Skip to main content

Full text of "Imago. Zeitschrift für Anwendung der Psychoanalyse auf die Geisteswissenschaften V 1919 Heft 5/6"

See other formats


hr 





ur 











We 
SER 


* 
dar, 5 

















”„ r e ® 
| ru?! 


araıE 


au 


Fr 
in. 


N 


rg 


> un . 
En 


ar 


. 


7 E 


“u 7 
8 Je 5 “ 
Rear 


& 


Er 








- 











a‘ 
her t, 


Fact 


i “ fi 
x u % 
Ken 
Del 


su 
BE 


” 


a 
a 


v 


v 


« ug 
rs 
#3 { 


rs J ' 


w 


HL 
” 
[3 


‘ 


„r 
a 





Ir 
. 
em. 


R VEI 










a 
‘ 






















w 
® 


“A 
4 
[? 






u 
[2 sc 
3 
t 
_r.'a 
ie . 
Lars. 
‘ 
a 


Aral 


user 


a u 


u 


as IE? 


»Y - 


> m : 

Fr ” va . 
4 . N Th, 

on r} 
Tee 1 
mei 


“J ’. “ 
2 .% Er 


4 
h 


m“ 














r 


r 


mn 
ur 


2 
\ & 
un er 


2 


.. S > - - 
u, ee >7Z e 
ww. 5 a Br er. 
_ x —, DR 
tr na nf - 
nr 
u LE . 
er,» 
m =Öh 
d nn. 
“ 


a 
2 


4’ = E > 4, .. - 
fe EEE ae 
a a u E 
” En von - E 


. 

le 

= r - 

u du 
h a en 
ae an 

sr 
42 v 


= De > 
IE 

EN CE 
An, 


a 


Zee = Fr 
——. 


ne iu 

kZ - Pa 

IT A freien, 
une 


ee rei: er r Pa (7 = ne » 
e \n een ; er ann an 
. , rue Ze - u. . u. a u 
A}, # ‘ re Fr ve :t 
v — m y. u 
> - > Fr > es a — 8 
f an ” - zn nd an 
- > ‘ wi a en — - er 
e E # > f 2 


an R DEN 
IR Der 'r 


a a LE Io En tz Ill 1 
204 Ha R der M N SE y x 
\ r . - ’ nu 

4 IN } w f AE Han: ch en - 5 

A I Ir DarT & 

IR ER a f EN ad 12% 14 » 11%: Sa) 
5 ı . ag il ch Er 4 


= 


re \ * 7 . = « => . 
r . - k IE ı- . “ . n u FG je 2 er, 
- - . u y « 2 In re; nr 
= : fi P 2 1, - m x _ , a ug" Er; . =. FR 
v Pd u m Den FO =-_ . e a vn .- = u “mi DET ee: ae { - 
- “x = < ib. aaet Ka; y De a E .r >» u m “. A 
- . P - B “ — - b Sue en a d “pe 
, 1 r , ne aa ra #27 en a a — . ! 
ER d . . j > . ye- N - nz 
. hg: ’ 4 i — Ev w |. _— [m ° > 7° u a ei re za 
N ber E . a = u = - . we 3 v E 
r < . Eu = 1 B 2 + nz “ po a “ ua = = -- in 
, 4 - > ee 5 “ . [aay? b u rin m n us 
£ . - r.. r Be.) Ya . - m te $ Piz 
— ms ie- . or.) \ - u n - 
+ er 2 - . - ” < g en 
. 4 a.” In“ “ # - a z 
a 4 5 f . 
wo a Eu p nd Ru W . 
P i > nu’ . 
_ N a r 
‘ - e - >, 


een, 


T de: 5 rat im. 
n Engl Mi ji d Am | 
tag: Ps At ke RAIN, , up Au: er Ta 
NE. RF de Ür Fainon | ir 
zugspreis HN ne A 
e zgk 1 ofland 2 ER eh 
af $ Au RL a2 5, Sd ü Ik 
E Sn Ey ) "Gufll 


| ko I ii: za 
15 DR hy sche hen € 
> im 


a 1 
ıi- 


RER 


" ; a: | Rei } | 
| \ ni a I ee 
KÜ; ver STIEFEL N N F | 
orte 27 f te 1 Man d; | ’ wi 
Mile Pen a To B N al Al srhre auer?, Se bi 


Sad ver men 


an # % m - an v \ zei a. Er . 
{ rer HE. { h 
ZEN. he ® > Ahr ea 

1 Wien, } Er IR R, 


Tee En a — 
Ki ABER ERIT 


\ Et: I aM Bali 

beiten u = EN au a: 

1 Nr IRERail ai Taf a )e | alıe I THF i 2 | 
Br EL . 


Ws 
E Ale ein: gratis es — 
7 Sopyrighit 19191 ang mi L 


= ran (sh 
Kain \ a 


14 
Pike 
Ks 


A Fe: 
a: 


sl 


we 


EAN 





MACGO 


ZEITSCHRIFT FÜR ANWENDUNG DER PSYCHO- 
ANALYSE AUF DIE GEISTESWISSENSCHAFTEN 


HERAUSGEGEBEN VON PROF. DR. SIGM. FREUD 


SCHRIFTLEITUNG: 
V.5/6. DR. OTTO RANK /DR. HANNS SACHS 1919 


SEIXKIKLKERERE 





or4teTeie 


Das Unheimliche. 
Von SIGM. FREUD. 


I, 


er Psychoanalytiker verspürt nur selten den Äntrieb zu ästhe= 

tischen Untersuhungen, auh dann niht, wenn man die 

Ästhetik niht auf die Lehre vom Schönen einengt, sondern 
sie als Lehre von den Qualitäten unseres Fühlens beschreibt. Er 
arbeitet in anderen Schichten des Seelenlebens und hat mit den ziel= 
gehemmten, gedämpften, von so vielen begleitenden Konstellationen 
abhängigen Gefühlsregungen, die zumeist der Stoff der Ästhetik 
sind, wenig zu tun. Hie und da trifft es sih dodh, daß er sich 
für ein bestimmtes Gebiet der Ästhetik interessieren muß, und dann 
ist dies gewöhnlich ein abseits liegendes, von der ästhetishen Fad- 
literatur vernaclässigtes. 

Ein solhes ist das »Unheimlihe«, Kein Zweifel, daß es zum 
Screcdhaften, Angst- und Grauenerregenden gehört, und ebenso 
siher ist es, daß dies Wort nicht immer in einem scharf zu be- 
stimmenden Sinne gebraudht wird, so daß es eben meist mit dem 
Angsterregenden überhaupt zusammenfällt. Aber man darf dod er= _ 
warten, daß ein besonderer Kern vorhanden ist, der die Verwendung 
eines besonderen Begriffswortes rechtfertigt. Man möchte wissen, was 
dieser gemeinsame Kern ist, der etwa gestattet, innerhalb des Ängst= 
lihen ein »Unheimlihes« zu unterscheiden. 

Darüber findet man nun so viel wie nichts in den ausführlihen 
Darstellungen der Ästhetik, die sich überhaupt lieber mit den shönen, 
großartigen, anziehenden, also mit den positiven Gefühlsarten, ihren 
Bedingungen und den Gegenständen, die sie hervorrufen, als mit 
den gegensätzlihen, abstoßenden, peinlihen beschäftigen, Von seiten 
der ärztlih-psydhologishen Literatur kenne ich nur die eine, inhalts= 
reihe aber nicht ershöpfende, Abhandlung von E, Jentsch (Zur 


298 f Sigm. Freud 


Psychologie des Unheimlichen, Psydiatr.=neurolog. Wocensdrift 1906 
Nr. 22 u. 23). Allerdings muß ich gestehen, daß aus leicht zu erratenden, 
in der Zeit liegenden Gründen die Literatur zu diesem kleinen Beitrag, 
insbesondere die fremdspradige, nicht gründlih herausgesuht wurde, 
weshalb er denn auch ohne jeden Anspruch auf Priorität vor den 
Leser tritt. 

Als Schwierigkeit beim Studium des Unheimlidhen betont 
Jentsch mit vollem Recht, daß die Empfindlichkeit für diese Ge- 
fühlsqualität bei vershiedenen Menshen so sehr verschieden ange- 
troffen wird. Ja, der Autor dieser neuen Unternehmung muß sich 
einer besonderen Stumpfheit in dieser Sache anklagen, wo große Fein- 
fühligkeit eher am Platze wäre. Er hat schon lange nichts erlebt oder 
kennen gelernt, was ihm den Eindruck des Unheimlihen gemadt 
hätte, muß sich erst in das Gefühl hineinversetzen, die Möglichkeit 
desselben in sih wacrufen. Indes sind Schwierigkeiten dieser Art 
auch auf vielen anderen Gebieten der Ästhetik mächtig, man braucht 
darum die Erwartung nicht aufzugeben, daß sich die Fälle werden 
herausheben lassen, in denen der fraglihe Charakter von den meisten 
widersprucdhslos anerkannt wird. | 

Man kann nun zwei Wege einschlagen: nachhsuchen, welche 
Bedeutung die Sprahentwicklung in. dem Worte »unheimlich« nieder- 
gelegt hat, ‚oder zusammentragen, was an Personen und Dingen, 
Sinneseindrücken, Erlebnissen und Situationen das Gefühl des Un= 
heimlihen in uns wadruft, und den verhüllten Charakter des Un= 
heimlichen aus einem allen Fällen Gemeinsamen erschließen. Ih will 
gleich verraten, daß beide Wege zum nämlihen Ergebnis führen, 
das Unheimlihe sei jene Art des Schreckhaften, welche auf das Alt- 
bekannte, Längstvertraute zurückgeht. Wie das möglih ist, unter 
welhen Bedingungen das Vertraute unheimlih, shre&khaft werden 
kann, das wird aus dem Weiteren ersihtlih werden. Ih bemerke 
noh, daß diese Untersuhung in Wirklihkeit den Weg über eine 
Sammlung von Einzelfällen- genommen und erst später die Be- 
stätigung durh die Aussage des Sprahgebrauhs gefunden hat. In 
dieser Darstellung werde ih aber den umgekehrten Weg gehen, 

Das deutshe Wort »unheimlih« ist offenbar der Gegensatz 
zu heimlih, heimish, vertraut und der Schluß liegt nahe, es sei 
etwas eben darum schrechaft, weiles nicht bekannt und vertraut ist. 
Natürlich ist aber nicht alles shrekhaft, was neu und nicht vertraut 
ist; die Beziehung ist niht umkehrbar. Man kann nur sagen, was 
neuartig ist, wird leiht schreckhaft und unheimlich, einiges Neuartige 
ist shreckhaft, durchaus nicht alles. Zum Neuen und Nidtvertrauten 
muß erst etwas hinzukommen, was es zum Unheimlichen madt. 

Jentsch ist im ganzen bei dieser Beziehung des Unheimlichen 
zum Neuartigen, Nictvertrauten, stehen geblieben. Er findet die 
wesentlihe Bedingung für das Zustandekommen des unheimlichen 
Gefühls in der intellektuellen Unsicherheit. Das Unheimlihe wäre 
eigentlich immer etwas, worin man sich sozusagen nicht auskennt, 


u a An Tu nn nn Bene ne ut lt BEE Gene eine ARE Finn site sbeeeinten asus antneie a en re A Sr u nr mia arte 


Das Unheimliche | 299 


Je besser ein Mensh in der Umwelt orientiert ist, destoweniger 
leiht wird er von den Dingen oder Vorfällen in ihr den Eindruck 
der Unheimlichkeit empfangen. vu | a 

Wir haben es leiht zu urteilen, daß diese Kennzeihnung nicht 
ershöpfend ist, und versuhen darum, über die Gleihung unheimlich 
— nicht vertraut hinauszugehen. Wir wenden uns zunächst an andere 
Sprahen, Äber die Wörterbücher, in denen wir nahsclagen, sagen 
uns nichts Neues, vielleiht nur darum nicht, weil wir selbst Fremd= 
spradhige sind. Ja wir gewinnen den Eindruck, daß vielen Sprachen 
ein Wort für diese besondere Nuance des Schreckhaften abgeht!. 

Lateinisch: (nah K.E. Georges, Kl. Deutsclatein. Wörter- 
buc 1898) ein unheimliher Ort — locus suspectus, in unh. Nadt- 


zeit — intempesta nocte. 
Griechisch (Wörterbüher von Rost und von Schenkl) 
Sevogs — also fremd, fremdartig. 


Englisch (aus den Wörterbühern von Lucas, Bellow, 
Flügel, Muret-Sanders) uncomfortable, uneasy, gloomy, dismal, 
uncanny, ghastly, von einem Hause: haunted, von einem Menschen 
a repulsive fellow. 

Französisch (Sachs=Villatte) inquietant, sinistre, Jugubre, 
mal a son aise. 

Spanisch (Tollhausen 1889) sospechoso, de mal aguero, 
[ugubre, siniestro. | 

Das Italienishe und Portugiesishe scheinen sich mit Worten 
zu begnügen, die wir als Umscreibungen bezeihnen würden. Im 
Arabishen und Hebräishen fällt unheimlih mit dämonish, schaurig 
zusammen, 

Kehren wir darum zur deutshen Sprahe zurück. 

In Daniel Sanders’ Wörterbuh der Deutshen Sprahe 1860 
finden sich folgende Angaben zum Worte heimlich, die ih hier 
ungekürzt abschreiben und aus denen ih die eine und die andere 


Stelle durh Uhnterstreihung hervorheben will: (I. Bd,, p. 729.) 


Heimlic, a. (=keit, f, =en): 1. auch Heimelih, heimelig, zum Hause ge- 
hörig, nicht fremd, vertraut, zahm, traut und traulich, anheimelnd etc. a) (veralt.) 
zum Haus, zur Familie gehörig oder: wie dazu gehörig betrachtet, vgl. lat. 
familiaris, vertraut: Die Heimlihen, die Hausgenossen, Der heimliche Rat. 
1. Mos. 41, 45, 2. Sam. 23, 23. 1. Chr. 12, 25. Weish. 8, 4; wofür 
jetzt: Geheimer (s. d 1.) Rat üblich ist, s. Heimliher — 5) von Thieren 
zahm, sich den Menschen traulich anschließend. Ggstz. wild, z. B. Tier, 
die weder wild noch heimlih sind etc, Eppendorf. 88; Wilde Thier.. ;. 
so man sie h. und gewohnsam um die Leute aufzeudht. 92. So diese 
Thierle von Jugend bei den Menschen erzogen, werden sie ganz h., freund= 
lih etc. Stumpf 608a etc. — So nod: So h. ist's (das Lamm) und frißt 
aus meiner Hand. Hölty; Ein schöner, heimelicher (s. d Vogel bleibt der 
Storh immerhin. Link, Schi. 146. s. Häuslih. 1 etc. — c) traut, 


ı Für die nachstehenden Auszüge bin ih Herrn Dr. Th. Reik zu Dank 
verpflichtet. | 


300. | Sigm. Freud 


traulih anheimelnd, das Wohlgefühl stiller Befriedigung etc., behaglicher 
Ruhe u. sihern Schutzes, wie das umschlossne wohnlihe Haus erregend 
(vgl. Geheuer): Ist dir’s h. noh im Lande, wo die Fremden deine Wälder 
roden? Alexis H. 1, 1, 289; Es war ihr nicht allzu h, bei ihm, Brentano 
Wehm. 92; Auf einem hohen h-en Schattenpfade ... , längs dem rieselnden 
raushenden und plätschernden Waldbah. Forster B. 1, 417. Die H-—keit 
der Heimath zerstören. Gervinus Lit. 5, 375. So vertraulih und heimlich 
habe ich nicht leicht ein Plätzchen gefunden, G. 14, 14; Wir dachten es uns 
so bequem, so artig, so gemütlih und h, 15, 9; In stiller H—keit, umzielt 
von engen Schranken. Haller, Einer sorglihen Hausfrau, die mit dem 
Wenigsten eine vergnüglihe H-keit (Häuslichkeit) zu schaffen versteht. 
Hartmann Unst. 1, 188; Desto h-er kam ihm jetzt der ihm erst kurz 
noch so fremde Mann vor. Kerner 540; Die protestantischen Besitzer 
fühlen sih ... nicht h. unter ihren katholischen Unterthanen, Kohl. Irl. 1,172, 
Wenns h, wird und leise / die Abendstille nur an deiner Zelle lausct. 
Tiedge 2, 39; Still und lieb und h., als sie sih / zum Ruhen einen Platz 
nur wünschen möcten. W. 11, 144, Es war ihm garnicht h. dabei 27, 
170 etc. — Aud: Der Platz war so still, so einsam, so schatten-h. Scherr 
Pilg. 1,170, Die ab» und zuströmenden Fluthwellen, träumend und wiegen- 
lied-h. Körner, Sch. 3, 320 etc. — Vgl. namentl. Un=-h. — Namentl, bei 
shwäb., shwzr. Schriftst. oft dreisilbig: Wie »heimelihs war es dann Ivo 
Abends wieder, als er zu Hause lag. Auerbah, D. 1, 249, In dem Haus 
ist mir’s so heimelig gewesen. 4, 307; Die warme Stube, der heimelige 
Nachmittag. Gotthelf, Sch. 127, 148; Das ist das wahre Heimelig, wenn 
der Mensch so von Herzen fühlt, wie wenig er ist, wie groß der Herr ist. 
147, Wurde man nah und nach redht gemütlih und heimelig mit ein- 
ander. U. 1, 297; Die traufihe Heimeligkeit. 380, 2, 86, Heimeliher wird 
es mir wohl nirgends werden als hier, 327, Pestalozzi 4, 240, Was von ferne 
herkommt... lebt gw. nicht ganz heimelig (heimatlih, freundnachbarlich) 
mit den Leuten. 325; Die Hütte, wo /er sonst so heimelig, so froh /... 
im Kreis der Seinen oft gesessen. Reithard 20, Da klingt das Horn des 
Wäcters so heimelig vom Thurm / da ladet seine Stimme so gastlich. 49, 
Es schläft sih da so lind und warm / so wunderheim’lig ein. 23 etc, — 
Diese Weise verdiente allgemein zu werden, um das gute 
Wort vor dem Veralten wegen nahe liegender Verwechs- 
lung mit: 2 zu bewahren. vgl.: »Die Zecks sind alle h. (2)« 
H...? Was verstehen sie unter h..” — »Nun...es kommt 
mir mit ihnen vor, wie mit einem zugegrabenen Brunnen oder 
einem ausgetrockneten Teich. Man kann. nicht darüber gehen, 
ohne daß es Einem immer ist, als könnte da wieder einmal 
Wasser zum Vorschein kommen.«e Wir nennen das un—h.; Sie 
nennen’s h. Worin finden Sie denn, daß diese Familie etwas Ver- 
stecktes und Unzuverlässiges hat? etc. Gutzkow R, 2, 61!, — 
d) {s. c) namentl. schles.: fröhlich, heiter, auch vom Wetter, s. Adelung 
und Weinhold. — 2. versteckt, verborgen gehalten, so daß man Andre 
nicht davon oder darum wissen lassen, es ihnen verbergen will, vgl. Ge- 
heim (2), von welchem erst nhd. Ew. es doch zumal in der ältern Sprache, 
z. B. in der Bibel, wie Hiob 11, 6, 15, 8, Weish. 2, 22; 1. Kor. 2,7 etc. 
und so auh .H-—keit statt Geheimnis. Math. 13, 35 etc. nicht immer ge- 
nau geschieden wird: H. (hinter Jemandes Rücken) Etwas thun, treiben, Sich 





1 Sperrdruck (auh im folgenden) vom Referenten. 


nn en nn es te nn ee 


ee a | 301 





h. davon schleihen;, H-—e Zusammenkünfte, Verabredungen, Mit h-er 
Schadenfreude zusehen, H. seufzen, weinen, H. thun, als ob man etwas zu 
verbergen hätte, H-—e Liebe, Liebschaft, Sünde, H-e Orte (die der Wohl- 
stand zu verhüllen gebietet). 1. Sam, 5, 6; Das h-e Gemah (Abtritt) 
2. Kön. 10, 27; W, 5, 256 etc., auh: Der h-e Stuhl. Zinkgräf 1, 249, 
In Graben, in H-keiten werfen, 3, 75; Rollenhagen Fr. 83 etc. — Führte, 
h. vor Laomedon / die Stuten vor. B. 1615 etc. — Ebenso versteckt, 
h., hinterlistig und boshaft gegen grausame Herren... wie offen, frei, 
theilnehmend und dienstwillig gegen den leidenden Freund. Burmeister gB 2, 
157; Du sollst mein h, Heiligstes noh wissen. Chamisso 4, 56, Die h-e 
Kunst (der Zauberei). 3, 224; Wo die öffentlihe Ventilation aufhören muß, 
fängt die h—e Madination an, Forster, Br. 2, 135; Freiheit ist die leise Parole 
h. Verschworener, das laute Feldgeschrei der öffentlih Umwälzenden. G. 4, 
222; Ein heilig, h. Wirken. 15, Ih habe Wurzeln / die sind gar h., / im 
tiefen Boden / bin ich gegründet. 2, 109; Meine h-e Tücke (vgl, Heim- 
tücke). 30, 344, Empfängt er es nicht offenbar und gewissenhaft, so mag 
er es h. und gewissenlos ergreifen. 39, 22; Ließ h. und geheimnisvoll achro= 
matishe FPernröhre zusammensetzen. 375, Von nun an, will ich, sei 
nichts H—es mehr unter uns. Sch. 3696. — Jemandes H-keiten entdecken, 
offenbaren, verrathen, H-—keiten hinter meinem Rücken zu brauen. Alexis. 
H. 2, 3, 168, Zu meiner Zeit /befliß man sih der H-keit. Hagedorn 
3, 92; Die H-keit und das Gepuscele unter der Hand. Immermann, 
M. 3, 289, Der H-keit (des verborgnen Golds) unmädtigen Bann / kann 
nur die Hand der Einsicht lösen. Novalis. 1, 69, Sag an, wo du sie ver= 
Dirgst... in welches Ortes vershwiegener H. Sch. 495b, Ihr Bienen, die ihr 
knetet /der H-keiten Schloß (Wachs zum Siegeln). Tiek, Cymb. 3,2, 
Erfahren in seltnen H-keiten (Zauberkünsten). Sclegel Sh. 6, 102 etc. 
vgl. Geheimnis L. 10, 291 fi. | 

Zsstzg. s.1c, so auh nam, der Ggstz: Un=: unbehagliches, banges 
Grauen erregend: Der schier ihm un=h,, gespenstish ershien. Chamisso 
3, 238; Der Naht un=h. bange Stunden. 4, 148; Mir war schon lang’ 
un=h., ja graulih zu Mute. 242, Nun fängts mir an, un=h. zu werden. 
Gutzkow R. 2, 82, Empfindet ein u—es Grauen. Heine, Verm. 1, 51; 
Un-h. und starr wie ein Steinbild. Reis, 1, 10, Den u-—en Nebel, Haar- 
rauch geheißen. Immermann M, 3, 299; Diese blassen Jungen sind un-h. 
und brauen Gott weiß was Schlimmes. Laube, Band 1, 119, Unh. nennt 
man Älles, was im Geheimnis, im Verborgnen... bleiben sollte 
und hervorgetreten ist. Schelling, 2, 2, 649 etc. — Das Göttliche 
zu verhüllen, mit einer gewissen U—keit zu umgeben 658 etc. — Un- 
üblih als Ggstz. von (2), wie es Campe ohne Beleg anführt. 


Aus diesem langen Zitat ist für uns am interessantesten, daß 
das Wörtchen heimlih unter den mehrfachen Nuancen seiner Be- 
deutung aud eine zeigt, in der es mit seinem Gegensatz unheimlich 
zusammenfällt. Das heimlihe wird dann zum unheimlihen, vgl. das 
Beispiel von Gutzkow: »Wir nennen das unheimlih, Sie nennen’s 
heimlih.« Wir werden überhaupt daran gemahnt, daß dies Wort 
heimlih nicht eindeutig ist, sondern zwei Vorstellungskreisen zuge= 
hört, die, ohne gegensätzlih zu sein, einander doch recht fremd sind, 
dem des Vertrauten, Behaglihen und dem des Versteckten, Ver= 
borgen gehaltenen. Unheimlich sei nur als Gegensatz zur ersten Be= 


302 | Sigm. Freud 


deutung, niht auh zur zweiten gebräudhlih, Wir erfahren bei 
Sanders nichts darüber, ob nicht doch eine genetishe Beziehung 
zwischen diesen zwei Bedeutungen anzunehmen ist, Hingegen werden 
wir auf eine Bemerkung von Schelling aufmerksam, die vom In 
halt des Begriffes Unheimlih etwas ganz Neues aussagt, auf das 
unsere Erwartung gewiß nicht eingestellt war. Unheimlic sei alles, 
was ein Geheimnis, im Verborgenen bleiben sollte und hervorge= 
treten ist. 

Ein Teil der so angeregten Zweifel wird durh die Angaben 
in Jacob und Wilhelm Grimm; Deutshes Wörterbuch, Leipzig 
1877 (IV /s, p. 874 D) geklärt: 


»Heimlich, adj. und adv. vernaculus, occultus; mhd, heimelich, 
heimlich, heinlich. 
a S. 874: In etwas anderem sinne: es ist mir heimlich, wohl, frei von 
urn 2% 

b) heimlich ist auch der von gespensterhaften freie ort... 

S. 875: B) vertraut; freundlich, zutraulic. 

4, aus dem heimatlichen, häuslichen entwickelt sich weiter 
der begriff des fremden augen entzogenen, verborgenen, ge= 
heimen, eben auch in mehrfacher Beziehung ausgebildet... 


S. 876: links am see 
liegt eine matte heimlich im gehölz.« 


Sciller, Tell I, 4. 


... frei und für den modernen Sprahgebrauh ungewöhnlich ... heimlich ist 
zu einem verbum des verbergens gestellt: er verbirgt mich heimlich in seinem 
gezelt. ps. 27, 5. (... heimliche orte am menschlichen Körper, pudenda ... 
welche leute nicht stürben, die wurden geschlagen an heimlichen örten. 
1’Samuel 5, 12. +; 

c) beamtete, die wichtige und geheim zu haltende ratschläge in staats=- 
sachen ertheilen, heiszen heimliche räthe, das adjektiv nach heutigem sprach- 
gebrauh durch geheim (s. d.) ersetzt: ... (Pharao) nennet ihn (Joseph) den 
heimlichen rath. 1. Mos. 41, 45, 

S. 878. 6. heimlich für die erkenntnis, mystisch, allegorish: heimliche 
bedeutung, mysticus, divinus, occultus, figuratus, 

S. 878: anders ist heimlich im folgenden, der erkenntnis entzogen, un= 
bewuszt:.... 

dann aber ist heimlich auch verschlossen, undurdhdringlih in bezug 
auf erforshung: ,.. | 


»merkst du wohl? sie trauen mir nicht, 
fürchten des Friedländers heimlich gesicht.« 
Wallensteins lager, 2. aufz. 


9. die bedeutung des versteckten, gefährlichen, die in der 
vorigen nummer hervortritt, entwickelt sich noch weiter, so 
dasz heimlih den sinn empfängt, den sonst unheimlich (gebildet 
nach heimlih 3, 5) sp. 874) hat: ®mir ist zu zeiten wie dem menschen der 
in nacht wandelt und an gespenster glaubt, jeder winkel ist ihm heimlich 
und schauerhaft.« Klinger, theater, 3, 298. 


Also heimlih ist ein Wort, das seine Bedeutung nad einer 
Ambivalenz hin entwickelt, bis es endlih mit seinem ‚Gegensatz 


Das Unheimliche 303 


unheimlih zusammenfällt, Unheimlih ist irgendwie eine Art von 
heimlih, Halten wir dies noch nicht recht geklärte Ergebnis mit der 
Definition des Unheimlihen von Schleiermacher zusammen. Die 
Einzeluntersuhung der Fälle des Unheimlihen wird uns diese 
Andeutungen verständlich macen. 


II. 


Wenn wir jetzt an die Musterung der Personen und Dinge, 
Eindrücke, Vorgänge und Situationen herangehen, die das Gefühl 
des Unheimlihen in besonderer Stärke und Deutlihkeit in uns zu 
erwecken vermögen, so ist die Wahl eines glücklichen ersten Beispiels 
offenbar das nächste Erfordernis. E. Jentsch hat als ausgezeichneten 
Fall den »Zweifel an der Beseelung eines anscheinend lebendigen 
Wesens und umgekehrt darüber, ob ein lebloser Gegenstand nicht 
etwa beseelt seis hervorgehoben und sich dabei auf den Eindruck 
von Wadsfiguren, kunstvollen Puppen und Automaten berufen. Er 
reiht dem das Unheimlihe des epileptishen Anfalls und der 
Äußerungen des Wahnsinnes an, weil durh sie in dem Zuschauer 

hnungen von automatishen — medhanishen — Prozessen geweckt 
werden, die hinter dem gewohnten Bilde der Beseelung verborgen 
sein mögen. Ohne nun von dieser Ausführung des Autors voll 
überzeugt zu sein, wollen wir unsere eigene Untersuhung an ihn 
anknüpfen, weil er uns im weiteren an einen Dichter mahnt, dem 
die Erzeugung unheimliher Wirkungen so gut wie keinem anderen 
gelungen ist, 

»Einer der sichersten Kunstgriffe, feiht unheimlihe Wirkungen 
durh Erzählungen hervorzurufen,« schreibt Jentsch, »beruht nun 
darauf, daß man den Leser im Ungewissen darüber läßt, ob er in 
einer bestimmten Figur eine Person oder etwa einen Automaten 
vor sih habe, und zwar so, daß diese Unsicherheit nicht direkt in 
den Brennpunkt seiner Aufmerksamkeit tritt, damit er nicht veranlaßt 
werde, die Sache sofort zu untersuchen und klarzustellen, da hie= 
durh, wie gesagt, die besondere Gefühlswirkung leiht schwindet. 
E. T. A. Hoffmann hat in seinen Phantasiestücken dieses 
psydologishe Manöver wiederholt mit Erfolg zur Geltung gebradht.« 

Diese gewiß richtige Bemerkung zielt vor allem auf die Er> 
zählung »Der Sandmann« in den »Nactstüken« (dritter Band der 
Girisebachshen Ausgabe von Hoffmanns sämtlihen Werken), 
aus welcher die Figur der Puppe Olimpia in den ersten Akt der 
Offenbachshen Oper »Hoffmanns Erzählungens gelangt ist. 
Ih muß aber sagen, — und ich hoffe die meisten Leser der Geschichte 
werden mir beistimmen — daß das Motiv der belebt scheinenden 
Puppe Olimpia keineswegs das einzige ist, welches für die un= 
vergleihlih unheimlihe Wirkung der Erzählung verantwortlich 
gemacht werden muß, ja nicht einmal dasjenige, dem diese Wirkung 
in erster Linie zuzuschreiben wäre, Es kommt dieser Wirkung auch 
niht zustatten, daß die Olimpiaepisode vom Dichter selbst eine 


301 Sigm, Freud 


leise Wendung ins Satirishe erfährt und von ihm zum Spott auf 
die Liebesübershätzung von seiten des jungen Mannes gebraudt 
wird. Im Mittelpunkt der Erzählung steht vielmehr ein anderes 
Moment, nah dem sie auh den Namen trägt, und das an den 
entscheidenden Stellen immer wieder hervorgekehrt wird: das Motiv 
des Sandmannes, der den Kindern die Augen ausreißt, 

Der Student Nathaniel, mit dessen Kindheitserinnerungen die 
phantastische Erzählung anhebt, kann trotz seines Gtlüdtes in der 
Gegenwart die Erinnerungen niht bannen, die sih ihm an den 
rätselhaft erschreckenden Tod des geliebten Vaters knüpfen. An 
gewissen Abenden pflegte die Mutter die Kinder mit der Mahnung 
zeitig zu Bette zu schicken: Der Sandmann kommt, und wirklich hört 
das Kind dann jedesmal den shweren Schritt eines Besucers, der 
den Vater für diesen Abend in Anspruh nimmt, Die Mutter, nach 
dem Sandmann befragt, leugnet dann zwar, daß ein solher anders 
denn als Redensart existiert, aber eine Kinderfrau weiß greifbarere 
Auskunft zu geben: »Das ist ein. böser Mann, der kommt zu den 
Kindern, wenn sie niht zu Bette gehen wollen und wirft ihnen - 
Hände voll Sand in die Augen, daß sie blutig zum Kopf herausspringen, 
die wirft er dann in den Sack und trägt sie in den Halbmond zur 
Atzung für seine Kinderhen, die sitzen dort im Nest und haben 
krumme Schnäbel, wie die Eulen, damit picken sie der unartigen 
Menscenkindlein Augen auf.« | 

Obwohl! der kleine Nathaniel alt und verständig genug war, 
um so schauerlihe Zutaten zur Figur des Sandmannes abzuweisen, 
so setzte sih doh die Angst vor diesem selbst in ihm fest. Er 
beshloß zu erkunden, wie der Sandmann aussehe, und verbarg sid 
eines Abends, als er wieder erwartet wurde, im Arbeitszimmer 
des Vaters. In dem Besucher erkennt er dann den Advokaten 
Coppelius, eine abstoßende Persönlichkeit, vor der sih die Kinder 
zu scheuen pflegten, wenn er gelegentlih als Mittagsgast erschien, 
und identifiziert nun diesen Coppelius mit dem gefürchteten Sandmann, 
Für den weiteren Fortgang dieser Szene maht es der Dichter bereits 
zweifelhaft, ob wir es mit einem ersten Delirium des angstbesessenen 
Knaben oder mit einem Beriht zu tun haben, der als real in der 
Darstellungswelt der Erzählung aufzufassen ist, Vater und Gast 
machen sih an einem Herd mit flammender Glut zu schaffen. Der 
kleine Lauscher hört Coppelius rufen: »ÄAugen her, Augen her«, 
verrät sih durch seinen Aufschrei und wird von Coppelius gepackt, 
der ihm glutrote Körner aus der Flamme in die Augen streuen 
will, um sie dann auf den Herd zu werfen. Der Vater bittet die 
Augen des Kindes frei. Eine tiefe Ohnmacht und lange Krankheit 
beenden das Erlebnis. Wer sih für die rationalistishe Deutung des 
Sandmannes entscheidet, wird in dieser Phantasie des Kindes den 
fortwirkenden Einfluß jener Erzählung der Kinderfrau nicht verkennen. 
Anstatt der Sandkörner sind es glutrote Flammenkörner, die dem 
Kinde in die Augen gestreut werden sollen,. in beiden Fällen, damit 


Das Unheimliche -. 305 


die Augen herausspringen. Bei einem weiteren Besuhe des Sand- 
mannes ein Jahr später wird der Vater durh eine Explosion im 
Arbeitszimmer getötet, der Advokat Coppelius verschwindet vom 
Orte, ohne eine Spur zu hinterlassen. | 

Diese Schreckgestalt seiner Kinderjahre glaubt nun der Student 
Nathaniel in einem herumziehenden italienishen Optiker Giuseppe 
Coppola zu erkennen, der ihm in der Universitätsstadt Wettergläser 
zum Kauf anbietet und nach seiner Äblehnung hinzusetzt: »Ei nix 
Wetterglas, nix Wetterglas! — hab auh sköne Oke — sköne Oke.«s 
Das Entsetzen des Studenten wird beshwidtigt, da sih die ange- 
botenen Augen als harmlose Brillen herausstellen, er kauft dem 
Coppola ein Taschenperspektiv ab und späht mit dessen Hilfe in die 
gegenüberliegende Wohnung des Professors Spalanzani, wo er 
dessen shöne, aber rätselhaft wortkarge und unbewegte Tochter 
Olimpia. erblickt. In diese verliebt er sich bald so heftig, daß er 
seine kluge und nücdterne Braut über sie vergißt. Aber Olimpia 
ist ein Automat, an dem Spalanzani das Räderwerk gemacht und 
dem Coppola — der Sandmann — die Augen eingesetzt hat, Der 
Student kommt hinzu, wie die beiden Meister sih um ihr Werk 
streiten, der Optiker hat die hölzerne, augenlose Puppe davongetragen 
und der Mecdaniker, Spalanzani, wirft Nathaniel die auf dem 
Boden liegenden blutigen Augen Olimpias an die Brust, von denen 
er sagt, daß Coppola sie dem Nathaniel gestohlen. Dieser wird von 
einem neuerlihen Wahnsinnsanfall ergriffen, in dessen Delirium sich 
die Reminiszenz an den Tod des Vaters mit dem frischen Eindruck 
verbindet: „Hui — hui — hui! — Feuerkreis — Feuerkreis! Dreh’ 
dich Feuerkreis — lustig — lustig! Holzpüpphen hui, shön Holz= 
püppdhen dreh’ dich —.« Damit wirft er sih auf den Professor, den 
angeblihen Vater Olimpias, und will ihn erwürgen, 

Aus langer, shwerer Krankheit erwacht, scheint Nathaniel end= 
lih genesen. Er gedenkt seine wiedergefundene Braut zu heiraten. 
Sie ziehen beide eines Tages durch die Stadt, auf deren Markt der 
hohe Ratsturm seinen Riesenshatten wirft. Das Mädchen schlägt 
ihrem Bräutigam vor, auf den Turm zu steigen, während der das 
Paar begleitende Bruder der Braut unten verbleibt. Oben zieht eine 
merkwürdige Ersheinung von etwas, was sich auf der Straße heran- 
bewegt, die Aufmerksamkeit Claras auf sih, Nathaniel betrachtet 
dasselbe Ding durch Coppolas Perspektiv, das er in seiner Tasche 
findet, wird neuerlih vom Wahnsinn ergriffen und mit den Worten: 
Holzpüppcen dreh’ dich, will er das Mädchen in die Tiefe schleudern, 
Der durh ihr Geschrei herbeigeholte Bruder rettet sie und eilt mit 
ihr herab. Oben läuft der Rasende mit dem ÄAusruf herum: Feuer- 
kreis dreh’ dich, dessen Herkunft wir ja verstehen, Unter den Menschen, 
die sih unten ansammeln, ragt der Ädvokat Coppelius hervor, der 
plötzlih wieder erschienen ist. Wir dürfen annehmen, daß es der 
Anblik seiner Annäherung war, der den Wahnsinn bei Nathaniel 
zum Ausbruh bradhte, Man will hinauf, um sih des Rasenden zu 


Imago V/5—6 20 


306 Sigm, Freud 


bemädtigen, aber Coppelius‘) faht: »wartet nur, der kommt schon 
herunter von selbst.« Nathaniel bleibt plötzlih stehen, wird den 
Coppelius gewahr und stürzt sich mit dem gellenden Schrei; Ja! »Sköne 

ke — Sköne Oke« über das Geländer herab. Sowie er mit zer- 
schmettertem Kopf auf dem Straßenpflaster liegt, ist der Sandmann 
im Gewühl vershwunden. 

Diese kurze Nacherzählung wird wohl keinen Zweifel darüber 
bestehen lassen, daß das Gefühl des Unheimlihen direkt an der 
Gestalt des Sandmannes, also an der Vorstellung der Augen be- 
raubt zu werden haftet, und daß eine intellektuelle Unsicherheit im 
Sinne von Jentsch mit dieser Wirkung nihts zu tun hat. Der 
Zweifel an der Beseeltheit, den wir bei der Puppe Olimpia gelten 
lassen mußten, kommt bei diesem stärkeren Beispiel des Unheimlihen 
überhaupt nicht in Betracht. Der Dichter erzeugt zwar in uns anfäng- 
lih eine Art von Unsicerheit, indem er uns, gewiß nicht ohne Äb- 
siht, zunächst nicht erraten läßt, ob er uns in die reale Welt oder 
in eine ihm beliebige phantastishe Welt einführen wird. Er hat ja 
bekanntlih das Recht, das eine oder das andere zu tun, und wenn 
er z.B. eine Welt, in der Geister, Dämonen und Gespenster agieren, 
zum Schauplatz seiner Darstellungen gewählt hat, wie Shake- 
speare im Flamfet Macbeth und in anderem Sinne im Sturm und 
im Sommernadtstraum, so müssen wir ihm darin nahgeben und 
diese Welt seiner Voraussetzung für die Dauer unserer Hingegebenheit 
wie eine Realität behandeln, Aber im Verlaufe der Hoffmann schen 
Erzählung schwindet dieser Zweifel, wir merken, daß der Dichter 
uns selbst durch die Brille oder das Perspektiv des dämonischen 
Optikers shauen lassen will, ja daß er vielleiht in höchsteigener 
Person durh solh ein Instrument geguckt hat, Der Schluß der 
Erzählung madt es ja klar, daß der Optiker Coppola wirklich der 
Advokat Coppelius! und also auh der Sandmann ist, | 

Eine »intellektuelle Unsicherheits kommt hier nicht mehr in 
Frage: wir wissen jetzt, daß uns nicht die Phantasiegebilde eines 
Wahnsinnigen vorgeführt werden sollen, hinter denen wir in rationali- 
stisher Überlegenheit den nüchternen Sachverhalt erkennen mögen, 
und — der Eindruck des Unheimlichen hat sih durh diese Aufklärung 
nicht im mindesten verringert. Eine intellektuelle Unsicherheit leistet 
uns also nichts für das Verständnis dieser unheimlihen Wirkung. 

Hingegen mahnt uns die psydhoanalytishe Erfahrung daran, 
daß es eine schreckliche Kinderangst ist, die Augen zu beschädigen 
‘oder zu verlieren. Vielen Erwachsenen ist diese Ängstlichkeit ver=- 
blieben und sie fürhten keine andere Organverletzung so sehr wie 
die des Auges. Ist man doch auch gewohnt zu sagen, daß man etwas 
behüten werde wie seinen Augapfel. Das Studium der Träume, 
der Phantasien und Mythen hat uns dann gelehrt, daß die Angst 

ı Zur Ableitung des Namens: Coppella = Probiertiegel (die chemischen 


Operationen, bei denen der Vater verunglückt), coppo = Augenhöhle (nad einer 
Bemerkung von Frau Dr, Rank). £ : 





Das Unheimliche 307 


um die Augen, die Angst zu erblinden, häufig genug ein Ersatz 
für die Kastrationsangst ist. Auch die Selbstblendung des mythischen 
Verbreders Oedipus ist nur eine Ermäßigung für die Strafe der 
Kastration, die ihm nach der Regel der Talion allein angemessen 
wäre, Man mag es versuchen, in rationalistisher Denkweise die 
Zurükführung der Augenangst auf die Kastrationsangst abzulehnen, 
man findet es begreiflih, daß ein so kostbares Organ wie das Auge 
von einer entsprehend großen Angst bewacht wird, ja man kann 
weitergehend behaupten, daß kein tieferes Geheimnis und keine 
andere Bedeutung sich hinter der Kastrationsangst verberge. Aber 
man wird damit doh nicht der Ersatzbeziehung gerecht, die sic 
in Traum, Phantasie und Mythus zwishen Auge und männlichem 
Glied kundgibt, und kann dem Eindruk nicht widersprehen, daß 
ein besonders starkes und dunkles Gefühl sic södade gegen die 
Drohung das Geschlecdtsglied einzubüßen erhebt, und daß dieses 
Gefühl erst der Vorstellung vom Verlust anderer Organe den 
Nadhall verleiht. Jeder weitere Zweifel shwindet dann, wenn man 
aus den Analysen an Neurotikern die Details des »Kastrationskom= 
plexes« erfahren und dessen großartige Rolle in ihrem Seelenleben 
zur Kenntnis genommen hat. 

Aud würde ih keinem Gegner der psycdhoanalytishen Auf- 
fassung raten, sich für die Behauptung, die Äugenangst sei etwas vom 
Kastrationskomplex Unabhängiges gerade auf die Hoffmannsce 
Erzählung vom »Sandmann« zu berufen. Denn warum ist die Augen= 
angst hier mit dem Tode des Vaters in innigste Beziehung gebraht? 
Warum tritt der Sandmann jedesmal als Störer der Liebe auf? Er 
entzweit den unglücklichen Studenten mit seiner Braut und ihrem 
Bruder, der sein bester Freund ist, er vernichtet sein zweites Liebes= 
objekt, die shöne Puppe Olimpia, und zwingt ihn selbst zum Selbst- 
mord, wie er unmittelbar vor der beglückenden Vereinigung mit 
seiner wiedergewonnenen Clara steht. Diese sowie viele andere Züge 
der Erzählung erscheinen willkürlih und bedeutungslos, wenn man die 
Beziehung der ÄAugenangst zur Kastration äblehnt und werden 
sinnreih, sowie man für den Sandmann den gefürchteten Vater ein=- 
setzt, von dem man die Kastration erwartet!, 


ı In der Tat hat die Phantasiebearbeitung des Dichters die Elemente des 
Stoffes nicht so wild herumgewirbelt, daß man ihre ursprünglihe Anordnung nidt 
wiederherstellen könnte. In der Kindergeshicte stellen der Vater und Coppelius 
die durh Ambivalenz in zwei Gegensätze zerlegte Vaterimago dar, der eine droht 
mit der Biendung (Kastration), der andere, der gute Vater, bittet die Augen des 
Kindes frei. Das von der‘ Verdrängung am stärksten betroffene Stük des Kom- 

fexes, der Todeswunsh gegen den bösen Vater, findet seine Darstellung in dem 
od des guten Vaters, der dem Coppelius zur Last gelegt wird. Diesem Väter- 
paar entspreben in der späteren Lebensgeshihte des Studenten der Professor 
Spalanzani und der Optiker Coppola, der Professor an sich eine Figur der Vater= 
reihe, Coppola als identish mit dem Advokaten Coppelius erkannt. Wie sie damals 
zusammen am geheimnisvollen Herd arbeiteten, so haben sie nun gemeinsam 
die Puppe Olimpia verfertigt, der Professor heißt auch der Vater Olimpias. Durd 
diese zweimalige Gemeinsamkeit verraten sie sich als Spaltungen der Vaterimago, 


20* 


308 Sigm. Freud 


Wir würden es also wagen, das Unheimlihe des Sandmannes 
auf die Angst des kindlihen Kastrationskomplexes zurückzuführen. 
Sowie aber die Idee auftaucht, ein. soldhes infantiles Moment für 
die Enstehung des unheimlihen Gefühls in Anspruh zu nehmen, 
‚werden wir auh zum Versuch getrieben, dieselbe Ableitung für 
andere Beispiele des Unheimlihen in Betraht zu ziehen. Im Sand= 
mann findet sich noch das Motiv der belebt sheinenden Puppe, das 
Jentsch hervorgehoben hat. Nach diesem Autor ist es eine be= 
sonders günstige Bedingung für die Erzeugung unheimliher Gefühle, 
wenn eine intellektuelle Unsicherheit geweckt wird, ob etwas belebt 
oder leblos sei, und wenn das Leblose die Ähnlihkeit mit dem 
‚Lebenden zu weit treibt. Natürlih sind wir aber gerade mit den 
Puppen vom Kindlihen nicht weit entfernt. Wir erinnern uns, daß 
das Kind im frühen Älter des Spielens überhaupt nicht scharf zwischen 
Belebtem und Leblosem unterscheidet und daß es besonders gerne 
seine Puppe wie ein lebendes Wesen behandelt. Ja, man hört ge- 
legentlih von einer Patientin erzählen, sie habe noh im Älter von 
acht Jahren die Überzeugung gehabt, wenn sie ihre Puppen auf eine 
gewisse Art, möglihst eindringlih, anshauen würde, müßten diese 
lebendig werden. Das infantile Moment ist also aud hier leiht nac- 
zuweisen, aber merkwürdig, im Falle des Sandmannes handelte es 
sih um die Erwedung einer alten Kinderangst, bei der lebenden 
Puppe ist von Ängst keine Rede, das Kind hat sih vor dem Be- 
leben seiner Puppen nicht gefürchtet, vielleiht es sogar gewünscht. Die 








d. h. sowohl der Mechaniker als auch der Optiker sind der Vater der Olimpia wie 
des Nathaniel. In der Schreckensszene der Kinderzeit hatte Coppelius, nachdem 
er auf die Blendung des Kleinen verzichtet, ihm probeweise Arme und Beine abge- 
schraubt, also wie ein Mechaniker an einer Puppe mit ihm gearbeitet. Dieser 
sonderbare Zug, der ganz aus dem Rahmen der Sandmannvorstellung heraustritt, 
bringt ein neues Äquivalent der Kastration ins Spiel; er weist aber auch auf die 
innere Identität des Coppelius mit seinem späteren Widerpart, dem Mechaniker 
Spalanzani hin, und bereitet uns für die Deutung der Olimpia vor. Diese automatische 
Puppe kann nichts anderes sein als die Materialisation von Nathaniels femininer 
Einstellung zu seinem Vater in früher Kindheit. Ihre Väter — Spalanzani und 
Coppola — sind ja nur neue Auflagen, Reinkarnationen, von Nathaniels Väter= 
paar, die sonst unverständlihe Angabe des Spalanzani, daß der Optiker dem 
Nathaniel die Augen gestohlen (s. 0.), um sie der Puppe einzusetzen, gewinnt so 
als Beweis für die Identität von Olimpia und Nathaniel ihre Bedeutung. Olimpia 
ist sozusagen ein von Nathaniel losgelöster Komplex, der ihm als Person ent= 
gegentritt, die Beherrshung durch diesen Komplex findet in der unsinnig zwang= 
haften Liebe zur Olimpia ihren Ausdruck. Wir haben das Recht, diese Liebe eine 
narzißtische zu heißen, und verstehen, daß der ihr Verfallene sich dem realen Liebes= 
objekt entfremdet. Wie psydologish richtig es aber ist, daß der durch den Kastra- 
tionskomplex an den Vater fixierte Jüngling der Liebe zum Weibe unfähig wird, 
zeigen zahlreiche Krankenanalysen, deren Inhalt zwar weniger phantastisch, aber 
kaum minder traurig ist als die Geschichte des Studenten Nathaniel, 

E. T. A. Hoffmann war das Kind einer unglüklihen Ehe. Als er drei 
Jahre war, trennte sich der Vater von seiner kleinen Familie und lebte nie wieder 
mit ihr vereint. Nach den Belegen, die E. Grisebach in der biographischen Ein- 
leitung zu Hoffmanns Werken beibringt, war die Beziehung zum Vater immer 
eine der wundesten Stellen in des Dichters Gefühlsleben, 


Ds Unheinliche er | 309 


Quelle des unheimlichen Gefühls wäre also hier niht eine Kinder- 
angst, sondern ein Kinderwunsh oder audh nur ein Kinderglaube. 
Das scheint ein Widerspruch, möglicherweise ist es nur eine Mannig- 
faltigkeit, die späterhin unserem Verständnis förderlih werden kann, 

E. T. A. Hoffmann ist der unerreichte Meister des Unheim- 
lihen in der Dichtung. Sein Roman »Die Elixire des Teufels« 
weist ein ganzes Bündel von Motiven auf, denen man die unheim= 
lihe Wirkung der Geshihte zuschreiben möchte, Der Inhalt des 
Romans ist zu reichhaltig und verschlungen, als daß man einen Äus- 
zug daraus wagen könnte. Zu Ende des Buches, wenn die dem 
Leser bisher vorenthaltenen Voraussetzungen der Handlung nadıge- 
tragen werden, ist das Ergebnis niht die Aufklärung des Lesers, 
sondern eine volle Verwirrung desselben. Der Dichter hat zu viel 
Gleichartiges gehäuft, der Eindruck des Ganzen leidet nicht darunter, 
wohl aber das Verständnis. Man muß sich damit begnügen, die hervor- 
stechendsten unter jenen unheimlich wirkenden Motiven herauszu= 
heben, um zu untersuhen, ob auh für sie eine Ableitung aus 
infantilen Quellen zulässig ist. Es sind dies das Doppelgängertum 
in all seinen Abstufungen und Ausbildungen, also das Auftreten 
von Personen, die wegen ihrer gleihen Erscheinung für identisch 
gehalten werden müssen, die Steigerung dieses Verhältnisses durch 
Überspringen seelisher Vorgänge von einer dieser Personen auf die 
andere, — was wir Telepathie heißen würden — so daß der eine das 
Wissen, Fühlen und Erleben des andern mitbesitzt, die Identifi- 
zierung mit einer anderen Person, so daß man an seinem Id irre 
wird oder das fremde Ih an die Stelle des eigenen versetzt, also 
Ihverdopplung, Icteilung, Ihvertaushung — und endlih die be= 
ständige Wiederkehr des Gleichen, die Wiederholung der nämlichen 
Gesihtszüge, Charaktere, Schicksale, verbreherishen Taten, ja der 
Namen durch mehrere aufeinanderfolgende Generationen. 

