XXII. Band 1936 Heft 2
IMAGO
iCeitscnrilt lür psychoanalytische Bycholoeie
ihre Grenzgebiete und Anwendungen
Offizielles Organ der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung
H
erausgegeben von
Sigm. Freud
Redigiert von Ernst Kris und Robert Wälder
Ernest Jones
. Die Psychoanalyse und die Triebe
Edward Bibring . .
Zur Entwicklung und Problematik der Triebtheorie
W. Bischler
. . Selbstmord und Oüfertod
Ludwig Eideiberg
. . Zum Studium des Versprechens
Alfred Gross . .
V
. . . Zur Psychologie des Geheimnisses
S. H. Fuchs
. . . Zum Stand der heutigen Riolo^ie Dargestellt an
Kurt Goldstein: „Der Aufbau des Organismus"
Bespre chun gen
■
Wir machen hiemit unsere Autoren auf die folgenden gesetzlichen Bestimmungen auf*
merksam:
Bis zum Ablauf von zwei dem Erscheinungsjahr einer Arbeit folgenden Kalenderjahren
kann über die - betreff enden Verlagsrechte (Wiederabdruck und Übersetzungen) nur mit
Genehmigung des Verlages verfügt werden. Es steht jedoch auf Grund eines generellen
Übereinkommens, das wir mit dem .international Journal of Psycho* Analysis" getroffen
haben, jedem Autor frei, ohne ausdrückliche Genehmigung des Verlages der letztgenannten
Zeitschrift Rechte zur Übersetzung und zum Wiederabdruck einzuräumen.
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einem anderen Organ müßten, um Berücksichtigung finden zu können, zugleich mit Über*
sendung des Manuskriptes gestellt werden.
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von 9 „ 16 „ „ 25 „ „ 20.-, „ 50 „ „ 25.-
„ , 17 J! 24/ „ „ 25 \, ; „ 30.-, „ 50 „ „40.—
.. 25 „ 32 „ „ 25 „ „ 35—, „ 50 „ „ 45.—
j. Mehr als 50 Separata werden nur nach besonderer Vereinbarung mit dem Verlag an*
gefertigt.
Preis des Heftes Mark 6.~, Jahresabonnement Mark 22.-
Jährlich 4 Hefte im Gesamtumfang von etwa 520 Seiten
Einbanddecken zu dem. abgeschlossenen XXI. Band (?■!)} f) sowie zu allen früheren
Jahrgängen: in Halbleinen Mark 2.JÖ, in Halbleder Mark /.— "
' " Bei Adressenänderungen
bitten wir freundlich, auch den bisherigen Wohnort bekanntzugeben, denn die Abon*
nentenkartei wird nach dem Ort und nicht ^nach dem Namen geführt.
:". ■ , - .--.': .--.' *. - —
I M A G O
ZEITSCHRIFT FÜR PSYCHOANALYTISCHE PSYCHOLOGIE,
. IHRE GRENZGEBIETE UND ANWENDUNGEN
XXII. Band 1936 Heft 2
Die Psychoanalyse und die Triebe 1
Von
Ernest Jones
London
Ich habe das Thema der Triebe für meinen Vortrag gewählt, weil es in
vieler Beziehung das interessanteste, grundlegendste und schwierigste in der
ganzen Psychologie ist. Erweiterte Kenntnisse auf diesem Gebiete würden
vielleicht mehr als auf jedem anderen die Psychologie in nähere Beziehung
zu verwandten Wissenschaften wie Physiologie, Biologie, Soziologie und
Philosophie bringen. Seit einiger Zeit hat es sich gezeigt, daß psychische
und physische Prozesse eher durch die Erforschung der Triebe und ihres
gefühlsmäßigen Ausdrucks in Wechselbeziehung zu bringen sind als durch
die Methode, die im neunzehnten Jahrhundert so hoffnungsvoll schien, die
höheren geistigen Phänomene und die Gehirnrinde zu studieren. Die enge
Verbindung zwischen Furcht und Ärger zum Beispiel, die durch psycho*
logische Gründe festgestellt worden ist, ist durch Cannon und seine Schüler
sehr interessant bestätigt worden, die auf rein physiologischen Wegen
arbeiteten. Es ist ferner offenbar, daß das Studium der Triebe, eines für
den Menschen und die niedrigeren Tiere gemeinsamen Feldes, die aussichts*
reichste Möglichkeit bietet, um die Psychologie in der Hierarchie der
Wissenschaft auf den rechtmäßigen Platz zu stellen, nämlich als eine der
biologischen Wissenschaften. Dann führt uns dasselbe Studium zu dem
großen Problem der relativen Wichtigkeit ererbter und erworbener Eigen«
schaften, einem wesentlichen Problem für alle soziologischen Seiten der Psy*
chologie. Endlich sollten alle Ergebnisse solcher Untersuchungen nützliche
Anhaltspunkte für die spannendste der philosophischen Spekulationen bie>*
ten: über die Beziehung des Körpers zur Seele. Und das ist vielleicht die
i) Vorgetragen vor der British Psychological Society am 22. März 1935; vgl. The
British Journal of Psychology, General Section, XXXVI, part 3, 1936.
Imago XXII/2 ^^^ 9
INTERNATIONAL
PSYCHOANALYTIC
UNIVERSITY
DIE PSYCHOANALYTISCHE HOCHSCHULE IN BERLIN
j30 Ernest Jones ;
zentralste menschliche Betrachtung von allen, denn die Beziehung zwischen
der Persönlichkeit und dem materiellen Körper, durch den sie sich aus*
drückt, bezeichnet das letzte Problem der Beziehung der Persönlichkeit zur
, Materie" und die Verwandtschaft der menschlichen Seele zum Weltall.
" Unglücklicherweise hat die Psychologie bis jetzt noch nicht die Ergebe
nisse geliefert, die in irgend einer Weise an Wichtigkeit den hohen Zielen
entsprächen, die ich eben bezeichnet habe. Es gibt keine Übereinstimmung
unter Psychologen, ob Triebe im gewöhnlichen Sinne des Wortes über*
haupt existieren — einige Psychologen schreiben ihre Äußerungen aus*
schließlich erworbenen Gewohnheiten (habits) zu — oder, wenn Triebe exi*
stieren, ob man irgend etwas Bestimmtes über ihre Natur oder selbst ihre An*
zahl sägen kann. Die wissenschaftlichste Methode zum Studium des Ge*
genstandes schien zu sein, mit der einfachen Beobachtung des Verhaltens
zu beginnen, zu dem die Triebe führen: sich auf die motorischen Aspekte
des Triebes zu konzentrieren. Diese Methode hat sich in der Erforschung
des Trieblebens der Tiere als sehr fruchtbar erwiesen; dort ist es freilich
die einzig verfügbare Methode. Bei menschlichen Wesen ist es ihr nicht
möglich gewesen, Licht in die Dunkelheit zu bringen. Der Mißerfolg ist
wahrscheinlich der außerordentlichen Plastizität der menschlichen Triebe zu*
zuschreiben. Wir wissen, je tiefer wir in der Tierreihe hinabgehen, umso
starrer und unvermeidlicher sind die triebmäßigen Reaktionen. Entwicklung
in höhere Formen scheint charakteristischerweise durch eine größere Va*
riabilität und Auswahl der triebmäßigen Reaktionen begleitet zu sein, eine
Veränderung, die vermutlich selbst ein wichtiger Faktor in der Entwicklung
gewesen ist. Beim Menschen hat diese Veränderlichkeit ihren höchsten Grad
erreicht und ist die biologische Basis für den allgemeinen Glauben an die
Freiheit des Willens. All das jedoch mach|: es außerordentlich viel schwerer
festzustellen, welche Tendenzen beim Menschen wirklich primär und ange*
boren sind. Andere Psychologen haben daher versucht, die Triebe durch
Methoden der Introspektion zu studieren und zu klassifizieren, besonders
durch Introspektion der Gemütsbewegungen, die gewöhnlich mit ihnen einher*
gehen. McDougalls vielversprechender Versuch in dieser Richtung
führte zu einer Wechselbeziehung von spezifischen Affekten mit spezifi*
sehen Instinkten, aber er war auf zu wenig Tatsachenforschung gegründet,
um von wirklich praktischem Nutzen zu sein. Ein anderer Versuch, diesen
Problemen näher zu kommen, ist eine Kombination dieser zwei Methoden:
man richtet die Aufmerksamkeit auf das offenbare Ziel der Triebe, urteüt
nach der Richtung des Triebgeschehens. Das ist ungefähr die Haltung der
meisten Psychoanalytiker. Man muß hier freüich klar unterscheiden zwischen
dem empirisch beobachteten Triebziel und seinem Zweck in irgend einem
Die Psychoanalyse und die Triebe 131
teleologischen Sinn. Wenn man diesem Trugschluß verfällt, wird man bald
dazu kommen, die Triebe nach ihrem biologischen Wert zu klassifizieren
— zum Beispiel ihrem Wert für das Fortleben der Art im darwinistischen
Sinne — , ihrem sozialen, ethischen und selbst theologischen Wert.
Es ist Aufgabe der vorliegenden Arbeit, einige der Beiträge zu beschreiben,
die die Psychoanalyse zu diesem dunklen Problem gegeben hat, und ich
will daher zu meinem eigentlichen Thema kommen. Freud, der Pionier
der Psychoanalyse, hat selbst bei weitem den größten Teil dieser Beiträge
beigesteuert. Meine Darstellung wird sich deshalb im wesentlichen mit der
Entwicklung seiner Ideen zu befassen haben. Lassen Sie mich mit zwei allge^
meinen Erwägungen beginnen, die eine Grundlage für die Erklärung dieser
Entwicklung bieten.
Zunächst ist zu sagen, daß Freud die Erforschung der Triebe nicht als
seine hauptsächliche Lebensaufgabe betrachtete; dies war vielmehr die Auf*
klärung bestimmter psychischer Phänomene, die problematisch waren und
sein Interesse erweckten, vor allem der neurotischen Leiden und des Traum*
lebens. Sein Studium der Triebe entwickelte sich anfänglich nur gelegentlich
der Verfolgung seiner eigentlichen Aufgabe, doch drängte es sich mehr und
mehr in sein Gesichtsfeld. Erst in den letzten Jahren, seit dem Kriege, hat'
es den Vordergrund seines Interesses eingenommen. Obwohl er in seinen
früheren Werken unzählige detaillierte Beiträge zu unserem Wissen von den
Manifestationen der verschiedenen Triebe, besonders der sexuellen, gebracht
hat, wagte er es erst nach dreißig Jahren intensiver Arbeit, Theorien über
den Gegenstand aufzustellen. Seine Ansichten sind also sicher nicht eilig
oder a pn'on' gewonnen, und es wäre gewiß weise, sorgfältige Aufmerksam.»
keit den Schlußfolgerungen zu widmen, die auf eine so unvergleichliche psy*
chologische Erfahrung wie die seine gegründet sind. Ein anderer Beweis
für die empirische Natur seines Ansatzes ist, daß er das gewöhnliche sub*
jektive Verfahren, eine Anzahl von Trieben aufzustellen, immer vermieden
hat; er hat es vorgezogen, auf der einen Seite eine sehr minutiöse Detail*
forschung zu betreiben und andererseits eine sehr allgemeine und großzügige
Einteilung vorzunehmen, so oft das für seinen unmittelbaren Zweck not*
wendig war. Freuds Arbeitsweise bietet hier eine sehr glückliche Ver*>
bindung von induktiver und deduktiver Methode für die Annäherung an
die Wirklichkeit.
Hiezu kommt, daß Freud, vielleicht durch die Natur seiner Arbeit mit
Neurosen, von der Tatsache des Konflikts im menschlichen Leben immer tief
beeindruckt war. Wir müssen nur einen Augenblick lang die Welt von
heute betrachten, selbst ohne die Lehren der Geschichte zu Rate zu ziehen,
um zu verstehen, wie voll gerechtfertigt diese Einstellung ist. Aber Freud
132 Ernest Jones
hat die sichtbaren äußeren Konflikte in tiefere Regionen verfolgt, in die
eigendiche Natur und das Gefuge der Seele selbst. Für ihn ist vielleicht
der auffallendste Zug des menschlichen Seelenlebens der unaufhörliche Kon,
flikt in ihm, mehr noch und besonders in den tiefem Schichten, die er als das
„Unbewußte" bezeichnet. Demnach betrachtet er das Leben im wesent,
liehen als den Ausdruck des Konflikts nicht nur zwischen Mensch und
Mensch, zwischen Nation und Nation, sondern noch mehr zwischen einer
Seite der menschlichen Natur und einer anderen, die mit ihr im Kriege
ist. Die Begriffe, in denen er in verschiedenen Perioden das Wesen dieses
Konflikts formuliert hat, bilden seine Beiträge zur Trieblehre. Wir können
verstehen, daß seine Auffassung der Seele eine durchaus dualistische ge,
blieben ist, obwohl sich seine Formulierungen mit der Entwicklung seiner
Ideen bemerkenswert verändert haben.
Während der ersten fünfzehn oder zwanzig Jahre seiner Forschungen be,
gnügte sich Freud mit einer sehr einfachen Einteilung der Triebäußerun,
gen Er hatte sich S c h i 1 1 e r s wohlbekannte Gegenüberstellung von Hunger
und Liebe zu eigen gemacht und schied die psychischen Regungen in zwei
Gruppen, je nachdem ob sie die Erhaltung des Individuums oder die Er,
haltung der Art zu fördern schienen; dies ist offenbar eine Einteilung auf
biologischer Grundlage. Er nannte diese zwei Klassen von Trieben die Ich,
Triebe und die Sexualtriebe. Freud betont, daß „die Annahme gesonderter
Ich, und Sexualtriebe ... zum wenigsten auf psychologischem Grunde ruht,
wesentlich biologisch gestützt ist". Er betrachtet sie nur als Arbeitshypothese,
als etwas, wovon man ausgehen kann, um die Beobachtungen zu ordnen.
Freud entdeckte nun, daß das neurotische Leiden von einem ungelösten
Konflikt zwischen diesen zwei Gruppen ausgeht, zwischen unverdrangten
Ich,Trieben und verdrängten Sexualtrieben; weitere Forschungen haben die
Richtigkeit dieser Ergebnisse voll bestätigt. Ein paar Jahre lang war sein
Interesse erfüllt von der Erforschung der verschiedenen sexuellen Regungen,
insbesondere der verdrängten unbewußten, die zu jener Zeit wenig ver,
standen wurden. Seine Funde über die Formen der infantilen Sexualität,
ja sogar über deren bloße Existenz, trafen lange auf heftigsten Widern
spruch, sind aber jetzt weitgehend akzeptiert und durch spätere Mitarbeiter,
Abraham, Ferenczi, mich selbst und andere, erweitert worden.
Freud schrieb zum ersten Male über die Natur der Triebe in seiner
Abhandlung „Triebe und Triebschicksale". Dort führte er die nützliche Un,
terscheidung ein zwischen dem Ziel eines Triebes — seinem Befnedigungs,
ziel — und dem Triebobjekt, durch das der Trieb sein Ziel erreicht — sei
es ein lebendes oder unbelebtes Objekt, der eigene Körper oder der Körper
eines anderen. Die Quelle eines Triebes ist immer ein körperlicher Reiz,
Die Psychoanalyse und die Triebe 133
und Freud vermutete, daß jede psychische Manifestation von einem physio*
logischen Prozeß von wahrscheinlich chemischer Natur begleitet ist. Seine
Konzeption vom Trieb ist daher keineswegs eine rein psychologische — sie ist
eher psychophysiologisch. Freud nimmt ferner an, daß der Unterschied
in den seelischen Wirkungen verschiedener Triebe auf die Verschiedenheit
in den körperlichen Quellen zurückgeführt werden könne. Beim Sexual*
trieb konnte er das im einzelnen zeigen, indem er nicht nur die Gebiete
der verschiedenen somatischen Quellen bestimmte — die sogenannten ero*
genen Zonen — , von denen die Komponenten des Sexualtriebes, die Par*
tialtriebe ausgehen, sondern auch bis in die kleinste Einzelheit verfolgte, wie
jeder dieser Partialtriebe zur seelischen Aktivität und besonders zur Charak*
terbildung beiträgt. Eine der überraschendsten Entdeckungen in der Psycho*
analyse war, daß die Art, in der ein Kind saugt, oder das Maß von Interesse,
das es dieser körperlichen Funktion widmet, die Bevorzugung vor andern,
die spätere seelische Entwicklung dieses Individuums tief beeinflussen kann,
bis in sein Temperament und seine (optimistische oder pessimistische) Welt*
anschauung.
Der Sexualtrieb ist zunächst keine Einheit. Er besteht aus verschiedenen
Partialtrieben, die mannigfachen organischen Quellen entspringen. Diese
Partialtriebe funktionieren zuerst ganz unabhängig von einander, jeder als
wäre er blindlings auf der Suche nach körperlicher Lust und Befriedigung;
sie vereinigen sich erst später in der Fortpflanzungsfunktion. Sie beginnen
zuerst in Anlehnung an die IchsTriebe, zum Beispiel den Hunger, mit dem
sie Quelle, Ziel und Objekt gemeinsam haben, und nur allmählich eman*
zipieren sie sich von dieser Verbindung und erlangen ein Eigenleben. Ein
Kind saugt zuerst Nahrung ein, bevor es seinen Daumen lutscht und lange
bevor es seine Lippen zum Küssen gebraucht.
Freud vergleicht nun die Triebe und ihre Aktivität mit äußern physischen
Reizen (und dem dazu gehörigen komplizierten Reflexbogen) und stellt beide
Prozesse einander in eleganter Weise gegenüber. Die Reize, die das trieb*
mäßige Geschehen dem Seelenleben zuführt, kommen natürlich aus dem
Inneren des Organismus und sind ziemlich beständig in ihrer Aktion, un*
gleich den diskontinuierlichen Anstößen oder Reihen von Anstößen, die
von außen an das Seelenleben herankommen. Aus diesen beiden Gründen
kann man mit ihnen nicht in gleicher Weise verfahren wie mit äußeren
Reizen, denen man sich einfach zu entziehen vermag. Kein Fluchtversuch
hilft. Das Psychische ist angetrieben, die Außenwelt in einer Weise zu be?
einflussen, daß sie gezwungen wird, dem Trieb einige Befriedigung zu ge*
währen und so den störenden Reiz zu beschwichtigen. Wenn das auf direktem
Weg unmöglich ist, hat der psychische Apparat verschiedene andere Ver*
134 Ernest Jones
fahren gegenüber den Triebreizen zu finden.
Von diesen Methoden ist die einfachste die Verdrängung, die eine Distanz
zwischen den Reizen und dem übrigen Seelenleben herstellt. Sie ist ver*
wandt mit der primitiven Reaktion von Rückzug oder Flucht und wahr*
scheinlich ein Abkömmling davon. Ein sehr wichtiger Mechanismus ist der,
die Richtung eines Triebes umzukehren, so daß er sich gegen die eigene
Person statt gegen die Außenwelt wendet. Freud beschrieb das zuerst in
Verbindung mit gewissen Partialtrieben der Sexualität, aber wir wissen jetzt,
daß es noch eine größere Rolle beim Aggressionstrieb spielt. Ein Impuls,
der aus diesen beiden Quellen stammt, ist der Sadismus. Er kann wieder
gegen die eigene Person gewendet werden; man schöpft dann aus der Unter*
werfung oder sogar Selbstquälerei Lust. Ein späteres Stadium dieses Pro*
zesses ist erreicht, wenn ein Objekt in der Außenwelt gesucht wird, das ver*
anlaßt werden kann, den Schmerz und die Unterdrückung aufzuerlegen;
die Person hat dann eine sogenannte masochistische Haltung angenommen.
Dasselbe Beispiel kann auch benützt werden, um einen dritten Mechanismus
zu illustrieren, den der Umkehrung des Triebzieles vom aktiven ins passive
oder vice versa. Ein anderes Beispiel dafür ist das der Schaulust, die sich
aus dem Wunsch zu schauen in den Wunsch angeschaut zu werden ver*
ändern kann.
Alle diese Partialtriebe sind in einem hohen Grade plastisch. Sie können
nicht nur einander vertreten, sondern auch — wenn nicht der als Fixie*
rung bekannte Tatbestand vorliegt — leicht ein Objekt durch ein anderes
ersetzen. Noch bemerkenswerter ist die Tatsache, daß sie in einem gewissen
Sinn ihre eigene Natur insoweit verändern können, als sie ein beträchtliches
Maß von Befriedigung durch nichtsexuelle Ziele zu erreichen vermögen ; diese
Möglichkeit ist unter dem Namen „Sublimierung" bekannt. Die Fähigkeit
des Sexualtriebs zu Verschiebung und Austausch beeindruckte Freud tief
und veranlaßte ihn, eine ähnliche Fähigkeit der anderen Triebe und Gefühle
zu postulieren. So spricht er z. B. von Liebe, die sich in Haß verwandelt,
oder vice versa, und meint damit eine wirkliche Umformung aus dem einen
ins andere, nicht ein einfaches Ersetzen des einen durch das andere. Das ist
ein Teil seiner Theorie, der einige von uns schwer folgen können, da sie von
einem biologischen Gesichtspunkt abzuweichen scheint. Lange Zeit hielt er
auch daran fest, daß die Libido, die Energie des Sexualtriebs, bei der Ver*
drängung in Angst oder Furcht verwandelt werde. Vor einem Vierteljahr*
hundert vermutete ich, es sei eine wahrscheinlichere Erklärung der Ent*
deckungen, auf die diese Ansicht gegründet war, daß eine Erregung ver*
drängter Libido einfach die Angstkomponenten des Ich*Triebs anrege, und
vor ein paar Jahren ist Freud selbst dazu gelangt, die Angelegenheit in
Die Psychoanalyse und die Triebe 135
dieser Weise zu betrachten. Das ändert natürlich nichts an der wichtigen
klinischen Beobachtung, daß krankhafte Angst, der Kern der gewöhn*
liehen „Nervosität", immer eng mit verdrängter Libido verknüpft ist.
Die zweite Phase in der Entwicklung der Freud sehen Ansichten über die
Triebe datiert von 1914, als er eine beunruhigende Arbeit „Zur Einführung des
Narzißmus" veröffentlichte. Ich werde gleich erklären, warum ich das Wort
„beunruhigend" gebrauche. Selbstliebe erscheint in ihrer reinsten Form in
einer sexuellen Perversion, die Havelock Ellis als erster mit dem Namen
„narzißtisch" beschrieb, mit Anspielung auf den wohlbekannten Mythus von
dem Griechenjüngling, der sich in sich selbst verliebte. Aber es ist leicht,
zahlreiche andere Manifestationen derselben Tendenz an deren Stellen aufzu*
decken. Sie sind zu finden im Größenwahn des Irreseins, in der Aufmerksam*
keit, die der Hypochonder seinem Körper zollt, in verschiedenen Beohach*
tungen, die man leicht an Kindern, an Greisen, an Schwerkranken macht,
und schließlich sogar beim Phänomen der normalen Liebe. All diesen Ge*
bieten ist eine bemerkenswerte Reziprozität zwischen der Liebe zu sich selbst
und der Liebe zu anderen gemeinsam, zwischen dem, was die Analytiker
mit den Termini Narzißmus und Objektlibido bezeichnen; wenn die eine
ansteigt, sinkt die andere ab, und vice versa. Freud vermutete mit gutem
Grunde, daß alle Libido zu Anfang im Ich versammelt ist, daß Selbstliebe
der Anfang aller Liebe ist. Wenn sie nach außen strömt, nennen wir das
Objektliebe, Liebe zu anderen Objekten als dem Ich. Daß sie unglücklicher*
weise wieder zurückfluten kann, noch einmal in das Ich zurückgezogen
werden kann, ist eine hinlängliche bekannte Tatsache. In den meisten Ehen
gibt es später Zeiten, wo ein Gefährte dem anderen vorwirft, daß er (odey
sie) nicht mehr so sehr liebe wie früher, daß er (oder sie) „selbstsüchtig"
geworden sei. Und, wie oben angedeutet, gibt es viele typische Situationen
im Leben, wie in der Krankheit, nach einem Unfall, im Alter usw., in
denen die Tendenz, sich in Beschäftigung mit sich selbst und Selbstliebe
zurückzuziehen, vordringlich wird.
Der Grund nun, warum ich Freuds Aufsatz über Narzißmus beunruhi*
gend nenne, ist der, daß er der Triebtheorie, mit der die Psychoanalyse bisher
gearbeitet hatte, einen unangenehmen Stoß versetzte. Die Beobachtungen,
auf die der neue Begriff des Narzißmus begründet war, waren so unver*
kennbar und leicht bestätigt, daß wir ihn uneingeschränkt zu akzeptieren
hatten, aber es war sofort klar, daß etwas mit der Theorie geschehen müsse,
an die wir gewöhnt waren. Denn wenn das Ich selbst libidinös besetzt war,
sah es so aus, als ob wir seinen prominentesten Zug, den Selbsterhaltungs*
trieb, als einen narzißtischen Teil des Sexualtriebs anzusehen hätten. Gegner
der Psychoanalyse hatten immer eine Hälfte der unbewußten Konflikte über*
136 Ernest Jones
sehen, auf die Freud soviel Aufmerksamkeit gelenkt hatte, und hatten ihn
tout court beschuldigt, alles auf die Sexualität zurückzuführen, nichts anderes
in der Seele zu sehen als Sexualität. Sie wurden allerdings durch die Tatsache
unterstützt, daß zu dieser Zeit die meisten von Freuds Entdeckungen sich im
Gebiete der verdrängten sexuellen Regungen bewegt hatten und sehr wenige
in der anderen Hälfte der Seele. Aber er konnte leicht erwidern, daß sein
Hauptpunkt die Tatsache eines Konflikts zwischen sexuellen und nicht
sexuellen Regungen war, eine „fifty-fifty"* Ansicht der Seele. Nun allerdings,
da das Ich selbst als libidinös betrachtet werden mußte, hatten die Kritiker
nicht von Anfang an recht, wenn sie sagten, Freu d führe „alles auf die Sexu*
alität zurück"? Und was war aus seinem berühmten Konflikt geworden?
Gewiß konnten die Psychoneurosen, sein eigentliches Forschungsgebiet,
auch weiter auf Grund der Konflikttheorie beschrieben werden; es wäre
denn ein Konflikt zwischen narzißtischer und Objektliebe. Aber hieß das,
daß der einzige Konflikt, der zwischen zwei Formen des Sexualtriebs sei, daß
es keine andere Konfliktquelle im Psychischen gebe? Diese und ähnliche
Fragen erfüllten unsere Gedanken, gerade als der Weltkrieg ausbrach, und
Freud war nicht imstande, irgend eine Antwort darauf zu geben, ehe dep
Krieg beendet war.
In der Tat war der Fall nicht so ernsthaft, wie ich ihn jetzt geschildert
habe, und das trügerische meiner Darstellung liegt offen zutage. Wenn
man sagt, es besteht Grund zu der Annahme, daß das Ich stark mit Libido
besetzt ist, so ist das sichtlich nicht dasselbe, wie wenn man behauptete, es
bestehe aus nichts anderem. Verschiedene andere Möglichkeiten blieben offen.
Und die Kritiker waren ganz im Unrecht mit ihrer Behauptung, Freud
ziele auf eine libidomonistische Auffassung der Seele ab. Im Gegenteil, er
war so zäh dualistisch wie je. Aber er wurde sehr dazu gedrängt, eine Seite)
des Konflikts zu demonstrieren, irgendwelche nicht narzißtischen Kompo*
nenten des Ich zu definieren. Seine wissenschaftliche Laufbahn hatte einen
scheinbaren Rückschlag erfahren, keineswegs zum ersten Male.
Die Schwierigkeit, die ich eben beschrieben habe, spornte Freud nur
zu weiteren Forschungen an, und der nächste Angriffspunkt wurde durch
die Natur des Gegenstandes bestimmt. Der Boden für die Untersuchung
der Konflikte zwischen Trieben und damit für die Feststellung der Natur
der Triebe war weitgehend gerodet worden durch die ins einzelne gehende
Arbeit an der einen, der sexuellen Seite des Konflikts. Wie war es nun mit der
anderen Seite, über die man bisher sowenig erfahren hatte? Die klinische Psy*
choanalyse war so geschäftig an dieser Seite vorübergegangen, um die ver-
drängten sexuellen Regungen zu erreichen, daß sie sie größtenteils einfach
als ein Hindernis in ihrer Arbeit ansah und sie gewöhnlich als einen „Wider*
Die Psychoanalyse und die Triebe 137
stand" bezeichnete. Jetzt war es an der Zeit, diese Widerstände naher zu
prüfen. Freud hatte sie gleichsam nebenbei als moralische und ästhetische
Haltungen bezeichnet, die der Rohheit der Sexualität entgegengesetzt waren,
aber es war jetzt nötig, sie näher zu definieren und etwas über ihre Quellen
zu erfahren.
Sonderbar genug, eines der ersten Dinge, die über diese moralische und
ästhetische Einstellung gefunden werden sollten, war wieder ihre libidinöse
Komponente, natürlich eine narzißtische. Indem Freud der Entwicklung
der narzißtischen Libido nachspürte, fand er, daß sich die primitive Selbst*
liebe entweder in Objektliebe oder in eine Form der Liebe verwandeln
konnte, die noch mit dem Ich verbunden, nichtsdestoweniger aber sehr ver*
schieden von einfacher Selbstliebe war. Sie wurde dann auf das gerichtet,
was er das Ichideal nannte: nicht das Selbst, wie es ist, sondern das Selbst,
wie die Person es gern haben möchte. Hier begegnen wir der in Frage stehen*
den moralischen und ästhetischen Einstellung. Denn wenn wir fragen, warum
die Person ein Bild von sich selbst lieben sollte, wie sie gern sein möchte,j
nicht wie sie wirklich ist, bemerken wir bald, daß ihr Bild eine Verbesse*
rung der Wirklichkeit gerade in moralischer und ästhetischer Hinsicht ist.
Das Ichideal ist tatsächlich beinahe dasselbe wie das uns vertraute Ge*
wissen oder repräsentiert wenigstens eine wichtige Seite davon. Ferner findet
man, wenn man die Genese dieses Bildes des Ichideals psychoanalytisch stu*
diert, unschwer seinen Ursprung in der Haltung des Kindes gegenüber seinen
Eltern. So wie das Kind seine Eltern zugleich fürchtet und liebt, so entwickelt
es eine Mischung von Furcht und Liebe ihren Geboten und Verboten gegen*
über, zu dem Ideal eines Betragens, das sie vor dem Kind aufrichten. Und
so wie der Maßstab, den die Eltern einschärfen, gewöhnlich den übersteigt,
an den sie sich in ihrem eigenen Leben halten, so übersteigt des Kindes Ich*
ideal an Erhabenheit das Bild seiner wirklichen Eltern. Das ist so sehr den
Fall, daß das Kind unter gewissen Bedingungen es später nötig finden wird,
seine idealistische Haltung an vollkommenere Gestalten als seine Eltern anzu*
schließen, an geschichtliche Helden, an Heilige oder an die vollkommensten
Gestalten überhaupt, die göttlichen.
Ein wichtigerer Schritt wurde getan, als Freud entdeckte, daß viele
Widerstände, und unter ihnen die stärksten, unbewußt sind. Diese Ent*
deckung veranlaßte ihn, die einfache Hypothese zu revidieren, in der der
Konflikt zwischen dem Ich und dem Verdrängten als eine Antithese zwischen
dem Bewußten und dem Unbewußten dargestellt war; es galt, der Tatsache
Rechnung zu tragen, daß ein wichtiger Teil des Ichs selbst unbewußt ist. Was
uns jedoch hier interessiert, ist, daß das Ichideal sich auch gleichsam in
das Unbewußte erstreckt, wenn eine solche topische Analogie statthaft ist.
TZg Ernest Jones
Noch interessanter ist die Tatsache, daß sich der unbewußte AnteJ des
Ichideals, den Freud das übersieh nennt, bemerkenswert vom bewußten
Anteil unterscheidet. Der Anteil der Liebe, der in dem >^>"f^
ideal so offenbar ist, tritt im unbewußten Übersieh ganz zurück hmt er Furcht
und Strenge. Die Feinstruktur des über,Ichs ist, genetisch betrachtet, in
mancher Beziehung dunkel und schwer zu enträtseln. Doch besteht kaum
ein Zweifel darüber, daß es im wesentlichen als Hilfe für das ch in eine*
Angts vor den primitiven (verdrängten) Impulsen gegen die Ehern entsteht.
Die Verbote der Eltern werden verinnerlicht und bdden so die ersten An.
sätze des künftigen Gewissens; sie werden gegen das Ich des Kindes gerichtet,
gerade so wie jene Verbote es waren. Es ist, als ob eine innere Stimme sagte.-
„Zügle diese verbotenen Regungen, oder ich werde dich streng bestrafem
Die Strafen sind die gleichen, die man von den Eltern befürchtete; es mach
keinen Unterschied, ob diese in Wirklichkeit je mit diesen Strafen gedroh
hatten oder nicht. Das übersieh ist deshalb zum großen Ted die Einver,
leibung der Vorstellung von den strengen Eltern.
Der wichtigste Zug des über.Ichs ist seine außerordentliche Strenge und
sogar Wildheit. Sie ist so groß, daß die frühe Angst des Ichs vor dem primi,
tiven Regungen oft durch die Angst vor dem finsteren Uber.Ich abgelost wird
durch die Angst gerade vor jener Institution, die ursprünglich aufgebaut
wurde, um das Ich vor Angst zu schützen. Es wurde bald bemerkt besonders
von Londoner Analytikern, daß die Strenge des über.Ichs nur tedweise aus
dem Verhalten der Eltern zum Kinde hergeleitet werden kann Das über,
Ich übertrifft dieses bei weitem an Wildheit; das ist offenkundig der Fall,
wenn die Eltern in Wirklichkeit nachgiebig und sanft sind. Die wilden Eigen,
schaffen des Überfchs können somit nur von etwas im Kinde selbs her,
rühren, das nachher auf ein Phantasiebild von den Eltern projiziert und
sodann in einem neuerlichen Prozeß einverleibt wurde
Eingehende analytische Studien, die durch die von Melanie Klein und
anderen an kleinen Kindern durchgeführten Untersuchungen eindrucksvoll
bestätigt sind, haben viel Licht auf die Quellen dieser Strenge geworfen
und zu dem Begriff eines primitiven Aggressionstriebs von nicht sexuellem
Charakter geführt. Hier ist also schließlich etwas, das der sexuellen Seite
der seelischen Konflikte gegenübergestellt werden kann. Bevor wir naher
darauf eingehen, werden wir etwas zurückgreifen müssen.
Freud veröffentlichte seinen Entwurf vom Übersieh, der so viel Lieh
brachte, in einem Buch, das 1923 erschien. Aber, seltsam genug er war nicht
durch die Auffassung und die Untersuchungen, die ich eben skizziert habe,
zu seiner jetzigen Ansicht von der Dualität des seelischen Gefuges gelangt.
Drei Jahre früher hatte er in einem Buch „Jenseits des Lustprinzips eine
Die Psychoanalyse und die Triebe 139
ganz unerwartete Lösung des Dilemmas gegeben, das er 1914 geschaffen hatte.
Er gelangte zu dieser Lösung durch einen sehr abstrakt theoretischen Ge*
dankengang, dessen Kern ich im folgenden darzustellen versuchen will. Er
hatte versucht zu sehen, ob alle seelischen Prozesse dem großen Lust*Unlust*
Prinzip unterworfen seien, und was der Hauptzweck und die Funktion dieses
Prinzips sei. Die erste Frage beantwortete er verneinend. Gewisse Beobach*
tungen, besonders des Traumlebens, des Kinderspiels und des Verhaltens
der Patienten während der Analyse, führten ihn dazu, ein zweites archai*
scheres regulatives Prinzip neben dem bekannten Lust*Unlust*Prinzip zu
postulieren. Er nannte das ältere Prinzip den Wiederholungszwang, die
blinde Tendenz, frühere Erfahrungen und Situationen zu wiederholen, ganz
unabhängig von irgend einem Gewinn von einem Lust*Unlust*Standpunkt
aus. Und er beurteilte die Funktion des Lust*Unlust*Prinzips dahin, daß sie
einer Tendenz entspräche, psychische Spannung zu vermindern oder wenig*
stens auf einem möglichst konstanten Niveau zu halten.
Beiden Prinzipien gemeinsam ist ihre konservative Natur. Beide leisten
der Störung eines früheren Zustands Widerstand und versuchen, die Wir*
kung störender Reize zu vermindern oder aufzuheben. Das Lust*Unlust*
Prinzip versucht, die Spannung abzuschwächen, die durch solche Reize her*
gestellt worden ist, während der Wiederholungszwang einfach versucht, die
frühere Lage wiederherzustellen. Aber, wie wir gleich sehen werden, be*
fassen sich die beiden Prinzipien mit verschiedenen Reizgruppen. An dieser
Stelle fiel es Freud auf, daß er auf eine wesentliche Eigentümlichkeit un*
seres Trieblebens gestoßen war. Erinnern wir uns daran, daß er die Tätigkeit
der Triebe als inneres Reizgeschehen beschrieben und der Wirksamkeit
äußerei: Reize gegenübergestellt hatte. Sein neuer Gedanke war nun, daß es
die Triebe selbst sind, die für den Wiederholungszwang verantwortlich sind,
daß die wesentliche Charakteristik der Triebe ihre konservative oder, besser,
regressive Natur ist, die Funktion, die sie in der Wiedereinsetzung eines
früheren Zustands erfüllen. Er verglich dies mit der Wanderung der Lachse
und anderer Fische — es trifft auch für Vögel zu — , die wir uns nur durch
die Annahme erklären können, daß sie archaische Situationen wiederholen,
auch solche, die heute nicht mehr günstig sind. Er vermutete, daß starke
äußere Reize, deren Wirkungen später verinnerlicht wurden, die Instinkte
zuerst ins Leben gerufen hätten. Die Instinkte sind dann dazu da, um diesen
Reizen zu begegnen, ihre Wirkung aufzuheben und den Organismus so
weit wie möglich wieder zu seinem ursprünglichen Zustand zurückzuführen.
Wenn künftige biologische Forschung diese Hypothese der Regression be*
stätigt, wird sie sich bestimmt als eine fundamentale Vermehrung unserer
Kenntnisse von der Natur und Bedeutung der Instinkte erweisen. Das Lust*
Unlust*Prinzip spielt auf einem höheren Niveau, in einem späteren Stadium,
dteslich vo" ahem mit den Reizen befaßt, die durch «he ******
Triebe entstehen; es versucht, diese Reize auf eine Art zu "**?**V£
ehesten Befriedigung bringt. So arbeitet das ältere »^^^ÄJ
äußerer Reize und das spätere Prinzip an der Dampfung der inneren Reize,
die durch das ältere Prinzip hervorgerufen wurden.
Freud hat die seltene Eigenschaft, zugleich ein vorsichtiger und ein
kühner Denker zu sein. Im vorliegenden Falle äußerte sich die zweite Eigen.
schaft in sehr eindrucksvoller Weise; er zögerte «kh*v AM £ -ghdien
Konsequenzen aus seiner Hypothese zu ziehen: wenn das Ziel ^dei ^Triebe ^
Rückkehr zu einem früheren Zustand ist, dann muß eine Tend *nz zu Ruck,
kehr in den frühesten Zustand überhaupt, in das unbelebte Sem bestehen,
sl ist der Tod also kein unglücklicher Zufall. Das Leben selbst fuhrt seinem
Wesen nach zum Tode, zielt sogar darauf ab, den Tod herbeizu uhren wenn
auch au" einem gewundenen und verwickelten Wege. Das Ziel des Leben,
st ^1, als lefztes Ende der Friede, den die Auflösung dj^
in das Anorganische verschafft. Dissimilation hat das letzte Wort vor Assi.
milation.
fK u d erörterte nun fürs erste, ob diese radikale Folgerung auf alle Triebe
zuLffen könne; aber er entschied daß es mit den ™PU£*2
deren Ziel es ist, durch Zurückkehren zum Beginn des Lebens ,mit dem
Leben wieder neu zu beginnen, anders sein müsse. Wenn es auch Tur d> se
Triebe zutrifft, so kaum im gleichen Sinne; denn wenn ihr Ziel der Tod ist
isler das auf einem so ewig.fernen Wege, daß man nicht gut in irgendeinem
individuellen Zusammenhang davon sprechen kann.
Brachten wir in diesem Zusammenhang den Fortpflanzungstrieb ein
wen "näher. Es ist vielleicht bei diesem Trieb offenbarer als bei jedem an,
lentdaß er ständig eine frühere Form des Daseins hervorbringt, indem er
ete befruchtete Zehe schafft, aus "^^^^S^^S
bringt das in eigentümlicher Art, indem zwei Einzelzellen im Paarungsakt
zur Vereinigung gebracht werden. Und dieser Drang zur Vereinigung des
Fl islhes ist skhe'r das vordringlichste Merkmal aller quellen A«
Vereinigung ist vor allem ihr Ziel. Von diesem Gesichtspunkt aus fühlte
sä Sud berechtigt, die neuschaffende Funktion des Sexualtriebs, seine
Tendenz, immer wieder von neuem anzufangen, mit ^ e ^u^n,z™
einigen und zu verbinden, zusammenzubringen. Er identifizierte also die
S eine rein klinische Bezeichnung, mit dem Eros der Poeten und Philo
sophen dem Prinzip, das schafft, bindet und das ganze Leben erhalt. Er
erweite te sogar seinen Libidobegriff auf den übrigen Korper durch die
Behauptung - die allerdings durch klinische Befunde unterstutzt wird . -,
Die Psychoanalyse und die Triebe 141
daß jede Zelle im Körper eine libidinöse Besetzung habe, die eine wichtige
Rolle in seiner Lebensgeschichte spiele.
Das Ergebnis dieses Gedankengangs ist nun, daß Freuds letzter Dua*
lismus die Teilung der Seele in zwei Triebgruppen ist, die er Lebenstriebe
lind Todestriebe nannte — oder Eros und Thanatos, wenn man griechischen
Namen den Vorzug gibt. Der Klarheit wegen will ich in einem Satz die drei
Stadien in der Entwicklung von Freuds Gedanken über die Dualität der
Triebe wiederholen. Das erste war der Gegensatz zwischen sexuellen und
IchsTrieben ; das zweite der Gegensatz zwischen Objektliebe oder allo*
erotischer Libido und Selbstliebe, narzißtischer Libido; und das dritte ist
der Gegensatz zwischen Lebens* und Todestrieben, zwischen Eros und
Thanatos.
Soweit gut. Aber nun kam Freud zu einer weiteren Schwierigkeit. Wie
konnte man die zahllosen Manifestationen des seelischen Lebens dem einen
oder anderen dieser Triebe genau zuteilen? Eros war sichtbar und hörbar
genug; wie Freud es ausdrückt, „der Lärm des Lebens geht meist vom
Eros aus". Aber was für bekannte psychische Phänomene kann man un*
mittelbar als Äußerungen des Thanatos erkennen? Freud war zuerst sehr
in Verlegenheit, diese einfache Frage zu beantworten. Er war anfangs ge*
neigt, die Stimme des Thanatos als stumm zu betrachten, den Todestrieb
für ein immanentes Prinzip oder eine Kraft zu halten, die ihren Willen un*
erbittlich, aber dennoch unsichtbar durchsetzt. Wenn das die Antwort wäre,
würde sie, selbst wenn sie wahr wäre, nicht sehr aufklärend sein, noch könnte
man sich vorstellen, daß sie in der Psychologie praktisch große Trag*
weite habe.
In diesem ziemlich kritischen Zeitpunkt fiel es Freud ein, die zwei Arbeits*
richtungen, die ich skizziert habe, zusammenzubringen : die rein theoretische,
die zu dem Entwurf eines dem Lebewesen innewohnenden Todestriebes
führte, und die analytischen Einzeluntersuchungen über das Über*Ich mit
ihrer Enthüllung eines erschreckend mächtigen Aggressionstriebs. Wie, wenn
sich beides als das nämliche erweisen sollte, wenn dieser sehr sichtbare Ag*
gressionstrieb der gegen die Außenwelt gewendete Todestrieb wäre, der ur*
sprünglich an der Zerstörung des Individuums gearbeitet hatte? Die Wen*
düng des Triebes von innen nach außen bietet keine Schwierigkeit, da wir
mit einer ähnlichen Veränderung der Richtung bei einem nah verwandten
Trieb vertraut sind; ich verweise auf die früher erwähnte Wandlung von
Auto*Sadismus zu Masochismus. Und wir können einen ähnlichen Wandel
in Verbindung mit Todeswünschen selbst anführen. Es ist wohlbegründet,
daß Selbstmord das Ergebnis von Mordwünschen gegen Objekte in der
Axißenwelt ist, die dann nach innen gegen die eigene Person gewendet wor*
-TT " Ernest Jones
142
den sind
khfabe nun die Trieblehre dargelegt, an der Freud zur Zeit fes ha
und möchte Sie erinnern, daß sie aus drei Elementen zusammengesetzt ist
a^eTvoraussetzungenund einer Folgerung. Die Voraussetzungen sind da,
vXdlsein einer positiven Tendenz zu, ■*f^™^™%*t
außen gerichteten Aggressionstriebs; die Folgerung ist daß diese beiden
sollte, würde das seinen geistvollen Gedankengang ganzend »*«"*«"•
und seine Theorie würde einen fundamentalen Fortschritt in unserer Kenntnis
der Sl Erstellen. In einem etwas ähnlichen Falle wurde schon ^erwiesen,
daß er im Recht war: als er behauptete, daß die ^«J^Ä
die Patienten gegen das Aufdecken des Unbewußten zeigen f«^™
mit der unsichtbaren inneren Verdrängung des Unbewußten. ^Allerdings be-
7l\ e m Unterschied zwischen den beiden Fällen; dort schloß er vom Sicht.
Sren auf das Unsichtbare, hier, beim Todestrieb, begann er beim Ufa«*»
ba™ und wandte es dann auf das Sichtbare an. Die Beweisführung is im
zweien Fall kühner und würde deshalb eine größere Leistung darstellen,
wenn sie bestätigt wäre. , . ~. « •
Viel bleibt jedoch noch übrig, bevor das getan ^f^'^J^X
hat vielleicht ob ihrer abstrakten Tiefgründigkeit, außerhalb de Kreises der
ptchoanlvtiLr nicht viel Aufmerksamkeit und innerhalb dieses Kreises
^lltme^funde, Manche Kritik ^£*££**£
bei den Analytikern, die sie vollständig akzeptiert haben ist man nicht sicher
wlevt von ihrer Einstellung durch das Prestige des Autors verursacht ist
ritungTvolles Anhören ist eines, unkritische Zustimmung ein zweites. De
TheorkS gewiß noch nicht als integrierender Bestandtal der Psychoanalyse
anzusehen sie ist eher ein persönlicher Gedankengang als eine direkte Fol,
gering "; ver fizierbaren Daten. Freud selbst legte die Theorie in außer,
o Seh vorsichtiger Form vor und bemerkte, er M«^ *£**
wie weil er selbst daran glaube; doch habe ihn der Ged f ikx ^^^ a T
SeitTamals hat er sie entschlossener in seine allgemeine Vorstellung der
»I5n Seele einverleibt, obwohl er **^£^££&
Todestriebs zugab, daß „seine Annahme wesentlich auf theoretischen
G tfden e dtf Stufen der Theorie ist die erste, die angeborene Tendenz
zu^Totam wenigsten gesichert, weil es so ^*££££Z
fizieren So überraschend sie ist, es gibt im zeitgenossischen Denken viel,
Die Psychoanalyse und die Triebe 143
satz der Thermodynamik mit seinem düstern Ausblick ein Stück allgemein
vertrauter Kenntnis geworden, und man hat versucht, das Stabilitätsprinzip
von Spencer, Fechner und Petzoldt daraus abzuleiten. In seiner
modernen Form ist dieses Prinzip als Entropiegesetz bekannt; es entsteht
die Frage, ob die Regulierung der psychischen Spannung, die Freud als
Funktion des LusteUnlust*Prinzips erkennt, mit dem physikalischen Entro*
piegesetz in Verbindung gebracht werden kann.
Mehrere Psychoanalytiker haben kritische Prüfungen von Freuds
Theorie veröffentlicht; die eingehendst durchgearbeitete ist von Bernfeld
und Feitelberg. Diese Autoren sehen keinen Grund, die oben gestellte
Frage zu verneinen — sie bezeichnen es als „denkbar" — , aber sie unten*
scheiden zwischen dieser Folgerung Freuds über das Lusfe*Unlust*Prinzip
und seinen weiteren Spekulationen über ein angeborenes und aktives Hin*
streben zum Tode, das er daraus ableitete. Ob nun das Lust*Unlust*Prinzip
im Dienste eines solchen Strebens steht oder nicht — weder für noch wider;
scheint es einen direkten Beweis zu geben — , so kann doch keinesfalls ein
Konflikt zwischen zwei Tendenzen wie Eros und Thanatos in der Sprache
des Entropiesatzes dargestellt werden; oder, wie unsere Autoren es aus«»
drücken: „In der biologisch*physikalischen Fassung des Todestriebes (für
die sie den Namen „Nirwana*Prinzip" reservieren möchten) ist für den Eros
kein Raum". Die Schlußfolgerungen aus ihren Untersuchungen decken sich
nicht mit den Freud sehen. Denn während Bernfeld und Feitelberg
keinen Widerspruch finden zwischen seiner Ansicht vom LusteUnlust*
Prinzip und den Prinzipien der Physik, finden sie nichts, um das Nirwana*
Prinzip zu stützen, das Freud mit diesen verbindet, und erklären entschied
den, daß der Konflikt, den er postuliert, keine Beziehung zu den Fundamen*
talprinzipien der Physik habe. Dieser müsse daher auf eigenen Füßen stehen
und ausschließlich als ein — psychologisches oder biologisches — Gesetz
der Lebenserscheinungen betrachtet werden. Ob eine positive Tendenz zur
Selbstvernichtung besteht, die durch die Lebenstriebe in Schach gehalten
wird, oder ob, wie allgemein angenommen, die Lebenstriebe nur eine gewisse
Macht haben, den komplizierten Prozeß, Materie in einer „lebenden" Form
zu bewahren, im Gange zu erhalten, und sich früher oder später erschöpfen,
ist ein Problem, über das wir von biologischen und physiologischen Eon»
schungen Aufklärung hoffen dürfen. In der Zwischenzeit wäre es verfrüht,
in psychologischer Sprache ein biologisches Prinzip oder eine Tendenz auszu*
drücken, die nicht auf physiologischem Gebiet bewiesen ist.
Ein verfrühtes Biologisieren in der Psychologie ist im vorliegenden Falle
umso mehr abzulehnen, als es leicht Verwirrung verursachen kann. Freud
selbst ist sich der spekulativen Natur seines Gedankengangs wohl bewußt
144 Ernest Jones
und unterscheidet sehr sorgfältig zwischen diesen philosophischen Ansätzen
und irgendeiner möglichen klinischen Anwendung davon. Manche semer
Anhänger sind jedoch durch die Mehrdeutigkeit der Worte verleitet und
glauben, vom Nirwana,Prinzip der Entropie zu sprechen, wenn sie sich nur aut
vertraute klinische Beobachtungen von Todeswünschen beziehen, die gegen
andere oder gegen die eigene Person gerichtet sind. Das sind aber versehe
dene Dinge, und die Kluft zwischen den beiden muß noch überbrückt wer,
den. Von irgendeinem möglichen Nirwana, oder Thanatos.Prinzip der Bio.
logie, das mit dem Entropiesatz in Verbindung gebracht wird, von einem
stummen Prinzip, das vollendetem Frieden zustrebt, überzugehen zu der
stürmischen Aggressivität, die das Seelenleben durchwirbelt, heißt von einer
Welt in eine ganz andere übergehen; und nur wenige konnten sich wirklich
entschließen, diese Gegensätze mit einander zu identifizieren.
Das führt uns zum Abschluß zum Problem der sogenannten Aggressions,
triebe; man postuliert ihre Existenz auf Grund einer Mannigfaltigkeit von
Phänomenen, für die je nach den Umständen Worte wie Streitbarkeit, Grau,
samkeit, Haß, Feindseligkeit, Zerstörungslust, Animosität, Todeswunsche
usw. angewendet werden können. Es ist fürs erste nicht klar, wie das Wesen
des hier gemeinten zu bezeichnen ist. Der Ausdruck „aggressiv (wörtlich:
vorrücken gegen") bedeutet gewöhnlich angreifen, aber er muß nicht HaiS
oder gar Feindseligkeit einschließen. In Amerika zum Beispiel wird ein
energischer Ladengehilfe ein aggressiver Verkäufer genannt, und eine so
friedensliebende Vereinigung wie The Home Counties Union of Women s
Liberal Associations benützt als ihre Telegrammadresse das anregende
Wort „aggressiv". Und ich erinnere mich wohl der Kritik, die Psycho,
analytiker vor langer Zeit übten, als Adler den Begriff eines selbstan.
digen Aggressionstriebs aufstellte. Sie wiesen darauf hin, daß Aggressivität
ein Gattungsattribut aller Triebe in ihrer Tätigkeit sei und so kaum ein
Zeichen irgendeines bestimmten Triebes sein könne.
Es ist schwer zu sagen, ob das Ziel dessen, was wir Aggressionstrieb
nennen, einfach die Vernichtung des Objekts ist, gegen das es gerichtet ist.
Einerseits finden wir dieses Ziel zuzeiten bei erotischen Aktivitäten, wie
z B in gewissen Stadien der Oralerotik; andererseits mag ein Mensch weit
entfernt, Vernichtung zu wünschen, eine dauernde Bindung zwischen sich und
einem gehaßten Feinde fühlen; es ist dies eine seltsame, in der Literatur oft
beschriebene Tatsache. Wie dem auch sei, die Tatsachen, auf die sich der
Terminus bezieht, sind grausig genug. Wir wissen aus der Psychoanalyse
der Erwachsenen und noch ausführlicher aus Melanie Kleins Analysen
kleiner Kinder, daß feindselige Phantasien wie Beißen, Zerreißen und Ver.
nichten anderer Leute, ursprünglich der Eltern, eine Rolle im Unbewußten
Die Psychoanalyse und die Triebe 145
spielen, die schwer zu überschätzen ist. Man hat das Gefühl gehabt, daß
gangbare Moden in der Anthropologie in Widerspruch mit den Lehren der
Psychoanalyse seien — meiner Meinung nach war das nicht notwendiger.*
weise der Fall — , aber an dieser Stelle ist der Meinungsunterschied unver*
kennbar. Denn viele moderne Anthropologen lehren, daß der Mensch ut*
sprünglich ein friedliches Tier war, auf das erst in historischen Zeiten eine
Neigung zu Krieg und Zerstörung gekommen ist. Psychoanalytische Er*
fahrung widerspricht entschieden dieser bequemen Meinung. Sie lehrt, daß
die Aggressivität, die die Welt zu einem so unbändigen und aufregenden
Aufenthalt macht, zu den tiefsten Elementen in der Natur der Menschen
gehört, und sie verweist auf die einfache jedem Kindermädchen vertraute
Tatsache, daß das Kind in den ersten Monaten seines Daseins auf das Leben
weit eher mit Haß als mit Liebe reagiert.
Der nosologische Zustand dieses Triebs ist nichtsdestoweniger keines*
wegs klar. Freud spricht von einer „angeborenen Neigung des Menschen
zum .Bösen', zur Aggression, Destruktion", und wenn das Gewicht
auf das Wort „Neigung" gelegt wird, könnte kein Analytiker die Behauptung
anzweifeln, da nichts tatsächlich erscheinen könnte, wenn es nicht eine Nei*
gung dazu gäbe. Schwieriger ist die Frage, ob sich eine solche Tendenz je
spontan und in reiner Form ausdrückt. Das heißt, würde irgend jemand,
Kind oder Erwachsener, je einen Angriff machen mit der Absicht zu zer*
stören, wenn nicht der Impuls entweder mit einem erotischen verknüpft
wäre, wie es stets beim Sadismus der Fall ist, oder eine Reaktion auf eine
Entsagung oder Entbehrung wäre, die er unerträglich findet? Diese Ver*
knüpfungen sind außerordentlich häufig. Versagung, äußere oder innere,
ist ein Stand der Dinge, der von der Wiege bis zum Grabe gegenwärtig ist,
und er erweckt immer eine Neigung zu gewalttätigem Widerspruch — ob
man ihr nun widerstehe oder nicht. Die Fähigkeit, Entbehrung mit innerem
Gleichmut zu ertragen, ist selten in hohem Maße entwickelt, und ein aggres*
sives Bestehen auf Erfüllung der Wünsche wird zum magischen Zwang,
obwohl der Impuls freilich gehemmt oder durch eine Reaktionsbil*
düng ersetzt werden kann. Ferner ist die Erotisierung aggressiver Triebe
ein bemerkenswert allgemeiner Prozeß, der zu der vielfältigen Verwick*
lung des Lebens beiträgt. Aus diesen Gründen ist es außerordentlich
schwierig, eine spontane Aktivität des Aggressionstriebes isoliert zu enfc*
decken; auch ich weiß von keinem unzweideutigen Beispiel.
