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:ITMAGCO.
Zeitschrift für Anwendung der Psychoanalyse
auf die (Feisteswssserschalten
Herausgegeben von
Prof. Dr. Sigm. Freud
Redigiert von Dr. Otto Rank, Dr. Hanns Sachıs und A. J. Storfer
Ethnologisches Hef fe
Ernst Jones: Peychdanulysesund Autbigpolögie OB
Sedna-Sage / Hans Zulliger: Zur Psychologie der Trauer- und
Bestattungsgebräuche / B. Malinowski: Mutterrechtliche Familie und
Ödipuskomplex / Beata Rank: Zur Rolle der Frau in der Entwicklung
der menschlichen Gesellschaft / Flora Kraus: Die Frauensprache bei
primitiven Völkern / Adolf Arndt: Über Tabu u. Mystik / R. Spiez:
Die Dreizahl. (Zenesis der magischen und der transzendenten Kulte f :
Karl Heise: Der Kuckuck und die Meise / Kritiken und Referate
Er smationaler Psychoanalytischer? Verlag
Wien V11. Andreasgasse 3
In den Bänden I-IX (1912-1923) der
IMAGO
erschienen u. a. folgende Beiträge Aus dem Gebiete ‚der
Ethnologie
der Völkerpsychologie und der Religionswissenschaft:
Abraham: Der Versöhnungstag
Andreas-Salome: Von frühem Gottesdienst
Bälint: Die mexikanische Kriegshieroglyphe atl-
tlachinolli
Berny: Zur Hypothese des sexuellen Ursprungs der
Sprache
Eisler: Der Fisch als Sexualsymbol
Felszeghy: Panik und Pankomplex
Freud: Einige Übereinstimmungen im Seelenleben
der Wilden und der Neurotiker
Giese: Sexualvorbilder bei einfachen Verrichtungen
Goya: Das Zersingen der Volkslieder
Jones: Die Bedeutung des Salzes in Sitte u. Brauch
— Über den Heiligen Geist
Kinkel: Zur Frage der psychologischen Grundlagen
und des Ursprungs der Religion
Kolnai: Über das Mystische
Levi: Die Kastration in der Bibel
— Sexualsymbolik in der biblischen Paradiesgeschichte
— Ist das Kainszeichen die Beschneidung ?
Lorenz: Der Mythus der Erde
Er
nm
Soeben erschien nach längerem Fehlen in
3., stark umgearbeiteter Auflage
Die psychoanalytische
Methode
Eine erfahrungswissenschaftlich-
systematische Darstellung von
Dr. Oskar Pfister
Mit einem Geleitwort von Prof. Sigm. Freud
XVI, 585 Seiten, geheftet Gm. 18.—, geb. Gm. 20.—.
Die neue Auflage bedeutet eine starke Umarbeitung,
die durch zweierlei Rücksichten gefordert wurde: Einerseits
stellte sich heraus, daß das Buch in seiner ersten Gestalt
vielfache Mißverständnisse hervorrief, wie es bei einem so
neuen Stoffe trotz aller Vorsicht nicht zu vermeiden war;
andererseits hat die psychoanalytische Forschung im letzten
Jahrzehnt erhebliche Fortschritte erleben dürfen, denen das
Werk in weitestem Umfange gerecht wurde. Die Verbreitung
und das Ansehen der früheren Auflagen ist damit auch
dieser Auflage gesichert.
„Es ist ein großes Verdienst dieser Arbeit, den positiven
Nutzen, welchen die Psychoanalyse für den Unterricht und
die Erziehung haben kann, mehr als zuvor geschehen war,
zu berücksichtigen. . . .* Pädagogischer Jahresbericht.
Julius Klinkhardt, Verlagsbuchhbandlung in Leipzig
Lorenz: Das Titanenmotiv in der allg. Mythologie
Müller-Braunschweig: Psychoanalytische Ge-
sichtspunkte zur Psychogenese der Moral
Pfister: Die Entwicklung des Apostels Paulus
Rank: Die Nacktheit in Sage und Dichtung
Reik: Das Kainszeichen
— Die Couvade und die Psychogenese der Ver-
geltungsfurcht
— Ödipus und die Sphinx
Röheim: Zur Psychologie der Bundesriten
— Nach dem Tode des Urvaters
— Spiegelzauber
Schröder: Der sexuelle Anteil an der Theologie der
Mormonen
Silberer: Über Märchensymbolik
— Das Zerstückelungsmotiv im Mythos |
Sperber: Über den Einfluß sexueller Momente auf
Entstehung und Entwicklung der Sprache
Wolk: Das Tri-theon der alten Inder
— Der Tanz der Ciwa
— Zur Psychologie des Rauchopfers
F rüher erschienene
Sonderhefte der „Imago
| Soziologisches Heft
(VIIL Band, 1922, Heft 2)
Religionspsychologisches Heft
(IX. Band, 1923, Heft ı)
Pädagogisch-jugendpsycholog. Heft
(IX. Band, 1923, Heft 2)
Philosophisches Heft
(IX. Band, 1923, Heft 3)
Ästhetis ch - kunstpsych olo g- Heft
(IX. Band, 1923, Heft 4)
*
Sonderhefte ın Vorbereitung:
Bildende Kunst
Psychologisches Heft
Russische Literatur
em ED.
ZEITSCHRIFT FÜR ANWENDUNG DER PSYCHDO-
ANALYSE AUF DIE GEISTESWISSENSCHAFTEN
a T————————————.
X. Band (1924) Ethnologisches Heft Heft 2 u. z
nn
Psychoanalyse und Anthropologie
(Vortrag, gehalten vor dem Royal Anthropological Institute, London, 19. Februar 1924)
Von Dr. Ernest Jones (London)
Wenn ein auf bestimmtem Wissensgebiet Arbeitender den Forschern eines
fremden Arbeitsgebietes einige seiner Resultate vorlegt, in der Hoffnung,
daß ihre Anwendung auf neue Tatsachen von Nutzen und Interesse sein
könnte, so muß er dabei mit besonderer Vorsicht und Bescheidenheit ver-
fahren. Diese Zurückhaltung ist besonders notwendig, wenn das eigene
Tätigkeitsgebiet solche Besonderheiten zeigt wie die Psychoanalyse, die
darauf gefaßt sein muß, bei allen nicht mit ihr Vertrauten auf Unglauben
und Ablehnung zu stoßen. Jeder Eindringling, der es wagt, sich mit Vor-
schlägen in die Arbeit einer fremden Forschergruppe einzumengen, muß
auf eine instinktive, wenn auch höflich verhüllte Ablehnung gefaßt sein,
die sich nur verstärken kann, wenn seine Vorschläge so unerwünscht und
wenig schmeichelhaft sind, wie oft die Psychoanalyse.
Nichtsdestoweniger haben mich drei Überlegungen ermutigt, der Ein-
ladung unseres Präsidenten "folgend, etwas über unsere Arbeit zu sagen
und auf die Bedeutung hinzuweisen, die sie nach meinem Dafürhalten für
die anthropologische Forschung hat. Ein Psychologe hat erstens ein gewisses
Anrecht, an solchen Studien teilzunehmen, da ja die seelischen Tatsachen,
die hier erforscht werden, einen Teil seines eigenen Gebietes ausmachen.
Er sollte im Grunde beim Beurteilen der Interpretation der seelischen
Phänomene, beim Einschätzen ihres Sinnes und ihrer Bedeutung ebensoviel
mitzureden haben wie der Sammler dieser Daten; daß er bisher von diesem
Recht so wenig Gebrauch gemacht hat, war eine Folge der Rückständigkeit
seiner eigenen Wissenschaft und nicht aus der Situation selbst abzuleiten.
Imago X. 2 u.3 10
154 Dr. Ernest Jones
Die früheren Autoritäten auf dem Gebiete der Anthropologie, so z. B. die
Begründer dieses Instituts, arbeiteten unter zwei so außerordentlichen Er-
schwerungen, daß wir für den Weg, den sie trotzdem zurückzulegen im-
stande waren, die größte Bewunderung haben müssen. Weder hatten sie
selber die psychischen Phänomene beobachtet, die sie studierten, noch
waren sie zur psychologischen Interpretation solcher Phänomene ausgebildet.
Die Anthropologen haben diese Sachlage freimütig anerkannt und die Mit-
glieder der jüngeren Generation haben praktische Schritte getan, um wenigstens
den ersten dieser beiden Mängel zu beheben. Der Erfolg davon ist, daß
der Forschungsreisende von heute einen unzweifelhaften Vorteil vor jenen
hat, welche er gelegentlich überheblich als „armchair- anthropologists“ zu
bezeichnen pflegt. Er hat auch nichts vor dem Psychologen voraus, der
ebenso wie er auf der einen Seite im Vorteil, auf der anderen im Nach-
teil ist. Unter diesen Umständen kann es nur von Nutzen sein, wenn beide
sich mit gegenseitigem Wohlwollen einander nähern und so lange mit-
einander arbeiten, bis beide von einer neuen Generation von Anthropologen
abgelöst werden, die gleichzeitig mit der Arbeit des Sammlers und mit
den Methoden der modernen Psychologie vertraut sind. Ein Vertreter dieser
neuen Generation ist aber bisher noch nicht unter uns aufgetaucht.
Zweitens ist die Ähnlichkeit der von den Anthropologen und den Psycho-
analytikern erforschten Tatsachen oft so auffällig und unerwartet, daß’ sie
direkt eine Erklärung herausfordert, so daß es zur Pflicht wird, zumindest
die Aufmerksamkeit der Anthropologen auf diesen Umstand zu lenken. Bei
unserer mühsamen Durchforschung der verborgenen Winkel des Seelen-
lebens stoßen wir manchmal auf Vorstellungsgruppen, zugrundeliegende
Anschauungen und Denkformen, die von allem, was wir vom bewußten
Seelenleben wissen, völlig abweichen, und für die wir in unserer Erfahrung
kein Seitenstück finden. Die Funde sind anderseits so unzweideutig, daß
wir sie empirisch akzeptieren müssen, wenn wir auch nicht imstande sind,
sie mit irgend einem früheren Wissen in Zusammenhang zu bringen.
Gewisse Merkmale drängen uns ferner die Vermutung auf, daß sie eine
archaischere Schichte des Seelenlebens darstellen als die uns gewohnte, eine
Schichte, die im Laufe der Entwicklung verlassen und von neueren über-
deckt wurde. Wir erfahren dann mit dem größten Erstaunen, daß’ iden-
tische Anschauungen und Denkformen in der Folklore und Mythologie
vergangener lage oder bei den wilden Völkern unserer Zeit verzeichnet
sind. Was sollen wir davon denken? Wir werden zunächst in der Über-
zeugung bestärkt, daß unsere Funde nicht ein Kunstprodukt unserer Beob-
Psychoanalyse und Anthropologie | | ® 35
achtung waren und daß sie eine primitivere Stufe der seelischen Entwick-
lung darstellen. Aber die sich hier aufdrängende Frage nach der gegen-
seitigen Beziehung der beiden Reihen von Erscheinungen berührt sofort
eine der dunkelsten Seiten der biologischen Psychologie und eröffnet das
gesamte Problem der Erbschaft der Kultur. Von den zahllosen Beispielen,
die man hier anführen könnte, erwähne ich nur eines, das genügen dürfte,
um zu kennzeichnen, um was es sich hier handelt. Freud hat bei seiner
Erforschung des Ursprungs der „Traumgedanken“, d.h. der Gedanken, die
hinter dem „manifesten Trauminhalt“ liegen, die merkwürdige Entdeckung
gemacht, daß sie niemals eine Negation enthalten, so daß eine positive
Vorstellung und ihr gerades Gegenteil als identisch behandelt werden. Ein-
facher ausgedrückt, gegensätzliche Vorstellungen wie groß und klein,
stark und schwach, alt und jung, werden behandelt, als ob sie aus-
tauschbare Identitäten wären, wobei wir nur aus dem Zusammenhange
erkennen können, welche von beiden im gegebenen F alle gemeint ist. Es
wäre nicht leicht, sich etwas ähnlich Sinnloses oder von unseren gewöhn-
lichen psychischen Vorgängen Entfernteres vorzustellen, aber wiederholte
‚Bestätigungen des Fundes zwangen Freud, ihn empirisch zu akzeptieren,
obwohl er für das Vorhandensein dieser Tatsache keinen Grund angeben
konnte. Ihrem Verständnis kam er erst Jahre später näher durch die Lektüre
einer Arbeit des Philologen Abel.” Abel behandelt dort das Auftauchen des
gleichen Phänomens in den frühesten Stadien der ältesten Sprachen, im
Ägyptischen, Arabischen und Indogermanischen, und weist nach, daß die
heutige Differenzierung aus einer ursprünglichen Identität der Gegensätze
entstanden ist. Interessante Spuren davon sind noch ın den modernen
Sprachen zu finden; ein Beispiel aus dem Englischen wäre das Wort „eleave“
mit seiner doppelten Bedeutung von „an etwas hängen und „etwas aus-
einanderspalten“. Wir haben hier ein den Denkformen entnommenes Bei-
spiel, ich könnte ähnliche anführen, die bestimmte Anschauungen oder
andere Vorstellungsgruppen betreffen.
Die dritte der oben erwähnten Überlegungen bezieht sich auf die all-
mähliche Annäherung der anthropologischen und psychoanalytischen Gesichts-
punkte. Die Psychoanalyse war von Anfang an mit menschlichen und indivi-
duellen Problemen beschäftigt und hatte daher weder mit den gleichen
Schwierigkeiten zu kämpfen wie die anthropologischen Auslegungsversuche,
noch dieselbe Möglichkeit und Versuchung, sich in das Abstrakte und Fern-
ng
1) Freud: Über den Gegensinn der Urworte. J ahrbuch der Psychoanalyse 1910.
10”
136 | Dr. Ernest J ones
liegende zu verlieren. Die Mythen, Rituale und andere von den Sozial-
‚ anthropologen studierten Phänomene sind in früherer Zeit als Äußerungen
' sehr fernliegender geistiger Interessen aufgefaßt worden, die man für die
‚, Hauptsorge des primitiven Menschen hielt. Ich brauche kaum zu erwähnen,
daß man seinerzeit annahm, die Form der Wolken, der Mondwechsel, die
| Bewegung der Sonne, die Festsetzung des Kalenders und rein Sprachliches
läge dem Menschengeschlecht ungleich mehr am Herzen als weltlichere
Dinge. Sir James Frazer hat allerdings den Menschen der Erde näher-
gebracht, indem er sein absorbierendes Interesse für den Ackerbau fest-
stellte und andere Forscher sind ihm sogar noch näher an den Leib gerückt.
Die im Laufe des‘ letzten Jahrhunderts verschiedentlich nach Europa
gebrachten Nachrichten, daß die Menschen anderer Kontinente ein unschick-
liches Interesse für die Organe und Funktionen des Geschlechtslebens zu
zeigen scheinen, wurde schnell weginterpretiert und die kurzlebige Er-
regung, in welche dieses Institut durch die Phallusforscher der Siebziger-
jahre, Burton, Fergusson, Furlong, Jennings, King, Sellon, Stani-
land Wake und Westropp versetzt wurde, machte bald schicklicheren
Überlegungen Platz. Aber noch immer erhoben sich Stimmen zugunsten
der Anschauung, daß die Menschen von jeher durch Motive bewegt worden
sind, welche unseren eigenen tiefsten Gedanken gleichen, also durch die
Fragen, die sich an Geburt, Liebe und Tod knüpfen und die neuesten
Autoritäten Englands, wie z. B. Elliot Smith, Malinowski, Perry und
Rivers haben erhebliche Beiträge zu dem geliefert, was man die Ver-
menschlichung des Primitiven nennen könnte. Ich möchte dieses Thema,
mit dem sich noch der größte Teil meiner Ausführungen beschäftigen
wird, an dieser Stelle für einen Augenblick verlassen.
Wir wenden uns nun von diesen Betrachtungen über die Anthropologie
zum Thema der Psychoanalyse selbst, über das ich, ehe wir von ihrer
Bedeutung für die anthropologische Forschung reden können, einige Worte
einschieben möchte. Der Name Psychoanalyse wird korrekterweise sowohl
für die besondere Methode angewendet, die Freud für die Erforschung der
tieferen Schichten des Seelenlebens ausgearbeitet hat, wie auch für die mit
Hilfe dieser Methode zutage geförderten Ergebnisse. Die Probleme der
Psychoanalyse sind außerordentlich schwierig und die Aufgabe, ihnen in
einer Darstellung innerhalb der, zehn Minuten, die mir zur Verfügung
stehen, gerecht zu werden, ist natürlich unlösbar. Wir begegnen dabei aber,
abgesehen von diesem rein quantitativen Moment, noch einer größeren
Schwierigkeit. Die bedeutendste Entdeckung der Psychoanalyse geht dahin,
: Psychoanalyse und Anthropologie 137
daß es im Seelenleben ein Unbewußtes gibt, das vom Bewußtsein abge-
trennt ist. Ein großer, ja sogar der wichtigste Teil des Seelenlebens befindet
sich in einem Zustand, den wir technisch als Zustand der Verdrängung
bezeichnen. Wir wollen damit sagen, daß er nach Inhalt und Form mit
dem bewußten Seelenleben unvereinbar ist, seine Elemente durch einen
Kraftaufwand verhindert werden, in das letztere einzutreten und sein Dasein
selbst von seiten des bewußten Ichs energisch geleugnet wird. Jeder Ver-
such, sie wieder ins Bewußtsein einzuführen, erweckt einen instinktiven
Widerstand, der sich als Ungläubigkeit, heftige Abwehr oder starke Anti-
pathie äußert. Wer den bequemen Weg einschlägt, diesem Widerstand nach-
zugeben, erspart sich allerdings viel Mühe, verliert aber damit das Recht,
irgend eine Meinung über die Psychoanalyse auszusprechen, die wir als die
Erforschung des unbewußten Seelenlebens bezeichnen können.
Es ist hier nicht der Ort, in die völlig unfruchtbare Diskussion darüber
einzugehen, ob Vorgänge, deren wir uns nicht bewußt sind, als „seelische“
bezeichnet werden können, was meiner Meinung nach nur ein Streit um
Worte wäre;! ich bitte deshalb um die Erlaubnis, das, was ich zu sagen
habe, in der einzig möglichen, nämlich in der psychologischen Termino-
logie vorbringen zu dürfen. Der Hauptpunkt ist dieser: unsere durch Freud
inaugurierten Untersuchungen zeigen, daß verschiedene Prozesse, die wir
nur als seelische bezeichnen können, in der Persönlichkeit vor sich gehen,
ohne daß das bewußte Ich auch nur die leiseste Ahnung von ihrer Existenz
hat. Wir nennen diese Vorgänge unbewußte, weil die Menschen absolut
nichts von ihnen wissen; ich betone nochmals, daß diese Unwissenheit
eine vollständige ist. Die Betreffenden haben nicht nur keine Kenntnis von
ihnen, sondern würden sie auch, wenn man sie ihnen deutlich machte,
als ganz fernliegend und fremd betrachten und die Möglichkeit, daß die-
selben wirklich lebendige Bestandteile ihrer eigenen Persönlichkeit bilden,
mit Ungläubigkeit oder Abscheu ansehen. Tatsächlich weiß ich keinen zur
Würdigung der Realität und Bedeutung dieser Vorgänge führenden Weg
als die analytische Bewußtmachung dieser Vorstellungen, deren Vorhanden-
sein niemals erkannt wurde. Durch diese Lage der Dinge drängen sich
uns zwei Fragen auf: Können wir über Art und Bedeutung dieser un-
bewußten Vorgänge Verallgemeinerungen aufstellen und wenn dies der
Fall ist, welchen Grund haben wir zu der Annahme, daß diese Ver-
allgemeinerungen umfassende Gültigkeit haben, außerhalb der kleinen
ı) Vgl. Freud: Das Unbewußte. Vierte Sammlung 1918, 5. 294 bis 301.
138 ’ | Dr. Ernest Jones |
Zahl von Menschen, die wirklich mit Hilfe dieser Methode untersucht
worden sind?
Die erste Frage kann. bejahend beantwortet werden; ich bringe Ihnen
im folgenden eine Auswahl der gemachten Verallgemeinerungen. Betreffs
‘ der zweiten Frage führe ich im weiteren einige der Gründe für die An-
nahme an, daß die in Betracht kommenden Verallgemeinerungen außer-
halb des Gebietes der neurotischen Erkrankungen, in welchem sie ursprüng-
lich gemacht wurden, Geltung besitzen. Trotzdem die Anzahl der bisher
durch psychoanalytische Methode untersuchten Individuen eine verhältnis-
mäßig kleine, nur einige tausende betragende ist, so berechtigt doch manches
die Erwartung, daß jene sich von der übrigen Menschheit in der wesent-
lichen psychischen Struktur nicht unterscheiden. Vor allem sind die Unter-
suchungen mit im allgemeinen gleichförmigen Resultaten in vielen Ländern
dreier Kontinente an den Angehörigen verschiedenster Rassen durch sehr
verschiedenartige Beobachter angestellt worden. Das Hauptmoment für die
Auswahl der untersuchten Personen war bei den meisten, aber durchaus
nicht bei allen, eine neurotische Erkrankung; bei der Beurteilung dieses
Umstandes darf man aber an das Vorhandensein allgemein verbreiteter
irriger Auffassungen nicht vergessen. Die moderne klinische Psychologie
hat gezeigt, daß neurotische Störungen keine Defekte oder Krankheiten im
gewöhnlichen Sinne sind, sondern im Gegenteil nur eine bestimmte Äuße-
rungsfiorm für gewisse soziale Schwierigkeiten und Konflikte, wie sie inner-
halb des Gefühls- und Trieblebens entstehen; sie sind nur eine von vielen
Möglichkeiten, sich mit Konflikten und Impulsen, die allen Menschen eigen
' sind, auseinanderzusetzen. Die Reaktionen sind nicht einmal sehr eigen-
artige, bloß Vergrößerungen des Normalen, von dem sie sich qualitativ
nicht unterscheiden; abgesehen davon, daß die meisten Menschen irgend
eine mehr oder weniger ausgesprochene Form von Neurose aufweisen, gehen
diese neurotischen Reaktionsweisen unmerklich in das über, was wir
Charakterzüge und Idiosynkrasien nennen. Niemand ist vollkommen neuro-
tisch, so daß wir Gelegenheit haben, an derselben Person gleichzeitig nor-
male und neurotische Reaktionen auf gleiche Impulse und Konflikte zu
studieren. Außerdem ist zur Kontrolle so und so oft eine Psychoanalyse an
sogenannt normalen Menschen ausgeführt worden, wobei die grundlegenden
Ergebnisse ganz die gleichen waren. Und weiters, wenn man einmal mit
den Erscheinungsformen der unbewußten Seelentätigkeit vertraut ist, bemerkt
man in den verschiedensten Gebieten des täglichen Lebens andere Anzeichen
von gleichartigen Vorgängen. Lassen Sie mich das einfachste Beispiel geben.
Psychoanalyse und Anthropologie | | 139
Ein Psychologe entnimmt, vielleicht zu seinem großen Erstaunen, "den
Träumen seiner Patienten, daß diese — ohne sich dessen jemals bewußt
zu sein — beispielsweise die Vorstellungen Penis und Banane so eng mit-
einander verknüpft haben, daß in gewissem Zusammenhang die Vorstellung
des einen sich vollkommen mit der Vorstellung des anderen deckt. Er ist
dann nicht weiter erstaunt, zu bemerken, daß — wieder in gewissem Zu-
sammenhang —- das gesamte Auditorium eines Varietes bewußt eine An-
spielung an die erste Vorstellung erkennt, wenn auch nur die zweite er-
wähnt wird. Jargon, Anekdoten, Folklore und Aberglaube sind Gebiete, in
denen man mit besonderer Häufigkeit Ideenverbindungen und Anschauungen
antrifft, die wir im Seelenleben erst mühsam dort hervorholen müssen, wo
sie sich in Verdrängung befinden. Die endgültige Antwort auf die oben
gestellte Frage liegt jedoch in der Natur der Ergebnisse selbst. Diese sind
nämlich von so grundlegender Art, daß sie — grob gesprochen — nur
‘für die Menschheit im allgemeinen richtig sein können oder überhaupt
nicht. Wenn man an Harvey die Frage gerichtet hätte, woher er eigent-
lich wisse, daß die fünftausend Personen, an denen er durch genaues
Studium die Zirkulation des Blutes festgestellt hatte, nicht sämtlich dies-
bezüglich Ausnahmen waren, so hätte er eine solche Frage wohl nur mit
Achselzucken beantwortet.
Es ist nun angebracht, einiges über die Natur des Unbewußten zu sagen.
Es zeigt nach Form und Inhalt gewisse Besonderheiten, die aber natürlich
nicht bei jedem einzelnen unbewußten Vorgang vorhanden sein müssen.
Ihnen allen gemeinsam ist die augenscheinliche Zugehörigkeit zu einer
primitiven psychischen Stufe, woraus sich die Bedeutung dieser Studien
für die Anthropologie ergibt. Denn sie bieten uns eine der Möglichkeiten,
etwas Authentisches über primitive psychische Stufen zu erfahren. Der
Ausdruck „primitive Stufe“ wird hier in zwei Bedeutungen angewendet;
erstens um ein früheres und niedrigeres Stadium der seelischen Entwick-
lung zu bezeichnen, eines, aus dem sich später vollendetere und höher
differenzierte Denkformen entwickeln; zweitens in direkter Beziehung zur
individuellen Entwicklung. Wir finden nämlich, daß diese Besonderheiten
des Unbewußten, sowohl formal wie inhaltlich, sich mehr dem kindlichen
Seelenleben annähern als dem der Erwachsenen; wir sind häufig in der
Lage, die allmähliche Entwicklung des einen zum anderen verfolgen zu
können. Diese Entwicklung ist im Falle der Neurosen unvollkommen
geblieben, so daß wir oft neurotische Reaktionen mit sogenannten „Fixie-
rungen“ oder exzessiven Bindungen an primitive, d.h. infantile psychische
140 Dr. Ernest Jones
.—
Funktionsweisen in Zusammenhang bringen. Figürlich gesprochen können
wir sagen, daß die neurotischen Reaktionen Rückständen oder Nieder-
schlägen aus früheren Zeiten gleichen, wobei die interessante Frage ent-
steht, wie weit dies nicht nur ontogenetisch, sondern auch phylogenetisch
richtig ist.
Ich habe oben darauf hingewiesen, daß das Unbewußte unbewußt, d.h.
dem Bewußtsein nicht bekannt ist, hauptsächlich deshalb, weil es sich im
Zustand der Verdrängung befindet, d.h. mit dem bewußten Ich unverein-
bar und ihm unerträglich ist. Dynamisch ausgedrückt müßten wir sagen,
daß die Beziehungen der beiden psychischen Systeme zueinander einem
schweren intrapsychischen Konflikt entsprechen. Nun liegt die Bedeutung
‘ des Unbewußten für das wirkliche Leben nicht nur darin, daß es ein
ı psychisches System ist, das autonom funktionieren kann, sondern darin, daß
alles psychische Geschehen in ihm seinen Ursprung hat; alle unsere
' Gedanken, Interessen und zum Handeln führenden Impulse haben ihre
Quellen im Unbewußten. Der Anteil des bewußten Seelenlebens besteht
nur in Kritik, Kontrolle und Richtunggebung, seine Rolle ist im wesent-
lichen eine hemmende. Unbewußte Vorgänge können nur unter einer von
zwei Bedingungen zu äußerem Ausdruck gelangen; sie machen entweder
eine Umgestaltung durch, werden durch sie dem bewußten Ich annehmbar
und daraufhin von ihm assimiliert oder sie wählen bestimmte Mösglich-
keiten, um ihre wahre Natur zu verstellen, wie wenn z. B. uneingestandene
persönliche Gefühle sich unter der Maske wissenschaftlicher Kritik in außer-
ordentlicher Schärfe entladen. Die neurotischen Symptome gehören zur
Gänze der zweiten Art an. Sie entstehen aus primitiven, d. h. nicht um-
gestalteten, sondern nur entstellten dynamischen Impulsen.
Von einer großen Zahl charakteristischer Merkmale des Unbewußten
will ich Ihre Aufmerksamkeit jetzt auf zwei oder drei von allgemeiner
formaler Art und einige inhaltliche lenken. Das erste Charakteristikum
kann man vielleicht am besten als einen übermäßigen Glauben an Wert
und Bedeutsamkeit psychischer Prozesse im allgemeinen bezeichnen. Die
psychische Kausalbeziehung wird als realer empfunden als die physische,
die nur als ausführendes Organ der ersteren erscheint. Noch deutlicher
kommt diese Einstellung in dem Glauben an die sogenannte „Allmacht
der Gedanken“ oder, genauer gesagt, der Wünsche zum Ausdruck. Im
Unbewußten wird zwischen dem Vorsatz und der Verwirklichung der Tat
wenig Unterschied gemacht, Absicht und Ausführung wird als identisch
betrachtet. Wenn die Absicht lustvoll ist, wird die Lust bereits empfunden,
Psychoanalyse und Anthropologie | 1 41
denn der Wunsch geht sofort in Erfüllung, wie es in einem gewissen
Ausmaß auch in der bewußten Phantasie der Fall ist. Gleicherweise wird
sofort die Bestrafung gefühlt, wenn die Absicht gefährlich oder tadelns-
wert ist. Das einleuchtendste Beispiel für diese Denkweise sind vielleicht
jene Todeswünsche, die sich im Zustand der Verdrängung befinden, weil
sie gegen ein geliebtes Objekt gerichtet sind. In den Fällen, wo die phanta-
sierte Erfüllung dieses Wunsches mit einer zufälligen realen Erfüllung in
der Außenwelt zusammenfällt, fühlt sich der Betreffende genau so verant-
wortlich für den Tod und ebenso schuldig, wie wenn er wirklich einen
Mord begangen hätte. Die Wirkung zeigt sich dann im Bewußtsein in
Form von übertriebenen Selbstvorwürfen wegen verschiedener kleiner Unter-
lassungssünden und Vergehen gegen die verstorbene Person. Ich konnte
öfters beobachten, daß der Betreffende in der Folge von dem Geist des
Verstorbenen heimgesucht wurde und sich intensiv vor dessen Feindselig-
keit fürchtete, die deutlich eine Vergeltung für den vermeintlichen Mord
bedeuten sollte.
Mit diesen verdrängten, aber sehr mächtigen Wünschen verfahren die
Menschen auf verschiedene Arten, von denen ich hier nur eine erwähnen
will. Die Wünsche werden auf Grund einer vorausgegangenen Identifizie-
rung, meist mit einer Person, aber gelegentlich auch mit einem Tier oder
einem leblosen Objekt, nach außen projiziert, worauf im Bewußtsein der
Glaube entsteht, daß sie nur dem anderen angehören. Das glänzendste
Beispiel hiefür bieten natürlich die Wahnideen der Geisteskranken, in denen
die den anderen Menschen unterschobenen irrationellen Ideen sich häufig
auf die eigene unbewußte Einstellung des Patienten gegen jene anderen
zurückführen lassen. Ä
Eine Folge dieser unbewußten Überschätzung der Macht der Gedanken
“st auch die Tendenz, äußere Vorkommnisse auf geistige Kräfte zurück-
zuführen und die Bedeutung physischer Faktoren zu unterschätzen, so wie
ein wahrhaft religiöser Mensch logischerweise alles Geschehen unmittelbar
dem Willen Gottes zuschreiben muß aund daher an der übrigen Kausalkette
nur ein begrenztes Interesse hat. Das Endresultat dieser Tendenz ist eine
vollkommen animistische Weltauffassung, von der wir deutliche Spuren an
unseren Kindern sehen können, die auf den Tisch böse werden, weil er
so schlimm war, ihnen wehe zu tun.
Ich bin nun überzeugt, daß das eben Gesagte dem Anthropologen, der
mit dem Wesen wilder Völker vertraut ist, weniger neuartig klingen wird
als dem Durchschnittseuropäer. Ich könnte aus der Literatur Fall auf Fall
142 | Dr. Ernest Jones
zitieren, daß Wilde sich gegenseitig ebenso verantwortlich für ihre Absichten
wie für ihre Taten gemacht haben; ich für meinen Teil kann mich beim
Lesen dieser Schilderungen dem Eindruck nicht entziehen, daß diesen Primi-
tiven oft eine starke Fähigkeit zum Erraten der unbewußten Gedanken
ihrer Mitmenschen eignet. Ihre Urteile sind daher psychologisch richtig,
selbst wo sie objektiv ungerecht sind. Die außerordentlich große objektive
Bedeutung, die sie oft den Traumvorgängen beimessen, gehört demselben
Phänomen an, das, wie Freud gezeigt hat,! überhaupt der Ausübung der
gesamten Magie zugrunde liegt. Es scheint mir klar, daß die Wilden in
viel höherem Maße als wir in einer mythischen und übernatürlichen Welt
leben. Sie zeigen konstant den Glauben an verschiedene okkulte Kräfte,
Einflüsse und Betätigungen, die mit den Sinnen nicht wahrnehmbar sind,
ihnen aber dessenungeachtet eine offenbare Realität bedeuten, wobei es sich
weniger um Schlußfolgerungen und Erklärungen als um eine intuitive Er-
kenntnis handelt. Wir können mit ziemlicher Sicherheit sagen, daß viele
dieser vermeintlichen Kräfte der Außenwelt Projektionen aus dem Unbe-
wußten sind. Das intensive Interesse, das die Wilden für die Gedanken
an Hexerei, Zauberei und alle Arten böser Geister aufwenden, drängt dem
Psychoanalytiker die unabweisliche Vermutung auf, daß ihr Unbewußtes
besonders lebhafte Wünsche feindseliger Art enthalten muß, die in großer
Zahl in die Außenwelt projiziert werden.
Gestatten Sie ein Wort über das schwierige Problem der Symbolik und
ihrer Beziehung zum Unbewußten.? Wir können oft beobachten, daß unter
bestimmten Umständen verschiedene Vorstellungen oder Objekte im Bewußt-
sein als identisch angesehen werden, indem für diese Zeit die bestehenden
Unterschiede zwischen ihnen ignoriert werden. Der gleiche Vorgang findet
sich im Unbewußten, bevor wir aber von wirklicher Symbolik sprechen
können, muß noch ein weiterer Prozeß hinzutreten, und zwar die Ver-
drängung des einen Gliedes der Gleichung und die Ersatzverwendung des
anderen Gliedes zur „Symbolisierung“, d. h. Übernahme der Bedeutung
des ersteren. Der eine Teil der Gleiehung ist fast immer psychisch wich-
tiger als der andere; gerade der wichtige Teil aber unterliegt der Ver-
drängung und Symbolisierung. Es geht also aus der Natur der Dinge hervor,
daß Symbolisierung ein nur einseitiger Prozeß ist; A kann B symbolisieren,
aber B nicht A. Die unbewußte Symbolik beschränkt sich fast ganz auf
ı) Freud: Totem und Tabu. ıgız, Kap. II.
2) Vgl. meinen Aufsatz über „Theory of Symbolism“, enthalten in Papers on
Psycho-Analysis, dritte Auflage, 19232.
Psychoanalyse und Anthropologie | | 143
die Themen von Geburt, Liebe und Tod, auf Gedanken über den Körper
und die nächsten Angehörigen, woraus wir schließen, daß diese Themen
die Grundinteressen der Menschheit umfassen.
Die zwei Vorstellungsgruppen, die ich im folgenden aus dem Inhalt des
Unbewußten herausgreife, beziehen sich auf Inzest und Tod. Vielleicht die
bedeutendste Tat der Psychoanalyse und sicher die Hauptursache für die
Feindseligkeit, auf die sie gestoßen ist, war die Entdeckung, daß jedes
kleine Kind ein Stadium inzestuöser Bindung, meist an den andersgeschlecht-
lichen Elternteil durchmacht und daß die damit verknüpften Vorstellungen
für die Dauer des Lebens den Kerninhalt des Unbewußten bilden. Den
Reaktionen des Individuums auf diesen Komplex wird ein großer Einfluß
auf dessen Charakterbildung, speziell in sittlicher und sozialer Hinsicht,
zugeschrieben, und viele seiner bewußten Reaktionen, seine Interessen, sein
Verhalten usw. daraus abgeleitet. Sagen wir es zur Vermeidung von Miß-
verständnissen gerade heraus, daß wir glauben, jeder Mann nähre lebens-
lang in seinem Unbewußten den Wunsch nach sexueller Intimität mit
seiner Mutter, sowie den Drang, jeden störenden Rivalen, besonders seinen
Vater, durch den Tod zu beseitigen. Wir schreiben die entsprechenden
Wünsche gleicherweise der Frau zu und wenden in beiden Fällen den
Terminus „Ödipus-Komplex“ zur Bezeichnung dieser Einstellung an. So ab-
stoßend diese Behauptung auch klingen mag, bildet sie doch den Kern-
punkt der Psychoanalyse, von der sie untrennbar ist. Ich ann Sie für das
Beweismaterial, auf das sich diese scheinbar groteske Hypothese gründet,
nur auf die ausgedehnte psychoanalytische Literatur verweisen, die sich mit
diesem Thema befaßt, denn ich kann nicht entfernt hoffen, in der kurzen
Zeit, die ich hier zur Verfügung habe, ihre Richtigkeit zu Ihrer Über-
zeugung klarzulegen. Ich erwähne diese Hypothese hier überhaupt nur, um
zu zeigen, daß sie, falls sie sich als richtig erweist, dazu bestimmt ist, eine
Fülle von Licht auf einige der dunkelsten Probleme der Anthropologie zu
werfen. Ich erwähne nur als eines davon den fast allgemein verbreiteten
Abscheu vor dem Inzest und die außerordentlich komplizierten und strengen
Gesetze, die man zu dessen Verhütung in den verschiedensten Teilen der
Welt ersonnen hat. Es ist bekannt, daß die bisherigen Erklärungen dieses
Phänomens sehr unbefriedigend waren und niemand Frazers überzeugendes
Argument‘! beantworten konnte, daß derartige Gesetze sich nur gegen
Verbrechen richten, bei denen die Versuchung, sie zu begehen, eine sehr
ı) Frazer: Totemism and Exogamy. Vol. IV, p. 97.
144 Dr. Ernest Jones
starke und weitverbreitete ist. Das Argument mündet in ein non possumus:
der Inzest könnte nicht so streng verboten sein, wenn nicht eine allgemeine
Neigung dazu vorhanden wäre; aber die Gesetze sind vorhanden und die
Inzestneigung nicht. Die Psychoanalyse zeigt anderseits, daß die starke und
allgemeinverbreitete Inzestneigung, die aus der Beweisführung logisch
gefolgert wird, auch wirklich existiert, daß sie nur zum größten Teil ins
Unbewußte verdrängt ist; wir wissen meistens gar nichts von dieser Neigung,
die aber trotzdem real und bedeutungsvoll ist. Die Zeit gestattet mir nicht,
auf die zahllosen von dieser Vorstellung ausgehenden Abzweigungen ein-
zugehen, aber die Anthropologen wissen, wie zahlreich und wichtig die
Probleme sind, die direkt oder indirekt mit dem Inzestproblem zusammen-
hängen. Ich kann hier nur einige wenige erwähnen, so z. B. die endlosen
Initiationsriten und Zeremonien der wilden und zivilisierten Völker,! die
zahlreichen Mythen und Kosmogonien mit offen oder symbolisch inzestu-
ösem Inhalt und das große Problem des Totemismus selbst.?
Die zweite Vorstellungsgruppe aus dem Unbewußten, über die ich
sprechen will, nämlich die auf den Tod bezügliche, soll jetzt in Verbindung
mit einigen geläufigen anthropologischen Anschauungen erörtert werden.
Nach dieser grotesk unvollkommenen Skizzierung der psychoanalytischen
Theorie müssen wir unsere Aufmerksamkeit ihrer Bedeutung für die anthro-
pologische Forschung zuwenden und auch hier kann ich Ihnen nur die
kürzesten Umrisse geben.
Es ist eine oft gemachte Beobachtung, daß der Zorn der Anthropologen
‚Tast ebenso leicht durch die Behauptung erweckt wird, daß Wilde nicht
' mit Kindern verglichen werden können, als durch die gegenteilige Behaup-
tung, das man das tun könne. Ebenso ruft man Widerspruch hervor, wenn
man behauptet, daß zwischen uns und den Wilden eine tiefe Kluft bestehe
oder sagt, daß kein merkbarer Unterschied vorhanden sei. Ich hoffe daher,
eine friedliche Note anzuschlagen, wenn ich sage, daß in allen vier Behaup-
tungen Wahrheit enthalten ist, wenn auch eine tiefere Wahrheit als oft
erkannt wird. Diese diplomatische Stellungnahme ist mir deshalb möglich,
weil die psychoanalytische Meinung sowohl über Kinder als über zivilisierte
Erwachsene in einigen wichtigen Punkten von der gebräuchlichen abweicht.
Wir finden einerseits, daß die beiden Denkweisen, die wir für unsere
gegenwärtigen Zwecke das infantile und das erwachsene Denken nennen
ı) Vgl. Reik: Problems of Religious Psychology. Ch. III.
2) Vgl. Freud, op. cit., Kap. IV, und eine demnächst erscheinende Arbeit über
dieses Thema von Röheim.
| Psychoanalyse und Anthropologie 145
wollen (was ungefähr dem unbewußten und bewußten Denken entspricht),
sehr wesentlich, viel mehr als gewöhnlich angenommen werden dürfte
voneinander abweichen, daß aber anderseits Kinder und Erwachsene die
beiden Denkweisen in nicht sehr verschiedenem Maße zur Schau tragen.
So hat der Erwachsene mehr Infantiles, als man allgemein annimmt und
ebenso das Kind mehr vom Erwachsenen. Um es mit anderen Worten aus-
zudrücken, die Unterschiede sind ungeheuer groß, aber nicht so sehr zwischen
Kind und Erwachsenem als zwischen den beiden Denkweisen, die ihnen
beiden eigen sind. Wenn wir hier ein Werturteil abgeben wollten, so hieße
es, daß unser Respekt vor dem kindlichen Seelenleben zugenommen, der
vor dem erwachsenen abgenommen hat.
Ich vermute nun, daß wir betreffs der Beziehungen zwischen wilden
und zivilisierten Völkern vielleicht zu dem gleichen Resultat gelangen
werden. Wenn dies so wäre, würde es zweierlei bedeuten. Erstens, daß viel
von der vermeintlichen Minderwertigkeit der primitiven Völker in bezug
auf Funktionen wie Konzentration, Vernunft, Unterscheidungsvermögen,
Logik usw. nicht so sehr durch den Mangel dieser Fähigkeiten als durch
eine von der unseren verschiedenen affektive Einstellung bedingt ist, wie
Hocart’ in seiner Arbeit über die Sprache der Fidschiinsulaner so glänzend
demonstriert hat. Die Anerkennung dieser Tatsache würde zu einer größeren
Annäherung zwischen dem Seelenleben der Wilden und unserem eigenen
führen. Zweitens muß aber der Unterschied zwischen primitivem affektiven
Denken und der von subjektiven Faktoren unbeeinflußten logischen Ver-
nunft als sehr groß angesehen werden und es ist leicht möglich, daß in
dieser Hinsicht ein quantitativer Unterschied zwischen wilden und zivili-
sierten Völkern besteht, ebenso wie er schließlich zwischen Kindern und
Erwachsenen vorhanden ist. Mit anderen Worten, es ist möglich, daß das
bewußte Denken des Wilden direkter und stärker von unbewußten Fak-
toren beeinflußt wird als das der zivilisierten Völker, gerade so wie das
beim Kind der Fall ist. Dabei möchte ich mich gegen den Vorwurf ver-
wahren, die Kompliziertheit dieser Beziehung unterschätzt zu haben. Ich
glaube natürlich nicht, daß. die psychische Entwicklung in einförmiger
und methodischer Weise ohne Rückschritte und andere Komplikationen
vor sich gegangen ist, auch nicht, daß zwischen dieser Entwicklung und
der ethnologischen Einreihung, die man auf die gegenwärtigen Menschheits-
rassen anwenden kann, mehr als die allergröbste Entsprechung besteht.
ı) Hocart: The Psychological Interpretation of Language. British Journal of
Psychology 1913, Vol. V.
146 | ‚ DB Ernest Jones | | | -
Ich will mich jetzt mit der Konvergenz der psychoanalytischen und
modernen anthropologischen Ansichten befassen, auf die ich hier schon
früher hingewiesen habe. Das wichtigste Moment der Übereinstimmung
ist die bei beiden vorhandene Tendenz, die Phänomene auf rein mensch-
liche und egozentrische Motive zurückzuführen, was Gegner als materia-
listischen Erklärungsversuch bezeichnen könnten. Wenige Anthropologen
würden heute von den Wilden annehmen, daß sie sich vornehmlich mit
ethischen Abstraktionen oder hochfliegenden philosophischen Spekulationen
über das Weltall befassen; jene, die solches anzunehmen pflegten, haben
die niedrigere Art und Herkunft ihrer eigenen Interessen nicht richtig
erkannt. Die primitiven Interessen der Menschheit sind weniger fernliegend,
dem eigenen Innern näher, eine Erkenntnis, die für den Wilden ebenso
zutreffen muß wie die Psychoanalyse es für uns erwiesen hat. Die Menschen
befassen sich vor allem mit ihren unmittelbar persönlichen Angelegenheiten,
gegenüber denen alles andere erst in zweiter Linie in Betracht kommt.
Die Welt wird ursprünglich von innen nach außen gesehen und unsere
innersten Gedanken auf sie wie auf einen ungeheuren Lichtschirm proji-
ziert. Elliot Smith z. B. sieht das Leitmotiv der menschlichen Zivilisation
in dem kontinuierlichen Streben nach Selbsterhaltung in diesem und dem
jenseitigen Leben und meint, daß vieles von den Kulturbestrebungen der
Menschheit auf die Suche nach den zu ihrer Sicherung geeigneten Objekten
zurückzuführen ist. Ich werde mich im folgenden noch des näheren mit
dieser Ansicht befassen und will hier nur auf ihre Übereinstimmung mit
der psychoanalytischen Theorie verweisen, die in der Anerkennung der
fundamentalen Bedeutung der menschlicheren, persönlicheren und tatsäch-
lich egozentrischen Motive besteht. Seine großzügige Verallgemeinerung,
daß „alle Anschauungen des Primitiven, die sich auf das Lebensproblem
beziehen, letzten Endes auf die Geschichte seiner eigenen Herkunft, seiner
Geburt oder Zeugung zurückzuführen sind“,* findet außerdem die aus
giebigste Unterstützung von seiten der Psychoanalyse und liegt ganz in der
Richtung einer neuen bedeutenden Arbeit von Otto Rank.?
Ein anderes Gebiet, in dem die Konvergenz der Schlußfolgerungen viel-
fach überraschend ist, ist die Symbolik; meiner Ansicht nach wäre die
Übereinstimmung hier eine noch innigere, wenn nicht noch Unsicherheit
darüber herrschen würde, was man eigentlich unter Symbolik zu verstehen
habe. Wir verstehen darunter den Vorgang, daß eine Vorstellung (meist
ı) Elliot Smith: The Evolution of the Dragon. 1919, p. 45.
2) Otto Rank: Das Trauma der Geburt. 1924.
unwissentlich) als Ersatz für eine unbewußte Vorstellung gebraucht wird.
Die Anzahl der unbewußten Vorstellungen ist verhältnismäßig gering und
viel kleiner als die der symbolisierenden Vorstellungen. Vom Standpunkt
der Interpretation aus erheben sich hier die beiden Fragen, wann eine
bestimmte Vorstellung symbolisch verwendet ist (worauf hier nicht weiter
eingegangen werden kann) und welche unbewußte Vorstellung (oder Vor-
stellungen) sie symbolisiert. Wir dürfen nicht daran vergessen, daß keine
der psychoanalytischen Folgerungen über Symbole und deren Deutung durch
Vertrautheit mit anthropologischen Phänomenen, sondern durch mühsames
Studium an Einzelmenschen gewonnen wurde, was die Übereinstimmung
mit anthropologischen Phänomenen besonders interessant macht. Ich kann
hier nur einige wenige derartige Beispiele anführen, die ich der Überein-
stimmung halber sämtlich den Arbeiten zweier Mitglieder der gleichen
Schule, Elliot Smith und W. J. Perry entnehme. Die Psychoanalytiker
haben längst beobachtet, daß Objekte, denen man eine Ähnlichkeit mit
den weiblichen Schamteilen zuschreibt, wie man es z. B. von den Kauri-
muscheln annimmt, als Symbole für jene dienen können. Elliot Smith’
führt zwei Autoren aus dem achtzehnten Jahrhundert, Rumphius und
Adanson an, welche auf diese Eigenschaft der Kaurimuscheln hingewiesen
haben und kommt zu dem Schluß, daß dieser Umstand dem ganzen Komplex
des Muschelkultus zugrunde liegt. Nachdem die Kaurimuschel so ein Symbol
der weiblichen Schamteile war, wurden ihr verschiedene lebenspendende
Kräfte zugeschrieben. Aber Elliot Smith hat in diesem Zusammenhang
noch zwei weitere Vorstöße gemacht, die sich beide ganz mit psychoanalpyti-
schen Erkenntnissen decken. Eine gebräuchliche Art der unbewußten Dar-
stellung bedient sich des Mechanismus des pars pro toto, bei dem ein Teil
zur Darstellung des Ganzen verwendet wird, wie z. B, bei einer Anspie-
lung. Eine viel merkwürdigere Darstellungsweise ist die gerade entgegen-
gesetzte, bei der das Ganze zur Darstellung eines Teiles verwendet wird,
wie z. B. wenn ein kleiner Mann im Traum als Symbol für das männ-
liche Genitale verwendet wird oder eine Frau als Symbol für das weib-
liche. Elliot Smith, der ausführt,” wieso die Kaurimuschel dazukam, „mit
der Mutter und Begründerin der menschlichen Familie identifiziert oder
als diese selbst angesehen“, und dann in der Gestalt der großen Mutter-
göttin personifiziert zu werden, stellte fest, „daß diese Große Mutter nichts
ı) Elliott Smith: Einführung in ‚Wilfred Jacksons Shells as Evidence of the
Migrations of Early Culture. 1917, p-. ııı.
2) Elliot Smith: The Evolution of the Dragon, p. 26.
1
148 Dr. Ernest Jones
anderes als die Kaurimuschel ist“.“ Wir würden im selben Fall sagen, daß
die Göttin hier als Symbol des Mutterleibes diente oder, mit anderen Worten,
daß das gesamte Interesse an der großen Mutter in diesem besonderen
Zusammenhang an ihr Sexualorgan geheftet war. Er sagt drittens, ganz
in Übereinstimmung mit meiner oben aufgestellten Behauptung, daß eine
unbewußte Assoziation eigentlich eine Identifizierung bedeute: „Die Kauri-
muschel war nicht nur ein Amulett zur Steigerung der Fruchtbarkeit, sie
war selbst die wirkliche Mutter der Menschheit, die Schöpferin alles Leben-
digen.“ Die Identifizierung des „Muttertopfes“ mit der Großen Mutter oder
eigentlich ihrem Schoß ist ein ähnliches Beispiel für das, was wir unter
wirklicher Symbolik verstehen und Elliot Smith weist im folgenden auf
einige seiner außerordentlich weiten Verzweigungen hin: „Anfangs war es
nur ein Wasserkrug oder ein Feigenkorb, weiters aber wurde es auch der
Kessel einer Hexe, die Zauberschale, der Heilige Gral, der Taufstein, in
dem ein Kind im Glauben wiedergeboren wird, wobei der Wasserbehälter
hier in seiner frühesten Bedeutung als Uterus oder Geburtsorgan gedeutet
wird.“5 Eine weitere Symbolgruppe in der psychoanalytischen Forschung ist
ein Torbogen, eine Tür oder ein Torweg als unbewußte Repräsentanten
der Vaginalöffnung, wobei wir uns wieder in voller Übereinstimmung mit
Elliot Smith* befinden. Eine der neuesten Entdeckungen auf unserem
Arbeitsgebiet geht dahin, daß die Spinne oder der Oktopus als Muttersymbol5
dienen können; ich finde aber, daß Elliot Smith unabhängig davon zu
demselben Ergebnis gelangt ist, obwohl ich nicht glaube, daß seine Er-
klärung der Entstehung dieses Symbols® (cowry-Red Sea „spider-shell“-
Octopus) die einzig mögliche ist, wenn wir nicht annehmen wollen, daß
alle unsere Patienten ererbte Erinnerungen an den Aufenthalt ihrer Vor-
fahren am Roten Meer in sich tragen.
Ein unerwarteter psychoanalytischer Fund war, daß Tiere in Träumen
oder neurotischen Symptomen meistens als Symbol für den einen oder
anderen Elternteil oder für Kinder stehen und daß die Gedanken, die sich
auf sie beziehen, vor allem mit Geburtsvorstellungen zusammenhängen.
Perry erzählt, daß in Ägypten „die Kuh als eine Form der Großen Mutter
ı) Idem, op. cit., p. 216.
2) Idem, op. cit., p. 151.
3) Idem, op. cit., p. 181.
4) Idem, op. eit., p. 188.
5) Abraham: The Spider as a Dream Symbol. Internat. Journal of Psycho-
Analysis 1923, Vol. IV, p. 313.
6) Elliot Smith, op. cit., p. ı6g.
Psychoanalyse und Anthropologie dr 149
angesehen wurde, weil sie auch Kinder mit ihrer Milch nährt“;? zahllose
ähnliche Beispiele aus der Mythologie und dem Folklore könnten hier
natürlich noch angeführt werden. Diese eine Entdeckung führt uns in Ein:
umfassendes Kapitel der Anthropologie, besonders in ihrer Beziehung zum
Totemismus, wie Freud? im Detail nachgewiesen hat.
Eine zweite bemerkenswerte Entdeckung der Psychoanalyse geht dahin,
daß jedes Individuum in einem frühen Lebensstadium eine Phase der
Bisexualität durchmacht und daß wichtige Spuren dieser Entwicklungs-
stufe immer im Unbewußten zurückbleiben. Danach ist, obwohl die männ-
lichen und weiblichen Prinzipien recht gut voneinander unterschieden
werden können, ihre Beschränkung auf das entsprechende Geschlecht nicht
‘ annähernd so ausschließlich, wie man allgemein annimmt. Das Unbewußte
tauscht nicht nur die beiden Geschlechter mit erstaunlicher Freiheit gegen-
einander aus, sondern behält auch andere merkwürdige Spuren dieser primi-
tiven Einstellung zur Sexualität.5 In den anthropologischen Phänomenen
finden wir reichliche Beispiele für denselben freien Austausch. Ich erwähne
in diesem Zusammenhang ein charakteristisches bisexuelles Symbol, nämlich
das Wasser. Wir finden, daß das Wasser in der Traumsymbolik und anderen
Abkömmlingen des Unbewußten in Zusammenhang mit Geburtsvorstellungen +
eine große Rolle spielt, und zwar die gleiche wie das Fruchtwasser in
Wirklichkeit. Von Elliot Smith5 erfahren wir, daß im alten Ägypten „eine
Schale mit Wasser das Symbol der weiblichen Fruchtbarkeit war. Diese
Symbolik bedeutet, daß die Frau oder ihr Uterus ein Gefäß ist, in das
die Samenflüssigkeit entleert wird und aus dem ein neues Wesen mit einer
Flut von Fruchtwasser hervorgeht“ ;° er fügt an anderer Stelle” hinzu, daß
das Wasser bei jeder rituellen (d. h. symbolischen) Wiedergeburt eine Haupt-
rolle spielt. Er weist ferner? auf die Ableitung des Muttertopfbegriffes aus
dem Mutterleib hin und sagt, daß eine Schale mit Wasser das Hiero-
ı) Perry: The Origin of Magic and Religion. 1925, p. 19.
2) Freud, ibid.
7) Dieses Wort ist hier in einem engeren Sinn als Sexualität gebraucht.
4) Der verstorbene Dr. Rivers zeigte beträchtliches Unverständnis für die psycho-
analytischen Ansichten in dieser Beziehung in seinem verunglückten Versuch, sie zu
widerlegen. Ä
5) Elliot Smith, op. cit., p. 152.
6) Meiner Meinung nach wäre es hier richtiger zu sagen, daß es ein Symbol
des schwangeren Mutterleibes und nur eine Metapher für den Begriff der Frucht-
barkeit war.
7) Elliot Smith, op. cit., p. 33.
8) Idem, op. cit., p. 178, ı82, 183.
Imago %, 2 u.3 .
150 Ko Dr. Ernest Jones
glyphenzeichen für das weibliche Prinzip in den Worten Vulva und Weib
war. Wir finden anderseits in der Psychoanalyse, daß Wasser, Regen usw.
gebräuchliche unbewußte Symbole für die befruchtende Flüssigkeit des
Mannes sind, gleichgültig ob diese als Samen oder in der infantilen Auf-
fassung als Urin angesehen wird. Perry berichtet," daß Osiris sich von den
Muttergottheiten in einem wichtigen Punkt unterschied: daß er über die
Bewässerung zu gebieten hatte; und Elliot Smith? findet es infolgedessen
nicht erstaunlich, daß Osiris „phallische Attribute hatte und die männliche
Befruchtungskraft in sich verkörperte“; er diskutiert auch die Tatsache, 3
daß die Vorstellungen, Wasser auf die Erde zu schütten oder die Erde zu be-
wässern dem Begattungsakt äquivalent sind. Die auf das Wasser bezüglichen
Vorstellungen bilden bekanntlich eine der Hinsichten, in denen die Attribute
der ägyptischen Götter und Göttinnen außerordentlich schwer auseinander-
zuhalten sind. Ich möchte hier darauf hinweisen, daß dies durch das
Vorhandensein einer primitiven bisexuellen Stufe weitgehend erleichtert
wurde.
Ein interessanter Überrest dieser Stufe leitet sich von der primitiven
Anschauung ab, daß die Frauen, besonders die Mutter, den Männern
anatomisch gleichen und kein bemerkenswerter Unterschied zwischen Klitoris
und Penis besteht, Diese Vorstellung spielt in der Psychologie der neuroti-
schen Störungen bei beiden Geschlechtern eine ungeheure Rolle und ist
eine der Quellen für die Furcht vor der „schrecklichen Mutter“, eine Ein-
stellung, die natürlich das Vorhandensein einer intensiven Zärtlichkeit nicht
hindert. Diese Vorstellung spielt auch in der Mythologie eine große Rolle,
wie die zahlreichen Portale mit phallischen Emblemen und die den Mutter-
gottheiten in Ägypten und anderen Ländern zugeschriebenen männlichen
Attribute (Ureus, Geier, Papyrus etc.) beweisen; sie ist ferner, wie F reud
nachgewiesen hat,* der letzte Grund für das weitverbreitete Tabu der
Virginität.
Ich gelange schließlich zu der berühmten „Selbsterhaltungstheorie“ der
modernen britischen Schule der Ethnologie und beginne hier mit dem
Zitat einer scharfsinnigen Stelle aus Elliot Smith,? der meines Wissens der
Urheber der Theorie ist: „Die Interpretation alter Texte und das Studium
ı) Perry, op. cit., p. 28.
2) Elliot Smith, op. eit., p. 30.
3) Idem, op. cit., p. 28, 29.
4) Freud: Das Tabu der Virginität. Vierte Sammlung ı918.
5) Elliot Smith, op. eit., p. 235.
Psychoanalyse und Anthropologie ae 151
der Anschauungen moderner Völker auf niedrigerer Kulturstufe weisen uns .
darauf hin, daß unsere Redewendungen, wie ‚ins Leben rufen‘, ‚Leben
geben‘, ‚das Leben erhalten‘, ‚den Tod abwehren‘, ‚das Glück beschwören‘,
‚das Leben verlängern‘, ‚die Toten beleben‘, ‚einen Leichnam oder die
Erscheinung eines Verstorbenen ins Leben zurückrufen‘, ‚Fruchtbarkeit
verleihen‘, ‚schwängern‘, ‚zeugen‘ eine Reihe von Spezialisierungen der
Bedeutung darstellen, die in frühen Zeiten oder bei relativ primitiven
Völkern der Jetztzeit nicht klar auseinandergehalten werden.“ Ich möchte
hier einwerfen, daß diese Unbestimmtheit und Unvollständigkeit der Differen-
zierung sich eher auf die bewußte Auffassung und Ausdrucksweise dieser
Völker beziehen könnte als auf die den Vorstellungen zugrundeliegenden
Tatsachen selbst, so daß es vielleicht kein aussichtsloser Versuch ist, die
relative Stärke der wirklichen Triebkräfte erkennen zu wollen. Wenn wir
die Autoren und Anhänger der Selbsterhaltungstheorie auffordern wollten,
diese Differenzierung durchzuführen, so ließe sich ihre Antwort wahr-
scheinlich in die Behauptung zusammenfassen, daß das stärkste Motiv bei
der betreffenden Völkergruppe, oder vielleicht in der ganzen Menschheit,
der Wunsch, den Tod zu überwinden war, was gleichzeitig den Wunsch
bedeutet, den Tod abzuwehren (d. h. das Leben zu verlängern, zu erhalten),
wie auch den Wunsch, das Leben über den Tod hinaus fortzusetzen, was
bekanntlich durch ein Wiedergeburtsrituale bewerkstelligt wurde (und im
Mittelpunkt der Mumifizierungsideen steht). Wir bekommen so Gelegen-
heit, uns mit den ursprünglichen Vorstellungen über den Tod und das
Leben nach dem Tode zu beschäftigen, wobei ich wieder eine Stelle aus
Elliot Smith! zur Grundlage nehmen will. „Wir ersehen aus den Äuße-
rungen der ältesten Literatur, die uns von der Antike überliefert ist, wie
auch aus den Anschauungen, die noch bei den relativ primitiveren Völkern
unserer Zeit herrschend sind, daß die Menschen ursprünglich keinen
bewußten Unsterblichkeitsglauben formulierten. Daß der Primitive sich
weigerte, die Möglichkeit eines Lebensendes ins Auge zu fassen oder anzu-
erkennen, war eher die Folge eines Denkfehlers oder, wie die modernen
Psychologen es nennen würden, einer instinktiven Verdrängung der unlust-
vollen Vorstellung, daß der Tod ihn persönlich treffen würde. Die Lebens-
freude des Primitiven und seine Furcht vor einer zur Vernichtung seines
Körpers führenden physischen Schädigung waren so intensiv, daß er unbe-
wußt vermied, sich mit der Mögilchkeit seines eigenen Todes in Gedanken
ı) Idem, op. cit., p. 145, 146.
152 Dr. Ernest Jones
zu beschäftigen, sein Glauben an die Fortsetzung des Lebens kann daher
nicht als das Resultat eines aktiven konstruktiven Denkprozesses betrachtet
werden..... Es wäre natürlich lächerlich, behaupten zu wollen, irgend ein
Volk könne umhin, die Realität des Todes in der Mehrzahl der Fälle an-
zuerkennen; Beweis dafür ist schon die bloße Tatsache des Begräbnisses.
Der Unterschied zwischen den Anschauungen dieser Primitiven und uns
selbst liegt aber in der stillschweigenden Annahme jener, daß der Ver-
storbene trotz der deutlichen Zeichen von Veränderung an seinem Körper
(welche die Beerdigung oder irgend ein anderes Verfahren notwendig
machten), doch eine Existenz fortführe, welche der bisherigen nicht un-
ähnlich, nur eintöniger, weniger ereignisreich und ungewisser war. Er
brauchte so wie bisher auch weiterhin Essen, Trinken und alle Parapher-
nalien seines sterblichen Lebens, war aber für seinen Lebensunterhalt von
seinen Angehörigen abhängig.“
Wir müssen diese Frage nach der Erhaltung des Lebens nach dem Tode,
je nachdem ob es sich um das eigene Leben oder das des anderen handelt,
in zwei Kapitel einteilen. Der letztere Teil des Problems scheint von der
britischen Schule der Ethnologie ungebührlich in den Hintergrund gerückt,
weshalb ich auch hier nicht auf seine Erörterung eingehen möchte. Ich
möchte nur betonen, daß ich diesen Teil des Problems für sehr wichtig
halte; daß dem Überleben des andern mehr Bedeutung beigemessen wird,
wenn jener ein König, Häuptling, Ältester oder sonst eine wichtige Persön-
lichkeit? (d. h. ein Vaterersatz)? ist, kann uns einen Schlüssel zu seinem
Verständnis liefern. Ich beschränke mich im folgenden auf das, was man
das Überleben der eigenen Person nennen könnte, ein Problem, das einen
integrierenden Bestandteil der Selbsterhaltungstheorie ausmacht.
Für jene, welche der Argumentation meines Vortrags bis hieher gefolgt
sind, ist es vielleicht von Interesse zu erfahren, welche auf den Tod bezüg-
lichen ‚Vorstellungen sich im Unbewußten finden. Man könnte in gewissem
Sinne sagen, daß man keine findet, da das Unbewußte diese Vorstellung
in ganz anderer Weise auffaßt, als das bewußte Seelenleben. Es nähert sich
ihr noch am ehesten, wo der Tod anderer Menschen in Frage kommt, ein
Ereignis, das es wie das Kind einfach als eine Entfernung oder Abwesen-
ı) Freud: Totem und Tabu. Kap. ıı.
2) Dies ist ein Beispiel der durchaus einseitigen Natur des Arguments im letzten
Teil dieses Vortrages, denn er behandelt nur das Verhältnis des Individuums zu der
Mutter und vernachlässigt die Betrachtung des ebenso wichtigen Verhältnisses zum
Vater.
1 -
un
Psychoanalyse und Anthropologie 2 1
heit von kürzerer oder längerer Dauer betrachtet, wobei die F rage der
Ewigkeit kaum in Betracht kommt. Im Gegensatz dazu ist der eigene Tod,
im Sinne einer endgültigen Beendigung des Lebens, eine für das Unbe-
wußte absolut unfaßbare Vorstellung und auch wirklich selbst im bewußten
Seelenleben schwer zu vollziehen. In den Zusammenhängen, in denen man
erwarten würde, sie anzutreffen, erscheint eine von zwei anderen Vor-
stellungen an ihrer Stelle. So kann erstens die Vorstellung des Sterbens —
besser des Umgebrachtwerdens — als schwere Beschädigung eines lebens-
wichtigen Teiles, d.h. als Kastration, aufgefaßt werden, wobei diese Kastration
(bei beiden Geschlechtern) immer als Strafe für inzestuöse Wünsche auf-
gefaßt wird. Die zweite tiefergreifende unbewußte Auffassung des Todes
sieht in ihm eine Umkehrung des Geburtsaktes, die eine Rückkehr zur
pränatalen Existenz im Mutterleibe zur Folge hat. Es ist klar, daß diese
Auffassung zu den unzähligen Riten mit Wiedergeburtssymbolik in Beziehung
stehen muß, die in den heidnischen Religionen wie auch im Christentum
die stärksten Waffen zur Besiegung des Todes und zum Erwerb der Unsterb-
lichkeit sind; endlose Mythen und Volksglauben, die hier aufzuzählen mir
die Zeit verbietet, bestätigen die Existenz dieser primitiven Auffassung des
Todes als einer Rückkehr in den Mutterleib und der Überzeugung, daß
das Lebendige nur zu dem Born zurückkehren kann, aus dem es gekommen
ist. So beziehen sich also beide besprochenen Vorstellungen auf den noch-
maligen Eintritt in die mütterliche Pforte, sei es teilweise wie beim Koitus'
oder ganz wie bei der Geburt. Es ist übrigens bemerkenswert, daß diese
beiden Akte vom Unbewußten als Äquivalente angesehen werden, ein Bei-
spiel mehr für seine Grundverschiedenheit von unserem bewußten Denken.
Wenn unsere Funde den Tatsachen entsprechen, was niemand bezweifelt,
der sich durch eigene Nachforschungen ein Urteil erworben hat, so wären
wir in der Lage, die Selbsterhaltungstheorie in einigen wichtigen Hinsichten
zu ergänzen, von denen ich hier drei kurz anführen will. Der erste Punkt
behandelt die mütterlichen Symbole, die bei dem Ritual der Wiedergeburt
Verwendung finden. Ich nehme an, daß die Auffassung Elliot Smith’ und
seiner Mitarbeiter etwa folgendermaßen lauten würde: Die Primitiven, die
glaubten, daß der mütterliche Leib der Schöpfer oder jedenfalls die Quelle
des Lebens sei, brachten eine Abstraktion der Vorstellung zustande und
[7
ı) Bei der Frau wird dieser Begriff dadurch ersetzt, daß sie den Vater im
Geschlechtsakt in sich einverleibt, so daß sie beständig schwanger ist; dies wird
dem Dasein im Mutterleib durch den wohlbekannten Mechanismus der Umkehrung
gleichgesetzt.
154 = Dr. Ernest Jones
verwendeten verschiedene Dinge, die Ähnlichkeit mit den weiblichen Scham-
teilen besaßen, zur Darstellung dieser abstrakten Vorstellung. Sie hielten
diese dem Leichnam vor, als wollten sie sagen: „Ein Ding wie dieses wird
dir ermöglichen, die Wiedergeburt und Fortsetzung der Existenz zu erlangen.“
Für uns bedeutet im Gegensatz dazu die Symbolik etwas viel Buchstäb-
licheres und Konkreteres. Ihre metaphorische, abstrakte Seite ist rein sekundär
und bewußt und ihr wirklicher Sinn ein viel bestimmterer. So ist z. B.
die Kaurimuschel nicht nur ein Emblem der Fruchtbarkeit im allgemeinen
oder des Schoßes der Muttergöttinnen im allgemeinen, sondern ist das Symbol
für den wirklichen Schoß der Mutter des betreffenden verstorbenen Indi-
viduums. Der Sinn des Rituals wäre dann der folgende: „Wie du in
deinem tiefsten Herzen weißt, mußt du, um zur Unsterblichkeit gelangen
zu können, in das Tal der Todesschatten eindringen, noch einmal durch
die Pforte des mütterlichen Leibes einkehren, ein zweites Mal geboren
werden und so die Wirkung der ersten Geburt zunichte machen, um die
Rückkehr in das Paradies zu erlangen; hier zeige ich dir den Schoß deiner
Mutter.“ *
In zweiter Linie können wir weitere Aufklärungen darüber geben, warum
bei der Wiederbelebung der Leichen in Ägypten verschiedene männliche
Symbole, sowohl phallische wie Samensymbole (der schlangengestaltige Stab,
die Krummaxt des Anubis, des Erfinders der Mumifizierung, Speichel, roter
Ocker und andere Blutäquivalente) zu den oben erwähnten weiblichen Sym-
bolen hinzutreten müssen. Wir können dieses Phänomen dem oben be-
sprochenen merkwürdigen Umstand an die Seite stellen, daß das Unbe-
wußte die beiden Vorstellungen der sexuellen Vereinigung (vor allem des
Inzests) und der Wiedergeburt (d. h. der Rückkehr in den Mutterleib) als
Äquivalente ansieht; es wird kaum als Unterschied angesehen, ob die ganze
Person in den Körper der Mutter eindringt oder nur jener Teil von ihr,
den die englische Juristensprache als seine „person“ bezeichnet, nämlich
sein Penis. Auf diese Weise kommt das Phänomen zustande, daß (Wieder-)
Geburt und Koitus äquivalente Vorstellungen sind, wenn ihr Objekt die
Mutter ist und es wird verständlich, wieso Riten, welche einen dieser Vor-
gänge symbolisieren, die Macht haben können, wieder zum Leben zu er-
wecken. Aus diesem Grunde spielen auch die bisexuellen Symbole, vor
allem das Wasser, die gleichzeitig die Vorstellungen Koitus uAd Geburt
ı) Wiedergeburt ist eigentlich Endgeburt. Der Symbolismus ist ein Beispiel des
Mechanismus der Umkehrung und bedeutet wirklich das Eingehen in den Mutter-
leib anstatt des Hinauskommens, so macht es die ursprüngliche Geburt ungültig.
Psychoanalyse und Anthropologie 155
ausdrücken können, eine so hervorragende Rolle in diesen Riten. Wir
können hier, wie in so vielen anderen Fällen, Elliot Smith! zur Unter-
stützung unserer Schlußfolgerungen heranziehen. Er sagt: „Das Studium
der Folklore und der primitiven Anschauungen macht es nur zu klar, daß
in der fernen Vergangenheit, mit der ich mich hier beschäftige, keine
klaren Unterschiede zwischen Befruchtung und Belebung, zwischen dem
Hervorbringen neuen Lebens und der Wiederbelebung des einmal lebendig
Gewesenen gezogen wurden. Die Befruchtung eines Weibes und die Be-
lebung eines Leichnams oder einer Statue wurden in dieselbe Kategorie
biologischer Prozesse eingereiht. Der Bildhauer, der die Porträtstatuen für
die ägyptischen Gräber schuf, hieß sa’nkh, der „Lebenspendende“ und das
Wort, das die „Herstellung“ einer Statue bezeichnete, ms, ist allem Anschein
nach identisch mit ms, gebären.
Zum Thema des Lebenselixiers, zu dem wir hier gelangen, möchte ich
die folgenden Zeilen zitieren:” „Wenn wir uns in die ferne Vorgeschichte
unserer Art vertiefen, fällt uns die Hartnäckigkeit auf, mit welcher der
Mensch (homo sapiens) seine ganze Entwicklung hindurch nach einem
Lebenselixier suchte, das den Toten (deren Existenz im Bewußtsein nicht
als beendet betrachtet wurde) neue Lebenskraft geben, die tätige Lebens-
zeit der Lebenden verlängern, die Jugend wiederbringen und das mensch-
liche Leben vor allen Angriffen, nicht nur der Zeit, sondern auch des
Schicksals bewahren sollte. Das gesuchte Elixier war mit anderen Worten
etwas, das in allen Lagen des Lebens und seiner Fortsetzung ‚Glück bringen,
sollte. Die meisten Amulette, auch der modernen Zeiten, die Glücksanhänger,
die Amulette zur Abwendung des ‚bösen Blicks‘, die verschiedenen glück-
bringenden Praktiken für Liebe und Sport, bei der Heilung körperlicher
Leiden oder seelischer Nöte, zur Erreichung materiellen Wohlstandes oder
einer Fortsetzung des Lebens nach dem Tode, sind Überlebsel dieses
uralten, hartnäckigen Strebens näch jenen Dingen, die unsere frühesten
Vorahnen sämtlich als ‚Lebensspender‘ bezeichneten.“ Seinem Wesen nach
erfüllt das Elixier daher vor allem zwei Wünsche: den nach Unsterblich-
keit im nächsten Leben und der Wiedererlangung der Jugend in diesem;
‘ch werde sofort auf die innige Beziehung zwischen beiden hinweisen.
Lange vor der Ära Steinachs haben die Psychoanalytiker diese Sorge um
die „Jugend“ als Euphemismus für die Sorge um die männliche Kraft
ı) Elliot Smith, op. eit., p. 25-
2) Tbid, p. 145.
a nn | |
156 Dr. Ernest Jones
erkannt, und Abraham! und Rank” haben gezeigt, daß alle magischen-
Fluida, welche diese Kraft zur Erhaltung der Jugend besitzen, Samensymbole
sind, wie z. B. der göttliche Meth, Soma, Ambrosia, Nektar usw. Ich möchte
im Zusammenhang mit dieser doppelten Funktion des Elixiers, seiner Kraft,
die Jugend wiederzugeben und die Unsterblichkeit zu verschaffen, auf eine
sehr interessante klinische Beobachtung hinweisen. Wenn ein Patient uns
mit den Klagen konsultiert, daß er eine übergroße Furcht vor dem Tode
(Thanatophobie) oder vor dem Jenseits hat, daß das Leben ihm so kurz
erscheint und die J ugend so schnell verrinnt, also mit den Beschwerden,
deren Heilung vom Lebenselixier erwartet wird, dann können wir mit
absoluter Sicherheit etwas über sein Innenleben aussagen, da die Analyse
solcher Symptome unfehlbar immer wieder zu den gleichen Ergebnissen
führt. Jener Patient leidet an einer (bewußten oder unbewußten) Impotenz-
angst, einer Angst, die sich immer als Furcht vor der Kastration als Strafe
für inzestuöse Wünsche ableitet. Da wir allen Grund zur Annahme haben,
daß diese Wünsche die Hauptquelle aller Angst- und Schuldgefühle sind
und daß Furcht und Abscheu vor ihnen im Primitiven noch stärker vor-
handen waren, so ist es nicht erstaunlich, daß die Suche nach magischen
Objekten, deren phallische oder samenähnliche Attribute diesen angstvollen
Vorstellungen entgegenwirken könnten, in der Geschichte des Menschen-
geschlechts eine so ungeheure Rolle gespielt haben.
Die dritte und vielleicht wichtigste Ergänzung zur Theorie der Selbst-
erhaltung, die ich vorschlagen möchte, betrifft die Herstellung eines besseren
Gleichgewichts zwischen den das Leben und den Tod betreffenden Vor-
stellungen. Es scheint mir, daß diese Theorie auf eine etwas morbide Über-
schätzung der Rolle der Todesfurcht gegründet ist, wobei ich natürlich die
Bedeutung dieser Vorstellungen nicht anzweifeln will. Die Motive, mit
denen wir uns beschäftigt haben, beziehen sich ebenso auf die positive
Seite des Lebens wie auf diese negative. Der Wunsch nach unbegrenzter
männlicher Kraft spielt eine größere Rolle als der Wunsch nach unend-
licher Lebensdauer, da die letztere ja dem primitiven Seelenleben oft, dem
unbewußten3 immer als selbstverständlich erscheint, während die Erfahrung
ı) Abraham, op. eit.
2) Rank: Völkerpsychologische Parallelen zu den infantilen Sexualtheorien. Ent-
halten in „Psy choanalytische Beiträge zur Mythenforschung“, 1919.
3) Die Ewigkeit ist eigentlich eine negative Vorstellung und bedeutet nur die
Z,eitlosigkeit, die so charakteristisch für das unbewußte Denken ist und daher auch
für das pränatale Dasein.
#
Psychoanalyse und Anthropologie En 157
fortwährend zeigt, daß der Leistungsfähigkeit und der Ausübung der an
schlechtsfunktionen Grenzen gesetzt sind. Klinisch bedeuten sowohl die
Impotenzangst wie die Todesangst das Vorhandensein von Kastrations-
befürchtungen in Zusammenhang mit inzestuösen Wünschen; der von
ihnen nicht Geplagte hat die Angst vor dem Inzest in sich überwunden.‘
Die beiden Arten, wie die Wiedervereinigung mit der Mutter zustande
kommen kann, für einen Teil oder das Ganze (Penis .oder ganzer Körper)
werden jede von den ihnen zugehörigen schreckhaften Vorstellungen be-
gleitet: die erste von der Angst vor der Impotenz, d. h. der Kastration,
die zweite von der Angst auf dem Wege über den Tod zum Paradies noch
einmal den schrecklichen Geburtsweg durch den Scheidenkanal passieren
zu müssen. Das Erstaunliche ist, daß die beiden Wünsche im Unbewußten
ebenso einander gleichgesetzt werden wie die beiden Schrecken. Trotzdem
sind diese beiden Wünsche — oder sollen wir sie wie das Unbewußte in
einen zusammenfassen? — die oberste Triebkraft unseres Lebens, dessen
letztes Ziel in ihrer Erfüllung liegt.
Die nächste Annäherung an die Befriedigung dieses Urwunsches wird
in der glücklichen geschlechtlichen Vereinigung mit einem geliebten Objekt
erreicht, was die Bedeutung dieses Aktes als Lebensbejahung und Verleug-
nung der Kastrations- und Todesängste erklärt. Das gilt aber nur insoweit,
als der primäre Wunsch — ganz in den Mutterleib zurückzukehren —
gegen die unvollkommene Form der Vereinigung eingetauscht wird, wie sie
der Koitus darstellt und insoweit das primäre Liebesobjekt (die Mutter)
für ein erlaubtes und zugängliches eingetauscht werden kann. Es scheint,
daß keiner dieser beiden Austausche je vollkommen gelingt — wenig-
stens soweit das Unbewußte in Betracht kommt — so daß der Mensch
zur unvollkommenen Befriedigung seiner tiefsten Wünsche verurteilt ist.
Daher sein rastloses und unersättliches Streben nach anderem Ersatz für
seinen Herzenswunsch. Daher die erstaunlichen Wanderungen und For-
schungen der alten Ägypter, von denen uns die modernen Ethnologen
erzählen. Es muß sich doch irgendwo eine wunderbare Insel?® der Seligen
mit schönen Mädchen, goldenen’ Früchten und einem „Jungbrunnen“ finden.
ı) Zum Beispiel durch die Umwandlung des Sexualwunsches und durch dessen
Übertragung auf eine andere Frau als die Mutter, mit der er den Wunsch vollständig
befriedigt.
2) Für den eigentümlichen Mutterleibsymbolismus dieses, vgl. das Kapitel über
„The Island of Ireland“ enthalten in meinem „Essays in Applied Psycho-Analysis“, 1925,
Ich hoffe, in einem zukünftigen Vortrag das interessante „El Dorado“-Thema zu
behandeln, welches, wie Perry gezeigt hat, so eng damit verknüpft ist.
158 Dr. Ernest Jones: Psychoanalyse und Anthropologie
Aber auch den Kräften des Menschen zur Erforschung der Außenwelt sind
Grenzen gesetzt, und er ist genötigt, sich schon nach wenigen Stunden
immer wieder in die imaginäre Wiederherstellung der pränatalen Existenz
zu flüchten, als die uns die Psychoanalyse den Schlaf kennen gelehrt hat.
Und wenn der Mensch auch im Angesichte des Todes angstvoll vor dem
Gedanken an die schmerzvolle Wiedergeburt zurückschreckt, die das Sterben
für sein unbewußtes Denken bedeutet, so kann er sich doch in seinem
tiefsten Innern nicht der Hoffnung verschließen, daß er nach bestandenem
Endkampf trotz aller seiner Enttäuschungen schließlich in die langersehnten
friedlichen Gefilde eingehen und wieder an der verlorenen Seligkeit des
Nirwana teilhaben wird.
ı) Hier ist nebenbei gesagt die Lösung des Problems, das Perry angeregt hat —
ob die zusammengekauerte Stellung, in welcher man die Körper in Höhlen beisetzt,
in Beziehung stehen soll mit der Stellung während des Schlafes oder während des
intrauterinen Lebens. Die Antwort ist — sie steht in Beziehung zu beiden, denn die
beiden sind psychologisch dasselbe.
Die Sedna-Sage
Von Dr. Geza Röheim
I. Das Jahresfest der Eskimo
Hall beschreibt eine Festlichkeit der Nugumiut, welche ungefähr zur
Weihnachtszeit stattfinden soll. Die Leute versammeln sich im großen
Winterhaus und die Schamanen beten um ein fruchtbares Jahr. Am nächsten
"Tag wird ein Festessen im Freien veranstaltet; jeder verzehrt schweigend
seinen Teil und wünscht sich verschiedene gute Dinge, die anscheinend
von Sedna gewährt werden sollen. Dann folgt ein zeremonielles Trinken;
jeder, der die Schale leert, gibt dabei Ort und Zeit seiner Geburt ın feier-
licher Weise an. Dann werfen sie sich gegenseitig Geschenke zu, im Glauben,
daß ihre Freigebigkeit bei dieser Gelegenheit durch entsprechende Gaben
von Sedna, der Göttin der Meerestiefe, gelohnt werden wird. Bald darauf
folgt das Neujahrsfest. Zwei Männer (einer als Frau verkleidet) besuchen
die einzelnen Hütten und löschen das Feuer aus, welches jedoch von ihnen
angemacht wird. „Neues Feuer, neues Licht“, damit soll die Sonne für
das nächste Jahr auf magischem Wege erneuert werden."
Da sie ihr Jahr mit dem Wintersolstitium beginnen,?” kann der Neu-
jahrscharakter dieser Sedna-Feier nicht zweifelhaft sein. Gewöhnlich gilt der
Herbst als Zeitpunkt der Sedna-Feier und des Jahresanfangs. Darauf deuten
schon die Orakel, die sich um das Fest gruppieren und sich auf das Fang-
glück des kommenden Jahres beziehen. Die Angakut (Schamanen) begeben
sich auf die Reise zu Sedna, der Mutter der Seetiere, um von ihr das
Schicksal des kommenden Jahres zu erfahren. Dann werden sie von Sedna
ı) F. Hall: Life with the Esquimaux. 1865, 528. Vgl. die Julopfer der Sagazeit:
...ytiäll ars ok fridar.“ Maurer: Die Bekehrung des norwegischen Stammes zum
Christentume. ı856, I, 289, 292; II, 233, 243-
2) D. Cranz: Historie von Grönland. 1870, III, 295..
Te
ı6o Dr. Geza Röheim
wegen ihrer Sünden (Übertretungen der Tabus) im vergangenen Jahre
gerügt, es wird ihnen aber zugleich gute Gesundheit und reiche Beute in
Aussicht gestellt, wenn sie sich künftighin bessern. Sie verspricht den
Leuten durch den Mund der Angakut, daß sie bald zu Besuch kommen
werde. Diese sind mit der Harpune in Bereitschaft, um Sedna wie eine
Seehündin zu fangen. Sie erscheint auch, gleitet aber wieder zurück in
die Meerestiefe. Die Leute versuchen ihre Ankunft durch Frauenaustausch
zu beschleunigen. Nun fährt die Seele des Angakut hinunter zu Sedna und
sticht sie mit einem großen Messer. Wenn er aus seinem Trancezustand
erwacht und sein Messer mit Blut bedeckt ist, wird dies als günstiges
Zeichen betrachtet.
Im kommenden Jahr wird es genug zu essen geben, denn Sedna ist
den Menschen freundlich gesinnt, wenn es ihnen gelungen ist, sie zu
schneiden. Die Eskimo können freilich diese merkwürdige Lust, die Sedna
das Geschnittenwerden bereitet, nicht recht erklären: sie sagen nur, die
Göttin fühle sich danach bedeutend wohler und es sei dasselbe, wie wenn
man einer Durstenden Wasser reiche.” Diese Angaben beziehen sich auf
die Einwohner des Baffinlandes und der Hudsonbai; es ist dem hinzuzufügen,
daß genau dieselbe Zeremonie bei den Zentralstämmen beobachtet wird,
jedoch nicht mit dem Zweck, um Sedna heranzulocken, sondern um sie
zu vertreiben. Am Herbstfest erscheinen die Totengeister angeführt von
Sedna, der Herrin der Unterwelt, und ihrem Vater, der über die toten
Inuit herrscht. Den Schamanen liegt es ob, die Geister zu verjagen und
die Sedna zu vertreiben. Auf dem Boden der Hütte wird ein Seehundsloch
gemacht. Zwei Schamanen warten nun mit der Seehundsharpune, bis die
Sedna erscheint. Wenn sie dann kommt, wird sie verwundet und kehrt in
die Unterwelt zurück. Nachdem Sedna und die bösen Geister verjagt worden
sind, veranstaltet jung und alt ein großes Fest. Sie müssen jedoch alle
auf der Hut sein und die Schutzamulette auf den Kapuzen tragen, denn
alle fürchten sich vor der Wut der verwundeten Sedna. Diese Amulette
sind aus den ersten Kinderkleidern hergestellt.” Von Kapitän Much erfahren
wir weitere wichtige Einzelheiten: Obwohl die Sedna hier nicht vertrieben
sondern herangelockt wurde, wird sie an dem Tage nach der Schneide-
zeremonie doch genau wie sonst gefürchtet. Jeder trägt ein Amulett aus
der Haut des Tieres hergestellt, welche die Mutter benützte. um den
ı) F. Boas: The Eskimo of Baffin Land and Hudson Bay, Bull. Am. Mus. Nat.
Hist. XV. 1901, 139.
2) F. Boas: The Central. Eskimo. VI. Annual Report. 604.
a ——
Die Sedna-Sage Ar
Betreffenden nach der Geburt zu reinigen. Diese Tierhaut schützt vor
Krankheit und sie glauben auch, daß sie dadurch „neu gemacht“ werden.
Nun laufen sie um die Hütten „Hoo, hoo“ schreiend, bis sie irgend eine
Kleinigkeit geschenkt erhalten. Hierauf folgt das Strickziehen. Die im
Winter Geborenen ziehen auf der Wasserseite, die Sommerleute auf der
Landseite. Siegt der Winter, dann gibt es genug zu essen, siegt jedoch der
Sommer, dann wird es ihnen an manchem mangeln.” Bei den Zentral-
stämmen findet dieses Strickziehen auch statt; hier heißt es jedoch, daß
der Sieg des Sommers schönes Wetter für den kommenden Winter bedeutet.
