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Full text of "Imago. Zeitschrift für Anwendung der Psychoanalyse auf die Geisteswissenschaften I Oktober 1912 Heft 4"

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MAGO 

ZEITSCHRIFT FÜR ANWENDUNa 
DER PSYCHOANALYSE AUF DIE 
GEISTESWISSENSCHAFTEN 


HERAUSGEGEBEN VON 

PROF. DE SIGM. FREUD 

REDIGIERT VON 
OTTO RANK U. DE HANNS SACHS 


I. JAHRGANG 1912 
HEFT 4. OKTOBER 




1912 

HUGO HELLER Ql 

LEIPZIG u. WIEN • I • BAUERNMARKT 3 











PROSPEKT 

Ein Rätsel, das die Wißbegierde der Menschheit seit Jahrtausenden 
gereizt und ihr seit Jahrtausenden widerstanden hatte, ist von der Psycho¬ 
analyse bereits gelöst worden: sie hat die Deutung des Traumes ergründet 
und den Nadiweis geführt, daß er nicht ein wirres Gemenge Zusammenhangs 
loser Bilder und Worte sei, sondern, wie das Altertum und der Volks* 
aberglaube dunkel ahnten, ein bedeutungsvolles Erzeugnis psychischer Kräfte. 

Aber nicht nur das Erzeugnis eines einzelnen Menschengeistes, wie 
es der Traum und das ihm im Innersten verwandte Kunstwerk ist, muß 
eine wahre Seelenkunde durchleuchten können, auch was Dasein und Form dem 
Zusammenwirken einer unzählbaren Menge von Einzelseelen verdankt, die 
das Streben nach demselben Ziel zu einer geistigen Einheit verschmolzen hat, wie 
SPRACHE UND SITTE, RELIGION UND RECHT, fällt in ihren Bereich. 

Darum werden sich mit dem Schlüssel der psychoanalytischen Technik 
auch in vielen anderen Wissenschaften versperrte Türen öffnen und Probleme 
ergründen lassen, an denen die Fachgelehrsamkeit, nicht minder aber JEDER 
EINZELNE GEBILDETE den stärksten Anteil nimmt. Wir nennen 
hier nur jene Geistesgebiete, in denen schon heute ein Versuch gelang: 
ÄSTHETIK, LITERATUR* UND KUNSTGESCHICHTE, MyTHO* 
LOGIE, PHILOLOGIE, PÄDAGOGIK, FOLKLORE, KRIMINA* 
LISTIK,MORALTHEORIE UND RELIGIONSWISSENSCHAFTEN. 

Was aber bisher nur in einzelnen Streifzügen geschehen konnte, soll 
jetzt Ordnung, Dauer und eine sichere Stätte finden. Über die neuentdedkten 
Gebiete, auf die die Psychoanalyse ihren Fuß gesetzt hat, muß nun 
auch der Pflug regelmäßiger Arbeit geführt werden. Dazu soll unsere 
Zeitschrift dienen. Sie wird sich in buntester Mannigfaltigkeit allen Geistes* 
Wissenschaften widmen, so daß jedermann die Probleme des Faches, 
das ihm am nächsten steht, darin behandelt finden wird. Die Einheitlichkeit 
wird durch die gemeinsame Beziehung zur Psychoanalyse gewahrt werden, 
durch die jedes Problem in neue Zusammenhänge eingefügt wird. 

REDAKTION UND VERLAG. 

Für die REDAKTION bestimmte Zuschriften und 
Sendungen wollen an Dr. HANNS SACHS, Wien, 

/ XIX/i, Peter-Jordangasse 76, adressiert werden. / 

Copyright 1912 Hugo Heller 'S) Cie, Wien, I., Bauernmarkt 3. 

„IMAGO" erscheint vorläufig SECHSMAL jährlich im Gesamt* 
umfang von etwa 30 Bogen und kann für M. 15' — — K 18’— pro Jahr* 
gang durch jede gute Buchhandlung sowie direkt vom Verlage HUGO 
HELLER 'S) CIE. in Wien, I. Bauernmarkt 3, abonniert werden. 
Einzelne Hefte werden nicht abgegeben. 







IMAGO 

ZEITSCHRIFT FÜR ANWENDUNG DER PSyCHO- 
ANALYSE AUF DIE GEISTESWISSENSCHAFTEN 

HERAUSGEGEBEN VON PROFESSOR S. FREUD 

, . SCHRIFTLEITUNG: 1010 

1 . 4 . OTTO RANK / DR. HANNS SACHS 1^1 Z 


Über einige Übereinstimmungen im Seelenleben der 
Wilden und der Neurotiker. 

Von SIGM. FREUD. 

II. 

_ Das Tabu und die Ambivalenz der Gefühlsregungen. 

\ J ir wollen nun wissen, welchen Wert unsere Gleich* 

\ \ J Stellung des Tabu mit der Zwangsneurose und die 
y V auf Grund dieser Vergleichung gegebene Auffassung 
des Tabu beanspruchen kann. Ein solcher Wert liegt offenbar nur 
vor, wenn unsere Auffassung einen Vorteil bietet, der sonst nicht 
zu haben ist, wenn sie ein besseres Verständnis des Tabu ge* 
stattet, als uns sonst möglich wird. Wir sind vielleicht geneigt zu 
behaupten, daß wir diesen Nachweis der Brauchbarkeit im Vor* 
stehenden bereits erbracht haben,- wir werden aber versuchen 
müssen, ihn zu verstärken, indem wir die Erklärung der Tabu* 
verböte und Gebräuche ins Einzelne fortsetzen. 

Es steht uns aber auch ein anderer Weg offen. Wir können 
die Untersuchung anstellen, ob nicht ein Teil der Voraussetzungen, 
die wir von der Neurose her auf das Tabu übertragen haben, oder 
der Folgerungen, zu denen wir dabei gelangt sind, an den Phäno* 
menen des Tabu unmittelbar erweisbar ist. Wir müssen uns nur 
entscheiden, wonach wir suchen wollen. Die Behauptung über die 
Genese des Tabu, es stamme von einem uralten Verbote ab, 
welches dereinst von außen auferlegt worden ist, entzieht sich natür* 
lieh dem Beweise. Wir werden also eher die psychologischen 
Bedingungen fürs Tabu zu bestätigen suchen, welche wir für die 
Zwangsneurose kennen gelernt haben. Wie gelangten wir bei der 
Neurose zur Kenntnis dieser psychologischen Momente? Durch das 
analytische Studium der Symptome, vor allem der Zwangshand* 
lungen, der Abwehrmaßregeln und Zwangsgebote. Wir fanden an 
ihnen die besten Anzeichen für ihre Abstammung von am bi* 
valenten Regungen oder Tendenzen, wobei sie entweder gleich* 

Imago 1/4 


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Sigm. Freud 


zeitig dem Wunsch wie dem Gegenwunsch entsprechen oder vor^ 
wiegend im Dienste der einen von den beiden entgegengesetzten 
Tendenzen stehen. Wenn es uns nun gelänge, auch an den Tabu^ 
Vorschriften die Ambivalenz, das Walten entgegengesetzter Tendenzen 
aufzuzeigen, oder unter ihnen einige aufzufinden, die nach der Art 
von Zwangshandlungen beiden Strömungen gleichzeitigen Ausdruck 
geben, so wäre die psychologische Übereinstimmung zwischen dem 
Tabu und der Zwangsneurose im nahezu wichtigsten Stück gesichert. 

Die beiden fundamentalen Tabuverbote sind, wie vorhin er¬ 
wähnt, für unsere Analyse durch die Zugehörigkeit zum Totemismus 
unzugänglich,* ein anderer Anteil der Tabusatzungen ist sekundärer 
Abkunft und für unsere Absicht nicht verwertbar. Das Tabu ist 
nämlich bei den entsprechenden Völkern die allgemeine Form der 
Gesetzgebung geworden und in den Dienst von sozialen Tendenzen 
getreten, die sicherlich jünger sind als das Tabu selbst, wie z. B. 
die Tabu, die von Häuptlingen und Priestern auferlegt werden, um 
sich Eigentum und Vorrechte zu sichern. Doch bleibt uns eine 
große Gruppe von Vorschriften übrig, an denen unsere Untere 
suchung vorgenommen werden kann,- ich hebe aus dieser die Tabu 
heraus, die sich a. an Feinde, b. an Häuptlinge, c. an Tote 
knüpfen, und werde das zu behandelnde Material der ausgezeichneten 
Sammlung von J. G. Frazer in seinem großen Werke: »The 
golden bough« entnehmen*. 

a> Die Behandlung der Feinde. 

Wenn wir geneigt waren, den wilden und halbwilden Völkern 
ungehemmte und reuelose Grausamkeit gegen ihre Feinde zuzu¬ 
schreiben, so werden wir mit großem Interesse erfahren, daß auch 
bei ihnen die Tötung eines Menschen zur Befolgung einer Reihe 
von Vorschriften zwingt, welche den Tabugebräuchen zugeordnet 
werden. Diese Vorschriften sind mit Leichtigkeit in vier Gruppen 
zu bringen,* sie fordern 1. Versöhnung des getöteten Feindes, 
2. Beschränkungen und 3. Sühnehandlungen, Reinigungen des Mörders 
und 4. gewisse zeremonielle Vornahmen. Wie allgemein oder wie 
vereinzelt solche Tabugebräuche bei diesen Völkern sein mögen, 
läßt sich einerseits aus unseren unvollständigen Nachrichten nicht 
mit Sicherheit entscheiden, und ist anderseits für unser Interesse an 
diesen Vorkommnissen gleichgiltig. Immerhin darf man annehmen, 
daß es sich um weitverbreitete Gebräuche und nicht um ver¬ 
einzelte Sonderbarkeiten handelt. 

Die Versöhnungsgebräuche auf der Insel Timor, nachdem 
eine siegreiche Kriegerschar mit den abgeschnittenen Köpfen der 
besiegten Feinde zurückkehrt, sind darum besonders bedeutsam, 
weil überdies der Führer der Expedition von schweren Be¬ 
schränkungen betroffen wird <s. u.>. »Bei dem feierlichen Einzug der 


Third edition, part II. : Taboo and the perils of the soul 1911. 







Das Tabu und die Ambivalenz 


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Sieger werden Opfer dargebracht, um die Seelen der Feinde zu 
versöhnen,- sonst müßte man Unheil für die Sieger vorhersehen. 
Es wird ein Tanz aufgeführt, und dabei ein Gesang vorgetragen, 
in welchem der erschlagene Feind beklagt und seine 'Verzeihung 
erbeten wird: »Zürne uns nicht, weil wir deinen Kopf hier bei uns 
haben,- wäre uns das Glück nicht hold gewesen, so hingen jetzt 
vielleicht unsere Köpfe in deinem Dorf. Wir haben dir ein Opfer 
gebracht, um dich zu besänftigen. Nun darf dein Geist zufrieden 
sein und uns in Ruhe lassen. Warum bist du unser Feind ge¬ 
wesen? Wären wir nicht besser Freunde geblieben? Dann wäre 
dein Blut nicht vergossen und dein Kopf nicht abgeschnitten 
worden*.« 

Ähnliches findet sich bei den P a 1 u in Celebes; die Gallas 
opfern den Geistern ihrer erschlagenen Feinde, ehe sie ihr Heimats¬ 
dorf betreten. <Nach Paulitschke, Ethnographie Nordost- 
Afrikas.) 

Andere Völker haben das Mittel gefunden, um aus ihren 
früheren Feinden nach deren Tod Freunde, Wächter und Be¬ 
schützer zu machen. Es besteht in der zärtlichen Behandlung der 
abgeschnittenen Köpfe, wie manche wilde Stämme Borneos sich 
deren rühmen. Wenn die See-Dayaks von Sarawak von einem 
Kriegszug einen Kopf nach Hause bringen, so wird dieser Monate 
hindurch mit der ausgesuchtesten Liebenswürdigkeit hehandelt und 
mit den zärtlichsten Namen angesprochen, über die ihre Sprache 
verfügt. Die besten Bissen von ihren Mahlzeiten werden ihm in 
den Mund gesteckt, Leckerbissen und Zigarren. Er wird wiederholt 
gebeten, seine früheren Freunde zu hassen und seinen neuen 
Wirten seine Liebe zu schenken, da er jetzt einer der ihrigen ist. 
Man würde sehr irre gehen, wenn man an dieser uns gräßlich er¬ 
scheinenden Behandlung dem Hohn einen Anteil zuschriebe.** 

Bei mehreren der wilden Stämme Nordamerikas ist die 
Trauer um den erschlagenen und skalpierten Feind den Beob¬ 
achtern aufgefallen. Wenn ein Choctaw einen Feind getötet 
hatte, so begann für ihn eine monatlange Trauer, während welcher 
er sich schweren Einschränkungen unterwarf. Ebenso trauerten die 
D aco t a-Indianer. Wenn die Osagen, bemerkt ein Gewährst 
mann, ihre eigenen Toten betrauert hatten, so trauerten sie dann 
um den Feind, als ob er ein Freund gewesen wäre***. 

Noch ehe wir auf die anderen Klassen von Tabugebräuchen 
zur Behandlung der Feinde eingehen, müssen wir gegen eine nahe¬ 
liegende Einwendung Stellung nehmen. Die Motivierung dieser 
Versöhnungsvorschriften, wird man uns mit Frazer und anderen 
entgegenhalten, ist einfach genug und hat nichts mit einer »Ambi- 

* Frazer, I. c., p. 166. 

Frazer, Adonis, Attis, Osiris, p. 248, 1907. — Nach Hugh Low, 
Sarawak, London 1848. 

*** J. O. Dorsay bei Frazer, Taboo etc., p. 181. 


20 * 





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Sigra. Freud 


valenz« zu tun. Diese Völker werden von abergläubischer Furcht 
vor den Geistern der Erschlagenen beherrscht, einer Furcht, die auch 
dem klassischen Altertum nicht fremd war, die der große britische 
Dramatiker in den Halluzinationen Macbeths und Richards III. 
auf die Bühne gebracht hat. Aus diesem Aberglauben leiten sich 
folgerichtig alle die Versöhnungsvorschriften ab, wie auch die 
später zu besprechenden Beschränkungen und Sühnungen,* für diese 
Auffassung sprechen noch die in der vierten Gruppe vereinigten 
Zeremonien, die keine andere Auslegung zulassen, als von Be^ 
mühungen, die den Mördern folgenden Geister der Erschlagenen zu 
verjagen*. Zum Überfluß gestehen die Wilden ihre Angst vor den 
Geistern der getöteten Feinde direkt ein und führen die besprochenen 
Tabugebräuche selbst auf sie zurück. 

Diese Einwendung ist in der Tat naheliegend, und wenn sie 
ebenso ausreichend wäre, könnten wir uns die Mühe unseres 
Erklärungsversuches gerne ersparen. Wir verschieben es auf später, 
uns mit ihr auseinanaerzusetzen und stellen ihr zunächst nur die 
Auffassung entgegen, die sich aus den Voraussetzungen der vorigen 
Erörterungen über das Tabu ableitet. Wir schließen aus all diesen 
Vorschriften, daß im Benehmen gegen die Feinde noch andere als 
bloß feindselige Regungen zum Ausdrude; kommen. Wir erblicken in 
■ ihnen Äußerungen der Reue, der Wertschätzung des Feindes, des 
bösen Gewissens, ihn ums Leben gebracht zu haben. Es will uns 
scheinen, als wäre auch in diesen Wilden das Gebot lebendig: Du 
sollst nicht töten, welches nicht ungestraft verletzt werden darf, 
lange vor jeder Gesetzgebung, die aus den Händen eines Gottes 
empfangen wird. 

Kehren wir nun zu den anderen Klassen von Tabuvorschriften 
zurüd*. Die Beschränkungen des siegreichen Mörders sind 
ungemein häufig und meist von ernster Art. Auf Timor <vgl. die 
Versöhnungsgebräuche oben) darf der Führer der Expedition nicht 
ohne weiteres in sein Haus zurückkehren. Es wird für ihn eine 
besondere Hütte errichtet, in welcher er zwei Monate mit der Be^ 
folgung verschiedener Reinigungsvorschriften beschäftigt verbringt. 
In dieser Zeit darf er sein Weib nicht sehen, auch sich nicht selbst 
ernähren, eine andere Person muß ihm das Essen in den Mund 
schieben**. — Bei einigen D a y a k Stämmen müssen die vom erfolge 
reichen Kriegszug Heimkehrenden einige Tage lang abgesondert 
bleiben und sich gewisser Speisen enthalten, sie dürfen auch kein 
Eisen berühren und bleiben ihren Frauen ferne. — In Logea, 
einer Insel nahe bei Neuguinea, schließen sich Männer, die 
Feinde getötet oder daran teilgenommen haben, für eine Woche in ihren 

* F r a z e r, Taboo, p. 169 u. s. f. p. 174. Diese Zeremonien bestehen in 
Schlagen mit den Schildern, Schreien, Brüllen und Erzeugung von Lärm mit Hilfe 
von Instrumenten usw. 

** F r a z e r, Taboo, p. 166, nach S. Müller, Reizen en Onderzoekingen 
in den Indischen Archipel, Amsterdam 1857. 









Das Tabu und die Ambivalen: 


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Häusern ein. Sie vermeiden jeden Umgang mit ihren Frauen und ihren 
Freunden, rühren Nahrungsmittel nicht mit ihren Händen an und 
nähren sich nur von Pflanzenkost, die in besonderen Gefäßen für 
sie gekocht wird. Als Grund für diese letzte Beschränkung wird an¬ 
gegeben, daß sie das Blut des Erschlagenen nicht riechen dürfen,- 
sie würden sonst erkranken und sterben. — Bei dem Toaripi- 
oder Motumotu-Stamm auf Neuguinea darf ein Mann, der 
einen anderen getötet hat, seinem Weib nicht nahe kommen und 
Nahrung nicht mit seinen Fingern berühren. Er wird von anderen 
Personen mit besonderer Nahrung gefüttert. Dies dauert bis zum 
nächsten Neumond. 

Ich unterlasse es, die bei F r a z e r mitgeteilten Fälle von Be¬ 
schränkungen des siegreichen Mörders vollzählig anzuführen, und 
hebe nur noch solche Beispiele hervor, in denen der Tabucharakter 
besonders auffällig ist, oder die Beschränkung im Verein mit 
Sühne, Reinigung und Zeremoniell auftritt. 

Bei den Monumbos in Deutsch-Neuguinea wird jeder, der 
einen Feind im Kampfe getötet hat, »unrein«, wofür dasselbe Wort 
gebraucht wird, das auf Frauen während der Menstruation oder 
des Wochenbettes Anwendung findet. Er darf durch lange Zeit das 
Klubhaus der Männer nicht verlassen, während sich die Mitbewohner 
seines Dorfes um ihn versammeln und seinen Sieg mit Liedern und 
Tänzen feiern. Er darf niemand, nicht einmal seine eigene Frau und seine 
Kinder berühren,- täte er es, so würden sie von Geschwüren be¬ 
fallen werden. Er wird dann rein durch Waschungen und anderes 
Zeremoniell. 

Bei den Natchez in Nordamerika waren junge Krieger, 
die den ersten Skalp erbeutet hatten, durch sechs Monate zur Be¬ 
folgung gewisser Entsagungen genötigt. Sie durften nicht bei ihren 
Frauen schlafen und kein Fleisch essen, erhielten nur Fisch und 
Maispudding zur Nahrung. Wenn ein Choctaw einen Feind 
getötet und skalpiert hatte, begann für ihn eine Trauerzeit von 
einem Monat, während welcher er sein Haar nicht kämmen durfte. 
Wenn es ihn am Kopf judcte, durfte er sich nicht mit der Hand 
kratzen, sondetn bediente sich dazu eines kleinen Steckens. 

Wenn ein P i m a^ Indianer einen Apachen getötet hatte, 
so mußte er sich schweren Reinigungs- und Sühnezeremonien unter¬ 
werfen. Während einer sechzehntägigen Fastenzeit durfte er Fleisch 
und Salz nicht berühren, auf kein brennendes Feuer schauen, zu 
keinem Menschen sprechen. Er lebte allein im Wald, von einer alten 
Frau bedient, die ihm spärliche Nahrung brachte, badete oft im 
nächsten Fluß und trug —' als Zeichen der Trauer — einen Klumpen 
Lehm auf seinem Haupte. Am siebzehnten Tag fand dann die 
öffentliche Zeremonie der feierlichen Reinigung des Mannes und 
seiner Waffen statt. Da die P i m a-Indianer das Tabu des Mörders viel 
ernster nahmen als ihre Feinde und die Sühne und Reinigung nicht 
wie diese bis nach der Beendigung des Feldzuges aufzusdiieben 







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Sigm. Freud 


pflegten, litt ihre Kriegstüchtigkeit sehr unter ihrer sittlichen Strenge 
oder Frömmigkeit, wenn man will. Trotz ihrer außerordentlichen 
Tapferkeit erwiesen sie sich den Amerikanern als unbefriedigende 
Bundesgenossen in ihren Kämpfen gegen die Apachen. 

So interessant die Einzelheiten und Variationen der Sühne* 
und Reinigungszeremonien nach Tötung eines Feindes für eine tiefer 
eindringende Betrachtung auch sein mögen, so breche ich deren Mit* 
teilung doch ab, weil sie uns keine neuen Gesichtspunkte eröffnen 
können. Vielleicht führe ich noch an, daß die zeitweilige oder 
permanente Isolierung des berufsmäßigen Henkers, die sich bis in 
unsere Neuzeit erhalten hat, in diesen Zusammenhang gehört. Die 
Stellung des »Freimannes« in der mittelalterlichen Gesellschaft ver* 
mittelt in der Tat eine gute Vorstellung von dem »Tabu« der 
Wilden*. 

In der gangbaren Erklärung all dieser Versöhnungs-, Be* 
schränkungs-, Sühne* und Reinigungsvorschriften werden zwei 
Prinzipien mit einander kombiniert. Die Fortsetzung des Tabu vom 
Toten her auf alles, was mit ihm in Berührung gekommen ist, und 
die Furcht vor dem Geist des Getöteten. Auf welche Weise diese 
beiden Momente miteinander zur Erklärung des Zeremoniells zu 
kombinieren sind, ob sie als gleichwertig aufgefaßt werden sollen, 
ob das eine das primäre, das andere sekundär ist, und welches, das 
wird nicht gesagt und ist in der Tat nicht leicht anzugeben. Dem¬ 
gegenüber betonen wir die Einheitlichkeit unserer Auffassung, wenn 
wir all diese Vorschriften aus der Ambivalenz der Gefühlsregungen 
gegen den Feind ableiten. 

b> Das Tabu der Herrscher. 

Das Benehmen primitiver Völker gegen ihre Häuptlinge, 
Könige, Priester wird von zwei Grundsätzen regiert, die einander 
eher zu ergänzen als zu widersprechen scheinen. Man muß sich vor 
ihnen hüten und man muß sie behüten**. Beides geschieht vermittelst 
einer Unzahl von Tabuvorschriften. Warum man sich vor den 
Herrschern hüten muß, ist uns bereits bekannt geworden,* weil sie 
die Träger jener geheimnisvollen und gefährlichen Zauberkraft sind, 
die sich wie eine elektrische Ladung durch Berührung mitteilt und 
dem selbst nicht durch eine ähnliche Ladung Geschützten Tod und 
Verderben bringt. Man vermeidet also jede mittelbare oder un* 
mittelbare Berührung mit der gefährlichen Heiligkeit und hat, wo 
solche nicht zu vermeiden ist, ein Zeremoniell gefunden, um die 
gefürchteten Folgen abzuwenden. Die Nu bas in Ostafrika glauben 
z. B., daß sie sterben müssen, wenn sie das Haus ihres Priester* 
königs betreten, daß sie aber dieser Gefahr entgehen, wenn sie beim 

* Zu diesen Beispielen s. F r a z e r, Taboo, p. 165—190. »Manslayers 
tabooed«. 

•• Frazer, Taboo, p. 132/ »He must not only be guarded, he must also 
be guarded against«. 





Das Tabu und die Ambivalenz 


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Eintritt die linke Schulter entblößen und den König veranlassen, 
diese mit seiner Hand zu berühren. So trifft das Merkwürdige ein, 
daß die Berührung des Königs das Heil- und Schutzmittel gegen die 
Gefahren wird, welche aus der Berührung des Königs hervorgehen, 
aber es handelt sich dabei wohl um die Heilkraft der absichtlichen, 
vom König ausgehenden Berührung im Gegensatz zur Gefahr, daß 
man ihn berühre, um den Gegensatz der Passivität und der Aktivität 
gegen den König. 

Wenn es sich um die Heilwirkung der königlichen Berührung 
handelt, brauchen wir die Beispiele nicht bei Wilden zu suchen. Die 
Könige von England haben in Zeiten, die noch nicht weit zurück¬ 
liegen, diese Kraft an der Skrophulose geübt, die darum den Namen : 
»The King's Evil« trug. Königin Elisabeth entsagte diesem Stück 
ihrer königlichen Prärogative ebensowenig wie irgend ein anderer 
ihrer späteren Nachfolger. Charles I. soll im Jahre 1633 hundert 
Kranke auf einen Streich geheilt haben. Unter dessen zuchtlosem 
Sohn Charles II. feierten nach der Überwindung der großen 
englischen Revolution die Königsheilungen bei Skropheln ihre 
höchste Blüte. 

Dieser König soll im Laufe seiner Regierung bei hundert^ 
tausend Skrophulose berührt haben. Das Gedränge der Heilung¬ 
suchenden pflegte bei diesen Gelegenheiten so groß zu sein, daß 
einmal sechs oder sieben von ihnen anstatt der Heilung den Tod 
durch Erdrücktwerden fanden. Der skeptische Oranier, Wilhelm IIP, 
der nach der Vertreibung der Stuarts König von England wurde, 
weigerte sich des Zaubers,* das einzigemal, als er sich zu einer 
solchen Berührung herbeiließ, tat er es mit den Worten: »Gott gebe 
Euch eine bessere Gesundheit und mehr Verstand«*. 

Von der fürchterlichen Wirkung der Berührung, in welcher 
man, ob auch unabsichtlich, gegen den König, oder was zu ihm 
gehört, aktiv wird, mag folgender Bericht Zeugnis ablegen. Ein 
Häuptling von hohem Rang und großer Heiligkeit auf Neuseeland 
hatte einst die Reste seiner Mahlzeit am Wege stehen lassen. Da 
kam ein Sklave daher, ein junger, kräftiger, hungriger Gesell, sah 
das Zurückgelassene und machte sich darüber, um es aufzuessen. 
Kaum war er fertig worden, da teilte ihm ein entsetzter Zu^ 
schauer mit, daß es die Mahlzeit des Häuptlings gewesen sei, an 
welcher er sich vergangen habe. Er war ein starker mutiger Krieger 
gewesen, aber sobald er diese Auskunft vernommen hatte, stürzte 
er zusammen, wurde von gräßlichen Zuckungen befallen und starb 
gegen Sonnenuntergang des nächsten Tages**. Eine Maorifrau hatte 
gewisse Früchte gegessen und dann erfahren, daß diese von einem 
mit Tabu belegten Ort herrührten. Sie schrie auf, der Geist des 
Häuptlings, den sie so beleidigt, werde sie gewiß töten. Dies geschah 

* F r a z e r, The magic art I, p. 368. 

Old New Zealand, by a Pakeha Maori (London 1884), bei Frazer 
Tabu, p. 135. 





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Sigm. Freud 


am Nachmittag und am nächsten Tag um zwölf Uhr war sie tot*. 
Das Feuerzeug eines Maori-Häuptlings brachte einmal mehrere 
Personen ums Leben. Der Häuptling hatte es verloren, andere 
fanden es und bedienten sich seiner, um ihre Pfeifen anzuzünden. 
Als sie erfuhren, wessen Eigentum das Feuerzeug sei, starben sie 
alle vor Schrecken**. 

Es ist nicht zu verwundern, wenn sich das Bedürfriis fühlbar 
machte, so gefährliche Personen wie Häuptlinge und Priester von 
den anderen zu isolieren, eine Mauer um sie aufzuführen, hinter 
welcher sie für die anderen unzugänglich waren. Es mag uns die 
Erkenntnis dämmern, daß diese ursprünglich aus Tabuvorschriften 
gefügte Mauer heute noch als höfisches Zeremoniell existiert. 

Aber der vielleicht größere Teil dieses Tabu der Herrscher 
läßt sich nicht auf das Bedürfnis des Schutzes vor ihnen zurück¬ 
führen. Der andere Gesichtspunkt in der Behandlung der privilegierten 
Personen, das Bedürfnis, sie selbst vor den ihnen drohenden Ge* 
fahren zu schützen, hat an der Schaffung der Tabu und somit an 
der Entstehung der höfischen Etikette den deutlichsten Anteil 
gehabt. 

Die Notwendigkeit, den König vor allen erdenklichen Gefahren 
zu schützen, ergibt sich aus seiner Ungeheuern Bedeutung für das 
Wohl und Wehe seiner Untertanen. Streng genommen ist es seine 
Person, die den Lauf der Welt reguliert,- sein Volk hat ihn nicht 
nur für den Regen und Sonnenschein zu danken, der die Früchte 
der Erde gedeihen läßt, sondern auch für den Wind, der Schiffe an 
ihre Küste bringt und für den festen Boden, auf den sie ihre Füße 
setzen***. 

Diese Könige der Wilden sind -mit einer Machtfülfe und einer 
Fähigkeit, zu beglücken, ausgestattet, die nur Göttern zu eigen ist, 
und an welche auf späteren Stufen der Zivilisation nur die servilsten 
ihrer Höflinge Glauben heucheln werden. 

Es erscheint ein offenbarer Widerspruch, daß Personen von 
solcher Machtvollkommenheit selbst der größten Sorgfalt bedürfen, 
um vor den sie bedrohenden Gefahren beschützt zu werden, aber 
es ist nicht der einzige Widerspruch, der in der Behandlung königlicher 
Personen bei den Wilden zutage tritt. Diese Völker halten es auch 
für notwendig, ihre Könige zu überwachen, daß sie ihre Kräfte im 
rechten Sinne verwenden,- sie sind ihrer guten Intentionen oder ihrer 
Gewissenhaftigkeit keineswegs sicher. Ein Zug von Mißtrauen mengt 
sich der Motivierung der Tabuvorschriften für den König bei. »Die 
Idee, daß urzeitliches Königstum ein Despotismus ist,« sagt Frazert, 
»demzufolge das Volk nur für seinen Herrscher existiert, ist auf die 

* W. Brown, New Zealand and its Aborigines <London 1845), bei 
F r a z e r ibid. 

** F r a z e r, I. c. 

*** Frazer, Taboo. The bürden of royalty, p. 7. 

t I- c., p. 7. 






Das Tabu und die Ambivalenz 


309 


Monarchien, die wir hier im Auge haben, ganz und gar nicht an^ 
wendbar. Im Gegenteile, in diesen lebt der Herrscher nur für seine 
Untertanen,- sein Leben hat einen Wert nur so lange, als er die 
Pflichten seiner Stellung erfüllt, den Lauf der Natur zum Besten 
seines Volkes regelt. Sobald er darin nachläßt oder versagt, wandeln 
sich die Sorgfalt, die Hingebung, die religiöse Verehrung, deren 
Gegenstand er bisher im ausgiebigsten Maße war, in Haß und Ver¬ 
achtung um. Er wird schmählich davongejagt und mag froh sein, 
wenn er das nackte Leben rettet. Heute noch als Gott verehrt, mag 
es ihm passieren, morgen als Verbrecher erschlagen zu werden. Aber 
wir haben kein Recht, dies veränderte Benehmen seines Volkes als 
Unbeständigkeit oder Widerspruch zu verurteilen, das Volk bleibt 
vielmehr durchaus konsequent. Wenn ihr König ihr Gott ist, so 
denken sie, muß er sich auch als ihr Beschützer erweisen,- und wenn 
er sie nicht beschützen will, soll er einem anderen, der bereitwilliger 
ist, den Platz räumen. So lange er aber ihren Erwartungen ent¬ 
spricht, kennt ihre Sorgfalt für ihn keine Grenzen, und sie nötigen 
ihn dazu, sich selbst mit der gleichen Fürsorge zu behandeln. Ein 
solcher König lebt wie eingemauert hinter einem System von 
Zeremoniell und Etikette, eingesponnen in ein Netz von Ge¬ 
bräuchen und Verboten, deren Absicht keineswegs dahin geht, seine 
Würde zu erhöhen, noch weniger sein Wohlbehagen zu steigern, 
sondern die einzig und allein bezwecken, ihn vor Schritten zurück¬ 
zuhalten, welche die Harmonie der Natur stören und so ihn, sein 
Volk und das ganze Weltall gleichzeitig zugrunde richten könnten. 
Diese Vorschriften, weit entfernt, seinem Behagen zu dienen, 
mengen sich in jede seiner Handlungen, heben seine Freiheit auf 
und machen ihm das Leben, das sie angeblich versichern wollen, 
zur Bürde und zur Qual.« 

Eines der grellsten Beispiele von solcher Fesselung und 
Lähmung eines heiligen Herrschers durch das Tabu^Zeremoniell 
scheint in der Lebensweise des Mikado von Japan in früheren 
Jahrhunderten erzielt worden zu sein. Eine Beschreibung, die jetzt 
über zweihundert Jahre alt ist*, erzählt: »Der Mikado glaubt, daß 
es seiner Würde und Heiligkeit nicht angemessen sei, den Boden 
mit den Füßen zu berühren,- wenn er also irgendwohin gehen will, 
muß er auf den Schultern von Männern hingetragen werden. Es 
geht aber noch viel weniger an, daß er seine heilige Person der freien 
Luft aussetze, und die Sonne wird der Ehre nicht gewürdigt, auf sein 
Haupt zu scheinen. Allen Teilen seines Körpers wird eine so hohe 
Heiligkeit zugeschrieben, daß weder sein Haupthaar, noch sein Bart 
geschoren und seine Nägel nicht geschnitten werden dürfen. Damit 
er aber nicht zu sehr verwahrlose, waschen sie ihn nachts, wenn er 
schläft,- sie sagen, was man in diesem Zustand von seinem Körper 
nimmt, kann nur als gestohlen aufgefaßt werden, und ein solcher 

* Kämpfer, History of Japan bei F r a z e r, (. c., p. 3. 





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Sigm. Freud 


Diebstahl tut seiner Würde und Heiligkeit keinen Eintrag. In noch 
früheren Zeiten mußte er jeden Vormittag einige Stunden lang mit 
der Kaiserkrone auf dem Haupte auf dem Throne sitzen, aber er 
mußte sitzen wie eine Statue, ohne Hände, Füße, Kopf oder Augen 
zu bewegen,* nur so, meinte man, könne er Ruhe und Frieden im 
Reiche erhalten. Wenn er unseligerweise sich nach der einen oder 
der anderen Seite wenden sollte, oder eine Zeitlang den Blick bloß 
auf einen Teil seines Reiches richtete so würden Krieg, Hungers¬ 
not, Feuer, Pest oder sonst ein großes Unheil hereinbrechen, um das 
Land zu verheeren.« 

Einige der Tabu, denen barbarische Könige unterworfen sind, 
mahnen lebhaft an die Beschränkungen der Mörder. In S h a r k 
Point bei Kap Padron in Unter-Guinea <Westafrika> lebt ein 
Priesterkönig, Kukulu, allein in einem Wald. Er darf kein Weib 
berühren, auch sein Haus nicht verlassen, ja nicht einmal von seinem 
Stuhl aufstehen, in dem er sitzend schlafen muß. Wenn er sich 
niederlegte, würde der Wind aufhören und die Schiffahrt gestört sein. 
Seine Funktion ist es, die Stürme in Schranken zu halten und im 
allgemeinen für einen gleichmäßig gesunden Zustand der Atmosphäre 
zu sorgen*. Je mächtiger ein König von Loango ist, sagt Bastian, 
desto mehr Tabu muß er beobachten. Auch der Thronfolger ist von 
Kindheit an an sie gebunden, aber sie häufen sich um ihn, während 
er heranwächst/ im Momente der Thronbesteigung ist er von ihnen 
erstickt. 

Unser Raum gestattet es nicht und unser Interesse erfordert es 
nicht, daß wir in die Beschreibung der an der Königs- oder Priester¬ 
würde haftenden Tabu weiter eingehen. Führen wir noch an, daß 
Beschränkungen der freien Bewegung und der Diät die Hauptrolle 
unter ihnen spielen. Wie konservierend aber auf alte Gebräuche der 
Zusammenhang mit diesen privilegierten Personen wirkt, mag aus 
zwei Beispielen von Tabuzeremoniell hervorgehen, die von zivili¬ 
sierten Völkern, also von weit höheren Kulturstufen, genommen sind. 

Der Flamen Dialis, der Oberpriester des Jupiter im alten 
Rom, hatte eine außerordentlich große Anzahl von Tabugeboten zu 
beobachten. Er durfte nicht reiten, kein Pferd, keine Bewaffneten 
sehen, keinen Ring tragen, der nicht zerbrochen war, keinen Knoten 
an seinen Gewändern haben, Weizenmehl und Sauerteig nicht be^ 
rühren, eine Ziege, einen Hund, rohes Fleisch, Bohnen und Efeu 
nicht einmal beim Namen nennen,* sein Haar durfte nur von einem 
freien Mann mit einem Bronzemesser geschnitten, seine Haare und 
Nägelabfälle mußten unter einem glückbringenden Baum vergraben 
werden,* er durfte keinen Toten anrühren, nicht unbedeckten Hauptes 
unter freiem Himmel stehen und dergleichen. Seine Frau, die 
Fl am inica, hatte überdies ihre eigenen Verbote: Sie durfte auf 
einer gewissen Art von Treppen nicht höher als drei Stufen steigen, 

® Bastian, »Die deutsche Expedition an der L o a n g o k ü s t e», Jena 
1874, bei F r a z e r, I. c., p. 5. 





Das Tabu und die Ambivalenz 


311 


an gewissen Festtagen ihr Haar nicht kämmen/ das Leder ihrer 
Schuhe durfte von keinem Tier genommen werden, das eines natür^ 
liehen Todes gestorben war, sondern nur von einem geschlachteten 
oder geopferten,* wenn sie Donner hörte, war sie unrein, bis sie ein 
Sühnopfer dargeblracht hatte*. 

Die alten Könige von Irland waren einer Reihe von höchst 
sonderbaren Beschränkungen unterworfen, von deren Einhaltung 
aller Segen, von deren Übertretung alles Unheil für das Land er^ 
wartet wurde. Das vollständige Verzeichnis dieser Tabu ist in dem 
Book of Rights gegeben, dessen älteste handschriftliche Exemplare 
die Jahreszahlen 1390 und 1418 tragen. Die Verbote sind äußerst 
detailliert, betreffen gewisse Tätigkeiten an bestimmten Orten und 
zu bestimmten Zeiten,* in dieser Stadt darf der König nicht an 
einem gewissen Wochentag weilen, jenen Fluß nicht um eine ge¬ 
nannte Stunde übersetzen, nicht volle neun Tage auf einer ge^ 
wissen Ebene lagern und dergleichen**. 

Die Härte der Tabubeschränkungen für die Priesterkönige hat 
bei vielen wilden Völkern eine Folge gehabt, die historisch bedeut^ 
sam und für unsere Gesichtspunkte besonders interessant ist. Die 
Priester-Königswürde hörte auf, etwas Begehrenswertes zu sein,* 
wem sie bevorstand, der wandte oft alle Mittel an, um ihr zu ent^ 
gehen. So wird es auf Combodscha, wo es einen Feuern und 
einen Wasserkönig gibt, oft notwendig, die Nachfolger mit Gewalt 
zur Annahme der Würde zu zwingen. Auf Ni ne oder Savage 
Island, einer Koralleninsel im Stillen Ozean, kam die Monarchie 
tatsächlich zum Ende, weil sich niemand mehr bereit finden wollte, 
das verantwortliche und gefährliche Amt zu übernehmen. In manchen 
Teilen von Westafrika wird nach dem Tode des Königs ein ge¬ 
heimes Konzil abgehalten, um den Nachfolger zu bestimmen. Der, 
auf welchen die Wahl fällt, wird gepackt, gebunden und im Fetisch¬ 
haus in Gewahrsam gehalten, bis er sich bereit erklärt hat, die 
Krone anzunehmen. Gelegentlich findet der präsumptive Thronfolger 
Mittel und Wege, um sich der ihm zugedachten Ehre zu ent¬ 
ziehen,* so wird von einem Häuptling berichtet, daß er Tag und 
Nacht Waffen zu tragen pflegte, um jedem Versuch, ihn auf den 
Thron zu setzen, mit Gewalt zu widerstehen***. Bei den Negern 
von Sierra Leone ward das Widerstreben gegen die Annahme 
der Königswürde so groß, daß die meisten Stämme genötigt waren. 
Fremde zu ihren Königen zu machen. 

Frazer führt es auf diese Verhältnisse zurück, daß sich in 
der Entwicklung der Geschichte endlich eine Scheidung des ursprüng¬ 
lichen Priester-Königstums in eine geistliche und weltliche Macht 
vollzog. Die von der Bürde ihrer Heiligkeit erdrückten Könige 

* Frazer, I. c., p. 13. 

** Frazer, l. c., p. 11. 

*** A. Bastian, »Die deutsche Expedition an der Loangokuste« bei 
Frazer, I. c„ p. 18. 





312 


Sigm. Freud 


wurden unfähig, die Herrschaft in realen Dingen auszuüben, und 
mußten diese geringeren, aber tatkräftigen Personen überlassen, 
welche bereit waren, auf die Ehren der Königswürde zu ver^ 
zichten. Aus diesen erwuchsen dann die weltlichen Herrscher, 
während die nun praktisch bedeutungslose geistliche Oberhoheit den 
früheren Tabukönigen verblieb. Es ist bekannt, inwieweit diese 
Aufstellung in der Geschichte des alten Japans Bestätigung findet. 

Wenn wir nun das Bild der Beziehungen der primitiven 
Menschen zu ihren Herrschern überblicken, so regt sich in uns die 
Erwartung, daß uns der Fortschritt von seiner Beschreibung zu 
seinem psychoanalytischen Verständnis nicht schwer fallen wird. 
Diese Beziehungen sind sehr verwickelter Natur und nicht frei von 
Widersprüchen. Man räumt den Herrschern große Vorrechte ein, 
welche sich mit den Tabuverboten der anderen geradezu decken. 
Es sind privilegierte Personen,- sie dürfen eben das tun oder ge^ 
nießen, was den übrigen durch das Tabu vorenthalten ist. Im 
Gegensatz zu dieser Freiheit steht aber, daß sie durch andere Tabu 
beschränkt sind, welche auf die gewöhnlichen Individuen nicht drücken. 
Hier ist also ein erster Gegensatz, fast ein Widerspruch, zwischen 
einem Mehr von Freiheit und einem Mehr an Beschränkung für 
dieselben Personen. Man traut ihnen außerordentliche Zauber¬ 
kräfte zu und fürchtet sich deshalb vor der Berührung 
mit ihren Personen oder ihrem Eigentum, während man anderseits 
von diesen Berührungen die wohltätigste Wirkung erwartet. Dies 
scheint ein zweiter besonders greller Widerspruch zu sein,- allein wir 
haben bereits erfahren, daß er nur scheinbar ist. Heilend und 
schützend wirkt die Berührung, die vom König selbst in wohU 
wollender Absicht ausgeht,- gefährlich ist nur die Berührung, die vom 
gemeinen Mann am König und am Königlichen verübt wird, wahr¬ 
scheinlich, weil sie an aggressive Tendenzen mahnen kann. Ein anderer, 
nicht so leicht auflösbarer Widerspruch äußert sich darin, daß man 
dem Herrscher eine so große Gewalt über die Vorgänge der Natur 
zuschreibt und sich doch für verpflichtet hält, ihn mit ganz besonderer 
Sorgfalt gegen ihm drohende Gefahren zu beschützen, als ob seine 
eigene Macht, die so vieles kann, nicht auch dies vermöchte. Eine 
weitere Erschwerung des Verhältnisses stellt sich dann her, indem 
man dem Herrscher nicht das Zutrauen entgegenbringt, er werde 
seine ungeheure Macht in der richtigen Weise zum Vorteil der 
Untertanen wie zu seinem eigenen Schutz verwenden wollen,- man 
mißtraut ihm also und hält sich für berechtigt, ihn zu überwachen. 
Allen diesen Absichten der Bevormundung des Königs, seinem 
Schutz vor Gefahren und dem Schutz der Untertanen vor der 
Gefahr, die er ihnen bringt, dient gleichzeitig die Tabuetikette, der 
das Leben des Königs unterworfen wird. 

Es liegt nahe, folgende Erklärung für das komplizierte und 
widerspruchsvolle Verhältnis der Primitiven zu ihren Herrschern zu 
geben: Aus abergläubischen und anderen Motiven kommen in der 





Das Tabu und die Ambivalenz 


313 


Behandlung der Könige mannigfache Tendenzen zum Ausdrude, von 
denen jede ohne Rücksicht auf die anderen zum Extrem entwickelt 
wird. Daraus entstehen dann die Widersprüche, an denen der 
Intellekt der Wilden übrigens so wenig Anstoß nimmt wie der der 
Höchstzivilisierten, wenn es sich nur um Verhältnisse der Religion 
oder der »Loyalität« handelt. 

