AGO
ZEITSCHRIFT FÜR ANWENDUNG.
DER. PSYCHOANALYSE AUF DIE
GEISTESWISSENSCHAFTEN
6./Ö, 5
131
HERAUSGEGEBEN VON
PROF. DE S1GM. FREUD
REDIGIERT VON
DI OTTO RANK U. DI HANNS SACHS
ffl. JAHRGANG / 1914
HEFT 1 / FEBRUAR
1914
HUGO HELLEK &,©£.
LEIPZIG u.WIEN-1• BAUERNMARKT3
er Erfolg des zweiten Jahrgangs hat uns aufs neue des Interesses Jener versichert,
an die sich die Zeitschrift zunächst wandte, nicht minder aber die Hoffnung bestätigt,
daß auch weitere Kreise an den Problemen und Ergebnissen unserer jungen Wissen¬
schaft Anteil nehmen werdet!/ endlich hat uns die rege Mitarbeit der Vertreter verschiedener
Fachgebiete das Bewußtsein gegeben, daß unser Unternehmen auA imstande war, der An¬
regung geistiger Produktionstätigkeit zu dienen.
Die reiche und vielseitige Arbeit des abgelaufenen Jahrgangs zeigt die InhaltsCiber-
licht und wir dürfen hoffen, mit der Festhaltung und Ausgestaltung unseres Programms
auA unseren Erfolg sichern und steigern zu können.
Soweit es durchführbar ist, sollen alle jene Zweige der Geisteswissenschalten, für
die die Psychoanalyse Bedeutung gewonnen hat, zu Wort kommen/ auch soll weiterhin
neben Sonderproblemen der Individualpsycfaologie besonders die Völkerpsychologie einen
breiten Raum einnehmen, die ja am deutlichsten den Wert und die FruAtbarktit der am
Einzelnen gewonnenen Seelenkenntnis erweist.
Für die REDAKTION bestimmte Zuschriften und Sendungen wollen an
Dr. HANNS SACHS,Wien XIX/l, Peter» Jordangasse 76 adressiert werden.
»IMAGO« erscheint SECHSMAL Jährlich im Gesamtumfang von
etwa 36 Bogen und kann für M. 15.— — K 18.— pro Jahrgang durch
Jede gute Buchhandlung sowie direkt vom Verlage HUGO HELLER
'S) CIE, in Wien I,, Bauernmarkt 3 abonniert werden. Einzelne Hefte
werden nicht abgegeben.
Auch wird ein GEMEINSAMES ABONNEMENT auf »IMA¬
GO« und die »INTERNATIONALE ZEITSCHRIFT FÜR ÄRZT¬
LICHE PSyCHOANALySE« zum ermäßigten Gesamtjahrespreis von
Mk, 30,— = Ä* 36.— eröffnet.
Die wenigen noch verfügbaren Exemplare des abgeschlossenen
II. Jahrgangs »IMAGO« werden im Preise erhöht, so daß der komplette
II. Jahrgang nunmehr M. 18.—21.60, gebunden M. 22.50 ==K 27.—
kostet. Auch vom ersten Jahrgange sind noch einige wenige Exemplare
zu diesem Preise verfügbar.
ORIGINAL»EINBANDDECKEN mit Lederrücken sind zum
Preise von M. 3.— — K 3.60 durch jede gute Buchhandlung, sowie
direkt vom Verlage zu beziehen.
Copyright 1914. HUGO HELLER 'S) CIE,, Wien I., Bauernmarkt 3.
AGO
ZEITSCHRIFT FÜR ANWENDUNG
DER. PSYCHOANALYSE AUF DIE
OE1STESWISSENSCHAFTEN
HERAUSGEGEBEN VON
PROF. DE S1GM. FREUD
REDIGIERT VON
Df OTTO RANK U. DZ HANNS SACHS
III. BAND
1914
HUGO HELLER &.QL
LEIPZIG u.WIENT-BAUERNMARKT 3
Seite
Inhaltsübersicht des HI. Jahrganges 1914.
Abhandlungen:
Dr. Karl Abraham (Berlin): Über neurotische Exogamie .... 499
Lou Andreas^Salome (Göttingen): Zum Typus Weib .... 1
Hans Blüh er (Berlin): Über Gatten wähl und Ehe.477
Dr.A.A. Brill (New-York): Die Psychopathologie der neuen Tänze 401
Dr. Robert Eisler (Feldafing): Der Fisch als Sexualsymbol . . . 165
Dr. Fritz Giese (Berlin): Sexualvorbilder bei einfachen Erfindungen 524
Dr. Ludwig Jekels (Wien): Der Wendepunkt im Leben Napoleons I. 313
Dr. Emil Lorenz (Klagenfurt): Die Geschichte des Bergmanns von
Falun.250
John T. Mac Curdy (New-York): Die Allmacht der Gedanken und
die Mutterleibsphantasie in den Mythen von Hephästos und
einem Roman von Bulwer Lytton.. 382
Dr. Otto Rank (Wien): Der Doppelgänger.97
Dr. Theodor Reik (Berlin): Die Couvade und die Psychogenese der
Vergeltungsfurcht ..409
Dr. Hanns Sachs (Wien): Homers jüngster Enkel.80
— Das Thema »Tod« . . ..456
Theodore Schroeder (New*Y or ^ : Der sexuelle Anteil an der Theologie
der Mormonen. 197
Herbert Silbe rer (Wien): Der Homunculus.37
— Das Zerstückelungsmotiv im Mythos.502
Dr. Alice Sperber (Wien): Von Dantes unbewußtem Seelenleben . 205
* * *: Der Moses des Michelangelo. 15
Vom wahren Wesen der Kinderseele. Redigiert von Dr.
H. v. Hug^Hellmuth.
Dr. M. Eitingon (Berlin): Gott und Vater.89
Dr. H. v. Hug^Hellmuth (Wien): Lou Andreas^Salome: »Im
Zwischenland«.85
— Kinderbriefe.462
Dr. Theodor Reik (Berlin): Die kindliche Gottesvorstellung ... 93
—' Vaterkomplex.94
— Das Kind und der Tod. 94
Besprechungen:
Th. W. Danzel: Die Anfänge der Schrift (Hans Sperber) . . .
Prof. Ernest Jones: Louis Bonaparte, King of Holland (Hanns Sachs)
Emil Lucka: Die drei Stufen der Erotik (Th. Reik).
F. MüIler^Lyer: Die Entwicklungsstufen der Menschheit: ~ Formen
der Ehe. — Die Familie. — Phasen der Liebe. (O. Rank) .
Wilhelm Ostwald: Auguste Comte (Ed. Hitschmann) . . . .
Dr. Theodor Reik: Arthur Schnitzler als Psycholog (Hanns Sachs) .
Arthur Schnitzler: Frau Beate und ihr Sohn (Th. Reik) . . . .
Franz Strunz: Die Vergangenheit der Naturforschung (H. Silberer)
Fritz Wittels: Alles um Liebe. Eine Urweltdichtung (Th. Reik)
536
303
304
Seite
Übersicht der Leistungen der auf die Geisteswissen¬
schaften angewandten Psychoanalyse: Für das Jahr
1914. 541
Büchereinlauf (Besprechung Vorbehalten):
Für das Jahr 1914. 543
Kunstbeilagen:
Michelangelo: Moses. . •. 16
Kwan^yin, chinesische Liebesgöttin mit dem Fisch im Korb
(Fig. 6>.176
Japanische Liebesgöttin Benten mit dem Fisch (Fig. 7) . . . 176
Mykenische Vasenscherbe aus Tiryns: Fisch zwischen die Beine
eines Pferdes gemalt (Fig. 12).177
Fischschwingende Maenade (Fig. 13).177
Babylonierin, vor dem heiligen Fisch auf dem Altar Garn
spinnend (Fig. 17).177
»La nzegna«, neapolitanisches Volksfest in S. Lucia (Fig. 18) . 177
T extillustrationen:
Eros, die Mandragorawurzel in der Hand, auf dem Delphin reitend
(Fig. 1). 170
Eros mit dem Fisch in der Hand (Fig. 2). , . . 170
Das Symbol des »Fischhauses« auf augusteischen Münzen (Fig. 3). 172
Babylonisches Ideogramm für die Göttin Ishanna (Fig. 4) .... 172
Der Fisch im Leib der Muttergöttin (Fig. 5).173
Babylonischer Siegelzylinder (Fig. 8).174
Buddhistisches Symbol der yoni (Fig. 9 ) ... 174
Herakles für sein Hochzeitsmahl Fische fangend (Fig. 10) . . . . 176
Prähistorische Ritzzeichnung (Fig. 11).178
Sogenannter Ring des heiligen Arnulph von Trier (Fig. 15) . . . 185
Angelfischer und Fischreuse auf der Schale des Chachrylios (Fig. 16) . 185
Fischer unter dem Schutz einer ithyphallischen Gottheit (Fig. 19) . . 189
Das Liebesfischen (Fig. 20).191
»Raub des Ganymed.« Schwebende Gruppe in Venedig (zu Seite 238) 540
IMAGO
ZEITSCHRIFT FÜR ANWENDUNG DER PSVCHO-
ANALYSE AUF DIE GEISTESWISSENSCHAFTEN
HERAUSGEGEBEN VON PROF. DR. SIGM. FREUD
SCHRIFTLEITUNG:
III. 1. DR. OTTO RANK / DR. HANNS SACHS 1914
Zum Typus Weib.
Von LOU ANDREAS=SALOME.
I.
W as ich hier vorhabe, ist nur ein Stück Gedankenspaziergang;
anfangs entlang an persönlich eng umgrenztem Weg, dann
hinstrebend in weitern Gesichtskreis, um endlich, wenn auch
nur ein paar Schritte höher, zu sachlichem Überblick darüber hinaus
zu gelangen.
Recht persönlich muß ich damit beginnen zu sagen, daß sich
meine allerfrüheste Erinnerung auf Knöpfe bezieht. Auf geblümtem
Teppich darauf ich saß, stand vor mir geöffnet ein brauner Kasten, in
dessen Inhalt, unter gläsernen, beinernen, bunten, phantastisch geformten
Knöpfen, ich kramen durfte, wenn ich entweder sehr artig gewesen
war, oder wenn meiner alten Wärterin keine Zeit für mich übrig
blieb. Der Knopfkasten hieß — anfänglich naiv, später ironisch ver^
standen — der Wunderkasten, und anfangs repräsentierte er für
mich wohl auch Wunder schlechthin,- dann — vielleicht weil man
mich die entsprechenden Wörter daran kennen lehrte, bewunderte
ich in den Knöpfen ebensoviele Saphire, Rubine, Smaragden,
Diamanten und anderes Edelgestein, wodurch noch heute das
russische Wort für »Juwel « 1 mir einen seltsam erinnerungsreichen
Klang behalten hat. Die Knopfjuwelen blieben auf lange hinaus der
Inbegriff dessen, was als wertvoll betont, und deshalb gesammelt
nicht fortgegeben wird <wie in der Tat die damals verhältnismäßig
kostspieligeren Modeknöpfe nach Verbrauch der Kleidungsstücke auf^
bewahrt wurden). Und mir ist, als ob diese Vorstellung der Knöpfe
als kostbarster Stücke sich in mir bereits unmittelbar zurückgegründet
haben müsse auf eine noch ursprünglichere, wonach sie unver^
äußerliche Teile darstellten — gewissermaßen Teilstückchen meiner
1 »jemtscfiug«.
Imago III/l
2
Lou Andreas^Salome
Mutter selbst (respektive ihrer Kleidung, an deren Knöpfen ich von
ihrem Schoß aus hantieren mochte) oder vielleicht der (mir anhänglichen)
Amme, an deren Brust hinter der geöffneten Kleidung idi den
ersten Rubin praktisch kennen lernte. Wenigstens entsinne ich mich,
daß, als sich mir die Knopfschätze hinterher mit einem mir erzählten
Märchen kombinierten, worin sie eine mehr interne Angelegenheit
vertraten, ich diese neue Auffassung schon wie ein festes Besitztum
in mir vorfand. Das Märchen handelte von jemandem, der, in einen
Zauberberg dringend, sich in dessen Innern durch alle Reiche des
Edelgesteins (»Saphire, Rubine« etc.) hindurcharbeiten muß zu
irgendeiner zu entzaubernden Königin. Gar nicht befremdete es midi
deshalb auch, als ich auf meiner ersten Auslandsreise, mit meinen
Eltern in der Schweiz, einen Berg »die Jungfrau« nennen hörte.
Seitdem befestigte sich mir das Bild einer unerreichlidi hohen, recht
vergletscherten Berg-Jungfrau, die in ihrem Allerinnersten ungezählte
Knöpfe birgt. Wie eine Erinnerung daran wirkte etwas später ein
zweiter Reiseeindruck auf mich: eine Bergwerkseinfahrt mit meinem
Vater in das Werk bei Salzburg, bei der ich, zwischen ihn und die
Knappen gräßlich eingeklemmt, rittlings in die schauderhafte Tiefe
zum märchenhaft erleuchteten See niedersausen mußte, und unten,
ziemlich zerquetscht, bitterlich brüllend, ankam. Daß das glitzernde
Salz an den Wänden nur einen Sammelnamen bedeuten konnte für
Edelsteine jeder Art, schien zweifellos,* und ich glaubte sein Gefunkel
nur wiederzusehen, als ich bald darauf die köstlichen Sammlungen
russischer Edelsteine im Petersburger Museum des Bergchorinstituts
schildern hörte und selber sah.
Diese ganze kindliche Auffassung nun unterscheidet sich in
charakteristisdier Weise von einer gleichzeitigen zweiten, die andere
kleine rundliche Wertstücke zum Gegenstände hat: nämlich Geld^
stücke. Daß man Geld sammeln könnte für des Lebens Bedarf, war
mir ganz früh nicht bekannt, da dieser auf eine mir unmerklichere
Weise bestritten wurde, allein gegen das achte Jahr etwa (auf
Genauigkeit kann ich nicht schwören) erhielt ich jeden Monat Taschen¬
geld, bestehend in einer Silbermünze von 20 Kopeken (40 Pfennigen),
für die man sich Erfreuliches kaufen durfte, obschon auch dies Er^
freuliche allermeistem direkt durch die Eltern und ohne Bezugnahme
auf Geld, sich verwirklichte. Einmal als mein Vater mit mir spa¬
zieren ging, begegnete uns ein Bettler, dem ich mein blankes Silber-
stüdc geben wollte. Da sagte mein Vater: »Die Hälfte reicht« —
denn ich sollte ja daran Geld einteilen lernen — und wechselte mir
ernsthaft das Stüde in zwei Silbermünzen zu je 10 Kopeken, so
daß auch der Bettler Silber, nicht Kupfer (Nickel gibt es in russi¬
schen Münzen nicht) erhielt. Von da ab muß sich mir die Idee ein¬
gegraben haben: Geld ist das, wovon die Hälfte den Anderen ge^
bührt — zwar die Hälfte nur, doch diese ohne weiteres, und sie
darf nicht schäbiger aussehen als das Zurückbehaltene: man hat vor
den Anderen nichts voraus. Im schärfsten Gegensatz zu diesem.
Zum Typus Weib
3
was teilbar war, ja dessen Wesen darin zu bestehen schien, daß
man es zu teilen hatte, stand die ältere Idee von den unveräußer^
liehen Schätzen <Knöpfen>, den nichtaustauschbaren, verborgenen, mit
deren Wegnahme offenbar wir selbst ausgeraubt, angetastet werden
würden — gleichsam unser Ganzes, das nicht »Hälften« kennt oder
hat. Freilich sind diese Gedanken selber nicht so frühe, doch die
Stelle, von der sie ausgegangen sein mögen, von der sie sich in
zwei so verschiedene Vorstellungsreihen abgrenzten, reicht erkennbar
bis hinab in das Infantilste: in das Gebiet analer Interessen, d. h.
dorthin, wo unsere Körperfunktion uns noch gleichsteht mit uns
selbst, und wo ein Teil unserer selbst, als ein von ihr geleisteter
Teil, uns zum erstenmal zugleich als Objekt, als ein Nicht-mehr^
wir, zum Bewußtsein kommt. Insofern nun speziell Geld den be¬
kannten Ersatzbezug zum Analen enthält, wäre hier jenes früheste
Erziehungswerk: Unterdrückung der Identifikation mit dem Analen,
des Ich-Interesses daran, zustande gekommen im Zusammenhang
damit daß anal gerichteter Autoerotismus sich am Symbol der
»Knöpfe« als interner Schätze, bereits vor dieser ersten Soziale
sierung gleichsam in Sicherheit gebracht hätte. Im infantilen Wett¬
streit der »Knöpfe und der Münzen« hätte sozusagen die Selbst¬
bewertung von der sozialen sich zu scheiden begonnen in zweierlei
Sinnbildern, von denen das spätere, die Münze, sonst der rechte
mäßige Erbantreter der ehemaligen Analbetonung, sich um so
williger umprägen ließ zum alleinigen Repräsentanten sozialen Aus¬
tausches, als das andere, der Knopf, mit höchst egoistischen Neben^
absichten entschlüpft war auf ein Gebiet, wo es einstweilen in
Märchenvorstellungen erotischer Herkunft untergebracht wurde.
Die Erziehung erzieht begreiflicherweise zum Sozialen,- sie tat
das auch im vorliegenden Fall, einschließlich des ganzen Individuums,
ohne mindeste Ausnahmsrechte irgendwelcher Knöpfe. Dies nahm
seinen Anfang schon mit dem Lebensfaktum der Geburt: man war
vorhanden, um Anderen zu gehören, und in jedem Jahr hatte man
sich in diesem Sinne würdig zu erweisen älter geworden zu sein.
Sogar die, dieses Geborensein feiernden Geschenke, und auch noch
die Gaben unterm Weihnachtsbaum, trotzdem er doch reine Gnaden¬
herrlichkeit auszustrahlen schien, bargen noch irgendwie heimliche
Fallen für den Egoismus und besagten stumm: »wir liegen hier,
teils, weil du brav gewesen bist, teils weil du es hoffentlich sein
wirst«. Als ich ganz klein von Schmerzhaftigkeit der unteren Glied¬
maßen befallen wurde, die man »Wachstumschmerz« benannte und
die sich nach einer Weile von selbst verlor, erhielt ich, zum Trost
für das erneute Getragenwerdenmüssen, kleine weiche Saffian¬
stiefelchen mit Goldtroddeln daran, was zur Folge hatte, daß ich
das Aufhören der Schmerzen nicht rechtzeitig signalisierte, besonders,
da mein Vater häufig selbst mich trug. Indem diese Fälschung des
Sachverhalts als sträflich entlarvt wurde, erfuhr ich mit kümmere
vollem Staunen, daß auch meine Beine durchaus zu dem gehörten.
i*
4
Lou Andreas^Salome
was ich der Anderen wegen besaß, daß ich über sie keineswegs
disponieren konnte, wie ich wollte, und daß die roten Saffian-
sdiuhchen sie nur zum Schein als meinen ausschließlichen Eigenbesitz
legitimiert hatten. Immer mehr zog sich dasjenige, worüber kein
Anderer zu verfügen hat, von den sozusagen äußeren Gütern des
Lebens ins gleichsam Unsichtbare, Unfaßbare zurück, als etwas, das
man sich nicht erst erwerben, verdienen, erkämpfen, aus zweiter
Hand empfangen kann, sondern unverlierbar, ein für allemal, laut
oberster Instanz, besitzt. Diese oberste Instanz ist in einem streng¬
gläubigen Elternhaus von selbst gegeben. So wurde hier, unter dem
Ausdruck der gegebenen Religion, ein Stüde zurückbehalten von der
»Allmacht der Gedanken« im Freudschen Sinne des Wortes,- diese
Allmacht über die Tatbestände wurde als Knopf deponiert da, wo
der Augenschein der Wirklichkeit nicht mehr hinreichte,- daneben
aber blieb der Realität von außen her, dem sichtbar Wirklichen,
dasjenige zugeteilt, was geteilt, halbiert werden kann, wie damals
das Silberstück geteilt, halbiert wurde: darüber hinaus hatte die
Außenwelt nicht nur kein Recht, sondern gewissermaßen keine
»Wirklichkeit« zu beanspruchen: dahinter hörte sie als vorhanden auf.
Ich bin damit angelangt beim Ausgangspunkt eines vorher^
gehenden Aufsatzes, worin 1 das Thema vom kindlich selbstgeschaffenen
Gott zu anderem Endzweck betrachtet wird. Es ist klar, inwiefern
schon das unsichtbare Spielzeug, das diesem Gott in allen Taschen
steckte, im Zusammenhang stand mit der Verborgenheit der Berg^
edelsteine, und, letzten Endes, aus den unveräußerlichen Knöpfen
im braunen Knopfkasten bestand. Nicht zufällig blieben dem Gott
gerade diese kindlichsten Attribute, die vorwiegend noch aus der
»Allmacht der Gedanken« inmitten der schon beginnenden Welt*
erkenntnis hervorgegangen waren. Sonst pflegt ja selbst die primi¬
tivste Religionsform in ihrer Glaubensphantastik gleichzeitig ein Er^
kenntnisprinzip, eine Weltauslegung zu enthalten: aber dem Kinde,
dem jede Weltbelehrung von vornherein durch die erziehenden Er¬
wachsenen zuteil wird, braucht die Phantastik seiner Gottesgestaltung
davon nicht beeinträchtigt zu werden. Der Gott ersetzt hier ge^
wissermaßen das, was Freud den »Familienroman« genannt hat:
jene Idealisierungen von Herkunft und Schidcsal, mit denen das
Kind sich oftmals nur Ausdruck schafft für das ihm ungeheuer
Selbstverständliche, Gewisse, jeder Fülle und Herrlichkeit. Nur
spiegelt das sich hier, statt in einer Historie, in der Gegenwärtigkeit
selber eines Extragottes des eigenen Seins und Wesens, der weder
erklärt noch verbietet, sondern lediglich sanktioniert. Kann er sich
nun in dieser sehr einseitigen Äußerungsweise auch ebensowenig
lange aufrecht erhalten, wie der sonst übliche Familienroman, so
stürzt er doch weniger durch einen Verstandeszweifel, als durch eine
innere Wendung derjenigen lebensgewissen Zuversicht, die in ihm
1 »Imago«, Bd. II, Heft 5.
Zum Typus Weib
5
sich selbst ergriff, und deren Symbolik im Verlauf der Entwicklung
sich ändern mußte. Denn die alte Vorstellung von den Schätzen¬
knöpfen, die er in seiner Allherrlichkeit so gesichert trug, wie das
Spielzeug in seinen Taschen, besaß ja neben ihrem ausgesprochen
egoistischen Charakter — wenn auch einstweilen ebenfalls ins noch
phantastisch Märchenhafte eingekleidet — einen nicht minder erotisch
betonten. Blieb während langer Zeit <Freuds »Latenzzeit«) dieser
Umstand auch belanglos, so enthielt er doch die Tendenz, den Gott
in der Form, im Ausdruck, des weiteren zu vermenschlichen. Über
den dauernden Bestand des Gottes entschied deshalb, in den ver¬
borgenen, unterirdischen Wesensregungen, nicht so sehr seine Wahr¬
heit der Verstandesbedeutung, als seine Wirklichkeit der Sinnen¬
bedeutung nach. Darin, daß er eines Tages als abstrakt, blaß, un^
siditbar bemerkt wurde, machte sich einfach die von ihm scheidende
Liebe bemerkbar: wenn sie aber nicht eigentlich in Unglauben, son¬
dern vorübergehend nur in eine Art Verkehrung der Gottesliebe,
in Teufelsglauben, umschlug, so läßt sich ein zweites Merkmal noch
darin feststellen: nämlich, daß diese Liebe schon in ihren Lebzeiten
ambivalent gerichtet gewesen war, d. h. dem Gott um seiner ab^
strakten Blässe, seiner mangelnden Blutfarbe, seiner gar zu fest am=
gewachsenen Tarnkappe willen, unbewußt böse war. Als der Gott
den Rücken gekehrt, bekam sie, genau genommen, nur dessen ge¬
schwärzte (von ihr selbst »angeschwärzte«) Hinterseite im Teufel
zu sehen,- da es jedoch dem Kind nicht bewußt sein konnte, daß es
sich den Gott selber vertrieb, so fühlte es, durch die unbekannte, ihn
hinwegwendende Macht, sich der Hölle anstatt dem Himmel überliefert.
In der Tat kann als der natürliche Abschluß der Gottes¬
geschichte — mögen auch lange Jahre dazwischen liegen, die nichts
mehr mit ihr zu tun haben, — erst die einsetzende Pubertät gelten.
Dementsprechend geschah auch das erotische Erwachen nicht nur volL
gleichzeitig mit ihr, sondern es geschah so sehr wie aus automatisch
sicherer Selbsterfüllung eben erst geträumten Kindertraumes heraus,
daß es den großväterlich-allgütigen Phantasiegott vorsichtigerweise
nur um eine Generation zu einem leibhaften Menschen verjüngte.
Nicht nur in schlechten Romanen, weil »sie sich kriegen«, wäre
hier eine lückenlose Vermittlung zu erwarten zwischen dem einiger¬
maßen introvertierten Ich und dem sozialen. Um so mehr noch, als,
wie ein letztes Geschenk vom ehemaligen Gottverhalten her,
dauernd die ganze Zutraulichkeit in Kraft blieb, die des Erwünschten
gewiß ist: wenn sie auch nun, mit verbesserter Wirklichkeits¬
anpassung, statt bloßem Phantasieren, eine Art von Witterung für
das real Vorhandene zustande brachte. Allein zugleich verblieb
dieser Nachwirkung des Gottesverhältnisses auf das Menschen^
Verhältnis, oder einfacher: jener tiefen ursprünglichen Verknüpftheit
des Egoistischen mit dem Erotischen, eine letzte Macht, über die
hinweg der »Schatz«wert der Knöpfe sich nicht restlos realisieren
ließ. Mit der »Wirklichkeit« war ja dasjenige hinzugetreten, womit
6
Lou Andreas^Salome
man wohl »teilt«, aber eben nur Teilbares, wonach an den »Andern«
die volle Hälfte zu vergeben ist, doch eben nicht ganz im Sinne
der »Hälfte«, als welche in der erotischen Verschmelzung der
Mensch selber nunmehr in toto darzustellen glaubt — vielmehr be¬
hält er hier den eigenen Kopf <Knopf> für sich.
Übersetzt man sich dieses, ja sicherlich sehr anfechtbare, Verhalten
aus dem Erotischen in einen Lebenstypus überhaupt, so ließe sich
etwa davon aussagen: das Reale draußen wird erlebt, doch mehr in
der Art, daß es empfangen, als daß man ganz daran fortgegeben wird,
d. h. es wird nur um so leichter, leiser erlebt, je rascher und tiefer
es berührt und befruchtet hat, so daß der Wirklichkeitsertrag, ins
Innerste einbezogen, nun ausgetragen werden kann. Wo es darüber
hinaus als »wirklichstes«, als der endgiltige Seinswert, aufgenommen
sein will, da verblaßt es, entsinkt gerade dadurdi ins Irreale <unge^
fähr wie eine Farbe, ein Ton, wenn sie unsere Aufnahmefähigkeit
übersteigen) und ist deshalb in diesem Entschwinden nur begleitet
vom Gefühl unabwendbar sachgemäßen, ob auch bedauerten Ab¬
laufs <also weder von Enttäuschungs- noch Schuldgefühl). Will man
dafür eine anormale Anlage voraussetzen <wozu die Phantastik des
Ursprungsstadiums berechtigt), so wäre es eine solche, die am ent^
schiedensten auszuschließen scheint, was neurotischen Kampf, Zwie¬
spalt, Zweifel, Kompromiß bezeichnet, und eher noch Anleihen
macht bei der Introversion des Paraphrenikers. Denn die zu teuer
bezahlte Anhänglichkeit des Neurotischen an ein Teilstüdcchen der
Wirklichkeit, das ihn so früh festlegt, daß alles folgende ihm zu
gespenstigen Mißproportionen sich entwirldichen muß, ist hier zu
ihrem Gegenteil geworden: Offenbleiben für erneutes und vertieftes
Erleben, weil da, wo der Neurotiker gar zu verschwenderisch sich
plündern ließ, eine letzte geizige Selbstbesinnung bleibt. Indessen,
wollte man von allem Pathologischen gar zu sehr absehen, so
könnte am Ende noch jemand darauf verfallen, weit unschönere
Namen zur Erklärung heranzuziehen, wie angeborne Leichtsinnigkeit,
verwerflidie Untreue und ähnliches. Ich will nun nicht auf hübschere
Namen dringen, sondern nur den Versuch machen, aus der typi¬
schen Weibseelenverfassung einiges hervorzuheben, was mir mit
analogen Prozessen zusammenzuhängen scheint.
II.
Schon in den »Drei Abh. z. S.« steht der Satz 1 , die Sexua¬
lität des Mannes sei: »die konsequentere, auch unserem Verständ-
1 Der Satz gründet sich auf den früheren: »wüßte man den Begriffen ,männlich
und weiblich' einen bestimmteren Inhalt zu geben, so ließe sich die Behauptung ver^
treten, die Libido sei regelmäßig und gesetzmäßig männlicher Natur,
ob sie nun beim Mann oder beim Weibe vor komme, und abgesehen von
ihrem Objekt, magdiesderMannoderdasWeib sein.« Hier steht »männ^
lieh« für die Aggressivität des Triebhaften als solchen, für seine unmittelbare Triebe
tendenz, und soll im folgenden im gleichen Sinn verstanden werden.
Zum Typus Weib
7
nis leichter zugängliche, während beim Weibe sogar eine Art von
Rückbildung eintritt«. Denn: »Die Pubertät, welche dem Knaben
jenen großen Vorstoß der Libido bringt, kennzeichnet sich für das
Mädchen durch eine neuerliche Verdrängungswelle, durch welche ge¬
rade die Klitorissexualität betroffen wird.« Das Weibliche ist so das
durch den Prozeß seiner eigenen Reife auf sich selbst Zurückgeworfene,
Aufgehaltene, von der Endentwicklung Ausgeschaltete. In der Tat
beziehen sich die spezifisch weiblichen Tugenden sämtlich hierauf,
sind dem Geschlecht nach solche der Abnegation: wo weibliches
Selbstbewußtsein in rein menschlichen Leistungen mit den männlichen
rivalisiert, sind es eben jene Tugenden, von denen es sich emanzi-
patorisch erholen will.
Nun liegt es mir eigentlich ferner, von Tugenden und
Leistungen zu reden, als von dem, worin ich mich kompetenter
fühle: vom Glück. Bezüglich des Glücks nämlich läßt sich der obem*
erwähnte Sachverhalt auch noch anders herum betrachten. Die ge¬
ringere Differenziertheit, die sich in jener Rückbildung ausdrückt,
zieht um das mehr und mehr auseinanderstrebende Triebleben eine
Art von einschränkendem Kreis, der es in gleichförmigerem Zu^
sammenhang mit dem gemeinsamen Ausgangspunkt erhält: aber
dieser Umstand stellt ja nicht ein einfaches Zurück dar, sondern
eine Wiederherstellung von Ehemaligem auf erhöhtem Niveau —
als eine Wesensart weiterzukommen in sich, als eine Art des
Wachsens am Leben. Denn gerade innerhalb des Sexualtriebes
selbst, gerade infolge von dessen »Entmannung« im Weibe,
differenziert er sich auch wieder auf eine neue Weise von der
Aggressivität des Ichtriebes und erschließt sich damit eine Besonder¬
heit der Entwicklung. Das »Weibliche« <immer prinzipiell gemeint
und abseits von allen Graden und Nuancen der Personalunion
zwischen »männlich« und »weiblich«) eben durch seine Umkehrung
des Sexualen auf sich, vermag sich das Paradoxon zu leisten, Sexua¬
lität und Ichtrieb dadurch zu trennen, daß es sie vereinigt. Es ist
mithin zwiespältig da, wo das Männliche eindeutig aggressiv ver¬
bleibt, einheitlich aber dafür, wo diesem seine ungehemmte Aggres¬
sivität als mehr sexual oder mehr ichhaft nach entgegengesetzten
Richtungen sich spaltet.
Suchte man eine Illustration dafür im vorhergehenden Thema:
dem Aufblick zum Vater, Mann-Vater, Gott etc., so fände man
für das Weib Religiosierung und Erotik, Licht- und Wärmestrahlen
im selben Gestirn, derselben Sonne gewährleistet, weil der passiv
gerichtete Sexualtrieb sich dem hinhalten kann, was dem Ichtrieb das
fördernd Höchste erscheint. Im Mann dagegen wendet sich die be¬
wahrte Aggressivität des Sexuellen auf das Passive, das Weib,
weswegen, wie immer er es vom Geschlecht aus idealisieren mag,
niemals im Sexualpartner zugleich sein Ichideal realisiert ist: sondern
er dieses da finden muß, wo es ihm immer zugleich Ideal und Kon¬
kurrenz bedeutet, im gleichen Geschlecht, im Vater <also »enN
8
Lou Andreas-Salome
sexualisiert«, sofern sich diese an sich schon ungemütliche Situation
nicht auch noch bei betonterer Inversion zu einem wahren Rattenkönig
von einander hemmenden Ambivalenzen verwächst). Der Vater ist es,
zu dem er — sich selber suchend, ihn zu ersetzen, ja zu über-
treffen suchend — doch anbetend sagen muß: »Dein Wille ge¬
schehe —«, während dem Weibe gegenüber in solcher Stunde, da
es den ganzen Mann gilt, für immer auch wieder das Wort zu
gelten hat: »Weib, was habe ich mit Dir zu schaffen.«
Indem die Kraft der Mannheit als sexuell und geistig in
Gegensätzen auseinanderstiebt, oder aber sich selbst Konkurrenz
madit, gibt sie ihre unmittelbare Glücksgemeinschaft in sich auf,- in*
dem der Mann als Leistender sich nachjagt, verliert er sich als
Selbstbesitzender — wie er schon im Dienst der Fortpflanzung ver^
liert was er besitzt <— um Freuds, ja absolut nicht witzig ge*
meintes, Wort zu wiederholen: »altruistisch« handelt) und wie er
aus der Einseitigkeit sexueller Entspannung in die Einseitigkeit
sozialer Anspannung entlassen wird. Dieser gewissermaßen unfrei¬
willige Edelmut der Selbstentäußerung kennzeichnet ihn fortan: sein
Wesen ist, schön ausgedrückt, so etwas wie »Opferung«: Das ist
unangenehm, aber es ist nun einmal seine Ehre. Der ungehemmt
hinausgerichtete Drang muß dort draußen bezahlt werden mit Al¬
truismus, wie die auf sich zurückgedrängte Passivität sich bezahlt
macht mit Glücksegoismus. Nicht erst die Empfängnis ist ein Bild
weiblicher Hingabe in der Selbstbewahrung — schon die Ruhsamkeit
des Eies im Vergleich zu der Regsamkeit des auf der Suche be¬
findlichen Samens, bezeichnet die gleiche Souveränität einer Indolenz,
die nicht vor hat sich »ohne großen Gegenstand zu regen«. Ganz
entgegen der Kalamität, die das Mannsein mit sich bringt, arbeitet
die zu weitgehende Grellheit des Sexuellen sich im Weiblichen ge*
dämpfter in die verschiedensten Wesenstönungen auf, und beläßt
dafür den dem Blut entstrebenden Ichtrieb an seiner Basis wasch¬
echt erotisch gefärbt. Allein, wie mir scheint, zeigt sich hier auch
bereits, wie diese Verflochtenheit der Triebmasse, diese Einbuße an
letzter Gliederung, etwas an sich hat, was die Sexualität nicht bloß
verändern mußte: was ihr sogar ihren eigenen endgiltigsten Voll¬
zug erst ganz ermöglicht. Denn es verhält sich ja nidit so, daß die
Sexualität im gleichen eindeutigen Sinn eine Triebaggression dar¬
stellte, wie etwa der Freßtrieb durch Einnahme, der Defäkations^
trieb durch Abgabe, sondern diese und andere Triebe haben sich
von ihr hinweg differenziert, zu Spezialarbeitsleistungen sich abge¬
gliedert, während sie der Zusammenfassung aller Organkräfte behufs
deren Fortpflanzung dienen lernte <hierin durchaus dem Weibgeschidc
selber ähnlich). Infolgedessen äußert das Sexuelle bei jedesmaligem
Auftreten sich über sein Spezialgebiet so ganz hinaus, als Übergriff
auf den Gesamtorganismus, als positiver Eingriff in ihn <wie Ab^
stinenz ja auch nicht, gleich dem Hunger schwächt oder sterben
läßt, sondern positiv mit Rausch und Gift agiert). Und in weiterer
Zum Typus Weib
9
Folge schillert das Sexuelle aus diesem Grunde nicht nur zwischen
den einzelnen vitalen, sondern auch psychischen Äußerungsweisen so
schwerfaßlich und widerspruchsvoll, indem es, nichts Speziellem ein^
geordnet, dem Wesen nach Invasion, ausdrücklich dazu vorhanden
ist, die Welt auf den Kopf zu stellen. Gerade deswegen ist ja die
Analyse des Psychischen so erfolgreich und plausibel, wo sie prak¬
tisch auf das Sexuelle zurückgeht, weil dieses, obwohl Körpertrieb
und angehbar von der physiologisdien Seite, dennoch zugleich, hart
am Organleben hin, psychische Tatsachen zuerst unverkennbar
macht.
Das hier steckende Problem <das nach seiner philosophischen
Bedeutung natürlich nicht aufgerührt werden soll) hat Freud
<Beitr. z. Psydh. d. Llb., II) erörtert in der Frage: warum der
Liebesappetit bei vorläufigem Genuß nicht abnehme, wie sonstiger
Appetit, vielmehr sich daran steigere, und warum endgiltige Be¬
friedigung trotzdem Reizhunger, Hunger nach Wechsel, ergeben
könne, anstatt der immer befriedigteren Ehe, die z. B. ein Älko^
holiker zu der ihm genehmen Weinsorte eingeht. Es ist wohl nicht
ganz ein Zufall, wenn nach der liebenswürdigen Vulgär-Ansicht der
Leute, alle beide Fragen das Weib viel weniger tangieren als den
Mann. Man könnte nämlich ganz wohl sagen, daß das, was den Sexual¬
trieb erst befähigt, sich von Durst, Appetit etc. etc. zu unterscheiden,
bereits gelegen sei in einem Moment der Passivität, d. h.
in der Fähigkeit, in und neben der zielgerichteten Triebtendenz beim
Interesse am Objekt zu verweilen — sich daran aufzuhalten.
Was wir »seelische Komponente« am Sexuellen zu nennen pflegen
— aus deren mangelhafter Verknüpftheit mit dem Geschlechtstrieb
Freud in der erwähnten Arbeit das Sinken des sexuellen Objekt^
wertes erklärt — ist <mögen wir sie Psychosexualität, Zärtlichkeits¬
zuschuß, Kontrektationsbedürfnis oder sonstwie benamsen), nur ein
anderes Wort für solche Abkehr vom Nur-Aggressiven zugunsten
eines zugleich aufnehmenden, raumgebenden Verhaltens. Freud sieht
ja auch den Ursprung allen Sympathieausdrucks in der Objekte
hingegebenheit des Neugebornen — was so zu verstehen ist, daß es
im Objekt in dem Sinn aufgeht, als es sich eben als Subjekt noch
gar nichts angeht, weil Selbsterhaltungs- und Hingebungsverlangen
sich noch gar nicht voneinander unterscheiden können. Wenn dann
jedoch, nach der zweiten Freudschen Phase, nach der splendid
isolation des Autoerotismus <wo wiederum, nur anders herum,
aktiv und passiv in eins fallen), das Objekt nicht erst gefunden,
sondern, als übertragen aus jener Urzeit des Kinderdaseins, »wieder^
gefunden« <Freud) wird, so haftet daran bereits jene diffuse Süße
damaliger Hingegebenheit nunmehr durchaus als ein Einschlag von
Passivität. Denn nun macht sie sich gegensätzlich fühlbar gegenüber
dem stachelnden Bewußtsein des Eigenen — des sein Objekt ganz
frech in der Methode des Selbsterhaltungstriebes behandeln wollen¬
den Subjekts. Und wenn im Verlauf des sexuellen Reifestadiums
10
Lou Andreas^Salome
dieser Stadiel des Nur^Aggressiven sich manchmal so einseitig ver¬
schärft, daß die Sexualität nur unter seinem Vorstoß noch in ihrer
Besonderheit empfunden wird, so mag ihr freilich selber unerklärlich
werden das, was doch immer noch ihr Glück und Leid wunderlich
abhebt von dem der Selbsterhaltungsfreuden = oder Enttäuschungen.
Aber dies bedeutet dann nicht so sehr: die Unterlassung von wer
weiß wie feinsten Sublimierungen, die ihr fremd aufzupfropfen ge¬
wesen wären — im Kulturversuch exotische Blüten am landest
üblichen Stamm hervorzutreiben — es bedeutet weit eher: daß ihre
Grundwurzel unterläßt, die für ihr natürliches Vollgedeihen ge¬
nügende Säftemischung in alle Zweige emporzusenden. Vielleicht ist
es schließlich auch die wahre Ursache des post coitum omne animal
triste — das deshalb nicht für alle Menschen gilt, und dem die Er¬
fahrung entgegensteht einer Nachwirkung nidit nur der Freude,
sondern eines höchst ungerechtfertigten Gefühls: gleichsam die beste
aller Taten vollbracht, der Welt Vollkommenheit zurückgeschenkt,
sozusagen das Gewissen ein für allemal entlastet zu haben — im
vitalen Ineinanderstürzen des ewig^doppelten Außer^uns mit uns
selbst.
