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Full text of "Imago. Zeitschrift für Anwendung der Psychoanalyse auf die Geisteswissenschaften III 1914 Heft 1 Februar"

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AGO 

ZEITSCHRIFT FÜR ANWENDUNG. 
DER. PSYCHOANALYSE AUF DIE 
GEISTESWISSENSCHAFTEN 



6./Ö, 5 
131 


HERAUSGEGEBEN VON 

PROF. DE S1GM. FREUD 

REDIGIERT VON 

DI OTTO RANK U. DI HANNS SACHS 


ffl. JAHRGANG / 1914 
HEFT 1 / FEBRUAR 



1914 

HUGO HELLEK &,©£. 

LEIPZIG u.WIEN-1• BAUERNMARKT3 







er Erfolg des zweiten Jahrgangs hat uns aufs neue des Interesses Jener versichert, 
an die sich die Zeitschrift zunächst wandte, nicht minder aber die Hoffnung bestätigt, 
daß auch weitere Kreise an den Problemen und Ergebnissen unserer jungen Wissen¬ 
schaft Anteil nehmen werdet!/ endlich hat uns die rege Mitarbeit der Vertreter verschiedener 
Fachgebiete das Bewußtsein gegeben, daß unser Unternehmen auA imstande war, der An¬ 
regung geistiger Produktionstätigkeit zu dienen. 

Die reiche und vielseitige Arbeit des abgelaufenen Jahrgangs zeigt die InhaltsCiber- 
licht und wir dürfen hoffen, mit der Festhaltung und Ausgestaltung unseres Programms 
auA unseren Erfolg sichern und steigern zu können. 

Soweit es durchführbar ist, sollen alle jene Zweige der Geisteswissenschalten, für 
die die Psychoanalyse Bedeutung gewonnen hat, zu Wort kommen/ auch soll weiterhin 
neben Sonderproblemen der Individualpsycfaologie besonders die Völkerpsychologie einen 
breiten Raum einnehmen, die ja am deutlichsten den Wert und die FruAtbarktit der am 
Einzelnen gewonnenen Seelenkenntnis erweist. 


Für die REDAKTION bestimmte Zuschriften und Sendungen wollen an 
Dr. HANNS SACHS,Wien XIX/l, Peter» Jordangasse 76 adressiert werden. 


»IMAGO« erscheint SECHSMAL Jährlich im Gesamtumfang von 
etwa 36 Bogen und kann für M. 15.— — K 18.— pro Jahrgang durch 
Jede gute Buchhandlung sowie direkt vom Verlage HUGO HELLER 
'S) CIE, in Wien I,, Bauernmarkt 3 abonniert werden. Einzelne Hefte 
werden nicht abgegeben. 

Auch wird ein GEMEINSAMES ABONNEMENT auf »IMA¬ 
GO« und die »INTERNATIONALE ZEITSCHRIFT FÜR ÄRZT¬ 
LICHE PSyCHOANALySE« zum ermäßigten Gesamtjahrespreis von 
Mk, 30,— = Ä* 36.— eröffnet. 

Die wenigen noch verfügbaren Exemplare des abgeschlossenen 
II. Jahrgangs »IMAGO« werden im Preise erhöht, so daß der komplette 
II. Jahrgang nunmehr M. 18.—21.60, gebunden M. 22.50 ==K 27.— 
kostet. Auch vom ersten Jahrgange sind noch einige wenige Exemplare 
zu diesem Preise verfügbar. 

ORIGINAL»EINBANDDECKEN mit Lederrücken sind zum 
Preise von M. 3.— — K 3.60 durch jede gute Buchhandlung, sowie 
direkt vom Verlage zu beziehen. 


Copyright 1914. HUGO HELLER 'S) CIE,, Wien I., Bauernmarkt 3. 





AGO 

ZEITSCHRIFT FÜR ANWENDUNG 
DER. PSYCHOANALYSE AUF DIE 
OE1STESWISSENSCHAFTEN 



HERAUSGEGEBEN VON 

PROF. DE S1GM. FREUD 

REDIGIERT VON 

Df OTTO RANK U. DZ HANNS SACHS 


III. BAND 



1914 

HUGO HELLER &.QL 

LEIPZIG u.WIENT-BAUERNMARKT 3 





Seite 


Inhaltsübersicht des HI. Jahrganges 1914. 

Abhandlungen: 


Dr. Karl Abraham (Berlin): Über neurotische Exogamie .... 499 

Lou Andreas^Salome (Göttingen): Zum Typus Weib .... 1 

Hans Blüh er (Berlin): Über Gatten wähl und Ehe.477 

Dr.A.A. Brill (New-York): Die Psychopathologie der neuen Tänze 401 
Dr. Robert Eisler (Feldafing): Der Fisch als Sexualsymbol . . . 165 
Dr. Fritz Giese (Berlin): Sexualvorbilder bei einfachen Erfindungen 524 
Dr. Ludwig Jekels (Wien): Der Wendepunkt im Leben Napoleons I. 313 


Dr. Emil Lorenz (Klagenfurt): Die Geschichte des Bergmanns von 


Falun.250 

John T. Mac Curdy (New-York): Die Allmacht der Gedanken und 
die Mutterleibsphantasie in den Mythen von Hephästos und 

einem Roman von Bulwer Lytton.. 382 

Dr. Otto Rank (Wien): Der Doppelgänger.97 

Dr. Theodor Reik (Berlin): Die Couvade und die Psychogenese der 

Vergeltungsfurcht ..409 

Dr. Hanns Sachs (Wien): Homers jüngster Enkel.80 

— Das Thema »Tod« . . ..456 

Theodore Schroeder (New*Y or ^ : Der sexuelle Anteil an der Theologie 

der Mormonen. 197 

Herbert Silbe rer (Wien): Der Homunculus.37 

— Das Zerstückelungsmotiv im Mythos.502 

Dr. Alice Sperber (Wien): Von Dantes unbewußtem Seelenleben . 205 

* * *: Der Moses des Michelangelo. 15 

Vom wahren Wesen der Kinderseele. Redigiert von Dr. 

H. v. Hug^Hellmuth. 

Dr. M. Eitingon (Berlin): Gott und Vater.89 

Dr. H. v. Hug^Hellmuth (Wien): Lou Andreas^Salome: »Im 

Zwischenland«.85 

— Kinderbriefe.462 

Dr. Theodor Reik (Berlin): Die kindliche Gottesvorstellung ... 93 

—' Vaterkomplex.94 

— Das Kind und der Tod. 94 


Besprechungen: 

Th. W. Danzel: Die Anfänge der Schrift (Hans Sperber) . . . 

Prof. Ernest Jones: Louis Bonaparte, King of Holland (Hanns Sachs) 

Emil Lucka: Die drei Stufen der Erotik (Th. Reik). 

F. MüIler^Lyer: Die Entwicklungsstufen der Menschheit: ~ Formen 
der Ehe. — Die Familie. — Phasen der Liebe. (O. Rank) . 
Wilhelm Ostwald: Auguste Comte (Ed. Hitschmann) . . . . 

Dr. Theodor Reik: Arthur Schnitzler als Psycholog (Hanns Sachs) . 
Arthur Schnitzler: Frau Beate und ihr Sohn (Th. Reik) . . . . 

Franz Strunz: Die Vergangenheit der Naturforschung (H. Silberer) 
Fritz Wittels: Alles um Liebe. Eine Urweltdichtung (Th. Reik) 


536 

303 

304 




















Seite 

Übersicht der Leistungen der auf die Geisteswissen¬ 
schaften angewandten Psychoanalyse: Für das Jahr 


1914. 541 

Büchereinlauf (Besprechung Vorbehalten): 

Für das Jahr 1914. 543 

Kunstbeilagen: 

Michelangelo: Moses. . •. 16 

Kwan^yin, chinesische Liebesgöttin mit dem Fisch im Korb 

(Fig. 6>.176 

Japanische Liebesgöttin Benten mit dem Fisch (Fig. 7) . . . 176 

Mykenische Vasenscherbe aus Tiryns: Fisch zwischen die Beine 

eines Pferdes gemalt (Fig. 12).177 

Fischschwingende Maenade (Fig. 13).177 

Babylonierin, vor dem heiligen Fisch auf dem Altar Garn 

spinnend (Fig. 17).177 

»La nzegna«, neapolitanisches Volksfest in S. Lucia (Fig. 18) . 177 

T extillustrationen: 

Eros, die Mandragorawurzel in der Hand, auf dem Delphin reitend 

(Fig. 1). 170 

Eros mit dem Fisch in der Hand (Fig. 2). , . . 170 

Das Symbol des »Fischhauses« auf augusteischen Münzen (Fig. 3). 172 

Babylonisches Ideogramm für die Göttin Ishanna (Fig. 4) .... 172 

Der Fisch im Leib der Muttergöttin (Fig. 5).173 

Babylonischer Siegelzylinder (Fig. 8).174 

Buddhistisches Symbol der yoni (Fig. 9 ) ... 174 

Herakles für sein Hochzeitsmahl Fische fangend (Fig. 10) . . . . 176 

Prähistorische Ritzzeichnung (Fig. 11).178 

Sogenannter Ring des heiligen Arnulph von Trier (Fig. 15) . . . 185 

Angelfischer und Fischreuse auf der Schale des Chachrylios (Fig. 16) . 185 

Fischer unter dem Schutz einer ithyphallischen Gottheit (Fig. 19) . . 189 

Das Liebesfischen (Fig. 20).191 

»Raub des Ganymed.« Schwebende Gruppe in Venedig (zu Seite 238) 540 




















IMAGO 

ZEITSCHRIFT FÜR ANWENDUNG DER PSVCHO- 
ANALYSE AUF DIE GEISTESWISSENSCHAFTEN 

HERAUSGEGEBEN VON PROF. DR. SIGM. FREUD 

SCHRIFTLEITUNG: 

III. 1. DR. OTTO RANK / DR. HANNS SACHS 1914 


Zum Typus Weib. 

Von LOU ANDREAS=SALOME. 

I. 

W as ich hier vorhabe, ist nur ein Stück Gedankenspaziergang; 

anfangs entlang an persönlich eng umgrenztem Weg, dann 
hinstrebend in weitern Gesichtskreis, um endlich, wenn auch 
nur ein paar Schritte höher, zu sachlichem Überblick darüber hinaus 
zu gelangen. 

Recht persönlich muß ich damit beginnen zu sagen, daß sich 
meine allerfrüheste Erinnerung auf Knöpfe bezieht. Auf geblümtem 
Teppich darauf ich saß, stand vor mir geöffnet ein brauner Kasten, in 
dessen Inhalt, unter gläsernen, beinernen, bunten, phantastisch geformten 
Knöpfen, ich kramen durfte, wenn ich entweder sehr artig gewesen 
war, oder wenn meiner alten Wärterin keine Zeit für mich übrig 
blieb. Der Knopfkasten hieß — anfänglich naiv, später ironisch ver^ 
standen — der Wunderkasten, und anfangs repräsentierte er für 
mich wohl auch Wunder schlechthin,- dann — vielleicht weil man 
mich die entsprechenden Wörter daran kennen lehrte, bewunderte 
ich in den Knöpfen ebensoviele Saphire, Rubine, Smaragden, 
Diamanten und anderes Edelgestein, wodurch noch heute das 
russische Wort für »Juwel « 1 mir einen seltsam erinnerungsreichen 
Klang behalten hat. Die Knopfjuwelen blieben auf lange hinaus der 
Inbegriff dessen, was als wertvoll betont, und deshalb gesammelt 
nicht fortgegeben wird <wie in der Tat die damals verhältnismäßig 
kostspieligeren Modeknöpfe nach Verbrauch der Kleidungsstücke auf^ 
bewahrt wurden). Und mir ist, als ob diese Vorstellung der Knöpfe 
als kostbarster Stücke sich in mir bereits unmittelbar zurückgegründet 
haben müsse auf eine noch ursprünglichere, wonach sie unver^ 
äußerliche Teile darstellten — gewissermaßen Teilstückchen meiner 

1 »jemtscfiug«. 

Imago III/l 





2 


Lou Andreas^Salome 


Mutter selbst (respektive ihrer Kleidung, an deren Knöpfen ich von 
ihrem Schoß aus hantieren mochte) oder vielleicht der (mir anhänglichen) 
Amme, an deren Brust hinter der geöffneten Kleidung idi den 
ersten Rubin praktisch kennen lernte. Wenigstens entsinne ich mich, 
daß, als sich mir die Knopfschätze hinterher mit einem mir erzählten 
Märchen kombinierten, worin sie eine mehr interne Angelegenheit 
vertraten, ich diese neue Auffassung schon wie ein festes Besitztum 
in mir vorfand. Das Märchen handelte von jemandem, der, in einen 
Zauberberg dringend, sich in dessen Innern durch alle Reiche des 
Edelgesteins (»Saphire, Rubine« etc.) hindurcharbeiten muß zu 
irgendeiner zu entzaubernden Königin. Gar nicht befremdete es midi 
deshalb auch, als ich auf meiner ersten Auslandsreise, mit meinen 
Eltern in der Schweiz, einen Berg »die Jungfrau« nennen hörte. 
Seitdem befestigte sich mir das Bild einer unerreichlidi hohen, recht 
vergletscherten Berg-Jungfrau, die in ihrem Allerinnersten ungezählte 
Knöpfe birgt. Wie eine Erinnerung daran wirkte etwas später ein 
zweiter Reiseeindruck auf mich: eine Bergwerkseinfahrt mit meinem 
Vater in das Werk bei Salzburg, bei der ich, zwischen ihn und die 
Knappen gräßlich eingeklemmt, rittlings in die schauderhafte Tiefe 
zum märchenhaft erleuchteten See niedersausen mußte, und unten, 
ziemlich zerquetscht, bitterlich brüllend, ankam. Daß das glitzernde 
Salz an den Wänden nur einen Sammelnamen bedeuten konnte für 
Edelsteine jeder Art, schien zweifellos,* und ich glaubte sein Gefunkel 
nur wiederzusehen, als ich bald darauf die köstlichen Sammlungen 
russischer Edelsteine im Petersburger Museum des Bergchorinstituts 
schildern hörte und selber sah. 

Diese ganze kindliche Auffassung nun unterscheidet sich in 
charakteristisdier Weise von einer gleichzeitigen zweiten, die andere 
kleine rundliche Wertstücke zum Gegenstände hat: nämlich Geld^ 
stücke. Daß man Geld sammeln könnte für des Lebens Bedarf, war 
mir ganz früh nicht bekannt, da dieser auf eine mir unmerklichere 
Weise bestritten wurde, allein gegen das achte Jahr etwa (auf 
Genauigkeit kann ich nicht schwören) erhielt ich jeden Monat Taschen¬ 
geld, bestehend in einer Silbermünze von 20 Kopeken (40 Pfennigen), 
für die man sich Erfreuliches kaufen durfte, obschon auch dies Er^ 
freuliche allermeistem direkt durch die Eltern und ohne Bezugnahme 
auf Geld, sich verwirklichte. Einmal als mein Vater mit mir spa¬ 
zieren ging, begegnete uns ein Bettler, dem ich mein blankes Silber- 
stüdc geben wollte. Da sagte mein Vater: »Die Hälfte reicht« — 
denn ich sollte ja daran Geld einteilen lernen — und wechselte mir 
ernsthaft das Stüde in zwei Silbermünzen zu je 10 Kopeken, so 
daß auch der Bettler Silber, nicht Kupfer (Nickel gibt es in russi¬ 
schen Münzen nicht) erhielt. Von da ab muß sich mir die Idee ein¬ 
gegraben haben: Geld ist das, wovon die Hälfte den Anderen ge^ 
bührt — zwar die Hälfte nur, doch diese ohne weiteres, und sie 
darf nicht schäbiger aussehen als das Zurückbehaltene: man hat vor 
den Anderen nichts voraus. Im schärfsten Gegensatz zu diesem. 




Zum Typus Weib 


3 


was teilbar war, ja dessen Wesen darin zu bestehen schien, daß 
man es zu teilen hatte, stand die ältere Idee von den unveräußer^ 
liehen Schätzen <Knöpfen>, den nichtaustauschbaren, verborgenen, mit 
deren Wegnahme offenbar wir selbst ausgeraubt, angetastet werden 
würden — gleichsam unser Ganzes, das nicht »Hälften« kennt oder 
hat. Freilich sind diese Gedanken selber nicht so frühe, doch die 
Stelle, von der sie ausgegangen sein mögen, von der sie sich in 
zwei so verschiedene Vorstellungsreihen abgrenzten, reicht erkennbar 
bis hinab in das Infantilste: in das Gebiet analer Interessen, d. h. 
dorthin, wo unsere Körperfunktion uns noch gleichsteht mit uns 
selbst, und wo ein Teil unserer selbst, als ein von ihr geleisteter 
Teil, uns zum erstenmal zugleich als Objekt, als ein Nicht-mehr^ 
wir, zum Bewußtsein kommt. Insofern nun speziell Geld den be¬ 
kannten Ersatzbezug zum Analen enthält, wäre hier jenes früheste 
Erziehungswerk: Unterdrückung der Identifikation mit dem Analen, 
des Ich-Interesses daran, zustande gekommen im Zusammenhang 
damit daß anal gerichteter Autoerotismus sich am Symbol der 
»Knöpfe« als interner Schätze, bereits vor dieser ersten Soziale 
sierung gleichsam in Sicherheit gebracht hätte. Im infantilen Wett¬ 
streit der »Knöpfe und der Münzen« hätte sozusagen die Selbst¬ 
bewertung von der sozialen sich zu scheiden begonnen in zweierlei 
Sinnbildern, von denen das spätere, die Münze, sonst der rechte 
mäßige Erbantreter der ehemaligen Analbetonung, sich um so 
williger umprägen ließ zum alleinigen Repräsentanten sozialen Aus¬ 
tausches, als das andere, der Knopf, mit höchst egoistischen Neben^ 
absichten entschlüpft war auf ein Gebiet, wo es einstweilen in 
Märchenvorstellungen erotischer Herkunft untergebracht wurde. 

Die Erziehung erzieht begreiflicherweise zum Sozialen,- sie tat 
das auch im vorliegenden Fall, einschließlich des ganzen Individuums, 
ohne mindeste Ausnahmsrechte irgendwelcher Knöpfe. Dies nahm 
seinen Anfang schon mit dem Lebensfaktum der Geburt: man war 
vorhanden, um Anderen zu gehören, und in jedem Jahr hatte man 
sich in diesem Sinne würdig zu erweisen älter geworden zu sein. 
Sogar die, dieses Geborensein feiernden Geschenke, und auch noch 
die Gaben unterm Weihnachtsbaum, trotzdem er doch reine Gnaden¬ 
herrlichkeit auszustrahlen schien, bargen noch irgendwie heimliche 
Fallen für den Egoismus und besagten stumm: »wir liegen hier, 
teils, weil du brav gewesen bist, teils weil du es hoffentlich sein 
wirst«. Als ich ganz klein von Schmerzhaftigkeit der unteren Glied¬ 
maßen befallen wurde, die man »Wachstumschmerz« benannte und 
die sich nach einer Weile von selbst verlor, erhielt ich, zum Trost 
für das erneute Getragenwerdenmüssen, kleine weiche Saffian¬ 
stiefelchen mit Goldtroddeln daran, was zur Folge hatte, daß ich 
das Aufhören der Schmerzen nicht rechtzeitig signalisierte, besonders, 
da mein Vater häufig selbst mich trug. Indem diese Fälschung des 
Sachverhalts als sträflich entlarvt wurde, erfuhr ich mit kümmere 
vollem Staunen, daß auch meine Beine durchaus zu dem gehörten. 



i* 




4 


Lou Andreas^Salome 


was ich der Anderen wegen besaß, daß ich über sie keineswegs 
disponieren konnte, wie ich wollte, und daß die roten Saffian- 
sdiuhchen sie nur zum Schein als meinen ausschließlichen Eigenbesitz 
legitimiert hatten. Immer mehr zog sich dasjenige, worüber kein 
Anderer zu verfügen hat, von den sozusagen äußeren Gütern des 
Lebens ins gleichsam Unsichtbare, Unfaßbare zurück, als etwas, das 
man sich nicht erst erwerben, verdienen, erkämpfen, aus zweiter 
Hand empfangen kann, sondern unverlierbar, ein für allemal, laut 
oberster Instanz, besitzt. Diese oberste Instanz ist in einem streng¬ 
gläubigen Elternhaus von selbst gegeben. So wurde hier, unter dem 
Ausdruck der gegebenen Religion, ein Stüde zurückbehalten von der 
»Allmacht der Gedanken« im Freudschen Sinne des Wortes,- diese 
Allmacht über die Tatbestände wurde als Knopf deponiert da, wo 
der Augenschein der Wirklichkeit nicht mehr hinreichte,- daneben 
aber blieb der Realität von außen her, dem sichtbar Wirklichen, 
dasjenige zugeteilt, was geteilt, halbiert werden kann, wie damals 
das Silberstück geteilt, halbiert wurde: darüber hinaus hatte die 
Außenwelt nicht nur kein Recht, sondern gewissermaßen keine 
»Wirklichkeit« zu beanspruchen: dahinter hörte sie als vorhanden auf. 

Ich bin damit angelangt beim Ausgangspunkt eines vorher^ 
gehenden Aufsatzes, worin 1 das Thema vom kindlich selbstgeschaffenen 
Gott zu anderem Endzweck betrachtet wird. Es ist klar, inwiefern 
schon das unsichtbare Spielzeug, das diesem Gott in allen Taschen 
steckte, im Zusammenhang stand mit der Verborgenheit der Berg^ 
edelsteine, und, letzten Endes, aus den unveräußerlichen Knöpfen 
im braunen Knopfkasten bestand. Nicht zufällig blieben dem Gott 
gerade diese kindlichsten Attribute, die vorwiegend noch aus der 
»Allmacht der Gedanken« inmitten der schon beginnenden Welt* 
erkenntnis hervorgegangen waren. Sonst pflegt ja selbst die primi¬ 
tivste Religionsform in ihrer Glaubensphantastik gleichzeitig ein Er^ 
kenntnisprinzip, eine Weltauslegung zu enthalten: aber dem Kinde, 
dem jede Weltbelehrung von vornherein durch die erziehenden Er¬ 
wachsenen zuteil wird, braucht die Phantastik seiner Gottesgestaltung 
davon nicht beeinträchtigt zu werden. Der Gott ersetzt hier ge^ 
wissermaßen das, was Freud den »Familienroman« genannt hat: 
jene Idealisierungen von Herkunft und Schidcsal, mit denen das 
Kind sich oftmals nur Ausdruck schafft für das ihm ungeheuer 
Selbstverständliche, Gewisse, jeder Fülle und Herrlichkeit. Nur 
spiegelt das sich hier, statt in einer Historie, in der Gegenwärtigkeit 
selber eines Extragottes des eigenen Seins und Wesens, der weder 
erklärt noch verbietet, sondern lediglich sanktioniert. Kann er sich 
nun in dieser sehr einseitigen Äußerungsweise auch ebensowenig 
lange aufrecht erhalten, wie der sonst übliche Familienroman, so 
stürzt er doch weniger durch einen Verstandeszweifel, als durch eine 
innere Wendung derjenigen lebensgewissen Zuversicht, die in ihm 


1 »Imago«, Bd. II, Heft 5. 





Zum Typus Weib 


5 


sich selbst ergriff, und deren Symbolik im Verlauf der Entwicklung 
sich ändern mußte. Denn die alte Vorstellung von den Schätzen¬ 
knöpfen, die er in seiner Allherrlichkeit so gesichert trug, wie das 
Spielzeug in seinen Taschen, besaß ja neben ihrem ausgesprochen 
egoistischen Charakter — wenn auch einstweilen ebenfalls ins noch 
phantastisch Märchenhafte eingekleidet — einen nicht minder erotisch 
betonten. Blieb während langer Zeit <Freuds »Latenzzeit«) dieser 
Umstand auch belanglos, so enthielt er doch die Tendenz, den Gott 
in der Form, im Ausdruck, des weiteren zu vermenschlichen. Über 
den dauernden Bestand des Gottes entschied deshalb, in den ver¬ 
borgenen, unterirdischen Wesensregungen, nicht so sehr seine Wahr¬ 
heit der Verstandesbedeutung, als seine Wirklichkeit der Sinnen¬ 
bedeutung nach. Darin, daß er eines Tages als abstrakt, blaß, un^ 
siditbar bemerkt wurde, machte sich einfach die von ihm scheidende 
Liebe bemerkbar: wenn sie aber nicht eigentlich in Unglauben, son¬ 
dern vorübergehend nur in eine Art Verkehrung der Gottesliebe, 
in Teufelsglauben, umschlug, so läßt sich ein zweites Merkmal noch 
darin feststellen: nämlich, daß diese Liebe schon in ihren Lebzeiten 
ambivalent gerichtet gewesen war, d. h. dem Gott um seiner ab^ 
strakten Blässe, seiner mangelnden Blutfarbe, seiner gar zu fest am= 
gewachsenen Tarnkappe willen, unbewußt böse war. Als der Gott 
den Rücken gekehrt, bekam sie, genau genommen, nur dessen ge¬ 
schwärzte (von ihr selbst »angeschwärzte«) Hinterseite im Teufel 
zu sehen,- da es jedoch dem Kind nicht bewußt sein konnte, daß es 
sich den Gott selber vertrieb, so fühlte es, durch die unbekannte, ihn 
hinwegwendende Macht, sich der Hölle anstatt dem Himmel überliefert. 

In der Tat kann als der natürliche Abschluß der Gottes¬ 
geschichte — mögen auch lange Jahre dazwischen liegen, die nichts 
mehr mit ihr zu tun haben, — erst die einsetzende Pubertät gelten. 
Dementsprechend geschah auch das erotische Erwachen nicht nur volL 
gleichzeitig mit ihr, sondern es geschah so sehr wie aus automatisch 
sicherer Selbsterfüllung eben erst geträumten Kindertraumes heraus, 
daß es den großväterlich-allgütigen Phantasiegott vorsichtigerweise 
nur um eine Generation zu einem leibhaften Menschen verjüngte. 
Nicht nur in schlechten Romanen, weil »sie sich kriegen«, wäre 
hier eine lückenlose Vermittlung zu erwarten zwischen dem einiger¬ 
maßen introvertierten Ich und dem sozialen. Um so mehr noch, als, 
wie ein letztes Geschenk vom ehemaligen Gottverhalten her, 
dauernd die ganze Zutraulichkeit in Kraft blieb, die des Erwünschten 
gewiß ist: wenn sie auch nun, mit verbesserter Wirklichkeits¬ 
anpassung, statt bloßem Phantasieren, eine Art von Witterung für 
das real Vorhandene zustande brachte. Allein zugleich verblieb 
dieser Nachwirkung des Gottesverhältnisses auf das Menschen^ 
Verhältnis, oder einfacher: jener tiefen ursprünglichen Verknüpftheit 
des Egoistischen mit dem Erotischen, eine letzte Macht, über die 
hinweg der »Schatz«wert der Knöpfe sich nicht restlos realisieren 
ließ. Mit der »Wirklichkeit« war ja dasjenige hinzugetreten, womit 




6 


Lou Andreas^Salome 


man wohl »teilt«, aber eben nur Teilbares, wonach an den »Andern« 
die volle Hälfte zu vergeben ist, doch eben nicht ganz im Sinne 
der »Hälfte«, als welche in der erotischen Verschmelzung der 
Mensch selber nunmehr in toto darzustellen glaubt — vielmehr be¬ 
hält er hier den eigenen Kopf <Knopf> für sich. 

Übersetzt man sich dieses, ja sicherlich sehr anfechtbare, Verhalten 
aus dem Erotischen in einen Lebenstypus überhaupt, so ließe sich 
etwa davon aussagen: das Reale draußen wird erlebt, doch mehr in 
der Art, daß es empfangen, als daß man ganz daran fortgegeben wird, 
d. h. es wird nur um so leichter, leiser erlebt, je rascher und tiefer 
es berührt und befruchtet hat, so daß der Wirklichkeitsertrag, ins 
Innerste einbezogen, nun ausgetragen werden kann. Wo es darüber 
hinaus als »wirklichstes«, als der endgiltige Seinswert, aufgenommen 
sein will, da verblaßt es, entsinkt gerade dadurdi ins Irreale <unge^ 
fähr wie eine Farbe, ein Ton, wenn sie unsere Aufnahmefähigkeit 
übersteigen) und ist deshalb in diesem Entschwinden nur begleitet 
vom Gefühl unabwendbar sachgemäßen, ob auch bedauerten Ab¬ 
laufs <also weder von Enttäuschungs- noch Schuldgefühl). Will man 
dafür eine anormale Anlage voraussetzen <wozu die Phantastik des 
Ursprungsstadiums berechtigt), so wäre es eine solche, die am ent^ 
schiedensten auszuschließen scheint, was neurotischen Kampf, Zwie¬ 
spalt, Zweifel, Kompromiß bezeichnet, und eher noch Anleihen 
macht bei der Introversion des Paraphrenikers. Denn die zu teuer 
bezahlte Anhänglichkeit des Neurotischen an ein Teilstüdcchen der 
Wirklichkeit, das ihn so früh festlegt, daß alles folgende ihm zu 
gespenstigen Mißproportionen sich entwirldichen muß, ist hier zu 
ihrem Gegenteil geworden: Offenbleiben für erneutes und vertieftes 
Erleben, weil da, wo der Neurotiker gar zu verschwenderisch sich 
plündern ließ, eine letzte geizige Selbstbesinnung bleibt. Indessen, 
wollte man von allem Pathologischen gar zu sehr absehen, so 
könnte am Ende noch jemand darauf verfallen, weit unschönere 
Namen zur Erklärung heranzuziehen, wie angeborne Leichtsinnigkeit, 
verwerflidie Untreue und ähnliches. Ich will nun nicht auf hübschere 
Namen dringen, sondern nur den Versuch machen, aus der typi¬ 
schen Weibseelenverfassung einiges hervorzuheben, was mir mit 
analogen Prozessen zusammenzuhängen scheint. 

II. 

Schon in den »Drei Abh. z. S.« steht der Satz 1 , die Sexua¬ 
lität des Mannes sei: »die konsequentere, auch unserem Verständ- 

1 Der Satz gründet sich auf den früheren: »wüßte man den Begriffen ,männlich 
und weiblich' einen bestimmteren Inhalt zu geben, so ließe sich die Behauptung ver^ 
treten, die Libido sei regelmäßig und gesetzmäßig männlicher Natur, 
ob sie nun beim Mann oder beim Weibe vor komme, und abgesehen von 
ihrem Objekt, magdiesderMannoderdasWeib sein.« Hier steht »männ^ 
lieh« für die Aggressivität des Triebhaften als solchen, für seine unmittelbare Triebe 
tendenz, und soll im folgenden im gleichen Sinn verstanden werden. 





Zum Typus Weib 


7 


nis leichter zugängliche, während beim Weibe sogar eine Art von 
Rückbildung eintritt«. Denn: »Die Pubertät, welche dem Knaben 
jenen großen Vorstoß der Libido bringt, kennzeichnet sich für das 
Mädchen durch eine neuerliche Verdrängungswelle, durch welche ge¬ 
rade die Klitorissexualität betroffen wird.« Das Weibliche ist so das 
durch den Prozeß seiner eigenen Reife auf sich selbst Zurückgeworfene, 
Aufgehaltene, von der Endentwicklung Ausgeschaltete. In der Tat 
beziehen sich die spezifisch weiblichen Tugenden sämtlich hierauf, 
sind dem Geschlecht nach solche der Abnegation: wo weibliches 
Selbstbewußtsein in rein menschlichen Leistungen mit den männlichen 
rivalisiert, sind es eben jene Tugenden, von denen es sich emanzi- 
patorisch erholen will. 

Nun liegt es mir eigentlich ferner, von Tugenden und 
Leistungen zu reden, als von dem, worin ich mich kompetenter 

fühle: vom Glück. Bezüglich des Glücks nämlich läßt sich der obem* 
erwähnte Sachverhalt auch noch anders herum betrachten. Die ge¬ 
ringere Differenziertheit, die sich in jener Rückbildung ausdrückt, 
zieht um das mehr und mehr auseinanderstrebende Triebleben eine 
Art von einschränkendem Kreis, der es in gleichförmigerem Zu^ 
sammenhang mit dem gemeinsamen Ausgangspunkt erhält: aber 
dieser Umstand stellt ja nicht ein einfaches Zurück dar, sondern 
eine Wiederherstellung von Ehemaligem auf erhöhtem Niveau — 
als eine Wesensart weiterzukommen in sich, als eine Art des 
Wachsens am Leben. Denn gerade innerhalb des Sexualtriebes 

selbst, gerade infolge von dessen »Entmannung« im Weibe, 

differenziert er sich auch wieder auf eine neue Weise von der 

Aggressivität des Ichtriebes und erschließt sich damit eine Besonder¬ 
heit der Entwicklung. Das »Weibliche« <immer prinzipiell gemeint 
und abseits von allen Graden und Nuancen der Personalunion 
zwischen »männlich« und »weiblich«) eben durch seine Umkehrung 
des Sexualen auf sich, vermag sich das Paradoxon zu leisten, Sexua¬ 
lität und Ichtrieb dadurch zu trennen, daß es sie vereinigt. Es ist 
mithin zwiespältig da, wo das Männliche eindeutig aggressiv ver¬ 
bleibt, einheitlich aber dafür, wo diesem seine ungehemmte Aggres¬ 
sivität als mehr sexual oder mehr ichhaft nach entgegengesetzten 
Richtungen sich spaltet. 

Suchte man eine Illustration dafür im vorhergehenden Thema: 
dem Aufblick zum Vater, Mann-Vater, Gott etc., so fände man 
für das Weib Religiosierung und Erotik, Licht- und Wärmestrahlen 
im selben Gestirn, derselben Sonne gewährleistet, weil der passiv 
gerichtete Sexualtrieb sich dem hinhalten kann, was dem Ichtrieb das 
fördernd Höchste erscheint. Im Mann dagegen wendet sich die be¬ 
wahrte Aggressivität des Sexuellen auf das Passive, das Weib, 
weswegen, wie immer er es vom Geschlecht aus idealisieren mag, 
niemals im Sexualpartner zugleich sein Ichideal realisiert ist: sondern 
er dieses da finden muß, wo es ihm immer zugleich Ideal und Kon¬ 
kurrenz bedeutet, im gleichen Geschlecht, im Vater <also »enN 




8 


Lou Andreas-Salome 


sexualisiert«, sofern sich diese an sich schon ungemütliche Situation 
nicht auch noch bei betonterer Inversion zu einem wahren Rattenkönig 
von einander hemmenden Ambivalenzen verwächst). Der Vater ist es, 
zu dem er — sich selber suchend, ihn zu ersetzen, ja zu über- 
treffen suchend — doch anbetend sagen muß: »Dein Wille ge¬ 
schehe —«, während dem Weibe gegenüber in solcher Stunde, da 
es den ganzen Mann gilt, für immer auch wieder das Wort zu 
gelten hat: »Weib, was habe ich mit Dir zu schaffen.« 

Indem die Kraft der Mannheit als sexuell und geistig in 
Gegensätzen auseinanderstiebt, oder aber sich selbst Konkurrenz 
madit, gibt sie ihre unmittelbare Glücksgemeinschaft in sich auf,- in* 
dem der Mann als Leistender sich nachjagt, verliert er sich als 
Selbstbesitzender — wie er schon im Dienst der Fortpflanzung ver^ 
liert was er besitzt <— um Freuds, ja absolut nicht witzig ge* 
meintes, Wort zu wiederholen: »altruistisch« handelt) und wie er 
aus der Einseitigkeit sexueller Entspannung in die Einseitigkeit 
sozialer Anspannung entlassen wird. Dieser gewissermaßen unfrei¬ 
willige Edelmut der Selbstentäußerung kennzeichnet ihn fortan: sein 
Wesen ist, schön ausgedrückt, so etwas wie »Opferung«: Das ist 
unangenehm, aber es ist nun einmal seine Ehre. Der ungehemmt 
hinausgerichtete Drang muß dort draußen bezahlt werden mit Al¬ 
truismus, wie die auf sich zurückgedrängte Passivität sich bezahlt 
macht mit Glücksegoismus. Nicht erst die Empfängnis ist ein Bild 
weiblicher Hingabe in der Selbstbewahrung — schon die Ruhsamkeit 
des Eies im Vergleich zu der Regsamkeit des auf der Suche be¬ 
findlichen Samens, bezeichnet die gleiche Souveränität einer Indolenz, 
die nicht vor hat sich »ohne großen Gegenstand zu regen«. Ganz 
entgegen der Kalamität, die das Mannsein mit sich bringt, arbeitet 
die zu weitgehende Grellheit des Sexuellen sich im Weiblichen ge* 
dämpfter in die verschiedensten Wesenstönungen auf, und beläßt 
dafür den dem Blut entstrebenden Ichtrieb an seiner Basis wasch¬ 
echt erotisch gefärbt. Allein, wie mir scheint, zeigt sich hier auch 
bereits, wie diese Verflochtenheit der Triebmasse, diese Einbuße an 
letzter Gliederung, etwas an sich hat, was die Sexualität nicht bloß 
verändern mußte: was ihr sogar ihren eigenen endgiltigsten Voll¬ 
zug erst ganz ermöglicht. Denn es verhält sich ja nidit so, daß die 
Sexualität im gleichen eindeutigen Sinn eine Triebaggression dar¬ 
stellte, wie etwa der Freßtrieb durch Einnahme, der Defäkations^ 
trieb durch Abgabe, sondern diese und andere Triebe haben sich 
von ihr hinweg differenziert, zu Spezialarbeitsleistungen sich abge¬ 
gliedert, während sie der Zusammenfassung aller Organkräfte behufs 
deren Fortpflanzung dienen lernte <hierin durchaus dem Weibgeschidc 
selber ähnlich). Infolgedessen äußert das Sexuelle bei jedesmaligem 
Auftreten sich über sein Spezialgebiet so ganz hinaus, als Übergriff 
auf den Gesamtorganismus, als positiver Eingriff in ihn <wie Ab^ 
stinenz ja auch nicht, gleich dem Hunger schwächt oder sterben 
läßt, sondern positiv mit Rausch und Gift agiert). Und in weiterer 




Zum Typus Weib 


9 


Folge schillert das Sexuelle aus diesem Grunde nicht nur zwischen 
den einzelnen vitalen, sondern auch psychischen Äußerungsweisen so 
schwerfaßlich und widerspruchsvoll, indem es, nichts Speziellem ein^ 
geordnet, dem Wesen nach Invasion, ausdrücklich dazu vorhanden 
ist, die Welt auf den Kopf zu stellen. Gerade deswegen ist ja die 
Analyse des Psychischen so erfolgreich und plausibel, wo sie prak¬ 
tisch auf das Sexuelle zurückgeht, weil dieses, obwohl Körpertrieb 
und angehbar von der physiologisdien Seite, dennoch zugleich, hart 
am Organleben hin, psychische Tatsachen zuerst unverkennbar 
macht. 

Das hier steckende Problem <das nach seiner philosophischen 
Bedeutung natürlich nicht aufgerührt werden soll) hat Freud 
<Beitr. z. Psydh. d. Llb., II) erörtert in der Frage: warum der 
Liebesappetit bei vorläufigem Genuß nicht abnehme, wie sonstiger 
Appetit, vielmehr sich daran steigere, und warum endgiltige Be¬ 
friedigung trotzdem Reizhunger, Hunger nach Wechsel, ergeben 
könne, anstatt der immer befriedigteren Ehe, die z. B. ein Älko^ 
holiker zu der ihm genehmen Weinsorte eingeht. Es ist wohl nicht 
ganz ein Zufall, wenn nach der liebenswürdigen Vulgär-Ansicht der 
Leute, alle beide Fragen das Weib viel weniger tangieren als den 
Mann. Man könnte nämlich ganz wohl sagen, daß das, was den Sexual¬ 
trieb erst befähigt, sich von Durst, Appetit etc. etc. zu unterscheiden, 
bereits gelegen sei in einem Moment der Passivität, d. h. 
in der Fähigkeit, in und neben der zielgerichteten Triebtendenz beim 
Interesse am Objekt zu verweilen — sich daran aufzuhalten. 
Was wir »seelische Komponente« am Sexuellen zu nennen pflegen 
— aus deren mangelhafter Verknüpftheit mit dem Geschlechtstrieb 
Freud in der erwähnten Arbeit das Sinken des sexuellen Objekt^ 
wertes erklärt — ist <mögen wir sie Psychosexualität, Zärtlichkeits¬ 
zuschuß, Kontrektationsbedürfnis oder sonstwie benamsen), nur ein 
anderes Wort für solche Abkehr vom Nur-Aggressiven zugunsten 
eines zugleich aufnehmenden, raumgebenden Verhaltens. Freud sieht 
ja auch den Ursprung allen Sympathieausdrucks in der Objekte 
hingegebenheit des Neugebornen — was so zu verstehen ist, daß es 
im Objekt in dem Sinn aufgeht, als es sich eben als Subjekt noch 
gar nichts angeht, weil Selbsterhaltungs- und Hingebungsverlangen 
sich noch gar nicht voneinander unterscheiden können. Wenn dann 
jedoch, nach der zweiten Freudschen Phase, nach der splendid 
isolation des Autoerotismus <wo wiederum, nur anders herum, 
aktiv und passiv in eins fallen), das Objekt nicht erst gefunden, 
sondern, als übertragen aus jener Urzeit des Kinderdaseins, »wieder^ 
gefunden« <Freud) wird, so haftet daran bereits jene diffuse Süße 
damaliger Hingegebenheit nunmehr durchaus als ein Einschlag von 
Passivität. Denn nun macht sie sich gegensätzlich fühlbar gegenüber 
dem stachelnden Bewußtsein des Eigenen — des sein Objekt ganz 
frech in der Methode des Selbsterhaltungstriebes behandeln wollen¬ 
den Subjekts. Und wenn im Verlauf des sexuellen Reifestadiums 






10 


Lou Andreas^Salome 


dieser Stadiel des Nur^Aggressiven sich manchmal so einseitig ver¬ 
schärft, daß die Sexualität nur unter seinem Vorstoß noch in ihrer 
Besonderheit empfunden wird, so mag ihr freilich selber unerklärlich 
werden das, was doch immer noch ihr Glück und Leid wunderlich 
abhebt von dem der Selbsterhaltungsfreuden = oder Enttäuschungen. 
Aber dies bedeutet dann nicht so sehr: die Unterlassung von wer 
weiß wie feinsten Sublimierungen, die ihr fremd aufzupfropfen ge¬ 
wesen wären — im Kulturversuch exotische Blüten am landest 
üblichen Stamm hervorzutreiben — es bedeutet weit eher: daß ihre 
Grundwurzel unterläßt, die für ihr natürliches Vollgedeihen ge¬ 
nügende Säftemischung in alle Zweige emporzusenden. Vielleicht ist 
es schließlich auch die wahre Ursache des post coitum omne animal 
triste — das deshalb nicht für alle Menschen gilt, und dem die Er¬ 
fahrung entgegensteht einer Nachwirkung nidit nur der Freude, 
sondern eines höchst ungerechtfertigten Gefühls: gleichsam die beste 
aller Taten vollbracht, der Welt Vollkommenheit zurückgeschenkt, 
sozusagen das Gewissen ein für allemal entlastet zu haben — im 
vitalen Ineinanderstürzen des ewig^doppelten Außer^uns mit uns 
selbst. 

