. Manz: Volksbrauh und Volksglaube 
des Sarganserlandes. (Schrift. d. Schweiz. Ges. f. Volksk, 12) 1916, 146. C. 
Meyer: Der Aberglaube des Mittelalters. 1884, 283. 

* Hinsichtlih der drei Spiegel, die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft 
zeigen, vgl. I. Bibö: A szämok jelentese &s a gondolkodäs alapformäinak törtenete. 
(Die Bedeutung der Zahlen und die Geshichte der Grundformen des Denkens.) 
Neplelektani dolgozatok. (Völkerpsycologische Arbeiten.) 1. 1917. 16-21, 33, 34, 
27, 37, 44, 49, 74. 

5 Wrubel: Ebenda. 93-98: Nah Ey: Harzmärdhenbud. 40. 


Imago V/2 7 


DE Te nn 


98 Dr. Geza Röfieim 


von der Sprahe der Sage ins Psydologishe umscrieben der de- 
terminierenden Gewalt des Unbewußten gleihkommt. Eine Jungfrau 
sieht in einer großen kristallenen Kugel, daß der Bräutigam mit 
der Pistole auf sie zielt und dann auf sich selbst. Sie verlobt sich 
daraufhin mit einem anderen, aber die Vision bewahrheitet sich 
doh!. Die Vision im Spiegel drückt die unbewußten Befürchtungen 
des Mädchens, die es vor dieser Verlobung hegt und die 
dann durh die Lösung der Verlobung in der Tat die Ober- 
hand gewinnen, aus. Das folgende Beispiel zeigt wieder, wie der 
Verdadht zur Gewißheit wird. In Llandovery ging ein Knedt zum 
Seher und wollte erfahren, wer den in Verlust geratenen Widder 
estohlen habe. Der Seher zeigt ihm in einem großen Spiegel den 
Na seines Herrn. Er sagte ihm, daß nach drei Tagen abends 
neun Uhr der Dieb am Fuße eines Berges ihm entgegenkommen 
und sagen werde: »Hier ist der Widder deines Herrn, er hatte 
sih in die Ferne verirrt und ich habe ihn gefunden.« Und so ge= 
schah es audh?. In Steinitz hatte ein .kluger Mann einen Zauber- 
spiegel, zu dem ging ein Schäfer aus Schleife, um in den Spiegel 
zu sehen, weil ihm eine Hexe am Vieh und auch sonst viel 
Schaden tat. Aber der kluge Mann wollte dem Schäfer den Spiegel 
nicht zeigen, weil, wer hineinsieht, einen großen Schrecken kriegt. 
Denn der Böse hält die Hexe im Spiegel vor sich und sieht ihr 
über die Schulter. Dem Fragenden erscheinen im Sichtspiegel des 
Mannes zu Schwarzwasser fünf verschiedene Bilder vom Schmuggler- 
zuge. Er sieht auch seine Frau mit den Schmugglern und beobachtet 
die Gesellschaft bis zu ihrer Ankunft im Lager auf dem Rotenberge. 
Dann geht er zum Rotenbergwirt, der zeigt ihm die Lagerstätte, 
welche genau so aussah wie er sie im Spiegel gesehen hatte‘. Auf 
Jahrmärkten werden eine Art von Guckkästen aufgestellt, in denen 
jedermann die zukünftige Geliebte oder den Bräutigam im Spiegel 
sehen kann’. Hier wird gewiß der Ursprung des Schrankes der 
Siebenbürger Zigeuner zu suchen sein, von dem sie selbst sagen, 
er sei »für die Weißen« angefertigt. Der Apparat besteht aus 
einem kleinen Schranke, in welchem eine von außen drehbare vier- 
seitige Walze angebracht ist, über der Walze ist ein Spiegel be- 
festigt, einem in der Seitenwand des Schrankes befindlihen Guk- 
loche gegenüber. Auf zwei Seiten der vierseitigen Walze ist je ein 
Bild eines Mannes oder Weibes angebradt. Wenn nun der Fra=- 
gende durh das Loh in den Schrank sieht, so erblickt er sein 
Gesicht im Spiegel, weil eben die bilderlose Seite der Walze dem 
Spiegel zugekehrt ist, die Frau lenkt die Aufmerksamkeit des 
Fragenden ab, so daß er abermals in den Schrank blickend das 


> W. von Schulenburg: Wendishes Volkstum. 1882. 88, 
* R. Kühnau: Schlesishe Sagen. 1913, III. 204-206. 
5 Wuttke: Ebenda. 246. 


Spiegelzauber 99 


Bild, das sih auf der inzwischen gedrehten Walze befindet, im 
Spiegel sieht. Natürlih nur trübe und vershwommen, so daß die 
Einbildungskraft dann was immer daraus heraussehen kann!. 

Da das im Spiegel erscheinende Ebenbild das zweite Ich des Aralogiezauber. 
Individuums ist, kann der Seher den in den Spiegel zitierten Dieb 
oder die Hexe auc verletzen. In der Nähe von Hohenstein zeigt 
der »Oberhexer« für einen Gulden die Hexe, von der man behext 
ist und bestraft sie auch gleich. Er schneidet dem Spiegelbild Nase 
und Ohren ab, damit man die Hexe solher Art erkennen könne, 
doh über Wunsh des Verzauberten schneidet er ihr auh den 
Hals ab?. Wenn jemand in Nikolivin (Gouvernement Jaroslav) 
beleidigt worden ist, so geht er zu einem Wahrsager. Der läßt ihn 
in ein Glas Wasser sehen, in dem nad einiger Zeit das Bild seines 
Feindes erscheint, der Beleidigte stiht nun womöglich in die Augen 
oder wenigstens in das Gesiht des Bildes und so kann er seinen 
Gegner an derselben Stelle verletzen?. In Gieboldshausen zeigt der 
weise Mann dem Fragesteller im Spiegel den Bruder als Dieb des 
Bienenkorbs. Der Wahrsager frägt: »Soll er nun sterben oder soll 
er ihm einen Arm oder einen Fuß abschneiden?« Der Geschädigte 
antwortet auf all das mit Nein, er will den Bruder nicht so streng 
bestrafen. Schließlih einigen sie sih dahin, daß sein Körper an- 
shwellen möge, bis er beinahe erstickt, dann aber soll er genesen‘. 
Im Kanton Zürih gab es einen Bezirksrihter, der den in den 
Zauberspiegel zitierten Dieb auch gleih umbradte’. In Edwein 
schießt der Venediger mit der Pistole auf das Spiegelbild der Kuh, 
zur selben Stunde steht zu Hause die Kuh des Bauern um‘. Im 
CI. Kapitel des Gesta Romanorum findet sih das Motiv des 
Ebenbildes gedoppelt, nämlih in der Form des Spiegels und des 
Wadsbildes. Die Frau eines Ritters, der das Heilige Grab besuchen 
will, verliebt sih in einen Kleriker »der wohl in der schwarzen 
Magie erfahren war« und von der Frau aufgefordert, ein Bild mit 
Namen des Ritters macht. Als der Gatte in Rom ankommt, ver- 
ständigt ihn ein gewisser, »kluger Meister«” von der drohenden 

ı Wlislocki: Volksglaube und religiöser Brauch der Zigeuner. 1893. 94, 95. 

®21. W. Kostolowski: Race für eine Beleidigung. Ardiv für Anthro- 
pologie. Bd. XXXIII. 1906. 306 (Etn. Obozr. 1902. Nr. IV.). 

> M. Toeppen: Aberglauben aus Masuren. 1867. 39. 

* Schambach-Müller: Niedersächsische Sagen. 1855. 172, 173. 

> Wuttke: I. c. 246. Schweizerishes Archiv für Volkskunde. II. 269. 

° Andree-Eysn: Volkskundlihes etc. 1910. 212. % 

? Laut anderen Texten Virgilius, vgl. Charles Swan: Gesta Romanorum. 
11.65. Deslongchamp: Essai sur les fables indiennes. 1838. 1. 153. 1. G. Büsching: 
Erzählungen, Dichtungen, Fastnadtsspiele und Schwänke des Mittelalters. I. 130. 
All diese zitiert G. Huth: Die Reisen der drei Söhne des Königs von Seren- 
dippo. Zeitschrift für vergleichende Literaturgeshicte. 1890. N. F. III. 310. »Ein 
kluger Meister« in der ungarischen Fassung. Katona: Gesta Romanorum. Übers. 
Haller (R. M. K. XVII). 1900. 295-297 und in H. Oesterley: Gesta Ro- 
manorum. 1872. 428. Vgl. ebenda. 727. Parallelen zu den Wacsbildern und 


J. G. Th. Grässe: Gesta Romanorum. 1905. II. 266. Bodinus: De magorum 
daemonomania. 1586. 27, 387 —390. 


7° 


L. j 


100 Dr. Göza Röheim 


Gefahr. Er läßt ein Bad bereiten und den Ritter sich hineinsetzen. 
Nacdher aber gab er ihm einen hellpolierten Metallspiegel in die 
Hand, der ihm Wunderdinge zeigte. Er sieht in seinem Hause den 
Mönd, der ein ihm ähnliches Bild von Wachs gemadt hat, dieses 
an die Wand gestellt und nun mit einem Pfeil durhbohren will. 
Der Meister gebietet ihm, noch bevor jener den Pfeil abschnellt, ins 
Wasser unterzutauhen, denn so kann er das Bild nicht treffen. 
Der Versuh wiederholt sih dreimal, bis der zurückscnellende Pfeil 
den Mönd tötet!. Das Wasser wehrt dem Zauber, dies dürfte 
die geschützte Lage der Leibesfruht im Muttershoß symboli- 
sieren, wenn sih der Ritter im Wasser versteckt, folgt ihm auch 
sein Ebenbild in die Abgesclossenheit vor den bösen Zauberern 
der Außenwelt:. 


ı Katona: Gesta Romanorum. (Text der Übersetzung von I. Haller. 
R. M. K. XVIIL) 1900. 295-297. J. G. Th. Grässe: Gesta Romanorum. 1905, 
I. 181-184. Vgl. dasselbe Grimm: Deutsche Mythologie. Vierte Ausgabe. 1877. 
II. 913 aus »Schimpf und Ernst. cap. 272. 

2 Das Wasser bricht des Zaubers Macht, hebt den Einfluß der Dämonen 
auf, es bildet die wichtigste Grenze (vgl. A. van Gennep: Les Rites de Passage. 
1909.) zwischen den beiden Welten des Profanen und Heiligen. Bei der Rückkehr 
vom Begräbnis läuft man in Tahiti ins Meer, taucht im Wasser unter und wirft 
die Kleider hinein. Ellis: Polynesian Researhes. 1830. I. 403. Audh nah dem 
sakralen Bogenschießen wird gebadet, ebenda. 301 und das Tabu kann man durch 
Waschen entfernen J. Cook: A Voyage to the Pacific Ocean. 1785. I. 410. 
Der Priester der Matamba wirft die Witwe einigemal ins Wasser, damit die Seele 
des Mannes darin ertrinken und die Frau in Ruhe lassen soll. W. Sonntag: 
Die Totenbestattung. 1878. I 113 und genau dasselbe geschieht in Celebes. 
G. A. Wilken: Das Haaropfer Revue coloniale internationale. II. 1886. 248, 249, 
D. s.: De Verspreide Gescriften. II. 427. In Borneo waschen die Kenyah die 
Krankheit, die aus dem Übertreten des Tabu stammt, mit dem Bfute eines Opfer- 
huhns und mit Wasser weg. Ch. Hose and W. Mc. Dougall: The Pagan 
Tribes of Borneo. 1912. II. 128. In Minehasa vertreibt das Wasser die Krank» 
heitsdämonen und schützt vor dem bösen Zauber. Wilken: Haaropfer. I. c. 251. 
Geschriften. II. 429. Die Bangalas bespritzen Bäume und Flußufer mit heiligem 
Wasser beim Anblick der ersten Europäer, die sie für böse Geister halten. 
H. M. Stanley: The Congo and the Founding of its State. 1885. II. 106. Die 
Karen ziehen einen Faden über den Bad für die Seele, E. B, Tylor: Primitive 
Culture, 1903. I. 442. König Guntrams Seele verläßt im Traum seinen Leib in 
Tiergestalt, aber den Bach kann es ohne Hilfe nicht überschreiten. J. Grimm: 
Deutsche Mythologie. 1877. II. 905. Die Baschkiren glauben, daß der Fiebergeist 
kein Wasser überschreiten kann. S. Roudenko: Traditions et Contes Badkires, 
Revue des Traditions Populaires. XXIV. 1909. 132. Fließendes Wasser zum Ver- 
treiben der bösen Mächte kennt sowohl die hebräishe wie auch die assyrische 
Magie. R. C. Thompson: Semitic Magic. 1908. 185, 188. (Vgl. ebenda im 
Index »Water« und »Washing«.) Fieberfrost heilt man, indem man ihn in eine 
Weide hineinhaudt, aber man darf über kein Wasser gehen. Grimm: Deutsche 
Mythologie. III. 475. Will man die Hexen sehen, so darf man am Weg kein 
Wasser überschreiten. Kühnau: Sclesishe Sagen. II 1913. 34. Langer: 
Deutsche Volkskunde aus dem ‘östlihen Böhmen. VI. 1901. 203. Hat man sie 
aber schon gesehen, so soll man schnell trachten, unter der Traufe oder übers 
Wasser zu gelangen, dann können einem die Hexen nichts anhaben. Drechsler: 


Sitte, Brauh und Volksglaube in Schlesien. 1906. II. 246. Man sieht in der- 


Andreasnaht des Zukünftigen Bild im Brunnen, aber nur, wenn man keine Wasser- 
leitung überschreitet. Hoffmann-Krayer: Feste und Bräuche des Schweizer- 
volkes. 1913. 96. In Guldal ist es wegen der Hexen gefährlih, den Arbeitern am 


Spiegelzauber 101 


Wir können jetzt auf jene Riten übergehen, mit deren Hilfe 
ein gewöhnlicher Spiegel in einen magishen umgewandelt werden 
kann. Da sich an jeden Spiegel gewisse Wünsche und Besorgnisse 
heften, deren Objektivierung nur in der Form magisher Qualitäten 
erfolgen kann, handelt es sih hier bloß um eine Steigerung der 
magischen Eigenschaften. Wir können aud hier, wie im allgemeinen 
bei jedem steigernden Ritus das Hineinspielen des Begriffs der 
Zauberkraft (Mana) voraussetzen, ohne uns mit dieser Erklärung 
zufrieden zu geben. Aus den aufzuzählenden Beispielen erhellt, daß 


Felde Milh über einen Bach zu tragen. K. Liebrecht: Zur Volkskunde. 1879. 
316. Die Bangalas überschreiten einen Bah, um sich vor der Seele der beerdigten 
Verwandten zu schützen. J. H. Weeks: Notes on Some Customs of the Ban« 
gala Tribe Folk-Lore. 1908. 93. Anderseits dürfen gerade die Totenträger nicht 
über Wasser. F. D. Bergen: Current Superstitions Journal of American Folk= 
Lore. 1889. 14. Bei den Weihnahtsumzügen der »Rusalki-Gesellschaftens der 
Bulgaren dürfen die Mitglieder bei ihren Wanderungen von Dorf zu Dorf nicht 
ins Wasser treten. Wenn ein Bach ihren Weg versperrt und sie ihn nicht über= 
springen oder umgehen können, so lassen sie sich hinübertragen. Strausz: Die 
Bulgaren. 1898. 357. In Nordungarn glaubt man, daß die Feen zwar bei der 
Quelle hausen, doh das Wasser nicht überschreiten können. Z. Elek: Gömör- 
megyei babonäk. (Aberglauben aus Gömör.) Ethn. VII. 1896. 288. In Irland 
kann sich einer, dem Feen oder Gespenster nachsetzen, in vollkommener Sicherheit 
fühlen, sobald er fließendes Wasser überschritten hat. W. I, E. Wentz: The 
Fairy Faith in Celtic Countries. 1911. 38. »It is a well-known fact, that witches, 
or any evil spirits, have no power to follow a poor wight any farther than the 
middle of the next running stream.«e R. A. Willmott: The Poetical Works of 
Robert Burns. 1856. 154. Tam o’ Shanter. »If you can interpose a brook betwixt 
you and witches, spectres or even fiends, you are in perfect safety. It is a firm 
article of popular faith, that no enchantment can subsist in a living stream.« W. 
Scott: Lay of the Last Minstrel, Canto. IN. Vers. XIII. Anmerkung. (The 
Poetical Works of Sir Walter Scott. Albion Edition. p. 680.) An den Banks- 
inseln verrichtet jeder seine Notdurft im Meere, weil das Wasser den Zauberer 
verhindert, der Exkremente habhaft zu werden und mit ihrer Hilfe den Menschen 
zu töten. Codrington: The Melanesians. 1891. 203. Kranke Kinder, die im 
Heilen begriffen sind, darf man vierzig Tage lang über kein Wasser tragen. 
Strausz: Bolgär nephit (Volksglaube der Bulgaren). 1897. 346. Die Ehsten spritzen 
ein paar Tropfen vom ersten Badewasser des Kindes auf das Fenster, damit 
Mondschein und Dämmerung dem Kinde nicht shaden sollen. Wiedemann: Aus 
dem inneren und äußeren Leben der Ehsten. 1876. 307. Vgl. ferner Goldziher: 
Wasser als Dämonen abwehrendes Mittel. Archiv für Religionswissenschaft. 1910. 
XII. 20 Sartori: Das Wasser im Totengebrauce. Zeitschrift des Vereins für 
Volkskunde. XVII. 1908. 353, 375. J. G. Frazer: On certain Burial Customs 
as illustrative of the Primitive Theory of the Soul, Journ. of the Anthr. Inst. 
1885. 80. E. Crawley: The Mystic Rose. 1902. 198-200. E. B. Tylor: 
Primitive Culture. 1903. II. 429-434. Georgi: Beschreibung aller Nationen des 
russischen Reiches. 1776. 32, 34. Scheftelowitz: Die Sündentilgung durch 
Wasser, Ardiv für Religionswissenshaft. 1914. 353—412. Usener: Heilige Hand- 
lung. Ebenda. VII. 1904. 290. D. Westermann: Über die Begriffe Seele, Geist 
Schicksal bei dem Ewe=- und Tscivolk, A. R. W. VII. 106. A. W. Howitt: 
Native Tribes of South Bast Australia. 1904. 461. W. Crooke: An Indian 
Ghost Story. Folk=Lore. XII. 282. D. s.: Popular Religion and Folk-Lore of 
Northern India, 1896. II. 25. Skeat: Malay Magic. 1900. 77, 81, 277-279, 347, 
348, 387, 399-401, 424. E. Samter: Geburt, Hochzeit und Tod. 1911. 85-89. 
A. van Gennep: Les Rites de Passage. 1909, 39, 134, 136, 138, 191, 227, 
R, Pettazzoni: I primordi della Religione in Sardegna. Ardiv für Religions« 


Steigernde 
Riten. 