Das wäre soweit gut, aber die psychoanalytische Technik wird 
vielleicht gestatten, tiefer in den Zusammenhang einzudringen und 
Näheres über die Natur dieser mannigfaltigen Tendenzen auszu¬ 
sagen. Wenn wir den geschilderten Sachverhalt der Analyse unter¬ 
ziehen, gleichsam als ob er sich im Symptombild einer Neurose 
fände, so werden wir zunächst an das Übermaß von ängstlicher 
Sorge anknüpfen, welches als Begründung des Tabuzeremoniells aus¬ 
gegeben wird. Dies Vorkommen einer solchen Überzärtlichkeit ist in 
der Neurose, speziell bei der Zwangsneurose, die wir in erster 
Linie zum Vergleich heranziehen, sehr gewöhnlich. Ihre Herkunft ist 
uns sehr wohl verständlich worden. Sie tritt überall dort auf, wo 
außer der vorherrschenden Zärtlichkeit eine gegensätzliche aber un¬ 
bewußte Strömung von Feindseligkeit besteht, also der typische 
Fall der ambivalenten Gefühlseinstellung realisiert ist. Dann wird 
die Feindseligkeit überschrieen durch eine übermäßige Steigerung 
der Zärtlichkeit, die sich als Ängstlichkeit äußert und die zwanghaft 
wird, weil sie sonst ihrer Aufgabe, die unbewußte Gegenströmung 
in der Verdrängung zu erhalten, nicht genügen würde. Jeder Psycho¬ 
analytiker hat es erfahren, mit welcher Sicherheit die ängstliche Uber^ 
Zärtlichkeit unter den unwahrscheinlichsten Verhältnissen, z. B. 
zwischen Mutter und Kind oder bei zärtlichen Eheleuten, diese AuF 
lösung gestattet. Auf die Behandlung der privilegierten Personen 
angewendet, ergäbe sich die Einsicht, daß der Verehrung, ja Ver¬ 
götterung derselben im Unbewußten eine intensive feindselige 
Strömung entgegensteht, daß also hier, wie wir es erwartet haben, 
die Situation der ambivalenten Gefühlseinstellung verwirklicht ist. 
Das Mißtrauen, welches als Beitrag zur Motivierung der Königstabu 
unabweisbar erscheint, wäre eine andere direktere Äußerung der¬ 
selben unbewußten Feindseligkeit. Ja, wir wären — infolge der 
Mannigfaltigkeit der Endausgänge eines solchen Konfliktes bei ver^ 
sdiiedenen Völkern — nicht um Beispiele verlegen, in denen uns der 
Nachweis einer solchen Feindseligkeit noch viel leichter fiele. Die 
wilden Timmes von Sierra Leone, hören wir bei Frazer®, 
haben sich das Recht Vorbehalten, ihren gewählten König am Abend 
vor seiner Krönung durchzuprügeln, und sie bedienen sich dieses 
konstitutionellen Vorrechtes mit solcher Gründlichkeit, daß der un- 
glüddiche Herrscher gelegentlich seine Erhebung auf den Thron um 
nicht lange Zeit überlebt, daher haben es sich die Großen des 
Volkes zur Regel gemacht, wenn sie einen Groll gegen einen be^ 

* 1 . c., p. 18 nadh Zweifel et M o n s t i e r, »Voyage aux sources du 
Niger, 1880. 







314 


Sigm. Freud 


stimmten Mann haben, diesen zum König zu wählen. Immerhin 
wird auch in solchen grellen Fällen die Feindseligkeit sich nicht als 
solche bekennen, sondern sich als Zeremoniell gebärden. 

Ein anderes Stück im Verhalten der Primitiven gegen ihre 
Herrscher ruft die Erinnerung an einen Vorgang wach, der, in der 
Neurose allgemein verbreitet, in dem sogenannten Verfolgungswahn 
offen zutage tritt. Es wird hier die Bedeutung einer bestimmten 
Person außerordentlich erhöht, ihre Machtvollkommenheit ins Un¬ 
wahrscheinliche gesteigert, um ihr desto eher die Verantwortlichkeit 
für alles Peinliche, was dem Kranken widerfährt, auf laden zu können. 
Eigentlich verfahren ja die Wilden mit ihren Königen nicht anders, 
wenn sie ihnen die Macht über Regen und Sonnensdiein, Wind und 
Wetter zuschreiben und sie dann absetzen oder töten, weil die 
Natur ihre Erwartungen auf eine gute Jagd oder eine reife Ernte 
enttäuscht hat. Das Vorbild, welches der Paranoiker im Verfolgungs^ 
wahn wiederherstellt, liegt im Verhältnis des Kindes zu seinem 
Vater. Dem Vater kommt eine derartige Machtfülle in der Vor¬ 
stellung des Sohnes regelmäßig zu, und es zeigt sich, daß das Miß^ 
trauen gegen den Vater mit seiner Hochschätzung innig verknüpft 
ist. Wenn der Paranoiker eine Person seiner Lebensbeziehungen zu 
seinem »Verfolger« ernennt, so hebt er sie damit in die Väterreihe, 
bringt sie unter die Bedingungen, die ihm gestatten, sie für alles 
Unglück seiner Empfindung verantwortlich zu machen. So mag 
uns diese zweite Analogie zwischen dem Wilden und dem Neu^ 
rotiker die Einsicht ahnen lassen, wie vieles im Verhältnis des 
Wilden zu seinem Herrscher aus der infantilen Einstellung des 
Kindes zum Vater hervorgehen mag. 

Den stärksten Anhaltungspunkt für unsere Betrachtungsweise, 
welche die Tabuverbote mit neurotischen Symptomen vergleichen 
will, finden wir aber im Tabuzeremoniell selbst, dessen Bedeutung 
für die Stellung des Königstums vorhin erörtert wurde. Dieses 
Zeremoniell trägt seinen Doppelsinn und seine Herkunft von ambi¬ 
valenten Tendenzen unverkennbar zur Schau, wenn wir nur an^ 
nehmen wollen, daß es die Wirkungen, die es hervorbringt, auch 
von allem Anfang an beabsichtigt hat. Es zeichnet nicht nur die 
Könige aus und erhebt sie über alle gewöhnlichen Sterblichen, es 
macht ihnen auch das Leben zur Qual und zur unerträglichen 
Bürde und zwingt sie in eine Knechtschaft, die weit ärger ist als 
die ihrer Untertanen. Es erscheint uns so als das richtige Gegen¬ 
stück zur Zwangshandlung der Neurose, in der sich der untere 
drückte Trieb und der ihn unterdrückende zur gleichzeitigen und 
gemeinsamen Befriedigung treffen. Die Zwangshandlung ist a n- 
geblich ein Schutz gegen die verbotene Handlung,- wir möchten 
aber sagen, sie ist eigentlich die Wiederholung des Verbotenen. 
Das »angeblich« wendet sich hier der bewußten, das »eigentlich« der 
unbewußten Instanz des Saelenlebens zu. So ist auch das Tabu^ 
zeremoniell der Könige angeblich die höchste Ehrung und Sicherung 




Das Tabu und die Ambivalenz 


315 


derselben, eigentlich die Strafe für ihre Erhöhung, die Rache, welche 
die Untertanen an ihnen nehmen. Die Erfahrungen, die Sancho 
Pansa bei Cervantes als Gouverneur auf seiner Insel macht, 
haben ihn offenbar diese Auffassung des höfischen Zeremoniells als 
die einzig zutreffende erkennen lassen. Es ist sehr wohl möglich, 
daß wir weitere Zustimmungen zu hören bekämen, wenn wir 
Könige und Herrscher von heute zur Äußerung darüber veranlassen 
könnten. 

Warum die Gefühlseinstellung gegen die Herrscher einen so 
mächtigen unbewußten Beitrag von Feindseligkeit enthalten sollte, 
ist ein sehr interessantes, aber die Grenzen dieser Arbeit über¬ 
schreitendes Problem. Der Hinweis auf den infantilen Vaterkomplex 
haben wir bereits gegeben,- fügen wir hinzu, daß die Verfolgung 
der Vorgeschichte des Königtums uns die entscheidenden Aufklä^ 
rungen bringen müßte. Nah Frazers eindrucksvollen, aber nah 
eigenem Zugeständnis niht ganz zwingenden Erörterungen waren 
die ersten Könige Fremde, die nah kurzer Herrshaft zum Opfer¬ 
tod bei feierlihen Festen als Repräsentanten der Gottheit bestimmt 
waren*. Noh die Mythen des Christentums wären von der Nah^ 
Wirkung dieser Entwicklungsgeschichte der Könige berührt. 

c> Das Tabu der Toten. 

Wir wissen, daß die Toten mähtige Herrsher sind,- wir 
werden vielleiht erstaunt sein zu erfahren, daß sie als Feinde be¬ 
trachtet werden. 

Das Tabu der Toten erweist, wenn wir auf dem Boden des 
Vergleiches mit der Infektion bleiben dürfen, bei den meisten primU 
tiven Völkern eine besondere Virulenz. Es äußert sih zunächst in 
den Folgen, weihe die Berührung des Toten nah sih zieht, und 
in der Behandlung der um den Toten Trauernden. Bei den Maori 
war jeder, der eine Leihe berührt oder an ihrer Grablegung teiL 
genommen hatte, aufs äußerste unrein und nahezu abgeshnitten von 
allem Verkehr mit seinen Mitmenschen, sozusagen boykottiert. Er 
konnte kein Haus betreten, keiner Person oder Sähe nahe kommen, 
ohne sie mit der gleihen Eigenschaft anzustecken. Ja, er durfte niht 
einmal Nahrung mit seinen Händen berühren, diese waren ihm 
durh ihre Unreinheit geradezu unbrauhbar geworden. Man stellte 
ihm das Essen auf den Boden hin, und ihm blieb nihts übrig, als 
sih seiner mit den Lippen und den Zähnen, so gut es eben ging, 
zu bemähtigen, während er seine Hände nah dem Rühen ge^ 
bogen hielt. Gelegentlich war es erlaubt, daß eine andere Person 
ihn füttere, die es dann mit ausgestrecktem Arm tat, sorgsam, den 
Unseligen niht selbst zu berühren, aber diese Hilfsperson war dann 
selbst Einschränkungen unterworfen, die niht viel weniger drückend 
waren als seine eigenen. Es gab wohl in jedem Dorf ein ganz 

* Frazer, »The magic art and the evolution of kings«. z vol. 1911. <The 
golden bough). 





316 


Sigm. Freud. 


verkommenes, von der Gesellschaft ausgestoßenes Individuum, das 
in der armseligsten Weise von spärlichen Almosen lebte. Diesem 
Wesen war es allein gestattet, sich auf Armeslänge dem zu nähern, 
der die letzte Pflicht gegen einen Verstorbenen erfüllt hatte. War 
aber dann die Zeit der Abschließung vorüber, und durfte der durch 
die Leiche Verunreinigte sich wieder unter seine Genossen mengen, 
so wurde alles Geschirr, dessen er sich in der gefährlichen Zeit be^ 
dient hatte, zerschlagen, und alles Zeug weggeworfen, mit dem er 
bekleidet gewesen war. 

Die Tabugebräuche nach der körperlichen Berührung von Toten 
sind in ganz Polynesien, Melanesien und in einem Teil von Afrika 
die nämlichen,- ihr konstantestes Stück ist das Verbot, Nahrung 
selbst zu berühren, und die sich daraus ergebende Notwendigkeit, von 
anderen gefüttert zu werden. Es ist bemerkenswert, daß in Poly^ 
nesien oder vielleicht nur in Hawaii* Priesterkönige während der 
Ausübung heiliger Handlungen derselben Beschränkung unterlagen. 
Bei den Tabu der Toten auf Tonga tritt die Abstufung und all¬ 
mähliche Aufhebung der Verbote durch die eigene Tabukraft sehr 
deutlich hervor. Wer den Leichnam eines toten Häuptlings berührt 
hatte, war durch zehn Monate unrein,- wenn er aber selbst ein 
Häuptling war, nur durch drei, vier oder fünf Monate, je nach dem 
Rang des Verstorbenen,- aber wenn es sich um die Leiche des ver^ 
götterten Oberhäuptlings handelte, wurden selbst die größten.Häupt^ 
linge durch zehn Monate tabu. Die Wilden glauben fest daran, 
daß, wer solche Tabu Vorschriften Übertritt, schwer erkranken und 
sterben muß, so fest, daß sie nach der Meinung eines Beobachters 
noch niemals den Versuch gewagt haben, sich vom Gegenteil zu 
überzeugen**. 

Im wesentlichen gleichartig, aber für unsere Zwecke intern 
essanter sind die Tabubeschränkungen jener Personen, deren Be¬ 
rührung mit den Toten in übertragenem Sinne zu verstehen ist, 
der trauernden Angehörigen, der Witwer und Witwen. Sehen wir 
in den bisher erwähnten Vorschriften nur den typischen Ausdruck 
der Virulenz und der Ausbreitungsfähigkeit des Tabu, so schimmern 
in den nun mitzuteilenden die Motive der Tabu durch, und zwar 
sowohl die vorgeblichen als auch solche, die wir für die tiefliegen¬ 
den, echten halten dürfen. 

Bei den Shuswap in Britisch-Columbia müssen 
Witwen und Witwer während ihrer Trauerzeit abgesondert leben ,- 
sie dürfen weder ihren eigenen Körper noch ihren Kopf mit ihren 
Händen berühren,- alles Geschirr, dessen sie sich bedienen, ist dem 
Gebrauche anderer entzogen. Kein Jäger wird sich der Hütte, in 
welcher solche Trauernde wohnen, nähern wollen, denn das brächte 
ihm Unglück,- wenn der Schatten eines Trauernden auf ihn fallen 

* F r a z e r, Taboo, p. 138 usf. 

** W. Mariner, »The natives of the Tonga Islands«, 1818, bei F ra z e r, 
1. c. p. 140. 









Das Tabu und die Ambivalenz 


317 


würde, müßte er erkranken. Die Trauernden schlafen auf Dorn¬ 
büschen und umgeben ihr Bett mit solchen. Diese letztere Ma߬ 
regel ist dazu bestimmt, den Geist des Verstorbenen ferne zu 
halten, und noch deutlicher ist wohl der von anderen nordameri¬ 
kanischen Stämmen berichtete Gebrauch der Witwe, eine Zeitlang 
nach dem Tode des Mannes ein hosenartiges Kleidungsstück aus 
trockenem Gras zu tragen, um sich unzugänglich für die Annähe^ 
rung des Geistes zu machen. So wird uns die Vorstellung nahe 
gelegt, daß die Berührung »im übertragenen Sinne« doch nur als 
ein körperlicher Kontakt verstanden wird, da der Geist des Ver^ 
storbenen nicht von seinen Angehörigen weicht, nicht abläßt, sie 
während der Zeit der Trauer zu »umschweben«. 

Bei den A g u t a i n o s, die auf P a 1 a w a n, einer der Philip^ 
pinen, wohnen, darf eine Witwe ihre Hütte die ersten sieben oder 
acht Tage nach dem Todesfall nicht verlassen, es sei denn zur 
Nachtzeit, wenn sie Begegnungen nicht zu erwarten hat. Wer sie 
erschaut, gerät in Gefahr, augenblicklich zu sterben, und darum 
warnt sie selbst vor ihrer Annäherung, indem sie bei jedem Schritt 
mit einem hölzernen Stab gegen die Bäume schlägt,- diese Bäume 
aber verdorren. Worin die Gefährlichkeit einer solchen Witwe be^ 
stehen mag, wird uns durch eine andere Beobachtung erläutert. Im 
Mekeobezirk von Britisch-Neu-Guinea wird ein Witwer 
aller bürgerlichen Rechte verlustig und lebt für eine Weile wie ein 
Ausgestoßener. Er darf keinen Garten bebauen, sich nicht öffentlich 
zeigen, das Dorf und die Straße nicht betreten. Er schleicht wie ein 
wildes Tier im hohen Gras oder im Gebüsch umher, und muß sich 
im Dickicht verstecken, wenn er jemanden, besonders aber ein Weib, 
herannahen sieht. Diese letzte Andeutung macht es uns leicht, die 
Gefährlichkeit des Witwers oder der Witwe auf die Gefahr der 
Versuchung zurückzuführen. Der Mann, der sein Weib ver¬ 
loren hat, soll dem Begehren nach einem Ersatz ausweichen,- die 
Witwe hat mit demselben Wunsch zu kämpfen und mag überdies 
als herrenlos die Begehrlichkeit anderer Männer erwecken. Jede 
solche Ersatzbefriedigung läuft: gegen den Sinn der Trauer,- sie 
müßte den Zorn des Geistes auf lodern lassen.* 

Eines der befremdendsten, aber auch lehrreichsten Tabuge¬ 
bräuche der Trauer bei den Primitiven ist das Verbot, den Namen 
des Verstorbenen auszusprechen. Es ist ungemein verbreitet, hat 
mannigfaltige Ausführungen erfahren und bedeutsame Konsequenzen 
gehabt. 

Außer bei den Australiern und Polynesiern, welche uns die 
Tabugebräuche in ihrer besten Erhaltung zu zeigen pflegen, findet 
sich dies Verbot bei so entfernten und einander so fremden Völkern, 

* Dieselbe Kranke, deren »Unmöglichkeiten« ich oben <S. 221) mit den 
Tabu 2usammengesteIIt habe, bekannte, daß sie jedesmal in Entrüstung gerate, 
wenn sie einer in Trauer gekleideten Person auf der Straße begegne. Solchen 
Leuten sollte das Ausgehen verboten sein ! 

Imago, 1/4 


21 





318 


Sigm. Freud 


wie die Samo j eden in Sibirien und die To das in Südindien, 
die Mongolen der Tartarei und die Tuaregs der Sahara, die 
Aino in Japan und die A k a m b a und N a n d i in Zentralafrika, 
die Tinguanen auf den Philippinen und die Einwohner der 
Nik ob arischen Inseln, von Madagaskar und Borneo*, Bei 
einigen dieser Völker gilt das Verbot und die aus ihm sich ab^ 
leitenden Folgen nur für die Zeit der Trauer, bei anderen bleibt es 
permanent, doch scheint es in allen Fällen mit der Entfernung vom 
Zeitpunkt des Todesfalles abzublassen. 

Die Vermeidung des Namens des Verstorbenen wird in der 
Regel außerordentlidi strenge gehandhabt. So gilt es bei manchen 
südamerikanischen Stämmen als die schwerste Beleidigung der Über^ 
lebenden, den Namen des verstorbenen Angehörigen vor ihnen aus^ 
zusprechen, und die darauf gesetzte Strafe ist nicht geringer als die 
für eine Mordtat selbst festgesetzte**. Warum die Nennung des 
Namens so verabscheut werden sollte, ist zunächst nicht leiht zu 
erraten, aber die mit ihr verbundenen Gefahren haben eine ganze 
Reihe von Auskunftsmitteln entstehen lassen, die nach verschiedenen 
Richtungen interessant und bedeutungsvoll sind. So sind die M a s a i 
in Afrika auf die Ausflucht gekommen, den Namen des Verstorbenen 
unmittelbar nach seinem Tode zu ändern,- er darf nun ohne Scheu 
mit dem neuen Namen erwähnt werden, während alle Verbote an 
den alten geknüpft bleiben. Es scheint dabei vorausgesetzt, daß der 
Geist seinen neuen Namen nicht kennt und nicht erfahren wird. Die 
australischen Stämme an der Adelaide und der Encounter 
Bay sind in ihrer Vorsicht so konsequent, daß nach einem Todes^- 
fall alle Personen ihren Namen gegen einen anderen vertauschen, 
welche ebenso oder sehr ähnlich geheißen haben wie der Vcr^ 
storbene. Manchmal wird in weiterer Ausdehnung derselben Er^ 
wägung die Namensänderung nach einem Todesfall bei allen An¬ 
gehörigen des Verstorbenen vorgenommen, ohne Rüdesicht auf den 
Gleichklang der Namen, so bei einigen Stämmen in V i c t o r i a und 
in Nordwestamerika, Ja bei den Guaycurus in Para^ 
guay pflegte der Häuptling bei so traurigem Anlaß allen Mit¬ 
gliedern des Stammes neue Namen zu geben, die sie fortan erinnerten, 
als ob sie sie von jeher getragen hätten***. 

Ferner, wenn der Name des Verstorbenen sich mit der Be¬ 
zeichnung eines Tieres, Gegenstandes usw. gededet hatte, erschien 
es manchen unter den angeführten Völkern notwendig, auch diese 
Tiere und Objekte neu zu benennen, damit man beim Gebrauch 
dieser Worte nicht an den Verstorbenen erinnert werde. Daraus 
mußte sich eine nie zur Ruhe kommende Veränderung des Sprach^ 
Schatzes ergeben, die den Missionären Schwierigkeiten genug bereitete, 
besonders wo die Namensverpönung eine permanente war. In den 

F r a z e r, 1 . c. p. 353. 

** F r a z e r, 1 . c. p. 352 usf, 

*** Fra z er, I. c. p. 357 nach einem alten spanischen Beobachter 1732. 







Das Tabu und die Ambivalenz 


319 


sieben Jahren, die der Missionär Dobrizhofer bei den Abi* 
ponen in Paraguay verbrachte, wurde der Name für Jaguar drei* 
mal abgeändert, und die Worte für Krokodil, Dornen und Tier* 
schlachten hatten ähnliche Schicksale*. Die Scheu, einen Namen aus* 
zusprechen, der einem Verstorbenen angehört hat, dehnt sich aber 
auch nach der Richtung hin aus, daß man alles zu erwähnen ver* 
meidet, wobei dieser Verstorbene eine Rolle spielte, und als be* 
deutsame Folge dieses Unterdrückungsprozesses ergibt sich, daß 
diese Völker keine Tradition, keine historischen Reminiszenzen haben 
und einer Erforschung ihrer Vorgeschichte die größten Schwierig* 
keiten in den Weg legen. Bei einer Reihe dieser primitiven Völker 
haben sich aber auch kompensierende Gebräuche eingebürgert, um 
die Namen der Verstorbenen nach einer langen Zeit von Trauer 
wieder zu erwecken, indem man sie an Kinder verleiht, die als die 
Wiedergeburt der Toten betrachtet werden. 

Das Befremdende dieses Namentabu ermäßigt sich, wenn wir 
daran gemahnt werden, daß für den Wilden der Name ein wesent* 
liches Stück und ein wichtiger Besitz der Persönlichkeit ist, daß sie 
dem Wort volle Dingbedeutung zuschreiben. Dasselbe tun, wie ich 
an anderen Orten ausgeführt habe, unsere Kinder, die sich darum 
niemals mit der Annahme einer bedeutungslosen Wortähnlichkeit 
begnügen, sondern konsequent schließen, wenn zwei Dinge mit gleich* 
klingenden Namen genannt werden, so müßte damit eine tiefgehende 
Übereinstimmung zwischen beiden bezeichnet sein. Auch der zivili* 
sierte Erwachsene mag an manchen Besonderheiten seines Benehmens 
noch erraten, daß er von dem Voll* und Wichtignehmen der Eigen* 
namen nicht so weit entfernt ist, wie er glaubt, und daß sein Name 
in einer ganz besonderen Art mit seiner Person verwachsen ist. Es 
stimmt dann, hiezu, wenn die psychoanalytische Praxis vielfachen 
Anlaß findet, auf die Bedeutung der Namen in der unbewußten 
Denktätigkeit hinzuweisen**. Die Zwangsneurotiker benehmen sich 
dann, wie zu erwarten stand, in betreff der Namen ganz wie die 
Wilden. Sie zeigen die volle »Komplexempfindlichkeit« gegen das 
Aussprechen und Anhören bestimmter Worte und Namen (ähnlich 
wie auch andere Neurotiker), und leiten aus ihrer Behandlung des 
eigenen Namens eine gute Anzahl von oft schweren Hemmungen 
ab. Eine solche Tabukranke, die ich kannte, hatte die Vermeidung 
angenommen, ihren Namen niederzuschreiben, aus Angst, er könnte 
in jemandens Hand geraten, der damit in den Besitz eines Stückes 
von ihrer Persönlichkeit gekommen wäre. In der krampfhaften Treue, 
durch die sie sich gegen die Versuchungen ihrer Phantasie schützen 
mußte, hatte sie sich das Gebot geschaffen, »nichts von ihrer Person 
herzugeben«. Dazu gehörte zunächst der Name, in weiterer Aus* 
dehnung die Handschrift, und darum gab sie schließlich das 
Schreiben auf. 


* F r a z e r, I. c. p. 360. 

•* Stekel, Abraham. 


ZI* 





320 


Sigm. Freud 


So finden wir es nicht mehr auffällig, wenn von den Wilden 
der Name des Toten als ein Stück seiner Person gewertet und 
zum Gegenstand des den Toten betreffenden Tabu gemacht wird. 
Auch die Namensnennung des Toten läßt sich auf die Berührung 
mit ihm zurückführen, und wir dürfen uns dem umfassenderen 
Problem zuwenden, weshalb diese Berührung von so strengem Tabu 
betroffen ist. 

Die naheliegendste Erklärung würde auf das natürliche Grauen 
hinweisen, welches der Leichnam und die Veränderungen, die als¬ 
bald an ihm bemerkt werden, erregt. Daneben müßte man der 
Trauer um den Toten einen Platz einräumen, als Motiv für alles, 
was sich auf diesen Toten bezieht. Allein das Grauen vor dem 
Leichnam deckt offenbar nicht die Einzelheiten der Tabuvorschriften, 
und die Trauer kann uns niemals erklären, daß die Erwähnung des 
Toten ein schwerer Schimpf für dessen Hinterbliebene ist. Die Trauer 
liebt es vielmehr, sich mit dem Verstorbenen zu beschäftigen, sein 
Andenken auszuarbeiten und für möglichst lange Zeit zu erhalten. 
Für die Eigentümlichkeiten der Tabugebräuche muß etwas anderes 
als die Trauer verantwortlich gemacht werden, etwas, was offenbar 
andere Absichten als diese verfolgt. Gerade die Tabu der Namen 
verraten uns dies noch unbekannte Motiv und sagten es die Ge¬ 
bräuche nicht, so würden wir es aus den Angaben der trauernden 
Wilden selbst erfahren. 

Sie machen nämlich kein Hehl daraus, daß sie sich vor der 
Gegenwart und der Wiederkehr des Geistes des Verstorbenen 
fürchten,- sie üben eine Menge von Zeremonien, um ihn fern 
zu halten, ihn zu vertreiben*. Seinen Namen auszusprechen, dünkt 
ihnen eine Beschwörung, der seine Gegenwart auf dem Fuße folgen 
wird**. Sie tun darum folgerichtig alles, um einer solchen Beschwörung 
und Erweckung aus dem Wege zu gehen. Sie verkleiden sich, damit 
der Geist sie nicht erkenne***, oder sie entstellen seinen oder den 
eigenen Namen,- sie wüten gegen den rücksichtslosen Fremden, der 
den Geist durch Nennung seines Namens auf seine Hinterbliebenen 
hetzt. Es ist unmöglich, der Folgerung auszuweichen, daß sie nach 
Wu n d t s Ausdruck, an der Furcht »vor seiner zum Dämon ge¬ 
wordenen Seele« leiden T. 

Mit dieser Einsicht wären wir bei der Bestätigung der Auf¬ 
fassung Wundt's angelangt, welche das Wesen des Tabu, wie 
wir gehört haben, in der Angst vor den Dämonen findet. 

Die Voraussetzung dieser Lehre, daß das teuere Familien^ 
mitglied mit dem Augenblicke seines Todes zum Dämon wird, von 


• Als Beispiel eines solchen Bekenntnisses sind bei F r a z e r, 1 . c , p. 353, 
die Tuaregs der Sahara angeführt. 

*• Vielleicht ist hiezu die Bedingung zu fügen: so lange noch etwas von 
seinen körperlichen Überresten existiert. Frazer, l. c., p. 37z. 

*** Auf den Nikoharen. Frazer, 1 . c., p. 382. 
t W undt. Religion und Mythus, II. B., p. 49. 






Das Tabu und die Ambivalenz 


321 


dem die Hinterbliebenen nur Feindseliges zu erwarten haben, und 
gegen dessen böse Gelüste sie sich mit allen Mitteln schützen müssen, 
ist so sonderbar, daß man ihr zunächst den Glauben versagen wird. 
Allein so ziemlich alle maßgebenden Autoren sind darin einig, 
den Primitiven diese Auffassung zuzuschreiben. Westermarck, 
der in seinem Werke: »Ursprung und Entwicklung der Moral¬ 
begriffe« dem Tabu, nach meiner Schätzung, viel zu wenig Beachtung 
schenkt, äußert in dem Abschnitt: Verhalten gegen Verstorbene 
direkt: »Überhaupt läßt mich mein Tatsachenmaterial den Schluß 
ziehen, daß die Toten häufiger als Feinde denn als Freunde ange^ 
sehen werden* und daß J e v o n s und Grant Allen im Irrtum 
sind mit ihrer Behauptung, man habe früher geglaubt, die Böswillige 
keit der Toten richte sich in der Regel nur gegen Fremde, während 
sie für Leben und Ergehen ihrer Nachkommen und Clangenossen 
väterlich besorgt seien.« 

R. Kleinpaul hat in einem eindrucksvollen Buche die Reste 
des alten Seelenglaubens bei den zivilisierten Völkern zur Dar¬ 
stellung des Verhältnisses zwischen den Lebendigen und den Toten 
verwertet**. Es gipfelt auch nach ihm in der Überzeugung, daß die 
Toten mordlustig die Lebendigen nach sich ziehen. Die Toten töten,- 
das Skelett, als welches der Tod heute gebildet wird, stellt dar, daß 
der Tod selbst nur ein Toter ist. Nicht eher fühlt sich der Lebendige 
vor der Nachstellung der Toten sicher, als bis er ein trennende 
Wasser zwischen sich und ihn gebracht hat. Daher begrub man die 
Toten gerne auf Inseln, brachte sie auf die andere Seite eines 
Flusses,* die Ausdrücke Diesseits und Jenseits sind hievon aus¬ 
gegangen. Eine spätere Milderung hat die Böswilligkeit der Toten 
auf jene Kategorien beschränkt, denen man ein besonderes Recht 
zum Groll einräumen mußte, auf die Ermordeten, die ihren Mörder 
als böse Geister verfolgen, auf die in ungestillter Sehnsucht Gee 
storbenen, wie die Bräute. Aber ursprünglich, meint Kleinpaul, 
waren alle Toten Vampyre, alle grollten den Lebenden und trachteten, 
ihnen zu schaden, sie des Leben zu berauben. Der Leichnam hat 
überhaupt erst den Begriff eines bösen Geistes geliefert. 

Die Annahme, die liebsten Verstorbenen wandelten sich nach 
dem Tode zu Dämonen, läßt offenbar eine weitere Fragestellung 
zu. Was bewog die Primitiven dazu, ihren teueren Toten ein- 

* Westermarck, I. c., II. B., p. 424. In der Anmerkung und in der 
Fortsetzung des Textes die reiche Fülle von bestätigenden, oft sehr charakteristischen 
Zeugnissen, z. B. : Die Maoris glaubten, »daß die nächsten und geliebtesten Ver¬ 
wandten nach dem Tode ihr Wesen ändern und selbst gegen ihre früheren Lieb- 
linge übel gesinnt werden.« — Die Australneger glauben, jeder Verstorbene sei 
lange Zeit bösartigje enger die Verwandtschaft, desto größer die Furcht. Die 
Zentraleskimo werden von der Vorstellung beherrscht, daß die Toten erst spät 
zur Ruhe gelangen, anfänglich aber zu fürchten seien als unheilbrütende Geister, 
die das Dorf häufig umkreisen, um Krankheit, Tod und anderes Unheil zu ver¬ 
breiten. <B o a s.) 

** R. Kleinpaul: Die Lebendigen und die Toten im Volksglauben, 
Religion und Sage. 1898. 





322 


Sigm. Freud 


solche Sinnesänderung zuzuschreiben. Warum machten sie sie zu 
Dämonen? Westermarck glaubt, diese Frage leicht zu beant¬ 
worten*. »Da der Tod zumeist für das schlimmste Unglück gehalten 
wird, das den Menschen treffen kann, glaubt man, daß die Abge¬ 
schiedenen mit ihrem Schicksal äußerst unzufrieden seien. Nach Auf¬ 
fassung der Naturvölker stirbt man nur durch Tötung, sei es ge* 
waltsame, sei es durch Zauberei bewirkte, und schon deshalb sieht 
man die Seele als rachsüchtig und reizbar an,- vermeintlich beneidet 
sie die Lebenden und sehnt sich nach der Gesellschaft der alten Ange¬ 
hörigen — es ist daher begreiflich, daß sie trachtet, sie durch Krank¬ 
heiten zu töten, um mit ihnen vereinigt zu werden .... 

. . . Eine weitere Erklärung der Bösartigkeit, die man den 
Seelen zuschreibt, liegt in der instinktiven Furcht vor diesen, welche 
Furcht ihrerseits das Ergebnis der Angst vor dem Tode ist.« 

Das Studium der psychoneurotischen Störungen weist uns auf 
eine umfassendere Erklärung hin, welche die Westermarcksche 
miteinschließt. 

Wenn eine Frau ihren Mann, eine Tochter ihre Mutter durch 
den Tod verloren hat, so ereignet es sich nicht selten, daß die 
Überlebende von peinigenden Bedenken, die wir »Zwangsvorwürfe« 
heißen, befallen wird, ob sie nicht selbst durch eine Unvorsichtigkeit 
oder Nachlässigkeit den Tod der geliebten Person verschuldet habe. 
Keine Erinnerung daran, wie sorgfältig sie den Kranken gepflegt, 
keine sachliche Zurückweisung der behaupteten Verschuldung vermag 
der Qual ein Ende zu machen, die etwa den pathologischen Aus¬ 
druck einer Trauer darstellt und mit der Zeit langsam abklingt. Die 
psychoanalytische Untersuchung solcher Fälle hat uns die geheimen 
Triebfedern des Leidens kennen gelehrt. Wir haben erfahren, daß 
diese Zwangsvorwürfe in gewissem Sinne berechtigt und nur darum 
gegen Widerlegung und Einspruch gefeit sind. Nicht als ob die 
Trauernde den Tod wirklich verschuldet oder die Vernachlässigung 
wirklich begangen hätte, wie es der Zwangsvorwurf behauptet,* 
aber es war doch etwas in ihr vorhanden, ein ihr selbst unbe¬ 
wußter Wunsch, der mit dem Tode nicht unzufrieden war, und der 
ihn herbeigeführt hätte, wenn er im Besitze der Macht gewesen 
wäre. Gegen diesen unbewußten Wunsch reagiert nun der Vorwurf 
nach dem Tode der geliebten Person. Solche im Unbewußten ver¬ 
steckte Feindseligkeit hinter zärtlicher Liebe gibt es nun in fast allen 
Fällen von intensiver Bindung des Gefühls an eine bestimmte Person, 
es ist der klassische Fall, das Vorbild der Ambivalenz menschlicher 
Gefühlsregungen. Von solcher Ambivalenz ist bei einem Menschen 
bald mehr, bald weniger in der Anlage vorgesehen,- normalerweise 
ist es nicht so viel, daß die beschriebenen Zwangsvorwürfe daraus 
entstehen können. Wo sie aber ausgiebig angelegt ist, da wird sie 
sich gerade im Verhältnis zu den allergeliebtesten Personen, da, wo man 

* C., P. 426 . 





Das Tabu und die Ambivalenz 


323 


es am wenigsten erwarten würde, manifestieren. Die Disposition 
zur Zwangsneurose, die wir in der Tabufrage so oft zum Vergleich 
herangezogen haben, denken wir uns durch ein besonders hohes 
Maß solcher ursprünglicher Gefühlsambivalenz gegeben. 

Wir kennen nun das Moment, welches uns das vermeintliche 
Dämonentum der frisch verstorbenen Seelen und die Notwendigkeit, 
sich durch die Tabuvorschriften gegen ihre Feindschaft zu schützen, 
erklären kann. Wenn wir annehmen, daß dem Gefühlsleben der 
Primitiven ein ähnlich hohes Maß von Ambivalenz zukomme, wie 
wir es nach den Ergebnissen der Psychoanalyse den Zwangskranken 
zuschreiben, so wird es verständlich, daß nach dem schmerzlichen 
Verlust eine ähnliche Reaktion gegen die im Unbewußten latente 
Feindseligkeit notwendig wird, wie sie dort durch die Zwangsvor¬ 
würfe erwiesen wurde. Diese im Unbewußten als Befriedigung über 
den Todesfall peinlich verspürte Feindseligkeit hat aber beim Primi¬ 
tiven ein anderes Schicksal ,■ sie wird abgewehrt, indem sie auf das 
Objekt der Feindseligkeit auf den Toten, verschoben wird. Wir 
heißen diesen im normalen wie im krankhaften Seelenleben häufigen 
Abwehrvorgang eine Projektion. Der Überlebende leugnet nun, 
daß er je feindselige Regungen gegen den geliebten Verstorbenen 
gehegt hat,- aber die Seele des Verstorbenen hegt sie jetzt und wird 
sie über die ganze Zeit der Trauer zu betätigen bemüht sein. Der 
Straf- und Reuecharakter dieser Gefühlsreaktion wird sich trotz der 
geglückten Abwehr durch Projektion darin äußern, daß man sich 
fürchtet, sich Verzicht auferlegt und sich Einschränkungen unterwirft, 
die man zum Teil als Schutzmaßregeln gegen den feindlichen Dä¬ 
mon verkleidet. Wir finden so wiederum, daß das Tabu auf dem Boden 
einer ambivalenten Gefühlseinstellung erwachsen ist. Auch das Tabu 
der Toten rührt von dem Gegensätze zwischen dem bewußten 
Schmerz und der unbewußten Befriedigung über den Todesfall her. 
Bei dieser Herkunft des Grolles der Geister ist es selbstverständlich, 
daß gerade die nächsten und früher geliebtesten Hinterbliebenen ihn 
am meisten zu fürchten haben. 

Die Tabuvorschriften benehmen sich auch hier zwiespältig wie 
die neurotischen Symptome. Sie bringen einerseits durch ihren 
Charakter als Einschränkungen die Trauer zum Ausdruck, andere 
seits aber verraten sie sehr deutlich, was sie verbergen wollen, die 
Feindseligkeit gegen den Toten, die jetzt als Notwehr motiviert ist. 
Einen gewissen Anteil der Tabuverbote haben wir als Versuchungs¬ 
angst verstehen gelernt. Der Tote ist wehrlos, das muß zur Be¬ 
friedigung der feindseligen Gelüste an ihm reizen, und dieser Ver* 
suchung muß das Verbot entgegengesetzt werden. 

Westermarck hat aber Recht, wenn er für die Auf* 
fassung der Wilden keinen Unterschied zwischen gewaltsam und 
natürlich Gestorbenen gelten lassen will. Für das unbewußte 
Denken ist auch der ein Gemordeter, der eines natürlichen Todes 
gestorben ist,- die bösen Wünsche haben ihn getötet. <Vergl. die 




324 


Sigm. Freud 


nächste Abhandlung dieser Reihe : Animismus, Magie und Allmacht der 
Gedanken.) Wer sich für Herkunft: und Bedeutung der Träume vom 
Tode teurer Verwandter <der Eltern and Geschwister) interessiert, 
der wird beim Träumer, beim Kind und beim Wilden die volle 
Übereinstimmung im Verhalten gegen den Toten, gegründet auf 
die nämliche Gefühlsambivalenz, feststellen können. 

Wir haben vorhin einer Auffassung von Wundt wider¬ 
sprochen, welche das Wesen des Tabu in der Furcht vor den Dä¬ 
monen findet, und doch haben wir soeben der Erklärung zuge¬ 
stimmt, welche das Tabu der Toten auf die Furcht vor der zum 
Dämon gewordenen Seele des Verstorbenen zurückführt. Das 
schiene ein Widerspruch: es wird uns aber nicht schwer werden, 
ihn aufzulösen. Wir haben die Dämonen zwar angenommen, aber 
nicht als etwas Letztes und für die Psychologie Unauflösbares 
gelten lassen. Wir sind gleichsam hinter die Dämonen gekommen, 
indem wir sie als Projektionen der feindseligen Gefühle erkennen, 
welche die Überlebenden gegen die Toten hegen. 

Die nach unserer gut begründeten Annahme zwiespältigen — 
zärtlichen und feindseligen — Gefühle gegen die nun Verstorbenen 
wollen sich zur Zeit des Verlustes beide zur Geltung bringen, als 
Trauer und als Befriedigung. Zwischen diesen beiden Gegensätzen 
muß es zum Konflikt kommen, und da der eine Gegensatzpartner, 
die Feindseligkeit — ganz oder zum größeren Anteile —, unbe¬ 
wußt ist, kann der Ausgang des Konfliktes nicht in einer Sub¬ 
traktion der beiden Intensitäten von einander mit bewußter Ein¬ 
setzung des Überschusses bestehen, etwa wie wenn man einer 
geliebten Person eine von ihr erlittene Kränkung verzeiht. Der 
Prozeß erledigt sich vielmehr durch einen besonderen psychischen 
Mechanismus, den man in der Psychoanalyse als Projektion zu 
bezeichnen gewohnt ist. Die Feindseligkeit, von der man nichts weiß 
und auch weiter nichts wissen will, wird aus der inneren Wahr¬ 
nehmung in die Außenwelt geworfen, dabei von der eigenen Person 
gelöst und der anderen zugeschoben. Nicht wir, die Überlebenden, 
freuen uns jetzt darüber, daß wir des Verstorbenen ledig sind/ nein, 
wir trauern um ihn, aber er ist jetzt merkwürdigerweise ein böser 
Dämon geworden, dem unser Unglück Befriedigung bereiten würde, 
der uns den Tod zu bringen sucht. Die Überlebenden müssen sich 
nun gegen diesen bösen Feind verteidigen,- sie sind von der inneren 
Bedrückung entlastet, haben sie aber nur gegen eine Bedrängnis von 
außen eingetauscht. 

Es ist nicht abzuweisen, daß dieser Projektionsvorgang, welcher 
die Verstorbenen zu böswilligen Feinden macht, eine Anlehnung an 
den reellen Feindseligkeiten findet, die man von letzteren erinnern 
und ihnen wirklich zum Vorwurf machen kann. Also an ihrer 
Härte, Herrschsucht, Ungerechtigkeit, und was sonst den Hintergrund 
auch der zärtlichsten Verhältnisse unter den Menschen bildet. Aber 
es kann nicht so einfach zugehen, daß uns dieses Moment für sich 





Das Tabu und die Ambivalenz 


325 


allein die Projektionsschöpfung der Dämonen begreiflich mache. Die 
Verschuldungen der Verstorbenen enthalten gewiß einen Teil der 
Motivierung für die Feindseligkeit der Überlebenden, aber sie wären 
unwirksam, wenn nicht diese Feindseligkeit aus ihnen erfolgt wäre, 
und der Zeitpunkt ihres Todes wäre gewiß der ungeeignetste Anlaß, 
die Erinnerung an die Vorwürfe zu wecken, die man ihnen zu 
machen berechtigt war. Wir können die unbewußte Feindseligkeit 
als das regelmäßig wirkende und eigentlich treibende Motiv nicht 
entbehren. Diese feindselige Strömung gegen die nächsten und 
teuersten Angehörigen konnte zu deren Lebzeiten latent bleiben, 
d. h. sich dem Bewußtsein weder direkt noch indirekt durch irgend 
eine Ersatzbildung verraten. Mit dem Ableben der gleichzeitig ge¬ 
liebten und gehaßten Personen war dies nicht mehr möglich, der 
Konflikt wurde akut. Die aus der gesteigerten Zärtlichkeit stammende 
Trauer wurde einerseits unduldsamer gegen die latente Feindselige 
keit, anderseits durfte sie es nicht zulassen, daß sich aus letzterer 
nun ein Gefühl der Befriedigung ergebe. Somit kam es zur Ver- 
drängung der unbewußten Feindseligkeit auf dem Wege der Pro¬ 
jektion, zur Bildung jenes Zeremoniells, in dem die Furcht vor der 
Bestrafung durch die Dämonen Ausdruck findet, und mit dem zeit¬ 
lichen Ablauf der Trauer verliert auch der Konflikt an Schärfe, so 
daß das Tabu dieser Toten sich abschwächen oder in Vergessen^ 
heit versinken darf. 


4 * 

Haben wir so den Boden geklärt, auf dem das überaus lehr^ 
reiche Tabu der Toten erwachsen ist, so wollen wir nicht versäumen, 
einige Bemerkungen anzuknüpfen, die für das Verständnis des Tabu 
überhaupt bedeutungsvoll werden können. 