Freud hat das Inzestverbot dafür verantwortlich gemacht, daß
nach Abschluß der Kindheit das »Zärtliche« und das »Sinnliche« so
häufig ihre alte Einheit aufgeben und glücklos, ja krankmachend,
in Seelenrespekt und Sinnenroheit verfallen. Allein sei das Inzest¬
verbot auch der schwarze Mann, der sie aus ihrem Kindheitsidyll
aufschreckt: er griffe mit diesem scheinbar von außen her begrün^
deten Eingriff doch nur der Tatsache vor, daß ein Mensch auf dem
Menschenwege, also auf dem einer stets weitergehenden Selbst^
entwicklung, am Persönlichen nicht mit ganzer Konzentration haften
bleiben kann. Ein genügendes Zusammenhalten der inneren Antriebe
könnte nicht umhin, seine Ziele zurückzustecken, die, im Sachlichen
wie Persönlichen, eben durch ihre treibende Kraft, auf Erledigung,
auf Vorwärtsgehen, auf bewußte Bewältigung des noch nicht mensdi^
lieh Bewältigten eingestellt sind. Im weiblichen Prinzip ist ja nur
durch eben diesen Verzicht, durch eben dieses letztliche In-sich-
erhalten der Triebeinheit, die Möglichkeit gegeben, dem enteilenden
Schritt des Menschen trotzdem immer wieder Boden unter die Füße
zu schieben. Nur im Weiblichen heißt daher solche Triebumkehrung
in sich, nicht »Pervertierung«, sondern ihrem Verweilen, Zusammen¬
fassen, bleibt das Ziel selber mitgegeben. So gibt es, streng ge¬
nommen, innerhalb ihres Prinzips keine bloße »Vorlust« <im Freud-
schen Sinn), nichts Vorläufiges im Verlauf des Erotischen: Das
Weibliche ist zu definieren als das, was mit dem kleinen Finger
allein die ganze Hand bereits hat,- nicht etwa im Sinne asketischer
Begnügsamkeit — im Gegenteil, weil bereits das Geringste Raum
gewährt der Zärtlichkeit sich ganz darin zu erleben, noch mit dem
Geringsten schon das Ganze des Liebesbereiches zu umspannen
<ungefähr wie Dido es mit der Kuhhaut und Karthago machte).
Zum Typus Weib
11
Man könnte glauben, daß eher der Charakter der »Endlust«
an dieser weiblichen Geschlossenheit etwas gefährde, sowohl durch
den rein körperhaften Ausdruck auf den der letzte sexuelle Voll¬
zug gestellt ist, als durch die nachdrüddiche Passivität, die das Weib
darin an ein bestimmtes Verhalten bindet. Indessen das lebendige
Ineinanderspiel ihres Ich- und Liebeslebens bekundet sich vielleicht
nirgends entschiedener als gerade dann: nämlich kraft der weiblichen
Tendenz dort, wo man sich hingibt, auch immer die Norm, das
Ideal aufzurichten, woran das eigene Selbst sich orientieren kann.
Nimmt es sich auch im Durchschnitt leicht wie urteilsgetrübte bloße
Verliebtheit, ja läppisch sogar, aus und verbirgt sich daran die
wahre Bedeutsamkeit der Sache, so steckt dahinter doch nicht mehr
noch weniger als folgende Leistung: den geistigen Sinn des Er^
lebten dort am geistigsten zu fassen, wo er am körperhaftesten zu^
gedeckt, am psychisch undeutbarsten bleibt, und so der eigenen
Grundeinheit am gewissesten zu werden dort, wo sie am abgrün^
digsten schwankt. Mit anderen Worten: hier gelingt dem <ja an sich
schon paradox gerichteten) Weiblichen sein zweites und tiefstes
Paradoxon: das Vitalste als das Sublimierteste zu erleben. Dieses
Vergeistigen und Idealisieren in seiner Unwillkürlichkeit läßt sich ver^
anlaßt denken dadurch , daß, dem weiblich-einheitlichen Wesen nach, in
den Übertragungen der Liebe lebenslang deren ursprünglicher Aus¬
drude fühlbarer gegenwärtig bleibt als dem Mann — jene uranfäng-
liche Verschmelzung mit dem Ganzen darin wir ruhten, ehe wir
selber uns gegeben waren und die Welt in Einzelgestaltungen vor
uns aufging. Man weiß, wie viel davon im Erotischen überhaupt
wiederkehrt: wie alles was irgend an uns rührt, wesensverbunden
erscheint mit der geliebten Person, als dehne sie sich aus in alles
und kondensiere alles sich in ihr. Von dorther idealisiert sich das
Personale zu fast symbolisch überragendem Sinn und, indem solche
Rückbeziehung dem Weibe näherliegend bleibt, wird sie ihr zum
Erlebnis: der einzelne Mensch, in all seiner Tatsächlichkeit wird ihr
nach jener Richtung hin gleichsam durchscheinend, ein menschlich
kontouriertes Transparent, durch das die Fülle des Ganzen unge¬
brochen und unvergessen schimmert. Erwähnt deshalb Freud
<Beitr. z. Psych. d. Llb., II), daß, wenn es sich um schwer oder
nicht erreichbare Objekte der Sehnsucht handle, die Frau: »etwas
der Sexualüberschätzung beim Manne ähnliches in der Regel nicht
zustande bringt«, so hängt das eben hiemit zusammen, daß ihre
Schätzung und Überschätzung dem Erreichten, nicht nur dem Be¬
gehrten, gilt und gelten muß — dem, daran ihre Hingabe sie vor
sich selbst vernichtet, wenn sie sie nicht vor sich selbst erhebt 1 .
Dieses ist die verborgene Härte an aller spezifisch weiblichen Liebe
1 Daher bleibt die Bedeutsamkeit der Hingabe eine so verschiedene für
Mann und Weib, daß sie mit vollem Recht an beiden verschieden beurteilt wird.
Und daher bildet einen wesentlichen Grund für weibliche Frigidität das Aus=
einandergleiten von Mann und MannUmago.
12
Lou Andreas^Salome
<oftmals alle Manneshärte reichlich aufwiegend) — ihr zugleich
Blindestes und Hellseherischestes, daß sie in ihm erkennt, was sie
mit ihm gewissermaßen über die Person hinaus eint,« es ist durchs
aus ihr kostbarstes Stück <nidht blumenzart sondern edelsteinhart)
so wie seine kostbarste Gabe an sie das, aus dem Geschlecht auf¬
gearbeitete, Stück an Zartsinn und Herzlichkeit ist.
Gerade wegen dieser doppelten Rolle jedoch, die der Mann
für das Weib vertritt, damit sie selber um so einheitlicher bleiben
kann — gerade wegen der daran haftenden inneren Unterscheidung
von — ich möchte sagen: Person und Vertreterschaft — muß hier
eine kleine Einschaltung angebracht werden. Denn wenn von hier
aus betrachtet, alle jene weiblichen Abnegationstugenden, von denen
ganz eingangs die Rede war, gar nicht mehr tragisch aussehen,
sondern eine richtige Glücksmiene aufsetzen, so daß das Weibliche
als der geborne Ausbund alles Treuen, Idealgerichteten und Hirn*
gegebenen von der Natur Gnaden erscheint, so darf man das doch
nicht zu absolut nehmen. Ganz läßt es sich nämlich nicht von der
Hand weisen, ob nicht gerade auch die Fülle, womit weiblichem
Erleben alles Herrliche über dem Fest der Liebe ausgeschüttet ist,
zum Anlaß werden könnte eines um so akuteren Ablaufs — so
daß bisweilen nur um so weniger daraus sich für vernünftige Dauern
gestaltung retten läßt, je restloser alles hineingegeben war. Und
umgekehrt bleibt auch auf der anderen Seite jedesmal zu fragen, wie
viel mitunter selbst von den prächtigsten Zutaten an Ethik^ oder
Ehegesinnung eben schon bloße Zutaten zum weiblichen Liebes-
erleben gewesen sind — hinzugetan aus falscher Scham bereits, aus
einem Gutmachenwollen, aus Verlangen nach Sanktion. Denn man
darf nicht vergessen, daß sich auf diesem Punkt für das Weib alles
zusammenfindet, was es kann und was es nicht kann, seine natür¬
liche Größe sowohl wie seine ihm angewachsene Kleinheit. Ist es
doch der einzige naturgegebene und dadurch mögliche Kulturpunkt
für sie, daß sie vermag, im Sexuellen nicht ein Rohgegebenes, in sich
Isoliertes, vollzogen zu sehen, sondern gleichsam in ihrer Sinnlichkeit
zugleich ihre Heiligkeit zu ergreifen, zu begreifen: sei es nun, im*
dem sie sie in bereits sanktionierten Bestand schutzheischend hinein¬
stellt, sei es, daß sie aus innerster Weibheit heraus sie reiner und
freier anblicken kann als der Mann, dessen aufarbeitende Kraft sich
an anderen Kulturzwecken erschöpfen muß. Von sich aus tut das
Weib ja nur eine Kulturtat und auch diese passiert ihr mehr dem
Weibwesen nach, als daß es eine Handlung wäre: das Kind <wes^
halb die Kinderlose ohne Frage als das sozial mindere Material
anzusehen ist). Dennoch kann es eine Handlung werden: trägt und
gebärt sie das Kind noch als einen Teil ihrer selbst, hat sie so
lange als möglich an ihm noch die zärtliche Selbstidentifikation, worin
feinste SexuaL und Seelenfreude gewissermaßen lächelnd ineinander^
fließen — so entstammt diesem warmen Egoismus doch schließlich
ihre erste eigentliche Sozialisierung, es entstammt ihm der Bezug
Zum Typus Weib
13
zum Kinde als zum zweiten Menschen, zum anderen, zu einer
Welt außerhalb ihrer, die sie aus ihrem Tiefsten hergab — nicht
nur »teilend« von dem Ihren, sondern sich selber mitteilend und
zurücktretend. Das höchste Frauenbild ist insofern nicht schon die
»Mutter mit dem Kinde«, sondern — falls man in christlichen
Madonnenbildern reden will — die Mutter am Kreuze: die, welche
opfert, was sie gebar: die, welche den Sohn an sein Werk dahin^
gibt, an die Welt und an den Tod.
Selbstverständlich läßt sich nicht gut die Kulturaufgabe des
Mannes mit dem Kreuz vergleichen, das er trägt oder woran er
gar hängt. Aber sicherlich mit demjenigen, was ihn am prinzipiellsten
ins menschlich Geistige hinaufrückt unter Einbuße des menschlich
Erotischen. Und eine rein männliche Auffassung der Dinge sieht
mit dem Fortschreiten der Kultur nicht selten die Sinnlichkeit als
solche tatsächlich bereits gekreuzigt, also in, wenn auch: »weitester
Ferne die Gefahr des Erlöschens des Menschengeschlechts« 1 . Wohl
bleibt auch dem Mann ein Traum vom Zusammengehören des
Geistes und der Sinne — bleibt ihm wie eine ferne Erinnerung
daran, daß ja auch die breitesten abendlichen Wolkenschatten wesens-
eins seien mit dem Tau, der bei Sonnenaufgang blitzend sich über
den Boden breitet. Und wohl verwirklicht sich auch, von Zeit zu
Zeit, immer wieder etwas von solchem Traum in ihnen selber,
diesen Vorgerücktesten des Geistes, den Schaffenden: zwingt sie.
Halt machend unterwegs, ein Werk aufzustellen wie einen ernsten,
freudigen Zeugen solcher Wiedervereinigung für alle, die daran vor¬
über vorwärts gehen. Doch wiederum ist es in ihnen nur deshalb
Wirklichkeit geworden, weil ihrem männlichen Können weibliches
eingeboren und in ihnen jene Doppelnatur schöpferisch geworden
ist, die in Werken schafft, was das Weib von seinem Wesen
aus ist. In seinem schöpferischen Tun bezeugt der Mann, wie sehr
auch ihm aller letzte Kultursinn liegt in der Wiedererfassung jener
Einheit — wie sehr er um deswillen die Welt noch einmal er^
schafft, aus sich heraus auf allen Gebieten als die seine, um mit
Händen zu greifen, mit Augen zu sehen, daß das »Andere«, das
Draußen, von gleichen Pulsen des Lebens durchpulst sei und eins
mit ihm. Er bezeugt es sich, ob auch in jeglichem einzelnen seines
Tuns oder Lassens der Dualismus sein Teil bleibe, weil sich stets
neu erschließend in jedem neuen Ding, das zu neuem und weiterem
Unterwegs werden muß und so das Ziel ihm nirgends garantiert
ist in den Dingen, sondern nur in gleichsam überpersönlichen
Werten und Bildern.
Damit ist dem Weiblichen ein Kulturwert von sich aus und
unabhängig gegeben, daß es analog <nicht: identisch mit => dem Sinn
des Geistesschöpferischen wirken kann. Wie verschieden auch die
Äußerungsweisen der beiden Geschlechter — darin finden sie sich
1 »Beitr. z. Psych. d. Lib.«, II.
14
Lou Andreas^Salome
zusammen: an denselben Geist, zu dem das Weib mit dem Manne
und vermittelst seiner aufblickt, ist sie zugleich angeschlossen von
tief her, von ihrer Wesensbasis her, als von einer die Gegensätze
unmittelbar in sich noch vereinheitlichenden. Stumme Verwirklichung
davon fast schon enthaltend in ihrem Leibesleben und im geistleib¬
lichen Aufruhr des Erotischen das ewig Unzulängliche wandelnd zu
ewigem Ereignis: weshalb Umarmung, Vermählung ihr das Bild
bleibt für das gleiche, worauf der Mann, geistleistend, voraus¬
schreitend und -schauend zugeht. So hat sie gerade darin, gerade in
ihrem Anschluß an das Seine, Weithintreibende, am allerwenigsten
über ihren Wesensumkreis hinauszublicken oder gar, ihn sprengend,
ihn zu verlassen — sondern am meisten in ihrem geistigsten Er^
leben, in der weitgehendsten Kulturumgreifung noch, würde sie doch
in sich bleiben: Kreis um Kreis um sich selber ziehend — nach
jeweiligem Maßstab ihrer innersten Dimensionen. Zu diesem weib¬
lichen Narziß will die Kultur-Zukunftsprognose zunehmender
Glücksverdunklung — immer schräger und blasser fallender Strahlen
alter Sonnenherrlichkeit, immer breiterer Abendschatten über der sich
vergeistigenden Welt — nicht mehr stimmen. Nur ein Sinnbild
stimmt da noch: Das Bild der Pflanze im hohen Licht der Mittag¬
stunde, da sie ihren Schatten ganz senkrecht wirft, da sie, darin ge¬
borgen, auf ihn niederblickt als auf den zarteren Abglanz ihres
eigenen Seins — sich selbst in ihm beschattend: auf daß der große
Brand sie nicht verbrenne vor ihrer Zeit.
Der Moses des Michelangelo
15
Der Moses des Michelangelo 1 .
Von
I ch schicke voraus, daß ich kein Kunstkenner bin, sondern Laie.
Ich habe oft bemerkt, das mich der Inhalt eines Kunstwerkes
stärker anzieht als dessen formale und technische Eigenschaften,
auf welche doch der Künstler in erster Linie Wert legt. Für viele
Mittel und manche Wirkungen der Kunst fehlt mir eigentlich das
richtige Verständnis. Ich muß dies sagen, um mir eine nachsichtige
Beurteilung meines Versuches zu sichern.
Aber Kunstwerke üben eine starke Wirkung auf mich aus,
insbesondere Dichtungen und Werke der Plastik, seltener Malereien.
Ich bin so veranlaßt worden, bei den entsprechenden Gelegenheiten
lange vor ihnen zu verweilen, und wollte sie auf meine Weise er¬
fassen, d. h. mir begreiflich machen, wodurch sie wirken. Wo ich das
nicht kann, z. B. in der Musik, bin ich fast genußunfähig. Eine ratio^
nalistische oder vielleicht analytische Anlage sträubt sich in mir
dagegen, daß ich ergriffen sein und dabei nidit wissen solle, warum
ich es bin, und was mich ergreift.
Ich bin dabei auf die anscheinend paradoxe Tatsache aufmerk¬
sam geworden, daß gerade einige der großartigsten und überwälti¬
gendsten Kunstschöpfungen unserem Verständnis dunkel geblieben
sind. Man bewundert sie, man fühlt sich von ihnen bezwungen,
aber man weiß nicht zu sagen, was sie vorstellen. Ich bin nicht be¬
lesen genug um zu wissen, ob dies schon bemerkt worden ist, oder
ob nidit ein Ästhetiker gefunden hat, solche Ratlosigkeit unseres
begreifenden Verstandes sei sogar eine notwendige Bedingung für
die höchsten Wirkungen, die ein Kunstwerk hervorrufen soll. Ich
könnte mich nur schwer entschließen, an diese Bedingung zu
glauben.
Nicht etwa daß die Kunstkenner oder Enthusiasten keine
Worte fänden, wenn sie uns ein solches Kunstwerk anpreisen.
Sie haben deren genug, sollte ich meinen. Aber vor einer
solchen Meisterschöpfung des Künstlers sagt in der Regel jeder
etwas anderes und keiner das, was dem schlichten Bewunderer das
Rätsel löst. Was uns so mächtig packt, kann nach meiner Auf¬
fassung doch nur die Absicht des Künstlers sein, insoferne es ihm
gelungen ist, sie in dem Werke auszudrücken und von uns erfassen
zu lassen. Ich weiß, daß es sich um kein bloß verständnismäßiges
Erfassen handeln kann,- es soll die Affektlage, die psychische Kon¬
stellation, welche beim Künstler die Triebkraft zur Schöpfung abgab,
bei uns wieder hervorgerufen werden. Aber warum soll die Absicht
1 Die Redaktion hat diesem, strenge genommen nidit programmgerechten. Bei*
trage die Aufnahme nicht versagt, weil der ihr bekannte Verfasser analytischen
Kreisen nahe steht, und weil seine Denkweise immerhin eine gewisse Ähnlichkeit
mit der Methodik der Psychoanalyse zeigt.
16
Der Moses des Michelangelo
des Künstlers nicht angebbar und in Worte zu fassen sein wie irgend-
eine andere Tatsache des seelischen Lebens? Vielleicht daß dies bei
den großen Kunstwerken nicht ohne Anwendung der Analyse ge¬
lingen wird. Das Werk selbst muß doch diese Analyse ermöglichen,
wenn es der auf uns wirksame Ausdruck der Absichten und Re-
gungen des Künstlers ist. Und um diese Absicht zu erraten, muß
ich doch vorerst den Sinn und Inhalt des im Kunstwerk Dar-
gestellten herausfinden, also es deuten können. Es ist also möglich,
daß ein solches Kunstwerk der Deutung bedarf, und daß ich erst
nach Vollziehung derselben erfahren kann, warum ich einem so ge¬
waltigen Eindruck unterlegen bin. Ich hege selbst die Hoffnung, daß
dieser Eindrude keine Abschwächung erleiden wird, wenn uns eine
solche Analyse geglückt ist.
Nun denke man an den Hamlet, das über dreihundert Jahre
alte Meisterstück Shakespeares 1 . Ich verfolge die psychoanalytische
Literatur und schließe mich der Behauptung an, daß erst die Psycho¬
analyse durch die Zurückführung des Stoffes auf das Ödipusthema
das Rätsel der Wirkung dieser Tragödie gelöst hat. Aber vorher,
welche Überfülle von verschiedenen, miteinander unverträglichen Deu¬
tungsversuchen, welche Auswahl von Meinungen über den Charakter
des Helden und die Absichten des Dichters! Hat Shakespeare un¬
sere Teilnahme für einen Kranken in Anspruch genommen oder für
einen unzulänglichen Minderwertigen, oder für einen Idealisten, der
nur zu gut ist für die reale Welt? Und wieviele dieser Deutungen
lassen uns so kalt, daß sie für die Erklärung der Wirkung der
Dichtung nichts leisten können, und uns eher darauf verweisen,
deren Zauber allein auf den Eindruck der Gedanken und den Glanz
der Sprache zu begründen! Und doch, sprechen nicht gerade diese
Bemühungen dafür, daß ein Bedürfnis verspürt wird, eine weitere
Quelle dieser Wirkung aufzufinden?
Ein anderes dieser rätselvollen und großartigen Kunstwerke
ist die Marmorstatue des Moses, in der Kirche von S. Pietro in
Vincoli zu Rom von Michelangelo aufgestellt, bekanntlich nur ein
Teilstück jenes riesigen Grabdenkmals, welches der Künstler für
den gewaltigen Papstherrn Julius II. errichten sollte 2 . Ich freue mich
jedesmal, wenn ich eine Äußerung über diese Gestalt lese wie: sie
sei »die Krone der modernen Skulptur« <Herman Grimm). Denn
ich habe von keinem Bildwerk je eine stärkere Wirkung erfahren.
Wie oft bin ich die steile Treppe vom unschönen Corso Cavour
heraufgestiegen zu dem einsamen Platz, auf dem die verlassene
Kirche steht, habe immer versucht, dem verächtlich-zürnenden Blick
des Heros standzuhalten, und manchmal habe ich mich dann behut¬
sam aus dem Halbdunkel des Innenraumes geschlichen, als gehörte
1 Vielleicht 1602 zuerst gespielt.
2 Nach Henry Thode ist die Statue in den Jahren 1512 bis 1516 aus^
geführt worden.
Mit Genehmigung des Verlags Robert Langewiesche aus dem Band »Michelangelo« der Sammlung »Blaue Bücher«
i
BEILAGE EU
„IMAGO" III/l.
Der Moses des Michelangelo
17
idi selbst zu dem Gesindel, auf das sein Auge gerichtet ist, das
keine Überzeugung festhalten kann, das nicht warten und nicht ver^
trauen will und jubelt, wenn es die Illusion des Götzenbildes wieder
bekommen hat.
Aber warum nenne ich diese Statue rätselvoll? Es besteht
nicht der leiseste Zweifel, daß sie Moses darstellt, den Gesetzgeber
der Juden, der die Tafeln mit den heiligen Geboten hält. Soviel ist
sicher, aber auch nichts darüber hinaus. Ganz kürzlich erst <1912)
hat ein Kunstschriftsteller <Max Sauerlandt> den Ausspruch machen
können: »Über kein Kunstwerk der Welt sind so widersprechende
Urteile gefällt worden wie über diesen panköpfigen Moses. Schon
die einfache Interpretation der Figur bewegt sich in vollkommenen
Widersprüchen . . .« An der Hand einer Zusammenstellung, die
nur um fünf Jahre zurückliegt, werde ich darlegen, welche Zweifel
sich an die Auffassung der Figur des Moses knüpfen, und es wird
nicht schwer sein zu zeigen, daß hinter ihnen das Wesentliche und
Beste zum Verständnis dieses Kunstwerkes verhüllt liegt * 1 .
1 .
Der Moses des Michelangelo ist sitzend dargestellt, den Rumpf
nach vorne gerichtet, den Kopf mit dem mächtigen Bart und den Blick
nach links gewendet, den rechten Fuß auf dem Boden ruhend, den
linken aufgestellt, so daß er nur mit den Zehen den Boden berührt,
den rechten Arm mit den Tafeln und einem Teil des Bartes in Be^
Ziehung,* der linke Arm ist in den Schoß gelegt. Wollte ich eine
genauere Beschreibung geben, so müßte ich dem vorgreifen, was ich
später vorzubringen habe. Die Beschreibungen der Autoren sind
mitunter in merkwürdiger Weise unzutreffend. Was nicht verstanden
war, wurde auch ungenau wahrgenommen oder wiedergegeben.
H. Grimm sagt, daß die rechte Hand, »unter deren Arme die Ge¬
setzestafeln ruhen, in den Bart greife«. Ebenso W. Ltibke: »Er^
schüttert greift er mit der Rechten in den herrlich herabflutenden
Bart . . .«,* Springer: »Die eine <linke> Hand drückt Moses an den
Leib, mit der anderen greift er wie unbewußt in den mächtig wallen^
den Bart.« C. Justi findet, daß die Finger der <rechten> Hand mit
dem Bart spielen, »wie der zivilisierte Mensch in der Aufregung
mit der Uhrkette«. Das Spielen mit dem Bart hebt auch Müntz
hervor. H. Thode spricht von der »ruhig festen Haltung der
rechten Hand auf den aufgestemmten Tafeln«. Selbst in der rechten
Hand erkennt er nicht ein Spiel der Aufregung, wie Justi und
ähnlich Boito wollen. »Die Hand verharrt so, wie sie in den Bart
greifend, gehalten ward, ehe der Titan den Kopf zur Seite wandte.«
Jakob Burkhardt stellt aus, »daß der berühmte linke Arm im
1 Henry Thode, Michelangelo, Kritische Untersuchungen über seine Werke,
I. Bd, 1908.
Ima<?o III/l
2
18
Der Moses des Michelangelo
Grunde nichts anderes zu tun habe, als diesen Bart an den Leib
zu drücken«.
Wenn die Beschreibungen nicht übereinstimmen, werden wir
uns über die Verschiedenheit in der Auffassung einzelner Züge der
Statue nicht verwundern. Ich meine zwar, wir können den Gesichts¬
ausdruck des Moses nicht besser charakterisieren als Thode, der
eine »Mischung von Zorn, Schmerz und Verachtung« aus ihm las,
»den Zorn in den dräuend zusammengezogenen Augenbrauen, den
Schmerz in dem Blick der Augen, die Verachtung in der vor^
geschobenen Unterlippe und den herabgezogenen Mundwinkeln«.
Aber andere Bewunderer müssen mit anderen Augen gesehen haben.
So hatte Dupaty geurteilt: Ce front auguste semble n'etre qu'un
voile transparent, qui couvre ä peine un esprit immense 1 . Dagegen
meint Lübke: »In dem Kopfe würde man vergebens den Ausdrude
höherer Intelligenz suchen,- nichts als die Fähigkeit eines ungeheuren
Zornes, einer alles durchsetzenden Energie spricht sich in der zu¬
sammengedrängten Stirne aus.« Noch weiter entfernt sich in der
Deutung des Gesichtsausdruckes Guillaume <1875), der keine Er¬
regung darin fand, »nur stolze Einfachheit, beseelte Würde, Energie
des Glaubens. Moses 7 Blick gehe in die Zukunft, er sehe die Dauer
seiner Rasse, die Unveränderlichkeit seines Gesetzes voraus«. Ähn¬
lich läßt Müntz »die Blicke Moses 7 weit über das Menschengeschlecht
hinschweifen,- sie seien auf die Mysterien gerichtet, die er als Ein^
ziger gewahrt hat«. Ja, für Steinmann ist dieser Moses »nicht mehr
der starre Gesetzgeber, nicht mehr der fürchterliche Feind der
Sünde mit dem Jehovazorn, sondern der königliche Priester, welchen
das Alter nicht berühren darf, der segnend und weissagend, den
Abglanz der Ewigkeit auf der Stirne, von seinem Volke den letzten
Abschied nimmt«.
Es hat noch andere gegeben, denen der Moses des Michel¬
angelo überhaupt nichts sagte, und die ehrlich genug waren, es zu
äußern. So ein Rezensent in der Quarterly Review 1858: »There
is an of absence of meaning in the general conception, which pre-
cludes the idea of a selLsufficing whole . . .« Und man ist erstaunt
zu erfahren, daß noch andere nichts an dem Moses zu bewundern
fanden, sondern sich auflehnten gegen ihn, die Brutalität der Ge^
stalt anklagten und die Tierähnlidikeit des Kopfes.
Hat der Meister wirklich so undeutliche oder zweideutige
Schrift in den Stein geschrieben, daß so verschiedenartige Lesungen
möglich wurden?
Es erhebt sich aber eine andere Frage, welcher sich die er¬
wähnten Unsicherheiten leicht unterordnen. Hat Michelangelo in
diesem Moses ein »zeitloses Charakter- und Stimmungsbild« schaffen
wollen oder hat er den Helden in einem bestimmten, dann aber
höchst bedeutsamen Moment seines Lebens dargestellt? Eine Mehr-
1 Thode, 1, c., p. 197.
Der Moses des Michelangelo
19
zahl von Beurteilern entscheidet sich für das letztere und weiß auch
die Szene aus dem Leben Moses 7 anzugeben, welche der Künstler
für die Ewigkeit festgebannt hat. Es handelt sich hier um die Herab¬
kunft vom Sinai, woselbst er die Gesetzestafeln von Gott in Emp¬
fang genommen hat, und um die Wahrnehmung, daß die Juden
unterdes ein goldenes Kalb gemacht haben, das sie jubelnd umtanzen.
Auf dieses Bild ist sein Blick gerichtet, dieser Anblick ruft die
Empfindungen hervor, die in seinen Mienen ausgedrückt sind und
die gewaltige Gestalt alsbald in die heftigste Aktion versetzen
werden. Michelangelo hat den Moment der letzten Zögerung, der
Ruhe vor dem Sturm, zur Darstellung gewählt,- im nächsten wird
Moses aufspringen — der linke Fuß ist sdion vom Boden abgehoben
— die Tafeln zu Boden schmettern und seinen Grimm über die
Abtrünnigen entladen.
In Einzelheiten dieser Deutung weichen auch deren Vertreter
voneinander ab. *
Jak. Burkhardt: »Moses scheint in dem Momente dargestellt,
da er die Verehrung des goldenen Kalbes erblidct und aufspringen
will. Es lebt in seiner Gestalt die Vorbereitung zu einer gewaltigen
Bewegung, wie man sie von der physischen Macht, mit der er aus¬
gestattet ist, nur mit Zittern erwarten mag.«
W. Lübke: »Als sehen die blitzenden Augen eben den
Frevel der Verehrung des goldenen Kalbes, so gewaltsam durch¬
zuckt eine innere Bewegung die ganze Gestalt. Erschüttert greift er
mit der Rechten in den herrlich herabflutenden Bart, als wolle er
seiner Bewegung noch einen Augenblick Herr bleiben, um dann um
so zerschmetternder loszufahren.«
Springer schließt sich dieser Ansicht an, nicht ohne ein Bedenken
vorzutragen, welches weiterhin noch unsere Aufmerksamkeit bean¬
spruchen wird: »Durchglüht von Kraft und Eifer kämpft der Held
nur mühsam die innere Erregung nieder ..Man denkt daher
unwillkürlich an eine dramatische Szene und meint, Moses sei in
dem Augenblick dargestellt, wie er die Verehrung des goldenen
Kalbes erblickt und im Zorn aufspringen will. Diese Vermutung
trifft zwar schwerlich die wahre Absicht des Künstlers, da ja Moses,
wie die übrigen fünf sitzenden Statuen des Oberbaues 1 vorwiegend
dekorativ wirken sollte,- sie darf aber als ein glänzendes Zeugnis
für die Lebensfülle und das persönliche Wesen der Mosesgestalt
gelten.«
Einige Autoren, die sich nicht gerade für die Szene des gol¬
denen Kalbes entscheiden, treffen doch mit dieser Deutung in dem
wesentlichsten Punkte zusammen, daß dieser Moses im Begriffe sei
aufzuspringen und zur Tat überzugehen.
Herman Grimm: »Eine Hoheit erfüllt sie (diese Gestalt), ein
Selbstbewußtsein, ein Gefühl, als stünden diesem Manne die Donner
1 Vom Grabdenkmal des Papstes nämlich.
20
Der Moses des Michelangelo
des Himmels zu Gebote, doch er bezwänge sich, ehe er sie enN
fesselte, erwartend, ob die Feinde, die er vernichten will, ihn anzu^
greifen wagten. Er sitzt da, als wollte er eben aufspringen, das
Haupt stolz aus den Schultern in die Höhe gerecht, mit der Hand,
unter deren Arme die Gesetzestafeln ruhen, in den Bart greifend,
der in schweren Strömen auf die Brust sinkt, mit weit atmenden
Nüstern und mit einem Munde, auf dessen Lippen die Worte zu
zittern scheinen.«
Heath Wilson sagt, Moses 7 Aufmerksamkeit sei durch etwas
erregt, er sei im Begriffe aufzuspringen, doch zögere er noch. Der
Blidc, in dem Entrüstung und Verachtung gemischt seien, könne sich
noch in Mitleid verändern.
Wölfflin spricht von »gehemmter Bewegung«. Der Hemmungs¬
grund liegt hier im Willen der Person selbst, es ist der letzte Mo¬
ment des Ansichhaltens vor dem Losbrechen, d. h. vor dem Auf¬
springen.
Am eingehendsten hat C. Justi die Deutung auf die Wahr^
nehmung des goldenen Kalbes begründet und sonst nicht beachtete
Einzelheiten der Statue in Zusammenhang mit dieser Auffassung
gebracht. Er lenkt unseren Blick auf die in der Tat auffällige Stellung
der beiden Gesetzestafeln, welche im Begriffe seien, auf den Stein¬
sitz herabzugleiten: »Er <Moses> könnte also entweder in der Rich¬
tung des Lärmes schauen mit dem Ausdruck böser Ahnungen, oder
es wäre der Anblick des Gräuels selbst, der ihn wie ein betäuben¬
der Schlag trifft. Durchbebt von Abscheu und Schmerz hat er sich
niedergelassen 1 . Er war auf dem Berge vierzig Tage und Nächte
geblieben, also ermüdet. Das Ungeheure, ein großes Schicksal, Ver¬
brechen, selbst ein Glück kann zwar in einem Augenblick wahr^
genommen, aber nidit gefaßt werden nach Wesen, Tiefe, Folgen.
Einen Augenblick scheint ihm sein Werk zerstört, er verzweifelt an
diesem Volke. In solchen Augenblidcen verrät sich der innere Auf¬
ruhr in unwillkürlichen kleinen Bewegungen. Er läßt die beiden
Tafeln, die er in der Rechten hielt, auf den Steinsitz herabrutschen,
sie sind über Eck zu stehen gekommen, vom Unterarm an die
Seite der Brust gedrückt. Die Hand aber fährt an Brust und Bart,
bei der Wendung des Halses nach rechts muß sie den Bart nach
der linken Seite ziehen und die Symmetrie dieser breiten männlichen
Zierde aufheben,* es sieht aus, als spielten die Finger mit dem Bart,
wie der zivilisierte Mensch in der Aufregung mit der Uhrkette. Die
linke gräbt sich in den Rock am Bauch <im alten Testament sind die
Eingeweide Sitz der Affekte). Aber das linke Bein ist bereits zu¬
rückgezogen und das rechte vorgesetzt,* im nächsten Augenblick wird
er auffahren, die psychische Kraft von der Empfindung auf den
1 Es ist zu bemerken, daß die sorgfältige Anordnung des Mantels um die
Beine der sitzenden Gestalt dieses erste Stüdk der Auslegung Justis unhaltbar
macht. Man müßte vielmehr annehmen, es sei dargestellt, wie Moses im ruhigen
erwartungslosen Dasitzen durch eine plötzliche Wahrnehmung aufgeschreckt werde.
Der Moses des Michelangelo
21
Willen überspringen, der rechte Arm sich bewegen, die Tafeln
werden zu Boden fallen und Ströme Blutes die Schmach des Ab¬
falls sühnen . . . .« »Es ist hier noch nicht der Spannungsmoment
der Tat. Noch waltet der Seelenschmerz fast lähmend.«
Ganz ähnlich äußert sich Fritz Knapp,- nur daß er die Eim*
gangssituation dem vorhin geäußerten Bedenken entzieht, auch die
angedeutete Bewegung der Tafeln konsequenter weiterführt: »Ihn,
der soeben noch mit seinem Gotte allein war, lenken irdische Ge^
räusche ab. Er hört Lärm, das Geschrei von gesungenen Tanzreigen
wedct ihn aus dem Traume. Das Auge, der Kopf wenden sich hin
zu dem Geräusch. Schrecken, Zorn, die ganze Furie wilder Leiden¬
schaften durchfahren im Moment die Riesengestalt. Die Gesetzes¬
tafeln fangen an herabzugleiten, sie werden zur Erde fallen und
zerbrechen, wenn die Gestalt auffährt, um die donnernden Zornes^
worte in die Massen des abtrünnigen Volkes zu schleudern ....
Dieser Moment höchster Spannung ist gewählt . . . .« Knapp betont
also die Vorbereitung zur Handlung und bestreitet die Darstellung
der anfänglichen Hemmung infolge der übergewaltigen Erregung.
Wir werden nicht in Abrede stellen, daß Deutungsversuche
wie die letzterwähnten von Justi und Knapp etwas ungemein An¬
sprechendes haben. Sie verdanken diese Wirkung dem Umstande, daß
sie nicht bei dem Gesamteindruck der Gestalt stehen bleiben, son¬
dern einzelne Charaktere derselben würdigen, welche man sonst von
der Allgemeinwirkung überwältigt und gleichsam gelähmt zu beachten
versäumt. Die entschiedene Seitenwendung von Kopf und Augen
der im übrigen nach vorne gerichteten Figur stimmt gut zu der An¬
nahme, daß dort etwas erblickt wird, was plötzlich die Aufmerksam^
keit des Ruhenden auf sich zieht. Der vom Boden abgehobene Fuß
läßt kaum eine andere Deutung zu, als die einer Vorbereitung zum
Aufspringen 1 , und die ganz sonderbare Haltung der Tafeln, die doch
etwas hochheiliges sind und nicht wie ein beliebiges Attribut irgend¬
wie im Raum untergebracht werden dürfen, findet ihre gute Auf¬
klärung in der Annahme, sie glitten infolge der Erregung ihres
Trägers herab und würden dann zu Boden fallen. So wüßten wir
also, daß diese Statue des Moses einen bestimmten bedeutsamen
Moment aus dem Leben des Mannes darstellt, und wären auch nicht
in Gefahr, diesen Moment zu verkennen.
Allein zwei Bemerkungen von Thode entreißen uns wieder,
was wir schon zu besitzen glaubten. Dieser Beobachter sagt, er sehe
die Tafeln nicht herabgleiten, sondern »fest verharren«. Er konsta¬
tiert »die ruhig feste Haltung der rechten Hand auf den auf¬
gestemmten Tafeln«. Blicken wir selbst hin, so müssen wir Thode
ohne Rückhalt recht geben. Die Tafeln sind festgestellt und nicht in
Gefahr zu gleiten. Die rechte Hand stützt sie oder stützt sich auf sie.
1 Obwohl der linke Fuß des ruhig sitzenden Giuliano in der Medicikapelle
ähnlich abgehoben ist.
22
Der Moses des Michelangelo
Dadurch ist ihre Aufstellung zwar nicht erklärt, aber sie wird für
die Deutung von Justi und Anderen unverwendbar.
Eine zweite Bemerkung trifft noch entscheidender. Thode
mahnt daran, daß »diese Statue als eine von sechsen gedacht war
und daß sie silzend dargestellt ist. Beides widerspricht der Annahme,
Michelangelo habe einen bestimmten historischen Moment fixieren
wollen. Denn, was das erste anbetrifft, so schloß die Aufgabe,
nebeneinander sitzende Figuren als Typen menschlichen Wesens
<Vita activa! Vita contemplativa !> zu geben, die Vorstellung ein^
zelner historischer Vorgänge aus. Und bezüglich des zweiten wider¬
spricht die Darstellung des Sitzens, welche durch die gesamte künst¬
lerische Konzeption des Denkmals bedingt war, dem Charakter jenes
Vorganges, nämlich dem Herabsteigen vom Berge Sinai zu dem
Lager«.
Machen wir uns dies Bedenken Th ödes zu eigen,* ich meine,
wir werden seine Kraft noch steigern können. Der Moses sollte
mit fünf <in einem späteren Entwurf drei) anderen Statuen das
Postament des Grabdenkmals zieren. Sein nächstes Gegenstück hätte
ein Paulus werden sollen. Zwei der anderen, die Vita activa und
contemplativa sind als Lea und Rahel an dem heute vorhandenen,
kläglich verkümmerten Monument ausgeführt worden, allerdings
stehend. Diese Zugehörigkeit des Moses zu einem Ensemble macht
die Annahme unmöglich, daß die Figur in dem Beschauer die Br^
Wartung erwecken solle, sie werde nun gleich von ihrem Sitze auf^
springen, etwa davonstürmen und auf eigene Faust Lärm schlagen.
Wenn die anderen Figuren nicht gerade auch in der Vorbereitung
zu so heftiger Aktion dargestellt waren, — was sehr unwahrschein^
lieh ist, — so würde es den übelsten Eindruck machen, wenn gerade
die eine uns die Illusion geben könnte, sie werde ihren Platz und
ihre Genossen verlassen, also sich ihrer Aufgabe im Gefüge des
Denkmals entziehen. Das ergäbe eine grobe Inkohärenz, die man
dem großen Künstler nicht ohne die äußerste Nötigung zumuten
dürfte. Eine in solcher Art davonstürmende Figur wäre mit der
Stimmung, welche das ganze Grabmonument erwecken soll, aufs
äußerste unverträglich.
Also dieser Moses darf nicht aufspringen wollen, er muß in
hehrer Ruhe verharren können, wie die anderen Figuren, wie das
beabsichtigte <dann nicht von Michelangelo ausgeführte) Bild des
Papstes selbst. Dann aber kann der Moses, den wir betrachten, nicht
die Darstellung des von Zorn erfaßten Mannes sein, der vom Sinai
herabkommend, sein Volk abtrünnig findet und die heiligen Tafeln
hinwirft, daß sie zerschmettern. Und wirklich, ich weiß mich an meine
Enttäuschung zu erinnern, wenn ich bei früheren Besuchen in S.
Pietro in Vincoli mich vor die Statue hinsetzte, in der Erwartung,
ich werde nun sehen, wie sie auf dem aufgestellten Fuß empor^
schnellen, wie sie die Tafeln zu Boden schleudern und ihren Zorn
entladen werde. Nichts davon geschah,- anstatt dessen wurde der
Der Moses des Michelangelo
23
Stein immer starrer, eine fast erdrückende heilige Stille ging von ihm
aus, und ich mußte fühlen, hier sei etwas dargestellt, was unver¬
ändert so bleiben könne, dieser Moses werde ewig so dasitzen und
so zürnen.
Wenn wir aber die Deutung der Statue mit dem Moment
vor dem losbrechenden Zorn beim Anblick des Götzenbildes auf¬
geben müssen, so bleibt uns wenig mehr übrig als eine der Auf¬
fassungen anzunehmen, welche in diesem Moses ein Charakterbild
erkennen wollen. Am ehesten von Willkür frei und am besten auf
die Analyse der Bewegungsmotive der Gestalt gestützt erscheint
dann das Urteil vonThode: »Hier, wie immer, ist es ihm um die
Gestaltung eines Charaktertypus zu tun. Er schafft das Bild eines
leidenschaftlichen Führers der Menschheit, der, seiner göttlichen ge¬
setzgebenden Aufgabe bewußt, dem unverständigen Widerstand der
Menschen begegnet. Einen solchen Mann der Tat zu kennzeichnen,
gab es kein anderes Mittel, als die Energie des Willens zu ver¬
deutlichen, und dies war möglich durch die Veranschaulichung einer
die scheinbare Ruhe durchdringenden Bewegung, wie sie in der
Wendung des Kopfes, der Anspannung der Muskeln, der Stellung
des linken Beines sich äußert. Es sind dieselben Erscheinungen wie
bei dem vir activus der Medicikapelle Giuliano. Diese allgemeine
Charakteristik wird weiter vertieft durch die Hervorhebung des Kon¬
fliktes, in welchen ein solcher die Menschheit gestaltender Genius zu
der Allgemeinheit tritt: die Affekte des Zornes, der Verachtung,
des Schmerzes gelangen zu typischem Ausdruck. Ohne diesen war
das Wesen eines solchen Übermenschen nicht zu verdeutlichen. Nicht
ein Historienbild, sondern einen Charaktertypus unüberwindlicher
Energie, welche die widerstrebende Welt bändigt, hat Michelangelo
geschaffen, die in der Bibel gegebenen Züge, die eigenen inneren
Erlebnisse, Eindrücke der Persönlichkeit Julius 7 , und wie ich glaube
auch solche der Savonarolaschen Kampfestätigkeit gestaltend.«
In die Nähe dieser Ausführungen kann man etwa die Berner-
kung von Knack fuß rücken: Das Hauptgeheimnis der Wirkung des
Moses liege in dem künstlerischen Gegensatz zwischen dem inneren
Feuer und der äußerlichen Ruhe der Haltung.
