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Full text of "Imago. Zeitschrift für Anwendung der Psychoanalyse auf die Geisteswissenschaften II 1913 Heft 2 April"

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ZEITSCHRIFT FÜR ANWENDUNG 
DER. PSYCHOANALYSE AUF DIE 
GEISTESWISSENSCHAFTEN 


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HERAUSGEGEBEN VON 
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in. REDIGIERT VON 
2.0.2... DEOTTO RANK u.DE HANNS SACHS 


I. JAHRGANG / 1913 
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allem des Interesses Jener- versichert, an die sih die Zeitschrift zunächst wandte, 

nicht minder aber die Hoffnung bestätigt, daß auch weitere Kreise an den Problemen 
und Ergebnissen unserer jungen Wissenschaft Anteil nehmen werden; endlich hat uns die 
rege Mitarbeit der Vertreter verschiedener Fahgebiete das Bewußtsein gegeben, daß unser 
Unternehmen aud imstande war, der Anregung geistiger Produktionstätigkeit zu dienen. 
j | Die reihe und vielseitige Arbeit des abgelaufenen Jahrgangs zeigt die Inhaltsüber- 
4 siht und wir dürfen hoffen, mit der Festhaltung und Ausgestaltung unseres Programms 
| auh unseren Erfolg sichern und steigern zu können. | 

Soweit es durchführbar ist, sollen alle jene Zweige der Geisteswissenschaften, für 
die die Psychoanalyse Bedeutung gewonnen hat, zu Wort kommen;  aud soll weiterhin 
neben Sonderproblemen der Individualpsycologie besonders die Völkerpsydologie einen 
breiten Raum einnehmen, die ja am deutlichsten den Wert und die Frucdtbarkeit der am 
Einzelnen gewonnenen Seelenkenntnis erweist. ’ 

Ä ÄSTHETIK, LITERATURGESCHICHTE, PHILOLOGIE, PÄDAGOGIK, 
MORALTHEORIE, KULTUR- UND RELIGIONSGESCHICHTE, ETHNO- 
GRAPHIE UND FOLKLORE, die im I. Jahrgang bereits vertreten waren, sollen 
sorgrältig weiter gepflegt werden; andere Wissenschaften, besonders die MYTHEN- 
FORSCHUNG, dann auh PHILOSOPHIE und METAPHYSIK, soweit sie einer 
psychologischen Betrahtungsweise zugänglih sind, werden hinzukommen, so daß jeder, 
der an wissenscaftliher Forshung Anteil nimmt, die Probleme, die ihn vorzüglich 
interessieren, unter neuen Gesichtspunkten behandelt finden wird. Die Einheitlichkeit wird 
durh die gemeinsame Beziehung zur Psychoanalyse gewahrt werden, durh die jedes 
Problem in neue Zusammenhänge eingefügt wird. 

Aud wird ein gemeinsames Abonnement auf „Imago” und die „Inter- 
nationale Zeitschrift für ärztliche Psychoanalyse” zum ermäßigten Gesamt- 
jahrespreis von Mk. 30.— = K 36.— eröffnet. 

REDAKTION UND VERLAG. 


DD: über Erwarten günstige Erfolg des abgelaufenen ersten Jahrgangs hat uns vor > 





Für die REDAKTION bestimmte Zuschriften und Sendungen wollen an 
Dr. HANNS SACHS,Wien XIX/1, Peter-Jordangasse 76 adressiert werden. 





»IMAGO« erscheint SECHSMAL jährlih im Gesamtumfang von 
über 36 Bogen und kann für M. 15.— = K 18.— pro Jahrgang durch 
jede gute Buchhandlung sowie direkt vom Verlage HUGO HELLER 
& CIE. in Wien |, ch 3, abonniert werden. Einzelne Hefte 
werden nicht abgegeben. 

Die wenigen noch verfügbaren Exemplare des nunmehr 2. 
schlossen vorliegenden I. Jahrgangs werden im Preise erhöht, so daß 

der komplette \. Jahrgang nunmehr M. 18.— = K 21.60, gebunden 
M. 22.50 = K 27.— kostet. 








Druckfehlerberichtigung. 


ar Im vorliegenden Hefte ist zu lesen 

Be ; Seite 110, Zeile 20 von oben: „reaktiv” statt „reaktionär”; 

Seite 136, Zeile 8 von unten: „Seilliere” statt „Seillere”; 

Seite 137, Zeile 4 von oben: „Leblosen” statt „leblosen’””; 

Seite 142, Zeile 10 von unten: „als unbewußtes” statt „unbewußt entstandenes”; 
Seite 147, Zeile 3 von unten: „ist” statt „st”. 





c.: Copyright 1913. HUGO HELLER ® CIE., Wien I, Bauernmarkt 3. 


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MIT GENEHMIGUNG DER VERLAGSKUNSTHANDLUNG AMSLER & RUTHARDT, BERLIN W, 8 


Der Kilosopk 


aus der Salze von T2 Bläbtern lan Daseı IT. Oil 
Original Radierung von AB BIER 


EN & X Klinger 


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Deilage ZU „/mago II. 2 





IMAGO 


ZEITSCHRIFT FÜR ANWENDUNG DER PSYCHO- 
ANALYSE AUF DIE GEISTESWISSENSCHÄFTEN 


HERAUSGEGEBEN VON PROF. DR. SIGM. FREUD 


SCHRIFTLEITUNG: 
Il.2. DR. OTTO RANK /DR. HANNS SACHS 1913 








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+ 


Schopenhauer. 
Versuh einer Psyhoanalyse des Philosophen'!. 
Von Dr. EDUARD HITSCHMANN. 


»Schopenhauer idealisierte das Mit= 
leiden und die Keuscheit, weil er am 
meisten von dem Gegenteile litt.« 

Nietzsche. 


ie Psychoanalyse hat schon mehrfah mit Erfolg versucht, in 

die Psychologie des Dichters und Künstlers ebenso einzu= 

dringen, wie in das Seelenleben des Normalen und des Neu= 
rotikers. In diese Kette reiht sich der Philosoph insoferne ein, als 
durhaus nicht alle Vertreter dieser Wissenshaft als exakte Forscher 
zu betrahten sind, vielmehr der produktive Philosoph im engeren 
Sinne, der ein eigenes System aufbaut, dem intuitiv schaffenden 
Künstler oft näher steht, als es nah dem Material, in dem er 
arbeitet, den Anschein haben mag. Wir stoßen in der Geschichte der 
Philosophie immer wieder auf unabhängige geistige Persönlichkeiten, 
die den unbewußten Drang in sich fühlen, ein System aus sich 
selbst heraus zu entwerfen, das die Welt deuten, das Rätselhafte 
des Daseins erklären sollte und nach ihrer Überzeugung diese Pro= 
bleme auch endgiltig gelöst hatte (Metaphysiker). Jeder dieser pro- 
duktiven Philosophen fand seine Gemeinde und hatte seine Wirkung 
auf ein gewisses Zeitalter. So erinnert die Geschichte der Philosophie 
an die Geschichte der Religion, und wie den Atheisten nur diese 
noch interessiert, so beschleiht einen beim UÜberblicken der Jahr- 
tausende fortgesetzten philosophishen Spekulationen eine Skepsis 
gegenüber jedem doch nur vergänglich gebliebenem System. Schon 
darin, daß jeder Philosoph seine Vorgänger, so weit er nicht auf ihren 
Schultern stehend höher gelangt, zu desavouieren sucht, zeigt sich 


ı Nah einem Vortrag in der »Wiener psychoanalytischen Vereinigung« 
(8. Mai 1912). 





102 | Dr. Eduard Hitshmann 


diese Vergänglichkeit. Sie beruht letzten Grundes auf nichts anderem 
als auf der Tatsahe, daß jedes Geistesprodukt, sofern es nicht 
Resultat der fortarbeitenden wissenschaftlihen Forshung ist, von 
der Subjektivität des Schaffenden vollkommen erfüllt, Richtungslinien 
verraten muß, die notwendigerweise aus Persönlichkeit und Psyche 
entspringen, wie sie singulär nur in dieser einen Kristallisation aus 
Vererbung, Anlage, Schicksal und Zeitalter Form gewinnen konnte. 
Was allen diesen Philosophen gemeinsam ist, das ist kurz gesagt 
das Philosophieren: jener eigentümlihe und unwiderstehliche Drang, 
sein Sinnen und Leben der Deutung der Welt, des Werdens und 
Vergehens beim Individuum und im Kosmos zu widmen, um, mit 
dieser Weltdeutung die Mitmenshen belehrend, Ansehen zu er- 
werben, — anstatt so wie der AÄAlltagsmensh nah außen zu 
leben, was das Leben zu bieten vermag als selbstverständlih hinzu= 
nehmen. Der Philosoph macht bei den frühen Problemen des Lebens, 
die shon dem Kinde zum Anlaß des Grübelns werden, Halt: den 
Problemen von Geburt und Tod, von Gut und Böse, Zweck und 
Ziel des eigenen Daseins. Diese ersten Themen des kindlihen For- 
schungstriebes bleiben beim Philosophen die gleihen, während beim 
Forsher das Interesse auf ein anderes Gebiet verschoben und 
damit die glatte soziale Binordnung ermöglicht ist. Über das Leben 
selbst nachdenken, statt zu »leben«, dies wäre der Lebensinhalt des 
Philosophen. Während dem Forsher neben der Vershiebung auf 
andere Gebiete auh die Sublimierung seiner infantilen Interessen 
und Neugierden in weitgehendem Maße glückt, verrät der Philosoph 
durh sein ewiges Zweifeln, Suhen und Kämpfen, daß er mit diesen 
Urproblemen niemals ganz fertig geworden ist und zeitlebens an 
ihnen »leidet«. Natürlih sind die Übergänge zwischen diesen beiden 
Typen zahlreih und nicht scharf abzugrenzen, es hat immer Philo- 
sophen gegeben, welche sich hauptsädlich der erkenntnistheoretischen 
Wissenshaft oder physikalishen und mathematishen Problemen 
zuwendeten oder von dort ausgingen, während andere bloß das 
fertige Rüstzeug dieser Wissenschaften für ihre Zwecke heranzogen, 
dabei aber den Grundproblemen des philosophishen Denkens treu 
blieben. Dem Psycdoanalytiker sind auh die anderen Typen von 
Menschen geläufig, welhe dadurh, daß sie mit ihren Trieben und 
seelishen Komplexen nicht so fertig werden wie der gesunde und 
genußfrohe Mensch, entweder in dem Kampf unterliegen wie der 
Neurotiker oder zu höheren Zielen gelangen wie der Dichter und 
Künstler. Aus der Kinderforshung wissen wir, daß das Kind in 
einem gewissen Älter ganz nah Art des Philosophen, über das 
Problem, woher es selbst und eventuell seine Geschwister gekommen 
sind, also über Werden und Vergehen selbständig zu forschen 
beginnt. Dieser frühinfantile Forschungstrieb, der in den typischen 
philosophishen Neigungen der Jünglinge zur Zeit der Mannbarkeit 
in mehr vergeistigter Form wieder auflebt, scheint sih bei dem, 
der Philosoph zu bleiben bestimmt ist, aus gewissen Gründen in 





Schopenhauer 103 


dieser Zeit zu fixieren, etwa wie sonst ein Entwiclungsstadium. 
Daß sih in jedem Philosophen mystishe und künstlerishe Ele= 
mente, manchmal auh Züge des Neurotikers finden, wie nicht 
selten auch beim Dichter, deutet auf die gemeinsame Ursahe ab- 
normer oder unproportionaler Triebanlage hin, die je nah Disposi= 
tion und Begabung minder- oder überwertige Typen verschiedener 
Ordnung ergibt. Den endgiltigen Ausgang dieser Gestaltung hat 
Freud für die pathologishen Fälle dahin erklärt, daß das unvoll- 
kommen Verdrängte, wenn es stellenweise symptombildend ins Be- 
wußtsein durhbricht, zur Neurose, wenn es als Strom das Bewußt- 
sein überflutet, zur Psychose führt. Der Künstler ist so glücklich, 
seinen unbewußten Reihtum an Phantasien für sich A andere 
genußvoll darstellen zu können. Anders der Philosoph, der gleichfalls 


im Kampfe um die psychische Selbsterhaltung das, was in ihm | 
ringt, als allgemein Menscdliches zu fassen sucht: er deutet sih die 
Welt so nah seinem Sinne, daß sie, wenn auch nicht seine Wünshe 


direkt erfüllt, wie etwa die vom Dichter geschaffene Phantasiewelt, 
so dodh seine Shwäcdhen und Überkräfte rechtfertigt und ihm auf 
diese Weise das befriedigende und beruhigende Gefühl verschafft, 
in diese (seine) Welt hineinzupassen,; er sucht seine — sei es opti= 
mistishe oder pessimistishe — Grundstimmung mit der Qualität 
der realen Welt zu begründen und projiziert seine inneren Kräfte- 
spannungen symbolish und oft hinter dem Gegenteil verborgen nad 


außen. »Der Philosoph bestimmt selbst, niht nur was er ant- 


worten, sondern auh was er fragen wills, ja, Frage und Antwort 
des originellen Denkens sind »etwas in sih so Einheitlihes, so 
sehr der intellektuelle Ausdruk eines in sih geschlossenen Seins, 
daß Frage und Antwort erst eine nadhträglihe Spaltung des Denk- 
bildes bedeuten.« (Simmel.) In diesem Sinne entspricht das Origi- 
nelle eines Systems haarscharf dem Individuellen seines Schöpfers. 

Das hier Gesagte läßt sich überaus deutlich am BeispielSchopen= 


hauers erörtern, wie er sich überhaupt ganz besonders eignet, um ' 


den innigen Zusammenhang zwischen Philosophie und Persönlichkeit, 
verfolgt bis in ihre Triebwurzeln, zu erweisen. Zeigt doh kaum 
ein anderer Denker in seinem Wesen und Werke so viel eigen- 
artige und krasse Züge (Pessimismus, Askese, Weiberverahtung); 
keiner hat sichtlih, wie auch nad eigenem Geständnis so unbewußt 
und intuitiv geschaffen, ja seine Philosophie direkt der Kunst zu- 
gerechnet, kaum einer hat sein ganzes Leben lang so zähe und 
konsequent an seinem im Jünglingsalter fertig hervorgetretenen System 
festgehalten und immer wieder daran gezehrt, kaum ein zweiter vor 
ihm hat so viel über sich selbst gedacht und geschrieben und keiner der 
nachantiken Philosophen die en die wir als Formbildnerin 
der Psydhe kennen, einer so freimütigen und offenen Behandlung 
würdig befunden! 

