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Full text of "Imago. Zeitschrift für psychoanalytische Psychologie ihre Grenzgebiete und Anwendungen XXII 1936 Heft 2"

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XXII. Band 1936 Heft 2 



IMAGO 

iCeitscnrilt lür psychoanalytische Bycholoeie 
ihre Grenzgebiete und Anwendungen 

Offizielles Organ der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung 



H 



erausgegeben von 



Sigm. Freud 

Redigiert von Ernst Kris und Robert Wälder 



Ernest Jones 


. Die Psychoanalyse und die Triebe 


Edward Bibring . . 


Zur Entwicklung und Problematik der Triebtheorie 


W. Bischler 


. . Selbstmord und Oüfertod 


Ludwig Eideiberg 


. . Zum Studium des Versprechens 


Alfred Gross . . 


V 

. . . Zur Psychologie des Geheimnisses 


S. H. Fuchs 


. . . Zum Stand der heutigen Riolo^ie Dargestellt an 




Kurt Goldstein: „Der Aufbau des Organismus" 




Bespre chun gen 


■ 



Wir machen hiemit unsere Autoren auf die folgenden gesetzlichen Bestimmungen auf* 
merksam: 

Bis zum Ablauf von zwei dem Erscheinungsjahr einer Arbeit folgenden Kalenderjahren 
kann über die - betreff enden Verlagsrechte (Wiederabdruck und Übersetzungen) nur mit 
Genehmigung des Verlages verfügt werden. Es steht jedoch auf Grund eines generellen 
Übereinkommens, das wir mit dem .international Journal of Psycho* Analysis" getroffen 
haben, jedem Autor frei, ohne ausdrückliche Genehmigung des Verlages der letztgenannten 
Zeitschrift Rechte zur Übersetzung und zum Wiederabdruck einzuräumen. 

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von 9 „ 16 „ „ 25 „ „ 20.-, „ 50 „ „ 25.- 

„ , 17 J! 24/ „ „ 25 \, ; „ 30.-, „ 50 „ „40.— 

.. 25 „ 32 „ „ 25 „ „ 35—, „ 50 „ „ 45.— 

j. Mehr als 50 Separata werden nur nach besonderer Vereinbarung mit dem Verlag an* 
gefertigt. 



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Jährlich 4 Hefte im Gesamtumfang von etwa 520 Seiten 
Einbanddecken zu dem. abgeschlossenen XXI. Band (?■!)} f) sowie zu allen früheren 
Jahrgängen: in Halbleinen Mark 2.JÖ, in Halbleder Mark /.— " 



' " Bei Adressenänderungen 

bitten wir freundlich, auch den bisherigen Wohnort bekanntzugeben, denn die Abon* 
nentenkartei wird nach dem Ort und nicht ^nach dem Namen geführt. 



:". ■ , - .--.': .--.' *. - — 



I M A G O 

ZEITSCHRIFT FÜR PSYCHOANALYTISCHE PSYCHOLOGIE, 
. IHRE GRENZGEBIETE UND ANWENDUNGEN 



XXII. Band 1936 Heft 2 



Die Psychoanalyse und die Triebe 1 

Von 

Ernest Jones 

London 

Ich habe das Thema der Triebe für meinen Vortrag gewählt, weil es in 
vieler Beziehung das interessanteste, grundlegendste und schwierigste in der 
ganzen Psychologie ist. Erweiterte Kenntnisse auf diesem Gebiete würden 
vielleicht mehr als auf jedem anderen die Psychologie in nähere Beziehung 
zu verwandten Wissenschaften wie Physiologie, Biologie, Soziologie und 
Philosophie bringen. Seit einiger Zeit hat es sich gezeigt, daß psychische 
und physische Prozesse eher durch die Erforschung der Triebe und ihres 
gefühlsmäßigen Ausdrucks in Wechselbeziehung zu bringen sind als durch 
die Methode, die im neunzehnten Jahrhundert so hoffnungsvoll schien, die 
höheren geistigen Phänomene und die Gehirnrinde zu studieren. Die enge 
Verbindung zwischen Furcht und Ärger zum Beispiel, die durch psycho* 
logische Gründe festgestellt worden ist, ist durch Cannon und seine Schüler 
sehr interessant bestätigt worden, die auf rein physiologischen Wegen 
arbeiteten. Es ist ferner offenbar, daß das Studium der Triebe, eines für 
den Menschen und die niedrigeren Tiere gemeinsamen Feldes, die aussichts* 
reichste Möglichkeit bietet, um die Psychologie in der Hierarchie der 
Wissenschaft auf den rechtmäßigen Platz zu stellen, nämlich als eine der 
biologischen Wissenschaften. Dann führt uns dasselbe Studium zu dem 
großen Problem der relativen Wichtigkeit ererbter und erworbener Eigen« 
schaften, einem wesentlichen Problem für alle soziologischen Seiten der Psy* 
chologie. Endlich sollten alle Ergebnisse solcher Untersuchungen nützliche 
Anhaltspunkte für die spannendste der philosophischen Spekulationen bie>* 
ten: über die Beziehung des Körpers zur Seele. Und das ist vielleicht die 

i) Vorgetragen vor der British Psychological Society am 22. März 1935; vgl. The 
British Journal of Psychology, General Section, XXXVI, part 3, 1936. 

Imago XXII/2 ^^^ 9 

INTERNATIONAL 

PSYCHOANALYTIC 

UNIVERSITY 

DIE PSYCHOANALYTISCHE HOCHSCHULE IN BERLIN 




j30 Ernest Jones ; 

zentralste menschliche Betrachtung von allen, denn die Beziehung zwischen 
der Persönlichkeit und dem materiellen Körper, durch den sie sich aus* 
drückt, bezeichnet das letzte Problem der Beziehung der Persönlichkeit zur 
, Materie" und die Verwandtschaft der menschlichen Seele zum Weltall. 
" Unglücklicherweise hat die Psychologie bis jetzt noch nicht die Ergebe 
nisse geliefert, die in irgend einer Weise an Wichtigkeit den hohen Zielen 
entsprächen, die ich eben bezeichnet habe. Es gibt keine Übereinstimmung 
unter Psychologen, ob Triebe im gewöhnlichen Sinne des Wortes über* 
haupt existieren — einige Psychologen schreiben ihre Äußerungen aus* 
schließlich erworbenen Gewohnheiten (habits) zu — oder, wenn Triebe exi* 
stieren, ob man irgend etwas Bestimmtes über ihre Natur oder selbst ihre An* 
zahl sägen kann. Die wissenschaftlichste Methode zum Studium des Ge* 
genstandes schien zu sein, mit der einfachen Beobachtung des Verhaltens 
zu beginnen, zu dem die Triebe führen: sich auf die motorischen Aspekte 
des Triebes zu konzentrieren. Diese Methode hat sich in der Erforschung 
des Trieblebens der Tiere als sehr fruchtbar erwiesen; dort ist es freilich 
die einzig verfügbare Methode. Bei menschlichen Wesen ist es ihr nicht 
möglich gewesen, Licht in die Dunkelheit zu bringen. Der Mißerfolg ist 
wahrscheinlich der außerordentlichen Plastizität der menschlichen Triebe zu* 
zuschreiben. Wir wissen, je tiefer wir in der Tierreihe hinabgehen, umso 
starrer und unvermeidlicher sind die triebmäßigen Reaktionen. Entwicklung 
in höhere Formen scheint charakteristischerweise durch eine größere Va* 
riabilität und Auswahl der triebmäßigen Reaktionen begleitet zu sein, eine 
Veränderung, die vermutlich selbst ein wichtiger Faktor in der Entwicklung 
gewesen ist. Beim Menschen hat diese Veränderlichkeit ihren höchsten Grad 
erreicht und ist die biologische Basis für den allgemeinen Glauben an die 
Freiheit des Willens. All das jedoch mach|: es außerordentlich viel schwerer 
festzustellen, welche Tendenzen beim Menschen wirklich primär und ange* 
boren sind. Andere Psychologen haben daher versucht, die Triebe durch 
Methoden der Introspektion zu studieren und zu klassifizieren, besonders 
durch Introspektion der Gemütsbewegungen, die gewöhnlich mit ihnen einher* 
gehen. McDougalls vielversprechender Versuch in dieser Richtung 
führte zu einer Wechselbeziehung von spezifischen Affekten mit spezifi* 
sehen Instinkten, aber er war auf zu wenig Tatsachenforschung gegründet, 
um von wirklich praktischem Nutzen zu sein. Ein anderer Versuch, diesen 
Problemen näher zu kommen, ist eine Kombination dieser zwei Methoden: 
man richtet die Aufmerksamkeit auf das offenbare Ziel der Triebe, urteüt 
nach der Richtung des Triebgeschehens. Das ist ungefähr die Haltung der 
meisten Psychoanalytiker. Man muß hier freüich klar unterscheiden zwischen 
dem empirisch beobachteten Triebziel und seinem Zweck in irgend einem 



Die Psychoanalyse und die Triebe 131 

teleologischen Sinn. Wenn man diesem Trugschluß verfällt, wird man bald 
dazu kommen, die Triebe nach ihrem biologischen Wert zu klassifizieren 
— zum Beispiel ihrem Wert für das Fortleben der Art im darwinistischen 
Sinne — , ihrem sozialen, ethischen und selbst theologischen Wert. 

Es ist Aufgabe der vorliegenden Arbeit, einige der Beiträge zu beschreiben, 
die die Psychoanalyse zu diesem dunklen Problem gegeben hat, und ich 
will daher zu meinem eigentlichen Thema kommen. Freud, der Pionier 
der Psychoanalyse, hat selbst bei weitem den größten Teil dieser Beiträge 
beigesteuert. Meine Darstellung wird sich deshalb im wesentlichen mit der 
Entwicklung seiner Ideen zu befassen haben. Lassen Sie mich mit zwei allge^ 
meinen Erwägungen beginnen, die eine Grundlage für die Erklärung dieser 
Entwicklung bieten. 

Zunächst ist zu sagen, daß Freud die Erforschung der Triebe nicht als 
seine hauptsächliche Lebensaufgabe betrachtete; dies war vielmehr die Auf* 
klärung bestimmter psychischer Phänomene, die problematisch waren und 
sein Interesse erweckten, vor allem der neurotischen Leiden und des Traum* 
lebens. Sein Studium der Triebe entwickelte sich anfänglich nur gelegentlich 
der Verfolgung seiner eigentlichen Aufgabe, doch drängte es sich mehr und 
mehr in sein Gesichtsfeld. Erst in den letzten Jahren, seit dem Kriege, hat' 
es den Vordergrund seines Interesses eingenommen. Obwohl er in seinen 
früheren Werken unzählige detaillierte Beiträge zu unserem Wissen von den 
Manifestationen der verschiedenen Triebe, besonders der sexuellen, gebracht 
hat, wagte er es erst nach dreißig Jahren intensiver Arbeit, Theorien über 
den Gegenstand aufzustellen. Seine Ansichten sind also sicher nicht eilig 
oder a pn'on' gewonnen, und es wäre gewiß weise, sorgfältige Aufmerksam.» 
keit den Schlußfolgerungen zu widmen, die auf eine so unvergleichliche psy* 
chologische Erfahrung wie die seine gegründet sind. Ein anderer Beweis 
für die empirische Natur seines Ansatzes ist, daß er das gewöhnliche sub* 
jektive Verfahren, eine Anzahl von Trieben aufzustellen, immer vermieden 
hat; er hat es vorgezogen, auf der einen Seite eine sehr minutiöse Detail* 
forschung zu betreiben und andererseits eine sehr allgemeine und großzügige 
Einteilung vorzunehmen, so oft das für seinen unmittelbaren Zweck not* 
wendig war. Freuds Arbeitsweise bietet hier eine sehr glückliche Ver*> 
bindung von induktiver und deduktiver Methode für die Annäherung an 
die Wirklichkeit. 

Hiezu kommt, daß Freud, vielleicht durch die Natur seiner Arbeit mit 
Neurosen, von der Tatsache des Konflikts im menschlichen Leben immer tief 
beeindruckt war. Wir müssen nur einen Augenblick lang die Welt von 
heute betrachten, selbst ohne die Lehren der Geschichte zu Rate zu ziehen, 
um zu verstehen, wie voll gerechtfertigt diese Einstellung ist. Aber Freud 



132 Ernest Jones 



hat die sichtbaren äußeren Konflikte in tiefere Regionen verfolgt, in die 
eigendiche Natur und das Gefuge der Seele selbst. Für ihn ist vielleicht 
der auffallendste Zug des menschlichen Seelenlebens der unaufhörliche Kon, 
flikt in ihm, mehr noch und besonders in den tiefem Schichten, die er als das 
„Unbewußte" bezeichnet. Demnach betrachtet er das Leben im wesent, 
liehen als den Ausdruck des Konflikts nicht nur zwischen Mensch und 
Mensch, zwischen Nation und Nation, sondern noch mehr zwischen einer 
Seite der menschlichen Natur und einer anderen, die mit ihr im Kriege 
ist. Die Begriffe, in denen er in verschiedenen Perioden das Wesen dieses 
Konflikts formuliert hat, bilden seine Beiträge zur Trieblehre. Wir können 
verstehen, daß seine Auffassung der Seele eine durchaus dualistische ge, 
blieben ist, obwohl sich seine Formulierungen mit der Entwicklung seiner 
Ideen bemerkenswert verändert haben. 

Während der ersten fünfzehn oder zwanzig Jahre seiner Forschungen be, 

gnügte sich Freud mit einer sehr einfachen Einteilung der Triebäußerun, 

gen Er hatte sich S c h i 1 1 e r s wohlbekannte Gegenüberstellung von Hunger 

und Liebe zu eigen gemacht und schied die psychischen Regungen in zwei 

Gruppen, je nachdem ob sie die Erhaltung des Individuums oder die Er, 

haltung der Art zu fördern schienen; dies ist offenbar eine Einteilung auf 

biologischer Grundlage. Er nannte diese zwei Klassen von Trieben die Ich, 

Triebe und die Sexualtriebe. Freud betont, daß „die Annahme gesonderter 

Ich, und Sexualtriebe ... zum wenigsten auf psychologischem Grunde ruht, 

wesentlich biologisch gestützt ist". Er betrachtet sie nur als Arbeitshypothese, 

als etwas, wovon man ausgehen kann, um die Beobachtungen zu ordnen. 

Freud entdeckte nun, daß das neurotische Leiden von einem ungelösten 

Konflikt zwischen diesen zwei Gruppen ausgeht, zwischen unverdrangten 

Ich,Trieben und verdrängten Sexualtrieben; weitere Forschungen haben die 

Richtigkeit dieser Ergebnisse voll bestätigt. Ein paar Jahre lang war sein 

Interesse erfüllt von der Erforschung der verschiedenen sexuellen Regungen, 

insbesondere der verdrängten unbewußten, die zu jener Zeit wenig ver, 

standen wurden. Seine Funde über die Formen der infantilen Sexualität, 

ja sogar über deren bloße Existenz, trafen lange auf heftigsten Widern 

spruch, sind aber jetzt weitgehend akzeptiert und durch spätere Mitarbeiter, 

Abraham, Ferenczi, mich selbst und andere, erweitert worden. 

Freud schrieb zum ersten Male über die Natur der Triebe in seiner 
Abhandlung „Triebe und Triebschicksale". Dort führte er die nützliche Un, 
terscheidung ein zwischen dem Ziel eines Triebes — seinem Befnedigungs, 
ziel — und dem Triebobjekt, durch das der Trieb sein Ziel erreicht — sei 
es ein lebendes oder unbelebtes Objekt, der eigene Körper oder der Körper 
eines anderen. Die Quelle eines Triebes ist immer ein körperlicher Reiz, 



Die Psychoanalyse und die Triebe 133 

und Freud vermutete, daß jede psychische Manifestation von einem physio* 
logischen Prozeß von wahrscheinlich chemischer Natur begleitet ist. Seine 
Konzeption vom Trieb ist daher keineswegs eine rein psychologische — sie ist 
eher psychophysiologisch. Freud nimmt ferner an, daß der Unterschied 
in den seelischen Wirkungen verschiedener Triebe auf die Verschiedenheit 
in den körperlichen Quellen zurückgeführt werden könne. Beim Sexual* 
trieb konnte er das im einzelnen zeigen, indem er nicht nur die Gebiete 
der verschiedenen somatischen Quellen bestimmte — die sogenannten ero* 
genen Zonen — , von denen die Komponenten des Sexualtriebes, die Par* 
tialtriebe ausgehen, sondern auch bis in die kleinste Einzelheit verfolgte, wie 
jeder dieser Partialtriebe zur seelischen Aktivität und besonders zur Charak* 
terbildung beiträgt. Eine der überraschendsten Entdeckungen in der Psycho* 
analyse war, daß die Art, in der ein Kind saugt, oder das Maß von Interesse, 
das es dieser körperlichen Funktion widmet, die Bevorzugung vor andern, 
die spätere seelische Entwicklung dieses Individuums tief beeinflussen kann, 
bis in sein Temperament und seine (optimistische oder pessimistische) Welt* 
anschauung. 

Der Sexualtrieb ist zunächst keine Einheit. Er besteht aus verschiedenen 
Partialtrieben, die mannigfachen organischen Quellen entspringen. Diese 
Partialtriebe funktionieren zuerst ganz unabhängig von einander, jeder als 
wäre er blindlings auf der Suche nach körperlicher Lust und Befriedigung; 
sie vereinigen sich erst später in der Fortpflanzungsfunktion. Sie beginnen 
zuerst in Anlehnung an die IchsTriebe, zum Beispiel den Hunger, mit dem 
sie Quelle, Ziel und Objekt gemeinsam haben, und nur allmählich eman* 
zipieren sie sich von dieser Verbindung und erlangen ein Eigenleben. Ein 
Kind saugt zuerst Nahrung ein, bevor es seinen Daumen lutscht und lange 
bevor es seine Lippen zum Küssen gebraucht. 

Freud vergleicht nun die Triebe und ihre Aktivität mit äußern physischen 
Reizen (und dem dazu gehörigen komplizierten Reflexbogen) und stellt beide 
Prozesse einander in eleganter Weise gegenüber. Die Reize, die das trieb* 
mäßige Geschehen dem Seelenleben zuführt, kommen natürlich aus dem 
Inneren des Organismus und sind ziemlich beständig in ihrer Aktion, un* 
gleich den diskontinuierlichen Anstößen oder Reihen von Anstößen, die 
von außen an das Seelenleben herankommen. Aus diesen beiden Gründen 
kann man mit ihnen nicht in gleicher Weise verfahren wie mit äußeren 
Reizen, denen man sich einfach zu entziehen vermag. Kein Fluchtversuch 
hilft. Das Psychische ist angetrieben, die Außenwelt in einer Weise zu be? 
einflussen, daß sie gezwungen wird, dem Trieb einige Befriedigung zu ge* 
währen und so den störenden Reiz zu beschwichtigen. Wenn das auf direktem 
Weg unmöglich ist, hat der psychische Apparat verschiedene andere Ver* 



134 Ernest Jones 



fahren gegenüber den Triebreizen zu finden. 

Von diesen Methoden ist die einfachste die Verdrängung, die eine Distanz 
zwischen den Reizen und dem übrigen Seelenleben herstellt. Sie ist ver* 
wandt mit der primitiven Reaktion von Rückzug oder Flucht und wahr* 
scheinlich ein Abkömmling davon. Ein sehr wichtiger Mechanismus ist der, 
die Richtung eines Triebes umzukehren, so daß er sich gegen die eigene 
Person statt gegen die Außenwelt wendet. Freud beschrieb das zuerst in 
Verbindung mit gewissen Partialtrieben der Sexualität, aber wir wissen jetzt, 
daß es noch eine größere Rolle beim Aggressionstrieb spielt. Ein Impuls, 
der aus diesen beiden Quellen stammt, ist der Sadismus. Er kann wieder 
gegen die eigene Person gewendet werden; man schöpft dann aus der Unter* 
werfung oder sogar Selbstquälerei Lust. Ein späteres Stadium dieses Pro* 
zesses ist erreicht, wenn ein Objekt in der Außenwelt gesucht wird, das ver* 
anlaßt werden kann, den Schmerz und die Unterdrückung aufzuerlegen; 
die Person hat dann eine sogenannte masochistische Haltung angenommen. 
Dasselbe Beispiel kann auch benützt werden, um einen dritten Mechanismus 
zu illustrieren, den der Umkehrung des Triebzieles vom aktiven ins passive 
oder vice versa. Ein anderes Beispiel dafür ist das der Schaulust, die sich 
aus dem Wunsch zu schauen in den Wunsch angeschaut zu werden ver* 

ändern kann. 

Alle diese Partialtriebe sind in einem hohen Grade plastisch. Sie können 
nicht nur einander vertreten, sondern auch — wenn nicht der als Fixie* 
rung bekannte Tatbestand vorliegt — leicht ein Objekt durch ein anderes 
ersetzen. Noch bemerkenswerter ist die Tatsache, daß sie in einem gewissen 
Sinn ihre eigene Natur insoweit verändern können, als sie ein beträchtliches 
Maß von Befriedigung durch nichtsexuelle Ziele zu erreichen vermögen ; diese 
Möglichkeit ist unter dem Namen „Sublimierung" bekannt. Die Fähigkeit 
des Sexualtriebs zu Verschiebung und Austausch beeindruckte Freud tief 
und veranlaßte ihn, eine ähnliche Fähigkeit der anderen Triebe und Gefühle 
zu postulieren. So spricht er z. B. von Liebe, die sich in Haß verwandelt, 
oder vice versa, und meint damit eine wirkliche Umformung aus dem einen 
ins andere, nicht ein einfaches Ersetzen des einen durch das andere. Das ist 
ein Teil seiner Theorie, der einige von uns schwer folgen können, da sie von 
einem biologischen Gesichtspunkt abzuweichen scheint. Lange Zeit hielt er 
auch daran fest, daß die Libido, die Energie des Sexualtriebs, bei der Ver* 
drängung in Angst oder Furcht verwandelt werde. Vor einem Vierteljahr* 
hundert vermutete ich, es sei eine wahrscheinlichere Erklärung der Ent* 
deckungen, auf die diese Ansicht gegründet war, daß eine Erregung ver* 
drängter Libido einfach die Angstkomponenten des Ich*Triebs anrege, und 
vor ein paar Jahren ist Freud selbst dazu gelangt, die Angelegenheit in 



Die Psychoanalyse und die Triebe 135 

dieser Weise zu betrachten. Das ändert natürlich nichts an der wichtigen 
klinischen Beobachtung, daß krankhafte Angst, der Kern der gewöhn* 
liehen „Nervosität", immer eng mit verdrängter Libido verknüpft ist. 

Die zweite Phase in der Entwicklung der Freud sehen Ansichten über die 
Triebe datiert von 1914, als er eine beunruhigende Arbeit „Zur Einführung des 
Narzißmus" veröffentlichte. Ich werde gleich erklären, warum ich das Wort 
„beunruhigend" gebrauche. Selbstliebe erscheint in ihrer reinsten Form in 
einer sexuellen Perversion, die Havelock Ellis als erster mit dem Namen 
„narzißtisch" beschrieb, mit Anspielung auf den wohlbekannten Mythus von 
dem Griechenjüngling, der sich in sich selbst verliebte. Aber es ist leicht, 
zahlreiche andere Manifestationen derselben Tendenz an deren Stellen aufzu* 
decken. Sie sind zu finden im Größenwahn des Irreseins, in der Aufmerksam* 
keit, die der Hypochonder seinem Körper zollt, in verschiedenen Beohach* 
tungen, die man leicht an Kindern, an Greisen, an Schwerkranken macht, 
und schließlich sogar beim Phänomen der normalen Liebe. All diesen Ge* 
bieten ist eine bemerkenswerte Reziprozität zwischen der Liebe zu sich selbst 
und der Liebe zu anderen gemeinsam, zwischen dem, was die Analytiker 
mit den Termini Narzißmus und Objektlibido bezeichnen; wenn die eine 
ansteigt, sinkt die andere ab, und vice versa. Freud vermutete mit gutem 
Grunde, daß alle Libido zu Anfang im Ich versammelt ist, daß Selbstliebe 
der Anfang aller Liebe ist. Wenn sie nach außen strömt, nennen wir das 
Objektliebe, Liebe zu anderen Objekten als dem Ich. Daß sie unglücklicher* 
weise wieder zurückfluten kann, noch einmal in das Ich zurückgezogen 
werden kann, ist eine hinlängliche bekannte Tatsache. In den meisten Ehen 
gibt es später Zeiten, wo ein Gefährte dem anderen vorwirft, daß er (odey 
sie) nicht mehr so sehr liebe wie früher, daß er (oder sie) „selbstsüchtig" 
geworden sei. Und, wie oben angedeutet, gibt es viele typische Situationen 
im Leben, wie in der Krankheit, nach einem Unfall, im Alter usw., in 
denen die Tendenz, sich in Beschäftigung mit sich selbst und Selbstliebe 
zurückzuziehen, vordringlich wird. 

Der Grund nun, warum ich Freuds Aufsatz über Narzißmus beunruhi* 
gend nenne, ist der, daß er der Triebtheorie, mit der die Psychoanalyse bisher 
gearbeitet hatte, einen unangenehmen Stoß versetzte. Die Beobachtungen, 
auf die der neue Begriff des Narzißmus begründet war, waren so unver* 
kennbar und leicht bestätigt, daß wir ihn uneingeschränkt zu akzeptieren 
hatten, aber es war sofort klar, daß etwas mit der Theorie geschehen müsse, 
an die wir gewöhnt waren. Denn wenn das Ich selbst libidinös besetzt war, 
sah es so aus, als ob wir seinen prominentesten Zug, den Selbsterhaltungs* 
trieb, als einen narzißtischen Teil des Sexualtriebs anzusehen hätten. Gegner 
der Psychoanalyse hatten immer eine Hälfte der unbewußten Konflikte über* 



136 Ernest Jones 



sehen, auf die Freud soviel Aufmerksamkeit gelenkt hatte, und hatten ihn 
tout court beschuldigt, alles auf die Sexualität zurückzuführen, nichts anderes 
in der Seele zu sehen als Sexualität. Sie wurden allerdings durch die Tatsache 
unterstützt, daß zu dieser Zeit die meisten von Freuds Entdeckungen sich im 
Gebiete der verdrängten sexuellen Regungen bewegt hatten und sehr wenige 
in der anderen Hälfte der Seele. Aber er konnte leicht erwidern, daß sein 
Hauptpunkt die Tatsache eines Konflikts zwischen sexuellen und nicht 
sexuellen Regungen war, eine „fifty-fifty"* Ansicht der Seele. Nun allerdings, 
da das Ich selbst als libidinös betrachtet werden mußte, hatten die Kritiker 
nicht von Anfang an recht, wenn sie sagten, Freu d führe „alles auf die Sexu* 
alität zurück"? Und was war aus seinem berühmten Konflikt geworden? 
Gewiß konnten die Psychoneurosen, sein eigentliches Forschungsgebiet, 
auch weiter auf Grund der Konflikttheorie beschrieben werden; es wäre 
denn ein Konflikt zwischen narzißtischer und Objektliebe. Aber hieß das, 
daß der einzige Konflikt, der zwischen zwei Formen des Sexualtriebs sei, daß 
es keine andere Konfliktquelle im Psychischen gebe? Diese und ähnliche 
Fragen erfüllten unsere Gedanken, gerade als der Weltkrieg ausbrach, und 
Freud war nicht imstande, irgend eine Antwort darauf zu geben, ehe dep 
Krieg beendet war. 

In der Tat war der Fall nicht so ernsthaft, wie ich ihn jetzt geschildert 
habe, und das trügerische meiner Darstellung liegt offen zutage. Wenn 
man sagt, es besteht Grund zu der Annahme, daß das Ich stark mit Libido 
besetzt ist, so ist das sichtlich nicht dasselbe, wie wenn man behauptete, es 
bestehe aus nichts anderem. Verschiedene andere Möglichkeiten blieben offen. 
Und die Kritiker waren ganz im Unrecht mit ihrer Behauptung, Freud 
ziele auf eine libidomonistische Auffassung der Seele ab. Im Gegenteil, er 
war so zäh dualistisch wie je. Aber er wurde sehr dazu gedrängt, eine Seite) 
des Konflikts zu demonstrieren, irgendwelche nicht narzißtischen Kompo* 
nenten des Ich zu definieren. Seine wissenschaftliche Laufbahn hatte einen 
scheinbaren Rückschlag erfahren, keineswegs zum ersten Male. 

Die Schwierigkeit, die ich eben beschrieben habe, spornte Freud nur 
zu weiteren Forschungen an, und der nächste Angriffspunkt wurde durch 
die Natur des Gegenstandes bestimmt. Der Boden für die Untersuchung 
der Konflikte zwischen Trieben und damit für die Feststellung der Natur 
der Triebe war weitgehend gerodet worden durch die ins einzelne gehende 
Arbeit an der einen, der sexuellen Seite des Konflikts. Wie war es nun mit der 
anderen Seite, über die man bisher sowenig erfahren hatte? Die klinische Psy* 
choanalyse war so geschäftig an dieser Seite vorübergegangen, um die ver- 
drängten sexuellen Regungen zu erreichen, daß sie sie größtenteils einfach 
als ein Hindernis in ihrer Arbeit ansah und sie gewöhnlich als einen „Wider* 



Die Psychoanalyse und die Triebe 137 

stand" bezeichnete. Jetzt war es an der Zeit, diese Widerstände naher zu 
prüfen. Freud hatte sie gleichsam nebenbei als moralische und ästhetische 
Haltungen bezeichnet, die der Rohheit der Sexualität entgegengesetzt waren, 
aber es war jetzt nötig, sie näher zu definieren und etwas über ihre Quellen 
zu erfahren. 

Sonderbar genug, eines der ersten Dinge, die über diese moralische und 
ästhetische Einstellung gefunden werden sollten, war wieder ihre libidinöse 
Komponente, natürlich eine narzißtische. Indem Freud der Entwicklung 
der narzißtischen Libido nachspürte, fand er, daß sich die primitive Selbst* 
liebe entweder in Objektliebe oder in eine Form der Liebe verwandeln 
konnte, die noch mit dem Ich verbunden, nichtsdestoweniger aber sehr ver* 
schieden von einfacher Selbstliebe war. Sie wurde dann auf das gerichtet, 
was er das Ichideal nannte: nicht das Selbst, wie es ist, sondern das Selbst, 
wie die Person es gern haben möchte. Hier begegnen wir der in Frage stehen* 
den moralischen und ästhetischen Einstellung. Denn wenn wir fragen, warum 
die Person ein Bild von sich selbst lieben sollte, wie sie gern sein möchte,j 
nicht wie sie wirklich ist, bemerken wir bald, daß ihr Bild eine Verbesse* 
rung der Wirklichkeit gerade in moralischer und ästhetischer Hinsicht ist. 
Das Ichideal ist tatsächlich beinahe dasselbe wie das uns vertraute Ge* 
wissen oder repräsentiert wenigstens eine wichtige Seite davon. Ferner findet 
man, wenn man die Genese dieses Bildes des Ichideals psychoanalytisch stu* 
diert, unschwer seinen Ursprung in der Haltung des Kindes gegenüber seinen 
Eltern. So wie das Kind seine Eltern zugleich fürchtet und liebt, so entwickelt 
es eine Mischung von Furcht und Liebe ihren Geboten und Verboten gegen* 
über, zu dem Ideal eines Betragens, das sie vor dem Kind aufrichten. Und 
so wie der Maßstab, den die Eltern einschärfen, gewöhnlich den übersteigt, 
an den sie sich in ihrem eigenen Leben halten, so übersteigt des Kindes Ich* 
ideal an Erhabenheit das Bild seiner wirklichen Eltern. Das ist so sehr den 
Fall, daß das Kind unter gewissen Bedingungen es später nötig finden wird, 
seine idealistische Haltung an vollkommenere Gestalten als seine Eltern anzu* 
schließen, an geschichtliche Helden, an Heilige oder an die vollkommensten 
Gestalten überhaupt, die göttlichen. 

Ein wichtigerer Schritt wurde getan, als Freud entdeckte, daß viele 
Widerstände, und unter ihnen die stärksten, unbewußt sind. Diese Ent* 
deckung veranlaßte ihn, die einfache Hypothese zu revidieren, in der der 
Konflikt zwischen dem Ich und dem Verdrängten als eine Antithese zwischen 
dem Bewußten und dem Unbewußten dargestellt war; es galt, der Tatsache 
Rechnung zu tragen, daß ein wichtiger Teil des Ichs selbst unbewußt ist. Was 
uns jedoch hier interessiert, ist, daß das Ichideal sich auch gleichsam in 
das Unbewußte erstreckt, wenn eine solche topische Analogie statthaft ist. 



TZg Ernest Jones 



Noch interessanter ist die Tatsache, daß sich der unbewußte AnteJ des 
Ichideals, den Freud das übersieh nennt, bemerkenswert vom bewußten 
Anteil unterscheidet. Der Anteil der Liebe, der in dem >^>"f^ 
ideal so offenbar ist, tritt im unbewußten Übersieh ganz zurück hmt er Furcht 
und Strenge. Die Feinstruktur des über,Ichs ist, genetisch betrachtet, in 
mancher Beziehung dunkel und schwer zu enträtseln. Doch besteht kaum 
ein Zweifel darüber, daß es im wesentlichen als Hilfe für das ch in eine* 
Angts vor den primitiven (verdrängten) Impulsen gegen die Ehern entsteht. 
Die Verbote der Eltern werden verinnerlicht und bdden so die ersten An. 
sätze des künftigen Gewissens; sie werden gegen das Ich des Kindes gerichtet, 
gerade so wie jene Verbote es waren. Es ist, als ob eine innere Stimme sagte.- 
„Zügle diese verbotenen Regungen, oder ich werde dich streng bestrafem 
Die Strafen sind die gleichen, die man von den Eltern befürchtete; es mach 
keinen Unterschied, ob diese in Wirklichkeit je mit diesen Strafen gedroh 
hatten oder nicht. Das übersieh ist deshalb zum großen Ted die Einver, 
leibung der Vorstellung von den strengen Eltern. 

Der wichtigste Zug des über.Ichs ist seine außerordentliche Strenge und 
sogar Wildheit. Sie ist so groß, daß die frühe Angst des Ichs vor dem primi, 
tiven Regungen oft durch die Angst vor dem finsteren Uber.Ich abgelost wird 
durch die Angst gerade vor jener Institution, die ursprünglich aufgebaut 
wurde, um das Ich vor Angst zu schützen. Es wurde bald bemerkt besonders 
von Londoner Analytikern, daß die Strenge des über.Ichs nur tedweise aus 
dem Verhalten der Eltern zum Kinde hergeleitet werden kann Das über, 
Ich übertrifft dieses bei weitem an Wildheit; das ist offenkundig der Fall, 
wenn die Eltern in Wirklichkeit nachgiebig und sanft sind. Die wilden Eigen, 
schaffen des Überfchs können somit nur von etwas im Kinde selbs her, 
rühren, das nachher auf ein Phantasiebild von den Eltern projiziert und 
sodann in einem neuerlichen Prozeß einverleibt wurde 

Eingehende analytische Studien, die durch die von Melanie Klein und 
anderen an kleinen Kindern durchgeführten Untersuchungen eindrucksvoll 
bestätigt sind, haben viel Licht auf die Quellen dieser Strenge geworfen 
und zu dem Begriff eines primitiven Aggressionstriebs von nicht sexuellem 
Charakter geführt. Hier ist also schließlich etwas, das der sexuellen Seite 
der seelischen Konflikte gegenübergestellt werden kann. Bevor wir naher 
darauf eingehen, werden wir etwas zurückgreifen müssen. 

Freud veröffentlichte seinen Entwurf vom Übersieh, der so viel Lieh 
brachte, in einem Buch, das 1923 erschien. Aber, seltsam genug er war nicht 
durch die Auffassung und die Untersuchungen, die ich eben skizziert habe, 
zu seiner jetzigen Ansicht von der Dualität des seelischen Gefuges gelangt. 
Drei Jahre früher hatte er in einem Buch „Jenseits des Lustprinzips eine 



Die Psychoanalyse und die Triebe 139 

ganz unerwartete Lösung des Dilemmas gegeben, das er 1914 geschaffen hatte. 
Er gelangte zu dieser Lösung durch einen sehr abstrakt theoretischen Ge* 
dankengang, dessen Kern ich im folgenden darzustellen versuchen will. Er 
hatte versucht zu sehen, ob alle seelischen Prozesse dem großen Lust*Unlust* 
Prinzip unterworfen seien, und was der Hauptzweck und die Funktion dieses 
Prinzips sei. Die erste Frage beantwortete er verneinend. Gewisse Beobach* 
tungen, besonders des Traumlebens, des Kinderspiels und des Verhaltens 
der Patienten während der Analyse, führten ihn dazu, ein zweites archai* 
scheres regulatives Prinzip neben dem bekannten Lust*Unlust*Prinzip zu 
postulieren. Er nannte das ältere Prinzip den Wiederholungszwang, die 
blinde Tendenz, frühere Erfahrungen und Situationen zu wiederholen, ganz 
unabhängig von irgend einem Gewinn von einem Lust*Unlust*Standpunkt 
aus. Und er beurteilte die Funktion des Lust*Unlust*Prinzips dahin, daß sie 
einer Tendenz entspräche, psychische Spannung zu vermindern oder wenig* 
stens auf einem möglichst konstanten Niveau zu halten. 

Beiden Prinzipien gemeinsam ist ihre konservative Natur. Beide leisten 
der Störung eines früheren Zustands Widerstand und versuchen, die Wir* 
kung störender Reize zu vermindern oder aufzuheben. Das Lust*Unlust* 
Prinzip versucht, die Spannung abzuschwächen, die durch solche Reize her* 
gestellt worden ist, während der Wiederholungszwang einfach versucht, die 
frühere Lage wiederherzustellen. Aber, wie wir gleich sehen werden, be* 
fassen sich die beiden Prinzipien mit verschiedenen Reizgruppen. An dieser 
Stelle fiel es Freud auf, daß er auf eine wesentliche Eigentümlichkeit un* 
seres Trieblebens gestoßen war. Erinnern wir uns daran, daß er die Tätigkeit 
der Triebe als inneres Reizgeschehen beschrieben und der Wirksamkeit 
äußerei: Reize gegenübergestellt hatte. Sein neuer Gedanke war nun, daß es 
die Triebe selbst sind, die für den Wiederholungszwang verantwortlich sind, 
daß die wesentliche Charakteristik der Triebe ihre konservative oder, besser, 
regressive Natur ist, die Funktion, die sie in der Wiedereinsetzung eines 
früheren Zustands erfüllen. Er verglich dies mit der Wanderung der Lachse 
und anderer Fische — es trifft auch für Vögel zu — , die wir uns nur durch 
die Annahme erklären können, daß sie archaische Situationen wiederholen, 
auch solche, die heute nicht mehr günstig sind. Er vermutete, daß starke 
äußere Reize, deren Wirkungen später verinnerlicht wurden, die Instinkte 
zuerst ins Leben gerufen hätten. Die Instinkte sind dann dazu da, um diesen 
Reizen zu begegnen, ihre Wirkung aufzuheben und den Organismus so 
weit wie möglich wieder zu seinem ursprünglichen Zustand zurückzuführen. 
Wenn künftige biologische Forschung diese Hypothese der Regression be* 
stätigt, wird sie sich bestimmt als eine fundamentale Vermehrung unserer 
Kenntnisse von der Natur und Bedeutung der Instinkte erweisen. Das Lust* 



Unlust*Prinzip spielt auf einem höheren Niveau, in einem späteren Stadium, 
dteslich vo" ahem mit den Reizen befaßt, die durch «he ****** 
Triebe entstehen; es versucht, diese Reize auf eine Art zu "**?**V£ 
ehesten Befriedigung bringt. So arbeitet das ältere »^^^ÄJ 
äußerer Reize und das spätere Prinzip an der Dampfung der inneren Reize, 
die durch das ältere Prinzip hervorgerufen wurden. 

Freud hat die seltene Eigenschaft, zugleich ein vorsichtiger und ein 
kühner Denker zu sein. Im vorliegenden Falle äußerte sich die zweite Eigen. 
schaft in sehr eindrucksvoller Weise; er zögerte «kh*v AM £ -ghdien 
Konsequenzen aus seiner Hypothese zu ziehen: wenn das Ziel ^dei ^Triebe ^ 
Rückkehr zu einem früheren Zustand ist, dann muß eine Tend *nz zu Ruck, 
kehr in den frühesten Zustand überhaupt, in das unbelebte Sem bestehen, 
sl ist der Tod also kein unglücklicher Zufall. Das Leben selbst fuhrt seinem 
Wesen nach zum Tode, zielt sogar darauf ab, den Tod herbeizu uhren wenn 
auch au" einem gewundenen und verwickelten Wege. Das Ziel des Leben, 
st ^1, als lefztes Ende der Friede, den die Auflösung dj^ 
in das Anorganische verschafft. Dissimilation hat das letzte Wort vor Assi. 



milation. 



fK u d erörterte nun fürs erste, ob diese radikale Folgerung auf alle Triebe 
zuLffen könne; aber er entschied daß es mit den ™PU£*2 
deren Ziel es ist, durch Zurückkehren zum Beginn des Lebens ,mit dem 
Leben wieder neu zu beginnen, anders sein müsse. Wenn es auch Tur d> se 
Triebe zutrifft, so kaum im gleichen Sinne; denn wenn ihr Ziel der Tod ist 
isler das auf einem so ewig.fernen Wege, daß man nicht gut in irgendeinem 
individuellen Zusammenhang davon sprechen kann. 

Brachten wir in diesem Zusammenhang den Fortpflanzungstrieb ein 
wen "näher. Es ist vielleicht bei diesem Trieb offenbarer als bei jedem an, 
lentdaß er ständig eine frühere Form des Daseins hervorbringt, indem er 

ete befruchtete Zehe schafft, aus "^^^^S^^S 
bringt das in eigentümlicher Art, indem zwei Einzelzellen im Paarungsakt 
zur Vereinigung gebracht werden. Und dieser Drang zur Vereinigung des 
Fl islhes ist skhe'r das vordringlichste Merkmal aller quellen A« 
Vereinigung ist vor allem ihr Ziel. Von diesem Gesichtspunkt aus fühlte 
sä Sud berechtigt, die neuschaffende Funktion des Sexualtriebs, seine 
Tendenz, immer wieder von neuem anzufangen, mit ^ e ^u^n,z™ 
einigen und zu verbinden, zusammenzubringen. Er identifizierte also die 
S eine rein klinische Bezeichnung, mit dem Eros der Poeten und Philo 
sophen dem Prinzip, das schafft, bindet und das ganze Leben erhalt. Er 
erweite te sogar seinen Libidobegriff auf den übrigen Korper durch die 
Behauptung - die allerdings durch klinische Befunde unterstutzt wird . -, 



Die Psychoanalyse und die Triebe 141 

daß jede Zelle im Körper eine libidinöse Besetzung habe, die eine wichtige 
Rolle in seiner Lebensgeschichte spiele. 

Das Ergebnis dieses Gedankengangs ist nun, daß Freuds letzter Dua* 
lismus die Teilung der Seele in zwei Triebgruppen ist, die er Lebenstriebe 
lind Todestriebe nannte — oder Eros und Thanatos, wenn man griechischen 
Namen den Vorzug gibt. Der Klarheit wegen will ich in einem Satz die drei 
Stadien in der Entwicklung von Freuds Gedanken über die Dualität der 
Triebe wiederholen. Das erste war der Gegensatz zwischen sexuellen und 
IchsTrieben ; das zweite der Gegensatz zwischen Objektliebe oder allo* 
erotischer Libido und Selbstliebe, narzißtischer Libido; und das dritte ist 
der Gegensatz zwischen Lebens* und Todestrieben, zwischen Eros und 
Thanatos. 

Soweit gut. Aber nun kam Freud zu einer weiteren Schwierigkeit. Wie 
konnte man die zahllosen Manifestationen des seelischen Lebens dem einen 
oder anderen dieser Triebe genau zuteilen? Eros war sichtbar und hörbar 
genug; wie Freud es ausdrückt, „der Lärm des Lebens geht meist vom 
Eros aus". Aber was für bekannte psychische Phänomene kann man un* 
mittelbar als Äußerungen des Thanatos erkennen? Freud war zuerst sehr 
in Verlegenheit, diese einfache Frage zu beantworten. Er war anfangs ge* 
neigt, die Stimme des Thanatos als stumm zu betrachten, den Todestrieb 
für ein immanentes Prinzip oder eine Kraft zu halten, die ihren Willen un* 
erbittlich, aber dennoch unsichtbar durchsetzt. Wenn das die Antwort wäre, 
würde sie, selbst wenn sie wahr wäre, nicht sehr aufklärend sein, noch könnte 
man sich vorstellen, daß sie in der Psychologie praktisch große Trag* 
weite habe. 

In diesem ziemlich kritischen Zeitpunkt fiel es Freud ein, die zwei Arbeits* 
richtungen, die ich skizziert habe, zusammenzubringen : die rein theoretische, 
die zu dem Entwurf eines dem Lebewesen innewohnenden Todestriebes 
führte, und die analytischen Einzeluntersuchungen über das Über*Ich mit 
ihrer Enthüllung eines erschreckend mächtigen Aggressionstriebs. Wie, wenn 
sich beides als das nämliche erweisen sollte, wenn dieser sehr sichtbare Ag* 
gressionstrieb der gegen die Außenwelt gewendete Todestrieb wäre, der ur* 
sprünglich an der Zerstörung des Individuums gearbeitet hatte? Die Wen* 
düng des Triebes von innen nach außen bietet keine Schwierigkeit, da wir 
mit einer ähnlichen Veränderung der Richtung bei einem nah verwandten 
Trieb vertraut sind; ich verweise auf die früher erwähnte Wandlung von 
Auto*Sadismus zu Masochismus. Und wir können einen ähnlichen Wandel 
in Verbindung mit Todeswünschen selbst anführen. Es ist wohlbegründet, 
daß Selbstmord das Ergebnis von Mordwünschen gegen Objekte in der 
Axißenwelt ist, die dann nach innen gegen die eigene Person gewendet wor* 



-TT " Ernest Jones 

142 



den sind 



khfabe nun die Trieblehre dargelegt, an der Freud zur Zeit fes ha 
und möchte Sie erinnern, daß sie aus drei Elementen zusammengesetzt ist 
a^eTvoraussetzungenund einer Folgerung. Die Voraussetzungen sind da, 
vXdlsein einer positiven Tendenz zu, ■*f^™^™%*t 
außen gerichteten Aggressionstriebs; die Folgerung ist daß diese beiden 

sollte, würde das seinen geistvollen Gedankengang ganzend »*«"*«"• 
und seine Theorie würde einen fundamentalen Fortschritt in unserer Kenntnis 
der Sl Erstellen. In einem etwas ähnlichen Falle wurde schon ^erwiesen, 
daß er im Recht war: als er behauptete, daß die ^«J^Ä 
die Patienten gegen das Aufdecken des Unbewußten zeigen f«^™ 
mit der unsichtbaren inneren Verdrängung des Unbewußten. ^Allerdings be- 
7l\ e m Unterschied zwischen den beiden Fällen; dort schloß er vom Sicht. 
Sren auf das Unsichtbare, hier, beim Todestrieb, begann er beim Ufa«*» 
ba™ und wandte es dann auf das Sichtbare an. Die Beweisführung is im 
zweien Fall kühner und würde deshalb eine größere Leistung darstellen, 
wenn sie bestätigt wäre. , . ~. « • 

Viel bleibt jedoch noch übrig, bevor das getan ^f^'^J^X 
hat vielleicht ob ihrer abstrakten Tiefgründigkeit, außerhalb de Kreises der 
ptchoanlvtiLr nicht viel Aufmerksamkeit und innerhalb dieses Kreises 
^lltme^funde, Manche Kritik ^£*££**£ 
bei den Analytikern, die sie vollständig akzeptiert haben ist man nicht sicher 
wlevt von ihrer Einstellung durch das Prestige des Autors verursacht ist 
ritungTvolles Anhören ist eines, unkritische Zustimmung ein zweites. De 
TheorkS gewiß noch nicht als integrierender Bestandtal der Psychoanalyse 
anzusehen sie ist eher ein persönlicher Gedankengang als eine direkte Fol, 
gering "; ver fizierbaren Daten. Freud selbst legte die Theorie in außer, 
o Seh vorsichtiger Form vor und bemerkte, er M«^ *£** 
wie weil er selbst daran glaube; doch habe ihn der Ged f ikx ^^^ a T 
SeitTamals hat er sie entschlossener in seine allgemeine Vorstellung der 
»I5n Seele einverleibt, obwohl er **^£^££& 
Todestriebs zugab, daß „seine Annahme wesentlich auf theoretischen 

G tfden e dtf Stufen der Theorie ist die erste, die angeborene Tendenz 
zu^Totam wenigsten gesichert, weil es so ^*££££Z 
fizieren So überraschend sie ist, es gibt im zeitgenossischen Denken viel, 






Die Psychoanalyse und die Triebe 143 

satz der Thermodynamik mit seinem düstern Ausblick ein Stück allgemein 
vertrauter Kenntnis geworden, und man hat versucht, das Stabilitätsprinzip 
von Spencer, Fechner und Petzoldt daraus abzuleiten. In seiner 
modernen Form ist dieses Prinzip als Entropiegesetz bekannt; es entsteht 
die Frage, ob die Regulierung der psychischen Spannung, die Freud als 
Funktion des LusteUnlust*Prinzips erkennt, mit dem physikalischen Entro* 
piegesetz in Verbindung gebracht werden kann. 

Mehrere Psychoanalytiker haben kritische Prüfungen von Freuds 
Theorie veröffentlicht; die eingehendst durchgearbeitete ist von Bernfeld 
und Feitelberg. Diese Autoren sehen keinen Grund, die oben gestellte 
Frage zu verneinen — sie bezeichnen es als „denkbar" — , aber sie unten* 
scheiden zwischen dieser Folgerung Freuds über das Lusfe*Unlust*Prinzip 
und seinen weiteren Spekulationen über ein angeborenes und aktives Hin* 
streben zum Tode, das er daraus ableitete. Ob nun das Lust*Unlust*Prinzip 
im Dienste eines solchen Strebens steht oder nicht — weder für noch wider; 
scheint es einen direkten Beweis zu geben — , so kann doch keinesfalls ein 
Konflikt zwischen zwei Tendenzen wie Eros und Thanatos in der Sprache 
des Entropiesatzes dargestellt werden; oder, wie unsere Autoren es aus«» 
drücken: „In der biologisch*physikalischen Fassung des Todestriebes (für 
die sie den Namen „Nirwana*Prinzip" reservieren möchten) ist für den Eros 
kein Raum". Die Schlußfolgerungen aus ihren Untersuchungen decken sich 
nicht mit den Freud sehen. Denn während Bernfeld und Feitelberg 
keinen Widerspruch finden zwischen seiner Ansicht vom LusteUnlust* 
Prinzip und den Prinzipien der Physik, finden sie nichts, um das Nirwana* 
Prinzip zu stützen, das Freud mit diesen verbindet, und erklären entschied 
den, daß der Konflikt, den er postuliert, keine Beziehung zu den Fundamen* 
talprinzipien der Physik habe. Dieser müsse daher auf eigenen Füßen stehen 
und ausschließlich als ein — psychologisches oder biologisches — Gesetz 
der Lebenserscheinungen betrachtet werden. Ob eine positive Tendenz zur 
Selbstvernichtung besteht, die durch die Lebenstriebe in Schach gehalten 
wird, oder ob, wie allgemein angenommen, die Lebenstriebe nur eine gewisse 
Macht haben, den komplizierten Prozeß, Materie in einer „lebenden" Form 
zu bewahren, im Gange zu erhalten, und sich früher oder später erschöpfen, 
ist ein Problem, über das wir von biologischen und physiologischen Eon» 
schungen Aufklärung hoffen dürfen. In der Zwischenzeit wäre es verfrüht, 
in psychologischer Sprache ein biologisches Prinzip oder eine Tendenz auszu* 
drücken, die nicht auf physiologischem Gebiet bewiesen ist. 

Ein verfrühtes Biologisieren in der Psychologie ist im vorliegenden Falle 
umso mehr abzulehnen, als es leicht Verwirrung verursachen kann. Freud 
selbst ist sich der spekulativen Natur seines Gedankengangs wohl bewußt 



144 Ernest Jones 



und unterscheidet sehr sorgfältig zwischen diesen philosophischen Ansätzen 
und irgendeiner möglichen klinischen Anwendung davon. Manche semer 
Anhänger sind jedoch durch die Mehrdeutigkeit der Worte verleitet und 
glauben, vom Nirwana,Prinzip der Entropie zu sprechen, wenn sie sich nur aut 
vertraute klinische Beobachtungen von Todeswünschen beziehen, die gegen 
andere oder gegen die eigene Person gerichtet sind. Das sind aber versehe 
dene Dinge, und die Kluft zwischen den beiden muß noch überbrückt wer, 
den. Von irgendeinem möglichen Nirwana, oder Thanatos.Prinzip der Bio. 
logie, das mit dem Entropiesatz in Verbindung gebracht wird, von einem 
stummen Prinzip, das vollendetem Frieden zustrebt, überzugehen zu der 
stürmischen Aggressivität, die das Seelenleben durchwirbelt, heißt von einer 
Welt in eine ganz andere übergehen; und nur wenige konnten sich wirklich 
entschließen, diese Gegensätze mit einander zu identifizieren. 

Das führt uns zum Abschluß zum Problem der sogenannten Aggressions, 
triebe; man postuliert ihre Existenz auf Grund einer Mannigfaltigkeit von 
Phänomenen, für die je nach den Umständen Worte wie Streitbarkeit, Grau, 
samkeit, Haß, Feindseligkeit, Zerstörungslust, Animosität, Todeswunsche 
usw. angewendet werden können. Es ist fürs erste nicht klar, wie das Wesen 
des hier gemeinten zu bezeichnen ist. Der Ausdruck „aggressiv (wörtlich: 
vorrücken gegen") bedeutet gewöhnlich angreifen, aber er muß nicht HaiS 
oder gar Feindseligkeit einschließen. In Amerika zum Beispiel wird ein 
energischer Ladengehilfe ein aggressiver Verkäufer genannt, und eine so 
friedensliebende Vereinigung wie The Home Counties Union of Women s 
Liberal Associations benützt als ihre Telegrammadresse das anregende 
Wort „aggressiv". Und ich erinnere mich wohl der Kritik, die Psycho, 
analytiker vor langer Zeit übten, als Adler den Begriff eines selbstan. 
digen Aggressionstriebs aufstellte. Sie wiesen darauf hin, daß Aggressivität 
ein Gattungsattribut aller Triebe in ihrer Tätigkeit sei und so kaum ein 
Zeichen irgendeines bestimmten Triebes sein könne. 

Es ist schwer zu sagen, ob das Ziel dessen, was wir Aggressionstrieb 
nennen, einfach die Vernichtung des Objekts ist, gegen das es gerichtet ist. 
Einerseits finden wir dieses Ziel zuzeiten bei erotischen Aktivitäten, wie 
z B in gewissen Stadien der Oralerotik; andererseits mag ein Mensch weit 
entfernt, Vernichtung zu wünschen, eine dauernde Bindung zwischen sich und 
einem gehaßten Feinde fühlen; es ist dies eine seltsame, in der Literatur oft 
beschriebene Tatsache. Wie dem auch sei, die Tatsachen, auf die sich der 
Terminus bezieht, sind grausig genug. Wir wissen aus der Psychoanalyse 
der Erwachsenen und noch ausführlicher aus Melanie Kleins Analysen 
kleiner Kinder, daß feindselige Phantasien wie Beißen, Zerreißen und Ver. 
nichten anderer Leute, ursprünglich der Eltern, eine Rolle im Unbewußten 



Die Psychoanalyse und die Triebe 145 

spielen, die schwer zu überschätzen ist. Man hat das Gefühl gehabt, daß 
gangbare Moden in der Anthropologie in Widerspruch mit den Lehren der 
Psychoanalyse seien — meiner Meinung nach war das nicht notwendiger.* 
weise der Fall — , aber an dieser Stelle ist der Meinungsunterschied unver* 
kennbar. Denn viele moderne Anthropologen lehren, daß der Mensch ut* 
sprünglich ein friedliches Tier war, auf das erst in historischen Zeiten eine 
Neigung zu Krieg und Zerstörung gekommen ist. Psychoanalytische Er* 
fahrung widerspricht entschieden dieser bequemen Meinung. Sie lehrt, daß 
die Aggressivität, die die Welt zu einem so unbändigen und aufregenden 
Aufenthalt macht, zu den tiefsten Elementen in der Natur der Menschen 
gehört, und sie verweist auf die einfache jedem Kindermädchen vertraute 
Tatsache, daß das Kind in den ersten Monaten seines Daseins auf das Leben 
weit eher mit Haß als mit Liebe reagiert. 

Der nosologische Zustand dieses Triebs ist nichtsdestoweniger keines* 
wegs klar. Freud spricht von einer „angeborenen Neigung des Menschen 
zum .Bösen', zur Aggression, Destruktion", und wenn das Gewicht 
auf das Wort „Neigung" gelegt wird, könnte kein Analytiker die Behauptung 
anzweifeln, da nichts tatsächlich erscheinen könnte, wenn es nicht eine Nei* 
gung dazu gäbe. Schwieriger ist die Frage, ob sich eine solche Tendenz je 
spontan und in reiner Form ausdrückt. Das heißt, würde irgend jemand, 
Kind oder Erwachsener, je einen Angriff machen mit der Absicht zu zer* 
stören, wenn nicht der Impuls entweder mit einem erotischen verknüpft 
wäre, wie es stets beim Sadismus der Fall ist, oder eine Reaktion auf eine 
Entsagung oder Entbehrung wäre, die er unerträglich findet? Diese Ver* 
knüpfungen sind außerordentlich häufig. Versagung, äußere oder innere, 
ist ein Stand der Dinge, der von der Wiege bis zum Grabe gegenwärtig ist, 
und er erweckt immer eine Neigung zu gewalttätigem Widerspruch — ob 
man ihr nun widerstehe oder nicht. Die Fähigkeit, Entbehrung mit innerem 
Gleichmut zu ertragen, ist selten in hohem Maße entwickelt, und ein aggres* 
sives Bestehen auf Erfüllung der Wünsche wird zum magischen Zwang, 
obwohl der Impuls freilich gehemmt oder durch eine Reaktionsbil* 
düng ersetzt werden kann. Ferner ist die Erotisierung aggressiver Triebe 
ein bemerkenswert allgemeiner Prozeß, der zu der vielfältigen Verwick* 
lung des Lebens beiträgt. Aus diesen Gründen ist es außerordentlich 
schwierig, eine spontane Aktivität des Aggressionstriebes isoliert zu enfc* 
decken; auch ich weiß von keinem unzweideutigen Beispiel. 