Jetzt folgt eine höchst merkwürdige Zeremonie. Jeder bringt etwas Wasser
und sie gießen es alle in eine Wanne. Nun trinken sie der Reihe nach
vom Ältesten bis zum Jüngsten und dabei erklärt jeder in feierlicher Weise
Ort und Jahreszeit seiner Geburt. Sie wünschen ruhiges Wetter, Seelen-
ruhe und langes Leben.” Dann kommen die Quailertetang, die Masken-
träger. Diese stellen Männer und Weiber einander gegenüber in zwei
Reihen auf; sie gruppieren das Volk paarweise, indem sie je einen Mann
mit einer Frau paaren. Diese laufen nun, von den Maskenträgern scheinbar
verfolgt, entweder ins Männerhaus oder in die Hütte der Frau, wo sie
eine Nacht und einen Tag wie Eheleute verbringen.® Dann zaubern bei
den Zentralstämmen die Maskenträger gutes Wetter. Schließlich vereinigen
sich die Männer, um die Maskenträger (zwei Riesengestalten) anzugreifen.
Es gelingt ihnen auch, diese zu töten. Bald erwachen sie jedoch wieder
zum Leben, erhalten von den Männern Wasser und werden über die Zukunft
befragt.* Diese Quailertetang stellt man sich als Dämonen vor, die in ihrem
eigenen Land wohnen und die Menschen bloß anläßlich der Herbstfeste
besuchen. Bei den Akudnirmiut an dem Westufer der Hudsonbai nennt
man die herbstlichen Maskenträger mirgqussang und sie erscheinen als
Mann und Frau. Sie versuchen mit zusammengebundenen Füßen in die
Hütten einzudringen, werden aber daran von den Inuit durch vorgespannte
Seehundsriemen gehindert. Stolpern sie über diese Riemen, so bekommen
sie wie oben die Quailertetang eine Tracht Prügel, gelingt ihnen aber der
Einbruch, dann löschen sie das Feuer aus.® Die Nugumiut (Frobisherbai)
haben drei Maskendämonen, genannt Ekko, Ekkotow und Noonagekshown.
Mit hüpfendem Schritt kommen sie und bedrohen die Leute mit ihren
1) F. Boas: Baffin Land 140, 141. R |
2) F. Boas: Baffin Land ı41; The Central Eskimo 6o5.
3) F. Boas: Baffin Land 141; The Central Eskimo 6os,.
4) F. Boas: The Central Eskimo 6o;, bob.
5) F. Boas: The Central Eskimo 608.
162 | = Dr. Geza Röheim
langen Spitzhüten. Der Noonagekshown erscheint im Frühling und im
Herbst: er bringt gutes Wetter, reichliche Jagdbeute und verteilt die Frauen
unter den Männern.! Bei den Akuliaq (Hudson Strait, Nordufer) erscheinen
die Maskendämonen wieder unter dem Namen Ekko als Mann und Frau.
Der Mann hat eine hornartige Kappe, ein hervorstehendes, konisches Mund-
stück und einen langen Penis. Die Masken erscheinen, sprechen kein Wort,
doch geben sie durch ihr Stöhnen den Leuten zu verstehen, daß jemand
ein Verbot übertreten hat. Sie schreiten unter den versammelten Leuten
rücklings einher, ergreifen die Tabubrecher, die nun herausgeschleppt und
zur Beichte gezwungen werden.”
Die Herbstfeier der Eskimo müssen wir trotz der zeitlichen Verschiebung
vom Gesichtspunkt der europäischen und sonstigen Frühjahrsbräuche aus
zu verstehen suchen. Ebenso wie in unseren Frühjahrsriten, finden wir
auch hier den Kampf des Sommers gegen den Winter,5 die Sitte der Neu-
verteilung der Weiber* und das Sündenbockjagen.5 An der Nordspitze von
Alaska wurde Tuna (wahrscheinlich dasselbe wie tungag — Totengeist) bei
dem Neuerscheinen der Sonne nach langer Winternacht vertrieben.® Mög-
licherweise beruht daher auch der Bericht von Kumlien, der von einer
Vertreibung der bösen Geister im Vorfrühjahr spricht, nicht auf einem
Mißverständnis, wie F. Boas es annimmt. Bevor sie auf die Rehjagd gehen,
muß das „böse Reh“ ausgetrieben werden. Die Zeremonie besteht in einer
Jagd auf ein eingebildetes Reh, welches zu Tode gehetzt wird. Diejenigen,
denen es gelingt, dem bösen Reh einen Stoß zu geben, besonders aber
derjenige, der ihm den Todesstoß gibt, werden viel Glück auf der Reh-
Jagd haben, da das böse Reh nicht da ist, um ihre Pfeile abzuwenden.?
»
ı) F. Boas: Baffin Land ı41, 142.
2) F. Boas: Baffin Land 491.
3) P. Sartori: Sitte und Brauch. 1914, III, 5, 7, ı53, 81, 120, 124, 135, 161, 179,
195, 202, 254, 271. J. G. Frazer: The Dying God. ıgıı, 254 bis 266. Hoffmann-
Krayer: Feste und Bräuche des Schweizervolkes. 1913, 139. A. Dietrich: Kleine
Schriften. ıg11, 324. Sommertag.
4) J. G. Frazer: The Magic Art and the Evolution of Kings. ıg11, II, 64. Sartori:
l. c. 104, 109, 183, 229. Mannhardt: Wald- und Feldkulte. I, 1904, 443 bis 492.
5) J. G. Frazer: The Scapegoat. ı913, 224 bis 228. Mannhardt: |. c. 257.
P. Drechsler: Sitte, Brauch und Volksglauben in Schlesien. 1903, I, 57-
6) J. G. Frazer: The Scapegoat ı24. (Report of the International Polar Expe-
dition to point. 1885, 42.) Nach anderen Quellen scheint es sich doch nicht um einen
Geist, sondern um das ganze Heer der Seelen zu handeln. J, Murdoch: Ethnolo-
gical Results of the Point Barrow Expedition IX. Report 451.
7) F. Boas: The Central Eskimo 607. L. Kumlien: Contributions to the Natural
History of Artic America. 1879, 607.
Die Sedna-Sage ER 2 ie
Nun wollen wir auch zeigen, daß das Vertreiben der Sedna nicht bloß ein
Exorzismus, sondern auch eine Sündenbockzeremonie' im engeren Sinne
ist, da damit die Idee des Loswerdens von der Sünde einhergeht. Darauf
deutet schon die Sitte der Sündenbeichte, weiter führt uns aber die eigen-
tümliche Idee, wonach der Zauberer von der Sedna gewisse Anhängsel ab-
schneidet. Was diese Anhängsel sind, wird nicht gesagt, doch meint F. Boas,
es könnten wohl die Sünden der Leute sein.” Die Analogie, auf die er
sich bei dieser Konjunktur stützt, ist der Fall des Tupilak. Nach einem
Todesfall bleibt die Seele drei Tage lang am Körper haften. Werden während
dieser Trauerperiode die Tabus nicht beobachtet, so heften sich die mate-
rialisierten Tabubrüche, beziehungsweise die Übergriffe der Leute an diese
Seele. Diese Sünden quälen die Seele des Toten. Die Seele geht im Dorf
umher und trachtet, sich der Last zu entledigen, indem sie nun ihrerseits
diejenigen quält, durch deren Sünden ihr diese Qual bereitet wurde.
Schweres Schneegestöber, Krankheit und Tod bilden das Gefolge einer
solchen sündenbelasteten Seele. Das ist der zupilak, der wie Sedna im
Herbst in den Dörfern erscheint. Es ist nun die Aufgabe der Schamanen,
diese Tupilak in normale Seelen zurückzuverwandeln. Dies geschieht, indem
die Sünden von den Tupilak abgeschnitten werden. Triumphierend zeigen
sie, genau wie bei Sedna, ihre blutigen Messer auf.?
Zunächst fällt auf, daß wir hier Elemente des Pubertätsrituals in Ver-
quickung mit dem Sündenbockjagen finden. Als solches ist vor allem
schon das Auftreten der Maskendämonen zu verstehen; dann haben wir
noch andere Züge, die auf Geburt und Wiedergeburt hindeuten. Man trägt
ja Amulette, die aus den Häuten von Tieren hergestellt werden, denen in
dem Geburtsritus eine besondere Bedeutung zukam, und es heißt, daß man
durch diese Amulette „neu gemacht“ werde. Wenn man versucht, aus den
Sagen und Märchen die Rolle dieser Amulette in der Vorstellungswelt der
Eskimo zu verstehen, so bemerkt man bald, daß man es hier eigentlich
mit den persönlichen Totems oder Manitus der Nordamerikaner zu tun hat.
Im Besitze eines Bärenhautamuletts kann man sich in einen Bären ver-
wandeln.* Ebenso verleiht ein Vogel- oder Seehundsamulett einem die Gabe,
die Gestalt dieser Tiere anzunehmen. Mit einem Lachsamulett gleitet man
ı) Diese Arbeit stellt nämlich ein Kapitel aus einer Abhandlung über das Thema
„Sündenbock“ dar.
2) F. Boas: Baffin Land 139.
3) F. Boas: Baffin Land ı31. |
4) H. Rink: Tales and Traditions of the Eskimo. 1875, 168.
#5) H. Rink: lc. 22.
ee
164 Dr. Geza Röheim
aus den Händen seiner Feinde wie der Lachs.” Auch sonst teilt der Eskimo
die Eigenschaften des Tieres, aus dessen Haut sein Amulett gemacht ist.?
Genau so verfertigen die nordamerikanischen Indianer aus der abgezogenen
Haut ihrer persönlichen Totemtiere ihre Amulette, welche den rapport
mit dem Tier gewährleisten und die Eigenschaften des Tieres auf den
Menschen übertragen sollen.
Nun glaube ich aber nachgewiesen zu haben, daß das Manitu-Suchen
eigentlich der Pubertätsritus der nordamerikanischen Indianer ist.* Jetzt
verstehen wir wohl, warum man durch das Tragen dieser Amulette „neu
gemacht“ wird; ist ja die Idee des Todes und der Wiedergeburt das eigent-
liche Kennzeichen der Pubertätsriten. Hierauf deutet auch die eigentüm-
liche Zeremonie mit dem Wassertrinken, Nennen des Geburtsortes und
Wünsche um gutes Wetter; man ist versucht, dabei an eine Wiederholung
der Geburt, des ersten Saugens und der Periode der Gedankenallmacht zu
denken. Das Töten und Wiederaufleben der Maskenträger entspricht dem
Töten und der Wiederbelebung der Jünglinge, genau dasselbe findet sich
in den Karnevalsbräuchen in Europa.5 Dazu kommt noch ein drittes: die
Überbleibsel eines periodisch wiederkehrenden Fruchtbarkeitskultes.
Als solche müssen wir vor allem die Sitte der festlichen Zeitehe ansehen.
Auch die Maskenträger, unter deren Patronat übrigens diese Zeitehe steht,
sind deutlich als phallische Dämonen zu erkennen, vor allem durch den
langen Penis, den sie tragen, dann aber auch durch die verschobenen
Phalloi, d.h. das hervortretende Mundstück der Maske und den Spitzhüten.
Endlich fügt sich auch der Ritus der Erneuerung des Feuers als Erneue-
rung der Libido ungezwungen in dieses Schema ein. "
II, Die Mutter der Seetiere
Der Schlüssel. zur Deutung dieses Festes liegt aber in der Gestalt der
großen Göttin Sedna. Die Zentralstämme (Ogomiut und Akudnirmiut) er-
zählen von einem Vater, der einsam mit seiner Tochter Sedna lebte. Sie
ı) H. Rink: 1. c. ı82.
2) H. Rink: 1. c. 445, 194 bis 197, 429. Nelson: The Eskimo about Bering Strait.
1899, 429. Vgl. F. Boas: The Eskimo of Baffın Land etc. ı51. Nelson: 456,
457. H. Rink: 52, 53.
3) J. Teit: The Thompson Indians of Brit. Col. Jesup. N. P.E. 1900, 354, 355;
The Shuswap. ibid. 1909, 605 bis 607. J. G. Frazer: T. and E. III, 5385, 386.
4) Röheim: Das Selbst. Imago VI, 492.
5) Mannhardt: W. und F.K.I, 358. Rethei-Prikkel: A magyarsäg täncai. 1924,
200. Gl. A. Miles: Christmas in Ritual and Tradition. ıg12, 500. W. Ridgeway:
The Origin of Tragedy. ıgıo, ı6 bis 24.
Die Sedna-Sage 165
schlägt alle Bewerber aus, bis im Frühjahr der Fulmar (ein Wasservogel),
ihr in verlockender Weise das Land der Vögel schildert. Da sie jedoch von
dem Reich ihres Gemahls enttäuscht ist, sehnt sie sich nach ihrem Vater,
der dann auch im nächsten Frühling erscheint und den Vogel tötet. Die
Vögel setzen den Fliehenden nach, ihr Boot droht im Sturm umzukippen,
da beschließt der Vater, Sedna den Vögeln auszuliefern und wirft sie über
Bord. Sie klammert sich an das Fahrzeug; ihr Vater schneidet ihr das
erste Glied vom Finger ab; da entstehen die Walfische. Da sie sich noch
immer anklammert, wird auch das zweite Glied abgeschnitten; daraus
werden die Seehunde (Phoca barbata). Nun glauben die Vögel, Sedna sei
umgekommen und der Sturm legt sich. Sedna wird von ihrem Vater ins
Boot zurückgenommen. Sie schwört aber Rache und befiehlt ihren Hunden,
dem schlafenden Vater Hände und Füße abzufressen. Der Vater verflucht
sich selbst, die Tochter und ihre Hunde; die Erde öffnet sich unter ihnen,
um sie zu verschlingen. Seither leben sie alle in der Unterwelt; dort ist
Sedna Herrscherin." Eine zweite Variante wurde, auch bei den Zentral-
stämmen, in Gesangform aufgezeichnet; ihr fehlt die Hundeepisode (es
wird nur angedeutet, daß Sedna mit einem Hundefell bedeckt wird und
dann in der Flut verschwindet). Aus den Fingergliedern entstehen hier
Walfische, Seehunde und eine zweite Seehundsart. Der Vater sticht Sedna
das eine Auge aus und tötet sie. Außer dem Vater ist auch der Bruder
an der Rettungsexpedition beteiligt.” In der Ungavagegend (Hudsonbai)
ist die Heldin einfach eine arme Frau, die man ins Wasser wirft, weil
man sie nicht füttern will. Aus den Fingern werden Seehunde, Walrosse,
Walfische und weiße Bären; und der weiße Bär will die Männer töten,
aus Rache für die abgeschnittenen Finger.3 Das Essen spielt auch in der
Smith-Sound-Variante eine Rolle. Ein Mädchen fängt an, ihre Eltern auf-
zufressen. Der Vater macht mit ihr eine Bootfahrt, dabei schneidet er ihr
die Finger ab, weil sie nicht "heiraten wollte. Aus den Fingern entstehen
die verschiedenen Seehundsarten außer der Phoca barbata,* (während andere
Varianten gerade diese Art hervorheben). In der Variante von Cumberland
Sound heißt die Uinigumissuitung, d. h. „die, die keinen Gatten haben
ı) F. Boas: The Central Eskimo 1. c. 584.
2) Rink-Boas: Eskimo Tales and Songs. Journ. Am. F. L. IL, ı27. F. Boas:
The Central Eskimo 585.
3) L. M. Turner: Ethnology of the Ungava District. XI. Report. 262, 263.
4) Kroeber: Tales of the Smith Sound Eskimo Journ. Am. F. L. XI, ı7g. In
der Alaskavariante kommt auch der Lachs unter den so entstandenen Tieren vor
(Murdoch: Legendary Fragments from the Point Barrow I. c.).
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66 r , Dr. Geza Röheim
will“. Ein weiß und rot betupfter Stein verwandelte sich in einen
Hund. Von diesem hatte sie viele Kinder, manche von denen wurden
Eskimo, andere Europäer und wieder andere wurden Inuarudligat, Ijiqut
und Adlet. Die Kinder machten zuviel Lärm, so daß ihr Großvater die
ganze Familie auf einer Insel aussetzte. Täglich kam der Hund zu ihnen
und brachte ihnen Fleisch. In der Abwesenheit des Hundes kommt ein
zweiter Bewerber, dem sie auch willig über die Fluten folgt. Der Vater
erscheint als Retter, wird aber von dem zweiten Gatten, dem Sturmvogel,
verfolgt. Da sie sich weigert, ihm wenigstens ihre Hände zu zeigen, ent-
steht ein Sturm. In seiner Angst will der Vater das Mädchen opfern; Ab-
schneiden der Finger: Walfisch, Phoca barbata, Seehund. Ihr linkes Auge
wird vom Vater ausgeschlagen. Nun tötet der Vater den Hundegemahl, indem
er ihm Steine statt Fleisch um den Hals bindet. Alle drei (Sedna, Vater,
Hund) leben unter der Meeresoberfläche. Sedna „has but one eye and she
cannot walk but slides along, one leg bent under, the other stretched out.“ *
Schon vom rein stilistisch-literarischem Standpunkt ist es augenfällig,
daß wir es mit einer Erzählung zu tun haben, die aus zwei Sagen ver-
schiedenen Ursprungs zusammengeleimt ist. Die eine Sage handelt von
der Frau, die einen Hund zum Gatten hat, und ist eigentlich, wie
wir noch sehen werden, eine kontinentale Sagenbildung. Die zweite
Erzählung behandelt den Ursprung der großen Göttin Sedna, ihre
Ehe mit einem Seevogel; es ist dies eine echte Küstensage, der Mythos
eines Volkes, dem das Meer alles bietet und bedeutet. ?
Wir wollen nun jene Eskimovarianten von der Hundeehe heranziehen,
denen das Motiv des Vogelgatten abgeht. | |
Savigong („Messer-Mann“) lebte mit seiner 'T'ochter („Mädchen“, auch
genannt: „die keinen Mann haben will“). Sie verliebt sich in den weiß
und rot betupften Hund Ijigang („Mächtiges Auge“, vgl. den weißen und
roten Stein oben). Die Kinder (fünf Adlet; fünf Hunde) sind sehr ge-
fräßig: Aussetzung, Insel. Steine anstatt Fleisch: Rache der Frau; die
jungen Hunde zerfressen dem Großvater Hände und Füße. Als Vergeltung
Abschneiden der Finger und Ursprung der Seetiere, Ursprung der Adlet und
ı) F. Boas: Baffin Land ı63 bis 165. Siehe auch F. Boas: Die religiösen Vor-
stellungen der zentralen Eskimo. Petermanns Mitteilungen, 1887; 302. F,Boas: The
Eskimo. Trans. Roy. Soc. Canada, 1887. Section II, 35.
2) Die Mother of Walrus der Chukchen ist natürlich die Sedna der Eskimo.
(Motiv der abgeschnittenen Finger auch hier.) Sie sind sich des Gegensatzes zwischen
kontinentaler und Küstenreligion voll bewußt, W, Bogoras: The Chukchee. J.N.P,E.
VII, 1907, zı15 bis 318.
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Die Sedna-Sage Bi
der Europäer." Eine Variante von der Westküste der Hudsonbai enthält wieder
das Motiv von der Farbe des Hundes; er hat einen weißen Bauch und es wird
aus ihm ein Mann im weißen Pelz. Nachdem der Großvater den Vater (den
Hund) getötet hat, nimmt er seine Stelle im Boote ein und bringt seiner
Tochter täglich das Fleisch. Die jungen Hunde lecken erst das Blut ihres
Vaters am Kajak und dann töten sie ihren Großvater; Ursprung der Indianer
und Europäer. Die Frau ist Nuliayogq, sie lebt mit dem Vater und dem Hund
unter dem Meer.” In einer Cumberland-Sound-Variante trägt der Hundegatte
Hosen von rotem Hundsfell. Es war der Hund ihres Vaters. Aussetzung; Steine
statt Fleisch. Der ertrunkene Hund wird von Sedna in ihrem Haus aufge-
nommen. (Sedna ist also nicht die Heldin!) Blutlecken und Auffressen des
Großvaters. Ursprung der verschiedenen Rassen, auch der Eskimo.5 Die Smith-
Sound-Variante verdient noch erwähnt zu werden; hier fressen die jungen
Hunde nicht ihren Großvater, sondern den alten Hund, ihren eigenen Vater.*
Die Sage von der Hundeehe findet sich auch bei Indianerstämmen von
den unmittelbaren Nachbarn der Eskimo im Norden bis zu den Cheyenne
und Arapaho im Süden. Vergleichen wir nun dieses Material mit dem
Inhalt der Eskimosagen, so stellt sich erstens der historische Zusammen-
hang, dann aber auch der unbewußte Sinn der Hundeehesagen heraus.
Wir sind berechtigt, auf einen historischen Zusammenhang zu schließen,
wenn sich die Übereinstimmung nicht nur auf den eigentlichen Inhalt,
sondern auch auf nebensächliche Züge erstreckt. In der Cheyenne-Variante
(auch den Arapaho bekannt) wird der Unbekannte durch die rote Farbe,
die bei Tageslicht an seinem weißen Mantel sichtbar wird,5 als des Vaters
Hund erkannt, ähnlich bei den Thompson-River-Indianern.° In der Fraser-
_ River-Variante ist es ein schwarzer Hund; das Mädchen beschmiert ihre
Hände mit Fett und roter Farbe.” Oder in weiterer Abwandlung: das
Mädchen beschmiert sich den Bauch mit Fett, um den Hund zu verführen.®
ı) Boas and Rink: Journ. Am. F. L. II, ı25. Cumberland Sound.
2) F. Boas: Baffin Land 327, 328.
z) F. Boas: ıbid. 165 bıs 167. .
4) Kroeber: Tales of the Smith Sound Eskimo. Journ. Am. F. L. XI, 168. (Siehe
auch Nansen: Eskimoleben 239. Rasmussen: Neue Menschen ı25. Rink: Eskimo
Tribes ı7; Tales 471. Journ. Am. F. L. H, ı24. W. Thalbitzer: The Ammassalik
Eskimo. Meddelelser om Gronland. XXXIX, 270. G. Holm and J. Petersen: Legends
and Tales from Angmagsalik.)
5) A. L. Kroeber: Cheyenne Tales. Journ. Am. F. L. 1900, XIII, 181.
6) J. Teit: Traditions of the Thompson River Indians of British Columbia, 1808, 62.
7) F. Boas: Indianische Sagen von der Nordpazifischen Küste Amerikas, 1895, 27.
8\ J. Teit: Traditions of the Lillooet Indians. Journ. Am. F. L. 1912, 316.
12”
168 - | DE; Geza Roheim
Die Erkennungsfarbe kann auch weiß sein;' das Ursprüngliche dürfte aber
die rote Farbe sein, mit der sich das Mädchen die Hände beschmiert und
die dann am Morgen an dem Hund ihres Vaters sichtbar wird.” In dieser
Form wird die Sage wohl die Entstehung der Menstruation aus dem
Geschlechtsverkehr mit dem Hund erklärt haben, der nächtliche
Besucher ist dann vom Blut rot befleckt. „Ein Häuptling, Namens Alk
hatte einen Hund mit häßlichen Triefaugen. Einst sprach die Tochter
Alks, welche gerade menstruierte und deshalb ihr Zimmer nicht verlassen
durfte: Lasset den Hund nicht in mein Zimmer kommen, denn ich mag.
ihn nicht sehen, während ich esse.“ Als er sich doch hereinschlich, bestrich
sie unbemerkt seinen Kopf und Rücken mit roter Farbe.5 Wenn. wir aber
die Parallelen dieses Motivs außerhalb des Kreises der Hundeehesagen heran-
ziehen, erfahren wir einerseits, daß die rote (oder schwarze, weiße) Farbe
als Erkennungszeichen in Inzestsagen vorkommt und anderseits, daß gewisse
Züge dieser Inzestsagen den Schluß auf eine Menstruationssage nahe legen.
In einer Sage von den Lower Utamgt ist der nächtliche Besucher, der
durch die rote Farbe erkannt wird, der Bruder; die Sage endet damit, daß
die Geschwister sich zusammen verbrennen.* Dann finden wir dasselbe
Motiv auch in einer ganzen Reihe von nordwestamerikanischen und Eskimo-
sagen, die mit der Sonnen- und Mondverwandlung des Geschwisterehepaares
enden; die Flecken sind die Mondflecken; wahrscheinlich eben darum, weil
‘ sie ursprünglich Menstruationsblut bedeuten.5 Die Sage ist auch in Süd-
amerika verbreitet; hier finden wir auch bei den Arekuna die Angabe, daß die
Farbenflecken am Mond vom Menstruationsblut des Mädchens herstammen.®
ı) L. Farrand: Traditions of the Chilcotin. Jesup. II, 7.
2) J. Teit: Mythology of the Thompson Indians. Jesup. VIII, 354.
3) F. Boas: Indianische Sagen. 263.
4) J. Teit: Mythology of the Thompson Indians. Jesup. VIII, 287; siehe auch
F. Boas: Indianische Sagen. 37. J. Teit: Journ. Am. F. L. 1912, 340.
5) D. Cranz: Historie von Grönland. 1770, III, 295. P. Egede: Nachrichten von
Grönland. 1790, 75. Nansen: Eskimoleben 235. H. Rink: Tales and Traditions 236.
F. Boas: Die religiösen Vorstellungen der zentralen Eskimo. Petermanns Mitteilungen,
1887, z11; Baffin Land ı8g0, 173, 306, 307; The Central Eskimo. Rep. XI, 597, 598.
G. Holm and J. Petersen: Legends and Tales from Angmagsalik. Meddelelser
om Gronland. AXXIX, 1914, 253. Nelson: The Eskimo about Bering Strait. Rep.
AVI, 481, 482. Turner: Ungava. Rep. XI, 264. Kroeber: Journ. Am. F. L. XII,
1899, 179, 180. F, Boas: Sagen 30, 37. Krause: Tlinkit 270. Mooney: Cherokee.
XIX. Re balase Bin Koch-Grünbere: Vom Roroim
P. 250, 257. Ehrenreich: Mythen 37. Koc runberg: a
zum Orinoco 1916, II, Ag, 55: ( Nimuendaju-Unkel: 2. 1914, 351;
ebenda 1915, 5382. D. Piesini: Anthropos. V, 704, 705.
6) Koch-Grünberg: II, 54 55:
Die Sedna-Sage & 16
zu zumn.
Die Berechtigung dazu, diese Sagen zur Deutung der Hundeehegruppe
heranzuziehen, gibt uns die Tatsache, daß sich auch unsere Erzählung
häufig mit einem Geschwisterinzest fortsetzt.” Ist aber der zweite Akt des
Dramas ein Geschwisterinzest, so dürfte erfahrungsgemäß hinter der Symbolik
des ersten ein Vaterinzest zu suchen sein. Es war ja von allem Anfang an
nicht schwer zu erraten; des Vaters Hund ist der Penis des Vaters, und
die Sage ist eine im eigentlichen Sinne des Wortes totemistische.” Diese
Hunde sind die nächsten Verwandten der Hunde der Micmac, die ‘von
Fingergröße sind, jedoch beim Gebrauch riesengroß werden und bedeuten
dasselbe wie der Hammer und die Spähne des Vaters, die ebenso durch
die rote Farbe zu erkennen sind.*
Die Sage handelt also von der Ehe mit dem Vater, benützt aber die
Technik der Spaltung zur leichteren Verhüllung des verdrängten Inhalts.
Der Vater als Geschlechtswesen wird durch seinen Penis (Hund) vertreten,
als moralische Instanz bleibt er aber bestehen und verurteilt den Durchbruch
der libidinösen Urtriebe. Bei den Eskimo wurde dieser Stoff weiter gebildet
und mit dem ureinheimischen Sedna-Mythos verlötet. Laut einigen Indianer-
varianten verläßt der Stamm nach der Sitte, wie sie noch heute besteht,
einfach die Übeltäterin, die dann aber durch die außerordentlichen Fähig-
keiten ihrer Hundesöhne von dem Hungertode gerettet wird. Ihr Reichtum
lockt nun die früher Empörten heran; die Hundesöhne rächen sich, indem
sie die Boote zum Kentern bringen, wobei dann alle ertrinken.° Bei den
Eskimo ist es anders, aber wohl in Anlehnung an diese Stelle erzählt;
Frau samt Hundekindern werden auf einer Insel ausgesetzt und nun von
I) E: Petitot: Traditions indiennes du Canada Nord-Ouest 1887, 306. Krause:
Tlinkit 270.
2) In drei Fällen (F. Boas: l.c. 25, 94 und E. Petitot 306) handelt es sich tat-
sächlich um eine Stammessage.
3) S. T. Rand: Legends of the Micmacs. 13894, 286.
4) F. Boas: l.c. 25, 41.
5) Bei den Koryak schneidet der „Schöpfer“ seinen eigenen Penis ab, verwandelt
das Glied in einen Hund und schickt es seiner Frau. Jochelson: The Koryak Jesup
North Pacific. 1905, ı59. Von einem Menschen, der Inzest begangen hat, sagen die
Dakota, „er ist wie ein Hund, er ist ein Hund“. St. R. Riggs: Dakota Grammar.
1893, 147: #
6) F. Boas: Indianische Sagen 93. 115, 135, 265. Manche Varianten (F. Boas:
Sagen 93, 132. J. Teit: Lillooet. Journ. Am. F. L. 1912, 316) betonen die verschie-
denen Beschäftigungen der Hundekinäer, dem Sagenstil entsprechend ist hier ein
Anlauf zur Erklärung des Ursprungs der Beschäftigungen genommen. Bei den Lillooet
wird dann eine Erklärung der verschiedenen Hautfarben der Indianer daran geknüpft,
wodurch der Übergang zur Schlußformel der Eskimosagen (Ursprung der Indianer,
Europäer, Eskimo) gegeben ist,
170 | Dr. Geza Röheim
dem Vater durch den Hundegatten gefüttert. Da wir wissen, daß sich die
Inselphantasie regelmäßig als Vertreterin der Intrauterinlage erweist, können
wir auch diese Episode verstehen; vor der Geburt wurden die Kinder im
Mutterleib von dem Vater durch seinen Hund (Penis) „gefüttert“ .? Sie
lohnen ihm dies, indem sie ihn auf Anstiften der Mutter zerreißen. Dem
Wortlaut der Sage folgend, müßten wir ja sagen; sie zerreißen ihren Groß-
vater, der ihren Vater getötet hat. Die Retributionsangst, die hier im Spiele
ist, erhält durch eine Umkehrung einen guten Sinn; sie töten ihren Vater,
da er ja auch seinen Vater, d.h. ihren Großvater, getötet hat. Das ist der
Stoff, der in die Sedna-Sage eingedrungen ist; vermutlich durch die An-
ziehung verwandter ubw. Inhalte. Tatsächlich finden wir ihn auch in der
echten Sedna-Sage (Wasservogel) und den Gegensatz zwischen diesem Tier
und dem Vater. Wir werden hier ebenfalls die Umkehrung zu Hilfe nehmen
und sagen, das Tier ist der Vater und im Frühling, der Brunstzeit, wird
das Mädchen durch die jungen Helden der Bruderhorde? (in einer Variante
ist es der Vater und ihr Bruder)3 aus seiner Gewalt gerettet. Was bedeutet
nun das Abschneiden der Finger? Wir werden an der Umkehrung des
Sagentextes festhaltend sagen: nicht der Vater opfert dem Tiergatten, sondern
die zukünftigen Gatten dem Tiervater. Und weiter, das Opfer ist gar kein
Opfer, sondern gerade das entscheidende Durchbrechen der Vaterrechte.,
Aus den abgeschnittenen Fingern entstehen aber die Seetiere, wie in dem
Sedna-Fest handelt es sich demnach in der Sage um das Trauma der
Geburt;* mit dem Geborenwerden „töten“ die Kinder die Mutter, die
ı) Die Erzählung davon, wie die Kinder zuerst geboren wurden (früher wurden
sie im Schnee gefunden), enthält eine schlagende (nachträglich gefundene) Bestätigung
dieser Deutung. Die jetzige Lebensweise und Gewohnheiten der Eskimo gehen auf
Akkolookjo und Omerneeto (als Urelternpaar) zurück. Sie pflegte ihre Schuhe nicht
zuzuschnüren und eines Tages kroch die Seele eines ungeborenen Kindes über die
Schuhschnur (Umkehrung der Reihenfolge; Nabelschnur) der Frau in die Gebär-
mutter. Eines Tages erzählt das Kind den Eltern, wie es vor der Geburt gelebt hat.
„Dort war ich wie in einem kleinen Haus. Jede Nacht, wenn ihr koitiertet, kam ein
Hund herein, erbrach sich, so daß ich Nahrung hatte und wachsen konnte.“ F. Boas:
Baffin Land, 483. In allen Sagen wird das Essen (erst Fleisch, dann Steine) in ein
Paar Stiefel getan; die Rolle der Stiefel in obiger Erzählung macht es unzweifelhaft,
daß das Fleisch in den Schuhen den Penis in der Vagina bedeutet.
2) Der Vater tötet den Vogelgatten und wird von einer Schar des Vogelgeschlechtes
verfolgt. F. Boas: The Central Eskimo 584.
3) F., Boas: The Central Eskimo 555. .
4) Siehe O. Rank: Das Trauma der Geburt. 1924. Die Arbeit über die Sedna-
Sage war schon im Herbst ı923 vollendet, als ich die neuen Bücher von Ferenczi
und Rank las, mußten nur einige Ausdrücke abgeändert werden. Allerdings waren
mir die Anschauungen von Ferenczi aus seinen Vorträgen bekannt.
Die Sedna-Sage 171
m un
im Meer versinkt. Der Sturm, der sich beim Abschneiden der Glieder legt,
hat aber nicht in der Natur, sondern in Mann und Weib getobt und es
ist eigentlich nicht die Frau, die dabei in eine feuchte Umgebung ver-
sinkt, sondern der Finger, d.h. der Penis oder das Kind. Wir greifen nun
endlich auf den Ritus zurück, nachdem wir durch die Analyse der Über-
lieferung ein Stück weit vorwärts gekommen sind. Das Herbstfest der Sedna
wird ja abgehalten, weil ein Mangel an jagdbaren Seetieren herrscht und
die Ursache dieses Mangels darin besteht, daß Sedna, die Mutter der See-
tiere, diese in ihrem Haus, d. h. in ihrem Leib zurückhält. Zu solchem
Tun hat sie guten Grund, sie wird durch die ihr anhaftenden Sünden
der Menschheit gequält, und trachtet, sich auf diese Weise zu rächen. Wir
erfahren auch, was diese Sünden eigentlich sind; die totgeborenen Kinder,
die sich ihr an den Kopf hängen „wie die Schlangen um das Haupt der
Medusa“.: Es ist ganz folgerichtig, wenn eine Gesellschaft, die sich vor
den totgeborenen Kindern mehr wie vor allem anderen ängstigt,” die sonst
auf den Urvater zurückgehenden Moralverbote und Hemmungen von einer
Muttergöttin ableitet. Alle Totgeburten bleiben an der Sedna haften, d.h.
sie ist eine mythische Verdichtung der menschlichen Mütter.* Was tut
nun der Zauberer, um diesem qualvollen Zustand ein Ende zu bereiten?
Durch ein Loch im Boden des Zeltes steigt er hinab in die Meerestiefe,
gefahrvolle Engen passierend gelangt er zu Sedna, schneidet ihr die lästigen
Anhängsel vom Haupt und führt so das Hervorkommenlassen der Seetiere,
d.h. die Geburt herbei.5 Er wiederholt demnach den mythischen Vorgang,
ı) P. Egede: Nachrichten von Grönland. ı790, ız0. H. Rink: Tales and Tradi-
tions 40. Nansen: Eskimoleben 221. F. Boas: Baffin Land ı20, ı30; The Central
Eskimo 586. G. Holm: Ethnological Sketch of the Angmasalik Eskimo. Meddelelser.
XXXIX, 83.
2) „Bringt eine ein totes Kind zur Welt, das irgend einen Fehler oder Gebrechen
hat, so machen die Angekoke es gleich zu einer Mißgeburt und sagen, daß. es
wieder lebendig werden und ihre Seehunde verjagen wird. Wird ein Mädchen alt,
so schreiben sie ihr ein Angiek, d. i. eine unzeitige Geburt zu, welche ein Gespenst
wird, das alle Tiere fliehen.“ P. Egede: ]l.c. 207, vgl. 223.
3) Vgl. O. Rank: Das Trauma der Geburt. S. 87.
4) Die Eskimo von Pondsbai sagten in bezug auf andere Eskimostämme „kein
Wunder, daß sie schlechte Leute sind, sie glauben ja nicht an Sedna.“ F. Boas:
Baffın Land 48. Die Vorstellung der Sedna erscheint an dem Westufer der Hudsonbai
gespalten; eine Schwester ist Urahnin der Menschheit (das ist die Hundegattin), die
andere (die Frau des Vogels) ist Mutter der Seetiere. F. Boas: Baffin Land 490.
5) „In der Tranbütte, die unter ihrer Lampe steht, schwimmen die Seevögel
herum.“ D. Crana: Historie von Grönland. 1770, 264. „Wenn seine Hexerei zu Ende
war, konnten sie im Boden eın Loch sehen.“ „Tornarsuks Ältermutter (Sedna\...
wohnt in einem sehr großen Haus“ (über das Haus als Symbol des Frauenleibes siehe
172 r. Geza Röheim
wobei es keinem Zweifel unterliegt, daß das Loch, die von reißenden
Tieren gehütete Türe, die Vagina und die Meerestiefe die Tiefen des Frucht-
wassers sind. Auf seiner gefahrvollen Reise handelt er ja, wie der Sünden-
bock, als Vertreter der Gemeinschaft und die Natur der Reise wird eben
durch die Handlungen, durch die er unterstützt werden soll, unzweifelhaft-
während der Angekok bei Sedna ist, tauschen die anderen ihre Weiber
aus, d. h. sie vollführen einen sakralen Koitus.! Die Kastrationsangst mani-
festiert sich darin, daß die Sage den Koitus als ein Abschneiden darstellt.
Die Urmutter ist eben die Entjungferte, zum Weib gemachte, Kastrierte,
während der Urvater „der Mann mit dem Messer“, der Kastrator ist. Die
Angst hängt eng mit der Annahme zusammen, daß irgendwo in der Gemeinde
ein totgeborenes Kind vorhanden sei. Wir glauben, das Gefahrvolle an dem
totgeborenen Kind sei eben der Umstand, daß es mit besonderem Nach-
druck auf die sonst latenten Zusammenhänge zwischen Geburt und Tod
hinweist, beziehungsweise die Urangst der Geburt aufleben läßt. Durch die
Projektion der Geburt auf die Seetiere wird das Trauma der Geburt ebenso
erledigt, wie die Angst vor dem Versenken des Penis in die Vagina sich
zur gefahrvollen Reise des Angekoks zur Mutter aller Seetiere verdichtet.
oben die Erzählung von dem Ursprung der Kinder). Der Angekok passiert erst das
Reich der Seelen, dann muß er über einen tiefen Schlund. „Über diesen Schlund
müssen sie, aber es führt kein anderer Weg darüber, als ein großes Rad, das glatt
wie Eis ist und beständig schnell herumgetrieben wird.“ Vielleicht dürfen wir das
Verhältnis umkehren: ein Schlund (die Analöffnung) führt zwischen zwei eisglatten
Kugeln (die beiden Hinterbacken) hinweg; zu einem Kessel (Uterus), in welchem
ständig lebendige Seehunde (Kinder) gekocht werden.“ P. Egede: Nachrichten 104.
Nansen: Eskimoleben 221. F. Boas: Baffin Land 489; The Central Eskimo 585 bis
557. H. Rink: Tales and Traditions 41, 157, 447. Kroeber: Journ. Am. F. L. XI,
ı7ı1. Es verdient erwähnt zu werden, daß auch der Mond die Tiere zurückhält und
dadurch Nahrungsmangel verursacht, was ebenfalls durch eine Angekokreise behoben
wird. Nelson: The Eskimo about Bering Strait. Bureau Am. Ethn. XVIII, 430.
Die Mondreise wird aber auch unternommen, um einer kinderlosen Frau vom Mond
ein Kind zu bringen; „nach dieser beschwerlichen Reise hat aber der Angekok das
Recht, bei der Frau zu schlafen“ (Nansen: 249), wodurch die Gleichung Unter-
weltreise-Koitus aufs glänzendste bestätigt wird. Über Geschlechtsverkehr zwischen
einer Frau und dem Mond siehe Kroeber: Journ. Am. F. L. All, ı80. Über Still-
geburt als (mittelbare) Ursache der Mondreise. W. Thalbitzer: The Ammassalik
Eskimo. Meddelelser om Gronland. XXXIX, 289.
ı) Siehe die Beschreibung des Herbstfestes oben.
2) Bezeichnend für die Kastrationsangst ist es, daß sie es vermeiden, den Namen
der Göttin zu nennen und an Stelle dessen die Symptomhandlung des Abschneidens
ausführen: „When telling of Sedna, Conieossuk and his wife, would clutch the top of the table,
from the side, then letting go the right hand would draw it edgewise over the fingers of the
left; or she would hold both hands while he struck them with the edge of his.“ H. J. Smith:
Notes on Eskimo Traditions. Journ. Am. F. L. VII, 210. Sie hat bloß ein Auge und
Die Sedna-Sage 173
In diesem Zusammenhang müssen Kastrations- und Todesangst als beinahe
gleichwertige Neuauflagen der Geburtsangst betrachtet werden; der Schneide-
ritus im Zusammenhang mit der Sedna ist eine Ergänzung zu Schneide-
verboten gerade dieser Völker nach einem Todesfall.” Der Mangel an See-
tiergeburten wird also als von den Menschen auf die Tiere projiziert
betrachtet und durch einen Tod, beziehungsweise einen Koitus, jedenfalls
aber einer rückläufigen Wiederholung der Geburt behoben.” Wenn wir
hier nun im Sinne Ferenczis an die Phylogenese anknüpfen,? werden wir
kann nicht gehen. Fortbewegen kann sie sich doch, indem sie das eine Bein aus-
streckt und das andere unterschlägt, gleitet sie vorwärts. F. Boas: Baffin Land 119,
163. Tornarsuk (der Vater, Sohn oder Gatte der Sedna), hat nur einen Arm, der sehr
groß ist und scheußlich aussieht. P. Egede: ]l. c. 25, 237. D. Cranz: l. c. 264. Zwei
Zöpfe zu tragen ist die Mode bei den Eskimofrauen; doch Sedna trägt nur einen,
aber einen von übermäßiger Länge. (F. Boas: The Central Eskimo 586.) Der Vater
von Sedna hat, wie sie selbst auch, nur ein Auge (F. Boas: ]. c. 586). Die Einäugig-
keit ist Kastration, als Strafe des Inzests; Übertreten der Verbote wird von Sedna
(Nuliayog) mit Blindheit gestraft (F. Boas: Baffin Land 504). Nuliayoq hat nur ein
Auge; die Sünden der Leute verursachen ihr Augenschmerzen (F, Boas: Baffin
Land 496, 497). Zur Kastrations- und Todesangst: Sednas Vater, Anguta der Ein-
äugige, packt die Toten (F. Boas: The Central Eskimo 586). Der männliche Partner
der Sedna ist bald ihr Vater, bald auch Gatte oder Sohn; die Schwankung deutet
die verschiedenen Möglichkeiten des Ödipus-Komplexes an. Jedenfalls ist er aber
„der Mann mit dem Messer“, (F. Boas: The Central Eskimo 586. Rink and Boas:
Fskimo Tales and Songs. Journ. Am. F. L. II, 1889, 125) von der Größe eines Fingers,
oder eines kleinen Knaben, aber auch fähig, plötzlich riesengroß zu werden der
Penis (D. Cranz: |. c. 264. P. Egede: l.c. 236). Daß er stirbt, wenn er einen Hund
anrührt (P.Egede:l.c. 236), ist aus der Sage verständlich. Der Penis ıst der Kastrator
des Weibes, aber auch der in der Scheide kastrierte; daher die Einäugigkeit, „Ein-
armigkeit. | |
ı) Nach dem Tode eines der Seetiere, die aus Sednas Fingern entstanden sind
(bezeichnenderweise heißt es: oder eines Menschen!) ist es verboten, das Eingefrorene
vom Fenster abzukratzen, die Betten aufzurütteln, das Ol von den Lampen zu ent-
fernen, sich zu kämmen, und überhaupt etwas mit Schneidewerkzeugen auszuführen.
Die Verbote beziehen sich besonders auf die Seehundsart Phoca barbata (trıtt auch in
der Sage merklich hervor), da eine Übertretung in diesem Fall der Sedna heftige
Schmerzen an den Händen (die Sünde wird auch mit der Hand ausgeführt!) verur-
sachen würde. F. Boas: Baffin Land ı21, 122. Die Sünde mit der Hand ist die Onanie
(begleitet von Kastrationsangst), wobei die Hand an Stelle der mütterlichen Vagina
tritt und daher wird die Strafe auf die Hände der Seemutter projiziert. Vgl. auch
ebenda 124, 125, 129, 151, 147, 487. Nansen: Eskimoleben 220, P. Egede: ]. c. 198.
Nelson: XVII, Report zı2, 319. Murdoch: IX, Report 424. Bogoras: The
Chukchee. Jesup Expedition. VII, 521. Jochelson: The Koryak, Jesup. VI, 104. Das
Schneiden bedeutet Tod, Kastration, Geburt — eigentlich die Autotomie. Ferenczi:
Genitaltheorie 39. Vgl. auch F. Alexander: Kastrationskomplex und Charakter.
Internationale Zeitschrift für Psychoanalyse. VIII, 1922, ı2ı.
2) Vgl. Rank: Trauma der Geburt 31.
3) Ferenczi: Genitaltheorie 61.
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174 Be Ei I Geza Röheim
auch die ganze Symbolik der Seetiere und Meerestiefen verstehen. Die
Geburtsangst ist ja die ontogenetische Wiederholung jener Beklemmung,
die zuerst beim Austrocknen der Meere entstand, als unsere Vorfahren
gezwungen waren, sich einer neuen Atmungsart anzupassen. Dementsprechend
führt Ferenczi weiter aus, der Koitus sei der Versuch in jenes feuchte
Urmilieu zurückzukehren, ein Versuch, der nur dem Spermatozoon voll-
kommen gelingt. Wenn wir hier den Koitus mit der Mutter in der
Form einer phantasierten Reise in die Meerestiefe dargestellt
finden, so haben wir einen Fall vor uns, in dem das verdrängte
Ubw sich im Bw durch das noch archaischere phylogenetische
Ubw („das Es“) vertreten läßt. Bei der ersten Geburt (Abschneiden von
Sednas Fingergliedern) wurden nicht die Seetiere, sondern die Landtiere
geboren. Dann sinkt auch Sedna unter die Meeresoberfläche, d. h. das
Meer wird zum sehnsuchtsvollen Zielpunkt der regressiven lriebe.., zur
Mutter,
Nachdem wir so „das Obere und Untere“ der Gestalt der Sedna auf-
getan, bleibt uns die Mage nach der Sünde. Es wird ja die mit den Sünden
der Menschheit behaftete Sedna verjagt. Die Sünden sind die totgeborenen
Kinder; wir glauben, daß sie hier in Form eines besonders nachdrücklichen
Spezialfalles eben die Tatsache der Geburt überhaupt bedeuten." Doch ist
hier ein bisher verschwiegener Umstand nachzuholen; nicht einmal alle
totgeborenen Kinder kommen in Betracht, sondern nur die Totgeburten,
die von der Frau dem Angekok nicht gebeichtet wurden. Dem Übel kann
durch eine öffentliche Beichte abgeholfen werden, denn wie wir in dem
Vorbewußtwerden, in der Verbindung mit einer Wortvorstellung, eine neue
Libidobesetzung erblicken, so findet sich hier das Lautheraussagen als Parallel-
vorgang neben Unterweltsreise und Geschlechtsverkehr. Wenn aber der Durch-
gang durch die Pforten des Lebens (Geburt, Koitus, Tod)? die eigentliche
Ursünde ist, beziehungsweise durch Überdeckung (Ich-Ideal) der damit ver-
bundenen Ansgstaffekte zur Ursünde wird, ist es auch verständlich, daß der
ı) Vgl. Rank: Trauma ı0g. (Die Erbsünde als Abtrennung der Panakt hier Ab-
schneiden der Finger und Geburt.)
2) In der ganzen Menschheit sind diese drei Momente mit Angst behaftet
und von Verboten umgeben, $o auch der Priester der kretischen Muttergöttin
„Robed in pure white, I have borne me clean, from mans vile birth and coffined clay, And
exiled from my lips ER Touch of all meat where life hath been.“ Frg. des Euripides;
die Kreter in Porphirius: De Abst, IV, ı9. Nauck, Frg. 472, angeführt nach J. E.
Harrison. Themis. 50, Vgl. J. G. Frazer: Taboo and the Perils of the Soul ıgıı.
Crawley: The Mystic Rose. 1901.
m
Die Sedna-Sag 178
Sündenbock als Träger dieser Vorstellung zwar der Durchgehende (Kind,
Penis, Spermatozoon) ist, aber in einer auf dem Zielpunkt gehenden Pro-
‚jektion ebenso als Weib, als Mutter dargestellt werden kann.
III. Fest und Sage
Die zwei Elemente der Sedna-Sage sind auch ethnologisch verschieden
zu beurteilen. Während die Erzählung von dem Ursprung der Seetiere bei
den Eskimo selbst entstanden ist, dürfte die Sage von der Ehe mit dem
Hundevater ein Lehngut indianischen Ursprungs sein.” Nun läßt sich die-
selbe Doppelschichtung im Aufbau des Festes nachweisen. Es ist nicht
schwer, den Beweis zu führen, daß die Neujahrsfeier der Iroquois, wohl
auch historisch, derselben Wurzel entspringt wie die Herbstfeier der Eskimo.
Von den Baffinlandeskimos heißt es, daß die Maskenträger „Hoo, hoo“
schreiend um die Hütten herum laufen, um von den Eigentümern irgend
ein kleines Geschenk zu erhalten. Durch diese Umgänge wird ihre Gesund-
heit erhalten, „ihre Seelen bleiben in ihren Körpern“. Ähnliche Teufel-
austreibungen sind bei den Huronen beobachtet worden. Hier ist aber
auch das Geschenk genauer bestimmt: es müsse ein Gegenstand sein, den
der Betreffende im Traume gesehen, d. h. gewünscht hat. Bekommt er
etwas anderes, dann ist es um seine Gesundheit geschehen.” Dieser Zug
des erfüllten Traumwunsches ist auch das eigentlich Wesentliche in den
Neujahrsriten der Iroquois. Nun müssen wir wiederum dies hervorheben:
Träume sind die Eingebungen der persönlichen Schutzgeister, die zuerst
bei dem Mannbarwerden im Traum auftreten. Das Neujahrsfest heißt in
der Onondagasprache (mit dialektischen Abweichungen bei den Huronen,
Mohawk, Bruyas) Ganon hwai wi, d. h. „it drives, urges or distracts ones
brain“ und wird von den Jesuiten in ihren Berichten als „la folie, ou le
renversement de tete“ bezeichnet5 Den Teil des Neujahrsfestes, der als
eigentliches Fest der Träume zu bezeichnen ist, bezieht Hewitt ausdrücklich
auf den Kult des persönlichen Schutzgeistes. Er unterscheidet dabei zwei
Elemente, und zwar erstens die Erneuerung der magischen Kraft dadurch,
ı) H. Newell-Wardle: The Sedna Cycle, American Anthropologist. N. 5. 1900,
580 erkennt zwar die Doppelschichtigkeit des Stoffes, betrachtet aber auch die Hunde-
ehe als echte Eskimosage.
2) J. G. Frazer: Scapegoat 121. Bag: Sagard: Le Grand Voyage du Pays des
Hurons. 1865, 195.
3) Hewitt: Handbook of American Indians. Bureau of Am. Ethn. XXX, ıgıo,
IT, 939, 940. Vgl. auch Curtin and Hewitt: Seneca Fiction, XXXI. Report 1918, 515.
ET EB
176 Dr. Geza Röheim
er 777 FREE
daß einige Mitglieder der Sippe des Vaters das Lied des Schutzgeistes singen
und zweitens „das Erraten des Traumwortes“ aller die eine Traumoffen-
barung erhalten haben „for the purpose of ascertaining thereby the sug-
gested or revealed tutelary of the dreamer who is commonly a child and the
bestowal of a small symbolic material representation of this tutelary upon
him by his fathers clansmen.“‘ Wir haben es hier demnach mit einer
Neujahrsmännerweihe, mit der Schutzgeisterverleihung und mit der
Aufnahme des Jünglings in die väterliche Sippe zu tun. Das „Erraten“ ist
eigentlich nur eine Form, denn in jeder Sippe wird ein Mann oder eine
Frau mit der Aufgabe betraut, die Mitteilungen der verschämten jungen
Leute über ihre Träume entgegenzunehmen. Diese erzählen dann das Gehörte
den Häuptlingen, denen es so natürlich leicht fällt, die gewünschten Schutz-
geister, beziehungsweise Geschenke zu „erraten“. Die Schutzgeistervision
ist stets von einem besonderen ‘Zaubergesang begleitet und dieser wird
dann an den folgenden Neujahrsfesten immer erneuert. Den Abschluß des
lIraumfestes bildet das Erscheinen der Hondu’i oder False - Face Society
(Maskenträger); dabei muß das „Traumwort“ des Anführers der Masken
erraten und durch ein entsprechendes Geschenk erfüllt werden? Diese
Hondu’i entsprechen aber auf das genaueste den Ekko und ähnlichen
Maskentänzern der Eskimo. Sie treten im Jänner in den N eujahrstänzen
maskiert auf, um dem Volk gegen Hexen zu helfen und Krankheiten, die
ihnen allerdings selbst zugeschrieben werden, zu heilen. „Nach den Ab-
bildungen und den im Berliner Museum befindlichen Masken (Kat. Nr. IV,
B. 1909 [11.547] 49) sind es menschliche Typen mit geöffnetem, breitem
oder trichterförmig vortretendem Munde“, genau wie die Ekko der Eskimo.
Am Fest stoßen sie, ebenfalls wie ihre nördlichen Brüder, unirdisch
grunzende Ausrufe „Ha-ha-ha“ hervor und sind auch durch ausgestopfte
Kleider in überlebensgroße Gestalten verwandelt.
Genau wie bei den Eskimo finden wir auch bei den Iroquois ein Aus-
löschen und Wiederanzünden des Feuers, die allgemeine Sündenbeichte,
saturnalienartige Zeremonien als Elemente eines Neujahrsfestes. Das nord-
amerikanische Winterfest muß sich in Anlehnung an die Pubertätszeremonie
entwickelt haben; die jährliche Wiederholung des Festes ist als Überbleibsel
ı) Hewitt: 1.c. 942.
2) Hewitt: 1. c. 942, 943.
3) K. Th. Preuß: Phallische Fruchtbarkeitsdämonen als Träger des altmexikani-
schen Dramas. Archiv für Anthropologie. I, 1903, ı7ı. Smith: Witcheraft and
Demonism of the Modern Iroquois. Journ, Am, F. L. ı888, I, ı87.
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Die Sedna-Sage 177
ü
einer urmenschlichen Brunstzeit" mit jährlicher Wiederholung des Pubertäts-
konflikts (Kampf zwischen den alten und jungen Männchen um die Weibchen)
aufzufassen. Nördlich wandernd regrediert die Zeremonie in immer primi-
tivere Schichten; als Winterfest der Eskimo bedeutet sie schon die perio-
disch wiederkehrende Kathartik der Geburtsangst.
Dieser eigentlich autochthone Kern des Festes ist doppelt determiniert;
denn das Fest der neuen Zeitperiode ist ein Geburtsfest,* während die ein-
brechende Winternacht eine erneuerte Abreaktion der Geburtsangst (Dunkel-
heit als Intrauterinlage), mit Nabelschnurzeremonie (Strickziehen),5 Saugen-
lassen (Wassertrinken) und analer Wiederholung der Geburt (Geschenke) *
notwendig macht.
Wie Rank andeutet, entsteht das Schuldbewußtsein aus der Überdeckung
der Geburtsangst durch Introjektion des väterlichen Ich-Ideals;® dement-
sprechend finden wir hier ein arktisches Sagen- und Ritenmaterial, ent-
standen aus dem Wiederholungszwang des onto- und phylogenetischen
Geburtstraumas und verwoben mit teilweise nicht autochthonen Elementen,
deren Abstammung aus dem Ödipus-Romplex (Hundeehe, Männerweihe)
ganz deutlich ist.
ı) Die Sedna-Gestalt heißt auch Aiviliajok = „She who periodically gives“. Nuliajoq
kann entweder „woman of plenty* oder „periodic arrival of plenty“ bedeuten. H. Newell
Wardle: The Sedna Cycle. Am. Anthr. 1900, 569.
2) Vgl. Rank: Das Trauma der Geburt ı924, über Periodenanfang und Geburt,
(Über Weihnachten vgl. Röheim: Adalekok a magyar nephithez, 1920.)
3) Strickziehen und Koituszeremonie; siehe J. G. Frazer: Scapegoat 173.
4) Als Schutzamulett erscheinen ja Tierhäute, die mit der ersten Unreinheit des
Kindes behaftet sind.
5) Rank: Das Trauma der Geburt, 1924, 21. Nichtdestoweniger glauben wir, daß
auch das Schuldbewußtsein mit seinen tiefsten Quellen noch jenseits vom Ödipus-
Konflikt in der Onto- und Phylogenese verankert ist.
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Beiträge zur Psychologie der Trauer- und
Bestattungsgebräuche
Von Hans Zulliger (Ittigen, Bern)
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Eine Schulkameradin ist gestorben
Die langen Herbstferien hatten eben begonnen, als mir ein Mädchen
meiner Klasse meldete, Emma $., eine meiner Schülerinnen sei im Spitale
gestorben. Ich möge mit den Mitschülern ein Lied erlernen, das wir der
Verstorbenen ins Grab singen würden. Ich erklärte mich einverstanden
unter der Bedingung, daß die Botin die Mitschüler aufbiete und am Abend
genügend Stimmen vertreten seien; denn ich zweifelte, ob die schulmüden
Schüler leicht zu bewegen wären, den für viele so langen Weg zum Schul-
haus, von dem sie die Ferien eben befreit hatten, wieder zu gehen.
Am Abend fand ich im Schulzimmer die Klasse fast vollzählig vor,
es waren sogar außer den meinen noch Schüler anderer Klassen herge-
kommen. Wir erlernten ein Lied und gingen zwei Tage nachher zum
Begräbnis, das in Bern stattfand. Die Klasse hatte einen Kranz mit einem
weißen Bande gekauft. Darauf stand in goldenen Lettern der Spruch: „Die
Liebe hört nimmer auf!“ |
Nach den Ferien erhielt ich eine Anzahl von freiwilligen schriftlichen
Arbeiten aus meiner Klasse, die von dem Todesfalle handelten und mich
auf den Gedanken brachten, dieses Material zusammenzustellen und psycho-
logisch zu sichten.
Ich beginne mit den Berichten der Knaben der Klasse, die der intro-
versiveren Wesensart dieser Altersstufe (13- bis ı5jährig) entsprechend
spärlicher ausgefallen sind als diejenigen der gleichaltrigen Mädchen.
Tr —
Beiträge zur Psychologie der Trauer- und Bestattungsgebräuche 179
Alfred: Auf dem Wege zum Begräbnis machten wir Knaben ab,
wenn man Emma dann noch sehen könne, so wollten wir nicht hin-
gehen. Als wir vor der Totenhalle standen und der Siegrist rief: „Wer’s
noch sehen will, soll kommen!“, da schien es mir unbarmherzig. Und die
“ Mädchen dünkte es auch nicht recht, wie grob der war, darum fingen sie
an zu weinen. Es dauerte sie auch, weil Frau S. laut zu weinen anfıng,
das machte sie auch noch an (d. h. „das suggerierte das Weinen auch
noch“). Als sie hineingingen, um Emma zu schauen, durften sie nicht
recht, denn sie hatten Angst. Sie meinten, es komme zurück. Als es
beerdigt war, machte es den Mädchen nicht mehr so viel.
Er versteckt seine Gefühle und Ansichten hinter seinen Kameraden.
„Wir Knaben machten ab“, die Leiche nicht ansehen zu gehen, erzählt er.
Den Mädchen sei es nicht recht gewesen, als der Siegrist sich als wenig
pietätvoll erwies. Die Mädchen hätten Mitleid mit der Mutter der Toten
gehabt. Die Mädchen hätten Angst gehabt, die Verstorbene nochmals an-
zuschauen, und sie seien es gewesen, die glaubten, die Tote komme zurück.
Die Mädchen hätten sich dann beruhigt, als die Abgeschiedene endlich im
Grabe ruhte. Von sich selber sagt er nur, daß ihn das Verhalten des
Siegrists aufregte. Wir dürfen jedoch überzeugt sein, daß er selber es war,
der das alles empfand, was er an Gefühlen in seine Kameraden und Kame-
radinnen projiziert. Offenbar will er nur nachträglich den Ruhigen spielen.
Daß die Angst vor der Toten aber eine allgemeine, wenigstens auch von
den übrigen Knaben geteilte Angst war, das beweist uns ihre Abmachung,
nicht zu nahe an den Leichnam herangehen und ihn nicht ansehen zu
wollen. Das Leid der Mutter der Verstorbenen erweckt das Mitleid unseres
Berichterstatters: hier verrät sich der Knabe, der seine Mutter lieb hat.
Warum, so könnten wir uns fragen, packt ihn das Leid des Vaters nicht
besonders? Auch dieser schluchzte an der Bahre seines Kindes. Aber dies
macht dem Knaben einen viel geringeren Eindruck. Er fühlt sich offenbar
zu den Müttern stärker als zu den Vätern hingezogen. Wir verstehen es,
wissen wir doch, daß die Mutter des Knaben erste Liebe ist.
Als die Tote im Grabe ruhte, beruhigt sich die Angst vor ihrer Wieder-
kehr: nun ist man sicher, daß die Abgeschiedene wirklich tot und beseitigt
ist. Es steht die Frage offen, warum man sich vor der Wiederkehr fürchtete
— was eine Wiederkehr für eine Gefahr in sich geborgen hätte. Der Knabe
gibt uns darüber keine Auskunft.
Daß auch die übrigen Knaben eine unheimliche Angst empfanden,
beweisen weitere Aufsätze:
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Fritz: Ich hatte so einen Graus, die Leiche anzusehen. Ich habe schon
zwei gesehen, die erste war meine Mutter und die zweite ein Schulkamerad.
Da habe ich mir versprochen, nie mehr eine Leiche zu schauen.
Der Knabe sah die Mutter, sein erstes Liebesobjekt, tot, und einen
Schulkameraden, mit dem er sich besonders leicht identifizieren konnte.
Das hat ihm einen solchen Schrecken eingejagt, daß er sich ein Gesetz
macht, keine Leiche mehr anzusehen.
Georg: Herr S. sagte unserem Lehrer, man könne die Tote noch schauen.
Der Lehrer ging, und als er herauskam, teilte er uns mit, Emma sei nicht
schön, wir können hingehen und es sehen. Die Mädchen gingen, aber wir
Knaben nicht. Ich dachte, es kommt mir dann in den Träumen vor.
Und man könne dann nicht singen in der Kapelle, es mache einen zu
fest traurig.
Paul: Es wurde mir unheimlich, als der Siegrist das Totenhalletor
öffnete. Die Mädchen gingen hin, um Emma $. nochmals zu sehen. Aber
mich faßte die Angst, ich hätte sie nicht schauen dürfen. Ich hatte so ein
kaltes Gefühl. Ich dachte: ich will nicht gehen, sonst habe ich nachher
immer so eine innere Angst. Der Tod ist so etwas Kaltes, ich sehe über-
haupt nicht gern Tote. Die Mutter S. wollte es einfach nicht begreifen,
daß Emma jetzt tot sei. Sie dauerte mich so, daß es mir das Augenwasser
hervortrieb,
Hans: Als wir vor der Totenhalle standen, das lag mir schwer auf der
Brust, wie wenn es meine eigene. Schwester (zwei Jahre jünger)
gewesen wäre. Da konnte ich am Abend nichts essen, so’ geschlagen
bin ich gewesen,
Alle drei Berichterstatter haben es mit der Angst vor der Toten zu tun.
Der erste fürchtet Angstträume und verrät durch die Befürchtung, daß er
solche kennt und schon gehabt haben muß. Gehen wir fehl, wenn wir
vermuten, daß sich seine Angstträume mit dem Tode befaßten? Daß sie
vom Tode seiner selbst oder seiner Angehörigen handelten? Und — da
wir den Wunschcharakter der Träume kennen, daß die Angstträume ver-
drängte Todeswünsche zum Thema hatten? Wir können hier nur vermuten,
jedoch noch nicht einen Beweis erbringen.
Paul zeigt uns außer seiner Angst wiederum sein Mitleid mit der
Mutter der Verstorbenen.
Hans identifiziert die Tote mit seiner jüngeren Schwester, seiner Rivalin
um die elterliche Liebe. Er sieht am Grabe der Schulkameradin gleichsam
einen seiner unbewußten Wünsche symbolisch erfüllt: seine Nebenbuhlerin
Beiträge zur Psychologie der Trauer- und Bestattungsgebräuche | 181
ist beseitigt; doch das macht ihm schwer auf der Brust, er fühlt etwas
wie ein dumpfes Schuldgefühl und Angst vor der Rache der Verstorbenen,
gegen die er einst so schlimme Wünsche hegte. Denn sie ist ja jetzt im
Jenseits und mit übernatürlichen Kräften ausgestattet. Hans sieht gleichsam,
wie es hätte kommen können, wenn seine Todeswünsche gegen die Schwester
erfüllt worden wären. Es leuchtet ihm wohl ein, daß eine lebendige Rivalin
das kleinere Übel bedeutet, als eine feindlich gesinnte, übermächtige Tote,
an deren Ableben er schuld wäre kraft der „Allmacht seiner Gedanken“.'
Gleichsam als Sühne für seine verdrängten Todeswünsche gegen die Schwester
fastet er am Abend.
Der folgende Aufsatz unterrichtet uns darüber, was eine Tote für die
Lebendigen für Gefahren bringen kann: von ihr geht etwas aus, das uns
an das „Mana“ der Wilden erinnert, eine magische Kraft, die den Betroffenen
mit ins Grab ziehen könnte.
Rudolf: Als wir an das Begräbnis gingen, war es mir nicht wohl. Und
als wir vor der Totenhalle standen, wurde es mir im Innern des Herzens
ganz grämlich. Dann kam der Mann und öffnete die Tür zur Halle. Da
hatte ich das Gefühl, daß der Tod herausschleiche. Ich zitterte ganz
und ging einige Schritte rückwärts. Denn ich hatte sehr Angst, der
Tod wolle in mein Herz eindringen. So hatte ich noch nie in meinem
Leben Angst gehabt.
Als die Eltern Emmas (der Verstorbenen) kamen, dauerten sie mich
sehr. Mein Vater sagte mir, ich solle dann die Leiche nicht anschauen
gehen. Und ich sagte mir: ich will nicht sehen, wie es mir später einmal
gehen wird. Wir Knaben sprachen zueinander: „Wir gehen nicht hin!”
Wenn esein Knabe gewesen wäre, so wäreich vielleicht gegangen.
Als wir das Lied sangen, war der Ton lange nicht gleich wie etwa an
einem Fest. Und geläutet haben sie auch nicht.
Wenn ich beifüge, daß Rudolf eine Anzahl Schwestern zu Hause hat,
so verstehen wir, daß er nicht hingehen wollte, um die Leiche zu schauen.
Denken wir nur an den vorherigen Knaben, der in der Toten die Schwester
- sieht. — „Wenn es ein Knabe gewesen wäre, so wäre ich vielleicht gegangen“,
erklärt Rudolf, aber nur vielleicht, denn „ich will nicht sehen, wie es mir
später einmal ergehen wird!” Daß der Tod hier als herumstreichender
Unsichtbarer gedacht wird, muß besonders beachtet werden. Auch, daß er
nicht etwas gleichsam Unpersönliches, für sich Seiendes ist, :sondern aus
einem Toten heraustritt und in einen anderen Menschen wandert, ist für
1) Freud, Totem und Tabu. (Gesammelte Schriften, Bd. X.) |
Imago X. 2 u.3 15
85 Aw | Plans Zulliger
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die kindliche Auffassung des Todes wichtig. Der Tod ist so wie eine erb-
liche Krankheit gedacht. Es fällt Rudolf auf, und er betrachtet es offen-
sichtlich als einen Mangel, daß zum Begräbnis nicht geläutet wird, so wie
es bei uns auf dem Lande noch heute der Brauch ist. Das Läuten gilt als
ein Zeichen der Pietät. |
Nebenbei vernehmen wir, daß der Vater Rudolfs seinem Sohne geraten
hat, die Tote nicht noch einmal anzusehen. Was hat ihn zu seinem Befehle
bewogen, fragen wir uns. Und wir gehen wohl nicht fehl, wenn wir uns
denken, daß der Vater dem Knaben Gefühle ersparen wollte, die er, der
Erwachsene, an Särgen empfunden hat. Die Gefühle Erwachsener werden
‘wohl im Grunde nicht anderer Art sein, als diejenigen der Schüler.
Das sind die Berichte der Knaben, Wir wollen festhalten, daß sich. alle
Schüler dagegen sträuben, die Tote mit irgend :jemand zu identifizieren.
Sie tun es in einer tieferen Schicht ihres Erlebens doch. Wenn ‚sie die
Tote mit sich selber identifizieren, so sträubt sich dagegen ihr Narzißmus,
ihr Ich-Ideal und ihre Lebenstriebe.
Hören wir nun, was uns die Mädchen zu sagen ‚wissen;
Berta: Ich war sehr erschrocken, als ich es vernahm, daß Emma S.
gestorben sei. Und ich wäre gerne an das Begräbnis gekommen. Aber ich
habe keine Kleider (Trauerkleider!). Und einen dunklen Hut habe
ich auch nicht. Darum blieb ich daheim.
Es ist also nicht unwichtig, daß zu einem Hageähiie andere Kleider,
wenn möglich Trauerkleider, angezogen werden. Besonders wichtig soll der
Hut, die Kopfbedeckung sein. Wir wissen, daß sich andere ‚Völker in
Trauerfällen Asche aufs Haupt streuen, und daß sich Negerstämme .das
Gesicht unkenntlich machen durch Malereien oder durch einen Sack, den
sie über den Kopf ziehen. Wir ahnen, daß der Brauch des Tragens von
schwarzen Hüten und Schleiern den modernisierten Überrest jener primitiven
Gebräuche bedeutet. Wenn wir beachten, daß wir vor: der Wiederkehr der
Toten Angst empfinden, so wird uns der Brauch der Unkenntlichmachung
klar. Die Pietät der weißen Rasse hat eine Kehrseite, die uns nicht mehr
erkennbar ist, und die wir erst auf dem Umwege folkloristischer und ethno-
eraphischer Forschungen: erklären können, art
Anna: Ich ging nicht schauen, als.man Emmas Leiche ee konnte,
Aber alle anderen Mädchen. Und als sie zurückkamen, weinten sie alle.
Ich weinte auch, wenn ich Emma schon nicht gesehen habe... Von den
Knaben ging keiner schauen. Es weinte dann aber auch keiner.. Die Knaben
haben eben nicht so ein lindes Herz wie die Mädchen.
Beiträge zur Psychologie der Trauer- und Bestattungsgebräuche 183
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Rosa: Als ich hörte, daß Emma gestorben sei, wurde es mir so elend,
daß ich nichts mehr essen konnte. In der Leichenhalle sah ich die
Leiche noch einmal ein wenig an. Doch war es mir, als ob mir etwas
Kaltes den Rücken hinaufkäme. Es (Emma) hatte sich umgeändert,
daß ich es fast gar nicht mehr kannte. Ich dachte, vorher hat es immer
so herumspringen können, und jetzt ist es im Sarg für sein ewiges Leben
lang. Und es war mir, es müsse noch leben. Und als sie es ins Grab
hinunterließen, da dachte ich, jetzt kommt es in ein finsteres Loch, und
ich sehe es nie mehr.
Erna: Als der Lehrer sagte, wir sollen lieber nicht schauen gehen, da
nahm es mich gleich wunder, wie Emma aussah. Es war der zweite tote
Mensch, den ich sah. Der erste war mein Brüderchen, das aber tot geboren
wurde, und es war so ein großes, festes Kind. Und da nahm es mich
eben wunder, wie ein großes Mädchen aussieht. Darum wollte ich es
schauen. Als ich es gesehen hatte, meine’liebe Freundin, da dachte ich,
wie, wenn ich jetzt so wäre, oder meine Mutter oder der Vater,
wenn wir einmal so auf der Totenbahre liegen müssen und solches durch-
machen und von unseren Lieben weg müssen. Und so kam mir das Weinen.
Hedwig: Als ich in das Kapellchen trat, war es mir so schlecht und
kalt. Es war dort so ein merkwürdiger Geruch. Ich dachte, wenn jetzt
eines meiner Geschwister oder Eltern tot daliegen würden, was würde
ich da auch machen! Ich hatte dabei so ein merkwürdiges Gefühl gehabt,
daß ich es ‘gar nicht (be-)schreiben kann. Als dann der Sarg im. Grabe
lag, schauten wir noch, wie Emma liegt. |
Martha: Als wir vernahmen, daß Emma S$. gestorben sei, fragten wir
den Lehrer, ob wir ihm ein Lied ins Grab singen dürfen. Er sagte ja und
wir lernten: „Im Grabe ist Ruh.“ Dann kauften wir noch einen Kranz
für neun Franken. Um ein Uhr mußten wir vor dem Kapellchen bei der
Insel (Insel-Spital, Bern) sein. Da sagte der Vater der toten Schulkameradin
zum Lehrer, wir dürfen Emma noch einmal schauen. Wir:Mädchen gingen,
und als wir hinauskamen, da weinten alle. Kein einziger Knabe ging es
schauen, aber dafür weinten sie nicht.
Ich bin hingegangen, weil ich immer bei Emma war, als ‚es noch
lebte. Und dann noch aus einem anderen Grund: als es ins Spital
mußte, hatte ich ihm nicht einmal die Hand gegeben, denn ich meinte, es
sei nicht so gefährlich mit der Krankheit und es komme nach einiger Zeit
wiederum heim. Darum ging ich hin und habe es gewagt, es zu sehen.
Alle diese Mädchenberichte zeigen vorerst wiederum die Angst vor der Toten.
13”
zur Auslösung von Sühnehandlungen, wie wir sie auch schon bei Hans
gefunden haben, nicht notwendig, schon der Gedanke an die Verstorbene
genügt. Die ehemalige Mitschülerin war jedoch mehr als irgend ein anderes
Mädchen geeignet, den Neid einer Kameradin zu erwecken, weil der Lehrer
genötigt war, auf sie wegen ihrer Kränklichkeit ein vermehrtes Maß von
Rücksichten zu nehmen, die für die gesünderen Kameradinnen nicht in
Betracht fielen. Emma war in der Schule Rosas Mitschwester gewesen, die
vom Lehrer in den Augen Rosas oft bevorzugt worden war. Sicher waren
deshalb in Rosa nicht selten Gefühle von Abneigung gegen Emma wach
geworden. Rosa erlebte in der Schule in verkleinertem Maße und auf ver-
drängtere Art das gleiche, was sie einst zu Hause mit den jüngeren
Geschwistern erlebt hatte: das Gefühl des Benachteiligtseins und des Hasses
auf die Bevorzugten. Beseitigungswünsche gegen die Geschwister, die mehr
als Gefühle, denn als Gedanken empfunden worden sind, wurden durch
das Verhalten des Lehrers Emma gegenüber wieder wach. Nun ist Emma
tot und schadet Rosa nicht weiter — wenn sie ihr als Tote nicht böse
will. Und um sie zu versöhnen, wird gefastet. Es ist Rosa, als ob die Tote
noch lebte. Der körperliche Zustand der Abgeschiedenen besitzt etwas
Unheimliches, Bedrohliches, weil er sich vom Zustand der Lebendigen
nicht sehr unterscheidet. Man könnte der Toten leicht Handlungsfähigkeit
zutrauen. Rosa fühlt etwas Kaltes den Rücken hinaufsteigen und wir er-
Hl innern uns an die Aussage Rudolfs vom Tode, der als Geist sich einen
5 Weg in die Herzen der Menschen sucht.
Erna identifiziert sich selber mit der Toten, sie möchte richt so sein.
Ähnlich empfindet Hedwig.
Martha sagt uns, daß sie es „wagte“, zur Toten hinzugehen, um etwas
gut zu machen, also aus einem Gewissensgrunde. Dunkel wird die Rache
der Tooten erwartet, und lieber als einer allfälligen Rache ausgesetzt zu
sein, will sich Martha überwinden und die tote Emma noch einmal an-
sehen. Von diesem Gesichtspunkte aus betrachtet, erhalten wir aber auch
den Eindruck, als ob sich Martha durch den Anblick gleichsam überzeugen
wollte, daß sich Emma nicht mehr rächen kann.
Ida: Herr S., der Vater: der verstorbenen Schulfreundin, bot dem Lehrer
an, er dürfe die Leiche sehen, und auch wir können es tun, wenn wir
wollten.. Da kam der Lehrer aus der Totenhalle heraus. Er flüsterte uns
184 | Hans Zulliger |
Anna gefällt sich, sicherlich auf dem Wege der Identifikation mit der
Toten, die sie nicht anschauen geht, in einem masochistischen Weinen.
Rosa fastet schon, bevor sie die Tote gesehen hat. Der Anblick ist also
Beiträge zur Psychologie der 'Trauer- und Bestattungsgebräuche 185
zu, wir sollen lieber nicht hingehen, denn man sehe Emma an, daß es
sehr habe leiden müssen, man kenne es fast nicht mehr. Aber wir wollten
alle gehen und drängten gegen das Tor, ich war nicht einzig. Es war
die Liebe, die ich zu Emma gehabt habe, die zog mich hin, und doch
hat mir Emma so manches zuleide getan. Als ich sie ansah, mußte
ich nicht weinen. Dann hielt der Pfarrer in der Kapelle das Leichen-
gebet zugleich für einen Mann, der auch im Spital zu gleicher Zeit wie
Emma gestorben war. Als ich hörte, der sei am 6. September geboren und
sechsundfünfzig Jahre alt geworden, da mußte ich erst weinen. Weil
dieser Mann am gleichen Tage Geburtstag hatte wie ich. Sonst
hätte ich nicht weinen müssen.
Also die Liebe zog unsere Ida zu der Toten hin, die ihr doch manches
zuleide getan hat, als sie noch lebte. Und trotz der Liebe muß Ida nicht
weinen. Gehen wir fehl, wenn wir vermuten, daß in Ida ebenso viele
Gefühle der Abneigung gegen Emma weilen, als Liebe! Wir vernehmen,
Idas Einstellung war ambivalent. Übrigens weint sie dann doch.
Nämlich als sie ein äußerlicher Umstand veranlaßt, sich mit der Toten
zu identifizieren: die Erwähnung des Geburtstages eines verstorbenen
Mannes. Der Geburtstag fällt mit dem unserer Berichtschreiberin zu-
sammen. Der Mann erinnert die Berichterstatterin sicher auch an ihren
Vater, der sich, als sie noch ein kleines Kind war, von der Mutter ge-
trennt und den sie trotz ihres sehnlichen Wunsches seither nie mehr
gesehen hat.
Klara: Als ich Emma $. im Sarge liegen sah, dünkte es mich, es
könne gar nicht gestorben sein. Ich hatte immer das Gefühl, es werde.
doch sprechen. Als ich wieder von ihm weg war, dachte ich: wenn das
jetzt meine Mutter wäre, ich würde sie einfach rütteln. Den Vater
oder die Brüder aber nicht.
Als sie den Sarg ins Grab hinunterließen, dachte ich wieder: wenn
das jetzt meine Mutter wäre, und so dachte ich auf dem ganzen
Heimwege. Und auch, wenn ich selber dann einst begraben werde.
Lisa: ...als ich am Sarge stand und Emma zum letzten Male sah,
dachte ich daran, wenn ich dann einmal so im Sarge liege, ob sie dann
auch so weinen würden.
Dann, als die zwei Männer den Sarg in das Grab getragen hatten, segnete
der Pfarrer Emmas Leiche noch. Ich dachte, daß doch so ein junges
Mädchen schon so früh von uns scheiden soll im schönsten Lebenslauf.
Dann verwunderte ich mich, daß nicht die Eltern Erde auf den
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ı86 | FE ; | ‘ Hans Zulliger
Sarg warfen. Eines von uns machte es dann. Ich sehe Emma noch jetzt
im Sarge liegen. |
Gertrud: Die Mutter Emmas wollte sich fast nicht darein schicken,
daß es tot sein sollte. Sie hat es nämlich, als es noch lebte, nicht glauben
wollen, wenn Emma sagte, es sei ihm nicht wohl und es habe Kopf-
schmerzen. Sie meinte, es sei nur zu faul zur Arbeit und schalt oft mit
ihm. Darum tat es ihr jetzt so weh, weil sie nicht mehr konnte
gutmachen. | |
Ich dachte, wennich jetzt im Sarge läge, ob dann meine Mutter
und der Vater auch so weinen würden. Und man sollte eben gut
miteinander sein, solange man lebt. we.
Lina (ihr war vor noch nicht langer Zeit die Stiefmutter, zu der'sie
angeblich eine sehr gute Einstellung hatte, gestorben): Von dem Begräbnis
meiner Schulfreundin kann ich nicht viel schreiben. Ich ging die Leiche
gar nicht schauen. Weinen konnte ich gar nicht. Nur, als sie den Sarg
hinunterließen, dachte ich: oh, jetzt muß Emma da tief unten liegen und
wird so zugedeckt. Aber sonst machte es mir gar nichts, von Weinen war
keine Spur, es war mir nur'so sturm. |
Alle diese Schülerinnen weilen mit ihren Gefühlen, die sich um die
Tote drehen, bei ihren Müttern. Klara sagt uns, sie würde die tote
Mutter rütteln, Vater und Bruder (er ist älter als Klara) jedoch nicht.' Das
erscheint uns merkwürdig. Es ist so, als ob das Mädchen für seine Mutter
mehr Liebe empfände, als für seine nächsten männlichen Verwandten.
Aus der Beobachtung und aus freien Aufsätzen und Berichten von Träumen
jedoch weiß ich, daß Klara ganz besonders ihren älteren Bruder liebt, .der
ihr durch sein „erwachsenes“ Auftreten Eindruck macht und ihr auch gut
ist. Wie sollen wir nun die Absicht des Mädchens verstehen, die Mutter
zu rütteln, aber den Bruder nicht? Sie will offenbar die Mutter lieber
lebendig haben als tot. Bruder und Vater jedoch ließe sie in Ruhe. Sie
fürchtete eine tote Mutter mehr, als den toten Vater oder Bruder. Sie
glaubt also, die Mutter hätte Grund, ihr als Tote zu schaden. Wir
erkennen den weiblichen Ödipus. Diese Einstellung der Mädchen zu ihren
Müttern wird uns später sehr klar werden. Was an der Beweisführung im
obigen Falle zweifelhaft erscheint, werden wir aus weiteren Äußerungen
der Mädchen bestimmt beweisen können. |
Lisa fragt sich, ob sie wohl einst wie Emma beweint werde, wenn sie
gestorben sei. Sie wünscht also, beweint zu werden oder: besser schon jetzt
so geliebt zu werden, wie die abgeschiedene Schulkameradin von ihrer
1
| Beiträge zur Psychologie der Trauer- und Bestattungsgebräuche 187
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Mutter beweint und geliebt wird. Denn der Grund, warum gerade die Mutter der
Verstorbenen so sehr schluchzt und weint, bleibt den Mädchen nicht verborgen:
Gertrud schreibt uns darüber: sie konnte nicht mehr gutmachen, was
sie an der lebenden Tochter Schlechtes getan. Eine jede der Schülerinnen
denkt an all das, was ihre eigene Mutter an. ihnen gutzumachen hätte,
und in der Art des Berichtes von Gertrud ist ein Zug von schaden-
freudiger Genugtuung nicht zu leugnen. Ablehnende Gefühle gegen die
Mütter, rationalisiert an’ der angeblichen schlechten Behandlung, welche
die Töchter durch die Mütter haben erfahren müssen, werden an der
Totenbahre der Mitschülerin manifest. „Man sollte eben gut miteinander
sein, solange man lebt!” fordert Gertrud und zeigt damit, wo sie der Schuh
drückt. Auch sie’ identifiziert sich wie Lisa mit der Verstorbenen, aber zu
dem Zwecke, um an das Verhalten ihrer eigenen Mutter bei Gertruds Todes-
falle denken zu können. Dies geschieht nach dem Vorbilde jenes Bübchens,
das sagte: „Es geschieht dem Vater ganz recht, wenn ich: erfriere, warum
kauft er mir keinen Pelz!“ Der Gedanke an’ den eigenen Tod und die
Identifikation mit der vor Gertrud liegenden Toten bietet den süßen Trost:
der Rache. So erklärt es sich. daß sich bei ihr keine narzißtischen
Tendenzen gegen die Identifikation sträuben. ET |
Lina, welcher kurze Zeit vor dem Todesfalle der Schulkameradin die
Stiefmutter starb, kann um die Verstorbene nicht: weinen, sie ‚geht den
Leichnam auch nicht schauen. Es wird ihr nur „so sturm“ (benommen),
was uns verrät, daß die Gefühle in ihr „stürmten“, und daß sie wohl
manches zu verdrängen hatte. Ihr weiblicher Ödipus-Wunsch ist ja erfüllt:
sicherlich erwartet sie nun die Rache. Wie diese Rache aussieht, die Rache
einer Toten, das wissen wir aus den’in den anderen Aufsätzchen berichteten
Befürchtungen; es. wartet der Tod. VER | |
Katharina: Als es hieß, ‚meine Freundin sei gestorben, da wurde ich
selber ganz krank. Wir hatten in der letzten Woche, als sie noch lebte,
so viel miteinander gesprochen. Ich hatte ihr gesagt: wenn du aus der
Schule bist im Frühjahr, dann schreiben wir einander immer. Als wir den
Ausflug nach Seedorf machten, gingen wir immer nebeneinander. In See-
dorf gingen wir zusammen auf den Abort. Dort drinnen hieß es auf einem.
Täfelchen „Lebensgefahr beim Berühren“, da sagte ich zu Emma, es mache
mir Angst. Sie gab mir zur Antwort: „Mir nicht!“ und „Wenn ich da
einen Draht der (elektrischen) Leitung anrühren würde, ‚da müßtest du
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dem Lehrer nachspringen.. und ihm sagen, ich sei gestorben, Sie stand
auf den Abort hinauf und tat dergleichen, sie wolle den Draht anrühren,
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188 | = Hans Zulliger |
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ich aber riß sie an der Schürze hinunter, und dann kamen wir euch
anderen wieder nach. Es ging den ganzen Tag gut. Dann am Samstag in
der Rechnungsstunde klagte die Emma, sie habe Kopfschmerzen. Am
Montag kam sie nicht zur Schule und bald mußte sie ins Spital. Da
dauerte sie mich, weil sie drinnen bleiben muß und wir draußen herum-
tanzen konnten. Ich dachte, es komme dann besser, wenn sie im Früh-
ling aus der Schule kommt. Dann sagte mir Frau $., was Emma alles
hat, besonders die Gehirnhautentzündung. Und dann ging es noch eine
Woche, und da hieß es, Emma sei gestorben. Da weinte ich laut auf. Als
wir den Leichnam sahen, wurde es mir fast ohnmächtig.
Ich träumte, ich sei bei Emma S. Sie ist zu uns hinaufgekommen und
hat mit mir gespielt. Dann saßen wir auf dem Dangelsock,- um auszuruhen.
Und dann sprangen wir über alles. Sie sagte zu mir: „Hör einmal, Käthi,
jetzt haben die Leute immer gesagt, ich sei gestorben, sogar meine Mutter!“
Da weinte sie, weil man das glaubte und ich weinte mit ihr. Ich tröstete
sie, wie ich nur konnte. Am Morgen war ich ganz verwirrt. Aber es war
ein schöner Traum gewesen.