Wir wollen nun zusammenfassen, was ich über Freuds letzte Theorie
gesagt habe. Es ist charakteristisch für ihn, seiner Generation vorauszueilen.
Manchmal sind wir imstande, ihn sozusagen einzuholen und seine Schlüsse;
selbst nachzuprüfen, manchmal auch nicht. Der vorliegende Fall kann einer
Image XXII/2 10
von denen sein, wo seine kühne Einbildungskraft ihn dazu geführt hat, den
festen Boden zu verlassen und zu schreiten, wohin andere Forscher ihm
nicht folgen können. Nur weitere Kenntnis kann das entscheiden. Eines ist
sicher: wenn ein verläßlicherer Weg in dieser Dunkelheit gezeigt werden
könnte, wäre er der erste, seine Schritte dorthin zu lenken. Starrheit und
Dogmatik sind seiner Natur fremd. Inzwischen kann der rein psychologische
Teil seiner letzten Theorie als gesichert angesehen werden: daß unser Leben
aus nichts anderem besteht als aus einem Kampf zwischen Liebe und Haß.
Zur Entwicklung und Problematik
der Triebtheorie 1
Von
Edward Bibring
Wien
Die folgenden Ausführungen beabsichtigen, in vereinfachten Zügen
einen kurzen Überblick über die Entwicklung der psychoanalyti*
sehen Triebtheorie zu geben, wie sie hauptsächlich in den entsprechen*
den Werken Freuds niedergelegt ist. Es wäre verlockend gewesen, die
gesamte psychoanalytische Literatur zu diesem Themenkreis zu verarbeiten,
doch hätte dies die Darstellung zu sehr kompliziert. So wurde nur gelegene
lieh auf einzelne Arbeiten anderer Autoren Bezug genommen. Bei der Dar*
Stellung wurde, mit einer Ausnahme beim vierten Schritt der Theorieent*
Wicklung, die historische Reihenfolge gewahrt. Dies gilt natürlich nicht
für die Ausführung im einzelnen. Ehe ich auf das eigentliche Thema ein*
gehe, sei eine kurze Einteilung des speziellen Wissensgebietes, von dem die
Triebtheorie nur einen Teil ausmacht, gegeben.
Eine psychoanalytische Trieblehre umfaßt zwei Hauptteile: Die allgemeine
und die spezielle Trieblehre. Die allgemeine hat neben dem Begriff des
Triebes die Triebtheorie im engeren Sinne, also die Frage nach Zahl und
Art der Triebe, nach den Kriterien der Einteilung sowie nach ihrer Be*
gründung und ihren Leistungen zu behandeln; ferner die Transformations*
lehre, d. h. die Frage nach der Veränderbarkeit der Triebe und die Regeln
und Gesetze, denen diese Veränderungen (teilweise identisch mit den so*
genannten Triebschicksalen) folgen; schließlich die mit der energetischen Auf*
fassung der Triebe zusammenhängenden Begriffe und Probleme. Die spe*
zielle Trieblehre stellt die ontogenetische Entwicklung der Triebe, die hier
notwendigen Begriffsbildungen und sich ergebenden Probleme dar. Ich be*
schränke mich hier auf die allgemeine Trieblehre und von dieser hauptsäch*
lieh auf die Triebtheorie im engeren Sinne des Wortes. 2 Diese ist auch der
hauptsächlichste Gegenstand der analytischen Triebliteratur der letzten Jahre.
Der Übersicht halber sei ein kurzer Abriß der Entwicklung der Trieb*
theorie vorausgeschickt.
Eine Triebtheorie kann monistisch, dualistisch oder pluralistisch sein. Eine
i) Teilweise veränderte und ergänzte Wiedergabe zweier in der Prager Psychoanalyti*
sehen Arbeitsgemeinschaft am 10. und 11. November 1934 gehaltener Vorträge.
2) Eine ausführliche Darstellung des gesamten Problemgebietes wird Aufgabe einer
vom Verfasser vorbereiteten größeren Arbeit sein.
10*
pluralistische Triebtheorie ist in der Psychoanalyse bxsher nicht aufgestellt
worden; Ansätze zu einer trialistischen Triebtheorie finden sich bei Federn
und Edoardo Weiss. Monistisch ist die Trieblehre von Jung sowie viel,
leicht die Alfred Adlers, doch liegen beide außerhalb der Psychoanalyse.
Innerhalb der psychoanalytischen Literatur wird eine monistische Trieblehre
von Reich vertreten. Ansätze zu einer solchen finden sich auch m den
jüngsten Ausführungen von O. Fenichel. Von beiden soll spater die
Die^Freudsche Triebtheorie war von Anfang an dualistisch und ist es
trotz allen vorgenommenen Abänderungen geblieben. Geändert wurde nie
die Zahl, sondern nur die Art der zu unterscheidenden Tnebe, bezw. Trieb,
gr ^Entwicklung der Triebtheorie bis zu ihrem gegenwärtigen Stand, er.
folgte in vier Schritten: £L,''ii«
1 Der erste Schritt war die Aufstellung der beiden Gruppen der Sexual,
triebe und der Ichtriebe. Die Sexualtriebe wurden genau studiert, die Ich.
triebe blieben zunächst eine relativ unbekannte Größe.
2 Der zweite Schritt bestand in einer Ergänzungstheorie. Mit der ■ Eh*
führung des Begriffs des Narzißmus in die Libidotheorie ergab sich die
Feststellung eines libidinösen Anteils der Ichtriebe. Doch hielt Fr e u d daran
fest, daß neben dem libidinösen Anteil noch ein originärer, nicht libidinoser
vorhanden sein müsse, den er unverbindlich „Interesse , etwa im Sinne des
nicht libidinösen Egoismus, nannte.
3 Der dritte, in der Literatur meist übersehene Schritt war, die aggressiven
Tendenzen als wesensmäßige Bestandteile den Ichtrieben zuzuschreiben.
Die Darstellung dieser Annahmen findet sich in den letzten Abschnitten
der Abhandlung über „Triebe und Triebschicksale'; und gründet sich auf
die Diskussion der Beziehung von Liebe und Haß, die dazu führte, den Haß
als eine nicht libidinöse Ichreaktion anzusehen.
4 Der vierte Schritt ist veranlaßt durch die fortschreitende Erkenntnis
der'struktur des gesamten seelischen Apparates und die gewonnene Ein.
teilung in eine seelische Vitalschicht (das „Es") und einen organisierten An.
teil desselben, das Ich; speziell aber durch das Studium des ubw. Anteils
des Ichs, des Über.Ichs. Der Kern dieser Auffassung ist daß die aggressiven
Tendenzen nicht mehr als originäre Charaktere der Ichtriebe angesehen,
sondern neben die Sexualtriebe als selbständige Aggressions., bezw De.
struktionstriebe in die Vitalschichte verlegt werden. Die Ichtriebe verlieren
ihren selbständigen Charakter und werden teils von den libidinösen, teils
von den aggressiven Trieben abgeleitet. .... _,,., .; _
An diesen vierten Schritt in der Entwicklung der Triebtheorie wird nun
ä
Zur En twicklung und Problematik der Triebtheorie 149
eine weitere Theorie angeschlossen, die Lehre von den Urtrieben, den so*
genannten Todes* und Lebenstrieben. Ihre Funktion besteht in der weiteren
theoretischen Begründung der im vierten Schritt gegebenen Triebtheorie, in
der Lösung offen gebliebener theoretischer Fragen sowie in der Vereinheit*
lichung und Vereinfachung der verschiedenen bisherigen theoretischen
Ansätze.
Im folgenden werden diese vier Schritte der Theorienentwicklung der Reihe
nach ausführlich besprochen.
I.
Die erste Triebtheorie unterschied Sexualtriebe und Ichtriebe. Anlaß zu
ihrer Aufstellung war die klinische Erfahrung über die zentrale Bedeutung
des psychischen Konflikts für die Entstehung der Neurosen. Ihre Begrün*
düng sucht Freud in Anlehnung an die Vulgärpsychologie und — haupt*
sächlich — an gewisse Richtungen der Biologie. Mit Rücksicht auf spätere
Erwägungen ist es schon hier wichtig zu betonen, daß F r e u d ausdrücklich
bemerkt („Triebe und Triebschicksale"): Es ist „überhaupt zweifelhaft, ob
es möglich sein wird, auf Grund der Bearbeitung des psychologischen Ma*
terials entscheidende Winke zur Scheidung und Klassifizierung der Triebe
zu gewinnen. Es erscheint vielmehr notwendig, zum Zwecke dieser Bear*>
beitung bestimmte Annahmen über das Triebleben an das Material heran*
zubringen, und es wäre wünschenswert, daß man diese Annahmen einem
anderen Gebiete entnehmen könnte, um sie auf die Psychologie zu über*
tragen." Auf rein analytischem Wege ist eine Triebklassifikation also kaum
zu gewinnen.
In der Zeit der unumschränkten Geltung dieser ersten Triebtheorie war
die Aufmerksamkeit Freuds auf die Ausgestaltung der Sexualtheorie ge*
richtet, wie sie hauptsächlich in den „Drei Abhandlungen" fortschreitend
ihren begrifflichen Niederschlag gefunden hat. An der Sexualtheorie lassen
sich zwanglos drei Hauptanteile unterscheiden: 1. Die Lehre von den Par*
tialtrieben, die mit dem Begriff der erogenen Zonen eng verknüpft ist; 2. die
Lehre von der stufenförmigen ontogenetischen Entwicklung der Sexualtriebe,
die in einer bestimmten, biologisch vorgegebenen Gesetzmäßigkeit erfolgt;
3. die Libidotheorie, die die beiden ersten Konzeptionen ergänzt und fundiert,
ebenso wie etwa die Lehre von den Transformationen der Sexualtriebe über*'
haupt.
Es ist notwendig, hier auf die Sexualtheorie aus zwei Gründen einzu*
gehen. Einmal, weil der auf ihrem Boden gewonnene und ihr zugrunde*
liegende Triebbegriff von manchen Autoren polemisch gegen die
späteren Aufstellungen Freuds verwendet wird; ferner wegen der
zu dieser Zeit vorherrschenden quantitativen Auffassung der Triebe, die
später durch eine qualitative ersetzt wird.
Wenden wir uns zunächst der Frage des Triebbegriffs zu.
Nach der allgemeinsten Definition ist der Trieb eine aus der seelischen
Vitalschicht stammende, immanent gerichtete Energie. Da verschiedene 1 at.
Sachen uns nahelegen, den Ursprung der Triebe im organischen Geschehen
zu suchen, läßt sich der Trieb, mit Freud, als ein Grenzbegriff zwischen
Seelischem und Organischem bezeichnen. Dies führt zur Unterordnung des
Triebbegriffs unter den Begriff des Reizes. Der Trieb ist ein Reiz für das
Psychische, der sich von den anderen Reizen durch seine konstante aus
dem Körperinnern (und nicht von außen) stammende ^™*
So wird es möglich, den Trieb auch anzusehen „als ein Maß der Arbeitt»
anforderung, die dem Seelischen infolge seines Zusammenhanges mit dem
Körperlichen auferlegt ist." ,
Hier wird dem in seiner Funktionsweise vorausgesetzten seelischen Ap.
parat der Trieb als ein Reiz gegenübergestellt, in welcher Form immer der
Trieb zur psychischen Energiespannung wird, über diese Funktionsweise
des seelischen Apparates werden eigene Annahmen notwendig. ^ ir wissen,
daß diese Notwendigkeit zur Aufstellung von Prinzipien des seelischen Ge,
schehens oder von Grundtendenzen des seelischen Apparates führte. Wir
kommen später darauf noch zurück und halten hier fest, daß die Prinzipien
oder Regulationsmechanismen den seelischen Apparat regulieren die Triebe
für den so regulierten seelischen Apparat ständig neue Arbeitsanforderungen
bedeuten. Diese Gegenüberstellung von Trieb und seelischer Tätigkeit zeigt
sich am schärfsten wohl in jener Bemerkung in „Triebe und Triebschicksale
die die Einteilung in Ich, und Sexualtriebe als eine vorläufige Hi fskonstruk.
tion bezeichnet, aber die These über eine Grundtendenz des seelischen Ap,
parates, die anlangenden Erregungen (Reizgrößen) „wieder zu beseitigen,
auf möglichst niedriges Niveau herabzusetzen, oder . sich überhaupt reiz,
los (zu) erhalten," als eine notwendige Voraussetzung hinstellt. -
Infolge der Herkunft der Triebe aus dem Organischen ruckt der Begriff
der Quelle als Einteilungskriterium der Triebe in den Vordergrund. Für
eine Einteilung der Triebe lassen sich die von F r e u d hervorgehobenen drei
Merkmale der Triebe: Quelle, Ziel und Objekt, als Kriterium verwenden.
Das Objekt ist wohl das veränderlichste dieser Merkmale; weniger, aber
dennoch veränderbar ist auch das Ziel. Als relativ konstantes Merkmal scheint
sich der Begriff der Quelle anzubieten und so für eine Klassifikation der
Triebe am besten zu eignen. , „ , '.'
In der Phase des Ausbaues der Sexualtheorie kommt also hauptsachhch
dem Begriff der Quelle die Bedeutung eines Einteilungskriteriums zu. Die
Zur Entwicklung und Problematik der Triebtheorie 151
Quelle als Ursprungsort ist prinzipiell an ein Organgeschehen gebunden
gedacht. Dieses Organgeschehen wird im Anschluß an die Hormonlehre
hypothetisch in Form von chemischen Prozessen vorgestellt, etwa in An*
häufung von Sexualstoffen oder Konzentrierung sexualchemischer Vorgänge
und einer folgenden neuerlichen Verteilung oder vielleicht Auflösung der»»
selben. Das Ursprungsorgan der Triebe fällt meist zugleich auch mit dem
Ort ihrer Befriedigung zusammen, oder aber das Erfolgsorgan ist ein Ur*
Sprungsorgan eines anderen Teiltriebes.
Die Unterscheidung der einzelnen Partialtriebe erfolgt auf Grund der
Unterscheidbarkeit verschiedener Ursprungsorgane, der sogenannten ero*
genen Zonen. Ihre Zusammenfassung zur einheitlichen Gruppe der Sexual*
triebe geschieht auf Grund gemeinsamer Charaktere und gesetzmäßiger Be*
Ziehungen. Der Begriff der erogenen Zone ist zunächst ein rein deskrip*
tiver und an der oralen, analen und genitalen Zone gewonnen; ihre Kri*
terien: Erregung, Handlung, Befriedigung in Form charakteristischer Lust*
ablaufe, die bei den beiden ersten anders sind als bei der letzteren, sind
eflebnismäßig überprüfbar.
Der Trieb ist demnach eine aus der psychischen Vitalschicht stammende,
immanent gerichtete Energie, die auf ein bestimmtes Ziel hindrängt und
sich in einem lockeren Ausmaße auf Objekte als ihren Gegenstand richtet.
Er ist an ein Ursprungsorgan als seine Quelle und ebenso an ein Erfolgsorgan
als der Stätte der Befriedigung gebunden. Die Befriedigung besteht in einer
Aufhebung jener Veränderungen der Reizzone, die mit der Triebspannung
einhergehen; oder in kurzer Formulierung: der Trieb ist eine „von außen
kommende", Energie liefernde Ursache bestimmter seelischer Vorgänge.
Die Zusammenfassung der Partialtriebe einmal zur einheitlichen Gruppe
der Sexualtriebe sowie zu biologisch vorgegebenen Stufen innerhalb der
Sexualentwicklung erforderte zur Grundlegung und Ergänzung die Libido*
theorie, die die Triebe als rein quantitative Energiegrößen auffaßt, die be*
liebig lokalisiert (verschoben) und konzentriert werden können. Die Quali*
täten der Partialtriebe sind nicht den Trieben selbst eigen, sondern von den
Quellen ableitbar. Eine solche Annahme ermöglicht die Beschreibung der
Beziehungen der erogenen Zonen zueinander, die Umsetzungen der ein*
zelnen Partialtriebe ineinander usw. auf eine relativ einfache Weise. Wir
werden hören, daß die später vorgenommene Unterscheidung zweier Trieb*
qualitäten auf Grund des Kriteriums des Zieles die Erklärung der Um*
Setzungen nur mit Hilfe bestimmter Annahmen möglich macht.
Die Ichtriebe erfuhren in dieser Zeit eine gewisse Vernachlässigung. Der
Begriff der Ichtriebe war nur ein provisorischer, er trägt in den damaligen
Formulierungen Freuds ganz den Charakter der Vorläufigkeit, wie im
152 Edward Bibring
Grunde die ganze Triebklassifikation überhaupt. Das lag teils an historischen,
teüs an sachlichen Momenten. Einmal galt es, erst das Problem des Aufbaues
und der Entwicklung der Sexualtriebe zu lösen, die sich zuerst der Erfor*
schung aufdrängten. Dann waren die Erscheinungen der Ichtriebe viel schwier
riger zu erkennen, die vom Ich ausgehenden Tendenzen und ihre Äußerungs*
formen waren komplizierter und daher schwieriger zu fassen. Vor allem aber
setzte dies bis zu einem gewissen Grad die Kenntnis der (libidinösen) Triebe
bereits voraus. 3
Wichtig ist, daß die Ichtriebe nicht als in gleicher Ebene wie die Sexual*
triebe stehend aufgefaßt wurden. Freud formuliert in „Triebe und Trieb*
Schicksale" den psychischen Konflikt, der an der Wurzel jeder Neurose
zu finden sei, als einen zwischen den Ansprüchen der Sexualität und
denen des Ichs. Die Ichtriebe standen also eigentlich für den Begriff des
von gewissen Tendenzen dirigierten, damals der Erforschung noch unzu*
gänglichen Ichs.
Unter Übertragung des für die Sexualtriebe verwendeten Kriteriums der
Quelle auf die Ichtriebe wurden als Paradigma derselben die Nahrungstriebe
angesehen, die ebenfalls mit Ursprungs* und Erfolgsorganen in Zusammen*
hang zu bringen waren und ebenso unter Zuhilfenahme hypothetischer phy*
siologisch*chemischer Prozesse.
II.
Der Anlaß zum zweiten Schritt in der Entwicklung der Triebtheorie er*
gab sich auf dem Boden der Psychiatrie. Neue Tatsachen, die sich der Er*
klärung mit Hilfe der bisherigen Begriffe widerspenstig erwiesen, erforderten
ein Stück zusätzlicher Theorie. Diese Ergänzungstheorie bestand in der Ein*
führung des Begriffes der Narzißmus in die Libidotheorie. Damit war in
die Selbständigkeit der Ichtriebe die erste Bresche geschlagen.
Der Begriff des Narzißmus umfaßt drei Bestandteile: 1. die Aufstellung
eines an den Anfang der Ontogenese verlegten objektlosen Stadiums unter dem
Namen des primären Narzißmus. Die Differenzierung einer objektlibidinösen
Einstellung ist noch nicht erfolgt, parallel zur mangelnden Differenzierung
zwischen Ich und Außenwelt. Die Libido ist irgendwie untergebracht, etwa
wie im Schlaf oder im Embryonalstadium, sie „ruht", ist vielleicht noch nicht
zur Funktion erwacht; oder aber sie ist von den Ichfunktionen, von der Ich*
energie noch nicht unterscheidbar und ablösbar, „medial" wirksam, um den
Ausdruck Federns zu gebrauchen. 2. Die Libido kann nach erfolgter
3) Dies gilt nur für die historische Situation. Nach dem heutigen Stand des Wissens
setzt eine vollständige Erforschung des Ichs selbstverständlich die Kenntnis der libidinösen
und aggressiven Triebe voraus.
Zur Entwicklung und Problematik der Triebtheorie 153
Scheidung zwischen Ich und Außenwelt die eigene Person ebenso zum
Gegenstand nehmen wie irgendein Objekt der Außenwelt. 3. Durch Identi*
fizierung im Ich oder im Ichideal kann die Triebenergie in narzißtische Ener*
gie verwandelt werden. Auch hier wird sie — sekundär — medial wirksam.
Die Annahme einer im Ich wirkenden libidinösen Energie mußte eine
Revision der Vorstellungen über die Ichtriebe zur Folge haben. Die Energie
der Ichtriebe war somit libidinöser Herkunft; aber auch die Ziele der Ich*
triebe waren von den Zielen der auf die Person gerichteten, in und an der
Person wirksamen narzißtischen Libido abzuleiten. Die Ichtriebe waren nur
auf das eigene Ich gerichtet, daher etwas anders organisierte libidinöse
Triebe. Wie etwa das Realitätsprinzip nur eine Modifikation des Lustprinzips
darstellte und doch gegen dieses sich zu wenden vermochte, so schienen die
Ichtriebe in ihren Zielen modifizierte Libido zu sein, die sich schließlich gegen
die eigentlichen libidinösen Triebe zu wenden vermochte. Diese Annahme
ist mit einer bestimmten Auffassung über die Herkunft der Ziele verknüpft.
Das allgemeinste Ziel der Libido scheint die Lust; die speziellen Ziele aber
leiten sich von den speziellen Objekten ab, auf die die Libido sich richtet.
Der Konflikt spielt sich hier nicht mehr zwischen den Sexual* und Ichtrieben
ab, sondern zwischen Anteilen der Sexualtriebe, die sich auf die Objektwelt,
und solchen, die sich auf das Ich richten, den objektlibidinösen und ich*
libidinösen Tendenzen. Eine solche Erklärung des Konflikts als eines Wider*
Streits verschiedener Interessen war gewiß möglich, aber schwierig; vor allem
aber vermochte sie in dieser Einfachheit nicht allen Tatsachen gerecht zu
werden.
Mit der Erschütterung der Selbständigkeit der Ichtriebe schien notwen*
digerweise der dualistische Charakter der Triebtheorie in Frage gestellt. Es
gab nur die eine Gruppe der libidinösen Triebe. Ihre Klassifizierung ergab
sich nicht mehr durch Berufung auf eine Quelle, sondern primär durch die
Beziehung auf verschiedene Objekte, die dann anscheinend das Ziel modifi*
zierten. Im Grunde ist schon hier die Auffassung gegeben, daß beide, Se*
xualtriebe und Ichtriebe, nur Differenzierungsprodukte einer gemeinsamen
„Urlibido" repräsentieren.
Trotzdem hielt F r e u d an der Selbständigkeit der Ichtriebe fest. Dazu mag
vor allem der Umstand beigetragen haben, daß die Einteilung der Triebe
durch biologische Erwägungen begründet worden war, die durch den psy*
chologischen Fund des Narzißmus zunächst nicht aufgehoben wurden. Das
Individualleben schien ganz anderen Interessen zu folgen als dem der Art*
erhaltung. Es lag daher nahe, hier differente Kräfte als wirksam zu vermuten.
Ferner blieben die Erscheinungen des Sadismus im weiteren Sinne des Wortes
nicht geklärt. Deshalb führte Freud den Begriff des Ichinteresses im Sinne
154 Edward Bibring
des nichtlibidinösen Egoismus ein, oder richtiger: Was wir den Egoismus
einer Person nennen, hat zwei Anteile, einen libidinös^narzißtischen und einen
nichtlibidinösen. „Der Narzißmus ist nur die libidinöse Ergänzung zum
Egoismus des Selbsterhaltungstriebes, von dem jedem Lebewesen mit Recht
ein Stück zugeschrieben wird." Ursprünglich sind diese beiden Anteile un*
differenziert.
Freud hält also an der ursprünglich nichtlibidinösen Natur der Ichtriebe
fest. Dafür sprechen zunächst theoretische und heuristische Gründe.
III.
Später tritt auf Grund empirischer Feststellungen und theoretischer Er*
wägungen eine weitere Charakterisierung der nichtlibidinösen Anteile der
Ichtriebe hinzu, die die Selbständigkeit dieser gegenüber jenen festigen sollte.
Damit ist der dritte Schritt in der Theorieentwicklung gegeben: Er beinhaltet
die Aussage von dem selbständigen Charakter der aggressiven Tendenzen
gegenüber den libidinösen Strömungen und ihrer Zugehörigkeit zu den
Ichtrieben.
Stellen wir fest, welche Erfahrungen und Erwägungen zu diesem Lösungs*
versuch der Triebklassifikation führten. Dafür war vor allem der Umstand
maßgebend, daß mit der bisherigen Theorie nicht alle Tatsachen eine ge*
nügende Einordnung und Erklärung fanden.
Auf Seite der Sexualtriebe war es vor allem die Stellung der sadistischen
Anteile derselben, die theoretisch noch nicht gesichert war. Ursprünglich
schien der Sadismus erogen gebunden. Sadistische Regungen fanden sich auf
allen Stufen, wenn auch in verschiedener Ausprägung, die auf die Charaktere
der Quelle, bezw. der erogenen Zone rückführbar schien. Auf der oralen,
analen und phallischen Stufe gab es sadistische Anteile. Auf Grund der
fortschreitenden Beobachtung wurde es nahegelegt, den Sadismus immer mehr
als selbständigen Partialtrieb anzusehen, der alle Stufen durchlief, allen anderen
Partialtrieben sich beizugesellen vermochte, seine eigenen Schicksale hatte, und
den man sich entsprechend dem damals herrschenden Kriterium an die ge*
streifte Körpermuskulatur als „Quelle" gebunden denken konnte. Als solcher
stand er dann den rein libidinösen Trieben umso merkwürdiger gegenüber.
Vor allem war es der Widerspruch zwischen dem Ziel des Sadismus und
jenem der Sexualtriebe, der der Erklärung Schwierigkeiten bereitete. Das
sadistische Ziel schien zu den libidinösen in einem Gegensatz zu stehen und
daher eine andere genetische Zurückführung zu fordern. Zweifellos umfaßte
der Ausdruck Sadismus alle möglichen, auch nicht erotischen Erscheinungen
von der sexuellen Perversion bis zu den von jeder manifesten Erotik freien
u
Zur Entwicklung und Problematik der Triebtheorie 155
Regungen der Grausamkeit und Härte. Schließlich wurde er auch für ge*
wisse Ichtriebe angewendet.
Auch bei den Ichtrieben ließen sich verschiedene Partialtriebe unterscheid
den. Im Zusammenhang mit dem Kriterium der Quelle schienen Hunger
und Durst die geeigneten Repräsentanten der Ichtriebe; im weiteren Ver*=
laufe der Entwicklung verloren sie aber ihre paradigmatische Stellung.
Eine nähere Betrachtung ließ eine prinzipiellere Einteilung der Ichtriebe
gewinnen. Man konnte Bemächtigungs* und Abwehrtendenzen von einander
unterscheiden; dazu traten dann die Macht* und Geltungstriebe. Die Be*
mächtigungstendenzen schienen mit den Machttendenzen verwandt, beide un*
terschieden sich aber nicht viel von manchen sadistischen Triebäußerungen.
Auch an den Abwehrtendenzen, die sich in Flucht* und Angriffs*, bezw. Ver*
nichtungstendenzen differenzieren ließen, war ein aggressiver Zug unver*
kennbar; den meisten dieser Ichtendenzen mußte also ein aggressiver Charak*
ter zugesprochen werden. Es gab somit neben dem Sexualsadismus auch
einen „Sadismus" der Ichtriebe, die wieder als Bemächtigungstriebe in den
Dienst der Libido traten, was die Situation reichlieh, zu komplizieren schien.
Gerade am Begriff des Sadismus der Ichtriebe zeigte sich deutlich die zu
große Erweiterung des Begriffs des Sadismus. Der Sprachgebrauch dieser
Zeit entspringt dem Mangel an Unterscheidung zwischen der Stellung der
sadistischen zu den libidinösen und der aggressiven zu den sadistischen Er*
scheinungen.
Umfaßte der Begriff des Sadismus disparate Erscheinungen, so ergab sich
die Frage: Wie war die Beziehung zwischen den zieldisparaten sadistischen,
bezw. aggressiven und libidinösen Triebanteilen klarzustellen. Es gibt eine
beschränkte Zahl von Möglichkeiten, sich das Verhältnis zwischen libidi*
nösen und aggressiven Trieberscheinungen vorzustellen. Entweder sie gehen
aus einem „Urgemeinsamen" hervor und differenzieren sich im Lauf der
Entwicklung; oder sie sind verschiedenen Ursprungs und machen verschieb
dene Entwicklungen durch, die sich gelegentlich kreuzen.
Die erste Auffassung vom gemeinsamen Ursprung ist monistisch und
versucht, die libidinösen und aggressiven Erscheinungen des Trieblebens als
Differenzierungsprodukte, bezw. Erscheinungsweisen eines und desselben
Triebes zu verstehen, als bipolare Äußerungen, die füreinander eintreten
können. Auch hier gibt es zwei Möglichkeiten der Auffassung. Die eine,
von W. Reich vertreten, behauptet den direkten Umschlag der Libido in
Aggression, wenn die Stauung der Libido ein zu großes Maß überschritten
hat. Abgesehen von der fraglichen Annahme eines materiellen Umschlages
läßt sich diese These durch den Hinweis widerlegen, daß es Aggressionen
gibt, die an die Bedingung einer vorausgegangenen Versagung und Stauung
in keiner Weise gebunden scheinen. Daß gewisse Menschengruppen unter
so günstigen, von Versagung freien Bedingungen leben, daß sich keine Ag*
gressionen entwickeln konnten, scheint bisher nicht hinreichend bewiesen.
Anderseits scheinen manche aggressive Erscheinungen im Tierreich, die
in keiner Weise mit dem Liebesleben verknüpft sind, über die Notwendige
keiten des Daseinskampfes hinauszugehen. Die Rolle der Aggressionen im
Leben der Menschen scheint zu groß, als daß man auf die Annahme eine«*
elementaren Triebes verzichten könnte. Eine weitere Schwäche dieser
Theorie, die viele Analogien mit der ersten Angsttheorie Freuds auf zu*
weisen hat, ist, daß nach ihr das Ich die Aggression als automatisches Pro*
dukt der Libidoumwandlung passiv übernimmt. Sie ist daher scharf zu unter*
scheiden von der bald zu besprechenden Annahme, daß Aggressionen sich
außerhalb der Ichfunktionen nicht beobachten lassen, und verhält sich zu
dieser wie die erste Angsttheorie Freuds zur späteren Theorie von der
Signalfunktion der Angst.
Die Herkunft aus einem Urgemeinsamen und damit den modalen Charak*
ter der beiden Gruppen von Triebäußerungen hat neuerdings O. F e n i c h e 1
behauptet. Er glaubt dieses Gemeinsame in der frühen oralen Phase ge*
funden zu haben, weil diese in der ausschließlichen Objektbeziehung des
Verschlingens, bezw. der Aneignung durch Verschlingen in unverkennbarer
Integration die später auseinandertretenden libidinösen und aggressiven An*
teile enthalte. Abgesehen von dem nicht beseitigten Zweifel an der größeren
heuristischen Valenz dieser Annahme lassen sich gegen sie noch einige Ein*
wände vorbringen: Es ist fraglich, ob die orale Frühphase, die A b r a h a m die
präambivalente genannt hat, tatsächlich die spätere Aggression in sich ent*
hält, d. h. überhaupt als aggressiv bezeichnet werden kann. Daß objektiv
das Objekt „vernichtet" wird, bedeutet noch nicht, daß subjektiv eine ag*
gressive Komponente vorhanden sein muß. Es ist doch immerhin auffällig,
daß die höchsten Glücksgefühle neurotischer und gesunder Menschen oft an
jene „Vereinigungstendenzen" geknüpft sind, die mit der frühoralen Phase
in irgendeinem Zusammenhang stehen und in der Säuglingssituation ihren
symbolhaften Ausdruck finden. Außerdem scheint es notwendig, zwischen
einem Zustand der Undifferenziertheit oder Integration und einem
der mangelnden Entwicklung zu unterscheiden. Es ist in keiner
Weise die Möglichkeit widerlegt, daß sich die Aggression später entwickelt
als die Libido. Der integrale Zustand und der Potentialzustand der Latenz
sind aber nicht identisch. Schließlich ist zu fragen, ob eine primäre libidinöse
Vorstufe nicht eine zu schmale Basis abgibt für die versuchte Neuordnung
der Trieberscheinungen nach dem Prinzip der Bipolarität.
Trotzdem ist der Versuch einer Ordnung der Gesamtheit der Trieberschei*
■Iw
Zur Entwicklung und Problematik der Triebtheorie 157
nungen auf dieser Basis nicht ohne weiters prinzipiell von der Hand zu
weisen.
Die zweite der oben erwähnten möglichen Auffassungen über das Ver*
hältnis der beiden Gruppen von Triebregungen ist durchaus dualistisch und
nimmt zwei qualitativ verschiedene Triebe an, auf die sie alle Erscheinungen
zu reduzieren trachtet. Stützt sich die erste Annahme gerade auf die beide
Tendenzen undifferenziert enthaltenden Erscheinungen (während das Aus*
einandertreten in der Differenzierung das Problem abgibt), so bilden diese
für die zweite Theorie eine Schwierigkeit und müssen mit Hilfe der
Mischungstheorie erklärt werden.
Wie aus den erwähnten Abschnitten in „Triebe und Triebschicksale" her*
vorgeht, zieht Freud, ehe er sich für die dualistische Theorie entscheidet,
die Möglichkeit der Bipolarität als Ordnungsprinzip in Betracht. Auf Grund
des Vergleichs der Ziele beider Gruppen von Triebtendenzen und der Fest*
Stellung ihrer Disparatheit sowie nach Diskussion des Problems der „Ver*
Wandlung von Liebe in Haß" und der Negierung dieser Möglichkeit weist
Freud die Annahme einer genetischen Verwandschaft der beiden Erschei*
nungsgruppen ab.
Aggression (Haß, Sadismus) und Libido waren also nach Ziel und Her*
kunft verschieden; aber damit blieb die Stellung der Aggression im Ganzen
der Triebtheorie noch unsicher. Der nächste Versuch Freuds, diese Un*
Sicherheit zu beheben, bestand in der Zuweisung der Charaktere der Aggres*
sion oder des „Sadismus", um dem damaligen Sprachgebrauch zum letzten
Male zu folgen, zu den Ichtrieben, sowie in der Annahme bestimmter Mi*
schungsverhältnisse zwischen den Sexual* und den (aggressiven) Ichtrieben,
neben der Gegensätzlichkeit derselben, die sich etwa im Konflikt äußerte.
Es ist wichtig hervorzuheben, daß F r e u d in diesem Zusammenhang noch
nicht von selbständigen Aggressionstrieben spricht, sondern nur von den
Aggressionen der Ichtriebe. Damit erscheint ein Problem vorläufig ent*
schieden, das die Beziehung zwischen Aggression und Ichtrieben zum In*
halt hat, nämlich, ob es außerhalb der icherhaltenden Funktionen überhaupt
aggressive Erscheinungen gibt. (Der erotische Sadismus wird durch dieses
Problem nicht berührt.) Das Problem geht auf die schon erwähnte Beobach*
tung zurück, daß Aggressionen meist oder nur auf Grund von Beeinträch*
tigungen der Lebenstriebe oder Ichtriebe auftreten. Es soll uns noch be*
schäftigen.
Fassen wir zusammen : Mit dem dritten Schritt wird eine Reihe von Pro*
blemen vorläufig entschieden, u. zw. 1. Der Sadismus wird aus den Sexual*
trieben herausgenommen und den Ichtrieben zugeschrieben. Dadurch wird
die Selbständigkeit der Ichtriebe abermals behauptet. Es handelt sich aber
nicht um eine Neugruppierung der beiden großen Triebgruppen, sondern
nur um eine Umgruppierung innerhalb derselben. 2. Die Annahme von
Mischungsverhältnissen erlaubt eine gewisse Klärung der Beziehungen. Der
Sadismus der Sexualtriebe stammt von der Aggression der Ichtriebe und
tritt dort auf, „wo die Ichtriebe die Sexualfunktion beherrschen". Sie „lei*
hen . . . dem Triebziel die Charaktere des Hasses", wie der damalige Sammele
name für die Aggression lautete. Freud versuchte eine Entwicklungsge*
schichte des Einflusses der Ichtriebe auf die Sexualtriebe zu geben, von der
Ambivalenz der oralen über den Sadismus der analen bis zur Liebe der
genitalen Stufe, auf der Liebe und Haß zuerst in vollen Gegensatz geraten.
Anderseits können auch die Ichtriebe eine libidinöse Beimengung erfahren
(Narzißmus). 3. Damit ist ein Wechsel des Kriteriums der Triebeinteilung
verbunden: Der Begriff der Quelle tritt in dieser Bedeutung zurück gegen*
über dem Begriff des Triebzieles. Das Paradigma der Ichtriebe ist nicht
mehr der Hunger, sondern der „Haß", die Aggression. Die Differenz der
Triebziele hatte ja schon zum Problem der Stellung des Sadüs*
mus geführt. Zugleich erhebt sich die Frage, ob mit der Änderung des
Kriteriums auch eine solche des Triebbegriffs verbunden war. Für die Se*
xualtriebe hatte die stärkere Betonung des Zielkriteriums keine Veranden
rung der Auffassung gebracht. Die Bedeutung der Quelle als Kriterium bleibt
übrigens daneben unverändert bestehen, ebenso wie die chemisch unter*
baute Energiespannungstheorie. Wenn für die Ichtriebe eine chemische
Hypothese nicht zu formulieren war, so konnte doch die an den Sexualtrieben
gewonnene allgemeine Triebauffassung auf die Ichtriebe übertragen werden.
Auch sie waren als Arbeitsanforderungen an den seelischen Apparat auf*
faßbar, als Spannungen, die bestimmte Handlungen in Bewegung setzten,
die der Befriedigung durch Erreichung des Zieles dienten, z. B. der Hunger
und die in Zusammenhang mit ihm geweckte Bemächtigungstendenz, also
als an den seelischen Apparat herantretende, Energie liefernde Reizursachen.
Dieser neue Schritt in der Triebtheorie schien also eine Reihe von Pro»
blemen zu lösen. Die selbständige Existenz der aggressiven Ichtriebe schien
gesichert, das sexualdisparate Ziel des „Sadismus" durch die Beimengungs*
theorie plausibel gemacht, die unterschiedlichen Erscheinungsformen libidi*
nöser und nichtlibidinöser Aggressionen geordnet und geklärt.
IV.
Das Problem des Aggressionstriebes. Die Notwendigkeit, in einem vierten
Schritt die Triebtheorie neu zu gestalten, ergab sich teils aus dem Studium 1
der im weitesten Sinne sadomasochistischen Erscheinungen/sowie aus einer
adäquateren Auffassung des Aufbaues des seelischen Apparates, die sich
aus der Zuwendung zur Erforschung nicht allein wie bisher der verdrängten,
sondern auch der verdrängenden Kräfte des Ichs ergab.
Ich verlasse im folgenden die rein historische Darstellung, die sich auf
die Reihenfolge der Freud sehen Publikationen zu stützen hätte, und stelle
diesen vierten Schritt, der meiner Meinung nach in zwei Teile zu trennen
ist, mehr nach systematischen Gesichtspunkten dar.
Die Notwendigkeit, ein unbewußtes Schuldgefühl anzunehmen, führte zu
einer neuen Konzeption über den Aufbau der Person, zur Gegenüberstele
lung des Es und des aus ihm hervorgegangenen organisierten)AnteiIs, des
Ichs. Das Es umfaßt die psychische Vitalschicht, in der die Triebe ihren
Ursprungsort haben und die in freier Verbindung mit dem Ich steht, ferner
den verdrängten Anteil derselben, der durch Gegenbesetzungen in der freien
Kommunikation mit dem Ich behindert ist, und schließlich den unbewußten
Anteil des Ichs, das Überelch.
Der vierte Schritt in der Entwicklung der Triebtheorie besteht darin, daß
die Aggression aus den Ichtrieben herausgenommen, das heißt nicht mehr
als Partialtrieb oder als Charakter derselben aufgefaßt, sondern als selbständige
Triebgruppe mit eigenen Zielen in die psychische Vitalschicht verlegt wird.
Die neue Triebtheorie lautet demnach, daß in der Vitalschicht zwei Gruppen
von Trieben vorhanden sind, die libidinösen und die aggressiven, bezw. de*
struktiven. Beide drängen selbständig zur Befriedigung und gelangen teils
im freien Kampf um diese, teils unter dem Einfluß des unter dem Druck de*
Außenwelt und des Überelchs stehenden Ichs zu den verschiedensten Bee
Ziehungen (Verknüpfungen oder Gegensätzen) zu einander. Sie können zu
den in die Richtung auf die Selbsterhaltung wirkenden Tendenzen des Sye
stems, die im Ich repräsentiert sind (Ichtriebe), leicht in Gegensatz geraten.
Den in der Vitalschicht wirkenden Sexuale und Aggressionstrieben als den
objektgerichteten Trieben stehen die im Ich wirkenden Ichtriebe gegenüber.
Hier ergeben sich drei Fragen: 1. Aus welchen Gründen war dieser vierte
Schritt notwendig? 2. Was leistet diese neue Triebtheorie, die, im genetischen
Sinne dualistisch, dennoch drei Triebgruppen von einander unterscheidet?
3. Haben das Kriterium der Einteilung und der Begriff des Triebes eine
Veränderung erfahren?
Da eine Reihe von bei Besprechung des dritten Schrittes angeführten Argue
menten es notwendig gemacht hatte, die Aggressionstendenzen aus den See
xualtrieben herauszunehmen und sie den Ichtrieben zuzuschreiben, reduziert
sich das Problem der Aufstellung eines selbständigen Aggressionstriebes auf
die Frage, ob aggressive Tendenzen (nichtlibidinöser Natur) außerhalb der
Ichfunktionen eine Rolle spielen.
Es scheint kein Zweifel, daß aggressive Tendenzen an sich außerhalb der
Ich*Erhaltungsfunktionen betätigt werden und wenig Sexuelles verraten.
Außerdem wird die vollständige Zuordnung der Aggressionen zu den Ich*
trieben dort problematisch, wo die Wirkung jener zu diesen in einen Ge*
gensatz gerät. Alle Erscheinungen des sexuellen Sadismus können durch die
Beimengung der Ichtriebe noch erklärt werden. Viel schwieriger ist dies
aber bei den Erscheinungen des Masochismus. Die Ichtriebe sind Reprä*
sentanten jenes „Triebes, der alles Leben am Leben festzuhalten zwingt".
Daß nun der Schmerz, der als ein Signal im Dienste dieses Lebenstriebes
gelten mußte, selbst zum Ziel eines (masochistischen) Triebes werden konnte,
schien den Prinzipien des Biologischen zu widersprechen, auch wenn der
Begriff der Sexualisierung zur Erklärung geeignet schien. Noch stärker trat
das Problem bei der selbstzerstörenden Macht der melancholischen Ver*
Stimmung hervor, die Freud als „eine psychologisch höchst merkwürdige
Überwindung" des lebenerhaltenden Triebes bezeichnet. Ebenso verhält es
sich mit den gegen das eigene Ich gewendeten Tendenzen des Über*Ichs,
bezw. des Strafbedürfnisses, das geradezu wie ein eigener Trieb zu wirken
scheint.
Diese Erscheinungen, gegen die das Ich sich zu wehren hat wie gegen die
libidinösen Regungen, lassen sich durch die Aggression der Ichtriebe nur
schwer erklären. Diese Theorie wird von Freud sichtlich sehr bald fallen
gelassen; außer in den zitierten Abschnitten der Arbeit über „Triebe und
Triebschicksale" wird sie nicht erwähnt. Trotzdem bleibt das Problem, ob
Aggressionserscheinungen außerhalb der Ich*Abwehrfunktionen auftreten, in
einem gewissen Sinne bestehen. Auch die Beziehung zwischen dem Alk
machtsrausch des Ichs und der Intensität der befriedigten Aggressionstriebe
gehört hierher.
Es war nur eine konsequente Wendung, daß nach der Gegenüberstellung
des Ichs und des Es, gegen dessen Triebe sich jenes zu wehren hatte, die 1
aggressiven Tendenzen als selbständige Triebkräfte in die psychovitale
Schichte des seelischen Apparates verlegt wurden. Es war, wie Freud im
sechsten Kapitel des „Unbehagen in der Kultur" meint, tatsächlich keine
neuartige Abänderung der Trieblehre, sondern es handelte sich darum, „eine
Wendung, die längst vollzogen war, schärfer zu fassen und in ihre Kon*
sequenzen zu verfolgen."
Mit Hilfe der Annahme eines Aggressionstriebes lassen sich die hierher
gehörigen Tatsachen zweifellos leichter beschreiben. Das Ich hat gegen die
Aggression genau so zu kämpfen wie gegen die Libido, es kann ihr statt*
geben, sie sublimieren, verdrängen, durch Reaktionsbildungen ändern, es
kann sie durch libidinöse Beimischung mildern, sich selbst als Objekt an*
Zur Entwicklung und Problematik der Triebtheorie 161
bieten und die Aggression auf sich lenken, z. B. etwa auf dem Weg über
das Übewlch. Allerdings ist mit der bloßen Aufstellung eines selbständigen
Aggressionstriebes zunächst nicht alles erklärt. Nicht so sehr die destruktiven
Wirkungen nach außen waren zuletzt problematisch geworden, sondern das
Auftreten der gegen das Selbst gewendeten zerstörenden Tendenzen, wie sie
sich in der Melancholie, im Strafbedürfnis, in der Schicksalsneurose jdar*
boten. Hier trat so etwas wie ein im eigenen Innern wirkender Trieb zur
Zerstörung in Erscheinung, der der biologischen Auffassung noch größere
theoretische Schwierigkeiten bereitete als die Tatsache der Schmerzlust auf
dem engeren Gebiete der Sexualtheorie, Es schien, als hätte^die beginnende
Erforschung des Ichs zur Aufdeckung eines phylogenetisch jüngsten Triebes
geführt, der mit der Kultur der Menschen entstanden sein mochte.
Die primäre Destruktion. Über die Tatsache des Über*Ichs und
seiner unter Umständen bis zur Vernichtung der eigenen Existenz
des Individuums führenden Bestrafungstendenzen kann kein Zweifel
sein. Ebensowenig darüber, daß mit der Erklärung einer Wendung
der Aggression gegen die eigene Person die theoretische Erfassung
dieser Erscheinung unzulänglich bleibt. Die eigentliche Problematik
beginnt erst mit der Gewinnung dieser Erklärung und lautet: Wie
ist eine solche bis zur Selbstvernichtung gehende Wendung gegen die eigene
Person möglich, d. h'. unter Beibehaltung der bisherigen biologischen Auf*
fassungen erklärbar? Es entspricht ganz den methodischen Prinzipien der
Analyse, hier ein Ursprünglicheres anzunehmen, auf dessen Bahnen die Wen*
düng der Aggression gegen das eigene Ich erfolgen konnte. Dieses Ur*
sprünglichere konnte nicht anders gedacht werden als eine triebhafte, irgend*
wie selbstzerstörend wirkende, in ihrer Wirkungsweise aber zunächst un*
bekannte Tendenz.
Dieses Problem war in einer gewissen Annäherung schon in der Sexual*
theorie gegeben. Freud formuliert es mit der Frage, ob der Sadismus oder
der Masochismus das Primäre, d. h. biologisch Ursprüngliche sei. Schon
damals zog F r e u d die analogen Probleme aus der Entwicklung rein libidinö*
ser Triebe heran, um festzustellen, daß ein dem narzißtischen Stadium ana*
loges im Gegensatz zu anderen Partialtrieben, wie z. B. zum Exhibitionismus,
beim Sadismus fehle oder sich nicht formulieren lasse.
Die erwähnten klinischen Erscheinungen und die grundsätzliche metho*
dische Forderung nach einem ursprünglichen Modell in Analogie mit den
parallelen Aufstellungen der Libidolehre mußten also zur Annahme einer
irgendwie im eigenen Innern wirkenden „selbstzerstörenden" Tendenz führen.
Diese wäre dann, analog dem primären Narzißmus, eine Art von primärer
Destruktion. Die objektlibidinösen Tendenzen korrespondieren mit der auf
Image XXII/2 n
162 Edward Bibring
die Objekte gewendeten Aggression. Die Erscheinungen des sekundären Nar*
zißmus entsprechen jenen der sekundären Destruktion. 4
Eine solche Durchführung der Analogien wird gestützt durch die Fest*
Stellung, daß zwischen Aggression und Selbstdestruktion ähnliche Schwan*
kungen bestehen wie zwischen narzißtischer und objektgerichteter Libido*
Position. Die Aggression kann ebenso nach innen gewendet werden, wie
die Selbstdestruktion, wenn sie bedrohliche Grade erreicht, ihr Ventil durch
eine „Wendung nach außen" in die Aggression findet.
Hier bleibt also das Problem: Wenn sich die Annahme eines primären
Stadiums des Destruktionstriebes theoretisch als unabweisbar zeigt, wie ist
dann eine solche Tendenz formulierbar? Zur Beantwortung dieser Frage
entwickelt Freud alle jene Gedankengänge, die zu so viel Mißverständnis
und so viel Widerspruch führten.
E. Weiss spricht in diesem Zusammenhang im Anschluß ah Federn
von einem „medialen Todestrieb": „Darunter verstand ich jene destruktive
Energie, vermöge welcher wir altern und sterben". Da er diese Energie in
Analogie zur Libido der Sexualtriebe Destrudo nennt, spricht er von einer
medialen, nach außen gewendeten und reflexiven Form derselben. Eine
weitere Angabe über die mediale Destrudo als die oben erwähnte, wird nicht
gemacht, trotzdem aber am Schluß mit Rücksicht auf „die Tatsache, daß die
Destrudo in mannigfaltigster Art für die Selbsterhaltung und Verteidigung
des Individuums unerläßlich ist", die „Unsicherheit begründet, die Destrudo
ohne weiteres für eine Kraftäußerung eines Todestriebes zu halten."
Immerhin zeigt die Weiss sehe Formulierung der medialen (primären)
Destrudo, daß ihre nähere Bestimmung ohne weitere Annahmen nicht mög*
lieh ist.
Die Theorie von den Uttrieben. Die bisher entwickelte theoretische
Problematik des vierten Schrittes wird nun ergänzt, zusammenge*
faßt und zu lösen versucht durch die weitere Theorie von den
Ur trieben. Als solche unterscheidet Freud die Lebens* und die
Todestriebe. Diese Theorie wird nicht auf Grund neuen psychologi*
sehen Materials oder überhaupt psychologischer Fragestellungen gebildet,
sondern erfolgt im Zusammenhang mit theoretischen Problemen, die durch
die bisherigen Aufstellungen gefordert wurden und deren Lösung sie an*
strebt. Insofern stellt sie einen theoretischen Über*, bezw. Unterbau dar und
ist im Verhältnis zu der auf Grund klinisch*psychologischer Tatsachen und
Probleme bisher aufgebauten Triebtheorie eine Theorie zweiten Grades. Da
sie fast völlig auf biologischen Erwägungen ruht, ist die Urtriebtheorie eine
4) Vgl. die Arbeit von E. Weiss: „Todestrieb und Masochismus", Imago XXI, 1935,
S. 393 ff.
Zur Entwicklung un d Problematik der Triebtheorie 163
biologische Triebtheorie: Die Lebens* und Todestriebe sind als solche psy*
chologisch nicht faßbar, sondern rein von der Hypothese geforderte bilolo*
logische Triebe. Aus dieser Auffassung ergibt sich unmittelbar, daß man
streng genommen die Urtriebtheorie nur im Zusammenhange theoretischer
Erörterungen, niemals aber solcher klinisch*empirischer Natur heranzuziehen
hätte; zur Klärung dieser Tatbestände reichen die Begriffe der Aggressions*.
bezw. Destruktionstriebe aus.
Eine solche scharfe Trennung der Begriffe ist meines Erachtens geeignet,
gewisse Irrtümer zu vermeiden und die Klarheit der klinischen Beschreibung
zu sichern.
Die Art, wie Freud die Todestrieblehre einführte, hat einigermaßen
Verwirrung gestiftet, vor allem in der Frage der Beziehung zwischen Wieder*
holungszwang und Todestrieb. Daher sei gleich hier hervorgehoben, daß
der Wiederholungszwang von Freud zur Ableitung des Todestriebes ver*
wendet wird, daß aber dessen Ableitung mit Hilfe des Wiederholung^
zwanges keine notwendige ist. Aus den Arbeiten Freuds lassen sich im
Grunde zwei Arten der Ableitung der Todestrieblehre feststellen. Ich möchte
sie als die spekulative und die theoretische einander gegenüber*
stellen. Die spekulative ist in „Jenseits des Lustprinzips" gegeben und die
eigentlich durchgeführte. Die theoretische ist in verschiedenen zerstreuten
Andeutungen niedergelegt, die sich zu einem Ganzen ordnen lassen. Zu*
nächst sei die spekulative besprochen.
Die spekulative Begründung der Todestrieblehre. Es geht über den Rah*
men dieses Aufsatzes hinaus, die Gründe, die zur Aufstellung des Wieder*
holungszwanges führten, und die Problematik, die mit seiner Aufstellung
verbunden ist, näher zu erörtern. Als Resultat ergab sich die Notwendigkeit,
einen vom Lustprinzip unabhängig wirkenden Regulationsmechanismus an*
zunehmen, der viel ursprünglicher, d. h. historisch früher und elementarer
schien als das Lustprinzip und schließlich als ein Urprinzip, eine Ureigen*
schaft des Lebens aufgefaßt wurde. Als solche ist er auch das Charakterü*
stikum aller Triebe, also nicht etwa nur des Todestriebes.
Der Begriff des Wiederholungszwanges ist kein eindeutiger; er enthält
mehrere Bestandteile. 1. Der Wiederholungszwang ist Ausdruck der „Trag*
heit" der lebendigen Substanz, der „Abneigung, eine alte Position einer neuen
zuliebe zu verlassen", also einer konservativen Tendenz, die das Gegebene
immer wieder festzuhalten trachtet. 2. Daraus ergibt sich das Festhalten von
Anpassungen, von Umwegleistungen als Reaktionen auf Störungen des bis*
herigen Ablaufs: „Prägsamkeit des Lebens". Die erworbenen Anpassungen
werden festgehalten und reproduziert. Hierher gehört das biogenetische
Grundgesetz und überhaupt der Reproduktionsbegriff der Biologie. 3. Die
n*
konservative Natur des Lebens äußert sich aber nicht allein im Festhalten
und Reproduzieren der einmal gegebenen Abläufe, sondern auch in einer
rückwärts gewendeten Tendenz, die aufgezwungenen Anpassungen zu über*
winden, gleichsam abzustoßen und die ursprünglichen, d. h. historisch
früheren Situationen wiederherzustellen. Hier wird die Trägheit, die kön*
servative Natur zur aktiven „Sehnsucht nach dem Alten", d. h. zur regressiv
ven Tendenz. Diese Formulierung wird für die Ableitung der Todestriebe
von Bedeutung. 4. In seiner energetischen Fassung erweist sich der Wieder*
holungszwang als ein Spezialfall der Abfuhrtendenz. Die durch traumatische
Reize ausgelösten großen Energiemengen werden durch Gegenbesetzung ge*
bunden und dann allmählich unter Wiederholung der traumatischen Situation
zur fraktionierten Entladung gebracht. Hierher gehören die Träume der Un*
fallsneurotiker, das Kinderspiel, die Erscheinungen der Übertragungssituation
in der Analyse usw.
Freud verwendet die historische Formulierung des Wiederholung^
zwanges, daß er das jeweils Frühere wieder herzustellen bestrebt ist, um
den Todestrieb abzuleiten. Das Früheste des organischen Lebens ist der
Augenblick seiner Entstehung aus der anorganischen toten Substanz. Das
Beharrungsgesetz der physikalischen Natur, das nur der Veränderung wider*
strebt, wird — gleichsam — in der biologischen Welt zu einer aktiven Ten*
denz nach rückwärts im historischen, zur Entspannung, zur absoluten Ruhe
im energetischen Sinne. Damit werden aber auch die Schwierigkeiten dieser
spekulativen Ableitung deutlich. Von den hypothetischen Belastungen, die
ihr zahlreich anhaften, können wir ohne weiteres absehen; ebenso vom be*
rechtigten Einwand der Extrapolation, den Federn und nach ihm E. W e i s s
erhoben haben. Die Ableitung hat den weiteren Nachteil, daß der Todestrieb
der ursprüngliche Trieb ist, die Lebenstriebe aber später im Anschluß an
Zufälle der Entwicklung entstanden sind. Dies führt zu einer Unterordnung
der Lebens* unter die Todestriebe, etwa wenn F r e u d in „Jenseits des Lust*
Prinzips" meint, daß die ersteren im Grunde genommen im Dienste der
letzteren wirken. Nach dieser Auffassung hätten die Lebenstriebe alle Mög*
lichkeiten von Spannungen zu realisieren, um sie dann der entspannenden
Ablaufstendenz des Todestriebes zu überantworten. Der spekulative Ansatz
Freuds ist tatsächlich so pessimistisch: Das eigentliche Wesen des
Lebens ist der Tod. .