Das Motiv des Doppelgängers hat in einer gleihnamigen Arbeit 
von O, Rank eine eingehende Würdigung gefunden!, Dort werden 
die Beziehungen des Doppelgängers zum Spiegel- und Schattenbild, 
zum Schutzgeist, zur Seelenlehre und zur Todesfurht untersucht, 
es fällt aber auch helles Licht auf die überrashende Entwicklungs- 
geschichte des Motivs. Denn der Doppelgänger war ursprünglich eine 
Versiherung gegen den Untergang des Ichs, eine »energishe De- 
mentierung der Macht des Todess (OÖ. Rank) und wahrsceinlic 
war die »unsterblihes Seele der erste Doppelgänger des Leibes. 
Die Schöpfung einer solhen Verdopplung zur Abwehr gegen die 
"Vernihtung hat ihr Gegenstück in einer Darstellung der Traum- 
sprache, welche die Kastration durh Verdopplung oder Vervielfältigung 
des Genitalsymbols auszudrücken liebt; sie wird in der Kultur der 
alten Ägypter ein Antrieb für die Kunst, das Bild des Verstorbenen 
in dauerhaftem Stoff zu formen. Aber diese Vorstellungen sind auf 


1 O, Rank, Der Doppelgänger, Imago III, 1914, 


Wr — 


310 Sigsm. Freud 


dem Boden der uneingeshränkten Selbstliebe entstanden, des primären 
Narzißmus, welcher das Seelenleben des Kindes wie des Primitiven 
beherrscht, und mit der Überwindung dieser Phase ändert sich das 
Vorzeihen des Doppelgängers, aus einer Versiherung des Fort= 
lebens wird er zum unheimlichen Vorboten des Todes, 

Die Vorstellung des Doppelgängers braucht nicht mit diesem 
uranfänglihen Narzißmus unterzugehen, denn sie kann aus den 
späteren Entwicklungsstufen des Ichs neuen Inhalt gewinnen. Im Ic 
bildet sih langsam eine besondere Instanz heraus, welhe sich dem 
übrigen Ich entgegenstellen kann, die der Selbstbeobahtung und 
Selbstkritik dient, die Arbeit der psychischen Zensur leistet und 
unserem Bewußtsein als »Gewissen« bekannt wird. Im patho= 
logishen Falle des Beahtungswahnes wird sie isoliert, vom Ic 
abgespalten, dem Arzte bemerkbar, Die Tatsache, daß eine solche 
Instanz vorhanden ist, weldhe das übrige Ih wie ein Objekt be=- 
handeln kann, also daß der Mensch der Selbstbeobahtung fähig ist, 
macht es möglich, die alte Doppelgängervorstellung mit neuem Inhalt 
zu erfüllen und ihr manderlei zuzuweisen, vor allem all das, was 
der Selbstkritik als zugehörig zum alten überwundenen Narzißmus 
der Urzeit ersceint!, 

Aber nicht nur dieser der Ichkritik anstößige Inhalt kann dem 
Doppelgänger einverleibt werden, sondern ebenso alle unterbliebenen 
Möglichkeiten der Gescicksgestaltung, an denen die Phantasie noch 
festhalten will, und alle Ihstrebungen, die sich infolge äußerer Un- 
gunst nicht durchsetzen konnten, sowie alle die unterdrükten Willens= 
entscheidungen, die die Illusion des freien Willens ergeben haben?, 

Nachdem wir aber so die manifeste Motivierung der Doppel= 
gängergestalt betrahtet haben, müssen wir uns sagen; Nichts von 
alledem madht uns den außerordentlih hohen Grad von Unheimlich= 
keit, der ihr anhaftet, verständlih, und aus unserer Kenntnis der 
pathologishen Seelenvorgänge dürfen wir hinzusetzen, nichts von 
diesem Inhalt könnte das Abwehrbestreben erklären, das ihn als 
etwas Fremdes aus dem Ic hinausprojiziert. Der Charakter des 
Unheimlihen kann doh nur daher rühren, daß der Doppelgänger 
eine den überwundenen seelishen Urzeiten angehörige Bildung ist, 


ı Ih glaube, wenn die Dichter klagen, daß zwei Seelen in des Menschen 
Brust wohnen, und wenn die Populärpsydhologen von der Spaltung des Ichs im 
Menschen reden, so schwebt ihnen diese Entzweiung, der Ihpsydologie ange 
hörig, zwischen der kritishen Instanz und dem Ich-Rest vor und nicht die von 
der Psychoanalyse aufgedekte Gegensätzlichkeit zwischen dem Ich und dem un= 
bewußten Verdrängten. Der Untershied wird allerdings dadurch verwischt, daß 
sih unter dem von der Ickritik Verworfenen zunächst die Abkömmlinge des 
Verdrängten befinden. 

2? In der H. H. Ewersshen Dichtung »Der Student von Prag«, von 
welher die Ranksce Studie über den Doppelgänger ausgegangen ist, hat der 
Held der Geliebten versprochen, seinen Duellgegner nicht zu töten. Auf dem 
Wege zum Duellplatz begegnet ihm aber der Doppelgänger, welcher den Neben= 
buhler bereits erledigt hat. | 


| Das Lnkeimnliche F 311 


die damals allerdings einen freundliheren Sinn hatte. Der Doppel- 
gänger ist zum Schrekbild geworden, wie die Götter nah dem 
Sturz ihrer Religion zu Dämonen werden (H. Heine, Die Götter 
im Exil), 

Die anderen bei Hoffmann verwendeten Ichstörungen sind 
nach dem Muster des Doppelgängermotivs leiht zu beurteilen. Es 
handelt sih bei ihnen um ein Rückgreifen auf einzelne Phasen in 
der Entwicklungsgeshihte des Ichgefühls, um eine Regression in 
Zeiten, da das Ih sih noh niht sharf von der Außenwelt und 
vom Änderen abgegrenzt hatte. Ich glaube, daß diese Motive den 
Eindruck des Unheimlihen mitvershulden, wenngleih es nicht feicht 
ist, ihren Änteil an diesem Bindruk isoliert herauszugreifen. 

Das Moment der Wiederholung des Gleichartigen wird als 
Quelle des unheimlihen Gefühls vielleiht nicht bei jedermann. Än- 
erkennung finden. Nach meinen Beobadhtungen ruft es unter gewissen 
Bedingungen und in Kombination mit bestimmten Umständen un- 
zweifelhaft ein solches Gefühl hervor, das überdies an die Hilf- 
losigkeit mancher Traumzustände mahnt. Als ich einst an einem 
heifen Sommernadhmittag die mir unbekannten, menscenleeren 
Straßen einer italienischen Kleinstadt durdstreifte, geriet ich in eine 
Gegend, über deren Charakter ich nicht lange in Zweifel bleiben konnte, 
Es waren nur geschminkte Frauen an den Fenstern der kleinen 
Häuser zu sehen, und ich beeilte mih, die enge Straße durch die 
nächste Einbiegung zu verlassen. Aber nahdem ich eine Weile 
führerlos herumgewandert war, fand ih mich plötzlih in derselben 
Straße wieder, in der ih nun Aufsehen zu erregen begann, und 
meine eilige Entfernung hatte nur die Folge, daß ich auf einem neuen 
Umwege zum dritten Male dahingeriet. Dann aber erfaßte mich ein 
Gefühl, das ih nur als unheimlich bezeichnen kann, und ih war froh, 
als ich unter Verzicht auf weitere Entdeckungsreisen auf die kürzlich 
von mir verlassene Piazza zurückfand. Ändere Situationen, die die 
unbeabsichtigte Wiederkehr mit der eben beschriebenen gemein haben 
und sih in den anderen Punkten gründlih von ihr unterscheiden, 
haben doc dasselbe Gefühl von Hilflosigkeit und Unheimlichkeit zur 
Folge, Zum Beispiel wenn man sih im Hocdhwald, etwa vom Nebel 
überrascht, verirrt hat und nun trotz aller Bemühungen, einen 
markierten oder bekannten Weg zu finden, wiederholt zu der einen, 
durch eine bestimmte Formation gekennzeichneten Stelle zurükkommt. 
Oder wenn man im unbekannten, dunkeln Zimmer wandert, um 
die Türe oder den Lichtschalter aufzusuhen und dabei zum xten 
Male mit demselben Möbelstük zusammenstößt, eine Situation, die 
Mark Twain allerdings durch groteske Übertreibung in eine unwider 
stehlih komishe umgewandelt hat. 

An einer anderen Reihe von Erfahrungen erkennen wir auch 
mühelos, daß es nur das Moment der unbeabsidhtigten Wieder- 
holung ist, welches das sonst Harmlose unheimlih macht und uns 
die Idee des Verhängnisvollen, Unentrinnbaren aufdrängt, wo wir 


312 | Sigm. Freud 


sonst nur von »Zufall« gesprochen hätten, So ist es z.B. gewiß ein 
gleihgültiges Erlebnis, wenn man für seine in einer Garderobe 
abgegebenen Kleider einen Schein mit einer gewissen Zahl —- sagen 
wir: 62 — erhält oder wenn man findet, daß die zugewiesene 
Sciffskabine diese Nummer trägt. Aber dieser Eindruck ändert sich, 
wenn beide an sich indifferenten Begebenheiten nahe aneinander 
rücken, so daß einem die Zahl 62 mehrmals an demselben Tage 
entgegentritt, und wenn man dann etwa gar die Beobahtung machen 
sollte, daß alles, was eine Zahlenbezeichnung trägt, Adressen, Hotel= 
zimmer, Eisenbahnwagen u, dgl. immer wieder die nämlihe Zahl 
wenigstens als Bestandteil, wiederbringt. Man findet das »unheim- 
lih« und wer nicht stih- und hiebfest gegen die Versuchungen des 
Aberglaubens ist, wird sich geneigt finden, dieser hartnäckigen Wieder- 
kehr der einen Zahl eine geheime Bedeutung zuzuschreiben, etwa 
einen Hinweis,auf das ihm bestimmte Lebensalter darin zu sehen. Oder 
wenn man eben mit dem Studium der Schriften des großen Physiologen 
E. Hering beschäftigt ist, und nun wenige Tage auseinander Briefe 
von zwei Personen dieses Namens aus verschiedenen Ländern 
empfängt, während man bis dahin niemals mit Leuten, die so heißen, 
in Beziehung getreten war. Ein geistvoller Naturforsher hat vor 
kurzem den Versuh unternommen, Vorkommnisse solher Art 
gewissen Gesetzen unterzuordnen, wodurh der Eindruck des Un- 
heimlihen aufgehoben werden müßte. Ih getraue mich nicht zu 
entscheiden, ob es ihm gelungen ist‘, 

Wie das Unheimlihe der gleichartigen Wiederkehr aus dem 
infantilen Seelenleben abzuleiten ist, kann ih hier nur andeuten und 
muß dafür auf eine bereitliegende ausführlihe Darstellung in anderem 
Zusammenhange verweisen, Im seelisch UInbewußten läßt sih nämlich 
die Herrschaft eines von den Triebregungen ausgehenden Wieder- 
holungszwanges erkennen, der wahrscheinlih von der innersten 
Natur der Triebe selbst abhängt, stark genug ist, sich über das Lust- 
prinzip hinauszusetzen, gewissen Seiten des Serlönlebens den dämoni= 
shen Charakter verleiht, sih in den Strebungen des kleinen Kindes 
noc sehr deutlich äußert und ein Stück vom Ablauf der Psychoanalyse 
des Neurotikers beherrsht. Wir sind durch alle vorstehenden Er- 
örterungen darauf vorbereitet, daß dasjenige als unheimlih ver= 
spürt werden wird, was an diesen inneren Wiederholungszwang 
mahnen kann, 

Nun, denke ih aber, ist es Zeit uns von diesen immerhin 
schwierig zu beurteilenden Verhältnissen abzuwenden und unzweifel- 
hafte Fälle des Unheimlihen aufzusuhen, von deren Analyse wir 
die endgültige Entscheidung über die Geltung unserer Annahme er- 
warten dürfen. | | 

Im »Ring des Polykratess wendet sich der Gast mit Grausen, 
weil er merkt, daß jeder Wunsch des Freundes sofort in Erfüllung 


ı P, Kammerer, Das Gesetz der Serie, Wien 1919, 


Das Unheimliche 313 


geht, jede seiner Sorgen vom Scicksal unverzüglih aufgehoben 
wird. Der Gastfreund ist ihm »unheimlih« geworden, Die Auskunft, 
die er selbst gibt, daß der allzu Glüklihe den Neid der Götter 
zu fürchten habe, erscheint uns noh undurdsidtig, ihr Sinn ist 
mythologisch verscleiert, Greifen wir darum ein anderes Beispiel 
aus weit schlichteren Verhältnissen heraus: In der Krankengeshicte 
eines Zwangsneurotikers! habe ich erzählt, daß dieser Kranke einst 
einen Aufenthalt in einer Wasserheilanstalt genommen hatte, aus 
dem er sih eine große Besserung holte, Er war aber so klug, diesen 
Erfolg nicht der Heilkraft des Wassers, sondern der Lage seines 
Zimmers zuzuschreiben, welhes der Kammer einer liebenswürdigen 
Pflegerin unmittelbar benahbart war. Als er dann zum zweiten Mal 
in diese Anstalt kam, verlangte er dasselbe Zimmer wieder, mußte 
aber hören, daß dies bereits von einem alten Herrn besetzt sei und 
gab seinem Unmut darüber in den Worten Ausdruk: Dafür soll 
ihn aber der Schlag treffen. Vierzehn Tage später erlitt der alte Herr 
wirklih einen Schlaganfall. Für meinen Patienten war dies ein »un= 
heimlihess« Erlebnis, Der Bindruk des Unheimlihen wäre nod 
stärker gewesen, wenn eine viel kürzere Zeit zwishen jener Äußerung 
und dem Unfall gelegen wäre oder wenn der Patient über zahl- 
reihe ganz ähnlihe Erlebnisse hätte berichten können, In der Tat 
war er um sole Bestätigungen nicht verlegen, aber nicht er allein, 
alle Zwangsneurotiker, die ich studiert habe, wußten Analoges von 
sih zu erzählen. Sie waren gar nicht überrascht, regelmäßig der 
Person zu begegnen, an die sie eben — vielleiht nach langer Pause 
— gedadt hatten, sie pflegten regelmäßig am Morgen einen Brief 
von einem Freund zu bekommen, wenn sie am Abend vorher ge- 
äußert hatten: Von dem hat man aber jetzt lange nichts gehört, und 
besonders Unglüks- oder Todesfälle ereigneten sih nur selten, 
ohne eine Weile vorher durch ihre Gedanken gehusht zu sein. Sie 
pflegten diesem Sachverhalt in der bescheidensten Weise Ausdruck 
zu geben, indem sie behaupteten, » Ähnungens zu haben, die »meistens« 
eintreffen, 

Fine der unheimlihsten und verbreitetsten Formen des Aber- 
glaubens ist die Angst vor dem »bösen Blick«, welcher bei dem 
Hamburger Augenarzt S.Seligman? eine gründliche Behandlung ge- 
funden hat. Die Quelle, aus welher diese Angst schöpft, scheint niemals 
verkannt worden zu sein. Wer etwas Kostbares und dod Hinfälliges 
besitzt, fürchtet sih vor dem Neid der anderen, indem er jenen 
Neid auf sie projiziert, den er im umgekehrten Falle empfunden 
hätte, Solhe Regungen verrät man durch den Blik, auh wenn man 
ihnen den Ausdruck in Worten versagt, und wenn jemand durch auf- 
fällige Kennzeichen, besonders unerwünschter Art, vor den anderen 


! Bemerkungen über einen Fall von Zwangsneurose, Jahrb, f. Psychoana: 
[yse, I, 1909 und Sammlung kl. Schriften, dritte Folge, 1913. 
ja S, Seligmann, Der böse Blik und Verwandtes, 2 Bände, Berlin 1910 
u. 


314 Sigm, Freud 


hervorstiht, traut man ihm zu, daß sein Neid eine besondere 
Stärke erreihen und dann auch diese Stärke in Wirkung umsetzen 
wird, Man fürchtet also eine geheime Absiht zu schaden, und auf 
gewisse Anzeichen hin nimmt man an, daß dieser Absicht aud die 
Kraft zu Gebote steht. 

Die letzterwähnten Beispiele des Unheimlichen hängen von dem 
Prinzip ab, das ich, der Anregung eines Patienten folgend, die »All- 
macht der Gedankens benannt habe, Wir können nun nicht mehr 
verkennen, auf welhem Boden wir uns befinden. Die Analyse der 
Fälle des Unheimlihen hat uns zur alten Weltauffassung des Ani- 
mismus zurücgeführt, die ausgezeichnet war durh die Erfüllung 
der Welt mit Menscengeistern, durh die narzißtische Übershätzung 
der eigenen seelishen Vorgänge, die Allmaht der Gedanken und 
die darauf aufgebaute Technik der Magie, die Zuteilung von sorg= 
fältig abgestuften Zauberkräften an fremde Personen und Dinge 
(Mana), sowie durd alle die Shöpfungen, mit denen sich der uneinge= 
schränkte Narzißmus jener Entwiclungsperiode gegen den unver= 
kennbaren Einspruch der Realität zur Wehre setzte, Es scheint, daß 
wir alle in unserer individuellen Entwicklung eine diesem Animismus 
der Primitiven entsprechende Phase durchgemacht haben, daß sie bei 
keinem von uns’ abgelaufen ist, ohne noch äußerungsfähige Reste 
und Spuren zu hinterlassen, und daß alles, was uns heute als »un= 
heimlihs erscheint, die Bedingung erfüllt, daß es an diese Reste 
animistisher Seelentätigkeit rührt und sie zur Äußerung anregt!. 

Hier ist nun der Platz für zwei Bemerkungen, in denen ich 
den wesentlihen Inhalt dieser kleinen Untersuhung niederlegen 
möcte. Erstens, wenn die psydhoanalytishe Theorie in der Be- 
hauptung recht hat, daß jeder Affekt einer Gefühlsregung, gleich 
gültig von weldher Art, durh die Verdrängung in Angst verwandelt 
wird, so muß es unter den Fällen des Ängstlihen eine Gruppe 
geben, in der sich zeigen läßt, daß dies Ängstliche etwas wieder- 
kehrendes Verdrängtes ist. Diese Art des Ängstlihen wäre eben 
das Unheimliche und dabei muß es gleichgültig sein, ob es ursprüng=- 
lih selbst ängstlih war oder von einem anderen ÄAffekt getragen. 
Zweitens, wenn dies wirklih die geheime Natur des Unheimlihen 
ist, so verstehen wir, daß der Sprachgebrauch das Heimliche in seinen 
Gegensatz, das Unheimliche übergehen läßt (S. 302), denn dies Un- 
heimlihe ist wirklih nichts Neues oder Fremdes, sondern etwas 
dem Seelenleben von alters her Vertrautes, das ihm nur durh den 
Prozeß der Verdrängung entfremdet worden ist. Die Beziehung auf 
die Verdrängung erhellt uns jetzt auh die Schellingshe De- 


1 Vgl. hiezu den Abschnitt III Animismus, Magie und Allmaht der Ge- 
danken in des Verf. Buh: Totem und Tabu. 1913, Dort auch die Bemerkung 
(S. 19 Note): »Es scheint, daß wir den Charakter des ‚Unheimlihen‘ solhen 
Eindrücken verleihen, welhe die Allmachıt der Gedanken und die animistishe Denk- 
weise überhaupt bestätigen wollen, während wir uns bereits im Urteil von ihr ab= 
gewendet haben,« 


Das Unheimliche 315 


finition, das Unheimliche sei etwas, was im Verborgenen hätte bleiben 
sollen und hervorgetreten ist. 

Es erübrigt uns nur nodh, die Einsiht, die wir gewonnen 
haben, an der Erklärung einiger anderer Fälle des Unheimlichen 
zu erproben, | 

Im allerhöhsten Grade unheimlih erscheint vielen Menschen, 
was mit dem Tod, mit Leihen und mit der Wiederkehr der Toten, 
mit Geistern und Gespenstern zusammenhängt. Wir haben ja ge= 
hört, daß manche moderne Sprachen unseren Ausdruck: ein unheim= 
fihes Haus gar nicht anders wiedergeben können als durch die Ulm= 
schreibung: ein Haus, in dem es spukt. Wir hätten eigentlih unsere 
Untersuhung mit diesem, vielleiht stärksten Beispiel von Unheim= 
lichkeit beginnen können, aber wir taten es nicht, weil hier das Un= 
heimlihe zu sehr mit dem Grauenhaften vermengt und zum Teil 
von ihm gedeckt ist. Aber auf kaum einem anderen Gebiet hat sich 
unser Denken und Fühlen seit den Urzeiten so wenig verändert, 
ist das Alte unter dünner Decke so gut erhalten geblieben, wie in 
unserer Beziehung zum Tode, Zwei Momente geben für diesen Still= 
stand gute Auskunft: Die Stärke unserer ursprünglihen Gefühls- 
reaktionen und die Unsicherheit unserer wissenschaftlihen Erkenntnis. 
Unsere Biologie hat es noch nicht entscheiden können, ob der Tod 
das notwendige Schiksal jedes Lebewesens oder nur ein regel- 
mäßiger, vielleiht aber vermeidliher Zufall innerhalb des Lebens 
ist, Der Satz; alle Menschen müssen sterben, paradiert zwar in den 
Lehrbüdhern der Logik als Vorbild einer allgemeinen Behauptung, 
aber keinem Menschen leuchtet er ein und unser Unbewufßtes hat 
jetzt so wenig Raum wie vormals für die Vorstellung der eigenen 
Sterblichkeit. Die Religionen bestreiten noch immer der unableug- 
baren Tatsahe des individuellen Todes ihre Bedeutung und setzen 
die Existenz über das Lebensende hinaus fort, die staatlihen Ge- 
walten meinen die moralishe Ordnung unter den Lebenden nicht 
aufrecht erhalten zu können, wenn man auf die Korrektur des Erden= 
lebens durch ein besseres Jenseits verzichten soll, auf den Anschlag=- 
säulen unserer Großstädte werden Vorträge angekündigt, welche Be- 
lehrung spenden wollen, wie man sich mit den Seelen der Verstorbenen in 
Verbindung setzen kann, und es ist unleugbar, daß mehrere der 
feinsten Köpfe und scärfsten Denker unter den Männern der 
Wissenschaft, zumal gegen das Ende ihrer eigenen Lebenszeit, ge- 
urteilt haben, daß es an Möglichkeiten für solchen Verkehr nicht 
fehle, Da fast alle von uns in diesem Punkt noh so denken wie 
die Wilden, ist es auch nicht zu verwundern, daß die primitive Ängst 
vor dem Toten bei uns noch so mädtig ist und bereit liegt, sich 
zu äußern, sowie irgend etwas ihr entgegen kommt. Wahrscheinlich 
hat sie auh noc den alten Sinn, der Tote sei zum Feind des Über- 
lebenden geworden und beabsictige, ihn mit sih zu nehmen, als Ge-= 
nossen seiner neuen Existenz. Eher könnte man bei dieser Unveränder= 
lihkeit der Einstellung zum Tode fragen, wo die Bedingung der 


316 Sigm. Freud er 


Verdrängung bleibt, die erfordert wird, damit das Primitive als 
etwas Unheimlihes wiederkehren könne. Aber die besteht doh aud, 
offiziell glauben die sogenannten Gebildeten niht mehr an das Sicht= 
barwerden der Verstorbenen als Seelen, haben deren Erscheinung 
an entlegene und selten verwirklichte Bedingungen geknüpft, und die 
ursprünglih höchst zweideutige, ambivalente Gefühlseinstellung zum 
Toten ist für die höheren Schichten des Seelenlebens zur eindeutigen 
der Pietät abgeshwäht worden!, 

Es bedarf jetzt nur noch weniger Ergänzungen, denn mit dem 
Animismus, der Magie und Zauberei, der Allmaht der Gedanken, 
der Beziehung zum Tode, der unbeabsichtigten Wiederholung und 
dem Kastrationskomplex haben wir den Umfang der Momente, die 
das Ängstlihe zum Unheimlihen machen, so ziemlich erschöpft. 

Wir heißen auch einen lebenden Menschen unheimlih, und zwar 
dann, wenn wir ihm böse Absichten zutrauen, Äber das reicht nicht hin, 
wir müssen nodh hinzutun, daß diese seine Absichten uns zu shaden 
sich mit Hilfe besonderer Kräfte verwirklihen werden. Der »Gettatores, 
ist ein gutes Beispiel hiefür, diese unheimliche Gestalt des romanischen 
Aberglaubens,die Albreht Schäffer in dem Buche »Josef Montfort« 
mit poetischer Intuition und tiefem psychoanalytishem Verständnis 
zu einer sympathischen Figur umgeschaffen hat. Aber mit diesen 
geheimen Kräften stehen wir bereits wieder auf dem Boden des 
Animismus. Die Ahnung solher Geheimkräfte ist es, die dem 
frommen Grethen den Mephisto so unheimlich werden läßt: 


»Sie ahnt, daß ich ganz sicher ein Genie, 
Vielleiht sogar der Teufel bin,« 


Das Unheimlihe der Fallsucht, des Wahnsinns, hat denselben Ur= 
sprung. Der Laie sieht hier die Äußerung von Kräften vor sic, 
die er im Nebenmenshen nicht vermutet hat, deren Regung er aber 
in entlegenen Winkeln der eigenen Persönlichkeit dunkel zu spüren 
vermag. Das Mittelalter hatte konsequenterweise und psychologisch 
beinahe korrekt alle diese Krankheitsäußerungen der Wirkung von 
Dämonen zugeschrieben, Ja, ih würde mich niht verwundern zu 
hören, daß die Psychoanalyse, die sich mit der Aufdekung dieser 
geheimen Kräfte beschäftigt, vielen Menschen darum selbst unheimlich 
geworden ist. In einem Falle, als mir die Herstellung eines seit 
vielen Jahren siehen Mädchens — wenn audh nicht sehr rash — 
gelungen war, habe idh’s von der Mutter der für lange Zeit Ge= 
heilten selbst gehört. 

Abgetrennte Glieder, ein abgehauener Kopf, eine vom Arm 
gelöste Hand wie in einem Märchen von Hauff, Füße, die für sich 
allein tanzen wie in dem erwähnten Buhe von A, Schaeffer, haben 
etwas ungemein Unheimlihes an sich, besonders wenn ihnen wie 
im letzten Beispiel noch eine selbständige Tätigkeit zugestanden wird. 


ı Vgl,: Das Tabu und die Ambivalenz in »Totem und Tabus, 


Das Unheimliche 317 





Wir wissen shon, daß diese Unheimlihkeit von der Annäherung 
an den Kastrationskomplex herrührt. Manche Menshen würden die 
Krone der Unheimlihkeit der Vorstellung zuweisen, scheintot be= 
graben zu werden. Allein die Psychoanalyse hat uns gelehrt, daß 
diese schreckende Phantasie nur die Umwandlung einer anderen ist; 
die ursprünglih nihts Schreckhaftes war, sondern von einer gewissen 
Lüsternheit getragen wurde, nämlich der Phantasie vom Leben im 
Mutterleib. 

Tragen wir noh etwas Allgemeines nad, was strenggenommen 
bereits in unseren bisherigen Behauptungen über den Animismus 
und die überwundenen Arbeitsweisen des seelishen Apparats ent= 
halten ist, aber doch einer besonderen Hervorhebung würdig scheint, 
daß es nämlih oft und leiht unheimlih wirkt, wenn die Grenze 
zwishen Phantasie und Wirklihkeit verwisht wird, wenn etwas 
real vor uns hintritt, was wir bisher für phantastish gehalten 
haben, wenn ein Symbol die volle Leistung und Bedeutung des 
Symbolisierten übernimmt und dergleichen mehr. Hierauf beruht auch 
ein gutes Stück der Unheimlichkeit, die den magishen Praktiken 
anhaftet. Das Infantile daran, was auch das Seelenleben der Neu-= 
rotiker beherrscht, ist die Überbetonung der psydischen Realität im 
Vergleich zur materiellen, ein Zug, welcher sich der Allmaht der Ge= 
danken anscließt. Mitten in der Absperrung des Weltkrieges kam 
eine Nummer des englishen Magazins »Strand« in meine Hände, 
in der ich unter anderen ziemlich überflüssigen Produktionen eine Er- 
zählung las, wie ein junges Paar eine möblierte Wohnung bezieht, in 
der sich ein seltsam geformter Tisch mit holzgeshnitzten Krokodilen 
befindet. Gegen Abend pflegt sih dann ein unerträglicher, harak= 
teristisher Gestank in der Wohnung zu verbreiten, man stolpert 
im Dunkeln über irgend etwas, man glaubt zu sehen, wie etwas 
Undefinierbares über die Treppe huscht, kurz, man soll erraten, daß 
infolge der Anwesenheit dieses Tisches gespenstishe Krokodile im 
Hause spuken, oder daß die hölzernen Scheusale im Dunkeln Leben 
bekommen oder etwas Ähnliches, Es war eine recht einfältige Ge-= 
shihte, aber ihre unheimlihe Wirkung verspürte man als ganz 
hervorragend. 

Zum Sclusse dieser gewiß noch unvollständigen Beispiel- 
sammlung soll eine Erfahrung aus der psycdhoanalytishen Arbeit er= 
wähnt werden, die, wenn sie nidit auf einem zufälligen Zusammen- 
treffen beruht, die schönste Bekräftigung unserer Auffassung des 
Unheimlihen mit sich bringt. Es kommt oft vor, daß neurotische 
Männer erklären, das weiblihe Genitale sei ihnen etwas Unheimlices. 
Dieses Unheimlihe ist aber der Eingang zur alten Heimat des 
Menschenkindes, zur Örtlichkeit, in der jeder einmal und zuerst ge= 
weilt hat, »Liebe ist Heimweh«, behauptet ein Scherzwort, und 
wenn der Träumer von einer Örtlihkeit oder Landschaft noh im 
Traume denkt: Das ist mir bekannt, da war ih schon einmal, so 
darf die Deutung dafür das Oenitale oder den Leib der Mutter 


318 Sigm. Freud 


einsetzen. Das Unheimlihe ist also auh in diesem Falle das ehe= 
mals Heimishe, Ältvertraute. Die Vorsilbe un an diesem Worte 
ist aber die Marke der Verdrängung. 


II. 


Schon während der Lektüre der vorstehenden Erörterungen 
werden sich beim Leser Zweifel geregt haben, denen jetzt gestattet 
werden soll sih zu sammeln und laut zu werden. 

Es mag zutreffen, daß das Unheimliche das Heimlihe-Heimische 
ist, das eine Verdrängung erfahren hat und aus ihr wiedergekehrt 
ist, und daß alles Unheimlihe diese Bedingung erfüllt. Aber mit 
dieser Stoffwahl scheint das Rätsel des Unheimlihen nicht gelöst. 
Unser Satz verträgt offenbar keine Umkehrung. Nicht alles was 
an verdrängte Wunschregungen und überwundene Denkweisen der 
individuellen Vorzeit und der Völkerurzeit mahnt, ist darum aud 
unheimlich. 

Audh wollen wir es nicht verschweigen, daß sih fast zu 
jedem Beispiel, welches unseren Satz erweisen sollte, ein analoges 
finden läßt, das ihm widerspriht. Die abgehauene Hand z. B. im 
Hauffshen Märdhen »Die Geshichte von der abgehauenen Hand« 
wirkt gewiß unheimlih, was wir auf den Kastrationskomplex zurücge- 
führt haben, Aber in der Erzählung des Herodot vom Scatz des 
Rhampsenit läßt der Meisterdieb, den die Prinzessin bei der Hand fest= 
halten will, ihr die abgehauene Hand seines Bruders zurük, und andere 
werden wahrsceinlich ebenso wie ih urteilen, daß dieser Zug keine un- 
heimlihe Wirkung hervorruft. Die prompte Wunscherfüllung im »Ring 
des Polykrates« wirkt auf uns sicherlih ebenso unheimlih wie auf 
den König von Ägypten selbst. Aber in unseren Märchen wimmelt es 
von sofortigen Wunscerfüllungen und das Unheimlihe bleibt dabei 
aus, Im Märchen von den drei Wünschen fäßt sich die Frau durdh 
den Wohlgeruh einer Bratwurst verleiten zu sagen, daß sie audh 
so ein Würstchen haben mödte. Sofort liegt es vor ihr auf dem 
Teller. Der Mann wünscht im Ärger, daß es der Vorwitzigen an 
der Nase hängen möge. Flugs baumelt es an ihrer Nase. Das ist 
sehr eindrucksvoll, aber nicht im geringsten unheimlich. Das Märchen 
stellt sich überhaupt ganz offen auf den animistishen Standpunkt 
der Allmaht von Gedanken und Wünschen, und ih wüßte dod 
kein echtes Märchen zu nennen, in dem irgend etwas Unheimliches 
vorkäme, Wir haben gehört, daß es in hohem Grade unheimlich 
wirkt, wenn leblose Dinge, Bilder, Puppen, sich beleben, aber in 
den Andersenshen Märden leben die Hausgeräte, die Möbel, der 
Zinnsoldat und nichts ist vielleiht vom Unheimlihen entfernter. Auch 
die Belebung der shönen Statue des Pygmalion wird man kaum 
als unheimlih empfinden, | 

Sceintod und Wiederbelebung von Toten haben wir als sehr 
unheimlihe Vorstellungen kennen gelernt. Dergleihen ist aber 
wiederum im Märchen sehr gewöhnlih, wer wagte es unheimlid 


Das Unheimliche 319 


zu nennen, wenn z. B. Schrieewitthen die Augen wieder aufschlägt? 
Aud die Erwekung von Toten in den Wundergeshichten z, B. des 
Neuen Testaments ruft Gefühle hervor, die nihts mit dem Un- 
heimlihen zu tun haben. Die unbeabsidhtigte Wiederkehr des 
Gleihen, die uns so unzweifelhafte unheimlihe Wirkungen ergeben 
hat, dient doh in einer Reihe von Fällen anderen, und zwar sehr 
vershiedenen Wirkungen. Wir haben schon einen Fall kennen ge= 
lernt, in dem sie als Mittel zur Hervorrufung des komishen Ge= 
fühls gebraucht wird und könnten Beispiele dieser Art häufen. Ändere 
Male wirkt sie als Verstärkung u. dgl., ferner: woher rührt die 
Unheimlihkeit der Stille, des Alleinseins, der Dunkelheit? Deuten 
diese Momente nicht auf die Rolle der Gefahr bei der Entstehung 
des Unheimlichen, wenngleih es dieselben Bedingungen sind, unter 
denen wir die Kinder am häufigsten Angst äußern sehen? Und 
können wir wirklih das Moment der intellektuellen Unsicherheit 
ganz vernachlässigen, da wir doh seine Bedeutung für das Un- 
heimlihe des Todes zugegeben haben? 

So müssen wir wohl bereit sein anzunehmen, daß für das 
Auftreten des unheimlihen Gefühls noh andere als die von uns 
vorangestellten stofflihen Bedingungen maßgebend sind. Man könnte 
zwar sagen, mit jener ersten Feststellung sei das psychoanalytische 
Interesse am Problem des Unheimlihen erledigt, der Rest erfordere 
wahrsceinlih eine ästhetishe Untersuhung. Aber damit würden 
wir dem Zweifel das Tor öffnen, welchen Wert unsere Einsicht in 
die Herkunft des Unheimlihen vom verdrängten Heimiscen eigentlich 
beanspruchen darf. 

Eine Beobadhtung kann uns den Weg zur Lösung dieser Un- 
sicherheiten weisen. Fast alle Beispiele, die unseren Erwartungen 
widersprehen, sind dem Bereich der Fiktion, der Dichtung, ent= 
nommen, Wir erhalten so einen Wink, einen Unterschied zu machen 
zwishen dem Unheimlihen, das man erlebt, und dem Unheimlichen, 
das man sich bloß vorstellt, oder von dem man liest. 

Das Unheimlihe des Erlebens hat weit einfachere Bedingungen, 
umfaßt aber weniger zahlreihe Fälle. Ih glaube, es fügt sih aus= 
nahmslos unserem Lösungsversudh, läßt jedesmal die Zurükführung 
auf altvertrautes Verdrängtes zu. Doch ist auch hier eine wichtige 
und psydhologish bedeutsame Scheidung des Materials vorzunehmen, 
die wir am besten an geeigneten Beispielen erkennen werden. 

Greifen wir das Unheimlihe der Allmaht der Gedanken, der 
prompten Wunscerfüllung, der geheimen shädigenden Kräfte, der 
Wiederkehr der Toten heraus. Die Bedingung, unter der hier das 
Gefühl des Unheimlihen entsteht, ist nicht zu verkennen, Wir — 
oder unsere primitiven Urahnen — haben dereinst diese Möglic- 
keiten für Wirklihkeit gehalten, waren von der Realität dieser Vor= 
gänge überzeugt. Heute glauben wir nicht mehr daran, wir haben 
diese Denkweisen überwunden, aber wir fühlen uns dieser neuen 
Überzeugungen nicht ganz sicher, die alten leben noh in uns fort 


320 Sigm. Freud 


und lauern auf Bestätigung. Sowie sih nun etwas in unserem Leben 
ereignet, was diesen alten abgelegten Überzeugungen eine Be- 
stätigung zuzuführen scheint, haben wir das Gefühl des Unheim- 
lihen, zu dem man das Urteil ergänzen kann: Also ist es dodh 
wahr, daß man einen anderen durh den bloßen Wunsh töten 
kann, daß die Toten weiterleben und an der Stätte ihrer früheren 
Tätigkeit sihtbar werden u, dgl.! Wer im Gegenteile diese animisti= 
‚schen Überzeugungen bei sih gründlih und endgültig erledigt hat, 
für den entfällt das Unheimlihe dieser Art. Das merkwürdigste 
Zusammentreffen von Wunsh und Erfüllung, die rätselhafteste 
Wiederholung ähnlicher Erlebnisse an demselben Ort oder zum 
gleihen Datum, die täuschendsten Gesichtswahrnehmungen und ver=- 
däcdtigsten Geräushe werden ihn nicht irre machen, keine Ängst 
in ihm erwecken, die man als Ängst vor dem »Unheimlihen« be= 
zeihnen kann. Es handelt sih hier also rein um eine Ängelegen- 
heit der Realitätsprüfung, um eine Frage der materiellen Realität!. 

Änders verhält es sih mit dem Unheimlihen, das von ver= 
drängten infantilen Komplexen ausgeht, vom Kastrationskomplex, 
der Mutterleibsphantasie usw., nur daß reale Erlebnisse, welche 
diese Art von Unheimlichem erwecken, nicht sehr häufig sein können, 
Das Unheimlihe des Erlebens gehört zumeist der früheren Gruppe 
an, für die Theorie ist aber die Untersheidung der beiden sehr 
bedeutsam, Beim Unheimlihen aus infantiien Komplexen kommt 
die Frage der materiellen Realität gar nicht in Betracht, die psyci- 
sche Realität tritt an deren Stelle. Es handelt sih um wirkliche Ver- 
drängung eines Inhaltes und um die Wiederkehr des Verdrängten, 
niht um die Aufhebung des Glaubens an die Realität dieses 
Inhalts. Man könnte sagen, in dem einen Falle sei ein gewisser 
Vorstellungsinhalt, im anderen der Glaube an seine (materielle) Realität 
verdrängt. Aber die letztere Ausdrucksweise dehnt wahrsceinlic 


! Da auh das Unheimlihe des Doppelgängers von dieser Gattung ist, 
wird es interessant, die Wirkung zu erfahren, wenn uns einmal das Bild der 
eigenen Persönlichkeit ungerufen und unvermutet entgegentritt. E. Mad berichtet 
zwei solher Beobachtungen in der Ȁnalyse der Empfindungens, 1900, Seite 3, Er 
ershrak das eine Mal nicht wenig, als er erkannte, daß das gesehene Gesicht das 
eigene sei, das andere Mal fällte er ein sehr ungünstiges Urteil über den anscheinend 
Fremden, der in seinen Omnibus einstieg, »Was steigt doh da für ein herabge- 
kommener Schulmeister eine. — Ich kann ein ähnlihes Abenteuer erzählen: Ich 
saß allein im Abteil des Schlafwagens, als bei einem heftigeren Ruck der Fahrt- 
bewegung die zur anstoßenden Toilette führende Türe aufging und ein älterer 
Herr im Sclafrock, die Reisemütze auf dem Kopf, bei mir eintrat. Ich nahm an, 
daß er sich beim Verlassen des zwischen zwei Abteilen befindlichen Kabinetts in 
der Richtung geirrt hatte und fälschlich in mein Abteil gekommen war, sprang auf, 
um ihn aufzuklären, erkannte aber bald verdutzt, daß der Eindringling mein eigenes 
vom Spiegel in der Verbindungstür entworfenes Bild war. Ih weiß noch, daß mir 
die Erscheinung gründlich mißfallen hatte. Anstatt also über den Doppelgänger 
zu erschrecken, hatten beide — Mad wie ih — ihn einfach nicht agnosziert. Ob 
aber das Mißfallen dabei nicht doch ein Rest jener archaischen Reaktion war, die 
den Doppelgänger als unheimlich empfindet? 


Das Unheimliche 321 
den Gebrauch des Terminus »Verdrängungs über seine rechtmäßigen 
Grenzen aus. Es ist korrekter, wenn wir einer hier spürbaren 
psydoloyishen Differenz Rechnung tragen und den Zustand, in 
dem sich die animistishen Überzeugungen des Kulturmenscen befinden, 
als ein — mehr oder wenig vollkommenes — Überwundensein 
bezeihnen. Unser Ergebnis lautete dann: Das Unheimlihe des Er- 
lebens kommt zustande, wenn verdrängte infantile Komplexe 
durh einen Eindruk wieder belebt werden, oder wenn über= 
wundene primitive Überzeugungen wieder bestätigt scheinen. 
Endlih darf man sih durh die Vorliebe für glatte Erledigung 
und durchsichtige Darstellung nicht vom Bekenntnis abhalten lassen, 
daß die beiden hier aufgestellten Arten des Unheimlichen im Er= 
leben nicht immer scharf zu sondern sind. Wenn man bedenkt, 
daß die primitiven Überzeugungen auf das innigste mit den infan= 
tilen Komplexen zusammenhängen und eigentlih in ihnen wurzeln, 
wird man sich über diese Verwishung der Abgrenzungen nicht viel 
verwundern. 

Das Unheimlihe der Fiktion — der Phantasie, der Dichtung 
— verdient in der Tat eine gesonderte Betrahtung. Es ist vor 
allem weit reichhaltiger als das Unheimlihe des Erlebens, es um- 
faßt dieses in seiner Gänze und dann noch anderes, was unter den 
Bedingungen des Erlebens niht vorkommt, Der Gegensatz zwischen 
Verdrängtem und Überwundenem kann nicht ohnetiefgreifende Modi= 
fikation auf das Ulnheimlihe der Dichtung übertragen werden, denn 
das Reich der Phantasie hat ja zur Voraussetzung seiner Geltung, daß 
sein Inhalt von der Realitätsprüfung enthoben ist. Das paradox klin= 
gende Ergebnis ist, daß in der Dichtung vieles nicht un- 
heimlich ist, was unheimlich wäre, wenn es sich im Leben 
ereignete, und daß in der Dichtung viele Möglichkeiten be- 
stehen unheimliche Wirkungen zu erzielen, die fürs Leben 
wegfallen. | 

Zu den vielen Freiheiten des Dichters gehört auh die, seine 
Darstellungswelt nach Belieben so zu wählen, daß sie mit der uns 
vertrauten Realität zusammenfällt, oder sih irgendwie von ihr ent= 
fernt, Wir folgen ihm in jedem Falle, Die Welt des Märdens z. B. 
hat den Boden der Realität von vornherein verlassen und sic offen 
zur Annahme der animistishen Überzeugungen bekannt. Wunsch- 
erfüllungen, geheime Kräfte, Allmaht der Gedanken, Belebung des 
Leblosen, die im Märchen ganz gewöhnlich sind, können hier keine 
unheimlihe Wirkung äußern, denn für die Entstehung des unheim= 
lihen Gefühls ist, wie wir gehört haben, der Urteilsstreit erfordert, 
ob das überwundene Unglaubwürdige nicht doch real möglich ist, 
eine Frage, die durh die Voraussetzungen der Märchenwelt über- 
haupt aus dem Wege geräumt ist. So verwirkliht das Märcen, 
das uns die meisten Beispiele von Widerspruh gegen unsere 
Lösung des Unheimlichen geliefert hat, den zuerst erwähnten Fall, 
daß im Reiche der Fiktion vieles niht unheimlih ist, was unheim- 


Imago V/5—6 21 





322 Pe Sigm, Freud 


ih wirken müßte, wenn es sich im Leben ereignete, Dazu kommen 
fürs Märchen noch andere Momente, die später kurz berührt 
werden sollen. 