In dem Berichte Katharinas spricht die Spezialfreundin der Ver-
storbenen zu uns. Wir vernehmen von masochistisch gefärbten Selbstmord-
phantasien, welche die zwei Mädchen miteinander verbanden, und deren
Ziel der Lehrer (hinter dem der Vater stecken mag) ist. Der Traum, den
Katharina nach dem Begräbnis hatte, zeigt wieder die Einstellung auf die
Mutter. Es ist im Traume die Mutter, welche Emma tot glaubt, und das
schmerzt die Freundinnen so, daß sie beide im Traume weinen. Trotz des
Weinens wird der Traum als ein „schöner“ bezeichnet. Er konnte nicht
näher analytisch erforscht werden. Immerhin sehen wir: der Wunsch der
Katharina (der Doppelgängerin Emmas) auf Beseitigung der Mutter ist ver-
schoben und lautet: die Mutter glaubt an die Beseitigung der Tochter.
Dieser Wunsch der Mutter bewegt Katharina zu Tränen. Die Tatsache,
daß (Emma==) Katharina noch lebt, ist so erfreulich, daß der Traum
doch als ein schöner Traum empfunden wird. Ambivalente Gefühle werden
wie bei Lisa durch den Ausspruch angedeutet, daß die Träumerin am
Morgen ganz verwirrt gewesen sei.
Es folgt nun der Bericht eines Mädchens (ı5jährig), der uns wie kein
anderer deutlichen Aufschluß darüber gibt, daß in den Begräbnisgänge-
rinnen zum Teil Todeswünsche gegen die Mutter wach wurden. Wir ver-
nehmen jedoch auch andeutungsweise den Grund dieser Todeswünsche.
Hören wir, was es uns zu sagen hat:
N
Beiträge zur Psychologie der Trauer- und Bestattunpsgehräuche | ı89
Margrit: Ich und Johanna E. gingen einmal in das Inselspital und
wollten Emma S$. besuchen. Da sagte uns der Arzt, es sei schwer krank
und wir würden es nicht mehr kennen, und wir durften nicht hingehen,
weil es zu schwach war, um Besuche zu haben.
Als wir nun am Begräbnistage beim Kirchlein waren, da hatte oh ein
Verlangen, es noch einmal zu sehen. Ich hatte dabei auch ein wenig
Angst. Aber nachher dachte ich wieder, es ist jetzt von allen Leiden
befreit, jetzt darf man es eher ansehn, als wenn es noch schwer krank ım
Bette läge und man sich an seinen Platz stellen würde. Ich weinte,
weil Emma jetzt in das kalte und nasse Grab hinein mußte. Dann dachte
ich, wenn es mir einmalso gehen wird. Ich bin mich aber jetzt gereuig
(es reut mich), daß ich es schaute; denn ich hätte ein schöneres An-
denken (Gedenken) von ihm gehabt, wenn ich es nicht so entstellt
gesehen hätte.
Wenn es schön Wetter gewesen wäre und nicht so trüb, so hätte es
mir auch weniger gemacht. Ich dachte daran, es wird doch schrecklich sein,
jetzt so ins tiefe, nasse Grab hinab. Wo Würmer und Schnecken an einem
herumkriechen. Man sagt ja wohl, es sei schön, von allen Leiden befreit
zu sein, aber es wäre mir doch lieber, wenn man nicht sterben müßte.
Es dünkte mich, wenn ich Emma so anschaute, es.müsse doch hören,
wie die Mutter weine, und es sollte die Augen aufschlagen. Dann
dachte ich, es müsse doch kalt haben nur in einem Hemde. Man sollte
einander mehr lieben, wenn man noch am Leben ist, man weiß
ja nie, wenn man an die Reihe kommt. Ich nahm mir vor, zu Hause
meine Arbeit immer mit Freuden zu machen und nicht mit den
Geschwistern zu zanken, denn man weiß ja nie, ob eins oder das
andere sterbe. |
In der Nacht nach dem Begräbnisse hatte ich einen schrecklichen Traum.
Das letztemal, als Emma noch in die Kochschule kam, mußten es und ich
zusammen den Herd putzen. Wir scherzten und lachten zusammen.
Das kam mir nun im Traume vor, wir putzten wiederum den Herd
Und da sah ich Emma im Sarge liegen.
Dann kam mir vor, Johanna und ich holten den Kranz. Wir ließen
ihn in den Kot fallen, so daß Band und Blumen ganz schwarz waren.
Dann kamen wir viel zu spät an den Sammlungsort, wir kamen mit dem
Kranze erst, als die anderen schon auf dem Heimwege waren. Und was
ich für eine Angst hatte, der Lehrer werde mjt uns schelten oder uns
noch schlagen!
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190 Hans Zulliger
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Da erwachte ich und war froh, daß das nicht wahr war. Bald schlief
ich wieder ein und träumte weiter. 2
Johanna und ich gingen in die Länggasse und hatten da ein Erlebnis,
(Siehe später!) Als wir heimkamen, war meine Mutter gestorben. Sie
hatte plötzlich Lungenentzündung bekommen gehabt. Als ich in die Stube
kam, saßen Vater und Geschwister am Bette der Mutter, und die Mutter
sagte zu mir: „Endlich, endlich bist du da! Wo hast du dich solange
aufgehalten?” Ich war wie versteinert; denn vorher hatten dir
Leute ja gesagt, sie sei gestorben. |
(Wie Margrit zu der Mutter steht, darüber gibt sie uns auch Aufschluß: N
Letzte Woche wußte ich nicht mehr, wie ich mich zu Hause verhalten:
sollte. Fast alles, was ich machte, war nicht recht, wegen allem mußte
ich schuld sein. Und wegen jedem bißchen schimpfte die Mutter mit mir.
Ich sagte fast nichts mehr zu ihr. Es verleidete mir alles daheim. Ich
möchte manchmal lieber den ganzen Tag in die Schule gehen. Ich habe
schon öfters im Bette geweint, weil ich es das letzte Halbjahr, da ich noch
zur Schule gehe, so schlecht habe. Weil ich es sonst niemand sagen darf,
habe ich es euch anvertraut („dem Lehrer“). Es sagte mir einmal jemand,
die Mutter sei so bös und möge nichts verleiden. (ertragen), weil sie in
anderen Zuständen ist.
(Hören wir noch, welcher Art dasjenige ist, was unser. Mädchen als
Erlebnis bezeichnet. Johanna, ihre Kameradin gibt uns darüber nähere
en und wir erraten, woher Margrit ihr rezentes Traummiaterial,
„Erlebnis“ betreffend, her hat):
ir H. und ich gingen einmal an einem Sonntag in die Insel. Wir
wollten zu Emma S. auf Besuch gehen. Als wir bei dem Absonderungs-
hause ankamen, war gerade der Herr Doktor dort. Er fragte. uns, wo wir
hin wollten. Wir antworteten: „Wir möchten gerne Emma S$. besuchen!“
Herr Doktor sagte aber, daß wir nicht zu ihm dürften, weil es sehr, sehr
krank sei. Es habe ja nichts: von dem Besuche. Es kenne seine eigenen
Eltern nicht mehr.
Also kehrten wir wieder um. Als wir auf dee Kornhausplatze waren,
und dort den Schuhladen anschauten, kamen auf einmal zwei Männer zu
uns, und einer sagte zu Margrit: „Sä, chasch das Freibiliet ha!“ Er streckte:
ihm ein Automatenkärtchen dar. Margrit sagte, mit dem könne es nichts
kaufen. Dann fragte er uns: „Wo kommt ihr her?” Wir sagten, vom
Eifeld. Sie sagten: „Dürfen wir auch mit euch kommen?“ Wir gaben
Bescheid, das sei uns ja gleich, und dann gingen wir unseres Weges. Sie
Beiträge zur Psychologie der Trauer- und Bestattungsgebräuche 191
kamen uns nach. Als wir vor einer Bäckerei vorbeikamen, sagten wir, sie
sollen uns doch etwas kaufen, wir hätten so Hunger. Nach langem Betteln
gaben sie mir vierzig Rappen und sagten, wir können das zusammen teilen.
Greti und ich gingen in den Laden. und kauften zwei Stückli für zwanzig.
Die Herren. waren schon ein wenig voraus gegangen. Als wir zu ihnen
kamen, sagten wir, wir hätten jetzt noch Durst, sie sollten uns noch ein
Sirup bezahlen. Bei der nächsten Wirtschaft sagten sie, wir sollen mit
ihnen hineinkommen. Wir wollten zuerst nicht gehen, denn wir dachten,
es könnte jemand drinnen sein, der uns kennt. Dann gingen wir doch.
Als. wir den Sirup getrunken hatten, mußte Margrit lachen, es über-
schluckte sich dabei und mußte alles erbrechen. — Als wir wieder hinaus-
gingen; sagte einer der Männer, wir müßten jetzt aber mit ihnen kommen,
sie hätten uns: ja auch ein Z’Vieri (Imbiß) bezahlt. Wir sagten, sie sollten
meinetwegen mit uns kommen, in die Stadt zurück kämen wir nicht, Als
wir. beim Tramkehr waren, liefen wir: hurtig auf die andere Seite der
Straße: und versteckten uns hinter den dicken Lindenstämmen. der Allee.
Die Männer kamen hinten nach, als sie beim Kehr anlangten, schauten
sie'nach: uns aus, fluchten, aber sie fanden uns nicht mehr. Sie kehrten
wieder um, und dann wagten wir uns hervor. Wir gingen heim. Denen
haben wir es schlau gemacht.
Das Erlebnis bedeutet also mehr oder weniger aktivierte Dirnen-
phantasien der beiden Mädchen. 2
Sehen wir uns die Träume Margrits an. Im ersten putzt sie mit Emma
den Herd. Die Symbolik ist so deutlich, daß der Traum eines weiteren
Kommentars nicht bedarf. Gleich darauf sieht Margrit die Emma (mit der
sie sich identifiziert) im Sarge liegen. Die Szenen folgen sich wie ein Satz,
dem eine Bedingung vorausgeschickt wird. „Wenn... alsdann“ klingt eine
Drohung. | | | |
Der zweite Traum läßt die Eifersucht‘der Träumerin auf die Ver-
storbene erkennen. Auch Margrit wird sie einst als Lebende beneidet haben,
als der Lehrer in Berücksichtigung ihres kränklichen Wesens eher mit
ihren Leistungen zufrieden war, als.mit anderen Schülerinnen. Aber. auch
die Sorge des Lehrers um der Toten letzte Ehrung erweckte ihr Mißfallen.
Der Kranz wird beschmutzt, das Band, auf dem die Worte von der nımmer-
aufhörenden Liebe stehn, wird ganz schwarz.: Und doch ist es Margrit, die
sich freiwillig meldete, den Kranz in der Gärtnerei des Nachbardorfes
holen zu gehen ... aus Liebe zu der Verstorbenen hat sie diesen Dienst
übernommen. Wir sehen hier wiederum die Ambivalenz der Gefühle
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192 | Hans Zulliger
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deutlich. Margrit erwartet im Traum Strafe... ., sogar Schläge erwartet
sie. (Es sei hier bemerkt, daß ich sozusagen keine Schläge erteile, den
Mädchen schon gar nicht. In der Regel komme ich ohne Strafen aus.)
Margrit hat offensichtlich eine masochistische Einstellung auf ihre männ-
lichen Liebesobjekte. Hinter der Figur des Lehrers mag der strenge Vater
stecken. Vielleicht in einer tiefern Schicht auch die kindlich-sadistische
Auffassung des Sexualaktes.'
Im dritten Traume wird das „Erlebnis“, von dem uns Johanna aus-
führlich berichtete, wiedererlebt. Die Leute sagen, die Mutter Margrits sei
gestorben. Ob im Traume der Tod der Mutter als Bedingung zum Aus-
leben der sexuellen Wünsche und Agressionsphantasien Margrits gemeint
ist, das zeigt der Satz: „Ich war wie versteinert... als die Mutter noch
lebte.“ Aus dem Traume geht deutlich hervor, daß sich das Mädchen in
seinen sexuellen Wünschen beeinträchtigt und gehemmt fühlt, und das
deshalb der unbewußte Traumwunsch den Tod der Mutter betrifft. Wenn
das junge Weib in der Pubertätszeit neue Fixierungen sucht, so erwacht
der weibliche Ödipus-Wunsch von neuem; es erwacht wieder, was einst
war, als das kleine Mädchen die Mutter zwischen sich und seinen An-
sprüchen 'an den Vater fand.
Im weiteren zeigen uns die Berichte Margrits deutlich das Sträuben
gegen eine Identifizierung mit der Toten. Sie bereut, die Tote angesehen
zu haben, weil diese so entstellt war. Margrit wünscht schön, auch noch
im Tode schön zu sein. Es erschüttert sie der Gedanke, daß sie der Tod
so entstellen könnte, wie es bei Emma geschehen ist. $7
Margrit findet wie Gertrud, man sollte einander gut sein, während man
lebt, Doch hat sie ihren Geschwistern gegenüber ein schlechtes Gewissen,
deshalb trifft sie sich selber auch mit dem Vorwurf, gegen ihre Geschwister
nicht immer lieb genug gewesen zu sein.
Die letzte Arbeit, die ich erhielt, weist darauf hin, daß Todesfälle die
Gespensterfurcht, den Dämonenglauben zu erwecken vermögen. Den Ansatz
zu einem solchen Glauben erfuhren wir schon im Berichte Rudolfs und
Rosas. Der Knabe sprach vom Tode als von einem aus den Toten aus-
tretenden und in einen anderen Menschen eintretenden unsichtbaren Geist,
Rosa erzählte von etwas Kaltem, das sie ihren Rücken hinaufsteigen fühlte.
Mina: Seit dem Tage, wo ich zum ersten Male eine Leiche sah,
habe ich am Abend Angst, und deshalb schlafe ich bei der
ı) Freud: Ein Kind wird geschlagen. (Gesammelte Schriften, Bd, V.)
in.
Beiträge zur Psychologie der Trauer- und Bestattungsgebräuche 193
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Schwester. Und ich habe es sehr ungern, wenn sie später als ich
zu Bett gehen will. Da gibt es oft Streit.
Und dann noch etwas: an einem Abend, als wir beim Nachtessen saßen,
sagte der Vater, letzte Nacht habe ihn das Toggeli (ein Alp) geplagt.
Wir fragten, was das sei. Er sagte, ein Gespenst, das komme zum Schlüssel-
loch hinein und wolle einen erwürgen. Er habe es letzte Nacht gehört,
wie es auf das Bett gekommen sei. Hanni und ich glaubten das, und wir
durften fast nicht in das Bett gehen. Dann kam die Mutter zu uns in das
Stübli und sagte uns, wir sollen doch keine Angst haben, das sei nur
Aberglauben. Endlich schliefen wir ein. Am Morgen sagte das Hanni zu
mir: „Es ist nicht gekommen.“ „Vielleicht kommt es dann heute Abend“,
gab ich zur Antwort. Aber es kam wieder nicht. Am dritten Abend hatte
Hanni ein Rendezvous. Da hatte es Angst und fragte mich, ob ich
mitkomme. Ich sagte ja, denn ich hatte auch Angst, allein zu
bleiben, rasch zog ich andere Kleider an und den Mantel.
Als wir heimkamen und ins Bett wollten, da sahen wir ob Rüedels
(des Bruders) Bett eine weiße Gestalt. Ich sagte zu Hanni: „Schau, jetzt
ist es dat!“ — Es fragte: „Ja — wo denn?“ — „Dort bei Bruders Bett!“
Es schlüpfte vor Angst unter die Decke und ich auch. Dann rief
Hanni dem Vater, aber der hörte nichts und kam nicht. Dann hielten wir
uns eine Zeitlang ganz mäuschenstill unter der Decke. Dann guckte ich
ein wenig hervor und sah nichts mehr. Ich sagte es Hanni. Es schlug die
Decke zurück und schaute. Aber kaum hatte es die Decke weggeschlagen,
kam das Toggeli wieder unter Rüedels Kopfkissen hervor. Mir machte es
anfangs heiß vor Angst. Wir schlüpften wieder unter die Decke. Dann,
später, sahen wir nichts mehr und schliefen ein, es war schon spät. Am
Morgen erzählten wir es der Mutter. Der Rüedel sagte, er habe nichts
gesehen und lachte uns nur aus.
Nach etwa einer Woche sagte die Mutter, der Rüedel habe ein Stück
_faules Holz unter dem Bette gehabt, sie habe es beim Aufräumen gefunden.
Er habe das mitgenommen, um uns fürchten zu’ machen. Aber seitdem
hat Hanni immer so Angst, daß es nicht mehr allein im Dunkeln sein
will, es darf nicht mehr allein in den Keller.
Zunächst scheint es uns, das Toggeli bedeute die Straferwartung für
gewünschte und ausgelebte Sexualität. Aus den vorher mitgeteilten Auf-
sätzchen wissen wir, woher die Mädchen Strafen für libidinöse Wünsche
erwarten: von der Mutter. Wir wissen auch, daß die Mädchen im Sinne
ihrer weiblichen Ödipus-Einstellung der Mutter den Tod wünschen und
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194 | Hans Zulliger i
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diesen Wunsch verdrängen. Die genannte Einstellung erhält zur Zeit der
Pubertät neue Gefühlszuschüsse. Schließlich berichtet uns die Ödipus-Sage,
daß sich Ödipus zur Strafe und Sühne für sein böses Unterfangen bestrafte,
er blendete (kastrierte) sich. Der Ödipus-Wunsch erweckt im modernen
Menschen keine geringeren Sühnetendenzen, als im antiken. Das Toggeli
könnte also die personifizierte Strafe für die Todeswünsche der Töchter
gegen die Mutter bedeuten und die Töchter bedrohen. In der Figur des
Dämons richtet sich der Todeswunsch gegen den Wünschenden selber
(Taliongesetz): er droht mit der Tötung, im Falle des Toggeli mit Erwürgen
oder Erdrücken. Die Todeswünsche der Töchter erfahren auf dem Wege
der Projektion ihre Umgestaltung in einen Dämon.'
Wenn wir den Aufsatz Minas daraufhin untersuchen, ob das Toggeli
eine männliche oder eine weibliche Figur bedeute, so werden wir nicht
ganz klar. Das Volk denkt sich im allgemeinen das Toggeli, den Alp, wie
es etwa auch genannt wird, als einen männlichen Geist. Wenn uns Mina
sagt, das Toggeli erwürge einen, so sind wir geneigt, auch an einen männ-
lichen Geist zu denken. Das Erwürgen, das auf der Brust sitzen, das Keuchen
des Angegriffenen erinnern an kindliche Vorstellungen beim Geschlechts-
akte. Mina berichtet uns dann aber von einer „weißen Gestalt“. „Gestalt“
deutet jedoch darauf hin, daß auch an eine weibliche Figur gedacht wurde,
In unserem Dialekt bedeutet das Wort eine weibliche Figur. Mina
beherrscht das Hochdeutsche zu wenig, um einen deutlichen Unterschied
zu machen. |
Wenn das Toggeli, das Mina bedroht, eine weibliche Figur ist, so wird
der Eindruck verstärkt, daß der Dämon irgendwelche Beziehungen zur
Mutter-Imago haben. muß. Es zeigen sich aber auch, wenn wir die Form
des erwarteten Angriffes der Dämonengestalt auf Mina in Betracht ziehen,
deutliche homosexuelle Züge.
- Wir finden noch einen weiteren Hinweis. „Toggel“ sagt die Mutter der
Tochter etwa, wenn sie zornig über ihre Tochter ist. Das Wort hat die
Bedeutung eines eingebildeten, halsstarrigen, lächerlichen Mädchens, mit dem
man nichts anfangen kann. Im Toggeli wird die Mutter klein und lächerlich
gemacht (Diminutiv), zugleich hat sie als Dämon unheimliche Macht. Eine
Parallele zu diesen gegensätzlichen Eigenschaften ist die Bisexualität der
Figur, so wie sie das Mädchen und ihre Schwester sich vorstellen.
ı) Freud: Totem und Tabu. (Gesammelte Schriften, Bd. X.) Hofmann: Über
Gespensterfurcht. („Die Schulreform.“ Bern, Jahrgang ıg2ı,) Häberlin; Sexual-
gespenster. („Sexualprobleme“, Bd. VII, ıgı2.)
|
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Beiträge zur Psychologie der Trauer- und Bestattungsgebräuche 195
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Das Toggeli erschien den Mädchen prompt dann, als sie zum Rendez-
vous gingen, also nach einer zur sexuellen Aggression hintendierenden
Handlung. Die Dämonenfurcht wird dann gedämpft, als das Gespenst eine
natürliche Aufklärung durch das Auffinden des Faulholzes erfuhr. Psycho-
logisch ändert das jedoch an unserer Erkenntnis nichts. Wir vernehmen
ja, daß eine Angst vor der Dunkelheit fortbesteht, und daß sich bei dem
einen der Mädchen, wahrscheinlich auf regressivem Wege, ein neues
Symptom zeigt: die Angst, in den Keller zu gehen. Wir erinnern uns
an die Bedeutung des in den Keller Gehens aus Träumen und Analysen
von Phobien und dürfen vermuten, daß alte und verdrängte Önanie-
befürchtungen durchgebrochen sind.
Wenn wir schließlich zusammenfassen, so können wir aus dem vor-
handenen Materiale folgende Ergebnisse ziehen:
Sowohl Knaben wie Mädchen stehen beim Anblick der Toten unter dem
Eindrucke der Angst. Man erwartet, die Tote könnte noch handlungsfähig
sein. Der Tod könnte als Geist aus ihr heraustreten und die Lebenden
bedrohen. Dämonenfurcht erwacht.
Die Beerdigung wirkt als Beruhigung auf die Lebenden. Schüler und
Schülerinnen neigen zur Identifikation ihrer selbst mit der Toten. Dagegen
sträuben sich narzißtische Tendenzen und das Ich-Ideal, sowie auch die
Lebenstriebe. Bei den Mädchen erhält die Identifikation ein Moment der
Befriedigung, wenn Rachegelüste an den Müttern erfüllt werden können,
Die Knaben empfinden ihrer Einstellung auf ihre eigenen Mütter gemäß
mehr Mitleid mit der Mutter der Verstorbenen als mit dem Vater.
Das Mitleid, wo es verstärkt zum Ausdruck kommt, mag ein zusammen-
gesetztes Gefühlsphänomen sein, das auf der Basis verdrängter sadistischer
und sublimierter masochistischer Triebansprüche beruht. Die unterdrückten
sadistischen Komponenten gaben ihre Energie an die masochistischen ab.
Eine auffallende Erregtheit zeigten besonders Lina, deren Stiefmutter eben
gestorben war, und Katharina, die Spezialfreundin der Abgeschiedenen,
Ganz besonders deutlich wird die Ambivalenz der Empfindung bei der
ersteren, die aussagt, sie habe nicht weinen können, doch sei es ihr „ganz
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sturm” geworden.
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ı96 | | Hans Zulliger
Ein Knabe, der die Tote mit seiner jüngeren Schwester identifiziert,
sühnt durch Fasten, auch ein Mädchen fastet, die Mädchen geben zum
Teil ihre ambivalente Einstellung zur Toten offen zu. Sie identifizieren
die Tote mit Schwestern und Mutter. Dies geschieht auf dem Wege der
Ödipus-Einstellung und verlangt nach Sühne. Der geririgste Tribut außer
dem Kranze, den die Allgemeinheit spendet, sind Tränen der 'Trauer, Der
. stärkste ist Gespensterfurcht. Diese hat den Sinn einer Selbstbestrafung für
aufgerührte Ödipus-Wünsche.
Aber auch das Hingehen und noch einmal Anschauen des Leichnams
wird als Opfer verständlich (Martha). Zugleich bedeutet es ein sich Über-
zeugen, daß die Verstorbene wirklich tot sei.
Auffallend war, daß die Knaben abmachten, die Tote nicht mehr an-
zuschauen. Sie weinen auch nicht und zeigen viel weniger Zeichen der
Trauer, als ihre gleichaltrieen Kameradinnen. Um diesen Zug zu verstehen,
müssen wir uns vor Augen halten, daß die Trauer auf Selbstvorwürfe auf-
gebaut ist und eine Sühne bedeutet. Beim Tode einer weiblichen Person
werden die Knaben weniger daran erinnert, was sie zu sühnen haben, als
wenn einer der ihren gestorben wäre. „Vielleicht, wenn es ein Knabe
gewesen wäre, so wären wir hingegangen, um den Leichnam zu sehen“,
sagten sie. Wir erraten, daß der Tod eines Mädchens ihnen viel weniger
Ödipus-Wünsche symbolisch erfüllte, als wie ihren Mitschülerinnen. Die
stärker koartierte, mehr introversive Art der Knaben in dem Alter mag zu
ihrem mehr stoischen Verhalten beigetragen haben.'
Schließlich haben uns einige Berichte an gewisse Gebräuche und Zere-
monielle bei der Bestattung erinnert: es müssen Trauerkleider angezogen
werden, beim Begräbnis muß geläutet werden, die nächsten Verwandten
sollen Erde auf den Sarg werfen. Man auferlegt sich Fastenzeiten. Darauf
soll später zurückgekommen werden. Es sei vorläufig nur gesagt, daß auch
sie ihre Begründung in der Angst vor der Wiederkehr des Toten finden,
Die Zeremonielle stehen im Zeichen der Sühne und der Abwehr der
Gefahr, die ein Toter für die Lebenden bedeuten könnte, aber auch in
einer Regression der Libido der Trauernden auf eine frühere Stufe. Wenn
uns die Angst und das Weinen und Benommensein mehr an hysterische
Zustände erinnerten, so könnten wir die Bestattungsgebräuche mit zwangs-
neurotischen Mechanismen in Parallele setzen. Um sie genauer zu unter:
suchen, müssen wir vorerst alle die Gebräuche betrachten, die bei uns
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| ı) H.Rorschach: Psychodiagnostik. Bircher, Bern, H. Behn: Schüleruntersuchung
mit dem Formdeutversuch, FEbenda,
Beiträge zur Psychologie der Trauer- und Bestattungsgebräuche 197
üblich sind, und einiges Material in der Völkergeschichte und bei den
Primitiven sichten.
Zuvor wollen wir mit der seelischen Einstellung, welche die Lebenden
den Toten gegenüber einnehmen, zu einem Abschluß kommen. Wir haben
gefunden, daß der moderne Kulturmensch fast gar nur noch die eine Kehr-
seite dessen erkennt, was ihn beim Tode eines Mitmenschen bewegt, nämlich
die Pietät. Sie ist eine unzulängliche Rationalisierung. Die andere Seite zu
ergründen, kostet uns schon einige Mühe. Freud ging den Weg in seinen
Untersuchungen über das Seelenleben der Wilden und dessen Überein-
stimmungen mit dem Seelenleben der Neurotiker („Totem und Tabu:
Das Tabu der Toten). ß
Gestützt auf das Material aus den zitierten Kinderaufsätzen erhalten wir
den Eindruck, daß genau die gleichen seelischen Gesetze auch für die
Normalen gelten. Vieles, was der Erwachsene verdrängt hat, kommt beim
Kinde noch naiv ans Tageslicht. Wenn wir die Entwicklung des Kindes
zum Erwachsenen mit der Entwicklung des Primitiven zum Kulturmenschen
n Parallele setzen, so verwundern wir uns nicht, beim Kinde ein größeres
Maß von Auskünften erhalten zu können, als beim erwachsenen Europäer,
weil es noch weniger verdrängt hat.
1
Über Speiseverbote und Fastengebräuche
Eine Anzahl der Schülerberichte hat uns auf ein eigentümliches Symptom
aufmerksam gemacht: als gewisse Schüler vom Tode ihrer Mitschülerin
vernahmen oder sie im Sarge liegen sahen, aßen sie in der darauffolgenden
Mahlzeit nichts — sie fasteten. | |
Es kommt nun häufig vor, daß Trauernde nicht mehr essen können,
sie fasten aus einer inneren Nötigung und erzählen uns, wenn sie Speisen
sähen, so schnüre es ihnen den Hals zusammen. Man gibt daran der
Depression Schuld, weil man die Beobachtung gemacht hat, daß ein
depressiv Verstimmter weniger ißt, als ein Normaler oder gar ein manisch
Verstimmter. Die Melancholischen in unseren Irrenhäusern weigern sich
oft, zu essen und erbrechen sich, .wenn man sie zum Essen zwingt.
Die Trauer in einem Trauerhause steckt die von weit hergekommenen
Verwandten an, auch sie bringen wenig oder nichts herunter, wenn sie
Imago X. 2 u.5 14
Bd u U ce
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198 Hans Zulliger
zum Essen genötigt werden. Ist dann aber der Tote begraben, so wird ein
Essen genossen, bei dem es nicht selten hoch her geht. Die bernische
Regierung und wohl auch Regierungen anderer Staaten mußten zu wieder-
holten Malen gegen die Eßunsitten nach den Begräbnissen gesetzlich ein
schreiten."
Das Fasten: der: Trauernden-- kann »als:»ein. Trauerzeichen gelten, etwa
wie das Weinen, das Stiften von Kränzen, das Setzen eines Grabsteines, die
Trauerzeremonielle und Begräbniszeremonielle. Diese Gebräuche sind uns
als Vermeidungs- und Abwehrmaßnahmen gegen die bedrohlichen Gelüste
des wiederkehrenden Toten durch Untersuchungen bei den Primitiven
erklärbar geworden. Freud hat den Sinn der Furcht vor den Toten aus
der Ödipus- Einstellung ableiten können, er hat gezeigt, daß sich beim Tode
eines Angehörigen aber auch eine Summe Libido der Überlebenden ablöst,
die vorher an den Toten fixiert worden war. Diese Libido kann sich jedoch
nicht sehr leicht und sehr rasch an ein neues Objekt fesseln, sie erliegt
der Regression und verstärkt den einen oder den anderen Partialtrieb, vor
allem den masochistischen.
Wenn wir uns auf der heutigen Welt umsehen, so finden wir, daß der
Brauch überall heimisch ist, bei den Primitiven wie bei den Kulturvölkern
aller Religionen. Wir finden uns genötigt, einen kurzen geschichtlichen
Rückblick auf die Fastengebräuche zu tun, in der Hoffnung, etwas zur
Aufklärung der Gebräuche zu entdecken.
Wir vernehmen, daß Aramäer, Araber, Assyrer, Ägypter, Äthiopier,
Juden, Römer und Griechen fasteten. Wenn wir uns an die Berichte des
Alten Testamentes halten, so vernehmen wir, daß David beim Tode Sauls
fastete, so. wie es auch die Bewohner der Stadt Jabes sieben Tage lang
taten. Der Brauch wird als Gott wohlgefällig betrachtet. Gott kann durch
Fasten umgestimmt und versöhnt werden. Deshalb fastet man bei Krank-
heit von Angehörigen, bei Heuschreckenplagen, oder wenn ein anderes
Unglück das Volk bedroht. Die Juden neigen dazu, eine Hungersnot als
ein allgemeines, von Gott auferlegtes Fasten zu betrachten. Fasten wird
zur Buß- und Opferhandlung, und am großen Versöhnungstage wird es
allgemein geübt. Häufig wird es von Zeremonien begleitet, die sonst nur
ı) Nach J. J. Frickart (Beiträge zur Geschichte der Kirchengebräuche im ehe-
maligen Kanton Bern) schritt die Regierung ein in den Jahren 1608, 1628, 1639. Die
Begräbnismähler wurden verboten. Sie setzten sich jedoch durch, so daß die Regie-
rung am 25. Februar 1830 insofern nachgab, daß nicht übertriebene Mahle gestattet
wurden,
3
Beiträge zur Psychologie der Trauer- und Bestattungsgebräuche” 199
bei Trauerbräuchen vorkommen: man zerreißt seine Kleider, zieht Trauer-
kleider an, bestreut das Haupt mit Staub und Asche.
Jesus tritt dann mehrmals für eine freiere Auffassung des Fastens ein.
Dennoch setzt sich der Fastengebrauch in der christlichen Religionsübung
mit Macht durch, ganz besonders in den Klöstern und bei den asketischen
Sekten. Vor allem wird es geübt, bevor man das heilige Abendmahl ein-
nimmt, „es bedeutet eine Vorbereitung dazu“.” In der römisch-katholischen
Kirche wird in Erinnerung an die Gefangennahme Jesu (Mittwoch) und
an die Kreuzigung (Freitag) an Mittwochen und Freitagen gefastet. Im
dritten Jahrhundert kommt an Stelle des Mittwochs der Samstag, weil am
Sonntag das Abendmahl vom Priester verabreicht wird. Fasten bedeutet
eine Reinigung, man erhofft von ihm Sündenablaß. Strenge wird das Fasten
vor Ostern (Quadragesimalfasten) durchgeführt. Man fastet jedoch auch in
der Adventzeit, also vor der Geburt Jesu, und am Todestage der Maria,
am ı5. August. Der Brauch wird so gehandhabt, daß man sich aller Nahrung
enthält, andere nehmen nur kein Fleisch zu sich, wieder andere verweigern
sogar auch Milch und Eier als Abkömmlinge von Tieren, Heilige aßen
auch keine Früchte, weniger Strenggläubige aßen zur Fastenzeit auch Fische,
Vögel und Fischotter. Sie begründeten es damit, daß genossen werden
dürfe, was aus dem Wasser komme, so auch die Vögel, weil sie nach
Moses aus dem Wasser stammen.3 Die allgemeine Vorschrift untersagt
Fleisch- und Weingenuß. Als Fastenzweck bezeichnet die Kirche den
Gehorsamsbeweis der Gläubigen, das Tridentiner Konzil empfiehlt es
auch „zur Abtötung der fleischlichen Gelüste“.
Vor dem großen Fasten vor Ostern wird die Fastnacht (Carna vale)
gefeiert. Man will vor den mageren Tagen nochmals so recht und von
Herzen in Essen und Trinken schwelgen, es kommen dabei jedoch auch
jede andere Lustbarkeit und besonders die Liebe nicht zu kurz. Auf die
Fastnacht und das darauffolgende Fasten wird vielerorts besonderes Gebäck
bereitet, Fastnachtküchli, ungesalzene Bretzeln, vielerorts auch Hirsebrei,
der dem Fastnachtmontag den Namen Hirsmontag gegeben hat.
Fastengebräuche gingen auch in den reformierten Glauben über. Es ist
nicht uninteressant, daß der Brauch von den Lutheranern viel strenger
gehandhabt wird, als bei den Zwinglianern. Dieser konservative Zug der
ı) Hauck: Realenzyklopädie für die protestantische Theologie und Kirche.
Leipzig 1898.
2) Bericht von Hans Achelis, V, p. 770 ff. in obgenanntem Werke,
a) Bericht von Hans Achelis, siehe oben.
200 Hans Zulliger
Lutherschen Lehre zeigt sich auch darin, daß sie behauptet, das Brot und
der Wein desAbendmahls würden im Leibe der Christen wirklich
in Fleisch und Blut Jesu gewandelt. Weil Zwingli die Speisen des
Abendmahls nur als Symbole verstehen wollte, konnte er sich bei der
Zusammenkunft der beiden Reformatoren in Marburg nicht mit Luther
einigen. Vielleicht gelingt es uns später, diesen Konservativismus Luthers
und den Zusammenhang des lutherischen Fastenbrauches mit dem Glauben
an die Wandlung zu verstehen. Die Zwinglianer fasten vor dem Genuß
des Abendmahls privatim. In der Quadragesimal- und Adventzeit sind Musik,
Spiel, Fest, Tanz, öffentliche Lustbarkeiten und Eheschließungen verpönt,
Nach Weihnachten aber werden Verlöbnisse gefeiert, in der letzten Woche
des Jahres vielenorts Mummenschanz getrieben wie in der katholischen
Fastnacht. Nach Ostern werden die meisten Ehen geschlossen. Nach den
Fastenzeiten werden Gelage und Essereien gefeiert, man ißt ganz besonders
Fleisch und die Speisen, die man in der Fastenzeit vermied.
Auch die Mohammedaner fasten. Sie tun es mehr oder weniger strenge,
aber am zehnten Tage des Monats Murharrem ist es allgemein üblich: es
ist der große Versöhnungstag.
Speiseverbote und Fasten empfehlen heute auch allerlei vegetarische
Gemeinschaften aus angeblich hygienischen Gründen. Das Fasten soll
den Menschen reinigen und ihn vor Krankheiten und Ansteckung beschützen.
Der Sündenfall bedeutet für sie das erste Essen von Fleischnahrung. Wie
weit aber in ihrem Aposteltum affektive Momente mitspielen, das beweisen
die offenbaren Ausdrücke des Ekels, die sie für Fleischnahrung gebrauchen,
Wörter, wie „Leichennahrung“, „Verseuchen mit Tierleichengiften“, „Tier-
leichenbrei“ (für Wurstwaren), sind bei ihnen nicht selten. Fleischgenuß
verhindert die „unbefleckte Erkenntnis“, die Reinheit und die Keuschheit.'
Fasten befähigt zu den größten physischen und psychischen Leistungen,
behaupten sie und wollen es an den Heiligen beweisen, die alle fasteten.
Fruchtnahrung, Rohkost wird als „Urnahrung“ und „paradiesische Kost“
bezeichnet. Bei ihren Erfolgen geben sie zu, daß es beim Fasten sehr
auf psychische Momente ankomme. Diese werden jedoch nicht näher be-
zeichnet. “
Über das Fasten, die Speiseverbote, das Speisetabu der Primitiven haben
uns Freud? und Reik? berichtet.
ı) Ehret: Gesunde Menschen. München.
2) Freud: Totem und Tabu. (Gesammelte Schriften, Bd, X.)
3) Reik: Die Couvade etc, (Imago ıg14, Heft 5).
Beiträge zur Psychologie der 'Trauer- und Bestattungsgebräuche 201
Diese Autoren stellten fest, daß man vor dem Totenmahl (Reik: vor
der Geburt eines Kindes fastet der Vater) fastet. Das Mahl bedeutet das
symbolische Aufessen des Urvaters. Die Stammesmitglieder identifizieren sich
mit den Söhnen, die gemäß ihrem Ödipus-Wunsche den Vater töten und
der oralen Stufe ihrer Libido entsprechend aufessen. Durch das Aufessen
vereinigen sie sich mit dem Vater, sie identifizieren sich mit ihm, seine
Eigenschaften gehen auf die Söhne über. Weil sie sein Erbe, die Mutter
nicht alle besitzen können, da sie unter sich homosexuell gebunden und
nicht willens sind, ein neues Blutbad anzurichten, so verzichten sie auf
sie. Sie tun es auch aus Vergeltungsfurcht. Nachträglich gehorchen
sie den Geboten ihres Vaters, die sich auf den sexuellen Verkehr mit der Mutter
und den anderen Frauen ihres Vaters beziehen. Es entsteht die Exogamie.
In einer späteren Stufe ist das Ich-Ideal schon so stark, daß die lötung
des Vaters von der Tötung eines als Urvater oder Stammvater bezeichneten
Totemtieres abgelöst wird. Die Totemgesetze regeln auch die Exogamie.
Zu bestimmten Zeiten, nämlich mit der Mannbarmachung (Pubertätsriten),
wird der Totem geschlachtet und verspeist, daraufhin werden Orgien
gefeiert, bei Anlaß deren man sich nicht scheut, den sonst unter Todes-
strafe stehenden Inzest! zu begehen. Was vom getöteten Urvater nicht ver-
speist werden kann, wird begraben. Es wurde nachgewiesen,” daß an ver-
schiedenen Orten, so bei den Tonga auf Melanesien heute noch der Brauch
herrscht, dem toten und begrabenen Häuptlingsvater seine Exkremente als
Opfer auf das Grab zu setzen. An anderen Orten wird heiliges Geld an
Stelle der Exkremente dargebracht. Nach dem Totemmahl ist der Genuß
der Totemspeise tabuiert. Die verbotene Speise ist also ursprünglich
Menschenfleisch. Erst später, als der Totemismus aufkam, wurde sie
Tier- oder Pflanzennahrung (letzteres dort, wo der Totem eine Pilanze ist),
Das Speiseverbot, dessen Ausdruck das Fasten ist, wird uns nun verständ
lich; es ist der Gegensinn, die Gegenhandlung des Aufessens des Toten,
ursprünglich des toten Vaters, und wir wundern uns nicht länger, daß
heute das Fasten in Trauerfällen geübt wird. Es bedeutet einen Verzicht,
ein Opfer, bevor man an das symbolische Verspeisen des Toten (Toten-
mahl) herangeht.
Wir wollen aber die Zustände in der Urfamilie und bei den Primitiven
noch ein Stück weiter verfolgen. Wir haben vernommen, daß nach der
ı) Zeller: Die Knabenweihen. Bern.
2) Röheim: Heiliges Geld in Melanesien. (Internationale Zeitschrift für Psycho-
analyse. Jahrg. IX, 1923.)
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2 02 b. Hans Zulliger
Tötung und dem Verspeisen des 'Totemtieres Orgien aller Art gefeiert
wurden, die Gesellschaft geriet außer Rand und Band, weil eben der Ur-
vater als die Verkörperung jeglichen Gesetzes und jeder Ordnung nicht
mehr da war. Am Tage nach diesem Urfeste aber müssen gewisse Reini-
gungszeremonien vorgenommen werden, denn das Tabu, das auf dem
toten Totem ruhte, ist nun durch das Essen auf die Essenden übergegangen.
Tabu heißt heilig und unrein. Durch das Essen belud man sich ebenso
mit Schuld, als man sich mit dem Urvater identifizierte. Man muß sich
entsühnen mit Feuer und Wasser. Erst dann kann das Leben wieder seinen
gewohnten Lauf nehmen. Röheim hat nachweisen können, daß diese
Reinigung (Feuer und Wasser) einen Übergang von der analen über die
urethrale zur genitalen Erotik bedeutet. Der auf den Toten und Ver-
speisten gerichtete Libidoanteil, welcher sich auf oraler und anal-sadisti-
scher Stufe befand, wird frei und gelangt auf dem Wege über die urethrale
zur genitalen Stufe, die sich ein Objekt sucht. Die Wilden, die am Totem-
fest mannbar gemacht wurden, suchen sich Frauen.
Reik hat gezeigt, daß auch die Speiseverbote in der Couvade auf ver-
drängte orale Wünsche zurückzuführen sind, die das zu erwartende Kind,
aber auch die Mutter betreffen. Auch hier werden nach Ablauf einer
bestimmten Zeit gerade diejenigen Speisen übermäßig genossen, die tabuiert
waren,
Sowohl in der Couvade als auch bei den Tabuzeiten nach dem genossenen
Totenmahle werden nicht nur Speiseverbote, sondern auch eine Anzahl
anderer Beschränkungen und Versagungen beobachtet, die sich im beson-
deren auf das Sexuelle beziehen. Ihren Ursprung haben sie im „nach-
träglichen Gehorsam“ gegen den getöteten „Vater“ (Totem).
Nachdem wir soviel über die Speiseverbote und ihren Sinn wissen,
werden uns auch die Fastenbräuche der Kulturmenschheit klar.
Sie gingen allgemein aus der Trauer hervor. Sowohl Juden, wie Christen
und Mohammedaner fasten am Versöhnungstage oder vor dem Abendmahl.
Das Abendmahl bedeutet eine orale Erinnerung und Identifizierung mit
Gott. Denn Jesus, der Gottessohn, ist Gott selber, wie er es aussprach, und
wie es die katholische Kirche und das Dreieinigkeitsdogma bezeugen.
Man fastet aus „nachträglichem Gehorsam”, der vor das Totemmahl
(Abendmahl) verschoben wird, und glaubt, damit Gott wohlgefällig zu sein,
sich mit ihm zu versöhnen und ihn günstig zu stimmen. Die Sünde, für
die durch Fasten Ablaß erreicht werden soll, ist der orale Wunsch nach
Gott als dem Vater. Es wird uns auch verständlich, warum sich trotz der
Beiträge zur Psychologie der Trauer- und Bestattungsgehräuche 203
freieren Auffassung des Christus das Fasten im späteren Christentum so
eindringlich durchsetzte. Jesus hätte das Abendmahl, das Verspeisen
Gottes zum Zwecke der innigen Identifizierung mit Gott, nicht
einführen müssen, wenn er das Fasten hätte abschaffen wollen. Denn mit
dem Abendmahl übernimmt der Gläubige die Ödipus-Schuld,
und mit ihr die Reaktion des Gewissens. Wenn die Juden zu dem
Fasten die Kleider zerrissen und sich wie bei der Trauer benahmen, so
stimmt ‚das überein mit der gefundenen Erklärung des Fastens: man trauert
um den getöteten Gottvater. Die Parallelen in den Religionen können nie
restlos dadurch verstanden werden, daß man die Völkerwanderung und
Völkervermischung dafür verantwortlich macht: daran sind vorzugsweise psycho-
logische Momente schuld, die eben bei der ganzen Menschheit dieselben
sind und ähnliche Bräuche und Mythen religiöser Art schufen. Auf gleichem
Wege wie es beim Analogiezauber’ geschieht, wenden die Juden das Fasten
auch bei Heuschreckenplagen und Volkskatastrophen an, und der Schluß ist
naheliegend, daß der Gott eine Hungersnot als Fastenzwang über sein Volk
verhängt, wenn es ihm nicht gehorsam war: Fasten bedeutet ja nachträg-
lichen Gehorsam, Die christliche Lehre bestimmt als Zweck des Fastens
auch den Gehorsam gegen Gott und empfiehlt es gegen sexuelle
Gelüste. Wir erinnern uns, daß bei den Primitiven neben dem Fasten
auch die sexuelle Enthaltung bis zum Reinigungsfeste gefordert ist. Auch
die Christenheit verspricht sich vom Fasten eine Reinigung. Man fastet in
Erinnerung an die Gefangennahme und an den Tod Jesus, des „Vaters“
der christlichen Religion, des Vatergottes in der Anschauung der Kirche,
wie sie oben entwickelt wurde. Es wird — in Analogie mit dem Todesfall
Christi — auch am Todestage der Maria gefastet, in der Parallele zu den
Couvadebeschränkungen der Wilden aber auch vor Weihnachten als vor
der Geburt des Herrn.
Zu dem auf dem erfüllten Ödipus-Wunsch aufgebauten nachträglichen
Cehorsam haben wir bei den Primitiven besondere sexuelle Versagungen
vorgefunden. Wundern wir uns, wenn vor Weihnachten und Ostern keine
Feste und Lustbarkeiten gefeiert und keine Heiraten geschlossen werden
dürfen? Wir sehen nicht nur hierin eine Parallele, sondern auch darin, daß
nachher all das im Übermaße gemacht wird, was während der Fastenzeit
hintangehalten worden war, wie es auch bei den Wilden in der Übung ist.
Allgemein verbietet die katholische Kirche den Genuß von Fleisch und
Wein. Wein ist im Abendmahl das Symbol für das Blut Jesu. Das katho-
ı) Silberer: Der Aberglaube. Bern 1922.
204 Hans Zulliger
lische (und lutheranische) Bekenntnis glaubt an die Wandlung des Weines
in wirkliches Blut Jesu (Brot = Fleisch). Darum das Verbot des Wein-
genusses. Daß der Fleischgenuß nicht gestattet ist, erklärt sich aus der Er-
kenntnis, daß das Fleisch von Tieren ein Ersatz ist für das ursprünglich
und bei den auf niederster Stufe stehenden Kannibalen Australiens und
Amerikas heute noch bestehende Mahl von Menschenfleisch.
Merkwürdig mutet es uns auf den ersten Blick an, daß den Katholiken
das Essen von Fischen, Vögeln und anderem Getier, das seinen Ursprung
im Wasser hat, zur Fastenzeit gestattet ist. Die Annahme, dieser Brauch sei
von den wohllebenden Prälaten erfunden worden, um doch zum Fleisch-
genuß zu gelangen, erklärt uns diesen Zug nicht vollständig. Für das
Unbewußte muß eine Speise, die aus dem Wasser stammt, eine
ganz andere Bedeutung haben, als eine, die ihren Ursprung auf
der Erde hat. Die Reinigungszeremonien nach dem Totemmahl der Primi- '
tiven geben uns da einen Fingerzeig. Wasser gehört zu dem symbolischen
Material der Urethralerotik, während Erde zu dem des analen gehört! — es
sei darauf hingewiesen, wie viele Ausdrücke noch heute zugleich Erde und
Exkremente bedeuten. Was aus dem Wasser kommt, hat also für das Un-
bewußte einen ganz anderen Sinn, als was vom Lande kommt, oder auf
der Erde umgeht. Fische und Vögel sind gleichsam Abkömmlinge
eines urethralerotisch besetzten Stammortes. Die Vermeidungen
des Fastens betreffen jedoch Dinge, die unmittelbarer mit dem Analen zu
tun haben. Darum sträubt sich das Gewissen nicht, Fische und Vögel zu
essen, die ja schon rein äußerlich an genitale Formen erinnern.
Die Geschichte zeigt uns schon durch Hinweis auf viele Züge, daß
Luther der weniger sublimierte Reformator als Zwingli war, welcher
den ganzen Humanismus in sich aufgenommen hatte. Seine Identifikations-
sehnsucht nach Gott konnte sich wohl darum nicht in so abstrakten Formen
bewegen, wie diejenige Zwinglis, und das mochte der Grund sein, warum
er mit Hartnäckigkeit an dem Wunder der Wandlung festhielt. ?
Die Vegetarianer unserer Zeit, die den Sündenfall? im Fleischessen
sehen, treffen mit ihrer Ansicht unbewußterweise das richtige: Das Töten
ı) Röheim: Heiliges Geld in Melanesien. (Internationale Zeitschrift für Psycho-
analyse 19232.)
2) Für viele Rohköstler bedeutet Fleisch „das Fleischliche“, tierisch „das Tierische“,
das sie fliehen. Es wäre jedoch oberflächlich, ihre Lebensweise nur aus der Ver-
meidung „fleischlichen und tierischen Genusses“ erklären zu wollen. Daß sie sich
„Heischlichen“ (sexuellen) Genuß nicht erlauben, ist tiefer begründet in ihrem Ödipus-
Komplex. Ihre Lehre ist eine Rationalisierung,
Beiträge zur Psychologie der Trauer- und Bestattungsgebräuche 205
des Urvaters und das Verspeisen seines Fleisches war die erste Sünde, Der
Begriff der Sünde entwickelte sich erst mit der Aufrichtung des „Ichs“
durch (orale) Identifikation mit dem Vater, und des damit verbundenen
Gewissens. Auch die Vegetarianer wollen durch das Fasten „rein“ und
„keusch“ werden, sie sehen im Fleischessen eine „Befleckung“ und gewinnen
aus der vollständigen Speiseenthaltung vor allem geistige Kraft. Es liegt
nahe, zu denken, daß das Fasten ihre unbewußten Schuldgefühle eine Zeit-
lang besänftigt, und daß sie deshalb eine Zunahme ihrer Kräfte wahr-
nehmen. Ein weiterer Faktor ist bei ihnen ganz sicher die Suggestion
ihrer Apostel, welche von der allgemeinen Masse wenig beachtet oder gar
verlacht werden, sich deshalb als Märtyrer vorkommen und benehmen
Solche Leute wirken auf geistig verwandte Kreise immer in hohem Grade
suggestiv.
Wenn wir zu unserem Ausgangspunkte zurückkehren, zum Fasten der
Trauernden, so können wir sagen: Der Tod eines Angehörigen macht ein
Libidoquantum frei, das früher an den Toten fixiert war. Weil es nicht
unmittelbar ein neues Objekt findet, so kann es bis auf die orale und anal-
sadistische Stufe leicht darum regredieren, weil der Tote den Ödipus-Wunsch
symbolisch erfüllt hat. Die Libido wird beim Kulturmenschen aber auf
ihrem Rückwege gleich wieder verdrängt und verstärkt die masochistische
Stufe, die ja der anal-sadistischen sehr’ nahe steht. Hier findet sie einen
Ausweg im selbstquälerischen Hunger-Erleiden. Der Masochismus rückt beı
der tiefen Trauer gleichsam in den Mittelpunkt des Erlebens und es ist
nicht verwunderlich, wenn sich orale und anale Libido gleichsam an-
gliedern, um sich so verausgaben zu können.
Wir wundern uns auch nicht, daß wir die Fastenbräuche auf der
ganzen Welt vorfinden, und daß sie in immer wieder neuen Formen auf-
tauchen. Sie sind so sehr im Menschlichen begründet, daß sie wohl nie
ganz verschwinden werden, ob sie nun in der Art von vorübergehend auf-
tauchenden hysterisch-passiven Speiseverboten beim Tode eines Angehörigen,
oder in Zeremoniellen und Riten, oder schließlich in rohköstlerischen
„Lehren“ bestehen.
Schließlich sei daran erinnert, daß das Fasten in seinem Ursprung nicht
andere Züge und Begründungen aufweist, als der Ekel und das Nicht-
genießenkönnen gewisser Speisen und die Nahrungsverweigerung der Melan-
cholien, die ja in der Regel auf einer Vermeidung bestehen, welche sich
auf der oralen und analen Stufe der Libidoorganisation aufbaut.
EEE u m m u UUODUm Su USuno Daun DU 220 Iu = Q: 2 #20 #7 720 702 S00
206 z Hans Zulliger
II
Begräbnisgebräuche
Einige der Aufsätze meiner Schüler erinnerten uns daran, daß gewisse
Bedingungen erfüllt werden müssen, wenn man an der Trauer teilnehmen
will: man muß Trauerkleider anziehen, beim Begräbnis soll geläutet werden,
es herrscht der Brauch, daß die nächsten Angehörigen eines Verstorbenen
die ersten Erdschollen auf den Sarg werfen, und die Kinder empfinden
es als Mangel, wenn dieser Zeremonie nicht Folge geleistet wird. Wir
könnten uns aber auch fragen, warum wir denn die Toten in einen Sarg
legen, warum wir sie zuvor anziehen, warum wir sie begraben — zu einem
jeden Zug der in der Übung stehenden Begräbnis- und Trauerhandlungen
müßte es eine Erklärung geben. Die Psychoanalyse hat uns ja gezeigt, daß
es keine zufälligen Handlungen gibt.’
Was bei den Kindern zum Vorschein kommt, weist immer wunmittel-
barer auf seinen psychischen Ursprung hin, als was die Erwachsenen produ-
zieren, weil bei ihnen noch weniger Verdrängungs- aber auch Sublimie-
rungsmechanismen die Ursprünglichkeit entstellt haben.
Bei der Betrachtung der Kinderaufsätze fanden wir eine nicht merk-
würdig zu nennende Übereinstimmung der Gefühle der Trauer und ihrer
Herkunft mit den Berichten Freuds über die Primitiven. Nicht merk-
würdig deshalb, weil das Kind dem Primitiven in seiner Entwicklung
näher steht, als der Erwachsene, und weil die Gefühle alleemeinmenschlich
sind, und sich nur die Formen und Rationalisierungen ändern. Wir ahnen
bereits, daß sich die ambivalente Seite unserer pietätvollen Begräbnis-
gebräuche als Sühne-, Opfer-, aber auch als aggressive Abwehrhandlungen
gegen den Toten erklären lassen, dem unser Unbewußtes ja eine unheim-
liche Macht zutraut. |
Wirklich erweisen sich die Gebräuche der europäischen Nationen als
entstellte Resterscheinungen der Magie und des Zaubers der Wilden. Oft
haftet ihnen Aberglauben an. Aus Umkehrungen ehemaliger feindseliger
Regungen wurden fiktive, religiöse und soziale Handlungen geschaffen,
deren ursprünglicher Sinn uns der Neubearbeitung wegen unverständlich
hat werden müssen. Die behaltenen Gebräuche stellen ein Kompromiß von
feindseligen Regungen mit unserem Gewissen dar.
ı) Freud: Psychopathologie des Alltagslebens, (Gesammelte Schriften, Bd. IV.)
Beiträge zur Psychologie der Trauer- und Bestattungsgebräuche 207
Wir wollen uns in den Bestattungsgebräuchen unserer nächsten Um-
gegend ein wenig umsehen, und die verschiedenen Züge dann mit den
Berichten vergleichen, die über die Gebräuche der Wilden vorliegen.’
Tod und Begräbnis in der Schweiz, in Europa und den anderen Erdteilen
Zum Sterbenden kommt der Pfarrer. Der katholische Geistliche hört die
letzte Beichte ab und gibt seinem abscheidenden Pfarrkinde die letzte Ölung
(Totemmahl). Unmittelbar vor dem Tode wird im Freiamt und Kelleramt noch
eine Römerkerze (eine vom Papste geweihte Kerze) angezündet, und um das
Bett, den Mund und die Nase des Sterbenden geführt, so verwehrt man dem
Bösen den Zutritt. Bei Sempach läutet man zum gleichen Zweck um das Haus
herum das „Römerglöcklein“, eine Schelle. Dem Sterben wohnen Verwandte
und Nachbarn bei, sie singen Psalmen oder sagen sie her.
Der Älteste des Hauses oder die Mutter drücken dem Sterbenden die Augen
zu, denn wenn sie nicht ganz geschlossen sind, so stirbt im Hause bald wieder
jemand. Sobald er gewaschen ist, legt man ihm ein Gebetbuch oder das Testa-
ment unter das Kinn, um seinen Mund zu verschließen. Früher wurde der
Tote in ein Tuch eingenäht, dessen Zipfel über der Brust zusammengebunden
wurden. Dann legte man ihn auf ein Brett („Totenbrett‘) auf den Boden.
Heutzutage wird er oft vollständig angezogen. Über das Totenhemd, das früher
das.Hochzeitshemd war, werden ihm festtägliche Kleider angezogen. Den Frauen
namentlich auch weiße Strümpfe. Kindbetterinnen erhalten besonders neue
Schuhe, denn sie kehren aus dem Grabe zurück, um den Säugling zu pflegen.
So angekleidet kommt der Leichnam in den Sarg, die Arme über der Brust
gekreuzt, Rosenkranz, Blumen oder die Bibel in den gefalteten Händen. Gleich
nach dem Tode wird die Kirchenglocke geläutet, in Vals früher eine Stunde
lang. Beim Tode von Männern läutete man in Frick mit einer besonders
sroßen Glocke, in Freiburg in drei, bei Frauen nur in zwei Absätzen.
Ist ein Mann gestorben, werden männliche Totenwachen aufgeboten, bei
einer Frau Frauen. Sie versammeln sich im Wohnzimmer, beten von Zeit zu
Zeit oder lesen aus der Bibel vor. Sie werden von der Trauerfamilie gut ver-
DL ne EL 3 a DU Urn Zu ME Sn u ae ln a m ns
ı) Freud: Totem und Tabu (Gesammelte Schriften, Bd. X). — Buschan: Die
Sitten der Völker, Leipzig. — Reik: Die Pubertätsriten der Wilden (Imago ı914). —
Zeller: Die Knabenweihen. Bern 1923. — Hoffmann-Krayer: Feste und Bräuche
des Schweizervolkes. Zürich 1918. — Frickart: Beiträge zur Geschichte der Kirchen-
gebräuche im ehemaligen Kanton Bern. Aarau 1846. — Rank: Die Don Juan-Gestalt
(Imago ıg22). — Röheim: Nach dem Tode des Urvaters (Imago 1923); Heiliges
Geld in Melanesien (Internationale Zeitschrift für Psychoanalyse 1925). — Govern:
Unter den Kopfjägern auf Formosa. Stuttgart 1923, — Friedli: Bärndütsch als
Spiegel bernischen Volkstums. Bern 1905. — Reischeck: Sterbende Welt. Leipzig
1924. — Koppers: Unter Feuerland-Indianern. 1924.
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Irre rn
208 Hans Zulliger
pflegt und bewirtet, im Bernbiet und in den Vallees de Bagnes (Wallis) mit Erbsen-
suppe, Speck, Brot und Wein. Die Wache bleibt bis zur Beerdigung, sie ver-
treibt sich die Zeit mit Erzählen und Kartenspiel. Den Dorfarmen, die für
den Verstorbenen*beten, wird Brot ausgeteilt (Aargau, Veltlin). Im Totenzimmer
selbst läßt man das Totenlicht Tag und Nacht brennen; es war früher eine
Ampel, in der Öl oder Butter gebrannt wurden, heute ist es meist eine Kerze.
Nach Eintritt des Todes muß unmittelbar eine Tür oder ein Fenster geöffnet
werden, damit die Seele hinausfliegen kann in die Seligkeit. Spiegel werden
mit Flor verhängt, alles Glänzende im Zimmer wird entfernt oder auch ver-
hängt, damit sich die Seele nicht betrachten kann und sich auf ihrem Wege
nicht aufhalte. Dies bedeutete eine Gefahr für die Verwandten, indem bald
wieder jemand stürbe. In Basel und Schaffhausen werden die Fensterladen
angehängt, andernorts verschlossen. Blumenstöcke und Bienenkörbe müssen anders
gestellt werden, wenn der Hausvater gestorben ist, sie gehen sonst zugrunde;
ebenso muß der Wein geschüttelt werden. Den Bienen muß des Vaters Tod
angekündigt werden. Im Simmental stellt man neben den Toten eine Schale
mit Wasser, worin sich die scheidende Seele baden kann.
Die Nadel, mit der das Totenkleid genäht wird, hat Zauberkraft. Ebenso
die Sargnägel. Durch das Nadelöhr kann man sehen, was andere nicht sehen.
Wenn man Sargnägel mit einem Gewehr schießt, so trifft der Schuß sicher.
Das Tuch, mit dem der Tote gewaschen wurde, wickelt oder hängt man an
einen Baum vor dem Hause. Es ist ein sicherer Schutz gegen Insekten, es
bringt Fruchtbarkeit. Gedeiht der Baum trotzdem nicht, so ist das ein Zeichen,
daß der Tote unselig ist. Wenn das Tuch verfault ist, so ist auch der Begrabene
zu Erde geworden. Das Wasser, mit dem der Tote gewaschen wurde, wird
auf dem Friedhof ausgeschüttet, an einigen Orten dient es in gleicher Weise
wie das Waschtuch zu Fruchtbarkeitszwecken. Die Angehörigen würden sich
fürchten, das Tuch für sich wieder zu verwenden.
Sieht der Tote im Sarge freundlich aus, oder wird er nicht recht starr, so
stirbt im Hause bald wieder jemand. In Heimiswil (Bern) und Lens (Wallis)
wird dem Toten Wein, Brot und Käse mit ins Grab gegeben. Geliebten Toten
gibt man auch Schmuck mit, aber nicht den Ehering, den behält immer der
Überlebende der Gatten. Verstorbene Bräute erhalten den Myrtenkranz mit
ins Grab, das erste Kind den Brautkranz der Mutter, eine Kindbetterin Messer
und Fingerhut (Bern). Über einen Sonntag darf eine Leiche nicht im Hause
bleiben, es stürbe sonst bald wieder jemand. |
Eine Frau in schwarzem Schal zeigt den Tod bei den Nachbarn an und |
ladet ein zur Begräbnisteilnahme. In Zürich war es ein Mann, der einen hohen
Stock mit Silberkopf trug, um an die Türen zu klopfen.
Einige Zeit vor dem Begräbnis stellen sich die Verwandten der Wand nach
auf, nach dem Verwandtschaftsgrade geordnet; sie nehmen den stummen Bei-
Beiträge zur Psychologie der Trauer- und Bestattungsgebräuche 209
leidshändedruck derjenigen auf, die kondolieren kommen. An verschiedenen
Orten spricht man dazu eine formelhafte Rede.
Bis vor kurzer Zeit wurde in Davos durch besondere Klageweiber, die -sich
um den Sarg versammelten; geklagt.
Der Sarg wird nun vors Haus getragen; an einigen Orten besteht der Brauch,
daß man den Toten mit dem Kopfe voran, an andern Orten mit den Füßen
voran aus dem Hause trägt. Die Begründung dieses Brauches besteht darin,
daß der Verstorbene solange als möglich seine Wohnung und seine Lieben
anblicken können soll. Nun halten Pfarrer oder Lehrer eine formelhafte Leichen-
rede mit darauffolgendem Gebet.
Vor dem Begräbnis erhalten die Leidtragenden ein „kleines Mahl”, das aus
Wein, Brot und Käse besteht. Wo nicht das Leichen-Brancard die alten Bräuche
verdrängt hat, wird die Leiche zum Friedhof getragen; als Träger kommen
Freunde und Vereinsgenossen in Betracht. Im Eifischtal (Wallis) wird der leere
Sarg von einem Maultier auf den Friedhof getragen, hinter ihm schreiten Leute,
die den Toten tragen, der auf dem Friedhof nochmals feierlich eingesargt wird.
Kleine Kinder werden vom Paten oder der Patin unter dem Arme getragen,
Ungetaufte von der Hebamme auf dem Kopfe. Der Sarg ist schwarz, bei
Wöchnerinnen im Unterengadin weiß, bei Ledigen im Wallis blau angestrichen,
er wird meist mit einem schwarzen Tuche bedeckt. Vornehme im Bernbiet
verwenden auch mit dunklem Ocker gestrichene Särge. In Salvan und Finhauts
(Wallis) hat die Gemeinde nur einen Sarg, der Verstorbene wird auf dem Fried-
hofe herausgenommen und beigesetzt. Die Särge werden mit Blumenkränzen
geschmückt. Am Kopfende des Sarges wird vielerorts eine Scheibe eingesetzt,
damit man das Gesicht des Toten sehen kann.
In katholischen Gegenden schreitet im Leichenzug ein Ministrant mit dem
Kreuze voran, ihm folgt der Pfarrer, hinter dem Sarge die Angehörigen, oft
in besondere Trauermäntel gehüllt, dann die weiteren Leichengänger.
Die Frauen tragen Kerzen. Begegnet der Leichenzug einer alten Frau, so
stirbt im Dorfe bald eine Frau, begegnet er einem alten Manne, dann stirbt
ein Mann. Schaut das Pferd zurück oder wiehert es, so stirbt im Trauerhause
bald wieder jemand. Der Leichenzug muß nicht zu rasch, aber er darf auch
nicht zu langsam dem Friedhofe zustreben — so rasch soll er gehen, daß
nicht der Eindruck der Pietät gestört wird.‘ Wenn sich der Leichenzug dem
Friedhofe nähert, so wird geläutet. Der Brauch wurde von der Regierung Berns
zur Zeit der Reformation untersagt und mit Strafen belegt, er erhielt sich
trotzdem.” Viele Kirchen besitzen eine besondere Totenglocke. Nachdem der
Sarg ins Grab hinabgelassen worden ist, segnet der Pfarrer die Leiche ein.
BEN EINPPIR DIEBE BER EIER ES LEREER LEERE BE Pet = FEB EEE RES HA HEHE BEE REES BEE EEE
ı) Im Kanton Bern mußte die Regierung verordnen, daß die Toten nicht sofort
begraben, sondern zuvor einige Tage im Hause behalten wurden (Frickart).
2) Dieselbe Quelle.
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210 Hans Zulliger
Die Angehörigen werfen die ersten Schollen Erde auf den Sarg, bevor ihn der
Totengräber zudeckt. Früher trug man (heute noch in Graubünden) eine Butter-
balle als Totenspende vor dem Sarge her, in welche der Meßner eine Kerze
steckte, die während des Seelenamtes und des 'Totenoffiziums beim Sarge
brannte. Die Butter wurde zugunsten der Kirche nachher verkauft.
Nach dem Begräbnis nimmt man zu Hause oder in einem Wirtshause das
oft in vielen Gängen bestehende Leichenmahl ein. Regierungserlässe versuchten
den dabei aufgewendeten Luxus einzudämmen. Vielerorts ist die „Gräbt“ noch
heute ein Fest, im Kanton Zürich wurde früher dabei sogar getanzt.
Nun wird eine Leidtracht getragen, man trauert ein Jahr lang, indem man
sich der Festlichkeiten und Wiederverheiratung enthält. Die Spiegel müssen
umflort bleiben, es wäre gefährlich, hineinzusehen.
Eine Woche nach der Beerdigung muß der Pfarrer von der Kanzel herab
den Tod nochmals mitteilen, „sonst kann der Tote nicht recht schlafen“. In
katholischen Gegenden wird der siebente und dreißigste Tag wie der Begräbnis-
tag gefeiert, am dreißigsten Tage löscht man die Dreißigstkerze aus, die bis-
lang ununterbrochen brennen mußte.
Einige Sonntage nach der Beerdigung wurde früher im Werdenbergischen das
Grab mit Kohlenstaub, Hammerschlag und Feilspänen bestreut. Die Gräber werden
mit Kränzen und Blumen, später mit Kreuzen oder Grabsteinen geschmückt. Sinkt
das Grab bald ein, so stirbt bald wieder jemand aus der Verwandtschaft.
An vielen Orten wurde auch bei den Reformierten (bei den Katholiken
besteht der Brauch noch heute zu Recht) gesungen. Die Regierungen der refor-
mierten Kantone verboten es, weil das Volk mit dem (sesange den Aberglauben
verknüpfte, es würden böse Geister, die den Geist des Verstorbenen auf seinem
Gange ins Jenseits aufhielten, durch das Singen vertrieben."
Diese Berichte schweizerischer Gebräuche, die im nachfolgenden noch
ergänzt werden, haben mannigfache Parallelen in den Gebräuchen anderer
Kulturländer.
Stirbt im Rheinland jemand, so wird ein Ziegel vom Dache gehoben. In
Köln müssen die Fensterladen geöffnet und angehängt werden, damit die Seele
nicht auf den Simsen Unterkunft finden könne. Die Stühle werden umgekehrt,
damit sich der Geist des Toten nicht darauf setze und den Eintritt ins Jenseits
versaume. Auch hier werden die Spiegel umflort. In der Eifel wird mit der
„Benedictusschelle* eng damit die Seele das Sterbezimmer verlasse.
ı) Aus Frickart, p. 159, wird berichtet, daß das „Wetterläuten“ (Läuten der
Kirchenglocken bei heranziehendem Gewitter, besonders Hagelwetter) die Wetter ver-
trieb. Mit dem Läuten, aber auch mit dem Singen und Gebetemurmeln, will man
offenbar bei Leichengeleiten etwas Gefährliches vertreiben.
Beiträge zur Psychologie der Trauer- und Bestattungsgebräuche 21 :
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In Baden im Aargau bestand für denjenigen, der den Toten anzog, die
Vorschrift, seine Hände nach getaner Arbeit in Salz zu stecken und abzureiben,
„sonst schliefen sie ihm ein und würden taub“ (absterben!).
Vielerorts in deutschen Landen müssen Schleifen, Knoten, Verschnürungen
im Sterbezimmer gelöst werden, damit sich der Geist des Toten darin nicht
verfange. Darum müssen die Frauen auch ihre Haare lösen, und man muß
den Toten die Ringe von den Fingern ziehen. Auf das Totenhemd- darf keine
Träne fallen, sonst könnte die abgeschiedene Seele den Weg ins Jenseits nicht
finden. In dem Tuche, mit dem man das Leichengewand näht, dürfen keine
Buchstaben sein — es würden sonst Verwandte mit geleichlautenden Initialen
sterben müssen. Es darf dem Toten kein Gegenstand eines Lebenden mit ins
Grab gegeben werden, Will man jedoch jemand auf geheime Art beseitigen,
so gibt man einem Toten einen ihm gehörenden Gegenstand, besonders aber
ein Haar oder einen Fingernagel mit ins Grab. Der Tote zieht dann den in
den Tod, dem die Gegenstände gehören.
Im bernischen Emmental gilt folgendes Mittel gegen Epilepsie: Um das
fallende Weh verschwinden zu machen, lege ohne Vorwissen der Hinterlassenen
in den Sarg eines Toten ein ungewaschenes Hemd des Epileptischen. — Der
Verstorbene zieht dann den im Kranken weilenden bösen Geist mit ins Grab.
Oft behalten die Angehörigen eine Locke des Verstorbenen zurück, die
zierlich gedreht und wie ein Fetisch in einem Glaskästchen aufbewahrt wird.
Oder man bewahrt einen Kranz oder getrocknete Blumen auf, die der Tote
auf seinem Sarge trug.
Vielerorts gibt man dem Toten seinen Lieblingsgegenstand, die Tabakspfeife,
ein Handwerkszeug, die Puppe usw. mit ins Grab. Er könnte sich sonst danach
sehnen und sie holen wollen.
Der Kehricht aus der Sterbestube, die sorgfältig gereinigt werden muß,
wird auf den Friedhof oder über die linke Schulter weg (Zauberform) aufs
Feld geworfen. Häufig wird die Stube geräuchert, um den lotengeruch zu
entfernen.
Man glaubt, eine Rückkehr des Toten in seine frühere Behausung sei
besonders so lange zu befürchten, bis die Leiche verwest ist.
Deshalb läßt man am Tisch zu Hause immer den Platz frei und deckt ein
leeres Gedeck. Ist der Vater gestorben, so hüten sich die Kinder, etwas im
Hause zu verändern, denn der Tote könnte keine Ruhe finden, wenn er mit
einer Änderung nicht einverstanden wäre; er käme immer wieder, um zum
Rechten zu sehen. Darum dürfen auch keine Heiraten geschlossen werden.
In Deutschland wird vielerorts der Tisch für den Toten nicht nur gedeckt,
man legt auch ein Stück Brot und stellt einen Krug Wein hin. Einer ver-
storbenen Wöchnerin setzt man nachts ein Becken mit Wasser und einen
Schwamm hin, damit sie ihr Kind pflegen könne. Mit allen Mitteln wird
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212 Hans Zulliger
verhindert, daß der Säugling schreie, sonst hat seine tote Mutter keine
Ruhe.
Nach dem Begräbnis wird fast überall ein Mahl gefeiert, wobei es nicht
selten hoch her geht. Bei den Zigeunern artet es oft in Orgien aus.
Diese Berichte sind unvollständig. Der Vorwurf der Unvollständiekeit kann
die nun folgenden Berichte über die Gebräuche bei den Primitiven treffen.
Aber die vorliegende Arbeit hat ja nicht den Zweck, eine jede Einzelheit
zu erfahren und zu verarbeiten. Es sollen nur die wichtigsten Züge aus
den Bestattungsgebräuchen hervorgehoben, ihre Ursprünge bei den Primi-
tiven hervorgesucht und schließlich in das Gefüge unserer Erkenntnisse
über die Psychologie der 'Trauernden eingefügt werden.
Die Unvollständigkeit und die Unklarheit liegt zum Teil auch an den
übernommenen Berichten. Wir dürfen überzeugt sein, daß einst ein psycho-
analytisch geschulter Ethnograph und Folklorist viel mehr, ganz anders
und vor allem viel klarer beobachten wird. Vergessen wir nicht, daß die
Verdrängungsmomente, die bei den beobachteten Stämmen und Völker-
schaften die Entstellung des ursprünglichen Sinnes der Gebräuche zuwege
brachten, auch in den Beobachtern wirksam waren und sie oft mit Blind-
heit schlugen.
Es folgt nun einiges Material aus allen Erdteilen.
Die Mendi in Westafrika legen dem Verstorbenen das Tewe-yama, ein in
Reis gebratenes Huhn und eine Hängematte aufs Grab, indem sie sagen: „Wir
kommen, damit du erfährst, daß wir dich nicht vergessen haben; wir bringen
dir etwas zu essen mit als Wegzehrung, wenn du dich auf die lange Reise
über das Wasser begibst!" Damit der Tote keinen seiner Angehörigen mit-
nehme, legen sie sich an die Knöchel Holzpflöcke an.
Die Yassi werfen die herausgeschnittene Lunge des Toten ins Wasser. Falls
sie untergeht, so gilt das als Zeichen, daß der Verstorbene böse Absichten gegen
die Lebenden des Dorfes hegt und ein Hexenmeister war. Seine Leiche wird
ohne Ehren im Busch verscharrt. Bleibt die Lunge oben, so wird der Tote
von Klageweibern beklagt und in Ehren bestattet.
Die Aschanti opferten früher beim Tode mächtiger Personen Menschen.
Ebenso die Ugandaneger.
Die Bassari glauben, der Tod sei durch Zauberei verursacht worden. Der
Priester des Dorfes sagt, wer den Verstorbenen verzaubert habe. Der Bezeich-
nete hat dann ein Gift zu trinken, wenn er es übersteht, so ist er vom Ver-
dachte frei. Um die Begräbnisstätte wird einige Tage lang geschossen, um den
Geist des Toten zu erschrecken und zu vertreiben.
Beiträge zur Psychologie der Trauer- und Bestattungsgebräuche 21 z
Die Neger der Goldküste rufen beim Begräbnis den Namen des Ver-
storbenen laut aus und versichern, ihn überall gesucht und nirgends gefunden
zu haben, er solle nicht etwa glauben, sie kümmerten sich nicht um ihn und
sie darum bestrafen. Nach einiger Zeit wird ein Tag lang um den Toten laut
gejammert, dann folgt ein sieben Tage währendes Festessen und Trinken. Hier-
auf werden alle Geräte, die beim Fest gebraucht wurden, vernichtet.
Die Batuaneger geben den Toten Zauberpflanzen mit ins Grab, damit er
sich an seinen Feinden rächen könne. Die Hütte, worin der Verstorbene
wohnte, wird abgerissen, die Angehörigen siedeln sich anderswo an, weil sie
sich vor der Wiederkehr des Toten fürchten.
Die Hottentotten begraben ihre Toten in Hockerstellung, ebenso eine
große Zahl von anderen Stämmen Afrikas. Sie binden sie jedoch zuvor, damit
sie nicht aufstehen und weggehen können.
Die Abessinier verscharren ihre Toten im Sande. Dann feiern sie ein
Festgelage, schneiden jedoch vorher ihr Haar, damit man sie nicht wieder-
erkenne. Wo Hyänen heimisch sind, wird um das Grab ein Palissadenzaun
errichtet, damit die Bestien den Leichnam nicht ausgraben, denn solches
bedeutete für die Lebenden eine Gefahr.
Die Wahima brechen ihren Toten den Hals und die Glieder, dann begraben
sie sie. Es folgt ein Tanz und ein Biergelage. Der älteste Sohn heiratet die
Witwen.
Die alten Ägypter hüllten ihre Toten in eine Menge von Hüllen, dann
wurden sie in einen Pappsarg, dann in einen Steinsarg gelegt, der in einem
Felsen geborgen wurde. Herrscher kamen in eine Pyramide.
Auf Malakka wird über das Grab ein Flechtwerk gelegt, in dessen Maschen
sich der Geist des Toten verstrickt, wenn er auf Reisen gehen möchte.
Die Siamesen gehen mit ihren Toten auf Umwegen zur Verbrennungs-
stelle, damit er den Weg zurück nicht finde.
In China wird es als besonders gefährlich betrachtet, wenn der Mund des
Toten offen steht: er wird ein „Nachzehrer , ein Vampyr. Der chinesische
Grabschänder wird vom Toten, sobald er den Sarg öffnet, in den Sarg hinein-
gezogen.
Die Tayals auf Formosa bestatten ihre Toten unter der Herdplatte ihrer
Häuser. Andere reißen das Dach des Hauses ein, worin die Toten ruhen. Die
Stämme am großen Ozean mumifizieren die Toten und feiern nach drei Jahren
ein zweites Begräbnis. Überall wird unter den Kopfjägern Formosas geglaubt,
daß das Ottofu (= Mana) eines Toten viel bedrohlicher und mächtiger sei,
als das eines Lebenden (Allmacht der Gedanken).
Bei den Dayak, einem Malaienstamme, macht die Priesterin ein kleines
Häuschen aus Rohr. Darein legt sie Speisen und Zigaretten und fordert den
Geist des Verstorbenen auf, im Häuschen zu wohnen. Hierauf horcht sie am
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214 | Hans Zulliger
Häuschen und teilt den Verwandten mit, was der Tote alles wünscht. Die
Wünsche werden peinlich erfüllt. Das Häuschen bleibt als Heiligtum im Hause.
Die See-Dayak streuen Asche bis zum Grabe, damit der Geist des Toten
den Weg der Lebendisen nicht mehr finde. Alle seine Gebrauchsgegenstände
und Speisen werden auf das Grab gelegt, damit er nichts holen komme.
Bei den Tinguianen erscheint eine alte Frau bei dem Toten und bittet
seinen Geist, in sie einzutreten. Dann dreht sie sich wie toll im Tanze, bis
sie in Ohnmacht fällt. Der Geist wird dann mit Feuer und Wasser aus ihr
getrieben und kann nicht mehr schaden.
Die Nikobaresen klagen nicht, wenn jemand stirbt. Sie bemalen sich mit
Ocker und anderen Farben, damit sie der Tote nicht erkenne und feiern Feste.
Die Leiche wird in der Dämmerung begraben, denn es darf nicht der Schatten
eines Lebenden in das Grab fallen, sonst müßte auch er sterben. Der Name
des Toten wird mit dem 'Tabu belegt, er darf nicht mehr ausgesprochen werden.
Die Angehörigen wechseln ihre Namen, damit sie der Tote nicht wieder-
erkenne. Nach einiger Zeit wird der Leichnam wiederum ausgegraben und
das Fleisch von den Knochen entfernt. Erst jetzt ist man seines Todes und
seiner Ungefährlichkeit sicher.
Bei den Birmanen spielt eine Musikbande, sobald der Tod eingetreten
ist. Dann werden die Daumen des Toten mit den Zehen zusammengebunden.
Als Schnüre dienen die Haare des jüngsten Sohnes der Familie. Vor dem Grabe
entfaltet der Älteste der Familie ein Taschentuch. „Komm mit uns!” ruft er
dann, und faltet das Tuch, in dem sich nun der Geist des Verstorbenen
befindet, zusammen. Das Tuch wird nach Hause genommen, hier sieben Tage
Jang zwischen den zwei Hauspfosten auf der linken Seite des Hauseinganges
untergebracht, und am siebenten Tage von Mönchen, die ein Läuterungsfest
veranstalten, wieder auseinandergeschlagen. So wird die Gefahr beseitist, daß
der Verstorbene ein Ghul (böser Geist, Dämon) werde.
Die nordjapanischen Ainu ritzen sich beim Tode Angehöriger Blut aus a
Adern, das sie ihm als Opfer darbringen.
Die Bergstämme auf Geylon feuern einen Tag lang Gewehre ab, wo jemand
gestorben ist, um mit dem Lärme den Geist zu vertreiben. In die Nähe des
Grabes wird eine Fischfalle (Reuse) gelegt und drei Tage liegen gelassen. Hier-
auf geht man hin und holt eine Spinne, die sich in dem Netzwerk eingenistet
hat. In ihr hat sich der Geist des Toten wieder verkörpert. Das Tierchen
wird einen Tag lang gepflest, man reicht ihm Speise dar und läßt es dann
ruhig laufen, weil der Geist durch seine Wiederverkörperung kund getan hat,
daß er nichts Böses trachtet.
Ist bei den nordischen Stämmen ein Mensch durch einen Tiger getötet
worden, so gilt sein Geist als besonders gefährlich für die Lebenden. Darum
errichtet man über seiner Leiche ein schweres Steingrab.
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Beiträge zur Psychologie der Trauer- und Bestattungsgebräuche 215
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Eine Witwe wird die Frau eines jüngeren Bruders, den älteren Bruder des
Verstorbenen darf sie nicht heiraten. Hat sie keine jüngeren Schwäger, so
heiratet sie einen fremden Mann, doch muß sie es während der Nacht tun
und sich mit einem Amulette schützen, damit sie der Geist ihres toten Gatten
an ihrem Vorhaben nicht hindere.
Sehr gefährlich ist eine Frau, die im Wochenbette starb. Sie wird zur
Churel, einer Art Dämon. Sie umlagert junge Männer, bestrickt und ver-
schleppt sie, um sie erst wieder frei zu lassen, wenn sie alt und gebrechlich
geworden sind. Deshalb wird eine solche Frauenleiche mit Stricken gefesselt,
erhält einen Nagel in die Glieder geschlagen, man schneidet ihr die Sehnen
an den Füßen durch, und sie wird mit dem Gesichte nach unten begraben.
Von ihrem Grabe bis zu den Häusern des Dorfes werden Senikörner gestreut.
Wollte sie zurückkehren, so müßte sie die Körner zusammenlesen, und bis sie
das gemacht hätte, würde der Hahn krähen, und sie müßte in ihr Grab
zurückkehren.
In Tibet kommt der Lama zu der Leiche und reißt ihr ein paar Kopf-
haare aus. Aus den entstandenen Poren kann der Geist austreten. Der Leich-
nam wird mit Stricken gebunden und weitab vom Dorfe dem Fraß der wilden
Tiere, besonders der Hunde und Geier überlassen. Im Hause des Toten dari
einen Monat lang nichts gegessen werden, weil der böse Geist des Verstorbenen
daran hängen könnte.
In Nordasien schläft die Frau mehrere Nächte mit dem Toten zusammen.
Dann gibt sie ihm Branntwein und sagt: „Trinke! Gute Reise in das Land
der Geister! Komme nicht wieder, und nimm keines meiner Kinder oder
Tiere mit!“
Viele Völker errichten auf dem Grabe ein Steinmal. Es soll den Toten an
die ursprüngliche Tötung, die Steinigung erinnern und sie hindern, aus dem
Grabe zu steigen. Aus dem Steinhaufen entwickelte sich das Steinheilistum.
Die Eskimo geben dem Toten alle seine Habe mit ins Grab, weil. sie
befürchten, er könnte sie sonst selber holen.
Die Navigo in Arizona binden Stricke um die Hütte des Toten, worin
er liest, und reißen sie um; in der Hütte befindet sich all sein Hab und Gut.
Die umgerissene Hütte ist das Grab.
Stirbt ein Mann der Athapasken, so muß die Witwe auf den Scheiter-
haufen steigen, auf dem der Tote verbrannt wird. Wenn ihre Haare vom
Feuer versengt sind, so darf sie hinunterspringen. Für das ganze Dorf beginnt
nun eine längere Fastenzeit, die den Sinn einer Sühne hat. Der Tote soll durch
die Trauer versöhnt werden.
Auch die südamerikanischen Indianer geben dem Toten alles mit, was
er besitzt, damit er es sich nicht selber hole. Etwas von einem Toten zu
behalten, gilt als Diebstahl, der vom wiederkehrenden Toten bestraft wird.
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216 Hans Zulliger
Die Wiederkehr bedeutet ein Unglück für das ganze Dorf. Was dem Toten
nicht mitgegeben werden kann, wird zerstört, seine Haustiere werden getötet.
Einer verstorbenen Wöchnerin wird noch heute der Säugling mit ins Grab
gegeben, und vor noch nicht langer Zeit hatte eine Frau, deren Mann ver-
storben war, dem Toten in den Tod zu folgen. Auf den Tod folgen eine Menge
von selbstauferlegten Strafen der Angehörigen: man fastet, peitscht sich selber
aus, verwundet sich selber und verstummelt sich. Zum mindesten werden die
Haare abgeschnitten. Alle Dorfgenossen, die am Begräbnis teilnehmen, sind
unrein und müssen sich zuerst reinigen, bevor sie wieder in Verkehr mit den
anderen Leuten treten dürfen. Die Hütte des Verstorbenen wird verbrannt.
Sobald einer gestorben ist, werden Drohungen gegen ihn ausgeschrien, mit
Musik und anderen Instrumenten wird Lärm gemacht, Flinten werden abge-
schossen, um den Geist des Toten abzuschrecken, wenn er Wiederkehrgelüste
hätte.
Starb ein Yaganindianer auf Feuerland, so wurde er sofort samt seiner
Habe verbrannt, der Begräbnisplatz wurde unkenntlich gemacht und gemieden.
Der:Name des Verstorbenen durfte mehrere Jahre lang nicht ausgesprochen
werden, Namensvettern erhielten andere Namen. Nach dem Tode wurde ge-
fastet, der Kopf bemalt und die Brust mit scharfen Steinen auigeritzt. In den
Trauergesängen machte man sich den Tod zum Vorwurf: „Ihr seid schuld
daran!“ — „Nein, ihr seid schuld daran!“ — Der ganze Stamm, mit Keulen
und Rudern bewaffnet (womit man die Seehunde tötet), nahm an der Trauer teil.
Die Araukaner in Chile führen den Toten irre, indem sie auf dem
Begräbniswege in die Kreuz und die Quere gehen, so daß er den Weg nicht mehr
zurückfinden kann.
