ZEITSCHRIFT FÜR ANWENDUNG
DER. PSYCHOANALYSE AUF DIE
GEISTESWISSENSCHAFTEN
FAR re \
a: f
Er
h
an s 3 D
r } g 4
; a
v > 4 2 . r
| }
Ei N
ne f
= \ .
+ %
|
|
|
3 ü
HERAUSGEGEBEN VON
“Sn PROF DR SIGM. FREUD
in. REDIGIERT VON
2.0.2... DEOTTO RANK u.DE HANNS SACHS
I. JAHRGANG / 1913
HERT-2 7// APRIL
en | 1913
Eu ,AUGO HELLER SIE
LEIPZIG u.WIEN-I-BAUERNMARKT 3
4
an
A u
I" I
allem des Interesses Jener- versichert, an die sih die Zeitschrift zunächst wandte,
nicht minder aber die Hoffnung bestätigt, daß auch weitere Kreise an den Problemen
und Ergebnissen unserer jungen Wissenschaft Anteil nehmen werden; endlich hat uns die
rege Mitarbeit der Vertreter verschiedener Fahgebiete das Bewußtsein gegeben, daß unser
Unternehmen aud imstande war, der Anregung geistiger Produktionstätigkeit zu dienen.
j | Die reihe und vielseitige Arbeit des abgelaufenen Jahrgangs zeigt die Inhaltsüber-
4 siht und wir dürfen hoffen, mit der Festhaltung und Ausgestaltung unseres Programms
| auh unseren Erfolg sichern und steigern zu können. |
Soweit es durchführbar ist, sollen alle jene Zweige der Geisteswissenschaften, für
die die Psychoanalyse Bedeutung gewonnen hat, zu Wort kommen; aud soll weiterhin
neben Sonderproblemen der Individualpsycologie besonders die Völkerpsydologie einen
breiten Raum einnehmen, die ja am deutlichsten den Wert und die Frucdtbarkeit der am
Einzelnen gewonnenen Seelenkenntnis erweist. ’
Ä ÄSTHETIK, LITERATURGESCHICHTE, PHILOLOGIE, PÄDAGOGIK,
MORALTHEORIE, KULTUR- UND RELIGIONSGESCHICHTE, ETHNO-
GRAPHIE UND FOLKLORE, die im I. Jahrgang bereits vertreten waren, sollen
sorgrältig weiter gepflegt werden; andere Wissenschaften, besonders die MYTHEN-
FORSCHUNG, dann auh PHILOSOPHIE und METAPHYSIK, soweit sie einer
psychologischen Betrahtungsweise zugänglih sind, werden hinzukommen, so daß jeder,
der an wissenscaftliher Forshung Anteil nimmt, die Probleme, die ihn vorzüglich
interessieren, unter neuen Gesichtspunkten behandelt finden wird. Die Einheitlichkeit wird
durh die gemeinsame Beziehung zur Psychoanalyse gewahrt werden, durh die jedes
Problem in neue Zusammenhänge eingefügt wird.
Aud wird ein gemeinsames Abonnement auf „Imago” und die „Inter-
nationale Zeitschrift für ärztliche Psychoanalyse” zum ermäßigten Gesamt-
jahrespreis von Mk. 30.— = K 36.— eröffnet.
REDAKTION UND VERLAG.
DD: über Erwarten günstige Erfolg des abgelaufenen ersten Jahrgangs hat uns vor >
Für die REDAKTION bestimmte Zuschriften und Sendungen wollen an
Dr. HANNS SACHS,Wien XIX/1, Peter-Jordangasse 76 adressiert werden.
»IMAGO« erscheint SECHSMAL jährlih im Gesamtumfang von
über 36 Bogen und kann für M. 15.— = K 18.— pro Jahrgang durch
jede gute Buchhandlung sowie direkt vom Verlage HUGO HELLER
& CIE. in Wien |, ch 3, abonniert werden. Einzelne Hefte
werden nicht abgegeben.
Die wenigen noch verfügbaren Exemplare des nunmehr 2.
schlossen vorliegenden I. Jahrgangs werden im Preise erhöht, so daß
der komplette \. Jahrgang nunmehr M. 18.— = K 21.60, gebunden
M. 22.50 = K 27.— kostet.
Druckfehlerberichtigung.
ar Im vorliegenden Hefte ist zu lesen
Be ; Seite 110, Zeile 20 von oben: „reaktiv” statt „reaktionär”;
Seite 136, Zeile 8 von unten: „Seilliere” statt „Seillere”;
Seite 137, Zeile 4 von oben: „Leblosen” statt „leblosen’””;
Seite 142, Zeile 10 von unten: „als unbewußtes” statt „unbewußt entstandenes”;
Seite 147, Zeile 3 von unten: „ist” statt „st”.
c.: Copyright 1913. HUGO HELLER ® CIE., Wien I, Bauernmarkt 3.
a \ \
k /
E i
e Sn a “ ‚ N j j “ Dir
”, fr u Br „ “ 3
q “ Prey „* ’ 5 Fi . . ir a
# En e ” . . L ” 5 - r
I ze I foa u . A ia Th ,
pn vr 3 - . g k . } 2 i ® =
„ a | . - a, < . “ RER. Be . - \ - \ s r
. % r e . X .% - £° - \ ‚ . us
. ur > . . u " } vA 2 Der N R u v ’
ö R BE n( i M - i .
x f Pa . ’ ® ar « R . . } de * 5
” ı, £ . # x D . u -
i “ ur ö ; ;
2 “
ıs
PETE rn
Ki
Ki
i
Pi
\
u
MIT GENEHMIGUNG DER VERLAGSKUNSTHANDLUNG AMSLER & RUTHARDT, BERLIN W, 8
Der Kilosopk
aus der Salze von T2 Bläbtern lan Daseı IT. Oil
Original Radierung von AB BIER
EN & X Klinger
G2, ep “u
Deilage ZU „/mago II. 2
IMAGO
ZEITSCHRIFT FÜR ANWENDUNG DER PSYCHO-
ANALYSE AUF DIE GEISTESWISSENSCHÄFTEN
HERAUSGEGEBEN VON PROF. DR. SIGM. FREUD
SCHRIFTLEITUNG:
Il.2. DR. OTTO RANK /DR. HANNS SACHS 1913
DERDDRD DOOOXO Ar DODPOOOIOO OSLO
+
Schopenhauer.
Versuh einer Psyhoanalyse des Philosophen'!.
Von Dr. EDUARD HITSCHMANN.
»Schopenhauer idealisierte das Mit=
leiden und die Keuscheit, weil er am
meisten von dem Gegenteile litt.«
Nietzsche.
ie Psychoanalyse hat schon mehrfah mit Erfolg versucht, in
die Psychologie des Dichters und Künstlers ebenso einzu=
dringen, wie in das Seelenleben des Normalen und des Neu=
rotikers. In diese Kette reiht sich der Philosoph insoferne ein, als
durhaus nicht alle Vertreter dieser Wissenshaft als exakte Forscher
zu betrahten sind, vielmehr der produktive Philosoph im engeren
Sinne, der ein eigenes System aufbaut, dem intuitiv schaffenden
Künstler oft näher steht, als es nah dem Material, in dem er
arbeitet, den Anschein haben mag. Wir stoßen in der Geschichte der
Philosophie immer wieder auf unabhängige geistige Persönlichkeiten,
die den unbewußten Drang in sich fühlen, ein System aus sich
selbst heraus zu entwerfen, das die Welt deuten, das Rätselhafte
des Daseins erklären sollte und nach ihrer Überzeugung diese Pro=
bleme auch endgiltig gelöst hatte (Metaphysiker). Jeder dieser pro-
duktiven Philosophen fand seine Gemeinde und hatte seine Wirkung
auf ein gewisses Zeitalter. So erinnert die Geschichte der Philosophie
an die Geschichte der Religion, und wie den Atheisten nur diese
noch interessiert, so beschleiht einen beim UÜberblicken der Jahr-
tausende fortgesetzten philosophishen Spekulationen eine Skepsis
gegenüber jedem doch nur vergänglich gebliebenem System. Schon
darin, daß jeder Philosoph seine Vorgänger, so weit er nicht auf ihren
Schultern stehend höher gelangt, zu desavouieren sucht, zeigt sich
ı Nah einem Vortrag in der »Wiener psychoanalytischen Vereinigung«
(8. Mai 1912).
102 | Dr. Eduard Hitshmann
diese Vergänglichkeit. Sie beruht letzten Grundes auf nichts anderem
als auf der Tatsahe, daß jedes Geistesprodukt, sofern es nicht
Resultat der fortarbeitenden wissenschaftlihen Forshung ist, von
der Subjektivität des Schaffenden vollkommen erfüllt, Richtungslinien
verraten muß, die notwendigerweise aus Persönlichkeit und Psyche
entspringen, wie sie singulär nur in dieser einen Kristallisation aus
Vererbung, Anlage, Schicksal und Zeitalter Form gewinnen konnte.
Was allen diesen Philosophen gemeinsam ist, das ist kurz gesagt
das Philosophieren: jener eigentümlihe und unwiderstehliche Drang,
sein Sinnen und Leben der Deutung der Welt, des Werdens und
Vergehens beim Individuum und im Kosmos zu widmen, um, mit
dieser Weltdeutung die Mitmenshen belehrend, Ansehen zu er-
werben, — anstatt so wie der AÄAlltagsmensh nah außen zu
leben, was das Leben zu bieten vermag als selbstverständlih hinzu=
nehmen. Der Philosoph macht bei den frühen Problemen des Lebens,
die shon dem Kinde zum Anlaß des Grübelns werden, Halt: den
Problemen von Geburt und Tod, von Gut und Böse, Zweck und
Ziel des eigenen Daseins. Diese ersten Themen des kindlihen For-
schungstriebes bleiben beim Philosophen die gleihen, während beim
Forsher das Interesse auf ein anderes Gebiet verschoben und
damit die glatte soziale Binordnung ermöglicht ist. Über das Leben
selbst nachdenken, statt zu »leben«, dies wäre der Lebensinhalt des
Philosophen. Während dem Forsher neben der Vershiebung auf
andere Gebiete auh die Sublimierung seiner infantilen Interessen
und Neugierden in weitgehendem Maße glückt, verrät der Philosoph
durh sein ewiges Zweifeln, Suhen und Kämpfen, daß er mit diesen
Urproblemen niemals ganz fertig geworden ist und zeitlebens an
ihnen »leidet«. Natürlih sind die Übergänge zwischen diesen beiden
Typen zahlreih und nicht scharf abzugrenzen, es hat immer Philo-
sophen gegeben, welche sich hauptsädlich der erkenntnistheoretischen
Wissenshaft oder physikalishen und mathematishen Problemen
zuwendeten oder von dort ausgingen, während andere bloß das
fertige Rüstzeug dieser Wissenschaften für ihre Zwecke heranzogen,
dabei aber den Grundproblemen des philosophishen Denkens treu
blieben. Dem Psycdoanalytiker sind auh die anderen Typen von
Menschen geläufig, welhe dadurh, daß sie mit ihren Trieben und
seelishen Komplexen nicht so fertig werden wie der gesunde und
genußfrohe Mensch, entweder in dem Kampf unterliegen wie der
Neurotiker oder zu höheren Zielen gelangen wie der Dichter und
Künstler. Aus der Kinderforshung wissen wir, daß das Kind in
einem gewissen Älter ganz nah Art des Philosophen, über das
Problem, woher es selbst und eventuell seine Geschwister gekommen
sind, also über Werden und Vergehen selbständig zu forschen
beginnt. Dieser frühinfantile Forschungstrieb, der in den typischen
philosophishen Neigungen der Jünglinge zur Zeit der Mannbarkeit
in mehr vergeistigter Form wieder auflebt, scheint sih bei dem,
der Philosoph zu bleiben bestimmt ist, aus gewissen Gründen in
Schopenhauer 103
dieser Zeit zu fixieren, etwa wie sonst ein Entwiclungsstadium.
Daß sih in jedem Philosophen mystishe und künstlerishe Ele=
mente, manchmal auh Züge des Neurotikers finden, wie nicht
selten auch beim Dichter, deutet auf die gemeinsame Ursahe ab-
normer oder unproportionaler Triebanlage hin, die je nah Disposi=
tion und Begabung minder- oder überwertige Typen verschiedener
Ordnung ergibt. Den endgiltigen Ausgang dieser Gestaltung hat
Freud für die pathologishen Fälle dahin erklärt, daß das unvoll-
kommen Verdrängte, wenn es stellenweise symptombildend ins Be-
wußtsein durhbricht, zur Neurose, wenn es als Strom das Bewußt-
sein überflutet, zur Psychose führt. Der Künstler ist so glücklich,
seinen unbewußten Reihtum an Phantasien für sich A andere
genußvoll darstellen zu können. Anders der Philosoph, der gleichfalls
im Kampfe um die psychische Selbsterhaltung das, was in ihm |
ringt, als allgemein Menscdliches zu fassen sucht: er deutet sih die
Welt so nah seinem Sinne, daß sie, wenn auch nicht seine Wünshe
direkt erfüllt, wie etwa die vom Dichter geschaffene Phantasiewelt,
so dodh seine Shwäcdhen und Überkräfte rechtfertigt und ihm auf
diese Weise das befriedigende und beruhigende Gefühl verschafft,
in diese (seine) Welt hineinzupassen,; er sucht seine — sei es opti=
mistishe oder pessimistishe — Grundstimmung mit der Qualität
der realen Welt zu begründen und projiziert seine inneren Kräfte-
spannungen symbolish und oft hinter dem Gegenteil verborgen nad
außen. »Der Philosoph bestimmt selbst, niht nur was er ant-
worten, sondern auh was er fragen wills, ja, Frage und Antwort
des originellen Denkens sind »etwas in sih so Einheitlihes, so
sehr der intellektuelle Ausdruk eines in sih geschlossenen Seins,
daß Frage und Antwort erst eine nadhträglihe Spaltung des Denk-
bildes bedeuten.« (Simmel.) In diesem Sinne entspricht das Origi-
nelle eines Systems haarscharf dem Individuellen seines Schöpfers.
Das hier Gesagte läßt sich überaus deutlich am BeispielSchopen=
hauers erörtern, wie er sich überhaupt ganz besonders eignet, um '
den innigen Zusammenhang zwischen Philosophie und Persönlichkeit,
verfolgt bis in ihre Triebwurzeln, zu erweisen. Zeigt doh kaum
ein anderer Denker in seinem Wesen und Werke so viel eigen-
artige und krasse Züge (Pessimismus, Askese, Weiberverahtung);
keiner hat sichtlih, wie auch nad eigenem Geständnis so unbewußt
und intuitiv geschaffen, ja seine Philosophie direkt der Kunst zu-
gerechnet, kaum einer hat sein ganzes Leben lang so zähe und
konsequent an seinem im Jünglingsalter fertig hervorgetretenen System
festgehalten und immer wieder daran gezehrt, kaum ein zweiter vor
ihm hat so viel über sich selbst gedacht und geschrieben und keiner der
nachantiken Philosophen die en die wir als Formbildnerin
der Psydhe kennen, einer so freimütigen und offenen Behandlung
würdig befunden!
Aber auch das grundsätzlih Neue, das dieser hochbedeutende
Philosoph zum erstenmal in so klarer Weise im Gegensatz zu fast
Vu m
104 Dr. Eduard Hitshmann
allen seinen Vorgängern, die den Menschen nur als Vernunftwesen
auffaßten, nachdrücklich betont, durchgesetzt und popularisiert hat:
nämlich seine Lehre vom Primat des blinden, rein Willens im
Menschen und in der Welt, auh das läßt sich aus seiner eigenen
überstarken Triebanlage klar ableiten, was längst den Schopenhauer-
forshern aufgefallen ist. (Volkelt, Paulsen, Möbius) Ebenso läßt
sich zeigen, daß die Zweiteilung in Wille und Vorstellung einer stark
empfundenen »Duplizität des eigenen Wesens« entsprungen ist,
welhen Zwiespalt Paulsen auch sonst überall in Schopenhauers
Philosophie wiederfindet, und den wir psychologisch ableiten aus dem
Konflikt starker Triebanlage und deren Verdrängung durh den
vergeistigenden Gegentrieb (Verneinung des Willens) sowie aus dem
Gegensatz zwishen Bewußtem und Unbewußtem. Ferner läßt sich
zeigen, daß auch seine Verehrung für Asketentum und Heiligkeit
gerade seiner shwer bekämpfbaren Sinnlichkeit entspringt; dab sein
schwerer Pessimismus, die schlehte Meinung, die er von der Welt
und den Menschen hatte, primär seiner eigenen Stimmung ent=
stammt, seine Mitleidsmoral der Reaktion gegen sein boshaftes und
grausames Wesen, endlih die Sehnsuht nach reiner Erkenntnis der
Verzweitlung über den ewig quälenden Dämon der Leidenschaft. Es
wird unsere Hauptaufgabe sein, die möglichst exakte Beweisführung
für diese Zusammenhänge zu erbringen. Dazu ist es nötig, daß wir
sowohl einen Abriß von Schopenhauers Lebenslauf, als auh ein
Bild seines Charakters geben, wobei wir das, was wir von seinem
Triebleben durh ihn und über ihn erfahren haben, ebensowenig
übergehen können wie seine neurotishen und vershrobenen Züge.
Im Anschluß daran wollen wir den Versuh maden, die Ableitung
des Systems aus seiner Persönlihkeit — bis in ihre Triebwurzeln
verfolgt — so weit als möglih im Detail zu liefern, um damit
an diesem verlockenden Beispiel einerseits den Wert der psydho-
analytishen Betrahtung für das Verständnis des philosophischen
Genies zu erweisen, anderseits in Schopenhauer selbst einen intui=
tiven Kenner des Unbewußten und Urahner psycdoanalytischer
Erkenntnisse aufzuzeigen.
I.
Leben und Persönlichkeit.
Vor allem sei hervorgehoben, daß die Daten der Lebens-
geschichte, die einer speziellen psychoanalytischen Untersuhung zur
Verfügung stehen müssen, neben den Zufälligkeiten der Begeben-
heiten und der Milieueinflüsse vornehmlich die ursprünglihen seeli-
shen Triebkräfte des Individuums, sowie die daraus folgenden
Reaktionen betreffen. Daß so mandes scheinbar unwidtige Detail
uns wie durch Akzentvershiebung shwerwiegend erscheint, daß wir
aus einem Traumbild, aus einer nur für den Moment hingeworfenen
Notiz Bedeutsames zu erschließen uns berehtigt wissen, daß wir
Schopenhauer 105
Erlebnisse ebenso wie Eigenheiten, Vershrobenheiten und neuroti=
she Züge durh Übung in der Deutung psycologishen Materials
oft erfolgreih verwerten, wird gleichfalls als eine Eigenart der
psychhoanalytischen Betrahtungsweise offenbar werden. Dazu ist die
Kenntnis der psydhishen Mechanismen Voraussetzung, welche zu=-
nähst durch Beobadhtungen an Kranken gewonnen, sih zum
größten Teil aber am gesunden Durdhschnittsmenshen nachprütbar
und auf den Produktiven und das Genie anwendbar erwiesen haben.
Gelingt unserer Darstellung diese Arbeit, »so ist das Lebensverhalten
der Persönlichkeit durh das Zusammenwirken von Konstitution und
Schicksal, inneren Kräften und äußeren Mächten aufgeklärts (Freud).
Unter diesem Gesichtspunkt berücksichtigen wir als Psychoana-
Iytiker besonders die sonst allgemein vernadlässigte allererste Jugend
— wie spärlih auch oft die überlieferten Daten aus jener Lebenszeit
sind — namentlih die Äußerungen des Trieblebens!, ferner das
Verhältnis zu Eltern und Geschwistern, die den speziellen Charak-
teren und Scicksalen der Eltern entsprehende Einstellung des
kindlihen Individuums, da aus ihr so viele seiner späteren Reak=
tionen verständlih werden, besser als aus der oft überschätzten
Vererbung. Das Kind kann nämlich seinen Eltern auch auf anderem
Wege ähnlih werden als dem der angeborenen erblihen Eigen-
schaften, es gibt ein gleichsinniges Nadlebenwollen aus Liebe, ein
Nacdahmen, das eigentliih ein unbewußtes Sichhineinversetzen und
Finfühlen ist, das Freud »lIdentifizierung« genannt hat. Übersehen
wurde sonst vielfah auch die unbewußte feindselige Einstellung gegen
den oder jenen Elternteil aus Rivalität um die Liebe einer a
stehenden Person (Mutter, Schwester), für den später so oft beim
Heranwacdsenden die ursprünglih zärtlihe Einstellung wieder in
übertriebener Weise an den Tag tritt.
Der größte und bleibendste Eindruk des Kindes sind natür-
ih seine Eltern, die liebende Mutter und der anscheinend allmäh-
tige Vater, die für das Neugeborene zwei Riesengestalten sind, die
es liebend, pflegend, umgeben. Wenn diese infantile Ein-
stellung der Liebe, der Ehrfurht und Übershätzung auch vom
heranreifenden Individuum periodenweise von der aus der kind-
lihen Eifersuht entspringenden Feindseligkeit abgelöst und durch
die Realfıguren der Eltern desavouiert wurde, so bleibt im Un-
bewußten doc jene romanhafte kindlihe Einstellung erhalten, die
den Vater als göttlich-allmächtigen Herrscher, die Mutter als hehre
! Audh Schopenhauer huldigte (vgl. W. W. II. Bd., p. 464f) der vor-
psychoanalytishen Auffassung, daß das Kind nicht sexuell sei: Die heillose Tätig-
keit des Genitalsystems schlummere noch, jener unheilschwangere Trieb fehle, daher
sei die Kindheit die Zeit der Unshuld und des Glücks, das Paradies des Lebens.
Die Basis jenes Glücks sei, daß in der Kindheit unser ganzes Dasein vielmehr im
Erkennen als im Wollen liege. Der unschuldige und klare Blik des Kindes sei
aus dem Gesagten erklärlih. — Für den Psychoanalytiker ist diese Anschauung
nichts weniger als ein Gegenbeweis gegen eigene reiche Kindersexualität, die ver-
drängt wurde.
106 Dr. Eduard Hitshmann
gütige Fee, aber diesen oder jenen Elternteil auh als feindselige
Madt auffaßt. Es macht sih nämlih in der Beziehung der Kinder
zu den Eltern die sexuelle Anziehung und Abneigung insofern
geltend, als der Sohn die Mutter mehr liebt und den Vater als
störend empfindet, die Tochter dem Vater angehören möchte und den
Platz von der Mutter schon besetzt findet. So wertvoll uns daher
auch die objektiven Berichte über die Eltern Schopenhauers sein
müssen, so bleibt doh für das Endbild des Charakters unseres
Darstellungsobjektes seine Auffassung von den Dingen und Per-
sonen die entscheidende.
E
Die Familie.
Zunädhst wird es sich empfehlen, im Sinne der Familien-
forshung einen Blik auf auffällig entwickelte Charakterzüge in der
Reihe der Vorfahren zu werfen. Wohl als der hervorstehendste er=
scheint kraftvolle, gewalttätige Energie und ausholender, nicht rück-=
sihtsvoller Tätigkeitstrieb. Es zeigt sih, daß des Großvaters Tatkraft
und Entschlossenheit sih in ähnliher Weise beim Vater Schopen-
hauers aufweisen läßt, der ebenfalls Tätigkeitstrieb, sich hinauf-
arbeitende Tüchtigkeit, Stolz und Hartnäcigkeit verrät. Von hef-
tigem Charakter war auch die Großmutter väterliherseits, welce
ebenso im Wahnsinn endete, wie ein Onkel väterlicherseits, während
ein anderer von Jugend an blödsinnig war. Der Vater, Heinrich
Floris Schopenhauer, war groß, kräftig und häßlih,; der Sohn, der
immer unter Mittelmaß blieb, empfand ihn in seiner Kindheit als
Riesen. Später klagt er, er habe durh die Härte des Vaters viel
in der Erziehung zu leiden gehabt. Der Vater, immer schon jäh=
zornig und hartnäckig, wurde mit den Jahren reizbarer und heftiger,
seine Pedanterie shwerer erträglich, gelegentlich ließ er sih zu hef-
tigen Ausbrüden hinreißen, nah denen er aber bald wieder »zur
Besinnung kam«. Im Alter von 58 Jahren ertrank er, aus einer
Speicheröffnung in den Kanal fallend, und es wird vom Sohn, wie
auh von den Biographen Selbstmord vermutet. Im Alter von
38 Jahren hatte er die um 19 Jahre jüngere Johanna Trosiener ge-
heiratet, die Tochter eines gleichfalls als jähzornig und unbezähmbar
heftig geschilderten, tüchtigen Kaufmannes. Sie heiratete den um so
vieles älteren, unschönen, aber angesehenen Mann nad einer un-
glücklihen Liebesgeshihte und hat ihn auch nie eigentlich geliebt,
obwohl sie mit Hocdhadtung von ihm sprah. Ihr Charakterbild
schwankt in den Berichten, doh scheint es siher zu stehen, daß sie
mehr intellektuell als gemütvoll war, und insbesondere den Kindern
gegenüber stets egoistisch ihre eigenen Interessen vertrat. Als Witwe
und im Verkehr mit zum Teil berühmten Männern entwickelte sie
sih zu einer gewandten Gesellshaftsdame und entdeckte ihr schrift=
stellerisches ae dem ihre Tagebücher und mehrere seinerzeit
geschätzte Romane entsprangen. Fällt shon die Rastlosigkeit und die
Schopenhauer 107
fast krankhafte Reiselust des Ehepaares als Zeihen mangelnder Be=-
haglihkeit und wohl auch mangelnden Glücksgefühles auf, so deuten
die vielseitigen Geselligkeiten und Freundschaften, dieSchopenhauers
Mutter nah dem Tode ihres Mannes pflegte, auf eine in der ernsten
Konvenienzehe nicht zur Befriedigung gelangte Lebenslust hin, der
sih voll hinzugeben sie ursprünglih in dem Milieu ihres Eltern
hauses gewohnt war. Ihre Freunde wurden ihr wichtiger als ihr
Sohn, und zwishen einem dieser Freunde, dem unbedeutenden
Dichter Müller, genannt v. Gerstenbergk (mit dem sie seit 1813 zu=
sammenlebte, d. h. ihm einen Teil ihrer Wohnung vermietete und mit
ihm zusammen aß, wie sie es schon früher mit v. Fernow getan hatte),
geriet der Sohn in einen Konflikt, der schließlih dazu führte, daß
die Mutter dem Sohne den »Scheidebriefs schrieb. Es scheint plau=
sibel, daß der Sohn die Mutter eines unsittlihen Verhältnisses ge=
ziehen haben mag, obwohl die Mutter damals bereits 47 Jahre,
Müller allerdings 33 Jahre alt war. Dieser Konflikt zwischen Mutter
und Sohn reiht aber schon weiter zurück und wurde hier nur aktuell
und akut. War auch in der ersten Zeit des jungen Mutterglückes,
das in ländliher Zurückgezogenheit mit dem nach dreijähriger Ehe
geborenen Knaben verbraht wurde, die Zärtlihkeit der in der Ehe
wenig befriedigten Frau sicherlih eine große, vielleiht eine über-
große, so muß der Knabe doch später wenig Zärtlihkeit zu Hause
gefunden haben, sonst könnte er nicht zweier bei einem Geschäfts-
freunde des Vaters in Havre verbrahten Knabenjahre (10 bis 12)
in seinem Curriculum vitae als des »weitaus frohesten Teils« seiner
Kindheit ausdrüklih gedenken. Als die Eltern ihn drei* Jahre
später für mehrere Monate abermals im Ausland, bei einem engli-
schen Geistlihen unterbrahten, schreibt ihm die Mutter kluge er-
zieherishe Briefe, welche jedoch deutlich Gereiztheit und Unzufrieden-
heit mit dem wenig entgegenkommenden, selbstgefälligen und rauhen
Wesen des Sohnes verraten und seine Stimmung gegen die Mutter
gewiß nicht günstig beeinflußten: vielleiht um so weniger, als ihre
Kritik zum guten Teil berechtigt gewesen sein mag. Einen viel
heftigeren Widerstand gegen die Art des Sohnes zeigen spätere
Briefe, die sie ihm, als er endlich seinen wissenschaftlihen Neigungen
nachgehen durfte und sein intellektuelles Selbstgefühl in die Höhe
schoß, geschrieben hat. Zwar muß sie ihm Geist, Bildung und Gemüt
zugestehen, aber weiter heißt es:
»Alle deine guten Eigenschaften werden durch deine Superklugheit ver-
dunkelt und für die Welt unbrauchbar gemacht, bloß weil du die Wut, alles besser
wissen zu wollen, überall Fehler zu finden, außer bei dir selbst, überall bessern
und kritisieren zu wollen, niht beherrschen kannst. Damit erbitterst du die Men=
shen um dich her, niemand will sich auf eine so gewaltsame Weise bessern und
erleudhten lassen, am wenigsten von einem so unbedeutenden Individuum, wie
du doh nod bist. Niemand kann es ertragen von dir, der doh auch so viele
Blößen gibt, sich tadeln zu lassen, am wenigsten in deiner absprechenden Manier,
die im Orakelton gerade heraussagt: so und so ist es, ohne weiter eine Ein-
wendung nur zu vermuten«. (Gwinner p. 49.)
108 Dr. Eduard Hitschmann
Als es sih darum handelt, ob der neunzehnjährige, nad
Weimar zurückehrende Sohn bei der Mutter wohnen soll, ver-
weigert sie es ihm:
»Es ist zu meinem Glück notwendig zu wissen, daß du glücklich bist, aber
nicht ein Zeuge davon zu sein. Ich habe dir immer gesagt, es wäre sehr schwer
mit dir zu leben, und je näher ich dich betrachte, desto mehr scheint diese Schwie-
rigkeit, für mich wenigstens, zuzunehmen. Ich verhehle es dir nicht: so lange du
bist, wie du bist, würde ich jedes Opfer eher bringen, als mih dazu ent=
shließen.... Ich kann mit dir in nichts, was die Außenwelt angeht, überein-
stimmen. Auch dein Mißmut ist mir drückend und verstimmt meinen heiteren
Humor.... Du bist nur auf Tage bei mir zu Besuch gewesen und jedesmal
gab es heftige Szenen um nichts ..... und jedesmal atmete ich erst frei, wenn
du weg warst. Weil deine Gegenwart, deine Klagen über unvermeidlihe Dinge,
deine finstern Gesichter, deine bizarren Urteile, die wie Orakelsprühe von dir
ausgesprohen werden, ohne daß man etwas dagegen einwenden dürfte, mic
bedrükten..... An meinen Gesellschaftstagen kannst du abends bei mir essen,
wenn du dich dabei des leidigen Disputierens, das mih auch verdrießlich macht,
wie alles Lamentierens über die dumme Welt und das Menscenelend enthalten
willst.« (Gwinner, p. 52.)
Mutter und Sohn waren nun einmal nicht für einander ge-
schaffen. »Er warf ihr vor, das Andenken seines Vaters nicht ge-
ehrt zu haben, glaubte auch, da sie diesen nicht geliebt habe, nicht
an ihre Mutterliebe.« Er war in Besorgnis, »das väterlihe Vermögen
könnte in den Händen der Mutter noch ganz zusammenshwinden
und ihm, der sih zum Erwerb nicht befähigt fühlte, die Sorge für
seine nächsten Angehörigen zufallens. (Gwinner.)
«Als der fünfundzwanzigjährige Doktor der Philosophie doch
wieder versuhen wollte, bei der en in Weimar Wohnung zu
nehmen, sollte er dort keine Heimat mehr finden. Es kam zu heftigen
Auftritten zwischen Mutter und Sohn, welche bei den geringsten
Veranlassungen shon alles Maß des Schicklihen überschritten und
schließlich zu einer endgiltigen Trennung führten. Mutter und Sohn
scheinen einander seit dieser Zeit niht wieder gesehen zu haben,
obwohl die Mutter noh 24 Jahre lebte.
Aus,dieser zunehmenden Abneigung gegen den Sohn kann
man wohl auf tiefere Differenzen der BR schließen. Die
Mutter spielte gern selbst die geistig Interessierte und Überlegene;
sie ließ sih gern anbeten und bewundern. Einen dieser »Seelen-
freundes beschrieb sie, sonderbarerweise in einem Brief an ihren neun=
zehnjährigen Sohn, folgendermaßen: »Wollte ih ausgehen, so hatte
ih seinen Arm, wollte ih Schach spielen, so spielte er; wollte ich
mir vorlesen lassen, so las er; wollte ih Musik, so sang er zur
Gitarre, wollte ih quatre mains spielen, so spielte er, wollte ich
malen, so saß er, wollte ih allein sein, so ging-er. Solch einen
Cicisbeo finde ih nie wieder.« Der unwirshe, eigenwillige und
geistig so enorm überlegene und dessen bewußte entsprach
freilih nicht diesem Ideal!
Faßt man die Äußerungen Schopenhauers über seine Mutter
Schopenhauer 109
zusammen, so würde man fast nicht glauben, daß er je aud ein
zärtliher Sohn war, wie es wohl für die frühe Kindheit anzunehmen
ist. Später gab er ihr, wie R. v. Hornstein berichtet, die Schuld an
dem Selbstmord seines Vaters und er schrieb ihr das finanzielle
Herabkommen seiner Familie zu. Mit Ironie erzählte Schopenhauer,
wie seinem Wunsce, Flöte spielen zu lernen, der Vater Recht gab,
»aber«, heißt es weiter, »meine poetische Mutter, der Schöngeist von
Weimar, war meinem Wunshe entgegen: er wird einmal so viel
Geld haben, daß er sich Flöte vorspielen lassen kann«. Die ab-
fällige Äußerung L. Feuerbachs (1815) über sie: »Eine reice
Witwe, madht von der Gelehrsamkeit Profession. Schriftstellerin.
Schwatzt viel und gut, verständig; ohne Gemüt und Seele. Selbst-
gefällig, nach Beifall hashend und stets sih belächelnd«, ließ der
Sohn gelten, als man sie ihm berichtete.
Es mag zunächst Schopenhauers individuellem Erleben ent-
sprohen haben, daß er meint, der Mensch erbe von seiner Mutter
den Intellekt und vom Vater den Willen. Gebildet, belesen, schrift-
stellerish tätig, mit Dichtern und Literaten in dauerndem Verkehr,
wurde die Mutter, die durch ihre literarishe Bildung und Erfolge
vielleiht ursprünglih ein Vorbild für den Knaben war, später, unter
dem Einfluß seiner zunehmenden Feindseligkeit und Ablösung von
der seinen männlichen Stolz beleidigenden mütterlihen Autorität, für
ihn zum oberflählichen Blaustrumpf. Hatte er doch seither durch
ernste wissenscaftlihe Arbeit die schöne Literatur weit hinter sic
gelassen. Als Schopenhauer der Mutter seine Dissertation ȟber
die vierfahe Wurzel des Satzes vom zureihenden Grundes über-
reichte, meinte sie spöttish — wo andere Mütter stolz gewesen
wären —, das sei wohl etwas für Apotheker. Der gekränkte Philo-
soph entgegnete gereizt, man werde seine Scrift noch lesen, wenn
von den Schriften der Mutter kaum ein Exemplar in einer Rumpel-
kammer stehen werde. Doc sie gab schlagfertig die Antwort: »Von
den deinigen wird die ganze Auflage noh zu haben sein.« All-
mählih nahm die Verahtung des noh durch Verdädtigung der
Treue befleckten Mutterbildes einen so hohen Grad an, daß das
Zusammenleben unmöglich wurde.
Man kann als siher annehmen, daß eine solche auffällige Ab-
wendung von der Mutter als Reaktion auf eine ursprüngliche Liebe
eintrat, sobald der Vater nah seinem niht ohne Schuld der
Mutter Re. Tode zum ehemaligen infantilen Idealbild
wieder erhoben wurde. Ein Charakter wie Schopenhauer konnte
Abhängigkeit, vielleiht sogar masodistisher Färbung, von einem,
seiner Meinung nah schon durh sein Geschleht minderwertigen
Wesen, ins Mannesalter nicht mitnehmen, und auch diese Regung
wird zur Verallgemeinerung seines Mutterhasses zum Weiberhab
beigetragen haben.
Schopenhauer erzählte in späten Jahren — was die Stärke
des Erlebnisses beweist —, er sei als sechsjähriges Kind von
110 Dr. Eduard Hitshmann
Angst befallen worden, weil er geglaubt habe, die auf einem
Spaziergang befindlihen Eltern hätten ihn für immer verlassen.
Dieses häufig zu beobadhtende Angstgefühl zeigt den starken Kon-
flikt des Kindes in dem bereits zwiespältig gewordenen Verhältnis
zu den Eltern an (Ödipuskomplex). Wir erwähnen hier, worauf
wir später noh zurückkommen, daß sich diese Kinderangst bis zur
neurotishen Ängst steigerte und wiederholt im späteren Leben in
krankhafter Form hervortrat.
Im Gegensatz zu seiner Mutter schien der immer strenge und
auf seinen Willen beharrende Vater, der sih hartnäckig den Plänen
des Sohnes widersetzte, in der frühen Kindheit als der Feind des
Knaben. So bringt Schopenhauer seine Auffassung, daß die Welt
eher von einem Teufel als von einem Gotte gemacht worden sei,
mit seinem Eindruk von der Strenge seines Vaters in Zusammen-
hang. In den späteren Äußerungen des Sohnes erscheint der ver-
Ey Vater jedoch wieder als übershwenglich gepriesenes Idealbild
eines charaktervollen, fürsorglichen, unvergeßlihen Mannes. Man kann
wohl annehmen, daß, als ne mit siebzehn Jahren den
Vater verlor und eine shwere Verstimmung bei ihm eintrat, damals
seine Liebe zum Vater eine reaktionäre Verssänlding aus der Reue
erfuhr, die sih auf Ungehorsam oder Lieblosigkeit, sowie feindselige
Rahewünsche bezogen haben mag.!,
2. Eigenart seines Wesens.
Die Eigenartigkeit des Wesens Schopenhauers, die kleinen
und großen originellen Züge desselben, die selbstverständlih auch aus
seinen Werken sprechen, haben seine Persönlichkeit überaus populär
gemadt. Wäre nicht sein Werk ein so imponierendes, würden nicht
die ernsten, wuctigen, tiefsinnigen, eine starke, c&haraktervolle und
heftige Persönlichkeit verratenden Züge überwiegen, so könnte
mander Zug ihn als verschroben, ja vielleiht komish erscheinen
lassen. Besonders dort, wo seine Lebensführung, sein Äußeres, seine
gesellschaftlihen Manieren, seine sozialen Gewohnheiten von der
Norm abweihen, wo Auffallendes, Verschrobenes, Sonderbares
aufzuzeigen ist, werden wir ins Detail gehen. Neurotishe Züge bei
einem genialen Menschen aufzufinden, ist der modernen Auffassung
geläufig, auch diese können wir nicht schonend übergehen.
Man rufe sih das Bild des in dem vornehmen Hause oder
auf weiten, in aller Bequemlichkeit unternommenen Reisen seine
Jugend verbringenden Knaben ins Gedächtnis. Das Bild der Eltern
haben wir bereits entworfen, viele Nachrichten zeigen uns die Ehe,
1 So ist auch der schwärmerisch begeisterte Stil der Entwürfe zu einer
Dedikation (der 2. Ausgabe seines Hauptwerkes) an den Vater zu verstehen. Für
die ambivalente Einstellung des Sohnes gegen den Vater ist es charakteristisch,
daß sich Schopenhauer an stilistishen Änderungen und mehrfahen Entwürfen
dieser Widmung nicht genugtun konnte, aber doch scließlih davon Abstand nahm,
überhaupt eine dieser Fassungen zu veröffentlichen.
Schopenhauer | 111
in der so mander Streit ausgekämpft wurde, als wenig glücklich,
und ein lebensfreudiger Ton hat wohl nie vorgeherrsht. Des Vaters
rauhe und strenge Ärt, deren der Sohn sich noch spät erinnert, hat
gewiß vielfah wie ein Druck auf dem Hause und dem Knaben ge-
lastet. Darum empfand er die beiden in Havre verbrachten Jahre
als die glüclichsten seiner’ Jugend und nennt den Mann, der dort
bei ihm Vaterstelle vertrat, rühmend einen »lieben, guten, sanften
Manns. »Offenbar,« sagt Möbius, »war der Knabe nicht nur durd
das positive Gute beglükt, sondern auh durh die Trennung von
seiner Familie, in der die Eigentümlichkeit seines Vaters und die
Weltlihkeit der Mutter ihm das Leben erschwertens <p. 34).
Übrigens hat das eigentlihe Leben im Vaterhaus sowohl durd die
vielen Reisen mit den Eltern wie durch den jahrelangen Aufenthalt
in fremden Städten schon früh mehrfache ungen erfahren.
Zeitig fill auh am Kind schon ein schwermütiges Grübeln und
jene Verstimmung auf, die er selbst als Dyskolie geschildert hat!,
und die zum erstenmal deutlih in den Reiseeindrücken des Knaben
zum Vorschein kommt. So schreibt ihm die Mutter im Jahre 1807,
»daß ih nur zu gut weiß, wie wenig Dir vom frohen Sinn der
Jugend ward, wieviel Anlage zu shwermütigem Grübeln Du von
Deinem Vater zum traurigen Erbteil bekamst«. Der ernste Knabe,
der shon mit 13 und 14 Jahren einen ungestümen Drang zur
Wissenschaft verrät, mit dem der Vater rehnen muß, wird durch
verschiedene Eindrücke einer Reise (1803), durh die der Vater ihn
für das praktishe Leben gewinnen will (er sagte »mein Sohn soll
im Buche der Welt lesen«)?, in seinen düsteren Stimmungen viel-
fach bestärkt. Er besichtigt die Ruinen des römishen Amphitheaters
in Nimes und seine Gedanken werden, wie er in sein Tagebuch
schreibt, an die »Tausende längst verwester Menschen gemahnt«
und an die Kürze des Menschen Lebens. Im Bagno von Toulon
entsetzte sih der lebensunerfahrene Jüngling über das Los der
Sträflinge und verliert ein andermal alle Reiselust, weil der Wagen
an elenden Hütten und verlotterten Menschen vorbeigefahren ist.
Diese trüben Stimmungen, Todes- und Vergänglickeitsgrübeleien,
denen wir so häufig in der Jugendgeshidhte von N nen
(Zwangskranken) begegnen, sind auch in enge Beziehung zu bringen
zu den bei Schopenhauer seit der frühesten Jugend bis ins
späteste Alter in geradezu krankhafter Weise auftretenden Angst-
! In dem schönen Kapitel »Von dem, was einer ist« in den » Aphorismen
zur Lebensweisheits nimmt die Bedeutung der Stimmungsanlage für Lebensglük
des Individuums eine auffallend breite Stelle ein, was auf das eigene Erleben
Schopenhauers hindeutet.
2 Es liegt die Vermutung nahe, daß diese Äußerung, falls sie früh und
eindrucksvoll dem Knaben zukam, in mißverständliher Auffassung und Danadh-=
rihtung ein Antrieb zum Philosophieren wurde. Vgl. dazu Schopenhauers
Worte: »Die Gelehrten sind die, welhe in den Bücern gelesen haben, die
Denker, die Genies ... . sind aber die, welche unmittelbar im Buch der Welt ge-
lesen haben.«
112 Dr. Eduard Hitschmann
gefühlen. Schon im sechsten Lebensjahr wurde das Kind, wie er-
wähnt, von Angst befallen. Krankhafte Angstgefühle treten bei
dem zeitlebens ängstlih gestimmten Philosophen in späterer Zeit
wiederholt auf, sowohl In ninien ı, als auh bei Tage. Gwinner
berihtet über eine »an Manie grenzende Angst, die ihn zu-
weilen bei den geringfügigsten Anlässen mit solher Gewalt über-
fiel, daß er bloß mögliches, ja kaum denkbares Unglück leibhaftig
vor sih sah... Als Jüngling quälten ihn eingebildete Krankheiten
und Streithändel. Während er in Berlin studierte, hielt er sich eine
Zeitlang für auszehrend ... Aus Neapel vertrieb ihn die Angst
vor den Blattern, aus Berlin die Cholera. In Verona ergriff ihn die
fixe Idee, vergifteten Schnupftabak genommen zu haben. Als er
1833 im Begriffe war, Mannheim zu verlassen, überkam ihn ohne
alle äußere Veranlassung ein unsäglihes Angstgefühl. Jahrelang
verfolgte ihn die Furht vor einem Kriminalprozesse, vor dem Ver-
luste seines Vermögens und vor der Anfechtung der Erbteilung
seiner eigenen Mutter gegenüber. Entstand in der Nacht Lärm, so
fuhr er vom Bette auf und griff nah Degen und Pistolen, die er
beständig geladen hatte. Auch ohne besondere Veranlassung trug
er eine fortwährende Sorglihkeit in sich, die ihn Gefahren sehen
und suchen ließ, wo keine waren... In späteren Jahren scheint ihn
die krankhafte Erregbarkeit seltener heimgesuht zu haben. Jedoch
blieb er von Rücfällen niht vershont... Wie sich selbst, so
uälte er die, welche mit ihm umgingen, durch seinen Argwohn ...
deine Wertsahen hielt er derart versteckt, daß trotz der lateinishen
Anweisung, die sein Testament dazu gab, einzelnes nur mit Mühe
aufzufinden war. Seit seiner zweiten italienischen Reise führte er sein
Rehnungsbuh english und bediente sich bei wichtigen Gescäfts-
notizen des Lateinishen und Griehishen. Um sih vor Dieben zu
schützen, wählte er täushende Aufsdriften, verwahrte er seine
Wertpapiere als arcana medica, die Zinsabschnitte besonders, in
alten Briefen und Notenheften, und schwere Goldstüke als Not=
pfennige unter dem Tintenfaß im Schreibpult. Nie vertraute er sich
dem Schermesser eines Barbiers an, aud führte er stets ein ledernes
Sciffhen bei sih, um beim Wassertrinken in öffentlihen Lokalen
keiner Ansteckung ausgesetzt zu sein. Die Spitzen und Köpfe seiner
Tabakspfeifen nahm er nach jedesmaligem Gebrauhe unter Ver-
shluß. Aus Furht vor dem Sceintode verordnete er, daß seine
Leihe über die gewöhnlihe Zeit hinaus offen beigesetzt werden
solle«. (p. 249 u. ff.)
Sehr charakteristisch für seine nächtlihen Angstgefühle ist ein aus
m zwanzigsten Lebensjahr erhaltenes Gedicht, in welchem es
eißt:
»Mitten in einer stürmishen Nadt, Bin ih in großen Ängsten er-
wadt,; Hört’ es sausen und hört’ es stürmen Durch Höfe, Hallen und an den
! Es ist charakteristish, daß sich so viele seiner Träume und Ahnungen
mit dem Thema des Todes beschäftigen. (Vgl. später).
Schopenhauer 113
Thürmen ... Da that gar große Angst mic fassen, Fühlt” mich so bang, so
allein und verlassen,... ... Sucte vergebens zurük es zu rufen, Wie
wir uns gestern Freude erschufen ...« (N. P. p. 369).
Eine andere Stelle zeigt das Erlebnis und seine Anwendung
nebeneinander.
»Wenn in schweren grauenhaften Träumen die Beängstigung den höchsten
Grad erreicht, so bringt eben sie selbst uns zum Erwaden, durch welces alle
jene Ungeheuer der Nacht vershwinden. Dasselbe geshieht im Traume des
Lebens, wann der höhste Grad der Beängstigung uns nötigt, ihn abzubredhen.«
Wie hier die Angst direkt mit der Todesangst in Beziehung
gesetzt ist, so erscheint noh an anderer Stelle die Todesangst als
schreckliche Begleiterin des Lebens (N. P. $ 276):
»Es gibt Augenblicke, wo, wenn wir an den Tod lebhaft denken, er in
so fürchterliher Gestalt erscheint, daß wir nicht begreifen, wie man mit solcher
Aussicht eine ruhige Minute haben könne und nicht jeder sein Leben mit Klagen
über die Notwendigkeit des Todes zubringe.«
Und scließlih seien noh die Worte aus den N. P. & 658
angeführt, welche so überaus charakteristisch sind für die Psychologie
des Angstmenshen überhaupt:
»Wenn ih nichts habe, was mich ängstigt, so beängstigt mich eben dies,
indem es mir ist, als müßte doch etwas daseyn, das mir nur eben verborgen
bliebe. Misera conditio nostra!«
Diese das ganze Leben begleitende Angst, als pavor nocturnus
beginnend, in pathologishen Angstäquivalenten wiederkehrend, viel-
fah das Traumleben durdsetzend, das ganze Leben verbitternd,
ist siher als krankhafte Erscheinung aufzufassen und steht nad
unserer ärztlihen Beobahtung mit Verdrängungsvorgängen der in=
fantilen Sexualität im engsten Zusammenhang. Wir sind gewöhnt,
sie in der Kindheit mit der Ablösung von der kindlihen Selbst-
befriedigung und deren Phantasien sowie mit der Verdrängung der auf
Eltern und Geschwister gerichteten Todes- und Liebeswünsce in Be=
ziehung zu bringen und finden sie besonders ausgeprägt bei einer
starken, außen gehemmten und gegen das eigene Ich gekehrten gewalt-
tätigen Anlage, wie eine solhe bei Schopenhauer nahweisbar ist.
Daß Schopenhauer einen überstarken ee hatte, berichtet
er selbst aus seiner Kindheit, er rühmte sih auh, außerordentlich
heißes Blut gehabt zu haben (Gwinner p. 396). Er hat unter
diesem starken Trieb sehr gelitten, wie wir am deutlichsten aus dem
Jugendgediht (achtzehntes Fi ersehen, das den Kampf gegen die
verwertlih empfundene Sinnlihkeit widerspiegelt (N. P. p. 366):
»O Wollust, o Hölle, o Sinne, o Liebe, Nicht zu befried’gen und nicht
zu besiegen! Aus Höhen des Himmels hast du mich gezogen Und hin mich ge=
worfen In Staub dieser Erde: Da lieg’ ih in Fesseln. Wie wollt ih mich
shwingen Zum Throne des Ew’gen, Mih spiegeln im Abdruck des höchsten
Gedankens, Mich wiegen in Düften, Die Räume durdfliegen, Voll Andadıt,
voll Wunder ... Doc du, Band der Shwäcdhe, Du ziehest mich nieder, Daß
fest mich umklammert Das Heer deiner Fäden, Und jeglihes Streben Nah Oben
mißlingt mir.«
Imago 11/2 8
114 Dr. Eduard Hitschmann
Aud aus zahlreichen Stellen seiner intimen Aufzeichnungen,
seiner Briefe und seiner Schriften folgert der Biographı Damm »wie
ungeheuer shwer Schopenhauer unter dieser geheimen Geißel litt,
wie er sich selbst bewußt war, daß die Leidenshaft zum weiblichen
Geschlecht, der Sinnengenuß ihn stets aufs Neue in Fesseln schlug
und seinem Charakter dunkle Schatten aufsetzte... Schon im
Jünglingsalter suchte er diese Triebe zu bekämpfen: bald stürzte er
sich mit Eifer in die kaufmännishen Obliegenheiten, bald suchte er
Ablenkung in der Lektüre... im Besuh von Theater und Kon-
zerten, in der Ausübung des Flötenspiels, in weiten Spaziergängen
und im Betreiben des Segelsports. — Die Natur aber wollte ihr
Redt. Schließlich überwältigte ihn der Ekel am ganzen Dasein und
er versank in immer tiefere Melandolie« (p. 5%. Er litt zeitlebens
unter diesem »Dämon« und »mit einem Jubelruf begrüßte er darum
den Eintritt jener Lebensjahre, in denen die Be een schlafen ge=
angen sind« und die Erlösung erfolgt. Es Tiext nahe, in dem
E losuschedürinie das auh in Schopenhauers Philosophie eine
so große Rolle spielt, eine Analogie hiezu zu finden. Dem starken
Trieb entspriht auch das starke Schuldgefühl, welches, wie wir sehen
werden, mit die Grundlage seiner pessimistishen Weltanschauung
eworden ist. Schopenhauer bemerkt gelegentlih, daß der der
Kindheit fehlende Sexualtrieb später das Leben verdüstere:
»Dieser Trieb hebt jene Sorglosigkeit, Heiterkeit und Unschuld . . auf,
indem er in das Bewußtsein Unruhe und Melandolie, in den Lebenslauf Unfälle,
Sorge und Not bringt« (W. W. II, p. 668).
Das mit der Angst innigst zusammenhängende Schuldgefühl
sind wir gewohnt, teils auf dem Ödipuskomplex entspringende
böse Wünschen auf Eltern und Geschwister zurückzuführen, teils
wird es verstärkt durh die von der Autorität der Eltern der kind=
lihen Onanie entgegengesetzten Drohungen, die einer Natur wie
dem strengen Vater Ehonehhätere gewiß nahelagen. Der Knabe,
dem der Vater übrigens mit sechzehn Jahren noch seine schlechte
Körperhaltung vorwerfen mußte, sceint auch seine Phantasien
damals niht im Zaume gehalten zu haben. Er verschlang mit der
üblihen Heimlichkeit und Begierde jener Jahre eine Menge poetischer
Werke und Romane, sichtlih mit schlehtem Gewissen. »Du bist
nun schon fünfzehn Jahre alt,« schreibt ihm die Mutter, »Du hast
shon die besten deutschen, französishen und zum Teil auch eng-
lishen Dichter gelesen und studiert und doh außer den Scul-
stunden kein einziges Buh in Prosa, einige Romane ausgenommen,
keine Geschichte, nichts als was Du etwa lesen mußtest, um bei
Herrn Runge zu bestehen ... .. alles in der Welt wollte ich dich
lieber werden sehen als einen sogenannten Belesprit.« Vielleicht
hatte Arthur mehr Romane gelesen, als sie dachte, heißt es bei
Möbius (p. 36) weiter. »Dem K. Bähr erzählte Schopenhauer,
er habe als vierzehnjähriger Knabe mit Hilfe seines Kommoden-
schlüssels der väterlihen Bibliothek den Roman »Faublass entführt
Schopenhauer 115
und habe sih Nacdts auf seinem Bette sitzend darein vertieft. Da
sei der Vater, um in seiner Frau Zimmer zu kommen, unversehens
hereingetreten: »Ein gegenseitiges Ertappen!« Vor dem Romanlesen
hat Schopenhauer später die jungen Leute wiederholt gewarnt,
er muß wohl die übeln Folgen gespürt haben.« Der psydisch be-
deutsame Kampf zwischen Sexual- und Ichtrieb mag um die Zeit der
Pubertät und später auch bei Schopenhauer eine wichtige Rolle
für Charakterbildung und geistige Ziele gespielt haben!. Die ange-
strebte sexuelle Abstinenz seines späteren Lebens, der er nur perio-
dish untreu wurde, führte wieder zur Verstärkung, . Kon-
tinuierliherhaltung der Angst, die wieder den Ausdruk in den
verschiedenen bereits angeführten Phobien fand: in auffällig über-
triebenen Vorsichtsmaßregeln gegen überschätzte Gefahren, gegen
Krankheit und Tod insbesonders. Daher hat er auh das Thema
der Vergänglichkeit, der Flüctigkeit der Zeit und insbesondere des
Todes, welhe seit jeher die Anreger alles Philosphierens gewesen
sind, aus seinen a Erlebnissen heraus als solhe empfunden,
wenn er sagt (W. IL, p. 185):
»Ohne Zweifel ist es das Wissen um den Tod und neben diesem die
Betrahtung des Leidens und der Not des Lebens, was den stärksten Anstoß
zum philosophishen Besinnen und zu metaphysishen Auslegungen der Welt
gibt.«
Darum sagt Schopenhauer mit Redt, daß der Tod der
wahre Musaget der Philosophie sei?. —
Den mehr als ernsten und grüblerishen Knaben hatte das be-
wegte Reiseleben nicht aus seiner trüben Stimmung zu reißen ver-
mocdt, er blieb nach innen gewendet und shon mit zwölf Jahren
verrät er eine brennende Liebe zur Wissenshaft und eine starke
Neigung zur Gelehrtenlaufbahn. Als er endlih nah dem Tod des
Vaters, dem zuliebe er noch zwei Jahre in »nadhträglihem Gehorsam«
(Freud) dem Kaufmannsstande treu blieb, sich der Wisselfschaft widmen
konnte, zeigte er sich voll von edelstem Eifer und Wissenstrieb, ver-
schlang zahllose Bände und es dauerte nicht fange, so hatte er alles
nachgeholt und die ausgiebigste Grundlage für philologishe und
philosophishe Bildung gelegt. Im zwanzigsten und einundzwanzigsten
Lebensjahr begann er sich bewußt mit jenen ernsten, tiefsinnigen
Themen zu beschäftigen, die er später im vierten Buche seines
Hauptwerkes eingehend behandelt hat. Daß der junge Schopen-
hauer, der sih shon den Philosophen merken ließ — »Jugend und
Philosophie gepaart -— immer eine paradoxe Erscheinung» (Möbius) —
——
! Es ist auc interessant, daß er sich eines guten Gedäcdtnisses für seine
ersten zwölf Lebensjahre rühmt. Warum nicht weiter? müssen wir fragen: vermut-
lih begann um diese Zeit eine stark einsetzende Verdrängung.
® „Der Tod ist der eigentliche inspirierende Genius oder der Musaget der
Philosophie, weshalb Sokrates diese auh Yavarov uslern definiert hat. Schwerlich
sogar würde, auh ohne den Tod, philosophiert werden.s (Über den Tod und sein
Verhältnis zur Unzerstörbarkeit unseres Wesens an sich, II. Bd., p. 542).
116 Dr. Eduard Hitshmann
keine großen Erfolge beim weiblihen Gescledhte hatte (bei den
een seiner Schwester), ist begreiflih; »er war eben keine
Speise für sie« (Möbius). Schopenhauer selbst sagt: »In meiner
Jugend madte die Vernadhlässigung, die ich in der Gesellschaft erfuhr
und der Vorzug, den man den AÄlltäglihen, Platten, Dürftigen vor
mir gab, mih an mir selber irre.« — Fassen wir Schopenhauers
seelishen Zustand um diese Zeit zusammen, so verstehen wir,
warum er Wieland — als dieser ihm abriet, lediglih Philosophie
zu studieren, was doch kein solides Fah sei — antworten konnte:
»Das Leben ist eine mißlihe Sache: ich habe mir vorgesetzt, es
damit hinzubringen, über dasselbe nahzudenken.« (April 1811.)
Wir dürfen uns um diese Zeit Schopenhauer im äußeren
Leben nicht allzu vershieden von anderen Studenten vorstellen. Es
scheint, daß seine materielle Unabhängigkeit‘, das Erreichen seiner
geistigen Ziele und das anregende en in Weimar ihn geselliger
machten und seine von der Kindheit her schon bestehende pessimi=
stishe Verstimmung zeitweilig unter den ÄAblenkungen des Sportes
und der geselligen Zerstreuungen vershwinden ließen. Wir werden
noch einmal ein ähnlihes Aus-der-Art-shlagen dieses zu ernstem
und eingezogenem Leben bestimmten Mannes begegnen, und zwar,
als er nah Vollendung seines Hauptwerkes im dreißigsten Lebens=-
jahr nad Italien reist. Er schreibt damals folgende siegesbewußte
Verse nieder:
» Aus langgehegten, tiefgefühlten Shmerzen Wand sich’s empor aus meinem
innern Herzen. Es festzuhalten hab’ ich lang gerungen: Doch weiß ih, daß zu=
letzt es mir gelungen. Mögt euh drum immer wie ihr wollt gebärden: Des
Werkes Leben könnt ihr nicht gefährden. Aufhalten könnt ihr’s, nimmermehr
vernichten: Ein Denkmal wird die Nahwelt mir errichten !«
Es ist ein Zeichen für seinen geistigen Ehrgeiz, daß Höhepunkte
seines Studien- und Arbeitsfortschritts ihm die Lebensfreude nahe-
bringen. Dem durh Jahre wider Willen im Kontor festgehaltenen
Jüngling war eine goldene Zeit angebrohen, da er mit seinen
Geisteskräften und mit seinem Tätigkeitstrieb sich auf das ganze
Gebiet der Wissenschaften werfen konnte und sein Fleiß, sein Inter=
esse waren bewundernswert. Ausgezeichnete Lehrer und Ratgeber
standen ihm zur Seite, sein vortrefflihes Sprachtalent kam ihm zu
Nutze und das Ideal, in allen Fächern zu Hause zu sein, um später
der Königin der Wissenschaften dienen zu können, mochte ihm schon
damals vorgeshwebt haben. Sein Interesse für Naturwissenschaft,
vielleiht auh für hygienishe Fragen (wohl aus Hypodondrie
stammend), wandte sih vorübergehend der Medizin zu. Das um-
ı Mit einundzwanzig Jahren erhielt er von der Mutter das väterlihe Erb-
teil ausbezahlt, welches ihm nach dem damaligen Kapitalswerte vollkommen aus-=
reihend erscheinen mußte, ihm für seine Person zeitlebens ein bequemes Auskommen
zu sichern. Die materielle Unabhängigkeit, die gleichzeitig mit der von der Mutter
einherging, mußte sein Selbstgefühl heben.
Schopenhauer 117
fassende Universalstudium, das Schopenhauer damals beschäftigte,
erhielt die entscheidende Rihtung durch den Rat seines Professors
G. E. Schulze, der ihn bestärkte, Philosoph zu werden, und zu=
nächst seinen Fleiß ausscließlih Plato und Kant zuzuwenden riet.
Er warf sih dann in Berlin mit erneutem Eifer auf das Studium
der Philosophie und begann sich gesellschaftlih mehr und mehr
zurückzuziehen. Er verzichtete, daran zu denken, ein Haus zu
gründen, Weib und Kinder zu besitzen und lebte nur dem einen
Lebenszwec&k, sein Werk zu vollenden. Seine Dissertation Ȇber
die vierfahe Wurzel des Satzes vom zureihenden Grunde« verriet
einem Kritiker schon, daß der junge Philosoph die Absicht habe,
»die Ethik zum Schlußstein der ganzen Philosophie zu mahen«. Er
war damals schon mit seinen weit höher strebenden Absichten be=
schäftigt, sein Haupt- und Lebenswerk gewann bereits in seinem
Innern Gestalt, es sollte eine Philosophie werden, die niht auf dem
Wege der Wissenschaft gesuht war, sondern durh Anschauen der
Welt (Intuition), mehr Kunstwerk als Wissenshafl. Schopen=
hauer hat dann wiederholt geschildert, wie er die Freude, etwas
Großes und Wertvolles in sih wachsen zu fühlen, gleih einer
stolzen jungen Mutter empfunden hat, er hat damit allen jenen,
die etwa noch glauben, daß ein Philosoph die Grundlehren seines
Systems ausklügle oder konstruiere, in klarster Weise gezeigt, daß
das Entstehen eines philosophischen Gebäudes ebenso unbewußt vor
sich gehen kann, wie ein Tagtraum oder ein Kunstwerk. Am besten zeigt
sich dies darin, daß diese Jugendkonzeption seines Hauptwerkes — des
Werkes seines Lebens, wie er selbst sagt — die endgiltige blieb, da
alle spätere Giedankenarbeit des Philosophen in eigenartiger Starrheit
nur der Ausgestaltung, Bestätigung, Begründung und Rechtfertigung
seiner Grundprinzipien galt. Diese Jungmannszeit war die eigentlich
und einzig shöpferische in seinem Leben, in ihr gebar er den seiner
würdigen Geistessprossen, dessen Schutz, Pflege und Verteidigung
sein übriges Leben gewidmet war. Ruhe und Muße. war der frucdt-
bare Boden für die Schöpfung und Jahrzehnte lange Verteidigung
dieses Kindes. Man mag sic sender in seiner Studenten-
stube vorstellen, wo Platos und Kants Werke, des Sokrates Büste
und Goethes Bildnis zu finden waren und wo damals schon der den
menschlichen Vertrauten vorgezogene Pudel auffallend erscheint. Mag
es auh zu gelegentlihen Disputen unter Kollegen gekommen sein,
wobei sih Schopenhauer selbstbewußt und brüsk benommen hat,
so mied er doc, angeblih weil es ihm unbequem und antipathish
war, vermutlih aber mehr aus den tieferen unbewußten Cränden
seiner Asozialität, des Widerstandes gegen das Zusammensein, fast
alle Geselligkeit, jedes Familien- oder Vereinsleben und prädestinierte
sih shon damals für das dauernde Junggesellentum. Wenn er aber
auch Junggeselle blieb — die Ehelosigkeit ist eine wiederholt hervor-
gehobene Figenart der Lebensführung der Philosophen, wie besonders
Nietzsche in seiner Abhandlung »Was bedeuten asketische Ideale«
118 Dr. Eduard Hitshmann
mn nn nn
betont hat! —, so mögen doch hier entgegen den vielfah um=
gehenden Meinungen, daß Schopenhauer gar nichts mit Frauen
zu tun gehabt habe, sowie der unberechtigten und leichtfertigen Be-
hauptung Lombrosos über größte sexuelle Ausschweifungen,
einige Bemerkungen über das Liebesleben Schopenhauers Platz
finden. Im Gegensatz zu seinem so oft von ihm selbst als über-
mäctigen Dämon bezeichneten Sexualtrieb, der ihn erst im Älter
zur Ruhe kommen ließ, wissen wir Sicheres nur von einigen nicht
dauernden Liebesbeziehungen, die er einging, niht ohne mit dem Ge-
danken an die Ehe theoretish zu spielen. Aus dem Tagebuch der
Schwester, der er in Briefen so manches anvertraute, wissen wir,
daß seine Geliebte in Dresden guter Hoffnung war, wobei er sich
übrigens »rechtlih und gut benommen« haben soll. »Zärtlihe Be-
ziehungen fesselten ihn an Fräulein Medon, die der Berliner Hof-
bühne angehörte... für die Stärke seiner Neigung zu ihr spricht es
wohl, daß er ihrer nach dreißig Jahren mit einem bedeutenden
Legat gedaht hat« (Damm, S. 184).
Liebe und Ehegedanken traten Schopenhauer audh in
Venedig nahe. Nadı Italien war er ja nah Abschluß seines Werkes
lebens- und wahrsceinlih auch liebesdurstig geeilt, nachdem ihm
shon die letzten Jahre hindurh Wunschträume jenes Land vorge-
spiegelt hatten. Möbius sagt von den dort eingegangenen Liebes=-
beziehungen zusammenfassend: »AÄbgesehen von rein sinnlichen
Verhältnissen geriet Schopenhauer audh zu einer Dame der
Gesellshaft in Beziehungen (»die Geliebte ist reih, sie ist von
Stand gar,« schreibt Adele), die, wie es scheint, beinahe mit einer
Heirat geendet hätten« (p. 67). »Von den inneren Kämpfen,« sagt
Gwinner (p. 20), »die er gegen Änfechtungen dieser Art zu be=
stehen hatte, geben Überlegungen Zeugnis, die er in englischer
Sprahe Zetteln anvertraute, deren Inhalt jedoh im ganzen sich
nicht zur Mitteilung eignet.« Daß trotz seiner Abneigung gegen eine
dauernde Verbindung mit der Frau, oder vielmehr eben dadurd,
Schopenhauers Sinnlichkeit, vielfach unbefriedigt, die Phantasie
sehr leicht überflutete, so daß er zum weiblihen Geshlehte kaum
geistige Beziehungen eingehen konnte, hat er selbst verraten: indem
er seiner Schwester schrieb, er hätte außer ihr nie eine Frau ohne
Sinnlihkeit geliebt.
Wir können hier niht die Psychologie des Ledigbleibens, des
Hagestolzentums breit erörtern. Es ergibt sih für Schopenhauer
speziell schon aus vielem hier Gesagten, daß er zur Ehe aus den
Tiefen seiner Persönlichkeit vollkommen ungeeignet war.
Er weiß ganz gut: »Von der Natur bestimmt ist des Menschen Los:
Tages Arbeit, Nachts Ruhe und wenig Muße, und des Menschen Glük: Weib
ı Schopenhauer erwähnt, sich selbst vergleihend, alle echten Philosophen
seien ledig geblieben, so Cartesius, Leibniz, Malebranche, Spinoza und
Kant, des Sokrates Leiden sei bekannt und Aristoteles sei ein Hofmann ge-
wesen.
Schopenhauer 119
und Kind, die sein Trost sind im Leben und Sterbens. Aber heißt es selbst=-
tröstend weiter: »Wo eine abnorme Beschaffenheit große geistige Bedürfnisse,
und mit diesen die Möglihkeit großer geistiger Genüsse herbeiführt, da wird
freie Muße zur Hauptbedingung des Glüks, für welche sodann dem normalen
Menschenglük durh Weib und Kind willig entsagt wird.«
»Die meisten Männer,« sagt Schopenhauer an anderer Stelle, »lassen
sih durh ein schönes Gesicht verlocken: denn die Natur induziert sie dazu,
Weiber zu nehmen, indem sie diese auf einmal ihre volle Glanzseite zeigen
läßt, die vielen Übel dagegen, die sie im Gefolge haben, verbirgt: als da sind
endlose Ausgaben, Kindersorgen, Widerspenstigkeit, Eigensinn, Alt- und
Garstigwerden nah wenigen Jahren, Betrügen, Hörneraufsetzen, Grillen,
hysterishe Anfälle, Liebhaber und Hölle und Teufel. Deshalb ist die Heirat
eine Schuld zu nennen, die in der Jugend kontrahiert und im Alter bezahlt wird...
Die freie Muße, welche sie ihren Weibern zu erarbeiten den Tag verbringen,
braudt der Philosoph selbst. Der Verheiratete trägt die volle Last des Lebens,
der Unverheiratete nur die halbe.«
Die unbewußten, aber wirklihen Motive sind die Sexualab-
lehnung und die damit im Zusammenhang stehende Angst, das böse
Vorbild der elterlihen Ehe u. a. wirkten zusammen mit seiner
Asozialität, seinem Binsamkeitsbedürfnis, um Schopenhauer nie
heiraten zu lassen. Schopenhauer hat diese Hemmungen kaum
durchschaut, vielmehr sie sekundär verstandesmäßig zu begründen
gesucht (»rationalisiert«). Die Angst vor Betrogenwerden, Körperlich-
Geshwäctwerden, von materiellen Opfern etc. verrät er zu deut=
lih. Bei seiner Sensibilität und Intellektualität, seinem Sinn für
Unabhängigkeit, bei seinem Entshluß, von seinem kleinen Ver-
mögen ohne Arbeit sparsam zu leben, last not least bei seiner,
allerdings teilweise sekundären, herabsetzenden Ansiht über das
weiblihe Geshleht — konnte die Entsheidung nur nach der
negativen Richtung fallen. Das gehaßte und verachtete Bild seiner
Mutter, zumindest die von widerstreitenden Gefühlen getragene
Einstellung des Sohnes werden dabei eine entscheidende Rolle gespielt
haben. In dieselbe Rihtung weist auh eine weitere letzte Wurzel,
seine seltsame Einstellung zum Weib und seinen Mitmenschen.