102 Dr. Geza Röheim 


man das Ziel auf dem Wege des Berührungszaubers (conta- 
gious magic) erreicht, indem nämlih der Spiegel mit einem Toten 
in Berührung kommen muß, von welchem er gewisse Bigenschaften 
übernehmen kann. Die Vorstellung des Spiegels, der alles zeigt, 
eine Objektivierung des Wunsches der Lebenden, alles zu sehen, 
verschmelzt leiht zu einem Komplex mit der Vorstellung über die 
Verstorbenen, die als Ersatz für den Tod ihres Leibes, nebst vielem 
anderen auch die Fähigkeit der Allsichtigkeit besitzen. Ein großer 
Teil der infantilen Schaulust wird ja gerade den Eltern, den Toten 
gegolten haben, nun wird diese Schaulust in eine entsprechende 


wissenschaft 1913. 333. W. H. Bird: Ethnographical Notes about the Buccaneer 
Isfanders. Anthropos. 1911. 177. (Wasser vernichtet die Kraft des gegen das 
Ebenbild gerichteten Zaubers.) Nassau: Fetihism in West-Africa. 1904. 219. 
Moldovan: Alsöfeher varmegye romän nepe. (Die Rumänen im Komitat Alsö- 
feher.) 1899. 223. Wlislocki: Volksglaube und religiöser Brauch der Zigeuner. 
1891. 113. I. Doolittle: Social Life of the Chinese. 1867. II. 373. Furness: 
Folk-Lore in Borneo. 1899. 24. F. Boas: Chinook Texts. (Bureau of Ethnology.) 
1894. 209. Milne: Shans at Home. 1910. 34, 35. Nicholas: Reise nah Neus 
seeland. 1891. 41. W. E. H. Barrett: Notes on the Customs of the Wa-Giri- 
ama, Journ, Anthr. 1911. 33, 34. Z. Nuttal: Mexican Superstitions. Journ. Am. 
Folk-Lore. X. 277. Hornyänszky: A pröfetai ekstasis &s a zene. (Extase der 
Propheten und die Musik.) 1910. 56 Laistner: Das Rätsel der Sphinx. 1889, I. 
116, 117. Strausz: Vilägteremtesi mondäk a bolgär nephagyomänyban. (Schöp- 
fungssagen in den bulgarischen Volksüberlieferungen.) Ethn. 1896. 209. Ich habe 
früher die Ansicht vertreten, daß diese Eigenschaften des Wassers aus dem Er- 
leihterungsgefühl zu erklären sind, die man bei seelischer Erregung, Fieber oder 
brennenden Wunden verspürt, wenn man sie mit dem Wasser in Berührung 
bringt. Die »Bösen« (Geister oder Menschen) oder die böse Zauberkraft ist die 
Ursache aller dieser Hitzegefühle, ist selbst ein übernatürlihes Feuer und wird 
somit durch ein ebenfalls magishes Wasser gelöscht. Röheim: A varäzserö fo= 
galmänak eredete, (Ursprung des Manabegriffes.) 1914. 225, Die Deutung dürfte 
ja aufrechtzuhalten sein, sie reiht etwa bis in die psychische Schichte des Vorbe- 
wußten. Wenn wir aber die Bedeutung des Wassers als Grenze des Jenseits 
(Wassergrab etc.) mit in Betraht ziehen (vgl. ©. Rank: Der Mythus von der 
Geburt des Helden. 1909.), so dürfen wir doh annehmen, daß das unbewußte, 
halb physishe Weiterleben der Erinnerung an die geschützte Lage im Uterus die 
tiefste Wurzel dieser Vorstellungen bildet. Die weit verbreitete Sitte der Taufe, 
die zweite Wassergeburt des Kindes stellt ganz sicher, wie Jung es richtig bemerkt, 
eine Nachahmung der Geburt dar (C. G. Jung: Wandlungen und Symbole der 
Libido. 1912. 306, vgl. E. Thurston: Castes and Tribes of Southern India. 
1909. 52), sie deutet aber auch den Weg der Übertragung vom Frucdtwasser 
auf die Gewässer der Außenwelt an, wobei ihre dämonenabwehrende Kraft den 
»missing link< der ganzen Beweisführung herstellt. Vgl, über Taufgebräuce 
Pfannenschmidt: Das Weihwasser. 1870. Krohn: A finnugor nepek pogäny 
istentisztelete. (Heidnischer Kultus der finnish-ugrishen Völker.) 1908. 183, 185. 
Mikhailovski: Shamanism in Siberia and European Russia. Journ. Anthr. 1894. 
148. W. Taurat: Die Zauberei der Basotho. 1910. 12. L. R. Farnell: The 
Evolution of Religion. 1905. 56, 57, 88, 162. W.E. Roth: Marriage Ceremonies 
and Infant Life. (North Queensland Ethnography Bulletin. 10.) 1908. 14. K. L. 
Parker: The Euahlayi Tribe. 1905. 52. R. Parkinson: Dreißig Jahre in der 
Südsee. 1907. 70, 71, 437, 442, 530. H. Zahn: Die Jabim. 294, St. Lehner: 
Bukaua. 400. (R. Neuhauss: Deutsch Neu-Guinea. 1911. III) D.G. Brinton: 
Myths of the New World. 1908. 144-151. A. v. Gennep: Les Rites de 
Passage. 1909. 88-90. Nassau: Fetihism in West-Africa. 1904. 212, 213. 
Ploss-Renz: Das Kind in Brauh und Sitte der Völker. 1911. I. 294-323, 


Spiegelzauber 103 


magische Fähigkeit umgewandelt und auf die Toten projiziert!. 
Wer in der Weihnachtsnadht, vor der Mitternahtsstunde einen am 
St. Nikolaustage »unbeshrien« gekauften Spiegel vergräbt, wird 
nach einem Jahre einen »Bergspiegel« erlangen, der alle Schätze der 
Erde zeigt”. Um die Spitzbuben sehen zu können, kaufen die 
Wenden einen Spiegel, ohne etwas abzuhandeln, und graben ihn 
unter einen Galgen, wo schon Menschen erhängt wurden, neun 
Nächte fang ein, und zwar jede Nact an einer verschiedenen Stelle. 
Die letzte Nacht, wenn man den Spiegel abholen will, kommt der 
Teufel (&ert) und hält ein Buch hin, in dem muß man sich unter- 
schreiben®. In Desfawen kauft man, ohne zu handeln, einen Spiegel 
und sowie jemand im Dorfe stirbt, legt man den Spiegel mit nadı 
abwärts gekehrter Spiegelplatte auf sein Grab. Nacı einem Monate 
hebt man ihn aus und der zetberspiege| zeigt jetzt jeden Diebs- 
anschlag oder feindliche Absicht. Den Toten, in dessen Grab der 
Spiegel war, muß man anrufen: »Josef, ic bitt dich, zeig mir den, 
der das oder das gestohlen hat.« Darauf erblidt man im Spiegel 
die Gestalt des Diebes‘. In Baden vergräbt man einen an den vier 
Eden mit dem Kreuzzeihen versehenen Spiegel in Gegenwart 
zweier Zeugen, ohne dabei ein Wort zu reden, in mondheller 
Nadıt auf dem Kreuzwege. Wenn man ihn solange dort läßt, bis 
drei Leichen darüber fahren, wird daraus ein Bergspiegel’. In 
Vohenstrauß öffnet man um Mitternaht das Grab des Selbst- 
mörders® und legt den Spiegel auf dessen Antlitz. Man muß ihn 
drei Tage und drei Nächte hindurh dort liegen lassen und dann 
in einer einsamen Waldquelle abwaschen. Man bekommt dann einen 
»Erdspiegel«, aus welhem man alles sehen kann, was man nur 
will. Ein solcher Spiegel zeigt die verborgenen Schätze, die Erz- 
lager, die Quellen, das gestohlene Gut und den Aufenthaltsort der 
Seelen in der Unterwelt!. Außer den Selbstmördern sind die im 
Wocenbett verstorbenen Frauen geeignet, den Spiegel in einen 
magischen zu verwandeln®. Beim Thema des Schatzsucens habe 
ich bereits die Möglichkeit der symbolishen Übertragung von der 
Mutter auf die Mutter Erde angedeutet. Wir können jetzt bereits 


ı Dazu kommt noch das Motiv der infantilen Furht vor dem allsehenden 
Auge des Vaters. Vgl. 7. und 8. Kapitel unten. 

2 Birfinger: Volkstümlihes aus Schwaben. 1861. I. 337. 

3 W. v. Schulenburg: Wendishes Volkstum. 1882. 87, 88. 

4 A. John: Sitte etc. im deutschen Westböhmen, 1905. 276, 277. 

5 E. H. Meyer: Badisches Volksleben. 1900. 563, 564. 

° Vgl. über den im Augenblik des Selbstmordes erscheinenden Doppel- 
gänger. ©. Rank: Der Doppelgänger. Imago. 1913. 99, 108, 117. Vgl. aud 
Seefried-Gulgowski: Von einem unbekannten Volke in Deutschland. 1911. 190, 

: Schönwerth: Aus der Oberpfalz. 1859. III. 218. 

s Vgl. dieRolle der schwangerenFrau bei derSpiegelshau. Kiesewetter: 
Faust in der Geschichte und Tradition. 1893. 466. »Adhibebatur puer impollutus 
aut mulier praegnans.< P. G. Schott: Magia universalis naturae et artis. 1677. 
IV. Lip. VI. II. 533, ferner bei den Spiegelschauverboten, hinsichtlih der Frauen 
im Kindbett, ebenda. Siehe die Erklärung, ebenda und im Kapitel Reinkarnation, 


104 Dr. Geza Röheim 


mit größerer Bestimmtheit darauf hinweisen, daß man mit Hilfe des 
von der verstorbenen Mutter erlangten Spiegels in den 
Schoß der Mutter Erde hineinschauen kann!, Im 72. Kapitel 
des »Höllenzwanges« wendet man sich bei der Spiegelshau an Sancta 
Helena®. Hinter dem Rücken eines keushen Knaben kniet der 
Beshwörer und bittet die Heilige, daß sie »durh die Liebe, die 
du zu deinem Sohne Constantinum gehabt hast usw., im Kristall 
die gesuchte Vision offenbare«®, Dann erscheint im Kristall ein 
Engel, der die Fragen des Knaben beantwortet. Das alles soll 
geschehen »in ortu Solis, cum iam Sol emerserit et aer fuerit 
serenus et clarass‘. Es ist klar, daß in den folgenden Riten 
die im Kindbett verstorbenen Frauen gleihsam den Prototypus 
des Weibes, die Mutter darstellen. In Thüringen kauft man, 
ohne zu feilshen, einen durch ein kleines Deckblatt verscließbaren 
Spiegel und wartet, bis sih eine im Kindbett verstorbene Frau 
findet, die am Charfreitag begraben wurde. Wer den magischen 
Spiegel erlangen will, geht bloß mit einem Mantel bekleidet um 
elf Uhr in den Friedhof. Bei der Friedhofsmauer wirft er den 
Mantel ab und springt ganz splitternakt über die Mauer. Im 
Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes steckt 
er den Spiegel mit nach abwärts gekehrtem Spiegelblatt in das Grab 
und das Gesicht dem Spiegel zugewendet, geht er rüclings schrei- 
tend zurück. Er muß dies drei Nächte hindurch wiederholen, in der 
dritten Nacht entsteht ein Gewitter. Jetzt nimmt er bereits »in 
Dreiteufelsnamen« den Spiegel heraus und geht, das Spiegelblatt an 
seinen Leib pressend, rüclings schreitend damit fort. Mittlerweile 
uält der Teufel den Menschen ab, doch dafür besitzt er jetzt schon 
den Zauberspiegel, der den Dieb, die verborgenen Schätze zeigt und 
die Hexe erkennt usw.°. In Neukirchen legt man sich mit dem 
Rücken auf das Grab einer Wöcnerin, unter sich einen Spiegel, 
Die Frau kann den Spiegel nicht ertragen und stößt ihn heraus, 


! Vgl. die Erklärung, die Wünsch zur ersten Silbe des Wortes Erd- 
spiegel gibt und über das Spiegelorakel im Heiligtum der Erdmutter Demeter. 
R. Wünsch: Ein Odenwalder Zauberspiegel, Hessische Blätter für Volkskunde. 
re ee Ferner A. Abt: Die Apologie des Apufeus von Madaura, 

2 Vgl. ihre Legende bei E. Lucius: Die Anfänge des Heiligenkults in 
der christlihen Kirche, 1904, 107, 505. 

> C. Kiesewetter: Faust in der Geschichte und Tradition. 1893. 466, 467. 

Re Hier, Cardanus: De rerum varietate. 1556. 1088, 1089. Lib. XVI 
cap. 93. 

5 Vgl. ihre Rolle in der mexikanischen Mythologie. W. Lehmann: Die 
fünf im Kindbett gestorbenen Frauen des Westens und die fünf Götter des Südens 
in der mexikanishen Mythologie. Zeitschrift für Ethnologie. 1905, 848, 

° Wuttke: I. c. 245, 246. Weinhold: Zur Entwicklung des Heidnishen 
Ritus. 1896. 9. E.L. Wucke: Sagen, von der mittleren Werra. 1864. II. 29. 
Das Rükwärtsscreiten symbolisiert die Regression, und zwar in diesem Falle die 
Regression in der Richtung des Narzißmus und der auf den Teufel projizierten 
infantilen Komplexe. Deshalb beginnt der Ritus im Namen der Dreifaftigkeit und 
endet in »Dreiteufelsnamen«. 


Spiegelzauber 106 


so wird daraus ein »Erdspiegel«. Jeder glänzend polierte Gegen- 
stand kann für diesen Zweck benützt werden!. Die auf die An- 
fertigung des »Erdspiegels« bezügliche Anleitung des »Höllenzwanges« 
weicht von dem bisherigen insofern ab, daß der die Zauberkraft 
erteilende Verstorbene hier ein Mann ist. Kapitel LXVII handelt, 
»wie man einen Erdspiegel madt, alles in der Erde verborgene 
Gut darinnen zu sehen«?.. An einem Freitag muß man, ohne zu 
feilshen®, einen neuen Spiegel kaufen. Man muß ihn im eigenen 
Namen im Friedhof auf das Antlitz eines verstorbenen Marines 
eingraben und adt Freitage lang dort lassen. Am neunten Freitag 
nehme ihn heraus, geh damit an einen Kreuzweg und lege ihn »in 
dreyer Geister Namen« in die genaue Mitte des Kreuzweges. Jetzt 


! Schönwert: Aus der Oberpfalz. 1859. III. 218. 

2 Die Schätze gehören natürlih den Seelen der Unterwelt, deshalb bedarf 
es für den Spiegel der Kraft einer Seele. Vgl. A. Bän: A kincskereses a nephit- 
ben. (Das Schatzsuchen im Volksglauben.) Ethn. 1915. 28. 

3 Eine Erklärung für diese außerordentlich verbreitete Regel wird ebenfalls 
gegeben, »damit dir ihn kein Geist tadeln kann«. Kiesewetter: 463. Wer 
handelt, bewertet den Gegenstand, den er kaufen will, geringer, d. h. er setzt dessen 
Wert auc objektiv herab Vgl. J. A.E. Köhler: Volksbrauh, Aberglauben etc. 
im Voigtlande. 1867. 364. R. Reichhardt: Die deutshen Feste in Sitte und 
Braudh. 1911. 55. Benköczy: Egervideki babonäk. (Aberglauben aus Eger.) 
Ethn. 1907. 101. Die Geister, die den gekauften Spiegel tadeln. könnten, sind auch 
hier, wie stets, die eiizierten Komplexe des Käufers, für die also die Größe des 
gebrahten Opfers den subjektiven (d. h. also auch magishen) Wert des Gegen- 
standes bestimmt. 

+ Besser als mit den »im eigenen Namens durchgeführten Ritus kann man 
die seelishe Attitude des Narzißmus kaum charakterisieren. In diesem Falle ist 
der Ritus eher progressiv oder stagnierend, denn der Spiegel wird »im eigenen 
Namen« vergraben und dann »in dreyer Geister Namens am Kreuzweg hingelegt. 
Infolgedessen entfällt das Motiv des Rückwärtsgehens. Außer der Regression kann 
das Rückwärtsgehen auch das Rückgängigmahen des Gescehenen bedeuten, z. B.: 
Man »kiiegt das Messen«, wenn man nur in einem Schuh läuft, man kann jedoch 
‚dadurch vorbeugen, daß man den nämlichen Weg wieder zurücläuft. P. Drechsler: 
Sitte, Brauh und Volksglaube in Schlesien. II. 1996. 312. Vgl. D. s.: Mitteilungen 
der Gesellschaften für schlesishe Volkskunde. VII. 45. Die Regression ist ja 
auch ein Rückgängigmacen des intrapsychish Geschehenen. Das Rückwärtsgehen 
wird als Zurückgehen in den Mutterleib gedeutet von M. Jellinek: A sarü 
eredete. (Ursprung des Schuhes.) 1917. Vgl. Silberer: Probleme der Mystik und 
ihrer Symbolik. 1914. 175. Wenn ein Kindermädhen mit dem Kinde auf 
dem Arm rückwärts geht, bevor dasselbe laufen kann, so lernt das Kind 
schwer gehen. Veckenstedt: Wendische Sagen, Märchen und abergläubische 
Gebräuche. 1880. 447. Das bulgarishe Kind darf beim ersten Ausgang 
aus dem Hause nicht rückwärts hinausscreiten. Strausz: Die Bulgaren. 
1898. 298. Kinder, die rückwärtsgehen, graben zwar nicht sich selbst, 
sondern den Eltern das Grab. Drechsler: Sitte, Braud. I. 216. Wuttke: I. c. 
394 als Analogiezauber zu deuten ist; dadurch sollen die Eltern auh rückwärts- 
gehen, d h. sterben. Vgl. noh: »Wenn ein Anfall von Fallsucht auftritt, so 
dreht man den Spiegel um (Wuttke: 334). Man will hier den Doppelgänger, der 
sih gewissermaßen »verkehrt« und dadurch den epileptischen Anfall hervorgerufen 
hat, durch abermaliges Umkehren in die alten Bahnen bringens, Negelein: Bild, 
Spiegel und Schatten im Volksglauben. Archiv für Religionswissenschaft. V. 29. 

h., wenn wir die Rolle der Regression im Krankheitsbild der Epilepsie 
berücksichtigen, so bedeutet das Wenden des Spiegels den Versuch, die Richtung 
der Libidoströmung wieder ins Progressive zu wenden. 


