XVIII. Band
Heft 2
1982
IMAGO
-Zeitschrift für Anwendung der Psychoanalyse
auf die ^Tatur- und Geisteswissenschaften
Offizielles Organ der Internationalen Psydioanalytisdien Vereinigung
H
erausgegeben von
iSigm. Freud
Red igiert von £ändor Rado, Hanns Sachs und A. J. Storfer
A. Winterstein .
Felix Boehm . .
A. Izeddin ....
H. Del JVLedico
M. Schmideberg
G. H. Gräber. .
. Zur Psychologie der Arbeit
. Formen und Motive der Anthropophagie
. Fine mohammedanische Legende
. Fin Ödipuskomplex im elften J ahrhundert
(Mächael Psellos)
. Frziehung und Gesellschaftsordnung
. Psychoanalytische „Archäologie“ Jeremias
Gotthelfs
Referate
7
IMAGO
ZEITSCHRIFT FÜR ANWENDUNG DER PSYCHOANALYSE
AUF DIE NATUR- UND GEISTESWISSENSCHAFTEN
Heft 2
XVIII. Band
V on
Alf red W^interstem
Wien
Wir pflegen in der psychoanalytischen Behandlung unserer Neurotiker
als praktisches Ziel die Herstellung der Liebes- und Arbeitsfähigkeit
zu bezeichnen. Da wir nun ganz allgemein die Neurosen als Störungen
der Sexualfunktion betrachten, liegt darin inbegriffen die Erkenntnis der Ab¬
hängigkeit der Arbeitsfunktion von der Sexualfunktion, d. h. jeder Konflikt
zwischen Trieb und Ich hat auch eine Beeinträchtigung der Arbeitsfähigkeit
zur Folge. Umgekehrt sehen wir, daß der sexuell voll befriedigte Mensch
erhöhte Arbeitsfreude empfindet. Es scheint also, daß der Arbeit innerhalb
des Libidohaushaltes die Aufgabe zufällt, gewisse Triebenergien auf sich
zu ziehen, was aber nur dann restlos gelingt, wenn die eigentliche genitale
Libido durch den Sexualverkehr annähernd befriedigt ist. Die Zerlegung
des seelischen Apparates in ein Ich, Es und Über-Ich einerseits, die Er¬
schließung des Todes- oder Aggressionstriebes andrerseits läßt uns dann
noch eine weitere Funktion der Arbeit im Dienste des Über-Ichs und der
Aggression erkennen.
Das Thema „Arbeitsstörung“ oder „neurotische Arbeitshemmung“, das
sich hier der Untersuchung anbietet, soll jedoch heute von mir nicht behandelt
werden, ich nehme mir vielmehr vor, über dieunbewußtenMotivationen
der Berufsarbeit, über ihre Funktion gegenüber den Anforderungen des Es
und des Über-Ichs zu sprechen, und möchte dann anschließend versuchen,
den Wandel in der ethischen Bewertung der Arbeit, der in dem modernen
Imago XVIII.
INTERNATIONAL
PSYCHOANALYTIC
UNIVERSITY
DIE PSYCHOANALYTISCHE HOCHSCHULE IN BERLIN
i38
Alf re d Winterstein
Arbeitsideal gipfelt, mit Hilfe unserer psychoanalytischen Ergebnisse ein
wenig aufzuhellen, also ein Stück weit analytische Kulturpsychologie zu
betreiben.
Die tiefenpsychologische Bedeutung der Berufsarbeit hat bisher die Auf¬
merksamkeit der psychoanalytischen Forscher nicht übermäßig auf sich
gelenkt. W. St ekel hat, soviel ich sehe, als erster (in einem Referat aus
dem Jahre 1910) die Berufswahl mit gewissen Triebkomponenten oder un¬
bewußten Neigungen des betreffenden Individuums in Verbindung gebracht,
denen durch die Ausübung des Berufes Ersatzbefriedigung gewährleistet
wird (z. B. Sadismus und chirurgische Betätigung); Reik hat in seinem
Werke „Geständniszwang und Strafbedürfnis“ auch auf die durch die Arbeit
bewirkte partielle Entlastung vom Schuldgefühl hingewiesen; schließlich
hat Freud in seinem Buche „Die Zukunft einer Illusion“ die Notwendigkeit
des Arbeitszwanges und Triebverzichtes für den Aufbau der Kultur betont
und in seiner späteren Schrift „Das Unbehagen in der Kultur“ der Bedeutung
der Arbeit für die Libidoökonomie eine inhaltsreiche Anmerkung ge¬
widmet.
Eine Untersuchung, wie ich sie anstrebe, müßte zunächst einmal ihren
Ausgang nehmen von einer klaren Definition des Begriffes „Arbeit“. Aber
schon Wilhelm Riehl, der vor siebzig Jahren (1861) ein Buch „Die deutsche
Arbeit“ geschrieben hat, erklärt, dieses nackte Wort Arbeit decke nachgerade
einen wahren Abgrund von Begriffen; der Volkswirt, der Sozialist, der Moral¬
philosoph, jeder denke sich etwas anderes darunter. Um die Verwirrung zu
steigern, will ich dazu bemerken, daß auch unter den Nationalökonomen
der Begriff der wirtschaftlichen Arbeit noch heute kontrovers ist. Ich glaube,
daß wir uns trotzdem über eine annähernd richtige Fassung, die für unsere
Zwecke genügt, durch Aufzählung einiger positiver und negativer Merk¬
male rasch einigen werden. Wesentlich für die Arbeit scheint mir zu sein,
daß sie eine auf ein sozial wertvolles Ziel gerichtete Tätigkeit darstellt,
durch sie ein die Arbeitszeit überdauernder Erfolg, der aber nicht notwendig
sinnlich wahrnehmbar sein muß, angestrebt wird. Die Bemühungen eines
Einbrechers hingegen bezeichnen wir ebensowenig wie die Tätigkeit eines
Geisteskranken als Arbeit; sofern im Spiele des Kindes nur narzißtische
Funktionslust angestrebt wird, sprechen wir gleichfalls nicht von Arbeit,
Auch jene Tätigkeit des Erwachsenen, die als Selbstzweck bloß der persön¬
lichen Erholung oder der inneren Befriedigung dient, belegen wir nicht
mit dem Namen Arbeit. Grenzfälle, wo die Bestimmung schwierig ist, können
wir hier füglich außer acht lassen. Betrachten wir die Arbeit als Kultur-
Zaxt Psychologie der Arbeit
erscheinung nur von der psychologischen Seite (unter Vernachlässigung
ihres sozialen, wirtschaftlichen, rechtlichen und sonstigen Aspektes), so finden
wir im Bewußtsein der Arbeitenden dem Werte nach verschiedene Arbeits¬
motive als ein erlebtes Sollen vor und daneben quantitativ wechselnde Lust-
und Unlusterlebnisse. Nun vertritt schon seit Adam Smiths Tagen die
Nationalökonomie im allgemeinen die Anschauung, daß zum Wesen der
wirtschaftlichen Arbeit eine Summe von Unlustgefühlen gehört („Lebens¬
aufopferung“ nach den Worten des Staatswissenschaftlers Wilhelm von
Hermann 1 ), daß demnach die Arbeitskosten psychologisch ein bestimmtes
Quantum von Unlustempfindungen (Ermüdungsgefühle, Gefühle der Ab¬
spannung und Langweile) darstellen, und die Etymologie scheint dieser
Ansicht recht zu geben, denn das mittelhochdeutsche Wort arebeit bedeutet
Mühsal, Not, Beschwerde. Wenngleich diese Bedeutung sich im Laufe der
Jahrhunderte so gewandelt hat, daß wir heute sogar von Arbeitsfreude,
Arbeitslust sprechen, also meinen, daß die Arbeitstätigkeit an sich, nicht
nur die Aussicht auf Lob und Belohnung, auf Gewinnung von Gütern Lust
erwecken kann, so glaube auch ich, daß ein Unlusterlebnis (das Lust entweder
gänzlich ausschließt oder ihr in anderen Fällen einen gewissen, verschieden
großen Raum gewährt) ein konstitutives Merkmal des Arbeitsvorganges bildet.
Eine Tätigkeit, die nur Lustempfindungen hervorruft, Arbeit zu nennen,
heißt meiner Ansicht nach dem Geiste der Sprache Gewalt an tun.
ln den meisten Systemen der Nationalökonomie werden die auf die Her¬
stellung eines Gutes verwendeten Mühen und Beschwerden, die Arbeits¬
kosten, durch den Geldlohn, den Tauschwert der Arbeit, gemessen, wobei
auch eine rechnerische Bezugnahme auf die Zeit durch die Begriffe der
Arbeitszeit und Arbeitsstunde erfolgt. Dieser Geldmaßstab ist aber tatsächlich
unzuverlässig, ja man könnte geradezu ein umgekehrtes Verhältnis zwischen
dem Anwachsen der Arbeitslast und dem Steigen des Arbeitslohnes behaupten.
Für uns Psychoanalytiker ergibt sich vielleicht eine Erklärung dieser un¬
richtigen Gleichung aus der Kenntnis der Analerotik. Die unbewußte
Gleichsetzung von Kot, Geld und Zeit ist uns wohlbekannt; welche Rolle
spielen aber hiebei die Unlustempfindüngen?
Wenn das kleine Kind die Erziehung zur Reinlichkeit durchmacht, also
durch äußeren Zwang, durch Drohung mit Strafe angehalten wird, seinen
Darminhalt zu einem bestimmten Zeitpunkte zu entleeren, verursacht ihm
diese Einschränkung seines selbstherrlichen analen Luststrebens, das ja zweierlei
1) W. v. Hermann: Staats wirtschaftliche Untersuchungen. München 1870.
*4° Alfred Winterstein
einander entgegengesetzte Tendenzen (Ausstößen und Zurückhalten) in sich
birgt, Unlust, die allerdings durch Lust gemildert wird, indem das zum
anbefohlenen Zeitpunkt erfolgende Absetzen des Stuhles die Analzone lust¬
voll reizt, während wiederum das für die übrige Zeit zur Pflicht gemachte
Stuhlverhalten auch anale Retentionslust hervorruft. Doch überwiegt wohl
jedesmal die Unlust. Die anale Versagung bezüglich der Retentionslust wird
nämlich gleichzeitig auch schon als Strafe für eine Schuld bewertet, wie
ja das Stuhlabsetzen „eine Schuld bezahlen“ bedeutet. In dem durch die
kulturelle Erziehung geregelten Stuhlgang des Kindes haben wir demnach
die erste Pflichterfüllung, das Vorbild für alle spätere Arbeit zu erblicken,
die auch deshalb so leicht in den Dienst innerer Straftendenzen tritt. Ein
gebieterisches Sollen, Vorherrschen von Unlustgefühlen, als Erfolg, als Produkt
die Fäkalien, deren Menge der Größe der Anstrengung entspricht (so wie
angeblich der Geldlohn der Arbeitsmühe): die gleichen Merkmale lassen
sich, sinngemäß verändert, auch beim eigentlichen Arbeitsvorgang aufzeigen,
wo Arbeitsmühe und Arbeitsunlust für Sachgüter hergegeben werden müssen.
Der Resitz erscheint daher ursprünglich als Produkt der Arbeit. Ich brauche
wohl nicht ausdrücklich auf die anale Wurzel des Wortes „Besitz“ (worauf
man sitzt) hinzuweisen. Der sadistische Charakter des Arbeitens hingegen
hat vielleicht ebenfalls schon sein Vorbild in der sadistischen Verwendung
des ExkretionsVorganges beim Kinde. Die Bewertung der Zeit schließlich
(Zeit und Arbeit stehen in innigem Zusammenhang) scheint sich überhaupt
vorwiegend aus analen Quellen herzuleiten, und zwar — worauf Härnik 1
anfmerksam gemacht hat einerseits aus der infantilen Retentionslust,
andrerseits aus der Reinlichkeitsgewöhnung.
Der Kompromißcharakter der ersten Pflichterfüllung, des durch die
Erziehung geregelten Stuhlganges, der einen triebnegierenden äußeren Zwang
erfüllt und gleichzeitig Triebimpulse befriedigt, also den Konflikt zwischen
den Forderungen der Gesellschaft und des Individuums vorbildlich löst,
verleiht auch der realen Arbeit sein Gepräge. Diese ist nicht nur eine
soziale Leistung im Interesse der Selbsterhaltung und Selbsterhöhung, die
ja neben der Genitalität das sicherste Mittel darstellt, den Menschen in der
Außenwelt fest zu verankern, sondern sie dient auch als Ichfunktion un¬
bewußt der Befriedigung von Es-Strebungen und der Erfüllung von Forde¬
rungen des Über-Ichs. Damit ist nicht gesagt, daß in jedem einzelnen Fall
die unbewußt-triebhaften Ansprüche gänzlich erfüllt sein müssen oder erfüllt
i) J. Härnik: Die triebhaft-affektiven Momente im Zeitgefühl. Imago XI, 1925.
Zt\iT Psychologie der Arbeit
l4i
werden können, auch wird die soziale und Gewissensangst nicht überall die
gleiche Rolle spielen, mag auch gerade das unbewußte Strafbedürfnis des
Ichs, das so häufig vorhanden ist (namentlich bei den anal Fixierten), die
mit der Arbeit regelmäßig verbundene Unlust als Sühnemittel willkommen
heißen. Trotzdem erscheint zum vollen psychologischen Verständnis der
Arbeit eine bloße Untersuchung ihrer bewußten, rationalen, vorwiegend
wirtschaftlichen Motivation ohne Kenntnis des unbewußt-triebhaften Unter-
baus unzureichend.
Es sind die prägenitalen und aggressiven Triebe, die in jeder Arbeits¬
tätigkeit, nicht nur dort, wo die Muskulatur als Abfuhrorgan libidinöser
und destruktiver Tendenzen in Betracht kommt, direkte Befriedigung oder
sonstwie Verwendung auf dem Wege der Sublimierung suchen. Auf die Fälle,
in denen die Arbeit durch ihre besondere Beschaffenheit gewissen Partial¬
trieben entgegenkommt, weise ich hier eben nur hin. Wo es sich um den
Gebrauch von Werkzeugen handelt, die bloß eine Fortsetzung, Verlängerung
der eigenen Organe darstellen, werden die Triebansprüche im allgemeinen
leichter auf Erfüllung rechnen können als bei der Anwendung von Maschinen,
denn dort fehlt infolge der Industrialisierung auch jede persönliche Beziehung
zwischen Arbeiter und Produkt, dieselben wenigen Handgriffe müssen ewig
wiederholt werden, und an Stelle der dem Menschen natürlichen, rhythmi¬
schen Bewegungen treten die nichtrhythmischen Geräusche und rotierenden
Bewegungen der Maschine (K. Bücher). Immerhin kann bei einzelnen die
sexualsymbolische Bedeutung der Maschine unbewußten Neigungen (auch
passiven Kastrations wünschen) entgegenkommen. Der sadistische, aktive
Charakter der Arbeit an sich, mit der ja auch die Menschen die Zeit
„totzuschlagen u pflegen, spielt als unbewußte Motivation auch bei solchen
Personen eine Bolle, die in die Arbeit flüchten aus Angst, passiv, feminin
zu erscheinen. Ein weiterer Faktor innerhalb der Arbeitsmotivation ist die
Förderung der Arbeitslust durch Geselligkeit, die erotische, insbesondere
homosexuelle Befriedigungsmöglichkeiten gewährt. Beim Maschinensystem
entfällt die Gelegenheit zu gegenseitiger Unterhaltung, damit aber auch
ein Mittel, das der Arbeitsunlust entgegen wirkt. Auch dort, wo die Arbeit
im Dienste einer Über-Ich-Forderung die unbewußte Bedeutung einer Strafe
angenommen hat, kommt es zu einer Triebbefriedigung, indem das Über-
Ich seine Aggression gegen das Ich auslebt. Rücksichtnahme des Ichs auf
das gestrenge Über-Ich kann wieder in anderen Fällen zu Hemmungen der
beruflichen Tätigkeit führen. Arbeitszwang und Arbeitshemmung erscheinen
so als pathologische Formen von Arbeitslust und Arbeitsscheu.
1 4 3, .Alfred Wmterstem
Die Frage, ob die Arbeitslust oder Arbeitsscheu 1 der natürliche
angeborene, ursprüngliche Zustand des Menschen ist, beantwortet sich auf
Grund unserer Annahmen über das Wesen der Arbeit und auf Grund von
Freuds Formulierungen über die zwei Prinzipien des psychischen Geschehens
eigentlich von selbst. Die Erzählungen von einem paradiesischen oder goldenen
Zeitalter, das die Geschichte des Menschengeschlechtes einleitet, sind nur
Wunschphantasien, die den primären Hang nach einem mühelosen, arbeitslosen
Leben des Genusses spiegeln, wie er noch in den Tagträumen vieler Kultur¬
menschen zum Ausdruck kommt. Methodische, über die Bedürfnisse der
Stunde hinausgehende Arbeit kennt die Urzeit wohl nicht; Jagen und
Pflanzensammeln, das Mann und Frau damals betrieben, namentlich das
Jagen, sind bei nicht allzu ungünstigen äußeren Umständen noch nicht als
eigentliche Arbeit zu bezeichnen und wären hinsichtlich der Lusterlebnisse
am ehesten mit dem Sport oder Spiel zu vergleichen. So wie diese Be¬
schäftigungen befriedigen Jagen, Pflanzensammeln u. dgl. den allerdings
angeborenen Tätigkeitsdrang und Bewegungstrieb des Menschen. Aber solche
narzißtische Funktionslust verträgt sich sehr gut mit Scheu vor regelmäßiger
schwerer Arbeit. Das Roden des Urwaldes war wohl nur eine vorübergehende
Anstrengung, die auch dem Zerstörungstriebe des Mannes entgegenkam. Es
scheint, daß die eigentliche Arbeit ihren Ausgang von der wirtschaftlichen
Tätigkeit der Frau genommen hat, der die Sorge für die dauernde Er¬
nährung der Horde oblag. Als die Schwächere mußte sie auch Unlustvolles
tun, wenn der Mann es befahl. Erst ein gebieterischer Zwang, der von
übermächtigen Naturgewalten oder der Autorität eines Eroberervolkes aus¬
ging, vermochte die natürliche Arbeitsträgheit des Mannes, der Unlust
schwerer zu ertragen scheint als das masochistische Weib, zu überwinden
und so eine Höherentwicklung herbeizuführen.
Die früheren Kulturen 2 zeigen bereits Unterschiede in der Bewertung
der körperlichen Arbeit. Während sich in der mutterrechtlichen Ackerbau¬
kultur und auch in der Kultur der höheren Jäger — wir wissen nicht,
durch welche Einflüsse — die Arbeit einigermaßen zu einer Einrichtung
entwickelt haben muß, zeichnete sich die Nomadenkultur durch eine aus¬
gesprochene Arbeitsscheu und Geringschätzung der Arbeit aus. Als nun
die Träger der beiden erstgenannten Kulturen unter die Herrschaft der
Nomaden kamen, verlieh die autoritative Anschauung der Eroberer der
1) Wagner-Jauregg: Die Arbeitsscheu. Arch. f. Kriminologie. 74. Bd., 1922.
2) W. Köppers u. W. Schmidt: Völker und Kulturen. Erster Teil. Regens¬
burg 1924.
Z/ut Psychologie der Arbeit *4^
körperlichen Arbeit die Note der Niedrigkeit. Die Verwirklichung ihrer mannig¬
fachen kulturellen Bestrebungen konnten sie, da die Unterworfenen, eine wider¬
strebende Mehrheit, kein persönliches Interesse daran hatten, nur durch rück¬
sichtslosen Zwang durchsetzen, der zur Dauerform der Sklaven- und Hörigen¬
arbeit führte. Diese Institution, die den Menschen wahrscheinlich zuerst an
systematische Arbeit in unserem Sinne gewöhnt hat (denn ohne Zwang
wird die Mehrzahl der Menschen kaum zur Kulturarbeit bereit gewesen
sein), trug dann dazu bei, daß die Arbeit noch tiefer verachtet wurde. Der
Sklave als benützbare Arbeitskraft trat zu dem Freien in die Beziehung
eine bloßen rechtlosen Gutes. Das gesamte Altertum 1 war von der Auf¬
fassung beherrscht, daß die Arbeit, sofern sie nicht eine politische oder
geistige war, etwas Erniedrigendes, Verächtliches sei, das daher dem Sklaven
zukomme. Einzig das Judentum mit seinen gesteigerten Gewissens¬
ansprüchen bildete eine Ausnahme. Hier war die Sklaverei verpönt, dagegen
die freie Arbeit hochgehalten. Sie galt als Pflicht und als Ehre, namentlich
in der talmudischen Zeit 2 . Trägheit und Arbeitsscheu wurden als Laster
betrachtet. Es verdient hier auch erwähnt zu werden, daß die hebräische
Sprache allein unter allen antiken ähnliche Ausdrücke wie unser deutsches
Wort „Beruf“ kennt. Eine andere Anschauungsweise kommt allerdings in
der biblischen Tradition zum Ausdruck. In der Genesis wird im Gegen¬
sätze zur Arbeit im Garten Eden, die zum sorgenfreien, paradiesischen
Leben dazugehört, nach dem Sündenfall und der Vertreibung die Arbeit
auf dem Ackerfelde als Strafe für den vom Bösen verführten Menschen
eingesetzt. Der Mann ist von nun an zur Arbeit verdammt. „Im Schweiße
deines Angesichtes sollst du dein Brot essen.“ Vielleicht spiegelt sich auch
in der Paradieseslegende die Verlegung des wirtschaftlichen Schwergewichtes
von der Frau, der die Pflege des Gartens oblag, auf den Mann, der das
Feld mit dem Pfluge bestellt, ohne daß jedoch der Fluch, der auf der
Arbeit des Mannes ruht, dadurch ausreichend begründet würde 3 .
Wenn die psychoanalytische Deutung richtig ist, daß die Sünde Adams
der Inzest war, mußte die symbolische Wiederholung der Tat (die Be¬
arbeitung der Mutter Erde) 4 für das Bewußtsein den stärksten Unlust-
1) Ich sehe von gewissen Ideen der spätantiken Lehre der Stoa ab, die fremde
Einflüsse verraten.
2) M. H. Friedländer: Die Arbeit nach der Bibel, dem Talmud und den Aus¬
sprüchen der Weisen in Israel. Pisek 1890.
3) E. Hahn: Die Entstehung der wirtschaftlichen Arbeit. Heidelberg 1908.
4) „Da ließ ihn Gott der Herr aus dem Garten Eden, daß er das Feld bauete,
davon er genommen ist.“ (Genesis 2.)
J 44 Alfred W^mterstein
Charakter empfangen, um nicht abgewiesen zu werden. Die Feldarbeit wurde
infolge der mit ihr verbundenen Mühe manifest nur als Strafe für den
Ungehorsam gegen ein göttliches Verbot betrachtet. Obwohl der Zusammen¬
hang mit dem eigentlichen Vergehen unerkannt blieb, befriedigte sie auch
das unbewußte Sühnebedürfnis und schuf die Möglichkeit, den verdrängten
Strebungen nachzugeben. Das Bebauen des Erdbodens verrät ja gerade durch
seine reaktiv verstärkte Unlustbetonung, wie sie in der Genesiserzählung
hervortritt, die ihm anhaftende geheime Lustbefriedigung, auch aus analen
Quellen.
Daß späterhin in der Lehre des Judentums der Arbeit das Odium der
Strafe genommen wurde, erklärt sich wohl aus dem fortschreitenden Ver¬
drängungsprozeß, der eine Gegenbesetzung durch Verstärkung der normalen
bewußten Unlustkomponente nicht mehr notwendig machte.
Die ethische Hochschätzung der Arbeit gehört nicht zum wesentlichen
Inhalt des Urchristentums, 1 das die Gewinnung des individuellen Seelen¬
heils in den Mittelpunkt stellte. Wenn sich aber auch das sittlich-religiöse
Tun des Christen nicht unmittelbar in der Arbeit bewährt, die eine Be¬
tätigung für diese Welt hienieden darstellt, so ist die Arbeit dennoch als
Mittel für ein sittliches Handeln wichtig. Ohne Geltendmachung spezifisch
christlicher Motive, völlig im Geiste der alten jüdischen Anschauung wird
auch die Notwendigkeit der Arbeit an sich als einer rein weltlichen An¬
gelegenheit eingeschärft. „Wer nicht arbeitet, der soll auch nicht essen“
(Paulus, l. Thess. 4, ix, 12). Das höhere Ansehen, das die Arbeit im
Christentum gegenüber der Bewertung in der römisch-griechischen Antike
genoß, ohne freilich im Sinne der ältesten Christen selbst etwas Sittliches
zu sein, erklärt sich nicht nur aus der jüdischen Tradition, sondern auch
aus der Gesellschaftsklasse, der der Stifter der Religion, selber ein Zimmer¬
mann, und die Urgemeinde angehörten. Die Lehre der Gleichheit aller vor
Gott hob auch den Unterschied zwischen der verächtlichen Sklavenarbeit
sowie der Arbeit zu Erwerbszwecken, der banausischen Arbeit einerseits
und der eines freien, unabhängigen Mannes würdigen Tätigkeit andrerseits
auf. Trotzdem hatte die Hörigkeit der bäuerlichen Bevölkerung eine Minder¬
bewertung ihrer Tätigkeit zur Folge.
In den Zünften des Mittelalters hat die freie handwerkliche Arbeit als
„einsame Werkschöpfung“ (W. Sombart), 2 die sie in die Nähe der künst-
1) Ad. Harnack: Thesen über den Wert der Arbeit nach urchristlicher Anschauung.
In. Aus Wissenschaft und Lehen. Zweiter Band. Gießen 1911.
2) W. Sombart: Der Bourgeois. München und Leipzig 1913.
Zur Psychologie der Arbeit_1^5
lerischen Arbeit rückte, ihren ehrenvollen Charakter am stärksten zum Aus¬
druck gebracht. Aber dann trat ein Rückschlag ein, zunächst verursacht
durch den wachsenden staatlichen Zentralismus, dessen Einfluß im Laufe der
Zeit durch die immer freier werdende Organisation der Wirtschaft zurück¬
gedrängt wurde (hier wäre auch des Anteils des Protestantismus an diesen
Entwicklungen zu gedenken). Die neue einheitliche, rationelle Wirtschafts¬
form hat zwar im Zeitalter des Kapitalismus und Liberalismus der soge¬
nannten freien, d. h. auf Grund des ArbeitsVertrages freiwillig und ent¬
geltlich übernommenen abhängigen Arbeit Eingang verschafft und den
physischen und rechtlichen Zwang beseitigt, doch gab die durch wirt¬
schaftliche Bedrohung bedingte Unterwerfung unter einen fremden Willen
der Arbeit tatsächlich wiederum vielfach den Charakter der Sklaverei. Der
Arbeiter schien zu einem kapitalistischen „Produktionsmittel“ entwürdigt
zu sein. Je weniger nun das durch den Arbeiter hergestellte Werk seinen
eigenen Persönlichkeitszielen entsprach, desto stärker und quälender emp¬
fand er die Abhängigkeit von dem Unternehmer, desto großer wurde sein
Haß gegen den Kapitalisten, der ihm überdies nur einen geringen Teil des
Arbeitserträgnisses zuerkannte. Die systematische Verdrängung von Rache¬
impulsen und Neidgefühlen, die Verstärkung des unbewußten Vaterhasses
schuf dann jenen reaktiven psychischen Dauerzustand, den wir seit Nietzsche
als Ressentiment zu bezeichnen pflegen. Die Stauung der nichtentladenen
Affekte bewirkt eine Regression auf die sadistisch-anale Stufe und ein Über¬
wuchern des symbolischen Erlebens auf Kosten der realen Bedeutung.
Nietzsche (mit seinem „Sklavenaufstand in der Moral“) und nach ihm
Max Scheler 1 haben gezeigt, wie auf dem Boden des Ressentiments ge¬
wisse moralische Werturteile erwachsen, die einen Protest der Unterlegenen
gegen die Anschauung und Lebensweise der Herrschenden darstellen. Die
aus der Not geborenen Grundsätze der Lebensführung werden zu allge¬
meinen Tugenden geadelt. Es ist die Moral des Fuchses, dem die uner¬
reichbaren Trauben zu sauer sind. Was nicht erarbeitet wird, was ursprüng¬
liche Anlage, angeborene Eigenschaft, Gnadengabe, ererbtes Gut ist, dem
kommt im Sinne der Leistungsmoral kein sittlicher Wert zu. Die Ressenti¬
menteinstellung der durch die Wirtschaftsordnung Unterdrückten gab also
der Berufsarbeit ohne Unterschied wieder die ethische Weihe (ähnlich wie
seinerzeit im Urchristentum). Je mehr sich dann die rechtliche Stellung
der besitzlosen Klassen im Verlaufe der Zeit besserte, desto eher eigneten
1) M. Scheler: „Das Ressentiment im Aufbau der Moralen.“ In: Abhandlungen
und Aufsätze. Leipzig 1915.
.
Alfred Winterstem
sich auch die an Einfluß stets zunehmenden Schichten des Bürgertums i m
Gegensätze zum Adel diese Auffassung von der Arbeit an.
Aber auch die religiösen Mächte mit ihren asketischen Tendenzen
waren an der Werterhöhung der Arbeit beteiligt. Sie sind es vor allem,
die den für die Neuzeit so charakteristischen Arbeitstrieb entfesselt haben,
der nach Fortfall der bewußten religiösen Motivation nicht selten in einen
für die Vernunft sinnlosen, unbewußt determinierten Zwang zur Arbeit um
ihrer selbst willen ausartete. Die protestantische Ethik, insbesondere die des
Calvinismus und seiner englisch-holländischen Spielart, des Puritanis¬
mus, hat nicht nur, wie Max Weber in einer vielgerühmten Abhand-
lung 1 auseinandergesetzt hat, als Nährboden das Wachstum des kapitalisti¬
schen Geistes gefördert, obgleich diese Ethik selbst ihrer Tendenz nach ganz
unkapitalistisch war, sie hat auch der Arbeitsgesinnung eine besondere sitt¬
liche Bedeutung verliehen. (Die Berufsethik des Judentums gründet sich
auf ähnlichen triebpsychologischen Voraussetzungen.) Wort und Begriff „Be¬
ruf im heutigen Sinne von Lebensstellung, umgrenztem Arbeitsgebiet sind
überhaupt erst ein Produkt der Reformation; die sittliche Qualifizierung
des Berufslebens ist gleichfalls ihre Leistung, im besonderen ein Werk
Luthers, in dessen Bibelübersetzung ja der Ausdruck „Beruf“, so wie wir
ihn heute verstehen, zum erstenmal vorkommt. Ihm erscheint die welt¬
liche Berufsarbeit welcher Art immer als der wahre Gottesdienst und zu¬
gleich als Erfüllung des Gebotes der Nächstenliebe. In dieser neuen sittlich¬
religiösen Auffassung des weltlichen Berufslebens wurzelt auch der Gedanke
der Berufspflicht. Aber während bei Luther die weltliche Berufsarbeit
ein fröhliches, diesseitiges Antlitz trägt trotz ihres gottesdienstlichen Charak¬
ters, nimmt sie bei Calvin, der sie mit seinem Dogma von der Gnaden¬
wahl in enge Verbindung brachte, finstere, asketische Züge an. Der Mensch
vermag durch eigenen Willen weder im Guten noch im Bösen sein Schicksal
zu beeinflussen. „Gott hat zur Offenbarung seiner Herrlichkeit durch seinen
Beschluß einige Menschen bestimmt zu ewigem Leben und andere verordnet
zu ewigem Tode,“ heißt es in der „fVestminster Confession“ von 1647. Die
Welt dient der Selbstverherrlichung Gottes und der erwählte Christ ist nur
dazu da, den Ruhm Gottes in der Welt durch Vollstreckung seiner Gebote
1) M. Weber: Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus. In: Ge¬
sammelte Aufsätze zur Religionssoziologie. I. Bd. 2. Aufl. Tübingen 1922. Verwandte
Anschauungen bei Ernst Troeltsch: Protestantisches Christentum und Kirche in
der Neuzeit. In: Die Kultur der Gegenwart. Teil I, Abt. IV, 1. Hälfte. Berlin und
Leipzig 1905.
Zxit Psychologie de r Arteit
1 47
zu mehren. Auch die Berufsarbeit als eine von Gott ge wollte soziale Lei¬
stung ist lediglich Arbeit in majorem gloriam Dei . Rastlose Arbeit, Abkehr
von jedem triebhaften Lebensgenuß, Selbstbeherrschung ist gottgewollte
Pflicht. Die Berufsarbeit ist auch das einzige Mittel, um der Angst vor
der eigenen sittlichen Minderwertigkeit und dem quälenden Zweifel an
seiner religiösen Auserwähltheit zu entgehen. Die Erleichterung des Schuld¬
bewußtseins durch die Beichte, die eine abgeschwächte Wiederholung der
verpönten Phantasietat ermöglichte, war ja dem Calvinisten versagt; er
stand ganz einsam in narzißtischer Selbsterhöhung vor seinem unmensch¬
lichen Gott. Unermüdliche Berufstätigkeit hat jedoch nicht bloß diese nega¬
tive, narkotisierende, verdrängende Wirkung, sondern auch eine positive:
nur in der stetigen weltlichen Arbeit bewährte sich praktisch der Glaube,
erwählt zu sein, und verdichtete sich schließlich zur Heilsgewißheit, zur
Sicherheit des Gnadenstandes. Der durch religiöse Gewissensnöte motivierte
Arbeitstrieb erhielt sich auch dann noch als psychischer Zwang, als sein
metaphysisches Ziel zu bestehen aufgehört hatte. Statt dessen wird Geld¬
besitz, Kapitalbesitz zur Beschwichtigung des Schuldgefühls angestrebt. Hier
ist der seelische Zusammenhang zwischen der puritanischen Ethik und dem
Geiste des Kapitalismus ganz deutlich erkennbar. Pfarrer Pfister hat be¬
reits in seiner gedankenreichen kleinen Schrift über den „seelischen Auf¬
bau des klassischen Kapitalismus und des Geldgeistes“ (Bern 1923) darauf
hingewiesen, daß das Geld zum Symbol für Liebe wird; ich füge hinzu,
für jene göttliche Gnade und väterliche Liebe, deren der Calvinist in seinem
endlosen Tätigkeitsdrange gewiß werden will.
Meine kurz zusammengefaßten Ausführungen über die calvinistische Lehre
haben an das Bild einer Zwangsneurose denken lassen, die ja ganz auf¬
fällige Übereinstimmungen mit der Religion Calvins zeigt, Übereinstimmungen,
welche in diesem Falle die auch sonst anzutreffenden Analogien zwischen
Religion und Zwangsneurose noch um einiges übertreffen. Die Unterdrückung
der gegen die Gottheit gerichteten aggressiven Triebregungen verwandelte
diese Tendenzen in Schuldgefühl und Angst; die von Calvin so tief empfundene
sittliche Minderwertigkeit entsprach nur der Stärke der dem Über-Ich zu¬
geschobenen Aggression, das auch in seiner besonderen Strenge keiner Ent¬
lastung des Schuldgefühls durch die Beichte zustimmte; Calvins Lehre von
der Unfähigkeit des Willens zu irgend etwas Gutem hingegen entsprang der
inneren Wahrnehmung von der Gewalt seiner destruktiven Triebe. Der
Zweifel des Calvinisten, ob gerade er auserwählt, d. h. von Gott geliebt
oder zum ewigen Tode verdammt sei, spiegelte nur seine eigene am Vater-
.
i^8
Alfred Wmterstein
komplex haftende Ambivalenz wider. Das Gebot, diesen ungerechten, nar¬
zißtischen Gott zu verherrlichen, der die Welt zu seinem eigenen Ruhm
erschaffen hat, diente als Abkömmling der positiven, masochistischen Gefühls¬
einstellung zum Vater der zwanghaften Abwehr der aggressiven und feind¬
seligen Regungen, die als Zweifel immer wieder im Bewußtsein Eingang
fanden. Als hervorragendstes Mittel zur Überwindung des religiösen Zweifels
wurde nun von Calvin unermüdliche Berufsarbeit „zur Ehre Gottes“ ein-
geschärft, die die asketische Durchdringung des gesamten Alltagslebens mächtig
förderte. Diese äußere Aktivität wies den Kompromiß Charakter jedes Zwangs-
symptoms auf, indem sie zwar die Erfüllung eines göttlichen Gebotes dar¬
stellte und durch die Abwendung von jedem Sinnesgenuß auch einen Trieb¬
verzicht, andrerseits aber schon durch ihre Rastlosigkeit ihre Abkunft von
dem verdrängten Triebe verriet und die verschobene Aggression in der selbst¬
quälerischen Methode der Lebensführung und in dem Haß und der Verachtung
gegen die nicht Auserwählten sowie in der beruflichen Aktivität selbst be¬
friedigte. Dadurch wurde der gläubige Calvinist — wenigstens vorübergehend
— von seiner Angst um die Seligkeit, von seiner auf die Zukunft gerichteten
Erwartungsangst befreit und durfte hoffen, die religiös-metaphysische Selbst¬
gewißheit zu erlangen, die dann eintrat, wenn die unbewußte Tendenz nach
Unsicherheit von der gegensätzlichen Strebung erfolgreich niedergehalten
wurde.
Es kann nicht Aufgabe dieser Arbeit sein, des näheren festzustellen, welche
seelischen Vorgänge innerhalb der religiösen Gemeinschaft diese rigorose
Lehre entstehen ließen. Nur so viel: Wenn die lutherische Reformation eine
Auflehnung des mündig gewordenen Geistes gegen die überlebte Zwangs¬
herrschaft der katholischen Kirche bedeutete, so muß wohl der Calvinismus
als ein vom Schuldgefühl inspirierter Rückfall in eine noch strengere Gesetzes¬
religion bezeichnet werden. Indem aber Calvin Hingabe an die Berufsarbeit
als wirksamstes Narkotikum gegen die religiös-metaphysischen Zweifel empfahl
und auf alle magisch-sakramentalen Heilsmittel verzichtete, gelang es ihm,
mächtige Energien, die bis dahin innerlich gebunden gewesen waren, für die
Bewältigung der äußeren Realität freizubekommen, nicht ohne daß freilich
dadurch die berufliche Aktivität zum Arbeitszwang, zum Arbeitstrieb ge¬
worden wäre. Als späterhin die religiöse Motivierung der unausgesetzten Be¬
rufsarbeit für das Bewußtsein vieler nicht mehr wirksam war, stand dennoch
unsichtbar die religiös-metaphysische Verzweiflung des gottlosen Sohnes hinter
dem fanatischen Tätigkeitsdrang, wie ihn vor allem der Unternehmer der
kapitalistischen Epoche an den Tag legte. Er arbeitete gleich dem Arbeiter
2/ur Psychologie der Arbeit 1-49
unter einem Zwang; nur war es eine Gebundenheit nach innen. Der puritani¬
sche Kaufmann suchte sich in seinem unbewußten Schuldgefühl durch Er¬
füllung seiner Berufsaufgaben der Gnade und Liebe Gottes zu versichern, der
kapitalistische Geschäftsmann, profithungrig und unternehmungslustig, strebt
durch seine Arbeit nach Kapitalbesitz, nach Geld, das nur ein regressiv¬
erniedrigtes, anales 1 Symbol für Liebe darstellt. Daß der asketische Idealtypus
des kapitalistischen Unternehmers die Arbeit, das Erarbeiten als Selbstzweck
betrachtet und sich den Genuß des erworbenen Reichtums gar nicht gönnt
(„Labor ipse voluptas“ ; 2 die Arbeit selbst ist der erstrebte Genuß, könnte auch
sein Wahlspruch lauten), ist wohl hauptsächlich auf ein überstarkes un¬
bewußtes Strafbedürfnis zurückzuführen. Von hier eröffnet sich dann auch
ein verheißungsvoller Ausblick auf die engen psychologischen Beziehungen
zwischen dem kapitalistischen Geiste einerseits und dem analen Charakter
sowie der Zwangsneurose andrerseits (man kann sie in klassischer Ausprägung
bei Benjamin Franklin studieren, dem Urheber des Sprichwortes „Zeit ist
Geld“ und Erfinder des Blitzableiters), doch glaube ich, schon mit vorstehenden
Bemerkungen die Wurzeln des modernen Arbeits- und Erwerbstriebes genügend
deutlich aufgezeigt zu haben.
Die griechische Sage erzählt uns von dem verschlagenen Handelsmann und
ersten Könige Korinths, Sisyphos, der wegen seines Frevels gegen Zeus ver¬
dammt wurde, in der Unterwelt einen schweren Stein ewig von neuem einen
steilen Berg hinauf zu wälzen — das Bild des Mannes, der in ewiger Unruhe
seinen Verstand abmüht zur Gewinnung materieller Güter, deren Besitz doch
niemals befriedigt, denn im Grunde sucht er ja nichts als Liebe. Was den
Hellenen als Höllenstrafe galt, die Arbeit des Sisyphos, ist das Ideal des modernen
Wirtschaftsmenschen geworden.
1) Dem Herrn der vorkapitalistischen Epoche galt bezeichnenderweise das Geld
ebenso wie alle Erwerbstätigkeit als „schmutzig“. Geld ist zum Ausgeben bestimmt:
„usus pecuniae est in emissione ipsius “ (S. Thomas).
2) In Wahrheit der Wahlspruch L. v. Rankes.
Formen und jMLotrve der A ntliropopLagie
Vortrag in der Deutschen Psychoanalytischen Gesellschaft am 1 Juni
Von
Felix Boelim
Berlin
Seit Freud in der dritten Auflage seiner „Drei Abhandlungen zur Sexual¬
theorie“ 1 die orale oder kannibalische erste prägenitale Sexualorganisation,
bei der das Sexualziel in der Einverleibung des Objektes besteht, beschrieben
hat, — seit er uns in seiner Arbeit „Trauer und Melancholie“ 2 3 4 die Be¬
deutung dieser Organisationsstufe für die Melancholie geschildert hat, und
seit uns Abraham in seinen Arbeiten „Untersuchungen über die früheste
prägenitale Entwicklungsstufe der Libido“ 3 und „Versuch einer Entwicklungs¬
geschichte der Libido * auf die große praktische Bedeutung dieser Entwick¬
lungsstufe hingewiesen hat, hat das Interesse für die Auswirkung dieser
frühesten Sexualbetätigung des Kindes bei späteren Erkrankungen immer
mehr zugenommen. 5
In seiner zuerst genannten Arbeit kommt Abraham in der analytischen
Durchleuchtung eines Falles von „Schizophrenia simplex“ zu folgender Zu¬
sammenfassung der Eigentümlichkeiten des Kranken:
1) Die orale Zone überwiegt an Bedeutung die anderen erogenen Zonen.
Insbesondere tritt die Saugelust hervor. Milchsaugen führt einen Zustand
der Befriedigung herbei.
1) Ges. Sehr., Bd. V, S. 72.
2) Ges. Sehr., Bd. V, S. 543.
3) Int. Ztschr. f. PsA. IV, 1916/17, S. 71.
4) Int. PsA. Verlag 1924.
5 ) auch Landauer: Spontanheilung einer Katatonie. Int. Ztschr. f. PsA. II,
1914, S. 441.
Formen und Motive der Anthropophagie i5i
o) Sexualfunktion und Ernährungsfunktion sind im Saugeakt miteinander
verknüpft.
3) Dem Objekt gegenüber, welches die Wunschphantasien des Patienten
auf sich gezogen hat, besteht das Verlangen nach Einverleibung. (Vom Patienten
selbst als kannibalistische Regung bezeichnet.)
Unter den wichtigsten und hervorstechendsten Äußerungen depressiver
Geistesstörungen findet Abraham zwei Symptome: die Verweigerung der
Nahrungsaufnahme und die Angst vor dem Verhungern. Beide führt er auf
einen mißglückten Versuch der Regression auf die oral-kannibalistische Ent¬
wicklungsstufe der Libido zurück. Die mit diesen Triebregungen verknüpften
Selbstanklagen sind manchmal ziemlich durchsichtig. Aus Kraepelins Lehr¬
buch der Psychiatrie führt Abraham folgendes Beispiel an: „Der Kranke
hat die ganze Welt ins Unglück gestürzt, die eigenen Kinder gegessen, die
Gnadenquelle fortgetrunken.“
„Mit aller Deutlichkeit spricht die kannibalische Wunschphantasie auch
aus einer bestimmten Form depressiver Wahnbildung. In vergangenen Zeiten
war die Wahnvorstellung, die ich im Auge habe, außerordentlich verbreitet,
doch auch jetzt ist sie noch nicht ganz verschwunden. Es ist die Wahn¬
vorstellung, in ein wildes Tier verwandelt zu sein, das Menschen verschlingt.
Der älteren Psychiatrie war diese wahnhafte Selbstanklage so geläufig, daß
man nach ihr einen bestimmten Zustand der „Besessenheit“ als Lykanthropie
bezeichnete. Es war der Wahn, in einen Werwolf verwandelt zu sein.“
In dem Schlußkapitel dieser äußerst lehrreichen Arbeit sagt Abraham:
„Die unbewußten kannibalischen Regungen, welche mir bestimmten Sym¬
ptomen der depressiven Geistesstörungen zugrunde zu liegen scheinen, existieren
auch beim normalen erwachsenen Menschen. Sie kommen gelegentlich in
seinen Träumen zum Vorschein.“
„Ein Bekannter berichtete mir einmal folgenden Traum. Er sah vor sich
eine Schüssel mit Essen , das ihm seine Frau zubereitet hatte. Die Masse in
der Schüssel sah wie Gemüse aus: darauf aber lagen — als wären sie mit
dem Gemüse gekocht - die Beine eines Kindes. Sie erinnerten den Träumer
während des Traumes an die Glieder seines kleinen Sohnes. Er erwachte
mit größtem Entsetzen; aus dem Schlafe aufschreckend, wurde er sich klar
darüber, daß er im Begriffe gewesen war, im Traume Teile seines eigenen
Kindes zu verzehren.“
In seinem „Versuch einer Entwicklungsgeschichte der Libido“ führt
Abraham im Bereich der oralen Entwicklungsstufe eine Stufung ein;
er unterscheidet eine primäre Saugestufe; die Libido des Kindes ist an
Felix BoeLm
i5a
den Saugeakt gebunden, das Verlangen nach lustvoller saugender Betätigung
beherrscht das Liebesieben des Kindes. Die sekundäre Stufe ist von der
primären unterschieden durch die Wendung von der saugenden Mundtätig'
keit zur beißenden; das Beißen stellt die Urform des sadistischen Impulses
dar. Das Gebiß ist das Werkzeug, mit dessen Hilfe das Kind zuerst Zer¬
störungen in der Objektwelt anrichten kann; so daß diese Stufe als oral-
sadistische bezeichnet werden kann.
Um zu vergleichen, wie weit die durch unsere Analysen erworbenen
Kenntnisse von dieser Organisationsstufe mit den wirklichen Gebräuchen
der Kannibalen übereinstimmen, dürfte es von Interesse sein, diese Ge¬
bräuche selbst näher kennenzulernen. Ich will daher im Rahmen einer
kurzen Arbeit versuchen darzustellen, welche Formen der Kannibalismus
bei den Primitiven hatte und noch heute hat, und was wir von den Primitiven 1
über ihre Motive erfahren können.
Der Name Kannibalismus ist durch ein Mißverständnis entstanden. Als
die Spanier die Antillen entdeckten, fanden sie hier einen wilden Volks¬
stamm vor, welcher Menschenfleisch zu sich nahm, dessen Angehörige
„Caribe“ oder „Caribal“ genannt wurden; die Spanier verstanden „Canibal“;
und von dieser Entstellung stammt seitdem die Bezeichnung Kannibale für
einen Menschen, welcher Menschenfleisch ißt. Der Kannibalismus ist heute
noch über die Erde verbreitet, tritt unter den verschiedensten Formen und
Motivierungen auf und hat sicher schon in den prähistorischen Zeiten be¬
standen. — Freud, welcher als erster in seinem Werk „Totem und Tabu“
auf „einige Übereinstimmungen im Seelenleben der Wilden und der Neurotiker“
hingewiesen hat, läßt die Anthropophagie am Anfang der Menschheitsgeschichte
beginnen: „Eines Tages taten sich die ausgetriebenen Brüder zusammen, er¬
schlugen und verzehrten den Vater und machten so der Vaterhorde ein Ende.
Vereint wagten sie und brachten zustande, was dem Einzelnen unmöglich
geblieben wäre. Vielleicht hatte ein Kulturfortschritt, die Handhabung einer
neuen Waffe, ihnen das Gefühl der Überlegenheit gegeben. Daß sie den
Getöteten auch verzehrten, ist für den kannibalen Wilden selbstverständlich.
Der gewalttätige Urvater war gewiß das beneidete und gefürchtete Vorbild
eines jeden aus der Brüderschar gewesen. Nun setzten sie im Akte des Ver-
zehrens die Identifizierung mit ihm durch, eigneten sich ein jeder ein Stück
seiner Stärke an.“ Bemerkenswert ist, daß Freud das erste Erschlagen und
1) Der Ausdruck primitiv ist natürlich durchaus relativ zu verstehen und umfaßt
Völker, die auf ganz verschiedenen Stufen der Entwicklung stehen.
Formen und Motive der Anthropophagie
Verzehren des Vaters mit einem Kulturfortschritt, einer Handhabung einer
neuen Waffe in Zusammenhang bringt.
Über das Vorkommen von Kannibalenmahlzeiten in prähistorischer Zeit
besitzen wir eine ganze Reihe von Zeugnissen. Der erste, welcher auf
Kannibalismus in vorgeschichtlicher Zeit schon in den vierziger Jahren
des vorigen Jahrhunderts hinwies, war Professor A. Spring in Lüttich,
welcher die Höhlen von Chauvaux bei Namur in Belgien durchforschte
und hier in großer Masse Menschen- und Tierknochen mit Asche und
Kohlenstücken vermengt vorfand. Adle Röhrenknochen waren zerschlagen,
„um zu dem Marke zu gelangen“, und ein Unterschied zwischen Menschen -
und Tierknochen fand hiebei nicht statt. Wohl aber durfte Spring sich
wundern, daß kein einziger Knochen einem alten Mann oder einer alten
Frau angehört hatte, denn sämtliche Überreste stammten von Jünglingen,
jungen Frauen und Kindern, woraus Spring auf Feinschmeckerei der alten
kannibalischen Höhlenbewohner schließt, die, nicht von der Not gedrängt,
nur das zarte Fleisch jugendlicher Genossen verzehrten.
Milne Edwards 1 fand in der Grotte von Lourdes, Piette in der von
Gourdan Knochen mit Spuren der Benagung. Garrigon und Filhol
fanden aufgeschlagene menschliche Röhrenknochen im Pyrenäengebiet. Abbe
Pouech und Regnault fanden in der Höhle von Montesquieu-Avantes
unter mancherlei Säugetierknochen Menschenknochen mit solchen Spuren;
ebenso fand Vicomte Lepic in der Höhle von La Grande Barm solche Knochen
unter Küchenabfällen. In der Gegend voji Paris zu Villeneuve—St. Georges
und La Varenne—Saint Maur trifft man ebenfalls Spuren von kannibalischen
Mahlzeiten.
In Scarborough fand Rev. Porteo ein unordentlich hingeworfenes Skelett,
das auf Kannibalismus hinweist. Bei dem Dorfe Hammer in Dänemark liegen
an einem Dolmen wirr durcheinander benagte Menschen- und Hirschknochen.
Einen ähnlichen Fall führt Worsac von Borreby an. Die Zeugnisse von
Abbe Chierici und Capellini zeigen uns, daß die Anthropophagie auch
in Italien eine Heimstätte hatte; Delgado zeigt uns an einem Höhlen¬
funde von Cesareda, daß in Portugal, und Capt. Burton durch Funde in
Beith Sahur, daß auch in Palästina Anthropophagen lebten. Verbreiteter als
in Europa war der Kannibalismus bei den alten Stämmen Amerikas. Wyman
fand unzweifelhafte Spuren in den Kjökkenmöddings von Florida, Man ly
Hardy in den Neu-England-Staaten, Wiener in den Sambaquis Brasiliens.
1) Nadaillac, die ersten Menschen. S. 395.
Imago XVIII.
11
Interessant ist, daß keiner der angeführten Funde der frühen (paläolithi-
schen) Steinzeit angehört. Henkenius 1 zieht daraus den Schluß, „daß erst
mit einem gewissen Grade von Intelligenz dies Laster, das beim Tiere wenig
vorkommt, nämlich Individuen der eigenen Art zu fressen, beim Menschen
erwachte u .
Für diese Auffassung scheint zu sprechen, daß in den aus der älteren
neolithischen Zeit stammenden Kjökkenmöddinger an den Küsten der Ost¬
see keine Spuren von Kannibalenmahlzeiten gefunden worden sind, wohl
aber zahlreich in den aus einer viel jüngeren Periode der neolithischen Zeit
stammenden Kjökkenmöddinger in Amerika, welche Zeichen einer viel fort¬
geschritteneren Kultur tragen. Die Befunde der Grotte von Gourdan sprechen
dafür, daß die Bewohner der Renntierzeit angehörten (das Ren gehört einer
späteren Periode an als der Höhlenbär und das Mammut, wohl der Post¬
glazial- oder der Spätglazialzeit); sie waren wahrscheinlich eine Art von
Kopfschneller, welche die Häupter ihrer Feinde als Siegestrophäen in die
Grotte hineinbrachten, diese dort skalpierten und dann das Gehirn verzehrten;
also nicht aus Hunger, sondern nur zur Befriedigung magischer Bedürfnisse
Anthropophagen waren, wie heute viele Primitive auf ziemlich hoher Kultur¬
stufe. Die Oberschenkelbeine mit für Kannibalismus sprechenden Einschnitten
in der Grotte dei Colombi auf der Insel Palmaria hat man zusammen mit Feuer¬
steinwerkzeugen, Topfscherben und Knochennadeln und mit den Knochen
von Ziegen, Schweinen, Rindern usw. gefunden, d. h. die Bewohner gehörten
durchaus einer jüngeren Epoche der Steinzeit an. Die Spuren von Kanni¬
balenmahlzeiten auf der Iberischen Halbinsel in der Grotte von Peniche
befinden sich in neolithischen Ablagerungen, ebenso die in der Einhorn¬
höhle bei Scharzfeld am Harz. Die Kannibalenmahlzeiten einer Höhle beim
Dorfe Holzen, unweit Eschershausen, stammen aus der Bronzezeit. In den
Dolmen des Departements Lozere hat man angenagte Knochen und (zur
Gewinnung des Markes) aufgeschlagene Röhrenknochen neben einem mit
Bronzeschmuck versehenen Skelette gefunden. Die alten Bewohner des
Departements Aveyron in Südfrankreich schmückten sich mit durchbohrten
Menschenzähnen, die, an Schnüren aufgereiht, als Ketten getragen wurden,
wie es heute noch zum Beispiel die Niam-Niam und die Aschanti tun.
Nur ein einziger möglicherweise für eine Kannibalenmahlzeit sprechender
Fund reicht bis in die vierte Eiszeit zurück, in der die Technik der Stein¬
bearbeitung aber auch schon relativ weit fortgeschritten war: es sind die
1) Entstehung und Verbreitung der Anthropophagie.
Formen und Motive der Anthropophagie
vielen in einem einzigen Feuerherd liegenden zerbrochenen und mehr oder
weniger angebrannten Menschenknochen von Krapina in Kroatien 1 .
Über das Vorkommen der Anthropophagie bei kulturell ziemlich hoch¬
stehenden Völkern in historischer Zeit besitzen wir eine ganze Reihe von
Zeugnissen.
Herodot (I, 216) berichtet uns von den Massageten, einem skythischen
Volk in Zentralasien: Wenn jemand ein sehr hohes Alter erreicht, so kommen
seine nächsten Blutsverwandten zusammen und opfern ihn und mit ihm
mehrere Schafe. Nach vollbrachtem Opfer kocht man sowohl den geopferten
Anverwandten als auch die geschlachteten Schafe und verzehrt beide gemein¬
schaftlich. Von ihren Nachbarn, den Issedonen, berichtet er (IV, 26), daß
die Söhne nach dem Tode der Väter Opfertiere schlachteten, dann die ge¬
storbenen Väter wie die geschlachteten Tiere zerstückelten, beides kochten
und verzehrten. Besonders aber hoben sie die Schädel der Verstorbenen als
große Heiligtümer auf, faßten sie in Gold und brauchten sie bei ihren
jährlichen Opfern. In Indien nennt Herodot (III, 38, 97, 99) mehrere
Völker, unter welchen die Kinder entweder ihre verstorbenen Eltern ver¬
zehrten, oder wo man jeden kranken Verwandten bald umbrachte, damit
das Fleisch sich nicht verschlechtere, weil es zum Verzehren bestimmt war.
Aristoteles hebt die Anthropophagie einiger Völker am Pontus hervor.
Strabo (XI, 520) berichtet ganz Ähnliches von den Derbikern in Mar-
giana. Sie erwürgen Greise, sobald sie das siebzigste Jahr zurückgelegt haben,
und die Verwandten verzehren deren Fleisch. Alte Frauen von gleichem
Alter werden zwar erwürgt, aber nicht gegessen, sondern begraben. — Ich
darf vielleicht gleich bemerken, daß bei vielen primitiven Stämmen der
Gegenwart die Beerdigung eine verächtliche Behandlung der Leiche ist.
Von den Karmaniern, einem Volke westlich des Indus nach Persien
hin wohnend, erfahren wir (Strabo XV, 727): „Keiner heiratet, bis er einem
Feinde den Kopf abgeschnitten und dem Könige gebracht hat; dieser aber
verwahrt die Schädel in der königlichen Wohnung, die Zunge jedoch
schneidet er in kleine Stücke, vermischt sie mit Mehl und gibt sie, nach¬
dem er selbst davon gekostet, dem Überbringer und dessen Verwandten zum
Verspeisen. “
Von Irland erzählt Strabo (IV, 201), daß seine rohen Bewohner sowohl
Menschen- als Vielfresser seien und es für rühmlich halten, ihre verstor¬
benen Eltern zu verzehren ... Er berichtet hier ferner, daß die Menschen-
1) Dr. Kal Gorjanovic -Kramberger: Mitt. d. Anthropol. Ges. in Wien, XXXI.Bd.,
1901, Heft III/IV.
11*
156 Felix Bo eli m
fresserei auch eine skythische Sitte gewesen sein soll. Dieselben Angaben
finden wir bei Diodorus Siculus. 1 Nach dem Zeugnis des Porphyrios
geschah es, daß man namentlich auf Chios und Tenedos bei den blutigen
Bacchanalen, die Omophagien genannt wurden und die man alle drei Jahre
beging, einen Menschen gliedweise zerstückelte und sein Fleisch roh ver¬
schlang. Aber nicht allein auf Griechenland beschränkten sich solche Myste¬
rienbräuche. Nach Sallust tranken Catilina und seine Genossen zur Be¬
kräftigung ihres Bundes nicht bloß Menschenblut unter Wein gemischt,
sondern es wurde auch nach den bestimmten Versicherungen der Alten ein
Knabe geopfert, auf seine Eingeweide geschworen und davon gegessen.
Juvenal redet von den Knabengedärmen, welche der römische Weissager,
der Haruspex, durchwühlte. Kleine Kinder zu religiösen Zwecken geopfert
zu haben, macht Horaz in seiner fünften Epode der vormals geliebten
Canidia zum Vorwurf.
Plinius berichtet, daß noch im Jahre 87 v. Chr. in Born ein Verbot der
Menschenopfer erlassen wurde; dieses Verbot wurde dann nochmals erneuert
durch Augustus, ferner durch Tiberius, ja sogar noch durch Hadrian.
Unter den christlichen Vätern erwähnt Tertullian, wie man bis auf
seine Zeit im Bunde des Jupiter Menschenblut getrunken habe. Auch in
den Mithra-Mysterien, welche Kaiser Heliogabal 2 noch im dritten Jahr¬
hundert feierte, wurde ein Knabe geschlachtet und gegessen.
Juvenal, der unter Domitian nach Ägypten verbannt wurde, berichtet
von den Ägyptern, daß sie den Genuß von Menschenfleisch gestatteten.
Wie weit das eine historische Tatsache ist, dürfte zweifelhaft sein; jedoch
scheint die Anthropophagie der alten Ägypter nach den Ausführungen von
H. C. Jelgersma 3 sehr wahrscheinlich zu sein. Die Ausgrabungen be¬
weisen uns, daß die Ägypter die Tötung von Menschen in großem Aus¬
maße bei Begräbnisfeiern kannten; Bäder in Menschenblut galten bei ihnen
als Mittel gegen Aussatz; als Mittel gegen die Fallsucht wurde das Menschen¬
blut im Altertum angesehen. In China soll sich der Gebrauch von Menschen¬
fleisch gegen gewisse Krankheiten bis heute erhalten haben.
Der heilige Hieronymus 4 schildert in ziemlich glaubwürdiger Weise
als Augenzeuge, daß die Atticoten (Attacoten?) in Nordeuropa sich von
1) Griechischer Geschichtsschreiber unter Caesar und Augustus.
2) Römischer Kaiser, 218—222 n. Chr.
3) Der Kannibalismus und seine Verdrängung im alten Ägypten. Imago XIV,
1928, S. 275.
4) Ende des vierten und Anfang des fünften Jahrhunderts.
Formen und Motive der Anthropophagie 16 y
Menschenfleisch nährten und den Busen der Weiber und das Gesäß als be¬
sondere Leckerbissen genossen.
Für das deutsche Volksgebiet ist es bezeichnend, daß die „Lex Salica“
(erstmalig niedergeschrieben 486—496) ein Verbot des Kannibalismus zu
magischen Zwecken enthält. In einem deutschen Volksbuche aus dem
sechzehnten Jahrhundert heißt es: „Der Spiritus, der aus dem Gehirn eines
Menschen gesogen wird, stärkt sehr das Gehirn. Öl von Menschenhänden dient
wider die Gicht an Händen, Öl von den Füßen wider die Gicht an den Füßen.“
Strabo erzählt, daß in Belagerungsnöten die Kelten, Iberer und mehrere
andere Völker Menschenfleisch gegessen haben. Nach dem Berichte des
griechischen Historikers Dio Cassius (LXVIII, 32) trat infolge einer
Hungersnot die Menschenfresserei bei den Juden auf, als diese sich unter
Trajan gegen die römische Herrschaft empörten. Valerius Maximus
(VII, 6) tadelt die Spanier, die in belagerten Städten die Gefangenen nicht
nur, sondern auch ihre eigenen Kinder und Weiber verzehrten. Herodot
(III, 25) berichtet, daß, als auf dem Zuge des Kambyses durch die Libysche
Wüste Hungersnot eintrat, je zehn losten und dann den verzehrten, den
das Los traf. Im dritten und vierten nachchristlichen Jahrhundert sollen
in China die Bewohner infolge von Hungersnöten Menschenfleisch gegessen
haben. Im siebenten Jahrhundert n. Chr. soll Menschenfresserei wegen eines
Mißwachses in Europa epidemisch geherrscht haben. Nach Thiers herrschte
um das Jahr 1026 in Frankreich unter dem Könige Robert eine fürchter¬
liche Hungersnot, so daß Menschenfleisch gegessen wurde. Abd-Allatif,
ein arabischer Arzt aus Bagdad, berichtet von einer um das Jahr 1200 in
Ägypten wegen des Ausbleibens der Nilüberschwemmungen ausgebrochenen
Hungersnot, welche Menschenfresserei nach sich zog. Eltern aßen ihre eigenen
Kinder oder boten sie zum Verkauf aus; Leichen wurden aus den Gräbern
gerissen und verzehrt u. a. m.
Eich wald 1 erzählt, daß die Ostjacken im Jahre 1860 bei einer Hungersnot
ihre eigenen Kinder aßen. Und nach Ellis sollen auch die Nayas in den
Gebirgen Hinterindiens in Hungerjahren Menschenfleisch essen. Auch bei
der im Jahre 1868 in Algier ausgebrochenen Hungersnot griff die Menschen¬
fresserei unter den Eingeborenen um sich: das Kriegsgericht zu Blidah ver¬
urteilte einen Menschen zum Tode, der in weniger als einem Monate sechs
Menschen getötet und gefressen hatte. 2 G. A. Schumacher 3 erzählt, daß
1) Archiv für Anthropologie III, S. 333.
2 ) Vgl. Bonner Zeitung 1869, 21. Jan.
3) Zur Rettung Schiffbrüchiger. Emden 1869.
.