Ich finde nichts in mir, was sich gegen die Erklärung von
Thode sträuben würde, aber ich vermisse irgend etwas. Vielleicht,
daß sich ein Bedürfnis äußert nach einer innigeren Beziehung zwischen
dem Seelenzustand des Helden und dem in seiner Haltung ausge¬
drückten Gegensatz von »scheinbarer Ruhe« und »innerer Be¬
wegtheit«.
2 .
Lange bevor ich etwas von der Psydioanalyse hören konnte,
erfuhr ich, daß ein russischer Kunstkenner, Ivan Lermolieff, dessen
erste Aufsätze 1874 bis 1876 in deutscher Sprache veröffentlicht
wurden, eine Umwälzung in den Galerien Europas hervorgerufen
24
Der Moses des Michelangelo
hatte, indem er die Zuteilung vieler Bilder an die einzelnen Maler
revidierte, Kopien von Originalen mit Sicherheit unterscheiden lehrte
und aus den von ihren früheren Bezeichnungen frei gewordenen
Werken neue Künstlerindividualitäten konstruierte. Er brachte dies
zustande, indem er vom Gesamteindruck und von den großen
Zügen eines Gemäldes absehen hieß und die charakteristische Be¬
deutung von untergeordneten Details hervorhob, von solchen Kleinig¬
keiten wie die Bildung der Fingernägel, der Ohrläppchen, des Hei¬
ligenscheines und anderer unbeachteter Dinge, die der Kopist nach¬
zuahmen vernachlässigt, und die doch jeder Künstler in einer ihn
kennzeichnenden Weise ausführt. Es hat mich dann sehr interessiert
zu erfahren, daß sich hinter dem russischen Pseudonym ein italie¬
nischer Arzt, namens Morelli, verborgen hatte. Er ist 1891 als
Senator des Königreiches Italien gestorben. Ich glaube, sein Ver¬
fahren ist mit der Technik der ärztlichen Psychoanalyse nahe ver¬
wandt. Auch diese ist gewöhnt, aus gering geschätzten oder nicht
beachteten Zügen, aus dem Abhub — dem »refuse« — der Beobacht
tung. Geheimes und Verborgenes zu erraten.
An zwei Stellen der Mosesfigur finden sich nun Details, die
bisher nicht beachtet, ja eigentlich nodi nicht richtig beschrieben worden
sind. Sie betreffen die Haltung der rechten Hand und die Stellung
der beiden Tafeln. Man darf sagen, daß diese Hand in sehr eigen¬
tümlicher, gezwungener, Erklärung heischender Weise zwischen den
Tafeln und dem — Bart des zürnenden Helden vermittelt. Es ist
gesagt worden, daß sie mit den Fingern im Barte wühlt, mit den
Strängen desselben spielt, während sie sich mit dem Kleinfingerrand
auf die Tafeln stützt. Aber dies trifft offenbar nicht zu. Es verlohnt
sich, sorgfältiger ins Auge zu fassen, was die Finger dieser rechten
Hand tun, und den mächtigen Bart, zu dem sie in Beziehung treten,
genau zu beschreiben 1 .
Man sieht dann mit aller Deutlichkeit: Der Daumen dieser
Hand ist versteckt, der Zeigefinger und dieser allein ist mit dem
Bart in wirksamer Berührung. Er drückt sich so tief in die weichen
Haarmassen ein, daß sie ober und unter ihm <kopfwärts und bauche
wärts vom drückenden Finger) über sein Niveau hervorquellen. Die
anderen drei Finger stemmen sich, in den kleinen Gelenken ge^
beugt, an die Brustwand, sie werden von der äußersten rechten
Fledite des Bartes, die über sie hinwegsetzt, bloß gestreift. Sie haben
sich dem Barte sozusagen entzogen. Man kann also nicht sagen, die
rechte Hand spiele mit dem Bart oder wühle in ihm,- nichts anderes
ist richtig, als daß der eine Zeigefinger über einen Teil des Bartes
gelegt ist und eine tiefe Rinne in ihm hervorruft. Mit einem Finger
auf seinen Bart drücken, ist gewiß eine sonderbare und schwer ver^
stündliche Geste.
Der viel bewunderte Bart des Moses läuft von Wangen,
1 Siehe die Beilage.
Der Moses des Michelangelo
25
Oberlippe und Kinn in einer Anzahl von Strängen herab, die man
noch in ihrem Verlauf voneinander unterscheiden kann. Einer der
äußersten rechten Haarsträhne, der von der Wange ausgeht, läuft
auf den oberen Rand des lastenden Zeigefingers zu, von dem er
aufgehalten wird. Wir können annehmen, er gleitet zwischen diesem
und dem verdeckten Daumen weiter herab. Der ihm entsprechende
Strang der linken Seite fließt faßt ohne Ablenkung bis weit auf die
Brust herab. Die dicke Haarmasse nach innen von diesem letzteren
Strang, von ihm bis zur Mittellinie reichend, hat das auffälligste
Schicksal erfahren. Sie kann der Wendung des Kopfes nach links
nicht folgen, sie ist genötigt, einen sich weich aufrollenden Bogen,
ein Stück einer Guirlande, zu bilden, welche die inneren rechten Haar¬
massen überkreuzt. Sie wird nämlich von dem Druck des rechten
Zeigefingers festgehalten, obwohl sie links von der Mittellinie ent¬
sprungen ist und eigentlich den Hauptanteil der linken Barthälfte
darstellt. Der Bart erscheint so in seiner Hauptmasse nach rechts
geworfen, obwohl der Kopf scharf nach links gewendet ist. An der
Stelle, wo der rechte Zeigefinger sich eindrüdct, hat sich etwas wie
ein Wirbel von Haaren gebildet,- hier liegen Stränge von links über
solchen von rechts, beide durch den gewalttätigen Finger komprU
miert. Erst jenseits von dieser Stelle brechen die von ihrer Richtung
abgelenkten Haarmassen frei hervor, um nun senkrecht herabzu¬
laufen, bis ihre Enden von der im Schoß ruhenden, geöffneten linken
Hand aufgenommen werden.
Ich gebe mich keiner Täuschung über die Einsichtlichkeit meiner
Beschreibung hin und getraue midi keines Urteils darüber, ob uns
der Künstler die Auflösung jenes Knotens im Bart wirklich leicht
gemacht hat. Aber über diesen Zweifel hinweg bleibt die Tatsache
bestehen, daß der Drude des Zeigefingers der rechten Hand haupt^
sächlich Haarstränge der linken Barthälfte betrifft, und daß durch
diese übergreifende Einwirkung der Bart zurückgehalten wird, die
Wendung des Kopfes und Blickes nach der linken Seite mitzumachen.
Nun darf man fragen, was diese Anordnung bedeuten soll und
welchen Motiven sie ihr Dasein verdankt. Wenn es wirklich Rück^
sichten der Linienführung und Raumausfüllung waren, die den
Künstler dazu bewogen haben, die herabwallende Bartmasse des
nach links schauenden Moses nach rechts herüber zu streichen, wie
sonderbar ungeeignet erscheint als Mittel hiefür der Druck des einen
Fingers? Und wer, der aus irgendeinem Grund seinen Bart auf
die andere Seite gedrängt hat, würde dann darauf verfallen, durch
den Drude eines Fingers die eine Barthälfte über der anderen zu
fixieren? Vielleicht aber bedeuten diese im Grunde geringfügigen
Züge nichts und wir zerbrechen uns den Kopf über Dinge, die dem
Künstler gleichgiltig waren?
Setzen wir unter der Voraussetzung fort, daß auch diese De¬
tails eine Bedeutung haben. Es gibt dann eine Lösung, welche die
Schwierigkeiten aufhebt und uns einen neuen Sinn ahnen läßt. Wenn
26
Der Moses des Michelangelo
an der Figur des Moses die linken Bartstränge unter dem Drude
des rechten Zeigefingers liegen, so läßt sich dies vielleicht als der
Rest einer Beziehung zwischen der rechten Hand und der linken
Barthälfte verstehen, welche in einem früheren Momente als dem
dargestellten eine weit innigere war. Die rechte Hand hatte vielleicht
den Bart weit energischer angefaßt, war bis zum linken Rand des¬
selben vorgedrungen, und als sie sich in die Haltung zurückzog,
welche wir jetzt an der Statue sehen, folgte ihr ein Teil des Bartes
nach und legt nun Zeugnis ab von der Bewegung, die hier abge*
laufen ist. Die Bartguirlande wäre die Spur des von dieser Hand zu¬
rückgelegten Weges.
So hätten wir also eine Rückbewegung der rechten Hand er¬
schlossen. Die eine Annahme nötigt uns andere wie unvermeidlich
auf. Unsere Phantasie vervollständigt den Vorgang, von dem die
durch die Bartspur bezeugte Bewegung ein Stück ist, und führt uns
zwanglos zur Auffassung zurück, welche den ruhenden Moses durch
den Lärm des Volkes und den Anblick des goldenen Kalbes auf*
schrecken läßt. Er saß ruhig da, den Kopf mit dem herabwallenden
Bart nach vorne gerichtet, die Hand hatte wahrscheinlich nichts mit
dem Barte zu tun. Da schlägt das Geräusch an sein Ohr, er wendet
Kopf und Blidc nach der Richtung, aus der die Störung kommt, er*
schaut die Szene und versteht sie. Nun packen ihn Zorn und Em*
pörung, er möchte aufspringen, die Frevler bestrafen, vernichten.
Die Wut, die sich von ihrem Objekt noch entfernt weiß, richtet sich
unterdes als Geste gegen den eigenen Leib. Die ungeduldige, zur
Tat bereite Hand greift nach vorne in den Bart, welcher der Wen*
düng des Kopfes gefolgt war, preßt ihn mit eisernem Griffe zwischen
Daumen und Handfläche mit den zusammenschließenden Fingern,
eine Geberde von einer Kraft und Heftigkeit, die an andere Dar*
Stellungen Michelangelos erinnern mag. Dann aber tritt, wir wissen
noch nicht wie und warum, eine Änderung ein, die vorgestredkte,
in den Bart versenkte Hand wird eilig zurückgezogen, ihr Griff gibt
den Bart frei, die Finger lösen sich von ihm, aber so tief waren sie
in ihn eingegraben, daß sie bei ihrem Rückzug einen mächtigen
Strang von der linken Seite nach rechts herüberziehen, wo er unter
dem Druck des einen, längsten und obersten Fingers die rechten
Bartflechten überlagern muß. Und diese neue Stellung, die nur durch
die Ableitung aus der ihr vorhergehenden verständlich ist, wird jetzt
festgehalten.
Es ist Zeit, uns zu besinnen. Wir haben angenommen, daß
die rechte Hand zuerst außerhalb des Bartes war, daß sie sich dann
in einem Moment hoher Affektspannung nach links herüberstreckte,
um den Bart zu packen, und daß sie endlich wieder zurückfuhr,
wobei sie einen Teil des Bartes mitnahm. Wir haben mit dieser
rechten Hand geschaltet, als ob wir frei über sie verfügen dürften.
Aber dürfen wir dies? Ist diese Hand denn frei? Hat sie nicht die
heiligen Tafeln zu halten oder zu tragen, sind ihr solche mimische
Der Moses des Michelangelo
27
Exkursionen nicht durch ihre wichtige Aufgabe untersagt? Und weiter,
was soll sie zu der Rückbewegung veranlassen, wenn sie einem
starken Motiv gefolgt war, um ihre anfängliche Lage zu verlassen?
Das sind nun wirklich neue Schwierigkeiten. Allerdings gehört
die rechte Hand zu den Tafeln. Wir können hier auch nicht in Ab¬
rede stellen, daß uns ein Motiv fehlt, welches die rechte Hand zu
dem erschlossenen Rückzug veranlassen könnte. Aber wie wäre es,
wenn sich beide Schwierigkeiten miteinander lösen ließen und erst
dann einen ohne Lücke verständlichen Vorgang ergeben würden?
Wenn gerade etwas, was an den Tafeln geschieht, uns die Be¬
wegungen der Hand auf klärte?
An diesen Tafeln ist einiges zu bemerken, was bisher der Be¬
obachtung nicht wert gefunden wurde 1 . Man sagte: Die Hand stützt
sich auf die Tafeln oder: die Hand stützt die Tafeln. Man sieht
auch ohne weiteres die beiden rechteckigen, aneinander gelegten
Tafeln stehen auf der Kante. Schaut man näher zu, so findet man,
daß der untere Rand der Tafeln anders gebildet ist als der obere,
schräg nach vorne geneigte. Dieser obere ist geradlinig begrenzt, der
untere aber zeigt in seinem vorderen Anteil einen Vorsprung wie
ein Horn, und gerade mit diesem Vorsprung berühren die Tafeln
den Steinsitz. Was kann die Bedeutung dieses Details sein, welches
übrigens an einem großen Gipsabguß in der Sammlung der Wiener
Akademie der bildenden Künste ganz unrichtig wiedergegeben ist?
Es ist kaum zweifelhaft, daß dieses Horn den der Schrift nach oberen
Rand der Tafeln auszeichnen soll. Nur der obere Rand solcher recht¬
eckigen Tafeln pflegt abgerundet oder ausgeschweift zu sein. Die
Tafeln stehen also hier auf dem Kopf. Das ist nun eine sonderbare
Behandlung so heiliger Gegenstände. Sie sind auf den Kopf gestellt
und werden fast auf einer Spitze balanciert. Welches formale Mo¬
ment kann bei dieser Gestaltung mitwirken? Oder soll auch dieses
Detail dem Künstler gleichgiltig gewesen sein?
Da stellt sich nun die Auffassung ein, daß auch die Tafeln durch
eine abgelaufene Bewegung in diese Position gekommen sind, daß
diese Bewegung abhängig war von der erschlossenen Ortsverän^
derung der rechten Hand, und daß sie dann ihrerseits diese Hand zu
ihrer späteren Rückbewegung gezwungen hat. Die Vorgänge an der
Hand und die an den Tafeln setzen sich zu folgender Einheit zu^
sammen: Anfänglich, als die Gestalt in Ruhe dasaß, trug sie die
Tafeln aufrecht unter dem rechten Arm. Die rechte Hand faßte
deren untere Ränder und fand dabei eine Stütze an dem nach vorn
gerichteten Vorsprung. Diese Erleichterung des Tragens erklärt
ohne weiteres, warum die Tafeln umgekehrt gehalten waren. Dann
kam der Moment, in dem die Ruhe durch das Geräusch gestört
wurde. Moses wendete den Kopf hin, und als er die Szene erschaut
hatte, machte sich der Fuß zum Aufspringen bereit, die Hand ließ
ihren Griff an den Tafeln los und fuhr nach links und oben in den
Siehe das Detail Figur D.
Fig. 3.
30
Der Moses des Michelangelo
Bart, wie um ihr Ungestüm am eigenen Leibe zu betätigen. Die
Tafeln waren nun dem Druck des Armes an vertraut, der sie an
die Brustwand pressen sollte. Aber diese Fixierung reichte nicht
aus, sie begannen nach vorn und unten zu gleiten, der früher
horizontal gehaltene obere Rand richtete sich nach vorn und ab¬
wärts, der seiner Stütze beraubte untere Rand näherte sich mit
seiner vorderen Spitze dem Steinsitz. Einen Augenblick weiter und
die Tafeln hätten sich um den neu gefundenen Stützpunkt drehen
müssen, mit dem früher oberen Rande zuerst den Boden erreichen
und an ihm zerschellen. Um dies zu verhüten, fährt die rechte
Hand zurück, und entläßt den Bart, von dem ein Teil ohne Absicht
mitgezogen wird, erreicht noch den Rand der Tafeln und stützt
sie nahe ihrer hinteren, jetzt zur obersten gewordenen Ecke. So
leitet sich das sonderbar gezwungen scheinende Ensemble von Bart,
Hand und auf die Spitze gestelltem Tafelpaar aus der einen leiden¬
schaftlichen Bewegung der Hand und deren gut begründeten Folgen
ab. Will man die Spuren des abgelaufenen Bewegungssturmes rück^
gängig machen, so muß man die vordere obere Ecke der Tafeln
heben und in die Bildebene zurückschieben, damit die vordere untere
Ecke <mit dem Vorsprung) vom Steinsitz entfernen, die Hand senken
und sie unter den nun horizontal stehenden unteren Tafelrand führen.
Ich habe mir von Künstlerhand drei Zeichnungen machen
lassen, welche meine Beschreibung verdeutlichen sollen. Die dritte
derselben gibt die Statue wieder, wie wir sie sehen,- die beiden
anderen stellen die Vorstadien dar, welche meine Deutung postuliert,
die erste das der Ruhe, die zweite das der höchsten Spannung, der
Bereitschaft zum Aufspringen, der Abwendung der Hand von den
Tafeln und des beginnenden Herabgleitens derselben. Es ist nun
bemerkenswert, wie die beiden von meinem Zeichner ergänzten Dar¬
stellungen die unzutreffenden Beschreibungen früherer Autoren zu
Ehren bringen. Ein Zeitgenosse Michelangelos, Condivi, sagte:
»Moses, der Herzog und Kapitän der Hebräer, sitzt in der Stellung
eines sinnenden Weisen, hält unter dem rechten Arm die
Gesetzestafeln und stützt mit der linken Hand das Kinn <!>, wie
Einer, der müde und voll von Sorgen.« Das ist nun an der Statue
Michelangelos nicht zu sehen, aber es deckt sich mit der Annahme,
welche der ersten Zeichnung zugrunde liegt. W. Lübke hatte wie
andere Beobachter geschrieben: »Erschüttert greift er mit der Rechten
in den herrlich herabflutenden Bart . . .« Das ist nun unrichtig,
wenn man es auf die Abbildung der Statue bezieht, trifft aber für
unsere zweite Zeichnung zu. Justi und Knapp haben, wie erwähnt,
gesehen, daß die Tafeln im Herabgleiten sind und in der Gefahr
schweben, zu zerbrechen. Sie mußten sich von Thode berichtigen
lassen, daß die Tafeln durch die rechte Hand sicher fixiert seien,
aber sie hätten Recht, wenn sie nicht die Statue, sondern unser
mittleres Stadium beschreiben würden. Man könnte fast meinen,
diese Autoren hätten sich von dem Gesichtsbild der Statue frei
Der Moses des Michelangelo
31
gemacht und hätten unwissentlich eine Analyse der Bewegungs¬
motive derselben begonnen, durch welche sie zu denselben An^
Forderungen geführt wurden, wie wir sie bewußter und ausdrück^
lieber aufgestellt haben.
3.
Wenn ich nicht irre, wird es uns jetzt gestattet sein, die
Früchte unserer Bemühung zu ernten. Wir haben gehört, wie vielen,
die unter dem Eindruck der Statue standen, sich die Deutung auf¬
gedrängt hat, sie stelle Moses dar unter der Einwirkung des An¬
blicks, daß sein Volk abgefallen sei und um ein Götzenbild tanze.
Aber diese Deutung mußte aufgegeben werden, denn sie fand ihre
Fortsetzung in der Erwartung, er werde im nächsten Moment auf^
springen, die Tafeln zertrümmern und das Werk der Rache voll¬
bringen. Dies widersprach aber der Bestimmung der Statue als
Teilstück des Grabdenkmals Julius II. neben drei oder fünf anderen
sitzenden Figuren. Wir dürfen nun diese verlassene Deutung wieder
aufnehmen, denn unser Moses wird nicht aufspringen und die
Tafeln nicht von sich schleudern. Was wir an ihm sehen, ist nicht
die Einleitung zu einer gewaltsamen Aktion, sondern der Rest
einer abgelaufenen Bewegung: Er wollte es in einem Anfall von
Zorn, aufspringen, Rache nehmen, an die Tafeln vergessen, aber er
hat die Versuchung überwunden, er wird jetzt so sitzen bleiben in
gebändigter Wut, in mit Verachtung gemischtem Schmerz. Er wird
auch die Tafeln nidit wegwerfen, daß sie am Stein zerschellen, denn
gerade ihretwegen hat er seinen Zorn bezwungen, zu ihrer Rettung
seine Leidenschaft beherrscht. Als er sich seiner leidenschaftlichen
Empörung überließ, mußte er die Tafeln vernachlässigen, die Hand,
die sie trug, von ihnen abziehen. Da begannen sie herabzugleiten,
gerieten in Gefahr zu zerbrechen. Das mahnte ihn. Er gedachte seiner
Mission und verzichtete für sie auf die Befriedigung^seines Affekts.
Seine Hand fuhr zurück und rettete die sinkenden Tafeln, noch ehe
sie fallen konnten. In dieser Stellung blieb er verharrend, und so
hat ihn Michelangelo als Wächter des Grabmals dargestellt.
Eine dreifache Schichtung drückt sich in seiner Figur in verti¬
kaler Richtung aus. In den Mienen des Gesichts spiegeln sich die
Affekte, welche die herrschenden geworden sind, in der Mitte der
Figur sind die Zeichen der unterdrückten Bewegung sichtbar, der
Fuß zeigt noch die Stellung der beabsichtigten Aktion, als wäre die
Beherrschung von oben nach unten vorgeschritten. Der linke Arm,
von dem noch nicht die Rede war, scheint seinen Anteil an unserer
Deutung zu fordern. Seine Hand ist mit weicher Gebärde in den
Schoß gelegt und umfängt wie liebkosend die letzten Enden des
herabfallenden Bartes. Es macht den Eindruck, als wollte sie die
Gewaltsamkeit autheben, mit der einen Moment vorher die andere
Hand den Bart mißhandelt hatte.
Nun wird man uns aber entgegenhalten: Das ist also doch
32
Der Moses des Michelangelo
nicht der Moses der Bibel, der wirklich in Zorn geriet und die
Tafeln hinwarf, daß sie zerbrachen. Das wäre ein ganz anderer
Moses von der Empfindung des Künstlers, der sich dabei heraus¬
genommen hätte, den heiligen Text zu emendieren und den Cha¬
rakter des göttlichen Mannes zu verfälschen. Dürfen wir Michel¬
angelo diese Freiheit zumuten, die vielleicht nicht weit von einem
Frevel am Heiligen liegt?
Die Stelle der Heiligen Schrift, in welcher das Benehmen Moses'
bei der Szene des goldenen Kalbes berichtet wird, lautet folgender¬
maßen <ich bitte um Verzeihung, daß ich mich in anachronistischer
Weise der Übersetzung Luthers bediene):
<11. B. Kap. 32.) »7. Der Herr sprach aber zu Mose: Gehe,
steig hinab,* denn dein Volk, das du aus Aegyptenland geführt hast,
hat's verderbt. 8. Sie sind schnell von dem Wege getreten, den
ich ihnen geboten habe. Sie haben sich ein gegossen Kalb gemacht,
und haben's angebetet, und ihm geopfert, und gesagt: Das sind
deine Götter, Israel, die dich aus Aegyptenland geführt haben.
9. Und der Herr sprach zu Mose: Ich sehe, daß es ein halsstarrig
Volk ist. 10. Und nun laß mich, daß mein Zorn über sie er¬
grimme, und sie vertilge,* so will ich dich zum großen Volk machen.
11. Mose aber flehte vor dem Herrn, seinem Gott und sprach: Ach,
Herr, warum will dein Zorn ergrimmen über dein Volk, das du
mit großer Kraft und starker Hand hast aus Aegyptenland ge¬
führt? . . .
... 14. Also gereuete den Herrn das Übel, das er dräuete
seinem Volk zu thun. 15. Moses wandte sich, und stieg vom Berge,
und hatte zwo Tafeln des Zeugnisses in seiner Hand, die waren
geschrieben auf beiden Seiten. 16. Und Gott hatte sie selbst ge¬
macht, und selber die Schrift drein gegraben. 17. Da nun Tosua
hörte des Volkes Geschrei, daß sie jauchzeten, sprach er zu Mose:
Es ist ein Geschrei im Lager wie im Streit. 18. Er antwortete:
Es ist nicht ein Geschrei gegeneinander derer die obsiegen und unter¬
liegen, sondern ich höre ein Geschrei eines Siegestanzes. 19. Als er
aber nahe zum Lager kam, und das Kalb und den Reigen sah, er^
grimmte er mit Zorn, und warf die Tafeln aus seiner Hand, und
zerbrach sie unten am Berge,* 20. und nahm das Kalb, das sie ge¬
macht hatten, und zerschmelzte es mit Feuer, und zermalmte es
mit Pulver, und stäubte es aufs Wasser, und gab's den Kindern
Israels zu trinken,* . . .
30. Des Morgens sprach Mose zum Volk: Ihr habt eine
große Sünde gethan/ nun will ich hinaufsteigen zu dem Herrn, ob
ich vielleicht eure Sünde versöhnen möge. 31. Als nun Mose wieder
zum Herrn kam, sprach er: Ach, das Volk hat eine große Sünde
gethan, und haben sich güldene Götter gemacht. 32. Nun vergib ihnen
ihre Sünde,* wo nicht, so tilge mich auch aus deinem Buch, das du
geschrieben hast. 33. Der Herr sprach zu Mose: Was? Ich will den
aus meinem Buch tilgen, der an mir sündiget. 34. So gehe nun hin
Der Moses des Michelangelo
33
und führe das Volk, dahin ich dir gesagt habe. Siehe, mein Engel
soll vor dir hergehen. Ich werde ihre Sünde wohl heimsuchen, wenn
meine Zeit kommt heimzusuchen. 35. Also strafte der Herr das
Volk, daß sie das Kalb hatten gemacht, welches Aaron gemacht hatte.«
Unter dem Einfluß der modernen Bibelkritik wird es uns un¬
möglich, diese Stelle zu lesen, ohne in ihr die Anzeichen ungeschickter
Zusammensetzung aus mehreren Quellberichteil zu finden. In Vers
8 teilt der Herr selbst Moses mit, daß das Volk abgefallen sei und
sich ein Götzenbild gemacht habe. Moses bittet für die Sünder. Doch
benimmt er sich in Vers 18 gegen Josua, als wüßte er es nicht, und
wallt im plötzlichen Zorn auf <Vers 19), wie er die Szene des
Götzendienstes erblickt. In Vers 14 hat er die Verzeihung Gottes
für sein sündiges Volk bereits erlangt, doch begibt er sich Vers
31 ff. wieder auf den Berg, um diese Verzeihung zu erflehen, be^
richtet dem Herrn von dem Abfall des Volkes und erhält die Ver¬
sicherung des Strafaufschubes. Vers 35 bezieht sich auf eine Be¬
strafung des Volkes durch Gott, von der nichts mitgeteilt wurde,
während in den Versen zwischen 20 und 30 das Strafgericht, das
Moses selbst vollzogen hat, geschildert wurde. Es ist bekannt, daß
die historischen Partien des Buches, welches vom Auszug handelt, von
noch auffälligeren Inkongruenzen und Widersprüchen durchsetzt sind.
Für die Menschen der Renaissance gab es solche kritische
Einstellung zum Bibeltexte natürlich nidit, sie mußten den Bericht
als einen zusammenhängenden auffassen und fanden dann wohl, daß
er der darstellenden Kunst keine gute Anknüpfung bot. Der Moses
der Bibelstelle war von dem Götzendienst des Volkes bereits untere
richtet worden, hatte sich auf die Seite der Milde und Verzeihung
gestellt und erlag dann doch einem plötzlichen Wutanfall, als er des
goldenen Kalbes und der tanzenden Menge ansichtig wurde. Es
wäre also nicht zu verwundern, wenn der Künstler, der die Reaktion
des Helden auf diese schmerzliche Überraschung darstellen wollte,
sich aus inneren Motiven von dem Bibeltext unabhängig gemacht
hätte. Auch war solche Abweichung vom Wortlaut der heiligen
Schrift aus geringeren Motiven keineswegs ungewöhnlich oder dem
Künstler versagt. Ein berühmtes Gemälde des Parmigiano in
seiner Vaterstadt zeigt uns den Moses, wie er auf der Höhe eines
Berges sitzend die Tafeln zu Boden schleudert, obwohl der Bibel-
vers ausdrücklich besagt: er zerbrach sie am Fuße des Berges.
Schon die Darstellung eines sitzenden Moses findet keinen Anhalt
am Bibeltext und scheint eher jenen Beurteilern Redit zu geben,
welche annahmen, daß die Statue Michelangelos kein bestimmtes
Moment aus dem Leben des Helden festzuhalten beabsichtige.
Wichtiger als die Untreue gegen den heiligen Text ist wohl
die Umwandlung, die Michelangelo nach unserer Deutung mit
dem Charakter des Moses vorgenommen hat. Der Mann Moses
war nach den Zeugnissen der Tradition jähzornig und Aufwallungen
von Leidenschaft unterworfen. In einem solchen Anfalle von heiligem
Imago III/l
3
34
Der Moses des Michelangelo
Zorne hatte er den Egypter erschlagen, der einen Israeliten mi߬
handelte, und mußte deshalb aus dem Lande in die Wüste fliehen.
In einem ähnlichen Affektausbruch zerschmetterte er die beiden
Tafeln, die Gott selbst beschrieben hatte. Wenn die Tradition solche
Charakterzüge berichtet, ist sie wohl tendenziös und hat den Ein^
drudc einer großen Persönlichkeit, die einmal gelebt hat, erhalten.
Aber Michelangelo hat an das Grabdenkmal des Papstes einen
anderen Moses hingesetzt, welcher dem historischen oder traditionellen
Moses überlegen ist. Er hat das Motiv der zerbrochenen Gesetzes¬
tafeln umgearbeitet, er läßt sie nicht durch den Zorn Moses 7 zer^
brechen, sondern diesen Zorn durch die Drohung, daß sie zerbrechen
könnten, beschwichtigen oder wenigstens auf dem Wege zur Hand^
lung hemmen. Damit hat er etwas Neues, Übermenschliches in die
Figur des Moses gelegt, und die gewaltige Körpermasse und kraft¬
strotzende Muskulatur der Gestalt wird nur zum leiblichen Aus^
drucksmittel für die höchste psychische Leistung, die einem Menschen
möglich ist, für das Niederringen der eigenen Leidenschaft zugunsten
und im Aufträge einer Bestimmung, der man sich geweiht hat.
Hier darf die Deutung der Statue Michelangelos ihr Ende
erreichen. Man kann noch die Frage aufwerfen, welche Motive in
dem Künstler tätig waren, als er den Moses, und zwar einen so
umgewandelten Moses, für das Grabdenkmal des Papstes Julius II.
bestimmte. Von vielen Seiten wurde übereinstimmend darauf hin¬
gewiesen, daß diese Motive in dem Charakter des Papstes und im
Verhältnis des Künstlers zu ihm zu suchen seien. Julius II. war
Michelangelo darin verwandt, daß er Großes und Gewaltiges zu
verwirklichen suchte, vor allem das Große der Dimension. Er war
ein Mann der Tat, sein Ziel war angebbar, er strebte nach der
Einigung Italiens unter der Herrschaft des Papsttums. Was erst
mehrere Jahrhunderte später einem Zusammenwirken von anderen
Mächten gelingen sollte, das wollte er allein erreichen, ein Einzelner
in der kurzen Spanne Zeit und Herrschaft, die ihm gegönnt war,
ungeduldig mit gewalttätigen Mitteln. Er wußte Michelangelo als
seinesgleichen zu schätzen, aber er ließ ihn oft leiden unter seinem
Jähzorn und seiner Rücksichtslosigkeit. Der Künstler war sich der
gleichen Heftigkeit des Strebens bewußt und mag als tiefer blicken^
der Grübler die Erfolglosigkeit geahnt haben, zu der sie beide ver¬
urteilt waren. So brachte er seinen Moses an dem Denkmal des
Papstes an, nicht ohne Vorwurf gegen den Verstorbenen, zur Mahnung
für sich selbst, sich mit dieser Kritik über die eigene Natur er¬
hebend.
4.
Im Jahre 1863 hat ein Engländer W. Watkiss Lloyd dem
Moses von Michelangelo ein kleines Büchlein gewidmet 1 . Als es
1 W. Watkiss Lloyd, The Moses of Michelangelo. London,
Williams and Norgate, 1863.
Der Moses des Michelangelo
35
mir gelang, dieser Schrift von 46 Seiten habhaft zu werden, nahm
ich ihren Inhalt mit gemischten Empfindungen zur Kenntnis. Es war
eine Gelegenheit, wieder an der eigenen Person zu erfahren, was
für unwürdige infantile Motive zu unserer Arbeit im Dienste einer
großen Sache beizutragen pflegen. Ich bedauerte, daß Lloyd so
vieles vorweg genommen hatte, was mir als Ergebnis meiner
eigenen Bemühung wertvoll war, und erst in zweiter Instanz konnte
ich mich über die unerwartete Bestätigung freuen. An einem ent¬
scheidenden Punkte trennen sich allerdings unsere Wege.
Lloyd hat zuerst bemerkt, daß die gewöhnlichen Beschreibungen
der Figur unrichtig sind, daß Moses nicht im Begriffe ist, aufzu^
stehen 1 , daß die rechte Hand nicht in den Bart greift, daß nur
deren Zeigefinger noch auf dem Barte ruht 2 . Er hat auch, was weit
mehr besagen will, eingesehen, daß die dargestellte Haltung der
Gestatt nur durch die Rüdebeziehung auf einen früheren, nicht dar¬
gestellten, Moment aufgeklärt werden kann, und daß das Herüber¬
ziehen der linken Bartstränge nach rechts andeuten solle, die rechte
Hand und die linke Hälfte des Bartes seien vorher in inniger,
natürlich vermittelter Beziehung gewesen. Aber er schlägt einen
anderen Weg ein, um diese mit Notwendigkeit erschlossene Nach¬
barschaft wieder herzustellen, er läßt nicht die Hand in den Bart
gefahren, sondern den Bart bei der Hand gewesen sein. Er erklärt,
man müsse sich vorstellen, »der Kopf der Statue sei einen Moment
vor der plötzlichen Störung voll nach rechts gewendet gewesen über
der Hand, welche damals wie jetzt die Gesetztafeln hält«. Der
Drude auf die Hohlhand <durch die Tafeln) läßt deren Finger sich
natürlich unter den herabwallenden Locken öffnen, und die plötzliche
Wendung des Kopfes nach der anderen Seite hat zur Folge, daß
ein Teil der Haarstränge für einen Augenblidt von der nicht be¬
wegten Hand zurückgehalten wird und jene Haarguirlande bildet,
die als Wegspur <»wake«> verstanden werden soll.
Von der anderen Möglichkeit einer früheren Annäherung von
rechter Hand und linker Barthälfte läßt sich Lloyd durch eine En*
wägung zurüdchalten, welche beweist, wie nahe er an unserer
Deutung vorbeigegangen ist. Es sei nicht möglich, daß der Prophet,
selbst nicht in höchster Erregung, die Hand vorgestreckt haben
könne, um seinen Bart so beiseite zu ziehen. In dem Falle wäre
die Haltung der Finger eine ganz andere geworden, und überdies
hätten infolge dieser Bewegung die Tafeln herabfallen müssen,
welche nur vom Druck der rechten Hand gehalten werden, es sei
1 »But he is not rising or preparing to rise,- the bust is fully upright, not
thrown forward for the alteration of balance preparatory for such a move^
ment,- . . .« <p. 10).
2 »Such a description is altogether erroneous,* the fillets of the beard are
detained by the right hand, but they are not held, nor grasped, enclosed or taken
hold of. They are even detained but momentarily — momentarily engaged, they
are on the point of being free for disengagement.« <p. 11).
3 *
36
Der Moses des Michelangelo
denn, man mute der Gestalt, um die Tafeln auch dann noch zu
erhalten, eine sehr ungeschickte Bewegung zu, deren Vorstellung
eigentlich eine Entwürdigung enthalte. <»Unless clutched by a gesture
so awkward, that to imagine it is profanation.«)
Es ist leicht zu sehen, worin die Versäumnis des Autors
liegt. Er hat die Auffälligkeiten des Bartes richtig als Anzeichen
einer abgelaufenen Bewegung gedeutet, es aber dann unterlassen,
denselben Schluß auf die nicht weniger gezwungenen Einzelheiten
in der Stellung der Tafeln anzuwenden. Er verwertet nur die An¬
zeichen vom Bart, nicht auch die von den Tafeln, deren Stellung
er als die ursprüngliche hinnimmt. So verlegt er sich den Weg zu
einer Auffassung wie die unsrige, welche durch die Wertung ge^
wisser unscheinbarer Details zu einer überraschenden Deutung der
ganzen Figur und ihrer Absichten gelangt.
Wie nun aber, wenn wir uns beide auf einem Irrwege be^
fänden? Wenn wir Einzelheiten schwer und bedeutungsvoll auf^
nehmen würden, die dem Künstler gleichgiltig waren, die er rein
willkürlich oder auf gewisse formale Anlässe hin nur eben so ge¬
staltet hätte, wie sie sind, ohne etwas Geheimes in sie hineinzu¬
legen? Wenn wir dem Los so vieler Interpreten verfallen wären,
die deutlich zu sehen glauben, was der Künstler weder bewußt noch
unbewußt schaffen gewollt hat? Darüber kann ich nicht entscheiden.
Ich weiß nidit zu sagen, ob es angeht, einem Künstler wie
Michelangelo, in dessen Werken soviel Gedankeninhalt nach
Ausdrude ringt, eine solche naive Unbestimmtheit zuzutrauen, und
ob dies gerade für die auffälligen und sonderbaren Züge der Moses^
statue annehmbar ist. Endlich darf man noch in aller Schüchternheit
hinzufügen, daß sich in die Verschuldung dieser Unsicherheit der
Künstler mit dem Interpreten zu teilen habe. Michelangelo ist
oft genug in seinen Schöpfungen bis an die äußerste Grenze dessen,
was die Kunst ausdrücken kann, gegangen,- vielleicht ist es ihm auch
beim Moses nicht völlig geglüdet, wenn es seine Absicht war, den
Sturm heftiger Erregung aus den Anzeichen erraten zu lassen, die
nach seinem Ablauf in der Ruhe Zurückbleiben.
Der Homunculus
37
Der Homunculus.
Von HERBERT SILBERER.
Wagner {ängstlich):
Willkommen! zu dem Stern der Stunde.
(Leise):
Doch haltet Wort und Athem fest im
Munde,
Ein herrlich Werk ist gleich zu Stand
gebracht.
Mephistopheles (leiser):
Was gibt es denn?
Wagner (leiser):
Es wird ein Mensch gemacht.
D er Homunculus läßt sicherlich jeden an Goethes »Faust«
denken. In einem Laboratorium (Faust, II. Teil, zweiter
Akt, 2: »Laboratorium im Sinne des Mittelalters, weit¬
läufige, unbehülf liehe Apparate, zu phantastischen Zwecken«) bereitet
da Wagner einen Menschen durch chemische Arbeit. Indem wir
dieser Assoziation stattgeben, setzen wir den Homunculus gerade
in seine richtige Umgebung. Denn die Alchemie war es, deren
wunderbaren Künsten man einst die artefizielle Herstellung eines
Menschleins zutraute. Einer Studie über den Homunkel müßte
eigentlich eine solche über die Alchemie vorangehen, und zwar
müßte sie angesichts der ebenso schwer zugänglichen als weit ver¬
zweigten Gedankenwelt dieser ehrwürdigen Kunst recht weit aus¬
greifen. Statt mich aber hier derartig zu verbreiten, verweise ich den
Leser einfach auf mein soeben erschienenes Buch »Probleme der
Mystik und ihrer Symbolik« A , worin gerade die Alchemie eine aus¬
giebige Behandlung erfährt.
So kann ich mich denn mit wenigen Hinweisen begnügen. In
den »Problemen« wird gezeigt, daß die alchemistische Symbolik
durchsetzt ist mit Zeugungsgedanken. Diese sprechen sich sowohl
offen aus als auch in dunkleren Bildern, deren Deutung indes dem
Psychanalytiker nidit allzuviel Schwierigkeit bereitet. Ganz klar
wird z. B. gesagt (von Morienes, dessen dictum in der alche-
mistischen Literatur mit Vorliebe zitiert wird): »Unser Stein (der
Weisen) ist die Confection oder Zusammensetzung unsers . . .
Geheimnüsses, und der Ordnung nach ist er gleich der Er^
Schaffung des Menschen,* Denn erstlich ist allda die Zusammen¬
vereinigung, und 2. die Corruption 1 2 , 3. die Schwängerung, 4. die
Geburt des Kindes, 5. folget die Nahrung.« 3 Und das wird erklärt:
1 Im Verlag von Hugo Heller, Wien und Leipzig 1914.
2 Die Zersetzung oder Faulung des Samens in der Matrix. Vgl. das später
über die Putrefaktion Gesagte.
3 Z. B. bei Nicolaus Flamellus (XIV. Jahrh.): »Schatz der Philo¬
sophen«.
38
Herbert Silberer
»Unser 1 Sperma, welches ist Argentum vivum 2 , wird mit der Erde
zusammengefügt zu dem unvollkommenen Körper,* sie wird darum
unsere 1 Erde genannt, weil die Erde die Mutter ist aller Elemente.
Dieser Vorgang wird von den Philosophen Koitus geheißen . . . Wann
aber die Erden anfehet ein wenig von dem Argento vivo bey ihr
zu behalten, wird es genant Conceptio, die Empfahung . . .« etc. 3
Der Alchemist Johannes Daustenius <zirka vierzehntes Jahr¬
hundert) sagt im Rosarium IX 4 : »Wer nun weiß zu heirathen,
schwanger zu machen, zu gebähren, zu tödten und lebendig zu
machen . . . der wird in hohen Würden sein.« <Rosar. VII):
». . . Derohalben füge unsern rothen Knecht zu seiner wohL
riechenden Schwester, so werden sie untereinander das Kunststück
gebähren: Davon sind die Reimen:
Wann du das weiße Weib gebracht zum rothen Mann,
Da nehmen sie alsbald einander freundlich an.