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106 Dr. Geza Röheim 


muß man sich die Hilfe Ariels und Marbuels verschaffen, die die 
Tiefen der Erde auftun und die schatzhütenden »Stammgeister« 
vertreiben. Schließlich bleibt der Spiegel noch weitere neun Freitage 
hindurh im Grabe, dann muß man ihn herausnehmen und ohne 
hineinzushauen folgendes sagen: Bannung. »Ih N. banne dich 
Geist Ariel, dich Geist Aciel, dich Geist Marbuel, in meinen 
Spiegel durh Rore + ipse + Loisant + et Dortam + Bolaimy + 
Acom + Coelum + Quiavitit + Sammas + Restacia + o Adonay + 
o Jehova + prasa Deus.« Und so fort in einer unendlihen Litanei, 
die eingangs genannten drei Geister (»drey Fürsten«) bittet man, 


im Spiegel zu bleiben und die Welt der verborgenen Schätze zu 


offenbaren. Aber Mephisto hat an all dem noch nicht genug, denn 
wenn die drei Geisterkönige bereits glücklih in den Spiegel gebannt 
sind, fordert er, »daß du ihn (nämlih den Spiegel) auf einen Altar 
bringst, daß die Geister, von einer ordinierten Person konsekriert 
werden, damit sie dir die Wahrheit anzeigen«. Drei Sonntage bleibe 
der Spiegel auf dem Altare, aber man muß adt haben, daß in- 
zwishen keine »Leihen-Konsekrations darauf stattfinde, denn 
sonst ist die ganze Mühe vergeblih gewesen!, Eine Handschrift 
aus dem Anfang des siebzehnten Jahrhunderts zeigt den seltenen 
Fall, daß man den Ausgangspunkt eines Teils des Ritus im Volks- 
märchen suchen muß. Die Anleitung besagt, »sich unsichtbar zu 
machen, auch Fortunatusbeutel und einen glüclichen Spiegel zu 
bekommens«, Kaufe am Charfreitag, ohne zu handeln, drei shwarze 
Hennen, koche sie, ohne dabei ein Wort zu reden, an einem ver= 
borgenen Orte gar und trage sie nach Sonnenuntergang »unuer- 
meldt« dorthin, wo sich der Weg spaltet, grabe drei Löcher und 
in jedes stecke ein gekochtes Huhn. Am Morgen, wenn du zurüc= 
kommst, findest du im ersten Loch einen Ring, wenn du diesen an 
deinem Finger oder Halse umdrehst, bist du unsichtbar, solange, 
bis den Ring nicht Wasser trifft. Im zweiten Loch findest du 
einen Gulden, so oft du diesen auch ausgibst, wird daneben 
immer ein anderer sein. Im dritten Loch findest du einen Spiegel, 
in welhem du alles, was du willst, siehst, aber du mußt zuerst 
einen Hund oder eine Katze hineinshauen lassen®. Abgesehen 
von den aus dem Fortunatusmärden hiehergelangten Zügen weisen 
die näctlihe Stunde, die Gruben, der sih spaltende Weg® und 

! Kiesewetter: Faust in der Geschichte und Tradition. 1893. 463, 464. 

® C.Bartsch: Zauber und Segen. Zeitschrift für deutsche Mythologie. III. 330. 

’ Vgl. über Kreuz- und Sceidewege. Roscher: Hekate. Ausf. Lexikon. 
I. 1890, 1891, 1894. Gruppe: Griechische Mythologie und Religionsgescicte. 
1906. I. 761. Il. 1291. F. Boll: Griehishe Gespenster. Ardhiv für Religions= 
wissenschaft. XII. 149-151 (Lekanomantie auf dem Kreuzwege). R. C. Thomp= 
son: Semitic Magic. 1908..177, 201. Oldenberg: Die Religion des Veda. 1894. 
267, 268, 442, 495, 497, 510, 562. (Auf dem Kreuzwege errichtet man dem König 
einen Grabhügel.) W. Crooke: The Popular Religion and Folk-Lore of Northern 
India. 1896. I. 78, 165. A. Maury: La Magie et l’Astrologie. 1864. 176, 177. 


F. S. Krauss: Slawische Volksforshungen. 1908. 38. Drechsler: Sitte, Brauc. etc. 
und Volksglaube in Schlesien, 1903. I. 1906. II. Laut Index. Wuttke: Volks= 


Spiegelzauber 07, 


das Opfer schwarzer Hühner! auch hier auf den chtonishen Vor- 


stellungskreis. 

Bevor wir die Märchenvarianten des Seherspiegels berücksichtigen, 
wollen wir der materiell-ethnographishen Seite der Frage, dem so- 
genannten Formkriterium? einen kurzen Exkurs widmen. In Österreich 
finden wir den dreieckigen W alpurgisspiegel®. In Thüringen den viereckigen 
Zauberspiegel*. In Lechrain den »Bergspiegel«, ein mit Weihwasser 
gefülltes »Uringlas« und den Erdspiegel, eine runde Metallscheibe?, 


abergfaube. 89 und laut Index. Wlislocki: Volksgfaube und religiöser Brauc der 
Magyaren. 1893. 166. P. Sebillot: Le Folk-Lore de France. I. 80, 206-208, 
210, 288. III. 36, 86, 123, 135, 240, 487. A le Braz: La Legende de la Mort 
chez les Bretons Armoricains. 1902. I. 56, 172. (Vernichtungszauber an drei Kreuz- 
wegen. II. 314, 390, 396.) J. H. Weeks: Notes on Some Customs of the Lower 
Congo People. Folk-Lore. XIX. 423 (Zwillinge, durch den Blitz erschlagene 
Menschen und Selbstmörder bestattet man am Kreuzwege. Vgl. die oben zitierten 
griehishen Quellen und E. Rohde: Psyce. 1907. I. 320, II. 83, 410). B. Gutt=- 
mann: Die Opferstätten der Wadshagga. A. R. W. XII. 98 (Opfer der herum= 
irrenden Seelen). Abiose: Some West-African Customs. Folk-Lore. XVII. 
1907. 871 (Das krähende Huhn tötet man und verzehrt es auf dem Kreuzwege). 
J. H. Weeks: The Congo Medicine Man. Folk-Lore. 1910. 454. E. M. Leather: 
The Folk-Lore of Herefordshire. 1912..83, 122, 123. W. Crooke: King Midas 
and his Ass’s Ears. Folk-Lore 1911. 185. E. Westermarck: The Origin and 
the Development of the Moral Ideas. 1908. II. 256 (Begräbnis). Lippert: Die 
Religion der europäischen Kulturvölker. 1881. 310. Der Kreuzweg ist die auto= 
symbolische Projektion der seelischen Spaltung, der einander kreuzenden Impulse, 
welche die sih an die Bewohner der Unterwelt wendende gerährliche Zeremonie, 
d. h. die Introversion, begleiten. Dieselbe Erklärung gibt Silberer: Probleme der 
Mystik und ihrer Symbolik. 1914. 171 über Scheidewege im Märden. 

ı Vgl.I. Scheftelowitz: Das stellvertretende Huhnopfer. 1914. F. Dörfler: 
Kakas, tyuk &s tojäs a magyar nöphitben. (Hahn, Huhn und Ei im ungarischen 
Volksglauben.) Ethn. VI. 205. Blau: Huhn und Ei im Glauben des Volkes im 
oberen Angeltale. Zeitschrift für österreibische Volkskunde. 1902 Fehrle: Der Hahn 
im Aberglauben. Hessische Blätter für Volkskunde. XVI. 65. Wasiljew: Über- 
sicht über die heidnishen Gebräuche, Aberglauben und Religion der Wotjaken. 
Mem de la Soc. Finno-Ougrienne. XVIIL. 1902. 108. A. Strausz: Bolgär n£phit. 
Bulgarischer Volksglaube.) 1897. 340. G. Moldovän: A magyarorszägi romä= 
nok. (Die ungarländishen Rumänen.) 1913. 491. Wlislocki: Volksglaube und 
religiöser Brauch der Magyaren. 1893. 166. Marienescu: Az äldozatok. (Die 
Opfer.) Ethn. II. 56. Vgl. auch oben über Huhnopfer und Schatzgräberei. 

2 Dem Formkriterium wird im Lager der »Kulturkreisler« eine außerordent= 
lih übertriebene Bedeutung zugeschrieben. Vgl. Gräbner: Die Methode der 
Ethnologie, 1911. Dr. Meszäros, geht in seiner öfter zitierten Abhandlung (Der 
ungarishe Rundspiegel. Neprajzi Ertesitö. 1914, 1915.) von der Annahme aus, 
der runde, grifflose Spiegel sei ausschließlih dem Kulturkreis der Völkerwanderung 
eigen und somit seien auch die westungarishen Formen auf China zurückzuführen. 

> Th. Vernaleken: Alpensagen. 1885. 109-112. 

t Wuttke: Volksaberglaube. 245. 

5 Leoprechting: Aus dem Ledrain. 1855. 93, 94. Zum Uringlas mit Weih- 
wasser, vgl. Scot: Discoverie of Witchcraft. 1651. 188. Bourke-Krauss=-Jhm: 
Der Unrat in Sitte, Brauh etc. der Völker. Beiwerke zum Studium der Anthro- 
pophyteia. VI. 1913. 222. Eine besondere Determinante für das »Uringlas« bildet 
natürlich die magische, beziehungsweise vom Standpunkte der infantilen Sexualität, die 
affektive Bedeutung des Urins. Die Mongolen halten, um zu dem als Arznei hodh= 
geschätzten Schildkrötenurin gelangen zu können, dem Tiere einen Spiegel vor, worauf 
dieses beim Anblick seines Ebenbildes ihnen das Gewünschte abgibt. Seligmann: 
Der böse Blick. 1910. I, 182, nah Kirilow: Bote für Sozialhygiene. 1892. 103. 


Ethnographisch- 
kultur- 


historisches. 


108 Dr. Geza Röheim 


also eben jener Typus, der nah Dr. Meszäros auf den dinesi= 
shen Ursprung hindeutet. Ebenso wie Europa nicht aus- 
scließlih die Heimat der viereckigen oder mit einem Griff ver- 
sehenen runden Typen bildet, finden wir auch im nahen Orient 
nebeneinander die runden und eigen, gestielten und grifflosen 
Formen!. Im fernen Westen, in Wales finden wir ebenfalls den 
Rundspiegel?. Von allen diesen aber wissen wir nicht sicher, ob sie 
niht zu dem gestielten, runden Typus gehört haben, die Grifflosig- 
keit ist aber ganz sicher bei dem odenwalder Zauberspiegel. Dieses 
Exemplar wurde in Breitenbrunn aufbewahrt, es diente zum Sehen 
in die Zukunft, sowie auh zum Schatzsuhen. Nur ein am weißen 
Sonntag? geborner Mensch kann ihn benützen und auch dieser muß 
ihn anfangs vor den Augen halten und mit dem Hut zudecen. 
Das Ganze ist ein rundes Lederfutteral im Durchmesser von 
sieben Zentimeter mit ein Zentimeter hohem Rand, dazu gehört 
ein Deckel aus Fensterglas und ein rundes Papierblatt, auf welchem 
auf das achtzehnte Jahrhundert deutende Buchstaben sichtbar sind. 
In das Lederfutteral füllt man Erde (deshalb Erdspiegel). Auf diese 
legt man das Papierblatt und darauf die Glasscheibe, auf welcher 
die gewünschte Vision erscheint. In der Mitte des Papierblattes ist 
der »Drudenfuß«, das Hexagramm sichtbar, die Buchstaben aber 
ergänzt Wünsch folgendermaßen: [Eli] as [pro] phet [a]. Das 
Hexagramm umgeben die Planeten‘. Das Hexagramm ist in ein 
Quadrat gefaßt, in dessen vier Ecken wir die Namen der vier 
Erzengel sehen. Das Quadrat ist von zwei konzentrishen Kreisen 
umgürtet, im inneren Kreise befinden sih die Namen der vier 
Evangelisten, im äußeren Kreise ist die Schrift nur zur Hälfte les= 
bar... Jehova +... Alpha et Omega’. Die Formel können wir 
nah Quellen aus dem sechzehnten Jahrhundert dahin ergänzen 
»+ om Elohim + Adonai + EI Zebaoth + Agla Jehova + Alpha 
+ Omega®. Aus Haute-Gruyere ist ein mit ähnfiher Formel ver- 
sehener Spiegel bekannt. Die ganze folgende Beschreibung stammt 


ı M. Reinaud: Monumens arabes, persans et turcs. 1825. II. 393, 394. 
China wird hingegen tatsählih durch den runden Typus charakterisiert (R- 
Wilhelm: Chinesische Spiegel. Ostasiatishe Zeitschrift. II. 65-87). 

2 Trevelyan: Folk-Lore and Folk-Stories of Wales. 1909, 215, 216. 

® Invocavit: der erste Sonntag der Fastenzeit. Der Zusammenhang 
zwishen der Geburt am Fastensonntag und der Spiegelshau haben wir wahr= 
sceinlih in dem dem Sehen vorausgehenden Ritus des Fastens zu sucen. 
Wer »an einem goldenen Sonntage« in den »Erdspiegel« schaut, soll unter einem 
gewissen Zeihen in der zwölften Stunde geboren sein. Leoprechting: Aus 
dem Ledrain. 1855. 93. Haberland: I. c. 338. 

* Vgl. den nad astrologischen Prinzipien verfertigten Zauberspiegel des 
Pico di Mirandola. S. Rubin: Geschichte des Aberglaubens, 31. M, Reinaud: 
Monumens arabes, persans et turcs. 1828. II. 404-417. Miroir astrologique. 

5R. Wünsch: Ein Odenwalder Zauberspiegel. Hessishe Blätter für 
Volkskunde. 1904, 155. 

6 W. Mannhardt: Zauberglaube und Geheimnisse im Spiegel der Jahr- 
hunderte. 1909. 165. Die Ergänzung ist nah Wünsh, obshon in der Quelle 
die Formel sid nicht auf einen Spiegel, sondern auf einen magischen Kreis bezieht. 
Vgl. zum Ganzen Zt. d. V. f. Vk, 1913. 223, 


Spiegelzauber 109 


aus dem französishen »Grand Grimoire«. Sie hat den Titel »Secret 
magique, rare et surprenant, Maniere de faire le miroir de Sala=- 
mon! propre a toute divination«. Solange als der Spiegel verfertigt 
wird, darf man keine »action charnelles begehen weder in der Tat, 
noch in Gedanken. Wir finden hier also wieder den oben behan- 
delten Zusammenhang zwishen Narzißmus, Spiegelshau und 
Keuscheit. Doch neben der individual=psydhologishen Erklärung 
erscheint dies natürlih auch als Ausfluß der christlich-mittelafterlihen 
Weltanschauung, wie dies die folgende Regel zeigt, die viele mild- 
tätige, fromme Handlungen vorschreibt. »Dann nimmt man eine 
glänzend gescliffene, ein wenig konkave Stahlplatte und schreibt 
mit dem Blute einer weißen Taube? in die vier Ecken die Namen 
Jehova, Elohim, Mebiaton (sic), Adonai und wickelt sie in reine, 
weiße Leinwand. Wenn man den Neumond sieht?, geht man in 
der ersten Stunde nach Sonnenuntergang zum Fenster und sagt 
andädtig: »O Eternel, O Roi £&ternel, Dieu ineffable qui avez cree 
toutes choses, par amour et par un jugement occulte, pour la sant& 
de ’homme, regardez-moi, N. votre serviteur tres indigne et mon 
intention et daignez m’envoyer l’ange Anael sur ce miroir quil 


! Der berühmte magishe Ring des Königs Salamon (Salzberger: Die 
Salamonssage in der semitishen Literatur. 1907. Kap. II.) scheint sich im euro= 
päishen Folk-Lore in den Spiegel Salamons verwandelt zu haben. So in zwei 
russishen Salomosagen bei Dr. Meszäros: A magyar kerek tükör. (Der unga= 
rische Rundspiegel.) Ertesitö. 1914. 238. Ferner: »Oglinde fu Solomonu Imperatus. 
Saineanu: Basmele Romäne. 1895. 771. Auch auf dem Odenwalder Spiegel 
befindet sich das Sigillum Salamonis. Der Spiegel gleitet in den Typus des Fortu- 
natusmärchen hinüber und erscheint dort als Wunscgegenstand neben dem Ring. 
(A. Aarne: Vergleichende Märcenforshungen. Mem. Soc. F, Un. XXV. 1908. 
34.) Der alles zeigende Spiegel und der unsichtbar-mahende Ring (©. Rank: Die 
Nacktheit in Sage und Dichtung. Imago. 1913. 438) sind komplementäre Symbole, 
denn der mit Hilfe des Ringes unsichtbar gewordene Mensch befriedigt die eigene 
Schaulust: Gyges belauscht die-nackte Königin. I. c. Der Spiegelshau analog ist 
das Schauen durch den Ring oder durch eine Spalte. (H. Bertsch: Weltanschauung, 
Volkssage und Volksbraud. 1910. 138, 139.) Vgl. Feilberg: Der böse Blick in 
nordischer Überlieferung. Zt. d. V. f. Vk. 1901. 429. Den Spiegel Salamonis erwähnt 
noch Reichardt: Vermischte Beiträge zur Beförderung einer näheren Einsicht in 
das gesamte Geisterreih. 1781. I. 518, zitiert bei Kiesewetter: Faust. 334. 

® Mit dem Taubenblute vertreibt man die Warzen und sonstigen Aus- 
shläge, es ist also offenbar das Symbol der auch anderwärts betonten Reinheit. 
Vgl. Wuttke: I. c. 343, 119.. Die Taube ist im allgemeinen Symbol des 
Heiligen Geistes und als solcher Gegner des Teufels. (Vgl. übrigens E. Jones: 
Die Empfängnis der Jungfrau Maria durch das Ohr. Jahrbuch der Psychoanalyse. 
1914. V1. 187, 188.) Intrapsychisch aufgefaßt entspricht ihre Rolfe der Sublimierung, 
besonders der teuflishen, der schwarzen (analerotischen) Wünsche, Vgl. den 
Kampf der Taube und des Raben um die Seele (Autosymbolish), E.M. Leather: 
The Folk-Lore of Herefordshire. 1912. 166. Strackerjan: Aberglauben und 
Sagen aus dem Herzogtum Oldenburg. 1909. I. 320. Ipolyi: Magyar Mythologia. 
(Ungarische Mythologie.) 1854. 359. Die Hexen vermögen die Gestalt eines jeden 
Tieres anzunehmen, nur nicht die der Taube. Drechsler: Sitte, Brauh usw. II. 
123. Strackerjan: Aberglaube etc. aus Oldenburg. 1909. I. 403. H. v. Wlis- 
locki: Märchen und Sagen der transsylvanischen Zigeuner, 1886. 105. R. Kühnau: 
Sclesishe Sagen. 1911. II. 559, III. 1913. 226. 