Die Bororo verwischen ihre Fußspuren mit Palmzweigen hinter sich, wenn
sie einen Toten auf seine letzte Ruhestätte begleiten. Die Leiche wird fest-
geschnürt, die Arme und die Knie auf die Brust gefesselt. Die Leiche zwängt
man in ein enges Gefäß, oder in eine Baumspalte, die Grabstätte wird mit
Steinen und Holzkloben so beschwert, daß der Tote sie nicht heben kann.
Es ist bei Todesstrafe verboten, den Namen des Toten auszusprechen. Dinge,
die mit ähnlichen Namen bezeichnet werden, wie der: Tote hieß, erhalten
andere Namen.
In Gran Chaco wechseln bei einem Todesfalle alle seine Angehörigen die
Namen, damit sie der Geist des Toten nicht wiedererkennen könne.
Verschiedene indianische Stämme verzehren die Asche des verbrannten Toten,
um sich dessen gute Eigenschaften anzueignen, dabei ziehen sie jedoch Masken
und Verkleidungen an, um vom Geist des Toten nicht erkannt zu werden,
Wenn ein Chirurguanomann von einem Jaguar getötet wird, so geht
er nachher als Jaguar um. Der Jaguar wird als besonders gefährlich betrachtet.
Er wird gejagt und verspeist.
Beiträge zur Psychologie der Trauer- und Bestattungsgebräuche 217
Auf Samoa wird auf der Stelle, wo jemand starb, ein Tuch gelest. Dann
paßt man auf, was für ein Tier sich auf das Tuch setzt. Das Tuch mit dem
Tiere wird zusammengeschlagen und dem Toten mit ins Grab gegeben. Der
Geist des Toten befindet sich im Tiere, er kann nun nicht mehr zurückkehren
und die Angehörigen des Toten belästigen. Vor dem "Tode versammeln sich
alle Verwandten des Toten bei ihm, es darf ganz besonders die Schwester
nicht dabei fehlen, sonst fände er keine Ruhe.
Auf der Insel Niue hält man sich Hunde, die durch ihr Bellen die etwaige
Wiederkehr eines Toten verhindern. |
Der Malafustamm der Melanesier besitzt in einem jeden Dorfe ein Weib,
das die Aufgabe hat, einem Verstorbenen einen Schlag auf den Kopf zu geben
und ihn anzuschreien: „Jetzt bist du tot!“
War der Tote ein Häuptling, so geht der Zauberer des Stammes mit einem
Stück des Dammgurtes des Verstorbenen und einem Reste der Speise, die er
zuletzt aß, in den Busch; dort wickelt er die Speise in den Gurt und hält.
sie mit geschlossenen Augen über ein brennendes Scheit. Wenn nach einigen
Minuten die Speise verbrannt oder angesengt ist, so ist der Häuptling zum
Tode bestimmt und erhält alsdann von der Totenfrau den bewußten Schlag
auf den Kopf. Andernfalls ist er nur verzaubert. Auf den Todesschlag heult
das ganze Dorf, um den Geist des Toten abzuschrecken und zu verjagen. Alle
Verwandten bestreichen den Körper mit Lehm. Der Tote wird begraben, und
dabei schreit man nochmals, um den Geist des Toten vollends zu vertreiben.
Die Angehörigen des Toten beschmieren sich nun mit Kohle, alsdann geht
man zum Leichenschmaus, bei dem die nächsten Dörfer mittun. Sie nahen
jedoch bewaffnet und führen allerlei schreckliche Tänze auf, bei denen im
Zickzack bis zum Grabe gegangen und in die Luft gehauen und gestochen
wird. Hierauf wird das erste Festschwein getötet und dem Toten aufs Grab
gelegt, der nun endgültig vertrieben, aber auch versöhnt sein soll, und dann
beginnt der Schmaus.
In der Geelvinkibai wird der Kopf des Toten abgehauen, geräuchert und
präpariert. Mit Muscheln und Früchten macht man künstliche Augen und
Nasen an den Schädel. Der mumifizierte Kopf dient als Fetisch und Zauber-
mittel. Er wird wie ein Ahnenbild verehrt, er wird angeredet, und kann zu-
künftige Dinge voraussehen und voraussagen. Man stellt Speisen vor ihn hin.
Die Verwandten machen ihm Besuche.
Auf der Gazellenhalbinsel wird, sobald jemand verschieden ist, mit
Trommeln, Instrumenten und Schreien Lärm gemacht. Die Plantagen des Toten
werden zerstört. All sein Besitz wird zu der Leiche gelegt, damit der Tote
ihn nochmals ansehen könne. Nun nähern sich ihm vom Walde her schreck-
lich maskierte Gestalten im Tanze, vor denen sich der Geist ‘des Toten
fürchtet.
218 Hans Zulliger
Die Sulka in Neupommern schüchtern den Geist eines Toten durch
Feuer ‚und Fackeln ein, die sie in die Türen stellen.
In Neuhannover wird eine Figur nach dem Bilde des Toten verfertigt,
dann wird sie verbrannt. An anderen Orten wird die Leiche selber verbrannt
und Stücke von ihr unter die Jünglinge des Dorfes verteilt.
Die Tongainsulaner auf Melanesien opfern ihren Toten heiliges Geld, das
sie ihm ins Grab mitgeben. An einigen Orten wird das Geld durch Exkremente
ersetzt, respektive das Geld ist bei höher entwickelten Stämmen ein Ersatz für
Exkremente. Um die Kotproduktion zu vergrößern, werden eine große Menge
sonst tabuierter Speisen genossen.
In ganz Melanesien gelten die Toten als Vampire.
Auf den Admiralitätsinseln wird die Leiche in Bäume gehängt und ver-
faulen gelassen. Dazu bestimmte Frauen beobachten den Verwesungsprozeß.
Nun lösen sie das Fleisch von den Knochen und geben es den Meerfischen
zum Fraße. Die Knochen werden bestattet. Die Zähne des Toten werden aus-
gebrochen und den Kindern als Amulette um den Hals gehängt. Der Schädel
wird auf eine prächtig geschnitzte Plattform gestellt. Hierauf werden die Vor-
bereitungen für die Festlichkeit getroffen. Am anderen Morgen kniet der älteste
Sohn, der gewöhnlich der Veranstalter des Festes ist, nieder, und ein Zauberer
setzt sich auf seine Schultern und hält sich an seinen Haaren fest. Dann erfolgt
Trommelschlag in der ganzen Umgegend und alle Teilnehmer werden zusammen-
gerufen. Nun hält der Sohn eine Ansprache, worin er den Toten lobt, alle
seine Heldentaten aufzählt und seine Feinde schmäht. Hierauf von neuem
ein Irommelschlag, und der Zauberer ergreift den Schädel des Toten. Der
Sohn schlägt mit einem Zweige darauf und ruft: „Du bist mein Vater!” Dann
schlägt er zum zweiten Male: „Empfange die Speise, die ich dir zu Ehren
zubereitet habe!“ Beim dritten Schlage ruft er: „Beschütze mich, beschütze
meine Kinder, beschütze mein Volk!” Nacher wieder 'Trommelwirbel und
Beginn eines großen Festes. Der Schädel wird als Reliquie verehrt.
Bei den Papua der Torresstraße wird einer Frau ein Fingerglied ampu-
tiert, wenn eines ihrer Kinder stirbt.
Viele Wilde Australiens essen ihre Leichen ganz auf und glauben dabei
die Kraft und Macht der Aufgespeisten zu gewinnen. Andernorts wird nur ein
wenig Fleisch oder Fett des Toten genossen. Der erschlagene Feind eines
Mannes aus Viktoria wird vom Sieger allein gegessen.
Im Zentralaustralischen Festlande bringen sich die nächsten Ver-
wandten des Toten tiefe und schwer heilende Messerwunden bei, um die
Trauer für einen Toten zu bekunden.
Aus den angehörten Berichten sind uns nun eine Menge von Aufklärungen
über die europäischen Gebräuche zugekommen.
Beiträge zur Psychologie der Trauer- und Bestattungsgebräuche | 219
Die Römerkerze, das Totenlicht und Dreißigstlicht unserer Katho-
liken hat seine Parallele im Feuer und den Fackeln der Sulka und der
Bewohner Neupommerns. Sie geben uns als Zweck jedoch nicht an, dem
Toten müsse der Weg zur Seligkeit gewiesen werden, sie wollen ihn
auf jene Art mit Feuer vertreiben, wie die Primitiven wilde Tiere ver-
treiben.
Der Glaube, es würden bedrohliche Gespenster der Seele des Abgestor-
benen den Weg in die Seligkeit verlegen und man müsse sie mit Glocken-
geläute und Schellen mit der Benedictusschelle, Absingen von
Liedern und Murmeln von Psalmen und Gebeten fernhalten, existiert
auch bei vielen Wilden. Der Zweck der Fernhaltung ist aber, die Seele
des Abgestorbenen selber zu veranlassen, sich aus der Nähe der
Lebenden zu entfernen. Die bösen Geister sind (wie der Dämonen-
glaube) Projektionen eigener feindseliger Regungen gegen den Toten, sie
sind Projektionen des Ödipus-Komplexes, die noch nicht an das
Objekt des Komplexes selber fixiert sind, wie etwa beim Vampirglauben.
Die Birmaner und Südamerikaner machen Musik. Die Südamerikaner rufen
Drohungen gegen den Toten aus und zeigen, wer eigentlich die bösen
Geister sind, die ihn bedrohen. Die ceylonesischen Bergstämme erschrecken
den Geist des Abgeschiedenen mit Flintenschüssen und Lärm. Negerstämme
und die Bewohner der Gazellenhalbinseln führen auf Trommeln einen
Höllenlärm auf und die Ozeanier erschrecken den Toten durch Maskeraden
und absonderliche Tänze. Andere Stämme beugen den Rückkehrgelüsten,
die sie dem Toten zutrauen, direkter vor. Sie binden ihn und begraben
ihn in Hockerstellung, so die Hottentotten; die Wahima brechen ihm den
Hals und Glieder oder schneiden ihm die Fesseln durch; die Birmaner
und Bororo fesseln ihn, letztere zwängen ihn in ein Holzgefäß oder in
eine Baumspalte, was der Prototyp unseres Sarges sein kann." Auch
die alten Ägypter umwickelten den Toten mit allerlei Tüchern, legten ihn
in verschiedene Särge und verschlossen ihn in Steingräbern oder Pyramiden,
und je mächtiger ein Pharao war, in eine um so größere Pyramide wurde er
eingeschlossen. Der Sarg, so hat Rank nachgewiesen, hat den Sinn eines
Leichenfressers. Die Baumspalte verschlingt den Toten, wie auch die Höhlung
des Sarges, in der die Leiche verdorrt oder verfault. Grabgeländer und
Grabzaun, die wir aus Pietät vor der geweihten Erde des Grabes errichten,
stellen auch die Abessinier her — denn der Ort, wo ein Toter ruht, ist
ı) In der Schweiz nennt man den Sarg „Totenbaum“.
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220 Hans Zulliger
gefährlich für die Lebenden, und Hyänen und Schakale sollen den Leich-
nam nicht hervorgraben können; denn dieses auch vermehre die Rück-
kunftsgefahr. Die Sorge um das Abwandern der Seele drückt der Europäer
auch dadurch aus, daß er ein Fenster oder eine Tür nach dem Ver-
scheiden öffnet, oder einen Ziegel vom Dach hebt. Der Tibetaner reißt
dem Verstorbenen sogar ein paar Haare aus, damit der im Kopf gedachte
Geist des Toten austreten könne. Wir hängen die Laden der Fenster an
und öffnen Knoten und Verschnürungen, damit sich der Geist des Toten
nicht daran verfange, oder wir schließen die Laden, wohl damit er den
Weg zurück nicht finde — aber wir rationalisieren es mit der T'rauer:
man soll an den geschlossenen Laden erkennen, daß im Hause jemand
gestorben ist.
Die Seele wandert nach dem Tode. Aber auch wir Europäer stellen
uns die Wanderung der Seele konkret vor als eine Wanderung des
Leichnams. Darum ziehen wir den Toten vollständig an, einer Kindbetterin |
geben wir sogar neues Schuhzeug, Messer und Fingerhut mit. Für sie ist
die Wahrscheinlichkeit der Wiederkehr besonders groß, sie will ihren Säug-
ling pflegen. Wenn eine Mutter im Kindbett verscheidet, so haben Ange-
hörige Grund, ihr unbewußt zu zürnen: sie wäre die gegebene Person zur
Pflege des neuen Erdenbürgers — aber die Feindseligkeit kommt nur im
verstärkten Glauben an die Wiederkunft zum Vorschein. Dem Säugling
wird Wasser und Schwamm zum Bettchen gestellt, er darf nicht weinen,
wenn die tote Mutter Ruhe haben soll. Die gleiche Angst empfinden auch
die Ceylaner, die Mutter wird zur Churel, die besonders junge Männer
verschleppt. Auf die Reise geben nicht nur wir Brot, Käse und Wein mit —
die Mendi bereiten ein besonderes Mahl und versorgen den Toten mit einer
Hängematte, damit er ausruhen kann. In Nordasien wird er mit Brannt-
wein versorgt. Wahrscheinlich hat das Speisemitgeben aber noch den
Sinn eines Opfers. Südamerikaner und Ainu opfern Blut, indem sie sich
selber verwunden. Ebenso die Zentralaustralier, währenddem die Malafu
nur das erste Festschwein dem Toten aufs Grab darbringen, und andere
südamerikanische Eingeborenenstämme die Haustiere des Abgeschiedenen
opfern. Diese Opfer gehen auf das Menschenopfer zurück, das die süd-
amerikanische Witwe noch andeutet, und das die Uganda und Aschanti-
neger bis vor kurzer Zeit noch ausführten. Die Papuamutter opfert beim
Tode eines Kindes einen Finger und verrät uns durch ihre symbolische
Kastration, daß sie einst gegen das Kind feindselige sadistische,
wahrscheinlich auch orale Absichten hegte,
Beiträge zur Psychologie der Trauer- und Bestattungsgebräuche 221
Um sich der bedrohenden Geister zu erwehren, die die Seele des Ab- °
geschiedenen um die Seligkeit bringen wollen, gibt man dem Toten
Testament, Bibel, aber auch Blumen mit ins Grab. Wahrscheinlich
bedeuten die Blumen ursprünglich Kinderopfer, Menschenopfer: Denken
wir daran, daß gewisse Primitive Pflanzen als Totem verehren, die Pflanze
ist der Urvater. Diese Art von Totemismus ist ein Überbau auf den Tier-
totemismus, der wieder an Stelle des Urvaters getreten ist, an dem die
Söhne der Urhorde ihre Ödipus-Wünsche erfüllten. Die Batua geben Pflanzen
mit ins Grab, damit sich der Tote durch Zauber an seinem Mörder rächen
kann — besonders die Neger sind des Glaubens, daß der Tod auf Grund
von feindlichem Zauber (Allmacht der Gedanken, Magie) eingetreten sei.
Wenn man hierzulande jemand auf geheime Art töten will, so gibt
man einem Toten ein Haar des Feindes mit ins Grab, dann muß der Feind -
sterben. Wenn der Tote seinen Gatten nicht nachziehen soll, so darf er
den Ehering nicht mit ins Grab bekommen (Analogiezauber).
Ursprünglich wurde der Tote verspeist, so wie heute noch in Viktoria,
Australien, Neuhannover und teilweise (Asche-Essen) auch in Südamerika,
Man identifizierte sich so mit dem Toten, man erhielt seine Kraft und
seine Eigenschaften. In der Geelvinkibai und auf den Admiralitäts-
inseln verschafft man sich Knochen und Schädel als Hausgötter oder Amu-
lette, durch deren Macht die Lebenden geschützt werden. Die Chiriguano-
indianer essen den Jaguar, in dem sich der Jäger verkörperte, und die
Europäer feiern Totenmahle als Überrest des Identifizierungsmahles
unserer Urahnen. Die See-Dayak fangen den Geist in einem Häuschen, wo
sie ihm opfern und von dem sie wichtige Ratschläge für die Zuakunft holen
können. Daß wir Locken eines lieben Toten zurückbehalten und
verehren, scheint also im Grund der Dinge nicht nur aus Pietät gemacht
zu werden, oder nur um sich leichter an den Verstorbenen erinnern zu
können. Ein junger Mann hat mir gestanden, daß er, wenn er einer Ver-
suchung sexueller Art zu erlegen gedroht habe, durch den Anblick einer
Locke seiner verstorbenen Mutter die Kraft zum Widerstand erhalten habe.
Was mit dem Toten unmittelbar zusammenhängt, hat Zauberkratft.
So die Nadeln, durch die unsere Leute die Zukunft sehen können, die
treffsicheren Sargnägel, das Waschtuch, das durch Analogiezauber das Un-
geziefer tötet und den Baum fruchtbar macht, das Waschwasser. Von der
unheimlichen Kraft, die der Tote überträgt, müssen sich die Leute reinigen,
die das Einsargen besorgten. Sogar die Stube muß gereinigt werden, in
der jemand verschied, und der Kehricht muß auf geweihte Erde gebracht
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222 ans Zulliger
“ werden. Wir denken unwillkürlich an das Mana bei den Wilden, das alle
Verwandten und die Gegenstände „infiziert“, die einem Toten gehörten,
so daß alles um ihn herum tabu wird und einer Reinigungszeremonie
unterliegt, bevor das Leben wieder seinen gewohnten Lauf nehmen darf.
Das Salz, mit dem sich unsere Badener reinigen, gehört wie Feuer und
Wasser zu den Symbolen der urethralen und genitalen Erotik (Salz in
Träumen ist oft Spermasymbol). Vergessen wir nicht, daß für die Trauern-
den Ehebeschränkungen, bei den Wilden sexuelle Beschränkungen bestehen,
weil der Tod den Überlebenden Anlaß gibt zu Regressionen in die orale
und anal-sadistische Stufe. In Birma besorgen Mönche die Reinigung,
nachdem der Tote „versöhnt“ ist. An der Goldküste werden einfach alle
die Gegenstände vernichtet, die mit dem Toten in Berührung kamen,
ebenso in Südamerika, bei den Batua und bei den Navigo.
Diese Gebräuche werden von der Angst vor dem Toten diktiert. Aus
Angst werden bei uns die Stühle umgekehrt, . damit sich der Geist des
Toten nicht darauf setze, es wagt in der ersten Zeit niemand, an den Platz
des abgeschiedenen Hausvaters zu sitzen, man stellt ihm sogar ein Gedeck
und Essen und 'Irinken her und verändert nichts im Hause. Die Niko-
baresen, Bororo, die Bewohner der Gazellenhalbinsel, der Neuhebriden,
von Adelaide und der Encounterbai und die Indianer des Gran Chaco
ändern aus dem gleichen Grunde ihre Namen, sie verbieten den Ausspruch .
des Namens des Toten und ändern die Namen von Gebrauchsgegenständen,
die an den Namen des Toten erinnern: denn „wenn man vom Teufel
redet, so ist er nicht weit“, sagt eines unserer Sprichwörter, das dieses
Namentauschen uns leicht begreifbar macht. |
Der Tote wird zum „Toggeli“, Dämon, Vampir, nicht nur bei uns
und bei den nordischen Völkern, sondern auch bei den Chinesen. Auch |
sie sorgen dafür, daß der Tote den Mund geschlossen habe: er ist als |
„Verzehrer“ besonders gefährlich. Der offene Mund eines Toten erweckt
auch bei uns .den Eindruck des Unheimlichen. Wir begründen das Schließen
mit ästhetischen Gründen, aber wir schließen den Mund mit der Bibel,
die eine reinigende, heiligende, abwehrende Kraft besitzt, wendet man sie
doch auch gegen den Teufel, gegen das „Toggeli” und Gespenster an,
Ebenso gefährlich sind die Augen des Toten, die geschlossen werden
müssen; wenn sie freundlich dreinschauen, so stirbt im Hause bald wieder
jemand.
Spiegel und glänzende Gegenstände müssen verhängt werden. Spiegel-
bild und Schatten sind im Volksglauben der Geist selber, Die
Beiträge zur Psychologie der 'Trauer- und Bestattungsgebräuche 223
Seele des Abgeschiedenen könnte im Spiegel sichtbar sein, weil sie sich
darin spiegelte (Narzißmus). Der Anblick der Seele bedeutet ein Unglück,
sie zöge einen in den Tod nach,
Die Nähe des Toten ist überhaupt gefährlich. Bei den Wilden ist sie
vom Mana verunreinigt und wirdiabu. Das Mana, diese merkwürdige Aus-
strahlung des Toten, kann für Bienenvölker, Blumentöpfe und sogar für
den Wein gefährlich werden. Im Bernbiet besteht der Glaube, daß beim
Todesfalle eines Hausbewohners besonders gerne die Zinerarien absterben.
Aus der Traumdeutung kennen wir die Bedeutung der Blumen und Bienen,
aber auch des Weines.
Die Nikobaresen denken sich den Geist als Schatten, deshalb darf der
Schatten eines Lebenden nicht in denjenigen eines Toten fallen, er zieht
ihn sonst mit ins Grab. Die Mendifrau legt Holzpflöcke an gegen die
dämonischen Beseitigungsgelüste ihres verstorbenen Gatten, auf Neuguinea
verhüllt sich die Witwe mit einem Tuche und geht eine Zeitlang wie
ein Tier auf allen Vieren, damit sie der herumstreifende Geist des
Gatten nicht wiedererkenne." Wir sehen hier den Ursprung der Trauer-
kleidung: man will sich unkenntich machen. Die Nikobaresen
bemalen das Gesicht mit Ocker, Lehm, und Herodot berichtet, daß die
alten Ägypter es mit Kot taten. Kannibalen bemalen sich mit Exkrementen
des Toten.
Das Anale kommt auch bei den Tonga zum Ausdruck, wo dem Toten
als Opfer Exkremente aufs Grab gebracht werden. Das erinnert uns an das
Bestreuen des Grabes mit Kohlenstaub, Hammerschlag und Feil-
spänen bei den Werdenbergern. Bei uns hat sich sonst die Erinnerung
des Zusammenhanges zwischen Tod und Analem nur noch in dem Spott-
lied erhalten, das junge Burschen über ihre Liebste singen:”
Und wenn ich mal gestorben bin,
So hat sie mir verheißen,
Sie woll auf meinen Grabstein hin
Einen großen Haufen Schei — deblümlein streuen,
Die sollen mein Herz erfreuen.
(Es ist das nicht der einzige Fall, daß die Verdrängung sich im Witz
einen Ausweg zu verschaffen weiß.)
ı) Notiz und Bild in einer „Berliner Illustrierten“ 1924.
2). Vgl. auch das Märchen vom Goldesel bei Grimm.
224 Hans Zulliger
Das Kotopfer wird durch heiliges Geld abgelöst (Röheim), und wir
finden darin die ethnographische Bestätigung der Gleichung Kot = Geld,
wie sie bei uns durch den Ausspruch belegt werden kann, den man etwa
in Geldverlegenheit tut: „Ich sollte einen Geldscheißer haben.“
Das Opfern von Kot mag den Brauch mitbegründen, daß die Verwandten
zuerst Erdschollen aufs Grab werfen. Doch wird darin auch der Wille
ausgedrückt, das Grab zu decken, was die Tibetaner und Ceylonesen
durch Steinhaufen, die Ägypter durch Felsengräber und Pyramiden, die
Modernen durch Grabmale kundtun. Rank wies nach, daß das Steingrab
dem Toten die ursprüngliche Tötungsart, die Steinigung, gleichsam
bedrohlich vor Augen halten sollte.
Mit dem Analen und Oralen stehen die Speiseverbote und Eß-
beschränkungen im Zusammenhang. Vor dem Tode hält man bei
uns wie bei den Wilden (Athapasken, Tibet, Südamerika u. a. O.) mit
Vielessen ein, um nach dem Begräbnis in unbewußter Erinnerung an
kannibalische Freuden Eßorgien zu feiern, bei denen es überall lustig
zugeht.
Die Formelhaftigkeit der Trauer- und Begräbnisgebräuche ist
auf der ganzen Welt verbreitet, so die Leichenreden, das Klagen und
Jammern durch besondere Klageweiber, das wir besonders bei den Yassi,
an der Goldküste vorfanden, aber auch die Tötungszeremonie bei den
Malafu, wo man dem Toten einen Schlag versetzt und ihm versichert,
er sei nun tot. Hieher gehört auch das Abfangen des Geistes bei den
Bewohnern Ceylons in einer Spinne, auf Samoa in einem Tiere, das sich
auf das Grab begibt. Das vom Toten ausgestrahlte Mana wird von dem
Tiere sozusagen absorbiert, man begräbt dann das "Tier im Grabe des
Menschen.
Wenn das Grab nicht bald zusammenfällt, sagen unsere Bauern, so stirbt
im Trauerhause bald wieder jemand. Die noch nicht verweste Leiche
ist also besonders gefürchtet. Das ist auch im Tibet der Fall, wo die
Leiche darum den Hunden und Geiern zum Fraße geboten wird, und auf
den Admiralitätsinseln, wo besonders dazu angestellte Frauen das Verwesen
beobachten müssen. Die Hunde werden auch auf Niue verwendet, sie bellen,
wenn der Tote zurückkehrt. Darum auch die nochmalige Ankündigung
des Todes und späteren Trauerfeiern bei unseren Katholiken — aber auch
auf Formosa und a. a. O.
Der Begräbnisort ist in der Regel tabu, bei uns die „heilige Erde“,
der Gottesacker. Tabu hat den Sinn von heilig, aber auch von unrein und
\
Beiträge zur Psychologie der Trauer- und Bestattungsgebräuche Sur
darum von gefährlich. Wir verstehen, es, wenn die Siamesen einen Um-
weg zum Grabe machen, die Araukaner lange Irrfahrten vollführen, die
See-Dayaks Asche streuen und die Bororo ihre Fußspuren mit Palmwedeln
verwischen: der Tote könnte sonst den Weg vom Gottesacker nach Hause
leichter finden. Die Väter sind besonders gefährlich, wie einst in Ägypten
die mächtigsten der Pharaonen. Viel weniger gefährlich sind Ledige, denen
man blaue Särge und blaue Kreuze gibt. Der Tod hat also auch etwas mit
dem Genitalkomplex zu tun. Es sei an die Ambivalenz der Geschlechter-
liebe erinnert, dann wird klar, warum tote Gatten für die Gattinnen so
gefährlich sind. Die Erbschaft erstreckt sich bei den Ceylanern sogar auf
die Witwe, die der jüngere Bruder heiratet. Dies tut bei den
Wahimas der älteste Sohn. Hier wird also der Ödipus-Wunsch er-
füllt. Bei uns ist die vom Gatten befreite „lustige“ Witwe zur Operetten-
figur geworden.
Wenn wir die Trauer- und Bestattungsgebräuche unter dem Gesichts-
winkel der psychoanalytischen Erkenntnisse über den Ödipus-Komplex
betrachten, so werden sie uns unvergleichbar tiefer verständlich, als wenn
wir nur die landesüblichen Erklärungsversuche (Pietät) befragen. Die Beweise
zu den Erklärungen der Psychoanalyse können (allerdings in oft auch schon
verstümmelter Art) bei den Primitiven geholt werden.
Es könnte ein jeder Brauch für sich noch nach tieferen Motiven erforscht
werden, meine Arbeit hat keine restlosen Erklärungen gebracht. Ich möchte
nur noch zwei Bemerkungen machen:
Das Begräbnis bedeutet in der Auffassung der Lebenden für den loten
ein Zurückgehen in die Mutter, sei es nun in die „Mutter Erde“, in
das Feuer oder in das Grab unter der Herdplatte des Hauses. Der Herd
ist als Symbol für das Genitale genügsam bekannt, das Haus als solches
für die Mutter. Der Tote, der unter die Herdplatte kommt, gelangt
gleichsam in den Uterus der reinen, jungfräulichen Mutter, denn
die Herdplatte (der Verschluß [Hymen] des mütterlichen Genitales) wird
nach dem Begräbnis wieder auf dieselbe Stelle gerückt, wie sie zuvor
war. In einem derartigen Begräbnis (Formosa) wird der Ödipus-Wunsch im
höchsten Grade erfüllt: man wird mit der jungfräulichen Mutter ver-
einigt. Hier hat man die Allmacht, man hat, was man will, wie es im
berndeutschen Kinderliede heißt:
Hans im Schneckenloch
Hat alles, was er will!
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226 | Hans Zulliger
Daß auch wir Europäer den Tod als eine Art Heirat unbewußt
betrachten, beweist der Brauch, einem "Toten das Heiratsgewand oder das
Hemd anzuziehen, das man am Heiratstage trug.
Das Mana, formosanisch Ottofu, das vom Verstorbenen ausgeht, kennen
wir auch; wenn wir die Schüleraufsätze nachlesen, so wird uns das Mana
nicht nur als ein Geist, der von ‘Toten ausgeht, geschildert, sondern sogar
seine sinnliche Wahrnehmung als Leichengeruch. (Das „Tödtele“. Es
sei auch an das Räuchern der Sterbezimmer als Reinigung erinnert.)
Das Mana scheint einen analen Ursprung nicht zu verleugnen. Denken
wir daran, daß die Kannibalen sich mit den Exkrementen des Toten bemalen,
daß sie aber auch ihre primitiven Mahl-Zubereitungsgegenstände mit dem
Darminhalt verunreinigen. Erinnern wir uns auch daran, daß die Mate-
rialisationsphänomene der Spiritisten Abkömmlinge des Darmkanals
sind, und daß der Astralleib der Theosophen und Anthroposophen
als „Dunstkreis“ geschildert wird. Der Dunstkreis eines Menschen ist
etwas, das mit dem Geruchsorgan festgestellt wird, und einem Kinde,
das gasförmige Absonderungen aus seinem Darmkanal in Gesellschaft fahren
läßt, befiehlt man, zu „verduften“, d. h. hinauszugehen. Man sagt von
jemand mit starker Ausdünstung, er stinke „wie die Pest“ oder „wie der
Tod“. Die Pest entstand durch das Herumliegenlassen von Leichen, sie ist
Totengeruch, Menschengeruch, gefährliches Mana eines Toten. Wir
wundern uns nicht, wenn das alte Bernervolk einen Verstorbenen unmittel-
bar nach dem Tode begraben wollte. Wir verstehen auch von einer neuen
Seite her, warum die Überlebenden beruhigt sind, wenn der Tote tief
unter der Erde ruht, so daß man seine Ausdünstung nicht mehr wahr-
nehmen kann.
Es ist nicht verwunderlich, daß gerade den verdrängten analen Kom-
ponenten im Begräbnis und T'rauerwesen besonders gefährliche Macht zu-
geschrieben wird. Die anale Erotik erliegt einer tieferen Verdrängung als
jeglicher andere Partialtrieb. Ursprünglich ist sie aber von bedeutender
Stärke: Kleine Kinder, die gemeinsam defäzieren, betrachten denjenigen
Kameraden als den mächtigsten, der den größten Kothaufen produziert, und
oft bewundern Schulkinder denjenigen Klassengenossen als mächtig und
unheimlich, der stinken kann, wann er will. Später kommt dann der Ekel
und die endgültige Verdrängung. Ein Schüler der oberen Klassen, der die
Luft „verpestet“, wird gemieden und verachtet.
Es scheint ein Widerspruch darin zu liegen, daß wir uns in die Mutter
zurück wünschen, also tot zu sein wünschen, und uns doch vor dem "Tode
Beiträge zur Psychologie der 'Trauer- und Bestattungsgebräuche 227
und den Toten so sehr fürchten. Wenn wir aber bedenken, daß uns die
Vereinigung mit der Mutter (Inzest) als „größtes Verbrechen“ verboten ist —
daß sich hinter der Angst nichts anderes als der Wunsch verbirgt, —
und daß wir endlich die Schrecken einer nochmaligen Geburt (Wieder-
geburtsglaube) lieber nicht noch einmal durchzumachen wünschen (dies
wäre die Folge eines neuerlichen intrauterinen Lebens),' so erklärt sich
der scheinbare Widerspruch.
R 5 EEE
ı) Rank, Das Trauma der Geburt. Wien 1924.
= um
Mutterrechtliche Familie und Ödipus-
Komplex’
Von Dr. Bronislaw Malinowski (London)
Dozent der sozialen Anthropologie an der Universität London
I
Die soziologische Problemstellung
in der Psychoanalyse
Die Psychoanalyse ist aus der ärztlichen Praxis geboren und ihre Theorien
sind in der Hauptsache psychologisch, aber sie steht in enger Beziehung
zu zwei anderen Wissenszweigen, zur Biologie und zur Gesellschaftslehre.
Es ist vielleicht eines ihrer Hauptverdienste, daß sie um diese drei Ab-
teilungen der Wissenschaft vom Menschen ein neues Band schmiedet. Die
psychologischen Ansichten Freuds — Konflikt, Verdrängung, das Unbe-
wußte, die Komplexbildung — stellen den bestausgearbeiteten Teil der
Psychoanalyse dar und sie bilden ihre eigentliche Domäne. Die biolo-
_ gische Lehre, die Behandlung der Sexualität und ihrer Beziehung zu anderen
Trieben, der Begriff der Libido und ihrer verschiedenartigen Umwandlung
bilden jenen Teil der Theorie, der viel weniger abgeschlossen, von Wider-
sprüchen und Lücken weniger bereinigt ist und der der Kritik, mit oder
ohne Recht, mehr ausgesetzt ist. Der soziologische Ausblick, der hier
für uns hauptsächlich von Interesse ist, verdient größere Aufmerksamkeit.
Obschon Soziologie und Anthropologie die meisten Bestätigungen zugunsten
der Psychoanalyse erbracht haben und obschon die Lehre vom Ödipus-
- . - - 5 = Fr
ı) Unter dem Titel „Psycho-Analysis and Anthropology“ englisch in der „Psyche“,
Vol. IV (1924) erschienen. »
> _ Mutterrechtliche Familie und Ödipus-Komplex | 229
Komplex unverkennbar soziologische Ausblicke bietet, hat merkwürdiger-
weise dieser Aspekt die geringste Beachtung gefunden und auch das erst
in den letzten Zeiten.
Die psychoanalytische Lehre ist im wesentlichen eine Theorie vom
Einfluß des Familienlebens auf die menschliche Seele. Sie zeigt uns,
wie die Leidenschaften, Ausbrüche, Konflikte des Kindes in seinem Ver-
hältnisse zu Vater, Mutter, Bruder, Schwester, zur Bildung von gewissen
ständigen seelischen Einstellungen oder Gefühlssystemen (sentiments) gegen-
über diesen Personen führen; von Gefühlssystemen, die — zum Teil im
Gedächtnisse fortlebend, zum Teil im Unbewußten eingebettet — das
spätere Leben des Individuums in seinen Beziehungen zur Gesellschaft be-
einflussen., |
Ich habe das Wort Gefühlssystem (sentimert) in dem begrifflichen Sinne
gebraucht, den ihm A. F. Shand gegeben hat; es ist daher all das Wich-
tige inbegriffen, womit dieser Begriff in Shands Lehre von den Empfin-
dungen und Trieben ausgestattet wurde.
Der soziale Charakter der Lehre ist offenkundig: das ganze Freudsche
Drama spielt sich innerhalb einer sozialen Gemeinschaft von bestimmtem
Typus ab, im engen Kreis der Familie, bestehend aus Vater, Mutter und
deren Nachkommenschaft. Also der Kernfamilienkomplex, das wichtigste
Moment im menschlichen Seelenleben laut Freud, ist das Ergebnis eines
bestimmten Typus von sozialer Gruppierung. Anderseits aber üben die
seelischen Eindrücke, die jedes Individuum in der Jugend erhalten hat,
später soziale Einflüsse aus, indem sie das Individuum zur Bildung gewisser
Bindungen instand setzen und seine Aufnahmefähigkeiten und seine schöpfe-
rische Kraft auf dem Gebiete von Überlieferung, Kunst, Denken und Religion
formen.
Der Soziologe hat daher das Empfinden, daß der psychologischen Behand-
lung des Kernkomplexes zwei soziologische Kapitel hinzugefügt werden
müssen: eine Einleitung, die Rechenschaft gibt über die soziologische Natur
der Familieneinflüsse und einen Epilog, der die Konsequenzen des Kern-
komplexes für die Gesellschaft analysiert. Zwei Probleme ergeben sich somit
für den Soziologen.
Erstes Problem. Wenn das Familienleben von so schicksalsschwerer
Bedeutung für das menschliche Seelenleben ist, verdient sein Charakter
mehr Beachtung. Denn „die Familie” ist doch nicht dasselbe in allen
ı) A. F. Shand: The Foundations of Character. 2. Ed. London ıg20.
Imago % 2 u5 16
230 | 5 Dr Bronislaw Malinowski
menschlichen Gesellschaften. Ihre Beschaffenheit wechselt sehr mit dem
Entwicklungsgrad und der Zivilisationsart eines Volkes und sie ist auch
nicht identisch in den verschiedenen Schichten derselben Gesellschaft. Laut
den heute noch in der populären Anthropologie gangbaren Theorien hat
sich die Familie im Laufe der Entwicklung der Menschheit ungemein
geändert, von ihrer ersten promiskuiden, auf sexuellen und ökonomischen
Kommunismus beruhenden Form, über die auf Gruppenehe basierenden
„Gruppenfamilie“, die auf der Punaluaehe basierende Blutverwandtschafts-
familie, über Großfamilie und Clanverwandtschaft, bis schließlich zu ihrer
Form in unserer gegenwärtigen Gesellschaft, der auf der Einehe und der
patria potestas basierenden Individualfamilie. Aber auch abgesehen von
solchen anthropologischen Konstruktionen, die einiges Tatsachenmaterial mit
viel Hypothesen kombinieren, kann nicht bezweifelt werden, daß wir auch
gegenwärtig bei der Beobachtung von Naturvölkern unserer Tage große
Abweichungen in der Beschaffenheit der Familie feststellen können. Es
gibt Unterschiede in bezug auf die Verteilung der Macht und je nach-
dem diese mehr oder minder dem Vater oder der Mutter eigen ist, ergeben
sich die besonderen Formen des Patriarchats oder die verschiedenen Schattie-
rungen des Mutterrechtes. Es gibt ferner bemerkenswerte Abweichungen
in der Art die Abstammung zu zählen und zu benennen: eine matrilineare,
die auf Unkenntnis der Vaterschaft beruht und eine patrilineare trotz
dieser Unkenntnis; eine patrilineare zufolge der Machtverhältnisse und
eine patrilineare aus ökonomischen Gründen. Überdies entsprechen auch
den Unterschieden in der Siedlung, Wohnart, der wirtschaftlichen Grund-
lage, der Arbeitsverteilung usw. große Unterschiede in der Gestaltung der
menschlichen Familie bei den verschiedenen Rassen und Völkern der
Menschheit.
Es taucht also das Problem auf: ändern sich die Konflikte, die Affekte
und Neigungen innerhalb der Familie mit der Form der Familie, oder
bleiben sie gleich innerhalb der Menschheit? Wenn sie sich ändern — so
wie sie sich tatsächlich ändern müssen — dann kann der Kernfamilien-
komplex nicht bei allen menschlichen Völkern und Rassen konstant bleiben;
er muß verschieden sein, je nach der Familienform. Die Hauptaufgabe der
psychoanalytischen Soziologie ist also, ‚die Grenzen dieser Variationen zu
untersuchen; zu formulieren, wie die Abarten des Kernkomplexes den Ab-
arten in der Verfassung der Familie entsprechen; schließlich die fundamen-
talen Typen der Familienverfassung zu erörtern und die dazugehörigen
Formen des Kernkomplexes zu bestimmen.
Mutterrechtliche Familie und Ödipus-Komplex 271
Mit einer Ausnahme vielleicht, ist dieses Problem bisher noch nicht
aufgestellt worden, wenigstens nicht in ausdrücklicher und direkter Weise."
Der alleinige Kernkomplex, den die Freud-Schule kennt und als allgemein
gültig betrachtet, d. h. der Ödipus-Komplex, entspricht im wesentlichen
unserer indoeuropäischen Familie, die patrilinear ist mit entwickelter patria
potestas, gestützt durch das römische Recht und die christliche Moral und
gefestigt durch den modernen europäischen Industrialismus der wohlhaben-
den Bourgoisie. Doch dieser Komplex maßt sich an, in jeder wilden oder
barbarischen Gesellschaft eine Grundlage zu haben. Dies kann gewiß nicht
richtig sein. Eine eingehendere Erörterung des ersten Problems soll uns
zeigen, wie weit dies unrichtig ist.
Das zweite Problem. Welcher Art ist der Einfluß des Kernkomplexes
auf die Bildung von Mythen, Legenden, Märchen, auf bestimmte Typen
von Gebräuchen wilder und unzivilisierter Völker, auf bestimmte Formen
sozialer Organisation und Leistungen materieller Kultur? Dieses Problem
ist von psychoanalytischen Autoren, die ihre Grundsätze auf die Erforschung
der Mythen, der Religion und der Kultur angewandt haben, deutlich er-
kannt worden. Aber die Theorie, wie der soziale Mechanismus vermöge
der Macht des Kernkomplexes Kultur und Gesellschaft beeinflußt, ermangelt
meiner Ansicht einer richtigen Ausarbeitung. Die meisten Ansichten, die
dieses zweite Problem betreffen, bedürfen einer gründlichen Revision vom
soziologischen Gesichtspunkte aus. Die von Freud, Rank und Jones
gebotenen konkreten Lösungen aktueller mythologischer Probleme bieten
anderseits gewöhnlich nur wenig Anlaß zur soziologischen und anthropo-
logischen Kritik‘ und sind viel stichhältiger als ihre allgemeine Formel,
daß der Mythus ein „Säkulartraum der Rasse“ ist.
Die Psychoanalyse hat, indem sie betont, daß das Interesse des Primi-
tiven auf sich selbst konzentriert ist, wie auch auf die Personen seiner
Umgebung, und daß es libidinöser Natur ist, die richtige Grundlage für
die Psychologie des Primitiven geschaffen, die bisher vielfach in falsche
Ansichten vom affektlosen Interesse des Menschen für die Natur und von
seinen philosophischen Spekulationen über Dasein und Schicksal verstrickt
war. Aber zufolge der Verkennung des ersten Problems und jener still-
ı) Ich verweise auf J. GC. Flügels vorzügliches Buch „The Psycho-Analytic Study
of the Family“, das — obschon von einem Psychologen geschrieben — durchaus
soziologisch orientiert ist. Die letzten Kapitel, besonders XV und XVII, enthalten
vieles, das sich dem gegenwärtigen Problem nähert, wenn der Verfasser es auch nicht
ausdrücklich so formuliert.
ı6”
b r
en ee u
2532 Dr. Bronislaw Malinowski
schweigenden Verallgemeinerung, daß der Ödipus-Komplex in allen Typen
der Gesellschaft vorhanden sei, haben sich gewisse Irrtümer in das anthro-
pologische Werk der Psychoanalyse eingeschlichen. Es können denn auch
keine richtigen Resultate erzielt werden, wenn versucht wird, den Ödipus-
Komplex, der ein patriarchalischer ist, in einer matrilinearen Gesellschaft
vorzufinden; oder wenn mit der Hypothese der Gruppenehe oder der Promis-
kuität herumgespielt wird, als wäre nicht eine besondere Vorsicht geboten
angesichts von Bedingungen, die so grundfremd sind gegenüber unserer
Familienform, so wie sie der psychoanalytischen Praxis bei uns bekannt ist,
In solche Widersprüche verwickelt, begeht der anthropologisierende Psycho-
analytiker hypothetische Verallgemeinerungen über gewisse Typen der primi-
tiven Horde, oder über das prähistorische Vorbild des totemistischen Opfers,
oder über den Traumcharakter des Mythus, Verallgemeinerungen, die mit
den Grundprinzipien der Psychoanalyse selbst unvereinbar sind.
Diese Abhandlung ist ın der Hauptsache ein Versuch an Hand von
unmittelbaren Beobachtungen an Wilden, das erste Problem zu erörtern:
die Abhängigkeit des Kernkomplexes von der Beschaffenheit der Familie.
Die Behandlung des zweiten Problems bleibt einer späteren Veröffentlichung
vorbehalten.
II
Die Beschaffenheit der Familie in einer patriarchali-
schen und in einer mutterrechtlichen Gesellschaft
Wir wenden uns nun der Erörterung des ersten Problems zu und haben
also zu untersuchen, in welcher Weise der Kernkomplex durch die Be-
schaffenheit der Familie in einer gegebenen Gesellschaft beeinflußt und
modifiziert wird. Es wird der beste Weg sein, in das konkrete Material ein-
zutreten, die Bildung des Kernkomplexes im Verlaufe eines typischen
Familienlebens zu verfolgen, und zwar vergleichsweise in verschiedenen
Zivilisationstypen. Ich gedenke dabei nicht etwa alle Formen der mensch-
lichen Familie in Betracht zu ziehen. Es sollen nur zwei mir aus persön-
licher Beobachtung bekannte Typen in ihren Einzelheiten verglichen werden:
die vaterrechtliche Familie der modernen Zivilisation und die matrilineare
Familie gewisser Inselgemeinschaften in Nordwestmelanesien. Diese beiden
Arten stellen jedoch vielleicht die beiden extrem-verschiedensten Typen
ba
Mutterrechtliche Familie und Ödipus-Komplex
der Familie dar, die der empirischen Beobachtung überhaupt zugänglich
sind und werden daher unserem Zweck sehr gut dienen können. Es bedarf
einiger einführender Worte für die eingeborene Bevölkerung der Trobriand-
inseln in Nordost-Neuguinea (oder Nordwestmelanesien), die das eine Glied
unserer vergleichenden Gegenüberstellung bilden soll.
Diese Eingeborenen sind matrilinear, d. h. sie leben in einer Gesell-
schaftsordnung, in der die Verwandtschaft allein von der Mutter abgeleitet
wird, Nachfolge und Erbrecht in mütterlicher Linie gelten. Dies bedeutet,
daß der Knabe oder das Mädchen zur Familie, zum Clan, zur Gemein-
schaft der Mutter gehört; daß der Knabe die Nachfolge in die Würden
und soziale Lage des Mutterbruders hat; und daß ein Kind Besitz an Land
und Mobilien nicht vom Vater, sondern vom Onkel mütterlicherseits erbt.
Jeder Mann und jede Frau auf den Trobriandinseln gründet tatsächlich einen
Ehestand, nach einer Periode sexueller Spielerei in der Kindheit, der eine
allgemeine Freiheit ın jugendlichem Alter folgt und später eine Periode,
in der die Liebenden in einer beständigeren Beziehung zusammenleben,
indem sie mit zwei oder drei anderen Paaren ein gemeinschaftliches „Jung-
gesellenheim“ teilen.‘ Die Ehe ist — abgesehen von der der Häuptlinge,
die mehrere Frauen haben — eine monogame, sie ist eine dauernde Ver-
bindung, setzt eine sexuelle Ausschließlichkeit voraus, eine gemeinsame
wirtschaftliche Existenz, einen unabhängigen Haushalt und mag äußerlich
und auf den ersten Blick dem oberflächlichen Beobachter als ein genaues
Ebenbild unserer Eheinstitution erscheinen. In Wirklichkeit ist sie jedoch
ganz abweichender Natur. Vor allem gilt der Gatte nicht als der Vater der
Kinder in dem Sinne, wie wir dieses Wort verwenden; er hat physiologisch
nichts mit ihrer Geburt zu tun, entsprechend den Anschauungen der Ein-
gebornen, denen die physische Vaterschaft vollkommen unbekannt ist. Die
Kinder gelangen nach dem Glauben der Eingeborenen als winzige Geister
in den Schoß der Mutter, was im allgemeinen der Wirkung des Geistes
einer verstorbenen Verwandten der Mutter zugeschrieben wird.” Der Gatte
hat dann die Kinder zu schützen, zu hegen und zu pflegen, sie „in seine
Arme zu nehmen“, wenn sie zur Welt gebracht sind, aber sie sind nicht
die seinigen in dem Sinne, daß er einen Anteil an ihrer Zeugung hätte.
ı) Vgl. meinen Artikel „The Sexual Psychology of Savages“ in Psyche, October
1923; und „Baloma, Spirits of the Dead“, Journal of the Royal Anthropological
Institute 1916.
2) Siehe die obenzitierten Aufsätze und den Artikel „Spirit Children“ in Hastings
„Eneyclopaedia of Religion and Ethics“.
254 | P Dr Bronislaw Malinowski
Der Vater ist also ein geliebter, wohlwollender Freund, aber kein in
irgendwelchem Sinne anerkannter Verwandter der Kinder. Er ist ein
Fremder, dem eine gewisse Autorität zukommt, aus seiner persönlichen
Beziehung zum Kind, aber nicht etwa aus seiner soziologischen Stellung
in der Familie. Eine wirkliche Verwandtschaft, d. h. eine Identität der
Substanz, „der gleiche Leib“, besteht nur durch die Mutter. Die Autorität
über die Kinder gebührt dem Bruder der Mutter. Dieser kann sich nun,
zufolge des strengen "Tabus, das freundliche Beziehungen zwischen Bruder
und Schwester ausschließt, zu ihr oder zu den Angehörigen ihres Haus-
standes niemals intim stellen. Sie anerkennt seine Autorität und beugt
sich vor ihm wie ein Untertan vor dem Häuptling, aber es können zwischen
ihnen nie zärtliche Beziehungen bestehen. Ihre Kinder aber sind seine
direkten Erben und Nachfolger und er übt über sie die unmittelbare
potestas aus.
Bei seinem Tode gehen seine weltlichen Güter in ihren Besitz über
und zu seinen Lebzeiten hat er die besonderen Talente, derer er sich etwa
erfreut — Tänze, Gesänge, Mythen, Magien und Kunstfertigkeiten — auf
sie zu übertragen. Er versorgt auch seine Schwester und ihren Haushalt
mit Lebensmitteln, der größere Teil seiner Gartenprodukte wandert zu ihnen.
An ihrem Vater sehen also die Kinder bloß die liebevolle Obhut und die
zärtliche Kameradschaft. Der Bruder der Mutter repräsentiert die Grund-
sätze der Disziplin, der Autorität und der exekutiven Gewalt innerhalb der
Familie,!
Das Verhalten der Frau gegenüber dem Gatten ist durchaus nicht unter-
würfig. Sie hat ihren eigenen Besitz und eine eigene private und öffent-
liche Einflußsphäre. Es kommt nicht vor, daß die Kinder ihre Mutter
durch den Vater eingeschüchtert sehen. Anderseits ist der Vater nur zum
geringen Teil der Brotbeschaffer, er hat in der Hauptsache für seine
Schwester zu arbeiten, während die Knaben wissen, daß_ sie, wenn sie
heranwachsen, der Reihe nach für die Haushaltungen ihrer Schwestern zu
arbeiten haben werden.
Die Ehe ist patrilokal, d. h. das Mädchen folgt dem Gatten in dessen
Haus und tritt zu seiner Gemeinschaft über, wenn sie aus einer anderen
kommt, wie es im allgemeinen der Fall ist. Demnach wachsen die Kinder
in einer Gemeinschaft auf, in der sie von rechtswegen fremd sind, in der
ı) Über die seltsamen wirtschaftlichen Verhältnisse bei diesen Eingebornen vgl.
des Verfassers „Primitive Economics“ in Economic Journal, ıg92ı und „Argonauts of
the Western Pacific“, Kap. II und VI.
Mutterrechtliche Familie und Ödipus-Komplex | 235
sie kein Recht auf Grundbesitz haben, keinen Anteil an Stolz und Ruhm
des Dorfes, weil doch ihre Heimat, der überlieferte Mittelpunkt ihres Lokal-
patriotismus, ihre Besitztümer anderswo sind, ihr Ahnenstolz anderswo zu
Hause ist. Aus diesem zweifachen Einfluß entstehen merkwürdige Kombina-
tionen und Verwirrungen.
Bereits im frühen Alter werden die Knaben und Mädchen derselben
Mutter in der Familie getrennt, zufolge des strengen Tabus, das intime
Beziehungen zwischen ihnen untersagt und vor allem nicht zuläßt, daß
irgend etwas, das mit dem Geschlechtsleben verbunden ist, sie jemals
gemeinsam interessiere. Daraus ergibt sich, daß, obschon der Bruder in Wirk-
lichkeit die Person ist, die an Autorität über der Schwester steht, das Tabu
ihm die Ausübung dieser Autorität verbietet, wenn es sich um die Frage
ihrer Ehe handelt. Das Vorrecht, die Zustimmung zu erteilen, oder vor-
zuenthalten, gebührt daher den Eltern und der Vater, der Gatte der Mutter,
hat also gerade in dieser wichtigen Frage der Ehe der Tochter die meiste
Autorität.
Der große Unterschied zwischen den beiden Familien, die wir gegen-
überstellen, beginnt somit klar zu werden. In der normalen Familie bei
uns haben wir den Gatten und Vater ausgerüstet mit Autorität und Macht-
befugnissen, gestützt von der Gesellschaft. Wir haben auch die wirtschaft-
liche Einrichtung, vermöge welcher er der Brotbeschaffer ist und seine
Fürsorge — nominell wenigstens — nach Belieben vorenthalten oder groß-
mütig handhaben kann. Auf den Trobriands anderseits haben wir die unab-
hängige Mutter, ihr Gatte wird mit der Zeugung der Kinder gar nicht in
Verbindung gebracht und er ist nicht der Brotbeschaffer, er kann sein
Eigentum den Kindern nicht hinterlassen und hat keine sozial aufgerichtete
Autorität über sie. Mit übermächtigem Einfluß dagegen sind die Ver-
wandten der Mutter versehen, besonders ihr Bruder, der die Autoritäts-
person, der Ernährer der Familie ist und dessen Besitztümer die Knaben
nach seinem Tode erben. So zeigt das Bild des sozialen Lebens und der
Familienform ganz verschiedene Züge.
Während es interessant erschien, das Familienleben in der matrilinearen
Gesellschaft zu betrachten, mag es den Anschein haben, daß es überflüssig
sei, bei unserem Familienleben zu verweilen, da doch jeder von uns mit
diesem so gut vertraut und es in der neueren psychoanalytischen Literatur
so oft dargestellt ist; es mag also als bekannt vorausgesetzt werden. Aber
vor allem ist es von wesentlicher Bedeutung, in einer genau vergleichenden
Abhandlung die Glieder des Vergleiches klar vor Augen zu haben; und
2 36 Dr. Bronislaw Malinowski
dann, da die matrilinearen Daten, die hier geboten werden, durch besondere
Methoden anthropologischer Außenarbeit gewonnen worden sind, ist es
unerläßlich, das europäische Material in eine ähnliche Form zu bringen,
wie wenn es mit den gleichen Methoden beobachtet und vom anthropo-
logischen Standpunkt gesichtet worden wäre. Ich fand, um es noch einmal
zu wiederholen, in keiner psychoanalytischen Betrachtung irgend einen
unmittelbaren oder folgerichtigen’ Hinweis auf das soziale Milieu, noch
weniger die Erörterung dessen, wie der Kernkomplex und seine Wirkungen
mit der sozialen Schichte in unserer Gesellschaft wechseln. Doch ist es
offenbar, daß der infantile Konflikt in der luxuriösen Kinderstube des
reichen Bourgeois nicht derselbe sein wird, wie in der Hütte des Bauern
oder in der Einzimmerwohnung des armen Arbeiters. Gerade um die
Richtigkeit der psychoanalytischen Lehre zu erhärten, wäre es von Wichtig-
keit, die niedrigste und ungebildetste Klasse zu betrachten, in der man die
Dinge beim rechten Namen nennt, in der das Kind in ständigem Kontakt
mit den Eltern ist, in demselben Raum lebt und ıßt, in demselben Bett
schläft, wo kein Elternersatz das Bild kompliziert, gute Manieren die
Brutalität der Konflikte nicht abschwächen und wo die Eifersüchteleien
und kleinen Wettbewerbe des täglichen Lebens trotz teilweise verdrängter
Feindseligkeit einen scharfen Waffenlärm erklirren lassen.
Es mag noch hinzugefügt werden: wenn wir den Kernkomplex und
seine Wurzeln in der biologischen Wirklichkeit behufs Anwendung auf die
Folklore untersuchen, so ist es von besonderer Notwendigkeit, die Bauern
und die ungebildeten Klassen nicht außer Acht zu lassen. Denn die Volks-
überlieferungen entstehen ja unter Voraussetzungen, die denen der modernen
mittel- und osteuropäischen Bauern und denen des armen Handwerkers,
verwandter sind als denen der überernährten und verkünstelten Bevölkerungs-
schichten im modernen Wien, London oder New-York.
Um die Vergleichsbasis ganz klar zu stellen, will ich die Geschichte der
Kindheit in Perioden gliedern und in den folgenden Kapiteln jede Periode
gesondert behandeln. Die klare Unterscheidung von Phasen in der Geschichte
des Familienlebens ist wichtig bei der Behandlung des Kernkomplexes, denn
die Psychoanalyse — und hier liegt wirklich eines ihrer Hauptverdienste —
ı) Durch meine persönliche Kenntnis des Lebens, der Sitten und der Psychologie
der osteuropäischen Bauern bin ich zu der Überzeugung gekommen, daß es ganz
tiefgehende Unterschiede gibt zwischen den ungebildeten und den gebildeten Klassen
derselben Gesellschaft hinsichtlich der seelischen Einstellung der Eltern zu den
Kindern und umgekehrt.
-] |
co I
Mutterrechtliche Familie und Ödipus-Komplex 2
hat in die Schichtung des menschlichen Seelenlebens Licht gebracht und
seine strenge Abhängigkeit von den einzelnen Phasen der Entwicklung des
Kindes aufgezeigt. Die bestimmten Perioden der Sexualität, die Krisen, die
sie begleitenden Verdrängungen und Amnesien, die gewisse Erinnerungen
ins Unbewußte verbannen, all dies führte zu einer klaren Einteilung des
Kindeslebens in Perioden.” Für den gegenwärtigen Zweck wird es genügen,
vier Perioden in der Entwicklung des Kindes zu unterscheiden, die durch
biologische und soziologische Kriterien bestimmt werden.
ı. Die Säuglingszeit, in der das Kleine der Nahrung wegen auf die
Mutterbrust angewiesen ist und der Sicherheit wegen auf den Schutz der
Eltern; in der es sich nicht unabhängig bewegen, noch seine Wünsche
und Gedanken aussprechen kann. Als Grenzen dieser Periode können wir
“ die Geburt und die Entwöhnung ansehen. Bei wilden Völkern dauert dieser
Abschnitt zwei bis drei Jahre. In zivilisierten Gemeinschaften ist er viel
kürzer, dauert im allgemeinen nur ungefähr ein Jahr. Es ist besser, sich
an die natürlichen Abgrenzungen für die Einteilung der Kindheitsphasen
zu halten. Das Kind ist in dieser Zeit mit der Familie physiologisch ver-
bunden.
2. Die Babyperiode, die Zeit, in der der Knabe oder das Mädchen,
wenn auch noch an der Mutter hängend und unfähig, eine unabhängige
Existenz zu führen, sich schon bewegen, reden, und frei um sie herum-
spielen kann. Wir können die Dauer dieser Periode auf drei bis vier Jahre
schätzen und sie reicht so bis etwa zum sechsten Lebensjahr des Kindes.
Dieses Lebensalter bringt die erste Lockerung der Familienbande. Das Kind
lernt sich von der Familie entfernen und sich selbst genügen.
3. Die Kindheit, die Erlangung einer relativen Unabhängigkeit, die
Epoche des Herumstreifens und: des gemeinsamen Spielens mit anderen
EEE EEE
ı) Obschon in Prof. Freuds Behandlung der infantilen Sexualität die Einteilung
in streng geschiedene Phasen von grundlegender Bedeutung ist, wurde das Schema selbst
in seinem klassischen Werke über diesen Gegenstand („Drei Abhandlungen zur Sexual-
theorie“) nicht klar und ausdrücklich auseinandergesetzt. Dies macht die Lektüre
dieses Buches für einen Nichtspezialisten der Psychoanalyse etwas schwierig und
verursacht einige Zweideutigkeiten und Widersprüche, sowohl reale als scheinbare.
Flügels sonst vorzügliche Darstellung der Psychoanalyse (a. a. OÖ.) leidet auch an
diesem Mangel, was besonders bedauerlich ist bei einer Arbeit, die sich die Aufgabe
gestellt hat, die Lehre klar zu stellen und zu systematisieren. Das in seinem Buche
durchwegs gebrauchte Wort „Kind“ (child) bedeutet manchmal „baby“, manchmal
„adolescent“, und der Sinn muß in der Regel erst aus dem Zusammenhange erkannt
werden. In dieser Hinsicht mag vielleicht die gegenwärtige Skizze von gewissem
Nutzen sein, obwohl das letzte Wort von seiten der Psychoanalyse selbst kommen muß!
Fr
258 Dr. Bronislaw Mllinowski
Kindern. Dies ist auch die Zeit, in der man das Kind innerhalb aller
Rassen und Klassen in die volle Zugehörigkeit zur Gemeinschaft einzu-
führen beginnt. Bei gewissen Wilden beginnen die vorbereitenden Weihe-
riten. Bei anderen und auch bei unseren Bauern (und der Arbeiterschaft)
beginnt die Anweisung des Kindes für seine zukünftige wirtschaftliche
Existenz. Bei den Angehörigen zivilisierter Gemeinschaften beginnt der
Schulunterricht in dieser Zeit. Dies ist die Periode der zweiten Loslösung
von Familieneinflüssen und sie dauert bis zur Pubertät, die die natürliche
Grenze bildet. |
4. Das jugendliche Alter (adolescence)* zwischen der physiologischen
Pubertät und der vollen ‚sozialen Reife. Bei vielen wilden Völkern fallen
in diesen Zeitabschnitt die wichtigsten Initiationsriten, bei anderen Stämmen
ist das die Phase, in der Stammesrecht und Ordnung ihren Anspruch auf
den Jüngling und auf die Jungfrau geltend machen. In modernen zivili-
sierten Gemeinschaften ist dies die Zeit der zweiten und höheren Schulung
oder des sonstigen Abschlusses des Lehrzeit für die Lebensaufgaben. Es ist
die Periode der vollkommenen Emanzipation von der Familienatmosphäre
und sie schließt, bei den Wilden sowohl als in niederen Klassen unserer
eigenen Gesellschaft, normalerweise mit der Ehe und der Gründung einer
neuen Familie ab.
Ill
Die erste Phase des Familiendramas: die glückliche
Verbindung von Mutter und Kind in matrilinearen
und patrilinearen Gesellschaften
Es ist allgemein charakteristisch für die Säugetiere, daß das Junge mit
der Geburt nicht frei und unabhängig wird, sondern daß es hinsichtlich
Nahrung, Sicherheit, Wärme und körperlicher Bequemlichkeit auf die Für-
sorge der Mutter angewiesen ist. Dem entsprechen verschiedene körperliche
Einrichtungen bei Mutter und Kind. Es besteht physiologisch ein lebhaftes
instinktives Interesse der Mutter für das Kind und eine Sehnsucht des
ı) Wegen der Übersetzung des englischen adolescence vgl. auch in Imago, IX. Bd,,
S. 168, die redaktionelle Notiz zu Jones „Einige Probleme des jugendlichen Alters“,
(Anmerkung des Übersetzers.)
|
Mutterrechtliche Familie und Ödipus-Komplex Zu | 239
Kindes nach dem miütterlichen Organismus, nach der Wärme ihres Körpers,
nach ihren Umarmungen und vor allem nach der Milch und nach der
Berührung ihrer Brust. Zunächst ist die Beziehung abgegrenzt durch den
selektiven Charakter der mütterlichen Leidenschaft, — der Mutter ist nur
der eigene Sprößling teuer, indes der Säugling sich mit dem Körper jeder
säugenden Frau zufrieden gibt. Aber bald lernt auch das Kind unter-
scheiden und seine Neigung wird ebenso exklusiv und individuell wie die
der Mutter. So schafft die Geburt zwischen Mutter und Kind ein Band
fürs Leben.
Dieses Band ist zunächst in der biologischen Tatsache begründet, daß
junge Säugetiere nicht unbehütet leben können und so hängt das Fort-
bestehen der Art von einem mächtigen Instinkte ab, von dem der Mutter-
liebe. Aber die Gesellschaft beeilt sich einzuschreiten und ihr zunächst
schwaches placet der mächtigen Stimme der Natur hinzuzufügen. In allen
menschlichen — wilden oder zivilisierten — Gemeinschaften nehmen die
Sitten, das Recht und die Moral, zuweilen sogar die Religion, Kenntnis
vom Band zwischen Mutter und Kind, gewöhnlich bereits im frühen Stadium
der beginnenden Schwangerschaft. Die Mutter, manchmal der Vater, haben
verschiedene Tabus und Verhaltungsmaßregeln zu befolgen oder Riten zu
verrichten, die mit der Wohlfahrt des neuen Lebens im Mutterschoße zu
tun haben. Die Geburt ist stets ein wichtiges soziales Ereignis, um die
herum sich viele überlieferte Bräuche anhäufen, die oft religiösen Charakter
tragen. So hat gerade das natürlichste und unmittelbarste biologische Band,
das zwischen Mutter und Kind, seine soziale Determination ebenso wie
seine physiologische, und es kann daher nicht beschrieben werden, ohne
daß auf den Einfluß hingewiesen würde, den Tradition und Brauch der
Gemeinschaft ausüben. |
Wir wollen nun die sozialen Kodeterminanten der Mutterschaft in unserer
eigenen Gesellschaft kurz zusammenfassend charakterisieren. Die Mutter-
schaft ist ein moralisches, religiöses und auch künstlerisches Ideal der Zivili-
sation; eine schwangere Frau wird von Recht und Sitte bevorzugt, sie soll
als etwas Geheiligtes gelten und sie selbst hat.über ihren Zustand Stolz
und Glück zu empfinden. Daß dies ein Ideal ist, das verwirklicht sein
kann, dafür bürgen historische und ethnographische Jatsachen und sogar
im modernen Europa setzen es die orthodoxen jüdischen Gemeinden in
Polen in die Tat um; bei ihnen ist eine schwangere Frau ein Objekt
echter Verehrung und sie empfindet auch Stolz darüber. In der christlich-
europäischen Gesellschaft jedoch gilt die Schwangerschaft in den niederen
240 Dr. Bronislaw Malinowski
Klassen als lästige Bürde und bei den Wohlhabenden ist sie eine Quelle
von Verlegenheiten, Unbequemlichkeiten und bedingt eine zeitliche Ver-
bannung aus dem gewöhnlichen gesellschaftlichen Leben. Da die Psycho-
analyse die Bedeutung der pränatalen Einstellung der Mutter für die zu-
künftigen Gefühle gegenüber dem Kinde erkannt hat und da diese Ein-
stellung mit dem Milieu sehr wechselt und von sozialen Werten abhängt,
ist es von Wichtigkeit auf dieses soziologische Problem hinzuweisen.
Das biologische Verhalten und die triebhaften Impulse der Mutter bei
der Geburt werden von der Gesellschaft gutgeheißen und bestärkt und in
vielen ihrer Gebräuche, Sittenregeln und Ideale macht die Gesellschaft die
Mutter zur Amme des Kindes, und zwar allgemein gesprochen sowohl in
den oberen als in den niederen Schichten bei den meisten Völkern Europas.
Dennoch lassen selbst bei dieser so fundamentalen und so stark biologisch ge-
sicherten Beziehung in gewissen Gesellschaften Sitte und moralische Laxheit
bemerkenswerte Abweichungen zu. So gibt es das barbarische System, das
Kind für das erste Lebensjahr wegzugeben, etwa zu einer bezahlten Pflege-
mutter, was einst in der französischen Mittelklasse vorherrschend war oder
das beinahe ebenso barbarische System, zur Schonung.der Mutterbrust eine
Amme zu halten, oder das Kind künstlich zu nähren, was früher in wohl-
habenden Kreisen vorherrschend war, heute aber wieder, falls nicht unbe-
dingt notwendig, als unnatürlich gebrandmarkt wird. Hier hat der Sozio-
loge wieder seinen Anteil beizutragen bei der getreuen Darstellung der
Mutterschaft, da diese entsprechend den nationalen, ökonomischen und
moralischen Unterschieden wechselt.
Wir wollen nun die gleiche Beziehung in einer matrilinearen Gesell-
schaft an den Gestaden des Stillen Ozeans ins Auge fassen. Die Mela-
nesierin bekundet unwandelbar eine heiße Liebe für ihr Kind, und die sie
umgebende Gesellschaft bekräftigt sie in ihren Empfindungen, führt ihren
Neigungen durch Sitte und Brauch Nährstoff zu und idealisiert sie. Vom
ersten Moment der Schwangerschaft angefangen wacht die Mutter über das
Wohlergehen des Sprößlings, indem sie eine Anzahl von Speisetabus und
anderen Verhaltungsmaßregeln beebachtet. Das schwangere Weib wird
gewohnheitsgemäß als etwas Verehrungswürdiges betrachtet, ein Ideal, daß
durch das tatsächliche Verhalten und die Empfindungen dieser Eingeborenen
vollauf verwirklicht ist. Bei der ersten Schwangerschaft wird eine sorgfältig
ausgearbeitete Zeremonie vollzogen, die einen verwickelten und etwas unklaren
Zweck hat, die aber die Wichtigkeit des Ereignisses betont und der Schwan-
geren eine bestimmte Distinktion und Ehre einbringt.
Mutterrechtliche Familie und Ödipus-Komplex 241
Nach der Geburt werden Mutter und Kind für etwa einen Monat ab-
gesondert, wobei stets die Mutter selbst ihr Kind pflegt und nährt; in dieser
Zeit erhalten nur bestimmte weibliche Verwandte Einlaß in die Hütte.
Eine Adoption ist unter normalen Umständen sehr selten und selbst dann
wird das Kind gewöhnlich nur übergeben, nachdem es entwöhnt ist. Es
wird auch niemals von Fremden adoptiert, sondern ausschließlich von den
nächsten Verwandten. Eine Reihe von Verhaltungsmaßregeln, sowie rituelle
Waschungen von Mutter und Kind, von der Mutter zu befolgende spezielle
Tabus, Vorstellungsbesuche, schlingen um Mutter und Kind ein Band von
Gebräuchen, das zu dem natürlichen hinzukommt.
So kommen in beiden Gesellschaftsordnungen zu der biologischen Be-
schaffenheit der Triebe, die sozialen Kräfte von Moral, Sitte und Brauch
hinzu und beiderlei Faktoren wirken in der gleichen Richtung, indem sie
Mutter und Kind aneinanderbinden, ihnen vollen Spielraum für die affek-
tive Intimität der Mutterschaft bieten. Diese Harmonie zwischen sozialen
und biologischen Kräften gewährleistet volle Befriedigung und höchste
Wollust. Die Gesellschaft wirkt mit der Natur zusammen, die seligen Bedin-
gungen des Mutterleibes, die durch die Geburt unterbrochen wurden, wieder
herzustellen. Dr. Rank hat in einer Arbeit („Das Trauma der Geburt“,
1924), die sich ohne Zweifel von großem Wert für die Entwicklung der
Psychoanalyse erweisen wird, die außerordentliche Bedeutung der Mutter-
leibsexistenz und ihrer Erinnerungen für das spätere Leben hervorgehoben.
Es scheint, daß der erste Monat nach der Geburt vermöge des Zusammen-
wirkens biologischer und soziologischer Kräfte einen ähnlichen Wollust-
zustand schafft, der durch das Trauma der Entwöhnung unterbrochen wird.
Von diesem Stand der Dinge abweichende Ausnahmen sind nur in den
höheren Klassen der zivilisierten Gesellschaft vorzufinden.
Viel größer ist der Unterschied in bezug auf die Vaters chaft in dieser
Kindheitsperiode in der patriarchalischen und in der matrilinearen Familie.
Es zeigt sich eigentlich wider Erwarten, daß in einer primitiven Gesell-
schaft, in der die physischen Bande der Vaterschaft unbekannt sind und
Mutterrecht obwaltet, der Vater dennoch in einer viel intimeren Be-
ziehung zu den Kindern steht, als es normalerweise bei uns selbst der Fall
ist. Denn in unserer Gesellschaft hat der Vater in der Tat nur sehr wenig
mit dem ganz kleinen Kind zu schaffen. Gewohnheit, Sitte und Brauch
halten den wohlhabenden Vater von der Kinderstube ferne, indes der Bauer
oder der Arbeiter das Kind für den größten Teil der vierundzwanzig Stunden
seinem Weibe überläßt. Er mag sich vielleicht darüber aufhalten, wie-
242 Dr. Bronislaw Malinowski
viel Aufmerksamkeit und Zeit der Säugling in Anspruch nimmt, aber in
der Regel wird er dem Säugling weder helfen, noch ihn stören.‘ Bei den
Melanesiern ist die „Vaterschaft“, wie wir sie kennen, bloß eine soziale
Beziehung. Ein Teil dieser Beziehung besteht eben in der Dienstbeflissen-
heit gegenüber den Kindern seines Weibes; er ist da, um „sie in seine
Arme zu nehmen“, eine Redensart, die wir bereits angeführt haben; er
hat sie herumzutragen, wenn die Mutter unterwegs ermüdet und er hat
zu Hause bei der Ernährung, die bei den Melanesiern immer zum Teil
auch künstlich ist, zu helfen. Er sorgt für ihre natürlichen Bedürfnisse
und reinigt sie und es gibt viele stereotype Wendungen in der Sprache
der Eingeborenen, die auf die Mühseligkeiten der Vaterschaft hinzielen und
daher auf die Pflicht zur kindlichen Dankbarkeit. Ein typischer Vater von
den Trobriandinseln ist ein Schwerarbeiter und ein gewissenhafter Kinder-
wärter, wobei er dem Gebote der Pflicht folgt, die in der sozialen Über-
lieferung ausgedrückt ist. In unserer Gesellschaft ist für den Vater in diesem
Gemälde kein Platz und im besten Falle fällt ihm nur eine untergeordnete
Rolle zu. Auf den Trobriandinseln spielt er eine weitaus aktivere Rolle,
was vor allem darum wichtig ist, weil sie ihm einen viel größeren Spiel-
raum zur Schaffung von Gefühlsbindungen gegenüber seinen Kindern
gewährt. In beiden Gesellschaftsordnungen ist hier, mit wenig Ausnahmen,
kaum Raum vorhanden für einen Konflikt zwischen der biologischen Tendenz
und den sozialen Bedingungen.
IN.
Der erste Konflikt in der patriarchalischen und
das Andauern der Harmonie in der matrilinearen
Gesellschaft
Wir haben nun die Periode erreicht, in der das Kind bereits entwöhnt
ist, gehen lernt und zu sprechen beginnt. Es hat biologisch seine Unab-
hängigkeit vom Leib der Mutter erlangt, aber nur allmählich. Es klammert
sich nicht minder als bisher an die Mutter, ersehnt stets heiß ihre An-
wesenheit, die Berührung ihres Körpers und ihre zärtliche Umarmung.
Das ist die natürliche biologische Tendenz, aber in unserer Gesellschaft,
auf welcher Stufe immer sie sei, stellen sich den Wünschen des Kindes
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Mutterrechtliche Familie und Ödipus-Komplex 243
Hindernisse in den Weg. Vor allem wollen wir uns vergegenwärtigen, daß
diese Epoche durch den Prozeß der Entwöhnung eingeleitet wird. Dadurch
ist die wonnevolle Harmonie des infantilen Lebens unterbrochen oder zu-
mindest eingeschränkt. In den höheren Klassen wird die Entwöhnung
stufenweise und angemessen vorbereitet, so daß sie gewöhnlich ohne einen
Schock verläuft. Aber bei den Frauen der niederen Klassen in unserer Gesell-
schaft ist die Entwöhnung oft eine qualvolle Erschütterung für die Mutter
und sicherlich auch für das Kind. Später tauchen andere Hindernisse für
die Intimität zwischen Mutter und Kind auf, bei dem übrigens auf dieser
Stufe eine bemerkenswerte Änderung Platz gegriffen hat. Es wird unab-
hängiger in seinen Fortbewegungen, kann sich selbst Nahrung zuführen,
kann manche seiner Gefühle und Gedanken aussprechen, es beginnt zu
verstehen und zu beobachten. In den höheren Klassen wird die Mutter
durch die Einrichtung der Kinderstube allmählich vom Kind getrennt. Dies
erfordert keine Schocks, hinterläßt aber im Leben des Kindes doch irgend
eine Bresche, ein Verlangen, ein unbefriedigtes Bedürfnis. In den niederen
Klassen, wo das Kind das Bett mit den Eltern teilt, wird es von einem
bestimmten Zeitpunkt an zu einer Quelle von Verlegenheiten und zu einem
Hindernis und erfährt eine rauhe und brutale Zurücksetzung.
Wie verhält sich nun in diesem Lebensalter die Mutterschaft auf den
Koralleninseln Neuguineas, verglichen mit der unsrigen? Vor allem erfolgt
die Entwöhnung in einem viel späteren Lebensalter, zu einer Zeit, in der
das Kind schon unabhängig ist, herumrennen, wirklich alles essen kann
und schon andere Interessen verfolgt. Die Entwöhnung erfolgt eben zu
einem Zeitpunkte, da das Kind die Mutterbrust nicht mehr wünscht, noch
braucht, so daß diese erste Erschütterung ausgeschaltet ist.
Das „Matriarchat“, die Herrschaft der Mutter bedingt keineswegs eine
grausame, schreckliche Mannweib-Mutter. Die Trobriandsche Mutter trägt
ihre Kinder, liebkost sie und spielt mit ihnen ebenso liebevoll jetzt wie in
der ersten Periode der Kindheit, wie es die Sitte auch erfordert. Das Kind
ist an sie gebunden, und zwar vermöge Recht, Sitte und Brauch durch
ein engeres Band als ihr Mann, dessen Rechte denen der Nachkommen-
schaft untergeordnet sind. Die Alkovenpsychologie der ehelichen Beziehungen
hat hier also einen abweichenden Charakter und die Verdrängung des
Kindes von der Mutter durch den Vater ist gewiß kein typischer Vorgang,
wenn es überhaupt vorkommt. Ein anderer Unterschied zwischen ihrer Rolle
und der der typischen europäischen Mutter ist, daß die Mutter in Melanesien
viel nachsichtiger ist. Da das Kind nur wenig abgerichtet wird und es
244 | wa Dr. Bronislaw Malinowski
kaum irgendwelche sittliche Erziehung gibt (und die vorhanden ist, beginnt
später und wird von einer anderen Person, von dem Mutterbruder gegeben),
so bleibt kaum Raum für Strenge übrig. Dieses Fehlen der mütterlichen
Disziplin schließt, auf der einen Seite, jene Ausartung der Strenge aus,
wie sie bei uns manchmal vorkommt, anderseits vermindert es jedoch beim
Kinde das Gefühl der Interessiertheit, den Wunsch, sich den Gefallen der
Mutter zu erhalten, ihr Lob zu erlangen, was bei uns eines der festesten
- Bande der Kindesgefühle ist und große Möglichkeiten für die Errichtung
ständiger Beziehungen im späteren Leben mit sich bringt.
Nun zur väterlichen Beziehung übergehend sehen wir, daß der Vater
in unserer Gesellschaft, ohne Rücksicht auf Nation oder soziale Klasse sich
eines patriarchalischen Zustandes erfreuen kann. Er ist das Haupt der
Familie, er ist maßgebend für die Abstammung und er ist auch der wirt-
schaftliche Versorger. Ein absoluter Herrscher in der Familie, kann er leicht
zum 'T'yrannen werden, was zur Ursache von allerlei Reibungen wird
zwischen ihm auf der einen Seite und Weib und Kindern auf der anderen
Seite. Die Einzelheiten hängen sehr vom sozialen Milieu ab. In den wohl-
habenden Klassen der westlichen Zivilisation ist das Kind durch allerhand
Kinderstubeneinrichtungen vom Vater gut abgesondert. Wenn auch ständig
in der Kinderstube, hört das Kind gewöhnlich auf die Mutter und es wird
von der Mutter beaufsichtigt, die in solchen Fällen fast unverändert ihren
Platz in der Gefühlswelt des Kindes behauptet. Der Vater hingegen erscheint
selten auf dem Horizonte des Kindes und wenn, dann nur als Zuschauer
und Fremder, vor dem die Kinder zu paradieren und sich gut zu benehmen
haben. Er ist die Quelle der Autorität, der Ursprung der Strafen und wird
somit ein Popanz. Das Ergebnis ist gewöhnlich ein Mischgebilde; er ist
das vollkommene Wesen, um dessen Wohlwollen das beste von allem zu
geschehen hat und gleichzeitig ist er ein Wauwau, vor dem sich das Kind zu
fürchten hat und um dessen Bequemlichkeit willen, wie das Kind es sich
vorstellt, der ganze Haushalt eingerichtet ist. Der liebende und sympathische
Vater wird seine Rolle als Halbgott beibehalten können. Der wichtigtuende,
steife oder taktlose wird in der Kinderstube bald Argwohn oder sogar Haß
ernten. Im Verhältnis zum Vater wird die Mutter eine Vermittlerin, die
manchmal bereit ist, das Kind an die höhere Behörde zu denunzieren, aber
die sich auch ins Mittel legen kann gegen eine Bestrafung.
Anders ist das Bild, wenn auch die Ergebnisse nicht unähnlich sind,
in den Einzimmer- und Einbetthaushaltungen der armen Bauernbevölkerung
in Mittel- und Osteuropa, oder der niedereren Arbeiterklassen. Der Vater
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Mutterrechtliche Familie und Ödipus-Komplex j 245
gelangt in einen engen Kontakt zum Kind, was nur unter seltenen Um-
ständen eine größere Zuneigung zuläßt, vielmehr in der Regel zu heftigen
und chronischen Reibungen führt. Wenn der Vater müde von seiner Arbeit
heimkehrt, oder betrunken aus dem Wirtshaus, läßt er seinen Verdruß an
der eingeschüchterten Familie, an Frau und Kindern aus. Es gibt kein Dorf,
kein Armenviertel in der modernen: Großstadt, wo es nicht Fälle reiner
patriarchalischer Grausamkeit gäbe. Ich kenne aus eigener Erinnerung zahl-
reiche Fälle, in denen bei den Bauern die Väter, wenn sie betrunken heim-
kehren, die Kinder zum bloßen Zeitvertreib prügeln, oder sie aus dem Bett
zerren und in die kalte Nacht hinausschicken.
Selbst im besten Falle haben die Kinder, wenn der Vater von der Arbeit
heimkehrt, sich ruhig zu verhalten, die lärmenden Spiele einzustellen und
die spontanen kindlichen Ausbrüche von Freude und Trauer zu unter-
drücken. Der Vater ist die höchste Quelle der Bestrafungen, auch in den
armen Haushaltungen, indes die Mutter als Vermittlerin fungiert und oft mit
den Kindern die ihnen zuteilwerdende Behandlung teilen muß. In den ärmeren
Haushaltungen ist überdies die ökonomische Rolle des Vaters als Ernährer
und seine soziale Macht viel rascher und bestimmter anerkannt und sie
wirkt sich in der gleichen Richtung aus, wie sein persönlicher Einfluß.
Die Rolle des melanesischen Vaters in dieser Lebensphase ist durchaus
verschieden von der des europäischen Patriarchen. Ich habe oben seine sehr
verschiedene soziale Stellung als Gatte und Vater und seine Rolle, die er
im Haushalte spielt, kurz skizziert. Er ist nicht das Haupt der Familie,
er überträgt seine Abstammung nicht auf seine Kinder, noch ist er in der
Hauptsache der Ernährer. Dies ändert seine Rechtslage ganz und seine
persönliche Einstellung zu seinem Weibe. Ein Trobriander zankt selten
mit seiner Frau, versucht kaum jemals sie zu brutalisieren, kann jedenfalls
eine dauernde Tyrannei nicht ausüben. Selbst der Geschlechtsverkehr wird
nach eingeborenem Recht und Gebrauch nicht als des Weibes Pflicht und
des Gatten Anspruch betrachtet, wie in unserer Gesellschaft. Die Ein-
geborenen auf den Trobriands huldigen der überlieferten Ansicht, daß der
Gatte in der Schuld des Weibes steht für die empfangenen sexuellen Dienste,
daß er sie sich verdienen und für sie bezahlen muß. Eines der Mittel, das
Hauptmittel in der Wirklichkeit, um sich bezahlt zu machen, sind eben
die Dienstleistungen an den Kindern und die Bekundung von Gefühlen
ihnen gegenüber. Die Eingeborenen haben viele Sprüche, die in freier volks-
tümlicher Art diesen Grundsätzen Ausdruck verleihen. Für den Säugling hat
der Gatte Kindermädchen zu sein, zärtlich und liebevoll; später in der frühen
Imago X. 2 u.3 17
246 Dr. Bronislaw Malinowski
Kindheit spielt er mit dem Kind, trägt es herum nnd lehrt es soviel unter-
haltende Beschäftigungen und Spiele, als seine Phantasie es nur zuläßt.
So spielen die Überlieferungen (Recht, Sitte und Brauch des Stammes)
und all die Kräfte der Organisation zusammen, um dem Mann in seiner
Rolle als Gatte und Vater eine durchwegs andere Einstellung zu verleihen,
als es die eines Patriarchen ist. Obschon dies in einer abstrakten Weise
bestimmt wird, ist es keineswegs bloß ein gesetzliches, vom Leben losgelöstes
Prinzip. Es kommt in jedem Detail des täglichen Lebens zum Ausdruck,
durchdringt alle Beziehungen innerhalb der Familie und alle auftretenden
Gefühle. Die Kinder sehen ihre Mutter nie brutalisiert oder in einer kläg-
lichen Abhängigkeit vom Gatten, nicht einmal wenn sie als Gemeine mit
einem Häuptling verheiratet ist. Sie fühlen nie seine schwere Hand über
sich; er ist nicht ihr Verwandter und weder ihr Eigentümer, noch ihr Wohl-
täter. Er hat ihnen gegenüber keine Ansprüche und Vorrechte. Trotzdem hat
er, wie jeder normale Vater der ganzen Welt, ein starkes Empfinden für
sie und vermöge dieses, sowie seiner traditionellen Pflicht, trachtet er, ihre
Liebe zu gewinnen und einen Einfluß über sie zu erlangen.
Vergleichen wir nun die europäische Vaterschaft mit der melanesischen,
so ist es wichtig das Biologische ebenso im Auge zu behalten wie das
Soziologische. Biologisch besteht unzweifelhaft beim Durchschnittsmanne
eine Tendenz zu positiven zärtlichen Gefühlen für seine Kinder. Doch diese
Tendenz scheint nicht stark genug zu sein, um das viele Ungemach, das
die Kinder den Eltern aufbürden, aufzuwiegen. Wenn also die Gesellschaft
einschreitet und in dem einen Falle erklärt, daß der Vater der absolute
Herr ist und die Kinder für sein Wohlergehen, sein Vergnügen und seinen
Ehrgeiz da sind, so wird durch diesen sozialen Faktor die richtige Gleich-
gewichtslage zwischen der natürlichen positiven Zuneigung und der natür-
lichen Abneigung gegen das Lästige angenähert. Wenn anderseits die matri-
lineare Gesellschaft dem Vater keine Privilegien und Ansprüche auf die
Gefühle der Kinder einräumt, so muß er sie sich eben verdienen und wenn
wieder in derselben unzivilisierten Gesellschaft seine Nerven, seine Ambi-
tionen und seine wirtschaftliche Verantwortlichkeit einer geringeren An-
spannung ausgesetzt sind, so ist er eben eher in der Lage, sich seinen
väterlichen Instinkten zu widmen. So beginnt in unserer Gesellschafts-
ordnung der Ausgleich zwischen den biologischen und den soziologischen
Kräften, der in der frühesten Periode befriedigend war, in der zweiten
Kindheitsperiode eine Lücke in der Harmonie zu zeigen. In der melanesi-
schen Gesellschaft bleiben die harmonischen Verhältnisse aufrecht. Das
| Mutterrechtliche Familie und Ödipus-Komplex 247
Vaterrecht ist, wie wir gesehen haben, in hohem Grade die Quelle .des
Familienkonfliktes, indem es dem Vater soziale Rechte und Vorrechte ein-
räumt, die weder im Verhältnis stehen zu seinen biologischen Neigungen,
noch zu der persönlichen Zuneigung, die er für seine Kinder empfinden
und in ihnen erwecken kann.