Der Dichter kann sih auch eine Welt erschaffen haben, die 
minder phantastish als die Märdhenwelt, sih von der realen dod 
durd die Aufnahme von höheren geistigen Wesen, Dämonen oder 
Geistern Verstorbener scheidet. Alles Unheimlihe, was diesen Ge= 
stalten anhaften könnte, entfällt dann, soweit die Voraussetzungen 
dieser poetischen Realität reihen. Die Seelen der Danteshen Hölle 
oder die Geisterersheinungen in Shakespeares Hamlet, Macbeth, 
Julius Caesar mögen düster und schre&khaft genug sein, aber un- 
heimlih sind sie im Grunde ebensowenig. wie etwa die heitere 
Götterwelt Homers, Wir passen unser Urteil den Bedingungen 
dieser vom Dichter fingierten Realität an und behandeln Seelen, 
Geister und Gespenster, als wären sie vollberedhtigte Existenzen, 
wie wir es selbst in der materiellen Realität sind, Aud dies ist ein 
Pall, in dem Unheimlichkeit erspart wird. 

Änders nun, wenn der Dichter sih dem Anscdeine nach auf 
den Boden der gemeinen Realität gestellt hat. Dann übernimmt er 
aud: alle Bedingungen, die im Erleben für die Entstehung des un= 
heimlihen Gefühls gelten, und alles was im Leben unheimlich wirkt, 
wirkt auch so in der Dihtung. Aber in diesem Falle kann der 
Dichter auh das Unheimlihe weit über das im Erleben mögliche 
Maß hinaus steigern und vervielfältigen, indem er solhe Ereignisse 
vorfallen läßt, die in der Wirklichkeit niht oder nur sehr selten zur 
Erfahrung gekommen wären. Er verrät uns dann gewissermaßen an 
unseren für überwunden gehaltenen Äberglauben, er betrügt uns, 
indem er uns die gemeine Wirklichkeit verspriht und dann doch über 
diese hinausgeht. Wir reagieren auf seine Fiktionen so, wir wir auf 
eigene Erlebnisse reagiert hätten, wenn wir den Betrug merken, ist 
es zu spät, der Dichter hat seine Absicht bereits erreiht, aber ich 
muß behaupten, er hat keine reine Wirkung erzielt. Bei uns bleibt 
ein Gefühl von Unbefriedigung, eine Art von Groll über die ver- 
suchte Täuschung, wie ich es besonders deutlih nach der Lektüre von 
Schnitzlers Erzählung »Die Weissagung« und ähnlichen mit dem 
Wunderbaren liebäugelnden Produktionen verspürt habe. Der Dichter 
hat dann noch ein Mittel zur Verfügung, durh welches er sich dieser 
unserer Äuflehnung entziehen und gleichzeitig die Bedingungen für 
das Erreihen seiner Absichten verbessern kann. Es- besteht 
darin, daß er uns lange Zeit über nicht erraten läßt, welhe Vor- 
aussetzungen er eigentlih für die von ihm angenommene Welt ge= 
wählt hat, oder daß er kunstvoll und arglistig einer solhen ent=- 
scheidenden Aufklärung bis zum Ende ausweiht. Im ganzen wird 
aber hier der vorhin angekündigte Fall verwirkliht, daß die Fiktion 
neue Möglichkeiten des unheimlihen Gefühls ershafft, die im Er- 
leben wegfallen würden. 
| Alle diese Mannigfaltigkeiten beziehen sich streng genommen 


Das Unheimlihe 323 


nur auf das Unheimliche, das aus dem Überwundenen entsteht. Das 
Unheimlihe aus verdrängten Komplexen ist resistenter, es bleibt 
in der Dichtung — von einer Bedingung abgesehen — ebenso 
unheimlih wie im Erleben. Das andere Unheimlihe, das aus dem 
Überwundenen, zeigt diesen Charakter im Erleben und in der 
Dihtung, die sih auf den Boden der materiellen Realität stellt, 
kann ihn aber in den fiktiven, vom Dichter geschaffenen Realitäten 
einbüßen. 

Es ist offenkundig, daß die Freiheiten des Dichters und damit 
die Vorredhte der Fiktion in der Hervorrufung und Hemmung des 
unheimlihen Gefühls durh die vorstehenden Bemerkungen nicht 
ershöpft werden, Gegen das Erleben verhalten wir uns im all- 
gemeinen gleichmäßig passiv und unterliegen der Einwirkung des 
Stofflihen. Für den Dichter sind wir aber in besonderer Weise 
lenkbar, durh die Stimmung, in die er uns versetzt, durh die Er= 
wartungen, die er in uns erregt, kann er unsere Gefühlsprozesse 
von dem einen Erfolg ablenken und auf einen anderen einstellen, 
und kann aus demselben Stoff oft sehr verschiedenartige Wirkungen 
gewinnen. Dies ist alles längst bekannt und wahrscdeinlih von 
den berufenen Ästhetikern eingehend gewürdigt worden. Wir 
sind auf dieses Gebiet der Forshung ohne redhte Absicht ge= 
führt worden, indem wir der Versuhung nahgaben, den Wider- 
spruch gewisser Beispiele gegen unsere Ableitung des Unheimlihen 
aufzuklären. Zu einzelnen dieser Beispiele wollen wir darum auch 
zurückkehren. 

Wir fragten vorhin, warum die abgehauene Hand im Schatz 
der Rhampsenit nicht unheimlih wirke wie etwa in der Hauff- 
schen »Gescichte von der abgehauenen Hand«. Die Frage erscheint uns 
jetzt bedeutsamer, da wir die größere Resistenz des Unheimlichen aus 
der Quelle verdrängter Komplexe erkannt haben. Die Antwort 
ist feiht zu geben, Sie lautet, daß wir in dieser Erzählung nicht 
auf die Gefühle der Prinzessin, sondern auf die überlegene Schlauheit 
des »Meisterdiebess eingestellt werden, Der Prinzessin mag das un= 
heimlihe Gefühl dabei nicht erspart worden sein, wir wollen es selbst 
für glaubhaft halten, daß sie in Ohnmadt gefallen ist, aber wir 
verspüren nichts Unheimlihes, denn wir versetzen uns nicht in sie, 
sondern in den anderen. Durch eine andere Konstellation wird uns 
der Eindruk des Unheimlihen in der Nestroyshen Posse »Der 
Zerrissene« erspart, wenn der Geflüchtete, der sich für einen Mörder 
hält, aus jeder Falltüre, deren Deckel er aufhebt, das vermeintlihe 
Gespenst des Ermordeten aufsteigen sieht und verzweifelt ausruft: 
Ih hab’ doh nur einen umgebradht, Zu was diese gräßliche 
Multiplikation? Wir kennen die Vorbedingungen dieser Szene, teilen 
den Irrtum des »Zerrissenens nicht, und darum wirkt, was für ihn 
unheimlih sein muß, auf uns mit unwiderstehliher Komik. Sogar 
ein »wirklihes«e Gespenst wie das in OÖ. Wildes Erzählung 
»Der Geist von Cantervilles muß all seiner Ansprüche, wenigstens 


21* 


324 Sigm. Freud 


Grauen zu erregen, verlustig werden, wenn der Dichter sich den 
Scherz madt, es zu ironisieren und hänseln zu lassen. So un- 
abhängig kann in der Welt der Fiktion die Gefühlswirkung von der 
Stoffwahl sein. In der Welt der Märden sollen Ängstgefühle, also 
auh unheimlihe Gefühle überhaupt niht erweckt werden. Wir 
verstehen das und sehen darum audh über die Anlässe hinweg, bei 
denen etwas Derartiges möglich wäre, 

Von der Einsamkeit, Stille und Dunkelheit können wir nichts 
anderes sagen, als daß dies wirklich die Momente sind, an welche 
die bei den meisten Menschen nie ganz erlöschende Kinderangst 

geknüpft ist. Die psychoanalytishe Forshung hat sih mit dem 
Deoeen, derselben an anderer Stelle auseinandergesetzt. 





Psydoanalytishe Studien zur Bibelexegese. 1. 325 


Psychoanalytische Studien zur Bibelexegese. 1. 
Von Dr. THEODOR REIK“ 


1. Jaakobs Kampf. 
Gabriel: 


»Nod einmal — mein Jaakob — sinke 

Zurück auf deinen Stein — zu kurzer Ruh! 

Wenn dumitdir— mit Fremdemringst — gedenke 

Mit Gott dem Herren rangest heute du! 

In deinem Samen schau’re immer wieder 

Erinnern dieser Naht — so Sein Befehl! 

an rötet sih Sein Morgen! Auf die Lider 

nd: 

Wandle — shaue — höre Jisro-El!« 

Richard Beer-Hofmann, »Jaäkobs Traum«, 


nisse ist jener Weg nicht der schlechteste, welcher zeigt, wie 

der Psychoanalytiker anscheinend zufällig auf ein Problem stoßt, 
und schrittweise unter Überwindung äußerer Hindernisse und seiner 
eigenen Einwendungen seiner Lösung näherzukommen sudt. Diesen 
Weg will die folgende Arbeit einschlagen. 

Wenn man sih, müde der neudeutshen Stilkunst, die vor= 
läufig im Dadaismus in einer verblüffend naturgetreuen Wiedergabe 
von Tierlauten gipfelt, wieder der Bibellektüre zuwendet, empfindet 
man erst recht die verjüngende Wirkung alttestamentarischer, elemen= 
tarer Sprahgewalt. Man liest etwa die Geschichte Jaäkobs, seiner 
Geburt, der listigen Übervorteilung des Bruders, seines Werbens 
um Rahel, seiner Dienstzeit bei Laban, seiner Fluht und kommt 
nun zu jener Stelle, die, rätselhaft genug, Jaakobs Ringkampf mit 
Gott schildert. Wir stehen vor einem Problem. 

Wie ein von Kyklopen herangewälzter Felsblok ragt diese 
Erzählung von zehn Verszeilen in die sanftere Hirtenlandschaft der 
Jaakobsgeshihte. Es ist in der Nadt, bevor Jaakob auf den 
gefürchteten Bruder stoßen soll?; Noh in jener Nacht stand er 
auf, nahm seine beiden Frauen, seine Mägde und seine elf Kinder 
und er übershritt die Furt des Jabbok: so nahm er sie und brachte 
vieles, was ihm gehörte, hinüber. Jaakob selbst blieb zurük., Da 
rang jemand mit ihm, bis die Morgenröte heraufzog. Und als er 


T' der schwierigen Darstellungsweise psycdoanalytisher Erkennt= 





i Nad einem am 13. Februar 1918 in der Wiener psychoanalytischen Ver= 


einigung gehaltenen Vortrag. 
2 Gen. 32, 23—33. 


326 Dr. Theodor Reik 


sah, daß er ihn nicht bezwingen konnte, shlug er ihn auf die Hüft- 
pfanne, Jaakob aber verrenkte sih die Hüftpfanne, als er mit ihm 
rang. Da sprach er: »faß mich los; die Morgenröte ist schon herauf= 
gezogen«. Er aber sprah: »ih lasse dih nicht, du segnest mich 
denns, Er sprah zu ihm: »wie heißt du?« Er sprah: »Jaakob«, Er 
sprah: »du sollst niht mehr Jaakob heißen, sondern Isroel, denn 
du hast mit Göttern und Menschen gestritten und sie bezwungen«, 
Dann fragte Jaakob und sprach: »nenne mir deinen Namen«, Er sprach: 
»warum fragst du mich nach meinem Namen?« Und er segnete ihn da=- 
selbst. »Jaakob aber nannte jene Stätte Penuel, denn ich habe einen Gott 
von Ängesiht zu Angesicht geschaut und kam mit dem Leben davon. 
Sobald er aber an Denadl vorüber war, ging die Sonne auf, er 
aber hinkte an der Hüfte. Darum essen die Söhne Isroels bis heute 
den Hüftnerv nicht, der auf der Hüftpfanne liegt, weil er Jaäakob 
auf die Hüftpfanne geschlagen hat,s 

Die Erklärungsversuhe dieser dunklen Stelle, in Kommen= / 
taren, Zeitschriftenaufsätzen und exegetishen Schriften niedergelegt, 
aber auh in Werken über die israelitishe Religion und über die 
der Völker des Orients verstreut, machen eine ganze Literatur aus 
und einen AÄAugenblik darf sih der Psycoanalytiker schüchtern 
fragen, ob er, mit recht mangelhaften Kenntnissen ausgerüstet, 
gegenüber so vielseitiger Gelehrsamkeit Neues und Entsceidendes 
zu Aufhellung der Szene beizutragen vermag, Allein bei wiederkehren=- 
dem Vertrauen in seine Wissenschaft versucht er sich vor allem Rechen= 
schaft darüber zu verschaffen, worin eigentlih die Schwierigkeiten 
bestehen, welhe Fragen hier von den Bibelforshern aufgeworfen 
wurden und es ahnt ihm zugleih, daß außer diesen Fragen neue 
Rätsel die alten eher komplizieren als vereinfahen dürften, 

Die Schwierigkeiten beginnen schon bei der Quellensheidung. 
Ih setze die Kenntnis voraus, daß die Bibel, wie sie uns vorliegt, 
eine relativ späte Bearbeitung darstellt, ferner daß wir wissen, wie 
diese Sagen entstanden, durch eine jahrhundertelange Tradition ver- 
ändert wurden, und endlich, daß die schriftlihe Sammlung nicht von einer 
Hand nod zur selben Zeit geschah, sondern daß wir die Sammlungen 
der Jahwisten, der Elohisten, des Priesterkodex und schließlih der 
Endredaktoren unterscheiden, Die Verteilung auf die Quellen, welche 
sih vornehmlih auf den Gebrauh der Gottesnamen aufbaut, kann 
hier shon deshalb nicht genau vorgenommen werden, weil das 
Wort Elohim hier appellativish gebrauht und der Name Jahwe 
sorgsam vermieden wird, Ih will hier niht auf die textkritische 
Untersuhung der Stelle eingehen, sondern nur darauf verweisen, 
daß Holzinger, Luther, Ed, Meyer, Proksh und Gunkel die einzel= 
nen Verszeilen anderen Redaktoren zuweisen, Damit ist hinlänglich 
erwiesen, wie schwierig, aber au. wie belangvoll für die Erfassung 
des Textes diese Untersuchung ist. 


ı Vgl. Genesis, übersetzt und erklärt von Hermann Gunkel. 3. Aufl. 
Göttingen 1910, p. 360. 


Psydoanalytische Studien zur Bibelexegese. I. 327 


Schon in den drei ersten Verszeilen sind mit Sicherheit zwei 
Autoren zu unterscheiden: in der einen Version wird erzählt, daß 
Jaakob die Furt des Jabbok übersdritt, in der anderen blieb er 
allein am diesseitigen Ufer zurük. Dort aber wird er von einem 
Unbekannten überfallen; ws sagt der Jahwist: ein Mann, jemand. 
Wer dieses Wesen ist, erkennen wir nachträglich: es ist Gott. Aber 
welcher Gott? Kann es Jahwe sein? Nein, sagen die Kommenta- 
toren, Jahwe ist ja der Gott, der Jaakob hilft und ihn liebt. Diese 
Gottesfigur ist, wenn wir Gunkel folgen!, ein bedeutsamer Beitrag 
zu unserem Wissen um die vorisraelitishe, durh den Jahwe= 
glauben zurückgedrängte Religion. Sie ist ein dem Menschen feind= 
lihes Wesen, das hier den arglosen Wanderer überfällt und ihn 
töten will, J. S, Frazer, der diese Stelle in einem gründlihen Auf- 
satz in den »Änthropological essays presented to E, B, Tylor«? 
‚ausführlih behandelt, meint, es sei das Numen des Flusses gewesen, 
das Jaakob zürnt, weil er die Furt überscreitet. Diese Ansicht, 
Jaakobs Gegner sei der Stromgott des Jabbok gewesen, wird von 
ihm durh Angabe von Gebräuchen primitiver Völker bei Fluß- 
überschreitungen zu stützen gesucht. Aus der Fülle von Beispielen, 
die Frazer anführt, seien einige als repräsentativ wiedergegeben: 
Als das Perserheer unter Xerxes zum Strymon in Thrazien kam, 
opferten die Magier weiße Pferde und führten andere Zeremonien 
aus, bevor sie den Fluß überschritten, Es wird uns berichtet, daß 
die Kaffern beim Überqueren von Flüssen auf Steine spucken, welche 
sie in das Wasser werfen, Früher hatten sie die Gewohnheit, ent=- 
weder Tiere oder Getreide hineinzuwerfen, um die Ahnengeister 
im Fluß zu beschwicdtigen. Ähnlich pflegen die Buschmänner bei 
solhem Anlaß Teile des Wildes zu opfern, das sie getötet haben, 
oder, wenn sie keines haben, einen Wurfspieß, Freilich bleibt durch 
diese Annahme vieles ungeklärt, der Schlag auf die Hüftpfanne, 
der Segen etc. Eine lehrreihe Parallele findet sih Exodus 4 (24—26), 
wo Jahwe Moses überfällt, um ihn zu töten und durch die Be= 
schneidung von dessen Sohn beschwictigt wird, Jedenfalls — darin 
stimmen die Kommentatoren überein — zeigt das ganze, in Rem- 
brandtshem Licht erglühende, unheimlihe Bild, wie ein unbekannter 


Gott im Dunkel einen Menschen überfällt in der Absicht, ihn zu 


töten, daß die Sage sehr alt ist, In den ältesten Mythen kämpft 
so, Leib an Leib, Herakles mit Äntaios, er und Simson mit dem 
Löwen, Freilih hat man versuht, da man an der Tatsache, daß 
Jaakob mit dem Gotte kämpft, Anstoß nahm, die Art dieses Kampfes 


umzudeuten. Manche Forscher bemühten sich vergeblih, das uns hier 


gegebene sinnfällige Faktum in einen rein seelishen Vorgang umzu= 

formen, mande, denen Herder in seinem Werk über den Geist der 

ebräischen Poesie voranging?, glauben, es handle sih um einen Kampf 
1 5. 364 des erwähnten Werkes, 


2 Oxford 1907, S. 136. 
s T, 285: £ 


es” 


nn nn nn mn nn nn — — — — — — — — __ __ 0. 


328 Sr Theodor Räkı 


Jaakobs um Gottes Gnade, ein Ringen im Gebet, in Angst über 


1 


| 
die von ihm an Esau begangene Sünde, als Abschluß seiner Läu- } 


terung. Ein Dichter mag versuchen, den Inhalt des Mythos im Sinne \ 
seiner Visionen zu deuten (Beer-Hofmann), ein hodkultiviertes | 
Zeitalter mag eine Fülle idealer Gedanken und Gefühle in der 


Erzählung finden — für den primären Inhalt der uralten Sage kommt 
eine solhe sublimierte Exegese niht in Betraht. Durdh die erste 
Annahme, daß ein düsteres Traumbild vorliege, wird übrigens die 
Sahe — wenigstens vom psychoanalytishen Standpunkte aus — 
niht klarer, wir müßten erst zu erfahren versuhen, was diesem 
Traum an Sinn und Bedeutung innewohne, Die zweite Fiypothese 
des Gebetkampfes ist shon deshalb unhaltbar, weil audı bei ver- 
zweifeltstem Ringen um Gott Luxationen des Hüftgelenkes nicht 


vorzukommen pflegen. Es bleibt uns also nichts übrig, als die Stelle 


so zu nehmen, wie sie ist, mit allen ihren zahlreihen Widersprühen 
und dunklen Tiefen. Vielleicht gibt aber gerade die Tatsahe dieses 
Kampfes einen Hinweis auf ihren verborgenen Sinn. Gott und ein 
Mensch kämpfen mit annähernd gleiher Kraft miteinander, ja der 
Mensd besiegt endlih den Gott. Jaakob wird sonadh, wie Gunkel 
betont!, als eine Art Gigant gedaht, der Mensh dem Gotte nahe= 
gerückt. Doh wir nähern uns dem  vielleiht am schwersten deut= 
baren Vers: »Und als er sah, daß er ihn nicht bezwingen könne, 
schlug er ihn auf die Hüftpfanne.« Wenn man das flüchtig liest, 
scheint alles zu stimmen. Doh die Stelle ist deshalb besonders 
dunkel, weil der Exegese durh das Fehlen der Explicita und den 
Wedsel des Subjekts in diesem Satz — übrigens echt hebräish — 
große Schwierigkeiten erstehen. Wer hat den anderen auf die Hüfte 
geschlagen? Hier wird das Dunkel anscheinend undurddringlic. 
Freilih die nächsten Sätze belehren uns darüber, daß Gott Jaakob 
geschlagen habe, aber dann ist nicht zu verstehen, wie es ausdrück-= 
lih bemerkt wird, daß Jaakob Sieger geblieben ist. Bedeutende 
Bibelforsher wie Max Müller, Ed. Meyer, Luther, Gunkel er=- 
klären? unter Angabe ernster Begründungen, daß dies die spätere 
Auffassung darstelle; daß der Gott den Menschen geschlagen habe, 
scheint das allein Ännehmbare für eine spätere Zeit zu sein. Der 
- Zusammenhang würde aber weit straffer und verständliher, wenn 
man annimmt, daß ursprünglich Jaakob Gott geschlagen habe: wir 
würden dann verstehen, warum Gott, so schwer verletzt und zu 
weiterer Kampfhandlung unfähig geworden, Jaäkob bittet: laß mic 
los. Ein Einwand gegen die spätere Auffassung ergibt sih aud 
daraus, daß im ganzen Verlauf der Sage von einer Wunde Jaakobs 
und seinem Hinken keine Rede mehr ist. Bei Hosea lesen wir 
übrigens ausdrüklih (12a) in bezug auf den Kampf Jaäkobs: »er 
kämpfte mit dem Engel und übermodhte ihn; der weinte und bat 
um Ginades. Hören wir, was Hermann Gunkel, der hier für andere 


8, 381, 
2 Vgl, Details bei Gunkel, S. 361 


2 u 





Mm 4 7. mm nn LA nn nn In 


Psydhoanalytishe Studien zur Bibelexegese. 1; 329 


Forscher sprechen möge, zu dieser Dunkelheit zu sagen hat: »als 
Jaakob sieht, daß er an Körperkraft dem andern niht gewachsen 
ist, wendet er, was zu seinem sonstigen Charakter vortrefflich paßt, 
einen Ringerkniff an (ähnlih wie Odysseus II, XXI 725 ff.) und 
schlägt den Gegner auf die Hüftpfanne, d. h. die Gelenkhöhle des 
Scenkelknohens.s Es fragt sich freilih, ob die Einfügung dieses 
Zuges »in den sonstigen Charakters Jaakobs niht — wie eben 
dieser ganze Charakter selbst — einer sekundären Bearbeitung der 
Sage entspriht: wahrsceinlih war der ursprünglihe Held ein 
gewalttätiger und von starken Trieben geführter, kein listenreicher, 
verschlagener Charakter. Im Dienste bestimmter Tendenzen hat sich 
erst jene Umbildung, die dem Geschmake einer späten Zeit ent- 
gegenkam, vollzogen. Aber auh wenn wir die Wahrsceinlichkeit 
dieser Ansiht zugeben, die Tatsahe bleibt bestehen, daß der 
Text daneben sagt, Jaakob sei am Hüftknochen verletzt worden. 
Wir müssen uns entscheiden: entweder Gott hat den Jaäkob ver- 
letzt oder umgekehrt — tertium non datur. Der folgende Satz wider- 
spriht merkwürdigerweise sowohl der einen als der anderen Än- 
nahme, da wird berichtet, Jaakob habe sih während des Kampfes 
selbst das Hüftgelenk verrenkt. Rätsel über Rätsel, unorganish und 
nur lose verknüpft steht hier Widerspruchvolles knapp nebeneinander, 
ohne daß ein Lichtstrahl in dieses Dunkel fiele. 

Der Gott bittet, Jaakob möge ihn loslassen, da die Morgenröte 
schon heraufgezogen sei. Eine Stelle bei Plautus Amphitrio bietet 
eine schöne Parallele: »cur me tenes? Tempus est exire ex urbe prius=- 
quam Jucescat, volo«, (l. 3. 34 f) Doch wir denken hier wohl aud 
alle an den Geist von Hamlets Vater, der vor der Morgenröte 
weihen muß. Dem Gott graut vor der Morgenröte, die ihm eine 
unnennbare Gefahr bedeutet: es ist so, als dürfe ihn die Sonne nicht 
besheinen. Freilih ist uns der Grund dieser göttlihen Furdht un- 
bekannt. 

Und nun steigt jenes Wort auf, das wir seit jeher von wunder- 
vollem Klang gefunden haben: ich lasse dih nicht, du segnest mic 
denn. Wir sind daran gewöhnt, Vorstellungen hohen Inhalts, wie 
etwa das Streben des Forshers nah der Lösung eines Problems, 
das Ringen des Künstlers mit den dunklen Gewalten der Materie 
während der Gestaltung seines Werkes damit zu verbinden, In 
Wahrheit ist die Stelle ohne solhen Nebensinn: ich lasse dich nicht, 
ist hier durchaus im physishen Sinn gemeint. Segnen heißt ein in 
die Zukunft wirkendes Wort sprechen. Der Segen ist dem Äntiken 
niht etwa ein frommer Wunsch, Worte, Schall und Rauch, sondern 
etwas Wirksames und Wirklihkeit Erzeugendes. Er kündigt die 
Zukunft niht nur an, er schafft sie auh, Gunkel weist an anderer 
Stelle! darauf hin, daß Sagen, in denen ein Segen vorkommt, diesen 
immer an hervorragende Stelle setzen. Der Segen ist nämlich darin 


1 Gunkel, Genesis, S. 80. 


m ee ns 


330 Dr. Theodor Reik 


die Hauptsache, »weil er dasjenige angibt, was noch gegenwärtig als 
Wirkung dieser Geschichte fortdauert;, das, was sonst noch darin 
vorkommt, hat nur den Zweck, Ursahe und Gelegenheit dieses 
Wortes anzugeben«, Läßt sich vielleiht von hier aus ein Weg zum 
Verständnis der Sage finden? Dem Segen aber geht nod eine Art 
Dialog voraus. Gott fragt den Jaakob: »Wie heißt du?« und erfährt 
seinen Namen. Was sollen wir damit anfangen? Voraussetzung 
dieser Frage kann dodh nur sein, daß Gott den Jaakob nicht kennt. 
Sollte doh Frazer Reht haben, wenn er annimmt, es sei ein Fluß- 
gott, der ohne Unterschied der Person alle überfällt, die den Strom 
durchqueren wollen? Etwas hält uns zurück, diese Hypothese, die 
so vieles im unklaren läßt und die Sage auf das niedere Niveau 
eines Lokalereignisses herabdrückt, als ausreihend anzunehmen. Da 
uns aber vorläufig kein Weg offen steht, dieser Schwierigkeit Herr 
zu werden, konstatieren wir, daß aud hier eine Dunkelheit herrscht, 
die der Aufhellung harrt. Die Gottheit spriht nun den Segen, indem 
sie den Namen Jaäkob in Isro-El (= Gottesstreiter) ändert mit der 
Begründung: denn du hast mit Göttern und Menschen gestritten 
und sie bezwungen. Wir sind enttäuscht: der Segen, der uns in der 
Erwartung so bedeutungsvoll erschien, läuft also auf eine Namens-= 
änderung hinaus? Uns modernen Lesern scheint es, als bestehe eine 
seltsame Dissonanz zwishen den shönen Worten: »Ic lasse dich 
nicht, du segnest mih denn« und diesem reht banalen Namens- 
taush. Doc erinnern wir uns, daß solhe Umbenennungen eine in 
der Äntike und bei den primitiven Völkern weitverbreitete Sitte und 
von besonderer Bedeutung sind. »Die Namensänderungen«, sagt 
Heitmüller in seinem Buche »Im Namen Jesü«!, »sind nidt etwa 
symbolisher Natur — sie haben realen Wert. Der Name ist Kraft= 
und Geschicsquelle für seinen Träger«, Diese Bedeutung des Namens 
ist gerade dem Psychoanalytiker sehr einleuchtend, er hat ja die 
Wichtigkeit der Namensgebung aus der Analyse von Träumen und 
von psycdoneurotishen Symptomen, sowie aus der Beobachtung 
kindlihen Seelenlebens erkannt. Merken wir ferner an, daß im antiken 
Orient der Name bei der Geburt des ersten Sohnes geändert wird 
und der Mann von jetzt an Vater des Soundso heißt, als würde 
durh die neue Vaterwürde seine alte Existenz aufgehoben und 
beginne jetzt für ihn ein neues Leben, Wir verhehlen uns freilich 
nicht, daß diese Erklärungen noch immer nicht ausreihend sind und 
nichts Wesentlihes zur Aufhellung des ganzen Vorganges beitragen 
können, Denn es kann sih doch unmöglih die ganze Frage darum 
drehen, wie Jaakob zu seinem Namen gekommen ist, also eine rein 
etymologishe Erklärung vorliegen. Es ahnt uns, daß diese Namens= 
änderung etwas Besonderes bedeuten und ihr im Gefüge der Sage 
eine ausgezeichnete Rolle zufallen müsse. Doch noch während wir 
uns bemühen, den latenten Sinn des Satzes zu erfassen, taudt eine ' 


18,161 ., zitiert nah Gunkel S. 268. 


Psydoanalytische Studien zur Bibelexegese. 1. 331 


neue. Frage auf: wie, dieser Gott spricht ja davon, daß Jaäkob früher 
mit Göttern und Menschen gekämpft habe? Es ist uns nichts der- 
gleihen aus der Überlieferung bekannt, keine Andeutung gegeben, 
es müßte denn die Überlistung Esaus und Labans reht gezwungen 
und in einer der antiken Anschauung niht gemäßen Art mit dem 
Ringkampf Leib an Leib verglihen werden. Und wie sonderbar, 
Gott, der eben den ihm unbekannten Jaakob um seinen Namen 
gefragt hat, weiß plötzlih Details aus dem Leben seines Gegners. 
Was für ein rätselhafter und inkonsequenter Gott! Merkwürdig aud, 
daß Gott auf die Frage des Jaakob seinen Namen nicht nennen 
will, doh aus dem weitverbreiteten antiken Glauben zu verstehen, 
daß die Kenntnis des Namens Madt über den Gegner verleihe. 

Jaakob geht also als Sieger, wenngleih hinkend durh die 
Hüftluxation, aus dem Kampfe hervor. In der weiteren Erzählung 
ist keine Spur einer so shweren und schmerzhaften Verletzung zu 
entdecken. Die ganze Erzählung schließt mit der Konstatierung!, daß 
die Söhne Isro=-EI bis auf den heutigen Tag den nervus ischiadus 
nicht essen, weil er — wieder wird nur von »ihm« gesprohen — 
Jaakob auf die Hüftpfanne geschlagen hat. Schon der ganze Charakter 
dieses Verses, namentlih aber seine Begründung zeigt, daß er einen 
späten Zusatz darstellt. Eine den Ethnologen bekannte Sitte, das 
Verbot des Genusses bestimmter Tierteile, wird am ehesten in dieser 
Tabuierung bestimmter Körperteile erkannt werden, Frazer selbst 
gibt viele Beispiele solher Verbote in seinem erwähnten Artikel®, 
Im zweiten Bande des »Golden bough«® und bei Robertson Smith 
ist die besondere Heiligkeit des Hüftnerven erwähnt und mit Bei- 
spielen belegt. Immerhin fällt uns hier auf, daß die Tabuierung der 
verschiedenen Tierteile sich in diesen Beispielen auf dem Boden 
totemistisher Riten entwickelt hat und sich deren Ableitung aus der 
Tierverehrung der Primitiven erkennen läßt, hier aber wird für das 
Verbot die sonderbare Begründung gegeben, Jaakob sei von »ihm« 
auf den Hüftknohen geschlagen worden. Außerdem ist an keiner 
der sonstigen Bibelstellen auf diese Ausnahmsstellung des Hüft- 
knodhens verwiesen, So entläßt uns noch die ganze Erzählung mit 
einer ungelösten Frage. 


Bo 
* 


Es wären noch einige andere Schwierigkeiten und Fragen an- 
zuführen, aber ih meine, die hier angegebenen genügten unseren 
bescheidenen Bedürfnissen und wir werden uns zufrieden geben, wenn 


[4 


1 S. 142 £. 

2 So wird z. B. bei den Männerfesten der Aranda und Loritja in Zentral- 
australien den Jünglingen verboten, das Fleish am Kopf, an den Beinen des 
Wildes etc. zu essen. (Carl Strehlow, Das soziale Leben der Aranda= und Loritja= 
stämme. Frankfurt a. M. 1913.) 

3 Second edition II; S. 419-421. 

* Die Religion der Semiten. Deutsche Übersetzung, S. 293. 


332 Dr. Theodor Reik 


es uns gelänge, sie zu lösen. Ist es do, als befänden wir uns auf 
einem jener Karstberge des Balkan, über die kein Weg führt, die 
dunkel, voll wilder Felsabstürze, Stein an Stein, Shluht neben 
steiler Wand daliegen; der Fuß, eingeklemmt zwischen Geröll, findet 
keinen Pfad nah aufwärts. 


Wir haben gehört, daß einzelne, nun shon vergessene Kom= | 


mentatoren, wie Michaelis, Hensler, Gabler und andere! die ganze 


Sage als ein düsteres Iraumbild ansahen. Roscher kennzeichnet sie \ 


spezieller als einen me Kennen wir nun Träume ähnlicher / 


Struktur? Gewiß, es gibt Ängstträume, die ähnlich aussehen, in denen 
die Träumer von Unbekannten in dunkler Absicht überfallen werden. 
Wir wissen, daß an der psychischen Genese dieser Träume Schuld- 
bewußtsein wegen sexueller Verfehlungen oder Phantasien, Furdt 
vor drohender Strafe, namentlih vor Kastration, einen bedeutsamen 
Anteil haben. Vielleiht ist aus dem traumhaften Charakter der 
Szene auh zu entnehmen, warum Gott oder wer sonst der un= 
bekannte Angreifer sein mag, mit Tagesanbruh vershwinden muß, 
es ist wie wenn der Träumer sih im Schlafe beruhigend sagt: es 
ist ja nur ein Traum und wenn der Morgen kommt, ist alles vor- 
über. Dies mag ja auh die Selbstberuhigung Hamlets sein, 
wenn wir die schreklihen Enthüllungen des Gäistes als endo= 
psydhischen Vorgang ansehen: beim ersten Hahnenkrähen werden 
die Dinge anders aussehen. Wir legen freilih wenig Wert auf die 
Traumhypothese, sie erklärt uns wenig, jedoh wir ahnen beim 
Vergleih jener Ängstträume und der etaktos dieser Szene, daß 
wohl aud hier ursprünglich ähnlihe Affekte ihre Auslösung finden 
mögen. Wir werden nun auh wohl mit mehr Aufmerksamkeit einem 
Autor zuhören, dessen mit AÄbstrusem und oft mit phantastischer 
Zahlenmystik durdsetztes Werk manchen wertvollen Hinweis auf 
den eigentlihen Sinn alter Mythen gibt: ih meine das »Ethymo- 
logish=symbolish=mythologishe Realwörterbuhs von F. Nork. 
Wir finden im I. Bande dieses Werkes? den Hinweis darauf, daß 
Herkules zweimal einen ähnlichen Ringkampf zu bestehen hatte: einen 
mit Hippocroon, worin der Heros merkwürdigerweise ebenfalls an der 
Hüfte verletzt wurde, einen zweiten aber in der Palästra zu Olympia 
mit seinem Vater Zeus, der lange unerkannt mit ihm rang und sic 
ihm scließlih zu erkennen gab. Wertvoller noch mag uns eine andere 


—— 


Bemerkung erscheinen: die Rabbinen erklären, daß die Spannader, ' 


die der Gott Jaakob verletzt habe, mit dem Phallus identisch ist, Im | 


Buche Sohar (Parasha Wajischlac f. 170) ist die gleihe Anschauung | 


bezeugt. Nun aber dürfen wir uns getrauen, darauf hinzuweisen, 


daß die Psychoanalyse schon diese und ähnlihe Verschiebungen in 


den Mythen erkannt und auh das Symptom des Hinkens als eine 


1 Angeführt bei August Dillmann, Die Genesis, S. 365. Leipzig 1892. 

2 Ephialtes. Abhandlungen der Kgl. Sächsishen Gesellschaft der Wissen= 
schaften, Phil.=hist. Kl. Bd. XX, 

3 Stuttgart 1843, unter dem Schlagworte Jacob. 


Psycoanalytishe Studien zur Bibelexegese. 1. 333 


euphemistishe Ändeutung der Kastration gedeutet hat!. Es will uns 
scheinen, als erstehe die ganze Sage jetzt in einem neuen Lichte: 
Gott kastriert Jaäkob oder versuht es wenigstens, Freilih, die 
Schwierigkeiten werden durch die Substitution eher gesteigert als ver= 
ringert: wer ist dieser Gott, warum der ganze Überfall, was soll der 
Segen bedeuten, wie sind die zahlreihen Widersprüche, auf die wir 
hingewiesen haben, zu erklären? Wir nehmen noch einmal die ganze 
Erzählung vor, lassen Anfang und Schluß aus besonderen Gründen 
weg und versuchen, unsere jetzige Auffassung mit dem Texte zu 
vereinbaren: da fällt uns in der neuen Beleudhtung auf, daß diese 
ganze Situation, der Überfall, das Ringen mit einem geheimnisvollen 
Wesen, der neue Name und endlih die Verstümmlung des Penis, 
wie wir jetzt sagen dürfen, Ähnlichkeiten mit anscheinend weit ab= 
liegenden Vorgängen aufweist: mit den Pubertätsriten primitiver 
Völker. Dort werden die jungen Leute von einem geheimnisvollen 
Wesen, das wir als den Ähnengeist erkannt haben, überfallen, ge- 
bissen, angeblih getötet — die Tötungsabsicht ist ja bei dem OGotte 
Jaakobs ersichtlih — und erhalten nah ihrer angeblihen Wieder 
erweckung einen neuen Namen als Anzeichen ihrer nun veränderten 
Einstellung!. Diese Zeremonien finden im Pubertätsalter der jungen 
Leute statt. So weit die ähnlihen Züge, doch übersehen wir nicht 
die einschneidenden Unterschiede, die geeignet erscheinen, unser ganzes 
Analogiengebäude als ein Kartenhaus zu betrachten. Jaakob ist an 
unserer Stelle ein reifer Mann, hat sogar zwei Frauen nebst einigen 
Kebsweibern und sage und schreibe elf Kinder. Wir lassen diesen 
Punkt vorläufig ungeklärt, annullieren gleichsam für einen Augenblick 
das ganze Vorleben Jaakobs und nehmen an, er sei zur fraglihen 
Zeit ein völlig unverheirateter Jüngling gewesen. Wir können dann 
sagen: Gott überfällt Jaakob, wie das Balumungeheuer die jungen 
Australneger, er kastriert oder beschneidet ihn und gibt ihm einen 
neuen Namen. Für Gott aber können wir hier wie dort den Vater 
einsetzen. Was bedeutet der Segen? Wir erhalten Antwort auf 
diese Frage, wenn wir uns vergegenwärtigen, was der Inhalt 
und das Wesentlihe aller alttestamentlihen Segen ist, ja wir 
brauhen nur jenen Segen als Beispiel heranzuziehen, den Jahwe 
Jaakob im Bethel gegeben hat, der da lautet: »Das Land, auf 
dem du liegst, will ih dir und deinen Nachkommen geben. Dein 
Same soll dem Staube der Erde gleich werden, du sollst dih nach 
Westen, Osten, Norden und Süden ausbreiten, und alle Geschlechter 
des Erdbodens sollen sih mit dir segnen und deinem Samen.s 
Sehen wir von den jüngeren Zusätzen und von den mannigfahen 
Veränderungen ab, weldhe der Segen erfahren hat, so ist sein 
wesentliher Inhalt die Verheißung großer Nachkommensdhaft und 
des Besitzes des Landes, — was der Inhalt aller Segen der 


1 Vgl. »Die Pubertätsriten der Wilden« in meinen »Problemen der Religions=- 
psychologie«. I. Teil. Internationaler psychoanalytisher Verlag. Wien 1919, 


331 ' Dr. Theodor Reik 


Heiligen Schrift ist. Nun kehren wir zu den Initiationsfeierlihkeiten 
der Wilden zurück. In meiner oben angeführten Arbeit habe ich 
versucht zu zeigen, daß der latente, ursprünglihe Sinn dieser Riten 
darin bestand, die auf die Mutter gerichteten inzestuösen Wünsche 
der jungen Leute zurückzudrängen und ihre sexuelle Potenz zu 
vernichten (Beschneidung, ursprünglih Kastration). Durch die Vor- 
nahme der Inzision und mannigfaher anderer Martern wird nun 
in den Einweihungsfesten die Erlaubnis erkauft, in legalen 
Geschlectsverkehr zu treten. Die Novizen dürfen nun heiraten 
und Kinder zeugen. Wir haben erkannt, daß in den Pubertätsriten 
die von der primitiven Gesellschaft verpönten Wünsche zu gleicher 
Zeit eine partielle Durchsetzung und Verwerfung fanden. Die 
Vätergeneration, welhe ihre Söhne nah den Weihen als gleich- 
beredtigt aufnimmt, sagt nun zu den Wünschen der jungen 
Männer Ja und Amen. Diese durh die zärtlihe Strömung der 
ambivalenten Einstellung bedingte Zustimmung wird im Laufe der 
Entwicklung immer mehr in den Vordergrund rücken und den ur= 
sprünglihen Sinn des Einweihungsrituals unerkennbar mahen. Mit 
der zunehmenden Verdrängung der Haßregungen wird die Zärt- 
lihkeit und väterlihe Sorge für die Jungen sogar zum Mittelpunkt 
der Weihen: die Inzision, ursprünglih zur Vernihtung der Potenz 
dienend, wird zu einer Maßregel, die Zeugungsfähigkeit zu er- 
höhen. Als das Ritual einer solhen vorgeshrittenen Entwicklung 
erscheint uns nun auch der Segen, den Jahweh Jaäakob zuteil 
werden läßt: es ist der Segen der Fruchtbarkeit (sDein Same soll 
dem Staube der Erde gleich werdens). Die Verheißung des Landes 
aber ersetzt das Versprehen des Besitzes der Frau, ursprünglich 
der Mutter (»Mutter Erdes). In späteren Verheißungen an die 
Nachkommen Jaakobs wird die Erfüllung der Versprehung immer 
wieder an die Bedingung des Gehorsams (= der Verdrängung und 
des Verzichtes auf die feindliihen Tendenzen gegen den Vater= 
Gott und die Inzestwünsche der Mutter gegenüber) geknüpft werden. 

Übersehen wir die Vorgänge der Jaakobgeshidhte, deren 
Ähnlichkeit mit den Pubertätsriten durch die Aufeinanderfolge des 
Überfalles eines geheimnisvollen Gottes, einer Verletzung des 
jungen Mannes, des Namenswedsels und des Segens immer 
deutliher wird, so erkennen wir, daß in ihr die Kastration Sühne 
und Verhinderung der Inzestwünshe Jaakobs, der Segen aber eine 
Erlaubnis zum Sexualverkehr — freilih anderen Objekten gegen- 
über — darstellt. Wir würden dann auch verstehen, warum Gott 
den Jaakob um seinen Namen fragt, nicht weil er ihn nicht kennt, 
sondern diese Frage ist Bestandteil der alten primitiven Initial= 
zeremonien. In der Erzählung soll sie unsere Aufmerksamkeit auf 
den Namenstaush und seine Bedeutung hinlenken. Wir wundern 
uns jetzt auch nicht mehr, wenn von der schmerzhaften Verletzung 
Jaakobs keine Rede mehr ist: ist doch die Beschneidung ein fandes=- 
übliher Braud, der an allen Jünglingen vollzogen wird. 


Psydoanalytishe Studien zur Bibelexegese., 1. 335 


Wir erkennen in unserer Szene also den stark überarbeiteten 
Niederschlag alter Erinnerungen des jüdishen Volkes; an die Ein- 
führung der Kastration oder Beschneidung, die von bestimmten 
kultishen Gebräuhen begleitet vorgenommen wurde und die auf 
dieselben psychischen Motive zurückzuführen ist, wie ih sie bei 
den Primitiven zu zeigen versuht habe. Tatsählih hat Stade in 
einer scharfsinnigen Arbeit, die freilih in keinem Zusammenhang 
mit der von uns behandelten Sage steht, in einem »Der Hügel der 
Vorhäutes beschriebenen Artikel! gezeigt, daß es zu Gilgal eine 
den Männerweihen der Austral- und Afrikaneger ähnliche Männer- 
weihefeier gab. 