Die Projektion der unbewußten Feindseligkeit beim Tabu der 
Toten auf die Dämonen ist nur ein einzelnes Beispiel aus einer 
Reihe von Vorgängen, denen der größte Einfluß auf die Gestaltung 
des primitiven Seelenlebens zugesprochen werden muß. In dem be^ 
trachteten Falle dient die Projektion der Erledigung eines Gefühls¬ 
konfliktes / sie findet die nämliche Verwendung in einer großen 
Anzahl von psychischen Situationen, die zur Neurose führen. Aber 
die Projektion ist nicht für die Abwehr geschaffen, sie kommt auch 
zu Stande, wo es keine Konflikte gibt. Die Projektion innerer 
Wahrnehmungen nach außen ist ein primitiver Mechanismus, dem 
z. B. auch unsere Sinneswahrnehmungen unterliegen, der also an 
der Gestaltung unserer Außenwelt normalerweise den größten Anteil 
hat. Unter noch nicht genügend festgestellten Bedingungen werden 
innere Wahrnehmungen auch von Gefühls- und Denkvorgängen 
wie die Sinneswahrnehmungen nach außen projiziert, zur Aus¬ 
gestaltung der Außenwelt verwendet, während sie der Innenwelt 
verbleiben sollten. Es hängt dies vielleicht genetisch damit zusammen, 
daß die Funktion der Aufmerksamkeit ursprünglich nicht der Innen ^ 




326 


Sigm. Freud 


weit, sondern den von der Außenwelt zuströmenden Reizen zuge^ 
wendet war, und von den endopsydhischen Vorgängen nur die 
Nachrichten über Lust- und Unlustentwicklungen empfing. Erst mit 
der Ausbildung einer abstrakten Denkspradie, durch die Verknüpfung 
der sinnlichen Reste der Wortvorstellungen mit inneren Vorgängen, 
wurden diese selbst allmählich wahrnehmungsfähig. Bis dahin hatten die 
primitiven Menschen durch Projektion innerer Wahrnehmungen nach 
außen ein Bild der Außenwelt entwickelt, welches wir nun mit erstarkter 
Bewußtseinswahrnehmung in Psychologie zurückübersetzen müssen. 

Die Projektion der eigenen bösen Regungen in die Dämonen 
ist nur ein Stück eines Systems, welches die »Weltanschauung» der 
Primitiven geworden ist und das wir in der nächsten Abhandlung 
dieser Reihe als das »animistische« kennen lernen werden. Wir 
werden dann die psychologischen Charaktere einer solchen System¬ 
bildung festzustellen haben und unsere Anhaltspunkte in der Ana^ 
lyse jener Systembildungen finden, welche uns wiederum die Neu¬ 
rosen entgegenbringen. Wir wollen vorläufig nur verraten, daß die 
sogenannte »sekundäre Bearbeitung« des Trauminhaltes das Vor¬ 
bild für alle diese Systembildungen ist. Vergessen wir auch nicht 
daran, daß es vom Stadium der Systembildung an zweierlei Ab¬ 
leitungen für jeden vom Bewußtsein beurteilten Akt gibt, die 
systematische und die reale, aber unbewußte®. 

Wundt' H ‘ bemerkt, daß »unter den Wirkungen, die der 
Mythus allerorten den Dämonen zuschreibt, zunächst die unheil¬ 
vollen überwiegen, so daß im Glauben der Völker sichtlich die 
bösen Dämonen älter sind als die guten«. Es ist nun sehr wohl 
möglich, daß der Begriff des Dämons überhaupt aus der so bedeut^ 
samen Relation zu den Toten gewonnen wurde. Die diesem Ver¬ 
hältnis innewohnende Ambivalenz hat sich dann im weiteren Verlaufe 
der Menschheitsentwicklung darin geäußert, daß sie aus der nämlichen 
Wurzel zwei völlig entgegengesetzte psychische Bildungen hervor¬ 
gehen ließ: Dämonen- und Gespensterfurcht einerseits, die Ahnen^ 
Verehrung anderseits®®* ** **• . Daß die Dämonen stets als die Geister 
kürzlich Verstorbener gefaßt werden, bezeugt wie nichts anderes 
den Einfluß der Trauer auf die Entstehung des Dämonenglaubens. 
Die Trauer hat eine ganz bestimmte psychische Aufgabe zu erledigen, 
sie soll die Erinnerungen und Erwartungen der Überlebenden von 
den Toten ablösen. Ist diese Arbeit geschehen, so läßt der Schmerz 

* Den Projektionsschöpfungen der Primitiven stehen die Personifikationen 
nahe, durch welche der Dichter die in ihm ringenden entgegengesetzten Triebe 
regungen als gesonderte Individuen aus sich herausstellt. 

** «Mythus und Religion«, II., S. 129. 

**• In den Psychoanalysen neurotischer Personen, die an Gespensterangst 
leiden oder in ihrer Kindheit gelitten haben, fällt es oft nicht schwer, diese Ge^ 
spenster als die Eltern zu entlarven. Vergleiche hiezu auch die »Sexualgespenster« 
betitelte Mitteilung von P. Haeberlin (Sexualprobleme, Februar 1912), in welcher 
es sich um eine andere erotisch betonte Person handelt, der Vater aber ver~ 
storben war. 






Das Tabu und die Ambivalenz 


327 


nach, mit ihm die Reue und der Vorwurf und darum auch die Angst 
vor dem Dämon. Dieselben Geister aber, die zunächst als Dämonen 
gefürchtet wurden, gehen nun der freundlicheren Bestimmung entgegen, 
als Ahnen verehrt und zur Hilfeleistung angerufen werden. 

Überblickt man das Verhältnis der Überlebenden zu den Toten 
im Wandel der Zeiten, so ist es unverkennbar, daß dessen Ambi¬ 
valenz außerordentlich nachgelassen hat. Es gelingt jetzt leicht, die 
unbewußte, immer noch nachweisbare Feindseligkeit gegen die Toten 
niederzuhalten, ohne daß es eines besonderen seelischen Aufwandes 
hiefür bedürfte. Wo früher der befriedigte Haß und die schmerz¬ 
hafte Zärtlichkeit miteinander gerungen haben, da erhebt sich heute 
wie eine Narbenbildung die Pietät und fordert das: De mortuis nil 
nisi bene. Nur die Neurotiker trüben noch die Trauer um den 
Verlust eines ihrer Teuren durch Anfälle von Zwangsvorwürfen, 
welche in der Psychoanalyse die alte ambivalente Gefühlseinstellung 
als ihr Geheimnis verraten. Auf welchem Wege diese Änderung 
herbeigeführt wurde, inwieweit sich konstitutionelle Änderung und 
reale Besserung der familiären Beziehungen in deren Verursachung 
teilen, das braucht hier nicht erörtert zu werden. Aber man könnte 
durch dieses Beispiel zur Annahme geführt werden, es sei den 
Seelenregungen der Primitiven überhaupt ein 
höheres Maß von Ambivalenz zuzugestehen, als bei 
dem heute lebenden Kulturmenschen aufzufinden 
ist. Mit der Abnahme dieser Ambivalenz schwand 
auch langsam das Tabu, das Kompromißsymptom 
des Ambivalenzkonfliktes. Von den Neurotikern, welche 
genötigt sind, diesen Kampf und das aus ihm hervorgehende Tabu 
zu reproduzieren, würden wir sagen, daß sie eine archaistische 
Konstitution als atavistischen Rest mit sich gebracht haben, deren 
Kompensation im Dienste der Kulturanforderung sie nun zu so 
ungeheuerlichem seelischen Aufwand zwingt. 

Wir erinnern uns an dieser Stelle der durch ihre Unklarheit 
verwirrenden Auskunft, welche uns W u n d t über die Doppelt 
bedeutung des Wortes Tabu: heilig und unrein geboten hat <s. o.>. 
Ursprünglich habe das Wort Tabu heilig und unrein noch nicht 
bedeutet, sondern habe das Dämonische bezeichnet, das nidit berührt 
werden darf, und somit ein wichtiges, den beiden extremen Begriffen 
gemeinsames Merkmal hervorgehoben, doch beweise diese bleibende 
Gemeinschaft, daß zwischen den beiden Gebieten des Heiligen und 
des Unreinen eine ursprüngliche Übereinstimmung obwalte, die erst 
später einer Differenzierung gewichen sei. 

Im Gegensätze hiezu leiten wir aus unseren Erörterungen 
mühelos ab, daß dem Worte Tabu von allem Anfang an die er^ 
wähnte Doppelbedeutung zukommt, daß es zur Bezeichnung einer 
bestimmten Ambivalenz dient und alles dessen, was auf dem 
Boden dieser Ambivalenz erwachsen ist. Tabu ist selbst 
ein ambivalentes Wort, und nachträglich meinen wir, man 




328 


Sigm. Freud 


hätte aus dem festgestellten Sinne dieses Wortes allein erraten 
können, was sich als Ergebnis weitläufiger Untersuchung heraus¬ 
gestellt hat, daß das Tabu verbot als das Resultat einer Gefühls¬ 
ambivalenz zu verstehen ist. Das Studium der ältesten Sprachen hat 
uns belehrt, daß es einst viele solche Worte gab, welche Gegensätze 
in sich faßten, in gewissem — wenn auch nicht in ganz dem näm¬ 
lichen Sinne — wie das Wort Tabu ambivalent waren*. Geringe 
lautliche Modifikationen des gegensinnigen Urwortes haben später 
dazu gedient, um den beiden hier vereinigten Gegensätzen einen 
gesonderten sprachlichen Ausdruck zu schaffen. 

Das Wort Tabu hat ein anderes Schicksal gehabt,- mit der ab¬ 
nehmenden Wichtigkeit der von ihm bezeichneten Ambivalenz ist es 
selbst, respektive sind die ihm analogen Worte aus dem Sprach¬ 
schatz geschwunden. Ich hoffe, in späterem Zusammenhänge wahr¬ 
scheinlich machen zu können, daß sich hinter dem Schicksal dieses 
Begriffes eine greifbare historische Wandlung verbirgt, daß das Wort 
zuerst an ganz bestimmten menschlichen Relationen haftete, denen 
die große Gefühlsambivalenz eigen war, und daß es von hier aus 
auf andere, analoge Relationen ausgedehnt wurde. 

Wenn wir nicht irren, so wirft das Verständnis des Tabu auch 
ein Licht auf die Natur und Entstehung des Gewissens. Man 
kann ohne Dehnung der Begriffe von einem Tabugewissen und von 
einem Tabuschuldbewußtsein nach Übertretung des Tabu sprechen. 
Das Tabugewissen ist wahrscheinlich die älteste Form, in welcher 
uns das Phänomen des Gewissens entgegentritt. 

Denn was ist »Gewissen«? Nach dem Zeugnis der Sprache ge¬ 
hört es zu dem, was man am gewissesten weiß,- in manchen Sprachen 
scheidet sich seine Bezeichnung kaum von der des Bewußtseins. 

Gewissen ist die innere Wahrnehmung von der Verwerfung 
bestimmter in uns bestehender Wunsdiregungen,- der Ton liegt aber 
darauf, daß diese Verwerfung sich auf nidits anderes zu berufen 
braucht, daß sie ihrer selbst gewiß ist. Noch deutlicher wird dies 
beim Schuldbewußtsein, der Wahrnehmung der inneren Verurteilung 
solcher Akte, durch die wir bestimmte Wunschregungen vollzogen 
haben. Eine Begründung erscheint hier überflüssig/ jeder, der ein 
Gewissen, hat, muß die Berechtigung der Verurteilung, den Vorwurf 
wegen der vollzogenen Handlung, in sich verspüren. Diesen nämlichen 
Charakter zeigt aber das Verhalten der Wilden gegen das Tabu,- 
das Tabu ist ein Gewissensgebot, seine Verletzung läßt ein ent^ 
setzliches Schuldgefühl entstehen, welches ebenso selbstverständlich 
wie nach seiner Herkunft unbekannt ist**. 

* Vgl. mein Referat über Abels »Gegensinn der Urworte« im Jahrbuch 
f. psycho^analyt. und psycho-pathol. Forschungen, Bd. II, 1910. 

** Es ist eine interessante Parallele, daß das Schuldbewußtsein des Tabu in 
nichts gemindert wird, wenn die Übertretung unwissentlich geschah <siehe Beispiele 
oben), und daß noch im griechischen Mythus die Verschuldung des Ödipus nicht 
aufgehoben wird dadurch, daß sie ohne, ja gegen sein Wissen und Wollen er^ 
worben wurde. 





Das Tabu und die Ambivalenz 


329 


Also entsteht wahrscheinlich auch das Gewissen auf dem Boden 
einer Gefuhlsambivalenz aus ganz bestimmten menschlichen Rela¬ 
tionen, an denen diese Ambivalenz haftet, und unter den für das 
Tabu und die Zwangsneurose geltend gemachten Bedingungen, daß 
das eine Glied des Gegensatzes unbewußt sei und durch das zwang¬ 
haft herrschende andere verdrängt erhalten werde. Zu diesem 
Schlüsse stimmt mehrerlei, was wir aus der Analyse der Neurose 
gelernt haben. Erstens, daß im Charakter der Zwangsneurotiker der 
Zug der peinlichen Gewissenhaftigkeit hervortritt als Reaktionssymptom 
gegen die im Unbewußten lauernde Versuchung, und daß bei 
Steigerung des Krankseins die höchsten Grade von Schuldbewußtsein 
von ihnen entwickelt werden. Man kann in der Tat den Ausspruch 
wagen, wenn wir nicht an den Zwangskranken die Herkunft des 
Schuldbewußtseins ergründen können, so haben wir überhaupt keine 
Aussicht, dieselbe je zu erfahren. Die Lösung dieser Aufgabe ge¬ 
lingt nun beim einzelnen neurotischen Individuum,- für die Völker 
getrauen wir uns eine ähnliche Lösung zu erschließen. 

Zweitens muß es uns auffallen, daß das Schuldbewußtsein viel 
von der Natur der Angst hat,- es kann ohne Bedenken als »Ge^ 
wissensangst« beschrieben werden. Die Angst deutet aber auf un¬ 
bewußte Quellen hin,- wir haben aus der Neurosenpsychologie ge¬ 
lernt, daß, wenn Wunschregungen der Verdrängung unterliegen, 
deren Libido in Angst verwandelt wird. Dazu wollen wir erinnern, 
daß auch beim Schuldbewußtsein etwas unbekannt und unbewußt 
ist, nämlich die Motivierung der Verwerfung. Diesem Unbekannten 
entspricht der Angstcharakter des Schuldbewußtseins. 

Wenn das Tabu sich vorwiegend in Verboten äußert, so ist 
eine Überlegung denkbar, die uns sagt, es sei ganz selbstverständlich 
und bedürfe keines weitläufigen Beweises aus der Analogie mit der 
Neurose, daß ihm eine positive, begehrende Strömung zu Grunde 
liege. Denn, was niemand zu tun begehrt, das braucht man doch 
nicht zu verbieten, und jedenfalls muß das, was aufs nachdrücklichste 
verboten wird, doch Gegenstand eines Begehrens sein. Wenden wir 
diesen plausibeln Satz auf unsere Primitiven an, so müßten wir 
schließen, es gehöre zu ihren stärksten Versuchungen, ihre Könige 
und Priester zu töten, Inzest zu verüben, ihre Toten zu mißhandeln 
und dergleichen. Das ist nun kaum wahrscheinlich,- den entschiedensten 
Widerspruch erwecken wir aber, wenn wir den nämlichen Satz an den 
Fällen messen, in welchen wir selbst die Stimme des Gewissens am 
deutlichsten zu vernehmen glauben. Wir würden dann mit einer nicht 
zu übertreffenden Sicherheit behaupten, daß wir nicht die geringste 
Versuchung verspüren, eines dieser Gebote zu übertreten, z. B. das 
Gebot: Du sollst nicht morden, und daß wir vor der Übertretung 
desselben nichts anderes verspüren als Abscheu. 

Mißt man dieser Aussage unseres Gewissens die Bedeutung 
bei, die sie beansprucht, so wird einerseits das Verbot überflüssig 
das Tabu sowohl, wie unser Moralverbot —, anderseits bleibt 




330 


Sigm. Freud 


die Tatsache des Gewissens unerklärt und die Beziehungen zwischen 
Gewissen, Tabu und Neurose entfallen,- es ist also jener Zustand 
unseres Verständnisses hergestellt, der auch gegenwärtig besteht, so 
lange wir nicht psychoanalytische Gesichtspunkte auf das Problem 
anwenden. 

Wenn wir aber der durch Psychoanalyse — an den Träumen 
Gesunder — gefundenen Tatsache Rechnung tragen, daß die Ver* 
suchung, den anderen zu töten, auch bei uns stärker und häufiger 
ist, als wir ahnen, und daß sie psychische Wirkungen äußert, auch 
wo sie sich unserem Bewußtsein nicht kundgibt, wenn wir ferner in 
den Zwangsvorschriften gewisser Neurotiker die Sicherungen und 
Selbstbestrafungen gegen den verstärkten Impuls, zu morden, er¬ 
kannt haben, dann werden wir zu dem vorhin aufgestellten Satz: 
Wo ein Verbot vorliegt, müßte ein Begehren dahinter sein, mit neuer 
Schätzung zurückkehren. Wir werden annehmen, daß dies Begehren, 
zu morden, tatsächlich im Unbewußten vorhanden ist, und daß das 
Tabu wie das Moralverbot psychologisch keineswegs überflüssig ist, 
vielmehr durch die ambivalente Einstellung gegen den Mordimpuls 
erklärt und gerechtfertigt wird. 

Der eine so häufig als fundamental hervorgehobene Charakter 
dieses Ambivalenzverhältnisses, daß die positive begehrende Strömung 
eine unbewußte ist, eröffnet einen Ausblick auf weitere Zusammen^ 
hänge und Erklärungsmöglichkeiten. Die psychischen Vorgänge im 
Unbewußten sind nicht durchwegs mit jenen identisch, die uns aus 
unserem bewußten Seelenleben bekannt sind, sondern genießen ge^ 
wisse beachtenswerte Freiheiten, die den letzteren entzogen worden 
sind. Ein unbewußter Impuls braucht nicht dort entstanden zu sein, 
wo wir seine Äußerung finden,- er kann von ganz anderer Stelle 
herstammen, sich ursprünglich auf andere Personen und Relationen 
bezogen haben und aureh den Mechanismus der Verschiebung 
dorthin gelangt sein, wo er uns auffällt. Er kann ferner dank der 
Unzerstörbarkeit und Unkorrigierbarkeit unbewußter Vorgänge aus 
sehr frühen Zeiten, denen er angemessen war, in spätere Zeiten 
und Verhältnisse hinübergerettet werden, in denen seine Äußerungen 
fremdartig erscheinen müssen. All dies sind nur Andeutungen, aber 
eine sorgfältige Ausführung derselben würde zeigen, wie wichtig sie 
für das Verständnis der Kulturentwicklung werden können. 

Zum Schlüsse dieser Erörterungen wollen wir eine spätere 
Untersuchungen vorbereitende Bemerkung nicht versäumen. Wenn 
wir auch an der Wesensgleichheit von Tabuverbot und Moral¬ 
verbot festhalten, so wollen wir doch nicht bestreiten, daß eine 
psychologische Verschiedenheit zwischen beiden bestehen muß. Eine 
Veränderung in den Verhältnissen der grundlegenden Ambivalenz 
kann allein die Ursache sein, daß das Verbot nicht mehr in der 
Form des Tabu erscheint. 

Wir haben uns bisher in der analytischen Betrachtung der 
Tabuphänomene von den nachweisbaren Übereinstimmungen mit der 




Das Tabu und die Ambivalenz 


331 


Zwangsneurose leiten lassen, aber das Tabu ist doch keine Neu¬ 
rose, sondern eine soziale Bildung,- somit obliegt uns die Aufgabe, 
auch darauf hinzuweisen, worin der prinzipielle Unterschied der 
Neurose von einer Kulturschöpfung wie das Tabu zu suchen ist. 

Ich will hier wiederum eine einzelne Tatsache zum Ausgangs¬ 
punkt nehmen. Von der Übertretung eines Tabu wird bei den 
Primitiven eine Strafe befürchtet, meist eine schwere Erkrankung 
oder der Tod. Diese Strafe droht nun dem, der sich die Über^ 
tretung hat zu Schulden kommen lassen. Bei der Zwangsneurose ist 
dies anders. Wenn der Kranke etwas ihm Verbotenes ausführen 
soll, so fürchtet er die Strafe nicht für sich, sondern für eine andere 
Person, die meist unbestimmt gelassen ist, aber durch die Analyse 
leicht als eine der ihm nächsten und von ihm geliebtesten Personen 
erkannt wird. Der Neurotiker verhält sich also hiebei wie altruistisch, 
der Primitive wie egoistisch. Erst wenn die Tabuübertretung sich am 
Missetäter nicht spontan gerächt hat, dann erwacht bei den Wilden 
ein kollektives Gefühl, daß sie durch den Frevel alle bedroht wären, 
und sie beeilen sich, die ausgebliebene Bestrafung selbst zu voll¬ 
strecken. Wir haben es leicht, uns den Mechanismus dieser Soli¬ 
darität zu erklären. Die Angst vor dem ansteckenden Beispiel, vor 
der Versuchung zur Nachahmung, also vor der Infektionsfähigkeit 
des Tabu ist hier im Spiele. Wenn einer es zustandegebracht hat, 
das verdrängte Begehren zu befriedigen, so muß sich in allen Gesell^ 
schaftsgenossen das gleiche Begehren regen,- um diese Versuchung 
niederzuhalten, muß der eigentlich Beneidete um die Frucht seines 
Wagnisses gebracht werden, und die Strafe gibt den Vollstreckern 
nicht selten Gelegenheit, unter der Rechtfertigung der Sühne dieselbe 
frevle Tat auch ihrerseits zu begehen. Es ist dies ja eine der Grund¬ 
lagen der menschlichen Strafordnung, und sie hat, wie gewiß richtig, 
die Gleichartigkeit der verbotenen Regungen beim Verbrecher wie 
bei der rächenden Gesellschaft zur Voraussetzung. 

Die Psychoanalyse bestätigt hier, was die Frommen zu sagen 
pflegen, wir seien alle arge Sünder. Wie soll man nun den uner¬ 
warteten Edelsinn der Neurose erklären, die nichts für sich und alles 
für eine geliebte Person fürchtet? Die analytische Untersuchung zeigt, 
daß er nidit primär ist. Ursprünglich, d. h. zuAnfang der Erkrankung, 
galt die Strafandrohung wie bei den Wilden der eigenen Person,* 
man fürchtete in jedem Falle für sein eigenes Leben,- erst später 
wurde die Todesangst auf eine andere geliebte Person verschoben. 
Der Vorgang ist einigermaßen kompliziert, aber wir übersehen ihn 
vollständig. Zugrunde der Verbotbildung liegt regelmäßig eine böse 
Regung — ein Todes wünsch — gegen eine geliebte Person. Diese 
wird durch ein Verbot verdrängt, das Verbot an eine gewisse 
Handlung geknüpft, welche etwa die feindselige gegen die geliebte 
Person durch Verschiebung vertritt, die Ausführung dieser Handlung 
mit der Todesstrafe bedroht. Aber der Prozeß geht weiter, und der 
ursprüngliche Todeswunsch gegen den geliebten anderen ist dann 





332 


Sigm. Freud 


durch die Todesangst um ihn ersetzt. Wenn die Neurose sich also 
so zärtlich altruistisch erweist, so kompensiert sie damit nur 
die ihr zugrunde liegende gegenteilige Einstellung eines brutalen 
Egoismus. Heißen wir die Gefühlsregungen, die durch die Rücksicht 
auf den anderen bestimmt werden, und ihn nicht selbst zum SexuaU 
objekt nehmen, soziale, so können wir das Zurücktreten dieser 
sozialen Faktoren als einen später durch Überkompensation ver^ 
hüllten Grundzug der Neurose herausheben. 

Ohne uns bei der Entstehung dieser sozialen Regungen und 
ihrer Beziehung zu den anderen Grundtrieben des Menschen aufzu¬ 
halten, wollen wir an einem anderen Beispiel den zweiten Haupt¬ 
charakter der Neurose zum Vorschein bringen. Das Tabu hat in 
seiner Erscheinungsform die größte Ähnlichkeit mit der Berührungs¬ 
angst der Neurotiker, dem Delire de toucher. Nun handelt es sich 
bei dieser Neurose regelmäßig um das Verbot sexueller Berührung, 
und die Psychoanalyse hat ganz allgemein gezeigt, daß die Trieb¬ 
kräfte, welche in der Neurose abgelenkt und verschoben werden, 
sexueller Herkunft sind. Beim Tabu hat die verbotene Berührung 
offenbar nicht nur sexuelle Bedeutung, sondern vielmehr die all¬ 
gemeinere des Angreifens, der Bemädhtigung, des Geltendmachens 
der eigenen Person. Wenn es verboten ist, den Häuptling oder 
etwas, was mit ihm in Berührung war, selbst zu berühren, so soll 
damit demselben Impuls eine Hemmung angelegt werden , der sich 
andere Male in der argwöhnischen Überwachung des Häuptlings, ja 
in seiner körperlichen Mißhandlung vor der Krönung <s. oben) zum 
Ausdruck bringt. Somit ist das Überwiegen der sexuellen 
Triebanteile gegen die sozialen das für dieNeurose 
charakteristische Moment. Die sozialen Triebe sind aber 
selbst durch Zusammentreten von egoistischen und erotischen Kom¬ 
ponenten zu besonderen Einheiten entstanden. 

An dem einen Beispiele von Vergleich des Tabu mit der 
Zwangsneurose läßt sich bereits erraten, welches das Verhältnis der 
einzelnen Formen von Neurose zu den Kulturbildungen ist, und 
wodurch das Studium der Neurosenpsychologie für das Verständnis 
der Kulturentwicklung wichtig wird. 

Die Neurosen zeigen einerseits auffällige und tiefreichende 
Übereinstimmungen mit den großen sozialen Produktionen der Kunst, 
der Religion und der Philosophie, anderseits erscheinen sie wie Ver^ 
Zerrungen derselben. Man könnte den Ausspruch wagen, eine 
Hysterie sei ein Zerrbild einer Kunstschöpfung, eine Zwangsneurose 
ein Zerrbild einer Religion, ein paranoischer Wahn ein Zerrbild 
eines philosophischen Systems. Diese Abweichung führt sich in letzter 
Auflösung darauf zurück, daß die Neurosen asoziale Bildungen sind,- 
sie suchen mit privaten Mitteln zu leisten, was in der Gesellschaft 
durch kollektive Arbeit entstand. Bei der Triebanalyse der Neurosen 
erfährt man, daß in ihnen die Triebkräfte sexueller Herkunft den 
bestimmenden Einfluß ausüben, während die entsprechenden Kultur- 




Das Tabu und die Ambivalenz 


333 


bildungen auf sozialen Trieben ruhen, solchen, die aus der Ver* 
einigung egoistischer und sexueller Anteile hervorgegangen sind. Das 
Sexualbedürfnis ist eben nicht imstande, die Menschen in ähnlicher 
Weise wie die Anforderungen der Selbsterhaltung zu einigen,* die 
Sexualbefriedigung ist zunächst die Privatsache des Individuums. 

Genetisch ergibt sich die asoziale Natur der Neurose aus 
deren ursprünglichster Tendenz, sich aus einer unbefriedigenden 
Realität in eine lustvollere Phantasiewelt zu flüchten. In dieser vom 
Neurotiker gemiedenen realen Welt herrscht die Gesellschaft: der 
Menschen und die von ihnen gemeinsam geschaffenen Institutionen/ 
die Abkehrung von der Realität ist gleichzeitig ein Austritt aus der 
menschlichen Gemeinschaft. 



Imago I/4. 


22 






334 


Karl Abraham 


Amenhotep IV. <Echnaton>. 

Psychoanalytische Beiträge zum Verständnis seiner Persönlichkeit 
und des monotheistischen Aton-Kultes. 

Von Dr. KARL ABRAHAM, Arzt in Berlin. 

I m Jahre 1880 wurde in der Nähe des ägyptischen Dorfes Teil¬ 
et-Amarna eine große Anzahl von Tafeln mit asiatischen Texten 
aufgefunden. Diese Tafeln stellten sich als wichtige historische 
Dokumente heraus und brachten insbesondere über König 
Amenhotep IV. und seine Regierungszeit die merkwürdigsten AuF 
Schlüsse. Die aus jener Epodie erhaltenen hieroglyphischen Texte 
setzten in Gemeinschaft mit den »AmarnaTafeln« die Forschung 
in den Stand, von der Persönlichkeit des Königs ein anschauliches 
Bild zu entwerfen. Wir besitzen eine Reihe von Quellenbüchern 
und Bearbeitungen der ägyptischen Geschichte, die eine Fülle des 
Interessanten über jene Epoche mitzuteilen wissen*. Sie lieferten die 
materiellen Grundlagen der nachfolgenden Untersuchung. Ich ver^ 
weise namentlich auf die Werke von Breasted, dessen »Geschichte 
Ägyptens« vor kurzem in einer vorzüglichen deutschen Bearbeitung 
erschienen ist, sowie auf W e i g a 11 s ausgezeichnete Monographie 
über das Leben Amenhoteps IV. 

Die Ägyptologen haben sich des »Ketzerkönigs«, der sich 
selbst den später zu erklärenden Namen Echnaton beilegte, mit 
besonderem Interesse, ja mit einer Begeisterung angenommen, die 
dem Uneingeweihten seltsam und unverständlich erscheinen muß. 
Trennen uns doch drei Jahrtausende und einige Jahrhunderte von 
der Amarna^Periode! Wenn aber ein so berufener Forscher wie 
Breasted den König als die merkwürdigste Gestalt in der 
älteren orientalischen Geschichte bezeichnet, ja geneigt ist, ihm in 
der Weltgeschichte einen ganz besonderen Platz einzuräumen, so 
werden wir zu erfahren wünschen, durch welche Eigenschaften oder 
Taten Amenhotep IV. sich eine solche Ehrenstellung verdient hat. 

Amenhotep IV., welcher der achzehnten Dynastie angehört, 
lebte im vierzehnten Jahrhundert vor Christo. Er war weder ein 
Eroberer noch ein staatskluger Herrscher wie so mancher seiner 
Vorfahren. Vielmehr ging unter seiner kurzen Regierung das von 
jenen gegründete Weltreich zugrunde, indessen der junge König der 
Katastrophe untätig zusah. Seine Größe liegt auf anderem, auf 
ideellem Gebiet. Man staunt, wenn man nur in einigen Andeutungen 
den Inhalt dieses kurzen Lebens erfährt. 

* Breasted, Ancient Records of Egypt., Vol. 2, Chicago 1906. — 
Breasted, History of Egypt, Chicago 1905. Deutsche Ausgabe: Ge¬ 
schichte Ägyptens. Deutsch von Dr. H. Ranke. Berlin 1911. — W e i g a II, 
The Life and Times of Akhnaton Pharao of Egypt. Edinborough und London 1910. 
— Niebuhr, Die Amarna-Zeit. In: Der alte Orient. Jahrgang 1, Heft 2. 
Leipzig 1899. — Sethe, Urkunden der 18. Dynastie. Bd 4 der Urkunden des 
ägyptischen Altertums, Leipzig 1906. — Flinders Petrie, A History of 
Egypt., Vol. 2, London 1896. 





Amenhotep IV. <Edinaton> 


335 


Zehn Jahre alt, besteigt Amenhotep IV. den Thron/ mit acht¬ 
undzwanzig Jahren stirbt er. In den wenigen Zwisdhenjahren führt er auf 
den Gebieten der Religion, der Ethik, der Weltanschauung und der 
Kunst eine großartige Umwälzung herbei. Alles, was wir über 
diese geistige Revolution erfahren, läßt uns darauf schließen, daß 
der König seiner Zeit weit vorausgeeilt war. Er erscheint als der 
Träger von Ideen, die zum Teil erst nach mehr als tausend Jahren 
wieder aufgenommen wurden. Waren seine Vorfahren gewaltig in 
der Tat, so ist der fetzte direkte Sproß der achzehnten Dynastie 
ganz Träumer, ganz Denker und Idealist, ganz Ethiker und Ästhet. 
Er ist der erste Große im Reiche des Geistes, von dem die Ge¬ 
schichte der Menschheit meldet. 

Wer sich gewöhnt hat, alles Seelische unter den Gesichts¬ 
punkten der Freudschen Forschungen zu betrachten, den fordert 
das Leben Amenhoteps IV. gleichsam dazu heraus, es psycho¬ 
analytisch zu durchdringen. Denn es läßt in einzigartiger Durchs 
sichtigkeit erkennen, wie ein Mensch in jener weit entlegenen 
Kulturepoche von den gleichen »Komplexen« beherrscht wurde, 
wie die gleichen psychischen Mechanismen in ihm wirkten, welche 
die Neurosen-Forschung Freuds und seiner Schule bei Individuen 
unserer Tage aufgedeckt hat. 

In die Zeit der achzehnten Dynastie fällt die erste »Welt¬ 
herrschaft« Ägyptens. Unter den direkten Vorfahren Amenhoteps IV. 
war es Thutmosis III. gewesen, der sie begründete. Während seiner 
langen Regierungszeit erweiterte er sein Reich bis zum Euphrat. 
Es bedurfte einer stattlichen Reihe alljährlich wiederholter Feldzüge, 
um die ägyptische Herrschaft zu befestigen. Aus allen diesen Unter¬ 
nehmungen ging der tatkräftige Thutmosis als Sieger hervor. Sein 
Nachfolger, Amenhotep II., hatte vollauf zu tun, um die asiatischen 
Völker endgiltig zu unterwerfen. An kriegerischem Geist, Wildheit 
und Grausamkeit übertraf er alle seine Vorgänger. Seine Körper¬ 
kraft war berühmt: Kein anderer Mann — so wird erzählt — war 
imstande, des Königs Bogen zu spannen. Sein Sohn, Thutmosis IV., 
der nur kurze Zeit regierte, war von geringer Körperkraft. Er 
erhielt Ägyptens politische Macht auf ihrer Höhe, jedoch nicht so¬ 
wohl durch kriegerische Leistungen als durch die Heirat mit der 
asiatischen Prinzessin Giluchipa, der Tochter des Königs Artatama 
von Mitanni {Mesopotamien). Bei seinem Tode hinterließ er einen 
minderjährigen Sohn, für den seine Mutter die Regentschaft über^ 
nahm, bis er als Amenhotep III. selbst den Thron besteigen konnte. 
Diese Regentschaft ebnete dem asiatischen Einfluß den Boden am 
ägyptischen Hofe. Unter der Regierung Amenhoteps III. wurde der 
Höhepunkt der ägyptischen Macht bereits überschritten. Ihm fehlte 
der kriegerische Sinn noch mehr als seinem Vater. Dagegen war 
er ein begeisterter Jäger, der die Berichte von seinen Jagderfolgen 
der Nachwelt in gleicher Weise überlieferte wie seine Vorfahren 

22* 




336 


Karl Abraham 


ihre Kriegstaten. Er entfaltete am Hofe eine früher nicht gekannte 
Pracht. Die Kunst konnte in einer langen Friedenszeit erblühen. In 
folgenschwerster Weise wurde aber den fremden Einflüssen 
Raum gegeben, indem auch dieser König eine Fremde heiratete, die 
den Namen Teje führte. Sie war die Tochter eines anscheinend 
aus Asien eingewanderten Priesters, der dem Hofe nahe stand. Als 
sie ihm keinen männlichen Thronerben gebar, nahm er sich eine zweite 
Gemahlin. Auch diese war keine Ägypterin, sondern eine Asiatin: 
Taduchipa, Prinzessin von Mitanni, eine Tochter des nunmehr dort 
regierenden Königs Tuschratta. Amenhotep III. wählte in ihr eine 
Cousine aus der mütterlichen Familie. Seine erste Gemahlin Teje 
gebar jedoch später noch den sehnlich erwarteten Sohn, den nach¬ 
maligen König Amenhotep IV. 

Mit den Jahren ging die Regierung immer mehr vom König 
auf die Königin über. Die äußere Politik des Landes erfuhr dadurch 
keine wesentliche Veränderung. Dagegen machte sich auf religiösem 
Gebiete alsbald ein Umschwung bemerkbar. Die Königin und ihr 
Anhang versuchten den hergebrachten Kultus des Amon bei Seite 
zu drängen und bevorzugten den bis dahin wenig populären Gott 
A t o n. 

Amon war um jene Zeit unbestritten der Hauptgott Ägyptens * 
Die Residenz der Pharaonen — Theben — war die wichtigste Stätte 
seines Kultes, und die Amonspriester von Theben besaßen sowohl 
am Hofe als im Volke einen außerordentlichen Einfluß. Die gleiche 
dominierende Rolle hatte ehedem der unterägyptische Hauptgott Ra 
<oder Re> innegehabt, bis innerpolitische Veränderungen den Schwer¬ 
punkt des staatlichen und religiösen Lebens nach der jüngeren 
Residenzstadt Theben verlegten. Der Kultus des Ra war jedoch 
keineswegs völlig beseitigt — ja wir finden sogar den für die reli¬ 
giösen Anschauungen der Ägypter sehr charakteristischen Versuch, 
die beiden rivalisierenden Gottheiten zu einer einzigen — »Amon-Ra« 
zu verschmelzen. Solcher kombinierter Gottheiten gab es viele. Die 
Priesterschaft eines weniger angesehenen Gottes liebte es, dem Namen 
des letzteren denjenigen des Ra oder Amon hinzuzufügen, um sein 
Ansehen dadurch zu steigern. Die Historiker weisen nun auf die 
bemerkenswerte, schon oben erwähnte Tatsache hin, daß der Vater 
der Königin Teje Priester einer solchen kombinierten Gottheit war, 
nämlich des Min-Ra. Min entsprach etwa dem Pan der Griechen,* 
Min-Ra bedeutete also eine Kombination des Gottes der Frucht^ 
barkeit mit dem lebenspendenden Sonnengotte. Der Kultus einer 
solchen Gottheit, des Ädonis, war nun in dem benachbarten 
Syrien zu Hause. Der asiatische Einfluß war in jener Zeit im Zu¬ 
nehmen begriffen. Und da nun der Vater der Königin ein wahr** 
scheinlich aus Asien eingewanderter Priester war, so ergibt sich die 
Vermutung, daß es asiatische Einflüsse waren, die sich im Kultus 
des Min-Ra geltend zu machen begannen. 

* Die Griechen identifizierten ihn daher mit ihrem Zeus. 





Amenhotep IV. (Edinaton) 


337 


Die Inschriften aus den späteren Regierungsjahren Amenhoteps III. 
enthalten mehrfach den Namen des Gottes Aton, der in ferner 
Vergangenheit neben Ra als Sonnengott im unterägyptischen Pharao 
onenreiche verehrt worden war. Die lautliche Ähnlichkeit der beiden 
Namen Aton und Adonis ist auffallend. Adonis war der Gott der 
untergehenden Sonne. Die Vermutung, der alte Name Aton sei 
zum Träger des von Asien eindringenden Adonis-Kultes geworden, 
ist nicht von der Hand zu weisen. Die namhaftesten Forscher tun 
dieser Auffassung Erwähnung. 

Nach Amenhoteps III. Tode nahm der Kultus des Aton, wie 
bereits bemerkt, größeren Umfang an. In eine solche Zeit des Über^ 
ganges fällt der Regierungsantritt des minderjährigen Königs Amen^ 
hotep IV. <1375^1358 v. Chr.>. 

Der junge König war von zartem, schwächlichem Körperbau, 
gelangte nie zu einer kernigen Gesundheit und starb schon im Alter 
von 28 Jahren. Es heißt auch, er habe an »Anfällen« (über die ich 
freilich nirgends nähere Angaben finden konnte) sowie an visionären 
Zuständen gelitten. Man hat daher die Ansicht ausgesprochen, er 
sei epileptisch gewesen,* wohl mit dem gleichen Unrecht, wie es von 
anderen Großen der Geschichte behauptet worden ist. Die Epilepsie 
bringt stets einen fortschreitenden geistigen Verfall des Erkrankten 
mit sich. Hat ein Mensch sich durch besondere geistige Gaben aus^ 
gezeichnet, und ist er bis zu seinem Ende im Vollbesitz dieser 
Gaben geblieben, so kann die Annahme der Epilepsie schon aus 
diesem Grunde als ausgeschlossen gelten. Amenhotep IV. war, wie 
aus allen Quellmaterialien hervorgeht, ein Idealist uud Träumer, der 
wichtigen Erfordernissen des Lebens rat- und tatlos gegenüberstand. 
Ihm eignete nicht epileptische Impulsivität,* die weitgehende Ver^ 
drängung in seinem Triebleben und die ausgeprägten Reaktions^ 
bildungen in seinem Charakter gemahnen uns vielmehr an das Wesen 
der Neurotiker. Erinnern wir uns daran, daß nach gesicherter Er¬ 
fahrung die phantasiebegabten Menschen — Dichter und Künstler — 
stets eine Beimischung neurotischer Züge aufweisen, so werden wir 
Amenhotep IV. eher dieser Menschenklasse zurechnen. 

Mag der junge König nun neurotischen Zuständen in höherem 
oder geringerem Maße unterworfen gewesen sein — so vereinigte 
er mit ihnen sicher eine ungewöhnlich frühreife und vielseitige Intel¬ 
ligenz, ein Gefühlsleben von seltenem Reichtum. Wir erkennen in 
ihm einen Typus wieder, der auch in unserer Zeit existiert. Auch 
heute beobachten wir oft genug, wie in einer Familie Tatkraft und 
körperliche Leistungsfähigkeit zurückgehen, indessen der absterbende 
Stamm noch den einen oder anderen Sproß hervorbringt, der in 
geistiger Hinsicht vielleicht einen Aufstieg bedeutet, durch neurotische 
Veranlagung aber gehindert wird, sich an Leib und Seele harmonisch 
zu entwickeln. 

Ein Blick in die Geschichte so mancher Familie läßt bemerken, 
wie sich aus ihrer Mitte eine Persönlichkeit erhebt und sich durch 




338 


Karl Abraham 


ihre Aktivität Bahn bricht. Schon der Sohn eines solchen Mannes 
leitet oft den Abstieg der Familie ein. Häufig fehlt ihm die kraft¬ 
volle Konstitution des Vaters. Hat er sie aber auch ererbt, so 
wächst er doch im Schatten einer übermächtigen Persönlichkeit heran 
und wird dadurch in der freien Entfaltung gehindert. Er setzt das 
Werk des Vaters fort, ohne dessen Erfolge zu überbieten. Sein 
Machtbedürfnis zeigt sich mehr in seinen gesteigerten Ansprüchen an 
das Leben, in der Neigung zu Genuß und Luxus. Die folgende 
Generation pflegt dann an Energie und Tatkraft noch weiter nach¬ 
zulassen, zeigt eine Tendenz zur intellektuellen Überfeinerung und 
zur Sentimentalität. Den Anforderungen der Realität nicht gewachsen, 
treibt sie der Neurose zu. 

Viel Entsprechendes findet sich in dem Entwicklungsgang der 
achtzehnten ägyptischen Dynastie von ihren älteren machtvollen Ver¬ 
tretern über Ämenhotep III. bis zu dessen Sohne, dem Träumer 
und Philosophen, dessen Persönlichkeit nunmehr in psychoanalytische 
Beleuchtung gerückt werdan soll. 

Bringen wir bei einem Neurotiker das psychoanalytische Ver¬ 
fahren zur Anwendung, so begnügen wir uns nicht mit der Kennt¬ 
nis seiner Lebensschicksale und der Feststellung des Krankheits¬ 
bildes, sondern wir dringen in das LInbewußte des Patienten 
ein und decken dessen Beziehungen zu den Erscheinungen der Neu¬ 
rose auf. Wir rekonstruieren in gemeinsamer Arbeit mit dem 
Patienten die Geschichte seiner Libido, d. h. ihren Zustand in der 
Kindheit, das Wirken der Sexualverdängung und die Rückkehr ver¬ 
drängter Wunschregungen in das Bewußtsein. Jeder Krankheitsfall, 
den wir in dieser Weise untersuchen, lehrt uns von neuem die 
Bedeutung erkennen, welche der Einstellung des Kindes den Eltern 
gegenüber zukommt. 

Wir haben aber erfahren, daß auch der Gesunde in seinem 
Unbewußten die gleichen Triebkräfte birgt wie der Neurotiker, daß 
auch bei ihm die unbewußte Einstellung zu den Eltern den »Kern¬ 
komplex« bildet. Daß die Libido des Knaben zuerst der Mutter 
zustrebt, daß seine ersten feindselig-eifersüchtigen Regungen dem 
Vater gelten, können wir bei jedem Individuum von neuem beob¬ 
achten. Nur gelingt es dem gesunden Individuum, diejenigen Trieb¬ 
kräfte, deren Verdrängung aus sozialen Gründen erforderlich ist, zu 
sublimieren und zwischen Trieb und Verdrängung einen Ausgleich 
zu schaffen, während der Neurotiker zwischen den Extremen hin 
und her geworfen wird. 