> Vgl. den Zauberkreis am Neumondfreitag. Kiesewetter: Faust. 1893. 447. 


110 Dr. Geza Röheim 


mande, commande et ordonne & ses compagnons et a vos sujets 
que vous avez faits ö& Tout-puissant, qui avez &t&, qui tes et qui 
serez eternellement qu’en votre nom ils jugent et agissent dans 
la droiture pour m/instruire et me montrer ce que je leur deman- 
drais. Man nimmt entsprehend wohlriehende glühende Kohle und 
spricht: unter Erwähnung der Cherubim und Seraphim ein neues 
Gebet, in welchem man Anael in einer der vorigen ähnlihen Weise 
anruft. Das muß man achtundvierzig Tage hindurh wiederholen. 
Nach Ablauf der actundvierzig Tage, manchmal auch schon 
früher, erscheint Anael in Gestalt eines herrlihen Knaben! und be- 


fiehlt seinen Genossen, dem Eigentümer des Spiegels Gehorsam zu . 


leisten. Vor dem Gebrauch muß man den Spiegel stets mit Safran 
duftig machen und mittels der Zauberformel Anael zitieren’. Dem 
französishen Verfahren entspricht vollkommen das des »Höllen- 
zwangs«®, das seinerseits wieder dem ungarishen Stahlspiegel zum 
Muster diente. Der Titel des Kapitels lautet: »Ein Experiment 
von einem stählernen Spiegel seu Divinatio Specularis.« Fertige 
einen Stahlspiegel an, das heißt, nimm ein rundes Blehstück als 
Spiegel und laß es schleifen bis es völlig glänzend wird. Dann nimm 
einen anderen Stahlspiegel, einen ebenso großen, doch dieser soll 
nicht glänzend sein und lege ihn auf die andere Seite, ohne hinein= 
zuschauen. Es bedarf auch eines Stück Holzes oder, wenn dieses 
nicht vorhanden ist, eines Papiers, über welches der Geistlihe das 
Evangelium Johanni lesen muß, aber der Geistlihe muß sich vor- 
her drei Tage des Weibes enthalten haben, au. soll das Papier- 
blatt mit Weihrauch beräucert, mit Weihwasser besprengt worden 
sein. Aus dem Papier schneide ein rundes Blatt heraus, genau so 
groß, daß es dem Spiegel entspricht; auf dieses aber schreibe in 
den ersten Kreis Alpha et Omega, Adonay, in den zweiten 
Tetragrammaton, Sabaoth, Emanuel, in den dritten »Verbum caro 
factum este. »Der schwarze Circul oder Umkreis aber soll haben 
eben diese Namen in einem Umkreisse durch das Widerspiel.« Der 
Geistliche liest drei Messen über dem Spiegel, dann das Evangelium 
Johanni und, wenn er zu den Worten kommt »Verbum caro fac- 
tum ests, macht er über den Spiegel das Kreuzzeihen und sagt 


ı Der in Gestalt eines herrlihen Kindes erscheinende Engel dürfte ein 
idealisiertes Biect der infantilen Persönlichkeit des Spiegelshauers sein. Vgl. den 
»kleinen Mann« der Nürnberger Sage, der aber nur dem keuschen Knaben er= 
sceint. E. S. Hartland: The Legend of Perseus. 1895. II. 15. »He who owns 
a crystal can call one of the Little People to him at any time and make him do 
his Bidding.« Mooney: Myths of the Cherokee. (XIX. Report.) 1900. 460. Laut 
der Sage war einer dieser Zwerggeister einst ein Knabe, der in den Wald entlief 
und nun, um seine nekischen Spiele ausführen zu können, immer unsichtbar bleiben 
will, Ebenda: 334, 335. Das Nekishe im Wesen der Puc’s et Consortes deutet 
auf ihren Ursprung aus dem Infantilen. 

2 T. Lambelet: Les croyances populaires au Pays=d’-Enhant. Schweize- 
rishes Archiv für Volkskunde. 1908. XII. 123. - 

s Der »Grimoir ist offenbar der direkte Vorläufer des Höllenzwangs« 
Kiesewetter: Faust. 345. 


En EEE us 
___ 


im nn. 


Spiegelzauber 111 


die »Beschwörung« her. Ein anderer, als der Eigentümer, darf nicht 
in den Spiegel schauen, denn der Spiegel würde dadurch beflekt 
werden!. Aber auch der Eigentümer des Spiegels kann das Ge- 
wünschte im Spiegel nur dann sehen, wenn er in reiner Kleidung 
und in unbeflektem Zustande hineinschaut?. Schon die in den ver- 
schiedenen Varianten figurierenden Namen (die vier Erzengel? usw.) 
deuten gleichfalls auf eine einheitlihe Quelle. Bei einer Geisterbe- 
shwörung in Wales besprengt der Beshwörer Teppih, Tisch und 
Kristall mit dem eigenen Blute und zitiert den Geist, den er hier 
Phanael «vgl. Anael) nennt, »by the power of the holy names 
Aglaen, Eloi, Sabbathon, Anepituraton, Jah... ., Immanuel ..., 
Sadai...‘ in den »fleckenlosen« Kristall’, Die gesamte Überliefe- 
rung weist nad Osten hin, nicht die primitive, allgemein-menscliche 
Zauberei, sondern die gelehrte Magie des hellenistishen Zeitalters 
gibt die gemeinsame Urquelle ab. Auch arabische Handsdriften 
wissen von auf den Spiegel geschriebenen Koranworten, durch die 
der in den Spiegel schauende Kranke gesund wird; man macht den 
Spiegel duftig (vgl. ante. über ‚den Safran), beschwört die Engel 
und Erzengel, an den Rand des Spiegels schreibt man den Namen 
der vier Erzengel (Gabriel, Michael, Asrael® und Asrafel), man 
fastet sieben Tage und schließt sich von der Außenwelt ab, worauf 
über Beshwörung der Engel im Spiegel erscheint, um den Wunsch 
des Beshwörers zu erfüllen, Wie der deutsche Höllenzwang im 
Abhängigkeitsverhältnis steht gegenüber dem französischen Grimoire, 
so läßt sich auch der literarishe Einfluß auf die ungarishe münd- 
lihe Überlieferung und deren Abhängigkeit vom Deutschen voraus- 
setzen. Die hohe Schule der Magie hat trotz ihrer aus dem Orient 
stammenden Elemente in Europa offenbar denselben Weg zurüc- 
gelegt, wie die systematische Hexenverfolgung vom Westen nacı 
Osten®. Aud in den Stahlspiegel des ungarischen Schatzgräbers 
läßt man ein Kind schauen?, wir finden hier ebenfalls die auf den 


! Vgl.: Der Spiegel wird flekig, wenn eine menstruierende Frau hinein- 
schaut, Plinius: Historia Naturalis. Lib. VII. Cap, XV. 

2 Kiesewetter: Faust in der Geschichte und Tradition. 1893, 464, 465. 
Die Betonung der Reinheit ist vielleicht eine Verdrängungsform der Analerotik. 
Vgl. weiter unten das Verwenden von Safran, um den Spiegel duftig zu macen. 

® Vgl. ante beim Beryli Aubrey: Miscellanies und die Verbreitung der 
Erzengelnamen in den Papyri, besonders eben bei der Lekanomantie. A. Abt: 
Die Apologie des Apuleius von Madaura, 1908. 257, 

* Über den Namen Jao Sabaoth in den Zauberworten. Abt: Ebenda. 254. 

®J. C. Davis: Ghost-Raising in Wales. Folk-Lore. XIX. 328. 

% Aciel, Azernel, Azarel, Azael und ähnliche Namen in den mittelalterlihen 
Zauberbühern. Kiesewetter: Ebenda. 406, 407. et pa. 

” M. Reinaud: Monumens arabes, persans et turcs. 1828, 1. 401, 402. 

® F, Hansen: Zauberwahn, Inquisition und Hexenprozeß im Mittelalter. 
1900, 113, 19. 

® M.M.R. Varga: Szarvasvideki babonäk. (Aberglauben aus der Szar- 
vaser Gegend) Ethn. 1908. 162. F. Szell: Törvenykezesi adatok alföldi babo- 
näkröl. (Gerichtsakten über Aberglauben im ungarischen Tiefland.) Ethn. 1892. 
113. Dr. Meszäros: I. c. Ertesitö. 1915. 46. 


Der Spiegel im 
Märchen als 

Objektivierung 

der kindlichen 
Schaulust. 


112 Dr. G&a Röhelm 


Spiegel geschriebenen Zauberworte und ähnlich wie bei den Deutschen 
as Vergraben am Kreuzweg, und das vorherige Hineinshauen- 
lassen durh einen Hund!. Aud jene-Voraussetzung Dr. Möszäros’, 
daß der grifflose Rundspiegel nur auf dem von der Völkerwande- 
rung berührten Gebieten figuriert, ist nicht stihhaltig. Auf isoliertes 
Vorkommen weist er selbst hin? und er würde gewiß dessen Vor- 
kommen in Wales, im Odenwald, in Lecdrain gleichfalls hieher ein- 
reihen. Ih war nicht in der Lage, derzeit behufs Anstellung von 
Vergleihen die Museen Österreihs abzusudhen, aber ih habe 
Dr. Trebitsch in der Ethnographischen Abteilung des ungarischen 


Nationalmuseums die westungarischen Spiegelhölzer gezeigt und ihn 


gebeten, sih für dieses Thema in Wien weiter interessieren zu 
wollen. Seine Antwort lautete, daß das Museumsmaterial zurzeit nicht 
zugänglich sei, aber laut Professor Haberlandts mündlihen Angaben 
schreibe er, daß der grifflose Rundspiegel in den Alpenländern sehr 
häufig vorkommt. Wie also die ungarishen magishen Stahlspiegel 
und der darangeknüpfte Volksglaube sih als aus den Westen 
stammend erweist, so ist auh anzunehmen, daß auch die west= 
ungarischen Spiegelhölzer eher zu ihren heutigen westlihen Nadı- 
barn, als zu den Spiegeln aus der Periode der Völkerwanderung, 
sowie zu den chinesischen in Verwandtschaft stehen. Der grifflose 
runde Typus war übrigens seinerzeit auch in Mitteleuropa vor= 
herrshend. Weinhold erwähnt neben den Spiegeln mit Griff die aus 
»grifflosen runden Kapseln« bestehenden, die man auf einer Schnur 
befestigt zu tragen pflegte®, und die deutschen Spiegel sind im all- 
gemeinen ursprünglih runde polierte Bronze-, Silber- oder Stahl- 
spiegel. Die letzteren standen noch im fünfzehnten Jahrhundert in 
Gebrauch‘. Der Glasspiegel war wohl shon im dreizehnten Jahr- 
hundert gebräudlic, aber nur in der Form kleiner runder Kapseln’. 

Zweifellos gehören die alles zeigenden Spiegel der Märcen, 
die gewöhnlih in der Gesellshaft anderer » Wunscobjektes vor= 
kommen, in ein und dieselbe Kategorie mit dem Spiegel des Sehers 
und spielen gleichzeitig dem infantilen Charakter des Märdens ent=- 
sprehend die Rolle der Objektivation der kindlihen Schaulust. In 
einem russishen Märchen wird ein kleines Mädchen durd die älteren 
Schwestern umgebracht, damit sie ihm den silbernen Teller, in 
welhem es herrlihe, ferne Gegenden, Städte, Flüsse, Wälder, 


ı ], Wieder: Kincsäsö babonäk. (Schatzgräber-Aberglauben.) Ethn. 1890. 248, 

2 M. Moore: Carthage of the Phoenicians. 1905. 91. E.B. Tylor: Early 
History of Mankind. 1870. 255. E. Seler: Gesammelte Abhandlungen zur 
amerikanishen Sprach- und Altertumskunde. II. 850, 852. III. 412. (Meszäros: 
I. c. 1914. 19, 20.) 

3K, Weinhold: Die deutshen Frauen in dem Mittelalter. 1882. II. 338. 

ıK. Weinhold: Ebenda. II. 336. A. Schultz: Das höfishe Leben zur 
Zeit der Minnesinger. 1879. I. 176. 

5 A. Schulz: I. c. I. 176, 177. Auf der Rückseite des einen Spiegels die 
allegorishe Abbildung von »vrouwe Minnes. Vgl. noh F. Hottenroth: Hand- 
buch der deutshen Tracht. 557. 


Bee 


Spiegelzauber 118 


Meere, mädtige Berge und wundershöne Himmel sieht!, weg- 
nehmen können. In einem rumänishen Märchen schickt die böse 
Schwiegermutter zu den mit Sonnen- und Mondsymbolen? geborenen 
Kindern der Shwiegertochter die alte Hebamme, auf,deren Zureden 
hin das Mädchen von seinem Bruder folgendes verlangt: 1. Vogel- 
milh. 2. Den Spiegel der Lamia®. 3. »Die Schöne der Weltst, Zum 
selben Typus gehört ein ungarishes Märchen. Der goldhaarige 
Königssohn ist traurig. 1. Weil er den Vogel haben will, der 
Goldwasser trinkt. 2. Weil ihm der Spiegel fehlt, aus welchem 
er die ganze Welt sehen könnte. 3. Weil er das Fräulein des 
Meeres haben will. Den Spiegel bewahen zwölf Teufel, die nur 
um Mitternacht zehn Minuten schlafen. Das Zauberpferd zeigt ihm 
im Spiegel eine Steinmauer: »Dort wohnt eine sündhafte Frau, ich 
spuce sie stets an, wenn ich dieses Weges gehe.« »Spuc’ nicht 
mehr hin, das ist deine eigene Mutter«’,. In einer neugriedhischen 
Variante shit die alte Königin, um die Kinder aus der Welt zu 
schaffen, zur Tochter eine Hebamme, die dieser einredet, es fehle 
ihr zum vollen Glük noh: 1. Der Zweig, welcher Musik macht. 
Den hüten zwei Drachen, die jeden verschlingen, aber um Mitternacht 
schlafen sie mit aufgesperrten Rahen, da muß man ihnen in den 
Racden schießen. Die Sonne und der Morgenstern bringen ihn her- 
bei. 2. Der Spiegel, in welhem man alle Dörfer, alle Städte, alle 
Länder und Prinzen sehen kann. Den hüten vierzig Drahen, die 
um Mitternacht schlafen. 3. Den Vogel Dikjeretto, welcher alle 
Sprahen der Welt versteht und wenn er in den Spiegel schaut, 
sagen kann, was auf der ganzen Welt die Menschen reden. Der 
Vogel versteinert durch seinen Blik beide Geschwister, die Hemden, 
die sie zu Hause gelassen, färben sih schwarz. Den Vogel vermag 
nur das Mädchen selbst zu holen, die sih ihm von rückwärts 
nähert, wobei sie nackt sein muß. Sie weckt die Geschwister aus 
der Versteinerung, der Vogel erzählt dem König das Vorgefallene‘. 


1J. A. Macculloch: The Childhood of Fiction. 1905. 35, zitiert T. L 
Naake: Sfavonic Fairy Tales. 1874. 170. Zur Vision, vgl.: in Wales erscheinen 
im Kristall verschiedene Gesichte, ausgetretene Pfade (Die ausgelaufenen Bahnen! 
Die Visionen sind ja symbolische Erinnerungsbilder, deren Wiederersheinen am 
ausgetretenen Pfade erfolgt.) mit ruhig einherwandelnden Männern, Frauen, Flüsse, 
Brunnen, Berge und Meere. Am sonnbescienenen Hügelabhang weidet der Hirte 
seine Herde, sieht man unzählige Tiere, Vögel, Ungetümer. J. €. Davies: 
Ghost-Raising in Wales. Folk-Lore. XIX. 329. 

2 Vgl. Prato: Sonne, Mond und Sterne als Schönheitssymbole in Volks- 
märchen und in Liedern. Zeitschrift des Vereins für Volkskunde. 1895. 363. 1896. 24, 

® Vgl. Synodus S. Patricii et Auxentii cap. 16. Christianus, qui crediderit 
esse Lamiam in Speculo, quae interpretatur striga, usw. Ducange: Glossarium 
mediae et infimae latinitatis, VII. 1886. 549. Specularii. 5 

* Frumösa pämintului, Sainenu: Basmele Romäne. 1895, 411. 

> L. Kälmäny: Ipolyi Arnold mesegyüjtemenye. (A. Ipolyis Märcen- 
sammlung.) 1914. 318—323,- 

° 1. G. v. Hahn: Griedhishe und albanishe Märchen. 1864. II. 40-49. 
Aarne: Verzeihnis. F, F. Communications Nr. 3. Typus. 707. Bolte=Polivka: 
Anmerkungen zu den K. u. H. M. II. 1915. 380-394. Der Spiegel auch in einer 


Imago V/2 8 


114 Dr. Geza Röheim 


Es läßt sich leicht erraten, daß der Wundervogel, der musizierende 
Zweig, der alles offenbarende Spiegel, die Schönste der Welt, alle 
dasselbe bedeuten, nämlich eben »die Shönste der Welts. Bei ein= 
gehender Analyse ließen sih die Verzweigungen sämtlicher Motive 
verfolgen, doch mangelt es uns hiezu an Raum, aud bedürfen wir 
ihrer nicht. Es genügt der Hinweis, daß schon die beiden Protago- 
nisten des Schauspiels, Bruder und Schwester, darauf deuten, daß 
die den Symbolismus herbeiführende Verdrängung den inzestuösen 
Wünschen der Kindheit gilt" und daß das In-den-Spiegel-shauen 
auh hier gewissermaßen ein reduziertes Symbol der erotischen 
Triebe darstellt. 