V
Die infantile Sexualität bei den Kindern der Wilden
und der Zivtlisierten
Wenn ich mich auf dasselbe Gebiet begeben habe wie Freud und die
Psychoanalytiker, war ich dennoch bestrebt, dem Problem der Sexualität
auszuweichen, und zwar zum Teil, um den soziologischen Gesichtspunkt
meiner Untersuchung hervorzuheben, zum Teil behufs Vermeidung strittiger
Fragen, wie z. B. über die Mutter-Kind-Beziehung, über die Libido usw.
Aber in dieser Phase, wo das Kind bereits unabhängig zu spielen beginnt
und ein Interesse an den Menschen und Geschehnissen seiner Umgebung
entwickelt, äußert sich die Sexualität bereits in Formen, die auch der
äußerlichen soziologischen Beobachtung schon zugänglich sind und das
Familienleben direkt berühren. Ein gewissenhafter Beobachter der euro-
päischen Kinder, und zwar einer, der seine eigene Kindheit nicht vergessen
hat, muß anerkennen, daß in einem gewissen Alter, etwa zwischen dem
dritten und vierten Lebensjahr, ein Interesse und eine Neugierde bestimmter
Art erwacht. Abseits der normalen, erlaubten und „braven“ Dinge, er-
schließt sich eine Welt verschämter Wünsche, heimlicher Interessen und
unterirdischer Impulse. Es kristallisieren sich zwei Kategorien der Dinge
heraus, das „Anständige“ und das „Unanständige“, Kategorien, die bestimmt
sind, fürs ganze Leben aufrechterhalten zu werden. Bei manchen Indi-
viduen wird das „Unanständige“ vollkommen unterdrückt und die echten
Werte der Dezenz zu den bösartigen „Tugenden“ des Puritanismus über-
trieben oder — was noch abstoßender ist — zur heuchlerischen Schein-
heiligkeit der konventionellen Moral. Oder bei anderen wird das natürlich
Dezente durch ein Übermaß pornographischer Befriedigung überwuchert
und die andere Kategorie, das „Unanständige“, erfüllt dann eben den Geist
vollkommen mit seinem Kitzel.
248 Dr. Bronislaw Malinowski
In der zweiten Kindheitsperiode, die wir jetzt betrachtet haben, nach
meinem Schema ungefähr von vier bis sechs Jahren, besteht das „Unan-
ständige“ im Interesse an exkretorischen Funktionen, Exhibitionen, Kinder-
spielen mit schlüpfrigen Themen, oft auch mit Grausamkeit verbunden.
Zwischen den Geschlechtern wird kaum unterschieden und es besteht
wenig Interesse für die genitale Seite der Materie. Jedermann, der längere
Zeit unter Bauern gelebt hat und näheren Einblick hatte, wie es dort bei
den Kindern zugeht, wird zugeben, daß dieser Zustand dort eine normale,
wenn auch nicht offen zur Schau getragene Angelegenheit ist. In der
Arbeiterklasse scheint es auch nicht von anderer Bewandtnis zu sein.! In
den höheren Klassen sind die Erscheinungen viel mehr unterdrückt, doch
nicht wesentlich abweichend. Beobachtungen in diesen sozialen Schichten,
mögen sie auch schwieriger sein, als die unter Bauern, sollten aus päda-
gogischen, moralischen und eugenetischen Gründen dringendst angestellt
und geeignete Untersuchungsmethoden festgesetzt werden. Die Ergebnisse
würden, wie ich glaube, in außergewöhnlichem Maße Bestätigung für die
Behauptungen Freuds und seiner Schule erbringen.?
Wie beeinflußt nun die neu erwachte infantile Sexualität oder infantile
„Unanständigkeit“ die Beziehung zur Familie? Bei der Einteilung der
Dinge in anständige und unanständige gelangen die Eltern und besonders
die Mutter völlig in die erste Kategorie und sie bleiben in der Auffassung
des Kindes vollkommen unberührt vom Unanständigen. Das Gefühl, daß
die Mutter von irgend einer heiklen Spielerei Kenntnis haben könnte, ist
dem Kinde außerordentlich zuwider und es besteht auch eine starke Ab-
neigung dagegen, in ihrer Anwesenheit darauf anzuspielen oder mit ihr
über irgendwelche sexuelle Dinge zu reden. Der Vater, der ebenfalls streng
außerhalb der Kategorie des „Unanständigen”“ eingereiht ist, wird zudem
als die moralische Instanz betrachtet, die durch solche Gedanken oder solche
ı) Zola, der ein so gewissenhafter Soziologe war, hat uns in dieser Hinsicht
reichlich mit Material versehen, das mit meinen eigenen Beobachtungen ganz über-
einstimmt.
2) Freuds Behauptungen über das normale Auftreten der Sexualität vor der Reife,
über die geringe Unterscheidung zwischen den Geschlechtern, über die Analerotik
und das Fehlen des genitalen Interesses kann ich vermöge meiner Beobachtungen
durchaus bestätigen. In einer neueren Arbeit (Internat. Zeitschr. f. Psychoanalyse, 1923;
Freud, Gesammelte Schriften, Bd. V, $. 232 ff.) hat Freud seine früheren Ansichten \
ein wenig modifiziert und er erklärt, ohne mit Beweisen zu dienen, daß die Kinder
in diesem Alter: dennoch bereits ein „genitales“ Interesse besitzen. Dem kann ich
nicht zustimmen. |
Mutterrechtliche Familie und Ödipus-Komplex 249
Spielereien verletzt wird. Das Kind hat mit dem Unanstäudigen Banseid
ein Schuldgefühl verknüpft.
Freud und die nich sanken: Schule legen großen Nachdruck auf
die Rivalität zwischen Mutter und Tochter, beziehungsweise Vater und
Sohn. Meine eigene Meinung ist, daß die Rivalität zwischen Mutter und
Tochter nicht in diesem frühen Alter beginnt. Jedenfalls habe ich keine
Spur von ihr beobachten können. Die Beziehungen zwischen Vater und
Sohn sind komplizierter, obwohl, wie schon gesagt, der kleine Bub seiner
Mutter gegenüber keine Gedanken, Wünsche und Impulse hat, die er selbst
als zur Kategorie des Unanständigen gehörig empfinden könnte, kann es
nicht bezweifelt werden, daß ein junger Organismus auf den engen körper-
lichen Kontakt mit der Mutter sexuell reagiert. Es ist ein bekannter Rat-
schlag, den bei den Bauern alte Gevatterinnen einer jungen Mutter erteilen,
daß die Buben um das dritte Lebensjahr herum von der Mutter bereits
abgesondert schlafen sollen. Das Vorkommen infantiler Erektionen ist in
diesen Gemeinschaften gut bekannt und auch die Tatsache, daß der Knabe
in einer anderen Ärt an der Mutter hängt wie das Mädchen. Daß bei dem
Vater und dem jungen männlichen Kind unter solchen Umständen eine
Komponente sexueller Rivalität besteht, erscheint auch einem äußerlichen
soziologischen Beobachter wahrscheinlich. Die Psychoanalytiker behaupten
dies kategorisch. In den wohlhabenden Klassen entstehen rohe Konflikte,
wenn überhaupt, viel seltener. Aber sie entstehen in der Phantasie und
in einer verfeinerten, wenn vielleicht auch nicht weniger heimtückischen
Form.
Es muß bemerkt werden, daß in diesem Alter, da die Kinder ent-
sprechend dem Geschlechte Abweichungen in Charakter und Temperament
zu zeigen beginnen, die Gefühle der Eltern für die Söhne und die Töchter
sich differenzieren. Der Vater sieht in seinem Sohne seinen Nachfolger,
seinen Stammhalter, der ihn einmal ersetzen wird. Er wird daher um so
kritischer, und dies beeinflußt seine Empfindungen nach zwei Richtungen.
Wenn der Knabe gewisse geistige oder physische Defekte verrät, das Ideal
des Vaters nicht erfüllt, wird dies zur Quelle bitterer Enttäuschungen und
Feindseligkeiten. Anderseits führt gerade auf dieser Stufe ein bestimmtes
Maß an Rivalität, der Groll wegen der zukünftigen Absetzung, die Melan-
cholie der verfallenden Generation, zu einer gewissen Feindseligkeit. In
beiden Fällen unterdrückt, verleiht diese Feindseligkeit dem Vater eine
gewisse Härte gegenüber dem Sohn und dies provoziert auf dem Reaktions-
wege eine Erwiderung der feindseligen Gefühle. Die Mutter anderseits hat
250 r. Bronislaw Malinowski
keinen Grund zu negativen Gefühlen und hat für ihren Sohn um so höhere
Bewunderung, als er doch ein Mann ist. Die Gefühle des Vaters für die
Tochter, die ja eine Wiederholung von ihm selbst in einer weiblichen
Form ist, können kaum anders als zärtlich sein und schmeicheln vielleicht
auch seiner Eitelkeit. So bedingen die sozialen Faktoren, kombiniert mit
dem biologischen, daß der Vater sich mit mehr Zärtlichkeit zur Tochter
hingezogen fühlt als zum Sohn, indes es bei der Mutter umgekehrt ist.
Aber es muß bemerkt werden, daß die Neigung zum Kinde des anderen
Geschlechtes, weil es vom anderen Geschlechte ist, noch nicht unbedingt
eine geschlechtliche Neigung sein muß.
In Melanesien finden wir einen ganz anderen Typus der sexuellen Ent-
wicklung des Kindes. Daß die biologischen Triebe nicht wesentlich ab-
weichen, scheint außer Zweifel zu stehen. Aber ich konnte keine Spuren
dessen finden, was man als infantile „Unanständigkeiten“ bezeichnen könnte,
keine Spuren einer unterirdischen Welt, in der allerlei geheimer kindlicher
Zeitvertreib sich mit Exhibitionen und exkretorischen Funktionen be-
schäftigt. Der Gegenstand bedingt natürlich gewisse Schwierigkeiten der
Beobachtung, denn es ist schwer, in irgend eine persönliche Beziehung zu
dem Kind bei den Wilden zu treten, und wenn es bei ihnen so eine Welt
von unanständigen Dingen gäbe wie bei uns, wäre es ebenso nutzlos, das
Kind durch einen beliebigen erwachsenen Eingeborenen ausfragen zu lassen,
wie etwa in unserer Gesellschaft durch eine gewöhnliche Eltern- oder Pflege-
person. Aber einen Umstand gibt es, demzufolge die Situation bei diesen
Eingeborenen von der unsrigen so grundverschieden ist, daß die Gefahr
eines Irrtums ausgeschlossen ist. Daß es nämlich bei ihnen kein Ver-
drängen, keine Zensur, kein moralisches Verwerfen der infantilen Sexualität
genitalen Charakters gibt, wenn diese — zu einem etwas späteren Zeit-
punkt, als der den wir jetzt betrachten, um das fünfte und sechste Jahr
herum — ans Licht tritt. Wenn es hier also doch eine frühe „Unanständig-
keit“ gäbe, könnte diese ebenso leicht beobachtet werden, wie die späteren
genitalen Symptome sexueller Spielereien. Wie können wir also erklären,
daß es bei den Wilden keine Periode gibt, die wir mit Freud als prä-
genital, als analerotisch interessiert bezeichnen könnten? Wir werden eher
in die Lage kommen, dies zu verstehen, wenn wir die Sexualität in der
nächste Phase der kindlichen Entwicklung behandeln werden, eine Sexualität,
durch die sich das melanesische Kind von dem unsrigen wesentlich unter-
scheidet.
ME U gg oe Do 70 —————— =
u
Mutterrechtliche Familie und Ödipus-Komplex | 251
VI
Vorbereitung fürs Leben und Reaktion gegen die
Autorität
Wir kommen nun zur dritten Periode der Kindheit, zum Alter zwischen
fünf und sieben Jahren. In dieser Zeit beginnt das Kind, sich unabhängig
zu fühlen, sich seine eigenen Spiele zu schaffen, nach gleichaltrigeu Genossen
zu suchen, mit denen es gerne umherschweift, ohne sich von den Er-
wachsenen stören zu lassen. Es ist dies auch die Zeit, in der die Spiele
allmählich in bestimmtere Beschäftigungen und ernstere Lebensinteressen
übergehen.
Führen wir nun unsere Parallele auch für diesen Zeitabschnitt durch.
In Europa entzieht der Eintritt in die Schule oder eine Art frühzeitiger
Vorbereitung für einen Beruf das Kind dem Einfluß der Familie. Der
Knabe oder das Mädchen verliert bis zu einem gewissen Grad die aus-
schließliche Anhänglichkeit an die Mutter. Bei dem Knaben findet in dieser
Periode häufig eine Gefühlsübertragung auf einen Mutterersatz statt, dem
vorläufig fast die gleiche Zärtlichkeit wie der Mutter, aber keine anderen
Gefühle entgegengebracht werden. Diese Übertragung darf nicht verwechselt
werden mit der viel späteren Neigung heranwachsender Knaben sich in
Frauen zu verlieben, die älter sind als sie selbst. Zur gleichen Zeit ent-
steht der Wunsch nach Unabhängigkeit gegenüber dem in alle Angelegen-
heiten eindringenden mütterlichen Interesse, der das Kind veranlaßt, der
° Mutter nicht mehr rückhaltlos alles anzuvertrauen. Bei den Bauern und in
den unteren Klassen findet dieser Emanzipationsprozeß früher statt als in
den höheren, aber in allem Wesentlichen sind sind sie einander ähnlich.
Wenn die Mutter eine tiefe Zuneigung für das Kind, besonders den Knaben,
empfindet, so wird sie wegen dieser Unabhängigkeit leicht bis zu einem
gewissen Grade Eifersucht und Kränkung empfinden und ihr Hindernisse
in den Weg legen. Das aber macht das Losreißen nur noch schmerzlicher
und gewaltsamer.
Die Kinder auf den Koralleninseln des westlichen Stillen Ozeans zeigen
eine ähnliche Neigung. Sie tritt sogar noch deutlicher zutage, denn die
Abwesenheit jeder Zwangserziehung und jeder strengen Disziplin in diesem
Alter läßt den natürlichen Neigungen des Kindes mehr Spielraum. Auf
seiten der Mutter aber gibt es in Melanesien keinerlei eifersüchtige Krän-
252 | Dr. Bronislaw Malinowski
kung oder Angst wegen der neu gewonnenen Unabhängigkeit des Kindes;
wir sehen hier deutlich, wie der Mangel an tieferem erzieherischen Inter-
esse zwischen Mutter und Kind sich geltend macht. In dieser Periode be-
ginnen die Kinder auf den Tobriandinseln eine kleine jugendliche Gemein-
schaft innerhalb der Gemeinschaft zu bilden. Sie schweifen in Banden um-
her, spielen an entfernten Ufern oder abgeschiedenen Teilen des Urwaldes,
vereinigen sich mit anderen kindlichen Gemeinschaften benachbarter Dörfer
und sind in alledem, obwohl sie den Weisungen ihrer kindlichen Führer
gehorchen, vollständig unabhängig von der Autorität der Erwachsenen.
Niemals versuchen die Eltern, sie zurückzuhalten, sich irgendwie in ihre
Angelegenheiten zu mischen, oder sie nach einer bestimmten Regel zu
lenken. Anfangs behält die Familie natürlich noch einen bedeutenden Ein-
fluß auf das Kind, aber der Loslösungsprozeß geht allmählich und stetig
vor sich, in natürlicher Entwicklung, ohne gehemmt zu werden.
Darin liegt ein großer Unterschied zwischen den europäischen Verhält-
nissen, wo das Kind oft von der engen Familiengemeinschaft direkt in die
strenge Zucht der Schule oder in eine andere Vorschulung kommt, und
der Lage der Dinge in Melanesien, wo der Emanzipationsprozeß schritt-
weise, unbehindert und schmerzlos vor sich geht.
Und wie steht es nun mit dem Vater in diesem Zeitabschnitt? In
unserer Gesellschaft stellt er immer noch das Prinzip der Autorität in der
Familie dar. Außerhalb, in der Schule, im Geschäft, bei der frühzeitigen
manuellen Arbeit, zu der das Bauernkind oft verhalten wird, ist es der
Vater persönlich oder seine Autorität indirekt oder sein Stellvertreter, der
die Gewalt ausübt. In den höheren Klassen findet in dieser Periode der
höchst bedeutsame Prozeß statt, durch den sich der Begriff der Vater-
autorität und des Vaterideals bewußt bildet. Das Kind beginnt nun zu ver-
stehen, was es früher gefühlt und. erraten hat, nämlich die festgefügte
Autorität des Vaters als Familienoberhaupt und seine ökonomische Bedeu-
tung. Die Vorstellung von seiner idealen Unfehlbarkeit, Weisheit, Gerech-
tigkeit und Macht wird gewöhnlich in verschiedenen Abstufungen und auf
verschiedene Art dem Kind von der Mutter oder Pflegerin bei der reli-
giösen oder moralischen Erziehung eingeimpft. Nun ist die Rolle eines
Ideals niemals leicht, und sie in der Intimität des täglichen Lebens fest-
zuhalten, ist, besonders für jedermann, dessen schlechte Laune und Schrullen
durch keinerlei Disziplin unterdrückt werden, tatsächlich eine schwere
Aufgabe. So beginnt das Vaterideal, kaum gebildet, auch schon der Zer-
stöorung anheim zu fallen. Das Kind fühlt anfänglich nur ein unbestimmtes
|
Mutterrechtliche Familie und Ödipus-Komplex 253
Mißbehagen bei der üblen Laune oder Schwäche seines Vaters, Angst vor
seinem Zorn, ein dumpfes Gefühl von Ungerechtigkeit und vielleicht eine
gewisse Scham bei einem wirklich schlimmen Ausbruch des Vaters. Bald
ist die typische Vatereinstellung fertig, voll von gegensätzlichen Affekten,
eine Mischung von Ehrfurcht, Verachtung, Liebe und Abneigung, Zärtlich-
keit und Furcht. In dieser Periode der Kindheit macht sich der soziale
Einfluß, der den patriarchalen Einrichtungen entstammt, in der Haltung
des Kindes gegenüber seinem Vater fühlbar. Die Rivalitäten zwischen Nach-
folger und Vorgänger und die gegenseitigen Eifersüchteleien, die in dem
früheren Abschnitt beschrieben wurden, nehmen bei dem Knaben und
seinem Vater bestimmtere Form an und lassen die negativen Elemente des
Verhältnisses zwischen Vater und Sohn schärfer hervortreten, als zwischen
Vater und Tochter.
Bei den unteren Klassen vollzieht sich der Prozeß der Idealisierung des
. Vaters auf rohere Weise, hat aber keine geringere Bedeutung: Wie ich
schon erwähnt habe, benimmt sich in einem typischen Bauernhaushalt der
Vater offen als Tyrann. Die Mutter fügt sich seiner Gewalt und veran-
laßt ihre Kinder zu derselben Haltung, so daß sie die Strenge und brutale
Kraft, die sie in ihrem Vater verkörpert sehen, verehren und gleichzeitig
fürchten. Auch hier bildet sich also ein ambivalentes Gefühl mit einer
ausgesprochenen Vorliebe des Vaters für seine Töchter.
Welches ist die Rolle des Vaters in Melanesien? In dieser Periode ist’
darüber wenig zu sagen. Er bleibt wie früher ein Freund der Kinder, der
ihnen hilft und sie lehrt, was ihnen zusagt und soweit es ihnen zusagt. Aller-
dings nimmt das Interesse der Kinder für ihn zu dieser Zeit ab und sie bevor-
zugen im allgemeinen ihre kleinen Kameraden. Aber immer ist doch hier
der Vater der hilfreiche Ratgeber, halb Spielgefährte, halb Beschützer.
Dennoch tritt in das Leben des kleinen Knaben oder Mädchens um
diese Zeit das Prinzip der Stammesvorschriften und Autorität, der Unter-
werfung unter einen Zwang und unter das Verbot gewisser wünschens-
werter Dinge. Aber diese Vorschriften und dieser Zwang werden durch
eine ganz andere Person als durch den Vater verkörpert, nämlich durch
den Bruder der Mutter, das männliche Familienoberhaupt der matriar-
chalen Gesellschaft. Er ist es, der die potestas tatsächlich ausübt und aus-
giebigen Gebrauch davon macht.
Seine Autorität, obwohl sie der des Vaters bei uns nahverwandt ist, fällt
doch nicht ganz mit ihr zusammen. Vor allem tritt sein Einfluß auf das
Leben des Kindes viel später ein als der eines Vatersin Europa und auch
254% Ä Dr. Bronislaw Malinowski
dann hat er niemals Zugang in die enge Familiengemeinschaft, lebt in
einer anderen Hütte, ja oft in einem andern Dorf. Da in der Ehe für die
Bewohner von Trobriand der Wohnsitz des Vaters Geltung hat. so haben
seine Schwestern und deren Kinder ihr Heim in dem Dorf des Gatten und
Vaters. Infolgedessen wird die Macht des Oheims aus der Ferne ausgeübt
und kann in jenen kleinen Angelegenheiten, in denen man besonders emp-
findlich ist, nicht gewaltsam wirken. Er bringt in das Leben des Kindes,
sei es Knabe oder Mädchen, zweierlei neue Elemente. Erstens Pflicht,
Verbot und Zwang; zweitens, vor allem in das Leben des Knaben, Ehrgeiz,
Stolz und soziale Wertungen, d. h. die Hälfte dessen, was für den Be-
wohner von Trobriand das Leben erst lebenswert macht. Der Zwang findet
insoferne Eingang, als der Onkel beginnt, die Beschäftigung des Knaben
zu lenken, gewisse Dienste von ihm zu verlangen und ihn einige der
Stammesvorschriften und Verbote zu lehren. Viele von diesen wurden dem
Knaben schon von den Eltern eingeprägt, aber immer wurde auf den.
Kada gewiesen, als auf die wirkliche Autorität über all diesen Regeln.
Ein sechsjähriger Knabe wird von dem Bruder seiner Mutter dazu an-
gehalten werden, an einem Streifzug teilzunehmen, gewisse Gartenarbeiten
zu verrichten oder bei der Einbringung der Ernte zu helfen. Da er diese
Tätigkeiten in dem Dorf seines Onkels und zusammen mit anderen Mit-
gliedern seines Clans ausübt, so lernt der Knabe, daß er zu dem „Butura“
(Ruhm) seines Clans beiträgt; er beginnt zu fühlen, daß dies sein Dorf
und sein Volk ist, die Traditionen, Mythen und Legenden seines Clans
kennen zu lernen, Das Kind arbeitet in dieser Periode auch häufig mit
seinem Vater und es ist ganz interessant, den Unterschied in der Haltung
gegenüber diesen beiden Erwachsenen festzustellen. Der Vater bleibt weiter-
hin sein Vertrauter; es macht ihm Freude, mit ihm zu arbeiten, ihm bei-
zustehen, und von ihm zu lernen; aber es wird ihm immer klarer und
klarer, daß solch eine gemeinsame Arbeit nur auf seinem guten Willen
und nicht auf einem Recht beruht und das dabei empfundene Vergnügen
seine eigene Belohnung sein muß, während der Ruhm einem fremden
Clan zugute kommt. Auch sieht das Kind, wie seine Mutter Befehle von
von ihrem Bruder empfängt, Wohltaten von ihm annimmt, ihn mit der
größter Ehrfurcht behandelt und sich vor ihm bückt wie ein Gemeiner vor
seinem Häuptling. Der Knabe beginnt allmählich zu verstehen, daß er der
Nachfolger seines Onkels ist und daß auch er Herr über seine Schwestern
sein wird, von denen er zu dieser Zeit schon durch ein soziales Tabu ge-
trennt ist, das jede Intimität verbietet.
— m u——_—
Mutterrechtliche Familie und Ödipus-Komplex | 255
Der mütterliche Onkel wird, wie der Vater bei uns, dem Knaben als
Ideal hingestellt, als die Person, deren Beifall er sich erringen, die er sich
als Vorbild nehmen und der er in der Zukunft gleichen muß. So sehen
wir, daß die meisten, wenn auch nicht alle Elemente, die die Rolle des
Vaters in unserer Gesellschaft so schwierig machen, bei den Melanesiern
in dem Bruder der Mutter verkörpert sind. Er hat die Macht, er wird
idealisiert, ihm sind Mutter und Kinder unterworfen, während der Vater
frei von all diesen gehässigen Vorrechten und Merkmalen ist. Aber dafür
bereichert der Bruder der Mutter das Kind durch gewisse neue Begriffe,
welche das Leben weiter, interessanter und verheißungsvoller machen:
sozialer Ehrgeiz, Ruhm, Gefühl für seine Abstammung und seinen Stamm,
Hoffnung auf künftigen Reichtum, und soziale Stellung.
Man muß sich vor Augen halten, daß zur selben Zeit, in der das
Kind bei uns in Europa daran geht, seinen Weg in unseren verwickelten
sozialen Verhältnissen zu finden, auch das melanesische Kind das Prinzip
der mutterrechtlichen Verwandtschaft zu erfassen beginnt, welches die
wichtigste Grundlage der sozialen Gliederung darstellt. Dieses Prinzip durch-
schneidet die enge Gemeinschaft des Familienlebens und baut für das Kind
nochmals die soziale Welt um, die bis jetzt aus den vielumfassenden Kreisen
der engeren und weiteren Familie, der Nachbarn und Dorfgemeinschaft
bestand. Das Kind lernt nun, daß es über und innerhalb dieser Gruppen
zwei Hauptkategorien zu unterscheiden hat. Die eine besteht aus seinen
wirklichen Verwandten, seinen veyola. Zu diesen gehören in erster Linie
seine Mutter, seine Brüder und Schwestern, sein Onkel mütterlicherseits
und deren ganze Sippe. Diese Leute sind aus demselben Stoff, „demselben
Leib“ wie er. Den Männern hat er zu folgen, mit ihnen zu arbeiten und
ihnen bei ihrer Beschäftigung, im Krieg und bei persönlichen Streitig-
keiten beizustehen. Die Frauen seiner Sippe sind in sexueller Hinsicht
strengstes Tabu für ihn. Die zweite soziale Kategorie besteht aus den Fremden
oder tomakawa (Außenseitern). Mit diesem Namen werden alle diejenigen
bezeichnet, die nicht durch matrilineare Bande mit ihm verknüpft sind,
die nicht zu derselben Sippe gehören. Aber diese Gruppe enthält auch den
Vater und dessen männliche und weibliche Verwandte und die Frauen, die
er heiraten oder zu denen er Liebesbeziehungen unterhalten wird. Nun
stehen ja diese Menschen, vor allem der Vater, in sehr engen persönlichen
Beziehungen zu ihm, die aber von dem Recht und dem Moralkodex über-
haupt nicht berücksichtigt werden. So haben wir auf der einen Seite Be-
wußtsein der Wesensgleichheit und Verwandtschaft verbunden mit sozialem
256 Dr. Bronisla Malinogrski
Ehrgeiz und Stolz, aber auch mit Zwang und sexuellen Verboten; auf der
andern Seite in dem Verhältnis zum Vater und dessen Verwandten unein-
geschränkte Freundschaft, natürliches Gefühl ebensowohl wie sexuelle Frei-
heit, aber keine persönliche Wesensgleichheit oder von der Überlieferung
anerkannte Bindungen.
vu
Die Sexualität des späteren Kindesalters
Wir gehen nun über zu dem Problem des Sexuallebens in der dritten
Periode, der späteren Kindheit, wie wir sie nennen wollen, die den Zeit-
raum des freien Spiels und der freien Bewegung umfaßt und vom sechsten
oder siebenten Jahre bis zur Pubertät dauert. Ich habe, als die Rede von
der früheren Periode der Kindheit war, die Erörterung der Sexualität von
der der sozialen Einflüsse getrennt, und ich will dasselbe hier tun, um
auf diese Weise deutlicher hervorzuheben, was Veranlagung und was Ge-
sellschaft für Wirkungen ausüben.
Im modernen Europa setzt nach Freud in diesem Alter ein sehr merk-
würdiges Phänomen ein: die Verdrängung der Sexualität, eine Latenz-
periode, eine Lücke in der Entwicklung der sexuellen Funktionen und
Triebe. Was die Latenzperiode in dem Freudschen Neurosenschema be-
sonders auszeichnet, ist die mit ihr verknüpfte Amnesie, der Vorhang gänz-
lichen Vergessens, der in dieser Periode herabsinkt und die Erinnerungen
an die infantile Sexualität auslöscht. Merkwürdigerweise ist diese inter-
essante und wichtige Behauptung Freuds von anderen Forschern nicht
gestützt worden, so hat z. B. Moll in seiner Abhandlung über infantile |
Sexualität (ein sehr vollständiger und verläßlicher Beitrag)? nirgends eine
Lücke in der Sexualentwicklung erwähnt. Im Gegenteil, seine Darstellung
läßt auf ein ständiges und schrittweises Anwachsen der Sexualität des Kindes
schließen, so daß die Kurve ununterbrochen, ohne irgend eine Knickung
ansteigt. Es ist bemerkenswert zu sehen, daß Freud selbst bisweilen zu
schwanken scheint, daß von allen Perioden der Kindheit dieser einzigen
kein eigenes deutliches Kapitel gewidmet ist und daß er an ein oder zwei
Stellen sogar seine Behauptung über ihre Existenz zurückzieht.? Doch kann
ı) A. Moll, Das Sexualleben des Kindes, 1908.
2) Die Latenzperiode wird häufig erwähnt; so z. B. Drei Abhandlungen zur
Sexualtheorie, 5. Aufl. S. 40, 44, 64 (Ges. Schriften, Bd. V, $. 49, 53, 74) und Vorlesungen
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Mutterrechtliche Familie und Ödipus-Komplex - 257
ich auf Grund eines ziemlich ausgedehnten und gut durchgesiebten Mate-
rials persönlicher Erfahrung unter wohlerzogenen Schuljungen behaupten,
daß die Latenzperiode ausnahmslos etwa im sechsten Jahre einsetzt und
zwei bis vier Jahre dauert. Während dieser Zeit nimmt das Interesse an
„Unanständigkeiten“ ab, die schmutzigen und doch verführerischen Farben,
die sie hatten, verblassen, sie werden zurückgedrängt und vergessen, während
neue Dinge auftauchen und das Interesse und die Energie beschäftigen.
Wie haben wir uns die Divergenz in Freuds eigenen Ansichten und
das Übersehen der Tatsachen durch andere Sexualforscher zu erklären?
Es ist klar, daß wir es hier mit einer Erscheinung zu tun haben, die
nicht tief in der organischen Natur des Menschen wurzelt, sondern größten-
teils, wenn nicht vollständig, durch soziale Faktoren bedingt ist. Wenn
wir die verschiedenen Gesellschaftsschichten einer vergleichenden Betrach-
tung unterziehen, so erkennen wir ohne Schwierigkeit, daß in den unteren
Klassen, besonders bei den Bauern, die Latenzperiode viel weniger scharf
ausgeprägt ist. Um die Dinge klar betrachten zu können, wollen wir einen
Blick auf die frühere Periode infantiler prägenitaler Sexualität werfen und
die Verbindnng zwischen den beiden Perioden suchen. Wir haben im
Kapitel V festgestellt, daß sich in den unteren, ebenso wohl wie in den
oberen Klassen in einem frühen Alter ein lebhaftes Interesse für das „Un-
anständige“ zeigt. Doch erscheint es bei Bauernkindern etwas später und
sein Charakter ist ein wenig anders. Wir wollen nun noch einmal die
Quellen der Analerotik, wie Freud sie nennt, bei den Kindern der unteren
und höheren Stände vergleichen. In der Kinderstube des Säuglings der gut-
bürgerlichen Klasse wird das Interesse für die natürlichen Funktionen, vor
allem für die Exkretion, zuerst ermutigt und dann plötzlich zurückgedrängt.
Die Pflegerin oder Mutter, die bis zu einem bestimmten Moment das Kind
zur Durchführung aufzumuntern sucht, die prompte Ausführung lobt und
die Resultate zeigt, entdeckt in einem bestimmten Augenblick, daß das
Kind zu viel Interesse daran nimmt und sich in einer Weise zu benehmen
beginnt, die den Erwachsenen unappetitlich erscheint, obwohl sie für das
Kind durchaus natürlich ist. Da nun schreitet die Kinderstubenautorität
ein, tadelt das Verhalten des Kindes. stellt es als etwas Unerlaubtes hin
zur Einführung in die Psychoanalyse. Gr. Ausg. S. 374 (Ges. Schriften, Bd. VII,
S. 357 £.). Aber es findet sich in keinem dieser Bücher eine spezielle Behandlung des
Themas. Dann wieder lesen wir: „Die Latenzzeit kann auch entfallen, sie braucht
keine Unterbrechung der Sexualbetätigung und der Sexualinteressen auf der ganzen
Linie mit sich zu bringen.“ (Vorlesungen a. a. O.)
258 f Dr. Bronislaw Malinowski
und das Interesse wird gewaltsam unterdrückt. Das Kind wächst heran,
Heimlichkeiten, Andeutungen und Heuchelei beginnen die natürlichen
Funktionen mit einem Schein heimlicher Herrlichkeit, mysteriöser Anzie-
hungskraft zu umgeben. Diejenigen, die sich aus ihrer eigenen Kindheit
daran erinnern, wie deutlich eine solche Atmosphäre von geheimen Winken
und Andeutungen empfunden wird und wie gut ihr Sinn von dem Kind
verstanden wird, werden erkennen, daß die Kategorie des „Unanständigen“
von den Erwachsenen geschaffen wird. Ja noch mehr, aus Beobachtungen
an Kindern, ebensowohl wie aus eigenen Erinnerungen kann man leicht fest-
stellen, wie schf@ell die Kinder dieses heuchlerische Verhalten der Erwach-
senen annehmen und selbst kleine Moralisten, Snobs und Heuchler werden.
Unter den Bauern sind die Verhältnisse ganz anders. Die Kinder werden
schon in einem frühen Alter mit sexuellen Angelegenheiten bekannt ge-
macht. Es ist nicht zu vermeiden, daß sie Zeuge des Sexualaktes ihrer
Eltern und anderer Verwandter werden; sie hören Streitigkeiten mit an,
in denen eine ganze Liste von obszönen Worten und sexualtechnischen
Ausdrücken vorgebracht wird. Sie haben sich mit den Haustieren zu be-
schäftigen, deren Fortpflanzung in allen Einzelheiten eine höchst wichtige
Angelegenheit für den ganzen Haushalt ist, die freimütig und genau er-
örtert wird. Da sie so tief in natürlichen Dingen drinstecken, haben sie
weniger Veranlassung sich dadurch zu unterhalten, daß sie sich heimlich
mit dem beschäftigen, was sie so häufig tun und woran sie sich ganz
öffentlich erfreuen können. Die Kinder der Arbeiterklasse stehen vielleicht
in der Mitte zwischen diesen beiden Extremen. Sie stehen kaum in Kontakt
mit den Tieren, erhalten aber anderseits eine noch ausgiebigere Schlaf-
zimmerunterweisung und Bordellbelehrung.
Was ist nun die Folge dieser wesentlichen Unterschiede zwischen den
wohlsituierten und den Proletarierkindern? Vor allem ist die „Unanständig-
keit“, die bei den Kindern der Bourgoisie durch die Zurückdrängung der
natürlichen Neugierde genährt wird, bei den unteren Klassen viel weniger
ausgeprägt und tritt erst später hervor, wenn das Unanständige schon mit
der Vorstellung der genitalen Sexualität verknüpft wird, In den höheren
Klassen aber setzt, sobald das Interesse für Unanständigkeiten sich in sich
selbst erschöpft hat und bei dem Verlassen der Kinderstube neue Lebens-
interessen auftauchen, die Latenzperiode ein, und diese neuen Interessen
nehmen das Kind ganz in Anspruch, während der Mangel an tatsächlichen
Kenntnissen, der unter den Kindern der Gebildeten so gewöhnlich ist, das
Eintreten des genitalen Interesses in so früher Zeit verhindert.
Mutterrechtliche Familie und Ödipus-Komplex | 259
In den unteren Klassen aber ist sowohl diese Kenntnis als auch das
Interesse für genitale Angelegenheiten vorhanden und die beiden zusammen
bewirken eine Kontinuität, eine stetige Entwicklung von der frühen Periode
zu der vollen sexuellen Reife.
Die Art der sozialen Einflüsse vereinigt sich mit diesen Tatsachen, um
im Leben eines wohlsituierten Kindes einen viel größeren Bruch der Kon-
tinuität hervorzurufen. Während sein ganzes Leben bis zum Alter von
6 Jahren dem Vergnügen gewidmet war, muß es jetzt plötzlich lernen
und Schulaufgaben machen. Das Bauernkind hatte schon früher bei der
Bereitung von Speisen oder bei Beaufsichtigung der jüngeren Kinder oder
beim Hüten der Gänse und Schafe helfen müssen. Es ist daher um diese
Zeit in der Kontinuität seiner Lebensweise kein Bruch eingetreten,
So erwacht also bei dem Bauern- und Proletarierkind das frühe kind-
liche Interesse an dem „Unanständigen“ zeitlicher und in einer anderen
Form, es ist nicht so geheim und weniger mit Schuld verknüpft, daher
weniger „unmoralisch“, weniger analerotisch und in näherer Verbindung
mit dem eigentlichen Geschlechtsleben. Es geht leichter und ohne Unter-
brechung in frühe sexuelle Betätigung über und die Latenzperiode fehlt
entweder ganz oder ist jedenfalls lange nicht so scharf ausgeprägt. Daher
kommt es, daß die Psychoanalyse, die sich mit den Neurotikern der Bour-
geoisie beschäftigt, zu der Entdeckung dieser Periode geführt hat, während
die allgemein medizinischen Beobachtungen Molls u. a. sie nicht aufge-
funden haben.
Sollte aber noch jemand an der Tatsache dieses Unterschiedes zwischen
den Klassen und an seiner Ursache zweifeln, so müßte dieser Zweifel ver-
schwinden, wenn wir uns den Melanesiern zuwenden. Die Tatsachen sind
hier jedenfalls verschieden von jenen, die wir in unseren gebildeten Ständen
gefunden haben. Wie wir in Kapitel V sahen, fehlt es an den frühen
sexuellen Unanständigkeiten, heimlichen Spielen und Interessen. Wir können
tatsächlich sagen, daß für diese Kinder die Gegensätze anständig — unan-
ständig, rein — unrein nicht existieren. Dieselben Ursachen, welche diese
Unterscheidung bei unseren Bauern weniger scharf und weniger wichtig
erscheinen lassen, als für unsere bürgerliche Klasse, wirken unter den
Melanesiern noch stärker und offener. In Melanesien gibt es für die Sexu-
alität im allgemeinen kein Tabu, keine Verschleierung der natürlichen Funk-
tionen, jedenfalls nicht bei einem Kinde. Wenn wir bedenken, daß die
Kinder nackt umherlaufen, daß ihre Entleerungsfunktionen ganz offen und
als etwas natürliches behandelt werden, daß es kein allgemeines Tabu für
—————————— —— sm [zz — — —_ — —
260 Dr. Bronislaw Malinowski
gewisse Körperteile oder für Nacktheit überhaupt gibt; wenn wir ferner
bedenken, daß kleine Kinder von drei oder vier Jahren schon beginnen,
die Existenz von so etwas wie Genitalsexualität zu bemerken und daß dies
eben so früh wie andere kindliche Spiele zu ihrem Vergnügen beitragen
wird, dann erkennen wir, daß viel eher soziale als biologische Faktoren
den Unterschied zwischen den beiden Kulturtypen erklären. N
Die Periode, die ich jetzt bei den Melanesiern beschreiben will, jene
nämlich, die unserer Latenzperiode entspricht, ist das Stadium der infan-
tilen Unabhängigkeit, wo kleine Knaben und Mädchen miteinander in
einer Art von Jugendrepublik spielen. Nun besteht eines der wichtigsten
Interessen dieser Kinder in Zeitvertreib sexueller Natur. Sehr früh werden
die Kinder einer vom anderen oder bisweilen von einem nur wenig älteren
Gefährten in die geschlechtliche Betätigung eingeweiht. Natürlich sind sie
in diesem Alter nicht imstande, den Geschlechtsakt wirklich auszuführen,
sondern sie begnügen sich mit allen möglichen Arten von Spielen, in
denen ihnen von ihren Eltern volle Freiheit gelassen wird; so können sie
ihre Neugierde und ihre Sinnlichkeit direkt und ohne Heimlichkeiten be-
friedigen.
Es kann kein Zweifel daran sein, daß das dominierende Interesse bei
solchen Spielen „genital“ ist, wie Freud es nennen würde, daß sie größten-
teils bestimmt werden durch den Wunsch, die Betätigungen und Interessen
der älteren Kinder und der Erwachsenen nachzuahmen; diese Periode fehlt
vollständig im Leben der Kinder höherer Klassen in Europa und findet
sich nur bis zu einem gewissen Ausmaß unter den Bauern und Prole-
tariern. Wenn die Eingeborenen von den Spielen der Kinder sprechen, so
bezeichnen sie sie häufig Als „Kopulationsspiel“* (mway gini kay'ta) oder
man sagt auch, daß sie „Ehe“ spielen.
Man muß sich nun nicht vorstellen, daß alle Spiele sexueller Natur
sind. Manche eignen sich gar nicht dazu, aber es gibt bei den kleinen
Kindern gewisse besondere Spiele, in denen das Sexuelle eine überragende Rolle
hat. Die melanesischen Kinder spielen mit Vorliebe „Mann und Frau“,
Ein Knabe und ein Mädchen bauen sich ein kleines Versteck und nennen
es ihr Heim. Sie geben nun vor, hier die Tätigkeiten von Mann und Frau
i
auszuüben und unter diesen sind natürlich die wichtigsten solche von
sexueller Art. Ein anderesmal wieder wird eine Gruppe von Kindern ein
Ausflug veranstalten, bei dem die Unterhaltung in Essen, Raufen und
Liebkosungen besteht. Oder sie mimen einen, der für die Südsee typischen,
zeremoniellen Gabentausche und enden mit sexueller Betätigung. Nicht
Mutterrechtliche Familie und Ödipus-Komplex | 261
rohe, sinnliche Vergnügungen allein scheinen sie zufrieden zu stellen; in
solchen verfeinerten Spielen muß eine Mischung mit gewissen romantischen
Anreizen für die Phantasie vorhanden sein.
Ein sehr wichtiger Punkt bei dieser infantilen Sexualität ist das Ver-
halten der älteren Generation ihr gegenüber. Wie gesagt, sehen die Eltern
sie keineswegs als etwas Tadelnswertes an. Im allgemeinen nehmen sie sie
durchaus als gegeben hin. Höchstens werden sie scherzend miteinander
darüber sprechen und die Liebestragödien und Komödien der kindlichen
Welt erörtern. Niemals wird es ihnen einfallen, sich einzumengen oder
ihr Mißfallen zu äußern, vorausgesetzt, daß die Kinder den gebührenden
Takt zeigen, d. h. daß sie ihre Liebesspiele nicht daheim ausführen, son-
dern irgendwohin in den Wald gehen.
Aber vor allem anderen werden die Kinder in ihren Liebesangelegen-
heiten gänzlich sich selbst überlassen. Nicht nur, daß keinerlei elterliche
Einmischung stattfindet, es kommt auch selten, wenn überhaupt, vor, daß
ein Mann oder eine Frau ein perverses Sexualinterese an den Kindern
nimmt, und sicherlich wird man sie niemals dabei ertappen, daß sie sich
in dieser Rolle in ihre Spiele mischen. Vergewaltigung von Kindern ist
unbekannt und die Person, die sich sexuell mit einem Kinde betätigte,
würde als lächerlich und widerwärtig angesehen werden.
Als ein besonders wichtiger Zug in den sexuellen Beziehungen der
Kinder ist das schon erwähnte Tabu anzusehen, das zwischen Bruder und’
Schwester besteht. Schon im frühen Alter, d. h. wenn das Mädchen zum
erstenmal ihr Grasröckchen anlegt, werden Brüder und Schwestern derselben
Mutter voneinander getrennt, in Befolgung des strengen Tabus, das jede
intime Beziehung zwischen ihnen verbietet. Ja sogar schon früher, wenn
sie sich selbständig bewegen und gehen können, spielen sie in verschiedenen
Gruppen. Späterhin kommen sie in Gesellschaft zusammen und niemals
darf der leiseste Verdacht entstehen, daß einer von ihnen an den Liebes-
angelegenheiten des anderen irgend ein Interesse nimmt. Obwohl zwischen
den Kindern relative Freiheit in Beschäftigung und Sprache besteht, so
würde auch ein ganz kleiner Junge niemals mit seinen Schwestern zu-
sammen irgend eine sexuelle Betätigung ausüben, noch weniger in ihrer
Gegenwart eine Anspielung oder einen Scherz dieser Art machen. Das setzt
sich unverändert durch das ganze Leben fort und es gilt als schlimmster
Taktfehler, einem Bruder gegenüber von den Liebesangelegenheiten seiner
Schwester zu sprechen oder umgekehrt. Die Auferlegung dieses Tabus führt
zu einem frühzeitigen Bruch des Familienlebens, da Knaben und Mädchen,
Imago X. z2u.5 18
262 i m ve Bronislaw Malinowski
um einander auszuweichen, das elterliche Heim verlassen und anderswo
hingehen müssen.
Aus alldem können wir den großen Unterschied erkennen, der in dieser
Periode der späteren Kindheit zwischen der jugendlichen Sexualität bei
uns und in der melanesischen Gesellschaftsform besteht. Während bei uns
in den gebildeten Ständen um diese Zeit eine Unterbrechung der Sexualität
und eine mit Amnesie verbundene Latenzperiode eintritt, führt dort das
außerordentlich früh beginnende genitale Interesse zu einer Art der Sexu-
alität, die bei uns gänzlich unbekannt ist. Von dieser Zeit an entwickelt
sich die Sexualität der Melanesier ohne Unterbrechung, wenn auch all-
mählich bis zur Reife. Unter der Bedingung, daß ein einziges Tabu auf
das strengste und vollkommenste beachtet wird, läßt die Gesellschaft der
jugendlichen Sexualität vollkommen freies Spiel.
vIl
Pubertät
In einem Alter, dasnach Klima und Rasse variiert und sich vom neunten zum
fünfzehnten Jahr erstreckt, gelangt das Kind in das Alter der Pubertät. Pubertät
ist natürlich kein Moment und kein abgegrenzter Punkt, sondern ein mehr
oder weniger ausgedehnter Zeitabschnitt in der Entwicklung, innerhalb
dessen der Sexualapparat, das ganze System der inneren Sekretion, und der
Organismus überhaupt einer durchgreifenden Veränderung unterliegt. Wir
können die Pubertät nicht als eine conditio sine qua non für das sexuelle
Interesse oder auch nur für die sexuelle Betätigung ansehen, da auch vor
der Reife Mädchen den Geschlechtsverkehr ausüben können und bei Knaben
Erektionen und die immissio penis vorkommen. Aber zweifellos muß die
Zeit der Pubertät als die wichtigste Grenzscheide in der Geschichte der
Sexualität des Individuums angesehen werden.
Ja noch mehr, in diesem Alter steht die Sexualität in so enger Ver-
bindung mit den anderen Seiten des Lebens, daß wir in diesem Kapitel
die sexuellen und sozialen Faktoren zusammen behandeln und nicht wie
bei den beiden früheren Perioden trennen wollen. Bei einem Vergleich
der Gesellschaftsform der Trobriands von Melanesien mit unserer eigenen
finden wir die wichtige Tatsache, daß diese Wilden beim Eintritt in die
Pubertät keine Initiationsriten haben; während dies einerseits einen Punkt
Mutterrechtliche Familie und Ödipus-Komplex 263
‘von höchster Bedeutung aus unserer Diskussion ausscheiden läßt, erlaubt
es uns anderseits den Vergleich zwischen patrilinearer und matrilinearer
Gesellschaftsform deutlicher und schärfer herauszuarbeiten, da bei den
meisten anderen Wilden die Initiationszeremonien das Wesen dieser Periode
ganz verdecken oder verändern.
In unserer eigenen Gesellschaft müssen wir den Knaben und das Mäd-
chen gesondert behandeln, denn zu dieser Zeit tritt eine vollkommene
Scheidung der beiden in sexuellen Angelegenheiten ein. Im Leben eines
Mannes bedeutet die Pubertät die Erreichung der vollen geistigen Kräfte,
ebensowohl wie körperliche Reife und endgültige Formung des Sexual-
charakters. Mit dieser neuen Männlichkeit ändert sich seine ganze Bezie-
hung zum Leben überhaupt, ebenso von Grund auf, wie seine Stellung zu
sexuellen Angelegenheiten und die Rolle in seiner Familie. Beginnen wir
mit diesem letzten Punkt: Hier können wir eine außerordentlich inter-
essante Erscheinung beobachten, die sein Verhalten gegenüber Mutter,
Schwester oder anderen weiblichen Verwandten im stärksten Grad beein-
flußt. Der typische heranwachsende Junge unserer zivilisierten Gemeinschaft
beginnt zur Zeit der Pubertät die höchste Verlegenheit gegenüber seiner
Mutter zu zeigen, äußert gegenüber seinen Schwestern Verachtung und
eine gewisse Brutalität und schämt sich gegenüber seinen Kameraden aller
seiner weiblichen Verwandten. Wer von uns erinnert sich nicht des un-
beschreiblichen Schamgefühles, wenn wir vergnügt mit unseren Schul-
kameraden spazierengingen und plötzlich die Mutter, Tante, Schwester
oder auch nur Kusine trafen und sie grüßen mußten? Es war ein Gefühl
tiefster Schuld, wie wenn man in flagranti ertappt wird. Manche Knaben
versuchen, diese Begegnung, die sie so in Verlegenheit setzt, einfach zu
ignorieren, andere, die tapferer sind, werden feuerrot und grüßen — aber
jeder weiß, daß es einen Schatten für seine soziale Stellung bedeutet, einen
Schimpf für seine Männlichkeit und Unabhängigkeit. Ohne in die psycho-
logische Erforschung dieses Phänomens einzugehen, können wir doch sehen,
daß die Scham und Verwirrung, die man hier fühlt, derselben Art ist, wie
die bei irgend einem Verstoß gegen die guten Sitten.
Diese neu erworbene Männlichkeit beeinflußt entscheidend die Stellung
des Knaben gegenüber der Welt, seine ganze Weltanschauung. Er beginnt,
seine eigenen unabhängigen Meinungen zu haben, seine eigene Persönlich-
keit und eigene Ehre und seine Stellung gegenüber Autorität und intellek-
tueller Führung zu behaupten. Auch die Beziehungen zwischen Vater und
Sohn treten in ein neues Stadium, es erfolgt eine neue Abrechnung, eine
18*
264 Dr. Bronislaw Malinowski
neue Prüfung des Vaterideals. Es stürzt an diesem Wendepunkt in sich
zusammen, wenn der Vater als ein Dummkopf erkannt wird, als „Philister“
oder Heuchler oder Narr. Dann ist er gewöhnlich erledigt auf Lebenszeit
und verliert. jedenfalls. die Aussicht, irgendwelchen tatsächlichen Einfluß
auf den Knaben auszuüben, selbst wenn die beiden im späteren Leben
sich einander wieder nähern sollten. Wenn aber anderseits der Vater die
außerordentlich strenge Prüfung dieses Zeitabschnittes besteht, so hat er
die beste Aussicht, für immer das Ideal zu bleiben. Natürlich ereignet sich
auf der Gegenseite etwas Entsprechendes, nämlich auch der Vater unter-
wirft um diese Zeit seinen Sohn einer ebenso strengen Kritik und. prüft.
ihn scharf, ob er’ das Ideal erreichen wird, das er sich von seinem künf-
tigen Nachfolger gemacht hat.
Die neue Einstellung gegenüber dem Geschlechtsleben, der neue innere
Kristallisationsprozeß während der Pubertät beeinflußt nicht nur das Ver-
halten des Knaben gegenüber dem Vater, sondern gegenüber den beiden
Eltern gemeinsam. Der gut erzogene Knabe wird sich erst jetzt ganz klar über
die biologische Natur des Bandes zwischen ihm und seinen Eltern. Wenn
er seine Mutter, wie es gewöhnlich der: Fall ist, innig liebt und verehrt
und wenn er seinen Vater weiterhin als Ideal ansehen kann, so kann er
sich mit der Vorstellung, daß er das körperliche: Resultat des Sexualver-
kehrs seiner Eltern ist, abfinden, wenn sie auch anfänglich einen Riß in.
seiner geistigen Welt bedeutet. Wenn er aber seinen Vater verachtet und
haßt, mag dies auch wie so häufig unterbewußt geschehen, so bedeutet
diese Vorstellung für ihn eine dauernde Befleckung seiner Mutter, eine
Beschmutzung der ihm teuersten Dinge.
Die neue Männlichkeit des Knaben beeinflußt vor allem sein sexuelles
Leben. Geistig ist er reif zur Erkenntnis, physisch reif dazu, sie im Leben
anzuwenden. Für gewöhlich erhält er seine ersten sexuellen Unterweisungen
um diese Zeit und beginnt mit geschlechtlicher Betätigung in irgend einer
Form, häufig wohl nicht in der gewöhnlichen regulären, sondern mit
Masturbation oder wenigstens nächtlichen Pollutionen. Diese Periode be-
deutet in vieler Hinsicht einen Scheideweg für den Knaben. Entweder der:
neu erwachte Geschlechtstrieb in Verbindung mit einem starken Tempe-
rament und leichten Grundsätzen füllt ihn vollständig aus und treibt
ihn’ geradewegs und für immer in eine Flut alles beherrschender Sinn-
lichkeit; oder es sind ändere Interessen und seine Moral stark genug, um
das ganz oder teilweise abzuwehren. So lange er sich ein Keuschheitsideal
bewahrt und fähig ist, dafür zu kämpfen, ist eine Kraft da, um ihn mit
0 A
Mutterrechtliche Familie und Ödipus-Komplex 265
Hilfe seiner besseren Triebe auf ein höheres Niveau zu heben. Dabei sind
natürlich die Versuchungen in hohem Grade abhängig von der sozialen
Stellung und der Lebensweise des Knaben. Die rassenbedingten Eigenheiten
einer Gemeinschaft, ihr Moralkodex und ihre kulturellen Werte bewirken
croße Differenzen innerhalb der europäischen Zivilisation. In manchen Teilen
mancher Nationen erliegt der Knabe gewöhnlich den zersetzenden Kräften
einer leichtfertig befriedigten Sexualität; in andern wieder hat er bessere Aus-
sichten. Wieder in andern befreit ihn die Gesellschaft von einen großen
Teil der Verantwortung durch ihre strengen Moralvorschriften.
In seinen Beziehungen zu Personen des andern Geschlechts zeigt sich zuerst
eine Erscheinung parallel seinem Verhalten gegenüber Mutter und Schwester:
eine gewisse Verlegenheit, eine Polarität von Anziehung und Abstoßung.
Das Weib, das, wie er fühlt, einen tiefen Einfluß auf ihn ausüben kann,
erfüllt ihn mit Schrecken und Mißtrauen. Er spürt in ihr eine Gefahr für
seine erwachende Männlichkeit und Unabhängigkeit.
Um diese Zeit bewirkt auch die neue Vereinigung von Zärtlichkeit mit
Sinnlichkeit, die sich gegen Ende der Pubertät einstellt, eine Vermischung
der aus der Kindheit stammenden Erinnerungen an die mütterliche Zärt-
lichkeit mit den neuen Elementen der Sexualität. Einbildungskraft und vor
allem Traumbilder rufen ein furchtbares Durcheinander hervor und spielen
dem Gemüt des Knaben sonderbare Streiche.
All dies bezieht sich vor allem auf den Knäben der besseren Bürger-
klasse. Vergleichen wir damit den jungen Bauern oder Proletarier, so finden
wir im wesentlichen die gleichen Züge, nur sind vielleicht die individuellen
Variationen geringer und das Bild im allgemeinen nüchterner.
So findet sich auch dort eine Periode der Roheit gegenüber der Mutter
und Schwester, die vor allem bei dem jungen Bauern bemerkenswert ist.
Der Riß zwischen ihm und seinem Vater erweitert sich gewöhnlich auf
gewaltsame Weise, da der Junge sich jetzt seiner eigenen Kräfte bewußt
wird, seiner Stellung als Nachfolger, da er eine neue Gier nach Besitz und
ein neues Streben nach Einfluß fühlt. Häufig beginnt um diese Zeit ein
direkter Kampf um die Herrschaft. In sexuellen Angelegenheiten ist die
Krisis nicht so gewaltsam und wirkt weniger unmittelbar auf das Verhältnis
zu den Eltern. Aber die Hauptumrisse sind die gleichen. i
Das Mädchen der gebildeten Klassen durchlebt die Krisis bei ihrer ersten
Menstruation, die zwar ihre Freiheit beeinträchtigt und das Leben schwieriger
macht, aber ihm einen geheimnisvollen Reiz verleiht und gewöhnlich mit
Ungeduld erwartet wird. Doch bedeutet die Pubertät für das Mädchen in
266 | Dr. Bronislaw Malinowski
sozialer Hinsicht nicht so sehr einen Wendepunkt; es lebt ja weiter zu
Hause oder erhält ihre Erziehung in einem Internat und alle ihre Be-
schäftigungen und ihre Lebensführung stehen durchaus in Einklang mit
dem normalen Familienleben, wobei allerdings das moderne Berufsmädchen
von unserer Betrachtung ausgeschlossen bleibt; ihr Lebenszweck ist die
erwartete Heirat. Ein wichtiges Element in ihren Beziehungen zur Familie
ist die um diese Zeit häufig einsetzende Rivalität zwischen Mutter und
Tochter. Wie oft diese in einer ausgesprochenen, unverhüllten Form er-
scheint,” ist schwer zu sagen, aber zweifellos verzerrt sie die typischen Be-
ziehungen der Normalfamilie. Zu dieser Zeit und nicht früher macht sich
auch eine besondere Zärtlichkeit in den Beziehungen zwischen Vater und
Tochter bemerkbar, die häufig einen ergänzenden Zug der Rivalität zwischen
Mutter und Tochter darstellt. Hier haben wir die Gruppierung des „Elektra“-
Komplexes, der also durchaus verschieden vom Ödipus-Komplex ist. Ziehen
wir einerseits die größere Neigung der Frau zur Hysterie in Betracht —
wir wollen uns ja hier mit den Grundlagen der normalen Entwicklung
beschäftigen — so ist der Elektra-Komplex weniger häufig und hat geringere
soziale Bedeutung und weniger Einfluß auf unsere westliche Kultur. Ander-
seits aber setzt sich sein Einfluß häufiger in die Tat um und der Inzest
zwischen Vater und Tochter scheint aus biologischen und soziologischen
Gründen unvergleichlich häufiger vorzukommen als der zwischen Mutter
und Sohn. Da wir uns bei dieser Erörterung hauptsächlich mit den kul-
turellen und sozialen Wirkungen der Komplexe beschäftigen wollen, können
wir auf die Parallele zwischen dem Ödipus- und Elektra-Komplex nicht im
Detail eingehen. Wir können auch den Vergleich nicht durchführen
zwischen den höheren Klassen, wo wir mehr Hysterie und weniger tat-
sächlichen Inzest finden, und den unteren Ständen, wo das Sexualinteresse
des Mädchens früher und auf normale Weise in Anspruch genommen wird,
es daher weniger leicht hysterischen Abirrungen unterliegt, aber häufiger
Nachstellungen von seiten des Vaters ausgesetzt ist.?
ı) Wie wir es z. B. so wundervoll dargestellt finden in der äußerst lehrreichen
Novelle Maupassants: Fort comme la mort.
2) Unter Bauern kommt es sehr häufig vor, daß der Vater der Tochter nachstellt;
besonders häufig scheint dies bei den lateinischen Rassen der Fall zu sein. Ich habe
gehört, daß unter rumänischen Bauern dieser Inzesttypus sehr verbreitet ist, und das-
selbe scheint in Italien der Fall zu sein. Auf den Kanarischen Inseln kenne ich selbst
ein paar Fälle, wo Vater und Tochter Inzest miteinander treiben, aber nicht heim-
lich, sondern öffentlich und schamlos einen gemeinsamen Haushalt führen und Kinder
zeüren,
Mutterrechtliche Familie und Ödipus-Komplex 267
Wenden wir uns nun zu den Trobriandinseln, hier beginnt die Pubertät
früher als bei uns, aber wenn sie einsetzt, haben Knaben und Mädchen
schon mit ihrer sexuellen Betätigung begonnen. Im sozialen Leben des
einzelnen bildet die Pubertät keinen solchen Wendepunkt wie bei jenen
wilden Stämmen, bei denen Initiationsriten bestehen. Der Knabe beginnt
nach und nach, wie er sich der männlichen Reife nähert, stärkeren Anteil
an den Erwerbsinteressen, an den Beschäftigungen des Stammes zu nehmen,
er wird nun als junger Mann (wlatile) betrachtet und ist am Ende der
Pubertät ein vollwertiges Glied seines Stammes, bereit zu heiraten und alle
seine Pflichten zu erfüllen und seine Vorrechte zu genießen. Das Mädchen,
das zu Beginn der Pubertät größere Freiheit und Unabhängigkeit von ihrer
Familie erlangt, hat ebenfalls mehr zu arbeiten, sie kann sich mehr Ver-
gnügungen schaffen und muß schließlich alle zeremoniellen und alle mit
dem Erwerbsleben und den Gesetzen zusammenhängenden Pflichten er-
füllen, die in den Wirkungskreis des voll berechtigten Weibes fallen.
Die wichtigste und für uns interessanteste Änderung aber besteht in dem
teilweisen Bruch des Familienlebens, wenn die heranwachsenden "Knaben
und Mädchen nicht mehr dauernde Bewohner des väterlichen Heims sind.
Denn Brüder und Schwestern, die einander schon lange vorher in der
Kindheit ausweichen mußten, haben jetzt ein außerordentlich strenges Tabu
einzuhalten, so daß jede Möglichkeit eines Kontaktes, während sie in sexuelle
Angelegenheiten verwickelt sind, ausgeschaltet wird. Dieser Gefahr begegnet
man durch eine besondere Einrichtung, dem bukumatula. Dieser Name be-
zeichnet eine besondere Art von Häusern, die von Gruppen von Knaben und
Mädchen bewohnt werden. Sobald ein Knabe die Pubertät erreicht, wird er ein
solches Haus aufsuchen, das von einem älteren Jüngling oder jüngeren Witwer
geleitet und von drei bis sechs Jünglingen bewohnt wird, die dort von ihren
Geliebten besucht werden. So ist das elterliche Heim von der heranwach»
senden männlichen Jugend gänzlich entblößt, obwohl der Knabe bis zu seiner
Heirat immer wieder zurückkehren wird, um Nahrung zu holen, und bis
zu einem gewissen Grad auch für den Haushalt arbeitet. Das Mädchen wird
vielleicht in den seltenen keuschen Nächten, wenn sie nicht in dem einen
oder anderen bukumatula erwartet wird, nach Hause schlafen kommen.*
Welche Gestalt nehmen die Gefühle eines melanesischen Knaben oder
Mädchen in dieser wichtigen Periode gegenüber Vater, Mutter, Schwester
ı) Wegen eingehender Beschreibung und Analyse dieser Institution, eine der ge-
nauesten Nachahmungen der sogenannten „Gruppenehe*, vgl. des Verfassers dem-
nächst erscheinende Arbeit „The Sexual life of savages“.
268 | i | Dr. Bronislaw Malinowski
oder Bruder an? Wir sehen, daß ebenso wie bei den Knaben und Mädchen
des modernen Europa in dieser Periode nur die endgültige Formung und
Festigung dessen stattfindet, was sich während der früheren Lebensabschnitte
allmählich herausgebildet hat. Die Mutter, von der das Kind entwöhnt
wurde — und zwar im weitesten Sinne des Wortes — bleibt weiterhin
der Angelpunkt für alle Stammesbeziehung und Verwandtschaft. Die Stellung
des Knaben in der Gesellschaft, seine Pflichten und Vorrechte hängen von
ihr und ihren Verwandten ab. Wenn niemand anderer da ist, für sie zu
sorgen, so wird er es tun müssen; dafür wird ihr Haus immer sein zweites
Heim sein. Neigung und Anhänglichkeit werden durch soziale Pflichten
vorgeschrieben, sie sind aber auch tief begründet im natürlichen Gefühl;
wenn z. B. ein erwachsener Mann stirbt oder ein Unglück erleidet, so
wird vor allem seine Mutter darüber in Verzweiflung geraten und ihr
Jammer wird am aufrichtigsten sein und am längsten währen. Trotzdem
aber finden wir wenig von der persönlichen Freundschaft, dem wechsel-
seitigen Vertrauen und der Intimität, wie sie bei uns die Beziehungen
zwischen Muttter und Sohn charakterisieren. Die Loslösung von der Mutter,
die, wie wir in allen Perioden gesehen haben, leichter und vollständiger
vor sich geht als bei uns, ohne jähes Losreißen und gewaltsame Unter-
drückung, wird auf harmonische und lückenlose Weise erreicht.
Der Vater tritt in dieser Zeit vorübergehend in den Hintergrund. Der
Knabe, der als kleines Kind ziemlich unabhängig war und ein Mitglied
der kleinen Jugendrepublik darstellte, gewinnt nun auf der einen Seite
durch das bukumatula noch mehr Freiheit, anderseits wird aber diese wesent-
lich eingeschränkt durch die zahlreichen Pflichten gegen seinen kada, seinen
mütterlichen Onkel. Er hat weniger Zeit und weniger Interesse für seinen.
Vater übrig. Später, wenn sich Reibungen im Verhältnis zum Oheim fühl-
bar machen, kehrt er gewöhnlich nochmals zum Vater zurück und nun
wird ihre Freundschaft fürs Leben befestigt. In unserem Zeitabschnitt
aber, wo der Jüngling mit seinen Pflichten bekannt gemacht, in den
Überlieferungen unterwiesen wird, Magie, Zauberkünste und Kunstfertig-
keiten zu lernen hat, ist das Interesse für den Bruder der Mutter, seinen
Lehrer! und Führer am größten und ihre gegenseitigen Beziehungen sind
die besten.
ı) Die Beziehungen zwischen diesen dreien, dem Jüngling, seinem Vater und dem
mütterlichen Oheim sind in Wirklichkeit etwas komplizierter, als ich hier darlegen
konnte, und geben ein interessantes Bild von dem Spiel und Widerspiel der beiden
unvereinbaren Prinzipien: Verwandtschaft und Autorität,
EG
nn. —
Mutterrechtliche Familie und Ödipus-Komplex | | 269
Noch einen andern wichtigen Unterschied gibt es zwischen den Gefühlen
eines melanesischen Knaben für seine Eltern und denen eines wohlerzogenen
Jungen in unserer eigenen Gesellschaft. Wenn bei uns sich zur Zeit der
Pubertät und mit den Eintritt des Jünglings ins Leben herrliche Aussichten
vor ihm eröffnen, so wirft ihr Glanz einen seltsamen Schatten auf seine
früheren herzlichen Gefühle gegen Vater und Mutter. Sein eigenes Sexual-
leben entfremdet ihn seinen Erzeugern, bringt in die Beziehungen zu ihnen
eine gewisse Verlegenheit und schafft schwere Verwicklungen. Nicht so in
der matrilinearen Gesellschaft. Die Abwesenheit einer früheren Periode des
„Unanständigen“ und der ersten Auflehnung gegen die elterliche Autorität,
das allmähliche und offene Anwachsen der Sexualität von dem Moment an,
wo sie sich in dem jungen Blut zu regen begann; vor allem aber die
Haltung wohlwollender Zuschauer, die die Eltern dem Sexualleben ihrer Kinder
gegenüber einnehmen; daß die Mutter sich vollständig, aber allmählich den
leidenschaftlichen Gefühlen des Knaben entzieht, der Vater lächelnd zu-
stimmt, all dies hat zur Folge, daß die Verstärkung der Sexualität bei der
Pubertät keinen direkten Einfluß auf das Verhältnis zu den Eltern ausübt.
Eine andere Beziehung aber wird durch jede solche Verstärkung, be-
sonders aber durch die bei der Pubertät in hohem Grade beeinflußt: das
Verhältnis zwischen Bruder und Schwester. Das Tabu, das sich auf jedes
freie Zusammensein bezieht und alles Geschlechtliche aus den Beziehungen
der beiden ausschließt, bestimmt das Sexualleben der beiden überhaupt.
Denn wir müssen vor allem festhalten, daß dieses Tabu die sexuelle
Schranke ist, die nicht überstiegen werden darf, und daß sie überhaupt
das wichtigste Moralgesetz darstellt. Ja noch mehr, das Verbot, das schon
in der Kindheit ‘durch die Trennung von Brüdern und Schwestern zu
wirken beginnt, und dessen wichtigster Punkt immer diese Trennung
bleibt, erstreckt sich auf allg andern Frauen desselben Clans (Sippe). So ist
für den Knaben die Welt vom Standpunkt der Sexualbefriedigung in zwei
Hälften geteilt: die eine davon, welche die Frauen seines eigenen Clans
umfaßt, ist für ihn verboten, die andere, zu der die Frauen der drei übrigen
Clans gehören, ist ihm gesetzlich gestattet.
Vergleichen wir nun das Verhältnis zwischen Bruder und Schwester in
Melanesien und in Europa. Bei uns erkaltet allmählich das innige Ver-
hältnis der Kindheit und geht in etwas gezwungene Beziehungen über, bei
denen die Schwester selbstverständlich, aber keineswegs vollständig von ihrem
Bruder durch soziologische, psychologische und biologische Faktoren getrennt
‘wird. In Melanesien setzt das strenge Tabu in dem Moment ein, wo sich
U EEG
2 i " 5 [7 .. | \
270 Dr. Bronislaw Malinowski
im Spiel oder aus kindlichen 'Vertraulichkeiten eine Intimität entwickeln |
könnte. Die Schwester bleibt ein geheimnisvolles Geschöpf, immer nah, aber
niemals vertraut, getrennt durch den unsichtbaren, aber unübersteiebaren
Wall des Herkommens, der allmählich zu einem moralischen und persön-
lichen Gebot wird.
Die Schwester und die Schwestergruppe bleibt der einzige immer ver- |
borgene Fleck am sexuellen Horizont. Jeder natürliche Antrieb kindlicher
Zärtlichkeit wird von Anfang an ebenso systematisch verdrängt wie andere
natürliche Triebe bei unseren Kindern, und die Schwester wird als Objekt
von Gedanken, Interesse und Gefühl ebenso zum „Unanständigen“ wie die
verbotenen Dinge für unsere Kinder. Später, wenn die persönlichen sexu-
ellen Erfahrungen sich ausbreiten, wird der Schleier der Zurückhaltung,
der die beiden trennt, noch dichter. Aber, obwohl sie einander fortwährend
auszuweichen haben, müssen sie doch, da er für ihren Haushalt sorgt,
einander fortwährend Gedanken und Aufmerksamkeit schenken. Eine der-
artige künstliche und frühzeitige Verdrängung muß ihre Folgen haben.
Die Psychologen der Freudschule könnten leicht davon erzählen.
Bis jetzt habe ich fast ausschließlich vom Standpunkt des Knaben aus
gesprochen. Wie gestaltet sich nun das Verhältnis eines melanesischen
Mädchens zu ihrer Familie während der Pubertät? Im großen und ganzen
unterscheidet sich ihr Verhalten nicht so sehr von dem ihrer europäischen
Schwester wie das des Knaben von seinem europäischen Gegenstück. Gerade
wegen des Bruder und Schwester trennenden Verbotes berührt die matriar-
chale Gesellschaftsform der Trobriands das Mädchen weniger als den Knaben.
Denn da es dem Bruder strenge verboten ist, an den Liebesangelegenheiten
der Schwester, ihre Heirat eingeschlossen, irgend ein Interesse zu nehmen, |
sich auch der mütterliche Onkel von diesen Dingen fern zu halten hat,
so ist sonderbarerweise bei allem, was ihre Ehe betrifft, der Vater ihr Vor-
mund. Infolgedessen existiert zwischen Vater und Tochter zwar nicht das
gleiche, aber ein sehr ähnliches Verhältnis wie bei uns. Denn bei uns ist
die Reibung zwischen Vater und Tochter für gewöhnlich gering und die
Beziehung nähert sich daher jener, die wir bei den Trobriands zwischen
Vater und Kind gefunden haben. Anderseits ist die Beziehung zwischen
einem erwachsenen Mann und einem heranwachsenden Mädchen, die, wohl-
gemerkt, nicht als seine Verwandte gilt, nicht frei von Versuchungen. Diese
werden nicht vermindert, sondern gesteigert durch die Tatsache, daß die
Tochter zwar nicht unter das Tabu der Exogamie fällt, daß aber der Sexual-
verkehr zwischen den beiden für sehr tadelnswert gilt, obwohl es niemals
Mutterrechtliche Familie und Ödipus-Komplex | 271
den Namen suva-sova erhält, der „Bruch der Exogamie“ bedeutet. Als Grund
für dieses Vater und Tochter betreffende Verbot haben wir einfach die
Vorstellung anzunehmen, daß es Unrecht ist, mit der Tochter der Frau,
mit der man zusammen lebt, Sexualverkehr zu pflegen. Es wird uns nicht
erstaunen, wenn wir später bei der Untersuchung des Einflusses des typi-
schen Verhaltens zwischen den Mitgliedern einer Familie finden werden,
daß der Inzest zwischen Vater und Tochter tatsächlich vorkommt, ohne
daß er mit peinlichen Vorstellungen verknüpft wäre und auch ohne im
Folklore ein Echo zu finden.
Das Verhältnis zur Mutter verläuft im allgemeinen natürlicher als bei
uns, aber nicht wesentlich anders. Ein Unterschied aber ist vorhanden:
Nämlich, das Verlassen des elterlichen Hauses nach Eintritt der Pubertät
und. die zahlreichen außerhäuslichen sexuellen Interessen des Mädchens
verhindern im allgemeinen die Entwicklung von Rivalität und Eifersucht
zwischen Mutter und Tochter, obwohl sie nicht durchaus das Vorkommen
des Inzestes zwischen Vater und Tochter unmöglich macht. So können wir,
abgesehen von dem Verhältnis zum Bruder, im allgemeinen sagen, daß
sich in einem melanesischen Mädchen annähernd dieselben Gefühle finden
wie in einem europäischen.
IX
Der Ödipus-Komplexr und der Kernkomplex der
matrilinearen Familie — eine Zusammenstellung
Wir haben die beiden Zivilisationen, die europäische und die mela-
nesische miteinander verglichen und haben gesehen, daß bedeutsame
Unterschiede vorhanden sind, da einige von den Kräften, durch welche die
Gesellschaft die biologische Natur des Menschen gestaltet, von Grund auf
verschieden sind. Allerdings wird in’ beiden dem Sexualleben ein gewisser
Spielraum gegeben und anderseits wird der Sexualinstinkt bis zu einem
gewissen Grade eingeschränkt und geregelt; aber der Wirkungskreis des
Tabu und die sexuelle Freiheit innerhalb der von ihm vorgeschriebenen
Grenzen sind in beiden durchaus verschieden. Außerdem finden wir
innerhalb der Familie eine verschiedene Verteilung der Autorität und in
Verbindung damit eine verschiedene Anschauung über Verwandtschaft und
Sippenzugehörigkeit. Wir haben in beiden Gesellschaftsformen verfolgt, wie
272 Dr. Bronislaw Malinowski
der typische Durchschnittsknabe oder das Durchschnittsmädchen unter diesen
divergierenden Rechtsverhältnissen und Bräuchen heranwächst. Wir haben
gefunden, daß sich fast bei jedem Schritt tiefgehende Unterschiede zeigen,
die dem Ineinanderwirken biologischer Impulse und sozialer Regeln ent-
stammen, da diese beiden bisweilen miteinander harmonieren, bisweilen
gegeneinander kämpfen, manchesmal zu einem kurzen Gedeihen führen,
ein anderesmal das Individuum wieder aus dem Gleichgewicht bringen,
aber doch die Möglichkeit einer künftigen Entwicklung offen lassen. Wir
haben gesehen, daß gegen Ende der Lebensgeschichte des Kindes, nachdem
es die Reife erlangt hat, seine Gefühle gegenüber Mutter, Vater, Bruder,
Schwester und — bei den Trobriandinsulanern — gegenüber dem mütter-
lichen Onkel, sich zu einem System ausgestaltet haben, das ein typisches
Kennzeichen jeder Gesellschaftsform ist und das wir, um uns an die psycho-
analytische Terminologie anzuschließen, den Kernkomplex genannt haben.
Ich will mir nun gestatten, die Hauptzüge dieser beiden Komplexe noch
einmal kurz darzustellen. Der Ödipus-Komplex, der für unsere patriarchale
Gesellschaft typisch ist, bildet sich in der frühen Kindheit, teilweise wäh-
rend des Überganges von der ersten zur zweiten Periode, teilweise im Ver-
laufe der letzteren, so daß gegen das Ende derselben, d. h. wenn der Knabe
fünf oder sechs Jahre alt ist, seine Einstellung eigentlich fertig, wenn
auch nicht endgültig ausgebildet ist. Diese Einstellung enthält in sich
bereits zahlreiche Elemente von Haß und unterdrücktem Wunsch. In alle-
dem unterscheiden sich, wie ich denke, unsere Resultate in keiner Rich-
tung von denen der Psychoanalyse.
In der matrilinearen Gesellschaft hat zwar das Kind in dieser Periode
schon ganz bestimmte Gefühle gegen Vater und Mutter entwickelt, aber
‚diese enthalten nichts von Verdrängung, nichts Negatives, keinen unerfüllten
Wunsch. Woher kommt dieser Unterschied? Er kommt daher, daß — um
es kurz zusammenzufassen — die sozialen Einrichtungen der matrilinearen
Gesellschaft der Trobriands, wie wir gesehen haben, fast vollständig in
Übereinstimmung mit der biologischen Entwicklung sind, während
die Einrichtung des Vaterrechtes eine Anzahl natürlicher Triebe und Nei-
gungen durchkreuzt und unterdrückt. Wollen wir die Frage aber im
einzelnen behandeln, so ist vor allem die leidenschaftliche Zuneigung
zu der Mutter hervorzuheben, der körperliche Wunsch nach ihrer Nähe,
der in der patriarchalen Gesellschaft auf die eine oder die andere Weise
mehr oder minder gewaltsam unterdrückt wird; ferner der Einfluß unserer
Moral, der die Sexualität bei Kindern verdammt; die Roheit des Vaters,
| Mutterrechtliche Familie und Ödipus-Komplex | 273
vor allem in den niedrigen Ständen, die Vorstellung seines ausschließlichen
Rechtes über Mutter und Kind, die in den höheren Ständen unterirdisch,
aber einschneidend wirkt, die Angst der Frau ihrem Gatten zu mißfallen,
Alle diese Einflüsse müssen Eltern und Kinder auseinanderbringen. Selbst
wo die Rivalität zwischen Vater und Kind um die Aufmerksamkeit der
Mutter auf ein Minimum reduziert oder überhaupt nicht vorhanden ist,
kommt es in der zweiten Periode zu einem entschiedenen Zusammen-
stoß der sozialen Interessen zwischen Vater und Kind. Das Kind
ist eine Erschwerung und ein Hindernis für die elterliche Freiheit, eine
Erinnerung an Alter und Verfall und, wenn es ein Sohn ist, oft eine
Drohung künftiger sozialer Rivalität. So ist, ganz abgesehen von dem
Aneinanderprallen der sexuellen Interessen ein weiter Raum gegeben für
die sozialen Reibungen zwischen Vater und Kind. Ich sage absichtlich
Kind und nicht Knabe, denn unsere Forschungen haben uns gezeigt, daß
die Geschlechtsdifferenz zwischen den Kindern in dieser Periode keine
Rolle spielt; auch hat sich bis jetzt noch keine engere Beziehung zwischen
Vater und Tochter bemerkbar gemacht.
Keine dieser Kräfte und Einflüsse findet sich in der matrilinearen
Gesellschaft der Trobriandinsulaner. Vor allem — und das hat, wohl ge-
merkt, nichts mit Matrilinearität zu tun — gibt es dort kein Verdammen
von Sexualität oder Sinnlichkeit als solcher und vor allem keinen morali-
schen Abscheu bei der Vorstellung von infantiler Sexualität. Die sinnliche
Anhänglichkeit des Kindes an die Mutter darf ihren natürlichen Lauf
nehmen bis sie sich von selbst ausspielt und von anderen körperlichen,
Interessen abgelöst wird. Das Verhalten des Vaters gegenüber dem Kind
während dieser beiden frühen Perioden ist das eines nahen Freundes und
Helfers. Zur Zeit, in der der: Vater bei uns sich die kindlichen Sympa-,
thien bestenfalls durch Abwesenheit von der Kinderstube erwirbt, ist der
Trobriand-Vater zuerst Kinderpfleger und dann Gefährte.
Auch die Entwicklung des präsexuellen Lebens zu dieser Zeit verläuft
in Europa anders als in Melanesien: die Verdrängungen, die die Kinder-
stube bei uns vor allem in den höheren Klassen bewirkt, entwickeln einen
Hang zu geheimen Nachforschungen nach unanständigen Dingen, vor allem
Funktionen und Organen der Entleerung. Unter den Wilden finden wir
keine solche Periode. Nun schafft aber diese kindliche vorgenitale „Unan-
ständigkeit“ erst die Unterscheidungen anständie—unanständig, rein—unrein,
und das Unanständige, ein Gebiet, zu dem die Eltern keinen Zutritt
haben dürfen, verstärkt und vertieft das Tabu, das gewisse Beziehungen
274 Dr. Bronislaw Malinowski
zur Mutter so plötzlich getroffen hat, nämlich die frühzeitige Verbannung
von ihrem Bett und körperlichen Umarmungen.
Auch hier also gibt es für die Kinder der Trobriandeingeborenen nicht
dieselben Schwierigkeiten wie in unserer Gesellschaft. Einen ebenso bedeut-
samen Unterschied finden wir bei der nächsten Periode der Sexualität. In
Europa tritt hier eine mehr oder minder ausgesprochene Latenzperiode
ein, die einen Bruch in der Kontinuität der sexuellen ‚Entwicklung mit
sich bringt und nach Freud dazu dient, viele unserer Verdrängungen so
wie die allgemeine Amnesie zu verstärken, und die manche Gefahren in
der sexuellen Entwicklung schafft, Anderseits aber stellt sie den Triumph
der anderen kulturellen und sozialen Forderungen über die Sexualität dar.
Unter den Wilden drängt sich in dieser Zeit eine frühe genitale Form
des Geschlechtslebens — eine bei uns fast unbekannte Form — an die
erste Stelle der kindlichen Interessen, um nie wieder verdrängt zu werden.
Dies ist zwar in vieler Hinsicht vom kulturellen Standpunkt aus ein großer
Nachteil, aber es hilft dazu, das Kind allmählich und reibungslos von dem
Einfluß der Familie zu entwöhnen,
Damit sind wir bereits zu dem zweiten Teil der kindlichen Entwicklung
gekommen, denn die Periode sexueller Latenz- in unserer Gesellschaft ge-
hört zu diesem zweiten Teil. Wenn wir diese beiden späteren Stadien be-
trachten, die die zweite Hälfte der Entwicklung bilden, so finden wir einen
anderen tiefgehenden Unterschied. Bei uns erfährt während dieser frühen
Periode der Pubertät der Ödipus-Komplex, d. h. das Verhalten des Knaben
gegen seine Eltern, nur eine Festigung und Ausgestaltung. In Melanesien aber
kann im wesentlichen erst in dieser Periode, ja eigentlich fast ausschließlich
hier, überhaupt ein Komplex sich bilden. Denn erst in dieser Periode wird
das Kind einem System von Verdrängungen und Tabus unterworfen, die sein
Wesen zu formen beginnen. Auf diesen Zwang antwortet es teilweise durch
Anpassung, teilweise durch die Entwicklung von mehr oder weniger unter-
drückten Gegenströmungen und Wünschen, denn die menschliche Natur ist
nicht nur mit dem Hammer zu bearbeiten, sondern auch elastisch,
Die Kräfte der Verdrängung und Bildung in Melanesien sind zweifach:
Unterwerfung unter das matriarchale Stammpgesetz und die durch
die Exogamie hervorgerufenen Verbote. Die erste kommt durch den
Einfluß des Mutter-Bruders zustande, der sich an Ehrgefühl, Stolz und
Ehrgeiz des Kindes wendet und so in eine Beziehung zu ihn tritt, die in
vieler Hinsicht analog zu der zwischen Vater und Kind bei uns ist. Ander-
seits schaffen die Anstrengungen, die er fordert, und die Rivalität zwischen
Mutterrechtliche Familie und Ödipus-Komplex € 275
Nachfolger und Vorgänger den negativen Elementen von Eifersucht und
Groll Eingang. So bildet sich eine ambivalente Einstellung heraus, in
der Verehrung die anerkannte und beherrschende Stelle einnimmt, während
sich unterdrückter Haß nur indirekt äußern kann. |
Das zweite Tabu, das Inzestverbot, umgibt die Schwester und, in
geringerem Grade, die anderen weiblichen Verwandten mütterlicherseits
und die Frauen desselben Clans, mit einem Schleier sexuellen Geheimnisses.
Die Schwester ist die Repräsentantin für diese ganze Klasse von Frauen
und ihr gilt das strengste Tabu. Wir haben beobachtet, daß dieses trennende
Tabu, das schon in der Kindheit sich im Leben des Knaben geltend macht,
der beginnenden Zärtlichkeit gegen seine Schwester, die ja bei einem Kinde
ein natürlicher Trieb ist, ein Ende macht. Dieses Tabu stempelt auch eine
zufällige Berührung auf sexuellem Gebiet zum Verbrechen und hat daher
zur Folge, daß der Gedanke an die Schwester zwar dauernd unterdrückt,
aber doch immer vorhanden ist.
Vergleichen wir kurz die zwei Gruppen innerhalb der Familie miteinander,
so sehen wir, daß in einer patriarchalen Gesellschaft die kindlichen Eifer-
süchteleien und die späteren sozialen Aufgaben in das Verhältnis von Vater
und Sohn außer der gegenseitigen Zuneigung auch ein gewisses Maß von
Groll uud Abneigung bringen. Anderseits hinterläßt die in früher Kind-
heit eintretende Trennung von Mutter und Sohn ein tiefes unbefriedigtes
Verlangen, welches sich später, beim Hinzutreten sexueller Interessen, in
der Erinnerung mit dem neu entstandenen körperlichen Wünschen ver-
mischt, häufig einen neurotischen Charakter annimmt und in Träumen
und anderen Phantasien an die Oberfläche kommt. Bei den Melanesiern
gibt es keine Reibung zwischen Vater und Sohn und das ganze kindliche
Verlangen nach der Mutter kann sich schrittweise auf natürliche Art und
ohne Hemmungen ausleben. Die Ambivalenz von Ehrfurcht und Abneigung
zeigt sich gegenüber dem Bruder der Mutter, während die sexuellen
Beziehungen, die aus verdrängten Inzestversuchungen hervorgehen, sich
nur gegenüber der Schwester ausbilden können. Wenn wir auf jede der
beiden Gesellschaftsformen eine kurze, wenn auch etwas rohe Formel an-
wenden, so können wir sagen, daß sich im Ödipus-Komplex der ver-
drängte Wunsch findet, den Vater zu töten und die Mutter zu
heiraten, während bei den Trobriandinsulanern mit ihrer matrilinearen
Gesellschaftsform der Wunsch darin besteht, die Schwester zu heiraten
und den Bruder der Mutter zu töten.
*
276 | Dr. Bronislaw Malinowski
Damit haben wir die Resultate unserer eingehenden Forschung zu-
sammengefaßt und eine Antwort auf die erste Frage gegeben, die wir zu
Beginn aufgerollt haben, d. h. wir haben erforscht, wie sich der Kern-
komplex mit der Konstitution der Familie wandelt und wie er
von einigen Zügen des Familienlebens und der sexuellen Moral abhängt.