Ämenhotep IV. zum Objekt einer psychoanalytischen Unter¬ 
suchung zu machen, müßte als ein gänzlich phantastisches und aus¬ 
sichtsloses Unternehmen erscheinen, würden wir nicht gerade über 
den »Elternkomplex« des jungen Königs aus seiner Geschichte in 
einer nicht mißzuverstehenden Weise unterrichtet. Die Tatsachen 
aber, von welchen bald die Rede sein soll, frappieren durch ihre 
weitgehende Analogie mit den Erfahrungen der Psychoanalyse. 




Amenhotep IV. (Echnaton) 


339 


In der Ehe seiner Eltern, des Königs Amenhotep III. und der 
Königin Teje, hatte die letztere ohne Zweifel das Übergewicht. 
Eine Frau von großer Intelligenz und Regsamkeit, nahm sie mehr 
und mehr die Zügel der Regierung in die Hand. An Tatkraft, 
Initiative und praktischer Klugheit war sie ihrem Gemahl weitaus 
überlegen, der in seinen letzten Lebensjahren wenig Interesse für 
die Regierungsgeschäfte an den Tag gelegt zu haben scheint. Im 
Leben ihres Sohnes ist ihr Einfluß überall aufs deutlichste zu er^ 
kennen. Er muß ihr von Kindheit an besonders nahe gestanden 
haben. Seine Libido hatte sich in ungewöhnlichem Maße an die 
Mutter fixiert, während im Verhältnis zum Vater eine ebenso aus^ 
gesprochene negative Einstellung hervortritt. 

Für die nachhaltige Fixierung des jungen Königs an seine 
Mutter vermögen wir neben ihrer geistigen Bedeutung noch eine 
andere Ursache namhaft zu machen: das ist Tejes Schönheit. Wir 
sind in der Lage, uns eine lebendige Vorstellung von dem Äußeren 
dieser merkwürdigen Frau zu bilden. Eine kleine, in privatem Besitz 
befindliche Porträtbüste <von der das Berliner Museum eine Nach* 
bildung enthält) zeigt in ihren Zügen eine seltene Vereinigung von 
Schönheit, Klugheit und Energie. Sie ist von so packender Lebendig¬ 
keit, daß sie ihren Eindruck auf den Beschauer auch heute nicht 
leicht verfehlen wird. Schon die Betrachtung einer Reproduktion* — 
siehe die beigeheftete Tafel — läßt es dem Kundigen begreiflich 
erscheinen, daß der feinsinnige, sensible Sohn sich in besonderem 
Grade an diese Mutter fixierte. 

Eine derartig starke und nachhaltige Bindung der Libido an 
die Person der Mutter entfaltet in späterer Zeit ganz bestimmte 
Wirkungen auf die Erotik des reifenden oder erwachsenen Sohnes. 
Sie erschwert es ihm — wie ich dies in einem früheren Aufsatz** 
ausgeführt habe — zur Zeit der Pubertät seine Libido von der 
Mutter abzulösen und sie auf neue Liebesobjekte zu übertragen,* 
nicht selten mißlingt die Ablösung sogar völlig. Meist gelingt sie 
in einem unvollkommenen Grade ,* alsdann tritt die Neigung hervor, 
sich monogamisch an eine Person zu binden, die zum Ersatz der 
Mutter wird. Die einmal erfolgte Übertragung der Libido pflegt die 
endgiltige, unwiderrufliche zu sein. 

Eben dieser monogamische Zug findet sich nun bei dem jungen 
König in ausgesprochener Weise. Die Schicksale seines Liebes- 
lebens sind einfach erzählt. Bald nach dem Tode seines Vaters 
wurde er, noch nicht zehn Jahre alt, vermählt. Zur Gemahlin er¬ 
hielt er eine ebenfalls noch kindliche asiatische Prinzessin. Es ist 


• Die Abbildung ist der im Verlag Curtius erschienenen reich illustrierten 
deutschen Ausgabe von Breasteds Geschichte Ägyptens entnommen. 

*• »Die Stellung der Verwandtenehe in der Psychologie der Neurosen.« Jahr^ 
buch für psychoanalytische Forschungen, Bd. I, 1909. — Ich habe dort besonders 
die häufigen Cousinen^Ehen berücksichtigt. Ich verweise daher auf die zweite Ehe 
Amenhoteps III. mit einer Cousine aus der mütterlichen Familie. 





340 


Karl Abraham 


bemerkenswert, daß jetzt zum dritten Male eine Asiatin zur künf* 
tigen Königin erhoben wurde. Zur künftigen — denn einstweilen 
blieb die Herrschaft in den Händen der Königin^Mutter Teje und 
ihrer Berater. Als sie herangereift war, gebar die junge Königin 
eine Reihe von Töchtern, während der ersehnte männliche Thron¬ 
erbe ausblieb. Amenhotep IV. unterließ es jedoch, wie sein Vater 
eine zweite Gemahlin zu nehmen,- er beschränkte sich auf die von 
ihm über alles geliebte Nefer^Nefru^Aton. Diese Tatsache wird 
umso auffälliger, wenn man in Betracht zieht, daß die früheren 
Könige nach orientalischer Sitte einen Harem unterhalten hatten. 
Amenhotep IV. ist, wie W e i g a 11 richtig hervorhebt, der erste 
der Pharaonen, der in streng monogamischer Ehe lebte. Er be^ 
schränkte sich auf eine einzige Frau, die ihm überdies angetraut 
war, als er noch im Kindesalter stand. Er verzichtete also zeit^ 
lebens auf eine eigene Objektwahl. An seine Gemahlin fixierte er 
sich mit ähnlicher Intensität, wie an seine Mutter. Auch nachdem 
er großjährig geworden war, zeigte er sich in der Öffentlichkeit mit 
Vorliebe in Begleitung der beiden Frauen, die denn auch einen 
bedeutenden Einfluß auf die Regierung ausübten ® 

Unmittelbar nach dem Tode Amenhoteps III. gab die Königin^ 
Witwe deutlich zu erkennen, wie sehr sie dem Kult des Aton zu¬ 
neigte und wie wichtig es ihr war, ihren unmündigen Sohn zum Werk¬ 
zeug ihrer Reformpläne zu machen. Amenhotep IV. erhielt beim 
Regierungsantritt einen höchst bezeichnenden Titel. Seinem Namen 
Amenhotep, der etwa bedeutete »von Amon geliebt« wurde hinzu¬ 
gefügt: »Hoher Priester des Ra^Horakhti, welcher sich am Horizont 
erfreut seines Namens: »Glut, die in Aton ist«. So zeichnete 
die Mutter dem Sohne gleichsam den Weg vor, den er nach ihrem 
Willen gehen sollte. 

Aton war nun ganz offiziell zum Rivalen Amons geworden. 
Noch wies nichts darauf hin, daß er wenige Jahre später zum 
alleinigen, einzigen Gotte erhoben werden sollte, wie es geschah, 
als der König die Großjährigkeit erreicht hatte. Noch ahnte niemand 


* Nocfi eine scheinbar geringfügige Tatsache mag hier Erwähnung finden. 
Unter den Liebesobjekten der Kindheit, an die der neurotisch Veranlagte sich mit 
Zähigkeit zu fixieren pflegt, genießt sehr häufig die Amme einen besonderen 
Vorzug. Es ist sehr gewöhnlich, daß die Amme nach der Entwöhnung des Kindes 
in dessen Nähe bleibt. Die lustvollen Erinnerungen des Kindes an das Saugen an 
der Ammenbrust werden dadurch vor der Vergessenheit bewahrt, daß die Amme 
das Kind auch weiter mit besonderer Liebe hegt. In den Psychoanalysen neurotU 
scher Personen habe ich oft genug die Nachwirkungen dieser Ammenliebe nach~ 
weisen können. Welche Bedeutung der Amme in den Träumen Erwachsener zu^ 
kommt, hat neuerdings Stekel <Die Sprache des Traumes, Bergmann, Wiesbaden 1911) 
ausführlich dargetan. Wir erfahren nun, daß am Hofe Amenhoteps IV. seine 
Amme und ihr Mann eine erhebliche Rolle spielten. Ein Reliefbild z. B. stellt den 
König und die Königin dar, wie sie von einem Balkon aus dem Priester Eje, 
eben dem Manne der Amme, und dieser selbst, Geschenke zuwerfen. Vielleicht ist 
es auch nicht ohne Belang, daß sie den gleichen Namen — Teje — wie des 
Königs Mutter führte. 





Amenhotep IV. (Echnaton) 


341 


die neue Weltanschauung, in deren Mittelpunkt Aton treten sollte. 
Teje war klug und besonnen genug, einen zu raschen Über¬ 
gang zu dem neuen Kult zu verhüten oder gar die Anhänger des 
alten Kultes anzufeinden. Es wäre auch zu jener Zeit ein aussichts^ 
loses Unternehmen gewesen, sogleich den Kampf mit der Priester^ 
Schaft des Amon aufzunehmen. Doch ließen schon die ersten Ma߬ 
regeln ihrer Regentschaft klar erkennen, wohin sie strebe. 

Das erste Bauwerk, welches unter der (nominellen) Regierung 
Amenhotep's IV. errichtet wurde, war der Tempel des RaJHorakhtU 
Aton zu Karnak. Ein hier aufgestelltes Bildwerk zeigt den König 
— wie es ja seinem Namen durchaus entsprach — den Gott Amon 
verehrend. Das gleiche Bildwerk aber enthält auch das Symbol des 
Aton: die am Himmel stehende Sonnenscheibe mit Strahlen, die in 
Hände auslaufen und den König umgeben. Wir dürfen wohl eine 
Art von vorsichtiger Rücksichtnahme auf die Amons-Priester darin 
erkennen, daß der König hier in Beziehung zu beiden Gottheiten 
gesetzt wurde. Theben aber, die Hauptstadt und Zentrale des 
Amonsdienstes, erhielt einen neuen Namen: Stadt des Glanzes 
Atons. 

Mit etwa 15 Jahren übernahm Amenhotep IV. selbst die 
Regierung. Er befand sich jetzt in dem Lebensalter, das sich der 
körperlichen Reifung anschließt. Wohl zeigte sich bald, welch starke 
Individualität in dem Jüngling steckte. Wohl mußte jeder mit der 
Zeit erkennen, daß Amenhotep seine eigenen Wege gehen werde. 
Dennoch blieb der Einfluß der Mutter, so lange sie lebte, unver^ 
kennbar. Der Sohn setzte das von ihr begonnene Werk mit seiner 
ganzen jugendlichen Begeisterung fort. In ihrer vollen Stärke tritt 
diese seine Fixierung an die Mutter erst hervor, wenn man seine 
Bestrebungen, sich vom Vater zu lösen, zum Vergleich heranzieht. 

Das gesamte Verhalten des jungen Königs in den nun 
folgenden Jahren steht im Zeichen der Auflehnung gegen seinen 
schon seit geraumer Zeit verstorbenen Vater. Leider sind wir 
gänzlich ununterrichtet darüber, in welchem Verhältnis er als Knabe 
zu diesem stand, aber seine Einstellung in der Pubertät und in den 
späteren Jahren deckt sich völlig mit derjenigen, wie wir sie heute 
bei vielen Individuen beobachten können: Sie hangen unbewußt dem 
Vater an wie in der Kindheit. Herangewachsen, suchen sie sich von 
dieser inneren Abhängigkeit zu befreien. Äußerlich ensteht dann der 
Anschein, als kämpften sie gegen den Vater in 
Person. In Wirklichkeit ist es die in ihrem LInbewußten 
herrschende Fixierung an den Vater, gegen die sie sich auflehnen, 
ist es die Imago des Vaters, deren Herrschaft sie abschütteln wollen. 
Nur so erklärt es sich, daß der Neurotiker oft einen Kampf führt, 
der sich — seiner äußeren Erscheinung nach — gegen einen Ver¬ 
storbenen richtet. 

In dem jungen König bestand also ein Gegensatz zweier 
Parteien, einer konservativen und einer revolutionären. Die Er- 




342 


Karl Abraham 


fahrung lehrt, daß es unter solchen Umständen zu psychischen Kom^ 
promißbildungen kommt. 

Nach allem, was bisher über den Jüngling berichtet wurde, 
wird man erwarten, daß seine Auflehnung gegen den Vaterkomplex 
nicht in einer stürmisch-gewaltsamen Form vor sich gegangen sei. 
Und tatsächlich wird sich zeigen, wie er seine Auflehnung gegen 
die väterliche Macht und Autorität in idealen Bestrebungen sublim 
mierte, die freilich in entschiedenster Weise gegen die durch den 
Vater vermittelte Tradition gerichtet waren. Wenn aber trotz¬ 
dem später in gewisser Hinsicht die gewalttätige, revolutionäre 
Tendenz offener zum Durchbruch gelangte, so werden wir gerade 
daraus auf die Heftigkeit des inneren Kampfes schließen, der sich 
in Amenhotep abspielte. Der revolutionären Tendenz wirkte, wie 
erwähnt, eine Konservative entgegen. Wir beobachten bei Amenhotep IV. 
einen Vorgang, der uns von den Neurotikern wohlbekannt ist. Sie 
lehnen die Autorität des Vaters in religiöser, politischer oder 
sonstiger Beziehung ab, ersetzen sie aber durch eine andere und 
zeigen dem Kundigen gerade dadurch, daß sie das Bedürfnis nach 
einer väterlichen Autorität tatsächlich nicht verloren haben. 

Für Kompromißbildungen dieser Art gibt es kaum prägnantere 
Beispiele, als sie die Geschichte Amenhoteps IV. bietet. Bald nach 
seinem Regierungsantritt bricht er vollends mit der religiösen 
Tradition, bricht mit Amon, dem Gotte seines Vaters, und geht zu 
Aton über, den er mit einer Macht und Autorität ausstattet, die kein 
Gott zuvor besessen hatte. Er läßt damit den uralten unter¬ 
ägyptischen Sonnenkultus in neuer Form wieder aufleben. Indem 
er aber auf den Kultus des Ra^Horakhti-Aton zurückgreift, knüpft 
er an das Vorbild der ältesten Könige an, die ihre Herkunft un¬ 
mittelbar von Ra ableiteten. Um noch deutlicher zu dokumentieren, 
wie nahe er sich ihnen, wie fern seinem Vater fühlt, trägt er stets 
die Krone von Unterägypten, d. h. des um Vieles älteren Reiches, 
wie er denn überhaupt von Anfang an nach Unterägypten tendiert. 
Andere bemerkenswerte Symptome treten hinzu. 

Wir begegnen um diese Zeit den ersten Veränderungen des 
Kunststiles/ gerade diese sind besonders charakteristisch. Dem 
Kenner ägyptischer Kunst fallen an den Bildern des Königs gewisse 
Eigentümlichkeiten auf, durch die sie sich von den Werken der 
vorhergehenden Zeit auf den ersten Blick unterscheiden: der in die 
Länge gezogene Schädel und Hals, der vorstehende Leib und die 
überlangen Hüften und Schenkel. Die Forscher haben diese Ab¬ 
weichungen auf verschiedene Art zu erklären versucht. Besonders 
war man zu der Annahme geneigt, bei dem Könige habe eine 
körperliche Deformität im Sinne jener Abbildungen und Skulpturen 
bestanden. Aber diese Hypothese mußte verlassen werden, als man 
die Mumie des Königs aufgefunden hatte. Denn Deformitäten, wie 
sie in den bildlichen Darstellungen Amenhoteps IV. erscheinen, 
fand man an den Knochen der Mumie nicht. W e i g a 11 hat nun 




Amenhotep IV. <Echnaton> 


343 


in höchst geistreicher und überzeugender Weise den Nachweis 
geführt, daß die seltsamen Formen in der Kunst dieser Zeit auf 
archaische Vorbilder zurückgehen, und zwar auf solche 
aus der Zeit der ältesten unterägyptischen Könige. W e i g a 11 gibt 
auf einer Tafel eine sehr instruktive Gegenüberstellung von Dar^ 
Stellungen aus der Urzeit ägyptischer Kunst und aus der uns be¬ 
schäftigenden Epoche. Die Anlehnung des Stiles dieser letzteren 
Zeit an den der archaischen ist ganz evident*. Der junge 
König stellt durch Wiederaufnahme des ältesten Stiles eine be¬ 
sonders innige Verbindung zwischen sich selbst und den ältesten 
Königen her. 

Der Sinn dieser ersten von Amenhotep IV. selbst durchge^ 
führten Veränderungen in Kultus und Kunst liegt klar zutage: der 
König will nicht Sohn und Nachfolger seines Vaters sein, sondern 
Sohn des Gottes Ra. Er will nicht den Gott seines wirklichen 
Vaters verehren, sondern seinen imaginären Vater Ra <Aton>. 

Wir werden hierdurch an geläufige Erscheinungen erinnert, 
die durch die psychoanalytische Erforschung der Neurosen ihre 
Aufklärung gefunden haben. Es sind die sogenannten Abkunfts¬ 
phantasien, die sich aber auch bei nicht neurotischen Personen 
finden. 

Der Vater ist für das Kind ursprünglich das Vorbild aller 
Macht und Größe. Treten feindselige Regungen gegen ihn auf, so 
entthront der Knabe häufig in seiner Phantasie den Vater, indem er 
sich selbst etwa zum Sohne eines imaginären Königs erhebt, seinem 
tatsächlichen Vater dagegen nur die Rolle eines Pflegevaters zuerteilt. 
Ein Prinz zu sein, ist eine der gebräuchlichsten Knabenphantasien. 
Bei Geisteskranken gehen aus solcher Ablehnung des Vaters Wahn^ 
ideen hervor, welche die hohe Abkunft des Kranken zum Inhalt 
haben. Bekannt sind uns die gleichen Ideengänge aus den Mythen 
und Märchen, in denen oftmals der Held als Sohn niederer Eltern 
auferzogen wird, bis er später der Herrscherwürde teilhaftig wird, 
die ihm seiner wirklichen Abkunft gemäß zukommt. Es sind dies 
Mythen, die den uralten Konflikt zwischen Sohn und Vater in aller¬ 
hand Verhüllungen zum Ausdruck bringen.** 

Amenhotep IV. verfährt ganz in diesem Sinne: er verschmäht 
die Abkunft von seinem wirklichen Vater und setzt einen Höheren 
an dessen Stelle. Da er aber in Wirklichkeit ein Königssohn war, 
so konnte er sich durch die bei anderen übliche Phantasie von könig^ 
lieber Abkunft nicht über seinen Vater erheben. Er mußte schon 
eine Stufe höher hinaufsteigen: zu den Göttern. Man muß in Betracht 
ziehen, daß zu damaliger Zeit der ägyptische König der Beherrscher 

® Die neuere Kunstgeschichte bietet in den Praerafaeliten ein ganz 
analoges Beispiel für das Zurückgreifen auf primitive Vorbilder. 

**' Vgl. hierzu meine Schrift »Traum und Mythus« <p. 40). sowie Rank, 
»Der Mythus von der Geburt des Helden«. Beide in »Schriften zur angewandten 
Seelenkunde« <Heft 4, resp. 5.) 





344 


Karl Abraham 


eines Weltreiches war. Einen Sterblichen, der ihn an Macht über^ 
troffen hätte, gab es nicht. Da blieb der Phantasie nur die einzige 
Möglichkeit, die eigene Existenz mit einem außerirdischen Wesen in 
Verbindung zu bringen. Dem Amon konnte die Vaterrolle nicht 
Zufällen,* er war ja der von Amenhotep III. verehrte Gott! Der 
Einfluß der Mutter wies auf Aton, resp. Ra hin, der überdies in 
der Vorzeit als Stammvater der ersten Könige gegolten hatte. 

So begann die Regierung Amenhoteps IV. nicht mit kriegerU 
sehen Taten oder sonstigen Ereignissen der äußeren Politik, sondern 
mit Neuerungen auf ideellem Gebiet. Zunächst allerdings handelte 
es sich noch nicht um Neuerungen im eigentlichen Sinne, sondern 
eher um eine Rückkehr zu Ältestem, Vorgeschichtlichem. Je mehr der 
König aber zum erwachsenen Manne wurde, um so mehr Neues 
und Eigenes fügte er dem Alten, an das er angeknüpft hatte, hinzu. 
Daß die nun einsetzende Umwälzung in der Kunst auf die persön¬ 
liche Initiative des Königs zurückging, dafür besitzen wir wertvolle 
Zeugnisse in ein paar Grabschriften von Künstlern, welche die 
Bauten des Königs ausgeführt hatten. Es war in Ägypten allgemein 
Sitte, daß in der Grabschrift der Verstorbene gewissermaßen persön^ 
lieh seinen Lebenslauf erzählte. Bekanntlich verdanken wir diesen 
in großer Zahl erhaltenen Inschriften einen nicht geringen Teil unserer 
Kenntnis der ägyptischen Geschichte. Der königliche Baumeister B e k, 
dessen Werk die sogleich zu erwähnende neue Hauptstadt war, 
berichtet nun in seiner Grabschrift, daß seine Majestät ihn 
selbst unterwiesen habe. Man könnte darin eine an die 
Adresse des Königs gerichtete, höfische Schmeichelei erblicken,- doch 
sicher mit Unrecht! Wir sind auch ohne solche Zeugnisse in der 
Lage, in der bildenden Kunst jener Epoche den Geist des Königs 
zu erkennen. Denn die Malerei und Plastik seiner Zeit sind eine 
Verkörperung der Ideale, deren Pflege sich der jugendliche Schwärmer 
mit ganzer Hingabe gewidmet hatte. Von der beständigen Betonung 
der Wahrheit in seinen ethischen Lehren und von dem ihr ent¬ 
sprechenden, ganz modern anmutenden Realismus in der Kunst 
seiner Epoche wird später noch die Rede sein. 

Hatten seine Vorfahren nach einer Erweiterung und Sicherung 
ihrer politischen Machtsphäre getrachtet, so strebte der Nachkomme 
nach einer stetigen Erweiterung seines geistigen Gesichtskreises. Er 
wandte sein Interesse der ausländischen Kunst, den fremden Reli¬ 
gionen und Mythen zu,- allem Anschein nach gelang es ihm auch, 
die maßgebenden Kreise der Hauptstadt für die ihn bewegenden 
Fragen zu interessieren. 

Zwei Jahre nach seinem Regierungsantritt tat der erst Siebzehn^ 
jährige einen Schritt von größter prinzipieller Tragweite,- er gründete 
eine neue Residenz, die den Namen »Achet^Aton« <»Horizont des 
Aton«) erhielt. Er ließ diese Stadt etwa 450 km nördlich von der 
bisherigen Hauptstadt Theben erbauen. Damit entfernte er sich 
demonstrativ von der alten Amonsstadt und näherte sich dem Nil- 




Amenhotep IV. (Echnaton) 


345 


delta <d. h. dem ältesten Reiche). Die neue Aton-Stadt lag an der 
Stelle des heutigen TelLel-Amarna,- hier wurden auch die eingangs 
erwähnten Tafeln aufgefunden. Bald erhoben sich Paläste und Tempel 
von großer Pracht. Außerdem wurde auch in Nubien und in Syrien 
je eine neue Stadt gegründet, deren Namen ausdrückten, daß sie 
dem Gotte Aton geweiht seien. Zwei Jahre später — 19 Jahre alt 
— verließ Amenhotep IV. endgiltig Theben und verlegte seine 
Residenz nach Achet-Aton. Zu gleicher Zeit änderte er seinen Namen 
und nannte sich fortan Echnaton, »dem Aton angenehm«*. 

Inzwischen war es zu schweren Konflikten mit der Amons^ 
priesterschaft gekommen, die sich den Neuerungen widersetzte. 
Echnaton führte aber sein Vorhaben mit eiserner Konsequenz durch. 
Er vertrieb die dem Aton feindlichen Priesterschaften aus ihrem Besitz, 
und indem er die Verehrung aller anderen Götter bekämpfte, erhob 
er Aton zum einzigen Gotte des Landes. Besonders 
erklärte er dem Amon den Krieg. Er richtete sein Streben darauf, die 
Spuren des Gottes, nach dem sein Vater und er selbst benannt waren, 
überall auszutilgen. Der verhaßte Name sollte nicht mehr laut werden. 
Und so ließ er in gleicher Weise den Namen Amon 
und den Namen seines Vaters Amenhotep aus allen 
Inschriften und Denkmälern beseitigen. In dieser 
seltsamen Reinigungsaktion kommt die alte, lange zurückgehaltene 
oder sublimierte Feindschaft des Sohnes in aggressiver Weise zum 
Durchbruch. Das Vorgehen des Königs erscheint wie die Verwirk¬ 
lichung eines uralten, orientalischen Fluches gegen einen schlimmen 
Widersacher, dem man zu wünschen pflegte, daß seiner nicht gedacht 
werden sollte. Echnaton suchte Amons, und damit zugleich seines Vaters 
Gedächtnis auszutilgen. Er hat später, als seine Mutter Teje starb, 
die letzten Konsequenzen nach dieser Richtung gezogen. Tejes Mumie 
wurde nicht neben der ihres Gemahls bestattet, sondern nahe der 
Atonstadt in einer neuen Gruft, in der Echnaton selbst einst ruhen 
wollte. In der Grabschrift wird sie als die Gemahlin »Nebmaaras« 
bezeichnet. Nebmaara war ein persönlicher Name Amenhoteps III., 
den er aber als König nicht offiziell geführt hatte. Noch be¬ 
merkenswerter ist, daß das Wort »Mutter« nicht mit dem in der 
Hieroglyphenschrift üblichen Zeichen des Geiers, sondern buch¬ 
stabenweise geschrieben ist. Das Geierzeichen bedeutete nicht nur 
»Mutter«, sondern noch speziell die Göttin Mut, die aber Amons 
Gemahlin war. Das Zeichen würde also einen zwar indirekten, 
aber deutlichtn Hinweis auf Amon enthalten haben, und aus diesem 
Grunde mußte es vermieden werden. Echnaton wollte also im 
Tode neben seiner Mutter ruhen, die er von ihrem Gatten getrennt 
hatte. Bis über das Grab hinaus sollte seine Rivalität mit dem Vater 
um den Besitz der Mutter sich äußern! So vollzog er an den Toten, 
was er an den Lebenden zu tun nicht vermocht hatte. Er erinnert 

* Die Töchter des Königs erhielten schon bei ihrer Geburt Namen, wie 
»Merit^Aton« (die von Aton geliebte) oder »Beket^Aton« (Dienerin Atons). 





346 


Karl Abraham 


uns durch diesen Charakterzug ganz besonders an das Verhalten 
neurotischer Individuen. 

Ebenso ostentativ, wie er die Nennung seines Vaters mied, 
benutzte der König fortan jede Gelegenheit, sich als Atons Sohn 
zu bezeichnen. Die Inschriften von AcheNAton zeigen es mit 
größter Deutlichkeit. Da heißt es z. B. mit Bezug auf den Bezirk, 
welcher dem Gotte geweiht wurde: »Dieses Gebiet von . . . . 
bis ... . soll meinem Vater Aton gehören«. 

Mit der Errichtung der neuen Residenz und ihrer Heiligtümer 
ging die weitere Ausgestaltung der neuen Religion und ihres Kultes 
Hand in Hand. 

Aton ist Echnatons Vater, doch nidit im gleichen Sinne, wie 
einst Ra als Vater der ersten Könige gegolten hatte. Der neue 
Gott ist ein idealisierter Vater, und er ist nicht nur des Königs 
Vater im strengen Sinne des Wortes, sondern ein Vater aller Ge¬ 
schöpfe, der Ursprung des Alls. Er ist nicht — wie Ra oder Amon 
— ein Gott neben andern oder über andern, sondern ein einziger 
Gott, nicht ein Nationalgott, sondern ein Univer¬ 
salgott, dem alle Wesen gleich nahe stehen. 

Es ist besonders hervorzuheben, daß Echnaton nicht die Sonne 
als Gottheit verehrte, sondern daß er die Wärme der Sonne, als 
lebenspendende Kraft, in Aton personifizierte. Breasted (Deutsche 
Ausgabe S. 296) betont mit Recht: »Wenn Echnaton auch keinen 
Versuch machte, die Identität seiner neuen Gottheit mit dem alten 
Gott Re zu verbergen, so war es doch nicht bloß Sonnenverehrung, 
was er erstrebte. Das Wort Aton wurde an Stelle des alten 
Wortes »Gott« <neter> verwendet, und der Gott selbst deutlich von 
dem Sonnengestirn unterschieden. Dem alten Namen des Sonnen¬ 
gottes fügte man den erklärenden Satz hin2u: »das heißt: die Glut, 
welche in der Sonne (Aton) ist«, und man nannte ihn gelegentlich 
auch den »Herrn der Sonne (Aton)«. 

Wenn FlindersPetrie in Echnaton einen Vorläufer des 
Monotheismus erblickt, so darf man über dieses Urteil sehr wohl 
noch um ein Beträchtliches hinausgehen. Echnatons Lehre enthält 
nicht nur wesentliche Bestandteile des alttestamentarischen jüdischen 
Monotheismus, sondern eilt ihm in mancher Beziehung voraus. Ja, 
ganz das Gleiche ergibt sich, wenn man Echnatons Ideen neben 
diejenigen des um dreizehn Jahrhunderte jüngeren Christentums 
hält. Lind nicht Weniges gemahnt uns an moderne, unter dem 
Einfluß der Naturwissenschaften entstandene Anschauungen! 

Die uns erhaltenen Gebete und Hymnen, deren bedeutendster 
später mitgeteilt werden soll, lassen Echnatons Auffassung vom 
Wesen des einzigen Gottes klar erkennen. Aton ist das liebende, 
allgütige Wesen, das durch Raum und Zeit hindurchgeht. Den 
früheren ägyptischen Gottheiten war solche Güte und Milde gänz¬ 
lich fremd gewesen, ganz wie den Menschen, von denen sie ver¬ 
ehrt wurden. Aton kennt nicht Haß, nicht Eifersucht noch Strafe, 




Amenhotep IV. (Echnaton) 


347 


wie der Gott des alten Testamentes. Er ist der Herr des Frie¬ 
dens, nicht des Krieges. Er ist frei von allen menschlichen Leiden¬ 
schaften. Echnaton stellt sich ihn nicht körperlich vor — wie die 
alten Götter — sondern geistig und unpersönlich. Er verbietet 
daher jede bildliche Darstellung des Gottes, darin 
ein Vorläufer der mosaischen Gesetzgebung! Aton ist die leben¬ 
spendende Kraft, der alles Lebende seine Existenz verdankt. 

W e i g a 11 weist darauf hin, daß Echnatons Gottesauffassung 
der christlichen mehr ähnele als der mosaischen. Besonders treffend 
bemerkt er: »The faith of the patriarchs is the lineal ancestor of 
the Christian faith,- but the creed of Akhnaton is its isolated 
prototype«. <p. 117.) 

Die ganze Anschauungswelt und das gesamte religiöse System 
Echnatons zeigen eine einzig dastehende Tendenz zur Vergeistigung. 
Nicht nur der Bilderdienst wird abgeschafft, sondern ebenso alles, 
was früher Beiwerk und Ballast der Religion gewesen war. Das 
Zeremoniell der Aton^Religion war äußerst einfach,- alles war auf 
möglichste Verinnerlichung gerichtet. Da gab es keine verdunkeln^ 
den Mysterien, sondern der Sinn des neuen Glaubens wurde in 
den vom König gedichteten Hymnen in zugleich verständlicher und 
packender Form dargestellt. Es fehlte ferner alles, was an Welt¬ 
flucht oder Askese hätte erinnern können. Abgeschafft wurden auch 
die Toten^ und Unterweltsgötter,- auch Osiris verlor seine Be¬ 
deutung. Die Höllenstrafen, die einen wesentlichen Bestandteil des 
alten Glaubens gebildet hatten, finden keine Erwähnung mehr. Dem 
Verstorbenen wurde nur ein einziger Wunsch zugeschrieben: die 
Sonne, d. h. Atons Glanz wiederzusehen,- und lediglich darauf be^ 
zogen sich nunmehr die in den Grabmälern eingemeißelten Gebete 
des Toten, daß seine Seele das Licht sehen möge. 

Besser als jede Beschreibung veranschaulicht der schon er^ 
wähnte große Hymnus die religiösen Ideen Echnatons. Er möge 
deswegen hier unverkürzt folgen. Die Übersetzung entnehme ich 
der deutschen Ausgabe von Breasteds Geschichte. Er lautet 
wie folgt: 

Der Glanz des Aton. 

Dein Aufleuchten ist schön am Rande des Himmels, 

Du lebender Aton, der zuerst lebte! 

Wenn du dich erhebst am östlichen Rande des Himmels, 

So erfüllst du jedes Land mit deiner Schönheit. 

Denn du bist schön, groß und funkelnd, du bist hoch über 
der Erde,- 

Deine Strahlen umarmen die Länder, ja alles, was du ge^ 
macht hast. 

Du bist Ra, und du hast sie alle gefangen genommen,- 

Du fesselst sie durch deine Liebe. 

Obwohl du fern bist, sind deine Strahlen doch auf Erden,- 

Obwohl du hoch droben bist, sind deine Fußstapfen der Tag! 




348 


Karl Abraham 


Nacht. 

Wenn du untergehst am westlichen Rande des Himmels, 

So liegt die Welt im Dunkel, als wäre sie tot. 

Sie schlafen in ihren Kammern, 

Ihre Häupter sind verhüllt, 

Ihre Nasen sind verstopft, und keiner sieht den andern. 
Gestohlen wird alle ihre Habe, die unter ihren Häuptern liegt, 
Ohne daß sie es wissen. 

Jeder Löwe kommt aus seiner Höhle, 

Alle Schlangen stechen. 

Dunkel herrscht, es schweigt die Welt,- 

Denn der sie schuf, ist am Himmelsrande zur Ruhe gegangen. 

Der Tag und der Mensch. 

Hell ist die Erde, 

Wenn du aufgehst am Himmelsrand, 

Wenn du als Aton bei Tage scheinst. 

Das Dunkel wird verbannt, wenn du deine Strahlen aussendest. 
Die beiden Länder* feiern täglich ein Fest, 

Wachend und auf ihren Füßen stehend. 

Denn du hast sie aufgerichtet. 

Sie waschen sich und nehmen ihre Kleider,- 

Ihre Arme erheben sich in Anbetung, wenn du erscheinst. 

Alle Menschen tun ihre Arbeit. 

Der Tag und die Tiere und Pflanzen. 

Alles Vieh ist zufrieden mit seiner Weide, 

Alle Bäume und Pflanzen blühen. 

Die Vögel flattern über ihren Sümpfen, 

Und ihre Flügel erheben sich in Anbetung zu dir. 

Alle Schafe hüpfen auf ihren Füßen, 

Alle Vögel, alles, was flattert — 

Sie leben, wenn du über ihnen aufgegangen bist. 

Der Tag und das Wasser. 

Die Schiffe fahren stromauf und stromab. 

Jede Straße ist offen, weil du leuchtest. 

Die Fische im Strom springen vor dir. 

Und deine Strahlen sind mitten im großen Meer. 

Die Erschaffung des Menschen. 

Du bist es, der den Knaben in den Frauen schafft. 

Der Samen in den Männern gemacht hat,- 

Der dem Sohn Leben gibt im Leibe seiner Mutter, 

Der ihn beruhigt, damit er nicht weine. 


Obeund Unterägypten. 






PORTRÄTKOPF VON EINER 
STATUETTE DER KÖNIGIN 
TE]E, DER MUTTER DES 
KETZERKÖNIGS ECHNATON 

IM BESITZE DES HERRN JAMES SIMON, BERLIN 


BEILAGE ZU 
.IMAGO“ I. 4. 






Amenhotep IV. <Edmaton> 


349 


Du Amme im Mutterleibe. 

Der Atem gibt, um alles zu beleben, was er gemacht hat! 
Kommt er heraus aus dem Leibe, 

.... am Tage seiner Geburt, 

So öffnest du seinen Mund zum Reden, 

Du schaffst ihm, wessen er bedarf. 

Ersdhaffung der Tiere. 

Das Küchlein piept schon in der Schale, 

Du gibst ihm Atem darin, um es zu beleben. 

Wenn du es vollkommen gemacht hast. 

So daß es die Schale durchbrechen kann. 

So kommt es heraus aus dem Ei, 

Um zu piepen, so viel es kann,* 

Es läuft herum auf seinen Füßen, 

Wenn es aus dem Ei herauskommt. 

Die ganze Schöpfung. 

Wie mannigfaltig sind alle deine Werke, 

Sie sind vor uns verborgen, 

O du einziger Gott, dessen Macht kein anderer hat. 

Du schufst die Erde nach deinem Begehren, 

Während du allein warst: 

Menschen, alles Vieh, groß und klein. 

Alles, was auf der Erde ist, 

Was einhergeht auf seinen Füßen,* 

Alles, was hoch droben ist, was mit seinen Flügeln fliegt. 

Die Länder Syrien und Nubien 

Und das Land Egypten ,* du setzest jedermann auf seinen Platz 
Und gibst ihnen, was sie bedürfen. 

Ein jeder hat seinen Besitz, 

Und ihre Tage sind gezählt. 

Ihre Zungen reden mancherlei Sprache, 

Audi ihre Gestalt und Farbe sind verschieden. 

Ja, du unterschiedest die Menschen. 

Bewässerung der Erde. 

Du schufst den Nil in der Unterwelt, 

Du führtest ihn herauf nach deinem Belieben, 

Um die Menschen am Leben zu erhalten. 

Wie du sie dir gemacht hast. 

Du, ihrer aller Herr! 

Du Tagessonne, die Furcht jedes fernen Landes, 

Du schaffst auch ihr Leben. 

Du hast einen Nil an den Himmel gesetzt. 

Damit er für sie herabfalle 

Und Wellen schlage auf den Bergen wie das Meer 

Imago 1/4 


23 




350 


Karl Abraham 


Und ihre Felder bewässere in ihren Städten. 

Wie herrlich sind deine Pläne, du Herr der Ewigkeit! 

Der Nil am Himmel ist für die Fremdländer 
Und für das Wild der Wüste, das auf seinen Füßen geht,* 
Der (wirkliche) Nil aber quillt aus der Unterwelt hervor für 
Egypten. 

So ernähren deine Strahlen jeden Garten, 

Wenn du dich erhebst, so leben sie und wachsen für dich. 

Die Jahreszeiten. 

Du machtest die Jahreszeiten, um alle deine Werke zu schaffen. 
Den Winter, um sie zu kühlen, und ebenso auch die Hitze 
(des Sommers) 

Du hast den fernen Himmel gemacht, um an ihm aufzugehen. 
Um alles zu schauen, was du gemacht hast, 

Während du allein warst. 

Erstrahlend in deiner Gestalt als lebender Aton, 
Aufdämmernd, strahlend, dich entfernend und wiederkehrend. 

Schönheit durch das Licht. 

Du hast Millionen von Gestalten gemacht aus dir allein. 

In Städten, Dörfern und Ansiedlungen, 

Auf der Landstraße oder am Fluß — 

Alle Augen sehen dich vor sich. 

Wenn du die Tagessonne über der Erde bist. 

Aton und der König. 

Du bist in meinem Herzen, 

Kein and'rer ist, der dich kennt. 

Außer deinem Sohne Echnaton. 

Du hast ihn eingeweiht in deine Pläne 
Und in deine Kraft. 

Die Welt ist in deiner Hand, 

Wie du sie gemacht hast. 

Wenn du aufgegangen bist, so leben sie (die Menschen) 
Gehst du unter, so sterben sie. 

Denn du selbst bist die Lebenszeit 
Und man lebt durch dich. 

Alle Augen schauen auf deine Schönheit, 

Bis du untergehst. 

Alle Arbeit wird bei Seite gelegt. 

Wenn du im Westen untergehst. 

Wenn du dich erhebst, so werden sie gemacht. 

Zu wachsen für den König. 

Seit du die Erde gründetest, hast du sie aufgerichtet 
Hast du sie aufgerichtet für deinen Sohn, 

Der aus dir selbst hervorging. 




Amenhotep IV. (Edhnaton) 


351 


Den König, der von der Wahrheit lebt, 

Den Herrn der beiden Länder Nefer*cheperu*Re, Ua*en*Re 
Den Sohn des Re, der von der Wahrheit lebt. 

Den Herrn der Kronen Echnaton, dessen Leben lang ist,* 
<Und für) die große königliche Gemahlin, die von ihm geliebte. 
Die Herrin der beiden Länder, Nefer*nefru*Aton. 

Die lebt und blüht für immer und ewig. 

* 

Die Sprache dieser Dichtung ist so klar, daß sie keiner Er* 
läuterung bedarf. Nur auf einige besonders charakteristische Partien 
mag noch hingewiesen werden. 

Die einleitende Strophe weist auf Atons Liebe hin, durch die 
er alle Länder und alle Wesen gefangen nehme. Wohl zum ersten* 
male im Geistesleben der Menschheit wird hier die Liebe als 
welterobernde Macht gepriesen. Hierauf wird zurückzukommen 
sein, wenn von Echnatons Ethik gehandelt wird. 

Die Schilderung der göttlichen Güte, die allen Wesen ohne 
Unterschied zu teil wird, erinnert in hohem Maße an die hebräische 
Psalmenpoesie. Breasted und andere Autoren machen speziell 
auf die überraschende Ähnlichkeit aufmerksam, welche zwischen 
gewissen Stellen des Aton^Hymnus und dem 104. Psalm besteht. 
Namentlich Vers 20 bis 24 und 27 bis 30 zeigen bemerkenswerte 
Anklänge: 

»Wirkst du Finsternis, so ist es Nacht,* in ihr regen sich 
alle Tiere des Waldes. Die jungen Löwen brüllen nach Fraß, 
indem sie von Gott ihre Nahrung verlangen. Wenn die Sonne 
aufgeht, ziehen sie sich zurück und lagern in ihrer Behausung. 
Der Mensch geht an sein Werk und an seine Arbeit bis zum 
Abend. Wie sind deiner Werke so viel, Jahwe ! Du hast sie 
alle in Weisheit geschaffen,* die Erde ist voll von deinen 
Geschöpfen.« 

»Sie alle warten auf dich, daß du ihnen zu seiner Zeit 
ihre Speise gebest. Du gibst ihnen, sie lesen auf,* du tust 
deine Hand auf, sie sättigen sich mit Gutem. Du verbirgst 
dein Antlitz, sie werden bestürzt,* du ziehst ihren Odem ein 
und sie werden wieder zu Erde. Du entsendest deinen Odem, 
sie werden geschaffen,* und du erneust das Angesicht der Erde.« 
Es ist anzunehmen, daß der 104. Psalm unter dem direkten 
Einfluß der Poesie Echnatons entstanden ist*. 

• Weigalf vermutet, daß auch der 19. Psalm sein eigentümliches Gepräge 
diesem Einfluß verdankt. In V. 6 bis 7 heißt es dort von der Sonne (deren Ge~ 
schlecht in der hebräischen Sprache männlich ist) : 

»Und er gehet hinaus wie ein Bräutigam aus seiner Kammer, und freuet 
sich wie ein Held, zu laufen seine Bahn. Er gehet auf an einem Ende des 
Himmels und läuft bis an sein and'res Ende, und nichts bleibt vor seiner 
Glut verborgen.« 

Sicherlich dürfte es sich hier um Reste eines Hymnus auf den Sonnengott 
handeln / ob sie ägyptischen Ursprungs sind, mag dahingestellt bleiben. 


23 * 






352 


Karl Abraham 


Flinders Petrie hebt in seiner Besprechung des Aton^ 
Hymnus hervor, daß dieser nicht nur von allem, was an den Poly¬ 
theismus erinnern könnte, völlig frei sei, sondern auch alles Anthropo- 
morphe in der Auffassung des einzigen Gottes vermissen lasse. 
Das trifft nun freilich nicht ganz ohne Einschränkung zu, sicherlich 
aber in einem höheren Maße als für irgend eine andere monotheisti¬ 
sche Auffassung. Man muß in Betracht ziehen, daß der Aton^Kultus 
seinem tiefsten Sinne nach die Verehrung einer Naturkraft, eines 
unpersönlichen Prinzips bedeutet. 

Wie schon erwähnt, wurde Aton nicht bildlich dargestellt. Ein 
Symbol vertritt ihn: die Sonnenscheibe, von deren Strahlen jeder in 
eine Hand ausläuft. Die Hände aber umgeben auf den bildlichen 
Darstellungen den König, und mit ihm seine Gemahlin oder auch 
seine Kinder. 

Wenn der König in Aton seinen Vater erblickte, so leitete er 
damit, streng genommen, seine Herkunft von einer unpersönlichen 
Kraft ab. Wir werden dadurch an die Zeugung Christi durch den 
Heiligen Geist erinnert. Nur ist Echnaton nicht von Aton mit einem 
menschlichen Weibe gezeugt — wenigstens finden sich keine Hin^ 
weise auf eine solche Vorstellung — sondern Aton ist ihm Vater 
und Mutter zugleich. 

Echnatons Religion darf nicht für sich allein betrachtet werden. 
Sie wird in vollem Umfange erst verständlich, wenn man seine 
Ethik berücksichtigt, die recht eigentlich im Brennpunkt seiner ge¬ 
samten Interessen, seines religiösen Empfindens und seiner Lebens¬ 
führung steht. 