Wir wollen nun zusammenfassen, was ich über Freuds letzte Theorie 
gesagt habe. Es ist charakteristisch für ihn, seiner Generation vorauszueilen. 
Manchmal sind wir imstande, ihn sozusagen einzuholen und seine Schlüsse; 
selbst nachzuprüfen, manchmal auch nicht. Der vorliegende Fall kann einer 

Image XXII/2 10 



von denen sein, wo seine kühne Einbildungskraft ihn dazu geführt hat, den 
festen Boden zu verlassen und zu schreiten, wohin andere Forscher ihm 
nicht folgen können. Nur weitere Kenntnis kann das entscheiden. Eines ist 
sicher: wenn ein verläßlicherer Weg in dieser Dunkelheit gezeigt werden 
könnte, wäre er der erste, seine Schritte dorthin zu lenken. Starrheit und 
Dogmatik sind seiner Natur fremd. Inzwischen kann der rein psychologische 
Teil seiner letzten Theorie als gesichert angesehen werden: daß unser Leben 
aus nichts anderem besteht als aus einem Kampf zwischen Liebe und Haß. 






Zur Entwicklung und Problematik 
der Triebtheorie 1 

Von 

Edward Bibring 

Wien 

Die folgenden Ausführungen beabsichtigen, in vereinfachten Zügen 
einen kurzen Überblick über die Entwicklung der psychoanalyti* 
sehen Triebtheorie zu geben, wie sie hauptsächlich in den entsprechen* 
den Werken Freuds niedergelegt ist. Es wäre verlockend gewesen, die 
gesamte psychoanalytische Literatur zu diesem Themenkreis zu verarbeiten, 
doch hätte dies die Darstellung zu sehr kompliziert. So wurde nur gelegene 
lieh auf einzelne Arbeiten anderer Autoren Bezug genommen. Bei der Dar* 
Stellung wurde, mit einer Ausnahme beim vierten Schritt der Theorieent* 
Wicklung, die historische Reihenfolge gewahrt. Dies gilt natürlich nicht 
für die Ausführung im einzelnen. Ehe ich auf das eigentliche Thema ein* 
gehe, sei eine kurze Einteilung des speziellen Wissensgebietes, von dem die 
Triebtheorie nur einen Teil ausmacht, gegeben. 

Eine psychoanalytische Trieblehre umfaßt zwei Hauptteile: Die allgemeine 
und die spezielle Trieblehre. Die allgemeine hat neben dem Begriff des 
Triebes die Triebtheorie im engeren Sinne, also die Frage nach Zahl und 
Art der Triebe, nach den Kriterien der Einteilung sowie nach ihrer Be* 
gründung und ihren Leistungen zu behandeln; ferner die Transformations* 
lehre, d. h. die Frage nach der Veränderbarkeit der Triebe und die Regeln 
und Gesetze, denen diese Veränderungen (teilweise identisch mit den so* 
genannten Triebschicksalen) folgen; schließlich die mit der energetischen Auf* 
fassung der Triebe zusammenhängenden Begriffe und Probleme. Die spe* 
zielle Trieblehre stellt die ontogenetische Entwicklung der Triebe, die hier 
notwendigen Begriffsbildungen und sich ergebenden Probleme dar. Ich be* 
schränke mich hier auf die allgemeine Trieblehre und von dieser hauptsäch* 
lieh auf die Triebtheorie im engeren Sinne des Wortes. 2 Diese ist auch der 
hauptsächlichste Gegenstand der analytischen Triebliteratur der letzten Jahre. 

Der Übersicht halber sei ein kurzer Abriß der Entwicklung der Trieb* 
theorie vorausgeschickt. 

Eine Triebtheorie kann monistisch, dualistisch oder pluralistisch sein. Eine 

i) Teilweise veränderte und ergänzte Wiedergabe zweier in der Prager Psychoanalyti* 
sehen Arbeitsgemeinschaft am 10. und 11. November 1934 gehaltener Vorträge. 

2) Eine ausführliche Darstellung des gesamten Problemgebietes wird Aufgabe einer 
vom Verfasser vorbereiteten größeren Arbeit sein. 

10* 



pluralistische Triebtheorie ist in der Psychoanalyse bxsher nicht aufgestellt 
worden; Ansätze zu einer trialistischen Triebtheorie finden sich bei Federn 
und Edoardo Weiss. Monistisch ist die Trieblehre von Jung sowie viel, 
leicht die Alfred Adlers, doch liegen beide außerhalb der Psychoanalyse. 
Innerhalb der psychoanalytischen Literatur wird eine monistische Trieblehre 
von Reich vertreten. Ansätze zu einer solchen finden sich auch m den 
jüngsten Ausführungen von O. Fenichel. Von beiden soll spater die 

Die^Freudsche Triebtheorie war von Anfang an dualistisch und ist es 
trotz allen vorgenommenen Abänderungen geblieben. Geändert wurde nie 
die Zahl, sondern nur die Art der zu unterscheidenden Tnebe, bezw. Trieb, 

gr ^Entwicklung der Triebtheorie bis zu ihrem gegenwärtigen Stand, er. 

folgte in vier Schritten: £L,''ii« 

1 Der erste Schritt war die Aufstellung der beiden Gruppen der Sexual, 
triebe und der Ichtriebe. Die Sexualtriebe wurden genau studiert, die Ich. 
triebe blieben zunächst eine relativ unbekannte Größe. 

2 Der zweite Schritt bestand in einer Ergänzungstheorie. Mit der ■ Eh* 
führung des Begriffs des Narzißmus in die Libidotheorie ergab sich die 
Feststellung eines libidinösen Anteils der Ichtriebe. Doch hielt Fr e u d daran 
fest, daß neben dem libidinösen Anteil noch ein originärer, nicht libidinoser 
vorhanden sein müsse, den er unverbindlich „Interesse , etwa im Sinne des 
nicht libidinösen Egoismus, nannte. 

3 Der dritte, in der Literatur meist übersehene Schritt war, die aggressiven 
Tendenzen als wesensmäßige Bestandteile den Ichtrieben zuzuschreiben. 

Die Darstellung dieser Annahmen findet sich in den letzten Abschnitten 
der Abhandlung über „Triebe und Triebschicksale'; und gründet sich auf 
die Diskussion der Beziehung von Liebe und Haß, die dazu führte, den Haß 
als eine nicht libidinöse Ichreaktion anzusehen. 

4 Der vierte Schritt ist veranlaßt durch die fortschreitende Erkenntnis 
der'struktur des gesamten seelischen Apparates und die gewonnene Ein. 
teilung in eine seelische Vitalschicht (das „Es") und einen organisierten An. 
teil desselben, das Ich; speziell aber durch das Studium des ubw. Anteils 
des Ichs, des Über.Ichs. Der Kern dieser Auffassung ist daß die aggressiven 
Tendenzen nicht mehr als originäre Charaktere der Ichtriebe angesehen, 
sondern neben die Sexualtriebe als selbständige Aggressions., bezw De. 
struktionstriebe in die Vitalschichte verlegt werden. Die Ichtriebe verlieren 
ihren selbständigen Charakter und werden teils von den libidinösen, teils 
von den aggressiven Trieben abgeleitet. .... _,,., .; _ 

An diesen vierten Schritt in der Entwicklung der Triebtheorie wird nun 

ä 



Zur En twicklung und Problematik der Triebtheorie 149 

eine weitere Theorie angeschlossen, die Lehre von den Urtrieben, den so* 
genannten Todes* und Lebenstrieben. Ihre Funktion besteht in der weiteren 
theoretischen Begründung der im vierten Schritt gegebenen Triebtheorie, in 
der Lösung offen gebliebener theoretischer Fragen sowie in der Vereinheit* 
lichung und Vereinfachung der verschiedenen bisherigen theoretischen 
Ansätze. 

Im folgenden werden diese vier Schritte der Theorienentwicklung der Reihe 
nach ausführlich besprochen. 

I. 

Die erste Triebtheorie unterschied Sexualtriebe und Ichtriebe. Anlaß zu 
ihrer Aufstellung war die klinische Erfahrung über die zentrale Bedeutung 
des psychischen Konflikts für die Entstehung der Neurosen. Ihre Begrün* 
düng sucht Freud in Anlehnung an die Vulgärpsychologie und — haupt* 
sächlich — an gewisse Richtungen der Biologie. Mit Rücksicht auf spätere 
Erwägungen ist es schon hier wichtig zu betonen, daß F r e u d ausdrücklich 
bemerkt („Triebe und Triebschicksale"): Es ist „überhaupt zweifelhaft, ob 
es möglich sein wird, auf Grund der Bearbeitung des psychologischen Ma* 
terials entscheidende Winke zur Scheidung und Klassifizierung der Triebe 
zu gewinnen. Es erscheint vielmehr notwendig, zum Zwecke dieser Bear*> 
beitung bestimmte Annahmen über das Triebleben an das Material heran* 
zubringen, und es wäre wünschenswert, daß man diese Annahmen einem 
anderen Gebiete entnehmen könnte, um sie auf die Psychologie zu über* 
tragen." Auf rein analytischem Wege ist eine Triebklassifikation also kaum 
zu gewinnen. 

In der Zeit der unumschränkten Geltung dieser ersten Triebtheorie war 
die Aufmerksamkeit Freuds auf die Ausgestaltung der Sexualtheorie ge* 
richtet, wie sie hauptsächlich in den „Drei Abhandlungen" fortschreitend 
ihren begrifflichen Niederschlag gefunden hat. An der Sexualtheorie lassen 
sich zwanglos drei Hauptanteile unterscheiden: 1. Die Lehre von den Par* 
tialtrieben, die mit dem Begriff der erogenen Zonen eng verknüpft ist; 2. die 
Lehre von der stufenförmigen ontogenetischen Entwicklung der Sexualtriebe, 
die in einer bestimmten, biologisch vorgegebenen Gesetzmäßigkeit erfolgt; 
3. die Libidotheorie, die die beiden ersten Konzeptionen ergänzt und fundiert, 
ebenso wie etwa die Lehre von den Transformationen der Sexualtriebe über*' 
haupt. 

Es ist notwendig, hier auf die Sexualtheorie aus zwei Gründen einzu* 
gehen. Einmal, weil der auf ihrem Boden gewonnene und ihr zugrunde* 
liegende Triebbegriff von manchen Autoren polemisch gegen die 
späteren Aufstellungen Freuds verwendet wird; ferner wegen der 



zu dieser Zeit vorherrschenden quantitativen Auffassung der Triebe, die 

später durch eine qualitative ersetzt wird. 

Wenden wir uns zunächst der Frage des Triebbegriffs zu. 

Nach der allgemeinsten Definition ist der Trieb eine aus der seelischen 
Vitalschicht stammende, immanent gerichtete Energie. Da verschiedene 1 at. 
Sachen uns nahelegen, den Ursprung der Triebe im organischen Geschehen 
zu suchen, läßt sich der Trieb, mit Freud, als ein Grenzbegriff zwischen 
Seelischem und Organischem bezeichnen. Dies führt zur Unterordnung des 
Triebbegriffs unter den Begriff des Reizes. Der Trieb ist ein Reiz für das 
Psychische, der sich von den anderen Reizen durch seine konstante aus 
dem Körperinnern (und nicht von außen) stammende ^™* 
So wird es möglich, den Trieb auch anzusehen „als ein Maß der Arbeitt» 
anforderung, die dem Seelischen infolge seines Zusammenhanges mit dem 
Körperlichen auferlegt ist." , 

Hier wird dem in seiner Funktionsweise vorausgesetzten seelischen Ap. 
parat der Trieb als ein Reiz gegenübergestellt, in welcher Form immer der 
Trieb zur psychischen Energiespannung wird, über diese Funktionsweise 
des seelischen Apparates werden eigene Annahmen notwendig. ^ ir wissen, 
daß diese Notwendigkeit zur Aufstellung von Prinzipien des seelischen Ge, 
schehens oder von Grundtendenzen des seelischen Apparates führte. Wir 
kommen später darauf noch zurück und halten hier fest, daß die Prinzipien 
oder Regulationsmechanismen den seelischen Apparat regulieren die Triebe 
für den so regulierten seelischen Apparat ständig neue Arbeitsanforderungen 
bedeuten. Diese Gegenüberstellung von Trieb und seelischer Tätigkeit zeigt 
sich am schärfsten wohl in jener Bemerkung in „Triebe und Triebschicksale 
die die Einteilung in Ich, und Sexualtriebe als eine vorläufige Hi fskonstruk. 
tion bezeichnet, aber die These über eine Grundtendenz des seelischen Ap, 
parates, die anlangenden Erregungen (Reizgrößen) „wieder zu beseitigen, 
auf möglichst niedriges Niveau herabzusetzen, oder . sich überhaupt reiz, 
los (zu) erhalten," als eine notwendige Voraussetzung hinstellt. - 

Infolge der Herkunft der Triebe aus dem Organischen ruckt der Begriff 
der Quelle als Einteilungskriterium der Triebe in den Vordergrund. Für 
eine Einteilung der Triebe lassen sich die von F r e u d hervorgehobenen drei 
Merkmale der Triebe: Quelle, Ziel und Objekt, als Kriterium verwenden. 
Das Objekt ist wohl das veränderlichste dieser Merkmale; weniger, aber 
dennoch veränderbar ist auch das Ziel. Als relativ konstantes Merkmal scheint 
sich der Begriff der Quelle anzubieten und so für eine Klassifikation der 
Triebe am besten zu eignen. , „ , '.' 

In der Phase des Ausbaues der Sexualtheorie kommt also hauptsachhch 
dem Begriff der Quelle die Bedeutung eines Einteilungskriteriums zu. Die 



Zur Entwicklung und Problematik der Triebtheorie 151 

Quelle als Ursprungsort ist prinzipiell an ein Organgeschehen gebunden 
gedacht. Dieses Organgeschehen wird im Anschluß an die Hormonlehre 
hypothetisch in Form von chemischen Prozessen vorgestellt, etwa in An* 
häufung von Sexualstoffen oder Konzentrierung sexualchemischer Vorgänge 
und einer folgenden neuerlichen Verteilung oder vielleicht Auflösung der»» 
selben. Das Ursprungsorgan der Triebe fällt meist zugleich auch mit dem 
Ort ihrer Befriedigung zusammen, oder aber das Erfolgsorgan ist ein Ur* 
Sprungsorgan eines anderen Teiltriebes. 

Die Unterscheidung der einzelnen Partialtriebe erfolgt auf Grund der 
Unterscheidbarkeit verschiedener Ursprungsorgane, der sogenannten ero* 
genen Zonen. Ihre Zusammenfassung zur einheitlichen Gruppe der Sexual* 
triebe geschieht auf Grund gemeinsamer Charaktere und gesetzmäßiger Be* 
Ziehungen. Der Begriff der erogenen Zone ist zunächst ein rein deskrip* 
tiver und an der oralen, analen und genitalen Zone gewonnen; ihre Kri* 
terien: Erregung, Handlung, Befriedigung in Form charakteristischer Lust* 
ablaufe, die bei den beiden ersten anders sind als bei der letzteren, sind 
eflebnismäßig überprüfbar. 

Der Trieb ist demnach eine aus der psychischen Vitalschicht stammende, 
immanent gerichtete Energie, die auf ein bestimmtes Ziel hindrängt und 
sich in einem lockeren Ausmaße auf Objekte als ihren Gegenstand richtet. 
Er ist an ein Ursprungsorgan als seine Quelle und ebenso an ein Erfolgsorgan 
als der Stätte der Befriedigung gebunden. Die Befriedigung besteht in einer 
Aufhebung jener Veränderungen der Reizzone, die mit der Triebspannung 
einhergehen; oder in kurzer Formulierung: der Trieb ist eine „von außen 
kommende", Energie liefernde Ursache bestimmter seelischer Vorgänge. 

Die Zusammenfassung der Partialtriebe einmal zur einheitlichen Gruppe 
der Sexualtriebe sowie zu biologisch vorgegebenen Stufen innerhalb der 
Sexualentwicklung erforderte zur Grundlegung und Ergänzung die Libido* 
theorie, die die Triebe als rein quantitative Energiegrößen auffaßt, die be* 
liebig lokalisiert (verschoben) und konzentriert werden können. Die Quali* 
täten der Partialtriebe sind nicht den Trieben selbst eigen, sondern von den 
Quellen ableitbar. Eine solche Annahme ermöglicht die Beschreibung der 
Beziehungen der erogenen Zonen zueinander, die Umsetzungen der ein* 
zelnen Partialtriebe ineinander usw. auf eine relativ einfache Weise. Wir 
werden hören, daß die später vorgenommene Unterscheidung zweier Trieb* 
qualitäten auf Grund des Kriteriums des Zieles die Erklärung der Um* 
Setzungen nur mit Hilfe bestimmter Annahmen möglich macht. 

Die Ichtriebe erfuhren in dieser Zeit eine gewisse Vernachlässigung. Der 
Begriff der Ichtriebe war nur ein provisorischer, er trägt in den damaligen 
Formulierungen Freuds ganz den Charakter der Vorläufigkeit, wie im 



152 Edward Bibring 



Grunde die ganze Triebklassifikation überhaupt. Das lag teils an historischen, 
teüs an sachlichen Momenten. Einmal galt es, erst das Problem des Aufbaues 
und der Entwicklung der Sexualtriebe zu lösen, die sich zuerst der Erfor* 
schung aufdrängten. Dann waren die Erscheinungen der Ichtriebe viel schwier 
riger zu erkennen, die vom Ich ausgehenden Tendenzen und ihre Äußerungs* 
formen waren komplizierter und daher schwieriger zu fassen. Vor allem aber 
setzte dies bis zu einem gewissen Grad die Kenntnis der (libidinösen) Triebe 
bereits voraus. 3 

Wichtig ist, daß die Ichtriebe nicht als in gleicher Ebene wie die Sexual* 
triebe stehend aufgefaßt wurden. Freud formuliert in „Triebe und Trieb* 
Schicksale" den psychischen Konflikt, der an der Wurzel jeder Neurose 
zu finden sei, als einen zwischen den Ansprüchen der Sexualität und 
denen des Ichs. Die Ichtriebe standen also eigentlich für den Begriff des 
von gewissen Tendenzen dirigierten, damals der Erforschung noch unzu* 
gänglichen Ichs. 

Unter Übertragung des für die Sexualtriebe verwendeten Kriteriums der 
Quelle auf die Ichtriebe wurden als Paradigma derselben die Nahrungstriebe 
angesehen, die ebenfalls mit Ursprungs* und Erfolgsorganen in Zusammen* 
hang zu bringen waren und ebenso unter Zuhilfenahme hypothetischer phy* 
siologisch*chemischer Prozesse. 

II. 

Der Anlaß zum zweiten Schritt in der Entwicklung der Triebtheorie er* 
gab sich auf dem Boden der Psychiatrie. Neue Tatsachen, die sich der Er* 
klärung mit Hilfe der bisherigen Begriffe widerspenstig erwiesen, erforderten 
ein Stück zusätzlicher Theorie. Diese Ergänzungstheorie bestand in der Ein* 
führung des Begriffes der Narzißmus in die Libidotheorie. Damit war in 
die Selbständigkeit der Ichtriebe die erste Bresche geschlagen. 

Der Begriff des Narzißmus umfaßt drei Bestandteile: 1. die Aufstellung 
eines an den Anfang der Ontogenese verlegten objektlosen Stadiums unter dem 
Namen des primären Narzißmus. Die Differenzierung einer objektlibidinösen 
Einstellung ist noch nicht erfolgt, parallel zur mangelnden Differenzierung 
zwischen Ich und Außenwelt. Die Libido ist irgendwie untergebracht, etwa 
wie im Schlaf oder im Embryonalstadium, sie „ruht", ist vielleicht noch nicht 
zur Funktion erwacht; oder aber sie ist von den Ichfunktionen, von der Ich* 
energie noch nicht unterscheidbar und ablösbar, „medial" wirksam, um den 
Ausdruck Federns zu gebrauchen. 2. Die Libido kann nach erfolgter 

3) Dies gilt nur für die historische Situation. Nach dem heutigen Stand des Wissens 
setzt eine vollständige Erforschung des Ichs selbstverständlich die Kenntnis der libidinösen 
und aggressiven Triebe voraus. 



Zur Entwicklung und Problematik der Triebtheorie 153 

Scheidung zwischen Ich und Außenwelt die eigene Person ebenso zum 
Gegenstand nehmen wie irgendein Objekt der Außenwelt. 3. Durch Identi* 
fizierung im Ich oder im Ichideal kann die Triebenergie in narzißtische Ener* 
gie verwandelt werden. Auch hier wird sie — sekundär — medial wirksam. 

Die Annahme einer im Ich wirkenden libidinösen Energie mußte eine 
Revision der Vorstellungen über die Ichtriebe zur Folge haben. Die Energie 
der Ichtriebe war somit libidinöser Herkunft; aber auch die Ziele der Ich* 
triebe waren von den Zielen der auf die Person gerichteten, in und an der 
Person wirksamen narzißtischen Libido abzuleiten. Die Ichtriebe waren nur 
auf das eigene Ich gerichtet, daher etwas anders organisierte libidinöse 
Triebe. Wie etwa das Realitätsprinzip nur eine Modifikation des Lustprinzips 
darstellte und doch gegen dieses sich zu wenden vermochte, so schienen die 
Ichtriebe in ihren Zielen modifizierte Libido zu sein, die sich schließlich gegen 
die eigentlichen libidinösen Triebe zu wenden vermochte. Diese Annahme 
ist mit einer bestimmten Auffassung über die Herkunft der Ziele verknüpft. 
Das allgemeinste Ziel der Libido scheint die Lust; die speziellen Ziele aber 
leiten sich von den speziellen Objekten ab, auf die die Libido sich richtet. 
Der Konflikt spielt sich hier nicht mehr zwischen den Sexual* und Ichtrieben 
ab, sondern zwischen Anteilen der Sexualtriebe, die sich auf die Objektwelt, 
und solchen, die sich auf das Ich richten, den objektlibidinösen und ich* 
libidinösen Tendenzen. Eine solche Erklärung des Konflikts als eines Wider* 
Streits verschiedener Interessen war gewiß möglich, aber schwierig; vor allem 
aber vermochte sie in dieser Einfachheit nicht allen Tatsachen gerecht zu 
werden. 

Mit der Erschütterung der Selbständigkeit der Ichtriebe schien notwen* 
digerweise der dualistische Charakter der Triebtheorie in Frage gestellt. Es 
gab nur die eine Gruppe der libidinösen Triebe. Ihre Klassifizierung ergab 
sich nicht mehr durch Berufung auf eine Quelle, sondern primär durch die 
Beziehung auf verschiedene Objekte, die dann anscheinend das Ziel modifi* 
zierten. Im Grunde ist schon hier die Auffassung gegeben, daß beide, Se* 
xualtriebe und Ichtriebe, nur Differenzierungsprodukte einer gemeinsamen 
„Urlibido" repräsentieren. 

Trotzdem hielt F r e u d an der Selbständigkeit der Ichtriebe fest. Dazu mag 
vor allem der Umstand beigetragen haben, daß die Einteilung der Triebe 
durch biologische Erwägungen begründet worden war, die durch den psy* 
chologischen Fund des Narzißmus zunächst nicht aufgehoben wurden. Das 
Individualleben schien ganz anderen Interessen zu folgen als dem der Art* 
erhaltung. Es lag daher nahe, hier differente Kräfte als wirksam zu vermuten. 
Ferner blieben die Erscheinungen des Sadismus im weiteren Sinne des Wortes 
nicht geklärt. Deshalb führte Freud den Begriff des Ichinteresses im Sinne 



154 Edward Bibring 



des nichtlibidinösen Egoismus ein, oder richtiger: Was wir den Egoismus 
einer Person nennen, hat zwei Anteile, einen libidinös^narzißtischen und einen 
nichtlibidinösen. „Der Narzißmus ist nur die libidinöse Ergänzung zum 
Egoismus des Selbsterhaltungstriebes, von dem jedem Lebewesen mit Recht 
ein Stück zugeschrieben wird." Ursprünglich sind diese beiden Anteile un* 
differenziert. 

Freud hält also an der ursprünglich nichtlibidinösen Natur der Ichtriebe 
fest. Dafür sprechen zunächst theoretische und heuristische Gründe. 

III. 

Später tritt auf Grund empirischer Feststellungen und theoretischer Er* 
wägungen eine weitere Charakterisierung der nichtlibidinösen Anteile der 
Ichtriebe hinzu, die die Selbständigkeit dieser gegenüber jenen festigen sollte. 
Damit ist der dritte Schritt in der Theorieentwicklung gegeben: Er beinhaltet 
die Aussage von dem selbständigen Charakter der aggressiven Tendenzen 
gegenüber den libidinösen Strömungen und ihrer Zugehörigkeit zu den 
Ichtrieben. 

Stellen wir fest, welche Erfahrungen und Erwägungen zu diesem Lösungs* 
versuch der Triebklassifikation führten. Dafür war vor allem der Umstand 
maßgebend, daß mit der bisherigen Theorie nicht alle Tatsachen eine ge* 
nügende Einordnung und Erklärung fanden. 

Auf Seite der Sexualtriebe war es vor allem die Stellung der sadistischen 
Anteile derselben, die theoretisch noch nicht gesichert war. Ursprünglich 
schien der Sadismus erogen gebunden. Sadistische Regungen fanden sich auf 
allen Stufen, wenn auch in verschiedener Ausprägung, die auf die Charaktere 
der Quelle, bezw. der erogenen Zone rückführbar schien. Auf der oralen, 
analen und phallischen Stufe gab es sadistische Anteile. Auf Grund der 
fortschreitenden Beobachtung wurde es nahegelegt, den Sadismus immer mehr 
als selbständigen Partialtrieb anzusehen, der alle Stufen durchlief, allen anderen 
Partialtrieben sich beizugesellen vermochte, seine eigenen Schicksale hatte, und 
den man sich entsprechend dem damals herrschenden Kriterium an die ge* 
streifte Körpermuskulatur als „Quelle" gebunden denken konnte. Als solcher 
stand er dann den rein libidinösen Trieben umso merkwürdiger gegenüber. 
Vor allem war es der Widerspruch zwischen dem Ziel des Sadismus und 
jenem der Sexualtriebe, der der Erklärung Schwierigkeiten bereitete. Das 
sadistische Ziel schien zu den libidinösen in einem Gegensatz zu stehen und 
daher eine andere genetische Zurückführung zu fordern. Zweifellos umfaßte 
der Ausdruck Sadismus alle möglichen, auch nicht erotischen Erscheinungen 
von der sexuellen Perversion bis zu den von jeder manifesten Erotik freien 



u 



Zur Entwicklung und Problematik der Triebtheorie 155 

Regungen der Grausamkeit und Härte. Schließlich wurde er auch für ge* 
wisse Ichtriebe angewendet. 

Auch bei den Ichtrieben ließen sich verschiedene Partialtriebe unterscheid 
den. Im Zusammenhang mit dem Kriterium der Quelle schienen Hunger 
und Durst die geeigneten Repräsentanten der Ichtriebe; im weiteren Ver*= 
laufe der Entwicklung verloren sie aber ihre paradigmatische Stellung. 

Eine nähere Betrachtung ließ eine prinzipiellere Einteilung der Ichtriebe 
gewinnen. Man konnte Bemächtigungs* und Abwehrtendenzen von einander 
unterscheiden; dazu traten dann die Macht* und Geltungstriebe. Die Be* 
mächtigungstendenzen schienen mit den Machttendenzen verwandt, beide un* 
terschieden sich aber nicht viel von manchen sadistischen Triebäußerungen. 
Auch an den Abwehrtendenzen, die sich in Flucht* und Angriffs*, bezw. Ver* 
nichtungstendenzen differenzieren ließen, war ein aggressiver Zug unver* 
kennbar; den meisten dieser Ichtendenzen mußte also ein aggressiver Charak* 
ter zugesprochen werden. Es gab somit neben dem Sexualsadismus auch 
einen „Sadismus" der Ichtriebe, die wieder als Bemächtigungstriebe in den 
Dienst der Libido traten, was die Situation reichlieh, zu komplizieren schien. 
Gerade am Begriff des Sadismus der Ichtriebe zeigte sich deutlich die zu 
große Erweiterung des Begriffs des Sadismus. Der Sprachgebrauch dieser 
Zeit entspringt dem Mangel an Unterscheidung zwischen der Stellung der 
sadistischen zu den libidinösen und der aggressiven zu den sadistischen Er* 
scheinungen. 

Umfaßte der Begriff des Sadismus disparate Erscheinungen, so ergab sich 
die Frage: Wie war die Beziehung zwischen den zieldisparaten sadistischen, 
bezw. aggressiven und libidinösen Triebanteilen klarzustellen. Es gibt eine 
beschränkte Zahl von Möglichkeiten, sich das Verhältnis zwischen libidi* 
nösen und aggressiven Trieberscheinungen vorzustellen. Entweder sie gehen 
aus einem „Urgemeinsamen" hervor und differenzieren sich im Lauf der 
Entwicklung; oder sie sind verschiedenen Ursprungs und machen verschieb 
dene Entwicklungen durch, die sich gelegentlich kreuzen. 

Die erste Auffassung vom gemeinsamen Ursprung ist monistisch und 
versucht, die libidinösen und aggressiven Erscheinungen des Trieblebens als 
Differenzierungsprodukte, bezw. Erscheinungsweisen eines und desselben 
Triebes zu verstehen, als bipolare Äußerungen, die füreinander eintreten 
können. Auch hier gibt es zwei Möglichkeiten der Auffassung. Die eine, 
von W. Reich vertreten, behauptet den direkten Umschlag der Libido in 
Aggression, wenn die Stauung der Libido ein zu großes Maß überschritten 
hat. Abgesehen von der fraglichen Annahme eines materiellen Umschlages 
läßt sich diese These durch den Hinweis widerlegen, daß es Aggressionen 
gibt, die an die Bedingung einer vorausgegangenen Versagung und Stauung 



in keiner Weise gebunden scheinen. Daß gewisse Menschengruppen unter 
so günstigen, von Versagung freien Bedingungen leben, daß sich keine Ag* 
gressionen entwickeln konnten, scheint bisher nicht hinreichend bewiesen. 
Anderseits scheinen manche aggressive Erscheinungen im Tierreich, die 
in keiner Weise mit dem Liebesleben verknüpft sind, über die Notwendige 
keiten des Daseinskampfes hinauszugehen. Die Rolle der Aggressionen im 
Leben der Menschen scheint zu groß, als daß man auf die Annahme eine«* 
elementaren Triebes verzichten könnte. Eine weitere Schwäche dieser 
Theorie, die viele Analogien mit der ersten Angsttheorie Freuds auf zu* 
weisen hat, ist, daß nach ihr das Ich die Aggression als automatisches Pro* 
dukt der Libidoumwandlung passiv übernimmt. Sie ist daher scharf zu unter* 
scheiden von der bald zu besprechenden Annahme, daß Aggressionen sich 
außerhalb der Ichfunktionen nicht beobachten lassen, und verhält sich zu 
dieser wie die erste Angsttheorie Freuds zur späteren Theorie von der 
Signalfunktion der Angst. 

Die Herkunft aus einem Urgemeinsamen und damit den modalen Charak* 
ter der beiden Gruppen von Triebäußerungen hat neuerdings O. F e n i c h e 1 
behauptet. Er glaubt dieses Gemeinsame in der frühen oralen Phase ge* 
funden zu haben, weil diese in der ausschließlichen Objektbeziehung des 
Verschlingens, bezw. der Aneignung durch Verschlingen in unverkennbarer 
Integration die später auseinandertretenden libidinösen und aggressiven An* 
teile enthalte. Abgesehen von dem nicht beseitigten Zweifel an der größeren 
heuristischen Valenz dieser Annahme lassen sich gegen sie noch einige Ein* 
wände vorbringen: Es ist fraglich, ob die orale Frühphase, die A b r a h a m die 
präambivalente genannt hat, tatsächlich die spätere Aggression in sich ent* 
hält, d. h. überhaupt als aggressiv bezeichnet werden kann. Daß objektiv 
das Objekt „vernichtet" wird, bedeutet noch nicht, daß subjektiv eine ag* 
gressive Komponente vorhanden sein muß. Es ist doch immerhin auffällig, 
daß die höchsten Glücksgefühle neurotischer und gesunder Menschen oft an 
jene „Vereinigungstendenzen" geknüpft sind, die mit der frühoralen Phase 
in irgendeinem Zusammenhang stehen und in der Säuglingssituation ihren 
symbolhaften Ausdruck finden. Außerdem scheint es notwendig, zwischen 
einem Zustand der Undifferenziertheit oder Integration und einem 
der mangelnden Entwicklung zu unterscheiden. Es ist in keiner 
Weise die Möglichkeit widerlegt, daß sich die Aggression später entwickelt 
als die Libido. Der integrale Zustand und der Potentialzustand der Latenz 
sind aber nicht identisch. Schließlich ist zu fragen, ob eine primäre libidinöse 
Vorstufe nicht eine zu schmale Basis abgibt für die versuchte Neuordnung 
der Trieberscheinungen nach dem Prinzip der Bipolarität. 

Trotzdem ist der Versuch einer Ordnung der Gesamtheit der Trieberschei* 



■Iw 



Zur Entwicklung und Problematik der Triebtheorie 157 



nungen auf dieser Basis nicht ohne weiters prinzipiell von der Hand zu 
weisen. 

Die zweite der oben erwähnten möglichen Auffassungen über das Ver* 
hältnis der beiden Gruppen von Triebregungen ist durchaus dualistisch und 
nimmt zwei qualitativ verschiedene Triebe an, auf die sie alle Erscheinungen 
zu reduzieren trachtet. Stützt sich die erste Annahme gerade auf die beide 
Tendenzen undifferenziert enthaltenden Erscheinungen (während das Aus* 
einandertreten in der Differenzierung das Problem abgibt), so bilden diese 
für die zweite Theorie eine Schwierigkeit und müssen mit Hilfe der 
Mischungstheorie erklärt werden. 

Wie aus den erwähnten Abschnitten in „Triebe und Triebschicksale" her* 
vorgeht, zieht Freud, ehe er sich für die dualistische Theorie entscheidet, 
die Möglichkeit der Bipolarität als Ordnungsprinzip in Betracht. Auf Grund 
des Vergleichs der Ziele beider Gruppen von Triebtendenzen und der Fest* 
Stellung ihrer Disparatheit sowie nach Diskussion des Problems der „Ver* 
Wandlung von Liebe in Haß" und der Negierung dieser Möglichkeit weist 
Freud die Annahme einer genetischen Verwandschaft der beiden Erschei* 
nungsgruppen ab. 

Aggression (Haß, Sadismus) und Libido waren also nach Ziel und Her* 
kunft verschieden; aber damit blieb die Stellung der Aggression im Ganzen 
der Triebtheorie noch unsicher. Der nächste Versuch Freuds, diese Un* 
Sicherheit zu beheben, bestand in der Zuweisung der Charaktere der Aggres* 
sion oder des „Sadismus", um dem damaligen Sprachgebrauch zum letzten 
Male zu folgen, zu den Ichtrieben, sowie in der Annahme bestimmter Mi* 
schungsverhältnisse zwischen den Sexual* und den (aggressiven) Ichtrieben, 
neben der Gegensätzlichkeit derselben, die sich etwa im Konflikt äußerte. 
Es ist wichtig hervorzuheben, daß F r e u d in diesem Zusammenhang noch 
nicht von selbständigen Aggressionstrieben spricht, sondern nur von den 
Aggressionen der Ichtriebe. Damit erscheint ein Problem vorläufig ent* 
schieden, das die Beziehung zwischen Aggression und Ichtrieben zum In* 
halt hat, nämlich, ob es außerhalb der icherhaltenden Funktionen überhaupt 
aggressive Erscheinungen gibt. (Der erotische Sadismus wird durch dieses 
Problem nicht berührt.) Das Problem geht auf die schon erwähnte Beobach* 
tung zurück, daß Aggressionen meist oder nur auf Grund von Beeinträch* 
tigungen der Lebenstriebe oder Ichtriebe auftreten. Es soll uns noch be* 
schäftigen. 

Fassen wir zusammen : Mit dem dritten Schritt wird eine Reihe von Pro* 
blemen vorläufig entschieden, u. zw. 1. Der Sadismus wird aus den Sexual* 
trieben herausgenommen und den Ichtrieben zugeschrieben. Dadurch wird 
die Selbständigkeit der Ichtriebe abermals behauptet. Es handelt sich aber 



nicht um eine Neugruppierung der beiden großen Triebgruppen, sondern 
nur um eine Umgruppierung innerhalb derselben. 2. Die Annahme von 
Mischungsverhältnissen erlaubt eine gewisse Klärung der Beziehungen. Der 
Sadismus der Sexualtriebe stammt von der Aggression der Ichtriebe und 
tritt dort auf, „wo die Ichtriebe die Sexualfunktion beherrschen". Sie „lei* 
hen . . . dem Triebziel die Charaktere des Hasses", wie der damalige Sammele 
name für die Aggression lautete. Freud versuchte eine Entwicklungsge* 
schichte des Einflusses der Ichtriebe auf die Sexualtriebe zu geben, von der 
Ambivalenz der oralen über den Sadismus der analen bis zur Liebe der 
genitalen Stufe, auf der Liebe und Haß zuerst in vollen Gegensatz geraten. 
Anderseits können auch die Ichtriebe eine libidinöse Beimengung erfahren 
(Narzißmus). 3. Damit ist ein Wechsel des Kriteriums der Triebeinteilung 
verbunden: Der Begriff der Quelle tritt in dieser Bedeutung zurück gegen* 
über dem Begriff des Triebzieles. Das Paradigma der Ichtriebe ist nicht 
mehr der Hunger, sondern der „Haß", die Aggression. Die Differenz der 
Triebziele hatte ja schon zum Problem der Stellung des Sadüs* 
mus geführt. Zugleich erhebt sich die Frage, ob mit der Änderung des 
Kriteriums auch eine solche des Triebbegriffs verbunden war. Für die Se* 
xualtriebe hatte die stärkere Betonung des Zielkriteriums keine Veranden 
rung der Auffassung gebracht. Die Bedeutung der Quelle als Kriterium bleibt 
übrigens daneben unverändert bestehen, ebenso wie die chemisch unter* 
baute Energiespannungstheorie. Wenn für die Ichtriebe eine chemische 
Hypothese nicht zu formulieren war, so konnte doch die an den Sexualtrieben 
gewonnene allgemeine Triebauffassung auf die Ichtriebe übertragen werden. 
Auch sie waren als Arbeitsanforderungen an den seelischen Apparat auf* 
faßbar, als Spannungen, die bestimmte Handlungen in Bewegung setzten, 
die der Befriedigung durch Erreichung des Zieles dienten, z. B. der Hunger 
und die in Zusammenhang mit ihm geweckte Bemächtigungstendenz, also 
als an den seelischen Apparat herantretende, Energie liefernde Reizursachen. 
Dieser neue Schritt in der Triebtheorie schien also eine Reihe von Pro» 
blemen zu lösen. Die selbständige Existenz der aggressiven Ichtriebe schien 
gesichert, das sexualdisparate Ziel des „Sadismus" durch die Beimengungs* 
theorie plausibel gemacht, die unterschiedlichen Erscheinungsformen libidi* 
nöser und nichtlibidinöser Aggressionen geordnet und geklärt. 

IV. 

Das Problem des Aggressionstriebes. Die Notwendigkeit, in einem vierten 
Schritt die Triebtheorie neu zu gestalten, ergab sich teils aus dem Studium 1 
der im weitesten Sinne sadomasochistischen Erscheinungen/sowie aus einer 



adäquateren Auffassung des Aufbaues des seelischen Apparates, die sich 
aus der Zuwendung zur Erforschung nicht allein wie bisher der verdrängten, 
sondern auch der verdrängenden Kräfte des Ichs ergab. 

Ich verlasse im folgenden die rein historische Darstellung, die sich auf 
die Reihenfolge der Freud sehen Publikationen zu stützen hätte, und stelle 
diesen vierten Schritt, der meiner Meinung nach in zwei Teile zu trennen 
ist, mehr nach systematischen Gesichtspunkten dar. 

Die Notwendigkeit, ein unbewußtes Schuldgefühl anzunehmen, führte zu 
einer neuen Konzeption über den Aufbau der Person, zur Gegenüberstele 
lung des Es und des aus ihm hervorgegangenen organisierten)AnteiIs, des 
Ichs. Das Es umfaßt die psychische Vitalschicht, in der die Triebe ihren 
Ursprungsort haben und die in freier Verbindung mit dem Ich steht, ferner 
den verdrängten Anteil derselben, der durch Gegenbesetzungen in der freien 
Kommunikation mit dem Ich behindert ist, und schließlich den unbewußten 
Anteil des Ichs, das Überelch. 

Der vierte Schritt in der Entwicklung der Triebtheorie besteht darin, daß 
die Aggression aus den Ichtrieben herausgenommen, das heißt nicht mehr 
als Partialtrieb oder als Charakter derselben aufgefaßt, sondern als selbständige 
Triebgruppe mit eigenen Zielen in die psychische Vitalschicht verlegt wird. 
Die neue Triebtheorie lautet demnach, daß in der Vitalschicht zwei Gruppen 
von Trieben vorhanden sind, die libidinösen und die aggressiven, bezw. de* 
struktiven. Beide drängen selbständig zur Befriedigung und gelangen teils 
im freien Kampf um diese, teils unter dem Einfluß des unter dem Druck de* 
Außenwelt und des Überelchs stehenden Ichs zu den verschiedensten Bee 
Ziehungen (Verknüpfungen oder Gegensätzen) zu einander. Sie können zu 
den in die Richtung auf die Selbsterhaltung wirkenden Tendenzen des Sye 
stems, die im Ich repräsentiert sind (Ichtriebe), leicht in Gegensatz geraten. 
Den in der Vitalschicht wirkenden Sexuale und Aggressionstrieben als den 
objektgerichteten Trieben stehen die im Ich wirkenden Ichtriebe gegenüber. 
Hier ergeben sich drei Fragen: 1. Aus welchen Gründen war dieser vierte 
Schritt notwendig? 2. Was leistet diese neue Triebtheorie, die, im genetischen 
Sinne dualistisch, dennoch drei Triebgruppen von einander unterscheidet? 
3. Haben das Kriterium der Einteilung und der Begriff des Triebes eine 
Veränderung erfahren? 

Da eine Reihe von bei Besprechung des dritten Schrittes angeführten Argue 
menten es notwendig gemacht hatte, die Aggressionstendenzen aus den See 
xualtrieben herauszunehmen und sie den Ichtrieben zuzuschreiben, reduziert 
sich das Problem der Aufstellung eines selbständigen Aggressionstriebes auf 
die Frage, ob aggressive Tendenzen (nichtlibidinöser Natur) außerhalb der 
Ichfunktionen eine Rolle spielen. 



Es scheint kein Zweifel, daß aggressive Tendenzen an sich außerhalb der 
Ich*Erhaltungsfunktionen betätigt werden und wenig Sexuelles verraten. 
Außerdem wird die vollständige Zuordnung der Aggressionen zu den Ich* 
trieben dort problematisch, wo die Wirkung jener zu diesen in einen Ge* 
gensatz gerät. Alle Erscheinungen des sexuellen Sadismus können durch die 
Beimengung der Ichtriebe noch erklärt werden. Viel schwieriger ist dies 
aber bei den Erscheinungen des Masochismus. Die Ichtriebe sind Reprä* 
sentanten jenes „Triebes, der alles Leben am Leben festzuhalten zwingt". 
Daß nun der Schmerz, der als ein Signal im Dienste dieses Lebenstriebes 
gelten mußte, selbst zum Ziel eines (masochistischen) Triebes werden konnte, 
schien den Prinzipien des Biologischen zu widersprechen, auch wenn der 
Begriff der Sexualisierung zur Erklärung geeignet schien. Noch stärker trat 
das Problem bei der selbstzerstörenden Macht der melancholischen Ver* 
Stimmung hervor, die Freud als „eine psychologisch höchst merkwürdige 
Überwindung" des lebenerhaltenden Triebes bezeichnet. Ebenso verhält es 
sich mit den gegen das eigene Ich gewendeten Tendenzen des Über*Ichs, 
bezw. des Strafbedürfnisses, das geradezu wie ein eigener Trieb zu wirken 

scheint. 

Diese Erscheinungen, gegen die das Ich sich zu wehren hat wie gegen die 
libidinösen Regungen, lassen sich durch die Aggression der Ichtriebe nur 
schwer erklären. Diese Theorie wird von Freud sichtlich sehr bald fallen 
gelassen; außer in den zitierten Abschnitten der Arbeit über „Triebe und 
Triebschicksale" wird sie nicht erwähnt. Trotzdem bleibt das Problem, ob 
Aggressionserscheinungen außerhalb der Ich*Abwehrfunktionen auftreten, in 
einem gewissen Sinne bestehen. Auch die Beziehung zwischen dem Alk 
machtsrausch des Ichs und der Intensität der befriedigten Aggressionstriebe 

gehört hierher. 

Es war nur eine konsequente Wendung, daß nach der Gegenüberstellung 
des Ichs und des Es, gegen dessen Triebe sich jenes zu wehren hatte, die 1 
aggressiven Tendenzen als selbständige Triebkräfte in die psychovitale 
Schichte des seelischen Apparates verlegt wurden. Es war, wie Freud im 
sechsten Kapitel des „Unbehagen in der Kultur" meint, tatsächlich keine 
neuartige Abänderung der Trieblehre, sondern es handelte sich darum, „eine 
Wendung, die längst vollzogen war, schärfer zu fassen und in ihre Kon* 
sequenzen zu verfolgen." 

Mit Hilfe der Annahme eines Aggressionstriebes lassen sich die hierher 
gehörigen Tatsachen zweifellos leichter beschreiben. Das Ich hat gegen die 
Aggression genau so zu kämpfen wie gegen die Libido, es kann ihr statt* 
geben, sie sublimieren, verdrängen, durch Reaktionsbildungen ändern, es 
kann sie durch libidinöse Beimischung mildern, sich selbst als Objekt an* 



Zur Entwicklung und Problematik der Triebtheorie 161 



bieten und die Aggression auf sich lenken, z. B. etwa auf dem Weg über 
das Übewlch. Allerdings ist mit der bloßen Aufstellung eines selbständigen 
Aggressionstriebes zunächst nicht alles erklärt. Nicht so sehr die destruktiven 
Wirkungen nach außen waren zuletzt problematisch geworden, sondern das 
Auftreten der gegen das Selbst gewendeten zerstörenden Tendenzen, wie sie 
sich in der Melancholie, im Strafbedürfnis, in der Schicksalsneurose jdar* 
boten. Hier trat so etwas wie ein im eigenen Innern wirkender Trieb zur 
Zerstörung in Erscheinung, der der biologischen Auffassung noch größere 
theoretische Schwierigkeiten bereitete als die Tatsache der Schmerzlust auf 
dem engeren Gebiete der Sexualtheorie, Es schien, als hätte^die beginnende 
Erforschung des Ichs zur Aufdeckung eines phylogenetisch jüngsten Triebes 
geführt, der mit der Kultur der Menschen entstanden sein mochte. 

Die primäre Destruktion. Über die Tatsache des Über*Ichs und 
seiner unter Umständen bis zur Vernichtung der eigenen Existenz 
des Individuums führenden Bestrafungstendenzen kann kein Zweifel 
sein. Ebensowenig darüber, daß mit der Erklärung einer Wendung 
der Aggression gegen die eigene Person die theoretische Erfassung 
dieser Erscheinung unzulänglich bleibt. Die eigentliche Problematik 
beginnt erst mit der Gewinnung dieser Erklärung und lautet: Wie 
ist eine solche bis zur Selbstvernichtung gehende Wendung gegen die eigene 
Person möglich, d. h'. unter Beibehaltung der bisherigen biologischen Auf* 
fassungen erklärbar? Es entspricht ganz den methodischen Prinzipien der 
Analyse, hier ein Ursprünglicheres anzunehmen, auf dessen Bahnen die Wen* 
düng der Aggression gegen das eigene Ich erfolgen konnte. Dieses Ur* 
sprünglichere konnte nicht anders gedacht werden als eine triebhafte, irgend* 
wie selbstzerstörend wirkende, in ihrer Wirkungsweise aber zunächst un* 
bekannte Tendenz. 

Dieses Problem war in einer gewissen Annäherung schon in der Sexual* 
theorie gegeben. Freud formuliert es mit der Frage, ob der Sadismus oder 
der Masochismus das Primäre, d. h. biologisch Ursprüngliche sei. Schon 
damals zog F r e u d die analogen Probleme aus der Entwicklung rein libidinö* 
ser Triebe heran, um festzustellen, daß ein dem narzißtischen Stadium ana* 
loges im Gegensatz zu anderen Partialtrieben, wie z. B. zum Exhibitionismus, 
beim Sadismus fehle oder sich nicht formulieren lasse. 

Die erwähnten klinischen Erscheinungen und die grundsätzliche metho* 
dische Forderung nach einem ursprünglichen Modell in Analogie mit den 
parallelen Aufstellungen der Libidolehre mußten also zur Annahme einer 
irgendwie im eigenen Innern wirkenden „selbstzerstörenden" Tendenz führen. 
Diese wäre dann, analog dem primären Narzißmus, eine Art von primärer 
Destruktion. Die objektlibidinösen Tendenzen korrespondieren mit der auf 

Image XXII/2 n 



162 Edward Bibring 






die Objekte gewendeten Aggression. Die Erscheinungen des sekundären Nar* 
zißmus entsprechen jenen der sekundären Destruktion. 4 

Eine solche Durchführung der Analogien wird gestützt durch die Fest* 
Stellung, daß zwischen Aggression und Selbstdestruktion ähnliche Schwan* 
kungen bestehen wie zwischen narzißtischer und objektgerichteter Libido* 
Position. Die Aggression kann ebenso nach innen gewendet werden, wie 
die Selbstdestruktion, wenn sie bedrohliche Grade erreicht, ihr Ventil durch 
eine „Wendung nach außen" in die Aggression findet. 

Hier bleibt also das Problem: Wenn sich die Annahme eines primären 
Stadiums des Destruktionstriebes theoretisch als unabweisbar zeigt, wie ist 
dann eine solche Tendenz formulierbar? Zur Beantwortung dieser Frage 
entwickelt Freud alle jene Gedankengänge, die zu so viel Mißverständnis 
und so viel Widerspruch führten. 

E. Weiss spricht in diesem Zusammenhang im Anschluß ah Federn 
von einem „medialen Todestrieb": „Darunter verstand ich jene destruktive 
Energie, vermöge welcher wir altern und sterben". Da er diese Energie in 
Analogie zur Libido der Sexualtriebe Destrudo nennt, spricht er von einer 
medialen, nach außen gewendeten und reflexiven Form derselben. Eine 
weitere Angabe über die mediale Destrudo als die oben erwähnte, wird nicht 
gemacht, trotzdem aber am Schluß mit Rücksicht auf „die Tatsache, daß die 
Destrudo in mannigfaltigster Art für die Selbsterhaltung und Verteidigung 
des Individuums unerläßlich ist", die „Unsicherheit begründet, die Destrudo 
ohne weiteres für eine Kraftäußerung eines Todestriebes zu halten." 

Immerhin zeigt die Weiss sehe Formulierung der medialen (primären) 
Destrudo, daß ihre nähere Bestimmung ohne weitere Annahmen nicht mög* 

lieh ist. 

Die Theorie von den Uttrieben. Die bisher entwickelte theoretische 
Problematik des vierten Schrittes wird nun ergänzt, zusammenge* 
faßt und zu lösen versucht durch die weitere Theorie von den 
Ur trieben. Als solche unterscheidet Freud die Lebens* und die 
Todestriebe. Diese Theorie wird nicht auf Grund neuen psychologi* 
sehen Materials oder überhaupt psychologischer Fragestellungen gebildet, 
sondern erfolgt im Zusammenhang mit theoretischen Problemen, die durch 
die bisherigen Aufstellungen gefordert wurden und deren Lösung sie an* 
strebt. Insofern stellt sie einen theoretischen Über*, bezw. Unterbau dar und 
ist im Verhältnis zu der auf Grund klinisch*psychologischer Tatsachen und 
Probleme bisher aufgebauten Triebtheorie eine Theorie zweiten Grades. Da 
sie fast völlig auf biologischen Erwägungen ruht, ist die Urtriebtheorie eine 

4) Vgl. die Arbeit von E. Weiss: „Todestrieb und Masochismus", Imago XXI, 1935, 
S. 393 ff. 



Zur Entwicklung un d Problematik der Triebtheorie 163 

biologische Triebtheorie: Die Lebens* und Todestriebe sind als solche psy* 
chologisch nicht faßbar, sondern rein von der Hypothese geforderte bilolo* 
logische Triebe. Aus dieser Auffassung ergibt sich unmittelbar, daß man 
streng genommen die Urtriebtheorie nur im Zusammenhange theoretischer 
Erörterungen, niemals aber solcher klinisch*empirischer Natur heranzuziehen 
hätte; zur Klärung dieser Tatbestände reichen die Begriffe der Aggressions*. 
bezw. Destruktionstriebe aus. 

Eine solche scharfe Trennung der Begriffe ist meines Erachtens geeignet, 
gewisse Irrtümer zu vermeiden und die Klarheit der klinischen Beschreibung 
zu sichern. 

Die Art, wie Freud die Todestrieblehre einführte, hat einigermaßen 
Verwirrung gestiftet, vor allem in der Frage der Beziehung zwischen Wieder* 
holungszwang und Todestrieb. Daher sei gleich hier hervorgehoben, daß 
der Wiederholungszwang von Freud zur Ableitung des Todestriebes ver* 
wendet wird, daß aber dessen Ableitung mit Hilfe des Wiederholung^ 
zwanges keine notwendige ist. Aus den Arbeiten Freuds lassen sich im 
Grunde zwei Arten der Ableitung der Todestrieblehre feststellen. Ich möchte 
sie als die spekulative und die theoretische einander gegenüber* 
stellen. Die spekulative ist in „Jenseits des Lustprinzips" gegeben und die 
eigentlich durchgeführte. Die theoretische ist in verschiedenen zerstreuten 
Andeutungen niedergelegt, die sich zu einem Ganzen ordnen lassen. Zu* 
nächst sei die spekulative besprochen. 

Die spekulative Begründung der Todestrieblehre. Es geht über den Rah* 
men dieses Aufsatzes hinaus, die Gründe, die zur Aufstellung des Wieder* 
holungszwanges führten, und die Problematik, die mit seiner Aufstellung 
verbunden ist, näher zu erörtern. Als Resultat ergab sich die Notwendigkeit, 
einen vom Lustprinzip unabhängig wirkenden Regulationsmechanismus an* 
zunehmen, der viel ursprünglicher, d. h. historisch früher und elementarer 
schien als das Lustprinzip und schließlich als ein Urprinzip, eine Ureigen* 
schaft des Lebens aufgefaßt wurde. Als solche ist er auch das Charakterü* 
stikum aller Triebe, also nicht etwa nur des Todestriebes. 

Der Begriff des Wiederholungszwanges ist kein eindeutiger; er enthält 
mehrere Bestandteile. 1. Der Wiederholungszwang ist Ausdruck der „Trag* 
heit" der lebendigen Substanz, der „Abneigung, eine alte Position einer neuen 
zuliebe zu verlassen", also einer konservativen Tendenz, die das Gegebene 
immer wieder festzuhalten trachtet. 2. Daraus ergibt sich das Festhalten von 
Anpassungen, von Umwegleistungen als Reaktionen auf Störungen des bis* 
herigen Ablaufs: „Prägsamkeit des Lebens". Die erworbenen Anpassungen 
werden festgehalten und reproduziert. Hierher gehört das biogenetische 
Grundgesetz und überhaupt der Reproduktionsbegriff der Biologie. 3. Die 



n* 






konservative Natur des Lebens äußert sich aber nicht allein im Festhalten 
und Reproduzieren der einmal gegebenen Abläufe, sondern auch in einer 
rückwärts gewendeten Tendenz, die aufgezwungenen Anpassungen zu über* 
winden, gleichsam abzustoßen und die ursprünglichen, d. h. historisch 
früheren Situationen wiederherzustellen. Hier wird die Trägheit, die kön* 
servative Natur zur aktiven „Sehnsucht nach dem Alten", d. h. zur regressiv 
ven Tendenz. Diese Formulierung wird für die Ableitung der Todestriebe 
von Bedeutung. 4. In seiner energetischen Fassung erweist sich der Wieder* 
holungszwang als ein Spezialfall der Abfuhrtendenz. Die durch traumatische 
Reize ausgelösten großen Energiemengen werden durch Gegenbesetzung ge* 
bunden und dann allmählich unter Wiederholung der traumatischen Situation 
zur fraktionierten Entladung gebracht. Hierher gehören die Träume der Un* 
fallsneurotiker, das Kinderspiel, die Erscheinungen der Übertragungssituation 

in der Analyse usw. 

Freud verwendet die historische Formulierung des Wiederholung^ 
zwanges, daß er das jeweils Frühere wieder herzustellen bestrebt ist, um 
den Todestrieb abzuleiten. Das Früheste des organischen Lebens ist der 
Augenblick seiner Entstehung aus der anorganischen toten Substanz. Das 
Beharrungsgesetz der physikalischen Natur, das nur der Veränderung wider* 
strebt, wird — gleichsam — in der biologischen Welt zu einer aktiven Ten* 
denz nach rückwärts im historischen, zur Entspannung, zur absoluten Ruhe 
im energetischen Sinne. Damit werden aber auch die Schwierigkeiten dieser 
spekulativen Ableitung deutlich. Von den hypothetischen Belastungen, die 
ihr zahlreich anhaften, können wir ohne weiteres absehen; ebenso vom be* 
rechtigten Einwand der Extrapolation, den Federn und nach ihm E. W e i s s 
erhoben haben. Die Ableitung hat den weiteren Nachteil, daß der Todestrieb 
der ursprüngliche Trieb ist, die Lebenstriebe aber später im Anschluß an 
Zufälle der Entwicklung entstanden sind. Dies führt zu einer Unterordnung 
der Lebens* unter die Todestriebe, etwa wenn F r e u d in „Jenseits des Lust* 
Prinzips" meint, daß die ersteren im Grunde genommen im Dienste der 
letzteren wirken. Nach dieser Auffassung hätten die Lebenstriebe alle Mög* 
lichkeiten von Spannungen zu realisieren, um sie dann der entspannenden 
Ablaufstendenz des Todestriebes zu überantworten. Der spekulative Ansatz 
Freuds ist tatsächlich so pessimistisch: Das eigentliche Wesen des 

Lebens ist der Tod. . 