An vielen Zügen erkennen wir, daß die Überarbeitung der 
alten Sage, wie sie uns hier vorliegt, in eine relativ späte Zeit 
fällt; shon wird die Operation der Penisverstümmelung; von Gott 
oder vom Vater vollzogen, als anstößig empfunden, an Stelle des 
Penis ist der Hüftnerv getreten. Dieses Stük des komplizierten 
Umarbeitungsprozesses, dem die Sagen aus der Urzeit des Volkes 
unterliegen, hat natürlih eine Tendenz, die aus dem Zeitpunkt der 
Bearbeitung erklärlih ist. Das kulturell vorgescrittene Volk sieht 
seine primitiven, wenig rühmlihen Anfänge im Lichte der Gegen- 
wart und sucht demütigende Erinnerungen an seine Urzeit umzu= 
deuten, das ganze Verhältnis Israels zu seinem Gotte, der sic 
ursprünglih wenig von dem der Nadbarvölker unterschied, kann 
nur durh diesen, auh dem individuellen Seelenleben eigenen Prozeß 
verstanden werden. Die Verdrängung und tendenziöse Bearbeitung 
der Anfänge der Stammesgeshichte, welhe den frühen Kindheits- 
erinnerungen des Individuums zu vergleihen sind, werden sogar 
dazu führen, diese Geschichte als den Ausgangspunkt der Äuser- 
wählung zu betrahten. Diese Entwicklung ist freilih schon in der 
Aufnahme der Söhne in den Männerbund bei den Primitiven vor 
bereitet?, 

Dod jetzt mögen uns Gewissensbisse daran mahnen, wie 
leihtfertig wir mit dem ehrwürdigen Text der Bibel umgesprungen 
sind. Wir erinnern uns der Verpflihtung, einen Einwand, der unsere 
Erklärung über den Haufen zu werfen drohte und dessen Erle- 
digung wir aufgeshoben haben, Gehör zu verschaffen. Wir sagten, 
daß diese Schichte der Jaakobserzählung uns eine Erinnerung an die 
ursprünglihe Kastration aufbewahre, wie sie vom Vater an den 
mannbar gewordenen Sohn vollzogen wurde. Dodh Jaakob mußte 
die Beschneidung längst hinter sih haben, da er verheiratet und 
bereits elffaher Vater ist, Hier gibt uns die Vorgeschichte der Sage 
ein Hilfsmittel zur Hand: die Erzähler haben die ganze Sage an 
den Ort Penuel lokalisiert, und zwar aus verschiedenen (etymolo= 
gischen etc.) Gründen, Penuel heißt Gottes Angesicht, dort und nur 


ı Zeitschrift für alttestamentlihe Wissenschaft. Bd. VI, S. 132 ff. 
2 Über das Gesetzmäßige solcher Umdeutungen bei Neurotikern vgl. Freud 
Sammlung kleiner Schriften zur Neurosenlehre. 3, Folge. S. 165, Wien 1913, 





mn mn an mn 


336 Dr. Theodor Reik 


dort konnte, dahten die alten Sammler, Jaakobs Kampf mit der 
Gottheit stattgefunden haben, »Ulrsprünglich«, sagt Gunkel!, »steht die 
Sage ganz auf eigenen Füßen und hat mit der Jaakob-Esau- 
geschichte nichts zu tun; der mutige Gottbezwinger und Jaäkob, der 
vor Esau zittert, sind eigentlih ganz verschiedene Gestalten. Auch 
in der gegenwärtigen Überlieferung ist die Penuelsage mit dem Vor= 
hergehenden und Folgenden nur sehr lose verbunden, so tritt, daß 
Jaakob eine schwere Verletzung erlitten hat, im folgenden nicht 
hervor, ja eigentlich sprengt die Penuelerzählung die beiden Esau- 

eshichten, zwischen denen sie steht, geradezu auseinander. Die 

age weist 29 bei J] (= Jahwist) auf bereits überstandene Kämpfe 
Jaakobs zurück, bisher hat er nur mit Menschen gekämpft, in diesem 
seinem letzten und schwersten Kampf hat er auh die Gottheit 
bezwungen. Wofern die Sage unter den Menschen Esau und Laban 
versteht, setzt sie also Geschichten von wesentlih anderer Form 
voraus und jedenfalls kann darauf nicht unmittelbar ein erneutes 
Zusammentreffen mit Esau stattgefunden haben,« 

Fügen wir diesen scharfsinnigen Argumenten ein anderes 
hinzu: den Widerspruch, den wir am Eingang der ganzen Erzählung 
konstatiert haben: es heißt, Jaäkob habe seine Frauen und Kinder 
und alle seine Habe über den Fluß geführt und er selbst habe den 
Jabbok überschritten. Dann konnte der Kampf nicht diesseits statt= 
finden. Der zweite Redaktor sagt: er aber blieb allein zurük, was 
entweder dem früher erzählten Übergang widerspriht oder eine 
neue zwecklose Überschreitung des Flusses voraussetzt. Fassen wir 
zusammen: die Geschichte hat mit der Esausage nichts zu tun, ihr 
Charakter widerspricht der übrigen Erzählung, es ergeben sih an 
dieser Stelle zahlreiche Widersprühe und Unwahrscdeinlichkeiten; 
sie gehört offenbar gar nicht an diese Stelle. Wenn dies aber der 
Pall ist, d. h, wenn die Erzählung dem cronologishen Verlauf 
von Jaakobs Leben noch nicht hieher gehört, wohin sie von den 
Redaktoren gestellt wird, ist es da noh so unwahrscdeinlih, daß 
sie überhaupt von dem eben mannbar gewordenen Jaakob auf Jaakob 
den Ehemann und Vater vershoben wurde? Es war aus Gründen, 
die wir noch zu erraten haben werden, ein Stück der Jaakobsgeschicte 
aus seinen ursprünglihen Zusammenhängen gelöst und in andere 
eingestellt worden. Wenn aber einmal ein solher falsher Zusam= 
menhang hergestellt worden war, mußte man, um ihn glaubhaft zu 
machen, um wenigstens dem Sceine nah eine Brüke zu früher 
und später zu schlagen, Verbindungen künstlih schaffen. Jaakob 
erscheint als verheirateter Mann und elffaher Vater — das sind 
solhe künstlihe Verbindungsglieder, um zu verwishen, daß das 
Sagenfragment ursprünglih in einem andern Zusammenhang stand 
und später einen veränderten Sinn bekam, Sollten aber die Gründe 
dieser Loslösung und Neueinführung nicht erratbar sein? Wir erinnern 


1 Genesis, S. 3695, 


Psycoanalytishe Studien zur Bibelexegese, 1. 337 


uns, Fällen ähnlicher psychischer Leistungen in der Symptomatologie 
der Neurosen begegnet zu sein, welhe den Zweck verfolgten, 
unbewußt die Unkenntlihmahung eines wahren Zusammenhanges 
zu bewirken. So gehen etwa Zwangsneurotiker im Autbau ihrer 
Symptome vor, um den wirklihen Sinn der Zwangsgedanken zu 
verscleiern. Es sind vornehmlich moralishe Gründe, aus dem Be- 
wußtsein stammend, der Triebgegensatz zur Persönlichkeit, die zu 
solher Umarbeitung zwingen, Ähnlihes mag in der Geschichte der 
Tradition der Bibel vorausgegangen sein, wie es uns ja dur die 
Parallele religiöser Entwicklung und zwangsneurotisher Mechanismen 
nahegelegt wird. In jedem Falle solher unbewußten Entstellungs- 
und Verschiebungsarbeit aber können wir nachweisen, daß in der 
falschen Verknüpfung trotz aller Bewußtseinsarbeit noch die Wahl 
des falschen Ortes und der anscheinend willkürlihen Einreihung 
durh den Zwang unbewußter Faktoren bedingt ist. Wir werden 
noh auf diesen Grund zurückkommen. Früher aber müssen wir 
uns noch der Verpflihtung entledigen, den wahren Zusammenhang 
herzustellen. Wir sagten, in der ursprünglihen Sage müsse Jaakob 
ein Jüngling in der Zeit der Pubertät gewesen sein, vielleicht unmit= 
telbar vor dem legalen Geschlechtsverkehr oder doh mit dem Ent= 
shluß dazu. Es wird wohl auh stimmen, daß der Überfall des 
Gottes auf einer Reise stattfand. Gibt es nun in der Jaakobserzäh- 
lung eine Situation, welhe diese Bedingungen erfüllt? Gewiß, es 
gibt eine!; nach dem listigen Betrug Esau ist dieser entschlossen, 
den Bruder zu erschlagen. Rebekka aber rät Jaakob zu entfliehen, 
bis sih der Zorn des Bruders gelegt hat. Sie hat aber nodh ein 
Motiv, das sie ausspriht: Jaakob soll sih mit einer der Töchter 
Labans, ihres Bruders verheiraten, Auf dem Wege zu Laban, zu 
seinem künftigen Schwiegervater, trifft Jaakob eine einsame Stätte, 
wo er über Nadt bleibt und einen Traum hat. Die Stätte heißt 
Bethel, An diese Stelle der Erzählung wäre unser Erlebnis zu 
stellen. Wir haben gesagt, daß in den Pubertätsriten der Primitiven 
das Motiv von Tod und Wiederauferstehung die Hauptrolle spiele: 
in allen ‚diesen Riten kehren auh die Züge der Einscdließung, der 
Initiation in die Stammesreligion und der Bund mit der Vätergene= 
ration wieder. Wenn unsere Deutung richtig ist, müssen noch Reste 
ähnliher Motive in der Jaakobsgeshichte erkennbar sein; es fehlen 
uns aber die Absonderungszeit, die geheimnisvolle Einweihung in 
die Totemreligion und der Bund mit dem Vater, Alle diese Mo- 
mente können ohne Zwang in der Bethelsage gefunden werden: 
Jaakob verläßt das Vaterhaus auf längere Zeit und weilt an ein= 
samer Stelle, zum erstenmal erscheint hier Gott dem jungen Hirten 
und gibt ihm eine Verheißung, und zwar verspriht er ihm Frudt- 
barkeit und seine Hilfe, In den Worten aber »ich will mit dir sein, 


| ı Obwohl ich die folgende Hypothese für sehr wahrsceinlich halte, will ich 
doch zugestehen, daß andere Möglichkeiten der Einreihung der Kampfepisod 
innerhalb der Jaakobsgeshichte bestehen. 


Imago V/5—6 22 


338 | Dr. Theodor Reik 


denn ich will dich nicht verlassen, bis ih ausgeführt, was ich dir ver= 
heißen habe«, schließt Gott mit Jaakob ein Bündnis. Dieser legt am 
Morgen Gott ein Gelübde ab, worin das Versprehen Gottes als 
Bedingung wiederkehrt — wie man sieht, auch seinerseits ein Bund. 
Nad jenem Traum, den Jaäkob hier vor sich’ sieht, erwacht er und 
merkwürdigerweise »fürchtete er sih aber und spradh: »wie schaurig 
ist diese Stättes, ein Gefühl, das keineswegs zur beglückenden Ver= 
heißung im Traume passen würde und das die Kommentatoren 
recht künstlih mit Jaakobs Bewußtsein der Anwesenheit Gottes in 
Zusammenhang gebraht haben, Es ist sehr wohl am Platze, wenn 
sih früher hier der Gotteskampf abgespielt hat. Ohne allzuviel 
Wert darauf zu legen, dürfen wir auch den Sinn jenes Traumes 
Jaakobs zu erraten versuchen: »Es träumte ihm, eine Leiter sei auf 
die Erde gestellt, deren Spitzen an den Himmel rühren und Engel 
Gottes stiegen auf ihr auf und ab. Und siehe, Jahwe stand vor 
ihm« und nun folgt die Verheißung. Die Leiter als Traumsymbol 
ist uns aus vielen Analysen bekannt und wir dürfen, wenn wir 
Gott als den Vertreter der Vätergeneration betrachten, den Traum 
zu den homosexuellen Riten der Pubertätsweihen in Parallele setzen. 
Wir erkennen dann den Ablauf einer zweizeitigen Handlung: 
zuerst der Überfall Gottes, die Penisverstümmelung, dann der 
Traum und der Segen, die Verheißung — diese Vorgänge würden 
der Auslösung feindseliger und zärtliher Regungen seitens der 
Väter in der Männerweihe der Primitiven entsprechen, 

Wir dürfen hier auf den Einwand rechnen, wir hätten völlig 
ungerectfertigterweise den Vater an Stelle Gottes gesetzt. Doc 
wir sind zu dieser Ersetzung durch die psyhoanalytishe Forshung 
über die Entwicklung des Gottesbegriffes berechtigt. Für den spe- 
ziellen Fall aber erinnern wir daran, daß die Balumfigur der Puber- 
tätsriten durch die eigenartige Gefühlkomplexion der Vergeltungs= 
furdht die Vertretung des Vaters übernimmt. Doch wir erinnern uns 
auch, daß die Episode des Gotteskampfes, worauf Gunkel hinwies, einen 
völlig anderen Charakter als den des Jaakob voraussetzt, wie wir 
ihn kennen, und daß der Gott davon spricht, daß Jaakob schon andere 
Kämpfe mit Menschen hinter sih hat. An bedeutungsvoller Stelle 
der Jaäkobssage kommt ein Segen vor und dieser wird nur durch 
allerlei Umwege erhalten. Jaakob bekommt den ursprünglich Esau zuge- 
dachten Segen, indem er den Vater überlistet. Erlauben wir uns 
die Hypothese, daß diese Form eine gemilderte, durch spätere, der 
säkularen Verdrängung gemäße Ersetzung unseres ursprünglichen 
Kampfes zwischen Vater und Sohn darstellt, so würden wir hier eine 
Motivdoublierung erkennen, Ein einzelner Zug weist noch auf diese 
zweifahe Sagenbearbeitung hin!; Jaäkob geht zu seinem blinden 
Vater hinein und sprah; »mein Vater«! er antwortete: »ich höre, 
wer bist du, mein Sohn?« Jaäkob sprah zu seinem Vater; »ich bin 


1 Genesis, 27, 18. 


Psychoanalytishe Studien zur Bibelexegese., 1. 339 


dein Erstgeborener, Esau.« Wir erinnern uns der Frage an den Gott 
während Jaakobs Kampfe. »Da trat Isro-El zu seinem Vater Isaäk 
und da betastete er ihn.« Vielleiht können wir hier ein Anzeichen 
des ursprünglihen Kampfmotives erblicken. | 

Wir haben behauptet, in den Pubertätsriten wie in der Jaakobs= 
erzählung werde eine ursprüngliche Inzestneigung der jungen Leute 
gesühnt und durch die äußere Gewalt, die später von den Gewalten 
des Inneren vertreten werden soll, verdrängt. Wenn wir nicht irren, 
finden sih noh Spuren solher Neigung in der Jaäkobsgeschicte 
»Jizhak hatte den Esau lieber, denn Wildbret war nad seinem Ge- 
shmak, und Rebekka hatte den Jaäkob lieber.« Diese Neigungen 
dürften wohl gegenseitig sein, Ist es Zufall wenn Rahel, Jaäkobs 
Braut — die übrigens seine Cousine mütterlicherseits it — in 
derselben Stellung, unter genau denselben Umständen am Brunnen 
von Jaäkob angetroffen wurde, wie einst seine Mutter von dem 
Werber seinem Vater? Soll es nichts bedeuten, daß Jaäkobs Dienst= 
zeit sieben lange Jahre dauert? Es ist ebenso ein Änzeichen der unbe= 
wußten Inzestbedeutung der Ehe Jaäkobs, wenn Rahel lange Zeit 
unfrudhtbar bleibt, Sie selbst schreibt ihm die Schuld zu: als sie 
sieht, daß sie von Jaäkob keine Kinder bekam, spricht sie; »Schaffe 
mir Kinder, wo nicht, so sterbeich.« Jaäkob aber ward zornig auf Rahel 
und sprah: »bin ih an Gottes Statt, der dir doh die Leibesfrucdt 
versagt hat?« Vielleiht dürfen wir noch ergänzend hinzufügen, daß 
Ruben, Jaakobs Sohn, wie berichtet wird, wie sein Vater Inzest 
beging, »er lag bei Bilha, seines Vaters Kebsweib«. 

Freilih, hören wir nirgends etwas von einem Konflikt zwischen 
Jaakob und seinem Vater Isak, was in Änbetraht von Jaäkobs 
Hintergehung des Vaters um so verwunderliher ist. Aber eine 
Ersatzperson des Vaters, eine Vater-Imago würden wir sagen, 
nämlich der ältere Bruder Esau zürnt Jaakob und will ihn töten, 
dann aber versöhnt er sih mit ihm: eine bedeutsame Parallele des 
Gotteskampfes und =bundes. Die Brüdereifersuht bei beiden hat 
aber eine lange Geschichte: als Esau zuerst zur Welt kam, erzählt 
die Bibel, habe ihm Jaäkob die Erstgeburt nicht vergönnt und bei 
der Ferse festgehalten, als er das Licht erblickte. Man nannte ihn 
deshalb Jaäkob (Fersenhalter),. Wir sehen, in wie frühe Zeit die 
Bibel, radikaler noch als die Psychoanalyse, die Brüderfeindshaft 
zurükführt. Erwähnt sei noc als dritte Motivdoublierung Jaakobs 
Beziehung zu Laban, der ihm so fange die Tochter vorenthält, der 
ihn, als er mit ihr flieht, in feindliher Absicht verfolgt und schließ= 
lih mit ihm einen feierlihen Bund schließt — auh das Aufeinander 
von feindlihen und zärtlihen Zügen. Die Phantasietätigkeit der 
Sagenbilder versucht hier wie die Neurose die Erledigung desselben 
Stoffes in verschiedenartigsten, immer entstellteren Formen. Ebenso 
wie der geheimnisvolle Gott wollen auh Laban und Esau über 
Jaakob in feindseliger Absicht herfallen: wir erkennen in allen diesen 
Erzählungen Wiederholungen des großen Urmotives, das bereits in 


22% 


‚340 Dr, Theodor Reik 


.dem Betrug Isaäks angeschlagen war: des. Kampfes zwishen Vater 
und Sohn. Als der wichtigste Grund dieses Gegensatzes erschien 
uns die-sexuelle Rivalität, die noch in der Unterstützung Jaäkobs 
durh Rebekka, im Vorenthalten Rahels durch. Laban und in der 
Entführung der Töchter Labans angedeutet ist. Nun aber dürfen 
wir eine Korrektur unserer früheren Auffassung versuchen: die 
"Wiederholungen desselben Vorganges, die nur wenig variiert werden, 
lassen die Annahme zu, daß auch die. Szenen im Bethel und Penuel 
auf einen ursprünglihen Vorgang zurückzuführen sind. Der un= 
heimliche Gott, der Jaakob überfällt, ist ein erhöhter Vater, ebenso 
wie Laban und Esau ursprünglih Väterfiguren sind!. Dann aber 
fallen auh die beiden Reisen, die Jaakob unternimmt, zusammen: 
er flieht vor dem Vater (Isak-Laban), der ihn verfolgt, weil er 
sih der Mutter bemädtigt hat. Nach dem Kampfe und der Be= 
schneidung durh den Vater darf er frei ziehen: eine Versöhnung, 
eine Brith zwischen Vater und Sohn kommt zustande, die sich 
auf die Verpflihtung des Sohnes, auf die Kinderwünshe zu 
verzihten, und auf das Versprehen der Hilfeleistung des Gott- 
Vaters stützt. Dieser Bund wird zum Vorbild der zwischen Jisro-El 
und Jahwe geschlossenen Brith überhaupt: alle Verheißungen 
Jahwes gelten nur unter der Bedingung, daß sein. Volk seine 
Gebote hält. 

Dodh noch ein Widerspruh beunruhigt uns und wir werden 
bald sehen, daß gerade er geeignet ist, uns die letzte Aufklärung 
zu geben. Die bedeutendsten Bibelforsher sind der Ansicht, daß 
ursprünglih Jaäkob den Gott auf die Hüfte geschlagen hat. Gott 
bekennt sich ja ausdrücklich als besiegt und bittet um Gnade, Die 
beiden Versionen würden dann nebeneinander stehen, die eine einen 
Gegensatz zur anderen bedeutend, ohne andere Beziehung als durch 
Personalunion miteinander verbunden. Wie ist diese unorganische 
Verbindung: zu erklären? Keinesfalls dann, wenn wir die Erzählungen 
nebeneinander laufen lassen, sie flächenhaft auffassen. Aber sie liegen 
auf verschiedenen Ebenen, nur eine historishe und genetishe Be= 
trahtung kann sie aus ihrem jetzigen Ineinander sondern. Wir dürfen 
folgende Erzählung als die primitivste, den Sagenkern, betrachten: 
Jaakob überfiel Gott oder den Vater und überwältigte ihn, spezieller 
gesagt, kastrierte ihn. Daß in der jetzigen Auffassung eine gerade 
Umkehrung stattfindet, kann uns nicht verwundern, wenn wir be- 
denken, daß besondere Gründe für die Tradition vorhanden waren, 
sih dieses paranoiden Mechanismus zu bedienen. 


1 Ich übergehe hier alle Deutungen, welche den Gott an der Jabbokfurt als 
Esau oder Laban ansehen wollen, da, was darin Berectigtes liegt, in der 
obigen Deutung enthalten ist. Wie in der Exodussage dem jungen Moses, der 
sein Weib umarmen will, erscheint Jahwe hier Jaakob, der im Begriffe ist, ein Weib 
zu nehmen, das ein Ersatz der Mutter (Cousine) ist. Hier wie dort ist Jahwe die 
deifizierte Vatergestalt. Das Ablassen Gottes von Moses nach der Beschneidung 
entspricht genau der Versöhnung Labans mit Jaäkob und dem Segen Jahwes in Bethel. 





Psycdoanalytische Studien zur Bibelexegese. 1. 341 





Unter vielen anderen Dunkelheiten ist es uns aufgefallen, daß 
im letzten Satz der Erzählung auf ein Verbot Bezug genommen 
wird, den Hüftnerv von Tieren zu genießen. Bs ist uns merkwürdig 
erschienen, daß das Verbot durch jenen göttlihen Schlag begründet 
war, Änders freilih stellt sih die Sachlage in unserer jetzigen Be= 
leuchtung: das Genießen des Hüftnervs ist verboten, weil Jaäkob 
den Vater geschlagen hat: Wir dürfen dann dieses Verbot als Be= 
standteil eines totemistishen Systems erklären und jetzt, gestützt 
auf Freuds Erforshung der psydhishen Wurzeln des Totemismus! 
und den bisher aufgeklärten Zusammenhang der Sage vermuten, daß 
der ursprünglihe Kern der Sage von Jaäkob uns eine Erinnerung 
daran überliefert, daß ein Sohn seinen Vater überfallen, getötet und 
verzehrt hat und es seither verboten ist, einen Menschen desselben 
Clans zu töten und zu verzehren. In jenem Motiv des Verbotes, den 
Hüftnerv ‘oder Penis zu verzehren, hat sih noch ein Rest der ur= 
sprünglihen Verbote erhalten, gleichzeitig aber hat sich in dieser 
entstellten Form eine Erinnerung an das wirklihe Motiv des alten 
Vatermordes zu behaupten gewußt: nämlich das des sexuellen Neides 
und der Eifersucht. Wir werden gewiß die falsche Motivierung des 
Verbotes der wahnhaften Ulmdeutung der Neurotiker vergleihen, die 
Unwahrsceinlidhkeit, ja Unsinnigkeit der Motivierung hat uns ja deni 
Weg zum Verständnis der wahren unbewußten Gründe des Verbotes 
geführt. Aber es ist vielleicht der Treue des Bearbeiters der Tradition 
und dem eigenartigen Konservativismus dieser Tradition zu verdanken, 
daß an dieser, so weit mir bekannt, einzigen Stelle der Ursprung 
totemistischer Gebräuhe aus einem Kampfe hergeleitet wird. 

Zusammenfassend dürfen wir sagen: im Anfang gab es eine 
Sage des Inhalts, daß einmal vor Beginn der Tradition ein Mann 
seinen Vater überwältigte und verzehrte: die Sage war die einzige 
Erinnerung an den wirklihen Vatermord ferner Urzeit. Eine zweite, 
spätere Sage hielt die Erinnerung daran fest, daß einmal Väter aus 
Motiven der Vergeltungsfurht die Söhne kastrierten oder noch später 
sie am Penis verstümmelten. Diese Penisverstümmelung bildete die 
Einleitung zu einer Versöhnung der Väter» und Söhnegeneration. 
Sie hatte die Erlaubnis zum Gesclecdhtsverkehr zur Folge, da der 
Impuls gegenüber dem ursprünglichen inzestuösen Objekt der Sohnes= 
Libido gehemmt war. 

Wie bei Ausgrabungen einer vershütteten Stadt ist tief unter 
der obersten, uns durch den Bibeltext gegebenen Schichte eine zweite 
aufgedeckt worden und, nahdem wir den Schutt dieser Schihte weg= 
geräumt haben, wurde die letzte sichtbar, die uns den Blick in die 
Urzeiten gestattete. Was birgt alles diese widersprucdsvolle Er= 
zählung in ihren zehn Verszeilen! Erinnerungen ar längst ver- 
gessene Tatsachen der ungestümen Entwicklungsgeshidhte der jungen 
Menschheit: an den Vatermord der: Urzeit, an die ursprüngliche 


ı Freud, Tötem und Tabu, Wien und Leipzig 1914, 





342 en | Beer Reik 


Bedeutung des Totems, an den Ursprung der Pubertätsweihe und 
der Beschneidung. | | 

Die Aufeinanderfolge von feindseligen, auf der sexuellen Eifer- 
sucht sich aufbauenden Regungen gegen den Vater und von Kastra= 
tionsfurdt läßt sih noch an unseren Kindern studieren. Ein Beispiel, 
das diesen gesetzmäßigen Vorgang illustriert, will ih erwähnen; ein 
Knabe von zwei Jahren rief spontan‘ beim Anblik des nacten 
Körpers seines Vaters »Ä Messer!« und auf die verwunderte 
Frage, was er damit machen wolle, »Papa Gambi abschneiden«t, 
Derselbe Knabe wollte etwa ein halbes Jahr später gerne erst dann 
einshlafen, wenn der Vater ihm eine Geschichte erzählt hätte, Der 
Vater erzählte ihm also eine Geschichte, in der viel von Luftsciffen, 
Automobilen, Radfahrern und Zucerbäckern die Rede war. Als 
Revandhe produzierte das Kind spontan folgende Geschichte: »Es 
war einmal ein Bubi, Hat mit Händen aufgezieht den Gambi, 
da ist Papa gekommen und hat gesagt: Wirst du noch einmal den 
Gambi anrühren? Nein, hat Bubi gesagt. Schnell hat Bubi den Gambi 
angerührt und wieder angerührt. Ist der Papa gekommen, hat gesagt: 
Jöh!? Hat Bubi Gambi ausgerißt und in Ofen gesteckt. Schluß — Buss’« 3. 
Vielleiht ist dieser Kuß ein Symptom der zärtlihen Regung des 
Kindes im Gegensatz zu den früher erwähnten feindseligen und 
eifersüchtigen Impulsen, die bereits verdrängt wurden. Erwähnens- 
wert scheint mir, daß das Kind niemals zu Hause eine Kastrations- 
drohung oder Ähnliches gehört hat, also ein Zurückgehen auf die 
Urphantasie anzunehmen ist. 

An diesem Punkte müssen wir uns wohl oder übel fragen, 
wie die Jaakobsgeshihte zu ihrer jetzigen Gestalt gekommen ist. 
Die Sagen der Bibel haben, wie wir wissen, einen langen Weg hinter 
sih, Die Tradition ändert sih, den neuen Anforderungen der Sitt- 
lihkeit, der säkularen Verdrängung entsprehend. Sie wird umge- 
arbeitet, das alte Material zu einem neuen Ziel umgeformt, Än- 
stößiges in den Hintergrund gedrängt und eine neue Motivierung 
muß dazu dienen, die neuen Zusammenhänge zu festigen und wahr= 
scheinliher zu machen, die ursprünglihe, unbewußt gewordene Moti= 
vation zu verdecken. Die so bearbeiteten Sagen wurden nun von 
J. und E.* endlih durch den Priesterkodex, von J. und E. durd lange 
Zeit getrennt, und endlih von den Endredaktionen zur Zeit Esras 
auf die jetzige Gestalt gebraht. Schon wurden die ursprünglichen 
Sagen nicht mehr in ihrem ursprünglihen Sinn verstanden, alte und 
neuere Sagenteile wurden miteinander verschmolzen, Figuren ver- 
dichtet und Motivverbindungen hergestellt, die notdürftig genug waren, 
So erklären sih die klaffenden Widersprühe gerade an unserer 
Stelle: aus dem Nadeinander war ein Nebeneinander geworden. 





1 Gambi = Penis. | 

2 Wienerish: Ausruf der Verwunderung oder des Schreckens, 

3 Buss’ —= Bussi (wienerish: Kuß), ! 

* In der Bibelforshung gebräudliche Abkürzungen für Jahwisten und Elohisten. 





Psychoanalytische en Bibelexegese. u 343 


Die Redaktoren von J. und E. versuchten nun jeder auf seine Art 
einen organishen Zusammenhang herzustellen, doh konnten sie 
manches nicht so verkitten, daß Spuren urzeitliher Wirklichkeit 
und neuzeitliher Erfindung unauffällig ineinander übergingen So 
haben wir in der Erzählung von dem Schlage Gottes gegen Jaäkob 
noch Überreste der älteren Version, daß Jaäkob Gott geschlagen 
und überwunden habe, erhalten. Dem Priesterkodex und den End= 
redaktionen schließlih muß es gelungen sein, im Sinne ihrer reli- 
giösen Tendenzen weitere Textänderungen, Milderungen und Zusätze 
zu bewirken. Beobahten wir, wie sehr die Bearbeitung der Sagen- 
geschichten der seelishen Arbeit der Zwangsneurotiker gleicht, wie 
sie in einem Symptom Altes, längst Entshwundenes und Neues zu= 
sammenschweißt, neue wahrhafte Motivierungen undRationalisierungen 
schafft, Auslassungen, Ellipsen und falshe Verbindungsglieder her- 
stelt, um den ursprünglihen unbewußt gewordenen Sinn ihrer 
Zwangsgedanken zu verwischen. In beiden Fällen gelingt es aber, 
den anscheinend sinnvollen Zusammenhang. als künstlihen zu er- 
kennen, an gewissen Gewaltsamkeiten trotz aller Rationalisierung den 
Überbau als solhen zu sehen und zu entfernen und zu dem latenten 
und ursprünglichen Sinn der Sagen und der Symptome vorzudringen. 

Wenn wir hier versuht haben, auf analytishem Wege den 
primären Inhalt der Jaäkobsgeshichte, ihre Entwicklung und ihre 
Umformungen zu studieren, so werden wir deshalb keineswegs 
verleugnen, daß sie in ihrer gegenwärtigen Gestalt audı »geistige 
Wahrheiten«, wie sie schon die Propheten, aber auh Herder und 
moderne Bibelforsher, wie Dillmann, angenommen haben, um= 
shließe, Nur würden wir die Worte: »Ich lasse dih nicht, du 


segnest mih denn« als den Ausdruck der ewigen Wahrheit an- 


sehen, daß kein Mann zu ungestörtem Glük im Leben und in . 


der Liebe gelangen könne, der .noch mit dem Schatten des Vaters 
kämpfe. Die partielle Besiegung des Vaters ist ebenso wie die Ver- 
söhnung mit ihm und seinem Andenken eine Bedingung des Kultur- 
fortschrittes!, 

Wir sind von der Textkritik unserer Stelle und von dem 
Moment der Quellenverteilung ausgegangen. Es wäre nun ver- 
lokend genug, auf Grund unserer Deutung die Verszeilen den 
einzelnen Redaktoren zuzuweisen, Einfügungen und Rang der 
Episode im Rahmen des Ganzen genau festzustellen. Vielleicht 
ist der vorliegende Versuh eine notwendige Vorarbeit für diese 
Aufgabe. Sie selbst liegt, wie ich meine, nicht mehr im Rahmen 
der Psychoanalyse und ist, um mit einer liebenswerten Gestalt 
Fontanes zu spredhen, »ein weites Felds. 


ı Das kürzlih erschienene Vorspiel »Jaakobs Traums von Richard Beer- 
Hofmann gibt ein schönes Beispiel einer sublimierten Auffassung des Stoffes, 
indem es das Ringen Jaäkobs als ein geistiges, als ein Ringen um Gott deutet. 
Merkwürdigerweise drängt auch der Dichter die Ereignisse in Bethel und Penuel 
in eine Nacht zusammen. j 


frnnene 


344 Dr. Theodor Reik 


II. Die Türhüter. 


Bei Jeremias 35, 4 wird ein Mann namens Maaßejas,. Sohn 
Sallums, des Türhüters, erwähnt. Auch sonst werden Türhüter, 
und.zwar drei an der Zahl im Tempeldienste erwähnt. So wird. 
im II. Buche Könige erzählt, daß Priester an der Schwelle des Heilig- 
tums Wade hielten. (XII, 10.» Wir erfahren, daß Türhütersein ein 
bedeutungsvolles Amt darstellt. W orin aber die Bedeutung dieser Funk- 
tionäre begründet ist, erfahren wir nicht, es hilft uns wenig, wenn uns 
die modernen Kommentatoren versichern, sie hänge mit. der Heiligkeit 
des Tempels zusammen. Das ist zweifellos richtig, aber die be=- 
sondere rituelle Bedeutung der Türwadhe erhält auf diesem. Wege 
keine Erklärung. Daß aber eine solche Bedeutung neben und über der 
Aufgabe, Frevler, Trunkene, Verbreder etc. vom Heiligtum fern- 
zuhalten, bestand, ist sicher, | | 

Vielleiht erfahren wir etwas ÄAufklärendes durh eine andere 
Sitte, .die wir in der Heiligen Schrift bezeugt finden. Bei dem 
Propheten Zephanja lesen wir folgende Stelle: »Und dann, am 
Tage Jahves, da suche ich heim die Obersten und alle Angehörigen 
des Königs, die das Haus ihres Herrn mit Frevel und Trug füllen, 
und ih suche an jenem Tage alle heim, die über die Schwelle 
hüpfen und die sih in ausländishe Gewänder kleiden.« (I. q.) Wir 
verstehen, daß der Herr die Frevler heimsuhen wird, aber warum 
auh jene, die über die Schwelle hüpfen? Die Schwierigkeit der 
Deutung kompliziert sih, wenn die Tetüheretzuns selbst nicht 
sichersteht. In dieser redigierten Version. steht 5», das englische 
Übersetzer wie Driver, aber auh Kautzsh, Nowak und.andere 
deutsche Autoren mit »über« übersetzen, Frazer schlägt dafür, wie 
ich meine, mit Recht sauf« vor!. Schon die ersten Forscher, die sich 
der Bibelexegese gewidmet haben, haben zur Erklärung der Stelle 
eine andere im I. Buche Samuels 5 (1—5) herangezogen. Dort wird 
berichtet, Israel habe eine Niederlage erlitten, die Philister die Bun- 
deslade erbeutet und nach Ashdod gebraht, wo sie sie im Tempel 
neben dem Götzenbild des Dagon aufstellten. »Als sih aber die 
Männer am folgenden Tage früh aufmahten, da lag Dagon auf 
seinem Ängesiht zur Erde vor der Lade des Herrn. Sie nahmen 
den Dagon und stellten ihn an seinen Ort. Als sie sih früh am 
Morgen des folgenden Tages aufmahten, da fag Dagon wiederum 
auf seinem Ängesichte zur Erde vor der Lade des Herrn und der 
Kopf Dagons und seine beiden Hände lagen abgetrennt auf der 
Schwelle, nur der Rumpf war übrig geblieben.« Die. Folgen, welche 
die Priester aus solhem näcdtlihen Raufhandel zwischen den beiden 


ı Es wäre nicht abzuweisen, daß beide Parteien ein Stück: weit im Rechte 
. wären. Vielleiht war im ursprünglihen Text wirklih der Zorn des Herrn den= 
jenigen gewidmet, die auf die Schwelle traten.. Die späteren Redaktoren aber, die 
den Gebrauh des Schwellenüberhüpfens als heidnisch ansahen, ersetzten das » Äuf« 
durch »Über«. 


Psycdoanalytishe Studien zur Bibelexegese. 1. 345 


Rivalen zogen, waren gewiß nicht alltäglich, denn es heißt nun: »Darum 
treten noc jetzt die Priester des Dagon und alle, die in das Haus 
des Dagon gehen, niht auf die Schwelle des Dagon in Ashdod.s 

Wir haben erfahren, daß im Tempel zu Jerusalem drei Tür- 
hüter waren, die bedeutsame, aber uns niht bekannte Funktionen 
hatten, Ferner wird uns erzählt, daß das Betreten der Schwelle als 
Sünde betrachtet wird. Wir wissen nicht,. was das bedeutet und 
hören gerne zu, wenn Frazer in einem ausführlihen »The kippers 
of the threshold« überschriebenen Artikel uns Aufklärung zu geben 
verspriht!, Kapitän Conder erzählt uns aus Syrien, daß dort der 
Glaube herrshe, eine Schwelle betreten bringe Unglük. In allen 
Mosceen befindet sih an der Tür ein Holzbalken und die Eintre= 
tenden werden veranlaßt, die Shwelle nicht zu berühren. Derselbe 
Schriftsteller hat ganz ähnlihe Gebräudhe bei den Heiligtümern auf 
dem Lande und bei den Gräbern der Heiligen beobachtet. Ähnlich ist 
in. Fiji das Betreten der Schwelle allen außer den Häuptlingen des 
höchsten Ranges verboten, alle anderen nehmen sich davor in adt; 
der Platz ist ein geheiligter, er ist tabu. Personen von Rang treten 
darüber, alle anderen passieren die Stelle auf Händen und Füßen. 
Ähnliches wird bei der Passage der Schwelle, welche ins Haus eines 
Häuptlings führt, beobachtet. Dieser betrachtet sih als Gott, das 
Volk spriht von ihm manchmal als solhem und er beansprucht 
für sih selbst das Reht der Götter, Als Marco Polo zur Zeit des 
berühmten Kublai Khan den Palast von Peking besuchte, fand er, 
daß an der Tür der Hall — wie wir uns modern ausdrücken 
würden — ein Paar großer Männer, gleich Riesen anzusehen, stand, 
an jeder Seite einer, mit Stäben bewaffnet. Ihr Amt bestand darin, 
darauf zu achten, daß, niemand auf die Schwelle trete. Wenn sich 
dies aber zufällig doch ereignen sollte, nehmen sie dem Unglüclihen 
die Kleider ab und er muß ein Reuegeld zahlen, um sie wiederzu= 
bekommen, oder aber, statt ihm die Kleider abzunehmen, geben sie 
ihm mit ihren Stöken eine bestimmte Anzahl von Hieben. Wenn 
Fremde kommen, die nicht wissen, was des Landes der Braud ist, 
stehen ihnen Barone, welhe etwa die Funktion unserer Hof- 
zeremonienmeister bekleiden, zur Verfügung, um. sie zu unterrichten 
und sie vor jedem faux pas — diesesmal in wörtliher Bedeutung — 
zu bewahren. Es wird allgemein behauptet, daß das Berühren der 
Schwelle Unglük bringe, Nah dem Bericht Friar Odorics, der im 
Anfang des 13. Jahrhunderts im Osten reiste, scheint es, als hätten 
die Türhüter zu Peking den Übeltätern überhaupt keine Wahl 
gelassen, sondern jeden mit ihren Stöcen geschlagen, der das Un- 
glück hatte, die Shwelle zu betreten. Als der Mönd Rubriquis als 
Botschafter Ludwigs IX. am Hofe des Mangu Khan weilte, stol= 
perte einer seiner Gefährten züfällig über die Schwelle, Die Tür- 


1In den erwähnten »Anthropological essays« S. 167 ff. Daraus aud die 
folgende Beispielen. 


3416 Dr. Theodor Reik 


hüter ergriffen den Verbrecher plötzlich und brachten ihn zum Bulgai, 
welher der Kanzler oder Sekretär des Hofes ist und der über 
Tod und Leben zu richten Befugnis hat. Dieser wurde mit Mühe 
davon überzeugt, daß das Verbrehen aus Unkenntnis geschehen 
war, verzieh zwar dem Schuldigen, doch wollte er es ihm niemals 
gestatten, das Haus des Mangu Khan wieder zu betreten. Plano 
Carpini, welcher in der Mitte des 13. Jahrhunderts einige Jahre vor 
Rubriquis durch das Land der Tataren reiste, erzählt, daß jeder, 
der die Schwelle einer Hütte oder Zeltes des Tatarenprinzen 
berührte, gewöhnlich durch ein Loch gescleift, das zu diesem Zweck 
unter der Hütte angebraht war, und erbarmungslos getötet wurde. 
Als Pietro della Valle, ein italienisher Reisender, den Palast des 
Perserkönigs besuchte, bemerkte er, daß dessen Eingangstor zu 
Ispahan die größte Ehrfurht gezollt wurde, und zwar in solhem 
Maße, daß es verboten war, auf eine bestimmte Holzstufe, die 
daran in erhöhter Lage angebraht war, zu treten. Das Volk küßte 
sie vielmehr angelegentlih als ein heiliges und kostbares Ding. Jeder 
darf den Palast betreten, er nimmt, indem er die Schwelle küßt, 
Schutz für sih in Anspruh. Die Schwelle ist in solhem Ansehen, 
daß ihr Name Ästane zur Bezeichnung für den Hof und den königlihen 
Palast wird. Wir erinnern uns, daß der Name Hohe Pforte in ähnlichem 
Sinn bei uns gebrauht wird. Der Kalif von Bagdad verpflichtet 
alle, die seinen Palast betreten, sih auf der Türschwelle niederzu= 
werfen, dort ist ein Stük aus dem shwarzen Steine des Tempels 
zu Mekka eingelegt, um die Stelle verehrungswürdiger zu macen, 
Das Volk muß die Stirne darauf pressen und es wäre ein Ver- 
brehen, den Fuß darauf zu setzen. Zusammenfassend dürfen wir 
sagen: bei vielen Völkern besteht ein Verbot, die Türschwelle zu 
betreten, dort, wo dies erlaubt ist, zeigt sih noch in dem Ritual, 
das den Schwellenübergang begleitet, das Änzeihen eines alten 
Verbotes, das nur teilweise, unter bestimmten Bedingungen aufge= 
hoben wurde, 

Immerhin erkennen wir jetzt, daß das Mißfallen Jahwes an 
dem Volke, das auf die Schwelle trat, keine speziell jüdische Über=- 
spanntheit ist; es wird geteilt von Häuptlingen in Fiji, von dine= 
sishen Kaisern, vom Schah von Persien und vom Kalifen von 
Bagdad — wie man sieht, lauter großen Herren. Frazer führt noh 
eine Reihe von weiteren Zeugnissen für die Heiligkeit der Schwelle 
an. Audh die Korwa in Nordwestindien wollen die Schwelle nicht 
berühren. Bin mongolishes Sprihwort lautet: »Tritt nicht auf die 
Schwelle, es ist Sünde.« Im alten Indien war es Sitte, daß die 
Braut die Schwelle ihres Mannes mit dem rechten Fuße zuerst über- 
schritt, sie durfte aber nicht stehen bleiben, In der Altmarkt herrscht 
ein alter Brauch, demzufolge der Bräutigam die Braut vom Wagen 
bis zum häuslichen Herd trug: es war ihr verboten, die Erde zu 
berühren. Die altrömishe Sitte, die . Braut über die Schwelle des 
Hauses zu tragen, hat wohl denselben Ursprung. Sie hatte nichts 


Psychöanalytischel Studien zur Bibelexegese. 1. 347 


mit der Raubehe zu tun, als deren Symbol sie Plutarch deutet. 
Ja bei den Römern gab es sogar einen Spezialshwellengott, den 
Limentimes, der nachher von den ristlihen Patres recht unglimpflih 
behandelt wurde. Von den zahlreichen Beispielen, die Frazer noch 
heranzieht, sei nur noch eines aus besonderen Gründen erwähnt. 
Ein Kafır in Hindu Kusch scheint unfähig, die etwas erhöhte Schwelle 
einer Tür ruhig, wie es andere Sterblihe zu tun gewöhnt sind, zu 
betreten, Er muß darauf springen, ohne Rücksicht darauf, wie hoch 
der Türweg ist und wie sehr er den Kopf biegen muß. Er nimmt 
also eine Ai von Anlauf »in a sort of minitiure whirlwinds, sagt 
Frazer, springt und seine losen Kleider flattern hinter ihm her. 
Wenn wir hier gerade das verbotene Tun oder Schwellenbetretung 
finden, so geschieht es doh unter so eigentümlihen Umständen, 
daß der Glaube an eine besondere Bedeutung der Schwelle im 
Volke gerade dadurch hervortritt. 
| Frazer vermutet nun und, wie aus der Stelle bei Zephanja 
hervorgeht, anscheinend mit Recht, daß die Türhüter im Tempel zu 
Jerusalem das wichtige Amt hatten, darüber zu wachen, daß kein 
Eintretender den Fuß auf die Shwelle setze. Deshalb haben diese 
Türhüter vermutlih auch Stöke gehabt, um die ULleltäter der 
rätselhaften Vorschrift zu züdhtigen. Was nun den Grund eines 
solhen Aberglaubens betrifft, meint Frazer, werde es kaum eine 
einheitlihe Erklärung geben, für verschiedene Plätze werden wohl 
vershiedene Gründe vorhanden sein, am ehesten wäre noh anzu= 
nehmen, daß die Schwelle Wohnsitz der Geister sei. Gewisse Be= 
gräbnisriten bei den Primitiven, über die Frazer hier und in seinem 
neuen Buche »TIhe belief in immortality« berichtet, legen die Hypo- 
these nahe, daß das Tabu der Schwelle mit dem Glauben an die 
Wiedergeburt der Toten zusammenhänge. Deshalb meint Frazer, 
haben die Geister ihren Sitz an der Schwelle. Wenn die Geister 
dort hausen, werden sie zugleih zu Wäctern des Hauses. Ihnen, 
weldhe eigentlih die Ahnen der Hausbewohner sind, muß also 
Respekt erwiesen werden, indem man vermeidet, die Shwelle zu 
betreten. Es ist sicher, daß diese Anschauung, welche die Folgerung 
der Frazerschen Hypothese darstellt, eine der Wurzeln des Shwel- 
lentabu darstellt, Allein die Psychoanalyse hat uns daran gewöhnt, 
zu glauben, daß alle seelishen Erscheinungen überdeterminiert 
sind, Frazer selbst setzt seinem Erklärungsversuh mit der ihm 
eigenen Bescheidenheit hinzu: »Aber es ist möglich und sogar wahr- 
sheinlih, daß andere, bisher unbekannte Ursachen es bewirkt haben, 
daß ein Mysterienshein auf diesem Teil des Hauses ruhe, 

Es steht uns ein anderer Weg offen, einen der bedeutsamsten 
Gründe für das merkwürdige Verhalten gegenüber der Schwelle 
bloßzulegen, Erinnern wir uns, daß die Türe oder die Schwelle 
auh im Leben von uns Normalen eine besondere Bedeutung hat, 
Oder wem ist es noch nicht vorgekommen, daß er bei einem für 
ihn bedeutungsvollen Besuch an der Tür des zu Besuhenden zögernd 


348 Dr. Theodor Reik 


stehen geblieben ist, beim - Betreten der Schwelle gestolpert und über- 
haupt beim Eintritt in die Wohnung manderlei Ungeschiclidikeiten 
begangen hat? Freud hat an einer Stelle! seiner Vorlesungen unsere 
Aufmerksamkeit auf eine eigenartige Symptomhandlung seiner neu= 
rotishen Patienten hingewiesen: es ist das Offenlassen der Tüten 
und erklärt, diese Versäumnis beleuhte .das Verhältnis des Eintre- 
tenden zum Ärzte, Ein Mangel an Respekt, eine unbewußte Regung 
der Verädtlichkeit werde in diesem Symptom zum Ausdruck ge= 
bradht. Wir dürfen aber annehmen, daß das Benehmen des Eintre= 
tenden überhaupt dem Menschenkenner Einblike in die Gefühle zu 
geben imstande sein wird, die er dem Besuchten gegenüber hegt, 
namentlih aber in solhe Gefühle, die dem Eintretenden selbst 
unbewußt sind. | 

Auffälliger noch als in dergleihen Symptomhandlungen wird 
das Verhalten der Neurotiker in gewissen Symptomen, die uns 
eine bestimmte Bedeutung der Türe ahnen lassen: erinnern wir uns 
etwa der Furdt vieler neurotisher Patienten, Türklingen zu berühren. 
Ih kenne eine junge Dame, die ein dem Tabu der Schwellenlinie 
ähnlihes. Symptom produziert, das vielleiht allgemeiner ist, sie 
empfindet es lästig, daß sie beim Gehen in den Straßen zwanghaft 
in die Mitte der Pflastersteine treten muß. Sie verbietet es sich selbst, 
die Ränder oder Fugen der Quadrate zu berühren, ohne dab- 
sie den Grund dieser Absonderlihkeit anzugeben wüßte, Ein, wie 
man zugeben muß, hödst beshwerlihes Symptom, das aber öfter 
als man glaubt, vorkommt. Wir würden, wenn wir die bestimmte 
Art, welhe die Primitiven beim Schwellenübergang beobachten, bei 
einem Neurotiker finden, sie vielleiht als Schwellenzeremoniell 
bezeihnen. Wir wissen, daß in den anscheinend läppishen und 
höchst umständlihen Zeremoniell der Neurotiker, das sih durdh 
Verschiebung, Entstellung, Äuslassungen etc. sehr weit von seinem 
ursprünglihen Ausgangspunkt entfernt, dunkle Absichten und ihre 
Hemmung zugleich oder in »zweizeitiger« Ausprägung sich bergen. 
Weldhe Absihten in unserem Falle vorliegen, ist unshwer zu 
erraten, Wir wollen nur darauf verweisen, daß das Übertreten des 
geheimnisvollen Verbotes Schläge, ja sogar den Tod für die Übel- 
täter zur Folge hat und diese Strafe gerade von dem Besucdten 
oder vielmehr von dessen Organen ausgesührt: wird. Wir werden 
auf Grund der Neurosenpsydhologie zu der Annahme gedrängt, daß 
das Betreten der Schwelle eine Beleidigung‘ des Besucten darstellt, 
als wäre dieser Schritt etwas zu energievoll, als drücke sich in ihm 
ähnlih wie in jenem von Freud zitierten Beispiel ein Mangel an 
Respekt und ein gewisses Maß von Geringshätzung aus. Wenn 
wir aber die Strenge des Verbotes, das Ausmaß der Strafe für seine 
Übertretung bedenken, müssen wir auf weit intensivere Gefühle, 
die. unbewußt in den Besuchern der Tempel und Paläste leben, 


1 Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse, Wien. Hugo Heller, 
1917,.8.:275. 