Die Widerstände, die wir bei Schopenhauer sowohl gegen
die Verbindung mit dem Weibe wie gegen die Wertung des
Weibes finden, seine Herabsetzung des Geschlectsaktes, lassen den
geübteren Psychoanalytiker shon hieraus eine stärkere Betonung
des homosexuellen Anteiles der bekanntlich allgemeinen bisexuellen
Anlage des Menschen bei Schopenhauer annehmen!., Vom tat-
sählihen Liebesumgang mit Männern absolut fernbleibend muß
Schopenhauer als sozusagen »ideell gleihgeshlehtlih« (Freud)
bezeichnet werden. Als Beweise für diese Annahme sei auf folgende
gewichtige Tatsahen hingewiesen. Shopenhauer en den
weiblihen Körper als häßlich, den des Jünglings als schönsten,
So heißt es P, P. II, p. 654 »über die Weiber«:
ı Vgl. Frauenstädt, »Memorabilien etc,«, p. 393 und 394.
120 Dr. Eduard Hitschmann
»Das niedrig gewachsene, schmalshultrige, breithüftige und kurzbeinige
Geshleht das schöne nennen konnte nur der vom Gescledtstrieb umnebelte
männliche Intellekt: in diesem Triebe nämlich steckt seine ganze Schönheit. Mit
mehr Fug als das schöne, könnte man das weiblihe Geschlecht das unästhetische
nennen.«
Und in der »Metaphysik der Geschlectsliebe« ist die Rede von
den Jünglingen, »die doch eigentlih die höchste menschlihe Schön-
heit darbieten«!,
In einer brieflihen Kritik von Frauenstädts Bud »Ästheti=-
she Fragen« heißt es p. 50:
sein vollkommenes Weib ist schöner als ein vollkommener Mann,«
— quae qualis, quanta! Hier haben Sie ein höchst naives Bekenntnis Ihres Ge-
schlectstriebes abgelegt ... . Warten Sie, daß Sie in meinem Alter sein werden,
wie Ihnen dann diese kurzbeinigen, langleibigen, shmalscultrigen, breithüftigen,
mit Zitzen exornierten Persönchen vorkommen werden: auc ihre Gesichter sind
nichts gegen die der schönsten Jünglinge, zumal die Augen ohne Energie.s
Mit Reht sagt B. Friedländer? in bezug auf diese Stelle:
»Meiner Änsiht nach ist derjenige, der so wertet, wie Schopen=
hauer, ein sozusagen ästhetisch Homosexueller. Aber audh
die anderen Auslassungen über Weiber, nämlih über deren Psyche
und Intellekt, atmen denselben Geist... und er beweist damit eine,
wenn man so sagen darf, psychisch gleichgeschlectlihe Neigung.
Denn es ist doh unmöglich, daß, wer so denkt und empfindet, ein
inniges Verhältnis mit einem Jüngling einem solchen mit einem Weib
niht bei weitem vorziehen sollte.« Friedländer gibt sogar der
Vermutung Raum, daß »vielleiht die Lebensfeindlichkeit, die ver-
feinerte Grießgrämigkeit, kurz der Pessimismus des großen Denkers
die letzte tiefste Wurzel in einer unbefriedigten uranishen
Veranlagung gehabt habe... Nur der ganz Unkundige würde
die nachgewiesenen, vorübergehenden, rein sinnlihen Beziehungen
Schopenhauers zu Weibern als Gegengrund anführen können«.
Als ergänzende Argumente seien hervorgehoben Schopen-
hauers übertriebene Abneigung gegen den Änblick des männlichen
Bartes wie auch die später (vgl. p. 129) zitierten Äußerungen über
das Verbergensollen des Genitales. Er verwirft den Bart wieder-
holt als häßlih und tierish. So heißt es «P. P. I, p. 204:
»Sogar als äußerlihes Symptom der überhand nehmenden Roheit er-
blikt ihr den konstanten Begleiter derselben — den langen Bart, dieses Ge-
schlectsabzeichen, mitten im Gesicht, welches besagt, daß man die Maskulinität,
die man mit den Tieren gemein hat, der Humanität vorzieht .... Das Ab-
scheeren der Bärte in allen hochgebildeten Zeitaltern und Ländern ist aus dem
ı Wenn wir uns berechtigt glauben, diese Äußerung als Zeichen einer
unbewußten homosexuellen Neigung anzuführen, so übersehen wir dabei nicht, daß
die Frage nah:einem objektiven Schönheitsideal vielfach von Ästhetikern zugunsten
der Männlichkeit entshieden wurde.
? „Die Renaissance des Eros Uranos«, Berlin 1904.
Schopenhauer 121
rihtigen Gefühl des Gegenteils entstanden... Zudem ist alles Behaartsein
tierish. Die Rasur ist das Abzeichen der höheren Civilisation.«
» Schopenhauer gehört also zu jenem nicht seltenen Typus
sexuell relativ zurückhaltender Männer, die durch diese Eigen-
shaft und durh kleine andere Züge verdrängte homosexuelle
Neigung verraten. Daß Schopenhauer selbst die etwa von seinen
Gegnern ihm zugemutete Homosexualität im vorhinein ironish ab-
lehnt, kann für uns kein Gegenargument gegen diese Vermutung
sein. Schopenhauer hat der Päderastie einen eigenen Abschnitt
als Anhang zur Metaphysik der Gesclecdtsliebe gewidmet, in
welchem er sie als häufige Erscheinung des Alters und der Jugend-
jahre teleologish dahin auslegt, die Natur wolle dadurh die Er-
zeugung degenerierter Nachkommen hintanhalten. Am Schlusse be=
gründet er die Abfassung dieses Abscnittes mit folgender ironischer
Bemerkung: Er hätte damit »den Philosophieprofessoren eine kleine
Wohltat zufließen lassen wollen, indem er ihnen Gelegenheit er-
öffnete zu der Verleumdung, daß er die Päderastie in Schutz ge=
nommen und empfohlen hättex. — Es sei auh aufmerksam gemadt
auf jene Darstellung des Entstehens seines Hauptwerkes, wo
Schopenhauer sich selbst ganz weiblich=mütterlih und »schwanger«
empfindet, das Werk als Kind im Mutterleib: »Ich sehe es an und
sprehe, wie die Mutter: ih bin mit Frudt gesegnet« (N. P,
8% 630). Es entspräche dieses Bild passiver Homosexualität, wie
wir sie als Folge übergroßer Liebe zum gefürchteten Vater ent=
stehen sehen. Schopenhauers unbewußte homosexuelle Neigung
mag selbst wieder verstärkt worden sein durh seine Ab-
wendung vom Weibe (von der Mutter). Finden wir aber bei
anderen Menschen als Sublimierungsprodukt verdrängter gleich-
geschlechtlicher Neigung den Sinn für Freund und Geselligkeits-
beziehungen, so sehen wir, daß Schopenhauer auch diese im
weiteren Sinne der Libido eesensönden Beziehungen zu den
Nebenmenshen in ganzen großen Abschnitten seines Lebens ver-
missen läßt und erst im Älter von einem kleinen Kreis geistiger
Anhänger umgeben ist. Auch dem Vereinsleben bleibt er zeitlebens
ferne und sein Mensen der sich in niht shwäcderen Ausdrücken
und Übertreibungen äußert als sein Weiberhaß, zeigt, daß beiSchopen-
hauer auch die Libidoübertragung auf die Mitmenschen späterhin
gehemmt war, wenn er auch vorübergehend in seinen Knaben-
freundshaften! und als Jüngling wenige Ausnahmen gemadt hatte.
Ohne Freund, ohne Frau, ohne geselligen Kreis, ohne Empfindung
dafür, den übrigen Menschen zu geben oder von ihnen zu empfangen,
ging der in diesem Sinne tief unglücliche Mensd allein durchs Leben,
eingehüllt in seinen Stolz und seine Menschenverahtung, die ihm, aus
Ressentiment entspringend, zum Trost in seiner Einsamkeit dienten.
ı Vgl. dazu den Traum des 42jährigen Schopenhauer von »seinem
Busenfreund und steten Spielkameradens Gottfried Jänisch, der mit 10 Jahren ge=
storben war (N. P. $ 194).
122 Dr. Eduard Hitschmann
Nad elfmonatlihem Aufenthalt in Italien wurde er in Mai-
land durh die alarmierende Nachricht von einer das Vermögen
der Seinigen bedrohenden finanziellen Krise unangenehm überrascht,
Die Mutter hatte den größten Teil ihres Vermögens sowie das der
Tocdter verloren und erhielt sih später durh Schriftstellerei. Das
nächste war, daß er der Schwester schrieb, er sei bereit, mit ihr
und der Mutter das Wenige, was ihm geblieben sei, zu teilen, wo-
von jedoh kein Gebrauh gemadht wurde. Er beschloß jedoch so-
fort, sich als Privatdozent zu habilitieren. Sein ausgesprocdener Besitz=-
trieb und seine geschäftlihe Tüctigkeit erreichten es im Verein mit
seiner Hartnäcigkeit, daß er sich sein eigenes Vermögen unbeein-
trächtigt erhielt. Die Geschwister aber entfremdeten sich in diesem
brieflihen Konflikt für mehr als 10 Jahre. Die Dozentur endete mit
einem Mißerfolg, da sein Gegner Hegel auf der Höhe seines
Ruhmes stand, und Schopenhauer selbst sih wie gewöhnlich
shroff benahm. Dies war für ihn ein zu berechtigter Verstimmung
und mißtrauishem Pessimismus Anlaß gebendes Erlebnis. Die
Ignorierung seines Lebenswerkes durch viele Jahrzehnte gab weitere
zureihende Gründe. Es schließen sih jetzt Jahre an, in denen
Schopenhauer nah Fortsetzung seiner unterbrodhenen Italien=
reise seinen Wohnort an verschiedenen Städten aufzuschlagen
suchte, 1825 nach Berlin zurückkehrte und 1833 sih von der
Cholera vertrieben, endlih dauernd in Frankfurt a. M. festsiedelte,
wo wir ihn, zu einer stadtbekannten Figur geworden, als welt-
rg Berühmtheit aufgesuht, auh seine Tage beschließen
sehen.
War Schopenhauer im allgemeinen von großer körperlicher
Widerstandsfähi Bi und noh im Greisenalter kräftig und rührig,
von gesundem Schlaf und gesegnetem Appetit, so madte er dod
einmal — mit 35 Jahren — eine langwierige Krankheit durh, von
der wir nichts Bestimmtes wissen, über die er aber Klage geführt
hat, der er die Schuld an seinem frühen Ergrauen gab und seine
Nervenshwähe zushrieb. Über die Art dieser Erkrankung ist
zwishen Iwan Bloh und Wilh. Ebstein ein wissenschaftlicher
Streit ausgefohten worden. Der erste Autor glaubt auf Grund
von Schopenhauers Greheimaufzeichnungen über seine Quec-=
silberkur und aus anderen Gründen den Nachweis erbringen zu
können, daß es sih um eine schwere tertiäre Syphilis gehandelt
habe <(primäres Stadium nah Bloch 18134), der zweitgenannte
Autor jedoch leugnet das Zwingende der Beweisführung und meint,
es habe sih um die von Schopenhauer in einem Brief an den
ı Bloch findet auch in der venerischen Erkrankung Schopenhauers »eine
der Wurzeln seiner asketishen Weltanshauung und seines Pessimismus.« —
Wir schließen uns dieser Ansiht an, aud für den Fall, daß die Syphilis Schopen=
hauers nicht tatsählih war, denn an Syphilisangst hat er deutlih gelitten.
Man vgl. dazu Schopenhauers ÄAnsiht: »Damit der Gesclecdtstrieb nicht zu
viel Gewalt über den Menschen gewinne, ist die venerishe Krankheit ein sehr
dienliher Damm.«
Schopenhauer 123
intimsten seiner älteren Jugendfreunde, Osann, angegebene Krank=
heit: Hämorrhoiden mit Fistel, Giht und Nervenübel gehandelt.
Es zeigen sih auch im weiteren Leben keine Folgezustände und erst
mit 72 Jahren starb er nah kurzem Leiden an einer Herzlähmung.
Wie viele andere Persönlichkeiten ist auh Schopenhauer
erst durch die Bilder seines Alters zu einer populären Figur ge=-
worden, und sein ernstes, durhfurhtes Gesiht mit den weißen
Haarbüscheln zu beiden Seiten des mädhtig gewölbten Schädels gehört
zu den markantesten Bildern großer deutsher Männer. Als stürmisch
dahinschreitender Spaziergänger in altmodischer Kleidung, der laut
vor sih hinmurmelt und oft unartikulierte Laute ausstößt, dazu mit
dem Stok heftig zur Erde stampft, war er, unzertrennlih von
seinem Pudel, in Frankfurt eine bekannte Straßenfigur. Mehr noch
als in früheren Stationen lebte er hier als ein Fremder, er speiste
im Restaurant, saß in der Regel allein und fing nicht leicht ein Ge=
spräh mit fremden Tischgenossen an, was für seine allgemeine
Menschenunfreundlichkeit zeugt. War ihm jedoch einmal ein Gespräch
sympathish, so konnte er auh bis in die Nadt hinein sitzen
bleiben, philosophierte auch hier mit Vorliebe und viele seiner Zeit=
genossen rühmen seine ernste, der Zote wie der Banalität ent=
ratende Konversation. Auch hier war er gerne didaktish und
Gwinner gibt mit tiefer psydhologisher Ahnung das befremdende
Gefühl wieder, seinen über a=a sprehen zu hören und ein Ge-=
siht dazu machen zu sehen, als spräche er mit seiner Geliebten von
der Liebe.« Wie sich im Verkehr manche Verschrobenheit und Pedanterie
verrät, so ist es auch interessant, dem Philosophen in seine Wohnung
zu folgen. Am Morgen sehen wir ihn energish sich das »optimum«
geistiger Konzentration wahren: er darf nicht gestört werden, sieht
niht einmal die Dienerin um diese Zeit. Sein Zimmer war nüc-
tern, nur eine vergoldete Statuette des Buddha thronte auf einer
Marmorkonsole. Kants, Shakespeares, Descartes und Goethes
Bildnisse hingen an den Wänden, daneben — Hundestüke! Dem
Pudel, den er in den vierzehn Jahren seines Frankfurter Aufenthaltes
besessen hatte, gab er außer einem profanen Namen für den intimen
Verkehr den esoterishen Namen Ätma, d. i. Weltseele,
Schopenhauers Charakterbild zusammenfassend, müssen
wir zugeben, daß die Kritik Fichtes aus dem Jahre 1850 über
die »Parerga«x, so ungereht sie sonst war, das Wesen der Per-
sönlichkeit nicht unzutreffend charakterisierte, wenn er Schopen-
hauer als pathologish-psydhologishes Problem zu betrachten emp-
fehlt, »dessen Rätsel sich eigentlih nur durch persönliche Kenntnis
lösen ließe«. Es ist seltsam, welch verschiedene Charakterzeihnung
Schopenhauer widerfuhr und es erklärt sich dies aus dem Um-
stand, daß er aus seinen Werken einen ganz anderen Eindruck
mact, als aus den Details seiner Lebensbeshreibung und besonders
aus den nicht vor einem großen Publikum gemachten Äußerungen
seiner Briefe und Privataufzeihnungen. Wie wir in unserer Arbeit
124 Dr. Eduard Hitschmann
zeigen werden, sind die Grundsätze, die er in den Werken vorträgt,
keineswegs gerade Ausläufer, sondern größtenteils Reaktionsbildungen
auf seine Charaktereigenshaften (Überwindung), und so wird es
verständlich, daß dieser Verteidiger des Mitleids — im Leben als ein
hartnäciger, heftiger, mißtrauisher, rasch aburteilender Mens,
selbst von seinem ihn persönlich liebenden Pathographen Möbius be=
zeichnet wird. v. Seydlitz, der ja das Pathologishe an Schopen-
hauer weit überschätzt hat, erzählt gar, des Philosophen Ankläger
hätten seine geistigen Ausschreitungen, »fanatisches Selbstlob, wahr-
haft häßlihe Gemütsstimmung, nichts achtenden Ehrgeiz, Menschen-
veradhtung, Lieblosigkeit, Roheit, fanatishe Propaganda gegen okzi-
dentalishe Bildung, Gesittung und Religiosität« genannt. In seinem
Büchlein »Schopenhauer als Er schildert Graf Keyserling
die Schattenseiten dieses »kleinen Menschens, der allerdings ein
großer Geist war. Keyserling nennt ihn einen ausgesprohenen
Praktiker mit Zügen eines unternehmenden Handelsherrn, einen
Tatenmenschen von zäher Vitalität, von rücsictsloser Bigenlebig-
keit, einen starren Charakter, unbildsam bis zur Unwahrsceinlih-
keit. Ferner von Widersprüchen durchsetzt, von Leidenschaft durdh-=
schüttert, unharmonish gequält, zerrissen, voll kleiner häßlicher
Züge, unvornehm, von Ressentiment erfüllt, abstoßend durch klein=
lihen Egoismus und Zynismus, von dürftigem Gemütsleben — eine
verkrüppelte Seele. Seine singuläre Individualität zu überwinden
gelang ihm nicht, seine Ideale blieben stets unerreiht. — Mag
dieses Urteil aus kontradiktorischer Individualität stammen, wir regi=-
strieren es. Wir vergessen aber nicht, daß Schopenhauer ein im
höchsten Sinne wahrhaftiger, ehrlicher, uneigennütziger Mann gewesen
ist, daß er in seinen Werken tiefsinnig, geistreih, genialish er-
scheint und als Mensch von hoher Welt- und Lebensauffassung, als
Propagandist idealer Forderungen im Menschen, für alles Geistige,
Künstlerishe eintritt! Hingegen müssen wir jene voreingenommenen
Urteile zurükweisen, die einen besonders edeln Charakter oder be-
sondere Gemütstiefe an dem Mann hervorheben, der ja gerade
seine kräftigsten Impulse und seine Hauptenergien aus jener rohen,
zuschlagenden, heftigen familiären Naturanlage bezog, die er in seiner
Ethik zu überwinden versuchte. So geht ein gebrochener Zug durd
dieses Mannes Persönlichkeit und Werk, der :von kraftvoll zugrei-
fenden und trotzig sih im Leben durcsetzenden, praktisch tätigen
Vorfahren stammt und sih durch eine Marotte des Schicksals damit
begnügen mußte, — hinter Büchern zu sitzen und die Feder zu
führen!: »So wenig als möglih zu wollen und so viel als möglich zu
! Der Übereinstimmung halber sei erwähnt, daß der Phrenologe Scheve nach
Untersuhung von Schopenhauers Scädel, »das Organ des Tätigkeitssinnes«
am meisten ausgeprägt fand. Auch der Gescledtstrieb verrät sih nach dieser
allerdings stark angezweifelten Lehre, als entschieden ausgeprägt. — Möbius,
auch Anhänger Galls, meint sogar, daß aus dem Schädel auf einen Zerstörungs=
trieb, ähnlich wie an Mörderköpfen, geschlossen werden könne, der allerdings bei
Schopenhauer nur als rücksihtslose Energie in Erscheinung trat.
Schopenhauer . 125
erkennen, ist die leitende Maxime meines Lebenslaufes gewesen«,
schrieb Schopenhauer einmal auf ein heimlihes Blatt.
Es würden sih hier manderlei Ausblicke ergeben auf den
Zusammenhang von heftigem Temperament, unterdrücter Aggression
und Grausamkeit — mit geistig-künstlerisher Produktion. Der
Begriff der Sublimierung wäre heranzuziehen und dergleichen. Aber
wir müssen es uns versagen, das Ihema der Produktivität weiter=
zuverfolgen.
II.
Deutung der philosophischen Grundprobleme.
Ehe wir darangehen, die aus den biographischen und haraktero-
logishen Details gewonnenen psydologishen Einsihten auf das
Verständnis der Entstehung der Schopenhauerschen Philosophie
anzuwenden, wollen wir unsere Aufgabe neuerlih scharf um=
renzen, um dem Eindruk vorzubeugen, als prätendierten wir,
S chopehr Werk in seiner Gänze zu würdigen und zu
deuten. Vielmehr beschränken wir uns, wie wir glauben, mit
rihtigem Instinkt, auf die Hauptgrundsätze sozusagen die Leit-
motive, die uns, neben der Erkenntnistheorie, das objektiv Wert-
volle und Bleibende der Lehre zu enthalten sceinen. Doc
ist es kein Zufall, daß gerade diese wenigen mächtigen Grund-
pfeiler der Lehre sih dem psychologischen Verständnis am ehesten
erschließen, da sie auf den individuellen Schicksalen des Seelen-
lebens basieren. Und so wird unsere Betrahtung vor allem eine
psychologishe Genese der Grundgedanken von ee
Philosophie zu geben versuchen, damit aber niht etwa eine philo=
sophishe Würdigung und Beurteilung seiner Erkenntnistheorie,
Ethik und Metaphysik, geshweige eine Kritik. Überhaupt ist unser
Standpunkt, daß es sich nicht darum handelt, dem Wahrheitsgehalt
einer Philosophie nachzuspüren, am wenigsten dem einer Metaphysik,
da uns vielmehr eine andere Frage vorshwebt, nämlih: warum
jemand gerade dieses Problem und gerade in dieser Richtung löst.
Die psydologishen Voraussetzungen und die individuellen Deter-
minierungen, warum und warum so philosophiert wird, klarzulegen,
Individualpsyhologie an einem ganz Großen zu treiben, weil sein
Werk dazu anreizt, sein Leben aber um seines Ruhmes willen im
Detail bekannt ist, das betrahten wir als unsere Aufgabe. Wir be=
anspruchen nicht etwa als Philosophen gewürdigt zu werden, betreiben
auh nicht irgendeine allgemeine Psychologie, sondern — Psydo-=
analyse.
1. Willenslehre.
Das unvergänglihe Verdienst Schopenhauers war die Ent-
dekung des Willens als »Ding an sih«!. Durch Intuition wird der
‘ Über frühere ähnlihe Anschauung anderer vgl. »Arthur Schopen-
hauer«, Memorabilien etc. von J. Frauenstädt, p. 251 und 253.
126 Dr. Eduard Hitschmann
Mensh sih dieses seines tiefsten Wesens bewußt, der Wille ist
»das innere wahre und unzerstörbare Wesen des Menschen . ,. .,
das allein Metaphysishe und daher Unzerstörbare im Menscen«.
Der Schopenhauershe Wille ist niht der bewußte Wille,
sondern etwas Neues, es ist ein dumpfer, blinder Wille, der
nicht vom Intellekt geleitet wird. Schopenhauer hat also den
Begriff des Willens erweitert und der Wille im gewöhnlichen
Sinne ist nur ein Teil des seinigen. Schopenhauers Wille ist ein
Drängen, eine Art Wille zum Leben, Trieb also im weitesten
Sinne des Wortes. Dieser Wille wird jedoh im System nicht nur
den bewußten Wesen zugeschrieben, sondern audh in der außer-
menschlihen und anorganischen : Welt soll er sich manifestieren.
Wie wir sehen werden, ist die Blindheit des Willens auh ein
Hauptargument für den Pessimismus Schopenhauers. Das einzelne
Wesen faßt er als Objektivation dieses Willens auf, der den Drang
in sih hat, sih in Einzelindividuen, Gattungen und Ideen zu ge=
stalten. Am heftigsten tritt dieser Wille in unseren Teilen ach
und Begierden zutage und am charakteristishesten in dem »unge=
stümen und finstern Drang« des Sexualtriebes. Sehr mit Recht hat
sih Schopenhauer daher in weitem Umfang mit der Sexualität
beschäftigt, wie er in der Einleitung zur »Metaphysik der Geschlecdts=-
liebe« hervorhebt:
»,... man sollte daher, statt sih zu wundern, daß auch ein Philosoph
dieses beständige Thema aller Dichter einmal zu dem seinigen madt, sich dar-
über wundern, daß eine Sache, welche im Menschenleben durchwegs eine so be=
deutende Rolle spielt, von den Philosophen bisher so gut wie gar nicht in Be=
trahtung genommen ist... .« (W. W. II, p. 625).
Den Gescdledtstrieb faßt Schopenhauer als die stärkste und
zusammengedrängteste Äußerung des Willens auf. Dies läßt sich
an mehreren, überaus charakteristischen Stellen, namentlich des zweiten
Bandes seines Hauptwerkes und in zerstreuten skizzenhaften Auf-
zeihnungen der späteren Zeit nahhweisen. Dodh schon in seinem in
der Jugend konzipierten Hauptwerk ist diese Auffassung vertreten:
»Diesem allem zufolge sind die Genitalien der eigentlihe Brennpunkt
des Willens und folglih der entgegengesetzte Pol des Gehirns, des Repräsen-
tanten der Erkenntnis, d. i. der anderen Seite der Welt, der Welt als Vor-
stellung. Jene sind das lebenerhaltende, der Zeit endloses Leben zusichernde
Prinzip, in welher Eigenschaft sie bei den Griechen im Phallus, bei den Hindu
im Lingam verehrt wurden, welche also das Symbol der Bejahung des Willens
sind. Die Erkenntnis dagegen gibt die Möglichkeit der Aufhebung des Wollens,
der Erlösung durh Freiheit, der Überwindung und Vernichtung der Welt.«
(W. W. I, p. 427.)
Ausführliher hat sih dann Schopenhauer über die um-
fassende Bedeutung der Sexualität in den späteren Nacdträgen zu
seinem Hauptwerk geäußert:
»Aus diesen Betrachtungen erklärt es sich, warum die Begierde des Ge-
shledhts einen von jeder anderen sehr verschiedenen Charakter trägt, sie ist
Schopenhauer 127
nicht nur die stärkste, sondern sogar spezifisch von mächtigerer Art als alle
anderen. Sie wird überall stillschweigend vorausgesetzt, als notwendig und unaus-
bleiblich und ist nicht wie andere Wünsche, Sache des Geshmads und der Laune,
Denn sie ist der Wunsch, welcher selbst das Wesen des Menschen
ausmacht. Im Konflikt mit ihr ist kein Motiv so stark, daß es des Sieges gewiß
wäre. Sie ist so sehr die Hauptsache, daß für die Entbehrung ihrer Befrie-
digung keine anderen Genüsse entshädigen: auch übernimmt Tier und Mensch
ihretwegen jede Gefahr, jeden Kampf... Dem allen entspriht die wichtige
Rolle, welhe das Geschledtsverhältnis in der Menschenwelt spielt, als wo es
eigentlih der unsichtbare Mittelpunkt alles Tuns und Treibens ist und trotz
allen ihm übergeworfenen Scleiern überall hervorguckt. Es ist die Ursahe des
Krieges und der Zweck des Friedens, die Grundlage des Ernstes und das Ziel
des Scherzes, die unershöpfliche Quelle des Witzes, der Schlüssel zu allen An-
spielungen und der Sinn aller geheimen Winke, aller unausgesprochenen Änträge
und aller verstohlenen Blicke, das täglihe Dichten und Trachten der Jungen und
oft auh der Alten, der stündlihe Gedanke des Unkeushen und die gegen
seinen Willen stets wiederkehrende Träumerei des Keuschen, der allezeit bereite
Stoff zum Scherz, eben nur weil ihm der tiefste Ernst zum Grunde liegt . . .
Dies alles aber stimmt damit überein, daß der Geschlechtstrieb der Kern des
Willens zum Leben, mithin die Konzentration alles Wollens ist; daher eben
ich im Texte die Genitalien den Brennpunkt des Willens genannt habe. Ja, man
kann sagen, der Mensch sei konkreter Geschlecdtstrieb, da seine Entstehung ein
Kopulationsakt und der Wunsh seiner Wünshe ein Kopulationsakt ist und
dieser Trieb allein seine ganze Erscheinung perpetuiert und zusammenhält ...
Daher ist der Gesclectstrieb die vollkommenste Äußerung des Willens zum
Leben, sein am deutlichsten ausgedrückter Typus: und hiemit ist sowohl das Ent-
stehen der Individuen aus ihm, als sein Primat über alle anderen Wünsche
des natürlihen Menschen in vollkommener Übereinstimmung.« (W. W. II,
p. 602 ff.)
Im Nadlaß, in den für seine Person und das Verständnis
seiner Lehre so aufsclußreihen »Neuen Paralipomenas (N. P.)
heißt es (& 401):
»Wenn man mid frägt, wo denn die intimste Erkenntnis jenes innern
Wesens der Welt, jenes Dinges an sih, das ih den Willen zum Leben ge=
nannt habe, zu erlangen sei? oder wo jenes Wesen am deutlichsten ins Bewußt=
sein tritt? oder wo es die reinste Offenbarung seiner Selbst erlangt? — so muß
ih hinweisen auf die Wollust im Akt der Kopulation. Das ist es! Das
ist das wahre Wesen und der Kern aller Dinge, das Ziel und der Zweck alles
Daseins.«
Und ähnlih in den »Parerga und Paralipomena« (P. P. II, p. 330):
»Geht man bei der Auffassung der Welt vom Dinge an sih, dem Willen
zum Leben, aus, so findet man als dessen Kern, als dessen größte Konzen=
tration, den Generationsakt: dieser stellt sih dann dar als das Erste, als der
Ausgangspunkt: er ist das punctum saliens des Welteies und die Haupt-
sache.«
Was Schopenhauer hier generell in der Welt findet und
als erster Philosoph betont hat, das ist im Hinblick auf seinen
bereits geschilderten heftigen Sexualtrieb aus seiner Konstitution und
Persönlihkeit abzuleiten. Das Gediht sO Wollust, o Hölles hat
128 Dr. Eduard Hitschmann
uns gezeigt, wie sehr er darunter gelitten hat, und diese Tatsache
macht uns vieles in seinem Wesen als Reaktionsbildung und Subli=
mierung, als Sehnsucht nad Befreiung von diesem quälenden Drange
verständlich.
Haben wir hinter dem »vernunftlosen Willens Schopen-
hauers zunächst seinen heftig drängenden Sexualtrieb gefunden, so
wissen wir wohl, — und erledigen mit den weiteren Ausführungen
auch einen Einwand mandes Lesers — daß Schopenhauer selbst
in dem Gefühl eines in ihm waltenden triebkräftigen Willens mehr
umfaßt hat, als die Sexualität allein: auh alles Wünschen, Hoffen,
Fürdhten und Hassen. Auch empfand er jenes dunkle Unbewußte,
das wir hinter jedem einzelnen Akt unserer Seele noch als tragende
und zugleih darüber hinausragende Energie empfinden. »Wir wissen
zwar immer, was wir in jedem gegebenen Augenblicke wollen, nie
aber, was und warum wir überhaupt und ganz wollen« (Simmel).
Das hinter dem Bewußtsein, der Erkenntnis und dem Wollen als
Dunkles, Blindes und eigentlih niht Erkennbares Waltende ist
Schopenhauers Wille — das, was wir Psychoanalytiker als das
Unbewußte bezeichnen. Daß Schopenhauer so ein Vorläufer der
Erkenntnis des Unbewußten geworden ist, welhes auch nah psydho-
analytisher Auffassung ewig wünscht und treibt, soll am Schluß
ausführlih besprohen werden.
Gegenüber dem starken Voluntarismus in Schopenhauers
Leben und Lehre muß es dem oberflächlichen Betrachter als Wider-
spruh imponieren und wurde auch wiederholt von Schülern und
Kritikern eingewendet, daß gerade der Entdeker und Bewunderer
dieses starken Lebenswillens zu einem Verherrliher der Willens-
verneinung (des Quietismus) wurde. Psydhologish ist dies jedoch
leiht verständlih aus den Konflikten der menshlihen Seele, die in
einem Kampf der UÜrtriebe mit den Hemmungen bestehen, die der Ich-
trieb des Kultivierten ihnen entgegensetzt. Diese Bekämpfung und Ver-
drängung trifft die kraß egoistishen und die Sexualtriebe, an denen
er sih darum auch am deutlichsten manifestiert, zugleih wird dieser
Kampf aber audh vorbildliih für die gesamte Einstellung der Persön-
lichkeit gegenüber Trieb und Reaktion, gegenüber der Außenwelt über-
haupt. Den Psycdioanalytiker wird es also am wenigsten wundern,
daß dort, wo er einem starken Triebe begegnet, auch eine starke
Bekämpfungstendenz sichtbar wird.
Audh im Sexuellen nähert sih nur der Mensch dem Ideal
Schopenhauers, weldher die häßlihe, verwerflihe Gesclecdts-
befriedigung aufgibt, die ja den Fluh des Menschen an der Wurzel
des Lebens bedeutet.
»Die Befriedigung des Geschlechtstriebes ist an sih schlechthin ver-
werflih, weil sie die stärkste Bejahung des Lebens ists (N. P. $ 355).
Damit hängt auh der abstoßende und häßlihe Eindruck, den
der Sexualakt und die Genitalien auf Schopenhauer maden,
zusammen:
Schopenhauer 129
Bar TER ERLEN was die Verliebtheit uns vorspiegelt, ist, so lange wir es im
Prospekt haben und als kommend erbliden, ein Paradies der Wonne; aber wann
vorübergegangen und demnach von hinten gesehen, zeigt es sich als etwas
Geringfügiges und Unbedeutendes, wo nicht gar Widerlihes« (N. P. $ 375).
»Dem Gesagten gemäß hat man seinen Willen zu verbergen wie seine
Genitalien, obgleih beide die Wurzel unseres Wesens sind« (P. P. II, p. 633).
»Der Akt nun aber, durh welchen der Wille sich bejaht und der Mensch
entsteht, ist eine Handlung, deren alle sih im Innersten shämen, die sie daher
sorgfältig verbergen, ja, auf welcher betroffen, sie erschrecken, als wären sie bei
einem Verbrechen ertappt worden. Es ist eine Handlung, deren man bei kalter
Überlegung meistens mit Widerwillen, in erhöhter Stimmung mit Abscheu ge-
denkt .... . Eine eigentümliche Betrübnis und Reue folgt ihr auf dem Fuß, ist
jedoh am fühlbarsten nad der erstmaligen Vollziehung derselben, überhaupt
aber um so deutlicher, je edier der Charakter ists. (W. W. IL, p. 670).
Diese für Schopenhauers Person so charakteristishe Abwendung
von der Sexualität, die er als niedrig und unwürdig empfindet, zeigt
sih auh deutlich in einer Stelle über Träume, wo er, zunädst nur
für seine Person, charakteristishe Träume als allgemeine Erfahrungen
mitteilt. Auch hier geht er von den gewiß nicht ohne persönlichen
Grund so auffällig oft erwähnten Pollutionsträumen aus:
»Es gibt bekanntlih Träume, deren die Natur sih zu einem materiellen
Zwecke bedient, nämlih zur Ausleerung der überfüllten Samenbläshen. Träume
dieser Art zeigen natürlih schlüpfrige Szenen: dasselbe tun aber mitunter auch
andere Träume, die jenen Zweck gar nicht haben, noch erreichen. Hier tritt nun
der Unterschied ein, daß, in den Träumen der ersten Art, die Shönen und die
Gelegenheit sih uns bald günstig erweisen, wodurch die Natur ihren Zweck er-
reiht. In den Träumen der andern Art hingegen treten der Sache, die wir auf
das heftigste begehren, stets neue Hindernisse in den Weg, welche zu über-
winden wir vergeblich streben, so daß wir am Ende dodh nicht zum Ziele ge-
langen. Wer diese Hindernisse schafft und unsern lebhaften Wunsch Schlag auf
Schlag vereitelt, das ist doch nur unser eigener Wille, jedoch von einer Region
aus, die weit über das vorstellende Bewußtsein im Traume hinausliegt und daher
in diesem als Schicksal auftritt.«
Es kann nicht prägnanter, als durch diese Darstellung von Wille
und Gegenwille im Traume, Schopenhauers vernunftgehemmte
Stellung zur Sexualität charakterisiert werden. Wir wissen, daß
Schopenhauer für gewöhnlih den Geschlechtsverkehr vermied,
und dies muß wohl die Ursahe sein, daß Pollutionsträume bei ihm
eine häufige Erfahrung waren. Es hätte ihm gewiß nicht an weib-
lihen Lebensgefährtinnen gemangelt, hätte er sie niht aus Wider-
stand gegen die Sexualität und das Weib meist gemieden. Aus
der Beobachtung der Entwicklung von Charakteren, namentlih aus
der ärztlihen Beobahtung, läßt sich feststellen, daß diese Verac-
tung und dieser Absheu vor dem eigentlih sexuellen Genuß auf
Ablehnung und Verdrängung des als sündhaft Empfundenen beruht
und meist durch Erziehung verstärkt wird. Es ist nicht zu gewagt
zu behaupten, daß der strenge rauhe Vater in dem, vielleicht einer
mit Schuldgefühl verbundenen Jugendsünde ergebenen Knaben durch
Imago 11/2 9
130 Dr. Eduard Hitshmann
ein die Sexualität noch mehr herabsetzendes Verbot diesen Konflikt
verschärft hat. Verstärkend und fixierend in dieser Rihtung dürfte
bei Schopenhauer der Umstand gewirkt haben, daß die mit
der frühen Kenntnis vom elterlihen Sexualverkehr normalerweise
oft eintretende Verahtung des Weibes (der Mutter) und der
Sexualität überhaupt, durh Schopenhauers in dieser Zeit bereits
offenkundig ae Verhältnis zu seiner Mutter, der Korrektur
entzogen blieb. Die Psychologie dessen, dem das Sexuelle in dieser
doppelten Weise früh beflekt erscheint, entspriht es vollkommen,
daß er — seine individuellen Erfahrungen generalisierend und ob-
jektivierend — dann das Weib überhaupt herabsetzt! und die
Sexualität nicht naiv und frei von Schuldbewußtsein genießen kann,
überall findet er in ihr ein Verschulden. So wie Schopenhauer (ana=
log der Erbsünde des Christentums) den Fluch der Welt zurückführt
auf das Verwerflihe des Zeugungsaktes, so genügen ihm zur Er-
klärung des allgemeinen Strebens nah Wollust und der Betörungen
der Liebe nicht allein die Freuden, die sie an und für sich bietet,
sondern er entwirft die »Metaphysik der Gesclecdtsliebe«, in der er
das teleologishe Prinzip irrtümlich als ein ursprüngliches einzuführen
sich genötigt sieht. Dieses originelle Bedürfnis Schopenhauers, der
das Liebesverlangen durch den naiven sinnlichen Genuß nicht genügend
motiviert empfand, einer rationalistishen Erklärung nadhızugehen, deutet
darauf hin, daß er nad seinen eigenen in Sexualeindrücken
den Liebesgenuß doch nicht proportional fand der Heftigkeit, mit
welcher der Mensch danadı strebt. Es muß dies ein individueller Ein-
druck gewesen sein, der ein Stück seines Liebesdranges nicht durch
sich selbst erlöst fand. Die Annahme, daß Schopenhauers Ge-
shlehtsgenuß selbst vielleiht ein unbefriedigender, minderwertiger
war, läßt sih nicht nur hier, sondern audh an anderer Stelle ver-
mutungsweise ableiten. Ist die Sexualität sonst so vielfah für die
übrige Psyche vorbildlih, so könnte man auch hierin eine der
Wurzeln seines im Pessimismus gipfelnden unbefriedigten Lebens-
genusses erbliken. So kommt er dazu, die Pollution auffallender-
weise der Koitusbefriedigung gleichzusetzen:
»So gewiß zwishen dem Leben und dem Traum kein spezifisher und
absoluter, sondern nur ein formeller und relativer Unterschied ist, so gewiß ist
eigentlih und im Ernst gar kein wesentlicher Unterschied zwischen einer Pollu=
tion und einem Koitus. Beide geben ein verfliegendes Traumbild und eine Er-
gießung des Samens« (N. P. $ 361). Ä
Von hier mag audh eine Veranlassung ausgehen, warum
Schopenhauer nicht dauernd und nur relativ selten in seinem
Leben in innigere Beziehung zu einem weiblihen Wesen trat und
endlich letztlih auch Junggeselle geblieben ist.
i » Allen Generalurteilen eines Mannes über das Weib kommt in erster
Linie eine Bedeutung als Symptom seiner eigenen psychosexuellen Anlage zu; sie
haben mehr einen biographischen als einen normativen Werts (Rosa Mayreder,
»Zur Kritik der Weiblichkeits).
Schopenhauer 131
Mehr als sonst in der Psyhe des Menschen zeigt sich bei
Schopenhauer eine Art Zweiteilung in Positiv und Negativ, die
für sein ganzes System gleihsam das Gerippe gegeben hat. Ganz
ungewöhnlih muß in Schopenhauer die Tendenz gewesen sein,
dem immer wieder sih meldenden und in Phantasien wucdernden
Sexualtrieb gerade dann, wenn er am stärksten war, den Hydrenkopf
abzushlagen. Finden wir sonst, wenn der Sexualtrieb zur Befriedi-
gung drängt, das Individuum auch dazu bereit, so verrät Schopen-
hauer den seltsamen Drang, die sexuelle Lust, wenn sie ohne
ein besonderes Objekt, also aus somatishen Ursahen oder aus
Phantasien heraus sich am stärksten meldet!, gerade dann zu unter-
drücen:
»An den Tagen und Stunden, wo der Trieb zur Wollust am stärksten
ist, nicht ein mattes Sehnen, das aus Leerheit und Dumpfheit des Bewußtseins
entspringt, sondern eine brennende Gier, eine heftige Brunst, gerade dann sind
auh die höchsten Kräfte des Geistes, ja das bessere Bewußtsein zur größten
Tätigkeit bereit, obzwar in dem Augenblik, wo das Bewußtsein sich der Begierde
hingegeben hat und ganz davon voll ist, latent: aber es bedarf nur einer ge=
waltigen Anstrengung zur Umkehrung der Richtung und statt jener quälenden,
bedürftigen, verzweifelnden Begierde füllt die Tätigkeit der höchsten Geisteskräfte
das Bewußtsein« (N. P. & 345).
Wir stehen damit vor der psydhologishen Tatsahe, welche
aus dem triebgepeinigten Schopenhauer jenen tiefen Metaphysiker
werden ließ, dem die enthusiastishen Worte über den hohen
Genuß des vom Wollen freien, reinen Erkennens zu Gebote stehen,
nämlich vor der Tatsache, daß er wie wenige den Willen so zu ver-
neinen, den Trieb so zu unterdrücken und dem Irdishen so zu ent=
fliehen wußte. Schon in seinen Jugendkonzeptionen, in der Zeit vor
1815, shwärmt er von dem »besseren Bewußtsein; Wir haben
etwas in uns, was über Sinnlichkeit, Verstand, Vernunft, über Sub=
jekt und Objekt weit hinaus liegt und die gemeinsame Geburtsstätte
des Genies und Heiligen bildet. Künstlerische, philosophishe und
asketishe Erlösung sind hier in dunkler. Einheit verschmolzen.
Später klärt sih die Lehre und Schopenhauer unterscheidet als
Reaktion auf den heftigen Willen die »Willensverneinungs, die
Grundlage seines asketishen Ideals und anderseits das »reine willen-
lose Erkennens, die Ideenerkenntnis, deren Äußerungen in Philo-
sophie und Kunst zutage treten und wohl mehr einer Subli-
mierung des Triebes entsprehen würden. Die Auffassung, die
wir hier vertreten, hat kein Geringerer als Nietzshe (in der
dritten Abhandlung seiner »Genealogie der Morals: »Was be-
deuten asketische Ideale?«) in vollendeter Darstellung zum Aus-
ı Es gibt Personen, die, der Selbstbefriedigung ergeben, den Akt bis zu
einem Grade hoher Erregung fortsetzen und dann aus Furcht des Säfteverlustes
oder andern rationalisierenden Schuldgefühlen plötzlih unterbrechen. Diese mastur-
batio interrupta scheint das Vorbild jener oben beschriebenen Umkehrung zu sein.
Daß Schopenhauer der Ansicht huldigte, daß Gebrauh der Sexualität schwäde,
Enthaltsamkeit aber alle Kräfte erhöhe, ergibt die Stelle in W. W. II, p. 600,
9*
132 Dr. Eduard Hitschmann
druck gebraht. Der scharfsinnige Meta-Psydhologe wirft hier, wo
er ja längst seine jugendliche een für »>Schopenhauer
als Erzieher« überwunden hatte, die Frage auf, was es bedeute,
wenn ein wirkliher Philosoph dem asketishen Ideal huldige;
ein wirklih auf sich gestellter Geist, wie Schopenhauer, »ein
Mann mit erzernem Blik, der den Mut zu sich selber hats, und
er kommt zu der Antwort: »Er will von einer Tortur loskommen.«
Diese Tortur ist nichts anderes als die allzu ansprudhsbereite, ethisch
bereits verworfene Gesclectlichkeit, welche, wie Nietzsche sagt,
»Schopenhauer in der Tat als persönlihen Feind behandelt hat,
einbegriffen deren Werkzeug, das Weib, dieses »instrumentum dia=-
bolix. Das höchste Ziel dieser Willensverneinung ist nah Schopen-
hauer die Askese, ein Verwerfen und Verzicht auf die ganze böse,
leidensvolle Welt, »die vorsätzliihe Brehung des Willens durd
Versagung des Angenehmen und Aufsuhen des Unangenehmen,
die ste rchihe büßende Lebensart und Selbstkasteiung zur an-
haltenden Mortifikation«. Dieses Ideal shwebt Schopenhauer
als Sehnsuht vor und er bezeichnete es einmal beim Anblick
des Bildes eines Trappisten unter Tränen als Sahe der Gnade‘.
Der rücsictslose Psyholog Nietzsche, der hinter diesem pessimi=
stiishen Verziht den masodistishen Leidenswunsh aufdekt, hat
diese Tendenz des Verzichtens und des Heiligseins zersetzt: »Man
sieht, das sind keine unbestochenen Zeugen und Richter über den
Wert des asketishen Ideals, diese Philosophen! Sie denken sich —
was geht sie »der Heiliges an! Sie denken an das dabei, was
ihnen gerade das Unentbehrlihste ist: Freiheit von Zwang,
Störung, Lärm, von Geschäften, Pflihten, Sorgen, Helligkeit im
Kopf... . Ruhe in allen Souterrains; alle Hunde hübsch an die
Kette gelegt... Man weiß, was die drei großen Prunkworte des
asketishen Ideals sind: Armut, Demut, Keuschheit: und nun sehe
man sich einmal das Leben aller großen fruchtbaren erfinderischen
Geister aus der Nähe an — man wird darin alle drei bis zu einem
i Wie Schopenhauer, der das Ideal des Heiligen (auch nach eigener Aus=
sage) nie erreiht hat, sich des Zwiespalts und beständigen Ringens bewußt war und
der Tatsache, wie schwer der Mensh zu diesem Ziel gelangt, zeigt eine Bemerkung
(N. P., $ 588): »Es ist eine unmögliche, in sich selbst sich widersprehende Forde-
rung fast aller Philosophen, daß der Mensch innre Einheit seines Wesens, Ein-
tracht mit sich selbst erlangen soll. Denn als Mensch ist innere Zwietradt sein
Wesen, durchaus so lange er lebt. Denn nur Eines kann er wirklih ganz und gar
sein: zu allem Ändern hat er aber die Anlage und die unvertilgbare Möglichkeit,
es zu sein. Hat er sih zu Einem entschlossen, so steht alles Übrige als Anlage
immer bereit und fordert unablässig aus der Möglichkeit zur Wirklichkeit zu ge-
langen: er muß es also fortwährend zurückdrängen, überwältigen, töten,
so lang er jenes Eine sein will... So, wenn er sich zur Heiligkeit entschlossen
hat, muß er sein ganzes Leben hindurh, und nicht ein für alle Mal, sich als ge-
nießendes, der Wollust ergebenes Wesen töten: denn ein solches bleibt er, solange
er febt... So durchaus in allem in unendlihen Modifikationen. Bald mag das
Eine, bald das Andere in ihm siegen: er ist der Tummelplatz. Siegt auh das
Eine fortwährend, so kämpft doh das Andere fortwährend: denn es lebt, so
lange er lebt: Als Mensch ist er die Möglichkeit vieler Gegensätze.«
Schopenhauer 133
gewissen Grade immer wiederfinden. Durchaus nicht, wie sih von
selbst versteht, als ob es etwa deren ‚Tugenden‘ wären... ...
sondern als die eigentlihsten und natürlichsten Bedingungen ihres
besten Daseins, ihrer schönsten Frudtbarkeit. Dabei ist es ganz
wohl möglih, daß ihre dominierende Geistigkeit vorerst einem un-
bändigen und reizbaren Stolze oder einer mutwilligen Sinnlichkeit
Zügel anzulegen hatte«.
In der Ideenerkenntnis hat sih nah Schopenhauer unser In=
tellekt vom Willen gleihsam abgewendet, der Wille hat das Bewußt-
sein geräumt, damit sei auch alle Unruhe, Not und Qual abge-
wendet. Im willensfreien Anschauen der Ideen, dem eigentlich ohil =
sophishen Betrachten, findet er die reinste Beruhigung und nirgends
sonst wird Schopenhauers Sprahe so enthusiastish und voll
Entzücken, als wenn er dieses willenlose Erkennen, das in der Be-
tätigung der Philosophie und Kunst Ausdruc findet, schildern kann:
»Was ist der größte Genuß, der dem Menschen möglih? — Die intuitive
Erkenntnis der Wahrheit. Die Richtigkeit der Antwort leidet nicht den mindesten
Zweifel« (N. P., $& 648).
Nietzsche widerspriht selbst am empfindlichsten dieser Lehre
von der reinen interesselosen Erkenntnis in der Philosophie und der
gleihen Anschauung vom Kunstgenuß und hat die vielgepriesene
»interesselose Änshauung« als einen »Unbegriff und Widersinn«
entlarvt: »Hüten wir uns nämlich, meine Herren Philosophen, von
nun an besser vor der gefährlihen alten Begriffsfaselei, welhe ein
»reines, willenloses, schmerzloses, zeitloses Subjekt der Erkenntnis«
angesetzt hat, hüten wir uns vor den Fangarmen solher kontra-
diktorisher Begriffe wie »reine Vernunft«, »absolute Geistigkeit«,
»Erkenntnis an sich«, ... je mehr Äffekte wir über eine Sahe zu
Worte kommen lassen, ... um so vollständiger wird unser Begriff
dieser Sahe, unsere »Objektivität« sein. Den Willen aber über-
haupt eliminieren, die Affekte samt und sonders aushängen, gesetzt,
daß wir dies vermöcdten: wie? hieße das nicht den Intellekt kastrieren?«
Anknüpfend müssen wir hier als selbstverständlih hervor-
heben, daß auch nah unserer Anschauung, wenngleih in anderem
Sinne, es ein willenloses Erkennen gar niht geben kann.
Schopenhauer hat sih vollkommen darin getäuscht, daß der
Wille (das Unbewußte) je schweigen könnte und das Denken
unbeeinflußt ließe: Gerade deshalb ist seine — wie er selbst sagt —
intuitiv geschaffene Philosophie ein so schönes Beispiel für die Sub-
jektivität aller Philosophie, weil nach dieser Art des Arbeitens durch
Aufsteigenlassen von Einfällen (was Schopenhauer »Anschauen
der Welt« nennt) gerade das Individuelle am reinsten zutage tritt.
Er beging so den Irrtum, durch Insichhineinhorhen und Selbstbeob-
ahtung objektive Wahrheiten finden zu wollen. Wir stellen dem Ge-
sagteı? die tiefgründige Einsiht Nietzsches an die Seite:
»Man muß doch den größten Teil des bewußten Denkens
134 Dr. Eduard Hitshmann
unter die Instinkttätigkeiten rechnen, . . . das meiste bewußte
Denken eines Philosophen ist durch seine Instinkte heimlich geführt
und in bestimmte Bahnen gezwungen, . . .. dahinter stehen Wert-
shätzungen, deutlicher gesprochen, physiologische Forderungen zur
Erhaltung einer bestimmten Art von Leben .. . ein abstrakt ge-
macdter und durcgesiebter Herzenswunsch wird von ihnen mit
hinterher gesuchten Gründen verteidigt.«
Außer dem Genuß, den Schopenhauer in dem angeblich
willenlosen Erkennen fand, vermag er dem Pessimismus auh nod
die beglükende und erlösende Wirkung der Kunst entgegenzusetzen,
die über des Daseins Schmerz und Langeweile erhebt. Ein willen-
und interesseloses Anschauen soll auh die Grundlage des ästheti=
schen Genusses sein, der ebenso, wie das reine philosophishe Er-
kennen vom Willen befreit und von der Welt erlöst. Insbesondere
das Trauerspiel lenkt zu Entsagung und Willensverneinung!,
während die Musik am unmittelbarsten das »bessere Bewußtsein«
anregt und am fernsten vom empirishen liegt. Der Musikgenuß ist
bei ihm ein Quietiv des Willens; der Musik, welcher er eifrig
huldigte, kann er niht genug nadrühmen, wie sehr sie das Ge-
müt reinige, »sie spült alles Unreine, alles Kleinlihe, alles Schlechte
weg, stimmt jeden hinauf, auf die höchste geistige Stufe, die seine
Natur zuläßt« (N. P., p. 398). Man vergesse hier nicht, daß andere
die Musik und die schönen Künste als Verführer empfanden,
wie Plato, Stendhal, Tolstoi. Wenn Schopenhauer daher die
sonst als sinnlih geltende Musik Wagners verwirft?, so zeigt
er damit vielleiht auch seine Abkehr von der verführerischen
Seite der Kunst, welhe Ablehnung auch wieder Nietzsche als
die Grundlage der Schopenhauershen Ästhetik erkannt und
damit zugleih die scharfsinnigste Deutung des ganzen Systems ge=
geben hat: |
»Schopenhauer hat sih die Kantishe Fassung des
ästhetischen Problems zunutze gemadht ... . ‚Schön ist, hat Kant
gesagt, was ohne Interesse gefällt. Ohne Interesse! Man ver-
gleihe mit dieser Definition jene andere, die ein wirkliher »Zu=
shauer« und Artist gemacht, — Stendhal, der das Schöne einmal
! »Wir sehen im Trauerspiel die Edelsten nah langem Kampf und Leiden
den Zwecken, die sie bis dahin so heftig verfolgten und allen Genüssen des
Lebens auf immer entsagen, oder es selbst willig und freudig aufgeben, so »den
standhaften Prinzen des Calderons (Schopenhauer). Durh Calderons Schau=
spiel wurde er schon als Jüngling so erschüttert, daß er die gewohnte Gesellschaft
bei seiner Mutter eine Zeitlang verlassen und die Einsamkeit aufsuchen mußte.
Möbius vermutet daraus, daß Schopenhauer sehr früh das Erlebnis der Ent-
sagung gemadt habe, »da er schon als Jüngling von einem Drama so tief
erschüttert war, dessen Held in einer plötzlihen edeln Aufwallung seine Person
und seine Interessen dem Vater zum Opfer bringt«.
2 Rihard Wagner ließ er sagen, »er solle die Musik an den Nagel
hängen, er habe mehr Genie zum Dichter. Er, Schopenhauer, bleibe Rossini
und Mozart treus. (Grisebach, Gespräde.)
Schopenhauer 135
une promesse de bonheur nennt!. Hier ist jedenfalls gerade das
abgelehnt und ausgestrihen, was Kant allein am ästhetischen
Zustande hervorhebt: le desintöressement. . .. Kommen wir auf
Schopenhauer zurück, der in ganz anderem Maße als Kant den
Künsten nahe stand und doh nicht aus dem Bann der Kantschen
Definition herausgekommen ist: wie kam das? Der Umstand
ist wunderlih genug: Das Wort »ohne Interesse« interpretierte er
sih in der allerpersönlihsten Weise, aus einer Erfahrung heraus,
die bei ihm zu den regelmäßigsten gehört haben muß. Über wenige
Dinge redet Schopenhauer so sicher wie über die Wirkung der
ästhetishen Contemplation: Er sagt ihr nah, daß sie gerade der
geschlechtlichen »Interessiertheit« entgegenwirke, ähnlih also
wie Lupulin und Kampfer, er ist nie müde geworden, dieses
Loskommen vom »Willen« als den großen Vorzug und Nutzen
des ästhetishen Zustandes zu verherrlihen. Ja, man mödte ver-
sucht sein zu fragen, ob nicht seine Grundconzeption von »Willen
und Vorstellungs, der Gedanke, daß es eine Erlösung vom »Willen«
einzig durh die »Vorstellung« geben könne, aus einer Verall-
gemeinerung jener Sexualerfahrung ihren Ursprung genommen habe.
»(Bei allen Fragen in betreff der Schopenhauershen Philo=
sophie ist, anbei oe niemals außer acht zu lassen, daß sie die
Konzeption eines sechsundzwanzigjährigen Jünglings ist, so daß sie nicht
nur an dem Spezifishen Schopenhauers, sondern auch an dem Spezift=
schen jener Jahreszeit des Lebens Änteil hat.) Hören wir zum Bei-
spiel eine der ausdrücklichsten Stellen unter den zahllosen, die er
zu Ehren des ästhetischen Zustandes geschrieben hat (W. W. I],
p. 231), hören wir den Ton heraus, das Leiden, das Glück, die
Dankbarkeit, mit der solhe Worte gesprohen sind. ‚Das ist der
schmerzenslose Zustand, den Epikuros als das höchste Gut der
Götter pries,; wir sind, für jenen Augenblik, des shnöden Willens-
dranges entledigt, wir feiern den Sabbat der Zucthausarbeit des
Wollens, das Rad des Ixion steht stil” . . . Welche Vehemenz
der Worte! Welche Bilder der Qual und des langen Überdrusses!
Welce fast pathologische Zeit-Gegenüberstellung ‚jenes Augenblicks’
und des sonstigen ‚Rads des Ixions’, der ‚Zucthausarbeit des
Wollens’, ‚des schnöden Willensdrangs” — Aber gesetzt, daß
Schopenhauer hundertmal für seine Person Recht hätte, was wäre
damit für die Einsiht ins Wesen des Schönen getan? Schopen-
hauer hat Eine Wirkung des Schönen beschrieben, die Willen-
calmierende, — ist sie audh nur eine regelmäßige? Stendhal, wie
gesagt, eine nicht weniger sinnlihe, aber glücklicher geratene Natur
als Schopenhauer, hebt eine andere Wirkung des Schönen her-
vor: ‚Das Schöne verspriht Glück‘, ihm scheint gerade die Er=-
ı Vgl. dagegen Stendhals Übereinstimmung mit Schopenhauers Erklärung
des ästhetishen Empfindens an anderer Stelle: »Die Seele, schon halb erlöst von
den eitlen Wünschen dieser Welt, ist in der Stimmung, die erhabene Schönheit
zu empfinden.« (Zit. nah Seilliere.)
136 Dr. Eduard Hitschmann
regung des Willens (‚des Interesses‘) durh das Schöne der
Tatbestand. Und könnte man nicht zuletzt Schopenhauern selbst
einwenden, daß er sehr mit Unredht sich hierin Kantianer dünke,
daß er ganz und gar niht die Kantsche Definition des Schönen
Kantish verstanden habe, — daß audh ihm das Schöne aus einem
Interesse gefalle, sogar aus dem allerstärksten, allerpersönlihsten
Interesse: dem des Torturierten, der von seiner Tortur los=
kommt.« Aud eine Stelle aus der »Götzendämmerung« sei hier
zitiert: »Schopenhauer ist für einen Psychologen ein Fall ersten
Ranges: nämlih als bösartig genialer Versuh, zu Gunsten
einer nihilistishen Gesamt-ÄAbwerthung des Lebens gerade die
Gegen-Instanzen, die großen Selbstbejahungen des ‚Willens zum
Leben’ .. . ins Feld zu führen. Er hat, der Reihe nad, die
Kunst, den Heroismus, das Genie, die Schönheit, das große Mit-
gefühl, die Erkenntnis, den Willen zur Wahrheit, die Tragödie
als Folgeersheinungen der ‚Verneinung oder der Verneinungs-
Bedürftigkeit des Willens’ interpretiert — die größte psychologische
Falshmünzerei, die es, das Christenthum abgerechnet, in der Ge-
schichte gibt.«
Haben wir bisher, ganz im Sinne Schopenhauers selbst,
den Sexualtrieb und dessen Ablehnung als tiefste Bedeutung für
seinen Willen und seine Willensverneinung betont und Näheres
dazu ausgeführt, so sind noh andere Hy Maniac Determinanten
für diese seine Lösung des von Kant aufgegebenen Rätsels vom
»Ding an sih« heranzuziehen. Das Treibende im Menschen ist nicht
nur das Sexuelle, sondern auh die Summe der dem Ih dienenden
Triebe (Selbsterhaltung), der Kampf um das Durdsetzen der Per-
sönlichkeit. Der Wille ist nicht nur Wille zur Zeugung, Wille zum
Leben, sondern auh Wille zur Macht. Im Gegensatz zu Fichte,
Schelling und Hegel, die den Intellekt verherrlihten und die
Welt für ein Produkt bewußter Entwicklung hielten, war es Schopen-
hauer vorbehalten, dem Triebleben, dem Unbewußten, dem Wollen
„das gebührende Redht einzuräumen. Ist aber der Wille auh das
Madtbedürfnis, so erkennen wir, daß Schopenhauer, der von so
willensstarken heftigen Vorfahren abstammt und dem robusten Vater
unterworfen war, den Kampf des »Willens zur Mact« intensiv erlebt
haben mußte, daß er für seinen übermädhtigen Vater, die Gewalt,
die er in seiner Jugend so kräftig über sich fühlte, ein Symbol
hinausprojiziert hat ins Weltall — als Wille. So geshah es dem
soisdisant-ÄAtheisten Schopenhauer, daß er, wie Seillere ridti
sagt, den Willen zu seinem Gotte (Gott und Teufel) macte, daß
er die väterlihe Macht sozusagen vergöttlihte, Erst nach des Vaters
Tode begann er im Leben seinen eigenen Willen durchzusetzen,
bald darauf konzipierte er sein Werk.
Aber auch die Willensverneinung ist mehr, als wir vorher
ausgeführt haben, sie ist audh alles Nadgeben, Verzichten, alle
Demut. Wir verstehen, warum Calderons »Standhafter Prinz« in
Schopenhauer 137
jener Szene tiefster Demütigung vor dem königlihen Vater, ihn
so tief erschüttert hat. Der Gehorsam und die Demut des Heiligen
blieb ihm darum das erstrebenswerteste Ideal.
Daß der Wille Schopenhauers auh im leblosen Körper
ewinnt, daß die ganze Welt wie durcseelt gedaht wird vom
illen, das erinnert an die vorreligiösen und vorwissenshaftlihen,
animistishen Anschauungen primitiver Völker. Der Mystiker
Schopenhauer kann, wie es eben jenen Völkern durh ihre ani-
mistishen Anschauungen gelingt, damit die ganze Welt aus einem
Punkte erklären!, Eine naive, infantile Animisierung des Leblosen
finden wir in der Anekdote, die Schopenhauer aus seiner frühen
Kindheit berichtet: er warf einen Schuh in ein Mildhgefäß und bat
ihn herzlih, doch herauszuspringen.
Betrahten wir die Willenslehre Schopenhauers zusammen-
fassend, so müssen wir diese gewaltige Inthronisierung des Unbe-
wußten und des Trieblebens als eine geniale geistige Leistung aner-
kennen. Die Verwendung dieser psydhologishen Einsicht zur philo-
sophischen Systembildung behandeln wir am Schlusse unserer ÄAus-
führungen.
2. Ethik.
In Nietzsche, der Schopenhauer in seiner Jugend fast
väterlich verehrt hatte, erstand unserem Philosophen sein gefähr-
lihster Gegner. Denn Nietzsche, der im Gegensatz zu dembei seiner
Jugendkonzeption verharrenden Schopenhauer in stetig fort-
schreitender Entwiklung immer tiefer in das Verständnis der
menschlihen Seele vordrang, hat durch seine unerbittlihe Kritik
dem »letzten Metaphysiker« den Boden unter den Füßen weg-
gezogen. Nicht nur das »reine Erkennen« hat er zersetzt, nicht nur
den »Heiligen« von seinem Piedestal gestoßen, sondern auch die
Mitleidsmoral Schopenhauers, die so viele inbrünstige Verehrer
fand, hat er kritish-psydhologish untergraben und intuitiv=-psycho-
analytish auf ihre Triebwurzeln zurückgeführt.
Es hat immer Schopenhauer-Forsher und =Verehrer ge-
geben, die von der edeln und gefühlvollen Mitleidsmoral begeistert
in dem Schöpfer derselben, — durh ihren Wunsch unkritish ge=
macht, — einen besonders gemütvollen und guten Menschen gesehen
haben. Es liegt der allgemeinen Auffassung gewiß näher und ist
psyhologish leichter zu verstehen, wenn die Lebensführung des
Philosophen seinem System entspricht, wie das etwa bei Spinoza,
Kant, Fichte zunädhst den Eindruck macht, und es tut uns fast
innerlih weh, wenn wir sehen, daß der Lehrer des Mitleids im
Leben so wenig von tiefem Versenken in fremdes Leid, von Mit-
ı Schopenhauers Sinn für magishe, abergläubishe und andere über-
sinnlihe Phänomene kann mit dem Animismus in Zusammenhang gebraht werden,
Vgl. Freud: »Animismus, Magie und Allmaht der Gedanken« (»Imago«.
II. Jahrg., 1913, Heft 1).
138 Dr. Eduard Hitshmann
leiden mit anderen, zeigt. Von der psychoanalytishen Erfahrung aus=-
gehend, daß das Mitleid eine Reaktionsbildung auf antisoziale, grau=-
same Triebregungen darstellt, überhaupt das kulturelle Ih erst
sekundär auf dem Trieb-Ih aufgebaut ist, werden wir erwarten,
daß es verschiedene Übergänge gibt, von jenem Individuum, das
diese Urtriebe unverändert behält und auslebt (Verbredher) bis zu
jenem, das die Triebe restlos verdrängt und den altruistischen
Charakter als Resultat davon aufzeigt. Schopenhauer ist es nicht
gelungen, seine aggressiven Triebe im Leben zu Güte und Mitleid
umzuwandeln und es läßt sich zeigen, daß er Regungen der Bosheit,
der Grausamkeit, der Schadenfreude, des Neides, ferner Schimpflust,
Spottsucht, Mangel an Menscenliebe in hohem Grade verraten hat.
Schopenhauers Vorfahren zeigten shon, wie erwähnt, ein
auffallend heftiges, zornmütiges, nah Tätigkeit drängendes Wesen,
das in dem dem geistigen Leben zugewandten Philosophen nur in
seinem groben und abweisenden Verhalten sowie in Schimpfen,
Bosheiten und Aggressionen einen direkten Ausweg fand. In den
Werken, welche das Mitleid idealisieren, darf man allerdings nicht
danah suchen, aber in den unstilisierten Äußerungen im Umgang
mit Menschen und in den Briefen verrät Schopenhauer viel Grob=
heit, grimmig-aggressiven Humor, er schimpft mit Ausdrücken, die
wir von Gebildeten sonst kaum zu hören gewohnt sind; auch im
Disputieren wird er als heftig und rechthaberish geschildert. Wer
nicht seinen Geist zu bewundern berufen und befähigt ist, der
findet in ihm einen unfreundlihen, leicht gehässigen, unbeherrschten,
Patron. So war er imstande, eine ältere, ärmlihe Frau wiederholt
mit Gewalt vor die Tür zu setzen, weil es ihm nicht recht war,
daß sie seine Hauswirtin in seinem Zimmer besuchte. Mit der Frau,
welche eine Entshädigungsklage wegen einer durch den Sturz über die
Treppe eingetretenen Arbeitsunfähigkeit anstrengte, hatte er sechs Jahre
zu prozessieren und mußte der »höcdhst verschmitzten und boshaften
Person« durch zwanzig Jahre eine ansehnlihe Entshädigungssumme
zahlen. Auf ihren Totenshein schrieb er, über den od hinaus
hassend, folgenden grausamen Witz: »Obit anus, abit onus.« Aus
den Briefen ließen sich zahlreiche für seine Grobheit und seinen
unstillbaren Haß beweisende Stellen anführen!. Sein Verleger
Brockhaus äußerte niht mit UÜnreht im Zusammenhang mit der
Verlagsangelegenheit des Hauptwerkes: »Ih muß mich mit diesem
Menschen sehr zusammennehmen, er ist ein wahrer Kettenhund.«
Audh hat er sih über die göttlihe Grobheit und Rustizität
Schopenhauers, sowie über dessen sackgrobe Formen beklagt.
An Dr. Asher screibt Schopenhauer einmal, als er sih über
einen Gegner, Professor Weisse, zu ärgern hatte: »Fänden Sie
Gelegenheit ihm dies irgendwo noch nadträglih einzureiben und
spanischen Pfeffer darauf zu streuen, so würde mich das sehr freuen.«
ı Vgl. Damm, p. 167.
Schopenhauer 139
Der gröbsten und herabsetzendsten Ausdrücke bedient er sich gegen-
über den Philosophenprofessoren (den »windbeutelnden Sophisten«),
namentlih Hegel. Er spriht von Hegeischer Afterweisheit, nennt
dessen Werk eine philosophishe Hanswurstiade und bezeichnet es
als den inhaltlosesten Wortkram, an welhem jemals Strohköpfe ihr
Genüge gehabt, spriht von dessen Lehre als dem widerwärtigsten,
unsinnigsten Gallimathias und wird dabei an die Deliramente der
Tollhäusler erinnert. Man vergleihe nur einmal diesen rauhen,
widerhaarigen, so sehr zum Hassen gestimmten Menschen, der auf
der anderen Seite die Mitleidsmoral preist, mit dem feinen, zurück-=
haltenden, leisen Nietzsche, der von sich selbst sagt: »Ich bin so
gar niht zum Hassen und Feindsein gemaht« und — der in
seiner Moral den Willen zur Madt, die Grausamkeit, die Rük-
sichtslosigkeit preist!
Über Schopenhauer finden wir nur spärlih Züge von Mit-
leid berichtet, wie etwa aus seiner Jugend, wo er — namentlich beim
Anblick des Bagno von Toulon — gequälte Menschen bemitleidet.
Mag sein, daß er in der Jugend »durch sein erregbares Tempera-
ment zur Empfindlichkeit, ja selbst zur Empfindsamkeit gedrängt«
war, »bevor die harte Lebenserfahrung ihn in das andere Extrem
trieb und ihn zum selbstsüdtigsten and gelegentlih zum brutalsten
alten Sonderling madhtes (Seilliere). Ein Zug, den wir auch ge=
wohnt sind als Reaktionsbildung auf Grausamkeitssuht den Menschen
gegenüber analytish aufzufinden, findet sih bei Schopenhauer
überaus entwickelt: das ist sein tiefes Mitgefühl für die Leiden
der Tiere. Er war Zeit seines Lebens der schärfste Gegner der
»wissenscaftlihen Tierfolter« (Vivisektion). Mit Worten flammender
Entrüstung brandmarkt Schopenhauer die Abscheulichkeit eines
Naturforschers, der zwei Kaninhen planmäßig tothungern ließ, und
er stellt auch Vorschläge zu Scutzgesetzen auf. Aber: »Die in
England zu jener Zeit für Tierquälerei eingeführte Prügelstrafe mochte
der Philosoph auch in Deutschland recht ausgiebig gegen die armen
zwei= und vierbeinigen Mitgeshöpfe der Menschen angewendet
wissen« (Damm). Prügel für Menshen zum Schutz von Tieren!