Aber auch das grundsätzlih Neue, das dieser hochbedeutende 
Philosoph zum erstenmal in so klarer Weise im Gegensatz zu fast 


Vu m 


104 Dr. Eduard Hitshmann 


allen seinen Vorgängern, die den Menschen nur als Vernunftwesen 
auffaßten, nachdrücklich betont, durchgesetzt und popularisiert hat: 
nämlich seine Lehre vom Primat des blinden, rein Willens im 
Menschen und in der Welt, auh das läßt sich aus seiner eigenen 
überstarken Triebanlage klar ableiten, was längst den Schopenhauer- 
forshern aufgefallen ist. (Volkelt, Paulsen, Möbius) Ebenso läßt 
sich zeigen, daß die Zweiteilung in Wille und Vorstellung einer stark 
empfundenen »Duplizität des eigenen Wesens« entsprungen ist, 
welhen Zwiespalt Paulsen auch sonst überall in Schopenhauers 
Philosophie wiederfindet, und den wir psychologisch ableiten aus dem 
Konflikt starker Triebanlage und deren Verdrängung durh den 
vergeistigenden Gegentrieb (Verneinung des Willens) sowie aus dem 
Gegensatz zwishen Bewußtem und Unbewußtem. Ferner läßt sich 
zeigen, daß auch seine Verehrung für Asketentum und Heiligkeit 
gerade seiner shwer bekämpfbaren Sinnlichkeit entspringt; dab sein 
schwerer Pessimismus, die schlehte Meinung, die er von der Welt 
und den Menschen hatte, primär seiner eigenen Stimmung ent= 
stammt, seine Mitleidsmoral der Reaktion gegen sein boshaftes und 
grausames Wesen, endlih die Sehnsuht nach reiner Erkenntnis der 
Verzweitlung über den ewig quälenden Dämon der Leidenschaft. Es 
wird unsere Hauptaufgabe sein, die möglichst exakte Beweisführung 
für diese Zusammenhänge zu erbringen. Dazu ist es nötig, daß wir 
sowohl einen Abriß von Schopenhauers Lebenslauf, als auh ein 
Bild seines Charakters geben, wobei wir das, was wir von seinem 
Triebleben durh ihn und über ihn erfahren haben, ebensowenig 
übergehen können wie seine neurotishen und vershrobenen Züge. 
Im Anschluß daran wollen wir den Versuh maden, die Ableitung 
des Systems aus seiner Persönlihkeit — bis in ihre Triebwurzeln 
verfolgt — so weit als möglih im Detail zu liefern, um damit 
an diesem verlockenden Beispiel einerseits den Wert der psydho- 
analytishen Betrahtung für das Verständnis des philosophischen 
Genies zu erweisen, anderseits in Schopenhauer selbst einen intui= 
tiven Kenner des Unbewußten und Urahner psycdoanalytischer 
Erkenntnisse aufzuzeigen. 


I. 
Leben und Persönlichkeit. 


Vor allem sei hervorgehoben, daß die Daten der Lebens- 
geschichte, die einer speziellen psychoanalytischen Untersuhung zur 
Verfügung stehen müssen, neben den Zufälligkeiten der Begeben- 
heiten und der Milieueinflüsse vornehmlich die ursprünglihen seeli- 
shen Triebkräfte des Individuums, sowie die daraus folgenden 
Reaktionen betreffen. Daß so mandes scheinbar unwidtige Detail 
uns wie durch Akzentvershiebung shwerwiegend erscheint, daß wir 
aus einem Traumbild, aus einer nur für den Moment hingeworfenen 
Notiz Bedeutsames zu erschließen uns berehtigt wissen, daß wir 


Schopenhauer 105 
Erlebnisse ebenso wie Eigenheiten, Vershrobenheiten und neuroti= 
she Züge durh Übung in der Deutung psycologishen Materials 
oft erfolgreih verwerten, wird gleichfalls als eine Eigenart der 
psychhoanalytischen Betrahtungsweise offenbar werden. Dazu ist die 
Kenntnis der psydhishen Mechanismen Voraussetzung, welche zu=- 
nähst durch Beobadhtungen an Kranken gewonnen, sih zum 
größten Teil aber am gesunden Durdhschnittsmenshen nachprütbar 
und auf den Produktiven und das Genie anwendbar erwiesen haben. 
Gelingt unserer Darstellung diese Arbeit, »so ist das Lebensverhalten 
der Persönlichkeit durh das Zusammenwirken von Konstitution und 
Schicksal, inneren Kräften und äußeren Mächten aufgeklärts (Freud). 

Unter diesem Gesichtspunkt berücksichtigen wir als Psychoana- 
Iytiker besonders die sonst allgemein vernadlässigte allererste Jugend 
— wie spärlih auch oft die überlieferten Daten aus jener Lebenszeit 
sind — namentlih die Äußerungen des Trieblebens!, ferner das 
Verhältnis zu Eltern und Geschwistern, die den speziellen Charak- 
teren und Scicksalen der Eltern entsprehende Einstellung des 
kindlihen Individuums, da aus ihr so viele seiner späteren Reak= 
tionen verständlih werden, besser als aus der oft überschätzten 
Vererbung. Das Kind kann nämlich seinen Eltern auch auf anderem 
Wege ähnlih werden als dem der angeborenen erblihen Eigen- 
schaften, es gibt ein gleichsinniges Nadlebenwollen aus Liebe, ein 
Nacdahmen, das eigentliih ein unbewußtes Sichhineinversetzen und 
Finfühlen ist, das Freud »lIdentifizierung« genannt hat. Übersehen 
wurde sonst vielfah auch die unbewußte feindselige Einstellung gegen 
den oder jenen Elternteil aus Rivalität um die Liebe einer a 
stehenden Person (Mutter, Schwester), für den später so oft beim 
Heranwacdsenden die ursprünglih zärtlihe Einstellung wieder in 
übertriebener Weise an den Tag tritt. 

Der größte und bleibendste Eindruk des Kindes sind natür- 
ih seine Eltern, die liebende Mutter und der anscheinend allmäh- 
tige Vater, die für das Neugeborene zwei Riesengestalten sind, die 
es liebend, pflegend, umgeben. Wenn diese infantile Ein- 
stellung der Liebe, der Ehrfurht und Übershätzung auch vom 
heranreifenden Individuum periodenweise von der aus der kind- 
lihen Eifersuht entspringenden Feindseligkeit abgelöst und durch 
die Realfıguren der Eltern desavouiert wurde, so bleibt im Un- 
bewußten doc jene romanhafte kindlihe Einstellung erhalten, die 
den Vater als göttlich-allmächtigen Herrscher, die Mutter als hehre 


! Audh Schopenhauer huldigte (vgl. W. W. II. Bd., p. 464f) der vor- 
psychoanalytishen Auffassung, daß das Kind nicht sexuell sei: Die heillose Tätig- 
keit des Genitalsystems schlummere noch, jener unheilschwangere Trieb fehle, daher 
sei die Kindheit die Zeit der Unshuld und des Glücks, das Paradies des Lebens. 
Die Basis jenes Glücks sei, daß in der Kindheit unser ganzes Dasein vielmehr im 
Erkennen als im Wollen liege. Der unschuldige und klare Blik des Kindes sei 
aus dem Gesagten erklärlih. — Für den Psychoanalytiker ist diese Anschauung 
nichts weniger als ein Gegenbeweis gegen eigene reiche Kindersexualität, die ver- 
drängt wurde. 


106 Dr. Eduard Hitshmann 


gütige Fee, aber diesen oder jenen Elternteil auh als feindselige 
Madt auffaßt. Es macht sih nämlih in der Beziehung der Kinder 
zu den Eltern die sexuelle Anziehung und Abneigung insofern 
geltend, als der Sohn die Mutter mehr liebt und den Vater als 
störend empfindet, die Tochter dem Vater angehören möchte und den 
Platz von der Mutter schon besetzt findet. So wertvoll uns daher 
auch die objektiven Berichte über die Eltern Schopenhauers sein 
müssen, so bleibt doh für das Endbild des Charakters unseres 
Darstellungsobjektes seine Auffassung von den Dingen und Per- 
sonen die entscheidende. 
E 
Die Familie. 

Zunädhst wird es sich empfehlen, im Sinne der Familien- 
forshung einen Blik auf auffällig entwickelte Charakterzüge in der 
Reihe der Vorfahren zu werfen. Wohl als der hervorstehendste er= 
scheint kraftvolle, gewalttätige Energie und ausholender, nicht rück-= 
sihtsvoller Tätigkeitstrieb. Es zeigt sih, daß des Großvaters Tatkraft 
und Entschlossenheit sih in ähnliher Weise beim Vater Schopen- 
hauers aufweisen läßt, der ebenfalls Tätigkeitstrieb, sich hinauf- 
arbeitende Tüchtigkeit, Stolz und Hartnäcigkeit verrät. Von hef- 
tigem Charakter war auch die Großmutter väterliherseits, welce 
ebenso im Wahnsinn endete, wie ein Onkel väterlicherseits, während 
ein anderer von Jugend an blödsinnig war. Der Vater, Heinrich 
Floris Schopenhauer, war groß, kräftig und häßlih,; der Sohn, der 
immer unter Mittelmaß blieb, empfand ihn in seiner Kindheit als 
Riesen. Später klagt er, er habe durh die Härte des Vaters viel 
in der Erziehung zu leiden gehabt. Der Vater, immer schon jäh= 
zornig und hartnäckig, wurde mit den Jahren reizbarer und heftiger, 
seine Pedanterie shwerer erträglich, gelegentlich ließ er sih zu hef- 
tigen Ausbrüden hinreißen, nah denen er aber bald wieder »zur 
Besinnung kam«. Im Alter von 58 Jahren ertrank er, aus einer 
Speicheröffnung in den Kanal fallend, und es wird vom Sohn, wie 
auh von den Biographen Selbstmord vermutet. Im Alter von 
38 Jahren hatte er die um 19 Jahre jüngere Johanna Trosiener ge- 
heiratet, die Tochter eines gleichfalls als jähzornig und unbezähmbar 
heftig geschilderten, tüchtigen Kaufmannes. Sie heiratete den um so 
vieles älteren, unschönen, aber angesehenen Mann nad einer un- 
glücklihen Liebesgeshihte und hat ihn auch nie eigentlich geliebt, 
obwohl sie mit Hocdhadtung von ihm sprah. Ihr Charakterbild 
schwankt in den Berichten, doh scheint es siher zu stehen, daß sie 
mehr intellektuell als gemütvoll war, und insbesondere den Kindern 
gegenüber stets egoistisch ihre eigenen Interessen vertrat. Als Witwe 
und im Verkehr mit zum Teil berühmten Männern entwickelte sie 
sih zu einer gewandten Gesellshaftsdame und entdeckte ihr schrift= 
stellerisches ae dem ihre Tagebücher und mehrere seinerzeit 
geschätzte Romane entsprangen. Fällt shon die Rastlosigkeit und die 





Schopenhauer 107 


fast krankhafte Reiselust des Ehepaares als Zeihen mangelnder Be=- 
haglihkeit und wohl auch mangelnden Glücksgefühles auf, so deuten 
die vielseitigen Geselligkeiten und Freundschaften, dieSchopenhauers 
Mutter nah dem Tode ihres Mannes pflegte, auf eine in der ernsten 
Konvenienzehe nicht zur Befriedigung gelangte Lebenslust hin, der 
sih voll hinzugeben sie ursprünglih in dem Milieu ihres Eltern 
hauses gewohnt war. Ihre Freunde wurden ihr wichtiger als ihr 
Sohn, und zwishen einem dieser Freunde, dem unbedeutenden 
Dichter Müller, genannt v. Gerstenbergk (mit dem sie seit 1813 zu= 
sammenlebte, d. h. ihm einen Teil ihrer Wohnung vermietete und mit 
ihm zusammen aß, wie sie es schon früher mit v. Fernow getan hatte), 
geriet der Sohn in einen Konflikt, der schließlih dazu führte, daß 
die Mutter dem Sohne den »Scheidebriefs schrieb. Es scheint plau= 
sibel, daß der Sohn die Mutter eines unsittlihen Verhältnisses ge= 
ziehen haben mag, obwohl die Mutter damals bereits 47 Jahre, 
Müller allerdings 33 Jahre alt war. Dieser Konflikt zwischen Mutter 
und Sohn reiht aber schon weiter zurück und wurde hier nur aktuell 
und akut. War auch in der ersten Zeit des jungen Mutterglückes, 
das in ländliher Zurückgezogenheit mit dem nach dreijähriger Ehe 
geborenen Knaben verbraht wurde, die Zärtlihkeit der in der Ehe 
wenig befriedigten Frau sicherlih eine große, vielleiht eine über- 
große, so muß der Knabe doch später wenig Zärtlihkeit zu Hause 
gefunden haben, sonst könnte er nicht zweier bei einem Geschäfts- 
freunde des Vaters in Havre verbrahten Knabenjahre (10 bis 12) 
in seinem Curriculum vitae als des »weitaus frohesten Teils« seiner 
Kindheit ausdrüklih gedenken. Als die Eltern ihn drei* Jahre 
später für mehrere Monate abermals im Ausland, bei einem engli- 
schen Geistlihen unterbrahten, schreibt ihm die Mutter kluge er- 
zieherishe Briefe, welche jedoch deutlich Gereiztheit und Unzufrieden- 
heit mit dem wenig entgegenkommenden, selbstgefälligen und rauhen 
Wesen des Sohnes verraten und seine Stimmung gegen die Mutter 
gewiß nicht günstig beeinflußten: vielleiht um so weniger, als ihre 
Kritik zum guten Teil berechtigt gewesen sein mag. Einen viel 
heftigeren Widerstand gegen die Art des Sohnes zeigen spätere 
Briefe, die sie ihm, als er endlich seinen wissenschaftlihen Neigungen 
nachgehen durfte und sein intellektuelles Selbstgefühl in die Höhe 
schoß, geschrieben hat. Zwar muß sie ihm Geist, Bildung und Gemüt 
zugestehen, aber weiter heißt es: 

»Alle deine guten Eigenschaften werden durch deine Superklugheit ver- 
dunkelt und für die Welt unbrauchbar gemacht, bloß weil du die Wut, alles besser 
wissen zu wollen, überall Fehler zu finden, außer bei dir selbst, überall bessern 
und kritisieren zu wollen, niht beherrschen kannst. Damit erbitterst du die Men= 
shen um dich her, niemand will sich auf eine so gewaltsame Weise bessern und 
erleudhten lassen, am wenigsten von einem so unbedeutenden Individuum, wie 
du doh nod bist. Niemand kann es ertragen von dir, der doh auch so viele 
Blößen gibt, sich tadeln zu lassen, am wenigsten in deiner absprechenden Manier, 


die im Orakelton gerade heraussagt: so und so ist es, ohne weiter eine Ein- 
wendung nur zu vermuten«. (Gwinner p. 49.) 


108 Dr. Eduard Hitschmann 


Als es sih darum handelt, ob der neunzehnjährige, nad 
Weimar zurückehrende Sohn bei der Mutter wohnen soll, ver- 
weigert sie es ihm: 


»Es ist zu meinem Glück notwendig zu wissen, daß du glücklich bist, aber 
nicht ein Zeuge davon zu sein. Ich habe dir immer gesagt, es wäre sehr schwer 
mit dir zu leben, und je näher ich dich betrachte, desto mehr scheint diese Schwie- 
rigkeit, für mich wenigstens, zuzunehmen. Ich verhehle es dir nicht: so lange du 
bist, wie du bist, würde ich jedes Opfer eher bringen, als mih dazu ent= 
shließen.... Ich kann mit dir in nichts, was die Außenwelt angeht, überein- 
stimmen. Auch dein Mißmut ist mir drückend und verstimmt meinen heiteren 
Humor.... Du bist nur auf Tage bei mir zu Besuch gewesen und jedesmal 
gab es heftige Szenen um nichts ..... und jedesmal atmete ich erst frei, wenn 
du weg warst. Weil deine Gegenwart, deine Klagen über unvermeidlihe Dinge, 
deine finstern Gesichter, deine bizarren Urteile, die wie Orakelsprühe von dir 
ausgesprohen werden, ohne daß man etwas dagegen einwenden dürfte, mic 
bedrükten..... An meinen Gesellschaftstagen kannst du abends bei mir essen, 
wenn du dich dabei des leidigen Disputierens, das mih auch verdrießlich macht, 
wie alles Lamentierens über die dumme Welt und das Menscenelend enthalten 
willst.« (Gwinner, p. 52.) 

Mutter und Sohn waren nun einmal nicht für einander ge- 
schaffen. »Er warf ihr vor, das Andenken seines Vaters nicht ge- 
ehrt zu haben, glaubte auch, da sie diesen nicht geliebt habe, nicht 
an ihre Mutterliebe.« Er war in Besorgnis, »das väterlihe Vermögen 
könnte in den Händen der Mutter noch ganz zusammenshwinden 
und ihm, der sih zum Erwerb nicht befähigt fühlte, die Sorge für 
seine nächsten Angehörigen zufallens. (Gwinner.) 