Eine solche Unterordnung der Lebenstriebe unter die Todestriebe scheint 
aber theoretisch nicht ganz gerechtfertigt; zumindest ist sie im umgekehrten 
Sinne ebenso möglich und berechtigt. Freud korrigiert diese Auffassung 
in der „Neuen Folge der Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse", 
indem Lebens* und Todestriebe als gleichzeitig und nebengeordnet wirkende 



Zur Entwicklung und Problematik der Triebtheorie 165 



Triebe aufgefaßt werden. Das Leben ist Todes* und Lebenstrieb zugleich. 

Die theoretische Ableitung der Todestrieblehre. Der erste, pessimistisch' 
scheinende Ansatz ist darauf zurückzuführen, daß die Annahme -von Lei* 
benstrieben theoretisch nicht in gleichem Maße dringlich nahegelegt wurde 
wie jene der Todestriebe. Wenn ihre Annahme in einem gewissen Sinne 
theoretisch trotzdem gefordert wird, so geschieht dies weniger aus psycho* 
logisch*theoretischen Gründen als auf Grund biologischer Erwägungen. Die 
Sexualität als Beziehung verschiedengeschlechtlicher Keimzellen, bezw. ihrer 
Träger, tritt erst im Laufe der phylogenetischen Entwicklung in Erscheinung. 
Sie müßte also eine Neuerwerbung oder — wahrscheinlicher — eine unter 
gewissen Bedingungen, vielleicht im Dienste der Anpassung, notwendig ge# 
wordene Modifikation eines älteren Triebes sein, der etwa die allgemeinsten 
Charaktere der Sexualtriebe aufwies: die Tendenz, Bindungen herzustellen 
oder, energetisch, Spannungen zu erzeugen. ^O 

Die Konzeption der neuen Trieblehre ging aber offenbar vor allem von der 
theoretischen Notwendigkeit aus, das Problem der primären Destruktion zu 
lösen. Ich habe oben gezeigt, welche Erwägungen zu diesem Problem führten, 
und kann es mir daher ersparen, sie hier zu wiederholen. Die Frage erfährt 
aber noch eine gewisse Erweiterung. 

Es entspricht ganz der biologischen Orientierung der Psychoanalyse und 
der bisher verfolgten biologischen Fundierung der Triebtheorie, für die 
im eigenen Innern wirkende Destruktion ein vorgegebenes bio* 
logisches Modell zu suchen. Das Problem ist also, das bio* 
logische Modell für eine im Psychischen wirkende primäre Zerstörungsten* 
denz, deren Annahme theoretisch nahegelegt wurde, zu formulieren. Wie 
früher die Aggression in ihren Zielen der Libido widersprach, so widerspricht 
die Wendung gegen das Ich dem Prinzip des Lebens, sich selbst zu erhalten, 

T— wenn nicht im Leben selbst etwas enthalten ist, das eine solche Rückwen* 
düng ermöglicht. Die Fragen, die wir hier zu erörtern haben, sind: 1. Wie 
ist die primäre Destruktion zu formulieren? 2. Wie ist das angenommene 
„biologische Entgegenkommen" aufzufassen? 

Die Frage nach dem ursprünglichen Modell für die (primäre und sekun* 
däre) Selbstvernichtungstendenz muß zur Frage nach dem Tode führen. 
Die Frage nach dem Wesen des Todes und seiner Stellung innerhalb des 
Lebens ist in gewissem Sinne mit jener identisch und müßte zur Lösung 
des Problems beitragen können. Die Beziehung zwischen Leben und Tod 
wäre sonach, wenn es ein biologisches Modell für die Selbstzerstörung gibt, 
notwendig als eine innigere zu denken, als man anzunehmen ge* 
neigt ist, oder, mit anderen Worten, die Beziehung zum Tode muß 
eine Wesenseigenschaft des Lebens sein. Diese Fragestellung führt direkt 



. 



166 Edward Bibring 



zur Biologie und reduziert sich auf die Alternative: Ist der Tod nur die 
Folge einer Schädigung von außen oder gibt es ein natürliches Ende des 
Lebens? In der ersten Auffassung ist das Leben theoretisch ein ewiger 
Prozeß, der nur durch die Zerstörung von außen her sein Ende findet. In 
der zweiten ist der Tod ein notwendiger Bestandteil des Lebens. Die ver> 
schiedene Auffassung vom Wesen des Todes korrespondiert mit einer be* 
stimmten Auffassung vom Wesen des Lebens. 

Es würde zu weit führen, die hierher gehörenden biologischen Tatsachen 
und Überlegungen anzuführen. Dies sei einer anderen Darstellung vorbei 
halten. Hier genüge die Beschränkung auf zwei Fragen und ihre Beant* 
wortung. Die eine Frage ist die eben gestellte und ihre Beantwortung lautet 
in der vorsichtigen Formulierung Freuds aus „Jenseits des Lustprinzips": 
Es gibt eine Reihe von Tatsachen, die für einen natürlichen Tod sprechen, 
zumindest aber keine, die eine solche Annahme unbedingt ausschließen. 

Die zweite Frage lautet: Ist der natürliche Tod, der ja nicht das Keim* 
plasma, sondern nur das Soma erfaßt, ein phylogenetischer Erwerb (ermög* 
licht durch die Entstehung des vielzelligen Organismus), der mit dem eigene 
liehen Wesen des Lebens nichts gemein hat? Es scheint, daß auch hier die 
Antwort möglich ist, daß sich in der phylogenetischen Entwicklung nur etwas 
differenziert, was integriert schon beim Einzeller vorhanden ist, d. h. 
der natürliche Tod ist eine ursprüngliche „Eigenschaft" des Lebens. Ange* 
sichts der allgemeinen Triebhaftigkeit des Lebens ist also auch das Sterben 
etwas triebhaft Angestrebtes. Was bedeutet das im dynamischen Sinne? 

Für die Auffassung des Lebens als eines individuellen Systems, das sich 
„kreislaufartig" um eine bestimmte Gleichgewichtslage reguliert, ist der Tod 
etwas Systemfremdes, reine Zerstörung von außen. Für die „lineare" Ab* 
laufskonzeption des Lebens ist der Tod etwas Lebenswesentliches, das Ziel,, 
auf das hin das ablaufende Leben getrieben wird. Leben ist demnach Sterben, 
ist ein Ablauf zum Tode, zum Potential Null. Der Freud sehen Auffas* 
sung des Lebens entspricht m. E. weder die eine noch die andere, sondern ein 
Drittes: die Vereinigung beider. Das lebendige System wird von zwei 
Tendenzen beherrscht, das Leben läuft zum Potential Null, erzeugt aber gleich* 
zeitig neue Spannungen. Es ist, mit einem Bilde A s t e r s zu reden, eine Uhr, 
die sich immer wieder selbst aufzieht. Beim Individuum führt das Leben 
scheinbar unvermeidlich zum Tode. Begreifen wir aber alles Leben nach Ver* 
gangenheit und Zukunft hin und über die individuelle Erscheinung hinaus 
als einen einheitlichen Prozeß, dann wird die Richtigkeit dieses Bildes offen* 
bar: Der Kampf der Giganten erzeugt immer wieder neue Formen des Lebens 
und immer wieder neues Sterben in einem unaufhörlichen, scheinbar unend* 
liehen Prozeß. 



Zur Entwicklung und Problematik der Triebtheorie 167 

Die Bedeutung der Todestriebtheorie. Was leistet nun diese Konzeption 
zur Klärung der theoretischen Probleme und für die Vereinheitlichung der 
verschiedenen theoretischen Ansätze? Nicht alles, aber viel. 

Das biologische Modell der primären Destruktion ist also der Todestrieb, 
der als Ablaufstendenz zur absoluten Ruhe, zum Potential Null hin formu* 
liert werden kann. Primäre Destruktion, Aggression und alle Formen ihrer 
Rückwendung nach innen lassen sich theoretisch einheitlich aus dem Todes», 
trieb begreifen, allerdings nur mit Hilfe gewisser Konstruktionen, denen zwar 
manche Schwächen anhaften mögen, die sich aber auf gewisse Beobachtungen 
stützen. 

Behandeln wir zuerst das Thema der Aggression. Die Tatsache einer Wen* 
düng der Aggression gegen die eigene Person, aber ebenso die beobachtbare 
neue Wendung dieser rückgewendeten Destruktion als Aggression gegen die 
Außenwelt legen es nahe, ähnliche Vorgänge und Zusammenhänge zwischen 
primärer Destruktion und Aggression nach außen anzfmehmen, nämlich, daß 
die primäre Destruktion unter gewissen Bedingungen sich „nach außen 
kehre". Das gleiche wird durch die Feststellungen der Massenpsycho* 
logie nahegebracht. Die Bindung der aggressionsbereiten Einzelnen zu 
einer organisierten Masse und die damit einhergehende Ablenkung 
der Aggressionen auf ein außerhalb der Masse liegendes Stück 
Außenwelt, den sogenannten „Widersacher", sei es eine Gegenidee 
oder eine „Gegenmasse", gibt zusammen mit der erwähnten klini* 
sehen Beobachtung das ontogenetische Modell (E. Kris) ab, auf 
Grund dessen dann das phylogenetische Modell konstruiert werden kann.Nach 
diesem wurde vermutlich mit der Entstehung des vielzelligen Organismus 
aus dem Einzeller die Selbstdestruktion der nun aneinander gebundenen 
Zellen, vielleicht mit Hilfe libidinöser Triebe, unschädlich gemacht und teil* 
weise als Aggressionstrieb in irgendeiner Form nach außen gewendet. 

Versuchen wir jetzt eine Gesamtaufstellung der erreichten Triebeinteilung 
in Analogie mit den parallelen Begriffsbildungen der Libidotheorie. Wir 
haben demnach folgende Gegenüberstellung: 

Lebenstriebe (Eros) Todestriebe (Ursadismus, Urmasochismus). 

Die Sexualtriebe: Die destruktiven Triebe: 
Primärer Narzißmus Primäre Destruktion 

Objektlibido Objektgerichtete Aggression 

Sekundärer Narzißmus Rückgewendete Aggression (sek. Destr.) 

Diese konsequente Gegenüberstellung entspringt keineswegs einem Be* 
dürfnis nach systematischer Reihenbildung, sondern soll bei der Diskussion 
der Frage nach den manifesten Erscheinungen der Todestriebe eine Rolle 
spielen. / 



168 Edward Bibring 



Die Bezeichnungen Lebenstriebe und Sexualtriebe sowie Todestriebe und 
Destruktionstriebe werden von Freud synonym und ohne jede Abgrenzung 
verwendet. Eine scharfe Trennung, insbesondere der letzteren, scheint tat* 
sächlich nicht möglich; dennoch wollen wir hier aus heuristischen Gründen 
eine gewisse Abgrenzung versuchen. 

Die Lebens* und die Todestriebe sind rein biologische, im Organischen 
wirksame Triebe, die sich in irgendeiner Form auch im Psychischen wider* 
spiegeln. Die Sexualtriebe sind nur eine spezialisierte Form der Lebenstriebe. 
Ähnliches gilt vom Begriff der destruktiven Triebe. Beide Termini sind 
eigentlich nur begriffliche Zusammenfassungen aller libidinösen Er* 
scheinungen auf der einen, aller destruktiven, bezw. aggressiven auf der 
anderen Seite. Eine Frage nach den Manifestationen dieser Triebe ist also 
durch den Hinweis auf alle zu diesem Gebiet gehörigen direkten oder abge* 
wandelten Tatsachen zu beantworten. Die Erscheinungen der Sexualtriebe 
sind hinlänglich bekannt; ebenso die der „nach außen gerichteten" und rück* 
gewendeten Aggression. Bleibt also die Frage nach der psychischen Repräsen* 
tation der primären Destruktion analog jener des primären Narzißmus. 

Gibt es nun seelische Tatsachen, welche als Ausdruck dieser primären 
Destruktionstendenz zu werten wären? Der Umstand, daß diese Frage über* 
haupt gestellt wird, sowie der andere, daß diese primäre Destruktionstendenz 
erst theoretisch erschlossen werden mußte, ist gleichbedeutend mit der An* 
nähme, daß es sich um „stille Triebe" handeln muß. Die primäre Destruktion 
muß also definiert werden etwa als die destruktive Energie, vermöge welcher 
wir auch psychisch altern und sterben (vgl. E. W e i s s). Der richtige Satz, man 
komme ohne den Begriff der medialen Destrudo nicht aus, beinhaltet nur die 
Notwendigkeit der Annahme der Existenz einer solchen Triebkraft, defi* 
niert sie aber nicht. Um diese Definition zu gewinnen, war der Um* 
weg über die Biologie notwendig. Dieses Faktum wird in den Diskussionen 
über den Todestrieb meist übersehen. 

Anders als definitorisch ist die primäre Destruktion also nicht zu be* 
stimmen. Dann bleibt aber noch die Frage, ob es, wenn nicht unmittelbare, 
so doch mittelbare Auswirkungen dieser primären Destruktion gibt. Zwei 
Tatsachen können zur Beantwortung dieser Frage herangezogen werden: das 
Ruhebedürfnis und das Leidbedürfnis. Es fällt m. E. nicht schwer, ein trieb* 
haftes Verlangen nach Ruhe plausibel zu machen. Das Ruhebedürfnis tritt 
nicht nur als Folge der Ermüdung auf, sondern in natürlicher Abwechslung 
mit Phasen der Tätigkeit oder inmitten derselben als ein gleichsam vernach* 
lässigtes primäres Bedürfnis, das nun seine Befriedigung verlangt. Das Be* 
dürfnis nach Ruhe scheint den psychischen Apparat ebenso zu be* 
herrschen wie das Bedürfnis nach Lust; und gerade das vereinigte 



Zur Entwicklung und Problematik der Triebtheorie 169 

Auftreten beider Tendenzen an den Sexualtrieben hat zur Ursprung« 
liehen Gleichsetzung beider geführt. Auch das triebhafte Bedürfnis 
nach Schlaf, bezw. das. triebhafte Einschlafen, scheinen der Ausdruck dieses 
triebhaften Ruhestrebens zu sein. 

Viel schwieriger ist die Beziehung zwischen primärer Destruktion 
und dem Leidbedürfnis nachzuweisen. Freud führt in diesem Zu* 
sammenhang den Begriff des erogenen Masochismus ein, der in 
einem gewissen Maße zu den normalen Erscheinungen gerechnet werden 
kann und durch das Ziel der Schmerzlust, allgemeiner durch ein Leidbe* 
dürfnis, ausgezeichnet ist. Die Annahme, daß nicht alle primäre Destruktion 
nach außen gewendet wird, sondern daß ein gewisser Teil im Inneren wirk* 
sam bleibt, der, libidinös gebunden oder gemildert, als sogenannter erogener 
Masochismus erst in Erscheinung tritt, stellt den Versuch dar, eine direkte 
Verbindung zwischen dem angenommenen primären Destruktionstrieb und 
den Erscheinungen des Masochismus herzustellen. 

Federn will den erlebnismäßigen Niederschlag der primären Destruktion 
in extremen Fällen melancholischer Verstimmung gefunden haben. Er sieht 
ihn im lusdosen Leid der Melancholischen und stellt dem Lust*Unlustprinzip, 
das dem Eros entspricht, konsequent ein dem Todestrieb korrespondierendes 
Pein*Unpeinprinzip gegenüber. Daß es ein Bedürfnis nach Leid gibt, und 
daß dieses genetisch auf die Destruktionstriebe zurückzuführen ist, ist ein 
Hauptgedanke der Freudschen Todestriebtheorie. Wir haben gerade ge* 
sehen, mit Hilfe welcher Annahmen dieser Gedanke gestützt werden soll. 
Ob das lustlose Leid der Melancholiker auf ein „Bedürfnis" zurückgeht, 
das seinerseits eine unmittelbare Äußerung der im Psychischen wirkenden 
primären Destruktion ist, muß dahingestellt bleiben. Wie die Angst Aus* 
druck der Gefahr für das Leben ist, scheint die Verstimmung und vielleicht 
gerade diese absolut lustlose Verstimmung Ausdruck einer schweren Hern* 
mung von Lebensprozessen zu sein. Es will uns scheinen, daß Federn diese 
Erklärungsmöglichkeit nicht auszuschließen vermochte. Jedenfalls kommt in 
seiner Aufstellung die allgemeine Schwierigkeit zu Tage, daß die psychische 
Repräsentanz des im Biologischen auf Spannungsausgleich wirkenden To* 
destriebes nicht allein im Ruhe*, sondern auch im Leidbedürfnis gegeben 
sein soll. 

Die spezielle Schwierigkeit der Konstruktion Fe dem s liegt aber gerade 
darin, daß er erstens eine viel unmittelbarere Beziehung von Leidbe* 
dürfnis und Todestrieb annimmt als Freud, der es als kompliziertes Mi* 
schungsverhältnis ansieht. Zweitens, daß er an Stelle des Leidbedürfnisses 
gleich ein Regulationsprinzip supponiert, das das seelische Geschehen auf 
Leid hin reguliert, d. h. die Entstehung von Leidlosigkeit („Unpein") zu 



170 Edward Bibring 



verhindern hat. Ich muß gestehen, daß mir im Gegensatz zu E. W e i s s eine 
solche Annahme Schwierigkeiten bereitet. 

Als relativ unmittelbare seelische Spiegelung des Todestriebes, der primären 
Destruktion, wäre das Ruhebedürfnis anzusehen. Das Leidbedürfnis 
ist erst mittelbar unter Zuhilfenahme der Legierungstheorie vom primären 
Destruktionstrieb abzuleiten. Auch die Lust, den anderen Leid zuzufügen, 
ist nach Freud nicht unmittelbar Ausdruck der nach außen gewendeten 
Primärdestruktior, . sondern Folge eines Mischungsverhältnisses. 

Fassen wir zusammen: Mit Hilfe der biologischen Todestriebtheorie ist 
eine Formulierung der theoretisch geforderten primären Destruktion möglich 
geworden und weiterhin, allerdings unter Heranziehung verschiedener Hilfs* 
hypothesen, eine vereinheitlichte Auffassung der destruktiven und aggres* 
siven Erscheinungen erzielt worden. Der heuristische Wert dieser Annahmen 
scheint mir unverkennbar zu sein. 

Damit ist aber die vereinheitlichende Funktion dieser Theorie noch nicht 
erschöpft. 

Die Prinzipien und die Triebe Ich habe bei der Besprechung 
des Triebbegriffs der Sexualtheorie darauf hingewiesen, daß die Triebe 
und der funktionierende seelische Apparat einander gegenübergestellt 
wurden. Wurden auf der einen Seite die Eigenschaften der Triebe 
studiert, so war es auf der anderen Seite notwendig, über die Ar* 
beitsweisen dieses Apparates gewisse Annahmen zu machen: Er regulierte 
sich nach gewissen Tendenzen oder Prinzipien. Welche ist nun die Beziehung 
zwischen den Trieben und diesen Prinzipien? Die Triebe, als aus dem Or« 
ganischen aufsteigende Energiespannungen, werden analog den Außenreizen 
als „störende" Einwirkungen auf den seelischen Apparat aufgefaßt, die den 
seelischen Regulationen unterliegen. Dies ist der eigentliche Sinn der De* 
finition der Triebe als Arbeitsanforderungen an den seelischen Apparat. Wie 
man diese störenden Reize einteilt, scheint tatsächlich zunächst eine unter« 
geordnete Frage im Vergleich zu der Auffassung einer grundsätzlichen Ar« 
beitsweise des seelischen Apparates gegenüber allen von außen oder innen 
kommenden Reizen. 

An dieser Gesamtauffassung ist nochmals zu unterstreichen, daß die Triebe 
nicht etwa das Ganze des seelischen Geschehens lenken, sondern nur Energie* 
quellen und Reizursachen sind, die die regulierenden Tendenzen des seeli* 
sehen Apparates in Bewegung setzen. 

Die Grundannahme Freuds ist, daß der Apparat von einer Tendenz 
beherrscht wird, die auf völlige Entspannung oder auf ein möglichst«niedrig« 
Halten der anlangenden Reizgrößen gerichtet ist. Diese Tendenz wurde an« 
fangs gleichgesetzt mit dem Lustprinzip, da Spannungen Unlustgefühle her* 



Zur Entwicklung und Problematik der Triebtheorie 171 

vorzurufen schienen, die Entspannungen Lustgefühle. Allerdings ließen sich 
verschiedene Erscheinungen dieser Annahme nicht einordnen. Eine Modi* 
fikation dieses Lustprinzips war das Realitätsprinzip, das besagte, daß die 
Lust nicht mehr unmittelbar und direkt, sondern auf realitätsangepaßtien 
Umwegen und in zeitlicher Erstreckung gesucht wurde. 

Es erwies sich aber aus den bekannten Gründen als notwendig, das Lust* 
prinzip von der Grundtendenz nach Entspannung oder möglichst niedrigem 
Spannungsniveau abzutrennen. Über diese Grundtendenz wurden verschieb 
dene Auffassungen erwogen. Es schien als Konstanzprinzip auf die Erhalt 
fcung einer bestimmten Spannungshöhe abgestellt zu sein, d. h. das individuelle 
psychische System regulierte sich auf eine bestimmte Gleichgewichtslage hin. 
Alles, was dieses Gleichgewicht in Abweichung nach oben oder unten zu 
stören schien, wurde der Regulation auf die Normalspannung hin unten* 
worfen. Es ist die Auffassung des Lebens als eines kreislaufförmigen Ge* 
schehens um eine bestimmte Gleichgewichtslage, die sich in der Annahme 
des Konstanz* oder Stabilitätsprinzips ausdrückt. Das Lustprinzip, das das 
seelische Geschehen in die Richtung auf den Endzustand Lust determiniert, 
konnte dann als eine Modifikation des Konstanzprinzips definiert werden. 
Alles, was sich der konstanten Spannungsgröße oiför dem Stabilitätszustand 
näherte, wurde lustvoll, was sich davon entfernte, unlustvoll empfunden. 

In dem Momente aber, als die entscheidende Auffassung des Lebens ge* 
ändert und dieses nicht als kreislaufförmiges, sondern als ablaufartiges, 
lineares Geschehen definiert wurde, mußte auch die Grundtendenz eine An* 
derung erfahren. Das Konstanzprinzip wurde daher folgerichtig durch das 
Nirwanaprinzip ersetzt, das die Tendenz auf völligen Ausgleich der Poten* 
tialdifferenz, auf Ablauf bis zum Nullpotential zum Inhalt hatte. 

Somit bleiben, wenn wir vom Wiederholungszwang 5 absehen, die Regula* 
tionen auf absolute Entspannung, auf Lust und auf Realitätsanpassung (Nir* 
wana*. Lust*, Realitätsprinzip). Das Realitätsprinzip bleibt der Auffassung 
nach eine Modifikation des Lustprinzips. Die Beziehung zwischen Nirwana* 
prinzip und Lustprinzip ist im Verhältnis zur vorhergehenden Auffassung, 
daß das Lustprinzip als eine Spezialform des Konstanzprinzips anzusehen 



5) Zu den Regulationen wäre noch der Wiederholungszwang zu zählen. Er ist ein 
allgemeines Regulationsprinzip, das zunächst Energien bindet, d. h. sie aus dem „strömen* 
den" in den „Ruhestand" überführt. Es scheint kein Zweifel, daß es eine solche Regula* 
tionstendenz gibt. Auch die Arbeitsweise des Ichs hat diese Möglichkeit einer Bindung, 
eines Aufhaltens, Statischmachens von Spannungen zur Vorausetzung. Ebenso scheint 
der Wiederholungszwang die Voraussetzung aller anderen Regulationen zu sein. Ein* 
dringende Reizgrößen müssen, soweit sie nicht im Laufe der phylogenetischen Anpassungs* 
Prozesse „Bahnungen" erfahren haben, oder wenn sie die Kapazität dieser Bahnung über* 
schreiten, zunächst aufgehalten, gebunden werden, ehe die anderen Regulationen einsetzen. 



172 Edward Bibring 



sei, geändert. Beide entsprechen verschiedenen Tendenzen. Das Streben 
nach Lust auf der einen, das nach Ruhe auf der anderen Seite sind die Haupt* 
regulationen des seelischen Geschehens. 

Es ist klar, daß eine bloße Gegenüberstellung der Regulationsprinzipien 
des seelischen Apparates und der von außen als Arbeitsanforderungen sich 
bemerkbar machenden Triebe nur eine vorläufige sein konnte. Das heuri* 
stische Prinzip, zu verfolgen, wie weit sich die gesamte seelische Organa 
sation und ihre Arbeitsweisen auf den Trieben aufbauen, mußte zur Frage 
führen, ob die Triebe die Ablaufstendenzen des seelischen Geschehens be* 
einflussen, das ist aber die Frage nach der Beziehung zwischen den Prin* 
zipien und den Trieben. 

Eine solche Fragestellung konnte umso leichter Zustandekommen, als der 
Triebbegriff im Laufe der Entwicklung der Triebtheorie eine Veränderung 
erfahren hatte. Ursprünglich galt der Trieb als eine aus organischen Quellen 
stammende Energiespannung, die automatisch auf ein immanent gegebenes 
Ziel gerichtet war, das auf dem Umweg über ein Objekt erreicht wurde und 
letzten Endes in einer Veränderung des Ursprungsorgans, in einer Restitution 
auf seinen Zustand vor der Erregung bestand. Dieser Auffassung entsprach 
die Wahl des Begriffs der Quelle als geeignetes Kriterium für eine Einteilung 
der Triebe. 

Die Unmöglichkeit, solche Quellen für alle Triebe zu finden, und die 
Schwierigkeit ihrer hypothetischen Konstruktion stellten, besonders für die 
Ichtriebe, das Kriterium des Zieles in den Vordergrund, ohne daß die Grund* 
auffassung des Triebes wesentlich abgeändert zu werden brauchte. Das Ziel 
bestand äußerlich in der Durchführung der Zielhandlung am Objekt, inner* 
lieh in der erreichten Entspannung, z. B. bei den Aggressionstrieben. 

Der Theorie von den Urtrieben (Lebens* und Todestriebe) liegt aber ein 
wesentlich veränderter Triebbegriff zugrunde. Hier ist der Trieb nicht eine 
an das Seelische herantretende Energiespannung, die aus einer organischen 
Quelle stammt und auf die Aufhebung des Reizzustandes im Ursprungs* 
organ abzielt, sondern ein richtunggebendes oder *nehmendes „Etwas", das die 
Lebensprozesse in eine bestimmte Richtung lenkt. Der Akzent liegt nicht 
mehr auf der Energielieferung, sondern nur auf der Funktion der Richtungs* 
hestimmung. 

Die Prinzipien sind aber auch nichts anderes als ein den Ablauf der seeli* 
sehen Prozesse in eine bestimmte Richtung hin „determinierendes Etwas". 
Die Begriffe Trieb, Prinzip, Regulation erscheinen demnach einander sehr 
angenähert. Wie die Triebe die Abläufe der biologischen Vorgänge re* 
gulieren, so natürlich auch die seelischen. Die strenge Gegenüberstellung 
eines von Prinzipien regulierten seelischen Apparats und von außen ein* 



Zur Entwicklung und Problematik der Triebtheorie 173 

dringender Triebe war nicht mehr haltbar, da die Triebe als Grundprin»* 
zipien des Lebens aufgedeckt worden waren. Daraus ergab sich die Mög* 
lichkeit der Zuordnung der Prinzipien zu den Trieben. 

Es würde zu weit führen, diese Fragen hier genauer zu erörtern. Es ist be* 
kannt, wie Freud eine solche Zuordnung vornahm. „Das Nirwanaprinzip 
drückt die Tendenz des Todestriebes aus, das Lustprinzip vertritt den An* 
spruch der Libido, entspricht also den Lebenstrieben. Das dritte Prinzip, das 
Realitätsprinzip, eine Modifikation des Lustprinzips, drückt den Einfluß der 
Außenwelt aus." Die Verbindung der beiden Hauptprinzipien wird in der 
Weise gedacht, daß die Lebenstriebe eine Modifikation in der Ablaufsform 
der Entspannungsprozesse bewirken, die mit dem Auftreten von Lust ver* 
bunden ist. 

Fenichel stellt in seinen Bemerkungen „Zur Kritik des Todestriebes" 
die beiden hier im Umriß gegebenen Triebbegriffe einander gegenüber, aber 
nur, um den Triebbegriff der Urtriebtheorie an jenem der Sexualtheorie zu 
messen und ihn schließlich zugunsten des letzteren zu verwerfen. Ein solches 
Verfahren setzt die Begründung der Bevorzugung des einen Triebbegriffs vor 
dem anderen voraus. J) 

Es ist Fenichel durchaus zuzustimmen, daß die „Richtigkeit" jeder 
Triebeinteilung sich aus ihrer heuristischen Brauchbarkeit ergibt. Eine solche 
Auffassung ist dem gegenwärtigen Stand und den gegenwärtigen Möglich* 
keiten einer Triebtheorie durchaus adäquat. Dann ist aber auch der heuri* 
stische Zweck, der der Aufstellung der verschiedenen Teile der Triebtheorie 
zugrundeliegt, notwendigerweise heranzuziehen. Dann wird sich für eine aus 
theoretischen Gründen gegebene Triebtheorie, wie z. B. die Urtriebtheorie, 
eine andere Überprüfung auf die „heuristische" Wertigkeit ergeben als etwa 
für eine auf Grund klinischen Materials gewonnene. Daß beiden kein ein* 
heitlicher Gesichtspunkt zugrundegelegt werden kann, ist vielleicht bedau* 
erns*, aber nicht tadelnswert, wenn gegenwärtig keine anderen Möglichkeiten 
gegeben sind. 

Die Frage der Kriterien hat Bernfeld in seinem Aufsatz „Über die 
Einteilung der Triebe" in den Mittelpunkt der Erwägung gezogen. Er 
stellt ein psychoanalytisches Kriterium einem physiognomischen gegenüber: 
Beide Kriterien werden mit der Triebtheorie insofern in einen Zusammenhang 
gebracht, als behauptet wird, daß bei der früheren Triebtheorie das psycho* 
analytische Kriterium hauptsächlich maßgebend war, jetzt aber mehr das 
physiognomische. Offenbar werden hier zwei verschiedene Begriffe nicht 
auseinandergehalten, und zwar der Begriff der E i n te i 1 u n g der Triebe und 
jener der Zuordnung der jeweils vorliegenden, individuellen seelischen 
Triebäußerung zu den als klassifiziert bereits vorausgesetzten Triebgruppen. 



Daß das Problem der Triebklassifikation „auf Grund der Bearbeitung des 
psychologischen Materials" nicht zu lösen ist, haben wir unter Zitierung 
Freuds schon eingangs betont. Die Klassifikation muß, anderweitig be* 
gründet, an das psychologische Material herangebracht werden, da dieses 
die Annahme beliebig vieler Triebe erlaubt. Mit der Gewinnung einer Trieb* 
einteilung beginnt erst das andere Problem der Zuordnung. Die Ausfuhr 
rungen Bernfelds sind offenbar diesem Problem gewidmet. 

Eine solche Zuordnung kann nun auf zweierlei Weise erfolgen: Durch 
Aufdeckung des genetischen Zusammenhanges mit einem primären Trieb* 
geschehen, etwa — am besten — auf dem Wege der psychoanalytischen Me* 
thode (psychoanalytisches Kriterium), oder auf Grund der phänomenolo* 
gisch gegebenen Eigentümlichkeiten einer seelischen Äußerung, die die Zu* 
gehörigkeit zu einem bestimmten Trieb nahelegen (physiognomisches Kri* 
terium Bernfelds). Es ist zweifellos richtig, daß beide Wege gangbar 
sind, wenn auch der erstere den Vorzug der größeren Sicherheit besitzt. Es 
ist ebenso richtig, daß seit der Aufstellung der neuen Trieblehre das phäno* 
menologische Kriterium in reicherem Maße in Zuordnungsfragen verwendet 
wird, als das psychoanalytisch*genetische; aber man möchte zweifeln, ob 
diese Praxis auch eine notwendige Folge der neuen Trieblehre darstellt. 

Noch einige Worte über das Problem der Quantität. Die Verwendung 
des Zielbegriffs als eines bloß ordnenden Kriteriums widerspricht in keiner 
Weise der quantitativen Auffassung der Triebe. Anders, wenn die Ziel* 
qualität als primäres Merkmal der Triebe angesehen wird. Damit werden 
die Triebe zu seelischen Qualitäten, und die quantitative Betrachtung bleibt! 
nur innerhalb der gleichen Triebgruppe (Sexual*, bezw. Aggressionstriebe) 
möglich. Es gibt zwei durch ihre Richtungsqualität unterscheidbare Energien 
(Libido und Aggressionstriebenergie oder, mit E. Weiss, Destrudo), zwi* 
sehen denen ein Energieaustausch nicht stattfinden kann. (Das Problem der 
Zielverschränkung liegt auf einer ganz anderen Ebene.) So konsequent diese 
Auffassung ist, bereitet sie dennoch Schwierigkeiten, im Zusammenhang teils 
mit bestimmten klinischen Tatsachen, teils mit dem Begriff des narzißtischen 
Libidoreservoirs. Entsprechend der Annahme kann diese an sich indifferente, 
verschiebbare Energie „zu einer qualitativ differenzierten erotischen oder 
destruktiven Regung hinzutreten und deren Gesamtbesetzung erhöhen" 
(Freu d : Das Ich und das Es). Freud findet den Ausweg in der Annahme, 
daß bei den gegenüber den Destruktionstrieben plastischeren, ablenkbareren 
und verschiebbareren libidinösen Trieben eine Reduktion des Zieles bis auf 
das Ziel der bloßen „Abfuhr", der bloßen Entspannung erfolgen kann, wobei 
die Objekte und Wege der Abfuhraktion „erst in zweiter Linie in Betracht 
kommen". Das neutrale Energiereservoir stellt eine derart reduzierte Libido 



Zur Entwicklung u nd Problematik der Triebtheorie 175 

dar, die dann Zuschüsse zu libidinösen und aggressiven Regungen liefern 
kann. Ein reiner Energiezuschuß, d. h. ohne Wirksamkeit der Zielqualitäten, 
wäre also nur von den libidinösen zu den aggressiven Trieben hin möglich' 
und nur auf dem Wege über das indifferente Libidoreservoir. 

Fassen wir zusammen; haben wir uns früher im Interesse der Verständig 
gung einer größeren Schärfe der Begriffstrennung befleißigt, so wollen wir 
dies hier wieder einschränken und uns der tatsächlichen Struktur der Be* 
griffe wieder annähern: 

Die spannungerzeugenden biologischen Lebenstriebe; die Sexualtriebe; die 
auf die Erhaltung des Lebens zielenden Ichtriebe; das Lustprinzip, — das alles 
ist irgendwie miteinander verwandt. 

Die auf den Spannungsausgleich hintreibenden Todestriebe; die Destruk* 
tionstriebe, die im Innern wirken; die nach außen gewendete Aggression; 
die Tendenz zur Ruhe, das Nirwanaprinzip; die Tendenz zum Leiden, das 
alles bildet ebenfalls eine verwandte Gruppe. 

Die „mystischen" Triebkräfte, die hinter dem allen stehen, wirken jede 
in ihrer Richtung oder einander entgegen oder miteinander. Dann legieren 
sie sich: Als masochistische Lust am Leiden, als Sadismus, als Strafbedürfnis, 
als Selbsthaß, als aggressiver Ichtrieb usw. Vj 

Was wir Triebe nennen, wirkt richtunggebend auf ein biologisches Ge* 
schehen, im Körperlichen wie im Psychischen. Unter irgendwelchen Ein* 
Aussen differenziert es sich, konzentriert sich zu Spannungszentren, die sich 
an irgendein Organgeschehen als Quelle gebunden erweisen, wendet sich 
nach außen auf Objekte, strebt einem Ziele zu, das äußerlich in einer be* 
stimmten Handlung am Objekt und am eigenen Körper, innerlich in der 
Aufhebung eines Reizzustandes besteht. Unklar, wie es zunächst im eigenen 
Innern wirkt. Klarer, wenn es sich auf Objekte wendet, an denen es die Ziel* 
handlung vollführt. Teils ist hiezu ein Vorgang auch am Ursprungsorgan 
notwendig, teils nur am Objekt. Bald erfolgt die Befriedigung in Form eines 
bestimmten Ablaufes, bald diffus. Es kann aber auch in mannigfaltiger Form 
die eigene Person zum Objekt nehmen, es kann sich in „Betriebskraft" um* 
gestalten und so die Energien des Ichs vermehren. Es kann einen Reichtum an 
Umwegleistungen vollbringen und in seiner Elastizität vielfache Verände* 
rungen erfahren. Wir können es nicht einheitlich ordnen, sondern bald nach 
dem einen, bald nach dem anderen Gesichtspunkt, nach' den Zielen, nach 
den Objekten, nach der Quelle. 

Alle diese Tatsachen, hypothetischen Meinungen, Theorien lassen sich in 
Begriffe fassen, die nicht immer wünschenswert klar, oft vieldeutig und ver* 
fließend sind. Die Exaktheit definierter Begriffe wird sich im Psychologischen 
nicht immer erreichen lassen. Es ist sehr viel geleistet, wenn man in ein neues 



176 Edward Bibring 






Gebiet vorgestoßen ist und Begriffe gewonnen hat, die eine wechselseitige 
Verständigung ermöglichen, auch wenn sie zunächst nichts anderes sind als 
erste Annäherungen an einen im ganzen noch unbekannten Tatbestand. 

Literatur: 

Aster: Die Psychoanalyse. Wegweiser* Verlag, Berlin, 1930 

B e r n f e 1 d: Über die Einteilung der Triebe. Imago, Bd. XXI, 1935 J 

Federn: Die Wirklichkeit des Todestriebes. Almanach der Psa. 1931 i 

Fenichel: Zur Kritik des Todestriebes. Imago, Bd. XXI, 1935 

Freud: Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie. Ges. Sehr., Bd. V. 

— Zur Einführung des Narzißmus. Ges. Sehr., Bd. VI. 

— Triebe und Triebschicksale. Ges. Sehr., Bd. V. 

— Massenpsychologie und Ichanalyse. Ges. Sehr., Bd. VI. ,; ,' , 

— Jenseits des Lustprinzips. Ges. Sehr., Bd. VI. 

— Das Ich und das Es. Ges. Sehr., Bd. VI. 

— Das Unbehagen in der Kultur. Ges. Sehr., Bd. XII. 

— Neue Folge der Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse. Ges. Sehr., Bd. XII. 
W. Reich: Der masochistisehe Charakter. Int. Ztschr. f. Psa., Bd. XVIII, 1932 

E. Weiss: Todestrieb und Masochismus. Imago, Bd. XXI, 1935. 






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Selbstmord und Opfertod 1 

Von 

W. Bischler 

Genf 

In seiner Arbeit „Über die Ursachen des Selbstmordes" hat H a 1 b w a c h s 2 
folgende Definition dieses Phänomens gegeben: „Selbstmord nennen 
wir jeden Todesfall, den der Verstorbene durch eine in 
der Absicht, sich zu töten, vollzogene Handlung selbst 
herbeigeführt hat, und der keinen Opfertod darstellt." 
Diese Interpretation beansprucht unser besonderes Interesse, weil sie zweierlei 
Fakten zueinander in Beziehung setzt, die man bisher gesondert zu betrachten 
gewohnt war. Sowohl Selbstmord als Opfertod sind Gegenstand zahlreicher 
psychologischer und soziologischer Studien gewesen und in der verschie* 
densten Weise analysiert und gedeutet worden. Auch die Psychoanalyse hat 
sich mit diesen Phänomenen und den damit verknüpften Problemen be* 
schäftigt; die durchgeführten Beobachtungen und zu dem Thema Selbstmord 
und Opfertod aufgestellten Theorien können für die analytische Forschung 
nur von Nutzen sein; andererseits ermöglicht uns erst die Psychoanalyse, 
diese Tatsachen in einem völlig neuen Lichte zu sehen, ihnen den ihnen ge* 
bührenden Platz anzuweisen und sie viel vollständiger und umfassender zu 
erklären. 

Wenn wir nun die soziologische These über den Selbstmord und den 
Opfertod und die psychoanalytische Deutung dieser Tatsachen einem be* 
sonderen Studium unterziehen, wird es uns vielleicht gelingen, ihr Wesen, 
ihre Natur und ihre Genesis besser zu erfassen; und wenn wir den Ursprung* 
liehen Rahmen dieser Untersuchung erweitern, werden wir zwischen Sozio* 
logie und Psychoanalyse neue Brücken bauen können. 

Wir wollen zunächst die These von Halbwachs prüfen und unter* 
suchen, welche Gründe ihn dazu veranlassen, Selbstmord und Öpfertod ver* 
gleichend einander zu nähern und doch zwischen beiden Phänomenen einen 
Trennungsstrich zu ziehen. 

Er beginnt damit, uns die Theorie von Durckheimins Gedächtnis zu rufen, 
der den Selbstmord definiert als „jedenTodesfall, der direkt oder 
indirekt auf eine Handlung oder Unterlassung. zu rückzu* 
führen ist, die das Opfer selbst begangen hat, und von der es 
gewußt haben muß, daß sie todbringend ist." 3 Halbwachs 



i) Aus dem Französischen übersetzt von Frau Mathilde Hollitscher, Wien. 

2) M. Halb wachs: Les Causes du Suicide, F. Alcan, Paris, 1930. 

3) Durckheim: Le Suicide, F. Alcan, Paris, 1930, S. 5. 

Imago XX1I/2 



12 



178 W. Bischler 



macht dem berühmten Soziologen seine angebliche Unkenntnis der Absichten, 
seinen Zweifel an der Todesbereitschaft des Selbstmordkandidaten zum Vorwurf; 
der Selbstmörder hat im allgemeinen den Vorsatz, sich zu töten weiß aber im 
voraus nicht, welches das Ergebnis seiner Handlungen sein wird; doch können 
wir seine Wünsche kennen, denn wenn man auch nicht immer die Absichten 
kennt, so kann man sie doch vermuten, wie dies die Gesellschaft auch tatsachlich 
tut. Außerdem findet Halbwachs, daß Durckheim dazu neigt, zwei stark 
voneinander abweichende Arten von Fakten in einer einzigen Gruppe von 
Phänomenen zu vereinigen. „Es scheint D urckheim nicht wichtig zu wissen, 
ob der Tod wie eine notwendige Fügung, der man sich zur Erfüllung seines 
Wunsches unterwerfen muß, angenommen worden ist, oder ob er um seiner 
selbst willen gewollt und gesucht wurde. Der Soldat, der, um sein Regiment zu 
retten, einem sicheren Tod entgegeneilt, will nicht sterben; ist er aber deshalb nicht 
der Urheber seines eigenen Todes? Dasselbe kann man von dem Märtyrer sagen, 
der für seinen Glauben stirbt."* In die gleiche Kategorie gehört auch der Kranke, 
der es ablehnt, der Verordnung zur enthaltsamen Lebensweise Folge zu leisten, 
obwohl er genau weiß, daß dies das einzige Mittel zur Verlängerung seines Le* 
bens ist, der Kummerbeladene, der der Krankheit, die ihn ergriffen hat, keinen 
Widerstand entgegensetzt, der Offizier, der sich mit seiner Festung eher in die 
Luft sprengen läßt, als sich dem Feind zu ergeben, oder der Kommandant eines 
Schiffes, der als letzter an Bord bleibt, um seine Niederlage nicht zu überleben. 
Wir erwähnen hier auch noch die Märtyrer, die lieber den Tod erleiden als ihrem 
Glauben abschwören, und die Jungfrauen, die sich aus Scham über eine erlittene 

Defloration töten. , . , 

Halb wachs lenkt hier unsere Aufmerksamkeit auf eine sehr wichtige 
Unterscheidung: Es gibt Fälle von freiwilligem Tod, die keine Selbstmorde sind. 
Indessen bezeichnet D u r c k h e i m diese ganze letzterwähnte Gruppe von frei* 
willigen Todesfällen als Selbstmorde, die er in eine besondere Kategorie einreiht, 
altruistische Selbstmorde nennt und in Gegensatz stellt zu den egoisti* 
sehen (die nach Loslösung von der Gemeinschaft) und zu den „a n o m 1 s che n 
(die nach deren Zersetzung erfolgen). Die Ursache des altruistischen Selbst, 
mordes dagegen sieht der französische Soziologe in einer Fixierung des ! Indi* 
viduums an die Gemeinschaft, in einer innigen Verschmelzung mit dem Milieu 
die so weit geht, daß der Einzelne das Bewußtsein seiner Persönlichkeit und 
seiner spezifischen Eigenart verliert und daher den Tod der ihm nahestehenden 
Person, die Zerstörung oder Entehrung der Gruppe, mit der er sich solidarisch 
fühlt und deren Los er teilen muß, nicht überleben kann. Er bringt also ein wirk* 
liches Opfer, leistet freiwillig Verzicht auf sein Leben, seine Gesundheit, sein 
persönliches Glück, um die geliebte Person oder die soziale Gruppe zu retten 
oder ihnen in den Tod zu folgen. 

Wir wollen gleich bemerken, daß der altruistische oder Opfer*Selbstmord 
auf einer Art Identifizierung des Individuums mit der Gemeinschaft beruht. 
Die Grenzlinien zwischen der bewußten Persönlichkeit und der Gemein* 
schaff, in der der Einzelne untertaucht, werden undeutlich, sie verwischen 
sich oder verschwinden gänzlich. Zur Bestätigung dieser Interpretation mag 



Selbstmord und Opfertod 



179 



dienen, daß man diese Art Selbstmorde besonders bei den primitiven Völ* 
kern findet: bei diesen ist das Bewußtsein ihrer Individualität, das Gefühl 
ihrer persönlichen Eigenart noch wenig hervortretend und daher leicht außer 
Kraft zu setzen. Aber selbst bei sozial und intellektuell differenzierteren Indi* 
viduen können besondere Umstände eine Schwächung des Ichgefühles, eine 
Herabsetzung der narzißtischen, libidinösen Besetzung hervorrufen, wie bei 
den Soldaten in der Armee, bei dem Offizier, der eine Festung oder ein 
Kriegsschiff befehligt. Die anderen Fälle, die wir zu Beginn zitiert haben, 
werden im Rahmen unserer Studie den Gegenstand einer besonderen Unter* 
suchüng bilden. 

Beschäftigen wir uns indessen wieder mit der Arbeit von Halb wachs. 
Im Verlaufe seiner Ausführungen gibt der Autor zu, daß zwischen dem Opfertod 
und dem Selbstmord eines Menschen der Unterschied darin zu bestehen scheint, 
daß in dem einen Fall der Tod des Opfers auf Grund einer Kollektivem* 
Scheidung erfolgt, in dem anderen Fall nach eigenem freiwilligem Entschluß. Es 
gibt aber noch zahlreiche Selbstmordfälle (bei Geisteskranken, Psychopathen, 
impulsiven Menschen), die nicht das Resultat langen Überlegens und reiflich 
erwogener Beschlüsse sind, sondern spontan, man möchte sagen, instinktiv er* 
folgen. Indessen tötet sich die überwiegende Anzahl der Selbstmörder mit Vor* 
bedacht nachdem sie ihre Tat wohl überlegt und beschlossen haben, auf das 
Weiterleben zu verzichten. Nach Halb wachs ist nichtsdestoweniger selbst 
diese so individuell erscheinende Initiative nur der Ausdruck von Gemeinschafts* 
willen und Gemeinschaftsgedanken. „Die Gesellschaft hat den Menschen gelehrt 
zu wollen, und er folgt teilweise den von ihr erhaltenen Richtlinien auch dann 
noch, wenn er sich moralisch von ihr freigemacht hat und an ihrem Leben nicht 
mehr teilzuhaben meint. Man kann sagen: Ein Mensch, der überlegt, bevor er 
handelt, kehrt für einen Moment in die menschliche Gemeinschaft, der er ange* 
hört oder bisnun angehört hat, zurück, um mit den anderen zu überlegen und 
gemeinsam eine Entscheidung zu treffen, bevor er ganz allein die Tat vollbringt, 
die die anderen für ihn beschlossen haben . . ." 5 

Hier haben wir eine soziologische Interpretation von individuellen Hand* 
lungen und Phänomenen, die die Psychologie bisher als in ihr Gebiet gehörig 
betrachtet hat. Wir werden später sehen, was wir von dieser besonderen 
Theorie zu halten haben, und daß sie nicht so fremdartig ist, wie sie gewissen 
psychologischen Doktrinen erscheint. Halten wir vor allem fest, daß Halb* 
wachs sowohl den (nicht impulsiven) Selbstmord als auch den Opfertod 
zum großen Teil wenigstens als aus dem Gemeinschäftsgedanken hervor* 
gehend ansieht. Die Distanz zwischen den beiden Tatsachen vermindert sich 
noch, denn — fährt Halb wachs fort — „es ist nicht immer leicht zu 
sagen, bis zu welchem Grad die Opfertode Folge eines Befehles des Stammes, 
der religiösen Gemeinschaft oder der Nation sind, die dem Menschen gegen 



5) 1. c, S. 456 f. 



12* 



180 W. Bischler 



seinen Willen durch rein materiellen Zwang auferlegt werden, und inwieweit 
die innere Einstellung des Opfers, Resignation, Annahme der Befehle und 
sogar stillschweigende Zustimmung zu denselben auf diesen gleichen Zwang 
zurückzuführen ist." 6 

Es scheint nun, als ob das Opfer nicht so passiv wäre, wie es aussieht: Es 
kann den erhaltenen Befehlen Widerstand entgegensetzen oder sich ihnen 
gern unterwerfen. Wir wollen hier einfügen, daß diese rebellierende oder füg* 
same Stellungnahme nicht nur durch eine mehr oder weniger starke Bin* 
düng an das Leben bedingt ist, sondern auch', und zwar ganz besonders, durch 
einen unumstößlichen Trieb zur Selbstaufopferung, zur Selbstzerstörung, der 
durch Schuldgefühl und Bedürfnis nach Strafe hervorgerufen wird. Wir wer* 
den darauf später zurückkommen. 

Es bleibt darum nicht weniger wahr, daß der Opfertod vor allem durch 
den Willen der Gemeinschaft bedingt ist. Das Individuum hat sich in sein 
Schicksal ergeben, es fühlt seine Stunde gekommen und macht nicht einmal 
den Versuch, sich seiner Bestimmung zu entziehen. Diese Opfertode oder 
altruistischen Selbstmorde (D u r c k h e i m) ereignen sich vor allem in primi* 
tiven Gemeinschaften, in besonders eng miteinander verbundenen religiösen 
oder politischen Gruppen, in denen der persönliche Wille fast ausgeschaltet 
ist. Nach einer Niederlage, in Gefangenschaft, oder nach dem Tod des 
Gatten, des Vorgesetzten, des Landesvaters haben die Gefangenen, die 
Witwen, die Diener und Sklaven keine andere Wahl: sie müssen sterben. So 
haben es die Götter, die Gesetze und Gebräuche, die Vorfahren über isie 
bestimmt. Verglichen mit dieser Kapitulation des Einzelnen vor der all* 
mächtigen Gemeinschaft erscheint im Gegensatz dazu der Selbstmord als 
eine Manifestation seiner Autonomie, mehr noch, als eine Rebellion des Ge* 
Schopfes gegen die Gesetze, Gebräuche und Forderungen der Gesellschaft. 

Indessen sagt uns H alb wachs, daß sich dies nur dem Anschein nach so 
verhält. „Die persönlichen Willensäußerungen gehorchen Gesetzen, denn die 
Anzahl der Selbstmorde im Schöße derselben Gruppe bleibt von einem Jahr zum 
andern die gleiche. Es sieht nur so aus, als ob der Selbstmörder aus eigenem 
Willen beschließen würde, sich den Tod zu geben; die Entscheidung wird ohne 
sein Zutun getroffen. Er gehorcht Mächten, die stärker sind als er, und wenn er 
ihnen scheinbar zustimmt, so liegt sein Fall doch nicht anders, als bei dem zum 
Opfertod Bestimmten ... Die vom Leben Besiegten bilden solcherart einen 
langen Zug von Gefangenen, den die Gesellschaft hinter ihrem Siegeswagen 
schleift . . ."' • 

Der Autor hat hier auf einen sehr wichtigen Umstand hingewiesen: auf 
den Zwang, den die Gesellschaft unmerklich und verste ckt gegen den Willen 

6) 1. c, S. 457. 

7) 1. c, S. 461. 






Selbstmord und Opfertod 



181 



des Einzelnen auf ihn ausübt. Der Mensch vermeint, nach eigenem Belieben, 
von eigener Initiative und reiflicher Überlegung getrieben, zu handeln — in* 
dessen ist eine fremde kollektive Macht für ihn tätig. Die Psychologie und 
insbesondere die Psychoanalyse liefern uns zahlreiche Beispiele von analogen 
Fakten; nur die Interpretationen weichen voneinander ab. 

Halb wachs hebt nun im weiteren Verlauf seiner Arbeit eine andere wich* 

tige Unterscheidung zwischen Opfertod und Selbstmord hervor. Der von der 

Gesellschaft auferlegte, geforderte Opfertod wird auch von ihr sanktioniert; das 

Opfer erfüllt eine heilige Pflicht gegenüber der Gottheit (also der Gemeinschaft), 

indem es einwilligt, sich für sie aufzuopfern. Ganz anders verhält sich die Ge* 

Seilschaft gegenüber dem Selbstmord. Obwohl sie seine indirekte Urheberin ist, 

verweigert sie ihm die Vaterschaft, betrachtet den freiwilligen Tod als Auf* 

lehnung gegen die elementaren Gesetze, die sie ihren Mitgliedern auferlegt. „Das 

Leben ist nach allgemeinen Begriffen das höchste aller Güter, weil es die Grund* 

bedingung für alle anderen ist. Es ist geheiligt, und derjenige, der es von sich 

wirft, der, um es zu erhalten, nicht bereit ist, alle Leiden auf sich zu nehmen, be* 

geht ein wirkliches Verbrechen ... Die Gesellschaft verurteilt den Selbstmord, 

weil sie der Ansicht ist, daß das Leben die Bedingung für das Glück schafft, und 

weil sie vermeiden will, daß der Wert der Güter, an denen die Menschen hängen, 

in Frage gestellt wird." 8 Hier haben wir es mit einer deutlich „ambivalenten" 

Einstellung zu tun. Nach Halbwachs verlangt die Gemeinschaft einerseits, 

daß verschiedene ihrer Mitglieder ihr ihr Leben zum Opfer bringen, anderseits 

mißbilligt sie dieses Verhalten. Die Psychoanalyse kennt diesen nacheinander 

oder gleichzeitig positiven und negativen Gemeinschaftswillen durch ihre Unter* 

suchungen an Gesunden und Nervösen. Der Zwangsneurotikerbietet ein kon* 

kretes Beispiel für diese Doppeleinstellung: In seinen Zwangshandlungen folgt 

er zuerst seinen unbewußten Instinkten, danach einer höheren moralischen In* 

stanz, dem Uber*Ich, das die Verurteilung der begangenen Handlung fordert. 

Könnte man nicht diese im persönlichen Benehmen beobachtete und durch den 

Gehorsam gegenüber zwei einander entgegengesetzten Kräften hervorgerufene 

Doppeleinstellung auf die Phänomene übertragen, die wir im Verhalten der Ge* 

Seilschaft konstatieren konnten? Man kann jede dieser einander entgegenge* 

setzten Bestrebungen der Existenz zweier einander entgegengesetzter Kräfte zu* 

schreiben, oder der Wirksamkeit einer doppelgesichtigen Kraft, Sadismus*Maso* 

chismus. Wir werden später sehen, was wir von diesen eventuellen Interpreta* 

tionen zu halten haben. Es ist umso interessanter, diese ambivalente Einstellung 

zum Selbstmord zu untersuchen, weil das Individuum selbst oft eine ebensolche 

Doppelstellung einnimmt. Der Tod ist — so wie die Liebe — eines der verwir* 

rendsten Probleme, mit denen die Menschen sich auseinanderzusetzen haben, 

ihre dabei oft so zwiespältige Einstellung wird daher begreiflich, und es ist nicht 

erstaunlich, wenn sich in den Gefühlen und im Verhalten der Allgemeinheit die 

gleiche Unsicherheit wiederfindet; denn auch die Gesellschaft stellt sich die* 

selben Fragen, und auch ihr gelingt es nicht, sie endgültig zu lösen. 

Wenn man die verschiedenen Kategorien der Selbstmorde studiert, be* 
stätigt sich der Eindruck von der ambi* oder polyvalenten Haltung der Ge* 

8) 1. c, S. 462. l ~ 



182 W. Bischler 



Seilschaft ihnen gegenüber; Halb wachs versucht, uns zu zeigen, daß Stel* 
lungnahme, Gefühle und Urteile der Menschen nach den psychologischen 
Ursachen, die den Selbstmord veranlaßt haben, verschieden sind. Folgen wir 
ihm bei seinen Untersuchungen. 

Es gibt Selbstmorde, die einem Opfertod sehr ähnlich sind, diejenigen 
nämlich, die nach einer Mordtat oder nach einem anderen Verbrechen be* 
gangen werden. Der Schuldige fühlt das Bedürfnis, seine Tat zu sühnen, er 
gibt sich den Tod, um seinen moralischen Sturz nicht überleben zu müssen, 
oder um seinen Opfern in das Grab zu folgen, oder schließlich unwidersteh* 
lieh getrieben durch Gewissensbisse und das Gefühl der Schande. Die Ge* 
Seilschaft billigt seine Tat, sie sieht darin die Vorwegnahme der Strafe, die 
sonst sie selbst über den Schuldigen verhängt haben würde. 