III. Spiegel und Herrscher. 


Das Zepter der schottishen und der ungarishen Könige wird 
durdh eine Kristallkugel gekrönt, deren Gestalt an den zu magischen 
Zwecken benützten »Beryli« erinnert?:. Zwishen den Welteroberern 
Asiens ist es Timur Lenk, der mit dem Spiegel als Brustshmuck 
abgebildet wird® und für das Haus der Baberiden war die auf dem 
Bruststük der Kleidung angebrahte Shmucsceibe derart charakte- 
ristish, daß man die königlihe Familie geradezu die mit dem 
»Spiegel« nannte*. In Afrika binden die Kabinda zum Zwecke der 
Wahrsagerei Spiegel auf ihre Hausgötzen. Quenquea, der König 


türkishen Variante (Jakob: Türkische Bibliothek. II. 22. Bolte: 389.) und in 
einem swanetishen Märdhen (Ebenda. Etn. Obozr: VII. 153.) und in einem 
serbischen (Ebenda. 384. Dvorovit: 91-94. Blume, der Spiegel der Feenkönigin, 
die Feenkönigin selbst). 

ı Im Märden wird die Wunscerfüllung durch eine doppelte Projizierung 
bewerkstelligt. Die Tochter projiziert ihre gefährlihen Wünsche auf das einflüsternde 
alte Weib (Mutter-Imago), der Bruder, der die Wunschgegenstände holt, auf die 
Schwester, deren Wünsche er erfüllt. Die Mutter-Imago ist in eine feindliche 
(Schwiegermutter, alte Hebamme) und in eine erotisch betonte Form (Schwester- 
Meerfräulein) gespaltet. (In der ungarischen Variante zeigt ja der Spiegel nicht den 
Prinzen oder die Schöne, sondern das Bild der Mutter) Für die Identität der 
Schwester mit der Schönen der Welt spricht ein Parallelmotiv, demgemaß die drei 
magischen Gegenstände, unter ihnen der Spiegel von den Freiern eben der 
Schönen der Welt gebraht werden. (Vgl. Macculloch: The Childhood of Fic= 
tion. 1905. 36, siehe weiter unten.) Das Mädchen wünscht ja eigentlih sich selbst 
(Meerfräulein), deshalb muß es auch selbst die Aufgabe lösen (Narzißmus). Die 
dabei geforderte Entblößung ist die naturgemäße Ergänzung der Schaufust (Spiegel). 
Drachen, Symplegaden, der versteinernde Vogel (Medusa) bezeichnen den Weg, 
auf welchem eine eingehendere Analyse fortschreiten könnte, Zu dem Spiegel des 
Sehers im Märchen, vgl. noh Afanassjev-Meyer: Russishe Märchen 1906. 
l. 105. Röna=-Sklarek: Ungarishe Volksmärdhen. 1909. Neue Folge. 227. 

2 G. F. Black: Scottish Charms and Amulets. Proceed Soc. Ant. Scot. 
XXVII. 1893. 436. Ebenda. XXIV. 98, 116. Ipolyi: A magyar szent korona 
es a koronäzäsi jelvenyek. (Die heilige ungarische Krone und die Krönungs- 
insignien.) 1886. 208. Im Kristall sind Fabeltiere eingraviert, ferner ein angeblich 
»kabalistishes« Zeichen. 
£ 3 Dr. Me&szäros: A magyar kerek tükör. (Der ungarische Rundspiegel.) 
Ertesitö. 1915. 35, nah T. Mann: Der Islam einst und jetzt. 93. 

4 Dr. Me&szäros: Ebenda nah A. Racinet: La costume historique. 
1888. III. Unter dem Zeichen ) »de la famille de celles dites ä miroirs«, 


—_ 


Spiegelzauber 115 


von Remba, wollte sih um keinen Preis von seinem Spiegel 

trennen, denn er glaubte, daß, wenn der Spiegel bricht, aud sein 

Lebensfaden sofort abreißt!. Der dritte Typus also, auf den wir 

im Zusammenhang mit dem Spiegel hinweisen können, ist nach dem 

Kinde und nad dem Seher der König. Den Ursprung des Königtums Kane Reraler 

aus der gesellshaftlidhen Schichte der Zauberer hat Frazer meisterhaft zung der infan- 
nachgewiesen, in den früheren Ausführungen aber vermocten wir "hantasien auf 
darauf hinzudeuten, daß die Fähigkeit des Sehers aus dem zähen un 

Festhalten an dem infantilen Narzißmus und Schaulust, oder aber Königtums, 
aus dem Rüdfall in diese verständlih wird. Wir dürften kaum 

irren, wenn wir dieselbe psychische Konstellation auch bei der könig- 

lihen Kategorie der Zauberer voraussetzen. Die Allmachtsphantasien 

des Kindes werden bei den Königen der Primitiven realisiert? und 

die Selbstanbetung des Kindes wird durh die Anbetung eines 

Volkes abgelöst?. Dem König bleibt auf Erden nichts anderes zum 

Anbeten, als das eigene Ih, die augenfälligste Form dieser An- 

betung ist das selbstgefällige Betrachten des Ebenbildes im Spiegel. 

In Indien gehörte das Schauen in den Spiegel zu den gewöhnlichen, 

alltäglichen Pflihten des Königs. »Gesalbt und geshmüct beshaue 

er sein Gesicht im Spiegel.« Nachdem der Landesfürst den Göttern 

und seinen Lehrern gehuldigt, einem Brahminen eine trähtige Kuh 

BeSNEnEt, sein Gesicht in zerlassener Butter oder in einem ie 
etrachtet hat, möge er erkunden, in welchem Sternzeihen der 
Mond steht usw.*. Vor Beginn eines Bee ist die Zeremonie 
der königlihen Spiegelschau von besonderer Wichtigkeit’. Das erste 
Morgengeshäft Krsnas ist, unter die Brahminen tausend Kühe zu 
verteilen, glückbringende Gegenstände zu berühren und in einen 
glänzenden Spiegel zu schauen‘. Das Pantschatantram beschreibt die 
Königswahl der Vögel und erwähnt unter den für die Krönung 

ı W. W. Reade: Savage Africa. 1863. 542. Macculloch: The Child- 
hood of Fiction. 1905. 123. Vgl. über die spiegeltragenden Häuptlinge. Pechuel- 
Loesche: Loango-Expedition. III. 2. 1907. 366. 

2 Die Sondergötter der Könige sind die ins Übernatürlice projizierten 
Vertreter ihrer eigenen Persönlichkeit, der Gott der Könige ist der König der 
Götter, oder der Ahnherr der Könige, der König des mythischen Zeitalters, 

3 Eine Novelle von Jan Maclaren führt den Titel: »His Majesty Baby.« 

4 Zachariae: Zur indischen Witwenverbrennung. Zeitschrift des Vereins 
für Volkskunde. 1905. 81. Agnipuräna. 234, 6, 7. 

5 I. v. Negelein: Der Traumsclüssel des Jageddevva, (Rel, Vers, u. 
Vorarb. XII. 4.) 1912. Jogayatra. 2. 23. 

% Zachariae: Witwenverbrennung. Ztschr. d. V, f. V. 1905. 81. Mahab=- 
harata, XII. 53. 7. Unter den acht gfükbringenden Gegenständen (mangala) figu= 
tiert in der Regel aucı der Spiegel (die andern sind z. B.: svastika, Sonnenschirm, 
Thron, gefülfter Krug, Muschel, Lampe usw.). Zachariae: Ebenda. 78. Vgl. 
über dieselbe Bedeutung dieser Gegenstände (Spiegel usw.) im Traume, I. v. 
Negelein: Der Traumscfüssel des Jagaddevva (Rel. v. u. V. XI. 4). 1912. 
126, 127. Auc in Tibet figuriert der Spiegel an erster Stelle unter den act 
Glücsobjekten. L. A. Waddell: The Buddhism of Tibet. 1895. 393. In Indien 
unterzieht sich der Haupttrauernde einer Reinigungszeremonie, bei welcher er ver= 
schiedene glückbringende Gegenstände, z. B. einen Spiegel berührt. Zachariae: 
I. c. 76. In Bombay ist der Barbier sehr gnädig, wenn er gestattet, daß der 


8” 


16 DyGsaRdkın 


nötigen glückbringenden Gegenständen auh den Spiegel!. Das 
Märchen nimmt offenbar seinen Ausgang von den indishen Ge= 
bräuden desselben Zeitalters, denn nach der Agnipurana muß der 
König bei der Krönung in den Spiegel shauen®. Audh bei den 
gewöhnlihen Menschen steigert das Schauen in den Spiegel das 
Selbstbewußtsein oder das Glück ebenso, wie bei den Königen. 
In GudZerat kann man dem durh den Unglückstag verursahten 
bösen Schicksal ausweihen, wenn man in den Spiegel schaut oder 
Reis ißt?. Außerhalb Indiens ist der Königsspiegel am besten 
aus Ostasien belegt. In Japan werden dem Mikado gelegentlich der 
Thronbesteigung die Regalia überreiht: Der Spiegel, das Schwert 
und der Edelstein. Von diesen hält Aston den letzteren für eine 
spätere Zutat‘. Die feierlihe Überreihung ist von dem Hersagen 
der Worte Amaterasus begleitet,; die man natürlih im Sinne 
eines übernatürlihen Vorbildes für den irdischen Vorgang auffaßt: 
»Mein Kind, wenn du diesen Schatzspiegel siehst, achte das so, als 
ob du mic selbst sähest«°. Mit dem königlichen Spiegel ist zu ver- 
gleihen vor allem der »sonnenförmige Spiegel«, der »mitama« der 
Urmutter der Mikados, der Sonnengöttin®, Das mitamashiro (»Sinn=- 
bild des Geistes) oder shintai (Körper Gottes)? läßt sich als Eben- 
bild Gottes auffassen. Nach dem Mythos hat man diesen Spiegel 
vor die Höhle gelegt, um Amaterasu, die Urmutter der Mikados, 
welche die Welt in Finsternis gehüllt hielt, damit hervorzulocen, 
nämlih, um damit das Spiegelbild der Sonne aufzufangen. Bisher 


»Patient« einen vershämten Blick in den Spiegel werfe. K. Boeck: Durch Indien 
ins verschlossene Land Nepal. 1903. 122. Der Barbier gibt übrigens den Spiegel 
nicht gern aus der Hand, denn die Begegnung mit ihm bedeutet nur dann Glück, 
wenn er mit seinem Spiegel versehen ist. Zachariae: Ebenda. 76. 

ı Th. Benfey: Pantschatantra. 1859. II. 224. 

2 Zachariae: |. c. 82. Agnipuräna. 218. 28. 

> Campbell: Indian Antiquary. XXV. 78. Zitiert bei Zachariae: I. c. 
78. Das »Glüks ist wahrscheinlich nichts anderes als die Objektivierung des ge= 
steigerten Selbstbewußtseins. k 

+ W.G. Aston: Shinto. 1905. 135. Die maga-tana, nämlich eine Kristall- 
kugel, ist das Ebenbild der Seele des Weibes, das Schwert das der Seele des 
Mannes, und der Spiegel das Symbol der Seele der Sonnengöttin. G. Bonsquet: 
Le Japon de nos jours. 1877. Zitiert bei Wlislocki: Vom wandernden Zigeuner- 
volke. 1890. 220. D. Brauns: Japanishe Märhen und Sagen. 1885. 134. Die 
Kristalfkugel und der Rundspiegel sind nahverwandte Varianten. 

5 K. Florenz: Japanishe Mythologie. 1901. 199, 200. In alten Zeiten 
soll der Kaiser den Spiegel ins Haar gesteckt haben, wahrsceinlih als Amulett. 
Die mexikanishen Götter Tezcatlipoca und Huitzilopodtli tragen runde Spiegel 
an der Schläfe. E. Seler: Gesammelte Abhandlungen zur amerikanischen Spradh- 
und Altertumskunde. 1908. III. 280-282 und bei den Lenguas dienen die Ohr= 
gehänge der Medizinmänner als Spiegel. W. Barbrooke-Grubb: An Unknown 
People in an Unknown Land. 1911. 149. Nach einer anderen Variante: »Meine 
Seele ist die Wahrheit und wenn du in diesen Spiegel schaust, wirst du die 
Wahrheit sehen.«e G. Bonsquet: Le Japon de nos jours. 1877, zitiert bei Wlis= 
locki: Vom wandernden Zigeunervolke. 1890. 220. 

° Aston: Shinto. 1905. 70. »mistama« = »Erlauchter Geist, Seele«. K. 
Florenz: Japanishe Mythologie. 1901. 287. 

” Aston: I. c. 100. Florenz: I. c. 98. 


Spiegelzauber 117 


also könnten wir den Spiegel als Symbol der Urmutter der 
Herrscherfamilie auffassen. Nach japanisher Auffassung ist nämlich 
der Spiegel die Seele der Frau, das Schwert die des Mannes!. 
Auf alten Gräbern finden wir häufig die heute die Regalia bildenden 
drei Insignien, das Schwert, den Spiegel und den Edelstein?. Wenn 
also die Symbole des japanishen Herrshers sih in ein weibliches 
(Spiegel) und in ein männliches (Schwert) spalten, so ist damit der 
bisexuell-autoerotishe Charakter dieser Regalia angedeutet. Es 
scheint, daß die Herrsherwürde und der Spiegel auh in China in 
irgend einem Zusammenhang standen. Laut dem Si-King-tsah-ki 
hat Kaiser Süen (87 ante Christum), als er im Älter von zwei 
Monaten, in den großen Hexenprozeß verwickelt, in den Kerker 
geworfen wurde?, auf seinem Körper einen die Dämonen zeigenden 
und glükbringenden Zauberspiegel getragen. Zum Andenken daran 
hat er, nachdem er, erlöst aus dieser gefährlihen Situation, den 
Thron bestiegen, den Spiegel ständig in der Hand gehalten‘. Wenn 
wir die bereits behandelten indishen und japanishen Parallelen be= 
achten, erscheint es sehr wahrsceinlih, daß der Spiegel früher auch 
in China zu den kaiserlihen Insignien gehörte und daß die obige 
Sage ursprünglih einen Zug des kaiserlihen Rituells erklären soll. 

Der Spiegel als königlihes Symbol war einst gewiß weiter 
verbreitet, denn Überlebsel davon sind in der Sage nachweisbar. 
Die Aufzählung der Sagen wollen wir gleichfalls mit einem asiati= 
schen Herrscher beginnen. Der legendäre Priester Johannes des 
Mittelalters, in welchem Oppert den Korkhan Karakhitais erblickt, 
beschreibt seinen Zauberspiegel folgendermaßen: »Ante foras palacii 
nostri iuxta locum in quo pugnantes agonisant est speculum pretiose 
magnitudinis et quod per gradus viginti quinque ascenditur ... In 
summitate vero supreme columne, est speculum, tali arte conse= 
cratum quod omnes macdinationes et omnia quae pro nobis vel 
contra nos et adiacentibus et subiectis nobis provinciis fiunt, a 
contuentibus liquidissime videri et agnosci possunt. Custoditur 
autem a tribus millibus armatorum, tam, in die quam in nocte, Ne 
forte aliquo casu frangi possit et deiici«. Der zweite mythisce 
Weltherrsher, an den sih das Spiegelmotiv knüpft, ist der Jama 
oder Husrava von Iran, in dessem aus sieben Spiegeln bestehen- 


Der königliche 
Spiegel in der 
age. 


ı W. Müller: Japanisches Mädchen im Knabenfest. Zeitschrift für Ethno» 
logie: 1911. 572. 

® H. Florenz: Japanishe Analen. 1903. 260. 
: ®]1. 1. M. de Groot: The Religious System of China. Book. II. Vol. V. 
1907. 842. 

* 1.1. M. de Groot: Religious System. Book. II. Vol. VI. 1910. 1001. 

.? Epistola Presbyteri Joannis. 184-200. Oppert: Der Presbyter Johannes. 
1870. 175, 176. Laut Joannes de Hese. »Est ibi etiam speculum continens tres 
lapides precioses quorum unus acuit visum, alter sensum, tercius experientiam, 
ad quod sunt efecti quattor doctores qui intuendo ipsum omnia sciunt que fiunt 
in mundo.« Ebenda. 42. Vgl. G. Huth: Die Reisen der drei Söhne des Königs 
von Serendippo. Ztschr. f. Vgl. Literaturgesch. 1890, III. 309, 


118 Dr. Göza Röheim 


den Kelche sich, die Ereignisse der sieben Weltgürtel spiegelten'. 
Der in sieben Teile geteilte mystishe Kelh Dschemsdids entspricht 
nämlih dem »Weltenspiegels Kai Chosrus, der die sieben Welte 
gegenden zeigt?. In der SR haar kehrt Kai Chosru, der Schah, 
nachdem er zu Ormuzd gebetet hatte, daß er sein Reich vor Ahriman 
beschütze, in seinen Palast zurück und von Glorienschein umgeben. 


»Trat zu dem Weltenbeher hin der Schah, 
Indem er alle sieben Kischwers sah, 

Das Weltall sah er in dem Zauberischen 

Vom Widderzeichen an bis zu den Fischen; 
Er sah die Himmel, die sich ewig schwingen, 
Sah das Warum und Wie von allen Dingen 
Sah Mond, Saturn und Mars und Nahid rollen 
Und durh den Zauber, den Geheimnisvollen 
Ward alles was verborgen ist, ihm klar 

Und die verhüllte Zukunft offenbar« 3. 


Alexander der Große hatte auf dem Pharos in Alexandria einen 
Spiegel, der ihm das Land Rum zeigte, die Inseln des Meeres, die 
ankommenden und abfahrenden Sciffe, ferner alles, was die 
Menschen taten. Christlihe Schiffe können in den Hafen von 
Alexandria erst gelangen, seit ein Griehe den Spiegel zerbrocden 
hat‘. Offenbar ist auch in der folgenden Sage Alexander der Große 
gemeint: in der Stadt Ca am Nilufer befand sich eine Säule, dar- 
auf ein Spiegel, in welher der König der Stadt Ca alle irdischen 
Dinge sah°. In einer anderen Variante heißt der reichste König der 
Erde Saurid, dieser hatte aus einer Mischung verschiedener Ble- 


! G. Hüsing: Die iranische Überlieferung und das arische System. 1909. 
Myth. Bibl. II. 2. 31. V. Jäkel: War der magische Spiegel im Besitztum der 
Vorzeit? Internationales Zentralblatt für Anthropologie. 1903. 262, 263. 

® A. F. v. Schack: Heldensagen von Firdusi. 1855. 71. Über die sieben 
Weltgegenden Yast. 10, 15. F, Wolff: Avesta. 1910, 200. Vgl. die Goldpfeifen, 
deren sieben Löcher den sieben Weltgegenden entsprehen: wenn der König in 
ein solches Lodh hineinpfeift, erscheint vor ihm alles, was in den betreffenden 
Weltgegenden geschieht. Carra de Vaux: Avicenne. 1900. 294, 

® Schack: Heldensagen. 1851. 466, so findet er den in Gefangenschaft 
geratenen Bissen am Ende der Welt. Vgl. weiter unten den Spiegel der Königs- 
tochter und den versteckten Freier im Märden. 