Freud hat das Inzestverbot dafür verantwortlich gemacht, daß 
nach Abschluß der Kindheit das »Zärtliche« und das »Sinnliche« so 
häufig ihre alte Einheit aufgeben und glücklos, ja krankmachend, 
in Seelenrespekt und Sinnenroheit verfallen. Allein sei das Inzest¬ 
verbot auch der schwarze Mann, der sie aus ihrem Kindheitsidyll 
aufschreckt: er griffe mit diesem scheinbar von außen her begrün^ 
deten Eingriff doch nur der Tatsache vor, daß ein Mensch auf dem 
Menschenwege, also auf dem einer stets weitergehenden Selbst^ 
entwicklung, am Persönlichen nicht mit ganzer Konzentration haften 
bleiben kann. Ein genügendes Zusammenhalten der inneren Antriebe 
könnte nicht umhin, seine Ziele zurückzustecken, die, im Sachlichen 
wie Persönlichen, eben durch ihre treibende Kraft, auf Erledigung, 
auf Vorwärtsgehen, auf bewußte Bewältigung des noch nicht mensdi^ 
lieh Bewältigten eingestellt sind. Im weiblichen Prinzip ist ja nur 
durch eben diesen Verzicht, durch eben dieses letztliche In-sich- 
erhalten der Triebeinheit, die Möglichkeit gegeben, dem enteilenden 
Schritt des Menschen trotzdem immer wieder Boden unter die Füße 
zu schieben. Nur im Weiblichen heißt daher solche Triebumkehrung 
in sich, nicht »Pervertierung«, sondern ihrem Verweilen, Zusammen¬ 
fassen, bleibt das Ziel selber mitgegeben. So gibt es, streng ge¬ 
nommen, innerhalb ihres Prinzips keine bloße »Vorlust« <im Freud- 
schen Sinn), nichts Vorläufiges im Verlauf des Erotischen: Das 
Weibliche ist zu definieren als das, was mit dem kleinen Finger 
allein die ganze Hand bereits hat,- nicht etwa im Sinne asketischer 
Begnügsamkeit — im Gegenteil, weil bereits das Geringste Raum 
gewährt der Zärtlichkeit sich ganz darin zu erleben, noch mit dem 
Geringsten schon das Ganze des Liebesbereiches zu umspannen 
<ungefähr wie Dido es mit der Kuhhaut und Karthago machte). 





Zum Typus Weib 


11 


Man könnte glauben, daß eher der Charakter der »Endlust« 
an dieser weiblichen Geschlossenheit etwas gefährde, sowohl durch 
den rein körperhaften Ausdruck auf den der letzte sexuelle Voll¬ 
zug gestellt ist, als durch die nachdrüddiche Passivität, die das Weib 
darin an ein bestimmtes Verhalten bindet. Indessen das lebendige 
Ineinanderspiel ihres Ich- und Liebeslebens bekundet sich vielleicht 
nirgends entschiedener als gerade dann: nämlich kraft der weiblichen 
Tendenz dort, wo man sich hingibt, auch immer die Norm, das 
Ideal aufzurichten, woran das eigene Selbst sich orientieren kann. 
Nimmt es sich auch im Durchschnitt leicht wie urteilsgetrübte bloße 
Verliebtheit, ja läppisch sogar, aus und verbirgt sich daran die 
wahre Bedeutsamkeit der Sache, so steckt dahinter doch nicht mehr 
noch weniger als folgende Leistung: den geistigen Sinn des Er^ 
lebten dort am geistigsten zu fassen, wo er am körperhaftesten zu^ 
gedeckt, am psychisch undeutbarsten bleibt, und so der eigenen 
Grundeinheit am gewissesten zu werden dort, wo sie am abgrün^ 
digsten schwankt. Mit anderen Worten: hier gelingt dem <ja an sich 
schon paradox gerichteten) Weiblichen sein zweites und tiefstes 
Paradoxon: das Vitalste als das Sublimierteste zu erleben. Dieses 
Vergeistigen und Idealisieren in seiner Unwillkürlichkeit läßt sich ver^ 
anlaßt denken dadurch , daß, dem weiblich-einheitlichen Wesen nach, in 
den Übertragungen der Liebe lebenslang deren ursprünglicher Aus¬ 
drude fühlbarer gegenwärtig bleibt als dem Mann — jene uranfäng- 
liche Verschmelzung mit dem Ganzen darin wir ruhten, ehe wir 
selber uns gegeben waren und die Welt in Einzelgestaltungen vor 
uns aufging. Man weiß, wie viel davon im Erotischen überhaupt 
wiederkehrt: wie alles was irgend an uns rührt, wesensverbunden 
erscheint mit der geliebten Person, als dehne sie sich aus in alles 
und kondensiere alles sich in ihr. Von dorther idealisiert sich das 
Personale zu fast symbolisch überragendem Sinn und, indem solche 
Rückbeziehung dem Weibe näherliegend bleibt, wird sie ihr zum 
Erlebnis: der einzelne Mensch, in all seiner Tatsächlichkeit wird ihr 
nach jener Richtung hin gleichsam durchscheinend, ein menschlich 
kontouriertes Transparent, durch das die Fülle des Ganzen unge¬ 
brochen und unvergessen schimmert. Erwähnt deshalb Freud 
<Beitr. z. Psych. d. Llb., II), daß, wenn es sich um schwer oder 
nicht erreichbare Objekte der Sehnsucht handle, die Frau: »etwas 
der Sexualüberschätzung beim Manne ähnliches in der Regel nicht 
zustande bringt«, so hängt das eben hiemit zusammen, daß ihre 
Schätzung und Überschätzung dem Erreichten, nicht nur dem Be¬ 
gehrten, gilt und gelten muß — dem, daran ihre Hingabe sie vor 
sich selbst vernichtet, wenn sie sie nicht vor sich selbst erhebt 1 . 
Dieses ist die verborgene Härte an aller spezifisch weiblichen Liebe 

1 Daher bleibt die Bedeutsamkeit der Hingabe eine so verschiedene für 
Mann und Weib, daß sie mit vollem Recht an beiden verschieden beurteilt wird. 
Und daher bildet einen wesentlichen Grund für weibliche Frigidität das Aus= 
einandergleiten von Mann und MannUmago. 





12 


Lou Andreas^Salome 


<oftmals alle Manneshärte reichlich aufwiegend) — ihr zugleich 
Blindestes und Hellseherischestes, daß sie in ihm erkennt, was sie 
mit ihm gewissermaßen über die Person hinaus eint,« es ist durchs 
aus ihr kostbarstes Stück <nidht blumenzart sondern edelsteinhart) 
so wie seine kostbarste Gabe an sie das, aus dem Geschlecht auf¬ 
gearbeitete, Stück an Zartsinn und Herzlichkeit ist. 

Gerade wegen dieser doppelten Rolle jedoch, die der Mann 
für das Weib vertritt, damit sie selber um so einheitlicher bleiben 
kann — gerade wegen der daran haftenden inneren Unterscheidung 
von — ich möchte sagen: Person und Vertreterschaft — muß hier 
eine kleine Einschaltung angebracht werden. Denn wenn von hier 
aus betrachtet, alle jene weiblichen Abnegationstugenden, von denen 
ganz eingangs die Rede war, gar nicht mehr tragisch aussehen, 
sondern eine richtige Glücksmiene aufsetzen, so daß das Weibliche 
als der geborne Ausbund alles Treuen, Idealgerichteten und Hirn* 
gegebenen von der Natur Gnaden erscheint, so darf man das doch 
nicht zu absolut nehmen. Ganz läßt es sich nämlich nicht von der 
Hand weisen, ob nicht gerade auch die Fülle, womit weiblichem 
Erleben alles Herrliche über dem Fest der Liebe ausgeschüttet ist, 
zum Anlaß werden könnte eines um so akuteren Ablaufs — so 
daß bisweilen nur um so weniger daraus sich für vernünftige Dauern 
gestaltung retten läßt, je restloser alles hineingegeben war. Und 
umgekehrt bleibt auch auf der anderen Seite jedesmal zu fragen, wie 
viel mitunter selbst von den prächtigsten Zutaten an Ethik^ oder 
Ehegesinnung eben schon bloße Zutaten zum weiblichen Liebes- 
erleben gewesen sind — hinzugetan aus falscher Scham bereits, aus 
einem Gutmachenwollen, aus Verlangen nach Sanktion. Denn man 
darf nicht vergessen, daß sich auf diesem Punkt für das Weib alles 
zusammenfindet, was es kann und was es nicht kann, seine natür¬ 
liche Größe sowohl wie seine ihm angewachsene Kleinheit. Ist es 
doch der einzige naturgegebene und dadurch mögliche Kulturpunkt 
für sie, daß sie vermag, im Sexuellen nicht ein Rohgegebenes, in sich 
Isoliertes, vollzogen zu sehen, sondern gleichsam in ihrer Sinnlichkeit 
zugleich ihre Heiligkeit zu ergreifen, zu begreifen: sei es nun, im* 
dem sie sie in bereits sanktionierten Bestand schutzheischend hinein¬ 
stellt, sei es, daß sie aus innerster Weibheit heraus sie reiner und 
freier anblicken kann als der Mann, dessen aufarbeitende Kraft sich 
an anderen Kulturzwecken erschöpfen muß. Von sich aus tut das 
Weib ja nur eine Kulturtat und auch diese passiert ihr mehr dem 
Weibwesen nach, als daß es eine Handlung wäre: das Kind <wes^ 
halb die Kinderlose ohne Frage als das sozial mindere Material 
anzusehen ist). Dennoch kann es eine Handlung werden: trägt und 
gebärt sie das Kind noch als einen Teil ihrer selbst, hat sie so 
lange als möglich an ihm noch die zärtliche Selbstidentifikation, worin 
feinste SexuaL und Seelenfreude gewissermaßen lächelnd ineinander^ 
fließen — so entstammt diesem warmen Egoismus doch schließlich 
ihre erste eigentliche Sozialisierung, es entstammt ihm der Bezug 




Zum Typus Weib 


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zum Kinde als zum zweiten Menschen, zum anderen, zu einer 
Welt außerhalb ihrer, die sie aus ihrem Tiefsten hergab — nicht 
nur »teilend« von dem Ihren, sondern sich selber mitteilend und 
zurücktretend. Das höchste Frauenbild ist insofern nicht schon die 
»Mutter mit dem Kinde«, sondern — falls man in christlichen 
Madonnenbildern reden will — die Mutter am Kreuze: die, welche 
opfert, was sie gebar: die, welche den Sohn an sein Werk dahin^ 
gibt, an die Welt und an den Tod. 

Selbstverständlich läßt sich nicht gut die Kulturaufgabe des 
Mannes mit dem Kreuz vergleichen, das er trägt oder woran er 
gar hängt. Aber sicherlich mit demjenigen, was ihn am prinzipiellsten 
ins menschlich Geistige hinaufrückt unter Einbuße des menschlich 
Erotischen. Und eine rein männliche Auffassung der Dinge sieht 
mit dem Fortschreiten der Kultur nicht selten die Sinnlichkeit als 
solche tatsächlich bereits gekreuzigt, also in, wenn auch: »weitester 
Ferne die Gefahr des Erlöschens des Menschengeschlechts« 1 . Wohl 
bleibt auch dem Mann ein Traum vom Zusammengehören des 
Geistes und der Sinne — bleibt ihm wie eine ferne Erinnerung 
daran, daß ja auch die breitesten abendlichen Wolkenschatten wesens- 
eins seien mit dem Tau, der bei Sonnenaufgang blitzend sich über 
den Boden breitet. Und wohl verwirklicht sich auch, von Zeit zu 
Zeit, immer wieder etwas von solchem Traum in ihnen selber, 
diesen Vorgerücktesten des Geistes, den Schaffenden: zwingt sie. 
Halt machend unterwegs, ein Werk aufzustellen wie einen ernsten, 
freudigen Zeugen solcher Wiedervereinigung für alle, die daran vor¬ 
über vorwärts gehen. Doch wiederum ist es in ihnen nur deshalb 
Wirklichkeit geworden, weil ihrem männlichen Können weibliches 
eingeboren und in ihnen jene Doppelnatur schöpferisch geworden 
ist, die in Werken schafft, was das Weib von seinem Wesen 
aus ist. In seinem schöpferischen Tun bezeugt der Mann, wie sehr 
auch ihm aller letzte Kultursinn liegt in der Wiedererfassung jener 
Einheit — wie sehr er um deswillen die Welt noch einmal er^ 
schafft, aus sich heraus auf allen Gebieten als die seine, um mit 
Händen zu greifen, mit Augen zu sehen, daß das »Andere«, das 
Draußen, von gleichen Pulsen des Lebens durchpulst sei und eins 
mit ihm. Er bezeugt es sich, ob auch in jeglichem einzelnen seines 
Tuns oder Lassens der Dualismus sein Teil bleibe, weil sich stets 
neu erschließend in jedem neuen Ding, das zu neuem und weiterem 
Unterwegs werden muß und so das Ziel ihm nirgends garantiert 
ist in den Dingen, sondern nur in gleichsam überpersönlichen 
Werten und Bildern. 

Damit ist dem Weiblichen ein Kulturwert von sich aus und 
unabhängig gegeben, daß es analog <nicht: identisch mit => dem Sinn 
des Geistesschöpferischen wirken kann. Wie verschieden auch die 
Äußerungsweisen der beiden Geschlechter — darin finden sie sich 


1 »Beitr. z. Psych. d. Lib.«, II. 







14 


Lou Andreas^Salome 


zusammen: an denselben Geist, zu dem das Weib mit dem Manne 
und vermittelst seiner aufblickt, ist sie zugleich angeschlossen von 
tief her, von ihrer Wesensbasis her, als von einer die Gegensätze 
unmittelbar in sich noch vereinheitlichenden. Stumme Verwirklichung 
davon fast schon enthaltend in ihrem Leibesleben und im geistleib¬ 
lichen Aufruhr des Erotischen das ewig Unzulängliche wandelnd zu 
ewigem Ereignis: weshalb Umarmung, Vermählung ihr das Bild 
bleibt für das gleiche, worauf der Mann, geistleistend, voraus¬ 
schreitend und -schauend zugeht. So hat sie gerade darin, gerade in 
ihrem Anschluß an das Seine, Weithintreibende, am allerwenigsten 
über ihren Wesensumkreis hinauszublicken oder gar, ihn sprengend, 
ihn zu verlassen — sondern am meisten in ihrem geistigsten Er^ 
leben, in der weitgehendsten Kulturumgreifung noch, würde sie doch 
in sich bleiben: Kreis um Kreis um sich selber ziehend — nach 
jeweiligem Maßstab ihrer innersten Dimensionen. Zu diesem weib¬ 
lichen Narziß will die Kultur-Zukunftsprognose zunehmender 
Glücksverdunklung — immer schräger und blasser fallender Strahlen 
alter Sonnenherrlichkeit, immer breiterer Abendschatten über der sich 
vergeistigenden Welt — nicht mehr stimmen. Nur ein Sinnbild 
stimmt da noch: Das Bild der Pflanze im hohen Licht der Mittag¬ 
stunde, da sie ihren Schatten ganz senkrecht wirft, da sie, darin ge¬ 
borgen, auf ihn niederblickt als auf den zarteren Abglanz ihres 
eigenen Seins — sich selbst in ihm beschattend: auf daß der große 
Brand sie nicht verbrenne vor ihrer Zeit. 







Der Moses des Michelangelo 


15 


Der Moses des Michelangelo 1 . 

Von 

I ch schicke voraus, daß ich kein Kunstkenner bin, sondern Laie. 
Ich habe oft bemerkt, das mich der Inhalt eines Kunstwerkes 
stärker anzieht als dessen formale und technische Eigenschaften, 
auf welche doch der Künstler in erster Linie Wert legt. Für viele 
Mittel und manche Wirkungen der Kunst fehlt mir eigentlich das 
richtige Verständnis. Ich muß dies sagen, um mir eine nachsichtige 
Beurteilung meines Versuches zu sichern. 

Aber Kunstwerke üben eine starke Wirkung auf mich aus, 
insbesondere Dichtungen und Werke der Plastik, seltener Malereien. 
Ich bin so veranlaßt worden, bei den entsprechenden Gelegenheiten 
lange vor ihnen zu verweilen, und wollte sie auf meine Weise er¬ 
fassen, d. h. mir begreiflich machen, wodurch sie wirken. Wo ich das 
nicht kann, z. B. in der Musik, bin ich fast genußunfähig. Eine ratio^ 
nalistische oder vielleicht analytische Anlage sträubt sich in mir 
dagegen, daß ich ergriffen sein und dabei nidit wissen solle, warum 
ich es bin, und was mich ergreift. 

Ich bin dabei auf die anscheinend paradoxe Tatsache aufmerk¬ 
sam geworden, daß gerade einige der großartigsten und überwälti¬ 
gendsten Kunstschöpfungen unserem Verständnis dunkel geblieben 
sind. Man bewundert sie, man fühlt sich von ihnen bezwungen, 
aber man weiß nicht zu sagen, was sie vorstellen. Ich bin nicht be¬ 
lesen genug um zu wissen, ob dies schon bemerkt worden ist, oder 
ob nidit ein Ästhetiker gefunden hat, solche Ratlosigkeit unseres 
begreifenden Verstandes sei sogar eine notwendige Bedingung für 
die höchsten Wirkungen, die ein Kunstwerk hervorrufen soll. Ich 
könnte mich nur schwer entschließen, an diese Bedingung zu 
glauben. 

Nicht etwa daß die Kunstkenner oder Enthusiasten keine 
Worte fänden, wenn sie uns ein solches Kunstwerk anpreisen. 
Sie haben deren genug, sollte ich meinen. Aber vor einer 
solchen Meisterschöpfung des Künstlers sagt in der Regel jeder 
etwas anderes und keiner das, was dem schlichten Bewunderer das 
Rätsel löst. Was uns so mächtig packt, kann nach meiner Auf¬ 
fassung doch nur die Absicht des Künstlers sein, insoferne es ihm 
gelungen ist, sie in dem Werke auszudrücken und von uns erfassen 
zu lassen. Ich weiß, daß es sich um kein bloß verständnismäßiges 
Erfassen handeln kann,- es soll die Affektlage, die psychische Kon¬ 
stellation, welche beim Künstler die Triebkraft zur Schöpfung abgab, 
bei uns wieder hervorgerufen werden. Aber warum soll die Absicht 


1 Die Redaktion hat diesem, strenge genommen nidit programmgerechten. Bei* 
trage die Aufnahme nicht versagt, weil der ihr bekannte Verfasser analytischen 
Kreisen nahe steht, und weil seine Denkweise immerhin eine gewisse Ähnlichkeit 
mit der Methodik der Psychoanalyse zeigt. 





16 


Der Moses des Michelangelo 


des Künstlers nicht angebbar und in Worte zu fassen sein wie irgend- 
eine andere Tatsache des seelischen Lebens? Vielleicht daß dies bei 
den großen Kunstwerken nicht ohne Anwendung der Analyse ge¬ 
lingen wird. Das Werk selbst muß doch diese Analyse ermöglichen, 
wenn es der auf uns wirksame Ausdruck der Absichten und Re- 
gungen des Künstlers ist. Und um diese Absicht zu erraten, muß 
ich doch vorerst den Sinn und Inhalt des im Kunstwerk Dar- 
gestellten herausfinden, also es deuten können. Es ist also möglich, 
daß ein solches Kunstwerk der Deutung bedarf, und daß ich erst 
nach Vollziehung derselben erfahren kann, warum ich einem so ge¬ 
waltigen Eindruck unterlegen bin. Ich hege selbst die Hoffnung, daß 
dieser Eindrude keine Abschwächung erleiden wird, wenn uns eine 
solche Analyse geglückt ist. 

Nun denke man an den Hamlet, das über dreihundert Jahre 
alte Meisterstück Shakespeares 1 . Ich verfolge die psychoanalytische 
Literatur und schließe mich der Behauptung an, daß erst die Psycho¬ 
analyse durch die Zurückführung des Stoffes auf das Ödipusthema 
das Rätsel der Wirkung dieser Tragödie gelöst hat. Aber vorher, 
welche Überfülle von verschiedenen, miteinander unverträglichen Deu¬ 
tungsversuchen, welche Auswahl von Meinungen über den Charakter 
des Helden und die Absichten des Dichters! Hat Shakespeare un¬ 
sere Teilnahme für einen Kranken in Anspruch genommen oder für 
einen unzulänglichen Minderwertigen, oder für einen Idealisten, der 
nur zu gut ist für die reale Welt? Und wieviele dieser Deutungen 
lassen uns so kalt, daß sie für die Erklärung der Wirkung der 
Dichtung nichts leisten können, und uns eher darauf verweisen, 
deren Zauber allein auf den Eindruck der Gedanken und den Glanz 
der Sprache zu begründen! Und doch, sprechen nicht gerade diese 
Bemühungen dafür, daß ein Bedürfnis verspürt wird, eine weitere 
Quelle dieser Wirkung aufzufinden? 

Ein anderes dieser rätselvollen und großartigen Kunstwerke 
ist die Marmorstatue des Moses, in der Kirche von S. Pietro in 
Vincoli zu Rom von Michelangelo aufgestellt, bekanntlich nur ein 
Teilstück jenes riesigen Grabdenkmals, welches der Künstler für 
den gewaltigen Papstherrn Julius II. errichten sollte 2 . Ich freue mich 
jedesmal, wenn ich eine Äußerung über diese Gestalt lese wie: sie 
sei »die Krone der modernen Skulptur« <Herman Grimm). Denn 
ich habe von keinem Bildwerk je eine stärkere Wirkung erfahren. 
Wie oft bin ich die steile Treppe vom unschönen Corso Cavour 
heraufgestiegen zu dem einsamen Platz, auf dem die verlassene 
Kirche steht, habe immer versucht, dem verächtlich-zürnenden Blick 
des Heros standzuhalten, und manchmal habe ich mich dann behut¬ 
sam aus dem Halbdunkel des Innenraumes geschlichen, als gehörte 


1 Vielleicht 1602 zuerst gespielt. 

2 Nach Henry Thode ist die Statue in den Jahren 1512 bis 1516 aus^ 
geführt worden. 






Mit Genehmigung des Verlags Robert Langewiesche aus dem Band »Michelangelo« der Sammlung »Blaue Bücher« 


i 


BEILAGE EU 
„IMAGO" III/l. 













Der Moses des Michelangelo 


17 


idi selbst zu dem Gesindel, auf das sein Auge gerichtet ist, das 
keine Überzeugung festhalten kann, das nicht warten und nicht ver^ 
trauen will und jubelt, wenn es die Illusion des Götzenbildes wieder 
bekommen hat. 

Aber warum nenne ich diese Statue rätselvoll? Es besteht 
nicht der leiseste Zweifel, daß sie Moses darstellt, den Gesetzgeber 
der Juden, der die Tafeln mit den heiligen Geboten hält. Soviel ist 
sicher, aber auch nichts darüber hinaus. Ganz kürzlich erst <1912) 
hat ein Kunstschriftsteller <Max Sauerlandt> den Ausspruch machen 
können: »Über kein Kunstwerk der Welt sind so widersprechende 
Urteile gefällt worden wie über diesen panköpfigen Moses. Schon 
die einfache Interpretation der Figur bewegt sich in vollkommenen 
Widersprüchen . . .« An der Hand einer Zusammenstellung, die 
nur um fünf Jahre zurückliegt, werde ich darlegen, welche Zweifel 
sich an die Auffassung der Figur des Moses knüpfen, und es wird 
nicht schwer sein zu zeigen, daß hinter ihnen das Wesentliche und 
Beste zum Verständnis dieses Kunstwerkes verhüllt liegt * 1 . 

1 . 

Der Moses des Michelangelo ist sitzend dargestellt, den Rumpf 
nach vorne gerichtet, den Kopf mit dem mächtigen Bart und den Blick 
nach links gewendet, den rechten Fuß auf dem Boden ruhend, den 
linken aufgestellt, so daß er nur mit den Zehen den Boden berührt, 
den rechten Arm mit den Tafeln und einem Teil des Bartes in Be^ 
Ziehung,* der linke Arm ist in den Schoß gelegt. Wollte ich eine 
genauere Beschreibung geben, so müßte ich dem vorgreifen, was ich 
später vorzubringen habe. Die Beschreibungen der Autoren sind 
mitunter in merkwürdiger Weise unzutreffend. Was nicht verstanden 
war, wurde auch ungenau wahrgenommen oder wiedergegeben. 
H. Grimm sagt, daß die rechte Hand, »unter deren Arme die Ge¬ 
setzestafeln ruhen, in den Bart greife«. Ebenso W. Ltibke: »Er^ 
schüttert greift er mit der Rechten in den herrlich herabflutenden 
Bart . . .«,* Springer: »Die eine <linke> Hand drückt Moses an den 
Leib, mit der anderen greift er wie unbewußt in den mächtig wallen^ 
den Bart.« C. Justi findet, daß die Finger der <rechten> Hand mit 
dem Bart spielen, »wie der zivilisierte Mensch in der Aufregung 
mit der Uhrkette«. Das Spielen mit dem Bart hebt auch Müntz 
hervor. H. Thode spricht von der »ruhig festen Haltung der 
rechten Hand auf den aufgestemmten Tafeln«. Selbst in der rechten 
Hand erkennt er nicht ein Spiel der Aufregung, wie Justi und 
ähnlich Boito wollen. »Die Hand verharrt so, wie sie in den Bart 
greifend, gehalten ward, ehe der Titan den Kopf zur Seite wandte.« 
Jakob Burkhardt stellt aus, »daß der berühmte linke Arm im 


1 Henry Thode, Michelangelo, Kritische Untersuchungen über seine Werke, 

I. Bd, 1908. 


Ima<?o III/l 


2 





18 


Der Moses des Michelangelo 


Grunde nichts anderes zu tun habe, als diesen Bart an den Leib 
zu drücken«. 

Wenn die Beschreibungen nicht übereinstimmen, werden wir 
uns über die Verschiedenheit in der Auffassung einzelner Züge der 
Statue nicht verwundern. Ich meine zwar, wir können den Gesichts¬ 
ausdruck des Moses nicht besser charakterisieren als Thode, der 
eine »Mischung von Zorn, Schmerz und Verachtung« aus ihm las, 
»den Zorn in den dräuend zusammengezogenen Augenbrauen, den 
Schmerz in dem Blick der Augen, die Verachtung in der vor^ 
geschobenen Unterlippe und den herabgezogenen Mundwinkeln«. 
Aber andere Bewunderer müssen mit anderen Augen gesehen haben. 
So hatte Dupaty geurteilt: Ce front auguste semble n'etre qu'un 
voile transparent, qui couvre ä peine un esprit immense 1 . Dagegen 
meint Lübke: »In dem Kopfe würde man vergebens den Ausdrude 
höherer Intelligenz suchen,- nichts als die Fähigkeit eines ungeheuren 
Zornes, einer alles durchsetzenden Energie spricht sich in der zu¬ 
sammengedrängten Stirne aus.« Noch weiter entfernt sich in der 
Deutung des Gesichtsausdruckes Guillaume <1875), der keine Er¬ 
regung darin fand, »nur stolze Einfachheit, beseelte Würde, Energie 
des Glaubens. Moses 7 Blick gehe in die Zukunft, er sehe die Dauer 
seiner Rasse, die Unveränderlichkeit seines Gesetzes voraus«. Ähn¬ 
lich läßt Müntz »die Blicke Moses 7 weit über das Menschengeschlecht 
hinschweifen,- sie seien auf die Mysterien gerichtet, die er als Ein^ 
ziger gewahrt hat«. Ja, für Steinmann ist dieser Moses »nicht mehr 
der starre Gesetzgeber, nicht mehr der fürchterliche Feind der 
Sünde mit dem Jehovazorn, sondern der königliche Priester, welchen 
das Alter nicht berühren darf, der segnend und weissagend, den 
Abglanz der Ewigkeit auf der Stirne, von seinem Volke den letzten 
Abschied nimmt«. 

Es hat noch andere gegeben, denen der Moses des Michel¬ 
angelo überhaupt nichts sagte, und die ehrlich genug waren, es zu 
äußern. So ein Rezensent in der Quarterly Review 1858: »There 
is an of absence of meaning in the general conception, which pre- 
cludes the idea of a selLsufficing whole . . .« Und man ist erstaunt 
zu erfahren, daß noch andere nichts an dem Moses zu bewundern 
fanden, sondern sich auflehnten gegen ihn, die Brutalität der Ge^ 
stalt anklagten und die Tierähnlidikeit des Kopfes. 

Hat der Meister wirklich so undeutliche oder zweideutige 
Schrift in den Stein geschrieben, daß so verschiedenartige Lesungen 
möglich wurden? 

Es erhebt sich aber eine andere Frage, welcher sich die er¬ 
wähnten Unsicherheiten leicht unterordnen. Hat Michelangelo in 
diesem Moses ein »zeitloses Charakter- und Stimmungsbild« schaffen 
wollen oder hat er den Helden in einem bestimmten, dann aber 
höchst bedeutsamen Moment seines Lebens dargestellt? Eine Mehr- 

1 Thode, 1, c., p. 197. 





Der Moses des Michelangelo 


19 


zahl von Beurteilern entscheidet sich für das letztere und weiß auch 
die Szene aus dem Leben Moses 7 anzugeben, welche der Künstler 
für die Ewigkeit festgebannt hat. Es handelt sich hier um die Herab¬ 
kunft vom Sinai, woselbst er die Gesetzestafeln von Gott in Emp¬ 
fang genommen hat, und um die Wahrnehmung, daß die Juden 
unterdes ein goldenes Kalb gemacht haben, das sie jubelnd umtanzen. 
Auf dieses Bild ist sein Blick gerichtet, dieser Anblick ruft die 
Empfindungen hervor, die in seinen Mienen ausgedrückt sind und 
die gewaltige Gestalt alsbald in die heftigste Aktion versetzen 
werden. Michelangelo hat den Moment der letzten Zögerung, der 
Ruhe vor dem Sturm, zur Darstellung gewählt,- im nächsten wird 
Moses aufspringen — der linke Fuß ist sdion vom Boden abgehoben 
— die Tafeln zu Boden schmettern und seinen Grimm über die 
Abtrünnigen entladen. 

In Einzelheiten dieser Deutung weichen auch deren Vertreter 
voneinander ab. * 

Jak. Burkhardt: »Moses scheint in dem Momente dargestellt, 
da er die Verehrung des goldenen Kalbes erblidct und aufspringen 
will. Es lebt in seiner Gestalt die Vorbereitung zu einer gewaltigen 
Bewegung, wie man sie von der physischen Macht, mit der er aus¬ 
gestattet ist, nur mit Zittern erwarten mag.« 

W. Lübke: »Als sehen die blitzenden Augen eben den 
Frevel der Verehrung des goldenen Kalbes, so gewaltsam durch¬ 
zuckt eine innere Bewegung die ganze Gestalt. Erschüttert greift er 
mit der Rechten in den herrlich herabflutenden Bart, als wolle er 
seiner Bewegung noch einen Augenblick Herr bleiben, um dann um 
so zerschmetternder loszufahren.« 

Springer schließt sich dieser Ansicht an, nicht ohne ein Bedenken 
vorzutragen, welches weiterhin noch unsere Aufmerksamkeit bean¬ 
spruchen wird: »Durchglüht von Kraft und Eifer kämpft der Held 

nur mühsam die innere Erregung nieder ..Man denkt daher 

unwillkürlich an eine dramatische Szene und meint, Moses sei in 
dem Augenblick dargestellt, wie er die Verehrung des goldenen 
Kalbes erblickt und im Zorn aufspringen will. Diese Vermutung 
trifft zwar schwerlich die wahre Absicht des Künstlers, da ja Moses, 
wie die übrigen fünf sitzenden Statuen des Oberbaues 1 vorwiegend 
dekorativ wirken sollte,- sie darf aber als ein glänzendes Zeugnis 
für die Lebensfülle und das persönliche Wesen der Mosesgestalt 
gelten.« 

Einige Autoren, die sich nicht gerade für die Szene des gol¬ 
denen Kalbes entscheiden, treffen doch mit dieser Deutung in dem 
wesentlichsten Punkte zusammen, daß dieser Moses im Begriffe sei 
aufzuspringen und zur Tat überzugehen. 

Herman Grimm: »Eine Hoheit erfüllt sie (diese Gestalt), ein 
Selbstbewußtsein, ein Gefühl, als stünden diesem Manne die Donner 

1 Vom Grabdenkmal des Papstes nämlich. 






20 


Der Moses des Michelangelo 


des Himmels zu Gebote, doch er bezwänge sich, ehe er sie enN 
fesselte, erwartend, ob die Feinde, die er vernichten will, ihn anzu^ 
greifen wagten. Er sitzt da, als wollte er eben aufspringen, das 
Haupt stolz aus den Schultern in die Höhe gerecht, mit der Hand, 
unter deren Arme die Gesetzestafeln ruhen, in den Bart greifend, 
der in schweren Strömen auf die Brust sinkt, mit weit atmenden 
Nüstern und mit einem Munde, auf dessen Lippen die Worte zu 
zittern scheinen.« 

Heath Wilson sagt, Moses 7 Aufmerksamkeit sei durch etwas 
erregt, er sei im Begriffe aufzuspringen, doch zögere er noch. Der 
Blidc, in dem Entrüstung und Verachtung gemischt seien, könne sich 
noch in Mitleid verändern. 

Wölfflin spricht von »gehemmter Bewegung«. Der Hemmungs¬ 
grund liegt hier im Willen der Person selbst, es ist der letzte Mo¬ 
ment des Ansichhaltens vor dem Losbrechen, d. h. vor dem Auf¬ 
springen. 

Am eingehendsten hat C. Justi die Deutung auf die Wahr^ 
nehmung des goldenen Kalbes begründet und sonst nicht beachtete 
Einzelheiten der Statue in Zusammenhang mit dieser Auffassung 
gebracht. Er lenkt unseren Blick auf die in der Tat auffällige Stellung 
der beiden Gesetzestafeln, welche im Begriffe seien, auf den Stein¬ 
sitz herabzugleiten: »Er <Moses> könnte also entweder in der Rich¬ 
tung des Lärmes schauen mit dem Ausdruck böser Ahnungen, oder 
es wäre der Anblick des Gräuels selbst, der ihn wie ein betäuben¬ 
der Schlag trifft. Durchbebt von Abscheu und Schmerz hat er sich 
niedergelassen 1 . Er war auf dem Berge vierzig Tage und Nächte 
geblieben, also ermüdet. Das Ungeheure, ein großes Schicksal, Ver¬ 
brechen, selbst ein Glück kann zwar in einem Augenblick wahr^ 
genommen, aber nidit gefaßt werden nach Wesen, Tiefe, Folgen. 
Einen Augenblick scheint ihm sein Werk zerstört, er verzweifelt an 
diesem Volke. In solchen Augenblidcen verrät sich der innere Auf¬ 
ruhr in unwillkürlichen kleinen Bewegungen. Er läßt die beiden 
Tafeln, die er in der Rechten hielt, auf den Steinsitz herabrutschen, 
sie sind über Eck zu stehen gekommen, vom Unterarm an die 
Seite der Brust gedrückt. Die Hand aber fährt an Brust und Bart, 
bei der Wendung des Halses nach rechts muß sie den Bart nach 
der linken Seite ziehen und die Symmetrie dieser breiten männlichen 
Zierde aufheben,* es sieht aus, als spielten die Finger mit dem Bart, 
wie der zivilisierte Mensch in der Aufregung mit der Uhrkette. Die 
linke gräbt sich in den Rock am Bauch <im alten Testament sind die 
Eingeweide Sitz der Affekte). Aber das linke Bein ist bereits zu¬ 
rückgezogen und das rechte vorgesetzt,* im nächsten Augenblick wird 
er auffahren, die psychische Kraft von der Empfindung auf den 

1 Es ist zu bemerken, daß die sorgfältige Anordnung des Mantels um die 
Beine der sitzenden Gestalt dieses erste Stüdk der Auslegung Justis unhaltbar 
macht. Man müßte vielmehr annehmen, es sei dargestellt, wie Moses im ruhigen 
erwartungslosen Dasitzen durch eine plötzliche Wahrnehmung aufgeschreckt werde. 





Der Moses des Michelangelo 


21 


Willen überspringen, der rechte Arm sich bewegen, die Tafeln 
werden zu Boden fallen und Ströme Blutes die Schmach des Ab¬ 
falls sühnen . . . .« »Es ist hier noch nicht der Spannungsmoment 
der Tat. Noch waltet der Seelenschmerz fast lähmend.« 

Ganz ähnlich äußert sich Fritz Knapp,- nur daß er die Eim* 
gangssituation dem vorhin geäußerten Bedenken entzieht, auch die 
angedeutete Bewegung der Tafeln konsequenter weiterführt: »Ihn, 
der soeben noch mit seinem Gotte allein war, lenken irdische Ge^ 
räusche ab. Er hört Lärm, das Geschrei von gesungenen Tanzreigen 
wedct ihn aus dem Traume. Das Auge, der Kopf wenden sich hin 
zu dem Geräusch. Schrecken, Zorn, die ganze Furie wilder Leiden¬ 
schaften durchfahren im Moment die Riesengestalt. Die Gesetzes¬ 
tafeln fangen an herabzugleiten, sie werden zur Erde fallen und 
zerbrechen, wenn die Gestalt auffährt, um die donnernden Zornes^ 
worte in die Massen des abtrünnigen Volkes zu schleudern .... 
Dieser Moment höchster Spannung ist gewählt . . . .« Knapp betont 
also die Vorbereitung zur Handlung und bestreitet die Darstellung 
der anfänglichen Hemmung infolge der übergewaltigen Erregung. 

Wir werden nicht in Abrede stellen, daß Deutungsversuche 
wie die letzterwähnten von Justi und Knapp etwas ungemein An¬ 
sprechendes haben. Sie verdanken diese Wirkung dem Umstande, daß 
sie nicht bei dem Gesamteindruck der Gestalt stehen bleiben, son¬ 
dern einzelne Charaktere derselben würdigen, welche man sonst von 
der Allgemeinwirkung überwältigt und gleichsam gelähmt zu beachten 
versäumt. Die entschiedene Seitenwendung von Kopf und Augen 
der im übrigen nach vorne gerichteten Figur stimmt gut zu der An¬ 
nahme, daß dort etwas erblickt wird, was plötzlich die Aufmerksam^ 
keit des Ruhenden auf sich zieht. Der vom Boden abgehobene Fuß 
läßt kaum eine andere Deutung zu, als die einer Vorbereitung zum 
Aufspringen 1 , und die ganz sonderbare Haltung der Tafeln, die doch 
etwas hochheiliges sind und nicht wie ein beliebiges Attribut irgend¬ 
wie im Raum untergebracht werden dürfen, findet ihre gute Auf¬ 
klärung in der Annahme, sie glitten infolge der Erregung ihres 
Trägers herab und würden dann zu Boden fallen. So wüßten wir 
also, daß diese Statue des Moses einen bestimmten bedeutsamen 
Moment aus dem Leben des Mannes darstellt, und wären auch nicht 
in Gefahr, diesen Moment zu verkennen. 

Allein zwei Bemerkungen von Thode entreißen uns wieder, 
was wir schon zu besitzen glaubten. Dieser Beobachter sagt, er sehe 
die Tafeln nicht herabgleiten, sondern »fest verharren«. Er konsta¬ 
tiert »die ruhig feste Haltung der rechten Hand auf den auf¬ 
gestemmten Tafeln«. Blicken wir selbst hin, so müssen wir Thode 
ohne Rückhalt recht geben. Die Tafeln sind festgestellt und nicht in 
Gefahr zu gleiten. Die rechte Hand stützt sie oder stützt sich auf sie. 


1 Obwohl der linke Fuß des ruhig sitzenden Giuliano in der Medicikapelle 
ähnlich abgehoben ist. 





22 


Der Moses des Michelangelo 


Dadurch ist ihre Aufstellung zwar nicht erklärt, aber sie wird für 
die Deutung von Justi und Anderen unverwendbar. 

Eine zweite Bemerkung trifft noch entscheidender. Thode 
mahnt daran, daß »diese Statue als eine von sechsen gedacht war 
und daß sie silzend dargestellt ist. Beides widerspricht der Annahme, 
Michelangelo habe einen bestimmten historischen Moment fixieren 
wollen. Denn, was das erste anbetrifft, so schloß die Aufgabe, 
nebeneinander sitzende Figuren als Typen menschlichen Wesens 
<Vita activa! Vita contemplativa !> zu geben, die Vorstellung ein^ 
zelner historischer Vorgänge aus. Und bezüglich des zweiten wider¬ 
spricht die Darstellung des Sitzens, welche durch die gesamte künst¬ 
lerische Konzeption des Denkmals bedingt war, dem Charakter jenes 
Vorganges, nämlich dem Herabsteigen vom Berge Sinai zu dem 
Lager«. 

Machen wir uns dies Bedenken Th ödes zu eigen,* ich meine, 
wir werden seine Kraft noch steigern können. Der Moses sollte 
mit fünf <in einem späteren Entwurf drei) anderen Statuen das 
Postament des Grabdenkmals zieren. Sein nächstes Gegenstück hätte 
ein Paulus werden sollen. Zwei der anderen, die Vita activa und 
contemplativa sind als Lea und Rahel an dem heute vorhandenen, 
kläglich verkümmerten Monument ausgeführt worden, allerdings 
stehend. Diese Zugehörigkeit des Moses zu einem Ensemble macht 
die Annahme unmöglich, daß die Figur in dem Beschauer die Br^ 
Wartung erwecken solle, sie werde nun gleich von ihrem Sitze auf^ 
springen, etwa davonstürmen und auf eigene Faust Lärm schlagen. 
Wenn die anderen Figuren nicht gerade auch in der Vorbereitung 
zu so heftiger Aktion dargestellt waren, — was sehr unwahrschein^ 
lieh ist, — so würde es den übelsten Eindruck machen, wenn gerade 
die eine uns die Illusion geben könnte, sie werde ihren Platz und 
ihre Genossen verlassen, also sich ihrer Aufgabe im Gefüge des 
Denkmals entziehen. Das ergäbe eine grobe Inkohärenz, die man 
dem großen Künstler nicht ohne die äußerste Nötigung zumuten 
dürfte. Eine in solcher Art davonstürmende Figur wäre mit der 
Stimmung, welche das ganze Grabmonument erwecken soll, aufs 
äußerste unverträglich. 

Also dieser Moses darf nicht aufspringen wollen, er muß in 
hehrer Ruhe verharren können, wie die anderen Figuren, wie das 
beabsichtigte <dann nicht von Michelangelo ausgeführte) Bild des 
Papstes selbst. Dann aber kann der Moses, den wir betrachten, nicht 
die Darstellung des von Zorn erfaßten Mannes sein, der vom Sinai 
herabkommend, sein Volk abtrünnig findet und die heiligen Tafeln 
hinwirft, daß sie zerschmettern. Und wirklich, ich weiß mich an meine 
Enttäuschung zu erinnern, wenn ich bei früheren Besuchen in S. 
Pietro in Vincoli mich vor die Statue hinsetzte, in der Erwartung, 
ich werde nun sehen, wie sie auf dem aufgestellten Fuß empor^ 
schnellen, wie sie die Tafeln zu Boden schleudern und ihren Zorn 
entladen werde. Nichts davon geschah,- anstatt dessen wurde der 




Der Moses des Michelangelo 


23 


Stein immer starrer, eine fast erdrückende heilige Stille ging von ihm 
aus, und ich mußte fühlen, hier sei etwas dargestellt, was unver¬ 
ändert so bleiben könne, dieser Moses werde ewig so dasitzen und 
so zürnen. 