Eine solche Unterordnung der Lebenstriebe unter die Todestriebe scheint
aber theoretisch nicht ganz gerechtfertigt; zumindest ist sie im umgekehrten
Sinne ebenso möglich und berechtigt. Freud korrigiert diese Auffassung
in der „Neuen Folge der Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse",
indem Lebens* und Todestriebe als gleichzeitig und nebengeordnet wirkende
Zur Entwicklung und Problematik der Triebtheorie 165
Triebe aufgefaßt werden. Das Leben ist Todes* und Lebenstrieb zugleich.
Die theoretische Ableitung der Todestrieblehre. Der erste, pessimistisch'
scheinende Ansatz ist darauf zurückzuführen, daß die Annahme -von Lei*
benstrieben theoretisch nicht in gleichem Maße dringlich nahegelegt wurde
wie jene der Todestriebe. Wenn ihre Annahme in einem gewissen Sinne
theoretisch trotzdem gefordert wird, so geschieht dies weniger aus psycho*
logisch*theoretischen Gründen als auf Grund biologischer Erwägungen. Die
Sexualität als Beziehung verschiedengeschlechtlicher Keimzellen, bezw. ihrer
Träger, tritt erst im Laufe der phylogenetischen Entwicklung in Erscheinung.
Sie müßte also eine Neuerwerbung oder — wahrscheinlicher — eine unter
gewissen Bedingungen, vielleicht im Dienste der Anpassung, notwendig ge#
wordene Modifikation eines älteren Triebes sein, der etwa die allgemeinsten
Charaktere der Sexualtriebe aufwies: die Tendenz, Bindungen herzustellen
oder, energetisch, Spannungen zu erzeugen. ^O
Die Konzeption der neuen Trieblehre ging aber offenbar vor allem von der
theoretischen Notwendigkeit aus, das Problem der primären Destruktion zu
lösen. Ich habe oben gezeigt, welche Erwägungen zu diesem Problem führten,
und kann es mir daher ersparen, sie hier zu wiederholen. Die Frage erfährt
aber noch eine gewisse Erweiterung.
Es entspricht ganz der biologischen Orientierung der Psychoanalyse und
der bisher verfolgten biologischen Fundierung der Triebtheorie, für die
im eigenen Innern wirkende Destruktion ein vorgegebenes bio*
logisches Modell zu suchen. Das Problem ist also, das bio*
logische Modell für eine im Psychischen wirkende primäre Zerstörungsten*
denz, deren Annahme theoretisch nahegelegt wurde, zu formulieren. Wie
früher die Aggression in ihren Zielen der Libido widersprach, so widerspricht
die Wendung gegen das Ich dem Prinzip des Lebens, sich selbst zu erhalten,
T— wenn nicht im Leben selbst etwas enthalten ist, das eine solche Rückwen*
düng ermöglicht. Die Fragen, die wir hier zu erörtern haben, sind: 1. Wie
ist die primäre Destruktion zu formulieren? 2. Wie ist das angenommene
„biologische Entgegenkommen" aufzufassen?
Die Frage nach dem ursprünglichen Modell für die (primäre und sekun*
däre) Selbstvernichtungstendenz muß zur Frage nach dem Tode führen.
Die Frage nach dem Wesen des Todes und seiner Stellung innerhalb des
Lebens ist in gewissem Sinne mit jener identisch und müßte zur Lösung
des Problems beitragen können. Die Beziehung zwischen Leben und Tod
wäre sonach, wenn es ein biologisches Modell für die Selbstzerstörung gibt,
notwendig als eine innigere zu denken, als man anzunehmen ge*
neigt ist, oder, mit anderen Worten, die Beziehung zum Tode muß
eine Wesenseigenschaft des Lebens sein. Diese Fragestellung führt direkt
.
166 Edward Bibring
zur Biologie und reduziert sich auf die Alternative: Ist der Tod nur die
Folge einer Schädigung von außen oder gibt es ein natürliches Ende des
Lebens? In der ersten Auffassung ist das Leben theoretisch ein ewiger
Prozeß, der nur durch die Zerstörung von außen her sein Ende findet. In
der zweiten ist der Tod ein notwendiger Bestandteil des Lebens. Die ver>
schiedene Auffassung vom Wesen des Todes korrespondiert mit einer be*
stimmten Auffassung vom Wesen des Lebens.
Es würde zu weit führen, die hierher gehörenden biologischen Tatsachen
und Überlegungen anzuführen. Dies sei einer anderen Darstellung vorbei
halten. Hier genüge die Beschränkung auf zwei Fragen und ihre Beant*
wortung. Die eine Frage ist die eben gestellte und ihre Beantwortung lautet
in der vorsichtigen Formulierung Freuds aus „Jenseits des Lustprinzips":
Es gibt eine Reihe von Tatsachen, die für einen natürlichen Tod sprechen,
zumindest aber keine, die eine solche Annahme unbedingt ausschließen.
Die zweite Frage lautet: Ist der natürliche Tod, der ja nicht das Keim*
plasma, sondern nur das Soma erfaßt, ein phylogenetischer Erwerb (ermög*
licht durch die Entstehung des vielzelligen Organismus), der mit dem eigene
liehen Wesen des Lebens nichts gemein hat? Es scheint, daß auch hier die
Antwort möglich ist, daß sich in der phylogenetischen Entwicklung nur etwas
differenziert, was integriert schon beim Einzeller vorhanden ist, d. h.
der natürliche Tod ist eine ursprüngliche „Eigenschaft" des Lebens. Ange*
sichts der allgemeinen Triebhaftigkeit des Lebens ist also auch das Sterben
etwas triebhaft Angestrebtes. Was bedeutet das im dynamischen Sinne?
Für die Auffassung des Lebens als eines individuellen Systems, das sich
„kreislaufartig" um eine bestimmte Gleichgewichtslage reguliert, ist der Tod
etwas Systemfremdes, reine Zerstörung von außen. Für die „lineare" Ab*
laufskonzeption des Lebens ist der Tod etwas Lebenswesentliches, das Ziel,,
auf das hin das ablaufende Leben getrieben wird. Leben ist demnach Sterben,
ist ein Ablauf zum Tode, zum Potential Null. Der Freud sehen Auffas*
sung des Lebens entspricht m. E. weder die eine noch die andere, sondern ein
Drittes: die Vereinigung beider. Das lebendige System wird von zwei
Tendenzen beherrscht, das Leben läuft zum Potential Null, erzeugt aber gleich*
zeitig neue Spannungen. Es ist, mit einem Bilde A s t e r s zu reden, eine Uhr,
die sich immer wieder selbst aufzieht. Beim Individuum führt das Leben
scheinbar unvermeidlich zum Tode. Begreifen wir aber alles Leben nach Ver*
gangenheit und Zukunft hin und über die individuelle Erscheinung hinaus
als einen einheitlichen Prozeß, dann wird die Richtigkeit dieses Bildes offen*
bar: Der Kampf der Giganten erzeugt immer wieder neue Formen des Lebens
und immer wieder neues Sterben in einem unaufhörlichen, scheinbar unend*
liehen Prozeß.
Zur Entwicklung und Problematik der Triebtheorie 167
Die Bedeutung der Todestriebtheorie. Was leistet nun diese Konzeption
zur Klärung der theoretischen Probleme und für die Vereinheitlichung der
verschiedenen theoretischen Ansätze? Nicht alles, aber viel.
Das biologische Modell der primären Destruktion ist also der Todestrieb,
der als Ablaufstendenz zur absoluten Ruhe, zum Potential Null hin formu*
liert werden kann. Primäre Destruktion, Aggression und alle Formen ihrer
Rückwendung nach innen lassen sich theoretisch einheitlich aus dem Todes»,
trieb begreifen, allerdings nur mit Hilfe gewisser Konstruktionen, denen zwar
manche Schwächen anhaften mögen, die sich aber auf gewisse Beobachtungen
stützen.
Behandeln wir zuerst das Thema der Aggression. Die Tatsache einer Wen*
düng der Aggression gegen die eigene Person, aber ebenso die beobachtbare
neue Wendung dieser rückgewendeten Destruktion als Aggression gegen die
Außenwelt legen es nahe, ähnliche Vorgänge und Zusammenhänge zwischen
primärer Destruktion und Aggression nach außen anzfmehmen, nämlich, daß
die primäre Destruktion unter gewissen Bedingungen sich „nach außen
kehre". Das gleiche wird durch die Feststellungen der Massenpsycho*
logie nahegebracht. Die Bindung der aggressionsbereiten Einzelnen zu
einer organisierten Masse und die damit einhergehende Ablenkung
der Aggressionen auf ein außerhalb der Masse liegendes Stück
Außenwelt, den sogenannten „Widersacher", sei es eine Gegenidee
oder eine „Gegenmasse", gibt zusammen mit der erwähnten klini*
sehen Beobachtung das ontogenetische Modell (E. Kris) ab, auf
Grund dessen dann das phylogenetische Modell konstruiert werden kann.Nach
diesem wurde vermutlich mit der Entstehung des vielzelligen Organismus
aus dem Einzeller die Selbstdestruktion der nun aneinander gebundenen
Zellen, vielleicht mit Hilfe libidinöser Triebe, unschädlich gemacht und teil*
weise als Aggressionstrieb in irgendeiner Form nach außen gewendet.
Versuchen wir jetzt eine Gesamtaufstellung der erreichten Triebeinteilung
in Analogie mit den parallelen Begriffsbildungen der Libidotheorie. Wir
haben demnach folgende Gegenüberstellung:
Lebenstriebe (Eros) Todestriebe (Ursadismus, Urmasochismus).
Die Sexualtriebe: Die destruktiven Triebe:
Primärer Narzißmus Primäre Destruktion
Objektlibido Objektgerichtete Aggression
Sekundärer Narzißmus Rückgewendete Aggression (sek. Destr.)
Diese konsequente Gegenüberstellung entspringt keineswegs einem Be*
dürfnis nach systematischer Reihenbildung, sondern soll bei der Diskussion
der Frage nach den manifesten Erscheinungen der Todestriebe eine Rolle
spielen. /
168 Edward Bibring
Die Bezeichnungen Lebenstriebe und Sexualtriebe sowie Todestriebe und
Destruktionstriebe werden von Freud synonym und ohne jede Abgrenzung
verwendet. Eine scharfe Trennung, insbesondere der letzteren, scheint tat*
sächlich nicht möglich; dennoch wollen wir hier aus heuristischen Gründen
eine gewisse Abgrenzung versuchen.
Die Lebens* und die Todestriebe sind rein biologische, im Organischen
wirksame Triebe, die sich in irgendeiner Form auch im Psychischen wider*
spiegeln. Die Sexualtriebe sind nur eine spezialisierte Form der Lebenstriebe.
Ähnliches gilt vom Begriff der destruktiven Triebe. Beide Termini sind
eigentlich nur begriffliche Zusammenfassungen aller libidinösen Er*
scheinungen auf der einen, aller destruktiven, bezw. aggressiven auf der
anderen Seite. Eine Frage nach den Manifestationen dieser Triebe ist also
durch den Hinweis auf alle zu diesem Gebiet gehörigen direkten oder abge*
wandelten Tatsachen zu beantworten. Die Erscheinungen der Sexualtriebe
sind hinlänglich bekannt; ebenso die der „nach außen gerichteten" und rück*
gewendeten Aggression. Bleibt also die Frage nach der psychischen Repräsen*
tation der primären Destruktion analog jener des primären Narzißmus.
Gibt es nun seelische Tatsachen, welche als Ausdruck dieser primären
Destruktionstendenz zu werten wären? Der Umstand, daß diese Frage über*
haupt gestellt wird, sowie der andere, daß diese primäre Destruktionstendenz
erst theoretisch erschlossen werden mußte, ist gleichbedeutend mit der An*
nähme, daß es sich um „stille Triebe" handeln muß. Die primäre Destruktion
muß also definiert werden etwa als die destruktive Energie, vermöge welcher
wir auch psychisch altern und sterben (vgl. E. W e i s s). Der richtige Satz, man
komme ohne den Begriff der medialen Destrudo nicht aus, beinhaltet nur die
Notwendigkeit der Annahme der Existenz einer solchen Triebkraft, defi*
niert sie aber nicht. Um diese Definition zu gewinnen, war der Um*
weg über die Biologie notwendig. Dieses Faktum wird in den Diskussionen
über den Todestrieb meist übersehen.
Anders als definitorisch ist die primäre Destruktion also nicht zu be*
stimmen. Dann bleibt aber noch die Frage, ob es, wenn nicht unmittelbare,
so doch mittelbare Auswirkungen dieser primären Destruktion gibt. Zwei
Tatsachen können zur Beantwortung dieser Frage herangezogen werden: das
Ruhebedürfnis und das Leidbedürfnis. Es fällt m. E. nicht schwer, ein trieb*
haftes Verlangen nach Ruhe plausibel zu machen. Das Ruhebedürfnis tritt
nicht nur als Folge der Ermüdung auf, sondern in natürlicher Abwechslung
mit Phasen der Tätigkeit oder inmitten derselben als ein gleichsam vernach*
lässigtes primäres Bedürfnis, das nun seine Befriedigung verlangt. Das Be*
dürfnis nach Ruhe scheint den psychischen Apparat ebenso zu be*
herrschen wie das Bedürfnis nach Lust; und gerade das vereinigte
Zur Entwicklung und Problematik der Triebtheorie 169
Auftreten beider Tendenzen an den Sexualtrieben hat zur Ursprung«
liehen Gleichsetzung beider geführt. Auch das triebhafte Bedürfnis
nach Schlaf, bezw. das. triebhafte Einschlafen, scheinen der Ausdruck dieses
triebhaften Ruhestrebens zu sein.
Viel schwieriger ist die Beziehung zwischen primärer Destruktion
und dem Leidbedürfnis nachzuweisen. Freud führt in diesem Zu*
sammenhang den Begriff des erogenen Masochismus ein, der in
einem gewissen Maße zu den normalen Erscheinungen gerechnet werden
kann und durch das Ziel der Schmerzlust, allgemeiner durch ein Leidbe*
dürfnis, ausgezeichnet ist. Die Annahme, daß nicht alle primäre Destruktion
nach außen gewendet wird, sondern daß ein gewisser Teil im Inneren wirk*
sam bleibt, der, libidinös gebunden oder gemildert, als sogenannter erogener
Masochismus erst in Erscheinung tritt, stellt den Versuch dar, eine direkte
Verbindung zwischen dem angenommenen primären Destruktionstrieb und
den Erscheinungen des Masochismus herzustellen.
Federn will den erlebnismäßigen Niederschlag der primären Destruktion
in extremen Fällen melancholischer Verstimmung gefunden haben. Er sieht
ihn im lusdosen Leid der Melancholischen und stellt dem Lust*Unlustprinzip,
das dem Eros entspricht, konsequent ein dem Todestrieb korrespondierendes
Pein*Unpeinprinzip gegenüber. Daß es ein Bedürfnis nach Leid gibt, und
daß dieses genetisch auf die Destruktionstriebe zurückzuführen ist, ist ein
Hauptgedanke der Freudschen Todestriebtheorie. Wir haben gerade ge*
sehen, mit Hilfe welcher Annahmen dieser Gedanke gestützt werden soll.
Ob das lustlose Leid der Melancholiker auf ein „Bedürfnis" zurückgeht,
das seinerseits eine unmittelbare Äußerung der im Psychischen wirkenden
primären Destruktion ist, muß dahingestellt bleiben. Wie die Angst Aus*
druck der Gefahr für das Leben ist, scheint die Verstimmung und vielleicht
gerade diese absolut lustlose Verstimmung Ausdruck einer schweren Hern*
mung von Lebensprozessen zu sein. Es will uns scheinen, daß Federn diese
Erklärungsmöglichkeit nicht auszuschließen vermochte. Jedenfalls kommt in
seiner Aufstellung die allgemeine Schwierigkeit zu Tage, daß die psychische
Repräsentanz des im Biologischen auf Spannungsausgleich wirkenden To*
destriebes nicht allein im Ruhe*, sondern auch im Leidbedürfnis gegeben
sein soll.
Die spezielle Schwierigkeit der Konstruktion Fe dem s liegt aber gerade
darin, daß er erstens eine viel unmittelbarere Beziehung von Leidbe*
dürfnis und Todestrieb annimmt als Freud, der es als kompliziertes Mi*
schungsverhältnis ansieht. Zweitens, daß er an Stelle des Leidbedürfnisses
gleich ein Regulationsprinzip supponiert, das das seelische Geschehen auf
Leid hin reguliert, d. h. die Entstehung von Leidlosigkeit („Unpein") zu
170 Edward Bibring
verhindern hat. Ich muß gestehen, daß mir im Gegensatz zu E. W e i s s eine
solche Annahme Schwierigkeiten bereitet.
Als relativ unmittelbare seelische Spiegelung des Todestriebes, der primären
Destruktion, wäre das Ruhebedürfnis anzusehen. Das Leidbedürfnis
ist erst mittelbar unter Zuhilfenahme der Legierungstheorie vom primären
Destruktionstrieb abzuleiten. Auch die Lust, den anderen Leid zuzufügen,
ist nach Freud nicht unmittelbar Ausdruck der nach außen gewendeten
Primärdestruktior, . sondern Folge eines Mischungsverhältnisses.
Fassen wir zusammen: Mit Hilfe der biologischen Todestriebtheorie ist
eine Formulierung der theoretisch geforderten primären Destruktion möglich
geworden und weiterhin, allerdings unter Heranziehung verschiedener Hilfs*
hypothesen, eine vereinheitlichte Auffassung der destruktiven und aggres*
siven Erscheinungen erzielt worden. Der heuristische Wert dieser Annahmen
scheint mir unverkennbar zu sein.
Damit ist aber die vereinheitlichende Funktion dieser Theorie noch nicht
erschöpft.
Die Prinzipien und die Triebe Ich habe bei der Besprechung
des Triebbegriffs der Sexualtheorie darauf hingewiesen, daß die Triebe
und der funktionierende seelische Apparat einander gegenübergestellt
wurden. Wurden auf der einen Seite die Eigenschaften der Triebe
studiert, so war es auf der anderen Seite notwendig, über die Ar*
beitsweisen dieses Apparates gewisse Annahmen zu machen: Er regulierte
sich nach gewissen Tendenzen oder Prinzipien. Welche ist nun die Beziehung
zwischen den Trieben und diesen Prinzipien? Die Triebe, als aus dem Or«
ganischen aufsteigende Energiespannungen, werden analog den Außenreizen
als „störende" Einwirkungen auf den seelischen Apparat aufgefaßt, die den
seelischen Regulationen unterliegen. Dies ist der eigentliche Sinn der De*
finition der Triebe als Arbeitsanforderungen an den seelischen Apparat. Wie
man diese störenden Reize einteilt, scheint tatsächlich zunächst eine unter«
geordnete Frage im Vergleich zu der Auffassung einer grundsätzlichen Ar«
beitsweise des seelischen Apparates gegenüber allen von außen oder innen
kommenden Reizen.
An dieser Gesamtauffassung ist nochmals zu unterstreichen, daß die Triebe
nicht etwa das Ganze des seelischen Geschehens lenken, sondern nur Energie*
quellen und Reizursachen sind, die die regulierenden Tendenzen des seeli*
sehen Apparates in Bewegung setzen.
Die Grundannahme Freuds ist, daß der Apparat von einer Tendenz
beherrscht wird, die auf völlige Entspannung oder auf ein möglichst«niedrig«
Halten der anlangenden Reizgrößen gerichtet ist. Diese Tendenz wurde an«
fangs gleichgesetzt mit dem Lustprinzip, da Spannungen Unlustgefühle her*
Zur Entwicklung und Problematik der Triebtheorie 171
vorzurufen schienen, die Entspannungen Lustgefühle. Allerdings ließen sich
verschiedene Erscheinungen dieser Annahme nicht einordnen. Eine Modi*
fikation dieses Lustprinzips war das Realitätsprinzip, das besagte, daß die
Lust nicht mehr unmittelbar und direkt, sondern auf realitätsangepaßtien
Umwegen und in zeitlicher Erstreckung gesucht wurde.
Es erwies sich aber aus den bekannten Gründen als notwendig, das Lust*
prinzip von der Grundtendenz nach Entspannung oder möglichst niedrigem
Spannungsniveau abzutrennen. Über diese Grundtendenz wurden verschieb
dene Auffassungen erwogen. Es schien als Konstanzprinzip auf die Erhalt
fcung einer bestimmten Spannungshöhe abgestellt zu sein, d. h. das individuelle
psychische System regulierte sich auf eine bestimmte Gleichgewichtslage hin.
Alles, was dieses Gleichgewicht in Abweichung nach oben oder unten zu
stören schien, wurde der Regulation auf die Normalspannung hin unten*
worfen. Es ist die Auffassung des Lebens als eines kreislaufförmigen Ge*
schehens um eine bestimmte Gleichgewichtslage, die sich in der Annahme
des Konstanz* oder Stabilitätsprinzips ausdrückt. Das Lustprinzip, das das
seelische Geschehen in die Richtung auf den Endzustand Lust determiniert,
konnte dann als eine Modifikation des Konstanzprinzips definiert werden.
Alles, was sich der konstanten Spannungsgröße oiför dem Stabilitätszustand
näherte, wurde lustvoll, was sich davon entfernte, unlustvoll empfunden.
In dem Momente aber, als die entscheidende Auffassung des Lebens ge*
ändert und dieses nicht als kreislaufförmiges, sondern als ablaufartiges,
lineares Geschehen definiert wurde, mußte auch die Grundtendenz eine An*
derung erfahren. Das Konstanzprinzip wurde daher folgerichtig durch das
Nirwanaprinzip ersetzt, das die Tendenz auf völligen Ausgleich der Poten*
tialdifferenz, auf Ablauf bis zum Nullpotential zum Inhalt hatte.
Somit bleiben, wenn wir vom Wiederholungszwang 5 absehen, die Regula*
tionen auf absolute Entspannung, auf Lust und auf Realitätsanpassung (Nir*
wana*. Lust*, Realitätsprinzip). Das Realitätsprinzip bleibt der Auffassung
nach eine Modifikation des Lustprinzips. Die Beziehung zwischen Nirwana*
prinzip und Lustprinzip ist im Verhältnis zur vorhergehenden Auffassung,
daß das Lustprinzip als eine Spezialform des Konstanzprinzips anzusehen
5) Zu den Regulationen wäre noch der Wiederholungszwang zu zählen. Er ist ein
allgemeines Regulationsprinzip, das zunächst Energien bindet, d. h. sie aus dem „strömen*
den" in den „Ruhestand" überführt. Es scheint kein Zweifel, daß es eine solche Regula*
tionstendenz gibt. Auch die Arbeitsweise des Ichs hat diese Möglichkeit einer Bindung,
eines Aufhaltens, Statischmachens von Spannungen zur Vorausetzung. Ebenso scheint
der Wiederholungszwang die Voraussetzung aller anderen Regulationen zu sein. Ein*
dringende Reizgrößen müssen, soweit sie nicht im Laufe der phylogenetischen Anpassungs*
Prozesse „Bahnungen" erfahren haben, oder wenn sie die Kapazität dieser Bahnung über*
schreiten, zunächst aufgehalten, gebunden werden, ehe die anderen Regulationen einsetzen.
172 Edward Bibring
sei, geändert. Beide entsprechen verschiedenen Tendenzen. Das Streben
nach Lust auf der einen, das nach Ruhe auf der anderen Seite sind die Haupt*
regulationen des seelischen Geschehens.
Es ist klar, daß eine bloße Gegenüberstellung der Regulationsprinzipien
des seelischen Apparates und der von außen als Arbeitsanforderungen sich
bemerkbar machenden Triebe nur eine vorläufige sein konnte. Das heuri*
stische Prinzip, zu verfolgen, wie weit sich die gesamte seelische Organa
sation und ihre Arbeitsweisen auf den Trieben aufbauen, mußte zur Frage
führen, ob die Triebe die Ablaufstendenzen des seelischen Geschehens be*
einflussen, das ist aber die Frage nach der Beziehung zwischen den Prin*
zipien und den Trieben.
Eine solche Fragestellung konnte umso leichter Zustandekommen, als der
Triebbegriff im Laufe der Entwicklung der Triebtheorie eine Veränderung
erfahren hatte. Ursprünglich galt der Trieb als eine aus organischen Quellen
stammende Energiespannung, die automatisch auf ein immanent gegebenes
Ziel gerichtet war, das auf dem Umweg über ein Objekt erreicht wurde und
letzten Endes in einer Veränderung des Ursprungsorgans, in einer Restitution
auf seinen Zustand vor der Erregung bestand. Dieser Auffassung entsprach
die Wahl des Begriffs der Quelle als geeignetes Kriterium für eine Einteilung
der Triebe.
Die Unmöglichkeit, solche Quellen für alle Triebe zu finden, und die
Schwierigkeit ihrer hypothetischen Konstruktion stellten, besonders für die
Ichtriebe, das Kriterium des Zieles in den Vordergrund, ohne daß die Grund*
auffassung des Triebes wesentlich abgeändert zu werden brauchte. Das Ziel
bestand äußerlich in der Durchführung der Zielhandlung am Objekt, inner*
lieh in der erreichten Entspannung, z. B. bei den Aggressionstrieben.
Der Theorie von den Urtrieben (Lebens* und Todestriebe) liegt aber ein
wesentlich veränderter Triebbegriff zugrunde. Hier ist der Trieb nicht eine
an das Seelische herantretende Energiespannung, die aus einer organischen
Quelle stammt und auf die Aufhebung des Reizzustandes im Ursprungs*
organ abzielt, sondern ein richtunggebendes oder *nehmendes „Etwas", das die
Lebensprozesse in eine bestimmte Richtung lenkt. Der Akzent liegt nicht
mehr auf der Energielieferung, sondern nur auf der Funktion der Richtungs*
hestimmung.
Die Prinzipien sind aber auch nichts anderes als ein den Ablauf der seeli*
sehen Prozesse in eine bestimmte Richtung hin „determinierendes Etwas".
Die Begriffe Trieb, Prinzip, Regulation erscheinen demnach einander sehr
angenähert. Wie die Triebe die Abläufe der biologischen Vorgänge re*
gulieren, so natürlich auch die seelischen. Die strenge Gegenüberstellung
eines von Prinzipien regulierten seelischen Apparats und von außen ein*
Zur Entwicklung und Problematik der Triebtheorie 173
dringender Triebe war nicht mehr haltbar, da die Triebe als Grundprin»*
zipien des Lebens aufgedeckt worden waren. Daraus ergab sich die Mög*
lichkeit der Zuordnung der Prinzipien zu den Trieben.
Es würde zu weit führen, diese Fragen hier genauer zu erörtern. Es ist be*
kannt, wie Freud eine solche Zuordnung vornahm. „Das Nirwanaprinzip
drückt die Tendenz des Todestriebes aus, das Lustprinzip vertritt den An*
spruch der Libido, entspricht also den Lebenstrieben. Das dritte Prinzip, das
Realitätsprinzip, eine Modifikation des Lustprinzips, drückt den Einfluß der
Außenwelt aus." Die Verbindung der beiden Hauptprinzipien wird in der
Weise gedacht, daß die Lebenstriebe eine Modifikation in der Ablaufsform
der Entspannungsprozesse bewirken, die mit dem Auftreten von Lust ver*
bunden ist.
Fenichel stellt in seinen Bemerkungen „Zur Kritik des Todestriebes"
die beiden hier im Umriß gegebenen Triebbegriffe einander gegenüber, aber
nur, um den Triebbegriff der Urtriebtheorie an jenem der Sexualtheorie zu
messen und ihn schließlich zugunsten des letzteren zu verwerfen. Ein solches
Verfahren setzt die Begründung der Bevorzugung des einen Triebbegriffs vor
dem anderen voraus. J)
Es ist Fenichel durchaus zuzustimmen, daß die „Richtigkeit" jeder
Triebeinteilung sich aus ihrer heuristischen Brauchbarkeit ergibt. Eine solche
Auffassung ist dem gegenwärtigen Stand und den gegenwärtigen Möglich*
keiten einer Triebtheorie durchaus adäquat. Dann ist aber auch der heuri*
stische Zweck, der der Aufstellung der verschiedenen Teile der Triebtheorie
zugrundeliegt, notwendigerweise heranzuziehen. Dann wird sich für eine aus
theoretischen Gründen gegebene Triebtheorie, wie z. B. die Urtriebtheorie,
eine andere Überprüfung auf die „heuristische" Wertigkeit ergeben als etwa
für eine auf Grund klinischen Materials gewonnene. Daß beiden kein ein*
heitlicher Gesichtspunkt zugrundegelegt werden kann, ist vielleicht bedau*
erns*, aber nicht tadelnswert, wenn gegenwärtig keine anderen Möglichkeiten
gegeben sind.
Die Frage der Kriterien hat Bernfeld in seinem Aufsatz „Über die
Einteilung der Triebe" in den Mittelpunkt der Erwägung gezogen. Er
stellt ein psychoanalytisches Kriterium einem physiognomischen gegenüber:
Beide Kriterien werden mit der Triebtheorie insofern in einen Zusammenhang
gebracht, als behauptet wird, daß bei der früheren Triebtheorie das psycho*
analytische Kriterium hauptsächlich maßgebend war, jetzt aber mehr das
physiognomische. Offenbar werden hier zwei verschiedene Begriffe nicht
auseinandergehalten, und zwar der Begriff der E i n te i 1 u n g der Triebe und
jener der Zuordnung der jeweils vorliegenden, individuellen seelischen
Triebäußerung zu den als klassifiziert bereits vorausgesetzten Triebgruppen.
Daß das Problem der Triebklassifikation „auf Grund der Bearbeitung des
psychologischen Materials" nicht zu lösen ist, haben wir unter Zitierung
Freuds schon eingangs betont. Die Klassifikation muß, anderweitig be*
gründet, an das psychologische Material herangebracht werden, da dieses
die Annahme beliebig vieler Triebe erlaubt. Mit der Gewinnung einer Trieb*
einteilung beginnt erst das andere Problem der Zuordnung. Die Ausfuhr
rungen Bernfelds sind offenbar diesem Problem gewidmet.
Eine solche Zuordnung kann nun auf zweierlei Weise erfolgen: Durch
Aufdeckung des genetischen Zusammenhanges mit einem primären Trieb*
geschehen, etwa — am besten — auf dem Wege der psychoanalytischen Me*
thode (psychoanalytisches Kriterium), oder auf Grund der phänomenolo*
gisch gegebenen Eigentümlichkeiten einer seelischen Äußerung, die die Zu*
gehörigkeit zu einem bestimmten Trieb nahelegen (physiognomisches Kri*
terium Bernfelds). Es ist zweifellos richtig, daß beide Wege gangbar
sind, wenn auch der erstere den Vorzug der größeren Sicherheit besitzt. Es
ist ebenso richtig, daß seit der Aufstellung der neuen Trieblehre das phäno*
menologische Kriterium in reicherem Maße in Zuordnungsfragen verwendet
wird, als das psychoanalytisch*genetische; aber man möchte zweifeln, ob
diese Praxis auch eine notwendige Folge der neuen Trieblehre darstellt.
Noch einige Worte über das Problem der Quantität. Die Verwendung
des Zielbegriffs als eines bloß ordnenden Kriteriums widerspricht in keiner
Weise der quantitativen Auffassung der Triebe. Anders, wenn die Ziel*
qualität als primäres Merkmal der Triebe angesehen wird. Damit werden
die Triebe zu seelischen Qualitäten, und die quantitative Betrachtung bleibt!
nur innerhalb der gleichen Triebgruppe (Sexual*, bezw. Aggressionstriebe)
möglich. Es gibt zwei durch ihre Richtungsqualität unterscheidbare Energien
(Libido und Aggressionstriebenergie oder, mit E. Weiss, Destrudo), zwi*
sehen denen ein Energieaustausch nicht stattfinden kann. (Das Problem der
Zielverschränkung liegt auf einer ganz anderen Ebene.) So konsequent diese
Auffassung ist, bereitet sie dennoch Schwierigkeiten, im Zusammenhang teils
mit bestimmten klinischen Tatsachen, teils mit dem Begriff des narzißtischen
Libidoreservoirs. Entsprechend der Annahme kann diese an sich indifferente,
verschiebbare Energie „zu einer qualitativ differenzierten erotischen oder
destruktiven Regung hinzutreten und deren Gesamtbesetzung erhöhen"
(Freu d : Das Ich und das Es). Freud findet den Ausweg in der Annahme,
daß bei den gegenüber den Destruktionstrieben plastischeren, ablenkbareren
und verschiebbareren libidinösen Trieben eine Reduktion des Zieles bis auf
das Ziel der bloßen „Abfuhr", der bloßen Entspannung erfolgen kann, wobei
die Objekte und Wege der Abfuhraktion „erst in zweiter Linie in Betracht
kommen". Das neutrale Energiereservoir stellt eine derart reduzierte Libido
Zur Entwicklung u nd Problematik der Triebtheorie 175
dar, die dann Zuschüsse zu libidinösen und aggressiven Regungen liefern
kann. Ein reiner Energiezuschuß, d. h. ohne Wirksamkeit der Zielqualitäten,
wäre also nur von den libidinösen zu den aggressiven Trieben hin möglich'
und nur auf dem Wege über das indifferente Libidoreservoir.
Fassen wir zusammen; haben wir uns früher im Interesse der Verständig
gung einer größeren Schärfe der Begriffstrennung befleißigt, so wollen wir
dies hier wieder einschränken und uns der tatsächlichen Struktur der Be*
griffe wieder annähern:
Die spannungerzeugenden biologischen Lebenstriebe; die Sexualtriebe; die
auf die Erhaltung des Lebens zielenden Ichtriebe; das Lustprinzip, — das alles
ist irgendwie miteinander verwandt.
Die auf den Spannungsausgleich hintreibenden Todestriebe; die Destruk*
tionstriebe, die im Innern wirken; die nach außen gewendete Aggression;
die Tendenz zur Ruhe, das Nirwanaprinzip; die Tendenz zum Leiden, das
alles bildet ebenfalls eine verwandte Gruppe.
Die „mystischen" Triebkräfte, die hinter dem allen stehen, wirken jede
in ihrer Richtung oder einander entgegen oder miteinander. Dann legieren
sie sich: Als masochistische Lust am Leiden, als Sadismus, als Strafbedürfnis,
als Selbsthaß, als aggressiver Ichtrieb usw. Vj
Was wir Triebe nennen, wirkt richtunggebend auf ein biologisches Ge*
schehen, im Körperlichen wie im Psychischen. Unter irgendwelchen Ein*
Aussen differenziert es sich, konzentriert sich zu Spannungszentren, die sich
an irgendein Organgeschehen als Quelle gebunden erweisen, wendet sich
nach außen auf Objekte, strebt einem Ziele zu, das äußerlich in einer be*
stimmten Handlung am Objekt und am eigenen Körper, innerlich in der
Aufhebung eines Reizzustandes besteht. Unklar, wie es zunächst im eigenen
Innern wirkt. Klarer, wenn es sich auf Objekte wendet, an denen es die Ziel*
handlung vollführt. Teils ist hiezu ein Vorgang auch am Ursprungsorgan
notwendig, teils nur am Objekt. Bald erfolgt die Befriedigung in Form eines
bestimmten Ablaufes, bald diffus. Es kann aber auch in mannigfaltiger Form
die eigene Person zum Objekt nehmen, es kann sich in „Betriebskraft" um*
gestalten und so die Energien des Ichs vermehren. Es kann einen Reichtum an
Umwegleistungen vollbringen und in seiner Elastizität vielfache Verände*
rungen erfahren. Wir können es nicht einheitlich ordnen, sondern bald nach
dem einen, bald nach dem anderen Gesichtspunkt, nach' den Zielen, nach
den Objekten, nach der Quelle.
Alle diese Tatsachen, hypothetischen Meinungen, Theorien lassen sich in
Begriffe fassen, die nicht immer wünschenswert klar, oft vieldeutig und ver*
fließend sind. Die Exaktheit definierter Begriffe wird sich im Psychologischen
nicht immer erreichen lassen. Es ist sehr viel geleistet, wenn man in ein neues
176 Edward Bibring
Gebiet vorgestoßen ist und Begriffe gewonnen hat, die eine wechselseitige
Verständigung ermöglichen, auch wenn sie zunächst nichts anderes sind als
erste Annäherungen an einen im ganzen noch unbekannten Tatbestand.
Literatur:
Aster: Die Psychoanalyse. Wegweiser* Verlag, Berlin, 1930
B e r n f e 1 d: Über die Einteilung der Triebe. Imago, Bd. XXI, 1935 J
Federn: Die Wirklichkeit des Todestriebes. Almanach der Psa. 1931 i
Fenichel: Zur Kritik des Todestriebes. Imago, Bd. XXI, 1935
Freud: Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie. Ges. Sehr., Bd. V.
— Zur Einführung des Narzißmus. Ges. Sehr., Bd. VI.
— Triebe und Triebschicksale. Ges. Sehr., Bd. V.
— Massenpsychologie und Ichanalyse. Ges. Sehr., Bd. VI. ,; ,' ,
— Jenseits des Lustprinzips. Ges. Sehr., Bd. VI.
— Das Ich und das Es. Ges. Sehr., Bd. VI.
— Das Unbehagen in der Kultur. Ges. Sehr., Bd. XII.
— Neue Folge der Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse. Ges. Sehr., Bd. XII.
W. Reich: Der masochistisehe Charakter. Int. Ztschr. f. Psa., Bd. XVIII, 1932
E. Weiss: Todestrieb und Masochismus. Imago, Bd. XXI, 1935.
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Selbstmord und Opfertod 1
Von
W. Bischler
Genf
In seiner Arbeit „Über die Ursachen des Selbstmordes" hat H a 1 b w a c h s 2
folgende Definition dieses Phänomens gegeben: „Selbstmord nennen
wir jeden Todesfall, den der Verstorbene durch eine in
der Absicht, sich zu töten, vollzogene Handlung selbst
herbeigeführt hat, und der keinen Opfertod darstellt."
Diese Interpretation beansprucht unser besonderes Interesse, weil sie zweierlei
Fakten zueinander in Beziehung setzt, die man bisher gesondert zu betrachten
gewohnt war. Sowohl Selbstmord als Opfertod sind Gegenstand zahlreicher
psychologischer und soziologischer Studien gewesen und in der verschie*
densten Weise analysiert und gedeutet worden. Auch die Psychoanalyse hat
sich mit diesen Phänomenen und den damit verknüpften Problemen be*
schäftigt; die durchgeführten Beobachtungen und zu dem Thema Selbstmord
und Opfertod aufgestellten Theorien können für die analytische Forschung
nur von Nutzen sein; andererseits ermöglicht uns erst die Psychoanalyse,
diese Tatsachen in einem völlig neuen Lichte zu sehen, ihnen den ihnen ge*
bührenden Platz anzuweisen und sie viel vollständiger und umfassender zu
erklären.
Wenn wir nun die soziologische These über den Selbstmord und den
Opfertod und die psychoanalytische Deutung dieser Tatsachen einem be*
sonderen Studium unterziehen, wird es uns vielleicht gelingen, ihr Wesen,
ihre Natur und ihre Genesis besser zu erfassen; und wenn wir den Ursprung*
liehen Rahmen dieser Untersuchung erweitern, werden wir zwischen Sozio*
logie und Psychoanalyse neue Brücken bauen können.
Wir wollen zunächst die These von Halbwachs prüfen und unter*
suchen, welche Gründe ihn dazu veranlassen, Selbstmord und Öpfertod ver*
gleichend einander zu nähern und doch zwischen beiden Phänomenen einen
Trennungsstrich zu ziehen.
Er beginnt damit, uns die Theorie von Durckheimins Gedächtnis zu rufen,
der den Selbstmord definiert als „jedenTodesfall, der direkt oder
indirekt auf eine Handlung oder Unterlassung. zu rückzu*
führen ist, die das Opfer selbst begangen hat, und von der es
gewußt haben muß, daß sie todbringend ist." 3 Halbwachs
i) Aus dem Französischen übersetzt von Frau Mathilde Hollitscher, Wien.
2) M. Halb wachs: Les Causes du Suicide, F. Alcan, Paris, 1930.
3) Durckheim: Le Suicide, F. Alcan, Paris, 1930, S. 5.
Imago XX1I/2
12
178 W. Bischler
macht dem berühmten Soziologen seine angebliche Unkenntnis der Absichten,
seinen Zweifel an der Todesbereitschaft des Selbstmordkandidaten zum Vorwurf;
der Selbstmörder hat im allgemeinen den Vorsatz, sich zu töten weiß aber im
voraus nicht, welches das Ergebnis seiner Handlungen sein wird; doch können
wir seine Wünsche kennen, denn wenn man auch nicht immer die Absichten
kennt, so kann man sie doch vermuten, wie dies die Gesellschaft auch tatsachlich
tut. Außerdem findet Halbwachs, daß Durckheim dazu neigt, zwei stark
voneinander abweichende Arten von Fakten in einer einzigen Gruppe von
Phänomenen zu vereinigen. „Es scheint D urckheim nicht wichtig zu wissen,
ob der Tod wie eine notwendige Fügung, der man sich zur Erfüllung seines
Wunsches unterwerfen muß, angenommen worden ist, oder ob er um seiner
selbst willen gewollt und gesucht wurde. Der Soldat, der, um sein Regiment zu
retten, einem sicheren Tod entgegeneilt, will nicht sterben; ist er aber deshalb nicht
der Urheber seines eigenen Todes? Dasselbe kann man von dem Märtyrer sagen,
der für seinen Glauben stirbt."* In die gleiche Kategorie gehört auch der Kranke,
der es ablehnt, der Verordnung zur enthaltsamen Lebensweise Folge zu leisten,
obwohl er genau weiß, daß dies das einzige Mittel zur Verlängerung seines Le*
bens ist, der Kummerbeladene, der der Krankheit, die ihn ergriffen hat, keinen
Widerstand entgegensetzt, der Offizier, der sich mit seiner Festung eher in die
Luft sprengen läßt, als sich dem Feind zu ergeben, oder der Kommandant eines
Schiffes, der als letzter an Bord bleibt, um seine Niederlage nicht zu überleben.
Wir erwähnen hier auch noch die Märtyrer, die lieber den Tod erleiden als ihrem
Glauben abschwören, und die Jungfrauen, die sich aus Scham über eine erlittene
Defloration töten. , . ,
Halb wachs lenkt hier unsere Aufmerksamkeit auf eine sehr wichtige
Unterscheidung: Es gibt Fälle von freiwilligem Tod, die keine Selbstmorde sind.
Indessen bezeichnet D u r c k h e i m diese ganze letzterwähnte Gruppe von frei*
willigen Todesfällen als Selbstmorde, die er in eine besondere Kategorie einreiht,
altruistische Selbstmorde nennt und in Gegensatz stellt zu den egoisti*
sehen (die nach Loslösung von der Gemeinschaft) und zu den „a n o m 1 s che n
(die nach deren Zersetzung erfolgen). Die Ursache des altruistischen Selbst,
mordes dagegen sieht der französische Soziologe in einer Fixierung des ! Indi*
viduums an die Gemeinschaft, in einer innigen Verschmelzung mit dem Milieu
die so weit geht, daß der Einzelne das Bewußtsein seiner Persönlichkeit und
seiner spezifischen Eigenart verliert und daher den Tod der ihm nahestehenden
Person, die Zerstörung oder Entehrung der Gruppe, mit der er sich solidarisch
fühlt und deren Los er teilen muß, nicht überleben kann. Er bringt also ein wirk*
liches Opfer, leistet freiwillig Verzicht auf sein Leben, seine Gesundheit, sein
persönliches Glück, um die geliebte Person oder die soziale Gruppe zu retten
oder ihnen in den Tod zu folgen.
Wir wollen gleich bemerken, daß der altruistische oder Opfer*Selbstmord
auf einer Art Identifizierung des Individuums mit der Gemeinschaft beruht.
Die Grenzlinien zwischen der bewußten Persönlichkeit und der Gemein*
schaff, in der der Einzelne untertaucht, werden undeutlich, sie verwischen
sich oder verschwinden gänzlich. Zur Bestätigung dieser Interpretation mag
Selbstmord und Opfertod
179
dienen, daß man diese Art Selbstmorde besonders bei den primitiven Völ*
kern findet: bei diesen ist das Bewußtsein ihrer Individualität, das Gefühl
ihrer persönlichen Eigenart noch wenig hervortretend und daher leicht außer
Kraft zu setzen. Aber selbst bei sozial und intellektuell differenzierteren Indi*
viduen können besondere Umstände eine Schwächung des Ichgefühles, eine
Herabsetzung der narzißtischen, libidinösen Besetzung hervorrufen, wie bei
den Soldaten in der Armee, bei dem Offizier, der eine Festung oder ein
Kriegsschiff befehligt. Die anderen Fälle, die wir zu Beginn zitiert haben,
werden im Rahmen unserer Studie den Gegenstand einer besonderen Unter*
suchüng bilden.
Beschäftigen wir uns indessen wieder mit der Arbeit von Halb wachs.
Im Verlaufe seiner Ausführungen gibt der Autor zu, daß zwischen dem Opfertod
und dem Selbstmord eines Menschen der Unterschied darin zu bestehen scheint,
daß in dem einen Fall der Tod des Opfers auf Grund einer Kollektivem*
Scheidung erfolgt, in dem anderen Fall nach eigenem freiwilligem Entschluß. Es
gibt aber noch zahlreiche Selbstmordfälle (bei Geisteskranken, Psychopathen,
impulsiven Menschen), die nicht das Resultat langen Überlegens und reiflich
erwogener Beschlüsse sind, sondern spontan, man möchte sagen, instinktiv er*
folgen. Indessen tötet sich die überwiegende Anzahl der Selbstmörder mit Vor*
bedacht nachdem sie ihre Tat wohl überlegt und beschlossen haben, auf das
Weiterleben zu verzichten. Nach Halb wachs ist nichtsdestoweniger selbst
diese so individuell erscheinende Initiative nur der Ausdruck von Gemeinschafts*
willen und Gemeinschaftsgedanken. „Die Gesellschaft hat den Menschen gelehrt
zu wollen, und er folgt teilweise den von ihr erhaltenen Richtlinien auch dann
noch, wenn er sich moralisch von ihr freigemacht hat und an ihrem Leben nicht
mehr teilzuhaben meint. Man kann sagen: Ein Mensch, der überlegt, bevor er
handelt, kehrt für einen Moment in die menschliche Gemeinschaft, der er ange*
hört oder bisnun angehört hat, zurück, um mit den anderen zu überlegen und
gemeinsam eine Entscheidung zu treffen, bevor er ganz allein die Tat vollbringt,
die die anderen für ihn beschlossen haben . . ." 5
Hier haben wir eine soziologische Interpretation von individuellen Hand*
lungen und Phänomenen, die die Psychologie bisher als in ihr Gebiet gehörig
betrachtet hat. Wir werden später sehen, was wir von dieser besonderen
Theorie zu halten haben, und daß sie nicht so fremdartig ist, wie sie gewissen
psychologischen Doktrinen erscheint. Halten wir vor allem fest, daß Halb*
wachs sowohl den (nicht impulsiven) Selbstmord als auch den Opfertod
zum großen Teil wenigstens als aus dem Gemeinschäftsgedanken hervor*
gehend ansieht. Die Distanz zwischen den beiden Tatsachen vermindert sich
noch, denn — fährt Halb wachs fort — „es ist nicht immer leicht zu
sagen, bis zu welchem Grad die Opfertode Folge eines Befehles des Stammes,
der religiösen Gemeinschaft oder der Nation sind, die dem Menschen gegen
5) 1. c, S. 456 f.
12*
180 W. Bischler
seinen Willen durch rein materiellen Zwang auferlegt werden, und inwieweit
die innere Einstellung des Opfers, Resignation, Annahme der Befehle und
sogar stillschweigende Zustimmung zu denselben auf diesen gleichen Zwang
zurückzuführen ist." 6
Es scheint nun, als ob das Opfer nicht so passiv wäre, wie es aussieht: Es
kann den erhaltenen Befehlen Widerstand entgegensetzen oder sich ihnen
gern unterwerfen. Wir wollen hier einfügen, daß diese rebellierende oder füg*
same Stellungnahme nicht nur durch eine mehr oder weniger starke Bin*
düng an das Leben bedingt ist, sondern auch', und zwar ganz besonders, durch
einen unumstößlichen Trieb zur Selbstaufopferung, zur Selbstzerstörung, der
durch Schuldgefühl und Bedürfnis nach Strafe hervorgerufen wird. Wir wer*
den darauf später zurückkommen.
Es bleibt darum nicht weniger wahr, daß der Opfertod vor allem durch
den Willen der Gemeinschaft bedingt ist. Das Individuum hat sich in sein
Schicksal ergeben, es fühlt seine Stunde gekommen und macht nicht einmal
den Versuch, sich seiner Bestimmung zu entziehen. Diese Opfertode oder
altruistischen Selbstmorde (D u r c k h e i m) ereignen sich vor allem in primi*
tiven Gemeinschaften, in besonders eng miteinander verbundenen religiösen
oder politischen Gruppen, in denen der persönliche Wille fast ausgeschaltet
ist. Nach einer Niederlage, in Gefangenschaft, oder nach dem Tod des
Gatten, des Vorgesetzten, des Landesvaters haben die Gefangenen, die
Witwen, die Diener und Sklaven keine andere Wahl: sie müssen sterben. So
haben es die Götter, die Gesetze und Gebräuche, die Vorfahren über isie
bestimmt. Verglichen mit dieser Kapitulation des Einzelnen vor der all*
mächtigen Gemeinschaft erscheint im Gegensatz dazu der Selbstmord als
eine Manifestation seiner Autonomie, mehr noch, als eine Rebellion des Ge*
Schopfes gegen die Gesetze, Gebräuche und Forderungen der Gesellschaft.
Indessen sagt uns H alb wachs, daß sich dies nur dem Anschein nach so
verhält. „Die persönlichen Willensäußerungen gehorchen Gesetzen, denn die
Anzahl der Selbstmorde im Schöße derselben Gruppe bleibt von einem Jahr zum
andern die gleiche. Es sieht nur so aus, als ob der Selbstmörder aus eigenem
Willen beschließen würde, sich den Tod zu geben; die Entscheidung wird ohne
sein Zutun getroffen. Er gehorcht Mächten, die stärker sind als er, und wenn er
ihnen scheinbar zustimmt, so liegt sein Fall doch nicht anders, als bei dem zum
Opfertod Bestimmten ... Die vom Leben Besiegten bilden solcherart einen
langen Zug von Gefangenen, den die Gesellschaft hinter ihrem Siegeswagen
schleift . . ."' •
Der Autor hat hier auf einen sehr wichtigen Umstand hingewiesen: auf
den Zwang, den die Gesellschaft unmerklich und verste ckt gegen den Willen
6) 1. c, S. 457.
7) 1. c, S. 461.
Selbstmord und Opfertod
181
des Einzelnen auf ihn ausübt. Der Mensch vermeint, nach eigenem Belieben,
von eigener Initiative und reiflicher Überlegung getrieben, zu handeln — in*
dessen ist eine fremde kollektive Macht für ihn tätig. Die Psychologie und
insbesondere die Psychoanalyse liefern uns zahlreiche Beispiele von analogen
Fakten; nur die Interpretationen weichen voneinander ab.
Halb wachs hebt nun im weiteren Verlauf seiner Arbeit eine andere wich*
tige Unterscheidung zwischen Opfertod und Selbstmord hervor. Der von der
Gesellschaft auferlegte, geforderte Opfertod wird auch von ihr sanktioniert; das
Opfer erfüllt eine heilige Pflicht gegenüber der Gottheit (also der Gemeinschaft),
indem es einwilligt, sich für sie aufzuopfern. Ganz anders verhält sich die Ge*
Seilschaft gegenüber dem Selbstmord. Obwohl sie seine indirekte Urheberin ist,
verweigert sie ihm die Vaterschaft, betrachtet den freiwilligen Tod als Auf*
lehnung gegen die elementaren Gesetze, die sie ihren Mitgliedern auferlegt. „Das
Leben ist nach allgemeinen Begriffen das höchste aller Güter, weil es die Grund*
bedingung für alle anderen ist. Es ist geheiligt, und derjenige, der es von sich
wirft, der, um es zu erhalten, nicht bereit ist, alle Leiden auf sich zu nehmen, be*
geht ein wirkliches Verbrechen ... Die Gesellschaft verurteilt den Selbstmord,
weil sie der Ansicht ist, daß das Leben die Bedingung für das Glück schafft, und
weil sie vermeiden will, daß der Wert der Güter, an denen die Menschen hängen,
in Frage gestellt wird." 8 Hier haben wir es mit einer deutlich „ambivalenten"
Einstellung zu tun. Nach Halbwachs verlangt die Gemeinschaft einerseits,
daß verschiedene ihrer Mitglieder ihr ihr Leben zum Opfer bringen, anderseits
mißbilligt sie dieses Verhalten. Die Psychoanalyse kennt diesen nacheinander
oder gleichzeitig positiven und negativen Gemeinschaftswillen durch ihre Unter*
suchungen an Gesunden und Nervösen. Der Zwangsneurotikerbietet ein kon*
kretes Beispiel für diese Doppeleinstellung: In seinen Zwangshandlungen folgt
er zuerst seinen unbewußten Instinkten, danach einer höheren moralischen In*
stanz, dem Uber*Ich, das die Verurteilung der begangenen Handlung fordert.
Könnte man nicht diese im persönlichen Benehmen beobachtete und durch den
Gehorsam gegenüber zwei einander entgegengesetzten Kräften hervorgerufene
Doppeleinstellung auf die Phänomene übertragen, die wir im Verhalten der Ge*
Seilschaft konstatieren konnten? Man kann jede dieser einander entgegenge*
setzten Bestrebungen der Existenz zweier einander entgegengesetzter Kräfte zu*
schreiben, oder der Wirksamkeit einer doppelgesichtigen Kraft, Sadismus*Maso*
chismus. Wir werden später sehen, was wir von diesen eventuellen Interpreta*
tionen zu halten haben. Es ist umso interessanter, diese ambivalente Einstellung
zum Selbstmord zu untersuchen, weil das Individuum selbst oft eine ebensolche
Doppelstellung einnimmt. Der Tod ist — so wie die Liebe — eines der verwir*
rendsten Probleme, mit denen die Menschen sich auseinanderzusetzen haben,
ihre dabei oft so zwiespältige Einstellung wird daher begreiflich, und es ist nicht
erstaunlich, wenn sich in den Gefühlen und im Verhalten der Allgemeinheit die
gleiche Unsicherheit wiederfindet; denn auch die Gesellschaft stellt sich die*
selben Fragen, und auch ihr gelingt es nicht, sie endgültig zu lösen.
Wenn man die verschiedenen Kategorien der Selbstmorde studiert, be*
stätigt sich der Eindruck von der ambi* oder polyvalenten Haltung der Ge*
8) 1. c, S. 462. l ~
182 W. Bischler
Seilschaft ihnen gegenüber; Halb wachs versucht, uns zu zeigen, daß Stel*
lungnahme, Gefühle und Urteile der Menschen nach den psychologischen
Ursachen, die den Selbstmord veranlaßt haben, verschieden sind. Folgen wir
ihm bei seinen Untersuchungen.
Es gibt Selbstmorde, die einem Opfertod sehr ähnlich sind, diejenigen
nämlich, die nach einer Mordtat oder nach einem anderen Verbrechen be*
gangen werden. Der Schuldige fühlt das Bedürfnis, seine Tat zu sühnen, er
gibt sich den Tod, um seinen moralischen Sturz nicht überleben zu müssen,
oder um seinen Opfern in das Grab zu folgen, oder schließlich unwidersteh*
lieh getrieben durch Gewissensbisse und das Gefühl der Schande. Die Ge*
Seilschaft billigt seine Tat, sie sieht darin die Vorwegnahme der Strafe, die
sonst sie selbst über den Schuldigen verhängt haben würde.
Mit einem Wort: Das Individiuum identifiziert sich hier mit der Allge*
meinheit, es macht ihren Urteilsspruch zu seinem eigenen und legt sich, von
starkem Schuldgefühl und Strafbedürfnis getrieben, die Strafe auf, die es ver*
dient zu haben glaubt. Der dem Sadismus nachfolgende Masochismus, die
Wendung der aggressiven Regungen gegen die eigene Person, zeigen deutlich
die enge Solidarität zwischen den beiden einander entgegengesetzten Ten*
denzen. Wenn ein Mensch', der beschlossen hat zu sterben, erst andere tötet,
bevor er Selbstmord begeht — aus Solidaritätsgefühl mit seinen Opfern, die
ihn nicht überleben sollen, denen er das für sich selbst befürchtete böse
Schicksal ersparen will — , so beweist er damit ebensoviel Aggression, wie
wenn der Mord das Ursprüngliche gewesen wäre und der Selbstmord die
Folge davon. In beiden Fällen identifiziert sich der Verbrecher auch mit
seinem Opfer, sei es, daß er für dieses das gleiche (eingebildete oder tatsäch*
liehe) Unglück wie für sich selbst befürchtet, sei es, daß er den Tod der ge*
mordeten oder geliebten Person nicht überleben kann, oder sei es, daß er das
Bedürfnis hat, für seine Tat zu büßen und sein Vergehen wieder gut zu
machen (Auge um Auge, Zahn um Zahn, Tod um Tod), indem er das
Schicksal seiner Opfer teilt. Stellen wir fest, daß der spätere Selbstmörder
meistens geliebte Personen tötet: in ihm streiten Liebe Und Haß, eine ambi*
valente Einstellung den Liebesobjekten gegenüber. Nach' dieser Darstellung
kann man sagen, daß der Selbstmörder seiner ganzen Umgebung, der Gesell*
schaft und auch sich selbst ambivalent gegenübersteht (Autoerotik und Auto*
destruktion). Der Selbstmord wäre also ein Mittel, dem durch diese Doppel*
einstellung hervorgerufenen circulus vitiosus zu entfliehen: er wäre die Be*
strafung für den Narzißmus und die Befreiung von der Todesfurcht.