«Als der fünfundzwanzigjährige Doktor der Philosophie doch 
wieder versuhen wollte, bei der en in Weimar Wohnung zu 
nehmen, sollte er dort keine Heimat mehr finden. Es kam zu heftigen 
Auftritten zwischen Mutter und Sohn, welche bei den geringsten 
Veranlassungen shon alles Maß des Schicklihen überschritten und 
schließlich zu einer endgiltigen Trennung führten. Mutter und Sohn 
scheinen einander seit dieser Zeit niht wieder gesehen zu haben, 
obwohl die Mutter noh 24 Jahre lebte. 

Aus,dieser zunehmenden Abneigung gegen den Sohn kann 
man wohl auf tiefere Differenzen der BR schließen. Die 
Mutter spielte gern selbst die geistig Interessierte und Überlegene; 
sie ließ sih gern anbeten und bewundern. Einen dieser »Seelen- 
freundes beschrieb sie, sonderbarerweise in einem Brief an ihren neun= 
zehnjährigen Sohn, folgendermaßen: »Wollte ih ausgehen, so hatte 
ih seinen Arm, wollte ih Schach spielen, so spielte er; wollte ich 
mir vorlesen lassen, so las er; wollte ih Musik, so sang er zur 
Gitarre, wollte ih quatre mains spielen, so spielte er, wollte ich 
malen, so saß er, wollte ih allein sein, so ging-er. Solch einen 
Cicisbeo finde ih nie wieder.« Der unwirshe, eigenwillige und 
geistig so enorm überlegene und dessen bewußte entsprach 
freilih nicht diesem Ideal! 

Faßt man die Äußerungen Schopenhauers über seine Mutter 


Schopenhauer 109 


zusammen, so würde man fast nicht glauben, daß er je aud ein 
zärtliher Sohn war, wie es wohl für die frühe Kindheit anzunehmen 
ist. Später gab er ihr, wie R. v. Hornstein berichtet, die Schuld an 
dem Selbstmord seines Vaters und er schrieb ihr das finanzielle 
Herabkommen seiner Familie zu. Mit Ironie erzählte Schopenhauer, 
wie seinem Wunsce, Flöte spielen zu lernen, der Vater Recht gab, 
»aber«, heißt es weiter, »meine poetische Mutter, der Schöngeist von 
Weimar, war meinem Wunshe entgegen: er wird einmal so viel 
Geld haben, daß er sich Flöte vorspielen lassen kann«. Die ab- 
fällige Äußerung L. Feuerbachs (1815) über sie: »Eine reice 
Witwe, madht von der Gelehrsamkeit Profession. Schriftstellerin. 
Schwatzt viel und gut, verständig; ohne Gemüt und Seele. Selbst- 
gefällig, nach Beifall hashend und stets sih belächelnd«, ließ der 
Sohn gelten, als man sie ihm berichtete. 

Es mag zunächst Schopenhauers individuellem Erleben ent- 
sprohen haben, daß er meint, der Mensch erbe von seiner Mutter 
den Intellekt und vom Vater den Willen. Gebildet, belesen, schrift- 
stellerish tätig, mit Dichtern und Literaten in dauerndem Verkehr, 
wurde die Mutter, die durch ihre literarishe Bildung und Erfolge 
vielleiht ursprünglih ein Vorbild für den Knaben war, später, unter 
dem Einfluß seiner zunehmenden Feindseligkeit und Ablösung von 
der seinen männlichen Stolz beleidigenden mütterlihen Autorität, für 
ihn zum oberflählichen Blaustrumpf. Hatte er doch seither durch 
ernste wissenscaftlihe Arbeit die schöne Literatur weit hinter sic 
gelassen. Als Schopenhauer der Mutter seine Dissertation ȟber 
die vierfahe Wurzel des Satzes vom zureihenden Grundes über- 
reichte, meinte sie spöttish — wo andere Mütter stolz gewesen 
wären —, das sei wohl etwas für Apotheker. Der gekränkte Philo- 
soph entgegnete gereizt, man werde seine Scrift noch lesen, wenn 
von den Schriften der Mutter kaum ein Exemplar in einer Rumpel- 
kammer stehen werde. Doc sie gab schlagfertig die Antwort: »Von 
den deinigen wird die ganze Auflage noh zu haben sein.« All- 
mählih nahm die Verahtung des noh durch Verdädtigung der 
Treue befleckten Mutterbildes einen so hohen Grad an, daß das 
Zusammenleben unmöglich wurde. 

Man kann als siher annehmen, daß eine solche auffällige Ab- 
wendung von der Mutter als Reaktion auf eine ursprüngliche Liebe 
eintrat, sobald der Vater nah seinem niht ohne Schuld der 
Mutter Re. Tode zum ehemaligen infantilen Idealbild 
wieder erhoben wurde. Ein Charakter wie Schopenhauer konnte 
Abhängigkeit, vielleiht sogar masodistisher Färbung, von einem, 
seiner Meinung nah schon durh sein Geschleht minderwertigen 
Wesen, ins Mannesalter nicht mitnehmen, und auch diese Regung 
wird zur Verallgemeinerung seines Mutterhasses zum Weiberhab 
beigetragen haben. 

Schopenhauer erzählte in späten Jahren — was die Stärke 
des Erlebnisses beweist —, er sei als sechsjähriges Kind von 


110 Dr. Eduard Hitshmann 


Angst befallen worden, weil er geglaubt habe, die auf einem 
Spaziergang befindlihen Eltern hätten ihn für immer verlassen. 
Dieses häufig zu beobadhtende Angstgefühl zeigt den starken Kon- 
flikt des Kindes in dem bereits zwiespältig gewordenen Verhältnis 
zu den Eltern an (Ödipuskomplex). Wir erwähnen hier, worauf 
wir später noh zurückkommen, daß sich diese Kinderangst bis zur 
neurotishen Ängst steigerte und wiederholt im späteren Leben in 
krankhafter Form hervortrat. 

Im Gegensatz zu seiner Mutter schien der immer strenge und 
auf seinen Willen beharrende Vater, der sih hartnäckig den Plänen 
des Sohnes widersetzte, in der frühen Kindheit als der Feind des 
Knaben. So bringt Schopenhauer seine Auffassung, daß die Welt 
eher von einem Teufel als von einem Gotte gemacht worden sei, 
mit seinem Eindruk von der Strenge seines Vaters in Zusammen- 
hang. In den späteren Äußerungen des Sohnes erscheint der ver- 
Ey Vater jedoch wieder als übershwenglich gepriesenes Idealbild 
eines charaktervollen, fürsorglichen, unvergeßlihen Mannes. Man kann 
wohl annehmen, daß, als ne mit siebzehn Jahren den 
Vater verlor und eine shwere Verstimmung bei ihm eintrat, damals 
seine Liebe zum Vater eine reaktionäre Verssänlding aus der Reue 
erfuhr, die sih auf Ungehorsam oder Lieblosigkeit, sowie feindselige 
Rahewünsche bezogen haben mag.!, 


2. Eigenart seines Wesens. 


Die Eigenartigkeit des Wesens Schopenhauers, die kleinen 
und großen originellen Züge desselben, die selbstverständlih auch aus 
seinen Werken sprechen, haben seine Persönlichkeit überaus populär 
gemadt. Wäre nicht sein Werk ein so imponierendes, würden nicht 
die ernsten, wuctigen, tiefsinnigen, eine starke, c&haraktervolle und 
heftige Persönlichkeit verratenden Züge überwiegen, so könnte 
mander Zug ihn als verschroben, ja vielleiht komish erscheinen 
lassen. Besonders dort, wo seine Lebensführung, sein Äußeres, seine 
gesellschaftlihen Manieren, seine sozialen Gewohnheiten von der 
Norm abweihen, wo Auffallendes, Verschrobenes, Sonderbares 
aufzuzeigen ist, werden wir ins Detail gehen. Neurotishe Züge bei 
einem genialen Menschen aufzufinden, ist der modernen Auffassung 
geläufig, auch diese können wir nicht schonend übergehen. 

Man rufe sih das Bild des in dem vornehmen Hause oder 
auf weiten, in aller Bequemlichkeit unternommenen Reisen seine 
Jugend verbringenden Knaben ins Gedächtnis. Das Bild der Eltern 
haben wir bereits entworfen, viele Nachrichten zeigen uns die Ehe, 


1 So ist auch der schwärmerisch begeisterte Stil der Entwürfe zu einer 
Dedikation (der 2. Ausgabe seines Hauptwerkes) an den Vater zu verstehen. Für 
die ambivalente Einstellung des Sohnes gegen den Vater ist es charakteristisch, 
daß sich Schopenhauer an stilistishen Änderungen und mehrfahen Entwürfen 
dieser Widmung nicht genugtun konnte, aber doch scließlih davon Abstand nahm, 
überhaupt eine dieser Fassungen zu veröffentlichen. 





Schopenhauer | 111 


in der so mander Streit ausgekämpft wurde, als wenig glücklich, 
und ein lebensfreudiger Ton hat wohl nie vorgeherrsht. Des Vaters 
rauhe und strenge Ärt, deren der Sohn sich noch spät erinnert, hat 
gewiß vielfah wie ein Druck auf dem Hause und dem Knaben ge- 
lastet. Darum empfand er die beiden in Havre verbrachten Jahre 
als die glüclichsten seiner’ Jugend und nennt den Mann, der dort 
bei ihm Vaterstelle vertrat, rühmend einen »lieben, guten, sanften 
Manns. »Offenbar,« sagt Möbius, »war der Knabe nicht nur durd 
das positive Gute beglükt, sondern auh durh die Trennung von 
seiner Familie, in der die Eigentümlichkeit seines Vaters und die 
Weltlihkeit der Mutter ihm das Leben erschwertens <p. 34). 
Übrigens hat das eigentlihe Leben im Vaterhaus sowohl durd die 
vielen Reisen mit den Eltern wie durch den jahrelangen Aufenthalt 
in fremden Städten schon früh mehrfache ungen erfahren. 
Zeitig fill auh am Kind schon ein schwermütiges Grübeln und 
jene Verstimmung auf, die er selbst als Dyskolie geschildert hat!, 
und die zum erstenmal deutlih in den Reiseeindrücken des Knaben 
zum Vorschein kommt. So schreibt ihm die Mutter im Jahre 1807, 
»daß ih nur zu gut weiß, wie wenig Dir vom frohen Sinn der 
Jugend ward, wieviel Anlage zu shwermütigem Grübeln Du von 
Deinem Vater zum traurigen Erbteil bekamst«. Der ernste Knabe, 
der shon mit 13 und 14 Jahren einen ungestümen Drang zur 
Wissenschaft verrät, mit dem der Vater rehnen muß, wird durch 
verschiedene Eindrücke einer Reise (1803), durh die der Vater ihn 
für das praktishe Leben gewinnen will (er sagte »mein Sohn soll 
im Buche der Welt lesen«)?, in seinen düsteren Stimmungen viel- 
fach bestärkt. Er besichtigt die Ruinen des römishen Amphitheaters 
in Nimes und seine Gedanken werden, wie er in sein Tagebuch 
schreibt, an die »Tausende längst verwester Menschen gemahnt« 
und an die Kürze des Menschen Lebens. Im Bagno von Toulon 
entsetzte sih der lebensunerfahrene Jüngling über das Los der 
Sträflinge und verliert ein andermal alle Reiselust, weil der Wagen 
an elenden Hütten und verlotterten Menschen vorbeigefahren ist. 
Diese trüben Stimmungen, Todes- und Vergänglickeitsgrübeleien, 
denen wir so häufig in der Jugendgeshidhte von N nen 
(Zwangskranken) begegnen, sind auch in enge Beziehung zu bringen 
zu den bei Schopenhauer seit der frühesten Jugend bis ins 
späteste Alter in geradezu krankhafter Weise auftretenden Angst- 


! In dem schönen Kapitel »Von dem, was einer ist« in den » Aphorismen 
zur Lebensweisheits nimmt die Bedeutung der Stimmungsanlage für Lebensglük 
des Individuums eine auffallend breite Stelle ein, was auf das eigene Erleben 
Schopenhauers hindeutet. 

2 Es liegt die Vermutung nahe, daß diese Äußerung, falls sie früh und 
eindrucksvoll dem Knaben zukam, in mißverständliher Auffassung und Danadh-= 
rihtung ein Antrieb zum Philosophieren wurde. Vgl. dazu Schopenhauers 
Worte: »Die Gelehrten sind die, welhe in den Bücern gelesen haben, die 


Denker, die Genies ... . sind aber die, welche unmittelbar im Buch der Welt ge- 
lesen haben.« 


112 Dr. Eduard Hitschmann 


gefühlen. Schon im sechsten Lebensjahr wurde das Kind, wie er- 
wähnt, von Angst befallen. Krankhafte Angstgefühle treten bei 
dem zeitlebens ängstlih gestimmten Philosophen in späterer Zeit 
wiederholt auf, sowohl In ninien ı, als auh bei Tage. Gwinner 
berihtet über eine »an Manie grenzende Angst, die ihn zu- 
weilen bei den geringfügigsten Anlässen mit solher Gewalt über- 
fiel, daß er bloß mögliches, ja kaum denkbares Unglück leibhaftig 
vor sih sah... Als Jüngling quälten ihn eingebildete Krankheiten 
und Streithändel. Während er in Berlin studierte, hielt er sich eine 
Zeitlang für auszehrend ... Aus Neapel vertrieb ihn die Angst 
vor den Blattern, aus Berlin die Cholera. In Verona ergriff ihn die 
fixe Idee, vergifteten Schnupftabak genommen zu haben. Als er 
1833 im Begriffe war, Mannheim zu verlassen, überkam ihn ohne 
alle äußere Veranlassung ein unsäglihes Angstgefühl. Jahrelang 
verfolgte ihn die Furht vor einem Kriminalprozesse, vor dem Ver- 
luste seines Vermögens und vor der Anfechtung der Erbteilung 
seiner eigenen Mutter gegenüber. Entstand in der Nacht Lärm, so 
fuhr er vom Bette auf und griff nah Degen und Pistolen, die er 
beständig geladen hatte. Auch ohne besondere Veranlassung trug 
er eine fortwährende Sorglihkeit in sich, die ihn Gefahren sehen 
und suchen ließ, wo keine waren... In späteren Jahren scheint ihn 
die krankhafte Erregbarkeit seltener heimgesuht zu haben. Jedoch 
blieb er von Rücfällen niht vershont... Wie sich selbst, so 
uälte er die, welche mit ihm umgingen, durch seinen Argwohn ... 
deine Wertsahen hielt er derart versteckt, daß trotz der lateinishen 
Anweisung, die sein Testament dazu gab, einzelnes nur mit Mühe 
aufzufinden war. Seit seiner zweiten italienischen Reise führte er sein 
Rehnungsbuh english und bediente sich bei wichtigen Gescäfts- 
notizen des Lateinishen und Griehishen. Um sih vor Dieben zu 
schützen, wählte er täushende Aufsdriften, verwahrte er seine 
Wertpapiere als arcana medica, die Zinsabschnitte besonders, in 
alten Briefen und Notenheften, und schwere Goldstüke als Not= 
pfennige unter dem Tintenfaß im Schreibpult. Nie vertraute er sich 
dem Schermesser eines Barbiers an, aud führte er stets ein ledernes 
Sciffhen bei sih, um beim Wassertrinken in öffentlihen Lokalen 
keiner Ansteckung ausgesetzt zu sein. Die Spitzen und Köpfe seiner 
Tabakspfeifen nahm er nach jedesmaligem Gebrauhe unter Ver- 
shluß. Aus Furht vor dem Sceintode verordnete er, daß seine 
Leihe über die gewöhnlihe Zeit hinaus offen beigesetzt werden 
solle«. (p. 249 u. ff.) 
Sehr charakteristisch für seine nächtlihen Angstgefühle ist ein aus 
m zwanzigsten Lebensjahr erhaltenes Gedicht, in welchem es 
eißt: 
»Mitten in einer stürmishen Nadt, Bin ih in großen Ängsten er- 
wadt,; Hört’ es sausen und hört’ es stürmen Durch Höfe, Hallen und an den 


! Es ist charakteristish, daß sich so viele seiner Träume und Ahnungen 
mit dem Thema des Todes beschäftigen. (Vgl. später). 