Wenn wir aber die Deutung der Statue mit dem Moment 
vor dem losbrechenden Zorn beim Anblick des Götzenbildes auf¬ 
geben müssen, so bleibt uns wenig mehr übrig als eine der Auf¬ 
fassungen anzunehmen, welche in diesem Moses ein Charakterbild 
erkennen wollen. Am ehesten von Willkür frei und am besten auf 
die Analyse der Bewegungsmotive der Gestalt gestützt erscheint 
dann das Urteil vonThode: »Hier, wie immer, ist es ihm um die 
Gestaltung eines Charaktertypus zu tun. Er schafft das Bild eines 
leidenschaftlichen Führers der Menschheit, der, seiner göttlichen ge¬ 
setzgebenden Aufgabe bewußt, dem unverständigen Widerstand der 
Menschen begegnet. Einen solchen Mann der Tat zu kennzeichnen, 
gab es kein anderes Mittel, als die Energie des Willens zu ver¬ 
deutlichen, und dies war möglich durch die Veranschaulichung einer 
die scheinbare Ruhe durchdringenden Bewegung, wie sie in der 
Wendung des Kopfes, der Anspannung der Muskeln, der Stellung 
des linken Beines sich äußert. Es sind dieselben Erscheinungen wie 
bei dem vir activus der Medicikapelle Giuliano. Diese allgemeine 
Charakteristik wird weiter vertieft durch die Hervorhebung des Kon¬ 
fliktes, in welchen ein solcher die Menschheit gestaltender Genius zu 
der Allgemeinheit tritt: die Affekte des Zornes, der Verachtung, 
des Schmerzes gelangen zu typischem Ausdruck. Ohne diesen war 
das Wesen eines solchen Übermenschen nicht zu verdeutlichen. Nicht 
ein Historienbild, sondern einen Charaktertypus unüberwindlicher 
Energie, welche die widerstrebende Welt bändigt, hat Michelangelo 
geschaffen, die in der Bibel gegebenen Züge, die eigenen inneren 
Erlebnisse, Eindrücke der Persönlichkeit Julius 7 , und wie ich glaube 
auch solche der Savonarolaschen Kampfestätigkeit gestaltend.« 

In die Nähe dieser Ausführungen kann man etwa die Berner- 
kung von Knack fuß rücken: Das Hauptgeheimnis der Wirkung des 
Moses liege in dem künstlerischen Gegensatz zwischen dem inneren 
Feuer und der äußerlichen Ruhe der Haltung. 

Ich finde nichts in mir, was sich gegen die Erklärung von 
Thode sträuben würde, aber ich vermisse irgend etwas. Vielleicht, 
daß sich ein Bedürfnis äußert nach einer innigeren Beziehung zwischen 
dem Seelenzustand des Helden und dem in seiner Haltung ausge¬ 
drückten Gegensatz von »scheinbarer Ruhe« und »innerer Be¬ 
wegtheit«. 

2 . 

Lange bevor ich etwas von der Psydioanalyse hören konnte, 
erfuhr ich, daß ein russischer Kunstkenner, Ivan Lermolieff, dessen 
erste Aufsätze 1874 bis 1876 in deutscher Sprache veröffentlicht 
wurden, eine Umwälzung in den Galerien Europas hervorgerufen 





24 


Der Moses des Michelangelo 


hatte, indem er die Zuteilung vieler Bilder an die einzelnen Maler 
revidierte, Kopien von Originalen mit Sicherheit unterscheiden lehrte 
und aus den von ihren früheren Bezeichnungen frei gewordenen 
Werken neue Künstlerindividualitäten konstruierte. Er brachte dies 
zustande, indem er vom Gesamteindruck und von den großen 
Zügen eines Gemäldes absehen hieß und die charakteristische Be¬ 
deutung von untergeordneten Details hervorhob, von solchen Kleinig¬ 
keiten wie die Bildung der Fingernägel, der Ohrläppchen, des Hei¬ 
ligenscheines und anderer unbeachteter Dinge, die der Kopist nach¬ 
zuahmen vernachlässigt, und die doch jeder Künstler in einer ihn 
kennzeichnenden Weise ausführt. Es hat mich dann sehr interessiert 
zu erfahren, daß sich hinter dem russischen Pseudonym ein italie¬ 
nischer Arzt, namens Morelli, verborgen hatte. Er ist 1891 als 
Senator des Königreiches Italien gestorben. Ich glaube, sein Ver¬ 
fahren ist mit der Technik der ärztlichen Psychoanalyse nahe ver¬ 
wandt. Auch diese ist gewöhnt, aus gering geschätzten oder nicht 
beachteten Zügen, aus dem Abhub — dem »refuse« — der Beobacht 
tung. Geheimes und Verborgenes zu erraten. 

An zwei Stellen der Mosesfigur finden sich nun Details, die 
bisher nicht beachtet, ja eigentlich nodi nicht richtig beschrieben worden 
sind. Sie betreffen die Haltung der rechten Hand und die Stellung 
der beiden Tafeln. Man darf sagen, daß diese Hand in sehr eigen¬ 
tümlicher, gezwungener, Erklärung heischender Weise zwischen den 
Tafeln und dem — Bart des zürnenden Helden vermittelt. Es ist 
gesagt worden, daß sie mit den Fingern im Barte wühlt, mit den 
Strängen desselben spielt, während sie sich mit dem Kleinfingerrand 
auf die Tafeln stützt. Aber dies trifft offenbar nicht zu. Es verlohnt 
sich, sorgfältiger ins Auge zu fassen, was die Finger dieser rechten 
Hand tun, und den mächtigen Bart, zu dem sie in Beziehung treten, 
genau zu beschreiben 1 . 

Man sieht dann mit aller Deutlichkeit: Der Daumen dieser 
Hand ist versteckt, der Zeigefinger und dieser allein ist mit dem 
Bart in wirksamer Berührung. Er drückt sich so tief in die weichen 
Haarmassen ein, daß sie ober und unter ihm <kopfwärts und bauche 
wärts vom drückenden Finger) über sein Niveau hervorquellen. Die 
anderen drei Finger stemmen sich, in den kleinen Gelenken ge^ 
beugt, an die Brustwand, sie werden von der äußersten rechten 
Fledite des Bartes, die über sie hinwegsetzt, bloß gestreift. Sie haben 
sich dem Barte sozusagen entzogen. Man kann also nicht sagen, die 
rechte Hand spiele mit dem Bart oder wühle in ihm,- nichts anderes 
ist richtig, als daß der eine Zeigefinger über einen Teil des Bartes 
gelegt ist und eine tiefe Rinne in ihm hervorruft. Mit einem Finger 
auf seinen Bart drücken, ist gewiß eine sonderbare und schwer ver^ 
stündliche Geste. 

Der viel bewunderte Bart des Moses läuft von Wangen, 


1 Siehe die Beilage. 





Der Moses des Michelangelo 


25 


Oberlippe und Kinn in einer Anzahl von Strängen herab, die man 
noch in ihrem Verlauf voneinander unterscheiden kann. Einer der 
äußersten rechten Haarsträhne, der von der Wange ausgeht, läuft 
auf den oberen Rand des lastenden Zeigefingers zu, von dem er 
aufgehalten wird. Wir können annehmen, er gleitet zwischen diesem 
und dem verdeckten Daumen weiter herab. Der ihm entsprechende 
Strang der linken Seite fließt faßt ohne Ablenkung bis weit auf die 
Brust herab. Die dicke Haarmasse nach innen von diesem letzteren 
Strang, von ihm bis zur Mittellinie reichend, hat das auffälligste 
Schicksal erfahren. Sie kann der Wendung des Kopfes nach links 
nicht folgen, sie ist genötigt, einen sich weich aufrollenden Bogen, 
ein Stück einer Guirlande, zu bilden, welche die inneren rechten Haar¬ 
massen überkreuzt. Sie wird nämlich von dem Druck des rechten 
Zeigefingers festgehalten, obwohl sie links von der Mittellinie ent¬ 
sprungen ist und eigentlich den Hauptanteil der linken Barthälfte 
darstellt. Der Bart erscheint so in seiner Hauptmasse nach rechts 
geworfen, obwohl der Kopf scharf nach links gewendet ist. An der 
Stelle, wo der rechte Zeigefinger sich eindrüdct, hat sich etwas wie 
ein Wirbel von Haaren gebildet,- hier liegen Stränge von links über 
solchen von rechts, beide durch den gewalttätigen Finger komprU 
miert. Erst jenseits von dieser Stelle brechen die von ihrer Richtung 
abgelenkten Haarmassen frei hervor, um nun senkrecht herabzu¬ 
laufen, bis ihre Enden von der im Schoß ruhenden, geöffneten linken 
Hand aufgenommen werden. 

Ich gebe mich keiner Täuschung über die Einsichtlichkeit meiner 
Beschreibung hin und getraue midi keines Urteils darüber, ob uns 
der Künstler die Auflösung jenes Knotens im Bart wirklich leicht 
gemacht hat. Aber über diesen Zweifel hinweg bleibt die Tatsache 
bestehen, daß der Drude des Zeigefingers der rechten Hand haupt^ 
sächlich Haarstränge der linken Barthälfte betrifft, und daß durch 
diese übergreifende Einwirkung der Bart zurückgehalten wird, die 
Wendung des Kopfes und Blickes nach der linken Seite mitzumachen. 
Nun darf man fragen, was diese Anordnung bedeuten soll und 
welchen Motiven sie ihr Dasein verdankt. Wenn es wirklich Rück^ 
sichten der Linienführung und Raumausfüllung waren, die den 
Künstler dazu bewogen haben, die herabwallende Bartmasse des 
nach links schauenden Moses nach rechts herüber zu streichen, wie 
sonderbar ungeeignet erscheint als Mittel hiefür der Druck des einen 
Fingers? Und wer, der aus irgendeinem Grund seinen Bart auf 
die andere Seite gedrängt hat, würde dann darauf verfallen, durch 
den Drude eines Fingers die eine Barthälfte über der anderen zu 
fixieren? Vielleicht aber bedeuten diese im Grunde geringfügigen 
Züge nichts und wir zerbrechen uns den Kopf über Dinge, die dem 
Künstler gleichgiltig waren? 

Setzen wir unter der Voraussetzung fort, daß auch diese De¬ 
tails eine Bedeutung haben. Es gibt dann eine Lösung, welche die 
Schwierigkeiten aufhebt und uns einen neuen Sinn ahnen läßt. Wenn 




26 


Der Moses des Michelangelo 


an der Figur des Moses die linken Bartstränge unter dem Drude 
des rechten Zeigefingers liegen, so läßt sich dies vielleicht als der 
Rest einer Beziehung zwischen der rechten Hand und der linken 
Barthälfte verstehen, welche in einem früheren Momente als dem 
dargestellten eine weit innigere war. Die rechte Hand hatte vielleicht 
den Bart weit energischer angefaßt, war bis zum linken Rand des¬ 
selben vorgedrungen, und als sie sich in die Haltung zurückzog, 
welche wir jetzt an der Statue sehen, folgte ihr ein Teil des Bartes 
nach und legt nun Zeugnis ab von der Bewegung, die hier abge* 
laufen ist. Die Bartguirlande wäre die Spur des von dieser Hand zu¬ 
rückgelegten Weges. 

So hätten wir also eine Rückbewegung der rechten Hand er¬ 
schlossen. Die eine Annahme nötigt uns andere wie unvermeidlich 
auf. Unsere Phantasie vervollständigt den Vorgang, von dem die 
durch die Bartspur bezeugte Bewegung ein Stück ist, und führt uns 
zwanglos zur Auffassung zurück, welche den ruhenden Moses durch 
den Lärm des Volkes und den Anblick des goldenen Kalbes auf* 
schrecken läßt. Er saß ruhig da, den Kopf mit dem herabwallenden 
Bart nach vorne gerichtet, die Hand hatte wahrscheinlich nichts mit 
dem Barte zu tun. Da schlägt das Geräusch an sein Ohr, er wendet 
Kopf und Blidc nach der Richtung, aus der die Störung kommt, er* 
schaut die Szene und versteht sie. Nun packen ihn Zorn und Em* 
pörung, er möchte aufspringen, die Frevler bestrafen, vernichten. 
Die Wut, die sich von ihrem Objekt noch entfernt weiß, richtet sich 
unterdes als Geste gegen den eigenen Leib. Die ungeduldige, zur 
Tat bereite Hand greift nach vorne in den Bart, welcher der Wen* 
düng des Kopfes gefolgt war, preßt ihn mit eisernem Griffe zwischen 
Daumen und Handfläche mit den zusammenschließenden Fingern, 
eine Geberde von einer Kraft und Heftigkeit, die an andere Dar* 
Stellungen Michelangelos erinnern mag. Dann aber tritt, wir wissen 
noch nicht wie und warum, eine Änderung ein, die vorgestredkte, 
in den Bart versenkte Hand wird eilig zurückgezogen, ihr Griff gibt 
den Bart frei, die Finger lösen sich von ihm, aber so tief waren sie 
in ihn eingegraben, daß sie bei ihrem Rückzug einen mächtigen 
Strang von der linken Seite nach rechts herüberziehen, wo er unter 
dem Druck des einen, längsten und obersten Fingers die rechten 
Bartflechten überlagern muß. Und diese neue Stellung, die nur durch 
die Ableitung aus der ihr vorhergehenden verständlich ist, wird jetzt 
festgehalten. 

Es ist Zeit, uns zu besinnen. Wir haben angenommen, daß 
die rechte Hand zuerst außerhalb des Bartes war, daß sie sich dann 
in einem Moment hoher Affektspannung nach links herüberstreckte, 
um den Bart zu packen, und daß sie endlich wieder zurückfuhr, 
wobei sie einen Teil des Bartes mitnahm. Wir haben mit dieser 
rechten Hand geschaltet, als ob wir frei über sie verfügen dürften. 
Aber dürfen wir dies? Ist diese Hand denn frei? Hat sie nicht die 
heiligen Tafeln zu halten oder zu tragen, sind ihr solche mimische 




Der Moses des Michelangelo 


27 


Exkursionen nicht durch ihre wichtige Aufgabe untersagt? Und weiter, 
was soll sie zu der Rückbewegung veranlassen, wenn sie einem 
starken Motiv gefolgt war, um ihre anfängliche Lage zu verlassen? 

Das sind nun wirklich neue Schwierigkeiten. Allerdings gehört 
die rechte Hand zu den Tafeln. Wir können hier auch nicht in Ab¬ 
rede stellen, daß uns ein Motiv fehlt, welches die rechte Hand zu 
dem erschlossenen Rückzug veranlassen könnte. Aber wie wäre es, 
wenn sich beide Schwierigkeiten miteinander lösen ließen und erst 
dann einen ohne Lücke verständlichen Vorgang ergeben würden? 
Wenn gerade etwas, was an den Tafeln geschieht, uns die Be¬ 
wegungen der Hand auf klärte? 

An diesen Tafeln ist einiges zu bemerken, was bisher der Be¬ 
obachtung nicht wert gefunden wurde 1 . Man sagte: Die Hand stützt 
sich auf die Tafeln oder: die Hand stützt die Tafeln. Man sieht 
auch ohne weiteres die beiden rechteckigen, aneinander gelegten 
Tafeln stehen auf der Kante. Schaut man näher zu, so findet man, 
daß der untere Rand der Tafeln anders gebildet ist als der obere, 
schräg nach vorne geneigte. Dieser obere ist geradlinig begrenzt, der 
untere aber zeigt in seinem vorderen Anteil einen Vorsprung wie 
ein Horn, und gerade mit diesem Vorsprung berühren die Tafeln 
den Steinsitz. Was kann die Bedeutung dieses Details sein, welches 
übrigens an einem großen Gipsabguß in der Sammlung der Wiener 
Akademie der bildenden Künste ganz unrichtig wiedergegeben ist? 
Es ist kaum zweifelhaft, daß dieses Horn den der Schrift nach oberen 
Rand der Tafeln auszeichnen soll. Nur der obere Rand solcher recht¬ 
eckigen Tafeln pflegt abgerundet oder ausgeschweift zu sein. Die 
Tafeln stehen also hier auf dem Kopf. Das ist nun eine sonderbare 
Behandlung so heiliger Gegenstände. Sie sind auf den Kopf gestellt 
und werden fast auf einer Spitze balanciert. Welches formale Mo¬ 
ment kann bei dieser Gestaltung mitwirken? Oder soll auch dieses 
Detail dem Künstler gleichgiltig gewesen sein? 

Da stellt sich nun die Auffassung ein, daß auch die Tafeln durch 
eine abgelaufene Bewegung in diese Position gekommen sind, daß 
diese Bewegung abhängig war von der erschlossenen Ortsverän^ 
derung der rechten Hand, und daß sie dann ihrerseits diese Hand zu 
ihrer späteren Rückbewegung gezwungen hat. Die Vorgänge an der 
Hand und die an den Tafeln setzen sich zu folgender Einheit zu^ 
sammen: Anfänglich, als die Gestalt in Ruhe dasaß, trug sie die 
Tafeln aufrecht unter dem rechten Arm. Die rechte Hand faßte 
deren untere Ränder und fand dabei eine Stütze an dem nach vorn 
gerichteten Vorsprung. Diese Erleichterung des Tragens erklärt 
ohne weiteres, warum die Tafeln umgekehrt gehalten waren. Dann 
kam der Moment, in dem die Ruhe durch das Geräusch gestört 
wurde. Moses wendete den Kopf hin, und als er die Szene erschaut 
hatte, machte sich der Fuß zum Aufspringen bereit, die Hand ließ 
ihren Griff an den Tafeln los und fuhr nach links und oben in den 


Siehe das Detail Figur D. 



















Fig. 3. 









30 


Der Moses des Michelangelo 


Bart, wie um ihr Ungestüm am eigenen Leibe zu betätigen. Die 
Tafeln waren nun dem Druck des Armes an vertraut, der sie an 
die Brustwand pressen sollte. Aber diese Fixierung reichte nicht 
aus, sie begannen nach vorn und unten zu gleiten, der früher 
horizontal gehaltene obere Rand richtete sich nach vorn und ab¬ 
wärts, der seiner Stütze beraubte untere Rand näherte sich mit 
seiner vorderen Spitze dem Steinsitz. Einen Augenblick weiter und 
die Tafeln hätten sich um den neu gefundenen Stützpunkt drehen 
müssen, mit dem früher oberen Rande zuerst den Boden erreichen 
und an ihm zerschellen. Um dies zu verhüten, fährt die rechte 
Hand zurück, und entläßt den Bart, von dem ein Teil ohne Absicht 
mitgezogen wird, erreicht noch den Rand der Tafeln und stützt 
sie nahe ihrer hinteren, jetzt zur obersten gewordenen Ecke. So 
leitet sich das sonderbar gezwungen scheinende Ensemble von Bart, 
Hand und auf die Spitze gestelltem Tafelpaar aus der einen leiden¬ 
schaftlichen Bewegung der Hand und deren gut begründeten Folgen 
ab. Will man die Spuren des abgelaufenen Bewegungssturmes rück^ 
gängig machen, so muß man die vordere obere Ecke der Tafeln 
heben und in die Bildebene zurückschieben, damit die vordere untere 
Ecke <mit dem Vorsprung) vom Steinsitz entfernen, die Hand senken 
und sie unter den nun horizontal stehenden unteren Tafelrand führen. 

Ich habe mir von Künstlerhand drei Zeichnungen machen 
lassen, welche meine Beschreibung verdeutlichen sollen. Die dritte 
derselben gibt die Statue wieder, wie wir sie sehen,- die beiden 
anderen stellen die Vorstadien dar, welche meine Deutung postuliert, 
die erste das der Ruhe, die zweite das der höchsten Spannung, der 
Bereitschaft zum Aufspringen, der Abwendung der Hand von den 
Tafeln und des beginnenden Herabgleitens derselben. Es ist nun 
bemerkenswert, wie die beiden von meinem Zeichner ergänzten Dar¬ 
stellungen die unzutreffenden Beschreibungen früherer Autoren zu 
Ehren bringen. Ein Zeitgenosse Michelangelos, Condivi, sagte: 
»Moses, der Herzog und Kapitän der Hebräer, sitzt in der Stellung 
eines sinnenden Weisen, hält unter dem rechten Arm die 
Gesetzestafeln und stützt mit der linken Hand das Kinn <!>, wie 
Einer, der müde und voll von Sorgen.« Das ist nun an der Statue 
Michelangelos nicht zu sehen, aber es deckt sich mit der Annahme, 
welche der ersten Zeichnung zugrunde liegt. W. Lübke hatte wie 
andere Beobachter geschrieben: »Erschüttert greift er mit der Rechten 
in den herrlich herabflutenden Bart . . .« Das ist nun unrichtig, 
wenn man es auf die Abbildung der Statue bezieht, trifft aber für 
unsere zweite Zeichnung zu. Justi und Knapp haben, wie erwähnt, 
gesehen, daß die Tafeln im Herabgleiten sind und in der Gefahr 
schweben, zu zerbrechen. Sie mußten sich von Thode berichtigen 
lassen, daß die Tafeln durch die rechte Hand sicher fixiert seien, 
aber sie hätten Recht, wenn sie nicht die Statue, sondern unser 
mittleres Stadium beschreiben würden. Man könnte fast meinen, 
diese Autoren hätten sich von dem Gesichtsbild der Statue frei 




Der Moses des Michelangelo 


31 


gemacht und hätten unwissentlich eine Analyse der Bewegungs¬ 
motive derselben begonnen, durch welche sie zu denselben An^ 
Forderungen geführt wurden, wie wir sie bewußter und ausdrück^ 
lieber aufgestellt haben. 

3. 

Wenn ich nicht irre, wird es uns jetzt gestattet sein, die 
Früchte unserer Bemühung zu ernten. Wir haben gehört, wie vielen, 
die unter dem Eindruck der Statue standen, sich die Deutung auf¬ 
gedrängt hat, sie stelle Moses dar unter der Einwirkung des An¬ 
blicks, daß sein Volk abgefallen sei und um ein Götzenbild tanze. 
Aber diese Deutung mußte aufgegeben werden, denn sie fand ihre 
Fortsetzung in der Erwartung, er werde im nächsten Moment auf^ 
springen, die Tafeln zertrümmern und das Werk der Rache voll¬ 
bringen. Dies widersprach aber der Bestimmung der Statue als 
Teilstück des Grabdenkmals Julius II. neben drei oder fünf anderen 
sitzenden Figuren. Wir dürfen nun diese verlassene Deutung wieder 
aufnehmen, denn unser Moses wird nicht aufspringen und die 
Tafeln nicht von sich schleudern. Was wir an ihm sehen, ist nicht 
die Einleitung zu einer gewaltsamen Aktion, sondern der Rest 
einer abgelaufenen Bewegung: Er wollte es in einem Anfall von 
Zorn, aufspringen, Rache nehmen, an die Tafeln vergessen, aber er 
hat die Versuchung überwunden, er wird jetzt so sitzen bleiben in 
gebändigter Wut, in mit Verachtung gemischtem Schmerz. Er wird 
auch die Tafeln nidit wegwerfen, daß sie am Stein zerschellen, denn 
gerade ihretwegen hat er seinen Zorn bezwungen, zu ihrer Rettung 
seine Leidenschaft beherrscht. Als er sich seiner leidenschaftlichen 
Empörung überließ, mußte er die Tafeln vernachlässigen, die Hand, 
die sie trug, von ihnen abziehen. Da begannen sie herabzugleiten, 
gerieten in Gefahr zu zerbrechen. Das mahnte ihn. Er gedachte seiner 
Mission und verzichtete für sie auf die Befriedigung^seines Affekts. 
Seine Hand fuhr zurück und rettete die sinkenden Tafeln, noch ehe 
sie fallen konnten. In dieser Stellung blieb er verharrend, und so 
hat ihn Michelangelo als Wächter des Grabmals dargestellt. 

Eine dreifache Schichtung drückt sich in seiner Figur in verti¬ 
kaler Richtung aus. In den Mienen des Gesichts spiegeln sich die 
Affekte, welche die herrschenden geworden sind, in der Mitte der 
Figur sind die Zeichen der unterdrückten Bewegung sichtbar, der 
Fuß zeigt noch die Stellung der beabsichtigten Aktion, als wäre die 
Beherrschung von oben nach unten vorgeschritten. Der linke Arm, 
von dem noch nicht die Rede war, scheint seinen Anteil an unserer 
Deutung zu fordern. Seine Hand ist mit weicher Gebärde in den 
Schoß gelegt und umfängt wie liebkosend die letzten Enden des 
herabfallenden Bartes. Es macht den Eindruck, als wollte sie die 
Gewaltsamkeit autheben, mit der einen Moment vorher die andere 
Hand den Bart mißhandelt hatte. 

Nun wird man uns aber entgegenhalten: Das ist also doch 





32 


Der Moses des Michelangelo 


nicht der Moses der Bibel, der wirklich in Zorn geriet und die 
Tafeln hinwarf, daß sie zerbrachen. Das wäre ein ganz anderer 
Moses von der Empfindung des Künstlers, der sich dabei heraus¬ 
genommen hätte, den heiligen Text zu emendieren und den Cha¬ 
rakter des göttlichen Mannes zu verfälschen. Dürfen wir Michel¬ 
angelo diese Freiheit zumuten, die vielleicht nicht weit von einem 
Frevel am Heiligen liegt? 

Die Stelle der Heiligen Schrift, in welcher das Benehmen Moses' 
bei der Szene des goldenen Kalbes berichtet wird, lautet folgender¬ 
maßen <ich bitte um Verzeihung, daß ich mich in anachronistischer 
Weise der Übersetzung Luthers bediene): 

<11. B. Kap. 32.) »7. Der Herr sprach aber zu Mose: Gehe, 
steig hinab,* denn dein Volk, das du aus Aegyptenland geführt hast, 
hat's verderbt. 8. Sie sind schnell von dem Wege getreten, den 
ich ihnen geboten habe. Sie haben sich ein gegossen Kalb gemacht, 
und haben's angebetet, und ihm geopfert, und gesagt: Das sind 
deine Götter, Israel, die dich aus Aegyptenland geführt haben. 
9. Und der Herr sprach zu Mose: Ich sehe, daß es ein halsstarrig 
Volk ist. 10. Und nun laß mich, daß mein Zorn über sie er¬ 
grimme, und sie vertilge,* so will ich dich zum großen Volk machen. 
11. Mose aber flehte vor dem Herrn, seinem Gott und sprach: Ach, 
Herr, warum will dein Zorn ergrimmen über dein Volk, das du 
mit großer Kraft und starker Hand hast aus Aegyptenland ge¬ 
führt? . . . 

... 14. Also gereuete den Herrn das Übel, das er dräuete 
seinem Volk zu thun. 15. Moses wandte sich, und stieg vom Berge, 
und hatte zwo Tafeln des Zeugnisses in seiner Hand, die waren 
geschrieben auf beiden Seiten. 16. Und Gott hatte sie selbst ge¬ 
macht, und selber die Schrift drein gegraben. 17. Da nun Tosua 
hörte des Volkes Geschrei, daß sie jauchzeten, sprach er zu Mose: 
Es ist ein Geschrei im Lager wie im Streit. 18. Er antwortete: 
Es ist nicht ein Geschrei gegeneinander derer die obsiegen und unter¬ 
liegen, sondern ich höre ein Geschrei eines Siegestanzes. 19. Als er 
aber nahe zum Lager kam, und das Kalb und den Reigen sah, er^ 
grimmte er mit Zorn, und warf die Tafeln aus seiner Hand, und 
zerbrach sie unten am Berge,* 20. und nahm das Kalb, das sie ge¬ 
macht hatten, und zerschmelzte es mit Feuer, und zermalmte es 
mit Pulver, und stäubte es aufs Wasser, und gab's den Kindern 
Israels zu trinken,* . . . 

30. Des Morgens sprach Mose zum Volk: Ihr habt eine 
große Sünde gethan/ nun will ich hinaufsteigen zu dem Herrn, ob 
ich vielleicht eure Sünde versöhnen möge. 31. Als nun Mose wieder 
zum Herrn kam, sprach er: Ach, das Volk hat eine große Sünde 
gethan, und haben sich güldene Götter gemacht. 32. Nun vergib ihnen 
ihre Sünde,* wo nicht, so tilge mich auch aus deinem Buch, das du 
geschrieben hast. 33. Der Herr sprach zu Mose: Was? Ich will den 
aus meinem Buch tilgen, der an mir sündiget. 34. So gehe nun hin 




Der Moses des Michelangelo 


33 


und führe das Volk, dahin ich dir gesagt habe. Siehe, mein Engel 
soll vor dir hergehen. Ich werde ihre Sünde wohl heimsuchen, wenn 
meine Zeit kommt heimzusuchen. 35. Also strafte der Herr das 
Volk, daß sie das Kalb hatten gemacht, welches Aaron gemacht hatte.« 

Unter dem Einfluß der modernen Bibelkritik wird es uns un¬ 
möglich, diese Stelle zu lesen, ohne in ihr die Anzeichen ungeschickter 
Zusammensetzung aus mehreren Quellberichteil zu finden. In Vers 
8 teilt der Herr selbst Moses mit, daß das Volk abgefallen sei und 
sich ein Götzenbild gemacht habe. Moses bittet für die Sünder. Doch 
benimmt er sich in Vers 18 gegen Josua, als wüßte er es nicht, und 
wallt im plötzlichen Zorn auf <Vers 19), wie er die Szene des 
Götzendienstes erblickt. In Vers 14 hat er die Verzeihung Gottes 
für sein sündiges Volk bereits erlangt, doch begibt er sich Vers 
31 ff. wieder auf den Berg, um diese Verzeihung zu erflehen, be^ 
richtet dem Herrn von dem Abfall des Volkes und erhält die Ver¬ 
sicherung des Strafaufschubes. Vers 35 bezieht sich auf eine Be¬ 
strafung des Volkes durch Gott, von der nichts mitgeteilt wurde, 
während in den Versen zwischen 20 und 30 das Strafgericht, das 
Moses selbst vollzogen hat, geschildert wurde. Es ist bekannt, daß 
die historischen Partien des Buches, welches vom Auszug handelt, von 
noch auffälligeren Inkongruenzen und Widersprüchen durchsetzt sind. 

Für die Menschen der Renaissance gab es solche kritische 
Einstellung zum Bibeltexte natürlich nidit, sie mußten den Bericht 
als einen zusammenhängenden auffassen und fanden dann wohl, daß 
er der darstellenden Kunst keine gute Anknüpfung bot. Der Moses 
der Bibelstelle war von dem Götzendienst des Volkes bereits untere 
richtet worden, hatte sich auf die Seite der Milde und Verzeihung 
gestellt und erlag dann doch einem plötzlichen Wutanfall, als er des 
goldenen Kalbes und der tanzenden Menge ansichtig wurde. Es 
wäre also nicht zu verwundern, wenn der Künstler, der die Reaktion 
des Helden auf diese schmerzliche Überraschung darstellen wollte, 
sich aus inneren Motiven von dem Bibeltext unabhängig gemacht 
hätte. Auch war solche Abweichung vom Wortlaut der heiligen 
Schrift aus geringeren Motiven keineswegs ungewöhnlich oder dem 
Künstler versagt. Ein berühmtes Gemälde des Parmigiano in 
seiner Vaterstadt zeigt uns den Moses, wie er auf der Höhe eines 
Berges sitzend die Tafeln zu Boden schleudert, obwohl der Bibel- 
vers ausdrücklich besagt: er zerbrach sie am Fuße des Berges. 
Schon die Darstellung eines sitzenden Moses findet keinen Anhalt 
am Bibeltext und scheint eher jenen Beurteilern Redit zu geben, 
welche annahmen, daß die Statue Michelangelos kein bestimmtes 
Moment aus dem Leben des Helden festzuhalten beabsichtige. 

Wichtiger als die Untreue gegen den heiligen Text ist wohl 
die Umwandlung, die Michelangelo nach unserer Deutung mit 
dem Charakter des Moses vorgenommen hat. Der Mann Moses 
war nach den Zeugnissen der Tradition jähzornig und Aufwallungen 
von Leidenschaft unterworfen. In einem solchen Anfalle von heiligem 

Imago III/l 


3 




34 


Der Moses des Michelangelo 


Zorne hatte er den Egypter erschlagen, der einen Israeliten mi߬ 
handelte, und mußte deshalb aus dem Lande in die Wüste fliehen. 
In einem ähnlichen Affektausbruch zerschmetterte er die beiden 
Tafeln, die Gott selbst beschrieben hatte. Wenn die Tradition solche 
Charakterzüge berichtet, ist sie wohl tendenziös und hat den Ein^ 
drudc einer großen Persönlichkeit, die einmal gelebt hat, erhalten. 
Aber Michelangelo hat an das Grabdenkmal des Papstes einen 
anderen Moses hingesetzt, welcher dem historischen oder traditionellen 
Moses überlegen ist. Er hat das Motiv der zerbrochenen Gesetzes¬ 
tafeln umgearbeitet, er läßt sie nicht durch den Zorn Moses 7 zer^ 
brechen, sondern diesen Zorn durch die Drohung, daß sie zerbrechen 
könnten, beschwichtigen oder wenigstens auf dem Wege zur Hand^ 
lung hemmen. Damit hat er etwas Neues, Übermenschliches in die 
Figur des Moses gelegt, und die gewaltige Körpermasse und kraft¬ 
strotzende Muskulatur der Gestalt wird nur zum leiblichen Aus^ 
drucksmittel für die höchste psychische Leistung, die einem Menschen 
möglich ist, für das Niederringen der eigenen Leidenschaft zugunsten 
und im Aufträge einer Bestimmung, der man sich geweiht hat. 

Hier darf die Deutung der Statue Michelangelos ihr Ende 
erreichen. Man kann noch die Frage aufwerfen, welche Motive in 
dem Künstler tätig waren, als er den Moses, und zwar einen so 
umgewandelten Moses, für das Grabdenkmal des Papstes Julius II. 
bestimmte. Von vielen Seiten wurde übereinstimmend darauf hin¬ 
gewiesen, daß diese Motive in dem Charakter des Papstes und im 
Verhältnis des Künstlers zu ihm zu suchen seien. Julius II. war 
Michelangelo darin verwandt, daß er Großes und Gewaltiges zu 
verwirklichen suchte, vor allem das Große der Dimension. Er war 
ein Mann der Tat, sein Ziel war angebbar, er strebte nach der 
Einigung Italiens unter der Herrschaft des Papsttums. Was erst 
mehrere Jahrhunderte später einem Zusammenwirken von anderen 
Mächten gelingen sollte, das wollte er allein erreichen, ein Einzelner 
in der kurzen Spanne Zeit und Herrschaft, die ihm gegönnt war, 
ungeduldig mit gewalttätigen Mitteln. Er wußte Michelangelo als 
seinesgleichen zu schätzen, aber er ließ ihn oft leiden unter seinem 
Jähzorn und seiner Rücksichtslosigkeit. Der Künstler war sich der 
gleichen Heftigkeit des Strebens bewußt und mag als tiefer blicken^ 
der Grübler die Erfolglosigkeit geahnt haben, zu der sie beide ver¬ 
urteilt waren. So brachte er seinen Moses an dem Denkmal des 
Papstes an, nicht ohne Vorwurf gegen den Verstorbenen, zur Mahnung 
für sich selbst, sich mit dieser Kritik über die eigene Natur er¬ 
hebend. 

4. 

Im Jahre 1863 hat ein Engländer W. Watkiss Lloyd dem 
Moses von Michelangelo ein kleines Büchlein gewidmet 1 . Als es 

1 W. Watkiss Lloyd, The Moses of Michelangelo. London, 
Williams and Norgate, 1863. 





Der Moses des Michelangelo 


35 


mir gelang, dieser Schrift von 46 Seiten habhaft zu werden, nahm 
ich ihren Inhalt mit gemischten Empfindungen zur Kenntnis. Es war 
eine Gelegenheit, wieder an der eigenen Person zu erfahren, was 
für unwürdige infantile Motive zu unserer Arbeit im Dienste einer 
großen Sache beizutragen pflegen. Ich bedauerte, daß Lloyd so 
vieles vorweg genommen hatte, was mir als Ergebnis meiner 
eigenen Bemühung wertvoll war, und erst in zweiter Instanz konnte 
ich mich über die unerwartete Bestätigung freuen. An einem ent¬ 
scheidenden Punkte trennen sich allerdings unsere Wege. 

Lloyd hat zuerst bemerkt, daß die gewöhnlichen Beschreibungen 
der Figur unrichtig sind, daß Moses nicht im Begriffe ist, aufzu^ 
stehen 1 , daß die rechte Hand nicht in den Bart greift, daß nur 
deren Zeigefinger noch auf dem Barte ruht 2 . Er hat auch, was weit 
mehr besagen will, eingesehen, daß die dargestellte Haltung der 
Gestatt nur durch die Rüdebeziehung auf einen früheren, nicht dar¬ 
gestellten, Moment aufgeklärt werden kann, und daß das Herüber¬ 
ziehen der linken Bartstränge nach rechts andeuten solle, die rechte 
Hand und die linke Hälfte des Bartes seien vorher in inniger, 
natürlich vermittelter Beziehung gewesen. Aber er schlägt einen 
anderen Weg ein, um diese mit Notwendigkeit erschlossene Nach¬ 
barschaft wieder herzustellen, er läßt nicht die Hand in den Bart 
gefahren, sondern den Bart bei der Hand gewesen sein. Er erklärt, 
man müsse sich vorstellen, »der Kopf der Statue sei einen Moment 
vor der plötzlichen Störung voll nach rechts gewendet gewesen über 
der Hand, welche damals wie jetzt die Gesetztafeln hält«. Der 
Drude auf die Hohlhand <durch die Tafeln) läßt deren Finger sich 
natürlich unter den herabwallenden Locken öffnen, und die plötzliche 
Wendung des Kopfes nach der anderen Seite hat zur Folge, daß 
ein Teil der Haarstränge für einen Augenblidt von der nicht be¬ 
wegten Hand zurückgehalten wird und jene Haarguirlande bildet, 
die als Wegspur <»wake«> verstanden werden soll. 

Von der anderen Möglichkeit einer früheren Annäherung von 
rechter Hand und linker Barthälfte läßt sich Lloyd durch eine En* 
wägung zurüdchalten, welche beweist, wie nahe er an unserer 
Deutung vorbeigegangen ist. Es sei nicht möglich, daß der Prophet, 
selbst nicht in höchster Erregung, die Hand vorgestreckt haben 
könne, um seinen Bart so beiseite zu ziehen. In dem Falle wäre 
die Haltung der Finger eine ganz andere geworden, und überdies 
hätten infolge dieser Bewegung die Tafeln herabfallen müssen, 
welche nur vom Druck der rechten Hand gehalten werden, es sei 

1 »But he is not rising or preparing to rise,- the bust is fully upright, not 
thrown forward for the alteration of balance preparatory for such a move^ 
ment,- . . .« <p. 10). 

2 »Such a description is altogether erroneous,* the fillets of the beard are 
detained by the right hand, but they are not held, nor grasped, enclosed or taken 
hold of. They are even detained but momentarily — momentarily engaged, they 
are on the point of being free for disengagement.« <p. 11). 


3 * 





36 


Der Moses des Michelangelo 


denn, man mute der Gestalt, um die Tafeln auch dann noch zu 
erhalten, eine sehr ungeschickte Bewegung zu, deren Vorstellung 
eigentlich eine Entwürdigung enthalte. <»Unless clutched by a gesture 
so awkward, that to imagine it is profanation.«) 

Es ist leicht zu sehen, worin die Versäumnis des Autors 
liegt. Er hat die Auffälligkeiten des Bartes richtig als Anzeichen 
einer abgelaufenen Bewegung gedeutet, es aber dann unterlassen, 
denselben Schluß auf die nicht weniger gezwungenen Einzelheiten 
in der Stellung der Tafeln anzuwenden. Er verwertet nur die An¬ 
zeichen vom Bart, nicht auch die von den Tafeln, deren Stellung 
er als die ursprüngliche hinnimmt. So verlegt er sich den Weg zu 
einer Auffassung wie die unsrige, welche durch die Wertung ge^ 
wisser unscheinbarer Details zu einer überraschenden Deutung der 
ganzen Figur und ihrer Absichten gelangt. 

Wie nun aber, wenn wir uns beide auf einem Irrwege be^ 
fänden? Wenn wir Einzelheiten schwer und bedeutungsvoll auf^ 
nehmen würden, die dem Künstler gleichgiltig waren, die er rein 
willkürlich oder auf gewisse formale Anlässe hin nur eben so ge¬ 
staltet hätte, wie sie sind, ohne etwas Geheimes in sie hineinzu¬ 
legen? Wenn wir dem Los so vieler Interpreten verfallen wären, 
die deutlich zu sehen glauben, was der Künstler weder bewußt noch 
unbewußt schaffen gewollt hat? Darüber kann ich nicht entscheiden. 
Ich weiß nidit zu sagen, ob es angeht, einem Künstler wie 
Michelangelo, in dessen Werken soviel Gedankeninhalt nach 
Ausdrude ringt, eine solche naive Unbestimmtheit zuzutrauen, und 
ob dies gerade für die auffälligen und sonderbaren Züge der Moses^ 
statue annehmbar ist. Endlich darf man noch in aller Schüchternheit 
hinzufügen, daß sich in die Verschuldung dieser Unsicherheit der 
Künstler mit dem Interpreten zu teilen habe. Michelangelo ist 
oft genug in seinen Schöpfungen bis an die äußerste Grenze dessen, 
was die Kunst ausdrücken kann, gegangen,- vielleicht ist es ihm auch 
beim Moses nicht völlig geglüdet, wenn es seine Absicht war, den 
Sturm heftiger Erregung aus den Anzeichen erraten zu lassen, die 
nach seinem Ablauf in der Ruhe Zurückbleiben. 






Der Homunculus 


37 


Der Homunculus. 

Von HERBERT SILBERER. 

Wagner {ängstlich): 

Willkommen! zu dem Stern der Stunde. 
(Leise): 

Doch haltet Wort und Athem fest im 

Munde, 

Ein herrlich Werk ist gleich zu Stand 

gebracht. 

Mephistopheles (leiser): 

Was gibt es denn? 

Wagner (leiser): 

Es wird ein Mensch gemacht. 

D er Homunculus läßt sicherlich jeden an Goethes »Faust« 
denken. In einem Laboratorium (Faust, II. Teil, zweiter 
Akt, 2: »Laboratorium im Sinne des Mittelalters, weit¬ 
läufige, unbehülf liehe Apparate, zu phantastischen Zwecken«) bereitet 
da Wagner einen Menschen durch chemische Arbeit. Indem wir 
dieser Assoziation stattgeben, setzen wir den Homunculus gerade 
in seine richtige Umgebung. Denn die Alchemie war es, deren 
wunderbaren Künsten man einst die artefizielle Herstellung eines 
Menschleins zutraute. Einer Studie über den Homunkel müßte 
eigentlich eine solche über die Alchemie vorangehen, und zwar 
müßte sie angesichts der ebenso schwer zugänglichen als weit ver¬ 
zweigten Gedankenwelt dieser ehrwürdigen Kunst recht weit aus¬ 
greifen. Statt mich aber hier derartig zu verbreiten, verweise ich den 
Leser einfach auf mein soeben erschienenes Buch »Probleme der 
Mystik und ihrer Symbolik« A , worin gerade die Alchemie eine aus¬ 
giebige Behandlung erfährt. 

So kann ich mich denn mit wenigen Hinweisen begnügen. In 
den »Problemen« wird gezeigt, daß die alchemistische Symbolik 
durchsetzt ist mit Zeugungsgedanken. Diese sprechen sich sowohl 
offen aus als auch in dunkleren Bildern, deren Deutung indes dem 
Psychanalytiker nidit allzuviel Schwierigkeit bereitet. Ganz klar 
wird z. B. gesagt (von Morienes, dessen dictum in der alche- 
mistischen Literatur mit Vorliebe zitiert wird): »Unser Stein (der 
Weisen) ist die Confection oder Zusammensetzung unsers . . . 
Geheimnüsses, und der Ordnung nach ist er gleich der Er^ 
Schaffung des Menschen,* Denn erstlich ist allda die Zusammen¬ 
vereinigung, und 2. die Corruption 1 2 , 3. die Schwängerung, 4. die 
Geburt des Kindes, 5. folget die Nahrung.« 3 Und das wird erklärt: 

1 Im Verlag von Hugo Heller, Wien und Leipzig 1914. 

2 Die Zersetzung oder Faulung des Samens in der Matrix. Vgl. das später 
über die Putrefaktion Gesagte. 

3 Z. B. bei Nicolaus Flamellus (XIV. Jahrh.): »Schatz der Philo¬ 
sophen«. 





38 


Herbert Silberer 


»Unser 1 Sperma, welches ist Argentum vivum 2 , wird mit der Erde 
zusammengefügt zu dem unvollkommenen Körper,* sie wird darum 
unsere 1 Erde genannt, weil die Erde die Mutter ist aller Elemente. 
Dieser Vorgang wird von den Philosophen Koitus geheißen . . . Wann 
aber die Erden anfehet ein wenig von dem Argento vivo bey ihr 
zu behalten, wird es genant Conceptio, die Empfahung . . .« etc. 3 
Der Alchemist Johannes Daustenius <zirka vierzehntes Jahr¬ 
hundert) sagt im Rosarium IX 4 : »Wer nun weiß zu heirathen, 
schwanger zu machen, zu gebähren, zu tödten und lebendig zu 
machen . . . der wird in hohen Würden sein.« <Rosar. VII): 
». . . Derohalben füge unsern rothen Knecht zu seiner wohL 
riechenden Schwester, so werden sie untereinander das Kunststück 
gebähren: Davon sind die Reimen: 

Wann du das weiße Weib gebracht zum rothen Mann, 

Da nehmen sie alsbald einander freundlich an. 