Echnaton verwirft in seiner Ethik — ähnlich wie viele Jahr^ 
hunderte nach ihm Christus — jede Äußerung des Hasses, jede 
Gewalttat. Er möchte, ganz wie es im Hymnus von Aton heißt, 
durch Liebe herrschen. Er ist ein Gegner des Blutvergießens in jeder 
Form. Er läßt überall die Abbildungen von Mensdienopfern aus¬ 
tilgen. Kriegerische Gelüste sind im fremd. So wie er Aton als 
Herrn des Friedens verehrt, so will er auch in seinem eigenen 
Reiche nichts vom Kriege wissen. Es ist besonders interessant, 
Echnaton in dieser Hinsicht mit seinen Vorgängern zu vergleichen. 
Man denke nur an den kriegerischen und grausamen Amenhotep II. 
Von ihm heißt es, daß er die syrischen Fürsten, die er auf einem 
seiner Feldzüge gefangen genommen hatte, an seinem Schiff auf^ 
hängen ließ, und so sein Schiff im Triumph den Nil hinaufführte. 
Und Echnatons Vater, unkriegerischer als seine Vorfahren, hatte 
seinen aggressiven Gelüsten noch in einem gewissen Maße Raum 
gegeben, indem er leidenschaftlich der Jagd frönte. Der Sohn unter¬ 
drückte nahezu jede Äußerung aggressiver oder grausamer Tendenzen. 
Seine Ethik beruht in erster Linie auf einer ungewöhnlich weit¬ 
gehenden Sublimierung der sadistischen Triebkomponente. Für ihn 
selbst und sein Reich sollten aus der starren Befolgung dieser ethi¬ 
schen Prinzipien die schwersten Folgen hervorgehen. 




Amenhotep IV. <Echnaton> 


353 


Besonders seit dem Tode seiner Mutter suchte Edinaton seine 
Ideale in die Wirklichkeit umzusetzen, ohne mit den Hindernissen 
zu rechnen, die ihm entgegentreten mußten. Er wollte sein Reich — 
d. h. im Sinne der damaligen Zeit: die ganze Welt — mit Frieden 
beglücken. Dabei übersah er völlig, daß seine Zeit für solche 
ideale Bestrebungen nicht reif war, übersah ganz und gar die 
Rolle, welche Haß, Habsucht usw. im Leben der einzelnen Menschen 
und der Völker spielen. Er stand an der Spitze eines gewaltigen 
Reiches, das zerfallen mußte, wenn nicht eine starke Hand es zu^ 
sammenhielt. Er aber versuchte, wie er es dem Aton zuschrieb, 
die Welt durch seine Liebe in Fesseln zu legen. 

Edinaton verschmähte es nicht nur, durch Gewalt sein Reich 
zu erweitern oder zu erhalten, sondern er wollte auch in Friedens- 
Zeiten von der Herrschergewalt keinen Gebrauch machen. Er be^ 
strebte sich, dem Volke als Mensch näher zu treten. Das bedeutete 
einen Bruch mit aller höfischen Tradition. Die Pharaonen hatten von 
altersher eine fast göttliche Verehrung im Lande genossen. 
Edinaton tritt schlicht und einfach, ohne Herrscherpose auf. In allen 
bildlichen Darstellungen erscheint er in menschlich-natürlicher Attitüde. 
Da findet sich nichts von der heroischen Geste der alten Pharaonen¬ 
bilder. Er zeigt sich — wie das auf verschiedenen Bildwerken zur 
Darstellung kommt — mit seiner Familie dem Volke. Er gibt dem 
Volke immer von Neuem kund, daß er nicht der unnahbare und 
strenge Herrscher sei, wie ihn das Volk gewohnt war, daß er sich 
nicht am Herrschen und an der königlichen Machtfülle freue, sondern 
daß er nur ästhetische Freude kenne. Er nennt sich mit Vorliebe 
den König, »der in der Wahrheit lebt«. 

Gerade dieses Streben nach Wahrheit bedarf einer besonderen 
Würdigung. Nach Echnatons Auftreten vergingen noch Jahrhunderte, 
ehe die bedeutendsten Kulturvölker zu einer Verurteilung der Lüge 
gelangten! Edinaton aber ging über die ethische Hochschätzung der 
Wahrheit hinaus, indem er sie sogar zum Prinzip in der Kunst 
erhob. 

Wie Breasted sich ausdrückt, lehrte Edinaton die Künstler 
seines Hofes, »den Meissei und den Pinsel das erzählen zu lassen, 
was sie wirklich sahen«. »Der Erfolg« — so heißt es weiter — 
»war ein einfacher und schöner Realismus, der klarer und richtiger 
sah, als irgend eine Kunst es früher getan hatte. Man hielt, wie in 
einem Momentbilde, die Stellungen der Tiere fest: den jagenden 
Hund, das fliehende Wild, den springenden Wildstier,• denn alles 
dies gehörte zu der Wahrheit, von der Edinaton lebte.« 

Echnatons sexuelle Ethik bedarf noch einer besonderen 
Erwähnung, obwohl schon einige hierher gehörige Züge zur Sprache 
gekommen sind. Seine monogamische Fixierung wurde bereits er^ 
wähnt. Alle uns zugänglichen Quellen zeigen, mit welch inniger 
Liebe Edinaton an seiner Gattin hing. Er unterließ es, eine zweite 
Frau zu heiraten, als der männliche Thronerbe ausblieb. Er be* 




354 


Karl Abraham 


nutzte vielmehr jede Gelegenheit, sich dem Volke im Kreise seiner 
Familie zu zeigen. Nefer-nefru^Aton hatte ihm vier Töchter ge^ 
hören, die er zärtlich liebte. Das Glück, welches Echnaton in seinem 
Familienleben fand, brachte er vor allem dadurch zum Ausdruck, 
daß er in allen öffentlichen Kundgebungen, Inschriften usw. seine 
Verehrung für die Königin besonders hervorhob. Er belegte sie 
mit mancherlei Beinamen, wie »Herrin seines Glückes« und ähn¬ 
lichen. So suchte er im Volke für eine neue Auffassung der Ehe, 
für eine veränderte Stellung des Mannes zum Weibe Propaganda 
zu machen. Schon früher wurde darauf hingewiesen, daß unter 
Echnatons Regierung die Frauen am Hofe einen früher nicht ge¬ 
kannten Einfluß erhielten. 

Die Zartheit der Beziehungen zwischen König und Königin 
läßt am schönsten ein Relief erkennen, welches sich im Berliner 
Museum befindet. Es zeigt den König in jugendlicher, fast 
mädchenhafter Gestalt auf einen Stab gelehnt, und ihm gegenüber 
die Königin, die ihn an einem Blumenstrauß riechen läßt. Nirgends 
in der früheren ägyptischen Kunst findet man eine Darstellung, 
welche dieser bezüglich des Inhaltes oder der Auffassung an die 
Seite gestellt werden könnte. <Vgl. die Reproduktion in der deut* 
sehen Ausgabe von Breasted, Geschichte Ägyptens.) 

Bezeichnend für die innigen Gefühle, die den König mit den 
Seinigen verbanden, ist auch eine Darstellung im Grabmale einer 
seiner Töchter, die früh verstarb. Nie zuvor hatte die Trauer einer 
Familie um ein totes Kind solchen Ausdruck gefunden. 

Und welche Zartheit des Empfindens zeigt der Aton-Hymnus! 
Es sei nur an die Schilderung vom Ausschlüpfen des Küchleins 
erinnert. 

In enger Verbindung mit dem Vermeiden alles Rohen steht bei 
Echnaton die Scheu vor dem Häßlichen, das Bedürfnis nach Schön- 
h e i t. Der Aton-Hymnus setzt mit einer Schilderung- der Schönheit 
des Gottes ein. Echnaton pflegte nicht nur die bildenden Künste. 
Er legte prächtige Gärten an und ergötzte sich an der Schönheit 
der Blumen und Tiere darinnen. Er wandte der Musik sein be¬ 
sonderes Interesse zu. So äußerte sich sein Verlangen nach ver¬ 
edelten Genüssen, sein Drang zur Sublimierung in mannigfachster 
Form. 

Echnatons Religion, Weltanschauung und Ethik bilden in 
ihrer Gesamtheit ein Bauwerk, das uns nicht nur durch die Groß^ 
artigkeit seiner Konzeption staunen macht, sondern auch durch 
die Konsequenz seiner inneren Ausgestaltung. Wollte der König 
aber solch umfassende, in das Volksleben tief eingreifende Reform¬ 
pläne zur Durchführung bringen, so bedurfte er dazu der größten 
Tatkraft, nicht minder aber des praktischen Blickes, um bei seinem 
Vorgehen diejenigen Mächte zu würdigen, die ihm hindernd in den 
Weg treten mußten. Der Jüngling, der ein Weltreich ererbt hatte, 
plante ja nichts Geringeres, als die Einführung einer Weltreligion 




Amenhotep IV. (Edinaton) 


355 


mit einem einzigen Weltgott. Während er aber des Gottes Herr* 
Schaft aufzurichten begann, verlor er die eigene. 

Es ist klar, daß Echnaton das Reich Atons nur dann be* 
festigen konnte, wenn er sein eigenes Ansehen als König wahrte. 
Aber je mehr er, seinem Idealismus folgend, den Unterschied 
zwischen sich und dem Volke verwischte, je mehr er sich die 
Priester der alten Gottheit zu Feinden machte, je radikaler er seine 
Reformen zur Durchführung bringen wollte, um so mehr mußte 
sein Einfluß beim Volke abnehmen. Für seine Religion war außer 
ihm selbst allenfalls ein kleiner Teil von Auserwählten reif, während 
sie den Bedürfnissen der Massen in keiner Weise Rechnung trug. 
Weigall zieht einen Vergleich zwischen der Einführung des 
Aton*Kultes und derjenigen des Christentums. Er gelangt zu der 
Auffassung, daß das Christentum nur deswegen eine rasche und 
umfassende Verbreitung finden konnte, weil es dem Bedürfnis der 
Massen nach sinnlich greifbaren und anthropomorphen Objekten 
der Verehrung einen gewissen Spielraum gewährte. Da gab es 
neben, dem einzigen Gotte die den Menschen viel nähere Gestalt 
Christi, da gab es den Teufel, gab es Engel, Heilige, Geister usw. 
Der Glaube an ein einziges, göttliches Wesen, das den Menschen 
unsichtbar blieb, wäre sicherlich beim Volke nicht durgedrungen. 
Aus diesem von Weigall richtig erkannten Umstand erklärt sich 
wohl auch die geringe Werbekraft des mosaischen Monotheismus, 
der zeitlich dem Aton*Kultus bald folgte. 

So vieles wir aus den Quellen über die inneren Umwälzungen 
erfahren, welche sich unter Echnatons Regierung vollzogen, so 
wenig erfahren wir von Ereignissen der äußeren Politik. Es geschah 
nichts. Und eben weil nichts geschah, begannen räuberische Stämme, 
die Grenzen des Reiches unsicher zu machen. Gleichzeitig lehnte 
ein Teil der syrischen Vasallenfürsten sich auf und griff die treu 
gebliebenen an. Diese wandten sich um Hilfe nach Ägypten. Aber 
alle ihre Bitten um Beistand blieben unerhört. Im sechzehnten 
Regierungsjahre Echnatons erfolgte dann der Einfall der Hethiter 
in Syrien. Der König litt um diese Zeit bereits an der Krankheit, 
die ihn zwei Jahre später dahinraffen sollte. Jedem gewaltsamen 
Eingreifen abgeneigt, überließ er die schwer bedrohten asiatischen 
Provinzen sich selbst. Um diese Zeit setzt nun jene merkwürdige 
Korrespondenz ein, die uns durch den Tafelfund von EUAmarna 
beinahe vollständig bekannt geworden ist. Es handelt sich um eine 
große Anzahl von Keilschrifttafeln, die im Laufe der nun folgenden 
Zeit aus Asien einliefen. Sie enthalten die immer dringlicheren 
Klagen der asiatischen Vasallen, die sich der aufrührerischen 
Gegner und der eindringenden Barbaren nicht mehr zu erwehren 
vermochten. Aus einem dieser Hilfegesuche, welches Breasted 
nach Knudtzons »Amarna*Briefen« zitiert, sei ein charak* 
teristischer Passus hier wiedergegeben. Die Ältesten der bedrohten 
Stadt Tunip bitten um Hilfe gegen den abtrünnigen Fürsten Aziru 




356 


Karl Abraham 


mit folgenden Worten: »Wenn Aziru in Simyra eindringt, so wird 
er uns tun, was ihm gefällt auf dem Gebiete unseres Herrn, des 
Königs, und trotz alledem hält unser Herr sich von uns zurüdk. 
Und nun weint deine Stadt Tunip und ihre Tränen fließen, und es 
gibt keine Hilfe für uns. Seit zwanzig Jahren haben wir an unseren 
Herrn, den König von Ägypten, Boten gesandt, aber keine Antwort 
ist uns gekommen, nicht ein einziges Wort«. 

Die Wirren in den Provinzen nahmen immer mehr zu, und 
nacheinander gingen die wichtigsten Städte und Stützpunkte ägyptU 
scher Macht verloren, so die Städte, resp. Bezirke von Askalon, 
Tyrus, Sidon, Simyra, Byblos, Aschdod, Jerusalem, Kadesch, Tunip, 
ferner die Täler des Jordan und Orontes und viele andere Gebiets^ 
teile. Echnaton aber blieb durch das alles ungerührt, lebte weiter in 
seinen Idealen, und ließ sein ganzes außerägyptisches Reich, das seine 
Vorfahren unter den größten Opfern aufgerichtet hatten, zugrunde gehen. 

Wie ungerührt der Träumer auf dem Throne angesichts aller 
dieser Nöte seines Reiches blieb, das hat er noch in den letzten 
Monaten seines Lebens gezeigt. Anstatt der Gefahr zu wehren, die 
von außen kam, war er auf nichts anderes bedacht, als auf die 
Beseitigung aller Spuren des früheren Polytheismus. Die letzte 
wichtige Maßnahme seiner Regierung, von der wir Kunde haben, 
war, daß er die Namen der alten Götter, soweit dies nicht schon 
früher geschehen war, überall austilgen ließ. Sogar die Bezeichnung 
»Götter« wurde ausgemerzt. Eine solche Handlung war in diesem 
Zeitpunkt am wenigsten angebracht. Denn da das Ansehen des 
Königs im Sinken war, so durfte man dem Volke oder vielmehr 
den Priestern, die es beeinflußten, keinen direkten Anlaß zur Em¬ 
pörung geben. Echnaton beging diesen Fehler gleichwohl, und 
es scheint, daß nur sein Tod, der kurz darnach eintrat, ihn davor 
bewahrte, das gewaltsame Ende seiner Herschaft: zu erleben. 

Kaum war Echnaton gestorben, da setzte die Gegenrefor^ 
mation der Amonspriester ein. Sie erlangten ihre Macht auch äußer¬ 
lich bald wieder. Denn Echnatons Schwiegersohn Smenkharawar 
nicht der Mann, das Werk seines Vorgängers zu schützen,* auch 
war ihm nur eine kurze Regierungszeit beschieden. Echnaton aber 
wurde zum Ketzer gestempelt, und man zerstörte sein Werk mit 
der gleichen Gründlichkeit, mit der er selbst das Überlieferte ausge¬ 
merzt hatte. Sein Name verfiel dem gleichen Schicksal, das er selbst 
dem Namen seines Vaters und demjenigen des Gottes Amon be^ 
reitet hatte. Man hämmerte seinen Namen aus und drang selbst in 
das Grabgewölbe ein, um auch hier das verhaßte Wort, das an 
Aton erinnerte, zu vertilgen. Nicht zufrieden damit, entfernte man 
auch die Mumie der Königin Teje, die in der Nähe von Echnatons 
Resten ruhte, und bestattete sie an der Seite Amenhoteps III. Und 
wie Echnaton einst den Namen Amenhotep abgelegt hatte, so wurde 
einer seiner Nachfolger, die einander schnell ablösten, gezwungen, 
seinen Namen Tut-anch-Aton in Tut-anch-Amon zu verwandeln. 




Amenhotep IV. (Edinaton) 


357 


Edinaton war ein Revolutionär — nidit freilich im gewöhn^ 
liehen Sinne des Wortes. Denn seine aggressiven Triebregungen 
hatte er in erstaunlichem Maße sublimiert und sie in eine zu allen 
Wesen überströmende Liebe verwandelt, so daß er selbst den 
Feinden seines Reiches nicht mit Gewalt entgegentrat. Seine stärkste 
Feindschaft richtete sich gegen den Vater, den sie doch in Wirklich¬ 
keit nicht treffen konnte, weil dieser eben nicht mehr zu den Leben¬ 
den zählte. Wir werden hier in frappanter Weise an das Ver¬ 
halten gewisser Neurotiker erinnert, die, zu schwach, um gegen 
Lebende aktiv vorzugehen, ihren Haß und ihre Rachsucht 
an Toten auslasse n, meistens freilich nur in Phantasien oder 
in Form neurotischer Symptome. 

Wie schon erwähnt, konnte Edinaton — trotz aller AuL 
lehnung gegen die Macht des Vaters — einer diese Macht ver^ 
tretenden Autorität nicht entraten. Und so schuf er sich eine neue, 
auf seine persönlichen Bedürfnisse zugeschnittene Religion mit einem 
väterlichen Gott als Mittelpunkt. Ihn stattete er mit einer unbe¬ 
schränkten Macht aus — mit der Allmacht, die jedes Kind ur^ 
sprünglich seinem Vater zumißt. Er machte ihn zum einzigen Gotte, 
in durchsichtiger Anlehnung an die Einzigkeit des Vaters. Er wurde 
damit zum Vorläufer des mosaischen Monotheismus, in welchem 
der einzige Gott unverkennbar die Züge des Patriarchen, des Allein^ 
herrschers in der Familie, an sich trug. Überdies aber schrieb er 
dem neuen Gotte die grenzenlose Liebe und Güte zu, die ihn 
selbst auszeichneten. So schuf er sich einen Gott nach seinem 
eigenen Bilde, um hernach — wie es die Menschen so oft getan 
haben — seine Herkunft von ihm abzuleiten. In Aton spiegelt 
sich also Echnaton selbst mit allen seinen Eigene 
schäften wieder. Und wenn er den Aton, der doch tatsäch¬ 
lich ein Kind seiner Phantasie, der doch Geist von seinem Geiste 
war, als seinen Vater bezeichnet, so lesen wir darin nichts anderes 
als Echnatons Wunsch: von einem Vater zu stammen, 
der die gleichen persönlichen Eigenschaften 
hätte wie er selbst. 

Auch in unserer Zeit bilden sich viele Individuen — wie wir 
es besonders von den Neurotikern wissen — eine private Religion, 
manche unter ihnen auch einen privaten Kultus. Sie sind, wie die 
Psychoanalyse oftmals darzutun vermag, Menschen, die sich in der 
Tiefe ihres Unbewußten gegen den Vater empören, ihr Bedürfnis 
nach Abhängigkeit aber auf ein göttliches — d. h. auch dem Vater 
übergeordnetes — Wesen übertragen. Nicht selten fühlen sie sich 
berufen, die in ihrem Vaterkomplex wurzelnden Ideen zu propa¬ 
gieren,- dann werden sie zu Religionsstiftern oder Sektenführern. 

In anderen Fällen sucht der Sohn an die Stelle des wirk¬ 
lichen Vaters einen von seiner Phantasie geschaffenen Ideal-Vater 
zu setzen. Dieser trägt dann, wie nicht anders zu erwarten, alle 
diejenigen Eigenschaften und Charakterzüge an sich, durch welche 




358 


Karl Abraham 


der Sohn seinen Vater zu überragen meint. Als Kern dieser Phan^ 
tasieprodukte ergibt sich der Wunsch, sich selbst erzeugt 
zu haben, der eigene Vater zu sein. Von Aton aber, der 
für uns nur ein mit väterlicher Allmacht versehenes, zum Gotte er^ 
hobenes Abbild Echnatons ist, heißt es in dem mitgeteilten Hymnus, 
daß er sich selbst erzeugt habe! 

Erklärt es sich somit aus seiner Einstellung zum Vater, daß 
Echnaton zum Stifter eines monotheistischen Kultus wurde und daß 
er eine Religion der Liebe begründete, so bleibt noch zu beant¬ 
worten, warum er gerade den Aton, und nicht einen anderen Gott 
in den Mittelpunkt des neuen Kultus stellte. Zwar wurden schon 
oben verschiedene Gründe angeführt, wie das Eindringen des asi^ 
atischen Adonis-Dienstes, die Bevorzugung Atons durch die Königin^ 
Mutter und ihr Einfluß auf den minderjährigen Sohn. Allein mit 
diesen äußeren Gründen erklärt man weder die Inbrunst, wie sie 
z. B. aus dem großen Hymnus hervortritt, noch die Tatsache, daß 
Echnaton sein ganzes Denken, seine beste Kraft, ja sein Leben in 
den Dienst Atons stellte. Teils von psychoanalytischen Erfahrungen, 
teils von Tatsachen der Völkerspydiologie ausgehend werde ich 
versuchen, dem Verhalten des Königs eine innere Begründung zu geben. 

Durch neueste Forschungen* sind wir auf die besondere Be¬ 
deutung der Sonne als Vatersymbol hingewiesen worden. Be¬ 
lege für diese Bedeutung finden sich nicht nur in der Psychologie 
der Neurosen und Geistesstörungen, sondern ebenso in den Vor^ 
Stellungen der verschiedensten Völker. Als Symbol eines ein~ 
zigen Gottes aber eignet sich die Sonne vor allem deshalb, 
weil sie, im Gegensatz zu den anderen Gestirnen, einsam am 
Himmel ihre Bahn zieht. 

Echnaton verehrt nun, wie oben ausgeführt wurde, nicht 
eigentlich das Gestirn selbst, sondern die Glut der Sonne. Der 
Sonnenwärme kommt im Vorstellungsleben der Völker die Bedeutung 
einerzeugenden, leb e nspen d e nden Kr aft zu. Soauch in Ech¬ 
natons Auffassung. Aber hier tritt — zum Zeichen seiner unge¬ 
wöhnlich starken Tendenz zur Sublimierung — eine zweite Be¬ 
deutung der Sonnenwärme hinzu: sie wird zum Symbol der 
allumfassenden Liebe Atons. Die ersten Verse des Hymnus 
lassen es deutlich erkennen. Die Strahlen der Sonne, welche alle 
Länder umarmen, werden mit Atons Liebe identifiziert, durch die 
er alle Länder gefangen nimmt. Diese Symbolik ist uns aus den 
Träumen gesunder und neurotischer Personen wohl bekannt. Ferner 
treten im Krankheitsbild der Neurosen abnorme Hitze^ und Kälte¬ 
gefühle sehr häufig hervor. Sie stehen mit der Erotik der Kranken 
in einem meist durchsichtigen Zusammenhang, auf den an dieser 
Stelle nur im Vorübergehen hingewiesen werden kann. 

* Ich nenne hier besonders : Freud, Psychoanalytische Bemerkungen über 
einen autobiographisch beschriebenen Fall von Paranoia, sowie den Nachtrag zu 
dieser Arbeit. (»Jahrbuch für psychoanalytische Forschungen«, Bd. III.) 





Amenhotep IV. <Echnaton> 


359 


Es wird gestattet sein, noch einen weiteren Schritt zu tun, der 
freilich auf das Gebiet der reinen Hypothese hinüberführt. Es wurde 
schon eingangs auf die Beziehungen zwischen Aton und dem syri¬ 
schen Gotte Adonis hingewiesen. Adonis wurde in der Gestalt eines 
schönen Jünglings verehrt, der eines frühen Todes stirbt*. Bedenkt 
man nun, daß der junge König in dem von ihm verehrten Gotte 
nur ein Ebenbild seiner selbst geschaffen hatte, so mag die Ver** 
mutung ausgesprochen werden, er habe sich in seiner Vorstellung 
zunächst mit Adonis identifiziert. Schwach und kränklich von Kind** 
heit an, das Schicksal eines frühen Todes vor Augen tragend, 
durfte er sich wohl mit Adonis vergleichen. Und was er erstrebte, 
war ja nicht mannhafte Tat, sondern ein Leben in Schönheit. 

Mit seinem Gotte Aton stimmt Echnaton in einem besonderen 
Zuge seines Wesens überein : auch er ist ein Einsamer. 
Wohl hatte er um sich einen kleinen Anhang von Verehrern ge¬ 
sammelt. aber in lebendigem Kontakt mit seinem Volke stand er 
nicht, trotz aller Versuche der Annäherung. Eine übermäßige Sexual** 
Verdrängung stört die Gefühlsbeziehungen jedes Menschen zu den 
andern und beraubt ihn der Fühlung mit der Wirklichkeit. Es 
kommt zu der bei den Neurotikern, und oft gerade bei den Be¬ 
gabtesten, so häufigen autoerotischen Einengung: die eigenen 
Wunschphantasien werden zum ausschließlichen Gegenstand des 
Interesses. Der Neurotiker lebt dann nicht mehr in der Welt der 
wirklichen Geschehnisse, sondern in einer anderen, von seiner 
Phantasie geschaffenen. Er wird teilnahmslos gegenüber den realen 
Begebenheiten, als existierten sie für ihn überhaupt nicht. Echnatons 
Verhalten ist dem geschilderten völlig entsprechend. Ganz in der 
Welt seiner Träume und Ideale lebend, in der es nur Liebe und 
Schönheit gibt, hat er kein Auge für alles das, was an Haß und 
Feindschaft, an Unrecht und Unglück in Wirklichkeit unter den 
Menschen herrscht. Auch in der Natur — der Hymnus läßt es 
deutlich erkennen — ignoriert er die Herrschaft des Stärkeren und 
die Not des Schwachen,* er sieht alle Kreaturen nur voll fröhlichen 
Dankes hüpfen und springen, hört sie jubeln zur Ehre ihres 
Schöpfers. 

So verschloß er denn auch sein Ohr den Hilferufen seiner 
asiatischen Untertanen, so war er blind für die Greuel, die sich in 
seinen Provinzen abspielten. Sein Auge sah nur Schönheit und 
Harmonie, während sein Königreich in Trümmer ging. »In Achet 
Aton, der neuen und glänzenden Hauptstadt, hallte der prächtige 
Tempel des Aton wider von den Lobgesängen, die dem neuen 
Gotte des Reiches gesungen wurden, — aber dieses Reich selbst 
existierte nicht mehr.« <B r e a s t e d.) 

Die griechische Mythologie erzählt uns von dem Jüngling 
Phaeton, dem Sohne des Helios, der sich vermaß, an seines Vaters 

# Vgl. hierzu die ähnliche Gestalt des Baldur in der germanischen Göttersage. 





360 


Karl Abraham 


Stelle den Sonnenwagen über den Himmel zu führen. Er verlor 
die Gewalt über seine Rosse, und aus dem Wagen stürzend, büßte 
er sein Leben ein. Das Schicksal dieses Sohnes der Sonne berührt 
uns wie ein Gleichnis zur Geschichte Echnatons. Mit kühnem Ge¬ 
dankenfluge trat auch dieser seine Fahrt an. Zu Sonnenhöhen 
strebend ließ er die Zügel fallen, die seine Väter mit starker Hand 
gehalten hatten, und es erfüllte sich an ihm das Schicksal so mancher 
Idealisten: während sie in einer Welt der Träume leben, gehen sie 
an der Wirklichkeit zugrunde. 







Die Bedeutung des Salzes in Sitte und Braudi der Völker 


361 


Die Bedeutung des Salzes in Sitte und Brauch 

der Völker. 

Von Professor Dr. ERNEST JONES, Toronto. 

<Mitte September 1911.) 

I m Verlaufe einiger höchst anregender Bemerkungen über den 
Aberglauben schreibt Freud 1 : »Ich nehme nun an, daß diese 
bewußte Unkenntnis und unbewußte Kenntnis von der Natur 
der psychischen Zufälligkeiten eine der psychischen Wurzeln des 
Aberglaubens ist.« Er stellt den allgemeinen Grundsatz auf, daß die 
unrichtige Bedeutung, die von den Abergläubischen zufälligen äußeren 
Ereignissen beigelegt wird, sich aus der assoziativen Verbindung 
erklärt, die zwischen diesen Ereignissen und wichtigen Gedanken 
und Trieben im Unbewußten des betreffenden Menschen besteht, 
daß sie eine Projektion der Bedeutung darstellt, die in Wirklichkeit 
den unbewußten Gedanken zukommt ,• das Gefühl der Bedeutsamkeit 
ist also vollständig gerechtfertigt, aber es wurde in eine falsche Ver« 
knüpfung gebracht. Der Zweck der vorliegenden Abhandlung ist, im 
Lichte dieser Hypothesen einen der bekanntesten und verbreitetsten 
Aberglauben zu prüfen, daß es nämlich Unglück bringe, Salz auf 
dem Tisch zu verschütten. 

Dabei werde ich mich bemühen, nur die induktive Methode 
anzuwenden, d. h. Hypothesen nur aufzustellen, wenn sie als 
berechtigte Schlüsse aus vorher festgestellten Tatsachen erscheinen, 
und sie dann daraufhin zu prüfen, ob sie imstande sind, den 
gesamten Umfang des zugänglichen Materials zu erklären. 

Zwei wichtige Tatsachen müssen zu Beginn erwähnt werden: 
zunächst, daß man zu allen Zeiten dem Salz eine Bedeutung zu« 
schrieb, die diejenige seiner natürlichen Eigenschaften weit übertraf: 
Homer schildert es als göttlichen Stoff, Plato schreibt, daß es den 
Göttern besonders wert sei 2 , und wir werden sogleich seine große 
Wichtigkeit bei religiösen Zeremonien, Verträgen und magischem 
Zauber kennen lernen. Daß dies in allen Teilen der Welt und zu 
allen Zeiten der Fall war, zeigt, daß wir es hier mit einer allge« 
mein menschlichen Neigung zu tun haben und nicht mit einem 
lokalen Brauch, einem Zufall oder einem unwesentlichen Zug. 
Ferner entlehnte man dem Salzbegriff in den verschiedenen Sprachen 
einen bemerkenswerten Überfluß metaphorischer Bedeutungen, 
deren Studium erkennen lassen wird, wofür der Begriff tatsächlich 
im menschlichen Geist stand, und dadurch die Quelle seiner über« 
großen Bedeutung erklären kann. 

Wir wollen zunächst die wichtigsten charakteristischen Eigen« 
schäften des Salzes in Betracht ziehen, die sich den Gedanken des 
Volkes einge prägt haben und so mit allgemeineren Vorstellungen ver« 

1 Freud, Zur Psychopathologie des Alltagsleben. Dritte Auflage. 1910. S. 134. 

2 Plutarch, Morals. Goodwins English Edition. 1870. Vol. II. Pag. 338. 





362 


Ernest Jones 


wandter Art assoziiert wurden. Vielleicht ist die hervorragendste 
unter ihnen die D a u e r h a f t i g k e i t des Salzes und seine I m- 
munität gegen Verderbnis. Infolge dieser Eigenschaften war 
das Salz sinnbildlich für Dauerhaftigkeit und Unzerstörbarkeit 1 und 
daher auch für Ewigkeit und Unsterblichkeit 2 ,- im Mittelalter hielt 
man dies für die Ursache, weshalb der Teufel Salz verabscheue 3 . In 
Verbindung mit der Ewigkeit wird auch die Weisheit erwähnt, die 
das Salz ebenfalls symbolisiert 4 , wenn auch Pitre 5 sagt, dies komme 
nur von einem Spiel mit den Wörtern sedes sapientiae und 
salee sapienza, Brand 6 aber zitiert eine Antrittsrede, die an einer 
deutschen Universität im 17. Jahrhundert gehalten wurde und die eine 
innere Verbindung zwischen den beiden Begriffen zeigt: »Die Ge¬ 
danken und Meinungen der Gottesgelehrten und Philosophen stimmen 
darin überein, das Salz zum Sinnbild der Weisheit und 
Gelehrsamkeit zu machen, und zwar nicht allein mit Rücksicht 
auf seine Bestandteile, sondern wegen der vielen Verwendungen, 
die es findet. Was seine Bestandteile betrifft, so sollte, wie das 
Salz aus dem reinsten Stoffe besteht, auch die Weisheit rein, gesund, 
unbefleckt und unbestechlich sein, und die Wirkungen von Weisheit 
und Gelehrsamkeit auf den Geist sollten denen entsprechend sein, 
die das Salz auf die Körper hervorbringt.« Diese Erklärung für die 
Verbindung mit dem Begriff der Weisheit klingt nicht allzu über¬ 
zeugend und legt den Gedanken nahe, daß vielleicht noch andere 
bestimmende Faktoren außer den eben erwähnten vorhanden sein 
könnten. Die Vorstellung von der Dauerhaftigkeit des Salzes ist 
zweifellos eine wichtige Ursache für seine Assoziation mit dem 
Thema Freundschaft und Treue 7 . Dank seiner dauerhaften 
und unzerstörbaren Art wurde es als Symbol fortdauernder Freund^ 
Schaft 8 angesehen und davon sind mehrere sekundäre Bedeutungen 
abgeleitet. 

Eine der Folgen z. B. ist der Glaube, daß das Verschütten 
von Salz einen Streit oder Bruch der Freundschaft mit sich bringe 9 . 
Das Salz hat eine wichtige Rolle in der G a s tf r e u n d s c h af t ge¬ 
spielt: Stuckius 10 berichtet von dem Glauben der Moscowiter, daß 

1 Lawrence, The Magic of the Horse-Shoe, with other Folklore Notes. 
1899. Ch. III., »The Folklore of Common Salt«. Pag. 157. 

2 Seligman, Der böse Blick und Verwandtes. 1910. Band II, S. 33. 

8 Bodin, De la Demonomanie des Sorciers. 1593. S. 278. 

4 CoIIin de Plancy, Dictionnaire Infernal. 1818. I. II. P. 278. Lawrence, 


Loco cit. 

5 Pitre, Usi e costumi, credenze e pregiudizi del popolo Siciliano. 1889. 
Vol. III. Pag. 426. 

6 Brand, Observations on the Populär Antiquities of Great Bntain. 1849. 


7 Siehe Viktor Hehn, Das Salz. Eine kulturhistorische Studie. O871) 

2. Aufl. 1901. S. 10 bis 12. 

8 Brand, Op. c. Vol. III. Pag. 162. Lawrence, Op. c. Pag. 169, 171. 

9 Wuttke, Der deutsche Volksaberglaube der Gegenwart. Dritte Bearbeitung 

1900. S. 211. Brand, L. c. 

10 Stuckius, zitiert von Brand. Op. c., pag. 161. 





Die Bedeutung des Salzes in Sitte und Brauch der Völker 


363 


ein Fürst einem Fremden keinen größeren Freundschaftsbeweis geben 
könne, als wenn er ihm Salz von seinem eigenen Tisch sende,* in 
den Ländern des Ostens ist es ein altehrwürdiger Brauch, den 
Fremden als Zeichen und Pfand für Freundschaft und Wohlwollen 1 
Salz vorzusetzen, und in Europa wurde es den Gästen gewöhnlich 
vor einer anderen Speise gereicht, um die andauernde, kräftige 
Freundschaft anzuzeigen 2 . Wenn ein Abessinier einem Freunde oder 
Gast besondere Aufmerksamkeit erweisen will, so bringt er ihm ein 
Stück Steinsalz und gestattet dem anderen huldvoll, mit der Zunge 
daran zu lecken 3 . In den verschiedensten Ländern und zu allen 
Zeiten, vom alten Griechenland bis zum heutigen Ungarn, wurde 
das Salz benützt, um Eide und Verträge zu bekräftigen 4 5 ,* 
so berichtet Lawrence: »Im Osten werden noch heute Verträge 
zwischen den Stämmen mittelst Salz geschlossen und die feierlichsten 
Verpflichtungen werden durch diesen Stoff bekräftigt.« Solche Ver^ 
träge sind unverletzlich und ebenso bringt »eines Mannes Salz essen« 
— die Phrase ist noch jetzt gebräuchlich — die Verpflichtung der 
Treue mit sich ,* während des indischen Aufstandes vom Jahre 
1857 soll ein Hauptgrund, der die Sepoys bewog, sich davon 
fernzuhalten, der Umstand gewesen sein, daß sie der Königin beim 
Salz Treue geschworen hatten 0 . 

Byron bezieht sich in den folgenden Versen aus »Der Corsar» 
auf diese Gruppe von religiösen Vorstellungen : 

»Was meidest du das Salz, das heiliger als Eide, 

Den bindet, der es nimmt, und stumpft des Schwertes Schneide? 

Feindliche Stämme einigt es in Frieden, 

Macht Brüder die, die sonst durch Haß geschieden.« 

Eng verbunden mit dem erwähnten Zug der Unzerstörbarkeit 
ist die Fähigkeit des Salzes, andere Körper vor Verderb¬ 
nis zu bewahren. Es wird allgemein angenommen, daß dies 
die Ursache für die Macht des Salzes ist, gegen den Teufel und 
andere böse Geister zu schützen, die es verabscheuen 6 . Auch diese 
Eigenschaft hat viel dazu beigetragen, die Assoziation zwischen 
Salz und Unsterblichkeit herzustellen,* die Verbindung zeigt sich 
deutlich in der ägyptischen Verwendung des Salzes bei der Em^ 
balsamierung, wo es eine wichtige Rolle spielte. Sie ist eine der 
Ursachen für den Brauch, der in allen Teilen Großbritanniens bis 
vor kurzem bestand, Salz auf einen Leichnam zu streuen 7 ,* gewöhn^ 

1 Lawrence, Op. c., pag. 156. 

2 Lawrence, Op. c., pag.169. 

3 Lawrence, Op. c., pag. 188. 

4 Schleiden, Das Salz. Seine Geschichte, seine Symbolik und seine Bedeutung 
im Menschenleben. 1875. S. 71 bis 73. Lawrence, Op. c., pag. 164 bis 166. 

5 Manley, Salt and Other Condiments. Pag. 90. 

6 Conway, Demonology and DeviULore. 1879. Vol. I. Pag. 288. Moresini, 
Papatus. Pag. 154. Bodin, L. c. 

7 Dalyell, The Darker Superstitions of Scotland. 1835. Pag. 102. Sikes, 
British Goblins. 1880. Pag. 328. Brand, Op. c. Vol. II. Pag. 234, 235. 





364 


Ernest Jones 


lieh wurde Erde hinzugefügt, «Erde als Sinnbild des vergänglichen 
Leibes, Salz als Sinnbild der unsterblichen Seele«. In späterer Zeit 
hieß es, dies werde getan, um die Verwesung 1 zu verhindern, eine 
Vorstellung, die wahrscheinlich mit der ursprünglichen verwandt ist. 
Noch weiter ging der Brauch in Wales, wo man einen Teller mit 
Salz und Brot auf den Sarg stellte,- der gewerbsmäßige »Sünden^ 
esser« der Gegend erschien hierauf, murmelte eine Beschwörung und 
aß das Salz, wodurch er alle Sünden des Abgeschiedenen auf sich 
nahm 2 . 

Wichtig ist die Vorstellung, daß das Salz die Essenz der 
Dinge, besonders des Lebens, bilde. Dies scheint zwei andere Be¬ 
griffe mit einzuschließen: die notwendige Gegenwart und den ent¬ 
sprechenden Wert. Die Idee von der Quintessenz liegt zweifellos 
aer biblischen Phrase <Matth. V., 13): »Ihr seid das Salz der Erde« 
zugrunde, und in vielen Wendungen wird es im Sinne von »aristo¬ 
kratisch«, »die Quintessenz bildend«, etc. verwendet 3 . In der 
Alchimie hielt man das Salz für eines der drei Grundelemente, aus 
denen die sieben Edelmetalle geschaffen wurden,- Quecksilber stellte 
den Geist dar, Schwefel die Seele und Salz den Leib. Herrick in 
seinen Hesperiden <pag. 394) wertet das Salz noch höher: 

»Das Salz des Leibes ist die Seele,- scheidet sie. 

So sinkt das Fleisch rasch in Verwesung hin«. 

Im alten Ägypten stellten Salz und eine brennende Kerze das 
Leben vor und wurden über einem Toten aufgestellt zum Ausdruck 
des sehnlichen Wunsches, das Leben des Abgeschiedenen zu ver^ 
längern 4 . Folgender Grund wurde von lateinischen Schriftstellern, 
z. B. Plutarch, angeführt: »Nach dem Tode fallen alle Teile des 
Körpers auseinander. Im Leben erhält die Seele die Teile intakt und 
in Verbindung. Ebenso erhält das Salz den toten Körper in seiner 
Form und seinem Zusammenhang und vertritt also somit gleichsam 
die Seele 5 .« Der Gipfel der Lobeserhebungen, wobei ebenfalls die 
Vorstellung des Wertes hervorsticht, findet sich in einer Abhandlung 
über das Salz, die im Jahre 1770 veröffentlicht wurde,- darin bringt 
der Verfasser in leidenschaftlichem Stil die übertriebensten Lob¬ 
preisungen über diesen Stoff vor, den er als die Quintessenz der 
Erde ansieht. Das Salz wird hier als ein Schatz der Natur dar^ 
gestellt, als das Wesen der Vollendung, als das Ideal eines Schutz¬ 
mittels. Noch mehr, wer Salz besitzt, sichert sich damit unter den 
körperlichen Dingen einen Grundfaktor menschlicher Glückseligkeit 6 . 

Salz ist enge assoziiert mit der Vorstellung von Geld oder 

1 Brand und Sikes, L. c. 

2 Sikes, Op. c., pag. 324, ^26. 

3 Murrays, Oxford English Dictionary. Vol. VIII. Pag. 59. 

4 Morison, Op. c., pag. 89. 

5 Zitiert aus Schleiden, Op. c., S. 90. 

6 Lawrence, Op. c., pag. 163 zitiert hier: Elias Artista Hermetica. Das 
Geheimnis vom Salz, 1770. 





Die Bedeutung des Salzes in Sitte und Brauch der Völker 


365 


Reichtum, und in der Tat ist dies eine der bildlichen Bedeutungen 
des Wortes. Heutzutage findet sich auch die Verknüpfung mit über^ 
mäßigem oder ungehörigem Preis wie in der Phrase: »a salt or salty 
price«, »ein gesalzener Preis«,- ähnlich bedeutet im Französischen: 
»il me l'a bien sale«, »er hat mir einen übertriebenen Preis auh* 
gerechnet«. In kaufmännischen Kreisen heißt die Redensart: »to salt 
a mine or property«, »eine kleine Menge von etwas Wertvollem 
hinzufügen und so den Verkaufspreis künstlich in die Höhe treiben«. 
Im alten Rom wurden Soldaten und Beamte mit Salz anstatt mit 
Geld bezahlt, woher <von salarium) auch das heutige Wort »Salair« 
und die Phrase »sein Salz wert sein« <= »imstande sein, sein Geld 
zu verdienen«) stammen. Eine Salzwährung gab es im 16. Jahr¬ 
hundert in Afrika und ebenso im Mittelalter in England 1 und 
Deutschland, ferner in China, Tibet und auch sonst in Asien 2 ,- der 
Name der österreichischen Münze »Heller« ist von einem alten 
deutschen Wort für Salz »Halle« 3 abgeleitet. Die Montem-Zeremonie 
in Eton 4 , die darin bestand, Geld im Austausch gegen Salz einzu^ 
sammeln, wurde bis zum Jahre 1847 beibehalten. Salz-Silber zahlten 
die Lehensleute ihren Herren als Ablösung für die Dienstleistung, 
ihnen Salz vom Markt zu bringen 5 . In einigen Teilen von Deutsch^ 
land besteht ein Spiel darin, etwas Sand, ein wenig Salz und ein 
grünes Blatt auf den Tisch zu legen und eine Person mit verbundenen 
Augen danach tasten zu lassen,- wenn sie das Salz erfaßt, so bedeutet 
das Reichtum 6 . 