Wir schulden der Psychoanalyse die Entdeckung, daß es in unserer Ge-
sellschaft eine typische Gefühlsgruppierung gibt und die teilweise, vor allem
auf der Sexualität beruhende Erklärung, weshalb ein solcher Komplex
existieren muß. In den vorangehenden Seiten konnten wir den Umriß des
Kernkomplexes einer anderen Gesellschaftsform, einer matrilinearen geben,
ein Komplextypus, mit dem man sich bisher nicht befaßt hat. Wir- haben
gefunden, daß dieser Komplex sich von dem patriarchalen wesentlich
unterscheidet und haben gezeigt, warum er sich unterscheiden muß und
welche sozialen Kräfte dies bewirken. Wir haben unseren Vergleich auf
breitester Grundlage gezogen und, ohne die sexuellen Faktoren zu ver-
nachlässigen, systematisch auch die anderen Elemente einbezogen. Das
Resultat ist wichtig, den man hat bis jetzt nie vermutet, daß es einen
anderen Typus des Kernkomplexes geben könnte. Durch meine Analyse
habe ich festgestellt, daß Freuds Theorien der menschlichen Psy-
chologie nicht nur in rohen Zügen entsprechen, sondern daß
sie sichengden Wandlungen anschließen, die die verschiedenen
Grundlagen der Gesellschaft in dermenschlichen Natur hervor-
bringen. Mit anderen Worten ich habe die tiefgehende Beziehung zwischen
einem Gesellschaftstypus und seinem Kernkomplex aufgezeigt. Während
dies nun eine bemerkenswerte Bestätigung des Hauptinhaltes der Freud-
schen Psychologie ist, dürfte es uns doch zwingen einige ihrer Einzelheiten
zu modifizieren, oder besser gesagt, einige ihrer Formen dehnbarer zu ge-
stalten. Um mich konkret auszudrücken: es scheint notwendig, die Wechsel-
beziehung biologischer und sozialer Einflüsse systematischer zu untersuchen,
nicht überall die Existenz des Ödipus-Komplexes zu behaupten, sondern
jeden Kulturtypus zu studieren und den besonderen Komplex festzu-
stellen, der zu ihm gehört.
Es würde nun noch übrig bleiben, zu der Erforschung der zweiten
Frage überzugehen, die ich im ersten Abschnitt dieses Aufsatzes gestellt
habe, nämlich zu prüfen, ob der matrilineare Komplex, der in seiner Ent-
stehung und seinem Wesen so verschieden vom Ödipus-Komplex ist, auch
auf Überlieferung und soziale Organisation einen verschiedenen Einfluß
ausübt, d. h. ob er diesem ein spezifisch matrilineares Gepräge gibt. Die Be-
Mutterrechtliche Familie und Ödipus-Komplex | 277
handlung dieser Frage muß einer späteren Arbeit vorbehalten bleiben. In dieser
vollständigen Darstellung meiner psychoanalytischen Resultate werde ich
zeigen können, daß sich sowohl im sozialen Leben als auch im Folklore unserer
Primitiven ihre spezifischen Verdrängungen in einer Art äußern, die nicht
mißverstanden werden kann. Wann immer die Leidenschaften, die für ge-
wöhnlich durch strenge Tabus, Bräuche und gesetzliche Strafen in über-
lieferten Grenzen gehalten werden, in Verbrechen, Perversionen oder Ver-
irrungen oder auch in einem jener dramatischen Vorfälle durchbrechen,
die von Zeit zu Zeit das Leben einer primitiven Gemeinschaft erschüttern,
dann enthüllen diese Leidenschaften den Haß gegen den Bruder der Mutter
oder Inzestwünsche gegen die Schwester. Auch das Folklore dieser Mela-
nesier spiegelt den matrilinearen Komplex wider. Die Prüfung von Mythus,
Märchen und Legende ebenso wie die der Magie wird uns zeigen, daß der
verdrängte Haß gegen den Mutterbruder, der für gewöhnlich durch kon-
ventionelle Ehrfurcht und Gemeinschaftsgefühl verborgen wird, in diesen
Erzählungen, die nach dem Muster von Tagträumen aufgebaut und von
unterdrückten Wünschen diktiert werden, seinen Durchbruch findet.
Besonders interessant ist der Liebeszauber dieser Primitiven und die
damit verbundene Mythologie. Alle geschlechtliche Anziehung, alle. Macht
der Verführung hat ihrer Ansicht nach in dem Liebeszauber ihren Sitz.
Dieser Zauber aber beruht nach der Ansicht unseres Stammes in einem
dramatischen Vorfall der Vergangenheit, den ein seltsamer Mythus von
Geschwisterinzest berichtet.
So kann die Behauptung, die wir durch die Beschreibung der sozialen
Beziehungen innerhalb der Familie und durch eine Analyse der Verwandt-
schaftsverhältnisse gestützt haben, auch unabhängig davon bewiesen werden:
nämlich durch Erforschung der Kultur dieser melanesischen Eingeborenen.
Imago X. 2u.z 19
Zur Rolle der Frau in der Entwicklung
der menschlichen Gesellschaft
Eine vorläufige Mitteilung
Von Beata Rank (Wien)
I
Bei der Lektüre von Freuds „Massenpsychologie und Ich-Analyse“ fiel
es mir auf, daß der Autor die Massenbildung sowie das Verhältnis der
Masse zu ihrem Führer vom Standpunkte des Mannes bespricht und er-
läutert und nur zum Schlusse bemerkt ($. 135): „Auch wo sich Massen
bilden, die aus Männern und Weibern gemischt sind, spielt der Geschlechts-
unterschied keine Rolle. Es hat keinen Sinn zu fragen, ob die Libido,
welche die Massen zusammenhält, homosexueller oder heterosexueller Natur
ist, denn sie ist nicht nach den Geschlechtern differenziert und sieht ins-
besondere von den Zielen der Genitalorganisation der Libido völlig ab.“
Nun drängte sich mir die Frage auf, ob denn eine weibliche Masse —
ich habe ursprünglich an die Weibermassen der französischen Revolution
1) Die hier folgenden Ausführungen — die am 50. Mai 1923 in der „Wiener
Psychoanalytischen Vereinigung“ vorgetragen wurden — sind einer größeren Arbeit
entnommen, stellen sozusagen nur ihr Gerüst dar, und sollen bloß den Gedanken-
gang aufzeigen, auf dem die Ausarbeitung meines Themas beruht. Die ganze Arbeit
zerfällt eigentlich in drei Abschnitte: a) Die Frau in mythischer Überlieferung, 5) bei
den Naturvölkern, c) in der Geschichte. Im vorliegenden Aufsatz ist nur der chrono-
logisch an erster Stelle stehend® Teil berücksichtigt worden, der, da er ursprünglich
nur als Vortrag im intimen Rahmen gedacht war, einer gewissen Abrundung, wenn
auch unvollkommen, bedurfte.
Damit sollen eventuelle Einwände bezüglich der Darstellung vorweggenommen
werden.
Zur Rolle der Frau in der Entwicklung der menschlichen Gesellschaft 279
gedacht — denselben psychologischen Gesetzen und Mechanismen unter-
liegt, wie die durch Freud beschriebene und zur Gänze erklärte Männer-
rrıasse,
Für mich stand es fest, daß diese Weibergemeinschaften tatsächlich im
Sinne Freuds „Massen“ bildeten, mit all ihren Merkmalen und‘ Eigen-
schaften, und nicht nur einen Haufen Menschen, der noch keine Masse
ergibt. Bei Betrachtung dieser Weibermassen sowie der einzelnen Frauen-
gestalten der französischen Revolution trat eine besonders auffallende und
zum Nachdenken zwingende Eigenheit hervor: die besondere Blutrünstig-
keit des Weibes — ihre Kampfeslust, ihr Mut, ihre vielgepriesene Mannes-
ähnlichkeit — und die eigentliche Rolle als Anstifterin: einerseits aktiv,
wie z. B. die jugendliche Louison Chabry, die Führerin des ersten Auf-
standes (6. Oktober 1789), die Theroigne de Mericourt, genannt die Lütti-
cher Amazone oder auch Pallas Athene, Charlotte Corday; anderseits aber
durch Beeinflussung in politischen Salons: Mm. de Staäl, Mm. Ro-
land u. a. Und da kam mir wieder ein Satz Freuds in den Sinn (l. c.
S. 126): „In der lügenhaften Umdichtung der Urzeit wurde das Weib, das
der Kampfpreis und die Verlockung des Mordes gewesen war, wahrscheinlich
zur Verführerin und Anstifterin der Untat.“ Dies wurde so der Ausgangs-
punkt meiner Betrachtungen, die sich alsbald dem Mutterrecht und der
Weiberherrschaft zuwandten.
Ich weiß nicht, inwieweit ein jeder von Ihnen über Mutterrecht orien-
tiert ist und besonders ob Sie ‘es als eine geschichtliche Tatsache aner-
kennen oder nicht. Es liegt auch nicht in meiner Absicht, es historisch
beweisen zu wollen, denn meine Arbeit will sich bloß darauf beschränken,
auf Grund individualpsychologischer Einsichten — wie wir es von Freud
gelernt haben — auf Entwicklungsgeschichtliches ein Licht zu werfen.
Jedoch erst Freuds Formulierungen in „Das Ich und das Es“ verdanke
ich den Fortgang meiner :Arbeit, mit der ich mich schon: seit längerem
beschäftigte, d. h. seit Erscheinen der Massenpsychologie (1921). Überprüfen wir
einmal an der Hand von Freuds letzter Darstellung den Entwicklungs-
gang des Kindes, d. h. sein Verhältnis zu Mutter und Vater. Für den
Säugling und auch für das Kleinkind (bis zu einer gewissen Entwicklungs-
grenze) existiert eigentlich nur die Mutter, welche es geboren, genährt und
gepflegt hat. Ihr gehört der erste Blick, der erste Schrei, das erste Er-
kennungszeichen und der erste Liebesbeweis. Von der nahrung- und lust-
spendenden Mutterbrust her nimmt es die erste Identifizierung, und da
uranfänglich in der primitiven oralen Phase des Individuums Objekt-
19”
280 Beata Rank |
besetzung und Identifizierung nicht zu unterscheiden sind, wie Freud
(l. c. $S. 32) ausführt, so ist auch die Mutter das erste Objekt für beide
Geschlechter, was man mit der ursprünglichen Bisexualität des Kindes wohl
in Einklang bringen könnte.’ Der Identifizierungsprozeß mit seiner oralen
Vorbedingung birgt das Fundament der Ambivalenz in sich, denn indem
man sich mit jemandem identifiziert, schafft man ihn weg: das identi-
fizierte Objekt ist kein Objekt mehr, es wird introjiziert, wird zum Identi-
fizierenden selbst, zu einem Teil seines Ich, oder wie wir nach der letzten
Studie Freuds sagen können: „zum Über-Ich“. Und es vollzieht sich (nach
Freud) die Umsetzung einer erotischen Objektwahl in eine Ich-Veränderung.
Das Ich bekommt die Züge des Objekts und kann so gegenüber dem Es,
welches Freud als das große Reservoir der Libido betrachtet, ein Liebes-
objekt ersetzen (l. c. S. 34). Freud sagt auch in der zitierten Arbeit:
„Vielleicht ist diese Identifizierung überhaupt die Bedingung, unter der
das Es seine Objekte aufgibt. Jedenfalls ist der Vorgang, zumal in frühen
Entwicklungsphasen, ein schr häufiger und kann die Auffassung ermög-
lichen, daß der Charakter des Ichs ein Niederschlag der aufgegebenen
Objektbesetzungen ist, die Geschichte dieser Objektwahlen enthält“. (S. 33.)
Verfolgen wir nun die Entwicklung des Kindes weiter, so sehen wir fol-
gendes Bild: (Ich nehme als erstes Beispiel das Mädchen, da die Entwick-
lung des Knaben in Freuds meisterhafter Darstellung bereits volle Würdi-
gung gefunden hat.) Die normale Libido des Mädchens strömt, unterstützt
durch die primäre Identifizierung mit der Mutter, zum Vater hinüber, der
so zum Liebesobjekt erhoben wird, während die Mutter nun als störend,
als Rivalin empfunden wird, es entwickelt sich ihr gegenüber Haß und
so entsteht der von Freud jetzt so benannte „positive“ Ödipus-Komplex.
Wird das Mädchen aber durch den Vater enttäuscht, der ihr nicht so viel
Liebe, wie es erwartet und selbst bereit hatte, darbringt, so entsteht eine
Flucht vor der erotischen Libido, die von dem unbewußten Schuldgefühl der
Mutter gegenüber noch gespeist wird: das Mädchen vollzieht neuerlich eine
Identifizierung nach dem Mechanismus des Verlustersetzens durch Einver-
ı) Freud sagt darüber („Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie“, S. 70): „Als die
anfänglichste Sexualbefriedigung noch mit der Nahrungsaufnahme verbunden war,
hatte der Sexualtrieb ein Sexualobjekt außerhalb des eigenen Körpers, in der Mutter-
brust“; und („Zur Einführung des Narzißmus“. Kl. Schr. z. Neur. II, S. 94): „Per-
sonen, welche mit der Ernährung, Pflege, dem Schutz des Kindes zu tun haben,
werden zu den ersten Sexualobjekten, also zunächst die Mutter oder ihr Ersatz,“
Vgl. auch Otto Rank: Das Trauma der Geburt, 1924, dessen gewichtige Ergebnisse
hier noch nicht verwertet wurden.
m
Zur Rolle der Frau in der Entwicklung der menschlichen Gaelichaft 281
leibung ins Ich, wo es als Ich-Ideal weiter wirkt. Mögen dann die
weiteren Schicksale mit sich bringen, daß das Es gezwungen ist, Objekt-
besetzungen aufzugeben und im Wege der Identifizierung zu erledigen,
d. h. zu sublimieren, diese erste aus enttäuschter Liebe und aus Trotz
gegen sie geformte Identifizierung gibt dem’ Ich Charakter und Gepräge,
überlagert und überschattet die primäre Mutteridentifizierung, die aber,
einmal aus dem Schutt ausgegraben, ihre volle Lebenskraft entfaltet.
Diese starke Vateridentifizierung — die möglicherweise in der Pubertät
einen neuen Zuschuß bekommt — und von der der weibliche Kastrations-
komplex,’ sowie die weibliche Homosexualität? ihren Ausgang nimmt, tritt
in extremer Weise nur in pathologischen Fällen auf. Der normale Ausgang
der Ödipuseinstellung bringt gewöhnlich eine Verstärkung der primären
Mutteridentifizierung, eine Betonung der weiblichen Rolle, wobei das Vater-
Objekt durch Imagines ersetzt wird,
Welche Entwicklung durchläuft der Knabe? Hören wir, was Freud
(l. c. S. 36) darüber sagt: „Ganz frühzeitig entwickelt es [gemeint ist
das männliche Kind] für die Mutter eine Objektbesetzung, die von der
Mutterbrust ihren Ausgang nimmt und das vorbildliche Beispiel einer
Objektwahl nach dem Anlehnungstypus zeigt. Des Vaters bemächtigt sich
der Knabe durch Identifizierung. Die beiden Beziehungen gehen eine Weile
nebeneinander, bis durch die Verstärkung der sexuellen Wünsche nach der
Mutter und die Wahrnehmung, daß der Vater diesen Wünschen ein Hindernis
ist, der Ödipus-Komplex entsteht.“ Hiezu möchte ich einiges bemerken:
Ich glaube, gleichzeitig mit der Objektbesetzung und derselben Quelle ent-
springt auch beim Knaben die primäre Identifizierung mit der Mutter.
Diese Identifizierung ist bedingt durch die Gemeinsamkeit der Substanz,
das Verweilen im Mutterschoß und wird durch die nahrungsspendende
Mutterbrust noch gefestigt. Der kleine Knabe wäre nun ganz glücklich —
wie es vielleicht der erste Sohn der Urmutter war — wenn es den Vater
nicht gäbe, der als Störenfried empfunden wird. Diese Tatsachen zu mildern
ist gänzlich Sache der Libidoregulierung, wobei die Identifizierung der
treibende und halbwegs Frieden stiftende Motor ist, dem noch die kon-
stitutionelle Bisexualität zu Hilfe kommt. Hier zweigt einerseits die durch
Identifizierung mit der Mutter auf Bisexualität basierte zärtlich-feminine
ı) Vgl. Karen Horney: Zur Genese des weiblichen Kastrationskomplexes, Int.
Zschr. f. Psa. IX (1923).
2) Siehe O. Rank: Perversion und Neurose, Int. Zschr. f. Psa, VIII (1922).
282 | Beata Rank
Einstellung zum Vater ab,'! anderseits die aus dem Wunsch „wäre ich so
groß und stark wie du“ hervorgehende Identifizierung mit dem Vater, die
gleichbedeutend ist mit dem Absetzen des Vaters als Liebesobjekt, denn
der Knabe wird selbst zum Vater. In seinem Ich setzt sich sein Nieder-
schlag in der Gestalt eines Ich-Ideals fest, während die Mutter als Liebes-
objekt thront, bis sie durch Imagines abgelöst wird, falls die Stimmung
inzwischen nicht getrübt wird durch Geschwisterrivalisation, Mahnsignale
des Vaters (Ich-Ideals), die nicht selten zur Umkehrung des Verhältnisses
zwingen, wobei die Mutter durch die Vaterobjektbesetzung ersetzt wird,
mit dem ganzen Zirkel der Identifizierungen, die scheinbar den einzig
gangbaren Weg darstellen.
Fasse ich das Gesagte zusammen, so ergibt sich, daß die Mutteridenti-
fizierung die primäre ist, wobei sie als solche nicht ins Ich aufgenommen
wird, da das Ich zu dieser Zeit noch sehr schwach entwickelt ist; vielmehr
bedingt sie das, was ich das Es-Ideal nennen möchte, welches noch keine
Geschlechter, nur das Geschlecht kennt. Die Mutteridentifizierung, die wie
erwähnt, mit der primären Objektbesetzung zusammenfällt, wird somit
nicht erledigt, sondern wirkt als eine nie stillbare Muttersehnsucht im Un-
bewußten, oder richtiger gesagt im Es, und legt so den Grundstein zur
Verdrängung. Die Vateridentifizierung hingegen ist eine spätere Erscheinung,
wenngleich sie als erste den Weg übers Ich nimmt, das Fundament der
Ich-Idealbildung schafft und somit die erste Sublimierungstat des Indi-
viduums ist.?
Wenn wir so das Verhältnis des Kindes zu seinen Eltern dargestellt und
die bedeutende Rolle der Mutter hervorgehoben haben, wagen wir es auch,
den Gedanken auszusprechen, daß die Mutter auch in der Entwicklung
der Menschheit, besonders in ihrer Säuglings- und Kleinkinderzeit, die
Schützende und Führende war.
Schenken wir nun der Masse und ihrer Stellung zum Führer einige
Aufmerksamkeit und vergegenwärtigen wir uns das Bild, das uns Freud
von ihr entworfen hat. Er sagt zusammenfassend:? „Eine solche primäre
Masse ist eine Anzahl von Individuen, die ein und dasselbe Objekt an die
Stelle ihres Ich-Ideals gesetzt und sich infolgedessen in ihrem Ich mit-
ı) Vgl. Freud: Das Ich und das Es.
2) Vgl. E. Lorenz: Der politische Mythus (S. 90), der den Begriff „das psychische
Integral“ schafft und aus diesem die physisch bedingte Identität mit der Mutter, die
der Identifizierung mit dem Vater vorangeht, ableitet.
3) Massenpsychologie und Ich-Analyse, $. 87.
Zur Rolle der Frau in der Entwicklung der menschlichen Gesellschaft 283
einander identifiziert haben.“ Und im weiteren erscheint dem Autor die
Masse als ein Wiederaufleben der Urhorde und ihr Führer (das Massen-
ideal e. i.) als der gefürchtete Urvater (S. 102 bis ı11). Wie bringen wir
nun unsere früheren Ausführungen damit in Einklang? Setzen wir die
Masse dem Kinde gleich — denn sie ist aus Individuen gebildet, die sich
miteinander identifiziert haben, und dadurch zu einem Gebilde, zu einem
Wesen wurden (man spricht auch gewöhnlich von einer Masse: eine
Seele und ein Geist), denn identifizieren heißt ja nichts anderes als mit
dem Identifizierten zu verschmelzen, aus Vielheit eine Einheit entstehen
lassen. Ist nun die Masse das Kind, so repräsentiert der Führer den Vater,
der, wie wir gezeigt haben, als Ich-Ideal im Kind aufgerichtet wird. Die
Frau = Mutter kann nie primär Ich-Ideal werden, denn sie ist als zu stark
libidinös besetzt ins Es verdrängt worden. Der Mutter gegenüber würde
die Masse nur als hilfebedürftiges, ewig unmündiges Kind dastehen, welches
zwar die volle Befriedigung genießt, aber auf der niedrigsten infantilen
Stufe stecken bleibt. Auch das bewundernde und Schutz verlangende Auf-
blicken zum Führer—Vater, drückt das Verhältnis Kind=Eiltern aus, doch
mit dem Unterschiede, daß infolge der Vateridentifizierung die Idealbildung,
das Bestreben der Masse, dem Vater möglichst ähnlich zu sein, ein Fort-
entwickeln, d. "'h. einen Fortschritt bedeutet. Gelangt dabei das Weib zur
Führung oder ergreift sie die Zügel, so trägt sie bereits alle Züge des
Mannes, vielleicht noch schärfer unterstrichen, denn nur indem sie ihre
mütterlichen Züge ablegt und durch die Identifizierung mit dem Mann
seine Eigenschaften annimmt, kann sie als Führerin im Sinne der Masse
walten, durch eine Kreuzung der Identifizierungen als Ich-Ideal aufgestellt
werden.
Daher verstehen wir es auch, daß uns die Mythen, aus denen die Spuren
der Weiberherrschaft zu ersehen sind, statt des Bildes einer milden sor-
genden Mutter von den wilden kriegerischen Amazonen erzählen, die erst
vor einem Mann=Helden ihre Waffen strecken. Auch die Frauen der
gynaikokratischen Stämme der Primitiven zeigen nur eine verzerrte Maske
der Weiblichkeit und erinnern lebhaft an die blutrünstigen Mänaden der
französischen Revolution.
II
Nach dieser Vorbemerkung wollen wir nun das Material selbst sprechen
lassen. Erst in der Mitte des vorigen Jahrhunderts erschienen die ersten
Arbeiten, die das Thema: Die Frau in der Entwicklung der menschlichen
I»
284 Beata Rank |
Gesellschaft behandelten. Lewis Henry Morgan und Mac Lennan (der
Entdecker und Erforscher des Totemismus) verfechten die Theorie, das
Matriarchat wäre die ursprüngliche Form der menschlichen Gesellschaft.
Mac Lennan'! kommt zu diesem Schluß aus der Erwägung, daß ursprüng-
lich keine feste Bindung zwischen Mann und Frau bestand, daß also ein
Zustand herrschte, den er — übrigens auch Bachofen — als „Hetäris-
mus“ bezeichnet. In diesen Zeiten war es also unsicher, wer der Vater
des Kindes sei, hingegen konnte kein Zweifel an der Mutterschaft herrschen,
nur so konnte die erste Form der Familie entstehen, die auf dem Ver-
hältnis der Mutter zum Kind basierte.”
Die gleichzeitig, aber unabhängig davon erschienenen Untersuchungen
Bachofens über das Mutterrecht sind das bedeutsamste Werk über dieses
Thema. Mutterrecht ist für den Autor gleichbedeutend mit Weiberherr-
schaft und er versucht zu beweisen, daß die patriarchalische Familie eine
spätere Erscheinung der menschlichen Ehe sei, der eine Periode. voran-
gegangen sein müsse, in welcher die Frau (Mutter) eine zentrale Rolle
gespielt hätte, die dann auf den Vater übergegangen sei. Den Anstoß
zu seiner Theorie gab Bachofen eine Notiz bei Herodot (I, S. 173), der
von den Lykiern, einem Volk in’Kleinasien erzählt, daß sie sich nach
ihren Müttern und nicht nach ihren Vätern benannten und auf die Frage
nach ihrer Herkunft die Ahnenreihe ihrer Mutter aufzählten.
Wir wollen nun unsere Aufmerksamkeit den Ausführungen Bachofens
zuwenden. Der Autor hebt in seiner Einleitung hervor, daß das Mutter-
recht einer bestimmten Kulturperiode angehört und sich gynaikokratische
Lebensformen bei jenen Stämmen zeigen, die älter als die Hellenen sind,
also Lokrer, Leleger, Kearer, Ätoler, Pelasger, Kaukoner, Arkader, Minyer,
Teleboer u. a. Mutterrecht ist das stofflich leibliche Gesetz, ‚denn „auf
den tiefsten, düstersten Stufen des menschlichen Daseins bildet die Liebe,
welche die Mutter mit den Geburten ihres Leibes verbindet, den Licht-
punkt des Lebens“. Als besondere Kennzeichen der gynaikokratischen
Periode zählt er den Vorzug des Linken und das Prinzipat der Nacht
(über den aus ihrem Mutterschoß hervorgehenden Tag), die kultliche Aus-
zeichnung des Mondes vor der Sonne, der empfangenden Erde vor dem
gefürchteten Meere auf.
ı) Primitive Marriage, 1865. Studies in ancient history 1876. (Zitiert nach Lön-
borg: Der Klan, Jena 1921.)
2) Primitive Society (zitiert nach Lönborg 1. e.).
3) Bachofen: Das Mutterrecht. Basel 1861.
Zur Rolle der Frau in der Entwicklung der menschlichen Gesellschaft 285
Die kultlich-mysteriöse Bedeutung der Mutter ist die ursprünglichere,
vorherrschendere, die zivile, rechtliche die Konsequenz (XV). Er sagt unter
anderem, indem er der Mutter in höchsten Worten gedenkt: „In der Pflege
der Leibesfrucht lernt das Weib früher als der Mann seine liebende Sorge
über die Grenzen des eigenen Ich auf andere Wesen erstrecken und alle
Erfindungsgabe, die sein Geist besitzt, auf die Erhaltung und Verschöne-
rung des fremden Daseins richten.“
Aber in den von ihm herangezogenen Mythen sehen wir immer den
Mann mit einem Weib=Ungeheuer kämpfen und es besiegen. Immer sind
es die männerfeindlichen und männergleichen Amazonen (wie es der Name
selbst besagt), die der Mann—=Heros besiegt und somit die Weiberherrschaft
bricht, eine neue Phase in der Entwicklung beginnend. Bachofen selbst
nennt Amazonentum höchste Ausartung der Gynaikokratie und sieht in
diesem Überspannen der Macht des Weibes ihr Untergehen. Merkwürdiger-
weise sind uns die wenigsten Mythen bekannt oder von Bachofen mit-
geteilt worden, die eigentlich das Mutterrecht, oder besser gesagt, das zus
naturale behandeln, d. h. die natürliche Vorherrschaft der Frau, die auf
dem Verhältnis der sorgenden, nährenden und beschützenden Mutter basiert.
Erst der siegende Held macht eine der Amazonen, gewöhnlich die Führerin,
die ihre Schwestern somit verrät, zum mütterlichen Weibe, und legt so
den ersten Stein zur Gründung einer Ehe, deren Kinder nach Bachofens
Bezeichnung „echte Geburten“ sind, d. h. außer der gebärenden Mutter
noch den Vater als Zeugen nennen — und zwar je nach dem Fortschritt
der männlichen Entwicklung an erster oder zweiter Stelle. Hier beginnt
nach Bachofens Terminologie das von ihm so genannte „lunarische Prinzip“,
das noch unter dem Zeichen des Weibes steht, und wo eigentlich das
Mutterrecht, das zus civile seine Wurzel faßt, im Gegensatz zum ius
naturale, das ihm vorangegangen war und sich auf das tellurische, chtho-
nische Prinzip stützte, das nur die gebärende Mutter, nur den Mutterschoß
der Erde anerkannte, aus dem alles Leben hervorquoll. Den schönsten und
schlagendsten Beweis für Bachofens Theorie liefert vielleicht Ägypten,
das heilige Nilland, von dem Plutarch sagt: „Das alljährlich von dem
Strome überschwemmte Land erscheint als der Mutterleib, der Fluß selbst
als der Sitz der befruchtenden männlichen Kraft, das Austreten des Wassers
als der Akt der Begattung beider Potenzen. Wie des Mannes Same von
dem Weibe aufgenommen wird, so verliert sich des Stromes Flut in der
Erde Schoß, welche sie in sich aufnimmt und mit ihr den Keim der
Befruchtung erhält...“ Isis, die Mutter ist das: Fruchtland selbst;
286 Beata Rank
der männliche Strom Osiris, dessen Scham die Gewässer mit sich fort-
wälzen.'
Isis Vorrang vor Ösiris wurde von mehreren alten Autoren hervor-
gehoben, so von Diodor, der eine Entzifferung einer Säuleninschrift mit-
teilt, die folgendermaßen lautet: „Ich bin Isis die Königin des ganzen
Landes. Ich bin die Schwester und Gemahlin des Königs Osiris. Ich bin
die Mutter des Königs Horus.“ Auch Herodot hebt Isis Vorzug hervor,
sowie die besondere Stellung der Frau. Hievon leitet Bachofen den Ge-
danken ab, daß Ägypten, das typische Land der Gynaikokratie, seine Bildung
auf dem Mutterkult, auf Isis’ Vorrang vor Osiris gegründet habe (XVI) und
bemerkt weiter: „Das Weib ist das Primäre, Erste, der Mann steht zu ihm
im Sohnesverhältnis. Isis überragt Osiris wie die Mutter den Sohn. Osiris
wird auch von manchen als Hysiris, d. h. sis= Sohn gedeutet.“
Wenn auch aus den geschichtlichen Überlieferungen hervorgeht, daß
die Könige in Ägypten wenigstens nominell die Herrschaft geführt haben
(sie nennen bloß 5 Königinnen, die eigentlich als Regentinnen zu betrachten
sind, da sie nur in Ermanglung eines Königs und meistens nach gewalt-
samer Beseitigung oder Mord desselben die Herrschaft übernehmen), so
liegen zahlreiche Anzeichen und Beweise dafür vor, daß die Frau, die Königin,
den .entscheidenden Einfluß hatte und an der Regierung mitbeteiligt war.
Bezeichnend dafür ist die Sitte, den König in Verbindung mit seiner Ge-
mahlin zu nennen und abzubilden; öfters erscheint der Name der Gattin
an erster Stelle. Auch die Bevorzugung des Mutternamens; so nennt sich
Oskaron Sohn der Göttin Bapt, oder Sohn der Isis u.a. Diodor faßt (nach
Bachofen, S. ı14) die Königinnenverehrung in folgende Worte: Die Re-
gierung kehrt zu der weiblichen Urmacht zurück. Führt der König zu Leb-
zeiten die Regierung, die ihm vom Weibe stammt, wie sein Leben, so zeigt
sich der Königin überragende Macht darin, daß sie nun die ihres Mannes
Händen entgleitenden Zügel selbst ergreift, und kraft der Urmacht ihres
' Geschlechtes, mit der Hoheit matronaler Würde, als königliche Mutter in
den entscheidenden Augenblicken wieder selbst handelnd hervortritt.
Daß diese — nach Bachofen in der Isisreligion wurzelnden — An-
schauungen über die Stellung der Frau im allgemeinen und zum Königs-
thron im besonderen ihren Einfluß bis in die späteren Kulturperioden
nicht eingebüßt haben, zeigt die Geschichte der Ptolemäer-Dynastie. Bach-
ofen zitiert nach Müller (Fr. 3, 719 ff.), der seine Angaben auf Eusebische
ı) Zitiert nach Bachofen.
Zur Roll
e der Frau in der Entwicklung der menschlichen Gesellschaft 287
Exzerpten stützt: „Durch die Mutter wird Ptolemäus Soter zum Thron
erhoben und wieder gestürzt, Mit der Mutter vereint, führt alsdann der
jüngere Sohn Alexander die Herrschaft“. (Fr. 3, S. 721.) — Cleopatra, des
achten Ptolemäus Tochter, heiratet ihres Vaters jüngeren Bruder, verwaltet
nach des Vaters Tod sechs Monate die Regierung und verbindet sich dann
mit ihrem Stiefsohn, der gegen ihren Willen die Gewalt an sich reißt
(Fr. 4, S. 722). Bald nachher erscheinen Cleopatra-Tiryphaena und ihre
Schwester Berenike, die während der Abwesenheit ihres Vaters Ptolemäus IX.
das Reich an sich reißen. (Fr. 6, S. 723.) Endlich aber tritt die Nach-
kommenschaft des Dionysos Antetes auf. Von den vier Kindern erhält erst
der ältere Sohn Ptolemäus, mit der älteren Schwester, der berühmten
Cleopatra verbunden, das Reich. Nach dem Tode des älteren Ptolemäus
wird der jüngere Bruder Ptolemäus von Cäsar mit Cleopatra verbunden
und vereint mit ihr zur Regierung erhoben. Nach dem Morde des Bruder-
gemahls herrscht das Weib allein. (Fr. 7, 8, 9, S. 724.) Über das Tyrannen-
weib Cleopatra sowie ihr Verhältnis zu Antonius erübrigt es sich hier,
Näheres mitzuteilen. Hervorzuheben wäre, daß sie sich, wie Dio mitteilt,
dem Volke im Isisgewand zeigte. Bachofen sieht in ihr die strengste
Verwirklichung des altägyptischen Rechtes. Sie erscheint ihm „als die
wahre Isis, die in ihres Gemahls Abwesenheit das Reich regiert, nach
seinem Tode die Mörder straft und zuletzt die Macht auf Horus überträgt“.
(S. 115). Cleopatras herrschsüchtige, kriegerische Gestalt trägt noch viele
gemeinsame Züge mit den Gestalten der mythischen Überlieferung, den
Amazonen, die einen harten Kampf mit dem Mann = Heros führen, ehe
sie ihm die Herrschaft und ihre Liebe überlassen.
Ich wähle einige dieser Mythen aus der Überfülle des von Bachofen
mitgeteilten Materials, wobei ich nur die wohlbekannten und typischen
hervorhebe,. Selbstverständlich teile ich nur denjenigen Teil der Mythe
mit, der auf unser Thema Bezug hat. Nach Diodor (Fr. 4, ı6, 2, 8) eröffnet
der Kampf des Theseus mit den Arhazonen die Geschichte Athens. Es
ist der erste Akt in jenem Kampfe, den Asien mit Europa führt, und der
eigentlich die Geschichte Griechenlands bildet. Es existieren einige Dar-
stellungen dieses Kampfes, so z. B. die Dareiosvase, welche im bourboni-
schen Museum aufbewahrt wird. An dem noch erhaltenen Tempel, den
die Tradition Theseus beilegt, ist der Amazonenkampf Gegenstand der
Metopenplastik. Der Mythus selbst hat einige Versionen, nach der einen
dringt das Weiberheer, an demselben Tage, an dem die Athener Apollos
Fest feiern, in das Land ein. Unter apollinischem Rufe greift Theseus die
288 Beata Rank
Weiber an, doch hier wird die Auflösung des Kampfes zu freundlicher
Vereinigung angedeutet, wofür nach Plutarch schon die Sage von Hor-
komosium (d. h. Eidvergleichstätte) Beweis erbringt." Die Sage von Antiope
erhellt uns aber erst richtig den Mythus. Von Antiope wird erzählt, daß
sie aus Liebe zu Theseus ihre Heimat Themiscyra verrät. Nur durch
Antiopes Beistand vermag der Held die Stadt zu gewinnen. Plutarch,
Thes. 27, erzählt nach Pausanias ı, 2, 2, daß Antiope zu Athen tapfer an
Theseus Seite kämpft, was einen Verrat an ihren Schwestern bedeutet, für
welchen sie Molparia mit dem Tode bestraft. Aber Theseus rächt die Ge-
liebte, sie ist es, die einen Waffenstillstand herbeiführt, die die verwundeten
Schwestern in Pflege bringen läßt. Diesen Gegensatz zwischen ihrer ama-
zonischen und wahrhaft weiblichen Natur versinnbildlichen manche Vasen-
bilder. Eines davon (Mon. dell. Inst. 4, 43) zeigt uns einerseits Antiope als
Königin der Amazonen, zu ihren Füßen den Waffentanz, anderseits mit
Theseus verbunden; den Übergang deutet Eros an, der sich der gestrengen
Herrin nähert. Aus der männer- und chefeindlichen Jungfrau wird sie
zum Weib, zur Mutter, zur Hippolyta (l. c. S. 48). Theseus, der Besieger
der Amazonen, begründet wie Romulus, den neuvereinigten Staat auf dem
Prinzip des Vaterrechtes. Die Potestas des Mannes erscheint in Athen, wie
in Rom, als Grundlage und Vorbedingung des staatlichen Imperiums
(s. auch S. 507). Was Theseus für Athen, das ist für Lykien Bellerophon,
von dem die Sage geht, daß er das Land befreit hatte von den Amazonen,
die es gleichwie im übrigen Vorderasien aus Norden heimgesucht hatten. Er
bekämpft auch Chimära, ein Ungeheuer, das auf einem Schiffe fuhr, dessen
Vorderteil einen Löwen darstellte und am Hinterteil eine Schlange hatte, er
tötete es, indem er es mit dem Pegasus verfolgte. Nach anderen Überlieferungen
vertilgt er die weiblichen Kriegerinnen gänzlich, welche Tat ihm nicht
geringer eingeschätzt wird als der Sieg über die Chimära und über das
verwüstende Wildschwein. Im Gegensatz zu dieser Überlieferung stehen die
plastischen Darstellungen, wo man den Bellerophon im Verein mit den
Amazonen kämpfen sieht. So auf der großen Ruveser Vase des Karlsruher
Museums: Sechs Amazonen vereinigen ihre Anstrengung mit Bellerophon,
über dessen Haupt bereits der Siegeskranz erscheint (l. c. S. 7).
In Kult und Mythus eng mit Theseus verbunden erscheint in Attica
Herakles, der als der unversöhnliche Gegner der Weiberherrschaft und
ı) Das ganze — hier zitierte — mythische Material ist dem Bachofenschen
Werke „Das Mutterrecht“ entnommen.
Zur Rolle der Frau in der Entwicklung der menschlichen Gesellschaft 389
unermüdliche Bekämpfer des Amazonentums gerühmt wird. Seinen Kampf
illustrieren vielfache Abbildungen der archaischen Kunst, wo er meist gegen
ein ganzes Heer der Amazonen sein Schwert zieht, so z. B. die chalkidische
Amphora im British Museum und attische Vasenbilder des älteren schwarz-
figurigen Stiles (Mon. dell Inst. ı2, 9).
Auf den attischen Vasen des fünften Jahrhunderts verschwindet die große
Amazonenschlacht, nur in monumentalen Friesen nimmt sie eine bevorzugte
Stellung ein. Hieher gehören die Darstellungen des Einzelkampfes von
Herakles mit der Amazonenkönigin Hippolyta um die Erwerbung ihres
Gürtels.* Eine andere Version, wonach Hippolyta den Gürtel freiwillig über-
gibt, um eine Schwester auszulösen, ist auf einer attischen Hydra dar-
gestellt. (Arch. Zfg. 1856, Taf. 89, nach Roscher, $. 2226.)
Im lemnischen Mythus (Argonautensage), demzufolge alle Frauen ihre
Männer dem Tode geweiht haben, nimmt Thoas eine bedeutende Stellung
ein. Hypsipile, seine Gattin und Mutter, rettet ihn und verrät somit ihre
lemnischen Schwestern, wird so aus der wilden, blutrünstigen Amazone
zum liebenden schützenden Weibe, ähnlich wie Hypermnestra im
Danaidenmythus, die den Lynkeus unter ihre schützenden Flügel nimmt,
der dann in der blutigen Danaidenhochzeit verschont bleibt.
Auch Perseus wurde als der Bekämpfer und Besieger der Gorgonen
und ihrer Königin Medusa, die die jüngste der Schwestern und allein un-
sterblich ist, gefeiert. Der Sage nach durchschnitt er der Medusa den
Hals mit einem Schwerte, einer sichelartigen Waffe.
In allen diesen Mythen, die beliebig durch andere, analoge ergänzt
werden können, sehen wir immer den Sonnenhelden, mit dem das Sohn-
Vaterprinzip seinen Anfang nimmt, mit den Amazonen, die das extreme
Weiberrecht repräsentieren, kämpfen, sie besiegen. Eine von ihnen aber
verrät gewöhnlich ihre Schwestern, legt ihr Amazonentum ab und wird so
zum Weib = Mutter (so die Antiope im Theseus-Mythus, die Hypsipile in
der lemnischen Sage, die den Thoas schützt, wie auch die Hypermnestra
der blutrünstigen Danaiden, die ihren Lynkeus vom Tode beschützt). Auch
Bellerophon sehen wir im Kampf mit der Chimäre, unterstützt von Ama-
zonen, wenn es auch mehrere sind.?
ı) Die Bedeutung des Gürtels als Sexualsymbol erkennt schon Bachofen.
2) Um eventuellen Einwänden vorzubeugen, betone ich, daß ich nur die eine
Deutung hervorhebe, bin mir dabei aber voll bewußt, daß jeder der von mir heran-
gezogenen Mythen, mehrfacher Sinn und mehrfache Bedeutung zukommt.
290 2. De Beata Rank
Bachofen leitet von diesen Mythen den Gedanken ab, sie stellten den
Kampf des Mutterrechtes (Amazonentum) mit dem Vaterrechte (Helden =
Mann) [der hier vielleicht für viele Männer steht]' dar, ebenso wie die
vielen Frauen, die eine zu bekämpfende Frau darstellen. Das Amazonentum
erkannte er selbst als eine Ausartung der Gynaikokratie, der eine frühere
Periode mit rein mütterlichen Zügen vorangegangen war. Der Autor, der
nur das Mutterrecht im allgemeinen beweisen will, versucht nicht den
Übergang des rein mütterlichen, tellurischen Prinzips zu erklären. Wir
wollen aber gerade diesem Zug unsere Aufmerksamkeit schenken und ver-
suchen, ihn auf Grund vorher gewonnener Einsichten zu beleuchten. Wir
haben angenommen, daß uranfänglich das Weib als Mutter alle Sorgen
und Pflichten in bezug auf die ersten Menschenkinder übernahm, sie
beschützte, ernährte und betreute, ebenso wie es noch heute jede Mutter
mit ihren Kindern tut: Diesem seligen Zustand des Kindes entwuchs aber
schließlich der Sohn, der durch die Pubertätsnot gedrängt, die Mutter im
Kampfe bewältigte, und so zum Gatten und Vater wurde. Die schwer im
Kampfe erworbenen Rechte gab er dann auch nicht her und beschützte
eifersüchtig das Weib und später die Töchter, deren er sich auch
bemächtigte. So sehen wir ihn dann als den Tyrannen, als den Vater der
Urhorde, wie uns dies Freud in „Totem und Tabu“ beschrieben hat.
Wir wissen aus seiner Darstellung, daß die in der Abstinenz gehaltenen
Brüder den Vater gemeinsam erschlugen, um, zum Besitz der Frauen zu
gelangen. Die Frau aber, endlich von der'Gewalt des Vaters befreit, ergreift
die Herrschaft? und genießt Idie wiedergewonnene Freiheit. Den Penis
aber, dem sie unterlag, der sie zur Sklavin des Urvaters machte, nahm sie
an sich, vielleicht tatsächlich, indem sie das Glied des Vaters kastrierte
und ihrem Besitz einverleibte,3 jedenfalls aber durch Identifizierung, die
zugleich das Aufrichten des Vaterideals bedingte. Die durch Vateridenti-
fizierung bedingte Stellung zur Horde ermöglichte ihr zeitweiliges Walten,
denn nach dem Tode des Urvaters können die Männer nur ein Weib an
die Spitze stellen, d. h. auf das Piedestal des Vater = Herrschers erheben.
ı) Vgl. Otto Rank, Die Don Juan-Gestalt. Separatdruck 1924.
2) Diese Vermutung spricht schon Otto Rank in seiner Studie „Die Don Juan-
Gestalt“, l. c., aus, wie überhaupt das hier Folgende seinen Ausführungen teils
entnommen wurde, teils sich an diese anlehnt. 4 |
3) Nach einem Bericht von Herodot fand man in Ägypten im Grabe einer Frau
von hohem Range einen einbalsamierten Phallus von ungewöhnlicher Größe vor.
Vgl. auch Rank: Matrone von Ephesus in: Der Künstler und andere Beiträge. 1925.
Zr Rolle der Frau in der Entwicklung der menschlichen Gesellschaft 291
Dadurch entfernen sie sich selbst vom Liebesobjekt, indem sie gemeinsam
auf dasselbe verzichten. Diese soziale, auf Sublimierung basierende Tat der
Brüder entsteht auf dem Kompromißwege zwischen Es- und Ich-Ideal, und
so ist auch das Wesen eine Kompromißbildung, ein Mannweib = Frau mit
dem Penis. (In der sagenhaften Überlieferung ‘wurde sie dann zu einem
Ungeheuer aufgebauscht.)* Anderseits glimmt aber in den Söhnen das
Verlangen, das Weib gefügig zu machen und selbst wie der Vater — dessen
Ideal in jeder Brust glühte — Führer zu sein. Derjenige der Brüder = Söhne,
dem es gelingt, das Weib zu bezwingen, sexuell zu bewältigen, ihre Männ-
lichkeit niederzukämpfen, sie ihrer Autorität zu berauben, der, könnten wir
sagen, überwindet ihre Vaterfixierung, erweckt in ihr das Weib, und macht
sie sich somit gehörig, wird zu ihrem Gatten, und in weiterer Folge zum
Vater.”
Wir sehen also, daß jede Vaterentwicklung über das Verhältnis Mutter =
Sohn geht, aus dem dann der Vater erwächst, ganz entsprechend der
individuellen Entwicklung, die sich bei jedem einzelnen Individuum
wiederholt.
Amazonentum ist nicht eine Kontinuität der rein tellurischen Weiber-
herrschaft (dies behaupten wir im Gegensatz zu Bachofen, der Amazonentum
als Folge der Weiberherrschaft ansieht), es ist vielmehr eine selbständige
Erscheinungsform, die sich nicht an das rein mütterliche Prinzip an-
schließt, sondern an die tyrannische Vaterherrschaft. Nach der uranfäng-
ı) Diese Einsicht liefert uns vielleicht ein wenig Verständnis für die „böse
Mutter“, die Hexen und die weiblichen Vampire.
2) Vgl. Bachofens Bemerkung: „In dem geschlechtlichen Umgang mit der Königin
liegt der Beweis der Macht [er meint für den. Usurpator], deren äußeres Zeichen
das Diadem bildet. Wer der Königin, der Mutter der königlichen Kinder, beiwohnt,
ist dadurch zum König erhoben.“ (S. 113). Diese Auffassung gewinnt er aus der
Manethonschen Erzählung von den Brüdern Sethosis—Armais, Dem Bericht zufolge
entsandte König Sethosis seinen Bruder Armais als Statthalter nach Ägypten und
übertrug ihm die ganze Fülle der königlichen Gewalt, nur mit der einzigen Aus-
nahme, daß er nicht das Diadem tragen dürfe, und daß er sich der Königin, der
Mutter der königlichen Kinder und aller Kebsweiber enthielte. „Armais aber wider-
setzte sich diesem Gebote, tat der Königin Gewalt an und wohnte den Kebsweibern
ohne Scheu bei. Auf den Rat der Freunde nahm er auch das Diadem und erhob sich
wider den Bruder.“ (S. 113.) Bachofen führt als Vergleich Absalons öffentliches Bei-
wohnen der Königin auf dem Dache seines Hauses an und deutet den Beischlaf des
Phönix mit der Geliebten seines Vaters in gleicher Weise,
Vgl. auch die Tarquinius-Sage, in der es (nach Livius I, L. XI) heißt: Die höchste
Gewalt in Rom wird der besitzen, der zuerst unter euch, o Jünglinge, der Mutter
einen Kuß gibt. (Siehe E. Lorenz |. c.)
292 wer Beata Rank
lichen Herrschaft der Mutter, die über die erste menschliche Familie, d. h.
ihre Kinder herrschte, folgte die Urhorde des gestrengen Vaters, nach
dessen Beseitigung die Frau wieder die Macht an sich reißt. Da ist sie
aber nicht mehr nur das schützende mütterliche Wesen, sie hat inzwischen
einen Entwicklungsgang zurückgelegt [Vateridentifizierung, mit der die Auf-
richtung des Vaterideals zusammenfällt, mit dem dazugehörigen Penisneid,
der aus dem Bewältigungskampf herrührt, „Tabu der Virginität“ und Haß]
und ist so zum Prototyp der Frau mit dem Penis geworden, die sich
jedesmal zwischen das alte Vaterrecht und die neue Sohnesherrschaft ein-
schiebt, ähnlich wie in der individuellen Entwicklung.‘ Die Umwandlung
der Mutter kommt auch den Anforderungen der Masse entgegen, da sie
als Weib = Mutter nur Kampf und Unfrieden stiften würde, denn wie
Freud sagt: „Das sexuelle Bedürfnis einigt nicht, es entzweit.“®” Auch
in dieser Stellung entfacht sie, wenn auch später — die Begierde und
wird zum Kampfpreis der Brüder. Wir könnten aphoristisch sagen: Das
Weib ist nicht nur das Subjekt der Masse, sie wird auch zum Objekt
derselben.
Aus der Anbetung der gebärenden Weibesmutter entstanden die großen
mütterlichen Gottheiten Isis, Demeter, die mit dem Kult der Erde, die
den Alten als das Symbol des ewig befruchteten Mutterschoßes erschien,
eng verbunden sind, ferner die großen Liebesgöttinnen der späteren Periode,
wie Astarte, Aphrodite, die noch in ihrem hetärischen Charakter
eigentlich Vergötterungen der ewig gebärenden Mutter sind, die — der
Wunscherfüllung gemäß — allen Liebe gewährt. Die von Freud („Massen-
psychologie“) aufgestellte Götterreihe: Muttergottheit = Heros = Vatergott
erscheint durch unsere Ausführungen bestätigt. In jedem Vaterkult sehen
wir noch die Nachwirkung der mütterlichen Anbetung. Auch der Tote-
mismus und das Totem selbst tragen außer den väterlichen Eigenschaften
noch mütterliche Züge, ist ja doch das Tier, wie Rank in seinem „Mythus
von der Geburt des Helden“ nachgewiesen hat, ebenso Muttersymbol (alle
Helden werden von den Tieren gesäugt, wie es der typische Heldenroman
zeigt.) *
ı) Vgl. die früher mitgeteilte Geschichte der Ptolemäer-Dynastie.
2) Totem und Tabu $. 193.
3) Was Bachofen öfters hervorhebt.
4) Vgl. auch hiezu: Freud: Analyse der Phobie eines fünfjährigen Knaben (Ges,
Schriften Bd, VIII), wo das Pferd zugleich die schwangere Mutter und den gefürchteten
Vater repräsentiert.
Zur Rolle der Frau in der Entwicklung der menschlichen Gesellschaft | FE
Die mütterliche Vererbung des Totem ist; wie Freud anführt, die
ursprüngliche gewesen, die noch heute bei den primitiven Organi-
sationen besteht (S. 190). Dies läßt die Vermutung zu, daß ursprünglich
Totem auch mit Mutter identisch war. Der schützende Charakter des
'Totems spricht dafür und der Glaube der Mitglieder eines Totemstammes,
sie stammten alle vom Totem selbst. Von hier aus wären vielleicht auch
-die Arunthamythen zu verstehen. Von den Aruntha erzählt Frazer (wie
Freud in Totem und Tabu mitteilt), daß sie sich regelmäßig von ihrem
Totem genährt haben, was Frazer zu der Annahme bewog, die Aruntha-
'stämme wären die primitivsten, die noch die ursprünglichen Sitten bei-
‘behalten hätten. Hieraus zieht er den Schluß, daß sich ursprünglich jeder
Totemclan ohne Einschränkung von seinem Totem genährt habe. Freud
aber erklärt im Gegenteil auf Grund Dürkheimscher und Langscher
Arbeiten, die Arunthastämme: waren die entwickeltsten Stämme Australiens
und ihre Mythen seien als in ‘die Vergangenheit projizierte Wunsch-
“ tphantasien zu verstehen. Fügen wir dem hinzu, daß diese Wunsch-
phantasien tatsächlich auf ein reales, urzeitliches Erlebnis aufgebaut sind,
so glauben wir zwischen der Frazerschen und Freudschen Deutung eine
Brücke: geschlagen zu haben, die beide verbindet. Diese Annahme wagen
wir um so mehr, als bei der in allen Totemclans beibehaltenen feierlichen
Totemmahlzeit alle Mitglieder vom Totem essen, welche Zeremonie das
Band der Gemeinschaft, der Verwandtschaft zu dokumentieren und zu
stärken versucht. Wie Freud in der zitierten . Arbeit ausführt, ist die
Stammesgemeinschaft (kınship) das Band, welches die primitivsten Gesell-
schaften vereinigt. Kinship bedeutet einen Anteil haben an einer gemein-
‘samen Substanz. Er sagt darüber wörtlich: „Es ist dann natürlich, daß sie
nicht nur auf die Tatsache gegründet wird, daß man ein Teil von der
Substanz seiner Mutter ist, von der man geboren und mit deren Milch
man genährt wurde, sondern daß auch die Nahrung, die man späterhin
genießt und durch die man seinen Körper erneuert, kınskip erwerben und
bestärken kann.“ Wir bemerken hiezu, daß diese Auffassung nur so ent-
stehen konnte, daß das gefressene ‚und diese Eigenschaften verleihende
Objekt, der Mutter gleichgesetzt wurde, d. h. mit ihr identisch erschiene.
‘Denn, wie wir anfangs bemerkt haben, ist das Identifizierungsphänomen
aus dieser Beziehung zur Mutter zu verstehen. In weiterer Verfolgung
des Gedankens erscheint auch das gefressene Vatertotem gleichzeitig als
Mutter, wie dies auch Röheim in seinem Berliner Kongreßvortrag
„Nach dem Tod des Urvaters“ (Imago IX, ı) bemerkt. Es ‚heißt dort:
Imago X. 2 u.35 20
294 —— | | Beata Rank
„Der Vater, den sie, wie einst die Säuglinge die Mutter, gegessen hatten,
war für -sie zur zweiten Mutter geworden, von ihm wurden sie jetzt
‚wiedergeboren.“
Zum Schlusse möchte ich noch darauf hinweisen, ‚daß die hier skizzierte
Stellung der Frau in der Entwicklung der menschlichen Gesellschaft in
der Sphinxfigur der Ödipus-Mythe zum Ausdruck kommt.
Ich gebe hier die Deutung, die mir Otto Rank zur Verfügung stellt:
Nachdem Ödipus den König==Vater getötet hat, tritt ihm auf dem weiteren
Wege nach Theben, dessen König zu werden ihm bestimmt ist, als Ersatz
des eben getöteten Vaters, die mächtige verderbenbringende Mutterfigur
in der Gestalt der Sphinx entgegen, die ja das in Ägypten zur höchsten
‚Blüte. gelangte Mutterrecht repräsentiert. Theben wird sozusagen in der
mutterrechtlichen Übergangsform von der Vater- zur Sohnesherrschaft einst-
weilen von der Sphinx beherrscht und bewacht. Nach Überwindung des
Vaters muß der Sohnesheld nun auch diesen Vaterersatz, d. h. die Männ-
lichkeit der Mutter — die genau wie in der Individualentwicklung von
der Identifizierung mit dem Vater herstammt — beseitigen, bevor er die
Mutter in ihrer weiblichen und sexuellen Bedeutung gewinnen und selbst
die Nachfolge des Vaters an Stelle der „männlichen Mutter“ antreten
kann."
So zeigt also der Ödipus-Mythus in der Verknüpfung der Sphinxfigur
mit dem typischen Heroenmythus sowie in der Aufeinanderfolge der Kämpfe
und Siege ein genaues Abbild der. mutterrechtlichen Entwicklungsphasen,
wie ich es aus individualpsychologischen Erwägungen zu erschließen
-bemüht war. e:
Diese Ausführungen, die, ja wie eingangs erwähnt, keineswegs auf
erschöpfende Darstellung des gegebenen Themas Anspruch erheben, sollen
nur in großen Linien den Entwicklungsgang der führenden Frau zeigen
und uns erklärlich machen, warum und von wem sie jedesmal ‚ihre
Niederlage erleidet. Die Wellenbewegung der Entwicklung zeigt uns das
Weib in immer frischem Bilde beim Sturz des König = Vaters, bemüht,
sich der Herrschaft zu bemächtigen. Die Geschichte lehrt uns aber, daß
diese Versuche kläglich mißlingen. Die nach der Mutterüberwindung
'strebenden und von der heißen. Vateridentifizierung getragenen Söhne
‘entreißen ihr die Macht. Als Entschädigung -dafür erheben sie sie -zur
ı) Vgl. dazu Reik: Ödipus und die Sphinx sowie den Diskussionsbeitrag P. Federns
zu diesem Vortrag. Internat. Ztschr. f. Psychoanalyse VIII,
Zur Rolle der Frau in der Entwicklung der menschlichen Gesellschaft 295
Göttin." In dem letzten Stadium der Entwicklung, heißt sie, entsprechend
der vorgerückten Verdrängung, „die Göttin der Vernunft“? und der an
antike Vorbilder so lebhaft erinnernde Heros der Neuzeit, Napoleon, löst
sie ab, gleichsam das höchste Vaterprinzip einführend.
ı) Michelet: Die Frauen der Revolution. „Es wurde ausdrücklich empfohlen,
für eine so erhabene Rolle Leute zu wählen, deren Sittenstrenge und Reine Blicke
der Zudringlichkeit zurückweist und die Herzen mit anständigen, ehrbaren Gefühlen
ertullt.". 1 3: ji | |
2) Vgl. den Ausspruch Freuds, Massenpsychologie und Ich-Analyse, S. 125,
2o*
=
E
|
2
Die Frauensprache bei den primitiven
Völkern'
Von Flora Kraus (Wien)
Ich will versuchen, die analytischen Gesichtspunkte auf die Erklärung
einer Tatsachenreihe anzuwenden, die bisher ein noch ungeklärtes Problem
der Völkerkunde sowie der Sprachforschung bildet. Dieses Problem besteht
in der Existenz gesonderter Sprachen bei den Männern und Frauen vieler
primitiver Stämme. Die damit verknüpften Fragen sind, soweit mir be-
kannt, noch nicht Gegenstand analytischer Forschung geworden. Die Be-
richte über die Männer- und Frauensprache sind zumindestens, soweit sie
von Forschungsreisenden und Missionären früherer Jahrhunderte nieder-
gelegt wurden, keineswegs immer einheitlich und zuverlässig. Gestatten Sie
mir, Ihnen vorerst einen Ausschnitt aus dem reichhaltigen Material vor-
zulegen.?
I. Das Material
Stoll wies auf die besondere Sprache der Frauen bei den Cakchiqueles
in Guatemala hin. Dort nennt der Mann den Schwiegersohn ali, den
Schwiegervater hi-nam, die Schwiegermutter hi-te, während die Frau für
dieselben Verwandten die Worte ali, alinam und alı-te gebraucht. Auch
sonst findet es sich häufig, daß die Frauen für eine ganze Reihe von
—
ı) Nach einem in der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung am 14. Mai 1924
gehaltenen Vortrag.
2) Die folgenden Beispiele entnehme ich ethnologischen Werken wie: J.G. Frazer:
The golden Bough. Part. II. Taboo and the perils of the soul. London ıgı1; E. Craw-
ley: The Mystic Rose. London ı902; Ploss-Bartels: Das Weib in der Natur- und
Völkerkunde. I. Bd., Leipzig 1908; F, Reitzenstein: Das Weib bei den Naturvölkern,
Berlin 1924. Besonders reichhaltig ist der ebenfalls hier von mir benützte Aufsatz
von R. Lasch: Über Sondersprachen und ihre Entstehung. Mitteilungen der anthro-
' pologischen Gesellschaft Wien. Bd. 37, 1907, $. 8g ff. und 140 ft.
a
Die Frauensprache bei den primitiven Völkern 297
Gegenständen ihre besonderen 'Ausdrücke haben, welche die Männer nie-
mals in den Mund nehmen und für welche die Männer eigene Worte be-
sitzen. Von den Caraya-Indianern am Rio Araguya in Brasilien berichtet
Paul Ehrenreich die bemerkenswerteste Eigentümlichkeit ihrer Sprache
sei das Bestehen einer besonderen Männer- und F rauensprache; ähnlich
sei es bei den Stämmen der Quaicurus und Chiquitanos. Es seien freilich
nur wenige Worte gänzlich verschieden; bei den meisten Worten sei nur
die Form unwesentlich modifiziert: wo z. B. im Männerdialekt zwei Vokale
aufeinanderfolgen, steht zwischen beiden in der Weibersprache ein k. So
heißt Neger bei Männern 2r-z, bei den Weibern di-ku. Mais bei den Männern
mahi, bei den Weibern maki. Bisweilen hat das Wort bei Frauen nur eine
Endsilbe mehr und Ehrenreich vermutet, daß die Frauen nur eine alter-
tümlichere Form der Sprache beibehalten haben. In einer neueren Ver-
öffentlichung hat Ehrenreich die von allen Berichterstattern überein-
stimmend gemeldete Tatsache eines gesonderten Frauendialektes in Caraya
konstatiert und Proben der Differenzierung zwischen Männer- und Frauen-
. sprache gegeben. Er hat ein 14 Seiten umfassendes Vokabular zusammen-
gestellt, in welchem die Ausdrücke der Männer und Frauen für dieselben
Dinge erscheinen. Es ist auffällig, daß in diesem Vokabular neben vielen
anderen Ausdrücken Körperbezeichnungen wie Lunge, Kopfhaar, Rücken usw,
eine große Rolle spielen. Als Beispiel: das weibliche Genitale bei Männern
i-tu, bei Frauen wea-a-tü. Es erscheint eigentümlich, wie dabei manche
Vorsilben wie wa und z manchmal von den Männern, manchmal von den
Frauen gebraucht werden, um dieselben Ausdrücke von der Sprache des
anderen Geschlechtes zu unterscheiden. In Spuren findet sich die Frauen-
sprache unter den Stämmen des ganzen amerikanischen Kontinentes vom
äußersten Norden bis nach Patagonien. Die Frauen der Tschiglit-Eskimo
„ont des expressions, des mots que n’emploient point les hommes“.* Bei den
Tschokta-Indianern gibt es einige Worte, welche ausschließlich von Frauen
gebraucht werden, wie: ekhwak (pfui), bei den Krihk- und Hitschiti-Indianern
gibt es ebenfalls eine archaische Frauensprache und die alten Leute des
Stammes erinnern sich noch recht gut der Zeit, da diese häufiger gebraucht
wurde.”
Auch bei den Chiquitos in Bolivia bedient sich der Mann verschiedener
Ausdrücke für viele Begriffe, die Frauen anders bezeichnen, während in
nn
ı) Petitot: Les Grands Esquimaux. Paris 1887, p. 140.
2) Gatschet: A Migration Legend of the Creek Indians, Vol. I. Philadelphia
1884, P- 79
LL——————————,
298 Flora Kraus
anderen Fällen beide Geschlechter dieselben Worte verwenden. Es kommt
manchmal vor, daß die Frauen nur die Endung der Worte verändern. Bei
den Mbaya war die Bedeutung der Worte, oft aber auch das Wort selbst,
verschieden, je nachdem ein Mann oder eine Frau sie aussprach.” Bei den
ausgestorbenen Abiponen war es angeblich die Aufgabe der alten Weiber,
neue Worte für die Frauensprache zu erfinden, wie uns Dobrizhoffer
ı783 berichtet”? Auch in Südafrika gibt es bei den Kaffern eine Sonder-
sprache der Frauen, weil die Frauen kein Wort über ihre Lippen bringen
dürfen, das mit dem Namen irgend eines mit ihnen verschwägerten Mannes
zusammenhängt. Namentlich bei den Zulus darf eine Schwiegertochter den
Namen ihres Schwiegervaters oder seiner Brüder nicht gebrauchen und
wenn in der Unterhaltung ein ähnliches Wort oder eine Silbe, die auch
in jenem verpönten Namen vorkommt, ausgesprochen werden soll, muß die
Zuludame ein anderes Wort erfinden. In der königlichen Familie ist diese
Schwierigkeit gesteigert, weil die Frau nicht nur den Namen des Gemahls,
sondern auch den Namen der verschiedenen männlichen Verwandten ver-
meiden muß. Es seien nur noch die ostafrikanische Wasuaheli und die
Basutos erwähnt, die über eine Geheimsprache der Frauen verfügen. Die
Männer wissen nicht, wie die Frauen bestimmte Dinge bezeichnen und
umgekehrt. Insbesondere sollen sich die Frauen dieser Sprache bedienen,
um über ihre Frauenleiden zu sprechen.* In dem so weit entfernten Asien
benützen malaische Frauen verschiedene Worte, die den Männern kaum
bekannt sind. Es gibt unter ihnen eine bestimmte Form der Rede, die
von den übrigen nicht verstanden wird und die sie bei Mitteilungen ihrer
großen oder kleinen Geheimnisse verwenden. Die Frauen der Brunei aut
Borneo haben diese Sprechweise zu einem förmlichen System ausgebildet,
das sie „Bahäsa Balik“ (verkehrte Sprache) nennen. Dabei werden entweder
die Silben des Wortes verstümmelt, oder jeder Silbe eine neue angehängt,
wie bei den Geheimsprachen der Schulkinder, Zum Beispiel sagen sie statt
mari = kommen, malahrilah. Diese Geheimsprache ändert sich beständig und
junge Mädchen sind oft damit beschäftigt, ein neues System auszudenken,
das sie nur ihren intimsten Freundinnen anvertrauen. Wir haben’ gehört,
ı) Koch: Mitteilung der anthropologischen Gesellschaft in Wien. Bd. 35, 1903, $. 29.
2) Dobrizhoffer: Geschichte der Abiponer, 1785, II, S. 255.
3) Mac Lean: Kafir Laws and Customs. p. 95.
4) Cleve: Zeitschrift für Ethnologie. Bd. XXXVI, 1904, $. 460 bis 463.
5) Swettenham: Malay Sketches. London 13896, p. 8.
6) St. John Spenser: Life inthe Forests of the Far East. 2d Ed. London 1863, II.
Die Frauensprache bei den primitiven Völkern | 299.
daß bei manchen Völkern ein eigenes Zeremoniell besteht, welches das Aus-
sprechen vieler Namen von F amilienmitgliedern verbietet. Würde also der
Name des Großvaters des Gemahls einer Zulufrau ein Z enthalten, so darf
die Bedauernswerte kein Wort erwähnen, ‘das ein Z enthält. Das Wasser
heißt in der Zulusprache Amanzi, eine Zulufrau hat in einem solchen
Falle das Wort in amandabi umzubenennen oder sie würde gemäß der
Sitte von Priestern der Hexerei angeklagt werden. Oft müssen solche Frauen
ganz andere Worte gebrauchen; eine Frau .z. B.,. deren Schwager einen
Namen hat, der auf 7 ausgeht, wird niemals das Wort Junggeselle mkenja
aussprechen, da die Silbe ja darin vorkommt, sondern’ einen Ausdruck ge-
brauchen (kekipi), der sonst Holz bedeutet. Die Forschungsreisenden 'be-
richten, daß so eine Zulufrau z. B. statt Schaf „das des Schwanzes“ sagen
müßte, weil in dem Worte für Schaf die verbotene Silbe ro vorkam.
Solche Umschreibungen von verbotenen Worteh sind manchmal sehr poetisch.
So heißt nach Lasch die Sonne in der Frauensprache der afrikanischen
Wakonde „das Scheinende“, der Weg „das Begangene“. Die Kirgisen
sind räumlich von den afrikanischen Negern weit genug entfernt und
doch gilt es auch bei ihnen, wie Vambery berichtet, für ‚unschicklich,
den Namen eines männlichen Mitgliedes des Hausstandes auszusprechen.
Eine Anekdote erzählt, daß ein Kirgise einst. fünf'Söhne hatte, die Kökh
(See), Kamisch (Rohr), Kaskir (Wolf), Koj (Schaf) und Pitschall (Messer)
genannt wurden. Seine Schwiegertochter ging eines Tages zum Wasser und:
als sie am See im Rohr einen Wolf erblickte, kam sie schreiend : zurück:
„Dort neben dem Glänzenden im Schaukelnden frißt ein Raubtier das
Blöckende“, da sie die Namen der männlichen Mitglieder der Familie nicht
aussprechen durfte. Bei den Suaheliweibern ‚besteht ebenfalls eine Form
der Frauensprache, die nur den Eingeweihten bekannt ist und den jungen
Mädchen in geregeltem Unterricht beigebracht wird. Man hat aber dabei
nicht an 'ein durchgeführtes System zu denken, ‚das die Sprache ersetzen
soll. ‚Die 'Suaheli haben vielmehr für ‘viele Sachen symbolische Wörter.
Die Frauen bedienen sich bei. ihren Geheimfeuern solcher symbolischer
Bezeichnungen zur Deutlichmachung obszöner Dinge. Diese Worte: sind
teils allgemein gebräuchliche Bezeichnungen 'harmloser Sachen, teils der,
alten Sprache oder anderen Bantu-Dialekten entlehnt. So berichtet Lasch,
daß in der Geheimsprache der Suaheli-Frauen die Vagina Hof, Muschel,
oder Weib heißt. In Japan gibt es sogar eine für Frauen und Männer
verschiedene Syntax und viele verschiedene Dialekte; das japanische Alphabet
besitzt zwei Arten von Schriftzeichen, je nachdem sie von einem Mann
300 Flora Kraus
oder einer Frau gebraucht werden. Die Insel-Karaiben haben zwei ver-.
schiedene Vokabularien. Das eine wird von Männern und von Frauen,
wenn sie zu Männern sprechen, verwendet, das andere von Frauen, wenn
sie miteinander sprechen, oder von Männern, wenn sie ein Gespräch von,
Frauen in indirekter Rede wiedergeben.
Ll. Erklärungsversuche
Diese Tatsachen, die ich als Beispiele aus dem reichen Materiale gewählt
habe, scheinen auf den ersten Blick die gleiche Richtung zu gehen und
könnten uns annehmen lassen, daß die Erklärung der Entstehungsursachen
der. differenzierten . Frauen- und Männersprache den Forschern nicht
allzuschwer fallen konnte. * Um so verwunderter werden wir sein,
wenn wir erfahren, daß die mannigfachsten Hypothesen über die Ent-
stehung der Frauensprache gegeben wurden. Manche darunter, namentlich
die älteren Forschungsreisenden und Ethnologen, begnügen sich damit, ein
einziges Motiv für dieses so befremdende Phänomen verantwortlich zu.
machen, Andere, wie Frazer und Crawley, erkennen die Kompliziertheit,
des Problems und Lasch,'! der die Frauensprache besonders genau studiert
hat, gibt zu, daß bei wenigen ethnologischen Phänomenen eine solche
Konkurrenz der Motive. zu beobachten sei, wie gerade bei den Sonderr
sprachen. Wir wollen nur wenige Erklärungsversuche anführen.
I) Die historische Erklärung
Die erste solcher Hypothesen stammt, soweit wir es zurückverfolgen
können, von dem Dominikanermönch Breton, der zwischen 1634 und’
1653 unter den Karaiben wirkte und die ersten Nachrichten einer solchen
Frauensprache nebst einem Wörterbuch der Sprache dieses Volkes nach
Europa brachte.” Er fand die Existenz der Frauensprache auf Dominika’
darin begründet, daß „ie chef caraibe avait extermine tous les naturels du
pais a la reserve des seules femines qui ont toujours garde quelgue chose de
leur langue“. Danach würde also die Frauensprache Westindiens einem!’
durch ausschließliche Tradition in den Frauengenerationen erhaltenen Rest‘
der Sprache der ursprünglichen arawakischen Bevölkerung darstellen. Die'
ı) Lasch: |. c. $. 9z. |
" 2) Br&ton: Dictionnaire caraibe-francois, Auxerre 1664.
rn
Te
Die Frauensprache bei den primitiven Völkern 301
späteren Berichterstatter wie Rochefort,‘ Du Tertre? Lafitau3 und
Labat* schlossen sich den Angaben von Breton an, ohne wesentlich
Neues hinzuzufügen, Nur Rochefort sagt noch: „Les hommes ont beaucoup
d’expressions, qui leür sont propres, que les femmes entendent bien, mais:
qu’elles ne prononcent jamais; et les femmes ont aussi des mots et des phrases,
dont les hommes n’usent point 4 moins que de se faire moquer. De la vient,
qu’en une bonne partie de leur entretien, on diroit que les femmes ont un
autre language que les hommes.“ Dieser Ansicht der älteren Autoren stimmte
noch Humboldt zu, der den Unterschied der Mundarten beider (Ge-
schlechter bei den Karaiben so bedeutend fand, daß man zur befriedigenden
Erklärung. mit der Annahme von der abgeschlossenen Lebensweise der
Frauen nicht auskommen und sich daher nach anderen Quellen umsehen
müsse. Auch Humbold findet diese in der Sitte, die männlichen Ge-
fangenen zu töten und die Weiber in die Sklaverei zu nehmen. Wajitz®.
schließt sich im allgemeinen Humboldt an, betont aber, daß die Sprachen
der Weiber untereinander sogar sehr verschieden gewesen sein müssen, da die
Karaiben sich bei ihrem Frauenraub gewiß nicht auf die Arawaken beschränkt
haben. Diese Erklärung erhält scheinbar eine Stütze durch eine Sage der
Tuggeresen in Java, daß ihre Weiber ursprünglich anderen Stammes als sie
selbst waren.” Auch bei diesem Volke bestehen Restbestände einer alten.
Frauensprache. Dennoch muß man sagen, daß diese historische Erklärung
zum geringsten Teil geeignet ist, die Entstehungsursache der gesonderten
Frauensprache klar zu machen. Es sprechen zu viele ethnologische und
logische Gründe dagegen. Bereits Stoll hat darauf hingewiesen, daß die
karaibische Frauensprache nur ein einziges Wort aus dem Arawakischen,
der Sprache jener Urbewohner, enthalte. Lasch hat es sehr wahrscheinlich
gemacht, daß schon vor dem Eroberungszug der Karaiben auf den west-.
indischen Inseln eine Frauensprache existiert hat und dafür die Tatsache
angeführt, daß bei den heutigen Arawaken des Festlandes (in Surinam)-
sich Spuren einer Frauen- und Männersprache finden. Auch dort haben
ı) Rochefort: Amerıque. Amsterdam 1716, p. 449, 430:
2) Du Tertre, Histoire Generale des Antilles habites par les Francois. Paris
1667, II, p. 361. et
53) Lafıtau: Moeurs des Sauvages Am£riquaines,. Paris 1724, I], Pp- 551. 24
4) Labat: Nouveau Voyage aux Iles de l’Amerique. La Haye, 1724, II, p. 129.
+5) Humboldt: Reise nach den Aquinoktialgegenden 18509, IV, S. 326, Ausgabe
von Hauff. | | | 2
6) Waitz: Anthropologie der Naturvölker. III, S. 356. |
7) Nach J. H. F. Kohlbrugge, Die Tugaresen, ein alter javanischer Volksstamm.
s’Gravenhage, ı908. |
4
302 Flora Kraus
die Frauen für eine ganze Reihe von Gegenständen und Begriffen ihre
gesonderten Ausdrücke, welche die Männer niemals gebrauchen. Auch
spricht die Verbreitung .der Frauensprache bei so vielen Völkern, welche
die Raubehe nicht kennen, gegen diese Erklärung.
2) Die sozialwirtschaftliche Erklärung
beruft sich auf die soziale Sonderstellung der Frau bei’ den Wilden und
weist auf das Bestehen von gesonderten Frauen- und Männerbünden hin.’
Die soziale Stellung der Frauen drücke sich auch in der scharfen Trennung
der Beschäftigungssphären beider Geschlechter aus. Sie sei auch mittelbar
die Ursache der Differenzierung von Männer- und Frauensprachen. Wie
namentlich Sapper betont,‘ könne man die Bildung von Synonymen damit
begründen, daß die Beziehungen des Mannes zu verschiedenen Gegenständen
infolge der Arbeitsteilung andere seien, als die der Frau. Mit dieser Theorie
stimme auch die Tatsache überein, daß die Unterschiede in der Sprache
beider Geschlechter lange nicht so groß sind, als man ursprünglich an-
genommen habe. Im Grunde genommen sprechen beide Geschlechter die-
selbe Sprache, abgesehen von einer bestimmten’ Anzahl von Ausdrücken.
Bei den Karaiben z. B. fand Adam,? daß unter 2000 bis 3000 Worten
ihres Sprachschatzes nur zirka 400 sind, die bei Mann und Weib ver-
schieden sind. Wir werden sicher dieses Argument in seinem Werte wür-
digen und zugeben müssen, daß die Unterschiede in der Beschäftigung zur
Ausbildung einer gesonderten Männer- und Frauensprache beigetragen
haben, können uns aber nicht dazu entschließen, dieses Moment als das
ursprünglichste und wichtigste anzusehen. Es trat vielleicht zu dem tiefer
begründeten und ursprünglichen Motiv hinzu und verstärkte seine Wirkung.
Sekundär wirkte vielleicht der Gewinn, den die Männer und Frauen aus
der Anwendung ihrer Sondersprache in ihrer Beschäftigung (Kochen, Jagen)
hatten und trug zur weiteren Ausbildung der Sondersprachen bei.
3) Die psychologische Erklärung
ist zuerst von dem amerikanischen Ethnologen Hale3 gegeben worden,
der die Sondersprache mit den Geheimsprachen der Kinder vergleicht. Er
ı) Sapper: Mittelamerikanische Karaiben. Archiv für Ethnologie, 1897, X, $. 57 £.
2) Adam: Du parler des hommes et des femmes dans la langue Carailianı Paris
1879, p- 2.
3) Hale: The Origin of Language and Ahe Antiquity of Speaking. Proceed. of the
American Association of Advanc. of Science. Vol, 35, 1886.
läßt so die Geheimsprache aus der Wirksamkeit einer inneren sprach-
verändernden Kraft, eines Spieltriebes, der Kindern und Wilden gemeinsam
sei, entstehen. Dieser Forscher meint auch, daß die Sondersprachen der
Naturvölker denselben Tendenzen dienen wie die der Kinder, nämlich Ge-
danken in einer den Außenstehenden nicht verständlichen Weise auszu-
tauschen. Wir werden sicher den Hinweis auf die Ähnlichkeit beider Er-
scheinungen dankbar akzeptieren und als fruchtbar ansehen.: Freilich scheint
uns ein solcher primärer Spieltrieb höchst unwahrscheinlich, und wir können
aus ‘dem’ Vergleich selbst nicht erschließen, welchen spezielleren Zielen
solche Geheimhaltung dienen sollte, welchen Mechanismen die Sprachver-
änderung folgt und warum die Sprachdifferenzierung sich gerade zwischen
Männern und Frauen abgespielt habe. Wir können nur sagen, daß Hale,
dem sich auch deutsche Forscher wie Lasch anschließen, uns einen wert-
vollen Hinweis gegeben, ihn aber nicht weiter verfolgt hat.
.. 4) Die. religiöse Erklärung
Die religiöse, oder wie andere Forscher sie nennen, animistische Erklä-
rung wird von den meisten ernst zu nehmenden Ethnologen zumindestens
teilweise für die Entstehung der gesonderten Frauensprache herangezogen.
Wir wollen als Vertreter dieser Ansicht Frazer' wählen, der die Sitte der
Frauensprache in einen großen Zusammenhang einreiht, indem er sie,
unter dem’ Titel der „tabooed words“ behandelt. Der englische Forscher
geht davon aus, daß der Name einer Person im Glauben der Wilden ein
Stück ihres Ichs darstellt und daß die Zurückhaltung, welche die primi-
tiven Völker im Aussprechen der Namen von Toten, Königen, Verwandten
durch Heirat üben, zum großen Teil auf der abergläubischen Furcht be-
ruht, daß solches Aussprechen verpönter Namen verhängnisvolle Folgen
haben könnte. Frazer bringt mit dem gewohnten Sammeleifer ein un-
gemein reiches Material dafür, daß nicht nur Namen von Verwandten,
sondern auch solche von Königen und heiligen Personen, Göttern und Toten von
den Wilden vermieden werden, und auch eine große Anzahl von Worten
unter besonderen Umständen verpönt sind. Wir werden uns mit der Frazer-
schen Erklärung, die der Vertiefung bedarf, noch beschäftigen; hier sei
vorläufig darauf hingewiesen, daß sie nicht geeignet erscheint, gerade das
Bestehen der Frauensprache psychologisch verständlich zu machen. Dies
scheint Crawley? gefühlt zu haben, als er in seinem berühmten Buche
ı) Frazer: Taboo and the perils of the soul. p- 347 ff.
2) Grawley: The Mystic Rose. London 1902, $. 46 ff.
L—Ö—Leeeeeeeeeeeee a
304 . Flora Kraus
„Ihe Mystic Rose“ die Frauensprache im Zusammenhang mit-dem Tabu:
des Geschlechtes behandelte. Wie Sie wissen, betont Crawley, daß unter
den Wilden alle Beziehungen zwischen den Geschlechtern von materiellen.
und geistigen Gefahren begleitet sind und daß diese Angst davor einen
charakteristischen Zug der primitiven Religion und Weltanschauung dar+
stelle. Die Frauensprache ist also nach Crawleys Ansicht der Ausdruck
eines primitiven. sexuellen Tabus, Hat so Crawley scharfsinnig erkannt,
daß die tiefsten Motive dieser sprachlichen Erscheinung gerade in der.
Natur der Beziehungen der Geschlechter zueinander begründet sein müssen,
so hat er doch die psychologische Erklärung dieses Tabus nicht gegeben,
Er hat uns nicht erklärt, warum sich dieses sexuelle Tabu in der Sprach-
differenzierung ausdrücken sollte und nach welchen Gesetzen sie vor sich
gegangen sein soll. E
Wir wollen zum Schlusse nur noch auf die Theorie von Oppert! hin-
weisen, welche die Unterschiede zwischen Männer- und Frauensprache auf
die bereits im Kindesalter bestehende Trennung der Geschlechter zurück-
führt. Diese habe zur Folge gehabt, daß Personen desselben Geschlechtes,
wenn sie miteinander reden, immer gleiche Ausdrücke gebrauchen, wäh-
rend das andere Geschlecht verschiedene Worte benützt, Es ist klar, daß:
diese Hypothese, welche wir den sozialen anreihen können, falsch ist, Ab-
gesehen davon, daß solche Irennung der Geschlechter in frühen, für das
Gedächtnis so entscheidenden Kinderjahren durchaus nicht bei den Wilden
üblich ist, sind die Variationen in den Sprachen der Männer und Frauen
auf verhältnismäßig enge Grenzen beschränkt. Es handelt sich auch, wie
uns scheint, gar nicht um der Gewohnheit entstammende Benützung ver-
schiedener Ausdrücke, sondern gerade um die Vermeidung bestimmter.
Worte, Schließlich würde nach der Oppertschen Erklärung, wie Lasch
richtig hervorhebt, falls es durch diese Faktoren zur Entstehung wirklicher
Sonderdialekte bei beiden Geschlechtern käme, die Sprache ihre Aufgabe
als Verständigungsmittel nicht erfüllen können,
III. Die psychoanalytische Erklärung
Wir haben in der Aneinanderreihung vieler Hypothesen über die Ent-
stehungsursachen der Frauensprache so wichtige und einander anscheinend
ausschließende Momente gefunden, die doch zu einem großen Teil auf-
ı) Oppert: On the Classification of Languages in conformity with Ethnology,
Journal of Anthrop. Inst. Vol. XIII, 18853/1884, p. 40, 41.
m
Die Frauensprache bei den primitiven Völkern 305
schlußreich schienen, und sind noch nicht in der Lage, das einigende Band
zu sehen. Die Mannigfaltigkeit der Erklärungsversuche verwirrt uns und
wir sehen keine Brücke, die von der einen Erklärungsmöglichkeit zur
anderen führt. Wenn wir uns in dieser Notlage an die Psychoanalyse wenden,
so müssen wir uns vor Augen halten, daß jede wirklich tief dringende
Erklärung auch die partielle oder totale Berechtigung jener von den Forschern
bereits angeführten sozialen, religiösen, wirtschaftlichen und psychologischen
Momente erweisen und sie einer umfassenderen Erklärung einreihen muß.
Dabei werden wir uns, den analytischen Prinzipien der psychischen Deter-
miniertheit getreu, vergegenwärtigen müssen, daß keine Erklärung auf diesen
Namen Anspruch erheben darf, die uns nicht verstehen läßt, warum sich
die Sprachdifferenzierung gerade zwischen den Geschlechtern entwickeln
mußte. Unser Erklärungsversuch wird demnach diese, die sexuellen Fak-
toren in ihrer seelischen Wirksamkeit berücksichtigen müssen.
Wir kehren also vorerst zu .unserer Materialsammlung zurück, um hier
eine Bemerkung einzufügen. Wir haben Beispiele der Variationen von
Frauen- und Männersprachen wahllos den Autoren entnommen, die sich
mit diesem Problem beschäftigten. Jetzt aber sind wir genötigt, darauf hin-
zuweisen, daß im Material selbst deutlich'ersichtlich wird, daß es eigentlich
zwei große Gruppen und nicht eine Gruppe von Begriffen sind, bei denen
sich die Sprachvariierung vollzieht. Die Autoren selbst haben ihre Beispiele
unterschiedslos aus beiden Gruppen gegriffen und wir sind diesem Ver-
fahren. vielleicht allzueifrig und autoritätsgläubig gefolgt. Dieses Durch-
einanderwerfen von Beispielen aus den zwei scharf getrennten Gruppen
von zu vermeidenden Ausdrücken hatte eine fatale Folge. Die Ethnologen
haben sich um einen wesentlichen Gewinn gebracht, sie haben sich: den
Weg zur Erklärung selbst verschlossen. Welches sind nun diese beiden
Gruppen von Wörtern und Ausdrücken? Wir wollen dies durch die An-
führung repräsentativer Beispiele klar machen. Unter den Gudangs in
Queensland und den Kowraregas des Prince of Wales Island vermeidet
es ein Mann sorgfältig, den Namen seiner Schwiegermutter zu erwähnen
und seine Frau verhält sich ähnlich in bezug auf den Namen ihres
Schwiegervaters. Unter manchen Stämmen von Viktoria darf der Schwieger-
sohn .mit der Schwiegermutter nicht sprechen und wenn einer von ihnen
zu. anderen Leuten in Anwesenheit des andern spricht, verwenden sie eine
besondere Art von Sprache, welche die Engländer „turn tongue“, also um-
gekehrte Sprache, nennen. Der Autor, der dies berichtet,’ fügt hinzu, daß
ı) J. Dawson: Australian Aborigines. p- 29.