Darauf empfängt denn das edle weiße Weib, 

Die zuvor waren zwey, sind worden nun ein Leib.« 

Nicht bloß die Zeugungsphantasien, sondern audh die übrigen 
der Psydhanalyse als seelische Urbeweger so sehr bekannten, damit 
zusammenhängenden Motive (Ödipus^Motiv etc.) finden sich getreu 
in der alchemistischen Symbolik. Ich erwähne kurz, daß der Inzest 
eine große Rolle spielt, das Überwinden des Vaters, das Bestreben 
es besser zu machen, als er, beziehungsweise als die Eltern. Von 
diesem Bessermadien wird noch die Rede sein. Vom Inzest sahen 
wir bereits Beispiele. Der Koitus geschieht mit der »Mutter« Erde 
oder mit der Schwester, was, wie sich nachweisen ließe, das¬ 
selbe ist. 

Der Inhalt dieser Symbolik, also der Lehrgehalt der alche¬ 
mistischen Schriften, ist von zwei Seiten aus zu betrachten,* von 
einer naturwissenschaftlichen und von einer theologisdien. Die »Al¬ 
chemie«, wie sie in den Schriften ihrer eigentümlichen »Philosophen« 
vorliegt, ist nicht bloß Vorstufe der heutigen Chemie und Physik, 
sondern zum guten Teil auch religiöse Spekulation und Anleitung. 
Mit der religiösen Seite <die in meinen »Problemen« Beachtung 
findet) haben wir es hier gar nicht, mit der naturwissenschaftlichen 
ein wenig zu tun,* mehr als der Inhalt interessiert uns jeweils das 
Bild, in das er sich kleidet. 

Es könnte die Frage aufgeworfen werden, ob wir zu so ge- 


1 »Unser« wird gebraucht, um die betreffenden Stoffe als die alchemistU 
sehen Geheimnisse von den »gemeinen« Stoffen gleichen Namens zu unterscheiden. 
Z. B. »Unser« Quecksilber im Gegensatz zum »gemeinen« Quecksilber. Damit 
wird gleichsam unterstrichen, daß der betreffende Ausdruck ein Symbol, ein Ter~ 
minus der Kunst ist. 

2 Quecksilber. 

3 Wilhelm Hohler, »Hermetische Philosophie und Freimaurerei«. 
Ludwigshafen a. Rh. 1905. Nach alten Quellen zitiert, p. 92. 

4 »Alchimistisch Siebengestirn«. Frankfurt a. M. 1756, p. 144. 





Der Homunculus 


89 


sonderter Betrachtung der Symbolik berechtigt seien. Auch dies¬ 
bezüglich muß ich mich mit einem Hinweis auf meine »Probleme« 
begnügen. 

Um an den vorigen Faden anzuknüpfen: das »Bessermachen« 
ist ein widitiges Motiv in der Alchemie, dieser Kunst der Ver¬ 
besserung der Metalle. Es handelt sich da symbolisch immer irgend¬ 
wie um die Zerstörung des Alten und die Schaffung eines Neuen,- 
um die Beseitigung einer alten <mit Vatersymbolen zusammen^ 
hängenden) und die Aufrichtung einer neuen Ordnung,- um die 
Aufhebung einer alten, mangelhaften Schöpfung und deren Ersatz 
durch eine bessere neue Schöpfung oder Zeugung. Das Motiv ist 
mythologisch sehr bekannt. Es kommt in unzähligen Kosmogonien 
vor und ist mit dem Motiv der Trennung der Ureltern verschränkt. 
Die mythologischen Motive und ihre Gleichungen leisten in der 
alchemistischen Hieroglyphik gute Führerdienste. Man halte zum 
Verständnis des Späteren, besonders die Idee des Besserzeugens 
fest, welche eine der Formen des Bessermachens ist. 

Wichtig ist ferner die Fülle infantiler <oder wenn man will 
primitiver) Theorien, in denen, wie im Mythos so in der alche¬ 
mistischen Bildersprache, der Zeugungsgedanke auftritt. Otto Rank 
hat uns wertvolle »Völkerpsychologische Parallelen zu den infantilen 
Sexualtheorien« geliefert 1 . Man könnte die alchemistische Symbolik 
an zahllosen Stellen in diese Parallelen einreihen. Für diesmal ge¬ 
nügt das Hervorheben weniger Motive. Da ist vor allem der Ge¬ 
danke an die spermatische Kraft: des Kotes (Mistes, Urin etc.). 
Was in der Alchemie bereitet werden soll, ist zunächst nicht der 
Homunculus, sondern das Gold, und die bemerkenswerte Verknüpfung 
von Gold und Dreck wird dem mythologisch und psydhanalytisch 
geschulten Leser nicht entgehen. Die Angabe, daß die erste Materie 
zu dem alchemistischen Werk ein verachtetes Ding oder Mist sei, 
findet sich in der Literatur sehr häufig. Damit ist's aber nicht genug. 
Die spermatische Natur des Mistes kommt viel mehr noch zur 
Geltung, indem verlangt wird, daß in den Vorstadien der Gold¬ 
bereitung die verwendeten Stoffe in Mist und Fäulnis übergeführt 
werden müssen, damit die »Befruchtung« stattfinde und das Gold 
(beziehungsweise der Stein der Weisen) sprießen und wachsen 
könne. Das Samenkorn des Goldes muß in seiner »Erde« erst der 
Fäulnis oder Verwesung (»Putrefaktion«) unterliegen, ehe es keimen 
kann. Aller Zeugung und allem Keimen geht nach alter Vorstellung 
der verwesende Zerfall des Samens voraus. Man denke an die 
Worte des Gleichnisses Joh. XII. 24: »Es sei denn, daß das 
Weizenkorn in die Erde falle und ersterbe, so bleibt's allein,- wo 
es aber erstirbet, so bringet's viele Früchte.« Die Alchemisten lieben 
es, solche Schriftstellen bei der Erörterung der Putrefaktion anzu¬ 
führen. Der Gedanke des Dungs spielt in die alten Vorstellungen 

1 »Zentralbl. f. Psychoan.«, II. Jahrg., Wiesbaden 1912. 





40 


Herbert Silberer 


auch hinein. Die Putrefaktion des verwendeten Stoffes, der zuerst 
»sterben« muß, ehe die neue Generation beginnt, hängt anderseits 
wieder mit dem Tode der alten Generation (Vaterfigur) zusammen. 

Wenn der Zerfall der Rohstoffe des Werkes nicht selten als 
Zerstücklung gefaßt wird, sehen wir wieder um so deutlicher 
eine primitive Zeugungstheorie vor uns, als die Alchemie das zer¬ 
stückelte Etwas (das häufig als eine menschliche oder tierische Ge¬ 
stalt geschildert wird) in ein wohlverschlossenes Gefäß tun, darin 
»feucht« erwärmen und als neues Wesen nach einer gewissen Zeit 
— es werden häufig neun Monate angegeben — aus dem Gefäße 
nehmen läßt, welches noch dazu das »philosophische Ei« heißt. In¬ 
wiefern das Zerstückeln, beziehungsweise das Erzeugen des neuen 
Wesens aus Stücken als eine primitive und infantile Zeugungs¬ 
theorie anzusehen ist, hat z. B. Rank mitgeteilt 1 . Ich verweise auch 
auf die mancherlei primitiven Märchen, wo eine Tiergeneration so 
entsteht, daß ein großes (gleichsam vorbildliches oder auch anders 
geartetes) Tier, beziehungsweise Ungeheuer in Stücke zerfällt (zer^ 
schnitten wird od. dgl.), worauf aus den Stücken je ein neues 
kleineres Tier entsteht: Fortpflanzung durch Teilung 2 . 

In dem »philosophischen Ei« herrscht nadi der Putrefaktion 
gewöhnlich eine Flut, die auch Sintflut genannt wird. Ich will hier¬ 
über an dieser Stelle nur soviel sagen, daß sie ebenso dem Frudit^ 
wasser entspricht, wie jenes Wasser bei Rank (»Mythus von der 
Geburt des Helden«), aus dem nicht nur alle kleinen Kinder 
mythisch gezogen werden, sondern auf dem in einem Kästchen 
(Arche, Korb = philosophisches Ei!) schwimmend auch der »Held« 
eines wichtigen Sagentypus als Kind aufgefunden wird. 

Die Phase des »Todes« oder der »Verwesung« (putrefactio), 
wo die Körper schwarz werden, wird in der Alchemie gemeinig¬ 
lich »der schwarze Rab« oder »caput corvi« genannt. Vergessen wir 
nicht die Sintflut, noch die Tatsache, daß das alchemistische Werk 
einer Schöpfung verglichen wird und betrachten wir nun p. 434 
der »Astralmythen« von Eduard Stucken 3 : er teilt eine Version 
der Erichthonios-Sage (Parallele zu Moses im Kästchen) mit, worin 
die Krähe Anwendung findet. Der Rabe ist ein Sintflutvogel und 
entspricht audi dem Vogel mancher Schöpfungssagen. Samoanische 
Schöpfungssage nach Turner: Tangaloa, der Himmelsgott, sendet 
seine Toditer in der Gestalt des Vogels Turi hinab. Sie fliegt um¬ 
her, findet nichts, worauf zu ruhen, nur Gewässer. Sie kehrt in den 
Himmel zurück und wird abermals ausgesandt, um Land zu suchen. 
Sie sieht nun Schaum, dann Klumpen, das Wasser teilt sich, Land 
erscheint an der Oberfläche und ein trockener Ort, wo sie ruhen 

1 Otto Rank, »Das Inzestmotiv in Dichtung und Sage«, Wien und 
Leipzig 1912, p. 313 f. 

2 Man findet derartige Märchen z. B. bei Oskar Dähnhardt, »Natur^ 
sagen«, Leipzig und Berlin 1910, III, p. 152 ff. 

3 Erschienen zu Leipzig 1896—1907. 





Der Homunculus 


41 


kann. Sie kehrt zu dem Vater zurück und gibt ihm Bericht. Er 
schickt sie abermals hinab, sie meldet die Ausbreitung des Landes, 
und nun sendet er sie hinab mit etwas Erde und einer Pflanze. 
Diese wächst und die Tochter besucht sie öfters. Nach einer Zeit 
welken die Blätter. Beim nächsten Besuch der Himmelstochter 
wimmelt die Pflanze von Würmern und Maden <putrefactio !>, und 
beim folgenden Besuch sind zwei Menschen daraus geworden 
<generatio !>. »Die amerikanischen Varianten sind zahllos«, bemerkt 
Stucken, der <p. 224f. Anmerkung) auch einen Schöpfungsmythos 
der Loucheux-Indianer mitteilt, worin die Wiederbelebung eines 
Raben die Bevölkerung der Erde mit Menschen ermöglicht. Der 
Leichnam und die gelblichen Knochen des Raben lagen umher 
{Zerstücklung). Der Held der Sage fügt die Knochen zusammen, 
breitet {nach der uns schon bekannten mythologischen Regel) ein 
Tuch 1 darüber, läßt einen Wind darauf 2 und gibt dadurch dem 
Raben wieder Leben. Der Rabe führt dann die Bevölkerung der 
Erde mit Menschen herbei,* die Keime dazu befanden sich in Fischen, 
die nach der Verstümmelung des Urwesens {Zerstücklung oder 
Kastration des Vaterwesens) schwanger geworden waren. 

Das Kästchen, worin Erichthonios bewahrt und das, worin 
Moses aufgefunden wird {nebst allen Parallelen) ist gleich der Arche 
des Noah. Alle diese Behälter sind, wie die Hülle des Zerstückelten, 
für die psychologische Auffassung der Mutterleib 3 . Wie gesagt, ist 
das Kästchen begreiflicherweise meist mit einer Flut verbunden: 
dem Wasser, woher die Kinder kommen. Ob die Flut außerhalb 
oder innerhalb des Kästchens ist, bleibt den Eigenheiten der je¬ 
weiligen Darstellung überlassen. An dem Sintflutmythos und Aus- 
setzungs{= Geburts^)mythen gemessen, ist der Vorgang im philo¬ 
sophischen Ei der Alchemisten ein verkehrter, denn die Flut ist in^ 
wendig. Der Natur entspricht das um so besser: das Frucht^ und 
Lebenswasser ist wirklich inwendig. Also: Philosophisches Ei = 
Arche = Uterus. 

Die motivischen Gleichungen der modernen, allgemeinen 
Mythologie {vgl. Stucken, Siecke, Ehrenreich, Lessmann etc.), 
denen ein nicht zu übersehender psychologischer Gehalt innewohnt, 
stimmen überraschend zu jenen der alchemistischen Hieroglyphik. 
Und wenn die chymische Kunst ihre »prima materia« mit Namen 
belegt wie: lac virginis, menstruum, sanguis spiritualis, sputum 
lunae, serpens, urina, urina puerorum, fimus, faeces dissolutae, 
aurum dissolutum . . . 4 , so glaubt man beinahe eine der symboli¬ 
schen Gleichungen von Wilhelm Stekel 5 zu lesen. 

1 = Gefäß. 

2 Wieder eine infantile Sexualtheorie, die auch in der Alchemie vertreten ist. 

3 Eventuell auch die Fruchthülle. 

4 Vgl. z. B. Martinus Rulandus, »Lexicon Alchemiae«, Frankfurt 1612, 
p. 323 ff. 

5 »Sprache des Traumes«, Wiesbaden 1911. 





42 


Herbert Silberer 


Vorhin sagte ich, daß die Schwärze <putrefactio> ein treten 
muß, damit die Empfängnis geschehe und in feuchter Wärme, im 
hermetisch 1 verschlossenen KoAgefäß, das neue Wesen, der Stein 
der Weisen, seinen geheimnisvollen Ursprung nehme. Ich lasse an 
dieses Stadium der Schwärze oder »Kohle« die Verse anknüpfen, 
die auch Daustenius <Rosar. VIII) anführt: 

In gar gelinder Wärm' ohn Hitze laß es stehen, 

So lange bis da sey die Empfängiß geschehen. 

Das Glaß verschließe fest, daß die vor wahren zwey, 

In einen Leib allein zusammen kommen frey. 

Gleich wie des Mannes Saarn vom reinem Blut herkommen, 

Und aus den Nieren in die Mutter eingenommen 
Zum Weibes Saarn sich fügt, daraus ein Mensch entsteht. 

In solcher Weiß es auch in diesem Werk zugeht. 

Aus einer der ältesten alchemistischen Schriften, worin Zosi- 
mos <zirka viertes bis fünftes Jahrhundert) eine Vision von einem 
Gefäß mit darin kochenden Menschen schildert, glaubt C. G. Jung 2 
als ursprünglichen Sinn der Alchemie einen Befruchtungszauber ent¬ 
nehmen zu sollen, »d. h. ein Mittel, wie Kinder gemacht werden 
könnten ohne Mutter«. Und wenn sich diese Äußerung auch nicht 
gerade in der vorliegenden Form aufrecht halten läßt, so ist doch 
viel Wahres daran. Jedenfalls sind die alchemistischen Bestrebungen 
so sehr von Zeugungsideen durchsetzt, daß es nicht wundernehmen 
kann, wenn diese sich einmal oder öfters vom Übrigen abgespalten 
haben und selbständig geworden sind. Und wirklich hat sich ja diese 
Verselbständigung vollzogen: es entstand neben den Problemen der 
eigentlichen Alchemie die Bemühung, den Homunculus herzustellen. 

Ich will nicht sagen, daß nicht auch von anderen Quellen her 
Ideen zu diesem Unternehmen flössen, so z. B. aus allerhand magi¬ 
schen Vorstellungen, wie wir später noch sehen werden. Die Al¬ 
chemie aber hat wohl den wichtigsten Anteil geliefert,- einerseits 
indem, wie schon gesagt, ihre Zeugungsmotive für sidi allein sich 
wissenschaftlich durchsetzten, und anderseits, indem ihre Bilder von 
irgendwelchen Laboranten in ganz banaler Weise mißverstanden 
wurden. 

Im XXIV. Band des »Goethe-Jahrbuchs« 3 findet sich p. 217 ff. 
ein Beitrag von E. v. Lippmann, und dort wird behauptet, es 
stehe in den Vermutlich um 250 n. Chr. redigierten) Homilien 
des Clemens Romanus, daß der <aus der Apostelgeschichte VIII. 
9—24 bekannte) Simon Magus »den Homunculus in einer Retorte 
dargestellt haben soll«. Die betreffende Stelle <11. 26) lautet indes so 4 : 

1 Nach jenes Hermes TrismegistosKunst,dendie Alchemisten als ihren Stamme 
vater ansahen. 

2 Jahrb. f. psychoan. u. psychopath. Forschungen, IV. Bd., p. 184. 

3 Herausgegeben von Ludwig Geiger, Frankfurt 1903. — Ich verdanke 
den Hinweis Herrn Dozenten Dr. Franz Strunz. 

4 Ich zitiere nach Albertus R. M. Dressei, »Clementis Romani quae 
feruntur homiliae viginti«. Goettingae 1853. 





Der Homunculus 


43 


»Etenim caede se inquinare coeperat <Simon>/ sicut ipse 
adhuc amicis nobis velut amicus patefecit, quod cum pueri ani- 
mam a proprio corpore separasset infandis adjuramentis, futuram 
adjutricem ad eorum quae ipse vellet repraesentationem, pueroque 
in imagine delineato, consecratam haberet imaginem in aede 
interiori, ubi ipse dormiret: dicens se aliquando hunc ex aere 
formasse, divinis conversionibus, et imagine ejus depicta, rursus 
aeri reddidisse. Rem vero ita factam interpretatur. Ait quod pri- 
mo hominis Spiritus, versus in naturam calidi, circumstantem 
aerem, sicut cucurbitula facit, attractum imbibit: quem 
deinde intra Spiritus formam positum ipse Simon in aquam vertit,- 
cumque aer in spiritu consistens ob Spiritus continuitatem effundi 
nequeat, eumdem convertit in sanguinem: et ex sanguine con¬ 
creto carnem fecit,- sicque postea carne solidata, hominem non 
e terra, sed ex aere protulit. (IlQÖJ'tov tö äv&Qcbjvov uvsv^a 
Aeyst 'VQaJtsv eig 'd'SQfjLrjv yvoiv töv jvsQtycslfxsvov avtq) OLKvag 
ölk^v ejuöJxacid[jL£vov ovfjwuelv dega, sha svöoftrjv 'trjg xov 
jtvev[JLa'tog iösag ysvofjievov avtov t rgs'ipai sig vöcog . . .) Atque 
hunc in modum sibi persuadens, potuisse a se creari novum 
hominem, ait se eum, resolutis conversionibus, rursum aeri reddi¬ 
disse. Quae cum aliis diceret, credebantur,- a nobis vero, qui 
adfueramus ejus mysteriis, pie non credebatur. Quapropter dam- 
nata impietate abscessimus ab eo.« 

Cucurbitula < cuxva ) heißt der Sdhröpfkopf. Es ist ein ver¬ 
führerischer Zufall, daß in späterer Zeit auch Retorten so genannt 
wurden. Die betreffende Stelle ist offenbar zu übersetzen: Er sagt, 
zuerst ziehe der Geist des Menschen <nämlich der Geist eines ge¬ 
töteten Knaben, den Simon beschwört), in die Natur des Warmen 
verkehrt, die umgebende Luft an sich und trinke sie ein, geradeso 
wie es ein Schröpf köpf macht,- sodann habe Simon diese in die Ge¬ 
stalt des Geistes eingetretene Luft in Wasser verwandelt,- da ferner 
die im Geiste verbleibende Luft wegen dessen Zusammenhanges 
(Dichtheit) nicht ausfließen könne, habe er sie (weiter) in Blut ver¬ 
wandelt und habe aus dem verdichteten Blut Fleisch gemacht,- indem 
sich dergestalt das Fleisch festigte, habe er also einen Mensdien 
nicht aus Erde, sondern aus Luft hervorgebracht (und damit, wie 
die »Recognitionen« anfügen, den biblischen Gott übertroffen). 

Man sieht, es handelt sich hier (wie man es zum Überfluß in 
den Pseudo-Klementinischen Recognitionen expressis verbis gesagt 
finden kann) um ein n ekromantisches Kunststück und nicht um 
die Erzeugung des Homunculus. Das schließt nicht aus, daß einige 
Vorstellungen der Nekromantie (und zwar vielleicht auf dem Weg 
der später zu erwähnenden Palingenesie-Versuche) in die Konzeption 
der Homunkelidee eingegangen sein mögen. Beiläufig findet man im 
Übertreffen Gott-Vaters das Motiv des Bessermadiens. 

Albertus Magnus (1193—1280) und Arnald von ViL 
lanova (zirka 1240—1313) sollen über Homunculi geschrieben 




44 


Herbert Silberer 


haben. Ich finde diese Behauptung bei Eckartshausen 1 und konnte 
sie bisher nicht nachprüfen. 

In die Linie der Homunkelidee gehören wohl die Ausführungen 
des Henricus Cornelius Agrippa <1487—1535) »Von der Ver^ 
bindung der gemischten Dinge und der Einführung einer edleren 
Form, sowie von den Lebensanregungen« 2 . Es heißt dort unter 
anderem: »Es werden . . . unbegreifliche Wunder verrichtet, wenn 
man die zur rechten Zeit gemischten und zubereiteten Gegenstände 
dem belebenden Einflüsse der Gestirne aussetzt, damit diese ihnen 
Leben und die empfindende Seele, als eine edlere Form, mitteilen. 
Eine solche Gewalt liegt nämlich in den gehörig zubereiteten Stoffen, 
welche wir alsdann Leben bekommen sehen, wenn die vollkommene 
Mischung 3 der Eigenschaften die früheren Hindernisse gebrochen zu 
haben scheint . . . Der Himmel aber, als die vorherrschende Ur¬ 
sache eines jeden zu erzeugenden Dinges, verleiht durch die voll¬ 
kommene Concoction und Digestion der Materie zugleich mit 
dem Leben die himmlischen Einflüsse . . . Auf diese Weise kann 
man wunderbare Geschöpfe hervorbringen, wie in den Büchern Ne- 
mith zu lesen ist, die auch die Gesetze Plutos heißen, weil soldhe 
Erzeugungen monströser Art sind und nicht nach den Gesetzen der 
Natur geschehen. Wir wissen, daß aus Würmern Mücken . . . 
erzeugt werden, . . . aus einer gerösteten und zu Pulver gestoßenen 
Ente entstehen, wenn man dieses Pulver ins Wasser wirft, Frösche 
. . . aus in den Mist gelegten Haaren einer menstruierenden Frau 
werden Schlangen ... Es giebt ein Kunststück, wodurch sich in 
einem einer Bruthenne unterlegten Ei eine menschenähnliche 
Gestalt erzeugen läßt . . . Einer solchen Gestalt schreiben die 
Magier wunderbare Kräfte zu und nennen sie die wahre Alraune 
<mandragora>«. 

Man darf wohl der herrschenden Ansicht vertrauen, daß die 
erste wirkliche, greifbare Anleitung zur Homunkelbereitung in den 
paracelsisehen Schriften enthalten ist. Aureolus Ph. Th. Bom- 
bastus von Hohenheim <Paracelsus> lebte 1493—1541. In die 
Meinungsverschiedenheiten bezüglich der Autorschaft der paracelsi- 
schen Bücher brauche idi mich nicht einzulassen: es genügt, daß die 
gelehrte Spekulation der damaligen Zeit sich mit der Idee des 
Homunkels befaßte und daß uns Anleitungen zu seiner Erzeugung 

1 Karl von E ckartshausen,-»Aufschlüsse zur Magie«. II. Teil. München 
1790. Der Autor beruft sich <p. 390) seinerseits auf Campanella. 

2 Cap. XXXVI des I. Buchs seiner Occulta Philosophia. Agrippas An¬ 
sichten fußen vorwiegend auf neuplatonischen und kabbalistischen Lehren. 

3 »Faust«, II. Teil, 2. Akt 2: 

W agner: 

».Nun läßt sich wirklich hoffen. 

Daß, wenn wir aus viel hundert Stoffen 

Durch Mischung — denn auf Mischung kommt es an — 

Den Menschenstoff gemächlich componieren. 







Der Homunculus 


45 


vorliegen. Die wichtigste steht in dem Werk »De Natura Rerum«, 
und zwar im ersten Buch davon, welches »de generatione rerum 
naturalium« handelt. Ich setze die wichtigen Partien dieses Buches 
hieher 1 : 

„'Die ©eneratton aller natürlichen hingen ift ?roeperlep: JUs CEtne 
bte non "Ratur gefd)td)t / ol;n alle Kunft / bte Jlnber gefd)id)t burd) 
Kunft / nemltd) burch Alchimiam. Wierool in gemein baroon ?u reben / 
möchte man fagen / baj} non Tlatur alle bing mürben auf} her CErben 
geboren / mit hilft ber Putrefactton. Dann bte Putrefactton ift ber hö'chft 
©rab/onb auch ber erfte anfang ?u ber ©eneratton: Wtb bie pufre* 
factton nimpt Ihren anfang onnb hemmen auf} einer feuchten roärme. 
Dann bie ftett feuchte Wärme bringet Putrefadionem, onnb trans= 
mutirt alle natürliche bing oon ihrer erften geftalt onnb roefen / bej}== 
gleichen auch in ih*en Kräftten onb Xugenben. Dann ?u gteichermeij} 
rote bie Putrefactton im Wagen alle ©peij} ?u Kaf)t (Koth) macht 
onb transmutierts: Jllfo auch aufferhalb bej} Wagens bie Putrefadio, 
fo in einem ©laj} befcf)td)t / alle bing transmutiert oon einer ©eftalt 
in bie anbere/oon einem Wefen in bas anber/oon einer £arb in bie 
anbere / oon einem ©erud> in ben anbern / oon einer Xugenb tn bie 
anbere/oon einer Krafft in bie anbere/oon einer CEpgenfchafft in bie 
anbere/onb gar oon einer Quelltet in bie anber. 

Dann bas beroeifet fid) augenfcheinlt'ch / onb gibfs bie tägliche CEr* 
fahrung/baf) oiel bing gut/gefunb/onb ein Jlrt^nep finb: Jlber nach 
Ihrer Putrefaction/böft/ongefunb/onb ein lautters ©ifft roerben. Jllfo 
hergegen finb oiel bing böf} onb ongefunb / gifftig onb fd)äbltd) / aber 
nach lh«r Putrefactton roerben fte gut / oerlteren all Ihr boj}heit / onb 
roerben ein Cf bie Jlrtjnep. Dann bte Putrefaction groffe bing gebiert: 
Deffen mir etn fchön (Stempel haben im fpetltgen Euangelio, ba 
Christus fagt: Cfs fei) bann baj} bas Wephenbörnletn in ben Jlder 
geroorffen roerbe onb faule /mag es nit fnmbertfeltige frudjt bringen. 

Dabei) ift nul>n ?urotffen / baj} oiel bing in bet Putrefactton ge= 
manigfaltiget 2 roerben / alfo baj} fte etn Cfble frud)t gebeten. Dann bte 
Putrefactton ift etn ombfejmtng onb ber Xobt aller hingen/onb etn 
^erftörung bej} erften roefens / aller natürlichen hingen / barauf} ons l;er= 
fommet bie Wtbergeburt / onb neroe ©eburt / mit tauffentfacher 
befferung. 

Wtb bieroetl nuhn bte Putrefactton ber erft ©rab onb anfang ift 
?u ber ©eneration: fo ift nun bt*d> uon nöfen/baj} mir bte Putre« 
factton rool ernennen. Dann beten finb oielerlep / hoch |e eine anbers 
als bte anbere Ihre ©eburt h^rfür bringet/ auch eine oiel bef>enber als 
bte anbere/etc. 

©o ift auch gemelbet/baj} bte feuchte onb roärme ber erft ©rab 
onb Anfang fei) ?u ber Putrefactton / bte alle bing auftbrütet / rote ein 
ftenn Ihre ( Spet. Darumb burd) onb tn ber Putrefactton / alle Wuctla* 

1 Paracelsus-Gesamtausgabe Huser 4° <Basel M.D.XC.) Bd. VI. p. 255 ff, 
folio <Straßburg M.DC.III und <M.DC.XVI>, p. 881 ff. 

2 Der alcfiemistisdie Begriff der multiplicatio. 





46 


Herbert Silberer 


ginoftfcfje Phlegma 1 onnb Materia lebenbig wirbt/es werbe bann 
barauß was cs wolle. Das fej)enb fbr ein (Stempel an ben CEpern/ 
barinnen Itgt Hucilagimfcße feudüigfeü/biefelbige wirbt burd> ein jeg= 
ließe ffetc loärme faul / t»nb außgebrütef / ?u einem lebenbigen 0ünltn. 
"Pnb nit allein non ber wärme ber Rennen / fonbern non einet jeglicßen 
folgen wärme. 3 n folgern ©rab bes ^rors mögen alle CEper in einem 
©laß onnb Jlfcßen außgebrütef werben /ju lebenbigen Vögeln. (Es mag 
aueß alfo ein jcglicßer Henfcß onber fein Jlcßfeln ein (Ep außbrüfen/ 
als wol als ein Ipenn. (Es ift audß barbefj noeß ein gröffers ?u wiffen / 
nemlicß fo berfelbig "Pogel febenbig in einem oerfigillierten ©icurbiten 2 
511 Puluer onb äfeßen gebrannt /mit bem brüten ©rab 3 bes £ewrs/ 
nochmals alfo oerfcßloffen geputrifoirf in ber ßöcßften Putrefaction 
ventre Equino 4 ju Hucilaginoftfcßen Phlegma: ©0 mag nuhn weitters 
biefelbige Hucilagtnofifcße Phlegma jum anbern mal außgebrütef/ 
onb alfo ein renouirter onnb reftaurierter "Pogel werben fo biefe Hu= 
ctlaginofifcße Phlegma, wiberumb in fein erfte ©cßalen ober fjeußlin 
oerfcßloffen wirbt; Das ßetft bie Dobten wiberumb lebenbig gemacht/ 
bie TGtbergeburt onnb ©arificirung / welches ein groffes onb popes 
miracfel ber Tlatur ift 5 . "Dnb nach bifem Proeeß mögen alle lebenbige 
"Pögel getobt onb wiber lebenbig gemacht / renouirt onb reftaurirt 
werben. Das ift auch bas ßöcßft onnb größeft Magnale onnb My= 
sterium Dei, bas h^epff <Se{>eimnuß onnb Hunberwenf/ bas ©oft ben 
föbtlichen Henfcßen geoffenbaref ßaft. 

(Es ift auch totffen / baß alfo Henfcßen mögen geboren werben / 
ohne natürliche "Päfter onb Hutter: Das ift/fte werben nicht oon 
TBeiblicßem £eib auff natürliche Heiß/wie anbere Kinber geboren/ 
fonbern bureß Kunft 6 onb eines (Erfahrenen Spagyrici 7 gefcßicfligBett / 
mag ein Henfcßen wachfen onnb geboren werben/wie hernach wirbt 
ange?eigf/etc. 

(Es ift auch ber Ttatur müglicß/baß Henfcßen oon Sßieren 
mögen geboren werben: f)att auch fein "natürliche orfachen. 0ebocp 
aber/fo mag folches ohn Keßerep nicht wol gefchehen: bas ift / fo fieß 
ein menfeh mit einem £ßier oermifeßt / onnb baffelbig £ßter/als ein 
Heibsbilb / ben Sperma beß "Hannes mit luft onb begirligfeit 8 in ihr 


1 Schleimige Masse. 

2 Ein chemisches Kochgefäß. 

3 Es gab vier Grade des Feuers, wovon der erste der sdiwächste war. Die 
absolute Höhe eines Grades wechselt bei manchen Autoren je nach der Beschaffen^ 
heit der zu behandelnden Materie. Zum wenigsten ist aber der dritte Grad so 
heftig, daß bei Berührung des erhitzten Gegenstandes eine Verletzung erfolgen müßte. 

4 Siehe die spätere Anmerkung über den venter equinus = Pferdemist. 
Er gehört zu den Mitteln, die den ersten, den gelindesten Grad des Feuers liefern. 

5 Es handelt sich hier um die sogenannten Palingenesie^Experimente, an 
deren Möglichkeit man lange Zeit geglaubt hat. — Idee des Vogels Phönix. 

6 Der Gedanke dieser Selbstherrlichkeit ist wichtig. 

7 Spagiricus = Alchemist. Der Ausdruck wird von öJiäo und äyeiQOj <ich 
scheide, ich vereinige) hergeleitet. 

8 Dieser psychischen Bedingung wird Bedeutung beigelegt. Sie steht nicht 
bloß als Phrase hier. 





Der Homunculus 


47 


Tttatrp- empfaßet onb erjnfcf)tcuffct: 3lls bann muß nußn ber Sperma 
tn bte feulung geßn/onb burcß bie ftefe märme 1 beß £etbs mtberumb 
ein THenfcß onb fein Dßter barauß merben. Dann alle maßl tote ber 
©aßmen tft ber gefeßet rntrbt/ alfo mäcßft aucß ein £rucßt barauß. 
Dann toa es ntcßt gefcßeße / mere es ber Pßtlofopßep ?u roiber/aucß 
rotber bas £ied;t ber Ttatur. Darumb mte ber ©abmen tft/alfo 
roacßfet ein Kraut barauß. Dann auß ßmibelfaßmen roacßfet miber 
3toibeln / nicßt 'Xofen/ntcßt "Kuß/nicßt ©alat/etc. IRlfo auß Korn 
roacßfet coieber Korn/auß f}abern totber f)abern/auß ©erften miber 
©erften: JUfo aucß mit allen anberen ^rücßten gefdßicßt / roas ba 
©aßmen ßatt onb gefeßet mirbt. 


T3nb alfo tote jßr nußn geßört ßabt/baß burcß bie Putrefaction 
otel onb mancßetlep btng geboren merben/onb lebenbig merben: Jllfo 
tft aucß }u mtffen/baß auß otelen Kreuttern burcß bie Putrefaction 
otelerlep munberbarltcßer Sßter geboren merben / mie bann bte (Erfahrnen 
biefer btngen rntffen. @o tft aucß barbep ?u mtffen/baß folcße Spier/ 
bie auß onnb tnn ber Keulung 2 mad;fen unb geboren merben/alle 
etmas ©iffttgfett bep jnen ßaben/onb gtfftig feinb: jebocß eins otel 
nteßr onb frefftiger als bas anber/aucß eines anberft geftaltet onb ge; 
formieret als bas anber. Jlls jßr feßenf an ben ©cßlangen / Tlaffern / 
Krotten / ^röfcßen / ©corpton / Paftltscfen / ©pinnen /mtlben 3mmen / 
Ometfen / otelerlep ©erotirm / CKauppen / Tttucfen / Käfer / etc. bte alle 
auß onb inn ber feulung ujacßfen onb geboren merben. 

©o ift aucß ntcßt mtnber/ baß otel Monstra onfer ben Sßieren 
geboren merben/onnb bas feinb nußn ißre Monstra, bte fo ntt oon 
jßnen felber auß ^ulung macßfen / fonbern burcß Kunft barju gebracßt 
merben in einem ©laß/mte gemelbet ift morben. Dann btefelbtg offt 
in gar mancßerlep onnb munberbarltcßer geftalt onb .Jfotm erfcßetnen/ 
onb fd>recfltcß an^ufeßen ftnb: Jlls offt mit otelen £>euptern / mit otelen 
^üßen / mit oilen ©cßmenßen / ober oon otelen färben / etmann Töürtn 
mit £ifcß fcßmänßen ober klügeln / onb fonft felßamer geftalt / bergletcßen 
man ?uoor nie gefeßen. Darumm alle bte Sßier Monstra fepn/bte 
ntt fßre (Eltern ßaben/onb oon anbern Sßieren jßres gleicßen geboren 
merben/fonbern auß anbern btngen roacßfen onb geboren merben/ 
onb burcß Kunft ba?u gebracßt merben. löte jßr bann feßenb oom Basi- 
lisco, berfelbtg ift aucß ein Monstrum, onnb ift ein Monstrum ober 
alle Monstra: bann fetns gröffer ?u förcßten ift/barumb baß er einen 
jeglicßen Ttenfcßen mit feinem ©eficßt onb ftnblkf/geßltngen (jäßltngs) 
tobten fan: bann er tft eines ©iffts ober alle ©ifft/bem in ber Welt 
feines gleicßen mag: "önb öaffeibtg ©ifft füßret er oerborgener meiß 
in feinen Jtugen/onb ift etn 3ntagtntrt ©ifft/ntcßt faft ongletcß einer 
gramen/bte in jßrer THonafs }ett ift/bte aucß ein oerborgen ©ifft in 
Jiugen ßat. Daß feßet jßr an bem/baß fie TKaafen ober ^lecfen ** n 

1 Die Wärme des Uterus ist es, die bei der künstlichen Herstellung des 
Menschen im Kochgefäß nachgeahmt wird. 

2 Durch generatio aequivoca. 






Herbert Silberer 


48 


einen ©ptegel fibet/unb benfelbtgen uerunreiniget unb maculiert allein 
mit Ihrem ©eftcj)f. JUfo auch fo fie fid^t in ein töunben / ober ©ebaben / 
btefelben }ü gleicbertoetf? uergifftef / onbgar unbetlfam machet. Unb atfo 
tx>ic fie nubn mit Ihrem ©efiebt ut'el bing uergifftef / alfo mag fie auch 
mit Ihrem Jltbem unb Angriff uiel bing uergifften / oerberben unb frafft= 
los machen. ©ann Ihr febent./fo fie mit einem tüein umbgebn in 
folcber ?ett/berfelbig halb auffftebt tmb ©etjger tuirbf. Sin Sffig bamif 
fte umbgebn / auch abftebt unb uerbirbf. JUfo auch ber Urannftoein fein 
frafft »erfeuret / bef^gleidften ber 53ifem / Jlmber/ 3*bcf /unb begleichen 
tnolriecbenbe bing non Ihrem bepfragen/onb angriff/Ihren ©erueb uer* 
Heren. IRlfo aud) bas ©olb unb Sorallen Ihr £arb / auch nie! ebel 
©eftein/mie bie ©ptegel/barnon maculiert merben/etc. 

Tlun aber/bamit icb miberumb auff mein fürnemmen fomm non 
bem Basilisco ?u febretben/'toarumb unb mas orfacb er boeb bas ©ifft 
in feinem ©efid)t unb Iftugen habe, ©a ift nubn ?u toiffen / baf? er 
folc^e Spgenfcbafft unnb £>erfommen uon ben unreinen Tücpbern baff/ 
tute oben ift gemclbt tuorben. ©ann ber Basiliscus toöcbft unb tuirb 
geboren auf? unb uon ber gröften Unreintgfeit ber Töetjbet / nemltcb 
auf? ben Menstruis unnb auf? bem 331ut spermalis, fo baffeibig in 
ein ©faf? unb Cucurbit getban / in uentre equino putreficiert / in 
folcber putrefaction ber Basiliscus geboren tuirbf. IPer ift nun fo feef 
unb fretubig / benfelbtgen }u machen / ober auf? ?u nemmen / ober tutbe* 
rumb ju tobten / ber ficb nicht ?uuor mit ©piegeln befleibet unb be= 
toaret? ich rabts niemanbts/fonber tuill |>temit menntgltcb getuarnet 
haben. 


Tlun ift aber auch bie ©eneration ber Homunculis in feinen 
toeg ?u uergeffen. ©ann eftuas ift baran: totetool folcbes btf?ber tn 
groffer f)eimligfeit unb gar uerborgen ift gehalten tuorben/unnb nicht 
ein fletner ?toepffel unb frag unber etlichen ber JÜten Pbtlofopbts ge= 
toefen / ob auch ber Tlafur unnb Kunft möglich fei? / baf? ein Üfenfdb 
auffertbalben toepbltcbs ßeibs unb einer natürlichen THutter möge ge= 
boren tuerben? ©arauff gib ich bie IRnttoort / baf? es ber Kunft Spa- 
gyrica unnb ber Tlatur in feinem toeg ?u totber / fonber gar tuol müg* 
lieb fep: tote aber folcbes jugang unb gefebeben möge/ift nun fein 
Projef? alfo: 'Tlemltcb baf? ber Sperma eines TKanns/in uerfd)loffenen 
Sucurbtfen per fe, mit ber haften Putrefaction / venire equino 1 / 
putreficiert toerbe auff 40. Xag/ober fo lang bif? et lebenbig toerbe/ 
unb fi<b betoeg unb rege/toelcf>s leidbtlicb ?u feben ift. Tfacb folget 
3 eit tuirbf es etlicher maffen einem Tttenfcben gleich feben /boeb burd>= 
fiebtig/obn ein Corpus 2 , ©o er nun nach btefem / fegltcb mit bem 

1 Venter equinus (Pferdebauch) für fimus equinus <Pferdemist> / dieser war 
ein von den Alchemisten zur Erzeugung gleichmäßiger »feuchter Wärme« ge^ 
brauchtes Mittel. In »venter equinus« hat man die Vorstellungen des Uterus 
<venter!>, der Mutterleibstemperatur <und Feuchtigkeit) und der Putrefaktion sym^ 
bolisch vereinigt. 

2 Entspricht genau den Vorstellungen in den Palingenesie^Experimenten. 






Der Homunculus 


49 


Arcano sanguinis humani gar weifflich gefpetfet onb entehret tutrbt / 
bij) auff 40. Töocf>en / onnb in ftäter gleichet Tüerme ventris equini 
erhalten: wirbt ein rcdf>t lebenbig Tttenfchltch Ktnb barauf)/mit allen 
©liebmaffen / wie ein anber Ktnb / bas t>on einem löepb geboren toirbt / 
boeb ml Heiner: baffelbig toir ein Homunculum nennen /onnb foü 
hernach nicht anbers als ein anbers Ktnb mit groffem fleij) onb fotg 
aufferjogen werben / bij) es ?u feinen Sagen onb Derftanb fompt. ©as 
tft nun ber aller höchften onn gröffeften ipetmltgfetfen eine/bie ©ott 
ben töbtlichen onb fänbigen THenfchen f>att toiffen laffen. Dann es ift 
ein TKtracfel onb Magnale Dei, onb ein ©eheimnuf) ober alle ©e* 
hetmnuj): foll auch billtcf) ein ©eheimnuj) bleiben/bis ?u ben aller 
letften ßeitten/ ba bann nichts oerborgen wirf bleiben / fonbern alles 
offenbaret toerben. 

T3nb toietool foldjes bij) anber bem natürlichen THenfchen ift oer* 
borgen getoefen/ift es boeb ben Syluestris 1 onnb ben Tthmpben onnb 
liefen nicht ©erborgen / fonbern oot langen 3«itcn offenbar getoefen / 
habet fie auch !omtnen. Dann auj) folcben Homunculis, fo fie ?u 
männlichem Filter fommen / toerben liefen / 3toerglen / onb anbere ber* 
gleichen groffe TGunberleubt / bte ?u einem großen TOercfjeug onb 3ns 
ftrumenf gebraucht toerben / bt'e groffen gewaltigen Sieg toiber jftre 
$etnb haben / onb alle heimliche onb oerborgene bing toiffen / bte allen 
'TKenfchen fonft nicht müglich fepn ?u toiffen. Dann burch Kunft ober= 
fomnten fie jbr £eben / burch Äunft oberbmmen fie £etb / «fjleifch / 53ein 
onnb 33lut/burch Kunft toerben fie geboren: barumb fo toirt jhnen bte 
Kunft epngelepbt onb angeboren / onb börffen es oon niemanbts lehrnen / 
fonbern man muj) oon jhnen lehrnen: bann oon ber Kunft feinb fie 
ba / onb auffgetoadhfen / tote etn 'Kofen ober 55lumen im ©arten / onnb 
werben bet ®ijloeftern onb 'Ttijmphen Ktnber gef>etffen / barumb baj) 
fie mit jhten Kräfften onnb Saaten / nicht TRenfchen / fonbern ftd) 
©epftern Dergleichen. 