J
i58
Felix Boekm
auf dem Wrack des „Excelsior“, der in der Nordsee vor der Insel Juist
scheiterte, im Februar 1866, und auf dem Wrack der „Ocean Queen“, die in
der Ostsee vor der kurischen Nehrung in Trümmer ging, im Dezember 1866
Menschenfleisch gegessen worden ist. Und noch im Jahre 1893 durchlief die
Zeitungen eine ähnliche Nachricht. Die Schiffbrüchigen des norwegischen
Dampfers „Thekla“ sollen, während sie sechzehn Tage lang nahrungslos auf
dem Atlantischen Ozean herumtrieben, das Fleisch eines durch das Los be¬
stimmten Holländers verspeist haben. L. M. Rosenstein 1 berichtet uns von
vielen glaubwürdig geschilderten Fällen von Anthropophagie während der
letzten großen Hungersnot in den Jahren 1921 —1922 in Rußland im Wolga¬
gebiet, insbesondere im Gouvernement Samara.
Im Anschluß an diese Beispiele notgedrungener, vorübergehender Menschen¬
fresserei seien auch einige Fälle erwähnt, wo Anthropophagie infolge pathologi¬
scher Zustände aufgetreten ist. Im Jahre 1553 soll in Brettenburg eine
schwangere Frau ihren Mann getötet und, während sie ihn verzehrte, drei
Söhne geboren haben. Dasselbe Verbrechen soll im Jahre 1562 von einer
schwangeren Frau in Droissig begangen worden sein. Meißner 2 erzählt
von einem Mann in der Mitte des achtzehnten Jahrhunderts im Bayreuther
Land, welcher glaubte, er werde fliegen können, wenn er neun Herzen von
Kindern, die noch im Mutterleibe getragen werden, esse; dieser Mann wurde,
nachdem er bereits acht schwangere Frauen getötet und die Herzen der
Kinder „warm und zuckend“ gefressen hatte, ergriffen und hingerichtet.
Zusammenfassend möchte ich bemerken: Kein Erdteil ist frei von
Kannibalismus gewesen; wo er heute nicht mehr herrscht, da bestand er
früher; reiche und arme Länder kannten ihn oder kennen ihn noch, er
kommt in Amerika vor, von den eisigen Gegenden des Hudson Bay-Gebietes
durch die Tropen bis zur Südspitze des Kontinents. In allen Zonen ist die
Anthropophagie verbreitet gewesen, doch ist sie heute wesentlich im Gebiete
der Tropen zu Hause. Sie ist bei seßhaften, ackerbautreibenden Völkern,
wie in Afrika, verbreitet und findet sich nicht minder bei umherschweifenden
Horden, wie in Amerika und Australien. Für den amerikanischen Kontinent
ist es bezeichnend, daß sich der Kannibalismus nicht etwa bei den Stämmen
ärmster Kultur findet, sondern gerade bei den höchststehenden, den Stämmen
des Nordwestens, bei den Nootka, Quakiutl, Bellacoola, bei denen ein kan-
nibalistischer Kult stattfindet.
Während Herodot die Erzählungen der alten Völker ohne Kritik wieder-
1) „Zur Psychopathologie des extremen Hungers.“ Krankheitsforschung. Bd. III, 1926.
2) Skizzen. Leipzig 1796, XIII. Slg., S. 164.
Formell und Motive der Anthropophagie 1 S 9
erzählt findet sich bei den meisten älteren Berichterstattern Abscheu gegen
die geschilderten Gebräuche oder Verurteilung derselben; manchmal eine
Erklärung durch Hungersnot, Aberglauben, Wahnsinn oder Rachelust; auch
wird von Vorfällen berichtet, in denen der Genuß von Menschenfleisch auf
Wut zurückgeführt wird; z. B. hat der aufgebrachte Pöbel im Jahre 1617
in Paris Leber und Lunge des Marschalls d’Ancre, im Haag 1672 das Herz
des bei einem Aufstande als Feind der Oranier ermordeten de Wit verschlungen.
Die Autoren der neueren Zeit haben vielfach die Frage aufgeworfen,
ob etwa Mangel an Vieh oder Unfruchtbarkeit des Landes Ursache der An¬
thropophagie sein könnte. Sie sind immer zu dem Resultat gekommen, daß
die Anthropophagie auch dort vorkommt, wo keine zwingenden äußeren
Ursachen, wie Hungersnot oder Mangel an Tieren, zum Genuß von
Menschenfleisch zwingen, ja daß diese auch in den fruchtbarsten Gegenden
vorkommt. 1 Andrerseits konnte bei einem Stamme von Buschmännern, die
ein kümmerliches Leben von Insektenlarven, Mäusen und Wurzeln führten,
keine Spur von Anthropophagie entdeckt werden. 2 Manche Autoren aus der
zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts glauben, die Anthropophagie durch
eine besondere Grausamkeit der Kannibalen erklären zu können; diese
Erklärungsversuche möchte ich von vornherein abschwächen. Primitivere
Völker verhalten sich zu körperlichen Schmerzen ganz anders als wir;
Thurnwald besitzt eine Photographie von einer Pubertätsfeier aus der
Südsee: Männer tragen in einem Festzuge über ihrem Oberkörper etwa
drei bis vier Meter hohe Nachbildungen von seltenen Tieren; diese werden
durch ein breites, zwischen den Oberschenkeln durchgehendes Band gehalten,
welches, um das Tragen zu erleichtern, für die Dauer des Festzuges mit der
Bauchhaut vernäht wird.
Wie die Anthropophagie aus dem Hunger heraus sich zur Gewohnheit
entwickelt und durch die physikalischen Verhältnisse eines Landes bedingt
wird, kann an dem Beipiele von Australien gezeigt werden. Dort versagen
unfruchtbare Landstriche häufig die dürftige Nahrung. Infolgedessen geht
die Horde auf Jagd aus; aber auch andere, feindlich gesinnte Stämme ziehen
aus denselben Gründen aus. Nun beginnt der Kampf, und sie verzehren
1) Die Berichte von einzelnen Reisenden über den Verkauf von Menschenfleisch
auf Märkten will ich übergehen; zum Beispiel einen Bericht über Alt-Calabar von
Hutchinson vom Jahre 1859. Wenn das wirklich vorgekommen ist, so handelt es
sich sicher um einen Verfall der ursprünglichen Gebräuche beim Genuß von Menschen¬
fleisch; — einen Verfall ursprünglicher Gebräuche finden wir bei vielen Naturvölkern,
2) Henkenius: Entstehung und Verbreitung der Anthropophagie.
sieh gegenseitig; jetzt setzt auch die Rachsucht als Beweggrund der An¬
thropophagie ein. Der getötete Feind soll vollständig vernichtet werden; und
der Australier ißt mit Vorliebe Herz und Zunge des erlegten Feindes, d. h
die Organe, von denen seiner Ansicht na'ch die Feindschaft und die Schmäh¬
reden ausgingen.
Andrerseits führt Feinschmeckerei zur Anthropophagie: Amerigo
Vespucci bringt in einem Briefe aus dem Jahre 1501 ausführliche Mit¬
teilungen über die Anthropophagie der Tupivölker an der brasilianischen
Küste: „Wenn sie Sieger sind, schneiden sie die Besiegten in Stücke, ver¬
zehren dieselben und versichern, daß es ein sehr vortreffliches Gericht sei;
der Vater verzehrt den Sohn und der Sohn den Vater, je nach Umständen
und Zufällen des Kampfes. Ich habe einen Ort gesehen, wo Stücke ge¬
salzenen Menschenfleisches an den Balken der Häuser hingen, wie wir bei
uns getrocknetes oder geräuchertes Schweinefleisch, Würste oder andere Eß-
waren aufhängen. Sie waren höchst erstaunt, daß wir nicht gleich ihnen
das Fleisch unserer Feinde verzehrten; sie sagten, daß nichts vortrefflicher
schmecke als dieses Fleisch, und daß man nichts Saftigeres und Delikateres
haben könnte. “ — Zum Motiv der Feinschmeckerei möchte ich bemerken,
daß alle Anthropophagen Menschenfleisch für wohlschmeckender erklären
als das von Tieren, daß sie nicht alle Körperteile in gleicher Weise essen,
vielfach eine sorgfältige Auswahl unter denselben treffen und zum Teil sehr
langwierige und komplizierte Zubereitungsweisen kennen; daß sie das Men¬
schenfleisch sehr oft mit dem Fleisch von Tieren und mit allerhand Pflanzen
mischen; daß fast alle von ihnen das Fleisch von Weißen für unschmack¬
haft erklären, weil es ihnen zu salzig ist.
Auf den Fidschiinseln galten Zunge, Herz, Leber und Nase als
Delikatessen. Wer im Besitz einer größeren Portion Menschenfleisch war,
teilte mit seinen Freunden, denn eine Unterlassung dieser Höflichkeit führte
wohl bis zum Kriege. — Von dem Baromapulanahäuptling Lomando wird
im Jahre 1871 erzählt, daß er sich öfters junge Mädchen im Felde fangen
ließ, um sie zu schlachten; besonders sollen die Schamteile für ihn das
Leckerste gewesen sein. — Bei den Niam-Niam waren die Kinder von
Sklavinnen als Leckerbissen zum Fressen bestimmt; ebenso bei den Mon-
buttu, wo die Kinder der Küche des Königs verfallen.
Wir erfahren weiter über die Tupivölker: Sie töten im Kriege alle
ihre Feinde, gleichviel welchem Geschlechte sie angehören, um deren Leich¬
nam dann zu braten und zu verzehren. Die Kinder der Feinde führen sie
aber mit in ihre Aldeas , um sie gleich ihren eigenen Kindern zu behandeln
Formen und Motive der Anthropophagie
und mit diesen zu erziehen. Wenn aber diese gefangenen Kinder das Alter
von zwölf bis vierzehn Jahren erreicht haben, so dienen sie zu einer Kanni¬
balenmahlzeit, welche von dem ganzen Dorfe unter großen Feierlichkeiten
begangen wird. Mit Arafedern schön geschmückt zieht die Bevölkerung auf,
die Kriegstrompeten erklingen, und die unglücklichen Kinder werden in
einen Kreis vor die tanzende Menge geführt. Hinter den armen Geschöpfen
stehen die Pflegeeltern, welche sie aufzogen, und diese sind es auch, welche
sie erschlagen. Während der nächtliche Tanz fortdauert, werden die Leichen
zerstückelt und verzehrt. Auch junge Weiber hält man zuweilen jahrelang
gefangen, ehe sie geschlachtet und gefressen werden.
Durch Pigafetta (geh. 1491) erfahren wir eine Geschichte, die den
Ursprung der Anthropophagie bei den TupiVölkern erklären soll: „Sie sagen,
diese Gewohnheit habe ihren Anfang durch eine Frau genommen, deren ein¬
ziger Sohn ermordet worden war. Als man nachher verschiedene von den Tätern
gefangen zu der Alten geführt, wäre sie wie ein wütender Hund auf einen
von ihnen gestürzt und hätte ihm einen Teil der Schulter abgefressen.
Dieser wäre nachher zu den Seinigen entflohen und hätte ihnen seine
Schulter gewiesen, worauf sie alle angefangen, das Fleisch ihrer Feinde zu
verzehren. Doch essen sie solches nicht auf einmal, sondern schneiden es
in Stücke und hängen es in den Rauch, und einen Tag essen sie ein
Stück gekocht und den andern gebraten, zum Andenken ihrer Feinde. “
Die Mitteilungen über die Tupivölker sagen uns, daß bei ihnen Fein¬
schmeckerei und Wiedervergeltung die treibenden Kräfte der Anthropo¬
phagie zu sein schienen.
Über den Ursprung der Anthropophagie im Gebiete des Amazonenstromes
erzählen uns die Ältesten von dem weitverbreitetsten Stamme der Umaüas
folgendes: Vor langer Zeit, als die Tiere noch sprechen konnten, trieb sich
eine Horde Miranhas am Japure umher und fand dort einen auf dem Sande
schlafenden Umaüa. Diesen schlugen die Miranhas, welche sehr hungrig
waren, tot und fraßen ihn auf. Die Umaüas erhielten Kunde von diesem
Vorgang durch einen Vogel; sie begannen von nun an einen Rachekrieg
gegen die Miranhas, und wer von diesen gefangen in ihre Gewalt geriet,
wurde aus Rache und Wiedervergeltung aufgefressen. Der Gefangene wurde
im Dorfe der Umaüas streng überwacht, aber nicht etwa eingesperrt. Man
gab ihm eine Frau, die ihn recht gut ernähren mußte. Nach etwa einem
Vierteljahre mußte er selber das Holz sammeln, mit welchem er gebraten
werden sollte. Die Krieger bezeichneten mit rotem Ocker jene Körperstelle,
die sie am andern Tage verspeisen wollten, und nachher wurde bei Mond-
Felix Boekm
i6a
schein ein Tanz aufgeführt, an welchem der Gefangene teilnahm. Am
nächsten Tage erhielt er mehrere Keulenschläge auf die Schläfe; dann
schnitt man ihm den Kopf ab, der auf eine Lanze gesteckt und im Dorfe
umhergetragen wurde; auch die Knochen wurden entzweigeschlagen, damit
man das Mark genießen könne. Von dem Schlachtopfer durfte nichts übrig
bleiben als der mit Farbe bemalte Kopf, der in der Hütte des tapfersten
Kriegers als Trophäe aufbewahrt wurde. Unmittelbar nach dem Schmause
waren alle Umaüas bemüht, das genossene Menschenfleisch so rasch wie
möglich wieder von sich zu geben; das scheint dafür zu sprechen, daß
die Umaüas ihre Feinde nicht aus Gier nach Menschenfleisch verzehrt
hatten, sondern der Rache und der Wiedervergeltung wegen.
Die Eskimos sind keine Kannibalen aus Nahrungsmangel, da sie Über¬
fluß an Fleischnahrung haben; wenn sie hie und da ein Stück vom Herzen
ihres Feindes aufessen, so tun sie es nur im Glauben, dadurch die Anver¬
wandten ihrer Feinde zu schädigen.
Die Battas auf Sumatra essen Menschenfleisch als eine Art von Zeremonie,
um ihren Abscheu gegen Laster durch eine schmähliche Strafe an den Tag
zu legen. Kannibalismus ist bei ihnen gesetzlich als Strafe vorgeschrieben,
wenn ein niedrigstehender Mann mit der Frau eines Radscha Ehebruch
getrieben hat, wenn jemand sich des Landesverrats oder der Desertion
schuldig gemacht hat, und wenn ein Feind mit der Waffe in der Hand
gefangengenommen wird. Wer seine Schulden nicht bezahlt oder wer ein
Verbrechen begangen hat, wird ohne weiteres getötet und verzehrt.
Nicht bloß im Mythos, wie bei den Tupivölkern, sondern auch in der
Realität werden anthropophage Gebräuche auf bestimmte Vorfälle zurück¬
geführt: zum Beispiel von den Babutu wurde, weil sie einstmals die Rinder
des Königs Ruganzu geraubt und gegessen hatten, eine Blutsteuer gefordert,
so daß jedes Jahr eine Jungfrau und ein Jüngling gestellt werden mußten.
Der Jüngling wurde totgeschlagen und sein Blut dem König gebracht; die
Jungfrau kam in seinen Harem. Bei der Thronbesteigung wurde ebenfalls
ein Knabe und ein Mädchen geopfert und dabei eine Trommel mit den
Schenkelknochen eines Mädchens geschlagen. — Überhaupt spielt bei den
Gebräuchen der Kannibalen das frische Menschenblut eine große Rolle: Bei
den Markesas in Polynesien töten die Männer öfter ihre Weiber, Kinder
ihre altersschwachen Eltern und stürzen sich auf das warme Blut. — Bei
den Amapondakaffern besteht die Sitte, daß beim Antritt eines neuen
Häuptlings einer seiner Verwandten umgebracht wird, in dessen Blut sich
der Häuptling baden und aus dessen Schädel er trinken muß.
Formen und Motive der Anthropophagie
4 uf den Vitiinseln stand die Anthropophagie in voller Blute. Wenn
ein Tempel errichtet, ein Kahn gebaut oder in die See gelassen (was ein
seltenes, feierliches Ereignis ist), wenn die Abgaben eingeliefert wurden
oder ein Fürst von einer Reise zurückkehrte, wurden Menschen geopfert
und gegessen; ja es kam vor, daß bei jedem Brett zu einem Schiffe ein
Mensch und, wenn das Schiff fertig war, so viele Menschen getötet wurden,
daß man das ganze Verdeck mit ihrem Blute waschen konnte; wenn man
den Kahn vom Stapel ließ, wurde er über lebende Menschen in die See
gerollt, dieselben hierauf getötet und gegessen. Bei jedem Pfosten eines neuen
Hauses wurde ein lebender Mensch miteingegraben. Bei der Feier der
Mannbarkeit eines Häuptlingssohnes wurden alle Einwohner einer
rebellischen Stadt und dazu noch Sklaven geopfert. Man ging so weit, daß
man gefangenen Feinden Land anwies, das sie bebauten, sie auch heiraten
ließ, und wenn man Menschen zum Opfern brauchte, sie je nach Bedürfnis
holte und schlachtete. 1
Eine Form der Anthropophagie ist die Kopfjagd; sie ist eine Sitte von
fest umschriebener Verbreitung, die in ihrer Wurzel mit der mystischen
Wertung des Kopfes als Sitz besonderer Kräfte in Zusammenhang steht.
Vielfach ist in Kopfjägergemeinden jedes Berühren des Kopfes eines An¬
gehörigen der adligen Schicht streng verboten und wird mit dem Tode
bestraft. Achtung und Auszeichnung sind so an den Besitz von erbeuteten
Schädeln geknüpft, daß man von „Schädelgeld“ nicht ganz mit Unrecht
gesprochen hat. In malaiischen Gegenden geht kein bedeutungsvolles Er¬
eignis des Lebens vorüber, ohne daß ein Schädel erbeutet werden muß.
Dafür, daß die Kopfjagd eine uralte Sitte ist und auch im Zusammen¬
hang mit Pubertätsriten steht, spricht eine Mitteilung von Strabo (XV, 727)
über die Karmanier, ein Volk westlich des Indus nach Persien hin:
„Keiner heiratet, ehe er einem Feinde den Kopf abgeschnitten und dem
Könige gebracht hat; dieser aber verwahrt die Schädel in der königlichen
Wohnung; die Zunge jedoch schneidet er in kleine Stücke, vermischt sie
1) Das ist eine verbreitete Form der Sklaverei, der sich die dazu bestimmten
Männer ohne Widerspruch unterziehen, wohl wissend, daß sie jeden Tag geschlachtet
und verspeist werden können. Die Maori lassen ihre Opfer selbst das Holz herbei¬
tragen und die Öfen herrichten, in denen sie gebraten werden sollen. Soweit wir
eine Geschichte von Naturvölkern kennen, finden wir selten ein Revoltieren gegen
Sklavenketten, die Abhängigkeiten werden als durch höhere Gewalten bedingte, „gott¬
gewollte“ hingenommen, und sogar dort, wo der Weiße sie beseitigen will (z. B. in
Ponape, Karolineninseln), richtet sich die Auflehnung gegen den voreiligen Europäer,
nicht gegen den Träger der alten Ordnung.
mit Mehl und gibt sie, nachdem er selbst davon gekostet, dem Überbringer
und dessen Verwandten zum Verspeisen.“
Auf den Inseln der Torresstraße ist der Hauptzweck des Kampfes die Jagd
nach Feindesköpfen; diese werden als Trophäe auf bewahrt. Unter den Ge¬
schenken, welche man als Brautschatz gab, werden auch Schädel genannt.
Der Kopf wird meistens als Trophäe vor den Tempeln oder Häusern auf
Pfähle gesteckt. Der Kopf fällt immer dem zu, der den Todesstoß versetzt
hat. Auch bei den Ewestämmen in Nordwestafrika ist die Kopfjagd ver¬
breitet. Auf den Salomonen zieht man die Kopfhaut mit den Haaren skalpartig
ab und setzt diese Perücke auf eine Kokosnuß, die im Gemeindehaus auf¬
gehangen wird; so hat man die Kraft, die Seele im Gemeindehaus auf¬
bewahrt.
Bei manchen Kamerunstämmen darf kein Häuptling die Erbschaft seiner
Vorgänger antreten, ehe er einen oder mehrere Männer umgebracht und
deren einzelne Körperteile unter seine Verwandten verteilt hat.
Bei vielen wilden Völkern geht kein bedeutungsvolles Ereignis vorüber,
welches nicht von einem Verzehren von Menschenfleisch begleitet ist. Die
Haidah in Nordamerika haben eine eigentümliche Form der Anthropophagie.
Nach der Zeit des Salmenfanges feiern sie ein Fest, zu dem sich der Häuptling,
der auch Oberzauberer ist, im Walde durch wochenlanges Fasten vorbereitet;
hiedurch wird er in höchste Ekstase versetzt, rennt zwischen den versammelten
Stammesgenossen umher, beißt da und dort einem ein Stück Fleisch aus
dem Körper und ißt es. 1
Huldigte man auf Tahiti dem jungen Könige, so brachte man ihm von
drei Menschenopfern je ein Auge auf einem Pisangblatte dar. Der Kopf
wird für heilig gehalten und das Auge für dessen kostbarsten Teil. Daher
wird dem Könige, als des Volkes Haupt und Auge, dieses überreicht. Hiedurch
erhält er einen großen Zuwachs an Weisheit und Klugheit.
Vielfach werden die schönsten und tapfersten oder durch ihre Stellung
hervorragendsten Kriegsgefangenen zuerst verzehrt; Herz und Gehirn werden
bevorzugt, denn sie sind der Sitz der Tugenden, der Tapferkeit und Stärke,
und diese will sich der Überwinder zu eigen machen. So erklärt sich, daß
l) H. H. Bancroft: The native raceS of the pacific Staates. III, p. igo. — In
einer mir bekannten Kinderschar war ein sehr aggressiver Junge, welcher sich im
Spiel als Hund gebärdete und seine Spielgenossen der Reihe nach zu beißen und ihnen
Haarbüschel auszureißen versuchte; letztere aß er gelegentlich auf; allmählich ahmten
alle Kinder dieses Kreises sein Spiel nach und schnappten im Scherz wie Hunde nach
allen Spielgenossen.
Formen und Motive der Anthropophagie_ i65
Häuptlinge, Priester und auserlesene Krieger allein der Gunst teilhaft werden
sollen, ihre moralischen Eigenschaften solchergestalt zu stärken und zu ver¬
mehren. Es ist häufig ein Vorrecht gewisser Klassen, einer eigenen Bruder¬
schaft. die mit besonderen Heldentugenden ausgestattet sind; die höchste
Stufe ist der Hametze oder Menschenfresser. — Damit die Regierung des
Fürsten glücklich ausfalle, wird hei den Kinbunda (Portugiesisch-West¬
afrika) der tapferste aller Kriegsgefangenen geopfert. Der Wahrsager zerlegt
den Rumpf und wahrsagt aus den Eingeweiden. Er trägt Sorge, daß jeder
außer einem Stück Fleisch auch etwas vom Herzen bekomme, dem Sitz der
Tapferkeit. Sie glauben nun infolgedessen eine solche Kraft zu erlangen,
daß sie immer mit Erfolg gegen ihre Feinde kämpfen können.
Auf Isabel wird zuerst das Hirn des getöteten Feindes roh gegessen,
dann die Schenkel und übrigen Glieder, zu deren jedem ein heiliges Lied
gesungen wird. Die Scham wird in ein Bananenblatt gewickelt und dem
höchsten Häuptling als ihm zukommender Anteil überreicht. Bei den Neu-
kuledoniern bekommt derjenige, der den Feind erlegt hat, den Penis des¬
selben als Ehrenteil. — Auf den Fidschiinseln wurde unter ganz be¬
stimmten Liedern und Tänzen der Leichnam zum Tempel gebracht. Weiber
und junge Mädchen führten sie auf, indem sie singend mit Stäben die
Schamteile der Leichen berührten. — Die Scham war als das lebenspen¬
dende Glied ursprünglich den Göttern geweiht.
Die Aneignung der Eigenschaften geschieht in einer sublimierten Weise
bei den südamerikanischen Tarianas und Tucanos, die den vermeint¬
lichen moralischen Gewinn, die Eigenschaften und Tugenden des Verstor¬
benen in sich aufnehmen, indem sie den Körper über dem Feuer zu einer
verkohlten Masse dörren und diese als Pulver mit Caxire vermischt trinken.
Die Dajaks geben den Knaben die Hirnhaut und das Herz erlegter
Feinde zu essen, um sie tapfer und mutig zu machen. Bei den Südaustraliern
erlangt der ältere Bruder die Körperschaft seines jüngeren Bruders, wenn
er ihn ißt. — In Queensland verzehrt die Mutter ihr neugeborenes Kind,
um die ihr durch die Leibesfrucht entzogene Kraft wiederzugewinnen. 1 —
1) Fenichel hat uns auf eine infantile Sexualtheorie von Knaben aufmerksam
gemacht („Einige noch nicht beschriebene infantile Sexualtheorien“, Int. Ztschr. f.
PsA. XIII, 1927, S. 166): Ein Mädchen kommt zustande, indem ein Junge wieder
in den Mutterleib zurückkehrt, sozusagen eingestampft, in die Mutter zurückgepreßt
oder von ihr gefressen wird. Dort wird er unter dem Einfluß des Vaters so behandelt,
daß er seinen Penis verliert. Dann wird er als Mädchen wiedergeboren. Diese Theorie
bringt er in einem Nachtrag („Zur Angst vor dem Gefressenwerden“, Int. Ztschr.
f. PsA., XIV, 1928, S. 404) mit der in Märchen, z. B. in „Hänsel und Gretel“, im
.
166
Felix Boehm
Von den Jukuten und Tungusen, also mongolischen Stämmen, wird be¬
richtet, daß sie die Nachgeburt ihrer eben entbundenen Weiber gebraten
oder gekocht genießen. Die Weiber der Kamtschadalen essen die Nach¬
geburt, um desto schneller wieder gebären zu können.
Auch als Medikament gegen Husten oder Dysenterie werden kleine Stücke
getrockneten Menschenfleisches bei Stämmen auf Borneo gebraucht.
Gelegentlich der Verfolgung eines Känguruhs entstand unter Australiern
ein Streit, bei dem zwei Männer einen dritten erschlugen, den sie nebst
dem erlegten Känguruh und einem getöteten Hund an einem Baum auf¬
hingen und räucherten. Als Grund wurde angegeben, daß das Verzehren
von Menschenfleisch stark und intelligent mache, besonders das von Weibern
die sexuelle Potenz hebe.
An den Uferlandschaften des Viktoriasees gibt es eine Gemeinschaft,
welche Leichen ausgräbt und auffrißt; sie glauben, dadurch unheimliche zaube¬
rische Kräfte zu bekommen und sich in wilde Tiere verwandeln zu können.
Die Abiponer aßen gern Tiger, Stiere, Wildschweine, weil diese Nah¬
rung Stärke und Mut verleiht; sie verschmähten Nahrung, welche feige
macht. Ebenso glauben die Kalifornier, durch das Aufessen tapferer Männer
selbst tapfer zu werden, und so glaubten auch die Markesaner, durch das
Aufessen des tapfersten Besiegten sich dessen Eigenschaften anzueignen.
Diese Motive sind es, derentwegen man besonders auf das linke Auge oder
das Herz begierig war; aß man den Sitz der Seele, so aß man die Seele
und ihre Eigenschaften, nahm selbst an Klugheit und Einsicht zu. Die
Leiche guter Häuptlinge wird angeblich „aus Liebe aufgefressen“. — In
Queensland glaubt man, die Toten durch Verzehren zu ehren, — ein Motiv,
dem wir auch bei anderen Stämmen begegnen.
Folklore usw. so häufig vorkommenden Angst vor der fressenden Mutter, der Hexe,
in Zusammenhang, und deutet diese Befürchtungen als den angstvoll regressiven Aus¬
druck der Inzestwünsche der Knaben. Der Mutterleib wird symbolisch als Mühle, als
Teufelsmühle, als Holle oder als Unterwelt, in der Strafen erduldet, Kastrationsgefahren
bestanden werden müssen, dargestellt. Die Figur der „furchtbaren Mutter“, der Hexe,
die den Hänsel frißt, u. dgl. treten dann in Assoziationen auf, und die Angst, von der
Mutter gefressen zu werden, wird in solcher Determination im allgemeinen in Psycho¬
analysen wohl noch häufiger gefunden werden als das „uralte Kindergut“, die Angst,
vom Vater gefressen zu werden. (Freud.) Er erinnert uns an das bekannte Hauffsche
Märchen vom Zwerg Nase: Der Zwerg Nase muß eine alte Frau vom Markte nach
Hause begleiten, kommt in ein Zauberschloß, wird durch ein Zauberessen in ein Meer¬
schweinchen verwandelt, muß als solches eine Anzahl Jahre dienen und wird dann
mit langer Nase entlassen. Uns interessiert im Rahmen unserer Arbeit hauptsächlich
die Vorstellung, daß zur Entstehung eines neuen Menschenkindes ein Kind gefressen
werden muß.
Formen timl Motive der Anthropophagie_167
Man betrachtet das Verzehren auch geradezu als Trost in der Trauer
um den Verstorbenen. 1 Fiel unter den Turrbal bei einem ihrer zere¬
moniellen Kämpfe bei der Jünglingsfeier einer von ihnen, so wurde er m
streng ritueller Weise vom Medizinmann zerlegt und von allen aufgegessen.
Sie aßen ihn, weil sie ihn kannten und liebten und jetzt wußten, wo er
wäre, und damit sein Fleisch nicht verwese. Seine Mutter trug dann Haut
und Knochen monatelang mit sich herum, und wenn sie mit einer anderen
Horde zusammentraf, holte sie die Haut hervor, und die Freunde des
Verstorbenen schnitten sich ein Stück davon ab. So denken die Tan¬
gara, welche die Überreste ihrer Toten mit sich schleppen; wenn sie große
Trauer packt, so essen sie ein Stück Fleisch von ihnen. Nicht selten,
namentlich auf Isabel, sieht man Armbänder von Menschenzähnen, oder
am Halse der Eingeborenen hängen Finger, Ohren oder Geschlechtsorgane.
Das Nierenfett gilt bei vielen Primitiven als ein Sitz der Seele, es bietet
Schutz gegen böse Geister. Deshalb müssen die Zaubermeister ihren Körper
mit Fett einreiben, um Zauberkraft zu erhalten. Andere Stämme bestreichen
ihre Speerspitzen mit Nierenfett in dem Glauben, daß eine solche Speer
spitze tödlich wirkt. Die Niam-Niam erklären, daß das Trinken von
Menschenfett völlig berausche; sie trinken Töpfe von eineinhalb Quart, so
daß der Trinker den ganzen Tag seiner Sinne nicht mächtig sei.
Der Australier reibt seinen Körper mit Nierenfett ein oder verzehrt es,
um die Stärke des Getöteten auf sich zu übertragen. Mit dem Verzehren
des Fettes, das als Sitz der besonderen Kräfte angesehen wird, soll auch
die Persönlichkeit des Verstorbenen leiblich und sinnlich aufgenommen
werden. Man fühlt sich auf diese Weise mit ihm körperlich eins werden.
Der nächste Verwandte des Verstorbenen schneidet alles Fett an Gesicht,
Lenden, Armen und Magen ab und reicht es den Verwandten zum Ver¬
zehren. Sie genießen von dem Fett, um weiterhin nicht mehr traurig
zu sein.
1) Vgl. Freuds Ausführungen in „Das Ich und das Es“ über die Ablösung einer
Objektbeziehung durch eine Identifizierung und über die Introjektion eines verloren¬
gegangenen Objektes (Ges. Sehr., Bd. VI, S. 573) und seine Ausführungen über die
während der Melancholie geleistete Arbeit in seiner Schrift: „Trauer und Melancholie“
(Ges. Sehr., Bd. V). — Sehr anschaulich beschreibt Abraham in seinem „Versuch einer
Entwicklungsgeschichte der Libido“ das Verhalten eines Patienten nach dem Tode
einer nahen Verwandten: zuerst zeigte er wochenlang eine Unlust zur Nahrungsauf¬
nahme — gegen seine sonstigen Gewohnheiten. Eines Abends hielt der Analysand
eine ausgiebige Mahlzeit und hatte in der darauffolgenden Nacht einen Traum, welcher
sich einerseits als Wiederbelebung der Toten, andrerseits als Verspeisung ihrer Glieder
deuten ließ.
Die Massageten verzehren zusammen mit Schafen ihre hochbejahrten
Verwandten; stirbt einer an Krankheit und kann nicht verzehrt werden
so wird dies als ein Unglück beklagt, da dem Gestorbenen nicht die Ehre
eines Begräbnisses im Leibe seiner Verwandten zuteil geworden ist. Um
ihre Verwandten nicht den Würmern zu überlassen, verzehren die Battak
ihre Nächsten selbst. In diesem Zusammenhang zitiere ich aus einem Reise¬
bericht des Marco Polo über die Bewohner von Dragojan (vielleicht sind
es die heutigen menschenfressenden Batta): „Wird jemand krank, so rufen
seine Freunde und Verwandten die Magier herbei und fragen, ob der Kranke
wohl davonkommen werde. Antworten diese, daß der Kranke dem Tode
nicht entrinnen könne, so halten sie demselben den Mund zu und be¬
wirken so, daß er von ihrer Hand und nicht durch die Krankheit stirbt.
Dann verzehren sie das Fleisch. Sie sagen zu ihrer Rechtfertigung, daß,
wenn das Fleisch faule, die Würmer dasselbe verzehren würden, und fänden
diese letzteren nichts mehr zu leben (nachdem sie das Fleisch gefressen
haben), so würden sie den Hungertod sterben, aus welchem Grunde die
Seele des Verbliebenen unausstehlich in der andern Welt würde leiden
müssen.“ Herodot (I, 216) berichtet uns: „Die Massageten halten diese
Behandlung ihrer Anverwandten, d. h. das Opfern und Verzehren der alt
gewordenen Blutsverwandten, für ein großes Glück. Solche Personen jedoch,
die an Krankheiten sterben, verzehren sie nicht, sondern begraben sie; dies
wird aber als ein Unglück beklagt, da dem Gestorbenen nicht die Ehre
des Begräbnisses im Leibe seiner Verwandten zuteil geworden.“
Der Fetischmann der Aschanti ißt das Herz des Feindes, damit er
nicht durch den Geist des Gestorbenen gequält wird. Die Yamas am Ama¬
zonenstrom verzehren das Mark aus den Knochen ihrer Toten, weil sie
wähnen, daß dadurch die Seele des Verstorbenen in ihren Körper übergehe.
Lm den „bösen Geist , der die Krankheit bei einem kleinen Knaben ver¬
ursacht hatte, zu beschwichtigen, töteten bei den Jingkangs die Verwandten
seine Schwester; der Knabe mußte ein Stück gebratenen Fleisches seiner
Schwester essen.
Überall sehen wir daher, daß der Geist und die Tugenden des Verzehrten
m den Besitz des Essenden übergehen sollen, geradeso wie ihm durch andere
Nahrung Zuwachs an physischer Kraft entsteht. In Parallele dazu steht der
bei den Naturvölkern weitverbreitete Glaube, daß das Verspeisen gewisser
Tiere oder Pflanzen besondere Eigenschaften verleiht. Wer die Mentalität
der Primitiven kennt, wird nicht erstaunt sein zu erfahren, daß Religion
und Anthropophagie eng verknüpft sind: Auf den Philippinen tötet der
Formen und Motive der Anthropophagie_169
Priester mit einem heiligen, nur diesem Dienste geweihten Schwert das
Menschenopfer, öffnet die Brust der Leiche und taucht die Talismane des
Gottes, die ihm um den Hals hängen, in das rauchende Blut ein.
Menschenopfer spielten in Mexiko eine große Rolle. Zur Zeit der spani¬
schen Eroberung waren dort außerordentlich zahlreiche Tempel, bei denen
sich oft eine Terrasse mit zwei Türmchen befand, welche für die Idole
bestimmt waren; und vor den Türmchen lagen die Steine, auf denen man
die Menschenopfer darbrachte. Diese Steine waren der Länge nach konvex
•restaltet, so daß das daraufgelegte menschliche Schlachtopfer seine hervor¬
tretende Brust besser dem Schlachtmesser darbot. Noch existieren altmexikani¬
sche Darstellungen der Zeremonie: Das Opfer wurde von fünf kräftigen Ge¬
hilfen gehalten, und der Oberpriester öffnete ihm mit einem Obsidianmesser
die Brust; dann griff er in die Brust des Opfers, schnitt das Herz heraus, um
es zu Füßen des Idols niederzulegen, vor dem Weihrauch brannte. Mit dem
Blute des Geopferten bestrich er die Lippen des Gottesbildes und besprengte die
Priester und Gehilfen. Der Leichnam diente dann teilweise zur Nahrung für
die Priester, teils erhielt denselben derjenige zur Speise, welcher das Opfer veran¬
laßt hatte. — Im Gegensatz dazu stand die aufmerksame Behandlung, welche
häufig die zum Abschlachten Bestimmten vor ihrem Tode erlitten. Man wählte
zu diesem Zweck einen schönen, jungen Gefangenen von tadelloser Körper¬
beschaffenheit und von aufgewecktem Geiste aus. 1 Man lehrte ihn das Flöten¬
spiel, man gewöhnte ihn an das Rauchen nach Art der Großen und Prinzen,
die besten Speisen wurden ihm vorgesetzt, die schönsten Kleider angelegt und
während der letzten Lebensmonate führte man ihm die schönsten Mädchen
zu. Nach Ablauf des Freudenjahres fand unwiderruflich seine Opferung statt,
nicht in der Hauptstadt Mexiko, sondern in einer Stadt zweiten Ranges. Er
wurde in einem Schiffe über den See gefahren, und in dem Maße, als man
sich dem Bestimmungsorte näherte, entäußerte man ihn seiner Kleider, bis
er zuletzt nackt anlangte. Am Tage seiner Hinrichtung wurde sofort ein
neuer Gefangener auserwählt, der nun ein Jahr lang ebenso verwöhnt wurde.
Oft fanden beim Opfer auch Tänze statt, an denen man den Gefangenen
zwang, teilzunehmen. — Hervorzuheben ist, daß die Mexikaner nur von
dem Fleische rituell Geopferter aßen, kein anderes Menschenfleisch, ab¬
gesehen von demjenigen der im Kriege erschlagenen Feinde. Bei der Be¬
lagerung Mexikos durch Cortez herrschte die größte Hungersnot, die zum
1) Auf die naheliegenden Zusammenhänge zwischen Totemismus und Anthropo¬
phagie hin ich im Rahmen dieser Arbeit absichtlich nicht eingegangen.
Imago XVIII.
12
1^0
Felix Boelun
Verzehren von Baum wurzeln zwang, aber die zahlreichen Leichen in der
Stadt blieben von den Belagerten unberührt. Prescott 1 berichtet uns, daß
in Mexiko jährlich 20.000 Menschen geopfert wurden (die Krieger mußten
ihre Gefangenen den Göttern opfern), und daß die Anthropophagie in voller
Blüte stand.
Am Hofe der Ja gas fand beim „Samtamento“- Feste ein Menschenopfer
mit Anthropophagie statt. Das Schlachtopfer wurde mit denselben Ehren
wie der Fürst behandelt. Der Jaga durchschnitt mit einem halbmondförmigen
Messer den Rücken, bis er zum Herzen gelangte, das er herauszog. Das Blut
strömte über die Brust und den Bauch des Jaga, dann rieben sich die Hof¬
würdenträger selbst den Körper mit Blut ein und riefen: „Groß ist der
Jaga!“ Das Fleisch wird dann mit Hunde- und Hühnerfleisch zusammen
gekocht; dieses Gericht wird erst dem Jaga, dann seinen Würdenträgern
und zuletzt allem Volk zur Speise vorgesetzt. Wer sich weigert, davon zu
essen, verfällt der Sklaverei. Mit Gesang und Tanz endigt dann das Samtamento-
fest.
Dem Regengotte der Vicaraguas werden einige Kinder geopfert; die
Bildnisse und Steinidole im Hause der Götter werden mit Blut besprengt,
um den Gott geneigt zu machen, den nötigen Regen zu senden.
Da man auf den Vitiinseln die Anthropophagie für eine heilige Hand¬
lung hielt, hatte man eigene hölzerne Gabeln dafür, die man sonst nicht
gebrauchen durfte. Auch die Gefäße, in denen das Menschenfleisch gekocht
wurde, waren „tabu“. Die Menschenmahlzeiten, bei denen Herz, Leber und
Nase als besondere Delikatessen galten, wurden in der Bure-nisa (Fremden¬
haus) abgehalten. — Die Polynesier benutzen zu ihren Kannibalenmahl¬
zeiten ganz besondere, aus Holz geschnitzte Gabeln, die als Erbstücke sich
in den Familien erhalten und mit individuellen Namen belegt werden; die
Gabel eines Häuptlings, der sich durch großen Kannibalismus auszeichnete,
hieß undro-undro , d. h. ein kleines Ding, das eine große Last trägt.
Die Polynesier haben für ihre Anthropophagie folgende mythologische
Erklärung: Sie glaubten, daß die Geister der Gestorbenen von den Göttern
oder Dämonen verzehrt, und daß der geistige Teil der von ihnfcn gebrachten
Opfer von dem Geiste des Idols, dem das Opfer galt, verspeist wurde. Die
Vögel, welche zum Bereiche der Tempel gehörten, nährten sich nach poly-
nesischer Meinung von den Körpern der Menschenopfer, und man nahm
an, daß der Gott in Vogelgestalt sich den Tempeln näherte und die auf
1) History of the conquest of Mexico.
Formen und Motive der Anthropophagie
171
dem Altar liegenden Opfer verschlang. Auf einigen Inseln war sogar das
Wort „Menschenfresser ' u eine Bezeichnung der Hauptgötter. Die Götter ver¬
schlingen die menschliche Seele, um sie zu reinigen oder sich einzuverleiben.
Nun fraß man, die Götter nachahmend, den Feind auf, um ihn selber ganz
in eigenen Besitz zu bekommen; man fraß die Verwandten, um durch sinn¬
bildliche Ausübung der Tätigkeit der Götter ihnen zu rascherer Seligkeit
zu verhelfen, vielleicht auch, um ihre Seelen als Schutzgeister an seine Person
zu fesseln.
Nicht unerwähnt bleiben darf, daß Gebräuche, welche mit der Anthropo¬
phagie Zusammenhängen, auch zu Handelsverträgen unter benachbarten
Stämmen führen können. Einem Bericht von Thurnwald (Ztschr. f. Ethno¬
logie, 16, 1907) entnehme ich folgendes: „Auf der ganzen Inselgruppe in dem
Wasserbecken des Atolls herrscht Kannibalismus. — Zunächst stellte sich
heraus, daß der Mörder den Toten nicht essen darf; ähnlich ist es in der
Astrolabebai in Neuguinea mit den Schweinen. — Man wählt mit Vorliebe
Weiber, die wenige oder keine Beschützer haben, von denen Blutrache droht.
Vor allem hat man es auf die Witwen abgesehen. In unserem Einzelfall
handelte es sich um ein Bukaweib, das an einen Nissanmann verheiratet
war; der Mann war vor zehn Monaten gestorben und das Weib war zu¬
nächst bei dem Häuptling des Dorfes ihres Mannes verblieben. Nach etwa
drei Monaten holte sie der Häuptling Salin aus Males zu sich. Fünf Monate
hielt sie sich bei Salin auf, führte dessen Wirtschaft und konzipierte von
ihm. Da Salin dem Häuptling Somson aus Bangalu bei Siar zur Lieferung
von Menschenfleisch verpflichtet war, war schon drei Monate vor Schlachtung
des Weibes ausgemacht, daß Salin sie zur Schlachtung auffüttern sollte. Nun
mietete Somson, der das Fleisch bekommen sollte, den Schlächter in der
Person des Häuptlings Mogan aus Torohabau; er bezahlte ihn mit einem
Schwein, zwei Bündeln Pfeilen, fünf Armringen und einem Messer. Jetzt
sträubte sich zunächst Salin, seine Geliebte herauszugeben, von der er in
drei bis vier Monaten ein Kind erwartete. Schließlich gab er der Überzahl
nach und half bei ihrer Schlachtung dadurch, daß er sie festhielt; der
erste Streich wurde vom Häuptling Mogan geführt. — Bei der Fleisch¬
verteilung, der Kilue, behielt der Häuptling Somson für sich die rechte
Lende (der Embryo und die Geschlechtsteile wurden auch gegessen; die
Brüste und Lenden galten als Leckerbissen); der Schädel fällt dem zu, der
den Todesstoß versetzt hat; er darf ihn nicht essen, aber er pflanzt ihn als
Trophäe in seinem Hause auf. (Der Schlächter ist immer aus einem dritten
Stamme.) Die meisten haben die Stücke Menschenfleisch nicht gekauft,
12*
1/3
Felix Boekm
sondern sie erhielten sie teils als Rückzahlung, teils in Erwartung seiner-
zeitiger Gegengabe gleicher Art. Für das Fleisch eines Mannes muß ein
Mann, für das eines Weibes ein Weib wiedererstattet werden.
Daß ein Bukaweib geschlachtet wurde, hat wohl seinen besonderen Grund
noch darin, daß stets Weiber an die Bukaleute, die nach Nissan kommen
und allerlei selbstgefertigte Gerate bringen, verkauft werden. Bezeichnend
dafür, wie die geschilderten Sitten zu einer Verschuldungskette von Menschen¬
fleischlieferung führen und stets neue Schlachtungen bedingen, ist, daß genau
ermittelt wurde, für welche Persönlichkeit Salin dem Somson schuldete, und
daß Somson schon eine Frau mästete, die er dann Salin zum Verzehren
geben wollte.
Es entsteht nun die Frage, ob diese von den Primitiven angegebenen
Motive wirklich ihrer innersten Überzeugung entsprechen können oder nur
mehr oder weniger geschickte Rationalisierungen für die Befriedigung der
Eßlust, der Grausamkeit, des Wunsches nach Wiedervergeltung sind.
Um zu verstehen, ob der Anthropophage ein Wissen dessen, daß er Ver¬
botenes oder Strafbares tut, verdrängen muß, ist es notwendig, zu versuchen,
sich bei der Beurteilung aller Anschauungen der Primitiven in ihre Gefühlswelt
hineinzuversetzen. — Wenn wir zum Beispiel die Leiche eines nahen Ver¬
wandten von Hunden fressen lassen würden, so würde das von unserem
Standpunkt aus eine ungewöhnlich nichtachtende Behandlung des Ver¬
storbenen sein. Unter den sibirischen Kamtschadalen hingegen wurden
in der Mitte des achtzehnten Jahrhunderts die Leichen in der Weise
behandelt, daß man sie aus der Jurte herauszog, in kurzer Entfernung
vom Tore liegen ließ, um sie von Hunden auffressen zu lassen; wobei
man dachte, daß der Mensch, dessen Leiche auf diese Weise verzehrt wurde,
die Macht erlange, mit diesen Tieren im zukünftigen Leben auf Hunde¬
schlitten zu fahren. Das heißt vom Standpunkt der Kamtschadalen aus
konnte man dem Toten keine größere Wohltat erweisen; denn da bei allen
Primitiven Gleiches mit Gleichem vergolten werden muß, muß sich der
Hund späterhin demjenigen dankbar erweisen, der seinen Hunger gestillt hat.
Bei den Primitiven besteht ein Abhängigkeitsbewußtsein von ausgesprochen
persönlich gedachten Mächten und eine dadurch herbeigeführte Verkennung
aller von uns als natürlich empfundenen, d. h. durch den Ablauf von Natur¬
gesetzen bestimmten Zusammenhänge; Mißtrauen und Angst vor jeder nur
halbwegs ungewöhnlichen Erscheinung des täglichen Lebens, welche den
Anlaß dazu bilden, bei Plänen und Fahrten des einzelnen Menschen die
ganze ihn umgebende Welt als Mitspielerin aufzu fassen und aus ihren Zu-
Formen und Motive der Anthropophagie l ?3
fälligkeiten durch die erregten Sinne Ermunterung oder Warnung heraus¬
zulesen; der Naturumgebung ist man unbeholfener und unsicherer, den
Menschen gegenüber mißtrauischer und engherziger, sich selbst aber be¬
trachtet man als Mittelpunkt der Dinge, worauf sich alles Geschehen bezieht.
Darum empfinden es Primitive als eine Hingabe, als eine segensreiche
Tat, wenn ein Tier ihnen in die Falle geht oder ihren Pfeilen erliegt.
Eine Tat, die gewissermaßen von der „Tierheit“ dieser Gattung ausgegangen
ist und ihnen einen ihrer Angehörigen dargebracht hat. Darum müssen
sie sich erkenntlich zeigen durch eine Handlung, die diesem Gattungswesen
genehm ist, z. B. durch ein dargebrachtes Opfer.
Gegen das Heer von Zauber- und Fluchmitteln 1 sucht man sich, so
gut man kann, zu schützen. Bei den Zauberern kauft man allerlei Schutz¬
mittel, die um Hals oder Armgelenke getragen werden. Zur Ableitung
gefährlicher Kräfte bedient man sich irgendwelcher Objekte oder Tiere;
überall taucht das Sündenbockmotiv unter verschiedenen Verkleidungen
auf. — Eine sehr verbreitete Art der Ableitung der von den Toten oder
Geistern ausgehenden Ansprüche besteht im Abschlagen des kleinen Fingers
der linken Hand, wohl als Ersatz der Hingabe der ganzen Person.
Ungewöhnliche Steine, Erdarten, Pflanzen und Tierstoffe, Feuer usw.
werden als Träger besonderer Kräfte betrachtet. Besondere Bedeutung legt
man menschlichen Knochen bei. Sie gelten als Mittel, die Geister zu ver¬
treiben und so der Krankheit vorzubeugen oder sie zu heilen. Knochen
von Tieren schnitzt man so, daß sie wie Menschenknochen aussehen, und
legt ihnen dann die gleiche magische Wirkungskraft bei. — Von vielfacher
Beziehung ist die Erde und was darauf wächst, der Rasen, das Gras und
die Halme, auch das Heu.
Aber nicht bloß die erwähnten Gegenstände haben besondere Bedeutung,
sondern der Primitive macht überhaupt keinen Unterschied zwischen belebten
und unbelebten Gegenständen; alle Menschen und alle Objekte der Tier-,
Pflanzen- und Mineral weit besitzen in gleicher Weise Kräfte und können
diese in günstiger und schädlicher Weise entfalten und sich gegenseitig
beeinflussen, ja auch eine Stätte kann den Tod eines Menschen herbeiführen.
Die Gleichsetzung aller Wesen zeigt sich in einem Ausspruch der Maori:
„Warum sollen wir nicht Menschen essen? Die großen Fische fressen die
kleinen, Hunde fressen Menschen, Menschen Hunde, Hunde einander, Vögel
einander, ein Gott den andern.“ Bemerkenswert dürfte vielleicht sein, daß
1) Ebert: Reallexikon der Vorgeschichte. Bd. XIV, S. 506.
1 74
Felix Boehm
viele Primitive bei den Göttern dasselbe Verhalten voraussetzen wie bei
sich. 1 Ich verweise auf die Bemerkung aus Thurnwalds Bericht, daß bei
der Inselgruppe in dem Wasserbecken des Atolls der Mörder den Toten
nicht essen darf, in der Astrolabebai in Neuguinea der Schlächter das
Schwein nicht essen darf; d. h. Mensch und Tier sind gleichgestellt. Jedes
neue Werk des Primitiven erscheint ihm wie eine neue zauberische Gestaltung,
wie ein Wesen, das nun weiter für sich eine eigene Existenz führt und
wirksam wird, sei es ein Knochenmesser, ein Pfeil, eine Bambuspfeife oder
ein Kanu, ein Haus. Darum erfüllt der Mensch sie alle mit besonderen
Seelen Vorstellungen. Da die Vorgänge in der Natur als durch menschenartige
Wesen bewirkt gelten, denkt man sie sich auch beeinflußbar, man sucht
ihnen zuzureden oder zu drohen. Bei allem tritt dabei der Gedanke der
Nachahmung hervor; man weiß von den andern, daß sie nachahmen
und ahmt selber nach, — so erwartet man auch von den Naturwesen und
Kobolden das gleiche.
Wenn sich der Primitive alle Dinge beseelt, mit guten und bösen Kräften
versehen vorstellt, so ist damit nicht gesagt, daß er an eine vom Toten
trennbare Seele glaubt; dieser Glaube ist selten und kommt nur bei wenigen
Primitiven vor. Fast allgemein bilden Körper und Seele eine untrennbare
Einheit, welche sich durch den Tod nicht verändert. Das Lebendige besteht
in Mythen in allen Absonderungen, Speichel, Urin und Exkrementen;
gerade in den Absonderungen stecken die Merkmale, die den lebendigen
Körper vom toten unterscheiden und wieder neues Leben erzeugen können.
Hierzu zählen nicht allein Tränen, Schnupfen, Schweiß und Blut, sondern
auch der Atem und das Klopfen des Herzens: alle Dinge, die dem toten Körper
fehlen, enthalten das Lebendige. Allein das bedingt den Unterschied zwischen
einem toten und einem lebendigen Menschen. Genau so wie der Lebende
sind auch die Toten zu behandeln: Man spricht zu ihnen ebenso höflich,
setzt ihnen genau die gleichen Speisen und Genußmittel vor, und einen
bösartigen Toten, d. h. seinen Leichnam, räumt man aus dem Wege, in¬
dem man ihn verbrennt. Der leblose Gegenstand oder der tote Mensch
haben die gleichen Bedürfnisse wie der lebende: auch dem Toten macht
es Freude, zu essen; er wird dadurch kräftig und seine Laune hebt sich,
aus einem verdrossenen Klagegeist wird ein wohlwollender Schutzgeist.
Wenn man auf dem zum Wahrsagen dienenden Zaubergegenstand seine
1) Eine Ausnahme bilden zum Beispiel die „Himmelsgötter“, worunter bei manchen
Primitiven und zahlreichen Kulturvölkern die höchsten Götter verstanden werden.
Formen und Motive der Anthropophagie iyS
Lieblingsspeise — Blut und Fett — und als Nachtisch eine schon vor¬
gekaute Kolanuß reibt, so erlangt der Gegenstand nicht nur die zu seinem
Amt nötige Kraft, sondern er wird auch in freundliche Stimmung versetzt
un d wahrsagt Gutes; durch Versprechungen weiterer Gaben kann man ihn
noch freundlicher stimmen. 1
Können die verschiedenen Verhaltungsweisen der Primitiven diese Kräfte
nicht in dem erwünschten Sinne, z. B. durch Zauber, beeinflussen, so werden
wohl an den Personen oder an ihrer Verfahrensart Mängel gefunden; jedoch
nicht an der Grundlage der Lebensanschauung, des Gedankensystems und
Glaubens.
Allen Rätseln und Gefahren der Umwelt hilflos ausgeliefert, hat der
Primitive durchaus das Bedürfnis, kausal zu denken und Ursache und
Wirkung miteinander zu verknüpfen, wobei er durchaus zur Verallgemeine¬
rung neigt. Er verhält sich wie eine mir bekannte Dame, welche in kalter
Luft ein gesundheitsstörendes Moment sah und davon überzeugt war, daß
ihr Sohn im Frühjahr eine Malaria bekommen hatte, weil er im Winter
bei Frost ohne Mantel gegangen war. Meine Erklärung, er sei von einer
Anophelesmücke gestochen worden, nahm sie höchst ungläubig auf. Es
herrscht fast unumschränkt das Prinzip: post hoc , ergo propter hoc .
Der Primitive verknüpft für unsere Vorstellungen durchaus entfernt liegende
und in keinem Zusammenhang stehende Erscheinungen miteinander, zum Bei¬
spiel sticht bei den verschiedenen Vorgängen der Reife weihe unter kaliforni¬
schen Indianern betreffs der Mädchen der Gedanke hervor, daß diebetreffende
Person in einen kritischen Zustand nicht nur für sich selbst, sondern auch
in bezug auf die Gemeinschaft eingetreten ist, daß sie vermöge der Zauber¬
kraft, die von ihr ausgeht, eine latente Gefahr für die ganze Umgebung
bildet. Diese mystische Auswirkung wird mit der gesamten äußeren Natur,
namentlich soweit sie von Bedeutung für das Leben des Stammes ist, in
Zusammenhang gebracht: vielleicht fehlt es deshalb das nächste Jahr an
Eicheln, oder die Lachse kommen nicht den Fluß herauf: deshalb, gewisser¬
maßen um es vor den treibenden Mächten der Natur zu verbergen, wird
das heran wachsende Mädchen mit einer Decke verhüllt oder unter einen großen
Korb gesetzt usw.; wenn diese und zahlreiche andere Vorsichtsmaßnahmen
nicht auf das gewissenhafteste erfüllt worden wären, könnte die befürchtete
Schädigung eintreten. War das aber der Fall gewesen, so konnte irgendeine
andere Verhaltungs weise der Mädchen während der Reifezeit die Ursache
1) Ebert: Reallexikon der Vorgeschichte. Bd. X, S. 504.
i /6
Felix Boehm
für das Unglück gewesen sein, und die Folge mußte eine weitere Vorsichts¬
maßnahme sein. Man kann sagen, das ganze Leben der Primitiven besteht in
der Befolgung von Vorschriften und der Durchführung von Meidungen,
um überall drohendes Unheil abzuhalten. — Das Kind wächst daher unter
ganz anderen Bedingungen auf als unsere Kinder, denen wir eine sorglose
Jugend zu bereiten versuchen. Die Nahrungssorge beginnt außerordentlich
früh. Wie die Kinder von den Alten wissen, wimmelt es von bösen Geistern
und schrecklichen Wesen aller Art. Auch allerlei Feldfrüchte und Fleisch¬
sorten sind ihnen zu essen verboten. Das Fleisch des Kuckucks soll bewirken,
daß die Mädchen ein Kind nach dem andern bekommen, oder daß die
Knaben eine Witwe heiraten müssen. Von Kasuarfleisch bekommen die Kinder
lange Hälse, von dem des Känguruhs dicke Bäuche. Lassen sich die Mädchen
in der Entwicklungszeit zum Genuß von Krebsen und Muscheln verleiten,
so ziehen sich ihre Brüste zurück wie diese Tiere in die Erdlöcher. Genießt
ein Bursche etwas vom weiblichen Beuteldachs, so besteht die Gefahr, daß
er bei der Beschneidung verblutet; das Verzehren großer Eidechsen ruft
bei den Knaben krankhafte Begier nach geschlechtlichem Verkehr hervor.
Man sieht, wie eine Einverleibung eines Tieres eine Identifizierung mit
demselben herbeiführt, wobei die Symbolik eine Rolle 1 spielt. Eine ganze
Reihe anderer Mißstände, Gebrechen, Abnormitäten kann durch Genuß
bestimmter Speisen hervorgerufen werden. Besteht einerseits das ganze Leben
des Kindes in dem Erlernen dessen, was ihm Schaden bringen kann, so
kann andrerseits das Kind die Erwachsenen, die Familie oder den ganzen
Clan schädigen, wenn es durch irgend etwas auffällt, und muß daher rücksichts¬
los von den Eltern beseitigt werden, was sie auch freiwillig tun; z. B. wenn es
zufällig während der Entbindung defäzierte, mit den Füssen voraus, oder
schon mit einem durchgebrochenen Zahn zur Welt kam usw. Wenn ein
Mißgeschick in der Familie der Mutter oder des Vaters eingetreten war
und der Primitive immer einen Sündenbock finden muß, wurde die Schuld
auf das Kind geschoben und gesagt: Sieh, das Kind bringt Unglück, laß
es uns beseitigen, sonst gehen wir alle zugrunde.
1) Freud sagt im „Ich und Es“ (Ges. Sehr., Bd. VI, S. 575): „Eine interessante
Parallele zur Ersetzung der Objektwahl durch Identifizierung enthält der Glaube der
Primitiven, daß die Eigenschaften des als Nahrung einverleibten Tieres dem, der es
ißt, als Charakter verbleiben werden, und die darauf gegründeten Verbote. Dieser
Glaube geht bekanntlich auch in die Begründung des Kannibalismus ein und wirkt
in der Reihe der Gebräuche der Totemmahlzeit bis zur heiligen Kommunion fort.
Die Folgen, die hier der oralen Objektbemächtigung zugeschrieben werden, treffen
für die spätere sexuelle Objektwahl wirklich zu.“
Formen und Motive der Anthropophagie
Soweit bei den Wilden Naturgesetze unbekannt sind, können sie sich
keine sogenannte natürliche Ursache für eine Erkrankung oder den Tod
vorstellen, sondern es muß eine Persönlichkeit dafür verantwortlich gemacht
werden; ein Tier oder ein böse gesinnter Mensch, ein Zauberer oder eine
Hexe, ein böser Geist oder ein Verstorbener, der nach seinem Tode nicht
richtig behandelt worden ist.
Die Mambanga kennen keinen natürlichen Tod, so daß Krankheit und
Tod nur durch den bösen Willen anderer bewirkt worden sein kann. Nun
wird das Orakel befragt, welches einen oder mehr Menschen als Urheber
des Todes bezeichnet, die infolge des Spruches erdrosselt und verzehrt werden.
— Die Neukaledonier verschaffen sich Leichen, indem sie Anklage wegen
Zauberei erheben; Anklage und Urteil ist eins. Die Häuptlinge pflegen
reichlich Gebrauch davon zu machen.
Das Gefühl der Hitze bei einer fieberhaften Erscheinung wird als Feuer
gedeutet, und zwar als solches, welches von der Verwundung des transzendenten
Pfeils Garn ab s herrührt. Garn ab wird bei den Bergdama 1 als derjenige
betrachtet, der die Menschenkinder sterben und zu sich ins Jenseits kommen
läßt. In diesem Vorstellungskreise müssen die Zauberer eine große Rolle
spielen, welche den Krankheitserreger aussaugen müssen; die Krankheits¬
erreger werden als kleine Löwen, Tiger, Leoparden usw., also als gefährliche
Raubtiere vorgestellt, oder als Krankheitsdämonen in Gestalt von Menschen,
Tieren, Fischen, Reptilien und Monstren der verschiedensten Art. Es kann aber
auch ein Stein, ein Messer oder sonst ein lebloser Gegenstand die Krankheits¬
ursache darstellen, welche ausgesaugt werden muß. Die Golde (Sibirien)
sagen: Bauchschmerzen werden durch den Irbis- oder den Tigerdämon ver¬
ursacht. Die Tschuktschen nennen den Krankheitserreger „Mörder“ und
die Jakuten „Fresser“.
Sahen wir, daß der Primitive, gedrängt von ihn verfolgenden Vorstellungen,
gegen seine eigenen Kinder rücksichtslos Vorgehen kann, so macht er andrer¬
seits auch vor seinem eigenen Körper nicht halt, um ein Unheil abzu¬
wenden, das ihm, und zwar von Verstorbenen, drohen könnte. In Zentral-
Holländisch-Neuguinea nehmen die erwachsenen Trauernden eine Ver¬
stümmelung an den Fingergliedern vor; bei jedem Todesfall eines Nahe¬
stehenden wird ein Finger abgehackt oder der Helixrand des Ohres be¬
schnitten. Eine ähnliche Sitte ist bei vielen Stämmen von Nordamerika ver¬
breitet. Diese Tatsachen zeigen deutlich, wie groß die Furcht der Primitiven
besonde rs vor den Toten ist, deren Zorn und Rache man sich durch eine
1) Kleiner negroider Volksstamm in den Gebirgen von Deutsch-Südwestafrika.
i/8
Felix Boelim
falsche Behandlung, deren Gunst und Wohlwollen, deren Tugenden und
Kräfte man sich durch ein höfliches Benehmen, durch Geschenke und ver¬
abfolgte Nahrung erwirbt; wobei die Behandlung, wie bei den oben zitierten
Kamtschadalen von den verschiedensten Anschauungen, welche den
unsrigen häufig widersprechen, ausgehen kann. Zum Beispiel kann die Ehrung
eines Häuptlings bei dem Hirtenvolk der Bakitara Ostafrikas darin be¬
stehen, daß seine Leiche kunstgerecht in einem Dunghaufen neben seinem
Hause beerdigt wird. — Gleich bleibt jedoch bei den Primitiven der Ge¬
danke, daß der Tote die gleichen Eigenschaften betätigt wie der Lebende.
Die Furcht vor dem Toten kann so weit gehen, daß die Hinterbliebenen
den Ort des Todes verlassen, zum mindesten die Stelle, welche einen ihrer
Freunde getötet hat, meiden. Wie ich schon oben angeführt habe, gilt eine
Beerdigung bei vielen Primitiven als durchaus respektlos. 1 Bei den Sippen
am Ost- und Südostabhang des Mount Elgon in Ostafrika werden nur Leute,
die an Blattern gestorben sind, Selbstmörder und Diebe eingegraben.