Schopenhauer 113 


Thürmen ... Da that gar große Angst mic fassen, Fühlt” mich so bang, so 
allein und verlassen,... ... Sucte vergebens zurük es zu rufen, Wie 
wir uns gestern Freude erschufen ...« (N. P. p. 369). 
Eine andere Stelle zeigt das Erlebnis und seine Anwendung 
nebeneinander. 
»Wenn in schweren grauenhaften Träumen die Beängstigung den höchsten 
Grad erreicht, so bringt eben sie selbst uns zum Erwaden, durch welces alle 
jene Ungeheuer der Nacht vershwinden. Dasselbe geshieht im Traume des 
Lebens, wann der höhste Grad der Beängstigung uns nötigt, ihn abzubredhen.« 


Wie hier die Angst direkt mit der Todesangst in Beziehung 
gesetzt ist, so erscheint noh an anderer Stelle die Todesangst als 
schreckliche Begleiterin des Lebens (N. P. $ 276): 

»Es gibt Augenblicke, wo, wenn wir an den Tod lebhaft denken, er in 
so fürchterliher Gestalt erscheint, daß wir nicht begreifen, wie man mit solcher 
Aussicht eine ruhige Minute haben könne und nicht jeder sein Leben mit Klagen 
über die Notwendigkeit des Todes zubringe.« 


Und scließlih seien noh die Worte aus den N. P. & 658 
angeführt, welche so überaus charakteristisch sind für die Psychologie 
des Angstmenshen überhaupt: 

»Wenn ih nichts habe, was mich ängstigt, so beängstigt mich eben dies, 
indem es mir ist, als müßte doch etwas daseyn, das mir nur eben verborgen 
bliebe. Misera conditio nostra!« 

Diese das ganze Leben begleitende Angst, als pavor nocturnus 
beginnend, in pathologishen Angstäquivalenten wiederkehrend, viel- 
fah das Traumleben durdsetzend, das ganze Leben verbitternd, 
ist siher als krankhafte Erscheinung aufzufassen und steht nad 
unserer ärztlihen Beobahtung mit Verdrängungsvorgängen der in= 
fantilen Sexualität im engsten Zusammenhang. Wir sind gewöhnt, 
sie in der Kindheit mit der Ablösung von der kindlihen Selbst- 
befriedigung und deren Phantasien sowie mit der Verdrängung der auf 
Eltern und Geschwister gerichteten Todes- und Liebeswünsce in Be= 
ziehung zu bringen und finden sie besonders ausgeprägt bei einer 
starken, außen gehemmten und gegen das eigene Ich gekehrten gewalt- 
tätigen Anlage, wie eine solhe bei Schopenhauer nahweisbar ist. 
Daß Schopenhauer einen überstarken ee hatte, berichtet 
er selbst aus seiner Kindheit, er rühmte sih auh, außerordentlich 
heißes Blut gehabt zu haben (Gwinner p. 396). Er hat unter 
diesem starken Trieb sehr gelitten, wie wir am deutlichsten aus dem 
Jugendgediht (achtzehntes Fi ersehen, das den Kampf gegen die 
verwertlih empfundene Sinnlihkeit widerspiegelt (N. P. p. 366): 

»O Wollust, o Hölle, o Sinne, o Liebe, Nicht zu befried’gen und nicht 

zu besiegen! Aus Höhen des Himmels hast du mich gezogen Und hin mich ge= 
worfen In Staub dieser Erde: Da lieg’ ih in Fesseln. Wie wollt ih mich 
shwingen Zum Throne des Ew’gen, Mih spiegeln im Abdruck des höchsten 
Gedankens, Mich wiegen in Düften, Die Räume durdfliegen, Voll Andadıt, 
voll Wunder ... Doc du, Band der Shwäcdhe, Du ziehest mich nieder, Daß 
fest mich umklammert Das Heer deiner Fäden, Und jeglihes Streben Nah Oben 


mißlingt mir.« 


Imago 11/2 8 


114 Dr. Eduard Hitschmann 


Aud aus zahlreichen Stellen seiner intimen Aufzeichnungen, 
seiner Briefe und seiner Schriften folgert der Biographı Damm »wie 
ungeheuer shwer Schopenhauer unter dieser geheimen Geißel litt, 
wie er sich selbst bewußt war, daß die Leidenshaft zum weiblichen 
Geschlecht, der Sinnengenuß ihn stets aufs Neue in Fesseln schlug 
und seinem Charakter dunkle Schatten aufsetzte... Schon im 
Jünglingsalter suchte er diese Triebe zu bekämpfen: bald stürzte er 
sich mit Eifer in die kaufmännishen Obliegenheiten, bald suchte er 
Ablenkung in der Lektüre... im Besuh von Theater und Kon- 
zerten, in der Ausübung des Flötenspiels, in weiten Spaziergängen 
und im Betreiben des Segelsports. — Die Natur aber wollte ihr 
Redt. Schließlich überwältigte ihn der Ekel am ganzen Dasein und 
er versank in immer tiefere Melandolie« (p. 5%. Er litt zeitlebens 
unter diesem »Dämon« und »mit einem Jubelruf begrüßte er darum 
den Eintritt jener Lebensjahre, in denen die Be een schlafen ge= 

angen sind« und die Erlösung erfolgt. Es Tiext nahe, in dem 
E losuschedürinie das auh in Schopenhauers Philosophie eine 
so große Rolle spielt, eine Analogie hiezu zu finden. Dem starken 
Trieb entspriht auch das starke Schuldgefühl, welches, wie wir sehen 
werden, mit die Grundlage seiner pessimistishen Weltanschauung 
eworden ist. Schopenhauer bemerkt gelegentlih, daß der der 
Kindheit fehlende Sexualtrieb später das Leben verdüstere: 

»Dieser Trieb hebt jene Sorglosigkeit, Heiterkeit und Unschuld . . auf, 
indem er in das Bewußtsein Unruhe und Melandolie, in den Lebenslauf Unfälle, 
Sorge und Not bringt« (W. W. II, p. 668). 

Das mit der Angst innigst zusammenhängende Schuldgefühl 
sind wir gewohnt, teils auf dem Ödipuskomplex entspringende 
böse Wünschen auf Eltern und Geschwister zurückzuführen, teils 
wird es verstärkt durh die von der Autorität der Eltern der kind= 
lihen Onanie entgegengesetzten Drohungen, die einer Natur wie 
dem strengen Vater Ehonehhätere gewiß nahelagen. Der Knabe, 
dem der Vater übrigens mit sechzehn Jahren noch seine schlechte 
Körperhaltung vorwerfen mußte, sceint auch seine Phantasien 
damals niht im Zaume gehalten zu haben. Er verschlang mit der 
üblihen Heimlichkeit und Begierde jener Jahre eine Menge poetischer 
Werke und Romane, sichtlih mit schlehtem Gewissen. »Du bist 
nun schon fünfzehn Jahre alt,« schreibt ihm die Mutter, »Du hast 
shon die besten deutschen, französishen und zum Teil auch eng- 
lishen Dichter gelesen und studiert und doh außer den Scul- 
stunden kein einziges Buh in Prosa, einige Romane ausgenommen, 
keine Geschichte, nichts als was Du etwa lesen mußtest, um bei 
Herrn Runge zu bestehen ... .. alles in der Welt wollte ich dich 
lieber werden sehen als einen sogenannten Belesprit.« Vielleicht 
hatte Arthur mehr Romane gelesen, als sie dachte, heißt es bei 
Möbius (p. 36) weiter. »Dem K. Bähr erzählte Schopenhauer, 
er habe als vierzehnjähriger Knabe mit Hilfe seines Kommoden- 
schlüssels der väterlihen Bibliothek den Roman »Faublass entführt 


Schopenhauer 115 


und habe sih Nacdts auf seinem Bette sitzend darein vertieft. Da 

sei der Vater, um in seiner Frau Zimmer zu kommen, unversehens 
hereingetreten: »Ein gegenseitiges Ertappen!« Vor dem Romanlesen 
hat Schopenhauer später die jungen Leute wiederholt gewarnt, 
er muß wohl die übeln Folgen gespürt haben.« Der psydisch be- 
deutsame Kampf zwischen Sexual- und Ichtrieb mag um die Zeit der 
Pubertät und später auch bei Schopenhauer eine wichtige Rolle 
für Charakterbildung und geistige Ziele gespielt haben!. Die ange- 
strebte sexuelle Abstinenz seines späteren Lebens, der er nur perio- 
dish untreu wurde, führte wieder zur Verstärkung, . Kon- 
tinuierliherhaltung der Angst, die wieder den Ausdruk in den 
verschiedenen bereits angeführten Phobien fand: in auffällig über- 
triebenen Vorsichtsmaßregeln gegen überschätzte Gefahren, gegen 
Krankheit und Tod insbesonders. Daher hat er auh das Thema 
der Vergänglichkeit, der Flüctigkeit der Zeit und insbesondere des 
Todes, welhe seit jeher die Anreger alles Philosphierens gewesen 
sind, aus seinen a Erlebnissen heraus als solhe empfunden, 


wenn er sagt (W. IL, p. 185): 


»Ohne Zweifel ist es das Wissen um den Tod und neben diesem die 
Betrahtung des Leidens und der Not des Lebens, was den stärksten Anstoß 
zum philosophishen Besinnen und zu metaphysishen Auslegungen der Welt 
gibt.« 

Darum sagt Schopenhauer mit Redt, daß der Tod der 
wahre Musaget der Philosophie sei?. — 

Den mehr als ernsten und grüblerishen Knaben hatte das be- 
wegte Reiseleben nicht aus seiner trüben Stimmung zu reißen ver- 
mocdt, er blieb nach innen gewendet und shon mit zwölf Jahren 
verrät er eine brennende Liebe zur Wissenshaft und eine starke 
Neigung zur Gelehrtenlaufbahn. Als er endlih nah dem Tod des 
Vaters, dem zuliebe er noch zwei Jahre in »nadhträglihem Gehorsam« 
(Freud) dem Kaufmannsstande treu blieb, sich der Wisselfschaft widmen 
konnte, zeigte er sich voll von edelstem Eifer und Wissenstrieb, ver- 
schlang zahllose Bände und es dauerte nicht fange, so hatte er alles 
nachgeholt und die ausgiebigste Grundlage für philologishe und 
philosophishe Bildung gelegt. Im zwanzigsten und einundzwanzigsten 
Lebensjahr begann er sich bewußt mit jenen ernsten, tiefsinnigen 
Themen zu beschäftigen, die er später im vierten Buche seines 
Hauptwerkes eingehend behandelt hat. Daß der junge Schopen- 
hauer, der sih shon den Philosophen merken ließ — »Jugend und 
Philosophie gepaart -— immer eine paradoxe Erscheinung» (Möbius) — 


—— 





! Es ist auc interessant, daß er sich eines guten Gedäcdtnisses für seine 
ersten zwölf Lebensjahre rühmt. Warum nicht weiter? müssen wir fragen: vermut- 
lih begann um diese Zeit eine stark einsetzende Verdrängung. 

® „Der Tod ist der eigentliche inspirierende Genius oder der Musaget der 
Philosophie, weshalb Sokrates diese auh Yavarov uslern definiert hat. Schwerlich 
sogar würde, auh ohne den Tod, philosophiert werden.s (Über den Tod und sein 
Verhältnis zur Unzerstörbarkeit unseres Wesens an sich, II. Bd., p. 542). 


116 Dr. Eduard Hitshmann 


keine großen Erfolge beim weiblihen Gescledhte hatte (bei den 
een seiner Schwester), ist begreiflih; »er war eben keine 
Speise für sie« (Möbius). Schopenhauer selbst sagt: »In meiner 
Jugend madte die Vernadhlässigung, die ich in der Gesellschaft erfuhr 
und der Vorzug, den man den AÄlltäglihen, Platten, Dürftigen vor 
mir gab, mih an mir selber irre.« — Fassen wir Schopenhauers 
seelishen Zustand um diese Zeit zusammen, so verstehen wir, 
warum er Wieland — als dieser ihm abriet, lediglih Philosophie 
zu studieren, was doch kein solides Fah sei — antworten konnte: 
»Das Leben ist eine mißlihe Sache: ich habe mir vorgesetzt, es 
damit hinzubringen, über dasselbe nahzudenken.« (April 1811.) 


Wir dürfen uns um diese Zeit Schopenhauer im äußeren 
Leben nicht allzu vershieden von anderen Studenten vorstellen. Es 
scheint, daß seine materielle Unabhängigkeit‘, das Erreichen seiner 
geistigen Ziele und das anregende en in Weimar ihn geselliger 
machten und seine von der Kindheit her schon bestehende pessimi= 
stishe Verstimmung zeitweilig unter den ÄAblenkungen des Sportes 
und der geselligen Zerstreuungen vershwinden ließen. Wir werden 
noch einmal ein ähnlihes Aus-der-Art-shlagen dieses zu ernstem 
und eingezogenem Leben bestimmten Mannes begegnen, und zwar, 
als er nah Vollendung seines Hauptwerkes im dreißigsten Lebens=- 
jahr nad Italien reist. Er schreibt damals folgende siegesbewußte 
Verse nieder: 


» Aus langgehegten, tiefgefühlten Shmerzen Wand sich’s empor aus meinem 
innern Herzen. Es festzuhalten hab’ ich lang gerungen: Doch weiß ih, daß zu= 
letzt es mir gelungen. Mögt euh drum immer wie ihr wollt gebärden: Des 
Werkes Leben könnt ihr nicht gefährden. Aufhalten könnt ihr’s, nimmermehr 
vernichten: Ein Denkmal wird die Nahwelt mir errichten !« 


Es ist ein Zeichen für seinen geistigen Ehrgeiz, daß Höhepunkte 
seines Studien- und Arbeitsfortschritts ihm die Lebensfreude nahe- 
bringen. Dem durh Jahre wider Willen im Kontor festgehaltenen 
Jüngling war eine goldene Zeit angebrohen, da er mit seinen 
Geisteskräften und mit seinem Tätigkeitstrieb sich auf das ganze 
Gebiet der Wissenschaften werfen konnte und sein Fleiß, sein Inter= 
esse waren bewundernswert. Ausgezeichnete Lehrer und Ratgeber 
standen ihm zur Seite, sein vortrefflihes Sprachtalent kam ihm zu 
Nutze und das Ideal, in allen Fächern zu Hause zu sein, um später 
der Königin der Wissenschaften dienen zu können, mochte ihm schon 
damals vorgeshwebt haben. Sein Interesse für Naturwissenschaft, 
vielleiht auh für hygienishe Fragen (wohl aus Hypodondrie 
stammend), wandte sih vorübergehend der Medizin zu. Das um- 


ı Mit einundzwanzig Jahren erhielt er von der Mutter das väterlihe Erb- 
teil ausbezahlt, welches ihm nach dem damaligen Kapitalswerte vollkommen aus-= 
reihend erscheinen mußte, ihm für seine Person zeitlebens ein bequemes Auskommen 
zu sichern. Die materielle Unabhängigkeit, die gleichzeitig mit der von der Mutter 
einherging, mußte sein Selbstgefühl heben. 