— 


Psychoanalytische Studien zur Bibelexegese. 1, 349 


—_— 


schließen: auf starke Züge völliger Respektlosigkeit, auf Impulse zur 
Rebellion und zur Zerstörung. Nur ihrer Umsetzung in motorische 
Aktion wird durh das Verbot ein Riegel vorgeshoben. Daß es 
aber gerade die Schwelle ist, die tabuiert wird, wird uns begreitlich, 
wenn wir daran denken, daß der Eintritt das entsheidende Moment 
bei derartigen Besuchen zu sein pflegt', 

Der Vorgang selbst würde etwa der Verschiebung auf ein 
Kleinstes entsprehen, ein Mechanismus, den wir aus der Neurosen- 
psychologie genau kennen. Nun dürfen wir daran erinnern, daß 
wohl auch wir von jemandem, dem wir zürnen, zu sagen pflegen; 
Der. kommt mir nicht mehr über die Schwelle, 

Kehren wir zu unserem Beispiele zurük: wir verstehen nun, 
daß das Schwellenzeremoniell besonders auffällig bei Tempeln, Pa- 
lästen von Königen und Häuptlingshäusern hervortritt. Es ist eine 
Maßregel, die ergänzend zu dem Tabu der Könige hinzutritt* und 
wie dieses die Durchsetzung der unbewußten aggressiven und feind- 
seligen Tendenzen verhindern soll. Auch Details, wie z. B. daß es 
in Fiji nur den Häuptlingen des höchsten Ranges erlaubt ist, die 
Schwelle des Tempels zu betreten, werden so erklärlih. Sie haben 
weniger starke Motive, Gott zu beneiden und böse Impulse gegen 
ihn zu hegen. In der abweihenden Art der Kafırs, auf die Schwelle 
zu springen, wird zwar die ursprünglih verbotene Handlung aus- 
geführt, aber vor ihr ein anderes Zeremoniell, durh unbewußte 
Verschiebung das ursprünglihe vertretend, ausgeführt, das Zurük- 
ziehen vor dem Sprung deutet die Hemmung an. Gleichzeitig 
erkennen wir in dieser Ausprägung eine Kompromißleistung, die 
wie zwangsneurotishe Symptome dem verdrängten Triebe ebenso 
wie den ihn verdrängenden- Instanzen dienen, 

Wir dürfen uns jetzt getrauen, anderen Einfällen Raum zu 
geben, die auf dieselben psychischen Motive und eine besondere Be- 
handlung des Einganges hinweisen. Eine Schwellenzeremonie enthält 
Goethes »Faust«: Mephisto macht das Paradigma Pein, »Herein!« muß 


— 


1 Dr. Hans Sachs wies in der Diskussion über diesen Vortrag sehr richtig 
darauf hin, daß für das Unbewußte die Schwelle die Vagina — ebenso wie das 
Haus den weiblihen Körper — bedeutet. . Der Zusammenhang dieser Deutung mit 
der unbewußten Beleidigung oder Beeinträchtigung des Besitzers des Gebäudes 
ergibt sih von selbst. Die sexuelle Bedeutung ähnliher Gebräuche hat Dr. Ludwig 
Levy in einem soeben erschienenen, wertvollen Artikel: »Die Schuhsymbolik im 
jüdishen Ritus« (Monatssdrift für Geshihte und Wissenschaft des Judentums. 
62. Jahrgang. Heft 7—12) nachgewiesen. 

Wenn das Schwellenzeremoniell eine seiner Wurzel in dem Tabu der Götter 
und Herrsher hat — dadurch hervorgerufen, daß die Ichgrenze für die Tabuierung 
wegen des unbewußten Andrängens aggressiver Triebe immer mehr erweitert wurde 
—- ergibt sich die Ableitung: die Schwelle ist tabu, weil der Inhaber des Hauses 
es ist. Zur Tabuvershiebung vergleihe man etwa das talmudishe »Zäune um 
das Gesetz ziehens,. Diese Vershiebung und Verallgemeinerung findet ihre Ana= 
logien in der Symptomatologie der Neurosen. Aud die Theorie des Schutzgeistes 
des Hauses kann mühelos in diesen Zusammenhang eingereiht werden. 


2 Vgl. Freud, Totem und Tabu. Wien. Hugo Heller, 1914, 


350 Dr. Theodor Reik 


Faust dreimal sagen. Auf vielen Häusern lesen wir einladende 
Inschriften wie etwa »Mit Gott tritt ein, bring Glück herein!« — 
es ist so, als würde die Furcht unterdrückt werden müssen, der Besucher 
könnte eher Entgegengesetztes mitbringen, Noh das Weihwasser 
bei den Katholiken und die heilige Mesuse bei den Juden kann als 
Rest alten Schwellenzeremoniells gedeutet werden. Wenn wir an 
den Palais unserer Hauptstraßen vorübergehen, sehen wir wohl 
große Männer im Phantasiekostüm mit einem goldverzierten Stabe 
stehen, deren würdige Pose uns ein Lächeln abnötigt: erinnern wir 
uns daran, daß ihr antiker Vorgänger weit bedeutsamere Funktionen 
zu versehen hatte und der Stab ursprünglich nicht nur dekorativen 
Zwecken diente. Wesentliher scheint uns allerdings, daß wir jetzt 
die Worte Zephanjas, welche eine crux interpretum bildeten, ver=- 
stehen und über die bisher unbekannten Funktionen der Tür- 
hüter im Tempel zu Jerusalem Auskunft geben können. Wenn 
aber der Herr aus dem Munde seiner Propheten seine Verurteilung 
aller jener, welhe die Schwelle betreten, ausspricht, nehmen wir mit 
Befriedigung zur Kenntnis, daß schon einige Jahrhunderte vor Christi 
Geburt Symptomhandlungen in ihrer unbewußten Motivierung er- 
kannt wurden. 


III. Die Sünde der Volkszählung. 
Wir lesen im I. Buhe der Chronik, der Widersaher habe 


sih gegen Isroel erhoben und den David verleitet, Israel zu zählen, 
»David sprah zu Joab und den Obern des Volkes: Gehet, zählet 
Israel von Beer-Seba bis Dan und berichtet mir, daß ich ihre Zahl 
wisse.« Joab erwiderte: »Möge der Herr seinem Volke hinzutun, 
so viele ihrer sind, das Hundertfahe. Sind doch, mein Herr und 
König, alle meines Herrn Knedhte. Warum verlangt dies mein Herr? 
Warum soll es eine Schuld werden für Isroel?« David aber bleibt 
bei seinem Entschluß. Joab gehorht und gibt dem König die Zahl 
derer an, die das Schwert ziehen können. Gott mißfiel diese Zählung 
aus dunklen Gründen und er shickte über Israel eine Pest; ihr fielen 
siebzigtausend Mann zum Opfer, David aber muß das Sündhafte 
seines Vorgehens shon früher eingesehen haben, denn es wird 
erzählt, er habe zu Gott gesprohen: »Ich habe sehr gefehlt, daß ich 
diese Sache getan, vergib die Schuld deines Knecdtes, denn ih war 
sehr betört.« Gottes Strafe wird durch einen Engel vollzogen, den 
der Herr gegen Jerusalem gesandt hat. Als dieser aber würgte, hatte 
der Herr ein Einsehen und bedadhte sih wegen des Unheils, »Er 
sprah zu dem Engel, der würgte: ‚Genug, jetzt laß deine Hand 
sinken‘.« Es gibt eine Variation dieser Erzählung im II. Buche 
Samuelis 24, darin erscheint bemerkenswert, daß hier der Herr selbst 
gegen Isroel erzürnt war und deshalb den David verleitete, die 
Volkszählung vorzunehmen. Die Versionen gehen auf zwei Redak- 


Psycoanalytishe Studien zur Bibelexegese. 1. 351 


toren zurück, deren Meinung über die Quelle der Inspiration Davids 
eine verschiedene war. | 

Wer auch immer den König zu diesem Schritt verleitet haben 
mag, das Resultat der Zählung war ein verderblihes, Was wir hier 
nicht verstehen, ist die eigenartige Äntipathie des Herrn gegen eine 
Volkszählung und die harte Strafe, die David und sein Volk erleidet. 
Frazer versudht!, in der oberwähnten ÄArtikelserie »Folklore in the 
old Testaments der Schwierigkeit dadurh Herr zu werden, daß er 
auf die Volksmeinung, welhe dem David die Shuld am Herein- 
brehen der Pest gibt, und auf analoge Erscheinungen bei anderen 
Völkern hinweist. Die Gallas von Westafrika z. B. halten das Zählen 
der Herde für ein böses Omen, das eine Zunahme der Herden 
verhindern würde. Die Lappländer aber waren unwillig und sind es 
wahrsceinlih noch, wenn man sie zählt und ihre Zahl angibt, weil 
sie fürchten, daß eine solhe Untersuhung eine große Sterblichkeit 
im Volke verursahen könnte. Frazer vermutet, daß ein ähnlicher 
Glaube bei den Juden zur Zeit Davids geherrsht haben möge und 
ihnen die Pest, welhe der Zählung unmittelbar folgte, als eine 
genügend starke Prüfung galt, welhe die Zweifel einer verblendeten 
und verstokten Skepsis zerstören sollte (»as a proof sufficient to 
confute the doubts of the blindest and most obstinate sceptic«). 
Frazer deutet mit diesem Schlußsatze an, daß die Pest ihm als eine 
Strafe für die Zweifel gilt, die David an die uralte Verheißung 
knüpft, die Zahl der Juden dem Sand am Meere gleich zu machen. 
Einen anderen Weg zur Erklärung schlagen die Bibelkommentatoren 
ein: so glaubt Wilhelm Nowak in seinem Handkommentar zu den 
Büchern Samuelis?, daß die Volkszählung wohl mit Fragen der 
Steuerpolitik und der festeren militärishen Organisation im Zu= 
sammenhang gestanden habe: Ȁus mannigfahen Anzeichen wissen 
wir, wie schwer es der königlihen Madt gelungen ist, festen Fuß zu 
fassen den eifersüchtig auf ihre Rechte sich steifenden Stämmen und 
Stammesbrüdern gegenüber«, An einer anderen Stelle? wird in bezug 
auf jene Zählung bemerkt, es sei anzunehmen, daß sie höchst un- 
populär gewesen sein mag, denn man sah gewiß in ihr einen weiteren 
Schritt zur Befestigung der königlihen Madt, anderseits zur 
Schwächung der Stammesobrigkeit und Stammesselbständigkeit. Wir 
werden nicht allzu kühn erscheinen, wenn wir trotz allem Respekt 
vor dem Scarfsinn und den Kenntnissen der Bibelforsher diese 
und ähnlihe Erklärungen als allzu rationalistish abweisen. Das 
Widerstreben aus Gründen der Stammesrehte vermag nicht zu er- 
klären, warum Joab seinen Herrn in banger Ahnung fragt: » Warum 
soll es eine Schuld werden für Isroel?« es vermag nicht zu erklären, 
warum David nachher die Zählung als seine eigene Sünde und 
nicht als politishen Fehler betrachtet, es kann uns keine Aufklärung 


! The sin of a Census. Anthropological Esays etc. 
2 Göttingen 1902, S. 257. 


5.202 


352 Dr. Theodor Reik 


über den. Zorn Jahwes und die harte Strafe, die der Herr verhängt, 
liefern. Wäre Davids Vorgehen nur ein politisher Fehler, so hätte 
der König nicht reuig ausgerufen: »Ich habe ja den Gedanken gehabt, das 
Volk zu zählen und ih bin es, der gesündigt und Unrecht begangen 
habe.« Er hätte eher sagen müssen: »Es war mehr als ein Ver- 
brehen, es war eine Dummheit.« Allein ein solher Talleyrandscher 
Zynismus lag nicht im Gefühls- und Gedankenkreis der Könige 
Isroels, deren Welt doch immer theokratisch blieb. 

Wir glauben vielmehr, daß Frazer auf der richtigen Spur war, 
wenn er auch bei anderen Völkern auf ähnlihe Symptome einer 
Scheu vor der Zählung verweist und einen alten Aberglauben vor- 
aussetzt!, Freilih brauchte er dazu niht nach Westafrika und Lapp= 
fand zu wandern. Wenn man einen Juden etwa in einem Ghetto 
Galiziens oder Russisch-Polens nach seinem Alter fragt, wird er bei 
der Angabe seiner Jahre nicht verfehlen, die Worte »bis hundert 
Jahr« hinzuzusetzen, und eine Mutter, nah der Zahl ihrer Kinder 
befragt, wird ihrer Auskunft unvermeidlih ein »Ulnberufen« voran= 
setzen. Es ist anzunehmen, daß auch bei diesen Nadhkommen der 
antiken Juden ein Aberglaube in bezug auf das Aussprehen solcher 
Zahlen lebt — ohne daß in diesem Falle die Notwendigkeit vor- 
läge, an erblihe Belastung zu denken. Auf welde seelishe Fak- 
toren mag solher Aberglaube sich stützen? Die den Zahlen beige- 
fügten Worte haben offenbar apotropäische Bedeutung: sie sollen 
die Dämonen versheudhen, welche an die Angabe des Alters oder 
der Kinderzahl eine unheilvolle Wirkung zu knüpfen drohen: nämlich 
den Tod über das Objekt der Zählung zu verhängen. Wir haben 
durh Freud die Psychogenese solchen Dämonenglaubens kennen ge= 
lernt?: Dämonen sind die in die Außenwelt projizierten Gestaltungen 
eigener böser und feindseliger Regungen. Wir müßten also foigerichtig 
annehmen, daß der Mann, der das Alter angibt, und sich jener 
apotropäishen Wendung bedient, sich davor fürchtet, daß eine Stimme 
in ihm ihm selbst den Tod wünsche. Diese Annahme aber läßt sich 
durh das Vorhandensein unbewußter Selbstbestrafungstendenzen 
und unbewußten Schuldbewußtseins rechtfertigen. In jener aber= 
gläubischen Mutter lebt, in dem Bewußtsein verschlossenen Tiefen 
neben aller bewußtseinsfähigen Liebe, Zärtlichkeit und Aufopferungs= 


! Unbeschadet des folgenden Erklärungsversuhes muß festgehalten werden, 
daß eine Wurzel dieser Scheu in der Natur der Zahl selbst liegt. Wie noch aus 
der Zahlenmystik hervorgeht, gibt es eine Heiligkeit und einen Zauber der Zahl 
analog dem der Namen bei den Primitiven und in der Antike, Diese Eigen- 
schaften knüpfen wahrsceinlih an eine Zeit der Überwindung primitiver Un= 
sicherheit durch die Erfindung der Zahl an. Die Festsetzung der Zahl galt ver- 
mutlih einmal als Verzauberung, daher die primitive Scheu der Primitiven vor 
der Zählung. Die Zählung erschien den Wilden einmal als eine magische Maßregel, 
die Gewalt über das Gezählte verlieh; ähnliche Bedeutung haben die Zahlen für 
unsere Kinder. Über den Ursprung der Heiligkeit der Zahl vgl. Wundt, Völker- 
psycdologie. VI. Bd., 2. Aufl. 1915, S. 357 ff. 

2 Vgl, Freud, Totem und Tabu. 


Psychoanalytische Stadien zur Bibelexegese, 1. 353 


fähigkeit eine Regung, die ihren Kindern den Tod wünscht. Die 
ri der Ambivalenz der Gefühlsregungen gibt hier die Er- 
ärung. 

Kehren wir zum Fall Davids zurük und erinnern wir uns 
einiger hervorstehender Züge: der Einwürfe des getreuen Joab, 
des Schuldbewußtseins Davids und des Einbruhes der Pest nad 
der Zählung, fügen wir noch hinzu, daß David zur Sühnung seiner 
Schuld später einen Altar baute, so müssen wir uns sagen, daß 
seine Selbstvorwürfe berechtigt, daß er wirklih durch jene Zählung 
eine Schuld auf sich geladen hat, Wir sind aber in der Psychoana= 
jyse gewohnt, Symptome von Neurotikern zu beobadten, die 
zeigen, daß das als peinlih und unmoralish empfundene Gefühl, 
das durh das Symptom seine Erledigung und Bewältigung erfahren 
soll, gerade in ihm die ursprünglih beabsichtigte und von der 
Bewußtseinsinstanz abgelehnte Wirkung durchsetzt: im Effekt tritt 
der Erfolg der verdrängten Gefühlszüge zutage. Die Pest, die 
der Zählung folgte, müßte nah dieser Analogie ein Erfolg jener 
Gefühle sein, welhe den wirksamsten unbewußten Anstoß zur 
Volkszählung bildete, In welcher Absicht hat nun David die Zäh- 
lung unternommen? Er wollte die Zahl der Wehrfähigen seines 
Volkes wissen. Gewiß hat er sih über die große Zahl gefreut, 
aber ebenso gewiß ist eine unbewußte Regung in ihm, welche diese 
Zahl zu vermindern wünscht, also Tendenzen der Feindseligkeit 
und des Hasses gegen sein geliebtes Volk!, Dieses Volk und das 
eigene Schuldbewußtsein des Königs haben recht, wenn es die Zäh- 
lung oder vielmehr ihre dunklen Motive als Sünde verurteilt. Wir 
erkennen hier wieder einmal, daß der Text trotz aller späteren 
Umarbeitungen in seinem durch unbewußte Motive bedingten Gefüge 
die rationalisierenden und nur von sogenannten vernünftigen Erwä- 
gungen geleiteten Exegeten beschämt. 

Wir wissen, daß an der erwähnten Stelle der Chronik Satan 
den David verleitet, die Zählung vorzunehmen. Die Kommentatoren 
klären uns darüber auf, daß die Redaktion der Chronik in eine 
spätere Zeit fällt als die der Bücher Samuelis, in welhen die Ge- 
shichte dieser Volkszählung ebenfalls berichtet wird. Der bedeut= 
same Untershied besteht darin, daß in der früheren Version Gott 
selbst den David zur Zählung verleitet, welher Zug später als 
anstößig empfunden und auf Satan übertragen wurde, Bedenken 
wir, daß Gottes Engel, also sein Stellvertreter auf Erden es ist, 
der würgend über den Platz zu Jerusalem zieht, und benützen wir 
die Resultate unserer psychoanalytishen Deutung, so werden wir 
zu der Ännahme gezwungen, daß auh Jahwe gegenüber seinem 


Volke niht nur Gefühle der Liebe und der Anhänglichkeit, sondern 


1 Es sei daran erinnert, daß David audh reale Gründe zu diesen Impulsen 
hatte: dieses Volk, das er vor den Philistern gerettet hatte, hat ihm auf seiner 
Flucht manderlei Übles getan. 


Imago V/5—6 23 


354 2 Dri Theodor Reik 


auch solche des Hasses und des Willens zur Vernichtung hegt! — 
eine Gefühlseinstellung, deren Wirkung sich in den Schicksalen dieses 
Volkes deutlih genug zeigt. 

Dod bleiben wir beiDavid: wir ahnen dann, daß es neben dem Tabu 
der Könige aud ein Tabu des Volkes gibt, das nicht ungestraft verletzt 
werden darf: eine Mahnung gegenüber den Regierenden, die, wie ich 
meine, auh in dieser Zeit des Massenmordes wahrhaft aktuell ist?, 


IV. Die Bedeutung des Schweigens. 


Bei Habakuk (2, 20) ertönt die Mahnung: »Jahwe ist in seinem 
heiligen Palaste, stille vor ihm, alle Welt!« Zekarja, der Sohn des 
Berekja, schildert in seinem dritten Gesicht, wie nad allen Bedrängungen 
Jahwe seine Bekenner aus den vier Winden sammelt und Jerusalem 
neu erbauen wird. Früher aber werde er ein Strafgeriht halten über 
die Heiden und wieder hören wir das feierliche Wort:: »Stille alles 
Fleish vor Jahwe, denn er regt sih von seiner heiligen Stätte, 
In einer grandiosen Vision* sieht Zephanja den Tag des großen 
Gerichtes, den Tag des göttlihen Zornes: die Feinde, in deren Hand 
der Herr sein Volk gegeben hat, sind seine Vollstrecker, »Stille vor 
dem Herrn Jahwe, denn nahe ist der Tag Jahwes, denn hergerichtet 
hat Jahwe das Opfer, hat die von ihm Geladenen geweiht.« 

Es fallen uns hier zwei Züge auf: der Ruf »Stille vor dem 
Herrn!« und die Metapher, das Strafgericht sei ein Opfer. Wenden 
wir uns dem zweiten Zug zu, so wird unser Erstaunen noch dadurh 
erhöht, daß wir den Gerichtstag im Bilde eines Opfers, das Jahwe 
bringt, auch bei Jesaias’ und Jeremias® finden, Jesaias prophezeit 
Edoms Fall, jenes Volkes, »das ich geweiht zum Verderben, zum 
Geriht. Das Schwert des Herrn ist voll Blut, gemästet mit Fett, 
vom Blute der Mastlämmer und Böcke, vom Nierenfett der Widder, 
denn ein Opfer hält der Herr in Bozra und ein großes Schlachten 
im Lande Edom.« Jeremias schildert die Vernihtung Ägyptens und 
das Wort des Herrn, welhes an den Propheten erging, lautet also: 
»Das Schwert soll fressen und sich sättigen und trunken werden an 
ihrem Blute, denn ein Opfer hält Gott, der Herr Zebaot, im Lande 
des Nordens, am Strome Euphrat.« 


ı Vgl. außer vielen anderen Stellen Exodus 33, 3: Der Herr will einen 
Engel mit dem Zug der Juden schicken, »denn ich selbst werde nicht hinaufziehen 
in deiner Mitte, weil du ein hartnäckiges Volk bist, daß ih dich nicht vertilge 
auf dem Wege«. 

2 Diese Studien zur Bibelexege wurden zwei Jahre vor der Revolution im 
Winter 1917 an der Balkanfront geschrieben. Die Umwälzung der letzten Zeit 
hat Bean Wie berechtigt die oben ausgesprochene Mahnung war, 


Are; 


Psydhoanalytishe Studien zur Bibelexegese. 1. 355 


Wir verstehen es nicht ganz, daß der Herr ein Opfer bringt: 
das Opfer wird von uns gewöhnlich als ein sakramentaler Vorgang 
geschildert, der gerade dem Herrn gilt, ihm zu Ehren stattfindet. Die 
Stelle ist erst dann verständlih, wenn wir mit Robertson Smith das 
Opfer auf seinen Ursprung als die Tötung des Totem zurückführen, 
Diese, den offiziellen Bekennern des Jahwismus längst verloren- 
gegangene Bedeutung des Opferrituals muß dem Propheten hier vor=- 
geshwebt haben: der anthropomorphe Gott tötet selbst das Totem- 
tier. Wir werden sofort erkennen, daß diese Vorstellung nicht den 
einzigen Änacronismus in diesen Schilderungen darstellt. 

Wir haben durh Freud die Äbleitung des Opfers aus der 
Feier der Totemmahlzeit, welche die Ermordung des Vaters erneuerte 
und sühnte, kennen gelernt. Augenfällig waren für jeden im Opfer- 
ritus die dem Herrn zugewendeten ehrfürhtigen und liebenden 
Momente. Doch kein Überbleibsel wies darauf hin, daß auch die 
entgegengesetzten Änteile der ambivalenten Einstellung in der Opfer- 
tat selbst zum Ausdrucke gelangen. Die Anshauung von der ur- 
sprünglih hodhsublimierten Natur, wie sie von C, G. Jung vertreten 
wurde!, versagt aber schon gegenüber diesen von den Propheten 
geschilderten Bildern. 

Gott hält ein Strafgeriht, das Opfer ist sein Volk und diese 
Opfertat ist ein Akt furctbarster Rache, eine Entladung elemen- 
tarster Feindseligkeit. Wir werden diese Stellen als bedeutsame Be- 
stätigungen der Freudschen Opfertheorie, wie sie in »Totem und 
Tabu« niedergelegt ist, ansehen, weil sie wie inkrustiert die im Opfer- 
akt verdrängten Haßregungen zeigen — bedeutsam auch dadurd, 
daß bislang Gott keineswegs als der Parteinahme für die Psychoana- 
Iyse verdädtig galt. 

Ein Einwand droht uns hier: es handelt sich ja um eine 
Metapher der in Entzückung geratenen Propheten, die uns vorliegt. 
Dodh wir wissen, daß Metapher nur die Poetisierung ehemals realer 
Anschauungen bilden — wenn die Dichter vom »Blute der Reben« 
sprehen, war dies der Antike kein Bild, sondern Wirklichkeit — 
und daß auh Metapher wie alle Produkte psychischen Lebens seelisch 
determiniert sind. Wir haben behauptet, daß die ursprüngliche Be- 
deutung des Opfers zur Zeit der Propheten längst verdrängt, also 
bewußtseinsunfähig war. Wie also ist es möglih, daß ein Rest, ein 
Anzeichen der primären Anschauung, aus unerreihbaren Tiefen auf= 
steigend, wiederkehrt? Und gerade bei den Propheten, denen es als 
Lebensaufgabe galt, die Gottesvorstellung zu läutern, deren ethisches 
Verdienst es ist, die antike Jahwereligion auf den Punkt modernster 
Sittlihkeit zu bringen? Eben der Zustand des Entrüctseins, der 
Ekstase, in denen sie ihre beglükenden und furchtbaren Bilder er- 
lebten, mag solhem Emportauhen längst versunkenen Materials 


ı Wandlungen und Symbole der Libido. Jahrbuch für psychoanalytishe und 
psycdhopathologishe Forschungen. Bd. IV. 1912, 


23# 








3 De: TheadsRäk 


günstig gewesen sein: ihrer Tendenz entgegen kehrte in diesen 
Lagen unter dem Drucke starker Affekte das Verdrängte aus dem 
Verdrängenden wieder. 

Indem wir die Verwertung dieses Hinweises auf die ursprüng- 
lihe Natur des Opfers den Bibelforshern überlassen, wenden wir 
uns dem Moment geheimnisvollen Schweigens zu, das von den 
drei oben genannten Propheten gefordert wird, In dem Zusammen- 
hang, in dem das Herannahen des Herrn angekündigt wird, möchte 
man vermuten, es handle sih nur um ehrfürdhtiges Schweigen. Doch 
zwei Momente sprehen dagegen: die formelhafte Fassung bei 
allen drei Propheten und ein Argument, das noch naheliegender ist 
als dieses sprachliche: das Bewußtsein des Herannahens Jahwes 
wird spontan ein solhes Schweigen bewirken, Es bedurfte also 
keineswegs des mahnenden Rufes. 

ir werden nicht erstaunt sein, wenn wir hören, daß die 
Bibelforsher auch einen besonderen Grund dieser Mahnung gesucht 
und gefunden haben, So erklärt F. Nowak in seinem Kommentar 
zu den kleinen Propheten!: »Wir wissen von den alten Arabern, 
daß sie nah vollzogener Schlahtung eine Zeitlang stumm den 
Altar umgaben, das war der Moment, wo man wohl die Gottheit 
als dem Altar sich nähernd wähnte, um eben von ihrem Opfer 
ihren Anteil zu nehmen, Ähnlich wird das auch bei den Israeliten 
gewesen sein.« Der Ruf " ss man om wäre also das einleitende Mo- 
ment jenes Ritualbestandteiles, Ganz ähnlich urteilt Rudolf Smend? 
und die meisten anderen Bibelforsher, Erinnern wir uns daran, 
daß das große Gericht, das Jahwe halten wird, im Bilde des Opferns 
dargestellt wird, so werden wir die Heranziehung dieses Opfer- 
rituals gerechtfertigt finden. Doh nicht dies ist, was unser Interesse 
erregt, sondern die Natur der Ehrfurcht, die in diesem Schweigen 
so beredten Ausdruck findet. Die Ehrfurht ist gewiß dann am 
Platze, wenn wir uns die Opfernden vorstellen, darauf wartend, 
daß Gott herannahe und das ihm dargebrachte Opfer genoß. Abes 
wir wissen?, daß diese Vorstellung eine ziemlih späte ist und er 
darf uns ahnen, daß das Schweigen Bestandteil eines sehr alten 
Zeremoniells war, daß es darin eine besondere Bedeutung hatte 
und zur Zeit der Umwandlung der periodishen Tötung des 
Totemtiers in ein Opfer ein zweites, sekundäres Motiv erhielt, 

Versetzen wir uns einen ÄAugenblik in die Situation der 
Urhorde*, welhe in jener dunklen Tat der vereinigten Brüder das 
Urbild der Totemmahlzeit geliefert hat. Nehmen wir an, daß aud 
dieser Zug des Schweigens nah der Tat ebenso wie bei den alten 
Arabern nah der Schlahtung des geheiligten Kamels nicht fehlte. 


x 


! Die kleinen Propheten. Göttingen 1897, S. 282. 

2 Lehrbuch der alttestamentlihen Religionsgeshicte. Freiburg 1893, | 

: Vgl. W. Robertson Smith, The religion of the Semits. London 1907. 
Seconde edition. 


* Freud, Totem und Tabu, S. 131 ff. 





EEE = — en m ——— nn nn 


Psydhoanalytische Studien zur Bibelexegese. 1. 357 





Was konnte er bedeutet haben? Vielleiht verhilft uns wie so oft 
die psychoanalytishe Kenntnis psychoneurotisher Symptome, die 
uns soviel Aufklärung über Ardhaisches geben konnte, zur Erklä- 
rung. Das Verstummen des Patienten in der Analyse erscheint uns 
immer als Anzeihen unbewußter Widerstände. Eine scharfsinnige 
Dame, die an Zwangsneurose litt, gab ihrem Schweigen eine spe= 
ziellere Bedeutung: je größer ihre Widerstände waren, um so shwäcder 
wurde ihre Stimme, bis sie endlih ganz shwieg. Sie erklärte einmal 
spontan, daß ihr Schweigen eigentlih Totsein bedeute, Sie verur= 
teilte sich damit zum Tode als Selbstbestrafung für ihre bösen 
Wünsche gegen ihren Gesprächspartner. Freud hat in dem Artikel 
über die Kästchenwahl dieselbe Deutung des Verstummens gegeben. 
Es scheint, als wäre das Sprechen überhaupt wie der Gedanke ein 
dem Kulturfortschritt angepaßter Ersatz für die Tat, denselben 
Medanismen der Verdrängung und Verschiebung unterworfen, 
Kehren wir zu unserem Beispiel zurück, Freud hat uns gezeigt, 
welche gewaltige Reaktionen im Seelenleben der Menschheit jene 
grausame und unheilvolle Tat des ursählihen Vatermordes aus= 
löste, Gefühle reaktiver Zärtlihkeit, der Reue und des Schuld= 
bewußtseins erwachten nachher in den Brüdern, und zwar mit jener 
Gewalt, die naturgebundenen, primitiven Menschen eigen ist. Wir 
dürfen vielleiht als erstes Anzeihen des Schuldbewußtseins, der 
Reue und der Identifizierung mit dem Toten jenes Symptom des 
Schweigens verstehen, das sih der Brüder nah dem Morde be- 
mädhtiste, Wir alle werden an einem Totenbette unwillkürlih ver- 
stummen. In dem Schweigen der Brüder war Ernüdterung nach 
ihrer Giewalttat, darin lag gleichzeitig die unbewußte Identifikation mit 
dem Toten: es war, wie wenn sein Schweigen auf sie übergriffe. 
Es war aber auh zugleich ein Symptom dunklen Schuldbewußtseins: 
sie verurteilten sih darin gleihsam selbst zum Tode, So stark und 
ursprünglih wirkt das uralte, ungeshriebene Talionsgesetz. 

Später, zur Zeit der Transformation der periodishen Totem- 
mahlzeit in das Opfer, mag wohl das Gefühl der Ehrfurht vor 
der Gottheit zu den ursprünglihen Motiven des Schweigens hinzu= 
getreten sein, es vertieft, feierliher und bedeutsamer gemacht haben. 
Daneben aber blieben jene uralten Gefühle, obwohl verdrängt, 
lebendig genug, und sie wirken noh in der formelhaften und bezie= 
hungsreihen Mahnung des Propheten, der da ruft: »Stille, alles 
Fleish, vor Jahwe!« und damit vielleiht den shönsten und erfüll- 
testen Ausdruk fand für die Unzulänglichkeit aller Menschensprahe 
gegenüber dem großen Schweigen!, 


1 Es ist selbstverständlih, daß die vorliegende Ableitung nicht beansprudt, 
alle Wurzeln dieses Zeremoniells ershöpft zu haben. So wäre zu erklären, warum 
jede Zauberhandlung von Schweigen begleitet sein muß. Das Sprechen ist offenbar 
eine Störung des Zwanges, dessen Charakter jedes Zeremoniell trägt. Dr. Hanns 
Sachs teilt mir freundlihst mit, daß bei den alten Rectshandlungen das Gebot 
bestand: Lust wird geboten, Unlust verboten (Lust abgeleitet von »losens = 


nn m m u _ 


358 Dr. Theodor Reik- u, 


V. Unbewußte Haktoren in der wissenshaftlihen Bibelarbeit. 


Es würde sicherlich niemandem einfallen, den Vertretern der alt= 
testamentarishen Wissenschaft ernsthafte und bewußte Widerstände 
in der Exegese soldher Stellen, welhe im Widerspruh zur Moral 
unserer Tage stehen, zuzutrauen. Sie, die eine strenge Schule wis- 
senschaftliher Zucht, peinliher Gewissenhaftigkeit und reinen Stre= 
bens nah Wahrheit durchgemadt, sind gewiß über kleinlihe Be- 
denken dieser Art erhaben. Das Werk, dem sie ihre Lebensarbeit 
gewidmet haben, zeigt ja auch jedem, der sehen kann, deutlich, daß 
der Weg der Menschheit aus dunklen Tiefen animalisher Gebun= 
denheit zu den Höhen reiner Sittlichkeit führt. Nebeneinander stehen 
Zeugnisse primitiver Anschauungen und solche vorgescrittenster 
Moral. »Es wedselt Paradieseshelle mit tiefer, shauervoller Nadt.« 

Trotzdem halten wir eine Mahnung vor dem Wirken unbe= 
wußter Faktoren auch hier am Platz. Ih möcdte an einem Beispiel 
zeigen, wie die Bewußtseinsarbeit die Wirkung solhen unbewußten 
Eingreifens mühsam überdekt und wie noh immer unbekannte 
Widerstände die wissenschaftlihe Arbeit stören und uns zwingen, 
Wege zu gehen, die wir nicht gehen wollten, 

Wer jemals die Erzählung gelesen hat, wie Abraham seinen 
Knecht aussendet, um für seinen Sohn eine Braut heimzuführen, 
und die Werbung und das Zusammentreffen mit Rebekka verfolgt 
hat, wird sih shwer dem Zauber, der dieses Hirtenidyll umglänzt, 
entziehen können. Das Bild Rebekkas am Brunnen, dem Fremden 
den Krug reihend, oder das ihrer Ankunft, da sie ihre Augen 
aufhob, ihren zukünftigen Gemahl zum ersten Male erblikt und 
keush zu ihrem Schleier greift, um sih zu verhüllen, wird ihm 
unvergeßlih bleiben, Künstler, die wir zu den bedeutendsten zählen, 
haben versucht, diese Szenen auf der Leinwand festzuhalten, und 
Heinrih Heine hat, als er shwerkrank in der Rue Amsterdam die 
Bibel wieder mit den Augen des Künstlers las, sie in Worten, 
umschwebt von der Magie seines leuchtenden Altersstiles, vor uns 
heraufbeshworen. 

In der knappen, wortkargen, aber um so eindrucsvolleren Art 
ältester Erzählung schließt die Episode. »Und Isak führte sie ins 
Zelt seiner Mutter. Er aber nahm Rebekka und sie ward sein 
Weib. Und er gewann sie lieb. So tröstete sich Isak über seine 
Mutter« (Gen. 24, 67), Die Stelle ist ja sonnenklar: Für Isak 
bedeutet wie für jeden Sterblihen die Geliebte den Ersatz der 


—  _—  —— 


schweigen.) Vielleiht ergeben sich weitere Aufklärungen durh die Analyse des 
rituellen Heulens beim Opfer, das nah den Ausführungen Robertson Smiths 
(Die Religion der Semiten, Deutsh von R. Stübe, Freiburg 1899, S. 330 £.) 
ursprünglich eine zwangsmäßige Klage über den Tod des geopferten Tieres war 
und später zum Jauchzen (hallel, tahlil} wurde, Man vergleihe meine Abhandlung 
über das Schofar im I, Teile der »Probleme der Religionspsychologies. Wien und 
Leipzig 1919. 


Psycoanalytishe Studien zur Bibelexegese. 1, 359 


dahingegangenen Mutter. Es ist daher verständlih und unserem 
Gefühl gemäß, daß er sie in jenes Zelt führt, das früher die.Mutter 
bewohnte. Ausdrüklih wird in der Unbefangenheit des antiken 
Erzählers gesagt: er tröstete sich über seine Mutter (im Texte 
jox)d, Nun, wir nehmen gewiß keinen Anstoß daran, daß Isak seine 
Mutter geliebt hat und daß diese Liebe von früher Kindheit her 
auh aus einer unbewußten, inzestuösen Quelle gespeist wurde, 
scheint uns ebenso natürlih und unbedenklih wie dem biblishen 
Erzähler: wir würden sagen, das sei der Lauf der Welt. 

Um so erstaunter werden wir sein, wenn wir bemerken, daß 
es den meisten Bibelforshern gelungen ist, an dieser Stelle mit 
siherem Griff das Richtige zu verfehlen. Den Text freilih mußten 
sie lassen stan, ein Schreibfehler etwa für Vater konnte infolge des be- 
deutenden Wortunterschiedes für die hebräischen Bezeichnungen für 
Vater und Mutter nicht vorliegen. Doh shon der Nestor der alttesta= 
mentarishen Bibelkritik Julius Wellhausen nimmt an, daß hier ur- 
sprünglich statt Mutter Vater gestanden haben muß, Zu diesem Zweck 
muß natürlih, wie Dillmann vorschlägt?, früher etwa in v. 62 im 
Text der Tod Abrahams gemeldet worden und später aus dunklen 
Gründen wieder ausgefallen sein. Ball? glaubte, durh Einschiebung 
helfen zu können, Cheyne nimmt Textkorruption* an. Gunkel 
meint, es seien zwei Rezensionen zu konstatieren, deren eine an die 
Stelle des ursprünglichen Vater Mutter gesetzt habe’. Bei diesem 
Forscher mutet es geradezu grotesk an®, wenn er den Text übersetzt, 
»So tröstete sih Isak über seine Mutter« und unter dem Strih die 
Stelle zitiert als: »UInd er tröstete sich über seinen Vater.« Wenn 
er dann hinzusetzt: »so klingt die liebenswürdige Erzählung anmutig 
aus«, so wird nicht nur der Ästhetiker meinen, die Anmut wäre größer 
ewesen, wenn die junge Frau an die Stelle der toten Mutter trete, 
Fedentalle wird eine solhe Ungewißheit über das Geschleht der 
Person, über deren Verlust man sih mit dem Besitze einer Frau 
tröstet, nihts Gewöhnlices sein. 

Wir werden neugierig nah den Gründen der Annahme der 
Exegeten fragen: Die Kommentatoren führen also folgendes an: 
Abraham hat seinen Knecht beauftragt, den Freiwerber für Isak 
zu spielen. Als der Knecht aber mit Rebekka zurückehrt, erzählt 
er alles, was auf der Reise und bei der Werbung vorgefallen ist, 
niht Abraham, sondern Isaak, Daraus zogen die Forscher den 
Schluß, daß Abraham in der Zwischenzeit gestorben sein müsse. 
Gunkel setzt sogar in Klammern bei der Erzählung der Ankunft 








ı Wellhausen, Komposition des Hexateudhs, $. 27 f. 3. Aufl. 

2 Genesis, S. 307. 6. Aufl. 1892. 

3 Ball, Book of Genesis in Hebrew, p. 79. 1896. 

+ Cheyne, Traditions and Belief in The Ancient Israel, S. 350. London 1907, 

5 Gunkel, Handkommentar zum Alten Testament. Genesis, S. 247. 3. Aufl. 
Göttingen 1910, 

6 Gunkel, S. 260. 


360 Dr. Theodor Reik | 


des Knectes, daß dieser jetzt den Tod Abrahams erzählen hört!, 
Ist dieser Schluß stringent? Keineswegs. Es wird erzählt, Isak sei 
einmal, da der Abend nahte, um sich zu ergehen, auf das Feld 
gegangen, Als er aufblikte, »da sah er: Kameele kamen daher«. 
Es ist der Zug, welhen der Knecht, die shöne Braut an seiner 
Seite, führt. Ist es da nicht natürlih, daß der Knedht dem jungen 
Bräutigam Isak gleich berichtet, was er zu sagen hat? Schließlich 
wird man nicht leugnen können, daß Isak der Hauptbeteiligte ist. 
Dod selbst, wenn wir annehmen, Abraham sei in der Zwischenzeit 
gestorben, woher nehmen wir das Recht, hier im Text statt »er 
tröstete sich über seine Mutter« gerade »über seinen Vater« zu 
setzen? Meines Wissens hat bisher nur der englishe Bibelforscher 
T. K. Cheyne in seinem oben erwähnten Buhe den Mut gehabt, 
zu erklären, er könne Wellhausen nicht folgen: »Wirklih, ih muß 
fragen, ob dieser Gelehrte das ganze Problem gesehen hat. Daß 
is (— Mutter) falsch ist, gebe ich zu, aber ist Yax (= Vater) richtig ?« 
Wir sehen, auh Cheyne nimmt ohneweiters an, Mutter sei falsch. 
Seine eigene, recht weit hergeholte Erklärung, die rein etymologisch 
ist, wird keineswegs den Eindruck der richtigen Textherstellung 
machen können. 

Die Erklärung für die Gründe der Abänderung der Stelle 
scheinen uns allzu gezwungen und völlig unzureihend, Wir haben 
kein angemessenes Motiv, gerade hier den übereinstimmenden Texten 
zu mißtrauen, zumal ja auch gesagt wird, Isak habe die Braut in 
das Zelt der Mutter eingeführt, also zweifah auf den so natür- 
lihen Ersatz hingewiesen wird?. Wir können uns auh schwer in 
den von den Exegeten angenommenen Fall einfühlen, es ist shwer 
vorstellbar, daß Isak das jugendfrishe Mädchen als Ersatz für den 
alten, runzeligen und würdigen Patriarchen und Vater angesehen 
habe. Die Mutter aber bleibt für den Sohn, dem sie das erste 
Liebesobjekt früher Kindheit war, unbewußt immer begehrenswert. 

Wir würden eine so unzureichende Erklärung, wie sie uns 
hier von der modernen Bibelforshung geliefert wird, als Ratio- 
nalisierung bezeihnen. Die Adtung, welhe wir für so hervor- 
ragende Gelehrte wie Wellhausen, Dillmann, Gunkel usw. hegen, 
warnt uns davor, einfah anzunehmen, ein wissenshaftliher Irrtum 
und — noch dazu ein so wenig begreifliher — könne durch Gene= 
rationen weiter übernommen werden, ohne seine Berichtigung zu 
finden., Wir haben früher von einer Art Rationalisierung in der Be- 
gründung des Vorschlages der Textänderung der Stelle gesprochen, 
aber gerade von hier aus könnte ein gewichtiger Einwand seinen 
Ausgang nehmen, Wie, alle diese ernsten Männer sollten unbewußten 
Nötigungen unterlegen sein, sie, die viel krassere Beispiele wirklichen 


1 Gunkel, S. 259, 

2 Freilih wird gerade diese Stelle als syntaktish unmöglich bezeichnet 
(Gunkel, S. 247 und 260), aber die spätere Textänderung hatte vielleicht eine 
andere Tendenz als man bisher vermutete. 


Psydoanalytishe Studien zur Bibelexegese. 1. 361 


Inzestes wie etwa das Judas und Thamars, Lots und seiner 
Töchter vorurteilsfrei annahmen und kommentierten? Gerade an 
dieser Stelle sollten sih Widerstände in ihnen erhoben und ihr 
scharfer Blik einer Art intellektueller Blendung unterworfen ge= 
wesen sein? 

Dieser Einwand, der uns so starken Eindruk zu machen ge- 
eignet scheint, ist indessen leichter zu beseitigen als wir im ersten 
Augenblik glauben. Gerade der besondere Charakter der Werbungs= 
szene bietet dazu die beste Handhabe, Cheyne leitet das diese Epi= 
sode behandelnde Kapitel seines Werkes »Ihe search for a wife for 
Isaac« mit folgenden Worten ein: »Who can resist the charm, gem 
of purest ray’ — the story of the wooing and winning of Rebecca? 
Note above all the Homeric simplicity?« Gunkels Wohlgefallen an 
der Erzählung ist uns durch seine oben zitierten Äußerungen bereits 
bekannt, Er setzt zu dem Vers »Er gewann sie lieb« die Ver- 
siherung hinzu: »natürlih, ein Mädchen, das alte Leute und die 
Tiere so freundlih behandelt und die (sic!) so shön ist — muß 
man ja lieb haben«. Ähnlihe Aussprühe über die Szene werden 
gewiß bei den meisten Gelehrten zu finden sein. Mögen sie über 
die Zuweisung einzelner Textzeilen zu den verschiedenen Redak= 
toren uneins sein, in der Anerkennung der. poetishen Schönheit des 
Idylis sind sie einig. Vergessen wir nicht, daß auch Bibelforscher 
menschlichen Trieben unterworfen sind und menschlichen Neigungen 
nachgebend, Die Plastizität, Liebenswürdigkeit und Anmut der Er- 
zählung wirkt auf sie ebenso wie auf uns ungelehrte Leser ein. 
Unser Wohlgefallen aber sowie das jener Forscher beruht zum 
größten Teil auf einer unbewußten Identifikation mit dem Helden, 
mit dem jungen, glücklihen Bräutigam. Wer von uns mödte nicht 
auch ein so liebenswertes anmutvolles und zurückhaltendes Geschöpf, 
das in jeder Faser ihres Wesens Mädchen ist, als Braut heimführen? 

In der Beziehung Isaks zu seinem jungen Weibe störte es 
unbewußt die Forscher, daß so deutlih die inzestuöse Quelle von 
Isaks Liebe ausgesprohen war. Es ist begreiflih, daß der un- 
bewußte Widerstand in diesem Falle hoher Einfühlung in die Situation 
Isaks stärker war als etwa in dem Falle des wirklichen Inzestes 
Judas und Thamars, Labans und seiner Töchter, Dort lag das 
Primitive und Ardhaishe klar zutage, allzu kraß war das Trieb- 
leben in seiner elementaren Stärke und Ungehemmtheit in den V order- 
grund gestellt, die Tatsahen sprahen eine zu laute Sprache und 
wiesen auf eine uns weit entrückte, kulturell fremde Zeit hin. Eine 
Einfühlung ist schwer zu erreihen. Hier aber, in dieser prachtvollen 
Idylle, findet auch jeder moderne Leser die eigene Jugendzeit mit 
ihren Hoffnungen und Wünschen wieder, hier wurde die Identi- 
fikation mit dem Helden zur Versuchung, unbewußt Natürliches 
gewaltsam umzudeuten. Die Störung durh die Erinnerung des 
Inzestes, welche sich in jener Textänderung zeigt, weist aber auf 
eine Inzestempfindlihkeit hin, die nur jener der Wilden vergleichbar 





362 . Dr. Theodor Reik 


ist!, Wir wären versuct, hier. einen Fall von gedanklicher »avoidance« 
der Mutter zu konstatieren, Ä 

Vielleiht darf man nun auch vermuten, warum mit wissen= 
schaftliher Rationalisierung gerade der Vater von den Forschern an 
die Stelle der Mutter gesetzt worden ist. Der Vater ist es ja, der 
als stärkstes Hindernis für die Inzesterfüllung unserem Unbewußten 
erscheint, Daß gerade er den Ersatz bilden soll, wird erklärlih: er 
ist der Gesetzgeber der Kindheit, jeder Gedanke an ihn wird die 
Inzestregungen zur Verurteilung zwingen. Dem verdrängten Gedanken 
an die inzestuöse Beziehung bot sich eben ihr erster Störer als 
Ersatz dar. Sollten aber nicht noch andere unbewußte Motive gerade 
für die Aufstellung der Lesart »Ulnd so tröstete er sih über seinen 
Vater« bestimmend gewesen sein? Wir glauben, wenigstens eines 
davon erraten zu können. Wir sprahen schon von der Einfühlung 
der Bibelforsher in die Person Isaks, Daß durch die verborgene 
Arbeit unbewußter Faktoren und die zensurierende Einwirkung der 
Bewußtseinsinstanzen der Vater in der Lesart an die Stelle der Mutter 
tritt, haben wir erwähnt, Diese Ersetzung ist aber ein Zeugnis für 
die gegenüber den unbewußten Wünschen reaktiv verstärkte Zärt- 
lihkeit des einzelnen für den Vater und einen partiellen Sieg der 
homosexuellen Regungen. Gerade die Betonung seines Todes in 
der von den Bibelforshern vorgeshlagenen Lesart der Episode 
zeigt uns aber, wenn wir an die ÄAusmerzung des inzestuösen 
Hinweises denken, daß eine völlige Unterdrückung menschlicher Re= 
gungen nicht gelingen kann. Dieser simprovisierte« Tod dient nicht 
nur der Verdrängung der Inzesttendenzen gegen die Mutter, 
sondern auch ihrer Durchsetzung. Wenn der Vater gestorben ist — 
hier bricht der ursprüngliche, unbewußte Wunsh durh — steht der 
Vereinigung mit der geliebten Mutter kein Hindernis mehr gegenüber. 
An diesem Anzeichen finden wir noh die Spur der Unterdrükung 
geheimer Tendenzen: sie liefert ein Beispiel der Wiederkehr des 
Verdrängten aus dem Verdrängenden. Wenn wir für einen Augenblick 
die Schranke zwishen unbewußter Phantasietätigkeit während der 
wissenshaftlihen Arbeit und realer Wirklichkeit fallen ließen, würden 
wir den Exegeten übermütig zurufen dürfen: Dieser Abraham starb 
euch sehr gelegen! | 

Wir wollen nicht versäumen, darauf hinzuweisen, daß die 
allzu energishe Reaktion auf das Empordrängen unbewußter 'Ten= 
denzen es nicht hat verhindern können, daß trotz aller Zurückwei- 
sung der verpönten Gedanken doh ein Stük der unbewußten 
Wünsche im Produkt der wissenschaftlihen Arbeit seine, wenngleich 
schwer erkennbare Erfüllung in der Phantasie gefunden hat. Denn 
die neue Lesart, die den Tod des Vaters einsetzt, hat immerhin 
zur Folge, daß Isak an die Stelle des Dahingeschiedenen tritt, 
daneben steht der alte Text, der Rebekka als Ersatz der Mutter 


! Vgl. Freud, Totem und Tabu. 