Nach Halbwachs' Erklärung identifiziert sich der Verbrecher oft auch
mit der Gesellschaft, die ja ein nach außen projiziertes Über*Ich darstellt:
Die von ihr verhängte Strafe soll die Vergeltung für die böse Tat sein, die der
Selbstmord und Opfertod 183
Mörder begangen hat und die ihm sein Gewissen zum Vorwurf macht. Indem
er sich selbst den Tod gibt, greift er der menschlichen Gerechtigkeit vor
und unterwirft sich dem Spruch eines anderen Richters, der oft viel strenger
und grausamer ist, als irgendein Vertreter des Gesetzes es gewesen wäre.
Wir müssen in diesem Zusammenhang daran erinnern, daß Freud auf
die Verbrecher aus Schuldgefühl und Strafbedürfnis hingewiesen hat. Die
Situation erscheint nun umgekehrt, denn das Schuldgefühl ist schon vor dem
Mord vorhanden, während es in den anderen Fällen nach der vollbrachten
Tat auftritt. Übergänge bilden jene Fälle, in denen der Mörder nach seinem
Opfer sich selbst tötet, entweder, um seine Schuld zu sühnen oder die geliebte
Person nicht zu überleben (-Schuldgefühl nach der Tat), oder weil er seinen
Selbstmord schön vorher beschlossen hatte und nun nicht will, daß die ge=*
liebte Person ihn überlebt (Schuldgefühl vor der Tat). Es kann aber auch oft
vorkommen, daß das Schuldgefühl schon vor der Tat besteht, aber erst nach
begangenem Verbrechen zum Bewußtsein erweckt wird. Man kann aber auch
sagen, daß die Gesellschaft die Stelle des Opfers einnimmt und in dessen
Namen Vergeltung fordert.
Auch gibt es nach Halbwachs Selbstmörder, die sich töten, um der Ge=>
Seilschaft, ihrer Justiz und ihren Urteilssprüchen Trotz zu bieten. „Der Selbst^
mord erscheint gewissermaßen als Herausforderung, als Verwünschung und Ver>
geltung ... Es sieht aus, als ob der verzweifelte Mensch die Verantwortung für
seinen Tod auf die Überlebenden abwälzen, ihnen einreden wolle, daß sie
schuldig seien und sein Selbstmord ihnen als Verbrechen angelastet würde . . .
Diese Menschen töten sich als Demonstration gegeh^die Gesellschaft, um der
Menge zu zeigen, welches Rachegefühl, welchen^ Haß sie ihr gegenüber
empfinden. Der Selbstmord wird zur Rache der Schwachen, ... ein Mittel, um
die Menschen zur Erkenntnis ihres Unrechtes zu zwingen . . . Das Opfer wird
nach seinem Tod zum Dämon, der die Überlebenden heimsucht." 9
In diesen eben angeführten Fällen gehorcht der Selbstmörder nicht mehr
höheren moralischen Beweggründen, weder der Gesellschaft noch dem Über*
Ich. Persönliche Motive sind vorherrschend. Aber positives oder negatives
Interesse an der Gesellschaft spielt immer eine Rolle, denn die Tat des
PseudorfOpfers, des Selbstmörders, ist gegen die Gesellschaft gerichtet, an der
er auf diese Weise Rache zu nehmen versucht. Indessen heißt es vorsichtig
sein. Das Bedürfnis, sich an anderen zu rächen, indirekt diejenigen zu be*
strafen, die dem Opfer (tatsächlich oder nur vermeintlich) Unrecht zuge*
fügt haben, kann nicht der einzige Grund, nicht einmal die ausschlaggebende
Ursache für den Selbstmord sein. Denn die Liebe zum eigenen Ich, der Selbst«
erhaltungstrieb, sind in jedem Menschen zu stark, zu lebendig, um sich durch
immerhin sekundäre Wünsche, mögen sie auch noch so heftig sein, un*
9) 1. c, S. 465.
184 W. Bischler
wirksam machen zu lassen. Und außerdem gibt es noch andere Mittel, um die
Gesellschaft zu treffen und sich an den anderen zu rächen.
Wir müssen also zugeben, daß die Selbstmörder im wesentlichen ver*
schiedene Gründe haben, die sie dazu bringen, ihrem Leben ein Ende zu
machen. Sollte es ein Schuldgefühl sein? Soll man einen latenten Maso*
chismus, ein Bedürfnis, sich zu opfern, als verantwortlich ansehen? Wir
werden später noch auf diese Fragen zurückkommen. Vorerst halten wir
die Tatsache fest, daß der Selbstmörder sich selbst bestraft, bevor er die Alk
gemeinheit straft, daß sein Ich als erstes zu leiden hat. Wir können also sagen,
daß im Gegensatz zu den früher untersuchten Fällen nun das persönliche
Unbewußte handelt, während sonst die Gesellschaft die rächende Instanz
dargestellt hat. Hier wird das Übersieh selbst durch das Ich bestraft. In
beiden Fällen aber wird das Ich entweder den heftigen sadistischen Wün*
sehen des tyrannischen Über^Ichs oder dem Rachebedürfnis des „Es" gegen
das Übersieh selbst geopfert.
Gehen wir zu einer dritten Kategorie von Selbstmorden über. Diese umfaßt
nach Halb wachs „die große Menge der Verzweifelten, die sich in der Geistes*
Verfassung von Menschen befinden, die verzichten und sich fallen lassen, weil
sie erkannt haben, daß es nutzlos ist, weiter zu kämpfen". 10 Es scheint auf den,
ersten Blick, als würde die Gesellschaft in der Genesis dieser Selbstmorde keine
Rolle spielen: der Einzelne beschließt seinen Tod aus mehr oder weniger seriösen
und stichhältigen persönlichen Gründen ganz allein, ohne sich mit jemandem zu
beraten, oft ohne irgend jemanden nachahmen zu wollen. Er beruft sich auf be*
sondere Gründe: Armut, Elend, Einsamkeit, Abscheu vor dem Leben etc. . . .
Indessen verhält sich dies nur dem Anschein nach so. Der Mensch fühlt sein
Elend, seine Verlassenheit deshalb, weil sich die sozialen Bindungen zwischen
ihm und seinesgleichen gelockert haben. „Die Gesellschaft hat ihre Licht* und
Schattenseiten; einem verzweifelten Menschen zeigt sie sich nur in den düstersten
Bildern. Die kollektive Traurigkeit und Melancholie nimmt in ihm Gestalt an,
findet in ihm ein Bewußtsein, in dem sie sich ausdrücken kann. Nicht in sich
selbst, sondern in der Gesellschaft sieht der leidende Mensch sein eigenes
Schicksal an der Arbeit. Die Gesellschaft bringt dem Unglücklichen zu Bewußt*
sein, daß er unglücklicher ist als die anderen . . ."" Es bedarf nur eines kleinen
Zwischenfalles, einer geringen Schlappe, einer aufgefangenen Äußerung, einer
Beeinflussung oder unbeabsichtigten Zustimmung, um den Unglücksbecher zum
Überlaufen zu bringen und denjenigen, der unfreiwillig (unbewußt) an den Tod
denkt, davon zu überzeugen, daß man ihn auf diesen Weg verweist . . . Die Ge*
Seilschaft kann angesichts gewisser Nöte, zu deren Linderung sie sich außerstande
fühlt, nichts anderes tun, als das Übel lokalisieren, ihren Blick von einem Schau*
spiel abwenden, das ihren eigenen Lebenswillen schwächen würde, und sich jene
vom Leibe halten, die ihr nur Anlaß zu unnützer Traurigkeit bieten . . . Der
10) 1. c, S. 469.
u)l. c, S. 471.
Selbstmord und Opfertod 185
verzweifelte Mensch weiß, daß es für sein Leid kein Heilmittel gibt; er fühlt sich
ebenso dem Tod geweiht, wie ein zum Opfertod Bestimmter.
Wenn ein Mensch aus sich selbst die Kraft schöpft, den Entschluß zum
Selbstmord zu fassen, so ist dieser Wille aus dem Zusammenwirken kollektiver
Befehle hervorgegangen. Schon das Vorhandensein kollektiver Vorstellungen
allein genügt, um unsere Aktivität zu einer freiwilligen zu machen.
Die soziologische These will hier wieder zu ihrem Recht kommen. Sie
reklamiert die Erklärung der hauptsächlichsten psychologischen Phänomene,
der Gedanken, des Willens, für sich. Indessen ist die Distanz zwischen diesen
Theorien und den psychologischen, insbesondere den psychoanalytischen
Auffassungen nicht so groß.
Was ist denn tatsächlich diese Gemeinschaftsmentalität, diese „soziale
Macht", die man scheinbar als eine besondere mächtige und autonome
Wesenheit betrachtet? Um uns über ihre Beschaffenheit Rechenschaft zu
geben, wollen wir Halb wachs' Gedanken über den Selbstmord unter*
suchen. Ihm erscheint der Selbstmord durch eine Schwächung der sozialen
Bindungen, der Beziehungen, die den Einzelnen mit dem, Leben und der Rea*
lität verbinden, verursacht. Wenn ein Mensch traurig, niedergeschlagen, ver*
zweifelt ist, so ist er in diesen Zustand geraten, weil er fühlt und glaubt, daß
alles und jedermann ihn fallen gelassen haben : Sich selbst überlassen, sieht er
überall Fremde, ja sogar Feinde. Er projiziert seine eigenen Gemütsbtewe*
gungen auf die Gesellschaft, schreibt ihr seine persönlichen. Seelenzustände
zu. Tatsächlich aber bilden sich im Menschen selbst jene psychischen Vor*
gänge aus, die schließlich zum Selbstmord führen: in seinem Inneren begibt
sich jene fortschreitende Lockerung der affektiven Bindungen an die Realität,
die ihn umgebende Welt, an die Gemeinschaft. Die Libido — dürfen wir
wohl sagen — macht sich frei, wendet sich in das eigene Innere, und diesen
immerhin beschleunigten Vorgang, der sich ebenso beim Melancholiker ab*
spielt, empfindet der Mensch wie ein Verleugnet*, ein Verstoßenwerden
seitens der Gesellschaft. Da er die Rollen vertauscht hat, indem er seine feind*
seligen und aggressiven Gefühle auf die Allgemeinheit projiziert, meint er
nun, deren Opfer zu sein. Diese subjektive Interpretation ist teilweise, und
zwar insoferne richtig, als das Ich geopfert wird, allerdings nicht den sadisti*
sehen Trieben und der Rachsucht der Gemeinschaft, der der Mensch ange*
hört, sondern seinen eigenen Aggressionen. Mit einem Wort: Diese aktiven,
gewalttätigen, zerstörenden Regungen zersetzen den libidinösen Unterbau,
der den Einzelnen an sein Milieu bindet, sie reißen ihn davon los, isolieren
ihn immer mehr, wenden sich schließlich gegen ihn selbst, bis er soweit ist,
sich selbst aus der Welt schaffen zu wollen. Der Mensch wird also zum
Opfer, aber zum Opfer seines eigenen, anarchischen, asozialen „Es";; er, er*
186 W. Bischler
fährt Zurückstoßung und Verleugnung, aber seitens eines Feindes, der in
seinem eigenen Inneren an der Arbeit ist. Dabei wird das soziale Gefühl zer*
brochen und zerstört. Das Ich, das nun von diesen belebenden, zu seiner
Entfaltung notwendigen Kräften nicht mehr genährt wird, verkümmert, siecht
dahin, ohne die Ursache seines Leidens zu erfassen, und schreibt diese ganz
zu Unrecht der Gesellschaft zu, die daran vollkommen unschuldig ist. Es
meint, daß die Allgemeinheit sich von ihm abwendet und sich weigert, ihm
zu helfen, während es das Ich selbst ist, das sich von ihr loslöst. Die Schick«
salsschläge, die es niederdrücken oder niederdrücken werden, finden ein be<*
reites Opfer, das, geschwächt und entkräftet, keinen nennenswerten Wider*
stand leisten kann; ja, noch mehr, der sadistisch*masochistische Instinkt, der
Todestrieb in seinem Innern, kommt den äußeren traurigen Erlebnissen als
Verbündeter entgegen, indem er sie herbeiruft und veranlaßt.
Wenn wir nun mit Halbwachs die besonderen Bedingungen zum Selbst*
mord untersuchen, werden wir eine deutliche Bekräftigung dieser These fest*
stellen können. „Es gibt", sagt Halbwachs, „Gründe, die wir verstehen und
deren Macht wir fühlen, und andere, die uns anfechtbar erscheinen". Das ist da*
durch erklärlich, daß der Todestrieb zur Verwirklichung seiner düsteren Ab*
sichten oft nur ganz minimaler Anlässe bedarf, an die er sich nachdrücklichst an*
klammert. Unlogisch und vernunftlos, untersucht er nicht weiter, jeder Grund ist
ihm recht, um danach zu handeln. „Die Ursachen des Selbstmordes liegen i n u n s,
aber ebenso außer uns. Wenn ein Mensch sich tötet, hat er das Gefühl, durch
einen Strom von Gedanken fortgerissen zu werden, so daß er nicht mehr fähig
ist zu unterscheiden, was davon aus ihm selbst gekommen ist und was von außer*
halb . . . Wenn uns gewisse Selbstmorde absurd erscheinen, so liegt der Grund
darin, daß sie nicht vom Vernunftstandpunkt aus zu erklären sind, d. h. nicht
durch die allgemein anerkannten Richtlinien, in denen wir zu denken gewohnt
sind . . ." Dieser Schluß ist vollkommen einleuchtend, denn Vernunft und Denk*
fähigkeit, die normalerweise von dem allen gemeinsamen ebenso wie vom per*
sönlichen Unbewußten genährt werden, verlieren, sobald sie sich von ersterem
loslösen, ihren sozialen Charakter und werden asozial, unlogisch und autistisch.
Der Selbstmord kann eine Rache sein, eine Buße, eine Vernichtung oder ein Ver*
schwinden. Die Unterscheidung ist oft schwierig, sie ist aber, wie wir weiter
unten sehen werden, von der Vorherrschaft sadistischer oder masochistischer
Bestrebungen, von der Tätigkeit des Über*Ichs, des „Es", von der Haltung des
Ichs abhängig. In jedem Fall wird das Ich einer fremden höheren Macht unter*
worfen und ihr zum Opfer gebracht. Diese Feststellung führt uns wieder zu der
Frage des Opfertodes zurück, mit der Halbwachs sich in den letzten Seiten
seiner Schrift befaßt. Er sagt dort: „Beide Todesarten werden von der Gesell*
schaft gefordert. Während sie aber bei dem von ihr öffentlich organisierten
Opfertod gewissermaßen den Vorsitz führt, will sie nicht, daß man ihr beim
Selbstmord, für den sie ebenso die Verantwortung trägt, eine Mitwirkung nach*
weisen kann . . . Die vollzogene Tat wird von ihr nicht anerkannt, sie wendet
sich von ihr ab . . ," 12 Der Opfertod nimmt gewohnheitsmäßig rituelle Formen
12) 1. c, S. 475.
Selbstmord und Opfertod
187
an; die „Gesellschaft beansprucht ihn für sich und rechtfertigt ihn, indem sie
sein Andenken hochhält . . . Der Selbstmörder aber verbirgt sich, um seine Tat
auszuführen . . . Die Gesellschaft beansprucht den Opfertod für sich, weil er
ihr eigenstes Werk ist, hinter das sie sich in ihrer Gesamtheit stellt, weil sie es
einstimmig gewollt hat. 'Die Opfertat kann nur im Schöße einer Gemeinschaft
begangen werden, deren gesamte geistige Kräfte im selben Brennpunkt zu*
sammentreffen . . ."" Im Gegensatz dazu nimmt die Allgemeinheit dem Selbst*
mord gegenüber eine Haltung ein, die nach den Lebensumständen und gesell*
schaftlichen Verhältnissen verschieden ist. „Im allgemeinen beschränkt sich die
Gesellschaft darauf zu konstatieren, daß ein Mensch sich getötet hat; sie be*
trachtet den Selbstmord als eine Tat, die in gar keiner Weise von ihr ausgegangen
ist, an der sie also absolut nicht teilhat . . . 14 Es ergeben sich demnach zwischen
den beiden Phänomenen stark hervortretende Analogien und ebensolche Diffe*
renzen; die als Verwünschung gedachten und egoistischen Opfertode oder die
„altruistischen" Selbstmorde stellen die Übergänge dar. Man muß die feinen
Unterschiede beachten, die H a 1 b w a c h s in seiner allgemeinen Definition des
Selbstmordes angegeben hat, in der er sagt: „Selbstmord nennt man jeden Todes*
fall, den das Opfer durch eine, mit der Absicht, sich zu töten, begangene Hand*
lung selbst herbeigeführt hat und der keinen Opfertod darstellt." 15
Versuchen wir nun unsererseits, die psychologischen Unterschiede zwi*
sehen Selbstmord und Opfertod zu analysieren; wir werden dann unsere
Schlußfolgerungen denen von H a 1 b w a c h s an die Seite stellen und sowohl
die Berührungspunkte als die Abweichungen herauszufinden trachten.
Wir haben weiter oben gesagt, daß der Selbstmord durch einen unbe*
wußten Wunsch nach Selbstzerstörung, durch einen mehr oder weniger aus»«
gesprochenen Todestrieb (Freud) bedingt ist. Das Ich wird geopfert, trieb*
hafte sadistische Tendenzen, das „Es", beherrschen die Persönlichkeit. Es
scheint, daß das Es den Oberbefehl über den Menschen übernommen hat,
daß es seine Handlungen, Gedanken und Gefühle, sein gesamtes Betragen
regiert und das Ich gänzlich seinem Willen unterworfen hat.
Wodurch kann diese besondere Macht des „Es", diese Abdankung des
Ichs entstehen? Die Ursache kann in einer angeborenen oder erworbenen,
vorübergehenden oder andauernden Superiorität der instinktiven Triebe oder
in einer Schwäche des Ichs liegen. Beide Fälle können vorkommen. Es kann
der Fall sein, daß ein Mensch immer schwach, impulsiv, seinen Launen
unterworfen ist; seine Stimmung, seine Gedanken und Handlungen hängen
einzig und allein von dieser unbeständigen wechselnden Kraft ab, deren
Stärke selbst wieder von den besonderen Konditionen, wie Lebenskraft, Kon»
stitution und Temperament bestimmt wird. Der Mensch, sein Ich, versuchen,
13) 1. c, S. 477.
14) 1. c, S. 478.
15) 1. c, S. 479.
188 W. Bischler
gegen diesen Eindringling, diesen Parasiten im Innern anzukämpfen, aber
meistens ohne Erfolg.
Die Schwäche des Ichs zeigt sich auch darin, daß es sich in diesen Fällen
oft äußerem oder innerem Zwang unterwirft: Der Autorität der Eltern und
Verwandten, der Gesellschaft, den Gesetzen und Gebräuchen, jeder anderen
nur etwas starken und dominierenden Kraft, oder eben dem Übersieh (mora*
lischem Gewissen), das Erbe oder Substitut dieser äußeren Mächte ist. Das
Ich schwankt demnach zuweilen zwischen einem impulsiven, launenhaften,
wunderlichen Benehmen und einem passiven Gehorsam gegenüber den er*
haltenen Befehlen, zwischen einer heftigen und unüberlegten Revolte gegen
die Autorität und einer vollkommenen Demütigung, Kapitulation vor deren
Forderungen.
Wir wissen, daß es verschiedene Arten von unbewußten Instinkten und
Trieben gibt. Der Gehorsam gegenüber sexuellen und erotischen Trieben
führt zu Perversionen, zu verschiedenen asozialen und amoralischen Hand*
lungen. Wenn aber im Gegensatz dazu der Sadismus die Vorherrschaft hat,
dann kommt es zur Auflehnung gegen die Familie, die Gesellschaft, dann
zeigt sich Brutalität, Gewalttätigkeit, Aggression und Verbrechen. Ist das
bewußte^ Ich gleichzeitig stark genug, so wird es versuchen, Widerstand zu
leisten: so geschieht es bei den Nervösen. Der Mord ist die extremste und die
typischste Manifestation dieser Situation. Noch ein anderer Fall ergibt sich
dort, wo! das Ich sich den erwähnten Todestrieben oder masochistischen Re*
gungen beugt. Die vom Menschen selbst unbewußt gesuchten Schwierig*
keiten verstärken sich in ununterbrochener Folge von gewöhnlichen Miß*
erfolgen, Krankheitsfällen und verschiedenen Widrigkeiten bis zum ausge*
führten Selbstmord. Dieser ist oft der Zielpunkt einer langen Reihe von Un*
glücksfällen und Katastrophen, die den Menschen niedergebeugt haben, aber
mehr oder weniger unfreiwillig, unbewußt durch ihn selbst herbeigerufen
würden. Die Soziologen nennen als Selbstmordursachen alle Arten von Miß*
erfolg, erlittenes Ungemach, wirtschaftlichen Niedergang, Erlöschen der
affektiven und sozialen Bindungen (Witwentum, Scheidung etc.). Siebe*
trachten demnach diese Ereignisse als vorbereitende Gründe, die durch
Schwächung oder Zerstörung des Zusammenhanges des Einzelnen mit der
Allgemeinheit ihn unfähig machen, ein normales Leben weiterzuführen, und
ihn dazu treiben, sich zu töten. Je nachdem, ob diese Bindungen gelöst oder
zerstört worden sind, sprechen sie von egoistischen oder „anomischen" Selbst*
morden (Durckheim); sie sehen in diesen Bedingungen einen Beweis für
die soziale Determinierung des Selbstmordes. Uns erscheint es richtiger, diese
Ursachen selbst einer psychologischen Determinierung zuzuschreiben, die
nach und nach Unglücksfälle, Schicksalsschläge, Verzweiflung und schließ*
lieh die Mordtat selbst herausfordert. Die Tatsache, daß es sich oft um die
gesamte Menschheit betreffende Ereignisse handelt (Kriege, Krisen, wirt*
schaftliche Nöte) ändert nichts an dieser These, denn zerstörende Triebe
können sich ebensogut bei dem in einer Gemeinschaft lebenden, wie beim
isolierten Individuum manifestieren. Wir können sagen, daß in diesem letzten
Fall das gemeinsame Unbewußte oder eine Art kollektiver Masochismus die
hauptsächlichste treibende Kraft beim psychischen affektiven Zerfall der Per*
sönlichkeit bildet.
Mit einem Wort, das Ich wird dem sadistischen und gewalttätigen „Es"
geopfert. Man kann fast sagen, daß es mit ihm identifiziert, als seine Sache,
sein Sklave angesehen wird. Immer brutaler und dringlicher in seinen For*
derungen ruft das Unbewußte die verschiedensten Schicksalsschläge herbei
und geht schließlich soweit, die Vernichtung der Person (Selbstmord) zu
verlangen. Die Soziologen haben recht mit ihrer Feststellung, daß der be*
wußte Wille des Selbstmörders bei der Vollendung seiner Tat nicht zur
Geltung kommt; sie interpretieren sie nur in einem anderen Sinn, indem sie
die Macht, den Zwang der Gemeinschaft, die Lockerung der sozialen Bin*
düngen verantwortlich machen, während wir darin eine Manifestation des
unbewußten Sadismus, des Masochismus des Ichs, und eine Schwächung
der affektiven libidinösen Fixierungen erblicken, die das Ich mit seiner Um*
gebung verknüpfen.
Wir wollen nun einige besondere Selbstmordfälle bei verwitweten, ver*
lassenen oder isolierten Menschen untersuchen. Der Kummer ist nur ein
äußerer Anlaß. Um die Genesis des freiwilligen Todes besser zu verstehen,
wollen wir ihr die der Melancholie an die Seite stellen, so wie wir sie durlch
die Analyse zu erklären gelernt haben. Ohne in Details einzugehen, wollen
wir uns erinnern, daß Trauer, Trübsinn, Melancholie zu einem guten Teil
durch mehr oder weniger jähen Abbruch der affektiven Bindungen an eine
geliebte Person hervorgerufen werden. Dann kommt es zur Introjizierung
des Objekts, Identifizierung des Ichs mit demselben und Wendung der un*
bewußten, aggressiven Tendenzen, die früher gegen das Objekt gerichtet
waren, gegen das nun umgebildete Ich. Diese nun frei und bewußt gewor*
denen aggressiven Triebe werden in den Dienst des strengen und unbeug*
samen Über*Ichs gestellt und äußern sich als Selbstbeschuldigungen und
Vorwürfe, die der Mensch sich selbst macht. Die gleichen Tatsachen lassen
sich nun beim Selbstmörder beobachten. Auch er macht sich Vorwürfe,
leidet an Gewissensbissen, will sich bestrafen, weil er wie der Melancholiker
die unbewußten feindlichen Gefühle, die er früher gegen das geliebte und
verlorene Objekt gehegt hat, gegen sich selbst richtet. Er will sich dafür
bestrafen, daß er gleichzeitig geliebt und gehaßt hat. Was uns hier über*
190 W. Bischler
rascht, ist die Tatsache, daß die strafenden Bestrebungen des Melancholikers
im Dienste des Über*Ichs stehen, während der Selbstmord im allgemeinen
von dem sadistischen „Es" befohlen wird. Dieser anscheinende Widerspruch
verschwindet, sobald wir annehmen, daß zwischen dem „Es" und dem Über*
Ich ein inniges Bündnis gegen das Ich besteht.
Der Selbstmord in seinen verschiedenen Formen stellt also ein Kompro*
miß zwischen den grausamen Bestrebungen des Es und den gewalttätigen
Trieben des Über*Ichs dar. Einerseits finden wir tatsächlich Gehorsam gegen*
über den zerstörenden, verstümmelnden und Todestrieben, andererseits for*
dert die moralische Instanz Demütigung und Bestrafung des Ichs. Die yer*
schiedenen Unglücksfälle, die dem künftigen Selbstmörder zustoßen, sind,
wie wir gesehen haben, die Vorläufer, die Ankündigung des nahen Todes.
Sie enthüllen uns die Tätigkeit der beiden Feinde, die sich gegen das Ich
verbündet haben. Indessen gewinnt in gewissen Fällen das primitive Unbe*
wußte die Oberhand, z. B. wenn der Selbstmord nach einem Verbrechen
begangen wird und wenn er den Anschein einer Herausforderung der Ge*
Seilschaft hat. Die Wirkung des Uber*Ichs zeigt sich dagegen deutlich dort,
wo ein Mensch sich aus Reue, aus einem Gefühl der Schande, nach einem
wirtschaftlichen Zusammenbruch oder nach einem Verbrechen tötet; ebenso,
wenn er das geliebte Objekt nicht überleben will, ob er es nun wider seinen
Willen (Verwitwung etc.) verloren hat, oder ob er selbst zu seinem Mörder
geworden ist (Selbstbeschüldigung).
Wie wir schon gesagt haben, kommt es also zum Selbstmord, wenn die
sozialen Bindungen sich gelockert haben, mit anderen Worten, wenn unter
dem Einfluß des Es und des sadistischen Über*Ichs, des Todestriebes, des
Masochismus des Ichs die Libidobindungen und die an das Objekt und die
Gesellschaft gebundenen Regungen geschwächt worden sind. Der Selbst*
mord ist also ein letzter Bruch', der das in Gang befindliche Zerstörungswerk
vollendet, oder ein Versuch' der Wiedergutmachung, bei dem sich das Ich
in gewisser Weise für das Liebesobjekt opfert, indem es sein tragisches Ge*
schick teilt. Wer sich an das Schema von Durckheim und Halbwachs
hält, wird sagen, daß die egoistischen und anomischen Selbstmorde im allge*
meinen dem ersten Mechanismus entsprechen, das heißt Ausdruck der aggres*
siven feindlichen Tendenzen gegen die Gesellschaft, gegen das Ich als deren
Mitglied, gegen die affektiven Fixierungen des Einzelnen an seine Umgebung
sind. Das aggressive Es ist dabei der oberste Vertreter des Selbstvernich*
tungstriebes: Wirklicher Haß gegen die Gemeinschaft, psychischer Zerfall
des Ichs kommen vor; dabei wird sichtlich auch das Übersieh befriedigt, da
das Ich 1 aus mehr oder weniger logischen und moralischen Gründen bestraft
wird. Der klarste Fall dieser Art von Selbstmord ist jener des Mörders; aber
Selbstmord und Opfertod
191
auch' der Freitod des Verarmten, des Verwitweten oder Geschiedenen ge*
hören zur selben Gruppe, denn man wird, wenn man nur etwas in die Tiefe
zu schauen versucht, bemerken, daß schon Bankerott, Scheidung oder Tod
des Lebenspartners oft auf denselben zersetzenden Trieb zurückzuführen
sind, den man bei dem späteren Selbstmörder beobachten kann. Wir haben
es hier, kurz gesagt, mit der Wirkung egozentrischer, sadistischer, destruk*
tiver Triebe zu tun. Wenn wir noch weiter gehen wollen, können wir sagen,
daß diese Art Selbstmorde die deutlichste, durch einen vollkommenen Maso*
chismus des Ichs begünstigte Entfesselung der freigelassenen aggressiven
Triebe darstellen.
Die altruistischen oder Sühneselbstmorde, die wir als Opfertod bezeichnet
haben, lassen sich nach dem anderen Mechanismus erklären. In diesen Fällen
zeigt sich vor allem die Wirksamkeit des Über*Ichs. Die Menschen fühlen
sich unbewußt schuldig und gehorchen einem Bedürfnis nach Wiedergut*
machüng und Gerechtigkeit. Dieses primäre Schuldgefühl zeigt sich beson*
ders bei Selbstmord nach' einer Mordtat oder bei gewissen verwaisten, ver*
lassenen Menschen, die ihre Einsamkeit nicht ertragen können. Sie identifi*
zieren sich unbewußt mit dem Gatten, der geliebten Person, der Gesell*
schaft und wollen sich zu Unrecht oder mit Berechtigung für Vergehen be*
strafen, die sie begangen zu haben glauben, und für Unglücksfälle, für deren
Urheber sie sich halten. Sie sagen sich von ihrem Ich los; das rächende, im
Namen des Opfers oder der Gesellschaft auftretende Übersieh verlangt ge*
rechte Bestrafung; das Es ist befriedigt, weil die sadistischen Triebe nun freie
Bahn haben. Mit einem Wort: ein gebender (vergeltender) Trieb, aber mit
einem Zug von Aggression versehen, scheint bei diesen Selbstmorden der
treibende Motor zu sein. Mit einer Umschreibung von A 1 1 e n d y (La Justice
Interieure) könnten wir sagen: „Die Menschen töten sich, weil sie die Gegen*
sätze in ihren instinktiven Trieben als Schuldgefühl empfinden. Sie bestrafen
sich, weil ihre (wirklichen oder eingebildeten) Verbrechen nach Rache
schreien ... Es handelt sich um einen moralischen Masochismus, den die
Psychoanalyse enträtselt hat . . . Leiden und Tod befreien das Ich von den
hemmenden Tendenzen des Über*Ichs . . ."
Gewisse Selbstmorde scheinen nicht in diese Kategorie zu gehören, so der
Freitod der Primitiven (die Witwe, die sich nach dem Tod des Gatten tötet,
Männer an der Schwelle des Greisenalters, Diener nach dem Tode des Herrn),
der der Soldaten im Feld. Tatsächlich sind aber diese Fälle von freiwilligem
Tod der letzteren Kategorie zuzurechnen; die Menschen wollen sich bestrafen,
weil sie sich mit ihrem Partner (Gatten, Vorgesetzten etc.) solidarisch und
für sein Ableben verantwortlich fühlen, sie wollen nicht weiterleben, weil
ihre libidinösen Fixierungen sich abgeschwächt haben, und gehorchen Be*
fehlen, die sie von den Verstorbenen oder der Gesellschaft (den Vorgesetzten,,
den Vorfahren etc.) erhalten zu haben glauben; sie vergessen ihre Persönlich*
keit, ihr Ich, und identifizieren sich vollständig mit der Gemeinschaft, der
sie angehören.
Welches ist nun die Rolle, die die Gesellschaft bei diesen beiden Formen
des Selbstmordes spielt? Uns scheint es eine dreifache zu sein. Erstens schafft
sie die Bedingungen für den Selbstmord durch Nachlassen ihres Einflusses
auf den Menschen, indem sie seine affektiven, Fixierungen herabsetzt, seinen
Gemeinschaftstrieb und seine libidinösen Regungen lockert und seine psyclu*
sehe Beschaffenheit, die normalerweise von diesen Trieben ihre Nahrung er*
hält, durch deren Störung schwächt und verwundbar macht. Zweitens kann
die Gesellschaft, die im allgemeinen als Repräsentant von Autorität und
Zwang gilt, zum Objekt für Haß und Auflehnung werden. Sie kann die
feindlichen Gefühle, die die Menschen auf ihre Umgebung zu projizieren
versuchen, objektivieren und auf sich konzentrieren (egoistischer, anomischer
Selbstmord). Schließlich kann sie den wiedergutmachenden „Oblativ*Selbst*
mord" veranlassen, indem sie Schuldgefühle libidinöser Natur, ein Verlangen
nach Buße und Lossprechung in den Menschen weckt. Kurz gesagt: Die Ge*
Seilschaft spielt einmal die Rolle des Liebes* und Wunschobjektes: als Er*
nährerin, Beschützerin (Mutter), einmal die des Tyrannen und strengen Ver*
treters der Autorität (Vater). Die Gesellschaft introjiziert sich als kontrol*
lierendes und strafendes Übersieh, als Objekt erotischer Liebesregungen;
sie erweckt Verlangen nach Gerechtigkeit und Sühne.
Wir können nun den Selbstmord als Selbstbestrafung und Selbstvernich*
tung (Todestrieb) definieren, dazu bestimmt, die Forderungen des Über*Ichs
oder jene des „Es" entweder durch Schuldgefühl und Wiedergutmachung
(Aussöhnung, Rückkehr in den Mutterleib) oder durch Feindseligkeit gegen
die Autorität des Über*Ichs (Vater, Gesellschaft) oder schließlich durch
masochistische Identifizierung des Ichs mit dem Über*Ich, dem kollektiven
Unbewußten (Gesellschaft) zu befriedigen. Überdies kann man den Selbst*
mord als Triumph des Todestriebes ansehen, als einen Sieg des Individuums
(Es, Ich) über die Gesellschaft (Über*Ich), oder dieser (der kollektiven Be*
strebungen) über das Es; als Suchen nach Erlösung (von Vorwürfen, Selbst*
vorwürfen, vom Bewußtsein seiner selbst) durch Flucht in den Mutterleib
(Nichts, Tod), endlich als Lösung des Problems der narzißtischen Todes*
furcht. Der Opfertod erscheint als eine dem Ich auferlegte oder von ihm frei*
willig akzeptierte Strafe, eine Züchtigung des persönlichen Willens, der es
gewagt hat, sich zu behaupten. et
Wir wollen uns nun fragen, wie die Genesis des Opfertodes beschaffen ist
und in welchem Verhältnis dieser zu der eben von uns gegebenen Definition
Selbstmord und Opfertod 193
des Selbstmordes steht. Wie wir gesehen haben, nähert er sich dem aufopfern*
den oder altruistischen Selbstmord, bei dem der Mensch mehr oder weniger
den Begriff seines Ichs verliert, sich mit der durch das Übersieh repräsen*
tierten Gesellschaft identifiziert und deren Forderungen gehorcht. Es scheint,
daß diese Verschmelzung der Individualität mit der Allgemeinheit, dieses
Aufgehen im sozialen Milieu im Opfertod den höchsten Grad erreicht hat.
Der einzelne Mensch zählt nicht mehr, er hat nicht einmal mehr das Gefühl
zu handeln, um erhaltene Befehle auszuführen, er verliert sich vollständig an
einen fremden Willen. Wir haben hier also eine vollkommene Identifizierung
des Ichs mit seinem Übersieh. Es wandelt sich zu seinem Bestandteil um, hat
an seinem Wesen teil (Rückkehr in den Mutterleib). Wir können auch sagen,
die böse Mutter verlangt von ihren Kindern das Geschenk des Seins zurück.
Als Kompensation verspricht sie ihnen absolute Glückseligkeit entweder
durch den Schutz, den sie allen ihren Angehörigen angedeihen läßt, oder
durch die Teilhaberschaft an ihrer gesamten Macht. Der Opfertod gerät da*
durch in Verwandtschaft mit der von den Buddhisten gepredigten Lehre vom
Nichts, vom Nirwana. Götter, Gesellschaft, Gesetze, Sitten und Gebräuche
sind nur die ausübenden Kräfte dieses höheren sadistischen, kannibalischen
Willens, des Uber*Ichs, welches das masochistische Ich aufzehrt und ver*
nichtet. Diese Interpretation erhält dadurch ihre Bekräftigung, daß wir von
Menschen* und Tieropfern wissen, bei denen dort, wo die Opfer den Göttern,
Genien oder Schutzgeistern geweiht werden, der Stamm oder die soziale
Gruppe nach' erfolgter Zeremonie ein heiliges Mahl veranstalten, bei dem die
Opfertiere verzehrt werden und das meist noch üppige Eß* und Trinkgelage
im Gefolge hat. Die kannibalischen, grausamen Triebe schaffen sich auf
diese Weise freie Bahn, es kommt nicht nur zu einer Wiederaussöhnung, son*
dem zur Identifizierung mit dem mächtigen Schutzgott; das Festmahl sym*
bolisiert die darüber herrschende Freude. Ebenso wie die Manie (Triumph
des Ichs zur Versöhnung mit dem Übersieh) auf die Melancholie (Selbst*
bestrafung des Ichs durch das Übersieh) folgt, folgen, durch das Gefühl der
wiedergewonnenen Macht hervorgerufen, Freude und Festlichkeit dem Opfer,
das eine gewisse Verstümmelung des Ichs bedeutet, das einen Teil seiner
Kraft an das Übersieh abgibt, um sich in dessen Gunst zu setzen. Wenn man
schließlich die einfachste, von einem einzelnen Menschen vollzogenen Form
des Opfers (Todes) untersucht, wird man konstatieren können, daß zuerst
Schuldgefühl vorhanden ist, gefolgt von Selbstbestrafung durch Verstumme*
lung des Ichs, Überlassung eines Teiles seines Besitzes, seiner Kräfte, und
dann ein Gefühl der Befreiung und der Freude über die erreichte Versöhnung
mit dem Uber*Ich (mit den Göttern etc.) und über die Teilhaberschaft an
dessen Macht. Auf ein einfaches Schema gebracht, lautet das Ergebnis fol*
Imago XXII/2 13
gendermaßen: Der Sohn fühlt sich dem Vater gegenüber schuldig, weil er
ihn töten wollte, er wendet seine aggressiven Triebe gegen sich selbst, ver*
stümmelt sich (Kastration), um die Gewogenheit des Vaters und die Teil*
nähme an dessen Macht wieder zu erlangen, identifiziert sich also mit ihm
und fühlt sich dann doppelt gestärkt und belohnt.
Vom Standpunkt des Vaters (Gottes, der Gesellschaft) aus betrachtet, stellt
das Opfer eine mehr oder weniger tyrannische Forderung nach Verstumme*
lung an den Sohn (die Mitglieder der Gesellschaft, die Getreuen); dann er*
folgt die Bestrafung des Sohnes, schließlich Verzeihung und Versöhnung.
Die nachfolgende Freude würde hier weniger dem letzten Umstand ent-
springen, als der Befriedigung der mehr oder weniger gewalttätigen sadi*
stischen Triebe.
Stellen wir nun der soeben gegebenen Deutung die des Selbstmordes zum
Vergleich an die Seite. Während der Selbstmord entweder eine direkte oder
indirekte Rebellion des Ichs (des Sohnes) darstellt (Schwächung der affek*
tiven Bindungen an Übersieh— Vater— Gesellschaft), oder einen Versuch,
gelockerte libidinöse Fixierungen wieder zu knüpfen, oder endlich' eine
Selbstbestrafung und Wiedergutmachung (Loskauf), eine Wiedergeburt, be*
steht der Opfertod in einer totalen oder teilweisen Vernichtung des Ichs durch
Identifizierung mit den höheren moralischen strafenden Instanzen (Übersieh,
Vater, Gesellschaft). Der Selbstmord kann also durch aggressive, rachgierige,
egoistische Motive oder durch masochistische, altruistische veranlaßt werden;
der Opfertod ist immer Ausdruck oblativer (gebender) Regungen. Wenn wir
die Stellung der verschiedenen mitwirkenden Instanzen untersuchen, werden
wir finden, daß das Ich in jedem Fall der Rachsucht des „Es", dem Zorn des
Über*Ichs, den äußeren zwanghaften Einflüssen zum Opfer gebracht wird.
Das „Es" spielt eine mehr oder weniger wichtige Rolle, in der es sich einmal
sadistisch und gewalttätig, einmal masochistisch (Todestrieb) zeigt. Das
Übersieh tritt in den meisten Fällen selbständig und fordernd auf.
Wir können nun die ambivalente Einstellung der Allgemeinheit gegenüber
dem Selbstmord verstehen. Die Gesellschaft fordert die Opferung des schul*
digen Ichs, des rebellierenden Sohnes, der bestraft werden muß (Rolle des
Über*Ichs), andererseits aber verurteilt sie manche Formen des Selbstmordes,
und zwar nicht nur die durch Rebellion des Ichs (Sohnes) verursachten, son*
dem auch gewisse „oblative" Loskauf*Selbstmorde. Der Grund ist darin zu
suchen, daß das Ich, das Individuum, sich die rächende und bestrafende Rolle
angeeignet hat, die die Allgemeinheit sich selbst vorbehalten hat, daß es,
ohne deren Verdikt abzuwarten, sich selbst sein Unrecht eingesteht und
damit der Allgemeinheit die Verzeihung zu erpressen meint, die diese erst
gewährt, nachdem ihr Rachedurst und ihr Zorn gestillt sind.
Selbstmord und Opfertod 195
Vergleichen wir nun zum Schluß diese These mit der von Durckheim
und Halbwachs. Was die beiden Autoren Gesellschaft und sozialen
Zwang nennen, löst sich nach unserer Darstellung in affektive, libidinöse Bin*
düngen, in gebende Tendenzen, die im Übersieh oder im Unbewußten aller
Menschen lokalisiert sind. Es handelt sich um überpersönliche, irrationale,
alogische Kräfte, denen das bewußte Ich nicht Widerstand leisten kann : Was
also die Soziologen in eine mehr oder minder abstrakte Wesenheit, die über
die Gesamtheit der in ihr vereinigten Individualitäten hinausgreift, in die
Gesellschaft zerlegen, zeigt uns die Psychoanalyse als unbewußte Triebe, die
auch über das bewußte Ich hinausreichen, es beherrschen und nach ihrem
Willen lenken.
Wir haben gesehen, daß Halbwachs und die gesamte soziologische
Schule die Gedanken, die Willensäußerungen und andere psychologische
Phänomene als durch die Gesellschaft bedingt, von ihr geformt und in ihren
Dienst gestellt ansehen; die Psychoanalyse bestätigt diese These von der teil*
weise außerpersönlichen Natur psychischer Funktionen, denn diese ergeben
sich ja einerseits durch Differenzierung der sexuellen und sozialen Triebe,
andererseits verdanken sie dem kollektiven Unbewußten, dem Freud*
sehen Übersieh (das sexueller und sozialer Art ist) ihr Entstehen. Wenn nun
Halbwachs erklärt, daß sich in dem von einem beliebigen Menschen ge*
faßten Entschluß zum Selbstmord der Wille der Gemeinschaft kundgibt, so
hat er damit recht, sobald man den Terminus Gemeinschaftswillen in dem*
selben Sinne versteht wie wir: als Auswirkung hereditärer familiärer Triebe,
die von Eltern und Erziehern vorgeschrieben, durch die Lebensverhältnisse
geformt werden und dazu bestimmt sind, die affektiven Beziehungen des Ein*
zelnen zu seiner Umwelt zu beherrschen.
Dieser Vergleich der beiden Gesichtspunkte erschien lehrreich, weil er
uns auch in die Lage versetzt, die von den beiden Wissenschaften gemäß ihrer
Einstellung untersuchten Phänomene besser zu erfassen und zu erklären.
13*
MITTEILUNGEN UND DISKUSSIONEN
Zum Studium des Versprechens 1
Von
Ludwig Eideiberg
Wien
Die grundlegenden Mechanismen der Fehlleistungen wurden von F r e u d in
der „Psychopathologie des Alltagslebens" und in den „Vorlesungen zur Einfüh*
rung in die Psychoanalyse" beschrieben. Freud setzte dann seine Forschungen
auf anderen Gebieten des seelischen Lebens fort. Diesen Wechsel des Schau*
platzes seiner Tätigkeit begründet er wie folgt: „Ich glaube auch nicht, daß wir
diese uns unbekannten Verhältnisse durch weitere Vertiefung in das Studium der
Fehlleistungen aufdecken könnten. Es wird vielmehr notwendig sein, vorher noch
andere dunkle Gebiete des Seelenlebens zu durchforschen; erst die Analogien,
die uns dort begegnen, können uns den Mut geben, jene Annahmen aufzustellen,
die für eine tiefer reichende Aufklärung der Fehlleistungen erforderlich sind". 2
Da seither durch seine Arbeiten und die seiner Schüler wichtige Fortschritte
gemacht wurden, erscheint es nicht unangebracht, gestützt auf die Ergebnisse
der Neurosenforschung, die Aufmerksamkeit dem Studium des Versprechens
wieder zuzuwenden.
Seit Freud wissen wir, daß man bei dieser Untersuchung die Bedingungen,
unter denen das Phänomen der Fehlleistungen stattfindet, von den Ursachen
selbst trennen muß. F e d e r n hat diese Bedingungen beschrieben. 3
Die vorliegende Arbeit wird lediglich die Ursachen der Fehlleistungen be*
rühren. Vorerst ein Zitat Freuds. 4 „Wir haben gesagt, daß die Fehlleistungen
Ergebnisse der Interferenz von zwei verschiedenen Intentionen sind, von denen
eine die gestörte, die andere die störende heißen kann ... Diegestörtenln*
tentionen geben zu weiteren Fragen keinen Anlaß..." (Sper*
rung vom Verf.)
Es scheint uns nun auf Grund der Erfahrungen, die wir beim Studium der Neu*
rosen gemacht haben, nicht uninteressant, uns auch mit der gestörten Tendenz
zu beschäftigen. Vorher will ich daran erinnern, daß bekanntlich nicht jede
unterdrückte, i. e. störende Tendenz zu einer Fehlhandlung führt. Wir sind
vielmehr imstande, recht häufig Tendenzen, die aus irgend einem Grunde der
Gesamtpersönlichkeit mißfallen, durch Verurteilung abzulehnen. Was also ist
i) Nach einer in der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung am 10. März 1936 vort>
getragenen Mitteilung.
2) Ges. Sehr., Bd. VII, S. 61.
3) Paul Federn: Die Ichbesetzung bei den Fehleistungen. Imago, Bd. XIX, 1933.
4) Ges. Sehr., Bd. VII, S. 56.
Zum Studium des Versprechens 197
der Grund dafür, daß eine Tendenz bewußt und verurteilt wird und dann in
Form einer Fehlhandlung wiederkehrt, oder ohne bewußt zu werden, lediglich in
Form einer Fehlleistung sich bemerkbar macht? Am einfachsten könnte dieser
Tatbestand durch Heranziehung quantitativer Momente erklärt werden, doch sei
vorerst der Versuch gemacht, diesen Sachverhalt genauer zu betrachten. Zu
diesem Zwecke wollen wir unsere Aufmerksamkeit der bisher vernach*
lässigten anscheinend harmlosen, immer bewußten Tendenz zuwen*
den, die Freud als die gestörte bezeichnet hat. In dem Beispiel Freuds vom
schüchternen jungen Mann, der das Fräulein begleiten möchte, lautet die ge*
störte Tendenz: „Die Dame begleiten" Diese harmlose Tendenz wird nun durch
einen plötzlich aufsteigenden aggressiven Es* Wunsch „beleidigen" gestört, als
Kompromiß beider Tendenzen entsteht das Wort „begleitigen". Versuchen wir
nun, diese Deutung unseren Patienten zu geben und ihnen an diesem Beispiele ihre
unterdrückte unbewußte Aggression zu demonstrieren, so schaut die Reaktion
der Patienten manchmal merkwürdig aus. Wir erwarten im vorhinein, daß der
Patient, vorausgessetzt, daß er diese Deutung akzeptiert hat, etwa Schuldgefühle
bekommt und sich seiner Aggression zu schämen beginnt. Statt dessen geschieht
es manchmal, daß er mit der Frage antwortet: „Ist diese Tendenz wirklich so
harmlos?" Wenn wir an unsere Patienten denken, die besonders schüchtern sind
und denen solch ein Versprechen zuzutrauen wäre, so erinnern wir uns, daß
ihnen diese Tendenz vielleicht nicht so harmlos erscheinen mag, daß manche
uns auf die Gesetze der Moral, auf die öffentliche Meinung aufmerksam machen
und uns zu überzeugen versuchen, daß es eigentlich vorteilhaft war, daß die
Durchführung der Absicht, die Dame anzusprechen, mißlungen ist. Die Patienten
schrecken vor einer konsequenten Glorifizierung der störenden Tendenz nicht
zurück, jener Tendenz, die uns aggressiv und deshalb verpönt erscheint. Einige
von ihnen meinen sogar, daß gerade diese ihr „besseres Ich" repräsentiere. Es hat
den Anschein, als ob wir mit unserer Deutung, die die bis dahin unbewußt ge*
bliebene Regung dem Patienten bewußt macht, ein großes Unheil angerichtet
haben. Statt ihn nämlich zu heilen, also an Stelle der unbewußten Abwehr eine
bewußte Verurteilung zu setzen und die anschließende Sublimierung zu erleich*
tern, erreichen wir, daß diese mangelhafte (neurotische) Abwehrform durch eine
Bejahung ersetzt wird. Mit Rücksicht auf die Kürze der Zeit muß ich mir ver**
sagen, diese Probleme, die mit der Theorie der Perversion 6 zusammenhängen,
ausführlich zu erörtern, und begnüge mich mit der Feststellung, daß die Aggres*
sion, die wir als Es^Regung gedeutet haben, die im Versprechen die Zensur
durchbrach, hier im Widerspruch zu unserer Deutung als im Dienste des Über*
Ichs stehend bezeichnet wird. Wir wissen, daß damit die unbewußten Anteile
des Über^Ichs gemeint sind, und daß die störende Tendenz, die uns als Ausdruck
einer überstrengen Moral erscheint, diese Strenge den abzuwehrenden infantilen
Wünschen verdankt.
S) Siehe dazu L. Eideiberg „Zur Theorie und Klinik der Perversion" (Jahrb.
Psych, und Neur. Bd. 50/255).
198 Ludwig Eideiberg
Die eingehende Analyse solcher Fälle zeigt nämlich, daß neben der bewußten
Tendenz: „die Dame zu begleiten", ein unbewußter Wunsch, die Dame als
Objekt für infantile Befriedigungen zu mißbrauchen, bestanden hat. Wir ver*
muten, daß im konkreten Falle die harmlose Tendenz gar nicht harmlos war,
daß die angestrebte Handlung abgewehrt werden mußte, weil sie gleichzeitig
unbewußt eine andere Bedeutung hatte. Wir haben bisher unsere Aufmerksam*
keit der „störenden Tendenz" zugewendet, umsomehr soll auch die „gestörte" Ge*
genstand unserer Untersuchung werden; allerdings dürfen wir uns bei dieser
Untersuchung nicht damit begnügen, den bewußten Wortlaut zu betrachten,
sondern müssen ihn erst deuten. Diese Deutung zeigt dann, daß hinter dem
bewußten harmlosen Sinn, ein unbewußter verpönter Trieb*
wünsch auf seine Befriedigung lauert. Doch erweist sich das Obersich wach*
samer als das Ich und verhindert durch seine rechtzeitig auftauchende ;,störende
Tendenz" diese Befriedigung.
Wenn nun diese Behauptung richtig ist, und wenn sie, wenn nicht für alle
Fehlleistungen, so doch für eine Gruppe gilt, verstehen wir, weshalb die „stö*
rende Tendenz" nicht bewußt blieb und durch Verurteilung die „gestörte" er*
ledigte. Die „störende Tendenz", die junge Dame zu beleidigen, müßte nämlich,
um bewußt bleiben zu können und an Stelle der „gestörten" zu treten, vor dem
Forum der Vernunft entsprechende Gründe zu ihrer Rechtfertigung vorbringen
können, um zu erweisen, daß sie, obwohl grob, noch immer als besser als die
„gestörte" anzusehen sei. (Statt begleiten — beleidigen.) Nach dieser Formulie*
rung ist der Mechanismus des Versprechens dem des neurotischen Symptoms noch
ähnlicher. Die „gestörte Tendenz" entspricht mit Rücksicht auf ihre unbewußte
Bedeutung dem verpönten infantilen Triebwunsch, die „störende Tendenz" stellt
den unbewußten Anteil des Ichs dar, der im Auftrage des Über*Ichs die Abwehr
durch Gegenbesetzung leistet. Diese Gegenbesetzung war in diesem Falle die
Mobilisierung der Aggression.
Die Fehlleistung ist auch, ähnlich wie das neurotische Symptom, ein Kom*
promiß zweier Tendenzen. Diesen Kompromißcharakter verliert sie weitgehend,
wenn man lediglich die bewußte Bedeutung der gestörten Tendenz berücksichtigt.
In solchem Falle ist sie kaum ein Kompromiß, sondern meistens ein vollständiges
Mißglücken der bewußten Tendenz. Wenn wir dagegen die unbewußte Bedeu*
tung der gestörten Tendenz heranziehen, erkennen wir, daß der junge Mann
durch dieses Versprechen gleichzeitig seine exhibitionistischen und
Voyeur*Wünsche, seine Aggression und seinen psychischen
Masochismus befriedigen konnte. Die Abwehr wurde in diesem Beispiele
durch die Aggression durchgeführt, außerdem wurde aber der in Betracht kom*
mende Sexualtrieb nach innen gewendet. Diese Wendung wird uns klar, wenn
wir das Versprechen des Assistenten heranziehen, der beim Festessen, das zu
Ehren seines Chefs stattfand, in der Begrüßungsrede statt „anstoßen" — „auf*
stoßen" sagte. Wir vermuten, daß er durch die an sich harmlose Tendenz, „auf
das Wohl seines Chefs anzustoßen", seine passiv*f emininen und Voyeur* Wünsche
,
Zum Studium des Versprechens
199
befriedigen wollte. Wegen dieser verpönten Befriedigung kam es zu einer
Abwehr durch den unbewußten Anteil des Ichs. Statt seinen Chef zu feiern, seine
Verdienste zu beleuchten, ihn seiner Ergebenheit zu versichern, erreichte er durch
das Versprechen die entgegengesetzte Wirkung. Die Stimmung wurde verdorben;
an Stelle des Chefs wurde der Assistent zum Mittelpunkt der Aufmerksamkeit
der Anwesenden.
Es ist klar, daß die zwei Beispiele lediglich zur Illustration unserer Über»»
legungen dienen, daß unsere Deutungen nur Vermutungen sind. Da das Ver*
sprechen beider Personen nicht analysiert wurde, bedeutet das Vorgebrachte
keinen Beweis für die Richtigkeit dieser Formulierungen. Um ihn zu erbringen,
will ich Beispiele vorlegen, die im Rahmen analytischer Behandlungen unter*
sucht wurden.