Schopenhauer 117 


fassende Universalstudium, das Schopenhauer damals beschäftigte, 
erhielt die entscheidende Rihtung durch den Rat seines Professors 
G. E. Schulze, der ihn bestärkte, Philosoph zu werden, und zu= 
nächst seinen Fleiß ausscließlih Plato und Kant zuzuwenden riet. 
Er warf sih dann in Berlin mit erneutem Eifer auf das Studium 
der Philosophie und begann sich gesellschaftlih mehr und mehr 
zurückzuziehen. Er verzichtete, daran zu denken, ein Haus zu 
gründen, Weib und Kinder zu besitzen und lebte nur dem einen 
Lebenszwec&k, sein Werk zu vollenden. Seine Dissertation Ȇber 
die vierfahe Wurzel des Satzes vom zureihenden Grunde« verriet 
einem Kritiker schon, daß der junge Philosoph die Absicht habe, 
»die Ethik zum Schlußstein der ganzen Philosophie zu mahen«. Er 
war damals schon mit seinen weit höher strebenden Absichten be= 
schäftigt, sein Haupt- und Lebenswerk gewann bereits in seinem 
Innern Gestalt, es sollte eine Philosophie werden, die niht auf dem 
Wege der Wissenschaft gesuht war, sondern durh Anschauen der 
Welt (Intuition), mehr Kunstwerk als Wissenshafl. Schopen= 
hauer hat dann wiederholt geschildert, wie er die Freude, etwas 
Großes und Wertvolles in sih wachsen zu fühlen, gleih einer 
stolzen jungen Mutter empfunden hat, er hat damit allen jenen, 
die etwa noch glauben, daß ein Philosoph die Grundlehren seines 
Systems ausklügle oder konstruiere, in klarster Weise gezeigt, daß 
das Entstehen eines philosophischen Gebäudes ebenso unbewußt vor 
sich gehen kann, wie ein Tagtraum oder ein Kunstwerk. Am besten zeigt 
sich dies darin, daß diese Jugendkonzeption seines Hauptwerkes — des 
Werkes seines Lebens, wie er selbst sagt — die endgiltige blieb, da 
alle spätere Giedankenarbeit des Philosophen in eigenartiger Starrheit 
nur der Ausgestaltung, Bestätigung, Begründung und Rechtfertigung 
seiner Grundprinzipien galt. Diese Jungmannszeit war die eigentlich 
und einzig shöpferische in seinem Leben, in ihr gebar er den seiner 
würdigen Geistessprossen, dessen Schutz, Pflege und Verteidigung 
sein übriges Leben gewidmet war. Ruhe und Muße. war der frucdt- 
bare Boden für die Schöpfung und Jahrzehnte lange Verteidigung 
dieses Kindes. Man mag sic sender in seiner Studenten- 
stube vorstellen, wo Platos und Kants Werke, des Sokrates Büste 
und Goethes Bildnis zu finden waren und wo damals schon der den 
menschlichen Vertrauten vorgezogene Pudel auffallend erscheint. Mag 
es auh zu gelegentlihen Disputen unter Kollegen gekommen sein, 
wobei sih Schopenhauer selbstbewußt und brüsk benommen hat, 
so mied er doc, angeblih weil es ihm unbequem und antipathish 
war, vermutlih aber mehr aus den tieferen unbewußten Cränden 
seiner Asozialität, des Widerstandes gegen das Zusammensein, fast 
alle Geselligkeit, jedes Familien- oder Vereinsleben und prädestinierte 
sih shon damals für das dauernde Junggesellentum. Wenn er aber 
auch Junggeselle blieb — die Ehelosigkeit ist eine wiederholt hervor- 
gehobene Figenart der Lebensführung der Philosophen, wie besonders 
Nietzsche in seiner Abhandlung »Was bedeuten asketische Ideale« 








118 Dr. Eduard Hitshmann 


mn nn nn 


betont hat! —, so mögen doch hier entgegen den vielfah um= 
gehenden Meinungen, daß Schopenhauer gar nichts mit Frauen 
zu tun gehabt habe, sowie der unberechtigten und leichtfertigen Be- 
hauptung Lombrosos über größte sexuelle Ausschweifungen, 
einige Bemerkungen über das Liebesleben Schopenhauers Platz 
finden. Im Gegensatz zu seinem so oft von ihm selbst als über- 
mäctigen Dämon bezeichneten Sexualtrieb, der ihn erst im Älter 
zur Ruhe kommen ließ, wissen wir Sicheres nur von einigen nicht 
dauernden Liebesbeziehungen, die er einging, niht ohne mit dem Ge- 
danken an die Ehe theoretish zu spielen. Aus dem Tagebuch der 
Schwester, der er in Briefen so manches anvertraute, wissen wir, 
daß seine Geliebte in Dresden guter Hoffnung war, wobei er sich 
übrigens »rechtlih und gut benommen« haben soll. »Zärtlihe Be- 
ziehungen fesselten ihn an Fräulein Medon, die der Berliner Hof- 
bühne angehörte... für die Stärke seiner Neigung zu ihr spricht es 
wohl, daß er ihrer nach dreißig Jahren mit einem bedeutenden 
Legat gedaht hat« (Damm, S. 184). 

Liebe und Ehegedanken traten Schopenhauer audh in 
Venedig nahe. Nadı Italien war er ja nah Abschluß seines Werkes 
lebens- und wahrsceinlih auch liebesdurstig geeilt, nachdem ihm 
shon die letzten Jahre hindurh Wunschträume jenes Land vorge- 
spiegelt hatten. Möbius sagt von den dort eingegangenen Liebes=- 
beziehungen zusammenfassend: »AÄbgesehen von rein sinnlichen 
Verhältnissen geriet Schopenhauer audh zu einer Dame der 
Gesellshaft in Beziehungen (»die Geliebte ist reih, sie ist von 
Stand gar,« schreibt Adele), die, wie es scheint, beinahe mit einer 
Heirat geendet hätten« (p. 67). »Von den inneren Kämpfen,« sagt 
Gwinner (p. 20), »die er gegen Änfechtungen dieser Art zu be= 
stehen hatte, geben Überlegungen Zeugnis, die er in englischer 
Sprahe Zetteln anvertraute, deren Inhalt jedoh im ganzen sich 
nicht zur Mitteilung eignet.« Daß trotz seiner Abneigung gegen eine 
dauernde Verbindung mit der Frau, oder vielmehr eben dadurd, 
Schopenhauers Sinnlichkeit, vielfach unbefriedigt, die Phantasie 
sehr leicht überflutete, so daß er zum weiblihen Geshlehte kaum 
geistige Beziehungen eingehen konnte, hat er selbst verraten: indem 
er seiner Schwester schrieb, er hätte außer ihr nie eine Frau ohne 
Sinnlihkeit geliebt. 

Wir können hier niht die Psychologie des Ledigbleibens, des 
Hagestolzentums breit erörtern. Es ergibt sih für Schopenhauer 
speziell schon aus vielem hier Gesagten, daß er zur Ehe aus den 
Tiefen seiner Persönlichkeit vollkommen ungeeignet war. 


Er weiß ganz gut: »Von der Natur bestimmt ist des Menschen Los: 
Tages Arbeit, Nachts Ruhe und wenig Muße, und des Menschen Glük: Weib 


ı Schopenhauer erwähnt, sich selbst vergleihend, alle echten Philosophen 
seien ledig geblieben, so Cartesius, Leibniz, Malebranche, Spinoza und 
Kant, des Sokrates Leiden sei bekannt und Aristoteles sei ein Hofmann ge- 
wesen. 


Schopenhauer 119 


und Kind, die sein Trost sind im Leben und Sterbens. Aber heißt es selbst=- 
tröstend weiter: »Wo eine abnorme Beschaffenheit große geistige Bedürfnisse, 
und mit diesen die Möglihkeit großer geistiger Genüsse herbeiführt, da wird 
freie Muße zur Hauptbedingung des Glüks, für welche sodann dem normalen 
Menschenglük durh Weib und Kind willig entsagt wird.« 

»Die meisten Männer,« sagt Schopenhauer an anderer Stelle, »lassen 
sih durh ein schönes Gesicht verlocken: denn die Natur induziert sie dazu, 
Weiber zu nehmen, indem sie diese auf einmal ihre volle Glanzseite zeigen 
läßt, die vielen Übel dagegen, die sie im Gefolge haben, verbirgt: als da sind 
endlose Ausgaben, Kindersorgen, Widerspenstigkeit, Eigensinn, Alt- und 
Garstigwerden nah wenigen Jahren, Betrügen, Hörneraufsetzen, Grillen, 
hysterishe Anfälle, Liebhaber und Hölle und Teufel. Deshalb ist die Heirat 
eine Schuld zu nennen, die in der Jugend kontrahiert und im Alter bezahlt wird... 
Die freie Muße, welche sie ihren Weibern zu erarbeiten den Tag verbringen, 
braudt der Philosoph selbst. Der Verheiratete trägt die volle Last des Lebens, 
der Unverheiratete nur die halbe.« 


Die unbewußten, aber wirklihen Motive sind die Sexualab- 
lehnung und die damit im Zusammenhang stehende Angst, das böse 
Vorbild der elterlihen Ehe u. a. wirkten zusammen mit seiner 
Asozialität, seinem Binsamkeitsbedürfnis, um Schopenhauer nie 
heiraten zu lassen. Schopenhauer hat diese Hemmungen kaum 
durchschaut, vielmehr sie sekundär verstandesmäßig zu begründen 
gesucht (»rationalisiert«). Die Angst vor Betrogenwerden, Körperlich- 
Geshwäctwerden, von materiellen Opfern etc. verrät er zu deut= 
lih. Bei seiner Sensibilität und Intellektualität, seinem Sinn für 
Unabhängigkeit, bei seinem Entshluß, von seinem kleinen Ver- 
mögen ohne Arbeit sparsam zu leben, last not least bei seiner, 
allerdings teilweise sekundären, herabsetzenden Ansiht über das 
weiblihe Geshleht — konnte die Entsheidung nur nach der 
negativen Richtung fallen. Das gehaßte und verachtete Bild seiner 
Mutter, zumindest die von widerstreitenden Gefühlen getragene 
Einstellung des Sohnes werden dabei eine entscheidende Rolle gespielt 
haben. In dieselbe Rihtung weist auh eine weitere letzte Wurzel, 
seine seltsame Einstellung zum Weib und seinen Mitmenschen. 

Die Widerstände, die wir bei Schopenhauer sowohl gegen 
die Verbindung mit dem Weibe wie gegen die Wertung des 
Weibes finden, seine Herabsetzung des Geschlectsaktes, lassen den 
geübteren Psychoanalytiker shon hieraus eine stärkere Betonung 
des homosexuellen Anteiles der bekanntlich allgemeinen bisexuellen 
Anlage des Menschen bei Schopenhauer annehmen!., Vom tat- 
sählihen Liebesumgang mit Männern absolut fernbleibend muß 
Schopenhauer als sozusagen »ideell gleihgeshlehtlih« (Freud) 
bezeichnet werden. Als Beweise für diese Annahme sei auf folgende 
gewichtige Tatsahen hingewiesen. Shopenhauer en den 
weiblihen Körper als häßlich, den des Jünglings als schönsten, 

So heißt es P, P. II, p. 654 »über die Weiber«: 


ı Vgl. Frauenstädt, »Memorabilien etc,«, p. 393 und 394. 


120 Dr. Eduard Hitschmann 


»Das niedrig gewachsene, schmalshultrige, breithüftige und kurzbeinige 
Geshleht das schöne nennen konnte nur der vom Gescledtstrieb umnebelte 
männliche Intellekt: in diesem Triebe nämlich steckt seine ganze Schönheit. Mit 
mehr Fug als das schöne, könnte man das weiblihe Geschlecht das unästhetische 
nennen.« 


Und in der »Metaphysik der Geschlectsliebe« ist die Rede von 
den Jünglingen, »die doch eigentlih die höchste menschlihe Schön- 
heit darbieten«!, 

In einer brieflihen Kritik von Frauenstädts Bud »Ästheti=- 
she Fragen« heißt es p. 50: 


sein vollkommenes Weib ist schöner als ein vollkommener Mann,« 
— quae qualis, quanta! Hier haben Sie ein höchst naives Bekenntnis Ihres Ge- 
schlectstriebes abgelegt ... . Warten Sie, daß Sie in meinem Alter sein werden, 
wie Ihnen dann diese kurzbeinigen, langleibigen, shmalscultrigen, breithüftigen, 
mit Zitzen exornierten Persönchen vorkommen werden: auc ihre Gesichter sind 
nichts gegen die der schönsten Jünglinge, zumal die Augen ohne Energie.s 


Mit Reht sagt B. Friedländer? in bezug auf diese Stelle: 
»Meiner Änsiht nach ist derjenige, der so wertet, wie Schopen= 
hauer, ein sozusagen ästhetisch Homosexueller. Aber audh 
die anderen Auslassungen über Weiber, nämlih über deren Psyche 
und Intellekt, atmen denselben Geist... und er beweist damit eine, 
wenn man so sagen darf, psychisch gleichgeschlectlihe Neigung. 
Denn es ist doh unmöglich, daß, wer so denkt und empfindet, ein 
inniges Verhältnis mit einem Jüngling einem solchen mit einem Weib 
niht bei weitem vorziehen sollte.« Friedländer gibt sogar der 
Vermutung Raum, daß »vielleiht die Lebensfeindlichkeit, die ver- 
feinerte Grießgrämigkeit, kurz der Pessimismus des großen Denkers 
die letzte tiefste Wurzel in einer unbefriedigten uranishen 
Veranlagung gehabt habe... Nur der ganz Unkundige würde 
die nachgewiesenen, vorübergehenden, rein sinnlihen Beziehungen 
Schopenhauers zu Weibern als Gegengrund anführen können«. 

Als ergänzende Argumente seien hervorgehoben Schopen- 
hauers übertriebene Abneigung gegen den Änblick des männlichen 
Bartes wie auch die später (vgl. p. 129) zitierten Äußerungen über 
das Verbergensollen des Genitales. Er verwirft den Bart wieder- 


holt als häßlih und tierish. So heißt es «P. P. I, p. 204: 


»Sogar als äußerlihes Symptom der überhand nehmenden Roheit er- 
blikt ihr den konstanten Begleiter derselben — den langen Bart, dieses Ge- 
schlectsabzeichen, mitten im Gesicht, welches besagt, daß man die Maskulinität, 
die man mit den Tieren gemein hat, der Humanität vorzieht .... Das Ab- 
scheeren der Bärte in allen hochgebildeten Zeitaltern und Ländern ist aus dem 


ı Wenn wir uns berechtigt glauben, diese Äußerung als Zeichen einer 
unbewußten homosexuellen Neigung anzuführen, so übersehen wir dabei nicht, daß 
die Frage nah:einem objektiven Schönheitsideal vielfach von Ästhetikern zugunsten 
der Männlichkeit entshieden wurde. 

? „Die Renaissance des Eros Uranos«, Berlin 1904. 