Darauf empfängt denn das edle weiße Weib,
Die zuvor waren zwey, sind worden nun ein Leib.«
Nicht bloß die Zeugungsphantasien, sondern audh die übrigen
der Psydhanalyse als seelische Urbeweger so sehr bekannten, damit
zusammenhängenden Motive (Ödipus^Motiv etc.) finden sich getreu
in der alchemistischen Symbolik. Ich erwähne kurz, daß der Inzest
eine große Rolle spielt, das Überwinden des Vaters, das Bestreben
es besser zu machen, als er, beziehungsweise als die Eltern. Von
diesem Bessermadien wird noch die Rede sein. Vom Inzest sahen
wir bereits Beispiele. Der Koitus geschieht mit der »Mutter« Erde
oder mit der Schwester, was, wie sich nachweisen ließe, das¬
selbe ist.
Der Inhalt dieser Symbolik, also der Lehrgehalt der alche¬
mistischen Schriften, ist von zwei Seiten aus zu betrachten,* von
einer naturwissenschaftlichen und von einer theologisdien. Die »Al¬
chemie«, wie sie in den Schriften ihrer eigentümlichen »Philosophen«
vorliegt, ist nicht bloß Vorstufe der heutigen Chemie und Physik,
sondern zum guten Teil auch religiöse Spekulation und Anleitung.
Mit der religiösen Seite <die in meinen »Problemen« Beachtung
findet) haben wir es hier gar nicht, mit der naturwissenschaftlichen
ein wenig zu tun,* mehr als der Inhalt interessiert uns jeweils das
Bild, in das er sich kleidet.
Es könnte die Frage aufgeworfen werden, ob wir zu so ge-
1 »Unser« wird gebraucht, um die betreffenden Stoffe als die alchemistU
sehen Geheimnisse von den »gemeinen« Stoffen gleichen Namens zu unterscheiden.
Z. B. »Unser« Quecksilber im Gegensatz zum »gemeinen« Quecksilber. Damit
wird gleichsam unterstrichen, daß der betreffende Ausdruck ein Symbol, ein Ter~
minus der Kunst ist.
2 Quecksilber.
3 Wilhelm Hohler, »Hermetische Philosophie und Freimaurerei«.
Ludwigshafen a. Rh. 1905. Nach alten Quellen zitiert, p. 92.
4 »Alchimistisch Siebengestirn«. Frankfurt a. M. 1756, p. 144.
Der Homunculus
89
sonderter Betrachtung der Symbolik berechtigt seien. Auch dies¬
bezüglich muß ich mich mit einem Hinweis auf meine »Probleme«
begnügen.
Um an den vorigen Faden anzuknüpfen: das »Bessermachen«
ist ein widitiges Motiv in der Alchemie, dieser Kunst der Ver¬
besserung der Metalle. Es handelt sich da symbolisch immer irgend¬
wie um die Zerstörung des Alten und die Schaffung eines Neuen,-
um die Beseitigung einer alten <mit Vatersymbolen zusammen^
hängenden) und die Aufrichtung einer neuen Ordnung,- um die
Aufhebung einer alten, mangelhaften Schöpfung und deren Ersatz
durch eine bessere neue Schöpfung oder Zeugung. Das Motiv ist
mythologisch sehr bekannt. Es kommt in unzähligen Kosmogonien
vor und ist mit dem Motiv der Trennung der Ureltern verschränkt.
Die mythologischen Motive und ihre Gleichungen leisten in der
alchemistischen Hieroglyphik gute Führerdienste. Man halte zum
Verständnis des Späteren, besonders die Idee des Besserzeugens
fest, welche eine der Formen des Bessermachens ist.
Wichtig ist ferner die Fülle infantiler <oder wenn man will
primitiver) Theorien, in denen, wie im Mythos so in der alche¬
mistischen Bildersprache, der Zeugungsgedanke auftritt. Otto Rank
hat uns wertvolle »Völkerpsychologische Parallelen zu den infantilen
Sexualtheorien« geliefert 1 . Man könnte die alchemistische Symbolik
an zahllosen Stellen in diese Parallelen einreihen. Für diesmal ge¬
nügt das Hervorheben weniger Motive. Da ist vor allem der Ge¬
danke an die spermatische Kraft: des Kotes (Mistes, Urin etc.).
Was in der Alchemie bereitet werden soll, ist zunächst nicht der
Homunculus, sondern das Gold, und die bemerkenswerte Verknüpfung
von Gold und Dreck wird dem mythologisch und psydhanalytisch
geschulten Leser nicht entgehen. Die Angabe, daß die erste Materie
zu dem alchemistischen Werk ein verachtetes Ding oder Mist sei,
findet sich in der Literatur sehr häufig. Damit ist's aber nicht genug.
Die spermatische Natur des Mistes kommt viel mehr noch zur
Geltung, indem verlangt wird, daß in den Vorstadien der Gold¬
bereitung die verwendeten Stoffe in Mist und Fäulnis übergeführt
werden müssen, damit die »Befruchtung« stattfinde und das Gold
(beziehungsweise der Stein der Weisen) sprießen und wachsen
könne. Das Samenkorn des Goldes muß in seiner »Erde« erst der
Fäulnis oder Verwesung (»Putrefaktion«) unterliegen, ehe es keimen
kann. Aller Zeugung und allem Keimen geht nach alter Vorstellung
der verwesende Zerfall des Samens voraus. Man denke an die
Worte des Gleichnisses Joh. XII. 24: »Es sei denn, daß das
Weizenkorn in die Erde falle und ersterbe, so bleibt's allein,- wo
es aber erstirbet, so bringet's viele Früchte.« Die Alchemisten lieben
es, solche Schriftstellen bei der Erörterung der Putrefaktion anzu¬
führen. Der Gedanke des Dungs spielt in die alten Vorstellungen
1 »Zentralbl. f. Psychoan.«, II. Jahrg., Wiesbaden 1912.
40
Herbert Silberer
auch hinein. Die Putrefaktion des verwendeten Stoffes, der zuerst
»sterben« muß, ehe die neue Generation beginnt, hängt anderseits
wieder mit dem Tode der alten Generation (Vaterfigur) zusammen.
Wenn der Zerfall der Rohstoffe des Werkes nicht selten als
Zerstücklung gefaßt wird, sehen wir wieder um so deutlicher
eine primitive Zeugungstheorie vor uns, als die Alchemie das zer¬
stückelte Etwas (das häufig als eine menschliche oder tierische Ge¬
stalt geschildert wird) in ein wohlverschlossenes Gefäß tun, darin
»feucht« erwärmen und als neues Wesen nach einer gewissen Zeit
— es werden häufig neun Monate angegeben — aus dem Gefäße
nehmen läßt, welches noch dazu das »philosophische Ei« heißt. In¬
wiefern das Zerstückeln, beziehungsweise das Erzeugen des neuen
Wesens aus Stücken als eine primitive und infantile Zeugungs¬
theorie anzusehen ist, hat z. B. Rank mitgeteilt 1 . Ich verweise auch
auf die mancherlei primitiven Märchen, wo eine Tiergeneration so
entsteht, daß ein großes (gleichsam vorbildliches oder auch anders
geartetes) Tier, beziehungsweise Ungeheuer in Stücke zerfällt (zer^
schnitten wird od. dgl.), worauf aus den Stücken je ein neues
kleineres Tier entsteht: Fortpflanzung durch Teilung 2 .
In dem »philosophischen Ei« herrscht nadi der Putrefaktion
gewöhnlich eine Flut, die auch Sintflut genannt wird. Ich will hier¬
über an dieser Stelle nur soviel sagen, daß sie ebenso dem Frudit^
wasser entspricht, wie jenes Wasser bei Rank (»Mythus von der
Geburt des Helden«), aus dem nicht nur alle kleinen Kinder
mythisch gezogen werden, sondern auf dem in einem Kästchen
(Arche, Korb = philosophisches Ei!) schwimmend auch der »Held«
eines wichtigen Sagentypus als Kind aufgefunden wird.
Die Phase des »Todes« oder der »Verwesung« (putrefactio),
wo die Körper schwarz werden, wird in der Alchemie gemeinig¬
lich »der schwarze Rab« oder »caput corvi« genannt. Vergessen wir
nicht die Sintflut, noch die Tatsache, daß das alchemistische Werk
einer Schöpfung verglichen wird und betrachten wir nun p. 434
der »Astralmythen« von Eduard Stucken 3 : er teilt eine Version
der Erichthonios-Sage (Parallele zu Moses im Kästchen) mit, worin
die Krähe Anwendung findet. Der Rabe ist ein Sintflutvogel und
entspricht audi dem Vogel mancher Schöpfungssagen. Samoanische
Schöpfungssage nach Turner: Tangaloa, der Himmelsgott, sendet
seine Toditer in der Gestalt des Vogels Turi hinab. Sie fliegt um¬
her, findet nichts, worauf zu ruhen, nur Gewässer. Sie kehrt in den
Himmel zurück und wird abermals ausgesandt, um Land zu suchen.
Sie sieht nun Schaum, dann Klumpen, das Wasser teilt sich, Land
erscheint an der Oberfläche und ein trockener Ort, wo sie ruhen
1 Otto Rank, »Das Inzestmotiv in Dichtung und Sage«, Wien und
Leipzig 1912, p. 313 f.
2 Man findet derartige Märchen z. B. bei Oskar Dähnhardt, »Natur^
sagen«, Leipzig und Berlin 1910, III, p. 152 ff.
3 Erschienen zu Leipzig 1896—1907.
Der Homunculus
41
kann. Sie kehrt zu dem Vater zurück und gibt ihm Bericht. Er
schickt sie abermals hinab, sie meldet die Ausbreitung des Landes,
und nun sendet er sie hinab mit etwas Erde und einer Pflanze.
Diese wächst und die Tochter besucht sie öfters. Nach einer Zeit
welken die Blätter. Beim nächsten Besuch der Himmelstochter
wimmelt die Pflanze von Würmern und Maden <putrefactio !>, und
beim folgenden Besuch sind zwei Menschen daraus geworden
<generatio !>. »Die amerikanischen Varianten sind zahllos«, bemerkt
Stucken, der <p. 224f. Anmerkung) auch einen Schöpfungsmythos
der Loucheux-Indianer mitteilt, worin die Wiederbelebung eines
Raben die Bevölkerung der Erde mit Menschen ermöglicht. Der
Leichnam und die gelblichen Knochen des Raben lagen umher
{Zerstücklung). Der Held der Sage fügt die Knochen zusammen,
breitet {nach der uns schon bekannten mythologischen Regel) ein
Tuch 1 darüber, läßt einen Wind darauf 2 und gibt dadurch dem
Raben wieder Leben. Der Rabe führt dann die Bevölkerung der
Erde mit Menschen herbei,* die Keime dazu befanden sich in Fischen,
die nach der Verstümmelung des Urwesens {Zerstücklung oder
Kastration des Vaterwesens) schwanger geworden waren.
Das Kästchen, worin Erichthonios bewahrt und das, worin
Moses aufgefunden wird {nebst allen Parallelen) ist gleich der Arche
des Noah. Alle diese Behälter sind, wie die Hülle des Zerstückelten,
für die psychologische Auffassung der Mutterleib 3 . Wie gesagt, ist
das Kästchen begreiflicherweise meist mit einer Flut verbunden:
dem Wasser, woher die Kinder kommen. Ob die Flut außerhalb
oder innerhalb des Kästchens ist, bleibt den Eigenheiten der je¬
weiligen Darstellung überlassen. An dem Sintflutmythos und Aus-
setzungs{= Geburts^)mythen gemessen, ist der Vorgang im philo¬
sophischen Ei der Alchemisten ein verkehrter, denn die Flut ist in^
wendig. Der Natur entspricht das um so besser: das Frucht^ und
Lebenswasser ist wirklich inwendig. Also: Philosophisches Ei =
Arche = Uterus.
Die motivischen Gleichungen der modernen, allgemeinen
Mythologie {vgl. Stucken, Siecke, Ehrenreich, Lessmann etc.),
denen ein nicht zu übersehender psychologischer Gehalt innewohnt,
stimmen überraschend zu jenen der alchemistischen Hieroglyphik.
Und wenn die chymische Kunst ihre »prima materia« mit Namen
belegt wie: lac virginis, menstruum, sanguis spiritualis, sputum
lunae, serpens, urina, urina puerorum, fimus, faeces dissolutae,
aurum dissolutum . . . 4 , so glaubt man beinahe eine der symboli¬
schen Gleichungen von Wilhelm Stekel 5 zu lesen.
1 = Gefäß.
2 Wieder eine infantile Sexualtheorie, die auch in der Alchemie vertreten ist.
3 Eventuell auch die Fruchthülle.
4 Vgl. z. B. Martinus Rulandus, »Lexicon Alchemiae«, Frankfurt 1612,
p. 323 ff.
5 »Sprache des Traumes«, Wiesbaden 1911.
42
Herbert Silberer
Vorhin sagte ich, daß die Schwärze <putrefactio> ein treten
muß, damit die Empfängnis geschehe und in feuchter Wärme, im
hermetisch 1 verschlossenen KoAgefäß, das neue Wesen, der Stein
der Weisen, seinen geheimnisvollen Ursprung nehme. Ich lasse an
dieses Stadium der Schwärze oder »Kohle« die Verse anknüpfen,
die auch Daustenius <Rosar. VIII) anführt:
In gar gelinder Wärm' ohn Hitze laß es stehen,
So lange bis da sey die Empfängiß geschehen.
Das Glaß verschließe fest, daß die vor wahren zwey,
In einen Leib allein zusammen kommen frey.
Gleich wie des Mannes Saarn vom reinem Blut herkommen,
Und aus den Nieren in die Mutter eingenommen
Zum Weibes Saarn sich fügt, daraus ein Mensch entsteht.
In solcher Weiß es auch in diesem Werk zugeht.
Aus einer der ältesten alchemistischen Schriften, worin Zosi-
mos <zirka viertes bis fünftes Jahrhundert) eine Vision von einem
Gefäß mit darin kochenden Menschen schildert, glaubt C. G. Jung 2
als ursprünglichen Sinn der Alchemie einen Befruchtungszauber ent¬
nehmen zu sollen, »d. h. ein Mittel, wie Kinder gemacht werden
könnten ohne Mutter«. Und wenn sich diese Äußerung auch nicht
gerade in der vorliegenden Form aufrecht halten läßt, so ist doch
viel Wahres daran. Jedenfalls sind die alchemistischen Bestrebungen
so sehr von Zeugungsideen durchsetzt, daß es nicht wundernehmen
kann, wenn diese sich einmal oder öfters vom Übrigen abgespalten
haben und selbständig geworden sind. Und wirklich hat sich ja diese
Verselbständigung vollzogen: es entstand neben den Problemen der
eigentlichen Alchemie die Bemühung, den Homunculus herzustellen.
Ich will nicht sagen, daß nicht auch von anderen Quellen her
Ideen zu diesem Unternehmen flössen, so z. B. aus allerhand magi¬
schen Vorstellungen, wie wir später noch sehen werden. Die Al¬
chemie aber hat wohl den wichtigsten Anteil geliefert,- einerseits
indem, wie schon gesagt, ihre Zeugungsmotive für sidi allein sich
wissenschaftlich durchsetzten, und anderseits, indem ihre Bilder von
irgendwelchen Laboranten in ganz banaler Weise mißverstanden
wurden.
Im XXIV. Band des »Goethe-Jahrbuchs« 3 findet sich p. 217 ff.
ein Beitrag von E. v. Lippmann, und dort wird behauptet, es
stehe in den Vermutlich um 250 n. Chr. redigierten) Homilien
des Clemens Romanus, daß der <aus der Apostelgeschichte VIII.
9—24 bekannte) Simon Magus »den Homunculus in einer Retorte
dargestellt haben soll«. Die betreffende Stelle <11. 26) lautet indes so 4 :
1 Nach jenes Hermes TrismegistosKunst,dendie Alchemisten als ihren Stamme
vater ansahen.
2 Jahrb. f. psychoan. u. psychopath. Forschungen, IV. Bd., p. 184.
3 Herausgegeben von Ludwig Geiger, Frankfurt 1903. — Ich verdanke
den Hinweis Herrn Dozenten Dr. Franz Strunz.
4 Ich zitiere nach Albertus R. M. Dressei, »Clementis Romani quae
feruntur homiliae viginti«. Goettingae 1853.
Der Homunculus
43
»Etenim caede se inquinare coeperat <Simon>/ sicut ipse
adhuc amicis nobis velut amicus patefecit, quod cum pueri ani-
mam a proprio corpore separasset infandis adjuramentis, futuram
adjutricem ad eorum quae ipse vellet repraesentationem, pueroque
in imagine delineato, consecratam haberet imaginem in aede
interiori, ubi ipse dormiret: dicens se aliquando hunc ex aere
formasse, divinis conversionibus, et imagine ejus depicta, rursus
aeri reddidisse. Rem vero ita factam interpretatur. Ait quod pri-
mo hominis Spiritus, versus in naturam calidi, circumstantem
aerem, sicut cucurbitula facit, attractum imbibit: quem
deinde intra Spiritus formam positum ipse Simon in aquam vertit,-
cumque aer in spiritu consistens ob Spiritus continuitatem effundi
nequeat, eumdem convertit in sanguinem: et ex sanguine con¬
creto carnem fecit,- sicque postea carne solidata, hominem non
e terra, sed ex aere protulit. (IlQÖJ'tov tö äv&Qcbjvov uvsv^a
Aeyst 'VQaJtsv eig 'd'SQfjLrjv yvoiv töv jvsQtycslfxsvov avtq) OLKvag
ölk^v ejuöJxacid[jL£vov ovfjwuelv dega, sha svöoftrjv 'trjg xov
jtvev[JLa'tog iösag ysvofjievov avtov t rgs'ipai sig vöcog . . .) Atque
hunc in modum sibi persuadens, potuisse a se creari novum
hominem, ait se eum, resolutis conversionibus, rursum aeri reddi¬
disse. Quae cum aliis diceret, credebantur,- a nobis vero, qui
adfueramus ejus mysteriis, pie non credebatur. Quapropter dam-
nata impietate abscessimus ab eo.«
Cucurbitula < cuxva ) heißt der Sdhröpfkopf. Es ist ein ver¬
führerischer Zufall, daß in späterer Zeit auch Retorten so genannt
wurden. Die betreffende Stelle ist offenbar zu übersetzen: Er sagt,
zuerst ziehe der Geist des Menschen <nämlich der Geist eines ge¬
töteten Knaben, den Simon beschwört), in die Natur des Warmen
verkehrt, die umgebende Luft an sich und trinke sie ein, geradeso
wie es ein Schröpf köpf macht,- sodann habe Simon diese in die Ge¬
stalt des Geistes eingetretene Luft in Wasser verwandelt,- da ferner
die im Geiste verbleibende Luft wegen dessen Zusammenhanges
(Dichtheit) nicht ausfließen könne, habe er sie (weiter) in Blut ver¬
wandelt und habe aus dem verdichteten Blut Fleisch gemacht,- indem
sich dergestalt das Fleisch festigte, habe er also einen Mensdien
nicht aus Erde, sondern aus Luft hervorgebracht (und damit, wie
die »Recognitionen« anfügen, den biblischen Gott übertroffen).
Man sieht, es handelt sich hier (wie man es zum Überfluß in
den Pseudo-Klementinischen Recognitionen expressis verbis gesagt
finden kann) um ein n ekromantisches Kunststück und nicht um
die Erzeugung des Homunculus. Das schließt nicht aus, daß einige
Vorstellungen der Nekromantie (und zwar vielleicht auf dem Weg
der später zu erwähnenden Palingenesie-Versuche) in die Konzeption
der Homunkelidee eingegangen sein mögen. Beiläufig findet man im
Übertreffen Gott-Vaters das Motiv des Bessermadiens.
Albertus Magnus (1193—1280) und Arnald von ViL
lanova (zirka 1240—1313) sollen über Homunculi geschrieben
44
Herbert Silberer
haben. Ich finde diese Behauptung bei Eckartshausen 1 und konnte
sie bisher nicht nachprüfen.
In die Linie der Homunkelidee gehören wohl die Ausführungen
des Henricus Cornelius Agrippa <1487—1535) »Von der Ver^
bindung der gemischten Dinge und der Einführung einer edleren
Form, sowie von den Lebensanregungen« 2 . Es heißt dort unter
anderem: »Es werden . . . unbegreifliche Wunder verrichtet, wenn
man die zur rechten Zeit gemischten und zubereiteten Gegenstände
dem belebenden Einflüsse der Gestirne aussetzt, damit diese ihnen
Leben und die empfindende Seele, als eine edlere Form, mitteilen.
Eine solche Gewalt liegt nämlich in den gehörig zubereiteten Stoffen,
welche wir alsdann Leben bekommen sehen, wenn die vollkommene
Mischung 3 der Eigenschaften die früheren Hindernisse gebrochen zu
haben scheint . . . Der Himmel aber, als die vorherrschende Ur¬
sache eines jeden zu erzeugenden Dinges, verleiht durch die voll¬
kommene Concoction und Digestion der Materie zugleich mit
dem Leben die himmlischen Einflüsse . . . Auf diese Weise kann
man wunderbare Geschöpfe hervorbringen, wie in den Büchern Ne-
mith zu lesen ist, die auch die Gesetze Plutos heißen, weil soldhe
Erzeugungen monströser Art sind und nicht nach den Gesetzen der
Natur geschehen. Wir wissen, daß aus Würmern Mücken . . .
erzeugt werden, . . . aus einer gerösteten und zu Pulver gestoßenen
Ente entstehen, wenn man dieses Pulver ins Wasser wirft, Frösche
. . . aus in den Mist gelegten Haaren einer menstruierenden Frau
werden Schlangen ... Es giebt ein Kunststück, wodurch sich in
einem einer Bruthenne unterlegten Ei eine menschenähnliche
Gestalt erzeugen läßt . . . Einer solchen Gestalt schreiben die
Magier wunderbare Kräfte zu und nennen sie die wahre Alraune
<mandragora>«.
Man darf wohl der herrschenden Ansicht vertrauen, daß die
erste wirkliche, greifbare Anleitung zur Homunkelbereitung in den
paracelsisehen Schriften enthalten ist. Aureolus Ph. Th. Bom-
bastus von Hohenheim <Paracelsus> lebte 1493—1541. In die
Meinungsverschiedenheiten bezüglich der Autorschaft der paracelsi-
schen Bücher brauche idi mich nicht einzulassen: es genügt, daß die
gelehrte Spekulation der damaligen Zeit sich mit der Idee des
Homunkels befaßte und daß uns Anleitungen zu seiner Erzeugung
1 Karl von E ckartshausen,-»Aufschlüsse zur Magie«. II. Teil. München
1790. Der Autor beruft sich <p. 390) seinerseits auf Campanella.
2 Cap. XXXVI des I. Buchs seiner Occulta Philosophia. Agrippas An¬
sichten fußen vorwiegend auf neuplatonischen und kabbalistischen Lehren.
3 »Faust«, II. Teil, 2. Akt 2:
W agner:
».Nun läßt sich wirklich hoffen.
Daß, wenn wir aus viel hundert Stoffen
Durch Mischung — denn auf Mischung kommt es an —
Den Menschenstoff gemächlich componieren.
Der Homunculus
45
vorliegen. Die wichtigste steht in dem Werk »De Natura Rerum«,
und zwar im ersten Buch davon, welches »de generatione rerum
naturalium« handelt. Ich setze die wichtigen Partien dieses Buches
hieher 1 :
„'Die ©eneratton aller natürlichen hingen ift ?roeperlep: JUs CEtne
bte non "Ratur gefd)td)t / ol;n alle Kunft / bte Jlnber gefd)id)t burd)
Kunft / nemltd) burch Alchimiam. Wierool in gemein baroon ?u reben /
möchte man fagen / baj} non Tlatur alle bing mürben auf} her CErben
geboren / mit hilft ber Putrefactton. Dann bte Putrefactton ift ber hö'chft
©rab/onb auch ber erfte anfang ?u ber ©eneratton: Wtb bie pufre*
factton nimpt Ihren anfang onnb hemmen auf} einer feuchten roärme.
Dann bie ftett feuchte Wärme bringet Putrefadionem, onnb trans=
mutirt alle natürliche bing oon ihrer erften geftalt onnb roefen / bej}==
gleichen auch in ih*en Kräftten onb Xugenben. Dann ?u gteichermeij}
rote bie Putrefactton im Wagen alle ©peij} ?u Kaf)t (Koth) macht
onb transmutierts: Jllfo auch aufferhalb bej} Wagens bie Putrefadio,
fo in einem ©laj} befcf)td)t / alle bing transmutiert oon einer ©eftalt
in bie anbere/oon einem Wefen in bas anber/oon einer £arb in bie
anbere / oon einem ©erud> in ben anbern / oon einer Xugenb tn bie
anbere/oon einer Krafft in bie anbere/oon einer CEpgenfchafft in bie
anbere/onb gar oon einer Quelltet in bie anber.
Dann bas beroeifet fid) augenfcheinlt'ch / onb gibfs bie tägliche CEr*
fahrung/baf) oiel bing gut/gefunb/onb ein Jlrt^nep finb: Jlber nach
Ihrer Putrefaction/böft/ongefunb/onb ein lautters ©ifft roerben. Jllfo
hergegen finb oiel bing böf} onb ongefunb / gifftig onb fd)äbltd) / aber
nach lh«r Putrefactton roerben fte gut / oerlteren all Ihr boj}heit / onb
roerben ein Cf bie Jlrtjnep. Dann bte Putrefaction groffe bing gebiert:
Deffen mir etn fchön (Stempel haben im fpetltgen Euangelio, ba
Christus fagt: Cfs fei) bann baj} bas Wephenbörnletn in ben Jlder
geroorffen roerbe onb faule /mag es nit fnmbertfeltige frudjt bringen.
Dabei) ift nul>n ?urotffen / baj} oiel bing in bet Putrefactton ge=
manigfaltiget 2 roerben / alfo baj} fte etn Cfble frud)t gebeten. Dann bte
Putrefactton ift etn ombfejmtng onb ber Xobt aller hingen/onb etn
^erftörung bej} erften roefens / aller natürlichen hingen / barauf} ons l;er=
fommet bie Wtbergeburt / onb neroe ©eburt / mit tauffentfacher
befferung.
Wtb bieroetl nuhn bte Putrefactton ber erft ©rab onb anfang ift
?u ber ©eneration: fo ift nun bt*d> uon nöfen/baj} mir bte Putre«
factton rool ernennen. Dann beten finb oielerlep / hoch |e eine anbers
als bte anbere Ihre ©eburt h^rfür bringet/ auch eine oiel bef>enber als
bte anbere/etc.
©o ift auch gemelbet/baj} bte feuchte onb roärme ber erft ©rab
onb Anfang fei) ?u ber Putrefactton / bte alle bing auftbrütet / rote ein
ftenn Ihre ( Spet. Darumb burd) onb tn ber Putrefactton / alle Wuctla*
1 Paracelsus-Gesamtausgabe Huser 4° <Basel M.D.XC.) Bd. VI. p. 255 ff,
folio <Straßburg M.DC.III und <M.DC.XVI>, p. 881 ff.
2 Der alcfiemistisdie Begriff der multiplicatio.
46
Herbert Silberer
ginoftfcfje Phlegma 1 onnb Materia lebenbig wirbt/es werbe bann
barauß was cs wolle. Das fej)enb fbr ein (Stempel an ben CEpern/
barinnen Itgt Hucilagimfcße feudüigfeü/biefelbige wirbt burd> ein jeg=
ließe ffetc loärme faul / t»nb außgebrütef / ?u einem lebenbigen 0ünltn.
"Pnb nit allein non ber wärme ber Rennen / fonbern non einet jeglicßen
folgen wärme. 3 n folgern ©rab bes ^rors mögen alle CEper in einem
©laß onnb Jlfcßen außgebrütef werben /ju lebenbigen Vögeln. (Es mag
aueß alfo ein jcglicßer Henfcß onber fein Jlcßfeln ein (Ep außbrüfen/
als wol als ein Ipenn. (Es ift audß barbefj noeß ein gröffers ?u wiffen /
nemlicß fo berfelbig "Pogel febenbig in einem oerfigillierten ©icurbiten 2
511 Puluer onb äfeßen gebrannt /mit bem brüten ©rab 3 bes £ewrs/
nochmals alfo oerfcßloffen geputrifoirf in ber ßöcßften Putrefaction
ventre Equino 4 ju Hucilaginoftfcßen Phlegma: ©0 mag nuhn weitters
biefelbige Hucilagtnofifcße Phlegma jum anbern mal außgebrütef/
onb alfo ein renouirter onnb reftaurierter "Pogel werben fo biefe Hu=
ctlaginofifcße Phlegma, wiberumb in fein erfte ©cßalen ober fjeußlin
oerfcßloffen wirbt; Das ßetft bie Dobten wiberumb lebenbig gemacht/
bie TGtbergeburt onnb ©arificirung / welches ein groffes onb popes
miracfel ber Tlatur ift 5 . "Dnb nach bifem Proeeß mögen alle lebenbige
"Pögel getobt onb wiber lebenbig gemacht / renouirt onb reftaurirt
werben. Das ift auch bas ßöcßft onnb größeft Magnale onnb My=
sterium Dei, bas h^epff <Se{>eimnuß onnb Hunberwenf/ bas ©oft ben
föbtlichen Henfcßen geoffenbaref ßaft.
(Es ift auch totffen / baß alfo Henfcßen mögen geboren werben /
ohne natürliche "Päfter onb Hutter: Das ift/fte werben nicht oon
TBeiblicßem £eib auff natürliche Heiß/wie anbere Kinber geboren/
fonbern bureß Kunft 6 onb eines (Erfahrenen Spagyrici 7 gefcßicfligBett /
mag ein Henfcßen wachfen onnb geboren werben/wie hernach wirbt
ange?eigf/etc.
(Es ift auch ber Ttatur müglicß/baß Henfcßen oon Sßieren
mögen geboren werben: f)att auch fein "natürliche orfachen. 0ebocp
aber/fo mag folches ohn Keßerep nicht wol gefchehen: bas ift / fo fieß
ein menfeh mit einem £ßier oermifeßt / onnb baffelbig £ßter/als ein
Heibsbilb / ben Sperma beß "Hannes mit luft onb begirligfeit 8 in ihr
1 Schleimige Masse.
2 Ein chemisches Kochgefäß.
3 Es gab vier Grade des Feuers, wovon der erste der sdiwächste war. Die
absolute Höhe eines Grades wechselt bei manchen Autoren je nach der Beschaffen^
heit der zu behandelnden Materie. Zum wenigsten ist aber der dritte Grad so
heftig, daß bei Berührung des erhitzten Gegenstandes eine Verletzung erfolgen müßte.
4 Siehe die spätere Anmerkung über den venter equinus = Pferdemist.
Er gehört zu den Mitteln, die den ersten, den gelindesten Grad des Feuers liefern.
5 Es handelt sich hier um die sogenannten Palingenesie^Experimente, an
deren Möglichkeit man lange Zeit geglaubt hat. — Idee des Vogels Phönix.
6 Der Gedanke dieser Selbstherrlichkeit ist wichtig.
7 Spagiricus = Alchemist. Der Ausdruck wird von öJiäo und äyeiQOj <ich
scheide, ich vereinige) hergeleitet.
8 Dieser psychischen Bedingung wird Bedeutung beigelegt. Sie steht nicht
bloß als Phrase hier.
Der Homunculus
47
Tttatrp- empfaßet onb erjnfcf)tcuffct: 3lls bann muß nußn ber Sperma
tn bte feulung geßn/onb burcß bie ftefe märme 1 beß £etbs mtberumb
ein THenfcß onb fein Dßter barauß merben. Dann alle maßl tote ber
©aßmen tft ber gefeßet rntrbt/ alfo mäcßft aucß ein £rucßt barauß.
Dann toa es ntcßt gefcßeße / mere es ber Pßtlofopßep ?u roiber/aucß
rotber bas £ied;t ber Ttatur. Darumb mte ber ©abmen tft/alfo
roacßfet ein Kraut barauß. Dann auß ßmibelfaßmen roacßfet miber
3toibeln / nicßt 'Xofen/ntcßt "Kuß/nicßt ©alat/etc. IRlfo auß Korn
roacßfet coieber Korn/auß f}abern totber f)abern/auß ©erften miber
©erften: JUfo aucß mit allen anberen ^rücßten gefdßicßt / roas ba
©aßmen ßatt onb gefeßet mirbt.
T3nb alfo tote jßr nußn geßört ßabt/baß burcß bie Putrefaction
otel onb mancßetlep btng geboren merben/onb lebenbig merben: Jllfo
tft aucß }u mtffen/baß auß otelen Kreuttern burcß bie Putrefaction
otelerlep munberbarltcßer Sßter geboren merben / mie bann bte (Erfahrnen
biefer btngen rntffen. @o tft aucß barbep ?u mtffen/baß folcße Spier/
bie auß onnb tnn ber Keulung 2 mad;fen unb geboren merben/alle
etmas ©iffttgfett bep jnen ßaben/onb gtfftig feinb: jebocß eins otel
nteßr onb frefftiger als bas anber/aucß eines anberft geftaltet onb ge;
formieret als bas anber. Jlls jßr feßenf an ben ©cßlangen / Tlaffern /
Krotten / ^röfcßen / ©corpton / Paftltscfen / ©pinnen /mtlben 3mmen /
Ometfen / otelerlep ©erotirm / CKauppen / Tttucfen / Käfer / etc. bte alle
auß onb inn ber feulung ujacßfen onb geboren merben.
©o ift aucß ntcßt mtnber/ baß otel Monstra onfer ben Sßieren
geboren merben/onnb bas feinb nußn ißre Monstra, bte fo ntt oon
jßnen felber auß ^ulung macßfen / fonbern burcß Kunft barju gebracßt
merben in einem ©laß/mte gemelbet ift morben. Dann btefelbtg offt
in gar mancßerlep onnb munberbarltcßer geftalt onb .Jfotm erfcßetnen/
onb fd>recfltcß an^ufeßen ftnb: Jlls offt mit otelen £>euptern / mit otelen
^üßen / mit oilen ©cßmenßen / ober oon otelen färben / etmann Töürtn
mit £ifcß fcßmänßen ober klügeln / onb fonft felßamer geftalt / bergletcßen
man ?uoor nie gefeßen. Darumm alle bte Sßier Monstra fepn/bte
ntt fßre (Eltern ßaben/onb oon anbern Sßieren jßres gleicßen geboren
merben/fonbern auß anbern btngen roacßfen onb geboren merben/
onb burcß Kunft ba?u gebracßt merben. löte jßr bann feßenb oom Basi-
lisco, berfelbtg ift aucß ein Monstrum, onnb ift ein Monstrum ober
alle Monstra: bann fetns gröffer ?u förcßten ift/barumb baß er einen
jeglicßen Ttenfcßen mit feinem ©eficßt onb ftnblkf/geßltngen (jäßltngs)
tobten fan: bann er tft eines ©iffts ober alle ©ifft/bem in ber Welt
feines gleicßen mag: "önb öaffeibtg ©ifft füßret er oerborgener meiß
in feinen Jtugen/onb ift etn 3ntagtntrt ©ifft/ntcßt faft ongletcß einer
gramen/bte in jßrer THonafs }ett ift/bte aucß ein oerborgen ©ifft in
Jiugen ßat. Daß feßet jßr an bem/baß fie TKaafen ober ^lecfen ** n
1 Die Wärme des Uterus ist es, die bei der künstlichen Herstellung des
Menschen im Kochgefäß nachgeahmt wird.
2 Durch generatio aequivoca.
Herbert Silberer
48
einen ©ptegel fibet/unb benfelbtgen uerunreiniget unb maculiert allein
mit Ihrem ©eftcj)f. JUfo auch fo fie fid^t in ein töunben / ober ©ebaben /
btefelben }ü gleicbertoetf? uergifftef / onbgar unbetlfam machet. Unb atfo
tx>ic fie nubn mit Ihrem ©efiebt ut'el bing uergifftef / alfo mag fie auch
mit Ihrem Jltbem unb Angriff uiel bing uergifften / oerberben unb frafft=
los machen. ©ann Ihr febent./fo fie mit einem tüein umbgebn in
folcber ?ett/berfelbig halb auffftebt tmb ©etjger tuirbf. Sin Sffig bamif
fte umbgebn / auch abftebt unb uerbirbf. JUfo auch ber Urannftoein fein
frafft »erfeuret / bef^gleidften ber 53ifem / Jlmber/ 3*bcf /unb begleichen
tnolriecbenbe bing non Ihrem bepfragen/onb angriff/Ihren ©erueb uer*
Heren. IRlfo aud) bas ©olb unb Sorallen Ihr £arb / auch nie! ebel
©eftein/mie bie ©ptegel/barnon maculiert merben/etc.
Tlun aber/bamit icb miberumb auff mein fürnemmen fomm non
bem Basilisco ?u febretben/'toarumb unb mas orfacb er boeb bas ©ifft
in feinem ©efid)t unb Iftugen habe, ©a ift nubn ?u toiffen / baf? er
folc^e Spgenfcbafft unnb £>erfommen uon ben unreinen Tücpbern baff/
tute oben ift gemclbt tuorben. ©ann ber Basiliscus toöcbft unb tuirb
geboren auf? unb uon ber gröften Unreintgfeit ber Töetjbet / nemltcb
auf? ben Menstruis unnb auf? bem 331ut spermalis, fo baffeibig in
ein ©faf? unb Cucurbit getban / in uentre equino putreficiert / in
folcber putrefaction ber Basiliscus geboren tuirbf. IPer ift nun fo feef
unb fretubig / benfelbtgen }u machen / ober auf? ?u nemmen / ober tutbe*
rumb ju tobten / ber ficb nicht ?uuor mit ©piegeln befleibet unb be=
toaret? ich rabts niemanbts/fonber tuill |>temit menntgltcb getuarnet
haben.
Tlun ift aber auch bie ©eneration ber Homunculis in feinen
toeg ?u uergeffen. ©ann eftuas ift baran: totetool folcbes btf?ber tn
groffer f)eimligfeit unb gar uerborgen ift gehalten tuorben/unnb nicht
ein fletner ?toepffel unb frag unber etlichen ber JÜten Pbtlofopbts ge=
toefen / ob auch ber Tlafur unnb Kunft möglich fei? / baf? ein Üfenfdb
auffertbalben toepbltcbs ßeibs unb einer natürlichen THutter möge ge=
boren tuerben? ©arauff gib ich bie IRnttoort / baf? es ber Kunft Spa-
gyrica unnb ber Tlatur in feinem toeg ?u totber / fonber gar tuol müg*
lieb fep: tote aber folcbes jugang unb gefebeben möge/ift nun fein
Projef? alfo: 'Tlemltcb baf? ber Sperma eines TKanns/in uerfd)loffenen
Sucurbtfen per fe, mit ber haften Putrefaction / venire equino 1 /
putreficiert toerbe auff 40. Xag/ober fo lang bif? et lebenbig toerbe/
unb fi<b betoeg unb rege/toelcf>s leidbtlicb ?u feben ift. Tfacb folget
3 eit tuirbf es etlicher maffen einem Tttenfcben gleich feben /boeb burd>=
fiebtig/obn ein Corpus 2 , ©o er nun nach btefem / fegltcb mit bem
1 Venter equinus (Pferdebauch) für fimus equinus <Pferdemist> / dieser war
ein von den Alchemisten zur Erzeugung gleichmäßiger »feuchter Wärme« ge^
brauchtes Mittel. In »venter equinus« hat man die Vorstellungen des Uterus
<venter!>, der Mutterleibstemperatur <und Feuchtigkeit) und der Putrefaktion sym^
bolisch vereinigt.
2 Entspricht genau den Vorstellungen in den Palingenesie^Experimenten.
Der Homunculus
49
Arcano sanguinis humani gar weifflich gefpetfet onb entehret tutrbt /
bij) auff 40. Töocf>en / onnb in ftäter gleichet Tüerme ventris equini
erhalten: wirbt ein rcdf>t lebenbig Tttenfchltch Ktnb barauf)/mit allen
©liebmaffen / wie ein anber Ktnb / bas t>on einem löepb geboren toirbt /
boeb ml Heiner: baffelbig toir ein Homunculum nennen /onnb foü
hernach nicht anbers als ein anbers Ktnb mit groffem fleij) onb fotg
aufferjogen werben / bij) es ?u feinen Sagen onb Derftanb fompt. ©as
tft nun ber aller höchften onn gröffeften ipetmltgfetfen eine/bie ©ott
ben töbtlichen onb fänbigen THenfchen f>att toiffen laffen. Dann es ift
ein TKtracfel onb Magnale Dei, onb ein ©eheimnuf) ober alle ©e*
hetmnuj): foll auch billtcf) ein ©eheimnuj) bleiben/bis ?u ben aller
letften ßeitten/ ba bann nichts oerborgen wirf bleiben / fonbern alles
offenbaret toerben.
T3nb toietool foldjes bij) anber bem natürlichen THenfchen ift oer*
borgen getoefen/ift es boeb ben Syluestris 1 onnb ben Tthmpben onnb
liefen nicht ©erborgen / fonbern oot langen 3«itcn offenbar getoefen /
habet fie auch !omtnen. Dann auj) folcben Homunculis, fo fie ?u
männlichem Filter fommen / toerben liefen / 3toerglen / onb anbere ber*
gleichen groffe TGunberleubt / bte ?u einem großen TOercfjeug onb 3ns
ftrumenf gebraucht toerben / bt'e groffen gewaltigen Sieg toiber jftre
$etnb haben / onb alle heimliche onb oerborgene bing toiffen / bte allen
'TKenfchen fonft nicht müglich fepn ?u toiffen. Dann burch Kunft ober=
fomnten fie jbr £eben / burch Äunft oberbmmen fie £etb / «fjleifch / 53ein
onnb 33lut/burch Kunft toerben fie geboren: barumb fo toirt jhnen bte
Kunft epngelepbt onb angeboren / onb börffen es oon niemanbts lehrnen /
fonbern man muj) oon jhnen lehrnen: bann oon ber Kunft feinb fie
ba / onb auffgetoadhfen / tote etn 'Kofen ober 55lumen im ©arten / onnb
werben bet ®ijloeftern onb 'Ttijmphen Ktnber gef>etffen / barumb baj)
fie mit jhten Kräfften onnb Saaten / nicht TRenfchen / fonbern ftd)
©epftern Dergleichen.