Um sich das Wohlwollen und die Tugenden eines Verstorbenen zu ver¬
schaffen, ist es nicht nötig, die ganze Leiche in einer bestimmten Weise
zu behandeln, sondern es genügt, wenn Teile derselben, wie z. B. der Schädel,
oder Waffen und Kleidungsstücke entsprechend behandelt und geehrt werden,
oder auch Nachbildungen aller Art. Es ist ein ganz allgemeiner Zug des
primitiven Denkens und Handelns, daß ein Teil für das Ganze, eine Nach¬
bildung für das Vorbild gelten kann. Ich erinnere hier an die bekannten
Verzauberungspuppen aus Holz oder Lehm bei den Bewohnern der Südsee,
welche aber, ehe sie ihre Wirksamkeit entfalten können, zuerst mit der
Persönlichkeit, die sie darstellen sollen und welche man verzaubern will,
in irgendeinen Kontakt gebracht werden müssen; zum Beispiel dadurch, daß
man eine Bananenschale, auf welche der zu Verzaubernde getreten ist, um
die Puppe legt. So kann eine wirkungsvolle Nachbildung eines Toten dadurch
hergestellt werden, daß der Lehm für seine Nachbildung mit seiner Asche
vermischt wird, oder daß Teile vom Schädel in der verschiedensten Art ein¬
gerahmt werden. (Daß die Vorstellung von der Wirksamkeit von Hand¬
lungen, welche an. künstlichen Nachbildungen ausgeübt werden, auch noch
in unserem Kulturkreis lebendig ist, beweisen die vielen wächsernen Hände,
Füße und Herzen an katholischen Wallfahrtsstätten, welche von Kranken
vor dem Bildnis der Jungfrau Maria aufgehängt werden.) 2
x) Eine Ausnahme bilden zum Beispiel westafrikanische Stämme.
2) Vgl. Freud: „Totem und Tabu“. III. Kap.: Animismus, Magie und Allmacht
der Gedanken, Ges. Sehr., Bd. X, S. 95. — Fenichel hatte die Liebenswürdigkeit,
Formen und Motive des Anthropophagie
1/9
Auf Neukaledonien wurden die Schädel in der Familie auf bewahrt; die
von Häuptlingen galten als besonders wirkungsvoll; sie wurden zur Heilung
von Krankheiten, Herbeiführung einer guten Ernte, für einen erfolgreichen
Krieg oder für den guten Ausgang einer Reise verwendet.
Ein besonderes Verfahren, durch das man eine innige Verbindung mit
dem Toten herstellen will, besteht darin, daß man entweder das Fleisch des
Verstorbenen verzehrt, oder daß man die von der ausgesetzten Leiche herab¬
tropfende Flüssigkeit dem eigenen Körper zuführt oder ihn mit der Flüssig¬
keit einreibt.
Diese Art, sich Eigenschaften durch Einverleibung oder Kontakt
anzueignen, ist kein auf verstorbene oder erschlagene Menschen allein an¬
gewandtes Verfahren, sondern nur ein Einzelfall aus einer konsequent durch¬
geführten Verhaltungsweise: die Abiponer aßen gern Tiger, Stiere und
Wildschweine, weil diese Nahrung Stärke und Mut verleiht; — sie ver¬
schmähten Hühner, Eier, Schafe, Fische, weil sie feige machen. Bei den
Natchez pflegte man Knaben auf Panther-, Mädchen auf Büffelkalbfelle
zu legen, damit sie sich die Gemütsart dieser Tiere aneignen möchten.
Es könnte nun die Frage entstehen, warum der primitive Mensch diesen
direkten Weg der Leichenbehandlung oder eines Teiles derselben gehen muß,
um dem Zorn des Toten auszuweichen, seines Wohlwollens, seiner Tugenden
und seiner Kräfte habhaft zu werden. Warum kann er nicht den Toten
in Gedanken verehren, sich seine Tugenden Vorhalten, sich mit den Kräften
des Verstorbenen auf gedanklichem Wege identifizieren? Zur Beantwortung
dieser Frage muß ich das primitive Denken kurz skizzieren.
Beim Verkehr mit Primitiven fällt dem Europäer zuerst deren körper¬
liche Ausdrucks weise auf. Am meisten Aufmerksamkeit ist immer den ver¬
schiedenen Ausdrucksarten des Erstaunens geschenkt worden. Charakteristisch
für dieses Erstaunen ist der gesamtkörperliche Ausdruck. Bei uns bleiben
derartige Äußerungen gewöhnlich auf die Gesichtsmuskulatur beschränkt.
Vielfach wird bei Primitiven in Wirklichkeit ausgeführt, worauf unsere
Redensarten in scheinbar bildlicher Übertreibung hinweisen. — «Ich bin
vor Erstaunen auf den Rücken gefallen“; in der Tat werden derartige Be¬
wegungen — übrigens genau wie bei den Menschenaffen — von niedrigen
Naturvölkern gemeldet. Mancher, der zum erstenmal einen Schuß hört,
mich auf folgende Tatsachen hinzuweisen: 1. Bei manchen Backfisch- und Schüler¬
schwärmereien ist es üblich, den Namen der oder des Geliebten auf kleine Zettelchen
zu schreiben und dieselben zu verschlucken. 2. Eine Patientin konnte von Bäckereien
in Buchstabenform diejenigen nicht essen, die im Namen ihres Freundes vorkamen.
Felix Boehm
180
wirft sich vor Schreck auf den Rücken. Vor allem will man durch Hand¬
lungen oder gesamtkörperliche Ausdrucksbewegungen seine Friedfertigkeit
beweisen: so wenn die Leute eines Dorfes bei der Ankunft von Weißen
mit erhobenen Händen ins Wasser springen, um ihre Waffenlosigkeit anzu¬
deuten, oder einen Tanz beginnen oder sich an die Nase fassen, um den
freundschaftlichen Geruch anzudeuten (wir reden im negativen Sinn von
„einen nicht riechen können“), oder sich an den Nabel fassen, um die
gleiche Abstammung zu symbolisieren, die ja Freundschaft bedeutet.
Bei der Begrüßung von Stammesangehörigen kommen natürlich vor
allem Gefühle der Freude zum Ausdruck. Ein Vater wälzt sich zur Be¬
grüßung seines monatelang abwesend gewesenen Sohnes heulend im nassen
Lehm („sich wälzen vor Lachen“).
Da dem Primitiven die Worte fehlen, einen abstrakten Begriff auszu¬
drücken, gibt er das von ihm Empfundene oder Gedachte durch Bewegung
seines ganzen Körpers wieder. Das ganze Denken der Primitiven haftet so
sehr am Konkreten, daß er keinen Denkvorgang durchführen kann, der sich
nicht in Einklang mit der Wirklichkeit bringen läßt.
Eine Zahlen Operation auszuführen, ohne daß deren Sinn in der lebendigen
Wirklichkeit wurzelt, ja von den natürlichen Verhältnissen direkt gefordert
wird, liegt Naturvölkern im allgemeinen ganz fern, ist ihnen nahezu unmög¬
lich. Stellt man ihnen Aufgaben, so zeigt sich sehr oft deutlich, wie wirk¬
lichkeitsabstrakt wir zu denken gewohnt sind, wie sie dagegen mit ihrem
Denken im Wirklichen wurzeln. Zum Beispiel gab man in einem Falle
von Sprachstudien mit einem Indianer diesem den Satz zu übersetzen: „Der
weiße Mann hat heute sechs Bären geschossen.“ Er war nicht dazu zu be¬
wegen, ihn zu übersetzen, weil „es nicht möglich sei, daß der weiße Mann
an einem Tage sechs Bären erlege“. Der Primitive kennt keine Personal¬
pronomina, also keine Satzbildungen, wie: Er hat gegeben, er hat genommen
usw., sondern nur einen Satz, wie: Der Mann N. N. hat Banane, hat Schaf
gegeben, genommen usw.; noch unverständlicher ist ihm eine Infinitivform.
Die Vorstellung einer Zahl an sich, losgelöst von irgendwelchen konkreten
Dingen, existiert nicht. Wir kennen das System des „kleinen Zyklus“ in
Siam 1 und Laos, das zwölf Jahre faßt, in welchem jedes Jahr der Reihe
nach den Namen eines Tieres trägt: Ratte 1, Rind 2, Tiger 3, Hase 4,
Drache 5, Schlange 6, Pferd 7, Ziege 8 . . . Jeder Siamese kennt das Tier
seines Geburtsjahres und die Reihenfolge der Tiere. Fragt man: Wie alt
1) Ztschr, f. Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane. Abt. 1, 60, 1912.
Formen und JMotive der Anthropophagie
181
bist du?, so erhält man zur Antwort: Ich bin aus dem Rattenjahr; oder:
Ich bin aus dem Hasenjahr. Um das Alter des Gefragten zu erkennen,
muß man wissen, wieviel Jahre zwischen dem Tierjahr und dem gegen¬
wärtigen liegen. Die Leute kennen nicht ihre Alterszahl, aber ihr Zahlentier.
Wo sich Zahlen finden, werden sie nicht in unserem abstrakten Sinne
gebraucht, sondern nur verbunden mit bestimmten Gegenständen; z. B. zwei
Bäume und ein entfernter, zwei Eichen und ein dritter Laubbaum sind
nicht drei ohne weiteres, sondern eben zwei und einer.
Wie wenig das primitive Denken begrifflich arbeitet, zeigt, daß in vielen
primitiven Sprachen die menschlichen Körperteile nie als solche, als Arm,
Bein, Nase vorgestellt werden, sondern nur in der konkreten Verbindung
mit einer Persönlichkeit: mein, dein, sein, ihr Arm, Bein oder Nase, und
daß darum auch für diese Verbindung andere Possessivpronomina oder Affixe
verwendet werden als für wirtschaftliche Eigentumsansprüche an ein Haus,
Kanu oder Schwein.
Die auf das Konkret-Sinnliche gerichtete Denkweise kommt vor allem
in Redensarten zum Ausdruck, die an Stelle von zusammenfassenden ab¬
strakten Wendungen, wie wir sie zu gebrauchen pflegen, deskriptiv ver¬
fahren: so statt „ich bade“: ich will meinen Körper waschen; statt „ich
schlage dich“: ich schlage dein Fleisch; statt „ich habe dich gesehen“:
ich habe deinen Körper gesehen u. dgl.
Der Abstraktionsprozeß besteht in einem Auffinden des Gemeinsamen,
zum Beispiel bei Eigenschaften: groß, spitz, grün, mutig. Die Ausdrucksweise
aller primitiven Sprachen ist konkret, indem die Eigenschaftsbezeichnungen
noch nicht vom Gegenständlichen losgelöst wurden, etwa ähnlich, wie sie
noch unseren Ausdrücken orangefarben, mandelförmig, dornig, mammuthaft,
pyramidal, hündisch usw. anhaften. Man darf nicht vergessen, daß auch heute
bei unseren Abstraktionen sich noch vielfach konkrete Vorbilder, Symbole in
den Vordergrund drängen, die keineswegs bei allen Individuen gleich sind
und darum oft das Streiten mit abstrakten Begriffen zu einem Aneinander-
Vorbeireden bringen; so denkt zum Beispiel der eine, der von „Tüchtigkeit“
spricht, an die besondere körperliche Ausstattung ihm vor Augen schwebender,
persönlich bekannter, idealisierter Menschen, der andere an gewisse geistige
Eigenschaften ebenfalls ihm vorbewußt vorschwebender wirklicher Leute.
Wenn der Begriff „mutig“ fehlt, so fehlt erst recht der Begriff „Mut“;
und man kann sich den Mut natürlich nicht auf geistigem Wege aneignen.
So sehr der Sinn des Primitiven am Konkreten haftet, so verschwommen
bleibt ihm doch die Grenze zwischen Wirklichkeit und Schein. Das Gedachte
182
Felix Boelim
erscheint schon wie die Wirklichkeit. So wie man durch das Bild die Sache
zu treffen hofft, so auch durch das bloße Wollen, durch die Behauptung
eines gewünschten Sachverhaltes. So ist die Lüge oft als ein Zauber ge¬
meint, um durch eine Darstellung die Wirklichkeit zu korrigieren. So
stellt sich die Lüge als eine Täuschung dar, der man sich selbst gerne
hingibt, um sich über Unannehmlichkeiten hinwegzusetzen. Darum fehlt
auch der Unterschied zwischen Irrtum und Lüge, ähnlich wie bei unseren
Kindern oder wie bei der Pseudologia phantastica. Das trägt dazu bei, daß
der Primitive zwischen Denken und Handeln nicht unterscheidet;
einerseits faßt der Primitive seine Denkvorgänge als reale Ereignisse der
Außenwelt auf, andrerseits ersetzen sie ihm seine Handlungen. Ein von
mir analysierter Schizophrener brachte eine Einfallsreihe, welche mit dem
Resultat schloß: Mein Vater und unsere alte Haushälterin haben sich zu¬
sammengetan, meine Mutter frühzeitig getötet, um miteinander in Beziehung
treten zu können. Darauf berichtete er seinen Verwandten brieflich von dem
vor Jahren statt gehabten Mord. — Die hier skizzierte Denkweise macht es
verständlich, daß der Ärger des Wurms in der Erde dem Toten im Jenseits
schaden soll, wenn er kein frisches Menschenfleisch mehr in der Erde
findet: zwischen totem und lebendigem Menschen einerseits, zwischen Mensch
und Wurm andrerseits ist kein Unterschied, sie können sich gegenseitig be¬
einflussen, — und Gedanken haben dieselbe Bedeutung wie Taten, d. h.
die Gedanken des Wurms in der Erde können sich schädigend auswirken
wie Taten des Wurms.
Da das Denken des Kindes dem des primitiven Menschen in vielen Be¬
ziehungen sehr ähnlich ist, dürfte es nach allem, was wir bis jetzt über
die Identifizierung mit einem Objekt auf dem Wege der Introjektion er¬
fahren haben, verständlich sein, warum das kleine Mädchen phantasiert,
daß es den Penis des Vaters aufißt, um selbst zu einem Penis oder zu
einem Kinde zu kommen. 1 Ich glaube, meine Ausführungen sind geeignet,
verständlich zu machen, warum das kleine Mädchen sich nur auf diesem
Wege eine Vereinigung mit dem Vater vorstellen kann. In dem Ausdruck:
„Ich hab dich zum Fressen gern“ liegt einerseits eine Ehrung des also
Angesprochenen und andrerseits ein Wunsch, sich die Persönlichkeit des
andern anzueignen. Im übrigen glaube ich, daß auch bei Knaben häufig die
Phantasie vorkommt, den Penis des Vaters aufzuessen, um zu seiner Potenz
1) Vgl. Rank: VÖlkerpsychologische Parallelen zu den infantilen Sexualtheorien.
Zentralbl. f. PsA. II, S. 572 und 425.
Formen und .Motive der Anthropophagie i 83
zu gelangen. Jedenfalls dürfte dieses unbewußte Motiv bei passiv-homo¬
sexuellen Männern mitsprechen, welche bei sich den Koitus per os oder
per anum vollziehen lassen.
Einverleibungsphantasien spielen nicht bloß bei der Melancholie, sondern
auch bei der Schizophrenie eine Rolle. Ein schizophrener Patient, welcher
wegen eines stuporösen Zustandes in einer geschlossenen Anstalt untergebracht
gewesen war, hatte bald nach Beginn der psychoanalytischen Behandlung
bei mir einen Traum, in welchem er Kot brechen mußte, aber keine Ein¬
fälle zu demselben. Nach einigen Wochen erinnerte er sich, von einer
Menschenmenge geträumt zu haben. Dazu fiel ihm der Darm ein; darauf
erzählte er, wie er bei sich von vielen Freunden die Fellatio hatte aus-
iiben lassen. Ich denke, es wird klar, welches Motiv hinter seiner passiv-
homosexuellen Haltung steht.
In der Kraepelinsehen Klinik sah ich einen Katatoniker, welcher steif,
mit nach hinten gewendetem Kopfe dalag und als Erklärung für sein Ver¬
halten angab, er könne den Himmel, die Sonne und die Jungfrau Maria
nicht sehen, weil ihm ein Vogel in den Kopf beziehungsweise Leib gesetzt
worden sei, und zwar vom Kaiser, bestimmten Psychiatern und bestimmten
Krankenpflegern, welche seit seiner Erkrankung eine Rolle in seinem Leben
gespielt hatten; andrerseits waren die genannten Personen aber auch der
Vogel selbst. Es ergab sich, daß er die genannten Personen als Autorität
anerkannt, aber auch gehaßt hatte. Ich glaube, daß er zwei Motive für
seine Introjektionsphantasien hatte: einerseits diese Autoritätspersonen zu ver¬
nichten und andrerseits sich ihre Eigenschaften anzueignen.
Ein anderer schizophrener Patient, welcher sich geistig nie hatte be¬
tätigen können, hielt bis fast zum Schluß einer längeren Analyse an dem
Wunsche fest, auch Psychoanalytiker werden zu wollen. Obgleich er seine
Schulaufgaben nie hatte bewältigen können, glaubte er, sich mein Wissen
sehr leicht aneignen zu können, wenn er durch meinen Tod in den Besitz
meiner Bibliothek kommen würde. Seit seine Frau infolge einer Operation
eine Abneigung gegen den Verkehr hatte, kannte er neben Essen und
Trinken kaum andere lustbetonte Beschäftigungen in seinem Leben. Zum
Schluß seiner Analyse brachte er eine Reihe von Träumen, aus welchen
seine Wünsche, sich meine sämtlichen Organe einzuverleiben, immer deut¬
licher wurden. * 1
1) Siehe Bally: Zur Behandlung schizoider Neurotiker. Int. Ztschr. f. PsA. XVI,
1 93 °? S. 249. — Melanie Klein: Die Bedeutung der Symbolbildung für die Ichent*
Wicklung. Int. Ztschr. f. PsA. XVI,. 1930, S. 57.
Meine Ausführungen wären unvollständig, wenn ich nicht darauf hin-
weisen würde, daß dieselben Anschauungen und Gebräuche, wie wir sie
heute bei den Primitiven finden, in reichem Maße in der Mythologie, im
Folklore, in Sagen, in Volksmärchen und im Aberglauben der Völker Europas
bis in die heutige Zeit vertreten sind. Es läßt sich zeigen, daß in der Volks¬
literatur alle wesentlichen Gesichtspunkte, welche bei der Anthropophagie
in Betracht kommen, von dem rohen sättigenden Genuß des Menschen-
fleisches, also der rein materiellen Seite, bis zu den damit verknüpften,
verfeinerten abergläubischen Vorstellungen, die bis in die letzte Zeit hinein
verbreitet sind, in Handlungen ihre Wirksamkeit entfalten.
Aus der griechischen Mythologie erinnere ich an die Schilderung der
Odyssee, wo der Kyklop Polyphem in der rauchgeschwärzten Höhle nach
den Gefährten des Dulders von Ithaka griff:
Deren er zween anpackt, und wie junge Hund’ auf den Boden
Schmettert: blutig entspritzt ihr Gehirn und netzte die Erde.
Dann zerstückt’ er sie Glied vor Glied, und tischte den Schmaus auf,
Schluckte drein, wie ein Leu des Felsengebirgs und verschmähte
Weder Eingeweide, noch Fleisch, noch die markichten Knochen.
Tantalus, der am Tische der Götter speisen durfte, suchte deren All¬
wissenheit zu prüfen, indem er ihnen das Fleisch seines wegen Blutschande
zerstückelten Sohnes Pelops vorsetzte. Nur Demeter ißt aus Versehen von
der Schulter, während die übrigen Götter die Speise erkennen. Atreus tötet
die beiden Söhne des Thyestes, läßt die zerstückelten Leichname teils kochen,
teils braten und setzt dem Vater beim Gastmahle das Fleisch zum Essen,
das Blut unter den Wein gemischt zum Trinken vor.
Erwähnen will ich noch jenen Zug, welcher bei der heutigen Anthropo¬
phagie charakteristisch und noch erhalten ist, die völlige Vernichtung des
Feindes dadurch, daß man ihn verspeist, im Volksmärchen Schneewittchen:
die Stiefmutter Schneewittchens verzehrt Leber und Lunge in der Vorstel¬
lung, es wären Leber und Lunge des von ihr gehaßten Schneewittchens. —
Bei Grabschädigungen zu Rostasin bei Lauenburg (Pommern) und Heide¬
mühl (Kreis Schlochau) in den Jahren 1871 und 1877 sind den Leichen
Blut oder Stückchen Fleisch entnommen worden, um sie Erkrankten ein¬
zugeben.
Daß kannibalistische Regungen in unserem Kulturkreise noch heute eine
Rolle spielen, beweisen uns die von G. H. Gräber mitgeteilten zweihundert
Träume aus dem vierten Schuljahr einer Berner Volksschule; unter zwei-
Formen und Afotive der Anthropophagie i85
hundert Träumen sind zehn ausgesprochen kannibalistischen Inhalts . 1 Ich
zitiere einen von ihnen: „ Der Teufel. Ich mußte einmal in den Keller. Da
sah ich in der Ecke einen Teufel. Da nahm ich einen Stecken und schlug ihn
auf den Kopf , daß er tot war. Ich ging in die Küche hinauf ', zu der Mutter ,
aber ich sagte nichts. Dann sagte sie, ich soll in den Estrich , um Holz zu
holen. Ich ging. Aber als ich Holz nehmen wollte, sah ich eine greuliche Hexe
hinter der Tür. Sie sprang auf mich zu und verschlang mich. Dann erwachte
ich; ich war froh, daß es nur ein Traum war.“
Bemerkenswert ist, daß keine einzige der Träumerinnen sich aktiv kanni-
balistisch betätigt, sondern daß sie alle in ihren Träumen gefressen werden.
Man darf annehmen, daß die Träumerinnen alle den Wunsch haben, in
einem fremden Körper eingebettet zu sein. (In welchem Maße bei diesen
Kindern Triebregungen der oral-sadistischen Entwicklungsstufe verdrängt sein
mögen, will ich dahingestellt sein lassen.) Auffallend ist ja die uns frappierende
Gleichgültigkeit vieler Kannibalen gegen das Gefressenwerden, wie wir aus
folgendem Beispiel ersehen: Die Anziquen an der Loangoküste von
Gorilla bieten sich zuweilen aus Lebensmüdigkeit oder Ruhmsucht als Speise
an, denn sie halten es für etwas Großes und für das Zeichen einer edlen
Seele, das Leben zu verachten.
Den Psychoanalytiker dürfte sicher die Frage interessieren, wie weit sich
Übereinstimmungen zwischen den in dieser Arbeit geschilderten Gebräuchen
und Vorstellungen und neueren Befunden in der psychoanalytischen Literatur
finden lassen. Die Bereitschaft mancher Primitiver, sich fressen zu lassen,
z. B. der Anziquen an der Loangoküste, läßt uns an einen von Freud
in „Hemmung, Symptom und Angst “ 2 beschriebenen jungen Amerikaner
denken. Freud sagt: „Wir haben bereits gehört, daß der kleine Hans als
den Inhalt seiner Phobie die Vorstellung angab, vom Pferd gebissen zu
werden. Nun haben wir später Einblick in die Genese eines anderen Falles
von Tierphobie bekommen, in der der Wolf das Angsttier war, aber gleich¬
falls die Bedeutung eines Vaterersatzes hatte. Im Anschluß an einen Traum,
den die Analyse durchsichtig machen konnte, entwickelte sich bei diesem
Knaben die Angst, vom Wolf gefressen zu werden, wie eines der sieben
Geißlein im Märchen. Daß der Vater des kleinen Hans nachweisbar ,Pferdl‘
mit ihm gespielt hatte, war gewiß bestimmend für die Wahl des Angst¬
tieres geworden; ebenso ließ sich wenigstens sehr wahrscheinlich machen,
1) In welchem Maße dieselben durch den Anblick des Berner Brunnens „Der
Kindlifresser“ angeregt sein mögen, wage ich nicht zu entscheiden.
2) Ges. Sehr., Bd. XI, S. 43.
Imago XVIII.
1 5
i86
Felix Boehm
daß der Vater meines erst im dritten Jahrzehnt analysierten Russen in den
Spielen mit dem Kleinen den Wolf gemimt und scherzend mit dem Auf¬
fressen gedroht hatte. Seither habe ich als dritten Fall einen jungen Amerikaner
gefunden, bei dem sich zwar keine Tierphobie ausbildete, der aber gerade
durch diesen Ausfall die anderen Fälle verstehen hilft. Seine sexuelle Er¬
regung hatte sich an einer phantastischen Kindergeschichte entzündet, die
man ihm vorlas, von einem arabischen Häuptling, der einer aus eßbarer
Substanz bestehenden Person (dem Ginge rbreadman) nach jagt, um ihn
zu verzehren. Mit diesem eßbaren Menschen identifiziert er sich selbst, der
Häuptling war als Vaterersatz leicht kenntlich, und diese Phantasie wurde
die erste Unterlage seiner autoerotischen Betätigung. Die Vorstellung, vom
Vater gefressen zu werden, ist aber typisches uraltes Kindergut; die Analogien
aus der Mythologie (Kronos) und dem Tierleben sind allgemein bekannt.“
Als wesentlichste psychologische Motive für das Verzehren von Körper¬
teilen von Menschen drängen sich in unserem Material folgende auf: Einer¬
seits der Wunsch nach dem Einswerden mit dem einverleibten Objekt und
andrerseits die vollkommene Vernichtung desselben; diese beiden Tendenzen
entsprechen den beiden von Abraham beschriebenen Stufen der oralen
Entwicklungsphase der Libido, der primären, der sogenannten Saugestufe,
von welcher er sagt: „Das Kind vermag noch nicht zwischen seinem Ich
und einem Objekt außerhalb zu unterscheiden. Ich und Objekt sind Begriffe,
welche dieser Stufe überhaupt nicht entsprechen. Das saugende Kind und
die nährende Brust (oder Mutter) stehen in keinem Gegensatz zueinander;“
— und der sekundären, der oral-sadistischen Stufe, in welcher das Beißen
als Urform des sadistischen Impulses auftritt.
In sehr klarer Weise werden uns Einzelheiten der Triebregungen dieser
beiden Stufen in der Krankengeschichte eines sechseinhalbjährigen Knaben
von Steff Born stein 1 geschildert. Statt eines längeren Auszuges bringe ich
nur zwei Assoziationsreihen des jugendlichen Patienten; 1): „Es war einmal
ein Jesuskind, das war der Nils“ (Nils ist sein eigener Name). „Die Mutter
gab ihm Butter aufs Brot — und Milch — und Zucker — und — da war noch
ein neues Kind gekommen, und die Mutter gab dem Kind und dem älteren
die Brust in den Mund. Und dann war die Mutter da . . . und hatte den
Jungen so lieb . . . und da war sie sehr lieb.“ Und 2): „Es war ein Kind,
wie dem seine Mutter gestorben war, und da war der Junge furchtbar traurig,
1) „Zum Problem der narzißtischen Identifizierung.“ Int. Ztschr. f. PsA. XVI, 1950,
S. 400.
Formen und Motive der Anthropophagie
187
und da war eine Muh und ein Mäh! . . . Dabei war die Mutti gar nicht
gestorben, nur ein Kind hatte sie geboren, das schrie: mäh, mäh! Und das
neue Kind wollte die Mutti vor Freude auffressen. Da hat der Junge zu¬
geguckt. Da hat der Junge gebrüllt und alle Leute ärgerten sich, daß er
brüllt, und er hat die ganze Welt totgebrüllt und totgefressen.“ Interessieren
dürfte, daß auch in dieser Krankengeschichte, wie in der oben zitierten
Mitteilung von Fenichel, die Mutter auch als Mühle dargestellt wird,
durch welche der Patient gedreht wird, um ohne Wunschmacher, als Mädel
wieder herauszukommen.
Beweiskräftiger als in meinen oben mitgeteilten Bruchstücken aus der
Krankengeschichte von zwei Schizophrenen ist die Bedeutung der oralen
Libido in einer von Bychowski 1 mitgeteilten Krankengeschichte einer
Schizophrenie: Alles, was der Patient an der Brust der Mutter erlebt hat,
beziehungsweise woran er durch Versagung gehindert worden ist, projiziert
er in seinem Verfolgungswahn auf die Außenwelt, wobei er sich mit der
Mutterbrust identifiziert: die Passanten ziehen seinen Kopf zusammen, sie
saugen daran, und dadurch trocknet der Kopf aus. Die Leute verderben ihm
den Kopf, da sie Hunger haben. Ein magerer Mensch trocknet einen dicken
aus. Diese oralen Verfolgungen betreffen in starkem Maße auch die Sexual¬
beziehungen und -organe. Frauen wollen dick und schön sein und darum
saugen sie an ihm, raffen ihn mit ihrem Kopf und ihren Zähnen zusammen.
Das Weib frißt ihm mit ihrer Scheide das Glied nebst den Hoden auf. —
Hier muß ich daran erinnern, wie häufig in dem von mir mitgeteilten
Material das Verzehren von männlichen und weiblichen Geschlechtsorganen
beziehungsweise von Teilen derselben, um die eigenen Geschlechtsfunktionen
zu erhöhen, geschildert wird. Derselbe Zug findet sich in der Kranken¬
geschichte des von Steff Bornstein geschilderten neurotischen Knaben: „Er
möchte am Penis des Vaters saugen. Er phantasiert Geschichten, in denen
seine Mutter ein neues Baby bekommt, er aber vom männlichen Penis die
Milch austrinkt. Er korrigiert bald seinen Wunsch im genitalen Sinne: ,Das
kann man nicht, ich weiß schon, nur in meinen Gedanken sind Milch
und kleiner Wunsch das gleiche, aber Samen kann man von Vatis Wunsch¬
macher trinken. 4 “
Ich kann meine Arbeit nicht abschließen, ohne die Bedeutung kannibalisti-
scher Vorstellungen für eine bekannte Kulturerscheinung, die sogenannten
Bitualmorde, zu schildern, sei es, daß dieselben stattgefunden haben oder
1) Ein Fall von oralem Verfolgungswahn. Int. Ztschr. f. PsA. XV, 1929, S. 96.
13*
i88
Boehm: Formen und Motive der Anthropophagie
nur phantasiert worden sind. Die Vorstellung vom Ritualmord entstand auf
Grund des Blutaberglaubens, d. h. der Ideen und Praktiken, die sich auf
die vermeintliche Wirksamkeit frischen Blutes, besonders des menschlichen,
gründen. Der Glaube, daß das Blut der eigentliche Sitz von Leben und Seele,
Individualität, Kraft und Gesundheit sei, führte früh zu den Zeremonien der
Blutvermischung bei Schließung von Bluts-oder Halbbrüderschaft, der Belebung
der Schatten der Verstorbenen durch gespendetes Blut und der Entsühnung von
Schuld durch Tieropfer und durch Waschung oder Besprengung mit dem Blute
beim Mithraskult. Das Blut unschuldiger Wesen galt als besonders wirksam;
daher spielen Kinder- und Jungfrauenopfer in urzeitlichen Religionsgebräuchen
und Sagen (Erstgeburt [Isaak], Iphigenie usw.) eine große Rolle, ebenso bei
der Heilung hartnäckiger Krankheiten wie Aussatz (Armer Heinrich). Eine
besondere Art des Blut aber glaub ens ist die Beschuldigung fremder Religions¬
gemeinschaften, bei ihren Entsühnungsmahlzeiten des Blutes eines ge¬
mordeten Menschen zu bedürfen. Die alten Römer veranstalteten deshalb
blutige Christen Verfolgungen. Während des letzten großen Krieges sind
die deutschen Truppen beschuldigt worden, in ihren Feldküchen Menschen¬
fleisch, insbesondere Frauenbrüste ihrer Feinde, zur Zubereitung von Speisen
verwendet und in ihren Brotbeuteln mit sich getragen zu haben. Solche Vor¬
gänge sind in verschiedenen Zeichnungen veranschaulicht worden . 1 Auch
dies dürfte ein Beweis für das Vorhandensein unbewußter Wünsche nach
Genuß von Menschenfleisch in der heutigen Zeit sein, wobei zu beachten
ist, daß diese Wünsche den Feinden zugeschrieben wurden und sich auf
die Attribute der Weiblichkeit der eigenen Frauen richten sollten.
1) Magnus Hirschfeld: Sittengeschichte des Weltkrieges. Bd. II, S. 196.
Eine mohammedanische Legende
Ein psychoanalytischer Versuch
Von
Dr. A. Izeddin
Istanbul
„Das Symbol ist die Brücke zur
Wahrheit“. (Sufischer Spruch)
Die Pilgerstätte
In einer entfernten Vorstadt Istanbuls, in der Nähe des Ortes Top Kapu,
liegt eine Pilgerstätte, die „Merkez Efendi“ heißt: Das ist „Herr der Mitte“.
Unmittelbar vor den zerfallenen großen Mauern steht diese Türbe, das
Grabmal eines Heiligen, von einer Moschee und einigen anderen Baulich¬
keiten umgeben. Dicht dabei liegt ein mohammedanischer Friedhof, denn
die Bevölkerung liebt es, ihre Toten in der Nähe eines Dieners des Glaubens
zu betten. Das Grab ist ein bescheidenes rechteckiges Bauwerk aus weißem
Marmor mit einem roten Ziegeldach und liegt in einem kleinen Hof.
Durch die vier Fenster der Vorderfront kann man ins Innere des Bauwerks
sehen, das in zwei Teile geteilt ist. Der kleinere Teil birgt das Grab des
Heiligen, das die Form einer halben Pyramide hat und mit einem Gitter
umgeben ist. Durch das erste Fenster rechts kann man das Hauptende des
Sarkophags sehen. Er ist mit gestickten Decken verhüllt. Am Fußende be¬
findet sich ein Epitaph in türkischer Sprache.
Bevor die Laiengesetze den Besuch des Grabes verboten, traten die
Gläubigen an dieses Fenster, um ihre Gebete zu verrichten und den Hei¬
ligen um ErhÖrung ihrer Wünsche anzuflehen. Die andere Hälfte des
Innenraumes enthält ebenfalls einige Gräber, die ohne weiteres Interesse
sind, mit Ausnahme desjenigen des Schwiegersohnes des Heiligen. Denn die
mohammedanischen Einsiedler durften (wie später ausgeführt werden wird)
heiraten, ohne gegen die Satzungen zu verstoßen.
Hinter diesem Bauwerk befinden sich zwei Baulichkeiten, die in un¬
mittelbarer Beziehung zu unserer Legende stehen. Die eine von ihnen ist
ein gewöhnlicher Brunnen. Die wichtigere von beiden ist eine Art von
sechseckiger, etwa fünf bis sechs Meter tiefer Grube. Sie ist von einer
steinernen Brüstung umgeben. Durch eine Öffnung gelangt man auf einer
Treppe von etwa dreißig Stufen auf den Grund der Grube. Ganz im Hinter¬
gründe befindet sich ein Becken von einigen Metern Tiefe. In dem klaren
Wasser schwimmen schwarze Fische. Und in diesem Becken ruht auf zwei
gedrungenen Pfeilern die Leidenskammer des Heiligen. Diese hat zwei
hohe Fenster, die sich zum Becken hin öffnen, und links eine kleine Tür
zur Treppe. Das schräge Dach dieser Kammer reicht kaum bis zur Erd¬
oberfläche. Wilde Kastanienbäume und Epheu schmücken dieses friedliche
Grab. Die Moschee und der Friedhof, die zur Legende keine Beziehung
haben, brauchen uns hier nicht zu beschäftigen.
Das Ritual
Ein strenges Ritual beherrschte noch bis vor kurzem den Kult dieses
Heiligen. Er half in schwierigen Fällen, z. B. bei Prüfungen oder Geschäften
und vor allem bei unfruchtbaren Ehen. Ohne von den islamitischen Vor¬
schriften abzuweichen, bestand der Ritus darin, einen Stein vom Grunde
des kleinen Beckens aufzulesen, dabei seine Bitte auszusprechen und dem
Heiligen ein Gebetopfer zu geloben, dabei auch der Sunbuli-Derwische zu
gedenken, die mit dem Schutz des Grabes betraut waren und deren Sekte
Merkez angehört hatte. Man bewahrte den aufgelesenen Stein, und wenn
sich der Wunsch erfüllte, trug man ihn wieder an seinen Ort zurück,
denn er gehörte dem Heiligen. Wurde dann ein Kind geboren, so war es
dem Merkez geweiht, oder, wie man sagt, ihm „verbunden“. An der
Marmorfront des Gebäudes sind noch heute Bleistiftinschriften, zum Teil
jüngsten Datums, zu sehen, mit denen die derart geweihten Kinder ihrem
Schutzpatron ihre Verehrung bekunden. Bemerkenswert ist eine, in welcher
sich der Schreiber entschuldigt, daß er seinem erhabenen Herrn erst jetzt,
an seinem zwanzigsten Geburtstag, seinen Besuch abstatten konnte. Über¬
dies befinden sich in einem anderen Raum, und zwar außerhalb jenes Ge¬
bäudes mit dem heiligen Grabe, noch zwei weitere, völlig verfallene und
verlassene Gräber. Sie liegen am Eingang der Umfassungsmauer in einer
Eine mokamnieJanisciie Legend)
e 191
Art von Hütte. Nach der Legende bergen diese Gräber die beiden Söhne (!)
des Heiligen, die er von der Sultanin Anisi gehabt haben soll. Die Bitt¬
gänger versäumten es nie, auch diesen beiden Söhnen des Meisters ihren
Tribut an Gebeten und Münzen zu entrichten, ehe sie sich an den Vater
wandten.
Die Legende von AlerJzez Lfendi
„Merkez Efendi, der künftige Heilige, war schon als Kind ein Weiser,
der die tausend und eine Wissenschaft besaß.“ Fern von allen Sorgen be¬
gnügte er sich gern mit dem Wenigen, womit Allah die Welt bedacht hat.
Eines Tages jedoch regte sich in ihm der Wunsch, zu heiraten. Da ein
Mann von seiner Weisheit und Bedeutung keine beliebige Frau heiraten
konnte, beschloß er, um die Tochter des Padischah zu werben. Er wollte
aber zuvor seine künftige Ehefrau von seinem Wunsch verständigen; da
er sich ihr aber nicht in Wirklichkeit nähern konnte, so erschien er ihr
eines Nachts im Traum und bekannte ihr seine Leidenschaft. Die Tochter
des Sultans verliebte sich in den Derwisch und ward ihm zugetan trotz
seines zerrissenen Mantels; so sahen und erkannten sie einander jede Nacht
im Traum. Darauf begab sich Merkez Efendi zum König und bat um die
Hand seiner Tochter, worüber dieser in großen Zorn geriet. Nachdem er
sich aber bedacht hatte, entschloß sich der König, dem armen Derwisch
seine Tochter zu geben, vorausgesetzt, daß dieser ihm „vierzig Kamel¬
ladungen Gold“ brächte.
Der Derwisch war damit einverstanden, nun aber sehr in Nöten. Er
versetzte sich in die „Welt der Ideen“, d. h. er legte sich schlafen, um
einen prophetischen Traum zu haben. In diesem Traum erhielt er den
Besuch eines ehrwürdigen Greises, der zu ihm sprach: „Fürchte dich nicht,
sondern beginne nach deinem Erwachen Erde zu schaufeln und mit dieser
Erde ein Kamel zu beladen . . . Tue vierzig Tage lang desgleichen und
begib dich dann zum König.“ Der Heilige säumte nicht, den Rat des
Greises zu befolgen, und begab sich am vierzigsten Tage zum König. Die
Erde in den Säcken verwandelte sich im Augenblick, als man sie vor der
Schatzkammer des Sultans ablud, in Gold. So war dieser gezwungen, sein
Versprechen einzulösen. Noch hoffte er auf eine Absage von seiten seiner
Tochter, ließ sie kommen und sprach mit ihr. Die Sultanstochter, die
schon verliebt war, ließ sich nicht zurückhalten und nahm den Derwisch
zum Manne. Da zürnte der König, jagte sie mit ihrem Verlobten aus dem
Schloß und versagte ihr die Mitgift.
Merkez nahm seine Frau mit und grub sich seine Kammer des Leidens
neben der Grube, die er ausgehoben hatte, als er die Kamele mit Erde
belud. Arm, wie sie waren, mußten die Verlobten ihre Hochzeitsnacht
nüchtern verbringen; aber am folgenden Morgen gewahrten sie, daß sich
die Grube mit Wasser gefüllt hatte, und daß Fische darin schwammen.
Sie fingen sie und kochten sie an der Sonne, aßen und legten sich nieder
Die Sultanstochter verliebte sich dermaßen in ihren armseligen Gatten, daß sie
sehr glücklich war. Nach einem Jahr wurde ihnen ein Kind geboren. Da sie
kein Brennholz hatten, um warmes Wasser zum Waschen der Wäsche des Kindes
zu bereiten, hielt die Sultanstochter ihren Fuß an die glühende Steinplatte
und wärmte mit ihm das Wasser. Der Herrscher kam, um seine Tochter
zu besuchen, und es schmerzte ihn, als er sah, daß sie sich den Fuß ver¬
brannte. Aber als die Sultanstochter sich erheben wollte, um ihren könig¬
lichen Vater zu empfangen, stürzte sie hin und starb. Abends kam Merkez
Efendi heim, fand sein Weib tot und sank entseelt neben ihr zu Boden.
Dies ist in großen Zügen die Legende von Merkez, wie man sie in
Istanbul erzählt.
Das Leben des JMerhez Lfendi 1
Merkez Efendi war ein Derwisch und Meister des Ordens der Sunbuli. Mit
seinem eigentlichen Namen hieß er Muslihiddin Musa (Moses Muslihiddin).
Er wurde zu Denizdli im Jahre 866 der Hedschra (1462 n. Chr.) geboren.
Sein Vater hieß Mustafa. Seinen ersten Schulunterricht genoß er in seiner
Geburtsstadt und kam dann nach Konstantinopel, um sich der Schule des
bekannten Ahmed Pascha anzuschließen. Einige Zeit später begab er sich
nach Amassia, wo er eine Zeitlang predigte. Nach Konstantinopel zurück¬
gekehrt, heiratete er die Tocher des Et Jemez Baba, d. h. „der Vater, der
kein Fleisch ißt . Dann predigte er in der Hagia Sophia. Er besuchte
regelmäßig die Mönchsschule des berühmten Sunbuli Sinan (Sinan von Hya-
cinthia). Hier erlangte er seine Weihen und wurde zum Scheich des Klosters
der Sunbuli zu Magnisa ernannt, wohin er sich begab, um seine Pflichten
zu übernehmen.
Als Sinan starb, wurde Merkez nach dem Wunsch des Sterbenden zum
Scheich der Sunbuli gewählt. Er kehrte nach Konstantinopel zurück und
i) Zijareti Evlija: Besuch, bei den Heiligen. A. Hilmi. Türkisch. Bibliothek zu
Bajizid, Nr. 138, S. 15/16. — Tahir, Osmanli Muellifleri (Ottomanische Schriftsteller).
Türkisch. Bd. II, S. 26, sagt über ihn: „Gegen Ende seines Lebens hatte er den alten
Weg des Sufismus eingeschlagen.“
193
lebte dort bis zu seinem Tode im Jahre 959 der Hedschra (1552 n. Chr.).
Er durfte jedoch nicht an der Seite seines Meisters in der gleichen Stadt
bestattet werden und wurde daher außerhalb der großen Mauer begraben.
Denn sein Meister hatte ihm zur Pflicht gemacht, „die Mitte“ zu wählen,
und Merkez (= Mitte) hätte sonst denselben Platz wählen müssen, an dem
sein Meister ruhte. Er hatte das Kloster und sein Grab im Namen der
Sultans-Mutter errichtet. Sicher ist, daß er ein „Sufi“ war.
Zum besseren Verständnis der Merkez-Legende ist es notwendig, auch
das Leben seines Meisters kennenzulernen.
Das Leben des Sunbuli S1:
1
man
Sinan von Hyacinth, das spätere Haupt der Sunbuli und Oberscheich
des Merkez, hieß in Wirklichkeit Jussuf (== Joseph). Er war der Sohn von
Ali Kaja Bei und wurde geboren zu Merzifun. Nachdem er „die öffentlichen
und geheimen Wissenschaften“ bei Efdaf Zade 1 2 studiert hatte, ließ er sich,
das Herz von himmlischer Liebe erfüllt, als Scheich in Istanbul, in der
Nähe des Stadtteils Kodsha Mustafa Pascha nieder, und zwar an einem
Ort, der später unter seinem Einfluß der „Tekke“ (das Kloster) der Sunbuli
wurde. Er war von Muhamed Dshemaleddin geweiht worden und ging
nach dreijährigem Aufenthalt bei diesem Meister nach Kairo, um dort zu
predigen. Als er bald darauf hörte, sein Meister Muhamed sei auf einer
Pilgerschaft nach Mekka begriffen, erfaßte ihn die Sehnsucht, seinen Lehrer
an diesem heiligen Ort wiederzusehen, und er begab sich dorthin. Doch traf
er ihn in Mekka nicht an, da der Meister unterwegs gestorben war und
ihm die Sorge für sein Tekke überlassen hatte. So kehrte Sinan nach Istanbul
zurück und nahm die freigewordene „ Poste “ 3 (Stelle) seines Meisters ein.
Er heiratete dann die Tochter seines Meisters, Saffije Molla, wie es der
Verstorbene gewünscht hatte. Er wurde Begründer des Hyazinthen-Ordens
und starb zu Istanbul im Jahre 936 der Hedschra (1531 n. Chr.). Sein
Nachfolger wurde, wie wir hörten, Merkez. Sinan war sicher ein Sufi.
Man berichtet von ihm jenes Wort über das Wesen des Sufismus: „Der
Sufismus ist die Suche nach der Harmonie mit ,Hcl}l (Wahrheit, Gott) . . .“ 4
1) Zijareti Evlija: Besuch bei den Heiligen. A. Hilmi. S. 15/16.
2) Tahir betrachtet zu Unrecht Merkez Efendi als Schüler des Efdaf Zade. (Otto-
manische Autoren. Bd. II, S. 26. Bibliothek zu Bajizid, Nr. 475.)
3) Poste , Diminutiv Posteki = Vließ, bedeutet das Abzeichen eines Scheichs. Die
Scheiche sitzen auf Schaffellen.
4) Zijareti Evlija: Besuch bei den Heiligen. A. Hilmi. Bibliothek zu Bajizid, Nr. 138.
19 4
A. IzeJdin
Die Bindung zwischen Lehrern und Schülern beim Sufismus ist eine
Tatsache. So brauchen wir im folgenden keinen Zug in den Inhalt der
Heiligenleben künstlich hineinzubringen, wenn wir uns darum bemühen
wollen, den Helden der Legende psychoanalytisch zu beleuchten. Unsere
Deutung der Symbole des Sufismus ist daher objektiv begründet.
Es fehlt hier der Raum für eine psychoanalytische Studie über den Sufis¬
mus überhaupt. Wir werden darauf also nur insoweit zurückkommen, als
die Analyse der Legende dies erforderlich macht.
Die Psychoanalyse und die Legenden des Islams
Wir gehen von der Vermutung aus, daß jener mohammedanische Mythus,
ähnlich wie die christlichen und heidnischen Legenden, „der manifeste Inhalt
eines reichen Traumes sei, dessen primitive Komplexe seine latenten Traum¬
gedanken bedingen“. 1
Unter diesem Gesichtspunkt ist es nicht schw r er, den Mythus in seine
Motivelemente zu zerlegen. Dabei finden wir die gleichen Vorgänge der
Entstellung, Verschiebung, Verdichtung und sekundären Bearbeitung vor
wie anderwärts. Wir können dabei feststellen, daß die von Freud ent¬
deckten Mechanismen und symbolischen Ausdrucksformen der Libido im
allgemeinen auch in den mohammedanischen Mythen wie anderwärts wirk¬
sam sind, obgleich ihre Wiege doch so weit von derjenigen der Psycho¬
analyse entfernt stand. Das Studium der unzähligen Lehren und Sekten des
Islams erweist, daß die Libido, vom psychoanalytischen Standpunkt aus be¬
trachtet, hier besonders eindrucksvolle Äußerungsformen angenommen hat,
die im Westen noch unbekannt sind; um nur die bedeutsamste zu nennen:
den Sufismus.
Der wahre Name des Sufismus ist „ Sufije “ oder „Tasavvuf“. Was im
Abendland mit dem Namen Sufismus bezeichnet wird, existiert im eigent¬
lichen Islam weder als Bezeichnung noch als Lehre. Aber während die
Lehre des Propheten die Wüste durchquerte und sich unter den fernsten
Völkern verbreitete, erfuhren die Kernlehren des Islams selbst tiefgreifende
Veränderungen durch den Einfluß der unterworfenen Kulturvölker.
Nach manchen Theorien änderte der Islam, teils unter iranischem, hindu-
istischem und griechischem, teils unter dem ständig nahen Einfluß des
Christentums sein Wesen, indem er den Hauptton auf die Verbreitung der
1) Baudouin: Psychanalyse de l’Art, p. 10.
Eine mohammedanische Legende
195
Lehren des Propheten verlegte; nach anderen Theorien 1 hat der Islam in
einer Art von Selbsterneuerung den Sufismus lediglich durch Auslegung
des Korans und der Hadis hervorgebracht.
Über den Ursprung des Wortes „Sufi“ gibt es, nach dem Urteil von
Kennern, nicht weniger als zweitausend Theorien. 2 Es ist behauptet worden,
daß das Wort vom griechischen ooqpüx stammt; andere glauben, daß das
Wort rein deskriptive Bedeutung habe und arabischen Ursprungs sei. Das
arabische „suf “ bedeutet „rohe Wolle“. Danach sollen gewisse Gelehrte
als unterscheidende Tracht eine Toga aus roher Wolle getragen haben;
daher die Bezeichnung „Sufi “. Anscheinend trugen sie diese Kleidung, um
sich zu kasteien, oder, nach andrer Ansicht, getreu dem Vorbild des Pro¬
pheten, der ein Freund der Schlichtheit war. Wie dem immer sein mag,
der Ausdruck „Sufismus“ tritt nicht vor der zweiten Hälfte des zweiten
Jahrhunderts nach der Hedschra auf.
Der erste Sufi scheint der berühmte Hachim von Kufa gewesen zu sein,
der im Jahre 160 der Hedschra in Syrien gestorben ist. Der Islam verdankt
ihm den ersten dreieckigen Betraum der Sufi. Als später der Islam sich nach
Zentralasien hin ausbreitete, wurde im vierten Jahrhundert der Hedschra
die Stadt Korassan zum hervorragendsten und wichtigsten Mittelpunkt des
Sufismus in den türkischen Ländern. Zahlreiche Scheiche predigten dort.
Man nannte sie „Bab“ oder „Baba“ = Vater. Diese türkische Bezeichnung
verblieb gewissen Sekten, besonders den Bektaschi, während andere Sekten,
z. B. der Orden der Sunbuli, den Namen „Scheich“ vorzogen.
Die Analyse der Legende
Die Legende von Merkez erscheint uns überdeterminiert. Es ist unschwer,
in ihr verschiedene Motive zu entdecken, die jedoch so weit übereinstimmen,
daß sie einen homogenen Eindruck machen.
Unter der strengen Zensur des monotheistischen Islams, wie auch des
Judentums, nimmt der Held die Gestalt eines demütigen Derwisches
und Dieners Gottes an. Er ist nicht mehr der auf sich selbst angewiesene
Sohn eines heidnischen Tyrannen, der danach trachtet, den ihm gebührenden
Platz an der Sonne zu erobern. Man kann die Wichtigkeit dieser sekun¬
dären Bearbeitung gar nicht genug betonen, die in der heidnischen Mytho-
1) Edgar Blochet: Etudes sur l’histoire religieuse de l’Iran. 1899, S. 20.
2) Tasavvuf Tarihi: Geschichte des Sufismus. Türkisch. A. Ajui. S. 179 f. und
Tomari Turku Alije: Ridvan vidschaani. Türkisch. S. 4.
*9^ A. Lseddin
logie von so großer Wichtigkeit ist. Denn sie macht manchmal aus dem
klassischen Familienroman ein mythisches Drama und färbt die gelassenen
Züge eines Derwisches mit den Farben einer Paranoia. Die Ursachen einer
solchen Umgestaltung sind sehr wichtig.
Auch das müssen wir betonen, daß der Sufismus das „Volk“ nicht in
sich einbezieht. Für den Sufi ist das Volk unfähig, den Sinn der „Ewig¬
keit in der Einigkeit“ zu erfassen. (H. A. K. = Gott = Wahrheit.)
Größen ~ und Verfolgungsideen
So konnte Merkez, obwohl er nur ein bescheidener Derwisch war, keine
andere Frau als die Tochter des Sultans heiraten, denn es stand fest, daß
er die tausend und eine Wissenschaft besaß. Wir stimmen also ganz genau
mit der Ansicht Baudouins überein, der im Mythus beim Helden ge¬
wisse Züge von Paranoia feststellt. 1
Der paranoide Charakter der Sufis hat übrigens auch die Aufmerksamkeit
von Autoren, die keine Psychiater waren, auf sich gelenkt. So findet man
in der Enzyklopädie der Religionen von Hastings, „daß die Sufis sich
als eine besonders bevorzugte Klasse betrachteten, da sie die esoterische Seite
des Korans besaßen und auch die apostolischen Traditionen und technischen
Ausdrücke gebrauchten, die der gewöhnliche Mohammedaner nicht be¬
griff“. 2
Der Sufismus gewährte den verschiedenen Völkern, die sich durch die
Ausbreitung des Islams in ihrer eigenen Kultur bedroht sahen, die Mög¬
lichkeit, sich freier zu entfalten, denn er gewährte die Freiheit des Wortes
auch solchen Geistern, die zu kritisch waren, um die zum Teil völlig zu¬
sammenhanglosen Aussprüche des Propheten wörtlich zu glauben. Der
Sufismus bot ihnen eine Zuflucht. So konnte es nicht fehlen, daß der
Sufismus schwere Verfolgungen erdulden mußte. 3 Die Politik mischte sich
ein, und wir sehen, daß im Jahre 935 der Hedschra der berühmte Scheich,
der den Namen „Ephebe“ trug, nach dem Religionsedikt ( fetva ) Kemal
Zades hingerichtet wurde. Dieser Scheich Ephebe hieß eigentlich Ismail
und gehörte zur Sekte (Bairamije) „der Feste“, und begann eine gewisse
Rolle zu spielen. Er ist ein Zeitgenosse des Sinan und des Merkez und
Solimans des Prächtigen. Letzterer fürchtete den verderblichen Einfluß
1) Baudouin: Psychanalyse de l’Art, p. 30.
2) „Sufism“ in Hastings, Encyclopaedia of Religions.
3) Wir werden sehen, daß der Scheich sich manchmal „Sultan“ nennt und sogar
gekrönt wird.
Eine mohammedaniscLe Legende
Ephebes auf seine Partei — wie es heißt, mit Unrecht — und beseitigte
ihn darum ebenso wie noch einige andere Scheiche (Bechir den Milchner).
Die äußeren Umstände halfen also mächtig mit zur Verwirklichung
dieser Umgestaltung. Die Sufis genossen zwar in ihrem Kreise große Ver¬
ehrung, aber sie überraschten die Rechtgläubigen öfters dadurch, daß sie
in ihre Kulte dem Islam fremde Gebräuche — so die Musik und den
Tanz während der Gebete — einführten. Auch trugen sie ausgesprochen
weiblichen Schmuck (Ohrringe usw.) und andere Zeichen einer verhüllten,
ausgesprochen homosexuellen Erotik. Daher hatte man auch ein gewisses
Mißtrauen ihnen gegenüber. Es ist klar, daß das gehobene Milieu, in das
die Legende führt, dazu dient, das Leben des Merkez mit einer Art von
Größen- und Verfolgungsideen auszustatten. 1 Das der Legende zugrunde
liegende historische Material ist uns leider zu wenig bekannt. Wir wissen
jedenfalls, daß der Vater des Merkez Mustafa hieß, — wir werden später
die Wichtigkeit dieser Tatsache erkennen. Was seine Mutter anbelangt, so
schweigt über sie die Geschichte vollkommen.
Wir wissen, daß die ehrgeizigen Träume des Individuums danach streben,
die eigene Familie zu verherrlichen; nach diesem Vorbilde sind auch die
Träume ganzer Völker leicht zu verstehen. Wir erblicken in den mächtigen
Persönlichkeiten, die dem Helden feindlich entgegenstehen, Verkörperungen
des Vaters, in den Frauen, die ihn zu beschützen trachten, Imagines der
Mutter. 2 So ist unschwer in der Situation des Merkez die Ödipussituation
zu erkennen. Man muß nur statt „Sultan“ und „Sultanstochter“, „Vater“
und „Mutter“ sagen.
Wir haben gesehen, daß die Geschichte uns den Namen des Vaters
unseres Helden bewahrt hat. Die Legende zeigt uns das Feindselige dieses
Vaters in dem Verhalten des Sultans gegenüber dem Derwisch, dem späteren
Helden. Während die Geschichte in bezug auf die Mutter schweigt, setzt
sich die Legende über die Tatsachen hinweg und zeigt sie uns in der
Gestalt der Tochter des Sultans. Dann gewinnt der Held durch die harte
Arbeit — des Aushebens der Erde — auf rechtmäßigem Wege die Hand
der Sultanstochter. Das Thema entspricht also vollkommen der psycho¬
analytischen Lehre von der Phantasietätigkeit sowohl des Individuums als
auch der Mythen. Die Mutter wird durch die Sultanstochter ersetzt. 3
1) Baudouin, Psychanalyse de l’art, p. 30. — Vgl. Rank, Traum und Mythus
in: Freud, Traumdeutung. 7. Aufl. S. 372.
2) Rank, a. a. O. S. 371.
3) Rank, a. a. O. S. 371.
J
198
A. Izeddin
Die Inzestscheu verbietet den Besitz der Mutter. Das Bewußtsein vom
Inzestverbot ist gerade im Islam besonders ausgeprägt. Deshalb dürfen auch
in der Legende die ersten Zusammenkünfte der Liebenden, die vom Sultan
noch nicht gebilligt werden, nur „im Traum“ stattfinden. Aber die Zensur
bleibt dabei nicht stehen. Auch nachdem der Held die Hand der Geliebten
errungen hat, wird die Ehe, wenigstens für einige Zeit, nicht anerkannt. 1
Und nachdem ein Kind in dieser Ehe geboren ist, müssen sein Vater, also
der Derwisch, der die Sultanstochter erobert hat, und seine Mutter zu¬
grunde gehen.
Die M^ied er gehurt
Wir wissen, daß das Thema von Tod und Wiedergeburt des Helden
(hier durch die Geburt eines Kindes symbolisiert) eine Hauptrolle in der
Mythologie spielt. Diese Phantasie von der „Wiedergeburt“ wird besonders
interessant durch den Umstand, daß in unserem Falle dem Heldenkind
aufs neue die Mutter entrissen wird 2 und auch der Wunsch nach Beseiti¬
gung des Vaters hier direkt zum Ausdruck kommt. Die Psychoanalyse hat
die Beziehung der Wiedergeburtsphantasie zum Ödipuskomplex festgestellt.
Wir berühren diesen Punkt, ohne näher darauf einzugehen.
So kann der Held, indem er seine Mutter verliert, Unsterblichkeit ge¬
winnen. Dadurch rechtfertigt sich die feindselige Haltung des Kindes gegen
den Vater, ebenso wie die seinerzeitige Feindschaft des Sultans, des späteren
Großvaters, gegen den Helden als eine Projektion der unbewußten Todes¬
wünsche des Helden selbst gegen seinen Vater. Das Neugeborene, unter
dessen Einfluß der Held stirbt, ist also eine Doublette des Merkez selbst,
dessen unbewußte Todeswünsche gegen den Vater bewirkten, daß erst nach
so vielen Schwierigkeiten ein Kind geboren werden konnte.
Eine Verlegung nach oben, derzufolge erotische Befriedigungen, die in
dieser streng mohammedanischen, imperialistischen Umgebung nicht un¬
entstellt zum Ausdruck kommen durften, sich in orale Befriedigungen 3 um¬
wandelten, deren Genuß übrigens dem Helden auch noch schwer genug
gemacht wird, vervollständigt den Prozeß der Entstellung.
Besinnt man sich nun auf die Zeit und die Umgebung dieser legendären
Geschehnisse, so kann man nicht umhin, ihre allegorische Ähnlichkeit mit
der Revolte des großen und unglücklichen Prinzen Mustafa gegen seinen
1) Rank, a. a. O. S. 371.
2) Baudouin, Psychanalyse de l’art, p. 31 f.
3) Ebenda, p. 34.
Eine mohammedanische Legende 199
Vater Suleiman und seiner späteren Hinrichtung dank den Intrigen der
Mutter seines unwürdigen und unfähigen Rivalen, des künftigen Selim II,
wahrzunehmen. 1
Der Ödipuskomplex
In der Legende bricht zwischen dem Derwisch, einem bescheidenen
Dien er Gottes, und dem König wegen der Werbung des Derwisches um die
Hand der Königstochter ein Konflikt aus. Übersetzen wir diese Situation
in die Ausdrucksweise der Psychoanalyse, so sehen wir, daß es sich dabei
um ein ausgesprochenes Ödipusmotiv handelt.
Wir wissen nur wenig vom Familienleben des historischen Merkez. Wir
haben immerhin erfahren, daß sein Vater Mustafa hieß. Dieses Wissen
kommt uns hier zur Hilfe.
Erinnern wir uns nochmals der Persönlichkeiten, die im Leben des
Scheichs eine Rolle gespielt haben, so sehen wir, daß es vornehmlich zwei
sind, die die Entstehung der Legende beeinflußt haben müssen.
Merkez hatte die Stelle seines Lehrers Sinan als Führer der Sunbulis
eingenommen, nachdem dieser in Stambul gestorben war, während sich
Merkez in Magnisa befand. In ganz analoger Weise war Sinan der Nach¬
folger seines Vaters und Lehrers Muhamed Djemaleddin geworden, der
auf seiner Pilgerfahrt nach Mekka gestorben war. Diese seltsame Über¬
einstimmung ermöglicht der Tradition eine symbolische Gleichsetzung:
Merkez/Sinan = Sinan/Muhamed Dj. Ziehen wir in Betracht, daß der
wirkliche Vater des Merkez Mustafa hieß, und daß sein wirklicher Lehrer
— außer Sinan — Achmed, und derjenige Sinans Muhamed hieß, so können
wir feststellen, daß sowohl die leiblichen wie die geistigen Väter der beiden
Scheichs die gleichen Namen tragen. Denn bekanntlich haben im Islam
die Namen Muhamed, Achmed und Mustafa alle die gleiche Bedeutung,
da sie alle den Propheten bezeichnen.
Wir können also die Namen der genannten Persönlichkeiten der Väter
und Lehrer in folgender Weise zusammenstellen: Merkez/Sinan = Mu¬
stafa/Achmed = Sinan/Muhamed.
Es ist also kein Zweifel, daß Merkez und Sinan verwandte Figuren sind,
die leicht miteinander verdichtet werden konnten.
Die leiblichen und die geistigen Väter des Helden sind in der Legende
1) Gerüchte behaupten, es hätten unerlaubte Beziehungen zwischen dem unglück¬
lichen Mustafa und der jungen Gemahlin seines Vaters, Suleimans des Prächtigen,
Roxelane — türkisch Ruhsari-Al, d. h. „Rosenwange“, bestanden.
200
A. IzexlcL’n
im König und im hilfreichen Ratgeber dargestellt, der dem Helden im Traume
erscheint; beide bedeuten aber in tiefster Schicht (man denke an die Namen
der Väter) den Propheten selbst.
Daß die Vaterfigur mehrfach auftritt, ist eine in der Mythologie häufige
Erscheinung. Die Psychoanalyse heidnischer und christlicher Sagen gibt uns
eine Menge von Beispielen, daß der „Vater“ sich in mehrere Personen spalten
kann. So kann der Vater sehr wohl durch drei Personen dargestellt werden.
Der erste, der arme Vater, nähert sich am meisten dem wirklichen
Vater, der in unserem Falle nicht in Erscheinung tritt. Der zweite, der
edle, göttliche Vater entspricht dem kindlichen Glauben an die Allwissen¬
heit des Vaters; ihm entspricht hier die Gestalt des helfenden Ratgebers. Der
dritte endlich ist der schreckliche Vater, der das Kind bedroht und straft
und in unserer Sage in der Gestalt des Sultans erscheint. 1
Noch eine andere Tatsache bestätigt diese Deutung. Wir wissen, daß
Merkez den Tod seines Meisters Sinan, dessen Nachfolger er werden sollte,
in Magnisa erfuhr. Wir wissen auch, daß Sinan in Mekka oder auf dem
Wege dorthin — den Tod seines Lehrers, dessen Nachfolger er wurde und
dessen Tochter er heiratete, erfuhr. Wenn man die Worte Mekka und Sinan
niederschreibt, einige Buchstaben umstellt beziehungsweise fortläßt, so ergeben
die mit gebrochener Linie umrahmten Buchstaben
MEK
KE
SINA
N
= MEKNIS A
das Wort Meknisa, durch Umstellung des Wortes „Sinan“ und durch Zu¬
sammenziehung. 2
Der „König“ und der „gute Scheich“ führen uns in die Lebensperiode
des Helden, die er in Magnisa verbrachte. Dort erfuhr er den Tod seines
Lehrers, und von dort begab er sich nach Stambul, um sein Amt als Ober¬
scheich der Sunbulis anzutreten, seinen Platz auf dem „Vließ“ einzunehmen.