Mit einem Wort: Das Individiuum identifiziert sich hier mit der Allge* 
meinheit, es macht ihren Urteilsspruch zu seinem eigenen und legt sich, von 
starkem Schuldgefühl und Strafbedürfnis getrieben, die Strafe auf, die es ver* 
dient zu haben glaubt. Der dem Sadismus nachfolgende Masochismus, die 
Wendung der aggressiven Regungen gegen die eigene Person, zeigen deutlich 
die enge Solidarität zwischen den beiden einander entgegengesetzten Ten* 
denzen. Wenn ein Mensch', der beschlossen hat zu sterben, erst andere tötet, 
bevor er Selbstmord begeht — aus Solidaritätsgefühl mit seinen Opfern, die 
ihn nicht überleben sollen, denen er das für sich selbst befürchtete böse 
Schicksal ersparen will — , so beweist er damit ebensoviel Aggression, wie 
wenn der Mord das Ursprüngliche gewesen wäre und der Selbstmord die 
Folge davon. In beiden Fällen identifiziert sich der Verbrecher auch mit 
seinem Opfer, sei es, daß er für dieses das gleiche (eingebildete oder tatsäch* 
liehe) Unglück wie für sich selbst befürchtet, sei es, daß er den Tod der ge* 
mordeten oder geliebten Person nicht überleben kann, oder sei es, daß er das 
Bedürfnis hat, für seine Tat zu büßen und sein Vergehen wieder gut zu 
machen (Auge um Auge, Zahn um Zahn, Tod um Tod), indem er das 
Schicksal seiner Opfer teilt. Stellen wir fest, daß der spätere Selbstmörder 
meistens geliebte Personen tötet: in ihm streiten Liebe Und Haß, eine ambi* 
valente Einstellung den Liebesobjekten gegenüber. Nach' dieser Darstellung 
kann man sagen, daß der Selbstmörder seiner ganzen Umgebung, der Gesell* 
schaft und auch sich selbst ambivalent gegenübersteht (Autoerotik und Auto* 
destruktion). Der Selbstmord wäre also ein Mittel, dem durch diese Doppel* 
einstellung hervorgerufenen circulus vitiosus zu entfliehen: er wäre die Be* 
strafung für den Narzißmus und die Befreiung von der Todesfurcht. 

Nach Halbwachs' Erklärung identifiziert sich der Verbrecher oft auch 
mit der Gesellschaft, die ja ein nach außen projiziertes Über*Ich darstellt: 
Die von ihr verhängte Strafe soll die Vergeltung für die böse Tat sein, die der 



Selbstmord und Opfertod 183 



Mörder begangen hat und die ihm sein Gewissen zum Vorwurf macht. Indem 
er sich selbst den Tod gibt, greift er der menschlichen Gerechtigkeit vor 
und unterwirft sich dem Spruch eines anderen Richters, der oft viel strenger 
und grausamer ist, als irgendein Vertreter des Gesetzes es gewesen wäre. 

Wir müssen in diesem Zusammenhang daran erinnern, daß Freud auf 
die Verbrecher aus Schuldgefühl und Strafbedürfnis hingewiesen hat. Die 
Situation erscheint nun umgekehrt, denn das Schuldgefühl ist schon vor dem 
Mord vorhanden, während es in den anderen Fällen nach der vollbrachten 
Tat auftritt. Übergänge bilden jene Fälle, in denen der Mörder nach seinem 
Opfer sich selbst tötet, entweder, um seine Schuld zu sühnen oder die geliebte 
Person nicht zu überleben (-Schuldgefühl nach der Tat), oder weil er seinen 
Selbstmord schön vorher beschlossen hatte und nun nicht will, daß die ge=* 
liebte Person ihn überlebt (Schuldgefühl vor der Tat). Es kann aber auch oft 
vorkommen, daß das Schuldgefühl schon vor der Tat besteht, aber erst nach 
begangenem Verbrechen zum Bewußtsein erweckt wird. Man kann aber auch 
sagen, daß die Gesellschaft die Stelle des Opfers einnimmt und in dessen 
Namen Vergeltung fordert. 

Auch gibt es nach Halbwachs Selbstmörder, die sich töten, um der Ge=> 
Seilschaft, ihrer Justiz und ihren Urteilssprüchen Trotz zu bieten. „Der Selbst^ 
mord erscheint gewissermaßen als Herausforderung, als Verwünschung und Ver> 
geltung ... Es sieht aus, als ob der verzweifelte Mensch die Verantwortung für 
seinen Tod auf die Überlebenden abwälzen, ihnen einreden wolle, daß sie 
schuldig seien und sein Selbstmord ihnen als Verbrechen angelastet würde . . . 
Diese Menschen töten sich als Demonstration gegeh^die Gesellschaft, um der 
Menge zu zeigen, welches Rachegefühl, welchen^ Haß sie ihr gegenüber 
empfinden. Der Selbstmord wird zur Rache der Schwachen, ... ein Mittel, um 
die Menschen zur Erkenntnis ihres Unrechtes zu zwingen . . . Das Opfer wird 
nach seinem Tod zum Dämon, der die Überlebenden heimsucht." 9 

In diesen eben angeführten Fällen gehorcht der Selbstmörder nicht mehr 
höheren moralischen Beweggründen, weder der Gesellschaft noch dem Über* 
Ich. Persönliche Motive sind vorherrschend. Aber positives oder negatives 
Interesse an der Gesellschaft spielt immer eine Rolle, denn die Tat des 
PseudorfOpfers, des Selbstmörders, ist gegen die Gesellschaft gerichtet, an der 
er auf diese Weise Rache zu nehmen versucht. Indessen heißt es vorsichtig 
sein. Das Bedürfnis, sich an anderen zu rächen, indirekt diejenigen zu be* 
strafen, die dem Opfer (tatsächlich oder nur vermeintlich) Unrecht zuge* 
fügt haben, kann nicht der einzige Grund, nicht einmal die ausschlaggebende 
Ursache für den Selbstmord sein. Denn die Liebe zum eigenen Ich, der Selbst« 
erhaltungstrieb, sind in jedem Menschen zu stark, zu lebendig, um sich durch 
immerhin sekundäre Wünsche, mögen sie auch noch so heftig sein, un* 

9) 1. c, S. 465. 



184 W. Bischler 



wirksam machen zu lassen. Und außerdem gibt es noch andere Mittel, um die 
Gesellschaft zu treffen und sich an den anderen zu rächen. 

Wir müssen also zugeben, daß die Selbstmörder im wesentlichen ver* 
schiedene Gründe haben, die sie dazu bringen, ihrem Leben ein Ende zu 
machen. Sollte es ein Schuldgefühl sein? Soll man einen latenten Maso* 
chismus, ein Bedürfnis, sich zu opfern, als verantwortlich ansehen? Wir 
werden später noch auf diese Fragen zurückkommen. Vorerst halten wir 
die Tatsache fest, daß der Selbstmörder sich selbst bestraft, bevor er die Alk 
gemeinheit straft, daß sein Ich als erstes zu leiden hat. Wir können also sagen, 
daß im Gegensatz zu den früher untersuchten Fällen nun das persönliche 
Unbewußte handelt, während sonst die Gesellschaft die rächende Instanz 
dargestellt hat. Hier wird das Übersieh selbst durch das Ich bestraft. In 
beiden Fällen aber wird das Ich entweder den heftigen sadistischen Wün* 
sehen des tyrannischen Über^Ichs oder dem Rachebedürfnis des „Es" gegen 
das Übersieh selbst geopfert. 

Gehen wir zu einer dritten Kategorie von Selbstmorden über. Diese umfaßt 
nach Halb wachs „die große Menge der Verzweifelten, die sich in der Geistes* 
Verfassung von Menschen befinden, die verzichten und sich fallen lassen, weil 
sie erkannt haben, daß es nutzlos ist, weiter zu kämpfen". 10 Es scheint auf den, 
ersten Blick, als würde die Gesellschaft in der Genesis dieser Selbstmorde keine 
Rolle spielen: der Einzelne beschließt seinen Tod aus mehr oder weniger seriösen 
und stichhältigen persönlichen Gründen ganz allein, ohne sich mit jemandem zu 
beraten, oft ohne irgend jemanden nachahmen zu wollen. Er beruft sich auf be* 
sondere Gründe: Armut, Elend, Einsamkeit, Abscheu vor dem Leben etc. . . . 
Indessen verhält sich dies nur dem Anschein nach so. Der Mensch fühlt sein 
Elend, seine Verlassenheit deshalb, weil sich die sozialen Bindungen zwischen 
ihm und seinesgleichen gelockert haben. „Die Gesellschaft hat ihre Licht* und 
Schattenseiten; einem verzweifelten Menschen zeigt sie sich nur in den düstersten 
Bildern. Die kollektive Traurigkeit und Melancholie nimmt in ihm Gestalt an, 
findet in ihm ein Bewußtsein, in dem sie sich ausdrücken kann. Nicht in sich 
selbst, sondern in der Gesellschaft sieht der leidende Mensch sein eigenes 
Schicksal an der Arbeit. Die Gesellschaft bringt dem Unglücklichen zu Bewußt* 
sein, daß er unglücklicher ist als die anderen . . ."" Es bedarf nur eines kleinen 
Zwischenfalles, einer geringen Schlappe, einer aufgefangenen Äußerung, einer 
Beeinflussung oder unbeabsichtigten Zustimmung, um den Unglücksbecher zum 
Überlaufen zu bringen und denjenigen, der unfreiwillig (unbewußt) an den Tod 
denkt, davon zu überzeugen, daß man ihn auf diesen Weg verweist . . . Die Ge* 
Seilschaft kann angesichts gewisser Nöte, zu deren Linderung sie sich außerstande 
fühlt, nichts anderes tun, als das Übel lokalisieren, ihren Blick von einem Schau* 
spiel abwenden, das ihren eigenen Lebenswillen schwächen würde, und sich jene 
vom Leibe halten, die ihr nur Anlaß zu unnützer Traurigkeit bieten . . . Der 

10) 1. c, S. 469. 
u)l. c, S. 471. 



Selbstmord und Opfertod 185 



verzweifelte Mensch weiß, daß es für sein Leid kein Heilmittel gibt; er fühlt sich 
ebenso dem Tod geweiht, wie ein zum Opfertod Bestimmter. 

Wenn ein Mensch aus sich selbst die Kraft schöpft, den Entschluß zum 
Selbstmord zu fassen, so ist dieser Wille aus dem Zusammenwirken kollektiver 
Befehle hervorgegangen. Schon das Vorhandensein kollektiver Vorstellungen 
allein genügt, um unsere Aktivität zu einer freiwilligen zu machen. 

Die soziologische These will hier wieder zu ihrem Recht kommen. Sie 
reklamiert die Erklärung der hauptsächlichsten psychologischen Phänomene, 
der Gedanken, des Willens, für sich. Indessen ist die Distanz zwischen diesen 
Theorien und den psychologischen, insbesondere den psychoanalytischen 
Auffassungen nicht so groß. 

Was ist denn tatsächlich diese Gemeinschaftsmentalität, diese „soziale 
Macht", die man scheinbar als eine besondere mächtige und autonome 
Wesenheit betrachtet? Um uns über ihre Beschaffenheit Rechenschaft zu 
geben, wollen wir Halb wachs' Gedanken über den Selbstmord unter* 
suchen. Ihm erscheint der Selbstmord durch eine Schwächung der sozialen 
Bindungen, der Beziehungen, die den Einzelnen mit dem, Leben und der Rea* 
lität verbinden, verursacht. Wenn ein Mensch traurig, niedergeschlagen, ver* 
zweifelt ist, so ist er in diesen Zustand geraten, weil er fühlt und glaubt, daß 
alles und jedermann ihn fallen gelassen haben : Sich selbst überlassen, sieht er 
überall Fremde, ja sogar Feinde. Er projiziert seine eigenen Gemütsbtewe* 
gungen auf die Gesellschaft, schreibt ihr seine persönlichen. Seelenzustände 
zu. Tatsächlich aber bilden sich im Menschen selbst jene psychischen Vor* 
gänge aus, die schließlich zum Selbstmord führen: in seinem Inneren begibt 
sich jene fortschreitende Lockerung der affektiven Bindungen an die Realität, 
die ihn umgebende Welt, an die Gemeinschaft. Die Libido — dürfen wir 
wohl sagen — macht sich frei, wendet sich in das eigene Innere, und diesen 
immerhin beschleunigten Vorgang, der sich ebenso beim Melancholiker ab* 
spielt, empfindet der Mensch wie ein Verleugnet*, ein Verstoßenwerden 
seitens der Gesellschaft. Da er die Rollen vertauscht hat, indem er seine feind* 
seligen und aggressiven Gefühle auf die Allgemeinheit projiziert, meint er 
nun, deren Opfer zu sein. Diese subjektive Interpretation ist teilweise, und 
zwar insoferne richtig, als das Ich geopfert wird, allerdings nicht den sadisti* 
sehen Trieben und der Rachsucht der Gemeinschaft, der der Mensch ange* 
hört, sondern seinen eigenen Aggressionen. Mit einem Wort: Diese aktiven, 
gewalttätigen, zerstörenden Regungen zersetzen den libidinösen Unterbau, 
der den Einzelnen an sein Milieu bindet, sie reißen ihn davon los, isolieren 
ihn immer mehr, wenden sich schließlich gegen ihn selbst, bis er soweit ist, 
sich selbst aus der Welt schaffen zu wollen. Der Mensch wird also zum 
Opfer, aber zum Opfer seines eigenen, anarchischen, asozialen „Es";; er, er* 



186 W. Bischler 



fährt Zurückstoßung und Verleugnung, aber seitens eines Feindes, der in 
seinem eigenen Inneren an der Arbeit ist. Dabei wird das soziale Gefühl zer* 
brochen und zerstört. Das Ich, das nun von diesen belebenden, zu seiner 
Entfaltung notwendigen Kräften nicht mehr genährt wird, verkümmert, siecht 
dahin, ohne die Ursache seines Leidens zu erfassen, und schreibt diese ganz 
zu Unrecht der Gesellschaft zu, die daran vollkommen unschuldig ist. Es 
meint, daß die Allgemeinheit sich von ihm abwendet und sich weigert, ihm 
zu helfen, während es das Ich selbst ist, das sich von ihr loslöst. Die Schick« 
salsschläge, die es niederdrücken oder niederdrücken werden, finden ein be<* 
reites Opfer, das, geschwächt und entkräftet, keinen nennenswerten Wider* 
stand leisten kann; ja, noch mehr, der sadistisch*masochistische Instinkt, der 
Todestrieb in seinem Innern, kommt den äußeren traurigen Erlebnissen als 
Verbündeter entgegen, indem er sie herbeiruft und veranlaßt. 

Wenn wir nun mit Halbwachs die besonderen Bedingungen zum Selbst* 
mord untersuchen, werden wir eine deutliche Bekräftigung dieser These fest* 
stellen können. „Es gibt", sagt Halbwachs, „Gründe, die wir verstehen und 
deren Macht wir fühlen, und andere, die uns anfechtbar erscheinen". Das ist da* 
durch erklärlich, daß der Todestrieb zur Verwirklichung seiner düsteren Ab* 
sichten oft nur ganz minimaler Anlässe bedarf, an die er sich nachdrücklichst an* 
klammert. Unlogisch und vernunftlos, untersucht er nicht weiter, jeder Grund ist 
ihm recht, um danach zu handeln. „Die Ursachen des Selbstmordes liegen i n u n s, 
aber ebenso außer uns. Wenn ein Mensch sich tötet, hat er das Gefühl, durch 
einen Strom von Gedanken fortgerissen zu werden, so daß er nicht mehr fähig 
ist zu unterscheiden, was davon aus ihm selbst gekommen ist und was von außer* 
halb . . . Wenn uns gewisse Selbstmorde absurd erscheinen, so liegt der Grund 
darin, daß sie nicht vom Vernunftstandpunkt aus zu erklären sind, d. h. nicht 
durch die allgemein anerkannten Richtlinien, in denen wir zu denken gewohnt 
sind . . ." Dieser Schluß ist vollkommen einleuchtend, denn Vernunft und Denk* 
fähigkeit, die normalerweise von dem allen gemeinsamen ebenso wie vom per* 
sönlichen Unbewußten genährt werden, verlieren, sobald sie sich von ersterem 
loslösen, ihren sozialen Charakter und werden asozial, unlogisch und autistisch. 
Der Selbstmord kann eine Rache sein, eine Buße, eine Vernichtung oder ein Ver* 
schwinden. Die Unterscheidung ist oft schwierig, sie ist aber, wie wir weiter 
unten sehen werden, von der Vorherrschaft sadistischer oder masochistischer 
Bestrebungen, von der Tätigkeit des Über*Ichs, des „Es", von der Haltung des 
Ichs abhängig. In jedem Fall wird das Ich einer fremden höheren Macht unter* 
worfen und ihr zum Opfer gebracht. Diese Feststellung führt uns wieder zu der 
Frage des Opfertodes zurück, mit der Halbwachs sich in den letzten Seiten 
seiner Schrift befaßt. Er sagt dort: „Beide Todesarten werden von der Gesell* 
schaft gefordert. Während sie aber bei dem von ihr öffentlich organisierten 
Opfertod gewissermaßen den Vorsitz führt, will sie nicht, daß man ihr beim 
Selbstmord, für den sie ebenso die Verantwortung trägt, eine Mitwirkung nach* 
weisen kann . . . Die vollzogene Tat wird von ihr nicht anerkannt, sie wendet 
sich von ihr ab . . ," 12 Der Opfertod nimmt gewohnheitsmäßig rituelle Formen 



12) 1. c, S. 475. 




Selbstmord und Opfertod 



187 



an; die „Gesellschaft beansprucht ihn für sich und rechtfertigt ihn, indem sie 
sein Andenken hochhält . . . Der Selbstmörder aber verbirgt sich, um seine Tat 
auszuführen . . . Die Gesellschaft beansprucht den Opfertod für sich, weil er 
ihr eigenstes Werk ist, hinter das sie sich in ihrer Gesamtheit stellt, weil sie es 
einstimmig gewollt hat. 'Die Opfertat kann nur im Schöße einer Gemeinschaft 
begangen werden, deren gesamte geistige Kräfte im selben Brennpunkt zu* 
sammentreffen . . ."" Im Gegensatz dazu nimmt die Allgemeinheit dem Selbst* 
mord gegenüber eine Haltung ein, die nach den Lebensumständen und gesell* 
schaftlichen Verhältnissen verschieden ist. „Im allgemeinen beschränkt sich die 
Gesellschaft darauf zu konstatieren, daß ein Mensch sich getötet hat; sie be* 
trachtet den Selbstmord als eine Tat, die in gar keiner Weise von ihr ausgegangen 
ist, an der sie also absolut nicht teilhat . . . 14 Es ergeben sich demnach zwischen 
den beiden Phänomenen stark hervortretende Analogien und ebensolche Diffe* 
renzen; die als Verwünschung gedachten und egoistischen Opfertode oder die 
„altruistischen" Selbstmorde stellen die Übergänge dar. Man muß die feinen 
Unterschiede beachten, die H a 1 b w a c h s in seiner allgemeinen Definition des 
Selbstmordes angegeben hat, in der er sagt: „Selbstmord nennt man jeden Todes* 
fall, den das Opfer durch eine, mit der Absicht, sich zu töten, begangene Hand* 
lung selbst herbeigeführt hat und der keinen Opfertod darstellt." 15 

Versuchen wir nun unsererseits, die psychologischen Unterschiede zwi* 
sehen Selbstmord und Opfertod zu analysieren; wir werden dann unsere 
Schlußfolgerungen denen von H a 1 b w a c h s an die Seite stellen und sowohl 
die Berührungspunkte als die Abweichungen herauszufinden trachten. 

Wir haben weiter oben gesagt, daß der Selbstmord durch einen unbe* 
wußten Wunsch nach Selbstzerstörung, durch einen mehr oder weniger aus»« 
gesprochenen Todestrieb (Freud) bedingt ist. Das Ich wird geopfert, trieb* 
hafte sadistische Tendenzen, das „Es", beherrschen die Persönlichkeit. Es 
scheint, daß das Es den Oberbefehl über den Menschen übernommen hat, 
daß es seine Handlungen, Gedanken und Gefühle, sein gesamtes Betragen 
regiert und das Ich gänzlich seinem Willen unterworfen hat. 

Wodurch kann diese besondere Macht des „Es", diese Abdankung des 
Ichs entstehen? Die Ursache kann in einer angeborenen oder erworbenen, 
vorübergehenden oder andauernden Superiorität der instinktiven Triebe oder 
in einer Schwäche des Ichs liegen. Beide Fälle können vorkommen. Es kann 
der Fall sein, daß ein Mensch immer schwach, impulsiv, seinen Launen 
unterworfen ist; seine Stimmung, seine Gedanken und Handlungen hängen 
einzig und allein von dieser unbeständigen wechselnden Kraft ab, deren 
Stärke selbst wieder von den besonderen Konditionen, wie Lebenskraft, Kon» 
stitution und Temperament bestimmt wird. Der Mensch, sein Ich, versuchen, 

13) 1. c, S. 477. 

14) 1. c, S. 478. 

15) 1. c, S. 479. 



188 W. Bischler 



gegen diesen Eindringling, diesen Parasiten im Innern anzukämpfen, aber 
meistens ohne Erfolg. 

Die Schwäche des Ichs zeigt sich auch darin, daß es sich in diesen Fällen 
oft äußerem oder innerem Zwang unterwirft: Der Autorität der Eltern und 
Verwandten, der Gesellschaft, den Gesetzen und Gebräuchen, jeder anderen 
nur etwas starken und dominierenden Kraft, oder eben dem Übersieh (mora* 
lischem Gewissen), das Erbe oder Substitut dieser äußeren Mächte ist. Das 
Ich schwankt demnach zuweilen zwischen einem impulsiven, launenhaften, 
wunderlichen Benehmen und einem passiven Gehorsam gegenüber den er* 
haltenen Befehlen, zwischen einer heftigen und unüberlegten Revolte gegen 
die Autorität und einer vollkommenen Demütigung, Kapitulation vor deren 
Forderungen. 

Wir wissen, daß es verschiedene Arten von unbewußten Instinkten und 
Trieben gibt. Der Gehorsam gegenüber sexuellen und erotischen Trieben 
führt zu Perversionen, zu verschiedenen asozialen und amoralischen Hand* 
lungen. Wenn aber im Gegensatz dazu der Sadismus die Vorherrschaft hat, 
dann kommt es zur Auflehnung gegen die Familie, die Gesellschaft, dann 
zeigt sich Brutalität, Gewalttätigkeit, Aggression und Verbrechen. Ist das 
bewußte^ Ich gleichzeitig stark genug, so wird es versuchen, Widerstand zu 
leisten: so geschieht es bei den Nervösen. Der Mord ist die extremste und die 
typischste Manifestation dieser Situation. Noch ein anderer Fall ergibt sich 
dort, wo! das Ich sich den erwähnten Todestrieben oder masochistischen Re* 
gungen beugt. Die vom Menschen selbst unbewußt gesuchten Schwierig* 
keiten verstärken sich in ununterbrochener Folge von gewöhnlichen Miß* 
erfolgen, Krankheitsfällen und verschiedenen Widrigkeiten bis zum ausge* 
führten Selbstmord. Dieser ist oft der Zielpunkt einer langen Reihe von Un* 
glücksfällen und Katastrophen, die den Menschen niedergebeugt haben, aber 
mehr oder weniger unfreiwillig, unbewußt durch ihn selbst herbeigerufen 
würden. Die Soziologen nennen als Selbstmordursachen alle Arten von Miß* 
erfolg, erlittenes Ungemach, wirtschaftlichen Niedergang, Erlöschen der 
affektiven und sozialen Bindungen (Witwentum, Scheidung etc.). Siebe* 
trachten demnach diese Ereignisse als vorbereitende Gründe, die durch 
Schwächung oder Zerstörung des Zusammenhanges des Einzelnen mit der 
Allgemeinheit ihn unfähig machen, ein normales Leben weiterzuführen, und 
ihn dazu treiben, sich zu töten. Je nachdem, ob diese Bindungen gelöst oder 
zerstört worden sind, sprechen sie von egoistischen oder „anomischen" Selbst* 
morden (Durckheim); sie sehen in diesen Bedingungen einen Beweis für 
die soziale Determinierung des Selbstmordes. Uns erscheint es richtiger, diese 
Ursachen selbst einer psychologischen Determinierung zuzuschreiben, die 
nach und nach Unglücksfälle, Schicksalsschläge, Verzweiflung und schließ* 



lieh die Mordtat selbst herausfordert. Die Tatsache, daß es sich oft um die 
gesamte Menschheit betreffende Ereignisse handelt (Kriege, Krisen, wirt* 
schaftliche Nöte) ändert nichts an dieser These, denn zerstörende Triebe 
können sich ebensogut bei dem in einer Gemeinschaft lebenden, wie beim 
isolierten Individuum manifestieren. Wir können sagen, daß in diesem letzten 
Fall das gemeinsame Unbewußte oder eine Art kollektiver Masochismus die 
hauptsächlichste treibende Kraft beim psychischen affektiven Zerfall der Per* 
sönlichkeit bildet. 

Mit einem Wort, das Ich wird dem sadistischen und gewalttätigen „Es" 
geopfert. Man kann fast sagen, daß es mit ihm identifiziert, als seine Sache, 
sein Sklave angesehen wird. Immer brutaler und dringlicher in seinen For* 
derungen ruft das Unbewußte die verschiedensten Schicksalsschläge herbei 
und geht schließlich soweit, die Vernichtung der Person (Selbstmord) zu 
verlangen. Die Soziologen haben recht mit ihrer Feststellung, daß der be* 
wußte Wille des Selbstmörders bei der Vollendung seiner Tat nicht zur 
Geltung kommt; sie interpretieren sie nur in einem anderen Sinn, indem sie 
die Macht, den Zwang der Gemeinschaft, die Lockerung der sozialen Bin* 
düngen verantwortlich machen, während wir darin eine Manifestation des 
unbewußten Sadismus, des Masochismus des Ichs, und eine Schwächung 
der affektiven libidinösen Fixierungen erblicken, die das Ich mit seiner Um* 
gebung verknüpfen. 

Wir wollen nun einige besondere Selbstmordfälle bei verwitweten, ver* 
lassenen oder isolierten Menschen untersuchen. Der Kummer ist nur ein 
äußerer Anlaß. Um die Genesis des freiwilligen Todes besser zu verstehen, 
wollen wir ihr die der Melancholie an die Seite stellen, so wie wir sie durlch 
die Analyse zu erklären gelernt haben. Ohne in Details einzugehen, wollen 
wir uns erinnern, daß Trauer, Trübsinn, Melancholie zu einem guten Teil 
durch mehr oder weniger jähen Abbruch der affektiven Bindungen an eine 
geliebte Person hervorgerufen werden. Dann kommt es zur Introjizierung 
des Objekts, Identifizierung des Ichs mit demselben und Wendung der un* 
bewußten, aggressiven Tendenzen, die früher gegen das Objekt gerichtet 
waren, gegen das nun umgebildete Ich. Diese nun frei und bewußt gewor* 
denen aggressiven Triebe werden in den Dienst des strengen und unbeug* 
samen Über*Ichs gestellt und äußern sich als Selbstbeschuldigungen und 
Vorwürfe, die der Mensch sich selbst macht. Die gleichen Tatsachen lassen 
sich nun beim Selbstmörder beobachten. Auch er macht sich Vorwürfe, 
leidet an Gewissensbissen, will sich bestrafen, weil er wie der Melancholiker 
die unbewußten feindlichen Gefühle, die er früher gegen das geliebte und 
verlorene Objekt gehegt hat, gegen sich selbst richtet. Er will sich dafür 
bestrafen, daß er gleichzeitig geliebt und gehaßt hat. Was uns hier über* 



190 W. Bischler 



rascht, ist die Tatsache, daß die strafenden Bestrebungen des Melancholikers 
im Dienste des Über*Ichs stehen, während der Selbstmord im allgemeinen 
von dem sadistischen „Es" befohlen wird. Dieser anscheinende Widerspruch 
verschwindet, sobald wir annehmen, daß zwischen dem „Es" und dem Über* 
Ich ein inniges Bündnis gegen das Ich besteht. 

Der Selbstmord in seinen verschiedenen Formen stellt also ein Kompro* 
miß zwischen den grausamen Bestrebungen des Es und den gewalttätigen 
Trieben des Über*Ichs dar. Einerseits finden wir tatsächlich Gehorsam gegen* 
über den zerstörenden, verstümmelnden und Todestrieben, andererseits for* 
dert die moralische Instanz Demütigung und Bestrafung des Ichs. Die yer* 
schiedenen Unglücksfälle, die dem künftigen Selbstmörder zustoßen, sind, 
wie wir gesehen haben, die Vorläufer, die Ankündigung des nahen Todes. 
Sie enthüllen uns die Tätigkeit der beiden Feinde, die sich gegen das Ich 
verbündet haben. Indessen gewinnt in gewissen Fällen das primitive Unbe* 
wußte die Oberhand, z. B. wenn der Selbstmord nach einem Verbrechen 
begangen wird und wenn er den Anschein einer Herausforderung der Ge* 
Seilschaft hat. Die Wirkung des Uber*Ichs zeigt sich dagegen deutlich dort, 
wo ein Mensch sich aus Reue, aus einem Gefühl der Schande, nach einem 
wirtschaftlichen Zusammenbruch oder nach einem Verbrechen tötet; ebenso, 
wenn er das geliebte Objekt nicht überleben will, ob er es nun wider seinen 
Willen (Verwitwung etc.) verloren hat, oder ob er selbst zu seinem Mörder 
geworden ist (Selbstbeschüldigung). 

Wie wir schon gesagt haben, kommt es also zum Selbstmord, wenn die 
sozialen Bindungen sich gelockert haben, mit anderen Worten, wenn unter 
dem Einfluß des Es und des sadistischen Über*Ichs, des Todestriebes, des 
Masochismus des Ichs die Libidobindungen und die an das Objekt und die 
Gesellschaft gebundenen Regungen geschwächt worden sind. Der Selbst* 
mord ist also ein letzter Bruch', der das in Gang befindliche Zerstörungswerk 
vollendet, oder ein Versuch' der Wiedergutmachung, bei dem sich das Ich 
in gewisser Weise für das Liebesobjekt opfert, indem es sein tragisches Ge* 
schick teilt. Wer sich an das Schema von Durckheim und Halbwachs 
hält, wird sagen, daß die egoistischen und anomischen Selbstmorde im allge* 
meinen dem ersten Mechanismus entsprechen, das heißt Ausdruck der aggres* 
siven feindlichen Tendenzen gegen die Gesellschaft, gegen das Ich als deren 
Mitglied, gegen die affektiven Fixierungen des Einzelnen an seine Umgebung 
sind. Das aggressive Es ist dabei der oberste Vertreter des Selbstvernich* 
tungstriebes: Wirklicher Haß gegen die Gemeinschaft, psychischer Zerfall 
des Ichs kommen vor; dabei wird sichtlich auch das Übersieh befriedigt, da 
das Ich 1 aus mehr oder weniger logischen und moralischen Gründen bestraft 
wird. Der klarste Fall dieser Art von Selbstmord ist jener des Mörders; aber 



Selbstmord und Opfertod 



191 



auch' der Freitod des Verarmten, des Verwitweten oder Geschiedenen ge* 
hören zur selben Gruppe, denn man wird, wenn man nur etwas in die Tiefe 
zu schauen versucht, bemerken, daß schon Bankerott, Scheidung oder Tod 
des Lebenspartners oft auf denselben zersetzenden Trieb zurückzuführen 
sind, den man bei dem späteren Selbstmörder beobachten kann. Wir haben 
es hier, kurz gesagt, mit der Wirkung egozentrischer, sadistischer, destruk* 
tiver Triebe zu tun. Wenn wir noch weiter gehen wollen, können wir sagen, 
daß diese Art Selbstmorde die deutlichste, durch einen vollkommenen Maso* 
chismus des Ichs begünstigte Entfesselung der freigelassenen aggressiven 
Triebe darstellen. 

Die altruistischen oder Sühneselbstmorde, die wir als Opfertod bezeichnet 
haben, lassen sich nach dem anderen Mechanismus erklären. In diesen Fällen 
zeigt sich vor allem die Wirksamkeit des Über*Ichs. Die Menschen fühlen 
sich unbewußt schuldig und gehorchen einem Bedürfnis nach Wiedergut* 
machüng und Gerechtigkeit. Dieses primäre Schuldgefühl zeigt sich beson* 
ders bei Selbstmord nach' einer Mordtat oder bei gewissen verwaisten, ver* 
lassenen Menschen, die ihre Einsamkeit nicht ertragen können. Sie identifi* 
zieren sich unbewußt mit dem Gatten, der geliebten Person, der Gesell* 
schaft und wollen sich zu Unrecht oder mit Berechtigung für Vergehen be* 
strafen, die sie begangen zu haben glauben, und für Unglücksfälle, für deren 
Urheber sie sich halten. Sie sagen sich von ihrem Ich los; das rächende, im 
Namen des Opfers oder der Gesellschaft auftretende Übersieh verlangt ge* 
rechte Bestrafung; das Es ist befriedigt, weil die sadistischen Triebe nun freie 
Bahn haben. Mit einem Wort: ein gebender (vergeltender) Trieb, aber mit 
einem Zug von Aggression versehen, scheint bei diesen Selbstmorden der 
treibende Motor zu sein. Mit einer Umschreibung von A 1 1 e n d y (La Justice 
Interieure) könnten wir sagen: „Die Menschen töten sich, weil sie die Gegen* 
sätze in ihren instinktiven Trieben als Schuldgefühl empfinden. Sie bestrafen 
sich, weil ihre (wirklichen oder eingebildeten) Verbrechen nach Rache 
schreien ... Es handelt sich um einen moralischen Masochismus, den die 
Psychoanalyse enträtselt hat . . . Leiden und Tod befreien das Ich von den 
hemmenden Tendenzen des Über*Ichs . . ." 

Gewisse Selbstmorde scheinen nicht in diese Kategorie zu gehören, so der 
Freitod der Primitiven (die Witwe, die sich nach dem Tod des Gatten tötet, 
Männer an der Schwelle des Greisenalters, Diener nach dem Tode des Herrn), 
der der Soldaten im Feld. Tatsächlich sind aber diese Fälle von freiwilligem 
Tod der letzteren Kategorie zuzurechnen; die Menschen wollen sich bestrafen, 
weil sie sich mit ihrem Partner (Gatten, Vorgesetzten etc.) solidarisch und 
für sein Ableben verantwortlich fühlen, sie wollen nicht weiterleben, weil 
ihre libidinösen Fixierungen sich abgeschwächt haben, und gehorchen Be* 



fehlen, die sie von den Verstorbenen oder der Gesellschaft (den Vorgesetzten,, 
den Vorfahren etc.) erhalten zu haben glauben; sie vergessen ihre Persönlich* 
keit, ihr Ich, und identifizieren sich vollständig mit der Gemeinschaft, der 
sie angehören. 

Welches ist nun die Rolle, die die Gesellschaft bei diesen beiden Formen 
des Selbstmordes spielt? Uns scheint es eine dreifache zu sein. Erstens schafft 
sie die Bedingungen für den Selbstmord durch Nachlassen ihres Einflusses 
auf den Menschen, indem sie seine affektiven, Fixierungen herabsetzt, seinen 
Gemeinschaftstrieb und seine libidinösen Regungen lockert und seine psyclu* 
sehe Beschaffenheit, die normalerweise von diesen Trieben ihre Nahrung er* 
hält, durch deren Störung schwächt und verwundbar macht. Zweitens kann 
die Gesellschaft, die im allgemeinen als Repräsentant von Autorität und 
Zwang gilt, zum Objekt für Haß und Auflehnung werden. Sie kann die 
feindlichen Gefühle, die die Menschen auf ihre Umgebung zu projizieren 
versuchen, objektivieren und auf sich konzentrieren (egoistischer, anomischer 
Selbstmord). Schließlich kann sie den wiedergutmachenden „Oblativ*Selbst* 
mord" veranlassen, indem sie Schuldgefühle libidinöser Natur, ein Verlangen 
nach Buße und Lossprechung in den Menschen weckt. Kurz gesagt: Die Ge* 
Seilschaft spielt einmal die Rolle des Liebes* und Wunschobjektes: als Er* 
nährerin, Beschützerin (Mutter), einmal die des Tyrannen und strengen Ver* 
treters der Autorität (Vater). Die Gesellschaft introjiziert sich als kontrol* 
lierendes und strafendes Übersieh, als Objekt erotischer Liebesregungen; 
sie erweckt Verlangen nach Gerechtigkeit und Sühne. 

Wir können nun den Selbstmord als Selbstbestrafung und Selbstvernich* 
tung (Todestrieb) definieren, dazu bestimmt, die Forderungen des Über*Ichs 
oder jene des „Es" entweder durch Schuldgefühl und Wiedergutmachung 
(Aussöhnung, Rückkehr in den Mutterleib) oder durch Feindseligkeit gegen 
die Autorität des Über*Ichs (Vater, Gesellschaft) oder schließlich durch 
masochistische Identifizierung des Ichs mit dem Über*Ich, dem kollektiven 
Unbewußten (Gesellschaft) zu befriedigen. Überdies kann man den Selbst* 
mord als Triumph des Todestriebes ansehen, als einen Sieg des Individuums 
(Es, Ich) über die Gesellschaft (Über*Ich), oder dieser (der kollektiven Be* 
strebungen) über das Es; als Suchen nach Erlösung (von Vorwürfen, Selbst* 
vorwürfen, vom Bewußtsein seiner selbst) durch Flucht in den Mutterleib 
(Nichts, Tod), endlich als Lösung des Problems der narzißtischen Todes* 
furcht. Der Opfertod erscheint als eine dem Ich auferlegte oder von ihm frei* 
willig akzeptierte Strafe, eine Züchtigung des persönlichen Willens, der es 
gewagt hat, sich zu behaupten. et 

Wir wollen uns nun fragen, wie die Genesis des Opfertodes beschaffen ist 
und in welchem Verhältnis dieser zu der eben von uns gegebenen Definition 



Selbstmord und Opfertod 193 



des Selbstmordes steht. Wie wir gesehen haben, nähert er sich dem aufopfern* 

den oder altruistischen Selbstmord, bei dem der Mensch mehr oder weniger 

den Begriff seines Ichs verliert, sich mit der durch das Übersieh repräsen* 

tierten Gesellschaft identifiziert und deren Forderungen gehorcht. Es scheint, 

daß diese Verschmelzung der Individualität mit der Allgemeinheit, dieses 

Aufgehen im sozialen Milieu im Opfertod den höchsten Grad erreicht hat. 

Der einzelne Mensch zählt nicht mehr, er hat nicht einmal mehr das Gefühl 

zu handeln, um erhaltene Befehle auszuführen, er verliert sich vollständig an 

einen fremden Willen. Wir haben hier also eine vollkommene Identifizierung 

des Ichs mit seinem Übersieh. Es wandelt sich zu seinem Bestandteil um, hat 

an seinem Wesen teil (Rückkehr in den Mutterleib). Wir können auch sagen, 

die böse Mutter verlangt von ihren Kindern das Geschenk des Seins zurück. 

Als Kompensation verspricht sie ihnen absolute Glückseligkeit entweder 

durch den Schutz, den sie allen ihren Angehörigen angedeihen läßt, oder 

durch die Teilhaberschaft an ihrer gesamten Macht. Der Opfertod gerät da* 

durch in Verwandtschaft mit der von den Buddhisten gepredigten Lehre vom 

Nichts, vom Nirwana. Götter, Gesellschaft, Gesetze, Sitten und Gebräuche 

sind nur die ausübenden Kräfte dieses höheren sadistischen, kannibalischen 

Willens, des Uber*Ichs, welches das masochistische Ich aufzehrt und ver* 

nichtet. Diese Interpretation erhält dadurch ihre Bekräftigung, daß wir von 

Menschen* und Tieropfern wissen, bei denen dort, wo die Opfer den Göttern, 

Genien oder Schutzgeistern geweiht werden, der Stamm oder die soziale 

Gruppe nach' erfolgter Zeremonie ein heiliges Mahl veranstalten, bei dem die 

Opfertiere verzehrt werden und das meist noch üppige Eß* und Trinkgelage 

im Gefolge hat. Die kannibalischen, grausamen Triebe schaffen sich auf 

diese Weise freie Bahn, es kommt nicht nur zu einer Wiederaussöhnung, son* 

dem zur Identifizierung mit dem mächtigen Schutzgott; das Festmahl sym* 

bolisiert die darüber herrschende Freude. Ebenso wie die Manie (Triumph 

des Ichs zur Versöhnung mit dem Übersieh) auf die Melancholie (Selbst* 

bestrafung des Ichs durch das Übersieh) folgt, folgen, durch das Gefühl der 

wiedergewonnenen Macht hervorgerufen, Freude und Festlichkeit dem Opfer, 

das eine gewisse Verstümmelung des Ichs bedeutet, das einen Teil seiner 

Kraft an das Übersieh abgibt, um sich in dessen Gunst zu setzen. Wenn man 

schließlich die einfachste, von einem einzelnen Menschen vollzogenen Form 

des Opfers (Todes) untersucht, wird man konstatieren können, daß zuerst 

Schuldgefühl vorhanden ist, gefolgt von Selbstbestrafung durch Verstumme* 

lung des Ichs, Überlassung eines Teiles seines Besitzes, seiner Kräfte, und 

dann ein Gefühl der Befreiung und der Freude über die erreichte Versöhnung 

mit dem Uber*Ich (mit den Göttern etc.) und über die Teilhaberschaft an 

dessen Macht. Auf ein einfaches Schema gebracht, lautet das Ergebnis fol* 

Imago XXII/2 13 



gendermaßen: Der Sohn fühlt sich dem Vater gegenüber schuldig, weil er 
ihn töten wollte, er wendet seine aggressiven Triebe gegen sich selbst, ver* 
stümmelt sich (Kastration), um die Gewogenheit des Vaters und die Teil* 
nähme an dessen Macht wieder zu erlangen, identifiziert sich also mit ihm 
und fühlt sich dann doppelt gestärkt und belohnt. 

Vom Standpunkt des Vaters (Gottes, der Gesellschaft) aus betrachtet, stellt 
das Opfer eine mehr oder weniger tyrannische Forderung nach Verstumme* 
lung an den Sohn (die Mitglieder der Gesellschaft, die Getreuen); dann er* 
folgt die Bestrafung des Sohnes, schließlich Verzeihung und Versöhnung. 
Die nachfolgende Freude würde hier weniger dem letzten Umstand ent- 
springen, als der Befriedigung der mehr oder weniger gewalttätigen sadi* 
stischen Triebe. 

Stellen wir nun der soeben gegebenen Deutung die des Selbstmordes zum 
Vergleich an die Seite. Während der Selbstmord entweder eine direkte oder 
indirekte Rebellion des Ichs (des Sohnes) darstellt (Schwächung der affek* 
tiven Bindungen an Übersieh— Vater— Gesellschaft), oder einen Versuch, 
gelockerte libidinöse Fixierungen wieder zu knüpfen, oder endlich' eine 
Selbstbestrafung und Wiedergutmachung (Loskauf), eine Wiedergeburt, be* 
steht der Opfertod in einer totalen oder teilweisen Vernichtung des Ichs durch 
Identifizierung mit den höheren moralischen strafenden Instanzen (Übersieh, 
Vater, Gesellschaft). Der Selbstmord kann also durch aggressive, rachgierige, 
egoistische Motive oder durch masochistische, altruistische veranlaßt werden; 
der Opfertod ist immer Ausdruck oblativer (gebender) Regungen. Wenn wir 
die Stellung der verschiedenen mitwirkenden Instanzen untersuchen, werden 
wir finden, daß das Ich in jedem Fall der Rachsucht des „Es", dem Zorn des 
Über*Ichs, den äußeren zwanghaften Einflüssen zum Opfer gebracht wird. 
Das „Es" spielt eine mehr oder weniger wichtige Rolle, in der es sich einmal 
sadistisch und gewalttätig, einmal masochistisch (Todestrieb) zeigt. Das 
Übersieh tritt in den meisten Fällen selbständig und fordernd auf. 

Wir können nun die ambivalente Einstellung der Allgemeinheit gegenüber 
dem Selbstmord verstehen. Die Gesellschaft fordert die Opferung des schul* 
digen Ichs, des rebellierenden Sohnes, der bestraft werden muß (Rolle des 
Über*Ichs), andererseits aber verurteilt sie manche Formen des Selbstmordes, 
und zwar nicht nur die durch Rebellion des Ichs (Sohnes) verursachten, son* 
dem auch gewisse „oblative" Loskauf*Selbstmorde. Der Grund ist darin zu 
suchen, daß das Ich, das Individuum, sich die rächende und bestrafende Rolle 
angeeignet hat, die die Allgemeinheit sich selbst vorbehalten hat, daß es, 
ohne deren Verdikt abzuwarten, sich selbst sein Unrecht eingesteht und 
damit der Allgemeinheit die Verzeihung zu erpressen meint, die diese erst 
gewährt, nachdem ihr Rachedurst und ihr Zorn gestillt sind. 



Selbstmord und Opfertod 195 



Vergleichen wir nun zum Schluß diese These mit der von Durckheim 
und Halbwachs. Was die beiden Autoren Gesellschaft und sozialen 
Zwang nennen, löst sich nach unserer Darstellung in affektive, libidinöse Bin* 
düngen, in gebende Tendenzen, die im Übersieh oder im Unbewußten aller 
Menschen lokalisiert sind. Es handelt sich um überpersönliche, irrationale, 
alogische Kräfte, denen das bewußte Ich nicht Widerstand leisten kann : Was 
also die Soziologen in eine mehr oder minder abstrakte Wesenheit, die über 
die Gesamtheit der in ihr vereinigten Individualitäten hinausgreift, in die 
Gesellschaft zerlegen, zeigt uns die Psychoanalyse als unbewußte Triebe, die 
auch über das bewußte Ich hinausreichen, es beherrschen und nach ihrem 
Willen lenken. 

Wir haben gesehen, daß Halbwachs und die gesamte soziologische 
Schule die Gedanken, die Willensäußerungen und andere psychologische 
Phänomene als durch die Gesellschaft bedingt, von ihr geformt und in ihren 
Dienst gestellt ansehen; die Psychoanalyse bestätigt diese These von der teil* 
weise außerpersönlichen Natur psychischer Funktionen, denn diese ergeben 
sich ja einerseits durch Differenzierung der sexuellen und sozialen Triebe, 
andererseits verdanken sie dem kollektiven Unbewußten, dem Freud* 
sehen Übersieh (das sexueller und sozialer Art ist) ihr Entstehen. Wenn nun 
Halbwachs erklärt, daß sich in dem von einem beliebigen Menschen ge* 
faßten Entschluß zum Selbstmord der Wille der Gemeinschaft kundgibt, so 
hat er damit recht, sobald man den Terminus Gemeinschaftswillen in dem* 
selben Sinne versteht wie wir: als Auswirkung hereditärer familiärer Triebe, 
die von Eltern und Erziehern vorgeschrieben, durch die Lebensverhältnisse 
geformt werden und dazu bestimmt sind, die affektiven Beziehungen des Ein* 
zelnen zu seiner Umwelt zu beherrschen. 

Dieser Vergleich der beiden Gesichtspunkte erschien lehrreich, weil er 
uns auch in die Lage versetzt, die von den beiden Wissenschaften gemäß ihrer 
Einstellung untersuchten Phänomene besser zu erfassen und zu erklären. 



13* 



MITTEILUNGEN UND DISKUSSIONEN 



Zum Studium des Versprechens 1 



Von 



Ludwig Eideiberg 



Wien 



Die grundlegenden Mechanismen der Fehlleistungen wurden von F r e u d in 
der „Psychopathologie des Alltagslebens" und in den „Vorlesungen zur Einfüh* 
rung in die Psychoanalyse" beschrieben. Freud setzte dann seine Forschungen 
auf anderen Gebieten des seelischen Lebens fort. Diesen Wechsel des Schau* 
platzes seiner Tätigkeit begründet er wie folgt: „Ich glaube auch nicht, daß wir 
diese uns unbekannten Verhältnisse durch weitere Vertiefung in das Studium der 
Fehlleistungen aufdecken könnten. Es wird vielmehr notwendig sein, vorher noch 
andere dunkle Gebiete des Seelenlebens zu durchforschen; erst die Analogien, 
die uns dort begegnen, können uns den Mut geben, jene Annahmen aufzustellen, 
die für eine tiefer reichende Aufklärung der Fehlleistungen erforderlich sind". 2 

Da seither durch seine Arbeiten und die seiner Schüler wichtige Fortschritte 
gemacht wurden, erscheint es nicht unangebracht, gestützt auf die Ergebnisse 
der Neurosenforschung, die Aufmerksamkeit dem Studium des Versprechens 
wieder zuzuwenden. 

Seit Freud wissen wir, daß man bei dieser Untersuchung die Bedingungen, 
unter denen das Phänomen der Fehlleistungen stattfindet, von den Ursachen 
selbst trennen muß. F e d e r n hat diese Bedingungen beschrieben. 3 

Die vorliegende Arbeit wird lediglich die Ursachen der Fehlleistungen be* 
rühren. Vorerst ein Zitat Freuds. 4 „Wir haben gesagt, daß die Fehlleistungen 
Ergebnisse der Interferenz von zwei verschiedenen Intentionen sind, von denen 
eine die gestörte, die andere die störende heißen kann ... Diegestörtenln* 
tentionen geben zu weiteren Fragen keinen Anlaß..." (Sper* 
rung vom Verf.) 

Es scheint uns nun auf Grund der Erfahrungen, die wir beim Studium der Neu* 
rosen gemacht haben, nicht uninteressant, uns auch mit der gestörten Tendenz 
zu beschäftigen. Vorher will ich daran erinnern, daß bekanntlich nicht jede 
unterdrückte, i. e. störende Tendenz zu einer Fehlhandlung führt. Wir sind 
vielmehr imstande, recht häufig Tendenzen, die aus irgend einem Grunde der 
Gesamtpersönlichkeit mißfallen, durch Verurteilung abzulehnen. Was also ist 

i) Nach einer in der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung am 10. März 1936 vort> 
getragenen Mitteilung. 

2) Ges. Sehr., Bd. VII, S. 61. 

3) Paul Federn: Die Ichbesetzung bei den Fehleistungen. Imago, Bd. XIX, 1933. 

4) Ges. Sehr., Bd. VII, S. 56. 



Zum Studium des Versprechens 197 



der Grund dafür, daß eine Tendenz bewußt und verurteilt wird und dann in 
Form einer Fehlhandlung wiederkehrt, oder ohne bewußt zu werden, lediglich in 
Form einer Fehlleistung sich bemerkbar macht? Am einfachsten könnte dieser 
Tatbestand durch Heranziehung quantitativer Momente erklärt werden, doch sei 
vorerst der Versuch gemacht, diesen Sachverhalt genauer zu betrachten. Zu 
diesem Zwecke wollen wir unsere Aufmerksamkeit der bisher vernach* 
lässigten anscheinend harmlosen, immer bewußten Tendenz zuwen* 
den, die Freud als die gestörte bezeichnet hat. In dem Beispiel Freuds vom 
schüchternen jungen Mann, der das Fräulein begleiten möchte, lautet die ge* 
störte Tendenz: „Die Dame begleiten" Diese harmlose Tendenz wird nun durch 
einen plötzlich aufsteigenden aggressiven Es* Wunsch „beleidigen" gestört, als 
Kompromiß beider Tendenzen entsteht das Wort „begleitigen". Versuchen wir 
nun, diese Deutung unseren Patienten zu geben und ihnen an diesem Beispiele ihre 
unterdrückte unbewußte Aggression zu demonstrieren, so schaut die Reaktion 
der Patienten manchmal merkwürdig aus. Wir erwarten im vorhinein, daß der 
Patient, vorausgessetzt, daß er diese Deutung akzeptiert hat, etwa Schuldgefühle 
bekommt und sich seiner Aggression zu schämen beginnt. Statt dessen geschieht 
es manchmal, daß er mit der Frage antwortet: „Ist diese Tendenz wirklich so 
harmlos?" Wenn wir an unsere Patienten denken, die besonders schüchtern sind 
und denen solch ein Versprechen zuzutrauen wäre, so erinnern wir uns, daß 
ihnen diese Tendenz vielleicht nicht so harmlos erscheinen mag, daß manche 
uns auf die Gesetze der Moral, auf die öffentliche Meinung aufmerksam machen 
und uns zu überzeugen versuchen, daß es eigentlich vorteilhaft war, daß die 
Durchführung der Absicht, die Dame anzusprechen, mißlungen ist. Die Patienten 
schrecken vor einer konsequenten Glorifizierung der störenden Tendenz nicht 
zurück, jener Tendenz, die uns aggressiv und deshalb verpönt erscheint. Einige 
von ihnen meinen sogar, daß gerade diese ihr „besseres Ich" repräsentiere. Es hat 
den Anschein, als ob wir mit unserer Deutung, die die bis dahin unbewußt ge* 
bliebene Regung dem Patienten bewußt macht, ein großes Unheil angerichtet 
haben. Statt ihn nämlich zu heilen, also an Stelle der unbewußten Abwehr eine 
bewußte Verurteilung zu setzen und die anschließende Sublimierung zu erleich* 
tern, erreichen wir, daß diese mangelhafte (neurotische) Abwehrform durch eine 
Bejahung ersetzt wird. Mit Rücksicht auf die Kürze der Zeit muß ich mir ver** 
sagen, diese Probleme, die mit der Theorie der Perversion 6 zusammenhängen, 
ausführlich zu erörtern, und begnüge mich mit der Feststellung, daß die Aggres* 
sion, die wir als Es^Regung gedeutet haben, die im Versprechen die Zensur 
durchbrach, hier im Widerspruch zu unserer Deutung als im Dienste des Über* 
Ichs stehend bezeichnet wird. Wir wissen, daß damit die unbewußten Anteile 
des Über^Ichs gemeint sind, und daß die störende Tendenz, die uns als Ausdruck 
einer überstrengen Moral erscheint, diese Strenge den abzuwehrenden infantilen 
Wünschen verdankt. 



S) Siehe dazu L. Eideiberg „Zur Theorie und Klinik der Perversion" (Jahrb. 
Psych, und Neur. Bd. 50/255). 



198 Ludwig Eideiberg 



Die eingehende Analyse solcher Fälle zeigt nämlich, daß neben der bewußten 
Tendenz: „die Dame zu begleiten", ein unbewußter Wunsch, die Dame als 
Objekt für infantile Befriedigungen zu mißbrauchen, bestanden hat. Wir ver* 
muten, daß im konkreten Falle die harmlose Tendenz gar nicht harmlos war, 
daß die angestrebte Handlung abgewehrt werden mußte, weil sie gleichzeitig 
unbewußt eine andere Bedeutung hatte. Wir haben bisher unsere Aufmerksam* 
keit der „störenden Tendenz" zugewendet, umsomehr soll auch die „gestörte" Ge* 
genstand unserer Untersuchung werden; allerdings dürfen wir uns bei dieser 
Untersuchung nicht damit begnügen, den bewußten Wortlaut zu betrachten, 
sondern müssen ihn erst deuten. Diese Deutung zeigt dann, daß hinter dem 
bewußten harmlosen Sinn, ein unbewußter verpönter Trieb* 
wünsch auf seine Befriedigung lauert. Doch erweist sich das Obersich wach* 
samer als das Ich und verhindert durch seine rechtzeitig auftauchende ;,störende 
Tendenz" diese Befriedigung. 

Wenn nun diese Behauptung richtig ist, und wenn sie, wenn nicht für alle 
Fehlleistungen, so doch für eine Gruppe gilt, verstehen wir, weshalb die „stö* 
rende Tendenz" nicht bewußt blieb und durch Verurteilung die „gestörte" er* 
ledigte. Die „störende Tendenz", die junge Dame zu beleidigen, müßte nämlich, 
um bewußt bleiben zu können und an Stelle der „gestörten" zu treten, vor dem 
Forum der Vernunft entsprechende Gründe zu ihrer Rechtfertigung vorbringen 
können, um zu erweisen, daß sie, obwohl grob, noch immer als besser als die 
„gestörte" anzusehen sei. (Statt begleiten — beleidigen.) Nach dieser Formulie* 
rung ist der Mechanismus des Versprechens dem des neurotischen Symptoms noch 
ähnlicher. Die „gestörte Tendenz" entspricht mit Rücksicht auf ihre unbewußte 
Bedeutung dem verpönten infantilen Triebwunsch, die „störende Tendenz" stellt 
den unbewußten Anteil des Ichs dar, der im Auftrage des Über*Ichs die Abwehr 
durch Gegenbesetzung leistet. Diese Gegenbesetzung war in diesem Falle die 
Mobilisierung der Aggression. 

Die Fehlleistung ist auch, ähnlich wie das neurotische Symptom, ein Kom* 
promiß zweier Tendenzen. Diesen Kompromißcharakter verliert sie weitgehend, 
wenn man lediglich die bewußte Bedeutung der gestörten Tendenz berücksichtigt. 
In solchem Falle ist sie kaum ein Kompromiß, sondern meistens ein vollständiges 
Mißglücken der bewußten Tendenz. Wenn wir dagegen die unbewußte Bedeu* 
tung der gestörten Tendenz heranziehen, erkennen wir, daß der junge Mann 
durch dieses Versprechen gleichzeitig seine exhibitionistischen und 
Voyeur*Wünsche, seine Aggression und seinen psychischen 
Masochismus befriedigen konnte. Die Abwehr wurde in diesem Beispiele 
durch die Aggression durchgeführt, außerdem wurde aber der in Betracht kom* 
mende Sexualtrieb nach innen gewendet. Diese Wendung wird uns klar, wenn 
wir das Versprechen des Assistenten heranziehen, der beim Festessen, das zu 
Ehren seines Chefs stattfand, in der Begrüßungsrede statt „anstoßen" — „auf* 
stoßen" sagte. Wir vermuten, daß er durch die an sich harmlose Tendenz, „auf 
das Wohl seines Chefs anzustoßen", seine passiv*f emininen und Voyeur* Wünsche 



, 



Zum Studium des Versprechens 



199 



befriedigen wollte. Wegen dieser verpönten Befriedigung kam es zu einer 
Abwehr durch den unbewußten Anteil des Ichs. Statt seinen Chef zu feiern, seine 
Verdienste zu beleuchten, ihn seiner Ergebenheit zu versichern, erreichte er durch 
das Versprechen die entgegengesetzte Wirkung. Die Stimmung wurde verdorben; 
an Stelle des Chefs wurde der Assistent zum Mittelpunkt der Aufmerksamkeit 
der Anwesenden. 