Schopenhauer 121 


rihtigen Gefühl des Gegenteils entstanden... Zudem ist alles Behaartsein 
tierish. Die Rasur ist das Abzeichen der höheren Civilisation.« 


» Schopenhauer gehört also zu jenem nicht seltenen Typus 
sexuell relativ zurückhaltender Männer, die durch diese Eigen- 
shaft und durh kleine andere Züge verdrängte homosexuelle 
Neigung verraten. Daß Schopenhauer selbst die etwa von seinen 
Gegnern ihm zugemutete Homosexualität im vorhinein ironish ab- 
lehnt, kann für uns kein Gegenargument gegen diese Vermutung 
sein. Schopenhauer hat der Päderastie einen eigenen Abschnitt 
als Anhang zur Metaphysik der Gesclecdtsliebe gewidmet, in 
welchem er sie als häufige Erscheinung des Alters und der Jugend- 
jahre teleologish dahin auslegt, die Natur wolle dadurh die Er- 
zeugung degenerierter Nachkommen hintanhalten. Am Schlusse be= 
gründet er die Abfassung dieses Abscnittes mit folgender ironischer 
Bemerkung: Er hätte damit »den Philosophieprofessoren eine kleine 
Wohltat zufließen lassen wollen, indem er ihnen Gelegenheit er- 
öffnete zu der Verleumdung, daß er die Päderastie in Schutz ge= 
nommen und empfohlen hättex. — Es sei auh aufmerksam gemadt 
auf jene Darstellung des Entstehens seines Hauptwerkes, wo 
Schopenhauer sich selbst ganz weiblich=mütterlih und »schwanger« 
empfindet, das Werk als Kind im Mutterleib: »Ich sehe es an und 
sprehe, wie die Mutter: ih bin mit Frudt gesegnet« (N. P, 
8% 630). Es entspräche dieses Bild passiver Homosexualität, wie 
wir sie als Folge übergroßer Liebe zum gefürchteten Vater ent= 
stehen sehen. Schopenhauers unbewußte homosexuelle Neigung 
mag selbst wieder verstärkt worden sein durh seine Ab- 
wendung vom Weibe (von der Mutter). Finden wir aber bei 
anderen Menschen als Sublimierungsprodukt verdrängter gleich- 
geschlechtlicher Neigung den Sinn für Freund und Geselligkeits- 
beziehungen, so sehen wir, daß Schopenhauer auch diese im 
weiteren Sinne der Libido eesensönden Beziehungen zu den 
Nebenmenshen in ganzen großen Abschnitten seines Lebens ver- 
missen läßt und erst im Älter von einem kleinen Kreis geistiger 
Anhänger umgeben ist. Auch dem Vereinsleben bleibt er zeitlebens 
ferne und sein Mensen der sich in niht shwäcderen Ausdrücken 
und Übertreibungen äußert als sein Weiberhaß, zeigt, daß beiSchopen- 
hauer auch die Libidoübertragung auf die Mitmenschen späterhin 
gehemmt war, wenn er auch vorübergehend in seinen Knaben- 
freundshaften! und als Jüngling wenige Ausnahmen gemadt hatte. 
Ohne Freund, ohne Frau, ohne geselligen Kreis, ohne Empfindung 
dafür, den übrigen Menschen zu geben oder von ihnen zu empfangen, 
ging der in diesem Sinne tief unglücliche Mensd allein durchs Leben, 
eingehüllt in seinen Stolz und seine Menschenverahtung, die ihm, aus 
Ressentiment entspringend, zum Trost in seiner Einsamkeit dienten. 

ı Vgl. dazu den Traum des 42jährigen Schopenhauer von »seinem 


Busenfreund und steten Spielkameradens Gottfried Jänisch, der mit 10 Jahren ge= 
storben war (N. P. $ 194). 


122 Dr. Eduard Hitschmann 


Nad elfmonatlihem Aufenthalt in Italien wurde er in Mai- 
land durh die alarmierende Nachricht von einer das Vermögen 
der Seinigen bedrohenden finanziellen Krise unangenehm überrascht, 
Die Mutter hatte den größten Teil ihres Vermögens sowie das der 
Tocdter verloren und erhielt sih später durh Schriftstellerei. Das 
nächste war, daß er der Schwester schrieb, er sei bereit, mit ihr 
und der Mutter das Wenige, was ihm geblieben sei, zu teilen, wo- 
von jedoh kein Gebrauh gemadht wurde. Er beschloß jedoch so- 
fort, sich als Privatdozent zu habilitieren. Sein ausgesprocdener Besitz=- 
trieb und seine geschäftlihe Tüctigkeit erreichten es im Verein mit 
seiner Hartnäcigkeit, daß er sich sein eigenes Vermögen unbeein- 
trächtigt erhielt. Die Geschwister aber entfremdeten sich in diesem 
brieflihen Konflikt für mehr als 10 Jahre. Die Dozentur endete mit 
einem Mißerfolg, da sein Gegner Hegel auf der Höhe seines 
Ruhmes stand, und Schopenhauer selbst sih wie gewöhnlich 
shroff benahm. Dies war für ihn ein zu berechtigter Verstimmung 
und mißtrauishem Pessimismus Anlaß gebendes Erlebnis. Die 
Ignorierung seines Lebenswerkes durch viele Jahrzehnte gab weitere 
zureihende Gründe. Es schließen sih jetzt Jahre an, in denen 
Schopenhauer nah Fortsetzung seiner unterbrodhenen Italien= 
reise seinen Wohnort an verschiedenen Städten aufzuschlagen 
suchte, 1825 nach Berlin zurückkehrte und 1833 sih von der 
Cholera vertrieben, endlih dauernd in Frankfurt a. M. festsiedelte, 
wo wir ihn, zu einer stadtbekannten Figur geworden, als welt- 
rg Berühmtheit aufgesuht, auh seine Tage beschließen 
sehen. 

War Schopenhauer im allgemeinen von großer körperlicher 
Widerstandsfähi Bi und noh im Greisenalter kräftig und rührig, 
von gesundem Schlaf und gesegnetem Appetit, so madte er dod 
einmal — mit 35 Jahren — eine langwierige Krankheit durh, von 
der wir nichts Bestimmtes wissen, über die er aber Klage geführt 
hat, der er die Schuld an seinem frühen Ergrauen gab und seine 
Nervenshwähe zushrieb. Über die Art dieser Erkrankung ist 
zwishen Iwan Bloh und Wilh. Ebstein ein wissenschaftlicher 
Streit ausgefohten worden. Der erste Autor glaubt auf Grund 
von Schopenhauers Greheimaufzeichnungen über seine Quec-= 
silberkur und aus anderen Gründen den Nachweis erbringen zu 
können, daß es sih um eine schwere tertiäre Syphilis gehandelt 
habe <(primäres Stadium nah Bloch 18134), der zweitgenannte 
Autor jedoch leugnet das Zwingende der Beweisführung und meint, 
es habe sih um die von Schopenhauer in einem Brief an den 

ı Bloch findet auch in der venerischen Erkrankung Schopenhauers »eine 
der Wurzeln seiner asketishen Weltanshauung und seines Pessimismus.« — 
Wir schließen uns dieser Ansiht an, aud für den Fall, daß die Syphilis Schopen= 
hauers nicht tatsählih war, denn an Syphilisangst hat er deutlih gelitten. 
Man vgl. dazu Schopenhauers ÄAnsiht: »Damit der Gesclecdtstrieb nicht zu 


viel Gewalt über den Menschen gewinne, ist die venerishe Krankheit ein sehr 
dienliher Damm.« 


Schopenhauer 123 


intimsten seiner älteren Jugendfreunde, Osann, angegebene Krank= 
heit: Hämorrhoiden mit Fistel, Giht und Nervenübel gehandelt. 
Es zeigen sih auch im weiteren Leben keine Folgezustände und erst 
mit 72 Jahren starb er nah kurzem Leiden an einer Herzlähmung. 
Wie viele andere Persönlichkeiten ist auh Schopenhauer 
erst durch die Bilder seines Alters zu einer populären Figur ge=- 
worden, und sein ernstes, durhfurhtes Gesiht mit den weißen 
Haarbüscheln zu beiden Seiten des mädhtig gewölbten Schädels gehört 
zu den markantesten Bildern großer deutsher Männer. Als stürmisch 
dahinschreitender Spaziergänger in altmodischer Kleidung, der laut 
vor sih hinmurmelt und oft unartikulierte Laute ausstößt, dazu mit 
dem Stok heftig zur Erde stampft, war er, unzertrennlih von 
seinem Pudel, in Frankfurt eine bekannte Straßenfigur. Mehr noch 
als in früheren Stationen lebte er hier als ein Fremder, er speiste 
im Restaurant, saß in der Regel allein und fing nicht leicht ein Ge= 
spräh mit fremden Tischgenossen an, was für seine allgemeine 
Menschenunfreundlichkeit zeugt. War ihm jedoch einmal ein Gespräch 
sympathish, so konnte er auh bis in die Nadt hinein sitzen 
bleiben, philosophierte auch hier mit Vorliebe und viele seiner Zeit= 
genossen rühmen seine ernste, der Zote wie der Banalität ent= 
ratende Konversation. Auch hier war er gerne didaktish und 
Gwinner gibt mit tiefer psydhologisher Ahnung das befremdende 
Gefühl wieder, seinen über a=a sprehen zu hören und ein Ge-= 
siht dazu machen zu sehen, als spräche er mit seiner Geliebten von 
der Liebe.« Wie sich im Verkehr manche Verschrobenheit und Pedanterie 
verrät, so ist es auch interessant, dem Philosophen in seine Wohnung 
zu folgen. Am Morgen sehen wir ihn energish sich das »optimum« 
geistiger Konzentration wahren: er darf nicht gestört werden, sieht 
niht einmal die Dienerin um diese Zeit. Sein Zimmer war nüc- 
tern, nur eine vergoldete Statuette des Buddha thronte auf einer 
Marmorkonsole. Kants, Shakespeares, Descartes und Goethes 
Bildnisse hingen an den Wänden, daneben — Hundestüke! Dem 
Pudel, den er in den vierzehn Jahren seines Frankfurter Aufenthaltes 
besessen hatte, gab er außer einem profanen Namen für den intimen 
Verkehr den esoterishen Namen Ätma, d. i. Weltseele, 
Schopenhauers Charakterbild zusammenfassend, müssen 
wir zugeben, daß die Kritik Fichtes aus dem Jahre 1850 über 
die »Parerga«x, so ungereht sie sonst war, das Wesen der Per- 
sönlichkeit nicht unzutreffend charakterisierte, wenn er Schopen- 
hauer als pathologish-psydhologishes Problem zu betrachten emp- 
fehlt, »dessen Rätsel sich eigentlih nur durch persönliche Kenntnis 
lösen ließe«. Es ist seltsam, welch verschiedene Charakterzeihnung 
Schopenhauer widerfuhr und es erklärt sich dies aus dem Um- 
stand, daß er aus seinen Werken einen ganz anderen Eindruck 
mact, als aus den Details seiner Lebensbeshreibung und besonders 
aus den nicht vor einem großen Publikum gemachten Äußerungen 
seiner Briefe und Privataufzeihnungen. Wie wir in unserer Arbeit 


124 Dr. Eduard Hitschmann 


zeigen werden, sind die Grundsätze, die er in den Werken vorträgt, 
keineswegs gerade Ausläufer, sondern größtenteils Reaktionsbildungen 
auf seine Charaktereigenshaften (Überwindung), und so wird es 
verständlich, daß dieser Verteidiger des Mitleids — im Leben als ein 
hartnäciger, heftiger, mißtrauisher, rasch aburteilender Mens, 
selbst von seinem ihn persönlich liebenden Pathographen Möbius be= 
zeichnet wird. v. Seydlitz, der ja das Pathologishe an Schopen- 
hauer weit überschätzt hat, erzählt gar, des Philosophen Ankläger 
hätten seine geistigen Ausschreitungen, »fanatisches Selbstlob, wahr- 
haft häßlihe Gemütsstimmung, nichts achtenden Ehrgeiz, Menschen- 
veradhtung, Lieblosigkeit, Roheit, fanatishe Propaganda gegen okzi- 
dentalishe Bildung, Gesittung und Religiosität« genannt. In seinem 
Büchlein »Schopenhauer als Er schildert Graf Keyserling 
die Schattenseiten dieses »kleinen Menschens, der allerdings ein 
großer Geist war. Keyserling nennt ihn einen ausgesprohenen 
Praktiker mit Zügen eines unternehmenden Handelsherrn, einen 
Tatenmenschen von zäher Vitalität, von rücsictsloser Bigenlebig- 
keit, einen starren Charakter, unbildsam bis zur Unwahrsceinlih- 
keit. Ferner von Widersprüchen durchsetzt, von Leidenschaft durdh-= 
schüttert, unharmonish gequält, zerrissen, voll kleiner häßlicher 
Züge, unvornehm, von Ressentiment erfüllt, abstoßend durch klein= 
lihen Egoismus und Zynismus, von dürftigem Gemütsleben — eine 
verkrüppelte Seele. Seine singuläre Individualität zu überwinden 
gelang ihm nicht, seine Ideale blieben stets unerreiht. — Mag 
dieses Urteil aus kontradiktorischer Individualität stammen, wir regi=- 
strieren es. Wir vergessen aber nicht, daß Schopenhauer ein im 
höchsten Sinne wahrhaftiger, ehrlicher, uneigennütziger Mann gewesen 
ist, daß er in seinen Werken tiefsinnig, geistreih, genialish er- 
scheint und als Mensch von hoher Welt- und Lebensauffassung, als 
Propagandist idealer Forderungen im Menschen, für alles Geistige, 
Künstlerishe eintritt! Hingegen müssen wir jene voreingenommenen 
Urteile zurükweisen, die einen besonders edeln Charakter oder be- 
sondere Gemütstiefe an dem Mann hervorheben, der ja gerade 
seine kräftigsten Impulse und seine Hauptenergien aus jener rohen, 
zuschlagenden, heftigen familiären Naturanlage bezog, die er in seiner 
Ethik zu überwinden versuchte. So geht ein gebrochener Zug durd 
dieses Mannes Persönlichkeit und Werk, der :von kraftvoll zugrei- 
fenden und trotzig sih im Leben durcsetzenden, praktisch tätigen 
Vorfahren stammt und sih durch eine Marotte des Schicksals damit 
begnügen mußte, — hinter Büchern zu sitzen und die Feder zu 
führen!: »So wenig als möglih zu wollen und so viel als möglich zu 

! Der Übereinstimmung halber sei erwähnt, daß der Phrenologe Scheve nach 
Untersuhung von Schopenhauers Scädel, »das Organ des Tätigkeitssinnes« 
am meisten ausgeprägt fand. Auch der Gescledtstrieb verrät sih nach dieser 
allerdings stark angezweifelten Lehre, als entschieden ausgeprägt. — Möbius, 
auch Anhänger Galls, meint sogar, daß aus dem Schädel auf einen Zerstörungs= 


trieb, ähnlich wie an Mörderköpfen, geschlossen werden könne, der allerdings bei 
Schopenhauer nur als rücksihtslose Energie in Erscheinung trat. 


Schopenhauer . 125 


erkennen, ist die leitende Maxime meines Lebenslaufes gewesen«, 
schrieb Schopenhauer einmal auf ein heimlihes Blatt. 

Es würden sih hier manderlei Ausblicke ergeben auf den 
Zusammenhang von heftigem Temperament, unterdrücter Aggression 
und Grausamkeit — mit geistig-künstlerisher Produktion. Der 
Begriff der Sublimierung wäre heranzuziehen und dergleichen. Aber 
wir müssen es uns versagen, das Ihema der Produktivität weiter= 
zuverfolgen. 


II. 
Deutung der philosophischen Grundprobleme. 


Ehe wir darangehen, die aus den biographischen und haraktero- 
logishen Details gewonnenen psydologishen Einsihten auf das 
Verständnis der Entstehung der Schopenhauerschen Philosophie 
anzuwenden, wollen wir unsere Aufgabe neuerlih scharf um= 
renzen, um dem Eindruk vorzubeugen, als prätendierten wir, 
S chopehr Werk in seiner Gänze zu würdigen und zu 
deuten. Vielmehr beschränken wir uns, wie wir glauben, mit 
rihtigem Instinkt, auf die Hauptgrundsätze sozusagen die Leit- 
motive, die uns, neben der Erkenntnistheorie, das objektiv Wert- 
volle und Bleibende der Lehre zu enthalten sceinen. Doc 
ist es kein Zufall, daß gerade diese wenigen mächtigen Grund- 
pfeiler der Lehre sih dem psychologischen Verständnis am ehesten 
erschließen, da sie auf den individuellen Schicksalen des Seelen- 
lebens basieren. Und so wird unsere Betrahtung vor allem eine 
psychologishe Genese der Grundgedanken von ee 
Philosophie zu geben versuchen, damit aber niht etwa eine philo= 
sophishe Würdigung und Beurteilung seiner Erkenntnistheorie, 
Ethik und Metaphysik, geshweige eine Kritik. Überhaupt ist unser 
Standpunkt, daß es sich nicht darum handelt, dem Wahrheitsgehalt 
einer Philosophie nachzuspüren, am wenigsten dem einer Metaphysik, 
da uns vielmehr eine andere Frage vorshwebt, nämlih: warum 
jemand gerade dieses Problem und gerade in dieser Richtung löst. 
Die psydologishen Voraussetzungen und die individuellen Deter- 
minierungen, warum und warum so philosophiert wird, klarzulegen, 
Individualpsyhologie an einem ganz Großen zu treiben, weil sein 
Werk dazu anreizt, sein Leben aber um seines Ruhmes willen im 
Detail bekannt ist, das betrahten wir als unsere Aufgabe. Wir be= 
anspruchen nicht etwa als Philosophen gewürdigt zu werden, betreiben 
auh nicht irgendeine allgemeine Psychologie, sondern — Psydo-= 


analyse. 
1. Willenslehre. 