Tluhn were hie auch wn nöf>ten oon ber ©eneration ber Ttte* 
fallen ?u reben. 'Dieweil wir aber ttn £tbell de Generatione de Me- 
tallorum genugfam baroon gefefmeben / laffen wirs hie bep bem Kürheften 
bleiben: Allein aber / was wtr in benfelbigen oergeffen haben / baffelbig 
wollen wtr hie Hirpltch an?etgen/in ber geftalt/baß jhr erftlich wiffen 
follen / baj) alle fieben Metallen / auj) bretjen THaterien geboren werben / 
nembltch auj) Mercurio, Sulphure Sale, ... 

®o tft auch nicht minber/baj) Mercurius viuus ein Ittutter 2 ift 
aller fieben THefallen / onnb billid) foll ein IHutfer ber Qltetallen ge= 
nennet werben, ©ann er ift ein offens 'Tttetall: onnb ?u gletcherweij) / 
wie er in jhm hatt alle färben / bte er bann im §em oon jhm gibt: 
alfo hat er auch in ihm alle befall oerborgen / bte er auch auffer bem 
£ewr nicht oon Ihm gibt /etc." 

1 Eine Gattung Elementargeister. 

2 Wohl zu merken. Er <und jedes Lösungsmittel) wird auch menstruum 
genannt. 

Imago III/l 


4 





50 


Herbert Silberer 


Und es wird weiter von der Erzeugung und Verbesserung 
der Metalle gesprochen. 

Ein interessanter Zug ist es, daß der nicht natürlich aufge^ 
blühte Samen monströse Wesen entstehen läßt, namentlich solche 
von übermenschlichen Fähigkeiten. In der Mythologie hat man viele 
solcher Fälle,- ich erinnere an den schlangenfüßigen Erichthonios 
<motivisch = Moses im Kästchen etc.), an die Giganten, die aus 
dem Spermatischen) Blut des entmannten Uranos erwachsen und an 
den Riesen Orion-Urion. In den Stuckenschen Gleichungen ist 
Onans Same {fallengelassener Same) = durch Parthenogenesis ge- 
bornes Kind <der mythologischen Beispiele bieten sich wohl zur 
Genüge!) und ist, nach verschiedenen Richtungen, weiter = Gold 
{Alchemie!) = Soma {V/issenstrank, Kostbarkeit etc.) = der Zer¬ 
stückelte, dessen Wiederbelebung {Palingenesie) = Geburt des her¬ 
vorragenden Helden = Inzestgeburt. Parthenogenesis ist auch = Ehe 
von Sterblichen und Unsterblichen. In die Linie unserer »Monstra« 
fallen also motivisch z. B. auch die Riesen der berühmten Bibel¬ 
stelle 1. Mose 6. 2—4: »Da sahen die Kinder Gottes {Engel) nach 
den Töchtern der Menschen, wie sie schön waren, und nahmen zu 
Weibern, welche sie wollten ... Es waren auch zu den Zeiten 
Tyrannen auf Erden,- denn da die Kinder Gottes zu den Töchtern 
der Menschen eingingen, und sie ihnen Kinder gebaren, wurden 
daraus Gewaltige in der Welt und berühmte Männer.« Aus dem 
Buch Henoch ist noch mehr über die übermenschlichen Fähigkeiten 
dieser Gewaltigen zu erfahren, zu denen sich die »Riesen« und 
»Wunderleut« des Paracelsus sehr gut in Parallele setzen lassen. 
Daß aus dem nicht natürlich verwendeten Samen Monstra erblühen, 
mag psychologisch auf Schuld- oder Angstgefühlen beruhen, die mit 
Onanie, Inzestphantasien u. dgl. Zusammenhängen, freilich unter 
Vermittlung schon anderweitig gebildeter Dämonenvorstellungen/ 
auch Feld-{Fruchtbarkeits-)zauber mag in das Motiv des fallen- 

? [elassenen Samens hineinspielen, was abermals zu den Dämonen 
ührt. Nicht ganz von der Hand zu weisen ist endlich die Möglich¬ 
keit, daß man sich reale Mißgeburten durch irgendein »Fallenlassen« 
{Bild der Defektuosität) des Samens zu erklären suchte. 

An die Palingenesie in der Form wie wir sie bei Paracelsus 
fanden, glaubten vor und nach ihm zahlreiche Forscher. Der naive 
Eckartshausen 1 , der alles für bare Münze nimmt und von der 
Möglichkeit der Palingenesie überzeugt ist, sowie Kiesewetter 2 
führen eine Menge Autoren an. Abu Bekr al Rasi {der »Rases« 
der Alchemisten, neuntes bis zehntes Jahrhundert) und Albertus 
Magnus sollen sich mit Palingenesie abgegeben haben. Athana¬ 
sius Kircher berichtet 3 , er habe im Jahre 1657 das Wiederauf- 

i A. a. O., p. 385-405. 

2 Aufsatz »Die Palingenesie« im VIII. Band der von Hübbe-Schleiden 
herausgegebenen »Sphinx«, Gera 1889. 

3 »Mundus subterraneus« XII sect 4. 





Der Homunculus 


51 


leben einer Rose aus ihrer Asche hohen Herrschaften praktisch vor^ 
geführt. Kenelm Digby (siebzehntes Jahrhundert) will in der 
gleichen Weise wie es Paracelsus von dem Vogel beschrieb, Krebse 
wieder rekonstruiert haben. William Maxwell (siebzehntes Jahr¬ 
hundert) ist der Ansicht, daß die Palingenesie nicht allein mit 
Pflanzen, sondern auch mit Menschen gelingen müßte 1 . Van der 
Becke 2 meint, man könne mit der Asche seiner Ahnen eine er¬ 
laubte Nekromantie betreiben. Manche Autoren meinten aus der 
Asche einer in Verwesung übergegangenen Kindesleiche in einem 
Glasgefäß die Gestalt des Kindes erscheinen lassen zu können. 

Die Berichte über palingenetische Experimente stimmen ge¬ 
wöhnlich darin überein, daß die im Glas erscheinende Gestalt, sei 
es überhaupt. Sei es wenigstens anfangs, schattenhaft ist, um sich 
nach und nach zu kräftigen. Der Hinweis auf die Nekromantie 
kommt uns sehr zu statten, um dies einzusehen. Zuerst ist bloß 
die Idea oder die ätherische Gestalt des betreffenden Wesens da und 
zieht nach und nach die dichteren, irdischen Stoffe an sich. Man er^ 
innere sich der Worte des Simon Magus. Man denke auch daran, 
wie sich im elften Gesang der Odyssee die Schatten durch Trinken 
von Blut stärken,- und an die ähnlichen Stellen anderer alter Dichter. 
Nach H. C. Agrippa 3 , der an Virgil, die Neuplatoniker etc. an^ 
knüpft, bildet die unreine Menschenseele, die in diesem Leben allzu^ 
sehr dem Körperlichen anhing, . . . aus den Dünsten der Elemente 
sich einen anderen Körper, indem sie aus solcher bildsamen 
Materie wie durch einen Atemzug 4 einen Schattenkörper annimmt, 
der nun ... ihr sinnliches Organ ist, etc. 

Das Blut ist Lebensträger und hat auch spermatischen Wert. 
So entnimmt sich z. B. in einer afrikanischen Mythe 5 eine unfrucht¬ 
bare Frau einen Blutstropfen, verschließt ihn auf neun Monate in 
einen Topf und findet dann in diesem ein Kind. 

Zeugung und Verdauung hängen merkwürdig zusammen in 
der paracelsischen Schrift »De Homunculis« (Baseler 4°-Ausg. von 
M.D.XCI, Bd. IX, p. 311—321, Straßburg fol. M.DC.XVI, Bd. II, 
p. 278 ff.), die offenbar die Möglichkeit einer monströsen Befruch¬ 
tung durch Mund und Anus vertritt, wie man sogleich sehen wird: 

„ . .. Tlun weiter begibt ficf)/bas auf? ©obomitifd)er Tttutwtll 
biefelbigen £u?ifcben 6 ©obomiten offtmals / auf)t>erfd>ütten Sperma auff= 
Hauben/nnb wiber eingieffen 7 in Matricem, bas weiter }u teuften 

1 »Medicina magnetica«, Hedelberg 1679, cap. 5 und 20. 

2 »Experimenta et meditationes circa naturalium rerum principia.« Ham^ 
bürg 1683, Vide p. 310, 318. 

3 Occ. Philos., III, cap. XLI. 

4 »Quasi haustu quodam.« Man erinnere sich des von Clemens Romanus 
gebrauchten Bildes vom saugenden Schröpfkopf. 

5 Leo Frobenius, »Das Zeitalter des Sonnengottes« <1. Bd.>, Berlin 
1904, p. 237. 

6 Von luxus = Geilheit, Üppigkeit. 

7 Receptio per os? 


4 * 





Herbert SiIberer 


52 


nicht noth ift. Hun mercfen ouff bas / nach bem onb es hinein fompt / 
bemnach erzeigt es fief). Tlimpts bie Matrix an / fo totrb etwas barauf): 
HJo nicht /fo toirb nichts barauf) / oerfault ot>n ein ©etoächs / refolotert 
fich felbs toiber f>tmpeg> Das toiffen aher/toas nicht in ber Matrix 
empfangen tft burcf) bie Tlatürltchen toerefen / bas ift als ?um Monstro 
onb THiffgetoechs geneigt 1 : Utas auch ben £ufft berührt/onb toietool 
toiber hinein/ift aber fein ©aamen mehr/fonber ein Materia Homun- 
culi. Älfo toiffen auch /baß in ber Stercoribus Humanis oielerleij 
Xhier gefunben toerben onb feltham Jlrt/bie ba fommen oon ben 
©obomiten 2 oon toeld)en Paulus fchreibet / onb fie nennt Knabenfchen* 
ber / toiber bie 9lömer / etc. "Hun ift bas toar / too nicht ber 5luf)gang 
ber Stercorum ba toerenb täglich / baf) oiel tounberbarlichs ba geboren 
toürb / baf) ein erfcj>recfen folt fein ber ganzen Hielt, ©o aber bie bing 
auffgetrieben toerben/onb toeren in ein Digeftion fommen toie fich 
bann tool begeben mag / fo bleibts nicht ohn ein ©etoechs. (Es ift offt 
gemeint toorben/baf) in ^ctmli4>cn ©emachen / eftoan finb ßiechter/ 
Jlmpeln / etc. erfchinen / mitten im ftoth ftehenb / etc. Darauf) etliche 
oermeint / Seelen ba ?u fein ober bergletchen. Jlnber auch auff folc^cs 
anjeigen oermeinet / bie fobomitifche ©ünb alfo ?uoerftinben oon litenfchen 
©aamen / ber alfo mit ben Stercoribus fep auf)gangen. Jlber nein / es 
ift fein 'JHenfch auf)gefd)ütt toorben: Das ift aber toahr/baf) an ben 
Orten oielleicht/onb ift auch alfo/baf) bie 0uren Ihre Kinber in ber 
©eburf hinein getoorffen / unb alfo tobten / bamit onb es nicht an Xag 
fomm: ©olcher ftinber 35lut fchrepet auff ?u ©oft / ?u gleichet toeif) 
tote ein gemorbter IKann / oergraben onb jubeeft / burch baf) ©rab auf)= 
bluff/fo ber 'Hlörber ba ift. IRIfo folch £iecf>ter auch erfcheinen mögen / 
btetoetl bas 53luf in bem itofh onb Xieffe nicht mag gefefjen toerben. 
Darauff nun fo toiffen oon ben hingen / baf) fie mannigfaltig oon ben 
©obomiten gebraucht toerben/bas fdjanben halben nicht jufchreiben ift 
noch entbeefen / fonbern nach ber fürhf fürgehalten: Den oerftenbigen 
aber genug / barburcf) fie tool mögen oerftehen/fo folch bing nicht nach 
ber Tlatur 3 gefchehen onb fhr Orbnung / bas nichts ift bann ©obomiten 
Jlrbept / auf) toelchen folche ongebürltch bing toachfen unb entfpringen / 
onb in fo oiel TOeg onb ^orm gebraucht / baf) bie Monstra onb Ho- 
munculi nicht all mögen befebtieben toerben / fonbern nach ber fürpj 
erjehlet / onb fürgehalten / folch ßafter ?u oermetben / onb bie juerfennen / 
fo bamit ombgef>nb: auch toas (Jungfratofchafft fep/toas ^rato feij / 
onb toas bie nicht fepen/bas ift/roas ©obomiten feitib. 


Ttun nachbem onb ich auch angejeigt hab/baf) bie ^ratoen fleh 
felbft mit bem Omagtniren auch bahin bringen/baf) fie anberft ge* 
baren/bann es fein foll 4 : D3as aber im felbigen gefehlt / bas ift 
alles ©efeelt/onb nicht ohne ©eel/ob fie fefton faft böf) Smagintren / 


1 Dieser Gedanke ist schon vorhin ausgedrückt worden. 

2 Also Befruchtung des Kotes per anum. 

3 Immer die Betonung des Natürlichen. 

4 Die Imagination hat Einfluß auf die Gestaltung des Kindes etc. 







Der Homimculus 


53 


onb t>ngcfcf>[act>t. Jlbet tocifer fo miffen auch oon bem Spermate ber 
Sbüten/baj) fte offt mals ©obomiren / btefelbtgen an Qttannen ftatt 1 
gebrauten: Darauf) bann fonbetltcb Monstra geboren toetben/ bte ba 
tn ber ^onn onb ©eftalt gleich feben benfelbigen 5Tf>xcren: JUfo auch 
mit ben bannen, Daroon ift nicht oiel ?ufcf>retben / bann barumb fefy 
ich& baber/baf) bie Monstra löetffagung finb/fo fte allein oon ben 
rechten ©aarnen l)«fllffcn / bef) THanneo onb ber gramen: D3o aber 
bas nicht fein mürbe / fo mürbe an bem Ort folcf>s auch nicht fein: Das 
ift/fo folche Monstra auf) @obomtfifd)er Orbnung tommen/fo ift es 
ein ©obomttifch ©eroecf>s / fein r JTlenf4> / ein ©hier: fein Ster auch 
nicht/fonbern in alle meg ein 'JHtffgemechs / bas erfchrecfltch ift oor ben lHen= 
fehen anjufehen / onb ein (Stempel / baf) mir barburd) follen ernennen/bie arg 
unb läfterlidh 0auf)haltung / mtber bie Orbnung ber 'Tktur: Bnb oer« 
fehenb euch bef) nur eben ,/baf) ba ein ©obomitifcb löefen gebraucht 
ift morben. Dergleichen auch fo mtffen / baf) bie ©obomiten folcb Sperma 
in bas THaul 2 fallen taffen / etc. onb alfo offtmals tn THagen tompt/ 
gleich als tn bte Matricem, als bann fo mechf)t im Ulagen auch etn 
©emeebs batauf) / Homunculus ober Monstrum, ober mas betgletchen 
ift / barauf) bann oiel entftehet / onnb felfjam Krantheiten ftd) erzeigen / 
bif) ?um lebten auf)bricht. Bob ift gleich als «iner ber £epcf> oon 
^rofehen / etc. trimfe/onb baf) fte in jbm müchfen: Jllfo ifts auch tnit 
biefem/fo anberft bie Ttatur folchen hingen nicht fürfommet onb ab* 
menbet onb oerjehref. ©old>e btng all finb barumb erjehlet / baf) bte 
oermetnfen (Jungframen 3 / auch bie ßuyifchen Töeiber / auch bte ©obo= 
miten / in bte ©omorrifche ©ünben fallen / onb ftch alfo belufttgen tn 
folcher Dppigteit / in melcher Belüftigung folch 2Ug onb Bbels auffs 
fteht/bas ich hoch h>e ?um roentgften er^ehlt hob. Oebod) aber oon 
megen bef) groben Bbels/nicht noth mehr onterricht ju geben. D3ill 
hiemit ein jeglichen genugfam onterricht haben / bie ba bet Tlatur Diener 
finb / baf) fie auch in ber Tlatur Orbnung mif)en jumanblen: Bnb bas 
bte (Einfältigen batju geroiefen merben/auff baf) fie ?u bem/bas fie 
bann fetnb / eijlenb / onnb baf) bas oon fbn geboren metb / baf) fte 
feinb / onb bas nicht oerhalten / nach oerfcfmtten / noch otel mentger ju 
ßafter gebrauchen / onb ju Dppigfeit. Dnb obs fchon gleich flroffe Per* 
fonen theten/©eiehrt/©eroaltig /fo (mite für ©obomittfd) / ober bte 
©chmebel onb Pech gehört." 

Es sei hier daran erinnert, daß verschiedene Sagen den Ur* 
Sprung der Menschen aus dem Kot oder verwandten Materien er* 
zählen. So z. B. eine australische Sage, welche berichtet: Ningorope 
<oder Mingarope) bemerkte voller Freude in der Abtrittsgrube ihren 

1 Es hat den Anschein, als würde hier auf die Sodomie im heutigen Sinn 
dieses Wortes übergegangen. 

2 Hier werden also die vermeintlichen Folgen der irrumatio behandelt. Die 
Befruchtung durch den Mund ist ja auch eine primitive Zeugungstheorie, die in 
Mythen außerordentlich häufig vorkommt. 

3 Der Autor will offenbar ausdrüdeen, daß zur Jungfernschaft eigentlich 
mehr gehört als das unverletzte Hymen. Die Stelle läßt erraten, wie man sich 
half, um zu genießen und doch die kostbare Jungfernschaft zu bewahren. 





54 


Herbert Silberer 


Kot und errötete lieblich,- sie formte ihn zu einer menschlichen Ge¬ 
stalt, die, als die Göttin sie berührte <kitzelte>, lebendige Bewegung 
annahm und zu lachen anfing 1 . Doch kehren wir zum Homunculus 
der Alchemisten zurüdc! 

Khunrath Sechzehntes bis siebzehntes Jahrhundert), ein tief* 
ernster Meister der Hermetischen Kunst, warnt 2 vor den Char* 
latanen, die sich mit der Herstellung des Homunculus befassen: 
»Hastu dich durch ihr großsprechen lassen herbey bringen, daß sie 
dir aus Urin eines 7. 8. 9. und 10* jährigen Knäbleins und Mägd* 
leins, so nur mit weissem Brot und Wein dieselbe Zeit durch, biß 
du den Urin colligirest, ernehrt worden, und dem besten weissen 
Wein, Homunculum Philosophorum, dadurch du, ihrem Vorgeben 
nach, zu aller Künste Erkänntnuß und Verständnuß kommen sollest, 
machen wollen und sollen, der mit arcano Sanguinis humani, mit 
Rosenwasser und gutem Wein eingemacht, auß einem silbern 
Löffelein, wie sie lügen, künstlich müsse gespeiset, und alsdann, 
wann er, zu seiner Zeit, ein schreylein thut, auß dem Glase gar 
subtil genommen werden, damit er nicht wider hinunterfalle und er* 
trincke, auch stracks biß auff die Beinlein in seinem Erst*materiali* 
schem Wasser verwese: Hastu du didi lassen hinanbringen, sag ich, 
so gib ja wohl Achtung darauff, daß sie dir mit Helffant*Beine 
(Elfenbein) kleine, Menschenbeiner Gestalt nach, Contrafectische ge* 
drehete Beinlein ins Glas partiren, und dich Lappen überreden. Ho* 
munculus sey vorhanden gewest, jedoch aus Versäumnuß um* 
kommen,- darvon die Beinlein noch übrig, welche seine praesentiam 
genugsam bezeugeten. Es ist lächerlich, daß sie fürgeben, es soll ein 
kleines Männleyn seyn, nur einer Hand hoch,* gehe gemeiniglidi in 
einem sammeten Schlaffbeltzlein,* schlaffe gern in einem Zelt*Bettlein 
mit Vorhängen alleine,* sitze mit zu Tische auff einem mit rothem 
Sammet überzogenem Stülgen,* und beweise im Werde, daß es sey 
ein Sohn der Weisen: Und was der schändlichen Lügen mehr seyn.« 

Mißverständliche Auslegung der allegorischen Anleitungen zur 
Bereitung des Steins der Weisen ließ die seltsamsten Verirrungen 
aufkommen. Man suchte die richtige Materie in den Haaren, dem 
Speichel, dem Blute, dem Sperma, dem Kote etc. Die sich zu den 
beiden letzten Annahmen bekannten, heißen Seminalisten und Ster* 
coristen. Solche Käuze gab es, beiläufig bemerkt, vereinzelt noch im 
neunzehnten Jahrhundert. Im achtzehnten Jahrhundert scheinen sie 
eine rege Tätigkeit entfaltet zu haben* Magie und Alchemie waren 
damals stark in Mode,- namentlich wurden auf dem Weg der Gold* 
und Rosenkreuzerei — wovon später noch gesprochen werden soll 
— hoch ansehnliche Kreise in die kritikloseste Schwärmerei hinein* 
gezogen. 


1 Bourke-Krauss~Ihm, »Der Unrat in Sitte, Brauch, Glauben und Ge¬ 
wohnheitsrecht der Völker.« Leipzig 1913, p. 238 und 241. 

2 In einer Schrift vom Hylealischen Chaos. Cit. Hohler a. a. O., 
p. 139, 161. 





Der Homunculus 


55 


Gustav Brabbee, ein verdienter maurerischer Schriftsteller, der 
im Auffinden geschichtlicher Kuriositäten namentlich aus österreichischen 
Quellen, eine überaus glückliche Hand bewies, gedenkt in seinen Schriften 
auch öfters der Alchemisten. »Wie man heutzutage,« so schreibt er 1 , »in 
Baum* und Schafwolle, in Staatspapieren und wohl auch in Knoppern, 
Galläpfeln und ähnlichen Dingen ,macht', so ,machte' man zur Zeit Maria 
Theresias und Josephs in Magie, Theosophie, in Kabbala und zumal in 
— Alchymie. Sie vor allem war die epidemisch grassierende Krankheit 
jener Epoche: alle Welt laborierte am — Laborieren, jeder Tor suchte 
den Stein der Weisen.« Brabbee erwähnt mehrere Alchemistengesell¬ 
schaften in Wien. Eine davon ist 1782—1783 nachzuweisen. Sie legte 
sich den pomphaften Namen der »hohen, weisen, edlen und für trefflichen 
Ritter vom Sternschnuppen« bei und arbeitete mit der sogenannten 
»Sternschnuppensubstanz«/ der Glaube, daß die Sternschnuppe, der 
Sternenschleim, zum subjectum, d. i. zum Ausgangsstoff für das große 
Werk, tauge, war damals unter Alchemisten ziemlich verbreitet,- man 
glaubte solchen Sternenschleim dort auflesen zu können, wo ein Meteor 
vorbeigeflogen war. Die Materie, die man dann nach langem Suchen 
wirklich fand, dürfte die bei feuchter Witterung plötzlich wachsende gallert* 
artige Pflanze Nostoc gewesen sein, die freilich mit dem sich schneuzen¬ 
den Stern gar nichts zu tun hatte. Man war zu der seltsamen Idee 
wahrscheinlich dadurch verleitet worden, daß die prima materia in alche* 
mistischen Schriften <wohl symbolisch) als »sputum Lunae« und »sperma 
astrale« bezeichnet wird 2 . Doch ich wollte eigentlich von einer anderen, 
der gleichen Zeit angehörenden Wiener Alchemisten gesellschaft sprechen. 

Es ist unbegreiflich, wie diese Gesellschaft <Brabbee, S. R., p. 182 f.) 
fast zwei Jahre lang ihr lichtscheues, verbrecherisches Treiben fort¬ 
setzen konnte, ohne von der strafenden Hand der Gerechtigkeit ereilt 
zu werden. »Als man endlich genügende Anhaltspunkte gefunden hatte, 
die ein strenges behördliches Einschreiten vollkommen gerechtfertigt er¬ 
scheinen ließen, war es zu spät, die Mitglieder dieser abominablen 
Adepten*Gesellschaft waren rechtzeitig gewarnt worden, und plötzlich, 
wie vom Winde zerstoben, in fast gespenstiger Weise verschwunden, so 
daß man niemandes habhaft werden konnte, als eines uralten, dem An* 
scheine nach halb blödsinnigen Hauswarts, dem keine irgendwie maß* 
gebende Aussage zu erpressen war, und der nach lange andauernder 
Untersuchungshaft wieder freigelassen werden mußte. Doch aber war man 
im Verlaufe der gerichtlichen Prozedur zur moralischen Überzeugung ge* 
langt, daß die Mehrzahl dieser Mitglieder jenen schändlichen Alchymisten* 
Sekten angehörte, die man gewohnt war, mit dem Namen der Sterko* 
risten, Seminalisten und Sanguinisten zu bezeichnen. Auf dem Grund* 
satz fußend: »Der Mensch als Mikrokosmos berge in sich die Keime zu 
dem Edelsten, was die Welt hervorbringen könne: Gold — und kein 
Kolben und keine Retorte sei so kräftig, als der menschliche Magen, bei 
dem es nur darauf ankäme, ihm lauter edle Dinge zur Destillation zu 
geben, um das edelste Produkt zutage zu fördern« — hatte man eine 
Anzahl feiler Individuen beiderlei Geschlechts verlockt, sich mit den nähr* 
haftesten und feinsten Speisen und feurigsten Weinen füttern und tränken 
zu lassen, sie dagegen aber verpflichtet, die Produkte ihres Stoffwechsels 
beiderlei Natur an einem ihnen zu diesen Behufe angewiesenen Ort zu 

1 »Sub Rosa«, Wien 1879, p. 180. 

2 Auch hier der Gedanke eines spermatischen Sekretes. 





56 


Herbert Silberer 


deponieren, wo selbe durch einige Famulos der Gesellschaft von Zeit zu 
Zeit geholt und an die hiezu bestellten Laboranten abgeliefert wurden, 
um dann eine Unzahl der aberwitzigsten und verwickeltsten chemischen 
Prozesse durchzumachen / man hatte ferner, als ob es an den angedeuteten 
argen Obszönitäten noch nicht genug gewesen wäre, sich in Manipula^ 
tionen eingelassen, wodurch der Name eines hochgestellten Offiziers in 
ganz unglaublichem Grade bemakelt erschien,* der Unselige, ein Mitglied 
dieser Gesellschaft, soll über Geheiß seiner geheimnisvollen Oberen eine 
Anzahl seiner ihm untergebenen Soldaten gedungen haben, gegen bare 

Bezahlung, das zu liefern, »was-«, weil man auch darin 

die primam materiam aufzufinden verhoffte! Es verlautet weiter, daß 
dieser Vampyr seine Opfer so lange und so schonungslos ausgenützt 
habe, bis »sie ganz schwach und hinfällig wurden, wovon anfangs der 
Regimentsarzt die Ursache nicht entdecken konnte, bis ihm das Geständnis 
eines Mannes, der dabei war, die Augen öffnete«, worauf die Sache »im 
Interesse der Disziplin vertuscht wurde«,* man hatte endlich gewichtige 
Anzeichen aufgefunden, daß, um den gedachten Gräueln die Krone auf¬ 
zusetzen, jene saubere Gesellschaft sich nicht damit begnüge, urina 
puerorum und ähnliche Substanzen zur Anfertigung der philosophischen 
Tinktur, des »Aesch majim«, oder »feurigen Wassers« und »wässrigen 
Feuers« zu verwenden, sondern hiezu auch menschlichen Blutes bedürfe 
— es war in der Nähe des Gebäudes, worin sie monatlich wenigstens 
einmal ihre verstohlenen Zusammenkünfte abzuhalten pflegte ... an einem 
kalten Novembermorgen ein mit dem Tode ringendes junges Weib auf¬ 
gefunden worden, deren Adern an Händen und Füßen man geöffnet 
hatte, und das infolge des erlittenen Blutverlustes binnen einer Stunde 
an Schwäche vergehend, nicht mehr die Kraft besaß, Aussagen zu machen, 
sondern nur noch mit Hand und Blich auf diese unheilvolle Behausung 
zu deuten vermochte — von alledem hatte sich, wie erwähnt das Unter- 
suchungsgericht die moralische Gewißheit zu verschaffen gewußt, aber der 
gesetzlich unerläßliche Beweis konnte nicht erbracht werden, die Sache ge¬ 
riet ins Stocken und verrann endlich, ohne zu irgendwelchem Ergebnisse 
geführt zu haben, spurlos im Sande!« 

So wie die traurigen Helden dieser Beispiele durch eine be¬ 
schränkte Auslegung der alchemistischen Bilderreden mißleitet wurden, 
mag, wie gesagt, zum Teil ähnliches für die Homunkelfabrikation 
gelten. Dies scheint die Ansicht des großen Chemikers und Chemie^ 
historikers Marcellin Berthelot zu sein. Er führt 1 eine alte 
allegorische Darstellung des Prozesses der Goldbereitung an, die 
z. B. bei Zosimos und anderen vorkommt/ es handelt sich dabei 
um einen ehernen Mann, der durch Eintauchen in ein Wasser zu 
einem Silbermann und schließlich zu einem Goldmann wird. Und 
er fügt an: »Rappeions encore ces allegories, oü les metaux sont 
representes comme des personnes, des hommes: c'est lä probable- 
ment l'origine de l'homunculus du moyen äge,* la notion de la 
puissance creatrice des metaux et de celle de la vie s'etant con^ 
fondues dans un meme Symbole.« 

Eine verführerische Stelle kommt z. B. auch in der einen 


1 Marcellin Berthelot, »Les Origines de V Alchimie«, Paris 1885, p. 60. 





Der Homunculus 


57 


»Turba Philosophorum« 1 vor: »Bonellusinquit: Sciendum est omnes 
discipuli, quod ex electis nihil fit utile absque conjunctione, 'S) 
regimine, eo quod sperma ex sanguine generatur 'S) libidine. Viro 
namque mulieri imminente, uteri humore sperma nutritur 'S) san¬ 
guine humectante, et caliditate, peractis vero 40 noctibus sperma 
formatur. Si enim humiditas sanguinis 'S) uteri calor non esset, 
sperma non maneret nec foetus perageretur. Deus autem illum 
sanguinem et calorem ad nutriendum sperma constituit, quousque 
extrahas ipsum ad libitum. Foetus autem extractus non nisi lacte 
nutritur 'S) igne, parce et paulatim, dum pulvis est, et quanto 
magis exurit, tanto ossibus confortatis in juventutem ducitur in 
quam perveniens sibi sufficit. Sic ergo oportet te in hac arte facere. 
Et scitote quod absque calore nihil unquam generatur, 'S) quod 
balneum calore intenso perire facit. Si vero sit frigidum fugat, sin 
autem temperatum sit, corpori conveniens 'S) suave fit, quare venae 
leves fiunt 'S) et caro augmentatur. Ecce vobis demonstratum est 
Omnibus discipulis, intelligite igitur, 'S) in omnibus quae regere 
conamini timete Deum.« Damit glaube ich eine für die Homunculus- 
phantasie wichtige Stelle angegeben zu haben. 

Von den beiden Büchern, die »Turba Philosophorum« heißen, 
wird diese als die ältere betrachtet,- beide werden von Autoren des 
fünfzehnten Jahrhunderts erwähnt, und es wird <was allerdings 
wenig besagen will) die erste davon noch ausdrücklich als eine alte 
Quelle hingestellt. 

Mißdeutungen mögen auch zu Sagen, wie der folgenden, An^ 
laß gegeben haben, in der man wieder die Idee von der Fruchtbar¬ 
keit des Mistes findet: 

Theophrastus, der große Wunderdoktor {offenbar Paracelsus), 
welcher in der ganzen Welt herumreiste, hatte einen Teufel in 
einem Glase, mit dessen Hilfe er die größten Taten verrichtete. 
Der Teufel hatte ihn alle Kräuter und Blumen kennen gelehrt, wor¬ 
aus man Arznei bereitet. Nun machte Theophrastus, wie der Herr 
Christus im Evangelium, Blinde sehend, Taube hörend. Lahme 
gehend. Aussätzige rein usw. — aber nur durch die schwarze Kunst. 
So sehr ihn auch die Kranken suchten, um geheilt zu werden, so 
fürchteten sie sich doch auch vor ihm, weil er es mit den Höllen^ 
geistern hielt. Bei Kaisern und Königen aber stand er in großer 
Gunst, weil er sie nicht nur gesund machte sondern ihnen auch ihr 
Reich stützen und schirmen half,- denn er brauchte nur das Glas 
ein wenig zu öffnen, so sagte ihm der Teufel immer, was zu tun 
sei. Zuletzt aber ist es ihm schlecht ergangen. Als er schon alt war 
und sich vor dem Tod fürchtete, gab ihm sein Teufel den Rat: er 
solle sich in kleine Stücke zerhauen, in Roßmist begraben und 
nach Jahr und Tag gewinnen lassen,- dann werde er wieder ein 


1 »Theatrum Chemicum«, Vol. V, Argentorati M.DC.LX. Turba, Sermo 
LX, p. 45. 





58 


Herbert Silberer 


Jüngling sein. So ließ er sich denn durch seinen treuen Diener zer¬ 
hauen und begraben. Dieser aber konnte die Zeit vor Ungeduld 
nicht abwarten,- den vorletzten Tag öffnete er vorwitzig die Grube,- 
und es lag Theophrastus da lebendig, ein schöner Jüngling,- nur der 
Kopfdeckel war noch nicht ganz zugewachsen. Nun aber kam ihm 
die Luft ins Gehirn und er mußte sterben. Sonst hätte er wieder 
alt und mit Hilfe des Teufels und eines treuen und nicht vor¬ 
witzigen Dieners immer und immer wieder jung werden können 1 . 

Hier haben wir also auch die Idee des in ein Glas gebannten 
Geistes 2 , welche zur Homunculusphantasie gleichfalls einen Beitrag 
geliefert haben mag. Mit der Zeit wurde im Volksglauben zum 
Teufel, was ursprünglich ein einfacher Spiritus familiaris gewesen 
sein wird. Dem Homunculus werden ja jene Tugenden zuge¬ 
schrieben, die einen dienstbaren Dämon zu einer hochbegehrten 
Sache machten, um derentwillen sich so mancher in der Magie ver^ 
suchte, mochte sie noch so schwarze »Nigromantie« 3 sein — rettete 
man doch sein Seelenheil durch die bei den Beschwörungen aus¬ 
giebig gebrauchten Namen Gottes. 

Den Glauben an den Teufel im Glas illustriert ein gelungenes, 
von G. C. Horst mitgeteiltes Faktum: Als der bayrische Geiste 
liehe Adam Tanner, der den Hexenrichtern größere Vorsicht und 
bessere Beweise predigte, 1632 in Tirol starb, verweigerte man ihm 
ein christliches Begräbnis, weil man bei ihm einen haarigen Teufel 
in einem Glase fand. Später stellte sich allerdings heraus, daß der 
vermeintliche Teufel ein Floh war, den Tanner in einem Mikroskop 
aufbewahrt hatte. 

Im Jahre 1851 ist in München von dem Defmitor Prov. Pater 
Franz Xaver Lohbauer das Rituale ecclesiasticum ad usum ClerU 
corum ord. S. Francisci ref. Prof. Antoniano Bavaricae herausge¬ 
geben worden. Aus diesem Rituale hat Dr. Andreas Gassner zu 
Salzburg in seinem »Handbuch der Pastoraltheologie« einen Aus¬ 
zug geliefert und ein Kapitel über Besessenheit 1869 noch besonders 
ediert 4 . Zu den Besessenen im weiteren Sinn werden darin auch die¬ 
jenigen gerechnet, »deren Häuser oder Gemächer von diabolischen 
Erscheinungen geplagt sind,« sowie ferner diejenigen, »qui Daemoni 
se subscripserunt, vel eum in vitro aut alio vase inclusum 
detinent, et ab eo, ut vellent, liberari nequeunt, item, qui habent 
spiritum incubum vel succubum«. Es wird also vorausgesetzt, daß 
sich Leute Teufel in Flaschen halten. 

In den Kinder- und Hausmärchen <Grimm> heißt Nr. 99 
»Der Geist im Glas«. Der Sohn des Holzhackers, der auf der hohen 


1 Dr. Friedrich Müller, »Siebenbürgische Sagen«. 2. Aufl. Hermann^ 
stadt und Wien 1885, p. 117 f. 

2 Oder sollte es am Ende bloß ein Laubfrosch gewesen sein? 

3 Verderbt aus Nekromantie. 

4 Soldan^Heppe, »Geschichte der Hexenprozesse«, Stuttgart 1880, 
II. Bd., p. 343. 





Der Homunculus 


59 


Schule gelernt hat, dann aber, weil die nötigen Mittel fehlten, die 
Studien aufgeben und heimkehren hat müssen zur Holzhackerarbeit, 
hört, vor einem Baum stehend, eine dumpfe Stimme: Laß mich 
heraus! Nach einigem Suchen entdeckt der Schüler unter den 
Wurzeln des Baumes eine Glasflasche. Er hebt sie ans Licht und 
sieht darin »ein Ding, gleich einem Frosch gestaltet, das sprang 
darin auf und nieder«. Der Schüler öffnet das Glas, dem ein 
fürchterlicher Geist entfährt, der sich Mercurius 1 nennt und seinem 
Befreier das Genick brechen will. Dieser überlistet den Geist und 
erhält von ihm eine Wundermedizin und weiße Tinktur. Eine andere 
Version teilt der dritte Band Grimm mit,* da befreit Paracelsus 
den Geist, wird von ihm bedroht, überlistet ihn und bekommt die 
wertvollen Dinge, mit denen er dann seine Wunderkuren verrichtet. 

Wenn auch die Vorstellung des Gebundenseins von Geistern 
an bestimmte Orte sich als etwas sehr Natürliches überall selb¬ 
ständig entwickelt hat, so wird doch die Idee des Einschließens in 
ein Gefäß — also jene engere Vorstellung, die in die Konzeption 
der Homunkelphantasie eingegangen sein mag — hauptsächlich dem 
morgenländischen Aberglauben entstammen, der mit dem gelehrten 
Zauberwesen im Mittelalter in den Westen herüberkam. Ich er¬ 
innere in diesem Zusammenhang an die Märchen der 1001 Nächte, 
worin mehrmals von Geistern die Rede ist, die in Gefäße einge¬ 
schlossen sind,* als der sie eingeschlossen hat, wird meistens der Erz¬ 
zauberer König Salomo genannt. Wohlbekannt ist die Geschichte 
von dem Fischer und dem Geist,* insbesondere mache ich aber auf 
das Märchen von der Messingstadt aufmerksam. Im letzteren wird 
geradezu eine Expedition ausgerüstet, um solche Flaschen mit 
Geistern herbeizuschaffen. 

Khunrath <Hyl. Ch.) klagt: »Etliche verzweifelte Buben 
unterstunden sich einsmahls den Teuffel, als einen Laboranten, zum 
Quecksilber und Gold in Glaß zu bannen, dieselben also zu dispo¬ 
nieren, anzuordnen und zu qualificieren, daß Lapis Phil, darauß 
würde. Was geschah? auff ihre Ladung kam er,* jedoch solcher Ge¬ 
stalt, daß sie, ohne Zweiffel noch auß deß barmhertzigen Gottes 
milder Güte, nährlich Zeit hatten außzureissen, sie weren sonsten 
innen worden, was der Teufel für ein Laborante ist.« 

Wie mir scheint, hat der Homunculus auch etwas vom Alraun 
angezogen. Er hat sogar den Namen mit ihm insofern gemein, als 
seinerzeit auch der Alraun »Homunculus« genannt wurde, welcher 
Ausdruck übrigens noch einen verwandten Gegenstand bezeidhnete, 
nämlich jenes Bild aus Wachs od. dgl., das man sich von seinem 
Feinde machte, um ihm durch Bildzauber zu schaden, indem man 
der imaguncula jene Unbilden zufügte, welche an dem Original in 
Erfüllung gehen sollten. 

Der Alraun ist bekannt als eine menschenähnlich gestaltete 


1 Ein alchemistisdhes Prinzip. 





60 


Herbert Silberer 


Zauberwurzel, die man sorgfältig aufbewahrte und von der man 
glücklichen Einfluß erwartete. Der Name Alraun ist eigentlich weib* 
lieh <die Alraune) und weist auf einen altgermanischen Glauben zu* 
rück,* man hat an die Alrunen, die weisen Frauen, zu denken 1 . 
Die weissagenden Frauen sind zauberkundig und wissen Bescheid 
in der Zubereitung von Kräutern und Wurzeln. Etwas von ihrer 
kultischen Bedeutung, der Verehrung, die sie genossen, mag in den 
späteren kultartigen Alraunwurzelglauben <natürlich entstellt) über** 
gewandert sein. Eine Brücke für diesen Übergang zeigt sich darin, 
daß die Alraunwurzel als ein persönliches Wesen gedacht wurde. 
Dazu kommt natürlich die menschenähnliche Gestalt der Wurzel. 
Der fertige Alraunwurzelglaube, wie er für die Homunculus-Idee 
in Betracht kommt, enthält viele griechisch^orientalische Elemente, 
die zum Teil auch das alte Rom passiert haben. Die zum Alraun¬ 
bild <Alräunchen, Alruniken, Galgen^, Gold-, Hecke-, Erd-, Heinzel¬ 
männchen, Hausgeistchen etc.) verwendete Wurzel war in erster 
Linie die Mandragora. Man wird alsbald sehen, daß auch diese 
mögliche Quelle des Homunculus stark von Zeugungsgedanken 
durchsetzt ist. Betrachten wir zunächst einmal die Art, wie man die 
Alraun gewinnt. 

Wenn ein Erbdieb, der noch reiner Jüngling ist, erhängt wird 
und das Wasser oder den Samen fallen läßt, wächst unter dem 
Galgen die breitblättrige, gelbblumige Alraun. Beim Ausgraben ächzt 
und schreit sie so entsetzlich, daß der Grabende davon sterben muß. 
Man soll also Freitag vor Sonnenaufgang, nachdem die Ohren mit 
Baumwolle oder Wadis verstopft sind, einen ganz schwarzen Hund, 
an dem kein weißes Härchen sei, mitnehmen, drei Kreuze über die 
Alraun machen und ringsherum graben, daß die Wurzel nur noch 
an dünnen Fasern hänge, dann werden diese mit einer Schnur an 
den Schwanz des Hundes gebunden, dem Hund wird ein Stück 
Brot gezeigt und eiligst weggelaufen. Der Hund, nach dem Brote 
gierig, folgt und zieht die Wurzel aus, fällt aber, von ihrem ächzen^ 
den Wehruf getroffen, tot hin. Hierauf wird die Wurzel aufgehoben, 
mit rotem Wein gewaschen, in weiß und rote Seide gewickelt, in 
ein Kästlein gelegt, alle Freitage gebadet und alle Neumonde mit 
neuem weißen Hemdlein angetan. Fragt man sie nun, so offenbart 
sie künftige und heimliche Dinge zu Wohlfahrt und Gedeihen, macht 
reich, entfernt alle Feinde, bringt der Ehe Segen, und jedes über 
Nacht zu ihr gelegtes Geldstück findet man frühmorgens verdoppelt, 
doch überlade man sie nicht damit. Stirbt ihr Eigner, so erbt sie 
der jüngste Sohn, muß aber dem Vater ein Stück Brot und Geld 
in seinen Sarg legen. Stirbt er vor dem Vater, so geht die Alraun 
über auf den ältesten Sohn, der aber seinen jüngsten Bruder 
ebenso mit Brot und Geld begraben soll. <Grimm, D. Mythol. 

1153 f.) 


Vgl. Grimm, D. Mythol. 1153. 