Diese Liebe zu den Tieren, die zu seinem schriftlih und mündlih
oft geäußerten Menschenhaß in scheinbar paradoxem Widerspruch
steht, hat er nicht nur von den Indern preisen gelernt, sondern
selbst tief empfunden. So äußert er einmal unverhohlen (N. P.,
p. 363):
»Ih muß es aufrihtig gestehen: der Anblik jedes Tiers erfreut mich
unmittelbar und mir geht dabei das Herz auf... . Hingegen erregt der Anblick
der Menschen fast immer meinen entshiedenen Widerwillen.«
Und ähnlich sagt er in einer »Äntistrophe zum 73. Venetianischen
Epigramm« (P. u. P. IL, p. 696):
»Wundern darf es mich nicht, daß manche die Hunde verleumden, denn
es beschämet zu oft leider den Menschen der Hund.s
140 Dr. Eduard Hitschmann
Bekannt ist Schopenhauers Vorliebe für Hunde!, insbesonders für
seinen Pudel, den er im Testament noc treulich bedaht und versorgt
hat. Die Wände seines Zimmers shmückten neben Porträts seiner großen
Vorbilder, wie erwähnt, auch Tierbilder. Entgehen konnte einem
so feinen Psychologen, wie es Schopenhauer war, die Bedeutung
der Reaktionsbildung und Sublimierung doh nicht ganz. So kam er
einmal beim Anblik eines jungen Orangs auf einer Marktmesse
darauf zu sprehen, »wie es ihm schon in jungen Jahren aufgefallen
sei, daß der Hund, dieses gezähmte Raubtier, der Verwandte, viel-
leiht der Abkömmling des Schakals oder des Wolfs, — der treue,
liebevolle, gelehrige, menschenähnlihe Gefährte des Menschen ge-
worden sei, das harmlos grasfressende Schaf aber nicht, und daß
beim Menschen etwas ähnliches stattzuhaben scheine, indem die ur=
sprünglih wilden, harten, mit starken sinnlihen Neigungen und
Leidenschaften behafteten Naturen zu den höchsten Tugenden ge-
langen, wie denn shon Plato die starke Neigung zum Bösen in
den trefflihen Naturen bemerktex (Gwinner p. 332).
Aud einen Teil seiner Angst müssen wir wohl aus Ver-
drängung von Aggressionsgelüsten erklären, die sih in der Angst
unbewußterweise gegen das eigene Ich gerichtet zeigen. Es spricht
für die Be Stärke seiner Triebanlage, daß sie trotz dieser
Verdrängungen und teilweisen Reaktionsbildungen doh noch so
deutlih die ganze Persönlichkeit durchzieht und färbt. Kaum je ein
anderer hat sein Haßgefühl intensiver in sich erlebt, die Grausam-
keitsinstinkte des Menschen ausgebildeter gesehen und stärker im
Zusammenleben empfunden und mehr darunter gelitten. Vielleicht
nur Nietzsche hat nad ihm in ähnliher Weise Macht-, Rahegefühle
und Grausamkeit im Innersten erlebt und im Tiefsten erkannt. Aber
er verwirft sie niht wie Schopenhauer, sondern entdeckt darin
die Urkraft des Menschen und anerkennt sie als Ideal des Gesunden,
nicht Dekadenten. Gleihwie bei Nietzsche? ist bei Schopen-
hauer in der Ethik, wo er über die Triebfedern des menschlichen
Handelns spricht, viel von der Bosheit die Rede:
»Die drei Triebfedern der menschlichen Handlungen:
a) Egoismus, der das eigene Wohl will (ist grenzenlos);
b) Bosheit, die das fremde Wehe will (geht bis zur äußersten Grau=
samkeit);
c) Mitleid, weiches das fremde Wohl will (geht bis zum Edelmut und
zur Großmut).«
er hen heißt es in dem Nadtrag zur Ethik (P. u. P. II,
| 3:
! »'Wenn es keine Hunde gäbe, möchte ich nicht lebens (zu Frauenstädt).
? »Die Bosheit hat nicht das Leiden des andern an sich zum Ziele, sondern
unsern eigenen Genuß, zum Beispiel als Rachegefühl oder als stärkere Nervenauf-
regung. Schon jede Necerei zeigt wie es Vergnügen macht, am anderen unsere
Madt auszulassen und zum lustvollen Gefühle des Übergewichts zu bringen«
(Nietzsche, Mensdi. Allzumensdl.).
Schopenhauer 141
. Zum gränzenlosen Egoismus unserer Natur geselft sih aber nod
ein, mehr oder weniger in jeder Menschenbrust vorhandener Vorrat von Haß,
Zorn, Neid, Geifer und Bosheit, angesammelt, wie das Gift in der Blase des
Schlangenzahns, und nur auf Gelegenheit wartend, sih Luft zu machen, und
dann wie ein entfesselter Dämon zu toben und zu wüten. Will kein großer
Anlaß dazu sich einfinden;, so wird er am Ende den kleinsten benutzen, indem
er ihn durch seine Phantasie vergrößert.
. .. der Mensc ist das einzige Tier, welches anderen Schmerz verursacht, ohne
weiteren Zweck als eben diesen... Kein Tier quält jemals, bloß um zu quälen,
aber dies tut der Mensch, und dies maht den teuflischen Charakter aus, der
weit ärger ist, als der bloß tierishe. Von der Sahe im Großen ist schon ge=-
redet: aber auh im Kleinen wird sie deutlih, wo denn Jeder sie zu beobachten
täglich Gelegenheit hat. Z. B. wenn zwei junge Hunde miteinander spielen, so
friedliih und lieblih anzusehen — und ein Kind von drei bis vier Jahren kommt
dazu: so wird es sogleih mit einer Peitshe oder Stock, heftig dareinshlagen,
fast unausbleiblih, und dadurch zeigen, daß es shon jetzt Fanimal mecant par
excellence ist. Sogar auch die so häufige zwecklose Neckerei und der Schaber-
nack entspringt aus dieser Quelle ... .
.». Wirklich also liegt im Herzen eines Jeden ein wildes Tier, das nur
auf die Gelegenheit wartet, um zu toben und zu rasen, indem es Änderen wehe
tun und, wenn sie gar ihm den Weg versperren, sie vernichten möchte: es ist
eben das, woraus alle Kampf- und Kriegslust entspringt ..... es ist der Wille
zum Leben, der durh das stete Leiden des Daseins mehr und mehr erbittert,
seine eigene Qual durch das Verursachen der fremden zu erleihtern sucht. Äber
auf diesem Wege entwickelt er sich allmählih zur eigentlihen Bosheit und
Grausamkeit...
Während sih Nietzsche bejahend zur Grausamkeitslust
stell, wenn er sie auch persönlih fast restlos verdrängt und
sublimiert hat, reagiert Schopenhauer, der in seiner Ethik das
Mitleid als menschliche Regung katexochen preist, mit einer Ab-
wehr, deren Ausdruck eben diese Ethik ist:
Nichts empört so im tiefsten Grunde unser moralishes Gefühl wie
Grausamkeit. Jedes andere Verbrechen können wir verzeihen, nur Grausamkeit
nicht. Der Grund hievon ist, daß Grausamkeit gerade das Gegenteil des Mit-
leids ist.«
Ist er auh an die Darstellung seiner Ethik erst relativ spät
und auf einen äußeren Anlaß hin gegangen, so hören wir doc viel-
leiht seine tiefsten Gemütstöne hier erklingen, wie er auch die Ethik
zum Schlußstein seiner ganzen Philosophie gemacht hat. Es zeigt
wieder reht von den Gegensätzen, die in der menschlichen Seele
herrshen, wo ja Reaktionsbildungen so vielfah die Wurzeln der
Charaktereigenscaften darstellen, daß gerade Schopenhauer, dieser
rauhe, unerbittlihe, neidishe und rachsühtige Mensch, der fast alle
anderen Menschen so grundverschieden und tief unter sih distanziert
empfand, daß gerade dieser griesgrämige, vereinsamte und eigen=
sühtige Räsoneur — die Mitleidsmoral, die er freilih bei den
Indern vorfand, zu der seinen machte! Er empfindet in sich gleich
sam als Hemmungsmittel gegen die bösen Instinkte, ohne nach der
Herkunft zu fragen, als ethisches Urphänomen die Mitleidsregung.
142 Dr. Eduard Hitshmann
Es ist nah ihm eine unmittelbare, sih als solhe von selbst an-=
kündigende, instinktartig wirkende Triebfeder. Auch das die Vor-
aussetzung des Mitleids bildende Durhshauen der Wesenseinheit
alles Lebenden, welches die indische Philosophie als »tat twam asi«
ausspricht, ist eine unmittelbar, ohne Schluß und logische Reflexion
vor sich gehende intuitive Erkenntnis. Wir sehen hier Schopen-
hauers Mangel an Bedürfnis nah einer Genealogie der Moral, im
Gegensatz zu dem tiefshürfenden Trieb nach Aufklärung der letzten
Wurzeln moralisher Wertung bei seinem Antipoden Nietzsche.
Seltsam mutet es an, den jugendlihen Nietzsche als dankbar ver-
ehrenden Schüler Schopenhauers auftreten zu sehen (in der be=
geisterten Jugendschrift »Schopenhauer als Erzieher«)!. Aber Nietz=-
sche wird auh darin das Gegenspiel Schopenhauers, daß er
sih immer wieder selbsterkennend zu überwinden sucht, während
Schopenhauer ein für allemal bei seiner Konzeption des Welt-
bildes starr verharrte. So brachte die Selbstanalyse Nietzsche weit
über seinen Lehrer hinaus, gegen den er namentlich in der »Genea=
logie der Moral« nicht genug polemisieren kann. Für eines aber
bieten diese beiden in Leben und Lehre so gegensätzlichen Persönlich-
keiten die pradhtvollsten Beispiele: Die Moral eines jeden von ihnen
erscheint als direkter Gegensatz ihrer Persönlihkeit und Lebens-
führung. So sagt Simmel von Nietzsche: »Es ist oft hervorgehoben
worden, daß die Lehre Nietzsches den Gegensatz seiner Persön-
lihkeit bildete: dieser rauhe, kriegerishe und dann wieder bachantisch
weittönende Ruf quoll aus einer höchst sensitiven, still in sih ge=
kehrten, liebenswürdig milden Natur.« Und von Schopenhauer
sagt Paulsen, man könne seine Moral bezeichnen als seinen cata=
logus desideratorum.
Sowohl Volkelt wie Simmel heben hervor, daß Schopen-
hauer dort, wo er die Mitleidsmoral darstellt, niht jene echten,
tiefen, auf Selbsterlebnis beruhenden schwärmerishen Gefühle
äußere, wie in seiner Darstellung des »reinen willenlosen Erkennens«,.
Sie wollen daraus schließen, daß diese Mitleidsmoral konstruiert sei.
Wir hingegen versuchen dieselbe aus der aggressiv=-heftigen Anlage
Schopenhauers und deren Verdrängung durh Reaktionsbildung
unbewußt entstandenes, also psycdologish wahrhaftes und auf-
richtiges Resultat abzuleiten. Denjenigen, die an einer solhen Zu=
rückführung Anstoß nehmen, seien Nietzsches ironische Worte
entge Are
»Wie könnte etwas aus seinem Gegensatz entstehen? Z. B.
die Wahrheit aus dem Irrtume? Oder der Wille zur Wahrheit aus
dem Willen zur Täushung? Oder die selbstlose Handlung
aus dem Eigennutze? Oder das reine, sonnenhafte Schauen
des Weisen aus der Begehrlichkeit? Solcderlei Entstehung ist
unmöglih,; wer davon träumt, ein Narr, ja Schlimmeres,; die Dinge
{ Außer Schopenhauer (und Nietzsche in seiner Jugendperiode) hat
kein Philosoph dem Mitleid als solhem moralishen Wert zuerkannt (A. Riehl).
Schopenhauer 143
höchsten Wertes müssen einen anderen eigenen Ursprung haben
— aus dieser vergänglihen, verführerishen, täuschenden, geringen
Welt, aus diesem Wirrsal von Wahn und Begierde sind sie unab-
leitbar! Vielmehr im Schoße des Seins, im Unvergänglihen, im
verborgenen Gotte, im ‚Ding an sih‘ — da muß ihr Grund liegen
und sonst nirgendswo.«
Wir sind überdies gewohnt, wo wir der Verschränkung von
Agsressionstendenzen mit einer sexuellen Komponente (Sadismus)
und deren Verdrängung begegnen, auh gegen die eigene Person
gerihtete Grausamkeit, d. h. masodistishe Einstellung, zu finden,
wie sie shon Nietzsche in der verweicdlichenden Mitleidsmoral
erkannt hat.
Ist die Ausschaltung aller gewalttätigen und egoistishen Motive
nah Schopenhauer das Kriterium einer Handlung von moralischem
Wert, so begnügt er sih doh nicht mit dieser Stufe der Voll»
kommenheit. Es scheint, daß er schon sehr früh, jedenfalls aber als
Jüngling, ein höheres ethisches Ideal vor sih sah: »er hatte den Hei-
ligen als Richter des Daseins gesehen« (Nietzsche): Bevorzugte
Menschen, hellblikende Geister erreihen in seltenen Fällen, eigent-
lih nur durh Gnade, diese Vision der Sehnsucht. Sie töten ihren
Willen ab und gehen über die Gerechtigkeit hinaus zu strenger
Askese. Der erste Schritt ist geschlechtlihe Enthaltsamkeit, dann folgen
freiwillige Armut, Vergebung der Beleidigungen, Nahrungsenthaltung,
Kasteiungen und Sterben als Sühne. Dies ist das masodistisch-mysti-
sche Bild, das Schopenhauer vom Heiligen entwirft: es läßt den
Heiligen der cristlihen Religion weit hinter sih. Ganz besonders
bewundert Schopenhauer jene plötzlihen radikalen Bekehrungen,
für die ihm Buddha ein Vorbild war und mit rührend schönen
Worten hat er diese Mythe dem Carl Bähr erzählt (April 1856).
Aud hier sehen wir, wie Schopenhauer sich den mystischen
Anschauungen der Inder nähert: die Heiligen gehen ins Nirwana ein,
welches wieder nur ein Ausdruck der Wünsche und der Sehnsucht
ist, die wir als die Motive aller Paradiesesshilderungen kennen.
Dieses ganze Ideal des Heiligen, des Verzichtens, des sih Annäherns
an Fakir- und Büßertum, müssen wir als Ausdruck schmerzfreudiger
Phantasien ansehen, wie ja der Masohismus mit dem Sadismus eng
verknüpft ist. Nur aus großen Schuldgefühlen können diese Selbst-
bestrafungstendenzen ihre Intensität beziehen, und aus diesen
Sculdgefühlen entspringt das Erlösungsbedürfnis!. Von sich selbst
hat Schopenhauer gesagt, er sei in seinem siebzehnten Lebens-
jahr plötzlih vom Jammer des Lebens so ergriffen worden, wie
———————
i »Es ist der Kunstgriff der Religionen und Metaphysiken, welhe den
Menschen als böse und sündhaft von Natur wollen, ihm die Natur zu verdäcdtigen
und ‚so ihn selber shleht zu machen: denn so lernt er sih als shleht empfinden,
da er das Kleid der Natur nicht ausziehen kann. Allmählih fühlt er sih.... von
einer solchen Last von Sünden bedrückt, daß übernatürlihe Mächte nötig werden,
um diese Last heben zu können: und damit ist das Erlösungsbedürfnis auf
den Schauplatz getreten.« (Nietzsche, »Menscdi. Allzumensdl.«)
144 Dr. Eduard Hitschmann
Buddha in seiner Jugend. Es muß als hoch bedeutsam für die
dieser Wandlung zugrunde liegenden Schuldgefühle und Erlösungs-
tendenzen hervorgehoben werden, daß sie gerade nach dem Tode
des Vaters sich verstärkten! Deutlih läßt sih die Freude am
eigenen Leiden in der ganzen pessimistishen Darstellung und
Auffassung des Lebens erkennen, da ja »am Mißraten, Ver-
kümmern, am Schmerz, am Unfall, am Häßlihen, an der willkür-
lihen Einbuße, an der Entselbstung, Selbstgeißelung, Selbstopferung
ein Wohlgefallen empfunden und gesucht wird. Dies ist alles im
höchsten Grade paradox: wir stehen hier vor einer Zwiespältigkeit,
die sich selbst zwiespältig will, welche sih selbst in diesem Leiden
genießt« (Nietzsche: »Was bedeuten asketische Ideale?«). Be-
sonders klar drückt dies auh Simmel aus: »Das Schwelgen in den
eigenen Schmerzen, das wollüstige sih verbohren in jeden Kummer,
die Sucht, von seinem Mißgeshehen auch vor sich selbst viel ‚her
zu madhen’ — dies äußert sih durdhgehends in den Formen mit
dem Hintergrund oder dem Vordergrund einer pessimistishen Auf-
fassung der ganzen Welts.
3, Pessimismus,
Die Popularität seiner Philosophie verdankt Schopenhauer
vornehmlich der pessimistishen Weltanshauung. Kaum jemand vor-
her gab seinem Leiden an der Welt, seiner Enttäushung an den
Menschen, an der Liebe, an Wert und Inhalt des Lebens, an der
Entwiclungsfähigkeit der Menschheit und des Individuums in so
prägnanter Weise Ausdruk. Das wictigste der Argumente, mit
denen Schopenhauer immer wieder die Mißgefühle, die ihm die
Welt erregt, zu rationalisieren sucht, ist der bereits in diesem Sinne
erwähnte blinde, vernunftlose, ziellose Wille, der niemals voll zu
befriedigen ist und keinen Ruhepunkt kennt. Vielleicht mehr nod als
dieses methaphysishe Prinzip ist es der empirishe Eindruck der
Betrahtung der Welt und der Menschen, die Unverbesserlihkeit
der Menschheit in jeder Hinsiht: Es sei viel mehr Unlust als Lust
im Leben, welches Unverstand, Bosheit und Zufall regieren, die
Gesclectsliebe sei eine Prellerei, im letzten Grunde ekelhaft, die
Menschen voil Versteflung und Heucelei, alles Wirklihe nur ein
Schein, Trugbild, Gehirnphänomen, die Zeit von einer trostlosen
Flüdtigkeit, ein Phantom, mehr sei niht zu erstreben als Schmerz-
losigkeit, nur in der Geistigkeit, der Abwendung vom Leben, sei
Beruhigung als eine Art von Glük zu finden. Selbst von den
Kindern, die durh ihre Harmlosigkeit mit allem zu versöhnen ver-
mögen, sagt Schopenhauer:
»Kinder sind wie unschuldige Delinquenten, die zwar nicht zum Tode,
hingegen zum Leben verurteilt sind, jedoh den Inhalt des Urteils noch nicht
vernommen haben.«
»Wir gleichen den Lämmern, die auf der Wiese spielen, während der
Metzger schon eines und das andere von ihnen mit den Augen auswählt: Denn
Schopenhauer 145
”
wir wissen nicht, in unseren guten Tagen, welches Unheil eben das Schicksal uns
bereitet — Krankheit, Verfolgung, Verarmung, Verstümmelung, Erblindung,
Wahnsinn, Tod.,.«
Und seinen Bindruk von den Menschen schildert er wieder-
holt in folgender Weise:
»Wer geistige und leiblihe Schönheit kennt, dem gibt der Anblik und
die Bekanntschaft eines jeden neuen sogenannten Menschen in hundert‘ Fällen
gegen einen nichts, als ein ganz neues, wirklich originales, bisher noh nicht in
den Sinn gekommenes Beispiel eines Compositi von Häßlickeit, Plattheit, Ge=
meinheit, Verkehrtheit, Dummheit, Bosheit, mit einem Worte, Widerlichkeit und
Absceulickeit.«
Das Leben erscheint ihm »als ein beständiger Kampf um diese Existenz
selbst, mit der Gewißheit, ihn zuletzt zu verlieren. Ist nun aber die Not weit
zurükgedrängt und ihr ein Stück Feldes abgewonnen, so tritt sogleih furdhtbare
Leere und Langeweile ein, gegen welhe der Kampf fast noch quälender ist«
(N. P, & 320).
Er findet daher, »daß es ungleich wahrer ist zu sagen: Der Teufel hat
die Welt geschaffen, als: Gott hat die Welt geschaffen.« (N. P., $ 316).
Für den a Wa solch krass=pessimistisher Urteile aus Miß-
stimmung spriht folgende Stelle, die volle Selbsterkenntnis verrät:
»Es kann hiemit soweit kommen, daß vielleicht manchem, zumal in Äugen-
bliken hypochondrisher Verstimmung, die Welt, von der ästhetischen Seite
betrachtet als ein Karikaturenkabinett, von der intellektuellen als ein Narrenhaus
und von der moralischen als eine Gaunerherberge erscheint. Wird solhe Ver-
stimmung bleibend, so entsteht Misanthropie,.« (Preisshrift über die Grund-
lage der Moral.)
Nirgends läßt sih die strenge Subjektivität der Welt-
anshauungen deutlicher erkennen, als in der Stellung, die der ein-
zelne der Welt gegenüber als Optimist oder Pessimist einnimmt.
- Es zeigt sih da, daß der Pessimismus gar keine Weltanschauung,
sondern eine Stimmung, oder um es gleich mit dem richtigen Namen zu
sagen, — Verstimmung ist. So fragt Gwinner, der ja Schopen-
hauer persönlich gekannt, in seiner Grabrede auf Schopenhauer
mit einem psycdologish tiefen Vergleih: »Lief er nicht beleidigt,
wie ein Kind, das sich im Spiel erzürnt, durh sein ganzes Leben
dahin — einsam und unverstanden, nur sich selbst getreu?«s — In
frühen Jahren, wo der in einem wohlhabenden Patrizierhause auf-
wachsende Knabe noch keine Bekanntschaft mit dem rauhen Leben
Be haben konnte, hat er, wie seine Mutter sagt, »schon als
nabe über das Elend der Menschheit gebrütets. (Gwinner, p. 22.)
Vielleicht mit mehr innerer Berehtigung durfte er, seine persönliche
Mißstimmung als Jüngling empfindend, später sagen:
»In meinem siebzehnten Jahre, ohne alle gelehrte Shulbildung, wurde ih vom
Jammer des Lebens so ergriffen, wie Buddha in seiner Jugend, als er Krankheit,
Alter, Schmerz und Tod erblikte. Die Wahrheit, welche laut und deutlih aus
der Welt sprah, überwand bald die auh mir eingeprägten Jüdischen Dogmen
und mein Resultat war, daß diese Welt kein Werk eines allgütigen Wesens
Imago II/2 10
146 Dr. Eduard Hitschmann
sein könnte, wohl aber das eines Teufels, der Geschöpfe ins Dasein gerufen,
um am ÄAnblik ihrer Qual sih zu weiden: Darauf deuteten die Data und der
Glaube, daß es so sei, gewann die Oberhand.« (N. P. $ 6506.)
Als charakteristisch sei ferner noch eine Stelle hier angeführt, die
um so mehr beweist, wenn man die Tatsache heranzieht, daß auch
der melandholish Kranke morgens die größte, abends die geringste
Verstimmung zeigt. Die analoge, von Schopenhauer gesdilderte
Erscheinung kennen wir übrigens auch bei neurotishen und ver=-
stimmten Menschen als Fluht aus der unbefriedigenden und peinlich
empfundenen Realität in den Schlafzustand, den diese Menschen
gelegentlih über Gebühr auszudehnen suchen. Schopenhauer
formuliert diese zweifelsohne persönlihe Erfahrung so:
»Was man auch sagen mag, der glücklichste Augenblik des Glüclichen
ist doch der seines Einschlafens, wie der unglüklihste des Unglüklihen der
seines Erwadhens.« (W. W. II.)
Allen Schopenhauer-Forshern mußte die Frühzeitigkeit seines
Lebensernstes und seiner Verstimmung auffallen. Möbius behauptet
sogar, daß Schopenhauer »von Anfang an krankhaft« gewesen
sei und meint, daß es schon auf Krankheit hindeute, »daß in der
Jugend die Frage nah dem Werte des Lebens gestellt wird«.
Treffend sagt Möbius: »Nict die Erkenntnis der Übel in der Welt
hat ihn dazu (zum Philosophen des Pessimismus) gemacht, sondern
er hat die Übel aufgesuht und gescildert, weil er Belege für
seine lebensfeindlihe Stimmung brauhte.« — »Schopenhauer
suhte nah Erklärungen für sein Wehgefühl, für seine Lebensangst
und er fand seinen Pessimismus«, der das älteste Stück seiner Phil,
sophie darstellt. Nah Möbius wird also das angeborene Gefühl
der Dyskolie später durh die Lehre gerechtfertigt. Wir werden
weiterhin ausführen, daß die eigenartige Stimmungslage Schopen-
hauers nicht so sehr als angeboren, vielmehr als eine früh erwor=
bene, zumindest aber durh frühe Eindrüke krankhaft verstärkte
aufzufassen ist.
Ferner sei — indem wir uns hier gestatten von der Öber-
fläche des Psychologishen auszugehen — daran erinnert, daß die von
Schopenhauers Mutter so rücsichtslos geschilderten abstoßenden
Charaktereigenshaften ihres Sohnes, wie sein hochfahrendes und
reizbaress Wesen, sein Bigendünkel, seine Gehässigkeit und Un-
freundlihkeit, sein ewiges Besserwissenwollen, vielfah im Leben
Anstoß erregen und dadurh wieder zu einer Steigerung seiner
Mißstimmung führen mußten. So mußte er sich in seiner Bitelkeit
=
! Vgl. auh Hebbel (Tagebücher): »Sehr schön sagte meine liebe Frau
gestern Abend, als wir zu Bette gingen: in der Jugend steht man fröhlich auf,
im Alter legt man sich fröhlich nieder.«
® Es gibt Familien, ja ganze Generationenreihen, die düsterer Stimmung
sind; vom Vater her mag das Elternhaus Schopenhauers jenen von Ibsen
oft geschildertem Mangel an Lebensfreude aufgewiesen haben.
Schopenhauer 147
und Empfindlihkeit um so mehr verletzt und herabgesetzt fühlen,
als er in seinen maßlosen Ansprühen an die Menschen überhaupt
nie zu befriedigen gewesen wäre. Tatsählih wird auh shon von
seinen gesellschaftlihen Mißerfolgen berichtet, insbesondere den jungen
Mädchen gegenüber,- die den mürrishen und abseits stehenden,
jugendlichen Philosophen beläcdelten, der sie gewiß auch nicht ver=
shonte und sie seine geistige Überlegenheit fühlen ließ, Schopen=
hauer tröstet sich über diese Mißerfolge in der ihm geläufigen und
sein ganzes Denken beherrschenden Manier durch Vergrößerung seiner
Distanz zu den Menschen:
»In meiner Jugend machte die Vernachlässigung, die ih in der Gesell-
schaft erfuhr und der Vorzug, den man den Alltäglihen, Platten, Dürftigen vor
mir gab, mih an mir selbst irre: bis ih, 26 Jahre alt, den Helvetius las und
nun begriff, daß die Homogeneität jene vereinigte und die Heterogeneität
mich ausshied .... « (N. P. $ 661.)
Allzu leicht stieß er in allen Lebenslagen bei seinen Neben-
menschen an und räcdte sich dafür, indem er ihnen Bosheit und
Lieblosigkeit vorwarf. Ambivalent in seinen Gefühlen, war er einer
reinen Liebe nicht fähig, sondern sie mischte sih ihm allzu leicht
mit Haß. So blieb ihm kein Ausweg als die Vereinsamung, In
diesem Sinne sagt Paulsen: »Er sah, daß er mit den Menschen
nicht leben könne, weder im Guten, dazu war er zu hocdfahrend
und reizbar, noch im Bösen, dazu fehlte es ihm an kaltblütiger
Überlegenheit, so entschloß er sih, ohne Menschen zu leben.«
In nicht für die Veröffentlihung bestimmten Aufzeichnungen
(eis &avrov) hat Schopenhauer das ershütternde Bekenntnis
gebudt: |
»Mein ganzes Leben hindurh habe ich mich schrecklich einsam
gefühlt und stets aufs tiefste geseufzt: ‚Jetzt gib mir einen Menschen!‘ Ver-
gebens! Ih bin einsam geblieben! Aber ich kann aufrihtig sagen, es hat nicht
an mir gelegen, ich habe keinen von mir gestoßen, keinen geflohen, der an
Geist und Herz ein Mensch gewesen wäre; nichts als elende Wichte von
beshränktem Kopf, schlehtem Herzen, niedrigem Sinn habe ich gefunden,
Goethe, Fernow, allenfalls F. A. Wolf und wenige andere ausgenommen,
die sämtlih 25 bis 40 Jahre älter als ih waren. Demnad hat allmählich der
Unwille über einzelne der ruhigen Verahtung des Ganzen Platz machen müssen.
Früh ist mir der Unterschied zwischen mir und den Menschen bewußt geworden.
Aber ich habe gedaht: Lerne nur erst hundert kennen und du wirst deinen
Mann schon finden, dann: Aber unter tausend wirst du’s; dann: Zuletzt
muß er doh kommen, wenn auch unter vielen Tausenden. Endlih bin ih zu
der Einsicht gelangt, daß die Natur noh unendlih karger ist und ih muß die
‚solitude of Kings‘ Byrons mit Würde und Geduld tragen.«
Vergleiht man mit diesen zu sich selbst gesprochenen Worten
die Äußerungen Schopenhauers für seine Leser, so st hier ein Ge=
ständnis der Sehnsuht nach Vertrauten nicht zu finden, sondern stolz
wird das Einsamkeitsbedürfnis als Zeihen der Größe und Tiefe
angeführt:
10*
148 Dr. Eduard Hitschmann
»Daß ein Mensch edlerer Art sei, zeigt sih zunähst daran, daß er kein
Wohlgefallen an den übrigen hat, sondern mehr und mehr die Einsamkeit ihrer
Gesellschaft vorzieht.«
»Die eigentlihen großen Geister horsten, wie die Adler, in der Höhe,
allein.«
»Er ist ungesellig,« sagt beinahe shon: »er ist ein Mann von großen
Eigenschaften.«
»Denn je mehr Einer an sich selber hat, desto weniger bedarf er von
außen und desto weniger können die Übrigen für ihn sein. Darum führt die
Eminenz der Geister zur Ungeselligkeit.«
Schopenhauers soziale Mißerfolge im Lehrberuf, bei Kol-
legen, in der Geselligkeit, bei den Frauen, erregten sekundär bei
ihm erst reht Groll (Ressentiment) und Überhebung, seine Miß-
erfolge bei den Menschen legt er dann gegen die Betreffenden aus
und war daher ein Menscenfeind, Feind jeder Geselligkeit und
namentlih der Philosophieprofessoren und der Frauen. Wir erkennen
in diesem Verhalten leiht den Mechanismus der Projektion, mittels
dessen eine subjektive Enttäushung umgewandelt wird in objektive
Entwertung. Selbstverständlih haben die Jahrzehnte vergeblichen
Wartens auf äußeren Erfolg mit der großen Enttäuschung seines
maßlosen Ehrgeizes Schopenhauer bis zu einem gewissen Grade
beredtigt, an dem Wohlwollen und der Gerechtigkeit der Menschen
zu zweifeln. Dafür mag auch sprehen, daß sein Älter, welches vom
Glanz des späten Erfolges, von Popularität und Ruhm noch ver-
klärt war, den Pessimismus und den Menschenhaß bedeutend ge-
mildert hat. Doc sind jene Mißerfolge zweifellos in weitem Aus-
maße durch sein Verhalten gegen die Menschen mitvershuldet und
eben darum ist ja seine Reaktion ein so charakteristischer, die eigene
Schuld überschreiender Rectfertigungsversud.
Wir wollen nun den Medhanismus des Ressentiments klar-
legen, welcher darin besteht, daß durch Enttäushung, Erfolglosig-
keit, Nichtanerkanntsein, durh das Gefühl der SI akräen.
heit etc. eine Art »seelisher Selbstvergiftung« (Scheler‘) Platz
greift, indem der herabgesetzte und enttäuschte Mensch seine Racıe-
gefühle und -Impulse, Haß, Zorn, Neid, anstatt sie abzureagieren,
ins Ünbewußte verdrängt, vermutlich weil auch sonst seine heftigen
Triebregungen im Leben gebrochen wurden, es setzt nämlich ein
Ohnmadhtsgefühl voraus, daß man sich nicht anders rächen und ent=
schädigen kann, es gehört dazu das dunkle Gefühl, daß man selbst
unvollkommen ist. Alle jene Ziele, Kräfte und Tugenden, die uns
unerreihbar sind, beginnen wir dann herabzusetzen und minder
zu werten, Es tritt eine Wertefälshung ein, die Unlust über das
Entbehrenmüssen und Nidtbesitzenkönnen wird dadurch erleichtert
(»die Trauben sind dem Fuchse zu sauer«). Dies führt zu einer
Verfälshung des Weltbildes; aber nicht nur die Aussage über das
ı Max Scheler, Über Ressentiment und moralishe Werturteile (Zeitschr.
f. Pathopsychologie, I. Bd., 1912, Heft 2/3).
Schopenhauer | 149
Weltbild wird verändert, »das wäre noh bewußte Fälschung,
sondern allmählih wird das Urteil selbst ein anderes, d. h. audh
das Unbewußte übernimmt die neue Wertung.
Den gleihen Mechanismus haben wir bereits bei der Redt-
fertigung der subjektiv-pessimistishen Verstimmung aus der
Scledtigkeit und Verwerflichkeit der Welt, wirksam gesehen und
dürfen auf Grund zahlreiher Erfahrungen auf anderen Gebieten
geistigen Schaffens schließen, daß ein großes Stück der Systembildung
in nihts anderem als in derartigen unbewußten Projektionen besteht.
Die Flüchtigkeit der Zeit dient unserem Philosophen gleich-
falls zur Begründung seiner traurigen Lebensanshauung: jeder Augen=
blik ist nur insofern da, als er den vorhergehenden, seinen Vater,
vertilgt hat und selbst wieder ebenso schnell vertilgt wird. Die
Gegenwart ist nichts als Dauerlosigkeit, nichts als Dahinschwinden.
So offenbart sich in der Zeit die Vergänglihkeit und die Nictig-
keit aller Dinge. »Was im nächsten Augenblick nicht mehr ist, was
sogleih verschwindet wie ein Traum, ist nimmermehr eines ernsten
Strebens wert.« (Schopenhauer.)
Die Flüctigkeit der Zeit hat niemand so schwer empfunden,
als Schopenhauer, sie läßt bei ihm kein Glücksgefühl auf-
kommen:
»In einer solhen Welt, wo keine Stabilität irgendeiner Art, kein
dauernder Zustand möglih, sondern alles in rastlosem Wirbel und Wechsel
begriffen ist, alles eilt, fliegt, sih auf dem Seile, durch stetes Schreiten und Be=
wegen, aufrecht erhält, läßt Glückseligkeit sich nicht einmal denken.« (P. P. II.)
»Die Zeit ist die Form, mittels derer jene Nichtigkeit der Dinge als
Vergänglichkeit derselben erscheint, indem, vermöge dieser, alle unsere Genüsse
und Freuden unter unseren Händen zu Nichts werden und wir nachher ver=
wundert fragen, wo sie geblieben seien.« (W. W. II)
»Ihr klagt über die Fluht der Zeit: sie würde niht so unaufhaltsam
fliehen, wenn irgendetwas, das in ihr ist, des Verweilens wert wäre. (N.P. $ 305.)
Aud fand sih in Schopenhauers Papieren eine Übersetzung
des Miltonshen Gedidhtes an die Zeit, das der Sehnsuht nad
Erlösung von Zufall, Tod und Zeit Ausdruck gibt. (N, P, p. 365).
In auffälligem Gegensatz zu jener hartnäckigen Betonung der
Flüctigkeit der Zeit steht des Philosophen immer wieder ange-
stimmte Klage über die Unerträglihkeit der Langweile, welche
die schmerzlosen Momente des Lebens ausfülle. Auch diesen
Zug mödten wir aus der Verstimmung ableiten, da nur der Ver-
stimmte oder vom Leben shwer Enttäuschte, der Vereinsamte und
niht Liebende so schmerzlih über Langweile, d. h. über das Miß-
empfinden der ungenützten Zeit klagen kann. Daß diese Empfindung
namentlich bei genialen und scaffenden Menschen, die nur ihrem
Werke leben, durh die Zeiten des Stillstandes der Produktion, also
die Empfindung einer inneren Leere, gefördert und gesteigert wird,
vi uns Freilich häufig die Selbstbekenntnisse großer produktiver
änner.
150 Dr. Eduard Hitshmann
Schopenhauer hebt immer wieder hervor, daß seine Philo-
sophie durh Anschauung der Welt gewonnen sei. Und so imponierte
seiner Betrahtung, neben der Flüdtigkeit der Zeit, das Traum-
hafte alles Irdishen, das Unwirklihe des Lebens so intensiv, daß
ihm dieses Gefühl den zweiten Grundpfeiler seines philosophischen
Systems zwingend entgegenbrahte: Die Welt ist nur unsere Vor-
stellung. Knüpfte er selbstverständlih damit an Plato, Kant und
die Inder eklektish an, so kann man überall aus seinen Werken
nachweisen, daß tiefstes inneres Erleben ihm zu seiner genialen
Begründung des Phänomenalismus Stoff und Affekt gegeben hat.
Der Kantsche Vorstellungsidealismus gleitet, wie Volkelt
treffend sagt, bei Schopenhauer unwillkürlic in indischen Traum-
idealismus hinüber, es ist ihm vollkommen ernst damit: indem die
Welt Vorstellung ist, hat sie damit auch niht mehr Existenzwahr-
heit als ein Traum. An zahlreichen Stellen seiner Werke verkündet
er bald mehr die Verwandtschaft, bald mehr die Wesenseinheit von
Welt (Realität) und Traum.
»Meine Phantasie spielt oft (besonders bei Musik) mit dem Gedanken,
aller Menschen Leben und mein eigenes seien nur Träume eines ewigen Geistes,
böse und gute Träume, und jeder Tod ein Erwaden.« (N. P. $ 275.)
»Das Leben ist eine Nacht, die ein langer Traum füllt, der oft zum
drückenden Alp wird.« (N. P. $ 273.)
Besonders folgt er hierin der Anschauung der Vedänta-Philo-
sophie, ihrer Lehre von der Maja und dem Schleier, der »die
Augen der Sterblihen umhüllt und sie eine Welt sehen läßt, von
der man weder sagen kann, daß sie sei, nodh aud, daß sie nicht
seis. Schopenhauer will damit, wie es weiter in den Aus-
führungen Volkelts heißt, das ganz und gar Nidtige, Bestand-
lose, dem Nictsein Ähnliche, zugleih das Sinnlose und Bange der
Erscheinungswelt zum Ausdruk bringen. Es ist sonah klar, daß
für Schopenhauer die Welt, indem sie bloße Vorstellung ist, zu=
gleih ein in seinem metaphysishen Werte herabgesetztes Sein be=
deutet. Die erkenntnistheoretishe Würdigung der gegenständlichen
Welt ist ihm unmittelbar zugleih ein metaphysishes, und zwar
pessimistisch-metaphysishes Werturteil. Bedenkt man, daß gerade
Schopenhauer das heftig Brutale des Lebenswillens schmerzlichst
empfunden hat, so liegt es nahe, hinter dieser Verflühtigungs=
tendenz des Irdishen den sehnsühtigen Wunsh nah Erlösung
davon zu suchen. Es sei dabei als höchst bedeutsam hervorgehoben,
daß wir diese Empfindung der Welt als Traum und Schein, als
ein befremdendes Gefühl typish von den melandolishen Patienten
angegeben hören, es scheint auh dort dem aus der Verstimmung
stammenden Wunsch nach Erlösung von der unerträglichen
Wirklichkeit des Daseins zu entspringen.
So heißt es audh bei Paulsen; Wie überall, so ist auh bei
Schopenhauer der theoretische Idealismus bedingt durh einen
Idealismus praktisher Art, das Ungenügen der Wirklichkeit, wie sie
Schopenhauer 151
ist, führt zur Bildung der Idee einer vollkommenen Welt. Und
diese drückt dann das empfindliche Dasein herab zuerst zur Unwertheit,
sodann zur Unwirklihkeit: eine Welt, die nicht zu sein verdient,
ist niht die wirklihe Welt.«
Als weitere Wurzel seines Pessimismus müssen wir die Schopen-=
hauers ganzes Leben verbitternde Angst hervorheben, die ihn dazu
führt, immer und überall Unheil zu erwarten und zu wittern: Die
Furcht vor allen Übeln und besonders vor dem Erzübel, dem Tod,
beshatte das ganze Leben, zu dessen sorglos heiterem Genuß der
Mensh daher kaum komme. Zum Trost für diesen unerträglichen
Gedanken des persönlihen Todes dient dem Philosophen, wie der
todesfürhtigen Menschheit überhaupt, die Phantasie eines ewigen
Lebens, bei ihm in der Form eines ewigen unzerstörbaren Willens,
der sich zeitweilig im Einzelnen durch das principium individuationis
objektiviert.
»Wir würden vielleiht, beim Anblik dieses Ablaufens unserer kurzen
Zeitpause rasend werden, wenn niht im tiefsten Grunde unseres Wesens ein
heimlihes Bewußtsein läge, daß uns der nie zu ershöpfende Born der Ewigkeit
gehört« (P. P. ID.
Fragen wir uns aber weiter nah dem Ursprung solcher ver-
stimmender Angstgefühle, die Schopenhauer schon seit der Kind-
heit begleiteten, so kommen wir, wie erwähnt, auf den Trieb, bei
Schopenhauer auf einen überstarken und vermutlich sadistisch ge-
färbten Sexualtrieb und dessen Unterdrückung: Die Angst entspräche
einer mißglückten Verdrängung von Lust und Wut. Die Zusammen-
hänge zwischen Sadomasodhismus und Pessimismus sind aber nodı viel
weitere. Die Lust am fremden und die Lust am eigenen Leide ver-
shlingen sih noch in ihren Erstrekungen in die Bbhraktioh hinein,
gerade in der Erscheinung des Pessimismus selbst, wie Simmel meint:
»Eine sublime Grausamkeitslust liegt in der Zerstörung, mit
der er sonst anerkannte Werte trifft, in der Leidenschaft, mit
der er sonst unbewußt oder unberechnet gebliebene Leiden ins
Bewußtsein hebt, in der Abschätzung unseres Seins, das nichts
Besseres als dieses Leben und diese Welt verdiente. Aber die all-
gemeine pessimistishe Anschauung ist keineswegs nur mit subjek-
tivem Leide, sondern oft mit einem gewissen Genuß gerade an
diesem verknüpft.«
Diese Zusammenhänge, die auh Nietzsche in meisterhafter
Form in »Jenseits von Gut und Böse« aufgedeckt hat, rühren mit
ihrer Zurükführung auf die Triebwurzeln an unsere psychoana-
Iytishe Auffassung.
Was bisher über den Pessimismus ausgeführt wurde, gibt nicht
die letzten, eigentlih im Infantilen wurzelnden Ursprünge der Ver-
stimmung und damit des Pessimismus. Auf die Bedeutung konsti-
tutioneller, ererbter Momente wie Triebanlage und Stimmungs-
neigung, sowie auf die Möglichkeit irgendeines realen Defektes in
Schopenhauers Sexualität, vielleicht einer allzuleihten Anspreh-
152 Dr. Eduard Hitschmann
barkeit, haben wir schon hingewiesen. Die vielleiht entscheidendste
Ursadhe einer bleibenden Charakter- oder Wesensform sind wir aber
nah Freud gewohnt, in psychosexuellen Momenten der frühesten
Kindheit aufzudecken, und audh hierin stoßen wir bei Schopen-
hauer auf reiches Material zur Begründung einer pessimistischen
Weltanschauung.
Das Familienbild, welhes der erste verständnisvolle Blick des
Knaben traf, zeigte ihm eine jugendliche, heitere, zärtlihe Mutter.
Dafür sprehen die Bemerkungen Gwinners, daß die Mutter »am
age wie in der Nacht kaum einen anderen Gedanken« als ihren
Arthur hatte, von dem sie »wie alle jungen Mütter, fest überzeugt
war, daß kein schöneres, frömmeres und klügeres Kind auf Gottes
Erdboden lebes. Die Zärtlichkeit der Mutter pflegt sih gerade dann
in übertriebener Weise dem erstgeborenen Knaben zuzuwenden,
wenn die Ehe, wie es ja hier der Fall war, Enttäushungen gebracht
hatte. Dann aber mögen dem kleinen Knaben des Vaters Strenge,
sein strafender Ernst und seine hohen Anforderungen in unlieb-
samer Erinnerung geblieben sein. Wenn man den heftigen Charakter
des Vaters, der übrigens schon seine Vorfahren auszeichnete, seine
gelegentlich exzedierende Rauheit in Betracht zieht, so wird man es
verstehen können, daß Schopenhauer, trotzdem er später so sehr
vom Vater dankbar shwärmt, unter dessen Jähzorn, Pedanterie und
Strenge ursprünglih schwer gelitten hat. Er selbst sagt darüber mit
charakteristishem Hinweis auf seinen Pessimismus:
»Ich war als Jüngling immer sehr melandholish und einmal — ih mochte
18 Jahre alt sein — dadte ih, nod so jung, bei mir: Diese Welt soll ein
Gott gemadht haben? Nein! Eher ein Teufel! Ih hatte freilih schon viel in der
Erziehung, durch die Härte meines Vaters, zu leiden gehabt.« (Frauenstädt,
Memorabilia.)
Diese Stelle ist eines der wichtigsten Dokumente dafür, daß der
früheste Pessimismus, schon des Knaben, auh aus dem düsteren,
heftigen und niederdrükenden Wesen des Vaters abzuleiten ist.
Entstammt so die vielleicht bedeutendste und früheste Wurzel seines
Pessimismus aus dem Verhältnis zum Vater, der ihm im Sinne seiner
eigenen feindseligen Einstellung (Ödipuskomplex) um so böser und
ungerehter erscheinen mußte, so geht die zweite entscheidende
Wurzel seiner so düster gebliebenen Welt- und Menschenbeur-
teilung, wie man der Bedeutung des ganzen Ödipuskomplexes ent=
sprehend erwarten darf, aus seiner eigenartigen Beziehung zur
Mutter hervor. Das Maßgebende in diesem Verhältnis ist das selt-
same Umsclagen der gegenseitigen Zärtlihkeit zwischen Mutter und
Sohn in eine Abneigung und Feindseligkeit, die sich im Laufe der
Jahre zu einem erbitterten Hasse steigerte.
In einer Stelle der Parerga (II, p. 659 verrät Schopenhauer
sein Wissen von dem Schwinden einer instinktiven Mutterliebe in
einer Ehe, in der die Gattin ihren Mann nicht lieben kann:
Schopenhauer 153
»Die ursprünglihe Mutterliebe ist wie bei den Tieren, so audh im
Menschen, rein instinktiv, hört daher mit der physischen Hilflosigkeit der
Kinder auf. Von da an soll an ihre Stelle eine auf Gewohnheit und Vernunft
begründete treten, die aber oft ausbleibt, zumal wenn die Mutter den Vater
nicht geliebt hat.«
Bedenken wir, daß der neunjährige Knabe anläßlih der An-
kunft eines Schwesterhens (geboren 1797) für zwei Jahre in die
Fremde gegeben wurde, so liegt es nahe anzunehmen, daß in ihm
eine Eifersuht auf diese ihn der Mutterliebe beraubende kleine
Konkurrentin erstand, wie wir ja bei Kinderbeobahtungen soldhen
Regungen bei der Ankunft jüngerer Geschwister so häufig begegnen.
Es ist wahrsceinlih, daß hier eine bedeutsame Wurzel der Ab-
wendung des Knaben von der Mutter und deren Entwertung ent-
springt. Dieser Umshwung ist ein auffälliges Gegenstük zu dem
re im Verhältnis zum Vater, der dem Sohne bei Lebzeiten
anfangs als böser, den kindlihen Neigungen und Wünschen ent=
an: Tyrann erschienen war, und dem er nah dem
ode, mit einer übertriebenen, wir sagen »reaktiven«, Liebe und
Verehrung huldigte?, die wir als Kompensation infantiler böser
Wünsche gegen den Vater erkannt haben. Solhe heimliche kindliche
Todeswünshe, wie sie sih im ersten Verdrängungsstadium be-
reits in der Angst des secsjährigen Knaben verrieten, (»seine
Eltern könnten von einem Spaziergange niht mehr zurück-
kehrens), lassen sih ihrer Tendenz und Intensität nah nicht
bloß aus der shwer empfundenen Strenge des Vaters erklären,
die sie gewiß unterstützt und bewußterweise rechtfertigt, sondern
scheinen auh aus unbewußten erotishen Quellen gespeist, welche
i So sehr die Schwester, über die hier einiges eingefügt sei, dem Bruder
mit Interesse, ja Liebe entgegenkam, dauernde Intimität, bis auf wiederholt
gewechselte und vertrautere Briefe, kam nicht zustande. Auch hier isolierte sich
Schopenhauer durh seine Ablehnung und Empfindlichkeit, ursprünglih muß
er ihr doch sehr zugetan gewesen sein, denn er schreibt ihr einmal, außer ihr
habe er nie eine Frau ohne Sinnlichkeit geliebt. Adele Schopenhauer war ein un-
schönes, ihrem Water ähnlihes Mädchen, von verschiedensten Begabungen, ge-
bildet und geistreih, von Goethe geschätzt. Unter der egoistishen Mutter litt
sie gleichfalls sehr, machte die unschönsten Familienszenen mit, bei denen sie
manchmal »die Lust empfand, sich aus dem Fenster zu stürzen, um dem Elend
zu entgehen«, Aud ihr Leben verlief glücklos, oft war sie melandolisch und resig-
niert, sie blieb trotz verschiedener Ansätze zur Liebe unverheiratet. Für den
Bruder zu sie viel Verständnis und eine tiefe Zuneigung, und in ihren inter-
essanten Tagebücdern heißt es einmal: »Eine Ahnung dessen, was ihm (ihrem
Bruder) Liebe geben könnte, was aus ihm zu machen gewesen wäre — ein Blick
ins Vergangene, ins Künftige zerstörte meine Heiterkeit, glühend tobten die Sehn-
sucht und der Schmerz in meiner Seele«.
: Vgl. dazu die warm empfundene »Dedikation« der zweiten Ausgabe seines
Hauptwerkes an die »Manen meines Vaters«, wo anscheinend den früheren eigenen
Berichten über die Härte des Vaters widersprochen wird:
»Edler, vortreffliher Geist! dem ich alles danke, was ih bin und was ich
leiste. Deine waltende Fürsorge hat mich beschirmt und getragen, nicht bloß durd
die hilflose Kindheit und unbedachtsame Jugend, sondern auch ins Mannesalter
und bis auf den heutigen Tag« etc.
154 Dr. Eduard Hitschmann
vornehmlich einer eifersühtigen Konkurrenz um die Liebe der Mutter
entspringen (Ödipuskomplex). Die Annahme, daß der kleine Schopen-
hauer schon frühzeitig vom Sexualverkehr zwischen den Eltern Erfah-
rung gewonnen haben mag, ist niht von der Hand zu weisen. Aus
Psychoanalysen von Kindern und Erwachsenen ist uns geläufig, daß der
Knabe — wie hier —, wenn er diese für ihn unerhörte und das reine
Bild seines Mutterideals beflekende Ernücterung erlebt, als typische
Reaktion eine aus gemishten Gefühlen gegen beide Elternteile zu-
sammengesetztes Verhalten an den Tag legt. Gegenüber der Mutter
tauchen ihm aus Neid und Racegefühlen verstärkte Phantasien von
deren Unreinheit, eventuell Verderbtheit auf (Dirnenphantasie), was
zunächst ein enttäuschtes Abwenden von diesem ursprünglichen Ideal
zur Folge hat. Entspriht im späteren Pubertätsleben, wo diese
Phantasien unter dem Drang der mädtig erwadhenden Objektliebe
ineu belebt werden, das Bild der Mutter dieser Knabenphantasie
von ihrer moralishen Verderbtheit auh nur vermutungsweise oder
in ganz geringem Grade, so erhält diese für ein gewisses Ent-
wiclungsstadium typishe, aber sonst bald von normaler Gefühls-
einstellung der Mutter und dem Weib gegenüber abgelöste pessi=
mistisch-verähtlihe Auffassung von ihrer Schlechtigkeit — eine
gewisse Fixierung. Dies trifft für Schopenhauers Mutter, welche
ja nah des Vaters vermutlihem Selbstmord (an dem der Sohn ihr
schuld gab) enge Beziehungen zu anderen Männern pflegte, doc
so weit zu, daß auh dem erwachsenen und lebenserfahrenen Sohn
Anhaltspunkte genug geboten waren, um seinen aus der Kindheit
rege gebliebenen Phantasien eine reale Begründung und anscdeinende
Beredtigung zu verleihen. Diese durch seine puerilen Erfahrungen
verstärkte Enttäushung an dem unvergeßlihen infantilen Liebes-
ideal der Mutter mußte bei Schopenhauer so tief und so nadh=
haltig wirken, weil dieses als Untreue gegen ihn selbst aufgefaßte Ver-
halten der Mutter, sowie überhaupt ihre ganze spätere lieblose und
feindselige Einstellung gegen den Jüngling, in so krassem Widerspruch
zu den allerersten intensiven Zärtlihkeiten stand. Während diese
Phantasien normalerweise bald verdrängt und irgendwie nah dem
Leben orientiert werden, wurde für Schopenhauer die an seiner
heimlich immer geliebten Mutter erlittene schwere Enttäushung zur
zweiten mächtigen Quelle seiner pessimistishen Lebensauffassung,
insbesondere des Weiberhasses und der Weiberverahtung. So leitet
er manche dem Weibe überhaupt geltende Herabsetzung direkt von
gewissen an seiner Mutter gemachten Erfahrungen ab, wenn er z. B.
gegen die Vershwendung er Weiber in allen Fällen eine männliche
Kuratel verlangt, weil er glaubte, seiner Mutter Vergeudung des
väterlihen Vermögens vorwerfen zu dürfen:
i Dafür scheint auch die kleine Erzählung zu sprehen, die Schopenhauer
dem K. Bähr anvertraute: Daß ihn eines nachts sein Vater beim verbotenen
Romanlesen überraschte, als er unversehens eintrat, um ins Zimmer der Mutter
zu gelangen. Es war »ein gegenseitiges Ertappen«, sagte Schopenhauer wörtlich.
Schopenhauer 155
»In den allermeisten Fällen wird ein solhes Weib, das vom Vater
der Kinder und mit stärkendem Hinblik auf sie, durch die Arbeit seines ganzen
Lebens Erworbene mit ihrem Buhlen verprassen, gleihviel ob sie heiratet
oder niht ... . Die wirkliche Mutter wird nah dem Tode des Mannes, oft zur
Stiefmutter .... Überhaupt aber wird eine Frau, die ihren Mann nidt geliebt
hat, audh ihre Kinder von ihm nicht lieben, nämlih nachdem die Zeit der
bloß instinktiven, daher nicht moralish ihr anzurechnenden Mutterliebe vorüber
ist.« (P. P. II, p. 268.)
Wir glauben so wahrsceinlih gemaht zu haben, daß die
frühesten und zutiefst reihenden Wurzeln des Pessimismus bei
Schopenhauer aus der eigenartigen Elternkonstellation entspringen,
die ihm zu Zeiten den Erzeuger als grausam und teuflish, die
Gebärerin als verworfen erscheinen ließ. Hierin ist wahrscheinlich
auh die Begründung für die so oft von Schopenhauer betonte
Verwerflichkeit des Geschlechtsaktes zu finden, den er als
die erste Schuld des Menshen und — in Anlehnung an das
Christentum — der Menschheit überhaupt auffaßt.
»Das menschliche Dasein, weit entfernt den Charakter eines Geschenks
zu tragen, hat ganz und gar den einer kontrahierten Schuld. Die Einforderung
derselben erscheint in Gestalt der, durch jenes Dasein gesetzten, dringenden Be=
dürfnisse, quälenden Wünsche und endlosen Not. Auf Abzahlung dieser Schuld
wird, in der Regel, die ganze Lebenszeit verwendet: doch sind damit erst die
Zinsen getilgt. Die Kapitalabzahlung geschieht durh den Tod. — Und wann
wurde diese Schuld kontrahiert? — Bei der Zeugung.« (W. W. II, p. 683.)
»Das Leben stellt sih dar als eine Aufgabe, ein Pensum zum Abarbeiten
und daher, in der Regel, als ein steter Kampf gegen die Not. Demnadh sudt
Jeder durch und davon zu kommen, so gut es gehen will: er tut das Leben ab
wie einen Frondienst, welhen er schuldig war. Wer aber hat diese Schuld
kontrahiert? — Sein Erzeuger, im Genuß der Wollust.« (W. W. II, p. 669.)
»Auf die Zeugung folgt Leben und auf das Leben unwiderruflih der
Tod. Nun ist es der Betrahtung wert, wie die Wollust der Zeugung,
die das eine Individuum (der Vater) genießt, niht von ihm selbst, sondern von
einem anderen (dem Sohne) durch Leben und mithin durh Tod gebüßt wird.«
(N. P. $ 350.)
Viele Züge Schopenhauers, wie besonders die Verstimmung,
Lebens=- und Liebesverbitterung und pessimistishe Weltanshauung
erinnern in auffälliger Weise — wie schon Paulsen ausgeführt
hat — an Shakespeares Hamletgestalt. Die letzte Wurzel dieser
Übereinstimmung, die eine noch viel weitergehende und tiefer reichende
ist, wird auf Grund der Freudshen Deutung des Hamletproblems
aus dem gleichartigen Ödipuskomplex klar: Hier wie dort handelt
es sih in gleiher Weise um eine relativ überbetonte, zärtlihe Liebe
des Jünglings zu seinem, durch angeblihe Schuld der Mutter vor-
zeitig aus dem Leben geschiedenen Vater, sowie um eine Verachtung
der ehebrecherishen Mutter. Daraus resultiert hier wie dort die
Anschauung von der Schlehtigkeit der Welt und Menschen, philo=
sophishes Grübeln, namentlih über das Thema des Todes, und die
Sexualablehnung des ursprünglich verliebten, von der Mutter aber
156 Dr. Eduard Hitshmann
shwer enttäuschten Sohnes gegen das Weib überhaupt. Es kann
kein Zufall sein, daß Schopenhauer selbst an einer Stelle, wo
er von inneren Widerständen gegen rücsichtsloses Aufdecken der
wissenschaftlihen Wahrheit spricht, als Gleichnis gerade den Ödipus-
mythus anführt:
»Der Muth, keine Frage auf dem Herzen zu behalten, ist es, der den
Philosophen madht. Dieser muß dem Ödipus des Sophokles gleichen, der Auf-
klärung über sein eignes, schreclihes Schicksal suchend, rastlos weiter forscht,
selbst wenn er shon ahndet, daß sih aus den Antworten das Entsetzlichste
für ihn ergeben wird. Aber da tragen die meisten die Jokaste in sih, welche
den Ödipus um aller Götter willen bittet, nicht weiter zu forshen: und sie
gaben ihr nah und darum steht es auch mit der Philosophie noch immer, wie
es steht.« (Brief an Goethe vom 11. November 1815.) !
Diese Stelle scheint die Auffassung zu gestatten, daß das
Ödipusthema für Schopenhauer in der Jugend ein bedeutsames,
seelishes Erlebnis war. res hebt einmal hervor, daß erfahrungs-
gemäß jene Männer, welche sih von der Mutter bevorzugt und aus-
gezeichnet wissen, im Leben dann eine besondere Zuversiht zu sich
selbst sowie unerschütterlichen Optimismus bekunden, die nicht
selten als heldenhaft erscheinen und den wirklihen Erfolg erzwingen
(Traumdeutung, 3. Aufl., p. 207, Anmerkung).? Einen Gegenbeweis
für diese Beobachtung bietet Schopenhauer, den das auffällige Zu=
rückgestoßenwerden und die scharfe, lieblose Beurteilung von seiten
seiner Mutter in den entscheidenden Knaben- und Jünglingsjahren
zum Pessimisten machen mußten.
Auf Grund dieses eigenartigen Ödipuskomplexes zeigt Schopen-=
hauer auch andere Charakterzüge und Eigenheiten der Lebensführung.
Das Hagestolzbleiben hat neben den früher angeführten, äußeren und
inneren Ursachen, vielleiht als wichtigste Motivierung, eine starke
Verkettung des inneren Schicksales mit der Mutter. Ahleser Typus
Mann zeigt, wenn er sih von der Mutter enttäuscht fühlt, neben
der sonst entstehenden Verehrung eines auf die geliebte Mutter
zurückgehenden Liebesideales, Weiberhaß und Weiberveradhtung,
und im Liebesleben die Trennung von Sexualität und höherer
seelisher Empfindung (Erotik), mit dem Herabsteigen zur Prostitu-=
tion. Schopenhauer, der ja die höhere geistige Liebe (Erotik)
! Vgl. zum psycdologishen Gehalt dieser Briefstelle die Arbeit von
Ferenczi: »Symbolishe Darstellung des Lust- und Realitätsprinzips im Ödipus-
mythos (gedeutet durch Schopenhauer).« (»Imago«, I, p. 276 ff.)
® Es sei auf Goethe hingewiesen, dessen Eltern, worauf Möbius auf-
merksam mact, von ähnliher Gemütsart waren wie die Schopenhauers, und
der trotzdem von der Mutter dauernd zärtlich geliebt — lebensfreudig, optimistisch
und menscenfreundlih sih entwickelte.
: Als Beweis für die mütterlihe Wurzel von Schopenhauers Weiber-
haß sei z. B. angeführt seine schroffe Abweisung auf Annäherungsversuhe weib-
liher Schriftsteller, die ihm alle aus tiefster Seele zuwider waren, sowie seine
scharfe Verurteilung der modernen »Dame« und ihrer bevorzugten Stellung in der
Gesellschaft, er redet immer nur von » Weibern«.
Schopenhauer 157
kaum erlebt hat, sondern mit Mephistopheles meist das grob Sinn=
lihe allein unter Liebe versteht (saus einem Punkte zu kurieren«),
hat auh von hier Verstimmung und Pessimismus bezogen. Diese
Auffassung von der Gescledtsliebe als jedes positiven, fördernden,
erhebenden, geistigen Anteils bar, finden wir auch beim Pessimisten
E. v. Hartmann, und sehr richtig betont Rosa Mayreder in ihrer
»Kritik der Weiblichkeit« den generellen Zusammenhang zwischen
der asketisch -pessimistischen Kektansdauun und der mit einer
gesteigerten Geistigkeit verbundenen ern Sexualität. Unter-
stützt wird diese auf die zwiespältige Empfindung gegen die Mutter
zurückgehende Trennung von Sexus und Eros, mit besonderer
Herabsetzung der Sexualität und des Weibes, durh eine frühzeitig
erfolgende Verächtlihmahung des Sexuellen überhaupt. — Auch aus
der psydhishen Einstellung zum Vater ergeben sih für das spätere
Leben bedeutsame Charakterzüge: Wenn Schopenhauer aud die
Umwertung seines Vaterhasses in Verehrung für den Verstorbenen
gelang, so zeigt er doch gegen alle Welt, insbesondere aber gegen-
über wissenschaftlihen Lehrern und seinen Vorgängern einen revo-
lutionären Widerspruchsgeist, der sih gegen alles Bestehende und
fast jede Autorität wendet, sowie ein ebenfalls aus dem Vaterkomplex
stammendes ewiges Besserwissenwollen, das schon die Mutter sharf an
ihm gerügt hatte. So sagt Paulsen: »Opposition und Widersprud ist
das Element, worin ihm wohl wird; mögen andere ihrer Sache
ewiß werden durh Anlehnung an das Geltende, er wird es durd
iderspruh. Er würde sich veräctlih vorkommen, wenn er sic
darauf ertappte, irgendwo zu denken, zu urteilen, zu empfinden,
wie alle Welt urteilt und empfindet.«
Für den inneren Kampf des Sohnes zwischen Liebe und Ab-
neigung, Verehrung und Spott spriht das eigenartige Verhalten
Schopenhauers gegen Lehrer und autoritative Personen, denen er
viel zu danken hatte. So verdarb er sich es schon in seiner Kind-
heit mit einem Lehrer durh ein Spottgediht, schrieb an den Rand
seiner Kollegienhefte boshafte Et anmaßende kritische Spottworte
über die Professoren nieder («Gewäsh«, »Sophist«, »Rindviehs). Er
verfolgte dann die Philosophieprofessoren überhaupt (insbesondere
Hegel) mit einem in der Form maßlosen Hohn und Spott, und
selbst die Verehrung, die er für Kant empfindet, shützt diesen
niht vor Verunglimpfung. Kants Veränderungen in der zweiten
Auflage der »Kritik der reinen Vernunft« führt Schopenhauer
»auf Heucelei und Menschenfurht zurük«. Nicht anders ging es
Goethe, der dem jungen Philosophen anerkennend und fördernd
entgegengekommen war. Wurde er von dem jungen Doktor wie ein
Gott verehrt (vgl. im Brief an F. A. Wolf: »gepriesen sey sein
Name in alle Ewigkeit«), so wurde er in späteren Jahren von
Schopenhauer als Egoist und Grobian bezeichnet. Daß der
Knabe schon früh irreligiös wurde und im Gegensatz zu dem frommen
Kant nie gottesgläubig war, deutet auch auf ein frühes Untergehen
158 Dr. Eduard Hitschmann
der väterlihen Autorität hin. Den gleihen Ursprung mögen zum
Teil wenigstens die Abneigung gegen Vaterland und Vaterstadt,
sowie gelegentlihe Äußerungen über seine Nation nehmen, die er
einmal die dümmste nennt.
Haben wir in den vorstehenden Ausführungen über Schopen-
hauers Pessimismus die individuell-psydhologishen Wurzeln dieser
Einstellung hervorgehoben, die zum Teil in der Nähe des Patho-
logishen ihre Nahrung ziehen, so haben wir damit indirekt eine
Kritik dieses Pessimismus angedeutet, wie sie dem objektiven
Beurteiler shon durch die krassen Übertreibungen Schopenhauers
nahegelegt wird. Es ist bekannt, daß auh der Durcdhscnittsmensch
vorübergehend und zwar gerade in den Stunden der Einkehr, zu
skeptisch-pessimistischer Spruchweisheit geneigt ist, und daß der Heran-
wachsende, namentlich zur Zeit der Pubertät, pessimistisch verstimmt
sein kann. In solhen Zeiten wird man am leichtesten Anhänger
eines pessimistishen Philosophen und auh dann, wenn einem im
Leben und Lieben etwas mißglückt ist. Die Menschen werden aber
nie dauernd zugeben, daß nur der Schmerz positiv, die Lust nur
in der Befreiung vom Schmerz liege. Hier kann das natürliche
Empfinden dem Philosophen nicht folgen, den offenbar persönliche
Erfahrung anders sprechen ließ. Aber diesem, durh sein inneres
Schicksal so isolierten Menschen, war die altruistisch bedingte Freude,
die Mitfreude, völlig fremd; auf Hausgenossenschaft, Freundschaft,
Familie, wo der Egoismus mehr zurücktritt, hat er fast sein ganzes
Leben lang verzichten müssen. Bei Schopenhauer findet »alles,
was stilles Behagen, traulihe Enge, munteren Scherz, frohes Spiel
bedeutet, keine Würdigung« <(Volkelt, oder wie Paulsen
meint: »Schopenhauer ist für diese Dinge, man mödte sagen
farbenblind.«
In Äußerungen späterer Jahre, besonders in seinen berühmten
»Aphorismen zur Lebensweisheit« zeigt sih Schopenhauer zu
einer optimistischeren Lebensauffassung gestimmt. Er verfaßte diese
Aussprühe als »AÄnweisungen zu einem glücklihen Dasein«. »Ja,
diese Aphorismen sagen uns auf jeder Zeile, daß der wahre Weise,
der Mensch, dem das größtmöglichste Erdenglük beschieden war,
den man sich bei allen seinen Entschließungen und Neigungen zum
Vorbild nehmen solle, der Dr. Arthur Schopenhauer ist«
(Seilliere).! Hier zeigt sich klar, wieviel selbstgefällige Selbstbe-
trahtung (Narzißmus) an philosophishen Anschauungen mitwirkt.
Schopenhauer hat also die Wahrhaftigkeit und Aufrichtigkeit,
die ihn überhaupt auszeichnet, im späteren Lebensalter darin be-
wiesen, daß er seine optimistischer gewordene Lebensansidht nicht
verschwieg. Seinem Pessimismus darf man darum nicht Unaufridhtig-
keit nachsagen, wie Kuno Fischer. Denn daß seine unbewußte
i Übrigens ist erst kürzlih dem Optimismus Schopenhauers von
S. Rzewusky eine Studie gewidmet worden (Paris 1911).
Schopenhauer 159
Freude am Leiden nicht weiter ging, als daß seine Anschauung der
Welt und die Darstellung derselben pessimistish war, — daß er aber
niht in Sack und Asche herumging, sih nicht selbstmordete; ist für
uns kein Widerspruh, sondern zeigt nur die Grenze, bis zu welcher
er unterlag. Auch der Märtyrer, der Büßer und der, der sich ent-
leibt, tut ja letzten Grundes das, was er gerne tut. So war aud für
Schopenhauer der Pessimismus schmerzlihe Lust, sein Schimpfen,
Tadeln, Moralisieren Triebbefriedigung (man vergleihe den Satz »cela
m’amuse, d’etre triste). Glück heißt, seine geistige Persönlichkeit aus-
leben, seines inneren Wertes sich bewußt sein. In diesem Sinne durfte
vielleiht Kuno Fischer sagen, daß Schopenhauer einer der glück-
lihsten Menschen war, aber zu dem Glück gehörte auh — seinen Pes-
simismus äußern zu können. »Die shönsten Güter des Lebens waren
ihm beschieden: Eine hohe Geistesbegabung, eine völlige Ulnabhängig-
keit des Daseins... ., alle Muße, um seinem Genius nadhzuleben und
sih seinen Anlagen gemäß auszubilden ... ., die Erfüllung eines
erhabenen Berufes in einer Reihe von Werken, deren Unsterblichkeit
er mit untrügliher Gewißheit empfand und voraussah, eine in den
letzten Jahrzehnten unverwüstlihe Gesundheit . . ., ein hohes, von
der Sonne des Ruhmes glänzend erleuctetes und erwärmtes Älter ..
endlih ein schneller und sanfter Tod.«
Wir konstatieren freilih viele Passiven in diesem Leben: Die
Heiterkeit der Stimmung, das Geben und Empfangen von Liebe,
das Arbeiten für andere, — aber wo wäre auch sonst der Pessimismus
geblieben!?
Pessimismus und AÄAskese sind für Nietzsche ein Zeichen
»niedergehenden Lebenss! Und Schopenhauer war einer jener
Minorität von Tischgängern an des Herrgotts Tafel, denen es nicht
schmeckt; ihr Kostverahten beweist nicht, daß das Gebotene schlecht
ist, sondern — ihre psydho=physishe Konstitution.
I
Schlußbetrachtungen.
Nacdıdem wir in psycdoanalytisher Eigenart die Persönlichkeit
sowie die Grundzüge der Philosophie Schopenhauers gewürdigt
haben, sind wir dem Ziele näher gekommen, das wir uns steckten.