Tluhn were hie auch wn nöf>ten oon ber ©eneration ber Ttte*
fallen ?u reben. 'Dieweil wir aber ttn £tbell de Generatione de Me-
tallorum genugfam baroon gefefmeben / laffen wirs hie bep bem Kürheften
bleiben: Allein aber / was wtr in benfelbigen oergeffen haben / baffelbig
wollen wtr hie Hirpltch an?etgen/in ber geftalt/baß jhr erftlich wiffen
follen / baj) alle fieben Metallen / auj) bretjen THaterien geboren werben /
nembltch auj) Mercurio, Sulphure Sale, ...
®o tft auch nicht minber/baj) Mercurius viuus ein Ittutter 2 ift
aller fieben THefallen / onnb billid) foll ein IHutfer ber Qltetallen ge=
nennet werben, ©ann er ift ein offens 'Tttetall: onnb ?u gletcherweij) /
wie er in jhm hatt alle färben / bte er bann im §em oon jhm gibt:
alfo hat er auch in ihm alle befall oerborgen / bte er auch auffer bem
£ewr nicht oon Ihm gibt /etc."
1 Eine Gattung Elementargeister.
2 Wohl zu merken. Er <und jedes Lösungsmittel) wird auch menstruum
genannt.
Imago III/l
4
50
Herbert Silberer
Und es wird weiter von der Erzeugung und Verbesserung
der Metalle gesprochen.
Ein interessanter Zug ist es, daß der nicht natürlich aufge^
blühte Samen monströse Wesen entstehen läßt, namentlich solche
von übermenschlichen Fähigkeiten. In der Mythologie hat man viele
solcher Fälle,- ich erinnere an den schlangenfüßigen Erichthonios
<motivisch = Moses im Kästchen etc.), an die Giganten, die aus
dem Spermatischen) Blut des entmannten Uranos erwachsen und an
den Riesen Orion-Urion. In den Stuckenschen Gleichungen ist
Onans Same {fallengelassener Same) = durch Parthenogenesis ge-
bornes Kind <der mythologischen Beispiele bieten sich wohl zur
Genüge!) und ist, nach verschiedenen Richtungen, weiter = Gold
{Alchemie!) = Soma {V/issenstrank, Kostbarkeit etc.) = der Zer¬
stückelte, dessen Wiederbelebung {Palingenesie) = Geburt des her¬
vorragenden Helden = Inzestgeburt. Parthenogenesis ist auch = Ehe
von Sterblichen und Unsterblichen. In die Linie unserer »Monstra«
fallen also motivisch z. B. auch die Riesen der berühmten Bibel¬
stelle 1. Mose 6. 2—4: »Da sahen die Kinder Gottes {Engel) nach
den Töchtern der Menschen, wie sie schön waren, und nahmen zu
Weibern, welche sie wollten ... Es waren auch zu den Zeiten
Tyrannen auf Erden,- denn da die Kinder Gottes zu den Töchtern
der Menschen eingingen, und sie ihnen Kinder gebaren, wurden
daraus Gewaltige in der Welt und berühmte Männer.« Aus dem
Buch Henoch ist noch mehr über die übermenschlichen Fähigkeiten
dieser Gewaltigen zu erfahren, zu denen sich die »Riesen« und
»Wunderleut« des Paracelsus sehr gut in Parallele setzen lassen.
Daß aus dem nicht natürlich verwendeten Samen Monstra erblühen,
mag psychologisch auf Schuld- oder Angstgefühlen beruhen, die mit
Onanie, Inzestphantasien u. dgl. Zusammenhängen, freilich unter
Vermittlung schon anderweitig gebildeter Dämonenvorstellungen/
auch Feld-{Fruchtbarkeits-)zauber mag in das Motiv des fallen-
? [elassenen Samens hineinspielen, was abermals zu den Dämonen
ührt. Nicht ganz von der Hand zu weisen ist endlich die Möglich¬
keit, daß man sich reale Mißgeburten durch irgendein »Fallenlassen«
{Bild der Defektuosität) des Samens zu erklären suchte.
An die Palingenesie in der Form wie wir sie bei Paracelsus
fanden, glaubten vor und nach ihm zahlreiche Forscher. Der naive
Eckartshausen 1 , der alles für bare Münze nimmt und von der
Möglichkeit der Palingenesie überzeugt ist, sowie Kiesewetter 2
führen eine Menge Autoren an. Abu Bekr al Rasi {der »Rases«
der Alchemisten, neuntes bis zehntes Jahrhundert) und Albertus
Magnus sollen sich mit Palingenesie abgegeben haben. Athana¬
sius Kircher berichtet 3 , er habe im Jahre 1657 das Wiederauf-
i A. a. O., p. 385-405.
2 Aufsatz »Die Palingenesie« im VIII. Band der von Hübbe-Schleiden
herausgegebenen »Sphinx«, Gera 1889.
3 »Mundus subterraneus« XII sect 4.
Der Homunculus
51
leben einer Rose aus ihrer Asche hohen Herrschaften praktisch vor^
geführt. Kenelm Digby (siebzehntes Jahrhundert) will in der
gleichen Weise wie es Paracelsus von dem Vogel beschrieb, Krebse
wieder rekonstruiert haben. William Maxwell (siebzehntes Jahr¬
hundert) ist der Ansicht, daß die Palingenesie nicht allein mit
Pflanzen, sondern auch mit Menschen gelingen müßte 1 . Van der
Becke 2 meint, man könne mit der Asche seiner Ahnen eine er¬
laubte Nekromantie betreiben. Manche Autoren meinten aus der
Asche einer in Verwesung übergegangenen Kindesleiche in einem
Glasgefäß die Gestalt des Kindes erscheinen lassen zu können.
Die Berichte über palingenetische Experimente stimmen ge¬
wöhnlich darin überein, daß die im Glas erscheinende Gestalt, sei
es überhaupt. Sei es wenigstens anfangs, schattenhaft ist, um sich
nach und nach zu kräftigen. Der Hinweis auf die Nekromantie
kommt uns sehr zu statten, um dies einzusehen. Zuerst ist bloß
die Idea oder die ätherische Gestalt des betreffenden Wesens da und
zieht nach und nach die dichteren, irdischen Stoffe an sich. Man er^
innere sich der Worte des Simon Magus. Man denke auch daran,
wie sich im elften Gesang der Odyssee die Schatten durch Trinken
von Blut stärken,- und an die ähnlichen Stellen anderer alter Dichter.
Nach H. C. Agrippa 3 , der an Virgil, die Neuplatoniker etc. an^
knüpft, bildet die unreine Menschenseele, die in diesem Leben allzu^
sehr dem Körperlichen anhing, . . . aus den Dünsten der Elemente
sich einen anderen Körper, indem sie aus solcher bildsamen
Materie wie durch einen Atemzug 4 einen Schattenkörper annimmt,
der nun ... ihr sinnliches Organ ist, etc.
Das Blut ist Lebensträger und hat auch spermatischen Wert.
So entnimmt sich z. B. in einer afrikanischen Mythe 5 eine unfrucht¬
bare Frau einen Blutstropfen, verschließt ihn auf neun Monate in
einen Topf und findet dann in diesem ein Kind.
Zeugung und Verdauung hängen merkwürdig zusammen in
der paracelsischen Schrift »De Homunculis« (Baseler 4°-Ausg. von
M.D.XCI, Bd. IX, p. 311—321, Straßburg fol. M.DC.XVI, Bd. II,
p. 278 ff.), die offenbar die Möglichkeit einer monströsen Befruch¬
tung durch Mund und Anus vertritt, wie man sogleich sehen wird:
„ . .. Tlun weiter begibt ficf)/bas auf? ©obomitifd)er Tttutwtll
biefelbigen £u?ifcben 6 ©obomiten offtmals / auf)t>erfd>ütten Sperma auff=
Hauben/nnb wiber eingieffen 7 in Matricem, bas weiter }u teuften
1 »Medicina magnetica«, Hedelberg 1679, cap. 5 und 20.
2 »Experimenta et meditationes circa naturalium rerum principia.« Ham^
bürg 1683, Vide p. 310, 318.
3 Occ. Philos., III, cap. XLI.
4 »Quasi haustu quodam.« Man erinnere sich des von Clemens Romanus
gebrauchten Bildes vom saugenden Schröpfkopf.
5 Leo Frobenius, »Das Zeitalter des Sonnengottes« <1. Bd.>, Berlin
1904, p. 237.
6 Von luxus = Geilheit, Üppigkeit.
7 Receptio per os?
4 *
Herbert SiIberer
52
nicht noth ift. Hun mercfen ouff bas / nach bem onb es hinein fompt /
bemnach erzeigt es fief). Tlimpts bie Matrix an / fo totrb etwas barauf):
HJo nicht /fo toirb nichts barauf) / oerfault ot>n ein ©etoächs / refolotert
fich felbs toiber f>tmpeg> Das toiffen aher/toas nicht in ber Matrix
empfangen tft burcf) bie Tlatürltchen toerefen / bas ift als ?um Monstro
onb THiffgetoechs geneigt 1 : Utas auch ben £ufft berührt/onb toietool
toiber hinein/ift aber fein ©aamen mehr/fonber ein Materia Homun-
culi. Älfo toiffen auch /baß in ber Stercoribus Humanis oielerleij
Xhier gefunben toerben onb feltham Jlrt/bie ba fommen oon ben
©obomiten 2 oon toeld)en Paulus fchreibet / onb fie nennt Knabenfchen*
ber / toiber bie 9lömer / etc. "Hun ift bas toar / too nicht ber 5luf)gang
ber Stercorum ba toerenb täglich / baf) oiel tounberbarlichs ba geboren
toürb / baf) ein erfcj>recfen folt fein ber ganzen Hielt, ©o aber bie bing
auffgetrieben toerben/onb toeren in ein Digeftion fommen toie fich
bann tool begeben mag / fo bleibts nicht ohn ein ©etoechs. (Es ift offt
gemeint toorben/baf) in ^ctmli4>cn ©emachen / eftoan finb ßiechter/
Jlmpeln / etc. erfchinen / mitten im ftoth ftehenb / etc. Darauf) etliche
oermeint / Seelen ba ?u fein ober bergletchen. Jlnber auch auff folc^cs
anjeigen oermeinet / bie fobomitifche ©ünb alfo ?uoerftinben oon litenfchen
©aamen / ber alfo mit ben Stercoribus fep auf)gangen. Jlber nein / es
ift fein 'JHenfch auf)gefd)ütt toorben: Das ift aber toahr/baf) an ben
Orten oielleicht/onb ift auch alfo/baf) bie 0uren Ihre Kinber in ber
©eburf hinein getoorffen / unb alfo tobten / bamit onb es nicht an Xag
fomm: ©olcher ftinber 35lut fchrepet auff ?u ©oft / ?u gleichet toeif)
tote ein gemorbter IKann / oergraben onb jubeeft / burch baf) ©rab auf)=
bluff/fo ber 'Hlörber ba ift. IRIfo folch £iecf>ter auch erfcheinen mögen /
btetoetl bas 53luf in bem itofh onb Xieffe nicht mag gefefjen toerben.
Darauff nun fo toiffen oon ben hingen / baf) fie mannigfaltig oon ben
©obomiten gebraucht toerben/bas fdjanben halben nicht jufchreiben ift
noch entbeefen / fonbern nach ber fürhf fürgehalten: Den oerftenbigen
aber genug / barburcf) fie tool mögen oerftehen/fo folch bing nicht nach
ber Tlatur 3 gefchehen onb fhr Orbnung / bas nichts ift bann ©obomiten
Jlrbept / auf) toelchen folche ongebürltch bing toachfen unb entfpringen /
onb in fo oiel TOeg onb ^orm gebraucht / baf) bie Monstra onb Ho-
munculi nicht all mögen befebtieben toerben / fonbern nach ber fürpj
erjehlet / onb fürgehalten / folch ßafter ?u oermetben / onb bie juerfennen /
fo bamit ombgef>nb: auch toas (Jungfratofchafft fep/toas ^rato feij /
onb toas bie nicht fepen/bas ift/roas ©obomiten feitib.
Ttun nachbem onb ich auch angejeigt hab/baf) bie ^ratoen fleh
felbft mit bem Omagtniren auch bahin bringen/baf) fie anberft ge*
baren/bann es fein foll 4 : D3as aber im felbigen gefehlt / bas ift
alles ©efeelt/onb nicht ohne ©eel/ob fie fefton faft böf) Smagintren /
1 Dieser Gedanke ist schon vorhin ausgedrückt worden.
2 Also Befruchtung des Kotes per anum.
3 Immer die Betonung des Natürlichen.
4 Die Imagination hat Einfluß auf die Gestaltung des Kindes etc.
Der Homimculus
53
onb t>ngcfcf>[act>t. Jlbet tocifer fo miffen auch oon bem Spermate ber
Sbüten/baj) fte offt mals ©obomiren / btefelbtgen an Qttannen ftatt 1
gebrauten: Darauf) bann fonbetltcb Monstra geboren toetben/ bte ba
tn ber ^onn onb ©eftalt gleich feben benfelbigen 5Tf>xcren: JUfo auch
mit ben bannen, Daroon ift nicht oiel ?ufcf>retben / bann barumb fefy
ich& baber/baf) bie Monstra löetffagung finb/fo fte allein oon ben
rechten ©aarnen l)«fllffcn / bef) THanneo onb ber gramen: D3o aber
bas nicht fein mürbe / fo mürbe an bem Ort folcf>s auch nicht fein: Das
ift/fo folche Monstra auf) @obomtfifd)er Orbnung tommen/fo ift es
ein ©obomttifch ©eroecf>s / fein r JTlenf4> / ein ©hier: fein Ster auch
nicht/fonbern in alle meg ein 'JHtffgemechs / bas erfchrecfltch ift oor ben lHen=
fehen anjufehen / onb ein (Stempel / baf) mir barburd) follen ernennen/bie arg
unb läfterlidh 0auf)haltung / mtber bie Orbnung ber 'Tktur: Bnb oer«
fehenb euch bef) nur eben ,/baf) ba ein ©obomitifcb löefen gebraucht
ift morben. Dergleichen auch fo mtffen / baf) bie ©obomiten folcb Sperma
in bas THaul 2 fallen taffen / etc. onb alfo offtmals tn THagen tompt/
gleich als tn bte Matricem, als bann fo mechf)t im Ulagen auch etn
©emeebs batauf) / Homunculus ober Monstrum, ober mas betgletchen
ift / barauf) bann oiel entftehet / onnb felfjam Krantheiten ftd) erzeigen /
bif) ?um lebten auf)bricht. Bob ift gleich als «iner ber £epcf> oon
^rofehen / etc. trimfe/onb baf) fte in jbm müchfen: Jllfo ifts auch tnit
biefem/fo anberft bie Ttatur folchen hingen nicht fürfommet onb ab*
menbet onb oerjehref. ©old>e btng all finb barumb erjehlet / baf) bte
oermetnfen (Jungframen 3 / auch bie ßuyifchen Töeiber / auch bte ©obo=
miten / in bte ©omorrifche ©ünben fallen / onb ftch alfo belufttgen tn
folcher Dppigteit / in melcher Belüftigung folch 2Ug onb Bbels auffs
fteht/bas ich hoch h>e ?um roentgften er^ehlt hob. Oebod) aber oon
megen bef) groben Bbels/nicht noth mehr onterricht ju geben. D3ill
hiemit ein jeglichen genugfam onterricht haben / bie ba bet Tlatur Diener
finb / baf) fie auch in ber Tlatur Orbnung mif)en jumanblen: Bnb bas
bte (Einfältigen batju geroiefen merben/auff baf) fie ?u bem/bas fie
bann fetnb / eijlenb / onnb baf) bas oon fbn geboren metb / baf) fte
feinb / onb bas nicht oerhalten / nach oerfcfmtten / noch otel mentger ju
ßafter gebrauchen / onb ju Dppigfeit. Dnb obs fchon gleich flroffe Per*
fonen theten/©eiehrt/©eroaltig /fo (mite für ©obomittfd) / ober bte
©chmebel onb Pech gehört."
Es sei hier daran erinnert, daß verschiedene Sagen den Ur*
Sprung der Menschen aus dem Kot oder verwandten Materien er*
zählen. So z. B. eine australische Sage, welche berichtet: Ningorope
<oder Mingarope) bemerkte voller Freude in der Abtrittsgrube ihren
1 Es hat den Anschein, als würde hier auf die Sodomie im heutigen Sinn
dieses Wortes übergegangen.
2 Hier werden also die vermeintlichen Folgen der irrumatio behandelt. Die
Befruchtung durch den Mund ist ja auch eine primitive Zeugungstheorie, die in
Mythen außerordentlich häufig vorkommt.
3 Der Autor will offenbar ausdrüdeen, daß zur Jungfernschaft eigentlich
mehr gehört als das unverletzte Hymen. Die Stelle läßt erraten, wie man sich
half, um zu genießen und doch die kostbare Jungfernschaft zu bewahren.
54
Herbert Silberer
Kot und errötete lieblich,- sie formte ihn zu einer menschlichen Ge¬
stalt, die, als die Göttin sie berührte <kitzelte>, lebendige Bewegung
annahm und zu lachen anfing 1 . Doch kehren wir zum Homunculus
der Alchemisten zurüdc!
Khunrath Sechzehntes bis siebzehntes Jahrhundert), ein tief*
ernster Meister der Hermetischen Kunst, warnt 2 vor den Char*
latanen, die sich mit der Herstellung des Homunculus befassen:
»Hastu dich durch ihr großsprechen lassen herbey bringen, daß sie
dir aus Urin eines 7. 8. 9. und 10* jährigen Knäbleins und Mägd*
leins, so nur mit weissem Brot und Wein dieselbe Zeit durch, biß
du den Urin colligirest, ernehrt worden, und dem besten weissen
Wein, Homunculum Philosophorum, dadurch du, ihrem Vorgeben
nach, zu aller Künste Erkänntnuß und Verständnuß kommen sollest,
machen wollen und sollen, der mit arcano Sanguinis humani, mit
Rosenwasser und gutem Wein eingemacht, auß einem silbern
Löffelein, wie sie lügen, künstlich müsse gespeiset, und alsdann,
wann er, zu seiner Zeit, ein schreylein thut, auß dem Glase gar
subtil genommen werden, damit er nicht wider hinunterfalle und er*
trincke, auch stracks biß auff die Beinlein in seinem Erst*materiali*
schem Wasser verwese: Hastu du didi lassen hinanbringen, sag ich,
so gib ja wohl Achtung darauff, daß sie dir mit Helffant*Beine
(Elfenbein) kleine, Menschenbeiner Gestalt nach, Contrafectische ge*
drehete Beinlein ins Glas partiren, und dich Lappen überreden. Ho*
munculus sey vorhanden gewest, jedoch aus Versäumnuß um*
kommen,- darvon die Beinlein noch übrig, welche seine praesentiam
genugsam bezeugeten. Es ist lächerlich, daß sie fürgeben, es soll ein
kleines Männleyn seyn, nur einer Hand hoch,* gehe gemeiniglidi in
einem sammeten Schlaffbeltzlein,* schlaffe gern in einem Zelt*Bettlein
mit Vorhängen alleine,* sitze mit zu Tische auff einem mit rothem
Sammet überzogenem Stülgen,* und beweise im Werde, daß es sey
ein Sohn der Weisen: Und was der schändlichen Lügen mehr seyn.«
Mißverständliche Auslegung der allegorischen Anleitungen zur
Bereitung des Steins der Weisen ließ die seltsamsten Verirrungen
aufkommen. Man suchte die richtige Materie in den Haaren, dem
Speichel, dem Blute, dem Sperma, dem Kote etc. Die sich zu den
beiden letzten Annahmen bekannten, heißen Seminalisten und Ster*
coristen. Solche Käuze gab es, beiläufig bemerkt, vereinzelt noch im
neunzehnten Jahrhundert. Im achtzehnten Jahrhundert scheinen sie
eine rege Tätigkeit entfaltet zu haben* Magie und Alchemie waren
damals stark in Mode,- namentlich wurden auf dem Weg der Gold*
und Rosenkreuzerei — wovon später noch gesprochen werden soll
— hoch ansehnliche Kreise in die kritikloseste Schwärmerei hinein*
gezogen.
1 Bourke-Krauss~Ihm, »Der Unrat in Sitte, Brauch, Glauben und Ge¬
wohnheitsrecht der Völker.« Leipzig 1913, p. 238 und 241.
2 In einer Schrift vom Hylealischen Chaos. Cit. Hohler a. a. O.,
p. 139, 161.
Der Homunculus
55
Gustav Brabbee, ein verdienter maurerischer Schriftsteller, der
im Auffinden geschichtlicher Kuriositäten namentlich aus österreichischen
Quellen, eine überaus glückliche Hand bewies, gedenkt in seinen Schriften
auch öfters der Alchemisten. »Wie man heutzutage,« so schreibt er 1 , »in
Baum* und Schafwolle, in Staatspapieren und wohl auch in Knoppern,
Galläpfeln und ähnlichen Dingen ,macht', so ,machte' man zur Zeit Maria
Theresias und Josephs in Magie, Theosophie, in Kabbala und zumal in
— Alchymie. Sie vor allem war die epidemisch grassierende Krankheit
jener Epoche: alle Welt laborierte am — Laborieren, jeder Tor suchte
den Stein der Weisen.« Brabbee erwähnt mehrere Alchemistengesell¬
schaften in Wien. Eine davon ist 1782—1783 nachzuweisen. Sie legte
sich den pomphaften Namen der »hohen, weisen, edlen und für trefflichen
Ritter vom Sternschnuppen« bei und arbeitete mit der sogenannten
»Sternschnuppensubstanz«/ der Glaube, daß die Sternschnuppe, der
Sternenschleim, zum subjectum, d. i. zum Ausgangsstoff für das große
Werk, tauge, war damals unter Alchemisten ziemlich verbreitet,- man
glaubte solchen Sternenschleim dort auflesen zu können, wo ein Meteor
vorbeigeflogen war. Die Materie, die man dann nach langem Suchen
wirklich fand, dürfte die bei feuchter Witterung plötzlich wachsende gallert*
artige Pflanze Nostoc gewesen sein, die freilich mit dem sich schneuzen¬
den Stern gar nichts zu tun hatte. Man war zu der seltsamen Idee
wahrscheinlich dadurch verleitet worden, daß die prima materia in alche*
mistischen Schriften <wohl symbolisch) als »sputum Lunae« und »sperma
astrale« bezeichnet wird 2 . Doch ich wollte eigentlich von einer anderen,
der gleichen Zeit angehörenden Wiener Alchemisten gesellschaft sprechen.
Es ist unbegreiflich, wie diese Gesellschaft <Brabbee, S. R., p. 182 f.)
fast zwei Jahre lang ihr lichtscheues, verbrecherisches Treiben fort¬
setzen konnte, ohne von der strafenden Hand der Gerechtigkeit ereilt
zu werden. »Als man endlich genügende Anhaltspunkte gefunden hatte,
die ein strenges behördliches Einschreiten vollkommen gerechtfertigt er¬
scheinen ließen, war es zu spät, die Mitglieder dieser abominablen
Adepten*Gesellschaft waren rechtzeitig gewarnt worden, und plötzlich,
wie vom Winde zerstoben, in fast gespenstiger Weise verschwunden, so
daß man niemandes habhaft werden konnte, als eines uralten, dem An*
scheine nach halb blödsinnigen Hauswarts, dem keine irgendwie maß*
gebende Aussage zu erpressen war, und der nach lange andauernder
Untersuchungshaft wieder freigelassen werden mußte. Doch aber war man
im Verlaufe der gerichtlichen Prozedur zur moralischen Überzeugung ge*
langt, daß die Mehrzahl dieser Mitglieder jenen schändlichen Alchymisten*
Sekten angehörte, die man gewohnt war, mit dem Namen der Sterko*
risten, Seminalisten und Sanguinisten zu bezeichnen. Auf dem Grund*
satz fußend: »Der Mensch als Mikrokosmos berge in sich die Keime zu
dem Edelsten, was die Welt hervorbringen könne: Gold — und kein
Kolben und keine Retorte sei so kräftig, als der menschliche Magen, bei
dem es nur darauf ankäme, ihm lauter edle Dinge zur Destillation zu
geben, um das edelste Produkt zutage zu fördern« — hatte man eine
Anzahl feiler Individuen beiderlei Geschlechts verlockt, sich mit den nähr*
haftesten und feinsten Speisen und feurigsten Weinen füttern und tränken
zu lassen, sie dagegen aber verpflichtet, die Produkte ihres Stoffwechsels
beiderlei Natur an einem ihnen zu diesen Behufe angewiesenen Ort zu
1 »Sub Rosa«, Wien 1879, p. 180.
2 Auch hier der Gedanke eines spermatischen Sekretes.
56
Herbert Silberer
deponieren, wo selbe durch einige Famulos der Gesellschaft von Zeit zu
Zeit geholt und an die hiezu bestellten Laboranten abgeliefert wurden,
um dann eine Unzahl der aberwitzigsten und verwickeltsten chemischen
Prozesse durchzumachen / man hatte ferner, als ob es an den angedeuteten
argen Obszönitäten noch nicht genug gewesen wäre, sich in Manipula^
tionen eingelassen, wodurch der Name eines hochgestellten Offiziers in
ganz unglaublichem Grade bemakelt erschien,* der Unselige, ein Mitglied
dieser Gesellschaft, soll über Geheiß seiner geheimnisvollen Oberen eine
Anzahl seiner ihm untergebenen Soldaten gedungen haben, gegen bare
Bezahlung, das zu liefern, »was-«, weil man auch darin
die primam materiam aufzufinden verhoffte! Es verlautet weiter, daß
dieser Vampyr seine Opfer so lange und so schonungslos ausgenützt
habe, bis »sie ganz schwach und hinfällig wurden, wovon anfangs der
Regimentsarzt die Ursache nicht entdecken konnte, bis ihm das Geständnis
eines Mannes, der dabei war, die Augen öffnete«, worauf die Sache »im
Interesse der Disziplin vertuscht wurde«,* man hatte endlich gewichtige
Anzeichen aufgefunden, daß, um den gedachten Gräueln die Krone auf¬
zusetzen, jene saubere Gesellschaft sich nicht damit begnüge, urina
puerorum und ähnliche Substanzen zur Anfertigung der philosophischen
Tinktur, des »Aesch majim«, oder »feurigen Wassers« und »wässrigen
Feuers« zu verwenden, sondern hiezu auch menschlichen Blutes bedürfe
— es war in der Nähe des Gebäudes, worin sie monatlich wenigstens
einmal ihre verstohlenen Zusammenkünfte abzuhalten pflegte ... an einem
kalten Novembermorgen ein mit dem Tode ringendes junges Weib auf¬
gefunden worden, deren Adern an Händen und Füßen man geöffnet
hatte, und das infolge des erlittenen Blutverlustes binnen einer Stunde
an Schwäche vergehend, nicht mehr die Kraft besaß, Aussagen zu machen,
sondern nur noch mit Hand und Blich auf diese unheilvolle Behausung
zu deuten vermochte — von alledem hatte sich, wie erwähnt das Unter-
suchungsgericht die moralische Gewißheit zu verschaffen gewußt, aber der
gesetzlich unerläßliche Beweis konnte nicht erbracht werden, die Sache ge¬
riet ins Stocken und verrann endlich, ohne zu irgendwelchem Ergebnisse
geführt zu haben, spurlos im Sande!«
So wie die traurigen Helden dieser Beispiele durch eine be¬
schränkte Auslegung der alchemistischen Bilderreden mißleitet wurden,
mag, wie gesagt, zum Teil ähnliches für die Homunkelfabrikation
gelten. Dies scheint die Ansicht des großen Chemikers und Chemie^
historikers Marcellin Berthelot zu sein. Er führt 1 eine alte
allegorische Darstellung des Prozesses der Goldbereitung an, die
z. B. bei Zosimos und anderen vorkommt/ es handelt sich dabei
um einen ehernen Mann, der durch Eintauchen in ein Wasser zu
einem Silbermann und schließlich zu einem Goldmann wird. Und
er fügt an: »Rappeions encore ces allegories, oü les metaux sont
representes comme des personnes, des hommes: c'est lä probable-
ment l'origine de l'homunculus du moyen äge,* la notion de la
puissance creatrice des metaux et de celle de la vie s'etant con^
fondues dans un meme Symbole.«
Eine verführerische Stelle kommt z. B. auch in der einen
1 Marcellin Berthelot, »Les Origines de V Alchimie«, Paris 1885, p. 60.
Der Homunculus
57
»Turba Philosophorum« 1 vor: »Bonellusinquit: Sciendum est omnes
discipuli, quod ex electis nihil fit utile absque conjunctione, 'S)
regimine, eo quod sperma ex sanguine generatur 'S) libidine. Viro
namque mulieri imminente, uteri humore sperma nutritur 'S) san¬
guine humectante, et caliditate, peractis vero 40 noctibus sperma
formatur. Si enim humiditas sanguinis 'S) uteri calor non esset,
sperma non maneret nec foetus perageretur. Deus autem illum
sanguinem et calorem ad nutriendum sperma constituit, quousque
extrahas ipsum ad libitum. Foetus autem extractus non nisi lacte
nutritur 'S) igne, parce et paulatim, dum pulvis est, et quanto
magis exurit, tanto ossibus confortatis in juventutem ducitur in
quam perveniens sibi sufficit. Sic ergo oportet te in hac arte facere.
Et scitote quod absque calore nihil unquam generatur, 'S) quod
balneum calore intenso perire facit. Si vero sit frigidum fugat, sin
autem temperatum sit, corpori conveniens 'S) suave fit, quare venae
leves fiunt 'S) et caro augmentatur. Ecce vobis demonstratum est
Omnibus discipulis, intelligite igitur, 'S) in omnibus quae regere
conamini timete Deum.« Damit glaube ich eine für die Homunculus-
phantasie wichtige Stelle angegeben zu haben.
Von den beiden Büchern, die »Turba Philosophorum« heißen,
wird diese als die ältere betrachtet,- beide werden von Autoren des
fünfzehnten Jahrhunderts erwähnt, und es wird <was allerdings
wenig besagen will) die erste davon noch ausdrücklich als eine alte
Quelle hingestellt.
Mißdeutungen mögen auch zu Sagen, wie der folgenden, An^
laß gegeben haben, in der man wieder die Idee von der Fruchtbar¬
keit des Mistes findet:
Theophrastus, der große Wunderdoktor {offenbar Paracelsus),
welcher in der ganzen Welt herumreiste, hatte einen Teufel in
einem Glase, mit dessen Hilfe er die größten Taten verrichtete.
Der Teufel hatte ihn alle Kräuter und Blumen kennen gelehrt, wor¬
aus man Arznei bereitet. Nun machte Theophrastus, wie der Herr
Christus im Evangelium, Blinde sehend, Taube hörend. Lahme
gehend. Aussätzige rein usw. — aber nur durch die schwarze Kunst.
So sehr ihn auch die Kranken suchten, um geheilt zu werden, so
fürchteten sie sich doch auch vor ihm, weil er es mit den Höllen^
geistern hielt. Bei Kaisern und Königen aber stand er in großer
Gunst, weil er sie nicht nur gesund machte sondern ihnen auch ihr
Reich stützen und schirmen half,- denn er brauchte nur das Glas
ein wenig zu öffnen, so sagte ihm der Teufel immer, was zu tun
sei. Zuletzt aber ist es ihm schlecht ergangen. Als er schon alt war
und sich vor dem Tod fürchtete, gab ihm sein Teufel den Rat: er
solle sich in kleine Stücke zerhauen, in Roßmist begraben und
nach Jahr und Tag gewinnen lassen,- dann werde er wieder ein
1 »Theatrum Chemicum«, Vol. V, Argentorati M.DC.LX. Turba, Sermo
LX, p. 45.
58
Herbert Silberer
Jüngling sein. So ließ er sich denn durch seinen treuen Diener zer¬
hauen und begraben. Dieser aber konnte die Zeit vor Ungeduld
nicht abwarten,- den vorletzten Tag öffnete er vorwitzig die Grube,-
und es lag Theophrastus da lebendig, ein schöner Jüngling,- nur der
Kopfdeckel war noch nicht ganz zugewachsen. Nun aber kam ihm
die Luft ins Gehirn und er mußte sterben. Sonst hätte er wieder
alt und mit Hilfe des Teufels und eines treuen und nicht vor¬
witzigen Dieners immer und immer wieder jung werden können 1 .
Hier haben wir also auch die Idee des in ein Glas gebannten
Geistes 2 , welche zur Homunculusphantasie gleichfalls einen Beitrag
geliefert haben mag. Mit der Zeit wurde im Volksglauben zum
Teufel, was ursprünglich ein einfacher Spiritus familiaris gewesen
sein wird. Dem Homunculus werden ja jene Tugenden zuge¬
schrieben, die einen dienstbaren Dämon zu einer hochbegehrten
Sache machten, um derentwillen sich so mancher in der Magie ver^
suchte, mochte sie noch so schwarze »Nigromantie« 3 sein — rettete
man doch sein Seelenheil durch die bei den Beschwörungen aus¬
giebig gebrauchten Namen Gottes.
Den Glauben an den Teufel im Glas illustriert ein gelungenes,
von G. C. Horst mitgeteiltes Faktum: Als der bayrische Geiste
liehe Adam Tanner, der den Hexenrichtern größere Vorsicht und
bessere Beweise predigte, 1632 in Tirol starb, verweigerte man ihm
ein christliches Begräbnis, weil man bei ihm einen haarigen Teufel
in einem Glase fand. Später stellte sich allerdings heraus, daß der
vermeintliche Teufel ein Floh war, den Tanner in einem Mikroskop
aufbewahrt hatte.
Im Jahre 1851 ist in München von dem Defmitor Prov. Pater
Franz Xaver Lohbauer das Rituale ecclesiasticum ad usum ClerU
corum ord. S. Francisci ref. Prof. Antoniano Bavaricae herausge¬
geben worden. Aus diesem Rituale hat Dr. Andreas Gassner zu
Salzburg in seinem »Handbuch der Pastoraltheologie« einen Aus¬
zug geliefert und ein Kapitel über Besessenheit 1869 noch besonders
ediert 4 . Zu den Besessenen im weiteren Sinn werden darin auch die¬
jenigen gerechnet, »deren Häuser oder Gemächer von diabolischen
Erscheinungen geplagt sind,« sowie ferner diejenigen, »qui Daemoni
se subscripserunt, vel eum in vitro aut alio vase inclusum
detinent, et ab eo, ut vellent, liberari nequeunt, item, qui habent
spiritum incubum vel succubum«. Es wird also vorausgesetzt, daß
sich Leute Teufel in Flaschen halten.
In den Kinder- und Hausmärchen <Grimm> heißt Nr. 99
»Der Geist im Glas«. Der Sohn des Holzhackers, der auf der hohen
1 Dr. Friedrich Müller, »Siebenbürgische Sagen«. 2. Aufl. Hermann^
stadt und Wien 1885, p. 117 f.
2 Oder sollte es am Ende bloß ein Laubfrosch gewesen sein?
3 Verderbt aus Nekromantie.
4 Soldan^Heppe, »Geschichte der Hexenprozesse«, Stuttgart 1880,
II. Bd., p. 343.
Der Homunculus
59
Schule gelernt hat, dann aber, weil die nötigen Mittel fehlten, die
Studien aufgeben und heimkehren hat müssen zur Holzhackerarbeit,
hört, vor einem Baum stehend, eine dumpfe Stimme: Laß mich
heraus! Nach einigem Suchen entdeckt der Schüler unter den
Wurzeln des Baumes eine Glasflasche. Er hebt sie ans Licht und
sieht darin »ein Ding, gleich einem Frosch gestaltet, das sprang
darin auf und nieder«. Der Schüler öffnet das Glas, dem ein
fürchterlicher Geist entfährt, der sich Mercurius 1 nennt und seinem
Befreier das Genick brechen will. Dieser überlistet den Geist und
erhält von ihm eine Wundermedizin und weiße Tinktur. Eine andere
Version teilt der dritte Band Grimm mit,* da befreit Paracelsus
den Geist, wird von ihm bedroht, überlistet ihn und bekommt die
wertvollen Dinge, mit denen er dann seine Wunderkuren verrichtet.
Wenn auch die Vorstellung des Gebundenseins von Geistern
an bestimmte Orte sich als etwas sehr Natürliches überall selb¬
ständig entwickelt hat, so wird doch die Idee des Einschließens in
ein Gefäß — also jene engere Vorstellung, die in die Konzeption
der Homunkelphantasie eingegangen sein mag — hauptsächlich dem
morgenländischen Aberglauben entstammen, der mit dem gelehrten
Zauberwesen im Mittelalter in den Westen herüberkam. Ich er¬
innere in diesem Zusammenhang an die Märchen der 1001 Nächte,
worin mehrmals von Geistern die Rede ist, die in Gefäße einge¬
schlossen sind,* als der sie eingeschlossen hat, wird meistens der Erz¬
zauberer König Salomo genannt. Wohlbekannt ist die Geschichte
von dem Fischer und dem Geist,* insbesondere mache ich aber auf
das Märchen von der Messingstadt aufmerksam. Im letzteren wird
geradezu eine Expedition ausgerüstet, um solche Flaschen mit
Geistern herbeizuschaffen.
Khunrath <Hyl. Ch.) klagt: »Etliche verzweifelte Buben
unterstunden sich einsmahls den Teuffel, als einen Laboranten, zum
Quecksilber und Gold in Glaß zu bannen, dieselben also zu dispo¬
nieren, anzuordnen und zu qualificieren, daß Lapis Phil, darauß
würde. Was geschah? auff ihre Ladung kam er,* jedoch solcher Ge¬
stalt, daß sie, ohne Zweiffel noch auß deß barmhertzigen Gottes
milder Güte, nährlich Zeit hatten außzureissen, sie weren sonsten
innen worden, was der Teufel für ein Laborante ist.«
Wie mir scheint, hat der Homunculus auch etwas vom Alraun
angezogen. Er hat sogar den Namen mit ihm insofern gemein, als
seinerzeit auch der Alraun »Homunculus« genannt wurde, welcher
Ausdruck übrigens noch einen verwandten Gegenstand bezeidhnete,
nämlich jenes Bild aus Wachs od. dgl., das man sich von seinem
Feinde machte, um ihm durch Bildzauber zu schaden, indem man
der imaguncula jene Unbilden zufügte, welche an dem Original in
Erfüllung gehen sollten.
Der Alraun ist bekannt als eine menschenähnlich gestaltete
1 Ein alchemistisdhes Prinzip.
60
Herbert Silberer
Zauberwurzel, die man sorgfältig aufbewahrte und von der man
glücklichen Einfluß erwartete. Der Name Alraun ist eigentlich weib*
lieh <die Alraune) und weist auf einen altgermanischen Glauben zu*
rück,* man hat an die Alrunen, die weisen Frauen, zu denken 1 .
Die weissagenden Frauen sind zauberkundig und wissen Bescheid
in der Zubereitung von Kräutern und Wurzeln. Etwas von ihrer
kultischen Bedeutung, der Verehrung, die sie genossen, mag in den
späteren kultartigen Alraunwurzelglauben <natürlich entstellt) über**
gewandert sein. Eine Brücke für diesen Übergang zeigt sich darin,
daß die Alraunwurzel als ein persönliches Wesen gedacht wurde.
Dazu kommt natürlich die menschenähnliche Gestalt der Wurzel.
Der fertige Alraunwurzelglaube, wie er für die Homunculus-Idee
in Betracht kommt, enthält viele griechisch^orientalische Elemente,
die zum Teil auch das alte Rom passiert haben. Die zum Alraun¬
bild <Alräunchen, Alruniken, Galgen^, Gold-, Hecke-, Erd-, Heinzel¬
männchen, Hausgeistchen etc.) verwendete Wurzel war in erster
Linie die Mandragora. Man wird alsbald sehen, daß auch diese
mögliche Quelle des Homunculus stark von Zeugungsgedanken
durchsetzt ist. Betrachten wir zunächst einmal die Art, wie man die
Alraun gewinnt.
Wenn ein Erbdieb, der noch reiner Jüngling ist, erhängt wird
und das Wasser oder den Samen fallen läßt, wächst unter dem
Galgen die breitblättrige, gelbblumige Alraun. Beim Ausgraben ächzt
und schreit sie so entsetzlich, daß der Grabende davon sterben muß.
Man soll also Freitag vor Sonnenaufgang, nachdem die Ohren mit
Baumwolle oder Wadis verstopft sind, einen ganz schwarzen Hund,
an dem kein weißes Härchen sei, mitnehmen, drei Kreuze über die
Alraun machen und ringsherum graben, daß die Wurzel nur noch
an dünnen Fasern hänge, dann werden diese mit einer Schnur an
den Schwanz des Hundes gebunden, dem Hund wird ein Stück
Brot gezeigt und eiligst weggelaufen. Der Hund, nach dem Brote
gierig, folgt und zieht die Wurzel aus, fällt aber, von ihrem ächzen^
den Wehruf getroffen, tot hin. Hierauf wird die Wurzel aufgehoben,
mit rotem Wein gewaschen, in weiß und rote Seide gewickelt, in
ein Kästlein gelegt, alle Freitage gebadet und alle Neumonde mit
neuem weißen Hemdlein angetan. Fragt man sie nun, so offenbart
sie künftige und heimliche Dinge zu Wohlfahrt und Gedeihen, macht
reich, entfernt alle Feinde, bringt der Ehe Segen, und jedes über
Nacht zu ihr gelegtes Geldstück findet man frühmorgens verdoppelt,
doch überlade man sie nicht damit. Stirbt ihr Eigner, so erbt sie
der jüngste Sohn, muß aber dem Vater ein Stück Brot und Geld
in seinen Sarg legen. Stirbt er vor dem Vater, so geht die Alraun
über auf den ältesten Sohn, der aber seinen jüngsten Bruder
ebenso mit Brot und Geld begraben soll. <Grimm, D. Mythol.
1153 f.)
Vgl. Grimm, D. Mythol. 1153.
Der Homunculus
61
Der spiritus familiaris bei Grimm <D. S. 84) ist wohl mit
dem Alraun <D. S. 83> identisch. Er wird gewöhnlich in einem wohl¬
verschlossenen Gläslein aufbewahrt.