Der Homunculus 


61 


Der spiritus familiaris bei Grimm <D. S. 84) ist wohl mit 
dem Alraun <D. S. 83> identisch. Er wird gewöhnlich in einem wohl¬ 
verschlossenen Gläslein aufbewahrt. 

Die halbmenschliche Alraunwurzel entspricht dem »mandra- 

? ;oras semihomo« bei dem Adcerbauschriftsteller Columella {erstes 
ahrhundert) und die Gewinnung wird auch von Plinius <25. 13> 
als eine heikle Sache geschildert/ man habe sich vor konträrem Wind 
in acht zu nehmen und mit einem Schwert drei Kreise zu be¬ 
schreiben. Diese drei Kreise werden natürlich später zu Kreuzen. 
Plinius unterscheidet übrigens zwei Geschlechter der Pflanze: eine 
weiße männliche und eine schwarze weibliche Mandragora. 

Die Mandragora ist eine narkotische Pflanze, den Solanaceen 
zugehörig. Es gibt ihrer mehrere Arten,- im ganzen Mittelmeer¬ 
gebiet ist die M. officinarum L. heimisch. Die Früchte der Pflanze, 
Beeren, sollen nicht bloß einschläfernd, sondern auch aphrodisisch 
wirken,- sie werden von den Arabern genossen. Man sagt ihnen 
auch seit alters her nach, daß sie die Frauen fruchtbar machen. Die 
Dudaim des alten Testamentes, Liebesäpfel von ebendieser Eigen¬ 
schaft, werden als Früchte der Mandragora aufgefaßt. Im Altertum 
verwendete man die Mandragora gerne zu Liebestränken, zu 
Zaubereien und als Schutzmittel. Schon Pythagoras machte auf die 
menschenähnliche Gestalt der Wurzel aufmerksam. Sie wurde von 
den Alten auch als Betäubungsmittel vor Operationen gebraucht. 

Das Märchen von der gefährlichen Gewinnung der Wurzel 
findet Horst <Z. B. IV, p. 24> bei Josephus <De Bello Jud. VII. 
25) nahezu ebenso, wie sie später im Abendland umläuft. Als 
Fundort der Wurzel wird das Tal Baaras angegeben und die Pflanze 
trägt den gleichen Namen. Die Entstehung aus dem Samen des 
Gehenkten kommt dort jedoch nicht vor. 

Die Mandragoren haben nach D ul au re im Priapskult eine 
Rolle gespielt. Audi phallische Amulette hießen Mandragoren, und 
zwar noch im mittelalterlichen Frankreich. »Das Fascinum der 
Römer . . . war bei den Franzosen einige Jahrhunderte lang üb* 
lieh . . . Sie nannten diese Amulette auch Mandragoren, nach dem 
Namen einer Pflanze, deren Wurzelform dem männlichen Geschlechts^ 
teil ähnelte . . . Zu Ehren dieser phallischen Amulette verrichtete 
man Gebete und sagte Beschwörungsformeln her.« 

Was hier von der Form der Wurzel gesagt wird, bedarr 
einer kleinen Erläuterung. Die fleischige, rübenartige, oft geteilte 
Mandragorenwurzel hat wohl von Natur aus eine gewisse Ähnlich^ 
keit mit einer menschlichen Gestalt oder auch mit einem Geschlechts^ 
teil/ von den Leuten aber, die damit ihren einträglichen Handel 
trieben, wurde, um die Ähnlichkeit in der einen oder anderen 
Richtung zu erhöhen, künstlich nachgeholfen. Auch hielt man sich 
nicht streng an die im Abendland, namentlich in den Binnenlanden, 
recht seltene Mandragora, sondern zog auch die Wurzeln von 
Allium victoriale, Bryonia u. dgl. heran. 




62 


Herbert Silberer 


In dem Journal eines Pariser Bürgers <Oeuvres de Georges 
Chastelain, Bruxelles 1865, Bd. IX) heißt es, daß ein Franzis¬ 
kanermönch 1429 gegen das Amulett Mandragora eine heftige 
Kanzelrede hielt. Er überzeugte die Männer und Frauen von dessen 
Nutzlosigkeit und ließ mehrere Wurzeln verbrennen, die man ihm 
übergab. »Die Pariser hatten ein solches Vertrauen zu diesen 
Piippchen, daß sie wirklich fest daran glaubten, sie würden ihr Leben 
lang nicht arm sein, solange sie es hatten, vorausgesetzt, daß es 
sauber in Seide und Linnen eingehüllt war.« Die Wurzeln galten 
so ziemlich in ganz Europa <wie im Orient) als sicheres Mittel 
gegen Unfruchtbarkeit. Abt Rosier sagt in seinem »Cours complet 
d'Agriculture« <Bd. VI, p. 401): »Ich sah Mandragoren, die ganz 
gut die männlichen und weiblichen Geschlechtsteile aufwiesen« h 

Mandragoren beiderlei Geschlechts besaß Kaiser Rudolf II. Horst 1 2 
weist auf einediesbezügliche Stelle aus Lambecks Commentar. de augustiss. 
Bib. Caes. Vindob. <Bd. VIII, p. 647 der 2. Aufl., Wien 1766-1782) 
hin und zitiert folgende Stelle aus den »Monatlichen Unterredungen von 
dem Reich der Geister«, worin eine der sprechenden Personen, Andrenio, 
sagt: »Wir wollen uns nunmehro auch auf die kayserliche weltberühmte 
Bibliothec verfügen, von welcher mir vor nicht gar langer Zeit der da^ 
mahlige Vorsteher dieses vortrefflichen Bücher-Schatzes aufrichtig be- 
kennet hat, dass er nach dem gewöhnlichen Beth^Zeichen keine bleibende 
Stätte mehr daselbsten habe, wo er nicht mit Gewalth wollte darauss 
vertrieben werden. Absonderlich versicherte er mir dieses von dem- 
jenigen Zimmer, in welchem unterschiedliche Manuscripta, benebst an- 
dern rahren Monumenten verwahret werden, wie er mir dann zwey 
Mandragoras, mit köstlichem rothen Scharlack bekleidet und gleichsam 
in ordentlichen Todten-Laden nach Proportion ihrer Grösse liegend, ge- 
zeiget, und auch mir solche in die Hand zu nehmen vergönnet hat. An 
denselben funden sich besondere Zeichen, alss wenn sie unterschiedenen 
Geschlechtes wären, und sollte sich Kayser Rudolphus II. derselbigen be- 
dienet, und gar seltsame Dinge damit verübet und ausgerichtet haben. 
Unter anderm erzehlete er mir auch, dass sie, wie kleine Kindlein, hätten 
müssen offtmahls gebadet werden, und zwar mit unverfälschten guten 
Weine. Wenn dieses nicht geschehen wäre, hätten sie ein Geheule ange- 
fangen, wie kleine neugebohrne Kinder, welche erst von Mutter Leibe 
kommen, und die äusserste Natur-Lufft anfangs nicht vertragen können, 
hätten mit dem Heulen auch nicht ehender nachgelassen, biss ihnen ihre 
ordentliche Pflege widerfahren seye.« 

Der Wert, den man im Volk den Alräunchen beilegte, wird 
kraß illustriert in dem folgenden Brief, der sich in Keyßlers AntU 
quitt. Septemtr. <p. 507) findet: 

»Brüderliche Liebe und Trew, und 
sonst alles Guthes bevor! 


1 Dulaure-Krauß-Reiskel, »Die Zeugung in Glauben, Sitten und 
Bräuchen der Völker«, Leipzig 1909, p. 94—100. 

2 Georg Conrad Horst, »Zauber-Bibliothek«, Mainz 1821 ff., Bd. V, 
p. 322 ff. 






Der Homunculus 


63 


Lieber Bruder! 

»Ich habe dein Schreiben überkommben, vnd zum Theilß genug 
wohl darauß verstanden, wie daß Du, lieber Bruder, biß her an Deinem 
Husse vnnd hoffe groß Schaden genommen hast. Daß Dir deine Rinder, 
Kühwe, Schweine, Schaffe, Pferde Alles absterben, dein Wein vnd Bier 
versawren in Deinem Keller, vnd Deine Nahrung gantz und gar zurücke 
gehet, vnd Du ob dem Allen mit deiner lieben Hauß-Frawen in grossen 
Zwietracht lebest, welches mir von Deinetwegen ein groß Hertzleyd ist, 
zu hören,- vnd bin zu den Leuthen gangen, die solcher Dinge Verstand 
haben, hab Rath und That von deinetwegen bey ihnen suchen wollen, 
vnd hab sie auch danebenß gefraget, woher Du solches Unglücke haben 
müssest? — So haben sie mir geantwortet. Du hättest solches Unglücke 
nicht von Gott, sondern von bößen Leuthen, vnd Dir kunte auch nit 
geholfen werden, Du hättest dann ein Allruniken oder Erd-Mäncken,- 
vnd wenn Du solches in deinem Hauß oder Hoffe hättest, so würde es 
sich mit Dir wohl bald gantz anderß schicken,- so habe ich mich von 
deinetwegen fernerß bemühet, vnd hin zu den Leuthen gangen, die 
soliches gehabt haben, als bey unsern Scharffrichter,- vnnd ich habe ihme 
dafür geben, alß nemblich mit 64 Thaler vnd deß Bütteiß seinem Knecht 
ein Engels-Kleid zum Drinckgeldt. 

»Ansolcheß soll Dir nun, lieber Bruder, auß Lieb vnd brüder** 
lieber Trewe geschencket seyn, vnd so solltu es nun lehren vnd damit 
halten, wie ich Dir schrieb in diesem Brieff. Wenn Du den Erdmann, 
oder das Alrunicken in dein Hauß oder Hoffe überkommest, so laß es 
drey Tage ruhen, ehe Du darzu gehest, nach dreyen Tagen hebe eß uffe, 
vnd bade eß wohl in warmen Wasser. Mit dem Baade solltu alßdann 
besprengen dein Vieh, vndt die Sollen <Schwellen> deines Husses, do 
Du vnd die Deinigen übergehen, so wird es sich mit Dir wohl gewiß** 
lieh bald anderst schicken, vnd Du wirst wohl wiederumb zu dem Deinem 
kommen, wenn Du dieß Erdmännicken fein wirst zu Rade halten. Vnd 
Du sollt eß alle Jahr viermahl baaden, vnd so offte Du es baadest, sollt 
Du es wiederumb in sein seiden Kleidtlein legen vnd winden, vnd legen 
es bey deinen besten Kleidern vnd Sachen, die Du hast, so darffest Du 
jhme alßdann nit mehr thun,- das Baadt ist auch sonderlich guth, wan 
eine Frawe in Kindensnöthen ist, vnd nit gebehren kann, daß sie ein 
Löffel voll davon trincket, so gebehret sie mit Frewden und Danckbar* 
keith. Vnd wan Du für Rieht <vor Gericht) vnd Rath zu thun hast, so 
stecke den Erdmann nur bey Dir unter den rechten Arm, so bekommest 
Du eine gerechte Sache, sie sey recht oder vnrecht. 

»Nun, lieber Bruder, dießes Erd-Männicken schicke ich Dir auß 
Lieb vnd Trew zu einem glückseeligen Newen Jahr, vnnd laße eß nit 
von Dir kommen, vnd eß mag soliches behalten dein Kindeskinder. Sey 
hiemit mit Gott befohlen! — Datum Leipzig Sonntags vor Fasten 
1675. N. N.« 

Der Alraun ist kurzweg das Begehrenswerteste,- er ist als 
das Ziel der habsüchtigen Wünsche für seine Kreise das gleiche, 
wie für andere Kreise der dienstbare Dämon und für die intellU 
gentere Klasse der Stein der Weisen. 

Der Alraun wurde auch mit der Springwurzel in Zusammen¬ 
hang gebracht, welche besonders Dieben <vergl. den Ursprung des 




64 


Herbert Silberer 


Alraun aus Diebssperma) nützlich ist, weil sie alle Türen und 
Schlösser sprengt. Man verschafft sich die Springwurzel am besten 
mit Hilfe des Schwarzspechts <auch des Buntspechts, Grünspechts). 
»Merke, wo derselbe im Frühling in einen Baum nistet. Wenn nun 
die Brutzeit vorbei ist und der Vogel ausfliegt, Nahrung zu suchen: 
so treib einen harten Quast <Keil) in die Öffnung des Ausflugs. 
Stelle dich hinter dem Baum auf die Lauer, bis der Vogel zurüdc- 
kommt zur Futterzeit. Nimmt er wahr, daß das Nest verspündet 
ist, so wird er mit ängstlichem Geschrei um den Baum schwirren 
und seinen Flug plötzlich gegen Sonnenuntergang nehmen. Alsdann 
sey bedacht, einen rothen scharlachenen Mantel aufzutreiben, oder 
kauf vier Ellen hochrothes Tuch, verbirg es vorsichtig unter dem 
Kleide, und harre beim Baume einen oder auch zwei Tage lang, 
bis der Schwarzspecht wieder zu Neste fliegt, mit der Springwurzel 
im Schnabel. Sobald er damit den Propfen berührt, wird dieser 
wie ein Kork aus einer gährenden Flasche mit grosser Gewalt 
heraus fahren. Alsdann breite behende den scharlachenen Mantel 
oder das rothe Tuch unter den Baum, so meynt der Specht, es sey 
Feuer, erschrickt davor, und läßt die Springwurzel aus dem Schnabel 
fallen. Einige zünden auch unter dem Baum wirklich ein kleines 
Feuer an, und streuen die Blüthe vom Krauth Spickenardi (La¬ 
vendel) darauf. Aber hiemit ist es ein mißliches Ding, denn wenn 
die Flamme nicht rasch genug gerade in dem Augenblick auflodert, 
da der Specht den Quast im Nest mit der Wurzel berührt, so ent¬ 
fliegt derselbe, und trägt die Springwurzel mit sich davon. Hast du 
nun die Wurzel in deiner Gewalt, so unterlaß nicht, jeden Tag ein 
Stückchen Kreuzdornholz dabei zu binden. Denn wofern du sie frei 
aus der Hand legen wolltest, so wäre sie ohne Gebrauch und 
Genuß verloren.« 1 

Auch diese Geschichte hat ihr orientalisches Vorbild. Horst 
<Z. B. IV, p. 353 f.) gibt darüber folgendes an. Der Talmud weiß 
von einem Würmchen -pöd (Sarnir), vor dem nichts Hartes, es sei, 
was es will, bestehen kann. Der Sarnir ist sogleich in den sechs 
Schöpfungstagen unmittelbar vom hochgelobten Gott erschaffen 
worden. Es befindet sich in einem Schwamm von Wolle, in einer 
bleiernen Schachtel, die mit Gersten-Kleyen angefüllt ist,- ein magi¬ 
scher Apparat, den der hochgelobte Gott für dasselbe selbst so zu¬ 
gerichtet hat. Als Salomon eben den Grund zum Tempel legen 
wollte, fiel ihm mit Entsetzen bei, daß er sich keines Meißels und 
Hammers beim Bau bedienen dürfte. In dieser Verlegenheit rief er 
die Gesetzgelehrten und Rabbiner zusammen, was nun anzufangen 
wäre? — Sie sagten, er möchte sich nur den bringen lassen, 
den Moseh zur rolierung der Steine des Leibrocks gebraucht hätte. 
Und wo ist dieser Samir? fragte er. Das wüßten sie selber nicht, 
die Teufel aber müßtens ohne Zweifel wissen, die sollte er nur 


1 Horst, a. a. O., IV, p. 48 f. 





Der Homunculus 


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deshalb fragen. Der König machte auf der Stelle Gebrauch von 
seinen Beschwörungskünsten und zitierte ein Dutzend Dämonen. 
Diese erschraken, als sie vom Samir hörten, machten allerhand 
Tergiversationen, und schützten zuletzt ihre Unwissenheit vor. Er 
müßte sich an ihren Fürsten Asmodi oder Asmodeus wenden. Hier 
war nun guter Rat teuer, weil dieser mächtige Höllenfürst alle Be¬ 
schwörungen zunichte zu machen wußte. Einer der Dämonen ward 
jedoch von Salomon so in die Enge getrieben, daß er auf die 
Frage, wo sich ihr Oberhaupt, Asmodeus, gegenwärtig aufhalte, 
bekannte, in der und der Höhle, auf dem und dem Berg. Jetzt nahm 
der König zur List seine Zuflucht. Er gab seinem Feldmarschall, 
Benaja, einem sehr beherzten Mann, eine Kette, eine Flasche Wein 
und etwas Öl, und schickte ihn damit nach der Felsenhöhle zum 
Höllenfürsten Asmodi ab. Der Wein schmeckte dem Teufel so gut, 
daß er sich besoff und endlich gar hart und fest einschlief. Nun hatte 
der Feldmarschall gewonnenes Spiel, er warf ihm die Kette, worauf 
der Name Semhamephoras stand, um den Hals, »und wiewohlen 
er beym Erwachen gräulich tobete«, denn wir wollen nun mit 
Eisenmengers Worten in der Erzählung fortfahren, »muste er 
dennoch gefangen bleiben, und ward so für den König Salomoh 

f eführet, der ihn anredete um den Schamir zum Tempelbau,- der 
euffel sprach, er ist nicht mir, sondern dem Fürsten des Meeres 
übergeben, welcher ihn einem getrewen Auerhahn, so ihm deswegen 
einen Eyd gelaistet, zu verwahren gegeben, welcher dann ihn an 
die grosse Felßen hält, so zerspringen sie,- da sie nun das Nest 
des Auerhanen gefunden haben, darinnen Junge lagen, haben sie 
das Nest mit weissem Glaß zugedecket, als nun der Auerhann 
käme, konte er nicht in sein Nest, deßwegen so flog er weg, höhlte 
den Schamir, und setzte ihn auff das Glaß daß es brach, da fing 
der Benaja ein groß erschrecklich Geschrey an, daß der Auerhahn 
erschrocken, das Würmchen Schamir aus dem Schnabel fallen ließ, 
welches Benaja dann alsobalden auffhube vnd dem Salomoh über¬ 
brachte, lehren also hiermit die Juden, daß Salomoh in Erbauung 
des herrlichen Tempels Gottes, sich der Teuffel Rath und Hülffe 
bedienet habe, da doch Gott Selbsten das Werk angeordnet« 1 . 

Das Fallenlassen der Wurzel durch den Schwarzspecht oder 
des Samir durch den Auerhahn scheint mir dem Fallenlassen des 
Samens von dem Gehenkten zu entsprechen. Es dürfte sich um das 
häufig wiederkehrende mythische Motiv vom fallengelassenen Samen 
<Onan, Kronos, Hephaistos etc.) = Kostbarkeit = Funke des ge¬ 
raubten Urfeuers — Soma (Göttertrank) etc. handeln. Vgl. Stuckens 
Gleichungen. Alles das ist eine wunderbare spermatische Materie, 
Lebenskeim. Er befruchtet die Mutter Erde, entwickelt sich zu einem 
Zauberwesen. Das Feuer unter dem Baum ist charakteristisch. 

1 Ais Quellen führt Horst <z. B. IV, p. 355) an: Eisenmenger, »Ent¬ 
decktes Judenthum«, I., 8,- p. 350. Wagenseil, Sota, p. 1071. Schudt, »Jüdische 
Merckw.«, III, p. 192. Thalmud, Traktat gittin, fol. 68, col. 1, 2. 

Imago III/i 


5 





66 


Herbert Silberer 


Feuer hat auch die Bedeutung von Liebesbrunst 1 / wenn das Feuer 
nicht rechtzeitig aufflammt, geht der Same verloren. Der Scharlach^ 
mantel ist die Vulva. Das, was alle »Türen und Schlösser« <wie 
der »Diederich« des Wanderers in der Parabola meiner »Probleme«) 
öffnet, das »Würmchen«, ist der Phallos. Auch Specht und Hahn 
sind phallisch, ersterer deshalb besonders auffällig, weil er einen 
roten Kopf hat. Asmodi, der dem Salomo den Samir verschafft, ist 
der Dämon der Sinnenlust. Die Samir-Legende enthält auch das 
Motiv des Kästchens, der Beraubung <= Entmannung) im Schlaf, 
der Sdiöpfung <Bau des Tempels) usw. 

Zum Abschluß lasse ich nun eine gar kuriose Geschichte 
folgen. Die Leser werden darin die seltsamste Kombination von 
Vorstellungen finden, die wir im Laufe der bisherigen Unter¬ 
suchungen kennen gelernt haben. Gustav Brabbee ist es, der die 
merkwürdigen Nachrichten über die wahrsagenden Geister des 
Grafen Kueffstein aufgestöbert hat. Sein Aufsatz darüber ist in dem 
jetzt vergriffenen Buch »Die Sphinx« <Freimaurerisches Taschenbuch, 
herausgegeben von Dr. E. Besetzny, Wien 1873) nach dem 
»Zirkel« gedruckt 2 . Die Begebenheit spielt gegen das Ende des 
achtzehnten Jahrhunderts, zu einer Zeit, wo sich mancher freL 
maurerischer Kreise, und namentlich eines aristokratischen Zirkels in 
Österreich, ein alchemistischer Taumel bemächtigt hatte, der freilich 
ebenso gut außerhalb der Maurerei spukte. Ich mußte dies zum 
Verständnis einiger Einzelheiten vorausschicken. 

Gedruckte Quellen wissen nur kurz davon zu berichten, daß 
man in einer Wiener Loge, wo ein Graf Kueffstein Meister vom 
Stuhl war, Geister in Gläser gebannt zu haben glaubte, u. dgl. 
Um so reicher fließt eine handschriftliche Quelle, die Brabbee bei 
einer Privatperson entdeckte. Diese Quelle rührt augenscheinlich von 
des Grafen Kammerdiener und Faktotum her und hat nur den be¬ 
dauerlichen Fehler, daß eine Menge Blätter mit starkem Textverlust 
beschädigt sind. Immerhin bietet auch das Vorhandene sehr viel. 
Das kuriose Manuskript ist ein wohl kaum für die Außenwelt be¬ 
stimmtes 

»Verrechnungsbuch und Anmerkungen für meinen 
gnädigen Herrn, den Herrn Herrn Grafen J. F. v. Kueff¬ 
stein — mit Gott angefangen A. D. 1775 <oder 1773?) und 

mit Gott geschlossen A. D.<in bianco) von Josef 

Kämmerer.« 

<Ich lasse nun Brabbee das Wort. »Sphinx«, p. 119f., mit 
mehreren Kürzungen.) 

Was die Persönlichkeit Josef Kämmerers betrifft, geht aus seinen 
hinterlassenen Aufzeichnungen hervor, daß er in seiner Dienstleistung 
beim Grafen Kueffstein so manches Jahr hindurch eine wahrhaft proteus^ 
ähnliche Vielseitigkeit zu entwickeln Gelegenheit hatte, und daß er sich 


1 Die ist zur regelrechten conceptio notwendig. 

2 Einen Auszug brachte auch Hübbe^Schleidens »Sphinx«, IX. Bd. 






Der Homunculus 


67 


demselben, mindestens während der Dauer seiner Reisen durch Franko 
reich, Italien und Deutschland in der Eigenschaft eines Kammerdieners, 
Intendanten, Koches, vor allem aber eines gewandten, vielerfahrenen und 
höchst praktischen Famulus bei dessen chemischen und physikalischen 
Arbeiten unentbehrlich zu machen wußte. Daß Kämmerer auch dem 
Maurerbunde, wenn gleich nur als dienender Bruder angehörte, daß er 
darin bis zum Range eines Meisters gestiegen und mit allen Rechten und 
Obliegenheiten eines solchen wohl vertraut war, ergibt sich aus so 
manchen seiner nicht wenig selbstgefälligen Andeutungen und häufig 
wiederkehrenden Phrasen. Er scheint das nahezu unbedingte Vertrauen 
seines Gebieters, wohl verdientermaßen, genossen zu haben,* nicht selten 
finden sich Hinweisungen, daß ihn der Graf in alle seine Geheimnisse 
Einblick tun ließ, ihm auch namhafte Summen auf En-bloc^Verrech¬ 
nung behändigte <so einmal in »Fenedig« 1200 fl., in »Dorin« <Turin?> 
500 fl., einmal sogar in Dresden 2000 fl.>. 

Überall begegnen wir dem ehrlichen Kämmerer als einem Manne) 
der gewohnt ist, die Augen stets offen zu halten, als einem anscheinend 
ganz nüchternen Beobachter, als einer durch und durch gesunden, prakti¬ 
schen Natur, welche Reisen und Erfahrungen aller Art wacker geschult 
haben, und endlich vor allem als einer überaus treuen und anhänglichen 
Seele, ängstlich beflissen, den Vorteil seines »guten gnädigen Herrn« auch 
in den kleinlichsten Dingen eifrig zu wahren, wie er sich denn beispiels^ 
weise einmal in langatmigen Klagen über das hochbetrübliche Faktum 
ergeht, daß das Pfund Haarpuder in Preßburg auf nur sechs Kreuzer, in 
Wien aber, der »hochen Dax« wegen, auf siebzehn Kreuzer zu stehen 
kommt, und ähnliches mehr. 

Einen um so eigentümlicheren Eindruck macht es eben darum, 
wenn Kämmerer, der sich manchmal über derartige nationaUökonomisdie 
Details mit großer Wichtigkeit, als ob das Heil der Welt davon ab^ 
hänge, so recht con amore verbreitet, nunmehr plötzlich ohne allen ver¬ 
mittelnden Übergang auf die unglaublichsten Dinge überspringt und solche 
mit einer Nonchalance, Gemütlichkeit und Treuherzigkeit bespricht, die 
uns den Beweis liefert, daß selbe für ihn zu den alltäglichsten Ereignissen 
seines Lebens gehören, daß sie für ihn als geradezu apodiktische Wahr^ 
heiten gelten, die gar keines Nachweises bedürfen. 

Unser Material muß also herausgeklaubt werden aus einem wafu> 
haft betäubenden Wüste von minutiösen Verrechnungen über Haus- 
haltungs^ und Reisebedürfnisse und Ausgaben ähnlicher Art, wobei jedes 
»Schachterl Stiwelwix«, jeder »Metzen Habern für des gnädigen Herrn 
Rappen«, jeder als Trinkgeld gegebene Groschen, einmal sogar ein 
»gläsernes s. v. Botschamberl für des gnädigen Herrn Nachtkastel, die^ 
weil das irdene alte durch darein geschüttetes Schaidwasser zerfressen und 
unten löcherig geworden«, die ihm gebührende Kontierung findet. Die 
also ausgegrabenen Notizen ergeben nun, einigermaßen übersichtlich ge¬ 
ordnet, aber mit strenger Fernhaltung aller nicht faktisch in dem betreffen^ 
den Manuskripte nachweisbaren Einzelheiten ungefähr nachfolgendes: 

Die in Gläser gebannten Geister waren das gemeinschaftlich unter¬ 
nommene und glücklich durchgeführte Werk des Grafen Joh. Ferdinand 
von Kueffstein und eines italienischen Magus, Rosenkreuzers, Cabbalisten 
und Theurgen, des Abbe Geloni. Graf Kueffstein hatte diesen geheimnis^ 
vollen Abbe, den Kämmerer wiederholt den »wälischen geistlichen Herrn« 
nennt, und als Mann bezeichnet, »der, weiß Gott! mehr als Birn braten 


5 * 




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Herbert Silberer 


kirnt«, während seiner italienischen Reise, wahrscheinlich gegen Ende der 
Siebzigerjahre in »Galabria« <Kalabrien?> in einer kleinen Stadt, deren 
Name nicht zu entziffern, und zwar in der »osteria al bomo doro« 
kennen gelernt,* man hatte sich gegenseitig sofort als Freimaurer und 
Rosenkreuzer geoffenbart, sich ganze Tage und Nächte lang über ge^ 
heime Wissenschaften unterhalten, und darüber Essen, Trinken und 
Schlafen vergessen. 

Der beiderseitige rege Verkehr führte alsbald zu einem höchst 
intimen Freundschaftsbündnisse, als dessen Resultat wir den Grafen einen 
Zeitraum von mehr als neun Wochen in Gesellschaft seines neuen 
Bruders und Freundes zubringen sehen, und zwar in einem tief im Ge¬ 
birge gelegenen Karmeliterklosters, wo sie beide von den Mönchen mit 
großer Gastfreundschaft und vielen Ehrenbezeigungen empfangen und 
beherbergt wurden. In dem dortigen, wie es scheint, großartig angelegten 
Laboratorio arbeiteten nun die beiden Adepten Tag und Nacht,* durch 
mehr als fünf Wochen durfte das Feuer gar nicht ausgehen, und Käm¬ 
merer, der abwechselnd mit einem uralten Laienbruder hiefür zu sorgen 
hatte, und seiner Versicherung nach bei fast allen stattfindenden ExperL 
menten gegenwärtig war, will hiebei Dinge erlebt haben, daß ihm manche 
mal »die Haare wie bei einem Igel die Stacheln in die Höhe standen«. 
Dort lehrte nun Geloni dem »gnädigen Herrn gleich anfangs nebst vielen 
andern unbegreiflichen Sachen« auch die Kunst, Geister zu »machen«, 
wie denn audi die beiden Herren Adepten innerhalb dieser fünf Wochen 
wirklich zehn Geister zustande gebracht hätten. Es waren: Ein König, 
eine Königin, ein Ritter, ein Mönch <»Münich«>, ein Baumeister, ein Berg^ 
knapp, ein Seraph <Kammerer schreibt ganz köstlich »Sehraff«), eine 
Nonne, endlich ein blauer und roter Geist, welch letztere beide aber für 
gewöhnlich nicht sichtbar waren, und nur mittels einer noch später zu 
erwähnenden Prozedur zum Vorschein kamen. 

Die zuerst erwähnten acht Geister wurden sofort, wie sie der 
geistliche Herr und der gnädige Herr einen nach dem anderen mit kleinen 
silbernen Zangein aus dem Schmelzkolben »herfürfangen thaten« in je 
zwei Maß haltige Gläser, »wie man sie zum Marmelade aufheben braucht, 
nur ein bissei schmächtiger und höcher, aber viel dicker, dass sie einen 
Puff aushalten kunnten«, eingesperrt, die Gläser »geschwinde mit reinem 
Wasser angefüllt <,wird wohl, Gott verzeih mir's, Weichwasser gewesen 
sein', meint Kämmerer mit schlecht verhehlter frommer Entrüstung), so^ 
dann mit einer nassen »Oxenbladern«, welcher der »wälische geistliche 
Herr zuvor segnete, nachgens aber auch weichte und anrührte« zuge* 
bunden und oben darauf ein großes »Sigill« <etwa das Siegel Salo- 
monis?) gedruckt, damit die Geister, »wann sie rabbelköpfisch sein 
möchten, nicht eschappiren kunnten, denn da war ihnen schon ein riegel 
vorgeschoben!« 

Die acht Geister schwammen in ihren Behältern herum <»fast wie 
kleinwinzige Grundeln«, sagt Kämmerer), waren aber keiner mehr als 
eine halbe Spanne lang, worüber der Graf schier den Mut verlor und 
ganz untröstlich war, weil er das mühsame und kostspielige Experiment 
für mißlungen erachtete, was jedoch Geloni durchaus nicht zugeben 
wollte, und dem Grafen lachend versicherte, er würde sich noch »schön 
wundern« wie die »Kerle« wachsen sollten — er wolle ihnen schon da^ 
zu verhelfen, der Graf solle ihn nur machen lassen und ein wenig Ge= 
duld haben, er bürge für alles. 




Der Homunculus 


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So wurden denn die acht Gläser samt Inhalt in einer schönen 
Hochsommernacht »fein fürsichtig, damit die anderen Müniche im Kloster 
ja nichts davon merken sollten«, von den zwei Adepten, dem dienenden 
Bruder Kämmerer und dem alten Laienbruder in den Klostergarten ge¬ 
tragen — jeder hatte die Spedition von zwei Gläsern auf sich genommen, 
damit »der ganze Rummel auf Einmal abgethan wäre und vieles Hin^ 
und Herrennen nicht auf fallen mögt während der nachtschlafenden Zeit« 
— und dort in zwei Fuhren »Maulthierdung « 1 vergraben, welchen der 
Abbe den Abend zuvor hatte herbeischaffen lassen, damit die Geister 
darin »wachsen und zeitigen mogten«. 

Alltäglich bespritzte auf Gelonis Geheiß der Frater Kloster^ 
gärtner, der wohl in das Geheimnis eingeweiht worden, diesen Dünger^ 
häufen mit einem gewissen Liquor, den die beiden Herren ebenfalls im 
Laboratorio mit »großem Fleiß und Müh' preparird hatten« und wozu 
allerlei abscheuliche, vom Abbe »Gott weiß woher« bei geschaffte »Ingres 
dienzia« gebraucht wurden, vor deren Beimischung dem armen Kämmerer 
oft dergestalt ekelte, daß er mehrmals in Gefahr kam, »alles des Tages 
über Genossene bei allen schuldigen Resbekt für die beiden Herren wieder 
herauszuspeihen, so schweinisch und gotteslästerisch waren diese Sachen!« 
—' Für die in Aufruhr geratenen Verdauungsorgane unseres über der^ 
artige Obszönitäten hochempörten Geisterchronisten war es wohl von 
gar keinem Belange, daß ihm der zynische Abbe den uralten Satz: 
»Naturalia non sunt turpia« wiederholt zu Gemüte führte und zur gleich¬ 
zeitigen Beschwichtigung seiner gereizten Magennerven und seiner 
religiösen Skrupel bei seinem <Gelonis) priesterlichen Worte heilig ver^ 
sicherte, die zweckmäßige Verwendung solcher Ingredienzien sei keine 
Sünde, und selbe wären auch »beim Goldmachen nothwendig und gar 
nicht zu entbehren !« 2 

Sogleich nach Bespritzung mit diesem unheimlichen Liquor begann 
der ganze Düngerhaufen zu gären und zu dampfen, wie von’ einem 
unterirdischen Feuer erhitzt. Mindestens alle drei Tage gingen die beiden 
Herren des Abends »wenn alles im Kloster schon ruhig und stille war« 
in den Garten hinab, um bei dem Düngerhaufen fleißig zu beten und zu 
räuchern,* wieder ein neuer Gegenstand des Kummers und Abscheus für 
den armen Kämmerer, der darin eine arge Profanation sah, und sich, wie 
billig, nicht wenig entsetzte, besonders aber ein- oder zweimal, wo er, 
seiner Versicherung nach, die im Innern des Düngerhaufens vergrabenen 
Geister »wie hungrige Mäuse quitschen und pfeifen gehört« hatte, wor^ 
über er »vor Angst bald die Fraiss bekommen!« 

In solcher Weise blieben diese, wie man sieht, je zuweilen gar un^ 
geberdigen und mißlaunischen Geister gute vier Wochen über vergraben. 
Nach Ablauf dieser Frist feierten sie unter »allerhand geistlichen Cere* 
monien«, wobei der Abbe sein Meßgewand angezogen und die Stola 

1 <Das entspricht dem fimus equinus.) 

2 Diese und ähnliche Behauptungen, über welche sich Kämmerer gar nicht 
genug wundern und entsetzen kann und seitenlang darüber faselt, lassen uns fast 
vermuten, daß Geloni jener Sekte der Alchemisten angehörte, die man bezeichnend 
genug, mit dem Namen »Sterkoristen und Seminalisten« zu brandmarken pflegte. 
— <Es wird also im Text ausdrücklich das Goldmachen erwähnt. Man sieht nicht 
bloß wieder einmal die enge Zusammengehörigkeit von Alchemie und HomunkeL 
bereitung, sondern auch diejenige von Mist und Gold, beziehungsweise Verwesung 
und Zeugung.) 





70 


Herbert Silberer 


umgehängt hatte, der Graf aber Psalmen sang und Kämmerer das »Rauche 
fasse!« schwingen mußte, ihre endliche Auferstehung. Trotzdem die Nacht 
»hübsch frisch war, weil es dort im Gebürg schon herbstelte«, arbeiteten 
die vier Wissenden, der Abbe, der Graf, der alte Laienbruder und 
Kämmerer, in guter Eintracht und Brüderlichkeit mit ihren Schaufeln so 
wacker und doch so vorsichtig im Düngerhaufen herum, daß »der Schweiß 
auf der Stirne stund« und sie schon in Zeit einer halben Stunde sämt¬ 
liche acht Gläser ohne daran irgendwelchen Unfall oder Schaden zu ver^ 
Ursachen, ausgescharrt hatten. Die beiden Adepten und ihre Hilfsmänner 
brachten ihre Schätze glücklich und ohne daß sie ein »sterbliches Aeugel« 
gesehen, ins Laboratorium zurück, allwo die Geister auf des Abbe Än^ 
Ordnung noch drei Tage und Nächte im lauwarmen Sandbade dünsten 
mußten. 

Der gute Kämmerer kann sich nicht genug verwundern, wie die 
»Dinger« gewachsen waren, »jedes fast auf anderthalb Spannen lang«, 
so daß ihnen ihre Gläser beinahe zu nieder gewesen. Ausdrücklich be^ 
merkt er, daß sämtlichen männlichen Geistern große Bärte gewachsen 
waren, worunter sich namentlich jener des Mönches, der gar »stattlich 
aber schon stichelhaarig« gewesen, ausgezeichnet habe. Auch die Nägel 
an den Fingern und Zehen der Geister hatten eine so abnorme Länge 
erreicht, daß sie wie »Geierkrallen« ausgesehen, worüber der Graf 
etwas bedenklich den Kopf geschüttelt und gemeint habe, man solle sie 
ihnen doch ein wenig stutzen, was aber der Abbe durchaus nicht zu^ 
geben wollte, weil das schon »so in ihrer Art sei« und man es ver^ 
meiden sollte, sie für nichts und wieder nichts unwirsch <Kammerer sagte 
»grantig«) zu machen. 

Und diese barocke, sinnverwirrende Phantasmagorie bis ins Grenzen^ 
lose zu treiben, meldet Kämmerer weiter, daß sämtliche acht Geister von 
der geschickten Hand des AbbeGeloni, der alles, somitauch das Schneidern »im 
kleinen Finger« hatte, jeder »seinen Stand und Würden« gemäß — be* 
kleidet und mit den ihm zukommenden Attributen, »so alle sehr nett 
geschnützelt waren« versehen wurden: der König mit Purpurmantel, 
Krone und Szepter, die Königin mit einem »ditto Mantel« und einem 
kostbaren Diadem, der Ritter mit Schild, Schwert und Lanze, der 
»Münidh« <dem der Abbe »mit Gewalt« eine Platte geschoren, wie ein 
»Linsl so groß«, wobei ihn der darüber erboste Geist »gar erbärmlich 
in den linken Daumen gebissen !«> mit Kapuze, Kelch und Meßgewand, 
der Baumeister mit Kelle, Zirkel und Winkelmaß etc. — Was die 
beiden Gläser betrifft, worin angeblich der »blaue und rothe Geist« ein¬ 
gesperrt waren, über deren »Bereitung oder Verfertigung« jedoch nichts 
weiteres verlautet, so sah man in ihnen nichts als »pures lauteres Wasser«. 
Wenn aber der geistliche Herr oder der Graf mit einem kleinen silbernen 
Hammer dreimal auf das an der »Oxenbladern« befindliche Siegel klopfte 
und ein kurzes jüdisches Gebetlein dazu sprach, so begann sich das 
Wasser »schön langsam« himmelblau, respektive feuerrot zu färben und 
zeigte sich ein Antlitz »anfangs gar klein, kaum wie ein Hanefkörndl«, 
das aber binnen wenig Minuten wuchs und wuchs, bis es fast die Größe 
eines normalen menschlichen Gesichtes erreicht hatte. Das Antlitz des 
blauen Geistes war dann gar lieblich und fromm anzuschauen, wie das 
»von einem Enger!« — das des roten aber war »käsweiß <?), fräch und 
garstig, wie ein boshaftiger Teufel, streckte auch manchmal die Zunge 
langmächtig heraus und verdrehte die Augen wie ein Hinfallender« 




Der Homunculus 


71 


<ein mit der Epilepsie Behafteter), »dass einem völlig todtenangst dabei 
wurde«. 

Es war im Spätherbst und wahrscheinlich gegen Ende der Siebziger* 
jahre <eine genaue Feststellung der Daten ist untunlich, weil Kämmerer 
bei seinen Anmerkungen immer nur den Monat, selten den Tag, nie* 
mals aber die Jahreszahl verzeidmet hat), daß Graf Kueffstein sich ent* 
schloß, in Begleitung seiner zehn Geister und seines getreuen Famulus 
die Rückreise nach Österreich anzutreten. Letzterer klagt gar bitter über 
die mancherlei Fährlichkeiten, welche sie während der Reise bei jedes* 
maliger Grenzübergehung zu bestehen hatten, weil da die »fürwitzigen 
Kerle immer alles durchstöbern wollen« und für ihr Leben gern gewußt 
hätten, was in den geheimnisvollen Gläsern, die in einem eisen* 
beschlagenen, mit Werg ausgefütterten Koffer sorgfältig verpackt waren, 
enthalten sei. Die mit den betreffenden Notizen fast parallel laufenden 
Ausgabsverrechnungen weisen zur Genüge nach, daß sich der »gnädige 
Herr« entschließen mußte, so manchen sdiönen Goldfuchs springen zu 
lassen, um diese von Kämmerer mit einem so despektierlichen Namen 
belegten, allzu pfliditeifrigen Beamten davon anzuhalten, mit ihren langen 
spitzigen Eisenstäben rücksichtslos und unbarmherzig in seine Reise* 
effekten hineinzubohren und ihm solchergestalt unter seinen maurerischen, 
rosenkreuzerischen und kabbalistischen Schätzen einen unberechenbaren, 
vielleicht gar nicht wieder gut zu machenden Schaden anzurichten. So mag 
es denn allerdings für unsere Reisenden ein gutes Stück Arbeit gewesen 
sein, und eine namhafte Dosis von Geduld, Scharfsinn, Ausdauer und 
Opferwilligkeit erfordert haben, bis es ihnen gelang, trotz aller dieser lästigen 
Investigationsmaßregein sich und ihre Habe möglichst unbehelligt und mit 
heiler Haut in das österreichische Gebiet, wo Graf Kuefifsteins Name 
und geachtete Stellung bei Hofe allein schon als eine Art von Freipaß 
und Geleitsbrief galt, der ihn vor allen weiteren mißliebigen Nörgeleien 
so gut als völlig sicherstellte, glücklich durchzubringen. 

Von weiteren Reisespezialitäten weiß ich nichts anzuführen, als 
daß der Graf sich in der damals wie heute mit Weihrauchduft über* 
schwängerten Atmosphäre seines engeren Vaterlandes Tirol ganz und gar 
nicht behaglich atmen fühlte. (Kämmerer meint pfiffig genug, die dortigen 
geistlichen Herren »die seyen gar feine Hechte« und hätten wohl den 
»Braten gerochen« und der Graf mit seinen »verdächtigen Geistern« habe 
sicherlich guten Grund gehabt, ihren zweifelsohne beabsichtigten 
»Scheerereien aus dem Wege zu gehen, denn«, setzt er sententiös hinzu, 
»der Gscheitere gibt nach!« Es darf uns daher unter so bewandten Um* 
ständen nicht sonderlich wundernehmen, wenn wir die beiden Wanderer 
dem eigentlichen Zielpunkte ihrer Rückreise: »Wien« mit tunlichster Eile 
entgegenstreben sehen . . . 

In Parenthese wäre aber noch einiges über die Pflege der »Geister« 
zu bemerken. Aus Kämmerers hieher gehörigen, relativ sehr ausführ* 
liehen Mitteilungen ist unter anderem zu entnehmen, daß die acht sicht* 
baren Geister alle drei, längstens vier Tage, jeder mit einem »erbsen* 
großen Stücklein« einer gewissen rosenfarbigen Salbe oder Latwerge, 
welches der Graf mit einem »noch ungebrauchten« stählernen Ohrlöfifel* 
chen aus einer silbernen Dose stach, gespeist wurden, sowie auch, daß 
das Wasser aus den Gläsern mindestens alle acht Tage entfernt, und 
dafür frisches destilliertes Quell* oder ganz reines Regenwasser nachge* 
füllt werden mußte. Dieser Wasserumtausch konnte gar nicht schnell 




72 


Herbert Silberer 


genug vollzogen werden, da die Geister inzwischen mit geschlossenen 
Augen und nur schwach und krampfhaft zuckenden Gliedern wie tot 
dahinlagen, und sich erst nach ein paar Stunden wieder völlig erholten. 