. |
306 Flora Kraus
dies keineswegs geschieht, in der Absicht, den Sinn ihrer Worte zu ver-
hüllen, denn diese Art der Sprache war jedermann bekannt. Dieses Bei-
spiel möge für die erste Gruppe der Sprachendifferenzierung stehen. Wenn
aber die Suahelifrauen verschiedene Körperteile und andere Dinge mit Aus-
drücken bezeichnen, welche die Männer nicht verstehen, so müssen wir
diese Art der Frauensprache von der ersten Gruppe scharf unterscheiden,
Es ist klar, daß im ersten Falle die Sprachvariierungen durch die Familien-
beziehungen bedingt sind, Es handelt sich dabei z. B. für die Frau darum,
den Namen ihres Schwiegervaters, ihrer Schwäger oder selbst den des Groß-
vaters ihres Mannes zu vermeiden, Sie wählt dann andere Ausdrücke dafür,
altertümliche Worte, Ausdrücke eines anderen Dialektes oder Umschrei-
bungen, wie wir dies in jener Kirgisenanekdote gehört haben. Was soll
dies nun bedeuten? Wir erinnern uns, daß Crawley die Entstehung der
Frauensprache auf ein Tabu zurückführt, ohne uns Näheres über die psychi-
schen Grundlagen dieser Bräuche zu sagen. Wenn wir den Freudschen
Ausführungen über die Motive der Exogamie bei den Primitiven folgen,
erkennen wir, daß jene so geheimnisvollen Tabugebräuche letzten Endes
die Fortentwicklung von Maßregeln darstellen, die der Inzestvermeidung
dienen. Der Name nun hat für die Wilden eine ganz ähnliche Bedeutung
wie für die Kinder und das Aussprechen eines solchen verpönten Namens,
wie etwa des Namens der Schwiegermutter, ist ‘demnach gefährlich, weil
es die Gefahr des Verbotenen inzestuöser Beziehung heraufbeschwört. Es
ist etwa so, als würde sich der Mann gegen die Versuchung einer solchen
inzestuösen Verbindung dadurch schützen, daß er nicht einmal den Namen
des verbotenen Objektes ausspricht. Die @voidance (Vermeidung) des verr
botenen Objektes, die sich in so vielen Sicherungsmaßregeln: Ausdruck
geschaffen hat, hat sich selbst auf das Aussprechen des Namens ‘erstreckt,
das gleichsam eine magische Berührung des Objektes darstellt. Wir brauchen
nicht weit zu gehen, um die magische Natur solchen Namensaussprechens
in unseren Kulturbreiten in Spuren wieder zu finden. Ist es nicht gewisserr
maßen eine magische Prozedur, wenn die Frau den Namen des Geliebten
zärtlich ausspricht, als wollte sie ihn herrufen? Wir erkennen so, daß ein
bestimmter Teil der gesonderten Frauen- und Männersprache auf die Ver-
meidung der Bezeichnung der inzestuösen Objekte zurückzuführen ist. Wir
verstehen es nun auch aus der Wirkung der psychischen Mechanismen der
Verschiebung und Verallgemeinerung, daß selbst Silben; welche in jenen
verpönten Namen vorkommen, oder an solche lautlich anklingen, vermieden
werden müssen. Die Beispiele aus der „Psychopathologie des Alltagslebens“ -
Die Frauensprache bei den primitiven Völkern Er 207
zeigen uns in den Erscheinungen des Vergessens unlustbetonter Namen
dieselben Mechanismen, die auch dort manchmal nur ähnlich lautende
-Silben vergessen lassen. Denken Sie nur an das berühmte Beispiel aliguis
bei Freud. Der Vater des Mannes und die Schwäger sind für die junge
Frau wirklich Ersatzpersonen ihrer frühesten Liebesobjekte und sie schützt
sich gegen das Auftauchen der Versuchung durch immer ausgedehntere
und spezialisiertere Schutzmaßregeln. Jene Vermeidung des Aussprechens
bestimmter Silben würde demnach einem Abwehrsymptom, einer Schutz-
maßregel gegen eine Situation, welche die Versuchung nahe bringen könnte,
entsprechen und ist unter der Wirkung .derselben Mechanismen der Ver-
schiebung auf ein Kleinstes entstanden... Ich verdanke Dr. Reik die Mit-
teilung eines Falles, in welchem ein junger Mann sich in der Analyse auf
das äußerste weigerte, den Namen seiner. Schwägerin zu nennen. In die
Enge getrieben, gebrauchte er Umschreibungen wie: „die Frau meines
Bruders“ oder bat den Analytiker, doch an die weibliche Hauptperson der
Oper „Lohengrin“ zu denken. (Die Schwägerin hieß Elsa.) Vergleichen Sie,
bitte, dieses neurotische Namentabu, das sich auf die Zurückweisung einer
unbewußten Neigung zu. jener Schwägerin gründet, mit einem Beispiel aus
der Sprachgewohnheit der Wilden. Die Tabus, welche die Namen von Per-
sonen, die durch Heiraten miteinander verwandt wurden, betreffen, sind
in Melanesien besonders strenge. Ein Forschungsreisender' berichtet folgen-
des:* Ein Mann sprach zu ihm bei einer Gelegenheit von seinem Hause
als von einem Dach und, .als dies nicht verstanden wurde, ging ‘er hin
und berührte es mit seiner-Hand, um zu zeigen, was er meinte. Da auch
hier sich noch Schwierigkeiten erhoben, sah er sich scheu um, um sich
zu vergewissern, daß niemand nahe war, und flüsterte dann nicht etwa den
Namen seiner Schwiegertochter, sondern den respektvollen Ersatz für ihren
Namen amen Mulegona (sie, welche mit seinem $ohn- war). In ihrem
Namen kam nämlich das Wort Haus vor. Wir würden uns, wenn wir die
Erfahrungen aus der analytischen Praxis auf die Völkerpsychologie anwenden,
getrauen, eine begründete Vermutung darüber zu äußern, was jene eigen-
.‚tümliche Redeform des turn tongue bedeute, Sie entspricht jener unauf-
richtigen, gekünstelten und „verstellten“ (turn tongue!) Redeform, die wir
beobachten können, wenn Verwandte, deren Beziehung zueinander : unter
dem Zeichen der verstärkten Ambivalenz stehen, in Gegenwart von anderen
miteinander sprechen müssen. Auch unter den Kulturmenschen gibt es ein
ı) Nach Frazer: Taboo etc, p. 345-
308 Flora Kraus
Namenstabu der Verwandten durch Heirat, das sich als Ausdruck ambi-
valenter Strebungen erklärt; wir kennen Fälle, in denen sogar Mann und
Frau es vermeiden, einander mit Namen anzureden. Manches ‘Ehepaar
würde es als weise erkennen, dem Tabu des Aussprechens der Namen zu
folgen, das den Wilden verbietet, ım Gespräch die Namen seiner durch
‘Heirat erworbenen neuen Verwandten zu erwähnen. |
Die zweite Gruppe von Worten und Ausdrücken, die bei Männern und
Frauen verschieden sind, sind weit schwerer zu fassen. Es sind Bezeich-
nungen von Körperteilen, bestimmten physiologischen Vorgängen, Personen
und Dingen. Wir stehen dieser Mannigfaltigkeit ratlos gegenüber. Wir
werden leicht zugestehen können, daß die Unterschiede der Beschäfti-
gungssphären einen Einfluß auf die Bildung bestimmter Sondersprachen
'haben müssen. Wir sehen ja und Frazer hat dies auch bei den Primj-
tiven mit einer großen Anzahl von Beispielen belegt, daß bestimmte
Berufe, wie Fischer, Jäger, Vogelsteller usw. bei den Wilden einen be-
stimmten Dialekt entwickelt haben, der den Außenstehenden unbekannt ist.
Wir erkennen in diesen Berufsjargonen den Keim zu späteren Bildungen
wie der Kaufmannssprache, der Priestersprache und der wissenschaftlichen
Terminologie. Frazer belehrt uns auch darüber, daß in diesen Berufs-
dialekten die Vermeidung von bestimmten Worten zum großen Teil aus
abergläubischen Gründen eine große Rolle spielt. So sehr wir durch solche
Berufsdialekte an unsere Frauensprache erinnert werden, so haben wir doch
zu berücksichtigen, daß noch ein anderes, tiefer in der Geschlechtsdifferenz
begründetes Moment in. der Entstehung der Frauensprache neben dem
sozialen und wirtschaftlichen hereinspielen muß. Wir wollen davon aus-
gehen, daß diese zweite Gruppe der Variationen im Gegensatz zur ersten
offenbar die Tendenz verfolgt, eine Geheimsprache zu bilden, die nur einem
bestimmten Kreis von Personen vertraut ist. Wenn eine Dame’ aus dem
australischen Busch den Namen ihres Schwiegervaters vermeidet und dafür
einen anderen Ausdruck wählt, so wissen doch auch die Männer, wen sie
meint. Anders steht es — von einer bestimmten später zu besprechenden
Abart von Worten ‘abgesehen — mit der zweiten Gruppe. Die Frauen-
‚sprache dient dann dazu, sich. miteinander zu verständigen, ohne daß die
Männer den Sinn des Gesprochenen verstehen. Es ist leicht zu erraten,
von welcher Art die Dinge ursprünglich gewesen sein müssen, welche die
‘Frauen vor den Männern geheim zu halten wünschen, Es müssen im
Grunde genommen dieselben sein, welche noch die moderne Kulturfrau
im Gespräch mit Männern geheimzuhalten wünscht oder zumindestens zu
Die Frauensprache bei den primitiven Völkern 309
umschreiben liebt; also Vorgänge und Dinge, die gerade mit der Tatsache
des Weibseins zusammenhängen. Wir wollen uns später mit dem Einwand
beschäftigen, der sich hier leicht erhebt und dahin lautet, daß die Varia-
tionen der Männer- und Frauensprache keineswegs nur sexuelle Funktionen
betreffen und wollen uns lieber den in unserer Kulturwelt herrschenden
Gebräuchen zuwenden. Wenn Frauen miteinander über sexuelle Themen
sprechen, werden sie andere Ausdrücke verwenden, wie wenn sie mit
Männern darüber reden; ebenso Männer untereinander und Männer Frauen
gegenüber. Wir wissen, daß das Tabu des Geschlechtes in unseren Kultur-
schichten so weit geht, daß solche Themen möglichst vermieden werden;
werden sie aber doch besprochen, so werden die Frauen möglichst die
Männerbezeichnungen für sexuelle Worte vermeiden und andere möglichst
harmlose Umschreibungen gebrauchen. Wir denken da z. B. an euphe-
mistische Umschreibungen, wie „Unwohlsein“, „Besuch haben“, „schlechtes
Wetter“ für Menstruation, „in der Hoffnung sein“ und ähnliche Ausdrücke
für Schwangerschaft usw. Es bedeutet sicher ein Rückgreifen auf die Kinder-
sprache, wenn z. B. die exkrementellen Funktionen manchmal mit eins
oder zwei bezeichnet werden. Diese Vermeidungen und Umschreibungen
sind international. Ich bin Dr. Th. Reik für die Mitteilung folgender fremd-
sprachlicher Beispiele aus der analytischen Praxis verbunden: Paffaire für
Penis, le bouton electrique für Klitoris, Zabyrinthe für Vagina. Diese Aus-
drücke gebrauchten zwei Schwestern, junge Mädchen, im Gespräche mit-
einander, wenn sie fürchteten, belauscht zu werden. Eine englische Patientin
Reiks bezeichnet die Menstruation mit: „the curse descended upon me.“ Die
Herren der Gesellschaft wissen am besten Bescheid, welche Ausdrücke ver-
schiedener Art, die sich sicher von den Frauenbezeichnungen unterscheiden,
auf diesem Felde in Herrengesellschaft üblich sind. Es ist klar, daß es neben
diesen Ausdrücken wirklich spezifische, nur von Frauen häufiger gebrauchte
Worte gibt. Wenn uns berichtet wird, daß bei den Tschokta-Indianern einige
Worte wie „Pfui!“ (ehwak!) nur von Frauen gebraucht werden, so ist der Ver-
gleich mit Sprachwendungen des schwächeren Geschlechtes unseres Europas
nicht so ferne liegend. Der englische Ausruf skoking! oder das französische fi
donc! werden auch von Frauen ungleich häufiger verwendet als von Männern.
Wir würden erstaunt sein, wenn wir einen Mann sagen hörten, er fände
eine andere Person „schrecklich schön“ oder „furchtbar süß“, welche Aus-
drücke die Backfischsprache kennt.” Wir wollen zu dem Einwand zurück-
ı) Es ist durch unsere Auffassung leicht verständlich, wenn berichtet wird, daß
die Männer ein Gespräch der Frauen in der Frauensprache wiedergeben. Sie imitieren
Imago X. 2 u3z ah
zı0 Flora Kraus
kehren, dessen Erledigung wir aufgeschoben haben: nämlich, daß die speziellen
Ausdrücke der Frauen- und ‚Männersprache in ihren Differenzierungen
keineswegs nur sexuelle Dinge betreffen. Die psychoanalytische Anschauung
läßt uns indessen verstehen, wieso auch diese nicht verpönten, harmlosen
Worte verändert oder vermieden werden müssen. Lautliche oder gedank-
liche Assoziationen werden auch diese ursprünglich harmlosen Worte in
das Reich des Verbotenen ziehen, wie wir .dies auf individualpsychologi-
schem Gebiet an so vielen Beispielen der Freudschen „Psychopathologie
des Alltagslebens“ studieren können. Hier, wie in den Fällen von Vergessen
und Versprechen wirken die seelischen Mechanismen der Verschiebung und
Verallgemeinerung störend ein; auch hier gehen lautliche Assoziationen,
welche gedankliche verdecken, von einem Worte zum andern. Ich erinnere
Sie an das typische Beispiel von Stottern und: Erröten bei einem Gym-
nasiasten, der die Anfangszeilen des Platenschen Gedichtes zu rezitieren
hatte:
„Nächtlich am Busento lispeln
Bei Cosenza dumpfe Lieder.“
Das zu vermeidende und störend auftauchende Wort ist Busen.
Nun werden wir auch manches aus unserem Material besser verstehen.
Wenn die Ethnologen über die (Greheimspräche der Wasuaheli berichten,
daß die Männer nicht wissen, wie die Frauen bestimmte Dinge bezeichnen
und daß die Frauen in dieser Geheimsprache über ihr Frauenleiden
sprechen, so ist uns der Grund klar. Ebenso wird es verständlich, wenn
von einem andern Stamme erzählt wird, daß die jungen Mädchen damit
beschäftigt sind, immer neue Wörter zu erfinden und ein neues System
auszudenken, das sie nur ihren intimsten Freundinnen mitteilen. Es ist
mir ein Fall:bekannt, daß ein Freundinnenkreis in Wien — also weit ab
von den ostafrikanischen Wilden — eine solche Geheimsprache ausgebildet
hat, um unverstanden über Sexuelles sprechen zu können. :Wenn uns
berichtet wird, daß ein förmlicher Unterricht in der Frauensprache bei
manchen Stämmen erfolgt und daß die alten Weiber die Mädchen unter-
richten, so ist leicht zu verstehen, daß die Muttergeneration solche Unter-
weisung, die ja ein Gebot der primitiven Schicklichkeit ist, unternimmt.
Es entspricht durchaus den he. Jeder die wir aus der
Seel die RAET«: der Frauen, wie dies manchmal zur LEN "Charakterinig
rung wohl noch von den Herren jetzt geschieht. Rochefort sagt ja ausdrücklich von
den Insel-Karaiben, daß die Frauen eigene Worte und Ausdrücke haben, welche die
Männer nicht gebrauchen „a moins que de se faire moquer“, ni
analytischen Erfahrung haben, wenn 'wir ‘hören, daß die 'Suahelifrauen
symbolische :Bezeichnungen zur Verdeutlichung obszöner Dinge haben und
daß in ihrer, Geheimsprache ' die-Vagina, Hof, -Muschel oder Weib heißt,
was völlig mit der Traumsymbolik. übereinstimmt. Nur: unter . den : Ge-
sichtspunkten unserer Erklärung wird ‚die. Tatsache verständlich; daß die
Sprache der Männer und Frauen im allgemeinen dieselbe ist, und daß nur
ein beschränkter Kreis von Ausdrücken bei den: Geschlechtern variiert.
Auch die stete Umbildung und Umgestaltung der Frauensprache erscheint
uns in. ihren. Motiven klar, wenn wir bedenken, daß bei längerem Be-
stehen bestimmter Ausdrücke die : Männer ihren Sinn verstehen lernen.
Nähere ethnologische Untersuchungen, ‘welche unsere psychoanalytischen
Gesichtspunkte berücksichtigen können,. würden‘ bei genauerem Studium
sicherlich unsere Ansicht bestätigen können.: Wir :sehen, daß Crawleys
Erklärungsversuch des sexuellen "Fabu: durchaus berechtigt ist, aber einer
analytischen Vertiefung . bedarf. ‚Ebenso «ist :Hales Vergleich mit der
Kindersprache zutreffend, erhält: aber.seinen eigentlichen Wert erst durch
den analytischen Nachweis, :wie..er z: B..von Dr. Hug-Hellmuth' und
Dr. Hermann geliefert wurde, daß die Kindersprache ursprünglich den
Zweck hatte, sexuelle Themen zu besprechen, ohne den Erwachsenen ver-
ständlich zu sein. | Ä ! w
Lasch hat die sprachlichen Prozesse selbst, die Mittel, deren sich die
Bildung der Frauensprache bedient, untersucht. und hat dabei die Um:
schreibung und Wortveränderung durch‘ Umstellung,’ Einfügung, Ver-
dopplung von Lauten und Silben besonders hervorgehoben. Es sind! dies
aber dieselben Mittel, die wir in den psychischen Phänomenen des .Ver-
sprechens und Vergessens wirksam sehen. .Dem Auftauchen von Ersatz-
namen beim Namensvergessen würde auf völkerpsychologischem. Gebiete
der Gebrauch‘ der „Wortvermeidung“ mit Ersatzbezeichnung entsprechen.
Wir wissen auch, daß’ sich die Geheimsprachen:derselben Mittel ‘der Ersatz-
bildungen, Silbenveränderungen, ‚Wortumbildungen und. Lautverdopplungen
und -einschiebungen bedienen, wie dies die Frauensprachen der Wilden tun.
Die Be-be-sprache. unserer Kinderzeit z. :B. arbeitet mit dem Vorsetzen der
Silbe be. Sie wissen ‚auch, :daß. der Traum. wie. die Paranoia ähnliche
Wortverbildungen kennt. Ich erinnere Sie nur an Wortverdichtungen wie
norekdal, tutelrein in Freuds „Traumdeutung“. Wir kennen aus der
analytischen Literatur jene Fälle von. Fehlleistungen mit „überkompen-
ı) Freud, Traumdeutung. 4. 'Aufl., $. 221 ff.
21
312 Flora Kraus
sierender Tendenz“, auf die Abraham" hingewiesen hat und die geradezu
die Parallelerscheinung der Frauensprache darstellen. Eine Patientin
Abrahams entstellte die Worte parterre und Kondolenz zu partrerre und
Kodolenz, um den in ihrer Assoziation naheliegenden Woten pater und
Kondom auszuweichen. Ein anderer Patient hatte die Neigung, anstatt
Angina jedesmal Angora zu sagen, weil er die Versuchung fürchtete,
Angina durch Vagina zu ersetzen. Diese Versprechen entsprechen als indivi-
duelle Erscheinungen durchaus der Frauensprache in ihren tiefer liegenden
Motiven wie in ihren psychischen und sprachlichen Mechanismen. Diese
Art des Versprechens kommt also dadurch zustande, daß an Stelle der ent-
stellenden eine abwehrende Tendenz, welche die Versuchung des Aus-
sprechens verpönter Worte hemmt, die Oberhand behält. Abraham hat mit
Recht auf die Analogie dieses Vorganges mit den Symptombildungen der
Z,wangsneurose hingewiesen. Wir wissen durch Freuds „Totem und Tabu“,
wie zahlreiche soziale Institutionen, darunter gerade die Ausbildung von
Sitten und Bräuchen der Gemeinschaft, sich nach denselben psychischen
Gesetzen formen und entwickeln, welche die zwangsneurotischen Gesetze-
beherrschen.
Wir haben die Entstehung gesonderter Frauen- und Männersprache auf
die Wirkung bestimmter Verdrängungsfaktoren zurückgeführt, und es könnte
hier der bedrohliche Einwand auftauchen, es handle sich ja um primitive,
kulturell tiefstehende Völker, denen ein so ausgebildetes Gefühl für soziale
Schicklichkeit im Gespräch mangle. Vergessen wir indessen nicht, worauf
Freud hinwies, daß diese primitiven Völker durchaus keine jungen Völker
sind. Auch ihre Entwicklung steht im Zeichen der Verdrängungsverstärkung
und sie haben unter diesem Einflusse bedeutsame Kulturvorgänge durch-
gemacht, ehe es zu der von einem primitiven Schamgefühl diktierten
Differenzierung von Männer- und Frauensprache kam. Es mag mit dem
Absinken der Ambivalenz zusammenhängen, wenn in unserer Kultur jene
Wortvermeidungen, die sich auf Verwandte beziehen, verschwunden oder
vielmehr nur in Spuren nachweisbar sind. Jene anderen aber, die sich auf
Verdrängung sexuell bedeutsamen Sprachmaterials zurückführen ließen,
leben noch unter uns wie bei den Wilden und sind vielleicht noch aus-
gebreiteter geworden.
Professor Freud hat in „Totem und Tabu“ gezeigt, wie viel von der
in unserer Gesellschaft lebenden Etikette auf das Konto der Verdrängung
ı) Internationale Zeitschrift für Psychoanalyse, VIII, 1922.
Die Frauensprache bei den primitiven Völkern. | 313
starker sexueller Tendenzen zu schreiben ist und in welchen primitiven
und doch sehr entwickelten Erscheinungsformen sich solche Etikette bei
unseren wilden Vettern äußert. Die Differenzierung von Männer- und
Frauensprache darf hier eingereiht werden; sie zählt ebenfalls zu jenen
Formen des savoır vivre, welche unsere Gesellschaft mit den Wilden
Australiens und Afrikas im wesentlichen gemeinsam hat. Ich werde
zufrieden sein, wenn es mir geglückt ist, Ihnen in diesem kleinen Beitrag
gezeigt zu haben, daß die verdrängten Tendenzen der Sexualität auch
sprachumbildend und sprachschöpferisch wirksam sind.
Über Tabu und Mystik
Von Adolf Arndt (Marburg)
I Fr
In seiner Schrift „Iotem und Tabu“ hat Sigmund Freud mit großem
Erfolge einige seltsame Übereinstimmungen im Seelenleben der sogenannten
Wilden und dem der Neurotiker dargelegt. Es darf wohl ausgesprochen
werden, daß diese Psychoanalyse des Totem und des Tabu bisher das meiste
Licht in jene dunklen Gebiete der Völkerkunde geworfen hat. Man hates
aber bislang so hingestellt, als eigneten diese Begriffe in unverwandelter
Reinheit nur eben jenen Wilden. Allerdings ist erfolgreich der Versuch ge-
macht worden, das Dasein des Tabu auch für alle anderen Völker nach-
zuweisen, es sei nur an J. Ferguson Mc. Lennan erinnert; doch immer
stellte man das Gebundensein an Tabuverbote als eine in unvordenklicher
Vorzeit durchschrittene Entwicklungsphase dar und glaubte es in unserer
Zeit nur noch in gänzlich verwandelter und veredelter Form etwa in Gestalt °
des kategorischen Imperativs vorhanden. Um so erstaunter werden wir sein
zu sehen, daß wir aus den Schriften der Magier und Alchimisten des
Mittelalters ein so völliges und reines Verzeichnis der Tabuvorschriften zu-
sammenstellen können, daß man glauben könnte, in Frazers verdienst-
voller Sammlung „The golden bough“ zu lesen. Wir werden dadurch zunächst
den Nachweis erbringen, daß die Erscheinungen des Tabu in gleicher Art
und Form ein Gemeingut aller Menschen und Zeiten,sind, also keine Massen-
psyche supponiert zu werden braucht, sowie ferner durch diesen Nachweis '
die Berechtigung der Freudschen Methode zur Untersuchung dieser Fragen
stützen, da ja nun das Tabu auch eine Erscheinung unserer Geschichte und
Seelenentwicklung ist, sowie sogar die Okkultisten des Mittelalters selber,
wie wir sehen werden, diese Zaubervorschriften in engsten Zusammenhang
mit den Geisteskranken bringen. Vor allen Dingen aber hoffen wir, durch
| . Über Tabu und Mystik | | zu:
diese Untersuchung zur Klärung der okkultistischen Frage beizutragen, die
doch eine Frage unserer Zeit ist, und dadurch, daß wir :nun auch die Fr-
scheinung des Tabu mit den an den Okkultismus und Mystizismus an-
knüpfenden Phänomenen in Verbindung bringen können, vielleicht nicht
Unwesentliches zur Aufklärung des Tabu beitragen können.
Die Schrift, der wir den Tabukanon des mittelalterlichen Mystizismus ent-
nehmen werden, ist die „Philosophia occulta“ des Agrippa von Nettes-
heim. Es sei über sie zunächst bemerkt, daß sie’ ins Deutsche übersetzt erst
jüngst im Jahre ı916 im Verlag Barsdorf, Berlin, schon in dritter ‚Auflage
erschien, also sich in zahlreichen Händen befindet und, wie wir nach den
Anmerkungen des Übersetzers annehmen müssen, noch heute viele Menschen
die dort angegebenen aberwitzigen Experimente versuchen. Auch ist es
vielleicht nicht unwichtig, zuvor etwas über Agrippa selbst und die Be-
deutung seiner Schrift‘ zu erfahren. Agrippa von Nettesheim (geboren
ı486 Köln, gestorben 1555 Grenoble), aus altadeligem . Geschlecht, war
keineswegs irgend ein ungeachteter und alberner Gaukler, sondern umfaßte
die ganze Bildung seiner Zeit und stand mit hervorragenden Gelehrten wie
Erasmus und Melanchthon im Briefwechsel. Papst Leo X. richtete selber an
ihn ein Schreiben, Kardinäle verteidigten ihn gegen den Vorwurf der Ketzerei
und der Erzbischof von Köln nahm die Widmung der „Philosophia
occulta“ an. Franz I.. der Kanzler des Kaisers, der König von England und
Margaretha von Österreich beriefen ihn gleichzeitig an ihre Höfe. Franz I.
setzte'ihm sogar eine Pension aus und machte ihn zum Leibarzt der Königin-
mutter. Kaiser Maximilian I. ernannte ihn zum kaiserlichen Rat, Hauptmann
in der kaiserlichen Armee und schlug ihn auf dem Schlachtfelde zum Ritter.
Agrippa beherrschte acht Sprachen, war Doktor beider Rechte und der
Medizin und kannte die ganze Literatur von Pythagoras ‚und Platon bis zu
Albertus Magnus und Roger Baco, besonders natürlich: die Mystiker.
Die „Philosophia occulta“ verfaßte Agrippa mit vierundzwanzig Jahren
(1510) und gab sie 1531 bearbeitet und ergänzt heraus. Die unstreitige,
geistesgeschichtliche Bedeutung des Werkes wegen seiner imposanten Kon-
struktion eines alleinigen und abgestimmten Weltbildes :festzustellen, kann
hier nicht unsere Aufgabe sein. Es sei aber betont, daß Agrippa, obwohl
er sich noch die Fähigkeit des Goldmachens zuschreibt, durchaus kein un-
wissenschaftlich verzückter Schwärmer ‘war, sondern die Magie in einem
edleren übertragenen Sinn auffaßte und als Lehrer Johann Wiers ein Vor-
kämpfer gegen den Unfug der Hexenprozesse war. Der Wert der „Philo-
sophia occulta“ liegt sowohl im allgemeinen wie auch besonders für uns
316 | Adolf Arndt
darin, daß sie gleichsam eine Enzyklopädie des Okkultismus ist. Daher
zeichnet sie sich aus durch Allgemeinverständlichkeit und vor allem durch
Materialsammlung. Es besteht kein Grund zur Anfechtung der Annahme,
daß wir in den Berichten über Vorstellungen und Bräuche, die nicht auf
einen Autor der Antike als Quelle verwiesen — wie es Agrippa stets aus
Gewissenhaftigkeit und Gelehrtenstolz tut — uralte mündliche Überlieferungen
besitzen. Er hatte ja bei seinem lebenslangen unsteten Wanderdasein, das
ihn in fast ganz Europa heimisch machte, genügend Gelegenheit zum Nach-
spüren dieser Tradition. Allerdings ist es auffällig, daß wir niemals eine
Bezugnahme auf germanisch-vorchristliche Vorstellung finden, obwohl die
antiken und orientalischen Mythen nach Art des Alten Testamentes durch-
aus der neuen Universalreligion gleichsam als Vorformen für ‚.ebenbürtig er-
achtet werden. Doch können wir dieses hinreichend in der Unterdrückung
gerade der nordisch-germanischen Religion durch den Katholizismus für be-
gründet erachten. Nur ein einziges Anzeichen findet sich: Der „Charakter“
des Mars unter der Rubrik „vom Knaben“ — 2 — entspricht genau dem
Buchstaben M als Sinnbild für Mann in der Normanischen Runenreihe der
St. Gallener Handschrift aus dem neunten Jahrhundert. Doch wollen wir
die Beweiskraft dieser Übereinstimmung dahingestellt sein lassen.
II
Das erste, was uns in der „Philosophia occulta“ auffällt, ist ein unbe-
irrter Glaube an das Dasein von Dämonen. Ihre Existenz wird ohneweiters
vorausgesetzt.
Eine zweite Grundlage des Weltbildes der „Philosophie occulta“ ist ein
voll ausgeprägter Animismus, dessen Wahrheit auch keines Beweises bedarf.
Aber darüber hinaus sagt Agrippa: „Jedes Ding hat etwas Furchtbares,
Schreckliches, Feindliches und Zerstörendes, und dagegen etwas Freundliches,
Freudiges, Stärkendes und Erhaltendes“ (Buch I, Kap. ı7). Was bedeutet
dies anderes als eine Umschreibung der Tabunatur eines jeden Dinges? Und
weiter wird gesagt: „Die natürlichen Dinge besitzen eine so große Macht,
. daß sie nicht nur allen ihnen verwandten Gegenständen ihre Kraft erweisen,
sondern auch außerdem denselben eine ähnliche Macht mitteilen, durch
welche diese wiederum auf andere wirken” (Buch I, Kap. ı6). Wir finden
hier also die gleiche Übertragungsmöglichkeit der Tabueigenschaft durch
Berührung, gleichsam auf dem Wege der Infektion, wie bei den Wilden.
Es wird in indifferenter Form positiv die Vorstellung ausgesprochen, deren
W
B- | Über Tabu und Mystik | 317
Negativ sich bei den Neurotikern als delire de toucher findet. Aber es ist
klar, daß man eine gleichartige Angst vor dem Berühren von Gegenständen
empfinden mußte, die eine böse Macht mitteilten. Allerdings hat hier bereits
eine Wertscheidung in gut und böse der geheimen Kraft stattgefunden, wie
sie aber zu der späten Zeit der Aufzeichnung verständlich ist. Die Tabu-
eigenschaft an sich jedoch und die daraus folgenden Gebote entbehren genau
wie bei den Wilden jeder moralischen oder religiösen Begründung, sondern
sind eben einfach da und selbstwirkend, nur daß ein astrologisches Män-
telchen umgehängt wird.
In gleicher Weise finden wir Gradunterschiede in der Stärke des Tabu.
Es sind ebenfalls in besonders hohem Maße tabu Frauen während der
Menstruation, Tote, Eigentum und —- eine neue Erscheinung — Dirnen.
Jünglinge beim Fest der Männerweihe können natürlich nicht erwähnt
werden, da es diese Einrichtung nicht mehr gab. Auch die Potentaten
kommen selbstredend nicht mehr in Betracht wegen der Rationalisierung
des Staatswesens und der Loslösung des Mystizismus vom Alltag. Doch darf _
nicht außer acht gelassen werden, daß Agrippa keineswegs Anspruch auf
Vollständigkeit macht, sondern nur prägnante Beispiele geben will.
Die besondere Intensität des Tabu der Frauen während der Menstruation
findet sich in folgendem Bericht (Buch I, Kap. 42): „Zu solchen Zauber-
mitteln gehört z. B. das Blut von der monatlichen Reinigung, dessen Zauber-
kräfte wir zunächst betrachten wollen. Durch seine Berührung wird der
Weinstock für immer beschädigt, durch sein Hinzukommen wird, wie man
sagt, der neue Most sauer; das von ihm berührte Getreide wird taub; die.
Saaten sterben ab; die Knospen verdorren; das Obst fällt von den Bäumen;
der Glanz der Spiegel wird selbst durch den Blick einer Menstruierenden
matt; die Schärfe der Rasiermesser wird abgestumpft; das polierte Elfenbein
verliert sein schönes Aussehen; das Eisen wird schneller vom Rost verzehrt;
auch das damit in Berührung gekommene Messing wird mit scharfem Gifte
von abscheulichem Geruche und mit Grünspan bedeckt; durch seinen Genuß
werden die Hunde toll und der von ihnen Gebissene mit einem unheil-
baren Gifte angesteckt; die Bienenkörbe sterben aus und bei einer Berührung
ihrer Körbe entfliehen die Bienen; Leinwand, damit gekocht, wird schwarz;
trächtige Stuten abortieren infolge seiner Berührung; die Eselinnen werden
so viele Jahre nicht trächtig als sie mit diesem Blute benetzte Gersten-
körner gefressen haben usw.”
Auch hier haben wir zunächst nur eine indifferente Aufzählung der
Effekte, die das gesteigerte Tabu der Menstruierenden herbeizuführen vermag.
318 | Adolf Arndt
Es ist klar, daß sich in der Praxis natürlich die Menstruierenden den ein-
schneidendsten Beschränkungen unterziehen mußten, um nicht Mißwuchs,
Unfruchtbarkeit und Verderben anzurichten. Offenbar wurden sie so einge-
sperrt, daß nicht einmal ihr Blick irgend einen Gegenstand berühren konnte.
Natürlich bestanden diese Gebote zu Agrippas Zeit seit langem nicht mehr
als allgemeine Satzung. Aus der passiven Beschränkung durch das Tabu war
seine aktive Verwendung als Waffe für die Wissenden geworden.
Was die Art der Effekte anlangt, die das gesteigerte Tabusein der Men-
struierenden hervorruft, so können wir sie in zwei Ärten scheiden: Un-
Fruchtbarkeit und Selbsthilfe. Die Beobachtung der äußerst geringen Kon-
zeptionsfähigkeit während der Menstruation mag früh :die. Unfruchtbarkeit
der Menstruierenden zur Ingredienz ihrer Tabueigenschaft gemacht haben.
Genau wie in der Vorstellung der Primitiven überträgt sich diese gleichsam
durch Infektion. Vielleicht können wir sogar in diesem Unfruchtbarkeits-
effekt einen Selbstschutz sehen. Sobald: wir nämlich Most, Weinstock und
Getreidesamen (der „taub“ wird) psychoanalytisch,' wie es sehr nahe liegt,
als Phallus- und Spermasymbole auffassen, , erhalten: wir folgende Bedeutung:
Eine Befruchtung menstruierender Frauen ist nutzlos, 'also darf kein Beischlaf
mit einer Menstruierenden vollzogen werden. Aüch die Symboleinsetzung
der Spiegel statt der -Augen- ist naheliegend: Man soll eine Menstruierende
nicht einmal (begehrend) betrachten. Die Selbsthilfe durch Abstumpfung der
Rasiermesser und Verrostung des Eisens ist ganz offenbar: :Irgend gefährdende
Gegenstände dürfen nicht in die Nähe einer Menstruierenden gebracht werden.
‚Die ‚Begründung gibt die Tollwutinfektion der Hunde: Der . besondere
Schwächezustand der Menstruierenden sowie Anblick, Geruch und Geschmack
des abgesonderten Blutes -lösen' infizierend die sadistische Triebkomponente
und — tiefer und’ umfassender — Mordgelüste aus.. Die gesteigerte Tabu-
eigenschaft einer Menstruierenden ist also, ganz wie es Freud bei den
Wilden annahm, eine Abwehr.
Völlig analog den : Tabuvorstellungen der Wilden findet sich nun auch
eine Ambivalenz des Tabucharakters. In’ guter Absicht angewandt bildet
nämlich das Blut der Menstruation ein Heilmittel gegen Fieber; und zwar,
worüber wir uns nicht wundern, wenn die Bestreichung damit durch die
Menstruierende selbst an dem Kranken vorgenommen wird, ist das Mittel
besonders wirksam. Ebenso befreit eine Menstruierende die Saaten von Käfern
und Würmern, wenn sie (nicht bei Sonnenaufgang) diese umschreitet. Eine
Menstruierende vermag auch Hagel und Sturm ‘und Blitz zu vertreiben
(d. h. die erotische Tätigkeit der Naturgewalten). Ihre Kraft ist besonders
Über Tabu und Mystik 319
stark in ihrer frühen Jugend und bei abnehmendem Mond.. Auch wird ihr
Blut gegen Epilepsie ‚eingegeben.:In einem Hause, dessen. Türpfosten man
mit ihrem Blut berührt,. wird ‘jede Zauberei vereitelt. Legt man Haare, die
mit Menstruationsblut getränkt sind unter Mist, so werden;dädurch Schlangen
erzeugt, was wiederum die erotische. Bedeutung a werden läßt
(Buch I, Kap. 42). |
Es: könnte eingewandt werden, zum Wesen des Tabu gehöre die auto-
matische Bestrafung. Auch diese ist. vorhanden. Denn! wer 'einer Menstru-
ierenden mit Eisen, Messing oder einem Messer: naht, dessen Werkzeuge
werden schlecht und stumpf. Wer mit dem Blute ‚in Berührung kommt,
wird. mit einem unheilbaren Gifte angesteckt. Ja, wir können sogar Zeu-
gungsunfähigkeit und' Blindheit als Strafen annehmen. -
Ferner finden wir ‘gleichfalls eine ‚besondere Tabustärke lee für
Schwangere, für Kohabitierende und vor allem für . Dirnen.
„Auf gleiche Weise soll-eine, öffentliche Dirne, welche. sich durch Frech-
"heit und Schamlosigkeit :auszeichnet,: mit.derselben Eigenschaft alles ihr
Nahekommende anstecken, und diese es hierauf ‚anderen mitteilen. Man
sagt deshalb, daß derjenige, welcher das Kleid oder, das Hemd einer: Hure
anzieht oder den Spiegel, in dem:sie sich täglich.:beschaut, bei sich hat,
frech, furchtlos, unverschämt und unzüchtig: werde“ (Buch I, Kap. ı6).. Oder
der.-Ölbaum soll sich so wenig mit einer Hure vertragen, „daß, wenn er
von solchen :gepflanzt werde, er entweder. immer unfruchtbar bleibe oder
ganz. verwelke“ (Buch I, Kap. ı8). „Wenn eine Hure in. einem sehr großen
Hause versteckt ist, so fühlt manchmal einer ihre Anwesenheit, ohne daß
er das. Geringste davon weiß“ (Buch I,.Kap. 55).
So äußert sich auch der Ehebrecher durch einen besonderen Gestank
(Buch I, Kap. 55.) In dem gleichen Kapitel, in: dem der Dirne und dem
Ehebrecher ein ;besonderes Fluidum zugeschrieben werden, findet sich hiemit
im Zusammenhang eine bezeichnende Inzestgeschichte: „Von einem Pferde
berichtet Wilhelm von Paris, es habe dasselbe, ohne es zu wissen, mit
seiner Müutter:sich begattet, und als es nachher -dies gemerkt habe, hätte
es sich mit seinen 'eigenen Zähnen seine Geschlechtsteile abgebissen, um
sich gleichsam selber zu bestrafen“ (Buch I, Kap. 55).
‚Ein yollendeter Ödipus-Fall also! Wir sehen hier ferner deutlich, wie die
Inzestschey Wurzel des Tabu -der Mütter ist, bei dessen Übertretung eine
automatische. Bestrafung eintritt. Der Anlaß zur Übertragung auf ein Tier
ist offenbar: es:durfte ein solcher Vorfall unter Menschen nicht einmal
ausgesprochen werden.
——
m
320 | Adolf Arndt
Schließlich erfreuen sich noch die Witwen eines besonderen Tabuseins.
Wenn man die Schamteile heilen will, so muß man aus einem Gewebe
einen Faden ausziehen, ihn mit sieben oder neun Knöpfen versehen und
dabei jedesmal den Namen einer Witwe nennen (Buch I, Kap. 5ı).
In gleicher Weise wie bei den Wilden sind auch die Kranken sowie die
Toten besonders tabu.
„Die Magier verbieten, sich in den Schatten eines Kranken zu stellen oder
den Urin desselben beim Sonnen- oder Mondlicht aufzudecken, weil die
durchdringenden Strahlen des Lichtes, welche schädliche Eigenschaften mit
sich führen, plötzlich den Zustand des Kranken verschlimmern und ihn mit
einer solchen verderblichen Eigenschaft anstecken können“ (Buch I, Kap. 49).
(Hier sind offenbar mehrere Vorstellungen miteinander vermischt und um-
gebogen worden). „Wenn einer nach einem Aderlaß oder nüchtern über
einen Platz geht, wo kurz vorher ein Epileptischer hingefallen ist, so soll
die Krankheit auf ihn übergehen” (Buch I, Kap. 48). Und: „Ein Leichen-
tuch soll die Eigenschaft der Trauer besitzen, und der Strick eines Ge-
henkten soll gleichfalls einige wunderbare Eigenschaften haben“ (Buch I,
Kap. 16). „Auch Eisen, womit ein Mensch getötet ist, rechnet man unter
die Zaubermittel und schreibt ihm wunderbare Wirkungen zu“ (Buch I,
Kap. 42). Gute Wirkungen soll ein solches Eisen besonders als Pferdehuf
und Sporen haben. Auch das Scharfrichterschwert dient zur Heilung. Ferner:
„Wenn ein Frauenzimmer eine Nadel nimmt, sie in den Mist steckt, die-
selbe hierauf mit Erde, worin ein menschlicher Leichnam begraben wurde,
umwickelt und sie in einem Stückchen Tuch, das bei Leichenbegängnissen
gebraucht wurde, bei sich trägt, so soll kein Mann geschlechtlichen Umgang
mit ihr pflegen können, so lange es eine solche Nadel besitzt“ (Buch I, Kap.47).
„Durch Berührung mit der Hand eines zu früh Gestorbenen sollen Kröpfe
und Ohrendrüsengeschwülste geheilt werden“ (Buch I, Kap. 51). Wir denken
hiebei an die Erzählung in den Memoiren berühmter Henker, nach denen
sich viele vornehme Damen Hände und andere Glieder von Gehenkten aus-
baten, was man bisher — also fälschlich — auf sadistischen Fetischismus
hat zurückführen wollen. Ein Spieß, den man aus dem Körper eines Menschen
gerissen und der den Boden nicht berührt hat, beschleunigt schwere Ge-
burten (Buch I, Kap. 51). Mißt man mit einem gleichen Seil einen Toten
und einen Lebenden, so bringt dies letzterem Unglück (Buch I, Kap. 5ı).
Ebenfalls finden wir eine besondere Tabuintensität von Orten und Tieren.
Agrippa sagt zunächst: „Auch die Örter besitzen wunderbare Kräfte
entweder von den in ihnen befindlichen Dingen oder von den Einflüssen der Ge-
> TE En u ZZ
u Über Tabu und Mystik 2
stirne, oder es sind ihnen dieselben auf irgend eine Weise zuteil geworden“
(Buch I, Kap. 48). So erfreuen sich besonders Bordelle einer gesteigerten
Tabuintensität, und Liebende vergraben deshalb dort ihre Ringe usw., „damit
sie an einem solchen Orte gewissermaßen Liebeseigenschaften’ annehmen“
(Buch I, Kap. 48).
Unter den Tieren erfreuen sich einer starken Zauberkraft: Gänse, Frösche,
Stiere, Kater, Fledermäuse, Störche, Schwalben, Hirsche, Raben, Sperlinge,
Tauben, Füchse, Wiesel und Elstern (Buch I, Kap. 44). Wir sehen, daß wir
es besonders mit sogenannten Seelentieren zu tun haben, und ahnen die
Beziehungen zum Totemismus. Auch Maultiere, Habichte und Schlangen
werden genannt: „Bienen, die man mit dem Staub von der Spur einer
Schlange bestreut, sollen dadurch zur Rückkehr in den Bienenstock ver-
anlaßt werden“ (Buch I, Kap. 48).
Vor allem ist auch das Eigentum, ebenso wie bei den Wilden, mit einer
hohen Tabuintensität geladen; zunächst alles, was zum Körper gehört, Abfall,
Nägelabschnitzel (Buch I, Kap. 5ı), Exkremente und der Schatten. Unter
den Exkrementen sahen wir schon die besonderen Eigenschaften des Men-
struationsblutes und des Mistes. Es wird ferner gesagt: „Ein Mittel gegen
alle Zaubergifte soll es sein, wenn einer von seinem Urin sich morgens
auf den Fuß träufelt“ (Buch I, Kap. 51). Die Zauberer sehen darauf, „daß
sie den Bezauberten mit ihrem Schatten decken“ (Buch I, Kap. 49). Auch:
der Speichel nimmt eine besondere Stellung ein. Man soll sich in die Hand
spucken, wenn einen ein Wurf oder ein Schlag gereut; sich in den rechten
Schuh spucken, wenn man einem gefährlichen Ort naht; zum Schutz vor
Ansteckung mit epileptischen Krankheiten ausspucken; sich in den Schoß
spucken als Abbitte für eine zu kühne Hoffnung (Buch. I, Kap. 51). Wir
sehen hier die gleichen Reinigungszeremonien, wie wir sie bei den Wilden
finden. Heißt es ja auch ferner bei Agrippa, daß das Licht die finsteren
Dämonen vertreibe: „Deshalb haben die ersten und weisen Stifter der Reli-
gionen und Zeremonien die Anordnung getroffen, daß man nur bei ange-
zündeten Lichtern beten, Psalmen singen und heilige Handlungen ver-
richten dürfe. Hieraus erklärt sich das Symbol des Pythagoras: Sprich von
Gott nicht ohne Licht. Daher kommt auch das Gebot, zur Vertreibung der
bösen Geister bei den Leichen Lichter und Feuer anzuzünden und sie nicht
eher zu entfernen, als bis die Toten nach vorangegangener Weihe zur Erde
bestattet werden“ (Buch I, Kap. 5). Sowie: „Auch in religiösen Dingen ist seine
(des Wassers) Kraft sehr groß, namentlich bei Weihungen und Reinigungen,
und es ist hier nicht minder notwendig als das Feuer“ (Buch I, Kap. 6).
522 | Adolf; Arndi
Auch die Sprache und der Blick haben eine besondere Kraft. Die Worte
„führen nicht allein den Gedanken, sondern auch die Kraft des Sprechenden
mit sich, der sie den Zuhörenden mit einer gewissen Energie zusendet, und
zwar öfters: mit einer solchen Gewalt, daß sie nicht bloß die Zuhörer ver-
ändern, sondern auch andere Körper und leblose Dinge“ (Buch I, Kap. 69).
Die Bezauberung geschieht ferner vornehmlich durch die Augen, indem
durch den. Blick der Geist in den anderen eindringt, von seinem Herzen
Besitz nimmt „und als ein fremder Geist ‘den Geist des anderen ansteckt“
(Buch I, Kap. 50).
Besonders ist natürlich der Eigenname, als das erste Eigentum, verstärkt
tabu. So behaupten die Magier, „die Eigennamen der Dinge seien gewisse
Strahlen derselben, die stets überall gegenwärtig sind und die Kraft der
Dinge bewahren, insofern das Wesen der bezeichneten ‘Sache in ihnen
herrscht und die Dinge durch sie wie durch eigene und lebendige Bilder
erkannt. werden“ (Buch I, Kap. 70). Die Eigennamen der Dinge gehen aus
den Eigenschaften ihrer Einflüsse und ihrer Körper hervor. Der Anruf bei
den Namen ist ein wesentlicher Bestandteil einer Zauberhandlung.
Schließlich sind auch alle Gesänge, Formeln (Buch I, Kap: 72) und die
Schrift in hohem Maße tabu (Buch I, Kap. 73). In gleicher Weise sind es
Zahlen, Musik und Gestirne, die in. engstem Zusammenhang gebracht
werden (Buch II). |
Die Erwähnung einer verstärkten Tabuintensität der Fürsten finden sich
nur an einer Stelle: „So erfreut das milde oder heitere Gesicht eines Fürsten
die ganze Bevölkerung einer Stadt, eine ‘düstere oder traurige Miene aber
erschreckt dieselbe“ (Buch I, Kap. 52). |
Ein Tabu der ‚Geistlichen findet sich naturgemäß nicht, oil auch für
die Magier ist ein solches nicht ausdrücklich erwähnt. Wir können’ aber
diese Lücke ergänzen durch .Heranziehen einer Zeremonie, die noch heute
besteht: der Ordination der katholischen Kirche. Meines Wissens’ ist diese
bisher noch nicht dahin analysiert worden. Der katholische Geistliche muß
sieben Stufen (ordines) durchlaufen, ehe er durch Erreichung des siebenten
Grades Priester wird. Die Zeremonie 'der siebenten Ordo ist eine Hand-
auflegung mit den ‚Worten: „Accipe spiritum sanctum.“ Diese Handauf-
legung darf nur von einem vom Papste ordinierten Bischof vorgenommen
werden, so daß mittelbar alle katholischen Priester durch Berührung mit
dem Papste und dadurch wiederum nach der Legende der katholischen
Kirche mittelbar mit Petrus durch Handauflegen verbunden werden, Diese
Zeremonie gibt dem Priester’ einerseits erst das Recht zum Meßopfer und
wi
11)
|
Über Tabu und Mystik
zur Verwaltung der Sakramente, anderseits verleiht sie ihm den Charakter
indelebilis. Dieser bedeutet, daß der Priester durch'keine Macht der Welt,
durch keine Sünde und kein Verbrechen seine Priestereigenschaft verlieren
kann. Dieser uralte Brauch erhielt seine dogmatische Ausprägung durch
Thomas von Aquino. er;
Wir haben es also bei der Ordination erstens mit einer Infektion eines
Fluidums vermittels Berührung zu tun. Zweitens entbehrt die Existenz und
Intensität dieser Eigenschaft jeder religiösen oder moralischen Begründung.
Sollte das nicht ein Tabu in Reinkultur sein? Denn die Ambivalenz des
Tabu kann natürlich nicht hervortreten, da der katholische Priester nach
Art des Christentums nur Heil wirken kann. Auch die automatische Bestrafung
ist nur verschoben: Fegefeuer und Hölle. Und sollte nicht schließlich der
katholische Priester mit einem ungeheuren Tabuübergewicht ausgerüstet
sein, da er die Kraft hat, anderen Menschen Absolution zu erteilen?
II
Wir fanden also in der „Philosophia occulta“ des. Agrippa von Nettes-
heim, um es in der Sprache der Australier zu sagen, sowohl den Begriff
des Tabu als einer unmittelbaren, ambivalenten Kraft jeden: Dinges als
auch eine den Anschauungen. der Primitiven entsprechende Gradverschieden-
heit der Tabuintensität und schließlich ebenfalls den Bräuchen der Wilden
verwandte Tabuverbote, deren Übertretung sich unmittelbar oder mittelbar
selbstwirkend bestraft, und Tabuzeremonien. Es ist dabei unseres Erachtens
natürlich selbstverständlich, :daß diese Vorstellungen und Handlungsanwei-
sungen bei Agrippa von Nettesheim ‘in den Mantel seiner okkultistischen
Weltanschauung eingekleidet und in Ausdruck und Begründung mit der
Sprache und den Kausalitätsanschauungen seines Spezialgebietes, der Magie,
und zwar insbesondere der astrologischen, in Einklang gebracht werden.
Wir dürfen uns deshalb daran ‚nicht stoßen, wenn die Tabueigenschaft bei
Agrippa von Nettesheim scheinbar oft nicht aus eigener Macht besteht,
sondern astrologisch bedingt ist, da wir. diese Begründung leicht als eine
spätere teleologische und literarisch 'beeinflußte Konstruktion erkennen, ob-
wohl sicher ein genetischer Zusammenhang, zwischen Tabu und Astrologie
— nur in umgekehrter Folge als bei Agrıippa — besteht und nicht ohne
Bedeutung ist. Wir können schließlich auch nicht erwarten, die Tabugebote
und -strafen in. ihrer reinen und kategorischen ' Imperativform wie in
Australien oder Afrika zu finden, da selbstverständlich diese in einer okkultis-
324 | | Adolf Arndt
tischen Enzyklopädie zu Beginn der Neuzeit in nur umgewandelter und
ihrer Aktivität beraubter Form auftreten können, deren einstige Gestalt
wir eben durch Rückschlüsse wiederherstellen müssen.
Welche Vorteile und Aufschlüsse kann uns nun diese Feststellung des
Auftretens des Tabu in der mittelalterlich-okkultistischen Weltanschauung
gewähren?
Zunächst ist dadurch der Beweis erbracht, daß das Tabu nicht alleiniges
Eigentum der Primitiven ist, sondern auch in gleicher Weise bei den
Völkern der abendländisch-europäischen Kultur sich gefunden hat und —
findet. Denn es führt eine ununterbrochene Entwicklungsfolge von jenen
mittelalterlichen Magiern zu den modernen Okkultisten, Theosophen, Anthro-
posophen und Spiritisten, die ja sogar im allgemeinen jene mittelalterlichen
und antiken Autoren, auf die sich Agrippa von Nettesheim stützt, als
autoritativ anerkennen. Auch sehen wir sofort, daß eine große Anzahl der
angeführten Bräuche — ausspucken, Lichtanzünden usw. — sich noch
heute in unveränderter Form im modernen Aberglauben findet, sowie vor
allem die Zeremonie der Priesterordination der katholischen Kirche unver-
wandelt fortdauert, so daß also das Tabu nicht nur in der veredelten und
vertieften Gestalt des kategorischen Imperativs der Philosophie, sondern
noch unter uns in völliger Reinheit besteht.
Mit demselben Recht, mit dem sich die. Psychoanalyse den modernen
Geisteserscheinungen zuwendet, durfte also Freud die psychoanalytische
Methode auf die Erscheinung des Tabu anwenden.
Agrippa von Nettesheim bringt selber die Tabuvorstellungen mit dem
Wahn der Geisteskranken in engste Beziehung: „Eben darin liegt der Grund
(angeblich: weil die Luft dem Geist so verwandt ist, daß ihr Einfluß auf
den Sehgeist leicht die Einbildungskraft affiziert), warum Wahnsinnige und
Melancholiker Gestalten zu sehen oder Töne zu hören glauben, die nicht
außer ihnen, sondern nur in ihrer eigenen Einbildung existieren: deshalb
fürchten sie, was nicht zu fürchten ist, fassen den sonderbarsten und
unbegründetsten Argwohn, fliehen, während niemand sie verfolgt, zürnen
und streiten, ohne daß jemand gegenwärtig ist, lauter Affekte, die auch
auf magischem Wege durch Räucherungen, Salben, 'Tränke, Zaubergifte,
Lampen und Lichter, Spiegel, Bilder, Beschwörungen und Formeln, Töne
und Musik auf Saiten gewisser Tiere, die in einer bestimmten Harmonie
zusammengestellt sind, ferner durch verschiedene Gebräuche, Verrichtungen,
Zeremonien und sonstigen Aberglauben hervorgebracht werden“ (Buch I,
Kap. 45).
“
Über Tabu und Mystik | 225,
Was nun das Ergebnis der Freudschen Untersuchungen über das Wesen
des Tabu anlangt, es sei ein uraltes Verbot, das sich gegen die stärksten
Gelüste — Mord und Erotik — der Menschen richte, so werden diese
Folgerungen durch die Tabuvorstellungen, wie wir sie in der „Philosophia
occulta“ fanden, noch mehr gestützt und unterstrichen, als es schon durch
die der Primitiven geschah. Wir konnten wiederholt bemerken, wie diese
Wurzel des Tabu ganz unverhüllt hervortrat. Sehr bezeichnend ist auch,
daß sich das Tabu daher besonders einer Erscheinung bemächtigt, die den
Primitiven noch unbekannt ist, der Dirne. Zum Überfluß gibt aber Agri ppa
selber in vollster Klarheit eine gleiche Genese des Tabu an: „Jedermann
weiß, daß die bösen Dämonen durch böse und profane Künste angelockt
werden können, wie Psellus von den gnostischen Magiern erzählt, welche
ähnliche abscheuliche Dinge trieben, wie sie einst beim Priapusdienste
sowie bei der Verehrung eines Götzen, namens Panor, vorkamen. Diesem
nicht unähnlich wäre, falls es wahr und keine Fabel ist, was man von
der abscheulichen Ketzerei der Templer liest, und ähnliches ist auch von
den Hexen bekannt, deren altvettelischer Wahnsinn öfters in solche
Schändlichkeiten sich verirrt. Durch derartige Dinge werden die bösen
Dämonen angelockt und ein Bündnis mit ihnen herbeigeführt.“ „Auf der
anderen Seite aber weiß auch jedermann, daß wir durch gute Werke,
einen reinen Sinn, mystische Gebete, andächtiges Flehen u. ä. uns die
überhimmlischen Engel geneigt machen können“ (Buch I, Kap. 39).
Die Quintessenz dieser Worte Agrippas ist nichts anderes, als daß die
ganze Mystik und eben auch ihre Tabuvorstellungen eine Vorrichtung
sind, durch welche jene Gelüste abgewehrt werden, wie sie in den
heterosexuellen Orgien des Priapusdienstes, den homosexuellen der Templer
und in den Hexenperversitäten hervorbrechen. Es könnte zwar einge-
wandt werden, diese Anschauung der Agrippa von Nettesheim sei
lediglich eine rein christlich-asketische,, wir halten aber die. Beein-
flussung zwischen Okkultismus und Christentum zumindestens für eine
wechselseitige, vor allem jedoch darf nicht übersehen werden, daß das
Christentum, so lange es am Dämonenglauben usw. festhielt, in diesen
Dingen ja nichts war als ein religiosifizierter Okkultismus. Besonders be-
merkenswert ist es aber, daß gerade Agrippa von Nettesheim zu
diesem Schluse kommt, der, wie wir leicht bemerken können und
auch aus seinem Werturteill über den Priapuskult usw. sehen, alle
erotischen Dinge nach Möglichkeit vermeidet oder sich dabei innerlich
bekreuzigt.
Imago %. 2 u.3 20
26 Adolf Arndt
Die Erwähnung der gnostischen Magier, der Templer und der Hexen
durch Agrippa führt uns weiterhin auf das wesentlichste. Denn es ist der
ganze Sinn dieser Arbeit, durch das Aufzeigen der Tabuvorstellungen bei
Agrippa von Nettesheim — der einerseits als enzyklopädistischer Abschluß
des mittelalterlichen Okkultismus und Verbindungsbrücke zum modernen
sich als leichtester Zugang zu diesem Problem darstellt, — die Möglichkeit
und Anregung zu schaffen, zu den Problemen des Tabu und auch des
Totemismus durch eine Psychoanalyse der eigentlichen okkultistischen
Schriften des Mittelalters einen vielleicht aussichtsvollen Weg zu erschließen.
Es ist bekannt, wie in den Schriften der gnostischen Magier, der Rosen-
kreuzer, des Hermes Trismegist u. a. der Erotik eine wesentliche Bedeutung
zukommt, und wir glauben, daß sich hier noch eine weit größere Klar-
heit über Entstehung und Wesen sowohl des Tabu wie auch des Totemismus
gewinnen. ließe.
Denn auch Reste des T'otemismus finden wir bei Agrippa von Nettes-
heim. Es ist zunächst auffällig, daß die Tiere als den Menschen eben-
bürtig, ja zuweilen als vorbildlich hingestellt werden. Ferner muß jede
magische Handlung von einer Räucherung begleitet sein, zu deren Ingre-
dienzien je nach dem dominierenden Stern bei dem Mond Gänseblut, Frosch-
kopf und Stieraugen, bei dem Saturn ein Katergehirn und Fledermausblut,
bei dem Jupiter Storch- und Schwalbenblut sowie ein Hirschgehirn, bei
dem Mars Menschenblut, Kater- und Rabenblut, bei der Venus ein Sperlings-
hirn und Taubenblut und beim Merkur Elsternblut sowie ein Fuchs- und
Wieselhirn gehören. Es ist klar, daß wir es hier mit Resten von Opfern
zu tun haben. (Zu diesen magischen Räucherungen sei nebenbei bemerkt:
ob wir nicht in ihnen den Ursprung des — Rauchens zu sehen haben?)
Schließlich ist auch eine psychoanalytische Untersuchung der modernen
okkultistischen Richtungen wohl sehr wesentlich. Ihre einfachste Vorform,
die Allmacht der Gedanken, findet sich in gleicher Form, wie sie uns von
den Primitigen bekannt ist, auch bei Agrippa: „So machen wir zur Er-
weckung von Liebe Bilder, die einander umarmen; zur Erweckung von
Zwietracht solche, die einander schlagen; um einem Menschen, einem -
Hause, einer Stadt oder sonst einer Sache Unglück, Verderben oder Hinder-
nisse zu bereiten, verfertigen wir Bilder mit verdrehten und zerbrochenen
Gliedern und Teilen nach der Gestalt der Sache, die wir verderben oder
verhindern wollen“ (Buch II, Kap. 49).
Zum Abschluß noch eine kleine Betrachtung über Mystik und Psycho-
analyse, die zunächst wohl stark befremden wird. Könnten wir nicht in
Über Tabu und Mystik | 327
gewisser Weise sagen, durch die Psychoanalyse würde die Mystik bewiesen?
Es scheint, als habe Max Dessoir in seinem Werk „Vom Jenseits der
Seele“ nicht mit Unrecht die Psychoanalytiker neben die Okkultisten gestellt.
Denn die Quintessenz der Mystik ist die Behauptung, jedes Zeichen und
jede Erscheinung habe außer ihrem sichtbaren noch einen verborgenen
Sinn; dieser aber müsse geheim gehalten werden und sei ein Zauber-
Betrachten wir nun mit den Augen eines Analytikers etwa irgend ein
Ornament, so werden wir zu dem Ergebnis kommen, daß dieses abstrakte
Zeichen vermittels eines Symbols nur die sublimierte und stilisierte Ver-
deckung eines konkreten, primitiven Triebwunsches ist. Wir wissen gleich-
falls, daß dieser Untersinn geheim gehalten wird, weil die Zensur des
Bewußtseins das Manifestwerden der ungebrochenen Triebrichtung verhindern
will, und die Symbolisierung gerade diese Bannung (Verzauberung) bezweckt.
Insofern beweist die Psychoanalyse in gewissem Sinne die Vorstellungen
der Mystik, indem sie aber zugleich diese betreffenden Behauptungen
begründet und ihre Wurzeln aufdeckt.’ Daher erscheint uns gerade die
Psychoanalyse berufen, das Dunkel der okkultistischen Welt aufzuhellen,
weil sie nicht an deren Erscheinungen als an sinnlosem und aberwitzigem
Zeug blind vorübergeht, sondern ihre tiefe Bedeutung erkennen kann und
die Wahrheit aufzudecken vermag.
nn
Zwei Kapitel über kulturelle Entwicklung’
Von Dr.KkR. Spiez
I
Die Dreizahl
Die weltumfassende Bedeutung der Dreizahl zu betonen ist überflüssig ;
sie ist auch dem Nicht-Psychoanalytiker bekannt, wenn er sich dessen
auch selten bewußt wird. Darum möge ein flüchtiger Überblick der ins
Auge springendsten Erscheinungen genügen.
Angefangen von dem Dummkopf, der „nicht bis drei zählen kann,“
den Primitiven, deren Zahlensystem nur bis drei geht, worauf das „Viel“
anfängt, bis zu den Religionen, die Dreigliederung aufweisen und Trinitäten
verehren, gibt es wohl kaum ein Gebiet der menschlichen Geistestätigkeit,
auf dem man nicht immer wieder auf die DREI stieße. Das Eigenartige
ist dabei, daß diese Zahl so sehr bevorzugt wird, daß sie alle andern Zahlen
ausnahmslos in den Schatten stellt; psychoanalytisch gesprochen möchte
man sie geradezu für den größten Teil der Menschheit lustvoll betont
ı) Da mir mein Material augenblicklich nicht zur Verfügung steht, bin ich leider
sezrwüngen, von einem ausführlichen Quellennachweise "abzusehen. Dem in psycho-
analytischer Literatur Bewanderten werden zahlreiche Gedankengänge ohnedies aus
den grundlegenden Werken bekannt sein und so möge eine summarische Aufzählung
der Namen der Autoren genügen, deren Arbeiten mir als Unterlage dienten. Es sind
dies: Freud, Rank, Reik, ferner von den Nichtpsychoanalytikern Frazer, Fro-
benius, Jerusalem, Friedrich $. Krauß, Levy-Brühl, Usener sowie zahlreiche
Artikel der Encyclopaedia Britannica.
Für die philologisch-orientalischen Grundlagen, welche das Entstehen dieses Auf-
satzes ermöglichen, sowie für die auf das Judentum Bezug habenden Stellen bin ich
Herrn Dr. J. Zoller zu aufrichtigem Danke verpflichtet. Auf seine diesbezüglichen
Ausführungen, betitelt: Das alt-sinaitische „S“ sei hiemit verwiesen.
Zwei Kapitel über kulturelle Entwicklung | 329
„Eins, zwei, drei“ zählt man als Kind, wenn man den Wettlauf be-
ginnt — „Achtung, fertig, los“ ruft der Starter bei Sportveranstaltungen —
dreimal schlägt der Hammer des Auktionators — dreimal wird vor der
Hochzeit aufgeboten — drei Handvoll Erde wirft man ins Grab. In der
Dichtung sind wir ununterbrochen von Dreiteilungen begleitet; die drei
Teile der Rede, des Briefes, das dreiaktige Drama, die Einheit von Ort,
Zeit und Handlung.
Man müßte Bände über die Dreizahl im Märchen schreiben. Immer
wieder sehn wir drei Königssöhne, drei Prinzessinnen, drei Proben, Dreie,
die durehs ganze Land kommen und alle guten Dinge, deren drei sind.
An unseren Universitäten: drei Rigorosen. Bei den Gerichten: drei
Instanzen. In der Geschichte: Altertum, Mittelalter und Neuzeit. Und
wenn Spengler die Geschichte modernisiert, wird daraus wieder nur das
apollinische, magische und faustische Weltbild; die Namen also wechseln,
die Zahl bleibt. Philologen ist die Trilitteralität der semitischen Wurzel
geläufig; so unwahrscheinlich es klingt, bei ihnen werden wir schließlich
auch eine Erklärung für die uns beschäftigende Erscheinung finden.
Keine Religion, in der die Dreizahl nicht im Zentrum wie auch an
der Peripherie nachzuweisen wäre. Der Hinduismus hat die Trinität von
Brahma, Vishnu, Shiva. Der ursprünglich streng monotheistische (man
wäre eher versucht zu sagen a-theistische) Buddhismus hat sich im Wege
der bildenden Kunst die Shaka-, die Amida-, die Jakushi-Trinität ein-
geschmuggelt, indem recht willkürlich gewählte Boddhisatvas der Haupt-
figur beigesellt wurden. Der Chinese hat drei Seelen. Das Judentum hat
die Trinitäten: Gott, die Tora und Israel (analog dem buddhistischen:
Buddha, das Gesetz und die Mönchsorden), sowie Tora, Propheten und
Hagiographen. Die Chassidim, die eine Lockerung des streng monotheisti-
schen Prinzips im Judentum darstellen, haben Gott, die Schechina (Gottes-
glorie) und den Messias. Das Christentum hat die Dreifaltigkeit, dann
Himmel, Purgatorium und Hölle; letztere Dreiteilung bildet dann den
Vorwurf der Divina GCommedia Dantes.
Den Griechen gestattet ihr Unbewußtes in der Oberwelt, im Olymp
freies Spiel, schöne Sublimierung. In der „Unter“welt aber herrscht un-
erbittlich die DREI: Drei Richter richten die Seelen (dieses Motiv finden
wir noch in unserer heutigen Rechtspflege im Richter mit den beiden Bei-
sitzern) und drei sind die Furien, die Parzen, dreiköpfig Zerberus und dreifach
Hekate. Die lernäische Hydra, das Geschlecht, das sich drohend gegen Herakles
den muttergebundenen (siehe Rank) aufrichtet, hat dreimal drei Köpfe.
330 Dr. R. Spiez
Beispiele aus dem Mystikern für die unwiderstehliche Verlockung der
Dreizahl beizubringen, würde zu weit führen; der modernste Mystiker,
Rudolf Steiner, baut sein Weltbild auf die Dreigliederung auf.
Die Folklore bringt ein überreiches Material für die unbewußte Be-
deutung der Dreizahl. Ich will nur ein, meines Wissens bisher nicht ver-
wertetes Beispiel erwähnen: Das Kleeblatt (TRIfolium, tröfle, trifoglio)
heißt im Ungarischen lökere, zu deutsch Pferdehoden, wobei ich mir
bewußt bin, daß dabei außer der Dreizahl auch die Form der Blätter mit-
bestimmend ist. Doch schließt sich daran ein sonderbarer Brauch, der
bereits öfter in psychoanalytischen Schriften verwertet wurde und dessen
Spuren bis in unsere Tage reichen. Vor Gericht werden Zeugen vereidigt.
Zum Schwure hebt man drei Finger (wenn man nicht mit der Hand
auf dem Buche schwört, eine Symbolhandlung, die ich augenblicklich
nicht weiter untersuchen will). Und Zeuge kommt von zeugen, Kinder
zeugen, und heißt auf Lateinisch testis. Testes aber heißen die Hoden.
Nun aber schwuren die Orientalen, wie man übrigens auch im Alten
Testament lesen kann, mit der Hand auf dem Genitale. Wenn wir, wie
in diesem Beispiele, die Dreizahl in der Entwicklung der menschlichen
Kultur verfolgen, kommen wir fast zwangsläufig zum männlichen Genitale.
Psychoanalytiker wußten seit langem, daß die DREI die sexuelle Trinität,
Glied und beide Hoden symbolisiere. Nur fehlte ein in die Augen springender
Nachweis. Diesen erbringt die Forschung nach den Ursprüngen der Schrift-
zeichen in eklatanter Weise.
Unsere Schreibart der DREI haben wir, wie die Bezeichnung arabischer
Ziffern besagt, aus dem Arabischen: 3. Die wirkliche arabische Schreib-
weise ist jedoch ein wenig anders: A. Schon diese Form gibt zu denken;
um so mehr, wenn wir erfahren, daß der arabische Buchstabe „Schin“ so
geschrieben wird: _/*, im Nordsemitischen aber „Shen“ Urin bedeutet,
während im Südsemitischen „Saut“ die Rute. Es erscheint mir unzweifel-
haft, daß die arabische Drei eine Vereinfachung des folgenden Zeichens
ist: ig)
Diese Ansicht wird durch die nach der Zahlenordnung vorhergehenden
Ziffern EINS und ZWEI aufs beste bestätigt. ZWEI schreibt der Araber:
F - Es fehlt ein Hoden. Und EINS ist im Arabischen: / Das Glied allein.
Es ist klar, daß die wichtige Rolle, die das männliche Genitale in der
primitiven Rechtspflege, bei Verträgen etc. gespielt hat! (ganz abgesehen
ı) An den Schwur beim Genitale schließt sich übrigens auch ein Beweis für den
Penis als Symbol des Lebens an: Die Örientalen, die früher mit der Hand auf dem
Zwei Kapitel über kulturelle Entwicklung | | | 331
von der jedem Psychoanalytiker geläufigen Höchstwertigkeit dieses Organs
für das Individuum) zu der heute nur mehr schwer erklärbaren Über-
wertung der DREI auch sehr stark beigetragen haben muß. Angesichts
der. verschiedensten zählbaren Körperteile, Hände, Füsse, Finger etc. läge
für die Primitiven gar keine Veranlassung vor, just bis drei zu zählen,
‚wenn diese Zahl nicht eben den höchstbewerteten Körperteil symbolisieren
würde. Den Körperteil, bei dem man schwören mußte und der strafweise
abgeschnitten wurde. Man kann sich gut vorstellen, wie für den Primitiven
nur die ersten drei Ziffern „zählen“, weil sie die Hoden und das Glied
waren; der Rest, was darüber hinaus ist, „zählteben nicht‘. Der Sprach-
gebrauch ist deutlich genug.
Schließlich möchte ich noch .ganz kurz den Gedanken der Dreifaltigkeit
streifen. Dieser so unwahrscheinliche und schwer faßbare Gedanke des
:Einen, der Drei ist, und der Drei die Eins sind, wird vollkommen klar
und einfach, wenn wir auf den Ursprung der Zahl DREI zurückgehen.
Denn das männliche Genitale ist EINS und zugleich DREI; und es sind
DREI, die doch nur EINS sind. Das männliche Genitale ist der Vater,
der den Sohn enthält, dennoch der Sohn, der noch der Vatter ist, während
er aus ihm wird.
Und dieses Genitale ist zugleich der Ort des Übergangs für den Geist
des Vaters auf den Sohn, ist der heilige Geist und enthält ihn.‘
II
Die Genesis der magischen und der transzendenten
Kulte
Ich könnte mich darauf beschränken zu sagen, daß die abschließenden
Gedankengänge der vorhergehenden Ausführungen ihre Evidenz in sich
tragen. Doch sind für die Betrachtung der Entwicklung der menschlichen
Kultur fruchtbare Gesichtspunkte zu gewinnen, wenn man hier den Urprüngen
‚eigenen Genitale schwuren, verwenden in historischen Zeiten bereits lieber den Aus-
druck „Bei meinem Leben“, in dessen Variante „Bei meinem Kopfe“ wir eine Re-
gression aufs Genitalsymbol sehen können und dessen zweite Variante „Beim Kopfe
meines Vaters“ schon recht verdächtig nach Todeswunsch klingt, jedenfalls aber eine
leichtere Strafe beinhaltet. Ä
1) Diese Betrachtungsweise des männlichen Genitales als Vater, der den Sohn ent-
hält, verdeutlicht auch, warum in erster Linie Kind und Penis, aber nur in zweiter
Linie Kind und Vulva aequivalent sind.
332 Dr. R. Spiez
nachgeht. Spengler unterscheidet ein apollinisches, magisches und fausti-
sches Weltbild. Für unsere Zwecke genügt die Unterscheidung der magischen
Periode von der über das Magische hinausschreitenden Religionsperiode.
_ Was unterscheidet nun die eine von der anderen? Ich meine, das Auf-
treten der Transzendenz im Denken.
Die magische Denkart kennt die Transzendenz nicht. In den Anfängen
empfindet der Primitive den Unterschied Subjekt — Objekt gar nicht.
Später objektiviert er wohl die Umwelt, steht aber mit ihr von Gleich zu
Gleich. Selbst in den hoch entwickelten magischen Kulten bleibt das
Grundprinzip die Möglichkeit, die Gottheit zu zwingen. Dagegen ist es
ein Charakteristikum der metaphysischen Transzendenzreligionen, daß diese
den Gedanken an einen Zwang aufgeben, damit die Gottheit implicite als
ein nicht Gleichgeartetes, ein Höheres, ein Transzendentes anerkennend.
Freilich, die Spuren des magischen Zwanges haften den Religionen bis
zum heutigen Tage an. Am bekanntesten wird wohl das alttestamentarische:
„Ich lasse dich nicht, du segnest mich denn!“ sein; aber in unseren
Tagen (1893 Sizilien) kommt es in Zeiten der Dürre vor, daß der ver-
antwortliche Schutzheilige strafweise seiner Prunkgewänder entblößt, ja
sogar im Freien aufgestellt und der sengenden Sonne ausgesetzt wird, bis
die gewünschte Wetteränderung eintritt (Golden Bough 75).
Wir finden zahlreiche andere Faktoren in unseren heutigen hochmeta-
physischen Religionen, die deutlich magischen Ursprung zeigen; es würde
zu weit führen, sie aufzuzählen. Jedenfalls sehen wir einen unmittelbaren
Übergang aus magischen Fruchtbarkeitskulten in metaphysische Tran-
szendenzreligionen und müssen darum von den Ursprüngen der Magie her
versuchen, Klarheit über das Funktionieren des menschlichen Denkens bei
der Schöpfung der Transzendenzreligionen zu gewinnen.
Was also ist die magische Weltanschauung, das magische Zeremoniell?
Es ist nicht Zweck dieser Zeilen, eine erschöpfende Untersuchung der
magischen Weltanschauung zu geben und so mögen denn nur Annäherungs-
delinitionen folgen, wenn ich mir auch bewußt bin, daß manche Faktoren
dabei vernachlässigt werden — sei es, daß diese Definitionen nicht das
ganze Phänomen umfassen, sei es, daß in dieselben auch nicht dazugehörige
Phänomene eingefügt werden können. Ich möchte sie als „Arbeits-
definitionen“ gewertet haben, in der Art der Arbeitshypothesen, Sie wurden
für diese Untersuchung, ad hoc, geprägt, und wenn sie die Kontinuität
der Untersuchung ermöglichen, so haben sie ihren Zweck erfüllt, ohne
einen weiteren Anspruch auf Eigendasein zu erheben.
Tr u A FE u a
EEE
5 Zwei Kapitel über kulturelle Entwicklung 255
Magische Weltanschauung könnten wir als jene geistige Attitüde de-
finieren, die von der Prämisse einer ebenbürtigen Umwelt ausgehend diese
durch auf empirischem Wege gewonnene Verfahren zu beeinflussen sucht.
Dabei ist die Denkweise der Primitiven in zwei Beziehungen zu berück-
sichtigen: Erstens arbeitet der Primitive mit anderen Kategorien als wir;
und zweitens ist er erst im Augenblicke der Schöpfung des magischen
Zeremoniells zur Entdeckung seines Ichs als Subjekt gekommen.
Was die Denkkategorien betrifft, so wurde:vielfach angenommen, daß
der Primitive die Kategorie der Kausalität mit jener der Analogie ersetze.
Es erschien dies einleuchtend, einerseits, weil der Analogieschluß tatsäch-
lich einfacher zu bilden ist, als der Kausalschluß; zweitens weil für den
oberflächlichen Beobachter die Denkweise der Primitiven sich in Analogien
zu bewegen scheint. Doch dem ist nicht so; wir finden nur selten einen
wirklichen Analogieschluß (sozusagen als Zufallsprodukt), es sind immer
nur Denkvorgänge, die infolge der bildhaften und beschreibenden Kon-
struktion der primitiven Sprachen an Analogien erinnern. In Wirklichkeit
ist das Denken der Primitiven prälogischh um den von Levy-Brühl ge-
prägten Ausdruck zu gebrauchen, d. h. es bedient sich einer unserem
logischen Denken unbekannten Kategorie: der Kategorie der Partizipation.
Jerusalem definiert die Partizipation folgendermaßen: „Die Partizipation
besteht in dem geheimnisvollen Teilhaben heterogenster Dinge aneinander,
das durch mystische Kräfte bewirkt wird, die in ihnen wirksam sind.“
Der zweite Faktor, die noch wenig ausgeprägte Unterscheidung von
Subjekt und Objekt, respektive Umwelt, bringt es mit sich, daß das In-
dividuum alle Ereignisse der Umwelt auf sich bezieht und vice versa allen
in oder an ihm stattfindenden Vorgängen einen entsprechenden Einfluß
auf die Umwelt zuschreibt.
Auf Grund der obenerwähnten mystischen Partizipation ist für die Primi-
tiven jede Einheit mit der ihr entsprechenden (häufig auch noch mit einer
anderen) Vielheit identisch, d. h. sie partizipiert an ihr und vice versa,
Wir sehen aus diesen kurzen Ausführungen, daß die in unserer Defi-
nition der Magie betonte Empirie keineswegs mit dem identisch ist, was
heute Empirie genannt wird. Es ist Empirie insoferne, als es Handlungen
sind, die sich nicht auf theoretische Überlegung, sondern auf die unmittel-
baren Einwirkungen der Umwelt stützen und an ihr magisch partizipieren —
mit anderen Worten, eine magische Empirie, wobei zu betonen ist,
daß das Entstehen dieses Doppelbegriffs unlösbar verbunden ist und einer
ohne den anderen nicht denkbar.
Im Fortschreiten zum logischen Denken wurde dieser Zustand langsam
überwunden, immer mehr mystische Eigenschaften gingen verloren, immer
stärker wurden die Partizipationen eingeschränkt, bis schließlich die Mensch-
heit sich im rein logischen Denken ein Gebäude von relativ scharf ge-
trennten Begriffen schuf, die Umwelt nach diesen ordnete und in Besitz
nahm. (Aristoteles.) |
Wenn man nun weit später die Transzendenz, am klarsten in der Drei-
faltigkeit, im logischen Denken auftritt, so ist nicht anzunehmen, daß wir
es mit einem rudimentär gewordenen Überbleibsel aus dem Prälogischen
zu tun haben, sondern es dürfte sich um die Setzung eines singulären,
nicht wiederholbaren Falles handeln, an welchem im Gegensatze zur
magischen Weltanschauung die Umwelt nicht partizipiert, da dieser Fall
ja „transzendiert” und so jenseits alles Logischen ist.
Betrachten wir nun nach diesen Ausführungen die magische Zeremonie.
Diese wurde jedenfalls veranlaßt durch ein Begehren, das scharf auf
einen Zweck gerichtet und durch normale Mittel nicht zu befriedigen
war; ein gewalttätiger Unterton fehlte diesem Begehren nicht und wir
sehen dementsprechend das Bestreben, die Erfüllung des Begehrens zu er-
zwingen.
Bei genügender Intensität des Begehrens wird sich der psychische Zu-
stand bis zu einer Ekstase steigern; dies ist der Moment der Schöpfung
der magischen Zeremonie. Aus der Ekstase wird sie geboren und selbst
wenn sie schon zum Ritual erstarrt ist, finden wir das Bestreben, sich
durch die Zeremonie in einen ekstatischen Zustand zu versetzen — ein Be-
streben, dem vielfach mit allen möglichen Rauschmitteln nachgeholfen
wurde.
Worin besteht nun die magische Zeremonie und unter welchen äußeren
Formen findet sie statt?
Im ekstatischen Zustande wird eine streng vorgeschriebene, rhythmische
Reihenfolge unabänderlicher Gesten, respektive Vokalgesten vollzogen, welche
zum begehrten Ziele führt,
Die gleichen Charakteristika gelten unabgeändert auch für den Be-
gattungsakt. Mehr noch: Diese Charakteristika sind es, die den Begattungs-
akt prinzipiell von den übrigen primitiven Lebensbetätigungen unter-
' scheiden. Der Beischlaf ist ein im ekstatischen, fast bewußtlos hingerissenen
Zustande, unter dem Antriebe eines wohlwollenden, nur sekundär gewalt-
tätigen Begehrens ausgeführter Akt, zu dessen Gelingen eine bestimmte
Reihenfolge stets gleichbleibender Handlungen die conditio sine qua non ist.
bu
Zwei Kapitel über kulturelle Entwicklung | | 35
Man könnte dem entgegenhalten, daß die übrigen primitiven Lebens-
betätigungen, etwa Essen, Schlaf, Verdauung, Geburt ebenso streng deter-
miniert sind, wie die Begattung. Das ist wohl richtig, doch entziehen
sich die Bedingungen ihrer Determiniertheit der primitiven Beobachtung.
Weitere gemeinsame Eigenarten des magischen Zeremoniells und des
Beischlafes sind Rhythmus und Willkür.
Daß im magischen Zeremoniell der Rhythmus eine sehr bedeutsame
Rolle spielte (es sei nur an Zaubertänze und Inkantationen erinnert) ist
bekannt. Nirgends aber im Leben ist der Rhythmus so augenfällig, wie
im Begattungsakte und er gehört zu dessen Grundbedingungen.
Anderseits sind. die übrigen Lebensbetätigungen von der Willkür des
Individuums unabhängig. Es muß schlafen, essen, verdauen, gebären
(wenn es schwanger ist), falls es nicht als Individuum zugrundegehen
will. Für diese Betätigungen beschränkt sich die Willkür bestenfalls
auf die äußere Form der Ausführung, aber weder die Zeit der Aus-
führung, noch deren Inhalt und Notwendigkeit steht in der Wahl des
Individuums.
Ganz umgekehrt beim Sexualakte. Durch die Nicht-Ausführung wird
das Individuum nicht unmittelbar vernichtet — nur die Rasse. Und die
Zeit der Ausführung ist innerhalb weiter Grenzen frei wählbar.
Mit anderen Worten: In allen Lebensbetätigungen ist das Individuum
Objekt; nur im Sexuellen wird es Subjekt.
Analog in der Magie: Das Individuum, das bis dahin Objekt abr über- .
gewaltigen Umwelt war, stellt sich dieser in der INABIDNES Handlung als
gleichwertiges Subjekt gegenüber.
Doch beides innerhalb von Grenzen: Denn wenn auch das Individuum
(scheinbar) bestimmt ob, wann, an wem es den Sexualakt vornimmt — ist
es im Akte über einen bestimmten Punkt hinausgelangt, so geht alles
zwangsläufig weiter und das Individuum wird wieder zum Objekt.
Ebenso in der Magie; ist das Rituale bis zum declenchement fort-
geschritten, so unterliegt der ‚Magier wieder als Objekt dem Geschehen,
das er als Subjekt veranlaßt hat.
Wir haben also damit ein bis auf die Einzelheiten stimmendes Vor-
bild der magischen Zeremonie und können behaupten, daß ausgehend vom
Sexualzeremoniell, welches zu einem immer wieder begehrten reichen Lust-
gewinne führte, der Primitive zur Erreichung irgend eines anderen sehr
begehrten Zieles analog die magische Zeremonie schuf, ‘die sich im Anfang
wohl auf ein grobsexuelles Ritual beschränkt haben dürfte. Ein Beweis
236 | e Dr. R. Spiez
dafür ist der ganz allgemeine orgiastische Charakter magischer Kulte, der
nur schwach verhüllt in den später daraus entwickelten Religionen fort-
lebt, um bei Gelegenheit besonderer religiöser Hingerissenheit mit unver-
minderter Heftigkeit hervorzubrechen.
Hier möchte ich nun auf eine andere Analogie hinweisen. Die Sexual-
zeremonie besteht aus unentbehrlichen und akzessorischen Faktoren. Ersteren
(z.B. Friktion, Rhythmus etc.) haftet der Charakter der Umwandelbarkeit in
hohem Masse an.
Letztere (Streicheln, Umarmen, Geruch, Vokalgesten, Beißen etc.) sind
untereinander ersatzfähig, nötigenfalls völlig entbehrlich und gehören
keineswegs zum prinzipiellen Requisit der Sexualzeremonie; sie haben
jedoch einen unleugbaren fördernden Wert bei der Erreichung des Zieles.
Jede Magie ist bestrebt, ihr Ritual zu verbessern; so nimmt auch sie
akzessorische Faktoren auf, die mit der Zeit zu Abspaltungen von dem
ursprünglichen magischen Zeremoniell, zu Häresien führen. Häresien aber
sind Individualisierungen des Rituals oder Dogmas, in welchen ein sekun-
därer, respektive akzessorischer Faktor plötzlich obligat wurde.
Ebenso sehen wir im Liebesleben des Einzelindividuums das Obligat-
werden der akzessorischen Geste, die prinzipiell für die Sexualhandlung
keine Vorbedingung wäre,
Hier eröffnet sich ein neuer Ausblick. Der akzessorische Faktor, der -
ins Zentrum des magischen Zeremoniells rückt, ist schließlich nur ein
Symptom eines tieferliegenden Geschehens. Ebenso wie wir im Sexualleben
des Einzelindividuums das Obligatwerden einer akzessorischen Geste als
äußeres Zeichen: tieferliegender psycho-ökonomischer Gegebenheiten sehen,
die sich auf dem Wege dynamischer Vorgänge in eben diesem und keinem
anderen Symptom äußern, werden wir auch hier in der ökonomischen.
respektive dynamischen Sphäre zu suchen haben, wenn wir die Ursache der
Veränderung oder Abspaltung eines magischen Zeremoniells finden wollen.
Mit anderen Worten: Der akzessorische Faktor, der obligat wird, ist das
Symptom der Häresien. Die Ursache der Häresie liegt in den ökonomisch-
sozialen Veränderungen, die in dem häretisch werdenden Teile des Volks-
stammes oder Nation stattfinden. Eine detaillierte Untersuchung dieser
Frage müßte freilich der Gegenstand einer ungewöhnlich umfangreichen
Spezialarbeit sein und fällt aus dem Rahmen dieser Betrachtungen heraus.
So finden wir denn als Basis des magischen Zeremoniells, der Magie,
im weiteren Verlaufe der magischen Weltanschauung und schließlich der
daraus entwickelten religiösen Kulte den Begattungsakt; unter anderem auch
als Basis der weltlichen Zeremonien, respektive Hierarchien, die wohl
ursprünglich aus magisch-religiösen Kulten hervorgingen..
Es braucht uns auch nicht Wunder zu nehmen, daß bei ER RRER N
kausalen Denken, als Schwangerschaft und Geburt mit der Begattung in Ver-
bindung gebracht wurden, diese Erkenntnis auch dem magischen Kulte zugute
kam: Es entstanden die Fruchtbarkeitskulte mit der zentralen Mutterfigur.
Langsam entwickelten sich jedoch Staaten, deren ökonomische Bedürf-
nisse sie veranlaßten, Gewicht auf eine möglichst hohe Anzahl der Mit-
glieder der Gemeinschaft zu legen. Damit rückte der Geburtsakt in den
Mittelpunkt des Interesses, wurde das Primär-Wichtige, während der Be-
gattungsakt nur mehr in zweiter Linie kam. Parallel (wahrscheinlich in
einem gewissen zeitlichen Abstande) setzten die Kulte die Schwangerschaft,
schließlich den Geburtsakt in das Zentrum ihrer Dogmen und Zeremo-
nien. Wir haben als Erinnerung an diese Periode heute die Taufe, die
wie allgemein bekannt (und auch in einzelnen christlichen Sekten aus-
gesprochen), eine Wiedergeburt ist; und ursprünglich der Abschluß des
Geburtsaktes war.