Wir wollten am Beispiel Schopenhauers zeigen, daß jeder Zug
der lebendigen Persönlichkeit eines Menschen, das Charakteristische
seiner Individualität, seine Betätigung, seine Arbeitsweise, seine Ver-
schrobenheiten usw., daß all dies, von Vererbung und Einfluß des Er-
lebens abgesehen, sich aus seinen schon in der Kindheit zutage treten-
den Triebanlagen und seinen Schicksalen, namentlich der Familien-
konstellation, erklären läßt. Wir haben auch den Versud intendiert,
die Grundzüge einer Philosophie aus dem Unbewußten ihres Schöpfers
abzuleiten und die Mechanismen aufzudecken, auf Grund welcher
aus all den genannten Komponenten diese einzigartige Weltanschauung
TE
160 Dr. Eduard Hitshmann
entstehen mußte. Schopenhauer ershien uns für das hier zu
Beweisende ein klassishes Objekt. Es scheint an einer Art Simplizität
des Schopenhauerschen Philosophierens, einem Näherstehen des
Philosophen zur seelischen Primitivität zu liegen, daß seine Philosophie
und ihre Triebwurzeln durdhsictiger sind als bei anderen Metaphysikern.
Den Schopenhauerforshern ist dies häufig zu Bewußtsein gekommen.
Paulsen glaubt, »es gibt vielleicht nicht einen zweiten Denker, bei
dem der Zusammenhang zwishen der Philosophie und Persönlichkeit
zugleih von so durcgreifender Bedeutung ist und so klar zutage
liegts. Dem Philosophen Schopenhauer war es, wie Keyser-
ling kritisch hervorhebt, niht ganz gelungen, »das Empirishe durch
die Idee zu überwinden«, wie etwa Hegel und anderen. »>Schopen-=
hauers Philosophie ist wirklich ein Selbstbekenntnis, aber sie ist auch
keine große Philosophie«, formuliert der so temperamentvoll ab-
urteilende Graf Keyserling.
Da unsere psydologishe Betrahtungsweise zum großen Teil
aus der Erfahrung ärztliher Psychoanalyse gewonnen und später
erst einzelnes davon auf die Psychologie des Schaffenden angewendet
wurde, empfiehlt es sih für uns, vor den pathologishen Kompo-
nenten, die an der Persönlichkeit Schopenhauers Teil haben,
nicht die Augen zu verschließen, wenn sie unsere Analyse fördern.
Wir sehen zwar niht mit Schopenhauer im Genie (und im
Heiligen) metaphysishe Wunder, sondern mit Nietzsche etwas
Mensdlihes,;, wir verwahren uns aber hier gegen den Vor=
wurf, daß wir die Großen herabsetzen, das Geniale banalisieren
wollen, sondern sind uns deutliih bewußt, daß wir gerade vor
dem Wesen der genialen Produktionsfähigkeit respektvoll Halt
machen müssen.
Wir wollen nun die pathologischen Züge Shopenhauers
zusammenfassend darstellen. So sehr er schon als Jüngling aus dem
Munde größter Männer Anerkennung und Voraussage seiner Größe
erhielt, und so erfolgreih er auch seinen geistigen Willen zur Madt
voll durchgesetzt hat, muß doch sein Bigenlob und sein Selbst-
gefühl als maßlos bezeichnet werden.
»Bei mir Widersprühe zu suchen, ist ganz eitel: alles ist aus
einem Gußs«, schreibt er an J. A. Becker (1854, über seine Philo-
sophie, welhe dodh nach dem Urteil der meisten berufenen Kritiker
voll von inneren Widersprühen ist. So schreibt R. Haym
am Schlusse seiner diesbezüglihen Ausführungen, daß Schopen=
hauer sih durch seine eigenen Voraussetzungen aus den Fugen
gehoben habe »und es ist nicht zu viel gesagt, wenn wir behaupten,
daß dabei kein Stein auf dem anderen geblieben ist«. Das Wohn
handensein zahlreiher Widersprühe im System Schopenhauers
beruht teils auf der inneren Spaltung seines Wesens und der eigen=
sinnigen Hartnäcigkeit, mit der er an einmal Gesagtem festhielt,
aber auch auf seiner Untershätzung der bewußten begrifflihen
Durdbildung gegenüber der intuitiven Anschauung.
Schopenhauer 161
Es seien hier zu früher angeführten Beweisstellen noch einige
Belege für dieses übertriebene, an Größenwahn grenzende Selbst=
gefühl angeführt:
An Frauenstädt schrieb er:
»Meine Philosophie wird in der Welt eine Rolle spielen wie noc nie irgend»
eine andere in alter oder neuer Zeit. —
»Meine Philosophie ist, innerhalb der Schranken der menschlichen Er-
kenntnis überhaupt, die wirkliche Lösung des Rätsels der Welt. In diesem Sinne
kann sie eine Offenbarung heißen. Inspiriert ist solche vom Geiste der Wahrheit:
sogar sind im vierten Buche einige Paragraphen, die man als vom heiligen
Geiste eingegeben ansehen könnte.« (N, P. $ 701).
»Mir ist unter den Menschen fast immer, wie dem Jesus von Nazareth
war, als er die Jünger aufrief, die immer alle schliefen« (Dresden 1816.)
Schopenhauer hat sich ja selbst für den Stifter einer neuen
Heils- und Erlösungslehre angesehen, sich selbst gleihsam als den
abendländishen Buddha betrachtet, als den künftigen Gegenstand
eines Bilder- und Reliquienkultus und hat seine Schüler und An-
hänger allen Ernstes »als Apostel und Evangelisten!« bezeichnet
(Kuno Fischer.)
Verrät Schopenhauer in der Jugend nod einige Neigung zur
Geselligkeit, so nahm mit dem Übergang ins Mannesalter sein Zu=
rückziehen auf sich selbst geradezu krankhafte Formen an und
von da an mehren sih auch die Äußerungen, welche diesen unbe-
wußten Drang durch die et der Welt und Menschen in
sozusagen paranoisher Weise rechtfertigen sollen.
»In einer Welt, wo wenigstens fünf Sechstel Schurken und Narren und
Dummköpfe seyen, müßte für jeden des letzten Sechstels und zwar um so mehr,
je weiter er von andern abstehe, die Basis seines Lebenssystems Zurükgezogen=
heit sein. Wenn man nicht ein Spiel in der Hand jedes Buben und der Spott
jedes Narren seyn wollte, so sei die erste Regel: zugeknöpft. Was ein Mensch
wie er fühle und denke, habe keine Ähnlihkeit mit dem was jene dächten und
fühlten.« (Nach Seidlitz.)
Fin solhes hypertrophisches Ihgefühl kommt gerade durch das
Zurückziehen der sonst der Umwelt zugewendeten Liebe auf das
eigene Ich zustande. Man könnte bei Schopenhauer von einer Art
autistishen« Wesens {Bleuler) sprechen, so sehr ignoriert er die
Umwelt zugunsten seines eigenen Innern und hält an seinem Träumen
und Grübeln unentwegt fest. Wo er die Welt nicht ignorieren kann,
wo er ihr nicht durch Libidoentziehung die Realität nehmen kann
(»die Welt als Vorstellungs), da beschimpft er sie oder empfindet sie
feindselig.. Wir haben beim Pessimismus darauf hingewiesen, daß
Schopenhauer die feindlihe Beziehung zur Welt (wie zu seiner
Mutter) erst sekundär eingenommen hat, nahdem er sich
erwartungsvoll zärtlih hat nähern wollen, aber enttäuscht wurde.
Diesen Mechanismus hat Freud aus der Analyse eines hodhintelli-
genten Paranoikers abgeleitet, der sich gleichfalls ein, wenn aud
Imago 11/2 il +
162 Dr. Eduard Hitshmann
verücktes, Weltgebäude entworfen hat.! Abgesehen vom Pessi-
mismus, von dem Reindseligfühlen der Welt, finden sich tatsächlich Be-
einträchtigungsideen? bei Schopenhauer, und zwar am deut-
lihsten gegenüber den Philosophieprofessoren (Paulsen). Er hielt sie
allen Ernstes für vershworen gegen sich: Seine Schriften würden nicht
nur ignoriert, sondern auc »sekretiert« (absichtlih geheim gehalten).
Deutlih krankhaft waren Schopenhauers Ängstgefühle,
die wir bereits ausführlih geschildert haben. Man könnte Schopen-
hauer direkt als Ängst-Kranken bezeichnen. Nicht nur die Ängst-
Anfälle, die Träume, die Phobien seines späteren Lebens sind
gemeint, sein ganzes Wesen ist durchtränkt von auf verdrängter
Sexualität und Äggresion beruhender Angsteinstellung und Unheils-
erwartung, gegen die alle möglichen Schutzmaßregeln ergriffen werden.
Die eigenartige Stimmungslage Schopenhauers, von
der wir schon in seiner Jugend Erwähnung tun hören, erinnert an das
von der beschreibenden Schulpsyciatrie aufgestellte Bild der »konsti-
tutionellen Verstimmung«, das eine erklärende und genetische Wissen=
schaft jedesmal, wie wir hier, auf ihre Psydhogenese wird zurück=
führen müssen. Es sei die Scilderung dieser Zustände hier
mit den Worten Kraepelins zum Vergleih wiedergegeben:
»Die konstitutionelle Verstimmung ist gekennzeihnet durh eine
andauernd trübe Gefühlsbetonung aller Lebenserfahrungen ...
Die Kranken haben eine besondere Empfänglihkeit für die
Sorgen, Mühsale und Täushungen des Lebens .. . Das Leben,
die Tätigkeit ist eine Last, die sie mit pflihtmäßiger Selbstver-
feugnung gewohnheitsmäßig tragen, ohne durh die Lust am
Dasein ... . entshädigt zu werden. Die gesamte Lebensführung
der Kranken wird durh ihr Leiden erheblih beeinflußt. Sie sind
unentsclossen, langsam, gehemmt durd ihre trübe Lebensauffassung;;
jede Regung von Leicdtherzigkeit oder Wagemut wird erstickt
durh das Zurükschrecken vor Verantwortung, durh die Furdt
vor den entferntesten Möglichkeiten. Sie entwickeln nicht selten
Schrullen und Eigenschaften, die in irgendeiner Beziehung zu der
Verstimmung stehen und Schutzmaßregeln bedeuten, durh welcde
sih der Kranke über die inneren Schwierigkeiten hinwegzuhelfen
sucht ... .. Bei einer Gruppe von Fällen wird das Gefühlsleben
dauernd von einer mißmutigen, gereizt galligen und verbitterten
Stimmung beherrscht. Regelmäßig besteht dabei ein stark erhöhtes
Selbstgefühl. Die Kranken sind leicht beleidigt, empfindlih, schwer
! D. P. Schreber: »Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken«, 1903.
° Mißtrauish, empfindlih und »paranoisch« findet man häufig Menschen, die
in ihrem Gehör stark gestört sind. Es sei daher hier ergänzt, daß Schopen-
hauer wie sein Vater an Gehörsstörungen litt, welcher Erbfehler, wie er sagt,
ihn schon im Jünglingsalter und allezeit belästigt hat. Mit fünfunddreißig Jahren
wurde sein rechtes Ohr beinahe völlig taub, im vierundsechzigsten Lebensjahr
begann auch das linke allmählich sich zu vershlehtern. Aud für Schopenhauers
gesellshaftlihe Isolierung muß dies eine Rolle gespielt haben.
Schopenhauer 163
zu behandeln, mißtrauish, nörgelnd, streitsühtig und unzufrieden.
Sie sind unbotmäßig gegen die Obrigkeit, rechthaberish, wollen
alles besser wissen. Bei einzelnen Kranken tritt ganz besonders eine
krampfhafte Zornmütigkeit in den Vordergrund ... Einzelne
Kranke sind sogar sehr begabt, oft mit ausgeprägten künstlerischen
und schöngeistigen Neigungen .. . Mandhe vermögen auh auf
geistigem Gebiet Genügendes und selbst Bedeutendes zu leisten.«
Der profunde Uhntershied, den wir hier nicht näher auf-
klären können und der nur ein glückliches Sichhinaussetzen über
dieses drohende Schicksal dauernder Erkrankung war, liegt in der
genialen Begabung und konzentrierten, zielbewußten Leistungs- und
Arbeitsfähigkeit bei Schopenhauer, gegenüber der leiht zusammen-=
brehenden neurasthenischen Halbheit der Patienten. —
Gehen wir nun an den Versuh heran, verständliih zu
machen, wie ein Philosoph und wie aus ihm wieder ein philo=
sophishes System sih bilde, so hat hier Schopenhauer
selbst im Sinne unserer psychologishen Erkenntnis vorgearbeitet.
Wir leiten die philosophische Geistestätigkeit aus jenem kindlichen
Forshungstrieb ab, der dem Entstehen und Vergehen, dem
Woher und Wieso sih fragend zuwendet. Wir müssen an-=
nehmen, daß ein Forshungstrieb von besonderer Intensität, von
der Sexualforshung abgelenkt, als philosophisher Trieb nad
Erkenntnis wiederkehrt und nun die intellektuellen Operationen
mit Lust betont sind!. Das Leben muß enttäuscht haben, um bei
diesen Problemen bleiben zu lassen und dem Denken vor dem
Handeln den Vorzug zu geben. Wir haben schon erwähnt,
daß Schopenhauer in jungen Jahren, da das Leben ihm »eine
mißlihe Sahhes schien, beshloß, es mit Nachdenken darüber hinzu=
bringen.
»Erst nachdem wir mit der wirklihen Welt in gewissem Grade entzweit
und unzufrieden sind, wenden wir uns um Befriedigung an die Welt des Ge-
dankens.«
»Das philosophische Staunen ist im Grunde ein bestürztes und betrübtes
die Philosophie hebt, wie die Ouverture zu »Don Juan«, mit einem Moll-
akkord an.
»Nur der Mangel erhebt über dih selbst dich hinweg, (Goethe). So
lange man hat, was den Willen befriedigt, oder nur Befriedigung verspricht,
kommt es zu keiner genialen Produktion: denn die Aufmerksamkeit ist auf die
eigene Person gerichtet. Nur wenn die Wünsche und Hoffnungen zunichte werden,
unabänderliche Entbehrung sich zeigt und der Wille unbefriedigt bleiben muß, nur
dann fragt man sih: Was ist diese Welt?
Wer nur geringe, shwade, leicht zu befriedigende Wünsche hat, wird
immerhin befriedigt und fest gehalten und kommt zu keiner Kontemplation. Nur
! Zu dieser Auffassung vergleihe den Ausspruh Nietzsches: »Ich glaube
nicht, daß ein ‚Trieb zur Erkenntnis‘ der Vater der Philosophie ist, sondern daß
sih ein anderer Trieb, hier wie sonst, der Erkenntnis (und der Verkenntnis) nur
wie eines Werkzeuges bedient hat.«
11*
164 Dr. Eduard Hitschmann
wer gewaltig strebt, muß entweder ein Welteroberer oder großer Glücsritter
werden oder untergehn, oder aber er kann, besonders wenn sein Streben durch
gar nichts auf der Welt befriedigt werden kann, zur Kontemplation gelangen.«
Gerade bei Personen mit heftig gesteigertem Triebleben finden
wir in der Pathologie die Neigung zu Todesgrübelei und überhaupt
zur reaktivien Wendung vom Sinnlichen zum Übersinn-
lichen. So kann gerade der Sadistishe nah unseren Erfahrungen
am ehesten zur Zwangsneurose kommen. Angst und Tod werden
bei so Veranlagten als notwendige Reaktionen auf verdrängte
rausame Todes- und Rahewünshe gegen Personen der nächsten
sn zu Hauptthemen. Ganz in Analogie zu solchen
Zwangskranken, denen Freud einen Mißbrauh des Denkens
nachsagt, finden wir in der Form des Überwertigen bei Schopen-
hauer neben seinem unterdrücten, heftigen Triebleben, wie eine
Reaktion und einen Ersatz, sein philosophisches System einscließlich
der Ethik. !
Es dürfte für die meisten spekulativen Philosophen gelten, daß sie,
wie die Zwangsneurotiker, deshalb mit Vorliebe über übersinnliche
Dinge grübeln, namentlih über Tod und Jenseits, weil das Denken
ursprünglih erfüllt war von sinnlihen Vorstellungen. Die Energie
der sexuellen Impulse wurde dann vom anstößigen Inhalt der Vor-
stellungen auf das Vorstellen selbst vershoben, das Denken sozu=
sagen sexualisiertt. Von anderen psychischen Besonderheiten der
Zwangskranken zeigt Schopenhauer Zweifelsuht und Unent-
schlossenheit, ferner einen bei einem Vielwisser und Ungläubigen
doppelt auffallenden Aberglauben. Nidht nur glaubt er an die Br
scheinungen des Geistersehens und des Spiritismus, er verteidigt
auch den unvertilgbaren Hang der Menschen auf Omina zu achten,
ihr Bibelaufshlagen, Kartenlegen u. dgl. Die Assekuranzprämie
seiner Lebensversicherung ist ihm »ein öffentlih und von Allen auf
dem Altar der bösen Dämonen gebradhtes Opfer.« (P. I. p. 527.)
Für die bedeutsame Beziehung des Aberglaubens zum Thema des
Todes, die Freud bei den Zwangskranken aufgedeckt hat, zeugen
folgende Erlebnisse, in denen Schopenhauer die Warnung vor
einem zukünftigen Schicksal erbliken wollte. Der Traum scheint die
von uns vermutete gleihgeschlecdtlihe Einstellung Schopenhauers
anzudeuten, die Vision ist geeignet, die verdrängten Todeswünsce
auf die Eltern zu beweisen.
! Um den Gegensatz zwischen dem Bedürfnis sih auszuleben und dem
Bedürfnis nach philosophischer Erkenntnis der Welt zu charakterisieren, sei eine
Stelle aus dem Roman »Ssanin« von Artzibaschew zitiert, der für das Aus-
leben eine Lanze bricht:
»Mein Leben, das sind meine Empfindungen die angenehmen und die un-
angenehmen. Und was hinter ihren Grenzen liegt, ih spucke drauf, welche Hypo=
these wir auch hinstellen mögen, es bleibt immer nur Hypothese und auf dieser
Grundlage sein Leben aufbauen, das wäre Dummheit. Wem es Bedürfnis ist, der
mag sih dafür absorgen, ih aber will leben.«
Schopenhauer 165
»Und um der Wahrheit in jeder Gestalt und bis an den Tod zu dienen,
schreibe ich auf, daß ich in der Neujahrsnaht zwischen 1830 und 1831 folgenden
Traum gehabt, der auf meinen Tod in gegenwärtigem Jahre deutet. — Von meinem
sechsten bis zu meinem zehnten Jahr hatte ich einen Busenfreund und steten Spiel-
kameraden ganz gleihen Alters, der hieß Gottfried Jänisch, und starb, als ich,
in meinem zehnten Jahr, in Frankreih war. In den letzten dreißig Jahren habe
ich wohl höchst selten seiner gedaht. — Aber in besagter Nacht kam id in ein
mir unbekanntes Land, eine Gruppe Männer stand auf dem Felde und unter
ihnen ein erwachsener schlanker, langer Mann, der mir, ih weiß nicht wie, als
eben jener Gottfried Jänisch bekannt gemacht worden war, der bewillkomm=-
nete mich.
(Dieser Traum trug viel bei, mih zu bewegen beim Eintritt der Cholera
1831 Berlin zu verlassen: er mag von hypothetisher Wahrheit, also ein
Warnung gewesen seyn, d. h. wenn ich geblieben wäre, wäre ich an der Cholera
gestorben.) |
Gleih nah meiner Ankunft in Frankfurt hatte ich eine vollkommen deut=
lihe Geisterersheinung: es waren (wie ich glaube) meine Eltern, und deutete an,
daß ich jetzt die damals noch lebende Mutter überleben würde, der schon tote
Vater trug ein Liht in der Hand.« (N. P. $ 194.)
In bezug auf diese Träume bemerkt Frauenstädt (Memora=
bilien, p. 202). »Wie Schopenhauer in den magishen Wirkungen
die Allmacht des Willens sah, so sah er in den Ahnungen, den
fatidiken Träumen, den das Abwesende und Zukünftige shauenden
Visionen ‚unsere Ällwissenheit'«.
Eine Eigenart des Zwangsdenkens ist auh ein auf der Emp-
findung der Allmacht der Gedanken beruhender Glaube an magische
Beeinflussungen anderer Personen. Dieses Bedürfnis, die Gedanken
zu Kräften zu machen, finden wir gewissermaßen in Schopenhauers
Grundauffassung wieder. Die ganze mädtige objektive Sinnenwelt
ist nichts anderes als ein Produkt unseres Denkens: Die Welt ist
meine Vorstellung. Daß die Welt anderseits Wille <= das Unbe=
wußte) ist, — der Titel des Hauptwerkes faßt beides zusammen —
weist auf die von uns hervorgehobene Projektion des Zwiespalts vom
Bewußten und Unbewußten bei Schopenhauer in sein System,
das die ganze Welt unter diesem Doppelglas betrachtet. — »Wie
der Philosoph selber ein Doppelwesen ist, so wird er die Welt unter
dem Gesichtspunkt dieser Doppelheit betrachten: als Wille und Vor-
stellung. Überall wird er diesen großen Gegensatz wiederfinden und
aufzeigen: in der theoretischen Philosophie ist es der Gegensatz vom
Ding an sich und Erscheinung, in der Metaphysik von Körper und
Wille, in der Ästhetik von Idee und Individuum, in der praktishen
Philosophie von egoistischer Willensbejahung und überindividualisti-
sher Willensverneinung.« (Paulsen.)
So kommen wir immer näher unserem Ziel zu zeigen, daß das,
was der Philosoph für die objektive Wahrheit, für letzte Lösungen
des Welträtsels ansieht, zunächst nur individuellste Zwangsgedanken-
bildung und deren Projektion vorstellt, daß seine eigensten Affekte
ihn in bestimmte Richtungen zwingen. Schopenhauer zeigt so
166 Dr, Eduasd Bsdinann
deutlih die von Rosa Mayreder hervorgehobenen »beiden, das
menschliche Geistesleben in seinen Untergründen am stärksten binden-
den Eigentümlichkeiten: die Abhängigkeit alles Denkens von der
angeborenen Eigenart und die Neigung, die Ergebnisse des eigenen
Denkens für objektive Wahrheiten zu halten.«
Und Paulsen sagt in ähnlihem Sinne:
»Ih glaube nicht, daß es einen Fall gibt, an dem man den
Einfluß des Affektes auf das Denken besser als an Schopenhauer
studieren kann.«
Es ist dies keine neue Weisheit, die wir hier propagieren;
der Subjektivismus philosophisher Betrachtungen ist ja längst in die
Anschauungsweise der Einsihtigen übergegangen. Wenn Zola von
der Kunst gesagt hat, sie wäre ein Weltbild, gesehen durch ein
Temperament, so ist die Philosophie, nah Simmel, ein Temperament,
gesehen durh ein Weltbild. Auch Goethe hat sehr hübsh die
Philosophen mit den Ärzten verglihen, die uns etwas verbieten
oder vorschreiben, je nachdem sie selbst es hassen oder lieben.
»Der eine ist zum Stoiker geboren, gelangt deshalb zum Stoizismus
und ebenso wird der andere Epikuräer;, die strenge Mäßigkeit
Kants fordert eine Philosophie, die diesen seinen angeborenen
Neigungen gemäß war. Jedes Individuum hat vermittels seiner
Neigungen ein Recht zu Grundsätzen, die es als Individuum nicht
aufheben. Hier oder nirgends wird wohl der Ursprung aller
Philosophie sein.« (Falk, Biedermann, IV., p. 314.)
Dies gilt nah dem radikalen Nietzsche, der im Denken
nur ein »gewißes Verhalten der Triebe zueinanders, in der Ver-
nunft u ihren Gesetzen nicht viel mehr als ein »grammatisches
Vorurteil« sieht, sogar für moralishe Grundsätze:
»Es gibt Moralen, welhe ihren Urheber vor anderen recht-
fertigen sollen, andere Moralen sollen ihn beruhigen und mit sic
zufrieden stimmen, mit anderen will er sih selbst ans Kreuz
schlagen und demütigen, mit anderen will er Radhe üben, mit
anderen sich verstecken, mit anderen sih verklären und hinaus, in
die Höhe und Ferne setzen, diese Moral dient ihrem Urheber, um
zu vergessen, jene, um sich oder etwas von sich vergessen zu
machen, Kant gibt mit dieser Moral zu verstehen, »was an mir
achtbar ist, das ist, daß ich gehorhen kann — und bei eudh soll
es nicht anders stehen als bei mir! — Kurz die Moralen sind audh
nur eine Zeichensprache der Äffekte«. (»Jenseits von Gut
und Böse«.)
Wir haben bisher nicht näher ausgeführt, in welchem Bild wir
es anshaulih machen könnten, wie das in der Seele Geschaute —
und bekanntlih kann man so recht nur in die eigene Seele schauen —
unwillkürlih erfaßt, zu Gedanken, Worten werden kann und als
Metaphysik oder Religion Gestalt und Geltung findet. Freud hat
den genialen Gedanken ausgesprohen, »daß ein großes Stück der
mythologishen Weltauffassung, die weit bis in die modernsten
Schopenhauer 167
Religionen hineinreicht, nichts anders ist, als in die Außenwelt
projizierte Psychologie. Die dunkle Erkenntnis (sozusagen:
endopsyhishe Wahrnehmung) psychischer Faktoren und Verhält-
nisse des Unbewußten spiegelt sih in der Konstruktion einer
übersinnlichen Realität, welhe von der Wissenschaft in Psy-
chologie des Unbewußten zurükverwandelt werden soll. Man
könnte sich getrauen, die Mythen vom Paradies und Sündenfall,
von Gott, vom Guten und Bösen, von der Unsterblichkeit u, dgl.
in solher Weise aufzulösen, die Metaphysik in Metapsychologie
umzusetzen«,
Solhe unbewußte Projektionen endopsyhisher Wahrnehmungen
spielen offenbar bei allen Aussagen von sih und den Menschen, allen
Verallgemeinerungen eine Rolle und es ist dem Menschen gar nicht
anders möglih, als anthropomorphish zu denken. Aud hier werden
wir übrigens erinnert an die Symptombildung Paranoisher, zu deren
Erklärung Freud gleichfalls jene »Projektion innerer (unterdrückter)
Wahrnehmungen nah außen« herangezogen hat. Man muß uns
gestatten, auf diese Analogien aus der Pathologie hinzuweisen;
denn gerade dort konnte die Psydhoanalyse zuerst deutlih und
gründlihst die Mechanismen studieren, Die mißlungenen, philoso-
phishen Systeme und Kosmogonien, die die Psychoanalyse jetzt
kunstvoller Weise bei den ganz in sih eingesponnenen Paraphre=
nikern durchleuchtet hat, sind nur das pathologishe Zerrbild der
offenbar aus ähnlihen Komplexen und mit Hilfe analoger Medha-
nismen entworfenen Weltbilder ernst zu nehmender und über-
ragender Philosophen. Bei den Kranken läßt sich aber deutlih nad-
weisen, daß es verdrängte Vorstellungen sexueller Natur sind, die
eine solhe Zurückziehung und spätere Projektion in die Außenwelt
erfahren und als mehr weniger unkenntlihe Vergeistigungen banalster
körperliher und psychischer Dinge erscheinen.
Schopenhauers Werk ist also im wesentlichen als ein Abbild —
sei es nun ein Positiv oder ein Negativ — seines eigensten Wesens.
Seine Metaphysik ist das riesenhafte Abbild seines tiefinnersten
Naturells. »Ich habe,s sagt Schopenhauer, »den Satz umgekehrt,
mit dem man seit den ältesten Zeiten den Menschen als Mikrokosmos
angesprohen hat. Ich habe die Welt als Makranthropos
nachgewiesen«,
Alle Philosophie ist letzten Grundes eine Selbstbetrachtung.
Mit der Wohlgefälligkeit, mit der Narzißus sih im Wasser spiegelt
oder mit der ein Vater sich in den ähnlihen Zügen seiner Kinder
wiederliebt, erscheint im System des Philosophen die Physiognomie
seines Wesens wieder, Schopenhauer war, wie Seidlitz sagt,
»von seinem Hauptwerke bis zum Fanatismus entzükt: es war das
einzige in der Welt, was er wahrhaft liebte und in welchem er
sih selber liebte«. Bei keinem anderen Philosophen mag dies so
grob deutlich ins Auge springen, daß »das A und OÖ seiner Philo-
sophie, das Zentrum, auf welches sich alles bei ihm bezieht, wohin
168 Dr. Eduard Hitschmann
auc der fernste Ausblick reflektorish zurückweist, Arthur Schopen-
hauers Person ist«. (Keyserling.)
In den vorstehenden Ausführungen wurde gezeigt, wie das
Unbewußte, daß sih in der Persönlichkeit und so deutlih in den
pathologishen Zügen Schopenhauers manifestierte, auh in der
Form der Projektion zur Syerchitildung geführt hat. Das psycdo-
logishe Genie Schopenhauers hat das gerade in ihm besonders
wirksame und lebendige Unbewußte nicht nur in sich selbst (endo=
psychish) wahrgenommen, sondern auh — freilih nur brudhstück-=
weise — an einzelnen Lebensphänomenen erkannt.
Vor allem war es der Traum, der ihm, wie wir bereits an
Beispielen zeigen konnten, wiederholt tiefsten Eindruk machte, Schon
in der Grundlegung seiner Lehre tritt er als wichtiges Problem auf,
welches er in seinem Aufsatz Ȇber das Geistersehen und was
damit zusammenhängt« zu lösen glaubte. Das Anshauungsvermögen
des Genies erscheint ihm fast identish mit dem » Traumorgan«, von
dem er aussagt, es lasse in der Zukunft lesen.
Audh gewisse, charakteristisherweise meist vom Traumleben
ausgehende Beobadhtungen Schopenhauers lesen sih, wenn man
nur von den daraus gezogenen metaphysishen Konsequenzen abzu=
sehen weiß, als hätte der Philosoph ein deutlihes Empfinden eines
unbewußten Seelenlebens gehabt:
»Es gibt etwas, das jenseits des Bewußtseins liegt, aber zuzeiten in das-
selbe hereinbriht, wie ein Mondstrahl in die umwölkte Nadt. Alsdann be=
merken wir, daß unser Lebenslauf uns ihm weder näher noch ferner bringt, der
Greis ihm so nahesteht wie das Kind und werden inne, daß unser Leben zu
ihm keine Parallaxe hat, so wenig wie die Erdbahn zu den Fixsternen.« (N. P.
& 145.)
»Wenn wir aus einem uns lebhaft affizierenden Traum erwacden, so ist,
was uns von seiner Nichtigkeit überzeugt, nicht sowohl sein Verschwinden, als
das Aufdeken einer zweiten Wirklihkeit, die unter jener, uns so sehr be=-
wegenden verborgen lag und nun hervortritt. Wir haben eigentlih alle eine
bleibende Ahndung oder Vorgefühl, daß auch unter dieser Wirklichkeit, in der
wir leben und sind, eine zweite ganz andre verborgen liegt . . .x (N. P. $ 146.)
»Das Bewußtsein ist die bloße Oberfläche unseres Geistes, von welchem,
wie vom Erdkörper, wir nicht das Innere, sondern nur die Schale kennen.«
Diese und ähnliche Stellen, sowie sein intensives Interesse für
Magie, Hellsehen, Tishrüken etc. ein deutlihes Vorgefühl von der
mäctigen Einwirkung unbewußten Seelenlebens.
Schopenhauer interessierte sih auch schon frühzeitig für
Abnormitäten der Psyche. Es wird berichtet, daß er wiederholt
die Charite besuht habe, wo zwei Melandoliker sein besonderes
Interesse erregt hatten. Er wies in Polemik gegen Fichte schon
auf die Zusammenhänge zwishen Genie und Irrsinn hin. Am
überraschendsten ist aber sein Versuch einer Erklärung des Wahn-
sinns, welcher die Lehre von der Verdrängung peinliher Vor-
stellungen ins Unbewußte als Veranlassung der Psychoneurosen und
Schopenhauer 169
mancher Geisteskrankheiten deutlih ausspriht! und auffallendste
Analogien zu den Lehren Freuds aufweist.
Im ersten Band seines Hauptwerkes ($ 36) behandelt Schopen-
hauer auh die Verwandtschaft von Genialität und Wahn-
sinn und sagt von den genialen Menschen direkt: »Daher endlich
sind sie zu Monologen geneigt? und können überhaupt mehrere
Schwächen zeigen, die sih wirklih dem Wahnsinn nähern.« Im An-
schluß daran hebt er als Wesen des Wahnsinns eine Schädigung
des Gedäcdtnisses hervor und zwar in dem Sinne,
»daß der Faden des Gedäctnisses zerrissen, der fortlaufende Zusammenhang
desselben aufgehoben und keine gleihmäßig zusammenhängende Rücerinnerung
der Vergangenheit möglich ist... in ihrer Rückerinnerung sind Lücken, welche
sie dann mit Fiktionen ausfüllen ... . Immer mehr vermischt sich in seinem Ge-
dächtnisse Wahres mit Falshem ... der Einfluß dieser falschen Vergangenheit
verhindert nun auh den Gebrauh der rihtig erkannten Gegenwart... Daß
heftiges geistiges Leiden, unerwartete entsetzlihe Begebenheiten häufig Wahn-
sinn veranlassen, erkläre ich mir folgendermaßen. Jedes solches Leiden ist immer
als wirklihe Begebenheit auf die Gegenwart beschränkt, also nur vorübergehend
und insofern noch immer nicht übermäßig schwer: überschwänglich groß wird es
erst, sofern es bleibender Schmerz ist: aber als solcher ist es wieder allein ein
Gedanke und liegt daher im Gedächtnis: wenn nun ein solher Kummer, ein
solches schmerzlihes Wissen, oder Andenken, so qualvoll ist, daß es schledter-
dings unerträglich fällt, und das Individuum ihm unterliegen würde — dann greift
die dermaßen geängstigte Natur zum Wahnsinn als zum letzten Rettungs-
mittel des Lebens: der so sehr gepeinigte Geist zerreißt nun gleihsam den Faden
seines Gedäctnisses, füllt die Lücken mit Fiktionen aus und flüchtet so sih von
dem seine Kräfte übersteigenden geistigen Schmerz zum Wahnsinn ... Ein
shwades Analogon jener Art des Überganges vom Schmerz zum Wahnsinn
ist dieses, daß wir Alle oft ein peinigendes Andenken, das uns plötzlich einfällt,
wie mecanish, durh irgend eine laute Äußerung oder Bewegung zu ver-
scheudhen?, uns selbst davon abzulenken, mit Gewalt uns zu zerstreuen sudhen«.
Zeigt schon diese ihrer Wichtigkeit wegen so ausführlich
zitierte Stelle deutlih Schopenhauers Verständnis für die
Verdrängung peinlicher Vorstellungen aus dem Bewußt-
sein und ihre Bedeutung für die Entstehung seelischer Störungen,
sowie für die determinierende Bedeutung des Wunscdlebens, das
unter Ulmständen zur Flucht des Individuums in die Krankheit führt,
so enthält die Erläuterung hiezu im zweiten Band seines Haupt-
werkes (Kap. 32) eine ausgezeichnete Formulierung der Verdrän-
gungslehre, sogar mit Berücksichtigung des Begriffes Er »mißglückten
Verdrängungs (Freud):
' Auf die Übereinstimmung dieser Schopenhauershen Auffassung mit
der psydoanalytishen hat zuerst Rank (Zentralbl. f. Psa., I. Bd., p. 69 ff.) hin-
gewiesen. Die Parallele zwishen Schopenhauer und Freud bringt dann Hin-
richsen in seiner Arbeit: »Zur Psychologie und Psychopathologie des Dichters«
(Wiesbaden, 1911). Auf Juliusburgers einshlägige Ausführungen (Allg. Zeit-
schrift f. Psychiatrie, 1912) ist oben im Text verwiesen.
? Daß Schopenhauer häufig laute Selbstgesprähe auf der Straße führte,
a darauf hinzudeuten, daß er diese Beobahtungen an der eigenen Person
machte.
170 Dr. Eduard Hitschmann
»Die im Texte gegebene Darstellung der Entstehung des Wahnsinns
wird faßliher werden, wenn man sich erinnert, wie ungern wir an Dinge
denken, welche unser Interesse, unsern Stolz, oder unsere Wünsche stark ver-
verletzen, wie schwer wir uns entschließen, Dergleihen dem eigenen Intellekt zu
genauer und ernster Untersuhung vorzulegen, wie leiht wir dagegen unbe-
wußt davon wieder abspringen, oder abscleichen, wie hingegen angenehme
Angelegenheiten ganz von selbst uns in den Sinn kommen und, wenn ver-
scheudt, uns stets wieder beschleichen, daher wir ihnen stundenlang nachhängen.
In jenem Widerstreben des Willens, das ihm Widrige in die Be-
leuchtung des Intellekts kommen zu lassen, liegt die Stelle, an
welcher der Wahnsinn auf den Geist einbrechen kann. Jeder widrige
neue Vorfall nämlich muß vom Intellekt assimiliert werden, d.h. im System der
sih auf unseren Willen und sein Interesse beziehenden Wahrheiten eine Stelle
erhalten, was immer Befriedigenderes er auh zu verdrängen haben mag. So=
bald dies geschehen ist, schmerzt er schon viel weniger: aber diese Operation
selbst ist oft sehr schmerzlich, geht auch meistens nur langsam und mit Wider-
streben vonstatten. Inzwischen kann nur, sofern sie jedesmal ridhtig voll-
zogen werden, die Gesundheit des Geistes bestehen. Erreicht hingegen,
in einem einzelnen Fall, das Widerstreben und Sträuben des Willens wider die
Aufnahme einer Erkenntnis den Grad, daß jene Operation nicht rein durch-
geführt wird, werden demnah dem Intellekt gewisse Vorfälle oder Umscdläze
völlig untershlagen, weil der Wille ihren Anblick nicht ertragen kann,
wird alsdann, des notwendigen Zusammenhanges wegen, die dadurch entstandene
Lücke beliebig ausgefüllt, — so ist der Wahnsinn da. Denn der Intellekt hat seine
Natur aufgegeben, dem Willen zu gefallen: der Mensch bildet sich jetzt ein,
was nicht ist. Jedoch wird der so entstandene Wahnsinn jetzt der Lethe uner=
trägliher Leiden: er war das letzte Hilfsmittel der geängstigten Natur, d. i. des
Willens ...
Der obigen Darstellung zufolge kann man also den Ursprung des Wahn=
sinns ansehen als ein gewaltsames »Sich aus dem Sinn schlagen«
irgendeiner Sache, welches jedoh nur möglih ist mittels des »Sich in den
Kopf setzens irgend einer anderen. Seltener ist der umgekehrte Hergang, daß
nämlih das »Sich in den Kopf setzen« das Erste und das »Sih aus dem Sinn
schlagen« das Zweite ist. Er findet jedoh statt in den Fällen, wo einer den
Anlaß, über welhem er verrückt geworden, beständig gegenwärtig behält und
niht davon loskommen kann: so z. B. bei mandhem verliebten Wahnsinn,
Erotomanie, wo dem Anlaß fortwährend nachgehangen wird; auch bei dem aus
Schrek über einen plötzlichen, entsetzlihen Vorfall entstandenen Wahnsinn.
Solhe Kranke halten den gefaßten Gedanken gleihsam krampfhaft fest, so daß
kein anderer, am wenigsten ein ihm entgegenstehender, aufkommen kann. Bei
beiden Hergängen bleibt aber das Wesentlihe des Wahnsinns das Selbe, näm-
lih die Unmöglichkeit einer gleihförmig zusammenhängenden Rücerinnerung,
wie solche die Basis unserer gesunden, vernünftigen Besonnenheit ist. — Vielleicht
könnte der hier dargestellte Gegensatz der Entstehungsweise, wenn mit Urteil
angewandt, einen scharfen und tiefen Einteilungsgrund des eigentlihen Irr=-
wahns abgeben.
Übrigens habe ih nur den psychischen Ursprung des Wahnsinns in Be-
tracht genommen, also den durch äußere, objektive Anlässe herbeigeführten.
Öfter jedoch beruht er auf rein somatishen Ursachen ... Jedoch werden beider-
lei Ursachen des Wahnsinns meistens voneinander partizipieren, zumal die psy-
chishe von der somatishen . . . Ich habe die psychische Entstehung des
Wahnsinns dargelegt, wie sie bei dem, wenigstens allem Anschein nah, Ge-
Schopenhauer 171
sunden durch ein großes Unglück herbeigeführt wird. Bei dem somatisch bereits
stark dazu Disponierten wird eine sehr geringe Widerwärtigkeit dazu hin=
reihend sein ... . Bei entschiedener körperliher Anlage, bedarf es, sobald diese
zur Reife gekommen, gar keines Änlasses. Der aus bloß psydhishen Ursahen
entsprungene Wahnsinn kann vielleiht, durch die ihn erzeugende, gewaltsame
Verkehrung des Gedankenlaufes, auh eine Art Lähmung oder sonstige Depra-
vation irgendwelcher Gehirnteile herbeiführen, welche, wenn nicht bald gehoben,
bleibend wird; daher Wahnsinn nur im Anfang, nicht aber nad längerer Zeit
heilbar ist.
Wie weit Schopenhauer außerdem ein Vorläufer der Freud-
shen Erkenntnis des Unbewußten und anderer psychoanalytischer
Einsihten war, zeigte Juliusburger, der nebst anderem auf die
von Schopenhauer bereits erkannte fundamentale Bedeutung der
Sexualität, sowohl für die Entstehung seelisher Störungen als auch
für das Begehen von Verbrehen hinweist.
Steht das eigentlih Unbewußte in engster Beziehung mit dem
Triebartigen im Masten so mußte ja Schopenhauer die unge=
heure Bedeutung der Sexualität klar werden, die, wie wir wissen,
bei ihm besonders stark und eigenartig ausgebildet war. Wir haben
shon früher Worte Schopenhauers zitiert, welche diese Bedeu=
tung für die menshlihe Psyhe im weitesten Umfang anerkennen.
Dafür ist ja auch ein Beweis, daß Schopenhauer die »Meta-
physik der Gesclectsliebes geschrieben hat. Es ist kein Zufall,
daß er gerade über dieses Thema sehr viel nahgedaht und
gegrübelt hat. Er scheint damit zu bestätigen, daß dies vielleicht in
seiner frühen Kindheit das Thema seiner ersten Forshung war.
Nicht jeder hat aber gegenüber der Sexualität ein metaphysisches
Bedürfnis, vielleiht ist es in Analogie zu unseren früheren Äus-
führungen auh hier Verwundern, Leiden, Unbefriedigtsein, was
nach Hintergründen suchen läßt.
Schopenhauer selbst hat sein philosophisches Schaffen als ein
unbewußtes bezeichnet und auf diese Entstehungsweise hin den Re-
sultaten den größtmöglichen Wahrheitsgehalt zugesprochen. Versichert
er auch gelegentlih (in seinen Cogitata) »Alle Gedanken, welche ic
aufgeschrieben, sind auf äußeren Anlaß, meistens auf einen anshau=
lihen Eindruck, entstanden und vom Objektiven ausgehend nieder-
geschrieben«, so stehen dem doc eine Anzahl von Bekenntnissen
gegenüber, aus denen die persönliche, intuitive Art seines Schaffens
unzweifelhaft erhellt. Außer den shon an anderer Stelle ange=
führten Bemerkungen über die unbewußte Triebkraft seines Schaffens,
sei hier auf eine der prägnantesten Stellen hingewiesen (N. P.
% 630):
»Unter meinen Händen und vielmehr in meinem Geiste erwäcdst ein
Werk... wäcst, konkresziert allmählih und langsam, wie das Kind im
Mutterleibe: ich weiß nicht, was zuerst und was zuletzt entstanden ist... . Ich
werde ein Glied, ein Gefäß, einen Teil nah dem anderen gewahr, d. h. id
schreibe auf, unbekümmert wie es zum Ganzen passen wird: denn ich weiß,
es ist alles aus einem Grunde entsprungen ..... Ih, der ich hier sitze, den
172 Dr. Eduard Hitschmann
meine Freunde kennen, begreife das Entstehen des Werkes nicht, wie die
Mutter niht das des Kindes in ihrem Leibe begreift.«
Und an anderer Stelle (N. P. $ 652):
»Was mir die Echtheit und daher die Unvergänglichkeit meiner Philo-
sopheme verbürgt, ist, daß ich sie gar nicht gemacht habe, sondern sie haben
sich selbst gemacht. Sie sind in mir entstanden ganz ohne mein Zutun, in Mo=
menten, wo alles Wollen in mir gleihsam tief eingeschlafen war und der
Intellekt nun völlig herrenlos und dadurch müßig thätig war, die Anschauung
der wirklihen Welt auffaßte... Mit dem Wollen ist aber aud alle Individualität
vershwunden und aufgehoben: daher war mein Individuum hier nicht im Spiel,
sondern es war die Anschauung selbst, rein und für sih, d. h. die rein objek-
tive Anschauung oder die objektive Welt selbst, die sich in den Begriff rein und
für sich absetzte.«
Schopenhauer will niht mehr zugeben, als was Nietz-
sche in den Worten ausgedrückt hat: »Es denkt in mir.« Daß es
aber kein Denken ohne Fühlen und Wollen gibt, ist ihm zuweilen
entfallen. Möbius sagt treffend: »Schopenhauer ließ sih durd
seine Anknüpfung an Kant verleiten, zuerst vom Erkennen, Vor=
stellen, a zu reden als von etwas, das niht zum Wollen
ehöre. In Wahrheit kann Denken oder Vorstellen nicht ohne
ollen gedaht werden.« Im Grunde aber lehre Schopenhauer
das Rechte, daß der Wille alles tut, und seine Lehre führt im
Gegensatz zu der aller Früheren direkt zu der Einsicht, daß unser
bewußtes Leben nur ein Ausschnitt aus dem großen für uns Unbe-
wußten ist. »Immer kommen wir in der inneren Erfahrung rasch
zu der Stelle, wo das Bewußtsein aufhört, wo der Weg in das
für uns unbewußte führt, rückwärts sowohl wie vorwärts. Der
Instinkt ist vor aller individuellen Vernunft, die Hand, die uns
leitet, ist im Dunkel. Solche Erkenntnis shimmert sozusagen bei
Schopenhauer immer durh.« (Möbius). Daß diese Worte ganz
dem entsprehen, was Freud vom Unbewußten gelehrt hat, ist klar.
Wirsehen aus diesen Hinweisen auf die Psychologie des Unbewußten,
die sih bei Schopenhauer finden, auch eine Beredhtigung für
unsere Ärbeit, die Hauptberechtigung, die wir längst gezeigt haben,
ist die, daß Schopenhauer eines der trefflihsten Beispiele für die
Richtigkeit der psydhoanalytisch gefundenen Tatsahen darstellt, die
er allerdings mehr repräsentiert und demonstriert, als er sie selbst
bewußt äußern konnte.
Indem wir nun von Schopenhauers ragender Erscheinung
Abschied nehmen, erweisen wir noch einmal tiefsten Respekt
diesem Entdeker des »Willenss, des treibenden Unbewußten,
dem Prediger der Güte und des Mitleids, dem Verherrlicher
des Genies, der Kunst und alles Geistigen, des Wahrhaftigen
und Ecten, der nur die inneren Werte des Menschen aner-
kannte, keine andere Überlegenheit zugab als die des Geistes
und des Charakters. So sehr wir alle diese edlen Züge bewundern
müssen und Schopenhauer als »Erzieher« verpflihtet sind, reißen
Schopenhauer 173
wir uns doch los von den düsteren und allzupersönlihen Schatten-
seiten seiner Weltanshauung und sehnen uns, ihn zu überwinden.
Nietzsche ist eispiüihglidh als größter Bewunderer, später als
freiester Überwinder Schopenhauers vorbildiih für die Me lih-
keit einer solhen Überwindung des Philosophen auf dem Wege
psydhologisher Erkenntnis und der Einsiht in die persönlichsten
subjektiven Bedingungen des Philosophierens überhaupt.
»Allmählich hat sich nun herausgestellt, was jede Philosophie
bisher war: nämlih das Selbstbekenntnis des Urhebers und
eine Art ungewollter und unvermerkter m&moires. Die Philosophie
schafft immer die Welt nach ihrem Bilde, sie kann nicht anders,
Philosophie ist dieser tyrannische Trieb selbst, der geistige Wille
zur Macht, zur ‚Schaffung der Welt, zur causa prima.«
(Nietzsche.)
In ihrer Subjektivität liegt die shon von Nietzsche erkannte
Beschränktheit aller philosophischen Wahrheit, die zur Resignation
führen muß, da kein System imstande sein kann, das rätselhafte
Wesen der Welt und des Lebens zu erklären, vielmehr nur dem
einen Typus Mensh und seinem metaphysischen Bedürfnis ent-
sprehen kann. In diesem Sinne dürfte man von einer Hoffnungs-
losigkeit aller Philosophie sprehen: »Sobald — sagt Nietzsche
— die Religion, Kunst und Moral in ihrer Entstehung so be-
schrieben sind, daß man sie vollständig sich erklären kann, ohne
zur Annahme metaphysischer Eingriffe am Beginn und im
Verlauf der Bahn seine Zufluht zu nehmen, hört das stärkste
Interesse an dem rein theoretishen Problem vom »Ding an sihs und
der ‚Ersceinung’ auf ... Mit voller Ruhe wird man die Frage,
wie unser Weltbild so stark sih von dem erschlossenen Wesen
der Welt unterscheiden könne, der Physiologie und der Entwic-
lungsgeshichte der Organismen und Begriffe überlassen.«
Sollte nun jemand, enttäusht darüber, daß sih Schopen-
hauer »nicht gesund genug zum Philosophen« (Riehl) erwiesen
hat, bei einem anderen sein Seelenheil suhen wollen, so sei er
gewarnt. Audh Nietzsche, dem wir hier als Schopenhauer-
Kritiker und Tiefenpsychologen so breiten Raum gewährt haben,
scheint nicht berufen, zum Richter des Lebens gemaht zu werden.
er da auszöge, einen zu suchen, der gesund genug zum Philo-
sophieren ist, dem erginge es wie jenem Boten eines kranken
Königs, der das Hemd eines Glüclichen zur Heilung seines Herrn
suhen ging. Denn als er endlih in einem Hirten den Glüclichen
fand, besaß dieser kein Hemd. — Wer zum Philosophieren gesund
genug wäre, der — philosophiert eben nicht!
174 Dr. Eduard Hitschmann
Literatur:
DAMM, ©. F.: Arthur Schopenhauer. Eine Biographie. Reklam, 1912.
EBSTEIN, Dr. W.: Arthur Schopenhauer, Seine wirklihen und vermeintlihen
Krankheiten. Stuttgart 1907.
FISCHER, Kuno: Schopenhauers Leben, Werke und Lehre. Heidelberg 1898,
GWINNER, W. v.: Schopenhauers Leben. Leipzig 1910.
JOEL, K.: Nietzshe und die Romantik. Jena 1905.
HERTOLET, W. L.: Schopenhauer-Register. Leipzig 1910.
KEYSERLING, H., Graf: Schopenhauer als Verbilder. Leipzig 1910.
LINDNER, E. ©. und FRAUENSTÄDT, J.: Arthur Schopenhauer (Memora-
bilien etc.). Berlin 1863.
MÖBIUS, P. J.: Schopenhauer. Leipzig 1904.
NIETZSCHES Werke. Taschenausgabe.
PAULSEN, F.: Schopenhauer. Hamlet. Mephistopheles. Drei Aufsätze zur
Naturgeshichte des Pessimismus. Berlin 1900.
RICHERT, H.: Schopenhauer. Seine Persönlichkeit, seine Lehre, seine Bedeutung.
6 Vorträge. Leipzig 1909.
RIEHL, A.: Friedrih Nietzshe, der Künstler und der Denker. Stuttgart 1898.
SCHEMANN, L.: Gesprähe und Briefwechsel mit a a Aus dem Nadh-
lasse von Karl Bähr. Leipzig 1894.
SCHOPENHAUERS Werke, Nachlaß, Briefe. Reklam.
SCHOPENHAUER, Adele: Tagebücher. Leipzig 1909.
SEIDLITZ, C. v.: Dr. Arthur Schopenhauer vom medizinischen Standpunkte aus
betrachtet. Dorpat 1872.
SEILLIERE, Ernest: Arthur Schopenhauer als romantischer Philosoph. (Deutsche
Übersetzung) Berlin 1912.
SIMMEL, Georg: Schopenhauer und Nietzsche. Ein Vortragszyklus. Leipzig 1907,
SIMMEL: Hauptprobleme der Philosophie. Leipzig 1911.
VOLKELT, Johannes: Arthur Schopenhauer. Seine Persönlichkeit, seine Lehre,
sein Glaube, Stuttgart 1900.
WAGNER, G. F., Encyklop. Register zu Schopenhauers Werken. Karls-
ruhe 1909,
Psydoanalytishe Anmerkungen zur Geschichte der Philosophie 175
Psychoanalytishe Anmerkungen zur Geschichte der
Philosophie‘.
Von Dr. ALFR, Frh, v. WINTERSTEIN.
»In der ‚Kalewala’, einem finnishen Epos, kehrt
ein eigentümlicher Vorgang von auffallender und selt-
samer Bedeutung einigemale wieder. Der alte Held
Wäinämöinen unterwirft sih hier die elementarishen
Hindernisse, die er zu besiegen hat, nach vielen ver=
geblihen Versuchen und Bemühungen endlih durch eine
beshwörende Formel, die in jedem Fall von geradezu
furhtbar bezwingendem Eindruck auf seine phantasti-
schen Gegner ist: er spricht ihnen nämlich die Drohung
aus, ihren Ursprung zu singen.«?
Mi: wird gut tun, bei der Aufgabe, die ih mir auf den
folgenden Blättern setze, ein Zweifahes zu unterscheiden:
einerseits wird es sih darum handeln — ohne irgendwie
ins Detail einzugehen — festzustellen, was für wesentliche Bestand=
teile in den Lehren der Philosophen nicht durch objektive Erkenntnis
gefordert, sondern durh unbewußte Wünshe bedingt erscheinen
(diese Teiluntersuhung wird in die Frage auslaufen, welhe Welt-
anshauung sih auf dem Boden der Psychoanalyse mit Fug er=
heben darf); anderseits wird in einem zweiten ÄAbscdnitt, wenn
auh sadhgemäß nicht streng geschieden, der Versuh gemadt
werden, die unbewußten Grundlagen der Persönlichkeit des Philosophen
zu skizzieren. Vorab bemerke ih noch dieses: Festhaltend an dem
von der Psychoanalyse vertretenen Prinzip der Schichtenbildung im
Seelenleben, glaube ich keineswegs, mit dem Aufzeigen der untersten
Scicte eine erschöpfende Konstitutionsformel (um einen Terminus
aus der Chemie zu gebrauchen) des philosophishen Typus zu bieten,
ferner lege ich schon hier gegen den etwa erhobenen Einwand der
Unvollständigkeit Verwahrung ein, man wird von einem einzelnen
nicht erwarten dürfen, daß er einen Urwald fällt, und sich zufrieden-
geben müssen, wenn seine Axt da und dort eine Lichtung ge=
schaffen hat, die einen freieren Ausblick ermöglicht.
I. Die Systeme.
Daß es im weiten Felde der Geschichte der Philosophie nur
einige wenige, stets wiederkehrende Weltanshauungen — Varis
ationen im einzelnen abgerehnet — gibt, wird den nicht ver=
wundern, der vom Studium des Unbewußten und seiner geringen
Anzahl pathogener Komplexe herkommt.
Eine historishe Übersiht über die Entwicklung des Problems
! In Erweiterung eines im Dezember 1912 in der » Wiener psydhoanalytischen
Vereinigung« gehaltenen Vortrages.
® Zit. nah L. Ziegler, Der abendländische Rationalismus und der Eros.
Diederihs, 1905, p. 216.
176 Alfr. Frh. v. Winterstein
eines Weltbegriffs und seiner Lösungen liefern, ja auch nur die aus
dem Unbewußten stammenden Elemente in den einzelnen Systemen
dartun, hieße den mir gesteckten Rahmen der Arbeit weit über-
schreiten, ih will bloß bei einigen Philosophen, die typishe Ver-
treter einer bestimmten Weltanshauung zu sein scheinen, die Ver-
mengung des Wunschmaterials mit dem Erkenntnismaterial! nach-
weisen. Zunächst gilt es jedoh, ein verbreitetes Vorurteil zu zer-
streuen: man neigt leiht dazu, einem philosophishen System, das
logish einwandfrei errichtet ist, deshalb auh den Wert der unbe-
dingten Wahrheit zuzusprehen. Hier mag an Nietzsches aller-
dings übertriebene Bemerkungen über die Bedeutung der Logik er-
innert werden. Wir geben zwei bezeichnende Stellen aus »Jenseits von
Gut und Böses mit Vorbehalt wieder: »Hinter aller Logik und
ihrer ansheinenden Selbstherrlihkeit der Bewegung stehen Wert-
schätzungen, deutliher geredet, physiologishe Forderungen zur
Erhaltung einer bestimmten Art von Leben.« »Die Falschheit eines
Urteils ist uns noh kein Einwand gegen das Urteil. Die Frage ist,
wieweit es lebenfördernd, lebenerhaltend, vielleiht gar artzüctend
ist; und wir sind grundsätzlih geneigt zu behaupten, daß die
falshesten Urteile uns die unentbehrlihsten sind.« Das heißt: Logik
ist ein Instrument, ein Mittel zu einem Zweck, oft nur ein will-
fähriger Diener im Dienste einer Leidenschaft, eine »Laterne der
Schritte des Willens«s (Schopenhauer), niht etwas in sich Be-
ruhendes von unbedingtem Wert. Auc der Paranoiker, der Zwangs-
neurotiker sind in ihren Folgerungen von großer logisher Treff-
siherheit und dennoh spriht niemand ihren Produkten objektiv
realen Wert zu. Überscharfe Logizität ist manchmal — und hiemit
berühren wir das Wesen der Scholastik — geradezu ein verdächtiges
Symptom, Überkompensation eines gewissermaßen endopsydhisch
wahrgenommenen Mangels im Unterbau, der durch verdrängte
Regungen geschaffen wurde. Man wird vielen in sih geschlossenen
Systemen nicht leicht logische Fehler nahweisen können und braudt
dennoh mit der Annahme nicht fehlzugehen, daß das Fundament
des stolzen Baues niht auf den Boden konkreter Tatsahen er-
richtet ist, sondern von den Fluten der Leidenschaft getragen wird.
Dodh zurük zu der uns oben gestellten Aufgabe!
Zwei Dinge sind es vor allem, die uns bei flüchtigster Durch-
sicht der Philosophiegeshichte als metaphysishe, nicht durch objek-
tive Tatsahenbetrahtung, wohl aber durh eine Nötigung des Un-
bewußten erforderte Dogmen erscheinen: der Begriff einer über-
sinnlihen Welt und die Einführung Gottes in ein wissenscaftliches
System. Übersinnlih ist »dasjenige, was prinzipiell nicht in die
i H. Silberer, Phantasie und Mythos, Jahrb. II, 1910, p. 622. Unter
Wunschmaterial verstehe ih hier — niht ganz in Übereinstimmung mit Silberer,
der darunter bloß infantile verdrängte Vorstellungen begreift — alle durh das
tee des Subjekts, nicht aber durh objektive Erkenntnis geforderten
nhailte.
Psydhoanalytishe Anmerkungen zur Geschichte der Philosophie 177
Sphäre des Sinnlihen hineingreift und daher prinzipiell nit mit
Sinnesorganen wahrgenommen werden kann«. (O. Ewald.) Nun
sind viele täglih von uns im Munde geführte Begriffe übersinn=
lihe: die Materie ist etwas Übersinnlihes ebensogut wie die Kraft
oder das Ih als Bewußtseinssubjekt oder das Unbewußte. Man
kann im Denken und Sprehen schlehtweg nicht auf Metaphysik
verzihten. Vershieden von dieser gleihsam durh die Ökonomie
unseres Denkens gebotenen Metaphysik ist die Annahme einer
zweiten Welt, die häufig! einer durh unbewußte Motive be-
bestimmten Tendenz zur Entwertung der gegebenen Realität ent-
springt, mag es sih nun beispielsweise um das Nirwana des
Buddhismus, um die Ideenwelt Platons oder um das Ding an
sih Kants handeln. Mehr oder weniger verhüllt blikt der wahre
psyhologishe Sachverhalt aus allen diesen Fiktionen hervor.
Fassen wir zunächst das psydhologishe Phänomen, das im
Laufe der Jahrtausende im Morgen- und Abendlande zu so ver=
schiedenartigen Lehren geführt hat, näher ins Auge!
‚Auf Grund der Forshungen Freuds und C. G. Jungs
wissen wir, daß es in unserem Seelenleben zwei entgegengesetzte
Strömungen? gibt: die eine strebt vorwärts, von der Mutter, der
Kindheit weg zur Eroberung der Außenwelt, durch sie löst sich
der Heranwachsende, der das Realitätsprinzip auf seine Fahne ge-
shrieben hat, von der Gemeinshaft mit dem unendlihen Leben,
mit dem er im Mutterleib zusammenhing, los, um ein Individuum
im höheren Sinne des Wortes zu werden. Nicht ohne schmerzliche
Kämpfe vollzieht sih der Aufstieg zur Höhe des Lebens, doch den
schlimmsten Feind trägt der Mensch in sich selbst, »die Sehnsucht
nach rückwärts, nah dem eigenen Abgrund, dem Ertrinken in der
eigenen Quelle, nah der Vershlingung in die Mutter. Sein Leben
ist ein beständiges Ringen mit dem Tode, eine gewaltsame und
vorübergehende Befreiung von der stets lfauernden Nadt. Dieser
Tod ist kein äußerer Feind, sondern ein eigenes und inneres Sehnen
nach der Stille und tiefen Ruhe des Nictseins, dem traumlosen
Schlaf im Meere des Werdens und Vergehens«.® Die »Sehnsuct
hin zur heiligen Nachts, zur Mutter, wo der Untershied zwischen
Subjekt und Objekt aufgehoben ist, ist die eine Quelle unserer
Jenseitshoffnungen, sofern sie nicht, einem zähen Lebenswillen ent=
sprungen, eine bloße Fortsetzung dieses Lebens voll Streit und
Gefahr (mit einer leihten Korrektur) erstreben;, auh Kunst und
Philosophie tragen in ihrem innersten Kern das Verlangen »nach
dem Tode, der Bewegungslosigkeit, der Sättigung und der Ruhes.t
Alle Entwicklung beruht auf einer Wechselwirkung dieser zwei
! Bezüglich der zweiten Quelle unserer Jenseitswünscde s. u.
? Die bei Schopenhauer nicht recht begreiflihe Entzweiung des Willens
wird durh die Annahme zweier Richtungen in uns psycdologish verständlich.
® Jung: Wandlungen und Symbole der Libido, Jahrb. IV, 1912, p. 386.
Jung: k.&
Imago 11/2 | Bar
178 Alfr. Frh. v. Winterstein
Strömungen. Der Schöpfer steigt immer wieder in die Tiefe seines
Unbewußten herab, um Kraft zu neuen Werken und Taten zu ge-
winnen. Jeder Fortschritt vollzieht sih in der Weise jener Echter-
nacher Springprozession, bei der die Teilnehmer zwei Schritte vor=-
wärts und einen rückwärts machen müssen.
Es liegt nahe, drei Iypen von Menschen zu unterscheiden,
Der eine, der Künstler, der Held, kehrt aus seinem eigenen Innern
stets wiedergeboren herauf, »ein Antäus an Gemüte«, der den
mütterlihen Ursprung berührt hat, der andere, der Neurotiker,
ertrinkt in seiner eigenen Quelle, der dritte lebt ewig fremd seinem
Unbewußten, aber auh ohne AÄußerordentlihes zu vollbringen.
Das Unbewußte ist das Typische, das Generelle, das Band,
das uns mit der Geshihte unseres Geschlechtes und dadurch mit
dem Leben des Alls überhaupt vereinigt, wohingegen das Bewußt-
sein unseren eigensten Besitz, das wahrhaft Individuelle vorstellt.
Wir verstehen von hier aus vielleicht, wie man immer wieder —
auf dem Wege über die Tiefe unseres Ihs — als der Weisheit
letzten Schluß die Ineinssetzung von Mikrokosmos und Makrokosmos,
von innerstem Ih und zentraler Weltpotenz, von mensclichem
Atman und Atman des Universum verkündigt hat. Denn je weiter
man in die Schichten seines Unbewußten hinabgelangt, je persön-
liher die Tiefe zu werden scheint, desto mehr nähert man sid
faktish dem Allgemeinen.
Wenn auch eine persönlihe Unsterblichkeit unwahrsceinlich,
ja ausgeschlossen ist, so leben wir doch gewiß in unseren Kindern,
unseren Werken, in den Spuren unserer bildenden Tätigkeit fort.
Das innere Erlebnis jedoh, das uns diesen Glauben eingibt, ist der
im Unbewußten dunkel gefühlte Zusammenhang mit der Gene-
rationskette, deren Glied wir sind. Ein solher Glaube kann, falls
er sich mit einer Entwertung dieses Lebens verbindet, »das Reid,
das niht von dieser Welt ists, nur aus infantilem (individuell-
prähistorishem) Material aufbauen und entstammt einer rückwärts
gerichteten Sehnsucht, deren Wurzel in Anpassungsschwierigkeiten
(Unmöglichkeit des Verzihtes auf das Lustprinzip) begründet ist.
In der dünnen Luftshicht allgemeinster Betrahtungen auf dem
Berggipfel der platonischen Ideenlehre landend, haben wir uns
zu fragen, welhe unbewußten Kräfte an der Errichtung dieses
hohen Baues schöpferish tätig gewesen sein dürften. Doch ist
Folgendes vorauszushicken: Das ganz auf die Außenwelt gerichtete
reine Auge des griehishen Volkes, das in seinen Philosophen von
einem naiven Realismus zum Phänomenalismus (auf Grund des
Mißtrauens in unsere sinnlihe Wahrnehmung) übergegangen war,
wendet sich erstmals mit Sokrates einer Betrahtung der Innenwelt
zu. Diese für die Geshihte des abendländishen Denkens hoc be-
deutsame und folgenshwere Tat, von Sokrates mehr als Forderung
ausgesprohen denn erfüllt, vollzieht sih in großartiger Weise bei
Plato, der dem Geist eine Richtung ins Transzendente wies, die man
Psydhoanalytishe Anmerkungen zur Geschichte der Philosophie 179
ganz allgemein als Platonismus bezeichnen darf und in der das Christen=
tum durch zwei Jahrtausende schnurgerade weiterging. Die Wandlung,
die sich seit dem siebenten und achten Jahrhundert allmählih in der
griehishen Psyche vorbereitete, führte im fünften Jahrhundert im
Gesamtleben des Volkes und im Leben des einzelnen zu tiefer-
gehenden Störungen: an die Stelle des geschlossenen Kampfes gegen
den äußeren Feind, den Perser, trat der innere Zwist zwischen
Stadt und Stadt, ja selbst innerhalb der einzelnen Stadt, die De-
mokratie nimmt immer mehr überhand. In dieser Zeit, der Zeit des
peloponnesishen Krieges, zeigt die Kunst ein ruhiges Antlitz von
nie wieder erreihter Schönheit und verrät nichts von den Leiden-
schaften in der Brust der Künstler. Aber auch sie vermag nicht
mehr die erregten Gemüter zu heilen, das Individuum wird asozial
und sucht im Labyrinth seines eigenen Innern Trost und Zuflucht.
Es beginnt die Geringshätzung der Außenwelt. Sokrates tritt auf
und erklärt, er gehe nicht vor der Stadt spazieren, denn man könne
von den Bäumen und Wiesen nichts lernen. Sein I’v@dı oadTov
(die Forderung des delphishen Apollo) ertönt als eine ernste
Mahnung in dem Getümmel der hellenishen Welt.
Erst Platon hat den Bruh mit der Sinnenwelt vollzogen,
nachdem bereits die Eleaten gelehrt hatten, daß hinter der Welt der
Mannigfaltigkeit und des wechselnden Scheines das eine wahre Sein
ruhe, Er, besser noh: Sokrates sind die Ahnherren des Ratio-
nalismus, der die wahre Erkenntnis aus der Vernunft ableitet und
das metaphysishe Än-sich-sein der Dinge a priori und apodiktisch
gewiß mittels intellektualer Anshauung zu erfassen vermeint. In
dem schönen Buhe von L. Ziegler »Der abendländishe Ratio-
nalismus und der Eros« wird gezeigt, wie das, was man später
intellektuale Anschauung genannt hat, nichts anderes bedeutet wie
den platonishen Eros, von dem im »Symposion«! die Rede ist.
Der von Mystik fast ganz freie Rationalist $ okrates, bei dem das
Daimonion, das Unbewußte nur warnenden, negativen, nicht positiv=
shöpferishen Charakter trug, — hinter dem die Logik, um ein Bild
Nietzsches in der »Geburt der Tragödie usw.« anzuziehen, wie
ein Triebwerk stand, hinterließ seinem Schüler, in dessen Brust Be-
wußtes und Unbewußtes, Philosophie und Theologie ein Leben
lang miteinander haderten, den Ausbau der Ideenwelt, die durch
den »Begriff« gefordert wurde, als sein Vermächtnis.
Diese Welt von übersinnliher Reinheit, von unbewegter und
unveränderter Hoheit ist bei Platon nur auf künstliche Weise mit
der Welt der Erscheinungen in Einklang gebraht. Die Ideenwelt,
das » Wesens, övrog Öv, odoia ist der Zweck des » Werdenss, y&veoıs,
das, was in der Seele aus Anlaß der Wahrnehmung der Sinnen-
dinge unendlihe Sehnsuht nah dem Urbild, nah der verlorenen
ı Platons Gastmahl. Ins Deutsche übertragen von Dr. Rudolf Kassner.
Diederichs, p. 63 ff.
12°
180 Alfr. Frh. v. Winterstein
Einheit erregt; dieses Streben nah der Höhe, das audh in den zer-
streuten und unvollständigen Erscheinungen waltet, aber ist der Eros,
der philosophische Trieb, die platonische Liebe.
Platons metaphysisher Dualismus, unter dem Einfluß jener
religiösen Strömung entstanden, die in den orphisch=dionysischen
Mysterien ihren Ausdruck gefunden hat, ist eine Konsequenz seiner
erkenntnistheoretishen Anschauung, die in dem Begriff etwas von der
sinnlihen Wahrnehmung wesentlih Verschiedenes, und zwar quali=
tativ Höheres, dem auch eine andere, wertvollere Wirklichkeit ent-
sprechen müsse, erblickte. Diese jenseitige, immaterielle Welt aber
ist nicht geistiger Art. Hatte bisher ein Strich Sinneswahrnehmung
und Körperwelt getrennt, so wurde nun durh Plato die Grenz=
linie zwischen diesen beiden als einer Einheit und dem Reich der
Ideen, von dem sih nur die negative Eigenschaft des Immateriellen
aussagen ließ, gezogen, wenn auch dieser Scheidung psycholo-
gisch der Abfall des Geistes vom Körper, der Widerstreit von
Bewußtem und Unbewußtem, mit einem Wort: der anthropologisce
Dualismus! (man könnte beinahe von einem neurotischen Dua-
lismus sprechen) zugrunde lag.