Diese und andere Ursachen haben der Vorstellung des Salzes 
im Volksglauben eine große Wichtigkeit verliehen. Waldron 7 
erwähnt, daß auf der Insel Man »niemand in einer wichtigen An^ 
gelegenheit ausgeht, ohne Salz in die Tasche zu stecken. Noch viel 
weniger würde jemand von einem Haus in ein anderes ziehen, 
heiraten, ein Kind aus dem Hause geben oder eines zur Erziehung 
annehmen, ohne daß gegenseitig Salz ausgetauscht wird,- ja, wenn 
ein Armer selbst auf der Straße fast verhungerte, würde er keine dar^ 
gereichte Speise annehmen, wenn man nicht zu dem übrigen Almosen 
noch Salz hinzufügt«. Salz mit sich zu nehmen, wenn man sich in eine 
neue Wohnung begibt, ist ein sehr weit verbreiteter Brauch 8 ,- es wird 
berichtet, daß der Dichter Burns, als er im Jahre 1789 ein neues 
Haus in Ellisland beziehen wollte, von einer Schar von Verwandten 
begleitet wurde, die in ihrer Mitte eine Schale mit Salz trugen 9 . Die 
Araber von Ober-Ägypten verbrennen, bevor sie eine Reise an^ 

1 Brand, Op. c. Vol. I. Pag. 436. 

2 Schleiden, Op. c., S. 68—70, 82. 

3 Hehn, Op. c., S. 90. 

4 Brand, Op. c., pag. 433—440. 

5 Brand, Op. c., pag. 403. 

6 Wuttke, Op. c., S. 233. 

7 Waldron, Description of the Isle of Man. 1725. Pag. 187. 

8 Wuttke, Op. c., S. 396. 

9 Rogers, Scotland, Social and Domestic. Vol. III. Pag. 288. 

Imago, I/4 


24 





366 


Ernest Jones 


treten, Salz, um Unglück abzuwenden 1 . Im Mittelalter war das 
Setzen des Salzes auf die Tafel eine hockst feierliche Zeremonie. 
Die übrigen Geräte wurden mit größter Genauigkeit, je nach ihrer 
Zugehörigkeit zum Salz verteilt, das überall mit besonderer Ehrfurcht 
behandelt wurde 2 . Bei den Römern war es ein religiöser Grundsatz, 
daß keine andere Schüssel auf den Tisch gestellt wurde, bevor das 
Salz seinen Platz hatte. Rang und Reihenfolge der Gäste war durch 
ihren Sitz ober- oder unterhalb des Salzes und durch ihre Entfernung 
davon genau angezeigt. Welche große Bedeutung man dem Salze 
zuschrieb, geht auch daraus hervor, daß fast kein Ort existiert, an 
dem Salz produziert wird, bei dem das nicht auch in dem Namen 
des Ortes ausgedrückt worden wäre, vom indischen Lavanäpura 
<Salzburg> und dem österreichischen Salzburg bis zum preußischen 
»Salzkotten« und dem schottischen Saltwats 3 . 

Die große Wichtigkeit, die dem Salz anhaftet, führte dazu, daß 
man ihm verschiedene magische Kräfte zuschrieb, und es wurde 
in sehr ausgedehntem Maße beim Zaubern angewendet. Zu diesen 
und anderen Zwecken konnte es verwendet werden, indem man es 
auf die Zunge legte oder den Körper damit einrieb, aber die belieb^ 
teste Art war, es in Wasser aufzulösen und die betreffende Person 
darin zu baden. Die Hauptfunktion des Salzes in diesem Zusammen¬ 
hang, wie auch die der meisten anderen Zaubermittel war, gegen 
Unglück zu schützen, besonders durch Ab wenden des Ein^ 
flusses schädlicher Geister. Salz ist fast überall für böse Dämonen 
ein Gegenstand des Abscheus 4 mit alleiniger Ausnahme — soweit 
mir bekannt ist — des ungarischen Volksglaubens, wo im Gegenteil 
die bösen Geister eine Vorliebe für Salz haben 5 ,- Salz fehlte immer 
bei den Gelagen des Teufels und der Hexen 6 ,- es war daher ein 
Hauptzauber gegen die Macht des Teufels 7 , gegen Zauberer 8 , Hexen 9 , 
den bösen Blick 10 und bösen Einfluß überhaupt 11 ,- solcher Aberglauben 
findet sich auch in so weit entfernten Ländern wie Arabien 12 und Japan 13 . 
Auch das Vieh wird auf dieselbe Weise gegen Zauber geschützt 14 . 

1 Burckhardt, Travels in Nubia. Pag. 169. 

2 Lawrence, Op. c., pag. 197—205. 

3 Zitiert aus Schleiden, Op. c. S. 70. 

4 Bodin, L. c./ Collin de Plancy, Op. c , pag. 277, 278/ Schleiden, Op. c., S. 78. 

5 Lawrence, Op. c., pag. 159. 

6 Wright, Sorcery and Magie, 1851. Pag. 310. 

7 Bodin und Colfin de Plancy, L. c. 

8 Grimm, Deutsche Mythologie. Vierte Ausgabe. 1876. S. 876. 

9 Grimm a. a. O. Nachtrag, S. 454/ Krauß, Slavische Volksforschungen. 1908. 

S. 39/ Mannhardt, Germanische Mythen. 1858. S. 7,- Seligmann a. a. O. Band II. 

S. 33,* Wuttke, Op. c., S. 95, 258, 283. 

10 Seligmann, Op. c. Band I., S. 312, 313, 320, 331, 344, 346, 365, 377, 389, 
Band II. S. 73, 144, 220, 376. 

11 Lawrence, Op c., pag. 177. 

12 Burckhardt, L. c. 

13 Bousquet, Le Japon de nosjours. i877,T.I.Pag.94/Griffis,TheMikados Empire. 

14 Seligmann, Op. c. Band II., S. 104, 241, 329/ Wuttke, Op. c., S. 40, 435, 
438/ Krauß, L. c. 





Die Bedeutung des Salzes in Sitte und Brauch der Völker 


367 


In Indien und Persien entscheidet man sogar mit Hilfe des Salzes, 
ob irgend eine Person behext wurde oder nicht 1 . Salz bewahrt auch 
die Felder vor üblen Einflüssen 2 ,- es wurde ferner dazu benützt, 
die Seelen der Toten an der Rückkehr zu hindern und ihnen den 
Frieden im Fegefeuer zu verschaffen 3 . 

Diese Verfahren wurden mit besonderer Häufigkeit bei 
Kindern angewendet. Auf den Brauch, neugeborene Kinder mit 
Salz einzureiben, bezieht sich die Bibelstelle Ezechiel XVI, 4. Die 
Verwendung von Salz zum Schutz der Neugeborenen gegen böse 
Dämonen und Einflüsse, indem man ihnen entweder ein wenig auf 
die Zunge streute oder sie in Salz und Wasser tauchte, war in 
ganz Europa seit frühester Zeit verbreitet und ging sicher der chrisN 
liehen Taufe voran 4 ,- in Frankreich dauerte die Sitte, die Kinder bis 
zur Taufe, wo es nicht mehr nötig war, mit Salz zu bestreuen, bis 
1408 5 . Noch heutigen Tags wird es in Holland in die Wiege des 
neugeborenen Kindes gelegt 6 7 . In Schottland war es üblich, einem 
Kind Salz in den Mund zu stecken, wenn es das Haus eines Fremden 
zum ersten Mal betrat *. Auch einem neugeborenen Kalb wurde 
Salz in den Mund gesteckt zu ähnlichen Zwecken wie bei Kindern 8 . 

Salz wurde in ausgedehntem Maße zu medizinischen 
Zwecken verwendet, wenn auch weniger häufig als in den anderen, 
eben erwähnten Absichten. Es hatte die Aufgabe, Krankheiten 
sowohl zu verhindern 9 als auch zu heilen 10 , wie schon Plinius am* 
führt, besonders solche, die durch geheime Einwirkungen entstanden 
waren. Es ist möglich, daß das lateinische Wort »salus« (Gesund^ 
heit), dessen früheste Bedeutung »wohl bewahrt« ist, ursprünglich zu 
dem Wort »Salz« gehört. 

Eine andere wichtige Funktion hatte das Salz bei der Herbei¬ 
führung der Fruchtbarkeit. Da dies augenscheinlich nicht von 
einer seiner natürlichen Eigenschaften stammen kann, muß es eine 
symbolische Bedeutung vorstellen, die mit der allgemeinen, dem Salz 
zugeschriebenen Wichtigkeit in Einklang steht. 

Schleiden 11 macht folgende interessante Bemerkungen: 

»Das Meer war ohne Zweifel das befruchtende, zeugende 
Element. Wenn wir von den wenigen Säugetieren des Meeres ab^ 
sehen, so zählen bei den Meeresgeschöpfen die Nachkommen nach 

1 Seligmann, Op. c., Band I., S. 262, 264. 

2 Seligmann, Op. c., Band II, S. 324. 

3 Wuttke, Op. c., S. 465, 472. 

4 Conway, Op. c., Vol. II. Pag. 217,- Lawtence, Op. c., pag. 174, 175,- 
Seligmann, Op. c., Band II., S. 34,- Wuttke, Op. c., S. 382, 387. 

5 Schleiden, Op. c., S. 79. 

3 New York »Times«, November 10, 1889. 

7 Dalyell, Op. c., pag. 96. 

8 Seligmann, Op. c., S. 58/ Wuttke, Op. c., S. 436, 443. 

9 Wuttke, Op. c., pag. 374. 

10 Dalyell, Op. c., pag. 98, 99, 102/ Lawrence, Op. c., pag. 180,- Selig- 
mann, Op. c, Bd. 1, S. 278/ Wuttke, Op. c., S. 336. 

11 Schleiden, Op. c., S. 92, 93. 


24* 





368 


Ernest Jones 


Tausenden und Hunderttausenden. Das schrieb man umso leichter 
dem Salze zu, da man damit andere Beobachtungen, die man ge¬ 
macht zu haben glaubte, verband. Man erzählte sich, daß bei der 
Hundezucht häufiger Salzgenuß die Nachkommenschaft vermehre, 
daß die Zahl der Mäuse sich gerade auf Salzschiffen so unberechen¬ 
bar vergrößere, daß man schon damals zu dem Gedanken der 
Parthenogenesis kam, d. h. zu der Ansicht, daß die Mäuse ohne 
Mitwirkung eines männlichen Wesens Junge werfen könnten. So 
bildete sich die Überzeugung, daß Salz und physische Liebe in 
engem Zusammenhang stehen müßten, und Salz wurde das S y m b o 1 
der Zeugung.« 

Es wurde in diesem Zusammenhang auf zwei Arten ver^ 
wendet, erstens um Fruchtbarkeit und reichen Ertrag zu bewirken, 
und zweitens um Unfruchtbarkeit und Impotenz abzuwenden. Das 
letztere wird an der Handlung Elisas gezeigt, der Salz in den 
Brunnen von Jericho wirft <2. Buch der Könige, II, 21): »So spricht 
der Herr: Ich habe diese Wasser gereinigt und in Zukunft sollen 
sie nicht mehr Tod oder Unfruchtbarkeit hervorrufen.« 

Gaume 1 berichtet, daß das Salz speziell die Aufgabe hat, 
Fruchtbarkeit herbeizuführen, und seine symbolische Bedeutung 
zeigt sich in folgendem indischen Brauch 2 : Eine Frau, die sich ein 
Kind, besonders einen Sohn wünscht, fastet am vierten zu einer Mond¬ 
nacht gehörenden Tag nach jedem mondlosen halben Monat und be^ 
endet ihr Fasten erst, wenn sie den Mond gesehen hat. Hierauf wird 
eine Schüssel mit 21 Kugeln aus Reis, deren eine Salz enthält, vor sie 
hingestellt, und wenn sie die Hand zuerst auf die Kugel legt, die 
das Salz enthält, wird sie mit einem Sohn gesegnet sein. In diesem 
Fall ißt sie nicht weiter,* sonst fährt sie fort, bis sie zu der gesalzenen 
Kugel kommt. Die Zeremonie darf nicht beliebig oft wiederholt 
werden,* wenn es ihr niemals gelingt, die gesalzene Kugel zuerst 
herauszufinden, ist sie zur Unfruchtbarkeit verdammt. In Belgien 
wird Salz unter die Nahrung einer trächtigen Kuh oder Stute ge¬ 
mengt, um die Geburt leicht zu madien 3 ,* in der Normandie wird 
es Kühen gegeben, um viel Butter zu gewinnen 4 . 

In Böhmen wird eine bestimmte Art von salzhältigem Gebäck 
einer trächtigen Kuh gegeben, damit sie ein besonders schönes Kalb 
zur Welt bringe und eine Menge Milch gebe 5 ,* in Schottland 6 und 
Ost-Friesland 7 wird Salz in die erste Milch nach dem Kalben ge¬ 
schüttet, um zu einer großen Menge von guter Milch zu verhelfen. 

1 Gaume, L'Eau Benite au Dix^neuvieme Siecle 1866. Zitiert von 
Conway. 

2 Indian Notes and Queries. Vol. IV., pag. 106. 

3 Siehe Reinsberg-Düringsfeld, Volksgebräuche in Kempen. Ausland 1874. 
S. 471. 

4 Kuhn, Märkische Sagen und Märchen. S. 388. 

5 Wuttke, Op. c., S. 442. 

6 Dalyell, Op. c., pag. 101 / Sikes, Op. c , pag. 329. 

7 Wuttke, Op. c., S. 446. 





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Die Bedeutung des Salzes in Sitte und Brauch der Völker 


Wenn in Schottland die Saat vorbei ist, streut die Herrin des 
Hauses Salz auf das Feld 1 und Wuttke 2 3 berichtet von einem 
ähnlichen Brauch in Ostpreußen. In Bayern wird, um eine reiche 
Ernte zu erlangen, die erste Ladung mit Salz und Wasser be¬ 
sprengt 8 . 

Es ist nur natürlich, daß die allgemeine, dem Salz zugeschriebene 
Wichtigkeit sich in der Religion wiederspiegelt, und wir finden, daß 
dies in bemerkenswerter Ausdehnung der Fall war. Es bildete einen 
wesentlichen Bestandteil der Opfergaben sowohl im alten Ägypten 4 5 
als auch in Griechenland und Rom°. Brand sagt über die beiden 
letzteren: »Griechen wie Römer mischten Salz in ihr Opfergebäck/ 
auch bei ihren Reinigungsopfern machten sie Gebrauch von Salz 
und Wasser, was in späteren Zeiten Veranlassung zu der Ver^ 
Wendung von Weihwasser gab.« Im Judentum finden wir in der 
Bibel drei verschiedene Verwendungen beschrieben. Ebenso wie in 
anderen Ländern bildete es einen notwendigen Bestandteil der Opfern 
spenden: »Jede Darbringung deines Speiseopfers sollst du mit Salz 
würzen,* und nicht sollst du das Salz von dem Bunde deines Gottes 
bei deinem Speiseopfer fehlen lassen <3. Buch Mosis, II, 13) 6 «. Ein 
Bündnis, besonders ein religiöses, wurde durch Salz ratifiziert: »Es ist 
ein Bund des Salzes für immer vor dem Herrn« <Numeri XVIII. 19). 
»Gott, der Herr über Israel, gab das Königreich über Israel für 
immer David, ihm und seinen Söhnen durch einen Bund des Salzes« 
<2. Buch der Chronik, XIII. 5). Auch die Vorstellung von einer 
Verpflichtung zur Treue durch Essen von Salz begegnet,* die Stelle: 
»Wir haben unseren Unterhalt von des Königs Palast« <Esra, 
IV. 14), lautet buchstäblich »wir sind gesalzen mit dem Salz des 
Palastes« 7 . Die Salzquellen in Deutschland, die später mit dem 
Treiben der Hexen in Verbindung gebracht wurden, hatten eine 
wichtige religiöse Bedeutung,* Ennemoser 8 schreibt in Bezug auf 
sie: »Man betrachtete ihren Ertrag als der nahen Gottheit unmittel- 
bare Gabe, die Gewinnung und Austeilung des Salzes als ein 
heiliges Geschäft,* wahrscheinlich waren Opfer und Volksfeste mit 
dem Salzsieden verbunden.« In der römisch-katholischen Kirche wurde 
Salz zu Taufzwecken im 4. Jahrhundert 9 eingeführt und hat hier 


1 Camden's Britannia,* zitiert von Brand, III., S. 165 und Dalyell, L. c. 

2 Wuttke, Op. c., S. 419. Siehe auch Seligmann, Op. c., Bd. II, S. 34. 

3 Wuttke, Op. c., S. 423. 

4 Dalyell, Op. c., pag. 97. 

5 Brand, Op. c., Vol. III, S. 161. 

6 In Hiob I, 22, sollte die wörtliche Wiedergabe der Stelle: »In allem diesen 
sündigte Hiob nicht und tat nichts Törichtes wider Gott« lauten: »In allem diesen 
sündigte Hiob nicht, noch gab er Gott ungesalzen. (Conway, Op. c., Vol. II, 

P* 1 5 °*> 

7 Lawrence, Op. c., pag. 156. 

8 Ennemoser, Geschichte der Magie, z. Aufl. 1844. S. 839. 

9 Pfannenschmid, Das Weihwasser im heidnischen und christlichen Kultus, 
citiert von Lawrence. 






370 


Ernest Jones 


seitdem immer eine hervorragende Rolle gespielt 1 . Nach S ch 1 e i d e n 2 
stammt dies von der jüdischen Sitte, bei der Beschneidung Salz am* 
zuwenden. In den Taufzeremonien der anglikanischen Kirche wurde 
im Mittelalter dem Kinde Salz in den Mund gesteckt und Ohren 
und Nasenlöcher mit Speichel berührt — Verfahren, die in der 
Reformationszeit außer Gebrauch kamen 3 . Doch wurde in der Regel 
Salz in aufgelöstem Zustand verwendet, der wohlbekannte »Salz* 
stein« 4 nämlich, bestehend aus Salz und Wasser, deren jedes für 
sich vorher gesegnet worden war. Das so entstandene Weihwasser 
fand in katholischen und protestantischen Ländern ausgedehnte Ver* 
Wendung, und zwar zu denselben Zwecken wie vorher das einfache 
Salzwasser, mit dem einzigen Unterschied, daß letztere Lösung nicht 
ganz so wirksam war wie die geweihte. So wurde es von der 
römisch*katholischen Kirche offiziell angewendet zum Nutzen der 
leiblichen Gesundheit und zur Austreibung von Dämonen 0 , von der 
anglikanischen, um den Teufel vom Betreten der Kirchen und 
Wohnungen abzuhalten 6 , und von der schottischen zur Vertreibung 
von bösen Geistern, zur Heiligung religiöser Bräuche, und um die 
Verwandlung neugeborener Kinder in Wechselbälge zu verhindern 7 . 
Weihwasser wurde und wird in gewisser Ausdehnung noch jetzt 
benützt, um den bösen Blick 8 abzuwenden, um sich für eine Reise 
zu rüsten 9 , Besessenheit zu heilen 10 , damit das Vieh gedeihe 11 , um 
die Hexen zu hindern, die Butter sauer zu machen 12 , und um einer 
trächtigen Kuh eine glückliche Entbindung zu sichern 13 . In diesem 
Zusammenhang mögen auch gewisse afrikanische Tabus, die sich auf 
Salz beziehen, erwähnt werden. 

Ein böser Geist, der in einem See in Madagaskar wohnte, 
haßte Salz so, daß man es immer mit einem anderen Namen nennen 
mußte, wenn welches an dem See vorbeigeführt wurde, sonst wäre 
es ganz zergangen 14 . 

Eine Geschichte aus Westafrika berichtet, daß man einem 
Mann erzählte, er müsse sterben, wenn je in seiner Gegenwart das 
Wort Salz ausgesprochen würde,- eines Tages wurde das Unglücks* 
wort ausgesprochen und er starb wirklich sofort 15 . 

1 Lawrence, Op. c., pag. 182. 

2 Schleiden, Op. c., pag. 76. 

3 Lawrence, Op. c., pag. 176. 

4 Seligmann, a. a. O., Bd. I, S. 322/ Wuttke, Op. c., S. 142. 

5 Gaume, L. c.,- Morisinus, Op. c., pag. 153, 154. 

6 Ady, A Perfect Discovery of Witches. 1661, 2itiert bei Lawrence. 

7 Dalyell, Op. c., pag. 98/ Napier, zitiert bei Conway, Op. c., Vol. II, pag. 217. 

8 Seligmann, Op. c., Bd. I, S. 325, Bd. II, S. 315, 396. 

9 Wuttke, L. c. 

10 Scot, The Discoverie of Witchcraft. 1584. Pag. 178. 

11 Wuttke, Op. c., S. 439. 

12 Wuttke, Op. c., S. 448. 

13 Wuttke, Op. c., S. 142. 

14 Sibree, The Great African Island. 1880. Pag. 307. 

15 Nassau, Fetichism in West Africa. 1904. Pag. 381. 





Die Bedeutung des Salzes in Sitte und Brauch der Völker 


371 


Wir wollen nun eine andere Eigenschaft des Salzes betrachten, 
die zu vielen symbolischen Bedeutungen Anlaß gab, nämlich seinen 
besonderen Geschmack. Seligmann 1 sagt: »Das Salz ist 
wegen seiner würzenden Kraft ein lebenförderndes Mittel.« Er 
bringt in Verbindung damit die Vorstellung von dem Einfluß, den 
das Salz ausübt, wenn es in andere Substanzen, z. B. Brod ein¬ 
dringt, und auch den Glauben an seine Fähigkeit, Krankheiten zu heilen. 

Diese Eigenschaft des Salzes wurde in verschiedener bildlicher 
Weise, besonders auf die Gedankenäusserung angewendet. Law¬ 
rence 2 schreibt: »Infolge der Bedeutung des Salzes als Würze 
wurde sein lateinischer Name ,sal' metaphorisch angewendet, um 
einen geistigen Leckerbissen und dann allgemein, um Witz oder 
Sarkasmus zu bezeichnen. Die Charakterisierung von Griechenland 
als ,das Salz der Völker' wird dem Livius zugeschrieben und dies ist wohl 
der Ursprung der Redensart ,attisches Salz' für feinen, geläuterten 
Witz«. Eine beißende oder markige Bemerkung oder ein eben solcher 
Scherz wird Salz 3 genannt in Ausdrücken wie »es ist kein Salz in seinen 
Witzeleien«, obgleich die Verwendung des Wortes in diesem Sinn 
im Englischen außer Gebrauch kommt,* im Französischen hält sich 
eine ähnliche Anwendung in Phrasen wie z. B. »un epigramme 
sale«, »il a repandu le sei ä pleines mains dans ses ecrits« etc. 
In der Bibelsteile <Kolosserbrief, IV, 6> »laßt eure Rede immer 
lieblich sein, gewürzt mit Salz« ist wohl diese Bedeutung ebenso 
vorherrschend wie die früher erwähnte von Weisheit und Verstand. 

Dieselbe Metapher wird auch, abgesehen von der Ausdrucks^ 
weise, im allgemeinen Sinne angewendet, um einen schalen Menschen, 
der es an Geschicklichkeit und Lebhaftigkeit fehlen läßt, als »ohne 
Sinn und Salz« zu bezeichnen. 

Ganz ebenso bedeutet ja auch das lateinische insalsus (unge¬ 
salzen) »dumm«. Diese metaphorische Anwendung des Wortes Salz 
berührt sich offenbar eng mit seiner vorher erwähnten Eigenschaft, 
die »Essenz« aller Dinge zu sein. 

Eine Eigenart des Salzes, die in hohem Maße von der 
Phantasie des Volkes ausgenützt wurde, ist die Leichtigkeit, mit der 
es sich im Wasser auflöst. Daß eine sonst so widerstandst 
fähige Substanz im Wasser verschwinden und, ohne sichtliche Spuren 
ihrer Gegenwart zu zeigen, dem Wasser ihre besonderen Eigene 
schäften (Fähigkeit vor Verderben zu schützen, scharfer Geschmack etc.) 
mitteilen soll, hat sich dem Volke immer als bemerkenswertes 
Charakteristiken eingeprägt und ist zweifellos teilwe se verantwort^ 
lieh für die Bedeutung, die man dem Weihwasser zuschreibt. Eine 
praktische Verwendung findet das Salz oft, indem man nach seiner 
wechselnden Fähigkeit, Feuchtigkeit aufzunehmen, die Menge dert 
selben in der Luft bestimmt. 

1 Seligmann, Op. c., Bd. I, S. 278. 

2 Lawrence, Op. c., pag. 161/ siehe auch Schleiden, Op. c., S. 91. 

8 Siehe Murray, L. c. 






372 


Ernest lones 


Es wurde so ganz vernünftiger Weise dazu verwendet, das Wetter 
vorherzusagen 1 . Daher stammen folgende symbolische Bräuche, 
die demselben Zweck dienen 2 . Eine Zwiebel wird in zwölf Teile 
geteilt, die mit Salz bestreut und nach den zwölf Monaten benannt 
werden. Das Stück, das besonders feucht wird, zeigt einen regne¬ 
rischen Monat im kommenden Jahr an. Dasselbe kann man mit 
zwölf Nußschalen machen, die um Mitternacht untersucht werden 
müssen. Oder es wird ein Stück Salz in jede Tischecke gelegt, um 
die vier Jahreszeiten anzuzeigen,- dasjenige, das am Morgen die 
meiste Feuchtigkeit gesammelt hat, zeigt die nässeste Jahreszeit an. 
Das zuletzt erwähnte Verfahren dient auch dazu, herauszufinden, 
ob die kommende Ernte etwas taugen wird 3 . Diese prophetische 
Fähigkeit des Salzes wurde selbstverständlich über ihre Ursprünge 
liehe Sphäre hinaus verallgemeinert,- so wird daraus, ob ein ge¬ 
wisses Häufchen Salz trocken bleibt oder nicht, geschlossen, ob 
eine bestimmte Person das nächste Jahr überleben wird oder nicht, 
ob ein bestimmtes Unternehmen Erfolg haben wird, etc 4 . 

Wasser ist nicht die einzige Substanz, von der Salz unter 
Hervorbringung bestimmter Veränderungen absorbiert werden kann. 
Die Fähigkeit des Salzes, Verbindungen mit einem zweiten 
Körper einzugehen, muß sogar als eine seiner am meisten in die 
Augen springenden Eigenschaften angesehen werden. Die Substanz, 
mit der es weitaus am häufigsten verbunden wird, ist Brot. Die 
Vereinigung beider wurde für alle Zwecke gebraucht, die oben in 
Bezug auf das Salz erwähnt sind, und im Volksglauben sind die 
beiden fast synonym. So zum Beispiel: Brot und Salz fehlen beide 
bei den Festen des Teufels 5 , ihre Verbindung ist wirksam gegen 
Hexen 6 7 und gegen den bösen Blick 4 / sie schützt das Vieh gegen 
Krankheiten 8 , sichert eine reichliche Menge von Milch 9 und beseitigt 
die Hindernisse beim Buttern 10 . Sie ist gleich wirksam bei Erwach^ 
senen und Kindern. Sie wird in eine neue Wohnung gebracht, um 
üble Einflüsse abzuwehren und Glück zu 11 bringen,- in Hamburg wird 
dieser Brauch jetzt dadurch ersetzt, daß man zu den Umzugszeiten 
einen mit Schokolade überzogenen Kuchen in Form eines Brot¬ 
weckens und ein mit Zucker gefülltes Salzfaß aus Marzipan trägt. 
Die Verbindung von Salz und Brot wurde auch vielfach benützt, 

1 Willsford, Nature's Secrets, P. 139, zitiert bei Brand. 

2 Wuttke, Op. c., S. 231. 

3 Wuttke, Op. c., S. 230. 

4 Wuttke, Op. c., S. 231. 

5 Grimm, Op. c., S. 877. 

6 Grimm, Op. c., Nachtrag S. 454/ Seligmann, Op. c., II. Bd., S. 37, 52, 
93, 94/ Wuttke, Op c., S. 129, 282. 

7 Seligmann. Op. c., Bd. I., S. 398. Bd. II, S. 37, 38, 93, 94, 100, 250, 334/ 
Wuttke, Op. c., S. 282. 

8 Dalyell, Op. c., pag. 100. 

9 Dalyell, L. c., Seligmann, Band II, pag. 38. 

10 Seligmann, L. c. 

11 Seligmann, Op. c., S. 37. 





Die Bedeutung des Salzes in Sitte und Brauch der Völker 


373 


um Eide zu bekräftigen 1 , und wird in Arabien noch heute so an^ 
gewendet 2 . Die Mischung von Weizen und Salz wurde zu 
denselben Zwecken benützt wie die von Brot und Salz. Sie war 
ein wichtiger Bestandteil der römischen Sühnopfer 3 und auch der 
jüdischen Darbringungen 4 5 . In Rußland wurde sie als Glückwunsch 
den Fremden dargereicht 0 , wie wir es vom Salz in andern Ländern 
gehört haben. In Irland streuen Frauen in den Straßen und Mäd^ 
chen von den Fenstern aus Salz und Weizen auf die öffentlichen 
Beamten, wenn diese ihr Amt antreten 6 . 

Zuletzt möge noch das Salz als Reinigungsmittel eD* 
wähnt werden. Schon in einem frühen Kulturstadium beobachtete 
man, daß Salzwasser diese Eigenschaft besitze, und bei den römi¬ 
schen Damen galt es geradezu als Schönheitsmittel 7 . Diese Tat^ 
Sache hat, insbesondere bezüglich des Meeres, zu vielfacher poetischer 
Verwertung und zur Entwicklung von mancherlei Aberglauben An¬ 
laß gegeben. Es ist begreiflich, daß diese reinigende Eigenschaft 
eine wichtige Rolle bei der Anwendung des Salzes im Kultus spielte, 
und bekanntlich finden wir dies in Ägypten und Griechenland 8 . Wir 
werden später zu diesem Thema zurückkehren, nämlich bei der Er^ 
örterung der Beziehungen zwischen Reinigung und Taufe. 

Wir wollen nun die eben erwähnten Tatsachen überblicken. 
Obgleich es nur möglich war, eine verhältnismäßig geringe Anzahl von 
Beispielen dafür zu geben, welche Rolle die das Salz betreffenden 
Vorstellungen in Volksglauben und Brauch spielten — es wäre 
eine eigene Abhandlung nötig, um von allen zu berichten —, 
ist es wahrscheinlich, daß die hervorstechendsten und typischen von 
ihnen erwähnt wurden,- auf alle Fälle habe ich keinerlei Auswahl 
getroffen, außer daß das Sexuelle in den Hintergrund gedrängt 
wurde. Ich brauche kaum zu sagen, daß die hier gewählte Anorff* 
nung ungebührlich schematisch ist, da ich der Darstellung zuliebe 
eine rein konventionelle gewählt habe,- ein bestimmter Gebrauch 
wird ebenso durch andere Eigenschaften des Salzes hervorgerufen 
als durch die, unter denen er erwähnt wurde. 

In Betreff des Themas nun, das unsern Ausgangspunkt bildete, 
nämlich der abergläubischen Furcht vor dem Salzausschütten, ist es 
klar, daß man hier einem Akt eine Bedeutung beilegt, die ihm nicht 
von jeher zukommt, und es ist ebenso klar, daß dies auch bei 
manchem oben erwähnten Brauch und Aberglauben der Fall ist. Es 
gibt zwei mögliche Erklärungen, die sich dafür darbieten. Die erste 

1 Dekkers Honest Whore, 1635, Sect., 13,* Blackwoods Edinburgh Magazine, 
Vol I. Pag. 236/ Lawrence, Op. c., pag. 164. 

2 Lawrence, Op. c., P. 185. 

3 Brand, Op. c., Vol. III, S. 163,- Dalyell, Op. c., P. 99, 100. 

* Dalyell, Op. c., P. 99. 

5 Dalyell, L. c. 

6 Brand, Op. c., S. 165,- Dalyell, L. c. 

7 Schleiden, Op. c., S. 84. 

8 Schleiden, Op. c. S., 84, 85. 





374 


Ernest Jones 


würde etwa folgendermaßen lauten: Der heutige Aberglauben hat 
keine Bedeutung, außer einer historischen,* er ist bloß ein Beispiel 
für die Neigung der Menschen, ein überliefertes Verhalten ohne 
vernünftigen Grund festzuhalten, und ist ein Nachklang aus der 
Zeit, in der dem Salz eine größere psychische Wertung beigelegt 
wurde. In früheren Zeiten war die dem Salz zugeschriebene Be¬ 
deutung nicht übertrieben, wie uns dies jetzt erscheint, da sie 
durch die Tatsachen gerechtfertigt war und bei der Wichtigkeit des 
Stoffes als ganz natürlich angesehen werden muß. Unleugbar liegt 
ein Körnchen Wahrheit in dieser Ansicht. Salz als zum Leben 
notwendige und in manchen Ländern nur mit bemerkenswerten 
Schwierigkeiten 1 zu erlangende Substanz mußte unvermeidlich als 
wichtig und wertvoll angesehen werden, obgleich diese Überlegung 
in den meisten Teilen der Welt, wo der Vorrat reichlich ist, nicht 
Stich halten würde. Ferner mußten die besonderen Eigenschaften 
des Salzes, seine Fähigkeit, gegen Verderbnis zu schützen und andre 
Körper zu durchdringen etc., auf primitive Geister selbstverständ¬ 
lich Eindrude machen und die hier erwähnte Ansicht würde den 
Glauben an seine Zauberkräfte zweifellos durch die Darlegung 
rechtfertigen, daß solche Geister auf einem niedrigeren Gedanken¬ 
niveau arbeiten als dem unseren. Doch könnte die vergleichende Psycho^ 
logie einem solchen Argument entgegensetzen, daß diese Art von Ge¬ 
danken, wenn sie auch wie die der Kinder sicherlich verschieden ist von dem, 
was wir vernünftiges Denken nennen, sich doch bei sorgfältiger For¬ 
schung immer viel weniger bizarr und unverständlich zeigt, als sie 
beim ersten Blick erscheint,* die Bildung von unlogischen Gedanken¬ 
verbindungen ist nämlich nicht sinnlos, sondern hat ihre vollkommen 
bestimmte und verständliche Ursache. Die Hauptkritik, die an dieser 
Erklärung geübt werden muß, ist also, daß sie zwar unleugbar 
wichtige Gründe anführt, daß diese aber nur imstande sind, einen 
Teil der Tatsachen zu rechtfertigen und nicht geeignet, sie alle voll¬ 
ständig zu erklären. Andre Faktoren müssen im Verein mit den 
eben erwähnten am Werk gewesen sein. 

Die zweite Erklärung würde die übermäßige Bedeutung als 
Beispiel für das ansehen, was Wernicke eine überwertige Idee 
nennt, das heißt eine mit psychischer Bedeutung überladene Idee, 
von der nur ein Teil von Natur aus der Vorstellung selbst ange¬ 
hört, während der Rest fremden Ursprungs ist. Solche Vorgänge 
sind natürlich im täglichen Leben sehr häufig,* eine Banknote z. B. 
wird nicht wegen des inneren Wertes des Papiers geschätzt, sondern 
wegen des Wertes, den äußere Umstände ihr geben. Die psychoanaly¬ 
tische Forschung hat einerseits gezeigt, daß eine solche Äffektüber- 
tragung von einer Vorstellung auf eine andre, verwandte häufiger 
ist, als man früher erkannte, andrerseits, daß das Subjekt sich oft 
des Vorfalls nicht bewußt ist. So kann eine Person einen starken 


1 Lawrence, Op. c., pag. 187. 





Die Bedeutung des Salzes in Sitte und Brauch der Völker 


375 


Affekt, Furcht, Schreck etc. angesichts einer bestimmten Vorstellung 
erfahren, der nur dadurch hervorgerufen wird, daß diese Vorstellung eine 
enge Assoziation mit einer andern einging, mit der dieser Affekt berechn 
tigter Weise verbunden war,- die inneren Eigenschaften der Vorstellung 
rechtfertigen nicht den begleitenden heftigen Affekt, der aus einer 
andern Quelle stammt. Diesen Prozeß kann man in seinen schlagend^ 
sten Äußerungen bei den Psychoneurosen beobachten: ein Patient hat 
einen Abscheu vor einem bestimmten Gegenstand, der für ge^ 
wohnlich nicht mit Abscheu angesehen wird,* die Ursache ist, daß 
die Vorstellung in seinem Geist mit der eines andern Gegenstandes 
verbunden ist, der den Abscheu durchaus rechtfertigt. Man kann 
sagen, daß in solchen Fällen die zweite Vorstellung die erste re^ 
präsentiert oder symbolisiert. Je bizarrer und unverständlicher eine 
Phobie oder ein andres Symptom ist, desto erzwungener ist die 
Gedankenverbindung zwischen ihm und der ursprünglichen Vor^ 
Stellung und desto heftiger der diese begleitende Affekt. Abgesehen 
von den Neurosen gibt es keine sehr auffallenden Beispiele solcher 
erzwungener Verbindungen. Bei den Normalen sind die zu den beiden 
Vorstellungen gehörenden Affekte einander sehr ähnlich, so daß der 
übertragene nur einen Teil des Affektes, der die zweite Vorstellung 
begleitet, erklärt. In diesem Falle rechtfertigen eben die eigenen 
Eigenschaften der Vorstellung einen Teil des Affektes, aber nicht 
den ganzen,* er ist dann angemessen in der Qualität, aber über¬ 
trieben in der Quantität. Wenn die Ursache dieser Übertreibung 
nicht gewürdigt wird, so besteht ein unvermeidliches Streben, die 
Tatsache an sich zu übersehen oder mit rationalistischen Begrün-* 
düngen wegzuerklären. Dann wird von den inneren Eigen¬ 
schaften der Vorstellung irrtümlich angenommen, daß sie eine aus^ 
reichende Erklärung des fraglichen Affektes bilden. 

Der Hauptunterschied zwischen den beiden Erklärungen ist 
also der, daß die erste annimmt, der Affekt oder die psychische 
Bedeutung, die der Vorstellung vom Salz anhaftet, sei seinem tat-* 
sächlichen Wert entsprechend, während die zweite diesen Affekt 
nicht als adäquat oder im richtigen Verhältnis stehend ansieht und 
behauptet, ein Teil von ihm müsse einer fremden Quelle ent¬ 
stammen. Beim Suchen nach dieser Quelle haben wir zwei ver¬ 
schiedene Leitfäden. Erstens zeigt die allgemeine Verbreitung der 
betreffenden Gebräuche und Glauben und die bemerkenswert hohe, 
ja mystische Bedeutung, die man dem Salz zuschrieb, daß jede 
weitere Vorstellung, von der diese abgeleitet sein kann, eine allge¬ 
meine, der ganzen Menschheit gemeinsame und höchst wichtige sein 
muß. Zweitens muß die Assoziation zwischen der Vorstellung des 
Salzes und der anderen durch wirkliche oder eingebildete Ähnlich¬ 
keiten zwischen den Eigenschaften beider entstanden sein. Es ist 
daher notwendig, mit größerer Aufmerksamkeit die oben beschriebene 
volkstümliche Auffassung dieser Eigenschaften zu betrachten. 

Sie kann folgendermaßen zusammengefaßt werden: Salz ist ein 




376 


Ernest Jones 


reiner, weißer, fleckenloser, unzerstörbarer Körper, der offenbar 
niefit auf weitere Bestandteile zurückgeführt werden kann und für 
die Lebewesen unentbehrlich ist. Es wurde dementsprechend als das 
Wesen der Dinge überhaupt angesehen, als die Quintessenz des 
Lebens und die Seele des Körpers. Die höchste allseitige Be¬ 
deutung wurde ihm beigelegt, — viel mehr als irgend einem 
anderen Nahrungsmittel — es war ein Äquivalent für Geld und 
andere Arten von Vermögen und es war unentbehrlich bei jedem 
Unternehmen, besonders bei jedem neu begonnenen. In der Religion 
war es eines der heiligsten Dinge und ihm wurden alle möglichen 
Zauberkräfte zugeschrieben. Der scharfe, aufreizende Geschmack des 
Salzes, der vielfach metaphorische Verwendung bei der Bezeichnung 
von schneidendem, wirkungsvollen Witz oder Dialog gefunden hat, trug 
zweifellos zu seiner Auffassung als wesentliches Element aller Dinge 
bei,- ohne Salz sein, ist dasselbe wie schal sein, es an etwas Wesent¬ 
lichem fehlen lassen. Die Dauerhaftigkeit des Salzes und seine 
Immunität gegen Zerstörung machten es zum Sinnbild der Unsterb¬ 
lichkeit. Man nahm an, daß es eine wichtige Rolle bei der Hervor¬ 
bringung von Fruchtbarkeit jeder Art und bei dem Schutz gegen 
Unfruchtbarkeit spiele,- diese Vorstellung ist noch mit anderen 
Eigenschaften als den eben erwähnten verbunden, wahrscheinlich 
sogar mit allen. Die Dauerhaftigkeit des Salzes verhalf zu der Vor¬ 
stellung, daß für eine Person das Annehmen vom Salz einer anderen 
die Verpflichtung zur unwandelbaren Freundschaft und Treue 
zwischen den beiden bilde, und es war daher von großer Bedeutung 
bei den Gastgebräuchen. Ähnliche Verwendung fand es bei der 
Bekräftigung von Eiden, der Ratifizierung von Verträgen und der 
Besieglung feierlicher Bündnisse. Diese Vorstellung vom Salz als 
etwas Bindendem gehört auch zu seiner Fähigkeit, sich innig mit 
einem zweiten Körper zu verbinden, dem es seine besonderen 
Eigenschaften, einschließlich der Fähigkeit, gegen Verfall zu schützen, 
mitteilt/ besonders für eine wichtige Substanz, nämlich Wasser, hat 
es eine natürliche und seltsame Neigung. 

Wenn wir jetzt zu erfassen suchen, welcher Begriff außer Salz 
diese Vorstellungen hervorrufen konnte, ist die Aufgabe sicherlich 
nicht schwer. Wenn das Wort Salz in der vorhergehenden Be¬ 
schreibung nicht erwähnt wäre, würde jeder mit verborgener Sym^ 
bolik Vertraute und mancher auch ohne diese Erfahrung sie als 
umschreibende und ein wenig hochtrabende Darstellung einer be¬ 
kannten Vorstellung, nämlich der des menschlichen Samens ansehen. 
Jedesfalls würde sich eine Substanz mit den eben erwähnten Eigen** 
schäften mit besonderer Leichtigkeit zu einer solchen Assoziation 
darbieten. Tatsächlich gibt die bloße Tatsache an sich, daß das Salz 
als Sinnbild der Ewigkeit und Weisheit angesehen wurde, dem 
einen Wink, der für solche Möglichkeiten zugänglich ist, denn das 
andere Sinnbild dieser beiden Begriffe ist die Schlange, die in der 
Mythologie und auch sonst das phallische Symbol par excellence 




Die Bedeutung des Salzes in Sitte und Brauch der Völker 


377 


ist. Die Vermutung, daß das Salz viel von seiner Bedeutung der 
unbewußten Assoziation mit dem Samen verdanke, erfüllt zumindest 
ein Postulat alles symbolischen Denkens, nämlich daß die Vor^ 
Stellung, der die übermäßige Bedeutung entstammt, wichtiger ist als 
die, auf die sie übertragen wurde,- die Ausstrahlung des Affektes 
geht, wie die der Elektrizität, immer von der Gegend stärkerer 
Ladung zu der geringerer. 

Bei dem gegenwärtigen Stand unserer Forschung ist es klar, 
daß der eben gezogene Schluß nur als Vermutung oder höchstens 
als Arbeitshypothese angesehen werden kann,- er wird mehr oder 
weniger wahrscheinlich erscheinen, je nach der größeren oder ge¬ 
ringeren Erfahrung auf dem Gebiete der Symbolik, mit der er be¬ 
trachtet wird. Er muß zunächst nach dem gewöhnlichen wissenschaft¬ 
lichen Kanon geprüft werden, nämlich auf seine Fähigkeit, Vorher¬ 
sagungen zu machen, und auf seine Eignung, eine Reihe ganz ver^ 
schiedener Phänomene in befriedigender Weise auf einfache Bezie^ 
hungen zurückzuführen. 

Wenn die Hypothese richtig ist, dann kann man wohl im 
voraus sagen, daß sich sehr viele Gebräuche und abergläubische 
Vorstellungen mit einer direkten und noch mehr mit einer einfachen 
symbolischen Beziehung zwischen Salz einerseits und Ehe, geschlecht¬ 
lichem Verkehr und Potenz anderseits finden werden,- ferner, daß 
die das Salz und Wasser betreffenden Vorstellungen ähnliche, 
primitivere, die sich auf Samen und Urin beziehen, wiederspiegeln, 
und daß das Annehmen von Salz mit Vorstellungen, die zum 
geschlechtlichen Verkehr und zur Befruchtung gehören, verknüpft 
sein wird. Wir werden sogleich sehen, daß die anthropologische und 
folkloristische Forschung diese Erwartungen vollauf befriedigt. 

Der Glaube an den Einfluß des Salzes auf die Fruchtbarkeit und 
die Abwehr der Unfruchtbarkeit wurde oben erwähnt. Im Altertum 
glaubte man, daß Mäuse durch das Essen von Salz schwanger würden l ,- 
damit fällt sogleich eine etwaige Einwendung gegen unsere Hypothese, 
daß nämlich die Verbindung zwischen den Begriffen von Salz und Samen 
zu fern liege, um die beiden je anders als künstlich zusammenzubringen, 
denn hier haben wir eine direkte Identifikation der beiden Sub* 
stanzen. In den Pyrenäen steckt das Hochzeitspaar vor dem Gang 
zur Kirche Salz in die linke Tasche, um den Mann gegen Impotenz 
zu schützen. In Limousin, Poitou und HautWienne tut nur der 
Bräutigam dies, in der Altmark nur die Braut. In Pamproux steckt 
man zur Abwehr der Impotenz 2 Salz in die Kleider des Hochzeits^ 
paares. In Schottland wird in der Nacht vor der Hochzeit Salz auf 
den Boden des neuen Hauses gestreut, zu dem Zwecke, das junge 
Paar vor dem bösen Blick zu behüten,- in ganz Rußland geschieht 

* Plinius, Nat. Hist. X. 85. 