Das unvergänglihe Verdienst Schopenhauers war die Ent- 
dekung des Willens als »Ding an sih«!. Durch Intuition wird der 


‘ Über frühere ähnlihe Anschauung anderer vgl. »Arthur Schopen- 
hauer«, Memorabilien etc. von J. Frauenstädt, p. 251 und 253. 


126 Dr. Eduard Hitschmann 


Mensh sih dieses seines tiefsten Wesens bewußt, der Wille ist 
»das innere wahre und unzerstörbare Wesen des Menschen . ,. ., 
das allein Metaphysishe und daher Unzerstörbare im Menscen«. 
Der Schopenhauershe Wille ist niht der bewußte Wille, 
sondern etwas Neues, es ist ein dumpfer, blinder Wille, der 
nicht vom Intellekt geleitet wird. Schopenhauer hat also den 
Begriff des Willens erweitert und der Wille im gewöhnlichen 
Sinne ist nur ein Teil des seinigen. Schopenhauers Wille ist ein 
Drängen, eine Art Wille zum Leben, Trieb also im weitesten 
Sinne des Wortes. Dieser Wille wird jedoh im System nicht nur 
den bewußten Wesen zugeschrieben, sondern audh in der außer- 
menschlihen und anorganischen : Welt soll er sich manifestieren. 
Wie wir sehen werden, ist die Blindheit des Willens auh ein 
Hauptargument für den Pessimismus Schopenhauers. Das einzelne 
Wesen faßt er als Objektivation dieses Willens auf, der den Drang 
in sih hat, sih in Einzelindividuen, Gattungen und Ideen zu ge= 
stalten. Am heftigsten tritt dieser Wille in unseren Teilen ach 
und Begierden zutage und am charakteristishesten in dem »unge= 
stümen und finstern Drang« des Sexualtriebes. Sehr mit Recht hat 
sih Schopenhauer daher in weitem Umfang mit der Sexualität 
beschäftigt, wie er in der Einleitung zur »Metaphysik der Geschlecdts=- 
liebe« hervorhebt: 

»,... man sollte daher, statt sih zu wundern, daß auch ein Philosoph 
dieses beständige Thema aller Dichter einmal zu dem seinigen madt, sich dar- 
über wundern, daß eine Sache, welche im Menschenleben durchwegs eine so be= 
deutende Rolle spielt, von den Philosophen bisher so gut wie gar nicht in Be= 
trahtung genommen ist... .« (W. W. II, p. 625). 


Den Gescdledtstrieb faßt Schopenhauer als die stärkste und 
zusammengedrängteste Äußerung des Willens auf. Dies läßt sich 
an mehreren, überaus charakteristischen Stellen, namentlich des zweiten 
Bandes seines Hauptwerkes und in zerstreuten skizzenhaften Auf- 
zeihnungen der späteren Zeit nahhweisen. Dodh schon in seinem in 
der Jugend konzipierten Hauptwerk ist diese Auffassung vertreten: 

»Diesem allem zufolge sind die Genitalien der eigentlihe Brennpunkt 
des Willens und folglih der entgegengesetzte Pol des Gehirns, des Repräsen- 
tanten der Erkenntnis, d. i. der anderen Seite der Welt, der Welt als Vor- 
stellung. Jene sind das lebenerhaltende, der Zeit endloses Leben zusichernde 
Prinzip, in welher Eigenschaft sie bei den Griechen im Phallus, bei den Hindu 
im Lingam verehrt wurden, welche also das Symbol der Bejahung des Willens 
sind. Die Erkenntnis dagegen gibt die Möglichkeit der Aufhebung des Wollens, 
der Erlösung durh Freiheit, der Überwindung und Vernichtung der Welt.« 
(W. W. I, p. 427.) 


Ausführliher hat sih dann Schopenhauer über die um- 
fassende Bedeutung der Sexualität in den späteren Nacdträgen zu 
seinem Hauptwerk geäußert: 


»Aus diesen Betrachtungen erklärt es sich, warum die Begierde des Ge- 
shledhts einen von jeder anderen sehr verschiedenen Charakter trägt, sie ist 


Schopenhauer 127 


nicht nur die stärkste, sondern sogar spezifisch von mächtigerer Art als alle 
anderen. Sie wird überall stillschweigend vorausgesetzt, als notwendig und unaus- 
bleiblich und ist nicht wie andere Wünsche, Sache des Geshmads und der Laune, 
Denn sie ist der Wunsch, welcher selbst das Wesen des Menschen 
ausmacht. Im Konflikt mit ihr ist kein Motiv so stark, daß es des Sieges gewiß 
wäre. Sie ist so sehr die Hauptsache, daß für die Entbehrung ihrer Befrie- 
digung keine anderen Genüsse entshädigen: auch übernimmt Tier und Mensch 
ihretwegen jede Gefahr, jeden Kampf... Dem allen entspriht die wichtige 
Rolle, welhe das Geschledtsverhältnis in der Menschenwelt spielt, als wo es 
eigentlih der unsichtbare Mittelpunkt alles Tuns und Treibens ist und trotz 
allen ihm übergeworfenen Scleiern überall hervorguckt. Es ist die Ursahe des 
Krieges und der Zweck des Friedens, die Grundlage des Ernstes und das Ziel 
des Scherzes, die unershöpfliche Quelle des Witzes, der Schlüssel zu allen An- 
spielungen und der Sinn aller geheimen Winke, aller unausgesprochenen Änträge 
und aller verstohlenen Blicke, das täglihe Dichten und Trachten der Jungen und 
oft auh der Alten, der stündlihe Gedanke des Unkeushen und die gegen 
seinen Willen stets wiederkehrende Träumerei des Keuschen, der allezeit bereite 
Stoff zum Scherz, eben nur weil ihm der tiefste Ernst zum Grunde liegt . . . 
Dies alles aber stimmt damit überein, daß der Geschlechtstrieb der Kern des 
Willens zum Leben, mithin die Konzentration alles Wollens ist; daher eben 
ich im Texte die Genitalien den Brennpunkt des Willens genannt habe. Ja, man 
kann sagen, der Mensch sei konkreter Geschlecdtstrieb, da seine Entstehung ein 
Kopulationsakt und der Wunsh seiner Wünshe ein Kopulationsakt ist und 
dieser Trieb allein seine ganze Erscheinung perpetuiert und zusammenhält ... 
Daher ist der Gesclectstrieb die vollkommenste Äußerung des Willens zum 
Leben, sein am deutlichsten ausgedrückter Typus: und hiemit ist sowohl das Ent- 
stehen der Individuen aus ihm, als sein Primat über alle anderen Wünsche 


des natürlihen Menschen in vollkommener Übereinstimmung.« (W. W. II, 
p. 602 ff.) 


Im Nadlaß, in den für seine Person und das Verständnis 
seiner Lehre so aufsclußreihen »Neuen Paralipomenas (N. P.) 


heißt es (& 401): 


»Wenn man mid frägt, wo denn die intimste Erkenntnis jenes innern 
Wesens der Welt, jenes Dinges an sih, das ih den Willen zum Leben ge= 
nannt habe, zu erlangen sei? oder wo jenes Wesen am deutlichsten ins Bewußt= 
sein tritt? oder wo es die reinste Offenbarung seiner Selbst erlangt? — so muß 
ih hinweisen auf die Wollust im Akt der Kopulation. Das ist es! Das 


ist das wahre Wesen und der Kern aller Dinge, das Ziel und der Zweck alles 
Daseins.« 


Und ähnlih in den »Parerga und Paralipomena« (P. P. II, p. 330): 


»Geht man bei der Auffassung der Welt vom Dinge an sih, dem Willen 
zum Leben, aus, so findet man als dessen Kern, als dessen größte Konzen= 
tration, den Generationsakt: dieser stellt sih dann dar als das Erste, als der 


Ausgangspunkt: er ist das punctum saliens des Welteies und die Haupt- 
sache.« 


Was Schopenhauer hier generell in der Welt findet und 
als erster Philosoph betont hat, das ist im Hinblick auf seinen 
bereits geschilderten heftigen Sexualtrieb aus seiner Konstitution und 


Persönlihkeit abzuleiten. Das Gediht sO Wollust, o Hölles hat 


128 Dr. Eduard Hitschmann 


uns gezeigt, wie sehr er darunter gelitten hat, und diese Tatsache 
macht uns vieles in seinem Wesen als Reaktionsbildung und Subli= 
mierung, als Sehnsucht nad Befreiung von diesem quälenden Drange 
verständlich. 

Haben wir hinter dem »vernunftlosen Willens Schopen- 
hauers zunächst seinen heftig drängenden Sexualtrieb gefunden, so 
wissen wir wohl, — und erledigen mit den weiteren Ausführungen 
auch einen Einwand mandes Lesers — daß Schopenhauer selbst 
in dem Gefühl eines in ihm waltenden triebkräftigen Willens mehr 
umfaßt hat, als die Sexualität allein: auh alles Wünschen, Hoffen, 
Fürdhten und Hassen. Auch empfand er jenes dunkle Unbewußte, 
das wir hinter jedem einzelnen Akt unserer Seele noch als tragende 
und zugleih darüber hinausragende Energie empfinden. »Wir wissen 
zwar immer, was wir in jedem gegebenen Augenblicke wollen, nie 
aber, was und warum wir überhaupt und ganz wollen« (Simmel). 
Das hinter dem Bewußtsein, der Erkenntnis und dem Wollen als 
Dunkles, Blindes und eigentlih niht Erkennbares Waltende ist 
Schopenhauers Wille — das, was wir Psychoanalytiker als das 
Unbewußte bezeichnen. Daß Schopenhauer so ein Vorläufer der 
Erkenntnis des Unbewußten geworden ist, welhes auch nah psydho- 
analytisher Auffassung ewig wünscht und treibt, soll am Schluß 
ausführlih besprohen werden. 

Gegenüber dem starken Voluntarismus in Schopenhauers 
Leben und Lehre muß es dem oberflächlichen Betrachter als Wider- 
spruh imponieren und wurde auch wiederholt von Schülern und 
Kritikern eingewendet, daß gerade der Entdeker und Bewunderer 
dieses starken Lebenswillens zu einem Verherrliher der Willens- 
verneinung (des Quietismus) wurde. Psydhologish ist dies jedoch 
leiht verständlih aus den Konflikten der menshlihen Seele, die in 
einem Kampf der UÜrtriebe mit den Hemmungen bestehen, die der Ich- 
trieb des Kultivierten ihnen entgegensetzt. Diese Bekämpfung und Ver- 
drängung trifft die kraß egoistishen und die Sexualtriebe, an denen 
er sih darum auch am deutlichsten manifestiert, zugleih wird dieser 
Kampf aber audh vorbildliih für die gesamte Einstellung der Persön- 
lichkeit gegenüber Trieb und Reaktion, gegenüber der Außenwelt über- 
haupt. Den Psycdioanalytiker wird es also am wenigsten wundern, 
daß dort, wo er einem starken Triebe begegnet, auch eine starke 
Bekämpfungstendenz sichtbar wird. 

Audh im Sexuellen nähert sih nur der Mensch dem Ideal 
Schopenhauers, weldher die häßlihe, verwerflihe Gesclecdts- 
befriedigung aufgibt, die ja den Fluh des Menschen an der Wurzel 
des Lebens bedeutet. 

»Die Befriedigung des Geschlechtstriebes ist an sih schlechthin ver- 
werflih, weil sie die stärkste Bejahung des Lebens ists (N. P. $ 355). 

Damit hängt auh der abstoßende und häßlihe Eindruck, den 
der Sexualakt und die Genitalien auf Schopenhauer maden, 
zusammen: 


Schopenhauer 129 





Bar TER ERLEN was die Verliebtheit uns vorspiegelt, ist, so lange wir es im 
Prospekt haben und als kommend erbliden, ein Paradies der Wonne; aber wann 
vorübergegangen und demnach von hinten gesehen, zeigt es sich als etwas 
Geringfügiges und Unbedeutendes, wo nicht gar Widerlihes« (N. P. $ 375). 

»Dem Gesagten gemäß hat man seinen Willen zu verbergen wie seine 
Genitalien, obgleih beide die Wurzel unseres Wesens sind« (P. P. II, p. 633). 

»Der Akt nun aber, durh welchen der Wille sich bejaht und der Mensch 
entsteht, ist eine Handlung, deren alle sih im Innersten shämen, die sie daher 
sorgfältig verbergen, ja, auf welcher betroffen, sie erschrecken, als wären sie bei 
einem Verbrechen ertappt worden. Es ist eine Handlung, deren man bei kalter 
Überlegung meistens mit Widerwillen, in erhöhter Stimmung mit Abscheu ge- 
denkt .... . Eine eigentümliche Betrübnis und Reue folgt ihr auf dem Fuß, ist 
jedoh am fühlbarsten nad der erstmaligen Vollziehung derselben, überhaupt 
aber um so deutlicher, je edier der Charakter ists. (W. W. IL, p. 670). 