Was nun den sogenannten »blauen Geist« betrifft, so fand bei 
demselben niemals eine Speisung statt, auch blieb dessen Wasser fort¬ 
während ungetrübt und bedurfte keines Wechsels, während der rote 
wöchentlich einmal »einen Fingerhut voll« von dem Blute 1 eines frisch 
getöteten Tieres erhielt, zu welchem Behufe der Graf im Laboratorio 
seines »in der Vorstadt« <in welcher wird nicht gesagt) gelegenen Hauses 
immer ein Huhn oder eine Taube eigenhändig zu schlachten pflegte, das 
zur Speisung des Geistes nötige Blutquantum in einem kleinen silbernen 
Becher auffing, den Rest desselben aber ins Feuer warf/ das geschlachtete 
Tier wurde meist einem Dürftigen verabfolgt, da Kämmerer nichts davon 
genießen mochte — »es grauste ihm dafür«! 

Der zur Speisung des roten Geistes bestimmte »Fingerhut voll 
Blut« verschwand nach dem Einschütten in das Wasser, ohne die Farbe 
desselben im mindesten zu trüben, sofort spurlos. Gleichwohl wurde es 
alle zwei bis drei Wochen durch frisches ersetzt, nahm, sobald es nach 
Ablösung der Ochsenblase und des Siegels mit der Luft in Berührung 
kam, mit Blitzesschnelle eine schmutzigrote Färbung an, zischte wie im 
Sieden auf, wurde heiß und dunstig und roch nach faulen Eiern, daher 
Kämmerer sich immer möglichst beeilte, es in den »Ausguß« zu schütten, 
sich auch sehr in acht nahm, seine Hände damit ja nicht zu benetzen, 
weil ihn der Graf einmal davor ausdrücklichst gewarnt und versichert 
hatte, man könne dadurch »grindig und krätzig« werden und kein Mensch 
könne einen mehr davon kurieren . . . 

Als die beiden Reisenden nach Beendigung ihrer maurerischen und 
rosenkreuzerischen Pilgerfahrten endlich in Wien anlangten <wie schon 
oben vermutungsweise angegeben: ungefähr Mitte November der letzten 
Siebzigerjahre — Kämmerer erwähnt einmal flüchtig, daß er die alte 
Kaiserin gesehen, »so die Sechzig schon hinter sich hat« und Maria 
Theresia ist 1717 geboren — >, waren die acht Geister nunmehr völlig 
ausgewachsen,- jeder war fast »zwei Spannen« lang geworden und 
Kämmerer sagt, sie seien ihm in ihrem Wasser und in ihren Gläsern 
»fürgekommen«,- wie die »großmächtigen Adaxln« <Eidechsen>, die man 
bei ihm zu Hause »Krauthahn« heißt, und »die armen Dinger hätten 
ihm bitter erbarmt«, weil sie in ihren Gläsern nicht mehr gut aufrecht, 
sondern nur gebückt stehen konnten, wobei ihnen ohne Zweifel »das 
Kreuz abscheulich weh' thun mußte«! Auf Kämmerers mildherzige Bitten 
wurden die Geister schließlich mit Sitzschemeln bedacht. 

Von der Zeit der Rückkunft des Grafen von Kueffstein in die 
Hauptstadt des österreichischen Kaiserstaates datiert auch die Wiederauf¬ 
nahme seiner schwerlich mühsamen und zeitraubenden Funktionen bei 
Hofe und seine Verbindung mit einer zum Orient von Wien gehörigen 
Loge, deren Name jedoch von Kämmerer nicht genannt wird. Wir er¬ 
fahren von ihm nur, daß sie erst seit zirka zwei Jahren »ordentlich« 
arbeitete, und meist aus hochadeligen Brüdern bestand, welche nach höherer 
maurerischer Weisheit gierig dürsteten und daher nicht verabsäumten, die 
erste sich ergebende günstige Gelegenheit beim Schopf zu erfassen und 
ihren in allen geheimen Künsten so tief eingeweihten neuen Bruder und 


1 <Also die Speisung mit Blut.) 





Der Homunculus 


73 


Standesgenossen zum Meister vom Stuhle zu wählen, was schon im 
darauffolgenden Frühjahr geschehen sein dürfte. 

Es scheint, daß Graf Kueffstein die Teilnahme an seinen mit den 
wahrsagenden Geistern zu veranstaltenden Experimenten ursprünglich auf 
einen sehr engen Kreis von Brüdern, welche sämtlich seiner Loge ange¬ 
hörten, zu beschränken für gut fand, und daß namentlich den Gesellen 
und Lehrlingen der Zutritt bei den zu diesem Behufe abgehaltenen 
magischen Sitzungen insolange ganz und gar verwehrt blieb, bis ihnen 
der Meistergrad gespendet wurde. Kämmerer läßt sich auch einmal eine 
dunkle Anspielung entschlüpfen, daß die zu diesen Sitzungen beige^ 
zogenen Brüder sich durch einen fürchterlichen Eid verbindlich machen 
mußten, sowohl über das Stattfinden derselben, als auch über die in ihnen 
stattgehabten Enthüllungen ein absolutes und unverbrüchliches StilL 
schweigen zu beobachten, nicht nur der profanen Welt gegenüber, sondern 
auch gegen Brüder anderer Logen oder Systeme. Ob Kämmerer bei 
solchen Versammlungen zugegen gewesen, geht aus seinen verworrenen 
Andeutungen nicht klar hervor. 

Kämmerer erzählt ferner so manches von den stupenden Leistungen 
der Geister, womit selbe, wenn sie gerade »gut aufgelegt« waren, die 
erstaunten Brüder, und in erster Linie ihren erhabenen Herrn und 
Meister selbst, zu regalieren beliebten, und welche in Enthüllungen der 
wunderbarsten Art und in Prophezeiungen, welche »fast immer« ein^ 
trafen, bestanden haben sollen. 

Bei schlechter Laune waren sie freilich über die Maßen »bock^ 
beinig und gar nicht zu tractiren« und dann kam entweder Unsinn oder 
aber irgendein zweideutiger Orakelspruch zum Vorschein, in welchem 
sich auch der scharfsinnigste »Spintisirer« nicht zurechtfinden konnte. 
Leider erfahren wir nicht, in welcher Weise derartige Manifestationen 
oder Kundgebungen der Geister zutage traten und ob sie die gestellten 
Anfragen auf mündlichem oder schriftlichem Wege erledigten, wie ja 
letzteres nach den bündigsten Versicherungen gläubiger Spiritisten noch 
heutzutage, wenngleich unter wesentlich modifizierten Bedingungen zu 
geschehen pflegt. Dagegen werden wir belehrt, daß jeder der Geister sein 
ihm ausschließend zugewiesenes Gebiet kultivierte, welches er niemals 
überschreiten konnte und durfte, und so gab denn der König und die 
Königin über politische und namentlich das Geschick verschiedener 
Dynastien betreffende Fragen, der Mönch und die Nonne über religiöse 
und der Architekt über frei maurerische Angelegenheiten mehr oder 
minder erschöpfende Auskünfte, während sich der Ritter mit kriegerischen 
und adeligen Dingen befaßte und der Seraph über alle Vorfallenheiten 
im Bereich der Lüfte, der Bergknapp über alle Geschehnisse auf und in 
der Erde sich verbreitete. 

Freilich standen alle diese im Grunde doch nicht allzu gering anzu^ 
schlagenden Leistungen hinter jenen des sogenannten roten und blauen 
oder besser gesagt blauen und roten Geistes <ä tout Seigneur tout honneur !> 
noch weit zurück. Kämmerer beteuert wenigstens ganz ernsthaft: Für 
diese zwei sei »nichts zu hoch, nichts zu tief« gewesen,* was »Gott im 
Himmel und Satan in der Hölle« eben getan, sie hättens gewußt und 
oft auch gesagt,* die zwei waren unstreitig die »Hauptgeister« und alle 
anderen »rein nichts dagegen«! 

Viel des Wunderlichen, Unglaublichen und Aberwitzigen möchte 
noch aus Kämmerers so einfach, treuherzig und harmlos hingeworfenen 




74 


Herbert Silberer 


Notizen auszuheben sein, träte nicht bei den meisten derselben der 
relativ jedenfalls bedauerliche Umstand, daß sie durch den Mangel ihres 
Anfangs oder Endes meist aller Verständlichkeit bar geworden, deren 
Wiedergebung hemmend in den Weg. Nur eines Faktums soll nun noch 
gedacht werden. 

Als Kämmerer eines schönen Morgens in das Geisterkabinett ge¬ 
treten, um dort, wie er dies täglich zu tun pflegte, mit seinem Pfauen* 
schweifwedel die auf ihren Stellagen befindlichen Gläser abzustäuben, sah 
er zu seinem nicht geringen Entsetzen das Glas des Königs mit Aus* 
nähme seines Wasserinhaltes ganz und gar leer, den ausgeschlüpften 
Geist aber oben auf dem Glase der Königin boshaft grinsend »hucken« 
und eifrig damit beschäftigt, mit seinen langen, krallenartigen Nägeln das 
Siegel abzukratzen oder die Blase durchzubohren/ er war augenscheinlich 
von der böswilligen Absicht beseelt, seiner Gefährtin entweder gleich* 
falls zur Freiheit zu verhelfen, oder aber, von heißen Liebeswehen ge* 
trieben, zu ihr ins Glas zu gelangen 1 . Auf Kämmerers Zetergeschrei 
über solch augenscheinliche Ungebühr stürzte Graf Kueffstein nicht wenig 
erschreckt im Schlafrock zur Türe herein, und nun begann eine vom 
regsten Wetteifer befeuerte Hetzjagd, während welcher das Objekt der* 
selben, der gespenstige kleine Deserteur, wie ein wildes »Eidhkatzl« von 
»Möbel zu Möbel« sprang und wie ein Satan dazu kreischte, bis er 
endlich nach nicht allzulangem Wüten, weil des gewöhnten tropfbar^ 
flüssigen Elementes entbehrend, in halber Ohnmacht zusammenbrach und 
sich von seinem bereits atemlosen und schweißtriefenden Zwingherrn, an¬ 
scheinend geduldig und in sein Los ergeben, haschen ließ, wobei es ihm 
gleichwohl noch mit Zusammenraffung seiner letzten Kräfte gelang, das 
Gesidit, und namentlich die Nase des Grafen in häßlich entstellender 
Weise zu zerkratzen. Bei seiner Reinstallation in das kaum verlassene 
kristallene Gefängnis zeigte es sich nachträglich, daß die zuletzt ge* 
schehene Aufdrückung des Siegels in nachlässiger und unvollständiger 
Weise vollzogen und hiedurch unmittelbar der beabsichtigte Flucht* 
versuch veranlaßt und ermöglicht worden war. Um diese trübselige 
Historia in einigermaßen heiteren Tönen ausklingen zu lassen, teilt uns 
Kämmerer schließlich mit, daß »der gnädige Herr« ob seiner bei dieser 
Affäre arg mitgenommenen Nase sich durch beinahe vierzehn Tage des 
»Tobaks« enthalten mußte, was ihm, da er ein leidenschaftlicher Schnupfer, 
»gar hart angekommen«. 

Wie lange sich Graf Kueffstein den Besitz dieser seiner, wenn der 
Ausdruck gestattet ist, leibeigenen Geister zu sichern, und wie er sie 
fernerweitig für seine kaum über das Bereich höherer Gaukelei und ver* 
dächtig flunkernden Firlefanzes hinausgehenden magischen Zwecke aus* 
zubeuten wußte, wie sich deren weiteres Schicksal gestaltet, und was 
überhaupt aus ihnen geworden, darüber lassen uns die schon genannten, 
nicht nur fragmentarischen, sondern auch in Form und Anlage in vorn* 
herein verkrüppelten Behelfe und Quellen vollständig im unklaren. Eine 
Notiz mit der Jahreszahl 1781 in A. F . . . e's maurerischem Collectaneen* 
Buche vermeldet einfach, Graf K . . f . . n habe auf die direkte Abfrage 

1 Es ist rein unmöglich, auch nur andeutungsweise wiederzugeben, auf 
Grund welcher Symptome Kämmerer sich zu letzterer Annahme hinneigt. Bemerkt 
sei nur, daß seine diesfällige Wahrnehmung jedenfalls einen neuen und wichtigen 
Beleg hiefür liefert, wie grobsinnlich und materiell die Natur und Wesenheit dieser 
sogenannten »Geister« beschaffen war. 





Der Homunculus 


75 


eines intimen Freundes: »Wie es denn mit seinen ,vertracten' Geistern 
stehe ?« kurz ah fertigend geantwortet: Er habe sich ihrer längst »ent- 
äussert« und wolle von diesen »Höllenbränden« nichts mehr wissen, da 
seine Gemahlin und sein Beichtvater wiederholt in ihn gedrungen, sein 
Seelenheil durch solchen gotteslästerlichen Unfug nicht länger zu ge^ 
fährden. 

Wer von mir etwa Aufklärung dieser etwas rätselhaften Ge^ 
schichte erwartet, wird enttäuscht sein, wenn ich diesbezüglich voll¬ 
kommen versage. Es ist umsonst, sich in Konjekturen zu versuchen ,* 
jede Theorie, die man aufzustellen versucht, und die ein Argument 
für sich hat, hat deren ein Dutzend gegen sich. Für unsere Zwecke 
genügt übrigens, was auf alle Fälle feststeht, nämlich daß die wüste 
Homunkeliade einem ausschweifenden Spiel der Phantasie einer oder 
eher mehrerer Personen ihren Ursprung zu verdanken hat — einem 
Spiel, das vielleicht durch irgendwelche konfuse oder mißverstandene 
wirkliche Experimente angeregt worden, und einer Phantasie, die mit 
unverdauten alchemistisch - magischen Brocken angefüllt war. Was 
nun daraus entstanden ist, weist <und eben deshalb hat die Geschichte 
hier ihren Platz gefunden) erst recht, trotz allen Ausschmüdcungen 
und tollen Seitensprüngen, wieder mit einer gewissen Breite jene 
Motivenfolge auf, die für die alchemistische <und mythologische) 
Homunkelerzeugung charakteristisch ist, und, wie gezeigt worden, 
die Anhaltspunkte zu psychanalytischer Auflösung der Grundidee 
liefert. Nicht, daß Kämmerers Geschichte prinzipiell neue Motive 
brächte,- die Art vielmehr, wie sich die unveräußerlichen Grundmotive 
immer wieder durchsetzen, weil sie sozusagen inneren Anklang 
finden und also nicht umzubringen sind, das ist das Interessanteste. 
Hier waltet die gleiche Kraft, die wir auch als die mythenerhaltende 
sdiätzen gelernt haben. Hinter ihr stehen selbstverständlich seelische 
Urmotive als das ewige Treibende. 

Der aufmerksame Leser wird gewiß selbst die vorbesprochenen 
alchemistisch^mythologischen Motive in Kämmerers Erzählung 
wiedergefunden haben. Ich will nur einige kurze Hinweise hersetzen. 
Die Homunculi sind in Gläsern, die mit Wasser angefüllt werden. 
Das entspricht dem »philosophischen Ei«,* daß aber das »philosophische 
Ei« zu dem mit der Geburt des Sagenhelden so häufig verknüpften 
Motiv des Kästchens und der Flut in Parallele zu setzen ist, darauf 
habe ich schon oben hingewiesen. Es handelt sich dabei um einen 
mythisaien Ausdrude für Zeugung und Geburt im Dienste von sag¬ 
bildenden Tendenzen, deren ausführliche Erörterung weit über den 
Rahmen dieser kleinen Studie hinausgehen würde,- vom Standpunkte 
der Psychoanalyse wäre da in erster Linie natürlich der von Rank 1 
herangezogene »Familienroman« des Neurotikers zu erwähnen. Der 
Punkt, wo der »Familienroman» sich am nächsten mit der Ho- 
munkelkonzeption im allgemeinen berührt, ist, beiläufig bemerkt, die 


1 »Der Mythus von der Geburt des Helden.« Leipzig und Wien 1909. 






76 


Herbert Silberer 


Trotzphantasie des »Bessermadhens«, d. h. eine Tendenz, die auch 
für den »Familienroman« zum Teil grundlegend ist. Ein paar Be^ 
merkungen über die Tendenz der Homunkelphantasie sollen übrigens 
am Schlüsse folgen. Die Gläser, worin die Geister gehalten werden, 
sind natürlich reine Verdopplungen des Schmelzkolbens, in dem die 
Homunculi gleichsam ausgebacken werden. Das Ausbacken ist ja 
ein bekanntes Bild für das Werden des kleinen Kindes. So wie es 
von dem alchemistischen »Kinde« heißt, daß es in neun Monaten 
in dem philosophischen Ei reife, so können wir von den Geistern 
konstatieren, daß sie nach neun Wochen fertig sind,* Tage, Wochen 
und Monate stehen, wie man weiß, häufig füreinander,- in alche¬ 
mistischen Büchern wird dies sogar nicht selten eigens angemerkt. 
Das Wasser in den Gläsern, dieses Wasser, dessen die Geister 
zum Leben bedürfen, ist einerseits jenes mythische Wasser <des 
Lebens und des Todes), woher alles sein Leben nimmt, anderseits, 
in engerer Fassung, das Fruchtwasser, während wir in dem Gefäße 
<Schmelzkolben, Glasbehälter) den Uterus zu erblidcen haben, dessen 
Wärme sowohl in der Feueroperation mit dem Schmelzkolben als 
in dem Vergraben der Gläser in dem infolge der Besprengung mit 
gewissen Flüssigkeiten sich erwärmenden und dampfenden Misthaufen 
<tierischer Dung) zum Ausdruck kommt. Noch einleuchtender wird die 
Sache für jeden, der dieser Art Symbolik zugänglich ist, indem man die 
Flüssigkeit zur Erhitzung des venter equi <Uterussymbol) als eine sper¬ 
matische erkennt. Brabbee läßt uns ja deutlich genug die Natur der 
Flüssigkeit erraten, indem er die Laboranten zu den Seminalisten und 
Stercoristen rechnet. Auch der Urin wird in seiner stellvertretenden 
Rolle dabei nicht gefehlt haben, in jener Rolle nämlich, vermöge welcher 
z. B. aus der urindurchtränkten Stierhaut OriomUrion entsteht. Auch 
die Alraune entspringt aus dem Urin oder Sperma. Das Wasser, 
worin die Geister schwimmen, kommt, wie ich beiläufig bemerken 
möchte, ebenfalls bei den Alraunen vor, und zwar in Form des bei 
ihnen erwähnten Bades, das zu ihrer rituellen Pflege gehört. Das 
zur Ernährung der Geister dienende Blut, beziehungsweise der ihm 
gleichwertige rötliche Stoff <der eigentlich die rote Tinktur der Alche^ 
misten vertritt) ist einerseits bekanntermaßen mythischer Lebensträger 
und spermatische Materie und hat anderseits, wie sich durch alchi¬ 
mistische Parallelen erweisen ließe, Beziehungen zur intrauterinen Er¬ 
nährung. Der himmelblaue Geist und der rote Geist haben etwas 
Korrespondierendes in der Alchemie, worauf hier nicht näher einge¬ 
gangen werden kann. Die Gefahr, bei Berührung mit dem Wasser 
der Geister grindig zu werden, kennzeichnet es <vermöge gewisser 
mythologischer Beziehungen) abermals als Lebenswasser. Das Sigill, 
womit die Flaschen magisch^hermetisch verchlossen werden, hat auch 
seine gute psychanalytisch zugängliche Bedeutung,- es ließe sich viel dar^ 
über sagen,- ich will nur schlagwortartig andeuten, daß man das Siegel 
sub specie eines Verbotes oder der Hemmung eines verbotenen 
Tuns betrachten kann. Das Verbot ist geknüpft zu denken an die 




Der Homunculus 


77 


Idee der unnatürlichen Zeugung. Zu zeigen, wie diese weiter mit 
dem Inzest zusammenhängt, ist diesmal mein Vorhaben nicht. 

Die Flaschengeister haben, wie die Homunculi und Alraunen 
überhaupt, phallischen Charakter. Man erinnere sich der phallisch ge¬ 
stalteten Mandragoren. Glückbringende Kleinodien weisen ohnehin 
im allgemeinen auf phallische und verwandte Urformen hin. Was 
die Flaschengeister im besonderen angeht, sei auf ihre Größe von 
einer Spanne, ihre Fähigkeit zu wachsen, sowie auf ihr Zusammen¬ 
schrumpfen oder Hinfälligwerden hingewiesen. Der phallische Cha¬ 
rakter bewährt sich auch an der Episode des Königs und der Kö^ 
nigin. Man gedenke auch des Würmchens Samir, sowie des roten 
Tuches, in das die Springwurzel fällt. 

Meine Ausführungen dürften zur Genüge gezeigt haben, daß, 
was ich zu Beginn sagte: nämlich daß die alchemistische Symbolik 
sich an vielen Punkten in die »völkerpsychologischen Parallelen zu 
den infantilen Zeugungstheorien« einfügen ließe, — auch im beson¬ 
deren von der Bereitung des Homunculus gilt. Indem ich nur noch 
darauf hindeute, daß die Homunkelidee in den mythologischen Par¬ 
allelen speziell mit Schöpfungsmythen zusammenhängt, will ich von der 
Form der Homunkelsymbolik nichts weiter sagen. Vielleicht mögen 
aber ein paar zusammenfassende Worte über die Tendenz des 
Homunkelgedankens am Platze sein. Weit entfernt von der Meinung, 
dafür eine gründliche Lösung bieten zu können, will ich zwei Haupt¬ 
momente hervorheben. 

Der Umstand, daß sich aus der »materia homunculi«, d. h. 
aus dem unnatürlich verwendeten Sperma <oder dem gleichwertigen 
Stoffe) Monstra mit übernatürlichen Fähigkeiten 1 * * entwickeln, ja, 
daß sich überhaupt etwas daraus entwickeln soll, ist als eine Art 
Ersatzphantasie anzusehen, die nach einer Bemerkung von Freud 
am besten aus einer Hochschätzung der Onanie zu erklären wäre. 
Die Idee wäre die, der unfruchtbaren Onanie das ihr Fehlende in 
erhöhter Qualität anzudichten. Phantasien, die eine nicht vorhandene 
Fruchtbarkeit vorspiegeln, sind z. B. in Träumen oft genug beobachtet 


1 Allgemeiner gesagt, kommen überhaupt bei anomaler, insbesondere bei 
künstlicher Zeugung vorzugsweise Sprößlinge mit außergewöhnlichen Fähigkeiten 
vor. Der Eisenhans, den sich <bei Haltrich, »Siebenbürgisch^Deutsche Volks~ 
bücher«, II 4 , Nr. 17) ein Mann schmiedet, entwickelt ungeheure Kräfte und er^ 
wirbt seinen Eltern Reichtum. Ludwig Laistner, »Rätsel der Sphinx«, II, p. 392, 

erwähnt, daß sich Ilmarinen ein Weib aus Kupfer schmiedet, Hephaistos goldene 
Mägde, goldene und silberne Hunde. Die schwäbische Redensart »eins bästeln« 

(bästeln = fabricare) bedeutet: spurium gignere. »Das vielgedeutete Wort Bastard 
könnte einen solchen Gebästelten, Geschmiedeten meinen, der ohne eines Vaters 

Zutun entstand,- wenn in einer altnordischen Sage ein Heldenschwert namens 
Bastardhr, Basthardhr vorkommt <Grimms Wörterb. 1, 1150), so wird das wohl 
ein vom Schmieden hartes sein. Nach Hesiod <Theog. 927) war Hephäst nur 
seiner Mutter Sohn, ein anderer Bericht weiß, daß er %s%vi(iöiv ävev Atög zu= 
stände kam <RLM I 2048). Vielleicht deutete man seinen Namen als SqpcuöTog, 
a'b'töqpcuöTog, selbstgebästelt, und der ganze Mythus ruht auf einer falschen 
Etymologie wie zahllose erklärende Sagen auch.« 





78 


Herbert Silberer 


worden. Ein hübscher Fall ist der eines noch nicht völlig aufgeklärten 
Mädchens, das sich an einer Tischkante sexuell befriedigt hat und 
dann im Traume eine Menge hölzerner Kinderbekommt. Daß auch die 
häufig in psychischer Verknüpfung mit Onanie stehenden Schuld^ 
oder Angstaffekte zu beachten sind, insofern nämlich die Monstra 
schrecklich sein können, wurde schon bemerkt. Wir werden gut tun, 
in betreff der »Hochschätzung« nicht bei der Onanie im engeren 
Sinne stehen zu bleiben, sondern zu erweiterter Bedeutung fort¬ 
zuschreiten, die dem allgemeineren Begriff von unnatürlicher Sexual¬ 
befriedigung überhaupt zustrebt. Ist doch, wie wir bei Paracelsus 
sehen, jeder unregelmäßig verwendete Same »materia homunculi«, 
und handelt es sich doch auch beim biblischen Onan <Motiv des fallen 
gelassenen Samens) nicht gerade um Masturbation 1 , welche vielmehr 
als ein Spezialfall angesehen werden kann. Rank bringt <in den 
Völkerpsychologischen Parallelen) Onans Verhalten zum Inzest in 
interessante Beziehung. Thamar 1 wird von Juda in Blutschande be¬ 
fruchtet. »Daß die Durchsetzung dieses Inzests auch hier die Trieb¬ 
kraft für die Sagenbildung abgibt, lassen einzelne Hinweise noch er¬ 
kennen, insbesondere der auffällige Tod der zwei Söhne Judas, die 
sich der Thamar nahen, ohne sie zu befruchten: ihr Mann und dessen 
Bruder Onan. Juda verspricht ihr dann seinen dritten Sohn Sela, 
bis er groß geworden ist. »Denn er gedachte: Vielleicht möchte 
er auch sterben wie seine Brüder.« In diesem vom Standpunkt 
des Vaters gearbeiteten Mythos, der in der Beseitigung der uner¬ 
wünschten jüngeren Konkurrenten an die von Jung <1. Jahrb., p. 171 f.) 
aufgeklärte Tobias-Geschichte gemahnt, tritt also der Vater als be¬ 
fruchtender Ersatzmann für den zeugungsunfähigen Sohn <Onan) ein, 
wie in der Rüben-Sage der Sohn für den alten Vater. Der auf die 
Erde gefallene Same Onans, der weiter in der Sage keine Rolle mehr 
spielt, muß ursprünglich der symbolische Ersatz einer verbotenen Be¬ 
fruchtung <Inzest) gewesen sein, da in allen anderen Überlieferungen 
das auf die Erde getropfte Sperma oder Blut <Uranus, Anepu) be¬ 
fruchtend wirkt. So auch in der griechischen Sage von Erichthonios, 
der entsteht, indem die jungfräuliche Athena sich der Umarmung 
des brünstigen Hephaistos zu entziehen weiß und den auf ihrem 
Schenkel vergossenen Samen auf die Erde wirft, die denschlan- 
genfüßigen Erichthonios hervorbringt. Doch gilt diese Erzählung 
allgemein als Abschwächung einer älteren Fassung, der der Ge¬ 
schlechtsverkehr der Athena noch nicht anstößig war.« 

Das zweite wichtige Moment ist das Motiv des Bessermachens 


1 Onan soll <1. Mose 38) auf Befehl seines Vaters Juda das Weib seines 
verstorbenen Bruders, Thamar, beschlafen, um seinem Bruder Nachkommen zu 
verschaffen. »Aber da Onan wußte, daß der Same nicht sein eigen sein sollte (die 
Kinder hätten als rechtmäßige Nachkommen seines Bruders gegolten), wenn er sich 
zu seines Bruders Weib legte, ließ ers auf die Erde fallen, und verderbte es, auf 
daß er seinem Bruder nicht Samen gebe« <38, 9). Thamar wird dann unerkannter^ 
weise von ihrem Schwiegervater Juda in Blutschande befruchtet. 





Der Homunculus 


79 


oder, im Speziellen, das Besser-Zeugen. Audi dieses Motiv bewährt 
sich in der übermenschlichen Beschaffenheit der Homunculi. My¬ 
thisch setzt der Bildner der Menschenwelt in einem überaus ver¬ 
breiteten Typus von Schöpfungssagen sein Werk besserer Ordnung 
dem älteren einer unvollkommenen Ordnung entgegen. Sofern aus 
der Homunculusbereitung das Motiv des Besser- Zeugens von selbst 
hervorsticht, genügen meine obigen Ausführungen,- für eine tiefere 
Begründung, die sich in wenigen Worten nicht erledigen läßt, muß 
ich wieder auf mein schon genanntes Buch verweisen. 

Wir haben mit einem Motto aus »Faust« angefangen. So lassen 
wir denn das Leitmotiv des Besser - Zeugens, zu dem wir zum 
Schlüsse zurückgekehrt sind, in diesen Worten des Wagner <»Faust«, 
II. Teil, 2. Akt, 2> ausklingen: 

» . . . wie sonst das Zeugen Mode war 
Erklären wir für eitel Possen. 

Der zarte Punct aus dem das Leben sprang. 

Die holde Kraft, die aus dem Innern drang 

Und nahm und gab, bestimmt sich selbst zu zeichnen. 

Erst Nächstes, dann sich Fremdes anzueignen. 

Die ist von ihrer Würde nun entsetzt,- 
Wenn sich das Tier noch weiter dran ergetzt. 

So muß der Mensch mit seinen großen Gaben 
Doch künftig reinem, hohem Ursprung haben.« 







80 


Hanns Sachs 


Homers jüngster Enkel. 

Von HANNS SACHS <Wien>. 

Unsere Zeit verarmt durch ihren Reichtum. Damit das innige 
und reine Gefühl für irgendein Stüde Außenwelt in uns aufblühe, 
müßten wir uns ihm mit allen unseren Sinnen zu eigen geben, und 
wie wäre das möglich, da stündlich neue Gegenstände auf uns ein¬ 
stürmen, die unser Interesse an sich reißen wollen und uns am 
Mantel zerren wie die zudringlichen Bettlergedanken den Zeus am 
Weltenturm? Ehemals blieb die Alltagsumgebung eines Menschen, 
solange er lebte die gleiche, so daß sie mit allen Fasern seines Wesens 
verwuchs,- das Ungewohnte, das in sein Dasein trat, gewann durdi 
seine Neuheit lebhafte Farbe, die auch in der Erinnerung nicht 
verblaßte. Der Durchschnittsbildungsmensch von heute hat, ehe seine 
Reifejahre erreicht sind, einen kaum mehr ersdhleppbaren Erinne¬ 
rungsbündel von Landschaften und Städtebildern, Kunstwerken und 
Naturwundern gesammelt,- jeder Ferientag trägt neue hinzu und 
auch die Heimat ändert ihr Antliz von Jahr zu Jahr. Wenn er die 
Tagesneuigkeiten in seiner Zeitung überfliegt, ein paar illustrierte 
Journale durchblättert oder gar in ein Kino geht, hat er in einer 
Stunde mehr interessante Gegenstände gesehen, seiner Phantasie — 
das Wort im weitesten Sinne — mehr Nahrung gereicht, als etwa 
dem Dichter des cherubinischen Wandersmannes während der langen 
Jahre gegönnt war, die er am Hofe des Herzogs Nimrod zu Öls 
verlebte. Wenn dem Angelus Silesius und den besten Geistern 
seines Jahrhunderts die Welt hinter einem Nebel von Mystik 
entschwand, weil sie in ihrer Einförmigkeit, Öde und Nüchternheit 
allzu unerträglich war, so entgleitet sie unseren Sinnen, weil sie zu 
bunt und überquellend für unsere Fassungskraft geworden ist. 
Dazu kommt, daß die Fähigkeit, die Naturerscheinungen klar und 
sachlich zu betrachten, heute nicht mehr in so innigem Zusammen^ 
hange mit der wissenschaftlichen Forschung steht, wie noch für Goethe 
und seine Zeitgenossen. Das schärfste Auge kann das Mikroskop 
und das Reagensglas nicht ersetzen, es kann nur, selbständiger 
Beobachtung entsagend, in ihren Dienst treten. Die exakte Natur^ 
forsdhung hat uns unendlich gefördert, aber die Dinge, die sie uns 
zeigt, sind nicht dieselben, die wir mit unseren Alltagsaugen er¬ 
blicken. 

Diese Wandlung der Zeiten findet ihren stärksten Ausdruck 
in der Kunst und ihrer Entwicklungsrichtung. Wir erwarten von 
dem Dichter nicht die Vermittlung eines Weltbild ^Bruchstückes, son¬ 
dern daß er uns möglichst unmittelbar und umweglos zu einem 
Blick in die Tiefen seiner Persönlichkeit verhelfe. Einst war seine 
Aufgabe anders: Er war dazu bestimmt, die Pforten der Welt vor 
seinen Hörern aufzureißen, Menschen und Dinge vor sie hinzu^ 
stellen,- nur von ferne ließ sich der Schöpferhauch ahnen, aus dem 




Homers jüngster Enkel 


81 


das alles, was sich so selbständig und eigenwillig durcheinander^ 
tummelte, entsprossen war. Die künstlerische Persönlichkeit ver^ 
schwand hinter dem Werke,* wie ein Licht, das hinter einem Trans¬ 
parent die Farben aufglühen läßt, verriet sie sich nur durch die 
innige Erfassung und Durchseeltheit aller Figuren und Schauplätze. 
Dies: die Welt mit eigenem Geist zu beleben und so dem Men¬ 
schen die seelenlose, ihm tieffremde Außenwelt, vor der ihm graute, 
vertraut und den ersten Schritt hinaus leichter zu machen, war die 
große Sendung Homers und seiner Vor- und Nachfahren. Heute, 
so scheint es, ist die Aufgabe gelöst, die Sendung überflüssig und 
die Sippe Homers bestimmt zu verlöschen. 

Wäre dem so, dann hätte die Reihe der Sänger und Seher 
einen Abschluß gefunden, der ihrer würdig ist,* Carl Spitteier, der 
jüngste Enkel Homers, ist seiner großen Ahnen wert. Damit soll 
nicht gesagt sein, daß er als spätgeborner Sprosse einer alten Fa¬ 
milie in unsere Welt nicht mehr hineinpaßt. Daß er geistreich 
sein kann wie der beste moderne Franzose, ein tiefer und zarter 
Psychologe wie die großen Russen, hat er in »Imago« bewiesen. 
Aber Geist und Simplizität, Psychologie und Gegenständlichkeit 
sind ihm nur Mittel, die er niemals über ihren Zweck hinaus ver¬ 
wendet. Er hält seinen Witz und Tiefsinn gleich fest am Zügel. 
Die Umrisse seiner Persönlichkeit lassen sich aus seinen Werken 
kaum erraten, weil er immer mit seinem ganzen Selbst in den 
Dienst des künstlerischen Zweckes tritt. So kann man z. B. nicht 
mit Sicherheit entscheiden, ob der im »Olympischen Frühling« so oft 
und ingrimmig betonte Pessimismus wirklich die Grundanschauung 
des Dichters ist, oder ob er nur aus künstlerischen Gründen als 
ein Gegengewicht von Dunkel und Bitternis notwendig war, damit 
die lautere Schönheit und Anmut des Werkes nicht ans Süßliche 
gemahne. Überall tritt uns das Kunstwerk als selbständige Welt 
entgegen, der Schöpfer bleibt uns so unbekannt, wie der blinde 
Sänger, um dessen Geburtsstätte seine Volksgenossen wie die 
Philologen um seine Existenz stritten. »Ich dachte mich triffts, ob 
ich leide. Den andern, dacht 7 ich, schuld' ich heit're Ohrenweide.« 

Nun hat uns dieser Meister der Kunst des Unsiditbarmachens 
ein Büchlein beschert, das ganz und gar nur von seiner Person 
handelt, 1 und zwar von jener Zeit, die seiner eigenen Meinung 
nach für die Entwicklung seiner Persönlichkeit weitaus die wichtigste 
war. Nehmen wir gleich vorweg, daß dies dieselbe Lebenszeit ist 
von der Freud ganz allgemein behauptet, daß in ihr die Grund¬ 
risse für den ganzen künftigen Lebens- und Charakterbau gezogen 
werden, die Zeit bis zum vierten Lebensjahre. Die großartige 
Selbsterkenntnis des Künstlers über seinen frühesten Werdegang 
wird allerdings durch einen besonderen Ausnahmsumstand erleich- 

1 »Meine frühesten Erlebnisse«, Süddeutsche Monatshefte, Heft 1—4 <Ok=^ 
tober 1913 bis Januar 1914). 

Imago III/l 


6 





82 


Hanns Sachs 


tert: Seine Erinnerungen reichen zurück bis zum Ende des ersten 
Lebensjahres — und alle, selbst jene, die aus der allerersten Epoche 
stammen, zeichnen sich durch Genauigkeit der Nebenumstände und 
eine klare Bestimmtheit aus, wie sie frühesten Kindheitserinnerungen 
sonst nicht zu eigen zu sein pflegt. Gedächtnislücken finden sich 
auch bei ihm, aber manche von den wichtigsten Gefühlen und Ein^ 
drücken des Kindes sind in vollkommener Frische aufbewahrt worden, 
während sonst nur ein oder das andere gleichgiltige Bild, bloße 
»Deckerinnerungen«, von der Amnesie verschont zu werden pflegt. 

Es ist nicht unsere Aufgabe, den Dichter auf seinem ersten 
Welteroberungszug zu begleiten,- auch wäre es schade, eine Wieder¬ 
gabe zu versuchen, in der der köstliche Schimmer von Humor 
und Poesie verwischt würde, den Spitteier über seine Erzählung 
ausgegossen hat. Er ist imstande in seiner Reife so echt kind^ 
lieh zu sein, daß man sein Gefühl, seine Persönlichkeit sei noch 
heute in jenem Kindheits-Ich am reinsten abgedrückt, zu teilen ge¬ 
zwungen wird. 

Wir sind es gewohnt, durch Analysen zu erfahren, daß der 
Traum aus den Quellen der Kindheit schöpfe. Auch darin bewährt 
sich die Verwandtschaft von Traum und Poesie: Spitteier weiß sich 
noch manches Eindruckes zu entsinnen, aus dem er seine herr¬ 
lichsten Gesichte geformt hat, und der Kindheitsstimmung, die ihn 
damals überglänzte. Diese Objekte freilich, ein Baum oder eine 
Felswand, ein freier Ausblick oder ein fließendes Wasser, sind 
an sich durchaus alltäglich und gewöhnlich. Den großen Affektwert, 
der so dürftige Gegenstände zu seiner monumentalen Verwen^ 
düng tauglich macht, verdanken sie offenbar ihrer Herkunft aus 
dem kindlichen Seelenleben,- der Künstler bildet seine Werke aus 
demselben Material, wie der Durchschnittsmensch seine Träume. 
Wir gehen ja schon längst von dieser Ansicht aus und einmal 
schon 1 wurde an dieser Stelle die Vermutung hingeworfen, daß die 
Gestalten des gewaltsamen, tyrannischen Vaters und der zarten 
leidenden Mutter die im »Leutnant Konrad« und in den »Mädchen¬ 
feinden« ähnlich wiederkehren, aus des Dichters eigener Kindheit 
stammen. Das bestätigt sich durchaus,- ein Großoheim und Haus^ 
genösse des Dichters, übrigens auch ein »Götti« wird geschildert: 
»Er sah auch wirklich fürchterlich aus: eine wuchtige Gestalt, ein 
Gesicht wie ein Menschenfresser, eine abenteuerlich getigerte Haut, 
blutunterlaufene rollende Augen« — Zug für Zug der Vater Reber, 
mit dem er auch die Geschäftstüchtigkeit gemeinsam hat. Das schlechte 
Verhältnis zum ältesten Sohn und die leidende Frau, die in beiden 
Erzählungen wiederkehren, sind demselben Vorbild entnommen. Ist 
der Vater Konrads hauptsächlich nach dem Götti gebildet, so trägt 
wiederum der Götti Statthalter sehr deutlich Züge des eigenen 
Vaters. So die Freude an den »unverdorbenen, urwüchsigen Buben«, 


1 »Imago«, II. Bd., 1. H. 





Homers jüngster Enkel 


83 


die Auflehnung gegen Erziehungsregeln und Anstandszwang, die 
Leutseligkeit und das Popularitätsbedürfnis, schließlich auch Körper¬ 
kraft und Stimmgewalt. Natürlich ist damit nicht gemeint, daß es 
dem Dichter um Porträtähnlichkeit bewußt oder unbewußt zu tun 
gewesen sei,* die Einzelzüge, die ihm sein Kindheitsgedächtnis über^ 
lieferte, sind nach den Erfordernissen des künstlerischen Zweckes 
verwendet worden, der allerdings selbst wieder jenseits jeder per¬ 
sönlichen Willkür liegt. 

Wie schon erwähnt, war die Frau des »Götti« zart und 
kränklich, ebenso auch die Großmutter des Dichters, die ihm in der 
Kindheit eine Zeitlang mehr bedeutet zu haben scheint, als die leib^ 
liehe Mutter,- auch diese war sanft und zurückhaltend, dem Mutter^ 
bildnis in den »Mädchenfeinden« nicht ungemäß. 

Ich halte die Neigung, »Übereinstimmungen« aufzustöbern, für 
den Ausdruck einer schädlichen und verwerflichen Geistesrichtung, 
die strebt, den Reichtum und die Mannigfaltigkeit der Welt, die doch 
darin begründet sind, daß auch das Ähnlichste noch Unterschei¬ 
dungen kennt, auf eine dürre, tote Formel zurückzuführen. Allen, 
die solchen Gelüsten frönen, sollte das Schicksal des Herrn Haupt* 
pastors Goetze und seiner Evangelienkonkordanz zur Warnung 
dienen,- freilich begegnet man nicht auf jeder Straße einem Lessing. 

Nachdem ich meinen Abscheu mit hinreichender Deutlichkeit 
zu erkennen gegeben habe, wird es wohl gestattet sein, wenige 
stens die zwei auffälligsten Übereinstimmungen zwischen Freuds 
Lehren und den Selbstbeobachtungen Spittelers namhaft zu machen. 
Freud definiert 1 : »Der Traum ist die verkleidete Erfüllung eines 
unterdrückten, verdrängten Wunsches«, Spitteier nennt den Traum• 
»unbefugtes Auftauchen unterdrückter Sehnsuchtswünsche unter fal¬ 
schem Antlitz und Namen.« Es ist, wenn man vom Unterschied 
der Ausdrucksweise absieht, auch nicht ein Element, das nicht beiden 
Formulierungen gemeinsam wäre. Über das Verhältnis zu jüngeren 
Geschwistern spricht Freud in diesen Worten 2 : »Es ist aber ganz 
besonders interessant, kleine Kinder bis zu drei Jahren oder wenig 
darüber in ihrem Verhalten gegen jüngere Geschwister zu beob^ 
achten. Das Kind war bisher das einzige, nun wird ihm angekündigt, 
daß der Storch ein neues Kind gebracht hat. Das Kind mustert 
den neuen Ankömmling und äußert dann entschieden: Der Storch 
soll ihn wieder mitnehmen«. Spitteier erzählt <p. 167): »Übrigens 
war noch ein zweiter Adolf da. Ein kleines Geschöpf, von 
dem man behauptete, es wäre mein Bruder, von dem ich aber 
nicht begriff, wozu er nützlich sei,- noch weniger, weswegen man 
solch ein Wesen aus ihm mache, wie von mir selber. Ich genügte 
für mein Bedürfnis, was brauchte ich einen Bruder? Und nicht bloß 
unnütz war er, sondern mitunter sogar hinderlich. Wenn ich die 

1 Traumdeutung, III. Auflage, p. 117. 

2 loc. cit. p. 182. 