* Oppert: Der Presbyter Johannes. 1870, 42, Liebrecht: Zur Volks- 
kunde. 1879. 89, (Masudi, Benjamin von Tudela. I. 155. ed. Asher. Early Tra= 
vels in Palestine. Ed Wright. 1848.) L. Deslongchamps: Essai sur les fables 
indiennes. 1838. 152—154. Guignes: Notices et Extraits des Manuscrits. I. 25 
ex Huth: Ztscr. f. vgl. Lit. 1890. 308, 

5 Liebrecht: I. c. 88. Orient und Okzident. I. 335. Eine andere Variante 
spricht von mehreren Spiegeln, von denen ein Teil dazu dient, die Seeungeheuer 
davon abzuhalten den Strandbewohnern Böses zuzufügen, andere wieder werfen 
die Sonnenstrahlen auf die Schiffe des Feindes zurück und verbrennen die Schiffe, 
in anderen kann man die auf dem jenseitigen Strande des Meeres befindlichen 
Städte sehen, wieder andere zeigen ganz Ägypten und geben an, wo sich eine 
gute Ernte erwarten läßt. Carra de Vaux: L’Abrege des Merveilfes. 1898. 282. 
Gleichfalls Sa ließ in Memphis einen Spiegel anfertigen, der die Zukunft zeigt, 
besonders, wo Dürre zu erwarten ist und wo eine gute Ernte. 


— 


Spiegelzauber 119 


——— 


mente einen Spiegel machen fassen, der alles zeigte, was unter den 
sieben Himmelszonen geshah, wo man den Acer begoß und wo 
nicht. Dieser Spiegel stand auf einer grünen Marmorsäule in der 
Stadt Amsüs (Emesa)!. Die Sage haftet auh an anderen mythischen 
Herrshern,; so an Nekraus?, an Misraim, dessen Spiegel für den 
Spiegel Alexandriens zum Muster gedient haben soll®, an Koftarim® 
und an Kersounos, dessen Spiegel auf die Schiffe seine Anziehungskraft 
äußerte und sie solcher Art zur Mautbezahlung zwang, damit das 
Schiff dann weiterfahren könne, mußte man den Spiegel verhüllen’. 
In Konstantinopel befand sih ein magiscer Spiegel, den Kaiser 
Leo der Weise hatte anfertigen lassen, in welchem alles klar zu 
sehen war, was auf der Welt sich ereignete, ja sogar auch das, 
was die Menschen erst planten. Als dann jemand Midael beim 
Gelage meldete, der Spiegel zeige, wie sich die Griehen rüsten, 
um gegen Konstantinopel zu ziehen, ließ er den Spiegel in Stücke 
schlagen, um in seiner Unterhaltung nicht gestört zu werden‘, Die 
neunte Erzählung des »Liber de septum sapientibus« berichtet, daß 
Virgilius in Rom »erexit columnam et super columnam posuit 
speculum, in quo repraesentabantur omnes apparatus omnes con« 
gregationes quae fiebant ad destructionem civitatis«”. In naher 
Verwandtschaft zur Säule des Virgilius und des Priesters Johannes 
steht die magishe, runde Säule des Chateau Merveille, welche 
Klinshor aus dem Lande des Feirefis entwendet hatte: 


! Carra de Vaux: L’Abrege des Merveilles. 1898. 201. Liebrecht:I.c. 88. 
Orient und Okzident. I. 331. 

?2 Carra de Vaux: L’Abröge des Merveilles. 1898. 175. 

> Carra de Vaux: I. c. 234. Den Spiegel läßt ein ihm feindlich gesinnter 
König rauben und zerschlagen. 

35m =s.: 1. c. 238, 250. 

5 D. s.: 1.c. 281. Vgl. auch über diese ägyptischen Spiegel auh M. Reinaudi 
Momunens arabes, persans et turcs. 1828. II. 418, 419. L. Deslongchamps: 
Essai sur les fables indiennes. 1838. 153. 

8 Liebrecht: Zur Volkskunde. 1879. 85. Zeitschrift für deutsche Philo- 
IKeie: II. 177. Neugriehishe Sagen. (Aus einem in 1763 in Venedig gedruckten 

uche.) 

? Huth: Die Reisen der drei Söhne des Königs von Serendippo. Ztschr. 
f. vgl. Lit. 1890. III. 309. K. Gödeke: Orient und Okzident. III. 1866. 412. 
Huth gibt zahlreiche Nachweise über Spiegel in den englishen, französischen und 
italienishen Versionen des Buches der »Sieben weisen Meister«. In dem Bud 
»Seven Sages« (ed. Wright. 1845. Percy Society LIII.) macht den Spiegel Merlin, 
anderwärts ist überall Virgilius der Anfertiger. Über von Virgilius stammende 
Gegenstände ähnlicher Bestimmung Huth: I. c. 313. Vier Totenköpfe. (Mass- 
mann: Kaiserchronik. 1854. III. 448.) Jede Säule entspricht einer römischen Provinz 
und wenn in irgend einer dieser Provinzen ein Aufstand ausbricht, beginnt die 
Glocke zu fäuten. (L. Deslongchamp: Essai sur les fables indiennes. 1838. 151. Die 
sieben weisen Meister. Die fünfte Rede der Kaiserin. Von dem Kaiser Octavianus. 
Benz: Die deutshen Volksbücder. 1911. 70. »Mit teuflisher Kunst hat er ein 
Standbild verfertigt...., welches Bild jedermanns geheim gehaltene Versündigung 
dem Kaiser meldete « Gesta Romanorum: Regi Magyar Könyvtär. (Alte ungarische 
ee Nr a 204. Teil LVII. Vgl. J. G. Th. Grässe: Gesta Romanorum. 

5.1. 83, IL 261: 


120 Dr. Geza Röheim 


»Inmitten dieser Herrlichkeit, 

Stand eine Säule, groß und breit, 

Da sah er, was er nie gesehen, 

Die Lande sih im Spiegel drehen, 

Sah Berg und Tal vorübergleiten 

Und Leute stehn und gehn und reiten;« 


Arnive erklärt Gawan den Ursprung und die Rätsel der spiegelnden 
Säule: 

»Es sei Geflügel, sei Getier, 

Wer fremd, wer heimisch im Revier, 

Zu Wasser und Gefilde, 

Ersceint im Spiegelbilde« 1, 


Es scheint, als ob die Einleitung des neugriehishen Märcens, laut 
welhem der König einen solchen Spiegel hat, der ihn alle dem 
Reiche nahenden Feinde anzeigt, ein Widerhall der byzantinischen 
Sage wäre. Einmal hatte ein Orkan den Spiegel fortgeweht und 
der »Drakos« hängte ihn in seinem Garten auf einen großen Apfel- 
baum, damit, wenn jemand Äpfel stehlen käme, der Spiegel die 
Wächter rufe. Der jüngste Prinz geht zur Mittagszeit, als der 
Drade scläfi, zu dem Baume hin, doh als er den einen Apfel 
berührt, erklingt der Spiegel?. 


! Parzival übers. W. Hertz: 1914. XII. 310, 311. Vgl. die Übersetzung 
von Pannier: Parzival Reclam. XII. 589-592. S. 187—189. (Der Ursprung aus 
dem Lande des Feirefis zeigt die Einwirkung der Sage von dem mythischer 
orientalischen Herrscher, dem Presbyter Johannes auf die Gralsage. (Vgl. Oppert: 
Der Presbyter Johannes. 1870. 219) Gewiß befand sih unter den Regalia des 
Herrschers von Karakhitai, der bei den angrenzenden Herrshern in Ost=, Süd- 
und Mittelasien nachgewiesene Spiegel. Im Zusammenhang mit dem hispanischen 
Schauplatz der Gralssagen (Vgl. Oppert: I. c. 203.) erscheint die arabische Sage, 
beachtenswert die den Tisch Salomonis nach einem Palast in Spanien verlegt. Neben 
dem aus Gold angefertigten mit kostbaren Steinen geshmücten Tisch befindet sich 
der Zauberspiegel, der die sieben Weltgegenden zeigt. Carra de Vaux: L’Ab- 
rege des Merveilles. 1898, 122. 

?1.G. v. Hahn: Griechische und albanishe Volksmärchen. 1864. 1. 284-286. 
Vgl. zum Parallelismus zwischen Apfel und Spiegel folgendes aus dem Briefe 
des Presbyter Johannes: »In extremitatibus vero super culmen pallacii sunt duo 
poma aurea, in unoquoque sunt duo carbunculi ut splendeat aurum in die et 
carbunculi fuceant in nocte, 161-164 s. Oppert: I. c. 174. Vgl. noc Apfel 
und Spiegel im Liebeszauber, ferner oben den goldenen Apfel des Jesuskindes. 


Vom wahren Wesen der Kinderseele 121 


Vom wahren Wesen der Kinderseele. 
Bedeer von De iv HUG-HELLMUTH, 


I. 


Von frühem Lieben und Hassen, 


ist ein Maß für die unbewußte Anerkennung der Richtigkeit des 

Bestrittenen. So erklärt sih auch gut die hartnäckig böse Stimmung 

des Laien gegen den »Ödipuskomplex«, gegen die ambivalente 
Gefühlseinstellung des Kindes zu den Eltern, seine der Erotik ent- 
springende Identifikation mit Vater oder Mutter und nicht weniger gegen 
die von unbewußter Sinnlichkeit keineswegs immer freie elterliche Liebe 
zu Sohn oder Tochter. 

Und darum ist jede Bestätigung dieser psychoanalytishen Erkennt- 
nisse aus dem Alltag, aus den Werken feinfühliger Autoren wertvoll und 
es mögen in der nachstehenden Zusammenstellung eine Reihe solher Belege 
Platz finden, zunächst einiges aus der direkten Kinderbeobachtung: 

I. Ein vierjähriger Knabe, der an der Mutter mit großer Zärtlichkeit 
hängt, im Vater aber in erster Linie eine zu fürchtende stärkere Madt 
erblikt, die man wohl »auc gern hat, weil es eben der Papa ists, sagt: 
»Wenn ich groß bin, kauf’ ih mir und der Mama eine Kuh, die den 
Papa beißt,« 

Die Zusammenstellung »mir und der Mama« ist bezeichnend genug 
für die kindliche Auffassung über die Zusammengehörigkeit der Familien- 
mitglieder. Gerade vom Vater aber wurde der Knabe wegen seiner starken 
exhibitionistischen und onanistischen Gelüste wiederholt derb bestraft. Die 
Kindern, besonders Knaben sehr geläufige Vorstellung, das Kuheuter sei 
dem namenlosen' und doch als so wichtig gefühlten Teil des eigenen 
Körpers gleih, mag neben der Größe des Tieres Anlaß sein, daß der 
Knabe gerade eine Kuh zur Vollstreckerin seiner Rahegedanken gegen den 
Vater wählt, Auh wurde dem Kinde wiederholt die Drohung ausge- 
sproden, ein Hund werde ihm die »schlimmen Fingers abbeißen. Was der 
Hund an ihm vollziehen soll, muß an dem großen Vater mit den großen 
Händen natürlich ein entsprechend großes Tier tun. 

II. Zwei Knaben von fünf und drei Jahren gilt es als größte Freude, 
des Morgens, sobald der Vater das elterlihe Schlafzimmer verlassen hat, 
in Mutters Bett zu schlüpfen. Der Besitz ihres Körpers wird genau zuge- 
teilt und keiner darf in das Gebiet des andern auch nur mit einem Finger 
hinüberlangen. Jeder solchen Übertretung folgt ein erbitterter Kampf — auf 
dem Körper der Mutter. Die Neigung zum Vater richtet sih nach der 
jeweiligen eingebildeten Bevorzugung des Konkurrenten durch die Mutter. 
Die Grundstimmung gegen ihn ist bei beiden Knaben eine ausgesprochen 
"feindliche, eifersüctige. 

Der eine der beiden Söhne stirbt in seinem sechzehnten Lebensjahr, 
der andere bleibt zeitlebens an die Mutter fixiert, deren Einstellung zu ihm 


! Frühzeitig tritt die Frage nach dem »ordentlihene oder »wirklichen« 
Namen des in der Kinderstube nacı seiner vorläufigen Funktion benannten Penis auf. 


D' Erbitterung, mit welcher der Widerstand gegen eine Sache arbeitet, 


122 Dr. H v. Hug-Hellmuth 


sih in dem typischen Verhalten der Schwiegermutter gegen die Frau des 
Sohnes kundgibt. 

Mit dreißig Jahren fällt ihm bei einem Gang durh die Stadt eine 
Dame, die vor ihm geht, so angenehm auf, daß er ihr folgt, Wie er sie 
an einer Straßenecke einholt und sie eben ansprechen will, wendet sie den 
Kopf und er erkennt in ihr mit Bestürzung — seine Mutter. 

III. Die eigentümlihe Gewohnheit mancher Kinder, einen Elternteil 
beim Vornamen zu rufen, findet sih in überwiegender Mehrzahl bei 
Knaben der Mutter gegenüber, selten bei Mädchen zum Vater, fast nie aber 
"nennt meines Wissens ein Kind den gleichgeshlechtlihen Elternteil mit 
dem Rufnamen. Es handelt sich eben dabei um eine Identifikation mit dem 
letztern und um unbewußte heterosexuelle Anziehung. 


IV. Da, soviel mir bekannt ist, noch keine Beobahtung über die 


Entwicklung des Ödipuskomplexes bei Kindern, die infolge einer Trennung 
der elterlihen Ehe nur unter der mütterlihen Obhut — die väterliche 
allein kommt aus äußeren Gründen kaum in Betraht — aufwuchsen, mit= 
geteilt wurde, sei folgender Fall berichtet: 

Die Eltern eines Knaben trennen ihre Ehe, als dieser drei Jahre alt. 
Das Kind bleibt bei der Mutter, liebt sie zärtlich, ist aber bis zu seinem 
sechsten Lebensjahr von großer Sehnsucht nach seinem Vater erfüllt, wenn= 
gleih sich schon in dieser frühen Zeit oft eine scharfe Kritik über das 
Fernsein des Vaters bemerkbar macht. Trotz aller Vorsiht und feinen 
Taktes der Mutter entnimmt der aufgewecte Junge aus erlauschten Ge- 
sprähen mit Familienmitgliedern und Freunden, daß der Vater keine 
schöne Rolle gespielt und Frau und Kind einfah im Stiche gelassen 
habe. So nistet sih nah und nach neben der Sehnsucht ein tiefer Haß 
gegen den Vater in seiner Seele ein, der ihn trotz zärtlicher Briefe, die er 
an den Vater schreibt, gelegentlih — mit sieben Jahren — in böse Worte 
ausbrecen läßt: »Wenn ich groß bin und mein Papa alt ist und zu mir 
betteln kommt, werd’ ich sagen: Ich geb’ dir nichts, denn wie ih klein 
war, hast du dich auch niht um mich und um die Mutter gekümmert. 
Geh nur wieder fort.« 

Und doc wieder, wenige Tage später drängt er auf einer Reise mit 
der Mutter, da sie den Aufenthaltsort des Vaters berühren, zu einem 
Besuch bei ihm, hofft ihn auf dem Bahnhof zu sehen, ist während des 
Weges von hier zum Hotel ganz aufgeregt und glaubt in jedem Passanten 
den Vater zu erkennen. So streiten Liebe und Haß um die Herrschaft in 
der kindlichen Seele und machen sie frühreif, verwirrt und müde, 

Und trotz der zärtlihen Liebe zur Mutter steht der Knabe mand- 
mal auf Vaters Seite, so wenn ihm ihre Kleidung zu einfach scheint und 
er sagt: »Wenn wir nach X. (der Stadt, in welcher der Vater lebt) fahren, 
mußt du aber ein schönes Kleid anziehen, damit du dem Papa gefällst, 
wenn wir ihn sehen.« Er bemängelt häufig ihre Toilette, sieht nicht gern, 
wenn sie erhitzt oder übermüdet von ihrem Beruf nach Hause kommt und 
will ihr, wenn er groß ist, schöne Kleider und Hüte kaufen und »viele 
Flaschen Parfüm, damit du recht gut duftest«. 

Aus diesem Falle und dem ähnlih verlaufenden Geschik eines 
kleinen Mädchens läßt sih entnehmen, daß in Kindern, deren Eltern ge- 
trennt leben, gegen den abwesenden, d. i. für ‘das Kind schuldigen Teil 
neben einem offenkundigen Haß eine tiefe oft unbewußte Sehnsucht nicht 
zum Schweigen kommt, ja daß diese sich gerade in den Haß hülft, um sich 
Ausdruck zu verschaffen, Dr. H. v. Hug-Hellmuth. 


Vom wahren Wesen der Kinderseele 123 


I. 
Eine Kinderbeobadtung. 


Es sei hier einiges von einem jetzt dreijährigen Mädchen berichtet, 
das keine Bevorzugung oder Besonderheit in seiner analen, urethralen oder 
genitalen Trieblokalisation zeigt, in der Mundzone sich aber gleich anfangs 
auffallend »trinkfaul« zeigte,. keine Anstrengung machte, die Mutterbrust 
reichlih auszunützen, so daß nach wenigen Monaten zur Milchnahrung aus 
Fläshchen übergegangen werden mußte, wonach der Säugling aufblühte. 
Eine Shwäcde der Eßlust, ein Sträuben bei den Mahlzeiten zeigt sih an=- 
dauernd. Das Kind ist trotzdem von gutem Aussehen und nascht Bonbons 
und Obst gelegentlich gern, Zum letzten Geburtstag wünschte es sich »einen 
Tag nicht essen zu müssen«. Man hat deutlich den Eindruk, daß hier 
nicht das Bedürfnis des Organismus nach Nahrung, sondern ein vermutlich 
ererbt minderwertiger Eßtrieb die Hauptrolle spielt. Sadomasocdhismus, 
Schau- und Exhibitionsneigung treten gar nicht hervor. Von neurotischer 
Angst trat nichts in Erscheinung außer eine lebhafte Angst, mit einer laut 
schlagenden Stehuhr allein im Zimmer zu bleiben. Dies trat ein, nachdem 
die bis dahin harmlos geliebte Uhr durch Monate beim Uhrmacher gewesen 
war. Die Abwesenheit war dem Kinde aufgefallen. Ein großes Interesse 
für alle Uhren, besonders Turmuhren, auh auf Bildern, entsprang von 
dorther. Die Neurose hat sich etwa mit eineinhalb Jahren entwickelt und 
hält in abgeschwächter Form, auch mit Spott über sich selbst, noch an. 
Ängstigend scheint vor allem das laute Schlagen dieser Repetieruhr zu 
wirken, was sich analog beim plötzlihen Ertönen des Tischtelephons im 
gleihen Zimmer einstellt. Die Angst wird schlimmer nach einem gelegent- 
lihen strafenden Angefahrenwerden des Kindes, was am häufigsten (wenn 
auch im ganzen selten) von Seite der Mutter geschieht. Diese gibt übrigens 
auch laute Klänge von sich, — sie ist nämlich Sängerin. Das Personifizieren, 
Beleben, Animisieren der Uhr scheint Voraussetzung dieser Phobie zu sein. 
Die ihm gegebene Beruhigung: »Es ist ja nur eine Maschine mit Räderns, 
wiederholt das Kind gern zur Selbstberuhigung. 