2 Die vorliegenden Beispiele stammen aus Seligmann, Op. c., S. 35, 36 
oder aus Schleiden, Op. c., S. 71, 79. 





378 


Ernest Jones 


dasselbe, um sich Glück zu verschaffen. Ich habe an anderer Stelle 1 
gezeigt, daß die Vorstellung vom Malefizium, die mit der vom 
bösen Blidk praktisch identisch ist, hauptsächlich der großen 
Angst vor der Impotenz entstammt und Seligmann 2 erwähnt tatsäch¬ 
lich den Gebrauch von Salz, um der »Ligatur« entgegen zu wirken, 
d. h. dem Zauber, der durch unheilvolle Einflüsse über die sexuelle 
Funktion geworfen ist. 

Oft, besonders in früherer Zeit, wurde dem Salz eine nerven^ 
aufregende, reizende Wirkung zugeschrieben und man meinte, es 
vermöge Leidenschaft und Begierde zu erwecken 3 . »Bei den Römern 
hieß ein verliebter Mensch ,salax' und auch jetzt noch lebt diese 
Anschauungsweise bei uns fort, wenn wir im Scherz sagen, die 
Köchin, welche die Suppe versalzen, müsse verliebt sein 4 .« In 
Belgien heißt der Brauch, seine Geliebte in den Mitfastennächten 
zu besuchen, »sein Lieb im Salz umdrehen 5 .« Im folgenden finden 
sich zwei metaphorische Anwendungen derselben Vorstellung. Salz 
wird benützt, um das Feuer fortwährend brennend zu erhalten 6 , und 
es gibt Beispiele, deren Zitierung nicht nötig ist, für die Verbindung 
von Salz und Feuer zu allen Zwecken, für die Salz allein in aber¬ 
gläubischer Weise verwendet wurde. Bei den Osiris-Festen in 
Ägypten mußten alle Teilnehmer Lampen brennen, deren Öl mit 
Salz gemengt war 7 . 

Den Begriff des Feuers aber läßt man in Poesie und Mytho¬ 
logie 8 fortwährend die Begriffe Lebensfeuer und Liebesfeuer darstellen. 

Häufig wird Lahmheit in symbolische Verbindung mit Impotenz 
(Unfähigkeit, Ungeschicklichkeit) gebracht, und in Sizilien wird Salz 
speziell angewendet, um Lahmheit zu verhindern 9 . 

Die Einweihungszeremonien, die bei niedriger entwickelten 
Völkern allgemein im Pubertätsalter ausgeführt werden, schließen 
gewöhnlich einen Opfer- oder Sühnakt in sieb,* die Beschneidung ist 
ein Ersatz für diese Zeremonien, der nach rückwärts ins Kindesalter 
verlegt wurde, ebenso wie die Taufe bei den meisten, wenn auch 
nicht allen christlichen Kirchen. In Ägypten wird nach der Durchführung 
der Beschneidung Salz gestreut 10 . Bei den verschiedenen Einweihungen, 
ernsten und scherzhaften, auf Universitäten und in Schulen spielte 
das Salz eine sehr wichtige Rolle und die Phrase »einen Neuling 
salzen« ist noch immer gebräuchlich 11 . In den letzten Jahren wurde 


1 Der Alptraum, Schriften zur angew. Seelenkunde 1912. P. 107, 108. 

2 Seligmann, Op. c., Bd. I., S. 291. 

3 Schleiden, Op. c., S. 92. 

4 Zitiert aus Schleiden, Op. c., S. 93. 

5 v. Reinsberg^Düringsfeld, Op. c., S. 93. 

6 Mühlhause, Urreligion des deutschen Volkes 1860. S. 133. 

7 Schleiden, Op. c., S. 76. 

8 Abraham, »Traum und Mythus«. 1909. S. 31 etc. 

9 Pitre, Loc. cit. 

10 Seligmann, Op. c., Bd. II., S. 37. 

11 Brand, Op. c. Vol. I. Pag. 433 bis 439. 





Die Bedeutung des Salzes in Sitte und Brauch der Völker 


379 


es in diesen Fällen von dem angemesseneren Alkohol verdrängt, 
einem andern unbewußten Symbol für Samen 1 , aber das Gefühls¬ 
verhältnis bleibt dasselbe, nämlich, daß der junge Mann einer 
wichtigen Substanz bedarf, um als im Besitze der vollen Männlich¬ 
keit angesehen zu werden. 

Es ist bekannt, daß eine enge Verbindung zwischen extremer 
Abstinenz jeder Art und starker sexueller Verdrängung besteht,* 
übergroße Prüderie ist leicht von dem Wunsch begleitet, den ganzen 
Alkohol aus der Welt zu schaffen. Ebenso ist Salz auf verschiedene 
Arten mit der Vorstellung von sexueller Abstinenz verknüpft. Die 
Arbeiter in den Salzpfannen bei Siphoum in Laos müssen sich aus 
rein abergläubischen Gründen an dem Platze, wo sie arbeiten, 
jeder sexuellen Beziehung enthalten 2 . Die im Zölibat lebenden 
ägyptischen Priester mußten sich zu manchen Zeiten ganz des 
Salzes enthalten, nach Schleiden 3 , als eines die sinnlichen Begierden 
zu sehr aufregenden Stoffes. Enthaltsamkeit von sexuellen Be¬ 
ziehungen und vom Genuß des Salzes für mehrere Tage ist den 
Männern von den Dvak-Stämmen geboten, wenn sie von einer 
Expedition zurückkenren, bei der sie Menschenhäupter erbeutet 
haben 4 , und für drei Wochen einem Pima-Indianer, der einen 
Apachen getötet hat 5 ,* im letzteren Fall darf auch die Frau des 
Mannes während derselben Zeit kein Fleisch essen 6 . Die volL 
ständige Beschreibung dieser Gebräuche zeigt klar, daß wir es mit 
Reinigungs- und Sühnungsriten zu tun haben. Enthaltung von 
sexuellen Beziehungen und von Salz wird auch häufig bei bedeut¬ 
samen Unternehmungen und wichtigen Anlässen vorgeschrieben ,* 
so am Viktoria Nianza See während des Fischens 7 und auf der 
Niasinsel, während den wilden Tieren Fallen gelegt werden 8 ,* in 
Uganda darf niemand, der Ehebruch begangen oder Salz gegessen 
hat, an dem heiligen Fischopfer teilnehmen 9 . In Mexiko unterziehen 
sich die Huichal-Indianer derselben doppelten Abstinenz, solange 
die heilige Kaktus-Pflanze, der Kürbis des Feuergottes gesammelt 
wird 10 . Ähnliche Doppelobservanzen bestehen in anderen Ländern 


1 Abraham, »Die psychologischen Beziehungen zwischen Sexualität und 
Alkoholismus«. Zeitsdhr. für Sexualwissenschaft. 1908. S. 449. 

2 Aymonier, Notes sur le Laos. 1885. S. 141. 

3 Schleiden, Op. c., S. 93. 

4 Tromp, Vit de Salasila van Koetei. Bijdragen tot de TaaLLand^en 
Volkenkunde van Nederlandsch Indie. 1888. Vol. XXXVII. Pag. 24. 

5 Bancroft, Native Races of the Pacific States 1875. Vol. I. Pag. 553/ 
Großmann, im Ninth Annual Report of the Bureau of Ethnology 1892. 
Pag. 475. 

6 Busseil, The Pirna Indians. Twenty-Sixth Annual Report of the Bureau 
of American Ethnology 1908. Pag. 204. 

7 Frazer, The Golden Bough. Third Edition. Part II. »Taboo« 1911. 
Pag 194. 

8 Frazer, Op. c., pag. 196. 

9 Frazer, Op. c., pag. 195. 

10 Luncholtz, Unknown Mexiko 1903. Vol. II. Pag. 126. 





380 


Ernest Jones 


in Verbindung mit dem Hervorrufen der Fruchtbarkeit/ tatsächlich 
bezieht sich auch der zuletzt genannte Gebrauch darauf, denn es 
wird als Hauptnutzen des heiligen Kaktus angenommen, daß er 
reiche Regenmenge, gute Ernte etc. veranlaßt. Die Indianer von 
Peru enthalten sich aus Anlaß der Geburt von Zwillingen sechs 
Monate lang des geschlechtlichen Verkehrs und des Essens von 
Salz. Man meinte, daß einer der Zwillinge der Sohn des Blitzes, 
der Herr und Schöpfer des Regens sei 1 . Andere Zeiten der gleichen 
doppelten Abstinenz sind: In Peru vor dem Acatay-mitaJFest, dessen 
Zweck es ist, die Frucht zum Reifen zu bringen, und auf das eine sexuelle 
Orgie folgt 2 ,- in Nicaragua von der Saat des Maises bis zu seiner 
Reife 3 4 . In Behar in Indien gehen die Nagiufrauen, geheiligte ProstU 
tuierte, bekannt als »Weiber des Schlangengottes«, zeitweise umher 
betteln, und während dieser Zeit sollen sie kein Salz berühren,- der 
halbe Ertrag wandert zu den Priestern und für den halben kaufen 
sie Salz und Süßigkeiten für die Dorfleute 1 . 

Zwei Züge der obigen Sammlung von Bräuchen müssen Auf¬ 
merksamkeit hervorrufen. Erstens, daß sie uns in allen Teilen der Erd^ 
kugel begegnen, da Beispiele aus Europa, Afrika, Asien, Nord-, 
Süd- und Mittelamerika zitiert wurden,- zweitens, daß sie in weitem 
Umfang zum zweitenmal die oben in Verbindung mit Salz allein 
erwähnten Nutzungsweisen zeigen, so bei der Religion, beim Wetter, bei 
wichtigen Unternehmungen und bei der Förderung der Fruchtbar^ 
keit. Wo in einem Land die Gegenwart von Salz unentbehrlich ist, 
da ist es in einem andern ebenso wichtig, sich seiner — und gleich^ 
zeitig auch des sexuellen Verkehrs — zu enthalten. Beide Fälle 
stimmen darin überein, Salz als einen wichtigen Faktor bei diesen 
Dingen anzusehen/ ob als gut oder als schledit, ist gleichgiltig, da 
der Hauptpunkt die Bedeutsamkeit bleibt. Wenn, wie ich hier an¬ 
genommen habe, die Begriffe Salz und Samen allgemein miteinander 
verknüpft werden, so ist es durchaus verständlich, daß die Ent¬ 
haltung vom sexuellen Verkehr mit der vom Salz Hand in Hand 
geht (Ausstrahlung des Affektes),- dies stimmt durchaus mit allem 
überein, was wir vom primitiven symbolischen Denken wissen. 

Dieses bipolare Verhalten, bei welchem Salz entweder als äußerst 
wohltätig oder als äußerst unheilvoll angesehen wird, erinnert an 
zwei häufige Streitfragen, nämlich ob Alkohol, respektive geschlecht^ 
lieber Verkehr, der Gesundheit nützlich oder schädlich sind. In der Tat 
entstanden auch in unserem Falle zu verschiedenen Zeiten Propaganda¬ 
bewegungen, die Salz als die Ursache zahlreicher körperlicher Leiden 5 
erklärten. Im Jahre 1830 wurde von einem Dr. Howard ein Band 


1 Frazer, Op. c. Part I. »The Magic Art.« 1911. Vol. I. Pag. 126. 

2 Frazer, Op. c. Vol. II. Pag. 98. 

3 Frazer, Op. c., pag. 105. 

4 Crooke, Populär Religion and Folklore of Northern India 1896. Vol. II. 
Pag. 138. 

5 Lawrence, Op. c., pag. 189 bis 192. 





Die Bedeutung des Salzes in Sitte und Brauch der Völker 


381 


veröffentlicht unter dem Titel: »Salz, die verbotene Frucht oder 
Nahrung und die Hauptursache von körperlichen und geistigen 
Krankheiten von Menschen und Tieren, wie es von den alten 
ägyptischen Priestern und weisen Männern und von der heiligen 
Schrift gelehrt wird, in Übereinstimmung mit des Autors lang¬ 
jähriger Erfahrung«. Wie man sich nach dem Titel vorstellen kann, 
behandelt der Autor Salz als eine höchst schädliche Substanz, deren 
man sich enthalten muß, um seine Gesundheit zu bewahren. Es ist 
sogar nicht unmöglich, daß unbewußte Assoziationen der behandelten 
Art bei neueren medizinischen Ansichten nicht ohne Einfluß waren. 
Es wurde längst bemerkt, daß der Urin feste Bestandteile 
enthält, die als solche entweder klar erkennbar sind, oder aus ihrem 
flüssig n Zustand mit Hilfe der Verdunstung wieder hergestellt 
werden können. Von diesen nahm man einerseits an, daß sie die 
Essenz der Flüssigkeit komprimiert enthalten und identifizierte 
sie so mit dem Samen, anderseits hielt man sie für Salze, was 
sie in der Tat größtenteils sind 1 . Die Leiden, die aus der über¬ 
mäßigen Anhäufung dieser Salze in Form von Blasenstein folgen, 
zogen große Aufmerksamkeit auf sich und spielen in frühen 
chirurgischen Schriften eine hervorragende Rolle. Als die chemischen 
Bestandteile des Urins mit Hilfe genauer Methoden sorgfältig 
studiert wurden, entstand eine Tendenz, die ihren Höhepunkt in 
den letzten Achtzigerjahren erreichte, eine große Menge von 
Störungen des Organismus der Anwesenheit einer Übermenge 
dieser Salze zuzuschreiben. So, um nur einige Beispiele zu erwähnen, 
dachte man, Gicht sei nur ein Fall von Vergiftung durch Harn¬ 
säure, Urämie eine Vergiftung durch Harnstoff, diabetische Schlafsucht 
(Erschöpfung, die dem fortgesetzten Verlust einer vitalen Substanz 
folgt), eine Vergiftung durch Azeton (einem gelegentlichen Bestandteil 
des Urins), Rheumatismus Vergiftung durch Milchsäure (Milch, eine 
sexuelle Absonderung, wird im Unbewußten fast immer mit dem 
Samen identifiziert) usw. Es ist interessant, daß die beiden Kranke 
heiten, bei denen diese Vorstellung am festesten haftete, Gicht und 
Rheumatismus, Gelenkskrankheiten sind und sich daher zu der Reihe 
unbewußter Assoziationen »Lahmheit — Unfähigkeit — Impotenz« 
eigneten. In den letzten Jahren zeigte sich die Tendenz gleichzeitig 
einfacher und verhüllter. Auf der einen Seite besteht eine Rückkehr 
zum Salz als solchem und eine salzfreie Diät wird als Hauptfaktor 
zur Verhinderung von Arterienverkalkung und vorzeitigem Altern 
(Impotenz) und zur Heilung von Epilepsie etc. gepriesen. Auf der 
anderen Seite findet ein rastloses Suchen nach zusammengesetzteren 
organischen Giften statt — meist im Darminhalt, der jetzt in dem¬ 
selben Ausmaß ausgebeutet wird, wie vor 30 Jahren der Urin. 
Der Glaube an die besondere Wichtigkeit der organischen Gifte 

1 Die unbewußte Verknüpfung zwischen Samen und Urin einerseits und 
Salz und Wasser anderseits wird an einer späteren Stelle in diesem Aufsatz 
ausführlich behandelt werden. 


Imago, I/4 


25 








382 


Ernest Jones 


wurde sogar auf die psycho^sexuellen Krankheiten ausgedehnt, wie 
Hysterie, Neurasthenie und Dementia Praecox. Man kann sich 
fragen, ob das starke Vorrücken, das die toxische Krankheitstheorie 
zeigt, nicht größerem Widerstand begegnet haben würde, wenn sie 
nicht an einen fundamentalen Gedankenkomplex im menschlichen 
Geist appelliert hätte, in dem unter andern die Begriffe von Gift 
und Samen enge miteinander assoziiert sind. 

Einige abgeleitete symbolische Verwendungen des Salzes 
mögen nun erwähnt werden, die im Lichte der oben vorgetragenen 
Hypothese eine erhöhte Bedeutung erhalten. Die Wirksamkeit des 
Salzes wird gesteigert, wenn es auf einen Gegenstand kommt, der 
dem männlichen Glied ähnelt. Auf diese Weise wird das Vieh 
geschützt, indem man es über einen eisernen Riegel oder ein Beil 
steigen läßt, das mit Salz bestreut wurde 1 ,- die Esthen schneiden 
ein Kreuz 2 unterhalb der Türe ein, durch die das Vieh zu gehen 
hat, und füllen die Furchen mit Salz, um unheilvolle Wesen daran 
zu hindern, ihm etwas Böses zuzufügen 3 . In Böhmen streut, wenn 
ein Mädchen spazieren geht, die Mutter Salz auf den Boden, damit 
sie nicht »den Weg verliere« 4 ,- diese überängstliche Sorgfalt wird 
verständlicher, wenn wir Wuttkes 5 6 Erklärung lesen, daß sie den 
Zweck hat, das Mädchen am Verlieben zu verhindern. Ein auf den 
ersten Blick ganz törichter und sinnloser Glaube ist der, daß ein 
Bursch vom Heimweh geheilt werden kann, wenn man in den Saum 
seiner Hosen<!> Salz streut und ihn den Schornstein hinauf sehen 
läßt 0 . Doch wissen wir jetzt, daß übergroßes Heimweh von einer 
übertriebenen, in unbewußten Inzestwünschen wurzelnden Anhäng¬ 
lichkeit an ein Familienmitglied kommt,- diese hat den Effekt, seine 
Neigung zu »fixieren« und sie unfähig zu machen, sich auf normale 
Weise einem Fremden zuzuwenden. In den Schornstein hinauf¬ 
blicken, symbolisiert das Wagnis, einen anderen dunkeln, unzugäng¬ 
lichen, gefährlichen Weg ins Auge zu fassen <das englische Wort 
für Schornstein »chimney« ist vom griechischen xtmlvo; = Ofen ab¬ 
geleitet, einem gebräuchlichen Äquivalent für Uterus). Der Glaube 
also, der meint, daß jemand, wenn es ihm gelingt, »einen Mann 
aus sich zu machen«, von seinem Heimweh befreit sein wird, ist 
nicht so unverständlich, als es scheint, und kleidet nur eine Grund¬ 
tatsache der menschlichen Natur in symbolische Sprache. 

Das Salzfaß, das Behältnis des Salzes, wurde ebenso aber¬ 
gläubisch verehrt wie sein Inhalt 7 . Seine symbolische Bedeutung ist 

1 Wuttke, Op. c., pag. 440Seligmann, Op. c., S. 38. 

2 Die phallische Bedeutung des Kreuzes als Symbol wurde von zahlreichen 
Forschern gezeigt. Siehe z. B. Inman, Ancient Pagan and Modern Christian 
Symbolism. 1874. 

3 Frazer, Op. c., pag. 331. 

4 Lawrence, Op. c., pag. 18z. 

5 Wuttke, Op. c., S. 367. 

6 Lawrence, Op. c., pag. 181. 

7 Lawrence, Op. c., pag. 166 bis 205. Schleiden, Op. c., S. 71. 







Die Bedeutung des Salzes in Sitte und Brauch der Völker 


383 


natürlich weiblich, was in dem spanischen Kompliment, seine Ge* 
liebte »Salzfaß meiner Liebe« 1 zu nennen, klar hervortritt. Salzfässer, 
oft von großer Kostbarkeit, waren und sind ein beliebtes Hochzeits* 
geschenk. In Rom bildeten sie ein besonderes Erbstück, das väter* 
liehe Salinum, welches mit besonderer Sorgfalt von einer Generation 
der anderen überliefert wurde. Ebenso offenbar wie beim Salz selbst 
ist es, daß sich an das Salzfaß eine übermäßige, aus einer anderen 
Quelle stammende Affektsumme heftete. Im Altertum hatte es den 
Charakter eines heiligen Gefäßes und war durch Assoziation mit 
dem Tempel im allgemeinen und besonders mit dem Altar 2 ver* 
bunden. Denjenigen, die mit dem Altar 3 als weiblichem Symbol 
vertraut sind, wird das ganz verständlich sein. 

Die Etymologie des englischen Wortes für Salzfaß (salt* 
cellar) ist in dieser Verbindung von Interesse. »Cellar« ist von 
dem französischen »saliere« (Salzfaß) abgeleitet, so daß das Ganze 
eine Wiederholung mit der Bedeutung Salz*Salz*Behälter darstellt. 
Wir haben hier ein lehrreiches Beispiel sprachlicher Angleichung, 
denn ein »cellar« (ein dunkles Zimmer unter dem Haus!) hat die* 
selbe weibliche symbolische Bedeutung wie das Salzfaß selbst. Die 
Klangähnlichkeit der Worte »saliere« und »cellar« machte die An* 
gleichung natürlich leichter, aber der dabei zugrunde liegende Faktor 
war sicherlich die instinktive Ansicht des Volkes. 

Das Darbringen von Salz als besonderes Zeichen von Gunst 
und als Sinnbild der Gastfreundschaft wurde oben erwähnt,- wir 
müssen jetzt auf die Kehrseite hinweisen. In England 4 5 und Frank* 
reich 0 wird es als unheilbringend angesehen, wenn man bei Tisch 
Salz angeboten bekommt,- dieser Aberglauben besteht noch in den 
anglikanischen Kreisen in England und findet seinen populären Aus* 
druck in der Redensart: »Hilf mir zu Salz, hilf mir zu Sorge«. In 
Rußland kann der Streit, der sonst folgen würde, vermieden werden, 
wenn man beim Anbieten des Salzes 6 freundlich lächelt. Ein 
Schlüssel zu der ursprünglichen Bedeutung dieses Aberglaubens findet 
sich in dem ehemals in Italien 7 herrschenden Verhalten, wo eine 
derartige Höflichkeit als Zeichen ungebührlicher Vertrau* 
lichkeit angesehen wurde,- wenn ein Mann der Frau eines 
anderen Salz anbot, so war das ein hinreichender Grund für Eifer* 
sucht und Streit. Im Lichte der oben vorgetragenen Hypothese 
ist das durchaus verständlich, aber auf andere Weise Kaum zu 
erklären. 


1 Andree, Globus 1867. Band XI, pag. 140. 

2 Schleiden, Op. c., S. 74. 

3 G. W. Cox, The Mythology of the Aryan Nations. 1870. Vol. II. 
pag. 113 bis 121. Inman, Op. c., pag. 74. 

4 Brand, Op. c., Vol. III, pag. 162. 

5 Brand, Op. c., pag. 163. 

6 Revue des traditions populaires. 1886. T. I.,- Sikes, Op. c., pag. 329. 

7 Boyle, A Theological and Philosophical Treatise of the Nature and 
Goodness of Salt. 1612. 





384 


Ernest Jones 


Im Norden von England wird es als gefährlich angesehen, 
jemandem Salz zu geben, denn es bringt den Geber unter die 
Herrschaft des Empfängers 1 ,* derselbe Glaube galt auch in Rußland 2 . 
An anderen Orten gewährt dieser Vorgang Macht und Gewalt über 
den Empfänger und mit Hilfe von Salz kann man in den Besitz 
von Menschen oder Kenntnissen kommen 3 ,* diese Vorstellung ist ver¬ 
mutlichverwandt mit der von der Treue und von den zauberkräftigen 
Eigenschaften des Salzes. <Siehe oben.) 

So wird auch ein Licht geworfen auf die sonderbare Redens¬ 
art: »Um einen Vogel zu fangen, muß man ihm Salz auf den 
Schwanz streuen.« Gewöhnlich wird dafür die einleuchtende Er¬ 
klärung gegeben, daß man, um einen Vogel zu fangen, ihm nahe 
genug kommen muß, um ihn berühren zu können,* aber dies klärt 
nicht darüber auf, warum gerade Salz angewendet werden muß. 
Wenn man sich den Glauben an die Zauberkraft des Salzes ver¬ 
gegenwärtigt, wird das Sprichwort zwar verständlich, aber die so 
gegebene Erklärung ist nur eine allgemeine,* Schöpfungen der 
Phantasie aber, wie Aberglauben und Sprichwörter, sind nicht nur 
im allgemeinen, sondern ganz genau und bis in die feinsten Details 
determiniert. Hilfe bringt uns ein altes, von Lawrence 4 erzähltes 
Märchen, in dem ein junger Mann im Scherz ein wenig Salz auf 
den Rücken einer Frau, die bei Tisch neben ihm saß, streute,* es 
traf sich aber, daß sie eine Hexe war, und das Salz lastete so 
schwer auf ihr, daß sie sich nicht bewegen konnte, ehe es weg^ 
gewischt war. Wir haben also hier das Salz in Verbindung gebracht 
mit einem Gewichte, das die Bewegung hindert. Nun stellte man 
sich aber Hexen als unkörperliche Wesen vor und als ein Haupte 
mittel, herauszufinden, ob eine Frau eine Zauberin war, galt, 
sie zu wägen 5 6 ,* der Gewichtsunterschied, der bloß durch den 
Druck des Salzes hervorgerufen wurde, war deshalb ganz beträcht¬ 
lich oder konnte im Märchen so vorgestellt werden. Diese Eigene 
schaff der Hexen war enge verknüpft mit ihrer Fähigkeit, bei Nacht 
zu fliegen, und dies steht wieder im Zusammenhang mit der VogeL 
mythologie. Im Altertum war der Vogel ein häufiges phallisches 
Symbol G Vergleiche die geflügelten phallischen Amulette der Römer) 
und der Schwanz ist es noch heute,* ferner ist das Auffliegen vom 
Boden im Unbewußten häufig mit der Erscheinung der Erektion 
verbunden 7 . Die Bedeutung des Salzes <= Samen) in dieser Ver¬ 
bindung ist klar,* begünstigen und hindern sind hier wie anderswo 


1 Henderson, Notes on the Folklore of the Northern Counties of Eng~ 
land 1879. Pag. 217. 

2 Schleiden, Op. c., S. 71. 

3 Murray, L. c. 

4 Lawrence, Op. c., pag. 179. 

5 Bekker, Die bezauberte Welt. 1692. Teil I, S. 209. 

6 Abraham, Traum und Mythus. 1909. S. 30, 63 etc. 

7 Federn, zitiert bei Freud, Die Traumdeutung. Dritte Auflage. 1911. S. 204. 





Die Bedeutung des Salzes in Sitte und Brauch der Völker 


385 


im Aberglauben als synonym behandelt, der Hauptpunkt ist die 
Bedeutsamkeit. 

Zuletzt mag noch der Glaube erwähnt werden, daß es Um* 
glück bringe, von Salz zu träumen 1 . Wenn man sich ins Gedächt¬ 
nis ruft, wie oft nächtliche Pollution, Krankheit und Stärkeverlust 
miteinander assoziiert werden, ist es nicht schwer, die Quelle auch 
dieses Aberglaubens zu erkennen. 

(Schluß folgt.) 



1 Schleiden, Op. cit. S. 80. 







386 


Hans Blüher 


»Niels Lyhne« von J. P. Jakobsen und das 
Problem der Bisexualität. 

Eine literaturkritische Studie von HANS BLÜHER. 

D ie Erkenntnis der prinzipiellen Bisexualität des Menschen ist zu 
einem der wichtigsten Standpunkte der modernen Sexualwissem* 
sdiaft geworden, und zwar nimmt hierbei die Auffassung Freuds 
einen gewissen Höhepunkt ein. Die Doppelgeschlechtlichkeit nicht als 
eine einzelne pathologische Erscheinung, wie die Doppelköpfigkeit, 
sondern als eine in der sexuellen Konstition des Menschen über¬ 
haupt begründete und dauernd wirksame Qualität, das ist der 
entscheidende Punkt. Um zu einer solchen Stellungnahme zu kommen, 
war zunächst eine bedeutende E r w e i t e r u n g des Sexualitäts¬ 
begriffes nötig gegenüber der früheren Auffassung, die bis jetzt 
auch noch die populäre ist. Sexualität durfte nicht bloß das Gebiet 
des mit deutlichen organischen Akten verbundenen Lustrausches 
sein, sondern jede Form von Zuneigung, Hingabe, jedes Streben 
nach einem andern Menschen mußte als mit einer sexuellen Quote 
belegt vorgestellt werden. Die Erfahrung gibt hierzu tagtäglich 
Anlaß: wir beobachten im Verkehr mit Menschen Gefühls¬ 
äußerungen zwischen Angehörigen desselben Geschlechtes, die uns 
mit den Liebesbeziehungen, wie sie sonst zwischen entgegengesetzt¬ 
geschlechtlichen Personen Vorkommen, eine auffallende Ähnlichkeit 
haben: das Drangartige, tief Bestimmende und Aufregende ist auch 
hier vorhanden, selbst wenn man den Gedanken an eine geschlecht¬ 
liche Entladung beiseite setzt. Mit einem Worte: das psychische 
Verhältnis des Menschen zum Menschen überhaupt ist ein vom 
Sexuellen her bestimmtes, wogegen die meisten Tiergattungen 
gewöhnlich nur sexuelle Beziehungserscheinungen von einem Ge¬ 
schlecht zum andern zeigen. Daß die Sexualität des Menschen in 
der Ausübung auf der einen Seite <der mannmännlichen) sich 
gewöhnlich an einer bestimmten Stelle verläuft und nicht weiter 
kommt, während sie auf der andern bis zum orgiastischen Höhe^ 
punkt gelangt, ist eine zweite Frage, die die These der bisexuellen 
Disposition nicht umwirft. 

Der Mann hat also neben der meistens in der Übermacht 
befindlichen heterosexuellen Neigung auch ein bestimmtes Quantum 
homosexueller, mit der er fertig zu werden hat, —' was freilich 
nicht immer gelingt. Ist diese gering und schafft sie nur unbedeutende, 
wenig erschütternde Gemütswerte, so treten keine Schwierigkeiten 
ein,* mit Ausnahme schwärmerischer Freundschaftsneigungen in der 
Jugend, richtet sich das ganze sexuelle Wunschleben zielbewußt und 
ohne Abweichung auf das Weib, dessen Besitzergreifung dann auch 
gelingt. Ist die Neigung stärker, so treten immer entsprechend 
stärkere Hemmungen dem Weibe gegenüber auf, der so Veranlagte 
wird eine sexuell problematische und schwierige Natur: er hat mit 




‘Niels Lyhne< 


387 


zwei bedeutenden Triebrichtungen in sieb zu kämpfen, wobei der 
Sieg der einen oft nur ein Pyrrhussieg ist. — Es begegnen uns so 
häufig Menschen, die auf den ersten Blick die Frage in uns aus- 
lösen: wie steht dieser zum Weibe? Das heißt, wir merken, daß 
er sich nicht so zu stellen vermag, wie die meisten andern. Dem 
Erfahrenen fallen solche Personen leicht auf, aber es ist schwer, 
ihre Eigenart schriftlich zu fixieren. Dann hören wir wieder von 
unglücklichen Ehen, wo uns das Unglück ganz unbegründbar erscheint: 
ein reizvolles Weib und ein kraftvoller Mann, — und doch kein 
Glück. Zuletzt sei an die vielen Junggesellen erinnert, von denen bekannt 
ist, daß sie keine Weiberhelden sind <wie z. B. der Junker Hans 
Landschad in Julius Wolfs «Recht der Hagestolze«), Man schüttelt 
den Kopf über sie, aber der Erfahrene wird in der Erklärung und 
Deutung ihrer Lebensverhältnisse dadurch um einen großen Schritt 
vorwärts kommen, ja die Lösung erreichen, daß er die Frage der 
Inversion, d. h. der homosexuellen Triebrichtung in die Diagnose 
einführt. Dann löst sich oft alles ohne Schwierigkeit. 

Es ist meines Erachtens vergriffen, wenn man die Inversions¬ 
neigung als eine unbedingt pathologische verstehen will und sie 
entsprechend zu behandeln, zu »heilen«, versucht. Man darf die 
Inversion nicht den gewöhnlichen Perversionen gleichstellen, aus 
dem einfachen Grunde nicht, weil aus ihr keineswegs nur wertlos 
verpuffende Lustmomente entspringen, wie aus jenen, sondern sich 
auf ihr kulturelle Leistungen aufbauen können, und weil außerdem 
ja das Sexualobjekt einen unvergleichlich viel höheren Wert hat als 
die der Perversionen: weil es eben ein Mensch ist. — Bei 
Freud ist dieser Standpunkt noch unentschieden,* er verweist 
einerseits die Inversion in die Pathologie, anderseits aber verkennt 
er auch die hohen Entwicklungsmöglichkeiten nicht, die ja bei den 
Griechen ihren gelungenen Ausdruck gefunden haben. Es wird 
daher zweckmäßig sein, wenn man der Inversion den Platz zuweist, 
der ihr nach der Lage der Dinge gehört: sie ist eine seltenere, 
aber kulturell durchaus gleichfähige Liebesrichtung, die den Einzelnen 
zum vollen Ausbau seiner Persönlichkeit zu bringen vermag. Von 
pathologischen Fällen wird man nur dann reden können, wenn noch 
andere psychische oder anatomische Bedingungen hinzukommen, die 
das Bild des Betroffenen in jene Kategorie verweisen. 

Man muß es den letzten Jahrtausenden zur Last legen, daß 
sie in der Beurteilung sexueller Verhältnisse bei weitem weniger 
klar und unbefangen waren, als die Antike. Das Hinnehmen der 
einfachen Naturtatsachen, wie die der Bisexualität, und ihre Ver¬ 
wertung zeichnete das Altertum aus <womit nicht gesagt sein soll, 
daß es überall richtig taxierte und richtig hinnahm),* die christlichen 
Völker dagegen haben sie unnaiv behandelt, sie haben vor allen 
Dingen die eine Richtung der sexuellen Veranlagung, die invertierte, 
abgelehnt und dem Menschen eine Verdrängung aufgezwungen. 
Diese Verdrängung des Triebes ist keine Abtötung/ der Trieb wird 




388 


Hans Blüher 


nicht vernichtet, sondern nur an die Seite gedrückt. Durch die heftige 
moralische Verpönung, die der invertierten Triebrichtung zu Teil 
wird, genötigt, versucht der Einzelne, sich selbst davon frei zu 
lügen,* der Erfolg ist, daß die ursprünglich mit Bewußtsein begabte 
gleichgeschlechtliche Neigung die ßewußtseinsfähigkeit verliert, — 
aber nicht die Triebkraft. Ihre Wirkungen dauern fort, nur 
unkontrollierbar, und greifen fortwährend ins bewußte Leben ein ,* ist 
die Neigung stark genug, so wird sie in diesem Zustande zum 
unbekannten Dämon, und so entsteht jene uns so häufig begegnende 
Menschensorte, die mit dem Weibe nicht ins Reine kommt. Sie 
wird, ohne es zu wissen, bedrückt und gehemmt von dem ins 
Unbewußte verdrängten Triebe zum eigenen Geschlecht. 

»Niels Lyhne« ist solch ein Mensch. *— Wenn eine tiefe 
Dichtung die Augen der Öffentlichkeit auf sich zieht, so schießen 
die Kritiken wie Pilze aus dem Boden. So geschah es auch mit 
dem Hauptwerk des Dänen Jens Peter Jakobsen, dem »Niels 
Lyhne«. Man wird sich keiner Übertreibung schuldig machen, wenn 
man diesen Roman einen der schwersten nennt, den die Literatur 
je vorgebracht hat,* jedenfalls kann ein Dichter nicht tiefer dringen, 
als Jakobsen es getan. Henrik Ibsen las vier Wochen an diesem 
Werk. Es ist überreich an schweren psychologischen Einzelheiten, 
allenthalben sind kleine Wunder eingeschaltet, die das Ganze fast 
auflösen, aber es ist falsch und oberflächlich, wenn man dem Werke 
deshalb die Einheit abspricht. Das hat es mit den gotischen Domen 
gemein: wo nur ein Platz ist, steht eine Nische mit einem kleinen, 
halb lächelnden, halb schwermütigen Heiligen darin, die Fläche ver^ 
schwindet immer mehr, der Stoff löst sich scheinbar auf, und doch 
hat das Ganze ein Ziel und ist ein Bauproblem schwerster Art. 

Ein Kritiker hat einmal von Jakobsen gesagt, seine Menschen 
hätten alle einen »Knacks«, und damit ist allerdings der Bauplan 
auch des »Niels Lyhne« charakterisiert. Es ist richtig, daß die 
meisten Menschen Jakobsens mit einer psychischen Lähmung herum^ 
laufen, die eben ihr Leben interessant macht, und es scheint auch 
der Grundzug des Dichters selber gewesen zu sein, der sich hier 
in seinen Werken wieder findet: auch ihm hat nie ein volles Liebes¬ 
glück geblüht. Und woher stammt dieser »Knacks« . . ? Die Quelle 
ist in nichts anderem zu suchen, als in der ausgeprägten Bisexua¬ 
lität des Helden. Diese ist der Schlüssel zum Niels Lyhne, und 
nur mit ihm kann man das Werk verstehen. Benutzt man ihn, so 
wird man finden, daß sich alle großklingenden Kritiker-Delikatessen, 
mit denen ein gewandter Journalismus unklare Gefühle zum 
Ausdruck bringt, erübrigen,* vor uns steht dann ein Mann, der 
uns ganz und gar verständlich wird und nahe tritt. Wenn wir das 
Liebesieben eines Menschen begreifen — dieser Satz gilt allgemein —, 
so haben wir ihn fast ganz, und das andere ergibt sich von selbst. 

Verfolgen wir nun die Lebensgeschichte Niels Lyhnes, wie sie 
uns der Dichter darstellt. Ich benutze dazu die Übersetzung von 




-Niels Lyhne 


389 


Theodor Wolff in der Reklambibliothek. — Niels ist der Sohn eines 
mehr zum Praktischen neigenden Vaters und einer Mutter, die der 
Poesie ergeben ist. Das mütterliche Erbteil ist in seiner Seele das 
entscheidende, aber es ist kein wirklicher Schatz, den er vermehren 
kann,- dazu fehlt ihm die Entscheidung: »ein Dichter, der kein Dichter 
ist,« nennt ihn Jakobsen in einem Brief. Er fühlt sich unsicher auf 
den Wegen der Phantasie, die die Mutter ihm weist, und wenn 
dies so recht über ihn kommt, dann sucht er den Vater auf. »Er 
fühlte sich dann so wohl beim Vater, war so froh, daß er seines^ 
gleichen war und vergaß beinahe, daß dies derselbe Vater, auf den 
er von den Zinnen seines Traumschlosses voll Mitleid herabgesehen 
hatte.« <S. 41.) — Der Vater ist ihm ein Heilmittel gegen die Mutter und 
gegen das träumerische Wesen, das er von ihr ererbt hat, aber 
diesen Weg geht er doch »mit dem Bewußtsein, daß er einem un¬ 
edlen Instinkte folge.« <S. 41.) Also es ist das Schlechtere, was 
er beim Vater sucht, wenn er sich im Besseren nicht halten kann. 
Daß dieses Anlehnen an den Vater von einem tiefer liegenden Trieb- 
vorgange bedingt wird, läßt uns der Dichter in den feinen Worten 
fühlen, die in so plastischer Weise das Wesen des »Unbewußten« 
und sein Eintreten in die Bewußtheit darstellen: »es war wie die 
wundersame Vegetation des Meergrundes durch fahles Eis gesehen,- 
schlagt das Eis in Stücke oder zieht das im Dunkeln Lebende an 
das Licht des Wortes: stets geschieht das gleiche — das, was Ihr 
dann sehen und greifen könnt, ist in seiner Klarheit nicht das 
Dunkle, was vorher gewesen.« <S. 41.) Dies klingt fast wie eine ab^ 
sichtliche poetische Darstellung der Lehre Freuds vom Unbewußten und 
doch ist ein Zusammenhang hier nicht möglich, da Jakobsen schon tot 
war, ehe die Hauptschriften Freuds erschienen. — Wir bemerken 
also bei Niels in seiner Kindheit ein deutliches Schwanken zwischen 
Vater und Mutter. Sein späteres zwischen Mann und Weib ist 
hierin vorgebildet/ man vergesse, um die Analogie vollgiltig zu 
machen, nicht, daß dieses Schwanken durch wirkliche innere Bedürfe 
nisse wichtiger Art begründet wird und keineswegs durch das bloße 
Spielen mit der Abwechslung. 

Nun kommt das Knabenalter, und in ihm wiederholt sich das¬ 
selbe in klareren Formen, und zwar in solchen, die das Liebesieben 
zu Tage treten lassen. Er erlebt zwei entscheidende erotische Vor^ 
gänge. Die Schwester seines Vaters, ein blühendes Mädchen, kommt 
aus Kopenhagen zurück, um sich von ihren gesellschaftlichen Stra¬ 
pazen zu erholen. — »Nichts konnte unangreifbarer und korrekter sein 
als ihr Auftreten. In dem was sie sagte und was sie sich sagen ließ, 
hielt sie sich innerhalb der Grenzen der strengsten Sprödigkeit, und 
ihre Koketterie bestand darin, daß sie sich nicht im mindesten kokett 
zeigte, daß sie unheilbar blind für den Eindruck war, den sie her¬ 
vorrief und zwischen ihren Anbetern nicht den geringsten Untere 
schied machte. Aber gerade deshalb träumten sie alle berauschende 
Träume von dem Antlitz, das sich hinter der Maske befinden müsse. 




390 


Hans Blüher 


deshalb glaubten sie an eine Glut unter dem Schnee, spürten sie 
einen Hauch von Depravation in ihrer Unschuld.« <S. 51.) Diese 
E d e 1 e Lyhne ist das erste erotische Erlebnis für den Knaben Niels, 
und zwar tritt dieses in einer besonders aufreizenden Situation an 
ihn heran. Edele liegt in der phantastischen Tracht eines Zigeuner^ 
mädchens in ihrem Zimmer auf dem Ruhebett. »Sie lag auf dem 
Rücken, das Kinn emporgestredkt, die Kehle angespannt, die Stirn 
zurück, und ihr langes aufgelöstes Haar floß über die Lehne des 
Lagers bis auf den Boden hinab.« <S. 54.) »Vom Knie an waren 
die Beine nackt und die über Kreuz gelegten Knöchel hatte sie 
mit einem großen Halsband aus matten Korallen zusammengebun¬ 
den.« <S. 55.) Und dieses Bild sieht der her ein tretende Niels, der 
seiner Tante Blumen bringt. »Niels trat hin,* er war blutrot, und 
indem er sich über die mattweißen, langsam sich rundenden Beine 
und die langen, schmalen Füße beugte, die in ihren Formen etwas 
von der Intelligenz einer Hand hatten, wurde ihm schwindlig, und 
als sich auch noch in demselben Augenblicke die eine Fußspitze mit 
einer plötzlichen Bewegung krümmte, war er nahe daran, umzu¬ 
fallen.« <S. 55.) — Dieses Erlebnis wird für den zwölfjährigen 
Knaben von Bedeutung,- seine Sexualität ist ein Stück vorwärts 
gerückt. Das Weib hat getroffen! Aber nicht nur der Sinnen^ 
rausch allein ist es, was Edeles Wesen an ihn vermacht, es kommt 
auch noch ein tiefer seelischer Eindruck von ihr über ihn,- und 
dies in der Todesstunde des schönen, lungenkranken Mädchens. 
Niels ist am Fußende ihres Bettes niedergesunken. »Er weinte 
leise und betete innig und unablässig in gedämpftem, leidenschaft¬ 
lichen Flüsterton mit gefalteten Händen,- er sagte Gott, daß er 
nicht aufhören wolle zu hoffen, ich lasse dich nicht, mein Gott, ich 
lasse dich nicht, bevor du nicht ,ja' gesagt hast,- du darfst sie 
nicht von uns nehmen, denn du weißt, wie sehr wir sie lieben, du 
darfst nicht, du darfst nicht.« <S. 68 .) 

Aber wie heftig auch dieses große Erlebnis auf den jungen 
Niels wirkt, wie sehr ihn die Vollgiltigkeit des Todes ergreift, und 
die Bntreligionisierung seines Gemütes einleitet, innerlich übertrumpft 
wird das alles durch ein anderes Ereignis, das hinterherkommt: 
durch seine Liebe zu einem Freunde. Jakobsen hat diese Liebe 
gefeiert, aber ganz ohne jenen Schwulst, wie ihn die Verfasser 
homosexueller Romane so gern haben. Er hat den Adel der 
Sinnlichkeit, der in solchen erotischen Jugendfreundschaften lebt, zu 
wahren gewußt,- indem er die Nuance der Männerliebe rein hielt 
von dem sinnenberückenden Duft der mannweiblichen, in dessen 
Schilderung er sonst Meister ist, hat er die Art jener Liebe besser 
getroffen, als sonst Einer. Die Liebe des jungen Niels zu seinem 
künstlerisch begabten Freunde Erik ist in der Farbe blasser ge^ 
halten, und wer gewohnt ist, nur nach der Farbe zu sehen, der 
wird leicht darüber hinweglesen, daß sie die entscheidende im Leben 
des Helden ist. Und so ist es auch bisher geschehen. Gerade sie 




»Niels Lyhne< 


391 


trifft ihn an einer empfindlichen Stelle, die im Charakter Niels 
Lyhnes unvertilgbar ist. Sie spaltet ihn. Verfolgen wir also, 
wie diese mannmännliche Neigung in ihm zu seinem Verhängnis 
wird, und zwar deshalb wird, weil er ihre Größe und ihre tiefe 
Verwurzelung nicht kennt. 