Er trat als „Meister“ an die Stelle des „Meisters“ und eroberte den Platz
an der Sonne. Er wurde selbst Scheich = Vater. — Von nun an wird er der
Aufklärer derer sein, die die Erleuchtungen des „Hak“ begehren.
Ein Scheich ist, in der eigentlichen Bedeutung des Wortes, ein Mensch,
der sich selbst gemäß den Forderungen des „sufischen Weges“ erzogen und
1) Baudouin: Psychanalyse de l’art, p. 30.
2) Bekanntlich hat weder das Arabische noch das Türkische in „Mekka“ ein E.
Das K und das G folgen unmittelbar auf das M.
301
Eine molia mmejamscfie legende
veredelt hat. Er allein darf dem Novizen, d. h. dem Salik, dem Pilger, den
Weg weisen, der zu „Allah“ oder „Hak“ führt.
In den Ausdrücken der Sufi führt die Reise (süluk) aus der Unwissenheit
zur Weisheit, von den bösen Trieben zu den guten, versetzt den eigenen
Körper in den Körper Gottes. 1
Da Merkez selbst die Bestätigung der höchsten Vollkommenheit erreicht
hat, darf er nun Adepten ausbilden. Er wird zum Symbol des Propheten.
Dieser Vorgang kommt in der Legende in vielfacher Form zum Ausdruck.
Beispiele aus den Heiligenleben
Schauen wir uns das Leben der nach den Regeln des Sufismus lebenden
mohammedanischen Heiligen — z. B. des Achmed Jesevi — an, so sehen wir,
daß sich in demselben, speziell im mönchischen Dasein, einzelne Züge aus
dem Leben des Propheten wiederholen. Zum Beispiel: Mahomet starb mit
dreiundsechzig Jahren: Der Sufi symbolisiert diesen Tod durch sein Scheiden
aus der Welt.
So zog sich Achmed Jesevi, 2 der älteste und größte der türkischen Sufis,
mit dreiundsechzig Jahren aus der Welt zurück und baute sich im Schoße
der Erde eine Kammer des Leidens. Denn man muß sterben, um das Leben
zu gewinnen. Das bedeutet: Ebenso wie der Erwählte, der Geliebte, der
Ephebe Gottes, also Mahomet, das irdische Leben verließ, um in die äußerste
Schönheit (Hak) einzugehen, so muß sich der Sufi vom Leben ab wenden,
indem er sich selbst ein Grab gräbt.
Das tut nach der Legende auch Merkez. Nachdem der König ihn aus
dem Palast hinausgewiesen hatte, ging er mit seiner Frau an den Ort, wo
er die Erde ausgehoben hatte, um die Säcke zu füllen, und grub sich dort ein.
Wir wissen nicht, ob Merkez sich gerade mit dreiundsechzig Jahren seine
Leidenskammer gebaut hat, doch ist das nur von nebensächlicher Bedeutung,
denn die Zahl der Jahre könnte bei den Sufis auch anderes bedeuten. Aber das
wissen wir, daß Merkez sich, unter dem Druck seines Meisters, ein „Zentrum“
des Einflusses baute, wo er zuletzt auch bestattet worden ist.
Es ergibt sich also* daß die Grube oder der Ort der Einsamkeit, das
„Erdloch“ der Legende, einen doppelten Sinn hat. Es symbolisiert den leib-
i) Nach Ismail Hakki, zitiert von A. Ayni, S. 230.
T" k* ”h 1C CrSten Sufis “’ von Prof * Dr * Keupruli Zade Fuad. Konstantinopel 1925.
Imago XVIII.
14
20 2
A. Iseddin
liehen Tod des Propheten nach der Vorschrift des Sufismus, drückt aber
auch einen besonderen Zug aus dem Erdenlehen desjenigen aus, um den
sich die Legende bildet.
Auch die Umstellung der Örtlichkeiten ist dem Lehen Mahomets nach¬
gebildet: Mahomet ist in Medina begraben, und doch glaubt man, sein Grab
befinde sich in Mekka. Mekka ist der alte heilige Ort der Araber aus ihrer
heidnischen, vorislamitischen Zeit, das einstige Kaba. Dort befindet sich der
berühmte schwarze Stein, der später auch durch den Islam heilig gesprochen
wurde. Während der Sintflut wurde die alte Kaba von Mekka nach Medina
transportiert, so daß der Prophet zwar wirklich in Medina begraben ist, wo
er starb, seine „Erde“ aber aus dem Lande kommt, wo er herstammt, nämlich
aus Mekka.
Dasselbe sehen wir in der Sage von Merkez. Während im allgemeinen
der Scheich dort begraben wird, wo er gepredigt hat, wird Merkez fern
von seinem Wirkungskreis, nämlich im Tekke des Sinan, bestattet. Viel¬
leicht können zwei Meister in einem Mittelpunkt sich nicht vertragen!
Wir wissen nicht, ob im Christentum ähnliche symbolische Wieder¬
holungen von Ereignissen aus dem Leben des Stifters im Leben seiner Heiligen
eine Rolle spielen. Sicher haben sie im Islam eine allgemeine Geltung.
Wir sehen sogar, daß einige unbegreifliche Züge im Leben der Sufis
nur durch Heranziehung dieser Tatsache aufgeklärt werden können. 1
Analytisch betrachtet ist die Identifizierung des Sufi mit dem Propheten,
sei es durch Gewinnung des „Hak“ oder durch Ausscheiden des Meisters
durch natürlichen Tod oder durch übernatürliche Handlungen, wie die
Verwandlung von Erde in Gold, oder auch Mohamets Erhebung in den
Himmel, um Gottes Angesicht, die letzte Klarheit zu schauen, nichts anderes
als ein Element des Ödipuskomplexes: die Identifizierung des Sohnes mit
dem Vater zur Gewinnung der Mutter.
Mag es sich um den heidnischen Ödipusmythos handeln oder um seine
christlichen, jüdischen oder mohammedanischen Varianten— immer ist der
i) Wir fürchten, es könnte eine Verwechslung entstehen zwischen unserer Analyse
und einigen Ideen IVIaeders. Fern von den Quellen des Wissens, haben wir erst in
allerletzter Zeit von ihnen Kenntnis nehmen können. Darum sind wir genötigt, hervor¬
zuheben, daß die Rolle des Führers und „Virgils“ bei Maeder mit unserer Auf¬
fassung der Nachahmung Mahomets nichts zu tun hat. Die Persönlichkeit Mahomets
ist eine wirkliche, auch in ihrer Übertragung ins Leben der Sufis. Sie bedeutet
uns keineswegs das „Symbol des inneren Ideals des Kranken“. Die Funktion Mahomets
ist dabei keine andere als die des „induzierenden Kranken“ bei den Fällen der so¬
genannten „ folie ä deux“.
Eme mohammedanische Legende
ao 3
Sohnesheld, sei er ein Diener Gottes oder ein Feldherr, der Sieger und
Triumphator.
Die Legende von Merkez macht hierin keine Ausnahme.
Der Kastrationsbomplex
Die Legende erzählt, daß der König sehr zornig wurde, als Merkez ihn
um die Hand seiner Tochter hat, daß er aher dennoch seine Einwilligung
geben mußte, als Merkez die ihm gestellte Bedingung erfüllt und Erde
in Gold verwandelt hatte. In der Hoffnung, die Tochter werde Merkez zu¬
rückweisen, sprach er mit ihr, aber zu seiner großen Überraschung und
Wut willigte die Tochter ein, die Gattin des Derwisches zu werden. Da
verstieß sie der König und verweigerte ihr die Mitgift. Der Derwisch mußte
sie in seine Zelle bringen, und da sie nichts besaßen, verbrachten sie ihre
Hochzeitsnacht in Enthaltsamkeit.
Auch ein oberflächlicher Blick genügt, um hierin den Kastrationskomplex
zu erkennen.
Die Verlegung des erotischen Triebes und seiner Bestrafung nach oben
ins orale Gebiet vermag nicht die Tiefe und Leidenschaftlichkeit des Zornes
des Königs zu verdecken. Die Wut des Königs, dieses mächtigen Wesens,
das die Wünsche des Helden durchkreuzt, ihn hindert, den Gegenstand seiner
Hoffnungen (die Geliebte, die Mutter) zu erringen, der gegen alle Sitte
seine Tochter verstößt, wo es ihm doch viel leichter gewesen wäre, diese
Ehe einfach zu verbieten, geht so weit, daß er die jungen Eheleute ver¬
hungern lassen möchte. Sind das nicht dieselben Züge, die wir in Sagen
finden, in denen der rebellische Held den Tyrannen tötet, nur in ihr Gegenteil
verkehrt, so daß der Haß gegen den Helden nur den Haß widerspiegelt,
den dieser gegen den Tyrannen empfindet?
Da die Stellung des „Vaters“ in den mohammedanischen Anschauungen
eine außerordentlich hohe ist, so muß Merkez für seine unbewußten Wünsche
hart bestraft werden; er wird vertrieben, und über ihn bricht alles Unheil
herein. Darin findet die Rache für seinen Frevel ihren Ausdruck.
Die abendländische Psychoanalyse sieht in der Vorstellung der „Reise“
ein Symbol für den Tod. Aber es ist im Abendlande nicht bekannt, daß
derjenige, der in den Orden der Sufi aufgenommen wird, ein „Tälik“
d. h. ein „Reisender“, genannt wird, und daß seine Weihe mit „Süluk“
oder „ Sejir“ oder „ Sefer “ bezeichnet wird, welche Worte alle drei nichts
anderes als „Reise“ bedeuten.
* 4 *
20-4
A. Isetld in
Der Sufi führt seine Reise nach drei oder vier Vorschriften aus. Die
erste Reise ist die zu Gott. Das heißt, der Sufi wendet sich dem wahren Wesen
zu und verläßt die Orte eines leiblichen Wohnens. Die zweite Reise ist
die für Gott — hier müssen alle die menschlichen Eigenschaften, die als
sterblich erkannt werden, verschwinden. Die dritte Reise ist die, welche mit
Gott gemacht wird. Hier schwindet die Freiheit: der Reisende erreicht den
Herrn. Die vierte und letzte Reise geht von Gott aus, also aus dem „Hak“
zum „Halb“, von Gott zum Volk. Und auf dieser Stufe erringt der Reisende
das Recht, Neophyten zu weihen.
Die erste und die zweite Reise dienen zur Erreichung der Heiligkeit,
die dritte und vierte werden nur den Propheten oder den allervollkommensten
Heiligen zuerkannt.
Bei der zweiten Station verliert sich der Sufi in Gott und für Gott.
Kurz: Um das „Hak“ (Gott, die Wahrheit) zu gewinnen, muß man sich
von allem abwenden und Seele und Leib nur „Ihm“ weihen. 1
Merkez identifiziert sich mit dem Propheten, indem er sich in die Erde
eingräbt, dann mit Gott, da er nach dem Tode seines Lehrers das Recht
erwirbt, Neophyten aufzunehmen. Denn indem er das Vorrecht gewinnt,
„die Reisenden reisen zu lassen“, 2 geht er endlich ganz in Gott auf. Er
wird zu „Hak“ mit „Hak“, und um das zu erreichen, muß er zuerst sein
eigenes Sein abtöten. Die Identifizierung des Sufi mit Gott ist ein klassischer
Zug im Sufismus, so fremdartig er auch in einer so ausgesprochen mono¬
theistischen Religion, wie es der Islam ist, erscheinen mag.
Im Moment einer solchen Inspiration rief der berühmteste arabische
Sufi, Mansur, aus: „Ich bin Gott“, —welcher Ausruf ihn dem Scheiter¬
haufen zuführte.
In der Reise des Merkez müssen wir also ein Äquivalent des Todes
erblicken auf dem Wege zum geliebten Objekt. Und daß diese Reise
durch einen demütigenden Vorgang erzwungen wurde, steigert noch den
moralischen Wert des Derwisches. Denn er will lieber Hungers sterben, als
auf sein Ziel verzichten. Man wird sich vielleicht wundern, daß die Legende
nicht mehr über das Gold zu sagen weiß, welches der Held dem Sultan
bringt. Aber das ist ein charakteristischer Zug des Sufismus: Man muß in
Betracht ziehen, daß das Gold, dieses irdische Element, vom Derwisch für
1) Diese ganze Erklärung ist geschöpft aus Aynis: Geschichte des Sufismus (Türkisch).
S. 232/253.
2) Wörtliche Übersetzung eines türkischen Satzes, der „Lehrender Scheich“ be¬
deutet.
Eine mohammedanische Legende 30 5
seine Läuterung hingegeben wird. Er läutert sich, indem er einen gewissen
irdischen Wert zahlt, um die Geliebte zu gewinnen. Ist das kein Opfer?
^Um die schöne, gefangene Jungfrau oder den vergrabenen Schatz, also
jedenfalls ein kostbares Wesen oder Gut, zu gewinnen, an welches die
Libido infolge der Mutterfixierung gebunden ist“, 1 opfert der Held seinen
Besitz: in unserem Falle das durch die Verwandlung aus Erde gewonnene
Gold. Dieses Opfer bedeutet eine Läuterung.
Es erübrigt sich, vom engen Zusammenhang zu sprechen, welcher zwischen
dem Kastrationskomplex und den Minderwertigkeits- und Schuldgefühlen
besteht. Im Leben Mahomets findet sich deutlich ein solches Schuldgefühl
in Verbindung mit einem der Kastration äquivalenten Erleben, das er durch-
machen mußte: „Zur Zeit, da das zukünftige Haupt des Islams noch bei
der Amme war, erschienen eines Tages, zum großen Schrecken der Milch¬
brüder Mahomets, zwei weiß gekleidete Männer, ergriffen das Kind, drückten
es auf die Erde nieder, schnitten ihm vom Halse bis zum Nabel den Leib
auf und zogen aus ihm einen schwärzlichen Blutklumpen heraus . . . Darauf
entnahmen sie einer goldenen Tasse, die sie mitgebracht hatten, etwas
Schnee, wuschen damit das bloßgelegte Herz des Kindes, schlossen dann
die Wunde und verschwanden.“ Dadurch, daß jenes Element aus Mahomets
Körper entfernt war, erhielt er die Fähigkeit zur Vollkommenheit, d. h.
„das Kind sollte gewisse verbotene Gewohnheiten ablegen“. 2
Dieses sehr wichtige Phänomen, das im Islam „die Eröffnung des Thorax“
genannt wird, wiederholt sich übrigens im Leben Mahomets dreimal: Das
erstemal im Alter von fünf Jahren bei der Amme. Das zweitemal im Alter
von vierzig Jahren bei der Konfirmation, damit der Prophet die Kraft
gewinne, die „Last der Liebe“ (der göttlichen) zu tragen. Und das dritte¬
mal in jener bedeutsamen Nacht, da er zu Gott erhoben wurde. An dieser
Erscheinung lassen sich zwei Einstellungen erkennen: Erstens nennt man
die Eröffnung des gesamten Leibes „Eröffnung des Thorax“, so daß die
gleichzeitig erfolgende Eröffnung des Bauchraumes offenbar verdrängt werden
soll; zweitens ist ja auch die Vorstellung der Eröffnung des Bauchraumes
schon eine Ersatzvorstellung für die Beschädigung der Genitalien. Es ist
bekannt, daß Mahomet behauptete, er sei nicht beschnitten, 3
1) Baudouin: Psychanalyse de l’art, p. 33
2) Nach anderen Berichten wurde das Herz mit dem Wasser der heiligen Quelle
Zemzem gewaschen.
5) Das Phänomen der Thoraxeröffnung ist ein sehr wichtiges Kapitel des Islams,
sowohl des sufischen wie des orthodoxen.
»o6
A. Izeddm
Auch das Herz spielt im Sufismus eine wichtige Rolle. Merkez scheut
also kein Opfer, um den Gegenstand seiner Libido zu erringen, ebenso wie
einst Mahomet, der Ephebe Gottes, sich verstümmeln ließ, um rein zu
werden und die Liebe des „Hak. zu verdienen.
Im Motiv vom Opfer des Goldes erkennt man eine gewisse Verwandt*
schaft zu dem abendländischen Sagenmotiv vom Kampf eines Helden zur
Erringung eines vergrabenen Schatzes oder eines wertvollen Gegenstandes,
der die Attribute der Libido symbolisiert (das Rheingold). Der Unterschied
liegt nur darin, daß Merkez das Gold nicht „bekommt“, sondern es „gibt“.
Man kann hierin eine Art „Verkehrung ins Gegenteil“ sehen, die durch
den Sufismus in den Mythus vom Helden hineingetragen worden ist. Aller¬
dings erhält der Held für dieses Opfer etwas anderes, nämlich die Hand
der Geliebten, also doch in verhüllter Form die ersehnte Inzestbefriedigung,
wenn die Triebabwehr auch für die erste Nacht neue Hindernisse erzwingt.
Wir können jetzt zu einem anderen wichtigen Element der Legende,
der Zahl vierzig, übergehen. Man trifft sie im Sufismus sehr oft, auch in
den anderen mohammedanischen Sekten und in den populären türkischen
Märchen spielt sie eine wichtige Rolle. Wer erinnerte sich nicht der be¬
rühmten Geschichte von Ali Baba und den vierzig Räubern?
Wenn wir den Einfluß des Hurufis 1 außer acht lassen, so sehen wir,
daß die Heiligkeit dieser Zahl ausgesprochen mohammedanischen Geistes ist.
Auch um dies zu erklären, werden wir, wie vorhin, auf das Leben des
Propheten eingehen müssen.
Mahomet erhielt die Konfirmation mit vierzig Jahren. Die Jahre vorher
waren dem Durchwandern „der Welt des Nichts“ gewidmet, denn die¬
jenigen, welche sich den Forderungen des „Hak (i unterwerfen und voll¬
kommene Erben werden wollen, müssen sich bis zum vierzigsten Jahr
läutern und sich dadurch körperlich unsterblich machen. „Das Alter von
vierzig Jahren ist das Alter der Vollkommenheit“. Da nun die Vollkommen¬
heit eines jeden Gegenstandes darin besteht, daß er „erwünscht“ und „geliebt
wird, und da Gott die Vollkommenheit selbst ist, wird auch seine Person
erwünscht und geliebt sein. Die Vollkommenheit ist der letzte Beginn des
Universums. Als Gott der Menschheit ein vollkommenes Wesen zeigen wollte,
fand er diese Vollkommenheit nur in einem einzigen, — nämlich in
Mahomet. Mahomet wurde also sein „Geliebter“ (Mahbub ). Er ist Achmed ,
und Versif und Mustafa — d. h. der „Reine“.
1) Eine religiöse und literarische Sekte.
Eine mohammedanische Legende 207
Q er Geist oder die Seele dieses vollkommenen Wesens wurde zum Ur¬
sprung der Seelen des Universums, und sein Leib ward die letzte Ursache
der irdischen Leiber.
Der Geliebte Gottes, Mahomet, gehört also der Erde an. Er muß nicht
in den Himmel ziehen wie Jesus. Das Verbleiben des Geliebten Gottes,
dieses vollkommenen Leibes, 1 auf der Erde ist für ihr Gedeihen notwendig.
Im Alter von vierzig Jahren erhielt der Geliebte die Konfirmation durch
den Engel Gabriel, der ihm die von da an berühmte Botschaft brachte:
Lies im Namen Gottes, der den Menschen aus geronnenem Blut 2 geschaffen
hat.“ Damit war der äußerste Grad der Vollkommenheit erreicht.
Es ist ganz natürlich, daß der Sufi Merkez sich dieser heiligen Zahl
bediente, um seine eigene Konfirmation zu symbolieren. Die vierzig Kamele
und die vierzig Säcke bedeuten hier also die Jahre. Die Erde in den Säcken
bedeutet die irdischen Gefühle, die der Mensch vor seiner Läuterung mit
sich schleppt wie einst Mahomet. Diese Erde muß in Gold verwandelt
werden. Was irdisch war, muß göttlich werden. Was Ich war, muß Gott
werden. Nichts ist schwerer, als daß der Mensch sich selbst bezwinge. 3
Daß ein so gewöhnlicher Stoff wie Erde sich in einen so edlen wie
Gold verwandeln soll, klingt dem Verstand gewiß absurd. Diese Absurdität
des manifesten Mythus bedeutet — wie Absurdität im Traum — Spott
und Hohn. 4 Das erhöht wieder das durch das „Opfer“ zu sühnende Schuld¬
gefühl.
Vielleicht findet sich in unserer Legende noch eine deutliche Anspielung auf
das Privatleben des Propheten. Bekanntlich trieb Mahomet für seine zukünftige
Frau (Hadidje) einen Handel; er mietete im Aufträge dieser reichen Witwe
einen Zug von Kamelen und erledigte seine Sache sehr gut. Als er zurück¬
kehrte, wünschte Hadidje, die zwanzig Jahre älter war als er, ihn zu heiraten.
Er willigte ein, trotz allen Klatsches, der sich deswegen erhob. Der Einfluß
1) Es besteht hier eine gewisse Identifizierung Mahomets mit Gott. Übrigens hat
man den Eindruck, daß Mahomet, obwohl er sich immer einen Menschen nannte
nicht weit davon war, an seinen göttlichen Ursprung zu glauben. Vielleicht ist es
dieser Zug, der den Sufis die Berechtigung gibt, sich mit Gott zu identifizieren,
nämlich durch den Propheten.
2) Zu vergleichen mit der Läuterimg Mahomets und der Konzeption des Sufismus
von Leib und Seele.
5) Eines Tages kam Mahomet aus einer Schlackt und sagte: „Wir kommen aus
dem kleinen Kampf“, und als man ihn fragte, was denn der „große Kampf“ wäre,
sagte er: „Der Kampf gegen sich selbst“.
4) Vgl. Freud, Der Wahn und die Träume in W. Jensens Gradiva. Ges. Sehr.
Bd. IX.
Hadidjes auf den zukünftigen Propheten war sehr groß, und Mahomet, der
elfmal heiratete, blieb dieser alten Frau treu, so lange sie lebte.
Diese Ehe hat den Exegeten zu allerlei Auslegungen Anlaß gegeben
Einige beschuldigen die Frau, sie habe dabei -ihren Vorteil gesucht, da sie
in Mahomet schon den zukünftigen Propheten und Geweihten Gottes er¬
kannt hatte. Die Treue eines fünfundzwanzig]ährigen Mannes vom Tem¬
peramente Mahomets zu einer um zwanzig Jahre älteren Frau, die, als
Araberin, schon völlig verblüht war, läßt sich nur durch eine sehr starke
Mutterfixierung erklären.
Das Motiv der „Kamele“, die in Kleinasien nicht selten sind, verdankt
seine Verflechtung in die Legende ebenfalls dem Einfluß der gleichen un¬
bewußten Motive (Analogie der Situation mit der im Leben Mahomets). 1
Was die „Säcke“ anbetrifft, in welchen die sich in Gold umwandelnde
Erde enthalten war, so hat die Psychoanalyse längst festgestellt, daß solche
Gefäße den mütterlichen Uterus bedeuten. 2
Die psychoanalytische Erfahrung legt ferner nahe, im Graben der Grube,
die sich in der Hochzeitsnacht mit Wasser füllt, in dem Fische schwimmen,
ein Symbol der Geburt des Heldenkindes zu erblicken. Wir brauchen nur
an Mahomets Worte zu erinnern: „Alles ist aus dem Wasser erschaffen.“
Was nun die Fische 3 anbelangt, so brauchen wir nur zu erwähnen, daß
diese in der islamitischen Kosmogonie eine Hauptrolle spielen. Der Fisch
ist da tatsächlich einer der Grundpfeiler, auf denen die Welt ruht. Wir
sind damit wieder beim Wiedergeburtsproblem angelangt.
„Aber es ist zu beachten, daß dieses wichtige Motiv des Helden doch
keine reine und einfache Ödipusphantasie ist. Es enthält außerdem, und
vielleicht vorwiegend, eine Art der Überwindung des Ödipuskomplexes, und
das ist wohl hier die typischste Bedeutung der Wiedergeburt. Dem Helden
will es nicht genügen, in den Mutterschoß zurückzukehren“ — (oder wie
in unserem Falle symbolisch diese Rückkehr zu erhoffen), — „er befreit
sich vielmehr daraus aufs neue.“ 4 Und hier gelangen wir an den Punkt,
wo das Rätsel des Heldenkindes zu lösen ist. Erinnern wir uns nur, daß
Merkez sich als Asket von der Welt zurückzog. Dem Leben ferne stehen,
bedeutet, dem Mutterschoße näher zu sein, ein Kind zu bleiben.
So wird sowohl in der Legende als auch im wirklichen Leben des Merkez
1) Merkez—Sultanstocht er—Kamele = Mahomet—Hadidje—Kamele.
2) Kästchen = Uterus. Vgl. Freud, Die Traumdeutung. Ges. Sehr. Bd. II.
3) Islands Gosmogony. History of Ottoman Poetry. Gibb. v. I. S. 3—70,
4) Baudouin: Psychanalyse de l’art, S. 32.
Eine mohammedanische Legende
das Verlangen nach der Mutter-Imago nochmals deutlich und gewinnt greif¬
bare Gestalt. Aber diese Sehnsucht nach Besitz der Mutter kann sich natür¬
lich — ebenso wie in der Psychopathologie — nur als Schuldgefühl äußern.
Der Islam ist, ebenso wie die jüdische Religion, von Schuldgefühlen und
Verlangen nach Selbstbestrafung durchsetzt. Hat Mahomet nicht gesagt, daß
der schwerste Sieg des Menschen der über sich selbst ist?
Man kann übrigens auch sagen, daß der Heldenmythus eine Recht¬
fertigung der feindseligen Gefühle gegen den Vater ist, auf denen ein
Schuldgefühl lastet. Daher die Notwendigkeit einer verdienten Strafe.
Wir haben gesehen, daß der Held Merkez sich einmal von der Vater¬
feindschaft befreit, indem er diese auf den König überträgt. Aber die spätere
Entwicklung der Legende erweist, daß er mit dieser Befreiung doch nicht
alle Züge des Schuldgefühls zum Schweigen bringen konnte.
Und diese Züge müssen wir jetzt näher beleuchten. 1
Es würde zu weit führen, wollten wir hier den Unterschied zwischen
der Liebe im irdischen und im sufischen Sinn klar machen. Es sei nur
darauf hingewiesen, daß das „Hak“ des Sufis männlichen Geschlechts ist,
daß infolgedessen die Inspirationen der Liebe absolut homosexueller Natur
sind. Aus diesem Grunde nimmt auch in der sufischen Poesie der „Knabe
des Gastwirtes“ eine so hervorragende Stelle ein.
Wir sahen schon, daß es Merkez „trotz seines zerrissenen Hemdes “ gelang,
die Liebe der Sultanstochter zu gewinnen und sie zu heiraten. Um dieses
zu erreichen, war er ihr im Traum erschienen und hatte Gegenliebe ge¬
funden.
Das im Helden beim Anblick des allmächtigen Vaters entstehende Minder¬
wertigkeitsgefühl wird, wie Verschiebungen bei starker Verdrängung häufig
sind, von der verpönten Körperstelle auf ein Kleidungsstück übertragen.
Die Symbolik dieser Übertragung ist in einer unserer Hypothese ent¬
sprechenden Art überdeterminiert.
1) „Da der Wein und die Liebe von ähnlicher Wirkung auf den menschlichen
Gemütszustand sind, so werden in der sufischen Sprache wechselweise beide mit
gleichen Namen genannt. Wie der Wein den Geizigen freigiebig macht, so erhöht
die Liebe ein niedriges Geschöpf zum Edelmut. Die Wirkung des Weines verleitet
zum Ausgeben von Gold und Silber, während die Wirkung der Liebe die völlige
Hingabe des Leibes herbeiführt. Derjenige, dem der Wein den Kopf verdreht hat,
gibt mit vollen Händen sein Gold und Silber aus; und der, dem die Liebe den Sinn
verwirrt hat, gibt sein Gold, ja die ganze Welt hin wie einen Silberling.“ (Übersetzt
aus der Abhandlung „Analyse der Symbole“ [Halli Riimuz] von Ahmed Rüehdi,
1285 H, Konstantinopel, S. 22.)
210 A. Izeddin
Es ist bekannt, daß das Hemd Mahomets, diese heilige Reliquie, die sich
noch jetzt in Konstantinopel befindet, im Islam, sogar noch während des letzten
Krieges, eine sehr wichtige Rolle gespielt hat. Mahomet hinterließ sein ge¬
flicktes Hemd einem seiner Jünger, Veysel Kasani. Beim Tode des Propheten
machte Omar in Gegenwart des Schwiegersohnes Mahomets, Ali, diese Erb¬
schaft rechtskräftig. Aus dieser Tatsache erklären die Sufis ihre „Hemden“.
„Nach Abschluß der Probezeit und während der Zeremonie der Weihe
eines Sufi bekleidet der Scheich seinen Jünger mit der „Hirka “, einem
Mantel, der aus vielen zusammengenähten Stoffstücken besteht. An die Stelle
dieses Kleidungsstückes trat später das Vollhemd der Sufis. Diese Zeremonie
bezeichnet die Aufnahme des Neophyten in die Brüderschaft .“ 1 Aber in der
Regel bekleidet der Scheich den Neophyten nicht nur mit dem Hemd,
sondern er setzt ihm auch eine Krone aufs Haupt.
Dieser Akt wird folgendermaßen erklärt: In sufischem Sinn bedeutet
die Bekleidung und Krönung die Zuerkennung aller moralischen Qualitäten,
was seinerseits die absolute Unterwerfung des Jüngers gegenüber seinem
Scheich mit sich bringt . 2
Dabei wird ein ganzes Zeremoniell entfaltet, dessen Formen in den ver¬
schiedenen sufischen Sekten variieren. Die Strenggläubigen haben nicht er¬
mangelt, diese Weihen, die manchmal, wie bei den Bektachis, einen eroti¬
schen und orgiastischen Charakter annehmen, anzugreifen. Die Sufis beriefen
sich auf den Koran. Die Frage blieb unentschieden und die Sufis hielten
ihre Behauptungen und Gebräuche aufrecht. Die Zeremonien erhielten sich
sogar noch bis in die aller jüngste Zeit.
Das Hemd ist also von großer Bedeutung. Aber noch mehr: Der Besitz
des Hemdes gehört zu den Vorrechten des Kalifen. Daher bekam Selim I.,
als er vom Kalifen von Kairo den Titel des Kalifen erbte, von diesem auch
die heiligen Reliquien: Das Hemd, die Standarte und den Bart des Pro¬
pheten. Wer diese Insignien nicht besitzt, kann aufs Kalifat keine An¬
sprüche erheben.
Daher besitzt Merkez ein Weihehemd, welches Mohammeds Hemd be¬
deutet. Aber leider ist sein Hemd „zerrissen“. Dieser Umstand ist nichts
weiter als ein Ausdruck des Minderwertigkeitsgefühls, und zwar rationali¬
siert er das Minderwertigkeitsgefühl des Helden wegen der infolge seiner
Hemmung „weißen“ Ehe. Gleichzeitig aber beleuchtet er auch seine ex-
0 „Sufism“, „Ascetism“ in Hastings Encyclopaedia of Religions.
2) Geschichte des Sufismus. A. Ayni, Türkisch. S. 227, 228.
Eine mohammedanische Legende an
hibitionistischen Neigungen. Wir brauchen die anderwärts schon genügend
gezeigten Beziehungen zwischen der Bekleidung des Helden und dem Motiv
der Nacktheit hier nur flüchtig zu berühren. Auch hier entspricht unsere
Legende den Gesetzen, die die Psychoanalyse entdeckt hat.
Der Umstand, daß der Held sich der Sultanstochter ohne das Wissen
ihres Vaters gezeigt und das Versprechen ihrer Liebe erlangt hat, wird da¬
durch gestraft, daß sie in der Hochzeitsnacht nichts zu essen haben (Ver¬
schiebung auf das orale Gebiet). Die erste Nacht verläuft demnach ohne
Freude.
Aber der Sieg des Helden belohnt sich schon am nächsten Tag. Denn
da erscheint in der Grube das Wasser mit den Fischen, und nachdem die
Liebenden sich welche gefangen und in der Sonne gebraten hatten, ver¬
speisten sie sie. „Danach“, so sagt die Legende, „wurde die Sultanstochter
so sehr von Liebe zu ihrem Gatten erfüllt, daß sie ganz glücklich war.
Und nach einem Jahr wurde ihnen ein Kind geboren.“
Die Andeutung des Sexuellen ist hier so klar, daß sie keiner weiteren
Erklärung bedarf. Nur in bezug auf das Element „Sonne“ sei gesagt, daß
sie nach der Legende nicht nur das Liebespaar am Leben erhielt, sondern
auch die Geburt des Heldenkindes bewirkte. Wahrscheinlich ist hier mit der
„Sonne“ der Held selbst gemeint, der zwar siegreich ist, sich aber doch nach
der „Wiedergeburt“ sehnt. „Denn der Held ist derjenige, der sich selbst
dem Mutterschoß entreißt .“ 1 (Unsterblichkeit des Helden, des sufischen Der¬
wisches.) Dem entspricht die Selbstgenügsamkeit und Introvertiertheit der
schizoiden Asketen, die ein asoziales, fast schon psychotisches Wesen an¬
nehmen. Diese Züge des historischen Merkez werden vom schöpferischen
Mythus in symbolischer Form ausgedrückt, sowohl die Hemmungen als
auch die Reaktionsbildungen darauf. Beide sind ja, handle es sich nun um
ein einzelnes Individuum oder um die Gesellschaft, die Anzeichen eines
tiefen Konfliktes, der sich im Unbewußten abspielt.
Noch andere Symptome lassen auf den Kastrationskomplex schließen.
Die Hemmung des Helden, nachdem er in den Besitz des geliebten Wesens
gekommen ist, drückt sich noch in anderen Details der Legende symbolisch
aus. Das „Feuer“ ist ein bekanntes Sexualsymbol, und die Legende erzählt,
daß den jungen Eheleuten das Feuer fehlt; dadurch, heißt es, ist dem
Paare die notwendigste Vorbedingung zur Ernährung genommen, aber
auch der Mutter die Möglichkeit entzogen, die Wäsche des Kindes zu
1) Baudouin: Psychanalyse de l’art, p. 52.
312 A. Izeddin
waschen. Der Mangel des Feuers bedeutet einerseits die sexuelle Hem-
mung des Merkez, andrerseits aber auch die Schmutzlust des Kindes.
Das Feuer ist nach sufischen Begriffen eines von den zehn Elementen
aus denen der Geist besteht, und auch eines von den fünfen, die den
menschlichen Körper bilden. Die Seele ist nur eine Zusammenfassung
dieser fünf Elemente und wird in dem duftenden Dampf warmen Blutes
wahrnehmbar . 1
Um die sufische Vollkommenheit zu erlangen, muß man sowohl den
Geist wie die Seele vervollkommnen. Fehlt es nun an dem einen oder
anderen Element, an Seele oder Geist, so wird die Vervollkommnung des
Neophyten verhindert. Er kann das Tierische in sich nicht bändigen. Das
Element „Feuer“ hat also seinen guten Sinn in der Legende.
Aber das neugeborene Kind tritt in seiner Eigenschaft als Abspaltung
vom He]den für seinen Vater ein, indem es den Sultan, der seine Tochter
zu besuchen kommt, veranlaßt, seine Grausamkeit zu erkennen und zu
bereuen. Die Sultanstochter benutzt ihren Fuß als Brennholz. Wir er¬
innern uns der Tatsache, daß die Sultanstochter von Anfang an einer
Mutter-Imago entsprach. Da das Heldenkind nun geboren ist, ist es möglich,
daß sie auch manifest als Mutter erscheint, ohne daß die im Islam so ver¬
pönte Inzestvorstellung zu direkterem Ausdruck hätte zu kommen brauchen.
Sie kann sich jetzt, den islamitischen Vorschriften entsprechend, ganz ihrem
Kinde widmen, um so vollständiger und den Ansprüchen der Zensur ge¬
nügender, als der neue Vater der Legende, Merkez selber, dem häuslichen
Herde fern ist.
Was im manifesten Inhalt vermieden ist, setzt sich aber in symbolischer
Andeutung dennoch durch. Es tritt hier ein klassisches Symbol des Sexuellen
auf: der Fuß. An diesem Symbol läßt sich nochmals die Mutterfixierung
des Helden erkennen Es ist die Mutter, die sich ihren Fuß verbrennt, um
die Wäsche des Kindes zu waschen.
Es ist bekannt, daß Mahomet und Abu Bekir in der allerfrühesten Zeit
des Islams vor den Verfolgungen durch die Kureychiten fliehen mußten
und sich, aller Lebensrnittel bar, in einer Höhle verbargen. Mahomet ruhte
auf dem Knie seines Jüngers, der eine Öffnung der Höhle mit seinem Fuß
1) Die Konfirmation des Propheten hat durch die Stimme des Engels Gabriel statt¬
gefunden, indem dieser sprach: „Lehre im Namen des Herrn, der den Menschen aus
geronnenem Blut erschaffen hat“ usw. (Koran, Sure Ikra). Daraus geht offenbar die
sufische Konzeption hervor. Man hätte erwarten können, der Mensch sei aus Erde
erschaffen. Die jüdische Legende steht hierzu im Widerspruch.
ai3
verschloß. Da biß ihn eine Schlange in den Fuß, aber er zuckte nicht;
nur eine Träne des Schmerzes fiel aufs Gesicht des Propheten, der dadurch
erwachte. Im Islam wird dieser Zug als Beweis von treuer Ergebenheit
angesehen. Diese Erzählung mit ihren Symbolen — dem Fuß und der
Schlange — drückt die volle Hingabebereitschaft des Jüngers aus: Der Fuß
ist in der Türkei das Symbol des weiblichen , 1 die Schlange des männlichen
Genitales.
Die schmutzige Wäsche — die Windeln — wiederholen am Kinde das
Motiv der Minderwertigkeit, dem wir beim Helden wiederholt begegnet
sind. Man wäscht die Windeln, weil sie schmutzig sind, und die Mutter
selbst wäscht sie, indem sie ihren Fuß verbrennt. Der Sinn dieser Züge
ist so klar, daß man nichts weiter darüber zu sagen braucht.
Der letzte Teil der Legende stellt den Sieg des neugeborenen Helden
dar. Er macht sich vom Vater frei und tritt an seiner Stelle vor den König.
(Zur Zeit, da der König seine Tochter besucht, ist Merkez nicht da). Auch
von seiner Mutter macht er sich frei, denn sie wird nun zur Heiligen. (Die
Tatsache, daß sie sich nicht verbrannte, ist im Islam ein klassischer Beweis
für ihre Heiligkeit). Sie hat ihn „gereinigt“, indem sie sich selbst aufopfert.
Die Reue des Königs ist ein stillschweigendes Geständnis, welches die
Projektion der feindseligen Gefühle des verfolgten Helden auf ihn recht¬
fertigt.
Das Heldenkind hat nun weder Vater noch Mutter (es ist also unsterblich).
Den Groll seines Vaters auf den König hegt es nun selbst. Es zürnt eben¬
falls dem König, da dieser den Tod der Eltern herbeigeführt und seine
Geburt durch allerhand Hemmnisse zu verhindern gesucht hat.
Man sieht, daß der Zorn des Helden nicht besänftigt ist. Durch die
Beseitigung der beiden Eltern stehen nun der wahre Held — in Gestalt
des Kindes — und der tyrannische Vater einander gegenüber.
1) Sonderbar ist, daß in der Türkei der Fuß das weibliche Geschlecht bedeutet,
während er anderwärts das Symbol des männlichen Geschlechts ist. Vielleicht kommt
das von der ursprünglichen Organisation der türkischen Clans, die ausgesprochen
matriarchal waren (siehe O. Ronshidem 185).
✓in Ödipuskomplex im eilten
Michael Psellos
ift en J akrkundert
Von
H. E. Del Mexico
Istanbul
Die phylogenetische Entstehungsgeschichte des Ödipuskomplexes ist in
großen Zügen hypothetisch hinlänglich bekannt; desgleichen kennt man
zur Genüge die Formen, in denen er in der heutigen Zivilisation in Er¬
scheinung tritt. Es ist auch versucht worden, berühmte Persönlichkeiten
der Vergangenheit in Hinsicht auf ihren Ödipuskomplex zu analysieren,
indem man sich der Aufzeichnungen ihrer Zeitgenossen bediente, wobei
allerdings zu berücksichtigen war, daß die Geschichtsschreiber nie unpar¬
teiisch sind und ihre Zeitgenossen von ihrer persönlichen Einstellung aus
beurteilen; auch ist in den wenigsten Fällen genügend Material vorhanden,
um ein einigermaßen vollständiges Bild zusammensetzen zu können. Cha¬
raktere aus dem Mittelalter sind natürlich am allerwenigsten bekannt, da
sie, speziell in der westeuropäischen Literatur, in Sagen und Legenden
aufgenommen und in spärlichen Aufzeichnungen so sehr mit früheren und
späteren Elementen verschmolzen sind, daß die Analyse einer bestimmten
Person auf die größten Schwierigkeiten stößt. — Um so mehr ist es zu be¬
grüßen, wenn einmal genügend Material vorliegt, um die Analyse eixier
Person aus der Zeit vor dem ersten Kreuzzug versuchen zu können. Es
wird niemanden wundern, daß zu jener Zeit, genau so wie heute, Neurotiker
lebten, und daß sie dieselben Komplexe aufwiesen, die wir heute vorfinden;
nur war natürlich der Weg ihrer Verarbeitung ein anderer: die Ideale des
Mittelalters waren von denen unserer Zeit sehr verschieden.
Ein glücklicher Zufall und die mühevolle Arbeit vieler Byzantinisten
ermöglichen es, einen Menschen aus jener Zeit in vollem Lichte zu sehen.
Ein Ödipuskomplex im elften Jakrkundert 216
Es ist dies Michael Psellos, Philosoph und Staatsmann, Rechtsanwalt und
Mathematiker, ein Universalgenie und ein Schöngeist, wie solche nur zur
Zeit der Renaissance und der Französischen Revolution anzutreffen sind.
Krumbacher sagt von ihm: „Wenn wir die Schattenseiten des Psellos
rückhaltlos zugeben, können wir seinen literarischen Verdiensten um so
besser gerecht werden. Psellos ist an Umfang des Wissens, an Schärfe der
Beobachtung und vor allem an Formgewandtheit der erste Mann seiner
Zeit“, wobei zu berücksichtigen ist, daß das elfte Jahrhundert im übrigen
Europa sonst nirgends einen Wissenschaftler, geschweige denn einen Schön¬
geist hervorgebracht hat.
Die zahlreichen Schriften, die Psellos hinterlassen hat, berühren sämt¬
liche Gebiete des menschlichen Geistes; neben seiner Chronographie, einem
Geschichtswerk, das die Periode von 976 bis 1077 umfaßt, finden sich in
seinen Werken Traktate über Musik, Geometrie, Philosophie, Astronomie,
Grammatik, Kriegskunst, Metaphysik, Recht, Geographie usw., Epigrammata,
Reden, Gedichte, Satiren und zirka fünfhundert Briefe. 1 In all seinen
Schriften spiegelt sich natürlich der Charakter des Psellos wieder, und um
ein Bild von ihm zu erhalten, ist es kaum nötig, das Zeugnis seiner Zeit¬
genossen anzurufen. — Aber Psellos war einmal in der Lage, eine öffent¬
liche Beichte abzulegen: es war anläßlich der Todesfeier seiner Mutter. 2 —
Aus einer psychischen Notwendigkeit heraus mußte er seinen ganzen Lebens¬
lauf schildern, und diesem merkwürdigen Dokument entnehmen wir die
Einzelheiten seines Familienlebens. 3
1) Die Schriften von Michael Psellos sind zum Teil in K. N. Sathas, Bibliotheca
Graeca Medii Aevi, Paris 1874/76, Band IV und V, veröffentlicht. Eine Ausgabe seiner
Chronographie, mit französischer Übersetzung von Emile Renauld, Paris 1926.
Weitere Schriften von Psellos in Migne: Patrologia Graeca CXXII, 477/1186 —
Boissonade: Psellos (Nürnberg 1838) etc. Siehe auch Krumbacher: Geschichte
der Byzantinischen Literatur (München 1897, S. 436 ff.).
2) Diese Leichenrede, aus dem Codex 1182 der Bib. Nat. Paris (Fo 74/83) (ab¬
gedruckt in Sathas 1 . c., V/3—61) bildet die Grundlage zu einer der u Figures byzantines”
von Charles Diehl (I/291 ff.) und hat auch Rambaud den Stoff zu einem großen
Teil seiner Studie über Psellos in ”Etudes sur l’Histoire byzantine“ geliefert. Ferner
vgl. Sathas in seinem Vorwort zu Band IV und V seiner Sammlung, K. Krumbacher,
1 . c., S. 433 ff.
3) Der äußerst schwierige Stil von Psellos hat uns genötigt, uns so viel wie möglich
an die hervorragenden Übersetzungen von Rambaud, Diehl und Renauld zu halten.
An einigen Stellen, wo eine andere Auslegung des Textes angebrachter erschien,
mußte hingegen oft auf Klarheit verzichtet werden, um soweit als möglich wortgetreu
zu bleiben. Gewisse Ergänzungen, die zum Verständnis unbedingt erforderlich er¬
schienen, sind in ( ) hinzugefügt.
H. E. Del jMedico
äi6
Der Zweck dieser kurzen Studie ist, weder die Bedeutung des Psellos her-
vorzuheben noch seinen Lebenslauf zu schildern. Es war auch nicht beab¬
sichtigt, seine Schriften zu einer pathographischen Studie zu verarbeiten.
Hier soll einzig und allein ein Dokument analysiert werden, wobei gelegentlich
Bruchstücke aus anderen Schriften herangezogen werden mußten. Das Merk¬
würdige an diesem Dokument ist, daß Psellos sich hier ganz wie bei einer
Psychoanalyse benimmt. Es sind nicht irgendwelche Fehlleistungen, Ver¬
sprechen oder flüchtige Notizen, die den Schlüssel zu seinem Seelenleben
geben, sondern er selbst greift in seiner Erzählung weit in die Kindheit
zurück und erzählt seine Freuden und Leiden, als stünde er allein mit
seinem Gewissen. Selbstverständlich müssen sich hierbei auch gewisse Mo¬
mente melden, die selbst im Innersten seiner Seele ein Mensch sich nicht
zugeben kann: in diesen Fällen findet nun Psellos den seihen Ausweg, den
jeder Patient in der Psychoanalyse einschlägt, er erzählt seine Träume; bei
jeder Begebenheit, die in ihm besondere seelische Konflikte auslöste, wo
die richtige Sprache nicht über seine Lippen will, da fällt ihm gerade ein
Traum ein, und den muß er erzählen.
Es wird im folgenden auch versucht, Teile dieser Träume zu analysieren
und mit den bekannten Details aus dem Leben des Psellos in Zusammen¬
hang zu bringen. Den Psychoanalytikern wird hierdurch nichts Neues ge¬
bracht, es sei denn, daß der Fall Psellos eine glänzende Bestätigung für
die psychoanalytischen Theorien bildet. Leider aber ist die ganze byzanti¬
nische Kultur so sehr vernachlässigt worden, daß für die meisten Leser der
Name Psellos schon unbekannt sein mag. Diese kurze Analyse kann folglich
nur den Wert eines Kuriosums haben, bis vielleicht einmal das Interesse
doch sich dem nahen Osten zuwendet und dort den Schlüssel zu manchen
Charaktereigenschaften des modernen Menschen sucht, den die Naturvölker
ihm nicht liefern können.
Soll das biogenetische Grundgesetz (die Ontogenese ist eine kurze Wieder¬
holung der Phylogenese) auch auf das Psychische Anwendung finden, so
darf eben kein Glied aus der langen Reihe der Entwicklung des mensch¬
lichen Geistes als nebensächlich angesehen werden. Vielleicht könnte, von
diesem Standpunkte aus betrachtet, die flüchtige Analyse des Psellos ge¬
rechtfertigt werden.
Selbstverständlich steht der Fall eines Psellos nicht vereinzelt in der
byzantinischen Geschichte da — es muß viele andere gegeben haben, deren
psychische Konflikte sich ähnlich auswirkten; und es ist wohl bezeichnend
für seine Zeit, vielleicht auch für die Geschichte des ganzen Ostens, daß
Ein Ödipuskomplex im elften Jahrhundert
* 1 /
zu einer Epoche, wo im Westen Europas das ritterliche Ideal vorwiegt, in
Byzanz, wie die Analyse des Psellos zeigt, ein ganz anderes Ideal auftaucht,
j n welchem die Liebe zur Mutter direkt verherrlicht wird.
Der Vater
Psellos Vater war aus angesehener, doch verarmter Familie und hatte
sich dem Handel gewidmet:
„Es war ein einfacher ehrlicher Mann, ohne die geringste Weiblichkeit in
seinem Wesen, und (doch) ganz aus Güte geformt, dem Zorn unzugänglich. Nie
habe ich ihn erbost gesehen, nie ließ er sich hinreißen, jemand zu schlagen
oder schlagen zu lassen. Seine Seele war heiter; er war wenig zu Worten auf¬
gelegt, doch bot sich die Gelegenheit, war seine Sprache angenehm. Er zog
durchs Leben leichten Schrittes, ohne zu straucheln, in einem regelmäßigen
Tempo, wie das Öl, das ohne Geräusch fließt. Seine Gestalt war die einer
schlankgewachsenen Zypresse, gerade wie ein Schilfrohr, dessen Zweige sich
regelmäßig entwickeln und ausbreiten; seine Augen waren schön, mit einem
frohen Blick und angenehmen Ausdruck, von Augenbrauen beschattet, die nicht
hoch und frech waren, sondern fein gezeichnet und regelmäßig von der Geradheit
seines Herzens zeugten. Schon bei seinem Anblick, ohne daß er noch gesprochen
hätte, ohne ihn bei einer Tat gesehen zu haben, konnte man seine versteckten
Tugenden entdecken und erkennen, daß er in unserem Jahrhundert dastand
wie ein Funke aus der antiken Einfachheit. Und wenn jemand mein Bild
zeichnen wollte, braucht er nur dieses als Vorbild zu benutzen, denn ich habe mich
immer mehr vom mütterlichen Typus entfernt und ähnle meinem Vater wie
ein junger Adler dem Adler, wie der Schatten dem Körper gleicht.“
Dies ist das Porträt, das Psellos von seinem Vater nach dessen Tode zeichnet . 1
1) Sathas V/19—20. Wie Psellos’Vater in Wirklichkeit ausgesehen haben mag, ist
natürlich aus dieser Beschreibung nicht zu erkennen. Für Psellos, der sich mit seinem
Vater identifiziert, ist dies Porträt maßgebend. So will er, soll er gewesen sein, —
obwohl in seinem Lebenslauf, zur Zeit, aus der dieses Porträt stammt, nichts von
einem „regelmäßigen Tempo“ zu verzeichnen ist. Bezeichnend ist, daß Psellos zu den
Eigenschaften seines Vaters Mangel an Weiblichkeit zählt und dann seine Gestalt
mit der einer „schlankgewachsenen Zypresse“ vergleicht. In der byzantinischen Dichtung
des Mittelalters sowie noch heute in der neugriechischen Poesie ist aber die Zypresse
gerade ein beliebtes Symbol für den weiblichen Körper. Der Name „Kypris“ ist ein oft
gebrauchter Frauenname, gleichwertig mit Aphrodite (die, wie bekannt, in Cypern
geboren wurde). Ein zypressenförmiger Pfeil war das Symbol Aphrodites und wurde
auf Münzen usw. abgebildet (Frazer: Adonis, Kap. III).
Die türkische Dichtkunst, die so viel Bilder der byzantinischen Poesie entnommen
hat, bedient sich ebenfalls der Zypresse ( Servi ) als Vergleichs für die Frau.
Die antike Einfachheit, d. h. den hellenistischen Typus, dem Psellos nachstrebte,
mußte er natürlich auch seinem Vater andichten. Es ist aber sehr fraglich, ob sein
Imago XVIII.
2l8
H. E. Del Medico
Die JMutter
Sie hieß Theodote und war die älteste von mehreren Geschwistern. Sie
stammte aus gutem Hause und scheint eine Schönheit gewesen zu sein.
Trotzdem legte sie wenig Wert auf Schmuck und Kleidung und war schon
seit ihrer frühen Kindheit sehr religiös und mystisch veranlagt.
„Sie wurde nicht von ihrer Mutter den göttlichen Tempeln geweiht, sie
wurde nicht wie ein lebloses Opfer dargebracht — ganz allein kam sie dazu
(sie kam später ins Kloster), wie sie es ihrer Mutter versprochen hatte, aus
ihrem eigenen Willen, als treue Dienerin des Herrn. Aus diesem Grunde ver¬
nachlässigte sie die Pflege ihres Körpers, doch dieser bedurfte keiner besonderen
Pflege, denn er war wie die Rosen, die keiner künstlichen Zier bedürfen; und
diese Vernachlässigung, diese Einfachheit (Ungekünsteltheit) dienten eher noch
dazu, sie zu vervollkommnen, sie ganz, natürlich noch zu erheben. Obwohl es
Vorkommen kann, daß ein leichter Nebel die Sonne umschattet, und daß ein
Lichtstrahl von einer dazwischentretenden Wolke aufgehalten wird, so daß uns
die Gegenstände nicht vom Himmel beleuchtet erscheinen können, — bei ihr
konnte nichts ihre Schönheit verdunkeln, nicht einmal der Zahn der Zeit,
und so war sie überall strahlend, wie das Licht eines Leuchters, und alle, die
sie gesehen hatten, waren von ihrer Schönheit geblendet, und alle, die von ihr
gehört hatten, waren erstaunt .“ * 1
Vater überhaupt etwas für die Philosophen der Antike übrig hatte, ob er sie überhaupt
kannte: er war nicht besonders gebildet.
Psellos war nicht schön, besonders seine krumme Nase wurde oft verspottet
(Sathas, V/i68ff.). Da er sich vom mütterlichen Typus entfernt hat, muß er selbst¬
redend auch aus diesem Fehler einen Vorzug machen und so vergleicht er seinen
Vater mit einem Adler.
Bemerkenswert ist noch, daß dieses Porträt des Vaters und die daraus sich er¬
gebende Identifizierung mit ihm in so ausgesprochener Form anläßlich des Todes
der Mutter auftritt, bei welchem Anlaß dann auch (siehe unten) der ganze Ödipus¬
komplex bei Psellos so schroff zum Ausbruch kommt.
1) Sathas, V/7 ff. — Es ist dies ein überschwengliches Bild der „schonen Mama“,
wie sie sich jeder Junge vorstellt. Doch ist hier zu bemerken, daß Psellos zu dieser
Zeit an die vierzig Jahre alt gewesen sein muß, und daß sonst im allgemeinen eine
so ausgesprochene Erotisierung der Mutter nicht über die Pubertätsjahre hinausreicht.
Dabei ist noch zu berücksichtigen, daß die Mutter durch die vielen Kasteiungen,
denen sie sich im Kloster unterzogen hatte, sehr stark heruntergekommen war, so
daß nur die Verliebtheit ihres Sohnes den „Zahn der Zeit“ zu übersehen vermochte.
Daß bei sexuellen Regressionen der Geruchsinn eine bedeutende Rolle spielt, ist
hinlänglich bekannt. Es ist möglich, daß ähnliche Momente bei Psellos mitspielten,
denn er bringt in einem Satz den Vergleich zwischen dem Körper seiner Mutter,
dessen Pflege sie vernachlässigte (an anderer Stelle führt er an, daß sie nur spärlichen
Gebrauch von Wasser machte), und dem natürlichen Gedeihen der Rosen (die be¬
kanntlich den Wohlgeruch darstellen). Wenn der Geruchsinn nicht ausschlaggebend
I! il
yji ;
Ein Ödipuskomplex im elften Jahrhundert
Nur unter der Drohung des väterlichen Fluches konnte sie dazu bewogen
werden, endlich zu heiraten. Aus dieser Ehe wurde zuerst eine Tochter
geboren, einige Zeit darauf kam eine zweite Tochter zur Welt, doch starb
diese, wie es scheint, sehr jung. Der Vater wollte jedoch einen Sohn haben:
„Und wie nun Gott endlich ihre Gebete erhörte, wurde sie schwanger,
und nach vielen Gebeten und Hoffnungen wurde eine Hymne für ihre Ent¬
bindung gesungen, damit die Geburt leicht vor sich ginge und ein Sohn zur
Welt komme. “ * 1
So kam im Jahre 1018 der heißersehnte Sohn zur Welt und erhielt bei
der Taufe den Namen Konstantin. (Den Namen Michael erhielt er erst bei
seinem Eintritt ins Kloster.)
Mit fünf Jahren kam der junge Psellos in die Schule; drei Jahre darauf
hatte er die Klassen beendet. Gegen den Willen der gesamten Familie setzte es
die Mutter durch, daß er nicht in die Lehre ging, sondern seine Studien
fortsetzte, — und zwar, indem sie den Verwandten ihre Träume erzählte,
die dem Jungen die beste Zukunft voraussagten. 2
für diese Bilderassoziation gewesen wäre, hätte Psellos einen anderen Vergleich ge¬
wählt, wie er auch sonst in seinen Schriften nie eine Frau mit einer Blume vergleicht.
Bei der Erotisierung eines Liebesobjektes spielt es mitunter eine große Rolle, daß
man sich in seinen Exhibitionismus einfühlt. So erklärt sich z. B. die außerordentliche
Anziehungskraft, die Schauspielerinnen, Kabarettdivas u. dgl. ausüben, an der ihr öffent¬
liches Auftreten und die Tatsache, daß sie den Blicken des Publikums ausgesetzt sind,
stark beteiligt sind. Psellos verlangt für seine schöne Mama ebenfalls die Huldigung
der Masse und so erfindet er, daß die Leute ihre Schönheit bewunderten, obwohl
er weiter unten seihst anführt, daß seine Mutter nie ihr Gesicht vor Fremden ent¬
blößt hatte (nach byzantinischer Sitte gingen die Frauen immer streng verschleiert
— siehe unten S. 224).
1) Sathas V/11. Es ist selbstverständlich, daß Psellos für seine Geburt die Mitwirkung
überirdischer Mächte in Anspruch nehmen muß. Solche Phantasien treten bekanntlich
bei Letztgeborenen am häufigsten auf. Vielleicht hat auch die Mutter diese Einstellung
bei ihrem Sohne gezüchtet, indem sie ihm oft von den vielen Gebeten erzählte, die
für seine Geburt gesprochen worden waren. (Vgl. Rank: Der Mythus von der Geburt
des Helden. Wien 1922 und B erguer: Quelques Traits de la Vie de Jesus. Geneve 1920.)
Psellos hat übrigens sein ganzes Leben lang darunter gelitten, daß er nicht hoher
Abstammung war.
2) Zu dem „Mythus von der Gehurt des Helden“, hei der überirdische Mächte
nut im Spiel sind, gehört auch eine heroische Erziehungszeit, in der der junge Held
allerlei Taten vollbringen muß, bis er den Weg zu den Eltern zurückfindet. Bei
Folios findet sich auch hievon eine Variante. Die Lehrer, zu denen er ziehen soll,
sind Heihgc (Vaterersatz), zu denen er eigentlich zurückkehrt, so, schon in frühester
mdheit, den eigentlichen Vater verleugnend. Daß die Mutter sich dem Sohne libidinös
ganz besonders zuwandte, geht schon daraus hervor, daß sie den jungen Psellos so
15*
320
H. E. Del Medico
„Einmal ivar ihr der heilige Chrisostomos erschienen und hatte zu ihr gesagt:
Weib, laß dich nicht beirren und laß deinen Sohn studieren. Ich will sein
Pädagoge sein und wie ein Lehrer ihn mit Weisheit nähren, ein anderes Mal
hatte sie geträumt, daß sie in die Kirche der heiligen Apostel eingetreten war ,
von einer Menge unbekannter Leute ehrfurchtsvoll begleitet. Und als sie furchtlos
vor die Ikonostase trat, sah sie dort eine stattliche Dame, die zu ihr von innen
sprach und sie bat, draußen zu warten, bis sie herauskomme. Und als dies
geschehen war, sagte sie zwar meiner Mutter nichts, aber den beiden ihr zu
Seiten stehenden (Personen) sagte sie, erst dem einen, dann dem anderen sich
zuwendend: Gebet dem Sohn dieser Frau Weisheit, denn ihr seht, wie sie mich
inbrünstig umarmt . . . Und als sie so die beiden Personen ansah, bemerkte sie,
daß beide sich sehr ähnelten. Der eine hatte einen großen runden Kopf, mit
einem Haarwuchs wie eine auf blühende Pappel und seine Nase selbst konnte man
nicht sehen, so stark war der Bartwuchs. Der andere hatte einen kürzeren Schädel
und auch der ganze Körper war kleiner, bis auf den Kinnbart, der sehr lang
genau von ihren Träumen unterrichtete, daß er sich noch nach mehr als dreißig
Jahren an ihren Wortlaut erinnert.
Immerhin ist zu berücksichtigen, daß nach einer so langen Zeit eine Umdichtung des
Erzählten natürlich nicht ausgeschlossen ist. Im Gegenteil: es ist sogar wahrscheinlich, daß
Psellos die Träume seiner Mutter so umformte, daß sie in seine Gedankenwelt paßten.
Aus diesem Grunde wird es notig sein, die überlieferten Träume beim Versuch ihrer
Analyse wie Träume des Psellos selbst zu behandeln, für die die Kenntnis der wirk¬
lichen Träume der Mutter nur einen Tagesrest abgab.
1) Sathas V/13. Von den beiden Träumen, die Psellos von seiner Mutter erzählt,
gibt er den ersten ganz kurz wieder. Wie schon oben bemerkt, spielt der heilige
Chrisostomos (als Patron der Redekunst) die Rolle einer Vater-Imago, im Gegensatz
zum eigentlichen Vater, der schlicht und ungebildet war. Die gebrauchten Ausdrücke
„Pädagoge“ und „nähren“ verstärken diesen Eindruck. Es ist möglich, daß die Mutter
tatsächlich mit ihrem Gatten unzufrieden war und ihrem Sohne einen viel gebildeteren
Vater gewünscht hat.
Der Wortlaut des zweiten Traumes bietet zu viel Analogie mit einem später mit¬
zuteilenden Traume des Psellos selbst, um nicht den Verdacht zu erwecken, teilweise
wenigstens, von ihm umgedichtet zu sein. Wenn man es wagt, diesen Traum be¬
ziehungsweise diese Phantasie auf die darin enthaltene Symbolik hin zu analysieren
(es ist dies die einzige Möglichkeit, derartiges Material überhaupt zu verwerten), kann
sich folgender Deutungsversuch ergeben:
a) Die Mutter tritt in die Kirche ein, von der Menge ehrfurchtsvoll begleitet.
Ähnliche Traumbilder kommen sehr oft vor (siehe auch den später mitgeteilten Traum
von Psellos selbst). Es sind allgemein Träume sexuellen Inhalts, bei denen die ein¬
tretende Person den Träumer selbst oder sein Glied darsteilt. In der Umdichtung
ist die Mutter folglich ein Symbol für Psellos oder für sein Glied — beachtenswert
ist die Assonanz zwischen Psellos und Psotlos (griechisch = Penis).
b) Vor der Ikonostase gebietet ihr eine stattliche Dame zu warten. Die Ikonostase,
die in den griechischen Kirchen den Altar abtrennt, ist mit ihrer Tür ein ausgesprochen
weibliches Symbol; die stattliche Dame stellt hingegen ein männliches Symbol dar
(vielleicht den Penis des Vaters), das ihn davon abhält, das weibliche Geschlecht
221
Ein Ödipuskomplex im elften Jakrkundert
Unter solchen Auspizien war es selbstverständlich, daß Psellos studieren
mußte, doch da niemand in der Familie ihm bei seinen Aufgaben helfen
konnte, mußte wieder die göttliche Gewalt einspringen, und seine Mutier
▼erbrachte ganze Tage in den verschiedenen Kirchen, sich an die Brust
schlagend, damit die heilige Mutter Gottes ihrem Sohne bei seinen schwierigen
Schulaufgaben helfe. * 1
Diese außergewöhnliche Frömmigkeit der Mutter, ihre Visionen, ihre
ganze religiös-hysterische Natur, mußte natürlich öfters mit dem Vater in
Konflikt geraten. Oft sprach sie davon, ihn zu verlassen, und „ganz in Keusch¬
heit, für den Gott der Keuschheit zu leben“. 2
Sie schämte sich auch ihrer Zärtlichkeit, speziell ihrem Sohne gegenüber,
sehr. Nur nachts, wenn sie vermutete, daß er schon schlief, kam sie leise
in sein Zimmer, nahm ihn in ihre Arme und küßte ihn mit heißer Leiden¬
schaft. Dabei sprach sie zu ihm: „Mein heißbegehrter Sohn, wie sehr liebe
ich dich, und doch darf ich dich nicht öfter küssen.“ 3
Den Bettlern gegenüber, heißt es, war sie mildherzig. Sie empfing sie
in ihrem Heim, wusch ihnen eigenhändig die Füße und deckte ihnen selbst
den Tisch. In eigener Person legte sie ihnen die Speisen in Tellern und
Schüsseln vor und schenkte ihnen zu trinken ein, als wären es große
Herren.