Psychoanalytische Studien zur Bibelexegese. I. 363 


ansehen will. Die zwei großen Urwünshe der Kindheit tauchen 
hier wie in dem Vater- und Mutterspiel unserer Kleinen inmitten 
der ernstesten wissenschaftlihen Arbeit empor und mahnen die 
Gelehrten, nicht allzu streng unterdrüken zu wollen, was dod 
triebhaft in uns allen lebt. Fast sieht es aus, als hätte die Erfüllung 
des einen tiefwurzelnden Kinderwunsches, der Vereinigung mit der 
Mutter oder ihrer jüngeren Stellvertreterin eine Ergänzung im Sinne 
der Wunscerfüllung der zweiten infantilen Phantasie (Wegräumen 
des störenden Vaters) gefunden. Die sekundäre Bearbeitung hat es 
vermodt, die Spuren der unbewußt tendenziösen Veränderung 
‘scheinbar zum Verschwinden zu bringen. 

Vielleiht ist es als Gewinn zu buchen, daß wir durch die 
Anwendung der psydhoanalytishen Methode einen vererbten Irrtum 
aufdeken konnten, Vergessen wir aber nicht, was dieser Irrtum 
und seine Aufklärung Für uns bedeutet: eine Mahnung, in der 
wissenschaftlihen Arbeit auf die Wirkung unbewußter Faktoren 
und der ihnen entgegengesetzten Bewußtseinszensur bedadt zu sein. 
Es sind nicht alle frei, die ihrer Ketten spotten. 

Diese Mahnung an die Notwendigkeit der Selbstkritik gibt 
mir Gelegenheit, die Mängel der vorliegenden Studien, die mir 
rückschauend erhöht zum Bewußtsein kommen, hervorzuheben, Sie 
werden — abgesehen vom Eirstlingscharakter einer psycoanalyti= 
schen Bibelexegese — namentlich in zwei Momenten zu suchen sein: in 
der dilettantishen Vorbereitung und den lückenhaften Kenntnissen 
des Autors sowie in der fragmentarishen Form dieser Versude, 
Vielleiht aber ist der Zweck dieser Studien, die nichts mehr als 
vorbereitende Mitteilungen aus einem größeren Zusammenhange 
sein wollen, erreiht: die Aufmerksamkeit der Vertreter der alt= 
testamentlihen Wissenshaft auf die Anwendung der Psychoanalyse 
und ihre Frudtbarkeit für die Bibelforshung zu lenken!. 


ı Diese Studien sollen in erweiterter Form in einem der späteren Teile 
der »Probleme der Religionspsychologies erscheinen, 





364 Willy Bardas 


Zur Problematik der Musik. 
Von WILLY BARDAS Berlin). 
| |"; allen Künsten ist die Musik die populärste, diejenige, 


die den meisten Menschen, oder genauer ausgedrückt, mehr 

Menshen Genuß bereitet, als jede andere, Man müßte 
danach annehmen, daß zu ihrem Verständnis keine besondere Teil- 
begabung erforderlich ist. ÄAnderseits aber ist das musikalishe Ohr 
eine Veranlagung, die zwar bei weitem nicht so verbreitet wie die 
Freude an Musik, aber dennoh für die Erfassung ihres ästheti=- 
schen, also. künstlerishen Wertes, Voraussetzung ist, Die Ursache 
der überragenden Popularität gerade der Musik, zu. deren tieferem 
Verständnis also eine nicht allgemein vorhandene, besondere Be- 
fähigung gehört, muß somit auf anderem Gebiete liegen. Die Freude 
an ihr muß in Lustgefühlen wurzeln, die nicht aus verfeinerter 
ästhetisher, sondern nur aus ganz primitiver, und daher allen 
Menschen gemeinsamer, triebhafter Instinktbefriedigung entstehen 
können. 

Wir werden der Beantwortung dieser Frage am nädısten 
kommen, wenn wir von der Tatsahe ausgehen, daß im Brennpunkt 
unseres Handelns das Triebleben steht. Dieses wirkt stets in der 
Rihtung, die unseren Interessen voraussichtlich kontinuierlih nützt. 
»Voraussihtlihs deshalb, weil wir dort, wo unsere Handlungs= 
weise in Konflikt mit der eines anderen oder einer Gruppe anderer 
gerät, letztere in unser Kalkül mit einbeziehen und unser Verhalten 
danah einrihten, und zwar kann dieses Voraussehen bewußt 
intellektuell oder instinktmäßig und unbewußt erfolgen. »Kontinuier- 
lihs aber deshalb, weil unser Intellekt das letzte Ziel — unseren 
endlihen Nutzen — stets im Auge behält, das wellenartige Auf 
und Ab auf dem Wege zum Erfolge mit in Kauf nimmt, um das 
Ziel zu erreihen, und somit Einzelinteressen zugunsten des End- 
zweces zu opfern bereit ist. So wird der Selbsterhaltungstrieb im 
Falle eines Konflikts unter Umständen den Kampf meiden und die 
Flucht als Auskunftsmittel wählen. Oder beide Parteien würden, bei 
gleiher Stärke und voraussichtliher Sieglosigkeit, einzelne Wünsche 
aufgeben und ein Kompromiß der entgegengesetzten Ziele einem 
dauernden, aufreibenden, und daher die Selbsterhaltung als letztes 
Ziel in Frage stellenden Unfrieden vorziehen. Der Macttrieb wird 
sich selbst die Grenzen abstecken, um nicht im Streben nach Steigerung 
die Selbsterhaltung aufs Spiel zu setzen. Oder er wird sogar gelegent= 
ih die Selbstvernihtung riskieren, wenn er seine Interessen als 
identish mit denen anderer erkennt, durh Anschluß an diese eine 
Mehrheit oder Übermadht gewinnt, und so wiederum letzten Endes 


Zur Problematik der Musik | Ada 365 


die Selbsterhaltung winken sieht. Allein niht immer genügt die 
Aufopferung von Teilinteressen, um dem Endziel zu dienen. In 
vielen Fällen ist mit der Selbsterhaltung des einen Teiles die Ver=- 
nihtung oder dauernde Unterdrükung des anderen unbedingt 
verknüpft, und für diesen letzteren gibt es also keinen kontinuier= 
fihen Nutzen, zu dem das Triebleben ihn leiten könnte. Und wenn 
er dennoh im Trieb zur Selbsterhaltung der Vernichtung entgegen- 
geht, so hat ihn hier die Voraussiht getäuscht, denn die Entwick- 
lung des Konflikts wird ja nicht vorher gewußt, sondern nur kalku= 
liert und der Irrtum ist möglich. 

In diesem Fall also empfindet das im Kampf überwundene 
Individuum Sehnsucht nah einem anderen Stand der Dinge. Und 
da ist es die Phantasie, die es ihm ermöglicht, sih in die glücklihe 
Lage des. andern zu versetzen, Der Spieltrieb, die Fähigkeit, 
Phantasie zu betätigen, bringt ihn nun dazu, in der Kunst einen 
Schein zu verwirklihen, einen Schein des erwünschten Zustandes, 
Zwar ist auh hier der Inhalt wiederum das Spiel der Triebe, 
jedoh mit anderem Ablauf als in Wirklihkeit, unter anderen 
Voraussetzungen, gewissermaßen mit anderen Vorzeichen. Diese 
veränderten Vorzeihen sind einerseits die sittlihe Idee, die in der 
Wirklihkeit niht genügend zu ihrem Recht kam, anderseits das 
Bewußtsein der Täuschung. Hier überwindet nicht stets der 
Stärkere den Schwäceren, sondern unter Umständen der körperlich 
Schwade, aber in irgend einem Sinn höher Stehende den körperlich 
Starken, in jenem Sinne aber minder Befähigten. Die Unwahr- 
scheinlichkeit dieser Tatsahe wird ruhig hingenommen, denn es 
handelt sich bewußtermaßen eben nur um ein Spiel, um einen 
Schein, um das Ergebnis einer Fluht in eine Welt mit anderen 
Voraussetzungen, Darum wird auch die Darstellung des Lebens mit 
seiner Unerbittlihkeit und der für den Schwäceren unglücliche 
Ablauf verklärtt durch die im Grunde ruhende Überzeugung von 
der Unwirklihkeit des Spieles. So wird der Schmerz veredelt und 
die Erschütterung tröstlih, denn Mitleiden tritt an die Stelle von 
Leiden, Erträglih aber wird auch eine Wiederholung des im Leben 
erfahrenen Unglüks durh das zu innerst waltende lebensbejahende 
Gefühl: »Dies ist zwar wahr, denn es könnte sich so ereignen, allein es 
war nur Schein und — Gott sei Dank — mic hat es nicht getroffen.« 

Dieses Gefühl der Erlösung, dieses Spiel mit Konsequenzen, 
die im wirklihen Leben vital sein müßten, ist die Wurzel des 
Lustgefühls auh in der Trauer und damit der Keim zur künstleri- 
shen Ausbeute jedes Erlebnisses. 

Insofern nun aber, als die im Lebenskampf Shwäcderen sich 
für dieses Minus einen ÄAusgleih schaffen mußten, um dem »Nein« 
des Lebens ein »Jas wenigstens im Scheinleben, der Kunst, ent=- 
gegenzusetzen, insofern verdanken wir ihnen die Kunst, insofern 
ist diese mit dem Triebleben verknüpft, und insofern ist auch dieses 
letztere ein direkter Anreiz zur Kunst. Ä 


366 j Willy ‚Bardas 


Man könnte nach dem Bisherigen annehmen, daß der Spieltrieb 
allein eine genügende Erklärung für unser Kunsttreiben bildet. 
Allein damit sind wir nur sheinbar an der Wurzel angelangt. Denn 
der Spieltrieb stellt nur die Brüke zwishen unserem wirklichen 
Leben und dem Sceinleben der Kunst dar. Unser wirklihes Leben 
wird in erster Linie beherrsht von jenem Trieb, der auf der 
Gegensätzlihkeit der Geschlehter beruht und der nicht unsere 
Selbsterhaltung unter akzidentellen Umständen wie im Kampf, 
sondern vielmehr unser unmittelbares Fortbestehen im weitesten 
Sinn bezweckt. Und dieses Weiterbestehen, als tiefster Sinn unserer 
Triebe, muß eine umso gesteigertere Sehnsucht gerade derer sein, 
die wir im Vorangehenden als die im Lebenskampf der Wirklichkeit 
Shwäderen bezeihnet haben: — die Künstler. Gerade für diese 
also ist der Geschlecdtstrieb von allergrößter Bedeutung. Denn er 
gewährleistet auh denen, deren Lebenskampf ungünstig steht, den 
Fortbestand, Mußten sie sich mit Hilfe des Spieltriebs ein Scein- 
leben gestalten, in dem die unbefriedigten Triebe ihres Daseins 
noh zu ihrem Recht kommen, so fällt die Frage »Sein oder Nicht= 
Sein« beim Gescdledhtskampf niht mehr als vital, als lebens- 
gefährdend, in die Wagschale, Denn sein Ziel ist nicht mehr nur 
die Selbsterhaltung durch Beseitigung der Gefahr, sondern der 
Fortbestand auf Grundlage der Willensvereinigung beider Teile. 
Hier also haben die lebensbejahenden Instinkte aller, auh der im 
Lebenskampf Schwäceren, in Wirklichkeit Verneinten, ihren wahren 
Tummelplatz, Und insofern wir ihnen, wie bereits ausgeführt, die 
Entstehung der Kunst verdanken, insofern besteht eine innigste 
Verknüpfung der Kunst mit dem Gescledtstrieb, 

Es wurde zu Anfang behauptet, daß die Musik die populärste 
Kunst sei, und im Bisherigen gezeigt, welhes die Wurzeln der 
Kunst überhaupt sind. Aufgabe des Folgenden wird es also sein, 
nachzuweisen, warum gerade der Musik eine so tiefe Verankerung 
im Triebhaften zu einer besonderen Popularität verhelfen muß. 

Die Sonderstellung der Musik unter den Künsten wird durch 
zwei Tatsachen gekennzeichnet: 

Erstens bietet sie zwishen dem Äufßerungstrieb und dem 
akustishen Produkt dem Intellekt keinen Raum. Während alle 
anderen Künste sich mit der intellektuellen Wiedergabe des Ge= 
schehens befassen, um, sei es durh Wort, Bild oder Geebärde, 
Gefühle wacdzurufen, so befaßt sih die Musik mit den Reflexen 
des Geschehens im Individuum, d. h. mit den durh das Ge- 
schehen ausgelösten Gefühlen, und läßt erst, gewissermaßen durch 
Reflexion der Gefühle auf ein sie erweckendes Geschehen, ein 
Gleihnis oder Schattenspiel des letzteren entstehen, 

Zweitens bedarf die Musik zur Betätigung des Äußerungs- 
triebes keines mechanischen Behelfs als der Stimme, also des eigenen 
Körpers. Denn die von Instrumenten ausgeführte Musik ist auch 
bei den primitivsten Völkern bereits eine gesteigerte Entwiclungs- 


Zur Problematik der Musik 367 


stufe im Vergleih zu den Urprodukten jenes Äußerungstriebes, 
der sich instinktmäßig nur der Stimme zu bedienen braucht, um 
wahrnehmbar zu werden, Die akustishe Äußerung ist also zunächst 
einmal nur ein körperlicher Reflex, als dessen Urform man schließlich 
den Angst- oder Freudenshrei anerkennen muß. 

Natürlih wird man diesen körperlihen Reflex in seiner 
Urform nicht als Musik bezeichnen, denn was.ihn von der Kunst 
trennt, ist der Mangel jenes freien Willens, den wir im Spieltrieb 
erkennen. Aber man wird in diesen beiden Extremen — AÄngst 
und Freude — die Pole erbliken, deren Gegensätzlichkeit typisch 
ist auh für die in der Kunstmusik zum Äusdruk gelangende 
Gefühlswelt. Denn nur die Reflexe von Lust und Uhnlust sind 
akustish durh kontrastierende Darstellung deutlih ausdrücbar. 
Die Melodie ist an sih gewissermaßen neutral. Daß sie in uns das 
Gefühl des Wohlbehagens auslöst, beweist noh nichts für den 
Zustand des Erlebens, aus dem sie entstand, oder den sie aus= 
drücken könnte. Denn wir empfinden dieses Wohlbehagen, einerlei 
ob die Melodie einen heiteren oder traurigen Charakter hat, oder 
nach keiner Richtung hin betont ist, Mithin ist ihr »Inhalt« uner= 
heblih für unseren Genuß, und daher das Wohlgefühl, das sie in 
uns auslöst, rein ästhetish, aber in keiner Weise inhaltlih be= 
gründet. Anderenfalls müßten ja alle nah der freudigen Seite 
neigenden musikalishen Ausdrücke beliebter sein als die traurig 
gefärbten. Und wenn auh ein Beweis dagegen ebenso unmöglich 
zu erbringen ist wie ein exakter Beweis für diese Behauptung, so 
spribt doch der elegishe Charakter so vieler, und gerade so vieler 
guter Volksmusik dafür, daß ein Zusammenhang zwischen dem 
Inhalt einer Stimmung und der Freude an ihrem Ausdruk nicht 
besteht und daß der Genuß, den wir beim Hören einer schönen | 
Melodie haben, rein formal, aber nicht mit dem Gefühlsinhalt 
verknüpft ist, Dieser Inhalt ist überdies gar nicht eindeutig be= 
stimmbar, solange die Melodie niht durh Worte ausgedeutet wird 
oder in Gegensatz, respektive Verbindung, mit einem der beiden vorhin 
genannten, deutlich kontrastierenden Gefühlspole tritt. Erst wenn 
dies geshehen ist, kann sih durh die Art der rein musikalisch= 
logishen Beziehung die Möglichkeit ergeben, auch inhaltlih unbe= 
tonteren musikalishen Gedanken einen Gefühlsinhalt anzuempfinden. 

Und hiemit gelangen wir zu dem wesentlihsten Punkte, der 
den musikalishen Genuß von allen anderen Kunstgenüssen unter- 
scheidet. Er betrifft die Fähigkeit, das Gehörte gefühlsmäßig auszu- 
deuten, In der Musik spielt die individuelle Phantasie des 
Hörers eine sozusagen mitschaffende Rolle, Der an und für 
sih intellektuell inhaltslosen Hörbarkeit wird vom Aufnehmenden 
ein Inhalt verliehen, den in den anderen Künsten der Schaffende 
auf dem Wege des Intellekts dem Aufnehmenden vermittelt, Diese 
Phantasie ist eine Funktion des Spieltriebs, Der aber findet auf 
seiten des Äufnehmenden in keiner anderen Kunst ein auh nur 


268 | Barden 


annähernd gleih großes Feld zur Betätigung wie in der Musik. 
Alle anderen Künste erfordern zwar vom Schaffenden ein weit 
höheres Maß von intellektueller Phantasie, wirken aber durch diese 
zum Kunstwerke krystallisierten Gegebenheiten einengend auf die 
Phantasie des Empfangenden. In der Musik aber ist die individuelle 
Phantasie des Hörers in keiner Weise durh den Intellekt auf 
bestimmte Bahnen festgelegt. Vielmehr ist die Aufnahme des Ge= 
hörten ein gedankenfreier, nur gefühlsbetonter Vorgang und das 
Gehörte nur ein zum Gefühl potenziertes Geschehen, eine Allegorie, 
ein Gleichnis des Erlebens, und zwar eines solhen Erlebens, welches 
erst vermöge der eigensten Veranlagung des Hörers, durch dessen 
Gefühlsfähigkeit und ohne jede intellektuelle Beteiligung, eine innere 
Wahrheit empfängt. So wird das Phantasiespiel des Hörers im 
wahrsten Sinne eine schöpferishe Tätigkeit, Dies aber gibt ihm ein 
gesteigertes, unmittelbareres Lebensgefühl, denn er wird produktiv 
auh in der Rezeption des Gehörten und so geradezu selbst zum 
shaffenden Künstler des eigenen Genusses,. | 

Was ist nun aber der Stoff, aus dem die musikalisheindivi= 
duelle Phantasie des Hörers mitshafft? — Da ihr jede Spezifikation 
des sogenannten »Inhaltes« eines Musikstükes fehlt, kann es sich 
hier nur um die allgemeinsten Empfindungen handeln, die bereits 
erörtert wurden, um Angst und Freude, Lust und Unlust, und je 
nah Art der Konflikte unseres Trieblebens mit der Umwelt, aus 
denen sie resultieren, um Siegesfreude, Todeswehmut, Haß oder Liebe, 

Es erübrigt sich, des näheren auf die Gattung »Programm- 
musik« einzugehen, die den Inhalt, im Gegensatz zur reinen Musik, 
von vornherein spezialisiert. Denn es wird keinem Widerspruch be= 
gegnen, wenn behauptet wird, daß die absolute Musik die höher 
stehende ist, und daß gerade die Programmlosigkeit das eigenste 
Wesen der Tonkunst ausmaht. Man kann somit die Programm 
musik aus diesen Betrahtungen ausschalten, da sie eine Misch- 
gattung ist. 

Daß die im ersten Teil dieser Ausführungen besprochenen 
Fundamente der Kunst überhaupt uns beim Genuß nicht mit be= 
griffliher Klarheit vorshweben, beweist nur, daß das Spiel unserer 
mitschaffenden Phantasie in den Tiefen unterbewußten Lebens vor 
sih geht. Der Einwand, es müßten, wenn die genannten Triebe 
tatsählih die wahren Fundamente wären, beim Anhören eines 
Tonstükes auch tatsählih Assoziationen des Lebenskampfes oder 
geschlehterproblematishe Gedanken in uns wacgerufen werden, 
wird shon durch die bereits genannte Tatsahe widerlegt, daß die 
Musik jedes intellektuellen Inhalts entbehrt. Folglih fehlt jedes 
Moment, das eine Assoziation in dieser Rihtung auslösen könnte. 
Fbensowenig denken wir ja beim Änblick eines arditektonischen 
Kunstwerkes an das Problem des Schutzes gegen klimatishe Ver- 
hältnisse, auf dem die Baukunst basiert. Und hier könnte man dodh 
die beiden Begriffe »Baus und »Kunsts wenigstens theoretisch 


Zur Problematik der Musik 369 


nn = BEE EEE 


trennen, um zu behaupten, daß nicht jedes »Gebautes auch »Kunst« 
sei, also ästhetische Werte besitzen müsse, und man könnte darauf- 
hin folgern, daß ein kunst»loser« Bau denkbar wäre, der also das 
Problem »Klimashutz« assoziativ wacdrufen könnte, weil keine 
»Kunst« die Assoziation durh Ästhetik verhindere, während das 
Problem erst bei einem kunst»vollens Bau, vermöge ästhetischer 
Verhüllung, niht mehr ins Bewußtsein gelange. Aber auch diese 
Behauptung fiele vor der Tatsahe, daß wir zwar bewußt und mit 
Absicht etwas tun können, was unserem eigenen besseren Geshmac, 
unserem Schönheitsempfinden, unserer Ästhetik direkt widerspricht 
(was wir aber voraussicdhtlih nur aus bestimmten Gründen, wenn 
überhaupt, tun würden), daß wir aber instinktiv niemals ohne eine uns 
gemäße Scönheitsform, also geshmacklos, kunstlos, ästhetiklos, 
schaffen können. Denn wir können diesen Teil unseres Wesens so 
wenig verleugnen, wie einen anderen. Es ist also auch nicht unserem 
Ermessen anheimgestellt, etwas zu bauen, was noch bestimmte 
Assoziationen wadhruft, oder etwas anderes, wo dies nicht mehr 
der Fall ist. Denn die Wurzeln der Ästhetik liegen zwar in der 
Zwecdienlihkeit des Geschaffenen und sind insoweit absolut. Allein 
sie sind problematish, weil sie wandelbar sind je nah den Voraus- 
setzungen, unter denen das Problem gelöst werden soll. Gleich- 
zeitig aber ist die Ästhetik, weil wir ihrer unbewußt nie entraten 
können, symptomatisch für unser Wesen. Und da dieses ein Resultat 
von Trieb und Hemmung ist, um nicht zu sagen von Natur und 
Kultur, so ergibt sih, daß auch eine Verkettung unseres ästhetischen 
Empfindens mit der Triebhaftigkeit unseres Kunstshaffens bestehen 
muß. Inwieweit wir dessen bewußt zu werden vermögen, wenn wir 
wollen, ja ob es überhaupt möglich ist, den Zusammenhang im 
einzelnen noch zu erkennen, tut der Tatsache keinen Abbrud, 

Und um nun zur Musik zurückzukehren, bei der, wie gezeigt 
worden ist, Assoziationen auf rein musikalisher Basis, also ohne 
Programm, gar nicht entstehen können: In Ermanglung dieser 
Assoziationsmöglichkeit sind wir bei der Musik nicht in der Lage, 
uns der Symptome unseres Trieblebens beim Genuß bewußt zu 
werden. Denn es fehlt uns in ihr, um es nochmals hervorzuheben, 
das greifbare intellektuelle Erlebnis, dessen Transposition ins Ir= 
rationale, dessen Schein uns diese Kunst bieten könnte, Wir be= 
sitzen in ihr nur die sich neben einem fiktiven Erlebnis fort- 
spinnende Gefühlsprojektion von etwas Unbegreifbarem, Unspezift= 
ziertem, Ällgemeinem, auf unsere Empfindungsfähigkeit. 

Weil .es sih aber in der Kunst um jene Urprobleme handelt, 
von denen im ersten Teil dieser Ausführungen die Rede war, deshalb 
muß, wo ein Mitklingen unseres Gefühls überhaupt erfolgt (und 
ein solhes ist die gedankenfreie Versunkenheit des musikhörenden 
Menschen), dieses Mitklingen des Gefühls sich gleichfalls auf jene 
allerursprünglihsten Probleme beziehen, Freilih kommt uns ihre 
primitivste Gestalt nicht mehr zu Bewußtsein, denn mit der kulturellen 


Imago V/5-6 24 


370 Willy Bardas 


Steigerung der Kunst verhüllt sich ihr problematisher Kern immer 
mehr, und in den uns gegenwärtigen Verästlungen des Baumes der 
Entwicklung lebt kaum eine Ahnung dessen, was einst die Kraft 
zum Wachstum der Wurzel gab. In unser Bewußtsein also ragt 
beim Kunstgenuß weder der Selbsterhaltungstrieb, no, als besondere 
Form desselben, der Geschledtstrieb hinein. Aber die Gefühle, von 
denen jene begleitet waren, sind dieselben geblieben, Und wie der 
Schatten unzertrennlih am Körperlihen haftet, so ist auch das 
Gefühlsleben fest verkettet mit den ursprünglihen Erregern und 
daher in diesem Falle mit den Kernproblemen der Kunst. Mit der 
innersten Faser unseres Wesens sind wir noch heute Triebmenscen, 
denn die treibenden Kräfte, Haß und Liebe, Kampf und Gesdledt, 
sind die gleihen geblieben. Und wo wir aller Bindungen an das 
gegenwärtige Sein beraubt werden, wo uns irgend etwas die Be= 
wußtheit unserer Zeitlihkeit benimmt, da versinken wir in die Un- 
tiefen der Gewesenheit, wo unser eigenes Denken nur mehr als 
dämmerhafte Ahnung schlummert und wo die unbekannte Herkunft 
uns mit allem Lebenden zur Einheit verschmilzt. 

Dieses Versinken in die Tiefen des Unbewußten und diese 
Lösung aller Bindungen unserer Gegenwärtigkeit vollbringt aber 
die Musik direkter als jede andere Kunst, weil sie von Anfang an 
durh Ausschaltung des Intellekts alle Brücken zu unserer eigenen 
Umwelt abbriht. Und dies im besonderen, ganz abgesehen von der 
Verknüpfung jeder Kunst mit den Hauptproblemen des Lebens, ist 
der Grund, weshalb sie in jedem einzelnen Menschen Widerhall 
findet, unabhängig davon, ob er spezifisch musikalish ist oder nicht, 
und welche bewußte Beziehung zur Musik ihm seine individuelle 
Veranlagung sonst noch gewährt. 

Man darf nach all dem Gesagten annehmen, daß der Musik, 
als der intellektfreien Kunst des Gefühls, der Geschlectstrieb am 
nächsten verwandt ist. Denn er ist die Form unseres Trieblebens, 
in welcher dasselbe gleihfalls als reines Gefühlsleben zum Aus» 
druk kommt. 

Bedarf es eines weiteren Fingerzeiges für diesen Zusammen- 
hang, so sei hier noh kurz auf den Tanz verwiesen. Denn .der 
Tanz, die Kunstform der Erotik, kennt unter allen Künsten als 
Begleitung nur die Musik. Und darin liegt eine tiefe Beziehung: 
Musik begleitet, aber sie verdeutlicht nicht. Nun liegt es unserem 
sittlihen Empfinden sehr am Herzen, über Geschlectlihes Diskretion 
zu bewahren, Jeden Verstoß gegen diese instinktive Forderung 
empfinden wir in den verschiedenen Abstufungen als Frivolität, 
Zynismus, Unsittlichkeit. In demselben Maße nun, in dem der Tanz 
hier indiskret wird, weil er Verschwiegenes und für jeden Persön= 
lihes zum Ausdruck bringt, in demselben Maße wirkt die Musik, 
obgleih sie sih dieser ihr durh das Gefühl verwandten Kunst 
beigesellt, im Sinne unserer instinktiven Diskretion. Denn sie ver- 
hüllt mit begrifflosem Gefühlsausdruck jenes Plus an Deutlichkeit, 


Zur Problematik der Musik 371 


das den Tanz kennzeichnet. Sie wahrt das Geheimnis, das jener 
preiszugeben neigt, sie verallgemeinert, was jener zu spezialisieren 
strebt, und sie gibt in schweigendem Einverständnis zu, was jener 
deutlich bejaht. In willigem und fähigem Anschmiegen an jede Regung 
des Tanzes bleibt die Musik dennoch stets vielsagend stumm: Da 
sie nicht die Sprahe der Dinge redet, wird sie nie indiskret, weil 
sie aber Naturlaut ist, bleibt sie allen vernehmlid, 





24 


372 Dr. Otto Rank 


Das Volksepos. 


Psydologishe Beiträge zu seiner Entstehungsgeschicte 
von Dr, OTTO RANK, 
| 11%: 
Die dichterische Phantasiebildung. 


»Alle unsere Wünsche und heißen Triebe, die in 
Wahrheit uns in die Zukunft hinübertragen, sudhen 
wir aus den Bildern der Vergangenheit zu sinnlicher 
Erkennbarkeit zu gestalten, um so für sie die Form 
zu gewinnen, die ihnen die moderne Gegenwart nidt 


verschaffen kann.« Richard Wagner. 


as Wesen des poetischen Schaffens ist — trotz einzelner ver- 
heißender Einblike — psydologish noch so ungeklärt, daß 
es sheinen könnte, wir vertauschten eine historisch unlösbare 
Schwierigkeit mit einem individualpsydhologish ungelösten Problem, 
wenn wir versuchen, zum Verständnis des V olksepos von der dichte= 
rischen Phantasiebildung her vorzudringen, | 
Bisher mußte nicht nur die Ästhetik mit ihrer begrenzten Proble= 
matik und Methodik in der Erkenntnis der poetishen Shöpfung und 
Wirkung letzten Endes versagen, sondern aud die schließlih als Hilfs» 
wissenschaft beigezogene Psychologie hat, soweit sie sich in der Be- 
schreibung von Bewußtseinsinhalten erschöpft, nicht minder enttäuscht. 
Die Psychoanalyse hat zwar, von der Pathologie her, den wenig 
durchschauten wesentlichen Anteil der unbewußten Phantasiebildung 
grell beleuchtet, vermochte es jedoh in dem an manderlei Unfaß- 
barkeiten grenzenden Bereich der Kunst nur zu vereinzelten Ein- 
sihten in den komplizierten Vorgang der dichterishen Produktion zu 
bringen, die noch zu keiner abschließenden Darstellung gediehen sind?, 
Immerhin hat die Analyse des menschlihen Phantasielebens 
schon jetzt einige fundamentale Tatsachen sichergestellt, deren Kenntnis 
uns endgültig vor Mißverständnissen und Fehlgriffen ähnliher Art 
zu bewahren vermag, wie wir sie in dem jahrhundertelangen Streit 
um das Volksepos ebenso hartnäckig bekämpft wie festgehalten sehen. 
Haben einsihtige Forscher längst davor gewarnt, die poetische Leistung 
nach den Regeln einer spitzfindigen Logik zu beurteilen, der selbst 
wenige philosophishe Systeme standhielten, so verstärkt die Psydho- 
analyse dieses Ärgument durh den Nachweis der Abstammung der 
Phantasien aus dem Unbewußten, das nah seinen eigenen, dem 


ı Siehe »Imagos V/3 (bes. Anmerkung $. 137). 

2 Vgl. nebst den vereinzelten grundlegenden Hinweisen von Freud des Ver- 
fassers Arbeiten: »Der Künstlers, 2. und 3. erweiterte Auflage, Wien und Leipzig 
1918, und »Das Inzest-Motiv in Dichtung und Sages, Wien und Leipzig 1912. 


Das Volksepos II 373 


Bewußtsein fremden Gesetzen arbeitet. Lange Zeiten hindurch wollte 
man sogar einer »naiven« Poesie die unveräußerlihen Vorredte 
unserer hochentwicelten Kunstübung absprehen, und hat sich erst 
spät besonnen, daß kein echter Künstler der skrupellosen Ausnützung 
des momentanen künstlerishen Effekts auf Kosten der Logik, Wahr- 
scheinfihkeit und Psychologie je aus dem Wege gegangen wäre. Um 
wie viel mehr gilt dies für die aus dem ungehemmten Äffekt quellende 
begeisterte Schöpfung des Sängers, der seine Hörer in einen ähnlich 
erregten Zustand versetzt weiß! Dabei sehen wir zunächst ganz ab 
vom Inhalt der dichterischen Phantasie, der durch Anlage und Erleb=- 
nisse bestimmt, von »Dihtung und Wahrheits gestaltet, sih der 
Analyse leicht zugänglih erweist und durh Zurükführung auf das 
verwendete Rohmaterial ein erstes Verständnis mancher Bigenheiten 
künstlerishen Schaffens und Genießens eröffnet. Eine weitere, in: 
diesem Zusammenhang gleihfalls auszushaltende Quelle unseres 
Verständnisses fließt aus dem lehrreihen Studium der eigentlichen 
poetishen Technik, die der Umwandlung des seelischen Rohstoffes in 
das formgerehte und für das Publikum genußreihe Kunstwerk dient. 

Die hockomplizierten Probleme der dichterishen Phantasie- 
bildung sind nur zu verstehen, wenn es uns gelungen ist, das Wesen 
der allgemein-menschlichen Phantasietätigkeit überhaupt in seiner 
seelischen Bedeutung zu erfassen, Nun sind gerade die allgemeinsten 
und durchgängigsten Ärten, in denen sih das menschliche Phantasie- 
leben entfaltet, von der Psychoanalyse am eingehendsten studiert und 
am vollständigsten aufgeklärt worden: zunächst der Tagtraum und 
der nächtliche Traum, Besonders der erste ist so charakteristisch, 
daß man ihn geradezu als Prototyp des Phantasierens aufgefaßt und 
durch den Namen »Phantasie« shlehtweg gekennzeichnet hat. Das 
Tagträumen ist eine so allgemeine Erscheinung, daß wir für die 
weitere Untersuhung an sein Verständnis anknüpfen wollen, das 
uns durch die analytishen Forshungen Freuds vermittelt worden 
ist. An Stelle eines Beispieles, das jeder leiht aus eigener Erfahrung 
beisteuern kann, stehe hier die simple Formel dieser naiven Phantasie- 
bildung, die unter dem Einfluß von Entbehrungen, Befürchtungen 
und daran knüpfenden Wünschen der Gegenwart das Bild einer 
Zukunft gestaltet, welhe diese Wünsche erfüllt. Dieser einfache 
psychologische Tatbestand hat sich jedoch bei näherer Analyse gegen- 
über dem wirklihen Vorgang der Phantasiebildung als nicht. völlig 
zureihend erwiesen. Bei Erforshung der unbewußten Phantasien, 
und insbesondere derer, welhe die Grundlage der nächtlihen 
Träume abgeben, fand nämlih Freud, daß die Vergangenheit 
einen mitbestimmenden Einfluß auf die Gestaltung der Zukunfts=- 
phantasie hat. Der Mensch greift in die frühen Zeiten seiner Ver- 
gangenheit zurük, in denen jene Wünsche noch erfüllt waren und 
trägt Züge von ihnen in die Zukunftsphantasie ein. Er wünscht 
dann eigentlih, es möge in der Zukunft wieder so sein, wie es 
einst in der Vergangenheit war. 


3A. . Dr. Otto Rank 


So schwebt die Phantasie nah der Formulierung Freuds 
»gleihsam zwishen drei Zeiten, den drei Zeitmomenten unseres 
Vorstellens. Die seelishe Arbeit knüpft an einen aktuellen Eindruck, 
einen Anlaß in der Gegenwart an, der imstande war, einen der großen 
Wünsce der Person zu wecken, greift von da aus auf die Erinnerung 
eines früheren, meist infantilen Erlebnisses zurück, in dem jener Wunsch 
erfüllt war, und schafft nun eine auf die Zukunft bezogene Situation, 
welde sih als die Erfüllung jenes Wunshes darstellt, eben den 
Tagtraum oder die Phantasie, die nun die Spuren ihrer Herkunft vom 
Anlaß und von der Erinnerung an sich trägt. Also Vergangenes, 
Gegenwärtiges, Zukünftiges wie an der Schnur des durclaufenden 
Wunsces aneinandergereiht,« 

Um das Verständnis der Modifikationen und Komplikationen 
zu erleichtern, welche dieser relativ simpelste Fall des Phantasierens 
im Verlaufe unserer Untersuchung erfahren wird, sei es gestattet, 
ihn mittels einer kleinen shematishen Skizze anshaulih zu maden: 


Tagtraum: 
Vo Gy. ZA 
km 0 
u As nee u Rn 


Pfeile bezeichnen die Riditans; die dr Wunsch (Bedürfnis, Sehnsucht) nimmt, 


Die Dreizeitigkeit, die in ihrer reinsten Form — geradezu 
paradigmatish — den Tagtraum beherrscht, läßt sih auh im nächt- 
lichen Traum deutlich erkennen und verfolgen, nur wird zum Uhnter=- 
schied vom Tagtraum die zukunftgestaltende Wunscerfüllung — infolge 
der Eigentümlichkeiten der Traumbildung — regelmäßig als gegen- 
wärtig dargestellt und empfunden, was beim Tagtraum zwar audh 
häufig, aber keineswegs Bedingung ist; denn oft genug wird auch 
im wachen Tagtraum die erwünshte Zukunft so intensiv gestaltet, 
daß sie als gegenwärtig und so unmittelbar anstatt der unbefriedi= 
genden Realität empfunden wird: die Zukunft erscheint dem Tag- 
träumer an die Stelle der Gegenwart gesetzt, fällt gewissermaßen 
mit ihr zusammen, Das ist nun die Regel im nädtlihen Traum, in 
dem die Gegenwart durch die Tagesreste, als die eigentlihen Traum- 
erreger, vertreten ist, während im Tagtraum die durh das Wadh- 
bewußtsein stets festgehaltene Gegenwart mit der Zukunft in eins 
verschmilzt. Die Tagesphantasie liefert also ein Ergebnis, das in die 
Zukunft deutet, der Nadttraum ein Ergebnis, das als Gegen- 
wart genommen wird, wenngleih es eine durh die Vergangenheit 
bestimmte Zukunft ist und auh von der populären Deutung regel- 


Das Volksepos Il 375 


mäßig auf die Zukunft bezogen wird, Beiden gemeinsam aber ist die 
Tendenz nah vorwärts, die auch die dichterische Phantasiebildung 
zu beherrshen scheint. Den reinen Typus des Tagträumens hat 
Freud beim Studium des der neurotishen Symptombildung voran= 
gehenden Phantasierens als bedeutsam für die literarishen Pro= 
duktionen des Romandichters erkannt (»Der Dichter und das 
Phantasieren«), wobei es dann gleihgültig ist, ob er den Stoff in 
Gegenwart, Vergangenheit oder Zukunft verlegt. Der Dramatiker 
wieder lehnt sih mehr an die traummäßige Gegenwartsdarstellung 
und -wirkung, ja er reproduziert in der visuellen und kinematishen 
Technik direkt den Charakter des nächtlichen Träumens. 

Für das Epos wird jedoch ein weiterer, gleihfalls von Freud 
durhschauter Typus des Phantasierens bedeutsam, jener, der zur 
Bildung der Kindheitserinnerungen des Individuums führt. Nach 
langjährigem vertieften Studium des von den Erwachsenen aus ihrer 
oft überraschend frühen Kinderzeit Erinnerten stellte sich das uner= 
wartete Ergebnis ein, daß die Menschen keineswegs das von ihrem 
Kindererleben erinnern, was sie selbst glauben und zu wissen 
vorgeben. Die Psychoanalyse konnte vielmehr zeigen, daß die 
meisten und wichtigsten Kindheitserinnerungen vom Halbwücdsigen 
in den Jahren der Vorpubertät »gemaht« und dabei einem kompli=- 
zierten Ülmarbeitungsprozeß unterzogen werden, welher nah Freud 
»der Sagenbildung eines Volkes über seine Urgeschichte 
durchaus analog ist«. Unter dem Einfluß von Wünschen und 
Absichten, welhe diese Zeit beherrshen, wird aus dem ganzen 
Gebiete der Kindheitseindrüke dasjenige herausgegriffen, was diesen 
Absichten entspriht, nur dies wird als bewußte Erinnerung vom 
Gedädtnis festgehalten, das andere verfällt der sogenannten infan= 
tilen Amnesie, Dabei kann das Material, ‘das so ausgewählt 
wurde, in zweckdienliher, aber ziemlich freier Weise umgearbeitet 
und neu angeordnet werden, Als Ergebnis kann sich schließlich 
herausstellen, daß viele der angeblichen Kindheitserinnerungen histo= 
rish unwahr sind, wenngleih sie aus edhtem Erinnerungsstoff 
bestehen. 

Im Bemühen, die fest zusammengearbeiteten Fäden dieser 
Phantasiegespinste voneinander zu lösen, hat Freud die entscei=- 
denden Kriterien zur Sonderung der verschiedenen Schichten des. 
Materials erkannt, Vor allem dürfen wir uns nah ihm die Produkte 
dieser phantasierenden Tätigkeit »nicht als starr und unveränderlich 
vorstellen, Sie schmiegen sih vielmehr den wecselnden Lebens=- 
eindrücken an, verändern sich mit jeder Shwankung der Lebens= 
lage, empfangen von jedem wirksamen neuen Eindruck eine soge= 
nannte Zeitmarke«, weldhe die jeweilige Gegenwart repräsentiert. 
Der Satz von der Bildung der »Kindheitserinnerungen« in der Zeit 
der Vorpubertät ist ferner nicht so zu verstehen, als hätte das Indi- 
viduum die Freiheit, sih nun eine beliebig genehme Vergangenheit 
zu phantasieren. Es ist dabei vielmehr streng an seine eigenen 


376 Dr. Otto Rank 


Erinnerungsspuren gebunden, von deren unverträglihem Charakter 
die Phantasiebildung ja geradezu den Anstoß erhält, und die sie 
nur zu mildern, zu verhüllen, zu überarbeiten vermag. Auf der 
andern Seite bestimmt die Gegenwart mit ihren erreihten Zielen 
und dem Grad ihrer Ansprüche die Phantasiebildung ebenso unaus= 
weidhlih, so daß die vom infantilen Stoff ausgeübte Anziehung und 
die von dem Aktuellen geforderte Anpassung in gleihem Maße 
zusammenwirken., 

Anfläßlih der Analyse dieses Umarbeitungsprozesses, dem die 
Erinnerungsbroken bei Überführung in das zusammenhängende 
Erinnerungsbild unterliegen, lernte man auch die Motive. kennen, 
die das Tndividaum unbewußterweise zur phantastishen Aus- 
shmücung seiner Vergangenheit nötigen. Sie lassen sich leicht ver= 
stehen, wenn man erfahren hat, wie sehr sih der heranwachsende‘ 
Mensch seiner kindlihen Einstellungen und Betätigungen zu schämen 
pflegt, wie die Erinnerung daran sein nah Festigung ringendes 
Selbstgefühl stört und wie er, »ein richtiger Geschicdhtsscreiber, 
die Vergangenheit im Lichte der Gegenwart erbliken will«. So 
tragen die in einer späteren Periode gestalteten »Dichtungens über 
die Urzeit alle Zeichen einer entstellenden und beshönigenden Zuredht= 
rükung der Tatsahen an sich, die bis zur völligen Umwertung der 
anstößigen historischen Wahrheit in ihren Wunscgegensatz gehen 
kann, Diesen Entstellungsprozeß, dem eine peinlih gewordene Ver- 
gangenheit beim Rückblick aus der Gegenwart notwendig unterworfen 
wird, zu durchschauen und rückgängig zu machen, ist die wichtigste 
Voraussetzung zum Verständnis der individuellen Erinnerungsbildung. 

Diese geht also nicht wie der Tagtraum von einer Unzufrieden- 
heit mit der Gegenwart, sondern von einer solchen mit der Vergangen= 
heit aus, ebenso zielt- sie — gleichfalls zum Unterschied vom Tagtraum 
— ihrer Natur nah in die Vergangenheit, ist also rückwärts- 
gewendet, und ershöpft ihre wunscbildende Tendenz in der 
Idealisierung der Vergangenheit wie die Tagträume in der 
Schöpfung einer besseren Zukunft. In dem Effekt, etwas anderes 
an Stelle des Wirklihen zu versetzen, treffen aber beide Typen 
menschlicher Phantasiebildung zusammen, deren Material auch beide 
Male von der Unauslöshlihkeit der Kindheitseindrücke bestimmt 
wird. Nur verwertet der Tagtraum das wunschgemäße Kindheits- 
material unmittelbar als zukunftsbildenden Faktor, während die 
Erinnerungsbildung die mit dem erwachhsenden Ih unverträglichen 
Infantilerfahrungen abweist, um sie durch ichgerechtere zu ersetzen. 
Im wesentlihen ist also die Erinnerungsbildung ein rückwärts 
gewandtes Phantasieren, dessen Ergebnis in die Vergangenheit ver- 
setzt wird und selbst eine andere reale Vergangenheit ersetzt, 
während der Tagträumer seine reale Gegenwart durch eine andere 
Brüsiogisne Gegenwart ersetzt. Das oben gegebene Schema des 

agtraumes erfährt also bei der Erinnerungsbildung eine bedeut=- 
same Modifikation: 


Das Volksepos II 377 


Erinnerungsbildung: 


Die Zukunftswünsche des Menschen werden dabei in die Ver- 
gangenheit geworfen, während der Tagträumer sie in die Gegenwart 
stellt. Im Tagtraum macht der Mensch seine Vergangenheit zur Zu= 
kunft, bei der Erinnerungsbildung macht er seine Zukunft zur Vers 
gangenheit. Beim Tagträumen ist das Motiv die Unzufriedenheit mit 
der Gegenwart — bei befriedigender Vergangenheit —, bei der Er- 
innerungsbildung die Unzüktiedenkeit mit der Vergangenheit — bei 
befriedigender Gegenwart. Eine volle Entsprehung ist natürlich nicht 
zu erwarten, da die Vergangenheit immer ihre Bedeutung behält, 
während die unbestimmte Zukunft nie eine eigene hat und sich beim 
Tagtraum an die Vergangenheit, bei der Erinnerungsbildung an die 
Gegenwart anlehnt. 

Wollen wir uns der Deutlihkeit wegen entschließen, die Zeit, 
in welcher die gebildete Phantasie spielt, als Darstellungszeit zu 
bezeichnen, so ergibt sih für das Schema der Erinnerungsbildung 
nachstehende ergänzende Korrektur: 





Wie ersichtlich ist, fällt also bei der individuellen Erinnerungs- 
bildung die Darstellungszeit nahezu mit der Vergangenheit zusammen 
wie die Gegenwart mit der hier wenig betonten Zukunft, die an- 
scheinend überhaupt fehlt. Dabei bildet das Individuum aus der 
Darstellungszeit eine neue Wunschvergangenheit, die zwar nicht 
immer zeitlih, wohl aber psydhologish zwishen der eigentlihen 
Vergangenheit und der Gegenwart steht, während die Zukunft mit 
der" Gegenwart in eins verschmilzt. Im Grunde genommen ent=- 
sprehen jedoh diese Phantasiebildungen über die Kindheit eigentlich 
den Zukunftswünschen des Individuums, die aber mittels einer eigen- 
artigen Rochade in die neue Vergangenheit geworfen werden. 
Es ergeben sic also hier manifest zwei Vergangenheiten — die reale 
und die psydhologishe — wie im Nadttraum die zwei entsprehen= 
den Gegenwarten, und beide Male steckt in der jeweils doublierten 
Zeit die wunschgemäß phantasierte Zukunft. 