Es ist klar, daß die zwei Beispiele lediglich zur Illustration unserer Über»» 
legungen dienen, daß unsere Deutungen nur Vermutungen sind. Da das Ver* 
sprechen beider Personen nicht analysiert wurde, bedeutet das Vorgebrachte 
keinen Beweis für die Richtigkeit dieser Formulierungen. Um ihn zu erbringen, 
will ich Beispiele vorlegen, die im Rahmen analytischer Behandlungen unter* 
sucht wurden. 

Patient A: „Wenn wir die Außenstände, — verbessert sich — Schulden meiner 
Frau bezahlt haben." Die Analyse ergab folgendes: Das Wort Schulden wurde 
unterdrückt, weil es geeignet war, die Aggression gegen den Analytiker zu be* 
friedigen: „Du bist schuld, daß meine Frau Schulden hat, denn sie mußte dir das 
Geld für ihre Behandlung geben." Das Wort „Außenstände" bedeutete erstens 
die Wendung gegen die eigene Person; Patient hatte ebenfalls Schulden ge* 
macht, sie nicht bezahlt, statt dessen einem Freunde Geld geliehen. Auf diese 
Weise ersparte er sich Schuldgefühle wegen seiner Schulden, bis die Analyse 
diesen Mechanismus zerstörte. „Außenstände" bedeuten also Aggression gegen 
den Patienten selbst, weil sie ihn an diese unangenehme Episode erinnern. Zwei* 
tens wurde ein Sexualtriebgemisch (anale Qualität) mobilisiert. In diesem Sinne 
bedeutete „Außenstände", daß seine Frau tatsächlich neben unbedeutenden Schul* 
den, ein größeres Vermögen besitzt. Die gestörte Tendenz lautete hier „Schulden 
bezahlt", eine vom Standpunkt des Bewußtseins betrachtet, zweifellos harmlose 
Mitteilung. Erst durch die Einfälle des Patienten erkannten wir, daß das Wort 
„Schulden" gleichzeitig auch geeignet war, eine verpönte aggressive Tendenz zu 
befriedigen, nämlich dem Analytiker vorzuwerfen, daß er schuld sei an diesen 
Schulden, da die Frau des Patienten längere Zeit bei ihm in Behandlung war und 
dafür viel Geld ausgegeben hatte. 

Schulden repräsentieren also neben der bewußten harmlosen Tendenz auch 
eine unbewußte aggressive, dem Es angehörende Regung. 

Um diese Regung abzuwehren, bezw. ihre Befriedigung durch das Aussprechen 
des Wortes „Schulden" zu verhindern, erfolgte eine Abwehr durch den unbe* 
wußten Ichanteil. Die aggressive Regung wird dabei gegen den Patienten gewendet, 
das Wort „Schulden" wird durch „Außenstände" ersetzt, statt des Analytikers 
wird der Patient angeklagt. Doch beschränkt sich die Abwehr nicht auf diese 
Wendung des Triebgemisches. Nicht nur die Richtung wird geändert, sondern 
auch die Qualität des Triebes. An Stelle und neben der Aggression erscheint die 
Sexualität. Das Wort „Außenstände" bedeutet nämlich auch etwas Angenehmes; 
es erinnert, an das außerhalb Wiens liegende Gut, das der Frau des Patienten 
gehört. Die Lust, die an diese Erinnerung geknüpft ist, entspricht der analen 



200 Ludwig Eideiberg 



Qualität des Sexualtriebgemisches. Während wir also bisher bei der Unter* 
suchung eines Versprechens lediglich zwei Tendenzen, eine bewußte harmlose 
und eine unbewußte verpönte unterschieden haben, müssen wir jetzt drei be* 
rücksichtigen: 1. eine bewußte harmlose, 2. eine unbewußte ver* 
p ö n t e, die dem Es angehört, und 3. eine, die ebenfalls unbewußt ist, im Ver* 
gleiche mit der bewußten verpönt erscheint, aber nicht dem Es angehört, sondern 
im Dienste des unbewußten Anteiles des Ichs steht. Die bisher 
gebräuchliche Deutung würde lauten: das Wort „Außenstände" ist der Träger 
einer unbewußten dem Es zugehörenden vom Ich unterdrückten Regung. 

Patient B sagte, nachdem er eine Deutung angenommen hatte: „Sie dürften", — 
er verbessert sich — , „Sie haben recht." Er hatte mir vorher erzählt, daß er sich 
gestern mit seiner Frau ausgesöhnt hatte, und daß sie dann ganz verändert war, 
nämlich ganz aufgelöst, sanft und weich. Wegen dieses Vorfalles war er depri* 
miert und erklärte diese Depression damit, daß diese Veränderung seiner Frau 
nur von kurzer Dauer sein werde. Ich bezweifelte die Richtigkeit dieser Erklärung 
und meinte, daß die Depression wegen der günstigen Veränderung seiner Frau 
entstanden sei. Er hatte bisher seine Aggression in innerer I dentis» 
f i z i e r u n g e mit seiner Frau befriedigt; diese Möglichkeit war jetzt weggefallen; 
nun wurde die Aggression nach innen gewendet. Patient hatte zuerst diese Deu* 
tung bestritten, mußte mir aber dann auf Grund der Einfälle recht geben. Dabei 
ereignete sich das oben wiedergegebene Versprechen. Die Analyse dieses Ver* 
Sprechens ergab: Das Wort „rech* haben" wurde unterdrückt, weil es unbewußt 
die Befriedigung der passiv*homosexuellen Einstellung zum Analytiker bedeutete. 
(Er hat immer recht). Das Wort „dürften" bedeutete erstens eine Wendung des 
Wunsches: „Sie dürfen recht haben", „ich gestatte es". An Stelle der verpönten 
passiven Einstellung trat also die aktive. Zweitens wurde der aggressive Trieb* 
wünsch als Gegenbesetzung mobilisiert; hier bedeutete „dürften": „Viel* 
leicht haben Sie recht, sicher ist das nicht, auch Sie können sich irren." Die be* 
wußte, gestörte harmlose Tendenz lautete hier: „Sie haben recht"; gleichzeitig 
war aber das Wort „haben" geeignet, den unbewußten passiv*homosexuellen 
Es* Wunsch zu befriedigen. Die im Dienste des unbewußten Ichanteiles stehende 
störende Tendenz war durch das Wort „dürften" vertreten. 

Patient C, ein junger Arzt, schrieb neben dem Bette eines Patienten .stehend, 
nach dem Diktat seines Chefs, den Befund. Während der Untersuchung berührte 
der Chef den Arzt mit seinem Kopf, ohne daß dieser sofort Platz gemacht hätte. 
Nach der Untersuchung wurde er deswegen vom Chef ironisch zur Rede gestellt. 
Der junge Arzt erzählt den Vorfall in der Analyse und sagt: „Ich habe da .eine 
kleine Subordination begangen." Er wird von mir auf den Fehler aufmerksam 
gemacht und korrigiert „Subordinationsverletzung". Die Analyse ergab fol* 
gendes: Das Wort Subordinationsverletzung wurde unterdrückt, weil es 
eine Befriedigung unbewußter Aggression gegen den Chef bedeutet hatte (den 



6) Siehe dazu L. Eideiberg: Theorie und Klinik der Pseudoidentifizierung. (Im 
Erscheinen.) " 



Zum Studium des Versprechens 201 

Chef verletzen.) Die Abwehr erfolgte durch das Wort Subordination, 
das erstens eine Wendung der Aggression gegen die eigene Person bedeutet. Der 
Arzt wurde von seiner Familie häufig verspottet, weil er Fehler in der Verwen* 
düng von Fremdwörtern machte. Wenn er jetzt Subordination statt Subordina* 
tionsverletzung oder statt Insubordination sagte, so zeigt er damit, daß seine 
Familie recht hatte, ihn zu verspotten. Zweitens wurde der entgegenge* 
setzte Trieb mobilisiert. Das Wort Subordination bedeutete in diesem 
Sinne: Ich will mich passiv*homosexuell unterwerfen. Die bewußt gestörte, härm* 
lose Tendenz lautete hier: Ich habe eine Subordinationsverletzung begangen. Das 
Wort Subordinationsverletzung war auch geeignet, eine aggressive, dem Es 
angehörende Regung zu befriedigen. Die störende Tendenz war durch das im 
Dienste des unbewußten Ich*Anteiles stehende Wort Subordination vertreten. 

Ein Patient D, der wegen Potenzstörung in die Behandlung kam, und bei 
dem unbewußte Exhibitions* und Voyeurwünsche eine große Rolle spielten, 
sagte: „Um auf das System" (verbessert sich) „Symptom zu sprechen zu kommen." 
Die Analyse dieses Versprechens ergab folgendes: Patient sprach in der Stunde 
sehr gern über seine Impotenz und war unwillig, wenn der Analytiker ihn an 
die Grundregel erinnerte. Er meinte zunächst, daß diese Konzentration auf sein 
Symptom, die Folge seines intensiven Wunsches sei, möglichst bald gesund zu 
werden. Erst nach geraumer Zeit erkannte er, daß umgekehrt diese Konzentration 
Ausdruck seines Widerstandes war, daß er damit die Grundregel durchbrach und 
seine Aggression gegen den Analytiker befriedigte, indem er ihm auf diese Weise 
den noch nicht erzielten Erfolg der Behandlung dauernd vorhielt. Gleichzeitig 
diente die Erzählung und Schilderung seiner Symptome seinen unbewußten ex* 
hibitionistischen Wünschen. Demnach wurde in dem Versprechen das scheinbar 
harmlose Wort Symptom abgewehrt, weil es eine verpönte aggressive und ex* 
hibitionistische Bedeutung hatte. Die Abwehr erfolgte durch den unbewußten 
Anteil des Ichs, indem an Stelle des Wortes Symptom das Wort System ge* 
setzt wurde. Dieses Wort hatte nun folgende Bedeutung: 1. „Ich will folgen und 
nicht von meinem Symptom sprechen, sondern der Grundregel entsprechend 
systematisch auf alles eingehen, auch wenn es noch so unwesentlich aussieht." 
2. „Ich will nicht mehr mit meinem Symptom exhibitionieren, sondern umgekehrt 
den Analytiker und die analytischen Systeme beschauen." Vor der Stunde hatte 
Patient im Kaffeehaus in einer medizinischen Zeitschrift einen Artikel gelesen, in 
welchem der Verfasser die verschiedenen psychotherapeutischen Schulen und 
Systeme' besprach. So wurden durch das Wort System zwei Triebregungen be* 
friedigt, die im Dienste des unbewußten Anteils des Ichs die Abwehr bildeten:) 
eine aggressive Regung, die man mit den Worten ausdrücken kann: „Sie haben 
kein Recht, auf die Autorität der Analyse zu pochen, selbst unter Ärzten sind (die 
Ansichten geteilt", und einer sexuellen Regung: „Ich will folgen und syste* 
matisch arbeiten." Wir sehen, daß der ursprünglich aggressive Triebwunsch, vom 
Symptom zu sprechen, um den Analytiker zu ärgern, erstens nach innen ge* 
wendet wurde (der Patient ärgert sich, wenn er nicht mehr vom Symptom 



202 Alfred Gross 



sprechen darf), zweitens als Gegenbesetzung einen Sexualwunsch, in der Form: 
„Ich will mein bisheriges Desinteressement aufgeben und den Analytiker und 
sein System betrachten", auslöste. 

Der ursprünglich sexuelle Triebwunsch — „Ich will vor dem Analytiker mit 
meinem Symptom exhibieren" — wurde erstens nach innen gewendet — „Ich will 
den Analytiker betrachten" — , und zweitens entstand als Gegenbesetzung ein 
aggressiver Wunsch: „Ich will ihm die zahlreichen Systeme seiner Lehre zum 
Vorwurf machen." Die bewußte gestörte Tendenz lautete hier: „um auf das 
Symptom zu sprechen zu kommen". Das Wort Symptom war gleichzeitig ge* 
eignet, der Befriedigung unbewußter, exhibitionistischer und aggressiver Es* 
Regungen zu dienen. Das Wort System stand im Dienste des unbewußten Ich* 
anteils. 

Zusammenfassung 

1. Die analytische Untersuchung zeigt, daß die bisher beim Studium des Ver* 
Sprechens vernachlässigte „gestörte Tendenz" von Bedeutung ist, da sie neben 
der bewußten harmlosen eine unbewußte verpönte Bedeutung besitzt. 

2. Bei anderen Fehlhandlungen, vor allem beim Vergessen, wurde die Bedeu* 
tung der gestörten Tendenz bereits von Freud gewürdigt. 

3 Der Mechanismus des Versprechens wird folgendermaßen beschrieben: Ein 
Satz oder Wort, das ausgesprochen werden soll, hat neben der bewußten noch 
eine unbewußte Bedeutung, die der Befriedigung infantiler Triebwünsche dient. 
Um diese Befriedigung der Es* Wünsche zu verhindern, setzt die Abwehr durch 
den unbewußten Anteil des Ich ein. Diese Abwehr erfolgt erstens durch die 
Wendung des die Befriedigung anstrebenden Triebgemisches gegen die eigene 
Person, zweitens durch die Mobilisierung des entgegengesetzten Triebgemisches. 

4. Die Entscheidung darüber, ob dieser Mechanismus bei jedem Versprechen 
oder nur bei einer Gruppe vorliegt, ist derzeit noch nicht möglich. 



Zur Psychologie des Geheimnisses 1 

Von 

Alfred Gross 

London 

I. 

Dostojewskis Romanheld „Der Jüngling" lebt jahrelang in der Phantasie, 
reich zu werden, steinreich. Wenn es ihm gelänge, so reich zu werden wie Roth* 
schild, würde er nichts davon merken lassen; wie früher würde er in abge* 

i) In italienischer Sprache in „Rivista Italiana di psicanalisi", Februar 1934 erschienen. 



Zur Psychologie des Geheimnisses 



203 



schabten Anzug über die Straße gehen, kein Mensch würde wissen, daß er uner, 
meßhch reich sei. „Mir genügt das B e w u ß t s e i n", läßt ihn der Dichter sagen 

Das Beispiel zeigt eine Spielart des phantastischen Denkens, u. zw die welche 
wir mit dem Worte „Geheimnis" bezeichnen. 

In der psychoanalytischen Arbeit drängt sich das Phänomen häufig genug auf 
Denn, wenn schon der Alltagspsychologie angehörig, trifft man es auch beim 
Kranken an und dann unter interessanten Bedingungen. 

Wenn wir - zunächst unabhängig von den Erfahrungen der Analyse - ver* 
suchen, den Begriff aus dem Gebrauch des täglichen Lebens abzuleiten, so können 
wir teststellen: das Geheimnis erscheint besonders unsozial, denn es verliert seine 
Eigenschaften, sobald sein Inhalt der Gesamtheit angehört. Sein Wesen ist das 
Wissen einer Person um einen Tatbestand unter Ausschließung aller übrigen 
von diesem Wissen. Die Ausschließung enthält die Dynamik des Geheimnisbe. 
gnffes. Gerade in ihr liegt seine Macht. 

Die Ausschließung der Gesamtheit macht das Geheimnis gleichsam zum Privat, 
besitz und reiht es assoziativ in die Besitztümer des Menschen ein Von ihnen 
unterscheidet es sich durch Verborgenheit. Es ist ein Besitz, von dem die anderen 
nichts wissen, vergleichbar dem versteckten Golde des Geizhalses. Aber kein kon* 
kreter Besitz wie Gold und Eigentum, sondern ein ideeller gleich Ehre und Ruhm 
Aso ein gleichzeitig verborgener und abstrakter Besitz, was ja nicht das, 
selbe ist. 

Die Besitztümer überleben den Menschen, der Besitz „Geheimnis" verhält sich 
anhänglicher; er ist bereit, mit seinem Träger zugrundezugehen. Hierdurch tritt 
er in die Analogie mit den körperlichen „Besitztümern" des Menschen, seinem 
Kopf, seinem Herzen, seiner Hand etc. Er erweist sich also enger mit ihm ver* 
bunden als materieller und ideeller Besitz. 

Auch von diesem individuellen Besitz („Körperteile") unterscheidet sich das 
Geheimnis als Besitz noch: Jene nämlich, wertvoller und treuer als äußerer Be* 
sitz, sind doch allzu treu. Unveräußerlich erheben sie den Anspruch, immer da 
zu sein und bei ihrem Herrn zu bleiben. Er muß sie behalten. Anders das Ge* 
heimnis. Sein Besitzer k ann es behalten, wenn und solange er will, kann es aber 
auch ausgeben, wenn und wann er will; kann es verschenken, verkaufen, ver* 
tauschen. 

Dieser Besitz „Geheimnis" vereint also die Vorzüge des Goldes mit denen der 
Organe und läßt die Nachteile beider Kategorien vermissen. Es hat aber noch 
eine Eigenschaft, die alle bisherigen weit übertrifft und in den Schatten stellt- es 
ist regenerationsfähig. Ein verlorener Arm wächst bei aller Treue zu seinem Be* 
sitzer nicht wieder nach. Das Geheimnis, einmal preisgegeben, ist nur seinem In. 
halte nach verloren, während das Gefäß bestehen und bereit bleibt sich mit 
neuem Inhalte zu füllen. Wir sehen hier, daß am Geheimnisbegriff Inhalt von 
Funktion unterschieden werden muß, daß „Geheimnis" als verborgener Inhalt 
eines Tatbestandes etwas anderes ist als „ein Geheimnis haben" als Seelen, 
zustand. Das letztere ist ein „Tischlein deck' dich", das sich auf den Wink seines 



Besitzers beliebig erneuern kann. Wir erkennen sofort, woran das liegt: der Ge* 
heimnisinhalt ist kein Organ, sondern Produkt seines Besitzers. Von ihm ge* 
schaffen, wie seine Worte, seine Gedanken, seine Phantasie; oder auf körper* 
lichem Gebiete wie sein Atem oder seine Ausscheidungen. Überflüssig zu er* 
ganzen, daß man in der Geheimnis f u n k t i o n dann die Parallele zur Funktion 
produkteschaffender Organe wie der Sprechwerkzeuge, der Lungen oder der Aus* 
scheidungsorgane finden kann. 

Hier ist eine Einschaltung zur Abgrenzung unseres Begriffes von dem der Phantasie 
nötig: Die meisten der dargestellten Attribute sind auch der Phantasie eigentümlich, vor 
allem auch die Regenerationsfähigkeit. Es sind eben sehr verwandte Phänomene. Im hier 
gemeinten Sinne (vgl. das Beispiel des „Jünglings") präsentiert sich das Geheimnis als 
eine Abart, ein Sonderfall des phantastischen Denkens. Es kommt dieser Betrachtung aber 
gerade auf den Sonderfall an, nämlich auf die eigentümliche subjektive Wertigkeit, die 
der Mensch jenem Teil seiner Phantasieprodukte beilegt, die er zu seinem „Geheimnis" 
macht. Diese Wertigkeit legt er ja keineswegs allen seinen Phantasien bei. 

Nehmen wir unsere Überlegung wieder auf, so finden wir schließlich, daß das 
Geheimnis seinen Träger ebensosehr zur Preisgabe wie zur Zurückhaltung seines 
Inhalts drängt. Mit anderen Worten, es wirft den Menschen in den dem Ana* 
lytiker wohlbekannten Ambivalenzkonflikt zwischen Hergeben und Behalten. 
Hiermit bereits ans Ziel unserer Überlegung gelangt, fragen wir, ob nicht viel* 
leicht völlige Identität zwischen dem Phänomen des Geheimnisses und den 
Körperausscheidungen (bezw. den Ausscheidungsorganen) in unserem Unbe* 
wußten besteht. 

Einen merkwürdigen Beitrag für unsere Auffassung liefern die romanischen 
Sprachen: das Geheimnis heißt im Italienischen Jl segreto" (im Französischen 
Je sectet"). Das lateinische „sectetum" heißt: — das Ausgeschiedene. 

II. 

Machen wir direkt den Sprung in die Erfahrung des Analytikers, um zu sehen, 
ob und wie weit sie unsere Überlegung bestätigt. 

Zunächst das Phänomen der Übertragung, jene erstaunliche Erscheinung, daß 
ein uns fremder Mensch zwangsläufig dahin gerät, uns seine tiefsten Empfin* 
düngen und Gefühle zuzuwenden. Die Erfahrung zeigt, daß diese Übertragung 
seiner Empfindungen und Gefühle auf unsere Person sich zwar allmählich mit 
dem wachsenden Vertrauen und Sichverstandenfühlen einstellt, daß sie aber, 
stoßweise an bestimmten Stellen hervorbrechend, uns den sonst verborgenen Grad 
ihrer Heftgikeit offenbart. An welchen Stellen der Analyse geschieht das? Hier* 
auf läßt sich, für jeden Patienten gültig, antworten: immer dann, wenn er es über 
sich gebracht hat, uns eines seiner Geheimnisse anzuvertrauen. Hat er das getan, 
so sehen wir regelmäßig mit seiner Erleichterung eine ausgesprochene Gefühls* 
bewegung zusammen gehen, die sich an unsere persönliche Adresse richtet. Oft 
hat diese Gefühlsbewegung unmittelbare Wirkung auf körperliche Funktionen, 
aber unter diesen sind es vor allem die Ausscheidungsorgane, die sich zugleich 



Zur Psychologie des Geheimnisses 205 

mit der Gefühlsbewegung melden, am häufigsten in Gestalt eines Tränenstroms, 
bei manchen aber in Gestalt eines Blasen* oder Stuhldranges. Umgekehrt ver* 
suchen manche Patienten, schon erfahren in dieser Situation, ihr zu entgehen, 
und entleeren vor der Sitzung, oft mit großer Regelmäßigkeit, Darm oder Blase, 
um, wie sie sagen, in der Stunde nicht davon belästigt zu werden. Immer steht 
dieses anscheinend so ordentliche Verhalten dann im Dienste des „Widerstands". 
Der Druck von Blase oder Darm vor der Sitzung war der körperliche Ausdruck 
einer Mitteilungsspannung gewesen, und mit der Entleerung jener Or» 
gane vor der Sitzung konnten die Patienten diese Spannung aufheben und weiter 
im Widerstand verharren. 

Einem Patienten, dem ich nach einer ausgesprochenen „leeren", also im Widerstand 
verbrachten Stunde sage, daß er das Wesentliche, was ihn unbewußt z. Zt. beschäftige,' 
nicht vorgebracht habe, fällt darauf sofort ein: Vor der Stunde hätte er beim Urinieren 1 
beobachtet, daß sein Glied länger geworden sei, nicht mehr die gewohnte kindliche Form 
habe. In dieser Mitteilung lag der Schlüssel zum Verständnis seines Widerstandes und zu 
seiner Auflösung. 

Aber auch ohne das Auftreten solcher Körpererscheinungen im Widerstand, 
zeigt dieses Stadium ganz allgemein etwas allen den Spielarten und Erscheinungs* 
formen des Widerstandes Gemeinsames: den Kampf zwischen Zurückhaltung 
und Hergabe eines Besitzes. 

Im täglichen Leben beobachtet man eine Analogie dieser Mitteilungsspannung, 
wie wir sie aus der Übertragung kennen, am Verhalten des Verliebten. In den 
ersten Stadien seiner Beziehung zeigt er im allgemeinen die Tendenz, sich seinem 
Partner „anzuvertrauen", und spricht ohne Not von Dingen, die er bisher ge* 
heim hielt. Dieses spontane Aufgeben von Geheimnissen, die sogenannte „Ver* 
traulichkeit", gehört zu den Vorboten eines Prozesses, der beim Austausch von 
Zärtlichkeiten endet. Das spontane Aufgeben von Geheimnissen wird daher auch 
allgemein wie eine Art Sympathieerklärung empfunden und erinnert den Ana» 
lyüker an das bei kleinen Kindern viel beobachtete Einnässen auf dem Arm einer 
ihre Sympathie erweckenden Person. 

Ein Patient mit ausgedehntem sexuellem Phantasäeleben definierte die „ideale Geliebte" 
als die, „mit der ich alle meine geheimen Phantasien teilen kann." Andererseits machen 
viele Personen aus der Tatsache ihrer psychoanalytischen Behandlung selbst ein striktes 
Geheimnis. Knüpfen solche Patienten während ihrer Analyse Liebesbeziehungen an, so 
kann man sicher erkennen, wann eine solche Beziehung ernsteren Charakter annimmt : 
dann nämlich, wenn es den Patienten drängt, seinem Liebesobjekt die Tatsachen seiner 
Behandlung mitzuteilen. 

Ein Patient mit ausgesprochenem Analcharakter hatte entsprechend der zurückhaltenden 
Tendenz seines Ichs viele Geheimnisse. In der Analyse trat dies erst hervor, als es ge* 
lungen war, seinen Zwang zur Stuhlretention soweit zu beheben, daß er ihm weder bei der 
Organfunktion selbst noch auf Sublimierungsstufen derselben Störungen verursachte. Mit 
anderen Worten: Er konnte bereits regelmäßig defäzieren, pünktlich seine Zahlungen 
leisten, Briefe beantworten, Aufträge ausführen etc., und nun zeigte sich in der Analyse ein 
merkwürdiges Verhalten: Umständlich und mit Erweckung angespannter Aufmerksamkeit 
begann er eine Geschichte zu erzählen, aber er kam damit nicht recht weiter; ehe es klar 



206 Alfred Gross 



war, um was es sich handelte, hatte er sich unterbrochen, um eine neue Geschichte zu be* 
ginnen mit derselben Wichtigkeit, derselben Erweckung von Spannung, um auch diese 
um einer dritten willen abzubrechen usf. Er benahm sich wie der Schreiber eines Kriminal»* 
romans, der ein Kapitel um das andere den Leser mit Erwartungen erfüllt, deren Befriedi* 
gung er hinausschiebt bis ans Ende — um häufig dann einen leeren und unbefriedigenden 
Schluß zu bringen. Was machte unser Patient? Er hatte sich nach Opferung seines Zurück* 
haltungssymptoms dasselbe neu geschaffen, nunmehr lediglich in der Übertragung. Sein 
Ich hatte ihm die Möglichkeit zur Weiterbetätigung der Retention reserviert — in Gestalt 
des Geheimnisses. So weit war der Vorgang einfach als anale Reaktionsbildung anzu* 
sprechen. Je weiter aber die Analyse fortschritt, je mehr sie von der analerotischen Krank-» 
heitsoberfläche aufhob, um mehr und mehr von phallischen Tendenzen, infantilem Nar* 
zißmus und Kastrationsangst zu zeigen, die alle von der analen Symptomatik verdeckt ge» 
wesen waren, um so mehr wandelte sich auch sein Verhalten zum Geheimnis: nun begann 
er auch außerhalb der Analyse bei Ereunden und Bekannten, sich mit Andeutungen wichtig 
zu machen, die auf seinen Besitz eines Geheimnisses schließen ließen. Zunächst begnügta 
er sich mit Andeutungen, ohne sich über den Geheimnisinhalt zu ergehen. Als es der 
Analyse dann gelang, einen Teil seiner Kastrationsangst zu beheben, verwandelte sich 
wiederum sein Verhalten in bezug auf seine Geheimnisse : Nun begann er, auch vom I n* 
halte derselben Mitteilung zu machen, zuerst in Andeutungen, später in richtigen Aus* 
führungen, — er wurde indiskret. Erst am Schluß der Behandlung, als ein geregeltes 
Genitalregime von seinem Leben Besitz ergriffen hatte, fiel der letzte Rest seiner Ge* 
heimnisfunktion, die indiskrete Geschwätzigkeit, völlig fort. Er hatte es nun nicht mehr 
nötig — weder das Geheimhalten, noch das Ausschwatzen. 

Kommt man bei solchen Beobachtungen zur Annahme einer identifizierenden 
Beziehung zwischen dem Geheimnisinhalt und den Exkrementen Stuhl und Urin, 
so will man erfahren, ob sich die Parallele auch auf andere Ausscheidungen aus* 
dehnen läßt, und macht dabei eine merkwürdige Entdeckung: Es besteht auch 
eine Relation des Geheimnisphänomens zu den Genitalsekreten, aber hier tritt 
das Geheimnis in veränderter Form auf. Ein Beispiel mag das verdeutlichen. 

Das Beispiel zeigt die Wandlung im Schicksal des „Geheimnisses" im Laufe der 
Analyse. Der Geheimnisinhalt macht bei unserem Patienten alle Stadien durch, 
vom tiefverborgenen wichtigen Besitz bis zu seinem völligen wertentäußerten 
Verschwinden. Dieses trat ein, sobald der Patient die genitale Stufe voll erreicht 
hatte. Es war ein infantiler Besitz gewesen, den er aufgab, als die Analyse ihn 
hatte erwachsen werden lassen. Dazwischen hatte er einige Stadien durchge* 
macht, deren auffälligstes das Bedürfnis war, mit seinem Geheimnis sich bei 
anderen wichtig zu machen. Der Wandlung des Geheimnisphänomens war eine 
andere parallel gelaufen, nämlich die allmähliche Verschiebung des Sexual* 
regimes vom analen über ein phallisch*exhibitionistisches Stadium zum genitalen. 

Nach diesen Beobachtungen können wir, unsere anfänglichen Vermutungen 
revidierend, etwa folgendes feststellen: 

1. Es besteht tatsächlich im Unbewußten eine nahe Beziehung unseres Be* 
griffes zu den Ausscheidungen. Aber es muß betont werden, daß nur der Ge* 
heimnis i n h a 1 1 mit diesen identifiziert werden kann. 

2. Der Begriff des Geheimnisses ist nicht einheitlich, sondern einer Wandlung 









Zur Psychologie des Geheimnisses 207 



unterworfen, die ihrerseits von den Wandlungen des Sexualregimes abhängig ist. 
Über diese Wandlungen unseres Phänomens oberhalb der analen Stufe müssen 
wir einige genauere Betrachtungen anstellen. 

III. 

Wir hatten gesehen, daß die Geschwätzigkeit, in die unser Patient geraten war, 
genau so enge Beziehungen zum Geheimnisphänomen hatte, wie das schweigende 
Verbergen beim analen Charakter, freilich andere: Diese Geschwätzigkeit, wie 
wir sie aus dem täglichen Leben von den sogenannten Klatschbasen beiderlei Ge* 
schlechts kennen, diesen wichtigtuenden Schwätzern beim Stammtisch und beim 
Kaffeekränzchen, die immer etwas Neues über den gerade abwesenden Nachbarn 
oder Freund mitzuteilen haben (und gewiß selten etwas Gutes), sollte uns an 
ihr Vorbild erinnern: die kleinen Mädchen und Jungen in der Schule im Alter 
der Vorpubertät. Hier finden wir dieselben Atmosphäre, gewitterschwanger von 
Geheimnis und Wichtigkeit. Und hier entdecken wir auch, daß das Geheimnis 
nicht einfach ein Sublimierungsprodukt der Inhalte von Blase und Darm sein 
kann. 

Zwar werden die kindlichen Verrichtungen der Abgabe von Kot und Urin 
durch die Erziehungsnormen schon äußerlich in die Sphäre des Geheimen, des 
Abgesonderten gebracht. Hier aber in der Vorpubertät füllt sich der Geheimnis* 
begriff mit einem neuen, vielleicht seinem wichtigsten Inhalt. Jede Generation 
von neuem wird instinktiv die ersten Regungen ihrer Geschlechtlichkeit geheim 
halten, instinktiv sie zu verbergen streben; aber mit der gleichen Heftigkeit treibt 
es sie auch zur Mitteilung in irgend einer Form, und in diesem Zwiespalt zwi* 
sehen Verbergungs* und Mitteilungsbestreben scheint auf dieser Stufe der Sinn 
des Geheimnisbegriffes eingeschlossen zu sein. 

Wenn ein lljähriges Mädchen eines Tages die Turnstunde nicht mitmacht und ihr 
' Abseitsstehen so zu verbergen strebt, daß die Neugier der anderen darauf fällt; wenn sie 
— mit anderen Worten — den Eintritt ihrer ersten Menstruation auf eine Weise geheim 
hält, daß alle Kameradinnen wissen, worum es sich handelt, so tritt in diesem Verhalten das 
Geheimnisphänomen uns in seiner ganzen Zweideutigkeit vor Augen. Einem solchen 
Geheimnisträger ist nicht wohl, solange die anderen nicht mindestens wissen, daß er ein 
Geheimnis hat, und darin liegt der Unterschied zum analen Geheimnistypus beim „Jung* 
ling" von Dostojewski, das dem Verhalten des Geizhalses gleicht, der seinen Schatz ja 
wirklich vor den anderen verbergen will. Im zweiten Typus, dem des kleinen Mäd* 
chens, liegt eine exhibitionistische Note, die gleiche, die unser Patient nach den ersten 
analytischen Veränderungen in seinem Verhalten zeigte. 

Die erste Fortentwicklung vom Analen hinweg gipfelt also in dem Bestreben 
des Geheimnisträgers zu zeigen, daß er etwas „habe". Verbinden wir hiermit die 
Beobachtung, daß dieses Bestreben mit seiner großen Regelmäßigkeit im Lebens* 
ajter der Pubertät auftritt und dort stets eine besondere Wichtigkeit in An* 
spruch nimmt, so werden wir uns fragen, ob es nicht einen Grund, sowohl für 
diese Regelmäßigkeit, wie für die besondere Wichtigkeit des Auftretens gerade 
dieser Form des Geheimniserlebnisses gerade in diesem Lebensalter gibt. Hierzu 






208 Alfred Gross 



müssen wir untersuchen, an welcher Stelle das Kind den Begriff des Geheim* 
nisses entwickelt. Wann, fragen wir, erlebt das Kind zum ersten Male „Ge* 
heimnis"? 

IV. 

Ohne weiteres schöpfen wir die Antwort aus der analytischen Erfahrung. Wir 
kennen die Schranke, auf welche die Wißbegier des Kindes im fünften Lebensa 
jähre, mitunter auch früher, zu stoßen pflegt, in der Zeit zu stoßen pflegt, in der 
das frühkindliche Sexualleben auf dem Höhepunkt seiner Entwicklung steht. Wir 
wissen, wie häufig der letzte Akt des Dramas, das wir Ödipuskomplex nennen, 
damit erreicht wird, daß das Kind auf seine Fragen nach der Herkunft der Kin* 
der, nach dem Unterschiede der Geschlechter, nach dem Schicksale seiner eignen 
Genitalien unzureichende, falsche oder gar keine Antworten erhält. Dann erlebt 
das Kind zum ersten Male „Geheimnis". Oft genug auf recht empfindliche Weise. 
Es sieht sich ausgeschlossen von etwas, was die Erwachsenen haben, ausge* 
schlössen von einem Wissen um Tatsachen, deren Existenz es wahrgenommen hat, 
ohne sie erfassen zu können. Es erfährt, daß es Dinge gibt, die — es nicht er* 
fährt. „Wenn Du groß bist, dann wirst Du es erfahren", sagen die Erwachsenen. 

Erfahren wir in der Analyse von solchen Zurückweisungen kindlichen For# 
schungstriebs, so bekommen wir immer einen starken Eindruck von der trauma* 
tischen Bedeutung solcher Vorgänge. Das Kind verträgt es nicht immer gut auf 
seinem Zuge der Eroberung der Außenwelt (der auf weite Strecken ein Ent* 
deckungszug ist) aufgehalten zu werden und auf eine Schranke zu stoßen, die es 
nicht durchbrechen kann. Im Allgemeinen kann es sich mit Versagungen ab* 
finden, besonders gut, wenn es dieselben versteht oder ihre Aufhebung in der 
Zukunft erwarten darf, so z. B. mit der Versagung von Körperfunktionen, zu 
deren Betätigung es zu klein ist, wie etwa die Genitalfunktion. Ganz anders ist 
es, wenn zwei Versagungen sich miteinander kombinieren, wie z. B. die Ver* 
sagung einer Funktion mit der Versagung eines Wissens. 

Hier scheint uns die Geburtsstelle des Geheimniserlebnisses beim Kinde zu 
liegen. Es stößt auf die Kombination zweier Versagungsqualitäten, es wird 
gleichzeitig von einer Funktion und von einem Wissen ausgeschlossen. Eines 
allein hätte es vielleicht ertragen, beides zusammen nicht. 

Ein Patient hat bis zum Alter von 3 i / i Jahren bei den Eltern geschlafen, sich normal 
entwickelt, keinerlei Störungen gezeigt. Erneute Schwangerschaft der Mutter führt zur 
Ausquartierung des Kindes aus dem Schlafzimmer und zu einer plötzlichen Fernhaltung 
von den gewohnten Zärtlichkeiten der Mutter. Das Kind, das unter dem Verlust dieser 
Zärtlichkeiten (erste Versagung) nicht besonders zu leiden scheint, zeigt einen täglich ver* 
mehrten Fragedrang nach den verschiedensten Gegenständen. Schließlich bekommen seine 
Fragen spezielleren Charakter, richten sich auf private, häusliche Vorgänge, Beziehungen 
der Eltern und vor allem die „Krankheit" der Mutter. Man verstummt, weicht aus, man 
wird bei seinen erneuten Fragen ungeduldig, weist es schließlich schroff zurück. Es ver* 
stünde das nicht, sei noch zu dumm (zweite Versagung). 

Jetzt beginnt der bisher intelligente Knabe wirklich „dumm" zu werden; er verliert 
seine Fragelust, wird schweigsam und die bisherige Offenheit seines Verhaltens weicht zu* 



nehmend der Neigung, sich trotzig und traurig zurückzuziehen. Das gute Verhältnis zur 
Mutter ist zerstört, und es gelingt derselben trotz aller Bemühungen nicht, das alte Ver* 
trauen wieder herzustellen. Auf Fragen, was er, stundenlang in seinem Zimmer zurück* 
gezogen, tue, antwortet er nicht oder ausweichend. Man beobachtet ihn heimlich, und 
findet ihn mit Häusgerät oder Spielzeug beschäftigt, womit er sich phantastisch im Flüster* 
tone unterhält. Über den Sinn seiner Spiele gibt er keine Auskunft. 

Erst in der Analyse erweist sich ihr anal*sadistischer Inhalt. Beim Schulbeginn hat er 
bereits eine ausgesprochene Lernhemmung, vermag außer Zahlen nichts aus der anschau* 
liehen Welt aufzunehmen, bleibt bald hinter seinen Mitschülern zurück. Mehr und mehr 
verfällt er in eine Art von Rechenzwang, der ihn völlig okkupiert, vermittelst dessen er 
aber nach außen hin wenigstens als glänzender Rechner geschätzt zu werden vermag. Diese 
Fähigkeit benutzt er alsbald in objektfeindlicher Richtung, etwa wie der Chiromant sein 
geheimes Wissen, um sich damit eine Art Achtung zu erzwingen. In der Pubertät ist er 
zu einer radikalen Verleugnung der genitalen Regungen genötigt. 

Was hier zur Charakterwandlung und späteren Neurose geführt hat, liegt auf 
der Hand: die brennende Frage seines Ödipuskomplexes war die Sorge gewesen, 
eines Tages auch „erwachsen" im genitalen Sinne sein zu können. Die erste Ver* 
sagung ertrug er gut, indem er den verminderten Zärtlichkeitsempfang seitens 
der Mutter mit der Uberbesetzung seines Wißtriebes kompensierte, der gerade 
in Blüte stand. Solange der befriedigt wurde, konnte das Kind an einer Stelle 
„wachsen" und sich über seine genitale Kleinheit trösten. Auf den Wißtrieb fällt 
nun die zweite Versagung, und dieser zeigt sich das kindliche Ich nicht ge* 
wachsen. Es wird betroffen vom Trauma des Geheimnisses — der Erwach» 
senen. Und nun kommt der Vorgang zustande, der aller Charakterbildung zu* 
gründe liegt, wie wir aus Freuds „Das Ich und das Es" wissen: eine Objekt* 
besetzung wird abgelöst durch eine Identifizierung. Das Kind wendet sich von 
der bisher geliebten Person ab, nimmt aber deren Eigenschaften in sein Ich auf, 
auch diejenige Qualität des Objekts, die zum Trauma g e* 
f ü h r t h a t, die Qualität des Geheimnishabens. Wir können ohne weiteres hin* 
zusetzen, daß hier, wie wahrscheinlich in sehr vielen Fällen, das Kind den Ge* 
heimnisbesitz der Erwachsenen unmittelbar mit der Vorstellung des Genitales der 
Erwachsenen identifiziert hat, und daß das „Geheimnis" damit begonnen hat, 
jenen ersehnten Besitz samt seiner Funktion dem Kinde voll zu ersetzen. 

V 

Zum Schluß wollen wir versuchen, unsere Ergebnisse zu formulieren: 

1. Das Geheimnisphänomen, abhängig von den Wandlungen des Sexual* 
regimes, macht oberhalb der analen Stufe seinerseits Wandlungen durch. 

2. Auf der analen Stufe steht der Inhalt im Vordergrunde und imponiert 
als Besitz, der nicht hergegeben werden soll. Bei Erschütterung des Analregimes 
verliert das Geheimnis mehr und mehr von seinem Besitzcharakter und gerät in 
den Konflikt zwischen Zurückhaltung und Hergabe. 

3. Bei weiterer Annäherung an die genitale Stufe verstärkt sich die Tendenz zur 
Wirksamkeit nach außen, und das Geheimnis tritt in den Dienst der Exhibition. 

Imago XXII/2 14 



210 S. H. Fuchs 



(Andeutungen, Wichtigtun etc.) In diesem Stadium erinnert es an das Verhalten 
der Kinder in der Pubertät. 

4. Schließlich bekommt das Geheimnis immer mehr die Qualität eines zu sehen* 
kenden Gutes, eines Mittels, sich mit der Außenwelt in freundliche Beziehung zu 
setzen (Vertraulichkeit, Sympathiekundgebung), endlich eines Mittels der Liebes* 
Werbung. 

5. Auf diesem Wege verschiebt der Begriff seinen Wertakzent von der Qualität 
des Besitzers auf die Qualität der Funktion. 

6. Seine Herkunft aus dem Ödipuskomplex kann die Analyse an pathologischen 
Entwicklungen feststellen, bei denen sich ergibt: 

a) das Geheimnis kann in der frühkindlichen Sexualperiode als trauma* 
tisches Agens auftreten und diese beenden. 

b) Es kann in dieser Situation vom Kinde mit dem Genitale der Erwachsenen 
identifiziert und (auf diesem oder anderem Wege) als Ersatz für seine 
Ödipuswünsche aufgenommen und ins Ich verarbeitet werden. 



Zum Stand der heutigen Biologie 

Dargestellt an Kurt Goldstein: „Der Aufbau des 

Organismus". 1 

Von 

S. H. Fuchs 

London 

Vorbemerkung 

Die folgenden Mitteilungen über einige Grundlagen der modernen Neurobio* 
logie gehen vom Werke Kurt Goldsteins als eines ihrer Exponenten aus. 
Es soll damit nicht gesagt sein, daß er ihr einziger oder bedeutendster Vertreter 
sei, noch daß die von Goldstein vertretenen Auffassungen und mitgeteilten Tat* 
sachen ausschließlich von ihm gefunden worden seien. Die Grundauffassung 
durchsetzt vielmehr in solchem Maße die jgesamte neuere Biologie, Physiologie, 
Anatomie, Medizin, Psychologie, Soziologie, Philosophie, ja anscheinend selbst 
Physik und Chemie, daß selbst denjenigen, die sonst anders zu denken gewohnt 
sind, auffallen sollte, wie sehr viel mehr neue Denkweisen in den Umständen 
der Zeit begründet liegen als in etwa plötzlich wie zufällig auftauchenden neuen 
Ideen und Beobachtungen einzelner Köpfe. Immerhin wird es kein Zufall sein, 
daß gerade Goldsteins Arbeit weit über sein engeres Fachgebiet hinaus in stei* 

i) K. Goldstein: Der Aufbau des Organismus. Einführung in die Biologie unter 
besonderer Berücksichtigung der Erfahrungen am kranken Menschen. Martinus Nijhoff, 
Haag, 1934, X u. 363 Seiten. 



\ 



Zum Stand der heutigen Biologie 211 

gendem Maße im letzten Jahrzehnt das Interesse derjenigen gefunden hat, die 
den Kontakt mit der Entwicklung der Naturwissenschaft im ganzen nicht ver* 
missen wollen. Im Speziellen veranlassen mich noch die im folgenden angege* 
benen Gründe gerade das Werk Goldsteins zur Basis zu nehmen: 

1. Die Konzeption ist eindeutig, entschieden, radikal und ohne Korn* 
promisse durchgehalten. Hier wird mit der Ganzheitsauffassung durch 
und durch Ernst gemacht, niemals handelt es sich um bloße Phrasen. 
Dabei bleibt G. immer Biologe. Ob er von Reflexen spricht, von 
Tonusveränderungen oder vom Wesen biologischer Erkenntnis handelt, 
oder Begriffe wie Norm, Gesundheit und Krankheit, Leben und Geist neu 
abzugrenzen sucht, ob er sich mit Gestaltpsychologie, Psychoanalyse auseinander? 
setzt, über analytisches und synthetisches Vorgehen, über Erkennen und Han* 
dein besinnt: stets geht er von den Dingen aus und kehrt zu ihnen zurück, stets 
bleibt im Mittelpunkt der konkrete Mensch in seiner konkreten Welt, immer 
ist es der gleiche Wurf der gleichen Persönlichkeit, die die Fackel ihrer Grund* 
Überzeugung durch Zeiten und Dinge trägt und sieht, wie weit sie erleuchten 
kann und wo neue Dunkelheiten locken. 

2. Goldsteins Werk erschien jetzt erstmalig in Buchform, in seinen Haupt* 
ergebnissen zusammengefaßt, gibt also den neuesten Standpunkt seiner eigenen 
Lehre wie auch der Neurobiologie im allgemeinen wieder. Der Stil ist klar 
und einfach und kann auch vom Unverbildeten mit größtem Gewinn gelesen 
werden. Ein ähnliches Werk, auf dem man eine Darstellung des uns hier be* 
schäftigenden Stoffes hätte bauen können, ist ein Werk von C. v. Monakow 
und R. Mourgue.'Ich hätte dies ohne das Erscheinen des Buches von Gold* 
stein auch getan. Eine Kostprobe mag die Schwierigkeiten, die Gedanken der 
Autoren in allgemein verständlicher Weise wiederzugeben, vielleicht illustrieren: 

„Wir haben oben ein Beispiel für die Wiederherstellung des neuralen Gleich* 
gewichtes bei einem Fall negativer Isolierung oder apathischer Anastole (Para* 
lyse) gegeben, die nach einer Emotion spontan erfolgte. Besonderes Interesse 
verdienen unter diesem Gesichtspunkt jene Heilungen, die unter dem Einfluß 
des religiösen Instinktes eintreten (Heilungen, die in Notre*Dame de Lourdes 
beobachtet werden). Das klinische Material dieser Fälle ist wenigstens (nach 
unserer Kenntnis) noch nicht vom biologischen Gesichtspunkte aus studiert 
worden. Interessant dabei ist die Tatsache, daß die Tätigkeit der Syneidesis 
hierbei oft spontan in Erscheinung tritt. In diesen Fällen ist die Heilung in* 
dessen meist das Resultat einer langen Inkubationszeit, in deren Verlauf die 
biologische Rolle des religiösen Instinktes dadurch in Erscheinung tritt, daß das 
Symbol, das ihn ausdrückt (persönlicher Gott) für die Syneidesis eine synthe* 
tische Kraft prospektiven Charakters von seltener Stärke bildet." (Seite 267..) 
Oder Seite 291: „Daneben steht die Gruppe B, die in sich fast den ganzen Rest 
der Affektivität, oft in potentieller Form, absorbiert. Meistens geschieht das 

2) „Biologische Einführung in das Studium der Neurologie und Psychopathologie", 
Stuttgart, 1930. 

14* 



212 S. H. Fuchs 



unter der Form der Ekklisis und nicht unter der der Klisis, wobei ausschließlich 
die agglutinierte Kausalität als Ausdrucksmittel zur Verwendung kommt. Gegen 
das Kakon, das unter den verschiedensten Formen auftritt, verteidigt sich das 
Individuum mit energischen, obwohl häufig untauglichen Mitteln. Das Kakon, 
begleitet von einer Reaktion der Ekklisis in schwankender Dauerform, bildet 
beim Schizophrenen den hauptsächlichsten Inhalt seiner psychischen Welt." 

Wie man sieht, ist ein Studium dieser speziellen Sprache nötig, um zu ver» 
stehen, was hier gemeint sein könnte. Ich glaube wenigstens nicht, daß andern* 
falls irgend jemand nach Lektüre dieser Sätze mehr von der Welt der Schizo* 
phrenen weiß als vorher. 

Unvergängliche Sätze aus Schopenhauer „Über Schriftstellerei und Stil" 
fallen einem ein. Indessen ist das Buch v. Monakows sehr lesenswert, umfassend 
und reich in der Anlage (in gewissem Sinne reicher als das Goldsteins) und 
voller Anregung. Aber ich gehe wohl nicht fehl in der Annahme, daß es für den 
Nichtfachmann oder ganz speziell Interessierten nicht möglich sein wird und 
auch nicht lohnen würde, die nötige Zeit zum Studium aufzubringen. 

3. Für mich ist die vorliegende Arbeit Goldsteins kein Buch. Aus jeder Zeile 
fast spricht die wohlbekannte Stimme des verehrten Lehrers, unter dessen An* 
regung und Leitung ich über zwei Jahre arbeiten durfte. Verklungene Töne aus 
einer Welt, die im wahrsten Sinne des Wortes verschwunden ist — ! Viele Stun* 
den der Belehrung, die offiziellen Vorlesungen, Vorträge, Seminare und die 
noch viel schöneren der improvisierten Demonstrationen, Zweifel, Diskussionen 
mit ihren neuen Überzeugungen, neuen Problemstellungen, tauchen auf und sind 
so sehr mit dieser Darstellung verwoben, daß ich sie schwerlich trennen könnte. 
Die besondere Art der Anregung, die von Goldstein ausgeht, ist untrennbar mit 
der menschlichen Beziehung verschmolzen. Sie kann nur von einem jener sei* 
tenen Menschen ausgehen, denen es wirklich um die Sache zu tun ist, deren 
Überzeugungen nicht ablegbar sind wie ein Anzug, sondern gewachsen wie dem 
Vogel das Gefieder. Deshalb nimmt man auch den manchmal stark subjektiven 
Blickpunkt gerne hin, weil man fühlt, daß er wahrlich zu einem Ganzen gehört 
und in diesem aufgeht. Als ich vor über zehn Jahren dort gerade zu arbeiten 
angefangen hatte, war ich mit Untersuchungen an einem aphasischen Hirnver* 
letzten beschäftigt. Ich schrieb mein Protokoll nach der Art, wie ich es, natür* 
lieh nach klassischem Schema, gelernt hatte. G. nahm es vor, um es mit uns 
durchzusprechen. Seine Miene ist mißmutig, fast finster, die Mundwinkel nach 
unten gezogen — da plötzlich heitert er sich auf: er kommt an eine Stelle, wo 
ich geschrieben hatte: „er freut sich" (eine Bemerkung, die gewöhnlich als „nicht 
dazu gehörig" unterblieben wäre). Strahlend sagt er: „Sehen Sie, das freut 
mich, daß Sie das geschrieben haben!" 

Die Wirkung solcher Anregung ist, oder war es wenigstens für mich, eine sehr 
intensive Bereicherung der Innenschau und Befreiung von Einschränkungen 
durch Schulmeinungen, eine richtige Aufklärung über uneingestandene, verbor* 
gene Vorurteile, Schärfung des Blicks für verborgene Theorien, die sich als 



Zum Stand der heutigen Biologie 



213 



„Tatsachen" maskieren, eine neue Aufgeschlossenheit und Mut zu neuen Beob* 
achtungen. Sie ist in gewissem Sinne einer Analyse vergleichbar, wenn auch in 
ganz anderer Weise und in einer anderen, weit unpersönlicheren Sphäre. Und 
doch vom Moralischen nicht trennbar. Es kann nur für G. sprechen, daß ich 
niemals meine Kritik verlor und keinen Grund fand, sie zu verbergen oder zu 
verkleinern. Besonders wenn es um die Psychoanalyse ging, mit der ich mich 
gerade neuerdings wieder intensiver zu beschäftigen begann, sah ich deutlich, 
daß hier auf nicht zulänglicher Basis Kritik geübt wurde, daß das Werk 
Freuds, nur teilweise gekannt, schon im Aufgreifen umgeformt war und dann 
kritisiert wurde. Ich habe aber später gelernt, daß die Stellung eines Menschen 
und Forschers zur Analyse ein ganz besonderes Kapitel ist und keine Rück* 
Schlüsse auf andere Gebiete zuläßt. Als ein Ausdruck davon soll diese uns ja spe* 
ziell interessierende Seite des Goldsteinschen Werkes hier am Ende in einem 
Anhang gesondert besprochen werden. 



Um 



risse 



„Freudig war vor vielen Jahren 
Eifrig so der Geist bestrebt, 
Zu erforschen, zu erfahren, 
Wie Natur im Schaffen lebt. 
Und es ist das ewig Eine, 
Das sich vielfach offenbart; 
Klein das Große, groß das Kleine, 
Alles nach der eignen Art. 
Immer wechselnd, fest sich haltend, 
Nah und fern und fern und nah; 
So gestaltend, umgestaltend — 
Zum Erstaunen bin ich da." 

(Goethe) 

Man könnte Goethes gesamte naturwissenschaftliche Schriften zitieren. Viele 
Sätze davon könnte Goldstein geschrieben haben, fast alle würde er, so glaube 
ich, unterschreiben. So sehr ist die hier vertretene Naturauffassung mit der 
Goethes verwandt. Das folgende aus „Bildung und Umbildung organischer 
Naturen" kann geradezu als Wegweiser zur Grundeinstellung dienen: 

„Wenn wir Naturgegenstände, besonders aber die lebendigen, dergestalt ge* 
wahr werden, daß wir uns eine Einsicht in den Zusammenhang ihres Wesens 
und Wirkens zu verschaffen wünschen, so glauben wir zu einer solchen Kenntnis 
am besten durch Trennung der Teile gelangen zu können; wie denn auch wirklich 
dieser Weg uns sehr weit zu führen geeignet ist. Was Chemie und Anatomie 
zur Ein* und Übersicht der Natur beigetragen haben, dürfen wir nur mit wenig 
Worten den Freunden des Wissens ins Gedächtnis zurückrufen. 

Aber diese trennenden Bemühungen, immer und immer fortgesetzt, bringen 
auch manchen Nachteil hervor. Das Lebendige ist zwar in Elemente zerlegt, aber 



man kann es aus diesen nicht wieder zusammenstellen und beleben. Dieses gilt 
schon von vielen anorganischen, geschweige von organischen Körpern." 

Auf die mannigfachen Beziehungen zur neueren Psychologie und Philosophie 
ist schon hingewiesen worden. Es sei hier nur Bergson — Scheler — K 1 a * 
ges — Gestaltpsychologie erwähnt. Im engeren Fachsinn gehen Gold* 
Steins Ansichten ganz bewußt auf John Hughlings Jackson (1834—1911) 
zurück. Dieser Mann kann als der geniale Vorläufer der ganzen modernen Neu* 
robiologie bezeichnet werden. Forscher wie H. Head in England, Pierre 
Marie in Frankreich, und besonders v. Monakow haben ihn der Mitwelt 
wiederentdeckt. Im Jahre 1865 wurden seine Ansichten nicht verstanden und 
gegenüber denen Brocas nicht beachtet. Der Siegeszug der Lehre von der 
Lokalisation von Funktionen begann, ein Ereignis, das nach Goldsteins Meinung 
verhängnisvoll für die Entwicklung der Neurologie war und diese Um 100 
Jahre zurückwarf. J. H. Jackson vermied von vornherein den Fehler, das 
Gehirn landkartenartig in isolierte Einzeldistrikte aufzuteilen und diesen von 
einander unabhängig gedachte Leistungen zuzuschreiben, zugunsten einer wahr* 
haft biologischen Betrachtungsweise. Kernpunkte seiner Lehre sind: 

Es besteht eine Hierarchie der Funktionen nach verschiedenen „levels" (Lei* 
stungsstufen), nach denen der Aufbau des Nervensystems in seiner Entwicklung 
erfolgt und auf die der Abbau bei Schädigung zurückgreift. Die höheren, pnt* 
wicklungsgeschichtlich jüngeren Apparate wirken hemmend auf die niederen 
ein. Hirnkrankheiten lehren nicht so sehr, was die verlorenen Teile geleistet 
haben, als was die erhaltenen leisten können. Dem entsprechend muß man stets 
zwei Symptomgruppen unterscheiden: 

1. negative, d. h. unmittelbare Ausfallssymptome, 

2. positive, entsprechend den mehr automatisierten Leistungen der subkorti* 
kalen Zentren. 