Die Uhr scheint wie ein Symbol für strafende Autorität zu wirken, 
wie sie etwa auf einen Wilden wirkte. So wirkte einmal die rotglühende 
Sonnenkugel hinter dem Nebel oder starker Wind, ein großes flatterndes 
Blatt auf das Kind. 

Aber warum hat die Uhr erst nach ihrer Abwesenheit so gewirkt!? 

Die, wenn audı nur entfernte Möglichkeit, daß hinter der Uhrenphobie 
Gedanken gegen die Mutter stecken, legt uns nahe, über die Zeichen der 
Ödipuseinstellung bei der Kleinen zu berichten. i 

Als Voraussetzungen muß betont werden, daß der Vater — wie 
meist — durch seine häufige Abwesenheit Raritätswert genießt, die Mutter 
als Haupterzieherin oft auch verbieten oder kritisieren und gelegentlich zum 
Weinen bringen muß. Die Mutter wäscht, badet und frisiert das Kind — 
was neben Lust= auch Schmerzgefühle erregt. Das Zureden, Zwingen zum 
Essen hängt mit oben Angeführtem zusammen. 

Trotz dieser fördernden Prämissen erscheint die Ablehnung der Mutter 
bei Gelegenheit deutlih. Wenn der Vater mit dem Kind spielt oder ihm 
erzählt, verrät es manchmal, daß das Eintreten oder Teilnehmen der Mutter 
ihm unangenehm ist und weist die Mutter hinaus. Dies geschah anfangs 
deutlich, jetzt nur andeutungsweise, mit Unterdrüken (Ähnlihes geschah 
nie bei umgekehrter Situation). Es fiel auch einmal zögernd die Äußerung 


124 Dr. H. v. Hug=Hellmuth 
m ee a FE 


zur Mutter: »Ich mag dih nicht — wenn du nervös bist!«, mit Anknüpfen 
an ein aufgeschnapptes Wort. Scharf ist auh die Kritik der Kleidung der 
Mutter, einfache oder rauhe und unsceinbare Bekleidung macht manchmal 
die Mutter dem Kinde unsympathisch,; es schickt die Mutter hinaus, sich 
umkleiden! 

Trotz alledem ist die Mutter ein beliebter, lustiger, immer was Neues 
erzählender oder singender Kamerad. 

Der eigentliche Kamerad, mit dem man spontan jubelnd hetzt, den 
man gelegentlich schlägt, neckt, dem das Kind alles nahmacht und mit dem 
es sic identifiziert, ist das Kindermäddhen!. Für seine Kleider und Hüte, 
für seine Einkäufe, Telephongespräche, für seine Tätigkeit wie Wäsce- 
waschen, Aufräumen, Kehren und Wischen besteht nicht nur größtes 
Interesse, sondern höchstes, oft unmittelbar folgendes Bedürfnis, es ihr 
nachzutun. In diesen narzißtischen Phantasien, in denen die mahnenden 
Worte des Kindermädhens — vom Kind gegenüber der Puppe nachgesagt 
werden, das Setzen, Heben, Legen, Fahren genau wiederholt wird, besteht 
das eigentliche, lebhafteste, eingesponnenste Spielen des Kindes. Hierin 
läßt es sih nur ungern stören, bezieht die Erwachsenen als Ersatz von 
Phantasiepersonen mit ein, sagt dabei den Eltern »Sie« oder »Herr 
Doktor« und »Gnädige Frau« und ist wie abwesend! Man gewinnt den 
Eindruck größter Ähnlichkeit mit dem halluzinierenden Tun Psycotiscer, 
die, abgewendet von der Wirklichkeit, »einen Traum leben«. Beginnt diese 
identifizierende, nahahmende Tätigkeit, so wird sie oft begründet mit »Ich 
muß jetzt z. B. aufräumen«. In dieses geschäftige Tun flüchtet das Kind 
auch gern, wenn die Großen, etwa weil Besuch da ist, sih mit ihm nicht 
abgeben. Auc Tätigkeiten der Mutter werden nachgemacht und die Identi- 
fikation ist auch hier deutlich. Wie aus einer Kombination von Identifizie- 
rung mit der Mutter und doch Bevorzugung des Vaters scheint es zu ent- 
springen, daß das Kind den Vater (nur diesen) gern mit seinem Vornamen 
ruft, und ausnahmsweise zu den Eltern ins Bett gehoben, beim Vater liegen 
will, respektive an Stelle der Mutter in deren Bett. Nachgeahmt wird frei- 
lih auch z.B. ein Mädchen, das tags vorher zur Laute gesungen hat. Das 
Befriedigende »Ih tu es auch!, ich kann es auch!« sieht man dem Kind 
vom Gesicht ab. Es zieht Kinder seines Geschlechts vor, fürchtet sih vor 
den »bösen Bubens. Charakteristisch ist auch ein selbstgefällig konstatie= 
rendes Fragen nach einem geglückten Tun: »Was hab’ ic jetzt getan? !« 


Multaretuli. 
II. 


Kinderszene. 


Die Analyse weiblicher Patienten hat shon oft dazu geführt, eine 
Phantasie früher Kinderjahre wieder bewußt zu machen, in der sich das 
kleine Mädchen als Mutter mehrerer Kinder sah. Man hat das Bestehen 
solher »unkindlicher« Phantasien als Suggestionsprodukt der Analyse be- 
zeichnet und ihnen, ebenso wie dem zugrunde liegenden Wunsch des Kindes, 
die Stelle der Mutter einzunehmen, die dem geliebten Vater Kinder geboren 


‘ Für_dieses ruhige, langweilige Mädchen, das dem Wunsh der Eltern 
gemäß von Zärtlichkeiten absieht, besteht offenbar große Neigung. Das Kind hat 
ganz von selbst ihm Kosenamen gegeben, z. B. Ninerl, Nannerl u. dgl. Es ist 
seit der Geburt im Hause und liebt das Kind sehr, 


Vom wahren Wesen der Kinderseele 125 


hat, jeden Glauben versagt. Es ist deshalb nicht ohne Interesse zu sehen, 
wie gut die vorurteilslose Kinderbeobahtung mit den Resultaten der Analyse 
übereinstimmt, um so mehr, als es sih um Ereignisse zu Beginn des vorigen 
Jahrhunderts handelt, die gewiß nicht durch eine Voreingenommenheit zu= 
gunsten der Analyse veranlaßt wurden. 

In dem Buce »Gabriele Humboldt, Ein Lebensbilds ist ein Brief 
Wilhelm von Humboldts vom Mai 1804 enthalten, in welchem dieser 
seiner Gattin von Rom aus über die bei ihm zurückgebliebenen Kinder Mit- 
teilung macht (S. 48). »Sie (die vierjährige Tochter Adelheid und die zwei- 
jährige Gabriele) sind allerliebst zusammen, die Adel geht wie mit ihrem 
Kinde mit ihr um und sorgt dafür, daß sie alle Tage spazieren gehen 
muß. Erst fragt sie mich deutsh um Erlaubnis und dann geht sie zu 
Vicenza: ‚Dice cosi: dovete andare a spasso, ma nel sole nol’« (Er sagt 
so: Ihr sollt spazieren gehen, aber in der Sonne nicht.) Durch dieses Be- 
nehmen, die Fürsorge um die kleine Schwester, die Einholung der Wünsche 
des Hausherrn in der den andern unverständlihen Sprahe und die Weiter- 
gabe seiner Befehle zeigt die kleine Adelheid niht nur, wie Humboldt 
ganz richtig empfindet, ihre mütterlihe Einstellung zur Schwester, sondern 
auch dem Vater gegenüber, da sie, soweit es ihr möglich ist, die abwesende 
Hausfrau kopiert. Immerhin ließe sich dies vielleiht noch mit der Phrase 
abtun, daß sie eben das Bedürfnis habe, die Große zu spielen und An- 
ordnungen zu geben, statt ihnen zu gehorchen. 

Es folgt aber bald darauf in Marino, das die Familie als Sommer- 
frische aufgesucht hat, eine Szene, die keine Mißdeutung mehr zuläßt. 
Humboldt schreibt (S. 50): »Die Adel hat hier einen ganz sicheren Balkon, 
auf dem sie manchmal steht, und der nach der Straße geht. Von da herab 
hält sie Konversationen mit den Kindern, die sih unten versammeln, wirft 
auch wohl manchmal einen Bajocco hinunter, aber selten, weil sie das 
Aufheben liebt, Neulich hatte sie eine göttlihe Szene. Sie erzählte den 
Kindern sehr weitläufig, daß sie in Paris geboren wäre — das ließen sie 
nun so hingehen — daß sie einen Mann hätte — da lacıten sie shon — 
und daß sie sechs Kinder hätte, Darüber machten die unten einen großen 
Lärm. Adel nahm das aber so übel, daß sie sih auf die Erde warf und 
fürchterlich weinte. Wie sie indes sah, daß das Weinen nicht half, sprang 
sie auf einmal auf, lief wieder hin und schimpfte aus vollem Halse: 
‚Maledette bestie‘ und Gott weiß was für entsetzliche Schimpfwörter und 
immer dazwischen: ‚E vero, & vero, ho sei creature‘, zum Todlacen .. .« 
Es ist anzunehmen, daß die kleine Adelheid Humboldt, ein Kind von 
bemerkenswert hoher Intelligenz, ebensoviel Einsiht wie die Straßenjugend 
von Marino besaß und die Unmöglichkeit ihrer mehrfahen Mutterschaft 
zu erkennen vermochte. Wenn sie trotzdem mit solcher Zähigkeit an dieser 
»Kinderlüges festhielt und dem Hohn und Unglauben einen so außer- 
ordentlich starken Leidenschaftsausbruch entgegensetzte, so geht dies offen- 
bar nicht auf intellektuelle Motive zurück, sondern auf die Affektstärke, 
mit der sie an jener Phantasie hing. Zur vollen Aufklärung des Falles 
ist nur die Angabe hinzuzufügen, daß ihre Mutter, die sich in Paris auf- 
hielt, eben damals einem sechsten Kinde das Leben gab, 


Hanns Sachs, 


126 ES Dr. H. v. Hug-Hellmuth 


IV. 
Änatole France über die Seele des Kindes. 
Mitgeteilt von Dr, J. HÄRNIK, derzeit im Felde. 


Ferenczi hatte es vor wenigen Jahren unternommen', den 
Seelenkenner und Philosophen Anatole France als einen der wenigen 
großen Vorläufer Freuds im Erfassen und in der Schilderung seelischer 
Vorgänge darzustellen. Einige Ansichten über psycisches Geschehen, die 
intime Psychologie in der Erzählung verwicelt-rätselhafter menschlichen 
Handlungen, Ausführungen über die Genese der Geisteskrankheiten — von 
Ferenczi mit geübter Hand ausgewählt — haben, durch ihre auffallende 
Übereinstimmung mit der psychoanalytishen Betrachtungsweise, überraschend 
und überzeugend gewirkt. Gleihsam ergänzend zu diesem Referat möchte 
ih nun die Aufmerksamkeit des psychoanalytischen Publikums auf eines 
der schönsten und ergreifendsten Bücher dieses Meisters lenken, welces 
»Das Buch meines Freundess betitelt, Beobachtungen und Reflexionen 
über die seelische Entwicklung des Kindes enthält, und schon mehr als 
hundertunddreißig Auflagen erlebt hat. 

Das Bud zerfällt in zwei Teile: Im ersten Teil gibt der Verfasser, 
allem Anschein nach, seine eigenen Kindheitserinnerungen, der zweite Teil 
enthält Beobachtungen über das Gebaren und die Entwicklung seines 
kleinen Töchterchens, Suzanne, Alle seine feinen Bemerkungen, viele ent= 
zückende Einzelheiten bei Seite lassend, will ih hier nur den Inhalt des 
schönen Kapitels ausführlih wiedergeben, in dem uns France die Ge- 
shichte Andres, eines kleinen Freundes seiner Tochter, schliht und er- 
greifend erzählt. Eine Geschichte, die wie eine Kindheitserinnerung anmutet, 
welche als Ergebnis einer psychoanalytischen Sitzung zutage gefördert wird. 

Andre ist der Sohn des berühmten Arztes Doktor Treviere. Der 
Vater aber starb, als der Junge noch sehr klein war und so blieb er mit 
seiner Mama allein. Dem netten, munteren Knaben tut die Großstadtluft 
nicht wohl, daher führt ihn die Mutter auf das Land, zu den Großeltern 
des Kindes. 

Andre ist der schönen, jungen Mutter sehr zugetan, Das bezeugt 
unter anderem diese kleine Szene, die den ersten Abend am Dorfe 
abschließt: 


»Sie zog Andre die Kleider aus. 

— Nun, sagte sie ihm, verrihte dein Gebet. 

Er murmelte: 

— Mama, ic liebe dic. 

Und, mit diesem Geständnis, den Kopf fallen fassend und die 
beiden Fäuste schließend, schlief er in Frieden ein, 

Es kommen nun schöne, glückliche Tage der Sommerfrishe. Doch 
wird das friedliche Beisammensein bald durch das Auftaudhen eines alten 
Bekannten gestört, des benachbarten Fabriksbesitzers Lassalle, Der Junge 
scheint ihn als Störenfried zu betrachten, er empfängt ihn schlecht, ist mit 
ihm unhöflich, und äußert sich über den Herrn, der der jungen Frau und 
auch ihren Schwiegereltern sehr gefällt, folgendermaßen: 


Im ersten Jahrgang des Zentralblattes für Psychoanalyse, 
? A. F. Le livre de mon ami. Paris, Calmann-Levy, editeurs. 


| 


Vom een Mean a ndlreede 127 


— Er ist garstig, der Herr. Worauf er natürlich tüchtig geschimpft wird. 

Aber die Neigung der jungen Frau für ihren Verehrer wächst von 
Tag zu Tag und bis der Herbst kommt, wirbt er in einem schönen Brief 
um ihre Hand. Sie liest ihn an einem kühlen, stürmischen Herbstabend 
nachdenklich und voller Sehnsucht nach verlorener Zärtlichkeit. 

Sie erinnert sich an ihren verstorbenen Mann. Dann dachte sie wieder nach. 

— Eine Frau kann nicht ganz allein einen Knaben erziehen... 
Andre wird einen Vater haben. 

— Mama! 

Bei diesem Ruf, der aus dem kleinen Bette kam, fuhr sie erschreckt 
zusammen. 

— Was willst du, Andre? Du bist recht unruhig heute, 

— Mama, ich dachte an etwas. 

— AÄnstatt zu schlafen... An was? 

— Papa ist tot, nicht wahr? 

— Ja, mein armes Kind. 

— Also wird er nicht mehr zurückkommen? 

— Äh! nein, mein Lieber. 

— Nun, Mama, das ist doh ein Glük. Denn, ih liebe dih so 
sehr, siehst du, Mama, so sehr, daß ich dich für alle beide liebe, Und 
wenn er zurückkäme, könnte ich ihn gar nicht mehr lieben. 

Sie betrachtete ihn einige Zeitlang mit Unruhe und fiel in den 
Lehnstuhl zurük, wo sie, den Kopf in den Händen, unbeweglich blieb. 

Mehr als zwei Stunden lang schlief shon das Kind beim Geräusch 
des Gewitters, als sie sih ihm nähernd ganz leise seufzte: 

— Sclafe! Er wird niht zurückkommen. 

Und doch kam er, zwei Monate später, zurük. Er kam zurück 
in der kräftigen Gestalt des Herrn Lassalle, des neuen Herrn des Hauses. 
Und der kleine Andre fing wieder an, bleih zu werden, abzumagern 
und der Mattigkeit zu verfallen, 

Jetzt ist er schon geheilt. Und er liebt sein Kindermädchen wie er 
früher seine Mutter geliebt hat. Er weiß nicht, daß sein Kindermädchen 
einen Liebhaber hält.« — 

Ih habe den Schluß des Kapitels wörtlich hieher gesetzt, und habe 
eigentlih zur Erzählung des Meisters keine Bemerkung hinzuzufügen, da 
sie für sich selbst spricht und jedem Psychoanalytiker lebensgetreu er- 
scheinen muß. Es soll auh nur noch, da es einen Einblik in die ver- 
schlungenen Wege der künstlerischen Formgebung gewährt, die Erwähnung 
eines Details folgen, das im ersten Teile des Buches die Aufmerksamkeit 
fesselt. Bei der Schilderung der eigenen Kindheitserinnerungen sehen 
wir nämlih das Prinzip der Verdrängung mit der ganzen Kraft 
walten, indem hier der Verfasser — der doch das Verhältnis des Sohnes 
zur Mutter im Sinne der Psychoanalyse auffaßt und darstellt — diese erste 
und wichtigste Stufe in der erotischen Entwicklung gleichsam überspringt. 
Der kleine Pierre Noziere nämlich, der Held dieses ersten Teiles, dessen 
Verhältnis zu seiner Mutter mit wunderbar zarten, feinen Linien gezeichnet 
ist, verliebt sich zuerst (mit etwa vier bis fünf Jahren) in »die Dame in 
Weißs, die neben ihnen wohnt. Aucd vertreibt er einmal, als eifersüchtiger 
Nebenbuhler unerwartet auftretend, einen Herrn Arnold, der eben um die 
Liebe dieser Dame wirbt. Hier wird also die erotishe Objektwahl des 
jungen Knaben schon in der Form der Übertragungsliebe unseren 
Augen vorgeführt. 