Patient A: „Wenn wir die Außenstände, — verbessert sich — Schulden meiner
Frau bezahlt haben." Die Analyse ergab folgendes: Das Wort Schulden wurde
unterdrückt, weil es geeignet war, die Aggression gegen den Analytiker zu be*
friedigen: „Du bist schuld, daß meine Frau Schulden hat, denn sie mußte dir das
Geld für ihre Behandlung geben." Das Wort „Außenstände" bedeutete erstens
die Wendung gegen die eigene Person; Patient hatte ebenfalls Schulden ge*
macht, sie nicht bezahlt, statt dessen einem Freunde Geld geliehen. Auf diese
Weise ersparte er sich Schuldgefühle wegen seiner Schulden, bis die Analyse
diesen Mechanismus zerstörte. „Außenstände" bedeuten also Aggression gegen
den Patienten selbst, weil sie ihn an diese unangenehme Episode erinnern. Zwei*
tens wurde ein Sexualtriebgemisch (anale Qualität) mobilisiert. In diesem Sinne
bedeutete „Außenstände", daß seine Frau tatsächlich neben unbedeutenden Schul*
den, ein größeres Vermögen besitzt. Die gestörte Tendenz lautete hier „Schulden
bezahlt", eine vom Standpunkt des Bewußtseins betrachtet, zweifellos harmlose
Mitteilung. Erst durch die Einfälle des Patienten erkannten wir, daß das Wort
„Schulden" gleichzeitig auch geeignet war, eine verpönte aggressive Tendenz zu
befriedigen, nämlich dem Analytiker vorzuwerfen, daß er schuld sei an diesen
Schulden, da die Frau des Patienten längere Zeit bei ihm in Behandlung war und
dafür viel Geld ausgegeben hatte.
Schulden repräsentieren also neben der bewußten harmlosen Tendenz auch
eine unbewußte aggressive, dem Es angehörende Regung.
Um diese Regung abzuwehren, bezw. ihre Befriedigung durch das Aussprechen
des Wortes „Schulden" zu verhindern, erfolgte eine Abwehr durch den unbe*
wußten Ichanteil. Die aggressive Regung wird dabei gegen den Patienten gewendet,
das Wort „Schulden" wird durch „Außenstände" ersetzt, statt des Analytikers
wird der Patient angeklagt. Doch beschränkt sich die Abwehr nicht auf diese
Wendung des Triebgemisches. Nicht nur die Richtung wird geändert, sondern
auch die Qualität des Triebes. An Stelle und neben der Aggression erscheint die
Sexualität. Das Wort „Außenstände" bedeutet nämlich auch etwas Angenehmes;
es erinnert, an das außerhalb Wiens liegende Gut, das der Frau des Patienten
gehört. Die Lust, die an diese Erinnerung geknüpft ist, entspricht der analen
200 Ludwig Eideiberg
Qualität des Sexualtriebgemisches. Während wir also bisher bei der Unter*
suchung eines Versprechens lediglich zwei Tendenzen, eine bewußte harmlose
und eine unbewußte verpönte unterschieden haben, müssen wir jetzt drei be*
rücksichtigen: 1. eine bewußte harmlose, 2. eine unbewußte ver*
p ö n t e, die dem Es angehört, und 3. eine, die ebenfalls unbewußt ist, im Ver*
gleiche mit der bewußten verpönt erscheint, aber nicht dem Es angehört, sondern
im Dienste des unbewußten Anteiles des Ichs steht. Die bisher
gebräuchliche Deutung würde lauten: das Wort „Außenstände" ist der Träger
einer unbewußten dem Es zugehörenden vom Ich unterdrückten Regung.
Patient B sagte, nachdem er eine Deutung angenommen hatte: „Sie dürften", —
er verbessert sich — , „Sie haben recht." Er hatte mir vorher erzählt, daß er sich
gestern mit seiner Frau ausgesöhnt hatte, und daß sie dann ganz verändert war,
nämlich ganz aufgelöst, sanft und weich. Wegen dieses Vorfalles war er depri*
miert und erklärte diese Depression damit, daß diese Veränderung seiner Frau
nur von kurzer Dauer sein werde. Ich bezweifelte die Richtigkeit dieser Erklärung
und meinte, daß die Depression wegen der günstigen Veränderung seiner Frau
entstanden sei. Er hatte bisher seine Aggression in innerer I dentis»
f i z i e r u n g e mit seiner Frau befriedigt; diese Möglichkeit war jetzt weggefallen;
nun wurde die Aggression nach innen gewendet. Patient hatte zuerst diese Deu*
tung bestritten, mußte mir aber dann auf Grund der Einfälle recht geben. Dabei
ereignete sich das oben wiedergegebene Versprechen. Die Analyse dieses Ver*
Sprechens ergab: Das Wort „rech* haben" wurde unterdrückt, weil es unbewußt
die Befriedigung der passiv*homosexuellen Einstellung zum Analytiker bedeutete.
(Er hat immer recht). Das Wort „dürften" bedeutete erstens eine Wendung des
Wunsches: „Sie dürfen recht haben", „ich gestatte es". An Stelle der verpönten
passiven Einstellung trat also die aktive. Zweitens wurde der aggressive Trieb*
wünsch als Gegenbesetzung mobilisiert; hier bedeutete „dürften": „Viel*
leicht haben Sie recht, sicher ist das nicht, auch Sie können sich irren." Die be*
wußte, gestörte harmlose Tendenz lautete hier: „Sie haben recht"; gleichzeitig
war aber das Wort „haben" geeignet, den unbewußten passiv*homosexuellen
Es* Wunsch zu befriedigen. Die im Dienste des unbewußten Ichanteiles stehende
störende Tendenz war durch das Wort „dürften" vertreten.
Patient C, ein junger Arzt, schrieb neben dem Bette eines Patienten .stehend,
nach dem Diktat seines Chefs, den Befund. Während der Untersuchung berührte
der Chef den Arzt mit seinem Kopf, ohne daß dieser sofort Platz gemacht hätte.
Nach der Untersuchung wurde er deswegen vom Chef ironisch zur Rede gestellt.
Der junge Arzt erzählt den Vorfall in der Analyse und sagt: „Ich habe da .eine
kleine Subordination begangen." Er wird von mir auf den Fehler aufmerksam
gemacht und korrigiert „Subordinationsverletzung". Die Analyse ergab fol*
gendes: Das Wort Subordinationsverletzung wurde unterdrückt, weil es
eine Befriedigung unbewußter Aggression gegen den Chef bedeutet hatte (den
6) Siehe dazu L. Eideiberg: Theorie und Klinik der Pseudoidentifizierung. (Im
Erscheinen.) "
Zum Studium des Versprechens 201
Chef verletzen.) Die Abwehr erfolgte durch das Wort Subordination,
das erstens eine Wendung der Aggression gegen die eigene Person bedeutet. Der
Arzt wurde von seiner Familie häufig verspottet, weil er Fehler in der Verwen*
düng von Fremdwörtern machte. Wenn er jetzt Subordination statt Subordina*
tionsverletzung oder statt Insubordination sagte, so zeigt er damit, daß seine
Familie recht hatte, ihn zu verspotten. Zweitens wurde der entgegenge*
setzte Trieb mobilisiert. Das Wort Subordination bedeutete in diesem
Sinne: Ich will mich passiv*homosexuell unterwerfen. Die bewußt gestörte, härm*
lose Tendenz lautete hier: Ich habe eine Subordinationsverletzung begangen. Das
Wort Subordinationsverletzung war auch geeignet, eine aggressive, dem Es
angehörende Regung zu befriedigen. Die störende Tendenz war durch das im
Dienste des unbewußten Ich*Anteiles stehende Wort Subordination vertreten.
Ein Patient D, der wegen Potenzstörung in die Behandlung kam, und bei
dem unbewußte Exhibitions* und Voyeurwünsche eine große Rolle spielten,
sagte: „Um auf das System" (verbessert sich) „Symptom zu sprechen zu kommen."
Die Analyse dieses Versprechens ergab folgendes: Patient sprach in der Stunde
sehr gern über seine Impotenz und war unwillig, wenn der Analytiker ihn an
die Grundregel erinnerte. Er meinte zunächst, daß diese Konzentration auf sein
Symptom, die Folge seines intensiven Wunsches sei, möglichst bald gesund zu
werden. Erst nach geraumer Zeit erkannte er, daß umgekehrt diese Konzentration
Ausdruck seines Widerstandes war, daß er damit die Grundregel durchbrach und
seine Aggression gegen den Analytiker befriedigte, indem er ihm auf diese Weise
den noch nicht erzielten Erfolg der Behandlung dauernd vorhielt. Gleichzeitig
diente die Erzählung und Schilderung seiner Symptome seinen unbewußten ex*
hibitionistischen Wünschen. Demnach wurde in dem Versprechen das scheinbar
harmlose Wort Symptom abgewehrt, weil es eine verpönte aggressive und ex*
hibitionistische Bedeutung hatte. Die Abwehr erfolgte durch den unbewußten
Anteil des Ichs, indem an Stelle des Wortes Symptom das Wort System ge*
setzt wurde. Dieses Wort hatte nun folgende Bedeutung: 1. „Ich will folgen und
nicht von meinem Symptom sprechen, sondern der Grundregel entsprechend
systematisch auf alles eingehen, auch wenn es noch so unwesentlich aussieht."
2. „Ich will nicht mehr mit meinem Symptom exhibitionieren, sondern umgekehrt
den Analytiker und die analytischen Systeme beschauen." Vor der Stunde hatte
Patient im Kaffeehaus in einer medizinischen Zeitschrift einen Artikel gelesen, in
welchem der Verfasser die verschiedenen psychotherapeutischen Schulen und
Systeme' besprach. So wurden durch das Wort System zwei Triebregungen be*
friedigt, die im Dienste des unbewußten Anteils des Ichs die Abwehr bildeten:)
eine aggressive Regung, die man mit den Worten ausdrücken kann: „Sie haben
kein Recht, auf die Autorität der Analyse zu pochen, selbst unter Ärzten sind (die
Ansichten geteilt", und einer sexuellen Regung: „Ich will folgen und syste*
matisch arbeiten." Wir sehen, daß der ursprünglich aggressive Triebwunsch, vom
Symptom zu sprechen, um den Analytiker zu ärgern, erstens nach innen ge*
wendet wurde (der Patient ärgert sich, wenn er nicht mehr vom Symptom
202 Alfred Gross
sprechen darf), zweitens als Gegenbesetzung einen Sexualwunsch, in der Form:
„Ich will mein bisheriges Desinteressement aufgeben und den Analytiker und
sein System betrachten", auslöste.
Der ursprünglich sexuelle Triebwunsch — „Ich will vor dem Analytiker mit
meinem Symptom exhibieren" — wurde erstens nach innen gewendet — „Ich will
den Analytiker betrachten" — , und zweitens entstand als Gegenbesetzung ein
aggressiver Wunsch: „Ich will ihm die zahlreichen Systeme seiner Lehre zum
Vorwurf machen." Die bewußte gestörte Tendenz lautete hier: „um auf das
Symptom zu sprechen zu kommen". Das Wort Symptom war gleichzeitig ge*
eignet, der Befriedigung unbewußter, exhibitionistischer und aggressiver Es*
Regungen zu dienen. Das Wort System stand im Dienste des unbewußten Ich*
anteils.
Zusammenfassung
1. Die analytische Untersuchung zeigt, daß die bisher beim Studium des Ver*
Sprechens vernachlässigte „gestörte Tendenz" von Bedeutung ist, da sie neben
der bewußten harmlosen eine unbewußte verpönte Bedeutung besitzt.
2. Bei anderen Fehlhandlungen, vor allem beim Vergessen, wurde die Bedeu*
tung der gestörten Tendenz bereits von Freud gewürdigt.
3 Der Mechanismus des Versprechens wird folgendermaßen beschrieben: Ein
Satz oder Wort, das ausgesprochen werden soll, hat neben der bewußten noch
eine unbewußte Bedeutung, die der Befriedigung infantiler Triebwünsche dient.
Um diese Befriedigung der Es* Wünsche zu verhindern, setzt die Abwehr durch
den unbewußten Anteil des Ich ein. Diese Abwehr erfolgt erstens durch die
Wendung des die Befriedigung anstrebenden Triebgemisches gegen die eigene
Person, zweitens durch die Mobilisierung des entgegengesetzten Triebgemisches.
4. Die Entscheidung darüber, ob dieser Mechanismus bei jedem Versprechen
oder nur bei einer Gruppe vorliegt, ist derzeit noch nicht möglich.
Zur Psychologie des Geheimnisses 1
Von
Alfred Gross
London
I.
Dostojewskis Romanheld „Der Jüngling" lebt jahrelang in der Phantasie,
reich zu werden, steinreich. Wenn es ihm gelänge, so reich zu werden wie Roth*
schild, würde er nichts davon merken lassen; wie früher würde er in abge*
i) In italienischer Sprache in „Rivista Italiana di psicanalisi", Februar 1934 erschienen.
Zur Psychologie des Geheimnisses
203
schabten Anzug über die Straße gehen, kein Mensch würde wissen, daß er uner,
meßhch reich sei. „Mir genügt das B e w u ß t s e i n", läßt ihn der Dichter sagen
Das Beispiel zeigt eine Spielart des phantastischen Denkens, u. zw die welche
wir mit dem Worte „Geheimnis" bezeichnen.
In der psychoanalytischen Arbeit drängt sich das Phänomen häufig genug auf
Denn, wenn schon der Alltagspsychologie angehörig, trifft man es auch beim
Kranken an und dann unter interessanten Bedingungen.
Wenn wir - zunächst unabhängig von den Erfahrungen der Analyse - ver*
suchen, den Begriff aus dem Gebrauch des täglichen Lebens abzuleiten, so können
wir teststellen: das Geheimnis erscheint besonders unsozial, denn es verliert seine
Eigenschaften, sobald sein Inhalt der Gesamtheit angehört. Sein Wesen ist das
Wissen einer Person um einen Tatbestand unter Ausschließung aller übrigen
von diesem Wissen. Die Ausschließung enthält die Dynamik des Geheimnisbe.
gnffes. Gerade in ihr liegt seine Macht.
Die Ausschließung der Gesamtheit macht das Geheimnis gleichsam zum Privat,
besitz und reiht es assoziativ in die Besitztümer des Menschen ein Von ihnen
unterscheidet es sich durch Verborgenheit. Es ist ein Besitz, von dem die anderen
nichts wissen, vergleichbar dem versteckten Golde des Geizhalses. Aber kein kon*
kreter Besitz wie Gold und Eigentum, sondern ein ideeller gleich Ehre und Ruhm
Aso ein gleichzeitig verborgener und abstrakter Besitz, was ja nicht das,
selbe ist.
Die Besitztümer überleben den Menschen, der Besitz „Geheimnis" verhält sich
anhänglicher; er ist bereit, mit seinem Träger zugrundezugehen. Hierdurch tritt
er in die Analogie mit den körperlichen „Besitztümern" des Menschen, seinem
Kopf, seinem Herzen, seiner Hand etc. Er erweist sich also enger mit ihm ver*
bunden als materieller und ideeller Besitz.
Auch von diesem individuellen Besitz („Körperteile") unterscheidet sich das
Geheimnis als Besitz noch: Jene nämlich, wertvoller und treuer als äußerer Be*
sitz, sind doch allzu treu. Unveräußerlich erheben sie den Anspruch, immer da
zu sein und bei ihrem Herrn zu bleiben. Er muß sie behalten. Anders das Ge*
heimnis. Sein Besitzer k ann es behalten, wenn und solange er will, kann es aber
auch ausgeben, wenn und wann er will; kann es verschenken, verkaufen, ver*
tauschen.
Dieser Besitz „Geheimnis" vereint also die Vorzüge des Goldes mit denen der
Organe und läßt die Nachteile beider Kategorien vermissen. Es hat aber noch
eine Eigenschaft, die alle bisherigen weit übertrifft und in den Schatten stellt- es
ist regenerationsfähig. Ein verlorener Arm wächst bei aller Treue zu seinem Be*
sitzer nicht wieder nach. Das Geheimnis, einmal preisgegeben, ist nur seinem In.
halte nach verloren, während das Gefäß bestehen und bereit bleibt sich mit
neuem Inhalte zu füllen. Wir sehen hier, daß am Geheimnisbegriff Inhalt von
Funktion unterschieden werden muß, daß „Geheimnis" als verborgener Inhalt
eines Tatbestandes etwas anderes ist als „ein Geheimnis haben" als Seelen,
zustand. Das letztere ist ein „Tischlein deck' dich", das sich auf den Wink seines
Besitzers beliebig erneuern kann. Wir erkennen sofort, woran das liegt: der Ge*
heimnisinhalt ist kein Organ, sondern Produkt seines Besitzers. Von ihm ge*
schaffen, wie seine Worte, seine Gedanken, seine Phantasie; oder auf körper*
lichem Gebiete wie sein Atem oder seine Ausscheidungen. Überflüssig zu er*
ganzen, daß man in der Geheimnis f u n k t i o n dann die Parallele zur Funktion
produkteschaffender Organe wie der Sprechwerkzeuge, der Lungen oder der Aus*
scheidungsorgane finden kann.
Hier ist eine Einschaltung zur Abgrenzung unseres Begriffes von dem der Phantasie
nötig: Die meisten der dargestellten Attribute sind auch der Phantasie eigentümlich, vor
allem auch die Regenerationsfähigkeit. Es sind eben sehr verwandte Phänomene. Im hier
gemeinten Sinne (vgl. das Beispiel des „Jünglings") präsentiert sich das Geheimnis als
eine Abart, ein Sonderfall des phantastischen Denkens. Es kommt dieser Betrachtung aber
gerade auf den Sonderfall an, nämlich auf die eigentümliche subjektive Wertigkeit, die
der Mensch jenem Teil seiner Phantasieprodukte beilegt, die er zu seinem „Geheimnis"
macht. Diese Wertigkeit legt er ja keineswegs allen seinen Phantasien bei.
Nehmen wir unsere Überlegung wieder auf, so finden wir schließlich, daß das
Geheimnis seinen Träger ebensosehr zur Preisgabe wie zur Zurückhaltung seines
Inhalts drängt. Mit anderen Worten, es wirft den Menschen in den dem Ana*
lytiker wohlbekannten Ambivalenzkonflikt zwischen Hergeben und Behalten.
Hiermit bereits ans Ziel unserer Überlegung gelangt, fragen wir, ob nicht viel*
leicht völlige Identität zwischen dem Phänomen des Geheimnisses und den
Körperausscheidungen (bezw. den Ausscheidungsorganen) in unserem Unbe*
wußten besteht.
Einen merkwürdigen Beitrag für unsere Auffassung liefern die romanischen
Sprachen: das Geheimnis heißt im Italienischen Jl segreto" (im Französischen
Je sectet"). Das lateinische „sectetum" heißt: — das Ausgeschiedene.
II.
Machen wir direkt den Sprung in die Erfahrung des Analytikers, um zu sehen,
ob und wie weit sie unsere Überlegung bestätigt.
Zunächst das Phänomen der Übertragung, jene erstaunliche Erscheinung, daß
ein uns fremder Mensch zwangsläufig dahin gerät, uns seine tiefsten Empfin*
düngen und Gefühle zuzuwenden. Die Erfahrung zeigt, daß diese Übertragung
seiner Empfindungen und Gefühle auf unsere Person sich zwar allmählich mit
dem wachsenden Vertrauen und Sichverstandenfühlen einstellt, daß sie aber,
stoßweise an bestimmten Stellen hervorbrechend, uns den sonst verborgenen Grad
ihrer Heftgikeit offenbart. An welchen Stellen der Analyse geschieht das? Hier*
auf läßt sich, für jeden Patienten gültig, antworten: immer dann, wenn er es über
sich gebracht hat, uns eines seiner Geheimnisse anzuvertrauen. Hat er das getan,
so sehen wir regelmäßig mit seiner Erleichterung eine ausgesprochene Gefühls*
bewegung zusammen gehen, die sich an unsere persönliche Adresse richtet. Oft
hat diese Gefühlsbewegung unmittelbare Wirkung auf körperliche Funktionen,
aber unter diesen sind es vor allem die Ausscheidungsorgane, die sich zugleich
Zur Psychologie des Geheimnisses 205
mit der Gefühlsbewegung melden, am häufigsten in Gestalt eines Tränenstroms,
bei manchen aber in Gestalt eines Blasen* oder Stuhldranges. Umgekehrt ver*
suchen manche Patienten, schon erfahren in dieser Situation, ihr zu entgehen,
und entleeren vor der Sitzung, oft mit großer Regelmäßigkeit, Darm oder Blase,
um, wie sie sagen, in der Stunde nicht davon belästigt zu werden. Immer steht
dieses anscheinend so ordentliche Verhalten dann im Dienste des „Widerstands".
Der Druck von Blase oder Darm vor der Sitzung war der körperliche Ausdruck
einer Mitteilungsspannung gewesen, und mit der Entleerung jener Or»
gane vor der Sitzung konnten die Patienten diese Spannung aufheben und weiter
im Widerstand verharren.
Einem Patienten, dem ich nach einer ausgesprochenen „leeren", also im Widerstand
verbrachten Stunde sage, daß er das Wesentliche, was ihn unbewußt z. Zt. beschäftige,'
nicht vorgebracht habe, fällt darauf sofort ein: Vor der Stunde hätte er beim Urinieren 1
beobachtet, daß sein Glied länger geworden sei, nicht mehr die gewohnte kindliche Form
habe. In dieser Mitteilung lag der Schlüssel zum Verständnis seines Widerstandes und zu
seiner Auflösung.
Aber auch ohne das Auftreten solcher Körpererscheinungen im Widerstand,
zeigt dieses Stadium ganz allgemein etwas allen den Spielarten und Erscheinungs*
formen des Widerstandes Gemeinsames: den Kampf zwischen Zurückhaltung
und Hergabe eines Besitzes.
Im täglichen Leben beobachtet man eine Analogie dieser Mitteilungsspannung,
wie wir sie aus der Übertragung kennen, am Verhalten des Verliebten. In den
ersten Stadien seiner Beziehung zeigt er im allgemeinen die Tendenz, sich seinem
Partner „anzuvertrauen", und spricht ohne Not von Dingen, die er bisher ge*
heim hielt. Dieses spontane Aufgeben von Geheimnissen, die sogenannte „Ver*
traulichkeit", gehört zu den Vorboten eines Prozesses, der beim Austausch von
Zärtlichkeiten endet. Das spontane Aufgeben von Geheimnissen wird daher auch
allgemein wie eine Art Sympathieerklärung empfunden und erinnert den Ana»
lyüker an das bei kleinen Kindern viel beobachtete Einnässen auf dem Arm einer
ihre Sympathie erweckenden Person.
Ein Patient mit ausgedehntem sexuellem Phantasäeleben definierte die „ideale Geliebte"
als die, „mit der ich alle meine geheimen Phantasien teilen kann." Andererseits machen
viele Personen aus der Tatsache ihrer psychoanalytischen Behandlung selbst ein striktes
Geheimnis. Knüpfen solche Patienten während ihrer Analyse Liebesbeziehungen an, so
kann man sicher erkennen, wann eine solche Beziehung ernsteren Charakter annimmt :
dann nämlich, wenn es den Patienten drängt, seinem Liebesobjekt die Tatsachen seiner
Behandlung mitzuteilen.
Ein Patient mit ausgesprochenem Analcharakter hatte entsprechend der zurückhaltenden
Tendenz seines Ichs viele Geheimnisse. In der Analyse trat dies erst hervor, als es ge*
lungen war, seinen Zwang zur Stuhlretention soweit zu beheben, daß er ihm weder bei der
Organfunktion selbst noch auf Sublimierungsstufen derselben Störungen verursachte. Mit
anderen Worten: Er konnte bereits regelmäßig defäzieren, pünktlich seine Zahlungen
leisten, Briefe beantworten, Aufträge ausführen etc., und nun zeigte sich in der Analyse ein
merkwürdiges Verhalten: Umständlich und mit Erweckung angespannter Aufmerksamkeit
begann er eine Geschichte zu erzählen, aber er kam damit nicht recht weiter; ehe es klar
206 Alfred Gross
war, um was es sich handelte, hatte er sich unterbrochen, um eine neue Geschichte zu be*
ginnen mit derselben Wichtigkeit, derselben Erweckung von Spannung, um auch diese
um einer dritten willen abzubrechen usf. Er benahm sich wie der Schreiber eines Kriminal»*
romans, der ein Kapitel um das andere den Leser mit Erwartungen erfüllt, deren Befriedi*
gung er hinausschiebt bis ans Ende — um häufig dann einen leeren und unbefriedigenden
Schluß zu bringen. Was machte unser Patient? Er hatte sich nach Opferung seines Zurück*
haltungssymptoms dasselbe neu geschaffen, nunmehr lediglich in der Übertragung. Sein
Ich hatte ihm die Möglichkeit zur Weiterbetätigung der Retention reserviert — in Gestalt
des Geheimnisses. So weit war der Vorgang einfach als anale Reaktionsbildung anzu*
sprechen. Je weiter aber die Analyse fortschritt, je mehr sie von der analerotischen Krank-»
heitsoberfläche aufhob, um mehr und mehr von phallischen Tendenzen, infantilem Nar*
zißmus und Kastrationsangst zu zeigen, die alle von der analen Symptomatik verdeckt ge»
wesen waren, um so mehr wandelte sich auch sein Verhalten zum Geheimnis: nun begann
er auch außerhalb der Analyse bei Ereunden und Bekannten, sich mit Andeutungen wichtig
zu machen, die auf seinen Besitz eines Geheimnisses schließen ließen. Zunächst begnügta
er sich mit Andeutungen, ohne sich über den Geheimnisinhalt zu ergehen. Als es der
Analyse dann gelang, einen Teil seiner Kastrationsangst zu beheben, verwandelte sich
wiederum sein Verhalten in bezug auf seine Geheimnisse : Nun begann er, auch vom I n*
halte derselben Mitteilung zu machen, zuerst in Andeutungen, später in richtigen Aus*
führungen, — er wurde indiskret. Erst am Schluß der Behandlung, als ein geregeltes
Genitalregime von seinem Leben Besitz ergriffen hatte, fiel der letzte Rest seiner Ge*
heimnisfunktion, die indiskrete Geschwätzigkeit, völlig fort. Er hatte es nun nicht mehr
nötig — weder das Geheimhalten, noch das Ausschwatzen.
Kommt man bei solchen Beobachtungen zur Annahme einer identifizierenden
Beziehung zwischen dem Geheimnisinhalt und den Exkrementen Stuhl und Urin,
so will man erfahren, ob sich die Parallele auch auf andere Ausscheidungen aus*
dehnen läßt, und macht dabei eine merkwürdige Entdeckung: Es besteht auch
eine Relation des Geheimnisphänomens zu den Genitalsekreten, aber hier tritt
das Geheimnis in veränderter Form auf. Ein Beispiel mag das verdeutlichen.
Das Beispiel zeigt die Wandlung im Schicksal des „Geheimnisses" im Laufe der
Analyse. Der Geheimnisinhalt macht bei unserem Patienten alle Stadien durch,
vom tiefverborgenen wichtigen Besitz bis zu seinem völligen wertentäußerten
Verschwinden. Dieses trat ein, sobald der Patient die genitale Stufe voll erreicht
hatte. Es war ein infantiler Besitz gewesen, den er aufgab, als die Analyse ihn
hatte erwachsen werden lassen. Dazwischen hatte er einige Stadien durchge*
macht, deren auffälligstes das Bedürfnis war, mit seinem Geheimnis sich bei
anderen wichtig zu machen. Der Wandlung des Geheimnisphänomens war eine
andere parallel gelaufen, nämlich die allmähliche Verschiebung des Sexual*
regimes vom analen über ein phallisch*exhibitionistisches Stadium zum genitalen.
Nach diesen Beobachtungen können wir, unsere anfänglichen Vermutungen
revidierend, etwa folgendes feststellen:
1. Es besteht tatsächlich im Unbewußten eine nahe Beziehung unseres Be*
griffes zu den Ausscheidungen. Aber es muß betont werden, daß nur der Ge*
heimnis i n h a 1 1 mit diesen identifiziert werden kann.
2. Der Begriff des Geheimnisses ist nicht einheitlich, sondern einer Wandlung
Zur Psychologie des Geheimnisses 207
unterworfen, die ihrerseits von den Wandlungen des Sexualregimes abhängig ist.
Über diese Wandlungen unseres Phänomens oberhalb der analen Stufe müssen
wir einige genauere Betrachtungen anstellen.
III.
Wir hatten gesehen, daß die Geschwätzigkeit, in die unser Patient geraten war,
genau so enge Beziehungen zum Geheimnisphänomen hatte, wie das schweigende
Verbergen beim analen Charakter, freilich andere: Diese Geschwätzigkeit, wie
wir sie aus dem täglichen Leben von den sogenannten Klatschbasen beiderlei Ge*
schlechts kennen, diesen wichtigtuenden Schwätzern beim Stammtisch und beim
Kaffeekränzchen, die immer etwas Neues über den gerade abwesenden Nachbarn
oder Freund mitzuteilen haben (und gewiß selten etwas Gutes), sollte uns an
ihr Vorbild erinnern: die kleinen Mädchen und Jungen in der Schule im Alter
der Vorpubertät. Hier finden wir dieselben Atmosphäre, gewitterschwanger von
Geheimnis und Wichtigkeit. Und hier entdecken wir auch, daß das Geheimnis
nicht einfach ein Sublimierungsprodukt der Inhalte von Blase und Darm sein
kann.
Zwar werden die kindlichen Verrichtungen der Abgabe von Kot und Urin
durch die Erziehungsnormen schon äußerlich in die Sphäre des Geheimen, des
Abgesonderten gebracht. Hier aber in der Vorpubertät füllt sich der Geheimnis*
begriff mit einem neuen, vielleicht seinem wichtigsten Inhalt. Jede Generation
von neuem wird instinktiv die ersten Regungen ihrer Geschlechtlichkeit geheim
halten, instinktiv sie zu verbergen streben; aber mit der gleichen Heftigkeit treibt
es sie auch zur Mitteilung in irgend einer Form, und in diesem Zwiespalt zwi*
sehen Verbergungs* und Mitteilungsbestreben scheint auf dieser Stufe der Sinn
des Geheimnisbegriffes eingeschlossen zu sein.
Wenn ein lljähriges Mädchen eines Tages die Turnstunde nicht mitmacht und ihr
' Abseitsstehen so zu verbergen strebt, daß die Neugier der anderen darauf fällt; wenn sie
— mit anderen Worten — den Eintritt ihrer ersten Menstruation auf eine Weise geheim
hält, daß alle Kameradinnen wissen, worum es sich handelt, so tritt in diesem Verhalten das
Geheimnisphänomen uns in seiner ganzen Zweideutigkeit vor Augen. Einem solchen
Geheimnisträger ist nicht wohl, solange die anderen nicht mindestens wissen, daß er ein
Geheimnis hat, und darin liegt der Unterschied zum analen Geheimnistypus beim „Jung*
ling" von Dostojewski, das dem Verhalten des Geizhalses gleicht, der seinen Schatz ja
wirklich vor den anderen verbergen will. Im zweiten Typus, dem des kleinen Mäd*
chens, liegt eine exhibitionistische Note, die gleiche, die unser Patient nach den ersten
analytischen Veränderungen in seinem Verhalten zeigte.
Die erste Fortentwicklung vom Analen hinweg gipfelt also in dem Bestreben
des Geheimnisträgers zu zeigen, daß er etwas „habe". Verbinden wir hiermit die
Beobachtung, daß dieses Bestreben mit seiner großen Regelmäßigkeit im Lebens*
ajter der Pubertät auftritt und dort stets eine besondere Wichtigkeit in An*
spruch nimmt, so werden wir uns fragen, ob es nicht einen Grund, sowohl für
diese Regelmäßigkeit, wie für die besondere Wichtigkeit des Auftretens gerade
dieser Form des Geheimniserlebnisses gerade in diesem Lebensalter gibt. Hierzu
208 Alfred Gross
müssen wir untersuchen, an welcher Stelle das Kind den Begriff des Geheim*
nisses entwickelt. Wann, fragen wir, erlebt das Kind zum ersten Male „Ge*
heimnis"?
IV.
Ohne weiteres schöpfen wir die Antwort aus der analytischen Erfahrung. Wir
kennen die Schranke, auf welche die Wißbegier des Kindes im fünften Lebensa
jähre, mitunter auch früher, zu stoßen pflegt, in der Zeit zu stoßen pflegt, in der
das frühkindliche Sexualleben auf dem Höhepunkt seiner Entwicklung steht. Wir
wissen, wie häufig der letzte Akt des Dramas, das wir Ödipuskomplex nennen,
damit erreicht wird, daß das Kind auf seine Fragen nach der Herkunft der Kin*
der, nach dem Unterschiede der Geschlechter, nach dem Schicksale seiner eignen
Genitalien unzureichende, falsche oder gar keine Antworten erhält. Dann erlebt
das Kind zum ersten Male „Geheimnis". Oft genug auf recht empfindliche Weise.
Es sieht sich ausgeschlossen von etwas, was die Erwachsenen haben, ausge*
schlössen von einem Wissen um Tatsachen, deren Existenz es wahrgenommen hat,
ohne sie erfassen zu können. Es erfährt, daß es Dinge gibt, die — es nicht er*
fährt. „Wenn Du groß bist, dann wirst Du es erfahren", sagen die Erwachsenen.
Erfahren wir in der Analyse von solchen Zurückweisungen kindlichen For#
schungstriebs, so bekommen wir immer einen starken Eindruck von der trauma*
tischen Bedeutung solcher Vorgänge. Das Kind verträgt es nicht immer gut auf
seinem Zuge der Eroberung der Außenwelt (der auf weite Strecken ein Ent*
deckungszug ist) aufgehalten zu werden und auf eine Schranke zu stoßen, die es
nicht durchbrechen kann. Im Allgemeinen kann es sich mit Versagungen ab*
finden, besonders gut, wenn es dieselben versteht oder ihre Aufhebung in der
Zukunft erwarten darf, so z. B. mit der Versagung von Körperfunktionen, zu
deren Betätigung es zu klein ist, wie etwa die Genitalfunktion. Ganz anders ist
es, wenn zwei Versagungen sich miteinander kombinieren, wie z. B. die Ver*
sagung einer Funktion mit der Versagung eines Wissens.
Hier scheint uns die Geburtsstelle des Geheimniserlebnisses beim Kinde zu
liegen. Es stößt auf die Kombination zweier Versagungsqualitäten, es wird
gleichzeitig von einer Funktion und von einem Wissen ausgeschlossen. Eines
allein hätte es vielleicht ertragen, beides zusammen nicht.
Ein Patient hat bis zum Alter von 3 i / i Jahren bei den Eltern geschlafen, sich normal
entwickelt, keinerlei Störungen gezeigt. Erneute Schwangerschaft der Mutter führt zur
Ausquartierung des Kindes aus dem Schlafzimmer und zu einer plötzlichen Fernhaltung
von den gewohnten Zärtlichkeiten der Mutter. Das Kind, das unter dem Verlust dieser
Zärtlichkeiten (erste Versagung) nicht besonders zu leiden scheint, zeigt einen täglich ver*
mehrten Fragedrang nach den verschiedensten Gegenständen. Schließlich bekommen seine
Fragen spezielleren Charakter, richten sich auf private, häusliche Vorgänge, Beziehungen
der Eltern und vor allem die „Krankheit" der Mutter. Man verstummt, weicht aus, man
wird bei seinen erneuten Fragen ungeduldig, weist es schließlich schroff zurück. Es ver*
stünde das nicht, sei noch zu dumm (zweite Versagung).
Jetzt beginnt der bisher intelligente Knabe wirklich „dumm" zu werden; er verliert
seine Fragelust, wird schweigsam und die bisherige Offenheit seines Verhaltens weicht zu*
nehmend der Neigung, sich trotzig und traurig zurückzuziehen. Das gute Verhältnis zur
Mutter ist zerstört, und es gelingt derselben trotz aller Bemühungen nicht, das alte Ver*
trauen wieder herzustellen. Auf Fragen, was er, stundenlang in seinem Zimmer zurück*
gezogen, tue, antwortet er nicht oder ausweichend. Man beobachtet ihn heimlich, und
findet ihn mit Häusgerät oder Spielzeug beschäftigt, womit er sich phantastisch im Flüster*
tone unterhält. Über den Sinn seiner Spiele gibt er keine Auskunft.
Erst in der Analyse erweist sich ihr anal*sadistischer Inhalt. Beim Schulbeginn hat er
bereits eine ausgesprochene Lernhemmung, vermag außer Zahlen nichts aus der anschau*
liehen Welt aufzunehmen, bleibt bald hinter seinen Mitschülern zurück. Mehr und mehr
verfällt er in eine Art von Rechenzwang, der ihn völlig okkupiert, vermittelst dessen er
aber nach außen hin wenigstens als glänzender Rechner geschätzt zu werden vermag. Diese
Fähigkeit benutzt er alsbald in objektfeindlicher Richtung, etwa wie der Chiromant sein
geheimes Wissen, um sich damit eine Art Achtung zu erzwingen. In der Pubertät ist er
zu einer radikalen Verleugnung der genitalen Regungen genötigt.
Was hier zur Charakterwandlung und späteren Neurose geführt hat, liegt auf
der Hand: die brennende Frage seines Ödipuskomplexes war die Sorge gewesen,
eines Tages auch „erwachsen" im genitalen Sinne sein zu können. Die erste Ver*
sagung ertrug er gut, indem er den verminderten Zärtlichkeitsempfang seitens
der Mutter mit der Uberbesetzung seines Wißtriebes kompensierte, der gerade
in Blüte stand. Solange der befriedigt wurde, konnte das Kind an einer Stelle
„wachsen" und sich über seine genitale Kleinheit trösten. Auf den Wißtrieb fällt
nun die zweite Versagung, und dieser zeigt sich das kindliche Ich nicht ge*
wachsen. Es wird betroffen vom Trauma des Geheimnisses — der Erwach»
senen. Und nun kommt der Vorgang zustande, der aller Charakterbildung zu*
gründe liegt, wie wir aus Freuds „Das Ich und das Es" wissen: eine Objekt*
besetzung wird abgelöst durch eine Identifizierung. Das Kind wendet sich von
der bisher geliebten Person ab, nimmt aber deren Eigenschaften in sein Ich auf,
auch diejenige Qualität des Objekts, die zum Trauma g e*
f ü h r t h a t, die Qualität des Geheimnishabens. Wir können ohne weiteres hin*
zusetzen, daß hier, wie wahrscheinlich in sehr vielen Fällen, das Kind den Ge*
heimnisbesitz der Erwachsenen unmittelbar mit der Vorstellung des Genitales der
Erwachsenen identifiziert hat, und daß das „Geheimnis" damit begonnen hat,
jenen ersehnten Besitz samt seiner Funktion dem Kinde voll zu ersetzen.
V
Zum Schluß wollen wir versuchen, unsere Ergebnisse zu formulieren:
1. Das Geheimnisphänomen, abhängig von den Wandlungen des Sexual*
regimes, macht oberhalb der analen Stufe seinerseits Wandlungen durch.
2. Auf der analen Stufe steht der Inhalt im Vordergrunde und imponiert
als Besitz, der nicht hergegeben werden soll. Bei Erschütterung des Analregimes
verliert das Geheimnis mehr und mehr von seinem Besitzcharakter und gerät in
den Konflikt zwischen Zurückhaltung und Hergabe.
3. Bei weiterer Annäherung an die genitale Stufe verstärkt sich die Tendenz zur
Wirksamkeit nach außen, und das Geheimnis tritt in den Dienst der Exhibition.
Imago XXII/2 14
210 S. H. Fuchs
(Andeutungen, Wichtigtun etc.) In diesem Stadium erinnert es an das Verhalten
der Kinder in der Pubertät.
4. Schließlich bekommt das Geheimnis immer mehr die Qualität eines zu sehen*
kenden Gutes, eines Mittels, sich mit der Außenwelt in freundliche Beziehung zu
setzen (Vertraulichkeit, Sympathiekundgebung), endlich eines Mittels der Liebes*
Werbung.
5. Auf diesem Wege verschiebt der Begriff seinen Wertakzent von der Qualität
des Besitzers auf die Qualität der Funktion.
6. Seine Herkunft aus dem Ödipuskomplex kann die Analyse an pathologischen
Entwicklungen feststellen, bei denen sich ergibt:
a) das Geheimnis kann in der frühkindlichen Sexualperiode als trauma*
tisches Agens auftreten und diese beenden.
b) Es kann in dieser Situation vom Kinde mit dem Genitale der Erwachsenen
identifiziert und (auf diesem oder anderem Wege) als Ersatz für seine
Ödipuswünsche aufgenommen und ins Ich verarbeitet werden.
Zum Stand der heutigen Biologie
Dargestellt an Kurt Goldstein: „Der Aufbau des
Organismus". 1
Von
S. H. Fuchs
London
Vorbemerkung
Die folgenden Mitteilungen über einige Grundlagen der modernen Neurobio*
logie gehen vom Werke Kurt Goldsteins als eines ihrer Exponenten aus.
Es soll damit nicht gesagt sein, daß er ihr einziger oder bedeutendster Vertreter
sei, noch daß die von Goldstein vertretenen Auffassungen und mitgeteilten Tat*
sachen ausschließlich von ihm gefunden worden seien. Die Grundauffassung
durchsetzt vielmehr in solchem Maße die jgesamte neuere Biologie, Physiologie,
Anatomie, Medizin, Psychologie, Soziologie, Philosophie, ja anscheinend selbst
Physik und Chemie, daß selbst denjenigen, die sonst anders zu denken gewohnt
sind, auffallen sollte, wie sehr viel mehr neue Denkweisen in den Umständen
der Zeit begründet liegen als in etwa plötzlich wie zufällig auftauchenden neuen
Ideen und Beobachtungen einzelner Köpfe. Immerhin wird es kein Zufall sein,
daß gerade Goldsteins Arbeit weit über sein engeres Fachgebiet hinaus in stei*
i) K. Goldstein: Der Aufbau des Organismus. Einführung in die Biologie unter
besonderer Berücksichtigung der Erfahrungen am kranken Menschen. Martinus Nijhoff,
Haag, 1934, X u. 363 Seiten.
\
Zum Stand der heutigen Biologie 211
gendem Maße im letzten Jahrzehnt das Interesse derjenigen gefunden hat, die
den Kontakt mit der Entwicklung der Naturwissenschaft im ganzen nicht ver*
missen wollen. Im Speziellen veranlassen mich noch die im folgenden angege*
benen Gründe gerade das Werk Goldsteins zur Basis zu nehmen:
1. Die Konzeption ist eindeutig, entschieden, radikal und ohne Korn*
promisse durchgehalten. Hier wird mit der Ganzheitsauffassung durch
und durch Ernst gemacht, niemals handelt es sich um bloße Phrasen.
Dabei bleibt G. immer Biologe. Ob er von Reflexen spricht, von
Tonusveränderungen oder vom Wesen biologischer Erkenntnis handelt,
oder Begriffe wie Norm, Gesundheit und Krankheit, Leben und Geist neu
abzugrenzen sucht, ob er sich mit Gestaltpsychologie, Psychoanalyse auseinander?
setzt, über analytisches und synthetisches Vorgehen, über Erkennen und Han*
dein besinnt: stets geht er von den Dingen aus und kehrt zu ihnen zurück, stets
bleibt im Mittelpunkt der konkrete Mensch in seiner konkreten Welt, immer
ist es der gleiche Wurf der gleichen Persönlichkeit, die die Fackel ihrer Grund*
Überzeugung durch Zeiten und Dinge trägt und sieht, wie weit sie erleuchten
kann und wo neue Dunkelheiten locken.
2. Goldsteins Werk erschien jetzt erstmalig in Buchform, in seinen Haupt*
ergebnissen zusammengefaßt, gibt also den neuesten Standpunkt seiner eigenen
Lehre wie auch der Neurobiologie im allgemeinen wieder. Der Stil ist klar
und einfach und kann auch vom Unverbildeten mit größtem Gewinn gelesen
werden. Ein ähnliches Werk, auf dem man eine Darstellung des uns hier be*
schäftigenden Stoffes hätte bauen können, ist ein Werk von C. v. Monakow
und R. Mourgue.'Ich hätte dies ohne das Erscheinen des Buches von Gold*
stein auch getan. Eine Kostprobe mag die Schwierigkeiten, die Gedanken der
Autoren in allgemein verständlicher Weise wiederzugeben, vielleicht illustrieren:
„Wir haben oben ein Beispiel für die Wiederherstellung des neuralen Gleich*
gewichtes bei einem Fall negativer Isolierung oder apathischer Anastole (Para*
lyse) gegeben, die nach einer Emotion spontan erfolgte. Besonderes Interesse
verdienen unter diesem Gesichtspunkt jene Heilungen, die unter dem Einfluß
des religiösen Instinktes eintreten (Heilungen, die in Notre*Dame de Lourdes
beobachtet werden). Das klinische Material dieser Fälle ist wenigstens (nach
unserer Kenntnis) noch nicht vom biologischen Gesichtspunkte aus studiert
worden. Interessant dabei ist die Tatsache, daß die Tätigkeit der Syneidesis
hierbei oft spontan in Erscheinung tritt. In diesen Fällen ist die Heilung in*
dessen meist das Resultat einer langen Inkubationszeit, in deren Verlauf die
biologische Rolle des religiösen Instinktes dadurch in Erscheinung tritt, daß das
Symbol, das ihn ausdrückt (persönlicher Gott) für die Syneidesis eine synthe*
tische Kraft prospektiven Charakters von seltener Stärke bildet." (Seite 267..)
Oder Seite 291: „Daneben steht die Gruppe B, die in sich fast den ganzen Rest
der Affektivität, oft in potentieller Form, absorbiert. Meistens geschieht das
2) „Biologische Einführung in das Studium der Neurologie und Psychopathologie",
Stuttgart, 1930.
14*
212 S. H. Fuchs
unter der Form der Ekklisis und nicht unter der der Klisis, wobei ausschließlich
die agglutinierte Kausalität als Ausdrucksmittel zur Verwendung kommt. Gegen
das Kakon, das unter den verschiedensten Formen auftritt, verteidigt sich das
Individuum mit energischen, obwohl häufig untauglichen Mitteln. Das Kakon,
begleitet von einer Reaktion der Ekklisis in schwankender Dauerform, bildet
beim Schizophrenen den hauptsächlichsten Inhalt seiner psychischen Welt."
Wie man sieht, ist ein Studium dieser speziellen Sprache nötig, um zu ver»
stehen, was hier gemeint sein könnte. Ich glaube wenigstens nicht, daß andern*
falls irgend jemand nach Lektüre dieser Sätze mehr von der Welt der Schizo*
phrenen weiß als vorher.
Unvergängliche Sätze aus Schopenhauer „Über Schriftstellerei und Stil"
fallen einem ein. Indessen ist das Buch v. Monakows sehr lesenswert, umfassend
und reich in der Anlage (in gewissem Sinne reicher als das Goldsteins) und
voller Anregung. Aber ich gehe wohl nicht fehl in der Annahme, daß es für den
Nichtfachmann oder ganz speziell Interessierten nicht möglich sein wird und
auch nicht lohnen würde, die nötige Zeit zum Studium aufzubringen.
3. Für mich ist die vorliegende Arbeit Goldsteins kein Buch. Aus jeder Zeile
fast spricht die wohlbekannte Stimme des verehrten Lehrers, unter dessen An*
regung und Leitung ich über zwei Jahre arbeiten durfte. Verklungene Töne aus
einer Welt, die im wahrsten Sinne des Wortes verschwunden ist — ! Viele Stun*
den der Belehrung, die offiziellen Vorlesungen, Vorträge, Seminare und die
noch viel schöneren der improvisierten Demonstrationen, Zweifel, Diskussionen
mit ihren neuen Überzeugungen, neuen Problemstellungen, tauchen auf und sind
so sehr mit dieser Darstellung verwoben, daß ich sie schwerlich trennen könnte.
Die besondere Art der Anregung, die von Goldstein ausgeht, ist untrennbar mit
der menschlichen Beziehung verschmolzen. Sie kann nur von einem jener sei*
tenen Menschen ausgehen, denen es wirklich um die Sache zu tun ist, deren
Überzeugungen nicht ablegbar sind wie ein Anzug, sondern gewachsen wie dem
Vogel das Gefieder. Deshalb nimmt man auch den manchmal stark subjektiven
Blickpunkt gerne hin, weil man fühlt, daß er wahrlich zu einem Ganzen gehört
und in diesem aufgeht. Als ich vor über zehn Jahren dort gerade zu arbeiten
angefangen hatte, war ich mit Untersuchungen an einem aphasischen Hirnver*
letzten beschäftigt. Ich schrieb mein Protokoll nach der Art, wie ich es, natür*
lieh nach klassischem Schema, gelernt hatte. G. nahm es vor, um es mit uns
durchzusprechen. Seine Miene ist mißmutig, fast finster, die Mundwinkel nach
unten gezogen — da plötzlich heitert er sich auf: er kommt an eine Stelle, wo
ich geschrieben hatte: „er freut sich" (eine Bemerkung, die gewöhnlich als „nicht
dazu gehörig" unterblieben wäre). Strahlend sagt er: „Sehen Sie, das freut
mich, daß Sie das geschrieben haben!"
Die Wirkung solcher Anregung ist, oder war es wenigstens für mich, eine sehr
intensive Bereicherung der Innenschau und Befreiung von Einschränkungen
durch Schulmeinungen, eine richtige Aufklärung über uneingestandene, verbor*
gene Vorurteile, Schärfung des Blicks für verborgene Theorien, die sich als
Zum Stand der heutigen Biologie
213
„Tatsachen" maskieren, eine neue Aufgeschlossenheit und Mut zu neuen Beob*
achtungen. Sie ist in gewissem Sinne einer Analyse vergleichbar, wenn auch in
ganz anderer Weise und in einer anderen, weit unpersönlicheren Sphäre. Und
doch vom Moralischen nicht trennbar. Es kann nur für G. sprechen, daß ich
niemals meine Kritik verlor und keinen Grund fand, sie zu verbergen oder zu
verkleinern. Besonders wenn es um die Psychoanalyse ging, mit der ich mich
gerade neuerdings wieder intensiver zu beschäftigen begann, sah ich deutlich,
daß hier auf nicht zulänglicher Basis Kritik geübt wurde, daß das Werk
Freuds, nur teilweise gekannt, schon im Aufgreifen umgeformt war und dann
kritisiert wurde. Ich habe aber später gelernt, daß die Stellung eines Menschen
und Forschers zur Analyse ein ganz besonderes Kapitel ist und keine Rück*
Schlüsse auf andere Gebiete zuläßt. Als ein Ausdruck davon soll diese uns ja spe*
ziell interessierende Seite des Goldsteinschen Werkes hier am Ende in einem
Anhang gesondert besprochen werden.
Um
risse
„Freudig war vor vielen Jahren
Eifrig so der Geist bestrebt,
Zu erforschen, zu erfahren,
Wie Natur im Schaffen lebt.
Und es ist das ewig Eine,
Das sich vielfach offenbart;
Klein das Große, groß das Kleine,
Alles nach der eignen Art.
Immer wechselnd, fest sich haltend,
Nah und fern und fern und nah;
So gestaltend, umgestaltend —
Zum Erstaunen bin ich da."
(Goethe)
Man könnte Goethes gesamte naturwissenschaftliche Schriften zitieren. Viele
Sätze davon könnte Goldstein geschrieben haben, fast alle würde er, so glaube
ich, unterschreiben. So sehr ist die hier vertretene Naturauffassung mit der
Goethes verwandt. Das folgende aus „Bildung und Umbildung organischer
Naturen" kann geradezu als Wegweiser zur Grundeinstellung dienen:
„Wenn wir Naturgegenstände, besonders aber die lebendigen, dergestalt ge*
wahr werden, daß wir uns eine Einsicht in den Zusammenhang ihres Wesens
und Wirkens zu verschaffen wünschen, so glauben wir zu einer solchen Kenntnis
am besten durch Trennung der Teile gelangen zu können; wie denn auch wirklich
dieser Weg uns sehr weit zu führen geeignet ist. Was Chemie und Anatomie
zur Ein* und Übersicht der Natur beigetragen haben, dürfen wir nur mit wenig
Worten den Freunden des Wissens ins Gedächtnis zurückrufen.
Aber diese trennenden Bemühungen, immer und immer fortgesetzt, bringen
auch manchen Nachteil hervor. Das Lebendige ist zwar in Elemente zerlegt, aber
man kann es aus diesen nicht wieder zusammenstellen und beleben. Dieses gilt
schon von vielen anorganischen, geschweige von organischen Körpern."
Auf die mannigfachen Beziehungen zur neueren Psychologie und Philosophie
ist schon hingewiesen worden. Es sei hier nur Bergson — Scheler — K 1 a *
ges — Gestaltpsychologie erwähnt. Im engeren Fachsinn gehen Gold*
Steins Ansichten ganz bewußt auf John Hughlings Jackson (1834—1911)
zurück. Dieser Mann kann als der geniale Vorläufer der ganzen modernen Neu*
robiologie bezeichnet werden. Forscher wie H. Head in England, Pierre
Marie in Frankreich, und besonders v. Monakow haben ihn der Mitwelt
wiederentdeckt. Im Jahre 1865 wurden seine Ansichten nicht verstanden und
gegenüber denen Brocas nicht beachtet. Der Siegeszug der Lehre von der
Lokalisation von Funktionen begann, ein Ereignis, das nach Goldsteins Meinung
verhängnisvoll für die Entwicklung der Neurologie war und diese Um 100
Jahre zurückwarf. J. H. Jackson vermied von vornherein den Fehler, das
Gehirn landkartenartig in isolierte Einzeldistrikte aufzuteilen und diesen von
einander unabhängig gedachte Leistungen zuzuschreiben, zugunsten einer wahr*
haft biologischen Betrachtungsweise. Kernpunkte seiner Lehre sind:
Es besteht eine Hierarchie der Funktionen nach verschiedenen „levels" (Lei*
stungsstufen), nach denen der Aufbau des Nervensystems in seiner Entwicklung
erfolgt und auf die der Abbau bei Schädigung zurückgreift. Die höheren, pnt*
wicklungsgeschichtlich jüngeren Apparate wirken hemmend auf die niederen
ein. Hirnkrankheiten lehren nicht so sehr, was die verlorenen Teile geleistet
haben, als was die erhaltenen leisten können. Dem entsprechend muß man stets
zwei Symptomgruppen unterscheiden:
1. negative, d. h. unmittelbare Ausfallssymptome,
2. positive, entsprechend den mehr automatisierten Leistungen der subkorti*
kalen Zentren.
Sieht man ein altes hirnpathologisches Buch von vor etwa 100 Jahren, z. B.
B u r d a c h, so stehen Betrachtungen über Gott, die Natur und dergleichen vor*
an. Dann kömmt eine lange Epoche, die sich besonders wissenschaftlich vorkommt.
Da ist nur von „Tatsachen" — Reflexen, Ganglienzellen, Zentren etc. — die Rede.
Erst heute wieder fühlen Autoren wie v. Monakow, Goldstein sich gehalten,
ihre Darstellungen in ähnlich umfassendem Rahmen zu geben. Die Biologen un*
serer Zeit werden philosophisch, unsere Philosophen biologisch und begegnen
einander so. Die wechselseitige Abhängigkeit von Standpunkt, Methodik, Pro*
blemstellungen wird klar, die Problematik bei der Feststellung von Tatsachen,
die Mystik hinter den Hirnkarten wird sichtbar. Ein Reflex etwa, der so unbes*
fangen als eine anatomisch*physiologische Elementartatsache hingenommen wor*
den war, mag weniger über den Zustand des Nervensystems des Patienten aus*
sagen als über die Weltanschauung, etwa die politische, des Untersuchers. Diese
Formulierung, wenn auch zutreffend, ist von mir natürlich absichtlich überspitzt.
Es kommt darauf an, zu begreifen, wie sich die Befunde der Anatomie, Histo*
logie, Physiologie, Klinik entsprechen und gegenseitig zu bestätigen scheinen,
Zum Stand der heutigen Biologie 215
während sie in Wirklichkeit auf den gleichen uneingestandenen Voraussetzungen
beruhen. Es muß verstanden werden, daß es sich um dieselben Probleme handelt,
ob wir vom Reflex sprechen, der uns vielleicht sehr gleichgültig ist, oder von
Fragen des spezifisch menschlichen Seins, das uns offenbar täglich beschäftigt.
Diese Darstellung geht vom Menschen aus. Sie betrachtet den Organismus als
eine Einheit und denkt sich ihn nicht aus Teilen zusammengesetzt. Sie verspricht
sich daher nichts von Untersuchungen, die auf künstliche Isolierung einzelner
Teile hinauslaufen, sei es im Experiment, sei es im zerstückelnden Tierversuch.
Sie glaubt nicht an die Entwicklung „komplizierterer" Wesen aus „einfacheren",
da sie gar nicht von vorneherein anzugeben vermöchte, was „einfach" ist. Sie
sieht in pathologischen Erscheinungen gesetzmäßige Abwandlungen und bemüht
sich, die Gesetze dieser Abwandlung zu verstehen. Das „Normale" gehört in die
Reihe dieser Abwandlungen und wird nur von außen durch Umstände, die
überdies wechseln können, als etwas Besonderes ausgezeichnet. Diese Auffassung
lehnt es ab, Definitionen über das Wesen des Organismus, des Lebens etc. vor*
auszuschicken, hält solche vielmehr für das Endergebnis der Untersuchung. Es
scheint als die erste Aufgabe der Biologie, „die lebenden Wesen in systematischer
Weise in ihrem jeweiligen So*Sein so eindeutig zu beschreiben, daß wir sie in
ihrer Besonderheit erfassen", unterscheiden, in Beziehung setzen können. Gegen*
stand und Methode stehen in Wechselwirkung und werden mit einander und
aneinander entwickelt. Das einzig mögliche Kriterium wissenschaftlicher Er*
kenntnis ist ihre Fruchtbarkeit.