Vor Plato mußte die Re Frage aufsteigen: Wie gelangen
wir zur Kenntnis dieser unbewegt thronenden Ideenwelt, deren
shwäcdster Abglanz im Menschen das logish-sprahlihe Abstrak-
tum der Begriffe ist? Auf keine andere Weise, lautete die Antwort,
als durh ein unmittelbar gewisses intellektuales Schauen, und diese
Erwiderung entsprah völlig dem visuellen Typus des hellenishen
Volkes. Die Induktion der Erfahrung konnte niemals ein unfehlbar
siheres Wissen um das A-priori-Sein verbürgen.
Eine zusammenhängende Darstellung der Ideenlehre zu geben,
ist niht unsere Aufgabe, es verlohnt sich aber, die intellektuelle
Anschauung, den Eros, der in der folgenden Geschichte des Den-
kens eine so wichtige Rolle gespielt hat, als unleugbar vorhandenes
psychologisches Phänomen, das bloß eine falsche Deutung erfuhr,
näher zu untersuhen. Leopold Ziegler hat in seinem oben er-
wähnten Bud eine trefflihe Schilderung dieser psydhisch realen Er-
fahrung — wir haben keinen Grund, an der Aussage so vieler be=-
deutender und wahrheitsliebender Männer zu zweifeln — unter-
nommen und ist dabei diht an die Grenze dessen, was die Psydho-
analyse aufgezeigt hat, gelangt. Wir geben zunächst seine Gredanken
gekürzt wieder <(p. 66 ff.): Jede Konzentration des Bewußtseins
auf einen einzigen Gegenstand hat ein erhöhtes Gefühl für die
alleinige Wirklichkeit desselben zur Folge. Sucht der Mensch unter
all dem Wandel der rastlosen Vorstellungszusammenhänge, die in
ı Nietzsche hat im »Problem des Sokrates« die Behauptung aufgestellt:
»Die Instinkte bekämpfen müssen — das ist die Formel der Dekadenz: solange
das Leben aufsteigt, ist Glük gleih Instinkt.« Wir würden sagen: seine Triebe
verdrängen müssen, aber darin liegt noh nicht einmal etwas Neurotisches, da die
Neurose erst auf Grund der mißglückten Verdrängung entsteht.
Psydoanalytishe Anmerkungen zur Geschichte der Philosophie 181
ihm auftauchen, eine einzige Vorstellung festzuhalten, so gelangt er
bald dazu, diesem Objekt eine vergleihsweise höhere Wirklichkeit
als der vershwindenden Gesamtheit der übrigen zuzuschreiben. Ist
dieser Gegenstand auh nodh durdh seinen eenderen Inhalt von
allen anderen verschieden, scheint er shon in sih durdhaus aus=
nehmend, unvergleichlih, beziehungslos und gewissermaßen absolut,
so wird eine starke Konzentration auf dieses Objekt das Gefühl
erwecken, als sei das gewöhnlihe Dasein mit seinem gewohnten
Geschehen verlassen, eine neue, schönere, über dem Weltgesetze
der zeitlihen Kontinuität stehende Sphäre erreicht. Ein solhes Ob-
jekt »sui generis« finden wir in uns selbst vor, in der Betrachtung
unserer reinen Innerlichkeit. Die Vorstellung des bei sich beharrenden
Ihs ist, wie alle Objekte im psydologishen Sinn, frei von den
Formen der Kausalität und der Räumlichkeit, hingegen verläuft sie
in der Zeitlihkeit und besitzt eine gewisse Intensität (die Stärke
der sie begleitenden Gefühle). Da aber eine jede Versunkenheit des
Menschen in sich selbst, jeder Akt der Kontemplation eben dadurch
ausgezeichnet ist, daß die Beziehungen zu allen übrigen Objekten
außer dem eigenen Ih unterbrohen und aufgehoben sind, so fehlt
auh die Möglichkeit, sich der Zeitlihkeit und Gefühlsstärke dieses
Erkenntnisaktes bewußt zu werden, da alles Bewußtsein von diesen
Dingen auf dem Vergleihen beruht und sofort aufhört, wo dieses
unterbleibt. Aus dem subjektiven Gefühl nun, daß die Betradh-
tung des Ichs frei ist von den wichtigen kategorialen Gesetzen und
Formen, denen unsere Vorstellungen unterworfen sind, wird die
tatsächliche Ulnbedingtheit der Selbstbesinnung gefolgert und so
aus dem uns nächsten Symbol des Ewigen das An-sich-seiende
Ewige selbst gemaht. Der Anhänger des Eros vergißt, daß nur
sein Gefühl im Augenblick der Selbstshau die Zeitlihkeit und
Intensität seines Objektes aus dem Blickpunkt des Bewußtseins ver=-
loren hat, weil er aufhörte, seinen Zustand mit dem vorhergehenden
und nachfolgenden zu vergleihen, diese kategorishen Formen aber
sind noch lange nicht in der Wirklichkeit aufgehoben, wenn sie sich
dem beobadtenden Bewußtsein entzogen haben. Die selbstreflektierte
Versunkenheit in das Ih wird zu einem tatsächlihen Verlassen der
irdishen Welt und zu einem Verweilen im ewigen Ansih des
metaphysishen Seins. Aus dem erscheinenden Abglanz des wahren
Ansihs %, den wir gerade noh in glüclich-feierlihen Augen-
bliken zu erhashen vermögen, wird das Metaphysische an sich selber,
aus dem angeshauten Ih der Urgrund der Welt, das »seiend
Seiende«.
Wir haben es hier, falls es sih um einen länger dauernden
Zustand handelt, mit dem zu tun, was Jung »Introversion«
nennt. Die betreffenden Individuen schließen sih immer mehr von
der Realität ab und versinken in ihre Phantasie, wobei in dem
Maße, wie die Realität ihren Akzent verliert, die Innenwelt an
Realität und determinierender Kraft zunimmt. Eine Folge ist, daß
182 Alfr, Frh. v. Winterstein
sih die Libido von den Objekten der Außenwelt auf das Ih zu-
rückzieht und sich in die Regression begibt, wobei die infantilen
Imagines! wiederbelebt werden. Dieses Vernlen in die eigene
Tiefe, Heruntersteigen zu den »Müttern«, hat infolge der libidinösen
Überbesetzung das ganz einzigartige Gefühl einer besonderen Wirk=-
lichkeit zur Folge, gegenüber dem Entstehen und Vergehen der
Sinnenwelt, der wechselnden Libidobesetzung, herrscht hier Unver-
änderlichkeit, »Beharren« im Gegensatz zum »Heraustreten« und
»Zurückkehrens (Proklus). In dem Wesen der Libido, des Unbe-
wußten, wurzelt der Begriff der Ewigkeit, der nicht eine unendlich
lange Zeit vorstellt, sondern einer ganz anderen Bewußtseins-
dimension angehört. Die Ewigkeit fängt nicht erst an, wenn die
ER oe aufhört, sondern beide bestehen sozusagen überein-
ander.
Die intellektuelle Anschauung besteht eigentlih in dem un-
möglihen Verlangen eines dem visuellen Typus angehörenden Indi-
viduums, sein eigenes Unbewußte, das ER Verbotene zu
shauen. Sobald man das Ineinanderfallen von Subjekt und Objekt
nachgewiesen hat, verliert jeder Glaube an eine metaphysishe Welt
seine Berehtigung. Das erstrebte Schauen wird auf dem Höhepunkt
der Ekstase beispielsweise bei Plotin durh eine grobsinnlihe »Be-
rührung«?, ein »lustvolles Erfassen des Äbsoluten« ersetzt und dieses
Absolute selbst ist die eigene mütterlihe Tiefe, das All-Eine,
wo der Untershied zwishen Subjekt und Objekt aufgehoben ist.
Ziegler hat vergessen, seinen klaren Ausführungen hinzuzu=
fügen, daß jede intensive Einkehr in sich selbst, jedes Zurücziehen
von der äußeren Realität motiviert ist. Es ist jene früher be=
schriebene regrediente Strömung des Seelenlebens, der wir uns vor
allem im Falle der Versagung, d. h. bei einer Entbehrung im
realen Leben, oder bei einer allgemeinen Libidosteigerung, die auf den
bereits eröffneten Bahnen nicht befriedigt werden kann, überlassen.
Die Libido, für die die Realität durh die hartnäckige Versagung
oder Unmöglichkeit ihrer Befriedigung an Wert verloren hat, be=-
setzt unsere Gedankenbildungen, nun gilt nur mehr die von Freud
sogenannte »neurotishe Währung«, mit anderen Worten: die
Übereinstimmung mit der äußeren Wirklihkeit wird gleichgiltig, die
seelishen Vorgänge werden infolge ihrer Affektbetonung überschätzt.
Doch nur mit einem Änteil seiner Persönlihkeit ist es dem Indi-
viduum gelungen, auf die infantilen Bahnen zu regredieren, neue
Wunschbildungen zu schaffen und die Spuren früherer, vergessener
Wunscbildungen wieder aufzufrishen, der andere Anteil ist mit
der Realität in Beziehung geblieben. Der daraus entstehende
Konflikt wird Kompromißshöpfungen ins Leben rufen. Wenden wir
ı Bezüglih der Bedeutung von »Imagos s. Jung, Wandlungen und Sym-=
bole der Libido, Jahrb. III, 1911, p. 164.
2 Stammesgeshidtlih werden die Tastempfindungen als die ursprünglihen
angesehen — eine phylogenetische Regression!
Psycoanalytishe Anmerkungen zur Geschichte der Philosophie 183
uns nach diesen allgemein giltigen Erwägungen der platonishen
Ideenlehre zu.
Hatte shon bei Sokrates der Begriff gegenüber der sinn-
lihen Wahrnehmung eine entschiedene Höherwertung erfahren, die
mit einer Übershätzung der geistigen Realität zusammenhing und
der Ausgangspunkt einer Problemstellung geworden ist, deren
charakteristishe Äußerung der Universalienstreit des Mittelalters
war, so wird bei Plato die ganze Frage ungleich mehr vertieft und
ins Metaphysishe gewendet. Sokrates meinte, man gelange zu
den Begriffen induktiv, an der Hand der Erfahrung. Hier war nur
Wahrsceinlihkeit, niht Gewißheit zu erreichen. Plato hingegen,
der der Erfahrung innerlih viel fremder! gegenüberstand, drang
auf unmittelbare Oewißheit In dem, was er bezeichnenderweise
»Eros« nannte, in der intellektualen Anshauung, glaubte er die
Methode gefunden zu haben, zur Kenntnis des An-sich-seins der
Dinge vorzudringen. Diese Sehnsucht, das reine Urbild von neuem
zu shauen und ihm im begrifflihen Denken ähnlih zu werden,
projiziert Plato auh in das Sinnending selbst, dem er ein gleiches
Streben nah dem Übersinnlihen, ein gleihes Verlangen, die Idee
in sih darzustellen, zuscreibt.
Indem sih Plato aus Gründen, die wir bloß vermuten, nicht
wissen können «verdrängte Homosexualität’), in die Innerlichkeit
zurückzog, löste er sich von den sinnlichen Vorstellungen der Außen-
welt los, um zu den allgemeinen Begriffen aufzusteigen. Dieses
Allgemeine, das in der äußeren Realität nicht anzutreffen war, er-
hielt nun aus der eben erwähnten Ursahe eine intensive Gefühls-
verstärkung, bot anderseits auh an und für sich infolge seiner
Eigenshaft, vieles einzelne unter sih zu fassen, diesem über-
geordnet zu sein wie der Vater seinen Kindern, die Möglichkeit, als
eine Art Kompromißbildung zwischen den wiederbelebten infantilen
Imagines des A are und dem in Relation zur Außenwelt ver-
bliebenen Stück der Persönlichkeit zu gelten. Wem diese Auffassung
des Begriffes unglaubhaft dünkt, sei daran erinnert, daß sih Vor-
läufer der Platonishen Idee bei den Peruanern, den Irokesen
Nordamerikas, den Bewohnern der samoanischen Inselgruppe und
den Finnen gefunden haben: das einer Erklärung bedürftige Vor-
handensein einer Anzahl gleichartiger Dinge wird auf die Erzeugung
durh ein Urwesen zurückgeführt, das bald als ein älterer, den
fraglihen Wesen an Kraft und Größe überlegener Bruder, bald als
ihr im Land der Seelen wohnendes Urbild, bald als der auf einem
Stern wohnhafte Gott oder Genius betrachtet wird?.
ı Man wende mir niht ein, daß Plato beständig vom Streben nah Ver-
besserung der äußeren Welt geleitet wurde, also keineswegs bloß Theoretiker war.
Eben in jenen mißglückten Reformversuhen verrät sih nur allzudeutlih der
Glaube an die Allmaht seiner Gedanken. Auch die sokratische Gleichsetzung von
Einsiht und (praktischer) Tugend ist für diese Überschätzung des rein Geistigen
charakteristisch.
® Vgl. Gomperz, Griehishe Denker, II., p. 320, 573,
184 Alfr. Frh. v. Winterstein
Es klingt wie eine endopsyhishe Wahrnehmung der tat-
sächlichen Determiniertheit des logish-sprahlihen Abstraktums durch
das Unbewußte bei Plato, wenn dieser in leidenschaftlihen Worten
eine diesen blassen Ideen entsprehende höhere Wirklichkeit fordert.
Als solche bot sih nur »das längst nicht mehr Vorhand’nes — die
»Mütters, »umshwebt von Bildern aller Kreatur«!. Hätte uns nicht
Goethe den Schlüssel zur Lösung des Geheimnisses in die Hände
gespielt, wir fänden vielleiht einen bedeutsamen Hinweis auf die
»Imagines« des Unbewußten in dem platonishen Vergleih der Idee
des Cars mit der Sonne, die ein in der Mythologie sowohl als
auh in der Psydhose und Psycdoneurose geläufiges Vatersymbol
ist, jene Sehnsuht nah der metapsydhishen Wirklichkeit, »wo nicht
Ort, noh weniger eine Zeit« (l), heißt bei Platon — Eros, Philo-
sophieren ist ihm Sterbenwollen, d. h. der Wunsch, ins Unbe-
wußte wieder einzugehen, zu introvertieren, an einer anderen Stelle
wieder Erinnerung, und zwar an die infantile Präexistenz, von der
der Erwachsene ja gewöhnlih durh gänzlihe Amnesie ge=
trennt ist.
Die dem Unbewußten eigentümlihe Veränderungslosigkeit der
Imagines kommt in der von Plato den Ideen verliehenen starren
Ruhe trefflih zum Ausdruck, die Körperwelt dagegen ist die Welt
der Unruhe, des Entstehens und Vergehens, das bedeutet die ewig
wecselnde Libidobesetzung der Objekte, denn immer sucht man das
verlorene Ideal, ohne es zu finden. Liebt man aber einmal einen
irdishen Gegenstand, so liebt man ihn nur als Bild des intelligibeln.
Erinnert das niht an die Bemerkungen Freuds über die Reihen-
bildung bei der Objektwahl nah dem Vorbild der Mutter? Der
Begriff der platonishen Liebe, wie er heute verstanden wird, erhält
in diesem Zusammenhang einen sehr guten Sinn: er bezeichnet eine
libidinöse Gefühlseinstellung, deren Aktivierung wohl durh unbe-
wußt-inzestuöse Phantasien (oft die Ursahe der psyd&hischen Im-
potenz) verhindert wird.
In großartiger Weise projiziert Plato den Eros in den ge=
samten Lebensprozeß der sichtbaren Welt. Das ganze Weltall
beherrsht der Trieb, in der unendlihen Reihe der sinnlihen Er-
sheinungen die ewige Wahrheit und Schönheit der Idee zur Dar-
stellung zu bringen. Die Idee ist das sehnsuhtweckende Bild und
so Ziel und Zwec&ursadhe des irdishen Treibens.
Wir haben oben flüchtig erwähnt, welch mächtigen Einfluß die
orphisch=-dionysische Religion auf Platos Anschauungen von
einem Jenseits ausgeübt hatte. In diesen Vorstellungskreis gehört auch
die Auffassung, der Eros sei der Schmerz, womit der Dämon,
der durh eigene rätselhafte Schuld in die Geburt gestürzt?
1 Denn woraus soll eine solhe zweite wesensvershiedene Welt erbaut
werden, wenn nicht aus dem prähistorischen Material des Individuums?
2 Der Ausdruk »Sturz in die Geburt« findet sih nicht nur bei den
Orphikern, sondern auch im Buddhismus.
Psydoanalytishe Anmerkungen zur Geschichte der Philosophie 185
sei, nah dem verlorenen Paradies seines reinen und eigentlihen
Wesens zurückverlange. Es ist wiederum nichts anderes wie jene
Sehnsuht nah der Kindheit, die also symbolish verhüllt auftritt,
das dunkle Schuldgefühl mag in längst verdrängten infantil-sexuellen
Regungen und Todeswünshen wurzeln. Nicht nur hier, auch in der
Denkweise primitiver Völker finden wir die Identifizierung des
Eintrittes in die Pubertät, in das Stadium der verstärkten Sexuali=
tät mit einer Greburt!.
Ziehen wir die Summe, Die Ideenlehre Platos stellt sih uns
ihrem letzten Grunde nad (wir sehen von dem intellektuellen Über-
bau ab) als eine Libidotheorie dar, die eine Richtung unserer
Psyche, jene »passion de la paresse« (La Rochefoucauld), von
der Jung in seiner bedeutenden Arbeit »Wandlungen und Symbole
der Libidos? handelt, in wundervoll durchgeistigter Weise zum
Ausdruk bringt. Mit einem wissenscaftlihen erdeinse der
äußeren Wirklichkeit? hat sie freilich nichts zu tun. Das hindert aber
nicht, daß sie den allergrößten Einfluß auf die folgenden Denker
ausgeübt hat, wodurdh sie ihre psychologish=-reale Wurzel in der
menschlichen Natur bewährt. Mit Sokrates-Plato beginnt die Er-
oberung der Innenwelt. Fast scheint es, als wäre in jenem Jahr-
hundert die Neurose* des abendländishen Denkens ausgebroden,
von der wir uns heute noch nicht befreit haben. Das Christentum
fällt unter den erweiterten Begriff des Platonismus — das Jenseits
als Wille zur Verneinung der Realität! »Aber an der Wirklichkeit
leiden, heißt eine verunglükte Wirklichkeit sein.«
Kehren wir noch einmal zu dem, was wir oben intellektuelle
Anschauung nannten, zurück.
Wir haben gesehen, daß sie in dem Verlangen bestand, das
Metaphysische, wir dürfen dafür einsetzen: das Metapsycische, mit
dem inneren Auge zu schhauen5. Die unmittelbare Gewißheit, auf
die das Individuum stürmish drang, erinnert uns beinahe an die
Zweifel der Zwangskranken und ihr Streben nah Sicherheit, indes
die Betonung des Sehens einen Hinweis auf den sogenannten visu=
ellen Typus enthält. Nicht ohne einiges Zögern werfe ih an dieser
Stelle die Frage auf, inwieweit vielleicht ein Zusammenhang zwischen
diesem »type visuel« und dem infantilen Schautrieb, den das Ver-
botene zu schauen reizt, besteht. Über die Zusammenstellung der
intellektuellen Anschauung mit diesem Schautrieb wird sich wohl
i Vgl. Frazer, Totemism and Exogamy, IV, p. 228 u. passim.
?2 Jahrb. III und IV, 1911 und 1912.
® »Er dringt in die Tiefen, mehr um sie mit seinem Wesen auszufüllen,
als um sie zu erforshen.< Goethe über Plato.
* Man darf vielleiht im übertragenen Sinn von Neurosen einer Massen-
psyhe sprechen. Der Vergleich ist natürlich nicht wörtlich aufzufassen. Und es ist
— etwaigen Einwendungen gegenüber — hinzuzufügen, daß die Neurosen den
Fortschritt machen helfen.
5 Bei Fichte ist die intellektuelle Anschauung die unmittelbare Auffassung
des reinen Ichs, das nichts anderes wie unser Unbewußtes bedeutet.
186 Alfr. Frh. v. Winterstein
nur derjenige entrüsten, der die Vorbildlihkeit des Sexuellen noch
nicht kennen gelernt hat. Wie eine auf höherem Niveau erfolgende
Wiederkehr der verpönten und verdrängten Schaulust — deren
enauere Untersuhung uns tief in das Studium der infantilen
Sexualität und speziell des Narzißmus hineinführen würde — mutet
uns die infolge der Abkehr von der Realität libidinös überbesetzte
Selbstbetrahtung des Denkers an, der, ein geistiger Narziß, seinem
Denken förmlih zuschaut. Sein tiefstes Verlangen geht aber dahin,
nicht mehr sein bewußtes psycologishes Ich, sondern sein Unbe-
wußtes, den »Willen« Schopenhauers, das »Fünklein« Meister
Eckharts zu erblicken.
Freud hat einmal die Phasen einer Zwangsneurose ganz all=
gemein folgendermaßen beschrieben: An Stelle des verdrängten
Sexuellen tritt eine affektvoll akzentuierte Handlung, die möglichst
weit davon entfernt ist, das Sexuelle setzt sih aber dann as SO=
weit durch, daß es in der Zwangshandlung geradezu nahgeahmt wird.
An diese Bemerkungen wird man erinnert, wenn man den Er-
kenntnisprozeß bei einem Mystiker wie Eckhart beschrieben findet.
»Das Erkennen«, heißt es dort, »setzt Gleichartigkeit voraus im
Erkennenden und Erkannten. Schon das sinnliche Wahenklnes be-
deutet eine reale Vereinigung zwishen dem Wahrnehmenden und
dem Wahrgenommenen.« Die Auffassung des Erkennens als einer
geschlechtlihen Vermishung ist übrigens uralt und findet sich be=
kanntlih schon in der Bibel. »Er erkannte sie«, d. h. er begattete
sie, da die Erkenntnis ursprünglih vor allem auf das Sexual-
geheimnis geht (auh im Englishen: »He new her«). Der Prozeß
der Selbsterkenntnis, die an sih den idealen Fall der Gleichartigkeit
um Subjekt und Objekt darstellt, ist, wenn sexualisiert, niht nur
durh seinen Inhalt, sondern auh durh die Tätigkeit des eigenen
Denkens lustvoll (Funktionslust). An irgendeiner Stelle spriht Freud
von einem »Mißbrauh des Denkensse — ein Ausdruck, dem man
angesihts mancher unfruchtbaren metaphysishen Spekulation nur
zustimmen kann. Vielleiht paßt auh der Ausspruh Lessings in
diesen Zusammenhang, daß ihm mehr am Suchen der Wahrheit als
an ihr selbst gelegen sei.
Es ist bedeutsam, daß der Mystiker Eckhart den Vorgang
der Erkenntnis des eigenen Ihs als göttliche Dreieinigkeit! darstellt.
Ich setze einige bezeihnende Stellen aus Eckhart hieher: »In dem
klaren Spiegel der Ewigkeit, dem ewigen Sichselbstwissen des
Vaters, da gestaltet er ein Abbild seiner Selbst, seinen Sohn. In
diesem Spiegel bilden sich alle Begriffe ab und man erkennt sie
darin, freilih niht als Kreaturen, sondern als Gott in Gott.«
Außer Gott ist bei Eckhart die Kreatur ein lfauteres Nichts. »Das
reine Wissen als Beziehung der Seele auf sich selbst ist immateriell
und hat mit Raum und Zeit nichts zu schaffen« (vgl. das oben über
I Schlegel hat einmal die Hegelshe dialektishe Methode die Methode
der Dreieinigkeit genannt.
Psychoanalytishe Anmerkungen zur Geschichte der Philosophie 187
die intellektuelle Anshauung Gesagte). »Diabolus est Deus inversus«
das Böse ist der verkehrte Wille des Guten. »Gott liebt nichts als
sich selbst oder sein Gleichnis in allen Dingen« (hier wird der
Narzißmus im Gegensatz zur Objektliebe deutlih ausgesproden;
man denke auh an die Liebe Gottes bei Spinoza),
»Durh den Akt des in sich selbst Reflektierens wird die Natur
zur Person und als Person heißt die Natur ‚Vater’.« Schließlich:
»Die Reflexion in sich ist das Wissen, der Vater ist also die reine
Vernunft, die sih selbst vollkommen durhschaut. Das Objekt dieses
Wesens ist der Sohn oder das Wort und die Liebe zwishen Vater
und Sohn, als ihre ewige gegenseitige Beziehung aufeinander, ist
der heilige Geist.« Hier wird Erzeugen und Sprechen gleichgesetzt.
Aus diesen und ähnlihen Aussprühen Eckharts geht aud her-
vor, wie groß die Rolle des Narzißmus vornehmlih bei den My-
stikern ist. So, wenn sie beispielsweise lehren, daß im Paradies ein
jedes Ding sih im anderen spiegelt, der Baum im Menschen, der
Mensh im Tiere usw!,
Was hier als Vergleih gebrauht wird: das Bewußtseins=-
subjekt setzt das Bewußtseinsobjekt, der Geist erzeugt das Wort —
so gebiert der Vater den Sohn, kann für uns, die wir keinen Zu=
fall im Psycdhischen anerkennen, nicht ohne Bedeutung sein. Die Ver-
mutung ist vielleiht nicht völlig abzuweisen, daß der an und für
sih neutrale Akt der Selbstbetrahtung (der die psychologisch inter-
essante Frage nahelegt, ob es sih dabei um eine tatsächliche
Gliederung in Bewußtseinssubjekt und =objekt handelt) dem Miß-
brauch ausgeliefert wurde, »den die weggelogene und verdrängte
Sexualität mit den höchsten seelishen Funktionen treibt»?, Gefühle,
die dem Vater gegenüber unterdrükt werden mußten, steigen aus
Tiefen der Verdrängung herauf und hypostasieren zwei Bestand-
teile des Erkenntnisvorganges zu zwei Personen, wobei sie die
Zweideutigkeit des Wortes »Erkennens und seine erkenntnis=-
theoretishe Auffassung (reelle Einigung mit dem Objekt) benützen,
um libidinöse Beziehungen zwischen Sl zwei nicht scharf von-
einander zu sondernden Gliedern des einen Aktes herzustellen.
Möglih, daß die Relation zwishen Vater und Sohn, den Personi-
fikationen von Bewußtseinssubjekt und =objekt, das unbewußte
Motiv jenes Rückzuges vor der Außenwelt war, der den Narziß-
mus und die Mißachtung der Kreatur als lauteren Nihts zur Folge
hatte. Und die auch anderwärts ausgesprochene Meinung, daß ein
tieferer Zusammenhang zwishen Narzißmus und Homosexualität
bestehe, würde in diesem Falle wenigstens keinen Widerspruch er-
fahren. Die älteste Form der Beziehung zwischen zwei gleic-
ı Zit. nah R. Kassner: Der indishe Gedanke, Inselverlag, 1913. —
Nietzsche: »Im Grunde spiegelt sih der Mensch in den Dingen, er hält alles
für a was ihm sein Bild zurükwirft: das Urteil ‚schön‘ ist seine Gattungs-
eitelkeit.«
? Jung, Jahrb. IV, p. 346.
188 Alfr. Frh. v. Winterstein
geschlechtlihen Individuen, die noh überdies einander oft sehr
ähnlih sind, die Identifikation mit diesem väterlihen Sexualobjekt
— und die beim Narzißmus vorhandene Identität mit dem Gegen-
stand seiner Liebe: ih glaube, das spricht deutlih genug für eine
Annäherung der zwei Phänomene. Sublimierte Homosexualität und
geistiger Narzißmus sind bei Eckhart gewissermaßen auf einen
Ausdruk gebradt!.
Hinter Gott, der Einen göttlihen Natur, die sih »zu einer
Dreiheit von Personen entfaltet, indem sie sih selbst erkennend sich
anschaut als ein reales Objekt ihres Erkennens und sich in Liebe
und Freude an diesem ihrem Tun immer wieder in sih zurücknimmts,
ruht das in sich selbst verborgene Absolute, die Gottheit. Wir
dürfen wohl sagen: der kleinere Kreis des Bewußten und seiner
Erkenntnistätigkeit ist vom größeren Kreis des Unbewußten einge-
schlossen. Die sittlihe Aufgabe besteht nah Eckhart darin, sic
durh unmittelbare Anshauung mit dem Absoluten zu vereinigen
und so die Gottheit lustvoll zu besitzen. Das heißt mit anderen
Worten: man soll in die eigene Tiefe steigen und sich seiner infantil
gebundenen Libido hingeben. Das Sollen drükt nur die für
Eckhart natürlihe Richtung der rückläufigen Strömung im Seelen-
leben aus. Aud hier liegt dasselbe Mißverständnis wie bei dem
oben erwähnten Begriff der Ewigkeit vor: etwas, was höchstens als
Symbol des Absoluten gelten kann, der in der Mutter wurzelnde
Urgrund des Individuums, wird für das Absolute selbst ausgegeben.
Vergleihen wir Mystik und Rationalismus, so sehen wir, wie
innig beide zusammenhängen? Man könnte sagen: der Rationalis=
mus ist eine aufgeklärte Mystik, die Mystik ein theologischer
Rationalismus. Beim Rationalismus heißt das metaphysishe An-sich-
sein nicht mehr Gott, bei ihm überwiegt der Erkenntniszwec&, indes
der Mystiker vor allem die Vereinigung mit der Gottheit im Auge
hat. Beide bedeuten einen Fortschritt gegenüber den Projektionen
der Religion, indem sie das tiefste Geschehen in das mensclice
Gemüt verlegen. Und von da ist der Weg nicht mehr allzuweit zu
ihrer Interpretation als (verschobene and symbolish verkleidete)
Libidotheorien. Mag man über jene Entgötterung der Welt aud
klagen: aber möge man nicht vergessen, daß noch genug des Rätsel-
haften und Schicksalsmädtigen in der eigenen Seele bleibt.
ı Über den Mystiker hat L. Feuerbach in den Noten zum »Wesen des
Christentums (Kröners Volksausgabe, p. 181) nachstehende treffende Worte ge-
sagt: »Sein Kopf ist stets umnebelt von den Dämpfen, die aus der ungelöshten
Brunst seines begehrlihen Gemüts aufsteigen.« Ferner: »Er setzt sich einen Gott,
mit dem er in der Befriedigung seines Erkenntnistriebes unmittelbar zugleich seinen
Gescdlectstrieb, d. h. den Trieb nach einem persönlihen Wesen befriedigt. So ist
auh nur aus der Unzucdt eines mystischen Hermaphroditismus, aus einem wol=
lüstigen Traume, aus einer krankhaften Metastase des Zeugungsstoffes in das
Hirn das Monstrum der Schellingshen Natur in Gott entsprossen, denn diese
Natur repräsentiert, wie gezeigt, nichts weiter, als die das Licht der Intelligenz
verfinsternden Begierden des Fleisches.«
® Vgl. auh L. Zieglers op. cit., p. 70.
Psydoanalytishe Anmerkungen zur Geschichte der Philosophie 189
Schon mehr als einmal war im Verlaufe dieser Arbeit vom
Gottesbegriff die Rede. Bevor wir nun zur Besprehung der kosmo-
gonishen Phantasien — denn das sind die philosophishen Systeme,
die Gott an den Anfang setzen — übergehen, wollen wir einen
Augenblick Halt mahen und die möglihen Bedeutungen des UGottes=-
begriffes ganz flühtig betrachten. Gott ist, abgesehen davon, daß er
eine Erhöhung des Vaters! darstellt, eine Personifikation psychischer
Phänomene. Er kann einmal — mit einigen Einschränkungen —
als Projektion der wunscerfüllenden, allmächtigen, allweisen endo-
psydhishen Instanz des Unbewußten gelten, welch letztere während
unseres sanzen Lebens das leistet, was der Vater nur dem be=
BranTee Kind zu leisten shien. Auch der Kindern, Primitiven
und gewissen Neurotikern eigentümlihe Glaube an die »Allmadht
der Sedaukals (Freud) erschafft sih, wenn ihn die Wirklichkeit eines
anderen belehrt, in Gott eine Wunscherfüllung, vielleiht auf dem Um-
wege über den Vater, unser erstes Ideal. Wir wissen, daß das Kind
seinem Grotte die Züge des Vaters, des zornigen und des liebenden
(Altes und Neues Testament), leiht und sih der Erwachsene in
Momenten der Hilfsbedürftigkeit in den Schutz dieser infantilen
Mad begibt.
Der Teufel, »Deus inversus», der eine Personifikation unseres
elementaren Trieblebens (Freud) vom Standpunkt des ablehnenden
Bewußtseins (oder auc der entgegengesetzt gerichteten, regredienten
Strömung im Seelenleben) ist, kann, wenn er als von Gott ab-
fallend dargestellt wird, die im Verhältnis zum Vater existierende
Komponente des Hasses bedeuten, während Gott auch ein Symbol
unseres Bewußtseins, unserer höchsten Sexualverdrängung, unserer
sittlihen Persönlichkeit, kurz: unser Ideal ist.
In der Auffassung des Verhältnisses Gottes zur Welt kann
man zweierlei Systeme untersheiden: das Emanations- und das
Kreationssystem?. Dem erstgenannten begegnen wir in der grie=
chishen Philosophie zuerst bei Heraklit und dann bei den Stoikern.
Beide fassen das Wesen Gottes als feurige, erwärmende und
bildende Kraft auf (Urfeuer bei Heraklit, A6yos omeouarızdz bei
den Stoikern), die alles in der Welt in ewig erneutem Kreislauf
aus sih hervorgehen und in sih zurückströmen läßt, wobei das
Ganze das Beharrende, sich ewig neu Erzeugende ist (Schwegler).
Die Welt ist also eine Ausstrahlung Gottes in der Art, daß die
mittelbare oder entferntere Emanation einen geringeren Grad von
Vollkommenheit besitzt als ihr Prinzip, daß demnah die Gesamt-
heit des Seienden ein absteigendes Stufenverhältnis darstellt. Die
Emanationslehre findet ihre großartige Ausgestaltung bei den Neu-
platonikern, später bei Scotus Eriugena und Meister Eck-
hart, in der neuzeitlihen Philosophie kehrt sie beispielsweise bei
' »Die Gefühlsbedeutung des Vaters ist in Gott als äußerlihe Macht
projiziert.< Freud.
: Thomas von Aquino hat einen Mittelweg eingeschlagen.
19) Alfr. Frh. v. Winterstein
Jakob Böhme und Spinoza! (dessen Auffassung sih in vielen
Punkten eng mit der stoischen berührt) wieder. Dem Kenner der Psyho-
analyse erscheint diese ganze Theorie, die sih auh im Wahn-
system des geistvollen Paranoikers Schreber? findet, als eine Pro-
jektion gewissermaßen endopsydhish wahrgenommener Libidovor-
gänge, als eine Darstellung der Emanation der beim Ih im
Stadium des Narzißmus® verbleibenden Triebe, die zur Objekt-
besetzung führt, und der immer wieder zu diesem Ausgangspunkt
erfolgenden Regression. »Im Wechsel liegt Erholungs, sagt Heraklit.
Ein solhes Alternieren zwishen den zwei Strömungen gehört
vielleiht zu den normalen Vorgängen in uns. Und der Unterschied
im Rang, den beispielsweise ein Plotin zwischen dem »Unendlih-
Einens, wo die Entgegensetzung von Subjekt und Objekt aufge-
hoben ist, und der din Welt als der entferntesten Emanation
macht (voös und Seele sind eingeshobene Glieder dieses kosmo-=
logishen Prozesses), drükt auf recht bezeihnende Art die ver-
shiedene Bewertung von eigenem Sexualsubjekt-Objekt und dem
fremden Libidoobjekt aus. Auch das von Plotin angewendete
Gleichnis des Lichtes, welches, ohne selbst an seinem Wesen einzu=
büßen, in die Finsternis strahlt, deutet geradeso wie die »Gottes-
strahlen« Schrebers auf ein Libidosymbol. Ich erinnere ferner an
das, was ih oben über die intime Beziehung von Narzißmus und
» Vaterimago« (Gott) gesagt habe.
Der vom Neuplatonismus wie von aller Mystik erstrebte
subjektive Zustand der Ekstase, wo das Subjekt »sich des Abso-
futen innerhalb seiner selbst bemädtigt, es umarmt (l), wo das
innere mystische Schauen? einer Berührung (dm/woıs) des Absoluten
gleihkommt, wo das Subjekt sih vom Absoluten erleuchtet und
erfüllt fühlt«, ist uns ebenfalls seinem Wesen nah schon bekannt
(gesteigerte Introversion, die Vaterimago trinkt wie der Schatten in
er griehishen Unterwelt gewissermaßen Blut und erwadht zu
vollem Dasein). Der vermutete Zusammenhang zwischen Narziß-
mus und infantiler, konstitutionell verstärkter Schaulust® — Alfred
Adler würde von einer Triebvershränkung sprehen — wird durch
die große Bedeutung, die in den Plotinishen »Enneadens dem
»ÜdEewoeiv« eingeräumt wird, bis zu einem gewissen Grade bestätigt.
ı Welder Unterschied freilih zwishen dem Urfeuer Heraklits und der
abstrakten Substanz Spinozas!
? »Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken«, Leipzig 1903, Mutze, p. 19.
> Vgl. Freud, Psydhoanalyt. Bemerkungen über einen autobiographisch be-
schhriebenen Fall von Paranoia, Jahrb. III, 1911, p. 54.
* Ich erinnere hier auh an die drei Momente des dialektischen Prozesses
bei Proklos: Beharren, Heraustreten, Zurükkehren, Movn, stoöoÖdog, EtLoToogn.
Bi 5 Das mystische Fühlen der Gottesnähe, das sogenannte persönliche innere
rlebnis.
6 Die narzißtishe Lust am eigenen Gliede ist mit der Lust, die Genitalien
des anderen zu schauen, vershränkt. — Schreber madht auf p. 16 seines oben
zitierten Buches folgende Bemerkung: »Die Seligkeit bestand in einem Zustand
ununterbrochenen Genießens, verbunden mit der Anschauung Gottes.s
Psydhoanalytishe Anmerkungen zur Geschichte der Philosophie 191
In der III. Enneade, Buch 8, antwortet die Natur jemandem auf
die Frage: »Weswegen schaffst du?« »Weil ich eine schaulustige
Natur bin.« Und über den Narzißmus, der unser aller Denkweise
beherrscht, äußert sih Plotin in der V. Enneade, Buh 8, wie
folgt: »Wir indessen, die niht gewöhnt sind oder nicht verstehen,
in das Innere zu schauen, jagen dem Äußeren nah, ohne zu
wissen, daß es das Innere ist, was uns bewegt, wir gleichen einem
Menschen, der beim Anblick seines eigenen Bildes niht wüßte, wo-
her es kommt, und ihm nadjagte.«!
Wir sagen nihts Neues, wiederholen vielmehr nur mit
anderen Worten schon Gehörtes, wenn wir dem Gedanken Aus-
druk geben, daß dieses Absolute, mag es nun (mit deutlihem Hin-
weis auf seinen Symboldarakter) Urfeuer, Gottheit, Erstes, Sub-
stanz, Geist, Wille oder wie immer heißen, oft gegenüber der
flüchtigen, veränderlihen Sinnenwelt die - Libido
gegenüber ihren ewig wecselnden Besetzungen bedeuten kann. Im
»Rigvedas ist die Welt direkt als Libidoemanation aufgefaßt. In
Wagners »Tristan und Isoldes kommt es auf dem Höhepunkt der
Liebesraserei zu einem Weltuntergange. Indes hier das Sexual-
objekt alle der Außenwelt geschenkten Besetzungen an sich zieht,
saugt während des stürmishen Stadiums der Paranoia das Ih des
Kranken selbst diese Besetzungen ein, wodurh die Weltkatastrophe
herbeigeführt wird.
Das Versinken in die eigene Libidoquelle, das Verlangen,
in die eigenen Eltern wieder einzugehen, den Weg von neuem zu
betreten, der in die dunkelste, fernste Vergangenheit, ins Absolute
zurückführt, drükt auh den Wunsch jener mädtigen Strömung
in unserem Innern aus, zu einem neuen und anders beschaffenen
Leben geboren zu werden. Wie hier kosmisches und egoistisches
Gefühl durdheinanderspielen, läßt sich im einzelnen nicht mehr sagen.
Im Absoluten ist der Untershied zwischen Subjekt und Ob-
jekt ausgelösht. Dies wird von dem Individuum als lustvoll
empfunden und ist unseres Erachtens von wesentlicher Bedeutung
bei den ästhetishen Einfühlungsvorgängen. Vielleiht liegt darin
eine Art Sehnsuht nah dem Zustande vor der Geburt‘.
Absdließend mödhte ih noch die Emanationstheorie®
J. Böhmes mit wenigen Worten berühren. Da ist vorerst seine
Lehre von der ewigen Natur in Gott. Der anthropologishe Dualis-
mus zwishen Materie, Unreinem, Finsternis auf der einen und
Geist, Bewußtsein, Licht auf der anderen Seite wird in Gott, den
! Nadı einem alten Mythus war Bacdus, als er sih in einem Spiegel be-
trachtete, so entzückt von seiner Schönheit, daß er die Natur nach seinem Bilde
formte. (Zit. bei ©. Kiefer, Die Enneaden des Plotin, Diederichs, 1905.)
? Freud, Psychoanalytishe Bemerkungen über einen autobiographish be=
schriebenen Fall von Paranoia, Jahrb. II, p. 61.
® Vgl. Karl Joel, »Das Urerlebnise. Zit. bei Jung, Jahrb. IV, p. 316.
* Eigentlih eine Verbindung von Emanation und Kreation.
192 Alfr. Frh. v. Winterstein
gemeinsamen Urgrund, als von Anfang an bestehend, verlegt —
eine Umgehung, nicht eine Lösung des Problems von Körper und
Geist. Hier wird der Widerstreit von Bewußtem und Unbewußtem
unnötigerweise auf Gott übertragen, Gott ist bei Böhme nichts
anderes wie eine Projektion seiner eigenen neurotishen Psyche, Es
ist, als ob Böhme den Konflikt, dessen Lösung für ihn zu shwer
war, vertrauensvoll seinem Vater übergeben hätte. Da ihm ein
Madtspruh Gottes zum Verständnis der Schöpfung nicht genügte,
sudhte er nah einer natürlihen Erklärung der Natur und entdeckte
so zwei letzte Qualitäten. Weil aber die Annahme von zwei
selbständig existierenden Urelementen mit seiner religiösen Ge-
sinnung unvereinbar gewesen wäre, setzte er diesen Gegensatz in
Gott selbst — er untershied ein sanftes, wohltätiges und ein
grimmiges, verzehrendes Wesen (das vollkommenste Wesen und
die böse Welt). Alles Feurige, Bittere, Herbe, Zusammenziehende,
Finstere, Kalte kommt aus einer göttlihen Herbigkeit, Bitterkeit,
Kälte und Finsternis, alles Milde, Glänzende, Erwärmende, Weide,
Sanfte, Nacdgiebige aus einer milden, sanften, erleuchtenden Quali-
tät in Gott!. Die Ersheinungswelt spaltet sih noch einmal in
Gutes und Böses, Schönes und Häßlihes, Wahrheit und Irrtum.
Wir dürfen vielleiht sagen, daß die dem Vater gegenüber herr-
schende ambivalente? Gefühlseinstellung auf Gott projiziert und auf
sie alle Verschiedenheit in der Qualität der Dinge zurückgeführt
wurde. Ic erinnere an dieser Stelle auh an Empedokles, der zwei
Kräfte als Prinzipien der Bewegung annahm: die Liebe als das Ver-
einende und den Haß als das reale
Im Gegensatz zu der Emanationstheorie, wo die Ersheinungs-
welt aus dem Ding an sich emaniert (mit oder ohne Remanation),
ist nah der Kreationsauffassung das Ding an sih von uns völlig
wesensvershieden. Für Augustinus, den bedeutendsten Vertreter
dieser Richtung, ist »mundus a deo ex nihilo creatus«. Über die
Bedeutung des »nihil« ist viel gestritten worden, einige nahmen ein
totales Nihts an, andere meinten, das »nihil« heiße soviel wie
wüste ungeformte Materie. In diesem Falle würde es sih um die
stärkste Enntwertung des gegenüber der Emanationstheorie immerhin
wenigstens noch vorhandenen sexuellen Partners? handeln.
Das anfänglihe Befremden über diese Gleichstellung von
letzten kosmischen Potenzen und den zwei Geschlechtern verliert ein
gutes Stück seiner Berechtigung, wenn man sih vor Augen hält,
daß die Menschheit in ihren urtümlichen Bildern überall den Körper,
die Materie (vgl. den etymologishen Zusammenhang mit mater)
als das weiblihe, negative, gebärende, den Geist, das Erkennen
ı Zit. nah L. Feuerbach, Das Wesen des Christentums, p. 58.
Kröners Volksausgabe.
2 Nach einem treffenden Ausdruk von E. Bleuler.
® Bei einem Philosophen unserer Tage, ©. Weininger, ist die Gleihung
Weib-Nichts-Materie zu neuem Leben erwacht.
Psycdoanalytishe Anmerkungen zur Geschichte der Philosophie 193
als das männliche, positive, zeugende Prinzip aufgefaßt hat. In der
indishen Bhagavad Gita werden die Körper Kscetra (Gefäße,
fruchttragender Boden, Mutterleib) genannt. Dasjenige, was (in dem-
selben) Bewußtsein hat, heißt Kscetradshna (der Geist). Der
höchste Weltgeist ist die erzeugende, befruchtende Kraft, die Welt-
seele (Paramatma) in der ganzen Natur. Und in der Lehre des
Buddhismus ist das Erkennen die formende Kraft, die aus den
materiellen Elementen ein Wesen, das einen Namen trägt und mit
einem Körper bekleidet ist, entstehen läßt!. Die chinesische Schrift
besitzt für das Wort »Weibs und das Wort »Negations? das
gleihe Zeichen. Die Beispiele ließen sih natürlih vermehren.
Hätte — um an das Frühere wieder anzuknüpfen — das
»nihil« hingegen die Bedeutung eines völligen Nichts, so käme bei
der Ershaffung der Welt etwas Ähnliches wie der früher erwähnte
Glaube an die »Allmaht der Gedanken«® in Betraht. »Und
Gott spraht: Es werde Liht. Und es ward Liht.« Gott ist
hier der wunscerfüllenden endopsydhishen Instanz gleichzusetzen.
Zur Unterstützung dieser »sexualistishen« Interpretation führe
ih folgende Sätze Jungs an: »Bei Anaxagoras handelt es sich
darum, daß die lebendige Urpotenz des voös der toten Urpotenz
der Materie wie durh einen Windstoß die Bewegung erteilt. Dieser
voös, der dem späteren Begriff des Philo, dem /oyos omsouarızös
der Gnosis und dem paulinishen wveöua sowie dem sweöua der
nebendhristlihen Theologien shon reht ähnlih ist, hat die alte
mythologishe Bedeutung des befruhtenden Windhaudhs, der die
Stuten Lusitaniens und die ägyptischen Geier befruchtete.«
Es ist im höchsten Grade bemerkenswert, daß die bei den
Naturvölkern überaus verbreiteten Weltelternmythen, die sich indes
auh in den Kosmogonien® der Kulturvölker finden, in den ent-
wickelten Religions- und Philosophiesystemen zumeist den Shöpfungen
der Welt durh Gott allein den Platz einräumen, was sich vielleicht
dadurh erklärt, daß die Libidobesetzung der Mutter infolge von
Inzestwiderständen schon sehr bald und in ausgiebiger Weise auf
den Vater vershoben wurde, wodurdh dessen beinahe pathologische
Überbesetzung begreiflih wird. Ih hege überhaupt die Vermutung,
daß die religionsbildende Kraft vom Sohne ausgeht, Religion hat der
Sohn, indes der Vater (nah einer Äußerung Freuds) die Gesetze
gibt. Der Gott der Juden ist ein strenger Gesetzgeber der Un-
mündigen, das Christentum (wohl auch der Mithraskult) die Shöpfung
ı Oldenberg, Buddha, p. 256.
®: Was am Weibe negiert wird, ist der Penis. Die Feststellung dieses
Untersciedes hat für das kindlihe Denken die folgenreichste Bedeutung.
> Vgl. auch den bergeversetzenden Glauben des Christentums!
* Wir haben an früherer Stelle Gelegenheit gehabt, auf die Identifikation
von Sprehen und Zeugen hinzuweisen.
5 Unter den Gnostikern ist es namentlih Bardesanes, der dem »Vater
‚des Lebens« eine weiblihe Gottheit als empfangende Potenz bei der Weltbildung
zur Seite gab.
Imago II/2 13
194 Alfr. Frh. v. Winterstein
des mündig gewordenen liebenden Sohnes. Das Alte Testament
kennt nur den Begriff des Gerehten, niht den des Heiligen wie
die Jesus-Religion (Kassner). Der Heilige ist ein Mensc, der, um nicht
eine Person lieben zu müssen, alle, ja alles liebt! und so auf eine
arhaische Stufe regrediert, wo die Sonne sein Bruder und der Mond
seine Schwester ist (hl. Franciscus von Ässisi, ähnlih mande
Geisteskranken). Der Heilige hat ein exquisit infantiles Weltbild: es
ist alles eine Familie, die Eltern sorgen shon für einen?.
Einen Hinweis auf die der Verdrängung verfallene Bedeutung
der Mutter können wir — wie oben festgestellt wurde — in der
völlig zurücktretenden Rolle entdecken, die in einem System die
Materie, aus der Gott die Welt schafft, gegenüber seiner Allmadt
spielt. Es besteht ein tieferer Konnex zwischen der Tendenz zur
Entwertung des Weibes, die aus der Sexualablehnung® resultiert,
und dem neurotish verstärkten Glauben an den besonderen Reali=-
tätsgrad des Geistigen. Die zurücgezogene Libido hat eine Über-
besetzung des Denkens zur Folge. Aber »naturam si expellas furca,
tamen usque recurret«. Die blutlosesten Begriffsverhältnisse werden
nun einmal nach dem Vorbild des Sinnlihen aufgefaßt.
Allgemeinste Seinskategorien sollen die einzelnen Erscheinungen
»erzeugen«, ihre Gesetze sollen sih Befolgung »erzwingen«*. Nod
die Hegelsche dialektishe Methode, die die der Position zur Seite
gestellte Negation zum Vehikel des dialektischen Fortschritts und der
realen Entwicklung überhaupt madt, zeigt die Spuren dieser irdi-
shen Herkunft. Selbst die höchsten intellektuellen Operationen sind
also oft an die Vorbildlihkeit des Sexuellen gebunden.
Die Annahme, daß die Erscheinungen durh Gott allein erzeugt
werden, hat ihre Heimstätte in der Religion und geht wohl auf die
früher erwähnte Abkehr von der Mutterlibido und entsprechend ver-
stärkte Besetzung der Vaterimago zurük. Der Glaube an die All-
macht der Gedanken fließt ununtersheidbar in den Glauben an die
Allmaht des Vaters über. In der dhristlihen Religion hat Gott
seinem Sohn gegenüber direkt androgynen Charakter, indem er mit
einer Gebärmutter versehen wird (Mißlungene Verdrängung des
anderen Elternteils). Bei Petavius, de Trinitate lib. V. c. 7, $ 4
heißt es: »Ebenso sagt die Schrift, daß der Sohn aus der Gebär-
mutter vom Vater erzeugt sei, denn obgleich in Gott keine Gebär-
mutter, überhaupt nichts Körperliches ist, so ist doh in ihm wahre
Erzeugung, wahre Geburt, die eben mit dem Worte: Gebärmutter,
angezeigt wird.«
ı Vgl. die Worte: »Da sie (die Welt) ein Korn Staubes ist, nimm allen
Staub an dein Herz! Da du einen Menschen nicht lieben darfst, liebe alle
Menschen !«
2 Wie ganz anders empfand die Antike mit ihrer Distanz zum Objekt,
ihrem kriegerischen Hasse gegen die Feinde.
3 Ihre Gründe sind inzestuöser Natur.
EN 4 Me G. Simmel, Vom Wesen der Kultur, Österr. Rundshau, XV. Bd,
ı P- ,
Psychoanalytishe Anmerkungen zur Geschichte der Philosophie 195
Es ist nicht völlig ausgeschlossen, daß die Fiktion einer leib-
lihen Abstammung vom Vater die Überkompensation eines infantilen,
namentlih aber von Zwangskranken gehegten Zweifels, ob man der
Sohn seines Vaters sei,! bedeutet. Nach der Anschauung der maz-
däishen Sekte Gajomarthija entstand Ahriman durch den Zweifel
des Gottes Jazdans?. Man darf aber anderseits nicht vergessen,
daß der Glaube an das Hervorgehen des Kindes aus dem Vater
ein der primitiven Denkweise nicht fremder ist: er findet sich
so gut bei Stämmen Südostaustraliens wie in den »Eumeniden« des
Äschylus, in der Bibel u. a. a. ©.
Daß Gott gerade einen Sohn hat, findet möglicherweise eine
(freilih nur partielle) Erklärung in der bekannten kindlihen und
ee Auffassung, daß die Mutter Töchter macht, der Vater
öhne.
Im Vorübergehen sei nun bloß mit einigen Worten dreier
Lehren Erwähnung getan, die im Laufe der Zeit immer wieder die
Gedanken der Philosophen beschäftigt haben: ih meine den Glauben
an eine Präexistenz, an die Seelenwanderung und an »die ewige
Wiederkehr des Gleihen«. Die erstgenannte Überzeugung hat wohl
ihre individuelle Wurzel in dem bekannten Gefühl des »deja vus,
das nah Freud? der Erinnerung an eine unbewußte Phantasie ent-
sprehen soll. Die Präexistenz ist höchstens eine soldhe in bezug
auf die Existenz des Erwachsenen, der infolge einer großen Lücke
in seinem Gedäcdtnis seiner Kindheit ganz fremd geworden ist und
sie als ein früheres, anderes Dasein empfindet. Charakteristisch hie-
für ist der Ausspruch von Liebenden, die ihr Objekt unbewußt nach
dem Vorbild der Mutter gewählt haben: Mir ist, als hätte ich sie
schon vor Jahrtausenden gekannt, als hätten wir bereits auf einem
anderen Stern zusammen gelebt, und so ähnlich.
Die mit dem Glauben an eine Präexistenz verwandte Auf-
fassung, daß die noch nicht geläuterten Seelen nah dem Tode einer
Wanderung durh neue Menschen-, Tier- oder Pflanzenleiber unter-
worfen sind, entspringt in erster Linie wohl ethisch=religiösen Motiven,
vor allem dem Glauben an eine sittlihe Weltordnung. Aud das
Bewußtsein, daß unser innerstes Wesen mit seinen Begehrungen und
Fähigkeiten in einem individuellen Dasein nie und nimmer erschöpft
werden könne, mag bei der Entstehung dieses allerdings über-
wiegend pessimistish gefärbten Glaubens mitgewirkt haben. Eine
Bestätigung shien dem Anhänger der Seelenwanderungslehre aus
der Außenwelt entgegenzukommen: er konnte in einer Zeit, wo die
! Lichtenberg, »Ob der Mond bewohnt ist, weiß der Astronom ungerähr
mit der Zuverlässigkeit, mit der er weiß, wer sein Vater war, aber nicht mit der,
woher er weiß, wer seine Mutter gewesen ist«. (Zit. bei Freud, Bemerkungen
über einen Fall von Zwangsneurose, Jahrb. I., 1909.
® Zit. bei J. Nelken, Analytishe Beobahtungen über Phantasien eines
Schizophrenen, Jahrb. IV, p. 536.
3 Freud, Zur Psychopathologie des Alltagslebens. Berlin 1910, p. 139.
* »Das Geheimnis der Reminiszenzs im Sinne Schillers.
13*
196 Alfr. Frh. v. Winterstein
ihn umgebenden Objekte noch mit Libido besetzt und zum Teil
schon im Begriffe waren, Libidosymbole zu werden, oder auch später,
wenn die Libido, von ihrem ursprünglihen Ziele aus irgendwelchen
Gründen abgelenkt, sih an die Gegenstände der Natur heftete, in
dem Blicke eines Hundes so gut wie im Wehen einer Pflanze eine
ihm ähnliche Seele vermuten, die wie zur Strafe — denn der Mensch
hatte sih schon als Krone der Schöpfung empfinden gelernt — in
diese Gestalten gebannt zu sein schien. Nur seine untermensdliche
Natur, seine bösen Triebe und Neigungen, personifizierte er nun in
gewissen Tieren. Erhielt ein Tier den Charakter eines Libidosymbols,
so setzte das einen Dualismus im Menschen, einen Widerstreit
zwishen Bewußtem und Unbewußtem voraus. Auf diesem Boden
erst waren ethisch=religiöse Wertungen entstanden, die, vom Stand-
punkt des ablehnenden Bewußtseins aus vollzogen, die Existenz der
ne in einem soldhen tierishen Symbol als Erniedrigung auffassen
mußten.
Die Seelen wandern also in dem Maße, als die Libido wandert.
Ein auffallender Hinweis auf ihre Gleichstellung findet sich in der
Schrebershen Biographie!. Auf p. 333 lesen wir: »Die Seelen
gleihen kleinen Kindern, die auf ihre Nashware — die Seelen-
wollust — nicht einen Augenblick verzichten können oder wollen.«
Die dritte der zu besprehenden Theorien, die Lehre von der
ewigen Wiederkehr des Gleichen, ist uralt?, tritt bei den Orphikern,
bei Pythagoras, Heraklit, Anaximander und Empedokles,
dann bei Plato und den Stoikern auf und wir finden sie bei
Nietzsche wieder (verwandte Anschauungen sprahen auh Herder
und Goethe aus). So wie Nietzsche die Lehre von der »ewigen
Wiederkunfts in der »fröhlihen Wissenschafts? formuliert: »Jeder
Schmerz und jede Lust und jeder Gedanke und Seufzer und alles
unsäglih Kleine und Große dieses Lebens muß dir wiederkommen
und alles in derselben Reihe und Folge — und ebenso diese Spinne
und dieses Mondliht zwishen den Bäumen und ebenso dieser
Augenblik und ich selber. Die ewige Sanduhr des Daseins wird
immer umgedreht — und du mit ihr, Stäubchen vom Staube!« —
in dieser Übertreibung und Übershätzung des Augenblicks erscheint
sie jeder realen Berechtigung entbehrend. Sie hat ihre Quelle in der
Beobachtung äußerer und innerer Periodizität; auch das bekannte un-
heimlihe Gefühl, genau dieselbe Situation schon einmal erlebt zu
haben* — das oben zur flüchtigen Erörterung gelangte — mag
ı Schreber erwähnt übrigens auch flüchtig die Seelenwanderung (Il. c., p. 15):
»Die betreffenden Menschenseelen wurden dabei (nämlich bei der Seelenwanderung)
auf anderen Weltkörpern, vielleicht mit einer dunklen Erinnerung an ihre frühere
Existenz, zu einem neuen menschlichen Leben gerufen, äußerlih vermutlich im
Wege der Geburt, wie es sonst bei Menschen der Fall ist«.
®2 Assyrish=-babylonishen Ursprungs.
° Ähnlih dann auh im »Zarathustra«.
* »L’essentiel du ‚deja vu’ est beaucoup plutöt la negation du present que
laffırmation du passe.« P. Janet, Les nevroses, Paris, Alcan,
Psydhoanalytishe Anmerkungen zur Geschichte der Philosophie 197
seinen Anteil an der Entstehung dieses Glaubens haben. Es ist
dann ferner der periodische, für alle Entwicklung im Menschen wesent=-
lihe Wechsel in der progredienten und regredienten Strömung unseres
Seelenlebens, der sih der endopsyhishen Wahrnehmung bemerkbar
macht und bei Heraklit eine durdhsichtige symbolishe Darstellung
erfahren hat: im Weltgeschehen existieren zwei ewig alternierende
Prozesse, der Weg des Urfeuers nah unten (6öös xarow), der Prozeß
der Erstarrung, durch den die Einzeldinge (Natur) entstehen, — und
das Übergehen ins Feuer, der Weg nach oben (dos dvo), Ganz
ähnlich lautet die stoishe Lehre von der periodishen »Ermiowoıs«
und »walıyyeveoia« der Welt, immer entstehen dieselben Menschen,
die das gleihe Geschick erfahren. |
Ih erinnere hier auh an die Goetheshen Verse aus der
»Legende«: »Immer wird es wiederkehren, immer steigen, immer sinken,
sich verdüstern, sich verklären, so hat Brahma dies gewollt.« Im
paranoishen System Schrebers findet gleihfalls diese Lehre »von
dem ewigen Kreislauf der Dinge, der der Weltordnung zugrunde
liegts, Erwähnung. Auf p. 19 seiner »Denkwürdigkeiten usw.« lesen
wir: »Indem Gott etwas schafft, entäußert er sich in gewissem Sinn
eines Teiles seiner selbst oder gibt einem Teil seiner Nerven eine
veränderte Gestalt. Der scheinbar hiedurch entstehende Verlust wird
aber wiederum ersetzt, wenn nad Jahrhunderten und Jahrtausenden
die selig gewordenen Nerven verstorbener Menschen, denen während
ihres Erdenlebens die übrigen erschaffenen Dinge zur körperlihen
Erhaltung gedient haben, als ‚Vorhöfe des Himmels’! ihm wieder
zuwadsen.« Hier ist — wie auch aus anderen Stellen des Buches
zur Genüge hervorgeht — das Aussenden und Wiedereinziehen der
Libidobesetzungen in dingliher Weise zur Darstellung gebraht. In
endopsydhish wahrgenommenen Libidovorgängen können wir also
die gemeinsame Grundlage der Emanations- (beziehungsweise Re=
manations=-) Systeme und bis zu einem gewissen Grad auh der
Lehre von der ewigen Wiederkehr des Gleihen erbliken. Ewigkeit,
Zeitlosigkeit ist eine dem Unbewußten wesentlihe Bestimmung. Eine
psychoanalytische Untersuhung der buddhistishen und vorbuddhisti=
schen Spekulation würde wahrsceinlih eine Beziehung zwischen ihrer
Verinnerlihungstendenz und der gering geschätzten Rolle, die der
Zeitbegriff? in ihr spielt, aufdecken.
Im folgenden gehen wir zu einem anderen Kapitel über: wir
wollen nämlich die typischen Begriffe der Welt in aller Kürze vom
Standpunkt der Psychoanalyse aus mustern, um festzustellen, welcher
Weltbegriff einer solchen Prüfung standhält und sich nicht als durch
unbewußte Motive bestimmt erweist. Die Aufgabe der Psychoana-
‘ Der Ausdruk »Vorhöfe des Himmels« kommt auch bei Eckhart vor.
® Das scheint auch mit Eigentümlichkeiten des indischen Volksgeistes zu=-
sammenzuhängen, »der für das Wann der Dinge nie ein rechtes Organ gehabt
hat« (Oldenberg).
198 Alfr. Frh. v. Winterstein
Iyse ist also eine rein negative. Was uns als wesentlich neurotische,
infantile oder primitive Betrahtungsweise der Wirklichkeit erscheint,
scheidet aus der Gruppe der Weltanshauungen, die auf objektiven
Wert Anspruch erheben, aus, ohne daß die Psychoanalyse es als
ihre Aufgabe eradhten dürfte, innerhalb dieses Kreises selbst end-
giltige Entscheidungen zu treffen. Als rein psychologisch orientierte
Wissenshaft hat sie den Erkenntnisinhalt als psydhischen Tatbestand
hinzunehmen und zu versuchen, auf seine individuellen und generellen
Entstehungsbedingungen zurückzugehen, eine erkenntnistheoretische
Würdigung liegt ihr fern, sie kann nicht die Giltigkeit von Normen
begründen, denn aus der eindringendsten Kenntnis dessen, was ist
und gescieht, leitet sih nicht mit innerer Notwendigkeit ab, was
sein und geschehen soll. Wer sich für eine kritische a
die den Erkenntnisinhalt seiner Geltung, seiner Bedeutung und Trag-
weite nach nimmt, interessiert, möge die vorzüglihe Arbeit eines
Wiener Philosophen: Weltbegriff und Erkenntnisbegriff, von Dr. Viktor
Kraft! einsehen.
Gehen wir vorerst von der fundamentalen Einteilung der Welt-
begriffe in monistishe und dualistishe? (eventuell pluralistische) aus,
so werden wir auf der einen Seite die materialistishe Auffassung
den Weltbegriff der psychophysischen Identität, den idealistishen und
positivistishen Weltbegriff, auf der anderen Seite den realistish-
dualistishen Weltbegriff vorfinden. Ih füge hinzu, daß sich diese
einzelnen Typen trotz des befremdenden, ja verdrehten Eindrucs,
den dieser oder jener auf den sogenannten gesunden Menschenver-
stand machen mag, schließlih nur als konsequente Fortbildungen der
naiven, an inneren Widersprühen reihen Weltansicht, eines »vagen
Dualismus« (Jerusalem), herausstellen.
Der Materialismus, die bequemste und plumpste Art, die Ver-
schiedenheit von Seelishem und Körperlihem aufzuheben, ist ja
seinem Wesen nah bekannt. Das Seelishe mit einem Gehirnvorgang
einfach zu identifizieren — wie es der primitive Materialismus tut —,
ist offensichtlich falsch, dabei ist er aber doch eine der verbreitetsten
Weltansihten. Es ist schon viel weniger grob, wenn man das Seeli-
sche als Resultat körperliher Vorgänge auffaßt oder jenes an diese
unlösbar geknüpft denkt. Hier ist bereits ein Dualismus, obzwar nodh
nicht auf dem Boden der Gleichberehtigung, angedeutet.
Einer gewissen Beliebtheit erfreut sich in philosophischen
! Joh. Ambros Barth, Leipzig 1912. — Ich halte mich im nachstehenden an
sein Schema.
| ? Diese Gliederung hat mit der metaphysishen Frage nach einem Jenseits,
heiße es nun wahres Sein, Ideenwelt, Ding an sich oder Noumenon, unmittelbar
nichts zu schaffen. Hier handelt es sih bloß um das psychophysische Problem: Zwei
Wesenheiten oder eine? indes die Annahme eines Jenseits zumeist die Tendenz
zur Entwertung der gegebenen körperlich-geistigen Welt voraussetzt. Es gibt frei-
lfih auch einen metaphysishen Idealismus, der beide Probleme zusammen erledigt.
In Wirklichkeit fließen sie leicht ineinander über.
Psychoanalytishe Anmerkungen zur Geschichte der Philosophie 199
Kreisen der Begriff der psyhophysischen Identität. Entweder werden
Physishes und Psydisches als Erscheinungsweisen desselben unbe=
kannten Wesens oder als eine zweifahe Beschaffenheit des einen
Absoluten, als zwei Arten von Eigenschaften, von Ȁttributens,
von »objektiven Realitätsformen« angesehen, Kraft hat mit Redt
darauf hingewiesen, daß die erste Auffassung ein Subjekt als
Träger eines Bewußtseins voraussetzt, indem sih das X »das eine
Mal von innen, das andere Mal von außen, das eine Mal direkt
in der Selbstwahrnehmung, das andere Mal indirekt, d. h. durdh
die Sinnesorgane«! darstellt. Wir stünden also wieder vor einer
Dualität von Sein und Bewußtsein, vor einem Phänomenalismus.
In der zweiten Fassung liegt ein wirklicher, allerdings metaphysischer
Monismus vor. Diese Ineinsetzung jenseits der Erfahrung hat die
deutlih empfundene Verschiedenheit von Geist und Materie zur
Bedingung und ist ein bloß spekulativer Gedanke.
Fin Monismus, wenn auch zumeist empirisher Art, ist die
Lehre des Positivismus und Idealismus. Vorab eine kurze Be-
merkung über die beiden Termini: sie sind keineswegs etwas Ein-
deutiges. Man spriht von einem subjektiven, objektiven, absoluten,
transzendentalen, metaphysiscen, erkenntniskritishen, psychologischen,
ja »magishen« Idealismus, man untersheidet den Positivismus
Auguste Comtes, von dem eines J. St. Mill, Laas und Avena-
rius. Beshränken wir uns auf diesen letzteren. Er erhebt das »Be-
wußtsein zum übergeordneten Begriff, der sowohl Körperlihes als
Seelisches in völlig neutrale Erlebnisphänomene auflöst. Beide be-
deuten nur eine bestimmte Zusammenhangsbeziehung innerhalb des
Bewußten «Eingeordnetheit im Natur-, im Ich-Zusammenhang).
Derselbe Erkenntnisinhalt kann je nach der Eingliederung, je nad
der Betrahtungsweise als seelisch oder körperlih genommen werden«?,
Diese Trennung gegenüber dem Idealismus, de Bewußtsein und
Seelisches gleichsetzt, ist jedoch im letzten Grund nicht haltbar; das
Bewußte ist ja seiner Realitätsart nach nichts anderes wie das
Seelishe und damit ordnen sich Positivismus und Idealismus der
gleihen psychoanalytischen Betrachtung unter.
Jeder Idealismus — der nah Krafts überzeugender Darlegung
in seiner konsequenten Weiterbildung bewußtseinsimmanenter Sub=
jektivismus werden muß — geht von einer unbewußten Tendenz zur
Entwertung der materiellen Außenwelt aus. In der Gestalt des
metaphysishen Idealismus beispielsweise läßt er neben der immateri-
ellen Welt der Jdeen die niedrigere Welt der Körper und der
Wahrnehmung bestehen, der Solipsist hingegen anerkennt überhaupt
nur seinen individuellen Bewußtseinsinhalt: das Binzige, was
existiert, sind seine Vorstellungen. Als eine Fortsetzung des vor=
platonishen metaphysishen Gegensatzes von Erscheinung und
! Jodl, Lehrbuch der Psychologie, I. Bd., p. 91.
?: Kraft, b €, p. 122
200 Alfr. Frh. v. Winterstein
wahrem Sein erweist sih der transzendentale Idealismus oder
Phänomenalismus, der uns bloß eine Erkenntnis der Phänomena,
aber nicht der erfahrungsjenseitigen Noumena einräumt und in sich
nun auch den Gegensatz! von Seeliih-Bowaßtem und Körperlichem
einschließt. Auch diese Kantishe Lehre leitet, energish zu Ende
gedacht, zum subjektiven Idealismus über. Der magische Idealismus
eines Novalis — ohne nennenswerte visseischa Bedeutung
— fußt auf dem Glauben an die »Gedankenallmahts: die Körper-
welt sol[ durh den Geist willkürlih beeinflußt werden, höchstes
Ziel ist die faktishe Aufhebung des Lebens durh den Willen.
Aud andere Gestaltungen des Idealismus: die Monadenlehre
Leibniz’, die Theorien Berkeleys, der subjektive Idealismus
Fichtes, der objektive Schellings, der absolute Hegels bieten
der erkenntniskritishen Betrahtung ebensoviele verschiedene Prob-
lemstellungen, für den Psychoanalytiker vershwimmen diese Uhnter-
shiede gegenüber der ähnlihen psychischen Ausgangssituation, auf
deren Beschreibung es mir hier ankommt. Es handelt sih nämlich
in allen Fällen um das Verhältnis zur äußeren Realität, deren ob=
jektiver Charakter vom Idealismus, wenn nicht aufgehoben, so doch
mindestens graduell beeinträchtigt wird. Das Geistige, das von der
naiven Weltansiht des Erwachsenen? überhaupt nicht als mit einem
spezifishen Wirklihkeitsgrad versehen empfunden wird, erhält —
wahrsceinlih infolge der von der Außenwelt zurücgezogenen
Triebbesetzungen — ein ungewöhnliches, erhöhtes Realitätsgefühl.