Sieht man ein altes hirnpathologisches Buch von vor etwa 100 Jahren, z. B. 
B u r d a c h, so stehen Betrachtungen über Gott, die Natur und dergleichen vor* 
an. Dann kömmt eine lange Epoche, die sich besonders wissenschaftlich vorkommt. 
Da ist nur von „Tatsachen" — Reflexen, Ganglienzellen, Zentren etc. — die Rede. 
Erst heute wieder fühlen Autoren wie v. Monakow, Goldstein sich gehalten, 
ihre Darstellungen in ähnlich umfassendem Rahmen zu geben. Die Biologen un* 
serer Zeit werden philosophisch, unsere Philosophen biologisch und begegnen 
einander so. Die wechselseitige Abhängigkeit von Standpunkt, Methodik, Pro* 
blemstellungen wird klar, die Problematik bei der Feststellung von Tatsachen, 
die Mystik hinter den Hirnkarten wird sichtbar. Ein Reflex etwa, der so unbes* 
fangen als eine anatomisch*physiologische Elementartatsache hingenommen wor* 
den war, mag weniger über den Zustand des Nervensystems des Patienten aus* 
sagen als über die Weltanschauung, etwa die politische, des Untersuchers. Diese 
Formulierung, wenn auch zutreffend, ist von mir natürlich absichtlich überspitzt. 
Es kommt darauf an, zu begreifen, wie sich die Befunde der Anatomie, Histo* 
logie, Physiologie, Klinik entsprechen und gegenseitig zu bestätigen scheinen, 



Zum Stand der heutigen Biologie 215 



während sie in Wirklichkeit auf den gleichen uneingestandenen Voraussetzungen 
beruhen. Es muß verstanden werden, daß es sich um dieselben Probleme handelt, 
ob wir vom Reflex sprechen, der uns vielleicht sehr gleichgültig ist, oder von 
Fragen des spezifisch menschlichen Seins, das uns offenbar täglich beschäftigt. 
Diese Darstellung geht vom Menschen aus. Sie betrachtet den Organismus als 
eine Einheit und denkt sich ihn nicht aus Teilen zusammengesetzt. Sie verspricht 
sich daher nichts von Untersuchungen, die auf künstliche Isolierung einzelner 
Teile hinauslaufen, sei es im Experiment, sei es im zerstückelnden Tierversuch. 
Sie glaubt nicht an die Entwicklung „komplizierterer" Wesen aus „einfacheren", 
da sie gar nicht von vorneherein anzugeben vermöchte, was „einfach" ist. Sie 
sieht in pathologischen Erscheinungen gesetzmäßige Abwandlungen und bemüht 
sich, die Gesetze dieser Abwandlung zu verstehen. Das „Normale" gehört in die 
Reihe dieser Abwandlungen und wird nur von außen durch Umstände, die 
überdies wechseln können, als etwas Besonderes ausgezeichnet. Diese Auffassung 
lehnt es ab, Definitionen über das Wesen des Organismus, des Lebens etc. vor* 
auszuschicken, hält solche vielmehr für das Endergebnis der Untersuchung. Es 
scheint als die erste Aufgabe der Biologie, „die lebenden Wesen in systematischer 
Weise in ihrem jeweiligen So*Sein so eindeutig zu beschreiben, daß wir sie in 
ihrer Besonderheit erfassen", unterscheiden, in Beziehung setzen können. Gegen* 
stand und Methode stehen in Wechselwirkung und werden mit einander und 
aneinander entwickelt. Das einzig mögliche Kriterium wissenschaftlicher Er* 
kenntnis ist ihre Fruchtbarkeit. 

überblick der Ergebnisse in ihren Beziehungen zu 

Teilgebieten 

Ein Versuch, den Inhalt gedrängt darzustellen, würde nur verwirrend wirken, 
soweit der Leser über den lebendigen Hintergrund der Anschauung nicht ver* 
fügt. Wir wollen lieber nur in großen Linien angeben, worum es sich handelt, 
und dafür ein paar Muster konkreter Ergebnisse ein wenig ausführlicher dar* 
stellen. 

Neurologisches in engerem Sinne 

Für diejenigen, die etwa glauben sollten, daß uns solche Gebiete an sich nichts 
angehen, sei nur daran erinnert, daß Freud seine „Ansprache im Frankfurter 
Goethehaus" (1930!) mit den folgenden Worten beginnen läßt: 

„Meine Lebensarbeit war auf ein einziges Ziel eingestellt. Ich beobachtete die 
feineren Störungen der seelischen Leistung bei Gesunden und Kranken und 
wollte aus solchen Anzeichen erschließen — oder, wenn Sie es lieber hören: erp 
raten — , wie der Apparat gebaut ist, der diesen Leistungen dient, und 
welche Kräfte in ihm zusammen* und gegeneinanderwirken . . ." 3 



3) Ges. Sehr., Bd. XII. 






216 S. H. Fuchs 



a) Wogegen es geht 

Wir müssen das wenigstens hier andeuten. Sonst wird uns die Kampfnatur 
dieser Lehre nicht klar, und wir halten leicht manches für ganz selbstverständlich, 
das nicht nur so lange gar nicht beachtet wurde, sondern an dessen Gegenteil 
noch heute von manchen Seiten aufs zäheste festgehalten wird. 

In Schlagworten: Gegen den Aufbau des Organismus aus isolierten Einzel* 
teilen nach dem Schema des Reflexbogens. Gegen die Vorstellung, daß Lei* 
stungen sich aus elementaren Bausteinen zusammensetzen, in welche sie sich 
vielmehr erst auf Grund sehr schwieriger, spät erworbener, abstrahierender Ein* 
Stellung zerlegen lassen. Gegen die Lokalisation von Funktionen. Was lokalisier* 
bar ist, ist immer nur der Grad und die besondere Färbung der Störung der 
Gesamtfunktion, die mit der Schädigung einer bestimmten Stelle verknüpft üst. 
Voraussetzung ist genaueste Berücksichtigung und Analyse aller Änderungen 
des Verhaltens. Infolgedessen: Gegen die „Plus*Minus"*Methode. Darunter ist 
eigentlich das ganze „klassische" Untersuchungsschema zu verstehen. Z. B.: Pa* 
tellar*Sehnenreflexe + oder — , bestenfalls „verstärkt" oder „abgeschwächt", Ba* 
binski + oder — , Nachsprechen — , Nachmachen von Bewegungen +, Sprach* 
Verständnis „erhalten" etc., etc. 

Die Kritik stützt sich auf die Unhaltbarkeit der klassischen Lokalisations* 
lehre, und zwar vom anatomischen, symptomatologischen und psychologischen 
Standpunkt aus, sowie auf die positiven Ergebnisse der Forschung auf diesen 
und anderen Gebieten von den verschiedensten Seiten in allen Ländern. 

b) Positives 

I. Klinisches: Die Überwindung der Fehler der alten Methode macht den 
Weg frei zu besserer Beobachtung, Beschreibung, neuen Fragestellungen. Ganz 
besonders fruchtbar hat sie sich gezeigt 

1. auf dem Gebiete der Störungen höheren Verhaltens: Stirnhirnsyndrome, 
Sprachstörungen (Aphasielehre), Lese*, Schreibstörungen, Seelenblindheit, 
etc. (besonders mit Gelb), 

2. der Erforschung der Bedeutung des Kleinhirns, 

3. der sogenannten induzierten Tonusveränderungen (besonders mit Riese). 
IL Methodisches: Bestimmte methodische Forderungen werden aufgestellt : 

1. Möglichst vollständiges Beschreiben. Kein Vorrang einer Erscheinung vor 
der andern. 

2. Nicht mit dem Effekt begnügen. Genaue Analyse schließt das „Wie" des 
Zustandekommens einer Leistung ein. 

3. Keine Erscheinung kann ohne Bezug auf den ganzen Organismus und die 
Gesamtsituation betrachtet werden. 

III. Theoretisches: Das Nervensystem wird im Gegensatz zur Neuronen* 
lehre als ein Netzwerk betrachtet, in das Ganglienzellen eingeschaltet sind. Es 
steht mit der Außenwelt durch die Sinnesapparate und die beweglichen Körper* 



Zum Stand der heutigen Biologie 217 

teile in Beziehung es funktioniert immer als Ganzes. Das System ist stets in Er* 
regung. Ein Reiz ruft eine Veränderung der Erregungsverteilung hervor mit 
einer sichtbaren, manifesten Änderung, der „örtlichen Nahewirkung" und einem 
(latenten) Fernteil. Die Ganglienzelle stellt eine Vergrößerung des Systems dar 
und tendiert dazu, als eine Art Bremse die Erregung zu dämpfen und lokalisiert 
zu halten. Außer der räumlichen Nähe des Reizansatzes spielt die verschiedene 
Adäquatheit des Reizes für die verschiedenen Teile des N. S. eine Rolle. Dies 
wird „funktionelle Nahewirkung" genannt. Der qualitative Faktor, der so ein* 
geführt wird, berücksichtigt die Tatsache der spezifischen Zuordnung umschrie* 
bener Teile zu bestimmten Gegebenheiten der Umwelt. Das Lokalisationsproblem 
wird ausführlich erörtert. Die Differenzierung des Nervensystems auch vom 
anatomisch*histologischen Gesichtspunkt aus, wird natürlich nicht bestritten. Das 
kortikale Areal, wo die Entsprechung mit der Peripherie eine minutiöse, punkt* 
förmige ist, wird als „Peripherie der Hirnrinde" bezeichnet. Dem gegenüber 
gibt es große Abschnitte, „denen nach dem Aufbau wie der relativ geringeren 
Beziehungen zum Projektionssystem eine von der Peripherie relativ unabhängige 
Bedeutung zuzuerkennen ist, eine Art übergeordnetes Gebiet". (S. 159.) Dieses 
wird als „zentraler Abschnitt" bezeichnet. Es umfaßt Scheitellappen, Insel und 
Stirnhirn und ist besonders beim Menschen entwickelt. Daneben geht noch der 
(Tiefen*) Aufbau in Schichten mit ihren besonderen Beziehungen zu Brücke, 
Kleinhirn, Rückenmark. Der fünften Schicht wird eine besondere Bedeutung 
für die sensorischen Leistungen zuerkannt. Indessen leistet die histologische 
Differenzierung zwar Wesentliches für die topographische Abgrenzung, aber 
nichts für das Verständnis der Funktion, nichts für den Aufbau der Leistung. 

Die Fernwirkung ist stets der Nahewirkung angepaßt, in gewissem Sinne 
entgegengesetzt, sorgt für die Erhaltung des Gleichgewichtes im ganzen System 
und macht erst die exakte Ausführung der im Augenblick erforderlichen Lei* 
stung möglich. (Man beachte, hier steht Leistung, nicht Reaktion). Die 
beiden Teile verhalten sich also wie das Negativ und Positiv einer Aufnahme 
oder wie Licht und Schatten, wie eine Figur und ihr Hintergrund. Diesen Vor* 
gang, der in gleicher Weise für die Wahrnehmung wie für die Motorik nach* 
weisbar ist, nennt G. das „Vordergrund*Hintergrund*Geschehen" oder die „F i* 
gur*Hintergrundsbildung" und sieht darin die Grundform des 
nervösen Geschehens überhaupt. Eine Stufenordnung der Leistung be* 
steht, gemessen an der jeweils größeren Umfassendheit des gesamten Stücks der 
Umwelt, das noch vom Organismus erfaßt wird, und der größeren Präzision 
der Figurgrundbildung. Jeder Abbau geht mit einer Entdifferenzierung dieser 
Figurgrundbildung im Ganzen oder in unbeschriebenem Gebiet einher. Was 
Vordergrund wird, bestimmt die Aufgabe, die der Organismus in einer gege* 
benen Situation zu erfüllen hat, um sein Sein zu erhalten. (Damit ist über die 
bloße Existenz hinaus die charakteristische Wesenheit der Art und des Indivi* 
duums gemeint, diese aber als biologisch nicht abtrennbar betrachtet, nicht etwa 
als „Ideal" dem Rest gegenübergestellt.) Der Organismus sucht also stets, sich 






218 S. 5! Fuchs 

wandelnd und mit seiner stets sich wandelnden Umwelt auseinandersetzend, 
sich im besten Gleichgewicht und seine Leistungen in möglichster Konstanz zu 
erhalten. „Diese Art der Auseinandersetzung zwischen Organismus und Umwelt 
nennen wir das biologische Grundgesetz". Man sieht, daß diese Auf* 
fassung die Dynamik, das Schöpferische des lebendigen Geschehens in den Vor* 
dergrund rückt; selbst das anatomische Substrat wird von ihr belebt, man möchte 
fast sagen beseelt. Sie ist sicherlich biologisch im wahrsten Sinne, eine Wissen* 
schaft vom Leben, verzichtet von vorneherein darauf, Lebendiges auf Unlebendi* 
ges zurückzuführen, Biologie auf Physik und Chemie zu „gründen". Der An* 
satz ist, wenn er einmal erfaßt ist, äußerst fruchtbar und erspart viele Irrwege. 
Ob er für alles, was wir wirklich brauchen, ausreicht, ist eine andere Frajge. Der 
Grundsatz, daß jedem Erscheinungsgebiet nur die aus ihm geschöpfte Betrach* 
tungsweise gerecht wird, „adäquat" ist, ist übrigens ganz weitgehend beherzigens* 
wert. Er wird auch von Psychoanalytikern gerne durchbrochen, wenn sie sich 
z. B. mit organischen, soziologischen oder historischen Fakten beschäftigen. Diese 
Probleme werden uns noch an anderer Stelle beschäftigen. 

Psychologisches 

Hier ist besonders auf die „psychologischen Analysen hirnpathologischer 
Fälle" von Goldstein und Gelb hinzuweisen. Gelb hat den Grundsatz ein* 
mal am besten so formuliert: „Ich betrachte diesen Hirnverletzten geriau so wie 
einen jeden anderen Menschen." Die Ergebnisse dieser Studien sind weit mehr 
als eine interessante Sammlung von kuriosen Fällen, ihre Absicht und ihr Wert 
besteht vielmehr in dem Nachweis ihrer allgemeinen Gültigkeit. Sie verdienen 
das sorgfältige Studium aller, die an solchem Objekt tätig interessiert sind. 

Die Beziehungen zur Gestaltpsychologie sind vielfältige und wechselseitige. 
Von einer Anwendung des einen auf das andere kann aber nicht gesprochen 
werden. Die Biologie ist das umfassendere. Eine Kritik der Gestaltpsychologie 
zeigt, daß diese nur unter bestimmten Bedingungen gilt (wohl nur für die Wahr* 
nehmung! F.). Die Welt ist nicht gestaltet, noch gestaltet sie allein den Or* 
ganismus. Eine „gute Gestalt" ist die Tätigkeit des Organismus in einer Situa* 
tion, die seiner Struktur am besten entspricht. Der Organismus tendiert dazu, 
eine Situation seinem Wesen adäquat zu machen. Zu sagen, Konstanz und 
Festigkeit seien nicht von der Retina*Abbildung aus zu verstehen, sondern sie 
entständen im Organismus, ist nicht zureichend. Man muß die Bedingungen 
aus der jeweiligen Gesamtsituation des Organismus aufzeigen. Auch die „physi* 
kaiischen Gestalten" Köhlers laufen in isolierten Teilen ab. 

Die Ergebnisse der „psychologischen Analysen" eignen sich nicht für eine 
kurze Mitteilung; man kann aber versuchen, an ein paar Querschnitten wenig* 
stens eine Vorstellung von der Art des Materials zu geben. Wir haben gehört, 
daß die übliche Untersuchung bei zentralen Störungen, z. B. der Sprache (Apha* 
sien), des Sehens (Seelenblindheit), Erkennens (Agnosie), Handelns (Apraxie) 
bei fortschreitender Verfeinerung zu immer größeren Widersprüchen der Er* 



Zum Stand der heutigen Biologie 219 

gebnisse führt. Was mehr ist: sie trägt nicht zu besserem Verständnis weder 
der Störung noch des gestörten Menschen bei. Auch gibt es keinen Weg, die 
Ergebnisse solcher Forschungen mit den veränderten Anschauungen der Psycho* 
logie in Beziehung zu setzen. Die Kritik an der Methode und den Grundvorstel* 
lungen wurde bereits skizziert. Wir wollen der Kürze halber darauf verzichten, 
die hier mitzuteilenden Ergebnisse mit den älteren Auffassungen zu kontrastier 
ren, obwohl sie ohne diesen Kontrast vielleicht nicht voll verstanden werden 
können. 

Bei einem Amnestisch*Aphasischen ist die Wortfindung gestört, alle übrigen 
sprachlichen Leistungen sind erhalten. Ein Patient Lewandowskys bot da* 
rüber hinaus eine eigentümliche Störung im Verhalten zu Farben: Nannte man 
ihm einen Gegenstand, so konnte er dessen Farbe weder angeben noch zeigen, 
obwohl sein Farbensinn intakt war. Man nannte das später „Farbenamnesie" 
oder „Farbennamen*Amnesie". Gelb und Goldstein machten genaue Analy* 
sen an solchen Fällen. Sie begannen dieselben beim Sortieren von Wollproben 
(Holmgreen sehe Prüfung). Der Patient soll solche ordnen nach den Grund* 
qualitäten: Rot, blau, grün etc. Dieses Zuordnen war bei den Patienten ver* 
ändert, obwohl feinste. Farbensinnprüfungen keinerlei Störungen ergab. Sie ord* 
neten stattdessen nach Eigenschaften, die sich bald als solche der Helligkeit, 
Zartheit, der Farbtöne etc. ergaben, und blieben immer unsicher und unzu* 
frieden mit ihrer Wahl. Nur Identisches legten sie prompt zusammen. Sie ließen 
sich, wie die genaue Analyse ergab, nicht durch ein Ordnungsprinzip leiten, 
sondern durch jeweilige Kohärenzerlebnisse. Sie konnten nicht die Wollsträhne 
als Repräsentanten, Symbol, Zeichen für eine bestimmte Farbkategorie 
(blau, rot etc.) auffassen. Diesen Tatbestand nennen Gelb und Goldstein eine S t ö* 
rung im „kategorialen" Verhalten. Diese Patienten bieten ein kon* 
kreteres, anschaulicheres, primitiveres Verhalten. Man kann diese Störung aber 
nur aufdecken, wenn man das Vorgehen der Kranken genau beobachtet und 
nicht etwa nach dem Endresultat (die Plus*Minus*Methode) beurteilt. Dieses 
kann auf dem Umweg über komplizierte Ersatzleistungen „richtig" ausfallen. 
Eine schöne Erklärung für die „Farbenamnesie"! Aber ist es nicht mehr? Weitere 
Besinnung und Beobachtung zeigt, daß die Zuordnung von bestimmten Worten 
(Worten als „Zeichen für") zu Farben und Gegenständen genau dasselbe ka* 
tegoriale Verhalten voraussetzt, daß sich also die Störung „amnestische Aphasie", 
wie die zuerst quasi als Nebenbefund entdeckte Farbennamen* Amnesie selbst, 
auf eine gemeinsame Grundstörung zurückführen und von dieser aus verstehen 
lassen. Das letztere stellt natürlich die Verbindung zur normalen Psychologie her. 
Es führt hinüber zu jener so grundwichtigen Unterscheidung zwischen der Sprache 
als Ausdruck von und der Sprache als Zeichen für etwas. (Darstel* 
lungsfunktion der Sprache nach K. B ü h 1 e r.) Wir drücken das in der Analyse 
so aus, daß wir sagen, im Unbewußten würden die Worte wie Dinge behandelt. 

Amnestisch*Aphasische haben also die Darstellungsfunktion der Sprache ver* 
loren. Kategoriales Verhalten und Haben der Worte als Zeichen für Begriffe 



220 S. H. Fuchs 



ist der Ausdruck ein und derselben Grundfunktion. Keines von beiden ist primär 
oder sekundär. Wir haben hier ein Beispiel für jenen Abbau der Funktion bei 
Schädigung der Apparate auf ein tieferes Niveau, eine Art von Regression zu 
Stadien der Sprachenentwicklung beim Kinde und beim Primitiven. Die beiden 
dürfen indessen nicht gleichgesetzt werden. Wir wollen sorgfältig merken, daß 
Vorhandensein der höchsten, empfindlichsten, spätesten Schicht durch ein ab* 
strakteres, wirklichkeitsferneres, begrifflicheres Verhalten gekennzeichnet ist, 
während bei Abbau konkreteres, wirklichkeitsgebundeneres Reagieren hervor* 
tritt. Dies ist ganz konform mit den Vorstellungen J. H. Jacksons. Wir 
sehen somit eine erste Stufe, eine, die für menschliches Wesen von der aller* 
größten Bedeutung ist, in jener Hierarchie, die durch immer stärkeres Hervor* 
treten automatischer Leistungen bis hinunter zu den unter konstanten Bedingun* 
gen fast automatenhaft auslösbaren Reflexen führt. An der Sprache kommt dies 
besonders schön zum Ausdruck. Ein Kranker, der einen Schirm nicht benennen 
kann, aber spontan sagt: „Zu Hause habe ich einen Schirm", demonstriert den 
Unterschied zwischen den beiden Sprachwelten aufs klarste. Eine Reihe von 
Beobachtungen an einigen hirnverletzten Patienten zusammenfassend, konnten 
wir folgende Skala, vom Normalen absteigend zu immer größerer Forderung 
an die Konkretheit der Situation, beobachten: 
Die Forderung ist vorzumachen, wie man ein Glas Wasser trinkt. 

1. Der Normale kann das. 

2. Es geht nur, wenn ein Glas vorhanden ist, also am Gegenstand, mag das 
Glas auch leer sein. 

3. Es geht nur, wenn Wasser im Glas ist, dies mag aber so wenig sein, daß 
es Wasser gewissermaßen nur symbolisch vertritt. 

4. Es geht nur, wenn so viel Wasser im Glas ist, daß richtig getrunken wer* 
den kann. 

5. Der Patient kann auf Aufforderung trinken, aber nur, wenn er Durst hat. 

6. Der Patient ist auch unter der letztgenannten Bedingung nicht, oder nicht 
immer fähig, zu trinken, während er dazu in seinem gewöhnlichen Leben 
durchaus in der Lage ist. 

Ein anderer Patient kann Buchstaben nicht lesen, wenn sie etwa mitten auf 
der Tafel stehen, aber sehr wohl, wenn eine Linie darunter gezogen wird. Ent* 
sprechend verhält er sich auch beim Schreiben. Wenn sich der Leser die Natur 
eines solchen Nicht*Könnens, bei bestem Willen und großer Mühe, vergegen* 
wärtigen will, so möchte ich ihn auffordern, etwa den Versuch zu machen, bei 
leerem Munde so häufig hintereinander zu schlucken, als er kann. Er wird sich 
überzeugen, daß dies sehr bald (nach etwa 5* bis 7mal) nicht mehr geht, aber 
sofort wieder, wenn man wartet oder etwas trinkt. Das Erlebnis im Augenblick 
des Nicht*Könnens ist dem der erwähnten Patienten verwandt, wie man aus 
deren Gehaben unmittelbar sehen kann. 

Ein Seelenblinder ist ein Mensch, der sozusagen Augen hat und nicht sieht. 
Die genaue psychologische Analyse eines solchen Falles über einen Zeitraum 



Zum Stand der heutigen Biologie 221 

von etwa zehn Jahren ergab eine Fülle der überraschendsten Einblicke in Auf* 
und Abbau sowie komplizierte Umwege der Leistungen. Alle seine optischen 
Wahrnehmungen entbehren jeglicher Raumgestaltung. Ebenso aber alle Taste 
erlebnisse. Bei geschlossenen Augen konnte der Patient keine Bewegung aus* 
führen, insbesondere nicht anfangen! Mengenschätzen wird unmöglich, jeder 
Zahlenbegriff fehlt, Tonschritte können nicht beurteilt werden, die Denkleistung 
ist trotz ausgezeichneter allgemeiner Intelligenz schwerwiegend verändert. Der 
Patient hat es, teilweise willkürlich, teils vollkommen unbewußt, durch Aus* 
bildung von Umwegsleistungen so weit gebracht, daß trotzdem bei oberfläch* 
licher Beobachtung kaum noch eine Störung auffällt. Die Funktionsstörung auf 
allen untersuchten Gebieten erwies sich als dem Wesen nach gleich und ließ 
sich auf eine Grundstörung zurückführen. Er kann das Wesentliche einer opti* 
sehen Gegebenheit nicht erfassen, sie nicht simultan als gegliedertes Ganzes 
auffassen, seine Figurgrundbildung ist beeinträchtigt, er hat eine Störung der 
Gestaltbildung vorwiegend auf optischem Gebiete (alles verschiedene Beschreib 
bungen desselben Sachverhalts). Wo er sich durch ein sukzessives Vorgehen 
helfen kann, leistet er dem Resultat nach Gutes. Er macht aus einem räumlichen 
Nebeneinander (durch Nachfahren der Umrisse mit den Augen) ein zeitliches 
Nacheinander. Folgen wir einem verkürzten Protokoll vom 9, Dezember 1927, 
das ich zufällig noch besitze: 

Patient Sehn. An dem Patienten fällt äußerlich nichts besonderes auf, außer viel* 
leicht eine gewisse Starrheit des Augenausdrucks, als ob er ins Leere blickte. Er erzählt 
auf Befragen von seiner Tätigkeit im Geschäft und dem Weg dahin, wobei er seine Worte 
immer mit lebhaften Bewegungen begleitet, die das Geschilderte illustrieren. Er erzählt so, 
daß er die ganze Begebenheit in Gedanken durchmacht und dabei nacheinander das an* 
gibt, was er weiß. Z. B. sagt er nicht : Dieses Zimmer befindet sich eine Treppe hoch, 
rechts neben dem Speisesaal, sondern: „Vom Eingang gradeaus, dann rechts die Treppe 
hinauf, dann gradeaus ist das Chefarztzimmer, dann rechts herum die 3. Tür von der 
Treppe". Dabei begleitet er seine Worte dauernd mit entsprechenden Bewegungen. 

Auffällig ist, daß der Patient sich jede Aufgabe erst — oft mehrere Male — vorspricht, 
ehe er sie ausführt, oft in fragendem, manchmal mehr in kommandierendem Tone. 

Soldatengruß macht er mit der rechten Hand sehr gut. Wird ihm diese nun festgehalten, 
und er aufgefordert, es mit der anderen Hand zu machen, so ruft er nach einem gewissen 
Zögern und Probieren spontan im Befehlston: „Ehrenbezeugung" und grüßt nun mit der 
linken Hand an der rechten Stirnseite. Auf Befragen, wo er denn die Ehrenbezeugung 
gemacht habe, hat er keine Ahnung, wiederholt aber: „Ehrenbezeugung" und will es 
.nochmals ausführen. Daran gehindert, probiert er eine Zeitlang, sagt dann: „Rechts". 

Patient vermag Ohr und Nase zu zeigen, aber nur, indem er vorher den zu bewegenden 
Arm, wie auch den zu zeigenden Körperteil durch Bewegungen gefunden hat. Auch 
seinen Hemdenknopf kann er zeigen, denn er weiß ja, daß der Hemdenknopf in der 
Mitte oben auf der Brust ist. Er kann zeigen, wo vorne, wo oben ist etc., er weiß näm* 
lieh: vorne ist, wenn ich meine Arme ausstrecke, oben ist, wo der Kopf ist, usw. Setzt er 
sich „bequem", d. h. für ihn eine ganz bestimmte, schräg zurückgelehnte Haltung, so 
zeigt er „oben" wieder, wo der Kopf ist, also objektiv nach hinten. Auf Aufforderung 
macht er einen Kreis und ein Quadrat in die Luft. Er macht dabei versuchsweise alle mög* 



222 



S. H. Fuchs 



liehen Bewegungen mit dem ganzen Körper, dann mit dem Arm, bis die gewünschte 
herauskommt, welche er dann an dem kinästhetischen Eindruck wiedererkennt. Dieses 
Verhalten war früher deutlicher. Jetzt hat er es durch virtuose Anwendung von Um* 
wegsleistungen dahin gebracht, daß die gewünschten Bewegungen fast so schnell wie 
beim Normalen zustande kommen. Er überträgt die optischen Gegebenheiten, die er als 
solche nicht hat, in kinetische, bringt sich dieselben auf dem Umweg über die Sprache 
zum Bewußtsein und rechnet sich nun gewissermaßen aus, was es sein könnte. Dieser 
ganze Vorgang vollzieht sich infolge der hervorragenden Motorik und Intelligenz des 
Kranken so rasch, daß die Leistung im Effekt kaum von der des Normalen abweicht. 

Dem Patienten werden einige Bilder von Gegenständen gezeigt, auf denen im Wesent* 
liehen die Umrisse gezeichnet sind. Er fährt dieselben mit dem Kopf nach, je nachdem 
auch mit entsprechenden Arm* und Handbewegungen, und kommt dabei zu folgenden 
Resultaten : 



(Ei) 

Und darüber? 




(Kuchen) 



(Gekreuztes Besteck. 
Oben links Gabelzinken) 



(2 Kirschen mit zusammen* 
gewachsenen Stielen) 



Was sind denn das? Erdbeeren? 



Kirschen ? 



Kaffeekanne, 

Milchkanne, 

Kaffeetasse. 



„Eine Ellipse, ist oval." 

„Oben gezackt, unten rund, da sind noch 
verschiedene Schatten, das kann ein Damen* 
hut sein." 



.Malzeichen". (Unter entsprechender Stel* 
lung der Arme.) „Links oben in der Ecke 
1, 2, 3, 4 Zacken, unten sind sie verschärft 
schattiert, vielleicht so ein Symbol, so 
Schwerter nebeneinander." 



„Das sind 2 Kugeln, die hängen, sind ver* 
bunden" (macht die dachartige Armstellung). 

„Früchte, keine Erdbeeren." 

„Ja, Kirschen"! (Macht Bewegung wie Kin* 
der, die sie über's Ohr hängen. Typisches 
„Einschnappen") 

„Das sind Gefäße. Das obere mehr länglich 
und hat einen Henkel, das andere hat auch 
einen Henkel und unten noch ein Kleines"; 
dann plötzlich, wie erfreut: „Das hat ja auch 
einen Henkel, das wird ein Kaffeeservice 



Im Prinzip ebenso verhält sich Patient beim Lesen. Er liest „schreibend" mit , der 
linken Hand auch Spiegelschrift prompt. Wird er an den Bewegungen des Kopfes (bezw. der 
Hand) gehindert, (was kaum möglich ist), so ist er nicht mehr imstande zu lesen. Viel* 
leicht spielen noch Augenbewegungen eine Rolle. Ebenso vermag er ein Wort, das leicht 



Zum Stand der heutigen Biologie 223 



kreuz und quer durchgestrichen ist, nicht mehr zu erkennen, da er jetzt bei seinen nach« 
fahrenden Bewegungen „entgleist". Er vermag ja im Optischen nicht das Wesentliche 
vom Unwesentlichen zu unterscheiden. 

Nachsprechen scheint der Patient zunächst zu können, z. B. „Frankfurt"; „heute ist 
der 9. Dezember 1927". Wird ihm aber vorgesprochen: „Es ist schon alles voller Schnee" 
(objektiv unrichtig), so sagt er: „Es ist schon — trüb." Später auf nochmaliges Von* 
sprechen und eingehendere Aufforderung spricht er wörtlich nach: „Es" „ist" „alles" 
„voller" „Schnee", dabei betont er jedes einzelne Wort isoliert und taktiert mit der 
linken Hand dazu, so, als ob er völlig sinnlose Silben spräche. Ebenso verhält er sich bei 
dem Satz 2x2 = 5. Daraus geht hervor, daß er gar nicht nachspricht, sondern das Vor«? 
gesprochene in seiner Sprache wiedergibt, was er nur dann kann, weftn es sinnvoll ist. 
Sinnvoll aber ist nur, was mit der Realität übereinstimmt. Seine Unfähigkeit etwas Un* 
wahres, Unrichtiges zu sagen, entspricht also einer Gebundenheit an die konkreten Ge* 
gebenheiten. 

Hier wird wie in einem Experiment der Natur gezeigt, zu welch grandioser 
Leistung die reine Technik der Intelligenz, diese spezifisch mensch* 
liehe Eigenschaft, fähig ist, und auch deren charakteristische Eigenheit: Kenntnis* 
nähme der Umweltgegebenheiten, soweit diese nötig ist, um zweckentsprechend 
zu handeln. Dabei völlige Blindheit für das lebendige Wesen der Dinge, für 
ihren eigentlichen Sinn. Dieser Umstand befähigt den Patienten scheinbar auch 
zu abstrakten Leistungen und stellt ihn in Gegensatz zu konkreten Gebunden* 
heit der anderen Kranken. Aber nur scheinbar; tatsächlich handelt auch 
er immer konkret: das Wort bringt ihn in die konkrete Situation. Die Sprache 
ist ja der einzige Weg, der ihm geblieben ist. Im übrigen muß auf die in ver^ 
schiedenen Arbeiten sehr eingehend beschriebene Analyse dieses Patienten ver* 
wiesen werden. Es ist von großer Bedeutung zu verstehen, daß es sich nicht, 
wie z. B. auch Schilder meint, um eine kuriose Einzelbeobachtung handelt. 
Die Ergebnisse, zu denen Gelb und Goldstein auch in diesem Falle kommen, 
machen Anspruch darauf, gerade das Grundsätzliche solcher Störungen auf* 
gezeigt zu haben. Es ist interessant, wie der Patient es fertigbringt, Dinge zu 
w i s s e n, die er eigentlich garnicht „hat". Der Patient kann schreiben, das Ge* 
schriebene aber nicht mehr lesen. Er hat nicht nur Augen und sieht nicht, sondern 
er kann auch „sehen" und bleibt doch blind. 



Ein anderer Seelenblinder sagt zu einem Kreis, der so gezeichnet ist: 



o 



„Es ist vom Schornsteinfeger das Ding", wobei er zeigt, was er meint. Für den Nor* 
malen wäre dies ein schlecht gezeichneter Kreis. Der Patient ist übermäßig reiz* 
gebunden und konkret, er nimmt alles sozusagen zu ernst, er kann nicht Wich* 
tiges, Wesentliches von Unwesentlichem, bloß Akzidentellem unterscheiden. 
Diese Störung in ihrer reinsten Form, d. h. nicht mit Bevorzugung einzelner 
Sinnesgebiete oder Funktionen, zeigt sich bei Stirnhirnschädigung. Es handelt 
sich dabei nicht um nebeneinanderbestehende Störungen des Erkennens, der 
Aufmerksamkeit, des Gedächtnisses, Willens etc., sondern um eine Unfähigkeit, 



224 S. H. Fuchs 



dis Wesentliche eines Vorgangs zu erfassen, um eine Störung der Figurgrund* 
bildung. - «. 

Ganz allgemein gesprochen haben diese Kranken die Fähigkeit eingebüßt, sich 
einem Gegenstand (der Welt) gegenüber zu stellen. Das heißt aber auch, daß 
sie sich selbst nicht zum Objekt haben können, nicht über sich hinaus können. 
Diese Fähigkeit wird daher als die höchste, gerade das menschliche Wesen in 
spezifischer Weise charakterisierende, angesehen. Auf die Bedeutung solcher 
Auffassung für die Psychoanalyse hat 1934 auf dem XIII. Internationalen Psy* 
choanalytischen Kongreß in Luzern Robert Wälder 4 unter bewußter Bezug* 
nähme auf die Arbeiten Goldsteins mit Nachdrück hingewiesen. Auch er meint, 
„daß dies und nur dies die Dimension ist, die dem tierischen Leben abgeht". 
(Das Sich*über*sich*selbst*Stellen.) Er weist sie dem Übersieh zu. Er unter* 
scheidet zwei Stufen im Ich: Eine, die prinzipiell auch beim Tier vorhanden sein 
kann, „das tierische Ich", und eine andere, das „menschliche Ich", die erst mit 
dem und durch das Übersieh vorhanden ist. Das letztere ist eine durch die for« 
male Über*Ich*Funktion modifizierte Schicht und entspricht ungefähr dem Gold* 
steinschen Ich. Ohne auf die so anregenden, tiefen und weitgreifenden Aus* 
führungen Wälders hier im einzelnen einzugehen, möchte ich mir erlauben, 
einiges Kritische dazu zu bemerken. Dieser Versuch, fruchtbar wie er ist, scheint 
mir weder der Psychoanalyse noch der Auffassung Goldsteins voll gerecht zu 
werden. Er läßt beidem sozusagen zu wenig Auslauf. Hier liegen zu verschiedene 
Grundvoraussetzungen vor, um Verschmelzungen zu wagen, worauf später noch 
eingegangen werden soll, solche, die zu Entscheidungen nach dem Charakter: 
„entweder*oder" drängen, und andere, zu denen man wohl wird sagen müssen: 
„ja, aber auch — ". Goldstein wäre eine solche Einteilung in Instanzen, die kon* 
kret genommen werden, völlig fremd. Dies ist ihm von Wälder auch nicht zu* 
gedacht worden. Vom psychoanalytischen Standpunkt möchte ich sagen, daß 
der Gedanke des „menschlichen Ichs" als eines vom Über*Ich her modifizierten 
(etwa wie das Licht eine Landschaft modifiziert) sehr ansprechend erscheint (da 
ich mir dynamische Vorstellungen mache, ist mir persönlich diese seit längerer 
Zeit geläufig). Dagegen ist, glaube ich, das Über*Ich viel tiefer ins Es getaucht, 
viel Es*näher als das Ich. Vielfach (immer?) herrscht in ihm der Primärvorgang. 
Ich möchte, so paradox es klingt, glauben, daß das Über*Ich selbst ohne das 
Ich, auch früher als das Ich, da sein kann. Man darf sich freilich nicht schema* 
tisch an die Definition des Über*Ichs als einer Stufe im Ich halten. Spezifisch* 
menschliches, kategoriales Verhalten ist zwar zum Vorgang der Psychoanalyse 
im strengeren Sinne notwendig, aber diese endet nicht an der Sprachgrenze. 

Wie dem auch sei, der Analytiker mag aus den schönen Ausführungen 
Wälders ersehen, wie nahe ihn solche Ergebnisse angehen, und wie er, viel* 
leicht ohne es immer zu wissen, täglich mit ihnen in Auseinandersetzung ist. 

4) R. Wälder: Das Freiheitsproblem in der Psychoanalyse und das Problem der 
Realitätsprüfung. Imago, Bd. XX, 1934. 



Zum Stand der heutigen Biologie 225 

Der Patient Pf., dessen psychologische Analyse, soviel ich weiß, noch nicht 
ausführlich veröffentlicht ist, führt uns in ein anderes Gebiet. Der Fall ist be* 
schrieben in der II. Mitteilung über induzierte Tonusveränderungen (Zeitschrift 
f. d. gesamte Neurologie und Psychiatrie, 1924). Ich muß es mir versagen, hier 
in Einzelheiten zu gehen. Der Fall bietet sehr wesentliche Beiträge zum Ver* 
ständnis von zwanghaften Vorgängen (Ordnungszwang), „Katastrophenreak* 
tion", Einbeziehen, bezw. Ausschluß von Umweltgegebenheiten nach Maßgabe 
ihrer Zugehörigkeit zur jeweiligen Aufgabe, Haften am Konkreten, und der Be* 
Ziehungen aller dieser Verhaltensweisen zu motorischen und Tonus* Vorgängen. 
Es handelt sich um einen Problemkreis, der uns kürzlich durch die inter* 
essanten Ausführungen von Erwin Stengel. 5 aus der Pötz Ischen Klinik 
nahe gebracht worden ist, die an verwandte Beobachtungen anknüpfen. 

Die Beobachtungen über Lokalisation am eigenen Körper gehören in einen 
Erscheinungskreis, der besonders von Schilder 6 („Körperschema") innig mit 
der Psychoanalyse in Verbindung gebracht wurde. In den gleichen Bereich, der 
schon mitten in analytische Probleme hineinführt, gehören die Beobachtungen 
über Nichtwahrnehmung von Defekten am eigenen Körper. Es ist besonders 
interessant, daß Goldstein die Ausschaltung der Blindheit sowohl im Verhalten 
wie in den Äußerungen auch in Fällen ohne jede psychische Störung und jede; 
Verletzung des Gehirnes beobachten konnte, z. B., sogar besonders ausge* 
sprochen, bei Schußverletzungen der peripheren Sehnerven mit totaler Blindheit 
ohne jede begleitende Hirnschädigung. 

Allgemein Biologisches 

G.'s Betrachtung ist eigentlich stets eine biologische. Im Mittelpunkt der mo* 
dernen Biologie steht die Ganzheitsbetrachtung. Dieser ist ein Kapitel 
von über 100 Seiten gewidmet. Einiges daraus sei angeführt. Ganzheitliche Be* 
zogenheit von Leistungen kommt auch in ihrer relativen Unabhängigkeit von 
bestimmten Gebieten zum Ausdruck. Bei der Überkreuzung der Nervi ischiadici 
durch Totalüberpflanzung beim Hunde erfolgte die richtige Innervation sofort 
und ohne jede Falschleistung (Bethe). Bei Überpflanzung der Beugersehnen 
auf die Streckersehnen bei Radialislähmung tritt sofort nach Lösung des Ver* 
bandes die richtige Innervation ein. Es kann sich also nicht um einen Übungs* 
erfolg oder die Ausbildung neuer Bahnen handeln. Die Erklärung auf Grund 
der gewöhnlichen Vorstellung über die normale Innervation ist unmöglich, was 
zeigt, daß diese Vorstellung unrichtig ist. Bethe zeigte auch, daß bei Exstir* 
pation einzelner oder mehrerer Extremitäten bei Tieren, die Umstellung auf die 
neue Gangart beim ersten Versuch erfolgt. Einem Meerschweinchen wurden 
alle Beine amputiert. Nach Erwachen aus der Narkose rollte es sich um die Längs* 

5) E. Stengel, „Zur Kenntnis der Triebstörungen und der Abwehrreaktionen des Ichs 
bei Hirnkranken", Int. Ztschr. f. Psa., Bd. XXI, 1935, S. 544. 

6) P. Schilder, „The Image and Appearance of the Human Body", Psyche Monogr. 
No. 4, London, 1935. 

Imago XXII/2 15 



226 S. H. Fuchs 



achse nach der dem Reiz entgegengesetzten Seite, die einzige noch mögliche Fort* 
bewegungsart. G. weist darauf hin, daß bei Wegfall der rechten Hand (Hemi* 
plegie, Amputation) Menschen nach Überwindung einiger Hindernisse prompt 
links schreiben. Ein Lernen ist das nicht, manche schreiben Spiegelschrift. Jeder 
kann auch mit dem Fuß schreiben oder etwa bei völlig ungewöhnlichen Stel* 
lungen der Hand, z. B. mit dem Handrücken nach unten, obwohl dazu samt* 
liehe Innervationen im einzelnen auf vollkommen verschiedenen Bahnen laufen 
müssen. Solche Versuche allein zeigen schon zur Genüge, daß die Leistung nicht 
an bestimmte anatomische Apparate gebunden ist. Es ist sehr wichtig, daß eine 
Umstellung solange vom Teilgebiet versucht wird, als dieses nicht hoffnungslos 
zerstört ist, erst dann erfolgt die notwendige Umstellung im Ganzen. Motorische 
Defekte werden etwa auf optischem Gebiete kompensiert (z. B. beim Rechnen). 
Dies erfordert gutes optische Vermögen, wie überhaupt Ersatzleistungen vor* 
züglich in anlagemäßig guten Gebieten erfolgen, keineswegs willkürlich. Der 
Ersatz bildet sich unbewußt aus. Der vorher erwähnte Seelenblinde lernte lesen, 
ohne selbst zu bemerken, wie er dabei vorging. Bei völliger Unmöglichkeit einer 
Leistung treten „Katastrophenreaktionen" auf, die zum Antrieb der Umstellung 
werden. 

Es werden zwei objektiv feststellbare Grundverhaltensweisen unterschieden: 
Das „geordnete" und das „ungeordnete" oder „katastrophale Verhalten." 

Zum geordneten Verhalten gehören: gute, effektiv richtige Leistungen, welche 
der Situation entsprechen und konstant bleiben. Das solchem Verhalten zuge* 
hörige Erlebnis ist das der Aktivität, Leichtigkeit der Leistung, des Behagens, der 
Entspannung, der Angepaßtheit an die Welt, der Freude. 

Das Umgekehrte ist der Fall beim ungeordneten Verhalten. Die Leistungen 
werden objektiv unrichtig, widerspruchsvoll, inkonstant. Das zugehörige Er* 
lebnis ist das einer tiefen körperlichen und seelischen Erschütterung. Der Mensch 
in solcher Situation fühlt sich hin* und hergerissen, unfrei, die ganze Welt scheint 
unsicher und schwankend. „Er befindet sich in einem Zustand, den wir gewöhn* 
lieh als Angst bezeichnen". 

Die Unterscheidung ist für eine richtige Untersuchung grundlegend. Die Un* 
Ordnung ist ein Ausdruck dafür, daß der Organismus vor Aufgaben steht, 
denen er nicht gewachsen ist. Die störenden Vorgänge werden ausgeschaltet. 
Die „Verdrängung" ist nur ein Sonderfall dieses allgemeinen Verhaltens. Die 
Leistungen werden so verändert, daß Katastrophenreaktionen (also Angstsitua* 
tionen) vermieden werden. G. kommt hier der Signalfunktion der Angst sehr 
nahe. 

„Beginnt aus einer für ihn objektiv gefährlichen Situation heraus ein Reiz wirksam zu 
werden, so tritt sofort eine Katastrophenreaktion ein, jede weitere adäquate Reizver* 
wertung ist ausgeschlossen, der Kranke erscheint völlig abgeschlossen gegenüber der Welt. 
Die gefährliche Situation wird also weniger aktiv vermieden, als daß der Kranke passiv 
von ihr abgeschlossen wird. Hat aber der Kranke öfters erlebt, daß in bestimmten Situa* 
tionen Katastrophenreaktionen auftreten, und ist er imstande, diese Situationen an irgend 
welchen von ihm erfaßbaren Erscheinungen, „Kriterien", zu erkennen, so kann er die 



Zum Stand der heutigen Biologie 227 

Situation auch tatsächlich aktiv vermeiden. Wir sehen es immer wieder, daß die Kranken 
sich heftig wehren, bestimmte scheinbar ganz harmlose Dinge zu tun, und wir begreifen 
dieses Sichwehren sofort, wenn wir den betreffenden Vorgang unter dem dargelegtem 
Gesichtspunkt betrachten. 

Das Vermeiden gefährlicher Situationen geschieht besonders aber dadurch, daß der 
Kranke sich in einer Situation zu erhalten bemüht, die er bewältigen kann. Der Kranke 
sucht, wenn man ihn etwa mit Gewalt in eine von ihm als katastrophale Situation erkannte 
Lage hereinbringen will, diesem Zwange durch Ausführung irgendeiner anderen Leistung 

— einer „Ersatzleistung" — zu entgehen." (S. 27) 

Das dargelegte Verhalten gehört etwa in die Reihe „Angstzustand — Phobie 

— Zwangshandlung". Der zuletzt angedeutete Gedanke, nämlich das Sichklam* 
mern an Leistungen, um den solange abgesperrten angstdrohenden Anforde* 
rungen neuer Situationen zu entgehen, ist vielleicht geeignet, auf die Vorgänge 
ein neues Licht zu werfen, die wir als Auswirkungen des „Wiederholungszwangs" 
auffassen. Er wird im Anschließenden von G. in großer Feinheit ausgeführt. 
Die rastlose Tätigkeit mancher Menschen, als Flucht in die Realität vor unerträg* 
liehen äußeren oder inneren Anforderungen, ihre Unfähigkeit zur Ruhe, Muße 
gehört hierher. Ich würde vorschlagen, ein solches Dasein als „r e a k t i v e s D a* 
sein", die entsprechenden Charakterbildungen ebenfalls als „reaktive" zu be* 
zeichnen. Hierher gehört auch der Ordnungszwang der Hirnverletzten, ihr Ver* 
meiden der Leere. Man hält sich an Objekte, um handelnd an sie anzuknüpfen. 

Goldsteins energetische Vorstellungen stehen in gewissem Sinn der Libido* 
theorie nahe. Die zur Verfügung stehende Energiemenge wird als „innerhalb 
gewisser Grenzen" konstant betrachtet. Eine Leistung nimmt gewissermaßen der 
andern Energiebeträge weg. Die Wirkung verschiedener Reize auf einen Orga* 
nismus ist so vollkommen abhängig von der inneren und äußeren Gesamtsitua* 
tion, daß es sinnlos ist, ja direkt falsch, Elemente daraus zu isolieren und absolut 
zu nehmen. Organismus und Umwelt verhalten sich selbst wie Figur und Hinter* 
grund. Bei jeder Veränderung an einer Stelle treten gleichzeitig solche an vielen 
anderen Stellen auf. So treten etwa bei Belichten einer Pupille Veränderungen 
auf motorischem und sensorischem Gebiete auf. Wir nehmen daraus künstlich 
die Verengerung heraus und kümmern uns gewöhnlich nicht um die andern. 
Bewegungen an einer Körperstelle gehen mit motorischen Vorgängen an ver* 
schiedenen andern einher. Diese Vorgänge kommen bei bestimmten Erkran* 
kungen (besonders Kleinhirn) deutlich heraus, lassen sich aber bei Normalen 
gut nachweisen unter Bedingungen, die auf ein „Sich*gehen*lassen" hinauslaufen. 
Einen solchen Zustand als „Ablenkung der Aufmerksamkeit" oder Enthemmung 
tieferer Apparate zu bezeichnen, ist keine Beschreibung, sondern enthält schon 
eine Theorie. Der bei solchen Versuchen auftretende Bewußtseinszustand hat 
merkwürdige und interessante Beziehungen zu Schlaf und Hypnose, aber die 
Bewegungen sind nicht etwa selbst eine Folge von Suggestionen, wie oft gegen 
G. eingewandt wurde; eine solche Theorie würde sie außerdem nicht im min* 
desten erklären. Tatsächlich sehen wir überall Veränderungen auftreten, wo 
wir genau genug untersuchen. Die Beispiele lassen sich beliebig vermehren. Es 

15« 



228 S. H. Fuchls 



kommt aber darauf an, das Prinzip zu verstehen, da wir so sehr gewöhnt sind, 
anders zu denken. Man soll sich nicht durch den Allgemeinklang der Termini 
beirren lassen, zu akzeptieren, daß etwas sehr Konkretes von großer praktischer 
Erheblichkeit gesagt wird: man kann wirklich keine einzelne Handlung richtig 
beschreiben, ohne zu wissen, was der Mensch will, in welcher Verfassung er sich 
befindet, und was von ihm verlangt wird, d. h., ohne die Bedeutung dieser 
Leistung aus der Gesamtsituation zu verstehen. Wenn man aber genügend solcher 
Leistungen untersucht und verstanden hat (was an sich nur in einem analytischen 
Vorgehen möglich ist), so weiß man aus ihnen prinzipiell, welchen Leistungen 
dieser Mensch gewachsen ist, und was für Umwege er in anderen bevorzugen 
wird. Man lernt in einem dialektisch fortschreitenden Prozeß ihn im Ganzen 
besser verstehen, während man gleichzeitig aus der Kenntnis des Ganzen den 
Teilvorgang besser versteht. Man nähert sich so asymptotisch einer vollen Be* 
Schreibung und wirklichem Verständnis und — der Möglichkeit einer richtigen 
Theoriebildung. 

Ein Beispiel zur Illustration: Wird dem Patienten Pf. der Kopf nach einer 
Seite, etwa nach rechts, gedreht, so geht der linke Arm nach der anderen Seite. 
Der Patient kann in dieser Stellung des Kopfes nicht mit dem linken Arm nach 
rechts zeigen. Will der Patient aber spontan oder auf Aufforderung auf jeman* 
den, der rechts von ihm steht, zeigen (natürlich ohne vorherige passive Kopf* 
drehung), so zeigt er genau wie ein Normaler, d. h. er begleitet die Armbewegung 
mit einer Wendung des Kopfes und der Augen nach rechts. Er kann also „.ein 
und dieselbe" Leistung oder er kann sie nicht, je nach der Situation, je nach 
ihrer „Bedeutung". Mit anderen Worten: es ist nicht dieselbe Leistung, obwohl 
sie zum selben Effekt führt, sondern eine andere, und wir können also weder 
Leistungen absolut nehmen, noch ihnen fest zugehörige Apparate zuschreiben. 
Was wir können ist nur: beschreiben, was für Leistungen in bestimmten Situa* 
tionen möglich sind, und wie sie zustande kommen. Wir kommen so zu Ab* 
Wandlungen der wechselseitigen Beziehungen zwischen bestimmten Situationen 
und der ihnen zugehörigen jeweiligen Einstellung eines Organismus, begreifen 
vielleicht das Prinzip solcher Abwandlungen und schreiten zu allgemeineren Ge* 
setzen des Verhaltens vor. 

Bei Isolierung von Teilen: Im Experiment, in der Krankheit und in „Grenz* 
Situationen des Lebens" gibt es auch relativ isoliert verlaufende Teilvorgänge. 
Ein solcher, etwa ein Reflex, ist aber nur der Vordergrundsvorgang (die „Figur") 
einer Gesamtreaktion und ändert sich mit der Lage des Organismus. Eigenreflexe 

— im weiteren Sinne genommen als die auf Anatomie fundierten P. Hoffmanns 

— sind Ausgleichsphänomene. Fremdreflexe sind schon richtige Auseinander* 
Setzungen mit der Umwelt, Gesamtleistungen, sollten besser gar nicht Reflexe 
heißen. Man kann das normale Verhalten nicht aus den Reflexvorgängen auf* 
gebaut denken. Nur der Mensch kann sich übrigens so kompliziert einstellen, 
daß er Teile isoliert der Umwelt überläßt, wie es zur Auslösung von Reflexen 
notwendig ist (man denke an Jendrassiks Kunstgriff). Es ist etwas sehr 



Zum Stand der heutigen. Biologie 229 



Verschiedenes und sieht ganz anders aus, ob ein Mensch unerwartet hellerem 
Licht ausgesetzt wird oder vom Dunkeln ins Helle blickt, oder ob er dem Arzt 
sein Auge zur Untersuchung überläßt. Die Bedeutung der Reflexe für die prak* 
tische Frage der Örtlichkeit und Natur krankhafter Prozesse wird davon nicht 
betroffen. Bessere Beschreibung kann nur zur Verfeinerung der Diagnostik 
führen. 

Die bedingten Reflexe sind an das Vorhandensein des Großhirns gebunden. 
Sie sind Dressurleistungen, die sich nur im Anschluß an unbedingte Reflexe 
ausbilden lassen. Ihr Zustandekommen beim Tier, von außen durch den Men* 
sehen, ist etwas anderes als beim Menschen selbst, wo sie für Erziehung und 
Selbsterziehung t eine große Rolle spielen. Sie werden beim Menschen in das 
Gesamtverhalten eingeordnet und sind viel stabiler eingebaut, weniger leicht zu 
zerstören. Auch sie sind nicht geeignet, als Grundlage für das Verständnis der 
Leistungen eines Organismus zu dienen. Sie gehören vielmehr zu den allerkom* 
pliziertesten Figurbildungen. Auch die Instinkte sind ganzheitsbezogen. Sie ge* 
hören dem natürlichen Leben des Organismus an. Es scheint angenommen zu 
werden, daß es keine besonderen Instinkte gäbe, sondern dieser Anschein durch 
das Hervortreten bestimmter Tendenzen erweckt wird, die der allgemeinen 
Reaktionsweise lebendiger Substanz entsprechen. 

Was über das Phänomen der Angst gesagt wird, wird den Analytiker beson* 
ders interessieren. Angst schließt das Erlebnis der Gefahr ein, aber bei voller 
Beobachtung gehören dazu charakteristische Veränderungen im Körperlichen: 
an Gesichtsausdruck, Motorik, Puls, Vasomotoren etc. Aber nicht jede Gefahr 
führt zur Angst. Die Angst ist gegenstandslos und inhaltslos, im Gegensatz zur 
Furcht.. Man sagt: „Ich fürchte mich vor etwas", dagegen: „Ich ängstige mich". 
Wir können vor der Angst nicht fliehen, weil wir nicht wissen wohin. Es gibt 
auch keine Beruhigung für sie. Die Zustände katastrophaler Reaktionen bieten 
alle Charakteristika der Angst. Es wäre richtiger, nicht zu sagen, der Kranke hat 
Angst, sondern er ist Angst. Er kann sich weder eines Objektes noch seines 
Ichs bewußt werden. Das Ichbewußtsein entspricht ja dem Gegenstandsbewußt* 
sein. Die Angst ist aber nur solange gegenstandslos, als wir nur die Erlebnisseite 
in Betracht ziehen. Die Katastrophensituation besteht ja aus dem Zusammen* 
prall mit einer nicht zu bewältigenden konkreten Umwelt. Zur Furcht führt die 
Möglichkeit des Eintretens der Angstsituation. Man hat also eigentlich immer 
Furcht vor der Angst. Die Furcht hat konkrete Inhalte. Wir kommen darauf im 
Abschnitt Psychoanalyse zurück. Über das psychophysische Problem wird 
eigentlich nur gesagt, daß keinem der beiden Erscheinungsgebiete ein Vorrang 
vor dem andern gebührt. Wenn wir die Phänomene beider Reihen auch getrennt 
beschreiben, so wird die Bedeutung solchen Materials nur in der Bedeutung für 
das „Ganze" offenbar. „Getrennt marschieren und vereint schlagen", könnte 
man zur Charakterisierung des Standpunktes kurz sagen. Dem Psychischen wie 
Physischen wird zwar Eigenart zuerkannt, anderseits erscheinen sie wiederum 
bloß als Betrachtungsweisen ein und desselben Organismus von zwei verschie* 



denert Seiten. Als für den Organismus wesentlich sollen die Vorgänge gelten, 
die seine Konstanz aufrechtzuerhalten geeignet sind. Er hat die Tendenz zum 
„ausgezeichneten Verhalten" auf allen Gebieten, dessen subjektives Korrelat das 
Erlebnis der Bequemlichkeit, Natürlichkeit, größten Leistungsfähigkeit etc. ist. 
Die bestimmenden Momente sind bei verschiedenen Typen verschieden, für den 
einzelnen aber festgelegt. Es gibt entsprechend bevorzugte Wahrnehmungen: ein 
rechter, spitzer, stumpfer Winkel; Kreis, Quadrat, Symmetrie etc. Ein Winkel 
von 93° etwa erscheint als ein schlechter rechter. Ähnlich im Taktilen, im Aku* 
stischen: Quint, Quart etc. Abweichungen werden als Unreinheit, Unvoll* 
kommenheit erlebt. Man spricht von einer „schlechten Quint". Bei Kranken 
kommen solche Dinge deutlich heraus, weil ihr Koordinatensystem vom „Nor* 
malen" abweicht, sie sind quasi anders normiert. Was macht nun das ausge* 
zeichnete Verhalten zum ausgezeichneten? (Wodurch wird etwas zur „Ge* 
stalt"?) Hier gewinnen Untersuchungen große Bedeutung, die nur auf Grund 
solcher Fragestellung überhaupt möglich wurden und im einzelnen nicht mit* 
geteilt werden können. Motorische Leistungen werden durch sensorische ver* 
ändert und umgekehrt. Die Veränderungen können völlig unbewußt sein. Moto* 
rische und sensorische Vorgänge verändern die Wahrnehmung. 