(Ikonostase) zu betreten. Das Gebot, „warten“ zu müssen, stammt vielleicht aus der
Zeit der geschlechtlichen Unreife.
c) Die Dame kommt mit zwei Männern wieder. Das Symbol der Dame als männ¬
liches Geschlechtsorgan wird durch das Auftreten dieser beiden Männer vervoll¬
ständigt. Nach der Beschreibung sind die beiden Nebenpersonen unverkennbare
Symbole für die Hoden (vgl. Freud: Traumdeutung. Ges. Sch. III. 83).
Dieser Traum läßt sich also ungefähr so deuten, daß Psellos sich über sein un¬
entwickeltes Organ beklagt, während der stattliche Vater ihn am geschlechtlichen
Verkehr (mit der Mutter) hindert. Als Entschädigung für seine Impotenz soll Psellos
nun die Weisheit erhalten, wodurch er dem Vater überlegen wäre. (Selbstverständlich
bleibt ein solcher Deutungsversuch sehr fragmentarisch und auch unsicher.)
1) Diese Tatsache scheint in Byzanz sehr bekannt gewesen zu sein. Ein halbes
Jahrhundert später spricht Anna Comnena davon in ihrer Alexiade (Ed. Bonn 258).
2) Sathas V/16. Dies Keuschheitsideal wirkt bei einer Frau, die schon drei Kinder
zur Welt gebracht hat, befremdend. Es ist wohl die Liebe zum Sohne, die einen Wider¬
willen gegen den Verkehr mit dem Gatten hervorruft.
3) Sathas V/19. Bemerkenswert ist das Gefühl der Mutter, mit ihrer Zärtlichkeit
ihrem Sohn gegenüber eine verbotene Handlung zu begehen, und ihre diesbezügliche
Scham. Es läßt sich vermuten, daß solche Szenen mit außergewöhnlich starker Angst
verbunden waren, die wieder sexuelle Lustgefühle, die bei den leidenschaftlichen
nächtlichen Umarmungen und Küssen der Mutter zum Vorschein kamen, ab wehren
sollte. — Nach so vielen Jahren sind diese Begebenheiten in der Erinnerung von
Psellos noch lebhaft wach!
222 H. E. Del Meclico
Andrerseits verbrachte sie Tage und Nächte im Gebet, las nur heilige
Schriften, verkehrte fast ausschließlich mit Mönchen und Nonnen. Nachts
legte sie sich auf ein hartes Lager, kasteite sich und kam so in ekstatische
Zustände, in denen sie allerlei Visionen hatte.
Die Schwester
Die krankhafte Natur der Mutter mußte natürlich für die Entwicklung
der Tochter bedeutungsvoll werden. In der unmittelbaren Nachbarschaft
wohnte eine Frau, deren geschminktes Außere leicht auf ihren Beruf schließen
ließ. Deren Seele zu retten, machte sich Psellos’ Schwester zur Aufgabe. Da
aber jene nur aus dem Handel mit ihren Reizen ihren Lebensunterhalt
bestritt, so nahm die Seelenretterin sie mit in ihr Haus zu ihren Eltern
und teilte mit ihr Nahrung und Kleidung. Aber nach der Heirat von Psellos’
Schwester wollte ihr junger Gatte die Anwesenheit der reuigen Sünderin
in seinem Haus nicht dulden. Die Hetäre wurde als völlig bekehrt entlassen
und mußte nun sehen, wie sie sich selbst ernährte. Es blieb aber eine
gewisse Freundschaft zwischen ihr und ihrer Wohltäterin bestehen und sie
kam des öfteren zu ihr auf Besuch. Unterdessen wurde Psellos’ Schwester
schwanger. Die Geburt ging sehr schwer vor sich. Unter den anwesenden
Frauen befand sich auch die Hetäre. Da sagte eine der Anwesenden laut:
„Es ist kein Wunder, daß die Geburt so schwer vor sich geht, denn nach
alten Bräuchen darf eine schwangere Frau einer anderen nicht beistehen“,
und ohne viel Umschweife hob sie die Röcke der Hetäre und zeigte der
Schwester Psellos’ das Ergebnis ihrer Wohltaten. Die Freundin wurde sofort
an die Luft gesetzt und nun, da das Übel beseitigt war, gestaltete sich die
Niederkunft vollkommen normal. 1
Damit ist aber auch dem Seelenrettertum endgültig ein Ende bereitet.
Kindheit und Jugend
Der junge Psellos war, wie es scheint, sehr begabt. Auch er hatte in
seiner frühen Kindheit Träume, derer er sich viele Jahre später genau ent"
sinnen kann.
„Ich war noch keine zehn Jahre alt, vielleicht näherte ich mich diesem Alter,
da, eines Nachts, nahm mich jemand mit auf die Jagd und führte mich an die
freie Luft. Obwohl ich nicht jagen konnte , sah ich ihn doch zwei Vögel zu Fall
Ein Ödipuskomplex im elften Jahrhundert
,23
bringen, von denen der eine einem Psittakos (Papagei) glich , der andere aber
deutlich eine Kitta (?) war , und er schoß sie beide unter die Brust . Und deswegen
er roß sich meine Seele und umnebelte sich und ich versuchte sie (die Vögel) mit
meinen Händen zu glätten und ihnen die Federn wieder anzukleben Er führt
dann große philosophische Gespräche mit den Vögeln über metaphysische Fragen
und den Sinn alles Seins. 1
Es war ja selbstverständlich, daß unter der Leitung der Mutter Gottes, die
ihm die schönste Zukunft prophezeite, sein Geist nur gedeihen konnte.
Mit fünfzehn Jahren hatte Psellos seine Schule beendet, und als An¬
gestellter eines Richters verließ er die Hauptstadt, um in den mazedonischen
Provinzen sein Brot als Schreiber zu verdienen. Doch kurze Zeit darauf
wurde er von seinen Eltern unter einem Vorwand zurückgerufen: seine
Schwester war plötzlich gestorben.
Der Tod d er Sdiwester
Der Tod der Tochter war für die Mutter ein schwerer Schlag. Am Grabe
ihrer Tochter schneidet sie ihr Haar und erfüllt so ihren langgehegten
Wunsch, im Kloster ihr Dasein zu beenden. Diesmal kann ihr der Gatte
nicht mehr Widerstand leisten; er folgt ihr ins Kloster.
Für Psellos hingegen bedeutet der Tod der Schwester einen vollständigen
Wendepunkt in seinem Leben. Mehrere Jahre danach, als schon so viel
Ereignisse sein Leben umgestaltet hatten, erinnert er sich noch an Einzel¬
heiten dieses Erlebnisses und schildert sie mit dramatischer Ergriffenheit: 2
„Als ich die Stadtmauern passiert hatte und mich nun in der Stadt befand,
kam ich in die Nähe des Friedhofes, wo die Leiche meiner Schwester ruhte.
Es war gerade der siebente Tag nach dem Begräbnis und mehrere unserer Ver¬
wandten hatten sich dort versammelt, um die Verstorbene dort zu beweinen
und meiner Mutter Trost zu spenden. Einen von diesen bemerkte ich; er war
1) Sathas V/14. Die philosophischen Reden, die Psellos mit den gefallenen Vögeln
führt, sind selbstverständlich spätere Hinzudichtung, die er anläßlich seiner Rede
Torbringt. Im Alter von zehn Jahren waren ihm gewiß die meisten Ausdrücke noch
fremd. Der Traum hingegen als solcher scheint echt zu sein und paßt wohl in diese Zeit.
Es ist möglich, daß Psellos sich mit den verwundeten Vögeln identifiziert; die
Analogie im Klang zwischen Psellos und Psittakos kann sehr leicht zu einer solchen
Symbolisierung geführt haben. In diesem Falle wäre der Jäger der Vater, der den
Sohn unter der Brust verletzt (ihn kastriert). Der Sohn, der im Traum zweimal vor¬
kommt, versucht dann die Männlichkeit wieder zu erlangen (er klebt die Federn
wieder an). — Es ist möglich, daß der Sohn durch Selbstbefriedigung (mit den Händen
glätten) versucht, sich seine Männlichkeit zu beweisen.
2) Sathas V/2 9 ff.
ein braver Mann ohne Arg, der nicht in die fromme Lüge eingeweiht war, die
meine Eltern benützt hatten, um mich zurückzurufen. Ich frug ihn nach dem
Befinden meines Vaters und meiner Mutter und einiger meiner Verwandten
und er, ohne Ausflüchte zu suchen, antwortete mir ganz offen: ,Dein Vater
weint und jammert am Grabe seiner Tochter, — deine Mutter steht ihm zur
Seite, untröstlich in ihrem Unglück, wie du es ja wissen mußt 4 . — Er sprach und
ich weiß nicht mehr, was ich empfand. Wie vom Feuer des Himmels getroffen
starr und stimmlos, fiel ich vom Pferd. Der Lärm, der um mich ward, kam
bis zu den Ohren meiner Eltern. Ein anderes Wehegeschrei brach aus; noch
stärker, da es sich um mich handelte, fing das Klagen nochmals an wie ein
halbgelöschter Brand, den ein Windstoß wieder auflodern läßt. 1 Sie schauten
mich verstört an und zum ersten Male wagte meine Mutter ihren Schleier zu
heben, ohne Rücksicht darauf, daß sie ihr Gesicht vor anderen Männern ent¬
blößte. 2 Man neigte sich zu mir nieder, jeder wollte mich berühren und ver¬
suchen, durch sein Wehgeschrei mich zum Leben zurückzurufen. 3 4 Halb tot, hob
man mich und brachte mich ans Grab meiner Schwester. Als ich die Augen
öffnete und das Grab meiner Schwester sah und das volle Maß meines Unglücks
gewahrte, kam ich wieder zu mir und wie ein Totenopfer ließ ich die Ströme
meiner Tränen auf ihre Asche fließen. ,Oh meine süße Freundin 4 , jammerte
ich, — denn ich behandelte sie nicht nur als Schwester, ich gab ihr immer
die zärtlichsten und liebevollsten Namen — ,Oh wunderbare Schönheit, unver¬
gleichlicher Körper, Tugend ohnegleichen, schöne beseelte Statue, Stachel der
Überzeugung, Sirene der Reden, unbesiegbare Grazie! 4 Oh du, die du alles für
mich bist und noch mehr als meine Seele, wie bist du fortgegangen und hast
deinen Bruder verlassen? Wie konntest du dich dem entreißen, der mit dir
1) Psellos als jüngster Sohn scheut sich nicht, das Weinen über seinen Sturz vom
Pferde als noch stärker zu bezeichnen als die Klage über seine verstorbene Schwester,
und fügt noch zur Erklärung hinzu: „da es sich um mich handelte.“ — Es ist dies
schon eine außerordentlich narzißtische Einstellung, die in dem öfter vorkommenden
Eigenlob Psellos’ auch sonst deutlich wird.
2) Siehe oben S. 219. Der türkische Schleier und der Harem sind keine Erfindungen
des Islams, sondern von den Byzantinern übernommene Gebräuche. Diese kannten
schon damals außer dem strengen Gyneceum auch den Brauch, Eunuchen zum privaten
Dienst der Frauen anzustellen.
3) Über das Wehgeschrei bei Ohnmächtigen vgl. Frazer: Tabou et les Perils de
l’Ame Kap. II.
4) Die um zehn Jahre ältere Schwester ist für Psellos genau so wie die Mutter
ein Liebesobjekt, wahrscheinlich sogar ein Mutterersatz. Sathas V/10: „Ihr Antlitz
war liebreich und wunderbar, und ihre Schönheit ließ sich dadurch erklären, daß sie
eine getreue Kopie des mütterlichen Prototyps war.“ Welcher Art die Beziehungen
zwischen Bruder und Schwester waren, läßt sich schon aus den Worten „ich behandelte
sie nicht nur als Schwester“ schließen. An anderer Stelle (Sathas V/26) erzählt Psellos
ziemlich eingehend, welcher Art die Liebkosungen waren, die ihm seine Schwester
zukommen ließ. Bezeichnend ist noch, daß Psellos bei der Schilderung von Personen,
in die er verliebt (?) war, immer dieselben Bilder anführt: beseelte Statue, Körper
ohnegleichen usw. (Vgl. sein Porträt von Constantin Monomachos.)
Ein Ödipuskomplex im elften Jakrkundert 320
aufgewachsen ist? Wie konntest du dich zu dieser grausamen Trennung ent¬
schließen? — Doch sage mir, welcher Aufenthalt hat dich empfangen? In
welchen Wohnsitzen weilst du? Inmitten welcher Wiesen? An welcher An¬
mut, an welchen Gärten kannst du nun deine Augen weiden? Welches Glück
ist es, das du meinem Anblick vorgezogen hast? Welche Blumen haben dich be¬
zaubert? Welche Rosen, welche murmelnden Bäche haben dich verführt? Welche
Nachtigallen haben dich mit ihrem süßen Sang eingefangen, welche Lerchen
mit ihrer Musik? 1 — Ist etwas von deiner Schönheit geblieben oder hat der
Tod alles verwischt? Ist der Glanz von deinen Augen gewichen? Sind die Blumen
von deinen Lippen verwelkt oder bewahrt das Grab deine Schönheit wie einen
kostbaren Schatz?
Studienzeit
Mit einem Schlage verliert nun Psellos beide Frauen (Mutter und Schwester),
an die er bis dahin gebunden war. Mit sechzehn Jahren steht er nun allein
auf der Welt. Seine Mutter lebt zwar noch, aber mit der Zärtlichkeit ist
es zu Ende; sie kann nur noch für ihn beten.
Aus dieser Zeit erzählt Psellos wieder einen Traum (natürlich in einem
ganz anderen Zusammenhang). 2
„Als du dich von dieser Welt gelöst hattest und ich noch im Innersten
meiner Seele den Keim deiner Gelübde trug, da, eines Nachts, im Schlaf, sah
ich vor mir weißgekleidete Priester . Und als ich mich sofort erhob, stand ich
vor ihnen wie vor Vorgesetzten und folgte ihnen. Doch als wir so vorwärts¬
schritten, wurde der Weg, der anfangs breit war, immer schmäler und schmäler ,
so daß wir sehr viel Schwierigkeiten hatten, vorwärts zu kommen. Sie (die
1) Es ist kaum möglich, den Tod einer Geliebten anders zu schildern, als Psellos
den Tod der Schwester darstellt. Die „grausame Trennung“ von ihr, das „Glück“,
das sie „seinem Anblick vorgezogen hat“, sind poetische Wendungen, die in der ganzen
orientalischen Dichtung wiederkehren, wenn der Bräutigam vor der Leiche der Braut
steht. Es scheint dem Liebenden nicht möglich, daß verführerische Künste nicht mit¬
gewirkt hätten, um ihm seine Braut zu entwenden, da doch seine Liebe zu ihr stärker
als der Tod sein muß. Und natürlich sind es Blumen, die mit ihrem Duft sie be¬
zauberten, Vögel, die sie mit ihrem Gesang bestrickten. Ob Psellos freilich diese
Improvisation wirklich am Grabe seiner Schwester gehalten hat, ist unsicher. Eigentlich
war die Trennung von ihr schon bei ihrer Heirat durchgeführt, nach der Psellos auch
das väterliche Haus verließ. Eigentümlich ist allerdings, daß Psellos nicht mit einem
einzigen Wort seinen Schwager erwähnt. In dieser Klage benimmt er sich einfach
wie der Ehemann der Schwester.
2) Sathas V/52ff. Psellos führt diesen Traum an, um sich dafür zu rechtfertigen,
daß er seine Gelübde nicht einhalten konnte. (Der Weg der Läuterung ist zu steil
und nur schwer passierbar.)
Zu beachten ist, daß er diesen Traum, den er anläßlich des ersten Verlustes der
Mutter (ihres Eintrittes ins Kloster) geträumt hatte, nun bei ihrem endgültigen Ver¬
lust (Tod) anführt.
33 6
H. E. Del Medico
Priester) wandten sich folglich zu mir und sagten: ,0h, mein Kind, der Weg
ist sehr eng und, wie du siehst, für die meisten von uns ungangbar. Deshalb
auch haben wir Angst um dich, — doch du, verliere den Mut nicht und folge
uns mit Zuversicht'’. — Ich tat, wie sie mir geheißen, und der Stein, den ich
stieß, gab nach und löste sich wie eine weiche Masse. Und als ich auf die
andere Seite durchgekommen war, fand ich zuerst eine tiefe Treppe vor mir
und ich stieg mutig hinab. Am Ziel öffnete sich vor mir eine Kirche und
links befand sich ein Bild der Gottesmutter. Was sich auf der anderen Seite
befand, konnte ich nicht sofort sehen. Darauf gewahrte ich dich, meine Mutter
auf der Erde kauernd und an das Bild angeklammert, und ich wollte vorwärts
stürzen, um dich zu stützen, aber mit einer Handbewegung befahlst du mir,
mich fern zu halten . — Und du wandtest dich nicht um, sondern, mich so¬
zusagen von unten betrachtend, sagtest du mir: ,Wende deine Augen nach der
rechten Seite der Kirche! c Und als ich dies tat, gewahrte ich einen Mönch.
Er stand nicht, sondern er kniete; ein beschriebenes Blatt Papier befand sich
in seinen Händen, worauf seine Augen übrigens stier geheftet waren. So ähnelte
er einem Riesen mit unfreundlichem Gesicht, gerunzelten Augenbrauen und
(sein ganzes Wesen) atmete genau die Art mönchischen und asketischen Lebens.
,Wer ist er?' frug ich meine Mutter, — und sie darauf, ohne sich um¬
zuwenden: ,Es ist, oh mein Sohn, der heilige Basilius. Geh 1 doch und verbeuge
dich vor ihm! Und wie ich mich ihm näherte , sah er mich an und schien
jünger zu werden. Aber auf einmal, lebhaft das Papierblatt mit Donnergeräusch
zusammenfaltend , verschwand er plötzlich . Und ich sah auch meine Mutter
nicht mehr. Ich hielt still, mich nach allen Seiten umsehend, und plötzlich,
unbemerkt, erschienen diejenigen, die mich entfuhrt hatten, und begannen meine
Kleidung auf tausenderlei Art zu schmücken und sie murmelten dabei gewisse
Worte vor sich hin, die ich aber im Traum nicht behalten habe.“ 1
l) Die Analogie zwischen diesem Traum und dem vorhin mitgeteilten angeblichen
Traum der Mutter wird sofort deutlich.
An Stelle der Menge, die sich ehrfurchtsvoll vor der Mutter verbeugt, tritt hier
eine Schar weißgekleideter Priester, denen der Träumer wie Vorgesetzten folgt. Falls,
wie man leicht vermuten kann, dieser Traum einem Minderwertigkeitsgefühl Ausdruck
verleiht, wären die weißgekleideten Priester männliche Geschlechtssymbole, vor denen
der Träumer schwach und demütig erscheint.
Diese Auslegung gestattet dann auch, das Gehen durch einen immer schmäler
werdenden Gang in tiefer Schicht als symbolische Darstellung eines Geschlechtsaktes
aufzufassen. (Freud, Ges. Sehr. Bd. III. S. 8o, 117.) Die Übertragung des Angst¬
affektes auf die begleitenden Personen sowie die auf die Gelübde anspielende Bemerkung,
daß der Weg für viele von ihnen unpassierbar sei, kann sowohl eine spätere Um¬
dichtung sein als auch tatsächlich aus dem Traume stammen. Es ist nicht selten, daß
ähnliche Affektverschiebungen im Traume Vorkommen, und daß eigene Bemerkungen
andern geträumten Personen in den Mund gelegt werden. (Freud 1 . c.)
Im folgenden Bild versucht dann der Träumer selbst, einen Sexualakt zu vollziehen,
was ihm auch anscheinend gelingt; die Steinwände lösen sich wie eine weiche Masse,
er steigt die tiefe Treppe hinunter und kommt in eine Kirche.
Da kommt die Hemmung: links befindet sich das Bild der Gottesmutter mit der
davor kauernden Mutter. (Nach Stekel bedeutet in der symbolischen Sprache des
Ein Ödipuskomplex im elften Jahrhundert
22f
Zunächst folgt Psellos einem Steuereinnehmer nach Mesopotamien, doch
bald kommt er nach Byzanz zurück, um weiter zu studieren. Da es ihm
immöglich war, die Mittel für ein eingehendes Studium aufzutreiben.
Traumes links die Sünde, das Verbrechen.) — Entgegen dem Sprachgebrauch, der für
die Mutter Gottes den Ausdruck „ Theotokos “, wörtlich Gottesgebärerin, für die Mutter
hingegen das Wort „Meter“ geprägt hat, verwendet Psellos „ Theometer “ für die Mutter
Gottes und „ Tekussa “ für die eigene Mutter; hierdurch hebt er die Verdichtung der
beiden Personen noch mehr hervor. Diese kombinierte Person, halb Ikone, halb Mutter,
gebietet ihm in seinem Vorwärtsstürzen Halt.
Wieder ist bezeichnend, daß bei dem erotischen Traum die Mutter und das Vor¬
wärtsstürzen zu ihr als höchste Befriedigung erscheinen, wobei noch die Sünde eines
derartigen Verkehrs durch ihre erst kürzlich erfolgte Weihe (Verdichtung mit dem
Bild der Mutter Gottes) hervorgehoben ist. (Über durch Verdichtung entstehende Misch¬
personen vgl. Freud: Die Traumdeutung. Ges. Sehr., Bd. II, S. 294.)
Rechts befindet sich (worauf der Träumer erst durch die Handbewegung seiner
Mutter aufmerksam wird) ein kniender Mönch, der finster dreinschaut und wie ein
Riese aussieht. Es ist der heilige Basilius, vor dem sich Psellos verbeugen soll.
Der heilige Basilius, Bischof von Caesarea, der im dritten Jahrhundert Cappadocien
evangelisierte, ist einer der bedeutendsten Heiligen des Orients. Sein Fest, das dem
Sylvesterabend entspricht, wird überall gefeiert und bei dieser Gelegenheit ziehen die
Kinder von Haus zu Haus und singen dabei ein Sprüchlein, welches wir hier wiedergeben:
Monatsanfang, Jahresanfang
Und ein gutes Neues Jahr!
Der heilige Basilius kommt!
Er kommt aus Caesarea,
Er hält Ikone und Papier,
Schreibpapier und Tintenfaß.
Seht, die Feder schrieb also
Und das Papier, es sagte:
Basilius, wo kommst Du her
Und wohin steigst Du nieder?
Ich komm’ von meiner Mutter her
Und geh’ in meine Schule.
Setz’ Dich und iß, setz’ Dich und trink,
Setz’ Dich und sing’ uns Lieder.
Lieder singen kann ich nicht,
Kann nur das Alpha-Beta.
Wenn Du ein Studierter bist,
Sag uns das Alphabet denn.
Er stützte sich auf seinen Stab,
Das Alphabet zu sagen,
Und aus dem Stab, der trocken war,
Sprossen grüne Zweige;
Und auf den grünen Zweigen, seht,
Rebhühner jubilierten.
Rebhühner waren’s nicht allein,
Auch wilder Tauben viele.
Es flogen die Rebhühner tief,
Die Flügel zu benetzen.
Und Dich Gebieter letze auch
Vieler Jahre Segen.
(Übersetzung: Erich LandtJ
Die Kinder tragen dabei einen Käfig, in dem eine Kerze brennt. Wie bei all
diesen und ähnlichen Jahreszeitumzügen ist der phallische Charakter unverkennbar.
Bemerkt sei ferner, daß „Basilius“ gleich „König“ ist und Könige im allgemeinen
den Vater symbolisieren (siehe zum Beispiel Freud: Vorlesungen zur Einführung in
die Psychoanalyse. Ges. Sehr., Bd. VII, S. 161).
Es läßt sich folglich vermuten, daß der heilige Basilius in Psellos’ Traum den
väterlichen Penis darstellt, umsomehr als ja der Vater der Mutter ins Kloster gefolgt war.
Als Nächstes verjüngt sich Basilius (der Sohn versucht sich mit dem Vater zu
identifizieren), da faltet er das Papier mit Donnergeräusch und verschwindet. Das
Falten oder Zerreißen ist oft symbolisch für Masturbation oder Ejakulation in Träumen
anzutreffen; das plötzliche Verschwinden des heiligen Basilius scheint auch auf eine
dieser beiden Möglichkeiten schließen zu lassen (vgl. Freud, Ges. Sehr., Bd. III, S. 81,
und Bd. VII, S. 167), da auch gleichzeitig das Mutterbild verschwindet.
Der Rest des Traumes ist zu stark entstellt, als daß eine Deutung der Symbole
allein zu einem Resultat führen könnte.
sa8 H. E-. Del jMedico
trat er einer Studentengemeinschaft bei, wo jeder einen Kursus besuchte
und dann seine Notizen mit den anderen austauschte. Dieser Gemeinschaft
gehörten außer Psellos, der Philosophie studierte, Johann Xiphilin aus
Trapezunt, der sich dem Studium des Rechtes widmete, Constantin Likhudis,
Nicetas Byzantios und Constantin Doukas an.
Die Freundschaft zwischen Xiphilin und Psellos war eine viel engere
als die mit den anderen Kameraden, und es ist bezeichnend, daß gerade
Psellos seine Karriere bei Gericht anfing, während Xiphilin einen noch
besseren Gebrauch der philosophischen Lehren seines Freundes machte und
spater Patriarch wurde. 1 Die Freundschaft zwischen diesen beiden Studenten
war so eng, daß auch im späteren Leben stets der eine für den anderen
eintrat und ihn verteidigte, wenn er angegriffen wurde.
Aus dieser Studentenzeit ist bezeichnenderweise kein einziger Hinweis
auf eine Liebschaft oder dergleichen erhalten. Psellos, Xiphilin und
Likhudis waren solchen Schwächen fern — keiner von ihnen hat übrigens
geheiratet. 2
1) Bei solchen engen Freundschaften wie zwischen Psellos und Xiphilin ist ein
Berufstausch nicht selten. Bei der engen Freundschaft ist es auch nicht zu verwundern,
daß Psellos der beste Schüler von Xiphilin war. Der Altersunterschied zwischen
Psellos und seinem Kameraden war anscheinend ziemlich groß (Chronographie Renauld
II/65), so daß Psellos in dieser Gemeinschaft wohl eher der nehmende als der gebende
Teil gewesen sein dürfte.
2) Es ist behauptet worden, Psellos hätte eine Tochter Styliane gehabt (Renauld,
1 . c., I/XVI). Den Anlaß zu dieser Vermutung gab eine Leichenrede (Sathas, V/62 ff.),
die Psellos beim Tod der „als Braut verstorbenen Tochter“ gehalten hat. Die voll¬
ständige Überschrift dieser Rede lautet: „Auf die zur Stunde der Hochzeit ver¬
storbene Tochter Styliane“ und nicht etwa auf seine Tochter, wohingegen über
der Leichenrede auf die Mutter „Lobrede auf seine Mutter“ steht. Abgesehen von
der Tatsache, daß im ganzen Werk von Psellos weder ein Hinweis auf eine Gattin
noch auf eine Freundin sich befindet, ist es auch nicht möglich, irgendwie eine Ver¬
mutung aufzustellen, wann Psellos geheiratet haben mag. Zur Zeit des Constantin
Monomachos (Psellos war damals 25 Jahre alt) wohnte er bei den Doucas, denen er
eine bessere Wohnung geben ließ, die seinen Verhältnissen entsprach (Ren auld, II/141 f.).
Nachher ging er ins Kloster; bei seiner Rückkehr fängt sein Intrigantenleben wieder
an. Wann hätte er Zeit gehabt zu heiraten?
DieVermutung liegt nahe, daß Styliane nicht Psellos’Tochter, sondern etwa sein Paten¬
kind oder dergleichen war. Die Tatsache, daß er sie „Tochter“ nennt, hat nicht viel zu be¬
deuten. Aus der Leichenrede geht ferner hervor, daß Stylianes Eltern aus königlichem
Hause sind, daß Psellos kinderlos sterben wird, während ihre Eltern und Verwandten
sie beweinen. Die Vermutung liegt nahe, daß Styliane eben die zweite Tochter aus
der ersten Ehe Constantin Doucas’ gewesen ist, die während ihrer Verlobung starb
und die Psellos anonym in seiner Chronographie (Renauld, II/148) anführt. Die große
Freundschaft zwischen Psellos und Doucas und die Tatsache, daß er in seinem Haus
gewohnt hatte, rechtfertigen diese Annahme.
Km Ödipuskomplex im elften .Jahrhundert
229
Hingegen besucht Psellos häufig seine Mutter im Kloster: „Ich erinnere
mich deiner Worte über Keuschheit, deiner reinen und tugendhaften Rat¬
schläge“. 1
Der Tod d es Vaters
Es läßt sich nicht genau feststellen, in welche Zeit der Tod des Vaters
fällt; es dürfte aber ungefähr in dieser Zeit gewesen sein. Sobald Psellos
die Nachricht erhält, daß sein Vater im Sterben liegt, eilt er herbei und
trifft seine Mutter schon am Sterbebette. Noch hat der Sterbende die Kraft,
einige Worte zu sprechen: „Mein Sohn, ich trete die große Reise an . . .,
was dich betrifft, so bitte ich darum, klage nicht und tröste deine Mutter
mit Erzählungen“ (?); dann stirbt er, seinen Sohn der Gewalt des Schmerzes
überlassend.
„Ich fiel ihm um die Brust und küßte sein Herz und sagte dabei: ,Oh Vater \
▼ielmals nacheinander, mich beeilend, bevor noch die Seele ihn verließe. Dann
▼ersuchte ich, mich zu sammeln, — ich war schwindlig und in Atemnot —
,Oh Vater*, so klagte ich, ,welch es Schicksal hat mich getroffen, wie hast du deinen
noch unreifen (unverdauten) Sohn zurücklassen können, oh plötzliches Zerreißen,
oh bittere Trennung! Noch tönen deine Worte in meinen Ohren, eben noch
haben wir über Philosophie und über die Seele diskutiert . . . Welches ist der
Pfeil, der dir so plötzlich die Seele verwundete und in deiner Brust zurück¬
blieb? Daß du dadurch den Tod erleiden mußtest, daran hat schuld allein
dein Sohn. Hätte ich dir die nötige Pflege erwiesen, vielleicht hätte ich den
Pfeil von seinem Ziel abgehalten, ihm die Spitze abgebrochen, vielleicht hätte
ich statt deiner die Wunde erhalten und du wärest noch am Leben geblieben
und im Besitz deiner Seele. — Oh diese letzten Abschiedsworte und dieser
Kuß zum Geleit! — Doch du, oh Vater, du bist jetzt mit deiner endgültigen
Abreise beschäftigt; in fernes Land beabsichtigst du zu segeln, und ich konnte
nicht die Abreise der Seele verschieben. Meine Mutter will ich zuerst trösten,
wenn ich ihr überhaupt ein Tröster sein kann. Was mich anbetrifft, geleite
mich auf den wirklich guten Weg, um so mehr da du dich im Himmel be¬
findest . . ., denn ich führe ein unruhiges, sündiges Leben, ich muß auf offenem
Meer fahren und werde vor meinem Tode den Hafen nicht erreichen können
(app.). Doch du, oh Vater, mein süßer und werter Name, erinnere Gott an
deinen Sohn: er möge ihm seinen Glanz nicht entziehen; sei weiterhin mein
Vormund, zeige mir das wahre Gut und den unveränderlichen Weg*.
Ich hatte während dieser Zeit den Vater umarmt, ich riß mich kurz von
ihm los und lenkte zunächst meine Aufmerksamkeit auf die Mutter. Sie war
ganz starr, als ich sie heranzog. Aufmerksam beobachtete ich sie . . . Oh ihre
Seele! Wie könnte ich die Art ihrer Leiden schildern, die stärker und stärker
1) Sathas, V/17.
a 3 o
H. E. Del Medico
wurden. Mit außergewöhnlicher Kraft umschlang sie mich mit ihren Armen
und das Leben kehrte allmählich in ihre Seele zurück. Wie wir so beide eng
verschlungen waren, ganz von der Stärke der physischen Schmerzen eingenommen
beobachtete ich sie . . . Sie war vollständig in sich zusammengefallen und aus
ihrem tiefsten Innern stieß sie Seufzer hervor. Sie war ganz bleich, dennoch
errötete sie über den so vollständigen Widerspruch (zwischen der Trauer und)
der nicht ganz geziemenden (wörtlich: gemischten) Stellung (in der wir uns
befanden). Endlich siegte dennoch der Geist in ihr ....
Sodann schaute sie mir gerade in die Augen und sagte: ,Oh mein Kind, haben
die Worte der Andacht dich nicht erlöst? Sind all deine Bildung und all dein
Wissen zwecklos? Hast du nichts in der Philosophie gelernt über die Toten
in der Evangelischen Stadt (Paradies). Denn unsere Studien gingen alle darauf
hin, den Körper durch die Keuschheit zu erlösen und die Seele von ihren
irdischen Fesseln zu befreien, um sie mit Gott zu vereinen. Und dies ist das
Ende des langen Wandels, den dein Vater durchgemacht hat; das, was du vor
dir siehst, ist nur Stoff, von der Natur geschaffen, aus Elementen zusammen¬
gesetzt, die auch hierin sich veränderlich erweisen. Denn dieser Körper ist einmal
sehr schön gewesen, seiner Seele gleich, aber sicherlich hat ihn das Gift der
Schlange mit Wolken und Finsternis angefüllt. Doch Gott will ihn wieder säubern
und aus diesem Grunde löst ER die Mischung und trennt die Verbindung und
schüttet das Gift aus, um ihn wieder zu schaffen und ihn wieder zu formen
und neuerdings die Seele in ihn einzusetzen. Du wirst folglich deinen Vater
sehen, falls du es willst, wenn seine Seele mit seinem Körper wieder vereint
sein wird, wenn die Posaunen blasen werden, und nach unserer Überlieferung
der Schöpfer die Welt benachrichtigen wird, daß er den Staub neu formen
und den Menschen daraus wieder bilden wird. Dies, oh mein Kind, ist die
Wissenschaft, die du wissen sollst und aus ihr (sollst du) die besten Lehren
ziehen, und wenn du (jemand bedauern) willst, dann (mußt du) eher denjenigen
bemitleiden, der sich seiner Fesseln nicht hat entledigen können, und der im
Ozean des Lebens schwimmt, ohne je den Hafen erreichen zu können“. 1
1) Sathas, V/58ff. Wie verschieden sind die Äußerungen Psellos* beim Tode seines
Vaters von den Worten, die er am Grabe seiner Schwester gesagt haben will! Von
Zärtlichkeit, von Liehe ist hier keine Spur anzutreffen, im Gegenteil: Angst, Schwindel¬
anfälle, überstürzte Eile, Atemnot und vor allem ein merkwürdiges Schuldgefühl,
das befremdlich wirkt.
An die Stelle des Bildes vom Tode als Entführer tritt das des tötenden Pfeiles, der
von seinem Ziel hätte abgelenkt werden können; ja, der Sohn hätte an Stelle des Vaters
selbst die tödliche Wunde erleiden können. Es liegt dem Psychoanalytiker angesichts des
übrigen Materials nahe, dies Bild durch das Schuldgefühl zu erklären, das Psellos wegen
des unbewußt gewünschten geschlechtlichen Verkehrs mit der Mutter empfand, da diese
Sehnsucht mit unbewußten Todeswünschen gegen den Vater allzusehr verbunden war.
Das Gebet, das er zum Schluß an seinen Vater richtet, ist ein Produkt der byzan¬
tinischen Einstellung den Toten gegenüber, die bei Gott als Fürsprecher für die
Lebenden auftreten sollen.
Bemerkenswert ist das Verhalten der Mutter:
Ein Ödipuskomplex im elften Jahrhundert
Nach dem Tode des Vaters wirdPsellos von Gewissensbissen geplagt. „Krampf¬
haft zuckte in mir der Geist, da ich wissen wollte, wohin der Vater entführt
ward. Nachts betete ich viel und oft, daß ein Gesicht im Traum mich darüber
unterrichten möge, wie und wohin die Seele des Vaters verschleppt war, gleichsam
ihn zwingend, mir im Traum zu zeigen, wohin er geschieden war. Viele Nächte
lag ich so . . bis endlich ich meine Augen öffnete und den T^ater sah in seiner
Die philosophischen Reden, die Psellos ihr zuschreibt, lassen darauf schließen, daß
der Tod des Vaters noch während der Studentenzeit des Psellos eingetreten sein muß.
Die Identifizierung mit dem Vater geht teilweise schon aus dem Gebot, die Mutter
zu trösten, hervor. (Es ist natürlich fraglich, ob der sterbende Vater tatsächlich so
gesprochen hat, doch Psellos will diese Worte gehört haben.) — Eine nicht gewöhn¬
liche Trauerreaktion zeigt sich wohl auch im Ausbruch des Schmerzes bei den beiden
Leidtragenden. Sie fallen sich in die Arme und halten sich fest umschlungen wie
Geliebte, die sich nach einer langen Trennung wiederfinden. Die besonders hervor¬
gehobene Bleichheit der Gesichter, das allmähliche Wiedererlangen der Fassung zeugen
von einer äußerst starken Beklemmung, die eine Nebenerscheinung der unbewußten
Erregung ist. Viele Jahre später erscheint ihm noch das damalige Geschehen unpassend,
er sagt selbst, daß dieser Ausbruch von Zärtlichkeit nicht zur Trauer und zum Emst
der Lage paßte und gebraucht hiebei die Worte mixis kai stasis; wobei mixis den Neben¬
sinn von Beischlaf hat und fast ausschließlich in diesem Sinn gebraucht wird, und
stasis ebenfalls eher den Sinn von „Stellung“ hat. Bei der Sprachgewandtheit eines
Psellos ist solche Ausdrucksweise nur dadurch zu erklären, daß die Bilder, aus denen
die Ausdrücke hervorgehen, sich ihm gewaltig aufgedrängt haben. Im folgenden ver¬
sucht dann auch Psellos den Eindruck zu mildern:
Die ersten Worte, die die Mutter nach seinem Bericht äußerte, beziehen sich selbst¬
redend auf die Keuschheit, die Erlösung von den irdischen Gelüsten, und führen das
Beispiel des verstorbenen Vaters an, der gegen Ende seines Lebens noch sein Heil
fand, d. h. in Keuschheit lebte. Die Bilder, mit denen die Mutter dann versucht, den
Tod zu erklären, sind ein Nachklang an religiöse Vorstellungen (Tod als Strafe für
verbotenen sexuellen Verkehr, siehe Genesis), wobei die Schlange und ihr Gift ein
unzweideutiges Symbol ist. Nur durch Keuschheit ist eine Vereinigung mit der Mutter
(„den Hafen erreichen“) möglich.
Was das Wiedersehen mit dem Vater anbelangt, ist der eingeschobene Satz „falls
du es willst“ sehr bezeichnend. Der Verlust des Vaters ist Psellos unbewußt ja auch
erwünscht, ein Wiedersehen mit ihm könnte noch einmal den Verlust der nunmehr
errungenen Mutter bedeuten; und so erhält dieser Satz, der, wenn er wirklich aus¬
gesprochen worden ist, eine Aufforderung zu einem neuen Lebenswandel hätte be¬
deuten sollen, im Munde Psellos’ eine merkwürdige Zweideutigkeit. Auch folgender
Sinn läge darin: Es liegt in deiner Hand, so zu leben, daß du deinen Vater wieder¬
siehst, aber du willst es ja nicht.
Bei der feindlichen Einstellung, die Psellos seinem Vater gegenüber hatte, ist es
nicht verwunderlich, daß sein Schuldgefühl auch nach dessen Tode anhält. Wie in
so vielen Fällen nimmt dies Gefühl hier die Form eines Wissensdranges an. Erst eine
geträumte Verzeihung durch den Vater bzw. die geträumte Versicherung, daß er wirk¬
lich tot sei, ermöglicht ihm, schuldfrei weiterzuleben. Das Lustgefühl, mit dem der
nun folgende Traum einhergeht, ist eine nicht unbedeutsame Erscheinung ebenso wie
die Äußerung: „Merkwürdigerweise sieht er besser aus als früher“. Beachtenswert ist
allerdings, daß Psellos, der so manchen Traum ausführlich wiedergibt, in diesem Falle
nur den begleitenden Affekt und den Wortlaut der Rede des Vaters eingehend schildert.
2Ö2
H. E. Del Mexico
Gestalt; und, wunderlich, er sah besser aus als früher. Meine Freude war ganz
ungezwungen und meine Seele machte reine Freudensprünge . Seine Augen auch
sprühten von frohen Fackeln und in uns beiden freute sich das Gefühl und der
Geist. Ich wollte mich vergewissern, ob er menschlich war, und er wich der
Berührung nicht aus, und mit der gewohnten Stimme redete er mich an: ,Mein
wieder und immer geliebter Sohn, habe keine Angst um mich, obwohl ich ge¬
storben bin; ich habe Gott gebeten und ihm viel über dich gesagt. Für dich
habe ich sein reines Wesen angebetet und gesalbt (?).
Noch während seines Studiums betätigt sich Psellos bei Gericht. Es scheint,
daß er ein guter und geistreicher Redner war. Er war strebsam und von
sich selbst eingenommen. In seiner Chronographie sagt er von sich:
„Bei mir konnte man, bevor noch die Frucht reifte, an der Blüte die Zu¬
kunft Vorhersagen . . . So wie von den Menschen, die zur Welt kommen, die
einen schon bei ihrer Geburt schön sind, die anderen körperliche Fehler oder
Makel aufweisen, so werden auch im Seelischen einige schön und heiter ge¬
boren, die anderen hingegen finster und häßlich ... 1
Natürlich zählte er sich zu den ersteren und er verstand es auch, sich
so einzurichten, daß sein Freund Likhudis ihn endlich im kaiserlichen
Palaste unterbrachte.
Zu jener Zeit regierte über Byzanz Zoe, die Tochter Constantins VIII.,
des letzten Herrschers aus der mazedonischen Dynastie. Sie hatte als fünfund¬
vierzig jährige Jungfrau am Sterbebett ihres Vaters den Romanos Argyros ge¬
heiratet. Dieser war aber damals schon verheiratet; er mußte sich, um nicht
geblendet zu werden, von seiner Frau trennen und gleichzeitig die Krone und die
alte Jungfrau annehmen. Doch Zoe entwickelte, wie es scheint, ein sehr heißes
Temperament; kaum verheiratet, nahm sie sich auch schon einen Geliebten,
Michel den Paphlagonier. Dabei war ihr der Gatte bald lästig, und so starb
Romanos III., vergiftet oder ertränkt, und Michel, der Liebhaber, erhielt
das Zepter. Doch da Zoe sich nun einen neuen Geliebten nahm, einen
edlen Byzantiner, Constantin Monomachos, fürchtete Michel IV. für sein
Leben. Er ließ sich tonsurieren und ging ins Kloster. Während seiner kurzen
Regierung war Constantin Likhudis Minister geworden, und dieser verhalf
dann seinem Freund Psellos in den Palast als Sekretär der Staatskanzlei.
1) Die narzißtische Einstellung ist bei Psellos sehr stark. — Seine Schriften wimmeln
von unverhülltem Eigenlob, wobei er andrerseits immer die Niedrigkeit seiner Ab¬
stammung hervorhebt.
Ein Ödipuskomplex im elften Jakrkundert 2 33
Es war im Jahre 1041 (Psellos war damals kaum dreiundzwanzig Jahre
alt). Zoe hatte den Neffen Michel IV. „adoptiert** (es hieß, er wolle sie wie
seine Mutter achten), doch der junge Michel V. war beim Volke unbeliebt
und mußte vor dem Aufruhr ins Kloster flüchten.
Hat Psellos versucht, während dieser Zeit die Gunst der Kaiserin zu
erlangen? Man kann es vermuten. Er sagt von ihr:
„Sie war molliger als ihre Schwester, aber nicht sehr hoch gewachsen; ihre
großen Augen schauten schön geschlitzt unter hohen Augenbrauen hervor und
ihre Nase war gekrümmt, aber ohne Übertreibung. Ihr Haar war blond und
ihr ganzer Körper blendend weiß. Recht wenig Anzeichen ihres Alters konnte
man an ihr aufweisen, und wer die Anmut ihrer Glieder beobachtet hätte,
ohne zu wissen, wer sie war, er hätte geschworen, sie sei ein junges Mädchen,
denn auf ihrem ganzen Körper war keine einzige Runzel zu sehen, sondern
ihr Körper war von oben bis unten glatt und straff gespannt und nirgends
zeigte sich eine Falte.“ 1
Die Fülle intimer Details, die Psellos über Zoes Körper anführt, lassen
sich, bei der damaligen strengen Sitte, nicht anders erklären, als daß Psellos
doch mehr als einen Blick ins Gyneceum getan hat. Hätte er sich ernstlich
um Zoes Gunst beworben, wäre es ihm wahrscheinlich geglückt, sie zu
erringen. Fest steht allerdings, daß Psellos einen großen Anteil an der Ver¬
folgung Michels V. nahm, und daß er persönlich seiner Blendung beiwohnte.
Doch scheint es, als ob der Streber Psellos gewisse Hemmungen nicht
überwinden konnte, und so kam es, daß Konstantin Monomachos aus Lesbos,
wohin er von Michel IV. verbannt worden war, zurückgerufen wurde, um
sein früheres Verhältnis zu Zoe zu regularisieren, d. h. als Kaiser gekrönt
zu werden.
In seiner Verbannung hatte Constantin Monomachos mit einer Nichte
seiner verstorbenen zweiten Frau, Sklerene, gelebt. Merkwürdigerweise war
Zoe gar nicht eifersüchtig. Im Gegenteil: sie ließ Sklerene nach Byzanz
kommen, räumte ihr einen Platz im Palast ein und verlieh ihr eine der
höchsten Würden im byzantinischen Adel.
1) Chronographie Renauld I/120. — Es ist von verschiedenen Seiten hervor¬
gehoben worden, daß Psellos in seinen Porträts ziemlich viel intime Details anführt.
So z.B. ist die Beschreibung Zoes nicht anders denkbar, als daß Psellos tatsächlich
zu intimen Beobachtungen Gelegenheit gehabt hat. Bemerkenswert ist ferner, daß
Psellos seine Eindrücke nach mehreren Jahren noch so lebhaft vor Augen hat. Ähnliches
treffen wir bei dem Porträt des Constantin IX. (siehe unten), wo die Fülle indiskreter
Details noch mehr auffällt.
Im allgemeinen sind die Beschreibungen von Männergestalten viel ausführlicher
und viel poetischer, wie Psellos überhaupt für die weibliche Schönheit viel weniger
empfänglich war.
Imago XVIII. -
H. E. Del jMedico
Der junge Psellos kam oft mit Sklerene in Berührung, und auch sie
scheint Gefallen an dem jungen Unterstaatssekretär gefunden zu haben:
„Sie bezauberte mich, indem sie mich über die griechischen Mythen aus-
frag,“ 1 erzählt Psellos, und obwohl er findet, daß „ihre Schönheit kein aus¬
gesprochenes Wunder ist“ 2 , ist sie ihm doch zugetan, und so kam es, daß
Psellos dem Kaiser vorgestellt wurde:
„Ich war dem Kaiser noch unbekannt, doch all sein Gefolge kannte mich,
und der eine sprach ihm von einer meiner Eigenschaften, der andere lobte
eine andere, hinzufügend, daß die Grazie auf meinen Lippen schwebte ... Es
ist mir immer versichert worden, daß selbst beim Aussprechen der einfachsten
Worte meine Zunge sich mit Blumen bedeckt. Ohne daß ich mich zu bemühen
brauche, träufelt natürlicher Honig von ihr. Ich hätte es nicht gewußt, wenn
mehrere Personen, die sich mit mir unterhalten haben, es mir nicht gesagt
hätten, und wenn sie nicht ergötzt beim Anhören meiner Reden dagestanden
wären. Dies war das erste, was mich beim Kaiser einführte, und da der Ruf
der Grazie meiner Sprache vorangegangen war, ward er Einführungszeremonie
und Eintrittssegen für den Einzug in den Tempel meines Genies. 3
„Als ich eingetreten war, konnte ich mich zuerst weder elegant noch gewählt
ausdrücken, sondern ich erklärte ihm, aus welcher Familie ich stamme, und
wie ich mich im Studium der Literatur vorbereitet hatte. Doch er — so wie
Leute, die von Gott erfüllt sind, ohne daß andere etwas davon merken —
begeisterte sich ohne äußere Ursache — und wenig fehlte, so hätte er mich
geküßt, so sehr war er von meiner Zunge gebannt. 4
Auch auf Psellos machte Constantin Monomachos einen starken Eindruck:
„In ihm hat die Natur eine schöne Statue beseelt; noch nie ward so
viel Melodie harmonisiert, so viel schöner Rhythmus zusammengestellt, so daß
sie bis in unsere Zeit niemanden geschaffen hat, der ihm hätte gleichen können;
und zu diesem Wohlklang hat sie auch eine straff gespannte Kraft hinzu¬
gefügt, um sozusagen dem schönen Gebäude ein starkes Fundament zu geben . . .
Nicht nur seine Hände, auch seine Finger waren symmetrisch und trotz ihrer
Symmetrie war Kraft in ihnen; und auch den stärksten und widerstands¬
fähigsten Körper hätte er leicht im Drucke seiner Hand zermalmt, und wenn
1) Chronographie Renauld I/146. Der Narzißt Psellos findet am Befragtwerden
ein besonderes Vergnügen, da er hierdurch sein Wissen zeigen kann.
2) Chronographie Renauld I/146. Wie schon bemerkt, war Psellos für die weibliche
Schönheit wenig empfänglich.
3) Chronographie Renauld I/139. Über die narzißtische Einstellung bei Psellos
siehe oben. Dieses Kapitel ist eine Höchstleistung an Eigenlob.
4) Die vermutlichen Beziehungen von Psellos zu Constantin Monomachos sind
schon in dieser Unterredung angedeutet, denn trotz der byzantinischen Exuberanz
gehörte doch das Küssen zwischen Männern nicht zu den alltäglichen Begebenheiten.
Der „Gottmenschkomplex“ tritt auch im Vergleich zwischen der Wirkung seiner
Rede und der göttlichen Ekstase zutage.
Ein Ödipuskomplex im elften Jahrhundert
a35
es ihm einfiel, jemandes Arm zu drücken, so brauchte der Betreffende
mehrere Tage, um sich zu erholen. — Seine Schönheit war, mit dem, was
•wir hören, verglichen, die eines Achilleus oder eines Nereus. Doch da, wo hei
diesen die poetische Sprache, aus der Phantasie schöpfend, kaum alle Schönheiten
schildern kann, mit denen sie ihre Körper schmückte, hat die Natur hei
Constantin hingegen in der Realität geformt und poliert und mit so vollendeter
Kunst gemeißelt und verschönert, daß sie in ihrer vollendeten Kunst den
magischen Versuch der Poesie übertroffen hat. Und als sie jedes seiner Glieder
im Verhältnis zum ganzen Körper gemacht hatte, den Kopf, und das, was
gleich darunter kommt, seine Hände, und das, was dahinter ist, seine Beine
und Füsse, gab sie dann jedem Teil die richtige Farbe. Den Kopf machte sie
leuchtend blond wie die Sonne, die ganze Brust und den Bauch bis hinunter
an die Füsse sowie den hinteren Teil des Körpers machte sie vom reinsten
Weiß, so gut hatte sie die Maßnahmen getroffen, und wahrhaftig, hätte ihn
jemand andächtig betrachtet, als er noch in der Blüte seiner Jugend war und
seine Glieder noch nicht verwelkt waren, mit der Pracht der Sonne hätte er
sein Haupt verglichen, so sehr ähnelte der Glanz seines Haares ihren Strahlen —
dem reinsten und durchsichtigsten Kristall hätte er den Rest seines Körpers
gleichgestellt. 1
Da Constantin ebenso „hellenistisch“ war wie Psellos, ernannte er ihn
zu seinem Minister, und so stieg Psellos von Würde zu Würde und mit
i) Chronographie Renauld II/30. — Das Bild der beseelten Statue hat Psellos
schon zur Beschreibung seiner Schwester benutzt. Im übrigen bedient er sich Bilder,
die der Musik entnommen sind, wie er auch in einem weiteren Teil seiner Beschrei¬
bung (der hier nicht übersetzt wurde) der klangvollen Sprache und der Redekunst
Constantins huldigt. Die Kraft vergleicht Psellos einem Bogen, der straff gespannt
ist. Das Symbol des gespannten Bogens tritt im allgemeinen für die Virilität ein
so z. B. bei Amors Bogen (vergl. auch das französische Wort „ bander “). Daß die
Kraft Constantins auf Psellos einen so starken Eindruck machte, läßt sich nur er¬
klären, wenn man annimmt, daß er selbst den kräftigen Händedruck seines Kaisers
am Arm verspürt hat. Der Detailreichtum im Portrait Constantins kontrastiert sehr
auffällig mit der summarischen Schilderung, die Psellos von Sklerene und anderen
Frauen gibt. Hier sind sämtliche Glieder beschrieben und eingehend geschildert.
Wenn Diehl und Renauld bemerken, daß bei der Beschreibung Zoes sich zeigt
daß Psellos recht intim mit ihr gestanden haben muß, was bei der nymphomanen
Kaiserin kein so besonderes Wunder wäre, so muß man doch annehmen, daß seine
Intimität zu Constantin eine noch viel größere war, denn wie hätte Psellos sonst
die Brust, den Bauch und den Rücken seines Kaisers nicht nur gelegentlich einmal
sehen, sondern „andächtig betrachten“ können. Aus dieser Beschreibung, die lange
nach dem Tode Constantins geschrieben wurde, klingt eine so ausgesprochene Ver¬
liebtheit heraus, wie sie bei Psellos sonst nur in der Beschreibung der Mutter und
Schwester anzutreffen ist. Der Verdacht, daß zwischen Constantin und Psellos homo¬
sexuelle Beziehungen bestanden haben mögen, liegt nahe, um so mehr als wir sicher
wissen, daß Constantin weder seiner Gattin Zoe noch seiner Geliebten Sklerene treu
geblieben ist. Aus anderen Stellen ist außerdem noch ersichtlich, daß Constantin
gern Männer auf den Mund küßte und sich auch gern von ihnen küssen ließ.
a36
H. E. Del Mexico
ihm seine Freunde Xiphilin, Likhoudis u. s. w. Die Universität wurde
wieder eröffnet und Psellos jzum Rektor ernannt.
Bald aber, scheint es, war Psellos doch zu gelehrt für Constantin Mono¬
machos und dieser zog eine andere Gruppe von Freunden zu sich heran. Jetzt
hatte er einen Hofnarren, den er coram publico auf den Mund küßte und um¬
armte, und der sogar mitten in der Nacht in sein Zimmer eindringen durfte . 1
Psellos war eifersüchtig. Seine Freunde hatten ähnliche Enttäuschungen
erlebt und waren ins Kloster gezogen. Psellos beschloß, ihnen zu folgen.
Es scheint, daß der Kaiser ihn mit Bitten und Tränen von seinem Ent¬
schluß abhalten wollte, doch ließ er sich nicht erweichen . 2
In den Klosterhöhlen auf dem bithynischen Olymp erwartete Psellos eine
große Enttäuschung. Er hatte gehofft, dort ein Arkadien vorzufinden, er
fand eine Einöde. Seine Freunde, mit denen er philosophische Disputa¬
tionen zu führen hoffte, mieden ihn. Sie waren durch Buße und Kastei¬
ungen zum wahren Glauben zurückgekehrt, und der „Hellenimus“, der
„Platonismus“ von Psellos ekelte sie nunmehr an . 3
Kurz entschlossen warf Psellos die Mönchskutte wieder von sich — und
stieg den Olymp hinab, zurück zur Hauptstadt und zum weltlichen Leben
und Treiben . 4
Constantin war gestorben, die greise Zoe hatte noch einmal geheiratet,
und zwar den alten Michel Stratiotikos, und Psellos, der einige Zeit ver¬
schmäht und vernachlässigt worden war (seine Flucht vom Olymp hatte
seinem Rufe viel geschadet), kam allmählich wieder zu Ehren.
Anläßlich des Aufstandes des Isaak Comnenus wurde er mit den Ver¬
handlungen betraut. — Als Botschafter Michels VI. zog er zum Rebellen,
als erster Minister und Vertrauensperson Isaaks kam er zurück . 5 Als Prä-
1) Chronographie Renauld II/38—59.
2) Chronographie Renauld II/65.
5) Rambaud, S. 150.
4) Eine Ode, die er dem Mönch Jakob widmete (Sathas V/^ff.), ist in Ram¬
baud (S. 151) teilweise übersetzt. In einer ausgelassenen Dithyrambe vergleicht er
den alten Mönch mit Noah und spottet seiner in frechster Weise.
5) Chronographie Renauld Il/io/ff. Abgesehen vom unumgänglichen Eigenlob, das
wir an Psellos schon kennen, hebt er besonders die Gefährlichkeit hervor, die mit
einer solchen Sendung ins feindliche Lager der Rebellen verbunden war. Nach ihrem
Resultat zu urteilen, war die Gefahr eher eingebildet als real, und wenn Psellos so
ausführlich darauf eingeht, ist es wohl eher, um vor sich selbst die außerordentliche
Angst zu rechtfertigen, die ihn damals befiel:
„Ich befürchtete, daß er mich aller Tode und Verstümmelungen sterben lassen
würde.Als der Morgen graute, atmete ich ein wenig auf, da ich es als ein
weniger grausames Unglück betrachtete, bei Tageslicht sterben zu müssen.“
Ein Ödipuskomplex im elften Jahrhundert
»3/
sident des Senats wird er nach zwei Jahren vom Comnenus beauftragt,
seinem Jugendfreund Constantin Dukas die Krone anzubieten. Psellos steht
wieder auf der Höhe der Gunst, er selbst setzt den neuen Kaiser ein, da
bringt man ihm die Nachricht, daß seine Mutter im Sterben liegt. Er
hatte sie vor einigen Tagen gesehen, als sie ihre endgültigen Gelübde
abgab; sie war damals schon sehr schwach. Nun eilt er zu ihr, doch er
kommt zu spät, sie ist schon tot . 1
Und bei der Totenfeier, die nach byzantinischer Sitte vierzig Tage nach
der Grablegung stattfindet, hält nun der höchste Würdenträger des Reiches
die Leichenrede über den Tod der einsamen Nonne, deren Sohn er ist . 2
Diese Leichenrede könnte man eher ein öffentliches Bekenntnis nennen.
Sie bietet den Schlüssel zur gesamten Charakterbildung des Psellos. Aus
ihr läßt sich entnehmen, wie stark seine Bindung an die Mutter war,
welcher Art seine Einstellung anderen Frauen gegenüber sein mußte (die
Schwester als Mutterersatz ausgenommen), und wie sein Verhältnis zu
seinem Vater sich gestaltet hat. Ein ganzer Familienkomplex liegt hier klar
vor Augen, aus einer Zeit, in der das westliche Europa nur spärliche Auf¬
zeichnungen vorzuweisen hat.
Die Leichenrede auf die JMutter
Als Einleitung zu seiner Bede beruft sich Psellos auf die Notwendigkeit
der Sitten und Gebräuche, die von ihm fordern, daß er das Lob seiner Mutter
singe:
„Dies ist das Lob meiner Mutter, doch nicht (in ihrer Eigenschaft) als
meine Gebärerin will ich von ihr reden, auch will ich mich nicht mit ihrem
guten Ruf rühmen, hingegen will ich mich sowohl dem Recht der Natur
(Sitte) fügen, als auch die Tugenden der Verstorbenen loben, ohne das eine
vom anderen zu trennen, aber in der gleichen Art trachten, beiden gerecht
zu sein. — Denn wenn auch das eine (das Recht der Sitte) das andere (das
Lob der Tugenden der Verstorbenen) in sich enthält, jenes eben aus der Not-
1) Es war wiederum ein Traum, der die Mutter dazu bewog, endlich die Nonnen¬
weihe anzunehmen, und zwar hatte eine ihrer Zellennachbarinnen geträumt, daß im
Hippodrom für Theodote ein Platz auf dem kaiserlichen Throne vorbereitet war.
Dies hatte sie nun der Vorsteherin erzählt, und der Traum wurde darauf gedeutet,
daß Theodote endlich die Nonnenweihe annehmen müßte. (Sathas
2) Der genaue Zeitpunkt des Todes der Theodote läßt sich nicht feststellen, doch
muß es nach Psellos’ Rückkehr vom Olymp („ich habe die Gelübde nicht einhalten
können“) und zur Zeit seiner neuen Gunst bei Hofe („ich bin geehrt und stehe über
den andern“) sein, d. h. unter der Regierung von Isaak Comnenus oder von Con¬
stantin Dukas.
a38 H. E. Del Mexico
Wendigkeit der Natur (Sitte) sich ergebend, dies aus dem Wert ihrer Person-
lichkeit (der Verstorbenen), wie soll man dann nicht beides zusammentun, um
noch höheres Lob zu singen und noch lobreichere Reden zu schwingen . . .
Denn das Lob muß noch glänzender sein für die, denen es von einem nahen
Verwandten gesungen wird, um so mehr, als derjenige, der das Wort führt,
sich nicht einer fremden Erfahrung bedient, sondern seiner eigenen, verwandten
(Erfahrung), wie es mir eben zusteht.“ 1
Im folgenden spricht er das Bedenken aus, er wäre dieser Aufgabe
nicht gewachsen:
„Doch diese Furcht ist nur bei denjenigen berechtigt, die die Lobrede ihrer
Ahnen aus vergangenen Generationen halten, deren Ruhm sie zum ersten Male
hören, und die gleichzeitig ihren Lebenslauf schildern und sie preisen. Ich hin¬
gegen habe in dieser Hinsicht den Mut, es zu wagen, denn ich könnte wohl
das Wort einem von denen geben, die meine Mutter gekannt haben, ihnen
überlassend, die Dinge zu schildern, deren Zeugen sie waren. Doch es wäre
ein Unrecht meiner Mutter gegenüber, wenn ich mich dieser Pflicht entziehen
würde. — Andrerseits, wenn ich die Rede halte und nur einen kleinen Teil
meiner Schuld ihr gegenüber zurückzahle, werden die anderen, die hier an¬
wesend sind, mich zur Rede stellen, ... und deshalb nur zaudere ich und fürchte
zu beginnen, in der Angst, daß mein Lob nicht bis zur Höhe ihrer Würde reichen
könnte, und daß die Macht meiner Worte und meine Verwandtenpflicht un¬
zureichend sind, meine Mutter zu schildern, die über alles erhaben war.“ 2
1) Sathas V/3. Die Sitte, der Mutter die Leichenrede zu halten, bestand in Byzanz
schon seit dem achten Jahrhundert und wurde als eine natürliche Pflicht angesehen.
Mehr als in anderen Sprachen ist in Byzanz der Satz gültig: „Die Gewohnheit wird
zur zweiten Natur“, da das Wort Physis sowohl „Natur“ als auch „Gewohnheit“ be¬
deutet.
Mit dieser äußerst komplizierten Einleitung (die Redewendungen sind oft so ver¬
zwickt, daß schon der Sinn nur schwer, geschweige denn der Stil wiedergegeben
werden kann) verspricht Psellos, den Ruhm, der auf seine Mutter fällt, nicht zu
seinem eigenem Lobe zu verwenden; und so sagt er im ersten Satz, er wolle davon
absehen, daß die Verstorbene seine Mutter war, und sozusagen objektiv sein. Daß
er im folgenden Satz schon diesen Vorsatz ändert, spielt bei Psellos keine besondere
Rolle; die Hauptsache ist, daß das Wort Tekussa , Mutter, Gebärerin, weggefallen ist
und statt dessen „ Syggenei “ (nahe Verwandte) ein tritt.