128 Dr. H. v. Brida 


V. 
Eine Kindheitserinnerung Alexander Dumas‘. 


Der Verfasser des »Grafen von Monte Christo« erzählt in seinen 
»Memoiren« von dem starken Eindruk, den der Tod seines Vaters auf 
ihn als Kind gemacht habe. Alexander war damals vier Jahre alt geworden. 
Er liebte seinen Vater, den berühmten Reitergeneral und Kampfgenossen 
Bonapartes, »grenzenlos«, wie er selbst sagt. » Vielleicht war diese grenzen« 
lose Verehrung in jenem Alter des Gefühlslebens — das Alter der Liebe 
möchte ich es heute nennen — nichts weiter als naives Erstaunen über 


diesen herkulishen Wuchs, über diese gigantishe Kraft, die ich ihn so oft: 
entfalten sah, vielleiht war es auch nur eine kindish stolze Bewunderung 


für seinen gestickten Ro, seinen dreifarbigen Federbusch und seinen großen 
Säbel, den ich kaum von der Stelle heben konnte ,..« Als der General, 
den Napoleon mit Vorliebe »Herkuless nannte, dem Sterben nahe war, 
wurde der kleine Alexander zu einem Onkel gebraht. Dumas erzählt 
nun, daß er nach einer sehr unruhig verbrahten Nacht geweckt wurde: 
»Dann vernahm ich ohne zu wissen, was sie bedeuten sollten, die Worte: 
‚Mein armes Kind, dein Väterchen, das dich so sehr geliebt, ist tot.’ Ich 
blieb einen Augenblick nachdenkend. Obwohl nodh ein Kind und schwach 
an Einsicht, fühlte ich dennoch, daß ein verhängnisvolles Breignis in meinem 
Leben eingetreten sei. Im nächsten Augenblik, wo ich mich unbemerkt 
sah, ging ich meinem Onkel auf und davon und lief geradewegs zu meiner 
Mutter. Die Türen standen offen, ich trat ein, ohne von jemand gesehen 
oder bemerkt zu werden. Ich erreichte die kleine Kammer, in der die 
Waffen aufbewahrt wurden. Dort bemädtigte ich mich eines Gewehres, 
das meinem Vater gehörte, und das man mir versprodhen hatte, wenn ich 
einmal groß sein würde. Mit diesem Gewehr schleppte ih mic die Treppe 
hinauf. Im ersten Stock begegnete ich meiner Mutter, Sie kam eben aus 
dem Zimmer, wo der Tote lag. ‚Wo gehst du hin?‘, fragte sie erstaunt, 
mich hier zu sehen, während sie mich bei meinem Onkel wähnte, ‚Ich 
gehe in den Himmel‘, erwiderte ih. ‚Wie? Du gehst in den Himmel” — 
‚Ja, laß mich, Mutter.” — ‚Aber, was willst du denn im Himmel, mein 
armes Kind?’ — ‚Ih will den lieben Gott tot machen, weil er unser 
Väterchen tot gemadt hat.” Man hatte mir nämlich bei meinem Onkel 
gesagt, daß der liebe Gott meinen Vater zu sich genommen habe und daß 
der liebe Gott im Himmel wohne,« 

Diese Kindheitsreminiszenz darf uns an typische Rachephantasien bei 
Neurotikern erinnern, welhe oft nach des Vaters Tod auftauchen. Die 
Person, an welcher der Vater geräht werden soll, ist selbst eine Ersatz- 
figur des Vaters und ihr wendet sich der unbewußte Sohneshaß zu, während 
das durch Selbstvorwürfe reaktiv gesteigerte Liebesgefühl des Sohnes im 
Verlangen nah Rahe für den Dahingeschiedenen befriedigt werden soll, 
Rank hat das Wirken ‘dieses Projektionsmechanismus in seiner Änalyse des 
Hamlet dargestellt‘, In unserer Kinderphantasie ist an die Stelle des alten 
Dänenkönigs und Claudius der tote Vater und ein noh höherer getreten: 
ein Wesen, das sich auf den ersten Blick als deifizierter Vater manifestiert. 
Das Motiv der Vaterrahe ist hier so gewendet, daß die abgespaltene 
Vaterimago, an der Rache geübt werden soll, ein Objekt stärkster Ehr- 
furht und Verehrung ist: der »liebe« Gott. Wir haben durch die Psydo= 


! Das Inzestmotiv in Dichtung und Sage. Wien 1912, S, 57 #. 


Vom wahren Wesen der Kinderseele 129 


analyse erfahren, daß auch den Ersatzfiguren des Vaters die ambivalente 
Gefühlseinstellung gewidmet ist. An unserem Beispiel finden wir dafür wieder 
eine Bestätigung: denn dem lieben Gott gilt nicht nur der kindlihe, ur- 
sprünglih dem Vater selbst zugewendete Todeswunsh, sondern auch die 
Sohnesliebe. Wenn sich der Vierjährige als Racheobjekt gerade dieses 
höchste Wesen wählt, so dürfen wir daran erinnern, daß er seinen Vater 
grenzenlos verehrt, ja angebetet (sadore«) hat. Niemand Geringerer durfte 
die Stelle des übermäßig verehrten und unbewußt beneideten und gehaßten 
Vaters einnehmen. Wir haben durch die Forschungen Freuds die Psydho-= 
genese des Gottesbegriffes tiefer erfassen gelernt: der von der primitiven 
Urhorde ermordete Vater wurde als Gott wieder erweckt, und zwar in 
anthropomorpher Gestalt. Dieser wurde bestraft und gezüctigt, wenn er 
den Seinen nicht half oder ihnen gar Unglück sandte; Revolutionen gegen 
die Gottheiten gehören zu den häufigen Vorgängen der primitiven Religionen. 
Das Emporrücken des toten Vaters an die Stelle Gottes findet in unserer 
kleinen Kindergeshichte eine Parallele. 

Es sei schließlih noch darauf verwiesen, daß auch in der geplanten 
Race der neurotisch-infantile Kompromißcarakter erkennbar ist. Denn zur 
Ausführung seiner Absicht bemäctigt sich der kleine Junge jenes Gewehres, 
das dem Vater gehörte (Verbotübertretung unmittelbar nach des Vaters 
Tode), er eignete es sih so an, als ob er gerade jetzt und durch des 
Vaters Tod »groß« geworden wäre. Gerade jenes Instrument aber, das er 
widerrehtlih, gegen des Vaters Gebot an sich genommen hat, soll der 
Race für den Vater dienen. Diese Aneignung aber gibt uns einen Finger- 
zeig, wem ursprünglih der Gewehrshuß zugedaht war. So mengen sic 
also gerade in jene Handlung, welcher der Liebe und Verehrung des 
Sohnes gelten soll, Züge, welhe den entgegengesetzten Tendenzen des 
Trotzes und der revolutionären Feindseligkeit dienen, 


Dr, Theodor Reik. 
VI. 


Mutter—Sohn, Vater— Tochter, 


Ein reizendes Büchlein von Meta Schoepp »Mein Junge und ich«! 
läßt uns die feine Brotik im Verhältnis zwischen einer Mutter und ihrem 
Söhncen in so klaren Worten schauen, daß diese schönen Stellen zitiert 
zu werden wohl verdienen. Der kleine Junge, der »nur das gern ißt, was 
die Mama gern ißt«, vertraut ihr auf dem blauen Sofa, auf dem die 
beiden eine Welt für sich erleben, sein süßestes Geheimnis an: »Liebling, 
ih will dich heiraten. Eine andere mag ich nict.« 

»Ad, Fritzchen, das geht ja nicht. Erstens habe ich schon einen 
Mann. Und zweitens muß doch der Mann immer ein bißchen älter sein als 
die Frau. Willst du dir’s niht noch überlegen?« 

»Und er überlegte sich’. Am nächsten Tag sagte er mir Bescheid, 
Er stieg dazu aus seinem Bettchen in meines, lag gedankenvoll einige Zeit 
in meinem Arm und wartete, daß der Vater das Zimmer verließ, Denn 
in seiner Gegenwart kann man sih doch keine Geheimnisse erzählen! 
Kaum ist also der Vater gegangen, da fängt er an — »Ich werde nun gar 

.nicht heiraten, Liebling.« »Ad, wie schade! Ich hatte mih schon so auf 


ı Berlin, Concordia, Deutsche Verlagsanstalt, 1910. 
Imago V/2 9 


130 Dr. H. v. Hug-Hellmuth 


deine kleine Frau gefreut! Warum denn nicht?« »Sie könnte vielleicht 
keine gute Mutter für meinen Jungen sein.« 

»Und drei Jahre später, mit sechs oder sieben, ist seine Weltanschau= 
ung noch düsterer geworden: »Ich heirate nicht«, sagt er — »zuerst sind 
die Frauen immer sehr nett. Und nachher sind sie ganz anders.« 

»Ad,x sagt das Fräulein, »dann wirst du ja ein langweiliger Jung- 
geselle!« 

Er überlegt. 

»Nein. Meine Frau ist dann einfah schon gestorben. Und als 
Admiral«e — das will er werden — »kann ich gar keine Frau brauden. 
Dann habe ich einen Kod.« 

Und bei einem sangreichen Spaziergang durch den Wald, da die 
Mutter sein Lieblingslied »die beiden Grenadieres vorschlägt: 

»Nein, die kann ich nicht mehr leiden.« 

»Warum denn nicht?« 

»Weil sie keine guten Papas sind. Was sollen dann nun ihre Jungen 
anfangen? Mamas sind überhaupt viel besser als Papas. Hermann sagt — 
das war ein Freund — »er mag Papas überhaupt nicht, die hauen bloß.« 

»Aber deiner ist doch so gut!« 

»Ja. Aber hauen tut er aud,« 

Äber aus der zärtlichen Neigung zur Mutter lodert gelegentlich böser 
Haß. Der kleine Wicht weiß, daß er Mutter bei der Arbeit nicht stören 
dürfe. Und trotzdem will er gerade da der Mutter »bloß 'nen Kuß geben«. 
»Und nad einigen guten Ratschlägen über Zeitanwendung wird die Tür 
wieder geschlossen.« 

Einen Augenblick Ruhe. Aber dann erhebt sich ein Geschrei und 
Wehklagen und eine verzweifelte Stimme heult: 

»Du liebst mich nicht mehr! Du liebst mich nicht mehr!« 

Adieu Arbeit! »Aber Mäushen — — ic liebe dich! Ich liebe dich! 
Nur wenn Mama arbeitet — —« 

»Nein, ich hab’s schon immer gewußt, daß du mic nicht liebst !« 

Gegenseitige Liebesbeteuerungen und Versöhnung. — 

»Warum hat dir der liebe Gott eigentlich goldene Haare gegeben?«, 
fragte er mich. Er sah so gern zu, wenn ich mein Haar kämmte. Wenn 
die Sonne darauf fiel, leuchtete es und dann mußte er es küssen, 

Ih seufzte: »Etwas Schönes wollte er mir wohl aud geben.« 

Wir verkehrten an dem Morgen sehr höflich miteinander, bis — ja, 
bis auf einmal Meinungsverschiedenheiten ausbrahen ... — Da wurde er 
wütend. »Und du hast überhaupt kein goldenes Haar, Lieblings, schreit 
er, »Hexenhaar hast du!« 


u > er er TE EN ESEERPER 


Sohn, der väterlichen zur reifenden Tochter. 


Als der kleine vierjährige Fritz zum erstenmal sein Persönlichkeits- 
gefühl zur Geltung bringt in der Behauptung: »Wenn Papa und Liebling 


Vom wahren Wesen der Kinderseele 131 


Schrei so ein kleiner Mensch eine Persönlichkeit ist; ah, dachte ih, nun 
geht er seine eigenen Wege! Nun hat er schon seine eigenen Gedanken! 
Wie wird das später werden! Eines Tages wird er mir nicht mehr 
gehören! Eines Tages wird er eine Geliebte haben und seine 
Mutter wird er besuchen, wenn er gerade Zeit übrig hat! Nur 
für eine andere Frau haben wir unsere Söhne geboren! Ih dachte 
gar nicht daran, daß diese Geliebte noch gar nicht geboren war; aber ich 
hatte einen richtigen Haß auf das unbekannte Geschöpf, das 
mir meinen Sohn nehmen wollte.s — 

Diese eifersühtige Liebe der Mütter ist der heimliche Grund, warum 
sie ihre Knaben so lange im Kittelkleidhen gehen, das Haar in Locken 
wachsen lassen ... 

Wie aber auch die Gefühle des Vaters zur heranwachsenden Tochter 
sich eines sexuellen Untertones nicht immer erwehren können, davon spricht 
Geijerstam in seinem Roman »Frauenmadhts ein feines Wort: »Ein 
Vater, der allein gelassen wird mit seiner Tochter, bekommt leicht in seinem 
Benehmen dem Kinde gegenüber ein gewisses Etwas, das zeigt, wie wenig 
er den Untershied des Gesclechtes zwischen ihnen vergessen kann. So 
weit ih zurückdenken kann, war Grethen für mich immer das kleine 
weiblihe Wesen, sie war es von den ersten Tagen an, wo sie sih nach=- 
denklich in der Metallplatte der Ofentür spiegelte oder mich bat, mit ihr 
zu spielen, ich sei ihr kleines Kind... 

Hier, gerade hier stand sie jeden Mittag, wenn ich nach Hause kam, 
sie stand ruhig und wartete, bis ich mich meines Überroks entledigt 
hatte, um sich mir dann in die Arme zu werfen, mehr wie ein liebendes 
Weib als wie ein Kind... Sie war schon ein kleines Weib, während sie 


noch ein Kind war, ..* Dr. H. v. Hug-Hellmuth. 


Bucdrucerei Cari Fromme, G. m. b. H., Wien V. 


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25 PSYCHOANALYTIC. 
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DIE PSYCHOANALYTISCHE HOCHSCHULE IN BERLIN 


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Im dritten Jahrgang erscheint: 


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Offizielles Organ der Intern. Psydıhoanalytischen Vereinigung. 
Herausgegeben von 


Prof. Dr. SIGM. FREUD. 


Redigiert von 
Dr. S. FERENCZI (Budapest), Prof. ERNEST JONES (London) 
und Dr. OTTO RANK (Wien). 


Jährlih 6 Hefte 24—30 Bogen stark M. 18° — = K 21:60. 


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Kürzlich erschien: 


Probleme der Mystik und ihrer 
Symbolik. 


Von HERBERT SILBERER. 
18 Bogen, mit mehreren Abbildungen, geheftet M. 9— = K 10'80, 
in Halbfranz geb. M. 12°— = K 142%. 


INHALT. I. Einfeitender Teit. 1. Die Parabola. 2. Traum- und Märdendeutung. = 
— il. Analytischer Teil. 1. Psycdhoanalytishe Deutung der Parabola. 2. Alchemie. - = 


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3. Hermetishe Kunst. 4. Rosenkreuzerei und Freimaurerei. 5. Das Problem der mehr= 
fahen Deutung. — IH. Synthetischer Teil. 1. Introversion und Wiedergeburt. 
A. Verinnerlihung und Introversion. B. Folgen der Introversion, C. Wiedergeburt. 2. Das 
mystische Ziel. 3. Königlihe Kunst. — Anmerkungen. — Quellen. — Index, 
Dieses tiefshürfende Werk hält mehr, als der bescheidene Titel verspricht. Es führt 
insinnerste Wesen der Mystik selbst und gibt endgültige Aufschlüsse. 
Durdh die Anwendung der psychoanalytiscl,en Methode gelangt der Autor 
zu ebenso überraschenden als zwingenden Ergebnissen. Die Bildersprahe der Mystik = 
(wovon uns das Werk zahlreiche Beispiele aus seltenen Quellen vor Augen führt) Z 
“ist schon an sich teils wegen ihrer Kuriosität, teils wegen der Größe und Schönheit = 
ihrer Gedanken bemerkenswert. In der Beleuchtung des Verfassers aber entfalten = 
die Rätselworte der Mystiker, Alchemisten und Rosenkreuzer erst ihre volle Z 
Kraft, und die Zusammenhänge zwischen erotisch und mystisch reli- = 
giöser Symbolik treten klar zutage. Insbesonders auh wird das Wesen und 3 
die Symbolik der Freimaurerei, sowie ihr Ursprung in eine ganz neue = 
Beleuchtung gerückt, wobei den Verfasser ein reiches historisches und philosopbi- = 
sches Wissen unterstützt. = 


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Inhalt des zweiten Plehzs 


SIGM. FREUD (Wien): Eine Kindheitserinnerung aus »Dicdtung und 
Wahrheits. 

Dr. H. PROTZE (zurzeit Bad Ems): Der Baum als totemistisches 
Symbol in der Dicitung. 

Dr. GEZA RÖHEIM Budapest): Spiegelzauber. 

VOM WAHREN WESEN DER KINDERSEELE. Redigiert von 
Dr. H. v. Hug-Hellmuth. 


Von frühem Lieben und Hassen. (Dr. H, v. Hug-Hellmuth.) 
Eine Kinderbeobahtung. (Multaretuli.) 

Kinderszene, (Hanns Sachs.) 

Anatofe France über die Seele des Kindes, (Dr. J. Härnik.) 
Eine Kindheitserinnerung Alexander Dumas’. (Dr. Theodor Reik.) 
Mutter—Sohn, Vater—Todter. (Dr. H, v. Hug-Hellmuth.) 


Nachdruck verboten. 


ı WIENER GRAPHISCHES KABINETT 
HUGO HELLER, WIEN L, BAUERNMARKT NR. 3 


Zur Subskription ist gestellt: 


SIGMUND FREUD. 


Porträtradierung von MAX POLLAK. 
Plattengröße 472/,:47%/, em, Papiergröße 85:63 cm. 


Es werden insgesamt nur 50 Exemplare von der Kupferpfatte gezogen, und zwar 
Nr. 1—25 auf kaiserlih Japan, Nr. 26—50 auf van Geldern-Bütten. 

Jedes Blatt ist vom Künstler handschriftlich signiert und numeriert. 
Der Subskriptionspreis beträgt für die Abzüge auf kais. Japan 100 K = 85 M. 
für die Abzüge auf van Geldern-Bütten 60 X = 50 M. 

Ein ausgezeichnetes Porträt und hervorragendes Kunstwerk, das auch losgelöst 
vom gegenständlichen Interesse besteht und fesselt, bietet hier der trefflihe Wiener Ra- 


dierer den Sammlern und Kunstfreunden. Die Aufgabe des künstlerischen Porträtisten, 
den geistigen Gehalt einer Persönlichkeit auszuschöpfen und sichtbar zu machen, ist in 


= diesem Kunstblatte nahezu restlos Ben, 


DELELTERL FRAU RAAREET TEL) r N 
7 


BUCHDRUCKEREI CARL FROMME, % M.B.H. IN WIEN,