378 Dr, Otto Rank 


Nachdem wir so die psydhologishen Gesetze und Mechanismen 
der Haupttypen menschlichen Phantasierens festgestellt und schematisch 
erläutert haben, dürfen wir erwarten, auf prinzipiell ähnlihe Vor- 
gänge bei der dichterishen Phantasiegestaltung und insbesondere bei 
der mit der Erinnerungsbildung nahverwandten Epenshöpfung zu 
stoßen. Allerdings müssen wir darauf vorbereitet sein, noch andere 
Schemata des Phantasierens in der Dichtung aufzufinden, die sich 
aber mit mehr oder weniger bedeutenderen Modifikationen wahr- 
sceinlih alle auf den Tagtraum und das ihm zugrundeliegende ein= 
fache Dreizeitenshema zurückführbar erweisen dürften. 

Ehe wir die entwickelten Gesichtspunkte an dem durcdhsich- 
tigen Beispiel eines Volksepos zum Verständnis seines historischen 
Werdens und dessen seelishen Motiven erproben, soll an einigen 
charakteristishen und darum besonders lehrreihen individuellen 
Dichtungen aufgezeigt werden, wie sih die Wirkung des der dichte- 
rishen Phantasie immanenten Gesetzes von den drei Zeiten auf den 
Stoff und seine poetische Gestaltung äußert. 

Die folgenden drei Beispiele sind so gewählt und angeordnet, 
daß der mit seiner dunklen mythischen Quelle der epishen Uerzeit 
am näcsten kommende Stoff von Shakespeares »Macbeth« 
zuletzt besprohen wird, das auf historisher Grundlage in deutlich 
tendenziöser Weise gestaltete Drama Kleists »Die Hermann- 
schlacht« an zweiter Stelle steht, während die voll bewußt ardhai- 
sierenden und anacdronisierenden Dihtungen von Macaulay voran- 
gestellt werden sollen, um so vom durdsidtigsten Fall der bewußt- 
überlegten Handhabung des Dreizeitenshemas zu dem völlig im Unbe- 
kannten verlaufenden Vorgang der Epenbildung eine übersehbare 
Kette zu bilden. vn | | 


1, Macaulays »Lays of ancient Rome«. 


Macaulays altrömishe Heldenlieder sind für unsere Unter- 
suchung deshalb so lehrreich, weil sich in ihnen eine vollbewußte artefı= 
zielle Nachbildung desjenigen Kunstmittels verrät, das Freud als imma= 
nentes Gesetz der unbewußten dichterischen Phantasiebildung zuscreibt. 

In einer den Gedichten vorausgeshikten Einleitung gibt der 
große englische Historiker, der hier als Poet auftritt, Nachricht über 
Entstehung und Absicht dieser sonderbaren Dichtungen. Gestützt 
auf die Auffassung des Perizonius, insbesondere aber Niebuhrs, 
von der fabelhaften römishen Geschichte als Abkömmling früh ver- 
forener episher Dichtung, hat Macaulay es unternommen, dieser 
scharfsinnigen Hypothese dadurh Anscdhaulichkeit zu verleihen, daß 
er den Weg dieser Entwicklung alter Balladen in Geschichte in um- 
gekehrter Richtung ging, »d. h, einige Teile der älteren römischen 
Geschichte wieder in die Dihtung umzuwandeln, aus der sie ent= 
standen«!, Die geistreihe und taktvolle Art, mit der ihm dies in 


i Alle Zitate nach der Übersetzung in Reclams Universalbibliothek. 


Das Volksepos II 379 


Anlehnung an bewährte epische Vorbilder gelungen ist, spriht eben= 
sosehr für seinen weit- und tiefreihenden historishen Blik, wie für 
seine poetische Begabung. Uns soll jedoch hier nur der eigenartige zeit- 
liche Standpunkt beschäftigen, den der Wiederhersteller alter römi= 
sher Balladendihtung als moderner Engländer des neunzehnten 
Jahrhunderts einzunehmen hatte. Macaulay sagt darüber in der 
Einleitung: »In den folgenden Dichtungen spricht der Ver- 
fasser nicht von seinem Standpunkte aus, sondern von 
dem der alten Sänger, die nur das kennen, was ein römi- 
scher Bürger, drei- oder vierhundert Jahre vor dem christ- 
lichen Zeitalter geboren, mutmaßlich gekannt hat, und die 
keineswegs über den Leidenschaften und Vorurteilen ihrer Zeit und 
ihres Volkes stehen. Diesen fingierten Dichtern muß man 
einige Irrtümer zuschreiben ,.. In Wahrheit wäre es ein Irrtum 
gewesen, diese alten Dichter als tiefbewandert in der alten Geschichte 
und chronologisher Genauigkeit beflissen erscheinen zu lassen.« 
Unter dieser Voraussetzung besingt der Dichter die Überlieferung 
von Horatius Cocles, der durch seine heldenhafte Verteidigung der 
Tiberbrüke Rom vor der Einnahme durh Lars Porsena und seine 
Verbündeten rettete, ferner die Schlaht am See Regillus, in der die 
mythishen Heroen Kastor und Pollux auf Seiten der Römer den 
Sieg erfohten haben sollen, dann die Ermordung der durh die 
Gelüste des tyrannishen Appius Claudius gefährdeten Virginia von 
der Hand ihres Vaters und endlih die Weissagung des Capys, 
welche dem Romulus die Gründung der ewigen Stadt aufträgt. Der 
Dichter, den neben seinem historishen Interesse noch politishe und 
persönlihe Motive seiner englishen Aktualzeit zu der Gleichstellung 
seines demokratischen London mit dem Bürgertum Roms veranlaßten, 
stellt sih auf den Standpunkt eines römishen Balladendicters, 
der 300 bis 400 Jahre v. Chr, Vorgänge der römischen Uerzeit 
besingt. Der gegenwärtige Dichter läßt einen vergangenen Stoff durch 
einen (fiktiven) alten Dichter darstellen, wobei die Darstellungszeit 
mit der alten Gegenwart zusammenfällt. Es handelt sich also hier 
um eine bewußterweise rückgreifende Art des Phantasierens, bei der sich 
der merkwürdige Fall von zwei Gegenwarten herstellt, während die 
Darstellungszeit als eine Art »Mitvergangenheits erscheint. 


Macaulay: 


u. Ca 
u u 
— u 






Zlrzert 


nt Venen 


u 
— 
.—— 


Diese Komplikation des Schemas, in dem der Hauptakzent 
auf den Anlässen zur Dichtung liegt, wird dadurch wettgemadt, 
daß auf dem Wege der artifiziellen Epenshöpfung der alte Dichter 


380 | | Dr. Otto Rank 


eine überdeutlihe Unterstreihung seiner Zukunftstendenz verrät, die 
für den modernen audh schon der Vergangenheit angehört. Die Zu= 
kunft wird hier so glorreih gestaltet wie die Vergangenheit es war 
und die Tatsahe einer ruhmreihen Vergangenheit — im Gegensatz 
zu der zu verdrängenden bei der Erinnerungsbildung — ermöglicht 
ohne die Nötigung zur Korrektur eine bloße Verschiebung des Ver- 
gangenheitsmaterials aus der »Urzeits in die »Darstellungszeit«. 

Außerdem zeichnet sih dieser Fall noh durch die feine Moti=- 
vierung der fingierten Änlässe zu den Dichtungen aus, welche den trei= 
benden Faktor und die drei Zeiten innerhalb der römischen Periode 
selbst andeutet. So soll beispielsweise das Heldenlied von Horatius 
um das Jahr 360 nah Gründung der Stadt gedichtet sein, also 
yetwa 120 Jahre nah dem Kriege, den es feiert, und unmittel= 
bar vor der Eroberung Roms durh die Gallier«. Mit diesem Hin- 
weis gibt Macaulay zu verstehen, daß der Anlaß zur Dichtung 
Beziehungen zu ihrem Stoff aufweisen muß, und daß sich der Sänger 
darum so leiht aus der Gegenwart direkt in die UÜrzeit versetzen 
kann, weil die Situation der bedrohten Vaterstadt die gleihe ist 
und er die stärksten Motive hat, seine Volksgenossen durh Ver- 
herrliihung der edlen Rettungstat zu gleih kühner Gegenwehr an- 
zuspornen!, 


! Ein ganz ähnliches Beispiel von bewußter Archäisierung, das überdies 
mit Homer in Verbindung gebracht wurde, findet sih schon im Altertume selbst, 
in den Gedichten des Tyrtäos, die Beziehungen zur altjonishen Elegie aufweisen, 
welche ihrerseits wieder Spuren in der Ilias hinterlassen haben soll. Nah Mülder 
(Homer und die altjonishe Elegie, Progr. Hildesheim 1906) tritt der militärish und 
politisch lehrhafte Charakter der Elegie an mehreren Stellen der Ilias hervor. Ja, 
Mülder will sogar eine Beziehung zwischen den Worten herstellen, mit denen Priamos 
den Sohn vom Kampf zurückzuhalten sucht und denen, durh die Tyrtäos (X, 21 ff.) 
das Heer zum Kampfe anspornt (X, 71ff.). Mülder weist darauf hin, daß der 
ganze Plan der Ilias einer Periode angehöre, deren Kampfesweise von der des 
ritterlihen Zeitalters, das einst den Heldengesang erzeugt hatte, wesentlih ver- 
shieden war, dagegen mit derjenigen übereinstimme, die in der jonishen Elegie 
vorausgesetzt wird. Die Dichtungen, namentlih Kampflieder des Tyrtäos haben 
die Kämpfe um Sparta zum Gegenstand und zeigen nah Cauer (Grundfragen 
der Homerkritik, 2. Aufl., S. 530) einen Mangel an bestimmtem historishen Hinter= 
grund; sie erweisen sich als Fiktionen, bei deren Schöpfung ein alter Bestand joni= 
scher Poesie verwertet scheint. Wie Eduard Schwartz (Hermes 34, 1899, S. 428 ff.) 
gezeigt hat, sind sie in Athen zur Zeit des peleponnesishen Krieges entstanden 
und nur einem Spartaner in den Mund gelegt. Die spätere Spannung zwischen 
Athen und Sparta erscheint hier auf die frühere Zeit des sogenannten zweiten 
messenishen Krieges (Ende des siebenten vordristlihen Jahrhunderts) übertragen, 
Wilamowitz (Textgeshichte der grieh. Lyriker, Abh, d. Gött. Ges. d. Wiss. 
phil. Kl., N. F. IV, Nr. 3, 1900, S. 97 ff.) hat nun erkannt; daß der in den Nadı-= 
dihtungen des Tyrtäos verwendete alte Kram zur politishen und militärischen 
Lage Spartas um 650 paßt und dieses Zusammentreffen war wohl der Anlaß für 
den Dichter, die alten Gesänge wieder aufzufrishen (zu aktualisieren). Den per= 
sönlihen Anlaß für den Dichter vermutet Wilamowitz darin, daß Tyrtäos, der 
Dorer, der spartanishe Krieger zum Kampfe gegen die abgefallenen Messenier 
führte, sih für die Lieder, mit denen er sie zum Kampfe ermunterte, der Formen 
jonischer Dichtung bediente, Daß sich an Tyrtäos, ähnlich wie an Homer, die Legende 
vom lahmen Schulmeister heftete, sei nur der Merkwürdigkeit wegen erwähnt. 


Das Volksepos II 381 


In ähnlicher, wenn auch nicht überall so scharf pointierter Weise 
tritt der Gegenwartsanlaß zur poetishen Schöpfung in der fiktiven 
Dichtung Macaulays hervor, der aber niht — wie wir das vom 
modernen Dichter gewohnt sind — rein persönliher Natur, sondern 
allgemeiner und der Gesamtheit nähergehend gedadt ist. Dadurd 
aber, daß sich der eigentlihe Dichter völlig hinter dem fingierten 
verliert, ist uns das Interesse zur Äufspürung des persönlihen An= 
lasses für den wirklihen Sänger und der Tendenz, der seine geschicht- 
lihe Verkleidung dienen soll, entzogen. Dieser Seite des Themas wollen 
wir daher im nächsten Beispiele besondere Aufmerksamkeit shenken, 


2. Kleists »Hermannschlachte. 


In dieser von einem echten Künstler gestalteten reinen Tendenz- 
dihtung liegt der aktuelle Anlaß klar zutage. Es ist die durch die 
erfolgreihen napoleonishen Kriege geschaffene mißlihe Lage 
Deutschlands, die — neben Motiven rein persönliher Natur — 
»den unglüklihen Dichter der Liebes (Siegen) in den patrioti= 
schen Sänger des Hasses und der Rahe verwandelt. 

Im Mai 1808 sehen wir den Schöpfer des »Käthchen von 
Heilbronn« sih für den Stoff der »Hermannshladht« begeistern und 
in wenigen Monaten war das patriotishe Drama vollendet. Kleists 
nationales Gefühl hatte sih vornehmlih am Haß gegen Napoleon, 
diesem »bösen Geist der Welt« entzündet, für den er aber auf der 
andern Seite als Verehrer des Genies ein Stück Bewunderung 
gewaltsam niederringen mußte (Meyer-Benfey, 291). Aus dieser 
persönlichen, psydoanalytish gut verständlihen ambivalenten Ein= 
stellung gegen den mädtigen Eroberer erklärt sih leicht, daß 
Kleists Groll den Höhepunkt erreihte, als Napoleon — nad 
der Zweikaiserzusammenkunft in Erfurt (27. September 1808) auf 
dem Gipfel seiner Maht stand. Zwar hatte der Dichter shon nad 
der Dreikaisershlaht bei Austerlitz (2. Dezember 1805) nur nod 
auf einen »schönen Untergang« gehofft; aber erst nah der für 
Preußen so unglücklihen Doppelshlaht von Jena und Auerstädt 
(14. Oktober 1806) bricht. seine Wut gegen den Anstifter alles 
Übels, den »glückgekrönten Abenteuerer« los. Aus Königsberg 
schreibt er an seine Schwester: »Wir sind die unterjohten Völker 
der Römer. Es ist auf eine Ausplünderung von Europa abgesehen 
...„ doh wer weiß, wie es die Vorsehung lenkt.« Doc erst in 
der allgemeinen Ermunterung, die im Laufe des Jahres 1808 ein- 
trat und in den Hoffnungen auf ein Zusammenwirken Preußens 
und Österreichs gipfelte, wurde der Dichter mitgerissen und befähigt, 
»dem deutshen Volke und seinen Fürsten im Spiegel der Ver- 
gangenheit zu zeigen, was die Gegenwart von ihnen verlange: treues 
Zusammenhalten im Kampfe gegen den Unterdrücker Napoleon, denn 
diesen und die Franzosen meint er, wo er Varus und die Römer 


nennt« (Siegen, LXXXV), 


382 Dr. Otto Rank 


Die Dichtung wurde vom Mai bis Dezember 1808 vollendet, 
in einer Zeit also nah den schweren Schicsalsshlägen der letzten 
Jahre und vor einem erneuten Aufshwunge, der auch einen neuen 
Befreier Germaniens erhoffen ließ. Aber der Dichter war der Ent- 
wicklung der Dinge, wie so oft, vorausgeeilt und sein begeisterter 
Ruf fand zunächst taube Ohren, so daß Kleist der Handschrift, die 
wegen der deutlihen Anspielungen auf die Zeitverhältnisse nicht ge= 
druckt werden konnte, das resignierende Motto voranstellte: 


Wehe, mein Vaterland, dir! die Leier zum Ruhm dir zu schlagen, 
Ist, getreu dir im Schoß, mir, deinem Dichter, verwehrt. 


Als 1813 das neugeordnete Deutschland auf Grund des Bündnisses 
mit Österreih und der durh Scharnhorst eingeführten allgemeinen 
Wehrpfliht den großen und mit der Völkershlaht bei Leipzig ge- 
krönten Freiheitskampf eröffnet hatte, war der durh den Mund des 
Dichters prophezeite Traum der Erfüllung nahe, Aber erst nah dem 
Siege von 1870/71, als das nun auch innerlich geeinigte Deutsch- 
land mädtig dastand und alles erfüllt war, was der Dichter aus 
der Fülle der Not herbeigewünsht hatte, war die Zeit für die 
Aufnahme des Werkes im Volke gekommen. (Bine gelegentliche Auf- 
führung zum fünfzigsten Gedenktag der Völkershlacht bei Leipzig — 
am 18. Oktober 1863 — blieb ohne nachhaltigen Eindruck.) »Der 
Jubel über den Zusammenbruh und das geeinte Vaterland, das in 
einer neueren Dichtung nicht ausgesprohen war, fand sich in diesem 
Werk wieder« (Brahm), das so gewissermaßen wie aufs neue ge= 
schaffen wirkte, trotzdem der Dichter darin ganz in seiner gegen- 
wärtigen Zeit steht, aus der er auf die noh von den Nebeln der 
Mythe umscattete Vorzeit zurückgreift, in der Germanien das Jod 
der Römer abgeschüttelt hatte. 

Mit Redt hat die literarhistorishe Kritik gefunden, daß der 
altbeliebte Stoff und besonders die Art seiner Behandlung durdh 
Kleist, die sih grundsätzlich von der seiner zahlreihen Vorgänger 
unterscheidet, viel mehr epischer als dramatisher Natur ist, ja, 
daß der Befreiungskrieg im Teutoburgerwald überhaupt der dramati= 
shen Behandlung widerstrebe (Khull, Meyer-Benfey, Ortner, Julian 
Schmidt), Meyer-Benfey, der ausdrücklich sagt, daß solhe Völker- 
kämpfe der bevorzugte Gegenstand des alten heroishen Epos seien, 
glaubt, der Dichter habe nur der eindringlihen Wirkung wegen die 
dramatische Form gewählt. Dem scheint aber die Tatsahe zu wider- 
sprechen, daß es Kleist, der wie kein zweiter als der geborene Dramatiker 
gelten darf, nicht gelungen ist, das Ulndramatische des Stoffes zu be= 
wältigen, sein richtiger poetischer Instinkt hat ihm vielmehr die Ver- 
wendung epischer Darstellungsmittel nahegelegt: so vermißt 
man die Entwicklung der Hauptcharaktere aus den verschiedenen 
Situationen, das Gegenspiel, die Shürzung und Lösung des tragi=- 
shen Konfliktes;, dagegen herrscht eine Retardation vor, die der 
Held ständig bewirkt und das Stück bewegt sih in den Formen 


Das Volksepos II 383 


episher Fortführung statt dramatischer Steigerung. Damit steht die 
für das Epos bezeichnende Freiheit, namentlih in den zeitlihen 
Verhältnissen, im Einklang. Es finden sih in dem Stücke massenhaft 
Unstimmigkeiten, historische, chronologische, technishe Verstöße, die 
man dem Dichter einerseits übel angemerkt hat, während man ander- 
seits gerade in dieser genialishen Unbekümmertheit um Daten und 
Dokumente den gewaltigen Vorsprung Kleists vor den früheren 
pedantishen Bearbeitern desselben Stoffes erblickte (Hutten, Lohen- 
stein, Elias Schlegel, Möser, Ayrenhoff, Klopsto&k, Fouque, Grabbe, 
Körner). 

In der »Hermannshlaht« will der Dichter eine Darstellung 
der gegenwärtigen Verhältnisse im Spiegel der damit auffällig ähn- 
lihen germanishen Urzeit geben und modernisiert rücsichtslos das 
Alte, das auf die aktuelle Tendenz zugeschnitten werden soll, So 
spricht er von einem gesamten Reich Germaniens und seinen Staaten 
zu einer Zeit, wo es nur einzelne Völkerschaften gab, und verrät 
damit, »daß die Gestalt, in der er Germanien erblickt, in den großen 
Zügen durd die politischen Zustände seines Deutschland bedingt ist« 
(Brahm). Ähnlich widerspriht auh die Beiziehung Marbods, des 
Suevenfürsten, als Verbündeten Hermanns, den historishen Tat- 
sachen, aber der Dichter brauchte eine Verkörperung für den aktuellen 
österreichischen Bundesgenossen, während er auf der andern Seite in 
den eigenmädtigen kleinen Fürsten die Herrsher von Napoleons 
Ginaden, den »hündishen Rheinbundgeist« gezeichnet hat, wie er 
»treffender gar nicht geschildert werden kanns (Brahm, 327). Aud 
mit der zeitlihen Vershiebung von Ereignissen verfährt der Dichter 
seinen Zwecken gemäß und läßt gegen jede hronologishe Möglich- 
keit den Hermann an der Schlaht des Ariovist teilnehmen, mit der 
die Eroberung Deutschlands begann und die doch siebenundsechzig 
Jahre vor der ee im Jahre 58 v. Chr., stattgefunden 
hatte. »Eine vertraute, lange gehegte Vorstellung war es ihm, Ver- 
gangenheit und Gegenwart so in eins zu sehen ... So scildert er 
zugleih mit dem Befreier Germaniens, den neuen Hermann, den er 
für das Vaterland sih herbeiwünscht. Wie einst der Dichter der ‚Emilia 
Galotti’ italienishe Zustände darstellte und an deutshe dachte, denkt 
Kleist bei seinen alten Germanen fort und fort an die neuen. Von 
denen, die vor ihm und nad ihm den Stoff behandelt hatten .,, ist er 
schon durch diese Grundstimmung verschieden, und die Freiheit, mit der 
er wiederum Zeiten und Vorstellungskreise durcheinandergemisct hat, 
führt hier zu ganz neuen und großen Wirkungen« (Brahm). 

So hat hier der mächtige aktuelle Anlaß und die alles beherr- 
schende persönlihe Zukunftstendenz der Dichtung eine weitere Modi=- 
fikation des Schemas bewirkt, die uns die Kleistshe Dichtung als 
klassishes Beispiel einer Rochade erscheinen läßt, insofern. der Zu- 
kunftswunsc, dessen individuelle Affektbetonung in den gleichsinnigen 
Volkshoffnungen eine mächtige Resonanz findet, ganz in die Ver- 
gangenheit geworfen wird, die auch mit der Darstellungszeit zu= 





384 Dr. Otto Rank 





»Hermannschlachtse:; 


vg Gg. 


sammenfällt, wie im Falle der Erinnerungsbildung. Während es sic 
jedoh dort um eine unbefriedigende Vergangenheit handelt, die 
korrigiert werden soll, und bei der Macaulayschen Epenbildung um 
eine glorreihe, die unverändert in die Zukunftsabsicht übernommen 
werden kann, dient hier die ziemlich indifferente Vergangenheit zur 
Beeinflussung der Zukunft, dabei tritt aber auch eine teilweise Er- 
setzung der wirklichen Vergangenheit durh eine — verbesserte — 
fiktive ein. Dieser Fall zeigt mit besonderer Deutlichkeit, wie hinter 
der kollektiven Sehnsucht die individuelle das treibende Moment ist 
und wie das von Tacitus überlieferte Bild der vorhistorishen Urzeit 
zugunsten eines individuellen urzeitlihen Kernes abgestoßen wird, 
dessen Überwiegen die volksmäßige (epische) Einfühlung zurücktreten 
läßt, wenn das individuell-infantile Material niht zufällig so aus= 
gezeichnet zu dem urzeitlih=mythishen Kern paßt, wie in Shake= 
speares »Macbeths, dem wir uns nun zuwenden wollen. 


3, Shakespeares »Macbeth«. 


In dieser großartigen, echt dramatishen Schöpfung ist außer dem 
aktuellen Anlaß und der historishen Darstellungszeit, auf die er 
zurückweist, auh der eine ferne Urzeit repräsentierende mythische 
Stoff deutlich erkennbar, und neben diesen gegebenen Quellen die 
persönlichen und inneren Motive des Dichters so mädtig vordringend 
und von so großer psycdologisher Bedeutung, daß unser beson= 
deres Interesse an dieser wiederholt analysierten Dihtung Shake- 
speares in diesem Zusammenhang gerechfertigt erscheint. 

Der äußere Anstoß, dem das Stück oder mindestens der 
Zeitpunkt seiner Konzeption zugeschrieben wird, ist die Krönung 
Jakobs VI von Scottland, der nah dem Tode der Elisabeth 
(24. März 1603) als Jakob I. zum erstenmal die Königreiche 
von England und Schottland unter einem Zepter vereinigte (20. Ok= 
tober 1604). Der neue Herrscher, der in seiner Person die alt= 
verfeindeten Reiche zunächst äußerlih zu einem einheitlihen Staate 
zusammenfügte, wurde vom Volke mit großen Erwartungen und 
Hoffnungen auf eine friedlihe und glüklihe Zukunft begrüßt. Unter 
den zahlreihen Huldigungsdihtungen, die dem König bei seinem 
Einzuge dargebraht wurden (Brandes, S. 588), ragt das Drama 
von Macbeth, wie begreiflih, weniger durch seine aufdringliche 
Tendenz wie seines tiefen menschlihen und künstlerishen Gehaltes 


Das Volksepos II 385 


wegen hervor, obwohl gerade Shakespeare als Haupt der vom 
König bevorzugten und ausgezeichneten Theatertruppe mehr Grund 
zur Anbringung von Schmeiceleien gehabt hätte, als die meisten 
anderen Gelegenheitspoeten. Trotzdem sind die Anspielungen auf 
das, eine neue Periode der englishen Geschichte eröffnende Ereignis 
zu deutlih, als daß es noch der beigebrahten äußeren Zeugnisse 
bedürfte (Darmesteter), um die Entstehungszeit des Stückes nicht 
allzulange nach der Krönungsfeier anzusetzen. Daß mit dem Regierungs= 
antritt Jakobs die schottishe Geschichte in England smodern« wurde, 
ist Seicht begreiflih, und daß der Dichter, der nah Brandes’ Ver- 
mutung bereits drei Jahre vorher von der schottishen Landschaft 
und Sagenwelt nachhaltige Eindrücke erfahren hatte, eben den Stoff 
des Macbeth wählte, erklärt sih — abgesehen von der seelishen 
Grundstimmung, die er mit dem unmittelbar vorhergehenden »Hamlet« 
gemeinsam hat (Brandes, S. 592 ff.) — aus den Beziehungen auf die 
aktuelle politishe Situation, die sih durch leichte Modifikationen 
verstärken ließen. So wird verständlih, daß dem neuen König 
auh unabhängig von Shakespeare mit der Macbethgeshidhte ge= 
huldigt wurde: wie bei einem gelegentlihen Besuhe in Oxford (1605) 
von den Studenten (Darmesteter, LXVD, von Warner in ȀAlbions 
England« (1606) und von Slatyer in seinem »Palae albion« (Kroeger). 

Das Geschlecht der Stuarts, dem Jakob angehörte, führten einzelne 
Chronisten bis in die sagenhafte Zeit Duncans zurück, wo sich die 
ganze schottishe Geschichte in mythishes Dunkel verliert, damit 
bot sich diese — an der Grenze von Sage und Historie stehende — 
Periode von selbst zur Verherrlihung des königlihen Stammhauses 
dar. Banquo, der nach Shakespeares Quelle, der Chronik Holinsheds, 
an der Ermordung Duncans mitshuldig war, wird vom Dichter 
entlastet, um dem König einen tadellosen Stammvater vorzuführen, 
ja, er wird selbst von Macbeth aus dem Wege geräumt und sein 
Sohn Fleance, der dem Anschlage entkommt, wird zum Träger des 
Gesdlehts. Die Hexen lassen dann auh die aht von Banquo 
gefolgten Könige auftreten, die bis zu Shakespeares Tagen aus dem 
Hause Stuart regiert hatten, und einige, »die zwei Reichsäpfel und 
drei Zepter tragen«, spielen direkt auf die kurz vor der Auf- 
führung erfolgte Vereinigung der Königreihe England und Scott- 
fand und deren Verbindung mit Irfand an (Darmesteter, LXI,; 
Brandes, 600). Und der Ausgang des Stükes ist — ähnlih wie 
in »Richard III.« und »Hamlets — eine heitere Perspektive in die 
Zukunft nad einer Zeit voll Mord und Greuel, wie ja auh Jakob 
mit den besten Hoffnungen auf ein neues friedliches Zeitalter begrüßt 
wurde. Ein weiteres Kompliment für den König ist die Einführung 
des schottishen Edelmannes Lenox, aus dessen Hause Heinrich 
Darnley, der Gemahl der Mary Stuart und Vater Jakobs, stammte: 
es mußte dem König schmeicheln, wenn hier sein Ahn von Vater- 
seite in der Rettung des Vaterlandes eine führende Rolle spielte 


(Kroeger, 204). Eine Huldigung für den Herrscher bedeutet aud 


Imago V/5-6 25 


386 Dr. Otto Rank 


die Erzählung des Arztes bei Shakespeare (IV, 3) von der Wunder» 
gabe der plötzlichen Heilung und Prophezeiung, welche die englischen 
Könige einander zum Segen ihres Volkes hinterließen. Auch sonst 
finden sich vereinzelte Anspielungen, die der Dichter aus seiner Zeit 
in die Darstellung der alten Breignisse einfließen ließ, 

Die wirklihen, dem Stüke zugrunde liegenden historischen 
Begebenheiten um das Jahr 1040 — aus der von uns so genannten 
»Darstellungszeit« — sind infolge mangelhafter und durh die Chro- 
nisten sagenhaft ausgeshmückter Überlieferung nur in den knappsten 
Umrissen festzustellen, aber auh als dem Dichter wahrsceinlih un= 
bekannt, von keinem weiteren Interesse. Den zwischen seiner Quelle 
(Holinshed) und den tatsächlichen Ereignissen liegenden Prozeß der 
sagenhaften Ausgestaltung hat Kroeger in seiner eminent fleißigen 
Arbeit Schritt für Schritt verfolgt und dabei ihren kunsimäßig 
tendenziösen Ausbau im Gegensatz zu den allen großen epischen 
Dichtungen zugrunde liegenden Volkssagen hervorgehoben, »bei denen 
der historishe Kern in jahrhundertelanger Entwicklung vom Volke 
unbewußt, gleihsam im geheimen, bereihert wurde« (S. 225). 

Schon die ersten ausführlihen Darstellungen der Geschichte 
Macbeths, etwa drei Jahrhunderte nah den historishen Ereignissen, 
weichen vielfach von der geschichtlichen Treue ab, und die weitere Ent- 
wicklung des Stoffes hat die in ihm liegenden poetishen Motive und 
tragischen Verwiclungen so kräftig herausgearbeitet, daß der Dichter, 
der darin starke Anlehnung an seine persönlichen Konflikte und Hoff 
nungen fand, sie. unverändert seinem reihen dramatishen Aufbau 
zugrunde legen konnte und so gleihsam zum Mitschuldigen an 
dieser Geschichtsfälshung wurde. Historish ist nur die Ermordung 
Duncans durh Macbeth im Jahre 1040, aber der Mord ersceint hier 
in viel milderem Lichte, da alte Blutshuld zwischen den Familien 
Duncans und Macbeths shwebte, dieser den König aud nicht als 
Gast bei sih im Hause tötete!, sondern als Feind in offener Feld» 
shlaht und außerdem durd seine Heirat mit der Gruadh ein größeres 
Anredht auf den Thron erworben hatte. Lady Macbeth war nämlich 
die Enkelin des regierenden Königs Duff gewesen, der von Malcolm II., 
dem Großvater Duncans, ershlagen worden war; ihr einziger Bruder 


i Der Macbeth von der Sage zur Last gelegte Mißbrauh des Gastrectes 
bei Ermordung des Königs soll nah Brandes (S. 601) eine Parallele im Leben 
Jakobs gehabt haben: »Wie Macbeth, da er als Wirt den König Duncan behausen 
soll, ihm zu seiner Burg voranreitet, so war Alexander Ruthren, sobald der König 
ihm seinen Besuh zugesagt hatte, vor James nad Perth geritten. Er war gedanken= 
voll und zerstreut bei dem Bankett, das er dem König gab, wie man sih Macbeth 
bei der festlihen Mahlzeit vorstellen muß, die er für Duncan hat herrichten lassen. 
Und Alexander geleitete James zu dem Zimmer, wo er ihn zu ermorden versudte, 
wie Macbeth seinen König zu dem Schlafzimmer führt, das er lebend nicht mehr 
verlassen wird.« Alle Einzelheiten der Mordszene entnimmt der Dichter Holinsheds 
Schilderung vom Tode König Duffs, der vom Befehlshaber der Burg Forres über- 
fallen wird und wobei audh die Lady, die in den Chroniken eine sehr große Rolle 
spielt, zu der ihr vom Dichter verliehenen Bedeutung gelangt, da der Mörder 
»durh Worte seiner Frau zu der Untat aufgehetzt worden wars! 


Das Volksepos II 387 


wurde auf Malcolms Befehl ermordet und auch ihr erster Gatte hatte 
ein gewaltsames Ende gefunden!. Aber auch Macbeths Vater selbst 
verlor im Kampfe mit seinem Neffen Malcolm das Leben. So war 
also Macbeth trotz der entfernten Verwandtshaft mit Duncan — 
bei Shakespeare heißen sie noch Vettern — berechtigt, für sih und 
sein Weib Blutrahe zu üben und die usurpierte Herrschaft an sich 
zu reißen, Er soll auh gereht und milde regiert haben und das 
schottishe Volk hat nod lange an die goldenen Te unter Macbeth 
ee während die Chronisten ihn zum feigen, blutgierigen Tyrannen 
machten. 

Es scheint sich hier das besonders aus der antiken Überlieferung 
geläufige Beispiel zu wiederholen, daß auf eine bedeutende historische 
Persönlichkeit ein mythischer Charakter gepfropft wird. Diesen erklärt 
Simroc aus alten gottesdienstlichen Gebräucen, welche die Germanen 
am Maifeste übten, um die Eroberung des Winters durch den Frühling 
zu symbolisieren. Am 1. Mai zog alles in feierlihem Zuge in den 
Wald, den Sommer einzuholen, der vom Maigrafen oder Maikönig 
dargestellt wurde. Dieser wählte sih nach dem Sieg über den Winter 
eine Gemahlin, die Maikönigin, und alles shmücte sich darauf mit 
abgehauenen Zweigen der Bäume, so daß es bei der Rückkehr schien, 
als käme ein ganzer Wald gegangen. Aus diesem »Mairitt« oder 
Sommerempfang leitet Simrock die Sage vom wandelnden Wald ab, 
die sih auch in der hessischen Überlieferung vom König Grunewald 
findet?, und er weist darauf hin, daß dem Dichter das Motiv des 
Kampfes zwishen Sommer und Winter nicht fremd war: schon in 
seinem frühesten Lustspiel »Verlorene Liebesmühs hat er es ver- 
wendet, der in der Walpurgisnaht spielende »Mittsommernadts- 
traum« gehört ganz hieher und in einem seiner letzten Werke, dem 
» Wintermärdhen« klingt es wieder deutlih an (IV, 3). 

Aud von diesem mystishen Kern aus führen wieder Fäden 
zu den persönlihen Anlässen und Motiven des Dichters, die ihn zur 
dramatishen Gestaltung dieses Stoffes drängten und von denen wir 
mindestens die wichtigsten kurz hervorheben wollen. Das Jahr 1601 
bildet mit dem »Hamlet« einen auffälligen Wendepunkt im Leben 


i Nah Wintouns Chronik durch Macbeth, der in ihm seinen Oheim erschlagen 
hatte und dessen Frau dann heiratete, Vgl. die Beziehungen zum Hamletstoff. 

2 Es ist von Interesse, daß Kroeger (S. 86) die auf den Hawai=Inseln 
heimische Hinasage, eine Art Ilias, als verwandt mit der Sage vom wandelnden 
Wald anführt und auf die Ansicht eines Forschers verweist, der den zur Einnahme 
der Stadt Haupu von den Belagerern erbauten »wandernden Wall« als Mittel» 
und Bindeglied zwishen dem wandelnden Wald und dem hölzernen Pferd von 
Troja bezeichnet. Über das Vorkommen der Motive vom »wandelnden Wald« 
und dem niht vom Weibe Geborenen in der serbischen Volkskunde sprah im 
Jahre 1915 der serbishe Forscher Prof. Popovitsch von der Universität Bel- 
grad in der Londoner Shakespeare Association (vgl, »Vossishe Zeitung« vom 
25. Jänner 1916) und verwies dabei auf die anglizistishe Forsherin Mrs. C. Hopes, 
die darauf aufmerksam gemacht hat, daß die Männer von Kent sih audh der Zweige 
en als sie bei der normannishen Eroberung Wilhelm den Eroberer be= 
ämpften. 


25° 


388 Dr. Otto Rank 


und Schaffen des Dichters, den Freud aus dem Tod von Shakez- 
speares Vater und den sih daranschließenden Gefühlsreaktionen 
psychologisch verständlih gemacht hat. Daß »Macbeth« der gleihen 
Stimmung entstammt, wird schon rein äußerlih durch einen von Brandes 
(5.595) charakterisierten Umstand angedeutet: »Nur in diesen Dramen 
kehren die Toten aus ihren Gräbern zurük, um auf der Bühne des 
Lebens aufzutreten; nur in ihnen dringt ein Haud aus der Geisterwelt 
in die Athmosphäre der Lebenden. Weder in Othello noch in Lear 
kommt etwas Ähnliches vor.« — Beide Helden, vom Schicksal zu einer 
großen Tat bestimmt, leiden unter Selbstvorwürfen und Gewissens= 
qualen: Hamlet vor der Tat — Macbeth nachher, und in beiden 
Fällen handelt es sih um den Mord eines Verwandten, der dem 
Mörder den Platz des Vorgängers sihern soll. In beiden Dramen 
wird aber der tragishe Konflikt durh den Tod des Vaters direkt 
ausgelöst; Im Hamlet überdeutlih, da seine vorausgegangene Er- 
mordung die ganze Handlung überschattet und treibt, im Macbeth 
nur nebenbei gestreift, aber von ebenso entscheidender Bedeutung 
für das Verständnis des Stückes. Denn die Handlung nimmt ihren 
Ausgang von der Weissagung der drei Shicksalsshwestern, die den 
Ehrgeiz des Feldherrn durh Begrüßung als Than von Glamis, 
Cawdor und endlih König anstaheln und durch die unerwartete 
Erfüllung der ersten Bedingungen ihm Hoffnung auf Erreihung der 
letzten, noch ausstehenden, machen. Unmittelbar nah dem Aus- 
spruh der Hexen wird Macbeth durch die Ernennung zum Than 
von Cawdor überrasht. Than von Glamis aber war er bereits, 
und zwar durh den in einer einzigen Zeile und auh da nur an- 
edeuteten Tod seines Vaters: Kr: Sinels Tod zwar bin ic 
han von Glamis,« (I, 3.) Hier liegt einer der Angelpunkte zur 
Erkenntnis des geheimen seelishen Mechanismus des Stückes: durd 
den Tod des Vaters werden seine ehrgeizigen Wünsche und die zu 
ihrer Erfüllung nötige Tatkrafi erst frei. Bei Macbeth wird dies 
durh den äußeren Anlaß des Thronwedhsels ermöglicht, indem der 
Dichter die persönlih notwendige innerlihe Wandlung sozusagen 
unter dem Schutze der allgemeinen sozialen Wandlung mitmachen 
kann. Er identifiziert sih auf Grund des nicht weit zurücliegenden 
Todes seines eigenen Vaters mit dem neuen Herrscher (Vater), setzt 
aber sogleih — eben im Drama — hinzu: wenn id jetzt Nachfolger 
des Verstorbenen (des Vaters) würde, so hätte ih das Gefühl, meinen 
Vorgänger ermordet zu haben, Dieses beiShakespeare dominierende 
Sculdgefühl! schafft das Motiv der »Vergeltungsfurchte, d. h. der 
Furdht vor Nahkommensdaft, der auf der andern Seite Macbeths 
Wunsh nah einem Thronerben entgegensteht, Es ist niht ohne 
Interesse, daß in der Quelle, die Holinshed einfah ausscrieb, in 
der Chronik des Hektor Boethius, dieses Motiv bereits angedeutet 
ist. Nach zehn Jahren gerechter Herrschaft verfällt Macbeth plötzlich 


ı Rank, »Das Inzestmotiv in Dichtung und Sage«s. 1912. Kap. VI, 


Das Volksepos II 389 


wieder in seinen ursprünglihen bösen Charakter: »Die Furien regen 
ihn auf und flößen ihm die Furdht ein, man könnte ihm tun, wie 
er einem andern (nämlih Duncan) getan« und sein Argwohn 
wendet sih zunächst gegen Banquo und seinen Sohn Fleance, weil 
ihren Nachkommen die Krone versprochen ist (Kroeger, 113), 

Dies Motiv der Furht vor der heranwadhsenden und auf 
ihre Rechte pohenden Jugend, das Ibsen in dem gleichfalls kinderlos 
gewordenen »Baumeister Solness« verkörpert hat, konnte in der 
mythishen Darstellung des festvershanzten Winterriesen, der dem 
heranrükenden Sommer weichen muß, eine naive Einkleidung finden. 
Der alte böse Geist wehrt sih nah Kräften, muß aber schließlich 
doh der unaufhaltsam vorrükenden grünen Jugend weichen, die 
das Hexenorakel durh ein »gekröntes Kind mit einem Baum in der 
Hand« ankündigen läßt. Und auch der vorhergehende Trostspruh 
des blutigen Kindes: »Dir schadet keiner, den ein Weib gebar«, soll 
diese Furcht bannen, indem er besagt: Dir wird kein Kind schaden. 
Zur Sicherheit muß jedoh die ganze junge Generation Macduffs 
sterben, der junge Siward stirbt, die Söhne Duncans flühten und 
Fleance entkommt dem allgemeinen Kindermord nur als prophezeiter 
Stammvater der Stuarts. Aber indem ihm, wie den Söhnen Duncans, 
von Macbeth nachgesagt wird, sie seien geflohen, weil sie ihre eigenen 
Väter ermordet hätten, deutet der Dichter das Motiv der Vergeltungs=- 
furdht wieder an, dem zuliebe die in Banquos Sohn verkörperte junge 
Generation ausgerottet werden soll, Sein Neid gegen Banquo wurzelt 
darin, daß dieser wohl nicht selbst König wird, aber Könige zeugt, 
für die dann Macbeth all die Verbrehen auf sih gehäuft hätte. & 
liegt seine tragishe Schuld in dem verzweifelten Ankämpfen gegen die 
Naturnotwendigkeit des Alterns und Abtretens zugunsten der Nadhı= 
kommensdhaft und er bricht eigentlih daran zusammen, daß es ihm 
nur äußerlich gelingt, sich an die Stelle des Vaters (Königs) zu setzen, 
während er es zur wirklihen Vatershaft nicht bringen kann, Hier 
mengen sich wieder starke persönlihe Motive des bekanntlich selbst 
um einen früh verstorbenen Sohn namens Hamnet trauernden Dichters 
ein, die mögliherweise die unlösbaren Widersprühe des Stückes in 
bezug auf Macbeths Nahkommenscdaft mitverschuldet haben könnten. 

Zu dem stark persönlihen und in dem widersprudhsvollen Ge= 
fühlsleben des Dichters verankerten individuellen Anteil an dem Haupt- 
thema des Dramas, der Kinderlosigkeit, den in der sagenhaften Über= 
lieferung gegebenen Unsicherheiten und den von aktuellen Ereignissen 
geforderten Modifikationen, tritt noch ein weiteres aktuelles Motiv, 
das man wahrscdeinlih als das bewußt treibende ansehen darf, 
Königin Elisabeth, die der Dichter seit der 1601 erfolgten Verur= 
teilung seiner geliebten Gönner Southampton und Essex gehaßt 
hatte, war ja ohne Erben gestorben und hatte in letzter Stunde 
Jakob, den Sohn ihrer Todfeindin Maria Stuart, zum Nadfolger 
ernennen müssen. In welher Weise dieses Verhältnis zu Elisabeth 
bestimmend auf die Gestaltung des Stoffes gewirkt haben mag, hat 


390 gl \ | Dr; Otto Rank 





Freud in seiner Skizze Ȇber einige Charaktertypen aus der psycho- 
analytischen Ärbeit«! zu verstehen gesudt. Die »jungfräuliches Königin, 
von der ein Gerede wissen wollte, daß sie nie imstande gewesen 
wäre, ein Kind zu gebären, und die sich einst bei der Nachricht von 
Jakobs Geburt im schmerzlihen Aufschrei als »einen dürren Stamm« 
bezeichnet hatte?, war gewiß mitbestimmend dafür gewesen, daß 
die Lady Macbeth des Stückes kinderlos bleiben mußte, Aud 
durfte Macbeth selbst, abgesehen von den entwickelten psydıo-= 
logishen Momenten und historishen Zeugnissen auh aus rein 
tendenziösen Gründen keine Kinder haben, wenn die aus Banquos 
Stamm hervorgegangenen Stuarts entsprehend verherrliht werden 
sollten. »Die Thronbesteigung Jakobs I. war wie eine Demonstration 
des Fluches der Unfruchtbarkeit und der Segnungen der fortlaufenden 
Generation« (Freud). Es scheint, daß der Dichter im Macbeth seiner 
Genugtuung über diese Bestrafung der Elisabeth an dem empfind- 
lihsten Punkte ihrer Weiblichkeit und Königswürde Ausdruk ver=- 
leihen wollte. Die wegen ihrer Tyrannei längst unbeliebt gewordene 
Königin, die ähnlih dem grausamen Macbeth der Sage nicht ab- 
treten wollte, hatte das Vorbild dafür geliefert, wie man sid 
auf der Höhe der Macht der gefürchteten Rivalen und Günstlinge 
entledigt. Hatte sie doh — wie Macbeth — ihre Blutsverwandte 
und Gastin Maria Stuart beseitigen lassen, um scließlih infolge 
der eigenen Unfruchtbarkeit gezwungen zu sein, den Sohn ihrer 
Todfeindin das Erbe antreten zu lassen — ganz wie Macbeth 
Banquos Sohn Fleance. Dann hatte die Königin gerade in dem 
entsheidenden Wendepunkt in des Dichters Innenleben, 1601, — 
wenige Monate vor dem Tode von Shakespeares Vaters — seine 
beiden Freunde und Gönner Essex und Southampton hinrichten 
lassen. Wie tief des Dichters Abneigung gegen Elisabeth bei ihrem 
Tode bereits Wurzel geschlagen haben muß, zeigt sich unter anderem 
darin, daß er in die zahlreichen poetishen Trauergesänge nicht ein- 
stimmte, ja, trotz Chettles ausdrücklicher Aufforderung keine Zeile 
zu ihrem Preise schrieb (Brandes, 350). Er hatte also audh von 
dieser Seite her besondere persönlihe Gründe, in Jakob eine neue 
Zeit zu begrüßen. 

Gerade dieses starke Hervortreten der subjektiven und aktuellen 
Elemente, wie es in Shakespeares Macbeth (und aud im Kleistschen 
Drama) der Fall ist, scheint eine der Bedingungen zu sein, welche 
die Gestaltung eines historishen Stoffes zum Drama anstatt zum 
Epos ermöglihen. Wie bei der »Hermannshladht« erfolgt auch im 


— 


! Imago IV, 1915—1916, Heft 6. 
2 Vgl. Macbeth (Akt III, Sz. 1): 


Auf mein Haupt setzten sie unfruhtbar Gold, 
Ein dürres Zepter reichten sie der Faust, 
Daß es entgleite dann in fremde Hand, 

Da nicht mein Sofin mir nadhfolgt ... : . 