2) Sathas V/4. Zu beachten ist, daß Psellos im Laufe seiner politischen Karriere
wohl wenig und selten mit der Mutter in Berührung gekommen ist und einen großen
Teil ihres Klosterlebens gar nicht kennen konnte. Andrerseits hatte er, wie schon
bemerkt, in ziemlich skandalös wirkender Weise dem Kloster den Rücken gekehrt
und war bei den seltenen Zusammenkünften mit Theodote deswegen ihren Vorwürfen
ausgesetzt. Nichtsdestoweniger erachtet er es als seine Pflicht, in eigener Person
ihre Leichenrede zu halten, um einen Teil seiner Schuld ihr gegenüber gutzumachen.
Die ganze Rede ist folglich als Entgelt gedacht für die Mühen und Sorgen, die die
Mutter mit ihm gehabt hatte. Daß dabei die infantile Liebe zur Mutter und der
ganze Ödipuskomplex mobilisiert werden, ist die natürliche Folge der Umstände, unter
denen diese Rede gehalten wurde.
Ein Ödipuskomplex im elften Jahrhundert a39
Auf diese lange Einleitung läßt nun Psellos die Schilderung seines eigenen
Lebenslaufes folgen. Er erzählt viel von seinen Erlebnissen, er beichtet.
Dabei kommt er auch dazu, den Tod der Mutter zu schildern. Einige Tage
vorher hatte sie die endgültigen Gelübde geleistet. Aus diesem Anlasse war
eine große Feierlichkeit im Kloster, ihr Sohn war anwesend, doch sie war
nachher so schwach, daß sie in ihre Zelle getragen werden mußte.
Der Tod der A.lütter
„Sie blickte starr vor sich hin, wie in Ekstase, und sprach: ,Mein vielge¬
liebter Sohn soll zu mir kommen 4 . — Oh göttliche Stimme, oh mein Leben
und meine unglückliche Seele! Daraufhin zogen alle, einer nach dem andern,
an ihr vorbei, ich aber wartete darauf, daß sie mich wieder rufen würde.
Doch sie ließ nochmals dieselben Worte ertönen, aber man überbrachte mir
diese Worte nicht und meine Seele konnte sich nicht mit ihr begegnen. Wie
der Prophet Habakuk hatte sie nochmals eine Vision, und im Willen, ihr zu
folgen, warf sie sich mit der Gewandtheit eines Jünglings zu Boden, kreuzte
ihre Hände über der Brust und ruhig gab sie ihren Geist auf. Das Maß ihres
Lebens war voll, der Knoten der Natur gelöst — und erlöst entschwand ihre
Seele, wie von der Helligkeit der Erscheinung verklärt, und erhob sich zu ihren
Ahnen und flog zu Gott.
Als ich erfuhr, welches Unglück geschehen war, jammerte ich bitterlich
und weinte viel. ,Oh Mutter 4 — sagte ich — und dies nur aus Rücksicht für
die Natur, denn was den Wert ihrer Seele anbelangt, war sie meine Herrin
und meine Wohltäterin 1 — ,0h Mutter, süßer Name 4 — ich ereifere mich,
sie so zu nennen, obwohl dieses Wort viel zu hoch über meinem eigenen
Wert steht 2 — ,oh du, Wesen, göttlicher als alles andere auf Erden und
soviel höher stehend als ich! Du hast nicht nur mich in deinem Leib getragen
und durch mich gelitten, du hast auch meine Seele gebildet und mir die
Möglichkeit gegeben, durch dich stolz und geehrt zu sein und dank deiner
über den anderen zu stehen. — Oh lebender Quell, oh geistiger Stern, du
hast mich mit dem Glanz deiner Tugenden geblendet und nun, entgegen jeder
Erwartung, hast du ihren Fluß gehemmt und ihre Morgendämmerung ver-
1) Sathas V/48 ff. Noch einmal hält Psellos in seiner Rede beim Wort „Mutter“
inne; es widerspricht seiner Ödipusliebe, sie einfach „Mutter“ zu nennen, und so
meint er, den Gebrauch des Wortes „Mutter“ mit der Rücksicht, die er auf die
Physis nimmt, rechtfertigen zu müssen. Vom rein physischen Standpunkt aus war sie
seine „Mutter“, im übrigen war sie seine „Herrin“. Doch hat der griechische Aus¬
druck für „Herrin“ (despotissa) sowohl den Sinn von Despotin, Kaiserin, als auch den
Nebensinn von „Maitresse“ und so wendet Psellos die Form Despotis-Herr (im Mas¬
kulinum) an, was vielleicht auch auf seine passiv-homosexuelle Einstellung zurück¬
zuführen ist.
2) Wieder stockt Psellos bei dem Wort „Mutter“.
2 , 4 ° H. E. Del jMedico
finstert. Wie hat der Tod dich wegreißen können? Und wenn dies auch ein-
treffen mußte als eine natürliche Begebenheit, wie hat man da nicht für einige
Zeit die Engel aufgehalten, die dich wegführen sollten, bis du deinen Sohn
wiedergesehen und ihm deine letzten Worte hinterlassen hättest? 1 — N Un
sind deine Augen offen geblieben, die so tugendhaft (geschlossen) waren und
dein Mund, der nur Gottes Wort ausatmete, ist jetzt geschlossen und deine
Sprache, von Gott beeinflußt, ist auch verstummt. 2
Welches deiner Glieder soll ich zuerst küssen? Ich weiß nicht einmal, ob
dir dies angenehm wäre, doch meine Leidenschaft wagt es, selbst ohne deine
Erlaubnis. Ich will dein Herz küssen, das der Quell war, aus dem die Worte
deines Geistes hervorsprudelten, — ich werde deine Brust umarmen, die das
von oben gesandte Licht erhielt und auf bewahrte, — ich werde dein Haupt,
heiliger Schrein Gottes, mit Küssen bedecken, — ich werde meine Lippen an
deinen Mund drücken, um vielleicht ihnen den göttlichen Saft entziehen zu
können, — ich werde mich an jedem deiner Glieder laben und vielleicht wird
es mir so gelingen, meine Leidenschaft zu stillen 3
Doch wo finde ich deinen Geist, deine durchsichtige Seele? In welcher
Klasse von Engeln befindest du dich? Welche Welt von Erzengeln hat dich
ergriffen? Durch welche ätherische Entführung bist du so hoch und himmlisch
entrückt? Wo schwebst du, über allen Körpern, über allen begrenzten Flächen? 4
Dort, wo ein jungfräuliches Licht herrscht und ewige und gesegnete Ansichten
und alles Unsichtbare und Unfaßbare, dort, wo du dich unter den Besseren
befindest, denkst du noch an uns? Oder hat deine Liebe zu Gott die Liebe,
die du zu uns hattest, ersetzt? 5
Mein Vater erkundigte sich, als er starb, sofort bei Gott über uns und es
1) Die Engel, welche die Seele der Toten entführen, können nach byzantinischem
Aberglauben durch Geschrei aufgehalten werden.
2) Der Hinweis darauf, daß die Mutter im Tode die Augen offen behalten habe,
ist bemerkenswert. Wie schon erwähnt, durfte die sittsame Byzantinerin ihr Gesicht
nicht entblößen, geschweige denn, jemandem ins Gesicht sehen, sondern sie mußte
stets den Blick gesenkt halten. Der Sohn tritt nun an Stelle des eifersüchtigen Gatten
und macht ihr Vorwürfe darüber, daß sie die Augen nicht sittsam geschlossen hat.
5) Dieser ganze Abschnitt ist eine offenkundige Äußerung des Ödipuskomplexes.
Hier ist ein offen eingestandener, ungezügelter Ausbruch von Leidenschaft. Wahr¬
scheinlich spielen hier Erinnerungen aus der Kindheit und frühen Jugend mit, an
die Zeiten, da die Mutter aus Schamgefühl (siehe oben S. 221) solche Zärtlichkeits¬
bezeugung zu verbieten pflegte, aber ihn nachts selbst heimlich mit Zärtlichkeiten
überhäufte. Die Sehnsucht danach taucht nun unverhüllt wieder auf. Dabei ist charak¬
teristisch, daß neben Äußerungen der selbstverständlichen Ziele der Zärtlichkeit, wie
Küssen und Umarmen, auch insbesondere die Lust nach dem Saugen ihren Ausdruck
findet. („Sich-Laben“ an jedem der einzelnen Glieder, das Erpressen des „göttlichen
Saftes“.)
4) Der Tod als Entführer der Geliebten (siehe oben S. 225).
5) Der Rivale, der ihm die geliebte Mutter entführt hat, ist niemand anders als
Gott selbst (wahrscheinlich ein Symbol für den Vater, auf den Psellos ganz ohne
Zusammenhang im folgenden plötzlich zu sprechen kommt).
Ein Ödipuskomplex im elften Jahrhundert
2^1
^urde ihm geantwortet. 1 Sei du (mir) nicht weniger gut gesinnt als er und
stelle ihm dieselben Fragen! Stimme Gott mir günstig, und kümmere dich um
deinen Sohn noch mehr als früher! Durch dein Entschwinden hast du mich
deiner Ratschläge beraubt, du hast mich ohne deine Hilfe gelassen. Mache diesen
Schaden wieder gut und erscheine mir auch in Träumen, mit den Symbolen
deiner Existenz. Oh meine süße Mutter, oft und oft bitte ich dich noch und
meine Stimme ist davon heiser l 6
Nachdem ich so und noch mehr über dies (den Tod) gejammert hatte, kam
das Begräbnis, und nachdem ich ihr diese Worte gewidmet hatte, kam die
Stunde, wo dieser fromme und göttliche Leib gehoben wurde, und ich selbst
legte ihn mit meinen eigenen gebrochenen Händen in der Kirche nieder.“ 2
Es folgt nun die Beschreibung des Begräbnisses, dann fährt Psellos fol¬
gendermaßen fort:
„Zum Schluß nahmen sie (das Volk) ihr das Kopftuch ab, mit dem sie sie
immer gekannt hatten und verteilten es unter sich, doch nicht etwa mit Ge¬
rechtigkeit, nein; sie stritten sich, denn jeder wollte ein größeres Stück haben,
und der Streit ging mit Eifer vor sich. Daraufhin kam auch ihr ehrwürdiger
Pater herbei, um ihr die letzte Ehre zu erweisen. 3 Er schaute um sich, aber
er kümmerte sich nicht um die anderen, sondern suchte mit den Blicken die
Mutter der Verstorbenen, die sich neben der Bahre aufhielt, und nachdem er
sich ihr genähert hatte, erhob er die Stimme, vielleicht um von allen gehört
zu werden, und sagte: ,Wisse, oh Weib, daß du die Mutter einer Märtyrerin
und einer Heiligen geworden bist, ich bin von beidem überzeugt und lege
dies Zeugnis vor deiner Tochter ab. 4 * Also sprach er. Und seine Worte rührten
die Versammlung, und wenn einige von den Anwesenden nicht die Beisetzung
beschleunigt hätten, so hätte selbst am dritten Tag das Volk sich nicht verzogen.“
Nachdem Psellos noch einige Male versichert, daß er seiner Mutter nicht
wert ist:
„Doch ich, oh Mutter, ich darf dich bewundern und betrachten, aber ich
stehe nicht hoch genug, um dir zu ähneln, denn ich habe die Gelübde nicht
eingehalten und bin nicht deinen Hoffnungen gemäß gewandelt und dein Wort
ist nicht in mir geblieben“,
1) Wahrscheinlich eine Anspielung auf einen Traum. (Siehe oben S. 231/252.)
2) Die gebrochenen Hände sind hier wahrscheinlich ein Symbol der Kastration,
die bekanntlich in Byzanz sehr häufig war. Vergleiche hierzu die verdorrten Hände
des Jephonias beim Begräbnis der Muttergottes in der Ikonographie des Orients.
Psellos fühlt sich beim Begräbnis der Mutter seiner Männlichkeit beraubt.
3) Diehl und Rambaud übersetzen das Wort Pater mit „Vater“. Diese Auslegung
des Textes, wonach der Vater noch am Leben gewesen wäre, kann nicht zutreffen,
es sei denn, er wäre über neunzig Jahre alt geworden. Im übrigen bezieht sich der
Ausdruck „ehrwürdiger Pater“ speziell auf Geistliche. Das ganze Verhalten des „Paters“,
seine Worte an die Mutter der Verstorbenen lassen mit ziemlicher Gewißheit ver¬
muten, daß die Verwandtschaft eine rein geistige war, und der Pater niemand anders
als der Beichtvater (der Hegumene ) der Klostergemeinde.
2^2
H. E. Del Medico
schließt er seine Leichenrede mit einem Gebet:
„Verzeih’ mir von oben all meine Irrwege und lenke mich auf den Weg 5
der zu Gott führt, und mache, daß ich ein evangelisches (?) Leben führe und
so lebe, wie es in Gott verborgen ist. Gönne mir gleichfalls, daß ich so viel
wie nur möglich (Tugend) dem Strombett der Tugenden zufließen lasse, -_
empfange endlich die Sterbenden und durch deine Fürbitten und Gebete bei
Gott labe sie an dem ewigen und göttlichen geistigen Quell l“ 1
Das Alter
Nach dem Tode der Mutter kehrt nun Psellos eine ganz neue Seite seines
Wesens heraus. Mit dem Strebertum ist es zu Ende, er intrigiert nicht
mehr aus dem Wunsche nach irgendwelchen persönlichen Vorteilen, sondern
nur noch aus Liebe zur Intrige selbst, um hinter den Kulissen auf die Er¬
eignisse einzuwirken. So sehen wir ihn heute loben, was er gestern ver¬
schrien hatte. Überall, bei allen Geschehnissen findet man seine Hand
im Spiel. Durch seine Anklagerede läßt er den Patriarchen Kerularios ver¬
urteilen; kurze Zeit darauf singt er seinem Andenken das höchste Lob.
In dieser Zeit, da Psellos schon zu altern beginnt, erhellt noch ein letzter
Lichtstrahl sein Leben; es ist die Liebe zu einem jungen Schüler.
Constantin X. Dukas hatte ihm seinen Sohn anvertraut, den jungen
Michel, und diesen Geist zu formen, machte sich nun Psellos nach antikem
Muster zur Aufgabe:
„Erst seit kurzer Zeit mit einem Bart versehen, der seine Wangen mit
einem dichten Flaum bedeckte, war er doch, was Weisheit anbelangt, von
älteren Leuten nicht zu unterscheiden. In der Tat gab er sich nicht dem Ver¬
gnügen hin; er war weder Feinschmecker, noch liebte er prächtige Mahlzeiten.
Was die Liebe anbetrifft, war er ihr so fremd, daß er nicht einmal wußte,
wie viele Arten es gibt, und wie viele von ihnen unsittlich sind. Und so weit
ging der Überfluß des Schamgefühls bei ihm, daß wenn jemand in seiner
Gegenwart ein unanständiges Wort oder auch nur den nackten Namen der
Liebe fallen ließ, sein Gesicht vor Scham sofort errötete.“ 2
1) Die Rolle der Mutter als Fürbitterin ist in Byzanz von größter Bedeutung. Nach
ihrem Tode noch muß sie ihre Mission erfüllen und für die Lebenden beten. (Als
Gegenstück hiezu der okzidentale Brauch, für die Toten zu beten.)
2 ) Chronographie Renauld, II/174. — Der alternde Psellos ändert nun sein Schön¬
heitsideal. Es ist der unerfahrene Jüngling, der ihm gefällt, und seine Keuschheit wird
verherrlicht. Es muß dabei berücksichtigt werden, daß dieser Teil der Chronographie
fast unter der Aufsicht seines Schülers geschrieben wurde, dies schließt aber nicht aus,
daß Psellos ebensogut andere Eigenschaften hätte loben können als Abstinenz, Keusch¬
heit und Schamgefühl. Psellos war ganz Pädagoge geworden — nach dem Vorbilde
eines Sokrates.
Ein Ödipuskomplex im elften Jahrhundert
2^3
Auch auf Eudokia, Constantins Gattin, machte Psellos als Lehrer Ein¬
druck. Doch sie war eine Frau — und kaum verwitwet, denkt sie schon
an eine Wiederheirat; Psellos selbst begleitet sie ins Schlafzimmer seines
Schülers, um dem jungen Michel ihren Entschluß mitzuteilen, der ihn
der Krone verlustig macht.
Wie Psellos weiter intrigierte, bis Romanos IV., Eudokias zweiter Gatte,
in Kriegsgefangenschaft geriet und nach seiner Freilassung gemartert wurde,
läßt sich aus den Schriften leicht vermuten. Kurz darauf schreibt er ihm
einen „mit Tränen und Herzblut“ getränkten Brief, in welchem er ihn
seiner Liebe und Unschuld versichert.
Nun ist Michel VII. Kaiser, — doch Psellos findet die Verse seines früheren
Schülers schwach, er ist mit ihm unzufrieden. Nichts gefällt ihm mehr,
seine Freunde sind fast alle tot, und so wandert er wieder ins Kloster. Von
dort aus scheint er eine Zeitlang weiter intrigiert zu haben, doch kurz
danach (1077) verliert sich seine Spur.
*
Die ganze Tätigkeit des Psellos läßt sich am ehesten mit der eines Voltaire
vergleichen. Er war einer von den Menschen, die allwissend und allmächtig
sein und dabei im Verborgenen bleiben und aus dem Hinterhalt wirken
wollen, ohne selbst aufzutreten. Dieser Charakterzug, das Hauptmerkmal
bei Psellos, ist von Jones 1 analysiert worden — und fast sämtliche von
ihm angeführte Eigenschaften lassen sich bei Psellos nachweisen. Bezeichnend
ist allerdings die Bedingtheit dieser Charakterbildung:
1) durch die von der Mutter ererbte oder anerzogene neurotische Re¬
aktionsneigung,
2) durch den von der Mutter geradezu gezüchteten Ödipuskomplex mit
seinen Nebenerscheinungen,
3) durch die daraus sich ergebende Sexualverdrängung, die sich im
Minderwertigkeitsgefühl und vielleicht in neurotischer Impotenz äußert,
was ihn
4) zur (vielleicht latenten) Homosexualität führt.
Wie bei Leonardo da Vinci 2 ist auch bei Psellos die unterdrückte Sexualität
teilweise in allgemeine Wißbegierde sublimiert worden, die sämtliche Ge-
1) Zur Psychoanalyse der christlichen Religion, Wien 1928.
2) Freud: Eine Kindheitserinnerung des Leonardo da Vinci. Ges. Sehr., Bd, IX,
S. 38?.
Del Medico: Din Ödipuskomplex im elften Jakrkundert
biete umfaßt. Nur war Leonardo dem Einfluß seiner Mutter entzogen worden
das Bedürfnis, dem Vater überlegen zu sein, brauchte sich bei ihm nicht
so übermächtig zu äußern, während Psellos eben durch das Zur-Schau-tragen
seines Wissens einen Ersatz für seine unterdrückte Sexualität findet und
so seine Minderwertigkeit kompensiert. So führt bei ihm das sexuelle Minder¬
wertigkeitsgefühl zu einer überkompensierenden narzißtischen Haltung, seine
Unfähigkeit zum Lieben zum Bedürfnis, geliebt zu werden. So sehen wir
ihn nicht nur unentgeltlichen Unterricht an arme Schüler geben, sondern
diese auch mit Geld unterstützen, damit sie seinem Unterricht beiwohnen
können.
Dieser Wunsch, geliebt zu sein, diese Angst vor dem Liebesverlust mußte
Psellos, genau so wie später Leonardo, zur latenten Homosexualität führen,
und letzten Endes läßt sich vielleicht auch sein enormer Narzißmus auf dieses
Bedürfnis zurückführen, wobei das ichliebende Ich als Ersatz für eine Person
der Außenwelt einspringt, von der er ursprünglich geliebt sein wollte. Dieser
Zug 1 äußert sich auch in den passiven Vorstellungen, die sich in seinen
Träumen finden.
Aus diesen Faktoren mußte ein Charakter wie der von Psellos entstehen.
Das Milieu des elften Jahrhunderts, das ganze soziale Gebilde dieser Zeit ver-
halfen ihm dazu, daß er fast ohne Hemmungen seine Anlagen praktisch
verwerten konnte und so die vielleicht bedeutendste Persönlichkeit seiner Zeit
wurde.
1) Emest Jones, 1 . c. S. 29.
Erziehung und Gesellschaftsordnung
Von
Alelitta Sek midekerg
Berlin
„The child is father of the man“
(Wordsworth.)
Die Psychoanalyse hat seit jeher ein reges Interesse an der Erziehung
genommen. Sie konnte zeigen, daß verkehrte erzieherische Maßnahmen
gewöhnlich durch Komplexe der Eltern determiniert sind, daß sie also
affektiven und nicht rationellen Motiven entspringen. Bernfeld ging weiter.
Während die Psychoanalyse sonst nur bei offensichtlich falschen Maßnahmen
nach den Komplexen der Erziehenden fragte, nimmt Bernfeld an, 1 «daß
jede Erziehung aus affektiven Quellen entsteht und in Wirklichkeit nur
wenig mit den rationellen und idealen Zielen zu tun hat, die die Pädagogik
vorgibt. Weiter führt er aus, daß die irrationellen Momente, die seiner Meinung
nach einen breiten Raum in jeder Erziehung einnehmen, nicht nur durch
die Komplexe der einzelnen Erzieher, sondern auch durch die herrschende
Gesellschaftsordnung bestimmt werden, — daß unsere heutige Erziehung im
Dienste des kapitalistischen Systems steht.
Es ergibt sich nun die Frage: Zieht das kapitalistische System nur aus
der schon bestehenden Einrichtung der Erziehung einen Nutzen für seine
Zwecke, oder ist der Zusammenhang zwischen Gesellschaftsordnung und
Pädagogik ein innigerer? Entspricht jeder Gesellschaftsordnung eine bestimmte
Art der Erziehung, und inwiefern ist die Gesellschaftsordnung an der Ent¬
stehung der Erziehung überhaupt beteiligt? Um diese Fragen zu beantworten,
müssen wir die Formen der Erziehung in den verschiedenen Gesellschafts-
i) Bernfeld: Sisyphos oder die Grenzen der Erziehung. 1925.
Melitta jScbinicleberg
2^6
Ordnungen untersuchen 1 und auch dem Problem nachgehen, aus welchen
Motiven die Erziehung überhaupt entstanden ist.
Uns erscheint es so selbstverständlich, daß die Eltern ihre Kinder erziehen
wie daß sie sie aufziehen. Die Mehrzahl der Naturvölker hat jedoch eine
von der unserigen abweichende Auffassung. Sie halten es für barbarisch,
ein Kind zu schlagen, 2 ja bei manchen Völkern gibt man den Kindern
nicht einmal Ermahnungen. Sie meinen, ein Knabe müsse wild sein, sonst
würde später aus ihm kein guter Krieger werden. Von den Sedajaken be¬
richtet Spenser St. John: „Je lästiger und unartiger die Knaben in ihrer
Jugend sind, um so mehr Freude bereiten sie ihren Eltern.“ 3 — Bei den
Patagoniern sagen die Eltern „Sie“ zum Sohne, der den Vater jedoch duzt.
Wenn bei den Patagoniern der Vater sich einmal hinreißen ließe, den
Sohn zu schlagen, würde er nachher, wenn er ruhiger ist, ein Fest ver¬
anstalten, um den Knaben zu versöhnen. 4 — In Louisiana lassen sich die
Indianerväter von ihren Söhnen schlagen, denn wenn sie sie straften, würden
sie furchtsam und keine guten Krieger werden. 5 Es scheint jedoch, daß die
von den Eingeborenen gegebene Begründung für die Nichterziehung ihrer
Kinder nur eine Rationalisierung ihrer Angst vor ihnen darstellt. 6
In Navajoes wagt der Vater nicht, seinen Sohn zu bestrafen, denn dieser
könnte dann eine Gelegenheit erspähen und ihn mit einem Pfeil erschießen. 7
Ähnlich erhielten die Kinder der Karaiben keine Erziehung, und die Eltern
wagten nicht, ihnen zu befehlen, weil sie fürchteten, sonst von ihnen um¬
gebracht zu werden. Als aber die Missionäre die Kinder Gehorsam lehrten,
waren die Eltern froh, und von den Priestern gezwungen, züchtigten sie
die Kinder gelassen und derb. 8
1) In seinem Buche „Die Geschichte der Erziehung in soziologischer und geistes¬
geschichtlicher Beleuchtung“ (V. und VI. Aufl. 1925) verfolgt Paul Barth den Zu¬
sammenhang der Erziehung mit den Bewegungen der Gesellschaft an Hand von
reichem Material, ohne aber — meiner Meinung nach — genügend in die Tiefe zu
dringen.
2) Nach dem Tagebuch von Hans Egede Saabye (1770—1778) hielten die grön¬
ländischen Eskimos des 18. Jahrhunderts die Europäer für unwürdig, Kinder zu haben,
weil sie sie züchtigten. (Nach Ploss-Renz: Das Kind. III. Aufl., 1912, Bd. II, S. 810.)
3) Steinmetz: Ethnologische Studien zur ersten Entwicklung der Strafe. II. Aufl.,
1928, Bd. II, S. 186.
4) Steinmetz, op. cit., Bd. II, S. 182.
5) Steinmetz, op. cit., S. 180,
6) Steinmetz, op. cit., S. 179.
7) Steinmetz, op. cit., S. 192.
8) Auch die Grönländer und Fejir-Beduinen strafen die Kinder aus Angst vor
ihnen nicht. Steinmetz, S. 183, 196.
Erziehung und Gesellschaftsordnung
Bei diesen Völkern haben die Väter auch sonst eine sehr passive Ein¬
stellung ihren Kindern gegenüber. 1 2 Auf den Gesellschaftsinseln wurde der
Erstgeborene eines Häuptlings von seiner Geburt an der Nachfolger seines
Vaters; von dieser Zeit an schien der Vater nur mehr im Namen seines
Sohnes die Herrschaft zu führen und dankte ab, sobald der Sohn alt genug
war, selbst zu regieren. „Doch selten entsagte er (der Vater) der Regierung,
ohne sich Macht genug vorzubehalten, um der gefährliche Mitbewerber
seines eigenen Sohnes zu bleiben und bisweilen sogar in einen offenen Krieg
mit ihm zu treten; dessenungeachtet war der Vater immer der Erste, um
seinem Sohne Ehre zu erweisen und ihm gegenüber das Beispiel der Unter¬
tänigkeit und der niedrigsten Schmeichelei zu geben. Bisweilen traten aber
die Fürsten wahrlich alle Macht ab und fuhren fort, bei ihren Kindern zu
leben, deren erste Bediente sie weiterhin bloß waren, ohne daß sie sogar
immer gut von ihnen behandelt wurden.“ — „Auch in den untersten
Volksklassen verlor ein Mann, der Vater eines männlichen Kindes wurde,
alle Macht; er war weiter nur der zweite im Hause, wo er immer mehr
ein Fremder wurde, täglich tiefer gedemütigt, je mehr das Kind aufwuchs,
und allen dessen Wünschen und Einfällen unterworfen. u2 Steinmetz stellt
noch weitere derartige Berichte zusammen 3 und betrachtet die Sitte, daß
der Vater oder die Eltern nach der Geburt eines Kindes, gewöhnlich eines
Sohnes, dessen Namen annehmen und weiterhin nur mehr unter dessen
Namen bekannt sind die Teknomonie — als eine Abschwächung der
Gebräuche, nach denen der Vater bei der Geburt seines Sohnes aller
Titel und Besitztümer entblößt wird. Tylor fand 4 die Teknomonie bei
dreißig Völkern und betrachtet sie als Ausdruck eines unverfälschten
Matriarchates.
Diese passive Haltung des Vaters dem Sohne gegenüber läßt sich wohl
durch die Aufstellung Reiks, der Vater fürchte, daß im Sohne, vor allem
im Erstgeborenen, der eigene Vater wiederkehre, erklären. 5 Dann wird es
1) Steinmetz: Das Verhältnis der Kinder und Eltern bei den Naturvölkern.
Zeitschrift für Sozial Wissenschaft. 1898.
2) Steinmetz, S. 220/221, nach Mourenhout; Voyages aux lies du Grand
0c6an. 1837. H s - 13—17.
3) Bei den matriarchalischen Fidschinegem hat der Neffe, Vasu genannt, eine
außerordentliche Macht — alles bewegliche und unbewegliche Eigentum seines Onkels
steht ihm zur Verfügung —, von der er auch häufig Gebrauch macht. Ähnliche Zu¬
stände bestanden auch auf Samoa, hei den Pelauern usw.
4) On a Method of Investigating the Development of Institutions. Journ. Anthr.
Inst. XVIII, 1889.
5) Reik: Probleme der Religionspsychologie. S. 40.
a48
Melitta jScLmideberg
verständlich, warum der Vater vor dem kleinen Jungen solche Angst hat
warum er ihn verehrt und seinen Namen annimmt. 1
Die passive Einstellung des Vaters dem Sohne gegenüber ist für das
matriarchalische System charakteristisch; nach den Feststellungen von Stein¬
metz findet sich eine strenge Erziehung niemals mit dem Matriarchate
vereinigt. 2
Jones hat gezeigt, daß das Matriarchat eine bestimmte Verarbeitung
des Ödipuskomplexes darstellt; 3 dieses Gesellschaftssystem basiert darauf
daß der Vater dem Ödipuskonflikt entgeht, indem er auf seine Autorität
und die ihm im Patriarchat zukommende Rolle verzichtet. Während es
im Patriarchat der Sohn ist, der dem Konflikt mit dem Vater ausweicht,
indem er weitgehend seine Potenz und seine Aktivität aufgibt und sich
dem Vater unterordnet, scheint es im Matriarchat umgekehrt zu sein. Sogar
die Heiratsverbote gelten im matriarchalischen System, wie Röheim hervor¬
gehoben hat, 4 nur für Vater-Tochter, nicht aber für Mutter-Sohn; sie sind
also zugunsten der Söhne errichtet worden. In der matriarchalischen Familie
spielt der Vater nur eine nebensächliche Rolle. An seine Stelle tritt der
Rruder der Mutter, und auch die Mutter erhält einen Teil der sonst im
Patriarchat dem Vater zukommenden Autorität. 5 Die Frauen übernehmen
1) Zum gleichen Ergebnis kommt auch Schurtz: „Der Gedanke, daß die jüngst
Verstorbenen sich in den neugeborenen Kindern verkörpern, ist weit verbreitet und
kommt schon in der Sitte zum Ausdruck, den Enkeln die Namen der Großeltern zu
geben. In China verehrte man früher im Ahnendienst einen Enkel des Verstorbenen,
den man also für den neuerstandenen Toten selbst hielt; erst später bildete eine
hölzerne Tafel den Mittelpunkt des Kultus.“ (Urgeschichte der Kultur. S. 570.)
2) Steinmetz: Erste Entwicklung der Strafe. S. 204.
5) Das Mutterrecht und die sexuelle Unwissenheit der Wilden. Imago XIII, 1927.
Jones stellt auch die wichtigste Literatur über das Matriarchat zusammen.
4) Die Völkerpsychologie und die Psychologie der Völker. Imago XII, 1926, S. 280.
Aus dem Buche Malinowskis „Das Geschlechtsleben der Wilden in Nordwest¬
melanesien“ geht hervor, daß in dieser matriarchalischen Gesellschaft die Kinder volle
Sexualfreiheit genießen, während die Sexualität der Erwachsenen Einschränkungen
unterworfen ist.
5) Die Fälle von wirklicher Mutterherrschaft sind sehr selten. Im Matriarchat
übernimmt der Mutterbruder die Macht und Autorität; doch haben die Frauen im
Matriarchat mehr Rechte und Freiheiten als im Patriarchat.
Die Annahme, daß die (verhältnismäßige) Vormachtstellung der Frauen im Matri¬
archat dadurch zustande kommt, daß die Männer aus Angst vor den Söhnen (aus
dem Ödipuskomplex) auf ihre Macht verzichten, scheint mit den Ausführungen Freuds
in Einklang zu stehen. „Die Vorrechte der Frauenherrschaft hatten sich in der vater¬
losen Zeit festgesetzt, in der die Brüder nach vielen Kämpfen auf die Erbschaft des
Vaters verzichtet hatten.“ (Massenpsychologie und Ich-Analyse. Ges. Sehr., Bd. VI,
S- 559 / 34 °-)
Erziehung und Gesellschaftsordnung
249
im Matriarchat auch die wichtigste wirtschaftliche Arbeit, den Hackbau. Es
dürfte nicht einfach Faulheit, sondern eine der Arbeitshemmung neurotischer
Patienten analoge Hemmung sein, 1 daß die Männer keine ausdauernde
Arbeit, vor allem keinen Ackerbau treiben. Diese Hemmung scheint da¬
durch zu entstehen, daß der Ackerbau unbewußt den Koitus mit der Mutter
Erde bedeutet und dieser aus Kastrationsangst vermieden werden muß.^
Die Ansicht von Jones, daß das Matriarchat auf einer bestimmten Ver¬
arbeitung des Ödipuskomplexes beruht, läßt sich also dadurch ergänzen,
daß die für das Matriarchat charakteristischen Gebräuche, das Fehlen einer
Erziehung, die Teknomonie, die Passivität der Väter den Söhnen gegenüber
und das Überlassen der wirtschaftlichen Betätigung den Frauen auf der
Lösung des Ödipuskomplexes zugunsten des Sohnes beruhen. 4 Die Gesell¬
schaftsordnung, die Art der Erziehung, die Form der wirtschaft¬
lichen Tätigkeit wären der jeweiligen Form der Verarbeitung des
Ödipuskomplexes zugeordnet.
Im Matriarchat weicht der Vater jedem Konflikt mit dem Sohne aus.
Nur bei zwei Anlässen, bei seiner Geburt und seiner Mannbarwerdung,
kommen die aggressiven Regungen des Vaters zum Vorschein. Reik hat
den Sinn der bei diesen Anlässen stattfindenden Zeremonien, der Couvade
und der Pubertätsriten, aufgeklärt. Bei der Couvade legt sich der Mann an
Stelle der Frau ins Wochenbett, bei den Pubertätsriten werden die Söhne
1) Es scheint, daß die niedrige Kulturstufe, auf der sich viele primitive Völker
befinden, wesentlich durch psychische Momente mitbedingt wird. Nomadenvölker
haben keine Gespensterangst. (Schurtz.) Dadurch, daß sie ständig ihren Aufenthaltsort
wechseln, gehen sie ja ihren wiederkehrenden Toten aus dem Weg. Viele schon
seßhafte Völker lassen nach dem Tode ihres Häuptlings ihre Hütten im Stich und
überlassen alles dem Toten. Die gleiche Angst in noch stärkerem Grade scheint die
Nomaden zu ihren unsteten Wanderungen zu treiben und zu verhindern, daß sie
irgendwo seßhaft werden. Es wäre demnach eine äußerst intensive Gespensterangst,
die die Nomaden zum Wandern zwingt, wodurch sie ihr — auf Grund eines der
neurotischen Hemmung analogen Mechanismus — entgehen; diese Angst nötigt sie
aber zum Verharren auf dieser primitiven Kulturstufe.
2) Hahn: Demeter und Baubo. 1896. Die Entstehung der Pflugkultur. 190g.
Dieterich: Mutter Erde. III. Aufl., 1925.
5) Ehrenreich erklärt den Widerstand der Indianer Nordamerikas gegen die
ugkultur damit, daß sie sich scheuen, die Haut der Erdmutter zu verletzen. (Zit.
nach Rank: Psychoanalytische Beiträge zur Mythenforschung. II. Aufl., 1922, S. 28.)
4) Eine Erklärung dafür, warum es bei bestimmten Völkern zu dieser Lösung
des Ödipuskomplexes gekommen ist, bietet vielleicht eine Hypothese Röheims. Er
n ] lm ^ an ^ ma £ 0 ’ 1 9 2 * ^> S. 280), daß bei den matriarchalischen Stämmen die Söhne
a s Sieger aus dem Kampf mit den Vätern hervorgegangen sind. Unbewußt nimmt
aber der Sieger immer die Bedeutung des rächenden Vaters an; diese Niederlage
mußte die Vergeltungsangst der Väter außerordentlich gesteigert haben.
Imago XVIII.
17
Melitta iSdimideLerg
a5o
von den Vätern mißhandelt, von den Müttern getrennt und dann sym¬
bolisch wiedergeboren. Reik nimmt an, daß diese Zeremonien auf einer
unbewußten Kenntnis der Väter davon, ,daß die inzestuöse Bindung an
die Mutter auf die Geburt zurückgeht, beruhen. Die Väter meinen, daß
dadurch, daß sie die Geburt rückgängig machen, auch die inzestuöse
Bindung der Sohne beseitigt werde und daß sie, indem sie die Söhne
selbst zu gebären vorgeben, eine ähnliche Bindung an sich selbst her¬
steilen. Diese Erklärung Beiks, der die Sitte vom Standpunkt der Söhne
auffaßt, möchte ich durch eine andere ergänzen, die mehr die Einstellung der
Väter in Betracht zieht. Es scheint, daß es den Vätern gelingt, nachdem sie
ihre Aggression gegen die Söhne befriedigt haben, 1 ihnen gegenüber eine
mütterliche Einstellung zu gewinnen, und daß diese Identifizierung mit der
Frau die freundliche Beziehung zum Sohne ermöglicht. 2
Während die Ambivalenz des Vaters sich bei den Primitiven in akuter
Weise in den Pubertätsriten durchsetzt, geschieht dies im Patriarchat in
chronischer Form. 3 Bei den Pubertätsweihen werden die Söhne so lange
mißhandelt, bis sie auf ihre Ödipuswünsche verzichten; dann werden sie
vom Vater anerkannt und wiedergeboren. Im Patriarchat setzt der Vater
die Unterwerfung des Sohnes durch eine harte Erziehung durch; dann
sorgt er in „mütterlicher“ Weise für ihn, indem er ihn ernährt und be¬
schützt. So werden beide Regungen des Vaters befriedigt: der Haß gegen den
Sohn dadurch, daß er ihn erzieht, die Liebe dadurch, daß er ihn aufzieht. 4
1) Bei der Couvade ist die Aggression gegen das eigene Ich gewendet; der Vater
läßt sich von seinen Freunden mißhandeln.
2) Vgl. Freud: Eine Kindheitserinnerung des Leonardo da Vinci. Ges. Sehr. Bd. IX,
S. 410—420.
5) „Die primitiven Völker setzen die Knaben ihren freilich sehr drastischen
Erziehungsmitteln (gemeint sind die Pubertätsriten) nur wenige Wochen oder Monate
aus, wir unseren, freilich viel humaneren Mitteln, vierzehn bis zwanzig Jahre“ . . .
„wie Ritterschlag, Deposition, Firmung, die Aufnahmegebräuche in die Gesellen¬
verbände der Innungen bis vor wenigen Jahrzehnten, ja heute noch gelegentlich
völlig unhumanisi er te Initiationsriten treu konservieren.“ (Bernfeld: Sisyphos. S. 63.)
Daß die sadistischen Tendenzen, die die Väter bei den Pubertätsriten offen äußern
sich in der Erziehung in rationalisierter Weise fortsetzen, geht auch daraus hervor,
daß bei den germanischen Pubertätsriten die Jünglinge mit Birkenruten geschlagen
worden sind, und die Birkenrute in der deutschen und englischen Erziehung eine
große Rolle gespielt hat; bei den Indianern hingegen, bei denen die Puberten mit
Dornen gestochen und mit Pfeffer mißhandelt wurden, galten diese Maßnahmen auch
als übliche Bestrafung der Kinder.
4) Eine bildliche Darstellung der mexikanischen Erziehung beweist, daß Bestrafung
und Ernährung als die zwei Hauptfaktoren der Erziehung betrachtet werden. Die Bilder
zeigen — für jedes Lebensjahr des Kindes —, wieviel Brote es erhält und auf welche
Erziehung und Gesellschaftsordnung a5l
n ln der inneren Klosterschule legte der Hauptlehrer die Rute beinahe nie¬
mals aus der Hand. Mit ihr weckte er die schlafenden Knaben nachts, wenn
das Zeichen zur Mette rief. Mit ihr trieb er sie zu. den täglichen Arbeiten an,
mit ihr stand er wieder vor ihnen, wenn sie zu Bett gingen. Auch während
der Nacht machte er mit der Rute die Runde und sah nach, ob alles in Ordnung
sei. Mit einem Rutenstreich mahnte er jeden, der sich aufgedeckt hatte, rasch
zu tun, was schicklich ist. * 1 »Bei dem fortwährendem Zittern unter der Rute
kann es nicht wundernehmen, wenn Schüler auf allerlei sannen, um die
drohenden Streiche von sich ferne zu halten. Viele Knaben entliefen auch
ihren Lehrern und verbargen sich in Wäldern und Höhlen.“ 2 — Erasmus
von Rotterdam urteilt über die Schule seiner Zeit (in seinem Brief an
Jac. Barberianus): sie ist ein cpQovxioxr\Qiov (Sorgenhaus), etwas „Herbes,
Mühseliges, Unerquickliches ist sie, traurig und widerwärtig anzusehen und
zu betreten, mit ihren ewigen Prügelszenen, ihren Tränen und Geheul einem
Kerker zum Verwechseln ähnlich.“ 3 — Cäsarius von Heisterbach 4 äußert:
„In Wahrheit sind Schüler, die unschuldig leben und gerne studieren, Mär¬
tyrer“, denn auch das beste Kind blieb von der Rute nicht verschont. —
Aber nicht nur kleinste Unachtsamkeiten und unbedeutende Übertretungen
wurden streng bestraft, sondern in manchen Klöstern wurden die Schüler
von Zeit zu Zeit auch ohne bestimmte Vergehen geschlagen. Vor allem
fand dies am Tage der Unschuldigen Kindlein statt. 5 „Instabat dies festa
nativitatis Christi. Moris autem antiquitus fuerat in monasterio ipso , quinto
die ante festum pueros , qui in scholis sub disciplina exercebantur , gravibns
et immoderatis verberibus cruciari , qui cruciatus miseris non pro commissis
culpis, sed pro usu inferebatur.“ 6
Die hier angeführten Beispiele der harten Erziehung bedeuten nicht etwa
Auswüchse oder ungewöhnliche Erscheinungen, sondern sie sind für die Er-
Art es bestraft wird, — sonst nichts, außer bei größeren Kindern noch die Arbeit,
die es leisten muß. (Zit. nach Frobenius: Völkerkunde II, S. 595).
1) Specht: Geschichte des Unterrichtswesens in Deutschland. 1885, S. 206.
2) Specht: Geschichte des Unterrichtswesens in Deutschland. 1885, S. 208.
3 ) Ziegler: Geschichte der Pädagogik. V. Aufl., 1929, S. 49.
4) Caesarius Heisterbacens: Dialog, miracul. XII, 46, ed. Strange, Kolm 1851,
II, Zitiert nach Specht, S. 205.
5) Specht weist darauf hin, daß es in Deutschland, England und Frankreich seit
uralten Zeiten üblich war, am Unschuldigenkindertage Knaben mit Ruten zu schlagen,
ähnlich wie an diesem Tage auch Pflanzen und Tiere gepeitscht wurden. (Mann-
hard: Baumkultus der Germanen. 1875, S. 268, 275.) Diese Sitte zeigt also, wie sich
germanische Riten in christliche Erziehungsmaßnahmen fortsetzten.
6) Specht: Geschichte des Unterrichts wesens. S. 210.
17 *
a5a
Melitta SdunideLerg
Ziehung im Mittelalter typisch. 1 Wie selbstverständlich die häufige An¬
wendung der Rute in der Erziehung und im Unterrichte den Zeitgenossen
war, geht auch daraus hervor, daß Ratherius (f 974) seinem Lehrbuch
der Grammatik keinen empfehlenderen Titel wußte, als „Spara dorsum“, 2
ein Buch, dessen Kenntnis den Rücken vor Schlägen bewahrt. — Der Lehrer
wurde auch im späteren Mittelalter mit der bereitliegenden Rute beim Unter¬
richt dargestellt. 3 Auch Prinzen wurden nicht milder erzogen, 4 und so zählt
Vincent von Beauvais (f 1264) in seiner Schrift „De eruditione filiorum
Regalium“ „Tadel, Drohungen, Rute, Gerte u. dgl.“ als Korrektions¬
mittel auf. 5
Die Mißhandlungen der Lehrer gingen so weit, 6 daß das Gesetz sich der
Kinder annehmen mußte. Der Schwabenspiegel bestimmt: „Schlägt einer
sein Lehrkind, ohne es blutig zu hauen, so ist er von der Verantwortung
frei . . . Schlägt er es aber an andern Körperteilen blutig und nicht mit der
Rute, so muß er es büßen, und schlägt er es tot, so wird er gerichtet.“ 7
Eine Wormser Schulordnung aus dem dreizehnten Jahrhundert gestattet den
Schülern, wenn ein Lehrer zu weit ginge und Schläge austeilte, welche
„entstellende Wunden“ oder „Beinbrüche“ zur Folge hätten, den sofortigen
Austritt aus der Schule, ohne das Schulgeld zu bezahlen. 8
Auch in späteren Jahrhunderten hatte sich die Disziplin noch kaum
gemildert. In den Jesuitenschulen gab es einen besonderen Prügelknecht,
1) Zahlreiche deutsche Sprüche zeigen, für wie nötig und selbstverständlich die
häufige Anwendung der Rute galt „Frische Ruten, fromme Kinder“. — „Rut* macht
böse Kinder gut.“ — „Kein Streich verloren, als der daneben fällt.“ — „Wer die
Rute schont, verdirbt sein Kind.“ — „Mit den Ruten schlägt man dem Hintern kein
Bein entzwei.“ — Die Sprüche Salomonis wurden ebenfalls häufig zitiert und befolgt:
„Wer die Rute spart, haßt seinen Sohn; wer ihn liebt, der züchtigt ihn.“ — „Rute
und Strafe geben Weisheit; der Knabe aber, dem sein Wille gelassen wird, macht
seiner Mutter Schande.“ — „Wenn man ein kind howt“, sagt Geiler von Kaysers-
berg „so muß es dann die ruoten küssen und sprechen: Liebe ruot, true ruot, werest
nicht, ich thet niemer guot.“ (Ein ähnlicher Kindervers wurde noch im neunzehnten
Jahrhundert in Thüringen gesungen: Liiwa ruut, Mach mich gut, Mach mich frum,
Daß ich nei is himmela kum. Ploß-Renz, S. 423.) Vgl. dazu auch K. A. Schmidt:
Geschichte der Erziehung; Zappert: Über Stab und Rute im Mittelalter; A. Schulz:
Häusliches Leben im Mittelalter. 1902, S. 200, 201 usw.
2) Zitiert nach Zappert, S. 215.
3) Hirth: Kulturgeschichtliches Bilderbuch. 1876, S. 200.
4) Vgl. Grimm: Deutsche Sagen. S. 484.
5) Zitiert nach Zappert, S. 215.
6) Vgl. zum Beispiel die Selbstbiographie des L. Geizkofi er.
7) Schwabenspiegel, c. 158, ed. Wackemagel, S. 154.
8) Specht: Geschichte des Unterrichtswesens. S. 212.
Erzielung und Gesellschaftsordnung 2 53
„corrector“ genannt. 1 — Luther berichtet, daß ihn seine Mutter wegen
einer armseligen Nuß blutig gestäupt hatte. 2 — Die Puritaner straften die
Kinder nicht nur hart für begangene Fehler, sondern sie schlugen sie auch
sonst, weil sie dies für ihre Entwicklung für günstig hielten.
Die patriarchalische Erziehung wollte durch diese harte Behandlung der
Kinder unbedingten Gehorsam und blinde Unterwerfung erzielen. „Sowohl
die Gesetze der Natur, als die bürgerlichen gebieten einem Sohne, alles
geduldig zu ertragen, und achten ihn keiner Verzeihung würdig, wenn er
ungehorsam ist und nicht alles von seinem Vater erträgt, er mag ihn
schlagen, er mag ihn von seinem Tische, aus seinem Hause stoßen.
Wenn der Vater solchermaßen die Unterwerfung des Sohnes durchsetzte,
so äußerte sich seine freundliche Einstellung zu ihm darin, daß er für ihn
sorgte. Alice Bälint hat gezeigt,* daß der „Familienvater“ die Rolle der
nährenden Mutter übernimmt, und daß bei den Prärieindianern Nordamerikas
der gute Häuptling für seine Freigebigkeit geliebt wird, während er die
männlichen Eigenschaften einem andern Häuptling überlassen hat. (Nur
dieser darf Krieg führen oder strafen.) Im Patriarchat vereinigt der Vater
die väterliche und die mütterliche Rolle. Der Fürst im Mittelalter wird
für seine Tapferkeit und seine „Milte“ (Freigebigkeit) geliebt und bewundert.®
Der Charakter des Mannes im Patriarchat dürfte dadurch bestimmt werden,
daß er sich seinem Vater unterwirft, in der Jugend auf die psychische Potenz
verzichtet und eine weitgehende Einschränkung seiner Unabhängigkeit und
seiner Sexualität erduldet; dadurch erkauft er die Freiheit, sich auf anderen
Gebieten männlich und aktiv einzustellen und später seine Untertanen und
Kinder unumschränkt zu beherrschen. Andrerseits wird er durch den partiellen
Verzicht auf die Männlichkeit in eine weiblich-mütterliche Rolle gedrängt.
Durch diesen zwiefachen Vorgang kommt das für das Patriarchat charakte¬
ristische Resultat zustande, daß der Mann zum Familienoberhaupt und
Familienernährer wird. Durch die Identifizierung mit der Mutter gewinnt
er zu seinem Sohne ein zärtlicheres Verhältnis; die passiv-homosexuelle
Einstellung seinem Vater gegenüber überträgt er — indem der Sohn zur
1) Ratio Studiorum. II, S. 171. Zitiert nach Barth: Geschichte der Erziehung.
*9*5» S. 39.
2) Ranke: Geschichte der Reformation. Bd. I, S. 293.
3) S. Chrysost, adv. Jud. op. 1. 683, c. cnf. ibd. V, 257. e. Zit. nach Zappert.
4) A. Bälint: Der Familienvater. Imago XII, 1926.
5 ) »Der großmütige Heeresfürst, der mit beiden Händen spendete und offene Tafel
hielt, war auch das Ideal der Germanen.“ (Schurtz.)
Melitta Sctmideherg
Vater-Imago wird — auch auf diesen. 1 So wird der Sohn häufig weniger
als das eigene Kind betrachtet, sondern als Stammhalter des Geschlechtes
respektiert. Das Erstgeburtsrecht ist für das Patriarchat charakteristisch, denn
im Erstgeborenen verkörpert sich unbewußt der wiederkehrende Vater. Ent¬
spricht der Sohn dem Ideal des Vaters, kann die narzißtische Liebe sich
voll entfalten; in der Härte aber, mit der er dem Sohn sein Ideal auf¬
zwingen will, setzt sich seine Ambivalenz durch.
Der Mann, der sich seinem Vater unterworfen hat, braucht keine
Vergeltungsangst mehr zu empfinden, und da er den Sohn nicht als
Rächer fürchtet, kann sich sein Sadismus ihm gegenüber frei durch¬
setzen. Weil er sich in seiner Jugend seinem Vater und in seinem
Mannesalter seinen Vater-Imagines, Gott, seinem Lehnsherrn usw. unter¬
worfen hat, darf er von seinem Sohne das gleiche erwarten. In seiner
Einstellung zu seinem Sohne identifiziert er sich auch mit seinem eigenen
harten Vater. Er fordert die Unterwerfung des Sohnes ja bewußt nicht
zu seinem eigenen Nutzen, sondern aus moralischen und religiösen Motiven,
also im Namen seiner Vater-Imago oder seines Ideales. 2 (Narzißtische Siche¬
lt Dieser Vorgang ist besonders deutlich bei den Bauern, und in diesem Zusammen¬
hang ist folgende Feststellung von Schurtz interessant. „In den Ackerbauern gewinnen
die weiblichen Tugenden Sparsamkeit, Fleiß, Geduld das Übergewicht und bestimmen
allmählich den Charakter des Volkes; in denHirten dagegen bilden sich die Eigenschaften
des Mannes, Tatkraft, Herrscherwille und Verwegenheit aufs entschiedenste aus. Denn
die ersten Hirten sind Männer, wie die ersten Bauern Weiber gewesen sind.« (Ur¬
geschichte der Kultur. S. 246.)
2) Reik hat gezeigt (Probleme der Religionspsychologie. S. 41), daß bei der
Opferung des Erstgeborenen sowohl das geopferte Kind, als auch der opferheischende
Gott einen Ersatz des Vaters darstellen. Diese Lösung des Ambivalenzkonfliktes, die
auf der Spaltung der Vater-Imago beruht, gestattet also, daß die Aggression sich einem
Vaterersatz gegenüber frei durchsetzen darf, wenn die Illusion besteht, daß die Tat
auf Befehl einer Vater-Imago (Gottes) geschieht. Das Gefühl des befriedigten Ge¬
horsams bietet die „narzißtische Sicherung“, die Angst und Schuldgefühl nicht auf-
kommen läßt, die Identifizierung mit dem Opfer befriedigt die Selbsbestrafungs-
tendenzen. Die Befriedigung, die auf diesem Wege sowohl Es wie Über-Ich erhalten,
ist so groß, daß sie keine Kritik aufkommen läßt. Die Vater-Imago kann durch Ideale,
Gott, durch die Religion, Moral, Gerechtigkeit, der Kaiser durch Vaterlandsliebe,
Volkswohl usw. abgelöst werden, der psychologische Vorgang bleibt der gleiche: die
Ideale rechtfertigen die Aggression, der Zweck heiligt die Mittel. „Fiat justitia et
pereat mundus“ (Wahlspruch Ferdinands I.) Man braucht eben die „justitia“, um mit
gutem Gewissen die Welt zu zerstören. D ar um könnenRegierung,Kriegsführung,
Gerichtsbarkeit und Erziehung Ideale nicht entbehren, die die in ihnen
enthaltenen sadistischen Züge und die durch sie veranlaßten grausamen
Maßnahmen rechtfertigen. So hätten die Inquisitoren nicht ruhigen Gewissens
die Ketzer verbrennen können, hätten sie nicht die Überzeugung gehabt, es geschähe
„ad majorem Dei gloriam
Erziehung und Gesellschaftsordnung z55
rung, Radö.) 1 Er hat dabei auch die Überzeugung, daß die Unterwerfung
zum Wohle seines Sohnes geschieht (Affektverkehrung). 2 Die Aggression
gegen den Sohn wird durch die Angst vor ihm wesentlich verstärkt; 3 er
muß um jeden Preis gebändigt werden, damit er sich nicht empört.
Während im Matriarchat die Angst vor dem Sohne zur Vermeidung der
Erziehung führt, veranlaßt sie im Patriarchat das Gegenteil, die strenge
Erziehung.
Jones hat gezeigt, daß im Patriarchat die Unterwerfung unter den
mächtigen Vater durch die kulturelle Impotenz erkauft wird, und zwar,
wie ich hinzufügen möchte, durch die Impotenz des Sohnes, während im
Matriarchat der Vater rechtlos und psychisch kastriert ist. Jones führt aus,
daß der Verzicht auf seine Potenz es dem Sohn ermöglicht, seinem Vater
frei ins Auge zu schauen. 4 So durften im Orient nur kastrierte Männer
sich dem Herrscher nähern; der Kaiser von China und der assyrische König
waren nur von Eunuchen umgeben. 5
Eine interessante Analogie zur Kulturentwicklung stellt die Analyse
Schrebers dar. Während er vor seiner Krankheit nicht in die Sonne schauen
konnte, war er nach seiner Heilung imstande, dies minutenlang zu tun.
Freud hat nachgewiesen, daß die Sonne einen Ersatz des Vaters darstellt. 6
Schreber konnte also nach seiner Heilung, d. h. nachdem er sich mit der
Kastration und weiblichen Rolle abgefunden hatte, dem Vater frei ins Gesicht
schauen, was er früher aus Kastrationsangst nicht gekonnt hatte. Eine
ähnliche „Heilung“ um den gleichen Preis hat das Menschengeschlecht
erlebt, als es das Patriarchat annahm.
Während im Matriarchat die Männer aus Kastrationsangst die Boden-
1) Rad6: Eine ängstliche Mutter. Int. Ztschr. f. PsA. XIII, 1927.
2) Ähnlich, wie man den Ketzer verbrennt, um sein Seelenheil zu retten, oder
wie bei manchen Primitiven der Vater aus Pietät erschlagen und verzehrt wird. (Vgl.
Steinmetz: Endokannibalismus. S. 2, 3, 17, 19 usw.)
3) Reik hat ausgeführt, daß die Angst den Haß steigert,
4) J o n e s: Das Mutterrecht und die sexuelle Unwissenheit derWilden. Imago XIII, 1927.
5) In vielen Religionen waren die Priester kastriert und nach frühchristlicher
Auffassung galt die Selbstentmannung als ein gottgefälliges Werk; in der Sixtinischen
Kapelle sangen bis in die neueste Zeit Kastraten, und Eunuchen bewachten das Heilig¬
tum von Mekka. Jones hat nachgewiesen (Der Heilige Geist. Zur Psychoanalyse der
christlichen Religion, S. 124.), daß das Zölibat, die Tonsur und die weibliche Kleidung
des katholischen Priesters eine Abschwächung der Kastration bedeuten, die ihn Gott
nähern sollen. Ähnlich dürfte die Beschneidung den Juden den Monotheismus und
die Unterwerfung unter den Vater ermöglicht haben.
6) Psychoanalytische Bemerkungen über einen autobiographisch beschriebenen
Pall von Paranoia. Ges. Sehr., Bd. VIII, S. 404, 433.
2,66 Melitta »Sdimideterg
bearbeitung den Frauen überlassen, wird diese Angst im Patriarchat dadurch
überwunden, daß das Zugtier an Stelle des Pflügers kastriert wird. E. Hahn
hat ausgeführt, daß die Pflugkultur aus einer religiösen Zeremonie entstanden
ist, 1 bei der nur den Göttern geweihte, kastrierte Rinder den Pflug ziehen
durften, und daß die Kastration des Rindes nicht aus praktischen, sondern
aus religiösen Motiven vollzogen wurde. Es scheint also, daß die Ausführung
der sonst verbotenen Handlung — der Bearbeitung der Mutter Erde —
dadurch ermöglicht wird, daß die Schuld und die Strafe für diese Tat
auf das Zugtier verschoben wird.
Aus dem hochkomplizierten Prozeß, der zum Untergang des patriarchali¬
schen Systems führte, möchte ich einen Vorgang hervorheben. Die Rebel¬
lion gegen den Vater nahm in Frankreich im 18. Jahrhundert vorwiegend
die Form der intellektuellen Kritik an. Dadurch wurden die patriarchalischen
Ideale allmählich zersetzt. Die große staats- und gesellschaftserhaltende Kraft
dieser Ideale bestand darin, daß sie Urteil und Schuldgefühl verstummen
ließen. Mit dem Verlust dieser Ideale mußten Vernunft und Gewissen wieder
mit elementarer Kraft erwachen. So entstand bei den herrschenden Klassen
in den letzten Jahrzehnten vor der Revolution ein außerordentlich starkes
Schuldgefühl. Die Adeligen spielten Schäferspiele, träumten von den glück¬
lichen Wilden, sehnten sich „zurück zur Natur“ („natürlich“ sein hieß frei
sein von gesellschaftlichen Vorurteilen), statt ihre Vorrechte auszuüben. Als
die Revolution ausbrach, war niemand da, der sich wehrte; 2 das Schuldgefühl
lähmte alle. Anfangs freute sich der schwache, gutmütige König Freiheit
geben zu dürfen; erst als es zu spät war, merkte er sein Verhängnis und
versuchte vergebens, sich zur Wehr zu setzen.
Die Rebellion der Söhne einerseits, das Schuldgefühl der Väter andrer¬
seits zerstörte die patriarchalische Lösung des Vaterverhältnisses. Der Vater,
der sich selbst nicht mehr bedingungslos der Autorität des Herrschers unter¬
warf, konnte auch nicht mehr unumschränkter Herr seines Sohnes sein;
der Fürst, der nicht mehr „von Gottes Gnaden“ war, hatte nicht nur Rechte,
sondern auch Pflichten. So zeigt sich zu Beginn des 19. Jahrhunderts auf
allen Gebieten die Tendenz, dem Vater eine nicht übermäßige Macht zu
belassen, dem Sohne etwas Freiheit zu gewähren. Die Leibeigenschaft wird
1) Hahn: Demeter und Bauto. 1896; Entstehung der Pflugkultur. 1909; Entstehung
der wirtschaftlichen Arbeit. 1908; Das Alter der wirtschaftlichen Kultur. 1905.
2) „Wenn eine Aristokratie, wie die Frankreichs, am Anfang der Revolution mit
einem sublimen Ekel ihre Privilegien wegwirft und sich seihst einer Ausschweifung
ihrer moralischen Gefühle zum Opfer bringt, so ist das Korruption.“ (Nietzsche;
Jenseits von Gut und Böse. S. 236.)
Erhellung und Gesellschaftsordnung
beseitigt, Arbeiterschutzgesetze werden ins Leben gerufen; in der Gerichts¬
pflege wird die Folter aufgehoben, die drakonischen Strafen werden ge¬
mildert. In der Erziehung ist der Vater bestrebt, dem Sohne ein verständnis¬
voller Führer und älterer Freund zu sein. In der Religion tritt an Stelle
des „Herrgottes der „liebe Gott“. Dem unumschränkten Vater des Patri¬
archates entsprach ein harter und allmächtiger Gott; der Gott der Auf¬
klärungszeit hingegen ist ebenso schattenhaft und machtlos wie der König
in der konstitutionellen Monarchie, und seine Macht wird durch die Natur¬
gesetze ähnlich eingeengt wie die des konstitutionellen Monarchen durch
die Verfassung. Es läßt sich nicht verkennen, daß eine sublime, panthe-
istische Auffassung Gottes ihn — psychologisch — aller Vaterattribute
und seiner ganzen Macht beraubt. So wird auch Christus von den Reli¬
gionsphilosophen (David Strauß) seiner Göttlichkeit entkleidet und zu einem
guten, gerechten, frommen Menschen — zu einem guten Vater jener libe¬
ralen Zeit gemacht.
Durch die Greuel der Revolution — die Verwirklichung des Vater¬
mordes wurden die meisten von zu weitgehenden Forderungen abge¬
schreckt. Ihr Schuldgefühl verlangte, daß sie ihre Rechte und ihre Freiheit
vom Vater im Guten erhielten, und sie suchten nach einem Kompromiß,
das nur auf Vernunft und Gerechtigkeit basieren sollte. Es war keine
Empörung mehr gegen den Vater, sondern ein nüchterner Vergleich mit
ihm; kein erbitterter Kampf mehr gegen Gott, sondern ein sachliches Ab¬
wägen der Argumente für und wider seine Existenz. Dieses affektlose nüch¬
terne Verhältnis zum Vater wurde dann auf alle weiteren Objektbeziehungen
übertragen. Während die religiöse Weltauffassung auf einer Empfindung,
dem Glauben, beruht und ihre Rehauptung der Existenz Gottes durch das
allen Menschen innewohnende religiöse Gefühl begründet, sollen in der
materialistischen Weltauffassung alle Gefühle ausgeschaltet werden und nur
Vernunftgründe entscheiden. 1 2
Diese Einstellung des normalen Kulturmenschen wird besonders deutlich
durch einen Vergleich mit dem Primitiven oder dem kleinen Kinde. Für
diese ist eine objektive Einstellung völlig undenkbar, sie kennen nur „gut“
und „böse ohne Milderung und Zwischen grade. Die Stärke ihrer eigenen
ungebrochenen Affekte wird auf das Objekt projiziert, das Geliebte als voll-
1) Federn: Die vaterlose Gesellschaft. 1919.
2) Kant bezeichnet als Wahlspruch der Aufklärung: „Habe den Mut, dich deines
Verstandes zu bedienen.“ (Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? in der Ber¬
linischen Monatsschrift. 1784.)
258
Melitta Schmicleberg
kommen gut, das Gehaßte als absolut böse empfunden. Erst durch eine
Abschwächung der eigenen Affekte kann das Ideal der Objektivität, des
„sine ira et Studio“, des „ desinteressement “, „einer von sich selbst abstra¬
hierenden Gerechtigkeit“ usw. aufgestellt werden. Es scheint, daß die De¬
personalisation — wie auch Reik annimmt 1 — bis zu einem gewissen
Grade eine Kulturerscheinung ist, die als die unserer Zeit entspre¬
chende Lösung des Ödipuskomplexes zu betrachten wäre.