Ih habe den Ausdruck Triebbesetzungen gewählt, da ih mir vor-
stelle, daß das Interesse, das wir der Außenwelt entgegenbringen,
niht nur aus libidinösen, zumindest nicht aus »rezentsexuellen« ?
Quellen allein gespeist wird. Dabei ist folgender Unterschied zu
beachten. Die Besetzungen, die von den Ichtrieben, namentlih vom
Nahrunsgstrieb, ausgehen, sind infolge der besseren Befriedigung, die
diesen Trieben gewöhnlih im Gegensatz zum Sexualtrieb gewähr-
leistet ist, oft von geringer Intensität, ja, hier die Störungen des
Kontaktes mit der Außenwelt viel seltener, da beispielsweise beim
gene eine halluzinatorishe Besetzung des Erinnerungs-
bildess des Nahrungsobjektes praktish wertlos ist, indes beim
Sexualtrieb die Besetzungen vor allem infolge der stärkeren Berük-
sihtigung des Individuellen bei der Objektwahl und der größeren
! Der Dualismus von Körper und Seele hat seine Vorbereitung bereits in
der späteren Stoa und dem Neupythagoräismus, seine Vollendung bei Augustin
gefunden.
?2 Beim Primitiven und beim Kinde ist das Denken noch in reihem Maße
sexualisiert;, aus dieser Überbesetzung folgt der Glaube an die Allmadht der
Gedanken (vgl. Freud, Über Animismus, Magie und Allmadht der Gedanken,
»Imagos, II, 1).
® S. Jung, Wandlungen und Symbole der Libido, Jahrb. IV, p. 171ff;, an
dieser Stelle wird einem genetischen Begriff der Libido das Wort geredet, »der
das Rezentsexuale um einen beliebig großen Betrag an desexualisierter Urlibido
erweitert«.
Psydhoanalytishe Anmerkungen zur Geschichte der Philosophie 201
Schwierigkeit der Bedürfnisstillung ihrer Intensität nach erhöht sind,
Störungen leicht eintreten und jederzeit der Rükzug auf sich selbst,
die Introversion und Wiederbelebung der infantilen Imagines durdh=
führbar ist. Mit Freud wird man die Möglichkeit von Rük-
wirkungen der Libidostörungen auf die Ichbesetzungen ebensogut
zulassen dürfen wie die Umkehrung davon, die sekundäre oder
induzierte Störung der Libidovorgänge durh abnorme Ver-
änderungen im Ih. Da diese aber ziemlich selten sind, anderseits
die Ichbesetzungen der Außenwelt auh im Falle einer Libido-
störung noch aufrechterhalten werden, kann man faktish, die ge-
störte Relation zur Umgebung auf den Ausfall des Libidointeresses
allein zurückführen. Die endopsyhishe Wahrnehmung einer solhen
Affektablösung (Differenzierung) kommt nun in dem Gefühl des
Fremden!, Traumartigen zum Ausdruck. Diese Affektablösung kann
nur eine gewünschte, eine vollkommene oder teilweise gelungene
sein. Den möglihen Zusammenhang einer solhen psyaischen
Konstellation mit dem »idealistishens Standpunkt des Philosophen
ersieht man vielleiht aus einer (natürlih einseitigen) Bemerkung
Schopenhauers: er bezeichnet nämlih geradezu die Gabe, daß
einem zu Zeiten die Menschen und alle Dinge als bloße Phantome
oder Traumbilder vorkommen, als das Kennzeichen philosophischer
Begabung?. Nun ist das sicherlih nicht die einzige Bedingung, um
ein idealistisher Philosoph zu werden. Wir werden über einige
weitere, wahrscheinlich notwendigen Voraussetzungen im zweiten Teil
unserer Ärbeit handeln.
Ziehen wir die »Denkwürdigkeiten« Schrebers zu Rate, jenes
geistvollen Paranoikers, der ein in sich geschlossenes theologisch-
philosophishes System errichtete, so erfahren wir daraus, daß sein
Verkehr mit übersinnlihen Kräften — von denen er sich sehr be=
stimmte Vorstellungen maht — in dem Augenblick beginnt, wo
die Libidoablösung von der Realität vollzogen wurde. Auc das
dadurch bedingte Gefühl des Fremden fehlt hier nicht:® »In der
Rihtung des Barreike Bahnhofs sah ich über die Mauern der
Anstalt hinweg nur einen schmalen Streifen Landes, der mir einen
durchaus fremdartigen, von der eigentlihen Beschaffenheit der mir
wohlbekannten Gegend völlig abweichenden Eindruck machte, man
sprah zuweilen von einer ‚heiligen Landschaft‘.« Es klingt fast wie
eine innere Wahrnehmung der Hand in Hand mit der Ablösung
! Stekel, Die Sprahe des Traumes, Bergmann, 1911, p. 437. Ferner:
Löwenfeld, Über traumartige und verwandte Zustände, Zentralbl. f. Nerven-
heilk., 20. Bd., 1909, — Goethe: »Trocknet nicht, trocknet nicht, Tränen der
ewigen Liebe, Ad, nur dem halbgetrockneten Auge wie öde, wie tot die Welt
ihm erscheint !«
2 Siehe auh C. Ph, Moritz, Anton Reiser, Reklam, p. 96: Beobachtung
»eines unserer größten jetzt lebenden Philosophen hinsichtlih der Verwechslung
von Traum und Waden.«
50 ud
202 Alfr. Frh. v. Winterstein
ehenden Introversion! der Libido, wenn Schreber sih an zwei
tellen seines Buches? folgendermaßen äußert: »Ein anderes Mal
durchquerte ih die Erde vom Ladogasee bis Brasilien und baute
dort in einem scloßartigen Gebäude in Gemeinschaft mit einem
Wärter eine Mauer zum Scutz der Gottesreihe gegen eine sic
heranwälzende gelblihe Meeresflut — ich bezog es auf die Gefahr
syphilitisher Verseuhung.« Und die zweite Vision lautet: Ich habe
ferner Erinnerungen, nah denen ich eine Zeitlang in einem Schlosse
an irgendeinem Meere gewesen bin, das in der Folge wegen drohender
Überflutung verlassen werden mußte und aus ia ih dann nadı
langer, langer Zeit in die Flehsigshe Anstalt zurückgekehrt bin, in
der ih mich auf einmal in den von früher bekannten Verhältnissen
wiederfand.«
Es ist nicht ausgeschlossen, daß das in allen möglihen Mytho-
logien und Kulten vorkommende uralte Motiv der Sintflut mit der
Rettung eines einzigen Menschen neben anderen Determinanten auch
auf die endopsyhishe Erkenntnis einer zum Stadium des Narzißmus
regredierenden Strömung (wir gebrauhen noch immer das Bild!) der
Libido zurückgeht. Wir werden also Schreber nicht widersprechen,
wenn er findet, »daß in seinen Visonen Methode lage. Und in
der Sintflutsage selbst: der eine tugendhafte Mensch gegenüber den
vielen Sündern — diese Fiktion verträgt sih sehr gut mit der
narzißtishen Selbstübershätzung, die sih bei Schreber in dem
a an eine unerhörte »Änziehungskraft auf die Gottesnerven«
audert.
Wenden wir uns wieder zu unserem eigentlihen Thema
zurük. Das Gefühl des Fremden, das beispielsweise Schreber in
den Menschen »flühtig hingemahte Männer« erblicken ließ, bedeutet
nicht viel anderes wie jener Schopenhauershe Eindruk von den
Menschen als bloßen Phantomen oder Traumbildern.
Dieses Ineinanderfließen von Traum und Wirklichkeit scheint
für die idealistishen Philosophen gewissermaßen von heuristischer
Bedeutung für ihre Weltanshauung zu sein. Der Denker, der zu=-
erst in der neueren Philosophie die Frage aufgeworfen hat: Viel-
leiht ist das Leben ein Traum? — Descartes schreibt in einem
Brief? an seinen Freund Balzac vom Jahre 1631: »Ich schlafe hier
jede Nacht zehn Stunden, und nachdem der Traumgott meinen aller
Sorge ledigen Geist lange durch verzauberte Wälder, Gärten und
Paläste geführt hat, in denen ih alle Freuden genieße, die die
Märcden geschildert haben, vermengen sich allmählich beim Erwachen
die Träume des Tages mit denen ieh Nadt.« In den »Meditationes
! Jung erklärt die Sintflut als Introversionssymbol. — Schon in der Ilias
(XIV. Ges.) heißt es von Zeus, daß die Liebe seinen Sinn »rings umflutend
bewältigt«.
21.0: 974573.
® Rene Descartes Epistolae, Frankfurt 1692. Epistola CI ad Dominum
Balzacium (Officii ergo).
Psychoanalytishe Anmerkungen zur Geschichte der Philosophie 203
de prima philosophias stellt er eingangs die Behauptung auf, es
lasse sih an allem zweifeln! nur niht daran, daß wir zweifeln?,
also da das Zweifeln ein Denken ist, niht daran, daß wir denken.
Der von ihm gesuchte archimedishe Punkt, der völlig gewisse und
unzweifelhafte Sa ist dann für ihn das berühmte: Cogito ergo
sum, ih denke und in diesem Denken besteht eben mein inneres
Sein (Identität, niht Folgerung). Das Denken ist die unmittelbar
gewisse Tätigkeit in uns. Aber, fragt Descartes weiter, bin ich
dessen auh wirklih sicher, könnte ich niht von einem Dämon trotz
der klaren und bestimmten Perzeption des Behaupteten getäuscht
worden sein? Er geht nun zur Uhntersuhung des Daseins Gottes
über und vermag im weiteren Verfolg nur durh Appellation an
die Wahrhaftigkeit Gottes und seine Unfähigkeit zur Lüge die
Realität der empirishen Welt zu beweisen.
Wer jemals Einblick in die Gedankengänge und Eigentüm-
lihkeiten eines Zwangsneurotikers gewonnen hat, dem muß die
Ähnlichkeit mit den Descartesshen Erwägungen und Zweifeln
eine auffällige dünken. Die Isolierung von der äußeren Wirklichkeit,
die Übershätzung der Denkrealität, der Zweifel und vielleicht auc die
Rolle des Vaters, beziehungsweise Gottes — hiemit sind die haupt-
sächlihsten Übereinstimmungen aufgezählt. Ih füge hinzu, daß der
Vater im Leben Descartes von großem Einfluß gewesen ist. Wenn
es wahr ist, daß das Verhältnis zum Vater von vorbildliher Be-
deutung für das religiöse Verhalten eines Menschen ist, so dürfen
wir uns nicht die den aufgeklärten Philosophen sein Leben
lang in einem respektvollen Verhältnis zur Kirche stehen zu sehen.
Für seine Beziehung zu Gott findet Descartes folgende shwär-
merishe Worte®: »Die Überzeugung von dem warmen und innigen
Anteil, den das allerhödste Wesen an unserem Geschick nimmt,
wird uns nicht nur mit Dankbarkeit ihm gegenüber erfüllen, sie
wird auh das Gefühl einer außerordentlihen unsagbar großen
Liebe zu ihm in uns wacrufen, ein Gefühl, das so mächtig zum
Ausdruk gelangen kann, daß ihm sogar nichts von der sinnlichen
Lebhaftigkeit und Glut, mit der die Liebe zu einem irdishen
Geshöpf verknüpft ist, zu fehlen braucht.« Die sinnlihe Liebe zu
Frauen scheint indes im Leben des Philosophen im allgemeinen
keine allzugroße Rolle gespielt zu haben. »Les enchantemens de
voluptez«, berichtet sein erster Biograph Baillet*, »ne purent agir
! Es gebe aud kein zuverlässiges Kriterium, um zu entscheiden, ob wir in
diesem Augenblick träumen oder wachen.
® Ganz ähnlih shon Augustin: »Indem ich zweifle, weiß ich, daß ich der
Zweifelnde bin«, und so erzeugt gerade der Zweifel die Überzeugung von der
Realität des bewußten Wesens. An einer anderen Stelle: »Tu, qui vis te nosse,
scis esse te? Scio. Unde scis? Nescio. Simplicem te scis an multiplicem? Nescio.
Moveri te scis? Nescio. Cogitare te scis? Scio«. — Verwandt ist der Ausgangs=-
punkt des Philosophierens bei Occam und Campanella.
> Akademieausgabe, IV. Bd., p. 608 und 609.
* A. Baillet, La vie de Mr. des Cartes, Paris 1691, Chap. VIII, p. 39.
204 Alfr. Frh. v. Winterstein
en Juy que tres=foiblement contre les charmes de la philosophie et
des mathematiques.«
Es liegt vielleiht ein tiefer psydhologisher Sinn darin, daß
für Descartes die Realität der Außenwelt aus der Existenz jenes
so persönlich gestalteten Gottes folgte. Ludwig Feuerbad hat den
wahren Sachverhalt folgendermaßen formuliert: »Alle Gewißheit von
Dingen außer uns ist uns vermittelt durh die Urtatsahe von der
Existenz anderer Menschen (‚alter ego’). Denn ‚Ich’ bin zugleich ein
‚Du’ für den Nädhsten.«
Soll man es wagen, Einzelheiten aus der Lebensgeschichte des
Descartes mit seiner Stellung zum Vater in Zusammenhang zu
bringen? Es hat im Leben des Philosophen — bald nach dem Ab-
gang von der Schule -—— eine Periode gegeben, in der eine mystische
Naturstimmung den anfänglichen Skeptizismus ablöste: es existiert,
hieß es damals, nur eine lebendige Kraft in den Dingen, das ist die
Liebe, das Mitgefühl und die Harmonie. Wie weit sind wir hier
von jenem Zweifel an der Realität alles und jeden entfernt, der den
ersten Abschnitt der »Meditationes« durchdringt! Muß es gerade ein
Zufall sein, daß der junge Descartes nicht lange nah Ablauf
dieser pantheistishen Epoche seines Denkens in die Dienste der
aufstrebenden, freiheitlih gesinnten Niederlande trat und es vermied,
an den inneren Kämpfen, die in seinem Vaterlande wüteten, teilzu=
nehmen? Der auch äußerlih! dokumentierte Versuh, zur Unab-
hängigkeit zu gelangen, droht ihn aber in seinem Denken der Rea-
lität der Außenwelt zu entfremden — worauf die einleitenden Sätze
der »Meditationes« hinzudeuten sheinen? —, bis er auf dem Um-
wege über Gott in alte Bahnen zurüclenkt und sein normales Ver-
hältnis zur Umgebung wiedergewinnt.
Der oben erwähnte Vergleich des Lebens mit einem Traum
ist natürlih längst vor Descartes gemaht worden. Wir treffen
ihn in den indishen Veden und Puranas, bei Plato, Sopho-
kles, Shakespeare und Calderon, dessen bekannte Dichtung
Schopenhauer »ein gewissermaßen metaphysishes Dramas nennt.
Ich möcte schon jetzt? einem Mißverständnisse vorbeugen,
das möglicherweise aus meiner Nebeneinanderstellung des Philosophen
Descartes und eines beliebigen Zwangskranken entstanden sein
könnte: es fällt mir nicht ein, zu behaupten, daß beide völlig
identisch seien. Bin großer Denker, bei dem man ähnliche neurotische
Züge nacdweist, ist viel mehr, wenngleih er in manchen Fällen
! Descartes nahm Kriegsdienste in fremden Ländern. — Bezüglih der
Reiselust des Philosophen verweise ih auf meinen Aufsatz »Zur Psychoanalyse
des Reisens«, Imago, I, 5.
? »„Quil falloit nier (aumoins pour quelque tEms) qu’il y eüt un Dieu, que
Dieu pouvoit nous tromper; qu’il falloit revoquer toutes choses en doute, que l’on
ne devoit aucune cr&ance aux sens, que le sommeil ne pouvoit se distinguer de
la veille« (Baillet).
® Man entschuldige die nun folgende längere Abschweifung, die in manchem
wesentlichen Stück streng genommen in den zweiten Teil der Arbeit gehört.
Psydhoanalytishe Anmerkungen zur Geschichte der Philosophie 205
auch ein Zwangsneurotiker ist. So wie wir mit dem pathologischen
Experiment arbeiten, bedient sich vielleiht das Genie! gewissermaßen
seines eigenen krankhaft veränderten Persönlichkeitsteiles, um mikro-
skopish vergrößert das zu schauen, was dem gesunden Menschen-
verstand ewig entgeht. Ich will mih durdh ein erfundenes Beispiel
deutliher machen. Die Tatsahe der Determiniertheit des Willens
ist wohl eine feststehende: aber der normale Mensch fühlt sie nicht,
man wird ihm nicht feiht ausreden können, daß sein Wille völlig
frei sei. Es mußte denkbarerweise ein einzelner kommen, der sich
— was in der Neurose der Fall sein kann — nicht als den nad
Willkür schaltenden Urheber seiner Handlungen empfindet, um den
rihtigen Tatbestand zu erraten®. Mit einem Wort: Nervöse
Störungen können einen heuristischen Wert besitzen, indem sie
den besonders befähigten Geist in eine bestimmte Richtung einstellen,
ermöglihen sie es ihm, neue Seiten des Daseins zu entdeken. Man
kann vielleiht die Behauptung wagen, daß die Neurosen den Fort=
schritt machen; es ginge jedoch entschieden zu weit, sie für den Fort-
schritt zu erklären.
So beredhtigt es nun auh in manchen Fällen ist, die ver-
drängten Triebkräfte des Unbewußten bloß als Agens — ohne
nennenswerten inhaltlihen Einfluß auf die Denkprodukte des Philo-
sophen — zu betrachten, so begründet ist in anderen Fällen die
Annahme einer materialen Determinierung durh unbewußte Phanta-
sien, Zwischen einer bloßen Steigerung der im Ichbetrieb vorhandenen
Anlagen und einer stärkeren em mit dem Sexualtrieb im
einzelnen Falle zu entscheiden, ist bisweilen fast unmöglih. Die
größere oder geringere Anerkennung bei den anderen ist eben=
falls kein ae or Kriterium in der Frage nah dem Anteils=
verhältnis des Wunsch- und Erkenntnismaterials. Was subjektiven
Wert für den Neurotiker besitzt, kann immer auch einen mehr oder
weniger objektiven (Massen-) Wert darstellen, d. h. mehr oder
minder allgemein giltig werden. Nicht ein (fiktiver) Wert an sich
spielt in den Augen der Mehrzahl eine Rolle, sondern die Frage,
ob das nerrefiende Geistesprodukt die Gemütsbedürfnisse möglichst
vieler Menschen befriedigt. Und da ist zu sagen, daß die soge-
nannten interessanten Philosophen, ein Platon, ein Schopenhauer
vielleiht weniger Erkenntnis- und mehr Wunscmaterial bieten als
beispielsweise ein Locke, ein Spencer, ein Auguste Comte, dabei
! Man hat der Psychoanalyse — mit Unrecht, wie mir scheint — vorge-
worfen, daß sie das Genie verdähtige und verkleinere. Sie hat bloß — was
keineswegs selbstverständlih schien — nachgewiesen, daß auch der Genius nicht
von oben kommt, sondern aus dunkler Tiefe nach oben geht. Sie hat ferner
zwishen Echtem und Falshem oder sagen wir: zwischen objektiver Erkenntnis
und subjektiver Phantasie unterscheiden gelehrt. Ihr Fehler war freilich bisweilen,
die Dinge ohne die nötigen Einschränkungen und in allzu schroffer, einseitiger Form
geschildert zu haben.
® Ih behaupte nun aber keineswegs, daß sich der Vorgang tatsächlich so
abgespielt hat.
206 Alfr. Frh. v. Winterstein
aber viel weiter reihende Wirkungen erzielt haben. Sie heißen dem
interessant, dessen gleichgestimmtes Unbewußte sie mitschwingen
lassen. Die größere oder geringere Allgemeinheit der Komplexe
und die Art ihrer Darstellung (die intellektuelle Blendung) entscheidet
über ihre Aufnahme bei den anderen.
Bei der zweiten Gruppe von Denkern, den nüchternen, handelt
es sih nur zum geringsten Teil um das Ausleben der Komplexe
und ein solhes durh das Unbewußte nicht wesentlih gefälschte
Weltbild verdankt seine Entstehung bloß einem kräftigen Forscher-
trieb, zu dem sich eine in Wißbegierde sublimierte Libido als Ver-
stärkung gesellt. Der bei diesen Denkern nicht zu unterschätzende
Anteil der Ichtriebe soll noch im Verlauf unserer Arbeit zur Sprache
kommen. |
Auf dieser nicht mehr mythologishen Stufe des Erkennens
hätte es keinen Sinn, das Unbewußte für die Forschungsresultate
verantwortliih zu machen, da die Libido hier bloß als Motor des
Denkens wirkt. Es wäre geradeso, wie wenn man aus dem Brenn=
material der Lokomotive die Eigentümlihkeit der durchfahrenen
Landschaft herleiten wollte.
Die vorläufige Untersheidung von nüchternen und mytholo-
gischen Philosophen deckt sih ungefähr mit der von »Denkern« und
»Scauern« (Chamberlain), wozu ih bemerke, daß diese Bezeich-
nungen nur ein Mehr oder Minder, d. h. eine vorwaltende Anlage
des eieres ausdrücken. Vielleicht sind eigentlihe » Weltanshauungen«
bloß die Schöpfungen dieses visuellen ae dem der Typus des
Dichters so nahesteht!. Ich erinnere nur an Plato. Es sei mir ge-
stattet, über dieses Vorbild eines idealistishen Philosophen noch
Einiges zu sagen.
Wenn wir ihn in die Nähe der Künstler stellen durften, so
verdankt er dies niht nur der hohen Kunst seiner Sprahe, sondern
auch seiner ganzen persönlichen Art, bildlich aufzufassen. Wer ent-
sinnt sih nicht des glänzenden Vergleiches des irdishen Daseins mit
dem Aufenthalt in einer unterirdishen Höhle am Anfang des sie-
benten Buches der »Republik<? Wieder im »Phädross erscheint
Plato die Seele unter dem Bilde eines Gespannes. Der vernünf-
tige Seelenteil (Aoyıorıxov) ist der Lenker zweier geflügelter Rosse:
eines edlen (des Övuoeıöes) und eines unedlen (der &midvuia). Im
»Staate« endlih wird der begehrende Seelenteil mit einem Hunde
verglihen. Es sind aus der Traumdeutung bekannte Symbole, teil-
weise der funktionalen Kategorie?, die als unvergeßlihe Eindrücke
in uns haften.
! Der halluzinatorishe Charakter des Unbewußten dürfte bei den »Schauern«
ein gewichtiges Wort mitzureden haben. Man könnte vielleiht kurz und ungenau
sagen: Bei diesen findet eine Regression von Gedanken zu Bildern statt, während
umgekehrt der Dichter aus Bildern einen gedanklihen Zusammenhang zu gewinnen
sucht.
® H. Silberer: Beriht über eine Methode, gewisse symbolische Halluzi-
nationserscheinungen hervorzurufen und zu beobachten. Jahrb. I, p.
Psychoanalytishe Anmerkungen zur Geschichte der Philosophie 207
Platon der Künstler stellt in dem eben erwähnten Höhlenvergleich
die Idee des Guten, die bei ihm wohl der Gottheit gleihkommt,
durh das Bild der Sonne dar, bei deren Anblick der aus der Höhle
Tretende Schmerz empfände, kaum vermödte er die Helligkeit der
Flamme zu ertragen. Wer den Nadtrag zu der Arbeit Freuds
über Schreber! kennt, wird sih der Vermutung nicht erwehren
können, daß das dort über das Verhältnis zur Sonne Gesagte denk-
barerweise auch bei Plato seine Anwendung findet. Ich setze die
bezeihnenden Stellen aus dem Aufsatz hieher: ȀAuf p. 48? er-
wähne ih das besondere Verhältnis des Kranken zur Sonne, die
ih für ein sublimiertes ‚Vatersymbol’ erklären mußte. Die Sonne
spriht zu ihm in menshlihen Worten und gibt sich ihm so als ein
belebtes Wesen zu erkennen. Er pflegte sie zu beschimpfen, mit
Drohworten anzuscreien, er versihert auh, daß ihre Strahlen vor
ihm erbleihen, wenn er gegen sie gewendet laut spricht. Nad seiner
Genesung rühmt er sich, daß er ruhig in die Sonne sehen kann’
und davon nur in sehr bescheidenem Maße geblendet wird, was
natürlich früher nicht möglich gewesen wäre (Anmerkung auf p. 139
des Schrebershen Buces).«
»An dieses wahnhafte Vorredht, ungeblendet in die Sonne
shauen zu können, knüpft nun das mythologische Interesse an. Man
liest bei S. Reinach* (nah Keller, Tiere des Altertums), daß die
alten Naturforscher dieses Vermögen allein den Adlern zugestanden,
die als Bewohner der höchsten Luftshihten zum Himmel, zur
Sonne und zum Blitze in besonders innige Beziehung gebracht
wurden. Dieselben Quellen berihten aber auh, daß der Adler
seine Jungen einer Probe unterzieht, ehe er sie als legitim erkennt.
Wenn sie es nicht zustande bringen, in die Sonne zu schauen, ohne
zu blinzeln, werden sie aus dem Nest geworfen.«
Ȇber die Bedeutung dieser Tiermythos kann kein Zweifel
sein. Gewiß wird hier den Tieren nur zugeschrieben, was bei den
Menschen geheiligter Gebraud ist. Was der Adler mit seinen Jungen
anstellt, ist ein Srle eine Abkunftsprobe, wie sie von den ver-
sciedensten Völkern aus alten Zeiten berichtet wird.« Folgen nun
einige Beispiele.
»Der Adler, der seine Jungen in die Sonne schauen läßt und
verlangt, daß sie von ihrem Lichte nicht geblendet werden, benimmt
sih also wie ein Abkömmling der Sonne, der seine Kinder der
Ahnenprobe unterwirft. Und wenn Schreber sich rühmt, daß er
ungestraft und ungeblendet in die Sonne shauen kann, hat er den
mythologishen Ausdruk für seine Kindesbeziehung zur Sonne
! Freud: Nadtrag zu dem autobiographish beschriebenen Falle von
Paranoia (Dementia paranoides). Jahrb. III, p. 588.
2 Jahrb. III, p. 48.
> Von mir im Druck hervorgehoben.
* Cultes, Mythes et Religions, T. II, 1908, p.80 (Anmerkung Freuds).
208 Alfr, Frh. v. Winterstein
wiedergefunden, hat uns von Neuem bestätigt, wenn wir seine Sonne
als ein Symbol des Vaters auffassen.«
Um zu unserem Ausgangspunkt zurückzukehren: drückt mög-
liherweise der Höhlenvergleih für den, der an keinen Zufall im
Psydhishen glaubt und die typischen Bilder des Ünbewußten kennt,
auch eine Mutterleibsphantasie! aus, so dürfen wir wiederum in der
Sonne, der Idee des Guten, ein sublimiertes Vatersymbol vermuten
und in der Unfähigkeit, anfangs ungeblendet in die Sonne zu schauen,
könnten wir die mythologishe Äußerung eines Zweifels an der Ab-
stammung vom Vater erblicken. Im zweiten Teil dieser Abhandlung
soll die Bedeutung eines derartigen infantilen Zweifels für die System-
bildung der Philosophen erörtert werden. Der Aufstieg zur Welt der
Ideen hingegen würde im Bilde einer Geburt die Verschiebung der
Libidobesetzung von der Mutter zum Vater, eine Entwicklung? an-
zeigen. Diese Überleitung scheint von großer Bedeutung für die
Entstehung von Philosophie und Religion zu sein.
Wir haben erst durh die Psychoanalyse die Vorbildlihkeit des
Sexuellen für das Verhalten des Individuums erkennen gelernt. Kühle
oder feindselige Einstellung zur Frau, die wieder in der Beziehung
zur Mutter ihre Quelle haben dürfte, hat leicht die Neigung, sic
zu verallgemeinern?® und die Beurteilung der Sinnenwelt zu beein-
flussen. Hieraus erwäcdst oft die allzu hohe Schätzung der rein geistigen
Wirklihkeit. Die ganze sinnenfeindlihe Position des Platonismus, die
indem Christentum und seinem Willen zur Entwertung der gegebenen
Realität zwei Jahrtausende nachklang, wurzelt nur zum Teil in den
individuellen Lebensbedingungen ihres Urhebers, zum größeren
Teil hat sie ihren Ursprung in den Libidowandlungen der griehishen
Gesamtpsyche. Es wäre eine eines psydhoanalytisch geshulten Kultur-
ı Vgl. das orphishe ooua — onua! Plato ist durch die orphische Religion
sehr beeinflußt. Bezüglich der Mutterleibsphantasie, deren Bedeutung und Häufigkeit
verweise ih auf Freud (»Traumdeutung«, p. 198 und 199) und Stekel (Die
Sprahe des Traumes«, p. 284 ff). — Um empörte gegnerishe Stimmen zu be=
schwicdtigen, bemerke ih noch dies: Die Aufdekung der tiefsten Shiht will
nicht mit einer erschöpfenden Darstellung des möglichen Ideengehaltes jener
Bilder verwechselt werden.
? Vielleicht lassen sich die nachstehenden Ausführungen Bachofens (»Das
Mutterrechts, Stuttgart 1901, p. XXVID als Ergänzung zu dem oben Gesagten
auffassen: »In der Hervorhebung der Paternität liegt die Losmachung des Geistes
von den Erscheinungen der Natur, in ihrer siegreihen Durchführung eine Er-
hebung des menschlichen Daseins über die Gesetze des stofflihen Lebens. Ist das
Prinzip des Muttertums allen Sphären der tellurischen Schöpfung gemeinsam, so
tritt der Mensch durh das Übergewicht, das er der zeugenden Potenz einräumt,
aus jener Verbindung heraus und wird sich seines höheren Berufes bewußt. Über
das körperliche Dasein erhebt sih das geistige und der Zusammenhang mit den
tieferen Kreisen der Schöpfung wird nun auf jenes beschränkt. Das Muttertum ge-
hört der leiblichen Seite des Menschen an und nur für diese wird fortan sein Zu=
sammenhang mit den übrigen Wesen festgehalten, das väterlich-geistige Prinzip
eignet ihm allein... Das siegreiche Vatertum wird ebenso entschieden
an das himmlische Licht angeknüpft, als das gebärende Muttertum
an die allgebärende Erde«.
> Vgl. den Ausdruk »Frau Welts.
Psycdoanalytishe Anmerkungen zur Geschichte der Philosophie 209
historikers würdige Aufgabe festzustellen, was die Ursache des mächtigen
Verdrängungsshubes im acıten und siebenten vordristlihen Jahr-
hundert, nah Rhode der wichtigsten Periode griehisher Entwicklung,
gewesen sein mag. Möglich, daß die Verdrängungswelle von Ägypten
herüberflutete. Seit dieser Zeit tritt in der griehischen Volksseele
jener Zwiespalt zwishen Bewußtem und Unbewußtem, zwischen
Apollinishem und Dionysishem — um die berühmte und völker-
sydhologishe bedeutsame Unterscheidung Nietzsches in der »Ge-
but der Tragödie usw.« zu gebrauhen — immer wieder auf. Die
Bedeutung dieses Widerstreites für die griehishe Ethik hoffe ich
einmal in anderem Zusammenhang darlegen zu können. Die Seele ist
vom Leibe zu reinigen als einem beflekenden Hindernisse — das ist
das Ziel des in jener Epoche blühenden, an die Tendenzen anderer
Reinheitsreligionen: des Brahmanismus oder Zoroastrismus,
gemahnenden orphischen Geheimdienstes. Was hier gebändigt und
geläutert wurde, strömte ursprünglih in wilden Wellen von den
Bergen des Nordens herunter: ich meine den Dionysoskult thrakischer !
Herkunft. Seine Ergänzung findet der orphische Glaube im pytha-
goräischen Geheimbund, dem auc der Leib ein Kerker der in ihn
gebannten, aus höheren Regionen verirrten Seele ist. Ägyptische und
vielleiht auch indishe Einflüsse sind bei Pythagoras zu verspüren.
Der Dienst des Dionysos und die Askese des großen Reformers
bezwecken eigentlih dasselbe. Es gibt ja zwei Möglichkeiten, mit
der lästigen Sexualität fertig zu werden: entweder man verdrängt
seine Libido oder man entledigt sich ihrer durch fortgesetzte Real-
übertragung. Das zweite Verfahren, durch rücsichtslose Hingabe an
die Natur ihrer überdrüssig zu werden, das Schwelgen »in impuris
naturalibuss (Nietzsche) scheint dann wieder in der Schule der
Kyniker aufzuleben. Diese will aber durhaus niht den Menschen
von der Welt ablösen, sondern nur den Einzelnen mitten in der
Welt von deren Herrschaft über seinen Willen freimahen?. Der
Zynismus entspringt nämlih im letzten Grunde nicht einer freudigen
Wertschätzung der natürlihen Triebe, sondern einer Erniedrigungs-
tendenz im Sinne einer Ablehnung. So paradox es aud klingt: der
Überempfindlihe wehrt sich oft durh Zynismen (ein Shutzcharakter
des Schamhaften). So wie ein Feigling, wenn er gereizt wird, am
gefährlichsten werden kann.
Die uns überlieferten Aussprühe der Kyniker kommen unserer
Auffassung stark entgegen. Äntisthenes soll gesagt haben: »Könnte
ih der Aphrodite habhaft werden, so würde ich sie erschießen«.® Von
einem anderen wird berichtet, er habe sich geäußert: »Lieber will ich
verrückt sein als genießen«.t
! Der thrakishe Ursprung ist nach neueren Untersuchungen nicht feststehend.
2 Siehe J. Burckhardt, Griehishe Kulturgeshicte, II. Bd
> frg. 35 (Mullach, Fragmenta philosophorum graecorum II. Paris, Didot
1867, p. 274 ff.).
* frg. 65. Diog. Laert. VI, 3.
Imago 11/2 14
210 Alfr. Frh. v. Winterstein
Aud die hedonische Meß- und Rehenkunst, Ausdruck einer
an Instinkten ärmer gewordenen Zeit, die mißtrauish in die Zukunft
blickt, zeigt immer mehr ihr wahres Gesicht: um sich gegen die Herrschaft
der Triebe zu sichern, strebt sie Leidlosigkeit an, die Meeresstille
des Gemüts, Ruhe und Glük ist nur im Tode, lehrt Hegesias,
der »reioıdavaross, wie der Verfasser der Schrift »Der Selbstmörder
durch Nahrungsverzicht« (»drroxagreo@v«) genannt wurde. Die Ehe-
losigkeit dieser Männer entspringt nicht minder dem neurotischen
Dualismus von Bewußtem und Unbewußtem.
In diesen Jahrhunderten der Verdrängung, wo die Seele dem
Leibe entfliegen und sih mit der Gottheit vereinigen will, ist kein
Platz für die Frau. In der harmonischen, hellen Welt Homers, viel-
leiht viel später noh bei Herodot!, hören wir zum ersten- und
zum letztenmal starke Gefühlstöne als Ausdruck der Beziehungen
zwishen Mann und Weib. Um Helenas? willen kämpft man vor
Troja, Hektor nimmt Abschied von Andromadhe. Diese Klänge ver-
stummen fortan. Was an zärtlihen Regungen in der Seele des
Mannes keimt, wird zur Knabenliebe®? verwendet, die ihren sublimsten,
leuchtendsten Ausdruk im »Gastmahl« des Plato* erhalten hat. Alle
Wissenshaften und Künste stammen aus dem Eros, heißt es dort.
Trotzdem wird Eros dem Menschen zum Feinde. Äußere Umstände
gleiherweise wie innere führen zu einer immer größeren Isolierung
des einzelnen, der Stoiker bedarf keiner Güter mehr, da er das
Himmelreih in sich selber, in seines Unbewußten wunscerfüllender
Instanz trägt. Die Ethik wird vollkommen individualistish,; die
Kyniker der vordristlihen Zeit nehmen bereits die Anshauungen
der Mönde des dritten und vierten Jahrhunderts vorweg: die Apo-
litie, die Verahtung der Welt, die Freiheit von Menschen, Bedürf-
nissen und Meinungen?. So sieht der Boden aus, der das Christen=
tum vorbereitete.
Schüctern erst und dann mutiger wagt sih in diesem ein
Marienkultus hervor, im mittelalterlihen Minnedienst findet dann der
Mensch jene veredelten Beziehungen zur Frau wieder®, entwickelt
sich jener Frauenkultus, in dem es die folgenden Jahrhunderte auf
Kosten des homosexuellen Fühlens so weit gebradht haben.
Schopenhauer bezeichnet eine vereinzelte Reaktion dagegen.
Wenn wir im Auge behalten, daß die Homosexualität aus dem
ı Vgl. Go mperz, »Griehishe Denker«, II. Bd.
? Spätere griechische Schriftsteller haben sich bezeichnenderweise darüber lustig
gemacht, daß die Ilias den Kampf um die Frau besang.
3 Dorishen Ursprungs. Die Jonier haben eine abweichende Entwicklung
durchgemadht.
+ In den »Gesetzens wird die Knabenliebe aufs schärfste verurteilt!
5 Vgl. Jodl, Geshichte der Ethik, I. Bd.
6 In der hellenistishen Periode spannen sih zwischen den Geschlechtern
Fäden einer vergeistigten Sinnlihkeit an, die an das achtzehnte Jahrhundert er-
innern. — Ich weiß sehr genau, daß das Verhalten der Römer zur Frau ein anderes
wie das der Griehen war, bin aber mit Absicht hier nicht darauf eingegangen.
Psydhoanalytishe Anmerkungen zur Geschichte der Philosophie 211
Verhältnis zum Vater ihre stärkste Anregung empfängt und eine
ursprünglih intensive Fixierung bei der Mutter voraussetzt, werden
wir nicht erstaunt sein, Plato durh den Mund des Sokrates, einer
Neuauflage des väterlichen Ideals, sein Leben lang sprechen zu hören.
Für die im »Symposion« gefeierte Knabenliebe! aber läßt sich fol-
gende Erklärung geben: Wenn der Betreffende Vater wird (ich meine
nicht: physischer Vater), identifiziert er sich mit seinem eigenen Er-
zeuger und liebt, indem er die alte väterlihe Rolle den Knaben
egenüber durchführt, eigentlich seine eigene Jugend, sich selbst. Jener
Nelbmii hat dann bei Aristoteles in der Schilderung des sich selbst
genießenden, ewig seligen Gottes großartigen Ausdruck gefunden —
was wieder an die Liebe erinnert, mit der sich Gott bei Spinoza
selbst liebt. Auch die heterosexuelle Rihtung verrät nod ihren Ein-
fluß in der Liebe vorzugsweise zu solhen Knaben, deren Aussehen
ein mädchenhaftes ist.
Bei einem Individuum wie Plato, dem wir ein besonders
hohes Maß von Sublimierungsfähigkeit werden zusprechen müssen,
dürfen wir eine ebenso starke Ablehnung alles Grobsexuellen
erwarten. Vieles deutet darauf hin: seine Seelenlehre, diese ganze
Auffassung des Verhältnisses zwischen Leib und Seele, die En
sucht der Seele nach ihrer wahren Heimat, der idealen Welt, der
Unsterblichkeitsglaube? — der eigentlih im Widerspruch mit seiner
Ideenlehre steht —, die nur scheinbar überbrükte Kluft zwishen dem
göttlichen Aoyıorıxov und dem vergänglihen Erd vunrtıxov in der mensh-
lihen Brust, endlih der Kultus der unsinnlihen Begriffe, der sich
nach einem treffenden Worte Iherings einen Begriffshimmel errichtet.
Furcht vor übermädtigen Sinnen — wir würden sagen: Ab-
lehnung drängender Triebe — hielt auh Nietzsche? für den Grund
des Idealismus Platos, in dem der Künstler und der Theolog nie
zur Versöhnung gelangten. Nur halbwegs gesicherte psychoanalytische
Aufshlüsse über die Beziehung von Philosophie und psychosexueller
Konstitution bei Plato zu geben — Plato selbst nennt den Eros
den philosophishen Zeugungstrieb —, ist bei der nicht allzugroßen
Ausführlihkeit der Nadrichten über sein Leben und der Ungeeignet-
heit des Materials ein Ding der Unmöglichkeit. Wir sind daher hier
wie anderwärts bloß auf Vermutungen angewiesen.
Wir wissen, daß Plato nah dem Tode des Sokrates aus
äußeren, politischen und wahrsceinlih auch aus inneren Gründen
Athen verließ und erst nad beiläufig zehnjähriger Reise nah Athen
zurükkehrte. In der Fremde mag die Sehnsuht nah dem verlorenen
väterlihen Ideal des Lehrers den herangereiften Schüler zur Abkehr
von der äußeren Welt und zu jener Vertiefung in sich selbst ver-
! Plato sagte, daß es gar keine platonische Philosophie geben würde, wenn
es niht so schöne Jünglinge in Athen gäbe.
2 Zwischen Todesfurdt, die Unsterblihkeit fordert, und unbefriedigter Sexu=-
alität besteht ein Zusammenhang (die Wünsche sind das Unsterbliche).
3 »Die fröhlihe Wissenschaft«, p. 329.
14*
212 Alfr. Frh. v. Winterstein
anlaßt haben, die die Voraussetzung einer Lehre war, in der die
Ideen allein objektive Realitäten und Sitz aller Wesenheit und Wahr-
heit, umgekehrt die Ersheinungen der Sinnenwelt unzulänglihe Ab-
bilder derselben sind. Die Erinnerungen seiner Jugendzeit scheinen
bei Platos Heimkehr verstärkten Einfluß auf ihn gewonnen zu haben.
Dafür spricht, daß die Schriften dieser Periode sih wieder mit Vor-
liebe zur Persönlihkeit des Sokrates zurükwenden, die Überhand-
nahme der mythishen Form verrät vielleiht auch eine größere Nähe
des Unbewußten. Jetzt entsteht der »Phädross, das »Symposions,
der »Phädons, Werke, in denen die Erhebung zur Erkenntnis der
Ideen, die Auffahrt der Seele zum überhimmlishen Ort ihre voll-
endetste künstlerische Gestaltung erhalten hat.
Nur scheinbar entflieht Plato auf den Flügeln der Seele ir-
dischen Begehrungen und Leidenschaften, in Wirklichkeit kehrt er auf
den Gipfelpunkt seines Schaffens zum »tiefsten, allertiefsten Grunds
zurük, »umshwebt von Bildern aller Kreatur«. Jeder Himmelsflug
führt tatsähhlih ins bodenlose Unbewußte hinab. »Versinke denn!
Ich könnt” auch sagen: Steige! ’s ist einerlei«!,
Im »Staate« läßt Plato der Dreiteilung der Seele in ziemlich
gezwungener Parallele die Dreiteilung der Stände entsprechen. Der
Staat wiederum ist für den Philosophen eine Welt im kleinen. Ich
habe dieses Beispiel angeführt, um den Übergang zu einer Behauptung
zu finden: daß nämlih das ganze Altertum von der Voraussetzung
ausging, der Mensc sei ein Mikrokosmos. Erst Schopenhauer? ist
zu dem entgegengesetzten Bilde des Kosmos als Makranthropos ge=-
kommen, »sofern Wille und Vorstellung ihn wie sein Wesen er-
schöpft«. Er hat insoweit recht, als der Mensch eigene bewußte und
unbewußte Regungen in die Außenwelt projiziert; der Mensd ist
für sih tatsählih das größte Hindernis, um zur Welt zu gelangen.
In unzähligen Fällen stellt er, indem er ein Weltbild zu geben glaubt,
nichts anderes wie sein eigenes Unbewußtes, eigene psychische Struktur
verhältnisse mit Hilfe des Materials der Außenwelt dar. Denn er
weiß nichts von diesem Prozesse der Einfühlung, im Bilde kommt
ihm bloß sein eigenes? Wesen entgegen.
Der »Urmythos aller Mythen« <H. St. Chamberlain), die
Annahme einer Identität von Geshautem und Gedadhtem, Natur
und Vernunft, Denken und Sein beruht in der einen seiner mög-
lihen Gestaltungen auf dem Mißverständnis einer anthropomorphen,
ı Vgl. Augustinus: »Ih werde mih also auh noch über diese Kraft
meiner Natur erheben, schrittweise emporsteigend zu dem, der mich bereitet
hat, werde kommen zu den Gefilden und weiten Palästen meines Gedäcdtnisses«.
(Bek. Buh X, Kap. VII, zit. bei Jung, Wandlungen und Symbole der Libido).
2 Die Welt als Wille und Vorstellung, II. Bd., Kap. 50.
3 Novalis, Die Lehrlinge zu Sais: »Erkennen sie in der Natur nicht den
treuen Abdruck ihrer selbst: Sie selbst verzehren sih in wilder Gedankenlosigkeit.
Sie wissen nicht, daß ihre Natur ein Gedankenspiel, eine wüste Phantasie ihres
Traumes ist. Jawohl ist sie ihnen ein entsetzliches Tier, eine seltsam abenteuerliche
Larve ihrer Begierdens«.
Psydhoanalytishe Anmerkungen zur Geschichte der Philosophie 213
die eigene Libido projizierenden Anshauungsweise, die in dem Sein
immer nur sich selber finden kann. So kam Schopenhauer, der
auh hier angeführt werden muß, dazu, beispielsweise in der
Schwerkraft eine Äußerung des »Willens« zu erbliken, Und für
diese Art, die Dinge zu betrachten, gilt das Wort des Novalis:
»Die Welt ist ein Ulhniversaltropus des Geistes, ein symbolisches
Bild desselben.« Bei Fidhte, Schelling und Hegel, auf die ich
in diesem Zusammenhang nicht näher eingehen kann, ist jene
Identitätstheorie in abstrakten Gedankenverknüpfungen wieder zu
hohen Ehren gelangt. Es sind bei dieser Einheitslehre zunädhst
zwei entgegengesetzte Sclußfolgerungen möglih. Wer in seinem
Innern das Drängen von dumpfen Kräften verspürt und sih als
Tätigkeitszentrum empfindet, wird nur allzuleicht geneigt sein, die
Beseeltheit der Außenwelt zu übershätzen. Daher audh der
Pantheismus der Jugend. Anders bei jenem, der, durch kein ge-
schäftiges Weben der Seele gestört, die Dinge um sich mit leiden-
ya spiegelndem Auge auffängt. Ihm wird das All zu einem
leblosen, seelenlosen Mechanismus und sein eigenes Psydhisces also
auch. Natürlich ist der oben gebraudhte Ausdruk »Sclußfolgerungen«
etwas irreführend: es handelt sich niht um logishe Konklusionen,
sondern um einen gefühlsmäßigen Eindruk, der durch die Libido-
konstellation des betreffenden Individuums mitbedingt ist.
In arhaishen Zeiten hat gewiß die erstere Anschauung allein
geherrsht. Damals waren weitaus mehr Objekte der Außenwelt,
lebendige und leblose, mit Libido primär besetzt als später, die
Sonne war nicht ein Vatersymbol, sondern etwas, dem eine —
sagen wir — gleich starke Libido wie einem Vater entgegengebradt
wurde. Nadträglich, mit zunehmender Exklusivität und Konzentration
der Libido, konnte ein Libidostärkeäquivalent. wie beispielsweise die
Sonne oder die Erde als Vater- oder Muttersymbol verwendet
werden. Es eignete sih dazu, da es niht mehr Libidobedeutun
besaß. Um bei unserem Exempel zu bleiben: ich glaube aud, daß
ursprünglih bereits oder wenigstens sehr frühe (in diesem Fall
immerhin sekundär) der Sonne und der Erde eine differenzierte
Libido infolge eines verschiedenen, sozusagen physishen Entgegen-
kommens gewidmet wurde. Die Erde ist etwa in jener prähistori-
shen Zeit als wirklihe Urmutter, die Sonne als wirkliher Urvater
verehrt worden. Im Verlaufe einer Entwicklung, deren Dauer wir
niht abzushätzen vermögen, hat sih die Libido von vielen
Objekten zurückgezogen, sih teils für die nunmehr als solce
a Liebesobjekte verstärkt, teils sublimiert und jetzt erst
onnten die der Urlibido ledigen Objekte als Symbole — wie wir
es noh immer im Traum, in der Dichtung, in der Neurose! und
!Freud deutete einmal den Angstanfall eines Patienten, den dieser bei einer
Erdarbeit bekam, als die Sonne ihn beschien, nah den eigenen Angaben des
Kranken dahin, daß er Angst vor dem zusehenden Sonnen-Vater hatte, der ihn
beim Herumarbeiten in der Mutter-Erde überraschte.
214 Alfr, Frh. v. Winterstein
Psychose! erleben — gebrauht werden. Mit einem Wort: Vieles,
was jetzt als Libidosymbol angesehen wird, war vielleicht
einmal Libidoobjekt.
Der Mythos, das Unbewußte, ist die Regenbogenbrüce
zwishen Innen und Außen, zwischen Geist und Natur. Was ic
in die Dinge projiziert habe, täuscht mir eine Ähnlichkeit ihres
Wesens mit dem meinigen vor. Auf allen Pfaden des Denkens tritt
ewig der Mensh nur sich selber entgegen? und erkennt sich nicht.
Im Rierede heißt es: »Im Herzen schuf Varuna den Willen, am
Himmel die Sonne, gleicherart sind beides.* Und Jahrhunderte später
lehrte Giordano Bruno, daß die Stufenleiter der menschlichen
Gemütsbewegungen genau der Stufenleiter der Natur entspreche®.
In einem gewissen Sinn gilt von unserem gesamten Erkennen
der Satz, daß jeder nur das findet, was er zu finden voraussetzt —
kraft seiner eigentümlichen Beschaffenheit. Auch der Philosoph nur
das, was sein UÜnbewußtes wünscht, sofern er dessen Herrschaft
nicht eingedämmt hat. Die Forderung Ferenczis erscheint deshalb
sehr berechtigt, daß jeder, der an die Behandlung philosophischer
Probleme herangeht, sih vorher gründlih analysieren solle.
Und so ist die Philosophie verwandt mit der Erdihtung von
Mythen, ja ihre Tochter, wie schon Aristoteles bemerkt, der hinzu-
fügt, daß der Philomythos notwendig ein Philosophos sein müsse.
Wir werden von unserem heutigen Standpunkte aus umgekehrt
sagen, daß der Philosoph, der Metaphysiker, notwendig ein Freund
von Wunschdidhtungen sei.
Figentlihe Philosophiegeshihte zu treiben, ist dieses Ortes
nicht, aber wir verstehen von hier aus die verschiedenen Gabelungen,
die in den entgegengesetztesten Systemen Vertretung gefunden Pin
Die Kluft zwishen Geist und Natur, Denken und Ausdehnung
schließt sih — dies ist eine Lösungsmöglichkeit — in einer trans-
zendentalen Substanz, Gott genannt, zusammen. Jedoch ist das eine
äußerlihe Vermittlung, da diese beiden Attribute als dasjenige, was
der Verstand an der Substanz als ihr Wesen ausmachend wahr-
nimmt, Gott selbst gleihgiltig, da sie nicht immanente Unterschiede
der Substanz sind. Gott ist hier wirklih nur ein Deus ex
macina. Spinoza, ein Vernunftungeheuer, das die Prinzipien des
Seins more geometrico zu demonstrieren unternahm und vermeinte,
alles lasse sih »commodissime explicari«®, konnte aus unmittelbarer
ı Siehe die Sonne als Vatersymbol bei Schreber.
2 Inwieweit das Unbewußte tatsächlich als Vermittlung zwishen Psycdhischem
und Somatishem aufgefaßt werden könne, soll späterhin dargelegt werden.
3 „Einem gelang es — er hob den Schleier der Göttin zu Sais — Aber
was sah er? Er sah — Wunder des Wunders, sich selbst.«
* Die philosophishe Ansiht des Rigveda erfaßt nah Jung (Jahrb. IV,
p. 408) die Welt als eine Libidoemanation.
‚5 Zit. nah Chamberlain, Immanuel Kant, p. 326 (2. Aufl.)
6 Zit. bei Chamberlain, I. c., p. 392.
Psydoanalytishe Anmerkungen zur Geschichte der Philosophie 215
Anschauung niemals die Brücke finden. Sein Geist war zu sehr der
sinnlihen Aue entwacdsen. Die Vernunft war zum Äffekt
geworden, der sih in Syllogismen auslebte. Dem kühlen Denker,
der ssh nah einem shwahen Anlauf zur Objektliebe bei der
Tochter seines Lehrers, Clara Maria van den Ende, narziß-
tish auf sich selbst zurükzog und in der abstrakten Persönlichkeit
Gottes sich selbst liebte (Beziehung zwischen Narzißmus und Vater-
imago), vermochte sich gefühlsmäßig ein Zusammenhang zwischen
Außenwelt und mathematish-nüdhterner Gedankenwelt nur in
dem Abgrund der göttlihen Substanz zu ergeben. Der »amor
intellectualis«, mit Es der endlihe Mensh, »Stäubhen vom
Staubes, dem Versinken in die unendlihe Tiefe zustrebt, ist ein
Nadfahr jener Unterwürfigkeit, mit der sich Israel vor dem strengen
Gott in den Staub warf!. Die innere Auflehnung Spinozas gegen
seine Eltern, die wir aus seiner Biographie ers liefen dürfen und
die seinem Denken den Stempel der ehe aufgeprägt
hat, war nicht imstande, die Bedeutung des Vaters für ihn zu
mindern?. In der Rolle, die Gott in seinem System innehat, er-
kennen wir sie wieder. Er wagt es nicht, von ihm für seine grenzen=
lose Hingebung Liebe zu fordern, »nicht Gott liebt uns, sondern
wir, die wir Gott erkennen, lieben Gott. Weil aber alle Menschen
zusammen einen Teil des unendlihen Verstandes bilden, welcher
ein Attribut der ewigen Substanz ist, einen Teil jener Kraft, die
allüberall Gott erkennt und Gott liebt, so kann gesagt werden, daß
unsere Liebe ein Teil der Liebe ist, mit der Gott sich selber liebt« ®.
Sollte nun mit der Vermittlung zwischen Innen und Außen
ernst gemacht werden, so ergaben sih zwei Möglichkeiten: der
Realismus (Empirismus, Sensualismus) und der Idealismus. Nur
über diesen will ih noch einiges bemerken. Leibniz faßt die
Substanz als lebendige Aktivität, als tätige Kraft auf, die Substanz
ist ihm ferner Einzelwesen, Monade, es gibt eine Vielheit von
Monaden, die alle psyhishen Charakter haben. Sie sind die Grund-
wesen des ganzen physishen wie geistigen Universums und unter-
scheiden sih voneinander nur durch größere oder geringere Deut-
! Der masodistishe Zug rükt Spinoza in die Nähe der Mystiker. Es
fehlen — was nicht erstaunlih ist — auch nicht sadistische Neigungen. Sein Bio-
graph Colerus (1705) berichtet: »Wenn es ihm um irgendeinen anderen Zeit-
vertreib zu tun war, so fing er einige Spinnen und ließ sie miteinander kämpfen;
oder er fing einige Fliegen, warf sie in das Netz der Spinne und sah diesem
Kampfe mit großem Vergnügen, selbst mit Lahen zu.< Freudenthal merkt
hiezu an: »Die Zusammenstellung dieser Angabe mit der nachfolgenden über
Spinozas mikroskopische Untersuhungen beweist, daß er nicht aus Grausamkeit
Spinnen und Fliegen miteinander kämpfen ließ, sondern um wissenscaftlicher
Zwecke willene. — Als ob das — nad den Erkenntnissen der Psychoanalyse —
ein Widerspruh wäre!
®2 Die Kinder des Hauses (bei Hendrik van der Spyk) ermahnte er zur
Unterwürfigkeit und zum Gehorsam gegen die Eltern (Colerus).
® Eth. V, Prop. 35 u. 36. Es soll — trotz der vorstehenden Ausführungen
— nicht verkannt werden, welche Großartigkeit in der Auffassung Spinozas liegt.
216 Alfr. Frh. v. Winterstein
lihkeit der Erkenntnis. Aus den näheren Bestimmungen der
Leibnizshen Monaden geht hervor, daß wir in ihnen bloß
Projektionen der eigenen seelishen Spontaneität in den gesamten
Kosmos auf Ghand eines AÄnalogieshlusses zu erbliken haben.
Hier haben wir es eigentlich mit einem wissenscaftlihen, atomistisch
gefärbten »Änimatismus«! zu tun. Die den einzelnen Monaden zu=
Unfähigkeit, aufeinander einzuwirken, gestattet viel=
eiht Rückschlüsse auf einen ziemlih weitgehenden »Äutismus« ?
bei diesem Denker. Geradeso, wie in der Feststellung, daß in jeder
Monade sih alles, was ist und geschieht, reflektiert?, aber durch
ihre eigene spontane Kraft, die Interessebesetzung bei der Wahr-
nehmung der Außenwelt möglicherweise ihren indirekten Aus=
druk findet. Die Monade ist — nah dem Aussprudhe Leibniz’
— >parvus in suo genere deuss. Gott ist die Monade mit der
distinktesten Erkenntnis. Der Gottesbegriff spielt im ganzen bei
Leibniz eine durch sein Monadensystem in nichts gerectfertigte,
wohl durh Gefühlsmomente bedingte Rolle.
Berkeley ist einen Schritt über den Idealismus Leibniz’
hinausgegangen. Sein religiöses Gefühl allein hinderte ihn, in Solip-
sismus auszuarten. Esse = percipi,; es existieren nur Geister, d. h.
denkende Wesen. Zur Erklärung des nicht spontan von uns Ge-
setzten wird Gott herbeigezogen, der die sinnlihen Empfindungen
in uns hervorbringt. Die Ideen, die er uns mitteilt, muß er konse-
quenterweise auh in sih tragen, diese Ideen in Gott heißen
Ärchetype (Urbilder), diejenigen in uns Ektype (Abbilder). Die
Entwertung der materiellen Außenwelt, die überragende Bedeutung
Gottes, den man sich in Analogie mit dem in uns selbst Wirken-
den zu denken hat — alles das spriht eine für den Psydo-=
analytiker durchsichtige Sprache‘.
Jeder Idealismus führt — wie Kraft in seiner früher zitierten
Arbeit scharfsinnig darlegt — in folgerihtiger Weiterbildung zu
einem Solipsismus, dem auch Nidtssychöahkisikens pathologischen
Charakter zuschreiben müssen. Ein idealistishes System wie das
Fichtes liegt trotz der Größe des Gedankens auf dem Wege
dazu. Die Welt ist eine Schöpfung des reinen oder unendlichen
ı Vgl. auhR.R. Marett, Preanimistic Religion, Folk-Lore, XI, London, 1900,
2 Der Ausdruk stammt von E. Bleuler,; siehe auh dessen Arbeit: Das
autistishe Denken, Jahrb. IV, 1
8 Leibniz (Principes de la Nature et de la Gräce, $ 3): »Chaque
monade est un miroir vivant, representatif de l’univers suivant son point
de vue.«
* Im Leben war Berkeley ein warmherziger Philanthrop.
5 Die Verneinung der objektiven Welt könnte als praktishe Überzeugung
»nur im Tollhaus gefunden werdens (Schopenhauer). Der englische Psydholog
James Sully spriht an irgendeiner Stelle von dem »Solipsismuss oder »Berkeley-
anismuss des Kindes und des Wilden. Der erste Ausdruck trifft nur teilweise zu,
der zweite ist entschieden unridhtig, falls er das gleihe damit bezeichnen soll.
Psydhoanalytishe Anmerkungen zur Geschichte der Philosophie 217
Ihs!; der shaffende Geist erzeugt das (empirishe) Ih und Nict-
Ih. Dem Ich tritt das Nicht-Ih als seine Beschränkung entgegen,
aber von ihm als metaphysishem Daseinsgrund selbst gesetzt. Die
wirklihe Welt ist das versinnlihte Material unserer Pfliht. Das
Beispiel des Traumes mag die etwas unklar wirkende Behauptung
von der Schöpfung der endlihen Ihs und ihrer Schranken verdeut=
lihen. Im Traume ershafft das Ih unbewußt seine Traumwelt, die
dem Ih im Traum als sinnlih=objektiv gegenübersteht. »Das ganze
System unserer Vorstellungen«, heißt es in der »Wissenschafts-
lehres, »hängt von unserem Triebe und unserem Willen abs.
Dieses ursprünglihe Wirken aber ist bei Fichte das reine Ih als
»Tathandlung«. Wenn er behauptet, die wahre Realität liege in
dem (notwendigen, gesetzmäßigen) Wirken, das ohne unser Wissen
das Weltbild in unserem Bewußtsein erzeugt, so hat er damit
Schopenhauers Lehre vorweggenommen, die durch ihn mehr, als
ihr Urheber zugestehen wollte, beeinflußt ist.
Ohne die erkenntnistheoretishe Berechtigung der Theorie
Fichtes ausshöpfen zu wollen, bemerke ih, daß Fichte eine
äußerst energische, geistige, selbstherrlihe Natur war, die sich wohl
vermögend fühlte, eine Welt zu gebären, um an ihrem Widerstand
ihre Kräfte zu proben.
Sofern wir Schöpfung Interessebesetzung gleichstellen, besteht
der Satz Fichtes zu Redt. In einem gewissen Sinne existiert ja
wirklih die Außenwelt — freilih nur für uns — nicht, sofern wir
sie nicht beachten. Bei Schopenhauer, der den Willen, die Libido
als Urgrund des Seienden ansah, ist der Prozeß des Bewußtwerdens
des — ich möchte sagen — metaphysishen Mechanismus shon weit
fortgeschritten und liefert gewissermaßen eine Probe auf die Richtig-
keit unserer Behauptungen?. Schopenhauer ist — nebenbei be=
merkt — der erste atheistische Philosoph. Der irrationale Wille tritt
an stelle des höchst weisen Gottes.
Über die unsterblihe Geistestat Kants, der die Metaphysik
vom Throne jagte und ihren Platz der von der Psychoanalyse nicht
anfechtbaren Erkennt einräumte, — der den ganzen Apparat
der übersinnlihen Welt in den Menschen verlegte, will und kann
ih hier nicht reden, da dies den mir gesteckten Rahmen der Arbeit
sprengen würde, möcte nur jeden, der die Absicht hat, Kant mit
dem Rüstzeug der Psychoanalyse zu bearbeiten, zu allergrößter Vor-
! Dieses reine Ih, das bei Fichte die Rolle Gottes einnimmt, entspricht
ungerähr dem Unbewußten. In einer späteren, mehr mystischen Periode lehrte
Fichte, daß das unendlihe Ich, dessen Erscheinung alles ist, selbst nur »die
Erscheinung einer absoluten Realität, einer unendlihen Kraft, eines Lebens, eines
Lichtes ist, das bloß in gebrochenen Strahlen in unser Bewußtsein gelangt«.
®? Was Schopenhauer über die Metaphysik der Gesclecdtsliebe und den
Wahnsinn sagt, stimmt auffällig mit Ergebnissen der Psychoanalyse überein. Vgl.
OÖ. Rank, Schopenhauer über den Wahnsinn. Zentralbl. f. Psychoan., I. Bd.,
1/2, und ©, Juliusburger, Weiteres von Schopenhauer, ebenda, I. Bd., 4.
218 Alfr. Frh. v. Winterstein
siht mahnen, will er sich nicht einer gröblihen Verwedslung von
Erkenntnistheorie und Psychoanalyse shuldig macen.
Es ist so gut wie eine Tautologie, wenn ich sage, daß der
Idealismus, je energisher und konsequenter er entwickelt wird, um
so mehr den Charakter des Asozialen annimmt. Was die Philosophen
im allgemeinen unbewußt abhielt, diesen letzten Scritt, so sehr er
durch die Logik geboten schien, zu vollziehen, war ein größerer oder
geringerer Rest von sozialem Gefühl!, der sie neben anderem Uhnter-
rk ren von den vorwiegend asozialen Psycdotikern (besonders
die Dementia praecox) trennt. Übrigens ist beispielsweise die Para-
noia, die uns im Wahnsystem des Senatspräsidenten Schreber so
viel zur Erkenntnis der philosophischen Systembildung lieferte, keines-
wegs so asozial wie manche Neurose. In der Psychose können wir
ebenso wie in Religion und Philosophie eine Umwandlungs-, An-
passungs- und Heilungstendenz wahrnehmen, die vielleiht ihren mehr
oder weniger sozialen Charakter erklärt. Auc der Paranoiker richtet
wie der Philosoph den Wunsh an die Gesamtheit, anerkannt zu
werden, er wirbt um den anderen, der konsequente Idealist? freilich
dürfte das niht tun, er würde damit in Widerptu mit seiner
eigenen Lehre geraten, da es ja für ihn kein anderes Ih gibt.
Ih mödte es an dieser Stelle als Vermutung aussprechen, daß
in der Paranoia? sowohl als in der metaphysishen Systembildung
der Anteil der Vaterimago ein überwiegend großer* ist und ihnen
deshalb einen mehr oder weniger sozialen Charakter verleiht, indes
in der Dichtkunst, je mehr sie sih der Lyrik nähert, und in den
neurotischen Produktionen vielleiht der Anteil der Mutterimago vor-
herrsht und das soziale Moment mehr in den Hintergrund rückt.
Die Erklärung hiefür läge in der Tatsache, daß die erstrebte Rück-
kehr zur Mutter eine zunehmende Aufhebung des Unterschiedes
zwishen Subjekt und Objekt, zwishen Ih und Du: herbeiführen
würde, wohingegen der Vater einem von Anfang an als fremdes
gleihgeschlehtlihes Du gegenübertritt. Eine in den metaphysischen
! Die sublimierte Homosexualität, die nah Freud einen wichtigen Beitrag zur
Konstituierung der sozialen Triebe liefert, scheint bei den Philosophen eine gewisse
Bedeutung zu haben; ihre oft vorhandene Ehelosigkeit würde nicht dagegen sprechen.
® Ein solcher Idealist steht dem neurotishen Tagträumer sehr nahe,
3 Freud, Psychoanalyt. Bemerkungen über einen Fall von Paranoia usw.,
Jahrb. III, 1.
* Die Naturphilosophen — beispielsweise ein Giordano Bruno, ein
Vanini — scheinen eine Ausnahme zu bilden. Die affektive Beziehung zur Mutter
ist bloß auf die Natur übertragen, doh in ihrer Äußerung nicht unterdrükt. N o=
valis hat für diese Sexualisierung der Natur folgende Worte gefunden: »Er fühlt
sih in ihr (der Natur) wie am Busen seiner züchtigen Braut und vertraut auch
nur dieser seine erlangten Einsihten in süßen vertraulihen Stunden. Glücklich
preis’ ich diesen Sohn, diesen Liebling der Natur, dem sie verstattet, sie in ihrer
Zweiheit, als erzeugende und gebärende Macht, und in ihrer Einheit, als eine un-
endlihe, ewig dauernde Ehe, zu betrachten. Sein Leben wird eine Fülle aller Ge-
nüsse, eine Kette der Wollust und seine Religion der eigentliche, ehte Naturalis-
mus sein«.
Psychoanalytishe Anmerkungen zur Geschichte der Philosophie 219
Systemen manchmal nahzuweisende » Vaterleibsphantasie«, auf deren
Existenz in Träumen Stekel und Silberer! hingewiesen haben und
die ihrer Hauptbedeutung nah den Wunsh zum Inhalt hat, das
gegenwärtige Leben los zu sein, spräce freilih für eine andere Auf-
fassung des Verhältnisses; doch ergibt sich diese Phantasie (die bei
dem Mystiker in Gestalt eines Verlangens nach Vereinigung mit der
Gottheit auftauchen kann, sich wünsche mir allein in meines Heilands
Schoß tief einversenkt zu sein,« heißt es bei Angelus Silesius)
möglicherweise aus einer bloßen Vershiebung von der Mutter her,
also als etwas Sekundäres. Der Neurotiker und der Künstler folgen
offensichtlih dem Lustprinzip?, während der Philosoph das Realitäts-
prinzip? zu beobachten glaubt, freilich projiziert er oft, ohne es zu
wissen, mehr oder weniger infantiles Wunschmaterial in seine Welt-
anschauung. Je mythologisher diese ist, um so mehr nähern sich die
»Begriffsdihtungen« Produkten der Kunst°.
Eine Welt mehrfahen Individualbewußtseins, wie sie beispiels=
weise die Monadenlehre Leibniz’ annimmt, ist eine Halbheit, was
hier nicht gründlicher erörtert zu werden braucht. Wir haben es also
nur mit diesem letzten Gegensatz in den Weltbegriffen zu tun:
mit dem Realismus, der die Welt aus einer objektiv für sich be=
stehenden Natur neben den vielfahen Einheiten des Bewußtseins
aufbaut, und der Philosophie der Bewußseinsimmanenz (Idealismus
und Positivismus), die sie nur als ein begrifflihes System von Ge-
setzen für die Verknüpfung der Wahrnehmungen und » Vorstellungen«
denken darf‘.
Nicht nur, daß diese zweite Weltanshauung erkenntnistheore-
tisch unhaltbar ist: wir konnten aud in bestimmten, durch Anpassungs-
schwierigkeiten verursachten regressiven® Vorgängen der Libido, die
zu einer Übershätzung der Denkrealität führen, ihre unbewußten
Determinanten erkennen. Die Schopenhauershe Verneinung des
Willens entspricht psychologisch einer solchen Introversion. »Wo kein
Wille ist, da ist keine Realität,« hat Ludwig Feuerbach einmal
gesagt, wir dürfen den Satz psydhoanalytisch dahin erweitern: Wo
eine vorwärts gerichtete Libido ist, da ist keine objektive Realität.
Und an einer anderen Stelle äußert der große Denker, der mande
Erkenntnis der Psychoanalyse schon vorweg genommen hat: »In der
Tat, niht der Verstand, nur die Liebe ist es, welhe Wesen außer
sich setzt, und zwar nicht nur der Vorstellung nah, sondern wirklich,
wahrhaft, leibhaftig, wie die Geschlectsliebe sinnfällig beweist«®.
‘ HA. Silberer, Spermatozoenträume, Jahrb. IV.
? Freud, Formulierungen über die zwei Prinzipien des psych. Geschehens.
Jahrb, III, 1.
® Die zweite Welt des Künstlers ist »die Realität noch einmal, nur in einer
Verstärkung, Auswahl und Korrektur« (Nietzsche), indes die wahre Welt des
Philosophen und Theologen eine Absage an die gegebene bedeutet.
+ Zit. nah Kraft, I. c. p. 166.
5 Die Regression reicht häufig bis zum Stadium des Narzißmus zurück.
® Kritik des Idealismus. Ausg. von Bolin und Jodl, X. Bd., p. 216.
220 Alfr. Frh. v. Winterstein
Schließlih möchte ih noch Fichte heranziehen, der in der »Än-
weisung zum seligen Leben« bemerkt: »Die Liebe ist die Quelle
aller Gewißheit und aller Wahrheit und aller Realität.«
Wo die Realität gesuht und gefunden wird, das begründet
nah Weininger! alle Untershiede zwishen den Menschen. Das
Erfassen der Wirklichkeit aber ist in der Hauptsahe durch unsere
Libidokonstellation bedingt. Ja, hinter unserem gesamten Denken
stehen treibende Wünshe — es wäre sonst leer und unfructbar.