Das Voleepos ll 3 | 391 





Macbeth eine Rohade der Zukunft in die Vergangenheit, nur wird 
das Erhoffte hier nicht in die Urzeit, sondern in eine Mittelzeit 
geworfen, 


Macbeth: 





Wie das Schema zeigt, ist hier die Vergangenheit deutlich in 
die UÜrzeit und die »Mitvergangenheit« geschieden, ähnlih wie bei 
der Erinnerungsbildung, nur wird hier in die Darstellungszeit, die 
gleihsam einer Projektion der Zukunft entspricht, der (mythische) 
Stoff der Urzeit verarbeitet und so der Anschein von vier Zeiten 
erweckt, da durch diese aus besonderen Motiven erfolgende Rodhade 
zwei Vergangenheiten geschaffen werden, 

Es kann uns im ganzen nicht überraschen, daß sich die Motive 
der individuellen Dichtung mannigfaltiger erwiesen haben als die 
der banalen Phantasiebildung aller Menschen. Bei der einzelnen, von 
der Überlieferung bewahrten Dicterpersönlihkeit wirken subjektive 
Tendenzen und die eigene — infantile — Vergangenheit als ver= 
stärkende, und oft genug die generellen Motive überdeckende Faktoren, 
‘während das Epos mit seiner aus der mythishen Kindheit des ganzen 
Volkes stammenden generellen Urzeit nah unserer Erwartung einen 
wesentlich einfaheren Mechanismus zeigen müßte, 

Das Grundgesetz vom dreizeitigen Charakter der Phantasie= 
bildung wird sih unserer Erwartung nah auch beim Epos auffinden 
und zu seinem Verständnis in ähnliher Weise verwerten lassen wie 
bei den besprochenen Dichtungen, die sih zum »Volksepos« etwa 
so verhalten wie etwa Artifizielles zum Spontanen. Denn das der 
Phantasiebildung sheinbar immanente Gesetz ist — mag es nun in der 
Tendenzdihtung in bewußter Verwendung auftreten oder sih im 
Volksepos in seiner unbewußten Wirksamkeit entfalten — über alle 
äußerlihen Unstimmigkeiten erhaben und so mögen sich in der Epen- 
bildung all die Inkongruenzen hergestellt haben, an denen die Kritik 
mit Recht Anstoß genommen hat. 

Die unleugbaren Widersprühe und zeitlihen Abweichungen 
innerhalb des Epos selbst müssen daher nicht a priori spätere Zu= 
taten unverständiger Interpolatoren sein, die mit logischen, ästhe= 
tischen oder psycologisierenden Betrahtungen zu verstehen oder zu 
beseitigen wären, sondern verlangen nach einer genetischen Er= 
klärung, wie sie bereits Friedrih Schlegel angedeutet hatte in der 
Auffassung, daß der epishe Dichter selbst » Vergangenheit, Gegen= 
wart und Zukunft miteinander verschmilzt«s, was übrigens aud in 


392. Dr. Otto Rank 


der Sprahe zum Ausdruk kommt, die alte und neue Ausdrüce 
nebeneinanderstellt und verschiedene Dialekte unbedenklich mischt. 
Das Epos stellt die Handlung, wie Schlegel ausführt, nicht als 
gegenwärtig dar, es macht auf den Schein der Wirklihkeit keinen 
Anspruch. Hier seien Vergangenheit, Zukunft und Gegenwart ganz 
gleih. Die Erzählung des Epikers gehe von einem zum andern 
ohne Zwang: Blike in die Zukunft, Darstellungen der Unterwelt 
seien beliebt, ebenso wie Vor- und Rüdgriffe des Epikers, Das 
gleihe Prinzip offenbare sih auch im formalen Moment, indem die 
Erzählung in der Mitte anfange und das Vorhergehende nadtrage, 
während es oft genug in der Mitte ende („Gedanken über 12 
Eposs). So steht im Epos Gegenwärtiges, Vergangenes und UÜr- 
zeitlihes nebeneinander, gleichsam in eine Ebene projiziert und die 
mangelnde Einsiht in diese auf dem Gebiete der bildenden Kunst 
längst erkannten technishen Eigenheiten hat die Reihe von schweren 
Mißverständnissen, shiefen Auffassungen und haltlosen Theorien 
gezeitigt, die sich vergeblih bemüht haben, offenkundige Wider 
sprühe und Abweihungen im Inhalt des Epos durch Streihungen 
(Athetesen) und scharfsinnige Kommentierung zu beseitigen, wie die 
Alten, oder neuestens die Schwierigkeiten durh historishe Auf 
fassung zu umgehen und eine epishe Schichtenbildung anzunehmen, 
die den mystischen Begriff eines vom Volk allmählich geschaffenen 
Gedihtes oder eine rein mecanishe Zusammenkleisterung ver- 
schiedenwertigen Materials voraussetzt. Beide Auffassungen haben 
sich als unhaltbar herausgestellt, aber noc ist nichts Brauchbareres an 
ihre Stelle getreten, 


Das Volksepos II 393 


Literatur, 


Brahm Otto: Das Leben Heinrih von Kleists. Neue Ausgabe, Berlin 1911. 

Brandes Georg: William Shakespeare. Münden 1896, 

Freud Sigm.: Der Dichter und das Phantasieren. Neue Revue I, 10, März 1908. 
ee in; Sammlung kleiner Schriften zur Neurosenlehre. 2. Folge, 

197 1. 

Freud Sigm.: Bemerkungen über einen Fall von Zwangsneurose, Jahrbudh für 
psychoanalytishe Forschungen I, 1909, S. 393, Anmerkung. Abgedruct in: 
Sammlung kleiner Schriften zur Neurosenlehre. 

Freud Sigm.: Zur Psydopathologie des Alltagsleben. 

Freud Sigm.: Die Traumdeutung. 

Kleist Heinrih: Sämtlihe Werke in 4 Bänden. Herausgegeben von Prof. 
Karl Siegen. Leipzig. O. J. (Hesses Klassiker.) 

Kleist Heinrih: Die Hermannshlaht. Für den Schulgebrauh herausgegeben 

von Khull. Leipzig 1893. (Freytag.) 

ielat kleintin: Herausgegeben von Stefan Wukadinowic, Neuere Dichter. 

an 

Kleist Heinrih: Herausgegeben von Ludwig Tieck. 2. Ausgabe, Berlin 1863, 
Mit Einleitung von Julian Schmidt. 

Kroeger Emil: Die Sage von Macbeth. 1904. | 

Macaulay, Lord Thomas B.: Lays of Ancient Rome with Jovy and the 
Armada. Illustrated. London 1884. 

Macaulay, Lord Thomas B.: Altrömishe Heldenlieder. Deutsh von Harry 
v. Pilgrim. Reclams Universal=Bibliothek Nr. 3974, 

Meyer=Benfey R.: Das Drama Heinrih von Kleists. Band 2. Berlin 1911. 

Ortner Heinrih: Bemerkungen zu Kleists Hermannshlaht. Programm des 
Neuen Gymnasiums zu Regensburg 1894, 

Rank Otto: Der Künstler, Ansätze zu einer Sexualpsychologie,. Wien und 
Leipzig 1907. 

Rank Otto: Das Inzestmotiv in Dichtung und Sage. Grundzüge einer Psychologie 
des dichterishen Schaffens. Leipzig und Wien 1912. 

Shakespeare: Macbeth. Edition classique par James Darmesteter. Deuxieme 
editon. Paris 1887. 

Simrock: Handbuch der deutshen Mythologie. 4. Aufl. Bonn 1874. 

Simrock: Die Quellen des Shakespeare. 2, Aufl, 1870. Band II, S. 257 ff. 

Wagner Richard: Eine Mitteilung an meine Freunde, Gesammelte Schriften und 
Dichtungen, Leipzig 1871—1880. 


394 | Dr, S. Ferenczi 


Zur Psychogenese der Mechanik. 


(Kritishe Bemerkungen über eine Studie von Ernst Mach.) 
Von Dr, S. FERENCZI (Budapest), 
1): Psycdhoanalytiker, welher der fast einmütigen Äblehnung 


seiner Erkenntnisse durh die in ihrer Seelenruhe gestörten 

Menschheit einen gewissen Fatalismus entgegenzusetzen gelernt 
hat, wird in großen Zeitabständen von gewissen Erfahrungen vorüber- 
gehend aus dieser Stimmung aufgerüttelt, Während die tonangebenden 
Gelehrten unausgesetzt damit beschäftigt sind, unsere Wissenschaft 
zum soundsovielten Male zu vernichten und zu begraben, meldet sich 
bald aus dem fernsten Indien, bald aus Mexiko, Peru oder Australien 
ein einsamer Denker, Arzt oder Menschenbeobahter, und erklärt 
sih als Anhänger Freuds. Noch überraschender ist es, wenn es sich 
herausstellt, daß in unserer nächsten Nähe im stillen ein Psychoana= 
Iytiker gearbeitet hat und mit dem jahrelang gesammelten psydıo- 
analytishen Wissen plötzlih vor die Öffentlichkeit tritt, Am aller- 
seltensten kommt man aber in die Lage, in den Werken der aner= 
kannten Größen der heutigen Wissenschaft Spuren des psychoana= 
Iytishen Einflusses oder einen Parallelismus ihrer Denkrihtung mit 
jener der Psychoanalytiker zu entdecken, 

Bei diesem Stande der Dinge wird es wohl jeder verzeihlic 
und verständlih finden, daß ich bei der Lektüre des Vorwortes 
von Ernst Machs Arbeit: »Kultur und Mechaniks! die, natür- 
fih immer nur notgedrungene, und shwer zu ertragende fatalistische 
Einstellung für einen Moment wieder fallen ließ und mich der optimisti= 
shen Idee hingab, in einem der bedeutendsten der jetzt lebenden 
Denker und Gelehrten? einen Gleichgesinnten begrüßen und verehren 
zu können, 

Meine — wie sih bald herausstellte — irrige Erwartung wird 
mir jeder Psychoanalytiker nachempfinden, der dieses Vorwort — 
dessen Inhalt ih hier zum Teile wiedergebe — liest. 

»In der Einleitung der 1883 erschienenen ‚Mechanik‘ des Ver- 
fassers ist die Anschauung vertreten« — heißt es am Änfange des 
Vorwortes — »daß sih die Lehren der Mechanik aus den Erfahrungs= 
schätzen des Handwerks durd intellektuelle Läuterung ergeben haben.« 

»Es bot sih nun die Möglichkeit, noh einen Schritt weiter zu 
gehen, indem es meinem in frühester Kindheit mechanisch 
sehr veranlagten Sohne Ludwig auf meine Veranlassung ge= 
fang, durch immer neu einsetzende Erinnerungsversuche 
seine damalige Entwicklung mit vielen Einzelheiten im 
wesentlichen zu reproduzieren, wobei es sich zeigte, daß die 


1 Stuttgart, Verlag, von W.Spemann, 1915. 
2 Seit der Niederschrift dieser Zeilen ist Ernst Mach gestorben. 


Zur Psydhogenese der Mechanik 395 


gewaltigen, unauslöschlichen dynamischen Empfindungs= 
erfahrungen jener Zeit uns mit einem Male auch dem instink- 
tiven Ursprunge aller Behelfe, wie Werkzeuge, Waffen und 
Maschinen, naherücken.« 

»Von der Überzeugung geleitet, daß ein weiteres Verfolgen 
solher Erfahrungen eine unvergleichliche Vertiefung der Ur- 
geschichte der Mechanik ermöglichen, außerdem aber auh noch 
zur Begründung einer allgemeinen genetischen Technologie 
führen könnte, habe ich diese Studie als bescheidenen Schritt in dieser 
Rihtung unternommen ...<!, 

In diesen.Sätzen findet der Psychoanalytiker ihm längst ver- 
traute Ideen und geläufige Arbeitsweisen wieder. 

Die eigentlihen Grundlagen eines hochzusammengesetzten psy= 
chishen Gebildes mittels »immer neu einsetzenden Erinnerungsver- 
suhen« aus primitiven abzuleiten und ihre Wurzel schließlich im in= 
fantilen Erleben zu finden, ist das Wesentlihe an der psychoanalyti= 
shen Methode und ihr wichtigstes Ergebnis. Seit mehr als zwanzig 
Jahren wurde Freud nicht müde, diese Methode mit dem gleichen 
Ergebnis an den versciedenartigsten psychischen Gebilden:; an neuroti- 
schen Symptomen der Kranken, an komplizierten psyhischen Leistun= 
gen des Gesunden, ja auh an gewissen sozialen und künstlerishen 
Schöpfungen der Menschheit zu erproben. Einige Shüler Freuds 
veröffentlihten bereits sogar psychogenetishe Iheorien und Er= 
fahrungssätze, die auf das Spezialgebiet Machs, die Entwicklung der 
Medanik, einiges Liht werfen. 

In den einleitenden Sätzen Machs sind aber auch andere, 
bisher fast nur von der Psychoanalyse befürwortete oder zuerst von 
ihr ausdrücklih betonte Anschauungen subsumiert. Die Worte 
»unauslöschliche Empfindungserfahrungen der ersten Kindheit« klingen 
wie der Freudsche Satz von der Unzerstörbarkeit und Zeitlosigkeit 
des Infantilen und Unbewußten. Der Plan, die Urgeshichte der 
Medanik statt durch Ausgrabungen durh methodishe genealogi=- 
she Uhntersuhungen des individuellen Seelenlebens zu fördern, 
wiederholt nur die psychoanalytishe These, wonach im Unbewußten 
des Erwachsenen niht nur psychische Tendenzen und Inhalte der 
eigenen Kindheit, sondern auh solhe der stammesgeshidtlihen 
Vorfahren nachzuweisen sind, Die Machsce Idee, die Kulturge- 
shihte der Menschheit — auf der Grundlage des biogenetishen 
Grundgesetzes — individualpsyhologish zu fördern, ist in der 
Psychoanalyse gang und gäbe, Ich verweise nur auf die epocde- 
macdende Arbeit Freuds »Totem und Tabus (1913), in der das 
Wesen dieser bisher unerklärten sozialen Institutionen mit Hilfe 
individueller, bis auf die Kindheit zurückreichender Seelenanalysen 
dem Verständnis näher gebraht wurden?, 

ı Die Hervorhebungen stammen vom Referenten. 


2 Siehe auch die Arbeiten von Storfer (»Zur Sonderstellung des Vater- 
mordess), die Arbeiten Sperbers über die Psychogenese der Sprahe, Gieses 


396 Dr. S. Ferenczi 


Ih muß es gleih vorwegnehmen, daß meine Hoffnung, Mach 
hätte bei seinen Untersuhungen die Ergebnisse der Psychoanalyse 
benützt oder berücksichtigt, sich nicht erfüllt hat. Es wird zwar nir= 
gends gesagt, welher Art jene »immer neu einsetzenden Erinne= 
rungsversuhe« waren, deren sih der Autor bediente, weder der 
Hergang noh das Ergebnis dieses psychologishen Experimentes 
wird uns mitgeteilt, nur die Schlüsse, die daraus gezogen werden 
konnten. Aber shon diese Schlüsse gestatten uns den Rükschluß, 
daß es sich einfah um wiederholte Änstrengungen handelte, das 
Vergangene durh bewußtes Hinlenken der Aufmerksamkeit zu 
erinnern, Ob und inwieweit dabei die — hier gewiß nicht unwirk= 
same, weil väterlihe — Suggestion die Erinnerungswiderstände 
überwinden half — etwa im Sinne der ersten analytishen Ver= 
suhe Freuds — erfahren wir nicht. Keineswegs scheint aber die 
freie Assoziation angewendet worden zu sein, das heißt die einzige 
Methode, die über alle affektiven Widerstände, die die infantile 
Amnesie verschulden, hinweghilft und die Vergangenheit fast restlos 
zu reproduzieren gestattet. Dementsprechend ist die affektive Deter- 
minierung der infantilen (und arhaishen) medhanishen Entdeckungen 
in dieser Arbeit Machs nicht hinreihend gewürdigt und die Fort= 
schritte der Technik fast nur vom rationalistishen Standpunkte, als 
fortschreitende Entwicklung der Intelligenz beschrieben, 

Machs Auffassung über die Genese der ersten kindlihen und 
urzeitlichen Entdekungen ist folgenden Sätzen zu entnehmen: 
»Rückblikend (auf die Kindheit, auf die Urzeiten) sehen wir mit 
Staunen, daß unser ganzes weiteres Leben nur eine Fortsetzung 
unseres damaligen Verhaltens ist, wir bemühten uns, mit unserer 
Umgebung fertig zu werden, sie zu verstehen und dadurch unseren 
Willen zu erreihen« ... »Mit einem Male ist uns nahegerückt, 
wie ungezählte Generationen, manhmal durh Klima und Boden 
etwas begünstigt, im dunklen Drange, besser zu leben, aber allge- 
mein unter Verhältnissen, deren Härte wir gar nicht mehr einzu= 
schätzen vermögen, sih durh lange Jahrhunderte bemühten und 
Werke schufen, deren heutige Endglieder wir in den Händen haben« . .. 
»Denken und träumen wir aber über diesen Dingen längst ver=- 
shwundener Zeiten, so steigen gleich einer Ilfusion alte Erinnerungen 
an Erlebtes und Gefühltes auf, und in unsere dereinstige kindliche 
Empfindungswelt zurückversinkend, ahnen und erwarten wir die 
mannigfachen Entstehungsweisen und Wege für jene Funde von so 
unermeßliher Tragweite.« 

Dieses, wie gesagt auch von unserem Standpunkte, durhaus 


Untersuchungen über die der Werkzeuge, Abrahams, Ranks Arbeiten über die 
Genese von Mythen und Dichterwerken und die noch nicht publizierten Unter- 
suhungen von Sachs über die Pflugkultur und ihren symbolishen Niederschlag 
im Seelenleben des Menshen. — Einen Versuh, das besondere Interesse der 
Menschen am Gelde ontogenetish zu erklären, habe ich selbst unternommen. 


(Internationale Zeitschrift für ärztliche Psychoanalyse, II, 1914, S, 506 ff, 


Zur Psydhogenese der Medanik 397 


rihtige Programm wird aber von Mach nur unvollkommen aus= 
geführt. Da er es verschmäht, die psychoanalytishe Methode anzu= 
wenden, die bewußten Träume und Gedanken, die infantilen Deck- 
erinnerungen durch Aufdekung ihres unbewußten Hintergrundes 
zu ergänzen, ihre Entstellungen rückgängig zu machen, müssen seine 
Erkenntnisse oberflählich bleiben und — da die libidinösen Motive 
zumeist verdrängt und unbewußt sind — konnten seine Versuche 
fast überall nur rationalistishe Erklärungen für die tehnischen Fort= 
shritte ergeben, richtiger gesagt: nur die rationelle Seite der Moti= 
vierung beleuchten. 

Die Tonshalen entstanden zuerst vielleiht »als Ersatz der 
Hohlhand beim Trinken«, indem etwa »das in hohlen Steinfragmenten 
sih sammelnde Wasser den Anstoß zur Herstellung von Gefäßen 
bildete, bloßen Tonklumpen, in die mit der Hand Höhlungen ge- 
drükt wurdens, Warum aber »der zutage liegende feinplastishe ot 
immer ein sehr anregendes Material gewesen sein muß«, wird nicht 
weiter untersucht, Und doc liefert die Psychoanalyse diesen fehlen=- 
den Teil der Erklärung, indem sie diese sonderbare » Änregung« 
auf ganz bestimmte erotishe Komponenten der Libido zurückzu= 
führen gestattet!, 

Ebensowenig wird bei Mach danah geforsht, warum zum 
Beispiel »das Flechten und Drehen textiler Substanzen ein starker 
Anreiz für den Beschäftigungstrieb — ein ständiges Vergnügen« ist, 
Mach begnügt sich mit der Annahme eines primären Beschäftigungs- 
triebes, dessen Erinnerungsspuren in Zeiten des Bedürfnisses blitz= 
artig auftauhen und verwertet werden, 

»Das Glätten vorhandener Rotationskörper, wie das runder 
Aststäbchen, gehörte wohl mit zu den Spielen primitivster Zeiten, 
Als Kinder haben wir es unzählige Male ausgeübt und ein solches 
Stäbhen einmal in irgend einer Rinne ohne axiale Verschiebung 
mit der Hand hin- und hergerolit, wobei irgend eine Rauhigkeit eine 
shöne Rinne zog... usw.« (Urform der Drehbank,) 

... »Unsere eigenen spielenden Finger in der frühesten Kind- 
heit haben uns die Schraube vermittelt, irgend etwas von schrauben= 
förmiger Struktur war uns in die Hände geraten ..., es im Spiele 
drehend, fühlten wir, wie es sih in die Handflähe einbohrte — 
ein für uns damals besonders rätselhaftes Gefühl, das stets zur 
Wiederholung lockte .. .« 

In ähnliher Weise erklärt uns Mach das Entstehen der 
Feuerbohr- und =reibmaschinen, der Wasserschöpf- und 
Pumpwerkzeuge etc. Immer und überall sieht er das Walten 
eines Betätigungstriebes, der durh den glücklichen Zufall begünstigt, 
zu einer Erfindung führt. »Erfindungen werden da gemacht, wo 
die Verhältnisse am günstigsten, die Schwierigkeiten am kleinsten 


ıS.F reud, Charakter und Analerotik, sowie die schon zitierte Arbeit 
des Referenten »Zur Ontogenese des Geldinteresses«. 





398 Dr. S. Ferenczi 


sind.« Nah Mach können sich also Erfindungen »im Laufe riesiger 
Zeiträume in das Leben unsererVorfahren ganz ohne das Hinzutun 
besonderer Persönlichkeiten und Individualitäten eingeshlichen haben.« 

Die Psychoanalyse lehrt es anders. In einer mehr programma= 
tischen Arbeit über die Entwicklung des Realitätssinnes! mußte ich 
auf Grund psycdoanalytischer Erfahrungen annehmen, daß sowohl 
in der individuellen, wie in der Artentwiclung, also auh in der 
Entwiklung der Kultur des Menschen, die Not als treibendes 
Motiv gewirkt haben mag. Ich wies besonders auf die Entbehrungen 
der Eiszeiten hin, die einen bedeutenden Entwicklungsshub ver- 
anlaßt haben mögen. Wenn nah Machs Mitteilung »der Erfindungs=- 
geist des Eskimos nad übereinstimmenden Aussagen unerschöpflich 
sein soll«, ist es schwer, eine besondere Begünstigung seitens des 
Klimas und Bodens als zufällige Ursache der Erfindungen anzu= 
nehmen. Viel plausibler ist es, besonders anpassungsfähige Indivi= 
duen, also Persönlichkeiten zu postulieren, die, den nie fehlenden 
»Zufalls in ihren Dienst zwingend, zu Entdekern wurden, 

Mit der Anpassung an die Realität sieht aber die Psychoana= 
Iyse nur die eine Seite des Problems beleuchtet. Sie lehrt, daß Ent=- 
deckungen außer der egoistischen fast immer audı eine libidinöse Wurzel 
im Seelenleben haben. Die Bewegungs- und Beschäftigungslust des 
Kindes beim Kneten, Bohren, Wassershöpfen, Spritzen etc, fließt 
aus dem Erotismus der Organbetätigung, deren eine Sublimierungs- 
form das »symbolishes Reproduzieren dieser Tätigkeiten in der 
Außenwelt darstellt, Gewisse Einzelheiten — besonders die Benennungen 
— der Werkzeuge des Menschen zeigen uns noch die Spuren ihrer 
zum Teile libidinösen Herkunft, 

Solhe Anschauungen liegen aber Mach, der die analytische 
Psychologie des Menschen nicht kennt, ganz fern. Er nennt sogar 
die Anschauungen des Hegelianers E. Kapp, »der die mechanischen 
Konstruktionen als unbewußte Organprojektionen auffaßts, Witze, 
die ernst zu nehmen man sich hüten muß, da »durch Mystik in der 
Wissenschaft nichts klarer« wird, Die Spencersche Idee aber, wo= 
nach die mehanishen Konstruktionen Organ=V erlängerungen sind, 
sei unverfänglic, | 

Unserer psychoanalytishen Auffassung widerspricht keine dieser 
Erklärungen, ja, meiner Anschauung nach widersprehen sie audh 
einander nicht. Es gibt wirklih primitive Maschinen, die noch nicht 


1 Internationale Zeitschrift f. ärztl. Psychoanalyse, I; Jahrg. 1913. 


® Machs Anschauung über diesen Gegenstand, die die libidinösen Triebe 
gar nicht berücksichtigt, ist ebenso unvollkommen, wie die gegenteilige Übertrei= 
bung Jungs, nah dem die Werkzeuge nur verdrängte erotische Neigungen repro= 
duzieren wollen, zum Beispiel die Feuerbohrer die unterdrückte Genitalbetätigung. 
Nach unserer Ansiht stammen, wie gesagt, die Entdeckungen aus zwei Quellen, 
einer egoistischen und einer erotishen. Zuzugeben ist aber, daß für die schließ- 
lihe Gestaltung des Werkzeuges sehr oft eine libidinöse Organfunktion vor= 


bildlich ist. 


Zur Psychogenese der Medanik 399 


Projektionen der Organe, sonderen Introjektionen eines Teiles der 
Außenwelt bedeuten, durch die der Wirkungskreis des Ich vergrößert 
wird — so der Stock oder der Hammer, 

Die selbsttätige Maschine dagegen ist shon fast reine Organ= 
projektion: ein Stück der Außenwelt wird mit Menschenwillen 
»beseelt« und arbeitet statt unserer Hände. Die Introjektions= und 
die Projektionsmashinen — wie ich sie nennen möhte — scließen 
einander also niht aus, sie entsprehen nur zwei psydhishen Ent= 
wiclungsstufen der Realitätsbewältigung. Der ins Auge springenden 
Analogie gewisser Maschinen mit Organen! kann sich übrigens audh 
Mach nicht ganz entziehen, 

Mit all diesen Bemerkungen will ih den großen Wert und 
die Bedeutsamkeit der Machschen Arbeit durhaus nicht schmälern, 
mein Zweck war nur, darauf hinzuweisen, welch reihe Erkenntnis= 
quellen unsere Gelehrten durh die Nihtberüksihtigung der Psycho= 
analytik vor sich verschließen. Auh wir Psydhoanalytiker wünschen 
nichts sehnliher, als die von Mach in diesem Werke geforderte 
Zusammenarbeit der Psychologie mit den exakten Wissenschaften, 
verlangen aber, daß die exakten Wissenschaften in Fragen der Psydho= 
genetik auch unsere psychologischen Untersuhungsmethoden anwenden 
und die sie interessierenden psydhologishen Probleme vom übrigen 
seelischen Material nicht künstlich isolieren sollen. Mach selbst er- 
achtet es für einen Fehler, saus der Fülle der auf das Individuum 
einwirkenden Eindrüke,.,. gerade die mecanishen zu verfolgen, 
während in der Natur, im Leben, die verschiedenartigsten instinktiven 
und empirischen Einblicke sih zweifellos mit- und auseinander dereinst 
entwickelt haben« (und darum gibt es in dieser Arbeit Beispiele nicht 
nur mechanischer, sondern auch metallurgisher, chemisch-techno= 
logischer, ja sogar biologisher und toxikologisher Entdeckungen), 

An anderer Stelle des Buches betont er, daß die ganze Meda- 
nik eine Idealisierung ist, eine Abstraktion, die die nicht umkehr- 
baren (thermodynamiscen) Prozesse exakt darzustellen nicht imstande 
ist. Mit derselben Unparteilihkeit aber, mit der Mach die Grenzen 
seines Spezialgebietes absteckt, könnte er sih auch eingestehen, daß 
die aus dem übrigen seelishen Zusammenhange gelöste Betrahtung 
der Entwicklung unserer mechanischen Fähigkeiten, wie er sih aus- 
drücken würde, »durh Außerachtlassung und Übersehen notwendig 
an Wahrsceinlihkeit verlieren« und eine der Realität entrückte 
Idealisierung bleiben muß, | 
| Nur noh zu einer Änregung Machs mödten wir Stellung 
nehmen. »Ein hervorragend wichtiges Hilfsmittel einer experimen- 
tellen Ethnographie«, meint Mah, »wäre die Beobadhtung isolierter, 
ihrer Umgebung schon in allerersten Anfängen entzogener und 


ı Vergleihe dazu das instruktive Buh »Die Masdhine in der Karikatur« 
von Ing. H. Wettich (mit 260 Bildern). Berlin 1916, Verlag der »Lustigen Blätter« 
(Dr. Eysler © Co.), Ges. m. b.H. 


400 Dr. S. Ferenczi 


möglichst sich selbst überlassener Kinder. Nachdem erfahrungsge- 
mäß Elementarkenntnisse auh von älteren Individuen in kürzester 
Zeit nahıgeholt werden, würde dies keinesfalls einen Eingriff in das 
Leben des einzelnen bedeuten, anderseits steht bei dem aus- 
schlaggebenden und richtungbestimmenden Einfluß des Charakters 
der ersten Entwiclungsperiode auf das ganze Leben zu erwarten, 
daß durch ein solches Verfahren gegenteilig hervorragende Qualitäten 
des einzelnen geweckt und hiedurh neue Werte von großer Trag- 
weite geschaffen würden.« 

Ih glaube endlih das entscheidende Argument gegen die Reali= 
sierbarkeit dieses, bei Poeten und Philosophen immer und immer 
wiederkehrenden (weil einem tiefen, eigenen, unbewußten Wunsche 
entspringenden) Plane der Züctung von solchen unkultivierten 
»Naturkindern« gefunden zu haben, Einen kleinen Urmenshen zu 
erziehen ist darum unmöglih, weil wir den Neugeborenen — soll 
er von der Kultur absolut niht berührt werden — sofort nah der 
Geburt in ein Urmenschenmilieu versetzen müßten, etwa in eine 
Urmenschenfamilie vor der Erfindung der ersten mehanishen Werk= 
zeuge, Daß dies undurdhführbar ist, wird wohl jeder ohneweiters 
einsehen, Höchstens könnte man ihn von einer Draviden- oder Süd- 
seeinsulanerfamilie adoptieren lassen, das ist aber durchaus über- 
flüssig, es gibt ja ohnehin Kinder bei den Draviden und Insulanern, 
der Ethnograph braudht nur hinzureisen, um sie beobachten zu 
können, Die Idee aber, ein Kind sohne Milieus sih selbst zu über- 
lassen, ist widersinnig, nie noch hat es ein menschliches, auch kein 
urmenshlihes Wesen ohne entsprechendes Milieu gegeben, das ihm 
die shon gewonnene, wenn auh noch so bescheidene Kultur über- 
mittelte, Die Anfänge der Kultur findet man schon bei unseren 
tierischen Vorfahren, — Mach selbst schreibt ja den Affen mecdha= 
nishe Begabung zu. Die vorgeschlagene. Art experimenteller Ethno- 
graphie wird also niemals zur Tat werden können, auch bin ic 
nicht siher, ob aus dem Kinde, das — sohne Milieu« — sich selbst 
überlassen bliebe, niht ein Imbeciller würde. Auch die Begabung 
bedarf ja der Änregung von außen, Die Jungle-Book=Phantasie bleibt 
also besser den Poeten überlassen, 

Trotz diesen, zum Teil übrigens unwesentlihen Einwendungen, 
muß ih auch nach der Lektüre des Buches Mach für einen Psydho-= 
analytiker erklären, möchte sich der kritishe Verfasser des Werkes 
»Erkenntnis und Irrtums dagegen noch so scharf verwahrt und 
die Psychoanalyse als »Mystik« abgewiesen haben, 

»Wohl unbewußt fußen Empfindung und Verständnis in 
unserer oder unserer Ahnen Erinnerung«.. .»Kindheits- und Ähnen= 
gefühle lassen für uns die ardhaish angehauhten Kunstwerke so 
tief ergreifend finden.« Dies sind Sätze, die ebensowohl in einem 
psydoanalytishen Aufsatze vorkommen könnten — siher auh schon 
‚vorgekommen sind, auch ist es die Psychoanalyse allein, die für die Tat- 
säclichkeit dieser Behauptungen exakte Beweise anzuführen imstande ist. 


Zur Psydhogenese der Mechanik 401 


»Von dem Kulturstadium, in das wir hineingeboren sind, auf- 
genommen, durdeilen wir in einer kurzen Lernzeit (ähnlih wie im 
fötalen Zustande) ungeheure Arbeits- und Entwicklungszeiten .. .« 
Ginge die Kultur plötzlich verloren, so müßten die Maschinen von 
den einfachsten Fertigkeiten des Naturmenschen ausgehend — wieder 
in der alten Reihenfolge aufgebaut werden. Mach sceint hier den 
unerbittlihen Instanzenzug, der im Psydhischen (vielleiht im Or= 
ganischen überhaupt) herrsht und den Freud zuerst demonstrieren 
konnte, genial erfaßt zu haben. Er besdreibt die komplizierte 
medhanishe (und anderweitige) Kultur als höchste Blüte mensch= 
lihen Könnens, die aber auh heute nod in einfachsten Betätigungs- 
trieben wurzelt und nur aus ihnen regeneriert werden kann, 

Darum madht auh Mach — den bisher nur jene Gedanken= 
arbeit beschäftigte, die sih in der wissenschaftlihen Literatur der 
Medanik vollzieht — nunmehr den einfahen Arbeiter, das Kind, 
den Urmenshen zum Objekte seiner Untersuhung, er hat eingesehen, 
daß die Kenntnis einfacherer Verhältnisse »die notwendig voraus= 
gehende Grundlage und Bedingung« für das Verständnis des Kompli- 
zierteren ist, Aud hierin möchten wir einen Parallelismus mit dem 
Arbeitsplane der Psyhoanalytiker erblicken, die ja überhaupt aus dem 
kindlihen, oder in Traum und Krankheit zur Kindheit regredierten 
Seelenleben das Verständnis für die verwiceltesten Kulturleistungen 
des wachen Normalmenshen holen will, 

Niht unerwähnt darf ih den freien animistischen Geist 
lassen, der dieses Werk eines so hervorragenden Kenners der 
physischen Welt durhweht. Er scheut sih nicht, einzubekennen, 
daß ein Mechanismus für sih unbeweglih sein müßte, da »erst 
durh die Kraft Bewegung in ein mecdanishes System kommts; 
Leibnitz aber sprah das glüklihe Wort aus: »die Kraft sei etwas 
der Seele Analogess«. 

Wann werden der Physiker, der im Mechanismus die Seele 
findet, und der Psycoanalytiker, der in der Seele Mechanismen 
sieht, einander die Hände reichen und an einer von Einseitigkeiten und 
»Idealisierungen« freien Weltanschauung mitvereintenKräften arbeiten? 





Imago V/5-6 26 


y PS rn R 


j | 

I rn “Er m 
N 
u eo m 





ag 





Be! 
e — 
ee 


u er Ze u Ip a mr 


















dr ae 


a ” = TE En um 
Er u he a - EN” zn r 
- .— — a a a en u ei er Lu 4 BL Es —. 
wi nem ee "Se a ee ne KT 5 Fe Me En FE: up ur ge ar 
4 - Be a, ee u WEN Fe ZT en I VPW DE a Ze Ai a De le Fe 
s Be u . - m ne Fe - e . 47 — 


DE ng 


- “ “ 4 - « 5 - - 
Ve Tr AR, RS re ng rn ee) ee 


- - . —. a a IE N ET at EEE - 2 Fr eu & E 
Er we PFIRFGR Es . 2 . 4 E _— Zt - _ -_— ner NE ne = ii Ge 
Fe m m - m = el li 1 nen - Pr = - . ‚ \ ’ ” 
by > Pe a en en — = - En Du ne Ce te ne fe Er er nu a EN rn 
a = — 1 u a u er a ee - er ® —y Ei - ö u. 1, a! 
— a u r = Ba bo = . —_ - 5 r ei Sei - rn „> - nt bi u en s 
u ah Pr et Dre a - tem ne: 2 E ’ - > j . ne — 
u nt Aa ne u Ber ze FE m 26 I A in a ne a ä 4 — .— .— —n ur : fe = u a aa ; 
| . u ut > — r 
x m = 
.y 
-. ’ 


u 


TE Ar Fan 


ee 






























a u Fl 2 
a 
I — 1 
de L.n ne Se 
re . Er. h s Bde = 
nr .- a. = _ . = » - = FrA y = <a jeı = e . rn — 
5 — 5 er — . . ‚? x -_ Pr —_ 
en Er — - u ‘ m ge nor u nd Er es ern Gr — nt BE rn AR - 4e0— . nv — = . Br “ ne "an ud a Pu 
ae u « ” u - or RER a 21 nn na dl" -- u eh ee " a L a Pe v .. ge 
Te u » E 3 = a > ‚ ni = a er f = » A > - 
> < r £ “__- ei u u m. FE Wen = ya .— » i A ir .d - - A Em £ 
. u Pe 6. m . 2 u _ = j pe De a r — ee 2 —. ei er 4 - er a en u nn u Fo u en 
ag: ; BE eh I ee - u - E Te Ka De a Tage ı 
> r > e Pr u er zw ; e—- ug un yon Au u et Te Br - 5 ee - gu ee ee ai Ir - jun - > 
-— - . . u ge HR Tu - 2 ’  . = — - - bo ei je r _ = ; na 
Se I N En en ee ET Zu Br Er 32 en ne et 
- “ . _ 3 . - Zeh 4 —— ni - . . “ Zn dies - . a — Ku ws e g> „ . ’ 
nn ee eat nenne — IN | r en Pl a ” u a ai er u A ee 4 ron ne 5 er. - - — —n - = nur —- ‘ D a u . ut 
Be En Pe —. Wen. en 7 ie ne - nn ee en Kh ..- u Be na —>3 > >4 4 ed B — x . — _ H 2 r i =? N n 
- nr we N a To ie Au -_ Fa - » = = De A - _ - - . m [x “ 
N — 0 2 “ % j - rt er. 1. rB ET EL ee oe Kaglax vis 2: ua Fe 7 5 u Mr u rn .. ze 1 wi - “ E% u, Pre . zu, ee ih ut. ee 
a RE ße vo ee en nee ie TE zen Va - — en > rn Ka ee u - u tn 1 : } .. » -—- en .. . . 
a Pr WA, Cm ’ Pe u ET re N ge u A I — u > . ——- u. “ y nr - 5 i - r 
a. — ae Ti ec we u nd TR « 5 nl a En wem) eng Br. 5 ” er Bug _ WE Pu “ a 
Dez —.- u. En = Keen Dr ee ui r E. > - rt Miss & = m = N I ‘ r em r eo - we = Due ne Be A 
= ee Een Me un —_— ae 5 v, n Amt hl we. - m . u, fr me wo » 5 — > = “ 7 - 
Er = a Pr TR s B] a ie N u ar en a A > a . Au j - ee nr 7 u u a a A u 
- - ni en u ee Ä .n * Y%5 — u ee Z PER up = A a. — P En u nn 22) "u i er u = [I ‚ - . FAN * . - v nen 
r Fr a I en Fe Rt, eh ae Pr Pan ' » br FIT a a > . 
- = m vr = £ je un u ln un — = - - . ” un [= nn er. EN u? us - f N » #- 2 - u 
Pr zz en u Mt GER 1 = Pe wer a N m Pe u Pen er ” > UN Bu en u vr Ten - ——. -_ v F. u % os 2 — a ni rn a 
= fi Zu - a a N Ar > a es ae ae a ” = ee en en pre ee £ Ze ne ee Be 
> re rn | ia u a ee er x u u ne nn me Be Pen WE En . ? ö B> . er £ 
u en le Be Me TE Tr a nn a un == te mn rm ee zn EA a ee EA er Zee ee ern: 
- - Ze - ch jene En r 3 ü . 2 N we — En ) - > -r . A ag ._ Er 2 Ind ie 2 De 2 . ur Fr N 
un r nn ge we tet u’ m Pr ıT- u. un m ehe R en FEIN « 5 L-- m} Ben id A Ba Frhr: FE _ + j Fer De a N u 
- \ > u ie Eu Zi Zu & zn ihn m = u tn u TE Ps i 7 =, u, End we U u Se _ u le - De. A > Bau eeretee ah re En md Br 
au | in Pa er - Tr 7 = w Fe N SENT EEE | ni e ‚iR pe | pp | tn. Tr ur Ba |. w_ Pr 7 1. .— u, ana . en - 
» ” —_ f £ a Pd an N iz 7 ET a © rn u Eu - L Sur 2 2 - . R En 
> 2 Las ——n De u DE = Mr Be 4 > a — ur h / ea . u zn ES vw Wed 7 AU n m. 3 x k Pr u u 
ne .. BE Zn ae re re , e ai ud,” De a un Der: “ a us De g? a Seile ee 7 - f} Er > Emmi 
* nr. 4 = — vu u ER « ö - Em ze. . I nn - = ah 2 u 2 er 
- r - \ a u - ’ Be > - ’ Es va z u m = en ug wm — 4 - + he he ns - ua - - > .- > Bar . eis L u 
. : - \ Lr Pr BE ı- nee. = m u 3 - =. m e en [nie N une 7 - v ‘ — 
x - £ 5. ’ U Rn En a run a Er ti Sin nem | DR rer + EL na ae 
ne he ee | ri zn ? n ul FO z a er Vet ae 
In 5%) > Pie - ] % - en. — = _ u u ” — ne a . u a ne 
a on - + ji - 5 1 Ne E u a) - ._ - .n je Pe ui. er re nn ge 
Mu 5 „er .  .. ” a Cu © 3 er a > - RR: 
In D — el EY/E ver - Pui - _ — >,» - > «t - fm um Bu 
_—— m DK _ a AK ig # nn A re We + u. -_ a — r ent . 
u « R = . a! = E — > Pr m. = \ - f .. u PATE e I j E a. LTR 
- - . enge „4 b [ r _ f a 
ne FE ur Gi y Be Or - i 5 u w = ” , - . u) I 2 a Pe ha gi R } 3 ” , le 
. u Po » En —._ . nn 3 Pr BEZ j. er ee B/ = 5 nn vl un g w 
1 —. a .. n * A u 27 . og I a Y\ ar \ a ne u a De in den > en Re N — n a De r Yet ee pe ea 
ame 7 Dan Br ni,“ 15 R Emil, ° Te, - « E eK A nn u en u a a *. Dean nn _ a — u. Pr . “ ... - N > > ie 
r u | „u > u u > 0 > N” =£ NE .- er en 2 — - £ x w P- a - , 
nn „uch a Ger ir Pol - EN J aA ” pi Y v M 7 -i bez € „e u = L u A “ 3. 2 =} ps v 2 - “ k en . h ) 
v - ip ei 1 Kl rn ) rn “ i Wem F um Fr Gr il} in in " . wur » Pr ap” E; rn i M = - nn DL 2 
’ augen ei warnt oT r - ST u ea ra - , zZ FE Ar ee - seit a ee un En nat ah hi m - nu Dun ET u ME aut 
Ye a 5 Fa hr -.. Mi a pr La -) an 5 - EEE N ee re > pl 7 Pape 35 ve #1 a 2 H e | eg“ in > ee In na Fa ar nd u he Du da 2. I xt 
= u, ee : ER Dir 5 e “ v " \ ee et een De Br .. a Br - ER -- z - ne u N er 
Te a ne ud > x Be 2 ee —. N ANTE De he, ee » ei u By BR Er u a, 7 er N Tr en EEE - 
"TU ri - 2 et B m tun - un u u Di nn . IB: dm B es s . rt “ - = ei U e « » un _ w . ee We 
ee a ee n } - 2 nn 5 ER» we Fer a: er De ee 2 a u a >=: ad u ran - em vi a4 P a. wat n ren 
= > A: k I de TE Bi - er nn ne N ee ee nn N hi me, an er) > I a 
» _ gi E « i — a tn DA - =) Pe » - - E un m De Eu ® . ” 22 7 ae a  - En A A 
E. ei tz A en j rn — en. - r 1 = u nn u Me BR = Dr N ee ee? 7 x rn ei - 2» wen . u nF en 
A m . ' x | Pe "w) en N = IE ui . Bu m n Sr r - Hirn ef nt % . U Ze An — u rn li ie Te ER 
——h Fn ni a hen an nt A Re ie ex: Pr er a En N en R er AT a L d EIER PO a I m iR Fun 
a - a en an a 4 Ah ER 
_ nd .- ER ur a h ng * . me - \n u” En u — .. - . & 27 — . E Pr nn A, B dt y le ae wm 
u . — > u Din Pu u rl un ee = 7 a u En To ae Se a 28 Fi jet nr Pu u u Zn - iz De Je 7 u A ur au” “ “ wi ae Ken ae He 
“ ne urn - a male Fl - A 0 eng ” = ni = = 2 Vo u win id Al —. er re u u pe Fe we nn Sean m. = ne Dr nn a a er u 
ee = Fe Be He ee Bingen ee ET ee ed 
n . ur de -_ f In * en h - - Be tz En > re 
DR er i e = a = er * 9 >: u ne ee N ee IE : & 5 Mn nt . a NT, a Ir =, 2 
2 — ”_‘ n e un Bm PR a .- * = u hr r - Pr - - » - er 2 a. x » e“ 2 ne Are , 
Bil nn nn De m rn. en — ee = u? nn a a FE BR de a = 2 ee u ee _ j > Be i x nn a m ar en mn 
er Ange —. . —. j zu “ - Di z ui ur N a. u  " d ei, m o- e Yaaıl TE HE u Oi Zn Sue Ze . im - =, EN Ze 
 — V. T hm F a rn mim P- ee en u £ - ut ZA PR Am = ; u & 3 Eh fi de. re 
> en . ee} > a Te - SI- Po Ir > ne a N ee ar Are 
mu» ._ _ + n ‘ u - —— ae f - a u e+# ange Fin ui Keen Da ee .— - u DE eu, a re ae) 
Ber Ja = - En. . > pi ne” er % - ea .@ E > == er e-B = % ii a - -_ me = e = B\ ER re ra U Ey 2 Tin 
— 7 H a em { = un TEN 2 7 - en eV wi - Pr 2 a AL Y u - 
rn  — - „ v = a en a ib Pr 7 ee, Tr r Zn k ge 1E En ei AP ie . \ Keen - Ban = z 
Pi - - . N. a en en 2 u - Ze ET BB pe B Gr, 7 5 E ET % nd ı re % nt 
= = . ” -—— . —. ne u « u... = = we nn m a Be sr _— — .... ee = Du ER ’ Ayw 10 de ie 
wi Ba‘ - — u — Om Rn u en 5a 3 Par Ra rw) 4 a 4 + — - | ee Un nn. 4 - 
ei 2 u: = % ee an re, Eu I [+ i — u En zu er mn Fr hr it m £ na - L ö se u m DE 
= & Pr Pr " le a LE AU nn rn BZ A m ns F IT ed > Y a Can J ln ie Be Er m 5 ar 2 u F - TE 
5 B nu. ie A y oe j u et EEE ER FEETT, 2 ri Lee N a nd EV ar ne wu Ir Me nr ed N ’ ER 
- — Es . = he el — ei a J I E _ = h 
a Sep ekn . 2 NT ee WE ae a ARE a wre — N I Fi u Fa Me ne u en Zr > a = 5 Dia ne er ST ne re 
an nn um - > 2 er rn N ng en Ne ee ee a > IM Pi 7 Ten er n ar? 
. r > Zr mc, Dr ae u er mi m ee eh u, u 107 a en . En u ir , a; 7. er ee une. Eu 
Et 2 - [r Pr - 2 = N “ u = in - ee = nn (E ah a Be fi = - * ‚ 2 Ze De Fr t 
| E -—— — on _ p| —— =. u m ne - 9 es ER =  — ee Jr ar ww .n. a m RI r Be 7 P- ‘ En Er Bee Ba Br De he er 
ann - r 2 = > Ne - Am ne DE Rn > pre a Te! A N r Er mn u ne a 4irtH a . vr Sam K er A N nn En: a 
wem F u h Zu u 2 ws Tr v PET ade 5 . ar ae me a Me Atem ws nz EN po De 
= 2 . " te . en ee ö - ; £ : #. ı Era Tun Ve, E- 
{ Pr u De ee LT = ’ > = ara ae 3 Be ale) al 
er‘ Z .-r Y nnd . mne ei m ee er > f ET Zee . fl ; rw e F 
nn. B ee un - en I I wi S un 
x ß rt u A - ze BB : <- 
> 4 n 


2 


ip, 


m 


rd 





vr 





All; Bra j 
Wi W he 
' ‚ ’ g f, - 

j- te, . h 

rn Fu 4 ” 
Ir FL . 5 
\ “ir ah, ri 

„ = 






te RN auge | | lic Ä 
2 Kur: 1.1 Bnmneopon REIK (Win: Peydoanalytisce Studien ‚zur Bibel» 
La } Yy BÄRDAS Ber): Zar‘ Probfematik der Musik. 
A srl LOTTO RANK (Wien): Das Volksepos II... 
ER Dis, FERENCZI Budapest); Zur BRETESR det Mechanik, 
NER hu. , | } } in . Yr54 
TR ai eu TE 


j . 
Ih 15,3% c > ’ a f 
KREN SORERn NR: RE 
“rn ‚ r ws & Ai, - ! ‚ 
) 4 d f Ai f PURE 1a f Pan 


‚eines abc 


. WW r . 


. h 4 r} 
‘ ir h 5 « 5 


wFr Penn, 25.-, "Mark irn 
sr ER Elegantes, Pappband Kronen ER ‚Mark 15 h 


=, T 


u