Zur Begründung dieser Ansicht soll eine kurze Beschreibung der klini¬
schen Depersonalisation wiedergegeben werden: 2
Die Depersonalisation' entsteht aus einem nicht bewältigten Ambivalenz¬
konflikt und bedeutet einen Fluchtversuch vor Affekten, denen das Ich sich
nicht gewachsen fühlt. Die Zurückziehung der Libido, die an einem be¬
stimmten Punkt eingesetzt hatte, wird allmählich auf andere Objekte ver¬
schoben und immer mehr verallgemeinert. Es besteht ein ausgesprochenes
und beklagtes Minus an Gefühlsintensität; an Stelle der Unmittelbarkeit
der Empfindungen ist eine abnorm erhöhte und präzisierte Selbstbeobach¬
tung getreten.
Bei der Depersonalisation dürfte — nach Reik — eine partielle Re¬
gression auf die anal-sadistische Stufe stattfinden; die Gefühlszurückhaltung
gehört der Analerotik an, die Selbstbeobachtung beruht auf dem gegen das
Ich rückgewendeten Sadismus. In der teilweisen Ablösung der Libido von
der Außenwelt und den Objekten setzen sich sadistische Impulse und Todes¬
wünsche durch; das „Flachsehen“ der Depersonalisierten (die Personen scheinen
wie Puppen, Schatten usw.) ist unbewußt ein Vernichtungsäquivalent.
Nach Nunberg wird die Einbuße an Aktivitätsgefühl und Lebhaftigkeit
der Empfindungen als Kastration aufgefaßt. — Alle Autoren heben die
narzißtische Regression bei der Depersonalisation hervor; Schilder ver¬
gleicht sie mit einer auf das Seelenleben gerichteten Hypochondrie.
Bei der Depersonalisation zeigt sich häufig eine gesteigerte Aufmerksam¬
keit für die Außenwelt, an der die Ichbezogenheit der äußeren Eindrücke
auffallend ist. So wird die Landschaft nicht ästhetisch oder sachlich betrachtet,
sondern ihr Bild wird mit eigenen Erinnerungen oder Affekten verknüpft. 3 Es
1) Reik: Psychologie und Depersonalisation, In: Wie man Psychologe wird.
2) Diese Beschreibung ist ein Auszug aus der Arbeit von Reik: Psychologie und
Depersonalisation. Vgl. aber auch: Nunberg: Depersonalisationszustände im Lichte
der Psychoanalyse. Int. Ztschr. f. PsA. X, 1924. Schilder: Psychiatrie auf psycho¬
analytischer Grundlage. 1925. Sa dg er: Über Depersonalisation. Int. Ztschr. f. ärztl.
PsA. XIV, 1928.
3) Reik: Wie man Psychologe wird. S. 68.
Erstellung und Gesellschaftsordnung
ist interessant, daß Sachs die gleiche Einstellung als charakteristisch für
den modernen Menschen hervorhebt. 1 „Die Antike wertet das Objekt, dem
das Naturgefühl gilt, nicht das Gefühl, die Moderne wertet das Gefühl,
während das Objekt ihr fast indifferent ist.“ — „Während für das Natur¬
gefühl der Alten die Personifikationstendenz typisch ist, schieben wir der
Natur unsere Affekte zu“ (z. B. die „Trauer des Waldes“, das „Lachen des
Frühlingshimmels“). „Diese Loslösung der Affekte vom Subjekt macht das
Festhalten eines individuellen Objektes unmöglich.“ — Aber auch bei der
sachlichen Einstellung zur Natur steht die Ichbezogenheit im Vordergrund.
Das Interesse der Allgemeinheit an den Naturwissenschaften ist rein von
praktischen Gesichtspunkten geleitet. Von der weiteren Erforschung der
Natur wird eine bessere Befriedigung der persönlichen Bedürfnisse erwartet.
Die Auffassung der modernen Zeit, die den Einzelnen bloß als Maschine
oder als noch weniger, nur als Bestandteil einer Masse, als bloße Zahl be¬
trachtet, ist ein Gegenstück zur Empfindung der Depersonalisierten, denen
die Menschen als Schatten, Maschinen usw. erscheinen. In diesem „Flach¬
sehen“ der Depersonalisierten setzen sich (nach Reik) die sadistischen Ten¬
denzen durch; die Geringschätzung des Individuums in der Gegenwart
wiederum ermöglicht und rechtfertigt die grausamsten Maßnahmen, zum
Beispiel auf politischem Gebiete.
Ähnlich wie bei der klinischen Depersonalisation ein beklagtes Minus
an Gefühlsintensität besteht, klagt unsere Zeit (vor allem um die Jahrhundert¬
wende) über einen Mangel an Lebhaftigkeit der Gefühle; die dadurch ver¬
ursachte qualvolle Leere versucht sie durch Sensationen zu betäuben. Wenn
wir die heutige Sexualfreiheit mit den Tabus der Wilden oder der völligen
Unterwerfung im Patriarchat, ja auch nur mit der Sexualmoral von vor
25 Jahren vergleichen, 2 so scheint es zunächst, als ob der Ödipuskomplex
in unserer Zeit mildere Formen angenommen hätte. Und doch sind die
Psychoneurosen nicht seltener und die Schwierigkeiten der Gesunden nicht
geringer geworden! Die Sexualfreiheit dürfte um den Preis der mangelnden
Befriedigung erkauft worden sein. Die moderne Einstellung, die „Sachlich¬
keit“ in der Liebe fordert, entblößt die Sexualität aller Gefühle. Sie steht
auf der Stufe der Partialliebe, da sie bloß auf den Koitus Wert legt und
den Partner nur als „irrelevantes Anhängsel“ betrachtet. 3 Der von Freud
1) Sachs: Über Naturgefühl, Imago I, 1912, S. 129, 130.
2) Vgl. Freud: Die „kulturelle“ Sexualmoral und die moderne Nervosität. Ges.
Sehr., Bd. V.
3) Nach einem Ausdruck von Abraham.
Melitta iSdimideberg
260
beschriebene Mechanismus der Spaltung des Liebeslebens , 1 nur dort be¬
gehren zu können, wo man nicht liebt, scheint für die moderne Sexualität
typisch geworden zu sein . 2 Die Affektentblößung gestattet die Umgehung
des Sexualverbotes und erspart Angst und Schuldgefühl , 3 denn es ist nicht
die Sexualbetätigung, sondern die Liebesregung, die verpönt ist . 4
Das Bestreben, die Arbeit von allen libidinösen Momenten zu befreien,
die Phantasie auszuschalten, jede überflüssige Bewegung zu vermeiden
auf die persönliche Beziehung zum Arbeitgeber und die selbständige
Leistung zu verzichten, verringert das mit der Arbeit zufolge ihrer sexual¬
symbolischen Bedeutung 5 verknüpfte Schuldgefühl . 6 Sie kann nun, von
den Affekten und den libidinösen Besetzungen entblößt, von den Ödipus¬
strebungen isoliert, voll geleistet werden, da sie ja nur des praktischen
Nutzens halber geübt wird . 7 Sie wird nicht durch Angst gestört, bietet aber
1) Über die allgemeinste Erniedrigung des Liebeslebens. Ges. Sehr., Bd. V.
2) Ein Witz im „Simplizissimus“ illustriert diese Einstellung: Eine Dame bestellt
ihren Freund für 5 Uhr 15. Als er sich ihr mit Liebesbeteuerungen und Zärtlich¬
keiten nähern will, unterbricht sie ihn, es sei zu solchen Vorbereitungen keine Zeit,
denn ihr Fechtlehrer komme um 3 Uhr 25.
3) Alexandra Kollontay schildert in ihrer Erzählung „Die Liebe der drei Ge¬
nerationen“ (Wege der Liebe. 1925), wie das junge Mädchen zufolge Affektentblößung
sich über alle Sexualverbote hinwegsetzen kann. Sie hat ein Verhältnis mit dem Ge¬
liebten ihrer Mutter, ohne sich irgendwelche Bedenken zu machen, weil sie nicht
verstehen kann, daß eine sexuelle Beziehung eine Bedeutung haben könnte. Sie hat
auch mit andern Männern Geschlechtsverkehr. — „Du sagst, Mutter, das ist gemein,
man soll sich nicht ohne Liebe hingeben, — aber sage selbst, wenn ich Dein zwanzig¬
jähriger Sohn wäre, würdest Du auch entsetzt sein, wenn er Verkehr mit Frauen hätte,
die ihm gefallen?“ — Sie findet es einfacher und besser, sich ohne Liebe hinzugeben,
denn „zum Verlieben braucht man Zeit, — wann soll man dann arbeiten?“ — Es
gibt auch Menschen, die sie liebt. — »Ich habe Ihnen gesagt, daß ich die nicht
liebe, mit denen ich verkehrt habe, aber ich habe nicht behauptet, daß ich niemand
liebe.“ — Die Männer, die sie liebt, sind Vater-Imgines, die als Sexualobjekte nicht
in Betracht kommen (z. B. Lenin). Sie gibt auch den Grund ihrer merkwürdigen
Einstellung an: „Ich will nicht so lieben, wie Mutter geliebt hat.“ Und ausführ¬
licher: „Ich denke an meine Kindheit, wie Mutter damals zwischen Konstantin und
meinem Vater hin- und herschwankte, verzweifelt war und sich quälte . . . und alle
litten darunter ... so etwas will ich nicht durchmachen.“
4) In der französischen Aristokratie vor der Revolution war alles erlaubt; aber
„t/n Sentiment profond eüt semble bizarre et meme ^ridicule^ en tout cas inconvenant .“ (Taine:
Les Origines de la France contemporaine. I, S. 172,)
5) Freud: Hemmung, Symptom und Angst. Ges, Sehr., Bd. XI.
6) Fromm (Der Sabbath. Imago XIII, 1927) zeigte, daß das Sabbathgebot diesem
Schuldgefühl entspringt und eine Modifizierung des Sexualverbotes darstellt.
7) In der Medizin führt die Spezialisierung und die Verwendung von Instrumenten
zu einem außerordentlichen Aufschwung, bewirkt aber — nach der allgemeinen Auf¬
fassung —, daß der Arzt die menschliche Beziehung zum Patienten verliert.
Erziehung und Gesellschaftsordnung 261
auch nur wenig Befriedigung, ein Moment, das dazu beiträgt, sie er¬
müdender zu gestalten.
Diese für unsere Zeit charakteristische Überschätzung der praktischen
Vorteile und der materiellen Kultur entspricht, wie Stärcke und Röheim
ausgeführt haben, der spätanalen Stufe. Diese Einstellung dürfte durch
den gleichen Mechanismus zustandegekommen sein, den Sachs bei der
Genese der Perversionen beschrieben hat, nämlich daß der Lustgewinn
eines Partialtriebes zur Abwehr der Ödipuswünsche verstärkt wird.
Bei der Depersonalisation wird die Selbstbeobachtung und eine verstärkte
Aufmerksamkeit zum Ersatz für die gestauten Affekte (Reik); ähnlich tritt
in unserer Kultur das Denken weitgehend an die Stelle des Handelns. Die
Selbstbeobachtung objektiviert sich als Psychologie , 1 die Beobachtung der
Außenwelt als Naturwissenschaft. Die Objektivität, die Vorbedingung des
wissenschaftlichen Denkens ist der klinischen Depersonalisation analog; die
Depersonalisation hört auf, indem das neutrale Gebiet des Denkens, wohin
die Menschen vor ihren Affekten flüchteten, von diesen gleichen Affekten
allmählich überströmt wird. Indem die Konflikte nicht im realen Leben,
sondern auf einem abstrakten Gebiete ausgetragen werden, dürfen sich die
Triebe frei äußern; dadurch werden diese abstrakten Gebiete realer, und
indem sie den Affekten genügend Abfuhr bieten, kommt eine Selbstheilung
zustande 2 .
1 ) Vgl. Reik: Wie man Psychologe wird.
2) Eine Analogie dazu bietet eine Epoche, die man gerne mit dem Ausgang des
neunzehnten Jahrhunderts vergleicht: die römische Kaiserzeit. Die stolzen Römer, die
sich ihren wahnwitzigen Tyrannen unterwerfen mußten, flüchteten in einen Zustand
der anscheinenden Gleichgültigkeit. — „nil admirari“ —, um sich Konflikte und Angst
zu ersparen. Anscheinend litten sie gar nicht unter der Tyrannei; aber gleichzeitig
wurde ihr Leben schal und öde, und auch das schrankenlose Ausleben bot ihnen keine
wirkliche Befriedigung. Aus diesem Zustande der Depersonalisation befreite sie das
Christentum, das ihnen eine Lösung des Vaterkonfliktes ermöglichte. Die christliche
Lehre gestattete ihnen die Unterwerfung unter einen gütigen himmlischen Vater, der
sie gegen ihren irdischen Tyrannen beschützte, und ermöglichte ihnen eine masochisti¬
sche Identifizierung mit dem Vater (mit Christus). Während in unserer Zeit die De¬
personalisation aus der Unterdrückung der Aggression entstanden ist und auf hört, wenn
diese einen vom Über-Ich gestatteten Ausweg findet, war es damals die Unerträglichkeit
er Unterwerfung, die zu dem Zustande der Affektlähmung führte. Diese schwand, als
die Unterwerfung im Christentum einen ichgerechten Ausdruck fand.
In dem nach Fertigstellung meiner Arbeit erschienenen Buche „Bubi. Das Leben
des Cahgula“ schildert Sachs die Unrast und das Gefühl der Öde, unter dem die
Römer der Kaiserzeit litten. Sie konnten ihre Energie nicht entspannen; das Handeln
war ihnen genommen und das Träumen nicht gegeben. Es blieb ihnen nur Genuß
ohne Phantasie und dieser konnte sie nicht befriedigen.
2^2 Melitta Sümudeberg
Die Wissenschaft ermöglicht dem Forscher durch gedankliche Erfassung
der Welt eine Identifizierung mit dem Allvater und gestattet ihm einen
Abglanz seiner Allmacht (Rad6). So kann der Held der Feder und der
Retorte sich auf eine weniger schuldbeladene Art die narzißtische Be¬
friedigung und Allmacht verschaffen, 1 die früher nur der Held des Schwertes
errang. Es scheint, daß die jeweilige Verarbeitung des Ödipuskomplexes,
die in den verschiedenen Gesellschaftsordnungen zum Ausdruck gelangt,
sich auch in den religiösen und wissenschaftlichen Auffassungen auswirkt.
Dem Matriarchat entsprachen die großen Muttergottheiten, 2 dem Patriarchat
der harte, allmächtige „Herrgott“ (der grausame Jahwe der Juden, der
christliche Gott mit den Höllenstrafen 3 ), der konstitutionellen Monarchie
der „liebe Gott“ mit geringerer Macht. Freud hat gezeigt, daß die Wissen¬
schaft die Religion ablöst. 4 Radö hat ausgeführt, 5 wie der Glaube an Gottes
Allmacht in der deterministischen Auffassung der Wissenschaft fortlebt.
Ungefähr gleichzeitig, als in der Politik die Demokratie die absolute
Monarchie ablöste, trat in der Wissenschaft die polyenergetische Auffassung
an die Stelle der monotheistischen Weltauffassung. Während in den Natur¬
wissenschaften die statistische Methode die strenge Gültigkeit des Kausalitäts¬
prinzips (das nach Radö einen Ersatz des Glaubens an Gottes Allmacht
darstellt) erschüttert, geht im politischen Leben eine Umwälzung vor sich,
die alle Vater-Imagines beseitigen will. Die statistische Methode sieht nur
eine Gesamtheit von Erscheinungen, für sie verschwindet der Einzelvorgang,
genau so wie für den Bolschewismus das Individuum belanglos ist.
1) Die Selektionstheorie Darwins setzt, psychologisch ausgedrückt, die Natur,
die durch Auslese für die Höherentwicklung der Organismen sorgt und alles zweck¬
mäßig eingerichtet hat, an die Stelle Gottes. Andrerseits wird die Natur vermensch¬
licht: sie züchtet die Organismen auf die gleiche Art wie der Mensch die Haustiere.
Diese Gleichsetzung der Menschen mit der Natur, die Gott, den Schöpfer vertritt,
bietet dem Menschen den hohen narzißtischen Gewinn, gottgleich zu scheinen. Wohl
aus diesen psychologischen Gründen blieb die Selektionstheorie mit der Deszendenz¬
theorie immer eng verknüpft, — inhaltlich ist diese Verknüpfung nicht bedingt und
wissenschaftlich sind beide von sehr verschiedenem Wert, — denn der narzißtische
Gewinn, den die Selektionstheorie bot, bedeutete eine Entschädigung für die narzißti¬
sche Kränkung, die die Deszendenztheorie verursacht hatte. (Freud: Eine Schwierig¬
keit der Psychoanalyse. Ges. Sehr., Bd. X.)
2) Vgl. Freud: Massenpsychologie und Ich-Analyse. Ges. Sehr., Bd. VI, S. 549.
5) „Über dem Thore des christlichen Paradieses und seiner ewigen Seligkeit würde
jedenfalls mit besserem Recht die Inschrift stehen dürfen ,auch mich schuf der ewige
Haß‘.“ (Nietzsche: Genealogie der Moral. S. 53 2 -)!
4) Freud: Totem und Tabu. Ges. Sehr., Bd. X.
5) Radö: Die Entwicklung der Naturwissenschaften. Imago VII, 1922.
Erziehung und Gesellschaftsordnung 2 63
An den zwei extremen Polen der abendländischen Kultur, im kapita¬
listischen Amerika und in der bolschewistischen Sowjetunion, vollzieht sich
die Entwicklung, die zur Nivellierung und zum Verlust der Persönlichkeit
führt, am deutlichsten, doch in einer milderen Form zeigt sie sich gegen¬
wärtig überall. Die gleichförmige dunkle Männerkleidung ist ein Zeichen
der Demokratisierung. Vor der französischen Revolution trugen die Herren
prächtige Kleider aus Seide und Samt, nur der untere Stand hatte dunkle
Wollkleider. Die Revolution hob mit den Standesunterschieden auch die
Kleiderordnungen auf, — und jetzt tragen alle Männer die Kleidung, die
früher ein Zeichen der Leibeigenschaft war. Sie wollen alle gleich, sie
wollen keine „Herren mehr sein. Heute sind die Männer glatt rasiert,
während früher der Hart der Stolz des Mannes war; die Ausdrücke
„Milchbart , „bartloser Junge zeigen noch die Verachtung vergangener
Zeiten für diejenigen, die ihn nicht besaßen. Heute scheinen die Männer
auf die Attribute des Vaters verzichtet zu haben. In einem andern Zu¬
sammenhang kommt A. Sperber zu einem ähnlichen Ergebnis; 1 sie führt
aus, daß die Männer unserer Zeit nicht Vater werden, sondern lieber die
Rolle des Kindes beibehalten und dadurch lange jung bleiben wollen. Die
Männer verzichten aus Kastrationsangst auf die Autorität und Rolle des
Vaters und regredieren narzißtisch zum Kinde. 2 3
Der Mann, der die Vaterrolle aufgibt, verzichtet damit zugleich auf die
selbständige Leistung. Im modernen Leben zeigt sich auf jedem Gebiete
die Tendenz, die Verantwortung und Initiative auf verschiedene Personen
zu verteilen. Angst und Schuldgefühle verringern sich, wenn die verpönte
Tat mit Hilfe von Mitschuldigen ausgeführt wird.-* So dürfte auch das mit
der Arbeit zufolge ihrer sexualsymbolischen Bedeutung verknüpfte Schuld¬
gefühl durch die Arbeitsteilung und Mechanisierung überwunden werden.
Das mit der Regierung, Gerichtspflege, Kriegsführung usw. verknüpfte
Schuldgefühl wegen der darin enthaltenen sadistischen Tendenzen dürfte
auf analoge Art bewältigt werden. In der Gerichtspflege wird die Verant¬
wortung für das Urteil auf mehrere, auf die Schöffen, Sachverständigen, den
Staatsanwalt, Verteidiger usw. verteilt und auch noch dadurch verringert,
1) Über die seelischen Ursachen des Alterns, der Jugendlichkeit und der Schön-
heit, Imago XI, 1925.
2) Diese narzißtische Einstellung unserer Zeit dokumentiert sich unter anderem
auch in der Überschätzung der Bequemlichkeit und des persönlichen Luxus.
3) Sperber: Zum sexuellen Ursprung der Sprache, Imago I, 1912. Sachs: Ge¬
meinsame Tagträume. 1924.
264 Melitta ScLmideberg
daß der Prozeß durch mehrere Instanzen geht, daß die Richter an Gesetze
und Vorschriften gebunden sind, und dadurch, daß der Strafvollzug von
der Urteilsfällung getrennt erfolgt.
Ähnlich verhält es sich auch mit der modernen Kriegsführung. Die Tat¬
sache, daß unpersönlich aus der Ferne geschossen wird und nicht Mann gegen
Mann kämpft, daß niemand aus freiem Willen, sondern jeder auf Befehl
seines Vorgesetzten handelt, — der ihn wieder nur von seinem Vorgesetzten
erhält, — der Glaube, für Kaiser und Vaterland, Gerechtigkeit und Mensch¬
lichkeit zu kämpfen (narzißtische Sicherung), ferner der Umstand, daß zufolge
der Fernwaffen das Tabu der Berührung gewahrt wird, das alles sind Mo¬
mente, die der Ausschaltung des Schuldgefühls dienen. Dadurch kommt
das Paradoxon zustande, daß die Kulturmenschen sich ohne Gewissens¬
regung im Kriege hinschlachten, während die Wilden, aus dem Kampfe
heimkehrend, als „Mörder“ verfemt und Tabus und Sühnehandlungen unter¬
worfen sind. 1
Die psychologische Bedeutung der Fernwaffen, Werkzeuge und Maschinen
dürfte darin liegen, daß sie die Ausführung verbotener Handlungen ohne
Berührung des Objektes ermöglichen. Freud hat gezeigt, 2 daß bei der Be¬
rührung aggressive und sexuelle Tendenzen befriedigt werden, und daß
das „Tabu der Berührung“ der Abwehr dieser Regungen entspringt. Die
Werkzeuge ermöglichen es, dieses Tabu zu umgehen. In tieferer Bedeutung
dürften die Waffen, Maschinen usw. als belebt gedacht sein und den Penis
des Vaters oder den Vater selbst darstellen. Das Schuldgefühl würde dann
dadurch verringert, daß die Schuld auf das Werkzeug, das die verbotenen
Handlungen ausführt, verschoben wird, ähnlich wie beim Ackerbau das
Zugtier an Stelle des Pflügers kastriert wird.
Ein Beispiel dafür, daß das Vermeiden der Vaterrolle aus Schuldgefühl
und Vergeltungsangst geschieht, bietet das Leben Rousseaus. In seiner
Ideologie drückt sich die Auffassung aus, man dürfe keine Macht haben,
sonst würde man sie mißbrauchen. Er hält die Ungleichheit für die Quelle
alles Unheils. In der Erziehung will er jede Gewalt vermeiden. Der Erzieher
soll seinem Zögling nicht befehlen, sondern seine Ansprüche als von außen
kommende Forderungen, als Naturnotwendigkeiten darstellen. Er will sogar
den Wettkampf bei körperlichen Übungen vermeiden, der Schüler soll nur
seine eigenen Leistungen zu übertreffen suchen. 3 Seine Forderung nach
1) Vgl. Freud: Zeitgemäßes über Krieg und Tod, Ges. Sehr., Bd. X.
2) Hemmung, Symptom und Angst. Ges. Sehr., Bd. XI.
3) Emile.
Erziehung und Ge.se1 1 sdiaft.soreinung ä 65
Gleichheit und nach Vermeidung der Gewalt, bedeutet psychologisch, keiner
dürfe mehr sein, mehr Macht haben, keiner dürfe Vater sein. 1 In dieser
Ideologie zeigt sich das Bestreben, die Todes wünsche gegen den Vater zu
unterdrücken, um der Vergeltungsangst zu entgehen. Er sagt selbst: „Ich
floh mit aller Kraft alle Verhältnisse, aus denen mir ein Vorteil erwachsen
konnte, der dem Vorteil eines andern entgegenstand und folglich den
geheimen, wenn auch völlig unbewußten Wunsch bedingte, der andere
möchte der Benachteiligte werden.“ 2 Er lehnte ab, von Mylord Marshall
testamentarisch bedacht zu werden und erhielt anstatt dessen eine Rente.
„Man wird meinen, daß ich bei diesem Wechsel durchaus meine Rech¬
nung fände; das mag sein. Wenn ich aber das Unglück haben sollte,
dich, der du mein Wohltäter und mein Vater bist, zu überleben, so weiß
ich doch wenigstens, daß ich mit dir alles verliere, und nichts zu ge-
winnen habe.“ 3 4 5
Rousseau, der stark masochistisch'*' und passiv-homosexuell eingestellt
war, gewöhnlich für sich von andern sorgen ließ, hat seine Kinder ins
Findelhaus gegeben. Er sagt selbst: „Wer die Pflichten eines Vaters nicht
zu erfüllen vermag, hat nicht das Recht, es zu werden.“5 — „Jean-Jacques
hat niemals ein Mensch ohne Gemüt, ohne Gefühl sein können, ein un¬
natürlicher Vater. „Hätte ich meine Kinder Madame d’Epinay oder
Madame de Luxembourg überlassen, würden sie glücklicher sein? Ich weiß
es nicht; aber ich bin sicher, daß man sie dahin gebracht hätte, ihre Eltern
zu hassen, ja, sie vielleicht zu verleugnen; da ist es hundertmal besser,
daß sie sie nie gekannt haben.“ 6 Er verleugnet also seine Kinder aus Angst,
sie könnten ihn später verleugnen, er gibt sie ins Findelhaus, weil er ihren
Haß fürchtet. Er vermag aber nicht einmal in der Phantasie die Vater-
1) Freud zeigt, daß die Forderung nach Gleichheit und Gerechtigkeit eine Re¬
aktionsbildung auf die Eifersucht der Geschwister ist; so lautete auch die Losung
der Revolution: „Gleichheit, Brüderlichkeit“. In diese allgemeine Formel der Ab¬
lehnung der Bevorzugung paßt aber auch noch die speziellere hinein: niemand von
den Brüdern dürfe die Vaterrölle übernehmen. So hieß die Forderung der Revolution
weiter noch: „Freiheit“, d. h. frei von einer Vater-Imago.
2) Gonfessions. I.
3) Ibidem.
4) Er beschreibt die Wollust, die er anläßlich einer Züchtigung durch die Pflege¬
mutter empfand, und fügt hinzu: „Wer möchte glauben, daß diese Kinderstrafe für
den ganzen Rest meines Lebens meine Neigungen, meine Begierden, meine Leiden-
-schaften bestimmt hat“. (Gonfessions, S. 38.)
5) Emile. I.
6) Confessions. II.
Imago XVIII. _
a66 Melitta Sdunidekerg
rolle zu spielen: sein itmile, dem er sein Leben widmet, ist eine Waise,
der er nur Freund und Führer ist — nicht Vater. 1
Ähnliche Tendenzen zeigen sich auch in der modernen Pädagogik. Die
Kinder sollen in einer Gemeinschaft, fern von der Familie, möglichst ohne
Erwachsene aufwachsen; man ist bestrebt, nicht nur den realen Vater,
sondern auch den Lehrer als Autoritätsperson auszuschalten. Die Kinder
sollen sich selbst regieren, nach Möglichkeit sogar sich selbst erhalten, —-
die Gemeinschaft tritt an die Stelle des Lehrers, sie wird zur Vater-Imago.
Der Verzicht seitens der Lehrer scheint vor allem aus ihrem Schuldgefühl
zu entspringen; dieses läßt den Erzieher die Grenzen und Unzulänglich¬
keiten der Pädagogik so stark empfinden, daß er die Erziehung lieber ganz
aufgeben will.
Die Empörung der Söhne, die am deutlichsten in den Bestrebungen der
Kommunisten zum Ausdruck gelangt, geht auf die Beseitigung der macht¬
vollen Persönlichkeit, des Führers, des Vaters. Das Schuldgefühl der Väter
und der herrschenden Klassen leistet dieser Entwicklung Vorschub. Wenn
aber selbst alle Ideale des Kommunismus sich restlos verwirklichen ließen,
so könnte die psychische Bedeutung des Vaters durch eine soziale Umwälzung
doch nicht aus der Welt geschafft werden. Der Ödipuskomplex würde eine
neue Form annehmen, der Staat, das Volk, die Masse an die Stelle des
Führers treten.
Während es beim Primitiven die Angst vor der Bache des Toten, beim
Frommen des Mittelalters die Furcht vor der Strafe Gottes war, die ihn
vom Verbrechen abhielt, so schreckt den Menschen unserer Zeit das Urteil
der Gesellschaft. Allmählich nimmt der Staat die Stelle des Herrschers, das
-
Volk die Stelle des Führers, die Moral die Stelle Gottes, die Gesellschaft
die Stelle des Vaters ein. So lauten z. B. in Deutschland die Gerichtsurteile
heute „im Namen des Volkes“ an Stelle des früheren „im Namen des Kaisers‘.
„Vox populi vox dei “.
Der Staat ist aber nicht nur zum richtenden und strafenden Über-Ich,
sondern auch zum schützenden, ernährenden Vater geworden. Er soll ein
Recht auf Arbeit gewähren, ein Existenzminimum garantieren, Arbeitslose
unterstützen, für Alte und Kranke sorgen, Leben und Besitz der Bürger
schützen, für Sicherheit, Ordnung, Sauberkeit sorgen, Epidemien und Un¬
glücksfällen Vorbeugen. Er übernimmt immer mehr die Erziehung der
Kinder.
1) Ich verweise auch auf den nach Fertigstellung meiner Arbeit erschienenen Auf¬
satz von Laforgue über Rousseau. (Imago XVI, 1930.)
Erziehung und Gesellschaftsordnung
Diese Verarbeitung des Ödipuskomplexes bedeutet wahrscheinlich keine
Milderung dem Patriarchat gegenüber. Denn während selbst ein harter Vater
Schwächen und Unvollkommenheiten hat und trotz aller Strenge manch¬
mal auch freundliche Regungen äußert, ist eine abstrakte Vater-Imago starr,
unerbittlich und unpersönlich. Vor allem aber kann sich der Sohn im
Patriarchat mit dem Vater identifizieren; der Stolz auf den Vater und die
Erwartung der Zukunft, in der er selbst Vater sein wird, können auch
über eine harte Kindheit hinweghelfen. Dadurch, daß dieses Moment weg¬
fällt, 1 muß der Sohn für immer in der passiven kindlichen Rolle verharren,
wie ja auch in einem vollkommenen Staate, der alle Autorität übernommen
hat, der Erwachsene und das Kind gleich viel — oder gleich wenig Rechte
haben.
Ich versuchte in dieser Arbeit, ausgehend von der Ansicht von Jones,
daß jede Gesellschaftsordnung eine bestimmte Form des Ödipus¬
komplexes darstellt, zu zeigen, daß diese sich in der ganzen Ideologie,
Moral, Religion, Wissenschaft, Erziehung, wirtschaftlichen Tätig¬
keit und bestimmten Sitten dieses Systems aus wirkt 2 und gewöhn¬
lich als „Zeitgeist bezeichnet wird. 3 Die Erziehung jeder Kulturepoche
ist für sie charakteristisch. Erziehung und Gesellschaftsordnung sind
1) Freud sagt: „Sieht es doch fast so aus, als ob das Vorhandensein eines starken
Vaters dem Sohne die richtige Entscheidung in der Objektwahl für das entgegen¬
gesetzte Geschlecht versichern würde.“ Eine Kindheitserinnerung des Leonardo da
Vinci. Ges. Sehr., Bd. IX, S. 412.
2) Die Frage ist zu erörtern, inwieweit man berechtigt ist, in wissenschaftlichen
Auf fassungen und wirtschaftlichen Entwicklungen die Wirksamkeit unbewußter Motive
anzunehmen. Da aber die Wissenschaft aus einer Naturmythologie entstand und in
ihrer Entwicklung von der Religion entscheidend beeinflußt wurde, scheint die Auf¬
fassung begründet, daß die Entwicklung von naturmythologischen Phantasien zu natur¬
wissenschaftlichen Erkenntnissen durch psychische Faktoren bedingt war. Diese Moti¬
vierung hat natürlich keinen Einfluß auf die objektive Richtigkeit einer Feststellung,
d. h. das Gravitationsgesetz würde auch ohne seine Entdeckung gültig sein, aber nur
eine bestimmte seelische Konstellation gestattete Newton seine Entdeckung. Ähnlich
sind bei vielen wirtschaftlichen Fortschritten religiöse, abergläubisch-tabuistische An¬
schauungen als Motor wirksam gewesen, und es ist wohl nicht in erster Reihe die
materielle Not gewesen, die den Antrieb zur materiellen Kultur bildete.
3) In dieser Arbeit versuchte ich nur — in großen Zügen — rein deskriptiv die
Formen und Verzweigungen des Ödipuskomplexes zu verfolgen, jeder genetischen
Untersuchung aus dem Wege gehend. Einer solchen muß Vorbehalten bleiben, die
Ursachen der hier geschilderten Entwicklungen und die bestimmenden Faktoren der
verschiedenen Völkerschicksale festzustellen. In diesem Zusammenhang wären dann
die äußeren Momente, vor allem wirtschaftlicher, geographischer, eventuell auch
anthropologischer Art zu berücksichtigen und das Wechselspiel dieser und der rein
psychologischen Faktoren zu würdigen.
268
Melitta iSchmideberg
der Ausdruck bestimmter Lösungen des Ödipuskomplexes. In der
Nichterziehung des Matriarchates, in der strengen Erziehung des
Patriarchates, in der milden Erziehung des liberalen Bürger¬
tums, ebenso wie bei dem Übertragen der Erziehung und der väter¬
lichen Autorität an den Staat — in all diesen verschiedenen Formen
der Erziehung wirkt sich der Ödipuskomplex der Väter aus.
Im Matriarchat führt die Vergeltungsangst des Vaters zu seiner
Inaktivität in sozialer und wirtschaftlicher Beziehung und läßt
ihn jede Erziehung seines Sohnes vermeiden. Der Sohn erwirbt durch
die Freiheit, die er in seiner Kindheit genießt, eine Vergeltungsangst für später,
da er erwartet, daß sein Sohn sich ihm gegenüber ähnlich rebellisch ver¬
halten wird, wie er sich seinem Vater gegenüber benommen hat. — Im
Patriarchat ist der Vater Familienoberhaupt und Familiener¬
nährer; die Unterwerfung des Sohnes setzt er durch rauhe Erziehung
durch. Der Sohn, der sich in seiner Kindheit seinem Vater bedingungslos
unterworfen hatte, braucht keine Vergeltungsangst zu haben, und später,
wenn er selbst Vater geworden ist, darf er seinen Sohn in ähnlicher Weise
beherrschen. — Im Zeitalter des liberalen Bürgertums hindert das
Schuldgefühl den Vater daran, seinen Sohn zu unterdrücken und er be¬
müht sich, in sozialer wie familiärer Beziehung ein „guter Vater“ zu sein.
Das gerechte Entgegenkommen des Vaters verlangt ein Gleiches vom Sohn.
— Ein noch verstärkteres Schuldgefühl bewirkt, daß der Mann die Bolle
des Familienvaters überhaupt aufgibt und seine Autorität an den Staat
ab tritt. Das Zurücktreten des Vaters und das Übertragen seiner Autorität
an den Staat macht diesen in den Augen des Sohnes zur mächtigen Vater-
Imago, mächtiger als der Vater selbst. So erreicht die Erziehung durch einen
komplizierten Prozeß, der wesentlich noch dadurch verstärkt wird, daß der
Sohn sich mit dem Verhalten des Vaters identifiziert, daß der Sohn die
gleiche Lösung des Ödipuskomplexes annimmt.
Es ist Aufgabe der Erziehung, die Anpassung an die jeweilige Ge¬
sellschaftsordnung herbeizuführen und so die Fortdauer des Gesellschafts¬
systems zu sichern. 1 Die Erziehung ist bestrebt, die von der Gesellschaft
gewünschte und gestattete Verarbeitung des Ö dipuskomplexes bei
der heran wachsenden Generation zu erzielen. Sie erreicht dies, in¬
dem sie alle unerwünschten Äußerungsformen des Ödipuskomplexes unter¬
bindet und Triebbefriedigung nur in bestimmten Formen gestattet. In einem
1) „Die Erziehung ist die Fortpflanzung der Gesellschaft.“ (Barth.)
Erziehung und Gesellsdiaftsorclnung 269
rein ausgebildeten Gesellschaftssystem gilt jede andere als die jeweils er¬
laubte Form des Ödipuskomplexes als Verbrechen. 1 Gelingt es einem, sich
gegen die bestehende Gesellschaftsordnung durchzusetzen, wird er zum Helden,
gelingt es aber vielen, deren Ödipuskomplex eine andere Richtung einge¬
schlagen hat, sich zu behaupten, so modifizieren sie allmählich die Gesell¬
schaftsordnung und bereiten eine neue vor.
Die Erziehung steht also im Dienste der Gesellschaftsordnung und ver¬
tritt die Anforderungen der jeweiligen Gesellschaftsmoral. Die Frage scheint
naheliegend, inwiefern eine Veränderung der Gesellschaftsordnung eine Ver¬
ringerung der Opfer, 2 die sie fordert, bewirken könnte.
Der ungarische Dichter M ad ach versucht, dieses Problem in geistreicher
Weise zu lösen: 3 Er läßt ein Menschenpaar, Adam und Eva, in immer
neuen Rollen in den verschiedenen Kulturepochen auftreten; sie zerschellen
jedesmal an der Gesellschaftsordnung und träumen von einem andern,
besseren Staat, der dann in der nächsten Szene verwirklicht wird. So sehen
wir Adam zuerst als ägyptischen Pharao, der, angeekelt von der Sklaverei,
sich nach Freiheit sehnt; als Miltiades jedoch, inmitten der Demagogie
Athens, kommt er zur Erkenntnis, daß die Vielherrschaft noch keine wahre
Freiheit bedeutet. In der nächsten Szene erscheint er als reicher Prasser
der römischen Kaiserzeit, der sich aus der Leere seines Lebens nach Glauben
sehnt; jedoch als Tankred, Führer der Kreuzfahrer, lernt er die schreck¬
lichen Auswüchse des Glaubens kennen. Als Kepler, der Hofastronom, wird
er gedemütigt und gehindert, seiner Wissenschaft zu leben. Seine Wünsche
nach Freiheit und Gleichheit versucht die französische Revolution zu ver¬
wirklichen; doch als Danton erfährt er, daß die Revolution das Zerrbild
und Gegenteil der Freiheit und Gerechtigkeit bedeutet. Als gewöhnlicher
Bürger sieht er, daß auch im kapitalistischen Staat die Freiheit nur schein¬
bar ist, daß das Geld eine furchtbare Waffe darstellt. Doch der vollkommene
Staat der Zukunft, der diese Leiden beseitigen soll, schafft nur andere,
vielleicht noch größere: der Mensch ist zur Arbeitsmaschine herabgesunken,
jede Individualität, jede Begabung, jedes Gefühl geht in dem vollständigsten
0 »Was eine Zeit als böse empfindet, ist gewöhnlich ein unzeitgemäßer Nach¬
schlag dessen, was ehemals als gut empfunden wurde, — der Atavismus eines älteren
Ideals“ (Nietzsche: Jenseits von Gut und Böse). — Aber auch das Umgekehrte ist
richtig: die Forderungen des Sohnes, die freien Gedanken des Zweiflers, das Helden¬
tum des Empörers galten im Mittelalter, im strengen Patriarchat, als Verbrechen.
2 ) Vgl. Freud: Die „kulturelle“ Sexualmoral und die moderne Nervosität. Ges.
Sehr., Bd. V.
3) Die Tragödie des Menschen. Übersetzt von Fischer. 1886.
zyo Melitta SdrmideLerg
Materialismus zugrunde. Von diesen düsteren Zukunftsbildern wendet sich
Maddch schaudernd ab, um sehr resigniert, etwas banal, mit Unterwerfung
unter Gottes Willen und in der Hoffnung auf Gottes Hilfe zu schließen
Die traurige Erkenntnis Madachs, daß der Mensch in jeder Gesellschafts¬
ordnung unbefriedigt sein und leiden wird, kann die Psychoanalyse dahin
ergänzen, daß die Unvollkommenheit des Menschen affektiven Quellen ent¬
springt. Denn die Gesellschaftsordnung stellt, wie ich zu zeigen versuchte,
eine bestimmte Verarbeitung des Ödipuskomplexes, ein Kompromiß zwischen
Vätern und Söhnen dar, das nur durch weitgehenden Triebverzicht erkauft
werden kann. Jede auf Triebverzicht aufgebaute Kultur muß sich mit
einer der Intensität des Ödipuskomplexes entsprechenden Härte des Trieb¬
durchbruches erwehren. Je geringer diese Gefahr beim Einzelnen oder
einer Gesellschaft ist, um so weniger Verbote und Einschränkungen brauchen
sie sich aufzuerlegen. „Actionem aequam esse reactionem “ So würden die
Menschen in einer künftigen Gesellschaft nur dann freier und glücklicher
sein, der Ausgleich zwischen Vätern und Söhnen könnte nur dann durch
geringere Opfer erkauft werden, wenn die Intensität ihres Ödipuskomplexes
sich milderte.
Solange dies aber nicht der Fall ist, scheint es unwahrscheinlich, daß
äußere Veränderungen eine wirksame Abhilfe der menschlichen Leiden
schaffen könnten. Denn jede Gesellschaftsordnung, die auf der Abwehr des
Ödipuskomplexes beruht, muß Entbehrungen, Einschränkungen und Leid
zur Folge haben. Darum möchte ich eine recht skeptische Äußerung Freuds
über die Aussichten einer Reform des Sexuallebens auch auf den Vorteil
einer Veränderung unserer Gesellschaftsordnung überhaupt anwenden. Freud
sagt, 1 es sei „nicht überflüssig, daran zu erinnern, daß die Psychoanalyse
Tendenzen ebensowenig kennt, wie eine andere Wissenschaft. Sie will
nichts, als Zusammenhänge aufdecken, indem sie Offenkundiges auf Ver¬
borgenes zurückführt. Es soll ihr dann recht sein, wenn die Reformen
sich ihrer Ermittlungen bedienen, um Vorteilhafteres an Stelle des Schäd¬
lichen zu setzen. Sie kann aber nicht Vorhersagen, ob andere Institutionen
nicht andere, vielleicht noch schwerere Opfer zur Folge haben müßten/
i) Über die allgemeinste Erniedrigung des Liebeslebens. Ges. Sehr., Bd.V, S. 207.
Erstellung und Gesellschaftsordnung
371
Ankang
Zur Entstellung der Erziehung
In der vorliegenden Arbeit versuchte ich zu zeigen, daß die verschiedenen
Formen der Erziehung bestimmten Verarbeitungen des Ödipuskomplexes
der Väter entspringen, und daß die Modifikationen der Erziehung durch
Veränderungen der affektiven Einstellung der Eltern bedingt sind. So
scheint die Annahme naheliegend, daß der Ursprung der Erziehung in
affektiven und nicht in rationellen Momenten zu suchen sei.
Wie kommen denn die Menschen überhaupt dazu, ihre Kinder zu er¬
ziehen? Da den Primitiven die Voraussicht für die Zukunft ganz abgeht,
muß es wohl ein augenblickliches, sehr starkes Gefühl gewesen sein, das
sie dazu veranlaßte. Wahrscheinlich war immer der gleiche Antrieb wirk¬
sam, wenn der Primitive seine Gefährten verändern wollte, — gleichgültig,
ob er sie zu heilen, strafen, bekehren oder zu erziehen versuchte: — Angst.
Der Kranke, der Besessene, der Verbrecher, das ungebärdige Kind scheinen
unheimlich. Bei den Primitiven bezweckt die Strafe nicht, den Verbrecher
zu bessern oder die Gerechtigkeit zu befriedigen, und selbst die Bache ist
nicht das wesentliche Motiv. Derjenige wird bestraft, d. h. umgebracht, der
Angst erregt; ursprünglich der Zauberer und Blutschänder. 1
Diese gefürchteten Personen sind Vater-Imagines. Vom Zauberer hat
Röheim nachgewiesen, 2 daß er einen Vaterersatz darstellt. Wahrscheinlich
dürfte auch dem Blutschänder diese unbewußte Bedeutung zukommen, da
vom Standpunkt des Kindes der Vater, der mit der Mutter Geschlechts¬
verkehr hat, Inzest treibt. Der Vater, der alles darf, könnte deshalb vom
Kinde auch mit dem Verbrecher identifiziert werden. Der heilige Thomas
gab folgende Begründung für die Ketzerverbrennung: 3 Der Umgang mit
Ketzern sei gefährlich, und die sicherste Art, diesen zu vermeiden, sei, sie
zu verbrennen. Der Ketzer wird mit dem Teufel in Verbindung gebracht,
er gilt als in seinen Diensten stehend, als sein Sohn, als von ihm besessen. 4
Er scheint unbewußt dem Teufel, einer Vater-Imago, 5 gleichgesetzt zu werden,
1) Steinmetz: Ethnologische Studien zur ersten Entwicklung der Strafe. 1928,
S - 3 ^ 5 — 34 6 -
2) Röheim: Nach dem Tode des Urvaters. Imago IX, 1923.
3) Mauthner: Der Atheismus und seine Geschichte im Abendlande.
4) Schindler: Aberglaube des Mittelalters.
5) Freud: Eine Teufelsneurose im siebzehnten Jahrhundert. Jones: Der Alp¬
traum. 1912. Reik: Der eigene und der fremde Gott. 1925.
Melitta Sdunideterg
und darum solche Angst zu erregen. An andrer Stelle habe ich ausgeführt 1
daß der Kranke oder Besessene zufolge seiner plötzlichen und unerklär¬
lichen Veränderung unheimlich wirkt, und daß der primitive Glaube, der
Kranke sei von einem Dämon besessen, die Befürchtung ausdrückt, im
Kranken sei der Urvater wiedergekehrt. (Der Dämon ist eine Vater-Imago).
Reik hat gezeigt, 2 daß der Vater befürchte, in seinem Sohn kehrte sein
eigener Vater wieder. Im allgemeinen findet er sich mit dieser Angst ab
doch genügt bisweilen ein geringfügiger Anlaß, sie wieder zu wecken. Sie
äußert sich zum Beispiel in der abergläubischen Befürchtung der Eltern, ihr
Kind sei gar nicht ihr Kind, sondern sei gegen einen „Wechselbalg“ ver¬
tauscht worden. 3 4
Es scheint also, daß der Verbrecher, der Ketzer, der Kranke, das schlimme
Kind die Angst ihrer Gefährten wecken, der Urvater sei in diesem
veränderten Menschen wiedergekehrt. Medizin, Religion und
Erziehung dürften als verschiedene Formen der Abwehr gegen
die gleichen Dämonen ängste entstanden sein. Die primitive Medizin
versucht die „bösen Dämonen“, die Religion „den Bösen“, die Erziehung
„das Böse“ auszutreiben. Diese Auffassung bedeutet schon einen Fortschritt,
denn ursprünglich wurden die Kranken 4, und schreienden Kinder 5 einfach
umgebracht. Aber auch die primitive Rechtspflege identifizierte den Ver¬
brecher mit dem „bösen Menschen“ und suchte die andern von ihm durch
seine Vernichtung zu befreien. Es ist also die Angst, die die verschiedenen
sadistischen Maßnahmen, die in rationalisierter Form als „Therapie“ oder
„Strafe“ bezeichnet werden, veranlaßt. 6 Die erzieherischen Maßnahmen
dürften, ähnlich wie die exorzistische Medizin, nicht nur einen Aus¬
druck des Sadismus darstellen, sondern sie beruhigen auch die Angst der
Eltern, und zwar sowohl die vor dem Kinde, als auch die um das
1) The Röle of Psychotic Mechanisms in Cultural Development. Int. Journal of
PsA. 1930.
2) Reik: Probleme der Religionspsychologie. S. 40.
3) Vgl. Ploß-Renz: Das Kind. I, S. 100—107. Grimm: Deutsche Sagen. S. 144.
Wuttke: Deutscher Volksaberglaube. LÖwenstimm: Aberglaube und Strafrecht.
S. 27—34. Mannhart: Praktische Folgen des Aberglaubens. Hellwig: Verbrechen
und Aberglaube.
4) Hovorka und Kronfeld: Vergleichende^Volksmedizin. S. 248—251. Steinmetz:
Endokannibalismus.
5) Andree: Anthropophagie. S. 33.
6) Auf die Determinierung, daß der Verbrecher, der Blutschänder, der Ketzer und
das schlimme Kind durch ihr Verhalten die unbewußten verpönten Regungen der
andern verwirklichen und dafür bestraft werden müssen, gehe ich an dieser Stelle
nicht ein. Vgl. diesbezüglich Freud: Totem und Tabu. Ges. Sehr., Bd. X.
Erziehung und Gesellschaftsordnung 3^3
Kind. 1 Das Kind muß erzogen und beherrscht werden, damit es sich nicht
empört; es soll aber auch zu seinem eigenen Wohle von dem in ihm
hausenden „Bösen 66 befreit werden.
Der Sprachgebrauch zeigt, daß auch noch in der heutigen Erziehung
dämonistische Vorstellungen fortwirken. In den Ausdrücken „den Trotz
brechen , „den Eigensinn austreiben usw. erscheinen diese Eigenschaften
personifiziert, als ob sie vom Kinde unabhängig in ihm hausten. Auch die
üblichen Erziehungsmaßnahmen (Schläge, Drohungen, Versprechungen usw.)
unterscheiden sich kaum von den exorzistischen Handlungen. Die ex-
orzistische Therapie versucht, dem Dämon den Aufenthalt im Körper des
Kranken durch Schläge und Mißhandlungen des Kranken zu verleiden oder
ihn durch List, Versprechungen oder Drohungen zu bewegen, den Körper
seines Opfers zu verlassen. Wenn z. B. ein Kind aus abergläubischer Furcht
für einen Wechselbalg gehalten und nun solange geschlagen wird, bis die
Mutter des Wechselbalgs ihn gegen das richtige Kind umtauscht, so unter¬
scheidet sich diese Prozedur nur unwesentlich von der erzieherischen Ma߬
nahme, ein verändertes, „schlimmes Kind solange zu schlagen, bis es wiederum
normal, d. h. brav und fügsam wird.
In der Pädagogik spielen die dem Exorzismus verwandten Maßnahmen
noch eine bei weitem größere Rolle als in der Medizin. An anderer Stelle
habe ich ausgeführt, 2 daß die empirisch gefundenen Arzneimittel durch
die erzielte heilsame Veränderung eine analoge Angstberuhigung boten wie
der magische Mechanismus der Beschwörung und sie darum diesen all¬
mählich ablösen konnten. Durch den erzielten realen Erfolg wurde die
Angst verringert und eine bessere Realitätsanpassung erzielt, die sich wieder
in einem weiteren Aufschwung der medizinischen Therapie auswirkte. 3 Der
Umstand, daß die Angst der Eltern um ihr Kind (oder vor ihrem Kinde!)
eine größere ist als die des Arztes um den Patienten, dürfte, ebenso wie
das Faktum, daß es in der Erziehung keine ätiologisch wirksamen Mittel
gibt (sofern sie nicht psychologisch arbeitet), dazu beigetragen haben, daß
1) Diese Maßnahmen befriedigen auch Tendenzen des Über-Ichs. Der Vater, der
den rebellischen Sohn bestraft, identifiziert sich dabei mit seinem eigenen Vater und
straft im Sohne auch seine eigenen verurteilten unbewußten Regungen. (Vgl. meine
Arbeit: Zur Psychologie des Strafens. Ztschr. f. psa. Päd. 1931.)
2) The Röle of Psychotic Mechanisms in Cultural Development, Int. Journal of
PsA. 1930.
3) In der Psychiatrie hingegen, in der es keine wirksame Therapie und kein wirk¬
liches Verständnis der Krankheitsvorgänge gab, wurden noch vor nicht sehr langer Zeit
Maßnahmen angewendet, die dem Exorzismus recht ähnlich waren. (Vgl. Kraepelin:
Hundert Jahre Psychiatrie.)
Alelitta iSchnncleberg
2/4
die Pädagogik sich weniger von ihren exorzistischen Ursprüngen entfernt
hat als die Medizin. Erziehung und Medizin sind Sublimierungen. Die
einverleibten Eltern-Imagines werden auf äußere Objekte — den Kranken,
das Kind — projiziert, d. h. diese nehmen die Bedeutung des wieder-
gekehrten Vaters an. An diesen Objekten werden die sadistischen und
Wiedergutmachungstendenzen agiert; dadurch entsteht das Gefühl magischer
Allmacht und eine Befreiung von der Angst (Sharpe). Auf die in der Er¬
ziehung und in der Medizin sich äußernden sadistischen Regungen habe
ich schon hingewiesen. Die Wiedergutmachungstendenzen zeigen sich in dem
Bestreben des Arztes und des Erziehers, seinen Patienten und Zöglingen zu
helfen, sie gesund, moralisch vollkommener, lebenstüchtiger usw. zu machen.
Gelingt es ihnen, so ihre Wiedergutmachungstendenzen zu befriedigen, das
gefürchtete Objekt — eine Vater-Imago — in ein „gutes“ umzuschaffen,
so wird die Angst beruhigt. Erweisen sich die Wiedergutmachungstendenzen
aber als ohnmächtig, so bleibt das Objekt „schlecht“ — gefährlich — und
die Angst kann dann nur durch sadistische Maßnahmen bewältigt werden.
So wurden die unheilbar Kranken umgebracht, die mißratenen Kinder ver¬
stoßen, die Verbrecher hingerichtet.
Literatur
1) Abraham, Karl: Versuch einer Entwicklungsgeschichte der Libido. 1924.
2) Andree, Richard: Die Anthropophagie. 1887.
3) Bälint, Alice: Der Familienvater. Imago XII, 1926.
4) Bartels, Max: Die Medizin der Naturvölker. 1893.
5) Barth, Paul: Die Geschichte der Erziehung in soziologischer und geistes¬
geschichtlicher Beleuchtung. V. und VI. Aufl., 1925.
6) Bernfeld, Siegfried: Sisyphos oder die Grenzen der Erziehung. 1925.
7) Bücher, Carl: Arbeit und Rhythmus. V. Aufl., 1919.
8) Darwin, Charles: The Descent of Man and Selection in Relation to Sex. 1871.
9) —: On the Origin of Species by means of Natural Selection. 1859.
10) Dieterich, Albert: Mutter Erde. III. Aufl., 1925.
11) Federn, Paul: Die vaterlose Gesellschaft. 1919.
12) Ferenczi, Sdndor: Bausteine zur Psychoanalyse. 1927.
13) Freud, Sigmund: Massenpsychologie und Ich-Analyse. Ges. Sehr., Bd. VI.
14) —: Totem und Tabu. Ges. Sehr., Bd. X.
15) —: Eine Teufelsneurose im siebzehnten Jahrhundert. Ges. Sehr., Bd. X.
16) —: Eine Kindheitserinnerung des Leonardo da Vinci. Ges. Sehr., Bd. X.
17) —: Hemmung, Symptom und Angst. Ges. Sehr., Bd. XI.
18) —: Über die allgemeinste Erniedrigung des Liebeslebens. Ges. Sehr., Bd. V.
19) —: Die kulturelle Sexualmoral und die moderne Nervosität. Ges. Sehr., Bd. V.
Erziehung und Gesellschaftsordnung
2/5
20) Freud, Sigmund: Psychoanalytische Bemerkungen über einen autobiographisch
beschriebenen Fall von Paranoia. Ges. Sehr., Bd. VIII.
21) —: Eine Schwierigkeit der Psychoanalyse. Ges. Sehr., Bd. X.
22) —: Zeitgemäßes über Krieg und Tod. Ges. Sehr., Bd. X.
23) Frobenius, Leo: Völkerkunde. 1902.
24) Fromm, Erich: Der Sabbath. Imago XIII, 1927.
25) Geizkofi er, Lukas: Selbstbiographie.
26) Grimm, Brüder: Deutsche Sagen. (Deutsche Klassikerbibliothek.)
27) Hahn, Eduard: Demeter und Baubo. 1896.
28) —: Hie Entstehung der Pflugkultur. 1909,
29) —: Das Alter der wirtschaftlichen Kultur. 1905.
30) —: Die Entstehung der wirtschaftlichen Arbeit. 1905.
31) Hellwig, Albert: Verbrechen und Aberglaube. 1908.
32) Hirth, Georg: Kulturgeschichtliches Bilderbuch. 1876.
33) Hovorka und Kronfeld: Vergleichende Volksmedizin. 1908.
34) Jones, Emest: Der Alptraum (übersetzt von Sachs). 1912.
55) — : Zur Psychoanalyse der christlichen Religion. 1928.
36) —• Das Mutterrecht und die sexuelle Unwissenheit der Wilden. Imago XIII, 1927.
37) Kant, Immanuel: Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? Verm. Sehr.
38) Kollontay, Alexandra: Wege der Liebe. 1925.
39) Kraepelin, E.: Hundert Jahre Psychiatrie.
40) Laforgue, Rend; Jean Jacques Rousseau. Imago XVI, 1930.
41) Löwenstimm, August: Aberglaube und Strafrecht. 1897.
42) Maddch, Imre: Die Tragödie des Menschen. (Übersetzt von Fischer.) 1886.
43) Mannhard, Wilhelm: Der Baumkultus der Germanen. 1875.
44) —: Die praktischen Folgen des Aberglaubens. 1879.
45) Mauthner, Fritz: Der Atheismus und seine Geschichte im Abendlande. 1920.
46) Meyer, C.: Der Aberglaube des Mittelalters. 1884.
47) Nietzsche, Friedrich: Zur Genealogie der Moral. Taschenausgabe, Bd. VIII.
48) —: Jenseits von Gut und Böse. Taschenausgabe, Bd. VIII.
49) Nunberg, H. : Über Depersonalisationszustände im Lichte der Libidotheorie.
Int. Ztschr. f. PsA. X, 1924.
50) Ploß-Renz: Das Kind. III. Aufl., 1912.
51) Radö, Sdndor: Die Wege der Naturforschung im Lichte der Psychoanalyse.
Imago VIII, 1922.
52) —: Eine ängstliche Mutter. Int. Ztschr. f. PsA. XIII, 1927.
53) Rank, Otto: Psychoanalytische Beiträge zur Mythenforschung. II. Aufl., 1922.
54) Ranke, L. v.: Deutsche Geschichte im Zeitalter der Reformation. Bd. I, 1839.
55) Reik, Theodor: Probleme der Religionspsychologie. 1919.
56) —: Der eigene und der fremde Gott. 1923.
57) —: Wie man Psychologe wird. 1927.
58) —: Der Schrecken. 1929.
59) Renan, J. E,: Marc Auröle et la fin du monde antique. 1882.
60) Röheim, Geza: Nach dem Tode des Urvaters. Imago IX, 1923.
61) —: Die Völkerpsychologie und die Psychologie der Volker. Imago XIII, 1927.
2^6
jSckmideberg: Erziehung und Gesellschaftsordnung
62) Rousseau, Jean Jacques: Confessions. Oeuvres complötes. 1826.
63) —: Emile.
64) —: Discours sur l’inegalit6.
65) —: Du contrat social.
66) —: Au roi de Pologne.
67) Sachs, Hanns: Über Naturgefiihl. Imago I, 1912.
68) —: Gemeinsame Tagträume. 1924.
69) —: Zur Genese der Perversionen. Int. Ztschr. f. PsA. IX, 1923.
70) —: Bubi. Das Leben des Caligula. 1930.
71) Sadger, I.: Über Depersonalisation. Int. Ztscbr. f. PsA. XIV, 1928.
72) Schilder, Paul: Entwurf einer Psychiatrie auf psychoanalytischer Grundlage. 1925.
73) Schindler, H.: Aberglaube des Mittelalters. 1858.
74) Schmidt, K. A.: Geschichte der Erziehung. 5. Bd., 1882—1890.
75) Schmideberg, Melitta: The Role of Psychotic Mechanisms in Gultural
Development. Int. Journal of PsA. 1930.
76) Schultz, Alwin: Häusliches Leben im Mittelalter. 1902.
77) Schurtz, Heinrich: Urgeschichte der Kultur. 1900.
78) Specht, Franz: Geschichte des Unterrichtswesens in Deutschland. 1885.
79) Sperber, Alice: Seelische Ursachen des Alterns, der Jugendlichkeit und der
Schönheit. Imago XI. 1925.
80) Sperber, Hans: Über den sexuellen Ursprung der Sprache. Imago I, 1912.
81) Stärcke, August: Psychoanalyse und Psychiatrie. 1921.
82) Steinmetz, Rudolf: Ethnologische Studien zur ersten Entwicklung der Strafe.
II. Aufl., 1928.
83) —: Endokannibalismus. Mitt. d. Anthropol. Ges. in Wien XXVI, 1896.
84) —: Über das Verhältnis der Eltern und Kinder bei den Naturvölkern. Ztschr. f.
Naturwissenschaft. 1898.
85) Strauß, David: Das Leben Jesu. II. Aufl., 1840.
86) Taine, H.: Les Origines de la France contemporaine. L’Ancien Regime. 1876.
87) Tylor, E. B.: On a Method of Investigating the Developement of Institutions.
Journ. Anthr. Inst. XVIII, 1889.
88) Wuttke, Adolf: Der deutsche Volks ab erglaube der Gegenwart. III. Aufl., 1900.
89) Zappert, Georg: Über Stab und Rute im Mittelalter. Sitzungsber. d. philos.-
histor. Klasse der kaiserl. Akademie d. Wissensch. IX, 1852.
90) Ziegler, Th.: Geschichte der Pädagogik. V. Aufl., 1919.
(Eingegangen Oktober 1929.)
Psyckoanalytische „Archäologie“ Gotthelfs
Bemerkungen zum Buche von Walter Muschg:
Gotthelf. D te Geheimnisse des Erzählers 1
Von
G. H. Grat er
Berlin
Das Buch von Walter Muschg bedeutet nicht nur eine auf tiefen¬
psychologischem Verständnis beruhende Würdigung des großen Schweizer
Epikers und seines Schaffens, sondern zugleich ein Ausgraben der Trieb¬
kräfte des heroisch-dämonischen Künstlers als Typus und imponiert als
zeitgenössisches Kulturdokument hohen Ranges.
Es war zu erwarten, daß Muschg nach seiner in der Antrittsvorlesung 2
geäußerten Überzeugung von der Fruchtbarkeit und Notwendigkeit der An¬
wendung Freud scher Lehren auf die Literaturwissenschaft, sich selber
Person und Werk eines Dichters zum Gegenstand eingehender Analyse
nehmen werde. Der Verfasser geht den von der Psychoanalyse vorgezeich¬
neten Weg der Archäologie, der ihn die unbewußten Kräfte des phylo¬
genetischen Erwerbs eines Künstlers aufdecken läßt. Er hat dabei vorab
die Funde Freuds und etwa noch diejenigen Bachofens in den Werken
und im Leben Gotthelfs als vorhanden nachgewiesen, und dies sogar in
einer Reichhaltigkeit und Differenziertheit, die wohl in ihrer Art alle bis¬
herigen Analysen eines Dichters und seiner Dichtungen übertrifft.
Bei einer auch für den Fachwissenschafter ungewöhnlich umfassenden
Literaturkenntnis (ungewöhnlich vor allem deshalb, weil wohl zum ersten -
1) C. H. Becksche Verlagsbuchhandlung, München 1931.
2 ) »Psychoanalyse und Litei aturWissenschaft“ (Junker und Dünnhaupt, Berlin 1930),
siehe darüber „Die psychoanalytische Bewegung 41 , Jg. II, S. 68 und 178.
G. H. Gräber
378
mal ein außenstehender Literaturwissenschafter in diesem Ausmaß die
Psychoanalyse verwertet) fällt es immerhin auf, daß Muschg die Funde
jener Forscher, denen Gotthelf und sein Werk in wesentlichen Zügen aus
demselben Spiegel entgegentrat, in den auch er blickte, mehr hatte wür¬
digen müssen.
Ricarda Huch zum Beispiel, die nach Freud in diesem Jahre den
Frankfurter Goethe-Preis erhielt, veröffentlichte 1917 ein Bändchen über
„Gotthelfs Weltanschauung“, das Muschg ignorierte oder übersah. Die Schrift
ist deshalb besonders zu erwähnen, weil die Dichterin erkannt hat, daß
die Familie und in ihr die Frau im Mittelpunkt von Gotthelfs Dichtungen
steht. Sie ist darin die „allgegenwärtige Schaffnerin Gottes“. „In dieser
Auffassung“, sagt R. Huch, „stimmen alle großen Dichter überein, aber
keiner, auch Goethe nicht ausgenommen, hat die Frau so hoch über das
Irdische erhoben und zugleich mit so festen Füßen auf die Erde gestellt,
und darum so vollendete Frauengestalten geschaffen wie Gotthelf. Er ist
der wahre Frauenlob und ihm vor allem haben die Frauen Ursache, ein
Denkmal in ihrem Herzen zu setzen.“ Auch über das Verhältnis von Mann
und Frau hat R. Huch Wesentliches gesagt. Sie schildert Gotthelfs Männer
als den „dunklen Punkt“, als mehr weltlich, mehr auf Geld eingestellt,
starrköpfig oder aber weibisch schwach, wo die Frau regimentstüchtig ist.