Die halbmenschliche Alraunwurzel entspricht dem »mandra-
? ;oras semihomo« bei dem Adcerbauschriftsteller Columella {erstes
ahrhundert) und die Gewinnung wird auch von Plinius <25. 13>
als eine heikle Sache geschildert/ man habe sich vor konträrem Wind
in acht zu nehmen und mit einem Schwert drei Kreise zu be¬
schreiben. Diese drei Kreise werden natürlich später zu Kreuzen.
Plinius unterscheidet übrigens zwei Geschlechter der Pflanze: eine
weiße männliche und eine schwarze weibliche Mandragora.
Die Mandragora ist eine narkotische Pflanze, den Solanaceen
zugehörig. Es gibt ihrer mehrere Arten,- im ganzen Mittelmeer¬
gebiet ist die M. officinarum L. heimisch. Die Früchte der Pflanze,
Beeren, sollen nicht bloß einschläfernd, sondern auch aphrodisisch
wirken,- sie werden von den Arabern genossen. Man sagt ihnen
auch seit alters her nach, daß sie die Frauen fruchtbar machen. Die
Dudaim des alten Testamentes, Liebesäpfel von ebendieser Eigen¬
schaft, werden als Früchte der Mandragora aufgefaßt. Im Altertum
verwendete man die Mandragora gerne zu Liebestränken, zu
Zaubereien und als Schutzmittel. Schon Pythagoras machte auf die
menschenähnliche Gestalt der Wurzel aufmerksam. Sie wurde von
den Alten auch als Betäubungsmittel vor Operationen gebraucht.
Das Märchen von der gefährlichen Gewinnung der Wurzel
findet Horst <Z. B. IV, p. 24> bei Josephus <De Bello Jud. VII.
25) nahezu ebenso, wie sie später im Abendland umläuft. Als
Fundort der Wurzel wird das Tal Baaras angegeben und die Pflanze
trägt den gleichen Namen. Die Entstehung aus dem Samen des
Gehenkten kommt dort jedoch nicht vor.
Die Mandragoren haben nach D ul au re im Priapskult eine
Rolle gespielt. Audi phallische Amulette hießen Mandragoren, und
zwar noch im mittelalterlichen Frankreich. »Das Fascinum der
Römer . . . war bei den Franzosen einige Jahrhunderte lang üb*
lieh . . . Sie nannten diese Amulette auch Mandragoren, nach dem
Namen einer Pflanze, deren Wurzelform dem männlichen Geschlechts^
teil ähnelte . . . Zu Ehren dieser phallischen Amulette verrichtete
man Gebete und sagte Beschwörungsformeln her.«
Was hier von der Form der Wurzel gesagt wird, bedarr
einer kleinen Erläuterung. Die fleischige, rübenartige, oft geteilte
Mandragorenwurzel hat wohl von Natur aus eine gewisse Ähnlich^
keit mit einer menschlichen Gestalt oder auch mit einem Geschlechts^
teil/ von den Leuten aber, die damit ihren einträglichen Handel
trieben, wurde, um die Ähnlichkeit in der einen oder anderen
Richtung zu erhöhen, künstlich nachgeholfen. Auch hielt man sich
nicht streng an die im Abendland, namentlich in den Binnenlanden,
recht seltene Mandragora, sondern zog auch die Wurzeln von
Allium victoriale, Bryonia u. dgl. heran.
62
Herbert Silberer
In dem Journal eines Pariser Bürgers <Oeuvres de Georges
Chastelain, Bruxelles 1865, Bd. IX) heißt es, daß ein Franzis¬
kanermönch 1429 gegen das Amulett Mandragora eine heftige
Kanzelrede hielt. Er überzeugte die Männer und Frauen von dessen
Nutzlosigkeit und ließ mehrere Wurzeln verbrennen, die man ihm
übergab. »Die Pariser hatten ein solches Vertrauen zu diesen
Piippchen, daß sie wirklich fest daran glaubten, sie würden ihr Leben
lang nicht arm sein, solange sie es hatten, vorausgesetzt, daß es
sauber in Seide und Linnen eingehüllt war.« Die Wurzeln galten
so ziemlich in ganz Europa <wie im Orient) als sicheres Mittel
gegen Unfruchtbarkeit. Abt Rosier sagt in seinem »Cours complet
d'Agriculture« <Bd. VI, p. 401): »Ich sah Mandragoren, die ganz
gut die männlichen und weiblichen Geschlechtsteile aufwiesen« h
Mandragoren beiderlei Geschlechts besaß Kaiser Rudolf II. Horst 1 2
weist auf einediesbezügliche Stelle aus Lambecks Commentar. de augustiss.
Bib. Caes. Vindob. <Bd. VIII, p. 647 der 2. Aufl., Wien 1766-1782)
hin und zitiert folgende Stelle aus den »Monatlichen Unterredungen von
dem Reich der Geister«, worin eine der sprechenden Personen, Andrenio,
sagt: »Wir wollen uns nunmehro auch auf die kayserliche weltberühmte
Bibliothec verfügen, von welcher mir vor nicht gar langer Zeit der da^
mahlige Vorsteher dieses vortrefflichen Bücher-Schatzes aufrichtig be-
kennet hat, dass er nach dem gewöhnlichen Beth^Zeichen keine bleibende
Stätte mehr daselbsten habe, wo er nicht mit Gewalth wollte darauss
vertrieben werden. Absonderlich versicherte er mir dieses von dem-
jenigen Zimmer, in welchem unterschiedliche Manuscripta, benebst an-
dern rahren Monumenten verwahret werden, wie er mir dann zwey
Mandragoras, mit köstlichem rothen Scharlack bekleidet und gleichsam
in ordentlichen Todten-Laden nach Proportion ihrer Grösse liegend, ge-
zeiget, und auch mir solche in die Hand zu nehmen vergönnet hat. An
denselben funden sich besondere Zeichen, alss wenn sie unterschiedenen
Geschlechtes wären, und sollte sich Kayser Rudolphus II. derselbigen be-
dienet, und gar seltsame Dinge damit verübet und ausgerichtet haben.
Unter anderm erzehlete er mir auch, dass sie, wie kleine Kindlein, hätten
müssen offtmahls gebadet werden, und zwar mit unverfälschten guten
Weine. Wenn dieses nicht geschehen wäre, hätten sie ein Geheule ange-
fangen, wie kleine neugebohrne Kinder, welche erst von Mutter Leibe
kommen, und die äusserste Natur-Lufft anfangs nicht vertragen können,
hätten mit dem Heulen auch nicht ehender nachgelassen, biss ihnen ihre
ordentliche Pflege widerfahren seye.«
Der Wert, den man im Volk den Alräunchen beilegte, wird
kraß illustriert in dem folgenden Brief, der sich in Keyßlers AntU
quitt. Septemtr. <p. 507) findet:
»Brüderliche Liebe und Trew, und
sonst alles Guthes bevor!
1 Dulaure-Krauß-Reiskel, »Die Zeugung in Glauben, Sitten und
Bräuchen der Völker«, Leipzig 1909, p. 94—100.
2 Georg Conrad Horst, »Zauber-Bibliothek«, Mainz 1821 ff., Bd. V,
p. 322 ff.
Der Homunculus
63
Lieber Bruder!
»Ich habe dein Schreiben überkommben, vnd zum Theilß genug
wohl darauß verstanden, wie daß Du, lieber Bruder, biß her an Deinem
Husse vnnd hoffe groß Schaden genommen hast. Daß Dir deine Rinder,
Kühwe, Schweine, Schaffe, Pferde Alles absterben, dein Wein vnd Bier
versawren in Deinem Keller, vnd Deine Nahrung gantz und gar zurücke
gehet, vnd Du ob dem Allen mit deiner lieben Hauß-Frawen in grossen
Zwietracht lebest, welches mir von Deinetwegen ein groß Hertzleyd ist,
zu hören,- vnd bin zu den Leuthen gangen, die solcher Dinge Verstand
haben, hab Rath und That von deinetwegen bey ihnen suchen wollen,
vnd hab sie auch danebenß gefraget, woher Du solches Unglücke haben
müssest? — So haben sie mir geantwortet. Du hättest solches Unglücke
nicht von Gott, sondern von bößen Leuthen, vnd Dir kunte auch nit
geholfen werden, Du hättest dann ein Allruniken oder Erd-Mäncken,-
vnd wenn Du solches in deinem Hauß oder Hoffe hättest, so würde es
sich mit Dir wohl bald gantz anderß schicken,- so habe ich mich von
deinetwegen fernerß bemühet, vnd hin zu den Leuthen gangen, die
soliches gehabt haben, als bey unsern Scharffrichter,- vnnd ich habe ihme
dafür geben, alß nemblich mit 64 Thaler vnd deß Bütteiß seinem Knecht
ein Engels-Kleid zum Drinckgeldt.
»Ansolcheß soll Dir nun, lieber Bruder, auß Lieb vnd brüder**
lieber Trewe geschencket seyn, vnd so solltu es nun lehren vnd damit
halten, wie ich Dir schrieb in diesem Brieff. Wenn Du den Erdmann,
oder das Alrunicken in dein Hauß oder Hoffe überkommest, so laß es
drey Tage ruhen, ehe Du darzu gehest, nach dreyen Tagen hebe eß uffe,
vnd bade eß wohl in warmen Wasser. Mit dem Baade solltu alßdann
besprengen dein Vieh, vndt die Sollen <Schwellen> deines Husses, do
Du vnd die Deinigen übergehen, so wird es sich mit Dir wohl gewiß**
lieh bald anderst schicken, vnd Du wirst wohl wiederumb zu dem Deinem
kommen, wenn Du dieß Erdmännicken fein wirst zu Rade halten. Vnd
Du sollt eß alle Jahr viermahl baaden, vnd so offte Du es baadest, sollt
Du es wiederumb in sein seiden Kleidtlein legen vnd winden, vnd legen
es bey deinen besten Kleidern vnd Sachen, die Du hast, so darffest Du
jhme alßdann nit mehr thun,- das Baadt ist auch sonderlich guth, wan
eine Frawe in Kindensnöthen ist, vnd nit gebehren kann, daß sie ein
Löffel voll davon trincket, so gebehret sie mit Frewden und Danckbar*
keith. Vnd wan Du für Rieht <vor Gericht) vnd Rath zu thun hast, so
stecke den Erdmann nur bey Dir unter den rechten Arm, so bekommest
Du eine gerechte Sache, sie sey recht oder vnrecht.
»Nun, lieber Bruder, dießes Erd-Männicken schicke ich Dir auß
Lieb vnd Trew zu einem glückseeligen Newen Jahr, vnnd laße eß nit
von Dir kommen, vnd eß mag soliches behalten dein Kindeskinder. Sey
hiemit mit Gott befohlen! — Datum Leipzig Sonntags vor Fasten
1675. N. N.«
Der Alraun ist kurzweg das Begehrenswerteste,- er ist als
das Ziel der habsüchtigen Wünsche für seine Kreise das gleiche,
wie für andere Kreise der dienstbare Dämon und für die intellU
gentere Klasse der Stein der Weisen.
Der Alraun wurde auch mit der Springwurzel in Zusammen¬
hang gebracht, welche besonders Dieben <vergl. den Ursprung des
64
Herbert Silberer
Alraun aus Diebssperma) nützlich ist, weil sie alle Türen und
Schlösser sprengt. Man verschafft sich die Springwurzel am besten
mit Hilfe des Schwarzspechts <auch des Buntspechts, Grünspechts).
»Merke, wo derselbe im Frühling in einen Baum nistet. Wenn nun
die Brutzeit vorbei ist und der Vogel ausfliegt, Nahrung zu suchen:
so treib einen harten Quast <Keil) in die Öffnung des Ausflugs.
Stelle dich hinter dem Baum auf die Lauer, bis der Vogel zurüdc-
kommt zur Futterzeit. Nimmt er wahr, daß das Nest verspündet
ist, so wird er mit ängstlichem Geschrei um den Baum schwirren
und seinen Flug plötzlich gegen Sonnenuntergang nehmen. Alsdann
sey bedacht, einen rothen scharlachenen Mantel aufzutreiben, oder
kauf vier Ellen hochrothes Tuch, verbirg es vorsichtig unter dem
Kleide, und harre beim Baume einen oder auch zwei Tage lang,
bis der Schwarzspecht wieder zu Neste fliegt, mit der Springwurzel
im Schnabel. Sobald er damit den Propfen berührt, wird dieser
wie ein Kork aus einer gährenden Flasche mit grosser Gewalt
heraus fahren. Alsdann breite behende den scharlachenen Mantel
oder das rothe Tuch unter den Baum, so meynt der Specht, es sey
Feuer, erschrickt davor, und läßt die Springwurzel aus dem Schnabel
fallen. Einige zünden auch unter dem Baum wirklich ein kleines
Feuer an, und streuen die Blüthe vom Krauth Spickenardi (La¬
vendel) darauf. Aber hiemit ist es ein mißliches Ding, denn wenn
die Flamme nicht rasch genug gerade in dem Augenblick auflodert,
da der Specht den Quast im Nest mit der Wurzel berührt, so ent¬
fliegt derselbe, und trägt die Springwurzel mit sich davon. Hast du
nun die Wurzel in deiner Gewalt, so unterlaß nicht, jeden Tag ein
Stückchen Kreuzdornholz dabei zu binden. Denn wofern du sie frei
aus der Hand legen wolltest, so wäre sie ohne Gebrauch und
Genuß verloren.« 1
Auch diese Geschichte hat ihr orientalisches Vorbild. Horst
<Z. B. IV, p. 353 f.) gibt darüber folgendes an. Der Talmud weiß
von einem Würmchen -pöd (Sarnir), vor dem nichts Hartes, es sei,
was es will, bestehen kann. Der Sarnir ist sogleich in den sechs
Schöpfungstagen unmittelbar vom hochgelobten Gott erschaffen
worden. Es befindet sich in einem Schwamm von Wolle, in einer
bleiernen Schachtel, die mit Gersten-Kleyen angefüllt ist,- ein magi¬
scher Apparat, den der hochgelobte Gott für dasselbe selbst so zu¬
gerichtet hat. Als Salomon eben den Grund zum Tempel legen
wollte, fiel ihm mit Entsetzen bei, daß er sich keines Meißels und
Hammers beim Bau bedienen dürfte. In dieser Verlegenheit rief er
die Gesetzgelehrten und Rabbiner zusammen, was nun anzufangen
wäre? — Sie sagten, er möchte sich nur den bringen lassen,
den Moseh zur rolierung der Steine des Leibrocks gebraucht hätte.
Und wo ist dieser Samir? fragte er. Das wüßten sie selber nicht,
die Teufel aber müßtens ohne Zweifel wissen, die sollte er nur
1 Horst, a. a. O., IV, p. 48 f.
Der Homunculus
65
deshalb fragen. Der König machte auf der Stelle Gebrauch von
seinen Beschwörungskünsten und zitierte ein Dutzend Dämonen.
Diese erschraken, als sie vom Samir hörten, machten allerhand
Tergiversationen, und schützten zuletzt ihre Unwissenheit vor. Er
müßte sich an ihren Fürsten Asmodi oder Asmodeus wenden. Hier
war nun guter Rat teuer, weil dieser mächtige Höllenfürst alle Be¬
schwörungen zunichte zu machen wußte. Einer der Dämonen ward
jedoch von Salomon so in die Enge getrieben, daß er auf die
Frage, wo sich ihr Oberhaupt, Asmodeus, gegenwärtig aufhalte,
bekannte, in der und der Höhle, auf dem und dem Berg. Jetzt nahm
der König zur List seine Zuflucht. Er gab seinem Feldmarschall,
Benaja, einem sehr beherzten Mann, eine Kette, eine Flasche Wein
und etwas Öl, und schickte ihn damit nach der Felsenhöhle zum
Höllenfürsten Asmodi ab. Der Wein schmeckte dem Teufel so gut,
daß er sich besoff und endlich gar hart und fest einschlief. Nun hatte
der Feldmarschall gewonnenes Spiel, er warf ihm die Kette, worauf
der Name Semhamephoras stand, um den Hals, »und wiewohlen
er beym Erwachen gräulich tobete«, denn wir wollen nun mit
Eisenmengers Worten in der Erzählung fortfahren, »muste er
dennoch gefangen bleiben, und ward so für den König Salomoh
f eführet, der ihn anredete um den Schamir zum Tempelbau,- der
euffel sprach, er ist nicht mir, sondern dem Fürsten des Meeres
übergeben, welcher ihn einem getrewen Auerhahn, so ihm deswegen
einen Eyd gelaistet, zu verwahren gegeben, welcher dann ihn an
die grosse Felßen hält, so zerspringen sie,- da sie nun das Nest
des Auerhanen gefunden haben, darinnen Junge lagen, haben sie
das Nest mit weissem Glaß zugedecket, als nun der Auerhann
käme, konte er nicht in sein Nest, deßwegen so flog er weg, höhlte
den Schamir, und setzte ihn auff das Glaß daß es brach, da fing
der Benaja ein groß erschrecklich Geschrey an, daß der Auerhahn
erschrocken, das Würmchen Schamir aus dem Schnabel fallen ließ,
welches Benaja dann alsobalden auffhube vnd dem Salomoh über¬
brachte, lehren also hiermit die Juden, daß Salomoh in Erbauung
des herrlichen Tempels Gottes, sich der Teuffel Rath und Hülffe
bedienet habe, da doch Gott Selbsten das Werk angeordnet« 1 .
Das Fallenlassen der Wurzel durch den Schwarzspecht oder
des Samir durch den Auerhahn scheint mir dem Fallenlassen des
Samens von dem Gehenkten zu entsprechen. Es dürfte sich um das
häufig wiederkehrende mythische Motiv vom fallengelassenen Samen
<Onan, Kronos, Hephaistos etc.) = Kostbarkeit = Funke des ge¬
raubten Urfeuers — Soma (Göttertrank) etc. handeln. Vgl. Stuckens
Gleichungen. Alles das ist eine wunderbare spermatische Materie,
Lebenskeim. Er befruchtet die Mutter Erde, entwickelt sich zu einem
Zauberwesen. Das Feuer unter dem Baum ist charakteristisch.
1 Ais Quellen führt Horst <z. B. IV, p. 355) an: Eisenmenger, »Ent¬
decktes Judenthum«, I., 8,- p. 350. Wagenseil, Sota, p. 1071. Schudt, »Jüdische
Merckw.«, III, p. 192. Thalmud, Traktat gittin, fol. 68, col. 1, 2.
Imago III/i
5
66
Herbert Silberer
Feuer hat auch die Bedeutung von Liebesbrunst 1 / wenn das Feuer
nicht rechtzeitig aufflammt, geht der Same verloren. Der Scharlach^
mantel ist die Vulva. Das, was alle »Türen und Schlösser« <wie
der »Diederich« des Wanderers in der Parabola meiner »Probleme«)
öffnet, das »Würmchen«, ist der Phallos. Auch Specht und Hahn
sind phallisch, ersterer deshalb besonders auffällig, weil er einen
roten Kopf hat. Asmodi, der dem Salomo den Samir verschafft, ist
der Dämon der Sinnenlust. Die Samir-Legende enthält auch das
Motiv des Kästchens, der Beraubung <= Entmannung) im Schlaf,
der Sdiöpfung <Bau des Tempels) usw.
Zum Abschluß lasse ich nun eine gar kuriose Geschichte
folgen. Die Leser werden darin die seltsamste Kombination von
Vorstellungen finden, die wir im Laufe der bisherigen Unter¬
suchungen kennen gelernt haben. Gustav Brabbee ist es, der die
merkwürdigen Nachrichten über die wahrsagenden Geister des
Grafen Kueffstein aufgestöbert hat. Sein Aufsatz darüber ist in dem
jetzt vergriffenen Buch »Die Sphinx« <Freimaurerisches Taschenbuch,
herausgegeben von Dr. E. Besetzny, Wien 1873) nach dem
»Zirkel« gedruckt 2 . Die Begebenheit spielt gegen das Ende des
achtzehnten Jahrhunderts, zu einer Zeit, wo sich mancher freL
maurerischer Kreise, und namentlich eines aristokratischen Zirkels in
Österreich, ein alchemistischer Taumel bemächtigt hatte, der freilich
ebenso gut außerhalb der Maurerei spukte. Ich mußte dies zum
Verständnis einiger Einzelheiten vorausschicken.
Gedruckte Quellen wissen nur kurz davon zu berichten, daß
man in einer Wiener Loge, wo ein Graf Kueffstein Meister vom
Stuhl war, Geister in Gläser gebannt zu haben glaubte, u. dgl.
Um so reicher fließt eine handschriftliche Quelle, die Brabbee bei
einer Privatperson entdeckte. Diese Quelle rührt augenscheinlich von
des Grafen Kammerdiener und Faktotum her und hat nur den be¬
dauerlichen Fehler, daß eine Menge Blätter mit starkem Textverlust
beschädigt sind. Immerhin bietet auch das Vorhandene sehr viel.
Das kuriose Manuskript ist ein wohl kaum für die Außenwelt be¬
stimmtes
»Verrechnungsbuch und Anmerkungen für meinen
gnädigen Herrn, den Herrn Herrn Grafen J. F. v. Kueff¬
stein — mit Gott angefangen A. D. 1775 <oder 1773?) und
mit Gott geschlossen A. D.<in bianco) von Josef
Kämmerer.«
<Ich lasse nun Brabbee das Wort. »Sphinx«, p. 119f., mit
mehreren Kürzungen.)
Was die Persönlichkeit Josef Kämmerers betrifft, geht aus seinen
hinterlassenen Aufzeichnungen hervor, daß er in seiner Dienstleistung
beim Grafen Kueffstein so manches Jahr hindurch eine wahrhaft proteus^
ähnliche Vielseitigkeit zu entwickeln Gelegenheit hatte, und daß er sich
1 Die ist zur regelrechten conceptio notwendig.
2 Einen Auszug brachte auch Hübbe^Schleidens »Sphinx«, IX. Bd.
Der Homunculus
67
demselben, mindestens während der Dauer seiner Reisen durch Franko
reich, Italien und Deutschland in der Eigenschaft eines Kammerdieners,
Intendanten, Koches, vor allem aber eines gewandten, vielerfahrenen und
höchst praktischen Famulus bei dessen chemischen und physikalischen
Arbeiten unentbehrlich zu machen wußte. Daß Kämmerer auch dem
Maurerbunde, wenn gleich nur als dienender Bruder angehörte, daß er
darin bis zum Range eines Meisters gestiegen und mit allen Rechten und
Obliegenheiten eines solchen wohl vertraut war, ergibt sich aus so
manchen seiner nicht wenig selbstgefälligen Andeutungen und häufig
wiederkehrenden Phrasen. Er scheint das nahezu unbedingte Vertrauen
seines Gebieters, wohl verdientermaßen, genossen zu haben,* nicht selten
finden sich Hinweisungen, daß ihn der Graf in alle seine Geheimnisse
Einblick tun ließ, ihm auch namhafte Summen auf En-bloc^Verrech¬
nung behändigte <so einmal in »Fenedig« 1200 fl., in »Dorin« <Turin?>
500 fl., einmal sogar in Dresden 2000 fl.>.
Überall begegnen wir dem ehrlichen Kämmerer als einem Manne)
der gewohnt ist, die Augen stets offen zu halten, als einem anscheinend
ganz nüchternen Beobachter, als einer durch und durch gesunden, prakti¬
schen Natur, welche Reisen und Erfahrungen aller Art wacker geschult
haben, und endlich vor allem als einer überaus treuen und anhänglichen
Seele, ängstlich beflissen, den Vorteil seines »guten gnädigen Herrn« auch
in den kleinlichsten Dingen eifrig zu wahren, wie er sich denn beispiels^
weise einmal in langatmigen Klagen über das hochbetrübliche Faktum
ergeht, daß das Pfund Haarpuder in Preßburg auf nur sechs Kreuzer, in
Wien aber, der »hochen Dax« wegen, auf siebzehn Kreuzer zu stehen
kommt, und ähnliches mehr.
Einen um so eigentümlicheren Eindruck macht es eben darum,
wenn Kämmerer, der sich manchmal über derartige nationaUökonomisdie
Details mit großer Wichtigkeit, als ob das Heil der Welt davon ab^
hänge, so recht con amore verbreitet, nunmehr plötzlich ohne allen ver¬
mittelnden Übergang auf die unglaublichsten Dinge überspringt und solche
mit einer Nonchalance, Gemütlichkeit und Treuherzigkeit bespricht, die
uns den Beweis liefert, daß selbe für ihn zu den alltäglichsten Ereignissen
seines Lebens gehören, daß sie für ihn als geradezu apodiktische Wahr^
heiten gelten, die gar keines Nachweises bedürfen.
Unser Material muß also herausgeklaubt werden aus einem wafu>
haft betäubenden Wüste von minutiösen Verrechnungen über Haus-
haltungs^ und Reisebedürfnisse und Ausgaben ähnlicher Art, wobei jedes
»Schachterl Stiwelwix«, jeder »Metzen Habern für des gnädigen Herrn
Rappen«, jeder als Trinkgeld gegebene Groschen, einmal sogar ein
»gläsernes s. v. Botschamberl für des gnädigen Herrn Nachtkastel, die^
weil das irdene alte durch darein geschüttetes Schaidwasser zerfressen und
unten löcherig geworden«, die ihm gebührende Kontierung findet. Die
also ausgegrabenen Notizen ergeben nun, einigermaßen übersichtlich ge¬
ordnet, aber mit strenger Fernhaltung aller nicht faktisch in dem betreffen^
den Manuskripte nachweisbaren Einzelheiten ungefähr nachfolgendes:
Die in Gläser gebannten Geister waren das gemeinschaftlich unter¬
nommene und glücklich durchgeführte Werk des Grafen Joh. Ferdinand
von Kueffstein und eines italienischen Magus, Rosenkreuzers, Cabbalisten
und Theurgen, des Abbe Geloni. Graf Kueffstein hatte diesen geheimnis^
vollen Abbe, den Kämmerer wiederholt den »wälischen geistlichen Herrn«
nennt, und als Mann bezeichnet, »der, weiß Gott! mehr als Birn braten
5 *
68
Herbert Silberer
kirnt«, während seiner italienischen Reise, wahrscheinlich gegen Ende der
Siebzigerjahre in »Galabria« <Kalabrien?> in einer kleinen Stadt, deren
Name nicht zu entziffern, und zwar in der »osteria al bomo doro«
kennen gelernt,* man hatte sich gegenseitig sofort als Freimaurer und
Rosenkreuzer geoffenbart, sich ganze Tage und Nächte lang über ge^
heime Wissenschaften unterhalten, und darüber Essen, Trinken und
Schlafen vergessen.
Der beiderseitige rege Verkehr führte alsbald zu einem höchst
intimen Freundschaftsbündnisse, als dessen Resultat wir den Grafen einen
Zeitraum von mehr als neun Wochen in Gesellschaft seines neuen
Bruders und Freundes zubringen sehen, und zwar in einem tief im Ge¬
birge gelegenen Karmeliterklosters, wo sie beide von den Mönchen mit
großer Gastfreundschaft und vielen Ehrenbezeigungen empfangen und
beherbergt wurden. In dem dortigen, wie es scheint, großartig angelegten
Laboratorio arbeiteten nun die beiden Adepten Tag und Nacht,* durch
mehr als fünf Wochen durfte das Feuer gar nicht ausgehen, und Käm¬
merer, der abwechselnd mit einem uralten Laienbruder hiefür zu sorgen
hatte, und seiner Versicherung nach bei fast allen stattfindenden ExperL
menten gegenwärtig war, will hiebei Dinge erlebt haben, daß ihm manche
mal »die Haare wie bei einem Igel die Stacheln in die Höhe standen«.
Dort lehrte nun Geloni dem »gnädigen Herrn gleich anfangs nebst vielen
andern unbegreiflichen Sachen« auch die Kunst, Geister zu »machen«,
wie denn audi die beiden Herren Adepten innerhalb dieser fünf Wochen
wirklich zehn Geister zustande gebracht hätten. Es waren: Ein König,
eine Königin, ein Ritter, ein Mönch <»Münich«>, ein Baumeister, ein Berg^
knapp, ein Seraph <Kammerer schreibt ganz köstlich »Sehraff«), eine
Nonne, endlich ein blauer und roter Geist, welch letztere beide aber für
gewöhnlich nicht sichtbar waren, und nur mittels einer noch später zu
erwähnenden Prozedur zum Vorschein kamen.
Die zuerst erwähnten acht Geister wurden sofort, wie sie der
geistliche Herr und der gnädige Herr einen nach dem anderen mit kleinen
silbernen Zangein aus dem Schmelzkolben »herfürfangen thaten« in je
zwei Maß haltige Gläser, »wie man sie zum Marmelade aufheben braucht,
nur ein bissei schmächtiger und höcher, aber viel dicker, dass sie einen
Puff aushalten kunnten«, eingesperrt, die Gläser »geschwinde mit reinem
Wasser angefüllt <,wird wohl, Gott verzeih mir's, Weichwasser gewesen
sein', meint Kämmerer mit schlecht verhehlter frommer Entrüstung), so^
dann mit einer nassen »Oxenbladern«, welcher der »wälische geistliche
Herr zuvor segnete, nachgens aber auch weichte und anrührte« zuge*
bunden und oben darauf ein großes »Sigill« <etwa das Siegel Salo-
monis?) gedruckt, damit die Geister, »wann sie rabbelköpfisch sein
möchten, nicht eschappiren kunnten, denn da war ihnen schon ein riegel
vorgeschoben!«
Die acht Geister schwammen in ihren Behältern herum <»fast wie
kleinwinzige Grundeln«, sagt Kämmerer), waren aber keiner mehr als
eine halbe Spanne lang, worüber der Graf schier den Mut verlor und
ganz untröstlich war, weil er das mühsame und kostspielige Experiment
für mißlungen erachtete, was jedoch Geloni durchaus nicht zugeben
wollte, und dem Grafen lachend versicherte, er würde sich noch »schön
wundern« wie die »Kerle« wachsen sollten — er wolle ihnen schon da^
zu verhelfen, der Graf solle ihn nur machen lassen und ein wenig Ge=
duld haben, er bürge für alles.
Der Homunculus
69
So wurden denn die acht Gläser samt Inhalt in einer schönen
Hochsommernacht »fein fürsichtig, damit die anderen Müniche im Kloster
ja nichts davon merken sollten«, von den zwei Adepten, dem dienenden
Bruder Kämmerer und dem alten Laienbruder in den Klostergarten ge¬
tragen — jeder hatte die Spedition von zwei Gläsern auf sich genommen,
damit »der ganze Rummel auf Einmal abgethan wäre und vieles Hin^
und Herrennen nicht auf fallen mögt während der nachtschlafenden Zeit«
— und dort in zwei Fuhren »Maulthierdung « 1 vergraben, welchen der
Abbe den Abend zuvor hatte herbeischaffen lassen, damit die Geister
darin »wachsen und zeitigen mogten«.
Alltäglich bespritzte auf Gelonis Geheiß der Frater Kloster^
gärtner, der wohl in das Geheimnis eingeweiht worden, diesen Dünger^
häufen mit einem gewissen Liquor, den die beiden Herren ebenfalls im
Laboratorio mit »großem Fleiß und Müh' preparird hatten« und wozu
allerlei abscheuliche, vom Abbe »Gott weiß woher« bei geschaffte »Ingres
dienzia« gebraucht wurden, vor deren Beimischung dem armen Kämmerer
oft dergestalt ekelte, daß er mehrmals in Gefahr kam, »alles des Tages
über Genossene bei allen schuldigen Resbekt für die beiden Herren wieder
herauszuspeihen, so schweinisch und gotteslästerisch waren diese Sachen!«
—' Für die in Aufruhr geratenen Verdauungsorgane unseres über der^
artige Obszönitäten hochempörten Geisterchronisten war es wohl von
gar keinem Belange, daß ihm der zynische Abbe den uralten Satz:
»Naturalia non sunt turpia« wiederholt zu Gemüte führte und zur gleich¬
zeitigen Beschwichtigung seiner gereizten Magennerven und seiner
religiösen Skrupel bei seinem <Gelonis) priesterlichen Worte heilig ver^
sicherte, die zweckmäßige Verwendung solcher Ingredienzien sei keine
Sünde, und selbe wären auch »beim Goldmachen nothwendig und gar
nicht zu entbehren !« 2
Sogleich nach Bespritzung mit diesem unheimlichen Liquor begann
der ganze Düngerhaufen zu gären und zu dampfen, wie von’ einem
unterirdischen Feuer erhitzt. Mindestens alle drei Tage gingen die beiden
Herren des Abends »wenn alles im Kloster schon ruhig und stille war«
in den Garten hinab, um bei dem Düngerhaufen fleißig zu beten und zu
räuchern,* wieder ein neuer Gegenstand des Kummers und Abscheus für
den armen Kämmerer, der darin eine arge Profanation sah, und sich, wie
billig, nicht wenig entsetzte, besonders aber ein- oder zweimal, wo er,
seiner Versicherung nach, die im Innern des Düngerhaufens vergrabenen
Geister »wie hungrige Mäuse quitschen und pfeifen gehört« hatte, wor^
über er »vor Angst bald die Fraiss bekommen!«
In solcher Weise blieben diese, wie man sieht, je zuweilen gar un^
geberdigen und mißlaunischen Geister gute vier Wochen über vergraben.
Nach Ablauf dieser Frist feierten sie unter »allerhand geistlichen Cere*
monien«, wobei der Abbe sein Meßgewand angezogen und die Stola
1 <Das entspricht dem fimus equinus.)
2 Diese und ähnliche Behauptungen, über welche sich Kämmerer gar nicht
genug wundern und entsetzen kann und seitenlang darüber faselt, lassen uns fast
vermuten, daß Geloni jener Sekte der Alchemisten angehörte, die man bezeichnend
genug, mit dem Namen »Sterkoristen und Seminalisten« zu brandmarken pflegte.
— <Es wird also im Text ausdrücklich das Goldmachen erwähnt. Man sieht nicht
bloß wieder einmal die enge Zusammengehörigkeit von Alchemie und HomunkeL
bereitung, sondern auch diejenige von Mist und Gold, beziehungsweise Verwesung
und Zeugung.)
70
Herbert Silberer
umgehängt hatte, der Graf aber Psalmen sang und Kämmerer das »Rauche
fasse!« schwingen mußte, ihre endliche Auferstehung. Trotzdem die Nacht
»hübsch frisch war, weil es dort im Gebürg schon herbstelte«, arbeiteten
die vier Wissenden, der Abbe, der Graf, der alte Laienbruder und
Kämmerer, in guter Eintracht und Brüderlichkeit mit ihren Schaufeln so
wacker und doch so vorsichtig im Düngerhaufen herum, daß »der Schweiß
auf der Stirne stund« und sie schon in Zeit einer halben Stunde sämt¬
liche acht Gläser ohne daran irgendwelchen Unfall oder Schaden zu ver^
Ursachen, ausgescharrt hatten. Die beiden Adepten und ihre Hilfsmänner
brachten ihre Schätze glücklich und ohne daß sie ein »sterbliches Aeugel«
gesehen, ins Laboratorium zurück, allwo die Geister auf des Abbe Än^
Ordnung noch drei Tage und Nächte im lauwarmen Sandbade dünsten
mußten.
Der gute Kämmerer kann sich nicht genug verwundern, wie die
»Dinger« gewachsen waren, »jedes fast auf anderthalb Spannen lang«,
so daß ihnen ihre Gläser beinahe zu nieder gewesen. Ausdrücklich be^
merkt er, daß sämtlichen männlichen Geistern große Bärte gewachsen
waren, worunter sich namentlich jener des Mönches, der gar »stattlich
aber schon stichelhaarig« gewesen, ausgezeichnet habe. Auch die Nägel
an den Fingern und Zehen der Geister hatten eine so abnorme Länge
erreicht, daß sie wie »Geierkrallen« ausgesehen, worüber der Graf
etwas bedenklich den Kopf geschüttelt und gemeint habe, man solle sie
ihnen doch ein wenig stutzen, was aber der Abbe durchaus nicht zu^
geben wollte, weil das schon »so in ihrer Art sei« und man es ver^
meiden sollte, sie für nichts und wieder nichts unwirsch <Kammerer sagte
»grantig«) zu machen.
Und diese barocke, sinnverwirrende Phantasmagorie bis ins Grenzen^
lose zu treiben, meldet Kämmerer weiter, daß sämtliche acht Geister von
der geschickten Hand des AbbeGeloni, der alles, somitauch das Schneidern »im
kleinen Finger« hatte, jeder »seinen Stand und Würden« gemäß — be*
kleidet und mit den ihm zukommenden Attributen, »so alle sehr nett
geschnützelt waren« versehen wurden: der König mit Purpurmantel,
Krone und Szepter, die Königin mit einem »ditto Mantel« und einem
kostbaren Diadem, der Ritter mit Schild, Schwert und Lanze, der
»Münidh« <dem der Abbe »mit Gewalt« eine Platte geschoren, wie ein
»Linsl so groß«, wobei ihn der darüber erboste Geist »gar erbärmlich
in den linken Daumen gebissen !«> mit Kapuze, Kelch und Meßgewand,
der Baumeister mit Kelle, Zirkel und Winkelmaß etc. — Was die
beiden Gläser betrifft, worin angeblich der »blaue und rothe Geist« ein¬
gesperrt waren, über deren »Bereitung oder Verfertigung« jedoch nichts
weiteres verlautet, so sah man in ihnen nichts als »pures lauteres Wasser«.
Wenn aber der geistliche Herr oder der Graf mit einem kleinen silbernen
Hammer dreimal auf das an der »Oxenbladern« befindliche Siegel klopfte
und ein kurzes jüdisches Gebetlein dazu sprach, so begann sich das
Wasser »schön langsam« himmelblau, respektive feuerrot zu färben und
zeigte sich ein Antlitz »anfangs gar klein, kaum wie ein Hanefkörndl«,
das aber binnen wenig Minuten wuchs und wuchs, bis es fast die Größe
eines normalen menschlichen Gesichtes erreicht hatte. Das Antlitz des
blauen Geistes war dann gar lieblich und fromm anzuschauen, wie das
»von einem Enger!« — das des roten aber war »käsweiß <?), fräch und
garstig, wie ein boshaftiger Teufel, streckte auch manchmal die Zunge
langmächtig heraus und verdrehte die Augen wie ein Hinfallender«
Der Homunculus
71
<ein mit der Epilepsie Behafteter), »dass einem völlig todtenangst dabei
wurde«.
Es war im Spätherbst und wahrscheinlich gegen Ende der Siebziger*
jahre <eine genaue Feststellung der Daten ist untunlich, weil Kämmerer
bei seinen Anmerkungen immer nur den Monat, selten den Tag, nie*
mals aber die Jahreszahl verzeidmet hat), daß Graf Kueffstein sich ent*
schloß, in Begleitung seiner zehn Geister und seines getreuen Famulus
die Rückreise nach Österreich anzutreten. Letzterer klagt gar bitter über
die mancherlei Fährlichkeiten, welche sie während der Reise bei jedes*
maliger Grenzübergehung zu bestehen hatten, weil da die »fürwitzigen
Kerle immer alles durchstöbern wollen« und für ihr Leben gern gewußt
hätten, was in den geheimnisvollen Gläsern, die in einem eisen*
beschlagenen, mit Werg ausgefütterten Koffer sorgfältig verpackt waren,
enthalten sei. Die mit den betreffenden Notizen fast parallel laufenden
Ausgabsverrechnungen weisen zur Genüge nach, daß sich der »gnädige
Herr« entschließen mußte, so manchen sdiönen Goldfuchs springen zu
lassen, um diese von Kämmerer mit einem so despektierlichen Namen
belegten, allzu pfliditeifrigen Beamten davon anzuhalten, mit ihren langen
spitzigen Eisenstäben rücksichtslos und unbarmherzig in seine Reise*
effekten hineinzubohren und ihm solchergestalt unter seinen maurerischen,
rosenkreuzerischen und kabbalistischen Schätzen einen unberechenbaren,
vielleicht gar nicht wieder gut zu machenden Schaden anzurichten. So mag
es denn allerdings für unsere Reisenden ein gutes Stück Arbeit gewesen
sein, und eine namhafte Dosis von Geduld, Scharfsinn, Ausdauer und
Opferwilligkeit erfordert haben, bis es ihnen gelang, trotz aller dieser lästigen
Investigationsmaßregein sich und ihre Habe möglichst unbehelligt und mit
heiler Haut in das österreichische Gebiet, wo Graf Kuefifsteins Name
und geachtete Stellung bei Hofe allein schon als eine Art von Freipaß
und Geleitsbrief galt, der ihn vor allen weiteren mißliebigen Nörgeleien
so gut als völlig sicherstellte, glücklich durchzubringen.
Von weiteren Reisespezialitäten weiß ich nichts anzuführen, als
daß der Graf sich in der damals wie heute mit Weihrauchduft über*
schwängerten Atmosphäre seines engeren Vaterlandes Tirol ganz und gar
nicht behaglich atmen fühlte. (Kämmerer meint pfiffig genug, die dortigen
geistlichen Herren »die seyen gar feine Hechte« und hätten wohl den
»Braten gerochen« und der Graf mit seinen »verdächtigen Geistern« habe
sicherlich guten Grund gehabt, ihren zweifelsohne beabsichtigten
»Scheerereien aus dem Wege zu gehen, denn«, setzt er sententiös hinzu,
»der Gscheitere gibt nach!« Es darf uns daher unter so bewandten Um*
ständen nicht sonderlich wundernehmen, wenn wir die beiden Wanderer
dem eigentlichen Zielpunkte ihrer Rückreise: »Wien« mit tunlichster Eile
entgegenstreben sehen . . .
In Parenthese wäre aber noch einiges über die Pflege der »Geister«
zu bemerken. Aus Kämmerers hieher gehörigen, relativ sehr ausführ*
liehen Mitteilungen ist unter anderem zu entnehmen, daß die acht sicht*
baren Geister alle drei, längstens vier Tage, jeder mit einem »erbsen*
großen Stücklein« einer gewissen rosenfarbigen Salbe oder Latwerge,
welches der Graf mit einem »noch ungebrauchten« stählernen Ohrlöfifel*
chen aus einer silbernen Dose stach, gespeist wurden, sowie auch, daß
das Wasser aus den Gläsern mindestens alle acht Tage entfernt, und
dafür frisches destilliertes Quell* oder ganz reines Regenwasser nachge*
füllt werden mußte. Dieser Wasserumtausch konnte gar nicht schnell
72
Herbert Silberer
genug vollzogen werden, da die Geister inzwischen mit geschlossenen
Augen und nur schwach und krampfhaft zuckenden Gliedern wie tot
dahinlagen, und sich erst nach ein paar Stunden wieder völlig erholten.