überblick der Ergebnisse in ihren Beziehungen zu
Teilgebieten
Ein Versuch, den Inhalt gedrängt darzustellen, würde nur verwirrend wirken,
soweit der Leser über den lebendigen Hintergrund der Anschauung nicht ver*
fügt. Wir wollen lieber nur in großen Linien angeben, worum es sich handelt,
und dafür ein paar Muster konkreter Ergebnisse ein wenig ausführlicher dar*
stellen.
Neurologisches in engerem Sinne
Für diejenigen, die etwa glauben sollten, daß uns solche Gebiete an sich nichts
angehen, sei nur daran erinnert, daß Freud seine „Ansprache im Frankfurter
Goethehaus" (1930!) mit den folgenden Worten beginnen läßt:
„Meine Lebensarbeit war auf ein einziges Ziel eingestellt. Ich beobachtete die
feineren Störungen der seelischen Leistung bei Gesunden und Kranken und
wollte aus solchen Anzeichen erschließen — oder, wenn Sie es lieber hören: erp
raten — , wie der Apparat gebaut ist, der diesen Leistungen dient, und
welche Kräfte in ihm zusammen* und gegeneinanderwirken . . ." 3
3) Ges. Sehr., Bd. XII.
216 S. H. Fuchs
a) Wogegen es geht
Wir müssen das wenigstens hier andeuten. Sonst wird uns die Kampfnatur
dieser Lehre nicht klar, und wir halten leicht manches für ganz selbstverständlich,
das nicht nur so lange gar nicht beachtet wurde, sondern an dessen Gegenteil
noch heute von manchen Seiten aufs zäheste festgehalten wird.
In Schlagworten: Gegen den Aufbau des Organismus aus isolierten Einzel*
teilen nach dem Schema des Reflexbogens. Gegen die Vorstellung, daß Lei*
stungen sich aus elementaren Bausteinen zusammensetzen, in welche sie sich
vielmehr erst auf Grund sehr schwieriger, spät erworbener, abstrahierender Ein*
Stellung zerlegen lassen. Gegen die Lokalisation von Funktionen. Was lokalisier*
bar ist, ist immer nur der Grad und die besondere Färbung der Störung der
Gesamtfunktion, die mit der Schädigung einer bestimmten Stelle verknüpft üst.
Voraussetzung ist genaueste Berücksichtigung und Analyse aller Änderungen
des Verhaltens. Infolgedessen: Gegen die „Plus*Minus"*Methode. Darunter ist
eigentlich das ganze „klassische" Untersuchungsschema zu verstehen. Z. B.: Pa*
tellar*Sehnenreflexe + oder — , bestenfalls „verstärkt" oder „abgeschwächt", Ba*
binski + oder — , Nachsprechen — , Nachmachen von Bewegungen +, Sprach*
Verständnis „erhalten" etc., etc.
Die Kritik stützt sich auf die Unhaltbarkeit der klassischen Lokalisations*
lehre, und zwar vom anatomischen, symptomatologischen und psychologischen
Standpunkt aus, sowie auf die positiven Ergebnisse der Forschung auf diesen
und anderen Gebieten von den verschiedensten Seiten in allen Ländern.
b) Positives
I. Klinisches: Die Überwindung der Fehler der alten Methode macht den
Weg frei zu besserer Beobachtung, Beschreibung, neuen Fragestellungen. Ganz
besonders fruchtbar hat sie sich gezeigt
1. auf dem Gebiete der Störungen höheren Verhaltens: Stirnhirnsyndrome,
Sprachstörungen (Aphasielehre), Lese*, Schreibstörungen, Seelenblindheit,
etc. (besonders mit Gelb),
2. der Erforschung der Bedeutung des Kleinhirns,
3. der sogenannten induzierten Tonusveränderungen (besonders mit Riese).
IL Methodisches: Bestimmte methodische Forderungen werden aufgestellt :
1. Möglichst vollständiges Beschreiben. Kein Vorrang einer Erscheinung vor
der andern.
2. Nicht mit dem Effekt begnügen. Genaue Analyse schließt das „Wie" des
Zustandekommens einer Leistung ein.
3. Keine Erscheinung kann ohne Bezug auf den ganzen Organismus und die
Gesamtsituation betrachtet werden.
III. Theoretisches: Das Nervensystem wird im Gegensatz zur Neuronen*
lehre als ein Netzwerk betrachtet, in das Ganglienzellen eingeschaltet sind. Es
steht mit der Außenwelt durch die Sinnesapparate und die beweglichen Körper*
Zum Stand der heutigen Biologie 217
teile in Beziehung es funktioniert immer als Ganzes. Das System ist stets in Er*
regung. Ein Reiz ruft eine Veränderung der Erregungsverteilung hervor mit
einer sichtbaren, manifesten Änderung, der „örtlichen Nahewirkung" und einem
(latenten) Fernteil. Die Ganglienzelle stellt eine Vergrößerung des Systems dar
und tendiert dazu, als eine Art Bremse die Erregung zu dämpfen und lokalisiert
zu halten. Außer der räumlichen Nähe des Reizansatzes spielt die verschiedene
Adäquatheit des Reizes für die verschiedenen Teile des N. S. eine Rolle. Dies
wird „funktionelle Nahewirkung" genannt. Der qualitative Faktor, der so ein*
geführt wird, berücksichtigt die Tatsache der spezifischen Zuordnung umschrie*
bener Teile zu bestimmten Gegebenheiten der Umwelt. Das Lokalisationsproblem
wird ausführlich erörtert. Die Differenzierung des Nervensystems auch vom
anatomisch*histologischen Gesichtspunkt aus, wird natürlich nicht bestritten. Das
kortikale Areal, wo die Entsprechung mit der Peripherie eine minutiöse, punkt*
förmige ist, wird als „Peripherie der Hirnrinde" bezeichnet. Dem gegenüber
gibt es große Abschnitte, „denen nach dem Aufbau wie der relativ geringeren
Beziehungen zum Projektionssystem eine von der Peripherie relativ unabhängige
Bedeutung zuzuerkennen ist, eine Art übergeordnetes Gebiet". (S. 159.) Dieses
wird als „zentraler Abschnitt" bezeichnet. Es umfaßt Scheitellappen, Insel und
Stirnhirn und ist besonders beim Menschen entwickelt. Daneben geht noch der
(Tiefen*) Aufbau in Schichten mit ihren besonderen Beziehungen zu Brücke,
Kleinhirn, Rückenmark. Der fünften Schicht wird eine besondere Bedeutung
für die sensorischen Leistungen zuerkannt. Indessen leistet die histologische
Differenzierung zwar Wesentliches für die topographische Abgrenzung, aber
nichts für das Verständnis der Funktion, nichts für den Aufbau der Leistung.
Die Fernwirkung ist stets der Nahewirkung angepaßt, in gewissem Sinne
entgegengesetzt, sorgt für die Erhaltung des Gleichgewichtes im ganzen System
und macht erst die exakte Ausführung der im Augenblick erforderlichen Lei*
stung möglich. (Man beachte, hier steht Leistung, nicht Reaktion). Die
beiden Teile verhalten sich also wie das Negativ und Positiv einer Aufnahme
oder wie Licht und Schatten, wie eine Figur und ihr Hintergrund. Diesen Vor*
gang, der in gleicher Weise für die Wahrnehmung wie für die Motorik nach*
weisbar ist, nennt G. das „Vordergrund*Hintergrund*Geschehen" oder die „F i*
gur*Hintergrundsbildung" und sieht darin die Grundform des
nervösen Geschehens überhaupt. Eine Stufenordnung der Leistung be*
steht, gemessen an der jeweils größeren Umfassendheit des gesamten Stücks der
Umwelt, das noch vom Organismus erfaßt wird, und der größeren Präzision
der Figurgrundbildung. Jeder Abbau geht mit einer Entdifferenzierung dieser
Figurgrundbildung im Ganzen oder in unbeschriebenem Gebiet einher. Was
Vordergrund wird, bestimmt die Aufgabe, die der Organismus in einer gege*
benen Situation zu erfüllen hat, um sein Sein zu erhalten. (Damit ist über die
bloße Existenz hinaus die charakteristische Wesenheit der Art und des Indivi*
duums gemeint, diese aber als biologisch nicht abtrennbar betrachtet, nicht etwa
als „Ideal" dem Rest gegenübergestellt.) Der Organismus sucht also stets, sich
218 S. 5! Fuchs
wandelnd und mit seiner stets sich wandelnden Umwelt auseinandersetzend,
sich im besten Gleichgewicht und seine Leistungen in möglichster Konstanz zu
erhalten. „Diese Art der Auseinandersetzung zwischen Organismus und Umwelt
nennen wir das biologische Grundgesetz". Man sieht, daß diese Auf*
fassung die Dynamik, das Schöpferische des lebendigen Geschehens in den Vor*
dergrund rückt; selbst das anatomische Substrat wird von ihr belebt, man möchte
fast sagen beseelt. Sie ist sicherlich biologisch im wahrsten Sinne, eine Wissen*
schaft vom Leben, verzichtet von vorneherein darauf, Lebendiges auf Unlebendi*
ges zurückzuführen, Biologie auf Physik und Chemie zu „gründen". Der An*
satz ist, wenn er einmal erfaßt ist, äußerst fruchtbar und erspart viele Irrwege.
Ob er für alles, was wir wirklich brauchen, ausreicht, ist eine andere Frajge. Der
Grundsatz, daß jedem Erscheinungsgebiet nur die aus ihm geschöpfte Betrach*
tungsweise gerecht wird, „adäquat" ist, ist übrigens ganz weitgehend beherzigens*
wert. Er wird auch von Psychoanalytikern gerne durchbrochen, wenn sie sich
z. B. mit organischen, soziologischen oder historischen Fakten beschäftigen. Diese
Probleme werden uns noch an anderer Stelle beschäftigen.
Psychologisches
Hier ist besonders auf die „psychologischen Analysen hirnpathologischer
Fälle" von Goldstein und Gelb hinzuweisen. Gelb hat den Grundsatz ein*
mal am besten so formuliert: „Ich betrachte diesen Hirnverletzten geriau so wie
einen jeden anderen Menschen." Die Ergebnisse dieser Studien sind weit mehr
als eine interessante Sammlung von kuriosen Fällen, ihre Absicht und ihr Wert
besteht vielmehr in dem Nachweis ihrer allgemeinen Gültigkeit. Sie verdienen
das sorgfältige Studium aller, die an solchem Objekt tätig interessiert sind.
Die Beziehungen zur Gestaltpsychologie sind vielfältige und wechselseitige.
Von einer Anwendung des einen auf das andere kann aber nicht gesprochen
werden. Die Biologie ist das umfassendere. Eine Kritik der Gestaltpsychologie
zeigt, daß diese nur unter bestimmten Bedingungen gilt (wohl nur für die Wahr*
nehmung! F.). Die Welt ist nicht gestaltet, noch gestaltet sie allein den Or*
ganismus. Eine „gute Gestalt" ist die Tätigkeit des Organismus in einer Situa*
tion, die seiner Struktur am besten entspricht. Der Organismus tendiert dazu,
eine Situation seinem Wesen adäquat zu machen. Zu sagen, Konstanz und
Festigkeit seien nicht von der Retina*Abbildung aus zu verstehen, sondern sie
entständen im Organismus, ist nicht zureichend. Man muß die Bedingungen
aus der jeweiligen Gesamtsituation des Organismus aufzeigen. Auch die „physi*
kaiischen Gestalten" Köhlers laufen in isolierten Teilen ab.
Die Ergebnisse der „psychologischen Analysen" eignen sich nicht für eine
kurze Mitteilung; man kann aber versuchen, an ein paar Querschnitten wenig*
stens eine Vorstellung von der Art des Materials zu geben. Wir haben gehört,
daß die übliche Untersuchung bei zentralen Störungen, z. B. der Sprache (Apha*
sien), des Sehens (Seelenblindheit), Erkennens (Agnosie), Handelns (Apraxie)
bei fortschreitender Verfeinerung zu immer größeren Widersprüchen der Er*
Zum Stand der heutigen Biologie 219
gebnisse führt. Was mehr ist: sie trägt nicht zu besserem Verständnis weder
der Störung noch des gestörten Menschen bei. Auch gibt es keinen Weg, die
Ergebnisse solcher Forschungen mit den veränderten Anschauungen der Psycho*
logie in Beziehung zu setzen. Die Kritik an der Methode und den Grundvorstel*
lungen wurde bereits skizziert. Wir wollen der Kürze halber darauf verzichten,
die hier mitzuteilenden Ergebnisse mit den älteren Auffassungen zu kontrastier
ren, obwohl sie ohne diesen Kontrast vielleicht nicht voll verstanden werden
können.
Bei einem Amnestisch*Aphasischen ist die Wortfindung gestört, alle übrigen
sprachlichen Leistungen sind erhalten. Ein Patient Lewandowskys bot da*
rüber hinaus eine eigentümliche Störung im Verhalten zu Farben: Nannte man
ihm einen Gegenstand, so konnte er dessen Farbe weder angeben noch zeigen,
obwohl sein Farbensinn intakt war. Man nannte das später „Farbenamnesie"
oder „Farbennamen*Amnesie". Gelb und Goldstein machten genaue Analy*
sen an solchen Fällen. Sie begannen dieselben beim Sortieren von Wollproben
(Holmgreen sehe Prüfung). Der Patient soll solche ordnen nach den Grund*
qualitäten: Rot, blau, grün etc. Dieses Zuordnen war bei den Patienten ver*
ändert, obwohl feinste. Farbensinnprüfungen keinerlei Störungen ergab. Sie ord*
neten stattdessen nach Eigenschaften, die sich bald als solche der Helligkeit,
Zartheit, der Farbtöne etc. ergaben, und blieben immer unsicher und unzu*
frieden mit ihrer Wahl. Nur Identisches legten sie prompt zusammen. Sie ließen
sich, wie die genaue Analyse ergab, nicht durch ein Ordnungsprinzip leiten,
sondern durch jeweilige Kohärenzerlebnisse. Sie konnten nicht die Wollsträhne
als Repräsentanten, Symbol, Zeichen für eine bestimmte Farbkategorie
(blau, rot etc.) auffassen. Diesen Tatbestand nennen Gelb und Goldstein eine S t ö*
rung im „kategorialen" Verhalten. Diese Patienten bieten ein kon*
kreteres, anschaulicheres, primitiveres Verhalten. Man kann diese Störung aber
nur aufdecken, wenn man das Vorgehen der Kranken genau beobachtet und
nicht etwa nach dem Endresultat (die Plus*Minus*Methode) beurteilt. Dieses
kann auf dem Umweg über komplizierte Ersatzleistungen „richtig" ausfallen.
Eine schöne Erklärung für die „Farbenamnesie"! Aber ist es nicht mehr? Weitere
Besinnung und Beobachtung zeigt, daß die Zuordnung von bestimmten Worten
(Worten als „Zeichen für") zu Farben und Gegenständen genau dasselbe ka*
tegoriale Verhalten voraussetzt, daß sich also die Störung „amnestische Aphasie",
wie die zuerst quasi als Nebenbefund entdeckte Farbennamen* Amnesie selbst,
auf eine gemeinsame Grundstörung zurückführen und von dieser aus verstehen
lassen. Das letztere stellt natürlich die Verbindung zur normalen Psychologie her.
Es führt hinüber zu jener so grundwichtigen Unterscheidung zwischen der Sprache
als Ausdruck von und der Sprache als Zeichen für etwas. (Darstel*
lungsfunktion der Sprache nach K. B ü h 1 e r.) Wir drücken das in der Analyse
so aus, daß wir sagen, im Unbewußten würden die Worte wie Dinge behandelt.
Amnestisch*Aphasische haben also die Darstellungsfunktion der Sprache ver*
loren. Kategoriales Verhalten und Haben der Worte als Zeichen für Begriffe
220 S. H. Fuchs
ist der Ausdruck ein und derselben Grundfunktion. Keines von beiden ist primär
oder sekundär. Wir haben hier ein Beispiel für jenen Abbau der Funktion bei
Schädigung der Apparate auf ein tieferes Niveau, eine Art von Regression zu
Stadien der Sprachenentwicklung beim Kinde und beim Primitiven. Die beiden
dürfen indessen nicht gleichgesetzt werden. Wir wollen sorgfältig merken, daß
Vorhandensein der höchsten, empfindlichsten, spätesten Schicht durch ein ab*
strakteres, wirklichkeitsferneres, begrifflicheres Verhalten gekennzeichnet ist,
während bei Abbau konkreteres, wirklichkeitsgebundeneres Reagieren hervor*
tritt. Dies ist ganz konform mit den Vorstellungen J. H. Jacksons. Wir
sehen somit eine erste Stufe, eine, die für menschliches Wesen von der aller*
größten Bedeutung ist, in jener Hierarchie, die durch immer stärkeres Hervor*
treten automatischer Leistungen bis hinunter zu den unter konstanten Bedingun*
gen fast automatenhaft auslösbaren Reflexen führt. An der Sprache kommt dies
besonders schön zum Ausdruck. Ein Kranker, der einen Schirm nicht benennen
kann, aber spontan sagt: „Zu Hause habe ich einen Schirm", demonstriert den
Unterschied zwischen den beiden Sprachwelten aufs klarste. Eine Reihe von
Beobachtungen an einigen hirnverletzten Patienten zusammenfassend, konnten
wir folgende Skala, vom Normalen absteigend zu immer größerer Forderung
an die Konkretheit der Situation, beobachten:
Die Forderung ist vorzumachen, wie man ein Glas Wasser trinkt.
1. Der Normale kann das.
2. Es geht nur, wenn ein Glas vorhanden ist, also am Gegenstand, mag das
Glas auch leer sein.
3. Es geht nur, wenn Wasser im Glas ist, dies mag aber so wenig sein, daß
es Wasser gewissermaßen nur symbolisch vertritt.
4. Es geht nur, wenn so viel Wasser im Glas ist, daß richtig getrunken wer*
den kann.
5. Der Patient kann auf Aufforderung trinken, aber nur, wenn er Durst hat.
6. Der Patient ist auch unter der letztgenannten Bedingung nicht, oder nicht
immer fähig, zu trinken, während er dazu in seinem gewöhnlichen Leben
durchaus in der Lage ist.
Ein anderer Patient kann Buchstaben nicht lesen, wenn sie etwa mitten auf
der Tafel stehen, aber sehr wohl, wenn eine Linie darunter gezogen wird. Ent*
sprechend verhält er sich auch beim Schreiben. Wenn sich der Leser die Natur
eines solchen Nicht*Könnens, bei bestem Willen und großer Mühe, vergegen*
wärtigen will, so möchte ich ihn auffordern, etwa den Versuch zu machen, bei
leerem Munde so häufig hintereinander zu schlucken, als er kann. Er wird sich
überzeugen, daß dies sehr bald (nach etwa 5* bis 7mal) nicht mehr geht, aber
sofort wieder, wenn man wartet oder etwas trinkt. Das Erlebnis im Augenblick
des Nicht*Könnens ist dem der erwähnten Patienten verwandt, wie man aus
deren Gehaben unmittelbar sehen kann.
Ein Seelenblinder ist ein Mensch, der sozusagen Augen hat und nicht sieht.
Die genaue psychologische Analyse eines solchen Falles über einen Zeitraum
Zum Stand der heutigen Biologie 221
von etwa zehn Jahren ergab eine Fülle der überraschendsten Einblicke in Auf*
und Abbau sowie komplizierte Umwege der Leistungen. Alle seine optischen
Wahrnehmungen entbehren jeglicher Raumgestaltung. Ebenso aber alle Taste
erlebnisse. Bei geschlossenen Augen konnte der Patient keine Bewegung aus*
führen, insbesondere nicht anfangen! Mengenschätzen wird unmöglich, jeder
Zahlenbegriff fehlt, Tonschritte können nicht beurteilt werden, die Denkleistung
ist trotz ausgezeichneter allgemeiner Intelligenz schwerwiegend verändert. Der
Patient hat es, teilweise willkürlich, teils vollkommen unbewußt, durch Aus*
bildung von Umwegsleistungen so weit gebracht, daß trotzdem bei oberfläch*
licher Beobachtung kaum noch eine Störung auffällt. Die Funktionsstörung auf
allen untersuchten Gebieten erwies sich als dem Wesen nach gleich und ließ
sich auf eine Grundstörung zurückführen. Er kann das Wesentliche einer opti*
sehen Gegebenheit nicht erfassen, sie nicht simultan als gegliedertes Ganzes
auffassen, seine Figurgrundbildung ist beeinträchtigt, er hat eine Störung der
Gestaltbildung vorwiegend auf optischem Gebiete (alles verschiedene Beschreib
bungen desselben Sachverhalts). Wo er sich durch ein sukzessives Vorgehen
helfen kann, leistet er dem Resultat nach Gutes. Er macht aus einem räumlichen
Nebeneinander (durch Nachfahren der Umrisse mit den Augen) ein zeitliches
Nacheinander. Folgen wir einem verkürzten Protokoll vom 9, Dezember 1927,
das ich zufällig noch besitze:
Patient Sehn. An dem Patienten fällt äußerlich nichts besonderes auf, außer viel*
leicht eine gewisse Starrheit des Augenausdrucks, als ob er ins Leere blickte. Er erzählt
auf Befragen von seiner Tätigkeit im Geschäft und dem Weg dahin, wobei er seine Worte
immer mit lebhaften Bewegungen begleitet, die das Geschilderte illustrieren. Er erzählt so,
daß er die ganze Begebenheit in Gedanken durchmacht und dabei nacheinander das an*
gibt, was er weiß. Z. B. sagt er nicht : Dieses Zimmer befindet sich eine Treppe hoch,
rechts neben dem Speisesaal, sondern: „Vom Eingang gradeaus, dann rechts die Treppe
hinauf, dann gradeaus ist das Chefarztzimmer, dann rechts herum die 3. Tür von der
Treppe". Dabei begleitet er seine Worte dauernd mit entsprechenden Bewegungen.
Auffällig ist, daß der Patient sich jede Aufgabe erst — oft mehrere Male — vorspricht,
ehe er sie ausführt, oft in fragendem, manchmal mehr in kommandierendem Tone.
Soldatengruß macht er mit der rechten Hand sehr gut. Wird ihm diese nun festgehalten,
und er aufgefordert, es mit der anderen Hand zu machen, so ruft er nach einem gewissen
Zögern und Probieren spontan im Befehlston: „Ehrenbezeugung" und grüßt nun mit der
linken Hand an der rechten Stirnseite. Auf Befragen, wo er denn die Ehrenbezeugung
gemacht habe, hat er keine Ahnung, wiederholt aber: „Ehrenbezeugung" und will es
.nochmals ausführen. Daran gehindert, probiert er eine Zeitlang, sagt dann: „Rechts".
Patient vermag Ohr und Nase zu zeigen, aber nur, indem er vorher den zu bewegenden
Arm, wie auch den zu zeigenden Körperteil durch Bewegungen gefunden hat. Auch
seinen Hemdenknopf kann er zeigen, denn er weiß ja, daß der Hemdenknopf in der
Mitte oben auf der Brust ist. Er kann zeigen, wo vorne, wo oben ist etc., er weiß näm*
lieh: vorne ist, wenn ich meine Arme ausstrecke, oben ist, wo der Kopf ist, usw. Setzt er
sich „bequem", d. h. für ihn eine ganz bestimmte, schräg zurückgelehnte Haltung, so
zeigt er „oben" wieder, wo der Kopf ist, also objektiv nach hinten. Auf Aufforderung
macht er einen Kreis und ein Quadrat in die Luft. Er macht dabei versuchsweise alle mög*
222
S. H. Fuchs
liehen Bewegungen mit dem ganzen Körper, dann mit dem Arm, bis die gewünschte
herauskommt, welche er dann an dem kinästhetischen Eindruck wiedererkennt. Dieses
Verhalten war früher deutlicher. Jetzt hat er es durch virtuose Anwendung von Um*
wegsleistungen dahin gebracht, daß die gewünschten Bewegungen fast so schnell wie
beim Normalen zustande kommen. Er überträgt die optischen Gegebenheiten, die er als
solche nicht hat, in kinetische, bringt sich dieselben auf dem Umweg über die Sprache
zum Bewußtsein und rechnet sich nun gewissermaßen aus, was es sein könnte. Dieser
ganze Vorgang vollzieht sich infolge der hervorragenden Motorik und Intelligenz des
Kranken so rasch, daß die Leistung im Effekt kaum von der des Normalen abweicht.
Dem Patienten werden einige Bilder von Gegenständen gezeigt, auf denen im Wesent*
liehen die Umrisse gezeichnet sind. Er fährt dieselben mit dem Kopf nach, je nachdem
auch mit entsprechenden Arm* und Handbewegungen, und kommt dabei zu folgenden
Resultaten :
(Ei)
Und darüber?
(Kuchen)
(Gekreuztes Besteck.
Oben links Gabelzinken)
(2 Kirschen mit zusammen*
gewachsenen Stielen)
Was sind denn das? Erdbeeren?
Kirschen ?
Kaffeekanne,
Milchkanne,
Kaffeetasse.
„Eine Ellipse, ist oval."
„Oben gezackt, unten rund, da sind noch
verschiedene Schatten, das kann ein Damen*
hut sein."
.Malzeichen". (Unter entsprechender Stel*
lung der Arme.) „Links oben in der Ecke
1, 2, 3, 4 Zacken, unten sind sie verschärft
schattiert, vielleicht so ein Symbol, so
Schwerter nebeneinander."
„Das sind 2 Kugeln, die hängen, sind ver*
bunden" (macht die dachartige Armstellung).
„Früchte, keine Erdbeeren."
„Ja, Kirschen"! (Macht Bewegung wie Kin*
der, die sie über's Ohr hängen. Typisches
„Einschnappen")
„Das sind Gefäße. Das obere mehr länglich
und hat einen Henkel, das andere hat auch
einen Henkel und unten noch ein Kleines";
dann plötzlich, wie erfreut: „Das hat ja auch
einen Henkel, das wird ein Kaffeeservice
Im Prinzip ebenso verhält sich Patient beim Lesen. Er liest „schreibend" mit , der
linken Hand auch Spiegelschrift prompt. Wird er an den Bewegungen des Kopfes (bezw. der
Hand) gehindert, (was kaum möglich ist), so ist er nicht mehr imstande zu lesen. Viel*
leicht spielen noch Augenbewegungen eine Rolle. Ebenso vermag er ein Wort, das leicht
Zum Stand der heutigen Biologie 223
kreuz und quer durchgestrichen ist, nicht mehr zu erkennen, da er jetzt bei seinen nach«
fahrenden Bewegungen „entgleist". Er vermag ja im Optischen nicht das Wesentliche
vom Unwesentlichen zu unterscheiden.
Nachsprechen scheint der Patient zunächst zu können, z. B. „Frankfurt"; „heute ist
der 9. Dezember 1927". Wird ihm aber vorgesprochen: „Es ist schon alles voller Schnee"
(objektiv unrichtig), so sagt er: „Es ist schon — trüb." Später auf nochmaliges Von*
sprechen und eingehendere Aufforderung spricht er wörtlich nach: „Es" „ist" „alles"
„voller" „Schnee", dabei betont er jedes einzelne Wort isoliert und taktiert mit der
linken Hand dazu, so, als ob er völlig sinnlose Silben spräche. Ebenso verhält er sich bei
dem Satz 2x2 = 5. Daraus geht hervor, daß er gar nicht nachspricht, sondern das Vor«?
gesprochene in seiner Sprache wiedergibt, was er nur dann kann, weftn es sinnvoll ist.
Sinnvoll aber ist nur, was mit der Realität übereinstimmt. Seine Unfähigkeit etwas Un*
wahres, Unrichtiges zu sagen, entspricht also einer Gebundenheit an die konkreten Ge*
gebenheiten.
Hier wird wie in einem Experiment der Natur gezeigt, zu welch grandioser
Leistung die reine Technik der Intelligenz, diese spezifisch mensch*
liehe Eigenschaft, fähig ist, und auch deren charakteristische Eigenheit: Kenntnis*
nähme der Umweltgegebenheiten, soweit diese nötig ist, um zweckentsprechend
zu handeln. Dabei völlige Blindheit für das lebendige Wesen der Dinge, für
ihren eigentlichen Sinn. Dieser Umstand befähigt den Patienten scheinbar auch
zu abstrakten Leistungen und stellt ihn in Gegensatz zu konkreten Gebunden*
heit der anderen Kranken. Aber nur scheinbar; tatsächlich handelt auch
er immer konkret: das Wort bringt ihn in die konkrete Situation. Die Sprache
ist ja der einzige Weg, der ihm geblieben ist. Im übrigen muß auf die in ver^
schiedenen Arbeiten sehr eingehend beschriebene Analyse dieses Patienten ver*
wiesen werden. Es ist von großer Bedeutung zu verstehen, daß es sich nicht,
wie z. B. auch Schilder meint, um eine kuriose Einzelbeobachtung handelt.
Die Ergebnisse, zu denen Gelb und Goldstein auch in diesem Falle kommen,
machen Anspruch darauf, gerade das Grundsätzliche solcher Störungen auf*
gezeigt zu haben. Es ist interessant, wie der Patient es fertigbringt, Dinge zu
w i s s e n, die er eigentlich garnicht „hat". Der Patient kann schreiben, das Ge*
schriebene aber nicht mehr lesen. Er hat nicht nur Augen und sieht nicht, sondern
er kann auch „sehen" und bleibt doch blind.
Ein anderer Seelenblinder sagt zu einem Kreis, der so gezeichnet ist:
o
„Es ist vom Schornsteinfeger das Ding", wobei er zeigt, was er meint. Für den Nor*
malen wäre dies ein schlecht gezeichneter Kreis. Der Patient ist übermäßig reiz*
gebunden und konkret, er nimmt alles sozusagen zu ernst, er kann nicht Wich*
tiges, Wesentliches von Unwesentlichem, bloß Akzidentellem unterscheiden.
Diese Störung in ihrer reinsten Form, d. h. nicht mit Bevorzugung einzelner
Sinnesgebiete oder Funktionen, zeigt sich bei Stirnhirnschädigung. Es handelt
sich dabei nicht um nebeneinanderbestehende Störungen des Erkennens, der
Aufmerksamkeit, des Gedächtnisses, Willens etc., sondern um eine Unfähigkeit,
224 S. H. Fuchs
dis Wesentliche eines Vorgangs zu erfassen, um eine Störung der Figurgrund*
bildung. - «.
Ganz allgemein gesprochen haben diese Kranken die Fähigkeit eingebüßt, sich
einem Gegenstand (der Welt) gegenüber zu stellen. Das heißt aber auch, daß
sie sich selbst nicht zum Objekt haben können, nicht über sich hinaus können.
Diese Fähigkeit wird daher als die höchste, gerade das menschliche Wesen in
spezifischer Weise charakterisierende, angesehen. Auf die Bedeutung solcher
Auffassung für die Psychoanalyse hat 1934 auf dem XIII. Internationalen Psy*
choanalytischen Kongreß in Luzern Robert Wälder 4 unter bewußter Bezug*
nähme auf die Arbeiten Goldsteins mit Nachdrück hingewiesen. Auch er meint,
„daß dies und nur dies die Dimension ist, die dem tierischen Leben abgeht".
(Das Sich*über*sich*selbst*Stellen.) Er weist sie dem Übersieh zu. Er unter*
scheidet zwei Stufen im Ich: Eine, die prinzipiell auch beim Tier vorhanden sein
kann, „das tierische Ich", und eine andere, das „menschliche Ich", die erst mit
dem und durch das Übersieh vorhanden ist. Das letztere ist eine durch die for«
male Über*Ich*Funktion modifizierte Schicht und entspricht ungefähr dem Gold*
steinschen Ich. Ohne auf die so anregenden, tiefen und weitgreifenden Aus*
führungen Wälders hier im einzelnen einzugehen, möchte ich mir erlauben,
einiges Kritische dazu zu bemerken. Dieser Versuch, fruchtbar wie er ist, scheint
mir weder der Psychoanalyse noch der Auffassung Goldsteins voll gerecht zu
werden. Er läßt beidem sozusagen zu wenig Auslauf. Hier liegen zu verschiedene
Grundvoraussetzungen vor, um Verschmelzungen zu wagen, worauf später noch
eingegangen werden soll, solche, die zu Entscheidungen nach dem Charakter:
„entweder*oder" drängen, und andere, zu denen man wohl wird sagen müssen:
„ja, aber auch — ". Goldstein wäre eine solche Einteilung in Instanzen, die kon*
kret genommen werden, völlig fremd. Dies ist ihm von Wälder auch nicht zu*
gedacht worden. Vom psychoanalytischen Standpunkt möchte ich sagen, daß
der Gedanke des „menschlichen Ichs" als eines vom Über*Ich her modifizierten
(etwa wie das Licht eine Landschaft modifiziert) sehr ansprechend erscheint (da
ich mir dynamische Vorstellungen mache, ist mir persönlich diese seit längerer
Zeit geläufig). Dagegen ist, glaube ich, das Über*Ich viel tiefer ins Es getaucht,
viel Es*näher als das Ich. Vielfach (immer?) herrscht in ihm der Primärvorgang.
Ich möchte, so paradox es klingt, glauben, daß das Über*Ich selbst ohne das
Ich, auch früher als das Ich, da sein kann. Man darf sich freilich nicht schema*
tisch an die Definition des Über*Ichs als einer Stufe im Ich halten. Spezifisch*
menschliches, kategoriales Verhalten ist zwar zum Vorgang der Psychoanalyse
im strengeren Sinne notwendig, aber diese endet nicht an der Sprachgrenze.
Wie dem auch sei, der Analytiker mag aus den schönen Ausführungen
Wälders ersehen, wie nahe ihn solche Ergebnisse angehen, und wie er, viel*
leicht ohne es immer zu wissen, täglich mit ihnen in Auseinandersetzung ist.
4) R. Wälder: Das Freiheitsproblem in der Psychoanalyse und das Problem der
Realitätsprüfung. Imago, Bd. XX, 1934.
Zum Stand der heutigen Biologie 225
Der Patient Pf., dessen psychologische Analyse, soviel ich weiß, noch nicht
ausführlich veröffentlicht ist, führt uns in ein anderes Gebiet. Der Fall ist be*
schrieben in der II. Mitteilung über induzierte Tonusveränderungen (Zeitschrift
f. d. gesamte Neurologie und Psychiatrie, 1924). Ich muß es mir versagen, hier
in Einzelheiten zu gehen. Der Fall bietet sehr wesentliche Beiträge zum Ver*
ständnis von zwanghaften Vorgängen (Ordnungszwang), „Katastrophenreak*
tion", Einbeziehen, bezw. Ausschluß von Umweltgegebenheiten nach Maßgabe
ihrer Zugehörigkeit zur jeweiligen Aufgabe, Haften am Konkreten, und der Be*
Ziehungen aller dieser Verhaltensweisen zu motorischen und Tonus* Vorgängen.
Es handelt sich um einen Problemkreis, der uns kürzlich durch die inter*
essanten Ausführungen von Erwin Stengel. 5 aus der Pötz Ischen Klinik
nahe gebracht worden ist, die an verwandte Beobachtungen anknüpfen.
Die Beobachtungen über Lokalisation am eigenen Körper gehören in einen
Erscheinungskreis, der besonders von Schilder 6 („Körperschema") innig mit
der Psychoanalyse in Verbindung gebracht wurde. In den gleichen Bereich, der
schon mitten in analytische Probleme hineinführt, gehören die Beobachtungen
über Nichtwahrnehmung von Defekten am eigenen Körper. Es ist besonders
interessant, daß Goldstein die Ausschaltung der Blindheit sowohl im Verhalten
wie in den Äußerungen auch in Fällen ohne jede psychische Störung und jede;
Verletzung des Gehirnes beobachten konnte, z. B., sogar besonders ausge*
sprochen, bei Schußverletzungen der peripheren Sehnerven mit totaler Blindheit
ohne jede begleitende Hirnschädigung.
Allgemein Biologisches
G.'s Betrachtung ist eigentlich stets eine biologische. Im Mittelpunkt der mo*
dernen Biologie steht die Ganzheitsbetrachtung. Dieser ist ein Kapitel
von über 100 Seiten gewidmet. Einiges daraus sei angeführt. Ganzheitliche Be*
zogenheit von Leistungen kommt auch in ihrer relativen Unabhängigkeit von
bestimmten Gebieten zum Ausdruck. Bei der Überkreuzung der Nervi ischiadici
durch Totalüberpflanzung beim Hunde erfolgte die richtige Innervation sofort
und ohne jede Falschleistung (Bethe). Bei Überpflanzung der Beugersehnen
auf die Streckersehnen bei Radialislähmung tritt sofort nach Lösung des Ver*
bandes die richtige Innervation ein. Es kann sich also nicht um einen Übungs*
erfolg oder die Ausbildung neuer Bahnen handeln. Die Erklärung auf Grund
der gewöhnlichen Vorstellung über die normale Innervation ist unmöglich, was
zeigt, daß diese Vorstellung unrichtig ist. Bethe zeigte auch, daß bei Exstir*
pation einzelner oder mehrerer Extremitäten bei Tieren, die Umstellung auf die
neue Gangart beim ersten Versuch erfolgt. Einem Meerschweinchen wurden
alle Beine amputiert. Nach Erwachen aus der Narkose rollte es sich um die Längs*
5) E. Stengel, „Zur Kenntnis der Triebstörungen und der Abwehrreaktionen des Ichs
bei Hirnkranken", Int. Ztschr. f. Psa., Bd. XXI, 1935, S. 544.
6) P. Schilder, „The Image and Appearance of the Human Body", Psyche Monogr.
No. 4, London, 1935.
Imago XXII/2 15
226 S. H. Fuchs
achse nach der dem Reiz entgegengesetzten Seite, die einzige noch mögliche Fort*
bewegungsart. G. weist darauf hin, daß bei Wegfall der rechten Hand (Hemi*
plegie, Amputation) Menschen nach Überwindung einiger Hindernisse prompt
links schreiben. Ein Lernen ist das nicht, manche schreiben Spiegelschrift. Jeder
kann auch mit dem Fuß schreiben oder etwa bei völlig ungewöhnlichen Stel*
lungen der Hand, z. B. mit dem Handrücken nach unten, obwohl dazu samt*
liehe Innervationen im einzelnen auf vollkommen verschiedenen Bahnen laufen
müssen. Solche Versuche allein zeigen schon zur Genüge, daß die Leistung nicht
an bestimmte anatomische Apparate gebunden ist. Es ist sehr wichtig, daß eine
Umstellung solange vom Teilgebiet versucht wird, als dieses nicht hoffnungslos
zerstört ist, erst dann erfolgt die notwendige Umstellung im Ganzen. Motorische
Defekte werden etwa auf optischem Gebiete kompensiert (z. B. beim Rechnen).
Dies erfordert gutes optische Vermögen, wie überhaupt Ersatzleistungen vor*
züglich in anlagemäßig guten Gebieten erfolgen, keineswegs willkürlich. Der
Ersatz bildet sich unbewußt aus. Der vorher erwähnte Seelenblinde lernte lesen,
ohne selbst zu bemerken, wie er dabei vorging. Bei völliger Unmöglichkeit einer
Leistung treten „Katastrophenreaktionen" auf, die zum Antrieb der Umstellung
werden.
Es werden zwei objektiv feststellbare Grundverhaltensweisen unterschieden:
Das „geordnete" und das „ungeordnete" oder „katastrophale Verhalten."
Zum geordneten Verhalten gehören: gute, effektiv richtige Leistungen, welche
der Situation entsprechen und konstant bleiben. Das solchem Verhalten zuge*
hörige Erlebnis ist das der Aktivität, Leichtigkeit der Leistung, des Behagens, der
Entspannung, der Angepaßtheit an die Welt, der Freude.
Das Umgekehrte ist der Fall beim ungeordneten Verhalten. Die Leistungen
werden objektiv unrichtig, widerspruchsvoll, inkonstant. Das zugehörige Er*
lebnis ist das einer tiefen körperlichen und seelischen Erschütterung. Der Mensch
in solcher Situation fühlt sich hin* und hergerissen, unfrei, die ganze Welt scheint
unsicher und schwankend. „Er befindet sich in einem Zustand, den wir gewöhn*
lieh als Angst bezeichnen".
Die Unterscheidung ist für eine richtige Untersuchung grundlegend. Die Un*
Ordnung ist ein Ausdruck dafür, daß der Organismus vor Aufgaben steht,
denen er nicht gewachsen ist. Die störenden Vorgänge werden ausgeschaltet.
Die „Verdrängung" ist nur ein Sonderfall dieses allgemeinen Verhaltens. Die
Leistungen werden so verändert, daß Katastrophenreaktionen (also Angstsitua*
tionen) vermieden werden. G. kommt hier der Signalfunktion der Angst sehr
nahe.
„Beginnt aus einer für ihn objektiv gefährlichen Situation heraus ein Reiz wirksam zu
werden, so tritt sofort eine Katastrophenreaktion ein, jede weitere adäquate Reizver*
wertung ist ausgeschlossen, der Kranke erscheint völlig abgeschlossen gegenüber der Welt.
Die gefährliche Situation wird also weniger aktiv vermieden, als daß der Kranke passiv
von ihr abgeschlossen wird. Hat aber der Kranke öfters erlebt, daß in bestimmten Situa*
tionen Katastrophenreaktionen auftreten, und ist er imstande, diese Situationen an irgend
welchen von ihm erfaßbaren Erscheinungen, „Kriterien", zu erkennen, so kann er die
Zum Stand der heutigen Biologie 227
Situation auch tatsächlich aktiv vermeiden. Wir sehen es immer wieder, daß die Kranken
sich heftig wehren, bestimmte scheinbar ganz harmlose Dinge zu tun, und wir begreifen
dieses Sichwehren sofort, wenn wir den betreffenden Vorgang unter dem dargelegtem
Gesichtspunkt betrachten.
Das Vermeiden gefährlicher Situationen geschieht besonders aber dadurch, daß der
Kranke sich in einer Situation zu erhalten bemüht, die er bewältigen kann. Der Kranke
sucht, wenn man ihn etwa mit Gewalt in eine von ihm als katastrophale Situation erkannte
Lage hereinbringen will, diesem Zwange durch Ausführung irgendeiner anderen Leistung
— einer „Ersatzleistung" — zu entgehen." (S. 27)
Das dargelegte Verhalten gehört etwa in die Reihe „Angstzustand — Phobie
— Zwangshandlung". Der zuletzt angedeutete Gedanke, nämlich das Sichklam*
mern an Leistungen, um den solange abgesperrten angstdrohenden Anforde*
rungen neuer Situationen zu entgehen, ist vielleicht geeignet, auf die Vorgänge
ein neues Licht zu werfen, die wir als Auswirkungen des „Wiederholungszwangs"
auffassen. Er wird im Anschließenden von G. in großer Feinheit ausgeführt.
Die rastlose Tätigkeit mancher Menschen, als Flucht in die Realität vor unerträg*
liehen äußeren oder inneren Anforderungen, ihre Unfähigkeit zur Ruhe, Muße
gehört hierher. Ich würde vorschlagen, ein solches Dasein als „r e a k t i v e s D a*
sein", die entsprechenden Charakterbildungen ebenfalls als „reaktive" zu be*
zeichnen. Hierher gehört auch der Ordnungszwang der Hirnverletzten, ihr Ver*
meiden der Leere. Man hält sich an Objekte, um handelnd an sie anzuknüpfen.
Goldsteins energetische Vorstellungen stehen in gewissem Sinn der Libido*
theorie nahe. Die zur Verfügung stehende Energiemenge wird als „innerhalb
gewisser Grenzen" konstant betrachtet. Eine Leistung nimmt gewissermaßen der
andern Energiebeträge weg. Die Wirkung verschiedener Reize auf einen Orga*
nismus ist so vollkommen abhängig von der inneren und äußeren Gesamtsitua*
tion, daß es sinnlos ist, ja direkt falsch, Elemente daraus zu isolieren und absolut
zu nehmen. Organismus und Umwelt verhalten sich selbst wie Figur und Hinter*
grund. Bei jeder Veränderung an einer Stelle treten gleichzeitig solche an vielen
anderen Stellen auf. So treten etwa bei Belichten einer Pupille Veränderungen
auf motorischem und sensorischem Gebiete auf. Wir nehmen daraus künstlich
die Verengerung heraus und kümmern uns gewöhnlich nicht um die andern.
Bewegungen an einer Körperstelle gehen mit motorischen Vorgängen an ver*
schiedenen andern einher. Diese Vorgänge kommen bei bestimmten Erkran*
kungen (besonders Kleinhirn) deutlich heraus, lassen sich aber bei Normalen
gut nachweisen unter Bedingungen, die auf ein „Sich*gehen*lassen" hinauslaufen.
Einen solchen Zustand als „Ablenkung der Aufmerksamkeit" oder Enthemmung
tieferer Apparate zu bezeichnen, ist keine Beschreibung, sondern enthält schon
eine Theorie. Der bei solchen Versuchen auftretende Bewußtseinszustand hat
merkwürdige und interessante Beziehungen zu Schlaf und Hypnose, aber die
Bewegungen sind nicht etwa selbst eine Folge von Suggestionen, wie oft gegen
G. eingewandt wurde; eine solche Theorie würde sie außerdem nicht im min*
desten erklären. Tatsächlich sehen wir überall Veränderungen auftreten, wo
wir genau genug untersuchen. Die Beispiele lassen sich beliebig vermehren. Es
15«
228 S. H. Fuchls
kommt aber darauf an, das Prinzip zu verstehen, da wir so sehr gewöhnt sind,
anders zu denken. Man soll sich nicht durch den Allgemeinklang der Termini
beirren lassen, zu akzeptieren, daß etwas sehr Konkretes von großer praktischer
Erheblichkeit gesagt wird: man kann wirklich keine einzelne Handlung richtig
beschreiben, ohne zu wissen, was der Mensch will, in welcher Verfassung er sich
befindet, und was von ihm verlangt wird, d. h., ohne die Bedeutung dieser
Leistung aus der Gesamtsituation zu verstehen. Wenn man aber genügend solcher
Leistungen untersucht und verstanden hat (was an sich nur in einem analytischen
Vorgehen möglich ist), so weiß man aus ihnen prinzipiell, welchen Leistungen
dieser Mensch gewachsen ist, und was für Umwege er in anderen bevorzugen
wird. Man lernt in einem dialektisch fortschreitenden Prozeß ihn im Ganzen
besser verstehen, während man gleichzeitig aus der Kenntnis des Ganzen den
Teilvorgang besser versteht. Man nähert sich so asymptotisch einer vollen Be*
Schreibung und wirklichem Verständnis und — der Möglichkeit einer richtigen
Theoriebildung.
Ein Beispiel zur Illustration: Wird dem Patienten Pf. der Kopf nach einer
Seite, etwa nach rechts, gedreht, so geht der linke Arm nach der anderen Seite.
Der Patient kann in dieser Stellung des Kopfes nicht mit dem linken Arm nach
rechts zeigen. Will der Patient aber spontan oder auf Aufforderung auf jeman*
den, der rechts von ihm steht, zeigen (natürlich ohne vorherige passive Kopf*
drehung), so zeigt er genau wie ein Normaler, d. h. er begleitet die Armbewegung
mit einer Wendung des Kopfes und der Augen nach rechts. Er kann also „.ein
und dieselbe" Leistung oder er kann sie nicht, je nach der Situation, je nach
ihrer „Bedeutung". Mit anderen Worten: es ist nicht dieselbe Leistung, obwohl
sie zum selben Effekt führt, sondern eine andere, und wir können also weder
Leistungen absolut nehmen, noch ihnen fest zugehörige Apparate zuschreiben.
Was wir können ist nur: beschreiben, was für Leistungen in bestimmten Situa*
tionen möglich sind, und wie sie zustande kommen. Wir kommen so zu Ab*
Wandlungen der wechselseitigen Beziehungen zwischen bestimmten Situationen
und der ihnen zugehörigen jeweiligen Einstellung eines Organismus, begreifen
vielleicht das Prinzip solcher Abwandlungen und schreiten zu allgemeineren Ge*
setzen des Verhaltens vor.
Bei Isolierung von Teilen: Im Experiment, in der Krankheit und in „Grenz*
Situationen des Lebens" gibt es auch relativ isoliert verlaufende Teilvorgänge.
Ein solcher, etwa ein Reflex, ist aber nur der Vordergrundsvorgang (die „Figur")
einer Gesamtreaktion und ändert sich mit der Lage des Organismus. Eigenreflexe
— im weiteren Sinne genommen als die auf Anatomie fundierten P. Hoffmanns
— sind Ausgleichsphänomene. Fremdreflexe sind schon richtige Auseinander*
Setzungen mit der Umwelt, Gesamtleistungen, sollten besser gar nicht Reflexe
heißen. Man kann das normale Verhalten nicht aus den Reflexvorgängen auf*
gebaut denken. Nur der Mensch kann sich übrigens so kompliziert einstellen,
daß er Teile isoliert der Umwelt überläßt, wie es zur Auslösung von Reflexen
notwendig ist (man denke an Jendrassiks Kunstgriff). Es ist etwas sehr
Zum Stand der heutigen. Biologie 229
Verschiedenes und sieht ganz anders aus, ob ein Mensch unerwartet hellerem
Licht ausgesetzt wird oder vom Dunkeln ins Helle blickt, oder ob er dem Arzt
sein Auge zur Untersuchung überläßt. Die Bedeutung der Reflexe für die prak*
tische Frage der Örtlichkeit und Natur krankhafter Prozesse wird davon nicht
betroffen. Bessere Beschreibung kann nur zur Verfeinerung der Diagnostik
führen.
Die bedingten Reflexe sind an das Vorhandensein des Großhirns gebunden.
Sie sind Dressurleistungen, die sich nur im Anschluß an unbedingte Reflexe
ausbilden lassen. Ihr Zustandekommen beim Tier, von außen durch den Men*
sehen, ist etwas anderes als beim Menschen selbst, wo sie für Erziehung und
Selbsterziehung t eine große Rolle spielen. Sie werden beim Menschen in das
Gesamtverhalten eingeordnet und sind viel stabiler eingebaut, weniger leicht zu
zerstören. Auch sie sind nicht geeignet, als Grundlage für das Verständnis der
Leistungen eines Organismus zu dienen. Sie gehören vielmehr zu den allerkom*
pliziertesten Figurbildungen. Auch die Instinkte sind ganzheitsbezogen. Sie ge*
hören dem natürlichen Leben des Organismus an. Es scheint angenommen zu
werden, daß es keine besonderen Instinkte gäbe, sondern dieser Anschein durch
das Hervortreten bestimmter Tendenzen erweckt wird, die der allgemeinen
Reaktionsweise lebendiger Substanz entsprechen.
Was über das Phänomen der Angst gesagt wird, wird den Analytiker beson*
ders interessieren. Angst schließt das Erlebnis der Gefahr ein, aber bei voller
Beobachtung gehören dazu charakteristische Veränderungen im Körperlichen:
an Gesichtsausdruck, Motorik, Puls, Vasomotoren etc. Aber nicht jede Gefahr
führt zur Angst. Die Angst ist gegenstandslos und inhaltslos, im Gegensatz zur
Furcht.. Man sagt: „Ich fürchte mich vor etwas", dagegen: „Ich ängstige mich".
Wir können vor der Angst nicht fliehen, weil wir nicht wissen wohin. Es gibt
auch keine Beruhigung für sie. Die Zustände katastrophaler Reaktionen bieten
alle Charakteristika der Angst. Es wäre richtiger, nicht zu sagen, der Kranke hat
Angst, sondern er ist Angst. Er kann sich weder eines Objektes noch seines
Ichs bewußt werden. Das Ichbewußtsein entspricht ja dem Gegenstandsbewußt*
sein. Die Angst ist aber nur solange gegenstandslos, als wir nur die Erlebnisseite
in Betracht ziehen. Die Katastrophensituation besteht ja aus dem Zusammen*
prall mit einer nicht zu bewältigenden konkreten Umwelt. Zur Furcht führt die
Möglichkeit des Eintretens der Angstsituation. Man hat also eigentlich immer
Furcht vor der Angst. Die Furcht hat konkrete Inhalte. Wir kommen darauf im
Abschnitt Psychoanalyse zurück. Über das psychophysische Problem wird
eigentlich nur gesagt, daß keinem der beiden Erscheinungsgebiete ein Vorrang
vor dem andern gebührt. Wenn wir die Phänomene beider Reihen auch getrennt
beschreiben, so wird die Bedeutung solchen Materials nur in der Bedeutung für
das „Ganze" offenbar. „Getrennt marschieren und vereint schlagen", könnte
man zur Charakterisierung des Standpunktes kurz sagen. Dem Psychischen wie
Physischen wird zwar Eigenart zuerkannt, anderseits erscheinen sie wiederum
bloß als Betrachtungsweisen ein und desselben Organismus von zwei verschie*
denert Seiten. Als für den Organismus wesentlich sollen die Vorgänge gelten,
die seine Konstanz aufrechtzuerhalten geeignet sind. Er hat die Tendenz zum
„ausgezeichneten Verhalten" auf allen Gebieten, dessen subjektives Korrelat das
Erlebnis der Bequemlichkeit, Natürlichkeit, größten Leistungsfähigkeit etc. ist.
Die bestimmenden Momente sind bei verschiedenen Typen verschieden, für den
einzelnen aber festgelegt. Es gibt entsprechend bevorzugte Wahrnehmungen: ein
rechter, spitzer, stumpfer Winkel; Kreis, Quadrat, Symmetrie etc. Ein Winkel
von 93° etwa erscheint als ein schlechter rechter. Ähnlich im Taktilen, im Aku*
stischen: Quint, Quart etc. Abweichungen werden als Unreinheit, Unvoll*
kommenheit erlebt. Man spricht von einer „schlechten Quint". Bei Kranken
kommen solche Dinge deutlich heraus, weil ihr Koordinatensystem vom „Nor*
malen" abweicht, sie sind quasi anders normiert. Was macht nun das ausge*
zeichnete Verhalten zum ausgezeichneten? (Wodurch wird etwas zur „Ge*
stalt"?) Hier gewinnen Untersuchungen große Bedeutung, die nur auf Grund
solcher Fragestellung überhaupt möglich wurden und im einzelnen nicht mit*
geteilt werden können. Motorische Leistungen werden durch sensorische ver*
ändert und umgekehrt. Die Veränderungen können völlig unbewußt sein. Moto*
rische und sensorische Vorgänge verändern die Wahrnehmung.
Die Zeit der Einwirkung ist von Belang. (Dieses Moment wird ganz beson*
ders von v. Monakow in den Vordergrund gerückt, in seiner Lehre von der
„chronogenen Lokalisation".) Veränderte Einstellung des Individuums wirkt
ebenso. Der Zeigeversuch etwa wird ganz verschieden beeinflußt, je nachdem
man der Untersuchungsperson aufgibt, etwa ein seitliches Objekt zu betrachten,
oder eine reine Augenbewegung nach der Seite auszuführen. Die Verschiebung
der ausgezeichneten Ebene erfolgt beim Hinblicken nach derselben, beim Hin*
drehen der Augen nach der entgegengesetzten Seite. Dieses Beispiel ist sehr
wichtig zum Verständnis. Objektiv das gleiche Resultat: Augen rechts. Aber die
innere Struktur des Zustandekommens wirkt sich noch in der verschiedenen
Beeinflussung des Nachfolgenden aus. Also auch was für einen Organismus aus*
gezeichnet ist, hängt von der Gesamtsituation ab. Ausgezeichnetes Verhalten ist
nur in ausgezeichneter Situation möglich. Dieses geht einher mit dem Gefühl
des Bequemen, Angenehmen, Richtigen, Sicheren. Es ist das Beste, Adäquateste,
was der Organismus leisten kann. Dieser Situation strebt der Organismus zu.
Wir können also als die wesentlichen Leistungen diejenigen erkennen, die in seiner
normalen Lage ausgezeichnete sind. Wir erkennen die echten, wesenhaften Eigen*
Schäften auch daran, daß sie zusammen mit Ordnung und ausgezeichnetem Ver*
halten am ganzen Organismus bestehen. „Das ist das letzte sicherste Kriterium,
das unsere Erkenntnis hat. Hier sind wir an der Grenze der Erkennbarkeit von
Lebendigem überhaupt." (S. 237.) Die Leistungen des Organismus sind nicht
Funktionen, sie sind „Dasein in Tätigkeit" (Goethe).
Es gibt also charakteristische Konstanten für jeden Organismus, denen er
immer wieder zustrebt, solche der Art und solche des Individuums. Eine beson*
ders charakteristische ist etwa die des zeitlichen Ablaufs, des Lebensrhythmus.