Der Mensh ohne Binnenleben, für den das Geistige keine Realität
vorstellt, wünscht gar nicht, zu einer anderen Weltanshauung als
der materialistishen? zu gelangen, wohingegen der Phantasiemensch,
»tatenarm und gedankenvoll,« regressiv Gedanken die unerfüllbaren
Taten vertreten läßt, die objektive Realität entwertet und Idealist
wird, scheinbar allerdings auf Grund scarfsinniger logisher Er-=
Ser
ollte man schließlich fragen, welher Weltbegriff der Freud-=
schen Psychologie am gemäßesten erscheint, d. h., weldher ein Minimum
von subjektiver oder mythologisher Betrahtungsweise und ein
Maximum von Anpassung an die objektive Wirklichkeit aufweist,
so muß man sich vor Augen halten, daß das eine Glied der oben
dargelegten Alternative, der subjektive Idealismus, abgesehen von
seiner erkenntnistheoretishen Unvollziehbarkeit? auh aus Gründen,
die in ihm das Erzeugnis einer ganz bestimmten Libidokonstellation
erkennen lassen, ausfallen muß. Bleibt also nur der realistisch-dualisti-
N Wie verhalten sih nun die Anshauungen Freuds
azu?
Im Gegensatz zu der sonst vorwiegend üblichen Meinung hat
dieser* uns gelehrt, daß es für das Bewußtsein ein zweifahes von
ihm bloß erschlossenes Reales, das seiner inneren Natur nah un-
bekannt bleiben muß, gibt: einerseits die sogenannte Außenwelt, d. h.
Seen der ee e Apparat, der mit dem Sinnesorgan der
=Systeme® der Außenwelt zugekehrt ist, ist selbst Außenwelt für
das Sanesdreas des Bw, — anderseits das eigentlih reale Psydi-
she, das Unbewußte (durch die Daten des Bewußtseins uns ebenso
ı Vgl. Novalis: »Wo der Mensch seine Realität hinsetzt, was er fixiert,
das ist sein Gott, seine Welt, sein Alles.«
2 „Der Materialismus, der das Ih ganz in der Außenwelt aufgehen läßt,
bezeichnet das Maximum der denkbaren Projektion, der Solipsismus, der die ganze
Außenwelt in das Ich aufnimmt, das Maximum der Introjektion«. (Ferenczi,
Zur Begriffsbestimmung der Introjektion, Zentralbl. f. Psydıoan., II. Bd., 4.)
3 Siehe Kraft, I. c. p. 164ff.
* Traumdeutung, 2. Aufl., p. 380ff.
5 Nah Freud ist der seelishe Apparat aus Instanzen oder Systemen zu=
sammengesetzt und hat eine bestimmte Rihtung vom sensiblen zum motorischen
Ende. An jenem Wahrnehmungsende befindet sih das System W.,; das letzte der
Systeme am motorishen Ende heißt das Vorbewußte (Vbw), das System dahinter
das Unbewußte, weil es keinen Zugang zum Bewußtsein hat, außer durh das
Vorbewußte, bei welchem Durchgang sein Erregungsvorgang sih Abänderungen
gefallen lassen muß. Vgl. Genaueres darüber in der Traumdeutung, p. 331 ff.
Psycdhoanalytishe Anmerkungen zus Gedichte der Philosophie 221
unvollständig gegeben wie die Außenwelt durch die Angaben unserer
Sinnesorgane), das durh das System Vbw vom Bewußtsein abge-
schlossen ist. Das Bewußtsein hat die Rolle eines Sinnesorgans zur
Wahrnehmung psydhisher Qualitäten.
Gegen diese Aufstellungen muß ich jedoch persönlich folgenden
Einwand erheben: Mit welhem Recht behauptet Freud, das Be-
wußtsein sei ein Sinnesorgan zur Wahrnehmung psychischer Quali=-
täten, und in demselben Zusammenhang: das Unbewußte sei das
eigentlihe Psyhish-Reale? So ausgedrückt, sheinen mir beide Sätze
irreführend zu sein. Halte ih mich an die Bedeutung des Wortes
»Sinnesorgan«, so heißt das, daß ein von mir bloß gedadter, aber
niht anschaulich vorstellbarer, realer Gegenstand des Bewußtseins
mittels einer unbegreiflihen werdßaoıs eis dAAo yEvos — und darum
dreht sich ja die Streitfrage: Wie ist überhaupt eine Erkenntnis von
etwas jenseits des Bewußtseins Liegendem, an sich Seiendem möglich ? —
zu einem Bewußtseinsinhalt wird. Ebenso sind nun beispiels-
weise Träume oder Halluzinationen niht Gegenstände des Be-
wußtseins, sondern nur dessen Inhalte, von denen wir Psydo-
analytiker auf ein determinierendes reales Unbewußtes mit dem
gleihen Rechte schließen müssen (falls das Bewußtsein ein Sinnes-
organ ist) wie von der Vorstellung! »Baum« auf die Existenz eines
einem anderen Wirklichkeitsbereih angehörigen Gegenstandes »Baum«
der Außenwelt. Warum sollte man nun dieses Unbewußte für das
eigentlih Psychische ansehen? Das heißt nur, ein uns geläufiges Wort
für ein tatsächlihes X setzen, das, sofern man bei der Auffassung als
Sinnesorgan verharrt, eher etwa dem Somatishen (Cerebrations-
vorgängen) gleichzustellen wäre.
Aud die Identifizierung der W-Systeme mit einer Außenwelt
für das Sinnesorgan des Bw ist, wörtlih genommen, unrihtig. Das
Bewußtsein bewirkt, daß das von den Sn sateanen übermittelte
Empfindungsdatum apperzipiert, begrifflih verstanden und dadurdh
zur Wahrnehmung werde, das Bewußtsein apperzipiert das Perzi-
pierte, das bereits Psycdishes, also niht Außenwelt für das
Apperzeptionsorgan ist. Mit einem Wort: Was Gegenstand des
Bewußtseins ist, kann nichts Psycdisces sein.
Aber lassen wir diesen Vergleih des Bewußtseins mit einem
Sinnesorgan zur Wahrnehmung psychischer Qualitäten, der vielleicht
nicht streng durchgeführt werden sollte, fallen; bescheiden wir uns
bei der empirisch ziemlich gesicherten Annahme, daß es neben dem
Bewußtpsyhishen auch ein Unbewußtpsycdisches gibt, das Freud
im Sinne eines Wert-, nicht eines Existentialurteils das reale Psy-
hische nennt. Die Bedeutung dieses Wortes weist wohl nicht auf
einen der Art nah vom Bewußtsein vershiedenen Wirklichkeits-
zusammenhang hin, sondern drükt nur den zur Äusfüllung von
Lücken in der Kausalkette des seelishen Geschehens statuierten
! Vorstellung niht im Sinn von Erinnerungsbild.
222 Alfr. Frh. v. Winterstein
Unterbau aus, den wir dem unmittelbar erlebten Zusammenhang
der Bewußtseinserlebnisse als Träger zugrunde legen müssen.
Schien es also vorhin niht widersprudhsvoll, das Unbewußte
etwa als eine Summe von Cerebrationsvorgängen der Körperwelt
einzugliedern, so dürfen wir nah dem eben Gesagten das Unbe-
wußte, dieses qualitativ an sih völlig unbekannte Geschehen, in den
Kreis des Psyhishen — Subjektiv-Psydhishen: damit wäre schon
vielleiht zuviel gesagt — einbeziehen.
Welche der beiden Auffassungen — die somatishe oder die
psyhishe — man sih auch zu eigen madht, — der realistisch-
dualistishe Weltbegriff wird dadurch nicht wesentlich berührt, sofern
man nicht das Reale des Unbewußten als einen zwischen den beiden
anderen Wirklihkeitszusammenhängen vermittelnden! dritten Reali-
tätszusammenhang betrahten wollte. Denn dies allein wäre ein
monistisher Realismus.
I. Die Persönlichkeit.
»Kein Wunder, daß sich Stutzer so gern im Spiegel
sehen: sie sehen sih ganz. Wenn der Philosoph einen
Spiegel hätte, in welhem er sich so wie jene sehen
könnte, er würde nie davon wegkommen.«
Lichtenberg.
Der bekannte Satz Fichtes: Was für eine Philosophie man
wählt, hängt davon ab, was für ein Mensch man ist?, hat erst durch
die Lehren Freuds eine gesicherte wissenshaftlihe Grundlage er-
halten, nachdem bereits Re tzlche — um nur einen bedeutungs-
vollen Namen zu nennen — tiefgehende Auskünfte zur Beant-
wortung der Frage nah der psydologishen Abstammung des
Philosophen gegeben hat. Es fehlt zwar auch sonst niht an ge=
legentlichen Sei stbekenntnissen der Denker — ich erinnere hier an
Descartes, an Pascal —, dodh sind jene zu unvollständig und
ermangeln zumeist der letzten Aufrichtigkeit, um für mehr denn als
Winke in unserer Untersuhung dienen zu können. Aud Nietzsche
hat keine zusammenhängende Darstellung geliefert; die uns inter-
1 Einerseits psychische Gesetzmäßigkeit, anderseits niht zum Bewußtseins-
ih gehörig, niht subjektiv. — Ich halte bei dem gegenwärtigen Stande unserer
Kenntnisse den Dualismus für die der Erfahrung am meisten entsprehende An=-
shauung. Das Psychische ist etwas anderes wie das Physishe — womit ich
nichts über die Herkunft des Geistigen gesagt haben will — und der Versud, sie
in einem völlig unbekannten Ding an sich zu vereinigen, bleibt jedem unbenommen,
bedeutet aber einen Schritt ins Transzendente.
? In der »Ersten Einleitung in die Wissenschaftslehres« (1797) wird des
weiteren ausgeführt: Ein philosophisches System ist kein lebloses Gerät, das man
nach Belieben besitzen und veräußern kann, es entspringt aus der innersten Seele
des Menschen. Die Wahl (zwischen Idealismus und Dogmatismus) wird darauf
beruhen, ob das Selbständigkeits- und Tätigkeitsgefühl oder das Abhängigkeits- und
Passivitätsgefühl die Oberhand in uns hat (zit. nah. Höffding, Gesch. der neueren
Philosophie, II. Bd., p. 157).
Psydhoanalytishe Anmerkungen’ zur Geschichte der Philosophie 223
essierenden Bemerkungen sind in bunter Fülle über alle seine Schriften
verstreut. Aus der großen Zahl setzen wir in beliebiger Reihenfolge
einige bezeihnende Aussprühe hieher. In der inleduo zur
»Fröhlihen Wissenshaft« spriht Nietzsche über das Verhältnis
von Gesundheit und Philosophie und davon, »wenn die Notstände
Philosophie treiben«. Ferner heißt es dort: »Die unbewußte Ver-
kleidung physiologisher Bedürfnisse unter die Mäntel des Objektiven,
Ideellen, Reingeistigen geht bis zum Erschrecken weit und oft genug
habe ih mic gefragt, ob nicht, im großen gerechnet, Philosophie
bisher überhaupt nur eine Auslegung des Leibes gewesen ist. Hinter
den hödsten Kernen: von denen bisher die Geschichte des
Gedankens geleitet wurde, liegen Mißverständnisse der leiblichen
Beschaffenheit verborgen, sei es von Einzelnen, sei es von Ständen
oder ganzen Rassen.« An einer anderen Stelle seiner Werke lesen
wir, daß zum Entstehen des Gelehrten »eine Menge sehr mensch-
liher Triebe und Triebchen zusammengegossen werden mußs, das-
selbe gilt vom Wesen des Philosophen. — »Jede Philosophie war
bisher das Selbstbekenntnis ihres Urhebers und eine Art ungewollter
memoires, es gibt an dem Philosophen ganz und gar nichts Unper-
sönlihes.« — »Wenn ih etwas vor allen Psychologen voraus habe,
so ist es das, daß mein Blick geschärfter ist für jene schwierigste und
verfänglihste Art des Rücsclusses, in der die meisten Fehler ge-
macht werden — des Rücsclusses vom Werk auf den Urheber,
von der Tat auf den Täter, vom Ideal auf den, der es nötig hat,
von jeder Denk- und Wertungsweise auf das dahinter komman-
dierende Bedürfnis.« — »Audh die Segnungen und Beseligungen
einer Philosophie, einer Religion beweisen für ihre Wahrheit nichts:
ebensowenig als das Glück, welches der Irrsinnige von seiner fixen
Idee her genießt, etwas für die Vernünftigkeit dieser Ideen beweist.«
Im Denken sieht Nietzsche nur ein gewisses Verhalten der
Triebe zueinander, von den Philosophen sagt er: »Ihr Wille zur
Wahrheit ist — Wille zur Madt.« Mikeische selbst sucht nach
Riehls! Worten das »Wehetuende der Erkenntnis« auf wie einen
neuen Reiz, der von ihr ausgeht. »Neugierig bis zum Laster,
Forscher bis zur Grausamkeit« hat er sich genannt und verheißen,
man werde ihm eine »ausschweifende Redlichkeit« nachsagen, nadhı-
rühmen. Das Wort: Don Juan der Erkenntnis, ist von ihm. »Br-
kenntnis — eine Form des Asketismus,« schreibt Nietzsche im
>AÄntichrist«. Endlih: »Die Wertshätzungen eines Menschen ver-
raten etwas vom Aufbau seiner Seele und worin sie ihre Lebens-
bedingungen, ihre eigentlihe Not sieht.s
>Il nr a pas de maladies, il n’y a que des maladess — es
gibt kein alleinseligmachendes philosophishes System, sondern nur
verschiedene Philosophen mit sehr menschlicher Herkunft: dies ist die
uns nicht mehr fremde Einsicht. Aber es mußten sih noh die
ı A. Riehl, Fr. Nietzshe, Der Künstler und der Denker, Dritte Aufl.,
Fromann, Stuttgart.
224 Alfr, Frh. v. Winterstein
grundlegenden Ergebnisse der Freudshen Forshungen zu einer
Einheit zusammensdließen, um ein ungefähres Verständnis des
geistigen Typus des Philosophen zu ermöglichen.
Der Trieb, den Kausalzusammenhang des Weltgeshehens im
ganzen zu erforschen, und das Verhältnis zur Realität sind die
wichtigsten Elemente in der Persönlichkeitsformel des Philosophen.
Über beide Ersheinungen hat Freud! schon das meiste gesagt, so
daß ih mich wohl begnügen darf, seine Auffassung ganz kurz zu
wiederholen.
Aus der durch einen Schub energischer Sexualverdrängung ab-
geschlossenen Periode der infantilen Sexualforshung? erübrigen sich
für das weitere Schicksal des Forscertriebes aus seiner frühzeitlihen
Verknüpfung mit sexuellen Interessen drei Möglichkeiten, von denen
wir die erste: die neurotishe Hemmung (die erworbene Denk-
shwäde leistet dem Ausbruch einer neurotishen Erkrankung Vor-
schub), hier außer aht lassen können. Die zwei anderen Typen: der
des neurotishen Grüblers®? und des nicht neurotishen Forscers,
mögen sich aber gleicherweise unter den Philosophen finden. In
beiden Fällen wird das Forshen zum Zwang und Ersatz der
Sexualbetätigung, die intellektuellen Operationen sind beim Grübler
mit der Lust und der Angst der eigentlihen Sexualvorgänge betont
und die Beschäftigung mit den ursprünglihen Komplexen der infan=-
tilen Sexualforshung macht sih noch bemerkbar, indes der zweite
seinen kräftigen Forscertrieb, der bloß durh die sublimierte Libido
eine Verstärkung erfahren hat, aber an sich niht aus dem Sexuellen
abstammt, frei im Dienste des intellektuellen Interesses betätigen
wird. Der Sexualverdrängung trägt er insofern noh Rechnung, als
er die Beschäftigung mit sexuellen Themen vermeidet. Die zugrunde
liegenden psychischen Prozesse sind also verschieden: das eine Mal
erfolgte ein Durhbruh aus dem Unbewußten, das andere Mal kam
es zur »Sublimierung«e — was freilih bloß ein Wort, das eine
große Lücke in unseren Kenntnissen geschickt verdekt. Man hat
sih etwa vorzustellen, daß im Ichbetrieb vorhandene Anlagen durdh
einen sexuellen Zushuß gewissermaßen befrucdtet, zur Aktualität
erweckt werden (Fließ faßt das Werk des Genies als ein Produkt
der inneren Befruchtung des Bisexuellen auf).
Was das Verhältnis zur Realität anbelangt, so hat shon vor
Freud P. Janet? in einer Störung der »fonction du reel«, in einer
herabgesetzten psychologischen Spannung einen besonderen Charakter
der »psycdastheniex zu erkennen geglaubt. Ich greife aus seinen
! Freud: Eine Kindheitserinnerung des Leonardo da Vinci, Schriften z.
angew. Seelenk. I. Hefl. — Bemerkungen über einen Fall von Zwangsneurose,
Jahrb. . — Formulierungen über die zwei Prinzipien des psydhishen Ge=
schehens. Jahrb. III, 1 und passim.
2 Siehe die Arbeit über Leonardo, p. 15 ff.
83 Lichtenberg: »Der gesunde Gelehrte: der Mann, bei dem Nachdenken
keine Krankheit ist.«
4 P. Janet, Les nevroses, Paris, Alcan, 1900, p. 354 ff.
Psydhoanalytishe Anmerkungen zur Geschichte der Philosophie 225
interessanten Ausführungen einige wenige heraus: »Leurs fonctions
psychologiques ne presentent aucun trouble dans les operations qui
portent sur l’abstrait ou sur l’imaginaire, elles ne prösentent du
dösordre que lorsqu’il s’agit d'une operation portant sur la r£alite
concrete et presente,«e — »Quand ils conservent quelque activite,
on voit qu’ils se complaisent dans les hoses qui sont les plus
eloignees de la realit& materielle: ils sont quelquefois psychologues,
ils aiment surtout la philosophie et deviennent de terribles mötaphysi-
ciens. Quand on a vu beaucoup de scrupuleux, on en arrive A se
demander avec tristesse si Ja speculation philosophique n’est pas une
maladie de l’esprit humain.« — »Qui ne croirait A premiere vue,
qu’un raisonnement syllogistique demande plus de traveil celebral
que la perception d’un arbre ou d’une fleur avec le sentiment de
leur röalitE et cependant, je crois que ce point de sens commun se
trompe. L’operation la plus difficile, celle qui disparait le plus vite
et le plus souvent, dans toutes les döpressions, est celle dont on
vient justement de reconnaitre limportance, l’apprehension de la
realite sous toutes ses formes.« — Freud selber erblickt in der
Tendenz zur Isolierung von der Realität einen für die Neurose
wesentlihen Zug. Die Durdhleuhtung der Genese und des feineren
Mechanismus der Zwangsneurose, die uns unter anderem die Vorliebe
der Kranken für den Zweifel und die Unsicherheit sowie ihren Glau-
ben an die Allmaht der Gedanken dargetan hat, und die Analysen
einiger Wahnsysteme der Paranoia und Dementia praecox!, die eine
überrashende Ähnlichkeit mit den metaphysishen Konstruktionen
der Philosophen zeigen, schließen sih an die anderen Erkenntnisse an
und gestatten uns, ein annähernd richtiges Bild von den unbewußten
Grundlagen der philosophishen Produktion zu gewinnen.
enn wir nun darangehen, in einem bestimmten Verhalten
der Triebe ein entscheidendes Moment für die Entwicklung zum
Denker herauszustellen, wollen wir nicht vergessen, vorher zu er-
wähnen, daß wir uns nicht vermessen, eine Synthese der Elemente,
die die Persönlichkeit irgendeines großen Philosophen konstituieren,
zu geben, denn wie Sexualtrieb und Ictriebe im einzelnen zu=
sammenwirken, wieviel auf Rehnung der angeborenen Anlage zu
setzen oder den »Zufälligkeitens des Erlebens zu verdanken ist,
welches ferner der organische Hintergrund von Sublimierungsfähigkeit
und Verdrängungstendenz sein mag und worin schließlih das
Spezifishe einer solchen Begabung beruht — alles das sind ebenso-
viele ungelöste Probleme.
Aber der Eindruk, den man aus den Analysen namentlich
gewisser Zwangskranker und dann auch der Paranoiker erhält,
stimmt so auffällig zu jenem, den man sich bei Betrahtung von
! Vor allem Freud, Psychoanalytishe Bemerkungen über einen Fall von
Paranoia usw., ferner J. Nelken, Analytishe Beobahtungen über Phantasien
eines Schizophrenen, Jahrb. IV und S. Spielrein, Über den psyciologischen
Inhalt eines Falles von Schizophrenie (Dementia praecox), Jahrb. III.
Imago II/2 15
226 Alfr. Frh. v. Winterstein
Lehre und Leben vieler Denker holt, daß man dieser Ähnlichkeit
eine mehr als zufällige Bedeutung beimessen muß. »Denn wie der
Baum mit lichtentfernten Wurzeln die etwa trübe Nahrung saugt
tief aus dem Boden, so scheint der Stamm, der Weisheit wird
genannt, und der dem Himmel eignet mit den Ästen, Kraft und
Bestehn aus trübem Irdishen, dem Fehler nah Verwandten auf-
zusaugen«!,
Wir haben an einem früheren Ort hervorgehoben, daß eine
besonders verstärkte infantile Wißbegierde?, die namentlih die Her-
kunft der Kinder, die Beschaffenheit der Genitalien des anderen
Geschlehts und die shwer zu ergründende Rolle des Vaters zum
Gegenstand nimmt, sih aber im Verkehr mit Erwachsenen dieser
speziellen Fragen zumeist enthält, um desto unermüdliher über alle
möglihen anderen Dinge Auskunft zu verlangen, ein — soweit
unsere Interessen in Betraht kommen — doppeltes Schicksal erfahren
kann und das mädtigste Motiv für alle spätere Denkarbeit abgibt.
Wir sind natürlich im allgemeinen bloß auf Vermutungen angewiesen,
wenn es sih darum handelt, diese Besonderheit bei allen Individuen,
die nach den letzten Dingen forshen, durch biographishe Details zu
belegen. Um so willkommener ist es uns, Descartes’ ersten Bio-
graphen Baillet? berichten zu hören, daß der Vater des Philosophen
i Grillparzer, Die Jüdin von Toledo, I. Aufzug.
® Einen schönen Nachweis für den Zusammenhang von Sexualtrieb und
Forscherfreude — wenigstens in einem Falle — hat Dr. K. Furtmüller im
Zentralbl. f. Psycdhoan., I, 5/6, durh Anführung einiger Sätze aus einem Briefe
Multatulis erbradt. Die betreffende Stelle (Multatuli-Briefe, herausgegeben von
W, Spohr, 2 Bde., p. 72f.) lautet: ».... Ich hoffe, ich hoffe, eine vereinfachte
Methode für die Trigonometrie zu finden. Alle Schüler werden mir dankbar sein.
Ich. habe noch viele andere Dinge von dieser Art zu untersuchen. Es ist herrliche
Poesie, das Aufheben des keushen Gewandes der Natur, das Suhen nad ihren
Formen, das Forshen nach ihren Verhältnissen, das Betasten ihrer Gestalt, das
Eindringen in die Gebärmutter der Wahrheit. Siehe da die Wollust der
Mathematik!
Und — ih Tor — ih bin ihr Freund! Wahrlih, sie stößt mich nicht zurück,
ergibt sie sich gleich nicht mühelos. Just Mysterium genug, um gewünscht und
begehrt und angebetet zu bleiben. Nicht genug, um den stürmischen Bewerber
mutlos zu machen. Ich habe ihre Fußknödel, ihre Knie gesehen, ja die Hüfte und
die Lenden, dann und wann .... aber, aber, dann stößt sie mih weg und flieht
dahin, Daphne, die sie ist, Sylphe, die sie ist, Irrliht, Courtisane, Jungfrau . .
Und bei alledem die große, mächtige Isis, die Frau Jehovah, die ist, war und sein
wird, unveränderlih, unantastbar, unvernihtbar: das Sein, die Wahrheit.«
Ähnlih auh Schopenhauer in den »Fragmenten zur Geschichte der
Philosophie«: »Als den eigentümlihen Charakter meines Philosophierens darf ich
anführen, daß ich überall den Dingen auf den Grund zu kommen suche, indem ich
nicht ablasse, sie bis auf das letzte, real Gegebene zu verfolgen. Dies geschieht
vermöge eines natürlichen Hanges, der es mir fast unmöglich macht, mic bei irgend
noch allgemeiner und abstrakter, daher noch unbestimmter Erkenntnis, bei bloßen
Begriffen, geschweige bei Worten zu beruhigen, sondern mich weitertreibt, bis ich
die letzte Grundlage aller Begriffe und Sätze, die allemal anschaulich ist, nackt
vor mir habe... «
3 Baillet, I. c. I. ap. IV, p. 16.
Psychoanalytishe Anmerkungen zur Geschichte der Philosophie 227
die Gewohnheit hatte, den kleinen Rene seinen Philosophen zu
nennen, wegen der unersättlihen Neugier, mit der ihn dieser um
die Ursahen und Wirkungen alles dessen, was ihm gerade durch
den Kopf ging, befragte. Derselbe Descartes hat später in dem
»Discours de la Methode« seinen Erfolg als Denker nicht seiner
besonderen Genialität, sondern bloß unermüdlicher, harter und kon-=
sequenter Gedankenarbeit zugeschrieben.
An dieser Stelle möchte ich eine kleine Einshiebung maden.
Ih halte den Antrieb zum Denken bei den Menshen für durdh-
schnittlich recht gering; man wundert sih wirklich oft, über wieviele
Dinge sie sih nicht den Kopf zerbrehen, wieviel sie gedankenlos
hinnehmen, und ich glaube, daß die Qualitätsuntershiede im Denken
sih ziemlich häufig, wenigstens zum guten Teil, auf Intensitäts-
differenzen (bei großer Intensität wird oft ein sexuelles Agens an-
zunehmen sein) zurückführen fassen. In diesem Sinne behielte der
Ausspruh: »Genie ist Fleiß«, reht gegen den Goethe’shen Satz:
»Alles Denken in der Welt wird uns nicht auf Gedanken bringen.«
Es muß entweder der Inhalt des Denkens oder die Tätig-
keit des Denkens an sich lustvoll sein, um als Anreiz zum Forschen
zu wirken. Was den ersten Faktor betrifft, so sind es gerade in
der Metaphysik die alten infantilen Komplexe, die in nur leicht zen-
surierter Form immer wieder zur Bearbeitung gelangen. Mander
vertieft sh — nah den Worten Freuds — in die Wissenshaft, um
die Leidenschaft in Wissensdrang umzuwandeln, um ein Äusleben
der Komplexe zu ermöglihen und damit ihre Wirkung zu dämpfen.
In dem sinnreihen Märchen des Novalis von Hyazinth und
Rosenblüthen sehnt sich der junge Hyazinth, die unausspredhliche
Natur zu umfassen. Er muß sie suchen gehen. »Ich wollt’ euch
gerne sagen, wohin, ih weiß selbst niht, dahin wo die Mutter
der Dinge wohnt, die verschleierte Jungfrau. Nah der ist
mein Gemüt entzündet.« Er fahndet nach dem geheimnisvollen Auf-
enthalt der Isis. Sein Vaterland und seine Geliebten verläßt er und
achtet nicht im Drange seiner Leidenshaft auf den Kummer seiner
Braut Rosenblütchen. Lange währt seine Reise. Endlich begegnet er
ı Vgl. audh die folgende, von E. Jones (Jahrb. IV, p. 583) mitgeteilte
Phantasie eines Zwangsneurotikers: »Der Held, natürlih er selbst, verfolgt ein
stets ausweichendes Etwas. das er nie erreicht und das ihm der wirkliche Sinn
und Mittelpunkt des Lebens zu sein scheint. Nadı jahrelangem Umherwandern
kommt er wieder in die Nähe seiner alten Heimat, traumverloren in einen tiefen
Teich starrend. Träumend malt er sich aus, wie er vor vielen hundert Jahren
Maid Marion aus den Händen der Normannen befreite und zur Strafe eine große
Anzahl derselben tötete. Er erwachte aus seinem Tagtraum und findet sih zur
Seite seiner Cousine, von der er vor Jahren geschieden war, und weiß nun plötzlich,
was er so lange gesuht hat.« »Der Patient war als Kind,« fügt Jones hinzu,
»sehr verliebt in eine erwachsene Cousine, natürlih als Ersatz rür die Mutter.«
Derselbe Patient, bei dem die Analerotik eine große Rolle spielte, wollte über-
haupt bei allem im Leben, sei es konkret oder abstrakt, zum »Mittelpunkt« oder
auf den »Grund« gelangen. Sein Streben ging auch dahin, die zentrale Bedeutung
des Lebens, des Weltalls usw. herauszufinden.
15*
228 Alfr. Frh. v. Winterstein
einem Quell und Blumen, die einen Weg für eine Geisterfamilie
bereiten. Sie verraten ihm den Pfad zum Heiligtum. Er tritt ein
und steht vor der himmlischen Jungfrau, da hebt er den leichten,
glänzenden Schleier und — Rosenblütchen sinkt in seine Arme. —
Der tiefsinnige Dichter hat hier den Zusammenhang zwischen
(vershobener) Mutterlibido und Forshungsdrang in deutliher Weise
ersichtlih gemadt. h
Die Frage nah dem Ursprung der Dinge geht audh auf das
Grübeln über die eigene Herkunft zurück und der kindlihe Zweifel an
der Abstammung vom Vater (hinter dem sich vielleiht manchmal
der feindselige Wunsh, keine Gemeinschaft mit dem Vater zu
haben, dessen Rivale der Sohn bei der Mutter ist, birgt) erfährt
mit der Verdrängung der inzestuösen Mutterlibido eine Art Über-
kompensation durch Phantasien von der Geburt aus dem Vater!
und der Shöpfung der Welt durh Gott. Die aus unbewußten
Gründen erfolgende Entwertung der Mutter- und Überbesetzung
der Vaterimago (Ausnahmen haben wir früher erwähnt!) führt
also zu exquisit männlichen Geburtsphantasien, die einerseits viel-
leiht bisweilen auf die eben besprohene Unkenntnis betreffs des
Anteils des Vaters hinweisen, anklöfseits gewisse infantile Wünsce,
wie sie beispielsweise der kleine Hans in Freuds Ȁnalyse der
Phobie eines fünfjährigen Knaben«? äußert, nämlih in Identifizie-
rung mit der Mutter Kinder zu kriegen, zu wiederholen scheinen.
Die manifeste Bedeutung des Vaters dünkt mir in manchen philo-
sophishen Systemen von so überragender Bedeutung gegenüber
der der Mutter zu sein, daß ihr wohl einige Bemerkungen ge-
widmet werden müssen. Es ist vielleiht mehr als ein Zufall, daß
so viele hervorragende Denker in Pfarrhäusern geboren wurden,
eine sehr religiöse © feichung genossen haben oder Theologen waren,
ehe sie sih in Auflehnung gegen die religiöse und väterliche
Autorität zur Unabhängigkeit des Geistes durhrangen. Aud jene
mystishe Stimmung, in die nicht selten diese Männer auf dem
sih senkenden Stük Leben gerieten, wird begreiflih, wenn man
bedenkt, daß das Alter, besonders bei unverheirateten Individuen,
die Realübertragung zurücktreten und die infantilen Imagines
regressiv wiederbeleben läßt. Vor den dräuenden Schatten des
Todes flüchten sie wie einstmals als Kinder in den tiefsten Schoß
des Friedens.
Betrahtet man die Lebensgeshichte vieler Denker, so hat
man wirklih den Eindruk, daß sie niemals von ihrem WVater-
komplex — sei es in positivem oder negativem Verhalten — ganz
i Jung schreibt in seiner mehrfah zitierten hochbedeutsamen Arbeit
»Wandlungen und Symbole der Libido«: »Ein Sohn darf natürlih denken, daß ein
Vater ihn auf fleishlihem Wege erzeugt habe, nicht aber, daß er selber die Mutter
befruchtet und so, sih selber gleih, zu neuer Jugend wiedergebären lasse.«
(Jahrb. IV, p. 269.)
2 Jahrb. I, p. 70/71.
Psydhoanalytishe Anmerkungen zur Geschichte der Philosophie 229
losgekommen sind. Auf ihre negative Einstellung läßt sih bisweilen
mit Recht der von einem französischen Soziologen geprägte Ausdruck
»contre=imitation« anwenden. Die psydhishe Konstellierung durch
den Vater kann sih nun auf die verschiedenste Art und Weise
geltend machen. Entweder besteht die ambivalente Einstellung
. nebeneinander wie beispielsweise bei Descartes, der ein unab-
hängiger Denker und Zurich ein ergebener Sohn der Kirche war,
der im Lande der Freiheit, in Holland, lebte und jeden Meinungs-
konflikt mit der Geistlichkeit ängstlich vermied!, oder sie verschmilzt
zu eigenartigen Gestaltungen innerhalb des Systems. So kann dieses
von dharakteristisher Neuheit und Kühnheit sein und zugleich eine
mystishe Beziehung des Menshen zur Gottheit lehren. Ich darf
hier wohl an Spinoza erinnern. Je stärker das konventionell-
religiöse Moment bei einem solhen Denker betont erscheint, desto
höher dürfen wir die Bedeutung der positiven Komponente der
Vaterlibido gegenüber der negativen veranshlagen. Oder endlich die
zwei Verhaltungsweisen lösen einander im Leben des Individuums
ab, die Abhängigkeit vom Vater wird sich in diesem Falle haupt=
sählih am Anfang und Ende des Lebens geltend mahen. Fichte
ist vielleicht der Verraien eines solchen Typus. Es ist natürlih audh
möglih, daß der Einfluß des Vaters shon frühzeitig und voll-
ständig überwunden wurde, doh ist dies bei den Metaphysikern
niht eben wahrsceinlic.
So interessant eine nähere Untersuchung der Mystiker und
dann auh der Gnostiker wäre, in deren Lehre das sexuelle
Fundament besonders unverhüllt durhschlägt, müssen wir doc des
Raumes wegen davon absehen und begnügen uns nur mit der
einen, aber, wie es scheint, nicht bedeutungslosen Bemerkung, daß
alle Mystiker Masodisten® sind. Die alte passiv-homosexuelle Ein=-
stellung zum Vater, auf die mögliherweise dessen seinerzeitige
Kastrationsandrohung von nachhaltiger Wirkung gewesen ist, kann
sih in späteren Jahren im Rahmen eines Systems beispielsweise als
Streben nach lustvollem Aufgehen im Absoluten? äußern. Die Ver-
einigung* mit der Gottheit ist ja das Erlebnis und das Ziel jedes
Mystikers. Die Schleier heben sih, wenn man in den »Denk-
würdigkeiten« des philosophishen Paranoikers Schreber liest, daß
dieser von Gott entmannt und als Weib mißbrauht wurde. Natür-
lih gehört das Verlangen des Mystikers und die Schrebersche
Phantasie nicht demselben psydhishen Niveau an. Der Mystiker
gibt den ungeeignetsten iss für eine nücdterne Tatsahen-
forshung ab. Der Forsher hat — im Gegensatz auh zum
Künstler — ein, man möchte sagen, feindlihes, grausames Verhältnis
! Aud Leibniz gehört in diese Kategorie.
2 Siehe auch die interessante Arbeit von OÖ, Pfister, Hysterie und Mystik
bei Margaretha Ebner. Zentralbl. f. Psychoan., I. Bd., 10/11.
3 „Aber sich so verlieren, ist mehr sich finden« (Franciscus Ludovicus
Blosius).
* Die Berührung (änAwoıs) des Absoluten!
230 Alfr. Frh. v. Winterstein
zur Außenwelt; er will Macht, Herrschaft über die Dinge erlangen,
und zwar durh Erkenntnis. »Wissen ist Maht«!. »Tantum possu-
mus, quantum scimus.« Unter den Philosophen ist vor allem ein
Bacon,? einHegel zu nennen. Die eigentlihen Metaphysiker, die das
Reich der Ahnungen mit Wunschmaterial ausbauen, sind dagegen wohl
überwiegend Masodisten.: Bezüglich der Gelehrten aber heißt es in
Nietzsches Scrift »Schopenhauer als Erziehers®: »Dazu füge
man einen gewissen dialektishen Spür- und Spieltrieb, die jägerische
Lust an verschmitzten Fuchsgängen des Gedankens, so daß nict
eigentlih die Wahrheit gesucht, sondern das Suchen gesucht wird?
und der Hauptgenuß in listigem Herumsdleihen, Umzingeln, kunst=
mäßigem Abtöten besteht. Nun tritt noch der Trieb zum Wider-
spruch hinzu, die Persönlichkeit will, allen anderen entgegen, sich
fühlen und fühlen lassen, der Kampf wird zur Lust und der per-
sönlihe Sieg ist das Ziel, während der Kampf um die Wahrheit
nur der Vorwand ist.«
Man kann vielleicht geradezu die Philosophen in die zwei Typen
des mystishen Masodisten und amystishen Sadisten — im Sinne
einer vorläufigen Auskunft — einteilen. Bei dem ersten Typus dieser
Gattung äußert sih die seinerzeitige Auflehnung gegen den Vater,
dessen Überlegenheit man nicht mehr anerkannte, später in einer
rücsictslosen, unbefangenen Betrahtung der Dinge, eine Art ver=
feinerten Sadismus, eine gewisse intellektuelle Grausamkeit zeichnet
diese Individuen aus. Sie gewähren dem Psydhoanalytiker wegen des
Vorherrshens des Realitätsprinzips weniger Interesse als der zweite
Typus, dessen Denken in reiherem Maße nicht nur aus infantilen
Quellen intensiv verstärkt, sondern ebenfalls material bestimmt ist.
Um Mißverständnissen vorzubeugen, muß ich immer wieder bemerken,
daß in Wirklichkeit die zwei eben skizzierten Typen nicht so scharf
gegeneinander abgesetzt sind, wie ih es hier zu tun versucht habe,
ı Vgl. Nietzsche über die Philosophen: »Ihr Wille zur Wahrheit ist
Wille — zur Madt.« Der »Wille zur Madhts Nietzsches steht zwar in einer
gewissen Beziehung zum Sadismus, ist aber mit ihm keineswegs identish. Er ist
(nah einer mündlihen Äußerung des Wiener Philosophen Professor A. Stöhr)
eine gemeinsame Erscheinungsform aller Grundtriebe. Der Madtwille des einzelnen
Triebes ist jedoch unseres Erachtens von dem Willen zur Madt des Individuums
zu unterscheiden, der als Resultante eines bestimmten Verhältnisses der Triebe zu=
einander (gleichsinniges Zusammenwirken der konstitutionell verstärkten Trieb-
aktivitäten) die inhaltlichen Bestimmungen der betreffenden für das Individuum
charakteristishen Triebe gegenüber der formalen Eigentümlichkeit der Hemmungs=-
losigkeit, der Expansionssudht, der das fremde Individuum zur gleichgiltigen Sache
wird, zurücktreten läßt. Der Sadismus ist gewissermaßen als sexueller Repräsentant
dieses „Willens zur Macdhts anzusprehen. Wenn dem Fichteschen Ih die Welt
das Material seiner Pfliht ist, so ist diese Welt dem »Willen zur Madts ein
Material seiner Mactgelüste.
2? Nah ©. Weininger eine Art Zauberer, Eroberer auf dem Gebiete der
Wissenschaft.
3 Nietzsches Werke, I. Bd., p. 455. Naumann, Leipzig 1903.
4 Vgl. Lessings Aussprudh, daß ihm mehr am Suchen der Wahrheit als
an ihr selbst gelegen sei. Anmerk. d. Ref.
Psychoanalytishe Anmerkungen zur Geshichte der Philosophie 231
daß im Leben eines Denkers abwechselnd bald das eine, bald das
andere Moment deutliher vorklingen kann, daß ferner ja bekanntlich
Sadismus und Masodhismus nie ganz voneinander getrennt vor=
kommen und sich schließlih von beiden Typen Fäden zu gemein-
samen eigentümlihen Charakteren des Seelishen herüberspinnen.
Über den Schautrieb und seine mögliche Beziehung zu Rationa-
liimus und Mystik ist shon im ersten Teil der Arbeit in Ver-
mutungen — und mehr können wir heute noh nidht geben —
gesprohen worden. Wie wir 'bei diesem im einzelnen Fall einen
Zusammenhang mit der infantilen Relation zum Vater (eventuell
zu beiden Eltern) angenommen haben, so gilt das Gleihe auch vom
Narzißmus (im geistigen Sinn), den wir als einen für die Philosophen
wesentlihen Zug! anführen mußten. Nur die Funktionslust am
Denken an und für sich erklärt jenen »Mißbrauh des Denkenss,
der oft zu den abenteuerlihsten und unsinnigsten Spekulationen
geführt hat. Die intellektuellen Operationen sind hier mit der Lust
und Angst der eigentlichen Sexualvorgänge betont?. Die Überbesetzung
des Denkens hat natürlih einen erhöhten Glauben an die Realität
des Gedahten und eine Entwertung der transsubjektiven Wirklich-
keit zur Folge. Die fortgesetzte Introversion kann einen völligen
Abbruch der Beziehungen mit der Außenwelt bewirken. Das System,
das in Anknüpfung an die Realität ein Ausleben uralter Komplexe
ermöglicht, erinnert in bezug auf seine biologische Bedeutung bis-
weilen an den mißlingenden kompensierenden Übertragungsversuc
mancher Geisteskranker im Aphelium ihrer Entfernung von der
Außenwelt, wo ihnen die Abspaltung bewußt zu werden vermag.’
Betreffs des geistigen Narzißmus der Denker wage ih die Bemer-
kung, daß der Übergang des Narzißmus vom Objekt auf die
Funktion vielleiht die Brüke zur Sublimierung bildet. Die »Re-
gression von Handeln aufs Denkens sowie einige andere, teilweise
noh anzuführende Charaktere der Philosophen erinnern in so auf-
fälliger Weise an Symptome der Zwangsneurose, daß man nicht
umhin kann, die meisten Philosophen in die Nähe jenes Typus, den
Freud als »Zwangstypus« bezeichnet, zu stellen. Der genannte
Forscher hat in seinen tief shürfenden »Bemerkungen über einen
Fall von Zwangsneurose« der Verdrängung des infantilen Hasses
gegen den Vater die allergrößte Bedeutung für den Aufbau dieser
Neurose zugesprodhen, Der auf intellektuelle Probleme diffundierende
Zweifel ist eigentlich der Zweifel an der Liebe, die durch einen
eben so starken Haß im Unbewußten gebunden wird. Das
! Fichte ist ein besonders schönes Beispiel dafür, der das Ih und die Er-
kenntnis desselben in den Mittelpunkt der Weltbetrahtung stellt.
2 Vielleicht liegt darin eine Quelle der Behauptung einer Verwandtschaft
zwishen Erkennen und Zeugen, welch letztere von Franz v. Baader in merk-
würdiger Weise dargetan wurde. Selbstverständlih ist die Gegensatzrelation im
Unbewußten auh an der Herstellung dieser Beziehung beteiligt.
s Vgl. J. Nelken, Analyt. Beobahtungen über Phantasien eines Schizo-
phrenen. Jahrb. IV.
232 Alfr. Frh. v. Winterstein
stimmt sehr gut zu dem, was ich früher über die Bedeutung
des Vaters für das Schicksal des Philosophen gesagt habe, und
wenn wir mit Stekel den Zweifel einen negativen Glauben!
nennen wollen, verstehen wir auh das oft ein Leben lang währende
Schwanken zwishen Atheismus und Glauben? und die endliche
Flucht in die Religion. Das frühzeitige Auftreten des sexuellen
Shau- und Wißtriebes sowie die Ausbildung der sadistischen
Komponente? würden als von Freud festgestellte Bigentümlich-
keiten der Zwangskranken das Material für die oben erörterten
Sublimierungen ergeben. Wenn Freud ferner hervorhebt, daß
die Zwangshandlungen sih immer mehr, und je länger das
Leiden dauert, infantilen Sexualhandlungen autoerotishen Charakters
nähern, ist vielleiht im Rahmen dieser Krankheit audh Platz für den
von uns so oft herangezogenen Narzißmus. Die ziemlih gleich-
lautenden Aussprüche lee und Descartes*, daß sie erst
im Zweifel ihrer Existenz gewiß geworden seien, weisen offenbar
auf die libidinöse Überbesetzung des Denkaktes hin, dem die sonst
den Inhalten des Denkens gewidmete Lust und Angst verliehen
wird. Wer den Aberglauben und das Phänomen des Todes in seiner
Bedeutung für die Zwangsneurotiker kennen gelernt hat, wird auf-
merksam, wenn Schopenhauer das Todesproblem® an den Ein-
gang der Philosophie stellt. Ih weiß nun sehr genau, daß der Tod
einerseits auh Nichtneurotiker zu philosophishen Betrahtungen an=
regen kann, anderseits der Tod allein die Menschen nicht zur Phi-
fosophie veranlaßt haben wird. Das »davuaßeıw« ®, die Verwunderung
über alles, in der Aristoteles die Quelle des Philosophierens
erblikt, mahnt hinwiederum an den Verstehzwang, an die Vorliebe
der Kranken für die Unsicherheit und den Zweifel. Auch der Philo-
soph beschäftigt sich mit Problemen, die einer gesicherten Lösung
widerstreben, so z. B. mit dem Ursprung der Welt und ähnlichen
ihrer Natur nah schwebenden Fragen. Gewissermaßen als Ersatz
für die fehlende Einsicht in die Determinierung des Innern regt sich
bei Denkern und Zwangsneurotikern ein erhöhtes Kansalitätsbedüffnis
der Außenwelt gegenüber, das mit treffender Anschaulichkeit, wenn
aud in pathologisher Verzerrung, von Schreber beschrieben worden
ı »]st doch der Glaube nur das Gefühl der Eintracht mit dir selbst.« Grill-
parzer.
2 Audh Schreber war seiner eigenen Aussage nah vor Ausbrud seiner
Krankheit ein Zweifler.
3 Nacı späteren Untersuhungen dürfte gleichfalls der Analerotik eine gewisse
Bedeutung für die Zwangsneurose zukommen.
* Aus den von Baillet (I. c., p. 81 ff.) mitgeteilten Träumen des dreiundzwanzig-
jährigen Descartes geht das innere Shwanken des Philosophen zur Evidenz hervor.
5 Die Welt als Wille und Vorstellung, II., 4 Buh, 41. Kap.: »Der Tod
ist der eigentliche inspirierende Genius oder der Musaget der Philosophie, weshalb
Sokrates diese auh Vavarov ueietn definiert hat. Schwerlih sogar würde aud,
ohne den Tod, philosophiert werden.«
6 Aristoteles, Metaphysik: »Aıa yao To Yavudlsıw ol Avdooroı zai vöv
xai TO no@tov Nolavro YıLooogelvs.
Psycdoanalytishe Anmerkungen zur Geschichte der Philosophie 233
ist (4. c., p. 229: »Gerade das zusammenhanglose Hineinwerfen
der das Kausalitätsbedürfnis oder irgendwelhe andere Beziehung
ausdrückenden Konjunktionen in meine Nerven (warum nur usw.)
hat mih zum Nachdenken über viele Dinge genötigt, an denen der
Mensch sonst ahtlos vorüberzugehen pflegt und dadurh zur Ver-
tiefung meines Denkens beigetragen. Jede Vornahme irgendeiner
menschlichen Tätigkeit in meiner Nähe, die ih sehe, jede Natur-
betrahtung im Garten oder von meinem Fenster aus regt gewisse
Gedanken in mir an, höre ich dann in zeitlihem Ansclusse an diese
Gedankenentwiclung ein in meine Nerven hineingesprohenes ‚Warum
nur” — so bin ih dadurh genötigt oder ae in ungleich
höherem Grade, als andere Menschen veranlaßt, über den Grund
oder Zweck der betreffenden Erscheinungen nachzudenken.
Und dieses Kausalitätsbedürfnis konstruiert sih — gleichsam
als späte Wunscerfüllung für den unabscließbaren Charakter der
Kinderforshung — beim Philosophen ein in sich geschlossenes
System, wo die Beantwortung er quälenden Frage ihren Platz
findet, eine Zufluchtsstätte der Sicherheit und Beruhigung.
In Parenthese merke ih an, daß die pythagoräische Tafel
der Gegensätze (die assyrish-babylonishen Ursprungs ist) vielleicht
denselben Zweck verfolgt, gewissermaßen: Tertium non datur. Sie
enthält unter anderem die Oenshenisllene von Rechts und Links,
Männlih und Weiblih, Liht und Finsternis, Gut und Böse und
bringt die »antithetische Einheitsbeziehung zwischen Vorstellung und
Gegenvorstellung« (Lipps) zum Ausdruck. Diese uns auch aus der
Traumsymbolik (z. B. linker Weg — Weg des Unrehts) und dem
Folklore geläufigen Entsprehungen findensich zum Teil in der Zeugungs-
theorie des Parmenides wieder, wo der männlihe und weibliche
Charakter des Individuums von der Lage des Embryo im Mutter-
leib — ob rechts oder links — abhängig gemadht wird!.
Von Freud ist die frühzeitige Scheidung der Gegensätze von
Liebe und Haß beim Individuum als eine Bedin ung der Ent-
stehung der Zwangsneurose angesprochen worden. Die durh Ver-
shiebung allgemein gewordene und durch den Zweifel stets lebendig
erhaltene Empfindung »des scharfen Widerspruchs, des unerbitt=
lihen Entweder-Oder« mag denkbarerweise ihren Anteil an der
Errihtung der pythagoräishen Tafel der Gegensätze? haben.
! Der Biologe Fließ erblickt in der linken Hand den Index des Gegen-
geschledhtlihen. Nah desselben Ansicht liegt, wie schon früher erwähnt, das
Wesen des Genies im Hermaphroditishen, das Werk ist ein Produkt der inneren
Befruchtung des Bisexuellen. Vielleiht ist die »Sehnsuct, sich selbst zu gebärens,
von der in einer J. Böhme nacempfundenen Schrift Schellings die Rede ist,
ein Ausdruck dieser biologischen Verhältnisse. Schreber spricht auf p. 4 seiner
»Denkwürdigkeiten« eine hieher gehörige Beobachtung aus. Die Schule der Züricher
Psydoanalytiker würde die Vorstellung der Selbstgeburt in Analogie mit den
Vorstellungen vom Sterben und Wiedergeborenwerden wohl als den bloß mit
ardhaischen Mitteln dargestellten Begriff von Umwandlung und Entwicklung auffassen.
? Vgl. die große Bedeutung des Gefühls für Symmetrie bei Kant, der sicher=-
lih dem Zwangstypus angehörte.
234 Alfr. Frh. v. Winterstein
Wer diese Verquickung von philosophishem Denker und
Zwangskranken unangenehm und ungeredtfertigt findet, soll nicht
außer act lassen, daß einerseits shon einem gewöhnlihen Zwangs-
neurotiker im Durchschnitt eine ziemlich große intellektuelle Begabung
zugesprohen werden muß, anderseits der Denkzwang! — gute
geistige Fähigkeiten vorausgesetzt — zu Resultaten führen kann,
über deren Wert und Giltigkeit ihre Genese ja nicht ent-
scheiden darf,
Wenn ih vorhin einen sadistishen und masodistishen Typus
beim Philosophen unterschied, so gilt für diese und für andere ähn-
jihe Einteilungen der Satz, daß die Typen in Wirklichkeit nicht so
streng voneinander getrennt sind, daß nur ein Mehr oder Weniger
betont werden soll, daß mit einem Wort die Wissenshaft die Dinge
einfacher sieht, als es der vielfahen Verschlungenheit und Kompli-
kation der Erscheinungen entspriht. Auch der nücterne Forscher
wird nicht ganz frei von den Einwirkungen persönlicher Komplexe
bleiben, so gut der mythologishe Denker sih in den Schöpfungen
seiner Phantasie niht völlig vom Boden der Realität zu entfernen
brauht. Mindestens den Wert des Psycdologish-Realen wird er
für sein Werk beanspruhen dürfen. Wir wollen freilih nicht so
weit wie Feuerbach gehen, dem alle Theologie und Philosophie
nur Psychologie ist; das müßte erst streng bewiesen werden. Die
Psydhoanalyse kann — um einen Einwand H. Höffdings? gegen
Feuerbachs Religionsphilosophie modifiziert wiederzugeben — alle
philosophishen Vorstellungen als psycdologishe Erzeugnisse er=
klären, daß sie aber wirklih nichts anderes und nicht mehr sein
sollten, läßt sich nicht beweisen. Es ließe sih die Realität einer
philosophishen Idee denken, die dem tiefsten Trahten des mensch-
lihen Gemüts entsprungen wäre. Ob hinter dieser Denkbarkeit sich
allerdings nicht bloß ein schühterner Wunsch verbirgt, ist nicht
auszumachen.
Ohne uns in eine Diskussion über den Anspruh auf objek=-
tiven Wert, der von der oder jener Weltauffassung erhoben werden
könnte, einzulassen, stellen wir fest, daß viele he
Libidotheorien zu sein scheinen, die sih entweder als vershobene
Bearbeitungen psychoanalytisher Erkenntnisse darstellen oder mit
den Ergebnissen der Psychoanalyse direkt übereinstimmen.
Es sei mir an dieser Stelle, bevor ih zu den Schlußgedanken
übergehe, gestattet, in Form einer kleinen Einshiebung dem philo-
sophishen Optimismus und Pessimismus einige wenige Betradh-
tungen zu widmen. Man hat hier weit klarer als in anderen Fällen
shon lange erkannt, daß ein philosophishes System, das sich auf
ı Freud, |. c. p. 417: »Der Zwang ist ein Versuh zur Kompensation
des Zweifels und zur Korrektur der unerträglihen Hemmungszustände, von denen
der Zweifel Zeugnis ablegt.«
= ® H. Höffding, Geschichte der neueren Philosophie, II. Bd., Leipzig 1906,
p.
Psydhoanalytishe Anmerkungen zur Geschichte der Philosophie 235
einer bestimmten Wertshätzung des Lebens autbaut, nur »der
kosmishe Ausdruck eines bestimmten Temperamentes« ist. Nietz-
sche! hat das Entsceidende gesagt: »Urteile, Werturteile über
das Leben, für oder wider, können zuletzt niemals wahr sein: sie
haben nur Wert als Symptome, sie kommen nur als Symptome in
Betraht — an sih sind solhe Urteile Dummheiten. Man muß
durchaus seine Finger danah ausstrecken und den Versuh maden,
diese erstaunliche ns zu fassen, daß der Wert des Lebens
nicht abgeshätzt werden kann. Von einem Lebenden nicht, weil ein
solcher Partei, ja sogar Streitobjekt ist und nicht Richter; von einem
Toten nicht, aus einem anderen Grunde. Von seiten eines Philo-
sophen im Wert des Lebens ein Problem sehen, bleibt dergestalt
sogar ein Einwurf gegen ihn, ein Fragezeihen an seiner Weisheit,
eine Unweisheit.«
Wenn sih auh eine Weltanshauung wie die Schopen-
hauers, die das Lebensgefühl eines einzelnen zu dem der ganzen
Welt madht, gewiß nicht auf objektive Wahrheit berufen kann, so
darf doh niht verkannt werden, daß sein radikaler Pessimismus
dazu beigetragen hat, gewisse uns manchmal abgewendete Facetten
des Daseins in einem deutliheren Lichte zu erblicken. Daß der
Weltschmerz fast stets mit einer ganz bestimmten Libidokonstellation
(Unfähigkeit zur Realübertragung, Fälle der Versagung, Unmöglih-
keit der Befriedigung auf den bereits eröffneten Bahnen infolge einer
allgemeinen Libidosteigerung) einhergeht, ist wohl evident, indes ein
übertriebener Optimismus stark an die Euphorie von Manischen
erinnern kann?.
Im weiten Umkreise unserer Untersuhung konnten wir vor
allem zwei Dinge in den Mittelpunkt stellen: den geistigen Narziß-
mus der Philosophen und ihr Verhältnis zu den Eltern. Jener ist
ein doppelter: einerseits wird die oft zwangsmäßig? ausgeübte
Denkfunktion förmlih zu einer autoerotishen Handlung, der Phi-
losoph betradhtet mit Lust sein Denken, das bisweilen bloß um
seinetwillen betrieben wird, unbekümmert um Erfahrung und Inhalt
— wir haben traurige Beispiele dafür. Anderseits spiegelt sich der
Denker im Kosmos; das Tiefste, was ihm von außen entgegen-
tritt, wiederholt nur seine eigene innerste Natur, aber er erkennt es
ı Götzendämmerung, p. 69, Naumann, Leipzig 1895.
? In der »Geburt der Tragödie usw.« wirft Nietzsche die Frage auf:
»Ist Pessimismus notwendig ein Zeichen des Niedergangs, Verfalls, des Mißraten-
seins, der ermüdeten und geshwäcten Instinkte? — Wie er es bei den Indern
war, wie er es, allem Anschein nah, bei uns, den modernen Menshen und
Europäern ist? Gibt es einen Pessimismus der Stärke?« WVielleiht gehört die
Schwermut der Jugend hieher, die auf einer aus äußeren oder inneren Gründen
stattfindenden Triebstauung beruhen dürfte. Vgl. auh Nietzsches Aussprud:
»Carlyle: der Pessimist oder das zurückgetretene Mittagessen.« In dieser witzigen
Form ist die physishe Verursahung des Pessimismus gekennzeichnet.
3 Freud erblikt im Denkzwang häufig eine Reaktion gegen die Drohung
oder Befürhtung, man werde durch sexuelle Betätigung, speziell durch Onanie,
den Verstand verlieren. Vgl. die Arbeit über Schreber.
236 Alfr. Frh. v. Winterstein
nicht als solhe, sofern er nicht zuerst den umgekehrten Weg nadı
innen geschritten ist. Dann glaubt er, im Abgrund des Gemüts den
Kern der Natur! entdeckt zu haben.
Es ist das Verdienst des deutshen Volkes, nahdrüklich in
jene Rihtung gewiesen zu haben, aber die Frage wird wohl kaum
je von der Philosophie beantwortet werden können, ob der Mittel-
punkt unseres Wesens wirklih eins sei mit dem, »was die Welt
im Innersten zusammenhält«. Von unserem nicht egozentrischen
Standpunkte aus möchten wir diese Lösung eher verneinen.
Die Bedeutung der Eltern, namentlih des Vaters, scheint für
das Schicksal des Metaphysikers von maßgebendstem Einflusse zu
sein. Die an die Eltern gerichtete Frage nad der Herkunft des
kleinen Menshenkindes wiederholt der Erwachsene, wenn er sich
an die Natur wendet, um das Geheimnis ihres Daseins zu er-
forshen? und die Allmadhıt des Vaters überträgt er auf Gott, den
er die Welt erschaffen läßt. Auch der Glaube an die Allmadht der
Gedanken, hinter dem ein Stück kindlihen Größenwahns steckt,
wird auf Gott projiziert. So heißt es bei Leibniz: »Dum deus
calculat, fit mundus.« Im Erkennen des göttlihen Urgrundes liegt
eine Art Vereinigung und das tiefste Streben des Denkers geht
dahin, sih in den »Schoß des weltenshwangeren Nicts«®, des
Einen, des Absoluten zu retten. Der von den Eltern ausgeübte
Bann zeigt sich vielleiht auh noch in der Ehelosigkeit der meisten
Philosophen, in diesen Zusammenhang gehört gleichfalls die »Re-
gression vom Handeln auf’s Denken«. »Primum vivere, deinde
philosophari« — einige aber haben von vornherein auf das Leben
verzihten und grübeln müssen‘.
Damit wird keine Abdankung der Metaphysik verkündigt. Sie
ist eine notwendige Erscheinung des menschlichen Geistes und wenn
ı Goethe: »Ist nicht der Kern der Natur Menschen im Herzen?«
2 In einem »Philosoph« überschriebenen Gedichte von Fr. Langheinrich,
das sich auf die beigegebene Radierung von Klinger bezieht, heißt es:
»Natur, wie hab ich tief vor dir gekniet,
Das dumpfe Haupt an deine Brust versunken:
‚Irink‘, sprachst du, ‚daß dein Auge Klarheit sieht‘,
Und Liht und Wunder hat mein Mund getrunken.
Nun lehre mih, warum dies Dasein glüht,
Die Seele, Mutter, gib mir deine Seele!«
Die Aufklärung über das Sexualgeheimnis kann eventuell auch eine
praktische sein. »Wenn dann,« schreibt Novalis in den ‚Lehrlingen zu Sais‘,
»jenes mächtige Gefühl, wofür die Sprahe keine anderen Namen als Liebe und
Wolfust hat, sih in ihm ausdehnt, wie ein gewaltiger, alles auflösender Dunst
und er bebend in süßer Angst in den dunkeln lockenden Schoß der
Natur versinkt, die arme Persönlichkeit in den übershlagenden Wogen der Lust
sih verzehrt und nichts als ein Brennpunkt der unermeßlichen Zeugungskraft, ein
verschluckender Wirbel im großen Ozean übrig bleibt!«
s Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, Il. Bd., #4. Kap. 41.
— Was als Vergleih gebrauht wird, ist hier das psyhish Zugrundeliegende.
* Schopenhauer, »Das Leben ist eine mißliche Sache, ich habe mir vor=
genommen, das meine mit dem Nachdenken darüber zuzubringen.«
Psycdoanalytishe Anmerkungen zur Geschichte der Philosophie 237
sih auch ihre Anhänger über die Tragweite der dort gegebenen
Aufshlüsse wahrscheinliih Täushungen hingeben, sofern sie in
ihnen objektive Wahrheiten erblicken, so ist anderseits niht zu
leugnen, daß wir durch die Weltanshauungen der Philosophen eine
höchst wirksame Förderung in psycologisher Hinsicht erfahren,
indem jene Schöpfer, oft mehr geniale Künstler als Forscher, be-
deutsame Einsichten in unser eigenes UÜnbewußtes symbolish zum
Ausdruck gebradht haben. Gleihwie Feuerbach gegenüber Voltaire
in der Auffassung der Religion einen Fortschritt Breähk, indem er
die festgestellte Subjektivität religiöser Dogmen zu einer Verherr-
lihung der menschlihen Natur eher hat, werden wir in dem
Umstande, daß der Philosoph sein Weltbild in Übereinstimmung
mit unbewußten Kräften des eigenen Gemüts zusammenscdaut, nur
einen verstärkten Äntrieb sehen, die Schöpferkraft der menschlichen
Phantasie zu bewundern. Und bei aller Ähnlichkeit, die viele philo-
sophishe Systeme mit den kunstvollen Konstruktionen beispiels-
weise der Paranoia auch aufweisen mögen, dürfen wir nicht das
Spezifisch-Differenzierende gegenüber neurotishen und psy=
aotishen Erscheinungen außer aht lassen: ich meine ganz all-
gemein die jarellekttaik: Blendung, deren Vorbild die von Freud
so genannte sekundäre Traumbearbeitung! ist. Je feiner und reicher
die im Ictrieb vorhandenen Anlagen des Individuums entwickelt
sind und je größer seine Realitätsanpassung ist, umso stärker treten
in der Fassade eines philosophishen Gebäudes die subliminalen
Mächte, die am Werke tätig waren und deren verhüllter Äußerung
jene Fassade zunächst dienen sollte, zurük und das Gebäude
erhält, gewissermaßen nah dem Gesetz der Heterogonie der
Zwedke (Wundt), eine seiner ursprünglihen Bestimmung fremde,
selbständige Bedeutung.
ı Freud versteht darunter die in ihrem Ausmaß inkonstante Über-
arbeitung des Trauminhalts durh das zum Teil gewekte Wachdenken während
der Traumbildung. Vgl. Traumdeutung, 2. Aufl., p. 302 ff.
238 S. Ferenczi
Aus der »Psychologie*t von Hermann Lotze.
Mitgeteilt von Dr. S. FERENCZI (Budapest).
In den Werken des mit Recht berühmten und populären deut-
shen Denkers und Universitätslehrers Hermann Lotze! fand id
einige Sätze, die — obzwar rein spekulativ entstanden — eine so
weitgehende Übereinstimmung mit den auf empirishem Wege ge-
wonnenen psycdologishen Erkenntnissen der Psycoanalytik auf-
weisen, daß wir ihren Autor als einen der Vorahner der Ideen
Freuds betrahten dürfen. Eine solhe Kongruenz der Resultate
intuitiven Denkens und Dichtens? mit den Ergebnissen der prakti-
schen Erfahrung ist niht nur vom geschictlihen Standpunkt inter-
essant, sondern sie kann auch als ein Ärgument für die Stihhältigkeit
jener Erkenntnisinhalte selbst in Betraht kommen.
In der »Psychopathologie des Alltagslebens« erklärt bekanntlich
Freud das Vergessen als ein Ünbewußtwerden von Vorstellungen,
begründet durh Unlustmotive. In seinen »Grundzügen der Psydho-
logiexs (VII. Aufl. Leipzig, S. Hirzel) sagt Lotze über dieses
Thema u. a. folgendes:
815. ».... die Erinnerungsbilder früherer Eindrüke (sind)
nicht immer im Bewußtsein vorhanden, sondern treten nur zeitweilig
in demselben wieder auf, dann aber so, daß kein äußerer Reiz nötig
war, um sie von neuem zu erzeugen.
Hieraus schließen wir, daß sie in der Zwischenzeit für uns
niht ganz verloren gewesen sind, sondern sih in irgendweldhe
‚unbewußte’” Zustände verwandelt haben, die wir natürlih nicht
beschreiben können, und für die wir den an sich widersprehenden
aber bequemen Namen ‚unbewußte Vorstellungen, brauden ...«
16. ».... Zwei Ansichten standen sich hier gegenüber. Man
hielt früher das Vershwinden der Vorstellungen für natürlih und
glaubte das Gegenteil, das Gedächtnis, erklären zu müssen. Man
folgt jetzt der Analogie des physishen Gesetzes der Beharrung
und glaubt das Vergessen erklären zu müssen, weil an sih die
ewige Fortdauer eines einmal erregten Zustandes sih von selbst
verstehe.
Diese Analogie ist niht ohne Bedenken. Sie gilt von der Be-
wegung der Körper. Allein Bewegung ist nur eine Änderung äußerer
Relationen, von welcher der bewegte Körper nichts leidet, denn er
befindet sih an einem Orte genau so wie am andern, und hat daher
weder einen Grund, noch einen Maßstab für einen der Bewegung
zu leistenden Widerstand. Die Seele dagegen befindet sich selbst
1 Rud. Hermann Lotze (1817—1881) war Professor der Philosophie und
Physiologie in Leipzig, Göttingen und Berlin. Er war ein Schüler Herbarts und
Anhänger von Leibnitz.
2 Ähnliche Übereinstimmungen mit der Psychoanalyse sind bereits in den
Werken von Schopenhauer, Nietzsche, Änatole France u. a. nahgewiesen
worden.
Aus der »Psydologie« von Hermann Lotze 239
in vershiedenen Zuständen, je nachdem sie a vorstellt oder b oder
auh gar nichts. Denkbar wäre daher, daß sie gegen jeden
ihr aufgedrängtenEindruck zurückwirkte, wodurchsie zwar
niemals diesen ganz annullieren, aber doch vielleicht aus
bewußter Empfindung in einen unbewußten Zustand ver-
wandeln könnte,«!
8 19. »Als Grundlage einer ‚psychischen Mechanik’
könnten .... die Begriffe von Stärke und Gegensatz nur dann selbst=
verständlih dienen, wenn sie sih auf die vorstellenden Tätig-
keiten bezögen. Das ist nicht der Fall. — Man würde es daher
als eine bloße Tatsache anerkennen müssen, wenn die Stärke und
Gegensatz des vorgestellten Inhalts die entscheidenden Bedin=
gungen für die Wechselwirkung der Vorstellungen wären. Die Er-
fahrung bestätigt dies niht. Die Vorstellung größeren Inhalts
verdrängt keineswegs immer die von kleinerem, im Gegen-
teil ist die letztere selbst imstande, zuweilen die Empfin-
dung äußerer Reize zu unterdrücken?.
un kommen aber Vorstellungen niemals in einer Seele vor,
die außerdem nichts anderes täte, sondern. an jeden Bindruk knüpft
sih außer dem was in dessen Folge vorgestellt wird auh nod
ein Gefühl des Wertes, den derselbe für das körperlihe und
geistige Wohlbefinden des Perzipierenden hat. Diese Gefühle von
Lust und Unlust sind einer Gradabstufung offenbar ebenso fähig,
wie das bloße Vorstellen unfähig dazu ist. Nach der Größe nun
dieses Gefühlsanteils, welche übrigens außerordentlih wechselnd
ist je nach der Verschiedenheit des Gesamtzustandes, in dem die
Seele sih eben befindet, oder kurz gesagt: nah dem Grad des
Interesses, welche eine Vorstellung aus vielerlei Gründen in jedem
Augenblike zu erwecken vermag, richtet sih ihre größere oder
geringere Macht zur Verdrängung anderer Vorstellungen. Und
nur hierin, aber nicht in einer ursprünglihen Eigenschaft, welche sie
als bloße Vorstellung hätte, besteht das, was wir ihre Stärke nennen
können.«
In diesen Sätzen finden wir zum Teil Freuds Feststellungen
über die bestimmende Rolle der Lust- und Unlustqualität für die
Perzeption und Reproduktion wieder. Daß dies kein Zufall ist,
darauf läßt eine andere Stelle der »Psydhologies Lotzes schließen,
an der er — ganz wie es die Psychoanalyse zu tun gezwungen
ist — gegen die Haltlosigkeit der reinen Bewußtseinspsychologie und
philosophie Stellung nahm.
886»... Die Frage nah der Art und Wahrheit unserer
Erkenntnis oder nah dem Verhältnis zwischen Subjekt und
Objekt hatte so sehr alle Aufmerksamkeit gefesselt, daß der Vor-
gang, durh welchen das Seiende dazu kommt, sich selbst zu er-
fassen, d. h. die Entwicklung des Selbstbewußtseins, für das
ı Vom Referenten hervorgehoben.
®: Vom Referenten gesperrt.
240 S. Ferenczi
eigentlihe Ziel oder für den letzten Inhalt der ganzen Weltordnung
gehalten wurde. Nun erschien die Seele nur Kar bestimmt, diese
Aufgabe der Selbstbespiegelung innerhalb des irdischen Lebens auf-
zulösen, und die verschiedenen Formen, in denen diese Aufgabe
der reinen Intelligenz stufenweise immer mehr gelöst wird, nahmen
ziemlich allen Platz in der Psychologie ein. Der Inhalt dessen aber,
was empfunden, angeshaut oder begriffen wird, trat ebensosehr
dagegen zurück, wie das ganze übrige Seelenleben, der Gefühle
und Strebungen, die selbst wieder bloß so weit in Betradt
kamen, als sie auh zu jener formellen Aufgabe der Selbstobjekti-
vierung in bezug gesetzt werden konnten.«
In der Sprahe der Psychoanalyse heißt das etwa: Bewußtheit
ist keine notwendige Qualität des Psydhishen, ja: der Inhalt der
Psydhe ist an sih unbewußt und nur ein Bruchteil dieses Inhalts
wird vom Bewußtsein, dem Sinnesorgan für (an sih ubw.) psydhische
Qualitäten, wahrgenommen.