Was nun den sogenannten »blauen Geist« betrifft, so fand bei
demselben niemals eine Speisung statt, auch blieb dessen Wasser fort¬
während ungetrübt und bedurfte keines Wechsels, während der rote
wöchentlich einmal »einen Fingerhut voll« von dem Blute 1 eines frisch
getöteten Tieres erhielt, zu welchem Behufe der Graf im Laboratorio
seines »in der Vorstadt« <in welcher wird nicht gesagt) gelegenen Hauses
immer ein Huhn oder eine Taube eigenhändig zu schlachten pflegte, das
zur Speisung des Geistes nötige Blutquantum in einem kleinen silbernen
Becher auffing, den Rest desselben aber ins Feuer warf/ das geschlachtete
Tier wurde meist einem Dürftigen verabfolgt, da Kämmerer nichts davon
genießen mochte — »es grauste ihm dafür«!
Der zur Speisung des roten Geistes bestimmte »Fingerhut voll
Blut« verschwand nach dem Einschütten in das Wasser, ohne die Farbe
desselben im mindesten zu trüben, sofort spurlos. Gleichwohl wurde es
alle zwei bis drei Wochen durch frisches ersetzt, nahm, sobald es nach
Ablösung der Ochsenblase und des Siegels mit der Luft in Berührung
kam, mit Blitzesschnelle eine schmutzigrote Färbung an, zischte wie im
Sieden auf, wurde heiß und dunstig und roch nach faulen Eiern, daher
Kämmerer sich immer möglichst beeilte, es in den »Ausguß« zu schütten,
sich auch sehr in acht nahm, seine Hände damit ja nicht zu benetzen,
weil ihn der Graf einmal davor ausdrücklichst gewarnt und versichert
hatte, man könne dadurch »grindig und krätzig« werden und kein Mensch
könne einen mehr davon kurieren . . .
Als die beiden Reisenden nach Beendigung ihrer maurerischen und
rosenkreuzerischen Pilgerfahrten endlich in Wien anlangten <wie schon
oben vermutungsweise angegeben: ungefähr Mitte November der letzten
Siebzigerjahre — Kämmerer erwähnt einmal flüchtig, daß er die alte
Kaiserin gesehen, »so die Sechzig schon hinter sich hat« und Maria
Theresia ist 1717 geboren — >, waren die acht Geister nunmehr völlig
ausgewachsen,- jeder war fast »zwei Spannen« lang geworden und
Kämmerer sagt, sie seien ihm in ihrem Wasser und in ihren Gläsern
»fürgekommen«,- wie die »großmächtigen Adaxln« <Eidechsen>, die man
bei ihm zu Hause »Krauthahn« heißt, und »die armen Dinger hätten
ihm bitter erbarmt«, weil sie in ihren Gläsern nicht mehr gut aufrecht,
sondern nur gebückt stehen konnten, wobei ihnen ohne Zweifel »das
Kreuz abscheulich weh' thun mußte«! Auf Kämmerers mildherzige Bitten
wurden die Geister schließlich mit Sitzschemeln bedacht.
Von der Zeit der Rückkunft des Grafen von Kueffstein in die
Hauptstadt des österreichischen Kaiserstaates datiert auch die Wiederauf¬
nahme seiner schwerlich mühsamen und zeitraubenden Funktionen bei
Hofe und seine Verbindung mit einer zum Orient von Wien gehörigen
Loge, deren Name jedoch von Kämmerer nicht genannt wird. Wir er¬
fahren von ihm nur, daß sie erst seit zirka zwei Jahren »ordentlich«
arbeitete, und meist aus hochadeligen Brüdern bestand, welche nach höherer
maurerischer Weisheit gierig dürsteten und daher nicht verabsäumten, die
erste sich ergebende günstige Gelegenheit beim Schopf zu erfassen und
ihren in allen geheimen Künsten so tief eingeweihten neuen Bruder und
1 <Also die Speisung mit Blut.)
Der Homunculus
73
Standesgenossen zum Meister vom Stuhle zu wählen, was schon im
darauffolgenden Frühjahr geschehen sein dürfte.
Es scheint, daß Graf Kueffstein die Teilnahme an seinen mit den
wahrsagenden Geistern zu veranstaltenden Experimenten ursprünglich auf
einen sehr engen Kreis von Brüdern, welche sämtlich seiner Loge ange¬
hörten, zu beschränken für gut fand, und daß namentlich den Gesellen
und Lehrlingen der Zutritt bei den zu diesem Behufe abgehaltenen
magischen Sitzungen insolange ganz und gar verwehrt blieb, bis ihnen
der Meistergrad gespendet wurde. Kämmerer läßt sich auch einmal eine
dunkle Anspielung entschlüpfen, daß die zu diesen Sitzungen beige^
zogenen Brüder sich durch einen fürchterlichen Eid verbindlich machen
mußten, sowohl über das Stattfinden derselben, als auch über die in ihnen
stattgehabten Enthüllungen ein absolutes und unverbrüchliches StilL
schweigen zu beobachten, nicht nur der profanen Welt gegenüber, sondern
auch gegen Brüder anderer Logen oder Systeme. Ob Kämmerer bei
solchen Versammlungen zugegen gewesen, geht aus seinen verworrenen
Andeutungen nicht klar hervor.
Kämmerer erzählt ferner so manches von den stupenden Leistungen
der Geister, womit selbe, wenn sie gerade »gut aufgelegt« waren, die
erstaunten Brüder, und in erster Linie ihren erhabenen Herrn und
Meister selbst, zu regalieren beliebten, und welche in Enthüllungen der
wunderbarsten Art und in Prophezeiungen, welche »fast immer« ein^
trafen, bestanden haben sollen.
Bei schlechter Laune waren sie freilich über die Maßen »bock^
beinig und gar nicht zu tractiren« und dann kam entweder Unsinn oder
aber irgendein zweideutiger Orakelspruch zum Vorschein, in welchem
sich auch der scharfsinnigste »Spintisirer« nicht zurechtfinden konnte.
Leider erfahren wir nicht, in welcher Weise derartige Manifestationen
oder Kundgebungen der Geister zutage traten und ob sie die gestellten
Anfragen auf mündlichem oder schriftlichem Wege erledigten, wie ja
letzteres nach den bündigsten Versicherungen gläubiger Spiritisten noch
heutzutage, wenngleich unter wesentlich modifizierten Bedingungen zu
geschehen pflegt. Dagegen werden wir belehrt, daß jeder der Geister sein
ihm ausschließend zugewiesenes Gebiet kultivierte, welches er niemals
überschreiten konnte und durfte, und so gab denn der König und die
Königin über politische und namentlich das Geschick verschiedener
Dynastien betreffende Fragen, der Mönch und die Nonne über religiöse
und der Architekt über frei maurerische Angelegenheiten mehr oder
minder erschöpfende Auskünfte, während sich der Ritter mit kriegerischen
und adeligen Dingen befaßte und der Seraph über alle Vorfallenheiten
im Bereich der Lüfte, der Bergknapp über alle Geschehnisse auf und in
der Erde sich verbreitete.
Freilich standen alle diese im Grunde doch nicht allzu gering anzu^
schlagenden Leistungen hinter jenen des sogenannten roten und blauen
oder besser gesagt blauen und roten Geistes <ä tout Seigneur tout honneur !>
noch weit zurück. Kämmerer beteuert wenigstens ganz ernsthaft: Für
diese zwei sei »nichts zu hoch, nichts zu tief« gewesen,* was »Gott im
Himmel und Satan in der Hölle« eben getan, sie hättens gewußt und
oft auch gesagt,* die zwei waren unstreitig die »Hauptgeister« und alle
anderen »rein nichts dagegen«!
Viel des Wunderlichen, Unglaublichen und Aberwitzigen möchte
noch aus Kämmerers so einfach, treuherzig und harmlos hingeworfenen
74
Herbert Silberer
Notizen auszuheben sein, träte nicht bei den meisten derselben der
relativ jedenfalls bedauerliche Umstand, daß sie durch den Mangel ihres
Anfangs oder Endes meist aller Verständlichkeit bar geworden, deren
Wiedergebung hemmend in den Weg. Nur eines Faktums soll nun noch
gedacht werden.
Als Kämmerer eines schönen Morgens in das Geisterkabinett ge¬
treten, um dort, wie er dies täglich zu tun pflegte, mit seinem Pfauen*
schweifwedel die auf ihren Stellagen befindlichen Gläser abzustäuben, sah
er zu seinem nicht geringen Entsetzen das Glas des Königs mit Aus*
nähme seines Wasserinhaltes ganz und gar leer, den ausgeschlüpften
Geist aber oben auf dem Glase der Königin boshaft grinsend »hucken«
und eifrig damit beschäftigt, mit seinen langen, krallenartigen Nägeln das
Siegel abzukratzen oder die Blase durchzubohren/ er war augenscheinlich
von der böswilligen Absicht beseelt, seiner Gefährtin entweder gleich*
falls zur Freiheit zu verhelfen, oder aber, von heißen Liebeswehen ge*
trieben, zu ihr ins Glas zu gelangen 1 . Auf Kämmerers Zetergeschrei
über solch augenscheinliche Ungebühr stürzte Graf Kueffstein nicht wenig
erschreckt im Schlafrock zur Türe herein, und nun begann eine vom
regsten Wetteifer befeuerte Hetzjagd, während welcher das Objekt der*
selben, der gespenstige kleine Deserteur, wie ein wildes »Eidhkatzl« von
»Möbel zu Möbel« sprang und wie ein Satan dazu kreischte, bis er
endlich nach nicht allzulangem Wüten, weil des gewöhnten tropfbar^
flüssigen Elementes entbehrend, in halber Ohnmacht zusammenbrach und
sich von seinem bereits atemlosen und schweißtriefenden Zwingherrn, an¬
scheinend geduldig und in sein Los ergeben, haschen ließ, wobei es ihm
gleichwohl noch mit Zusammenraffung seiner letzten Kräfte gelang, das
Gesidit, und namentlich die Nase des Grafen in häßlich entstellender
Weise zu zerkratzen. Bei seiner Reinstallation in das kaum verlassene
kristallene Gefängnis zeigte es sich nachträglich, daß die zuletzt ge*
schehene Aufdrückung des Siegels in nachlässiger und unvollständiger
Weise vollzogen und hiedurch unmittelbar der beabsichtigte Flucht*
versuch veranlaßt und ermöglicht worden war. Um diese trübselige
Historia in einigermaßen heiteren Tönen ausklingen zu lassen, teilt uns
Kämmerer schließlich mit, daß »der gnädige Herr« ob seiner bei dieser
Affäre arg mitgenommenen Nase sich durch beinahe vierzehn Tage des
»Tobaks« enthalten mußte, was ihm, da er ein leidenschaftlicher Schnupfer,
»gar hart angekommen«.
Wie lange sich Graf Kueffstein den Besitz dieser seiner, wenn der
Ausdruck gestattet ist, leibeigenen Geister zu sichern, und wie er sie
fernerweitig für seine kaum über das Bereich höherer Gaukelei und ver*
dächtig flunkernden Firlefanzes hinausgehenden magischen Zwecke aus*
zubeuten wußte, wie sich deren weiteres Schicksal gestaltet, und was
überhaupt aus ihnen geworden, darüber lassen uns die schon genannten,
nicht nur fragmentarischen, sondern auch in Form und Anlage in vorn*
herein verkrüppelten Behelfe und Quellen vollständig im unklaren. Eine
Notiz mit der Jahreszahl 1781 in A. F . . . e's maurerischem Collectaneen*
Buche vermeldet einfach, Graf K . . f . . n habe auf die direkte Abfrage
1 Es ist rein unmöglich, auch nur andeutungsweise wiederzugeben, auf
Grund welcher Symptome Kämmerer sich zu letzterer Annahme hinneigt. Bemerkt
sei nur, daß seine diesfällige Wahrnehmung jedenfalls einen neuen und wichtigen
Beleg hiefür liefert, wie grobsinnlich und materiell die Natur und Wesenheit dieser
sogenannten »Geister« beschaffen war.
Der Homunculus
75
eines intimen Freundes: »Wie es denn mit seinen ,vertracten' Geistern
stehe ?« kurz ah fertigend geantwortet: Er habe sich ihrer längst »ent-
äussert« und wolle von diesen »Höllenbränden« nichts mehr wissen, da
seine Gemahlin und sein Beichtvater wiederholt in ihn gedrungen, sein
Seelenheil durch solchen gotteslästerlichen Unfug nicht länger zu ge^
fährden.
Wer von mir etwa Aufklärung dieser etwas rätselhaften Ge^
schichte erwartet, wird enttäuscht sein, wenn ich diesbezüglich voll¬
kommen versage. Es ist umsonst, sich in Konjekturen zu versuchen ,*
jede Theorie, die man aufzustellen versucht, und die ein Argument
für sich hat, hat deren ein Dutzend gegen sich. Für unsere Zwecke
genügt übrigens, was auf alle Fälle feststeht, nämlich daß die wüste
Homunkeliade einem ausschweifenden Spiel der Phantasie einer oder
eher mehrerer Personen ihren Ursprung zu verdanken hat — einem
Spiel, das vielleicht durch irgendwelche konfuse oder mißverstandene
wirkliche Experimente angeregt worden, und einer Phantasie, die mit
unverdauten alchemistisch - magischen Brocken angefüllt war. Was
nun daraus entstanden ist, weist <und eben deshalb hat die Geschichte
hier ihren Platz gefunden) erst recht, trotz allen Ausschmüdcungen
und tollen Seitensprüngen, wieder mit einer gewissen Breite jene
Motivenfolge auf, die für die alchemistische <und mythologische)
Homunkelerzeugung charakteristisch ist, und, wie gezeigt worden,
die Anhaltspunkte zu psychanalytischer Auflösung der Grundidee
liefert. Nicht, daß Kämmerers Geschichte prinzipiell neue Motive
brächte,- die Art vielmehr, wie sich die unveräußerlichen Grundmotive
immer wieder durchsetzen, weil sie sozusagen inneren Anklang
finden und also nicht umzubringen sind, das ist das Interessanteste.
Hier waltet die gleiche Kraft, die wir auch als die mythenerhaltende
sdiätzen gelernt haben. Hinter ihr stehen selbstverständlich seelische
Urmotive als das ewige Treibende.
Der aufmerksame Leser wird gewiß selbst die vorbesprochenen
alchemistisch^mythologischen Motive in Kämmerers Erzählung
wiedergefunden haben. Ich will nur einige kurze Hinweise hersetzen.
Die Homunculi sind in Gläsern, die mit Wasser angefüllt werden.
Das entspricht dem »philosophischen Ei«,* daß aber das »philosophische
Ei« zu dem mit der Geburt des Sagenhelden so häufig verknüpften
Motiv des Kästchens und der Flut in Parallele zu setzen ist, darauf
habe ich schon oben hingewiesen. Es handelt sich dabei um einen
mythisaien Ausdrude für Zeugung und Geburt im Dienste von sag¬
bildenden Tendenzen, deren ausführliche Erörterung weit über den
Rahmen dieser kleinen Studie hinausgehen würde,- vom Standpunkte
der Psychoanalyse wäre da in erster Linie natürlich der von Rank 1
herangezogene »Familienroman« des Neurotikers zu erwähnen. Der
Punkt, wo der »Familienroman» sich am nächsten mit der Ho-
munkelkonzeption im allgemeinen berührt, ist, beiläufig bemerkt, die
1 »Der Mythus von der Geburt des Helden.« Leipzig und Wien 1909.
76
Herbert Silberer
Trotzphantasie des »Bessermadhens«, d. h. eine Tendenz, die auch
für den »Familienroman« zum Teil grundlegend ist. Ein paar Be^
merkungen über die Tendenz der Homunkelphantasie sollen übrigens
am Schlüsse folgen. Die Gläser, worin die Geister gehalten werden,
sind natürlich reine Verdopplungen des Schmelzkolbens, in dem die
Homunculi gleichsam ausgebacken werden. Das Ausbacken ist ja
ein bekanntes Bild für das Werden des kleinen Kindes. So wie es
von dem alchemistischen »Kinde« heißt, daß es in neun Monaten
in dem philosophischen Ei reife, so können wir von den Geistern
konstatieren, daß sie nach neun Wochen fertig sind,* Tage, Wochen
und Monate stehen, wie man weiß, häufig füreinander,- in alche¬
mistischen Büchern wird dies sogar nicht selten eigens angemerkt.
Das Wasser in den Gläsern, dieses Wasser, dessen die Geister
zum Leben bedürfen, ist einerseits jenes mythische Wasser <des
Lebens und des Todes), woher alles sein Leben nimmt, anderseits,
in engerer Fassung, das Fruchtwasser, während wir in dem Gefäße
<Schmelzkolben, Glasbehälter) den Uterus zu erblidcen haben, dessen
Wärme sowohl in der Feueroperation mit dem Schmelzkolben als
in dem Vergraben der Gläser in dem infolge der Besprengung mit
gewissen Flüssigkeiten sich erwärmenden und dampfenden Misthaufen
<tierischer Dung) zum Ausdruck kommt. Noch einleuchtender wird die
Sache für jeden, der dieser Art Symbolik zugänglich ist, indem man die
Flüssigkeit zur Erhitzung des venter equi <Uterussymbol) als eine sper¬
matische erkennt. Brabbee läßt uns ja deutlich genug die Natur der
Flüssigkeit erraten, indem er die Laboranten zu den Seminalisten und
Stercoristen rechnet. Auch der Urin wird in seiner stellvertretenden
Rolle dabei nicht gefehlt haben, in jener Rolle nämlich, vermöge welcher
z. B. aus der urindurchtränkten Stierhaut OriomUrion entsteht. Auch
die Alraune entspringt aus dem Urin oder Sperma. Das Wasser,
worin die Geister schwimmen, kommt, wie ich beiläufig bemerken
möchte, ebenfalls bei den Alraunen vor, und zwar in Form des bei
ihnen erwähnten Bades, das zu ihrer rituellen Pflege gehört. Das
zur Ernährung der Geister dienende Blut, beziehungsweise der ihm
gleichwertige rötliche Stoff <der eigentlich die rote Tinktur der Alche^
misten vertritt) ist einerseits bekanntermaßen mythischer Lebensträger
und spermatische Materie und hat anderseits, wie sich durch alchi¬
mistische Parallelen erweisen ließe, Beziehungen zur intrauterinen Er¬
nährung. Der himmelblaue Geist und der rote Geist haben etwas
Korrespondierendes in der Alchemie, worauf hier nicht näher einge¬
gangen werden kann. Die Gefahr, bei Berührung mit dem Wasser
der Geister grindig zu werden, kennzeichnet es <vermöge gewisser
mythologischer Beziehungen) abermals als Lebenswasser. Das Sigill,
womit die Flaschen magisch^hermetisch verchlossen werden, hat auch
seine gute psychanalytisch zugängliche Bedeutung,- es ließe sich viel dar^
über sagen,- ich will nur schlagwortartig andeuten, daß man das Siegel
sub specie eines Verbotes oder der Hemmung eines verbotenen
Tuns betrachten kann. Das Verbot ist geknüpft zu denken an die
Der Homunculus
77
Idee der unnatürlichen Zeugung. Zu zeigen, wie diese weiter mit
dem Inzest zusammenhängt, ist diesmal mein Vorhaben nicht.
Die Flaschengeister haben, wie die Homunculi und Alraunen
überhaupt, phallischen Charakter. Man erinnere sich der phallisch ge¬
stalteten Mandragoren. Glückbringende Kleinodien weisen ohnehin
im allgemeinen auf phallische und verwandte Urformen hin. Was
die Flaschengeister im besonderen angeht, sei auf ihre Größe von
einer Spanne, ihre Fähigkeit zu wachsen, sowie auf ihr Zusammen¬
schrumpfen oder Hinfälligwerden hingewiesen. Der phallische Cha¬
rakter bewährt sich auch an der Episode des Königs und der Kö^
nigin. Man gedenke auch des Würmchens Samir, sowie des roten
Tuches, in das die Springwurzel fällt.
Meine Ausführungen dürften zur Genüge gezeigt haben, daß,
was ich zu Beginn sagte: nämlich daß die alchemistische Symbolik
sich an vielen Punkten in die »völkerpsychologischen Parallelen zu
den infantilen Zeugungstheorien« einfügen ließe, — auch im beson¬
deren von der Bereitung des Homunculus gilt. Indem ich nur noch
darauf hindeute, daß die Homunkelidee in den mythologischen Par¬
allelen speziell mit Schöpfungsmythen zusammenhängt, will ich von der
Form der Homunkelsymbolik nichts weiter sagen. Vielleicht mögen
aber ein paar zusammenfassende Worte über die Tendenz des
Homunkelgedankens am Platze sein. Weit entfernt von der Meinung,
dafür eine gründliche Lösung bieten zu können, will ich zwei Haupt¬
momente hervorheben.
Der Umstand, daß sich aus der »materia homunculi«, d. h.
aus dem unnatürlich verwendeten Sperma <oder dem gleichwertigen
Stoffe) Monstra mit übernatürlichen Fähigkeiten 1 * * entwickeln, ja,
daß sich überhaupt etwas daraus entwickeln soll, ist als eine Art
Ersatzphantasie anzusehen, die nach einer Bemerkung von Freud
am besten aus einer Hochschätzung der Onanie zu erklären wäre.
Die Idee wäre die, der unfruchtbaren Onanie das ihr Fehlende in
erhöhter Qualität anzudichten. Phantasien, die eine nicht vorhandene
Fruchtbarkeit vorspiegeln, sind z. B. in Träumen oft genug beobachtet
1 Allgemeiner gesagt, kommen überhaupt bei anomaler, insbesondere bei
künstlicher Zeugung vorzugsweise Sprößlinge mit außergewöhnlichen Fähigkeiten
vor. Der Eisenhans, den sich <bei Haltrich, »Siebenbürgisch^Deutsche Volks~
bücher«, II 4 , Nr. 17) ein Mann schmiedet, entwickelt ungeheure Kräfte und er^
wirbt seinen Eltern Reichtum. Ludwig Laistner, »Rätsel der Sphinx«, II, p. 392,
erwähnt, daß sich Ilmarinen ein Weib aus Kupfer schmiedet, Hephaistos goldene
Mägde, goldene und silberne Hunde. Die schwäbische Redensart »eins bästeln«
(bästeln = fabricare) bedeutet: spurium gignere. »Das vielgedeutete Wort Bastard
könnte einen solchen Gebästelten, Geschmiedeten meinen, der ohne eines Vaters
Zutun entstand,- wenn in einer altnordischen Sage ein Heldenschwert namens
Bastardhr, Basthardhr vorkommt <Grimms Wörterb. 1, 1150), so wird das wohl
ein vom Schmieden hartes sein. Nach Hesiod <Theog. 927) war Hephäst nur
seiner Mutter Sohn, ein anderer Bericht weiß, daß er %s%vi(iöiv ävev Atög zu=
stände kam <RLM I 2048). Vielleicht deutete man seinen Namen als SqpcuöTog,
a'b'töqpcuöTog, selbstgebästelt, und der ganze Mythus ruht auf einer falschen
Etymologie wie zahllose erklärende Sagen auch.«
78
Herbert Silberer
worden. Ein hübscher Fall ist der eines noch nicht völlig aufgeklärten
Mädchens, das sich an einer Tischkante sexuell befriedigt hat und
dann im Traume eine Menge hölzerner Kinderbekommt. Daß auch die
häufig in psychischer Verknüpfung mit Onanie stehenden Schuld^
oder Angstaffekte zu beachten sind, insofern nämlich die Monstra
schrecklich sein können, wurde schon bemerkt. Wir werden gut tun,
in betreff der »Hochschätzung« nicht bei der Onanie im engeren
Sinne stehen zu bleiben, sondern zu erweiterter Bedeutung fort¬
zuschreiten, die dem allgemeineren Begriff von unnatürlicher Sexual¬
befriedigung überhaupt zustrebt. Ist doch, wie wir bei Paracelsus
sehen, jeder unregelmäßig verwendete Same »materia homunculi«,
und handelt es sich doch auch beim biblischen Onan <Motiv des fallen
gelassenen Samens) nicht gerade um Masturbation 1 , welche vielmehr
als ein Spezialfall angesehen werden kann. Rank bringt <in den
Völkerpsychologischen Parallelen) Onans Verhalten zum Inzest in
interessante Beziehung. Thamar 1 wird von Juda in Blutschande be¬
fruchtet. »Daß die Durchsetzung dieses Inzests auch hier die Trieb¬
kraft für die Sagenbildung abgibt, lassen einzelne Hinweise noch er¬
kennen, insbesondere der auffällige Tod der zwei Söhne Judas, die
sich der Thamar nahen, ohne sie zu befruchten: ihr Mann und dessen
Bruder Onan. Juda verspricht ihr dann seinen dritten Sohn Sela,
bis er groß geworden ist. »Denn er gedachte: Vielleicht möchte
er auch sterben wie seine Brüder.« In diesem vom Standpunkt
des Vaters gearbeiteten Mythos, der in der Beseitigung der uner¬
wünschten jüngeren Konkurrenten an die von Jung <1. Jahrb., p. 171 f.)
aufgeklärte Tobias-Geschichte gemahnt, tritt also der Vater als be¬
fruchtender Ersatzmann für den zeugungsunfähigen Sohn <Onan) ein,
wie in der Rüben-Sage der Sohn für den alten Vater. Der auf die
Erde gefallene Same Onans, der weiter in der Sage keine Rolle mehr
spielt, muß ursprünglich der symbolische Ersatz einer verbotenen Be¬
fruchtung <Inzest) gewesen sein, da in allen anderen Überlieferungen
das auf die Erde getropfte Sperma oder Blut <Uranus, Anepu) be¬
fruchtend wirkt. So auch in der griechischen Sage von Erichthonios,
der entsteht, indem die jungfräuliche Athena sich der Umarmung
des brünstigen Hephaistos zu entziehen weiß und den auf ihrem
Schenkel vergossenen Samen auf die Erde wirft, die denschlan-
genfüßigen Erichthonios hervorbringt. Doch gilt diese Erzählung
allgemein als Abschwächung einer älteren Fassung, der der Ge¬
schlechtsverkehr der Athena noch nicht anstößig war.«
Das zweite wichtige Moment ist das Motiv des Bessermachens
1 Onan soll <1. Mose 38) auf Befehl seines Vaters Juda das Weib seines
verstorbenen Bruders, Thamar, beschlafen, um seinem Bruder Nachkommen zu
verschaffen. »Aber da Onan wußte, daß der Same nicht sein eigen sein sollte (die
Kinder hätten als rechtmäßige Nachkommen seines Bruders gegolten), wenn er sich
zu seines Bruders Weib legte, ließ ers auf die Erde fallen, und verderbte es, auf
daß er seinem Bruder nicht Samen gebe« <38, 9). Thamar wird dann unerkannter^
weise von ihrem Schwiegervater Juda in Blutschande befruchtet.
Der Homunculus
79
oder, im Speziellen, das Besser-Zeugen. Audi dieses Motiv bewährt
sich in der übermenschlichen Beschaffenheit der Homunculi. My¬
thisch setzt der Bildner der Menschenwelt in einem überaus ver¬
breiteten Typus von Schöpfungssagen sein Werk besserer Ordnung
dem älteren einer unvollkommenen Ordnung entgegen. Sofern aus
der Homunculusbereitung das Motiv des Besser- Zeugens von selbst
hervorsticht, genügen meine obigen Ausführungen,- für eine tiefere
Begründung, die sich in wenigen Worten nicht erledigen läßt, muß
ich wieder auf mein schon genanntes Buch verweisen.
Wir haben mit einem Motto aus »Faust« angefangen. So lassen
wir denn das Leitmotiv des Besser - Zeugens, zu dem wir zum
Schlüsse zurückgekehrt sind, in diesen Worten des Wagner <»Faust«,
II. Teil, 2. Akt, 2> ausklingen:
» . . . wie sonst das Zeugen Mode war
Erklären wir für eitel Possen.
Der zarte Punct aus dem das Leben sprang.
Die holde Kraft, die aus dem Innern drang
Und nahm und gab, bestimmt sich selbst zu zeichnen.
Erst Nächstes, dann sich Fremdes anzueignen.
Die ist von ihrer Würde nun entsetzt,-
Wenn sich das Tier noch weiter dran ergetzt.
So muß der Mensch mit seinen großen Gaben
Doch künftig reinem, hohem Ursprung haben.«
80
Hanns Sachs
Homers jüngster Enkel.
Von HANNS SACHS <Wien>.
Unsere Zeit verarmt durch ihren Reichtum. Damit das innige
und reine Gefühl für irgendein Stüde Außenwelt in uns aufblühe,
müßten wir uns ihm mit allen unseren Sinnen zu eigen geben, und
wie wäre das möglich, da stündlich neue Gegenstände auf uns ein¬
stürmen, die unser Interesse an sich reißen wollen und uns am
Mantel zerren wie die zudringlichen Bettlergedanken den Zeus am
Weltenturm? Ehemals blieb die Alltagsumgebung eines Menschen,
solange er lebte die gleiche, so daß sie mit allen Fasern seines Wesens
verwuchs,- das Ungewohnte, das in sein Dasein trat, gewann durdi
seine Neuheit lebhafte Farbe, die auch in der Erinnerung nicht
verblaßte. Der Durchschnittsbildungsmensch von heute hat, ehe seine
Reifejahre erreicht sind, einen kaum mehr ersdhleppbaren Erinne¬
rungsbündel von Landschaften und Städtebildern, Kunstwerken und
Naturwundern gesammelt,- jeder Ferientag trägt neue hinzu und
auch die Heimat ändert ihr Antliz von Jahr zu Jahr. Wenn er die
Tagesneuigkeiten in seiner Zeitung überfliegt, ein paar illustrierte
Journale durchblättert oder gar in ein Kino geht, hat er in einer
Stunde mehr interessante Gegenstände gesehen, seiner Phantasie —
das Wort im weitesten Sinne — mehr Nahrung gereicht, als etwa
dem Dichter des cherubinischen Wandersmannes während der langen
Jahre gegönnt war, die er am Hofe des Herzogs Nimrod zu Öls
verlebte. Wenn dem Angelus Silesius und den besten Geistern
seines Jahrhunderts die Welt hinter einem Nebel von Mystik
entschwand, weil sie in ihrer Einförmigkeit, Öde und Nüchternheit
allzu unerträglich war, so entgleitet sie unseren Sinnen, weil sie zu
bunt und überquellend für unsere Fassungskraft geworden ist.
Dazu kommt, daß die Fähigkeit, die Naturerscheinungen klar und
sachlich zu betrachten, heute nicht mehr in so innigem Zusammen^
hange mit der wissenschaftlichen Forschung steht, wie noch für Goethe
und seine Zeitgenossen. Das schärfste Auge kann das Mikroskop
und das Reagensglas nicht ersetzen, es kann nur, selbständiger
Beobachtung entsagend, in ihren Dienst treten. Die exakte Natur^
forsdhung hat uns unendlich gefördert, aber die Dinge, die sie uns
zeigt, sind nicht dieselben, die wir mit unseren Alltagsaugen er¬
blicken.
Diese Wandlung der Zeiten findet ihren stärksten Ausdruck
in der Kunst und ihrer Entwicklungsrichtung. Wir erwarten von
dem Dichter nicht die Vermittlung eines Weltbild ^Bruchstückes, son¬
dern daß er uns möglichst unmittelbar und umweglos zu einem
Blick in die Tiefen seiner Persönlichkeit verhelfe. Einst war seine
Aufgabe anders: Er war dazu bestimmt, die Pforten der Welt vor
seinen Hörern aufzureißen, Menschen und Dinge vor sie hinzu^
stellen,- nur von ferne ließ sich der Schöpferhauch ahnen, aus dem
Homers jüngster Enkel
81
das alles, was sich so selbständig und eigenwillig durcheinander^
tummelte, entsprossen war. Die künstlerische Persönlichkeit ver^
schwand hinter dem Werke,* wie ein Licht, das hinter einem Trans¬
parent die Farben aufglühen läßt, verriet sie sich nur durch die
innige Erfassung und Durchseeltheit aller Figuren und Schauplätze.
Dies: die Welt mit eigenem Geist zu beleben und so dem Men¬
schen die seelenlose, ihm tieffremde Außenwelt, vor der ihm graute,
vertraut und den ersten Schritt hinaus leichter zu machen, war die
große Sendung Homers und seiner Vor- und Nachfahren. Heute,
so scheint es, ist die Aufgabe gelöst, die Sendung überflüssig und
die Sippe Homers bestimmt zu verlöschen.
Wäre dem so, dann hätte die Reihe der Sänger und Seher
einen Abschluß gefunden, der ihrer würdig ist,* Carl Spitteier, der
jüngste Enkel Homers, ist seiner großen Ahnen wert. Damit soll
nicht gesagt sein, daß er als spätgeborner Sprosse einer alten Fa¬
milie in unsere Welt nicht mehr hineinpaßt. Daß er geistreich
sein kann wie der beste moderne Franzose, ein tiefer und zarter
Psychologe wie die großen Russen, hat er in »Imago« bewiesen.
Aber Geist und Simplizität, Psychologie und Gegenständlichkeit
sind ihm nur Mittel, die er niemals über ihren Zweck hinaus ver¬
wendet. Er hält seinen Witz und Tiefsinn gleich fest am Zügel.
Die Umrisse seiner Persönlichkeit lassen sich aus seinen Werken
kaum erraten, weil er immer mit seinem ganzen Selbst in den
Dienst des künstlerischen Zweckes tritt. So kann man z. B. nicht
mit Sicherheit entscheiden, ob der im »Olympischen Frühling« so oft
und ingrimmig betonte Pessimismus wirklich die Grundanschauung
des Dichters ist, oder ob er nur aus künstlerischen Gründen als
ein Gegengewicht von Dunkel und Bitternis notwendig war, damit
die lautere Schönheit und Anmut des Werkes nicht ans Süßliche
gemahne. Überall tritt uns das Kunstwerk als selbständige Welt
entgegen, der Schöpfer bleibt uns so unbekannt, wie der blinde
Sänger, um dessen Geburtsstätte seine Volksgenossen wie die
Philologen um seine Existenz stritten. »Ich dachte mich triffts, ob
ich leide. Den andern, dacht 7 ich, schuld' ich heit're Ohrenweide.«
Nun hat uns dieser Meister der Kunst des Unsiditbarmachens
ein Büchlein beschert, das ganz und gar nur von seiner Person
handelt, 1 und zwar von jener Zeit, die seiner eigenen Meinung
nach für die Entwicklung seiner Persönlichkeit weitaus die wichtigste
war. Nehmen wir gleich vorweg, daß dies dieselbe Lebenszeit ist
von der Freud ganz allgemein behauptet, daß in ihr die Grund¬
risse für den ganzen künftigen Lebens- und Charakterbau gezogen
werden, die Zeit bis zum vierten Lebensjahre. Die großartige
Selbsterkenntnis des Künstlers über seinen frühesten Werdegang
wird allerdings durch einen besonderen Ausnahmsumstand erleich-
1 »Meine frühesten Erlebnisse«, Süddeutsche Monatshefte, Heft 1—4 <Ok=^
tober 1913 bis Januar 1914).
Imago III/l
6
82
Hanns Sachs
tert: Seine Erinnerungen reichen zurück bis zum Ende des ersten
Lebensjahres — und alle, selbst jene, die aus der allerersten Epoche
stammen, zeichnen sich durch Genauigkeit der Nebenumstände und
eine klare Bestimmtheit aus, wie sie frühesten Kindheitserinnerungen
sonst nicht zu eigen zu sein pflegt. Gedächtnislücken finden sich
auch bei ihm, aber manche von den wichtigsten Gefühlen und Ein^
drücken des Kindes sind in vollkommener Frische aufbewahrt worden,
während sonst nur ein oder das andere gleichgiltige Bild, bloße
»Deckerinnerungen«, von der Amnesie verschont zu werden pflegt.
Es ist nicht unsere Aufgabe, den Dichter auf seinem ersten
Welteroberungszug zu begleiten,- auch wäre es schade, eine Wieder¬
gabe zu versuchen, in der der köstliche Schimmer von Humor
und Poesie verwischt würde, den Spitteier über seine Erzählung
ausgegossen hat. Er ist imstande in seiner Reife so echt kind^
lieh zu sein, daß man sein Gefühl, seine Persönlichkeit sei noch
heute in jenem Kindheits-Ich am reinsten abgedrückt, zu teilen ge¬
zwungen wird.
Wir sind es gewohnt, durch Analysen zu erfahren, daß der
Traum aus den Quellen der Kindheit schöpfe. Auch darin bewährt
sich die Verwandtschaft von Traum und Poesie: Spitteier weiß sich
noch manches Eindruckes zu entsinnen, aus dem er seine herr¬
lichsten Gesichte geformt hat, und der Kindheitsstimmung, die ihn
damals überglänzte. Diese Objekte freilich, ein Baum oder eine
Felswand, ein freier Ausblick oder ein fließendes Wasser, sind
an sich durchaus alltäglich und gewöhnlich. Den großen Affektwert,
der so dürftige Gegenstände zu seiner monumentalen Verwen^
düng tauglich macht, verdanken sie offenbar ihrer Herkunft aus
dem kindlichen Seelenleben,- der Künstler bildet seine Werke aus
demselben Material, wie der Durchschnittsmensch seine Träume.
Wir gehen ja schon längst von dieser Ansicht aus und einmal
schon 1 wurde an dieser Stelle die Vermutung hingeworfen, daß die
Gestalten des gewaltsamen, tyrannischen Vaters und der zarten
leidenden Mutter die im »Leutnant Konrad« und in den »Mädchen¬
feinden« ähnlich wiederkehren, aus des Dichters eigener Kindheit
stammen. Das bestätigt sich durchaus,- ein Großoheim und Haus^
genösse des Dichters, übrigens auch ein »Götti« wird geschildert:
»Er sah auch wirklich fürchterlich aus: eine wuchtige Gestalt, ein
Gesicht wie ein Menschenfresser, eine abenteuerlich getigerte Haut,
blutunterlaufene rollende Augen« — Zug für Zug der Vater Reber,
mit dem er auch die Geschäftstüchtigkeit gemeinsam hat. Das schlechte
Verhältnis zum ältesten Sohn und die leidende Frau, die in beiden
Erzählungen wiederkehren, sind demselben Vorbild entnommen. Ist
der Vater Konrads hauptsächlich nach dem Götti gebildet, so trägt
wiederum der Götti Statthalter sehr deutlich Züge des eigenen
Vaters. So die Freude an den »unverdorbenen, urwüchsigen Buben«,
1 »Imago«, II. Bd., 1. H.
Homers jüngster Enkel
83
die Auflehnung gegen Erziehungsregeln und Anstandszwang, die
Leutseligkeit und das Popularitätsbedürfnis, schließlich auch Körper¬
kraft und Stimmgewalt. Natürlich ist damit nicht gemeint, daß es
dem Dichter um Porträtähnlichkeit bewußt oder unbewußt zu tun
gewesen sei,* die Einzelzüge, die ihm sein Kindheitsgedächtnis über^
lieferte, sind nach den Erfordernissen des künstlerischen Zweckes
verwendet worden, der allerdings selbst wieder jenseits jeder per¬
sönlichen Willkür liegt.
Wie schon erwähnt, war die Frau des »Götti« zart und
kränklich, ebenso auch die Großmutter des Dichters, die ihm in der
Kindheit eine Zeitlang mehr bedeutet zu haben scheint, als die leib^
liehe Mutter,- auch diese war sanft und zurückhaltend, dem Mutter^
bildnis in den »Mädchenfeinden« nicht ungemäß.
Ich halte die Neigung, »Übereinstimmungen« aufzustöbern, für
den Ausdruck einer schädlichen und verwerflichen Geistesrichtung,
die strebt, den Reichtum und die Mannigfaltigkeit der Welt, die doch
darin begründet sind, daß auch das Ähnlichste noch Unterschei¬
dungen kennt, auf eine dürre, tote Formel zurückzuführen. Allen,
die solchen Gelüsten frönen, sollte das Schicksal des Herrn Haupt*
pastors Goetze und seiner Evangelienkonkordanz zur Warnung
dienen,- freilich begegnet man nicht auf jeder Straße einem Lessing.
Nachdem ich meinen Abscheu mit hinreichender Deutlichkeit
zu erkennen gegeben habe, wird es wohl gestattet sein, wenige
stens die zwei auffälligsten Übereinstimmungen zwischen Freuds
Lehren und den Selbstbeobachtungen Spittelers namhaft zu machen.
Freud definiert 1 : »Der Traum ist die verkleidete Erfüllung eines
unterdrückten, verdrängten Wunsches«, Spitteier nennt den Traum•
»unbefugtes Auftauchen unterdrückter Sehnsuchtswünsche unter fal¬
schem Antlitz und Namen.« Es ist, wenn man vom Unterschied
der Ausdrucksweise absieht, auch nicht ein Element, das nicht beiden
Formulierungen gemeinsam wäre. Über das Verhältnis zu jüngeren
Geschwistern spricht Freud in diesen Worten 2 : »Es ist aber ganz
besonders interessant, kleine Kinder bis zu drei Jahren oder wenig
darüber in ihrem Verhalten gegen jüngere Geschwister zu beob^
achten. Das Kind war bisher das einzige, nun wird ihm angekündigt,
daß der Storch ein neues Kind gebracht hat. Das Kind mustert
den neuen Ankömmling und äußert dann entschieden: Der Storch
soll ihn wieder mitnehmen«. Spitteier erzählt <p. 167): »Übrigens
war noch ein zweiter Adolf da. Ein kleines Geschöpf, von
dem man behauptete, es wäre mein Bruder, von dem ich aber
nicht begriff, wozu er nützlich sei,- noch weniger, weswegen man
solch ein Wesen aus ihm mache, wie von mir selber. Ich genügte
für mein Bedürfnis, was brauchte ich einen Bruder? Und nicht bloß
unnütz war er, sondern mitunter sogar hinderlich. Wenn ich die
1 Traumdeutung, III. Auflage, p. 117.
2 loc. cit. p. 182.