Die Zeit der Einwirkung ist von Belang. (Dieses Moment wird ganz beson* 
ders von v. Monakow in den Vordergrund gerückt, in seiner Lehre von der 
„chronogenen Lokalisation".) Veränderte Einstellung des Individuums wirkt 
ebenso. Der Zeigeversuch etwa wird ganz verschieden beeinflußt, je nachdem 
man der Untersuchungsperson aufgibt, etwa ein seitliches Objekt zu betrachten, 
oder eine reine Augenbewegung nach der Seite auszuführen. Die Verschiebung 
der ausgezeichneten Ebene erfolgt beim Hinblicken nach derselben, beim Hin* 
drehen der Augen nach der entgegengesetzten Seite. Dieses Beispiel ist sehr 
wichtig zum Verständnis. Objektiv das gleiche Resultat: Augen rechts. Aber die 
innere Struktur des Zustandekommens wirkt sich noch in der verschiedenen 
Beeinflussung des Nachfolgenden aus. Also auch was für einen Organismus aus* 
gezeichnet ist, hängt von der Gesamtsituation ab. Ausgezeichnetes Verhalten ist 
nur in ausgezeichneter Situation möglich. Dieses geht einher mit dem Gefühl 
des Bequemen, Angenehmen, Richtigen, Sicheren. Es ist das Beste, Adäquateste, 
was der Organismus leisten kann. Dieser Situation strebt der Organismus zu. 
Wir können also als die wesentlichen Leistungen diejenigen erkennen, die in seiner 
normalen Lage ausgezeichnete sind. Wir erkennen die echten, wesenhaften Eigen* 
Schäften auch daran, daß sie zusammen mit Ordnung und ausgezeichnetem Ver* 
halten am ganzen Organismus bestehen. „Das ist das letzte sicherste Kriterium, 
das unsere Erkenntnis hat. Hier sind wir an der Grenze der Erkennbarkeit von 
Lebendigem überhaupt." (S. 237.) Die Leistungen des Organismus sind nicht 
Funktionen, sie sind „Dasein in Tätigkeit" (Goethe). 

Es gibt also charakteristische Konstanten für jeden Organismus, denen er 
immer wieder zustrebt, solche der Art und solche des Individuums. Eine beson* 
ders charakteristische ist etwa die des zeitlichen Ablaufs, des Lebensrhythmus. 



Zum Stand der heutigen Biologie 231 



Das gilt für Denken, Fühlen, Wollen ebenso wie für Herzschlag, Atmen, Stoff* 
Wechselvorgänge. Ein Überblick über längere Zeitabschnitte des Lebens eines 
Individuums läßt sie besonders klar hervortreten. 

Philosophisches 

In unserem Zusammenhang sei hierunter verstanden alles, was auf Besinnung 
k hinausläuft, was sich Rechenschaft gibt über Sinn, Absicht, Methode. 

Ein besonderer Abschnitt ist dem Wesen biologischer Erkenntnis gewidmet. 
Biologische Erkenntnis strebt nach einem Gesamtbild, von dem aus sich jede 
Erscheinung mit Notwendigkeit ergibt. Die Erfahrung hat einen dialektisch fort* 
schreitenden Charakter. Kein Begriff ist problematischer als der der „Tatsache". 
Ja, die Skepsis gegenüber den sogenannten Tatsachen ist „ein Grunderfordernis 
fruchtbarer biologischer Arbeit überhaupt". Es handelt sich weder um induktives 
noch deduktives Vorgehen: „Wir suchen nicht den Schlußstein eines Gebäudes, 
sonders das Gebäude selbst . . . Wir suchen nicht einen Realgrund, der Sein 
begründet, sondern eine Idee, den Erkenntnisgrund, in dem alle Einzelheiten 
ihre Bewährung erfahren . . ." Wir können zu diesem Bilde nur durch einen 
schöpferischen Akt gelangen. „Biologische Erkenntnis ist der dauernd fortge= 
setzte schöpferische Akt, durch den uns die Idee des Organismus in zunehmen= 
dem Maße zum Erlebnis wird, eine Art Schau etwa im Goetheschen Sinne, die 
immer auf dem Boden sehr empirischer Tatsachen steht" (S. 242). Wir lernen 
so, wie man Radfahren lernt; wir probieren solange, bis wir es — plötzlich — 
können. Die adäquate Leistung geht nicht direkt aus den inadäquaten Ver* 
suchen hervor, sondern ist ein neuer Akt, ein Erfassen. Was ist adäquat? Was 
der Natur des Organismus entspricht. Man darf nicht einer Pseudo*Exaktheit 
zuliebe das Studium einzelner Erscheinungen bevorzugen. Denn solche Exaktheit 
ist durch Feststellung unter unnatürlichen Bedingungen erkauft und trägt nicht 
bei zur Erfassung des Lebendigen. Dieses ist heute und vielleicht dauernd mit 
den Mitteln der mathematischen Naturwissenschaft nicht zu erfassen. Die Er* 
kenntnis hat Symbolcharakter. Die Symbole, die die Biologie braucht, sind an* 
dere als die der Physik. Die Symbole der Biologie müssen mehr sein, als ein* 
fache Zeichen, Etiketten, sie müssen konkreten Charakter, Gestaltcharakter 
haben, an ihrem Gegenstand geformt sein, ihn mit einbeziehen. (Daß die psy* 
choanalytischen „Symbole" solchen Charakter haben, wird ihnen von Mona* 
kow besonders zum Vorwurf gemacht, der das genaue Gegenteil fordert.) In 
einem interessanten Exkurs wird die Verwandschaft dieser Auffassung mit der 
des Parmenides aufgezeigt. 7 Die Erkenntnis nähert sich der Wahrheit nur 
asymptotisch. Sie ist immer unabgeschlossen, bereit zur Wandlung mit neuen Er* 
fahrungen. Man kann noch so viele Einzeltatsachen sammeln, ohne in der Er* 
kenntnis fortzuschreiten, während eine einzige neue Tatsache alle früheren Vor* 



7) s. hierzu K. Riezler: „Parmenides". Frankf. Studien z. Religion und Kultur 
der Antike (herausgeg. v. W. 1 1 o). Frankfurt a. M., 1933. 



232 S. H. Fuchs 



Stellungen umwerfen kann, eine völlig andere Idee verlangt, die jetzt auch' die 
alten Tatsachen in einem anderen Sinne bewerten läßt. 

Naturwissenschaft ist akausal. Selbst in der Physik besteht ein „akausaler 
Spielraum" (P. Jordan). Vorgänge im Atom müssen nach Bohr als individu* 
eile Prozesse beschrieben werden. In allen Wirkungen steckt ein kausal unfaß* 
barer persönlicher Faktor. Aber auch die Annahme von Entelechien wird ebenso 
wie die teleologische Betrachtung abgelehnt. Das Ziel des Organismus ist kein 
metaphysisches. Es ist nichts anderes als die Verwirklichung seines Wesens, sein 
„Sein", nicht sein „Dasein" könnte man sagen. Der Begriff der Ganzheit wird 
im Anschluß an Driesch als eine Kategorie bezeichnet, „als die Kategorie, 
die den Gegenstand der Biologie konstituiert". 

G. lehnt auch den Gegensatz zwischen Leben und Geist, wie er besonders in 
der Philosophie von L. Klages und Max Sehe ler, wenn auch in sehr ver* 
schiedener Weise, hervortritt, ab. Die Gegenüberstellung ist eine funktionelle, 
nicht eine substantielle (C a s s i r e r). Für G. handelt es sich um „Stufen gegen* 
seitiger Durchdringung des stets positiven Lebens". Es gibt keine Vitalsphäre, 
die bei Mensch und Tier gleichsetzbar wäre. Die eigentümliche Spannung des 
Menschseins erschöpft sich nicht wie beim Tier in dem Gefühl der momentanen 
Bedrohung, der Angst, sodern wird bewußt, erscheint in gegenständlicher, ob* 
jektiver Gestalt. Sie wird zur Furcht und zur Freiheit, sich trotz der Gefahr zu 
verwirklichen. Weltgestaltung, Kultur, wird nur verständlich aus dieser gemein* 
samen Wirkung des „Geistes" und der „Vitalsphäre". Die Betrachtung des Men* 
sehen selbst ist nur Ausgangspunkt, um zum Verständnis der Lebenserschei* 
nungen im Ganzen zu kommen. Menschliches Sein führt nicht über die Sphäre 
des Lebens hinaus. Aber die Grenze zwischen zwei Arten erscheint unüber* 
brückbar, so auch die zwischen Mensch und Tier. 

Der menschliche Organismus zeigt einen Schichtenaufbau, er ist hierarchisch 
gegliedert. Zwei große Bewegungsgruppen stehen einander gegenüber: Beuge* 
und Adduktionsbewegungen einerseits, Streck* und Abduktionsbewegungen 
andererseits. Die ersteren stehen in engerer Beziehung zur Großhirnrinde, die letz* 
teren zu den tieferen Abschnitten. Der ersten Gruppe entspricht: Willkürliche 
Leistung, größere Ichbezogenheit, stärkere ganzheitliche Bestimmung, Wesent* 
lichkeit. Sie wird höher gewertet. Der zweiten entspricht: unwillkürliche Lei* 
stung, größere Umweltsbezogenheit, mehr automatischer, reizgebundener Ver* 
lauf der Reaktion. Sie wird tiefer gewertet. Die Beugebewegungen betonen 
das Erfassen der Welt vom Ich aus. Auf ihrer Stufe ist die Trennung von Ich 
und Welt erst möglich. Die Streckbewegungen entsprechen einer Hingabe an die 
Welt, einem Verlieren des Ich in der Welt. Ein Defekt stört immer mehr die 
Beugeleistungen und wesensmäßig dazugehörig die Sonderung von Ich und Welt. 
Man beachte aber, daß nicht jede Beugebewegung auch eine Beugeleistung ist. 

Es gibt zwei Charakteristika für die Bestimmung der Wertstufe: die Stärke der 
Zentrierung und die Kapazität, die Fülle der erfaßten Welt. 

Drei Grundtypen menschlichen Verhaltens entsprechen dem Denker, dem 






Dichter und dem Tatmenschen. Man kann Stufen aufstellen, soll sich aber nicht 
die eine als eine Entwicklung aus der anderen vorstellen. Jede Erscheinung soll 
aus sich selbst verstanden werden. 

„Begnadeten Einzelnen geht vielleicht ein Funke von der Gestalt jenes Urbildes auf, 
das bei der uns allein zugänglichen isolierenden Betrachtung uns in einer 'Fülle von Er* 
scheinungen verwirrend entgegentritt. Wir können höchstens versuchen Material zu« 
sammenzutragen, an dem einmal die Schau jenes Ganzen sich entzünden mag. Wieder 
werden wir zur Bescheidenheit gedrängt." 

Jedes Geschöpf ist in sich vollkommen, gestaltet, lebendig, aber unvollkommen 
in Hinsicht auf das Ganze. 

„Das einzelne Geschöpf zeigt gegenüber dem Ganzen des Seins die gleiche Art Sein, 
die ein isolierter Vorgang am Organismus gegenüber dem Ganzen des Organismus auf* 
weist: Es zeigt Un Vollkommenheit und Starrheit, es ist nur seiend im Ganzen, nur ge« 
tragen vom Ganzen wie der Reflex, und deshalb dem Tode geweiht, sobald diese Stütze 
aufhört, ist deshalb dem Wesen nach vergänglich, auf dem Wege zum Tode." (S. 318). 

Goldsteinund die Psychoanalyse 

„Wenn diese Tatsachen noch nicht allgemeine Anerkennung 
gefunden haben, so liegt dies zum Teil, so merkwürdig das 
klingen mag, daran, daß man — trotz meiner und anderer Publi* 
kationen — sich nicht an die für die Feststellung notwendigen 
Versuchsvorschriften gehalten hat und so eben nicht die gleichen 
Tatsachen fand. Das ist deshalb besonders hervorhebenswert, 
weil es zeigt, wie verhängnisvoll eine theoretische Voreinge° 
nommenheit auf die Feststellung der Tatsachen wirken kann." 

Goldstein (S. 54/55) 

Es ist immer wieder überraschend, wie primitiv die Dinge sind, die von 
Menschen, die selbst nicht durch die Analyse hindurchgegangen sind, nicht 
wahrgenommen werden, und zwar ganz unabhängig vom Formniveau. Das heißt 
aber nicht, daß wir ein Recht hätten, diesen Umstand gegen berechtigte Argu* 
mente und Kritik auszuspielen. Wir sind hoffentlich über jenes Stadium hinweg, 
wo andere Meinung danach beurteilt wird, ob sie etwa einem „Widerstand" ihre 
Energien verdankt oder Kastrationsangst verdeckt. Nur*Analytiker sind oft 
ebenso erstaunlich blind für Tatsachen aus anderen Gebieten und manchmal 
sogar gegenüber der eigenen Person! Wir haben allen Grund, auf die Kritik 
eines so ehrlichen und originellen Forschers wie Goldstein mit voller Aufmerk* 
samkeit zu hören. Es ist an uns, aufzuzeigen, wo sie auf Mißverständnis oder 
mangelnder Einsicht in die klinischen Tatsachen beruht, oder solche Kritik anzu* 
nehmen, wo sie etwa berechtigt und förderlich ist. 

Im Jahre 1927 hielt Goldstein seinen großen Vortrag über die Beziehungen 
der Psychoanalyse zur Biologie in Bad Nauheim. Er faßte dort den Standpunkt 
zusammen, wie er sich ihm nach jahrzehntelangem ernstem Bemühen ergeben 



234 S. H. Fuchs 



hatte. Ich greife hauptsächlich auf jenen Vortrag zurück, 8 da der Abschnitt, der 
der Psychoanalyse im vorliegenden Buch gewidmet ist, nur einen verkürzten 
Auszug desselben darstellt. Man hat den Eindruck, daß seither die Psychoanalyse 
für Goldstein eher an Bedeutung verloren hat, jedenfalls ist er damit nicht 
weitergekommen. Die innere Auseinandersetzung ist natürlich eine viel inten* 
sivere. 

Es wird aus allem Vorhergehenden ohne weiteres klar sein, inwiefern Gold* 
stein sich mit der Psychoanalyse in scharfem Widerspruch befinden muß. Er 
erkennt zwar, daß Freud seinerzeit „einer von den wenigen" war, „die sowohl 
das normale wie das pathologische Seelenleben von der Persönlichkeit 
aus zu verstehen suchten" (Sperrung vom Ref.), aber dieser stehe doch „durch 
seine mechanisierenden und generalisierenden Vorstellungen über das seelische 
Geschehen der psychologischen Richtung, die er bekämpft, noch recht nahe." 
Gemeint ist damit, daß Freud doch Begriffe und Ausdrücke aus der Bewußt* 
seins* und Assoziationspsychologie übernehme. Über die Berechtigung und Be* 
deutung dieser Feststellung später. Wenn aber Freud richtige Beschreibungen 
von Beobachtungen in einer theoretisch anfechtbaren Terminologie gibt, und 
man nunmehr allen Scharfsinn einsetzt, um diese theoretischen Vorstellungen zu 
entkräften, und damit mehr oder weniger die Beobachtungen selbst als falsch 
bezeichnet, oder sich um sie nicht mehr kümmert, sie zum Hintergrund macht, 
so heißt das doch nichts als das Kind mit dem Bade ausschütten! Gerade das ist 
aber, was man tut und was man — unwillkürlich — auch will. Man will das 
Kind treffen und schüttet das Bad aus. G. bezweifelt ausdrücklich, daß die In* 
halte, „die nach der Ansicht des Analytikers beim Kranken wirksam werden", 
die Wirkenden sind. Gleich darauf spricht er bezeichnenderweise vom Ödipus* 
komplex. Er wolle zwar ambivalentes Verhalten des Kindes gegenüber den 
Eltern, speziell des Sohnes gegenüber dem Vater, beileibe nicht leugnen, aber 
Vater, Mutter, Inzestwünsche etc. bedeuten alle für das Kind etwas „ganz an* 
deres", und solche Inhalte werden bei den Ambivalenzkonflikten des späteren 
Neurotikers vom Analytiker willkürlich in den Mittelpunkt gerückt. Dies nur 
als ein Beispiel dafür, wie sich der Mangel wirklicher Kenntnis des intimeren 
Vorgangs in einer Analyse bemerkbar macht. Die Quintessenz von Goldsteins 
Kritik ist folgendes: Es ist ebenso unstatthaft, das Psychische aus dem Gesamten 
zu isolieren, wie irgend etwas anderes. Es ist vollkommen berechtigt, Psychisches 
und Bewußtes gleichzusetzen (diesen Standpunkt vertritt übrigens auch 
Schilder). Das Unbewußte ist nur biologisch zu fassen. Alle Beobachtungen 
Freuds über die ubw. Mechanismen sind zwar vollkommen richtig, aber sie 
stellen typische Verläufe an einem isolierten Teil dar. Vorgänge wie etwa die 
Verdrängung sind biologischer Natur, sie sind nicht Folge innerpsychischen 
Konflikts, sondern entsprechen verändertem Gesamtverhalten, sind nur Spezial* 
fall allgemeiner, genau so im Gebiet des „Organischen" beobachtbarer Ver* 

8) Bericht über den IL Allgemeinen ärztlichen Kongreß für Psychotherapie in Bad 
Nauheim. Leipzig, 1927. 



Zum Stand der heutigen Biologie 235 



haltensweisen. Hierher gehören die interessanten und wichtigen Beobachtungen 
über die Ausschaltung organischer Defekte aus der Selbstwahrnehmung, die oben 
gestreift wurden. Es handelt sich um der Autotomie verwandte Vorgänge. Ahn* 
liches gilt für die Zwangsvorgänge. Es gibt keine gesonderten Triebe, deren An* 
nähme vollkommen auf dieselbe Stufe mit den Reflexen gesetzt wird und also 
auch derselben Kritik unterliegt. Es gibt keine besondere seelische Energie, 
„weil Psychisches überhaupt nur in abstracto vorhanden ist". Psychisches wirkt 
weder auf Physisches, noch umgekehrt. Goldsteins energetischer Ge* 
Sichtspunkt hat übrigens, anders formuliert, sehr viel mit dem der 
Psychoanalyse gemein. Die Verwandtschaft seiner Auseinandersetzungen 
über die Angst mit der von der „Signalfunktion" ist deutlich, obwohl Freuds 
Auffassung kaum erwähnt wird. Wenn wir allerdings hören, „daß ein an sich 
bedeutungsloses Versagen nur in einer Situation aufzutreten braucht, in der es 
für die Existenz des Betreffenden Bedeutung gewinnt, um die Angst deutlich 
hervortreten zu lassen; man denke etwa an die Angst im Examen", so muß uns 
solche Auffassung freilich recht mager erscheinen. Sie wird trotz gewiß richtiger 
prinzipieller Definitionen der Reichhaltigkeit des Materials, wie wir es fort* 
während sehen, nicht gerecht. Sie scheint von dem Mechanismus der Verschie* 
bung, der Projektion und anderem keine Notiz zu nehmen, paßt am ehesten noch 
auf die Struktur einer Phobie, aber auch hier nur in groben Umrissen. 

Nun noch die sozusagen religiöse Seite der Kritik. Der Begriff der Sublimie* 
rung wird abgelehnt. Der Mensch wird nicht durch Versagungen der Realität zu 
den Umwegsleistungen der Kultur gebracht; die Moral, Ethik etc. entsteht nicht 
aus unterdrückter Befriedigung. Wie sollen diese denn in den Menschen hinein* 
kommen, wenn sie nicht in der Uranlage, genau wie alles übrige, schon vor* 
handen sind? Nein, diese Mächte bestehen im menschlichen Wesen von allem 
Anfang an und gehören zu seiner vollen Entfaltung. Bewußtsein ist kein Epi* 
Phänomen, noch weniger ein Verhängnis. Das bewußte Haben seiner selbst und 
der Welt, die Fähigkeit zu willkürlicher Entscheidung, ist das besondere Vor* 
recht des Menschen. Neinsagenkönnen ist die wunderbarste Eigentümlichkeit 
menschlicher Wesenheit. 

Der Todestrieb wird natürlich abgelehnt, aber seine theoretische Forderung 
erscheint aus dem Ansatzpunkt der Analyse konsequent, ja unerläßlich. 

Wenn wir so ein in seiner Verkürzung etwas krasses Bild dieser Kritik ge* 
zeichnet haben, so sei zur Charakteristik der vornehmen Mäßigung, die in Wirk* 
lichkeit das Ganze durchzieht, der letzte Absatz hierhergesetzt, dem wir 
mutatis mutandis wohl zustimmen können: 

„Was meine Bewertung der Psychoanalyse betrifft, so brauche ich meine Bewunderung 
für ihren Schöpfer, den ich ab einen der größten Meister der Psychologie und Anthropo* 
logie betrachte, kaum zu betonen. In bezug auf die praktische Benutzung der Psychoana* 
lyse folgt aus meinen Grundanschauungen auch eine ganz bestimmte Stellungnahme. Ich 
sehe in der Methodik der Psychoanalyse eine im Prinzip sehr wertvolle Bereicherung) 
unseres therapeutischen Vorgehens, wenn sie auch beträchtliche Modifikationen wird er* 
fahren müssen, ehe sie praktisch brauchbar, dann aber in manchen Fällen sicher unente 



236 S. H. Fuchs 

behrlich wird. Auch von den tatsächlichen Feststellungen kann ich vielem Wesentlichen 
nur zustimmen, aber ich kann mich doch nicht entschließen, alles durch die Deutung der 
Analytiker Aufgedeckte für Tatsachen zu halten. Die Kunst des Analytikers scheint mir 
einerseits in der richtigen Deutung zu bestehen, die nie von der Trieblehre allein, sondern; 
nur von der Erfassung der ganzen Persönlichkeit aus möglich sein dürfte, andrerseits in 
einer taktvollen der einzelnen Persönlichkeit des Kranken angepaßten Beschränkung bei 
der Aufdeckung des Verdrängten. Die Analyse kann nie das letzte Ziel sein, sondern 
dieses kann nur im Aufbau der neuen Persönlichkeit bestehen, respektive in der Leitung 
des Kranken bis zu jenem Momente, in dem er selbst wieder eine seiner Natur angepaßte 
Stellung zur Welt gewonnen hat." 

Was haben wir nun dazu zu sagen? Zunächst einmal, daß die Psychoanalyse 
von jeher Ganzheitsbetrachtung im allerwahrsten Sinne des Wortes war. Niemals 
vor ihr Und noch heute nirgendwo außerhalb ihrer wird so sehr alles nur in 
bezug auf die Person und ihre gesamte Situation genommen, einschließlich ihrer 
Vergangenheit und Zukunft! Für Freud ist diese Einstellung so selbstver* 
ständlich, daß er sie kaum je eigens erwähnt; sie bildet den allgegenwärtigen 
Hintergrund für alle „Figuren". Die Wirklichkeitsnähe der Psychoanalyse, die 
mit ihren Patienten durch das Dick und Dünn des Alltäglichsten geht, ist sogar 
um ein Vielfaches größer als die der doch noch immer experimentierenden Gestalt* 
Psychologie. 9 Auch die zweite Generalforderung Goldsteins vom gleichen 
Wichtignehmen aller Gegebenheiten scheint geradezu von Freuds Forderung 
zur „gleichschwebenden Aufmerksamkeit" herzurühren, wie überhaupt alle seine 
methodischen Forderungen vom Analytiker ohnehin befolgt werden. Man könnte 
soweit gehen, die Forderungen Goldsteins in methodischer Hinsicht gerade* 
zu als Anwendung der Psychoanalyse auf dem Gebiet der Hirnpathologie zu be* 
zeichnen. Die isolierten Teile sind bei F r e u d Bilder für konkret Beobachtetes. 
Schon in seinem Triebbegriff, als einem Gebilde, das nur vollständig beschrieben 
ist, wenn man es als ein gleichzeitig physisch und psychisch gegebenes auffaßt, liegt 
die biologische Einheitlichkeit der Betrachtung beschlossen. Wenn Freud davon 
spricht, wie der Apparat gebaut sei, so meint er in erster Linie: seelisch gebaut. 
Freuds Theorie ist, was Theorie sein soll, abstrahierte Erfahrung; sie verhält 
sich zu den Einzeltatsachen etwa wie die Grammatik zur Sprache. Die Gegeben* 
heiten, wie die analytische Situation sie zwar stärker hervortreten läßt, keines* 
wegs aber erst schafft, zwingen uns die Annahme verschiedener Instanzen, Re* 
gungen, Triebe etc. auf, die im Menschen mit* und gegeneinander wirken. Dies ist 
einfach die adäquate Beschreibung dessen, was wir sehen, wenn wir analysieren. 
Gewiß haften der analytischen Situation gewisse künstliche Bedingungen an, 
die diese Dinge stärker hervortreten lassen. Das sind unsere Versuchsbedingun* 
gen, ohne deren Einhaltung man freilich nicht dieselben Tatsachen wird finden 
können. Die Beziehung ist trotzdem so lebensnah wie möglich. Wir können 
ja Leben nicht gleichzeitig haben und beobachten; wie wir auch immer die Si* 
tuation anders gestalten mögen, wir haben es immer mit vollzogenem Leben zu 
tun. Das spezifisch therapeutische Agens der Analyse liegt gerade in diesem 

9) vgl. dazu S. B e r n f e 1 d: Die Gestalttheorie. Imago, Bd. XX, 1934, S. 32. 



Zum Stand der heutigen Biologie 237 

Moment der vollkommenen Lebenswirklichkeit bei gleichzeitiger Distanzierung 
mit beschlossen. Was nun die Berechtigung betrifft, das, was wir in der Analyse 
beobachten können, als im Leben wirklich existierend anzusehen, so würden 
wir noch immer schlimmstenfalls in einer Lage sein, die etwa der des Röntgeno^ 
logen vergleichbar ist. Auch er sieht nicht das Herz, die Lunge oder den Magen, 
wie sie wirklich sind, sondern ihre auf höchst komplizierte Weise zustande kom* 
menden Abbildungen, und doch würde es niemandem einfallen, daran zu zwei* 
fein, daß die Dinge, die er sieht, ganz wirklich sind. Ja, er kann zweifellos 
unter Zuhilfenahme dieser Mittel vieles unmittelbar wahrnehmen, was unter 
natürlichen, lebendigen Bedingungen verborgen bleibt. Weit darüber hinaus wird 
dem Analytiker die Realität seiner Befunde aber unmittelbar gewiß. Die Wirk* 
lichkeit und Gültigkeit seiner Beobachtung ist für den Analytiker unbezweifelbar, 
wie es jedes echte Erlebnis ist. Wir konstruieren nichts von Identifizierung oder 
Introjektion, wenn wir etwa zu unserer Überraschung die Mutter oder Tante 
noch aus einer Patientin heraussprechen hören, sozusagen mit ihrer eigenen 
Stimme wie der Jäger das Rotkäppchen aus dem Bauch des Wolfs, oder, um es 
prosaischer auszudrücken, wir finden Reste introjizierter Personen, die nicht 
voll assimiliert wurden, genau so plastisch, als fänden wir Knochen, Haut oder 
Haare im Magen eines Kannibalen. Oftmals, es ist zuzugeben, ähnelt unsere 
Tätigkeit mehr der des Gerichtsmediziners, wenn er in mühseliger Arbeit aus 
einem kleinen verkohlten Knochenrest oder einem winzigen Blutfleckchen die 
Geschichte einer Mordtat rekonstruieren muß. Die Sorgfältigkeit unserer Unter* 
suchung und die Strenge des Maßstabes, den wir an ihre Ergebnisse anlegen, 
sind damit vollauf vergleichbar. Wir haben freilich gute Gründe vom leben* 
digsten Leben her, uns so intensiv mit der Vergangenheit zu beschäftigen. Denn 
gerade das Anachronistische, der Einbruch des Vergangenen in die Gegenwart, 
die Bedrohung des Schöpferischen durch den automatischen Zwang, ist unser 
Vorwurf. Es sind nicht nur formale, sondern inhaltliche Durchbrüche. Wir 
vertrauen der schöpferischen Kraft; befreit setzt sie von selbst ganz gesetzt 
mäßig ein. Wir befreien sie, glaube ich, durch einen negativen Akt. Wir zer* 
stören, entlebendigen das Alte durch das Heben in die begriffliche Sphäre: Be* 
wußtsein — bewußtes Haben — in diesem Sinne ist daher Indikation der Hei* 
lung, Indikator der Überwindung, nicht deren Ursache. Doch wird über diese 
Dinge an anderer Stelle zu handeln sein. 

Was können wir von G o 1 d s t e i n s Kritik lernen? Wie wichtig die Kenntnis* 
nähme des Tatsächlichen und der Probleme für den Psychoanalytiker sind, 
darauf weist dieser Aufsatz im ganzen hin. Es ist ein spezielles Problem, ob wir 
berechtigt sind, aus unsern Beobachtungen das lebendige, gesunde Verhalten 
aufzubauen. Es ist wahrscheinlich richtig, daß wir es da auch mit anders struk* 
turierten Leistungen zu tun haben. Es tut jedenfalls immer gut, auch solche 
Tatsachen, die man gut zu kennen glaubt, einmal ganz anders interpretiert zu 
sehen. Wie steht es mit der Kritik an den Begriffen der Psychoanalyse? Kein 
Zweifel, daß den frühen Schriften des Entdeckers des Unbewußten in der 



238 S. H. Fuchs 



Terminologie die Spuren der Bewußtseinspsychologie seiner Zeit anhaften. Schon 
der Begriff der Assoziation, der in unserem Munde längst einem Bedeutungs* 
wandel unterlegen ist, zeugt dafür. Oder es wird etwa wirklich angenommen, 
daß dieselbe Vorstellung einmal bewußt, einmal unbewußt sein könne. Diese 
Konstanzannahme ist sicherlich problematisch. Sehen wir uns Begriffe (genial, 
wie sie sind) wie Verdichtung, Traumarbeit an! Ist es nicht so, daß die Dinge, 
erst verdichtet sind, das wache Bewußtsein sie erst entdichtet? Ist nicht wahr* 
scheinlich der Traum, als das primitivere Denken, auch die ökonomisch ein* 
fächere, sozusagen billigere Leistung, so daß also Arbeit dazu kommen muß, 
um den differenzierteren Wachzustand zu erhalten? Dies gilt natürlich nur in* 
soweit, als der Traum in toto eine Regression auf primitives, symbolisches, infan* 
tiles Denken ist, nicht dort, wo isolierte Gegebenheiten aus der aktuellen Umwelt 
oder Leibreize sein Material ausmachen. Hier kann, analog zum Vorgang bei 
der Witzbildung, sicherlich von Verdichtung als einer aktiven Arbeit gesprochen 
werden. Das Besondere des Dichters (Künstlers) läge also nicht darin, daß er 
dichten kann, sondern, daß er noch in verdichtetem Zustand Befindliches aus* 
drücken kann, daß er nicht „entdichten" muß, um darzustellen. Er erweckt in 
uns unmittelbares Verständnis und Genuß, indem er uns ermöglicht, im Wach* 
zustande zu träumen. Wie steht es übrigens mit der „analytischen Funk* 
t i o n" des Ichs? Ist sie gerade den „Analytikern" entgangen? Oder halten 
sie sie für so selbstverständlich, daß sie sie nirgends erwähnen? Daß sie ein 
so schönes Gegenstück zur synthetischen Funktion des Ichs bildet, ihre Trieb* 
energien ganz zwanglos dem Destruktionstrieb zuzuweisen sind, muß ihre An* 
nähme freilich eher verdächtig machen. Während es mir indessen noch nicht 
ganz klar erscheint, ob die synthetische Funktion so ausschließlich dem Ich zuzu* 
schreiben ist, ob dieses nicht vielmehr selbst schon ein Produkt synthetischer 
Funktion ist, scheint es mir unbezwei feibar, daß alles Differenzieren, Analysieren, 
kurz alles Trennen und Gegeneinanderstellen der Organisationsstufe des Ichs 
angehört. Doch dies nur nebenbei. 

Allein, was beweist dies alles? Nichts anderes, als daß Freud seinen Pionier* 
marsch ins Reich des Unbewußten, der sein unsterbliches Verdienst darstellt, 
ausgerüstet mit den Mitteln und Möglichkeiten des Bewußtseins unternommen 
hat. Der Leiter einer modernen Expedition wird seine Unternehmung mit allen 
ihm zu Gebote stehenden rationalen Mitteln der Wissenschaft und Technik 
planen und ausrüsten. Genau so verhielt sich Freud, genau so verhält sich 
die Psychoanalyse, und das ist ihre historische Leistung, wenn sie das Irrationale 
rationalisiert. Es ist nun leichter für uns, näher zuzusehen und genauer zu bej* 
schreiben, nachdem sie den Zugang zum Unbewußten zu einem Methodischen 
gemacht hat. Bei Freud kommt noch hinzu, daß die Lebenswärme seiner Be* 
Schreibung und sogar seiner Begriffsbildung so groß ist, daß sie dem plastischen 
Material seelischer Gegebenheiten noch allenthalben gerecht wird. 

Im übrigen fällt das, was hier noch zu Goldsteins Stellungnahme zu sagen 
wäre, mit dem nächsten Abschnitt zusammen. 



Zum Stand der heutigen Biologie 239 



Kritisches 

Eine kritische Würdigung von Goldsteins Werk gehört der Fachliteratur 
an und ist seit einem Jahrzehnt auch in vollem Gange. Davon abgesehen würde 
ich mich zu einer solchen mangels genügend eingehender Erfahrung und Arbeit 
auf diesem speziellen Gebiete auch gar nicht für berufen halten. Es sei nur 
gestattet, einige Fragen aufzuwerfen, einigen kritischen Einfällen Ausdruck zu 
geben, die möglicherweise hier oder dort einmal zu einer Diskussion beitragen 
könnten. 

Bei allem Positiven bleibt irgendwo doch der Eindruck, daß das Aufdecken 

von Fehlern älterer Auffassung, die Besinnung auf Prinzipielles, Methodisches, 

das Programmatische stark überwiegt. Man stelle sich einen Augenblick vor, 

daß man alle diese „Fehler" nicht gemacht hätte, daß man immer so gedacht 

hätte, wie G o 1 d s t e i n es fordert, und jetzt schüfe jemand die Neuronenlehre 

mit all dem so wichtigen Tatsächlichen, was sie mit sich bringt, oder das phy* 

logenetische Grundgesetz, oder Bell käme daher mit all seinen großen Ent* 

deckungen neuer Tatsachen, — um z. B. nur eine zu nennen, daß die vorderen 

Wurzeln des Rückenmarks motorische, die hinteren sensible sind! Es ist mir 

übrigens nie klar geworden, wie sich die anerkannte minutiöse Zuordnung in 

all dem, was Goldstein die Peripherie nennt, mit der Netzwerktheorie des 

Nervensystems vereinigen läßt. Es gibt doch Fakta, die man weder bestreiten noch 

entbehren könnte, wie etwa, daß bei einem Tabiker die Patellarsehnenreflexe 

fehlen oder die Pupillen lichtstarr sind, und man greift auf sie zurück. Es 

kommt ja wirklich für die Naturwissenschaft letzten Endes nur auf die bessere 

praktische Beherrschung an. Der Chirurg, der einen Hirntumor operieren will, 

pfeift auf die schönste psychologische Analyse und will nur möglichst genau 

wissen, wo er einzugehen habe. Natürlich wird das alles von Goldstein 

nicht übersehen. Aber für ihn dreht es sich eben um Fragen der Erkenntnis, um 

wirkliches Verständnis für das Wesen des Menschen und der Natur. Aber 

gibt es so etwas wie reine Erkenntnis um ihrer selbst willen? Ist sie nicht immer 

trieb* und interessenbedingt? Ich glaube auch Goldstein würde hier zu* 

stimmen. Ist es nicht letztlich Selbsterkenntnis, die auf so weitem Umweg gesucht 

wird? Und stellt sich nicht heraus, daß wo der Weg der Zerlegung der eignen 

Person ungangbar ist, richtiger, wo die Erkenntnis der Uneinheitlichkei't der 

eignen Person abgewehrt werden muß, dann als eine Art Komplementärvorgang 

die Einheit und Ganzheit der Welt so sehr betont werden muß? Hier sind wir 

wirklich an der Grundposition: Die durchgängige Einheit und Ganzheit des 

menschlichen Wesens hat den Charakter einer Illusion. Sie existiert auch, in* 

sofern jedes Haar, jede Zelle, jede Miene auch das Haar, die Zelle, die Miene 

dieses einmaligen Menschen ist. Insofern ist die Einheitlichkeit aller Lebewesen 

augenfällig. Aber davon unabhängig gehorcht die Zelle ihren eignen Gesetzen, 

lebt, wird angezogen, abgestoßen, erkrankt, stirbt. Allerdings bleibt die Ganz* 

heit, charakteristische Wesenheit unabhängig davon. Aber diese ist genau eine 

solche Abstraktion wie der isolierte Teil. Überdies liegt hier ein großes Problem 






240 S. H. Fuchs 



verborgen, das besonders in der Kontinuität des Seelischen durch das ganze 
Leben hervortritt. Allerdings sind gerade die Apparate, an die seelisches Leben 
doch unzweifelhaft gebunden ist, die Nervenzellen, unvergänglich, unersetzlich. 
Sie bleiben sozusagen auch persönlich dieselben. 

Die Ganzheit als Erlebnis und Standpunkt fällt noch innerhalb des Organist 
mus, auch sie gilt nur für eine bestimmte Figur*Grundbildung. Sie ist adäquat 
und daher fruchtbar für das Gewahrwerden von Dingen, die man sonst über,* 
sieht, vor allem auf den Gebieten höheren Verhaltens und seiner Störungen. Sie 
wird zunehmend inadäquater, je mehr sie von dort irradiiert. Überdies ist eine 
wahre Ganzheitsbetrachtung nur vom Seelischen aus möglich. Nur dort liegt 
der Schnittpunkt, wo organisches und psychisches Geschehen, innere und äußere 
Welt in eins verschmilzt. Die Ganzheitsbetrachtung aber für sich allein läßt 
das Bild unvollkommen. Sie kann nicht über sich selbst hinaus, kann sich nicht 
selbst in die Karten sehen. Dies aber kann die Psychoanalyse. Sie bildet einen 
ersten, entscheidenden Schritt, das Seelenleben — das der andern wie das eigene 
— zu objektivieren, und sie hat solches Unterfangen zu einem methodischen 
gemacht. Die Entwicklung unserer Kultur scheint zu immer größerer Entlebendi* 
gung zu führen, ob man das will oder nicht. Immer weniger kann man sich den 
Luxus animistischen Verhaltens, beschaulichen Hingegebenseins, „Einsseins" mit 
der Welt leisten. Diesem Prozeß gehört die Psychoanalyse an. Deshalb ist für* 
sie die momentane Welle der Ganzheitsbetrachtung nur eine Phase. Sie ist mit 
dieser wie jeder anderen vereinbar, und ihre wahre Leistung, die Eroberung 
einer Welt und deren zunehmende Bewältigung, bleibt ganz unberührt. Auch 
sie wird verschwinden oder sich modifizieren, wenn ihre historische Mission 
erfüllt ist. 

Steckt nicht im Hintergrund der Ganzheitslehre der liebe Gott in persona 
und bleibt nur ungenannt? Es ist wahr, unsere etwas gottlose und amoralische 
Psychologie gibt uns keinen Trost. Sie zeigt uns die Welt außerhalb und selbst 
innerhalb unserer Person als ein blindes, sinnfreies, erbarmungsloses Geschehen. 
Wenn wir ein Recht zu richten hätten, könnten wir dieser Welt nur das Prä* 
dikat „schlecht" geben. Sie existiert nur aus vermiedenen Katastrophen, könnte 
man sagen. Wir brauchen übrigens nur einen Blick in einen Tierpark zu werfen 
(um nicht zu sagen, uns unter unsern Mitmenschen umzusehen), um gewahr zu 
werden, was für unsinnige Gebilde da, schlecht zusammengezimmert wie Chi* 
mären, herumlaufen. Manche sehen aus, wie Verkörperungen einzelner Triebe, 
die Disharmonie in ihrer Zusammensetzung ist trotz unserer Gestaltbrille noch 
schreiend. Was mehr als bloße Existenz ist der Sinn eines Ameisenbären? Sind 
wir Menschen gerade besonders ausgezeichnet, und woher kommt ein über solche 
hinausreichender Sinn gerade in uns hinein, wenn er nicht im Lebendigen auf 
jeder seiner Stufen vorhanden wäre? 

Aber meint das, daß wir Analytiker nun nicht mehr primitiv hingegeben leben 
könnten? Ich meine im Gegenteil, wir werden erst wieder frei dazu, und das 
obwohl und weil wir die volle Freiheit, soweit dies heute möglich ist, gewonnen 



Zum Stand der heu tigen Biologie 241 

haben uns auch illusionsfrei, nüchtern, rational zu verhalten. Fragen der öko, 
kononne sind entscheidend. Die Psychoanalyse steht im Dienst der besseren 
Bewältigung einer immer schwierigeren Umwelt. Deshalb gehört ihre Aus, 
Wirkung noch heute zum größten Teile der Zukunft an 

Wenn es diesem Bericht gelungen ist, Interesse zu erwecken und den Leser 
zu eigener Auseinandersetzung mit den hier aufgeworfenen Problemen anzu, 
regen, so hat er seinen Sinn erfüllt. Möge er manchen anregen, das Buch selbst 
zu lesen; wenn die Berührung mit den Gedanken und der Persönlichkeit des 
Autors zu einem kleinen Teil den lebendigen Kontakt ersetzen kann, so w fad 
sich solche Lektüre reichlich lohnen. Seien wir nicht zu kritisch, sondern wTlüg 
und offen, auf uns einwirken zu lassen; denn was hier ruft, ist die Stimme des 
Lebens, was hier färbt, ist die Farbe der Liebe! 



Imago XXII/J 

16 



BESPRECHUNGEN 



Aus der psychoanalytischen Literatur 

LOWTZKY, F. : Sören Kierkegaard. Das subjektive Erlebnis und die religiöse Offenbarung. 
Eine psychoanalytische Studie einer FasteSelbstanalyse. Wien, Internationaler Psychoana* 
lytischer Verlag, 1935. 124 S. 

Eine psychoanalytische Untersuchung der Schriften Sören Kierkegaards findet gün* 
stige Bedingungen vor. Selten ist eine bedeutende schriftstellerische Produktion so sehr aus 
subjektivsten Konflikten getrieben worden, wie das bei Kierkegaard der Fall war. In K.s Le* 
ben spielt seine Beziehung zu einer Frau, Regina Olsen, eine zentrale Rolle. Er war mit ihr 
verlobt, hat aber die Verlobung gelöst. K. ist mit dieser Beziehung offenbar nie richtig 
fertig geworden. Seine bekanntesten Schriften haben in einer Weise, die ebensoviel auf* 
deckt wie verhüllt, sein Verhältnis zu Regina Olsen zum Gegenstande. Die wirklichen 
Hintergründe dieser seltsamen „Liebe" sind nie bekannt geworden. Die Kierkegaard*jFor* 
schung bemüht sich, das Geheimnis dieser merkwürdigen Persönlichkeit, die heute auf 
deutsche Philosophen wie Jaspers und Heidegger einen starken Einfluß ausübt, zu 
enträtseln. Es ist fraglos, daß zum Verständnis von K.s Persönlichkeit die Beziehung zu 
Regina Olsen eine Schlüsselstellung einnimmt. Die historisch*biographische Forschung 
konnte aber bisher diese und manche anderen Probleme der Psychologie K.s nicht lösen;. 
Eine psychoanalytische Untersuchung, die versucht, diese ungeklärten Fragen zu beant* 
Worten, darf also auf besonderes Interesse rechnen. 

L. hat geschickt das Material aus K.s Schriften zusammengesucht und geordnet, „In* 
dizienbeweise" gesammelt, die Vermutungen erlauben, welche seelischen Prozesse sich in 
K. abgespielt haben, wie seine Konflikte, seine Angst, seine Qualen zu erklären sind. Wir 
erfahren, daß K.s Interesse von religiösen Figuren gefesselt wird. Er bewundert Abraham, 
weil er seinen Sohn opfern und trotzdem an Gott glauben konnte, aber er bewundert auch 
Hiob, der es wagte, mit Gott zu hadern. 

K. erzählt in seinen Schriften (Die Wiederholung) von einem jungen Mann, der seine 
Geliebte, zu der er leidenschaftliche Zuneigung empfand, nach der Verlobung nicht 
länger lieben konnte, weil seine Liebe zur Erinnerung, zu einer „Erinnerungsliebe" wurde. 
Und die Erinnerungsliebe kann einen Menschen nicht glücklich machen, nur die „Wie* 
derholung" ist dazu fähig. 

Welche Wiederholung sucht K? Was für ein Opfer verlangt Gott von ihm? Denn der 
Eindruck drängt sich auf, daß bei K. subjektiv Erlebtes, Erlittenes sich in literarischer Ver* 
kleidung Luft schafft. 

L. deutet: K. muß in der Kindheit einen Koitus seiner Eltern belauscht haben. En 
hat sich dabei mit seinem Vater identifiziert, wollte die Mutter wie der Vater besitzen und 
von ihr ein Kind haben (S. 35). 

Das „schreckliche Geheimnis" K.s sind seine Erlebnisse bei der Urszene. L. meint, daß 
die seelische Situation des „jungen Mannes", den K. in der „Wiederholung" schildert — 
und der junge Mann ist offenbar K. selbst — , aus diesem Erlebnis verständlich wird. „Nun 
wird es verständlich, warum die Erinnerungsliebe den jungen Mann unglücklich machte. 
Es ist die Erinnerung an seine Liebe zu der Mutter, die er auf das Mädchen überträgt, 
eine Erinnerung an die Untreue der Mutter. In der Identifizierung des Mädchens mit der 



Besprechungen 243 



Mutter, ist es das Mädchen selbst, das ihm untreu ist, das ihn nicht liebt. Darumi ist eri 
unglücklich, sie wird ihm zur Last und er wird ihrer müde. ,Er liebt sie und liebt sie nicht' 
... er kann aber .seine Liebe in der Ehe nicht realisieren', d. h. es ist ihm unmöglich, sie zu 
lieben. Er kann nicht lieben, wenn er nicht geliebt wird. Er wird impotent aus Aggression, 
das ist seine Rache." (S. 39) 

Diese Deutung mag zwar richtig sein, aber sie ist nicht zu beweisen. Wenn in einer 
klinischen Analyse eine solche Deutung zu früh gegeben wird, würden wir von einer zu 
„tiefen" Deutung sprechen und meinen, daß eine solche Deutung, wenn sie eben nicht in 
den richtigen Zeitpunkt fällt, wirkungslos bleiben muß, weil sie vom Ich des Analysanderi 
nicht apperzipiert werden kann. Wenn K. analysiert wird, wenn das Objekt der Analyse 
nur durch ein Medium, durch seine Werke uns zugänglich ist, gilt zwar ein solches Be* 
denken nicht, aber in einem solchen Fall müssen wir, wenn auch nicht mit dem Ich des 1 
Analysanden, so doch mit dem Ich des Lesers — der die Arbeit von L. verstehen will — i 
rechnen. Und der Leser kann mit einer tiefen Deutung, die frühzeitig fällt, ebensowenig 
anfangen wie der Analysand. Was an der Arbeit von L. fehlt, ist Anschauungsmaterial,; 
Verdeutlichung der Figur K.s in ihrer konkreten Eigenart, die Darstellung seines Charakters, 
seiner Konflikte, seiner Widersprüche vom Ich aus gesehen. Erst von einem solchen Hin* 
tergrund aus können tiefe Deutungen überzeugen. L. hätte nicht nur den Inhalt von Kier* 
kegaards Schriften analysieren müssen, sondern auch den Stil, der viel von K.s Person und 
Charakter verrät. Man muß nur das „Tagebuch eines Verführers" lesen, um zu wissen, 
daß ein solches Buch nur von einem Impotenten geschrieben werden konnte. Die lederne, 
konstruierte, mühsam ausgeklügelte Art, wie erotische Situationen geschildert werden, voll* 
ständiger Mangel an erotischer Empirie und Realitätssinn verraten auch dem analytisch 
Ungeschulten die tiefe sexuelle Störung seines Verfassers. Gerade das „Tagebuch eines 
Verführers", das von L. nicht genug benützt wird, zeigt sehr klar und unmittelbar veiv 
ständlich die neurotische Struktur K.s. Die Grübelsucht, der Sadismus, die rein narzißtische 
Einstellung dieses „Verführers" brauchen gar nicht gedeutet zu werden, sie sprechen 
für sich. 

Die auffälligen Stellen in K.s Schriften sind nicht das einzige Material, aus dem L. die 
Urszene ableitet. Sie meint, man könne K.s Beziehung zu seiner Braut nur dann verstehen, 
wenn man annimmt, daß die Koitusbelauschung in der Kindheit bestimmte Spuren hinter» 
lassen hat. L. betont immer wieder, daß Regina Olsen für K. eine Mutterfigur war. Aller* 
dings wird diese Deutung von L. in etwas widerspruchsvoller und ungewohnter Weise 
verwendet. Einmal heißt es: „In dem Augenblick also, in dem er sie heiratet, macht er 
das Mädchen, die Mutter, zu Regina Olsen, zu einem Schatten, .verflüchtigt', .zermalmt' 
er die Mutter; sie wird ,wie tot' für ihn — darum ist in dem Augenblick, wo die Wirklich^ 
keit eintritt, für ihn alles verloren — es ist die Mutter, die ihm verloren geht, ,1hm fehlt', 
sagt er, ,die erste Voraussetzung alles Erotischen — die Unmittelbarkeit', d. h., daß er un* 
mittelbar Regina Olsen nicht lieben kann." (S. 54) 

An einer anderen Stelle schreibt aber L.: „Heiraten bedeutet für K. kastriert zu werden, 
die Geliebte (die Mutter) zu töten" (S. 49). Diese zweite Deutung sagt, daß K. Impulse!, 
die er unbewußt seiner Mutter gegenüber hatte, auf die neue Mutter, auf Regina Olsen, 
übertragen habe; die erste dagegen, daß K. seine Braut verlassen mußte, weil er an die 
Mutter so gebunden war, daß er sie nicht aufgeben konnte. Während L. einerseits K.s neu* 
rotische Beziehung zu Regina Olsen damit erklären will, daß sie für ihn eine Mutterfigur 
war, und daß er deshalb gefürchtet hat, bei ihr die gleichen Enttäuschungen zu erleben, 
die er einst in der Kindheit bei der Mutter erlebt hat, postuliert sie andrerseits, daß K. seine 

16* 



244 Besprechungen 



Braut verlassen mußte, weil er in ihr nicht die Mutter sehen, nicht die Mutter wiederfin* 
den konnte. 

L. spricht von K.s Zwangsneurose, arbeitet aber die zwangsneurotischen Züge K.s nicht 
richtig heraus. Die wichtigste, K.s Denken und Stil am deutlichsten beeinflussende Äuße* 
rung der Zwangsneurose war seine Grübelsucht. Es ist ein Verdienst der L o w t z k y sehen 
Untersuchung, daß sie uns zeigt, wie sehr K.s Produktion um die Lösung subjektiver, im 
Tiefsten unbewußter und daher wohl unlösbarer Fragen ringt. K. war aber nicht nur 
zwangsneurotisch, sondern auch schwer depressiv. L. zeigt die depressiven Mechanismen 
bei K., das Wüten des strengen Über=<Ichs, die Wendung der Aggressionen gegen das ein* 
verleibte Objekt. G. G e r ö (Kopenhagen) 

REIK, THEODOR: Der überraschte Psychologe. Über Erraten und Verstehen unbewußter 
Vorgänge, A. W. Sijthoff's Uitgeversmij N. V. — Leiden. 1935, 291 S. 

Thema des Buches ist die Untersuchung des Erfassens unbewußter Zusammenhänge 
im Patienten durch den Analytiker. Das Buch stellt nach des Autors Worten „den Ver^ 
such dar, die Voraussetzungen und psychischen Leistungen des Forschers, der das Unbe» 
wußt=Seelische einer anderen Person erfassen will, zu beschreiben". Das Hauptgewicht 
legt der Verfasser als Analytiker naturgemäß auf die Untersuchung jener Wegstrecken 
zv/ischen Wahrnehmung eines seelischen Phänomens und seinem Verstehen, die durch das 
Vorbewußte und Unbewußte führen. Er teilt zum Zwecke seiner Untersuchung diesen 
Weg in drei Abschnitte; der erste Abschnitt führt von der bewußten und bewußtseins« 
fähigen Wahrnehmung des Materials bis zum Unbewußten des Psychologen, der zweite 
stellt sich dar in der unbewußten Verarbeitung des wahrgenommenen Materials durch den 
Psychologen, der dritte umfaßt das Wiederauftauchen des unbewußt verarbeiteten Ma# 
terials ins Bewußtsein und die darauf erfolgende Darstellung oder Formulierung, resp. 
die Mitteilung an den anderen. 

Reik ist der Ansicht, daß die Übermittlung des psychischen Materials auf zweierlei 
Weise erfolgt. Erstens durch die Sinneswahrnehmung, wobei auch die Summierung unter«» 
schwelliger Reize eine endliche Wahrnehmung ergeben kann, und zweitens durch Sinne, 
die als solche unserem Bewußtsein entzogen sind, prähistorische Sinne, die aus der tieri« 
sehen Vergangenheit der Menschenart stammen und dem Richtungssinn der Bienen, dem 
Orientierungsvermögen der Zugvögel und Ähnlichem gleichzusetzen sind. Die Telepathie 
nimmt er als auf der gleichen Basis der Vermittlung durch aktualisierte Sinne, die un« 
serem Bewußtsein fern und fremd geworden sind, zustandekommend an. „Wir haben 
Ohren und hören nicht nur mit ihnen, und haben Augen und sehen nicht nur mit ihnen", 
ja, jene archaischen Sinne jenseits des Bewußtseins mögen sogar rascher arbeiten als die 
bewußten, gleichsam atmosphärisch funktionieren. Die Wahrnehmungen durch sie bezögen 
sich dabei vor allem auf die Triebsphäre. Unsere psychologischen Eindrücke seien das 
Resultat der kombinierten Verarbeitung bewußter und unbewußter Wahrnehmungen. 
Dieser reiche rezeptorische Apparat bildet nach Reik das Gegenstück zu den zahlreichen 
Tendenzen des Selbstverrates, auf die uns Freud frühzeitig hingewiesen hat, wenn er in 
der „Psychopathologie des Alltagslebens" sagt: „Der Selbstverrat dringt uns aus allen Po* 
ren". Nach Reik wird auch „der Selbstverrat des anderen mit allen Poren aufgefangen." 

Der Autor wendet sich der psychologischen Einstellung zu, die dieses Auffangen unter« 
stützt, zum Teil auch erst ermöglicht. Diese Einstellung ist die vom Analytiker geforderte 
„gleichschwebende Aufmerksamkeit". Die willkürliche, aktive und die „gleichschwebende 
Aufmerksamkeit" werden besonders in ihren psychologischen Differenzen einer sehr gründ* 



Besprechungen 245 



liehen Untersuchung unterzogen. Die willkürliche Aufmerksamkeit wählt aus dem Be* 
obachtbaren einen Ausschnitt und verharrt in einer oft autohypnotisch zu nennenden 
Fixierung an dem unmittelbar gegebenen Gegenstand oder Zusammenhang. Sie bietet damit 
einen ausgezeichneten Schutz vor Überraschung. Die Überraschung aber sei gerade 
die besondere Art psychischer Erschütterung, die für die Analyse spezifisch ist. Die gleich* 
schwebende Aufmerksamkeit bereite den Boden für die Überraschung vor, während die 
willkürliche Aufmerksamkeit gegen Überraschung schützt. Der Entzug aktiver, willkür* 
licher Aufmerksamkeit führe zur Beweglichkeit der Aufmerksamkeit, zur Bereitschaft für 
verschiedene Anregungen, die aus dem Unbewußten auftauchen. Diese Anregungen nennen 
wir Einfälle, ihr Auftauchen geschieht überraschend. 

Der Analytiker erfasse das Fremd*Seelische auf zweierlei Weise. Erstens durch Wahr» 
nehmungen, in denen er deutlich erkennt, was die Worte und Bewegungen der beob* 
achteten Person bedeuten: eben das, was sie sagen. Diese Art der Erfassung wird gering 
geschätzt gegenüber der zweiten, die zunächst in nichts weiter besteht, als in der Vor* 
bereitung eines späteren Verständnisses, im Sammeln von Eindrücken für eine Vorrats* 
kammer, aus der sie in überraschenden Zusammenhängen und als überraschende Einsichten 
plötzlich wiederkehren. Die Differenzen der beiden Arten von Aufmerksamkeit zeigt 
R e i k sehr instruktiv an den Lösungsversuchen eines Bilderrätsels, dessen Lösung über 
laschend durch Aufgeben der willkürlichen Aufmerksamkeit gelingt. Dieses Aufgeben 
der willkürlichen Aufmerksamkeit hat eine erhöhte Beweglichkeit und Bereitschaft für 
andere Anregungen, für das Finden neuer Zusammenhänge zur Folge; ihr Festhalten 
versperrt diese Möglichkeiten. So ist die gleichschwebende Aufmerksamkeit eine Voraus* 
Setzung für die Überraschung durch Einfälle aus dem Unbewußten des Analytikers. 

In der Überraschung, die eine so wesentliche Rolle im psychologischen Erkennen da* 
durch spielt, daß sie die Gewähr der Mitwirkung des Unbewußten am Einfall ist, äußert 
sich nach Reik das Sträuben gegen den Anspruch, etwas Altbekanntes, das unbewußt 
geworden ist, anzuerkennen. Gerade die überraschenden Erkenntnisse aber seien in der 
Analyse die wirksamsten. Dabei geschehe die Überraschung in der Analyse an zwei 
Stellen. Im Analysanden, wo sie dadurch zustandekomme, daß ein Stück psychischer 
Realität von unbewußt*verdrängtem Charakter mit einem Stück materieller Realität durch 
das Aussprechen des Inhaltes durch den Analytiker zusammentrifft. Das Aussprechen 
selbst bedeute dabei eine partielle Erfüllung des abgewehrten Wunsches, es stellt ein zur 
Wortwirklichkeit gewordenes Gedankenspiel dar, ein Zeugnis der magischen Wirkung des 
Wortes. Die Überraschung des Analysanden in der Analyse bei Mitteilung des an ihm 
Erkannten habe häufig den Charakter des Schreckens. In seinem Buch „Der Schrecken" 
bezeichnet Reik als das Spezifische des Schreckens den Eindruck des plötzlichen Aktuell* 
werdens einer alten, unbewußten Angst. Es sei für den Erschreckenden, als ob plötzlich 
und in unerwarteter Form real würde, was einmal gefüchtet, dann abgewehrt und aus 
den Gedanken verbannt wurde. Reik nimmt an, daß auch beim Witz die erste, einen 
Sekundenbruchteil dauernde Reaktion von der Natur des Schreckens sei, wenn der latente 
Sinn des Witzes unbewußt erkannt wurde. Ganz ähnlicher Natur sei der Gedankeni* 
schrecken des Analysanden in der Analyse. Während aber beim Witz der Aufwand 
gegen die unbewußte Gefahr bei der Erkenntnis der Harmlosigkeit desselben im Lachen 
abgeführt werde, komme es in der Analyse nur langsam dazu, daß der Gedankenschrecken 
als überflüssig erkannt wird; es trete eine allmähliche Reduktion des Hemmungs* und 
Unterdrückungsaufwandes ein, wobei die bisher zur Aufrechterhaltung der Verdrängung 
verwendeten Energiebeträge zu anderwärtiger Verwendung frei werden können. 