Audh die Anshauung Lotzes über die Rictkraft des Lust=-
prinzips bei der Entstehung der Triebe deckt sich mit unseren
Anschauungen. »$ 102... . Triebe sind ursprünglih nur Gefühle,
und zwar meistens der Unlust oder doh der Unruhe, sie pflegen
aber verknüpft zu sein mit Bewegungsantrieben, welhe in der
Weise der Reflexbewegungen zu allerhand Bewegungen führen,
durh die nach längerem Bike kürzerem Irrtum die Mittel gefunden
werden, jene Unlust zu beseitigen.« (Vgl. dazu Freuds »Prin-
zipien des psydishen Geschehens« und den theoretishen Teil
seiner »Traumdeutung«.)
Audh das Problem der objektivierenden Projektion und der
Introjektion wird von Lotze angescnitten. Wo er von der Bildung
des »Ich« im Gegensatz zur Objektwelt spriht. »Jeder unserer
eigenen Zuständes — sagt er im $ 52 — »alles was wir selber
wirklih leiden, empfinden oder tun, ist dadurch ausgezeichnet, daß
sih daran unmittelbar ein Gefühl (der Lust, der Unlust, des Inter-
esses) knüpft, während diese Begleitung demjenigen fehlt, was wir
als die Zustände, das Tun, Empfinden, Leiden anderer Wesen
bloß vorstellen aber nicht selber erfahren oder erleiden... Ein
bloßess Wissen überhaupt kann) niht das Motiv dieser
ganz beispiellosen Unterscheidung sein, durh die jedes beseelte
Wesen sich selbst der ganzen übrigen Welt entgegenstellt.« »Äuf
die dargelegte Weise wird, glauben wir, zuerst der Sinn des
Possessivpronomen ‚mein’” uns deutlih; erst nachher, wenn
wir unsere denkende Reflexion auf diese Umstände richten, bilden
wir auch den substantivishen Namen des Ich als des Wesens,
dem das, was ‚mein’ hieß, zukommts« (& 53). (Vgl. dazu aud
meine Ausführungen in der Arbeit »Introjektion und Übertragung«
(Jahrbuch für Psychoanalyse, I. Jahrg.).
Wenn Lotze die »beispiellose Untersheidung«s des Ih von
der übrigen Erfahrungswelt auf seinen Wert für das Individuum
Aus der »Psycdologies von Hermann Lotze 241
zurükführt, (worunter er zweifellos dessen Lustwert und nicht den
Nutzwert versteht), so nähert er sich der psychoanalytischen Auffas-
sung, nad der die Ih-Bildung im innigsten Konnex steht mit dem
Narzißmus, dem Verliebtsein in die eigene Person. (Vgl. Freud:
Animismus, Magie und Allmaht der Gedanken, »Imagos, II. Jahrg.,
1, Heft, p. 12.)
Dafür spriht unter anderem aud folgende Stelle bei Lotze
d, c.8 53): »... Zweierlei muß man unterscheiden. Das Bild,
welches wir uns von unserem eigenen Wesen machen, kann mehr
oder weniger zutreffend oder irrig sein, das hängt von der
Höhe der Erkenniniekran ab, durh weldhe jedes Wesen sich über
diesen Mittelpunkt seiner eigenen Zustände theoretish aufzuklären
sucht. Die Evidenz dagegen und die Innigkeit, mit der jedes
fühlende Wesen sich selbst von der ganzen Welt untersceidet,
hängt gar nicht von der Vortrefflihkeit dieser seiner Einsicht in
sein eigenes Wesen ab, sondern äußert sich bei den niedrigsten Tieren,
soweit sie durch Schmerz oder Lust ihre Zustände als die ihrigen
anerkennen, ebenso lebhaft, als bei dem intelligentesten Geiste.«
Interessant ist, was er über den Sinn »der vielen, zum Teil
zierlihen, zum Teil sonderbaren beweglihen Zusätze oder An-
hänge an unseren Körper« sagt, »deren sih die Putzsuht zu be-
dienen pflegt«. Lotze meint, daß man damit gleihsam einen Teil
der Außenwelt zum Ih schlagen will um dieses zu vergrößern,
diese Zusätze »geben uns im allgemeinen das angenehme Gefühl
einer über die Grenzen unseres Körpers erweiterten geistigen
Gegenwarte.
Imago 11/2 16
242 Büder
»Wenn wir eine Gemütsbewegung oder einen
Affekt von dem Gedanken der äußerlichen Verursahung
trennen und mit anderen Gedanken verbinden, so werden
Liebe oder Haß gegen die äußerliche Verursahung und
damit auh die Schwankungen des Gemüts, die aus
diesen Affekten entspringen, vernihtet werden. Ein
Affekt, der ein Leiden ist, hört auf ein Leiden zu sein,
sobald wir eine klare und deutliche Idee von ihm bilden.
Und es gibt keine Körpererregung und also auch keinen
Affekt, wovon wir niht einen klaren und deutlihen
Begriff bilden könnten. Ein jeder hat die Madt, sich
und seine Äffekte, wenn auch nicht absolut, so doch zum
Teil klar und deutlih zu erkennen und folglih auh zu
bewirken, daß er weniger von ihnen leide. Darauf
hauptsählih muß daher unser Bemühen gerichtet sein,
daß wir jeden Affekt, so viel wie möglih, klar und
deutlih erkennen, damit so der Verstand, von dem
Affekt aus, zum Denken dessen bestimmt werde,
was er klar und deutlich erfaßt und worin er sich selb-
ständig beruhigt, und so der ÄAffekt selbst von dem
Gedanken der äußerlihen Verursahung losgelöst und
mit wahren Gedanken verbunden werde.< Spinozal!.
Bücher.
DR. PAUL HÄBERLIN, Privatdozent an der Universität zu Basel:
Wissenschaft und Philosophie, ihr Wesen und ihr Verhältnis. II. Bd.:
Beer (426 S. Basel, Kober, C. F. Spittlers Nachfolger 1912, 6 M,,
geb. ni
Es ist vielleicht nicht das höchste Lob, das man einem philosophi-
schen Werke spenden kann, wenn man sagt, es erscheine gerade im richtigen
Zeitpunkt, es hieße jedoch die eigentlihe Absicht des vorliegenden Buches
gänzlich verkennen, wenn man daran denken wollte, ihm das Prädikat des
Unzeitgemäßen zuzuerkennen. Häberlins Buch hat eingestandenermaßen
propädeutischen Charakter und beabsichtigt, in der gegenwärtigen Krisis
klärend über das Wesen, die Aufgabe und die Möglichkeit der Philo-
sophie überhaupt zu wirken. Das wichtigste, das Wesen der Philosophie
selbst angehende Problem, vor dem unsere deutsche Philosophie heute steht,
laßt sich zusammenfassen in die Disjunktion: nur-wissenschaftlihe (positi=
vistische) Philosophie oder Philosophie in universalem Sinn mit dem Rechte
einer metaphysischen Position.
Der Verfasser betrachtet als ”die Aufgabe der ideal gedachten Philo-
sophie einheitlihe, überzeugungskräftige Problemlösung im umfassendsten
Sinnes, er stellt damit an die Philosophie die Forderung, ?nicht nur umfassende
und einheitliche theoretishe Wahrheit zu suchen, sondern auh harmonische
und universale Wahrheit im praktishen Sinne zu erstreben und beide zu
einer Weltanshauung zu vereinigen“ (p, 4).
Den Weg dazu bahnt sich der Verfasser durch eine eindringliche
Analyse des Wesens der praktishen Wahrheit, die im ersten Kapitel ab-
gehandelt wird, während die Probleme der theoretischen Wahrheit im ersten
Band des Werkes behandelt worden sind, und zum Teil im zweiten Kapitel
(Das Werden der Weltanschauung) noc einmal zur Sprache kommen, Dem-
gemäß beginnt dieser Band mit der Untersuchung der elementaren Tatsachen
ı Mitgeteilt von Dr. E. Simonson.
Büder 243
und Beziehungen des praktischen Erlebens überhaupt, zunächst durh die
Analyse der »gewöhnlichen Handlung als psychischen Vorgangs«, ein Kapitel,
das wegen der Herausarbeitung der entscheidenden psychischen Momente
des Handelns sehr verdienstvoll zu nennen ist. Man vergleihe die Aus-
führungen über die Zielphantasie und ihre drei Begleitgefühle, die zwei posi=-
tiven und das eine negative (p. 14f.) und die Resultatgefühle (p. 38f.), so-
wie die allgemeine Feststellung, daß die negativen Gefühle stets mit posi-
tiven gepaart sind, — »Die praktische Seite der ganzen Sukzession bedeutet
ein Oszillieren der Gefühlslage zwischen negativen und positiven Nuancen.
Dem negativen ÄAusgangsgefühl entspricht ein positives, zunächst vorgestelltes,
aber auch bereits als Vorgefühl vorweggenommenes Zielgefühl. Den nega-
tiven Wunschgefühlen der Absicht entsprechen die positiven Vorgefühle der
erfüllten Wünsche, dem Spannungsgefühl entspriht das Gefühl der Ent-
spannung. Je ein Paar soldher Gefühle gehört zusammen, als Kontraste oder
Pole derselben Art des Fühlens. Es offenbart sich in ihnen je eine Art des
Fühlens oder Werdens überhaupt, sie sei mehr individuell oder mehr Ge-
meingut vieler Individuen, Das Treibende liegt im Kontrast oder vielmehr
im Zusammensein positiv=negativer Gefühlspaare, — in einer bestimmten
Art des (negativ-positiven) Fühlens überhaupt.«
Unser besonderes Interesse erregen die Ausführungen des Verfassers
über die Fehlhandlungen, als welche er solhe Erlebnissukzessionen be-
zeichnet, denen »charakteristishe Züge augenscheinlich fehlen«, Handlungen,
die nicht das erwartete und gewünschte Resultat bringen. Ob Handlungen
mit Alteration der Resultatgefühle (wegen eingetretener Änderung der
Wertungsweise der Zielphantasie) als Fehlhandlungen zu bezeichnen sind,
darüber ließe sich streiten — vielleiht wäre es ein Streit um Worte. Hin-
gegen hat sih Häberlin den Dank aller — von Seite der Philosophen ja
nicht gerade verwöhnten — Anhänger der psycdanalytishen Methode ver-
dient, wenn er die andere, eigentlih so zu nennende Art der Fehlhand-
lungen unserem Verfahren gemäß auf eine nicht überwundene Zwiespältig-
keit der Absicht zurückführt, wobei die eine der beiden Absichten über-
haupt niht bewußt oder nicht voll bewußt ist. Dies führt den Verfasser
zu einer Auseinandersetzung mit dem Begriff des Unbewußten,
Er unterscheidet zwischen solchen Erlebnissen, die von Anfang an
nicht im Bewußtsein sind, und solchen, die einmal bewußt waren, aber zu
einem gewissen Zeitpunkt entweder vergessen, oder verdrängt wurden,
ein Unterschied indes, den der Verfasser, ohne sich darüber näher zu äußern,
nicht als konstitutiv angesehen haben möchte. Der psychologisch zunächst nicht
ganz klare Begriff des von Änfang an Unbewußten, wird (p. 57f.) durch
ein Beispiel erläutert. Das Charakteristische dieser Art des Unbewußten er-
blikt der Verfasser darin, daß der betreffende Inhalt von Anfang mit an-
deren bewußten Erlebnissen nicht in Beziehung gesetzt wurde: »die augen-
bliklihe Reproduktion ist das Kennzeichen des bewußten Erlebens« (p. 58f.),
»dodh sind diese Grenzen fließend« (p. 60), man könne sagen, »alles Er-
leben ist ursprünglih unbewußt,; aber ein Teil wird gleih, ein anderer
später reproduziert.« » Warum nun einiges Erleben gleich, anderes erst später
bewußt wird, das wäre eine Frage für sic.«
Es liegt wohl in der Natur des Zusammenhangs, in dem der Ver-
fasser die in Rede stehenden Probleme behandelt, wenn er dabei nicht (Ge-
legenheit findet, sich theoretish des näheren mit dem umstrittenen Begriff
des Unbewußten auseinanderzusetzen, da wir doc bei ihm erwarten dürften,
darüber etwas anderes als den sprachlich orientierten Einwand zu vernehmen,
16*
244 Büder
das Unbewußte als Psydisches im Sinne der Psychoanalyse sei ein unmög-
liher Begriff, da alles Psydhishe nur als Bewußtes vorhanden sein könne,
Das Vorhandensein eines Unbewußten überhaupt wird vom Verfasser wie
von der Psychoanalyse mit wünschenswertester Sicherheit erschlossen, die
Frage aber, ob das Unbewußte als ein Wort für neurozerebrale Vorgänge
und Dispositionen oder als etwas Psychisches mit fehlender Selbstspiegelung
betrachtet werden müsse, wird niht zur Diskussion gestellt. Der Ver-
fasser stellt sich vielmehr, auh hierin dem Verfahren der meisten Psych-
analytiker folgend, auf den Standpunkt des unbewußt Psychischen, wenn
er den Gedanken als möglich hinstellt, es könnten nicht nur die Bewegungen
„willkürliher« Muskeln, sondern auch andersartige Veränderungen im Or-
ganismus, Kontraktion »unwillkürliher« Muskeln psychische Hintergründe
und Prämissen haben. Dieser Gedanke ist, wie man weiß, sehr alt. In un-
serem Zusammenhang berührt er unmittelbar das zweite Problem im Be-
griff des Unbewußten;, ob dieses nämlich entweder ein bloßes Refugium
unbrauchbaren seelischen Hausrates oder die Residenz derjenigen Gewalten
ist, die die apollinishe Außenseite des Seelenlebens aus einer unnahbaren
Ferne regieren. — Vielleiht dürfen wir uns der Hoffnung hingeben, daß
der Verfasser an anderer Stelle seine glänzenden, in scharfen Disjunktionen
arbeitenden logischen Fähigkeiten in den Dienst der Bearbeitung dieses Be-
griffes stellt, den die Psychoanalyse, wie jede ehrlih zu Werke gehende
Wissenschaft, auf Grund hingebungsvoller Einzelforshung als notwendig auf-
gestellt hat, ohne bis jetzt Zeit gefunden zu haben, ihn eindeutig zu de-
finieren.
Nad der Fehlhandlung, deren anscheinende Unvollständigkeit sich
bei Ansetzung unbewußter Absichten völlig verflüchtigt, wird in ähnlich
orientierter Weise die Ersatzhandlung beschrieben, die bei völliger
Hemmung (als Vorsatz oder schöne Phantasie) in die »innere Handlung
Br mit ihrer versuchten Umgestaltung sekundärer Größen« (p. 7/
is 64).
Häberlin unterscheidet weiter an jedem praktischen Erleben die vier
Momente der Intensität des den theoretishen Inhalt des Erlebens be-
gleitenden Gefühls; der Modalität des Gefühls als Bezogenseins desselben
auf ein bestimmtes Objekt, der Polarität mit den Unterschieden positiver
oder negativer Wertung (ein Gut oder ein Übel), schließlih der Qualität
als desjenigen Moments, in dem zum Ausdruk kommt, unter welchem
»Gesichtspunktes das Wertobjekt gewertet werde. — »Wir schätzen —
oder lehnen ab« — ein »Ding« entweder um seinetwillen oder um
unsertwillen. (p. 109),
Die Ableitung der Momente der Intensität, Qualität und Polarität
aus den vom Verfasser angesetzten Grundtendenzen, der Identifikations-
eg und der Ichtendenz gehört zu den gelungensten Teilen des
uches.
Wir alle streben in jedem Moment unseres bewußten und unbe-
wußten Erlebens danah, mit Anderem Eins zu sein, darin aufzugehen, uns
in Anderes zu versenken, oder in Änderem zu sein. Dies Andere kann
jedes beliebige Element und jeder Komplex theoretischen Erlebens sein, also
jedes möglihe Wertobjekt.« Diese »Veranderung bedeutet, wenn sie
vollzogen ist, ein Miterleben, oder besser Zusammenleben, Zusammen-
existieren mit einem Änderen« .... diese »Tendenz braucht Persönlich-
keiten«,; sie »ist das harmonische Miterleben mit dem Persönlihen, das in
den Objekten gesehen wird« .. .. Mit fremdem Erleben streben wir uns
Bücer 245
nach unserer »seelischen« Seite zu identifizieren, mit dem »leiblihen« Aus-
druck fremder Persönlihkeit streben wir nach unserer »leiblichen« Seite Eins
zu sein,
»Die Sehnsucht nah Einheit setzt das Erleben der Andersheit, den
Gegensatz, das Getrenntsein voraus. Daß dieser Gegensatz existiert, schreiben
wir der zweiten Grundtendenz zu. Wir alle gehen darauf aus, Individuen
zu sein... .„ Selbstdarstellen, Selbstsein, ist die allgemeine Idee dieser
zweiten Tendenz« (Ichtendenz), »Sie brauht Anderes, braucht einen
Gegensatz, eine Folie. Sie macht, daß etwas im Erleben dem Ich gegen-
übergesetzt wird ... . nicht als andere Wesen, sondern einfach als Anderes,
als Gegenstände,« Dieser Gegenstände bedarf das Individuum, um sich in
seiner »Ichheit« zu erleben, wie es vom Identifikationstrieb aus der Persön-
lichkeit bedurfte, um sich identifizieren zu können, ,.. ?Die Ichtendenz strebt
weiter danach, gerade am Anderen selbst zu sein . . . durch Beherrschung,
d. h. durh Einbeziehung in die eigene Existenz.«
Aus dem Zusammensein dieser beiden Tendenzen entsteht ein »Wett=
streit, der das ganze praktische Erleben jedes Individuums ausmadht«.
»Es handelt sih ... . in jedem Moment und jedem Objekt gegen-
über um einen Kampf ... . beider Tendenzen. So gelangen wir zum Be-
griff der Intensität und des Intensitätsverhältnisses der Urabsichten.« — Der
SL: der einen oder anderen Tendenz entscheidet über die Qualität des
ertes.
»Er wird ein Identifikationswert, wenn die Identifikationstendenz
im ganzen überwiegt, im anderen Falle ein Ichwert«, (Persönlihkeitswert
oder Sachwert), »ohne daß jedoch jemals ein absoluter Sieg festzustellen
wäre« (p. 132). — Die Ichtendenz wird im Falle des Unterliegens auf
die besondere Form des Identifikationswertes in solcher Weise einwirken,
daß sie das Sonderdasein des Individuums gegenüber dem anerkannten Per-
sönlichen erst recht hervorzuheben versuchen wird, während die Identifikations-
tendenz über die bloße Konstatierung hinaus gänzlih in die fremde Per-
- sönlichkeit eingehen will. Der Ausgang dieses erneuten Kampfes entscheidet
über den polaren Charakter des Wertes: »Das Objekt wird positiv ge-
wertet, sofern es der Identifikationstendenz gelingt, der Ichtendenz das Auf-
geben des Sonderdaseins abzuringens, im Gegenfall negativ.
»Mit dem Gelingen oder Nicdtgelingen der Durchsetzung der einzelnen
Tendenz sind die Urwerte gegeben, bei gelungener Identifikation in Gestalt
eines Gefühls der Seligkeit« .... im Falle der Unmöglichkeit der Identifi-
kation in Form eines Gefühls, das »eine Form der Angst darstellt«.
»Gelingt einem Objekt gegenüber die restlose Einbeziehung ins Ich ...
so begleitet diese gelungene Aktion ein Triumphgefühl . . .«, im gegen-
teiligen Fall der Ohnmadıt, Shwäche, der anderen Form der Angst. »Ängst
im allgemeinen Sinne wäre dann das Gefühl der Hemmung einer
Urtendenz überhaupt, das Gefühl des (partiellen) Nichtseins
und zugleich etwas wie ein Vorgefühl des Todess (p. 117).
Aus diesen Urgefühlen entstehen die (primären) Objektswerte, indem
wir den einzelnen Objekten das »Verdienst« am Gelingen der Identifikations=
oder Ichtendenz »zuschieben« und ihnen einen positiven (oder negativen)
Identifikations- oder Ichwert beilegen. Um seinetwillen gefällt es, wenn es
der Identifikationstendenz entspricht, (wir lieben es, finden es schön und gut),
um unsertwillen, wenn es der Ichtendenz entspricht (brauchbar, nützlich). —
Qualität, polarer Charakter und Intensität jedes primären Wertes sind vari-
able Größen und hängen ab von der Variabilität der Grundtendenzen selbst.
246 Büder
Die Einsiht in diese Verhältnisse gibt uns aber auch unmittelbar den
Schlüssel zum Verständnis der Erscheinungen der Ambivalenz in die
Hand. Sie ist dann vorhanden, wenn die Entscheidung über den Sieg der
einen oder anderen Grundtendenz »in einer oder der anderen Phase lange
niht oder überhaupt einem Objekt gegenüber nicht auftritt« (p. 136).
Wir müssen es uns versagen, an dieser Stelle die weitere gedank-
lihe Entwicklung dieses Werkes durch so reihlihe Anführungen zu schildern
und glaubten dies im eben geschehenen Falle nur deshalb tun zu müssen,
weil wir zeigen wollten, wie der von der Psychanalyse empirish gewonnene
Begriff der Ambivalenz durch die Deduktionen Häberlins eine wohlfundierte
Begründung erhält, die, besonders was die Ansetzung der beiden Grund-
anlangt, der ernstesten Beahtung der Psychanalytiker sicher
sein darf.
Nur noch einige Hinweise auf den Weg, auf dem der Verfasser das
ethishe Normproblem zu lösen versuht. — Der vorhandenen Variabilität
der primären Werte und der darauf begründeten Inkonstanz des Handelns
tritt gegenüber ein Ideal des praktischen Verhaltens; dieses »schließt ein
Ideal aller drei Wertcharaktere mit Bezug auf jedes Objekt und damit aud
ein Ideal der Wertverhältnisse aller Objekte untereinander ein, dazu ein
Ideal der Überzeugung von den theoretischen Beziehungen zwischen den
Objekten« (p. 158), vollendet in einem Wertsystem (p. 164), aus dem
die Normen für das eigene Verhalten abgeleitet werden. Die Überwindung
der Schwierigkeit, über die das nach Normen verlangende Individuum nicht
hinaus kann, nämlich, wie denselben die Autorität und Absolutheit verbürgt
werde, glaubt der Verfasser in der Identifikation mit einem anderen prakti-
shen Ich zu erkennen, einer Einzelpersönlihkeit oder einer persönlichen
Gemeinschaft (p. 191 f.), die als ein dem eigenen Ich Überlegenes, als eine
Persönlichkeit höherer Ordnung imponiert (p. 194).
»Diese Identifikation mit einem Überlegenen, dieses Einswerden mit
einem Imponierenden, einer ‚Autorität‘ ist das große Geheimnis aller
Normbildung und daher aud aller wirklichen Problemlösung. Es ist einfach
das Geheimnis aller Erziehungsmöglichkeit.« , .. . »Man kann allgemein so
viel sagen, daß in allen diesen Dingen der frühen Kindheit und damit der
Familie oder dem, was ihre Stelle vertritt, die wichtigste Rolle zufällt«
(p. 195): — Häberlin unterscheidet weiter zwischen allogener und autogener
Normbildung und meint mit letzterem Ausdruck die »Findung des eigenen
Ideals ohne Führer, selbständig, autogen«; macht aber dazu die psydo-
logish höchst wichtige Bemerkung: »Man geht wohl nicht fehl, wenn man
alle autogene oder originale Normbildung in kindlihen Erlebensweisen be=
gründet sieht, die nachträglich unbewußt die Normbildung leiten.« — Der
Verfasser berührt sich mit dieser Einsicht wieder direkt mit den Ergebnissen
der Psychanalyse, die ja im Hintergrund nicht nur der persönlichen (fürst-
lihen) Autorität, sondern auh der transzendenten Idealbilder die Vater-
imago als wirkendes Motiv aufgedeckt hat.
Angesichts der von uns als Psychanalytikern mit Genugtuung aner-
kannten Bearbeitung und Einordnung wichtiger Begriffe und Erkenntnisse
unserer Wissenschaft wird es nicht schwer ins Gewict fallen, wenn ich vom
Standpunkt der Philosophie mir einige Bemerkungen zu Häberlins Lösung
des Normproblems erlaube, Der Verfasser scheint mir nämlich in seiner
Zurükführung der Normen auf eine wie immer gedachte Autorität zu sehr
pädagogisch orientiert. Es liegt darin eine Hinausschiebung des eigentlichen
ethischen Problems, die auch sozusagen von ihm eingestanden wird, wenn
om.
mn
Bücer 247
m m m 1
.—o
er den Begriff eines absoluten persönlihen Normzentrums einführt, mit dem
ich offengestanden nichts anzufangen weiß,
Wir erfahren nichts über die ontologishe Natur dieser Normen und
gerade darin liegt der philosophishe Kern des ethischen Problems. Wir
möchten uns wehren gegen die Annahme, als sei es überhaupt möglich,
Einzelobjekte oder Objektgruppen ihrem Werte nach zu bestimmen und
diese Werte zu einem ethishen Gesamtaspekt zusammenzusetzen, ohne
eine vorausgehende allgemeinste Überzeugung von einem Sinne alles
Geschehens überhaupt, der erst die Werte bestimmt. In dieser von uns
geforderten Grundüberzeugung liegt aber die eigentlih schöpferishe philo=
sophische Intuition, der Häberlin an anderen Stellen seines Buches so warme
Worte widmet.
Sind wir in diesem einen Punkte, an dem wir — vielleicht über-
flüssigerweise — unsere eigene Meinung angedeutet haben, mit dem Ver-
fasser verschiedener Ansicht, so muß ihm jeder von den yıyolog Yılooopodvres
ohne Vorbehalt beistimmen, wenn er die höchste Aufgabe der Philosophie
in der Entwerfung eines Weltplans erblickt, »der zugleich umfassenden Vor-
satz des gesamten eigenen Handelns wie Vorstellung desjenigen W eltlaufs
bedeutet, welcher zur Realisierung der Idealwelt führen mußte«, und er-
bliken hierin das niht hoch genug anzuschlagende Verdienst, den echten
Begriff der Philosophie, wie er zuletzt in den Systemen des deutschen
Idealismus seinen mäctigsten Ausdruck gefunden hat, auf Grund ein-
dringendster Analyse der theoretishen und praktischen Probleme heraus-
gearbeitet und die Möglichkeit seiner Verwirklihung dargetan zu haben.
Dafür sei auf das Buch selbst verwiesen, von dem wir aus den angeführten
Gründen glauben, daß sie gerade zur rechten Zeit ans Licht getreten ist.
Dr. Lorenz.
ADOLF STÖHR, Psychologie der Aussage. (»Das Redht.« Samm-
fung von Abhandlungen für Juristen und Laien. IX. u. X. Bd.) Berlin.
Puttkammer & Mühlbredt,
Der Wert der kleinen Schrift, die den bekannten Professor der Philo-
sophie an der Universität Wien zum Verfasser hat, liegt nicht nur darin,
daß sie zuerst einen orientierenden Überblik über die Aussagepsychologie
bietet, sondern auh in ihrer klaren und besonnenen Kritik und den viel-
fahen Anregungen, die sie spendet.
Ein kurzer, historischer Abschnitt über die Entwicklung der Aussage-
psychologie dient zur Einführung. Es folgt eine komprimierte Darstellung
ihres gegenwärtigen Standes, in welcher den Forshungen von Freud,
Jung und Riklin ein großer Raum reserviert ist. Professor Stöhr zeigt
das Neue und Fructbare, das die Psychoanalyse gerade für dieses Gebiet
geliefert hat. Er scheidet in seiner Kritik den allgemeinen Gesichtspunkt
Freuds, dem er die größte Bedeutung zuerkennt, von den besonderen Aus-
führungen der Psychoanalyse, Sein erster Binwand erwächst aus seiner De-
finition des Charakters. Charakter ist das Intensitätenverhältnis der Grund-
triebe. Ist bei einem Menschen der Geschlectstrieb am stärksten entwickelt,
so wird man vom Charakter des Sexualisten reden müssen. In ähnlicher
Weise müsse man auch vom Charakter des Egoisten, des Altruisten usw.,
schließlih auh von einem harmonischen Charakter, in dem alle Grund-
triebe sich gleihmäßig entwickelt haben, ausgehen. Eine Besonderheit der
Freudshen Theorie bestehe nun darin, daß die Menschheit den Charakter
des Sexualisten haben solle. Man kann die Definition des Charakters, die
der Autor aufstellt, als eine sehr glücklihe ansehen, ohne darum mit den
248 E Bücer
0. nn nn nn
mn ng 1 nn
ferneren Ausführungen einverstanden zu sein. Denn die Charakterbildung
ist shon ein sehr später, komplizierter Begriff, den eine psychologische
Forschungsmethode an den Schluß ihrer Untersuchungen stellen muß. Die
überragende Bedeutung, die die Psychoanalyse der infantilen Sexualität und
ihrer Weiterentwicklung zuscreibt, ist kein Resultat abstrakter Gedanken-
arbeit, sondern streng empirischer Beobachtung. Der Weg zur Aufstellung
typisher Charaktere kann nur über eine Geschichte der Libido, welche der
Verteilung, Umformung und Verdrängung des kindlichen Trieblebens folgt,
führen. Die Psychoanalyse hat auf diesem Gebiet shon manche wertvolle
Ergebnisse zutage gefördert, gleichsam einige Stufen zu dieser letzten Höhe
psyhologisher Forshung ausgehauen ')..
Ein anderer Einwand Stöhrs richtet sih gegen die Annahme einer
allgemeinen Tendenz peinlicher Vorstellungen, verdrängt zu werden. Aud
hier müßten verschiedene Typen untershieden werden. Die Lebenskräftigen
scheinen die Gabe zu haben, unangenehme Eindrücke zu vergessen und zu
verdrängen, während sich in anderen, vermutlich lebensuntüchtigeren Naturen
gerade das Peinlihe einwühle., Diese Unterscheidung besticht wohl auf den
ersten Blik, doc sie erscheint in einem anderen Lichte, wenn man gelungene
und mißlungene Verdrängung trennt. Sicher ist, daß alle Kulturmenschen
gewisse lust- und unlustbetonte Erinnerungen ihrer Kinderzeit verdrängt
haben. Ob diese Verdrängung geglückt ist oder nicht, ob diese Menschen
psychisch gesund bleiben oder Neurotiker werden, das hängt wohl in letzter
Linie von der psychophysischen Konstitution ab.
Diese zwei prinzipiellen Einwände verleiten den Autor indessen nicht,
die große Bedeutung der Psychoanalyse in der Aussagepsychologie zu unter-
schätzen. Er widmet einen Abschnitt der »unbewußten Aussages und be-
tont, welchen großen Fortschritt die psychoanalytishe Forschung in der Ent-
wicklung dieses wichtigen Zweiges namentlich durch die Assoziationsmethoden
Freuds und Jungs gebraht habe. Schon früher waren durh Wert-
heimer und Klein Assoziationsversuche zu forensishen Zwecken gemacht
worden; auch über die Methode W,. Sterns enthält das Buch interessante
Ausführungen.
Bei diesen Versuchen, welche bei Personen angewendet wurden, die
etwas ableugneten, bei Zeugen, die z. B. etwas nicht gehört zu haben be-
haupteten, wechselten harmlose und sogenannte »komplexe« Reizworte ab.
Vorher war shon von Kräpelin, Bleuler, Sommer u. A, die Ässoziations-
methode zur Prüfung des Vorstellungssystems verwendet worden.
Die Neuheit des Jungschen Verfahrens aber besteht darin, daß es
jedes beliebige Wort zur Aufnahme des Versuches für geeignet hält, (wegen
der durchgängigen Determiniertheit des Psyhischen) und daß es das Haupt-
gewicht auf die Wirkung der unbewußten Seelenvorgänge legt. Die Ein-
wendungen, die Max Lederer den üblichen Assoziationsmethoden macht,
scheinen berechtigt: es ist zweifelsohne rihtig, daß schon die Forderung,
nur in einem Worte zu antworten, eine Formung des Reaktionsablaufes
bedeutet, die zwangsmäßiges Reagieren ausschließt. Die Versuchsperson kann
auch Impulse zu Gesten, zu Gefühlsausbrüchen verspüren, es können ihr
auch Melodien, Figuren usw. einfallen. Der Psychoanalytiker, dem der
seelische Mechanismus des Unbewußten bekannt ist, wird in der Lage sein,
auch diese Reaktionen zu verstehen. Besonders interessant erscheint das letzte
Kapitel, das der Deutung, Lenkung und Reizung der Aussage gewidmet
1) Charakter und Analerotik in Freuds »Kleineren Schriften zur Neurosen-=
lehres, II. Bd,
Bücher 249
ist. Vieles von dem, was hier Stöhr über die Psychologie des Verhörenden
sagt, trifft auf den Psycdoanalytiker zu.
Einige Bedenken und Anregungen mögen hier nod ihren Platz finden.
Die freisteigende Erinnerung im Traume ist nah den Traumforshungen
Freuds kaum mehr annehmbar. In dem sehr interessanten Abschnitt über
den sprachlihen Ausdruck der Aussage vermißt man eine gerade durd die
Psychoanalyse geforderte Hervorhebung der Determiniertheit der Wortwahl
und Wortfügung. Vielleicht sind den Begriffen der Identifikation und Intro=
jektion neue entscheidende Aufklärungen über die Rolle der Suggestion in
der Aussage abzugewinnen. Es wäre auch zu untersuchen, wie weit die
Autosuggestion im Dienste eigener Komplexe steht.
Rückblickend kommt Professor Stöhr zu dem Schlusse, daß die An-
wendbarkeit der Assoziationsmethode in der Gerichtspraxis noh in der
Ferne liege, während »die Deutung der unbewußten Aussage viele Erfolge
versprichts.
Das durch Inhalt und Form gleih wertvolle Buh wird jeden, der
sih für die wichtigen Probleme der Aussage interessiert, fesseln. Wir be-
grüßen es nicht nur als den bis jetzt wertvollsten, kritischen Überblick dieses
Gebietes, sondern auch als Vorläufer eines fange erwarteten, vollständigen
Psychologielehrbuches, das zu geben Professor Stöhr wie wenige berufen ist.
Dr. Theodor Reik.
ZUR PSYCHOLOGIE DES PRIESTERS,.
Beethoven sagte, nahdem er die »Eleonora« von Paer gehört hatte:
»Diese Oper gefällt mir, ich hätte Lust, sie in Musik zu setzen.« Ähnlich
ergeht es einem nach der Lektüre des großangelegten Werkes, in dem August
Horneffer das Problem des Priesters in seiner ganzen Tiefe zu umfassen
sucht!. Der Hauptfehler des psychologischen Teiles (die sozialen und refor-
matorischen Ausführungen kommen für uns erst in zweiter Linie in Betracht)
scheint mir der zu sein, daß der Autor hier einen deskriptiven Standpunkt
einnimmt, wo ein psychogenetischer geboten wäre, Zwar hat er, was das völker-
psychologische Material betrifft, fast zu reichlih das Werden des Priester-
charakters belegt, darüber aber die andere Seite des Problems, die individual-
psychologische, vernachlässigt. Hier aber wären die Fragen nach den seelischen
Bedingungen der Berufswahl, wie sie sich dem Psychologen aus der Ent-
wicklungsgeshichte der Libido und der wechselnden Verhältnisse der Trieb-
komponenten ergeben, am Platz. Der Wert der beiden starken Bände, die
sicherlih eine Arbeit mehrerer Jahre voraussetzen, ist dadurch leider ver-
ringert; doch bleibt er immerhin ein sehr großer und kein Psychologe, der
sih mit den vielen Religionsfragen beschäftigt, wird es unterlassen, sie mit
großem Interesse zu lesen. Besonders lehrreich erscheinen die Ausführungen
Horneffers über die primitiven Glaubensformen, über die Tabuierung und
andere Arten religiöser Gesetzgebung. Als feiner Beobachter kommt er oft
psydhoanalytishen Gedankengängen nahe, Ein hübsches Beispiel für die
»Allmacht der Gedankens, das er erzählt, ist folgendes; wenn ein Skythen-
könig erkrankte, ließ er die drei bedeutendsten Wahrsager kommen. »In der
Regel lautet ihr Spruch dahin, daß ein Stammesgenosse, den sie namhaft
machen, einen Meineid auf die königlichen Hausgötter geschworen habe,s
Die Therapie ist einfach und radikal: der Schuldige wird ergriffen und geköpft,
In dem Kapitel »Der Priester als Kranker« prüft Horneffer alle
i »Der Priester. Seine Vergangenheit und Zukunft.« Verlag Eugen Diederichs.
250 Bücher
nn nn nn nn
jene pathologishen Züge des Priestertums, die namentlih in primitiveren
Kulturstufen hervortreten, Seine Betrahtungsweise ist in ihrer Verbindung
von Psychologie und Biologie sehr fruchtbar. Er zeigt, daß Krankheit nicht
nur Kräfte lahmlegt, sondern auch entbindet und erklärt so den »Willen
zur Krankheit«. Er weist auch auf den Zusammenhang zwischen dem Ver-
siegen der Zeugungskraft und gewissen auffallenden, religiösen Wandlungen
im Alter hin, die sich bei Männern wie Swedenborg, Tolstoi, Heine,
Brentano, Huymans usw, zeigen. Wie mir scheint, haben an dieser
Wandlung Veränderungen innerhalb des von der Psychoanalyse aufgedeckten
Vaterkomplexes einen großen Änteil, Der »religiöse Anfall«e — wie ihn
Horneffer beschreibt — ist wohl psydhologish zu einfach erklärt. Der
Priester werde von ihm ergriffen, wenn er ein bestimmtes Kleid anlege, eine
gewisse Handlung vornehme, etwas berühre usw. »Die Wirkung dieser Um-
stände ist suggestiver Art, ihr Zusammenhang ist zufällig und beruht auf
religiöser Konvention. »Ein Psychoanalytiker, der die strenge Gesetzmäßigkeit
des seelishen Geschehens kennt, wird nicht leiht solche Zufälligkeiten zu-
geben können, sondern nach assoziativen und zwanghaften Zusammenhängen
suchen. Sehr hübsch klärt der Autor die Beziehungen zwischen religiösem
Tanz und Sexualität auf. Er erzählt, wie die Ängst, die eine der treuesten
Begleiterinnen des Priesters war, ihn zu ablenkenden und entladenden Zere-
monien, zu Gebeten und Waschungen geführt habe. Die Zauber- und Kult-
handlungen »sind in den meisten Fällen Scheinhandlungen, sie bringen eine
Phantasiebefriedigung, eine scheinbare Lösung von Stauungen hervor. Sie
lenken Trieberregungen ab und erfüllen unerfüllbare Wünsche«. Mit gutem
Recht zieht Horneffer manche Vergleihe zwischen den religiösen Ge-
bräuhen der Wilden und den dristlihen Taufzeremonien. So wascen z. B.
die Krieger in Südafrika nah der Schlaht sih und ihre Waffen, damit, wie
sie sagen, die Schatten der Erschlagenen sie nicht mehr verfolgen.
Interessant, wenn auch oft zum Widersprud reizend, sind Horneffers
Ausführungen über Totemismus, über die Stellung der Wilden zum Tod
und zu den Träumen. Aud ihm fällt die ambivalente Einstellung der pri-
mitiven Völker zu teuren Toten auf. »Man schlägt sih blutig, wälzt sich
im Kote, streut Erde auf sein Haupt, um den Toten mitleidig zu stimmen
und ihn ja nicht auf den Gedanken kommen zu lassen, daß man sich über
sein Äbleben freue. Man zieht Trauerkleider, meistens schwarzer oder weißer
Farbe an, vielleiht um sich der verfolgenden Seele unkenntlich zu machen.
Ferner übt man kräftigen Gegenzauber gegen den gefährlihen Zauber der
toten Seele aus, hauptsählih dadurh, daß man sich stärker und lebens-
voller macht: die Waffe gegen den Tod ist das Leben. Daher hält man
einen üppigen Leichenschmaus, nimmt belebende Rauscgifte zu sich, führt
Tänze auf.«
Aud über die Magie und den Totemismus, die durh Freuds psy-
cologishe Erklärungen viel von ihrer Dunkelheit verloren haben, weiß
Horneffer mandes Interessante mitzuteilen. Es scheint, als wären die An-
fänge der Kunst enger mit der Magie verbunden, als man bisher annahm.
»Wenn die Männer vor der Jagd einen Tanz aufführen, sih in zwei Gruppen
teilen, deren eine den Jäger, die andere die verfolgten Tiere darstellt und
nun eine scheinbare Jagd möglichst naturgetreu veranstalten, so wird dadurch
der Erfolg bei der wirklichen Jagd gewährleistet. Die symbolishe Anwesen-
heit der Tiere zwingt sie in Wirklichkeit herbei, die symbolishe Erlegung
erlegt sie in Wirklichkeit.« Er erklärt, auch hier in Übereinstimmung mit
psychoanalytischen Resultaten, daß der Ausübung erotisher Handlungen
Büder 251
magisher Wert zukomme. Nach Meinung der primitiven Menschheit be-
steht nämlich zwischen der Fruchtbarkeit der Natur und der tierish-mensch-
lihen Zeugung ein sehr enger Zusammenhang. Die Aufführung der lasziven
Tänze wirkt unmittelbar stärkend und befruchtend auf die in der Erde und
in den Pflanzen und Bäumen vorhandenen Schaffenskräfte. Wenn die dionysi=
schen Bacchhanten einherrasen, vollführen sie einen wichtigen und heilbringenden
Frucdtbarkeitszauber. Der weiblihe Shoß wird dem nach Befruchtung ver-
langenden Acer gleichgesetzt; der Pflug oder Grabstok ist das Zeugungs-
glied;, mit seiner Hilfe wird der Same in die Erde gesenkt. In manchen
Mythologien hören wir von dem Vater Himmel, der in liebender Um-
armung auf der Mutter Erde liegt, wenn die Zeugung vollbracht ist, weicht
er hinweg in die Höhe und damit beginnt der Tag, der Frühling, das Leben
auf Erden. Der Gedanke der Weltshöpfung verbindet sih hier mit der
Erfahrung.« Horneffer zählt noch andere Mythenmotive auf, die den
sexuellen Sinn des Mythos verraten und stützt sich des öfteren auf Freuds
und Ranks Forschungsergebnisse. Er madt ferner darauf aufmerksam, daß
die Christen der Frühzeit, um ihrer religiösen Stimmung Ausdruck zu ver-
leihen, mit Vorliebe Vergleihe aus dem sexuellen Gebiet wählten. Die
Änderung, die mit dem Christentum eintrat, besteht im wesentlichen darin,
daß man jetzt durch die Kulthandlungen nicht irdische, sondern himmlische
Güter, erwerben wollte. Die vorschreitende Verdrängung und die Ver-
änderungen, die sie im Seelenleben der Menschen hervorrief, entgehen auch
Horneffer nicht. Er zeigt, wie diejenigen Bräuche, die das Triebleben und
die zeugende Natur bejahten, als Teufelswerk erschienen, Ziemlich willkürlich
scheint mir die Unterscheidung der Gemeindereligionen in männlihe und
weiblihe Formen. In der ‚ersteren entlädt sih die Erregung nach außen, in
der zweiten nach innen. Es handelt sich hier um eine Verschiedenheit des
seelischen Mechanismus, deren späteren Fall wir Introversion nennen. Den
bisher nicht genug beacdteten Sadismus des Priestertums hebt Horneffer
zu Redtt hervor. »Die Priester waren die reinen Metzger; sie wateten im
Blut; die Luft, die sie atmeten, war geschwängert mit Blutgeruh. Die
heiligsten und wichtigsten Handlungen ihrer Berufstätigkeit waren Tötungen.
Und die Tempel und Opferplätze hallten wider vom Gebrüll und Röcdeln
der sterbenden Tiere.« Horneffer erzählt uns von drei privatpriesterlihen
Typen, die in primitiver Zeit als heilkundig galten: der Schmied, der Henker
und die alte Frau. Richtig errät Horneffer, daß der Schmied diesen ärzt-
lihen Ruf der dämonischen Kraft seiner Werkzeuge und der Waffen, die er
schmiedet, verdankt. »Lanzen und Pfeile, die der Schmied mit so eisernen Spitzen
versieht, haben doppelte Eigenschaft: Wunden zu schlagen und zu heilen.
Das klingt noch in der christlihen Sage von der heiligen Lanze nad, bei
deren Berührung sich eine unheilbare Wunde schließt.« Ähnlich wie beim
Schmied verhält es sich beim Henker und bei der alten Frau, Das Medizin-
weib ist Hebamme und hat als solhe mit den Frauen zu tun, die durch
die Schwangerschaft tabu sind. Alle diese Ausnahmsstellungen werden durch
die »Ambivalenz der Gefühlsregungen« vermittelt.
Den hervorragendsten Platz aber in der ärztlihen Reihe nahm der
Priester ein. Ihm oblag es, den Krankheitserreger zu entdecken. »Er legt
sih also im Tempel zum Schlaf nieder und hofft, durh ein Traumbild
diagnostisch und therapeutisch belehrt zu werden. Of muß auc der Kranke
selbst diesen medizinishen Tempelschlaf halten, der in den Mittelmeerländern
allgemein üblih war. In Griechenland, wo wir über den Gebrauch des
Tempelsclafes genauer unterrichtet sind, hatte sih der ursprüngliche Sinn
252 Bücder
dieser Heilweise schon etwas verschoben. Die kranken Griechen, die zum
Asklepiosheiligtum wallfahrteten, um den Tempelshlaf zu halten, wollten
niht den Krankheitserreger erfahren, sondern hofften mit dem Heilgott
Asklepios in Traumverkehr zu treten und von ihm Angaben über das ein-
zuschlagende Heilverfahren zu erhalten. Ursprünglich aber war dieser Heil-
gott vermutlich zugleih der Krankheitsdämon und der Tempelschlaf hatte
den Zweck, die Bedingungen in Erfahrung zu bringen, unter denen dieser
Dämon den Kranken freigeben würde.« Die letzte Vermutung hat alle
Wahrsceinlihkeit für sich. Diese Völker haben — wenigstens was psydi=
she Krankheiten anlangt — nicht so ungereimte Ansichten als es auf den
ersten Blik scheinen möchte. Die Krankheitserreger werden von der Psycdho-
analyse tatsählih in den Träumen der Neurotiker aufgedeckt.
Ebenso eigentümlih ist eine andere Heilmethode. Der Medizinmann
wendet sich nämlih an den Kranken (oder den in ihm wohnenden Dämon);
er bedroht ihn, beshwört im Namen aller guten Geister, Er beschimpft
und bittet in reizvoller Abwechslung den Dämon, den Kranken zu ver-
lassen. »Nocd heute ‚bespriht’ man im Volke manche Krankheiten, d. h.
man kämpft mit Worten gegen sie und bringt sie durch Beschreibung des
Heilvorganges oder durch ÄAufforderungen und Schimpfworte dahin, sich
aus dem Staube zu mahen.« Wir erkennen hier etwas der Moralpredigt
Ähnliches. Der Priester will dem Kranken durch dieses Zureden dazu ver-
helfen, die Gewalt der übermädhtigen Triebe zu unterdrücken.
Eine Veränderung dieses Heilverfahrens ist das Heraussaugen der
Krankheit. Der Priester berührt den Kranken und saugt an ihm, bis er alle
bösen Krankheitsdämonen herausgetrieben hat. Doch nicht immer ist der
Priesterarzt so geduldig. Er vertreibt auch den Dämon durch eine Radikal-
kur: er prügelt ihn aus dem Kranken, übergießt ihn mit Wasser, gibt ihm
Fußtritte usw. Es ist klar, daß diese Mißhandlungen nur den bösen Trieben
(= dem Dämon) gelten. Mit Recht bemerkt Horneffer, daß in diesen alten
Heilpraktiken, die ja alle bloß psychische Kuren waren, manches Wertvolle
enthalten war. Über die Grundlagen der Inspiration weiß der Verfasser
vieles Rihtige zu sagen. Er erkennt, daß die Quelle unseres tiefsten Wissens
das unbewußte Seelenleben ist. Wieweit sein Glaube an die Determinierung
des Psydhischen geht, läßt das folgende Urteil erkennen: »Ein visionäres
Erlebnis, ein in der Ekstase gefundenes Wort kann zwar an und für sich
Sinn und Wert haben, denn es entspringt stets einem tiefen Wünschen und
Wähnen des Kranken — zufällige und sinnlose Gebilde erzeugt unser
Geist überhaupt nicht, auch der des Irrsinnigen nicht; alles ist begründet,
alles folgt einer inneren Logik, alles hat innerhalb des Trieblebens des
Kranken seine berechtigte Stelle.« Ebenso stimmt er fast überall den Re-
sultaten der Freudschen Traumdeutung bei und weist auf die Wichtigkeit
der Herrscher- und Priesterträume hin. Gegenüber dem Unbewußten der
Traumvorgänge verhalfen die Traumdeuter und Orakelpriester der bewußten
Instanz berihtigend und ergänzend in ihre Rehte. Eine ebenso interessante
Erscheinung ist die »Allmacht des Wortes«, von der Horneffer im Zu-
sammenhang mit dem primitiven Gebet berichtet.
Das primitive Gebet war ein Machtwort, durch dessen Aussprechen
Zauberwirkungen entstehen. Es richtet sich niht an Götter, es trägt seine
Kraft in sih. »Wenn ich z. B. sage: jener Mensch wird sofort einen Schmerz
in der Brust verspüren, wird umsinken und nach kurzer Krankheit sterben,
so sind diese Erklärungen, wenn sie in die richtigen zauberkräftigen Worte
gebraht werden, ein Gebet, das sih nach Meinung der primitiven Mensch-
T—————nmnm Le
Bücher 253
heit unfehlbar verwirklicht, falls kein Gegenzauber angewendet wird.« In
dem Kapitel »Der Priester als Künstler und Denker« zieht der Autor eine
Parallele zwischen religiöser Betätigung und Spiel und vertieft sie durch
Fortführung der in einem Freudschen Aufsatz (Kleine Schriften zur Neu-
rosenlehre, II.) ausgesprohenen Gedanken.
Er weist auf den uralten Glauben hin, daß das Abbilden eines Ge-
shöpfes Macht über dasselbe verleihe, Die Kunst hat ihren Ursprung in
Zauberhandlungen. Wenn ein Krieger einen Löwen auf seinen Körper
malte, ging die Kraft des Tieres in seinen Körper über. Doch diese magische
Wirkung geht weiter. Die dargestellten Tiere werden zu Schutzgeistern:
auch die Wappentiere, die der Kulturmensh auf seinem Schild oder seinem
Siegelring anbringt, sind Abkömmlinge solcher Stammesdämonen. Auch das
Lied hat magishe Wirkung und zwingt den Erfolg herbei. Die Erlösung
von den Zwangsgedanken, die zur religiösen Bildung führen, vollzog sich
auf zwei Arten: indem man die Zwangsgebilde in Kunstwerken gestaltete
oder indem man ihnen durch die Forshung auf den Grund ging. In Über-
einstimmung mit der psycdhoanalytishen Ästhetik beschreibt Horneffer die
kathartishe Wirkung der Kunst. »Indem der Priesterkünstler dem Volke
unter dem Bilde der alten, furchtbaren Mythen — man denke z. B. an den
Mythus von Ödipus, der seinen Vater tötet und seine Mutter eheliht —
seine eigenen Sünden und Leiden vorhielt, die Seelen erschütterte, das
Tiefste, Verborgenste, Böseste aus ihnen hervorholte, die verwegensten
Wünsche und lärmendsten Schauer zu sichtbaren und greifbaren Gestalten
verdichtete, dies alles aber nicht als formlose Gefühlsmassen, als wüste
Phantasieerzeugnisse stehen ließ, sondern es in rhythmisierter und organi-
sierter Form vorbradte, befreite er die Seelen, sprach sie los und befähigte
sie zu dem schönsten Gottesdienste der Tat.« So anfechtbar der Stil dieser
Zeilen ist, so richtig und erfreulih wirkt die psychologishe Erkenntnis, zu-
mal sie unabhängig von der Psychoanalyse zustande kam: immer anregend,
wenn auch oft zum Widerspruch reizend, bleibt Horneffer auch dort, wo
er über die Beziehungen von Religion und Sexualität in unseren Tagen
spriht. Der Priester der Zukunft wird ein Prediger der Norm sein, seine
Aufgabe ist eine seelsorgerische, d. h. psychotherapeutische, Der Autor weist
auf Freud und Dubois hin, die als Ärzte diesen Heilweg, der ein
priesterliher im edelsten Sinne genannt werden muß, wiederfinden. Der Zu-
sammenhang zwischen Psychoanalyse und Beichte, die von ihm als psyci-
sche Entladungsersheinung aufgefaßt wird, wird hergestellt und Freuds
psychoanalytishes Verfahren als eine Beichte niht begangener und nicht be-
wußter Sünden bezeichnet, Ein tieferes Eindringen wird Horneffer auch
seine Bedenken wegen der gefährlihen »Übertragung« leicht nehmen lehren.
Zu den eingangs erwähnten Mängeln des Buches kommt noc seine
ungünstige Einteilung, die ihm viel an Übersichtlihkeit nimmt. Seine Ehr-
lichkeit, sein Fleiß und seine psychologische Forschungsarbeit verdienen aber
hohes Lob. Was haben wir bis jetzt besseres in dieser Art? Dieses ist das
beste. Dr. Theodor Reik.
ANSCHAUUNG UND BEGRIFF, Grundzüge eines Systems
der Begriffsbildung von Dr. Max Brod und Dr. Felix Weltsch. Verlag
Kurt Wolff, Leipzig.
»Die genaue Abgrenzung zwischen den beiden Bereichen des Spontanen
und der Reziptivität ist es, die in jeder psychologishen Arbeit aus dem
Gebiet der reinen Deskriptive unwiderstehlih in das der Theorien und
Zusammenfassungen drängt.« Dieses deskriptiv psychologishe Problem
254 | Bücher
bekommt oft eine ethische und erkenntnistheoretische Fassung; die Diskussion
zwischen den »Unmittelbaren«s und den »Logikerns wird eine lebhafte,
erhält eine affektive Betonung und weitet sih »zum unüberbrückbaren
Gegensatz zwischen ‚Leben’ und ‚Begriff’«.
Primär haben wir eine »einheitlihe ungegliederte Gesamtanshauungs«.
In weiterer Folge wird das Phänomen der verschwommenen Vor-
stellung aufgezeigt, die in dem System eine fundamentale Bedeutung
gewinnt. Die »vershwommene Vorstellung«, deren näheren Beschreibung
ein großer Teil des Buches gewidmet ist, resultiert in dieser Untersuhung
als eine Vorstellung, die mehrere Einzelvorstellungen umfaßt, mit denen
sie durh Aufmerksamsteigerung identish werden kann, dabei doc
eine einheitlihe anschauliche Vorstellung bleibt und somit die erste
Form des menschlichen Begriffes darstellt. »Wir sehen somit in den Begriffen
keineswegs, wie es sonst geschieht, einen Gegensatz zur ‚Änscaulichkeit”,
sondern eine Fortbildung, Modifizierung des Änscaulichen.«
Nebenbei wird in Fortführung der Gedankengänge die Ent-
tehsung der Symbole gestreift.
Im wissenschaftlichen Denken ist zwar die größtmöglihe Atomi-
sierung und Erstarrung der Anschauung erreicht, aber »es ist doch wieder
nur Anschauung, die in dieser veränderten Form den wissenscaftlichen
Begriff durchdringt und sih bis in seine feinsten Adern verzweigt.
Nicht als ein neu von uns Geschaffenes, als eine leere Form, oder viel=-
leiht als etwas Eingeborenes, bringen wir ihn an die Erfahrung heran,
sondern im Gegenteil, in natürliher Entwicklung erwähst auch er uns aus
der Anschauung. Denn sein ganzes Material entnimmt er der Anschauung,
die ihm so ewig fließende Lebensquelle ist.« — Zum Nachweise, daß
selbst abstraktes Denken oft in anschaulihen Symbolen ohne Worte vor
sih geht, werden auh Silberers Forschungen (die autosymbolishen
Phänomene) herangezogen.
Die Entwicklung der dargestellten Resultate aus dem Prinzip der
verschwommenen Vorstellung gibt den Autoren Anlaß zu sehr tief-
gehenden Gedankengängen, jedenfalls hat das Buch dem Probleme des
Konzeptualismus eine neue und bedeutende Lösung gegeben, deren stilistische
Fassung dem Referenten nur manchmal etwas langwierig und überladen
scheint. Gaston Rosenstein.
MAX SCHLESINGER: Gesdhidhte des Symbols. Ein Versuch.
(Berlin 1912. Verlag von Leonhard Simions Nadhf. Mk. 12.—.)
Der Verfasser bietet in seinem groß angelegten Werke eine verdienst-
volle Zusammenfassung der Symbolgeshichte. Er behandelt zunächst die
Wortgeshichte des Symbols, ferner die naturgeshictlichen Grundlagen seines
Vorkommens (Psychologie, Pathologie, Traumleben) und gibt eine aus-
führlihe Darstellung der Entwicklung des Symbolbegriffess von den alt-
griehishen Philosophen bis in unsere Tage. Der dritte Hauptteil seines
Werkes endlich bietet eine Übersiht über die Symbolersheinungen im Recht,
in der Religion, in der Kunst, der Sprache und im Menschenleben. Ein aus-
führlihes Namen- und Sachverzeicnis erleichtert die Übersicht über die Fülle
des streng gegliederten Materials.
Es ist im Rahmen eines Referates unmöglich, den reichen Inhalt des
Werkes aurzushöpfen, das den Psychoanalytiker in hohem Grade interes-
sieren muß. Einzelne Stichproben mögen zu der lehrreihen Lektüre des
Buches selbst anregen.
Der Autor hebt in der Einleitung die Bedeutung des Symbols für
Bücer 255
das Geistesleben und die Kulturgeshichte der Menschheit hervor und be=
weist durh die vornehme und großzügige Art der Behandlung des Themas,
wie sehr er von dieser Auffassung durchdrungen ist. Das Symbol ist ihm —
und darin trifft er mit der psychoanalytishen Auffassung zusammen — ein
Stük herabgesunkener Wirklihkeit: >Was seine Lebenskraft verloren hat,
schwindet dahin, langsam zwar, aber es hört doch allmählih auf, Ursache
zu sein. Oft überdauert sein Zustand der Madhtlosigkeit den Zeitraum dieser
Blüte. Wenn es sich solchergestalt in Symbol verwandelt... so bleibt es
erhalten... es stellt ein großes Stück auch jetzt noch nicht erloschener
Menscheitsgeshihte dar“ (p. 2). Der Verfasser zeigt, »daß der Inhalt des
Symbols keine objektive, dauernde Wahrheit ist, daß symbolische Darstellung
und symbolisches Begreifen nur bedingt sind, bedingt sowohl durch die Kunst
des Symbolbildners, bedingt aber auch durch die Begabung des Einzelwesens
und ganzer Völker. Was dem Fortgescritteneren nur noch als veran-
schaulichendes Bild erscheint, das hat sich der größeren Menge durch Ge-
wöhnung in Wirklichkeit verwandelt und zwischen beiden Entgegenstreben-
den flutet die große Zahl der Shwankenden, die durch die Zeitströmungen
hin und her getrieben werdens.. Auch auf die in der Kinderseele zu be-
obachtende Neigung zur Symbolisierung, »die aus Unerfahrenheit mit der
Umwelt hervorgeht“, wird als ontogenetisher Parallele hingewiesen (p. 37).
Der Sexualsymbolik weist der Verfasser, wenn auch keinen breiten
Raum, so doch eine um so größere Bedeutung an: »Die sexuelle Begierde
neigt mehr als jede andere Erregung zum Symbolismus hin, ja, das sexuelle
Gefühl des Erregsamen kristallisiert sih im Symbol, ohne aber deshalb un-
natürlih zu sein.“ — ”In Sprahen, Mythen, Legenden, in Kranken- und
Verbrehergeshidhten sind so viele Formen der sexuellen Symbolbetätigung
niedergelegt, daß es hier. zur Zusammenfassung an Platz fehlt« (p. 52). Vor
der Eingangspforte des menschlichen und alles Lebens stand als hochbedeut-
sames Symbol der männlihen Zeugungskraft das Phallusbild. Kein Symbol
dürfte eine weitere Verbreitung gefunden haben als dieses... und fast
täglich wird Neues herbeigetragen, das Ethnographie, Medizin und Volks=
kunde wissenshaftlih sichten. Jene leiteten von den dem Phallusdienste
verbundenen Sagenkreisen religiöse und astronomishe Mythen, Feste,
Mysterien, Sitten und Bräuche ab, diese zeigen an ihm dem Historiker den
Weg, den einst die Kultur gegangen ist... Alle Formen, welche das
Phallusbild von seiner natürlihen‘ Wiedergabe bis zu den kühnsten Aus-
gestaltungen im ägyptischen Obelisk und den kolossalen syrischen Tempel-
türen durchlief — alle die Arten seiner Verehrung, die von tiefsinniger
Grübelei in den heiligen Mysterien bis zu der ausgelassensten Unzucdht im
Hexensabbat und weit darüber hinausreichen, können hier nicht namhaft ge-
macht werden“ (p. 437),
Wir wissen dem erstaunlich belesenen Verfasser gewiß Dank, daß er —
wenn auch nur der Vollständigkeit zuliebe — die ”neuesten Forschungen“
der »Zürcherishen Schule*, womit er die Psychoanalyse meint, an ver-
schiedenen Stellen erwähnt, hätten es jedoch lieber gesehen, wenn er dazu
deutlih Stellung genommen hätte, anstatt sie im Anschluß an andere Auf-
lassungen einfach zu referieren. Er wäre dann vielleiht dazu gekommen,
der psychoanalytischen Bewegung, die ein erstes Liht auf die psychische
Genese des Symbols wirft, eine besondere Stellung in der Geschichte der
von ihm so intensiv geförderten ”Symbolwissenshaft* anzuweisen. Der
Verfasser ist vielleiht zu bescheiden, wenn er die Erforshung des Symbols
als seelishes Erlebnis »Berufeneren überlassen« möchte, und »die Ge=
256 Bücher
schichte des Symbols im wesentlihen nur als eine Materialsammlung* für
diese Aufgabe ansieht. »Daß aber die wirklihen Maßstäbe der Wissen=
schaft nicht in der Geschichte, sondern in der Psychologie liegen, entspricht
völlig unserer Auffassung von der Lösung der vorliegenden Aufgabe“
(p. 44). Ein wesentliches Stück dieser Aufgabe ist in den kritischen Ein-
wendungen angedeutet, die der zum Katholizismus übergetretene Arnobius
(300 n. Chr.) seinen Landsleuten in tendenziöser Weise vorhielt, als sie die
die griechischen Götter verunglimpfenden Mythen in allegorishem Sinn aus=
zulegen suchten. Arnobius apostrophiert die Griechen in folgender Weise:
»Wir fragen zuerst, ob diese Dinge dort, wo ihr sie gefunden und
angenommen habt, im allegorischen Sinne erfaßt worden sind oder so ver-
standen werden müssen? ob euch nämlih die Scriftsteller zur Beratung
herbeigerufen? oder ob ihr in deren Brust verborgen ward, als sie mit
Verhüllung der Wahrheit das eine für das andere untershoben? ...
Inwiefern seid ihr denn wohl sicher, daß ihr in der Erklärung und Äus-
legung denselben Sinn wahrnehmt und darlegt, den jene Historiker selbst
in ihren verborgenen Gedanken hatten, den sie aber nicht mit dem eigent-
lihen Ausdruck, sondern in anderen Worten dargestellt haben? Es kann
doh ein zweiter eine andere, scharfsinnigere und wahrsceinlihere Aus-
legung ersinnen ... Da dem so ist, wie könnt ihr etwas Gewisses von
vieldeutigen Dingen herleiten und eine bestimmte Erklärung dem Worte
geben, das ihr durch zahllose Arten der Auslegung durchgeführt findet? ...
Wie wollt ihr denn wissen, welcher Teil der Erzählung in gewöhnlicher
Darstellung abgefaßt, was dagegen in ihr durch zweideutige und fremd-
artige Ausdrücke verhüllt ist, wo die Sache selbst kein Merkmal enthält,
welches die Unterscheidung an die Hand gibt? Entweder muß alles in
allegorisher Weise abgefaßt sein, und von uns so erklärt werden oder
nihts ... Vordem war es üblich, allegorishen Reden den ehrbarsten
Sinn zu geben, schmutzige und häßlih lautende Dinge mit dem Shmuk
anständiger Benennung zu verhüllen, jetzt sollen sittsame Dinge zotig und
garstig eingehüllt werden«.
Diese Ausführungen sind niht nur insofern aktuell, als sie die
naturmythologishe Deutung der Göttersagen aufs entschiedenste ablehnen,
sondern auch weil sie — abgesehen von ihrem tendenziösen Sinn — sic
gegen die Willkür in der Symboldeutung überhaupt wenden und bestimmte
Kriterien der symbolischen Deutung fordern, deren Feststellung die Psydho-
analyse durh Aufdeckung der Genese der Symbolik und ihrer Beziehung
zum Unbewußten zu fördern glaubt. Dr. Rank.
0 DR © Anne =
Druckfehlerberichtigung:
In dem Artikel von Dr. Lorenz: »Das Titanen-Motiv in der allgemeinen
Mythologie«, »Imago«, II. Jahrg., Heft 1, ist zu lesen:
Seite 30, Zeile 15: zunächst statt zuredt.
Seite 37, Zeile 14 von oben M. Meyer stattt K. Bapp.
Zeile 10 von unten: ysvväodaı,
Zeile 1 von unten: gesegneten.
Seite 49, Zeile 3 von unten: Schrift über die Sprahenverwirrung (Kap. 2).
Seite 61, Zeile 18: dem Ödipuskompfex.
Seite 69, Zeile 31: Mythologie der Germanen.
DAS KAUSALGESETZ
DER
WELTGESCHICHTE
VON DR MAX KEMMERICH
Unter diesem zusammenfassenden Titel erscheint in unserem
Verlag ein zweibändiges Werk, das folgende vier Teile umfaßt:
Erster Teil: INDIVIDUALPSYCHOLOGIE. Erbringt erst=
malig den Beweis für die Giltigkeit des Gesetzes von der Er=
haltung der Energie auch für das Geistesleben und wendet die
Naturgesetze (Physik, Biologie, Mechanik etc.) auf dieses an.
Zweiter Teil: ETHIK. Fordert eine Synthese der Moral Christi
mit der Nietzsches als Menschheitmoral der Zukunft und wen=
det das Gesetz der Energieerhaltung auf religiöses Gebiet an.
Dritter Teil: GESCHICHTSPHILOSOPHIE. Führt zu dem
Resultat, daß sich die Zukunft berechnen läßt und erbringt
Beweise. Denn die Naturgesetze haben auch Geltung für
die Menschheitsgeschichte.
Vierter Teil: POLITIK. Zieht Nutzanwendungen auf die Gar
gebung,Verwaltung,die i innere u. äußerePolitik der Kulturstaaten.
Der erste Band, der die beiden ersten Teile umfassen wird, erscheint im Mai,
der zweite, der die Schlußteile bringt, wird im September 1913 ausgegeben.
Subskriptionspreis bis 15. Juli 25 Mark, nach dem 15. Juli 30 Mark für das
komplett in zwei Bänden gebundene Werk von etwa 1000 Druckseiten auf
holländischem Büttenpapier. Einzelne Bände werden nicht abgegeben.
München, Ende März 1913. Albert Langen, Verlag, München
BESTELLSCHEIN
Bei. der Buchhandlung won... a. rs Bear.
subskribiere ich auf das bei ALBERT LANGEN, MeHtaE in München,
erscheinende Werk
Dr. Max KEMMERICH, Das Kausalgesetz der Weltgeschichte
Zwei Bände, gebdn. 25 Mk. (Der Subskriptionspreis erlischt am 15. Juli 1913.)
Der Betrag folgt gleichzeitig — ist mit dem ersten Band nachzunehmen.
Name, Stand, Datum, genaue Adresse:
—..—— inlnnentihiumunnennhrininemnn pin nn ee een nee em nn u nn nn EEE DEU nn nenne
EZ ZZ Eee See ee ee ee ee ee ee Teer Teer
=
Bo
Inhalt des zweiten Heftes.
DR. EDUARD HITSCHMANN (Wien): Schopenhauer, N n/
DR. ALFR. FRH. V. WINTERSTEIN (Wien): Poychoanapiche 2
Anmerkungen zur Geschichte der Philosophie. | Be)
DR. S. FERENCZI (Budapest): Aus der »Psydologies von a ‘ A F
Lotze. © N
BÜCHER: N.
PAUL HÄBERLIN: Wissenschaft und Philosophie. En TA
ADOLF STÖHR: Psychologie der Aussage. en 3
AUGUST HORNEFFER: Der Priester. | BE an
MAX BROD UND F. WELTSCH: Anschauung und Begriff. : | a
MAX SCHLESINGER: Gesdidte des nahe ERS a
Kunstbeilage: »Der Pfilosophe. Örsinalrndierung von Prof. Max Klinger.
Naddruck verboten.
Buch= und Kunsthandlung HUGO HELLER & CIE. Bee F:
ST N N TAN TEE —————— —— ’ q i
Wien I, Bauernmarkt 3,
Max Klingers Original-Radierungen: | 7
Rettungen ovidischer Opfer, 5. Ausgabe, 15 Orig. -Radgn. in Mappe . K Be a
Eva und die Zukunft, 6. Ausgabe, 6 Orig.-Radgn. in Mappe 72.— v t
Paraphrase über den Fund eines Handschuhs, 4. Ausg. 10 Org.-Radgn.i.M. „ 120,— i
Der Mittag, Original-Radierung, Bildgröße 45x37 cm 12 E
Die Chaussee, „ 7 2 52,5X36,5 cm um. IL— Bi;
Mondnacht, er y F 36x54 cm | 72.— Re
Sommernachmittag, nn EEELAR IL EM N <a
Ein Leben, 4. Ausgabe, 15 Original-Radierangen in Mappe 180.— \.
Eine Liebe, 3. e 10 r H ;, 300.— 4 .
Vom Tode ], 4. 7 10 180,— en
Epithalamia, Titel’ u. 16 Gravüren nach ahnen ih Aredersdchhäe | "a
Mit Text von Elsa Asenijeff, Ausgabe auf holländischem Papier .. „ 300,— ur
An die Schönheit, Kupferätzung nach der Radierung aus „Vom Tode II” 3
auf Chinapapier, Bildgröße 35x26 cm 18.— ur
Jedem Klinger-Sammier ist unentbehrlich: r
Max Klingers Radierungen, Stiche und Steindrucke. EZ
Wissenschaftliches Verzeichnis von HANS WOLFGANG SINGER. Fi Kr
Ein starker Quartband von XVIII und 148 Seiten Text und 69 Tafeln mit 329 Abbildungen | >
in vollkommenstem Lichtdruck. In Ganzleinen gebunden K 48.—, Numerierte Luxus=Ausgabe auf Ay
schwerem Kupferdruckpapier. der Straßburger Manufaktur in Ganzleder gebunden und mit dem von ”
Klinger radierten Selbstbildnis als Titelkupfer K 108,—. x
K. U. K. HOF-BUCHDRUCKEREI CARL FROMME IN WIEN. | es $