6*
84
Hanns Sachs
Großmutter belästigte, wollte er sie ebenfalls belästigen, wenn ich
im Kinderwagen gefahren wurde, saß er gegenüber und nahm mir
die Hälfte Platz weg, so daß wir uns mit den Füßen stoßen mußten.«
Andere Stellen scheinen einer Deutung im Sinne der Freude
sehen Forschungsergebnisse reiche Ausbeute zu versprechen,- wir
wollen uns für diesesmal enthaltsam zeigen und nicht nach Ge-»
heimnissen unter der Erde suchen, wo so viel Schätze offen zutage
liegen.
Vom wahren Wesen der Kinderseele
85
Vom wahren Wesen der Kinderseele.
Redigiert von Dr. H. v. HUG-HELLMUTH.
I.
Lou Andreas-Salome. Im Zwischenland.
Fünf Geschichten aus dem Seelenleben halbwüchsiger Mädchen 1 .
Wenn es wahr ist, daß die Frau das Wesen des Kindes tiefer, inniger
erfaßt als der Mann, so gilt dies doppelt von der Dichterin. Denn sie hat
vor ihren Mitschwestern die Gabe voraus, das, was sie in fremder Seele
erschaut, mit dem zu vereinen, was Erinnerung und Phantasie ihr aus der
eigenen Kindheit bewahrten. Mit entzückender Feinheit schildert Lou An*
dreas*Salome in den fünf Geschichten aus dem Seelenleben halbwüchsiger
Mädchen das Ringen und Werden dieser »gewesenen Kinder«. Nur eine
Frau von hoher dichterischer Begabung und einem jungen, jungen Herzen
kann so liebliche Gestalten vor uns zaubern, wie die kleine Musja mit ihrer
rührenden Begeisterung für das Dichter *Idol ihres Bruders, die schlanke Lisa,
die dem Vetter mit dem »schrecklichen Ruf« ein Schutzengel, ein Anwalt
gegen die böse Welt sein will, Ria, »Vaters Kind«, und die armen heimat*
losen Schwestern Dascha und Mascha und endlich Ljubow, die Sechzehn*
jährige, »deren große, schöne, weiche Gestalt verkündete: ,Ich bin eine aus*
gewachsene Person, eine Dame bin ich!', indes das runde Kindergesicht dem
lebhaft widersprach,« Ljubow, die vom Leser scheidet in erwartungsseligem
Liebesbangen.
Unter den vielen Problemen, welche die Autorin in den fünf No*
veilen berührt, lockt uns vor allem eines, der Familienkomplex. Die
dunkle Macht, der wir alle unterworfen sind und die wir gemeinhin
»Schicksal« zu nennen pflegen, erweist sich bei psychoanalytischer Betrach*
tungsweise im Grund als die Summe der Einflüsse unseres Heims von
frühen Kindertagen an,* sie bestimmen unsere Entwicklung, unsere Fehler
und Vorzüge, sie zeichnen uns den Weg vor, auf dem wir Liebe und Glück
suchen.
Was die moderne Seelentiefenforschung mit nüchternem Verstand
enthüllt, das wertet die Dichterin mit dem Gefühle 2 , den Familienkomplex
in seinen segensreichen und seinen tragischen Wirkungen. Neben ihm und
mit ihm eng verschlungen geht die Kindersehnsucht, groß zu sein wie
Vater und Mutter, oder doch wenigstens so groß wie die beneideten älteren
Gesdiwister. Diese Sehnsucht, die das kleine Kind schon erfüllt und in
seinen Spielen einen beredten Ausdruck findet, wächst und schwillt in den
Jahren beginnender Reife ins Riesenhafte, sie treibt die junge Menschen*
knospe, ehe ihre Zeit gekommen, sich zu entfalten. Daß die halbwüchsigen
Mädchen unter diesem Drängen und Sehnen unendlich mehr leiden als die
Knaben, erklärt sidi aus den engeren Schranken, die die »gute Sitte« dem weib*
1 Stuttgart und Berlin 1911, J. G. Cottasche Buchhandlung Nachfolger.
2 Auf eine Anfrage hatte Frau LouAndreas*Salomedie Liebenswürdig*
keit, mir brieflich mitzuteilen, daß die letzte der fünf Novellen »Wolga« aus dem
Jahre 1901, die vier anderen aus noch früheren Jahren stammen, aus einer Zeit,
da sie mit den Freudschen Lehren noch nicht bekannt geworden. Diese habe sie
erst 1911 kennen gelernt.
86
Dr. H. v. Hug^Hellmuth
liehen Geschlecht zieht. Für sie alle gilt, was der fünfzehnjährige Michael im
Gefühle seiner männlichen Überlegenheit seinen Geschwistern, dem zwölfjährigen
Boris und der kleinen Musja, die auch schon »reichlich« zehn Jahre zählt,
höhnisch entgegenwirft: »Ja, lieber Himmel, was sind sie denn nun eigent¬
lich?! Kinder sind's nicht, Erwachsene sind's ja doch auch nicht — in der
Klemme sind sie dazwischen! Rechts wohnen alle Erwachsenen, links alle
Kinder, und ihr — ihr wohnt wohl nirgends oder so in einem Zwischen^
land, einem Nirgendwo!«
Langsam wächst in jedem Kinderherzen die Erkenntnis, daß Vater
und Großvater doch nicht eine so große Macht besitzen, als es wähnte, und
mit dieser Enttäuschung beginnt der Kinderglaube überhaupt zu wanken.
Die vierzehnjährige Ria wendet sich nicht allein deshalb vom Vater, der ihr
tödlich verletztes Hündchen durch einen wohlgezielten Schuß von seinem
Leiden befreite, in Furcht ab, weil sie ihren Vater zum erstenmal unerbittlich
und hart sah, es mischt sich das große Entsetzen in ihre Gefühle, da sie
des Vaters Allmacht gebrochen sieht,- er konnte töten, aber wiedererwecken
kann er das niedliche Hündchen nicht.
So tief wird die junge Seele von Versagung und Enttäuschung durch
die Heißgeliebtesten in der Kindheit, die Eltern, getroffen, daß neben der
Liebe ein stiller Haß zu glimmen beginnt und Furcht zugleich. Mit Entsetzen
vernimmt die kleine Musja die lästerlichen Gedanken, mit denen Boris
Großvaters Bemühung, den goldenen Stern an der Spitze der Weihnachts^
tanne zu befestigen, verfolgte. Sein ganzes Sinnen und Trachten gilt dem
heimlichen Plan, daß Musja zu dem angebeteten Dichter gehe, ihn zu fragen,
wie Boris ein Dichter werden könne. »Als der Großpapa vorhin den Stern
da oben anmachte, da schlug mir ordentlich das Herz, ich dachte: fällt der
Großpapa nicht herunter, so gelingt's — fällt er herunter —«. »O pfui,
Boris! Daß du aber auch so etwas Furchtbares dir ausdenken
konntest!« rief Musja voller Entsetzen.
Und Ria, »Vaters Kind«, die, soweit sie zurückdenken konnte, über
alles seine Meinung wissen wollte, die mit allen kleinen persönlichen Nichtige
keiten zu ihm kam, flüchtet vom Vater weg zur Mutter, weil ihre guten
Gefühle seltsam aufgerührt sind durch Furcht und Abscheu. »,Laß mich bei
dir!' flüsterte sie zur Mutter und fing an zu weinen. Die Mutter lag ganz
still. Sie ahnte, was im Kinde vorging und was in ihr gegen den Vater
kämpfte. Noch nie zuvor war Ria in solcher Weise zu ihr gekommen, wie
in eine Zuflucht. In diesem Augenblick fühlte sie die Macht, des Vaters
Liebling an sich zu fesseln, die bisher ungleich verteilte Kindesliebe gerechter
auszugleichen — .. . Dann aber legte sie ihre Hand auf Rias weiches Haar
und sagte ruhig: ,Willst du mir nicht die Liebe tun und zum Vater
fahren ?'
Ria schmiegte sich fester an sie.
,Ich habe Angst vor dem Vater!' rief sie, ohne ihren Kopf zu erheben,
,laß mich bei dir!'
,Warum hast du Angst vor ihm? weil er dir bisher immer den Willen
tat und zum erstenmal will, was du nicht willst? Hast du ihn denn nicht
lieb? Geh hin zu ihm und laß ihn nicht allein —v heute abend in seiner
leeren Stube.'
Da erhob sich Ria vom Bettrand und trocknete die Augen.
,Ich muß es tun, wenn du mich schickst. Aber nur, weil du es bist,
die mich schickt,' antwortete sie und küßte die Mutter. nur allein deinet¬
wegen, Mama!'«
Im Zwischenland
87
Ein intuitives Schauen sagt der Dichterin, wie das Gefühlsverhältnis
zwischen Vater und Tochter um eine Nuance anders gefärbt ist, als die
liebevollste Zuneigung des Mädchens zur Mutter.
Die feine Erotik der Beziehungen zwischen Vater und Tochter kommt
auch dann zu Worte, wo der Beruf des Vaters ihn fern vom Hause hält.
So leiden die beiden Mädchen in der Novelle »Die Schwestern« tief unter
der Trennung vom Vater, tiefer als unter dem Tode der Mutter. Ihre ethU
sehen Konflikte wegen eines Stückchens Kuchen, das die Magd ihrethalben
vom Tische der Herrschaft zurückbehalten, ihre Skrupel, ob es sich um
Diebstahl oder nur um etwas »Unfeines« handle, meinen sie, wären mit
einem gelöst, wenn sie »doch Papa immer nach allem fragen könnten«. Bei
diesen beiden ist der Familienkomplex so stark, sie fühlen so sehr den
Mangel eines schützenden Heims, der steten Aufsicht und Obsorge der
Eltern, daß sie ihre Freundin Aßja selbst um die strengen Worte beneiden,
die sie um eines kleinen Fehlers willen vom Vater zu erwarten hat. »Wenn
wir so etwas täten,« meinte Dascha, »niemanden könnte es einfallen, uns
so zu strafen.« »Gestraft wird sie wohl eigentlich nicht.« Mascha verstummte
und fügte nach einer Weile hinzu: »Sie sagt es den Eltern — das ist alles
— das ist ja auch nur die Strafe.« . . .“Man verwöhnt uns nicht und straft
uns nicht, — nicht wahr?« »—Aber möchtest du denn das?« fragte Mascha
plötzlich und blieb vor ihr stehen,* »möchtest du denn, daß jemand da ist,
wenn — wenn man einmal etwas heimlich tut — etwas Unrechtes — —.«
»Ja, ich glaube, ich möchte es!< antwortete Dascha unwillkürlich und
sah sie mit großen Augen an,* »du auch, nicht wahr — ? Es muß schön
sein, glaube ich. Vielleicht auch schrecklich, — — aber auch schön — —.«
. . . Unvermittelt sagte Dascha, als beendete sie damit einen langen, stummen
Gedankengang: »Höre, es ist so: Daß niemand gegen uns streng sein mag,
kommt daher, weil wir niemand kränken würden, wenn wir noch so Böses,
noch so Heimliches tun wollten. Darum kann es ja auch nichts nützen,
daß Aßjas Mama uns davor gewarnt hat. Sie vergaß ja, daß da niemand
ist —.«
In keinem anderen Alter verlangt das junge Menschenkind, zumal das
junge Mädchen, so heftig nach der sorgenden, schützenden Liebe der Eltern,
als in der Pubertätszeit. »Ich denke manchmal: anderen wird alles von ihren
Eltern gesagt, wir können uns eigentlich nie an jemanden wenden. Und es
gibt große Rätsel im Leben, — kommt es dir nicht auch manchmal so
vor — ?« meinte Mascha. Dascha nickte zustimmend vor sich hin.
»O ja. Man wird gut nachdenken müssen, um sie alle richtig zu
ergründen.« — —
Die schlanke Lisa, die es »grundkomisch findet, daß sie — die Halb-
wüchsigen — von nichts was wissen sollen,« flüchtet in ihren Wirren zur
Mutter, deren liebeatmende Atmosphäre allein sie schon beruhigt.
Frühe Ahnungen drängen das werdende Weib, Teil zu haben an dem
großen, großen Geheimnis, um das die Erwachsenen ihm voraus sind. Bei
Ria ist es einmal die stumme Frage, wie man sich denn benehmen sollte,
wenn man den ,ersten Verehrer' gefunden, dann wieder erwacht in ihrem
Herzen eine heiße Liebe zum Hündchen Love, zu den Vögeln des Gartens
mit ihrer Brutsorge. Ein Gefühl von Mütterlichkeit regt sich in Lisa, als
sie ihren schönen Vetter verteidigen will gegen die Verleumdungen der
Welt, die sie doch selber gern glaubt, weil ihrem vierzehnjährigen Herzen
es herrlich scheint, einen Mann zu lieben, »um dessentwillen Frauen ge¬
storben sind«. Und in der Seele der kleinen Musja regt sich in der
88
Dr. H. v. Hug-Hellmuth
bitteren Stunde der ersten Enttäuschung, die sie gemeinsam mit Boris
erlitt, als sie den Bruder leiden sieht, »ganz Feines, Seltsames: Fast
wie ein mütterliches Empfinden«. Schon vorher hatte es an die Tore ihrer
kindlichen Seele gepocht; sie fand es nicht schön, »daß ihr Puppen^Baby von
beträchtlicher Größe die Augen nicht bewegen konnte und daß die Haare
auch nur darauf gemalt sind« — gar nicht wirkliche Haare. Und bekümmert
meinte sie: »Früher kam es mir darauf gar nicht an, jetzt kränkt es mich
aber.« Die einsamen Waisen Dascha und Mascha haben ihre Liebe, nach
der niemand fragt, einem Kanarienvogel zugewendet und in Zärtlichkeit und
Fürsorge ihn zu Tode gebadet. Und in ihrer Verlassenheit erscheint ihnen
der Ersatz, den die gutmütige Magd ihnen schenkt, ein Vögelchen aus Pappe
auch liebenswert. Ljubow aber ist aus ihrem Kindertraum geweckt worden
durch Matuschkas ehrliche Bewunderung ihrer jungen Schönheit. »Durch alle
Adern fühlte sie es leise rinnen, leise rauschen, wie lauter willige Wärme,
wie lauter sehnende Kraft, als vermöchte sie, es dem Wind und Wasser
und Sonnenglanz und allen Wundern der Erde gleichzutun, — und es kam
ihr vor, als sei sie alledem heimlich verwandt.«
Nicht alle aus der Schar derer, von denen Elternhaus und Welt ver=
langen und voraussetzen, »daß sie von nichts was wissen sollen«, rettet
die große, schöne Liebe eines Vater^Geliebten aus ihrem Konflikte. Die
meisten der »gewesenen Kinder« müssen sich allein zurechtfinden in dem
Rätselhaften, Lockenden. Und sie tun es, indem sie sich eng aneinander
anschließen in jenen Freundschaften mit tausend Geheimnissen, mit dem
ewigen Tuscheln und Kichern der Backfischjahre. Ihre jungen Seelen wissen
aber genug, um in den kühnsten Phantasien zu schwelgen über die Untaten
des Mannes,- der echte Ritter Blaubart, einer, der während seines Aufi*
enthaltes im Auslande »keineswegs immerzu studiert hat ,« ist ihnen der
liebenswerteste. Weil sie selber sich der Weibesliebe noch nicht gewachsen
fühlen, wollen die Halbwüchsigen so gern fremde Seelen retten, fremde
Liebe schützen und fördern. So rühmen auch Lisa und Anna sich, dem
Brautpaar, das im vorigen November Hochzeit gemacht, die Wege geebnet
zu haben. »-und daß wir sie immer unversehens irgendwo zu zweien
ließen! Wenn wir nicht gewesen wären, ich wette, so säßen sie noch heute
und redeten vom Wetter, glaubst du nicht auch?«
»Beide wühlten kidiernd ihre Köpfe aneinander.
,Ich schlage vor, daß wir von ,Mäusen' zu Schutzengeln und Vor^
sehungen avancieren!' rief Lisa . . .
Und nun tuschelten sie sich Einzelheiten über diesen Brautstand ins
Ohr, die sie bis zu Krämpfen lachen machten.«
Wenn aber eine halbreife Seele allein bleibt, wenn ihr das lose
Scherzen und Tändeln mit Altersgenossen fehlt, wenn der »Mann« plötzlich
unerwartet in ihr Leben einbricht, dann formt sich ihr, wie der armen jungen
Dascha, die sich mit der Schwester eins wähnte, »die Vorstellung von etwas
Gewaltsamem, Brutalem, der Mann wie eine bis an die Zähne bewaffnete
Macht — ein drohendes, bärtiges Räubergesicht, — gezückte Messer —«.
Unter dem dumpfen Gefühle, daß der Mann, »er, von dem das Böse aus~
ging, alle böse Macht und auch die Liebe, — er ,der Mann'« »ihre« Mascha
getötet, bricht die bisher ahnungslose Dascha zusammen: sie begreift, daß
»Mascha nicht erst heute von ihr fortgegangen war«. »Mascha hatte einen
Mann lieb gehabt. Einen, von dem Dascha nichts wußte.
Mascha hatte also ganz für sich gelebt, — nicht nur heute, — nein,
immer schon, die ganze Zeit. Sie war gewesen, wo Dascha nie mit ihr war.
Im Zwischenland
89
In einem ganz anderen Leben war sie herumgegangen, in einem
ganz, ganz fremden.
Wie Dasdha nun auch laufen wollte, — wie sie in Gedanken lief
und lief, — jetzt holte sie Mascha damit nie mehr ein.
Mascha hatte sie zurückgelassen. Sie hatte sich allein vorausgeschlichen,
~ leise, heimlich, — in das Leben hinein, durch das rätselhafte, unbegreif®
liehe, und hinein in den Tod, in den geheimnisvollen Tod. Sie hatte alles
schon für Dascha vorausgenommen. Vorauserfahren. Vorausgelebt.
Dascha erfuhr davon nur, daß es lauter Rätsel und Geheimnis war
und Tod. — «
Die arme, kleine Dascha hatte in der älteren Schwester Ersatz für
Vater und Mutter gefunden. — »Ja, Aßja hatte wirklich recht: ohne eine
Schwester mußte es ein ganz böses Stück Arbeit sein, zu leben. Wie man
das nur anling? Herrlich war es doch, zwei zu sein statt einer, —■ zwei
und doch eine, —■ ein Mensch« — und diese geliebte Schwester hatte fremd
neben ihr gelebt, nur die kleinen Nichtigkeiten des Tages geteilt, ihre Seele
aber geheim gehalten vor ihr. — —
Vielleicht bei den meisten Mädchen geht der Liebe zum Manne eine
Zeit heftigster Neigung zum eigenen Geschlecht voraus, oder sie bestehen
in den frühen Pubertätsjahren oft nebeneinander. Wir dürfen diese Erschein
nung in zweierlei Richtung werten,* das Mädchen sucht in dem geliebten
weiblichen Wesen einmal die Gestalt der Mutter aus den frühesten Kinder^
tagen,* da diese ihm wirklich Vertraute und Freundin war. Wo die Mutter
dieses Vertrauen sich bewahrt hat, schließt sich ihr die Halbwüchsige in der
Zeit des Werdens und Kämpfens häufig in Leidenschaft an, wie Ria und
Lisa in ihren seelischen Konflikten es tun. Diese Zeit des Suchens und
Tastens ist ausgefüllt durch schwärmerische Freundschaften voll köstlicher
Geheimnisse, Freundschaft, in die doch schon der Sexualneid gelegentlich
eine Bresche reißt, durch glühende Verehrung der Braut des heimlich Ge^
liebten, durch ein inniges Verwachsen mit einer geliebten Schwester. Diese
Wahl erfolgt aber auch in der Identifikation mit einem geliebten Manne,
den zu lieben die Inzestschranke verbietet: Ida Wisentin verehrt ihren
Bruder so sehr, daß ihr Herz auch heiß zu schlagen beginnt für Ria, seine
Auserwählte. Lind die kleine Musja liebt im Dichter Ignatieff doch nur den
eigenen Bruder ,* aus Liebe zu diesem geht sie unter Gewissensbissen gegen
den gütigen Großpapa zu Boris' Ideal, zu fragen, wie man ein echter Dichter
werde. Lind als sie Boris auf dem Boden liegen und um seinen entgötterten
Gott weinen und klagen sieht, da »füllt sich ihr ganzes kleines Herz bis
zum Zerspringen mit Liebe zu ihrem Bruder«/ der Dichter wird ihr mit
einemmale wieder ein »fremder junger Mensch«, der ja gar nicht »unser«
Ignatieff ist. Sie liebte, wo Boris liebte,- nur im Hasse bleibt sie zurück,
weil ihre Liebe ja gar nicht dem Fremden gegolten: ihre Enttäuschung geht
auf in mütterlichem Mitleiden mit dem Bruder. Sie vergißt, daß der Knabe,
der vor ohnmächtigem Zorn auf den Boden stampft, sie oft seine männliche
Überlegenheit fühlen ließ, sie zweifelt auch nicht mehr an seiner Dichter^
gäbe/ ein echtes kleines Mütterchen, fühlt sie nur das eine, daß Boris leidet.
Auch Anna will es erst nicht recht zugeben, daß sie in ihren Stieb*
bruder regelrecht sich verliebt hat. Als Lisa ihr vorhält: »Übrigens scheint
mir wahrhaftig, du bist ordentlich in ihn verschossen!«, da wehrt sie ab:
»In den eigenen Bruder?!« »Stiefbruder«, verbesserte Lisa. »Und noch dazu
einer, der weiß wie lange fort war.«
So stark ist der Familienkomplex, daß unter seinem Zepter alles
90
Dr. M. Eitingon
steht, was mit Vater und Mutter und den Geschwistern verknüpft ist.
Ria, das Schuldirektorstöchterlein, »fühlte sich immer sehr stolz auf ihren
Sonntagsbesitz an leeren Klassen. Stellten sie doch ohne Zweifel das speziell
Reizvolle, Auszeichnende der Direktorswohnung in den Augen aller ihrer
kleinen Freundinnen dar, deren jede bemüht war, an der eigenen Behausung
irgend etwas rühmend herauszustreichen, was die anderen nicht besaßen. Bei
einem reichen Banquierstöchterchen wurde der Pferdestall im Hofe zu dem
Schönsten gezählt, woneben alle Pracht der vielen Gemächer selbst verblich;
bei einer zweiten gipfelte alles Interesse darin, daß eine liebe alte Gro߬
mama von neunzig Jahren in einem gepolsterten Rollstuhl vorhanden war
und dadurch den größten Neid erregte. Ja, ein Schwesternpaar stand sogar
nicht an, sich in Ermangelung eines Besseren damit zu brüsten, daß die
ganze, niedrig am Flußufer gelegene Wohnung zu Beginn des Frühlings
von der gewaltig anschwellenden Newa überschwemmt zu werden pflegte,
— und auch dieses fand ungeteilten Beifall,* die Vorstellung umhershwim-
mender Möbel stach sogar vieles andere aus und stellte fast die Großmama
in den Schatten.«
Dieses Sich^sonnen im Glanze der Familie bedeutet in Wahrheit
nichts anderes, als daß die halbflügge Seele sich noch scheut, das lieber
warme Nest zu verlassen, daß sie noch fest verankert ist in der Liebe zu
den Eltern und den Geschwistern. Erst wenn eine große, starke Neigung
auflodert zu einem Fremden, dann versinken mit einemmale die Interessen,
die das Mädchen vordem mit ihrem Heim verband. Sie zerstört ihr Ver¬
hältnis zu Bruder und Schwester, sie zerreißt die Backfischfreundschaften
und macht in einem Tag aus dem gewesenen' Kinde eine Erwachsene,
die nicht mehr teilhat an den tändelnden Freuden und Leiden der anderen.
Weit, weit hinter ihr liegt das »Zwischenland« und erst dann wird sie
wieder seiner gedenken, wenn die Jahre der Jugend entschwunden sind,
wenn um sie ein neues Geschlecht mit gleichem unruhigen Herzen und
fragenden Augen den Weg aus dem »Zwischenland« hinaus ins Leben der
Großen sucht. Dr. H. v. Hug^Hellmuth.
II.
Gott und Vater.
Über dieses Thema, das der Psychoanalyse so tiefschürfende AuL
klärungen verdankt, finden sich im neuen Buche von Max Dauthendey:
»Gedankengut aus meinen Wanderjahren« 1 viele sehr interessante
Seiten, von denen wir einige ohne Kommentar folgen lassen 2 . Der Dichter,
1 1. c., p. 74-78.
2 In dem fast gleichzeitig erschienenen Buch »Der Geist meines Vaters.
Aufzeichnungen aus einem begrabenen Jahrhundert« (Verlag Albert Langen,
München) hat Dauthendey seinem Vater ein liebevolles Denkmal gesetzt, zu^
gleich aber den »unbewußten Kampf gegen den Geist meines Vaters«, der seine
Kindheit und Jugend beherrschte, künstlerisch gestaltet. Neben interessanten
Schilderungen der vier Schwestern, die dem Dichter die früh verstorbene und schwer
vermißte Mutter ersetzten, sowie des im Verfolgungswahn durch Selbstmord um¬
gekommenen Bruders, tritt in dem Buche die innerliche Auflehnung des träumeri^
sehen Sohnes gegen den praktisch veranlagten Vater als Gegensatz zweier ge~
trennter Weltanschauungen in den Vordergrund. Dieser Gegensatz führte schlie߬
lich zur völligen Entzweiung, so daß der Sohn im letzten Vierteljahr seines ge^
zwungenen Aufenthaltes zu Hause fremd neben dem Vater lebte und kaum mit
Gott und Vater
91
der sich nach einer Phase des Glaubens an einen persönlichen Gott-Schöpfer,
in den Jünglingsjahren zu einer Religion des »festlichen Allesinallemseins«
durchringt, zu dem Glauben an ein Weltall, »in dem wir alle zusammen
Schöpfer und Geschöpfe bedeuten«, zu einem eigenartig mystischen Pantheis¬
mus, schildert auf den folgenden Seiten, wie der Gottesbegriff, zum ersten
Male in die Seelenwelt des etwa sechsjährigen Knaben eingeführt, dort
keinen Platz finden kann, da alle ihm zugemuteten Funktionen schon vom
Vater besetzt sind, und nur Störungen, Zweifel erregt.
Aufzuzeigen, wie Gott gesiegt und wie er später wieder über-
wunden, wie in der neuen Synthese der »Geist des Vaters« eigentümlich
verlebendigt wurde, wäre Aufgabe einer interessanten Analyse.
»Ihr erinnert euch wohl alle noch der Zeit, als ihr in der Kindheit
noch nichts von Gott oder dem Schöpfer wußtet, von dem man euch später
erzählte.
Ich glaube mich noch genau zu erinnern, wie bestürzt ich war, als
man mir sagte, daß etwas Stärkeres im Unsichtbaren existieren sollte, ein
stärkerer Herr als mein Vater es war, eine stärkere Macht als meine beiden
Eltern mir waren. Wie frei war es vorher um mich im Hause gewesen,
ehe diese Erklärung der Elternohnmacht über mich kam! Und wie seltsam
wurde es mir bei dem Gedanken, daß, wenn ich einmal groß sein würde,
vom Vater fortkäme und meine eigne Frau haben würde, ein Gottherr,
der schon über meinen Vater regiert hatte, immer nodi da wäre, auch
wenn meine Eltern tot wären, und daß er ewig wie ein Aufpasser über
mir und meiner Frau sitzen sollte, ebenso wie über allen Menschen.
Ich empfand das demütigend. Das Erhabenste in mir fühlte sich ge-
demütigt/ das Erhabenste in mir wollte allein regieren. Das Erhabenste
dünkte sich nicht erhaben genug zu sein, wenn man ihm nicht vertraute,
daß es unantastbar wäre. Es fühlte sich beleidigt und erniedrigt, einen Auf^
passer über sich haben zu müssen. Es war mir, als dürfte ich mich keinen
freien unendlichen Gefühlen mehr hingeben, da meine Unendlichkeit nicht
anerkannt wurde, da immer nur von meiner ,niedrigen' Endlichkeit ge-
sprochen wurde.
Es war mir wirklich unbequem, beim Abende, Morgen- und Mittags-
gebet mit der Bitte um tägliches Brot immer zu einem Herrn, der an einem
aller Vorstellung entrückten Ort wohnen sollte, aufzuschauen: einen Fremden
ihm sprach. »Zu welchen Gewalttaten der Geist eines Mannes einen anderen Mann
drängen kann, wenn der eine der Vater, der andere der Sohn ist, dies sehe ich
heute erst vollständig und bewußt. Damals handelte ich unbewußt . . .« <p. 343).
Es liegt nahe, daß der Sohn aus Trotz gegen den Vater sich dem ihm aufge¬
drungenen praktischen Beruf entzog und auf eigene Faust seinen idealen Lieb¬
habereien nachging, die für ihn mit dem Mutterkomplex enge verknüpft waren.
Charakteristisch für diese Einstellung ist die folgende Episode: »Von dort <Genf>
floh ich ganz plötzlich im Sommer, ohne Wissen meines Vaters nach Petersburg.
Ich wußte nicht recht, was ich dort wollte. Ich fühlte nur, daß ich bei den Ver¬
wandten meiner Mutter in Rußland für mich Hilfe suchen mußte, um von
dem geistigen Druck, den mein Vater auf michübte, loszukommen.
In meiner Verzweiflung hatte ich mich sogar auf der Reise dorthin in Berlin mit
einer Kusine meiner Stiefschwestern, die ich nur dem Bilde nach kannte
<wie die Mutter), Hals über Kopf verloben wollen. Ihr Bild hatte mir ge¬
fallen.« In späterer Zeit kommt es dann zu einer äußerlichen Aussöhnung zwischen
Vater und Sohn, die einander aber innerlich fernbleiben <p. 353).
Otto Rank.
92
Dr. M. Eitingon
aufsuchen müssen, ich, der ich so voller Vertrauen geglaubt hatte, was ich
nötig habe, schenke mir mein Vater, und dafür schenke ich ihm meine
Liebe und werde leben, wie er wünscht und werde später mir selber
helfen können.
Für das Brot, für den Rock, für die Wohnung, für Gesundheit und
Wohlergehen, für die meine Eltern sorgten, dankte ich bereits meinen
Eltern. Nun sollte ich jeden Abend noch einmal danken und ebenso morgens
und mittags, einem Herrn, von dem man sagte, daß er alles, was ich von
meinen Eltern erhielt, diesen gegeben hatte. Diese waren also Schwächlinge
und konnten sich nicht helfen, so dachte das Kind für sich.
Meinen Eltern zu danken erschien mir selbstverständlich, und ich tat
es gern. Aber wenn meine Eltern von einem fremden Herrn und Schöpfer
etwas angenommen hatten, so hatten sie bereits gedankt. Die ganze Beterei
war mir zu viel Dankerei und zu viel Bitten und Bettelei.
Warum schaffte mein Vater nicht alles selbst an, was er brauchte?
Warum mußte er immer alles von einem Gottherrn annehmen, und eben^
so meine Mutter, da doch beide arbeiteten? Und warum zeigte der fremde
Herr sich mir nicht? Es war mir unverständlich, was seine ewige Unsichu
barkeit für einen Sinn haben sollte.
Es hieß, er könne mich fortwährend sehen, nur ich könne ihn nicht
sehen. Ich gewöhnte mir danach an, mich blitzschnell im Zimmer umzu*
sehen, um zu erfahren, ob jener Herr nicht hinter mir stünde und ich ihn
ertappen könnte.
Und als meine Mutter, wie ich fünf Jahre alt war, starb und man
mir sagte, sie wäre jetzt zu dem fremden Herrn gegangen und sie hätte es
dort viel schöner, da konnte ich das gar nicht fassen. Was tat sie denn bei
ihm, da doch mein Vater und ich sie so nötig hatten?
Und als man mir antwortete: nichts ist beständig, nichts ist wirklich,
da hatte ich oft das Gefühl: vielleicht ist das Nebenzimmer schon ver^
schwunden, während ich mich im anderen Zimmer befinde. Lind ich sah
vorsichtig durchs Schlüsselloch, ob das Nebenzimmer noch da wäre. Denn
das verstand ich: seit meine — Mutter verschwunden war und weder zum
Frühling noch zum Sommer, noch zum Herbst, noch zum Winter wieder^
kehrte und ihr Bett leer blieb am Morgen und am Abend, und ihr Platz
am Eßtisch leer blieb am Mittag und Abend, und ihr Platz am Nähtisch
am Nachmittag, und ihr Platz am Klavier leer blieb in der Dämmerstunde,
und ihr Platz in der Küche leer war am Herd und im Flur, am Wäsche^
schrank und im Sommer unter dem großen Nußbaum und auf der
Gartenterrasse —' da sah ich ein, es hatte sich etwas Unfaßbares ereignet.
Und ich dachte: jener unsichtbare Herr ist doch mächtiger als mein
Vater. Sonst hätte mein Vater meine Mutter von ihm zurückgefordert,
und es würden ihre Plätze nicht alle leer geblieben sein. Und diesem Herrn,
der die Mutter mir und die Frau meinem Vater genommen hatte, dem
sollte ich morgens, mittags und abends weiter danken! Das war die reine
Heuchelei, die man mich da lehrte.
Es stedkte sonach eine tiefe Furcht in mir vor dem unsichtbaren Ort, an
dem jener fremde Herr wohnen sollte und vor dem Unsichtbaren selbst.
War es wirklich so schön dort bei ihm, wie es alle sagten? Ja, warum
blieben wir denn dann alle hier? Warum folgten wir denn nicht sofort
meiner Mutter nach?
Und wie konnte man sagen, daß sie es jetzt schöner habe, wenn sie
meinen Vater nicht hatte und uns Kinder, die sie liebte? Konnte sie es
Die kindliche Gottesvorstellung
93
dann wirklich bei dem Fremden schöner haben und glücklich sein? Meine
Mutter war für mich bei diesen Gedanken auf einmal nicht mehr meine
Mutter, sondern eine kühle, fremde Dame, die dort hingegangen war, wo
man sich besser unterhielt, und die wahrscheinlich meinen Vater und uns
Kinder über besserer Unterhaltung vergessen hatte.
Aber das glaubte ich nicht. Ich stampfte auf und weinte zornig und
warf mich schreiend auf den Zimmerboden und wollte zu meiner Mutter
gebracht werden. Und als mein Vater gerufen wurde und er mich auf hob
und mich auf seinen Schoß nahm und mir mit Tränen in den Augen ver^
sicherte: JDeine Mutter hat uns nicht vergessen/ da stieß ich unter
Schluchzen hervor: /Warum holst du sie denn nicht endlich?' Und mein
großer starker Vater mußte wimmernd zugeben, daß es einen Stärkeren
und Größeren gäbe als ihn, der die, die er einmal zu sich gerufen habe,
nicht mehr hergeben wollte.
Für einen Augenblick sank da die Hochachtung für meinen Vater in
meiner Kinderbrust von tausend auf null Grad. Eigentlich wollte ich meinem
Vater nun nicht mehr gehorchen. Der Unsichtbare war stärker als er, und
meine Mutter war bei dem Stärkeren. Ich wollte mich nur an den Unsicht^
baren halten, weil auch meine Mutter zu ihm hielt.
Aber nun geschah das noch viel Unverständlichere, etwas das mich
ganz verwirrte, das alle meine Begriffe auf den Kopf stellte: mein Vater,
der doch jenen Unsichtbaren, der ihm die Frau genommen hatte, hätte
hassen müssen, wie ich folgerte — er faltete meine kleinen Hände in seinen
großen Händen und sagte: ,Laß uns zusammen zum Herrn beten. Dann
kommen wir der Mutter näher'.
Ich ließ ihn beten und ließ ihn meine Hände falten und sah ihm mit
offenem Munde zu, wie er sich demütig gegen jenen unsichtbaren, gewalu
tätigen Herrn benahm. Und wenn ich damals schon gewußt hätte, was
Narren und ein Narrenhaus sind, so würde ich vielleicht gedacht haben:
wir sind vor jenem Herrn alle zu Narren geworden. Und unser Haus, in
welchem früher mein Vater und meine Mutter emsig und klug gewaltet
hatten, das ist jetzt ein Narrenhaus geworden.«
Mitgeteilt von Dr. M. Eitingon.
III.
Die kindliche Gottesvorstellung.
Max weiß von seinem Gotte als besonderes Merkmal nur hervor^
zuheben, daß er »heilig« ist. Eine nähere Erkundigung ergibt, daß seine
Vorstellung von heilig mit der unseren nicht völlig übereinstimmt. Denn
heilig leitet er von den Heiligen ab, die er einmal auf Bildern gesehen hat.
Dabei ist ihm besonders der ernste, oft düstere Gesichtsausdruck der
Heiligen aufgefallen. Heilig heißt für ihn, wie er erklärt, soviel wie traurig.
Als Max alle anderen Gott zugeschriebenen Attribute erfahren hat, beginnt
bei ihm die Skepsis und er wünscht unausgesetzt Aufklärungen: wenn man
von Gott etwas wünscht, muß man zu ihm beten; aber kennt denn Gott
alle Sprachen? Gott hat alle Menschen geschaffen, aber wer hat denn ihn
selbst gemacht? Da Max keine befriedigende Antwort auf diese Frage er¬
hält, erklärt er: »Ah, ich weiß schon: Adam und Eva.« Max kommt, wie
man sieht, der Wahrheit ziemlich nahe. Dr. Theodor Reik.
94
Dr. Theodor Reik
IV.
Vaterkomplex.
Nietzsche hat auf die Tragödie des Kinderherzens, die sich aus
der ambivalenten Einstellung zum Vater ergibt, hingewiesen {Menschliches
Allzumenschliches, Bd. I, 422): »Es kommt vielleicht nicht selten vor, daß
edel und hochstrebende Menschen ihren härtesten Kampf in der Kindheit
zu bestehen haben: etwa dadurch, daß sie ihre Gesinnung gegen einen niedrig
denkenden, dem Schein und der Lügnerei ergebenen Vater durchsetzen
müssen.« Eine andere gleichgerichtete Äußerung des Philosophen <ibd. I,
p. 382); »Väter haben viel zu tun, um es wieder gutzumachen, daß sie Söhne
haben.« Die Psychoanalyse zeigt, daß der Zweifel an Gottes Gerechtigkeit
in der Kindheit in Verbindung mit der analogen Einstellung zum Vater er**
wacht. Nietzsche erzählt von sich: »In der Tat ging mir bereits als dreizehn-
jährigen Knaben das Problem vom Ursprung des Bösen nach: ihm widmete
ich in einem Alter, wo man ,halb Kinderspiele, halb Gott im Herzen hat',
mein erstes literarisches Kinderspiel — und was meine damalige Lösung
des Problems anbetrifft, nun, so gab ich, wie es billig ist, Gott die Ehre
und machte ihn zum Vater des Bösen.« {Genealogie der Moral.) Ähnlich
erging es Stendhal, von dessen Vater Eduard Rod {Stendhal, Paris
1892, p. 9) berichtet: »qui n'aimait guere son fils et que son fils detesta.«
Rod erzählt von dem Dichter und den Beziehungen zu seinen Eltern: »il
devint athee en haine de leur Dieu, jacobin, parce que les sansculottes
fouillaient leurs pretres.« Bekanntlich blieb Stendhal bei seiner atheistischen
Kinderüberzeugung. Seine Anschauung über Religion faßt er in dem Aus-
Spruche zusammen: »Die einzige Entschuldigung Gottes ist, daß er nicht
existiert.«
V.
Das Kind und der Tod.
Von der kindlichen Auffassung des Todes, wie sie Professor Freud
in der »Traumdeutung« dargestellt hat, kann sich jeder überzeugen, der un*
befangen das Treiben in der Kinderstube beobachtet.
Einen, wie mir scheint, bedeutsamen Beweis, für die von der Psycho-
analyse erfaßte Eigenart der kindlichen Todesvorstellung bildet es, daß das
Kind den Todesbegriff einer Steigerung und Abschwächung für fähig hält.
So mein kleiner Neffe Max {fünf Jahre alt). Er pflegt mit seinem Vater
»Krieg« zu spielen. Dabei ist er natürlich der, wie er sagt, »Stärkere«. Wenn
er den Vater mit seinem Spielrevolver erschossen hat, darf dieser sich nicht
mehr rühren. Als bei einer solchen Gelegenheit sein Vater durch eine un-
willkürliche Bewegung noch ein Lebenszeichen von sich gab, rief der Kleine
ihm unwillig zu: »Nein, du mußt noch toterer sein!«
Als Pendant dazu sei erwähnt, daß Max bei dergleichen Spielen auch
den Wunsch äußert, der Vater solle ein bißchen tot sein. 1 In dem reiz-
1 Vergleiche dieselbe Ausdrucksweise beim kleinen Scupin in »Das Kind
und seine Vorstellung vom Tode«, von Dr. Hug-Hellmuth, Imago I, 1912.
Ähnliche Vorstellungen zeigen auch die primitiven Völker, von denen
manche glauben, daß die Seelen der Verstorbenen in der Unterwelt noch ein-
oder mehreremale sterben, ehe sie »definitiv tot« sind. <Heinzelmann, Animis¬
mus und Religion, S. 21.) — Anmerkung der Redaktion.
Das Kind und der Tod
95
vollen Buche »Tom Sawyers Abenteuer und Streiche« von Mark Twain
findet sich ebenfalls ein Zeugnis ähnlicher Natur. Der kleine Held Tom ist
schwer gekränkt durch das abweisende Benehmen einer kleinen Schulkameradin,
die er heimlich in sein Herz geschlossen hat. Er flüchtet in den Wald, wo
er sich seinem Schmerz überläßt. Seine Gedanken nehmen bald die Richtung
auf den eigenen Tod: »Wenn nur sein Sonntagsschulgewissen rein wäre,
wie gerne würde er der ganzen Welt Valet sagen. Und was jenes Mädchen
betraf — was hatte er eigentlich getan? Nichts. Er hatte es so gut gemeint,
wie nur einer in der Welt und war behandelt worden wie ein Hund, —
wie ein elender Hund. Sie würde es bereuen eines Tages — wenn es zu
spät wäre vielleicht. Ach, wenn er nur sterben könnte, nur für einige
Zeit!«
Wie zähe aber dieser infantile Todesbegriff ist, möge ein anderer
Ausspruch des kleinen Max zeigen. Er erzählt seinen um weniges älteren
Schwestern: »Wenn man im Grabe liegt, muß man Würmer essen.« Na^
türlich ist diese Vorstellung nur die vom kindlichen Standpunkte aus modU
fizierte Wiedergabe eines Ausdruckes der Erwachsenen. Sie findet eine
Analogie in den Anschauungen primitiver Völker, welche ihre begrabenen
Verwandten mit Nahrung versorgen. Dr. Theodor Reik.