Hiemit sind wir jedoch an die Grenze der magischen Entwicklung
gelangt. Sie ist begründet auf der sichtbaren Umwelt — ihre Kulte ent-
wickeln sich gemäß dem sichtbaren Teil der Sexyalität von der Begattung
bis zur Geburt. Weiter ging es auf diesem Wege nicht mehr. f
Ein Neues tritt in die Welt — die Transzendenz. Diese kann ihrem Wesen
gemäß nicht im Sichtbaren fußen und muß nun wieder auf die Anfänge
zurückgehen, um dort den Geist als neuen Faktor zu hypostasieren.
Wir kehren also wieder an den Anfang, den Begattungsakt, zurück und
wollen untersuchen, was sich hier für eine Transzendenz verwerten läßt.
Wir können, meine ich, per exclusionem vorgehen.
Der Zusammenhang der Mutter mit dem Kinde ist kausalem Denken
ein so augenfälliger, langdauernder und nicht .zu übersehender, daß es
untunlich erscheint, darin ein Transzendentes zu suchen. Die Frau wird
befruchtet, und nun wächst in ihr, sozusagen allen sichtbar, das Kind,
ihr Kind, der Reife und der Geburt entgegen. Ihr Zusammenhang mit
ihrem Kinde ist nicht abzuleugnen; ‚es haftet ihm nichts Wunderbares an,
zumindest für logische Erkenntnis ist der Vorgang einleuchtend und ruht
auf greifbar biologischer Basis.
Nun läßt sich für ein dem Magischen noch nahestehendes Denken ein
sichtbarer biologischer Vorgang zwar ohneweiters als Symbol verwenden,
aber es ist schwierig, eine Transzendenz hineinzuverlegen.
338 j Dr. R. Spiez
Ganz anders der Vater, der semper incertus. Dessen Zusammenhang
mit dem Kinde beschränkt sich auf den einen solitären Befruchtungsakt.
Von den Primitiven wurde vielfach der Befruchtungsakt für die Entstehung
des Kindes, d. h. für das Eintreten der Schwangerschaft, nicht für not-
wendig gehalten. Sowie für den Tod, waren für die Geburt, also die
Schwangerschaft, „natürliche“ Ursachen nicht maßgebend. Es gehörte schon
ein firmes kausales Denken dazu, um den Einzelakt des Vaters mit den
Wochen später eintretenden Schwangerschaftszeichen oder gar mit dem fast
ein Jahr später erscheinenden Kinde zu verbinden.
Ist aber diese Verbindung einmal geschaffen, so haben wir einen Vor-
gang, der wie kein anderer dazu geeignet ist, als transzendent angesehen
oder mit einem metaphysischen Gehalte versehen zu werden. Wir müssen
uns die Mentalität von Menschen vergegenwärtigen, die zwar bereits
logisch und kausal denkend, aber ohne Vorstellung von der Möglichkeit
feinerer physiologischer Vorgänge (Spermatozoiden, Ovulum etc.) infolge
eines unter extatischen Symptomen vor sich gehenden, extrem lustbetonten
Aktes die Schwangerschaft eintreten sehen. Das bißchen Samenflüssigkeit,
das dabei auf die Frau übergeht, konnte nicht höher als irgend eine der
andern Begleiterscheinungen dieses Aktes gewertet werden; und letzten
Endes waren alle unumgänglich notwendig.
Was also geschah bei der Befruchtung? Unter sakralen Riten, magisch
wirksamen Gebärden, ging der Geist, der Logos, vom Manne aus und schuf
in der Frau ein Kind. Die Frau war das Werkzeug: sie trug das Kind
aus, gebar, stillte, erzog, d. h. beschützte es. Körperlich gehörte es ihr.
Der Logos dagegen stellte eine transzendente Zugehörigkeit zwischen
dem Vater und dem Sohne her. |
. Es muß hier wieder auf die Analogie zwischen dem transzendenten und
dem magischen Denken verwiesen werden. Auch beim Primitiven wird
der Zusammenhang des Vaters mit dem Kinde hervorgehoben. Der Brauch
der „Couvade“ betont diesen Zusammenhang aufs schärfste, und ist in fast
allen frühen magischen Kulturen zu finden. Daneben aber geht, wie oben
erwähnt, die Vorstellung, daß die Befruchtung weder zur Entstehung des
Kindes, noch zur Schwangerschaft notwendig sei, eine Anschauung, die wohl
auf vorhergehende Mutterrechtsperioden zurückzuführen sein wird. Dieser
logischem Denken nicht erträgliche Wiederspruch löst sich, wenn man be-
denkt, daß die Verbindung zwischen Vater und Kind einfach eine Partizi-
pation ist, wie jede andere bei den Primitiven. Sie ist also wohl magisch aber
nicht transzendent und kann mystisch und körperlich, oder nur mystisch sein,
Im Gegensatz hiezu sieht das frühe logische Denken einen kausalen
Zusammenhang zwischen dem Vater und dem Kinde, ohne einen wirklich
greifbaren körperlichen Zusammenhang, sozusagen ohne Nabelschnur. Und
hier wird nun der transzendente Logos im Kulte zwischen Vater und Sohn
gesetzt.
Wir sehen dementsprechend die Mutterfigur bei den aufs Physische ge-
richteten, bodenbebauenden Fruchtbarkeitsreligionen; bei den hochmeta-
physischen Religionen finden wir dagegen immer den Vater ins Zentrum
gerückt.
Dem Vater gesellt nun das transzendente Denken den Logos; bei den
Gnostikern den Logos Spermatikos. Schließlich ist in den Vaterreligionen
die Vatergestalt ein Begriff, der einem Tatsächlichen in der materiellen
Welt entspricht; der Sohn gleichfalls. Aber der Begriff des Logos, von
einem Impalpablen hergeleitet und dennoch das notwendige Postulat des
sexuellen Bandes erfüllend, befriedigte alle Forderungen des transzendenten
Denkens. Und das um so mehr, als gemäß ihrer Entstehung aus dem Bilde
des männlichen Genitales, das eins in drei und drei in einem ist, die Trias
von Vater, Sohn und Logos den schwer faßbaren, extrem transzendenten
Begriff der Dreifaltigkeit ermöglichte.
Der Kuckuck und die Meise
im Volksmunde und dem Volksglauben der Braunschweiger
Von Dr. med. Karl Heise
„Eine etwas merkwürdige Zusammenstellung! Ich habe sie deshalb gewählt,
weil der gewalttätige Kuckuck mit der kleinen, allerdings vorwitzigen Meise
in einem Volksreime zusammengestellt wird. Dieser lautet:
Kuckuck und die Pimpelmese1
Saten beide im Lowe;
Kuckuck nam en stiewen3 Stelt
Slaug3 die Mese in’t Oge.®
Warum hast du dat edan,?
Hast de Mese in’t Oge slan.®
Die Meise achtete man früher für heilig und unverletzlich. In welchem
Ansehen sie stand, können uns die alten Weistümer lehren, die auf ihren
Fang eine schwere Buße setzten, nämlich dafür dieselbe Strafe wie für einen
Hirsch. Der Niederdeutsche braucht ihren Namen meist in der Verkleinerungs-
form Meseke, und da er sich wenig um die verschiedenen Arten kümmert,
so spricht er für gewöhnlich nur von der Blimeseke, d.i. die Blaumeise, denn
Piepmeseke braucht er nur noch im Vergleiche, wenn er eines Kindes Schwäch-
lichkeit kennzeichnen will.“
So wird ein Aufsatz über „Der Kuckuck und die Meise im Volksmund
und dem Volksglauben der Braunschweiger“9 eingeleitet. Ein Versuch der
Deutung wird nicht gegeben, die Notwendigkeit einer solchen aber mit der
merkwürdigen Zusammenstellung herausgefordert. Sie ergibt sich sofort mit
Hilfe der Symbole. Wörtlich betrachtet ist der Reim sinnlos. Der Kuckuck
ist schon in seiner eigenen Art ungesellig, und sein Verhalten gegen andere
Vögel alles andere wie gesellige. Ihm einen steifen Stiel anzudichten, den er
auch nur gelegentlich nehmen könnte, ist ohne Vorbild, daher auch die Mög-
lichkeit, damit zu schlagen.
1) Meise. — 2) Laube. — 3) steifen. — 4) Stiel. — 5) schlug. — 6) Auge. —
7) getan, — 8) geschlagen. — 9) Prof. Otto Schütte in der Wissenschaftl. Beilage der
Braunschweiger Landeszeitung ı2, 1923. Braunschweig, 4. Juni 1923.
NG Der Kuckuck und die Meise = 341
Sämtliche Konkreta und sämtliche Handlungen sind Symbole! Sie deuten
den erstmaligen Geschlechtsakt an.
Kuckuck, männlich, onomatopoetisch gebildet, auch Guckguck ist der männ-
liche Geschlechtsteil, die Doppelsilbe entspricht den beiden Hoden. Daneben
spielt die Lust am Selbstbesehen, das Interesse am Geheimnisvollen.
Mese, weiblich, ist das Wort Möse, ein Volksausdruck für den weiblichen
Teil; daß man ja nicht irre, was gemeint sei, wird sie Pimpelmese genannt,
pimpern ist ein Ausdruck für den Geschlechtsakt (l und r vertreten sich als
Labiaten unbedenklich).
Das Laub ist der Haarwald, die Behaarung des mons venreris, zugleich mit
dem Begriff des versteckten, verborgenen Aufenthaltes.
Ein Stiel ist eine greifhafte, handgerechte Verlängerung von einem Gegen-
stande, hier der Phallus, der erigierte Penis, deshalb als steif bezeichnet, nicht
hart oder fest, also nicht dauernd so, sondern erst zweckdienlich so geworden
aus vorheriger Schlaffheit.
Das Auge ist bekanntes Geschlechtssymbol, hier speziell für das leicht und
irreparabel verletzliche Hymen gesetzt.
Damit sind die Substantive und Attribute erklärt. Der Gang der kleinen
Handlung ist nun der: Die beiden wesensgleichen (Vögel) aber deutlich differen-
zierten männlichen und weiblichen Teile sind einander nahe (sitzen beide
zusammen, wobei weniger an stillsitzen als an spielen zu denken ist), jedes
in seinem Schamhaar, das zusammen laubenartig deckt. Sie spielen Guckguck
mit dem ruckartigen, dadurch bedingten Hin und Her. Hiebei ersteht dem
Manne der steife Stiel, das Glied wird hart und fest wie eine Handhabe,
diese wendet sich aber gegen die Mitspielerin, dringt auf sie ein und verletzt
sie schmerzlich, blutig und folgenschwer, aus Spiel wird Ernst, die Jungfern-
haut ist zerrissen, die Unschuld verloren. Jetzt entsteht die Klage über den
unwiederbringlichen Verlust mit der charakteristischen Beschuldigung des Mit-
schuldigen. Wie beim Sündenfall Adam die Schuld auf das Weib schiebt,
bezichtigt diese Klage den Kuckuck der Gewalt.
Der Volksreim namenlosen Ursprungs ist sicher alt. Wunderbar ist es, wie
diese Dinge ohne eine Ahnung von ihrer Bedeutung, ja in Umkehrung ihrer
Bedeutung ganz allgemein nicht verstanden und trotz alledem treu bewahrt
werden. Das ist an einem kleinen unbedeutenden, anscheinend wenig drama-
tischen Dönecken (Scherz) — in dieser Nußschale steckt allerdings die ganze
Welt — ein Beispiel für Goethes Wort: „Was sich nie und nirgends hat
begeben, das allein ist wahre Poesie“, und für das andere, in dem er spricht
von „der unbewußten Poesie, bei der aller Verstand und alle Vernunft zu
kurz a Trotzdem wird es nicht schaden, auch hier einmal die Sache
verstandesmäßig anzusehen. r
Die Symbole werden nicht gesucht und gemacht vom Dichter, sondern in
demjenigen Teile seines Empfindungssystems, der im Traume am ungestörtesten
aufnimmt, in seinem Seelenorgan aufgenommen und in unbewußter Denkarbeit
seines Denkorgans gestaltet. Solche unbewußte Vorstellungsbildung während
des Schlafes wird in Erinnerung des nachherigen Wachzustandes Traum ge-
Imago X. zu.53 23
342 Dr. med. Karl Heise: Der Kuckuck und die Meise
nannt. Die Gestalten des Traumes sind Arbeitsergebnisse von genügender
Stärke, daß sie noch vor der wachen Seele als Wirklichkeiten, Vorstellungen
erscheinen, wenn sie auch von dem wachen Denken aber gewohnheitsmäßig
abgelehnt werden. Die Seele, das innere Empfindungsorgan, nimmt immer
solche Eindrücke auf, welche den Telefunken gleich für die übrigen Sinne
nicht kontrollierbar sind. Im Lärm des "Tages werden sie nur übertäubt von
den äußeren Eindrücken, trotzdem diese ohne die Werteindrücke der Seele
für unser Leben ganz nutzlos sind. Der Geist, das Erzeugnis der Denkarbeit
des Denkorgans, liefert durch dessen lebenslängliche, auch im Schlafe nicht
abgestellte Arbeit Ergebnisse, welche als selbstlebend von der eigenen Seele
empfunden werden können und so vor ihr stehen, daher Vorstellungen (Ideen)
genannt werden, wenn die Gestaltungskraft zu ihrer Bildung stark genug und
die Aufnahmsfähigkeit der Seele nicht anderweitig in Anspruch genommen
ist. Wir sprechen dann vom Bewußtsein. Dies ist ein wechselnder Zustand
zwischen Seele und Geist, zwischen der rezeptiven und produktiven Psyche,
wie man bisher sagte, zwischen den Bindegewebszellen und Muskelzellen, wie
zellularpsychologisch der Vorgang bezeichnet werden muß.
Wäre das Bewußte allein unser Leben oder auch nur maßgebend für unser
Leben, so wäre es eine Torheit solche Dinge wie diesen kleinen Reim zu
gestalten, zu bewahren, zu untersuchen oder auch nur zu erwähnen, aber
ganz im Gegenteil ist und bleibt „die Poesie das absolut Reelle“. Wissenschaft
ohne seelisches Empfindungs- und Gestaltungsvermögen ist undenkbar, die
Bemühung, ohne solches zu arbeiten, von vernichtender Wirkung.
KRITIKEN UND REFERATE
Ethnologische Neuerscheinungen 1ı920—ı922
Von Dr. Geza Röheim (Budapest)
I
ı) P. COHEN-PORTHEIM: ‚Asien als Erzieher. 1920.
2) K. Th. DANZEL: Die psychologischen Grundlagen der Mytho-
logie. Archiv für Religionswissenschaften. 1922. 430. e
3) W. PFLUG: Die Kinderwiege, ihre Formen und Verbreitung.
Archiv für Anthropologie. XIX. 222.
4) F. v. REITZENSTEIN: Ethnoanalyse. Jahreskurse für ärztliche Fort-
bildung. XIII. 1922. 43.
5) W. H. R. RIVERS: The Symbolism of Rebirth. Folk-Lore. 1922. 14.
6) R. THURNWALD: Die Psychologie des Totemismus. Anthropos.
1920. 532.
7) R. THURNWALD: Die Gemeinde der Bänaro. 1921.
181
8) I. T. BROWN: Circumeision Rites of the Becwana Tribes. Journal
of the Royal Anthropological Institute. 1922. 422.
9) L. FROBENIUS: Paideuma. 1921.
ı0) A. GRIMBLE: From Birth to Death in the Gilbert Islands. Journal
of the Royal Anthropological Institute. LI. 1921. 22.
ı1) J. W. HAUER: Die Anfänge der Yogapraxis. 1922.
ı2) Ss. LÖNBORG: Der Clan. ı92ı.
ı3) P. J. MEIER: Der Totemismus im Bismarck-Archipel. Anthropos.
1920. 32.
as”
a = ui
544
Wir wollen hier kurz einige Veröffent-
lichungen erwähnen, die für den Psycho-
analytiker bemerkenswert sind; dabei wer-
den natürlich jene Arbeiten, die in den
psychoanalytischen Zeitschriften erschei-
nen oder auch dort bereits besprochen
wurden, nicht berücksichtigt, da diese Zu-
sammenstellung eben nur flüchtige Hin-
weise auf sonst Unbemerktes bringen soll.
Die erste Gruppe enthält Arbeiten, die
sich auf die Psychoanalyse beziehen: ent-
weder zustimmend oder abweisend; in die
zweite haben wir Arbeiten gestellt, deren
Resultate für die Psychoanalyse bemer-
kenswert sind.
I
Das Buch von Cohen-Portheim (ı)
kann im großen und ganzen als ein ge-
lungener Beitrag zur differentiellen Völker-
psychologie betrachtet werden, wenn auch
das meiste schon von anderen anders ge-
sagt worden ist. Europa = Extraversion,
Asien = Introversion bildet die Grundlage
der ganzen Arbeit. Verfasser hat viel von
der Psychoanalyse profitiert und würdigt
die Lehre Freuds auch ausdrücklich in
zustimmender Weise (S. 185). Die Bemer-
kungen über Haß auf Grundlage der Ähn-
lichkeit und Differenzierung sowie über
Judentum und Christentum treffen un-
zweifelhaft das Richtige ($. 42). An dem
Buch ist nur die nicht rein wissenschaft-
liche Behandlung des Themas und die ana-
gogische Tendenz auszusetzen.
Die Arbeiten von Thurnwald (6, 7)
und von Rivers (z) rühren von Autoren
her, die sich noch gegen die psychoana-
lytische Erkenntnis sträuben. Rivers will
den Beweis erbringen, daß das Wasser
' nichts mit dem Symbolismus der Wieder-
geburt zu tun habe; dabei schränkt er
aber den Umfang des Beweismaterials
willkürlich ein und behandelt nur die
Riten der Geheimgesellschaften. Selbst
Kritiken und Referate
leichtes
nachzuweisen, daß er sein Material nicht
erschöpft, sein Hauptargument: „Indien,
das eigentliche Land der Wiedergeburts-
riten, verwendet doch nicht die Weasser-
symbolik“, ist durch Angaben, die er nicht
berücksichtigt (Hauer: Die Anfänge der
Yogapraxis. 1922. 85) hinfällig.
In seiner Arbeit über Totemismus
meint Thurnwald, die Freudsche
Theorie des Totemismus sei schon da-
durch hinfällig, daß einer ihrer Stütz-
pfeiler, die Opfertheorie Robertson-
Smiths, sich als unhaltbar erwiesen habe.
In seiner schönen Monographie über die
Bänaro [die in diesem Hefte auch ge-
sondert noch besprochen wird], ist aber
ein recht schlagender und von dem Ver-
fasser auch richtig gedeuteter Fall von .
der Verdrängung des inzestuösen Ge-
schlechtsverkehrs (im Ritus) zu finden.
Danzel (2) unternimmt den vergeb-
lichen Versuch, alle Deutungsmethoden
von der Astralmythologie angeblich bis
zu Freud (eigentlich aber nur bis zu
Silberer) zu vereinigen.
Die einzige Arbeit, die sich voll-
kommen auf den psychoanalytischen Stand-
punkt stellt, ist die schöne, auch historisch-
ethnologisch gelungene Monographie von
Pflug (3) über die Wiege, die vom Ver-
fasser mit Berufung aufRank und andere
psychoanalytische Autoren als Uterussym-
bol gedeutet wird.
Bei Reitzenstein (4) deutet schon die
Wortbildung im Titel seines Aufsatzes
(Ethnoanalyse) darauf, daß ihm die Psycho-
analyse nicht unbekannt ist. Sie wird auch
von ihm als Lehre von den Verdrängungs-
erscheinungen ausdrücklich erwähnt und
angenommen, allerdings mit gleichzeitiger
Berufung auf Freud, Adler und Stekel
($S. 45). Viel wird sich der Verfasser je-
doch nicht mit der Psychoanalyse be-
schäftigt haben, sonst hätte er sie —
auf diesem Gebiet ist es ein
Kritiken und Referate
545
———e—nmmee
namentlich, da er die sexuelle Erklärung
nicht nur nicht abweist, sondern geradezu
bevorzugt — öfters herangezogen. Seine
Erklärungsversuche sind übrigens stets
originell und interessant, so z. B. die Er-
klärung der Beschneidung als einer ma-
gischen, geschlechtlichen Vorbereitung
(S. 48), das Zurückführen der Brünhilden-
Sage auf Hochzeitsriten (S. 51).
Verfasser weist schließlich auf die
weiteren Aufgaben der Ethnoanalyse hin:
Erstens sollen die einzelnen Bräuche ın
die Entwicklungsperioden prähistorischer
Kulturgeschichte eingegliedert werden und
dann gebührt der sexualwissenschaftlichen
Forschung das entscheidende Wort. „Denn
es ist kein Zufall, daß sich fast alle Sagen
um dGeschlechtsleben und Ehe drehen.
Genau wie das sexuelle Moment an der
Spitze der bildenden Kunst steht, so spielt
es auch eine Hauptrolle im Entstehen der
menschlichen Kultur“ (S. 53).
II
Ohne die Psychoanalyse ausdrücklich
zu erwähnen, kommen Arbeiten wie die
von Frobenius (g) in ihren Ergebnissen
doch bis an die Grenzen des psychoana-
lytischen Wissens. Frobenius ist im Be-
sitze eines fließenden, oft allzu literarisch
aufgeputzten Stils und einer eigenen Ter-
minologie; für uns ist die Arbeit insofern
von Interesse, als hier der topische Ge-
sichtspunkt und das unbewußte Wissen
(S. 47) der Äthiopen überall stark betont
wird. Sexualität als Beweggrund wird
allerdings auch in Fällen, in denen es
selbst die Ethnologen sehen, nicht aner-
kannt, sondern durch das schöner klin-
gende Wort „Geist“ ersetzt (S. 56).
Hauer (ıı) enthält wichtige Beiträge
zur Mutterleibssymbolik und zu der ge-
schlechtlichen Vereinigung des Ekstatikers
mit der Gottheit.
Lönborg (12) interessiert uns, weil
er die Exogamie auf Grundlage derLan g-
Atkınson-Freudschen Hypothese von
dem :Urhordenkampf erklärt, während
Meier (13) eine ganz naive und eben
darum wertvolle Bestätigung der psycho-
analytischen Auffassung des Totemismus
bringt. Er sagt ganz einfach, der Tote-
mismus ist eine Institution zur Verhütung
des Inzests.
Die Arbeit von Grimble (ı0) enthält
einen Beitrag über die Strafe des Inzests
bei den Gilbert-Insulanern. In Tamana
und Arorae wurden die Schuldigen mit
dem Gesicht nach unten in einen seichten
Wassertümpel gelegt und erdrosselt, sonst
auch auf einen Baumstamm festgebunden
und auf die hohe See hinausgestoßen, Das
mythische Prototyp der Handlung findet
sich in der Geschichte des Heroen Bue,
der mit seiner Schwester verkehrt hat.
Empört über diese Tat versteckte ihr
Ahnherr Taai (die Sonne) sein Antlitz
und vernichtete das Schiff des Bue (S. 26).
Bemerkenswert an der Erzählung ist es,
daß der Inzestverbrecher einem heroi-
schen Vorbild folgt und daß die Strafe
(Tod durch Ertrinken) eben die eigent-
liche Erfüllung des Inzestwunsches (Rück-
kehr in die Intrauterinlage) bedeutet.
Die wichtigen Mitteilungen über Puber-
tätsriten der Becwanasstämme (8) beziehen
sich hauptsächlich auf die Sexualsymbolik
der Lieder (Salz, Horn, Elefant bedeuten
den Penis). Eine schlagende Bestätigung
der psychoanalytischen Auffassung der
Beschneidung (Reik) ist in der Angabe
zu finden, die Unbeschnittenen seien Stiere
(oder „wie Stiere“). Und genau wie die
Kastration das wilde Vieh zähmt, so
werden auch die geschlechtlichen Lüste
der Jünglinge durch die Weiheriten in
Zaum gehalten. Ein Häuptling hat auch
den Schritt von der gemilderten zur ur-
sprünglichen Form getan, indem er die
346 Kritiken und Referate
Jünglinge kastrierte. Der Zusammenhang
zwischen diesen Riten und der Verdrän-
gung wird evident; die Uneingeweihten
sind unverbesserlich und ungehemmt, sie
rücken immer mit der Wahrheit heraus
und verstehen auch alles wörtlich (S. 426).
Kurz, die Symbolik entsteht erst aus der
Verdrängung und die Verdrängung aus
dem Ödipus-Konflikt.
Dr. MORITZ ZELLER: Die Knabenweihen. Arbeiten aus dem völker-
kundlichen Institut der Universität Bern. IL 1923. ı60.
Das Buch von Zeller gehört gewiß
zu. den bemerkenswerten Erscheinungen
der Ethnologie. Nur selten nimmt die
offizielle Ethnologie Kenntnis von der
Arbeit, die auf ethnologischem Gebiet von
psychoanalytischer Seite geleistet wird und
noch seltener findet diese Arbeit Anerken-
nung. Zellers Buch setzt es sich aber zum
Ziel, „hauptsächlich mit Hilfe der Psycho-
analyse eine Erklärung für die Pubertäts-
riten zu finden“ ($. ı), eine allerdings
etwas anmaßende Ankündigung, da er
im wesentlichen doch nichts anderes tut,
als die von Freud und Reik schon ge-
fundene Erklärung zu akzeptieren. Wir
wollen aber mit dem Verfasser nicht zu
streng ins Gericht gehen und lieber be-
reitwillig anerkennen, daß damit auch
schon viel, sogar sehr viel geleistet ist.
Besonders, da die meisten Ethnologen
nur die absolut zunftmäßige Literatur
lesen, wird ihnen hoffentlich durch Zeller
der Weg zur Psychoanalyse gewiesen
werden. Der im bewußten Wissen wie
im unbewußten Ahnen gleich hervor-
ragende Meister der englischen Ethno-
logenschule J. G. Frazer hat ja schon
längst betont, daß wir es hier mit der
großen Frage im Leben der Primitiven
und in der Entstehung der menschlichen
Kultur zu tun haben und auch angedeutet,
daß die Lösung dieser Frage auf sexu-
ellem Gebiete zu suchen sei (Balder the
Beautiful, II. 278). Dementsprechend hat
er sich auch wiederholt zu der Frage ge-
äußert; um nur einige Stellen rasch heraus-
zugreifen, führen wir an (außer der oben .
angeführten Stelle im „Balder the Beauti-
ful“): On some Ceremonies of the Central
Australian Tribes. Australasian Association
for the Advancement of Science, 1901. 313.
The Origin of Circumcision. The Inde-
pendent Review. 1904. 204, 218. The
Magic Art. ıgıı. I. 94. Totemism and
Exogamy. ıgıo. IV. ı80. The Belief in
Immortality. ıgı3. I. 254. Folk-Lore in
the Old Testament. ıgıg. II. 330. Ist es
nicht befremdend, daß ein Ethnologe ein
Buch über Knabenweihen schreibt und
von den genannten Stellen nicht eine ein-
zige anführt, ja, Frazers Ansicht über-
haupt nur aus zweiter Hand (Ploß-Renz)
zu kennen scheint? ($. 102.) Ebenso ver-
missen wir die einschlägigen Arbeiten
von Webster: Primitive Secret Societies.
1908. Chapter II. The Puberty Institution
und A.van Gennep: Les Rites de Passage,
1909. Chapter VI, ferner Flügel: The
Psycho-Analytic Study ofthe Family. 1921.
Chapter IX. The Psychology of Initiation.
und man wird es mir vielleicht verzeihen,
wenn ich auch Eigenes erwähne, denn
der Abschnitt in Imago VII, 488 bis 502
wäre namentlich für die Deutung der
Riten (Töten des Totemtieres, Urvaters
und darauf getöteter Urvater als Ich-
Krinken and Referat me
en un e FR e a 347
Ideal) und für die richtige Erfassung der
Pubertätsriten in Amerika verwendbar
gewesen. Über die Auswahl der ethno-
logischen Quellen ließe sich auch so
manches sagen; wir wollen aber nur be-
merken, daß ein so hervorragend wich-
tiges Gebiet wie Neu-Guinea durch Vor-
mann sehr ungenügend vertreten ist,
Wir vermissen hier besonders Thurn-
wald, Haddon, Neuhauß, Schellong,
um nur einige Hauptquellen zu erwähnen.
Und wie kommt es, daß der Verfasser Ho-
witt, Spencer und Gillen, W. E.Roth,
RB. H. Mathews unerwähnt läßt, dafür
aber eine gar nicht besonders gute Quelle
wie Eylmann sogar mit Vorliebe zitiert?
($. 77, 133.) In den erklärenden Teilen
finden wir, daß der Verfasser die Psycho-
analyse auch selbständig auf seine Quellen
anzuwenden versteht und die Zusammen-
hänge, die sich aus dem Material (nach-
dem es in seinen Hauptzügen von Reik
aufgeklärt worden ist) geradezu auf-
drängen, nicht unbeachtet läßt. So hebt
er richtig den Zusammenhang zwischen
Königsmord (Urhordenkampf) und Be-
schneidung bei den Mundang und Dakka
hervor ($. 128), worüber sich auch Refe-
rent im selben Sinne in mehreren Vor-
lesungen ausgesprochen hat (Berlin, Buda-
pest). Die Hodenexstirpation der Hotten-
totten wird als Übergangsform zwischen
Beschneidung und Kastration hervorge-
hoben (S. 134). Treffend bemerkt er zum
angeblichen Ziel der Beschne idung: „Durch
jahrhundertelange Verdrängung sind bei
den meisten Völkern die feindlichen Re-
gungen in den Vätern ins Unbewußte ver-
trieben worden und nur die freundlichen
treten jetzt zutage. Heute erklären die
Primitiven die Beschneidung als einen
freundschaftlichen und wohlwollenden Akt,
der den Knaben nützlich und wohltätig ist“
(S. 136). Bei den Amaxosa... wird der
Knabe durch Prügeln zur Beichte gezwun-
gen und so lange geschlagen, bis er den
Inzest zugibt, ob er ihn nun begangen
hat oder nicht (S. 140). Außer der Be-
schneidung werden auch Schlaf und Schwei-
gen richtig als Tötungssymbole gedeutet
(S. 141, 142). Siehe auch schon Reik:
Psychoanalytische Studien zur Bibel-
exegese. Imago V, 357, und Frazer:
Folk-Lore in the Old Testament. ıgı9.
III. 7. The Silent Widow. Bei den Völ-
kern des Tsadseebeckens ist der Be-
schneider deutlich als Leopard, d. h. als
das Totemtier der Könige zu erkennen.
„Eigentlich ist es der tote König selbst,
der die Beschneidung, d. h. die Tötung
und Kastration ausführt“ (S. 143). „Durch
dieses gemeinsame Essen des Opfertieres
(Masai) wird die Gemeinschaft der Er-
wachsenen mit den Novizen besiegelt. Es
umschlingt beide das Band der Schuld“
(S. 146). Außer der reinigenden hätte
Zeller auch die Intrauterinbedeutung
des Wassers hervorheben sollen ($. 155).
Hie und da verhält er sich noch ab-
lehnend gegenüber Reiks Ergebnissen
(S. 155). Wir glauben aber, daß wir es
hier nur mit den letzten Spuren des un-
bewußten Widerstandes gegen die psycho-
analytische Einsicht zu tun haben. Im
ganzen aber kann man den Verfasser zu
seiner Leistung nur beglückwünschen und
zugleich hoffen, daß ihm auch noch
Besseres und Selbständigeres gelingen
wird.
Als Ethnologe sollte der Verfasser die
Gelegenheit benützt haben, um das reiche
Beweismaterial der Reikschen Auffas-
sung, welches in den ätiologischen Sagen
der Pubertätsriten versteckt liegt, ans
Tageslicht zu fördern. Wir vermissen auch
eine Behandlung der Überbleibsel der
Knabenweihen bei Indogermanen und
Semiten, die gerade vom psychologischen
Standpunkt lehrreich gewesen wäre.
Dr. G. Röheim (Budapest).
548 | kaıcken ad Referate
PEHR LUGN: Die magische Bedeutung der weiblichen Kopfbedeckung
im schwedischen Volksglauben. Mitteilungen der Anthropologischen Ge-
sellschaft in Wien. L. ı 920. 8ı bis 106.
Der Unterschied zwischen Jungfrau
und Frau im physiologischen Sinn ist ein
Unterschied an den Genitalien, der jedoch
in der Bekleidung in Umkehrungsform
und in der Verschiebung nach oben dar-
gestellt wird; als Ersatz des zerstörten
Hymens trägt die Frau eine Kopfbedeckung,
unbedeckten Hauptes darf nur eine Jung-
frau gehen, d. h. eine, die an den Geni-
talien bedeckt ist. Die Übertretung dieses
Verbotes schadet den Kindern und der
Fruchtbarkeit des Viehes. Der Verfasser
erklärt die einschlägigen Bräuche aus der
Gefährlichkeit der Huren und Schwan-
geren; die Kopfbedeckung soll isolierend
wirken; d.h. die Kastrationsangst als Angst
vor der „Wunde“ der offenen Scheide wird
nach oben verschoben und durch ein
zweites Hymen (Kopfbedeckung) be-
schwichtigt. Die Arbeit enthält viel inter-
essantes Material (z. B. zur magischen
Bedeutung des Haares, $. 106) und ist zu
empfehlen. Der Psychoanalyse steht der
Verfasser natürlich fern, doch läßt sich
aus der Stoffsammlung manches lernen.
Dr. G. Röheim (Budapest),
J. LOEWENTHAL: Das altmexikanische Ritual tlacacäliliztli und
seine Parallelen in den Vegetationskulten der alten Welt. Mittei-
lungen der Anthropologischen Gesellschaft in Wien. LIL 1922. ı bis 22,
Diese interessante und gründliche eth-
nologische Arbeit ist als Fortsetzung der
gleichgerichteten früheren Studien des
Verfassers (siehe Besprechung: Bericht
über die Fortschritte der Psychoanalyse.
1921. 175) zu betrachten. Es handelt sich
um den Erntefestbrauch, einen am Ge-
rüst in der Koitusstellung des Weibes
festgebundenen Jüngling mit Pfeilen zu
erschießen. Die unbewußte Entstehung der
Bräuche wird aber nicht weiter beleuchtet,
es liegt hier Loewenthal mehr an der
Aufdeckung von historischen Zusammen-
hängen. Dr. G. Röheim (Budapest).
L. LEWY-BRÜHL: Das Denken der Naturvölker. In deutscher Über-
setzung herausgegeben und eingeleitet von W. Jerusalem. Wien und Leipzig.
Braumüller. 1921.
Mit einer zustimmenden Einleitung
von Jerusalem erscheint das Buch von
Lewy-Brühl „Les fonctions mentales
dans les societ&s inferieures“ nunmehr in
deutscher Übersetzung. An Zustimmung
hat es diesem Buch seit jeher nicht ge-
mangelt; wir fürchten jedoch die Ursachen
dieser Zustimmung seien weniger in den
Vorzügen des Buches als in der Psycho-
logie der Gelehrtenwelt zu suchen. Eine
bequeme Formel, die über Mangel an
wirklichem Erkennen hinwegtäuscht, dies
ist wunschgemäß und diesem Wunsche
entspricht Lewy-Brühl in tadelloser
Weise. Die Formel lautet, daß die eigen-
tümlichen Verbindungen im Geistesleben
der Primitiven sich nicht durch die soge-
nannten „Assoziationsgesetze“, sondern
durch das „Gesetz der Partizipation“ er-
klären lassen. Es liegt ihnen allen eine
Partizipation „zwischen den Wesen und
den Gegenständen, die in einer Kollektiv-
vorstellung verknüpft sind, in verschie-
denen Formen und Graden zugrunde“
Kritiken und Referate 349
(S. 57). „Für diese geistige Beschaffenheit
führt der Gegensatz zwischen dem einen
und dem vielen, demselben und dem an-
deren nicht notwendig dazu, eine dieser
Bestimmungen zu verneinen, wenn man
die andere bejaht, und umgekehrt“ (S. 58).
Dies ist sehr wahr, nur ist es unrichtig,
wenn sich der Verfasser dagegen wehrt,
die Psychologie und besonders die Psycho-
logie des Kulturmenschen zur Erklärung
dieser Erscheinungen heranzuziehen: „Um
den Mechanismus der Einrichtungen zu
verstehen, muß man sich erst von dem
Vorurteil befreien, daß die Kollektivvor-
stellungen im allgemeinen und die der
niederen Gesellschaften im besonderen
Gesetzen der Psychologie gehorchen, die
sich auf die Analyse des einzelnen Subjekts
gründen. Die Kollektivvorstellungen haben
ihre eigenen Gesetze, die sich — gar
wenn es sich um die Primitiven handelt —
durch das Studium des ‚weißen, erwach-
senen und zivilisierten‘ Individuums nicht
entdecken lassen“ (S. ı). Dies ist eben der
große durch die Tatsachen der Psycho-
analyse längst widerlegte Irrtum des Ver-
fassers, denn wir wissen ja genau, daß
im Unbewußtem die Identität („Partizi-
pation“) an Stelle der Formel „so — wie“
tritt, daß das Unbewußte kein Ja und
kein Nein, d. h. keine logischen Gegen-
sätze kennt, daß die Vorstellungen über-
determiniert sind :usw. Alles Dinge, die
der Verfasser nun auch bei den Primitiven,
natürlich in einer weitaus weniger klaren
Fassung entdeckt. Diese Mentalität nennt
er nun die „prälogische“ und stellt die
Sache so dar, als ob bei den Primitiven
nur die prälogische, bei den Kultur-
Diese kleine Schrift enthält eine Be-
sprechung einiger ethnologischer Theorien
über die Urformen der Gesellschaft und
menschen aber nur die logische Geistes-
richtung vorhanden wäre. Es entgeht ihm
dabeı, daß die Primitiven, wenn unter der
Herrschaft des Realitätsprinzips stehend
(Jagd, Arbeit), auch vollkommen „logisch“
handeln können und das anderseits der
Kulturmensch im Unbewußtem auch „prä-
logischen“ Gesetzen unterworfen ist. Der
Unterschied ist nur darin zu suchen, daß
der Kulturfortschritt in einer stets fort-
schreitenden Realitätsanpassung besteht,
wodurch die „logische“, der Außenwelt
zugekehrte Handlungsweise stets mehr
dazu verwendet wird, die eigentlichen
Motive der Handlung zu verdecken. We-
sentlich ist es freilich, daß dem Primitiven
wie dem Geisteskranken der Sinn für den
Unterschied zwischen „sozialer“ „psycho-
logischer“ Realität einerseits und räumlich
ausgedehntem Sein anderseits abgeht und
es wäre gewiß interessant zu erfahren,
wie die Menschheit dazu gekommen ist,
die Abgrenzung von Ich und Außenwelt
zu vollziehen. Diese Problemstellung liegt
dem Verfasser fern, er begnügt sich da-
mit, seine Formel auf die verschiedenen
Gebiete des primitiven Geisteslebens an-
zuwenden. Das Täuschende, Formelhafte
liegt freilich darin, wenn man z. B. meint,
durch den Hinweis auf die bekannte
„mystische Symbiose“ zwischen mensch-
lichen und tierischen Mitgliedern einer
Totemgemeinschaft ($. 218), die Inti-
chiumazeremonien erklären zu können. Es
ist nicht genug, die „mystischen Ursachen“
(S. 249) überall festzustellen; wir können
mehr als dies, nämlich sie in ihrer histo-
rischen Bedingtheit erklären.
Dr. G. Röheim (Budapest),
SVEN LÖNBORG: Der Clan. Diederichs 1921.
dann die eigenen Ansichten des Verfassers,
die zumeist das wirtschaftliche Moment
stark in den Vordergrund rücken (z. B.
350
Kritiken und Referate
S. 30). Uns interessiert die Schrift ınso-
fern, als der Verfasser die Darwin-
Atkinson-Freudsche Hypothese von
der Urform der menschlichen Gesell-
schaft annimmt und den Urhordenkampf
zur Erklärung der Exogamie heranzieht
(5. 39).
Dr. G. Röheim (Budapest),
WILHELM VLEUGELS: Zu Freuds Theorien von der Psychoanalyse.
Kölner Vierteljahrshefte für Soziologie. Zeitschrift des Forschungsinstitutes für
Sozialwissenschaften in Köln. III. Jahrg. Heft ı, 2/z. 1923.
Die wissenschaftlichen Vertreter der
Soziologie bringen den psychoanalytischen
Theorien ein steigendes Interesse ent-
gegen. Bei der besonderen Natur der
analytischen theoretischen Aufstellungen
und der Schwierigkeit der Nachprüfung
am ursprünglichen Material für den Nicht-
analytiker ist es begreiftlich, daß sich die
Aufnahme der analytischen Theorien in
der Soziologie nur zögernd und mit vielen
Einschränkungen vollzieht. Es spricht aber
für den wissenschaftlichen Ernst der So-
ziologen, daß sie die Bedeutung und den
heuristischen Wert der Psychoanalyse für
ihre Disziplin — wenn auch nur prinzi-
piell und mit Reserve — anerkennen und
immer wieder den Versuch machen, die
Probleme ihrer Wissenschaft von den Ge-
sichtspunkten der Analyse aus zu sehen.
Als ein solcher ernstzunehmender Versuch
ist die kritische Auseinandersetzung an-
zusehen, die Vleugels jetzt in der Zeit-
schrift des Kölner Forschungsinstitutes
für Sozialwissenschaften unternimmt. Der
Autor beschäftigt sich insbesondere mit
den Beiträgen zur Psychologie und Sozio-
logie der Masse, die in Freuds „Totem
und Tabu“ und „Massenpsychologie und
Ich-Analyse“ vorliegen. Er lehnt die „be-
fremdende Einschränkung auf das Studium
lediglich der bewußten Beziehungen“, wie
sie z.B. in der Soziologie Tardes er-
scheint, ab und betont, daß der Soziologe
sich bei der Erklärung der sozialen Pro-
dukte der zwischen-menschlichen Bezieh-
ungen dankbar der Stützen, die der Psycho-
analytiker ihm bietet, bedienen wird. Er
hat richtig erkannt, daß Freud in seiner
Schrift die bisherige Massenpsychologie
nicht umstoßen, sondern vertiefen will.
Die Beschreibung der Bindung an den
Führer als einer Ich-Idealersetzung er-
scheint ihm besonders glücklich, sie gebe
die nötige psychologische Erklärung für
einen schon früher gelegentlich angedeu-
teten Tatbestand. Er bezweifelt freilich,
daß es keine andere Möglichkeiten gibt,
aber die Freudsche Erklärung des Wesens
der Masse aus der affektiven Bindung sei
richtig und fruchtbar. Noch verdienst-
licher erscheint ihm die Erklärung der
Panik. Es sei indessen nicht richtig, daß
die affektive Bindung der Masse nur
durch den Führer vermittelt werden könne.
Skeptisch steht der Autor auch der Ur-
hordenhypotheseFreuds gegenüber; diese
und andere Theorien Freuds seien über-
eilte Verallgemeinerungen; auch die all-
gemeine Bedeutung des Ödipus-Komplexes
für das normale Seelenleben erscheint ihm
durch die Beobachtung der gleichge-
schlechtlichen Anziehung zweifelhaft.
Freud habe sich durch die Voraussetzung
der Libido verführen lassen, zu viel auf
ihr Wirken zurückzuführen. Wie hier,
mißversteht der Autor Freud auch darin,
daß er aus Freuds Annahme der Wirk-
samkeit von zielabgelenkten Liebestrieben
in der Masse zur (abgelehnten) Folgerung
gelangt, daß die Menschen, in dem gleichen
Kritiken und Referate
Maße, in dem ihre Liebestriebe ihr ur-
sprüngliches Ziel zu erreichen pflegen,
zur Massenbildung unfähig seien. Vleu-
gels Kritik des Sublimierungsprozesses,
in der er sich auf Scheler beruft, geht
davon aus, daß die Libido nicht aus sich
Mächte schaffen könne, die ihr selbst
. Schranken setzen; er hat nicht erkannt,
daß die Mächte der Moral, der Religon
usw., die eine Verdrängung und eine
Zuleitung an ıöhere Aufgaben ermög-
lichen, sich selbst zum größten Teil
aus Antrieben libidinöser (homosexueller\
351
— m ee En EZ Vo En Ze Te -_ is
Art herleiten. (Das Moment des „An-
triebes der Lebensnot“ hat der Autor ge-
nannt.) Diese und andere Bedenken aber
lassen es bedauern, daß die Soziologie der
Psychoanalyse in ihrem gegenwärtigen
Zustande nur gelegentliche Ein- und
Durchblicke abgewinnen könne. Wir
hoffen, daß der Autor sich durch Ver-
tiefung seiner Nachprüfung und eindrin-
genderes Studium noch mehr von der
hohen Bedeutung der psychoanalytischen
Methode für seine Wissenschaft wird über-
zeugen können. Dr. Th. Reik (Wien).
Dr. RICHARD THURNWALD: Die Gemeinde der Bänaro. Ehe, Verwandt-
schaft und Gesellschaftsbau eines Stammes im Innern von Neu-Guinea. Sonder-
ausgabe aus der „Zeitschrift für vergleichende Rechtswissenschaft. XXX VII. Bd.
Heft 3 und XXXIX. Bd. Heft ı/2. Ferdinand Enke. Stuttgart 1921.
Eine ausgezeichnete Arbeit, die un-
eingeschränkte Anerkennung verdient.
Verfasser leistet als vergleichender Ethno-
loge Hervorragendes und es ist ihm ge-
glückt, in den Bänaro ein besonders gutes
Studienobjekt zu finden. Aus verschie-
denen Bemerkungen des Verfassers geht
hervor, daß er der psychoanalytischen
Auffassung nicht allzu ferne steht. Da
haben wir z.B. in der Reifefeier der
Mädchen die Defloration durch den zu-
künftigen Schwiegervater, beziehungsweise
seinem „Sippenfreund“ (vgl. Freud: Tabu
der Virginität), wozu der Verfasser be-
merkt: „Dem Bräutigam bleibt die Braut
versagt, bis sie ein Kind geboren hat“.
„Kommt dieses zur Welt, so spricht die
Mutter: ‚Wo ist dein Vater? Wer hatte mit
mir Umgang? Der Bräutigam entgegnet:
‚Ich bin nicht sein Vater, es ist ein Geister-
kind.‘ Sie meint dazu: ‚Wie ist es zuge-
gangen, daß ich mit einem Geiste zu tun
hatte“ „Diese Äußerungen der Braut
deuten darauf..., daß sie auf das Ereignis
der Kohabitation wie auf einen Vorgang
blickt, der ihr nicht voll zum Bewußt-
sein gekommen ist“ (von mir gesperrt).
Die Defloration erfolgt durch einen alten
Mann, der unter Umständen des Mädchens
eigener Vater ist (S. 184), und dies dürfte
die folgende Verdrängung des Ereignisses
in der Geisterhalle genügend erklären.
Dieser Vertreter der Vaterreihe und die
Frau müssen sich später gegenseitig „mei-
den“ (vgl. über avoidancee Freud: Totem
und Tabu. 1913). Thurnwald hebt hervor,
daß das Vermeiden aus der seelischen
Erschütterung hergeleitet werden könnte,
die mit der furchterregenden Begegnung
nachts in der dunklen Geisterhalle und
den folgenden Vorgängen zusammen-
hängen. Bekanntlich entstehen gerade aus
derartigen Erschütterungen eigenartige
Hemmungen und „Verdrängungen“ (S. 94,
95), Das exogame Zweiklassensystem
scheint Verfasser als eine Gesellschafts-
form, die aus der Freud-Atkinsonschen
Urhorde entstanden ist, zu betrachten. Er
bemerkt nämlich: „die Spaltung bildet
jedenfalls die Voraussetzung dafür, daß
35?
Kritiken und Referate
in einer größeren Gruppe mehrere Alte
friedlich nebeneinander leben konnten.
Sie stellt also eine kompliziertere ge-
sellschaftliche Organisation dar, als etwa
die mit einem Alten an der Spitze“
($. 193). Wir hoffen, daß der Verfasser
auch seine nicht-soziologischen Material-
sammlungen recht bald veröffentlichen
Käfer (Buanveast
GUSTAV LEBON: Psychologische Grundgesetze in der Völkerent-
wicklung. Berechtigte Übertragung aus dem Französischen von Arthur Seiffhart.
Verlag von S. Hirzel in Leipzig. 1922.
Das Werkchen wurde bereits im Jahre
1896 publiziert und gibt in abgekürzter
Form eine Übersicht der Hauptergebnisse
der großen kulturgeschichtlichen Arbeiten
Le Bons, Es ist meisterhaft geschrieben,
mit wenigen Ausnahmen auch gut über-
setzt und wird jeden historisch und so-
ziologisch interessierten Leser fesseln,
Einseitig und selbstsicher, lehnt der Autor
die Tendenzen der Revolution ebenso ab
wie die des Sozialismus, mißt überhaupt
dem Vernunftgehalt eines Progammes
oder einer Einrichtung, für die gekämpft
wird, keine Macht bei, sondern findet,
daß die Kriege, gleichgültig aus welchem
Grunde offiziell geführt, Rassenkriege
sind. „Da die das Leben der Völker er-
füllenden Streitigkeiten aus Ursachen ent-
standen sind, die mit der Vernunft nichts
zu tun haben, so kann auch kein Fort-
schritt der Wissenschaft ihre blutige
Wildheit mildern. Die Intelligenz nimmt
mit der Zunahme des Wissens zu; aber
von der Zeit des Höhlenmenschen an sind
die Gefühle, Illusionen und Leidenschaften
der Menschen unverändert geblieben.“
Nur in geringem Maße von der Intelli-
genz beeinflußt, werden die Völker vor
allem durch ihren Rassencharakter ge-
leitet, d. h. durch die Anhäufung erblich
gewordener Eigenschaften, wie Gefühle,
Bedürfnisse, Gewohnheiten, Überlieferun-
gen und Ansprüche, die zusammen die
wesentlichen Grundbestandteile der Volks-
seele bilden.“
Der Rassenbegriff- unseres Autors hat
nichts mit der „reinen“ Rasse vieler Rasse-
theoretiker zu tun. Seine „Rasse“ ist vor-
zugsweise psychologischer Art und in ge-
meinsamen Gefühlsinhalten, Idealen, Glau-
benslehren und im Charakter begründet.
Die Erblichkeit dieser Charakteristika ist
für den Antor ohne jede Diskussion sichere
Tatsache. Allerdings müssen bewußte Ge-
danken erst unbewußt, und dadurch zu
Gefühlen werden, um vererbt und ein Teil
des Charakters zu werden. Nur durch ge-
meinsame, gefühlskräftig verankerte Ideale
und Ideen wird ein Volk zu einer Tat,
zu einer gemeinsamen Kulturschöpfung,
zum Siege befähigt. Wir sehen, daß Le
Bon ohne Kenntnis Freuds die ge-
meinsame libidinöse Fixierung als zu-
sammenhaltendes Moment erkannt hat.
Nur legt er das größte Gewicht auf die
erbhafte Fixierung und sieht deshalb die
Ursache des Untergangs von Völkern und
Kulturen in der Rassenvermischung, die
die erbhafte Einheitlichkeit durchbricht
und deshalb die Energiequelle der Ge-
meinsamkeit in Kampf und Kultur-
schöpfung schwächt.
Die Ausführungen Le Bons fordern
vielfach Kritik heraus, welche aber von
soziologischen und historischen Argu-
menten ausgehen müßte und nicht hieher
gehört. Psychoanalytisch ist einzuwenden,
daß er die manifest-religiösen, sozialen,
ideellen Motive, soweit sie nicht nur
intellektuell sondern auch affektiv gestützt
Kritiken und Referate
353
sind, als erste Ursachen auffaßt und tiefere
unbewußte Momente noch nicht kennt.
Für die psychoanalytische Forschung er-
öffnet sich hier ein weites Feld der Arbeit,
welche an Freud anknüpfen wird. Erst
die Psychoanalyse wird entscheiden, ob
wirklich je nach Volk und Rasse das Un-
bewußte wesentlich unterscheidbar be-
funden werden wird? Ob vererbte Rassen-
unterschiede in der Sexualkonstitution und
in der „organischen Verdrängung“ sich
finden lassen? oder ob nicht auch hier
die traditionelle Sitte durch die Bedin-
gungen der Erziehung der frühen Kinder-
zeit die scheinbar konstitutionellen Unter-
schiede hervorruft, Daß zwischen den
tief- und hochstehenden Rassen solche
Unterschiede tatsächlich bestehen, ist nicht
zu bezweifeln. Es ist interessant, daB —
selbstverständlich mit anderer, weniger
scharfer Terminologie — Le Bon die
Höhe der Rassen hauptsächlich nach dem
Grade der Überwindung des Lust-Unlust-
prinzips durch das Realitätsprinzip be-
stimmt haben will.
Dr. P. Federn (Wien).
ROSA MAYREDER: Die Krise der Väterlichkeit. Die neue Generation.
Nr. 7/8. September-Oktober 1922.
Die Verfasserin untersucht die psychi-
schen und sozialen Voraussetzungen, auf
welche die Veränderung der Stellung des
Vaters innerhalb der Familie zurückzu-
führen sind; sie verweist auf das erwachte
Persönlichkeitsbewußtsein der Frau, auf
die sozialen Vorstellungen der Neuzeit,
auf die „Jugendbewegung“ etc. Sıe be-
hauptet, daß die Spuren der Auflehnung
des Sohnes gegen den Vater durch die
ganze Geschichte der Väterlichkeit er-
kennbar sind und erklärt sie aus der
sozialen Eifersucht zwischen Vater und
CÄCILIE SELER-SACHS:
1919.
Der Neugeborene wurde in Alt-Mexiko
mit Kriegsgeschrei begrüßt, denn die
Wöchnerin hatte ihre schweren Stunden
wie ein Held überstanden und einen „Ge-
fangenen“ (das Kind) gemacht. Die Par-
allele zwischen der Gebärerin und dem
Krieger dürfte jedoch tiefer im Ubw
wurzeln, denn der Krieg ist ja nur eine
Wiederholung jenes mythischen „ersten
Krieges“, welcher, wie Löwenthal ge-
zeigt hat, auf den Urhordenkampf der
Reiner.
Frauenleben
Sohn. Dies sei einleuchtender als das
von der Psychoanalyse betonte Motiv der
sexuellen Eifersucht. Gegen die Existenz
des Ödipus-Komplexes wird eingewendet,
daß Ödipus seinen Vater unwissentlich
und nicht aus bewußter Sohnesauflehnung
erschlagen habe, er sei also gar kein
typischer Repräsentant. Das Mißverständ-
nis — weniger höflich: das Unverständ-
nis — der Verfasserin geht aus dieser
Begründung klar hervor.
- Dr. Th. Reik (Wien).
im Reiche der Azteken
Väter und Söhne zurückgeht. (Vgl. J. Lö-
wenthal: Zur Mythologie des jungen
Helden und des Feuerbringers. 2. f.E. 1918,
42 und Bericht über die Fortschritte der
Psychoanalyse, 1921, 174.) Wenn demnach
die Gebärerin eine Kriegerin ist, so dürfte
vielleicht auch hier die ubw Vorstellung
zugrunde liegen, daß jede Geburt die
Folge einer inzestuösen Befruchtung sei.
Der Neugeborene wird als „Edelstein“
bezeichnet, (Vgl. Ferenczi: Cornelia, die
354
Kritiken und Referate
Mutter der Gracchen.) Die Tochter geht
aus der Mutter Leib hervor, „wie ein
Stein, den man von einem anderen Steine
absprengt“ (S. 45). Aus dem „Stoff ihrer
Vorfahren“ ist sie „gehauen, gearbeitet“
(ebenda). In das Haus ihres Zukünftigen
wird die Braut auf dem Rücken einer
alten Frau, eingehüllt in ein schwarzes
Tuch, bei Fackellicht getragen (S. 61).
Es gibt Pflanzen, deren Berührung eine
Erkrankung der Schamteile hervorruft
($S. 70). Über Fruchtbarkeitstänze und
Sündenbeichte wird berichtet ($. 75).
Wenn die Mäuse den Rock der Frau*
oder den Mantel des Mannes benagen,
so ist der Betreffende des Ehebruchs schul-
dig (S. 75). Öfientliche Dirnen spielen
eine bedeutende Rolle im Kultus (S. 77).
Als Quelle dient hauptsächlich Sahagun,
daneben wird aber die Gesamtliteratur
und persönliche Beobachtungen an der
modernen Indianerbevölkerung Mexikos
herangezogen.
Dr. G. Röheim (Budapest).
Prof. Dr. MAX SCHMIDT: Grundriß der ethnologischen Volkswirt-
schaitslehre. Bd. I. 1920. Bd. II. ı92ı. Stuttgart, F. Enke.
Die Volkswirtschaft der Naturvölker
war im Vergleich zu anderen Disziplinen,
wie z. B. der Religionswissenschaft ein
Stiefkind der Ethnologen. Es ist nun
mit Freude zu begrüßen, wenn diese Fra-
gen einmal zusammenfassend dargestellt
werden, und zwar von einem modernen
Forscher, der in seinem Spezialfach (Süd-
amerika) als Autorität gelten darf. Eine
Übersicht über die Abschnitte des Buches
genügt zur Orientierung in der Mannig-
faltigkeit der angeschnittenen Themata,
doch entspricht leider die Ausführung
keineswegs den Erwartungen, Der Ver-
fasser arbeitet überall mit Begriffen, die
der Volkswirtschaftslehre oder der Juris-
Dr. GERHARD KALO: Die Verse
Verlag. Berlin 1919.
In dieser fleißigen und gut orientierten
Studie untersucht der Verfasser das Vor-
kommen der rhythmischen Einschiebsel
erst u den Märchen der Naturvölker,
dann in Indien und Europa. Bei den
Naturvölkern finden wir im allgemeinen,
daß die gehobenen, gefühlsbetonten Teile
der Erzählung
thythmisch vorgetragen
werden ($,
13). In Indien scheint das
prudenz entnommen sind und projiziert
sie zurück in die Anfänge des sozialen
und Wirtschaftslebens, wo sie mehr zur
Verwirrung als zur Aufklärung bei-
tragen. Von einem „Grundriß“ dürften
wir billigerweise eine Einführung in das
Material fordern, statt dessen gibt der
Verfasser aber in den seltensten Fällen
die Quellennachweise, die für den An-
fänger beinahe wichtiger wären als der
Text selbst. Von einer psychologischen
Erklärung oder auch nur von dem Ver-
such einer solchen ist keine Spur. Am
ehesten ist er noch dort Herr der Lage,
wo es sich um rein technische Fragen
handelt. Dr. G. Röheim (Budapest),
in den Sagen und Märchen, Hutten
Märchen als Gelegenheit betrachtet zu
werden, möglichst viel von der gereimten
Spruchweisheit mitzuteilen, die Personen
des Märchens äußern sich jede Minute
und in den unmöglichsten Lebenslagen
in Versen, meist moralisierenden Inhalts,
In den europäischen Sagen und Märchen
sprechen jedoch nur die Geister unter-
einander in recht typischen Versen (da-
neben noch als Verkehrssprache zwischen
Geistern und Menschen), die der Form
nach den Kinderversen recht ähnlich sind.
Nun ist ja der Rhythmus überhaupt eine
infantil-archaische, unter der Herrschaft
des Wiederholungszwanges, beziehungs-
weise der Wiederholungslust stehende
Sprachform, daher auch die vielen Re-
duplikationen in den Lallmonologen der
Kinder und in dem Wortschatz der Natur-
völker. Wenn daher die Geister sich einer
Sondersprache bedienen, so läßt sich
daraus schließen, daß sie als ein fremd-
Kritiken und Referate | 355
sprachiges Volk betrachtet wurden, be-
ziehungsweise daß die Geistervorstellung
von den Ackerbauern auf die primitive
Urbevölkerung projiziert wurde. (Vgl. die
vielen Sagen von dem Zurückweichen
der Geister vor dem Ackerbau usw.)
Wenn aber diese Sondersprache eine
ausgesprochen infantile ist, so müssen wir
weiter foleern, daß hinter der Geister-
vorstellung als Verfasser und Bildner
eben die infantile Psyche zu suchen ist.
Dr. G. Röheim (Budapest).
LUDWIG KLAGES: Vom kosmogonischen Eros. Verlag Georg Müller.
München 1922.
Der Verfasser dieses Buches, anerkannt
durch seine Studien über Handschriften-
deutung, Charakterlehre und Ausdrucks-
kunde, von Anhängern gepriesen als wich-
tigster Schüler Nietzsches und tiefster
Denker der Gegenwart, versucht darin,
aus den Kulten der Primitiven Erkennt-
nisse zu gewinnen, die nach seiner Auf-
fassung in schroffen Gegensatz stehen
sollen zu denen der Psychoanalyse. Aus-
gehend vom Eros des Altertums, der sich
aus einem Dämon elementarer Naturge-
walten in frühester Zeit bis zum Putto der
Bukoliker wandelte, bei Platon im Sinne
einer weltflüchtigen Metaphysik umge-
fälscht wurde, definiert Klages den kos-
mogonischen Eros als einen Zustand der
vollkommenen Wollust, nicht notwendig
geschlechtlicher Natur, eine Art Ekstase.
In dieser befreie sich die durch die Kultur
geknechtete Seele vom knechtenden, Ge-
setze schaffenden Geiste. Das Erwachen
der Seele sei Schauung, und zwar werde ge-
schaut die Wirklichkeit der Urbilder. Diese
Urbilder sind erscheinende Vergangen-
heitsseelen. Die Schauung sei die mysti-
sche Hochzeit zwischen empfangender
Seele und zeugendem Dämon, dargestellt
ım Kultus durch eine Mahlzeit, wobei
dieser Dämon in der Gestalt eines Tieres
zerrissen und blutig verschlungen wird.
Dieser kosmogonische Eros wäre heute
höchstens zwischen zwei Rassebrüdern
möglich, die aber durch solch gemein-
sames Erlebnis die ganze Kulturmensch-
heit von der Fluchmacht des Geistes zu
erlösen vermöchten, während die Liebes-
leidenschaft zwischen zwei Menschen ver-
schiedenen Geschlechts zur Vernichtung
der Liebenden führen müsse. f
Die kulturfeindliche Vorliebe zu primi-
tiven Zeitaltern und deren sadistisch-
orglastischen Kultbräuchen und visionären
Ekstasen, aus denen der Autor seine Dar-
legungen zu dokumentieren sucht, beweist
eine Neigung zur Regression auf prä-
genitale Organisationsstufen, wie sie auch
bei mittelalterlichen Mystikern und mo-
dernen Sektierern häufig nachweisbar. ist.
Wenn wir in den Deduktionen Klages
statt Seele Unbewußtes, statt Geist Be-
wußtsein setzten, so könnten wir, ohne
ihnen viel Gewalt anzutun, darin viel
mehr psychoanalytische Ans chauungen um-
schrieben finden, als wohl der Autor selbst
vermutet und gelten lassen würde.
Te —
356 Kritiken und Referate
Die hohe Einschätzung der Träume,
die Ableitung des Ahnenkultus aus den
Träumen von den Verstorbenen, die ver-
mehrte Wertung der erlebten Vergangen-
heit gegenüber der nur mit Wünschen
und Befürchtungen erfüllten Zukunft, die
Hochwertung der Symbolsprache, deren
Erkenntnisgewinn unermeßlich sei, das
alles sind Dinge, die ein orthodoxer An-
hänger der Psychoanalyse kaum besser
hervorheben könnte, und die Bestätigung
aus dem Munde eines vermeintlichen
Gegners wiegt unseres Erachtens mehr.
als seine Einwände und Verunglimpfungen.
Was er endlich bei der Erklärung der
orgiastischen Kulte vorbringt, wo der
Gott, d.h. der Ahne, der Vorfahr, zer-
rissen und verzehrt wird, damit sich der
Myste mit ihm, seiner Kraft und Macht
identifizieren kann, das könnte sehr wohl
in Freuds „Totem und Tabu“ mit der
Hypothese von der Ermordung des Ur-
vaters geschrieben stehen.
Dr. A. Kielholz (Königsfelden).
Atlantis. Volksmärchen und Volksdichtungen Afrikas. Bd. VII. Dämonen
des Sudan. Bd. XI. Volksdichtungen aus Oberguinea. Herausgegeben von Leo
Frobenius. Eugen Diederichs. Jena ı 924.
Auch diese Bände der großen Samm-
lung von Frobenius bringen ein wert-
volles, psychologisches Material, das die
Psychoanalyse besonders durch die ganz
naiv auftretende Sexualsymbolik in der
Volksdichtung der afrikanischen Völker
interessiert.
Dr. Th. Reik (Wien)..
TH. WILHELM DANZEL: Kultur und Religion des primitiven
Menschen. Verlag von Strecker und
Diese Einführung in die Hauptprobleme
der allgemeinen Völkerkunde und Völker-
psychologie zeigt in der psychologischen
Erklärung und Deutung oft den tief-
gehenden Einfluß analytischer Gesichts-
punkte, z. B. im Kapitel über Magie,
TH. WILHELM DANZEL: Die psychologischen Grundlagen der
Schröder. Stuttgart 1924.
Religion, Gesellschaft. Der Autor, Dozent
an der Hamburger Universität, hat bereits
früher auf die Bedeutung der Analyse für
die Völkerpsychologie hingewiesen.
Dr. Th. Reik (Wien).
Mythologie. Arch. f. Religionswissenschaft. 2ı. Jahrg. 1922.
Der bekannte Mythenforscher weist
darauf hin, daß der Gegensatz natur-
mythologischer und psychoanalytischer
Deutung neuerdings für die Mythen-
kunde besonders wichtig wurde. Beide
Deutungsarten seien einseitig. Es sei
‘ wichtig, die Weltanschauung der Primi-
tiven zu erforschen und den objektiven
und subjektiven Gehalt des Mythos klar-
zustellen. Danzel erkennt die völker-
psychologischen Bemühungen der psycho-.
analytischen Forschung als berechtigt an.
Der Mythos bringe nicht nur Aussagen
über kosmisches, astronomisches Ge-
schehen, sondern gleichzeitig über in
das etwa astronomische Geschehen intro-
jizierte, subjektive Konflikte, Spannungen,
Zustände, für die die astronomischen
Vorgänge nur Symbol zu sein scheinen.
Die Symbolik des Traumes wird an-
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Kritiken und Referate
557
erkannt. Es ergebe sich die Aufgabe,
diejenigen Symbole festzustellen, die eine
überindividuelle, mehr als lokale Bedeu-
tung haben, die symbolischen Elementar-
typen zu finden, die sich überall wieder-
holen. Für die nicht ohneweiters erklär-
lichen Symbole werde wirklich in vielen
Fällen erst die psychologisch vertiefte
Betrachtungsweise den Grund für die
Symbolwahl finden können. Mit anderen
Worten: die Mythenforschung habe sich
zu fragen, welcher Naturvorgang in den
Mythen enthalten ist, aber gleichzeitig
auch, welchen psychologischen Vorgang
der Naturprozeß symbolisiere. Der Auf-
satz darf als erfreuliches Anzeichen der
- Anerkennung der analytischen Gesichts-
punkte von seiten der wissenschaftlichen
Mythenforschung gelten.
Dr. Th. Reik (Wien).
GEORG LANGER: Die Erotik der Kabbala. Verlag Dr. Josef Flesch,
Prag 1923.
Das Buch, trotz vielfacher Bezugnahme
auf Freud, Silberer nnd Stekel keine
streng analytische Arbeit, doch wertvoll
durch sein Material, versucht Messianis-
mus und Sektenwesen der jüdischen Reli-
gionsgeschichte als bipolar .oszillierenden
Wechsel hetero- und homosexueller Strö-
mungen darzustellen; wobei diese manch-
mal nur nach der Art, nicht dem Sinn
der Objektwahl, unterschieden werden.
Langer sieht z. B. (im Gegensatz, viel-
leicht in Unkenntnis der Arbeiten Felix
Boehmes) bei der polyandrischen Orgie
mit einem weiblichen Objekt (Schabba-
tianer) — keine Krypto-Inversion. Lan-
ger hätte als Analytiker die von ihm
zitierten Worte des Schabbatianers Frank:
die gemeinsame Geliebte sei „ein Tor zu
Gott“, doch wohl wörtlicher nehmen
müssen. Die weitere Folge bringt eine
schöne Variante zu dem besonders der
slawischen Sage geläufigen Motiv der
Insel- (Berg-) Entrückung eines pluralen
Helden. Flüchtigste Analyse merkte hier
den .Männerbund, das Männer-,„Haus“,
ebenso wie das „Tor zu Gott“ unverein-
bar mit der Annahme von Heterosexualität.
(Das hier fehlende wichtige Motiv der
gewaltsamen „Werbung“ junger Knechte
durch die Bergentrückten — besonders
häufig in der tschechischen Blanik-Sage —
Imago X. zu.5
möchte ich hier gelegentlich in einer
eigenen Arbeit behandeln.)
Die strenggläubige Einstellung des
Autors, der das Gefühlssymbol Gott nicht
immer als Vater-Imago zu Ende denkt,
hindert ihn, mehrere Fälle von Geronto-
philie zu entdecken, die sein Material
erraten läßt. In einem Pogromtraum
identifiziert sich der Träumer zuerst in-
vers-masochistisch mit den von „Verfol-
gern“ abgeschossenen Mutter - Tauben,
„fällt“ zugleich als deren vergeblicher
„HAetter“, worauf die Rollen wechseln:
die Mutter kommt als Trauernde, Pilege-
rin, „Retterin“, und verwandelt sich zum
alten Vater, der durch einfachen Wink
die Feinde verschwinden läßt. Im vollen
Gegensatz zum Traumanfang bringt jetzt
Identifizierung mit diesem Vater die Er-
füllung des narzißtischen Integritäts-
wunsches. Der gealterte Vater ist zu-
gleich (als Konkurrent vor der Mutter)
impotent und dennoch (als Beschützer
vor dem pluralen „Verfolger“, dem älteren
Bruder, dem noch jungen, potenten Vater
aus des Träumers Kindheit) überpotent;
d.h. er ıst nur magisch potent, wie der
Träumer selbst, als narzißtisch-allmäch-
tiges Kind. Pa
Die analytisch wertvollste Partie des
Buches ıst das Kapitel über „Erotik der
24
358
'ritiken und Referate
Schrift und Sprache“. Durch direkten
philologischen Beweis wird die Ab-
breviatur der bildhaften Hieroglyphe zum
Ideogramm erklärt, als keine bloß prak-
tisch ernötigte Abschleifung oder Flüch-
tigkeitsresultat, sondern als Modifizierung
des naturnahen Bildes durch geometrische
Genitalienschemata. Langer vollendet
hier vielleicht Gedankengänge, die auf
kunsthistorischem Gebiete Alois Riegl
und Deri anbahnten. Der Sinn kabbali-
stischer Zahlenmystik soll darin liegen,
daß Identität der Konsonanten zweier
Wörter verschiedener Bedeutung — eine
Identität ihrer erotischen „Spannungs-
FRANZ BOAS: Moderne Ethnologie.
Jahrgang I. Heft 24.
Der bekannte Ethnologe erörtert in
diesem Aufsatze einige prinzipielle und
methodische Fragen der Völkerkunde und
betont besonders die von der Psychoana-
lyse gelieferten Gesichtspunkte. Auch hier
erblicken wir ein Anzeichen des steigen-
inhalte“ („Valenten“) ausdrückt. Es wird
nicht näher erklärt, wie diese Hypothese
mit analytischen Grundtatsache
vereinbar ist, nämlich dem Variieren der
Bedeutung eines Symptoms oder Traum-
symbols je nach dem speziellen Zu-
sammenhange. Die schu S’phiroth — Organ-
lokalisierungen und schwer definierbare
Wortvisionen innerer Erlebnisse — bleiben
einer
in dieser Interpretation unklar: einige sind
deutliche Imagines, andere wieder „Ver-
mögen“, das Wort im kantischen und nach-
kantischen Sinne gebraucht.
A. Endler (Reichenberg).
Deutsche Literaturzeitung. Neue Folge.
den Interesses, das die Ethnologie der
Psychoanalyse entgegenbringt. Die Bei-
spiele, die Boas als Material bringt, sind
zum größten Teile dem Gebiet der ameri-
kanischen Völkerkunde entnommen.
Dr. Th. Reik (Wien).
K. WEULE: Die Anfänge der Naturbeherrschung. I. Frühformen
der Mechanik. Franckh’sche Verlagshandlung, Stuttgart 1921.
Die Methoden des Tragens vom Kinde
bei den primitiven Müttern dürfte den
Psychoanalytiker interessieren, Als ob die
körperliche Loslösung des Kindes von der
Mutter beim Primitiven allmählicher als
bei uns vor sich ginge; hängt dies mit
der Stagnation jener Völkerschaften zu-
sammen? Der Verfasser betont die Trag-
weite der „Befreiung der Hand vom Natur-
zwang“; wir denken dabei an die Erfindung
der Onanie (Jung). Es wird darauf hin-
gewiesen, daß die Technik der einzelnen
Stämme nicht aus allgemeinen physikali-
schen Sätzen herleitbar ist.
A. Kolnai (Wien),
Prof. C. G. SELIGMAN: Anthropology and Psychology: a study
of some points of contact. The
Institute of Great Britain and Ireland
Der bekannte Eithnologe Professor
C. G. Seligman, Präsident des Royal
Anthropological Institute, versucht in
einem vor den Mitgliedern dieses Insti-
tutes im Jänner 1924 gehaltenen Vortrage
Journal of the Royal Anthropological
. Vol. LIV. 1924. January - June.
gewisse Ergebisse der analytischen Typen-
und Traumpsythologie auf nichteuropäi-
sche und primitive Völker anzuwenden und
gelangt hiebei zu interessanten Bestätigun-
gen der von der Psychoanalyse behaupteten
Kritiken und Referate
2 359
Allgemeingültigkeit ihrer Lehren. Selig-
man beschäftigt sich vorerst mit den von
C. G. Jung gefundenen Grundtypen des
Extravertierten (Hysterie) und Introver-
tierten (Dementia praecox), die er als
Äußerungsformen angeborener qualita-
tiver Unterschiede des Ubw betrachtet. Ich
lasse hier die Einwände gegen Jungs
Auffassung beiseite, die den Eindruck er-
weckt, als sehe er in der Introversion
etwas für die Dementia praecox Charakte-
ristisches, was bei anderen Neurosen nicht
auch von wesentlicher Bedeutung wäre.
Seligman meint, daß in Europa der
Typus der Extravertierten wohl überwiege,
doch habe beispielweise in den Künsten
der gegensätzliche Typus eine gleich-
berechtigte Rolle gespielt (das Klassische
als Gegenpol des Romantischen). Auch in
Negerskulpturen will Seligman eine
ähnliche Polarität erkennen. Biologisch be-
merkenswert ist die Hypothese, daß die
Vererbung des geistigen Grundtypus und
der physischen Eigentümlichkeiten sich
von dem nämlichen Elternteile herleite;
die zwei Typen sollen auch aufeinander
eine starke sexuelle Anziehung ausüben.
Auf Grund persönlicher Erfahrung des
Vortragenden und seiner reichenLiteratur-
kenntnis werden die Wilden im allgemei-
nen als extravertiert bezeichnet; Häupt-
linge, Medizinmänner u. ä. scheinen es
infolge ihrer Anlage zu hysterischer Disso-
ziation in besonderem Maße zu sein. Von
nichteuropäischen zivilisierten Völkern
sind die Inder und Chinesen introvertiert,
die Japaner extravertiert.
Der zweite Teil des Vortrages behan-
delt die Träume nichteuropäischer Völker,
zum Teil auf Grund von Aufzeichnungen
durch Missionäre u. a., dieSeligman im
Jahrgang ı923 der Zeitschrift „Folklore“
angeregt hat. Er stellt die nämlichen
Traummechanismen wie in den Träumen
von Europäern fest und hebt ihren Symbol-
und Wunscherfüllungscharakter hervor.
Doch istfreilich zu bemerken, daßkein ein-
ziger dieser Träume regelrecht analysiert
wurde. Die Deutung der Träume durch die
Einheimischen erfolgt entweder konven-
tionell (oft nach dem Prinzip des Gegen-
satzes) oderauf dem Wege der Assoziation,
d. h. einer elementaren Autoanalyse (der
manifeste Inhalt des Traumes wird gegen-
über seiner symbolischen Bedeutung ver-
nachlässigt, Einfälle bahnen den Weg zum
latenten Traumgedanken). Interessant ist
im Hinblick auf die Entstehung des Tote-
mismus die Beobachtung, daß die Väter,
die Ahnen, manchmal in Tiergestalt er-
scheinen oder sich während des Traumes
in solche oder in Pflanzen verwandeln.
Auch die typischen Träume (Zahnreiz-,
Fliege-, modifizierte Stiegenträume) sind,
wie Seligman an zahlreichen Beispielen
nachweist, Gemeingut aller Völker aut
allen Stufen der Kultür. Der Zahnreiz-
traum bedeutet üßerall den Verlust eines
nahen Verwandten (Kindes) oder Freundes,
der Fliegetraum Glück. Nach einer Mit-
teilung des Wiener Ethnologen Dr. Röck
wird übrigens in Tirol dieser Traum als
Vorläufer einer emissio seminis angesehen.
Der Stiegentraum (Besteigen eines Bau-
mes, eines Hügels, einer Leiter) zeigt
Erfolg, sexuellen u. a. an. Seligman
wirft auch die Frage auf, ob sich der
typische Prüfungstraum bei den ge-
bildeten Chinesen findet, und möchte sie
in Übereinstimmung mit der Äußerung
eines chinesischen Gelehrten bejahen.
Außer Prof. Seligmans Ausführungen,
die in so erfreulicher Weise von dem Inter-
esse Zeugnis ablegen, das die Anthro-
pologie an der Psychoanalyse zu nehmen
beginnt, enthält das oben angeführte Heft
des Journal of the Royal Anthropological
Institute auch Jones Vortrag „Psychoana-
lysis and Anthropology“,
Dr. A. Winterstein (Wien).
24"
60
Kritiken und Referate ,
a —————————— iii ee nz
Dr. med. PAUL CATTANI: Das Tatauieren. Benno Schwalbe & Co. Verlag.
Basel 1922.
Im Untertitel verspricht der Verfasser
„eine monographische Darstellung ... vom
psychologischen, ethnologischen, medizini-
schen, gerichtlich-medizinischen, biologi-
schen, histologischen und therapeutischen
Standpunkt“ aus zu geben. Das beweist
eben, daß er ein Optimist ist, dem es auf
ein Versprechen mehr oder weniger nicht
ankommt. Ich fühle mich nicht berufen,
das Buch vom Standpunkt der anderen
Disziplinen, die oben aufgezählt sind, zu
beurteilen; daß es aber weder psycho-
logisch noch ethnologisch zu nennen ist,
scheint mir unzweifelhaft. Nirgends eine
Spur einer wirklich psychologischen, ge-
schweige denn einer psychoanalytischen
Erklärung und den ethnologischen, d. h.
historisch-ethnologischen Fragen, die sich
hier aufdrängen, steht der Verfasser meilen-
fern. Höchstens das Illustrationsmaterial
ist verwendbar.
Dr. G. Röheim (Budapest).
JOE TOM SUN: Symbolism in the Chinese written language. Psycho-
analytic Review. Vol. X, N” 2, April
Die vorliegende Schrift enthält einen
Versuch, die Ergebnisse der Psychoanalyse
auf den symbolischen Gehalt der chinesi-
schen Schrift anzuwenden. Der Verfasser
äußert die Meinung, nfir ein ausgezeich-
neter Kenner der chinesischen Schrift
und Sprache, der sich auch mit den
Lehren der Psychoanalyse vertraut ge-
macht habe, könne dieser Aufgabe ge-
recht werden.
Die chinesische Schrift ist auf eine
Denkweise begründet, welche uns an die
primitiven Formen des menschlichen Den-
kens erinnert. Die ursprünglichsten chinesi-
schen Schriftzeichen sind Bilder zur Dar-
stellung von Gegenständen. Zur Bezeich- _
nung von abstrakten Wörtern, Adjek-
tiven usw. wurden später „Ideogramme“
erfunden, die meist aus zweien der ur-
sprünglichen Bilder zusammengesetzt sind.
Beispielsweise wird das Wort „gut“ dar-
gestellt durch Kombination der Zeichen
1923.
für „Frau“ und „Kind“; mit anderen
Worten: das Verhältnis der Mutter zum
Kinde gibt der Vorstellung der Güte ihren
Ursprung.
Hier kann auf die weitere Entwicklung
der chinesischen Schrift und auf die zahl-
reichen interessanten Beispiele der Sym-
bolik, welche in den Schriftzeichen ent-
halten ist, nicht näher eingegangen wer-
den. Für jeden aber, der sich für die
Äußerungen des primitiven Denkens inter-
essiert, bildet die vorliegende kleine Mit-
teilung eine Fundgrube an Material. Üb-
rigens sei bemerkt, daß bereits vor län-
gerer Zeit in der Berliner Psychoanalyti-
schen Vereinigung von Rohr ein Vortrag
gehalten wurde, der zum gleichen Thema
wichtige Beiträge brachte und in’ sehr
erfolgreicher Weise die Erfahrungen der
Psychoanalyse für das Verständnis der
chinesischen Schrift nutzbar machte.
Dr, K. Abraham (Berlin).
INTERNATIONALER
PSYCHOANALYTISCHER VERLAG
WIEN, VIL ANDREASGASSE 3
Dr EMIL LORENZ
DER POLITISCHE MYTHUS
BEITRÄGE ZUR MYTHOLOGIE DER KULTUR
Geheftet Mark 3.—
In einer .Durchleuchtung der Seele von Revolutionen spürt er mit einem unendlich scharfsinnigen und fein-
fühligen Geiste, geschult an den modernsten Methoden psychoanalytischer Forschung, den inneren Ursachen,
Antrieben und Vorläufen von Massenbewegungen nach und findet in den Trägern dieser Umstürze geheime,
unbewußte Motive wirksam, die er in geistreichen Darlegungen bis zu den Keimzellen und Urformen zurück-
verfolgt. (Freie Stimmen)
Dr THEODOR REIK
DER EIGENE UND DER FREMDE GOTT
ZUR PSYCHOANALYSE DER RELIGIÖSEN ENTWICKLUNG
Geheftet Mark 8.—, Halbleinen 10.—, Halbleder 14.—
Reik darf mit Recht als der tiefblickendste und scharfsinnigste Religionspsychologe unserer Zeit genannt
werden. Er stellt sich in diesem neuen Buche die Aufgabe, von analytischen Gesichtspunkten aus die Er-
scheinungen der religiösen Feindseligkeit und Intoleranz psychologisch zu erklären und zugleich den tieferen
Ursachen der religiösen Verschiedenheiten nachzuforschen ... (Schulreform, Bern)
Zwei Jahrtausende haben über das Judasproblem gegrübelt und es fast zergrübelt... Nun tritt Reik psycho-
analytisch an diese tiefsten Fragen heran ... . Im Mittelpunkt steht die Deutung des Judasproblems. Jesus
und Judas in ihren Wurzeln verschmolzen und einwesenhaft. Man muß Reiks wuchtigen Vorstoß anerkennen ...
Rücksichtslos geht der Weg, zwar oft durch Dunkel und Schrecken und kaltes Grauen. Aber wer den Mut
dazu hat, kann sich getrost der sachkundigen Führung Reiks anvertrauen. (Bremer Nachrichten)
Gut, wenn auch wohl zu fein durchgeführt ist die Analyse des Fanatismus, der auf innere Geteiltheit, eine
„Äquivalenz von Triebgegensatzpaaren“ zurückgeführt wird .... Man wird eine Methode, die so tiefe Sach-
verhalte aufdecken kann, nicht a limine ablehnen. (Prof. Titius in der Theolog. Literaturzeitung)
Die Bedeutung des Buches liegt darin, daß es — auch dem nicht auf dem Boden der psychoanalytischen
Theorie Stehenden — zeigt, wie die Psychoanalyse der Religionspsychologie und Religionsgeschichte, ja der
allgemeinen Religionswissenschaft überhaupt mannigfach bisher unbetretene Wege zu weisen imstande ist.
(Dr. theol. et phil. F.K.Schumann in der Zeitschrift für Sexualwissenschaft)
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I MAGO, Bd. x (1924), Heft 2/ 3, Eihnologirchen Hol
Seite
Dr. Ernest Jones: Psychoanalyse und Anthropologie . » » » 0m. 0 133
Dr. Geza Röheim: Die Sedna-Sage. . . . : - . ER ET IE FE
Hans Zulliger: Beiträge zur Psychologie der Trauer und Bestattungsgebräuche . 178
Dr. Bronislaw Malinowski: Mutterrechtliche Familie und Ödipuskomplex. . . . 228
Beata Rank: Zur Rolle der Frau in der Entwicklung der menschlichen Gesellschaft 277
Flora Kraus: Die Frauensprache bei den primitiven Völkern . : . .....206
Adolf Arndt: Über Tabu und Mystik . . . . | 314
Dr. R. Spiez: Zwei Kapitel über kulturelle Bieten (L. Die Dreizahl. II. Die |
Genesis der magischen und der transzendenten Kulte.) . . ». 2. 2..2..2....328
Dr. Karl Heise: Der Kuckuck und die Meise :. .. x um. . a nen 349
KRITIKEN UND REFERATE . . . . me.
Dr.G. Röheim: Ethnologische REN 1920— 1922. $. 343. — Geller Die Kndbenweihen
(Roheim) 346. — Lugn, Die magische Bedeutung der weiblichen Kopfbedeckung im schwedischen
Volksglauben (Rdheim) 348. — Loewenthal, Das altmexikanische Ritual tlacacaälilitzli und seine
Parallelen in den Vegetationskulten der alten Welt (Röheim) 348. — Lewy-Brühl, Das Denken
der Naturvölker (Rdheim) 348. — Lönborg, Der Clan (Röheim) 349. — Vleugels, Zu Freuds
Theorien von der Psychoanalyse (Reik) 350. — Thurnwald, Die Gemeinde der Bänaro (Röheim)
351.— Le Bon,Psychologische Grundgesetze in der Völkerentwicklung (Federn) 352.— Mayreder,
Die Krise der Väterlichkeit (Reik) 353. — Seler-Sachs, Frauenleben der Azteken Reiner (Röheim)
353. — Schmidt, Grundriß der ethnologischen Volkswirtschaftslehre (Röheim) 354. — Kalo, Die
Verse in den Sagen und Märchen (Röheim) 355. — Klages, Vom kosmogonischen Eros (Kielholz)
255. — Atlantis, VII., Dämonen des Sudan, XI., Volksdichtungen aus Oberguinea (Reik) 356. —
‘ Danzel, Kultur u. Religion des primitiven Menschen (Reik) 356. — Danzel, Die psycholog. Grund-
lagen der Mythologie (Reik) 356.— Langer, Die Erotik der Kabbala (Endler) 357.— Boas, Moderne
Ethnologie (Reik) 358. — Weule, DieAnfänge der Naturbeherrschung I, Frühformen der Mechanik
(Kolnai) 358. — Seligman, Anthropology and Psychology (Winterstein) 358. — Cattani, Das
Tatauieren (Röheim) 359. — Sun, Symbolism in the Chinese written language (Abraham) 360.
Internationaler P sychoanalytischer V erlag
Wien v1. Andreasgasse 3
Manuskrip te sind vollkommen druckfertig, tunlichst in Maschinschrift einzusenden. Die Beiträge
werden mit Mark 50.— (Dollar 12.—) pro Drukbogen honoriert. Die Autoren der Original-
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— Abgesehen von den Fällen, wo der Verlag ausdrüklic audı das Recht der Veröffentlichung in Buch- |
form erwirbt, steht es dem Verfasser f reı, über seinen Beitrag nach dem Erscheinen in der „Imago“
auch anderweitig zu verfügen, wenn seit Ablauf des. Kalenderjahres, in welchem der Beitrag
aka ist, eın Jahr verstrichen ist (D. Verl. G. S 42). Der Internationale Psychoanalytische Verlag
raumt jedoch den Autoren das Recht ein, die Veröffentlichuug der englischen Übersetzung ihrer Beiträge i ın
„Ihe International Journal of Psychoanalysıs“ schon vor Ablauf der obigen Frist zu gestatten.
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