Nachdem der Dichter es an vielen Stellen deutlich gemacht hat, 
daß Niels in Erik wirklich »verliebt« sei, macht er einen betrachten^ 
den Exkurs: »Gibt es wohl in allen Gefühlsverhältnissen des Lebens 
ein zarteres, edleres und innigeres, als die leidenschaftliche und doch 
so schüchterne Liebe eines Knaben zu einem andern? Solch eine 
Liebe, die niemals spricht, sich niemals in einer Liebkosung, einem 
Blick, einem Worte Luft zu machen wagt, solch eine sehende Liebe, 
die tief trauert über einen Mangel oder einen Fehler bei dem, den 
sie liebt, die Sehnsucht und Bewunderung und Selbstvergessen, Stolz, 
Demut und ruhig atmendes Glück ist!« <S. 77.) Vergessen wir nicht 
die Worte: »solch eine sehende Liebe, die tief trauert über einen 
Mangel oder einen Fehler bei dem, den sie liebt«,* diese kritische 
Note in der Freundesliebe, die Jakobsen mit Recht als eine ihr 
eigentümliche Seite hervorhebt, überträgt Niels später auch auf die 
Frauenliebe und in der Art und dem Grade wie er es tut, ver^ 
hindert sie den Erfolg. — Nun kommen alle möglichen phantasti¬ 
schen Jugendspiele, in denen Erik immer den Mittelpunkt bildet, 
das Leben des Knaben ist durchtränkt von dieser Liebe, und wenn 
der Leser aufmerksam zuhört und einmal den Versuch anstellt, 
beim Lesen dieser Seiten plötzlich den Namen »Edele« auszu^ 
sprechen, so wird sich ihm ungerufen das Urteil einstellen : Edele 
ist ja längst erledigt, Edele ist gerade noch eine Erinnerung. Erik 
aber ist zum heimlichen Leitmotiv bestimmt! Und er bleibt es in 
der Tat. 

Erik ist es auch, der Niels in seinem ersten Semester in 
Frauengesellschaft hineinleitet. Damit wäre die dritte Etappe seines 
Liebeslebens begonnen: das bewußte Liebenwollen mit seinen Erobe¬ 
rungsplänen. In einem Bildhaueratelier, in dem Erik arbeitet, lernt 
er die Witwe Boye kennen. Mit Frau Boye stand es so: »Als 
das Trauerjahr zu Ende, machte die Witwe eine Reise nach Italien 
und blieb ein paar Jahre da unten, meistens in Rom. Es war durch¬ 
aus nichts Wahres daran, daß sie in einem französischen Klub 
Opium geraucht haben sollte, ebensowenig wie an der Geschichte, 
daß sie sich in derselben Weise wie Paulina Borghese hatte model¬ 
lieren lassen, und der kleine russische Fürst, der sich in Neapel er¬ 
schoß, während sie dort war, hatte sich keineswegs um ihretwillen 
erschossen. Wahr jedoch war es, daß die deutschen Künstler ihr 
unermüdlich Ständchen brachten, und richtig war es, daß sie sich 
eines Morgens in der Tracht eines Mädchens von Albano auf eine 
Kirchentreppe oben in der Via Sistina gesetzt und sich von einem 
angekommenen Künstler hatte engagieren lassen, ihm mit einem 
Krug auf dem Kopfe und einem kleinen braunen Knaben an der 




392 


Hans Blühcr 


Hand Modell zu stehen.« <S. 93). Es stecht also viel Boheme in dieser 
Frau, die im übrigen überaus klug und von empfindlichster Be^ 
saitung ist. Das ganze Milieu, in dem sie lebt, besteht aus freien 
und geistvoll angelegten jungen Künstlern, werdenden Dichtern, 
Malern, Schauspielern und Architekten,* die geistige Struktur des 
jungen Studenten Niels beginnt hier eine gewisse Färbung zu be^ 
kommen, und es kann nicht ausbleiben, daß er sich in die junge 
und schöne Witwe verliebt, die mit ihrem Wesen sowohl die 
Erinnerung an die »Zigeunerin« Edele, wie an die phantasiebegabte 
Mutter wachruft und mächtig werden läßt. Aber wie verliebt er 
sich..? »Widerstrebend,« sagt der Dichter,* »Er liebte sie wie ein 
Wesen von einer feineren und glücklicheren Rasse als seine eigne, 
und daher lag ein gewisser Groll in seiner Liebe, eine instinkt^ 
mässige Erbitterung gegen das, was Rasse in ihr war.« <S. 94). Hier 
wiederholt sich das Schauspiel, zu dem in seiner Kindheit zwei 
Personen nötig gewesen sind, an einer. Das Wesen von feinerer 
und glücklicherer Rasse in ihr, entspricht seiner Mutter, der Dichtungs¬ 
begabten, und die wirkliche Rasse in ihr, gegen die er instinkt¬ 
mäßige Erbitterung empfindet, dem Vater, zu dem er geflohen war, 
um zugleich bei dieser Flucht das Bewußtsein zu haben , einem 
unedlen Instinkte zu folgen. Das ist ein Dualismus, der natürlich 
wenig Hoffnung zu einem glücklichen Liebesverhältnis übrig läßt , 
aber er wird durch einen anderen, der sich auf ihm aufbaut, noch 
überboten. »Mit feindlichen, eifersüchtigen Augen sah er ihre Nei¬ 
gungen und Meinungen, ihre Geschmacksrichtung und ihre Lebens¬ 
anschauung an, und mit allen Waffen, mit seiner Beredsamkeit, 
mit herzloser Logik, barscher Autorität und mitleidigem Spott er¬ 
kämpfte er sie sich, gewann er sie für sich und seine Anschauung. 
Aber als nun die Wahrheit gesiegt hatte, und sie geworden war, 
wie er, da sah er, daß allzuviel gewonnen war, und daß er sie 
mit all ihren Illusionen und Vorurteilen, ihren Träumen und ihren 
Irrtümern geliebt hatte, und nicht so, wie sie jetzt war.« <S. 94). 
Was ist das für eine Liebe, die hier am Werke ist...? Er hat sie 
mit all ihren Illusionen und Vorurteilen, mit all ihren Träumereien 
und Irrtümern geliebt, aber nicht so, wie er sie sich jetzt zu recht¬ 
gestutzt hatte! Jene erste Periode der Liebe, der naiven, war die 
echte mannweibliche, die hier allein am Platze gewesen wäre, dann 
aber hatte bei ihm die andere eingesetzt, d. h. ihre Verhaltungs^ 
form, jene heroische, kritische, »solch eine sehende Liebe, die tief 
trauert über einen Mangel oder einen Fehler bei dem, den sie 
liebt..« Also die Freundesliebe, wie sie sich bei Erik entwickelt 
und erprobt hat, und deren Form und Verhaltungsart stets sprung¬ 
bereit in ihm wohnt, diese Liebe hat mitgesprochen, hat zu laut 
gesprochen und ihn irre geleitet. Und das ist der erotische Grund¬ 
charakter des Helden, daß er durch die beiden Liebesrichtungen und 
Liebesformen, die so heftig in ihm wohnen, stets wieder in neue 
Konflikte gedrängt wird, und diese reißen ihm dann die besten 




»Niels Lyhne 


393 


Erfolge aus der Hand. Das ist sein »Knacks«. — Es bleibt aber 
für den Verlauf des Romanes zu bemerken, daß es Frau Boye 
schließlich dock wieder gelingt, ihn auf das erste Niveau der Liebe 
zurückzubringen/ er kommt in der Tat so weit, jenen heiklen 
Dualismus zu überwinden, freilick ohne die Möglichkeit zu haben, 
das Gelernte bei ihr selbst anzuwenden,- denn in ihr steckt trotz 
allen seelischen Zigeunertumes »die Lust eines Weibes, in roman¬ 
tischer Unerreichbarkeit begehrt zu werden«. 

Es ist nicht zu verkennen, und dies bleibt auch für das allge^ 
meine Leben giltig, daß diese bedingungslose Liebe zum Weibe, 
wie sie die kluge Frau dem jungen Schwärmer anzuerziehen ver^ 
sucht, nicht gerade eine persönliche Kulturhöhe bedeutet, so sehr 
sie auch im einzelnen Falle ein Gegengift gegen blasses Idealisieren 
ist. Der heterosexuelle Lebemann lebt am kulturlosesten,- überall 
dagegen, wo sich feinere und darum schwierigere Liebesverhältnisse 
zwisdien Männern und Frauen zeigen, da spricht auch immer zum 
mindesten von seiten des Mannes ein Stück Freundschaftserotik aus 
der Knabenzeit mit, und diese wirkt stets korrigierend und empor^ 
schraubend. Das aber nur in Fällen, die ein noch geeignetes 
Mischungsverhältnis der invertierten und der normalen Richtung in sich 
tragen. Wo dieses kompliziert wird, da treten leicht Störungen ein. 

Und so steht es bei Niels Lyhne. Es ist dabei nicht gesagt, 
daß die sinnliche Seite allein die Schuld daran zu tragen braucht,* 
auch da, wo im Anschluß an die sinnliche Knabenfreundschaft sich 
ein hervorragend starkes geistiges Leben ausgebildet hat, das nun 
in alle Gebiete übergreift, kann eine solche Störung eintreten. Niels 
hat sich geistig heftig entwickelt. Seine Freundschaft zu Erik, der 
inzwischen auf seiner künstlerischen Bahn weiter gegangen ist, wird 
ihm zum Problem, und er kann sich, gerade in der Zeit, wo er 
mit Frau Boye in ein erträgliches Verhältnis gekommen ist, der 
Einsicht nicht verschließen, daß ihre Wege sich trennen. Und diese 
wirkt — einem Normalen könnte das nie passieren! — so heftig 
auf ihn, daß er sein innerstes Wesen davon angegriffen und aus 
den Angeln gehoben fühlt,- »in der Bitterkeit hierüber begann er, den 
bis jetzt so schonend beurteilten Freund ein wenig genauer anzu¬ 
sehen, und ein trauriges Gefühl der Vereinsamung beschlich ihn, es 
war, als ob alles, was er von daheim aus alten Tagen mitgenommen 
hatte, von ihm abfiel und ihn vergessen und verlassen fahren ließ. 
Die Tür nach rückwärts zu dem, was gewesen, war verschlossen, 
und er stand draußen mit leeren Händen und einsam,- was er 
wollte und ersehnte, mußte er sich selbst erringen, neue Freunde 
und neues Behagen, neue Liebe und neue Erinnerungen.« <S. 114). 
Wir werden später sehen, wie die beiden wieder Zusammenkommen. 

Es ist merkwürdig, wie bei Jakobsen oft gerade die Stellen, 
die für den Entwicklungsgang des Helden von entscheidender Be^ 
deutung sind, am kühlsten und in ganz abstrakter Sprache behandelt 
werden. Deshalb hat man auch stets über sie hinweggelesen und 




394 - 


Hans Blüher 


den Niels Lyhne nie verstanden. Jakobsen ist bis zur Kälte abstrakt, 
wo es sich um die Probleme der Freundeserotik handelt, was umso 
auffälliger ist, als er den anderen Ast der menschlichen Sexualität 
aufs verschwenderischeste schmückt. Das entspricht freilich dem allge^ 
meinen Laufe der Kultur,- der der invertierten Richtung die Farbe, 
die sie im antiken Volksleben noch trug, allmählich genommen und 
sie mehr und mehr ins Unbewußte gedrängt hat. 

Während nun Niels Lyhne so mit der Frauenliebe einiger^ 
maßen ins Reine gekommen ist, aber gleichzeitig die alte Freund¬ 
schaftserotik in halb verdrängter, halb vergeistigter Form sich meldet, 
trifft ihn ein äußeres Ereignis, das ihn aus der Bahn reißt. Sein 
Vater stirbt und die Mutter erkrankt. Er muß in die Heimat, und 
diese Reise hat für ihn die Bedeutung, daß sie alte Kindheitserin^ 
nerungen und Kindheitsbedürfnisse aus ihm hervorholt und neu be^ 
stärkt. Er gerät in seine »infantilen Komplexe« hinein. —' Es ist 
die Mutter, die ihn von neuem fesselt. Er wird ihr Kranken^ 
pfleger, und das Schicksal will es, daß er zu ihrem Todespfleger 
wird. Und da erwacht alles wieder, was ihn in der ersten Kindheit 
bestimmt hat. Seine Anlehnung an den Vater war damals wirklich 
nur eine kurze Flucht gewesen,- sein Inneres drängt wesentlich zur 
Mutter. Sie hatte ihn zu einem Dichter machen wollen, sie wollte 
ihn als Sonntagskind sehen, das seinen eigenen Himmel zum Selig¬ 
werden hat und seinen eigenen Ort der Verdammnis. Der Tot^ 
kranken erklärt sich der Sohn in feierlicher Sprache, ihr Wunsch sei 
erfüllt »ich bin ein Dichter — wirklich — mit meiner ganzen Seele!« 
und die Erklärung wird zum Gelöbnis: »O du Teure, Teure! ich 
werde mit um das Größte kämpfen, und ich verspreche dir, daß 
ich nie weichen, stets treu gegen mich und das, was ich habe, sein 
werde,- das Beste soll mir gerade gut genug und nicht mehr sein, 
keinen Akkord schließen, Mutter,- . . . denn dir danke ich es, daß 
meine Seele so hoch strebt,- sind es nicht deine Träume, dein Sehnen, 
die meine Fähigkeiten zum Wachsen getrieben haben, und sind es 
nicht deine Sympathien, dein niemals gestilltes Schönheitsverlangen, 
die mich dem geweiht haben, was meine Lebensarbeit werden 
soll!« <120). 

Es ist übrigens bezeichnend, und auch sonst in der Erfahrung 
bekannt, daß Menschen, die kein rechtes Verhältnis zum Weibe be¬ 
kommen und dabei mit einem stark invertierten Einschlag zu 
kämpfen haben, in reiferen Jahren sich häufig an die Mutter anschließen 
und ihr die entscheidendsten Dinge ihres Innenlebens an vertrauen,- 
auch für den Vollinvertierten ist die Mutter das einzig beachtens¬ 
werte Weib. Mit dieser Note im Gemüt hängen sie in der Tat an 
einem Stück ihrer Kindheit fest, aber man darf sie deshalb allein 
noch nicht als Menschen bezeichnen, deren sexuelles Leben nicht aus 
der kindlichen Sphäre herauskommt, da sie ja sonst im Liebeswerben 
und in anderen Betätigungen der Persönlichkeit durchaus männlich 
und vollgiltig sein können. 




»Niels Lyhne< 


395 


Die folgenden Erlebnisse nötigen Niels nun wieder ein Stück 
Charakter auf. Wie er nach dem Tode der Mutter, die er im Süden 
begräbt, nach Kopenhagen zurückkehrt, findet er Frau Boye verlobt. 
Das muß ihn an sich selbst erinnern und ihm die Frage vorlegen: 
Warum hast du sie nicht für dich behalten können . . .? Frau Boye 
ist ihm während seiner Abwesenheit geistig untreu geworden: sie 
hat sich in die Arme der Gesellschaft geworfen, über deren Gesetze 
und Sittlichkeiten die beiden früher gelächelt hatten. »Niels, wir 
Frauen können uns für eine Zeitlang losreißen, wenn jemand in 
unser Leben getreten ist, der unsere Augen dem Freiheitsdrange, 
der uns innewohnt, geöffnet hat, aber wir halten nicht aus, wir 
haben nun einmal eine Leidenschaft für das Korrekteste des Kor^ 
rekten bis hinauf zur sprödesten Spitze des Passenden im Blute. 
Wir halten es nicht aus, im Kriege zu liegen mit dem, was von 
der Allgemeinheit einmal angenommen worden.« <132.) — — Aber 
e r hatte der Mutter versprochen, im Kriege zu liegen mit der All¬ 
gemeinheit um seiner Einzigkeit willen. Jetzt weiß er, daß ihn das 
vom Leben trennt: Frau Boye beweist es ihm. Er muß sich von 
ihr verabschieden,- die ganze Situation ist schwer erotisch, wie allent^ 
halben im Leben Niels Lyhnes, aber es fehlt die Besitzergrei¬ 
fung. Er mag dies fühlen, jedenfalls lernt er jetzt,- er heilt sich 
von dem extremen märtyrerhaften Schwur, den er der sterbenden 
Mutter gegeben hat, er bildet ihn realistisch um: »Sitz 7 nicht und 
brüte ängstlich über die Eigentümlichkeit deiner Seele, schließe dich 
nicht aus von dem, was Macht hat, aus Furcht, daß es dich mit^ 
reißen und deine liebe, innerste Eigenheit in seinem mächtigen 
Brausen ertränken könne. Sei ruhig, die Eigentümlichkeit, welche in 
der Sonderung einer üppigen Entwicklung und Umbildung verloren 
geht, ist nur ein Schaden gewesen, nur ein kraftloser Schößling, der 
gerade so lange eigentümlich war, als er krank vor lichtscheuer 
Blässe war. Und von dem Gesunden in dir sollst du leben,- das 
Gesunde ist es, aus dem das Große wird.« <142.) —' Ganz genau 
wie damals, als der kleine Niels aus dem Schoße der märchen¬ 
erzählenden Mutter an die Knie des erdstarken Vaters floh, des Hüters 
der Realität! Erst jetzt also ist Niels psychisch wieder ganz bei 
Vater und Mutter,- denn am Grabe des Vaters hat er diesem nur 
eine moralisch gefärbte Träne nachgeweint. Aber freilich: er ist jetzt 
nicht mehr ihr Kind, und er hat keine Sehnsucht mehr nach ihnen,- 
nur die Form dieses alten Verhältnisses ist geblieben, er ist Mann 
geworden, aber — besitzlos. 

Verfolgen wir daher sein Liebesieben weiter und spüren ihm 
nach, wie er das nächste Mal sein Glück beim Weibe versucht. 
Dieses Weib ist Fennimore, seine Cousine. Er hat sie noch nie 
gesehen, nur in schlechten Bildern als Kind, und diese Bilder haben 
ihn stets kalt gelassen,- Fennimore mußte nach ihnen eigentlich 
häßlich sein. — Er lernt sie als erwachsenes Mädchen zusammen 
mit Erik kennen. Dieser ist gerade von einer zweijährigen Reise 




396 


Hans Blüher 


nach Italien wieder gekommen mit reicher Kunst begabt. Jakobsen 
schildert diese Kunst seitenlang mit größter Liebe und seltener 
Plastik, und er will uns damit sagen, daß diese Kunst und dieser 
Mensch auf den Helden einen Eindruck machen. Wieder ist die 
Schilderung des Eindruckes recht spärlich, aber er ist doch eben da 
und er bedeutet ein Ereignis für Niels, gerade jetzt,* »in stillen 
Stunden ließ es sich vernehmen wie die Glocken in der versunkenen 
Stadt auf dem Meeresgründe, und er und Niels hatten sich nie so 
gut verstanden, wie jetzt,* das fühlten sie und schlossen schweigend, 
jeder für sich, neue Freundschaft miteinander.« <156.) Die »ver^ 
sunkene Stadt auf dem Meeresgründe« ist natürlich weiter nichts, 
als das Unbewußte, das sidi in diesem Augenblicke ins Be¬ 
wußtsein drängt,* und der Trieb, der hier in Frage kommt, die alte 
Inversionsneigung. 

Mit Erik zusammen lernt Niels Fennimore kennen,* Erik wird 
neu in die Familie ihrer Eltern eingeführt. Der Eindruck, den das 
junge blühende Mädchen auf Niels macht, ist groß, »er fand viel 
mehr, als er sich gedacht,* er fand sie reizend, beinahe bezaubernd«. 
Und Niels und Erik verlieben sich gleichzeitig in sie. Was geschieht? 
Man muß das Liebesieben solcher bisexuell bestimmten Naturen, 
wie Niels eine ist, kennen, um das, was kommen muß, ungefähr 
vorauszusehen. Niels liebt Erik mehr, nicht nur, als er selbst weiß, 
sondern auch, als dieser ihn. Erik neigt stärker zum Weibe, als er, 
und scheitert daher an dieser Klippe nicht,* er hat einen entschiedenen 
Vorsprung. Bei Niels aber tritt an einer bestimmten Stelle ein eben^ 
so entschiedener Rücksprung ein. Er hat Fennimore in feiner platoni 
scher Art geliebt, und nicht daran gedacht, daß es unter Umständen 
mehr gilt,* »Wenn sie mit ihrer Näharbeit da saß und mit jener 
weichen, ruhigen Stimme sprach, und mit ihren klaren, treuen Augen 
aufblickte, so drängte sein ganzes Wesen ihr entgegen mit der un¬ 
widerstehlichen Macht eines starken und stillen Heimwehs.« <165.) 
Aber einmal, da singt Fennimore, und in diesem Gesänge enthüllt 
sie die bisher übersehene Seite des weiblichen Wesens: »— wie sie 
sich von diesen Tönen hinreißen ließ, und wie sie in ihnen aus¬ 
atmete, so rückhaltlos und frei, ja, er empfand es beinahe wie un^ 
keusch, es war, als sänge sie nackt vor ihm.« <165.) Und da ver¬ 
sagt sein Gefühl. Er hat Angst vor dieser Art Weiblichkeit, und 
diese Angst zu überwinden, dazu reicht seine Gesamtneigung nicht 
aus. Er verliert den Anschluß, und Fennimore kommt in Eriks 
Hand, der tapfer zugreift. — Keine Eifersucht, kein Zank, nichts, 
was man sonst in dieser Lage zwischen zwei Männern erwarten 
müßte. Niels überläßt das geliebte Mädchen seinem Freunde, und 
wenn der Dichter sagt, die Verlobung war ein harter Schlag für 
ihn, der ihn bitterer und weniger vertrauensvoll gemacht habe, so 
gehen diese Gefühle alle nicht gegen Erik, sondern einzig und allein 
gegen sich selbst: denn seine Natur wird ihm nun verdächtig. Ihn 
ermattet das »unaufhörliche Anlaufnehmen zu einem Sprunge, der 




»Niels Lyhne< 


397 


doch nie gemacht wurde«. Dies gilt für seine Liebe und gilt ebenso 
für seine geistige Tätigkeit. 

Die folgende Zeit ist für Niels offenbar eine Latenz der 
Liebe. Möglich, daß diese dadurch erfolgt ist, daß er den Freund, 
den er mehr liebt, als er zugeben kann, glücklich weiß, und daß 
eben dieser Freund, und kein anderer Mensch, ihn von der furcht¬ 
baren Entscheidung für das Weib, vor dem ihm bange war, erlöst 
hat. — Aus dieser Latenzzeit wird er plötzlich nach drei Jahren 
herausgerissen durch einen Brief von Erik, der bei ihm die inver¬ 
tierte Wagschale auf einmal stark belastet und den ganzen Menschen 
zu heftigem Handeln treibt. Eriks Ehe hat einen Riß bekommen 
und mit ihr Eriks Künstlerschaft. Er bittet den Freund, zu ihm zu 
kommen. Da wirbelt in Niels auf einmal die lange, ins Unbewußte 
gedrängte Knabenfreundschaft in all ihrer heroischen Leidenschaftlich¬ 
keit auf. So ist Niels niemals zu einem Weibe gewesen! »Ein 
fanatisches Freundschaftsgefühl packte ihn. Er wollte Zukunft, Be¬ 
rühmtheit, ehrgeizigen Träumen, allem entsagen um Eriks willen.« 
<175.) »Erik in Hoheit und Ehren, er aber nur einer der vielen, 
vielen gewöhnlichen Menschen, wirklich nichts mehr,* zuletzt nicht 
mehr freiwillig, sondern notgezwungen arm,* ein wirklicher Bettler 
und nicht ein Prinz in Lumpen . . . und es war süß, sich so bitter 
arm zu träumen.« <176.) »Wie er auch versuchen mochte, es weg zu 
erklären und anzuzweifeln, er konnte doch nicht umhin, zu fühlen, 
daß es wirklich die alte Knabenfreundschaft war, die wieder in ihrer 
ganzen Naivetät und all ihrer Wärme den Jahren und dem, was 
sie gebracht hatten zum Trotz, erwacht war.« <167.) Diese Proben 
dürften auch für den prüdesten Zweifler, der überall nur »Geistiges« 
sehen will, nicht mehr mißverständlich sein. Jener Hilferuf des 
Freundes hat in Niels tatsächlich die invertierte Liebesridhtung aus 
dem Unbewußten ins Bewußtsein gerufen und mit einer Deutlichkeit, 
die uns fast zum Verwundern darüber bringt, daß er sich nicht 
endlich einmal ganz und voll erkennt,* denn er geht noch immer an 
der Tatsache vorbei, daß er sich zum Manne fast weiblich verhält 
mit seiner ungewöhnlichen Hingabe und zum Weibe nie männlich 
genug mit seiner Scheu vor dem nackten, begehrenden. Der 
Hilferuf des Freundes vermag ihn ganz zu revolutionieren und zu 
Entscheidungen zu treiben, die Frauenliebe bei ihm nie hat durch¬ 
setzen können. Er macht die weite Reise zu seinem Freunde kurz 
entschlossen. 

Ich übergehe die feingefühlten Künstler- und Menschheits¬ 
gespräche, die sich zwischen den Wiedergefundenen abspinnen, ich 
übergehe audi die unnachahmlichen Schilderungen des Konfliktes, der 
zwischen Erik und Fennimore hereingebrochen ist, und bleibe allein 
bei dem Liebesieben Niels Lyhnes. — Sowie er an Ort und Stelle 
ist und in Gesellschaft dieser beiden Menschen, die ihm offenbar die 
liebsten auf der Welt sind, da tritt auch schon seine ausgesprochene 
und zugleich unausgesprochene Bisexualität wieder hervor. 

Imago 1/4 


26 




398 


Hans Bliiher 


Die Liebe zum eigenen Geschiechte greift bei ihm ja nie bis 
in die Sphäre der Wollust, so heftig sie ihn sonst beeinflußt,* jene 
schwälende, duftende, sinnlich sdtwere Liebessehnsudit fehlt ihr. 
Niels ist kein Grieche, auch kein »Uranier«,* er begehrt Frauen, 
aber er kann ihrer nicht psychisch Herr werden, und das verlangt 
das Weib. Er kann es wenigstens nicht allein,* er braucht Unter¬ 
stützung dazu: und dies gerade von dem Freunde, der er liebt. 
Audi das ist ein typischer Vorgang, dem man allenthalben be^ 
gegnen kann. Man findet, daß Invertierte sich leidit in die Schwestern 
oder die Geliebten von Freunden verlieben, die von ihnen ge¬ 
liebt werden. Und das tut auch Niels. Er sieht das innere Zer¬ 
würfnis zwischen Fennimore und Erik, und da gelingt cs ihm unter 
Zuhilfenahme der alten Gefühle, die er nodi für Fennimore übrig 
hat, von ihr Besitz zu ergreifen. Man könnte sich verwundern, 
daß dieser dem Weibe gegenüber so wenig begabte Mensch hier 
sogar einen Ehebruch zustandebringt, und ein Weib nicht nur 
sexuell bezwingt, sondern auch über ihre Moralanschauung Herr 
wird. Aber es ist eben das Weib des geliebten Freundes, der 
ja die erste Bezwingung ihm vorweggenommen und abgenommen 
hat, diese erste, die ihm nidit hatte glücken wollen! Verwunderlich 
ist es audi zunächst, daß Niels diese Handlungsweise gar nicht als 
sonderlich betrügerisch empfindet,* dieser moralisch so feinfühlige 
Mensch bekommt es in der Tat fertig, sogar an einen gemeinsamen 
Fluchtversuch zu denken, was allerdings nur der Plan eindrucksvoller 
Augenblicke ist. Aber man fühlt heraus, daß der Freund ihm eben 
gar nicht Gegner und Rivale ist, sondern heimlich mitgeliebt wird, 
und wie Fennimore einmal vor ihrer Verführung fragt, wie Erik 
als Knabe war, antwortet er bezeichnend: »Alles, was gut und 
schön war, Fennimore. Prächtig, brav, in jeder Beziehung eines 
Knaben Ideal von einem Knaben, nidit gerade das Ideal einer 
Mutter oder eines Lehrers, aber jenes andere, das so viel besser 
ist« <195) und dann: »Ja, weißt du, ich war ganz verliebt in ihn, und 
er hatte nichts dagegen.« 

Werfen wir einen Blidc auf diese Liebe zwischen Niels und 
Fennimore. Natürlich hat sie zunädist einen Aufstieg und einen 
Höhepunkt. Niels hat auch die Empfindung, daß diese Liebe die 
Liebe seines Lebens sei, »denn das , was er früher für Liebe ge¬ 
halten,. war ja keine Liebe.« Er irrt natürlich. —' Der Höhepunkt 
ist sdmell nur allzu schnell erreicht und dann kommt der jähe Abe¬ 
stieg. »Ihre Liebe wurde nicht geringer, im Gegenteil, je tiefer sie 
sank, desto glühender und leidenschaftlidier wurde sie, aber diese 
Händedrücke auf Treppen gestohlen, diese Küsse in Vorzimmern 
und hinter Türen, diese langen Bliace unter den Augen des Be^ 
trogenen — das alles raubte ihr den großartigen Stil.« »Die Falsch¬ 
heit wurde ihr wahres Element und madite sie so klein und 
gemein.« <206.) Und »so sank und sank ihrer Liebe hohes Schloß«. 
Niels ist eben völlig unfähig, Frauen voll zu lieben, er fällt immer 




►Niels Lyhne« 


399 


ins Extrem: erst will er seine Liebe platonisieren und nach Art der 
Freundeserotik einsteifen, —' und das duldet kein Weib auf die 
Dauer, — und dann brutalisiert er sie, — und das kann er nicht 
vertragen. Da plötzlich kommt die Katastrophe. Erik verunglückt 
und stirbt auf einer Eisfahrt. In Fennimore erwacht riesenhaft das 
Gewissen. Sie schmäht und schmäht grenzenlos ihren Verführer und 
verbietet ihm das heilige durch Eriks Geist geweihte Haus. Mit 
allen Chikanen der Weiberlogik sucht sie alle Sduild auf ihn zu 
wälzen und der betrogene Tote wird plump verherrlicht. Lind 
Niels . . .? Er ist zwar wie gebannt, aber nur auf kurze Zeit. Er 
hat Erik, wie gesagt, nie als Feind betrachtet, er empfindet bei seinem 
Tode sich selbst nicht als seinen Betrüger, sondern: er liebt ihn 
wieder. »Also dies war das Ende! So hatte er also die Frauen¬ 
seele erlöst und sie emporgehoben und ihr Glüdc gegeben! Wie 
schön es war, das Verhältnis zu dem toten Freunde, seinem Jugend¬ 
freunde, für den er Zukunft, Leben und alles hatte opfern wollen!« 
<217.) »Er dachte an Erik und an den Freund, der er für Erik ge¬ 
wesen. O er! Die Kindheitserinnerungen rangen die Hände über 
ihn,* die Jugendträume verhüllten ihr Antlitz und weinten über ihn,* 
seine ganze Vergangenheit sah ihm mit einem langen, vorwurfsvollen 
Blidce nach.« <218.) Aber dieser Vorwurf trifft ihn nicht deshalb, weil 
er Fennimore verführt, sondern weil er Erik darüber vernachlässigt 
hat. In der Tat: dies ist das Ende. Über seine Freundschaft zu 
Erik ist er nie hinweggekommen, und nach ihrem jähen Fall hat 
alles übrige nur wenig Sinn. 

Alles, was später kommt, ist nur ein Epilog. Eine Madame 
O d e r o, die er im Süden trifft, spielt eine kleine, kaum wesentliche 
Rolle für ihn. Seine letzte Liebe ist ein siebzehnjähriges Mädchen 
Gerda, die er aber eigentlich nur wiederliebt. Denn Gerda 
ist ein rechter Backfisch, der kokettiert. Niels ist inzwischen Land¬ 
mann geworden, und warum soll er sie nicht heiraten! Es ist ein 
Schlußidyll, dieses Gerda-Motiv, poetisch von tiefem Reiz, gedanklich 
hervorragend, aber man bekommt das Gefühl: er hat Gerda nur 
genommen, um irgend einen Mensdien um sich zu haben. Es stedct 
nichts von Schidcsal darin. Wie sie stirbt, liebt sie Gott mehr, als 
ihn, und er läßt es geschehen. Die großen Personen seines Lebens 
sind abgetreten. Aber es bleibt natürlich in jedem Mensdien, dessen 
Liebesieben an diesen Großen zerschellt ist, noch genug übrig, um 
Kleine zu lieben. 

Das ist der Schlüssel zum »Niels Lyhne«. Man sieht, die bis¬ 
herige Literaturkritik reicht nicht immer aus, um alles verständlich zu 
madien. Dichter sehen immer tiefer ins Menschenleben als Kritiker 
und sind ihnen stets um ein Stück Lebenskenntnis voraus, die sie 
in ihrer absichtslosen Art oft unverstanden niederschreiben. Man 
braucht dann gewisse Geheimsdilüssel, wahre Diebsdietriche der 
Lösekunst, um solch ein Werk zu verstehen. Und die Literatur^ 
wissensdiaft wird an den neuen Einblicken, die man durch die Lehren 






400 


Hans Blüher 


Freuds in den psydiisdien Aufbau des Menschen bekommen 
hat, nicht vorübergenen können. Es ist bekannt, daß die schwierige 
sten Stellen von Werken der Dichtkunst aus Mangel an jenen 
Kenntnissen oft ins Gewagteste mit abstraktem Gestrüpp ver^ 
wuchert worden sind —' man denke an Hamlet und Ödipus! — 
und daß man dies »Erklärungen« nannte. Daß dieses Wort dann 
von »klar« herkommen soll, sieht man ihm in solchen Situationen 
nicht mehr recht an. 










Zur Determinierung 


401 


Beiträge zur Determinierung im Psychischen. 

ZUM FARBENHÖREN. Wir sind gewohnt, mehrfache Determinier 
rungen psychischer Erscheinungen durch das Unbewußte aufzufinden, — so* 
genannte Überdeterminierungen. 

Zu den Erklärungen, die Frau D r. v. Hug*Hellmuth über ihr 
Farbenhören in dem interessanten Artikel über dieses Thema <Imago, Nr. 3) 
beibringt, möchte ich als der Autorin entgangen, die Determinierung durch 
den Gleichklang nachtragen. 

Es muß auffallen, daß der Vokal, der die Farbensynopsie hervorruft, 
im Namen dieser Farbe den Hochton hat: c erzeugt gelb, o — rot, 
a blau, i grün <grin>, u braun. Für e und o ist dieser Gleichklang 
evident,* dem i kann nur grün entsprechen, da die anderen Farbenbezeich¬ 
nungen noch weniger nach i klingen. Da die Lautphotismen übrigens aus 
der frühen Jugend stammen, sei erwähnt, daß Kinder, besonders in unseren 
Dialektgegenden, eher »grin« als voll »grün« aussprechen. Übrigens sieht 
ü aus wie zwei i nebeneinander,* wozu das sonderbare Übersetzen von 
»sweet« mit »grün« <S. 252) gut stimmt! — Man wird diese Miterklärung 
der Lautphotismen auch bei au — blaugrau gerne zugeben, für welchen 
Zusammenhang Frau Dr. Hug keine Erklärung weiß. Es fallen mir in den 
Beispielen des Aufsatzes ferner als Beweise für meine Auffassung auf: Der 
Konsonant i »zieht das Farbenbild des Vokals in Wellen aus« <S. 246). 
Die Töne von Blechinstrumenten erzeugen gelbe Töne. Den Zusammen* 
hang zwischen Goethe'schen Gedichten und goldgelb ähnlich zu deuten, 
erscheint mir aber schon zu gesucht. Kaum auch mag es als in meinem 
Sinne deutbar sein, daß ratternde und kratzende Geräusche <Gewehrfeuer, 
Schreibfeder*Kratzen, Räder knarren) gerade graubraune oder graugrüne 
Photismen erzeugen,- aber daß der Name Gisela — violett erscheinen läßt, 
was der Autorin unerklärlich, scheint wohl durch den ähnlichen Rhythmus der 
Wörter und ihr i als Hochton bedingt. 

Die Bedeutung des Gleichklangs für Assoziationen im Unbewußten 
<Vorbewußten> ist uns aus den Traum* und Witz^Beobachtungen geläufig. 
Freilich ließe sich einwenden: wenn das c eine gelbe Farben*Ersheinung 
erzeugt, handelt es sich um ein optisches Phänomen und nicht um eine 
Reproduktion des Wortes »gelb«. Aber, es ist eben notwendig, in die Zeit 
der Entstehung der Synopsie zurückzugehen, das ist die Zeit des Sprechenlernens. 
Damals — und neuerlich beim Schreibenlernen — war Laut, Buchstabe, 
Hochton des Wortes eng als ersterlebt mit der Farbe assoziiert. — Pfisters 
Arbeit über das gleiche Thema <am selben Ort) ist, trotzdem auch bei seiner 
Analysandin e — gelb, a — blau auslöste, nicht genügend darauf ein* 
gegangen, daß der Vokal im Namen der zugehörigen Farbe fast typisch 
wiederkehrt. Doch erwähnt er <Seite 270) ausdrücklich: »Von einigem Belang 
ist gewiß auch der betonte Vokal von Edith, der sidi in »gelb« ebenso 
wiederfindet, wie das a von »Papa« und »Vater« in »blau« und berichtet 
ferner nach Bleuler und Lehmann, sowie nach Claparede über 
relative Häufigkeit von Koinzidenz von Farbe und Vokal der Benennung, 
wie sie die Statistik ergibt. Dr. Eduard Hitschmann. 






402 


Zur Determinierung 


ZUR SYMBOLISCHEN BEDEUTUNG DER ZIFFERN. In 
den beiden oben erwähnten Arbeiten über die psychologische Grundlage 
gewisser Synästhesien wird auch auf die sonderbare Rolle hingewiesen, 
welche den Zahlen im unbewußten Seelenleben häufig zufällt. Ich möchte 
dazu einige kleine Beobachtungen aus der letzten Zeit mitteilen. 

Ein kleines Mädchen, das die erste Volksschulklasse besucht und eben 
die Ziffern sdireiben lernt, ist zum Verdruß ihrer Eltern und Lehrer nicht 
imstande, die 5 zu schreiben. Nähere Erkundigung ergab, daß seit kurzer 
Zeit im Hause eine Tante zu Besuch war, die infolge ihrer hochgradigen 
Schwangerschaft das Interesse der Kleinen erregt und sie zu der Frage ver- 
anlaßt hatte, warum die Tante einen so großen Bauch habe. Nun war die 
Hemmung beim »Bauch« der 5*) verständlich und der Zusammenhang 
erschien audi den Angehörigen des Kindes sogleich einleuchtend,- sie untere 
ließen es jedoch, das Kind darüber aufzuklären. Erst nach Abreise der 
Tante schwand die Hemmung spontan soweit, daß die Kleine die 5, wenn 
auch nicht korrekt, sdirciben konnte,* die Unkorrekt heit zeigt aber deutlich 
den Zusammenhang mit dem Bauch, denn das Kind konnte die Ziffer nur 
so schreiben, daß es den Kreis ganz schloß und dann erst den oberen Strich 
ansetzte <<5), welche Schreibart sie dann auch auf die 6, die sie unmittel¬ 
bar darauf lernte, übertrug. 

Eine andere Beobachtung betrifft ein erwachsenes junges Mädchen, 
das eine besondere Vorliebe für die 4 hegt und diese Ziffer sehr häufig auf 
den Boden <mit dem Schirm) oder auf Papier schreibt , oft auch nur die 
Linien markiert. Durch Eingehen auf ihre Tagträume stellte sich mit un^ 
zweifelhafter Sicherheit <in etwa 20 Fällen) heraus, daß die 4 regelmäßig 
der begleitende symbolische Ausdruck einer Verführungsphantasie** ist, die 
bald mehr, bald minder bewußt sie augenblicklich beschäftigt. Natürlich 
gehen von dieser Assoziationsbrücke tiefere Verbindungen in ihr gesamtes 
psychisches Erleben und Empfinden. Als Pendant zum ersten Fall sei hier 
nur darauf hingewiesen, daß sie schon als Schulmädchen diese Vorliebe für 
die 4 faßte und immer bemüht war, diese Ziffer besonders schön und 
schwungvoll <nach dem Muster der gedrudcten) zu schreiben. Daß das Auf¬ 
treten dieser Erscheinung zeitlidi mit einer intensiven Verliebtheit in einen 
Lehrer zusammenfällt <von dem sie heute noch bewußt schwärmt und un^ 
bewußt in ihrer Liebeswahl beeinflußt ist), zeigt, daß die spätere sdieinbar 
rein assoziative Verwertung des Symbols genetisch begründet ist. 

Endlich sei noch der Bericht eines jungen Mannes erwähnt, der sich 
aus seiner Schulzeit der störenden Gewohnheit erinnert, in der Mathematik 
statt gewisser Ziffern Budistaben zu schreiben, bei deren Auswahl das Wortbild 
der Zahl eine ähnliche Rolfe spielte, wie die Vokale der Farbenbezeichnung 
für das Farbenhören <z. B. e gelb). Nur betrifft diese Ersetzung hier 
regelmäßig Konsonanten,* so schrieb er völlig unbeabsichtigt und zu seinem 
eigenen Ärger oft statt drei ein r, statt 7 ein langes s und besonders häufig 
statt der 2 w, was ihm auch von anderen Kollegen bekannt ist und sich 
den Pfister'schen Ausführungen (Imago, Heft 3, S. 268) schön fügt. Einer 


* St ekel (Beiträge zur Traumdeutung, Jahr b. f. psychoanalyt. Forschg. I, 
S. 498) erinnert daran, daß die 5 »von Heine als das Symbol der schwangeren 
Frau, großer Bauch und kleiner Kopf, gedeutet« wird. 

** Auf diese Bedeutung des »Vierer« als Verführer hat bereits S t e k e 1 
<1. c.) hingewiesen. 





Zur Determinierung 


403 


eingehenden Analyse konnte dieses Phänomen leider nicht unterzogen werden, 
doch läßt sich auf Grund anderer Erfahrungen aus den erhaltenen An^ 
deutungen entnehmen, daß unbewußte Anspielungen auf eine zur Zeit der 
Pubertät ganz besonders betonte erogene Zone zu Grunde liegen. 

Nachträglidi kam mir die interessante Arbeit von Marcinowski »Drei 
Romane in Zahlen, ein Beitrag zur symbolischen Verwendung von Zahlen 
im Leben und im Traume« <Zentra!blatt f. Psychoanalyse, Sept. 1912) zu 
Gesicht, die lehrreiche Beiträge zu den hier angedeuteten Themen bringt 
und worin unter anderem die Geheimsprache der Kinder betont wird, die 
für Buchstaben Ziffern setzt. 

Ähnliche Bedeutung wie im kindlichen Seelenleben und im Unbewußten 
der heutigen Erwachsenen mag den Zahlen im Geistesleben der Antike zuge^ 
kommen sein, v/ie insbesondere die Buchstabenrechnung der Alten beweist, die 
zu einem nicht unwesentlichen Hilfsmittel der modernen mythologisdi^philo- 
logischcnForschunggewordenist. Wer sich für dieses Thema interessiert, sei auf 
eine Abhandlung von W. Schultz über »die Bedeutung der Zahlen und Budi^ 
staben für die Altertumsforschung« hingewiesen. < >> Verhandlg. d. 50. Ver- 
sammlg. deutscher Philologen und Schulmänner in Graz, S. 95 ~ 102). 

Rank. 











ÖSTERREICHISCHE ZEITUNGS- UND 
DRUCKEREI-AKTIENGESELLSCHAFT 
WIEN III. 



Inhalt des vierten Heftes: 

Prof. S. FREUD-Wien: Über einige Übereinstimmungen im Seelen¬ 
leben der Wilden und der Neurotiker. II. Das Tabu und die 
Ambivalenz der Gefühlsregungen. 

Dr. KARL ABRAHAM-Berlin: Amenhotep IV. (Echnaton), 
Psychoanalytische Beiträge zum Verständnis seiner Persönlich* 
keit und des monotheistischen Aton^Kultes. 

Prof. Dr. ERNEST JONES^Toronto; Die Bedeutung des Salzes 
in Sitte und Brauch der Völker. 

HANS BLÜHER-Berlin: »Niels Lyhne« von J. P. JAKOBSEN 
und das Problem der Bisexualität. 

BEITRÄGE ZUR DETERMINIERUNG IM PSyCHISCHEN. 

KUNSTBEILAGE: Porträtkopf der Königin Teje. 

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Nachdruck verboten. 


Diesem Hefte liegt ein Prospekt von O. Rank: «Das Inzett>Motiv 
in Dichtung und Sage« bei.