6* 





84 


Hanns Sachs 


Großmutter belästigte, wollte er sie ebenfalls belästigen, wenn ich 
im Kinderwagen gefahren wurde, saß er gegenüber und nahm mir 
die Hälfte Platz weg, so daß wir uns mit den Füßen stoßen mußten.« 

Andere Stellen scheinen einer Deutung im Sinne der Freude 
sehen Forschungsergebnisse reiche Ausbeute zu versprechen,- wir 
wollen uns für diesesmal enthaltsam zeigen und nicht nach Ge-» 
heimnissen unter der Erde suchen, wo so viel Schätze offen zutage 
liegen. 








Vom wahren Wesen der Kinderseele 


85 


Vom wahren Wesen der Kinderseele. 

Redigiert von Dr. H. v. HUG-HELLMUTH. 

I. 

Lou Andreas-Salome. Im Zwischenland. 

Fünf Geschichten aus dem Seelenleben halbwüchsiger Mädchen 1 . 

Wenn es wahr ist, daß die Frau das Wesen des Kindes tiefer, inniger 
erfaßt als der Mann, so gilt dies doppelt von der Dichterin. Denn sie hat 
vor ihren Mitschwestern die Gabe voraus, das, was sie in fremder Seele 
erschaut, mit dem zu vereinen, was Erinnerung und Phantasie ihr aus der 
eigenen Kindheit bewahrten. Mit entzückender Feinheit schildert Lou An* 
dreas*Salome in den fünf Geschichten aus dem Seelenleben halbwüchsiger 
Mädchen das Ringen und Werden dieser »gewesenen Kinder«. Nur eine 
Frau von hoher dichterischer Begabung und einem jungen, jungen Herzen 
kann so liebliche Gestalten vor uns zaubern, wie die kleine Musja mit ihrer 
rührenden Begeisterung für das Dichter *Idol ihres Bruders, die schlanke Lisa, 
die dem Vetter mit dem »schrecklichen Ruf« ein Schutzengel, ein Anwalt 
gegen die böse Welt sein will, Ria, »Vaters Kind«, und die armen heimat* 
losen Schwestern Dascha und Mascha und endlich Ljubow, die Sechzehn* 
jährige, »deren große, schöne, weiche Gestalt verkündete: ,Ich bin eine aus* 
gewachsene Person, eine Dame bin ich!', indes das runde Kindergesicht dem 
lebhaft widersprach,« Ljubow, die vom Leser scheidet in erwartungsseligem 
Liebesbangen. 

Unter den vielen Problemen, welche die Autorin in den fünf No* 
veilen berührt, lockt uns vor allem eines, der Familienkomplex. Die 
dunkle Macht, der wir alle unterworfen sind und die wir gemeinhin 
»Schicksal« zu nennen pflegen, erweist sich bei psychoanalytischer Betrach* 
tungsweise im Grund als die Summe der Einflüsse unseres Heims von 
frühen Kindertagen an,* sie bestimmen unsere Entwicklung, unsere Fehler 
und Vorzüge, sie zeichnen uns den Weg vor, auf dem wir Liebe und Glück 
suchen. 

Was die moderne Seelentiefenforschung mit nüchternem Verstand 
enthüllt, das wertet die Dichterin mit dem Gefühle 2 , den Familienkomplex 
in seinen segensreichen und seinen tragischen Wirkungen. Neben ihm und 
mit ihm eng verschlungen geht die Kindersehnsucht, groß zu sein wie 
Vater und Mutter, oder doch wenigstens so groß wie die beneideten älteren 
Gesdiwister. Diese Sehnsucht, die das kleine Kind schon erfüllt und in 
seinen Spielen einen beredten Ausdruck findet, wächst und schwillt in den 
Jahren beginnender Reife ins Riesenhafte, sie treibt die junge Menschen* 
knospe, ehe ihre Zeit gekommen, sich zu entfalten. Daß die halbwüchsigen 
Mädchen unter diesem Drängen und Sehnen unendlich mehr leiden als die 
Knaben, erklärt sidi aus den engeren Schranken, die die »gute Sitte« dem weib* 

1 Stuttgart und Berlin 1911, J. G. Cottasche Buchhandlung Nachfolger. 

2 Auf eine Anfrage hatte Frau LouAndreas*Salomedie Liebenswürdig* 
keit, mir brieflich mitzuteilen, daß die letzte der fünf Novellen »Wolga« aus dem 
Jahre 1901, die vier anderen aus noch früheren Jahren stammen, aus einer Zeit, 
da sie mit den Freudschen Lehren noch nicht bekannt geworden. Diese habe sie 
erst 1911 kennen gelernt. 





86 


Dr. H. v. Hug^Hellmuth 


liehen Geschlecht zieht. Für sie alle gilt, was der fünfzehnjährige Michael im 
Gefühle seiner männlichen Überlegenheit seinen Geschwistern, dem zwölfjährigen 
Boris und der kleinen Musja, die auch schon »reichlich« zehn Jahre zählt, 
höhnisch entgegenwirft: »Ja, lieber Himmel, was sind sie denn nun eigent¬ 
lich?! Kinder sind's nicht, Erwachsene sind's ja doch auch nicht — in der 
Klemme sind sie dazwischen! Rechts wohnen alle Erwachsenen, links alle 
Kinder, und ihr — ihr wohnt wohl nirgends oder so in einem Zwischen^ 
land, einem Nirgendwo!« 

Langsam wächst in jedem Kinderherzen die Erkenntnis, daß Vater 
und Großvater doch nicht eine so große Macht besitzen, als es wähnte, und 
mit dieser Enttäuschung beginnt der Kinderglaube überhaupt zu wanken. 
Die vierzehnjährige Ria wendet sich nicht allein deshalb vom Vater, der ihr 
tödlich verletztes Hündchen durch einen wohlgezielten Schuß von seinem 
Leiden befreite, in Furcht ab, weil sie ihren Vater zum erstenmal unerbittlich 
und hart sah, es mischt sich das große Entsetzen in ihre Gefühle, da sie 
des Vaters Allmacht gebrochen sieht,- er konnte töten, aber wiedererwecken 
kann er das niedliche Hündchen nicht. 

So tief wird die junge Seele von Versagung und Enttäuschung durch 
die Heißgeliebtesten in der Kindheit, die Eltern, getroffen, daß neben der 
Liebe ein stiller Haß zu glimmen beginnt und Furcht zugleich. Mit Entsetzen 
vernimmt die kleine Musja die lästerlichen Gedanken, mit denen Boris 
Großvaters Bemühung, den goldenen Stern an der Spitze der Weihnachts^ 
tanne zu befestigen, verfolgte. Sein ganzes Sinnen und Trachten gilt dem 
heimlichen Plan, daß Musja zu dem angebeteten Dichter gehe, ihn zu fragen, 
wie Boris ein Dichter werden könne. »Als der Großpapa vorhin den Stern 
da oben anmachte, da schlug mir ordentlich das Herz, ich dachte: fällt der 
Großpapa nicht herunter, so gelingt's — fällt er herunter —«. »O pfui, 
Boris! Daß du aber auch so etwas Furchtbares dir ausdenken 
konntest!« rief Musja voller Entsetzen. 

Und Ria, »Vaters Kind«, die, soweit sie zurückdenken konnte, über 
alles seine Meinung wissen wollte, die mit allen kleinen persönlichen Nichtige 
keiten zu ihm kam, flüchtet vom Vater weg zur Mutter, weil ihre guten 
Gefühle seltsam aufgerührt sind durch Furcht und Abscheu. »,Laß mich bei 
dir!' flüsterte sie zur Mutter und fing an zu weinen. Die Mutter lag ganz 
still. Sie ahnte, was im Kinde vorging und was in ihr gegen den Vater 
kämpfte. Noch nie zuvor war Ria in solcher Weise zu ihr gekommen, wie 
in eine Zuflucht. In diesem Augenblick fühlte sie die Macht, des Vaters 
Liebling an sich zu fesseln, die bisher ungleich verteilte Kindesliebe gerechter 
auszugleichen — .. . Dann aber legte sie ihre Hand auf Rias weiches Haar 
und sagte ruhig: ,Willst du mir nicht die Liebe tun und zum Vater 
fahren ?' 

Ria schmiegte sich fester an sie. 

,Ich habe Angst vor dem Vater!' rief sie, ohne ihren Kopf zu erheben, 
,laß mich bei dir!' 

,Warum hast du Angst vor ihm? weil er dir bisher immer den Willen 
tat und zum erstenmal will, was du nicht willst? Hast du ihn denn nicht 
lieb? Geh hin zu ihm und laß ihn nicht allein —v heute abend in seiner 
leeren Stube.' 

Da erhob sich Ria vom Bettrand und trocknete die Augen. 

,Ich muß es tun, wenn du mich schickst. Aber nur, weil du es bist, 
die mich schickt,' antwortete sie und küßte die Mutter. nur allein deinet¬ 
wegen, Mama!'« 




Im Zwischenland 


87 


Ein intuitives Schauen sagt der Dichterin, wie das Gefühlsverhältnis 
zwischen Vater und Tochter um eine Nuance anders gefärbt ist, als die 
liebevollste Zuneigung des Mädchens zur Mutter. 

Die feine Erotik der Beziehungen zwischen Vater und Tochter kommt 
auch dann zu Worte, wo der Beruf des Vaters ihn fern vom Hause hält. 
So leiden die beiden Mädchen in der Novelle »Die Schwestern« tief unter 
der Trennung vom Vater, tiefer als unter dem Tode der Mutter. Ihre ethU 
sehen Konflikte wegen eines Stückchens Kuchen, das die Magd ihrethalben 
vom Tische der Herrschaft zurückbehalten, ihre Skrupel, ob es sich um 
Diebstahl oder nur um etwas »Unfeines« handle, meinen sie, wären mit 
einem gelöst, wenn sie »doch Papa immer nach allem fragen könnten«. Bei 
diesen beiden ist der Familienkomplex so stark, sie fühlen so sehr den 
Mangel eines schützenden Heims, der steten Aufsicht und Obsorge der 
Eltern, daß sie ihre Freundin Aßja selbst um die strengen Worte beneiden, 
die sie um eines kleinen Fehlers willen vom Vater zu erwarten hat. »Wenn 
wir so etwas täten,« meinte Dascha, »niemanden könnte es einfallen, uns 
so zu strafen.« »Gestraft wird sie wohl eigentlich nicht.« Mascha verstummte 
und fügte nach einer Weile hinzu: »Sie sagt es den Eltern — das ist alles 
— das ist ja auch nur die Strafe.« . . .“Man verwöhnt uns nicht und straft 
uns nicht, — nicht wahr?« »—Aber möchtest du denn das?« fragte Mascha 
plötzlich und blieb vor ihr stehen,* »möchtest du denn, daß jemand da ist, 
wenn — wenn man einmal etwas heimlich tut — etwas Unrechtes — —.« 

»Ja, ich glaube, ich möchte es!< antwortete Dascha unwillkürlich und 
sah sie mit großen Augen an,* »du auch, nicht wahr — ? Es muß schön 
sein, glaube ich. Vielleicht auch schrecklich, — — aber auch schön — —.« 

. . . Unvermittelt sagte Dascha, als beendete sie damit einen langen, stummen 
Gedankengang: »Höre, es ist so: Daß niemand gegen uns streng sein mag, 
kommt daher, weil wir niemand kränken würden, wenn wir noch so Böses, 
noch so Heimliches tun wollten. Darum kann es ja auch nichts nützen, 
daß Aßjas Mama uns davor gewarnt hat. Sie vergaß ja, daß da niemand 
ist —.« 

In keinem anderen Alter verlangt das junge Menschenkind, zumal das 
junge Mädchen, so heftig nach der sorgenden, schützenden Liebe der Eltern, 
als in der Pubertätszeit. »Ich denke manchmal: anderen wird alles von ihren 
Eltern gesagt, wir können uns eigentlich nie an jemanden wenden. Und es 
gibt große Rätsel im Leben, — kommt es dir nicht auch manchmal so 
vor — ?« meinte Mascha. Dascha nickte zustimmend vor sich hin. 

»O ja. Man wird gut nachdenken müssen, um sie alle richtig zu 
ergründen.« — — 

Die schlanke Lisa, die es »grundkomisch findet, daß sie — die Halb- 
wüchsigen — von nichts was wissen sollen,« flüchtet in ihren Wirren zur 
Mutter, deren liebeatmende Atmosphäre allein sie schon beruhigt. 

Frühe Ahnungen drängen das werdende Weib, Teil zu haben an dem 
großen, großen Geheimnis, um das die Erwachsenen ihm voraus sind. Bei 
Ria ist es einmal die stumme Frage, wie man sich denn benehmen sollte, 
wenn man den ,ersten Verehrer' gefunden, dann wieder erwacht in ihrem 
Herzen eine heiße Liebe zum Hündchen Love, zu den Vögeln des Gartens 
mit ihrer Brutsorge. Ein Gefühl von Mütterlichkeit regt sich in Lisa, als 
sie ihren schönen Vetter verteidigen will gegen die Verleumdungen der 
Welt, die sie doch selber gern glaubt, weil ihrem vierzehnjährigen Herzen 
es herrlich scheint, einen Mann zu lieben, »um dessentwillen Frauen ge¬ 
storben sind«. Und in der Seele der kleinen Musja regt sich in der 




88 


Dr. H. v. Hug-Hellmuth 


bitteren Stunde der ersten Enttäuschung, die sie gemeinsam mit Boris 
erlitt, als sie den Bruder leiden sieht, »ganz Feines, Seltsames: Fast 
wie ein mütterliches Empfinden«. Schon vorher hatte es an die Tore ihrer 
kindlichen Seele gepocht; sie fand es nicht schön, »daß ihr Puppen^Baby von 
beträchtlicher Größe die Augen nicht bewegen konnte und daß die Haare 
auch nur darauf gemalt sind« — gar nicht wirkliche Haare. Und bekümmert 
meinte sie: »Früher kam es mir darauf gar nicht an, jetzt kränkt es mich 
aber.« Die einsamen Waisen Dascha und Mascha haben ihre Liebe, nach 
der niemand fragt, einem Kanarienvogel zugewendet und in Zärtlichkeit und 
Fürsorge ihn zu Tode gebadet. Und in ihrer Verlassenheit erscheint ihnen 
der Ersatz, den die gutmütige Magd ihnen schenkt, ein Vögelchen aus Pappe 
auch liebenswert. Ljubow aber ist aus ihrem Kindertraum geweckt worden 
durch Matuschkas ehrliche Bewunderung ihrer jungen Schönheit. »Durch alle 
Adern fühlte sie es leise rinnen, leise rauschen, wie lauter willige Wärme, 
wie lauter sehnende Kraft, als vermöchte sie, es dem Wind und Wasser 
und Sonnenglanz und allen Wundern der Erde gleichzutun, — und es kam 
ihr vor, als sei sie alledem heimlich verwandt.« 

Nicht alle aus der Schar derer, von denen Elternhaus und Welt ver= 
langen und voraussetzen, »daß sie von nichts was wissen sollen«, rettet 
die große, schöne Liebe eines Vater^Geliebten aus ihrem Konflikte. Die 
meisten der »gewesenen Kinder« müssen sich allein zurechtfinden in dem 
Rätselhaften, Lockenden. Und sie tun es, indem sie sich eng aneinander 
anschließen in jenen Freundschaften mit tausend Geheimnissen, mit dem 
ewigen Tuscheln und Kichern der Backfischjahre. Ihre jungen Seelen wissen 
aber genug, um in den kühnsten Phantasien zu schwelgen über die Untaten 
des Mannes,- der echte Ritter Blaubart, einer, der während seines Aufi* 
enthaltes im Auslande »keineswegs immerzu studiert hat ,« ist ihnen der 
liebenswerteste. Weil sie selber sich der Weibesliebe noch nicht gewachsen 
fühlen, wollen die Halbwüchsigen so gern fremde Seelen retten, fremde 
Liebe schützen und fördern. So rühmen auch Lisa und Anna sich, dem 
Brautpaar, das im vorigen November Hochzeit gemacht, die Wege geebnet 

zu haben. »-und daß wir sie immer unversehens irgendwo zu zweien 

ließen! Wenn wir nicht gewesen wären, ich wette, so säßen sie noch heute 
und redeten vom Wetter, glaubst du nicht auch?« 

»Beide wühlten kidiernd ihre Köpfe aneinander. 

,Ich schlage vor, daß wir von ,Mäusen' zu Schutzengeln und Vor^ 
sehungen avancieren!' rief Lisa . . . 

Und nun tuschelten sie sich Einzelheiten über diesen Brautstand ins 
Ohr, die sie bis zu Krämpfen lachen machten.« 

Wenn aber eine halbreife Seele allein bleibt, wenn ihr das lose 
Scherzen und Tändeln mit Altersgenossen fehlt, wenn der »Mann« plötzlich 
unerwartet in ihr Leben einbricht, dann formt sich ihr, wie der armen jungen 
Dascha, die sich mit der Schwester eins wähnte, »die Vorstellung von etwas 
Gewaltsamem, Brutalem, der Mann wie eine bis an die Zähne bewaffnete 
Macht — ein drohendes, bärtiges Räubergesicht, — gezückte Messer —«. 
Unter dem dumpfen Gefühle, daß der Mann, »er, von dem das Böse aus~ 
ging, alle böse Macht und auch die Liebe, — er ,der Mann'« »ihre« Mascha 
getötet, bricht die bisher ahnungslose Dascha zusammen: sie begreift, daß 
»Mascha nicht erst heute von ihr fortgegangen war«. »Mascha hatte einen 
Mann lieb gehabt. Einen, von dem Dascha nichts wußte. 

Mascha hatte also ganz für sich gelebt, — nicht nur heute, — nein, 
immer schon, die ganze Zeit. Sie war gewesen, wo Dascha nie mit ihr war. 




Im Zwischenland 


89 


In einem ganz anderen Leben war sie herumgegangen, in einem 
ganz, ganz fremden. 

Wie Dasdha nun auch laufen wollte, — wie sie in Gedanken lief 
und lief, — jetzt holte sie Mascha damit nie mehr ein. 

Mascha hatte sie zurückgelassen. Sie hatte sich allein vorausgeschlichen, 
~ leise, heimlich, — in das Leben hinein, durch das rätselhafte, unbegreif® 
liehe, und hinein in den Tod, in den geheimnisvollen Tod. Sie hatte alles 
schon für Dascha vorausgenommen. Vorauserfahren. Vorausgelebt. 

Dascha erfuhr davon nur, daß es lauter Rätsel und Geheimnis war 
und Tod. — « 

Die arme, kleine Dascha hatte in der älteren Schwester Ersatz für 
Vater und Mutter gefunden. — »Ja, Aßja hatte wirklich recht: ohne eine 
Schwester mußte es ein ganz böses Stück Arbeit sein, zu leben. Wie man 
das nur anling? Herrlich war es doch, zwei zu sein statt einer, —■ zwei 
und doch eine, —■ ein Mensch« — und diese geliebte Schwester hatte fremd 
neben ihr gelebt, nur die kleinen Nichtigkeiten des Tages geteilt, ihre Seele 
aber geheim gehalten vor ihr. — — 

Vielleicht bei den meisten Mädchen geht der Liebe zum Manne eine 
Zeit heftigster Neigung zum eigenen Geschlecht voraus, oder sie bestehen 
in den frühen Pubertätsjahren oft nebeneinander. Wir dürfen diese Erschein 
nung in zweierlei Richtung werten,* das Mädchen sucht in dem geliebten 
weiblichen Wesen einmal die Gestalt der Mutter aus den frühesten Kinder^ 
tagen,* da diese ihm wirklich Vertraute und Freundin war. Wo die Mutter 
dieses Vertrauen sich bewahrt hat, schließt sich ihr die Halbwüchsige in der 
Zeit des Werdens und Kämpfens häufig in Leidenschaft an, wie Ria und 
Lisa in ihren seelischen Konflikten es tun. Diese Zeit des Suchens und 
Tastens ist ausgefüllt durch schwärmerische Freundschaften voll köstlicher 
Geheimnisse, Freundschaft, in die doch schon der Sexualneid gelegentlich 
eine Bresche reißt, durch glühende Verehrung der Braut des heimlich Ge^ 
liebten, durch ein inniges Verwachsen mit einer geliebten Schwester. Diese 
Wahl erfolgt aber auch in der Identifikation mit einem geliebten Manne, 
den zu lieben die Inzestschranke verbietet: Ida Wisentin verehrt ihren 
Bruder so sehr, daß ihr Herz auch heiß zu schlagen beginnt für Ria, seine 
Auserwählte. Lind die kleine Musja liebt im Dichter Ignatieff doch nur den 
eigenen Bruder ,* aus Liebe zu diesem geht sie unter Gewissensbissen gegen 
den gütigen Großpapa zu Boris' Ideal, zu fragen, wie man ein echter Dichter 
werde. Lind als sie Boris auf dem Boden liegen und um seinen entgötterten 
Gott weinen und klagen sieht, da »füllt sich ihr ganzes kleines Herz bis 
zum Zerspringen mit Liebe zu ihrem Bruder«/ der Dichter wird ihr mit 
einemmale wieder ein »fremder junger Mensch«, der ja gar nicht »unser« 
Ignatieff ist. Sie liebte, wo Boris liebte,- nur im Hasse bleibt sie zurück, 
weil ihre Liebe ja gar nicht dem Fremden gegolten: ihre Enttäuschung geht 
auf in mütterlichem Mitleiden mit dem Bruder. Sie vergißt, daß der Knabe, 
der vor ohnmächtigem Zorn auf den Boden stampft, sie oft seine männliche 
Überlegenheit fühlen ließ, sie zweifelt auch nicht mehr an seiner Dichter^ 
gäbe/ ein echtes kleines Mütterchen, fühlt sie nur das eine, daß Boris leidet. 

Auch Anna will es erst nicht recht zugeben, daß sie in ihren Stieb* 
bruder regelrecht sich verliebt hat. Als Lisa ihr vorhält: »Übrigens scheint 
mir wahrhaftig, du bist ordentlich in ihn verschossen!«, da wehrt sie ab: 
»In den eigenen Bruder?!« »Stiefbruder«, verbesserte Lisa. »Und noch dazu 
einer, der weiß wie lange fort war.« 

So stark ist der Familienkomplex, daß unter seinem Zepter alles 




90 


Dr. M. Eitingon 


steht, was mit Vater und Mutter und den Geschwistern verknüpft ist. 
Ria, das Schuldirektorstöchterlein, »fühlte sich immer sehr stolz auf ihren 
Sonntagsbesitz an leeren Klassen. Stellten sie doch ohne Zweifel das speziell 
Reizvolle, Auszeichnende der Direktorswohnung in den Augen aller ihrer 
kleinen Freundinnen dar, deren jede bemüht war, an der eigenen Behausung 
irgend etwas rühmend herauszustreichen, was die anderen nicht besaßen. Bei 
einem reichen Banquierstöchterchen wurde der Pferdestall im Hofe zu dem 
Schönsten gezählt, woneben alle Pracht der vielen Gemächer selbst verblich; 
bei einer zweiten gipfelte alles Interesse darin, daß eine liebe alte Gro߬ 
mama von neunzig Jahren in einem gepolsterten Rollstuhl vorhanden war 
und dadurch den größten Neid erregte. Ja, ein Schwesternpaar stand sogar 
nicht an, sich in Ermangelung eines Besseren damit zu brüsten, daß die 
ganze, niedrig am Flußufer gelegene Wohnung zu Beginn des Frühlings 
von der gewaltig anschwellenden Newa überschwemmt zu werden pflegte, 
— und auch dieses fand ungeteilten Beifall,* die Vorstellung umhershwim- 
mender Möbel stach sogar vieles andere aus und stellte fast die Großmama 
in den Schatten.« 

Dieses Sich^sonnen im Glanze der Familie bedeutet in Wahrheit 
nichts anderes, als daß die halbflügge Seele sich noch scheut, das lieber 
warme Nest zu verlassen, daß sie noch fest verankert ist in der Liebe zu 
den Eltern und den Geschwistern. Erst wenn eine große, starke Neigung 
auflodert zu einem Fremden, dann versinken mit einemmale die Interessen, 
die das Mädchen vordem mit ihrem Heim verband. Sie zerstört ihr Ver¬ 
hältnis zu Bruder und Schwester, sie zerreißt die Backfischfreundschaften 
und macht in einem Tag aus dem gewesenen' Kinde eine Erwachsene, 
die nicht mehr teilhat an den tändelnden Freuden und Leiden der anderen. 
Weit, weit hinter ihr liegt das »Zwischenland« und erst dann wird sie 
wieder seiner gedenken, wenn die Jahre der Jugend entschwunden sind, 
wenn um sie ein neues Geschlecht mit gleichem unruhigen Herzen und 
fragenden Augen den Weg aus dem »Zwischenland« hinaus ins Leben der 
Großen sucht. Dr. H. v. Hug^Hellmuth. 


II. 

Gott und Vater. 

Über dieses Thema, das der Psychoanalyse so tiefschürfende AuL 
klärungen verdankt, finden sich im neuen Buche von Max Dauthendey: 
»Gedankengut aus meinen Wanderjahren« 1 viele sehr interessante 
Seiten, von denen wir einige ohne Kommentar folgen lassen 2 . Der Dichter, 

1 1. c., p. 74-78. 

2 In dem fast gleichzeitig erschienenen Buch »Der Geist meines Vaters. 
Aufzeichnungen aus einem begrabenen Jahrhundert« (Verlag Albert Langen, 
München) hat Dauthendey seinem Vater ein liebevolles Denkmal gesetzt, zu^ 
gleich aber den »unbewußten Kampf gegen den Geist meines Vaters«, der seine 
Kindheit und Jugend beherrschte, künstlerisch gestaltet. Neben interessanten 
Schilderungen der vier Schwestern, die dem Dichter die früh verstorbene und schwer 
vermißte Mutter ersetzten, sowie des im Verfolgungswahn durch Selbstmord um¬ 
gekommenen Bruders, tritt in dem Buche die innerliche Auflehnung des träumeri^ 
sehen Sohnes gegen den praktisch veranlagten Vater als Gegensatz zweier ge~ 
trennter Weltanschauungen in den Vordergrund. Dieser Gegensatz führte schlie߬ 
lich zur völligen Entzweiung, so daß der Sohn im letzten Vierteljahr seines ge^ 
zwungenen Aufenthaltes zu Hause fremd neben dem Vater lebte und kaum mit 





Gott und Vater 


91 


der sich nach einer Phase des Glaubens an einen persönlichen Gott-Schöpfer, 
in den Jünglingsjahren zu einer Religion des »festlichen Allesinallemseins« 
durchringt, zu dem Glauben an ein Weltall, »in dem wir alle zusammen 
Schöpfer und Geschöpfe bedeuten«, zu einem eigenartig mystischen Pantheis¬ 
mus, schildert auf den folgenden Seiten, wie der Gottesbegriff, zum ersten 
Male in die Seelenwelt des etwa sechsjährigen Knaben eingeführt, dort 
keinen Platz finden kann, da alle ihm zugemuteten Funktionen schon vom 
Vater besetzt sind, und nur Störungen, Zweifel erregt. 

Aufzuzeigen, wie Gott gesiegt und wie er später wieder über- 
wunden, wie in der neuen Synthese der »Geist des Vaters« eigentümlich 
verlebendigt wurde, wäre Aufgabe einer interessanten Analyse. 

»Ihr erinnert euch wohl alle noch der Zeit, als ihr in der Kindheit 
noch nichts von Gott oder dem Schöpfer wußtet, von dem man euch später 
erzählte. 

Ich glaube mich noch genau zu erinnern, wie bestürzt ich war, als 
man mir sagte, daß etwas Stärkeres im Unsichtbaren existieren sollte, ein 
stärkerer Herr als mein Vater es war, eine stärkere Macht als meine beiden 
Eltern mir waren. Wie frei war es vorher um mich im Hause gewesen, 
ehe diese Erklärung der Elternohnmacht über mich kam! Und wie seltsam 
wurde es mir bei dem Gedanken, daß, wenn ich einmal groß sein würde, 
vom Vater fortkäme und meine eigne Frau haben würde, ein Gottherr, 
der schon über meinen Vater regiert hatte, immer nodi da wäre, auch 
wenn meine Eltern tot wären, und daß er ewig wie ein Aufpasser über 
mir und meiner Frau sitzen sollte, ebenso wie über allen Menschen. 

Ich empfand das demütigend. Das Erhabenste in mir fühlte sich ge- 
demütigt/ das Erhabenste in mir wollte allein regieren. Das Erhabenste 
dünkte sich nicht erhaben genug zu sein, wenn man ihm nicht vertraute, 
daß es unantastbar wäre. Es fühlte sich beleidigt und erniedrigt, einen Auf^ 
passer über sich haben zu müssen. Es war mir, als dürfte ich mich keinen 
freien unendlichen Gefühlen mehr hingeben, da meine Unendlichkeit nicht 
anerkannt wurde, da immer nur von meiner ,niedrigen' Endlichkeit ge- 
sprochen wurde. 

Es war mir wirklich unbequem, beim Abende, Morgen- und Mittags- 
gebet mit der Bitte um tägliches Brot immer zu einem Herrn, der an einem 
aller Vorstellung entrückten Ort wohnen sollte, aufzuschauen: einen Fremden 


ihm sprach. »Zu welchen Gewalttaten der Geist eines Mannes einen anderen Mann 
drängen kann, wenn der eine der Vater, der andere der Sohn ist, dies sehe ich 
heute erst vollständig und bewußt. Damals handelte ich unbewußt . . .« <p. 343). 
Es liegt nahe, daß der Sohn aus Trotz gegen den Vater sich dem ihm aufge¬ 
drungenen praktischen Beruf entzog und auf eigene Faust seinen idealen Lieb¬ 
habereien nachging, die für ihn mit dem Mutterkomplex enge verknüpft waren. 
Charakteristisch für diese Einstellung ist die folgende Episode: »Von dort <Genf> 
floh ich ganz plötzlich im Sommer, ohne Wissen meines Vaters nach Petersburg. 
Ich wußte nicht recht, was ich dort wollte. Ich fühlte nur, daß ich bei den Ver¬ 
wandten meiner Mutter in Rußland für mich Hilfe suchen mußte, um von 
dem geistigen Druck, den mein Vater auf michübte, loszukommen. 
In meiner Verzweiflung hatte ich mich sogar auf der Reise dorthin in Berlin mit 
einer Kusine meiner Stiefschwestern, die ich nur dem Bilde nach kannte 
<wie die Mutter), Hals über Kopf verloben wollen. Ihr Bild hatte mir ge¬ 
fallen.« In späterer Zeit kommt es dann zu einer äußerlichen Aussöhnung zwischen 
Vater und Sohn, die einander aber innerlich fernbleiben <p. 353). 

Otto Rank. 





92 


Dr. M. Eitingon 


aufsuchen müssen, ich, der ich so voller Vertrauen geglaubt hatte, was ich 
nötig habe, schenke mir mein Vater, und dafür schenke ich ihm meine 
Liebe und werde leben, wie er wünscht und werde später mir selber 
helfen können. 

Für das Brot, für den Rock, für die Wohnung, für Gesundheit und 
Wohlergehen, für die meine Eltern sorgten, dankte ich bereits meinen 
Eltern. Nun sollte ich jeden Abend noch einmal danken und ebenso morgens 
und mittags, einem Herrn, von dem man sagte, daß er alles, was ich von 
meinen Eltern erhielt, diesen gegeben hatte. Diese waren also Schwächlinge 
und konnten sich nicht helfen, so dachte das Kind für sich. 

Meinen Eltern zu danken erschien mir selbstverständlich, und ich tat 
es gern. Aber wenn meine Eltern von einem fremden Herrn und Schöpfer 
etwas angenommen hatten, so hatten sie bereits gedankt. Die ganze Beterei 
war mir zu viel Dankerei und zu viel Bitten und Bettelei. 

Warum schaffte mein Vater nicht alles selbst an, was er brauchte? 
Warum mußte er immer alles von einem Gottherrn annehmen, und eben^ 
so meine Mutter, da doch beide arbeiteten? Und warum zeigte der fremde 
Herr sich mir nicht? Es war mir unverständlich, was seine ewige Unsichu 
barkeit für einen Sinn haben sollte. 

Es hieß, er könne mich fortwährend sehen, nur ich könne ihn nicht 
sehen. Ich gewöhnte mir danach an, mich blitzschnell im Zimmer umzu* 
sehen, um zu erfahren, ob jener Herr nicht hinter mir stünde und ich ihn 
ertappen könnte. 

Und als meine Mutter, wie ich fünf Jahre alt war, starb und man 
mir sagte, sie wäre jetzt zu dem fremden Herrn gegangen und sie hätte es 
dort viel schöner, da konnte ich das gar nicht fassen. Was tat sie denn bei 
ihm, da doch mein Vater und ich sie so nötig hatten? 

Und als man mir antwortete: nichts ist beständig, nichts ist wirklich, 
da hatte ich oft das Gefühl: vielleicht ist das Nebenzimmer schon ver^ 
schwunden, während ich mich im anderen Zimmer befinde. Lind ich sah 
vorsichtig durchs Schlüsselloch, ob das Nebenzimmer noch da wäre. Denn 
das verstand ich: seit meine — Mutter verschwunden war und weder zum 
Frühling noch zum Sommer, noch zum Herbst, noch zum Winter wieder^ 
kehrte und ihr Bett leer blieb am Morgen und am Abend, und ihr Platz 
am Eßtisch leer blieb am Mittag und Abend, und ihr Platz am Nähtisch 
am Nachmittag, und ihr Platz am Klavier leer blieb in der Dämmerstunde, 
und ihr Platz in der Küche leer war am Herd und im Flur, am Wäsche^ 
schrank und im Sommer unter dem großen Nußbaum und auf der 
Gartenterrasse —' da sah ich ein, es hatte sich etwas Unfaßbares ereignet. 

Und ich dachte: jener unsichtbare Herr ist doch mächtiger als mein 
Vater. Sonst hätte mein Vater meine Mutter von ihm zurückgefordert, 
und es würden ihre Plätze nicht alle leer geblieben sein. Und diesem Herrn, 
der die Mutter mir und die Frau meinem Vater genommen hatte, dem 
sollte ich morgens, mittags und abends weiter danken! Das war die reine 
Heuchelei, die man mich da lehrte. 

Es stedkte sonach eine tiefe Furcht in mir vor dem unsichtbaren Ort, an 
dem jener fremde Herr wohnen sollte und vor dem Unsichtbaren selbst. 
War es wirklich so schön dort bei ihm, wie es alle sagten? Ja, warum 
blieben wir denn dann alle hier? Warum folgten wir denn nicht sofort 
meiner Mutter nach? 

Und wie konnte man sagen, daß sie es jetzt schöner habe, wenn sie 
meinen Vater nicht hatte und uns Kinder, die sie liebte? Konnte sie es 




Die kindliche Gottesvorstellung 


93 


dann wirklich bei dem Fremden schöner haben und glücklich sein? Meine 
Mutter war für mich bei diesen Gedanken auf einmal nicht mehr meine 
Mutter, sondern eine kühle, fremde Dame, die dort hingegangen war, wo 
man sich besser unterhielt, und die wahrscheinlich meinen Vater und uns 
Kinder über besserer Unterhaltung vergessen hatte. 

Aber das glaubte ich nicht. Ich stampfte auf und weinte zornig und 
warf mich schreiend auf den Zimmerboden und wollte zu meiner Mutter 
gebracht werden. Und als mein Vater gerufen wurde und er mich auf hob 
und mich auf seinen Schoß nahm und mir mit Tränen in den Augen ver^ 
sicherte: JDeine Mutter hat uns nicht vergessen/ da stieß ich unter 
Schluchzen hervor: /Warum holst du sie denn nicht endlich?' Und mein 
großer starker Vater mußte wimmernd zugeben, daß es einen Stärkeren 
und Größeren gäbe als ihn, der die, die er einmal zu sich gerufen habe, 
nicht mehr hergeben wollte. 

Für einen Augenblick sank da die Hochachtung für meinen Vater in 
meiner Kinderbrust von tausend auf null Grad. Eigentlich wollte ich meinem 
Vater nun nicht mehr gehorchen. Der Unsichtbare war stärker als er, und 
meine Mutter war bei dem Stärkeren. Ich wollte mich nur an den Unsicht^ 
baren halten, weil auch meine Mutter zu ihm hielt. 

Aber nun geschah das noch viel Unverständlichere, etwas das mich 
ganz verwirrte, das alle meine Begriffe auf den Kopf stellte: mein Vater, 
der doch jenen Unsichtbaren, der ihm die Frau genommen hatte, hätte 
hassen müssen, wie ich folgerte — er faltete meine kleinen Hände in seinen 
großen Händen und sagte: ,Laß uns zusammen zum Herrn beten. Dann 
kommen wir der Mutter näher'. 

Ich ließ ihn beten und ließ ihn meine Hände falten und sah ihm mit 
offenem Munde zu, wie er sich demütig gegen jenen unsichtbaren, gewalu 
tätigen Herrn benahm. Und wenn ich damals schon gewußt hätte, was 
Narren und ein Narrenhaus sind, so würde ich vielleicht gedacht haben: 
wir sind vor jenem Herrn alle zu Narren geworden. Und unser Haus, in 
welchem früher mein Vater und meine Mutter emsig und klug gewaltet 
hatten, das ist jetzt ein Narrenhaus geworden.« 

Mitgeteilt von Dr. M. Eitingon. 

III. 

Die kindliche Gottesvorstellung. 

Max weiß von seinem Gotte als besonderes Merkmal nur hervor^ 
zuheben, daß er »heilig« ist. Eine nähere Erkundigung ergibt, daß seine 
Vorstellung von heilig mit der unseren nicht völlig übereinstimmt. Denn 
heilig leitet er von den Heiligen ab, die er einmal auf Bildern gesehen hat. 
Dabei ist ihm besonders der ernste, oft düstere Gesichtsausdruck der 
Heiligen aufgefallen. Heilig heißt für ihn, wie er erklärt, soviel wie traurig. 
Als Max alle anderen Gott zugeschriebenen Attribute erfahren hat, beginnt 
bei ihm die Skepsis und er wünscht unausgesetzt Aufklärungen: wenn man 
von Gott etwas wünscht, muß man zu ihm beten; aber kennt denn Gott 
alle Sprachen? Gott hat alle Menschen geschaffen, aber wer hat denn ihn 
selbst gemacht? Da Max keine befriedigende Antwort auf diese Frage er¬ 
hält, erklärt er: »Ah, ich weiß schon: Adam und Eva.« Max kommt, wie 
man sieht, der Wahrheit ziemlich nahe. Dr. Theodor Reik. 




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Dr. Theodor Reik 


IV. 

Vaterkomplex. 

Nietzsche hat auf die Tragödie des Kinderherzens, die sich aus 
der ambivalenten Einstellung zum Vater ergibt, hingewiesen {Menschliches 
Allzumenschliches, Bd. I, 422): »Es kommt vielleicht nicht selten vor, daß 
edel und hochstrebende Menschen ihren härtesten Kampf in der Kindheit 
zu bestehen haben: etwa dadurch, daß sie ihre Gesinnung gegen einen niedrig 
denkenden, dem Schein und der Lügnerei ergebenen Vater durchsetzen 
müssen.« Eine andere gleichgerichtete Äußerung des Philosophen <ibd. I, 
p. 382); »Väter haben viel zu tun, um es wieder gutzumachen, daß sie Söhne 
haben.« Die Psychoanalyse zeigt, daß der Zweifel an Gottes Gerechtigkeit 
in der Kindheit in Verbindung mit der analogen Einstellung zum Vater er** 
wacht. Nietzsche erzählt von sich: »In der Tat ging mir bereits als dreizehn- 
jährigen Knaben das Problem vom Ursprung des Bösen nach: ihm widmete 
ich in einem Alter, wo man ,halb Kinderspiele, halb Gott im Herzen hat', 
mein erstes literarisches Kinderspiel — und was meine damalige Lösung 
des Problems anbetrifft, nun, so gab ich, wie es billig ist, Gott die Ehre 
und machte ihn zum Vater des Bösen.« {Genealogie der Moral.) Ähnlich 
erging es Stendhal, von dessen Vater Eduard Rod {Stendhal, Paris 
1892, p. 9) berichtet: »qui n'aimait guere son fils et que son fils detesta.« 
Rod erzählt von dem Dichter und den Beziehungen zu seinen Eltern: »il 
devint athee en haine de leur Dieu, jacobin, parce que les sansculottes 
fouillaient leurs pretres.« Bekanntlich blieb Stendhal bei seiner atheistischen 
Kinderüberzeugung. Seine Anschauung über Religion faßt er in dem Aus- 
Spruche zusammen: »Die einzige Entschuldigung Gottes ist, daß er nicht 
existiert.« 

V. 

Das Kind und der Tod. 

Von der kindlichen Auffassung des Todes, wie sie Professor Freud 
in der »Traumdeutung« dargestellt hat, kann sich jeder überzeugen, der un* 
befangen das Treiben in der Kinderstube beobachtet. 

Einen, wie mir scheint, bedeutsamen Beweis, für die von der Psycho- 
analyse erfaßte Eigenart der kindlichen Todesvorstellung bildet es, daß das 
Kind den Todesbegriff einer Steigerung und Abschwächung für fähig hält. 
So mein kleiner Neffe Max {fünf Jahre alt). Er pflegt mit seinem Vater 
»Krieg« zu spielen. Dabei ist er natürlich der, wie er sagt, »Stärkere«. Wenn 
er den Vater mit seinem Spielrevolver erschossen hat, darf dieser sich nicht 
mehr rühren. Als bei einer solchen Gelegenheit sein Vater durch eine un- 
willkürliche Bewegung noch ein Lebenszeichen von sich gab, rief der Kleine 
ihm unwillig zu: »Nein, du mußt noch toterer sein!« 

Als Pendant dazu sei erwähnt, daß Max bei dergleichen Spielen auch 
den Wunsch äußert, der Vater solle ein bißchen tot sein. 1 In dem reiz- 

1 Vergleiche dieselbe Ausdrucksweise beim kleinen Scupin in »Das Kind 
und seine Vorstellung vom Tode«, von Dr. Hug-Hellmuth, Imago I, 1912. 

Ähnliche Vorstellungen zeigen auch die primitiven Völker, von denen 
manche glauben, daß die Seelen der Verstorbenen in der Unterwelt noch ein- 
oder mehreremale sterben, ehe sie »definitiv tot« sind. <Heinzelmann, Animis¬ 
mus und Religion, S. 21.) — Anmerkung der Redaktion. 





Das Kind und der Tod 


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vollen Buche »Tom Sawyers Abenteuer und Streiche« von Mark Twain 
findet sich ebenfalls ein Zeugnis ähnlicher Natur. Der kleine Held Tom ist 
schwer gekränkt durch das abweisende Benehmen einer kleinen Schulkameradin, 
die er heimlich in sein Herz geschlossen hat. Er flüchtet in den Wald, wo 
er sich seinem Schmerz überläßt. Seine Gedanken nehmen bald die Richtung 
auf den eigenen Tod: »Wenn nur sein Sonntagsschulgewissen rein wäre, 
wie gerne würde er der ganzen Welt Valet sagen. Und was jenes Mädchen 
betraf — was hatte er eigentlich getan? Nichts. Er hatte es so gut gemeint, 
wie nur einer in der Welt und war behandelt worden wie ein Hund, — 
wie ein elender Hund. Sie würde es bereuen eines Tages — wenn es zu 
spät wäre vielleicht. Ach, wenn er nur sterben könnte, nur für einige 
Zeit!« 

Wie zähe aber dieser infantile Todesbegriff ist, möge ein anderer 
Ausspruch des kleinen Max zeigen. Er erzählt seinen um weniges älteren 
Schwestern: »Wenn man im Grabe liegt, muß man Würmer essen.« Na^ 
türlich ist diese Vorstellung nur die vom kindlichen Standpunkte aus modU 
fizierte Wiedergabe eines Ausdruckes der Erwachsenen. Sie findet eine 
Analogie in den Anschauungen primitiver Völker, welche ihre begrabenen 
Verwandten mit Nahrung versorgen. Dr. Theodor Reik.