Wir sind nicht erstaunt zu hören, daß die große Historikerin ebenfalls die
Vergangenheit in Gotthelfs Dichtungen aufleben sah, daß in ihnen „eine
Luft wie in der Bibel und in Homer wehe“, daß „der Geist des Mittel¬
alters in ihnen lebe“.
Aber auch der Weg der Archäologie, den Muschg einschlägt, ist nicht
unbeschritten, ja ich glaube, er ist richtunggebend vorgezeichnet und mit
den wesentlichen Etappen, die Aussicht auf Funde gewähren, bis in die
tiefsten Tiefen des Matriarchates (mit Bezug auf Bachofen) verfolgt worden.
Ich habe mit meiner Analyse über „Die schwarze Spinne“ vor Jahren den
Versuch gewagt, die Novelle als eine dem Dichter verborgen gebliebene, sym¬
bolische und dramatisch abgekürzte Darstellung der Mens chh ei ts ent Wick¬
lung zu betrachten, wobei ich in ihr besonders die Rolle der Frau hervor¬
hob. 1 Aus seiner Habilitationsschrift und aus einer Anmerkung des Gotthelf-
Buches geht hervor, daß Muschg meine Arbeit kannte. Aber auch ohne dies,
meine ich, müßte der Kenner beider Werke zu diesem Schlüsse kommen.
1) Gräber: „Die schwarze Spinne.“ Menschheitsentwicklung nach Jeremias Gott¬
helfs gleichnamiger Novelle, dargestellt unter besonderer Berücksichtigung der Rolle
der Frau. Internat. PsA. Verlag. Wien 1925.
Psydioanalytische »Archäologie« GotthelL
279
£r würde vielleicht ihr Verhältnis zueinander mit dem eines lebenden Modells
zu einem ins Riesige vergrößerten Monument vergleichen. Der Vergleich
hinkt, denn es ist zuzugeben, daß das „Monument“ manche neuartige Einzel¬
heiten der Form, besonders kostbares und verschiedenartiges Material, eigen¬
artige und künstlerische Linienführungen aufweist, die das Ganze von einer
bloßen Nachbildung unterscheiden. Das Modell könnte für sich nur die
Attribute des Originalen und des Lebendigen beanspruchen. Ich kann davon
absehen, in Grundidee, Aufbau, Symboldeutungen, Problemlösungen usw. ver¬
gleichende Betrachtungen anzustellen, und verweise nur darauf, daß Muschg
immer wieder vorab auf die „schwarze Spinne“ greift, sie als ein Werk
bezeichnet, „das wie wenige in der deutschen Literatur den Namen einer
Geschichtsdichtung verdiene“, in dem allein „tiefster Zauber des Wortes
und der Handlung“ herrsche, wo „wie nirgends die Sagenluft wehe“ usw.
Ein Ruhmeswort gilt jedoch dem großen Stilisten Muschg. Als solcher
reiht er sich nahe an Gundolf, ohne aber in dessen Kategorien der Wer¬
tungen von Machts- und Allmachtsleistungen des bewußten Denkens zu
verfallen. Muschg interessieren viel lebensnahere und deshalb auch lebens¬
wichtigere Zusammenhänge von Dichter und Werk, Zusammenhänge, die
sich ihm aus der Analyse des Unbewußten Gotthelfs erschlossen. So ent¬
stand ein vielfarbiges Mosaik, das nicht nur das Bildhafte der Landschaft
und der in ihr auftretenden Gestalten, sondern, wie das auf alten Bild¬
werken oft geschah, auch ein Nebeneinander der historischen Begeben¬
heiten vermittelt. Es überwiegt freilich bei Muschg ein klassifikatori-
sches Talent, ein Drang zum Sammeln und zur Ordnung von Material
unter bestimmte Gesichtspunkte, bestimmte Kapitel, denen (und damit auch
dem Buch) ein historisch-genetischer Zusammenhang mangelt.
Zwischen der historisch-genetischen Analyse eines Künstlers oder eines Kunst¬
werkes und der eines Neurotikers bestehen enge Beziehungen. Gemeinsam wird
ihnen neben der Zurückführung auf Archaisches und auf Infantiles auch die
Aufdeckung der Verknotung mit der Urschuld und die Hinweise auf Fiktionen,
Illusionen, krankhafte und rationalisierte Versuche der Schuldbefreiung sein.
Das Versinken in künstlerische Schöpfung wird sich ebenso als ein Ab¬
rücken vom steten Quell des Erlebens in der Gemeinschaft erweisen wie
der Rückzug in die Neurose. Jede Analyse muß also, wenn sie richtig
durchgeführt sein will, stets dem Lebensablauf, der seelischen Dynamik
und Struktur der Persönlichkeit, stets den „Geschehnissen“ und dem Aufbau
in einem Kunstwerk folgen. Diese Subordination ist für den Analytiker
oberstes Gesetz.
280
G. H. Gräber
Aus der Fülle der Probleme und Anregungen, vor die Muschg uns stellt,
möchte ich deshalb noch einige Ergänzungen, die sich mir zur Charakter¬
analyse Gotthelfs aufdrängten, anführen. Muschg vermeidet die psychoana¬
lytische Terminologie und begnügt sich meist mit vorsichtigen Andeutungen,
auf den „Sexualcharakter“, auf „unverkennbare erotische Symbole“, auf „Ur-
visionen“, auf „Verwurzelung in unbewußten, aus der Kindheit herrühren¬
den Konflikten“ usw. Für den größten Teil der Leser geschah dies zum
Vorteil des Buches. Die „zünftigen“ Literaturwissenschafter werden auch
so noch zu viel Anstößiges, zu viel „Freudismus“ darin entdecken. Das
hindert den Psychoanalytiker nicht, die Dinge beim richtigen Namen zu
nennen.
Es gibt in einem Briefe, den Gotthelf 1843 an Hagenbach schrieb, eine
aufschlußreiche Stelle, die uns des Dichters Ablehnung, Verdrängung und
Amnesie der frühen Kindheitserlebnisse in Murten bis zum siebenein-
halbten Jahre, also bis zum Umzug nach Utzenstorf, erkennen lassen. Er
schreibt: „Ich bedarf (bei der Schriftstellerei) zum größten Teil keiner
aparten Studien, was mir dient, habe ich unbewußt meist erlernt vom
achten Jahre an.“ Das heißt so viel, daß der kleine Albert mit siebenein¬
halb Jahren den Milieuwechsel mit einem inneren „Kurswechsel“ verband,
das „Urerlebnis“ mit dem „Bildungserlebnis“ vertauschte, die triebhaft
libidinösen und aggressiven Wünsche und Befriedigungen verdrängte und
mit bereits hängenden Flügeln in die Latenzperiode hinübersegelte. In
Wahrheit war es natürlich so, daß, was dem Dichter „diente“, die vor
dem achten Lebensjahr unbewußt gewordenen Vorstellungen und Kom¬
plexe waren. In der Verleugnung der eigenen frühen wilden Kindheit ist
deshalb der Hauptgrund für das Scheitern des Schriftstellers in der Dar¬
stellung des Kindes zu suchen.
Der verdrängte Ödipuskomplex wachte mit der Geburt von Gotthelfs
Sohn Albert, der als etwas feindlich Gefährliches erlebt wurde (eine Be¬
stätigung findet sich außer in Briefstellen in meiner Analyse des Verhält¬
nisses von Vater und Sohn in der Rahmenerzählung der „schwarzen Spinne“),
wieder auf und bewog den vom Wiederholungszwang beherrschten Vater,
ihn mit ebenfalls siebeneinhalb Jahren in die „Verbannung“ einer Er¬
ziehungsanstalt zu schicken.
Was mag Gotthelf bewogen haben, seine früheste Jugend zu vergessen?
Entscheidend war sicherlich nicht jenes Erlebnis mit den ins Pfarrhaus
eindringenden Soldaten, sondern wie Muschg bei den Hinweisen auf die
Drachen, Spinnen, ganz besonders auf die „wilden Jagden“ und
P sy dioanalytisdie 9 Archäologie« Gotthelfs
381
die entsetzlichen Knäuel andeutet, die belauschte Urszene, die, ich
glaube, man kann hier nicht fehlgehen, eine Fellatio gewesen sein
muß, oder wenigstens als solche vorgestellt wurde. Ich will aus der Menge
des Materials nur zwei bei Muschg erwähnte Episoden herausheben: Die
eine wird geschildert in der Stelle aus dem Säufertraum des „Dursli“, wo
im Gefolge der wilden Jagd eine scheußliche, farblos-schlüpfrige Brut
wie „riesige Schnecken heranrückt. „Ohne Bewegung glitten sie an ihm
(Dursli) auf, glitschten ihm zum Mund hinein, in seinen Leib hinunter,
spielten mit seinen Eingeweiden, streckten zu seinen Augenhöhlen heraus
die augenlosen Köpfe.“ Die zweite Stelle aus den „Rotentaler Herren“
schildert die Hochzeit eines Riesenpaares, wobei die Menschen zum Spaß
bis zum Ersticken gefüttert und getränkt werden, hernach auf die Schla¬
fenden ein furchtbarer Tierknäuel losgelassen wird und Braut und Bräuti¬
gam in nie gefühlter Lust von oben Felsstücke auf das Gewühl hinunter¬
schmeißen.
Gotthelfs prägenitale Fixierungen müssen ungewöhnlich stark ge¬
wesen sein. Auch Muschg betont, welche Wichtigkeit im Leben und in den
Dichtungen einmal Essen und Trinken und dann Kot und Geld spielten.
Fixiert an die orale Phase, ist er in Identifikation mit beiden Elternteilen
(der Urszene entsprechend) nährender und oral koitierender Vater, aber
auch die vergewaltigte (von der wilden Jagd, dem Knäuel) erdrückte,
empfangende Mutter. Hierin erfüllt sich ihm seine hermaphroditisch-
mythische Fiktion der Gottesnähe, der Vergottung. Und wie oft begegnen
wir, abgesehen von den vielen Schilderungen von Tauf- und Begräbnis¬
mahlen, dieser Situation: Gotthelf entgeht knapp dem Säufertum, ißt und
trinkt stets mit überbetonter Lustbefriedigung, kocht selbst das Frühstück
für alle, hat eine besondere Lust an der Ernährung des weiblichen Ge¬
schlechts und speist schließlich priesterlich und künstlerisch das Volk durch
geistige Nahrung.
Wie sehr die Vorstellung des Fressens und Gefressenwerdens die Seele
Gotthelfs beherrscht, erkennen wir am deutlichsten wohl aus der wilden
Jagd im „Kurt von Koppigen“, wo zuerst sein Vater in der Gestalt eines
„schrecklichen Wolfshundes mit blutigem Maule“ nach ihm schnappt, wo
er dann selber als Höllenhund sein Kind fressen möchte und von der
Mutter daran verhindert wird. Sie „fuhr ihm mit dem Arm in den Rachen,
hielt mit nackter Hand seine glühende Zunge fest. Da floß es weich, kühl
und leise ihm durch die Glieder, der Brand erlosch, ein süßes Mattsein,
wie dem Müden vor dem Schlafe, kam über ihn“. Man kann nicht zweifeln:
Imago XVIII.
19
a8a
Gräber: Psychoanalytische »Archäologie« Gotthelfs
die Urszene lebt hier als perverser Geschlechtsakt wieder auf. Über Gotthelfs
anale Fixierung, seine derb-sadistische Art, seine Lust, in den Schriften
im Unflat und Kot herumzuwühlen, über seinen Geiz und seine Geldgier
schmähten die ihm nicht wohlgemeinten zeitgenössischen Zeitungen sattsam
Die zusammenhängende genetische Darstellung von Gotthelfs Trieb¬
fixierungen, von der Konstellation seines Ödipuskomplexes, von seinen
Eltern- und Geschwisterbindungen, kurz, von seiner Pathogenese — die
M u s c h g (nach einer einleitenden Äußerung) ausdrücklich vermeiden
wollte — bleibt folglich noch als Aufgabe zu lösen. Dies Buch jedoch
wird dazu die reichste Fundgrube sein und wird — selber ein Kunst¬
werk — in der Geschichte der Literaturwissenschaft als erster entscheidender
Schritt eines Mannes vom Fach eine Ära neuen Verständnisses der künst¬
lerischen Leistung einleiten.
REFERATE
Krueger, Felix: Der ^Struktur!)egriff in der PsycLologie, ». Aufl.,
Jena i^i.
Dieser Sonderdruck enthält die Wiedergabe eines Sammelreferats, welches
Krueger 1923 auf dem Kongreß für experimentelle Psychologie erstattet hat.
Seine methodologischen und programmatischen Erörterungen haben das Ziel,
den Strukturbegriff als zentralen Begriff für alle psychologischen Erkenntnis¬
bemühungen hervortreten zu lassen. Er geht von Diltheys Begriff des Struktur¬
zusammenhangs aus und erwägt in sehr allgemeinen Betrachtungen die Vor¬
stellungen, welche sich die hauptsächlichsten psychologischen Schulen vom Ganz¬
heitscharakter des Seelischen gebildet haben. Dabei bleibt die Psychoanalyse aus¬
geschlossen, obwohl sie zweifellos diejenige Psychologie ist, die das meiste und das
Belangvollste über seelische Strukturen zu lehren hat.
Krueger möchte den Begriff der Struktur Vorbehalten wissen für die dispositio¬
nellen Ganzheiten des seelischen Organismus, die den psychischen Tatbeständen
der Erlebnisganzheit und Erlebnistiefe, der Gestaltphänomene und Komplexquali¬
täten als wirkende Bedingungen zugrunde liegen. „Struktur“ soll kein phäno¬
menologischer Begriff sein, sondern ein Erklärungsbegriff. Von hier aus
polemisiert der Autor gegen den „dogmatischen Phänomenalismus“, der schon jede
gestaltartige Beziehung von Teilinhalten des Bewußtseins eine Struktur nenne, und
fordert Strukturpsychologie im Sinne einer „genetischen Bedingungsanalyse“ des
Psychischen. Gegen die Phänomenologen als „verkappte Metaphysiker“, speziell
gegen Husserl, wird geltend gemacht, daß die Strukturen nicht von vornherein
unter normativen Gesichtspunkten ontologisch ausgedeutet werden dürften, sondern
zunächst einmal empirisch erforscht und auf ihre Genese untersucht werden
müßten. Die seelische Struktur müsse verstanden werden als ein sich entwickelndes
Gefüge ganzheitsbezogener Kräfte; als einheitlicher Komplex konstanter Bedin¬
gungen liege sie allen Lebensäußerungen zugrunde. So ansprechend diese grund¬
sätzlichen Formulierungen als solche auch sein mögen, sie sind wenig verbindlich,
solange nicht gesagt wird, was in concreto unter jenen Kräften verstanden werden
soll. Die von Krueger postulierten Strukturgesetze nehmen eine ungeklärte Mittel¬
stellung zwischen „Wesensgesetzen“ und kausalen Gesetzen ein. Gegen das kon¬
sequent naturwissenschaftliche, „physikalistische“ Denken innerhalb der Psycho-
19*
284
Referate
logie wird ausdrücklich polemisiert, und es zeigt sich schließlich deutlich, daß sich
das Programm Kruegers nicht weit von der philosophisch orientierten Psychologie
Diltheys entfernt. Die psychologische Forschung liefert am Ende einer meta¬
physischen Ausdeutung das Material und hat das letzte Ziel, verstehen zu lehren
„aus welchen Kräften — schöpferischer Formung — das Seinsollende sich ver¬
wirklicht. “ (S. IV.) Im Hinblick auf ein solches Ziel muß freilich das „ Gefüge der
Wertungen“ als die „wirkungsreichste Form psychischer Strukturiertheit“ er¬
scheinen. (S. 14.) Und es ist nur folgerichtig, daß die Frage nach der „sozialen
und geschichtlichen Bedingtheit alles seelischen Geschehens“ sich verschiebt zu
der Frage nach den „Wachstumsgesetzen echter Gemeinschaft“, nach den „natur¬
gewachsenen Bedingungszusammenhängen menschlicher Gesittung“ und nach den
Bindungen an Volk, Gemeinde, Stand, Beruf, in denen die wirkliche Persönlich¬
keit verwurzelt sei (im Gegensatz zum angeblich wurzellosen Großstadtmenschen).
Die unvermeidlich wertende morphologische Betrachtungsweise, welche
die Erörterung der konkreten Fragestellungen beherrscht, steht mit der Forde¬
rung nach genetischer Untersuchung nicht im Einklang. Man vermißt die
Einsicht, daß es wesentlich bestimmte innere Konflikte und die verschiedenen
Formen ihrer Bewältigung sind, denen die Entwicklung der seelischen Strukturen
ihren Antrieb und ihren Inhalt dankt. Man vermißt den dynamischen Gesichts¬
punkt, ohne den eine genetische Betrachtungsweise nicht zu denken ist. Und es ist
gewiß kein Zufall, daß die psychophysischen Grenzphänomene der Triebe und
Affekte ganz in den Hintergrund treten zugunsten der Wertungen und Gefühle.
Dilthey selbst dagegen hat noch so formuliert: „Ein Bündel von Trieben (!) und
Gefühlen, das ist das Zentrum unserer seelischen Struktur . . .“ Ges. Sehr. V.,
S. 206). Marseille (Berlin)
Finke, Hanns: Der Recktskrecker im Lickte der Erziekung.
Kritisck aufkauende Gedanken aus der Praxis für die Änderung des
iStrafVollzuges. (Forsckungen und W'erke zur Erziekungswissensckaft,
kerausgegeken von P. Petersen, Bd. i 5 .) Hermann Böklaus Nachfolger,
AVeimar 1931.
Der Verfasser ist Strafanstaltsfürsorger, spricht somit aus eigener Erfahrung.
Einleitend weist er darauf hin, daß das Ziel einer Resozialisierung des Rechts¬
brechers durch den Strafvollzug auch von den alten Systemen mit ihrer Ab¬
schreckung und Vergeltung angestrebt wurde, daß heute also lediglich die an¬
gewandten Methoden andere sind.
Im weitaus größten Teil der Schrift — und darauf beruht ihr Wert — gibt
der Autor eine übersichtliche, alle Einzelmomente zusammenstellende Kritik an
den heutigen Methoden der Strafanstalts„erziehung“, insbesondere am Stufen¬
system, das sich in Deutschland und anderen Ländern vollständig durchgesetzt
hat. Finke findet, daß das Progressivsystem wohl geeignet ist, Heuchelei, Neid
und Mißgunst unter den Gefangenen großzuziehen, daß es auch der Anstalts¬
leitung bequeme Mittel zur Aufrechterhaltung der Hausdisziplin an die Hand
Referate
*85
gibt, daß es a^ er ln g ar keiner Weise die laut Verfügungen anzustrebende
Erziehung zu gesetzmäßigem Leben“ fördert.
Die bekannten Umstände, die jeder Vernunft- und zweckgemäßen Ausgestal¬
tung des Strafvollzuges im Wege stehen, werden einzeln gewürdigt: Die ab¬
norme Atmosphäre jeder Strafanstalt, die dadurch für das spätere Leben schulen
u nd bessere Anpassungsmöglichkeiten schaffen will, daß sie grundsätzlich jeden
Lebenskampf, Familie und Freunde ausschaltet, daß sie die übertriebene Ord¬
nung und Pflichterfüllung einer Scheinwelt aufrichtet, daß sie sinnlose Arbeit
unwürdig entlohnt, die vor allem eine dem heutigen Stand von ärztlicher, psycho¬
logischer und pädagogischer Wissenschaft entsprechende Behandlung des Einzelnen
von seinen individuellen Voraussetzungen aus nicht kennt. Für das Sexualproblem
hat Finke einen offenen Blick; er will es bei Abweichungen in Einzelheiten grund¬
sätzlich im Anschluß an Karl Plättners „Eros im Zuchthaus“ gelöst sehen.
Dankenswert sind auch breite Auslassungen über die rechtliche Stellung der
Fürsorgebeamten sowie Zitate aus den Regierungsverfügungen betreffend den
neuen Strafvollzug.
Die positiven Ausführungen des Autors wirken uneinheitlich und werden
meines Erachtens der Schwere der Probleme nicht gerecht. Unter den Mitteln
der Prophylaxe nennt er den Rechtsunterricht in der Schule, — als ob nicht die
„Kriminalstudenten , die Berufsverbrecher, oftmals staunenswerte Paragraphen¬
kenntnis des Strafgesetzbuches aufwiesen. Die Schule soll mehr zum „Dienst
an der Gemeinschaft“ erziehen — wozu wir erst eine andere Schule brauchten.
Eheberatungsstellen, auch Beratung über Antikonzeption, sollen die Zahl der
durch Vererbung bereits „psychopathischen“ Rechtsbrecher kleiner werden
lassen — ein Vorschlag, zu dessen Durchführung die einzelwissenschaftlichen
wie vor allem die sozial-politischen Voraussetzungen fehlen. Eine Gefährdeten-
polizei soll durch Beobachten und Eingreifen sich anbahnende Vergehen auf¬
halten; über den Erfolg einer solchen teilt Lindsay in seinem neuesten Buch
„Gefährdetes Leben“ sehr Beachtenswertes mit. Nach dem Beispiel Rußlands
soll eine kriminalbiologische Klinik die in schwerem Grade seelisch kranken
Rechtsbrecher vor ihrer Zuweisung an die Strafanstalt beobachten und der Straf¬
anstalt den am meisten entsprechenden Weg der Behandlung angeben; leider
hören wir nichts Genaues über diesen interessanten Versuch des russischen Straf¬
vollzugs. Wer nicht dieser kriminalbiologischen Klinik zugewiesen zu werden
braucht läßt sich die Schwere eines Falles immer so leicht, vor allem von
den über die Zuweisung an diese Klinik entscheidenden Instanzen feststellen? —,
soll zunächst eine Beobachtungsstation passieren, wo für leichtere Fälle das gleiche
geleistet wird; nach der dann erfolgten Einweisung in die Strafanstalt soll in
Zukunft der Einzelne als Individualität gewertet und behandelt werden. —
Zweierlei vermißt man somit an den positiven Vorschlägen: ihre tiefere Be¬
gründung aus genauer Kenntnis des Unbewußten, des Trieblebens und des Per¬
sönlichkeitsaufbaues heraus und Einbeziehung der gesellschaftlichen Wurzeln
der Kriminalität, ohne deren Kenntnis dem Strafvollzug weithin die Punkte
fehlen, wo er seine Hebel anzusetzen hat.
Roellenbleck (Darmstadt)
Eliaskerg, W: Das sckwierige Kind. Der Arzt als Erzieker, Heft 64
Verlag der Ärztlicken Rundsckau, Otto Gmelin, Müncken 1931.
Der Verfasser sucht in die seelische Welt des Kindes einzuführen, sie von der
Erlebniswelt des Erwachsenen abzugrenzen und die einzelnen Stadien aufzu¬
weisen, die jedes normale Kind durchlaufen muß, um schließlich ein vollreifer
Mensch zu werden. Nach einem breit ausgeführten theoretischen Unterbau werden
dann verhältnismäßig kurz die Konflikte aufgezeigt, deren heilsame produktive
Wirkung der Verfasser besonders unterstreicht. Mit Entschiedenheit wird die
These verfochten, daß schwierige Kinder keineswegs die weniger wertvollen
sind. In dem Artikel „Triebentwicklung“ referiert Eliasberg unter Zitierung der
Literatur kurz über psychoanalytische Befunde und unterstreicht als richtig die
von Freud in dem Geleitwort zu Aichhorn, „Verwahrloste Jugend“, nieder¬
gelegten Grundsätze für die Anwendung der Analyse in der Kindererziehung,
während im übrigen die Stellungnahme des Verfassers zur Psychoanalyse zögernd
einschränkend und zum Teil unklar ist. Gegen Alfred Adlers Theorie von dem
„Lebensplan und dem Machtstreben des Kindes“ polemisiert er. In einer Schlu߬
betrachtung, der sich einige praktische Fälle anschließen, werden auch legis¬
latorische Anregungen, besonders zur Regelung des Verhältnisses der Kinder zu
den Eltern nach geschiedener Ehe, gegeben.
Im ganzen ist zu sagen, daß die Schrift nicht das hält, was sie verspricht.
Der Verfasser gibt zum Verständnis und für die Behandlung des schwierigen
Kindes zu wenig. Leider begnügt er sich auch bei der Erörterung praktischer
Fälle mit kurzen Bemerkungen, ohne auf die wesentlichen Probleme näher ein¬
zugehen. Lotte Liebeck-Ki rs ebner (Berlin)
Halle, Felix: Gescklecktsleken und Strafreckt. Mit Vorwort von
Alagnus Hirsckfeld. JMopr^ Verlag, Berlin x 9 3x.
Das Buch ist eine Streitschrift, verfaßt vom Standpunkt des kommunistischen
Marxismus aus. Es behandelt in vergleichender Darstellung das geltende deutsche
Sexualstrafrecht, die entsprechenden Paragraphen des deutschen Strafgesetz¬
entwurfs von 1927 sowie die einschlägigen Abschnitte des geltenden Sowjet¬
rechts. Der Charakter der Streitschrift zeigt sich außer in den scharfen Kommen¬
taren des Verfassers auch darin, daß an Hand von Auszügen aus den Sitzungs¬
berichten des Reichstages beziehungsweise seiner Ausschüsse bei allen Teilanträgen
und -bestimmungen die Stellungnahme sowohl der Regierungsvertreter wie der
wichtigsten Parteien dargelegt wird. Dadurch ist auf alle Fälle eine Diskussionsbasis
geschaffen, die ein reiches Material in übersichtlicher Gliederung darbietet. Wo¬
fern das Werk nicht totgeschwiegen werden sollte, darf eine bewegte Auseinander¬
setzung erwartet werden.
In eine Besprechung der einzelnen Punkte kann hier wegen der Fülle des
Materials nicht eingetreten werden Um aber die strafgesetzliche Lage, wie sie
nach Anschauung des Autors und M. Hirschfelds von dem neuen Strafgesetz¬
entwurf angestrebt wird, wenigstens annähernd zu beleuchten, seien einige auf¬
schlußreiche Angaben wiedergegeben.
Referate
287
M. Hirschfeld stellt die politisch bedeutsame Tatsache fest, daß es von
deutscher Seite nicht für notwendig gehalten wurde, irgendwelche sexualwissen¬
schaftlichen Sachverständigen zu den parlamentarischen Konferenzen zuzuziehen,
„nachdem erklärt worden war, daß die eigene Kenntnis der Ausschußmitglieder
über diese Materie ausreichend sei, um eine der Zeit entsprechende Regelung
zu treffen“. Es sei hinzugefügt, daß der bedeutende englische Denker Bertrand
Russell in seinem soeben erschienenen Buch „Ehe und Moral“ das gleiche Ver¬
halten bei den englischen Regierungskreisen mitteilt. Insgesamt findet Halle, daß
der neue Strafgesetzentwurf auf dem Gebiet des Sexualrechts gegenüber dem
geltenden deutschen Recht neun Tatbestände unverändert läßt gegenüber zweiund¬
fünfzig Veränderungen. Neununddreißig brächten Verschärfungen und nur drei¬
zehn Erleichterungen. So wird die Höchststrafe für Ehebruch von sechs Monaten
auf ein Jahr erweitert, die Höchststrafe für Verbreitung unzüchtiger Schriften
und Abbildungen von einem Jahr auf zwei Jahre Gefängnis, für öffentliche An¬
kündigung von Mitteln zur Verhütung der Empfängnis ist das Strafmaß eben¬
falls von einem Jahr auf zwei Jahre erhöht. In acht anderen Fällen ist eine Er¬
weiterung des strafbaren Tatbestandes vorgenommen, an zehn weiteren Stellen
ist ein strafbarer Tatbestand neu geschaffen worden. Demgegenüber hat das Sowjet¬
strafgesetzbuch von 1926 die folgenden acht früher strafbaren Tatbestände ge¬
strichen: Ehebruch, Bigamie, gleichgeschlechtlichen Verkehr, Blutschande, Ge¬
schlechtsakte mit Tieren, Abtreibungen, Prostitution, Konkubinat. Es kennt noch
sechs Artikel über Geschlechtsvergehen: Ansteckung durch Geschlechtskrank¬
heiten, Geschlechtsverkehr mit Kindern, Verführung Minderjähriger, Notzucht,
Nötigung einer abhängigen Frau zum Geschlechtsverkehr, Zuhälterei.
Die Proben dürften erweisen, wie aufschlußreich eine Beschäftigung mit dem
Buch ist. Roellenbleck (Darmstadt)
Lazarsfeld, iSoptue: ^Sexuelle Erziehung. Moritz Perles, AV^ien und
Leipzig 1931.
Wie in allen individualpsychologischen Schriften herrscht auch hier der
Grundsatz, daß vor allem Selbstvertrauen und Mut des Kindes nicht gebrochen
werden dürfen, und daß aufrichtige, selbstverständliche Stellung zur Sexual¬
frage geboten sei, Grundsätze, die uns zwar der Kompliziertheit des kindlichen
Seelenlebens keineswegs gerecht zu werden scheinen, die aber gerade wegen
ihrer Primitivität breiten Kreisen von Erziehern und Eltern verständlich sind
und zweifellos einen wesentlichen Fortschritt gegen die früher übliche brutale
Autoritätserziehung bedeuten. Andrerseits muß die oberflächliche Betrachtungs¬
weise der Individualpsychologie zu schweren Beobachtungs- und Erziehungs¬
fehlern führen. So wenn Lazarsfeld in ihrer „Sexualtheorie“ die Behauptung
aufstellt, daß Kinder erst im Alter zwischen acht und zwölf Jahren Interesse
für die Rolle des Vaters haben und als Beweis dafür typische, symbolisch ver¬
stellte Fragen der früheren Jahre anführt. Das Kind interessiere sich also vorher
wirklich nur für Automobile. Dieses Unverständnis für die dem Volke völlig ver¬
ständliche Symbolik ist nach so vielen Jahren analytischer Arbeit nicht mehr
entschuldbar und die daraus resultierende Halbheit der Aufklärung folgenschwer.
*88
Referate
Die heikle Frage der sexuellen Betätigung der Jugend wird völlig in der Luft
schwebend, fernab von jeder gesellschaftlichen Realität, behandelt; um die Lösung
des Problems drückt sich die Autorin mit einigen nichtssagenden Phrasen.
Annie Reick (Berlin)
Kl eist, Fritz: Jugend Lunter Gittern. V^rlagsLudiliandlung Karl .Zwing
Jena 1931.
„Die Gesellschaft ist schuld an den Verbrechen der Jugendlichen; durch Strafe
wälzt sie ihre eigene Schuld auf Kinderschultern. “ Heilen und nicht Strafen wäre
die Aufgabe des Jugendstrafvollzuges. Die seelische Situation zu verstehen, wäre
die Aufgabe des Strafanstaltsbeamten. Mit Verständnis, Liebe und Aufopferung
sucht der Autor als Strafanstaltsoberlehrer seit vielen Jahren dieser Aufgabe zu
dienen. Als psychologischer Grundlage bedient er sich dabei der Individual¬
psychologie, die ihm aber im wesentlichen dazu nur die allzu allgemeine These
von der Entmutigung liefert und wahrscheinlich die intuitive Menschenkenntnis
dieses Erziehers kaum erhöhen kann. Seit vielen Jahren kämpft der Autor einen
erbitterten Kampf gegen den sadistischen Strafvollzug, nichtsdestoweniger scheint
Kleist in seinen Forderungen viel zu bescheiden, scheint er die nach allen Milde¬
rungen noch verbleibenden „Strafübel“ Freiheitsbeschränkung, Einzelzelle, Pflicht¬
arbeit, Rauchverbot oder -einschränkung und vor allem die mit keinem Wort er¬
wähnte sexuelle Not der Inhaftierten viel zu gering zu bewerten. Diese Aufrecht¬
erhaltung eines gemilderten, aber doch „Strafvollzuges“ bei gleichzeitiger Kennt¬
nis der Tatsache, daß die meisten jugendlichen Rechtsbrecher ihre Verfehlungen
unter dem Zwang bitterster Not begangen haben, und daß die anderen, die
Kranken, die Psychopathen, die Süchtigen usw., durch desolate Familienverhält¬
nisse, unlösbare Konflikte, schwere Erziehungsfehler und ähnliche Umstände
schuldlos in krankhafte Entwicklung gedrängt wurden, erscheint uns unver¬
ständlich und inkonsequent. Allerdings sei zugegeben, daß ein konsequentes
Weiterkämpfen in dieser Richtung bald auf in der heutigen Gesellschaftsform
unüberwindliche äußere Schranken stoßen würde. Eine religiöse Grundeinstel¬
lung und in deren Gefolge Vorstellungen über die heilende Wirkung von Be¬
kehrung, künstlerischer und religiöser Ergriffenheit usw. erleichtern dem Autor,
seine Inkonsequenz nicht zu sehen, vermögen uns aber keineswegs zu befriedigen.
Nichtsdestoweniger ist dieses Buch mit seinem ergreifenden Material ein flam¬
mender Protest gegen den bestehenden Strafvollzug. Annie Reick (Berlin)
Kaplan, Leo: Versuch einer Psychologie der Kunst. Merlin-Verlag,
Baden-Baden 1930.
Der Verfasser versucht zunächst, die gesamten Erscheinungsformen des künst¬
lerischen Schaffens aus einem Prinzip abzuleiten, nämlich aus dem „primären
Bewegungsimpuls , der jenen höheren Tieren eigen sei, welche dank einer
besseren Ernährung Überschuß an Nervenkräften aufspeichern. Dieser Über¬
schuß werde im Spiel abgeführt; die Kunst als Spiel diene demselben Ökonomi¬
schen Ablauf. So gibt der Verfasser der Kunstausübung letzten Endes eine bio-
Referate
289
logische Begründung, die allerdings anfechtbar genug erscheint. Der „primäre
Bewegungsimpuls , der also die Abfuhr überschüssiger Nervenkraft bedeute, sei
zunächst ziel- und objektlos. Der Tanz, die Musik und das formale Moment
der Zeichnung seien künstlerischer Ausdruck dieses zunächst objektlosen primären
Bewegungsimpulses.
Der primäre Bewegungsimpuls aber führe durch die Bocksprünge, die er
veranlasse, zur Berührung mit Objekten, denen mit Anziehung und Abstoßung
begegnet werde; daraus resultieren die Objektbeziehungen. Dieser etwas primi¬
tiven Vorstellung von der Eröffnung und Eroberung der Objektwelt legt der
Verfasser die Entstehung von Vision und Wort und damit der durch sie aus¬
gedrückten künstlerischen Strebungen zugrunde. Auf diesem Gedankenweg ver¬
sucht der Verfasser auch Bild und Wort als künstlerische Ausdruckswerte auf
den primären Bewegungsimpuls zurückzuführen. Im zweiten Teil des Buches
freilich reicht ihm das Erklärungsprinzip des primären Bewegungsimpulses für
die bildhaft-darstellende Kunst, insbesondere die Malerei, doch nicht mehr aus
und er sieht sich gezwungen, mit einem zweiten Erklärungsprinzip nachzuhinken,
durch das er ziemlich unvermutet den einheitlichen Bau seiner Theorie beein¬
trächtigt. Er meint:
„Wie es einen primären Bewegungsimpuls gibt, aus dem Rhythmus, Tanz
und Musik entsteht, so gibt es auch einen primären Impuls (eine Art Sehn¬
sucht), eine bunte Mannigfaltigkeit auf sich einwirken zu lassen.“
Damit fällt die einheitliche biologische Grundlage seiner Theorie der Kunst,
da für den primären Impuls, eine bunte Mannigfaltigkeit auf sich einwirken zu
lassen, die bessere Ernährung der höheren Tiere kaum heranzuziehen wäre.
Das Buch ist durchsetzt mit Freudschen Erkenntnissen und wäre ohne sie
wohl nicht denkbar. Manchmal, nicht immer, wird Freud als der Urheber
seiner Gedanken genannt. Die magische Absicht der primitiven Kunst, der
Mechanismus der Spaltung in mehrere Iche im dramatischen Schaffungsprozeß
als Folge der Verdrängung und andere analytische Erkenntnisse werden vor¬
gebracht. Die mangelnde Gedankenschärfe und eine gewisse Primitivität des
Verfassers freilich machen die Lektüre zu keiner völlig befriedigenden und
lassen die Ergebnisse sehr problematisch erscheinen. R. Stert» a (Wien)
Haldar, Rangin: Tke ^W^orking of an Unconscious WIsk in tke
Creation of Poetry and Drama. Int. Journal of PsA. XII, 2.
„Die Wirksamkeit eines unbewußten Wunsches in der Schaffung von Dicht¬
werk und Drama“: Der unbewußte Wunsch ist der Ödipuskomplex. Das Dicht¬
werk und Drama das Schaffen Rabindranath Tagores. Der Ödipuskomplex
wird in den Werken Tagores etwa in der gleichen Art nachgewiesen, wie
Rank ihn seinerzeit in den Werken anderer Dichter nachgewiesen hat. Und
es bleibt ein Zweifel, ob ein solcher weiterer Beitrag heute noch wissenschaft¬
lich von besonderem Nutzen sei. Dieses Bedenken gilt besonders für die Methode
des Autors, nach Zitierung von Gedichten die darin enthaltenen Symbole und
ihre Übersetzung (ohne Berücksichtigung des Lebens des Dichters) tabellarisch
Referate
290
zusammenzustellen. — Daß der offene Inzest heute nicht mehr wie von den
alten Hellenen besungen werden kann, ist durch die „größere Intensität der
Verdrängung“ und die „Fortschritte der Zivilisation und des Schönheitsempfindens“
wohl ungenügend erklärt. FenicLel (Berlin)
G o r e 1 1 L, Basel: C e r t a 1 n R eaction-Formations against Oral
Impulses. Int. Journal of PsA. XII, 2.
Die Verbote der Juden, Blut zu essen und Milch und Fleisch gleichzeitig
zu verzehren, werden als Abwehr oral-sadistischer Versuchungen aufgefaßt, das
letztere insbesondere als Abwehr der Versuchung, die Mutterbrust zu zerbeißen.
Auf Ferenczis ähnliche Ausführungen wird nicht Bezug genommen.
Eenickel (Berlin)
Rinaker, Clarissa: Some Unconscious Factors in tlie /Sonnet as
a Poetic Form. Int. Journal of PsA. XII, 2.
Die Arbeit versucht zu zeigen, daß die künstlerische Form des Sonetts besonders
geeignet sei, ein Gefühlsgemenge von Liebe und Angst auszudrücken. Ein solches
Gemenge aber entspricht der im Unbewußten ewig lebenden Ödipusliebe.
Der Gegensatz der zwei Vier- und Dreizeiler entspreche dem der Gefühle. Das
strenge Halten an Formregeln soll ein Schuldgefühl wegen der „Verletzung der
Mutter , als deren Symbol das ganze Gedicht aufzufassen sei, aus der Welt
schaffen. Im Gegensatz zum üblichen Sonett hätten die Sonette von Shakespeare
männlichen Charakter. Eenickel (Berlin)
Meyer, J. J.: /Sexual Life in Ancient India. A /Study in tlie Com-
parative History of Indian Culture. Routledge 1930.
Dies Buch enthält eine sachkundige Darstellung aller literarischen Zeugnisse,
die sich mit dem Leben der indischen Frau vor zweitausend Jahren befassen.
Die Arbeit ist im wesentlichen deskriptiv und bringt eine Auswahl der ent¬
scheidenden Stellen aus der alten Literatur, für die Herr Prof. Meyer anerkannter¬
maßen sachverständig ist. Das Buch würde an Wert gewinnen, wenn ihm einige
Kapitel beigefügt wären, in denen wir das gesammelte Material zusammen¬
gefaßt und von dem Standpunkt unserer modernen Wissenschaft, der Sexual¬
psychologie, aus kommentiert fänden; aber das wäre eine sehr schwierige Auf¬
gabe, die man nicht eher in Angriff nehmen sollte, als bis man sich ihr wirklich
gewachsen fühlt. So erfordert dieses Buch eigentlich ein zweites, das die im
ersten mitgeteilten Tatsachen erklärt. Sicher wird ein solches Buch auch einmal
geschrieben werden. Inzwischen kann die Wissenschaft dem Verfasser nur dankbar
sein für die mühevolle Akkuratesse, die er auf die Sammlung und Darstellung
des für den Kulturhistoriker unschätzbaren Materials aufgewendet hat.
E. J. (London)
Referate
291
M Ü 11 er-'Freienfels, Richard: Tagetuch eines Psychologen.
J 7 . A. iSeemann, Leipzig 1931.
Als „Psychologe von Beruf (dem schicksalhaften, nicht dem behördlich ab¬
gestempelten) “ kann der Autor nicht umhin, „an alle Tatsachen, Gestalten, Ge¬
schehnisse des Lebens den psychologischen Aspekt heranzutragen“: in gänz¬
lich unverbindlicher Weise dient ihm alles und jedes zum Anlaß, um psycho-
logisierende Reflexionen anzuspinnen. Er handelt über das Wesen der Kunst
und über die „letzten Fragen“ der Weltanschauung, über Kino und Sexualität,
Napoleon und den Großstadtmenschen, über die Physiognomie der Stadt Berlin
und über die Psychologie der Schauspielerin Sylvia in dem gleichen prätentiösen
Plauderton. Diese Betrachtungen sind für die Wissenschaft ohne jedes Interesse
und vermögen auf der anderen Seite doch nicht (wie der Autor wünscht) das
„Vorurteil mancher Zeit- und Zunftgenossen“ zuwiderlegen, „daß man gewichtige
und ernste Dinge nicht auch in leichter und heiterer Form sagen könne.“
Afarseille (Berlin)
Zeitsckrift für psy ckoanaly tisclie Pädagogik, V. Jakrgang, Heft 7,
Juli 1931.
Das Heft bringt an führender Stelle die Festrede, die Federn anläßlich
des 75. Geburtstages von Professor Freud im Wiener Rundfunk gehalten hat,
die in würdiger Form zum Teil prägnant über das Wesen der Psychoanalyse
referiert, zum Teil die persönlichen Ansichten des Redners über die kultur¬
historische Bedeutung der Psychoanalyse ausdrückt.
Eine auch für den Psychoanalytiker sehr bemerkenswerte Arbeit ist die von
Alice Sperber, die ihre Imagoarbeit über das Auftreten von Hemmungen bei
Tagträumen durch eine schöne Analyse der Novelle „Der Vorzugsschüler“ von
Ebner-Eschenbach ergänzt, wobei sie Gelegenheit findet, die Eigenarten
der Tagträume von Eltern über die Zukunft ihrer Kinder herauszuarbeiten.
(Verwechslung von Wunsch und Realität, Nichtgeheimhaltung der Phantasien,
besonders gesteigerter Allmachtsglaube und weitgehende Einflußnahme des Tag¬
traumes auf die faktische Realität dank der realen Macht der Erwachsenen
über das Kind.)
Alle übrigen Arbeiten dieses Heftes sind aus der Praxis geschrieben. So teilt
Pfister ein Gutachten mit, das er über einen jugendlichen amerikanischen
Psychopathen abgab, der trotz aller Bemühungen von Polizei und Fürsorge¬
behörden nicht nur immer wieder als Dieb rückfällig wurde, sondern schließlich
auch einen Totschlag beging. Der psychoanalytische Blick des Autors erkennt
die Besonderheit seines Ödipuskomplexes, insbesondere den ewigen aus dem
Vaterkomplex quellenden Kampf. Über die Prognose einer eventuellen psycho¬
analytischen Behandlung äußert sich Pfister sehr optimistisch — Von Zulliger
erfahren wir eine in unnachahmlicher Intuition bewerkstelligte Exploration
einer kleinen Lügnerin und Tagträumerin, die durch das Milieu aufgezwungene
Phantasien vom Charakter eines „Familienromans“ erkennen läßt; Zulliger
riet (eine Analyse war nicht möglich) zu einem Milieuwechsel, der auch vollen
Referate
393
Erfolg brachte, benutzt aber die Gelegenheit, die Erziehungsberater davor zu
warnen, allzuoft und schematisch einfach „Milieuwechsel“ anzuordnen; viel¬
mehr hält er allgemein den Rat für den besten, der „der unbewußten Wunsch¬
welt einesteils eine gewisse, reduzierte Befriedigung gewährt und zugleich die
Realanpassung erleichtert“. — Baudouin stellt drei Fälle oraler Fixierung
zusammen, bei denen das Entwöhnungstrauma nicht überwunden worden war
Sie bringen der analytischen Lehre von der oralen Determinierung von De¬
pression und Stottern Bestätigung; interessant sind die spontanen Versuche, im
Kinderspiel das Entwöhnungstrauma nachträglich zu überwinden. Einige Formu¬
lierungen von Baudouin erscheinen mißverständlich und unklar; so wenn er
die Tatsache, daß das Ich Triebansprüche ab wehrt, ohne daß der Mensch
etwas davon weiß, dahin ausdrückt, „daß das Unbewußte oft gegen seine eigene
Absicht handelt“. — Miß Searl macht darauf aufmerksam, daß kleine Kinder
eine ungeheure Geduld in der Sehnsucht haben, sich Erwachsenen verständlich
zu machen. Diese Tatsache verdient gewiß volle Beachtung und Würdigung.
Nur entstehen bei den mitgeteilten Spieldeutungen Zweifel, ob sich in diesen
Spielen die Mitteilungssehnsucht wirklich so stark ausdrückte, wie Miß Searl
annimmt, und ob das Kind nicht auch in gleicher Weise gespielt hätte, wenn
es allein gewesen wäre. Auch die Meinung, durch diesen Mitteilungsdrang
könne die Frühanalyse auf weit intensivere Mitarbeit der Patienten rechnen
als die Analyse von Erwachsenen, überzeugt noch nicht ganz.
Zwei weitere Arbeiten berichten über Erfahrungen aus der Lehrerpraxis.
Edith Buxbaum veranstaltete mit zehn- bis elfjährigen Mädchen sogenannte
»Fragestunden“, bei denen den Kindern freigestellt war, zu fragen, was sie
wollten. Auf dem Umweg verschiedener symbolischer Anspielungen holten sich
die Mädchen sexuelle Aufklärung, wobei interessante Beobachtungen über die
Massenpsychologie der Klasse (Entschuldung des einzelnen Kindes durch die
Einsicht in die gleiche Schuld auch der andern) gemacht werden konnten. —
Schäfer berichtet über Ubertragungserscheinungen, die er als Lehrer an kleinen
Mädchen zu beobachten Gelegenheit hatte. Fe ni ekel (Berlin).
V. Jahrgang, Heft 8/9, August-September 1931.
Ein Sonderheft über „Strafen“ stellt eine Reihe von Arbeiten zusammen, die
von sehr verschiedenen Standpunkten aus zu dieser Frage Stellung nehmen. Einige
Arbeiten sind mehr theoretisch orientiert und fragen nach der tatsächlichenWirkung
oder nach der Genese des Strafens überhaupt. In diese Kategorie gehören zunächst
die Arbeiten von Aichhorn, Bernfeld und Melitta Schmideberg.
Aichhorn stellt zunächst fest, daß das Erziehungsziel immer von Wer¬
tungen abhängt: „Jener Teil des Bemühens der Eltern um die Entwicklung
des Kindes, der Erziehung genannt wird“, läuft „letzten Endes auf nichts anderes
hinaus, als das Kind in den von ihnen als allein richtig anerkannten Wert¬
maßstab hineinzuzwingen“. Nun stimmen aber die „einzelnen Gruppen inner¬
halb der Gemeinschaften unseres Kulturkreises“ in ihren Wertmaßstäben nicht
überein. So gebe es kein absolutes Erziehungsziel. Immer aber müsse die
Referate 293
primitive Triebhaftigkeit einem Ziel zuliebe eingeschränkt werden, die durch
eigene Erfahrungen gegebene „primitive Realitätsfähigkeit“ sei in eine „besondere
strukturierte Realitätsfähigkeit“ umzugestalten. Die erste Schwierigkeit, die sich
jedem Erzieher ergibt, wenn er versucht, die zu unterdrückende Lust mit
Unlust zu verknüpfen, bestehe darin, daß diese vom Erzieher zugefügte Unlust
nicht automatisch durch die Regehung der Tat eintritt, sondern nur, wenn der
Erzieher die Tat wahrnimmt. Deshalb sei es erzieherisch ein großer Fort¬
schritt, wenn die Erziehungspersonen introjiziert werden und Schuldgefüle ent¬
stehen; Schuldgefühle aber sind ein Entwicklungsprodukt der Angst; Erziehung
ohne Angst scheine es also nicht zu geben. Offenbar gelte es, ein Optimum
der Liebesbeziehung zum Erzieher herzustellen: werde es unterschritten, so
erscheine der versagende Erzieher als Feind, werde es überschritten, so gebe
es keine wirksame Angst vor Liebesverlust mehr. So sei also weder „Milde“
noch „Strenge“ richtig oder falsch, sondern es müsse die richtige Quantität
von beiden angewandt werden. Strenge erzeuge allerdings immer Aggression,
so daß bei der angestrebten Energieumwandlung ein großer Energieverlust
statthabe. Milde sei ökonomischer als Strenge; zu viel Milde aber mache den
Zögling für das Leben aggressionsunfähig, durch zu viel Strenge „kommt eine
maximale Aggressionsfähigkeit zur Entwicklung“ (die aber, möchten wir hinzu¬
fügen, verdrängt und hinter Reaktionsbildungen verborgen sein kann). Daraus
schließt Aichhorn, daß die Wahl des Erziehungsmittels vom Erziehungsziel
abhängig sei. „Ein idealistisch orientiertes Erziehungsziel verlangt Milde und
Güte, ein nur an materiellen Werten orientiertes Strafandrohung und Strafe.“
(Ist es nicht häufig so, daß übertriebene Strenge auf dem Umwege der
Verdrängung der durch sie geweckten Aggressionsneigungen auch unfähig
macht zum Streben nach materiellen Werten oder wenigstens dazu, sie wirk¬
lich zu erreichen ?) — In besonderen, unbewußten Situationen nun können
Milde und Strenge ganz versagen, in manchen Fällen müsse man „Schlimmheit
belohnen“, d. h. dem schlimmen Kind besondere Lust zuführen, bei moralischen
Masochisten bringen in paradoxer Weise Strafen Lust und Belohnungen Unlust.
Bernfeld setzt in interessanten Ausführungen auseinander, worin er „die
allgemeinste Wirkung der Strafe“ sieht: Die allgemeinste Wirkung der Strafe,
sowohl in Pädagogik als auch in Justiz, sei die Einteilung der Menschen in
„gestrafte“ und „ungestrafte“, in „brave“ und „schlimme“. „Der Gestrafte“ ist
diffamiert; Strafe ist eine Schande. Deshalb entstehe vor der Strafe eine
soziale Angst, richtige Furcht, beim Ungestraften ein sozialer Stolz. Dieser
wirke sicherer als jene, die durch ihn geschaffene „moralische Struktur“ der
Gesellschaft überdecke und verdecke die reale. „Die ökonomische Gliederung
bleibt verborgen, während sich die moralische durch den Rechts- und Straf¬
apparat des Staates überaus lebhaft bemerkbar macht.“ Das sei die soziale
Funktion des Strafapparates. Die pädagogische Strafe bereite auf diese „Ver¬
deckung“ vor, indem sie im Kind die Gleichung ungestraft = brav = erwachsen =
asexuell züchte. Dadurch werde bei der Über-Ich-Bildung die moralische Ge¬
sellschaftstruktur verankert (und — möchten wir wieder hinzufügen — die
Erkenntnis und Änderung der realen erschwert).
Melitta Schmideberg hält die Wirkung der Strafe zunächst noch fü r
sehr problematisch. Üblicherweise meine man, sie werde gefürchtet. Reik und
Alexander aber meinen, sie werde aufgesucht und mache das schlimme Kind
noch schlimmer. Groddeck endlich meint, sie werde zwar aufgesucht, befriedige
aber den Masochismus und lasse daher das schlimme Kind brav werden. Alle
diese drei Standpunkte, meint die Autorin, hätten recht. Die übliche Auffassung
betrachte besonders die Rolle des Ichs, Reik und Alexander die des Über-Ichs
Groddeck die der Libido. Frau Schmideberg meint, daß alle diese Wirkungen
auf folgendem Umwege zustande kommen: Durch ihren Unlust Charakter mobili¬
siere zunächst jede Strafe Haß — und ihre Wirkung hänge nun von dem
Schicksal dieses Hasses ab. Meist müsse er verdrängt und durch zärtliche Hin¬
gabe an den unbewußt gehaßten Erzieher überkompensiert werden, das Kind
wird „brav“. Eine paradoxe Wirkung der Strafe werde bedingt durch den
Mechanismus: Flucht in die Realität; man will lieber eine reale Strafe er¬
dulden, als den Drohungen des eigenen Über-Ichs ausgesetzt sein. Vergangene
Versagungen, Aggressionen und Verdrängungen, die neu mobilisiert werden,
komplizieren das Bild und machen, da man sie nie genau kennen kann, die
Prognose einer Strafwirkung so schwer. Die praktische Folgerung ist der Wunsch
nach einer Erziehung, „die den nötigen Triebverzicht und die Realitätsanpassung
erzielt ohne Strafen und ohne Mittel, die die Angst und das Schuldgefühl des
Kindes wesentlich steigern“. Dabei ist wohl das Gewicht auf das Wörtchen
wesentlich zu legen, denn was könnte ein Kind überhaupt zum Triebver¬
zicht bewegen, wenn nicht Angst oder Schuldgefühl? Eine theoretische Über¬
legung zeigt leicht, daß „Belohnungen“ allein ohne vorangegangene Angst nie¬
mals wirken können.
Schon in den bisher besprochenen Arbeiten kommen neben der Frage nach
der Wirkungsweise der Strafe pädagogische Probleme zu Wort. Deutlicher noch
wird das bei Weiss, der in seinem Beitrag „Die Strafe in der Erziehung“
die Strafe als eine pädagogische Verstärkung des Realitätsprinzips darlegt. Da
jede Liebesentziehung „Strafe“ sei, gebe es keine Erziehung ohne Strafe,
worauf es ankomme, das sei die Dosierung. „Die Begründung dessen, was man
vom Kinde verlangt, muß rationell von ihm erfaßt werden können“, denn
der Schaden, der von selbst durch Nichtbeachtung der Realität entstehe, sei
das Vorbild jeder Strafe, — ein Grundsatz, der als Richtlinie sicher seine gute
Berechtigung hat, der aber in der Praxis gewiß nicht voll realisierbar ist. Be¬
merkenswert ist der Rat, daß ein zur Strafe verhängter Liebesentzug nie über
Nacht andauem solle. — Bei der Wirksamkeit besonderer unbewußter Mechanismen
(auch Weiss denkt dabei besonders an den moralischen Masochismus) sei jede
Strafe kontraindiziert. Der Grundsatz, „auch darf die Strafe nie etwas Be¬
schämendes für das Kind sein“, dem man so gerne gefühlsmäßig beipflichten
möchte, wird sich — man vergleiche dazu nur den vorher referierten Artikel
von Bernfeld — nicht durchführen lassen. — In -praxi kämen aber die meisten
Strafen nicht aus pädagogischer Vernunft, sondern aus Rachedurst und Sadismus
der Erzieher. Ebenso fehlerhaft aber sei das aus Reaktionsbildungen gegen
solche Regungen entstandene Prinzip, überhaupt nicht zu strafen; es sei ge-
Referate
395
fährlich, weil es dem Kind keine Gelegenheit gebe, seinen Ödipushaß zu
rationalisieren und abzuführen.
Damit kämen wir zu jenen Arbeiten, die mehr die Psychologie des Strafenden
zum Gegenstand nehmen. Mehrere Arbeiten zeigen uns, wie unbewußte Mecha¬
nismen, besonders Projektion und Identifizierung, das pädagogische Tun deter¬
minieren oder wenigstens beeinflussen. Sybille Yates sammelte in Analysen
von Lehrern verschiedene Beispiele dafür: Ein unbewußt analerotischer Lehrer
prügelte unreinliche Kinder besonders stark, d. h. zwischen ihm und den Kindern
wiederholte sich ein ursprünglich intrapsychischer Vorgang zwischen Über-Ich
und triebhaftem Ich; eine Lehrerin litt an Aphonie, weil für sie Sprechen un¬
bewußt aggressive Bedeutung hatte; in den Kindern sah sie ihre eigene aus
der Verdrängung wiederkehrende Aggression verkörpert; ein Lehrer hatte Angst
vor den Kindern, weil er dachte, sie würden ihn anklagen; er konnte keine
Disziplin halten, weil er seine Zöglinge zu den Trägern der Tendenzen seines
Über-Ichs machte.
Über die Einwirkung der Analerotik auf das Unbewußte des strafenden
Erziehers schreibt Hitschmann. Geiz, Härte, Überernst und andere anal¬
erotische Charaktereigenschaften beim Pädagogen „ergeben eine böse Art von
Strafern altmodischer Art“, besonders mit Eigensinn, Herrschsucht und Pedan¬
terie. Analerotische Eltern hassen das Kind, weil es Geld kostet, bestrafen die
infantile Sexualität, weil sie „unrein“ sei. „Der Anale will ungestört sein, und
die Kinder sind ihm eine Störung ; er lege besonderen IVert auf Schulzeugnisse
und Nummern; er leitet die Reinlichkeitserziehung in verhängnisvoller Weise.
Eine zweite Arbeit von Melitta Schmideberg „Zur Psychologie desStrafens“
stellt einige unbewußte Motive des typischen Strafers zusammen: den Haß gegen
andere Objekte (gegen den Vater), der auf das Kind verschoben wird; die Pro¬
jektion eigener infantiler Wünsche in den Zögling. Am häufigsten sei die Kombi¬
nation dieser beiden Motive: man strafe, „indem man am Kind den seinem
Vater geltenden Haß ausläßt; diese Äußerung seines Hasses wird von seinem
Über-Ich gestattet, weil das schlimme Kind, das er straft, die Verkörperung
seiner eigenen verbotenen Regungen darstellt“.
Ewald Bohm verbindet die Darstellung der „Strafe als Triebbefriedigung“
mit radikaler pädagogischer Stellungnahme: Alle Strafen überhaupt müßten aus
der pädagogischen Praxis verschwinden! Man komme aus mit dem Eintreten¬
lassen der natürlichen Folgen der kindlichen Handlungen. Jede eigentliche Strafe
sei lediglich ein Problem der Triebpsychologie des Strafenden. Um das darzu¬
legen, holt Bohm weit aus und teilt, um die Frage beantworten zu können,
„welche Triebe können durch Erziehungsstrafen befriedigt werden?“, erst ein¬
mal die Triebe überhaupt ein in Lebenstriebe (konstruktive Ich triebe “h Objekt¬
triebe) und Todestriebe, von denen wieder die Aggressionstriebe abstammen.
Das Kind werde zum Triebobjekt durch Identifizierung und Projektion, wobei
dem Strafbedürfnis des Strafenden, der sich mit dem Bestraften identifiziert,
besonders viel Raum eingeräumt wird. Eine Unterscheidung zwischen einer
narzißtischen und einer „objektlibidinösen“ Identifizierung (damit ist nicht etwa
eine gemeint, die, wie die hysterische Identifizierung, neben eine Objektbezie-
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hung tritt) ist theoretisch neu und nicht sehr klar. Von jener spricht Bohm
wenn der Strafende im bestraften Kind sich selbst sieht, von dieser, wenn er
aus alter Identifizierung mit seinen eigenen Erziehern heraus handelt; jenes
sei weiblich, dieses männlich. (Kann es überhaupt die zweite Identifizierungs¬
art ohne die erste geben?) Nun wird durch diskutiert, wie jeder einzelne Trieb
nach der Bohmschen Einteilung in Strafhandlungen mannigfaltige Befriedigung
finden kann. Die daraus sich ergebenden praktischen Konsequenzen bringen
Bohm zwar zum Schluß: „Erziehungsreform . . . und Politik sind eben untrenn¬
bar miteinander verbunden“; welche Erkenntnis ihn aber nicht von dem Opti¬
mismus abbringen kann: „Das ganze Projekt [weit ausholende pädagogische
Reformen, obligater Besuch von Kindergärten und Kleinkinderschulen, völlig
reformierte Lehrerausbildung u. dgl.] kann ja stufenweise, allmählich durch¬
geführt werden.“
Einige weitere kleinere Arbeiten kritisieren mit Hilfe analytischer Erfah¬
rungen die Berechtigung der Strafen: Alfhild Tamm genügte eine Aussprache
über die unbewußte Eifersucht auf jüngere Geschwister, um ein jähzorniges,
trotziges und unbewußt strafbedürftiges Kind scheinbar voll zu heilen; das
Kind zu strafen wäre in diesem Falle gewiß nicht gut gewesen. — Mann¬
heim zeigt an Beispielen, wie verkehrt es ist, zu jeder Tat eines Kindes so¬
fort pädagogisch „Stellung zu nehmen“, statt zu verstehen und „durch ver¬
hältnismäßig passives Verhalten dem Kinde die Möglichkeit zu eigener fest¬
gefügter Gewissensbildung“ zu geben. — Die Analyse eines kleinen Symptoms
zeigte Gräber die Berechtigung der oft betonten Auffassung von einer starken
Trieb Verschränkung und psychischen Kompliziertheit bei dem Phänomen „Strafe“ :
„Es zeigt sich vor allem, daß die Strafe eigentlich ein ,Witz‘ ist, daß sie, an
andern ausgeübt, ein Vergehen, in dritter Determinierung eine Selbstbestrafung
ist und viertens einen sekundären Lustgewinn bringt,“
In einem gewissen Gegensatz zu sämtlichen Arbeiten des Heftes steht endlich
der Beitrag von Pipal „Du Menschenquälerl“. Er fragte ihm gefühlsmäßig zu¬
getane Schulkinder über ihre Gefühle beim Geschlagen- und Bestraftwerden,
über ihr Urteil über Strafen überhaupt und über Körperstrafen im besonderen.
Das Unzweckmäßige der Körperstrafe kann nicht deutlicher demonstriert werden
als durch ihre Antworten. Immer wieder erkenne man, daß es sich um An¬
gelegenheiten der Eltern handelt, die auf Kosten ihrer Kinder ausgetragen
werden. Man erfährt allerhand von der durchschnittlichen pädagogischen
Praxis einschließlich der vom „Hilfsverein für christliche Ehen“ mit „Druck¬
erlaubnis des erzbischöflichen Ordinariats in Wien“ dazu gelieferten Theorien,
die unabhängig von den Diskussionen der Fachpädagogen in Wirklichkeit auf
die Kinder losgelassen werden. Fenickel (Berlin)
IMAGO, Band XVIII (i 9 3a), Heft a
(Ausgegeben Mai 1952)
Seite
Alfred Winterstein: Zur Psychologie der Arbeit.137
Felix Boehm: Formen und Motive der Anthropophagie.150
A. Izeddin: Eine mohammedanische Legende...189
H. E. Del Medico: Ein Ödipuskomplex im elften Jahrhundert.214
Melitta Schmideberg: Erziehung und Gesellschaftsordnung.245
G. H. Gräber: Psychoanalytische „Archäologie“ Gotthelfs.277
BEFERATE
Krueger: Der Strukturbegriff in der Psychologie (Marseille) 283. — Finke: Der Rechtsbrecher (Roellen-
bleck) 284. _ Eliasberg: Das schwierige Kind (Liebeck-Kirschner) 286. — Halle: Geschlechtsleben und
Strafrecht (Roellenbleck) 286. — Lazarsfeld: Sexuelle Erziehung (A. Reich) 287. — Kleist: Jugend hinter
Gittern (A . Reich) 288. — Kaplan: Versuch einer Psychologie der Kunst (R. Sterba) 288. — Haldar:
The Working of an Unconscious Wish (Fenichel) 289. — Gorelik: Certain Reaction-Formations (Fenichel)
2 g 0 . _ Rinaker: Some Unconscious Factors in the Sonnet (Fenichel) 290. — Meyer: Sexual Life in
Ancient India (E. J.) 290. — Müller-Freienfels: Tagebuch eines Psychologen (Marseille) 291. — Zeit¬
schrift für psychoanalytische Pädagogik, V. Jahrgang, Heft 7, 8/9 (Fenichel) 291.
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