Zum Stand der heutigen Biologie 231
Das gilt für Denken, Fühlen, Wollen ebenso wie für Herzschlag, Atmen, Stoff*
Wechselvorgänge. Ein Überblick über längere Zeitabschnitte des Lebens eines
Individuums läßt sie besonders klar hervortreten.
Philosophisches
In unserem Zusammenhang sei hierunter verstanden alles, was auf Besinnung
k hinausläuft, was sich Rechenschaft gibt über Sinn, Absicht, Methode.
Ein besonderer Abschnitt ist dem Wesen biologischer Erkenntnis gewidmet.
Biologische Erkenntnis strebt nach einem Gesamtbild, von dem aus sich jede
Erscheinung mit Notwendigkeit ergibt. Die Erfahrung hat einen dialektisch fort*
schreitenden Charakter. Kein Begriff ist problematischer als der der „Tatsache".
Ja, die Skepsis gegenüber den sogenannten Tatsachen ist „ein Grunderfordernis
fruchtbarer biologischer Arbeit überhaupt". Es handelt sich weder um induktives
noch deduktives Vorgehen: „Wir suchen nicht den Schlußstein eines Gebäudes,
sonders das Gebäude selbst . . . Wir suchen nicht einen Realgrund, der Sein
begründet, sondern eine Idee, den Erkenntnisgrund, in dem alle Einzelheiten
ihre Bewährung erfahren . . ." Wir können zu diesem Bilde nur durch einen
schöpferischen Akt gelangen. „Biologische Erkenntnis ist der dauernd fortge=
setzte schöpferische Akt, durch den uns die Idee des Organismus in zunehmen=
dem Maße zum Erlebnis wird, eine Art Schau etwa im Goetheschen Sinne, die
immer auf dem Boden sehr empirischer Tatsachen steht" (S. 242). Wir lernen
so, wie man Radfahren lernt; wir probieren solange, bis wir es — plötzlich —
können. Die adäquate Leistung geht nicht direkt aus den inadäquaten Ver*
suchen hervor, sondern ist ein neuer Akt, ein Erfassen. Was ist adäquat? Was
der Natur des Organismus entspricht. Man darf nicht einer Pseudo*Exaktheit
zuliebe das Studium einzelner Erscheinungen bevorzugen. Denn solche Exaktheit
ist durch Feststellung unter unnatürlichen Bedingungen erkauft und trägt nicht
bei zur Erfassung des Lebendigen. Dieses ist heute und vielleicht dauernd mit
den Mitteln der mathematischen Naturwissenschaft nicht zu erfassen. Die Er*
kenntnis hat Symbolcharakter. Die Symbole, die die Biologie braucht, sind an*
dere als die der Physik. Die Symbole der Biologie müssen mehr sein, als ein*
fache Zeichen, Etiketten, sie müssen konkreten Charakter, Gestaltcharakter
haben, an ihrem Gegenstand geformt sein, ihn mit einbeziehen. (Daß die psy*
choanalytischen „Symbole" solchen Charakter haben, wird ihnen von Mona*
kow besonders zum Vorwurf gemacht, der das genaue Gegenteil fordert.) In
einem interessanten Exkurs wird die Verwandschaft dieser Auffassung mit der
des Parmenides aufgezeigt. 7 Die Erkenntnis nähert sich der Wahrheit nur
asymptotisch. Sie ist immer unabgeschlossen, bereit zur Wandlung mit neuen Er*
fahrungen. Man kann noch so viele Einzeltatsachen sammeln, ohne in der Er*
kenntnis fortzuschreiten, während eine einzige neue Tatsache alle früheren Vor*
7) s. hierzu K. Riezler: „Parmenides". Frankf. Studien z. Religion und Kultur
der Antike (herausgeg. v. W. 1 1 o). Frankfurt a. M., 1933.
232 S. H. Fuchs
Stellungen umwerfen kann, eine völlig andere Idee verlangt, die jetzt auch' die
alten Tatsachen in einem anderen Sinne bewerten läßt.
Naturwissenschaft ist akausal. Selbst in der Physik besteht ein „akausaler
Spielraum" (P. Jordan). Vorgänge im Atom müssen nach Bohr als individu*
eile Prozesse beschrieben werden. In allen Wirkungen steckt ein kausal unfaß*
barer persönlicher Faktor. Aber auch die Annahme von Entelechien wird ebenso
wie die teleologische Betrachtung abgelehnt. Das Ziel des Organismus ist kein
metaphysisches. Es ist nichts anderes als die Verwirklichung seines Wesens, sein
„Sein", nicht sein „Dasein" könnte man sagen. Der Begriff der Ganzheit wird
im Anschluß an Driesch als eine Kategorie bezeichnet, „als die Kategorie,
die den Gegenstand der Biologie konstituiert".
G. lehnt auch den Gegensatz zwischen Leben und Geist, wie er besonders in
der Philosophie von L. Klages und Max Sehe ler, wenn auch in sehr ver*
schiedener Weise, hervortritt, ab. Die Gegenüberstellung ist eine funktionelle,
nicht eine substantielle (C a s s i r e r). Für G. handelt es sich um „Stufen gegen*
seitiger Durchdringung des stets positiven Lebens". Es gibt keine Vitalsphäre,
die bei Mensch und Tier gleichsetzbar wäre. Die eigentümliche Spannung des
Menschseins erschöpft sich nicht wie beim Tier in dem Gefühl der momentanen
Bedrohung, der Angst, sodern wird bewußt, erscheint in gegenständlicher, ob*
jektiver Gestalt. Sie wird zur Furcht und zur Freiheit, sich trotz der Gefahr zu
verwirklichen. Weltgestaltung, Kultur, wird nur verständlich aus dieser gemein*
samen Wirkung des „Geistes" und der „Vitalsphäre". Die Betrachtung des Men*
sehen selbst ist nur Ausgangspunkt, um zum Verständnis der Lebenserschei*
nungen im Ganzen zu kommen. Menschliches Sein führt nicht über die Sphäre
des Lebens hinaus. Aber die Grenze zwischen zwei Arten erscheint unüber*
brückbar, so auch die zwischen Mensch und Tier.
Der menschliche Organismus zeigt einen Schichtenaufbau, er ist hierarchisch
gegliedert. Zwei große Bewegungsgruppen stehen einander gegenüber: Beuge*
und Adduktionsbewegungen einerseits, Streck* und Abduktionsbewegungen
andererseits. Die ersteren stehen in engerer Beziehung zur Großhirnrinde, die letz*
teren zu den tieferen Abschnitten. Der ersten Gruppe entspricht: Willkürliche
Leistung, größere Ichbezogenheit, stärkere ganzheitliche Bestimmung, Wesent*
lichkeit. Sie wird höher gewertet. Der zweiten entspricht: unwillkürliche Lei*
stung, größere Umweltsbezogenheit, mehr automatischer, reizgebundener Ver*
lauf der Reaktion. Sie wird tiefer gewertet. Die Beugebewegungen betonen
das Erfassen der Welt vom Ich aus. Auf ihrer Stufe ist die Trennung von Ich
und Welt erst möglich. Die Streckbewegungen entsprechen einer Hingabe an die
Welt, einem Verlieren des Ich in der Welt. Ein Defekt stört immer mehr die
Beugeleistungen und wesensmäßig dazugehörig die Sonderung von Ich und Welt.
Man beachte aber, daß nicht jede Beugebewegung auch eine Beugeleistung ist.
Es gibt zwei Charakteristika für die Bestimmung der Wertstufe: die Stärke der
Zentrierung und die Kapazität, die Fülle der erfaßten Welt.
Drei Grundtypen menschlichen Verhaltens entsprechen dem Denker, dem
Dichter und dem Tatmenschen. Man kann Stufen aufstellen, soll sich aber nicht
die eine als eine Entwicklung aus der anderen vorstellen. Jede Erscheinung soll
aus sich selbst verstanden werden.
„Begnadeten Einzelnen geht vielleicht ein Funke von der Gestalt jenes Urbildes auf,
das bei der uns allein zugänglichen isolierenden Betrachtung uns in einer 'Fülle von Er*
scheinungen verwirrend entgegentritt. Wir können höchstens versuchen Material zu«
sammenzutragen, an dem einmal die Schau jenes Ganzen sich entzünden mag. Wieder
werden wir zur Bescheidenheit gedrängt."
Jedes Geschöpf ist in sich vollkommen, gestaltet, lebendig, aber unvollkommen
in Hinsicht auf das Ganze.
„Das einzelne Geschöpf zeigt gegenüber dem Ganzen des Seins die gleiche Art Sein,
die ein isolierter Vorgang am Organismus gegenüber dem Ganzen des Organismus auf*
weist: Es zeigt Un Vollkommenheit und Starrheit, es ist nur seiend im Ganzen, nur ge«
tragen vom Ganzen wie der Reflex, und deshalb dem Tode geweiht, sobald diese Stütze
aufhört, ist deshalb dem Wesen nach vergänglich, auf dem Wege zum Tode." (S. 318).
Goldsteinund die Psychoanalyse
„Wenn diese Tatsachen noch nicht allgemeine Anerkennung
gefunden haben, so liegt dies zum Teil, so merkwürdig das
klingen mag, daran, daß man — trotz meiner und anderer Publi*
kationen — sich nicht an die für die Feststellung notwendigen
Versuchsvorschriften gehalten hat und so eben nicht die gleichen
Tatsachen fand. Das ist deshalb besonders hervorhebenswert,
weil es zeigt, wie verhängnisvoll eine theoretische Voreinge°
nommenheit auf die Feststellung der Tatsachen wirken kann."
Goldstein (S. 54/55)
Es ist immer wieder überraschend, wie primitiv die Dinge sind, die von
Menschen, die selbst nicht durch die Analyse hindurchgegangen sind, nicht
wahrgenommen werden, und zwar ganz unabhängig vom Formniveau. Das heißt
aber nicht, daß wir ein Recht hätten, diesen Umstand gegen berechtigte Argu*
mente und Kritik auszuspielen. Wir sind hoffentlich über jenes Stadium hinweg,
wo andere Meinung danach beurteilt wird, ob sie etwa einem „Widerstand" ihre
Energien verdankt oder Kastrationsangst verdeckt. Nur*Analytiker sind oft
ebenso erstaunlich blind für Tatsachen aus anderen Gebieten und manchmal
sogar gegenüber der eigenen Person! Wir haben allen Grund, auf die Kritik
eines so ehrlichen und originellen Forschers wie Goldstein mit voller Aufmerk*
samkeit zu hören. Es ist an uns, aufzuzeigen, wo sie auf Mißverständnis oder
mangelnder Einsicht in die klinischen Tatsachen beruht, oder solche Kritik anzu*
nehmen, wo sie etwa berechtigt und förderlich ist.
Im Jahre 1927 hielt Goldstein seinen großen Vortrag über die Beziehungen
der Psychoanalyse zur Biologie in Bad Nauheim. Er faßte dort den Standpunkt
zusammen, wie er sich ihm nach jahrzehntelangem ernstem Bemühen ergeben
234 S. H. Fuchs
hatte. Ich greife hauptsächlich auf jenen Vortrag zurück, 8 da der Abschnitt, der
der Psychoanalyse im vorliegenden Buch gewidmet ist, nur einen verkürzten
Auszug desselben darstellt. Man hat den Eindruck, daß seither die Psychoanalyse
für Goldstein eher an Bedeutung verloren hat, jedenfalls ist er damit nicht
weitergekommen. Die innere Auseinandersetzung ist natürlich eine viel inten*
sivere.
Es wird aus allem Vorhergehenden ohne weiteres klar sein, inwiefern Gold*
stein sich mit der Psychoanalyse in scharfem Widerspruch befinden muß. Er
erkennt zwar, daß Freud seinerzeit „einer von den wenigen" war, „die sowohl
das normale wie das pathologische Seelenleben von der Persönlichkeit
aus zu verstehen suchten" (Sperrung vom Ref.), aber dieser stehe doch „durch
seine mechanisierenden und generalisierenden Vorstellungen über das seelische
Geschehen der psychologischen Richtung, die er bekämpft, noch recht nahe."
Gemeint ist damit, daß Freud doch Begriffe und Ausdrücke aus der Bewußt*
seins* und Assoziationspsychologie übernehme. Über die Berechtigung und Be*
deutung dieser Feststellung später. Wenn aber Freud richtige Beschreibungen
von Beobachtungen in einer theoretisch anfechtbaren Terminologie gibt, und
man nunmehr allen Scharfsinn einsetzt, um diese theoretischen Vorstellungen zu
entkräften, und damit mehr oder weniger die Beobachtungen selbst als falsch
bezeichnet, oder sich um sie nicht mehr kümmert, sie zum Hintergrund macht,
so heißt das doch nichts als das Kind mit dem Bade ausschütten! Gerade das ist
aber, was man tut und was man — unwillkürlich — auch will. Man will das
Kind treffen und schüttet das Bad aus. G. bezweifelt ausdrücklich, daß die In*
halte, „die nach der Ansicht des Analytikers beim Kranken wirksam werden",
die Wirkenden sind. Gleich darauf spricht er bezeichnenderweise vom Ödipus*
komplex. Er wolle zwar ambivalentes Verhalten des Kindes gegenüber den
Eltern, speziell des Sohnes gegenüber dem Vater, beileibe nicht leugnen, aber
Vater, Mutter, Inzestwünsche etc. bedeuten alle für das Kind etwas „ganz an*
deres", und solche Inhalte werden bei den Ambivalenzkonflikten des späteren
Neurotikers vom Analytiker willkürlich in den Mittelpunkt gerückt. Dies nur
als ein Beispiel dafür, wie sich der Mangel wirklicher Kenntnis des intimeren
Vorgangs in einer Analyse bemerkbar macht. Die Quintessenz von Goldsteins
Kritik ist folgendes: Es ist ebenso unstatthaft, das Psychische aus dem Gesamten
zu isolieren, wie irgend etwas anderes. Es ist vollkommen berechtigt, Psychisches
und Bewußtes gleichzusetzen (diesen Standpunkt vertritt übrigens auch
Schilder). Das Unbewußte ist nur biologisch zu fassen. Alle Beobachtungen
Freuds über die ubw. Mechanismen sind zwar vollkommen richtig, aber sie
stellen typische Verläufe an einem isolierten Teil dar. Vorgänge wie etwa die
Verdrängung sind biologischer Natur, sie sind nicht Folge innerpsychischen
Konflikts, sondern entsprechen verändertem Gesamtverhalten, sind nur Spezial*
fall allgemeiner, genau so im Gebiet des „Organischen" beobachtbarer Ver*
8) Bericht über den IL Allgemeinen ärztlichen Kongreß für Psychotherapie in Bad
Nauheim. Leipzig, 1927.
Zum Stand der heutigen Biologie 235
haltensweisen. Hierher gehören die interessanten und wichtigen Beobachtungen
über die Ausschaltung organischer Defekte aus der Selbstwahrnehmung, die oben
gestreift wurden. Es handelt sich um der Autotomie verwandte Vorgänge. Ahn*
liches gilt für die Zwangsvorgänge. Es gibt keine gesonderten Triebe, deren An*
nähme vollkommen auf dieselbe Stufe mit den Reflexen gesetzt wird und also
auch derselben Kritik unterliegt. Es gibt keine besondere seelische Energie,
„weil Psychisches überhaupt nur in abstracto vorhanden ist". Psychisches wirkt
weder auf Physisches, noch umgekehrt. Goldsteins energetischer Ge*
Sichtspunkt hat übrigens, anders formuliert, sehr viel mit dem der
Psychoanalyse gemein. Die Verwandtschaft seiner Auseinandersetzungen
über die Angst mit der von der „Signalfunktion" ist deutlich, obwohl Freuds
Auffassung kaum erwähnt wird. Wenn wir allerdings hören, „daß ein an sich
bedeutungsloses Versagen nur in einer Situation aufzutreten braucht, in der es
für die Existenz des Betreffenden Bedeutung gewinnt, um die Angst deutlich
hervortreten zu lassen; man denke etwa an die Angst im Examen", so muß uns
solche Auffassung freilich recht mager erscheinen. Sie wird trotz gewiß richtiger
prinzipieller Definitionen der Reichhaltigkeit des Materials, wie wir es fort*
während sehen, nicht gerecht. Sie scheint von dem Mechanismus der Verschie*
bung, der Projektion und anderem keine Notiz zu nehmen, paßt am ehesten noch
auf die Struktur einer Phobie, aber auch hier nur in groben Umrissen.
Nun noch die sozusagen religiöse Seite der Kritik. Der Begriff der Sublimie*
rung wird abgelehnt. Der Mensch wird nicht durch Versagungen der Realität zu
den Umwegsleistungen der Kultur gebracht; die Moral, Ethik etc. entsteht nicht
aus unterdrückter Befriedigung. Wie sollen diese denn in den Menschen hinein*
kommen, wenn sie nicht in der Uranlage, genau wie alles übrige, schon vor*
handen sind? Nein, diese Mächte bestehen im menschlichen Wesen von allem
Anfang an und gehören zu seiner vollen Entfaltung. Bewußtsein ist kein Epi*
Phänomen, noch weniger ein Verhängnis. Das bewußte Haben seiner selbst und
der Welt, die Fähigkeit zu willkürlicher Entscheidung, ist das besondere Vor*
recht des Menschen. Neinsagenkönnen ist die wunderbarste Eigentümlichkeit
menschlicher Wesenheit.
Der Todestrieb wird natürlich abgelehnt, aber seine theoretische Forderung
erscheint aus dem Ansatzpunkt der Analyse konsequent, ja unerläßlich.
Wenn wir so ein in seiner Verkürzung etwas krasses Bild dieser Kritik ge*
zeichnet haben, so sei zur Charakteristik der vornehmen Mäßigung, die in Wirk*
lichkeit das Ganze durchzieht, der letzte Absatz hierhergesetzt, dem wir
mutatis mutandis wohl zustimmen können:
„Was meine Bewertung der Psychoanalyse betrifft, so brauche ich meine Bewunderung
für ihren Schöpfer, den ich ab einen der größten Meister der Psychologie und Anthropo*
logie betrachte, kaum zu betonen. In bezug auf die praktische Benutzung der Psychoana*
lyse folgt aus meinen Grundanschauungen auch eine ganz bestimmte Stellungnahme. Ich
sehe in der Methodik der Psychoanalyse eine im Prinzip sehr wertvolle Bereicherung)
unseres therapeutischen Vorgehens, wenn sie auch beträchtliche Modifikationen wird er*
fahren müssen, ehe sie praktisch brauchbar, dann aber in manchen Fällen sicher unente
236 S. H. Fuchs
behrlich wird. Auch von den tatsächlichen Feststellungen kann ich vielem Wesentlichen
nur zustimmen, aber ich kann mich doch nicht entschließen, alles durch die Deutung der
Analytiker Aufgedeckte für Tatsachen zu halten. Die Kunst des Analytikers scheint mir
einerseits in der richtigen Deutung zu bestehen, die nie von der Trieblehre allein, sondern;
nur von der Erfassung der ganzen Persönlichkeit aus möglich sein dürfte, andrerseits in
einer taktvollen der einzelnen Persönlichkeit des Kranken angepaßten Beschränkung bei
der Aufdeckung des Verdrängten. Die Analyse kann nie das letzte Ziel sein, sondern
dieses kann nur im Aufbau der neuen Persönlichkeit bestehen, respektive in der Leitung
des Kranken bis zu jenem Momente, in dem er selbst wieder eine seiner Natur angepaßte
Stellung zur Welt gewonnen hat."
Was haben wir nun dazu zu sagen? Zunächst einmal, daß die Psychoanalyse
von jeher Ganzheitsbetrachtung im allerwahrsten Sinne des Wortes war. Niemals
vor ihr Und noch heute nirgendwo außerhalb ihrer wird so sehr alles nur in
bezug auf die Person und ihre gesamte Situation genommen, einschließlich ihrer
Vergangenheit und Zukunft! Für Freud ist diese Einstellung so selbstver*
ständlich, daß er sie kaum je eigens erwähnt; sie bildet den allgegenwärtigen
Hintergrund für alle „Figuren". Die Wirklichkeitsnähe der Psychoanalyse, die
mit ihren Patienten durch das Dick und Dünn des Alltäglichsten geht, ist sogar
um ein Vielfaches größer als die der doch noch immer experimentierenden Gestalt*
Psychologie. 9 Auch die zweite Generalforderung Goldsteins vom gleichen
Wichtignehmen aller Gegebenheiten scheint geradezu von Freuds Forderung
zur „gleichschwebenden Aufmerksamkeit" herzurühren, wie überhaupt alle seine
methodischen Forderungen vom Analytiker ohnehin befolgt werden. Man könnte
soweit gehen, die Forderungen Goldsteins in methodischer Hinsicht gerade*
zu als Anwendung der Psychoanalyse auf dem Gebiet der Hirnpathologie zu be*
zeichnen. Die isolierten Teile sind bei F r e u d Bilder für konkret Beobachtetes.
Schon in seinem Triebbegriff, als einem Gebilde, das nur vollständig beschrieben
ist, wenn man es als ein gleichzeitig physisch und psychisch gegebenes auffaßt, liegt
die biologische Einheitlichkeit der Betrachtung beschlossen. Wenn Freud davon
spricht, wie der Apparat gebaut sei, so meint er in erster Linie: seelisch gebaut.
Freuds Theorie ist, was Theorie sein soll, abstrahierte Erfahrung; sie verhält
sich zu den Einzeltatsachen etwa wie die Grammatik zur Sprache. Die Gegeben*
heiten, wie die analytische Situation sie zwar stärker hervortreten läßt, keines*
wegs aber erst schafft, zwingen uns die Annahme verschiedener Instanzen, Re*
gungen, Triebe etc. auf, die im Menschen mit* und gegeneinander wirken. Dies ist
einfach die adäquate Beschreibung dessen, was wir sehen, wenn wir analysieren.
Gewiß haften der analytischen Situation gewisse künstliche Bedingungen an,
die diese Dinge stärker hervortreten lassen. Das sind unsere Versuchsbedingun*
gen, ohne deren Einhaltung man freilich nicht dieselben Tatsachen wird finden
können. Die Beziehung ist trotzdem so lebensnah wie möglich. Wir können
ja Leben nicht gleichzeitig haben und beobachten; wie wir auch immer die Si*
tuation anders gestalten mögen, wir haben es immer mit vollzogenem Leben zu
tun. Das spezifisch therapeutische Agens der Analyse liegt gerade in diesem
9) vgl. dazu S. B e r n f e 1 d: Die Gestalttheorie. Imago, Bd. XX, 1934, S. 32.
Zum Stand der heutigen Biologie 237
Moment der vollkommenen Lebenswirklichkeit bei gleichzeitiger Distanzierung
mit beschlossen. Was nun die Berechtigung betrifft, das, was wir in der Analyse
beobachten können, als im Leben wirklich existierend anzusehen, so würden
wir noch immer schlimmstenfalls in einer Lage sein, die etwa der des Röntgeno^
logen vergleichbar ist. Auch er sieht nicht das Herz, die Lunge oder den Magen,
wie sie wirklich sind, sondern ihre auf höchst komplizierte Weise zustande kom*
menden Abbildungen, und doch würde es niemandem einfallen, daran zu zwei*
fein, daß die Dinge, die er sieht, ganz wirklich sind. Ja, er kann zweifellos
unter Zuhilfenahme dieser Mittel vieles unmittelbar wahrnehmen, was unter
natürlichen, lebendigen Bedingungen verborgen bleibt. Weit darüber hinaus wird
dem Analytiker die Realität seiner Befunde aber unmittelbar gewiß. Die Wirk*
lichkeit und Gültigkeit seiner Beobachtung ist für den Analytiker unbezweifelbar,
wie es jedes echte Erlebnis ist. Wir konstruieren nichts von Identifizierung oder
Introjektion, wenn wir etwa zu unserer Überraschung die Mutter oder Tante
noch aus einer Patientin heraussprechen hören, sozusagen mit ihrer eigenen
Stimme wie der Jäger das Rotkäppchen aus dem Bauch des Wolfs, oder, um es
prosaischer auszudrücken, wir finden Reste introjizierter Personen, die nicht
voll assimiliert wurden, genau so plastisch, als fänden wir Knochen, Haut oder
Haare im Magen eines Kannibalen. Oftmals, es ist zuzugeben, ähnelt unsere
Tätigkeit mehr der des Gerichtsmediziners, wenn er in mühseliger Arbeit aus
einem kleinen verkohlten Knochenrest oder einem winzigen Blutfleckchen die
Geschichte einer Mordtat rekonstruieren muß. Die Sorgfältigkeit unserer Unter*
suchung und die Strenge des Maßstabes, den wir an ihre Ergebnisse anlegen,
sind damit vollauf vergleichbar. Wir haben freilich gute Gründe vom leben*
digsten Leben her, uns so intensiv mit der Vergangenheit zu beschäftigen. Denn
gerade das Anachronistische, der Einbruch des Vergangenen in die Gegenwart,
die Bedrohung des Schöpferischen durch den automatischen Zwang, ist unser
Vorwurf. Es sind nicht nur formale, sondern inhaltliche Durchbrüche. Wir
vertrauen der schöpferischen Kraft; befreit setzt sie von selbst ganz gesetzt
mäßig ein. Wir befreien sie, glaube ich, durch einen negativen Akt. Wir zer*
stören, entlebendigen das Alte durch das Heben in die begriffliche Sphäre: Be*
wußtsein — bewußtes Haben — in diesem Sinne ist daher Indikation der Hei*
lung, Indikator der Überwindung, nicht deren Ursache. Doch wird über diese
Dinge an anderer Stelle zu handeln sein.
Was können wir von G o 1 d s t e i n s Kritik lernen? Wie wichtig die Kenntnis*
nähme des Tatsächlichen und der Probleme für den Psychoanalytiker sind,
darauf weist dieser Aufsatz im ganzen hin. Es ist ein spezielles Problem, ob wir
berechtigt sind, aus unsern Beobachtungen das lebendige, gesunde Verhalten
aufzubauen. Es ist wahrscheinlich richtig, daß wir es da auch mit anders struk*
turierten Leistungen zu tun haben. Es tut jedenfalls immer gut, auch solche
Tatsachen, die man gut zu kennen glaubt, einmal ganz anders interpretiert zu
sehen. Wie steht es mit der Kritik an den Begriffen der Psychoanalyse? Kein
Zweifel, daß den frühen Schriften des Entdeckers des Unbewußten in der
238 S. H. Fuchs
Terminologie die Spuren der Bewußtseinspsychologie seiner Zeit anhaften. Schon
der Begriff der Assoziation, der in unserem Munde längst einem Bedeutungs*
wandel unterlegen ist, zeugt dafür. Oder es wird etwa wirklich angenommen,
daß dieselbe Vorstellung einmal bewußt, einmal unbewußt sein könne. Diese
Konstanzannahme ist sicherlich problematisch. Sehen wir uns Begriffe (genial,
wie sie sind) wie Verdichtung, Traumarbeit an! Ist es nicht so, daß die Dinge,
erst verdichtet sind, das wache Bewußtsein sie erst entdichtet? Ist nicht wahr*
scheinlich der Traum, als das primitivere Denken, auch die ökonomisch ein*
fächere, sozusagen billigere Leistung, so daß also Arbeit dazu kommen muß,
um den differenzierteren Wachzustand zu erhalten? Dies gilt natürlich nur in*
soweit, als der Traum in toto eine Regression auf primitives, symbolisches, infan*
tiles Denken ist, nicht dort, wo isolierte Gegebenheiten aus der aktuellen Umwelt
oder Leibreize sein Material ausmachen. Hier kann, analog zum Vorgang bei
der Witzbildung, sicherlich von Verdichtung als einer aktiven Arbeit gesprochen
werden. Das Besondere des Dichters (Künstlers) läge also nicht darin, daß er
dichten kann, sondern, daß er noch in verdichtetem Zustand Befindliches aus*
drücken kann, daß er nicht „entdichten" muß, um darzustellen. Er erweckt in
uns unmittelbares Verständnis und Genuß, indem er uns ermöglicht, im Wach*
zustande zu träumen. Wie steht es übrigens mit der „analytischen Funk*
t i o n" des Ichs? Ist sie gerade den „Analytikern" entgangen? Oder halten
sie sie für so selbstverständlich, daß sie sie nirgends erwähnen? Daß sie ein
so schönes Gegenstück zur synthetischen Funktion des Ichs bildet, ihre Trieb*
energien ganz zwanglos dem Destruktionstrieb zuzuweisen sind, muß ihre An*
nähme freilich eher verdächtig machen. Während es mir indessen noch nicht
ganz klar erscheint, ob die synthetische Funktion so ausschließlich dem Ich zuzu*
schreiben ist, ob dieses nicht vielmehr selbst schon ein Produkt synthetischer
Funktion ist, scheint es mir unbezwei feibar, daß alles Differenzieren, Analysieren,
kurz alles Trennen und Gegeneinanderstellen der Organisationsstufe des Ichs
angehört. Doch dies nur nebenbei.
Allein, was beweist dies alles? Nichts anderes, als daß Freud seinen Pionier*
marsch ins Reich des Unbewußten, der sein unsterbliches Verdienst darstellt,
ausgerüstet mit den Mitteln und Möglichkeiten des Bewußtseins unternommen
hat. Der Leiter einer modernen Expedition wird seine Unternehmung mit allen
ihm zu Gebote stehenden rationalen Mitteln der Wissenschaft und Technik
planen und ausrüsten. Genau so verhielt sich Freud, genau so verhält sich
die Psychoanalyse, und das ist ihre historische Leistung, wenn sie das Irrationale
rationalisiert. Es ist nun leichter für uns, näher zuzusehen und genauer zu bej*
schreiben, nachdem sie den Zugang zum Unbewußten zu einem Methodischen
gemacht hat. Bei Freud kommt noch hinzu, daß die Lebenswärme seiner Be*
Schreibung und sogar seiner Begriffsbildung so groß ist, daß sie dem plastischen
Material seelischer Gegebenheiten noch allenthalben gerecht wird.
Im übrigen fällt das, was hier noch zu Goldsteins Stellungnahme zu sagen
wäre, mit dem nächsten Abschnitt zusammen.
Zum Stand der heutigen Biologie 239
Kritisches
Eine kritische Würdigung von Goldsteins Werk gehört der Fachliteratur
an und ist seit einem Jahrzehnt auch in vollem Gange. Davon abgesehen würde
ich mich zu einer solchen mangels genügend eingehender Erfahrung und Arbeit
auf diesem speziellen Gebiete auch gar nicht für berufen halten. Es sei nur
gestattet, einige Fragen aufzuwerfen, einigen kritischen Einfällen Ausdruck zu
geben, die möglicherweise hier oder dort einmal zu einer Diskussion beitragen
könnten.
Bei allem Positiven bleibt irgendwo doch der Eindruck, daß das Aufdecken
von Fehlern älterer Auffassung, die Besinnung auf Prinzipielles, Methodisches,
das Programmatische stark überwiegt. Man stelle sich einen Augenblick vor,
daß man alle diese „Fehler" nicht gemacht hätte, daß man immer so gedacht
hätte, wie G o 1 d s t e i n es fordert, und jetzt schüfe jemand die Neuronenlehre
mit all dem so wichtigen Tatsächlichen, was sie mit sich bringt, oder das phy*
logenetische Grundgesetz, oder Bell käme daher mit all seinen großen Ent*
deckungen neuer Tatsachen, — um z. B. nur eine zu nennen, daß die vorderen
Wurzeln des Rückenmarks motorische, die hinteren sensible sind! Es ist mir
übrigens nie klar geworden, wie sich die anerkannte minutiöse Zuordnung in
all dem, was Goldstein die Peripherie nennt, mit der Netzwerktheorie des
Nervensystems vereinigen läßt. Es gibt doch Fakta, die man weder bestreiten noch
entbehren könnte, wie etwa, daß bei einem Tabiker die Patellarsehnenreflexe
fehlen oder die Pupillen lichtstarr sind, und man greift auf sie zurück. Es
kommt ja wirklich für die Naturwissenschaft letzten Endes nur auf die bessere
praktische Beherrschung an. Der Chirurg, der einen Hirntumor operieren will,
pfeift auf die schönste psychologische Analyse und will nur möglichst genau
wissen, wo er einzugehen habe. Natürlich wird das alles von Goldstein
nicht übersehen. Aber für ihn dreht es sich eben um Fragen der Erkenntnis, um
wirkliches Verständnis für das Wesen des Menschen und der Natur. Aber
gibt es so etwas wie reine Erkenntnis um ihrer selbst willen? Ist sie nicht immer
trieb* und interessenbedingt? Ich glaube auch Goldstein würde hier zu*
stimmen. Ist es nicht letztlich Selbsterkenntnis, die auf so weitem Umweg gesucht
wird? Und stellt sich nicht heraus, daß wo der Weg der Zerlegung der eignen
Person ungangbar ist, richtiger, wo die Erkenntnis der Uneinheitlichkei't der
eignen Person abgewehrt werden muß, dann als eine Art Komplementärvorgang
die Einheit und Ganzheit der Welt so sehr betont werden muß? Hier sind wir
wirklich an der Grundposition: Die durchgängige Einheit und Ganzheit des
menschlichen Wesens hat den Charakter einer Illusion. Sie existiert auch, in*
sofern jedes Haar, jede Zelle, jede Miene auch das Haar, die Zelle, die Miene
dieses einmaligen Menschen ist. Insofern ist die Einheitlichkeit aller Lebewesen
augenfällig. Aber davon unabhängig gehorcht die Zelle ihren eignen Gesetzen,
lebt, wird angezogen, abgestoßen, erkrankt, stirbt. Allerdings bleibt die Ganz*
heit, charakteristische Wesenheit unabhängig davon. Aber diese ist genau eine
solche Abstraktion wie der isolierte Teil. Überdies liegt hier ein großes Problem
240 S. H. Fuchs
verborgen, das besonders in der Kontinuität des Seelischen durch das ganze
Leben hervortritt. Allerdings sind gerade die Apparate, an die seelisches Leben
doch unzweifelhaft gebunden ist, die Nervenzellen, unvergänglich, unersetzlich.
Sie bleiben sozusagen auch persönlich dieselben.
Die Ganzheit als Erlebnis und Standpunkt fällt noch innerhalb des Organist
mus, auch sie gilt nur für eine bestimmte Figur*Grundbildung. Sie ist adäquat
und daher fruchtbar für das Gewahrwerden von Dingen, die man sonst über,*
sieht, vor allem auf den Gebieten höheren Verhaltens und seiner Störungen. Sie
wird zunehmend inadäquater, je mehr sie von dort irradiiert. Überdies ist eine
wahre Ganzheitsbetrachtung nur vom Seelischen aus möglich. Nur dort liegt
der Schnittpunkt, wo organisches und psychisches Geschehen, innere und äußere
Welt in eins verschmilzt. Die Ganzheitsbetrachtung aber für sich allein läßt
das Bild unvollkommen. Sie kann nicht über sich selbst hinaus, kann sich nicht
selbst in die Karten sehen. Dies aber kann die Psychoanalyse. Sie bildet einen
ersten, entscheidenden Schritt, das Seelenleben — das der andern wie das eigene
— zu objektivieren, und sie hat solches Unterfangen zu einem methodischen
gemacht. Die Entwicklung unserer Kultur scheint zu immer größerer Entlebendi*
gung zu führen, ob man das will oder nicht. Immer weniger kann man sich den
Luxus animistischen Verhaltens, beschaulichen Hingegebenseins, „Einsseins" mit
der Welt leisten. Diesem Prozeß gehört die Psychoanalyse an. Deshalb ist für*
sie die momentane Welle der Ganzheitsbetrachtung nur eine Phase. Sie ist mit
dieser wie jeder anderen vereinbar, und ihre wahre Leistung, die Eroberung
einer Welt und deren zunehmende Bewältigung, bleibt ganz unberührt. Auch
sie wird verschwinden oder sich modifizieren, wenn ihre historische Mission
erfüllt ist.
Steckt nicht im Hintergrund der Ganzheitslehre der liebe Gott in persona
und bleibt nur ungenannt? Es ist wahr, unsere etwas gottlose und amoralische
Psychologie gibt uns keinen Trost. Sie zeigt uns die Welt außerhalb und selbst
innerhalb unserer Person als ein blindes, sinnfreies, erbarmungsloses Geschehen.
Wenn wir ein Recht zu richten hätten, könnten wir dieser Welt nur das Prä*
dikat „schlecht" geben. Sie existiert nur aus vermiedenen Katastrophen, könnte
man sagen. Wir brauchen übrigens nur einen Blick in einen Tierpark zu werfen
(um nicht zu sagen, uns unter unsern Mitmenschen umzusehen), um gewahr zu
werden, was für unsinnige Gebilde da, schlecht zusammengezimmert wie Chi*
mären, herumlaufen. Manche sehen aus, wie Verkörperungen einzelner Triebe,
die Disharmonie in ihrer Zusammensetzung ist trotz unserer Gestaltbrille noch
schreiend. Was mehr als bloße Existenz ist der Sinn eines Ameisenbären? Sind
wir Menschen gerade besonders ausgezeichnet, und woher kommt ein über solche
hinausreichender Sinn gerade in uns hinein, wenn er nicht im Lebendigen auf
jeder seiner Stufen vorhanden wäre?
Aber meint das, daß wir Analytiker nun nicht mehr primitiv hingegeben leben
könnten? Ich meine im Gegenteil, wir werden erst wieder frei dazu, und das
obwohl und weil wir die volle Freiheit, soweit dies heute möglich ist, gewonnen
Zum Stand der heu tigen Biologie 241
haben uns auch illusionsfrei, nüchtern, rational zu verhalten. Fragen der öko,
kononne sind entscheidend. Die Psychoanalyse steht im Dienst der besseren
Bewältigung einer immer schwierigeren Umwelt. Deshalb gehört ihre Aus,
Wirkung noch heute zum größten Teile der Zukunft an
Wenn es diesem Bericht gelungen ist, Interesse zu erwecken und den Leser
zu eigener Auseinandersetzung mit den hier aufgeworfenen Problemen anzu,
regen, so hat er seinen Sinn erfüllt. Möge er manchen anregen, das Buch selbst
zu lesen; wenn die Berührung mit den Gedanken und der Persönlichkeit des
Autors zu einem kleinen Teil den lebendigen Kontakt ersetzen kann, so w fad
sich solche Lektüre reichlich lohnen. Seien wir nicht zu kritisch, sondern wTlüg
und offen, auf uns einwirken zu lassen; denn was hier ruft, ist die Stimme des
Lebens, was hier färbt, ist die Farbe der Liebe!
Imago XXII/J
16
BESPRECHUNGEN
Aus der psychoanalytischen Literatur
LOWTZKY, F. : Sören Kierkegaard. Das subjektive Erlebnis und die religiöse Offenbarung.
Eine psychoanalytische Studie einer FasteSelbstanalyse. Wien, Internationaler Psychoana*
lytischer Verlag, 1935. 124 S.
Eine psychoanalytische Untersuchung der Schriften Sören Kierkegaards findet gün*
stige Bedingungen vor. Selten ist eine bedeutende schriftstellerische Produktion so sehr aus
subjektivsten Konflikten getrieben worden, wie das bei Kierkegaard der Fall war. In K.s Le*
ben spielt seine Beziehung zu einer Frau, Regina Olsen, eine zentrale Rolle. Er war mit ihr
verlobt, hat aber die Verlobung gelöst. K. ist mit dieser Beziehung offenbar nie richtig
fertig geworden. Seine bekanntesten Schriften haben in einer Weise, die ebensoviel auf*
deckt wie verhüllt, sein Verhältnis zu Regina Olsen zum Gegenstande. Die wirklichen
Hintergründe dieser seltsamen „Liebe" sind nie bekannt geworden. Die Kierkegaard*jFor*
schung bemüht sich, das Geheimnis dieser merkwürdigen Persönlichkeit, die heute auf
deutsche Philosophen wie Jaspers und Heidegger einen starken Einfluß ausübt, zu
enträtseln. Es ist fraglos, daß zum Verständnis von K.s Persönlichkeit die Beziehung zu
Regina Olsen eine Schlüsselstellung einnimmt. Die historisch*biographische Forschung
konnte aber bisher diese und manche anderen Probleme der Psychologie K.s nicht lösen;.
Eine psychoanalytische Untersuchung, die versucht, diese ungeklärten Fragen zu beant*
Worten, darf also auf besonderes Interesse rechnen.
L. hat geschickt das Material aus K.s Schriften zusammengesucht und geordnet, „In*
dizienbeweise" gesammelt, die Vermutungen erlauben, welche seelischen Prozesse sich in
K. abgespielt haben, wie seine Konflikte, seine Angst, seine Qualen zu erklären sind. Wir
erfahren, daß K.s Interesse von religiösen Figuren gefesselt wird. Er bewundert Abraham,
weil er seinen Sohn opfern und trotzdem an Gott glauben konnte, aber er bewundert auch
Hiob, der es wagte, mit Gott zu hadern.
K. erzählt in seinen Schriften (Die Wiederholung) von einem jungen Mann, der seine
Geliebte, zu der er leidenschaftliche Zuneigung empfand, nach der Verlobung nicht
länger lieben konnte, weil seine Liebe zur Erinnerung, zu einer „Erinnerungsliebe" wurde.
Und die Erinnerungsliebe kann einen Menschen nicht glücklich machen, nur die „Wie*
derholung" ist dazu fähig.
Welche Wiederholung sucht K? Was für ein Opfer verlangt Gott von ihm? Denn der
Eindruck drängt sich auf, daß bei K. subjektiv Erlebtes, Erlittenes sich in literarischer Ver*
kleidung Luft schafft.
L. deutet: K. muß in der Kindheit einen Koitus seiner Eltern belauscht haben. En
hat sich dabei mit seinem Vater identifiziert, wollte die Mutter wie der Vater besitzen und
von ihr ein Kind haben (S. 35).
Das „schreckliche Geheimnis" K.s sind seine Erlebnisse bei der Urszene. L. meint, daß
die seelische Situation des „jungen Mannes", den K. in der „Wiederholung" schildert —
und der junge Mann ist offenbar K. selbst — , aus diesem Erlebnis verständlich wird. „Nun
wird es verständlich, warum die Erinnerungsliebe den jungen Mann unglücklich machte.
Es ist die Erinnerung an seine Liebe zu der Mutter, die er auf das Mädchen überträgt,
eine Erinnerung an die Untreue der Mutter. In der Identifizierung des Mädchens mit der
Besprechungen 243
Mutter, ist es das Mädchen selbst, das ihm untreu ist, das ihn nicht liebt. Darumi ist eri
unglücklich, sie wird ihm zur Last und er wird ihrer müde. ,Er liebt sie und liebt sie nicht'
... er kann aber .seine Liebe in der Ehe nicht realisieren', d. h. es ist ihm unmöglich, sie zu
lieben. Er kann nicht lieben, wenn er nicht geliebt wird. Er wird impotent aus Aggression,
das ist seine Rache." (S. 39)
Diese Deutung mag zwar richtig sein, aber sie ist nicht zu beweisen. Wenn in einer
klinischen Analyse eine solche Deutung zu früh gegeben wird, würden wir von einer zu
„tiefen" Deutung sprechen und meinen, daß eine solche Deutung, wenn sie eben nicht in
den richtigen Zeitpunkt fällt, wirkungslos bleiben muß, weil sie vom Ich des Analysanderi
nicht apperzipiert werden kann. Wenn K. analysiert wird, wenn das Objekt der Analyse
nur durch ein Medium, durch seine Werke uns zugänglich ist, gilt zwar ein solches Be*
denken nicht, aber in einem solchen Fall müssen wir, wenn auch nicht mit dem Ich des 1
Analysanden, so doch mit dem Ich des Lesers — der die Arbeit von L. verstehen will — i
rechnen. Und der Leser kann mit einer tiefen Deutung, die frühzeitig fällt, ebensowenig
anfangen wie der Analysand. Was an der Arbeit von L. fehlt, ist Anschauungsmaterial,;
Verdeutlichung der Figur K.s in ihrer konkreten Eigenart, die Darstellung seines Charakters,
seiner Konflikte, seiner Widersprüche vom Ich aus gesehen. Erst von einem solchen Hin*
tergrund aus können tiefe Deutungen überzeugen. L. hätte nicht nur den Inhalt von Kier*
kegaards Schriften analysieren müssen, sondern auch den Stil, der viel von K.s Person und
Charakter verrät. Man muß nur das „Tagebuch eines Verführers" lesen, um zu wissen,
daß ein solches Buch nur von einem Impotenten geschrieben werden konnte. Die lederne,
konstruierte, mühsam ausgeklügelte Art, wie erotische Situationen geschildert werden, voll*
ständiger Mangel an erotischer Empirie und Realitätssinn verraten auch dem analytisch
Ungeschulten die tiefe sexuelle Störung seines Verfassers. Gerade das „Tagebuch eines
Verführers", das von L. nicht genug benützt wird, zeigt sehr klar und unmittelbar veiv
ständlich die neurotische Struktur K.s. Die Grübelsucht, der Sadismus, die rein narzißtische
Einstellung dieses „Verführers" brauchen gar nicht gedeutet zu werden, sie sprechen
für sich.
Die auffälligen Stellen in K.s Schriften sind nicht das einzige Material, aus dem L. die
Urszene ableitet. Sie meint, man könne K.s Beziehung zu seiner Braut nur dann verstehen,
wenn man annimmt, daß die Koitusbelauschung in der Kindheit bestimmte Spuren hinter»
lassen hat. L. betont immer wieder, daß Regina Olsen für K. eine Mutterfigur war. Aller*
dings wird diese Deutung von L. in etwas widerspruchsvoller und ungewohnter Weise
verwendet. Einmal heißt es: „In dem Augenblick also, in dem er sie heiratet, macht er
das Mädchen, die Mutter, zu Regina Olsen, zu einem Schatten, .verflüchtigt', .zermalmt'
er die Mutter; sie wird ,wie tot' für ihn — darum ist in dem Augenblick, wo die Wirklich^
keit eintritt, für ihn alles verloren — es ist die Mutter, die ihm verloren geht, ,1hm fehlt',
sagt er, ,die erste Voraussetzung alles Erotischen — die Unmittelbarkeit', d. h., daß er un*
mittelbar Regina Olsen nicht lieben kann." (S. 54)
An einer anderen Stelle schreibt aber L.: „Heiraten bedeutet für K. kastriert zu werden,
die Geliebte (die Mutter) zu töten" (S. 49). Diese zweite Deutung sagt, daß K. Impulse!,
die er unbewußt seiner Mutter gegenüber hatte, auf die neue Mutter, auf Regina Olsen,
übertragen habe; die erste dagegen, daß K. seine Braut verlassen mußte, weil er an die
Mutter so gebunden war, daß er sie nicht aufgeben konnte. Während L. einerseits K.s neu*
rotische Beziehung zu Regina Olsen damit erklären will, daß sie für ihn eine Mutterfigur
war, und daß er deshalb gefürchtet hat, bei ihr die gleichen Enttäuschungen zu erleben,
die er einst in der Kindheit bei der Mutter erlebt hat, postuliert sie andrerseits, daß K. seine
16*
244 Besprechungen
Braut verlassen mußte, weil er in ihr nicht die Mutter sehen, nicht die Mutter wiederfin*
den konnte.
L. spricht von K.s Zwangsneurose, arbeitet aber die zwangsneurotischen Züge K.s nicht
richtig heraus. Die wichtigste, K.s Denken und Stil am deutlichsten beeinflussende Äuße*
rung der Zwangsneurose war seine Grübelsucht. Es ist ein Verdienst der L o w t z k y sehen
Untersuchung, daß sie uns zeigt, wie sehr K.s Produktion um die Lösung subjektiver, im
Tiefsten unbewußter und daher wohl unlösbarer Fragen ringt. K. war aber nicht nur
zwangsneurotisch, sondern auch schwer depressiv. L. zeigt die depressiven Mechanismen
bei K., das Wüten des strengen Über=<Ichs, die Wendung der Aggressionen gegen das ein*
verleibte Objekt. G. G e r ö (Kopenhagen)
REIK, THEODOR: Der überraschte Psychologe. Über Erraten und Verstehen unbewußter
Vorgänge, A. W. Sijthoff's Uitgeversmij N. V. — Leiden. 1935, 291 S.
Thema des Buches ist die Untersuchung des Erfassens unbewußter Zusammenhänge
im Patienten durch den Analytiker. Das Buch stellt nach des Autors Worten „den Ver^
such dar, die Voraussetzungen und psychischen Leistungen des Forschers, der das Unbe»
wußt=Seelische einer anderen Person erfassen will, zu beschreiben". Das Hauptgewicht
legt der Verfasser als Analytiker naturgemäß auf die Untersuchung jener Wegstrecken
zv/ischen Wahrnehmung eines seelischen Phänomens und seinem Verstehen, die durch das
Vorbewußte und Unbewußte führen. Er teilt zum Zwecke seiner Untersuchung diesen
Weg in drei Abschnitte; der erste Abschnitt führt von der bewußten und bewußtseins«
fähigen Wahrnehmung des Materials bis zum Unbewußten des Psychologen, der zweite
stellt sich dar in der unbewußten Verarbeitung des wahrgenommenen Materials durch den
Psychologen, der dritte umfaßt das Wiederauftauchen des unbewußt verarbeiteten Ma#
terials ins Bewußtsein und die darauf erfolgende Darstellung oder Formulierung, resp.
die Mitteilung an den anderen.
Reik ist der Ansicht, daß die Übermittlung des psychischen Materials auf zweierlei
Weise erfolgt. Erstens durch die Sinneswahrnehmung, wobei auch die Summierung unter«»
schwelliger Reize eine endliche Wahrnehmung ergeben kann, und zweitens durch Sinne,
die als solche unserem Bewußtsein entzogen sind, prähistorische Sinne, die aus der tieri«
sehen Vergangenheit der Menschenart stammen und dem Richtungssinn der Bienen, dem
Orientierungsvermögen der Zugvögel und Ähnlichem gleichzusetzen sind. Die Telepathie
nimmt er als auf der gleichen Basis der Vermittlung durch aktualisierte Sinne, die un«
serem Bewußtsein fern und fremd geworden sind, zustandekommend an. „Wir haben
Ohren und hören nicht nur mit ihnen, und haben Augen und sehen nicht nur mit ihnen",
ja, jene archaischen Sinne jenseits des Bewußtseins mögen sogar rascher arbeiten als die
bewußten, gleichsam atmosphärisch funktionieren. Die Wahrnehmungen durch sie bezögen
sich dabei vor allem auf die Triebsphäre. Unsere psychologischen Eindrücke seien das
Resultat der kombinierten Verarbeitung bewußter und unbewußter Wahrnehmungen.
Dieser reiche rezeptorische Apparat bildet nach Reik das Gegenstück zu den zahlreichen
Tendenzen des Selbstverrates, auf die uns Freud frühzeitig hingewiesen hat, wenn er in
der „Psychopathologie des Alltagslebens" sagt: „Der Selbstverrat dringt uns aus allen Po*
ren". Nach Reik wird auch „der Selbstverrat des anderen mit allen Poren aufgefangen."
Der Autor wendet sich der psychologischen Einstellung zu, die dieses Auffangen unter«
stützt, zum Teil auch erst ermöglicht. Diese Einstellung ist die vom Analytiker geforderte
„gleichschwebende Aufmerksamkeit". Die willkürliche, aktive und die „gleichschwebende
Aufmerksamkeit" werden besonders in ihren psychologischen Differenzen einer sehr gründ*
Besprechungen 245
liehen Untersuchung unterzogen. Die willkürliche Aufmerksamkeit wählt aus dem Be*
obachtbaren einen Ausschnitt und verharrt in einer oft autohypnotisch zu nennenden
Fixierung an dem unmittelbar gegebenen Gegenstand oder Zusammenhang. Sie bietet damit
einen ausgezeichneten Schutz vor Überraschung. Die Überraschung aber sei gerade
die besondere Art psychischer Erschütterung, die für die Analyse spezifisch ist. Die gleich*
schwebende Aufmerksamkeit bereite den Boden für die Überraschung vor, während die
willkürliche Aufmerksamkeit gegen Überraschung schützt. Der Entzug aktiver, willkür*
licher Aufmerksamkeit führe zur Beweglichkeit der Aufmerksamkeit, zur Bereitschaft für
verschiedene Anregungen, die aus dem Unbewußten auftauchen. Diese Anregungen nennen
wir Einfälle, ihr Auftauchen geschieht überraschend.
Der Analytiker erfasse das Fremd*Seelische auf zweierlei Weise. Erstens durch Wahr»
nehmungen, in denen er deutlich erkennt, was die Worte und Bewegungen der beob*
achteten Person bedeuten: eben das, was sie sagen. Diese Art der Erfassung wird gering
geschätzt gegenüber der zweiten, die zunächst in nichts weiter besteht, als in der Vor*
bereitung eines späteren Verständnisses, im Sammeln von Eindrücken für eine Vorrats*
kammer, aus der sie in überraschenden Zusammenhängen und als überraschende Einsichten
plötzlich wiederkehren. Die Differenzen der beiden Arten von Aufmerksamkeit zeigt
R e i k sehr instruktiv an den Lösungsversuchen eines Bilderrätsels, dessen Lösung über
laschend durch Aufgeben der willkürlichen Aufmerksamkeit gelingt. Dieses Aufgeben
der willkürlichen Aufmerksamkeit hat eine erhöhte Beweglichkeit und Bereitschaft für
andere Anregungen, für das Finden neuer Zusammenhänge zur Folge; ihr Festhalten
versperrt diese Möglichkeiten. So ist die gleichschwebende Aufmerksamkeit eine Voraus*
Setzung für die Überraschung durch Einfälle aus dem Unbewußten des Analytikers.
In der Überraschung, die eine so wesentliche Rolle im psychologischen Erkennen da*
durch spielt, daß sie die Gewähr der Mitwirkung des Unbewußten am Einfall ist, äußert
sich nach Reik das Sträuben gegen den Anspruch, etwas Altbekanntes, das unbewußt
geworden ist, anzuerkennen. Gerade die überraschenden Erkenntnisse aber seien in der
Analyse die wirksamsten. Dabei geschehe die Überraschung in der Analyse an zwei
Stellen. Im Analysanden, wo sie dadurch zustandekomme, daß ein Stück psychischer
Realität von unbewußt*verdrängtem Charakter mit einem Stück materieller Realität durch
das Aussprechen des Inhaltes durch den Analytiker zusammentrifft. Das Aussprechen
selbst bedeute dabei eine partielle Erfüllung des abgewehrten Wunsches, es stellt ein zur
Wortwirklichkeit gewordenes Gedankenspiel dar, ein Zeugnis der magischen Wirkung des
Wortes. Die Überraschung des Analysanden in der Analyse bei Mitteilung des an ihm
Erkannten habe häufig den Charakter des Schreckens. In seinem Buch „Der Schrecken"
bezeichnet Reik als das Spezifische des Schreckens den Eindruck des plötzlichen Aktuell*
werdens einer alten, unbewußten Angst. Es sei für den Erschreckenden, als ob plötzlich
und in unerwarteter Form real würde, was einmal gefüchtet, dann abgewehrt und aus
den Gedanken verbannt wurde. Reik nimmt an, daß auch beim Witz die erste, einen
Sekundenbruchteil dauernde Reaktion von der Natur des Schreckens sei, wenn der latente
Sinn des Witzes unbewußt erkannt wurde. Ganz ähnlicher Natur sei der Gedankeni*
schrecken des Analysanden in der Analyse. Während aber beim Witz der Aufwand
gegen die unbewußte Gefahr bei der Erkenntnis der Harmlosigkeit desselben im Lachen
abgeführt werde, komme es in der Analyse nur langsam dazu, daß der Gedankenschrecken
als überflüssig erkannt wird; es trete eine allmähliche Reduktion des Hemmungs* und
Unterdrückungsaufwandes ein, wobei die bisher zur Aufrechterhaltung der Verdrängung
verwendeten Energiebeträge zu anderwärtiger Verwendung frei werden können.
246 Besprechungen
Der zweite Überraschte in der Analyse aber ist der Analytiker selbst. Die wesentlichen
Einsichten in das Unbewußt«Verdrängte sind auch für den Analytiker Überraschungen.
R e i k zieht Parallelen zwischen analytischer Deutung und Witz. In beiden Fällen handle
es sich um das Begegnen mit alten Ängsten, denen gegenüber die Hemmungsbereitschaft
als überflüssig erkannt wird; im Witz plötzlich, in der Analyse allmählich. Dies die Pa*
rallele zwischen dem Analysanden und dem Hörer eines Witzes. Die nächste Parallele
ist die zwischen dem Analytiker und dem Hörer eines Witzes. Der Analytiker hat eine!
ähnliche psychologische Stellung wie der Hörer eines Witzes, wenn ihm die verborgenen
Deutungen und Absichten unbewußter Vorgänge klar werden. Er füllt Lücken aus, macht
Entstellungen rückgängig, führt Mitteilungen auf ihren verdrängten Kern zurück. Dasselbe
aber macht der Hörer eines Witzes, wenn er ihn versteht.