246 Besprechungen 



Der zweite Überraschte in der Analyse aber ist der Analytiker selbst. Die wesentlichen 
Einsichten in das Unbewußt«Verdrängte sind auch für den Analytiker Überraschungen. 
R e i k zieht Parallelen zwischen analytischer Deutung und Witz. In beiden Fällen handle 
es sich um das Begegnen mit alten Ängsten, denen gegenüber die Hemmungsbereitschaft 
als überflüssig erkannt wird; im Witz plötzlich, in der Analyse allmählich. Dies die Pa* 
rallele zwischen dem Analysanden und dem Hörer eines Witzes. Die nächste Parallele 
ist die zwischen dem Analytiker und dem Hörer eines Witzes. Der Analytiker hat eine! 
ähnliche psychologische Stellung wie der Hörer eines Witzes, wenn ihm die verborgenen 
Deutungen und Absichten unbewußter Vorgänge klar werden. Er füllt Lücken aus, macht 
Entstellungen rückgängig, führt Mitteilungen auf ihren verdrängten Kern zurück. Dasselbe 
aber macht der Hörer eines Witzes, wenn er ihn versteht. 

Wenn der Analytiker dem Patienten das Erkannte eröffnet, dann ist er in dritter Pap« 
rallele vergleichbar dem, der einen Witz macht. Nicht selten beantwortet ja auch der 
Patient die Eröffnung mit Lachen. Beim Analytiker taucht wie beim Witzmacher eine 
große Zahl von Gedanken und Vorstellungen ins Unbewußte und wird dort verarbeitet; 
das Produkt wird dann vom Bewußtsein erfaßt und mitgeteilt. Der Unterschied zwischen dem 
Witzigen und dem Analytiker aber besteht in der seelischen Einstellung des Analytikers, dem 
es nicht darauf ankommt, aggressive und erotische Tendenzen zur entstellten Darstellung 
zu bringen, im Zeitfaktor für die Bearbeitung, der beim Witz von Augenblicksdauer ist, 
während er beim Analytiker keine Beschränkung aufweist und über Wochen und Monate 
sich erstrecken kann, und schließlich darin, daß der Witzige seine Energie frei abführt, 
der Analytiker aber in der Abfuhr der frei gewordenen Energie gestört ist, da er die Energie 
sofort zu anderer Verwendung, nämlich zur psychologischen Klarstellung und sprach« 
liehen Formulierung der plötzlich gewonnenen Einsicht benützt. 

Daraus, daß für R e i k die bedeutsamsten Erkenntnisse in der Analyse Überraschungen, 
d. h. also Bestätigungen unbewußter Erwartungen darstellen, die regelmäßig durch die be« 
sondere Einstellung der freischwebenden Aufmerksamkeit und die unbewußte Verarbeitung 
des aufgenommenen psychischen Materials erworben und gebildet werden, kommt er zu 
einer ernsten Polemik gegen das „Zettelkastenwissen" aus dem Gelesenen und Über* 
nommenen der analytischen Theorie. Er schätzt das Überraschungserlebnis auch des Ana* 
lytikers in der Analyse über alles, nennt es erlebte Erkenntnis seelischer Wirklichkeit gegen* 
über der erlernten Erkenntnis, bei deren Anwendung die Gefahr bestehe, daß man bei 
Wortrepräsentanzen stehen bleibt. Reik bezeichnet solche rein terminologische Anwen* 
düng als „Verbrechen gegen das keimende Leben echter psychologischer Erkenntnis". 
Eine ziemlich scharfe Kritik der Bemühungen Wilhelm Reichs um eine „zielsichere, 
geordnete und systematische Widerstandsanalyse" und um eine systematische Technik 
überhaupt schließt daran an. 

Reik schildert, daß für ihn dem Augenblick des glücklichen Einfalls, der eine Lösung 
in bisher dunkle Probleme des analytischen Materials bringt, eine Art Fremdheitsgefühl, 
eine rasch vorübergehende Absence vorausgehe. Zwischen Aufnahme des Materials in 
gleichschwebender Aufmerksamkeit und Aufsteigen des Einfalls schiebt sich „eine Latenz« 
zeit psychologischen Verstehens", für die Reik die Bezeichnung „unbewußtes Inter« 
vall" vorschlägt. Der Einfall müsse dann in der Folge aufgenommen und bis in alle 
Einzelheiten verfolgt werden. 

Den Einfall im richtigen Moment zur Deutung zu verwerten, sei Sache des Taktes des 
Analytikers. Takt nennt Reik eine Instanz, welche über das jeweilige Maß der Trieb* 
befriedigung und «versagung im sozialen Verkehr entscheidet. Er bringt den Takt in Zu* 



Besprechungen 247 



sammenhang mit dem Rhythmus der Lebens*, insbesondere der Triebäußerungen, und 
meint, Takt sei der Ausdruck einer bestimmten Anpassungen des eigenen Lebensrhythmus 
an den der jeweiligen Umgebung. Der günstigste Zeitpunkt, wann eine Deutung zu geben 
sei, werde durch den unbewußten Rhythmus der Triebvorgänge des Analysanden bestimmt. 
Der Takt des Analytikers bestehe in seiner Fähigkeit, dem Triebrhythmus des Ana* 
lysanden zu folgen. 

Die heuristische Verwendung des Unbewußten bilde die besondere 
Eigenheit des analytischen Verfahrens, das sich in dieser Richtung von anderen wissen* 
schaftlichen Methoden unterscheide. Reik teilt den heuristischen Vorgang in der Analyse 
in zwei Abschnitte. Das Erraten, das darin besteht, daß eine oder mehrere Spuren ge* 
funden werden, welche die Rätselhaftigkeit eines Phänomens aufhellen; das Erfassen der 
Art und Richtung unbewußter Vorgänge, das dem Bewußtsein Näherbringen der Triebt 
kräftc und seelischen Mechanismen der Vorgänge im Analysanden teilt er dem Erraten 
zu. Das Verstehen bildet den zweiten Abschnitt und besteht darin, daß die gefundene 
Spur genauer untersucht und bis an jene Stelle verfolgt wird, wo sie in bereits bekannte/ 
Wege einmündet. Die unbewußten Vorgänge verstehen, heißt, sie in ihrer bestimmten 
Bedeutung so genau wie möglich begreifen, sich mit ihren Voraussetzungen und Zielen 
vertraut machen, sie in den Kausalzusammenhang so einreihen, daß sie sowohl in ihrer 
Isoliertheit als auch in ihrer mannigfaltigen Beziehung zu anderen seelischen Vorgängen 
transparent werden. Der Übergang vom Erraten zum Verstehen geschehe durch die Ge* 
winnung historischer Einsichten in die Lebensgeschichte des Analysanden. Die Differenz 
zwischen Erraten und Verstehen besteht nach R e i k darin, daß sie verschiedenen seeli* 
sehen Schichten angehören. Das Erraten, das den Analytiker in der Rolle des Deteki» 
tivs erscheinen läßt, hat den Wegfall der eigenen gedanklichen Zensur zur Voraussetzung. 
Der Analytiker müsse sich für das Erraten einer psychoanalytischen Grundregel unter* 
werfen, die sich von der, die dem Analysanden erteilt wird, kaum unterscheidet. — Beim 
Verstehen hingegen gleiche der Analytiker eher dem Richter, der unter logischer 
Gliederung und Überlegung, mit Hilfe von Schlußfolgerungen, unter strenger Prüfung 
und Kritik der einzelnen Tatsachen, unter Verwertung bewußter Kenntnisse arbeitet. Das 
Verstehen geschehe dabei den unbewußten Triebquellen nach als ein oraler Einver* 
leibungsakt. 

Reik interessiert vor allem das Erraten, das ja für ihn das spezifische heuristisches 
Prinzip der Analyse darstellt, in dem das Unbewußte des Erkennenden als Erkenntnismittel 
dient. Er lehnt dabei die Erklärung durch Einfühlung ab, da dieser Begriff so vieldeutig 
sei, daß er nichtssagend ist. Die Triebgrundlage des Erratens ist nach Reik mehr als 
eine Identifizierung mit dem Analysanden, nämlich eine Ich*Verwandlung im Un* 
bewußten, durch die das fremde Erleben nicht w i e eigenes, sondern a 1 s eigenes erlebt 
wird. Die unbewußten Impulse werden durch die verschiedenen Ausdrucksmittel vom Patien* 
ten dem Analytiker nicht nur mitgeteilt, sie teilen sich ihm vielmehr mit. Die unbewußte 
Aufnahme der Zusammenwirkung und Gegenwirkung der Worte, Ausdrucksbewegungen 
und unbewußten Signale haben nach Reik die Induktion der ihnen zugrundeliegen* 
den, verborgenen Impulse und Affektinhalte zur Folge. In Ansätzen werde also im Ana*« 
lytiker wach, was im Ainalysanden rege ist. Dieses seelische Wirklichkeit gewordene Ich* 
Bild werde wieder in die Außenwelt projiziert und als Objekt wahrgenommen. Die 
passagere Introjektion des Objekts werde so von einer Projektion gefolgt. Damit aber 
komme eine wechselseitige Erhellung des unbewußten Geschehens im Analytiker und im 
Analysanden zustande, durch die die Ausübung der analytischen Tätigkeit auch für den 



248 



Besprechungen 



Analytiker von therapeutischer Wirkung sei. Das Rätsel der Verwandlung der im Ana* 
lytiker „aufgeweckten" Triebregung in psychologisches Interesse löst Reik dahin, daß 
er annimmt, daß schon im Ansatzpunkt, gleich nach dem Auftauchen, die Triebregung 
gehemmt und in den Analysanden projiziert werde, wobei die Energie der Triebregung 
in psychologisches Interesse umgewandelt wird. Das psychologische Interesse erweise sich 
auch darin als Abkömmling des Bemächtigungstriebes, dessen Zusammensetzung aus li* 
bidinösen und aggressiven Komponenten die Möglichkeit zu beider Umwandlung in 
psychologisches Interesse gebe. 

Die wichtigste Eignungseigenschaft des Analytikers sei nach allem eine Art moralischen 
Mutes, die Tapferkeit vor den eigenen Gedanken. Der Analytiker müsse die Fähigkeit 
haben, den Gedankenschrecken vor eigenen Einfällen zu überwinden, soll er dem Ana* 
lysanden bei der Überwindung seiner Widerstände gegen Angst und Schreckerlebnisse hilf* 
reich beistehen. 

Das hier wiedergegebene grobe Exzerpt aus dem Reikschen Buch berührt nur die 
hauptsächlichsten Probleme, denen Reik gründliche und eingehende Behandlung widmet. 
Nicht nur die Wichtigkeit der Untersuchungsobjekte, sondern auch vor allem der Reich* 
tum an klinischen Beispielen und an geistreichen Einfällen sowie die Gewandtheit der 
Sprache machen das Buch zu einer durchaus fesselnden Lektüre. Es ist ein mutiges Buch, 
mit dem der Autor in diesem Umfang erstmalig Bahn bricht in das unerkannte und ge* 
heimnisvolle Gebiet der analytischen Intuition, die wir alle doch anerkennen, obwohl 
wir vor ihrer allzu reichlichen Anerkennung zurückschrecken, weil sie uns nicht wissen* 
schaftlich faßbar werden will. So steht zu hoffen, daß das Buch dem Analytiker den Mut 
vermehrt, sich seiner Intuition zu bedienen, da sie nach Reik als heuristisches Prinzip 
der Analyse von spezifischem Charakter und von unschätzbarem Werte ist. 

Richard Sterba (Wien) 
WEISS, EDOARDO: La Psicoanalisi (Artikel erschienen in der Enciclopedia Italiana, 

Vol. XXVIII, S. 455-457. 1935). 

Die Psychoanalyse ist durch diesen ausgezeichneten und bei aller Kürze außerordentlich 
inhaltsreichen Artikel in der modernsten der gegenwärtig erscheinenden Enzyklopädien 
würdig vertreten. Der Artikel gibt eine knappe Übersicht über die wichtigsten Lehren der 
Psychoanalyse, ihre Topik, ihre Struktur* und Trieblehre, über die Traumdeutung und — 
in sehr vorsichtiger Formulierung — auch über die Entwicklung der Technik. Ein gutes 
Literaturverzeichnis unterrichtet über Ausbreitung und Umfang der psychoanalytischen 
Literatur. Diesem Literaturverzeichnis ist — offenbar von der Schriftleitung — ein kurzes 
Verzeichnis gegnerischer Schriften angefügt worden. E. K. (Wien) 

Aus der Literatur der Grenzgebiete 

BEUN, LUITGARD (Schwester M. Gerarda): Het Zedelijk Ordeel bij Rinderen. Ant* 

werpen*Nijmegen 1934. 

Nach dem Beispiel von Fernald hat Schwester Beun von mehr als zweitausend 
Mädchen (von 8 bis 18 Jahren) und Erwachsenen mehrere Gruppen von „schlechten" und 
auch von „braven" Taten sittlich beurteilen und die Fälle der Schlechtigkeit oder der Brav* 
heit nach abstufen lassen, um so eine Einsicht in das ethische Urteilen und in die Ent* 
Wicklung der Moral mit dem Alter zu gewinnen. Sie kam dabei zum Schluß, daß das sitt* 
liehe Urteil mit den Jahren „besser" wurde, wobei sie feststellen konnte, daß ein moralisches 
Urteil „der Wahrheit nahe" war und außerdem in der von Erwachsenen gegebenen Rang* 
Ordnung einen Vergleichungspunkt hatte. In diesem Punkte herrscht freilich keine ein* 



Besprechungen 249 



heitliche Urteilsgrundlage: Eine Gruppe deutscher Theologen und Pädagogen z. B. weist 
unter 7 verschiedenen Übeltätern den Jüngling, welcher seinen betrunkenen Stiefvater, der 
seine Mutter mißhandelt, erwürgt, als den geringsten Sünder an, findet dagegen den Jungen, 
der aus Hunger zwei Brötchen stiehlt, mehr zu verurteilen, während die belgischen katho« 
lischen Pädagogen den Stiefvatermörder fast ebenso beurteilen wie den Bediensteten, der mit 
einem gefälschten Scheck 1000 Franken stiehlt. 

Der Psychoanalytiker kann aus diesen Untersuchungen einiges bezüglich der allmäh« 
liehen Konsolidierung eines schablonenhaften Über«Ichs in der Jugend lernen: jüngere 
Kinder finden meistens die Fälle, in denen mit Messern gestochen oder geschossen wird, 
am schlimmsten, während die älteren von diesen triebnäheren Taten weniger fasziniert 
werden und mehr auf Pflichtverletzung und Vorsätzlichkeit achten. Auch phantasieren 
die jüngeren ihre Wünsche leichter in die Fälle hinein: obwohl sie die Aufgaben vor sich 
hatten, schrieben einige, daß der Junge, der das Brot stahl, Törtchen oder „Patees" gep 
nommen habe. Ein undeutlich gestellter Fall eines „guten" Burschen, der seinem Hunde 
einen Glassplitter aus der Pfote holte und ihm dabei das Maul mit einer Schnur zw 
sammenband, wurde von den meisten Mädchen wegen des Zubindens als eine Rohheit 
verstanden, aber eine erhebliche Zahl (von den 11jährigen sogar 5<>/o) motivierte die Ver« 
urteilung durch die Phantasie: daß er noch einen anderen Glassplitter in den Mund (eine 
sagt: in sein Maul) hineingesteckt habe. Der Wunsch der Mädchen, daß etwas Stechendes 
in den Körper hineingesteckt würde, hat hier das „ethische Urteil" beeinflußt. 

Das Bedenken des Psychoanalytikers gegen diese Untersuchungen beruht nicht nur darauf, 
daß das Unbewußte, das in diesen Antworten eine so deutliche Rolle spielt, verleugnet 
wird, sondern auch darauf, daß ein fester moralischer Kodex angelegt wird, als ob der 
Mensch abgeurteilt werden könnte, ohne daß seine unbewußten Determinanten auch nur 
erwähnt werden. So wird z. B. von den Erwachsenen ein Junge als der verworfenste Faul« 
pelz bezeichnet, der versprochen hatte, für seinen kranken Vater, einen Bahnwärter, auf 
dem Signal die Sperrbäume zu schließen. Aus dem Schlafe geweckt, meint er, noch Zeit 
zu haben, fällt aber wieder in Schlaf, und der Zug prallt an ein Auto. Seine Pflichtver« 
gessenheit unter gefährlichen Umständen macht ihn in den Augen der „richtigen" Be« 
urteiler zum größten Sünder. Aber, würden wir fragen, lag eine Hauptursache nicht bei 
den Eltern, die ihm die Gefahr ungenügend deutlich machen konnten? War seine Schlaf« 
neigung in dem Zustand des Halberwachtseins so moralisch verwerflich? Und wenn er 
sich die Gefahr jeder Verzögerung überhaupt nicht vergegenwärtigen konnte, war er dann 
vielleicht debil? Oder ist es am Ende neurotisch zu nennen, in solchen Umständen dem 
Schlaf zu verfallen? Was für eine Menge unbewußter Determinanten, die wir so ohne 
weiteres nicht beurteilen können, mögen hier mit im Spiel gewesen seinl Warum schlief er 
wieder ein? Ein solcher Vorfall ist als moralisch verwerfliche Faulheit noch nicht „richtig" 
und genügend beurteilt. Ähnliche Fragen lassen sich natürlich bei allen Beispielen stellen. 
Man sieht aus solchen Beispielen nur, wie das Kind allmählich auf den Standpunkt der 
erstarrten erwachsenen Pädagogen kommt, die nur nach festen Schablonen urteilen, nach 
Pflicht und Vorsatz, nach bewußter Gesinnung und Absicht, nach dem, was sie als Tugend 
oder Laster bequem kennzeichnen können. Solche Aufgaben schärfen das begriffliche 
Denken, das es allen Menschen bequemer macht, das Unbewußte zu vergessen. Das ethische 
Urteil ist eine der schärfsten Waffen, mit denen der Mensch sein Unbewußtes verleugnet — 
es proklamiert ja, daß man bewußte Absichten, „ehrliche" Meinung, Tugend und Sünde, 
richtig nach „Wahrheit" sofort beurteilen kann. 

Untersuchungen wie in diesem Buch, gerade wenn sie auf streng wissenschaftliche Weise 



250 Besprechungen 



geführt werden, wie Schwester Beun dies getan hat, lassen uns sehen, wie der wachsende. 
Mensch allmählich besser lernt, das Unbewußte zu leugnen. 

A. J. Westerman*HoIstijn (Amsterdam) 

COCHRANE, ARCHIBALD: De oorsprong der gevangenissen. Tijdschrift voor Straf* 
recht, Afd. 3 Deel XLV. 1935. 

Ein durchaus unter analytischen Gesichtspunkten unternommener Versuch, die Institu* 
tion des Gefängnisses auf das Tabu der primitiven Welt zurückzuführen, liegt in diesem 
Artikel vor. Er sei ausführlich referiert, weil er für den Leser dieser Zeitschrift von beson* 
derem Interesse und dem Orte seines Erscheinens nach nicht leicht erreichbar ist. 

C. geht von einer Übersicht über die Theorien aus, welche die Entstehung des Ge* 
fängnisses erklären wollen. Die erste Theorie leitet das Gefängnis von der Untersuchungs* 
haft ab, welche die Wartezeit vor dem Urteil bezeichnet, die zweite Theorie sucht die 
Wurzel der Einrichtung in der Schuldhaft, die sich bei privatrechtlichen Streitigkeiten 
zwischen Gläubigern und Kreditoren als Maßregel der Sicherung ergab. Die dritte Theo* 
rie, zu der sich z. B. Wundt bekennt, sieht im Asyl den Ursprung der Gefängniseim* 
richtung. Bohne, der diese Theorien scharf kritisiert, sieht den ursprünglichen Zweck 
des Gefängnisses in der Internierung des Rechtsbrechers, um ihn für die Gemeinschaft un* 
schädlich zu machen. 

Nach C.'s Meinung gehen alle diese Theorien fehl, weil sie nur den historischen und 
nicht den psychologischen Zusammenhang berücksichtigen. Indem er sich auf R e i k s 
analytische Untersuchung über den magischen Ursprung des Indizienbeweises beruft, 
meint er, das Problem eher mit Hilfe der analytischen Methode lösen zu können. 

Im frühen Griechentum war der Mörder sicher, solange er sich nicht im Bereiche der 
Verwandten und Freunden des Ermordeten — ursprünglich nicht im Bereiche des Geistes 
des Toten — befand. Der Verbrecher flüchtet natürlich seiner eigenen Sicherheit wegen, 
aber auch, weil er andere mit seiner Mordlust anstecken könnte. Die Yabuni in Neu* 
Guinea versuchen, den Geist eines Ermordeten, der den Mörder verfolgt, durch Geschrei 
und Trommelschläge zu vertreiben. Zahlreiche Beispiele von australischen Völkern zeigen, 
daß Mörder oder siegreich heimkehrende Krieger tabu sind und abgesondert in Hütten 
leben, um sich zu reinigen. Dieselbe Zeremonie der körperlichen und seelischen Reini* 
gung wird etwa bei den Puma*Indianern gefunden: wenn ein Krieger einen Apachen ge* 
tötet hat, zieht er sich in die Einsamkeit des Waldes zurück, wo er sechzehn Tage fastet, 
mit niemandem sprechen darf usw. Er wird von einer alten Frau versorgt. 

Dieses Zeremoniell des Tabu stellt den Ursprung des Gefängnisses dar; die Leute, 
welche dem Verbrecher während seiner Isolierung Speise und Trank geben, finden wir 
später als Gefängniswärter wieder. Der Verfasser stützt seine Auffassung durch den Hin* 
weis darauf, daß die Primitiven ihre Affekte in die Außenwelt projizieren. Der Ver* 
brecher sondert sich von der Gemeinschaft ab, weil er sich mit dem Ermordeten identifo 
ziert; seine Isolierung stellt den Ersatz für den eigenen Tod dar. Auf diese Art von zere* 
moniellem Tod erfolgt nach der Isolierungszeit oft eine Zeremonie der Wiedergeburt. Auch 
andere Reinigungszeremonien am Ende der Tabuzeit, in denen das Wasser eine beson* 
dere Rolle spielt, haben diesen unbewußten Sinn. 

Das Tabu des Mörders wird so als Todeszeremoniell gedeutet; der Mörder ist während 
seiner Isolierung ein „lebender Leichnam". Die Ausstoßung aus der Gemeinschaft, die 
einem sozialen Tod gleichkommt, wird auch bestimmt durch die Angst der Stammes* 
mitglieder, selbst der Mordversuchung zu unterliegen. Die Isolierung, die durch das Tabu 
gefordert wird, ist das Urbild des Gefängnisses. Sie ist zuerst eine freiwillige, später wird 



Besprechungen 251 



sie vom Staate dem Verbrecher auferlegt. Die Auffassung des Gefängnisses als Strafe 
bezeichnet eine spätere Entwicklung; der ursprüngliche Sinn der Isolierung ist der des 
zeremoniellen Todes. 

C. führt gute Beispiele an, welche als Zwischenglieder zwischen der antiken und primi* 
tiven Behandlung des Mörders und den modernen Methoden erscheinen: bei den Jauo 
auf Kaouondo schert der aus dem Kampf zurückkehrende Krieger seinen Kopf kahl. 
Bevor er sein Dorf betreten darf, muß er ein lebendes Huhn an seinen Hals hängen. 
Dann wird das Tier enthauptet; der Kopf bleibt am Halse des Kriegers hängen. Wer 
denkt da nicht an das geschorene Haar der Sträflinge und an das antike Zeremoniell vom 
stellvertretenden Huhnopfer? Statt des Kriegers wird das Huhn enthauptet. Der Brauch 
des Skalpierens bei den Indianern ist hier psychologisch einzureihen. Im Zusammenhang! 
mit diesem Zeremoniell bringt der Verfasser einige Beispiele zeremonieller Reinigung, 
in der die Tat am Verschiebungsersatz wiederholt wird, und erinnert an R e i k s These : 
„Keine Sühne ohne Wiederholung der Tat". Die Riten haben nicht das Ziel, den Mörder 
zu bestrafen; sie stellen eine Beschwörung der bösen Dämonen dar, keine sittliche Läute? 
rung in unserem Sinne, eher Schutz gegen eine physische Gefahr. 

Beispiele aus dem frühmittelalterlichen Klosterrecht zeigen, daß auch die Haft von 
Nonnen und Mönchen, die sich vergangen hatten, nicht Strafcharakter, sondern den Sinn 
der Reinigung haben. Daneben aber wird in diesen Klostergebräuchen deutlich, daß die 
Einsperrung einen zeremoniellen Tod bedeutet, der dem Tabu des Mörders zugrunde 
liegt. Der Verfasser verfolgt die weitere psychologische Entwicklung bis zu modernen 
Auffassung des Gefängnisses und stellt die ähnlichen Züge des Gefängnisses in unserem 
Sinne und des Tabu des Verbrechers in der Welt der Primitiven dar. Unsere psychische 
Einstellung zum Verbrecher erinnert an die ambivalente Haltung, welche das Tabu des 
Missetäters kennzeichnet. Der Verfasser untersucht die seelischen Vorgänge, welche zu 
einer solchen psychischen Einstellung geführt haben. 

C. erkennt, daß er nicht imstande war, den Beweis seiner These bis in alle Einzelheiten 
durchzuführen, meint aber behaupten zu dürfen, dem gesuchten Ursprung der Institut 
tion des Gefängnisses näher gekommen zu sein als seine Vorgänger, und schreibt dieses 
Verdienst der analytischen Methode zu. Sein Resume lautet: 

Das Gefängnis ist ein Nachkömmling des primitiven Tabu. Es stellt noch immer unb&* 
wüßt einen zeremoniellen Tod dar; die Zelle vertritt den Sarg. Dieser zeremonielle Tod 
beschützt den Verbrecher gegen auf andere Weise unternommene Rache, beschützt aber 
auch die Gemeinschaft gegen die Wiederholung des Verbrechens und gegen die psychische 
Infektion, die von der unbewußten Versuchung durch den Verbrecher ausgeht. 

C. P i e r a (Den Haag} 

KOFFKA, K.: Principles of Gestalt Psychology. Int. Library of Psychology, Philosophy 
and Scientific Method. New York, Harcourt, Brace &. Co., 1935. XI und 720 Seiten. 

K o f f k a s Buch ist ein sehr vollständiger Bericht über die Leistungen der Gestalt* 
Psychologie. Es gibt nicht nur einen vollkommenen Überblick über die Literatur auf diesem 
Gebiet, sondern erörtert sie auch und fügt beachtenswertes neues Material hinzu. 

Die experimentelle Arbeit der Gestaltpsychologie behandelt das Problem der Wahr? 
nehmung in umfassender Weise. Der allgemeine Gesichtspunkt ist in folgenden Sätzen 
zum Ausdruck gebracht: „Wir haben ein ganzes Netzwerk von Hypothesen ausgeschaltet, die 
Konstanzannahme, die Hypothese von den .unbemerkten' aber wirksamen Eindrücken, 
die Hypothesen von der Deutung und von der Assimilation, und wir haben den Wahn» 
nehmungsirrtum aufgezeigt." „Es ist klar geworden, daß die wahre Lösung, ohne darum 



252 , Besprechungen 



im geringsten vitalistisch zu sein, nicht eine Maschinentheorie, basiert auf einer Summation 
unabhängiger Empfindungsvorgänge sein kann, sondern daß sie eine durchaus dynamische 
Theorie sein muß, in der die Prozesse sich unter dem Einfluß wirkender Kräfte und ein* 
schränkender Bedingungen gestalten." Besondere Aufmerksamkeit wird der Organisation 
des optischen Feldes und ihrer Gesetze gewidmet. Die primitive Wahrnehmung wird als 
dreidimensional aufgefaßt. Eine Fläche wird als das Produkt starker Gestaltungskräfte be- 
trachtet. Die gegliederte Raumwahrnehmung ist nicht ausschließlich visuell. Die verschie- 
denen Faktoren für die Gliederung im Raum sind Nähe, Gleichheit und Prägnanz. Unser 
Lebensraum ist ungeachtet der verwirrenden räumlichen und zeitlichen Verschlungenheit 
der Reize wohlgeordnet. Gute Kontinuität und gute Gestalt sind mächtige gestaltende 
Faktoren, und beide sind im vollen Wortsinne verständlich. Nach der traditionellen Psy- 
chologie erscheint die Gliederung eines Feldes in Dinge oder in Figuren und Grund als 
ein klares Beispiel für Erfahrung oder Schulung. K. betrachtet diese Gliederung als das 
direkte Resultat der Reizverteilung, er nimmt an, daß vom Reizmosaik spontan Gestalt 
hervorgerufen wird. Innere Gliederung, gute Kontinuität und gute Gestalt bestimmen das, 
was in einem gegebenen Wahrnehmungsfeld Vordergrund, was Figur und was Grund wird. 

„Die Dinge, die wir sehen, haben eine bessere Gestalt, sind von besseren Konturen be- 
grenzt als die Zwischenräume, die wir sehen könnten, aber nicht sehen." „Deshalb werden 
nur unter außerordentlichen Umständen die Bedingungen ins Gegenteil verkehrt. Wir 
mögen dann den Zwischenraum und nicht die Dinge als die Gestalt sehen. Ein Spalt 
zwischen zwei vorspringenden Felsen mit scharfen Profilen, kann wie ein Antlitz aus- 
sehen, wie ein Tier u. dgl., während die Gestalt des Felsens verschwindet." Die wahrgei- 
nommene Form kommt der wirklichen viel näher als der retinalen, und dieser Tatsache 
wird von den Psychologen in der Feststellung Ausdruck verliehen, daß Gestalt, Größe und 
Farbe das Phänomen einer relativen Konstanz aufweisen; d. h. die verschiedenen Wahr* 
pehmungen, die von einem gleichweit entfernten Reiz ausgelöst sind, werden viel weniger 
verschieden sein als die korrespondierenden benachbarten Reize und werden der Wahr- 
nehmung, welche unter der neuen eben diskutierten Reizbedingung entsteht, näher stehen. 
Nach K. ist Gestalt unter abnormalen Orientierungsbedingungen das Endprodukt eines 
Organisationsprozesses, der in einem Felde stattfindet, das unter einer Sonderspannung 
steht (fleld of stress). „Das Reizmuster führt neue Kräfte ein, die sich mit den Kräften der 
Orientierung, die die Spannungsverteilung im Feld bewirken, vereinigen, und die endgiltige 
Gestaltung wird diejenige sein, in welcher diese Kräfte sich am besten die Waage halten." 
Die Reaktion auf einen Reizwechsel mag so sein, daß die Dinge ihre Eigenschaften so 
weit wie möglich beibehalten. Auf dem Gebiet der Bewegung (im motorischen Sektor) 
werden solche Vereinigungen von Prozessen und solche Wege bevorzugt, die die Dinge, 
soweit es die Umstände erlauben, intakt lassen. Konstanz von Gestalt und Größe ist ge- 
paart mit Bewegung, entweder der Gegenstände oder des Beobachters. Bewegung ist nur 
möglich, weil trotz dem Wechsel der Muster, die auf der Retina entstehen, konstant«) 
Wahrnehmungsgegenstände produziert werden. „Wie die Dinge hat auch die Erscheinung 
der Objekte bestimmte Eigenschaften. Abgesehen von ihrem Widerstand gegen Zerstö- 
rung sind wir ihrer Undurchdringlichkeit und ihrer Trägheit begegnet, weshalb größere 
Objekte sich langsamer bewegen als kleinere. Diese Korrespondenz zwischen phänomenalen 
und realen Dingen ist . . . nicht primär eine Erfahrungssache — wiewohl wir nicht 
leugnen, daß Erfahrung auf diese Eigenschaften Einfluß haben mag — , sondern das direkte 
Ergebnis von Gestaltung (Organization)." 

Es gibt ein dauerhaftes Ichsystem. In allen Wechselfällen auf dem Gebiet des Ver- 



Besprechungen 253 



haltens verharrt das Ichsystem als ein gesonderter Bezirk. Das Ich an sich ist im Grunde 
zeitlich, es ist keine von der Zeit unabhängige Größe. Es geht immer irgendwohin, und 
die Stabilität des Ichs muß daher immer in Beziehung zu der Richtung gesehen werden, 
in die es sich bewegt. Es gibt Gebiete ('Felder) ohne Ichorganisationen. Das Ich bestimmt 
die Grundrichtungen des Raumes. Es bestimmt das „vorne", „hinten", „links und rechts"- 
Handlung ist ein Prozeß, durch den eine im Gesamtfeld bestehende Spannungsverteilung 
beseitigt wird. „Eine Handlung mag eine Spannung in einem Ichsystem bedeuten, das 
im Moment vom übrigen Ich isoliert war und über die exekutive Gewalt verfügte." „Die 
Exekutivgewalt umfaßt alle Wege, auf denen Handlung eine Spannung erleichtern oder 
zu solcher Erleichterung beitragen kann." „Das Problem des Verhaltens löst sich auf in die 
Frage der Veränderungen der großen Ich*Feld*Gestalt. Es sind Veränderungen in der Be* 
Ziehung der Untersysteme des Ichs zueinander." Grenzen zwischen dem Ich und der Um* 
gebung entwickeln sich. Die Beziehung Ich*Objekt ist primär nicht eine erkenntnis* 
mäßige. Gegenwärtige Leistungen beruhen auf früheren. Es gibt einen alles durchdringenden 
Einfluß der Erfahrung. Haltung und Aufmerksamkeit sind wirksame Kräfte, die an der 
dynamischen Gesamtsituation Anteil haben. Haltungen haben einen meßbaren Effekt. 
Gefühlsmäßiges Verhalten ist der Dynamik der im Ich vorhandenen Kräfte zuzuschreiben. 
Bewußte Erregung ist der manifeste Aspekt dieser Dynamik. Zorn und Sättigung sind Bei* 
spiele von Emotionen, die experimentell hervorgerufen werden können. 

Erinnerung basiert auf einem System von Spuren, welches organisiert ist und vom 
Spurenfeld nicht nur seine einheitliche Formation, sondern auch den spezifisch dyna* 
mischen Charakter temporaler Einheiten bezieht. Die „gute Fortsetzung" ist nicht einer Be* 
wegung zuzuschreiben, sondern dem Feld, das gewisse Bewegungen anderen gegenüber 
begünstigt. Es gibt Spuren, die im Gehirn lokalisiert sind, und solche, die so gut wie| im' 
gesamten Cortex hinterlegt sind. Spuren unterliegen Veränderungen. Linien können ent* 
sprechend der Natur ihres Vorbildes allmählich gekrümmter, länger oder kürzer werden. 
Die Spur behält die dynamische Verteilung der ursprünglichen Erregung, und die in ihr 
vor sich gehenden Veränderungen streben nach einer Verminderung der inneren Span* 
nung. Die Veränderungen in den Erregungsmustern in der Erinnerung sind „normalisie* 
rend", betonend oder zuspitzend, oder autonome Veränderungen. Die Reproduktion nähert 
sich vertrauten Formen an. Ein besonderer Zug des ursprünglichen Musters kann mehr 
und mehr übertrieben werden. Spuren sind in Schemata organisiert, eines davon ist das 
Ich. Ein Schema deutet auf eine aktive Gestaltung vergangener Reaktionen hin. Die 
Spurensysteme des Ichs und der Umgebung sind dynamisch voneinander abhängig. Ver* 
schwinden einer Spur bedeutet Vergessen. Eine Spur mag so verwandelt werden, daß sie 
ihre Individualität und sogar ihre Identität verliert. Spuren können unbrauchbar werden. 
Der Prozeß mag die Verbindung mit einer sonst verwendbaren Spur verfehlen. Jeder Vor* 
gang ist in irgendeiner Hinsicht ein Lernvorgang. Er hinterläßt Spuren, die zu einer Ver* 
besserung des Handelns führen können. „Der Lernerfolg im Sinne einer Modifikation des 
Betragens kann in bezug auf den Prozeß in drei verschiedene Bestandteile zerlegt werden, 
1. Die Erweckung des Spezifischen (des richtigen Prozesses). 2. Die Spur dieses Prozesses. 
3. Die Wirkung dieser Spur auf spätere Prozesse." „Lernen als die Abänderung einer Er* 
folgshandlung in einer bestimmten Richtung besteht darin, daß Spurensysteme einer be* 
stimmten Art, geschaffen, gefestigt und immer brauchbarer werden für wiederauftauchende 
und neue Situationen". Auch Auswendiglernen ist ein Gestaltungsprozeß. Die Stabilität 
einer Spur ist eine Funktion ihrer dynamischen Struktur. Kontiguität spielt bei der Re* 
Produktion soweit eine Rolle, als die benachbarten Teile vereinheitlicht wurden. Durch 
Gewohnheit (Assoziation) geschaffene Verbindungen sind als solche niemals der wirkliche 



254 ,. Besprechungen 



Motor eines Denkvorganges. Spannung im Denksystem ist die notwendige Vorbedingung 
für Denkprozesse. Es müssen arbeitsfähige Energien freigesetzt werden. Wiedererkennen 
ist ein Inverbindungtreten mit einem Teil des Spursystems, der andere, das Ich nicht ein* 
schließende Teile des Systems in Tätigkeit setzt. Bei der Reproduktion werden Teile des 
Systems in Tätigkeit gesetzt, die dem Ich angehören. Eine Verbindung zwischen Prozeß und 
Spur erfolgt nicht nur auf der Grundlage einer Ähnlichkeit, sondern auch auf Grund der 
Haltung des Ichs. K. meint, daß Verbindungen zwischen Prozeß und Spur auf Grund 
einer dynamischen Relation innerhalb der ganzen Höhe der Spursäule möglich sind. Das 
Problem, wie ein neuer Prozeß (Denken) erwacht, ist nicht in allen Fällen eine Frage 
von Spuren. Die von einer Anforderung oder von einem Bedürfnis hervorgerufene Span* 
nung kann zu spannungsvermindernden Bewegungen oder zu Gedanken führen, die solche 
Bewegungen auslösen. Die Dynamik des Prozesses ist durch die innere Qualität der Daten 
bestimmt. Verhalten ist eine ununterbrochene Folge von Gestaltungen und Wiedergestal* 
tungen. Das Ich ist unvollständig. Zur Befriedigung seiner Bedürfnisse ist es auf die Hand* 
lungen anderer angewiesen, und die erste intime Beziehung im Leben eines Menschen ent* 
steht zu denen, die seine Bedürfnisse befriedigen. Soziales Verhalten ist das Ergebnis solcher 
Gestaltungen bestimmter Art. Persönlichkeit ist eine Gestalt, deren verschiedene Mani* 
festationen voneinander abhängig sind, was eine Vielzahl von Kombinationen einzelner 
Züge ausschließt. Eine Gestalt ist das Produkt von Gestaltung (Organization), Organisation, 
ist ein Prozeß, der zu einer Gestalt führt. 

Ich habe — in der Hauptsache mit den Worten des Autors — versucht, den psychoanaly* 
tischen Leser mit den Grundproblemen der Gestaltpsychologie bekannt zu machen. Ihre 
Verdienste sind nicht zu bestreiten, besonders was ein besseres Verständnis der Organisa* 
tion der Wahrnehmung anlangt. Der Bruch mit der Auffassung, daß Wahrnehmung und 
Handlung eine Summation oder ein Mosaik von Empfindungen und Reflexen seien, ist 
tatsächlich ein bedeutsamer Schritt. Die Gestaltpsychologie führt an die realen Objekte, 
Farbe und Form, näher heran, wie besonders die Diskussion über die Konstanz zeigt. 

Die Gesetze der Gestaltung im Gesichtsfeld, wie das Gesetz der Prägnanz und der Nähe, 
die Formulierungen einer „guten Gestalt" und einer „schlechten Gestalt", eine Erörterung 
der Tendenz zur „Geschlossenheit" bezeichnen einen bedeutenden Fortschritt der allge* 
meinen Psychologie. Der psychoanalytische Leser wird vielleicht fragen, was der Ausdruck 
„Gestaltung" (Organisation) besagt, der so häufig in dieser Erörterung gebraucht wird. Er 
ist auch geneigt zu fragen, was „Spannung und Zug" (stress) bedeutet, und ist erstaunt, 
keine Antwort auf diese Fragen zu finden. Vom analytischen Standpunkt nehmen wir 
natürlich an, daß die libidinöse Situation gemeint ist, wenn der Gestaltpsychologe von 
„Organisation" („Gliederung") des Gesichtsfeldes und Spannung (stress) spricht. Der Ana* 
lytiker wäre besonders geneigt, eines der Verdienste der Gestaltpsychölogie in dem Hin]* 
weis zu sehen, daß die Gliederung (Gestaltung) des Gesichtsfeldes irgendwie die Struktur 
libidinöser Probleme reflektiert. Doch würde der Gestaltpsychologe eine solche Auslegung 
zurückweisen und auf dem formalen Charakter der beschriebenen Gesetze bestehen, und 
er würde sogar lieber noch in die entgegengesetzte Richtung gehen und versuchen, die) 
tatsächlichen Situationen im menschlichen Leben aus ihren formalen Merkmalen zu er* 
klären. Vom analytischen Gesichtspunkt her wissen wir schon lange, daß Assoziation, 
nicht lediglich der Koinzidenz und der Kontiguität zuzuschreiben ist, sondern auf trieb* 
haften Kräften beruht. Aber der Psychoanalytiker gibt sich mit einer derartigen Feststellung 
nicht zufrieden und besteht darauf, über die aktuelle menschliche Situation, in der diese- 
dynamischen Triebe auftreten, mehr zu erfahren. Gestaltung und Zug und Spannung be* 



Besprechungen 255 



deuten sodann Libidoprobleme und aktuelle Lebenslagen. Es ist wahr, der Analytiker ven* 
gißt zu leicht, daß libidinöse Impulse auf spezifischen Strukturen beruhen, und daß es 
eine Außenwelt mit bestimmten Merkmalen gibt. In dieser Außenwelt existieren bestimmte 
Strukturen und eine innere Kohärenz. Die Gestaltpsychologie kann dem Analytiker zu 
einem tieferen Verständnis dieses Problems verhelfen. Die Gestaltpsychologie erkennt 
nur widerstrebend die Erfahrung an. Es ist richtig, den Einfluß der Erfahrung zu leugnen, 
wenn Erfahrung lediglich als mechanische Wiederholung betrachtet wird. Die Psycho* 
analyse hat weit mehr als die Gestaltpsychologie im einzelnen nachgewiesen, daß Erfahr 
rung einer Organisation gleichkommt. Diese wird nicht nur von den allgemeinen biolo* 
gischen Eigenschaften der Menschen gelenkt, sondern auch von ihren individuellen Trieb* 
Schicksalen. Organisation beruht auch in dieser Beziehung auf einer Wechselwirkung der 
Triebe des Menschen, die in enger Beziehung zur Realität stehen. Psychoanalytiker wird 
es interessieren zu erfahren, daß Prinzipien, die sie aus einem Studium wirklicher Situa* 
tionen abgeleitet haben, auch im Bereich der Wahrnehmung und im mehr formalen Be* 
reich des Laboratoriums von Belang sind. Sie werden wahrscheinlich auf der Überlegen* 
heit ihrer Methode bestehen und nicht glauben, daß die formalen Gesetze der Gestalte 
Psychologie die endgiltige Erklärung der Probleme bieten, sondern überzeugt sein, daß 
die formalen Gesetze besser verstanden werden, wenn man die individuellen menschlichen 
Situationen vom Standpunkt der Trieblehre aus studiert. K o f f k a s Erörterung von 
Wollen und Emotion ist recht enttäuschend. Der Formalismus der Gestaltpsychologief 
stößt hier auf besondere Schwierigkeiten. Es ist zu loben, daß K o f f k a ein Ich anerkennt, 
das in vielen Hinsichten mit dem Körperbild in meiner Nomenklatur übereinstimmt, aber 
er hat in dieser Konzeption nicht die Libidoprobleme erkannt. Es ist sehr wahrscheinlich, 
daß Koffkas Darlegungen der Probleme des Gedächtnisses und der Erinnerung sehr 
gewonnen hätten, wenn er von dem reichen Tatsachenmaterial, das die Psychoanalyse ge* 
sammelt hat, Gebrauch gemacht hätte. Aber es ist nicht so sehr die Absicht seines Buches, 
eine allgemeine Übersicht über psychologische Probleme zu geben, als vielmehr, das experi* 
mentelle Material und den Standpunkt der Gestaltpsychologie darzustellen. Er hat es mit 
Erfolg getan. Psychoanalytikern wird empfohlen, dieses Buch sorgfältig zu studieren; 
es wird ihnen helfen, klarere Formulierungen für grundlegende Probleme der Psycho* 
analyse zu finden. P. Schilder (New York) 

KORPERTH*TIPPEL, AMALIE: Kind und Bild. Künstlerisch wertvolle und wertlose 
Bilder im Urteil von Drei* bis Vierzehnjährigen. Aus dem psychologischen Institut in 
Wien. Deutscher Verlag für Jugend und Volk. (o. J.) J 

Von acht Bildvorwürfen werden Kindern aus Kindergärten, Volks* und Hauptschulen, 
je zwei Ausführungen vorgelegt, deren eine „besser", deren andere „schlechter" ist. Die 
Kriterien betreffen im wesentlichen die Richtigkeit und das Vermögen der Naturwieder* 
gäbe. Künstlerisch sind auch mehrere der „guten" Vorlagen völlig belanglos. Auf Grund 
der Aussagen der Kinder kommt Verfasserin zu einleuchtenden Feststellungen, von denen 
hervorgehoben sei, 1. daß sich erst vom 8. Lebensjahr ab die Aufmerksamkeit des Kindes 
vom Gegenständlichen zur Darstellungsart wende, 2. daß vom 11. Lebensjahr ab die 
„besseren" vor den „schlechteren" Bildern im Regelfalle bevorzugt werden. Die Unter* 
suchung wirkt sauber, eng und bescheiden. Sie geht vielen Problemen, zu denen das 
Thema Anlaß geboten hätte, aus dem Weg. So ist es etwa bedauerlich, daß das Verhältnis 



i) Ich habe an keiner Stelle des mir vorliegenden Exemplars eine Angabe über das 
Erscheinungsjahr dieser Schrift entdecken können. Ref. 



256 Besprechungen 



der Kinder zum Bildgegenstand nicht näher analysiert wird, obwohl sich in einzelnen der 
mitgeteilten Aussagen Beziehungen der abgegebenen Urteile zur Gefühlseinstellung der 
Kinder aufdrängen. Entscheidender scheint mir ein anderer Einwand: Welchen Sinn soll 
es haben, ästhetische Urteile — denn um solche handelt es sich — von Kindern des 
vierten und fünfzehnten Lebensjahres mit gleicher Untersuchungseinstellung zu prüfen? 
Freilich sind auch die Beispiele wenig dazu geeignet, um das Wesentliche des Unter* 
schiedes einsichtig, also etwa die Frage zugänglich zu machen, wie sich, sagen wir vom 
11. Lebensjahr ab, die Stellung zum „künstlerisch wertvollen" Bilde in der Seele des 
Kindes auswirkt. Diese Auswirkung würde nicht auf die Urteilsfunktion (naturwahre 
oder fehlerhafte Wiedergabe) allein, sondern auf das Gesamtverhalten des Kindes zum 
Kunstwerk (seil, künstlerisch wertvollen Bild) hinführen. Wir sind gewohnt, von der 
akademischen Psychologie den Vorwurf zu hören, die Psychoanalyse sei „monistisch" 

— womit ihre „Einseitigkeit" gemeint ist; man wird angesichts der hier angewandten Unter* 
suchungsmethode zur Frage verlockt, wie man das Verhalten von Kindern zur Kunst 
erörtern will, wenn man die Einsicht in ihr affektives Verhalten ausschaltet. Dieser Vor* 
wurf richtet sich nur zum Teil gegen die psychologische Grundanschauung — denn das 
Untersuchungsziel, zu dem sich das Vorwort bekennt („Fragen, die wichtig sind für 
die Herstellung von Bilderbüchern und Spielzeug" zu fördern) wird offenbar erreicht 

— sondern mehr gegen die Vorstellung von „künstlerisch wertvoll", von der die Unter* 
suchung ausgeht. Sie mag zu rechtfertigen sein, aber sie ist außerordentlich arm. Photo* 
graphien nach Arbeiten von Zumbusch, Trübner, Richter und B u c h h o 1 z 
werden etwa mit häßlichen Vorstadtdrucken verglichen. Dadurch wird erreicht, daß die 
Fragestellung sich der Erlebnisschichte, die mit „künstlerisch wertvoll" gemeint sein könnte, 
nicht nähert. Ref., der mehrere Jahre hindurch Kinder der Vorpubertät in ihrem Vei» 
halten zu „künstlerich wertvollen" Werken bildnerischen Schaffens zu beobachten Ge* 
legenheit hatte, hat den festen Eindruck erworben, daß ihr Verhalten durchaus die see* 
lische Gesamtsituation ihres Alters spiegelt, das beherrscht wird vom Ringen des Ichs 
um neue Stützen im Kampf um neue Konflikte. E. K. (Wien)' 

MEHLICH, ROSE: Fichtes Seelenlehre und ihre Beziehung zur Gegenwart. Mit einer Ein* 
führung von C. G. Jung. Zürich und Leipzig, Rascher Verlag, 1935. 129 S. 

Die Autorin versucht, die Seelenlehre I. H. Fichtes, des Sohnes des bekannteren 
J. G. Fichte, in Beziehung zur „analytischen Psychologie" C. G. J u n g s zu setzen. Sie 
findet eine tiefgehende Übereinstimmung beider Lehren und bemüht sich, diese Überein* 
Stimmung durch Darstellung der Grundzüge der I. H. F i c h t e sehen Psychologie und durch 
Bezugnahme auf Analogien mit Jungs Theorien zur Evidenz zu bringen. Nach Ansicht 
des Referenten gelingt es jedoch der Autorin weder, der (abstrakt konstruierenden) Seelen* . 
lehre I. H. Fichtes eine fruchtbare Seite abzugewinnen, noch von dort her ein neues j 

Licht auf die Lehre Jungs zu werfen. Das hat seinen Grund darin, daß sie es ablehnt, 
zum Realitätswert der beiden Theorien irgendwie Stellung zu nehmen : sie sollen nur in 
dieselben „philosophischen Grundmöglichkeiten eingeordnet" werden. Aber auch das ge* 
schieht in einer sehr sterilen Weise, nämlich durch scholastische Zergliederung des In* I 

haltes von Begriffen. Bemerkenswert erscheint sonst nur noch, daß Jung in seinem 
Geleitwort die Charakterisierung seiner geistigen Haltung als einer romantischen, 
der Naturwissenschaft im Grunde entgegengesetzten, ausdrücklich heraushebt, um ihr zu* 
zustimmen. W. Marseille (Wien) 



N 


* 










THE 




THE 




PSYCHOANALYTIC 




INTERNATIONAL 






QUARTERLY 




JOURNAL OF 






Fifth year of publication 




PSYCHO-ANALYSIS 






THE QUARTERLY 










is devoted to original contributions 










in the field of theoretical, clinical and 




Directed by 


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applied psychoanalysis, and is 
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SIGM. FREUD 






The Editor ial Board of the QUAR- 










TERLY consists of the Editors: Drs. 




Edited by 






Dorian Feigenbaum, Bertr am D. Lewin 










and Gregory Zilboorg. Associate Edi- 




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tors: Drs. Henry Alden Bunker, Jr., 










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— Karen Horney: The Problem of the Negative 




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Therapeutic Reaction. — Robert Wälder : The 




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Principle of Multiple Function. — Eduard Kronen- 








gold and Richards terba: TwoCases ofFetishism. 
— Margaret Ribble: Ego Dangers and Epilepsy. 




Bulletin of the International 






— R. G. Hoskins: An Endocrine Approach to 
Psychodynamics. — Clarissa R i n a k e r : A Psycho- 




Psycho - Analytical Association, 






analytical Note on Jane Austen. — Book Reviews. 
— Current Psycboanalytic Literature. — Notes. 




of which it is the Official Organ. 






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' 



IMAGO, Band XXII (1936), Heft 2 



(Ausgegeben Ende Mai 1956) 

Seite 

Ernest Jones: Die Psychoanalyse und die Triebe . 129 

Edward Bibring: Zur Entwicklung und Problematik der Triebtheorie 147 

FF. Bischier: Selbstmord und Opfertod ■. 177 

MITTEILUNGEN UND DISKUSSIONEN 

Ludwig Eideiberg: Zum Studium des Versprechens 196 

Alfred Gross: Zur Psychologie des Geheimnisses 20a 

S. H. Fuchs: Zum Stand der heutigen Biologie. Dargestellt an Kurt Goldstein: „Der Aufbau 

des Organismus < 210 

BESPRECHUNGEN 

Aus der psychoanalytischen Literatur: Lowtzky: Sören Kierkegaard (Gero) 242. — Reik: Der über- 
raschte Psychologe (R. Sterba) 244. — Weiss: La Psicoanalisi (E. K.) 248. 

Aus der Literatur der Grenzgebiete: Beun: Het Zedelijk Ordeel bij Rinderen (Wesierman-Holstijn) 248.- — 
Cochrane: De oorsprong der gevangenissen (Piera) 250. — Koffka: Principles of Gestalt Psychology 
{Schilder) 251. — K orperth-Tippel: Kind und Bild (E. K.) 255. — Mehlich: Fichtes Seelenlehre und 
ihre Beziehung zur Gegenwart (Marseille) 256. 



Anschriften der Mitarbeiter dieses Heftes: 

DR. EDWARD BIBRING, Wien VII, Siebensterngasse 31 
DR. W. BISCHLER, 30 Rue de Contamines, Geneve 
DR. LUDWIG EIDELBERG, Wien XIX, Chimanigasse n 
DR. S. H. EUC/IS, 482 Finchley Road, London N. W. 
DR. ALFRED GROSS, Zuschriften an die Redaktion 
DR. ERNEST JONES, 81 Harley Street, London W. 1. 



Wir bitten zu richten: 

Redaktionelle Zuschriften aus allen Ländern mit Ausnahme Nordamerikas an die 
Redaktion der „Imago", Internationaler Psychoanalytischer Verlag, Wien IX, 
Berggasse 7 

Redaktionelle Zuschriften aus Nordamerika an Dr. Sandor Rado, 324 West 86 th 
Street, New York City 

Geschäftliche Zuschriften aller Art an Internationaler Psychoanaytischer Verlag, 
Wien IX, Berggasse 7 



Eigentümer und Verleger: Internationaler Psychoanalytischer Verlag, Gesellschaft m. b. H., Wien IX, Berggasse 7 
Herausgeber: Prof. Dr. Sigm. Freud. Wien. — V erantwortlich für di e Redaktion: Dr. RobertWälder,Wien II, Obere DonaustraOe 35 

Druck: Jakob Weiß, Wien II, Große Sperlgasse 40 
Printed in Austria 




IMAGO, Band XXII (1936), Heft 2 



(Ausgegeben Ende Mai 1936) 

Seite 

Ernest Jones: Die Psychoanalyse und die Triebe . . 129 

Edward Bibring: Zur Entwicklung und Problematik der Triebtheorie 147 

W. Bischler : Selbstmord und Opfertod ■. \nr, 

MITTEILUNGEN UND DISKUSSIONEN 

Ludwig Eideiberg: Zum Studium des Versprechens 106 

Alfred Gross: Zur Psychologie des Geheimnisses 20a 

S. H. Fuchs: Zum Stand der heutigen Biologie. Dargestellt an Kurt Goldstein: „Der Aufbau 

des Organismus , 210 

BESPRECHUNGEN 

Aus der psychoanalytischen Literatur: Lowtzky: Sören Kierkegaard (Gero) 242. — Reik: Der über- 
raschte Psychologe (K. Sterba) 244. — Weiss: La Psicoanalisi (E. K.) 248. 

Aus der Literatur der Grenzgebiete: Beun: Het Zedelijk Ordeel bij Rinderen (rVeslerman-Holstijn) 248. — 
Cochrane: De oorsprong der gevangenissen (Piera) 250. — Koffka: Principles of Gestalt Psychology 
(Schilder) 251. — K orperth-Tipp el: Kind und Bild (E. K.) 255. — Mehlich: Fichtes Seelenlehre und 
ihre Beziehung zur Gegenwart (Marseille^ 256. 



Anschriften der Mitarbeiter dieses Heftes: 

DR. EDWARD BIBRING, Wien VII, Siebensterngasse 31 
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XXII. Band 



1936 



Heft 2 



IMAGO 

iCeitsdirilt Iür psycnoanaly tische Eyckoloeie 
ihre Crrenzgebiete und Anwendungen 

Offizielles Organ der Internationalen Psycnoanalytisehen Vereinigung 



H 



erausgegeben von 



Sigm. Freud 

Redigiert von Ernst Kris und Robert Wald 



Ernest Jones Die Psychoanalyse und die Triebe 

Edward Bibring Zur Entwicklung und Problematik der Triebtheorie 

W. Bischler . . Selbstmord und Opfertod 

Ludwig Eideiberg • Zum Studium des Versprechens 

Alfred Gross Zur Psychologie des Geheimnisses 

S. H. Fuchs Zum Stand der heutigen Biologie. Dargestellt an 

Kurt Goldstein: „Der Aufbau des Organismus" 

Besprechungen