Wenn der Analytiker dem Patienten das Erkannte eröffnet, dann ist er in dritter Pap«
rallele vergleichbar dem, der einen Witz macht. Nicht selten beantwortet ja auch der
Patient die Eröffnung mit Lachen. Beim Analytiker taucht wie beim Witzmacher eine
große Zahl von Gedanken und Vorstellungen ins Unbewußte und wird dort verarbeitet;
das Produkt wird dann vom Bewußtsein erfaßt und mitgeteilt. Der Unterschied zwischen dem
Witzigen und dem Analytiker aber besteht in der seelischen Einstellung des Analytikers, dem
es nicht darauf ankommt, aggressive und erotische Tendenzen zur entstellten Darstellung
zu bringen, im Zeitfaktor für die Bearbeitung, der beim Witz von Augenblicksdauer ist,
während er beim Analytiker keine Beschränkung aufweist und über Wochen und Monate
sich erstrecken kann, und schließlich darin, daß der Witzige seine Energie frei abführt,
der Analytiker aber in der Abfuhr der frei gewordenen Energie gestört ist, da er die Energie
sofort zu anderer Verwendung, nämlich zur psychologischen Klarstellung und sprach«
liehen Formulierung der plötzlich gewonnenen Einsicht benützt.
Daraus, daß für R e i k die bedeutsamsten Erkenntnisse in der Analyse Überraschungen,
d. h. also Bestätigungen unbewußter Erwartungen darstellen, die regelmäßig durch die be«
sondere Einstellung der freischwebenden Aufmerksamkeit und die unbewußte Verarbeitung
des aufgenommenen psychischen Materials erworben und gebildet werden, kommt er zu
einer ernsten Polemik gegen das „Zettelkastenwissen" aus dem Gelesenen und Über*
nommenen der analytischen Theorie. Er schätzt das Überraschungserlebnis auch des Ana*
lytikers in der Analyse über alles, nennt es erlebte Erkenntnis seelischer Wirklichkeit gegen*
über der erlernten Erkenntnis, bei deren Anwendung die Gefahr bestehe, daß man bei
Wortrepräsentanzen stehen bleibt. Reik bezeichnet solche rein terminologische Anwen*
düng als „Verbrechen gegen das keimende Leben echter psychologischer Erkenntnis".
Eine ziemlich scharfe Kritik der Bemühungen Wilhelm Reichs um eine „zielsichere,
geordnete und systematische Widerstandsanalyse" und um eine systematische Technik
überhaupt schließt daran an.
Reik schildert, daß für ihn dem Augenblick des glücklichen Einfalls, der eine Lösung
in bisher dunkle Probleme des analytischen Materials bringt, eine Art Fremdheitsgefühl,
eine rasch vorübergehende Absence vorausgehe. Zwischen Aufnahme des Materials in
gleichschwebender Aufmerksamkeit und Aufsteigen des Einfalls schiebt sich „eine Latenz«
zeit psychologischen Verstehens", für die Reik die Bezeichnung „unbewußtes Inter«
vall" vorschlägt. Der Einfall müsse dann in der Folge aufgenommen und bis in alle
Einzelheiten verfolgt werden.
Den Einfall im richtigen Moment zur Deutung zu verwerten, sei Sache des Taktes des
Analytikers. Takt nennt Reik eine Instanz, welche über das jeweilige Maß der Trieb*
befriedigung und «versagung im sozialen Verkehr entscheidet. Er bringt den Takt in Zu*
Besprechungen 247
sammenhang mit dem Rhythmus der Lebens*, insbesondere der Triebäußerungen, und
meint, Takt sei der Ausdruck einer bestimmten Anpassungen des eigenen Lebensrhythmus
an den der jeweiligen Umgebung. Der günstigste Zeitpunkt, wann eine Deutung zu geben
sei, werde durch den unbewußten Rhythmus der Triebvorgänge des Analysanden bestimmt.
Der Takt des Analytikers bestehe in seiner Fähigkeit, dem Triebrhythmus des Ana*
lysanden zu folgen.
Die heuristische Verwendung des Unbewußten bilde die besondere
Eigenheit des analytischen Verfahrens, das sich in dieser Richtung von anderen wissen*
schaftlichen Methoden unterscheide. Reik teilt den heuristischen Vorgang in der Analyse
in zwei Abschnitte. Das Erraten, das darin besteht, daß eine oder mehrere Spuren ge*
funden werden, welche die Rätselhaftigkeit eines Phänomens aufhellen; das Erfassen der
Art und Richtung unbewußter Vorgänge, das dem Bewußtsein Näherbringen der Triebt
kräftc und seelischen Mechanismen der Vorgänge im Analysanden teilt er dem Erraten
zu. Das Verstehen bildet den zweiten Abschnitt und besteht darin, daß die gefundene
Spur genauer untersucht und bis an jene Stelle verfolgt wird, wo sie in bereits bekannte/
Wege einmündet. Die unbewußten Vorgänge verstehen, heißt, sie in ihrer bestimmten
Bedeutung so genau wie möglich begreifen, sich mit ihren Voraussetzungen und Zielen
vertraut machen, sie in den Kausalzusammenhang so einreihen, daß sie sowohl in ihrer
Isoliertheit als auch in ihrer mannigfaltigen Beziehung zu anderen seelischen Vorgängen
transparent werden. Der Übergang vom Erraten zum Verstehen geschehe durch die Ge*
winnung historischer Einsichten in die Lebensgeschichte des Analysanden. Die Differenz
zwischen Erraten und Verstehen besteht nach R e i k darin, daß sie verschiedenen seeli*
sehen Schichten angehören. Das Erraten, das den Analytiker in der Rolle des Deteki»
tivs erscheinen läßt, hat den Wegfall der eigenen gedanklichen Zensur zur Voraussetzung.
Der Analytiker müsse sich für das Erraten einer psychoanalytischen Grundregel unter*
werfen, die sich von der, die dem Analysanden erteilt wird, kaum unterscheidet. — Beim
Verstehen hingegen gleiche der Analytiker eher dem Richter, der unter logischer
Gliederung und Überlegung, mit Hilfe von Schlußfolgerungen, unter strenger Prüfung
und Kritik der einzelnen Tatsachen, unter Verwertung bewußter Kenntnisse arbeitet. Das
Verstehen geschehe dabei den unbewußten Triebquellen nach als ein oraler Einver*
leibungsakt.
Reik interessiert vor allem das Erraten, das ja für ihn das spezifische heuristisches
Prinzip der Analyse darstellt, in dem das Unbewußte des Erkennenden als Erkenntnismittel
dient. Er lehnt dabei die Erklärung durch Einfühlung ab, da dieser Begriff so vieldeutig
sei, daß er nichtssagend ist. Die Triebgrundlage des Erratens ist nach Reik mehr als
eine Identifizierung mit dem Analysanden, nämlich eine Ich*Verwandlung im Un*
bewußten, durch die das fremde Erleben nicht w i e eigenes, sondern a 1 s eigenes erlebt
wird. Die unbewußten Impulse werden durch die verschiedenen Ausdrucksmittel vom Patien*
ten dem Analytiker nicht nur mitgeteilt, sie teilen sich ihm vielmehr mit. Die unbewußte
Aufnahme der Zusammenwirkung und Gegenwirkung der Worte, Ausdrucksbewegungen
und unbewußten Signale haben nach Reik die Induktion der ihnen zugrundeliegen*
den, verborgenen Impulse und Affektinhalte zur Folge. In Ansätzen werde also im Ana*«
lytiker wach, was im Ainalysanden rege ist. Dieses seelische Wirklichkeit gewordene Ich*
Bild werde wieder in die Außenwelt projiziert und als Objekt wahrgenommen. Die
passagere Introjektion des Objekts werde so von einer Projektion gefolgt. Damit aber
komme eine wechselseitige Erhellung des unbewußten Geschehens im Analytiker und im
Analysanden zustande, durch die die Ausübung der analytischen Tätigkeit auch für den
248
Besprechungen
Analytiker von therapeutischer Wirkung sei. Das Rätsel der Verwandlung der im Ana*
lytiker „aufgeweckten" Triebregung in psychologisches Interesse löst Reik dahin, daß
er annimmt, daß schon im Ansatzpunkt, gleich nach dem Auftauchen, die Triebregung
gehemmt und in den Analysanden projiziert werde, wobei die Energie der Triebregung
in psychologisches Interesse umgewandelt wird. Das psychologische Interesse erweise sich
auch darin als Abkömmling des Bemächtigungstriebes, dessen Zusammensetzung aus li*
bidinösen und aggressiven Komponenten die Möglichkeit zu beider Umwandlung in
psychologisches Interesse gebe.
Die wichtigste Eignungseigenschaft des Analytikers sei nach allem eine Art moralischen
Mutes, die Tapferkeit vor den eigenen Gedanken. Der Analytiker müsse die Fähigkeit
haben, den Gedankenschrecken vor eigenen Einfällen zu überwinden, soll er dem Ana*
lysanden bei der Überwindung seiner Widerstände gegen Angst und Schreckerlebnisse hilf*
reich beistehen.
Das hier wiedergegebene grobe Exzerpt aus dem Reikschen Buch berührt nur die
hauptsächlichsten Probleme, denen Reik gründliche und eingehende Behandlung widmet.
Nicht nur die Wichtigkeit der Untersuchungsobjekte, sondern auch vor allem der Reich*
tum an klinischen Beispielen und an geistreichen Einfällen sowie die Gewandtheit der
Sprache machen das Buch zu einer durchaus fesselnden Lektüre. Es ist ein mutiges Buch,
mit dem der Autor in diesem Umfang erstmalig Bahn bricht in das unerkannte und ge*
heimnisvolle Gebiet der analytischen Intuition, die wir alle doch anerkennen, obwohl
wir vor ihrer allzu reichlichen Anerkennung zurückschrecken, weil sie uns nicht wissen*
schaftlich faßbar werden will. So steht zu hoffen, daß das Buch dem Analytiker den Mut
vermehrt, sich seiner Intuition zu bedienen, da sie nach Reik als heuristisches Prinzip
der Analyse von spezifischem Charakter und von unschätzbarem Werte ist.
Richard Sterba (Wien)
WEISS, EDOARDO: La Psicoanalisi (Artikel erschienen in der Enciclopedia Italiana,
Vol. XXVIII, S. 455-457. 1935).
Die Psychoanalyse ist durch diesen ausgezeichneten und bei aller Kürze außerordentlich
inhaltsreichen Artikel in der modernsten der gegenwärtig erscheinenden Enzyklopädien
würdig vertreten. Der Artikel gibt eine knappe Übersicht über die wichtigsten Lehren der
Psychoanalyse, ihre Topik, ihre Struktur* und Trieblehre, über die Traumdeutung und —
in sehr vorsichtiger Formulierung — auch über die Entwicklung der Technik. Ein gutes
Literaturverzeichnis unterrichtet über Ausbreitung und Umfang der psychoanalytischen
Literatur. Diesem Literaturverzeichnis ist — offenbar von der Schriftleitung — ein kurzes
Verzeichnis gegnerischer Schriften angefügt worden. E. K. (Wien)
Aus der Literatur der Grenzgebiete
BEUN, LUITGARD (Schwester M. Gerarda): Het Zedelijk Ordeel bij Rinderen. Ant*
werpen*Nijmegen 1934.
Nach dem Beispiel von Fernald hat Schwester Beun von mehr als zweitausend
Mädchen (von 8 bis 18 Jahren) und Erwachsenen mehrere Gruppen von „schlechten" und
auch von „braven" Taten sittlich beurteilen und die Fälle der Schlechtigkeit oder der Brav*
heit nach abstufen lassen, um so eine Einsicht in das ethische Urteilen und in die Ent*
Wicklung der Moral mit dem Alter zu gewinnen. Sie kam dabei zum Schluß, daß das sitt*
liehe Urteil mit den Jahren „besser" wurde, wobei sie feststellen konnte, daß ein moralisches
Urteil „der Wahrheit nahe" war und außerdem in der von Erwachsenen gegebenen Rang*
Ordnung einen Vergleichungspunkt hatte. In diesem Punkte herrscht freilich keine ein*
Besprechungen 249
heitliche Urteilsgrundlage: Eine Gruppe deutscher Theologen und Pädagogen z. B. weist
unter 7 verschiedenen Übeltätern den Jüngling, welcher seinen betrunkenen Stiefvater, der
seine Mutter mißhandelt, erwürgt, als den geringsten Sünder an, findet dagegen den Jungen,
der aus Hunger zwei Brötchen stiehlt, mehr zu verurteilen, während die belgischen katho«
lischen Pädagogen den Stiefvatermörder fast ebenso beurteilen wie den Bediensteten, der mit
einem gefälschten Scheck 1000 Franken stiehlt.
Der Psychoanalytiker kann aus diesen Untersuchungen einiges bezüglich der allmäh«
liehen Konsolidierung eines schablonenhaften Über«Ichs in der Jugend lernen: jüngere
Kinder finden meistens die Fälle, in denen mit Messern gestochen oder geschossen wird,
am schlimmsten, während die älteren von diesen triebnäheren Taten weniger fasziniert
werden und mehr auf Pflichtverletzung und Vorsätzlichkeit achten. Auch phantasieren
die jüngeren ihre Wünsche leichter in die Fälle hinein: obwohl sie die Aufgaben vor sich
hatten, schrieben einige, daß der Junge, der das Brot stahl, Törtchen oder „Patees" gep
nommen habe. Ein undeutlich gestellter Fall eines „guten" Burschen, der seinem Hunde
einen Glassplitter aus der Pfote holte und ihm dabei das Maul mit einer Schnur zw
sammenband, wurde von den meisten Mädchen wegen des Zubindens als eine Rohheit
verstanden, aber eine erhebliche Zahl (von den 11jährigen sogar 5<>/o) motivierte die Ver«
urteilung durch die Phantasie: daß er noch einen anderen Glassplitter in den Mund (eine
sagt: in sein Maul) hineingesteckt habe. Der Wunsch der Mädchen, daß etwas Stechendes
in den Körper hineingesteckt würde, hat hier das „ethische Urteil" beeinflußt.
Das Bedenken des Psychoanalytikers gegen diese Untersuchungen beruht nicht nur darauf,
daß das Unbewußte, das in diesen Antworten eine so deutliche Rolle spielt, verleugnet
wird, sondern auch darauf, daß ein fester moralischer Kodex angelegt wird, als ob der
Mensch abgeurteilt werden könnte, ohne daß seine unbewußten Determinanten auch nur
erwähnt werden. So wird z. B. von den Erwachsenen ein Junge als der verworfenste Faul«
pelz bezeichnet, der versprochen hatte, für seinen kranken Vater, einen Bahnwärter, auf
dem Signal die Sperrbäume zu schließen. Aus dem Schlafe geweckt, meint er, noch Zeit
zu haben, fällt aber wieder in Schlaf, und der Zug prallt an ein Auto. Seine Pflichtver«
gessenheit unter gefährlichen Umständen macht ihn in den Augen der „richtigen" Be«
urteiler zum größten Sünder. Aber, würden wir fragen, lag eine Hauptursache nicht bei
den Eltern, die ihm die Gefahr ungenügend deutlich machen konnten? War seine Schlaf«
neigung in dem Zustand des Halberwachtseins so moralisch verwerflich? Und wenn er
sich die Gefahr jeder Verzögerung überhaupt nicht vergegenwärtigen konnte, war er dann
vielleicht debil? Oder ist es am Ende neurotisch zu nennen, in solchen Umständen dem
Schlaf zu verfallen? Was für eine Menge unbewußter Determinanten, die wir so ohne
weiteres nicht beurteilen können, mögen hier mit im Spiel gewesen seinl Warum schlief er
wieder ein? Ein solcher Vorfall ist als moralisch verwerfliche Faulheit noch nicht „richtig"
und genügend beurteilt. Ähnliche Fragen lassen sich natürlich bei allen Beispielen stellen.
Man sieht aus solchen Beispielen nur, wie das Kind allmählich auf den Standpunkt der
erstarrten erwachsenen Pädagogen kommt, die nur nach festen Schablonen urteilen, nach
Pflicht und Vorsatz, nach bewußter Gesinnung und Absicht, nach dem, was sie als Tugend
oder Laster bequem kennzeichnen können. Solche Aufgaben schärfen das begriffliche
Denken, das es allen Menschen bequemer macht, das Unbewußte zu vergessen. Das ethische
Urteil ist eine der schärfsten Waffen, mit denen der Mensch sein Unbewußtes verleugnet —
es proklamiert ja, daß man bewußte Absichten, „ehrliche" Meinung, Tugend und Sünde,
richtig nach „Wahrheit" sofort beurteilen kann.
Untersuchungen wie in diesem Buch, gerade wenn sie auf streng wissenschaftliche Weise
250 Besprechungen
geführt werden, wie Schwester Beun dies getan hat, lassen uns sehen, wie der wachsende.
Mensch allmählich besser lernt, das Unbewußte zu leugnen.
A. J. Westerman*HoIstijn (Amsterdam)
COCHRANE, ARCHIBALD: De oorsprong der gevangenissen. Tijdschrift voor Straf*
recht, Afd. 3 Deel XLV. 1935.
Ein durchaus unter analytischen Gesichtspunkten unternommener Versuch, die Institu*
tion des Gefängnisses auf das Tabu der primitiven Welt zurückzuführen, liegt in diesem
Artikel vor. Er sei ausführlich referiert, weil er für den Leser dieser Zeitschrift von beson*
derem Interesse und dem Orte seines Erscheinens nach nicht leicht erreichbar ist.
C. geht von einer Übersicht über die Theorien aus, welche die Entstehung des Ge*
fängnisses erklären wollen. Die erste Theorie leitet das Gefängnis von der Untersuchungs*
haft ab, welche die Wartezeit vor dem Urteil bezeichnet, die zweite Theorie sucht die
Wurzel der Einrichtung in der Schuldhaft, die sich bei privatrechtlichen Streitigkeiten
zwischen Gläubigern und Kreditoren als Maßregel der Sicherung ergab. Die dritte Theo*
rie, zu der sich z. B. Wundt bekennt, sieht im Asyl den Ursprung der Gefängniseim*
richtung. Bohne, der diese Theorien scharf kritisiert, sieht den ursprünglichen Zweck
des Gefängnisses in der Internierung des Rechtsbrechers, um ihn für die Gemeinschaft un*
schädlich zu machen.
Nach C.'s Meinung gehen alle diese Theorien fehl, weil sie nur den historischen und
nicht den psychologischen Zusammenhang berücksichtigen. Indem er sich auf R e i k s
analytische Untersuchung über den magischen Ursprung des Indizienbeweises beruft,
meint er, das Problem eher mit Hilfe der analytischen Methode lösen zu können.
Im frühen Griechentum war der Mörder sicher, solange er sich nicht im Bereiche der
Verwandten und Freunden des Ermordeten — ursprünglich nicht im Bereiche des Geistes
des Toten — befand. Der Verbrecher flüchtet natürlich seiner eigenen Sicherheit wegen,
aber auch, weil er andere mit seiner Mordlust anstecken könnte. Die Yabuni in Neu*
Guinea versuchen, den Geist eines Ermordeten, der den Mörder verfolgt, durch Geschrei
und Trommelschläge zu vertreiben. Zahlreiche Beispiele von australischen Völkern zeigen,
daß Mörder oder siegreich heimkehrende Krieger tabu sind und abgesondert in Hütten
leben, um sich zu reinigen. Dieselbe Zeremonie der körperlichen und seelischen Reini*
gung wird etwa bei den Puma*Indianern gefunden: wenn ein Krieger einen Apachen ge*
tötet hat, zieht er sich in die Einsamkeit des Waldes zurück, wo er sechzehn Tage fastet,
mit niemandem sprechen darf usw. Er wird von einer alten Frau versorgt.
Dieses Zeremoniell des Tabu stellt den Ursprung des Gefängnisses dar; die Leute,
welche dem Verbrecher während seiner Isolierung Speise und Trank geben, finden wir
später als Gefängniswärter wieder. Der Verfasser stützt seine Auffassung durch den Hin*
weis darauf, daß die Primitiven ihre Affekte in die Außenwelt projizieren. Der Ver*
brecher sondert sich von der Gemeinschaft ab, weil er sich mit dem Ermordeten identifo
ziert; seine Isolierung stellt den Ersatz für den eigenen Tod dar. Auf diese Art von zere*
moniellem Tod erfolgt nach der Isolierungszeit oft eine Zeremonie der Wiedergeburt. Auch
andere Reinigungszeremonien am Ende der Tabuzeit, in denen das Wasser eine beson*
dere Rolle spielt, haben diesen unbewußten Sinn.
Das Tabu des Mörders wird so als Todeszeremoniell gedeutet; der Mörder ist während
seiner Isolierung ein „lebender Leichnam". Die Ausstoßung aus der Gemeinschaft, die
einem sozialen Tod gleichkommt, wird auch bestimmt durch die Angst der Stammes*
mitglieder, selbst der Mordversuchung zu unterliegen. Die Isolierung, die durch das Tabu
gefordert wird, ist das Urbild des Gefängnisses. Sie ist zuerst eine freiwillige, später wird
Besprechungen 251
sie vom Staate dem Verbrecher auferlegt. Die Auffassung des Gefängnisses als Strafe
bezeichnet eine spätere Entwicklung; der ursprüngliche Sinn der Isolierung ist der des
zeremoniellen Todes.
C. führt gute Beispiele an, welche als Zwischenglieder zwischen der antiken und primi*
tiven Behandlung des Mörders und den modernen Methoden erscheinen: bei den Jauo
auf Kaouondo schert der aus dem Kampf zurückkehrende Krieger seinen Kopf kahl.
Bevor er sein Dorf betreten darf, muß er ein lebendes Huhn an seinen Hals hängen.
Dann wird das Tier enthauptet; der Kopf bleibt am Halse des Kriegers hängen. Wer
denkt da nicht an das geschorene Haar der Sträflinge und an das antike Zeremoniell vom
stellvertretenden Huhnopfer? Statt des Kriegers wird das Huhn enthauptet. Der Brauch
des Skalpierens bei den Indianern ist hier psychologisch einzureihen. Im Zusammenhang!
mit diesem Zeremoniell bringt der Verfasser einige Beispiele zeremonieller Reinigung,
in der die Tat am Verschiebungsersatz wiederholt wird, und erinnert an R e i k s These :
„Keine Sühne ohne Wiederholung der Tat". Die Riten haben nicht das Ziel, den Mörder
zu bestrafen; sie stellen eine Beschwörung der bösen Dämonen dar, keine sittliche Läute?
rung in unserem Sinne, eher Schutz gegen eine physische Gefahr.
Beispiele aus dem frühmittelalterlichen Klosterrecht zeigen, daß auch die Haft von
Nonnen und Mönchen, die sich vergangen hatten, nicht Strafcharakter, sondern den Sinn
der Reinigung haben. Daneben aber wird in diesen Klostergebräuchen deutlich, daß die
Einsperrung einen zeremoniellen Tod bedeutet, der dem Tabu des Mörders zugrunde
liegt. Der Verfasser verfolgt die weitere psychologische Entwicklung bis zu modernen
Auffassung des Gefängnisses und stellt die ähnlichen Züge des Gefängnisses in unserem
Sinne und des Tabu des Verbrechers in der Welt der Primitiven dar. Unsere psychische
Einstellung zum Verbrecher erinnert an die ambivalente Haltung, welche das Tabu des
Missetäters kennzeichnet. Der Verfasser untersucht die seelischen Vorgänge, welche zu
einer solchen psychischen Einstellung geführt haben.
C. erkennt, daß er nicht imstande war, den Beweis seiner These bis in alle Einzelheiten
durchzuführen, meint aber behaupten zu dürfen, dem gesuchten Ursprung der Institut
tion des Gefängnisses näher gekommen zu sein als seine Vorgänger, und schreibt dieses
Verdienst der analytischen Methode zu. Sein Resume lautet:
Das Gefängnis ist ein Nachkömmling des primitiven Tabu. Es stellt noch immer unb&*
wüßt einen zeremoniellen Tod dar; die Zelle vertritt den Sarg. Dieser zeremonielle Tod
beschützt den Verbrecher gegen auf andere Weise unternommene Rache, beschützt aber
auch die Gemeinschaft gegen die Wiederholung des Verbrechens und gegen die psychische
Infektion, die von der unbewußten Versuchung durch den Verbrecher ausgeht.
C. P i e r a (Den Haag}
KOFFKA, K.: Principles of Gestalt Psychology. Int. Library of Psychology, Philosophy
and Scientific Method. New York, Harcourt, Brace &. Co., 1935. XI und 720 Seiten.
K o f f k a s Buch ist ein sehr vollständiger Bericht über die Leistungen der Gestalt*
Psychologie. Es gibt nicht nur einen vollkommenen Überblick über die Literatur auf diesem
Gebiet, sondern erörtert sie auch und fügt beachtenswertes neues Material hinzu.
Die experimentelle Arbeit der Gestaltpsychologie behandelt das Problem der Wahr?
nehmung in umfassender Weise. Der allgemeine Gesichtspunkt ist in folgenden Sätzen
zum Ausdruck gebracht: „Wir haben ein ganzes Netzwerk von Hypothesen ausgeschaltet, die
Konstanzannahme, die Hypothese von den .unbemerkten' aber wirksamen Eindrücken,
die Hypothesen von der Deutung und von der Assimilation, und wir haben den Wahn»
nehmungsirrtum aufgezeigt." „Es ist klar geworden, daß die wahre Lösung, ohne darum
252 , Besprechungen
im geringsten vitalistisch zu sein, nicht eine Maschinentheorie, basiert auf einer Summation
unabhängiger Empfindungsvorgänge sein kann, sondern daß sie eine durchaus dynamische
Theorie sein muß, in der die Prozesse sich unter dem Einfluß wirkender Kräfte und ein*
schränkender Bedingungen gestalten." Besondere Aufmerksamkeit wird der Organisation
des optischen Feldes und ihrer Gesetze gewidmet. Die primitive Wahrnehmung wird als
dreidimensional aufgefaßt. Eine Fläche wird als das Produkt starker Gestaltungskräfte be-
trachtet. Die gegliederte Raumwahrnehmung ist nicht ausschließlich visuell. Die verschie-
denen Faktoren für die Gliederung im Raum sind Nähe, Gleichheit und Prägnanz. Unser
Lebensraum ist ungeachtet der verwirrenden räumlichen und zeitlichen Verschlungenheit
der Reize wohlgeordnet. Gute Kontinuität und gute Gestalt sind mächtige gestaltende
Faktoren, und beide sind im vollen Wortsinne verständlich. Nach der traditionellen Psy-
chologie erscheint die Gliederung eines Feldes in Dinge oder in Figuren und Grund als
ein klares Beispiel für Erfahrung oder Schulung. K. betrachtet diese Gliederung als das
direkte Resultat der Reizverteilung, er nimmt an, daß vom Reizmosaik spontan Gestalt
hervorgerufen wird. Innere Gliederung, gute Kontinuität und gute Gestalt bestimmen das,
was in einem gegebenen Wahrnehmungsfeld Vordergrund, was Figur und was Grund wird.
„Die Dinge, die wir sehen, haben eine bessere Gestalt, sind von besseren Konturen be-
grenzt als die Zwischenräume, die wir sehen könnten, aber nicht sehen." „Deshalb werden
nur unter außerordentlichen Umständen die Bedingungen ins Gegenteil verkehrt. Wir
mögen dann den Zwischenraum und nicht die Dinge als die Gestalt sehen. Ein Spalt
zwischen zwei vorspringenden Felsen mit scharfen Profilen, kann wie ein Antlitz aus-
sehen, wie ein Tier u. dgl., während die Gestalt des Felsens verschwindet." Die wahrgei-
nommene Form kommt der wirklichen viel näher als der retinalen, und dieser Tatsache
wird von den Psychologen in der Feststellung Ausdruck verliehen, daß Gestalt, Größe und
Farbe das Phänomen einer relativen Konstanz aufweisen; d. h. die verschiedenen Wahr*
pehmungen, die von einem gleichweit entfernten Reiz ausgelöst sind, werden viel weniger
verschieden sein als die korrespondierenden benachbarten Reize und werden der Wahr-
nehmung, welche unter der neuen eben diskutierten Reizbedingung entsteht, näher stehen.
Nach K. ist Gestalt unter abnormalen Orientierungsbedingungen das Endprodukt eines
Organisationsprozesses, der in einem Felde stattfindet, das unter einer Sonderspannung
steht (fleld of stress). „Das Reizmuster führt neue Kräfte ein, die sich mit den Kräften der
Orientierung, die die Spannungsverteilung im Feld bewirken, vereinigen, und die endgiltige
Gestaltung wird diejenige sein, in welcher diese Kräfte sich am besten die Waage halten."
Die Reaktion auf einen Reizwechsel mag so sein, daß die Dinge ihre Eigenschaften so
weit wie möglich beibehalten. Auf dem Gebiet der Bewegung (im motorischen Sektor)
werden solche Vereinigungen von Prozessen und solche Wege bevorzugt, die die Dinge,
soweit es die Umstände erlauben, intakt lassen. Konstanz von Gestalt und Größe ist ge-
paart mit Bewegung, entweder der Gegenstände oder des Beobachters. Bewegung ist nur
möglich, weil trotz dem Wechsel der Muster, die auf der Retina entstehen, konstant«)
Wahrnehmungsgegenstände produziert werden. „Wie die Dinge hat auch die Erscheinung
der Objekte bestimmte Eigenschaften. Abgesehen von ihrem Widerstand gegen Zerstö-
rung sind wir ihrer Undurchdringlichkeit und ihrer Trägheit begegnet, weshalb größere
Objekte sich langsamer bewegen als kleinere. Diese Korrespondenz zwischen phänomenalen
und realen Dingen ist . . . nicht primär eine Erfahrungssache — wiewohl wir nicht
leugnen, daß Erfahrung auf diese Eigenschaften Einfluß haben mag — , sondern das direkte
Ergebnis von Gestaltung (Organization)."
Es gibt ein dauerhaftes Ichsystem. In allen Wechselfällen auf dem Gebiet des Ver-
Besprechungen 253
haltens verharrt das Ichsystem als ein gesonderter Bezirk. Das Ich an sich ist im Grunde
zeitlich, es ist keine von der Zeit unabhängige Größe. Es geht immer irgendwohin, und
die Stabilität des Ichs muß daher immer in Beziehung zu der Richtung gesehen werden,
in die es sich bewegt. Es gibt Gebiete ('Felder) ohne Ichorganisationen. Das Ich bestimmt
die Grundrichtungen des Raumes. Es bestimmt das „vorne", „hinten", „links und rechts"-
Handlung ist ein Prozeß, durch den eine im Gesamtfeld bestehende Spannungsverteilung
beseitigt wird. „Eine Handlung mag eine Spannung in einem Ichsystem bedeuten, das
im Moment vom übrigen Ich isoliert war und über die exekutive Gewalt verfügte." „Die
Exekutivgewalt umfaßt alle Wege, auf denen Handlung eine Spannung erleichtern oder
zu solcher Erleichterung beitragen kann." „Das Problem des Verhaltens löst sich auf in die
Frage der Veränderungen der großen Ich*Feld*Gestalt. Es sind Veränderungen in der Be*
Ziehung der Untersysteme des Ichs zueinander." Grenzen zwischen dem Ich und der Um*
gebung entwickeln sich. Die Beziehung Ich*Objekt ist primär nicht eine erkenntnis*
mäßige. Gegenwärtige Leistungen beruhen auf früheren. Es gibt einen alles durchdringenden
Einfluß der Erfahrung. Haltung und Aufmerksamkeit sind wirksame Kräfte, die an der
dynamischen Gesamtsituation Anteil haben. Haltungen haben einen meßbaren Effekt.
Gefühlsmäßiges Verhalten ist der Dynamik der im Ich vorhandenen Kräfte zuzuschreiben.
Bewußte Erregung ist der manifeste Aspekt dieser Dynamik. Zorn und Sättigung sind Bei*
spiele von Emotionen, die experimentell hervorgerufen werden können.
Erinnerung basiert auf einem System von Spuren, welches organisiert ist und vom
Spurenfeld nicht nur seine einheitliche Formation, sondern auch den spezifisch dyna*
mischen Charakter temporaler Einheiten bezieht. Die „gute Fortsetzung" ist nicht einer Be*
wegung zuzuschreiben, sondern dem Feld, das gewisse Bewegungen anderen gegenüber
begünstigt. Es gibt Spuren, die im Gehirn lokalisiert sind, und solche, die so gut wie| im'
gesamten Cortex hinterlegt sind. Spuren unterliegen Veränderungen. Linien können ent*
sprechend der Natur ihres Vorbildes allmählich gekrümmter, länger oder kürzer werden.
Die Spur behält die dynamische Verteilung der ursprünglichen Erregung, und die in ihr
vor sich gehenden Veränderungen streben nach einer Verminderung der inneren Span*
nung. Die Veränderungen in den Erregungsmustern in der Erinnerung sind „normalisie*
rend", betonend oder zuspitzend, oder autonome Veränderungen. Die Reproduktion nähert
sich vertrauten Formen an. Ein besonderer Zug des ursprünglichen Musters kann mehr
und mehr übertrieben werden. Spuren sind in Schemata organisiert, eines davon ist das
Ich. Ein Schema deutet auf eine aktive Gestaltung vergangener Reaktionen hin. Die
Spurensysteme des Ichs und der Umgebung sind dynamisch voneinander abhängig. Ver*
schwinden einer Spur bedeutet Vergessen. Eine Spur mag so verwandelt werden, daß sie
ihre Individualität und sogar ihre Identität verliert. Spuren können unbrauchbar werden.
Der Prozeß mag die Verbindung mit einer sonst verwendbaren Spur verfehlen. Jeder Vor*
gang ist in irgendeiner Hinsicht ein Lernvorgang. Er hinterläßt Spuren, die zu einer Ver*
besserung des Handelns führen können. „Der Lernerfolg im Sinne einer Modifikation des
Betragens kann in bezug auf den Prozeß in drei verschiedene Bestandteile zerlegt werden,
1. Die Erweckung des Spezifischen (des richtigen Prozesses). 2. Die Spur dieses Prozesses.
3. Die Wirkung dieser Spur auf spätere Prozesse." „Lernen als die Abänderung einer Er*
folgshandlung in einer bestimmten Richtung besteht darin, daß Spurensysteme einer be*
stimmten Art, geschaffen, gefestigt und immer brauchbarer werden für wiederauftauchende
und neue Situationen". Auch Auswendiglernen ist ein Gestaltungsprozeß. Die Stabilität
einer Spur ist eine Funktion ihrer dynamischen Struktur. Kontiguität spielt bei der Re*
Produktion soweit eine Rolle, als die benachbarten Teile vereinheitlicht wurden. Durch
Gewohnheit (Assoziation) geschaffene Verbindungen sind als solche niemals der wirkliche
254 ,. Besprechungen
Motor eines Denkvorganges. Spannung im Denksystem ist die notwendige Vorbedingung
für Denkprozesse. Es müssen arbeitsfähige Energien freigesetzt werden. Wiedererkennen
ist ein Inverbindungtreten mit einem Teil des Spursystems, der andere, das Ich nicht ein*
schließende Teile des Systems in Tätigkeit setzt. Bei der Reproduktion werden Teile des
Systems in Tätigkeit gesetzt, die dem Ich angehören. Eine Verbindung zwischen Prozeß und
Spur erfolgt nicht nur auf der Grundlage einer Ähnlichkeit, sondern auch auf Grund der
Haltung des Ichs. K. meint, daß Verbindungen zwischen Prozeß und Spur auf Grund
einer dynamischen Relation innerhalb der ganzen Höhe der Spursäule möglich sind. Das
Problem, wie ein neuer Prozeß (Denken) erwacht, ist nicht in allen Fällen eine Frage
von Spuren. Die von einer Anforderung oder von einem Bedürfnis hervorgerufene Span*
nung kann zu spannungsvermindernden Bewegungen oder zu Gedanken führen, die solche
Bewegungen auslösen. Die Dynamik des Prozesses ist durch die innere Qualität der Daten
bestimmt. Verhalten ist eine ununterbrochene Folge von Gestaltungen und Wiedergestal*
tungen. Das Ich ist unvollständig. Zur Befriedigung seiner Bedürfnisse ist es auf die Hand*
lungen anderer angewiesen, und die erste intime Beziehung im Leben eines Menschen ent*
steht zu denen, die seine Bedürfnisse befriedigen. Soziales Verhalten ist das Ergebnis solcher
Gestaltungen bestimmter Art. Persönlichkeit ist eine Gestalt, deren verschiedene Mani*
festationen voneinander abhängig sind, was eine Vielzahl von Kombinationen einzelner
Züge ausschließt. Eine Gestalt ist das Produkt von Gestaltung (Organization), Organisation,
ist ein Prozeß, der zu einer Gestalt führt.
Ich habe — in der Hauptsache mit den Worten des Autors — versucht, den psychoanaly*
tischen Leser mit den Grundproblemen der Gestaltpsychologie bekannt zu machen. Ihre
Verdienste sind nicht zu bestreiten, besonders was ein besseres Verständnis der Organisa*
tion der Wahrnehmung anlangt. Der Bruch mit der Auffassung, daß Wahrnehmung und
Handlung eine Summation oder ein Mosaik von Empfindungen und Reflexen seien, ist
tatsächlich ein bedeutsamer Schritt. Die Gestaltpsychologie führt an die realen Objekte,
Farbe und Form, näher heran, wie besonders die Diskussion über die Konstanz zeigt.
Die Gesetze der Gestaltung im Gesichtsfeld, wie das Gesetz der Prägnanz und der Nähe,
die Formulierungen einer „guten Gestalt" und einer „schlechten Gestalt", eine Erörterung
der Tendenz zur „Geschlossenheit" bezeichnen einen bedeutenden Fortschritt der allge*
meinen Psychologie. Der psychoanalytische Leser wird vielleicht fragen, was der Ausdruck
„Gestaltung" (Organisation) besagt, der so häufig in dieser Erörterung gebraucht wird. Er
ist auch geneigt zu fragen, was „Spannung und Zug" (stress) bedeutet, und ist erstaunt,
keine Antwort auf diese Fragen zu finden. Vom analytischen Standpunkt nehmen wir
natürlich an, daß die libidinöse Situation gemeint ist, wenn der Gestaltpsychologe von
„Organisation" („Gliederung") des Gesichtsfeldes und Spannung (stress) spricht. Der Ana*
lytiker wäre besonders geneigt, eines der Verdienste der Gestaltpsychölogie in dem Hin]*
weis zu sehen, daß die Gliederung (Gestaltung) des Gesichtsfeldes irgendwie die Struktur
libidinöser Probleme reflektiert. Doch würde der Gestaltpsychologe eine solche Auslegung
zurückweisen und auf dem formalen Charakter der beschriebenen Gesetze bestehen, und
er würde sogar lieber noch in die entgegengesetzte Richtung gehen und versuchen, die)
tatsächlichen Situationen im menschlichen Leben aus ihren formalen Merkmalen zu er*
klären. Vom analytischen Gesichtspunkt her wissen wir schon lange, daß Assoziation,
nicht lediglich der Koinzidenz und der Kontiguität zuzuschreiben ist, sondern auf trieb*
haften Kräften beruht. Aber der Psychoanalytiker gibt sich mit einer derartigen Feststellung
nicht zufrieden und besteht darauf, über die aktuelle menschliche Situation, in der diese-
dynamischen Triebe auftreten, mehr zu erfahren. Gestaltung und Zug und Spannung be*
Besprechungen 255
deuten sodann Libidoprobleme und aktuelle Lebenslagen. Es ist wahr, der Analytiker ven*
gißt zu leicht, daß libidinöse Impulse auf spezifischen Strukturen beruhen, und daß es
eine Außenwelt mit bestimmten Merkmalen gibt. In dieser Außenwelt existieren bestimmte
Strukturen und eine innere Kohärenz. Die Gestaltpsychologie kann dem Analytiker zu
einem tieferen Verständnis dieses Problems verhelfen. Die Gestaltpsychologie erkennt
nur widerstrebend die Erfahrung an. Es ist richtig, den Einfluß der Erfahrung zu leugnen,
wenn Erfahrung lediglich als mechanische Wiederholung betrachtet wird. Die Psycho*
analyse hat weit mehr als die Gestaltpsychologie im einzelnen nachgewiesen, daß Erfahr
rung einer Organisation gleichkommt. Diese wird nicht nur von den allgemeinen biolo*
gischen Eigenschaften der Menschen gelenkt, sondern auch von ihren individuellen Trieb*
Schicksalen. Organisation beruht auch in dieser Beziehung auf einer Wechselwirkung der
Triebe des Menschen, die in enger Beziehung zur Realität stehen. Psychoanalytiker wird
es interessieren zu erfahren, daß Prinzipien, die sie aus einem Studium wirklicher Situa*
tionen abgeleitet haben, auch im Bereich der Wahrnehmung und im mehr formalen Be*
reich des Laboratoriums von Belang sind. Sie werden wahrscheinlich auf der Überlegen*
heit ihrer Methode bestehen und nicht glauben, daß die formalen Gesetze der Gestalte
Psychologie die endgiltige Erklärung der Probleme bieten, sondern überzeugt sein, daß
die formalen Gesetze besser verstanden werden, wenn man die individuellen menschlichen
Situationen vom Standpunkt der Trieblehre aus studiert. K o f f k a s Erörterung von
Wollen und Emotion ist recht enttäuschend. Der Formalismus der Gestaltpsychologief
stößt hier auf besondere Schwierigkeiten. Es ist zu loben, daß K o f f k a ein Ich anerkennt,
das in vielen Hinsichten mit dem Körperbild in meiner Nomenklatur übereinstimmt, aber
er hat in dieser Konzeption nicht die Libidoprobleme erkannt. Es ist sehr wahrscheinlich,
daß Koffkas Darlegungen der Probleme des Gedächtnisses und der Erinnerung sehr
gewonnen hätten, wenn er von dem reichen Tatsachenmaterial, das die Psychoanalyse ge*
sammelt hat, Gebrauch gemacht hätte. Aber es ist nicht so sehr die Absicht seines Buches,
eine allgemeine Übersicht über psychologische Probleme zu geben, als vielmehr, das experi*
mentelle Material und den Standpunkt der Gestaltpsychologie darzustellen. Er hat es mit
Erfolg getan. Psychoanalytikern wird empfohlen, dieses Buch sorgfältig zu studieren;
es wird ihnen helfen, klarere Formulierungen für grundlegende Probleme der Psycho*
analyse zu finden. P. Schilder (New York)
KORPERTH*TIPPEL, AMALIE: Kind und Bild. Künstlerisch wertvolle und wertlose
Bilder im Urteil von Drei* bis Vierzehnjährigen. Aus dem psychologischen Institut in
Wien. Deutscher Verlag für Jugend und Volk. (o. J.) J
Von acht Bildvorwürfen werden Kindern aus Kindergärten, Volks* und Hauptschulen,
je zwei Ausführungen vorgelegt, deren eine „besser", deren andere „schlechter" ist. Die
Kriterien betreffen im wesentlichen die Richtigkeit und das Vermögen der Naturwieder*
gäbe. Künstlerisch sind auch mehrere der „guten" Vorlagen völlig belanglos. Auf Grund
der Aussagen der Kinder kommt Verfasserin zu einleuchtenden Feststellungen, von denen
hervorgehoben sei, 1. daß sich erst vom 8. Lebensjahr ab die Aufmerksamkeit des Kindes
vom Gegenständlichen zur Darstellungsart wende, 2. daß vom 11. Lebensjahr ab die
„besseren" vor den „schlechteren" Bildern im Regelfalle bevorzugt werden. Die Unter*
suchung wirkt sauber, eng und bescheiden. Sie geht vielen Problemen, zu denen das
Thema Anlaß geboten hätte, aus dem Weg. So ist es etwa bedauerlich, daß das Verhältnis
i) Ich habe an keiner Stelle des mir vorliegenden Exemplars eine Angabe über das
Erscheinungsjahr dieser Schrift entdecken können. Ref.
256 Besprechungen
der Kinder zum Bildgegenstand nicht näher analysiert wird, obwohl sich in einzelnen der
mitgeteilten Aussagen Beziehungen der abgegebenen Urteile zur Gefühlseinstellung der
Kinder aufdrängen. Entscheidender scheint mir ein anderer Einwand: Welchen Sinn soll
es haben, ästhetische Urteile — denn um solche handelt es sich — von Kindern des
vierten und fünfzehnten Lebensjahres mit gleicher Untersuchungseinstellung zu prüfen?
Freilich sind auch die Beispiele wenig dazu geeignet, um das Wesentliche des Unter*
schiedes einsichtig, also etwa die Frage zugänglich zu machen, wie sich, sagen wir vom
11. Lebensjahr ab, die Stellung zum „künstlerisch wertvollen" Bilde in der Seele des
Kindes auswirkt. Diese Auswirkung würde nicht auf die Urteilsfunktion (naturwahre
oder fehlerhafte Wiedergabe) allein, sondern auf das Gesamtverhalten des Kindes zum
Kunstwerk (seil, künstlerisch wertvollen Bild) hinführen. Wir sind gewohnt, von der
akademischen Psychologie den Vorwurf zu hören, die Psychoanalyse sei „monistisch"
— womit ihre „Einseitigkeit" gemeint ist; man wird angesichts der hier angewandten Unter*
suchungsmethode zur Frage verlockt, wie man das Verhalten von Kindern zur Kunst
erörtern will, wenn man die Einsicht in ihr affektives Verhalten ausschaltet. Dieser Vor*
wurf richtet sich nur zum Teil gegen die psychologische Grundanschauung — denn das
Untersuchungsziel, zu dem sich das Vorwort bekennt („Fragen, die wichtig sind für
die Herstellung von Bilderbüchern und Spielzeug" zu fördern) wird offenbar erreicht
— sondern mehr gegen die Vorstellung von „künstlerisch wertvoll", von der die Unter*
suchung ausgeht. Sie mag zu rechtfertigen sein, aber sie ist außerordentlich arm. Photo*
graphien nach Arbeiten von Zumbusch, Trübner, Richter und B u c h h o 1 z
werden etwa mit häßlichen Vorstadtdrucken verglichen. Dadurch wird erreicht, daß die
Fragestellung sich der Erlebnisschichte, die mit „künstlerisch wertvoll" gemeint sein könnte,
nicht nähert. Ref., der mehrere Jahre hindurch Kinder der Vorpubertät in ihrem Vei»
halten zu „künstlerich wertvollen" Werken bildnerischen Schaffens zu beobachten Ge*
legenheit hatte, hat den festen Eindruck erworben, daß ihr Verhalten durchaus die see*
lische Gesamtsituation ihres Alters spiegelt, das beherrscht wird vom Ringen des Ichs
um neue Stützen im Kampf um neue Konflikte. E. K. (Wien)'
MEHLICH, ROSE: Fichtes Seelenlehre und ihre Beziehung zur Gegenwart. Mit einer Ein*
führung von C. G. Jung. Zürich und Leipzig, Rascher Verlag, 1935. 129 S.
Die Autorin versucht, die Seelenlehre I. H. Fichtes, des Sohnes des bekannteren
J. G. Fichte, in Beziehung zur „analytischen Psychologie" C. G. J u n g s zu setzen. Sie
findet eine tiefgehende Übereinstimmung beider Lehren und bemüht sich, diese Überein*
Stimmung durch Darstellung der Grundzüge der I. H. F i c h t e sehen Psychologie und durch
Bezugnahme auf Analogien mit Jungs Theorien zur Evidenz zu bringen. Nach Ansicht
des Referenten gelingt es jedoch der Autorin weder, der (abstrakt konstruierenden) Seelen* .
lehre I. H. Fichtes eine fruchtbare Seite abzugewinnen, noch von dort her ein neues j
Licht auf die Lehre Jungs zu werfen. Das hat seinen Grund darin, daß sie es ablehnt,
zum Realitätswert der beiden Theorien irgendwie Stellung zu nehmen : sie sollen nur in
dieselben „philosophischen Grundmöglichkeiten eingeordnet" werden. Aber auch das ge*
schieht in einer sehr sterilen Weise, nämlich durch scholastische Zergliederung des In* I
haltes von Begriffen. Bemerkenswert erscheint sonst nur noch, daß Jung in seinem
Geleitwort die Charakterisierung seiner geistigen Haltung als einer romantischen,
der Naturwissenschaft im Grunde entgegengesetzten, ausdrücklich heraushebt, um ihr zu*
zustimmen. W. Marseille (Wien)
N
*
THE
THE
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INTERNATIONAL
QUARTERLY
JOURNAL OF
Fifth year of publication
PSYCHO-ANALYSIS
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*■
applied psychoanalysis, and is
published four limes a year.
SIGM. FREUD
The Editor ial Board of the QUAR-
TERLY consists of the Editors: Drs.
Edited by
Dorian Feigenbaum, Bertr am D. Lewin
and Gregory Zilboorg. Associate Edi-
ERNEST JONES
tors: Drs. Henry Alden Bunker, Jr.,
Raymond Gosselin and Lawrence S.
Kubie.
CONTENTS FOR JANUARY 1 9 H:
This Journal is issued quarterly.
Sigm. Freud : Inhibitions, Symptoms and Anxiety.
— Karen Horney: The Problem of the Negative
Besides Original Papers, Abstracts
Therapeutic Reaction. — Robert Wälder : The
and Reviews, it contains the
Principle of Multiple Function. — Eduard Kronen-
gold and Richards terba: TwoCases ofFetishism.
— Margaret Ribble: Ego Dangers and Epilepsy.
Bulletin of the International
— R. G. Hoskins: An Endocrine Approach to
Psychodynamics. — Clarissa R i n a k e r : A Psycho-
Psycho - Analytical Association,
analytical Note on Jane Austen. — Book Reviews.
— Current Psycboanalytic Literature. — Notes.
of which it is the Official Organ.
Editorial Communications should be
sent to the Editor-in- Chief: Dr. Dorian
Editorial Communications should be
Feigenbaum, 60 Gramercy Park, New
sent to Dr. Ernest Jones, 81 Harley
York, N. T.
Street, London, W. 1.
Foreign subscription price is $ J-JO.
The Annual Subscription is 50s per
A limited number of back copies are
volume of four parts.
tt; p .',
available ; völumes in original Unding
,,.;:-,•: ,„ ,,-,:■■ $ 6.f0.
Business correspondence should be sent
:•»> to:
THE PSYCHOANALYTIC
The Journal is obtainable by sub-
scription only, the parts not being
sold separater/.
Business correspondence should be
addressed to the publishers, Balliere,
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QUARTERLY PRESS
Tindall & Gox, 8 Henrietta Street,
,
372-374 BROADWAY, ALBANY,
Covent Garden, London, W. C. 2.,
NEW YORK
who can also supply back volumes.
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IMAGO, Band XXII (1936), Heft 2
(Ausgegeben Ende Mai 1956)
Seite
Ernest Jones: Die Psychoanalyse und die Triebe . 129
Edward Bibring: Zur Entwicklung und Problematik der Triebtheorie 147
FF. Bischier: Selbstmord und Opfertod ■. 177
MITTEILUNGEN UND DISKUSSIONEN
Ludwig Eideiberg: Zum Studium des Versprechens 196
Alfred Gross: Zur Psychologie des Geheimnisses 20a
S. H. Fuchs: Zum Stand der heutigen Biologie. Dargestellt an Kurt Goldstein: „Der Aufbau
des Organismus < 210
BESPRECHUNGEN
Aus der psychoanalytischen Literatur: Lowtzky: Sören Kierkegaard (Gero) 242. — Reik: Der über-
raschte Psychologe (R. Sterba) 244. — Weiss: La Psicoanalisi (E. K.) 248.
Aus der Literatur der Grenzgebiete: Beun: Het Zedelijk Ordeel bij Rinderen (Wesierman-Holstijn) 248.- —
Cochrane: De oorsprong der gevangenissen (Piera) 250. — Koffka: Principles of Gestalt Psychology
{Schilder) 251. — K orperth-Tippel: Kind und Bild (E. K.) 255. — Mehlich: Fichtes Seelenlehre und
ihre Beziehung zur Gegenwart (Marseille) 256.
Anschriften der Mitarbeiter dieses Heftes:
DR. EDWARD BIBRING, Wien VII, Siebensterngasse 31
DR. W. BISCHLER, 30 Rue de Contamines, Geneve
DR. LUDWIG EIDELBERG, Wien XIX, Chimanigasse n
DR. S. H. EUC/IS, 482 Finchley Road, London N. W.
DR. ALFRED GROSS, Zuschriften an die Redaktion
DR. ERNEST JONES, 81 Harley Street, London W. 1.
Wir bitten zu richten:
Redaktionelle Zuschriften aus allen Ländern mit Ausnahme Nordamerikas an die
Redaktion der „Imago", Internationaler Psychoanalytischer Verlag, Wien IX,
Berggasse 7
Redaktionelle Zuschriften aus Nordamerika an Dr. Sandor Rado, 324 West 86 th
Street, New York City
Geschäftliche Zuschriften aller Art an Internationaler Psychoanaytischer Verlag,
Wien IX, Berggasse 7
Eigentümer und Verleger: Internationaler Psychoanalytischer Verlag, Gesellschaft m. b. H., Wien IX, Berggasse 7
Herausgeber: Prof. Dr. Sigm. Freud. Wien. — V erantwortlich für di e Redaktion: Dr. RobertWälder,Wien II, Obere DonaustraOe 35
Druck: Jakob Weiß, Wien II, Große Sperlgasse 40
Printed in Austria
IMAGO, Band XXII (1936), Heft 2
(Ausgegeben Ende Mai 1936)
Seite
Ernest Jones: Die Psychoanalyse und die Triebe . . 129
Edward Bibring: Zur Entwicklung und Problematik der Triebtheorie 147
W. Bischler : Selbstmord und Opfertod ■. \nr,
MITTEILUNGEN UND DISKUSSIONEN
Ludwig Eideiberg: Zum Studium des Versprechens 106
Alfred Gross: Zur Psychologie des Geheimnisses 20a
S. H. Fuchs: Zum Stand der heutigen Biologie. Dargestellt an Kurt Goldstein: „Der Aufbau
des Organismus , 210
BESPRECHUNGEN
Aus der psychoanalytischen Literatur: Lowtzky: Sören Kierkegaard (Gero) 242. — Reik: Der über-
raschte Psychologe (K. Sterba) 244. — Weiss: La Psicoanalisi (E. K.) 248.
Aus der Literatur der Grenzgebiete: Beun: Het Zedelijk Ordeel bij Rinderen (rVeslerman-Holstijn) 248. —
Cochrane: De oorsprong der gevangenissen (Piera) 250. — Koffka: Principles of Gestalt Psychology
(Schilder) 251. — K orperth-Tipp el: Kind und Bild (E. K.) 255. — Mehlich: Fichtes Seelenlehre und
ihre Beziehung zur Gegenwart (Marseille^ 256.
Anschriften der Mitarbeiter dieses Heftes:
DR. EDWARD BIBRING, Wien VII, Siebensterngasse 31
DR. W. BISCHLER, 30 Rue de Contamines, Geneve
DR. LUDWIG EIDELBERG, Wien XIX, Chimanigasse u
DR. S. H. FUCHS, 482 Finchley Road, London N. W.
DR. ALFRED GROSS, Zuschriften an die Redaktion
DR. ERNEST JONES, 81 Harley Street, London W. 1.
Wir bitten zu richten:
Redaktionelle Zuschriften aus allen Ländern mit Ausnahme Nordamerikas an die
Redaktion der „Imago", Internationaler Psychoanalytischer Verlag, Wien IX,
Berggasse 7
Redaktionelle Zuschriften aus Nordamerika an Dr. Sandor Rado, 324 West 86 th
Street, New York City
Geschäftliche Zuschriften aller Art an Internationaler Psychoanaytischer Verlag,
Wien IX, Berggasse 7
Eigentümer und Verleger: Internationaler Psychoanalytischer Verlag, Gesellschaft m. b. H., Wien IX, Berggasse 7
Herausgeber: Prof. Ur.Si gm. Freud, Wien. — Verantwortlich für die Redaktion: Dr. Robert Wälder, Wien II, Obere Donaustraße 35
Druck: Jakob Weiß, Wien II, Große Sperlgasse 40
Printed in Austria
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XXII. Band
1936
Heft 2
IMAGO
iCeitsdirilt Iür psycnoanaly tische Eyckoloeie
ihre Crrenzgebiete und Anwendungen
Offizielles Organ der Internationalen Psycnoanalytisehen Vereinigung
H
erausgegeben von
Sigm. Freud
Redigiert von Ernst Kris und Robert Wald
Ernest Jones Die Psychoanalyse und die Triebe
Edward Bibring Zur Entwicklung und Problematik der Triebtheorie
W. Bischler . . Selbstmord und Opfertod
Ludwig Eideiberg • Zum Studium des Versprechens
Alfred Gross Zur Psychologie des Geheimnisses
S. H. Fuchs Zum Stand der heutigen Biologie. Dargestellt an
Kurt Goldstein: „Der Aufbau des Organismus"
Besprechungen