Diese für Schopenhauers Person so charakteristishe Abwendung 
von der Sexualität, die er als niedrig und unwürdig empfindet, zeigt 
sih auh deutlich in einer Stelle über Träume, wo er, zunädst nur 
für seine Person, charakteristishe Träume als allgemeine Erfahrungen 
mitteilt. Auch hier geht er von den gewiß nicht ohne persönlichen 
Grund so auffällig oft erwähnten Pollutionsträumen aus: 


»Es gibt bekanntlih Träume, deren die Natur sih zu einem materiellen 
Zwecke bedient, nämlih zur Ausleerung der überfüllten Samenbläshen. Träume 
dieser Art zeigen natürlih schlüpfrige Szenen: dasselbe tun aber mitunter auch 
andere Träume, die jenen Zweck gar nicht haben, noch erreichen. Hier tritt nun 
der Unterschied ein, daß, in den Träumen der ersten Art, die Shönen und die 
Gelegenheit sih uns bald günstig erweisen, wodurch die Natur ihren Zweck er- 
reiht. In den Träumen der andern Art hingegen treten der Sache, die wir auf 
das heftigste begehren, stets neue Hindernisse in den Weg, welche zu über- 
winden wir vergeblich streben, so daß wir am Ende dodh nicht zum Ziele ge- 
langen. Wer diese Hindernisse schafft und unsern lebhaften Wunsch Schlag auf 
Schlag vereitelt, das ist doch nur unser eigener Wille, jedoch von einer Region 
aus, die weit über das vorstellende Bewußtsein im Traume hinausliegt und daher 
in diesem als Schicksal auftritt.« 


Es kann nicht prägnanter, als durch diese Darstellung von Wille 
und Gegenwille im Traume, Schopenhauers vernunftgehemmte 
Stellung zur Sexualität charakterisiert werden. Wir wissen, daß 
Schopenhauer für gewöhnlih den Geschlechtsverkehr vermied, 
und dies muß wohl die Ursahe sein, daß Pollutionsträume bei ihm 
eine häufige Erfahrung waren. Es hätte ihm gewiß nicht an weib- 
lihen Lebensgefährtinnen gemangelt, hätte er sie niht aus Wider- 
stand gegen die Sexualität und das Weib meist gemieden. Aus 
der Beobachtung der Entwicklung von Charakteren, namentlih aus 
der ärztlihen Beobahtung, läßt sich feststellen, daß diese Verac- 
tung und dieser Absheu vor dem eigentlih sexuellen Genuß auf 
Ablehnung und Verdrängung des als sündhaft Empfundenen beruht 
und meist durch Erziehung verstärkt wird. Es ist nicht zu gewagt 
zu behaupten, daß der strenge rauhe Vater in dem, vielleicht einer 
mit Schuldgefühl verbundenen Jugendsünde ergebenen Knaben durch 
Imago 11/2 9 


130 Dr. Eduard Hitshmann 


ein die Sexualität noch mehr herabsetzendes Verbot diesen Konflikt 
verschärft hat. Verstärkend und fixierend in dieser Rihtung dürfte 
bei Schopenhauer der Umstand gewirkt haben, daß die mit 
der frühen Kenntnis vom elterlihen Sexualverkehr normalerweise 
oft eintretende Verahtung des Weibes (der Mutter) und der 
Sexualität überhaupt, durh Schopenhauers in dieser Zeit bereits 
offenkundig ae Verhältnis zu seiner Mutter, der Korrektur 
entzogen blieb. Die Psychologie dessen, dem das Sexuelle in dieser 
doppelten Weise früh beflekt erscheint, entspriht es vollkommen, 
daß er — seine individuellen Erfahrungen generalisierend und ob- 
jektivierend — dann das Weib überhaupt herabsetzt! und die 
Sexualität nicht naiv und frei von Schuldbewußtsein genießen kann, 
überall findet er in ihr ein Verschulden. So wie Schopenhauer (ana= 
log der Erbsünde des Christentums) den Fluch der Welt zurückführt 
auf das Verwerflihe des Zeugungsaktes, so genügen ihm zur Er- 
klärung des allgemeinen Strebens nah Wollust und der Betörungen 
der Liebe nicht allein die Freuden, die sie an und für sich bietet, 
sondern er entwirft die »Metaphysik der Gesclecdtsliebe«, in der er 
das teleologishe Prinzip irrtümlich als ein ursprüngliches einzuführen 
sich genötigt sieht. Dieses originelle Bedürfnis Schopenhauers, der 
das Liebesverlangen durch den naiven sinnlichen Genuß nicht genügend 
motiviert empfand, einer rationalistishen Erklärung nadhızugehen, deutet 
darauf hin, daß er nad seinen eigenen in Sexualeindrücken 
den Liebesgenuß doch nicht proportional fand der Heftigkeit, mit 
welcher der Mensch danadı strebt. Es muß dies ein individueller Ein- 
druck gewesen sein, der ein Stück seines Liebesdranges nicht durch 
sich selbst erlöst fand. Die Annahme, daß Schopenhauers Ge- 
shlehtsgenuß selbst vielleiht ein unbefriedigender, minderwertiger 
war, läßt sih nicht nur hier, sondern audh an anderer Stelle ver- 
mutungsweise ableiten. Ist die Sexualität sonst so vielfah für die 
übrige Psyche vorbildlih, so könnte man auch hierin eine der 
Wurzeln seines im Pessimismus gipfelnden unbefriedigten Lebens- 
genusses erbliken. So kommt er dazu, die Pollution auffallender- 
weise der Koitusbefriedigung gleichzusetzen: 

»So gewiß zwishen dem Leben und dem Traum kein spezifisher und 
absoluter, sondern nur ein formeller und relativer Unterschied ist, so gewiß ist 
eigentlih und im Ernst gar kein wesentlicher Unterschied zwischen einer Pollu= 
tion und einem Koitus. Beide geben ein verfliegendes Traumbild und eine Er- 


gießung des Samens« (N. P. $ 361). Ä 


Von hier mag audh eine Veranlassung ausgehen, warum 
Schopenhauer nicht dauernd und nur relativ selten in seinem 
Leben in innigere Beziehung zu einem weiblihen Wesen trat und 
endlich letztlih auch Junggeselle geblieben ist. 


i » Allen Generalurteilen eines Mannes über das Weib kommt in erster 
Linie eine Bedeutung als Symptom seiner eigenen psychosexuellen Anlage zu; sie 
haben mehr einen biographischen als einen normativen Werts (Rosa Mayreder, 


»Zur Kritik der Weiblichkeits). 


Schopenhauer 131 





Mehr als sonst in der Psyhe des Menschen zeigt sich bei 
Schopenhauer eine Art Zweiteilung in Positiv und Negativ, die 
für sein ganzes System gleihsam das Gerippe gegeben hat. Ganz 
ungewöhnlih muß in Schopenhauer die Tendenz gewesen sein, 
dem immer wieder sih meldenden und in Phantasien wucdernden 
Sexualtrieb gerade dann, wenn er am stärksten war, den Hydrenkopf 
abzushlagen. Finden wir sonst, wenn der Sexualtrieb zur Befriedi- 
gung drängt, das Individuum auch dazu bereit, so verrät Schopen- 
hauer den seltsamen Drang, die sexuelle Lust, wenn sie ohne 
ein besonderes Objekt, also aus somatishen Ursahen oder aus 
Phantasien heraus sich am stärksten meldet!, gerade dann zu unter- 
drücen: 

»An den Tagen und Stunden, wo der Trieb zur Wollust am stärksten 
ist, nicht ein mattes Sehnen, das aus Leerheit und Dumpfheit des Bewußtseins 
entspringt, sondern eine brennende Gier, eine heftige Brunst, gerade dann sind 
auh die höchsten Kräfte des Geistes, ja das bessere Bewußtsein zur größten 
Tätigkeit bereit, obzwar in dem Augenblik, wo das Bewußtsein sich der Begierde 
hingegeben hat und ganz davon voll ist, latent: aber es bedarf nur einer ge= 
waltigen Anstrengung zur Umkehrung der Richtung und statt jener quälenden, 


bedürftigen, verzweifelnden Begierde füllt die Tätigkeit der höchsten Geisteskräfte 
das Bewußtsein« (N. P. & 345). 


Wir stehen damit vor der psydhologishen Tatsahe, welche 
aus dem triebgepeinigten Schopenhauer jenen tiefen Metaphysiker 
werden ließ, dem die enthusiastishen Worte über den hohen 
Genuß des vom Wollen freien, reinen Erkennens zu Gebote stehen, 
nämlich vor der Tatsache, daß er wie wenige den Willen so zu ver- 
neinen, den Trieb so zu unterdrücken und dem Irdishen so zu ent= 
fliehen wußte. Schon in seinen Jugendkonzeptionen, in der Zeit vor 
1815, shwärmt er von dem »besseren Bewußtsein; Wir haben 
etwas in uns, was über Sinnlichkeit, Verstand, Vernunft, über Sub= 
jekt und Objekt weit hinaus liegt und die gemeinsame Geburtsstätte 
des Genies und Heiligen bildet. Künstlerische, philosophishe und 
asketishe Erlösung sind hier in dunkler. Einheit verschmolzen. 
Später klärt sih die Lehre und Schopenhauer unterscheidet als 
Reaktion auf den heftigen Willen die »Willensverneinungs, die 
Grundlage seines asketishen Ideals und anderseits das »reine willen- 
lose Erkennens, die Ideenerkenntnis, deren Äußerungen in Philo- 
sophie und Kunst zutage treten und wohl mehr einer Subli- 
mierung des Triebes entsprehen würden. Die Auffassung, die 
wir hier vertreten, hat kein Geringerer als Nietzshe (in der 
dritten Abhandlung seiner »Genealogie der Morals: »Was be- 
deuten asketische Ideale?«) in vollendeter Darstellung zum Aus- 





ı Es gibt Personen, die, der Selbstbefriedigung ergeben, den Akt bis zu 
einem Grade hoher Erregung fortsetzen und dann aus Furcht des Säfteverlustes 
oder andern rationalisierenden Schuldgefühlen plötzlih unterbrechen. Diese mastur- 
batio interrupta scheint das Vorbild jener oben beschriebenen Umkehrung zu sein. 
Daß Schopenhauer der Ansicht huldigte, daß Gebrauh der Sexualität schwäde, 
Enthaltsamkeit aber alle Kräfte erhöhe, ergibt die Stelle in W. W. II, p. 600, 

9* 





132 Dr. Eduard Hitschmann 


druck gebraht. Der scharfsinnige Meta-Psydhologe wirft hier, wo 
er ja längst seine jugendliche een für »>Schopenhauer 
als Erzieher« überwunden hatte, die Frage auf, was es bedeute, 
wenn ein wirkliher Philosoph dem asketishen Ideal huldige; 
ein wirklih auf sich gestellter Geist, wie Schopenhauer, »ein 
Mann mit erzernem Blik, der den Mut zu sich selber hats, und 
er kommt zu der Antwort: »Er will von einer Tortur loskommen.« 
Diese Tortur ist nichts anderes als die allzu ansprudhsbereite, ethisch 
bereits verworfene Gesclectlichkeit, welche, wie Nietzsche sagt, 
»Schopenhauer in der Tat als persönlihen Feind behandelt hat, 
einbegriffen deren Werkzeug, das Weib, dieses »instrumentum dia=- 
bolix. Das höchste Ziel dieser Willensverneinung ist nah Schopen- 
hauer die Askese, ein Verwerfen und Verzicht auf die ganze böse, 
leidensvolle Welt, »die vorsätzliihe Brehung des Willens durd 
Versagung des Angenehmen und Aufsuhen des Unangenehmen, 
die ste rchihe büßende Lebensart und Selbstkasteiung zur an- 
haltenden Mortifikation«. Dieses Ideal shwebt Schopenhauer 
als Sehnsuht vor und er bezeichnete es einmal beim Anblick 
des Bildes eines Trappisten unter Tränen als Sahe der Gnade‘. 
Der rücsictslose Psyholog Nietzsche, der hinter diesem pessimi= 
stiishen Verziht den masodistishen Leidenswunsh aufdekt, hat 
diese Tendenz des Verzichtens und des Heiligseins zersetzt: »Man 
sieht, das sind keine unbestochenen Zeugen und Richter über den 
Wert des asketishen Ideals, diese Philosophen! Sie denken sich — 
was geht sie »der Heiliges an! Sie denken an das dabei, was 
ihnen gerade das Unentbehrlihste ist: Freiheit von Zwang, 
Störung, Lärm, von Geschäften, Pflihten, Sorgen, Helligkeit im 
Kopf... . Ruhe in allen Souterrains; alle Hunde hübsch an die 
Kette gelegt... Man weiß, was die drei großen Prunkworte des 
asketishen Ideals sind: Armut, Demut, Keuschheit: und nun sehe 
man sich einmal das Leben aller großen fruchtbaren erfinderischen 
Geister aus der Nähe an — man wird darin alle drei bis zu einem 


i Wie Schopenhauer, der das Ideal des Heiligen (auch nach eigener Aus= 
sage) nie erreiht hat, sich des Zwiespalts und beständigen Ringens bewußt war und 
der Tatsache, wie schwer der Mensh zu diesem Ziel gelangt, zeigt eine Bemerkung 
(N. P., $ 588): »Es ist eine unmögliche, in sich selbst sich widersprehende Forde- 
rung fast aller Philosophen, daß der Mensch innre Einheit seines Wesens, Ein- 
tracht mit sich selbst erlangen soll. Denn als Mensch ist innere Zwietradt sein 
Wesen, durchaus so lange er lebt. Denn nur Eines kann er wirklih ganz und gar 
sein: zu allem Ändern hat er aber die Anlage und die unvertilgbare Möglichkeit, 
es zu sein. Hat er sih zu Einem entschlossen, so steht alles Übrige als Anlage 
immer bereit und fordert unablässig aus der Möglichkeit zur Wirklichkeit zu ge- 
langen: er muß es also fortwährend zurückdrängen, überwältigen, töten, 
so lang er jenes Eine sein will... So, wenn er sich zur Heiligkeit entschlossen 
hat, muß er sein ganzes Leben hindurh, und nicht ein für alle Mal, sich als ge- 
nießendes, der Wollust ergebenes Wesen töten: denn ein solches bleibt er, solange 
er febt... So durchaus in allem in unendlihen Modifikationen. Bald mag das 
Eine, bald das Andere in ihm siegen: er ist der Tummelplatz. Siegt auh das 
Eine fortwährend, so kämpft doh das Andere fortwährend: denn es lebt, so 
lange er lebt: Als Mensch ist er die Möglichkeit vieler Gegensätze.« 


Schopenhauer 133 


gewissen Grade immer wiederfinden. Durchaus nicht, wie sih von 
selbst versteht, als ob es etwa deren ‚Tugenden‘ wären... ... 
sondern als die eigentlihsten und natürlichsten Bedingungen ihres 
besten Daseins, ihrer schönsten Frudtbarkeit. Dabei ist es ganz 
wohl möglih, daß ihre dominierende Geistigkeit vorerst einem un- 
bändigen und reizbaren Stolze oder einer mutwilligen Sinnlichkeit 
Zügel anzulegen hatte«. 

In der Ideenerkenntnis hat sih nah Schopenhauer unser In= 
tellekt vom Willen gleihsam abgewendet, der Wille hat das Bewußt- 
sein geräumt, damit sei auch alle Unruhe, Not und Qual abge- 
wendet. Im willensfreien Anschauen der Ideen, dem eigentlich ohil = 
sophishen Betrachten, findet er die reinste Beruhigung und nirgends 
sonst wird Schopenhauers Sprahe so enthusiastish und voll 
Entzücken, als wenn er dieses willenlose Erkennen, das in der Be- 
tätigung der Philosophie und Kunst Ausdruc findet, schildern kann: 


»Was ist der größte Genuß, der dem Menschen möglih? — Die intuitive 
Erkenntnis der Wahrheit. Die Richtigkeit der Antwort leidet nicht den mindesten 
Zweifel« (N. P., $& 648). 


Nietzsche widerspriht selbst am empfindlichsten dieser Lehre 
von der reinen interesselosen Erkenntnis in der Philosophie und der 
gleihen Anschauung vom Kunstgenuß und hat die vielgepriesene 
»interesselose Änshauung« als einen »Unbegriff und Widersinn« 
entlarvt: »Hüten wir uns nämlich, meine Herren Philosophen, von 
nun an besser vor der gefährlihen alten Begriffsfaselei, welhe ein 
»reines, willenloses, schmerzloses, zeitloses Subjekt der Erkenntnis« 
angesetzt hat, hüten wir uns vor den Fangarmen solher kontra- 
diktorisher Begriffe wie »reine Vernunft«, »absolute Geistigkeit«, 
»Erkenntnis an sich«, ... je mehr Äffekte wir über eine Sahe zu 
Worte kommen lassen, ... um so vollständiger wird unser Begriff 
dieser Sahe, unsere »Objektivität« sein. Den Willen aber über- 
haupt eliminieren, die Affekte samt und sonders aushängen, gesetzt, 
daß wir dies vermöcdten: wie? hieße das nicht den Intellekt kastrieren?« 

Anknüpfend müssen wir hier als selbstverständlih hervor- 
heben, daß auch nah unserer Anschauung, wenngleih in anderem 
Sinne, es ein willenloses Erkennen gar niht geben kann. 
Schopenhauer hat sih vollkommen darin getäuscht, daß der 
Wille (das Unbewußte) je schweigen könnte und das Denken 
unbeeinflußt ließe: Gerade deshalb ist seine — wie er selbst sagt — 
intuitiv geschaffene Philosophie ein so schönes Beispiel für die Sub- 
jektivität aller Philosophie, weil nach dieser Art des Arbeitens durch 
Aufsteigenlassen von Einfällen (was Schopenhauer »Anschauen 
der Welt« nennt) gerade das Individuelle am reinsten zutage tritt. 
Er beging so den Irrtum, durch Insichhineinhorhen und Selbstbeob- 
ahtung objektive Wahrheiten finden zu wollen. Wir stellen dem Ge- 
sagteı? die tiefgründige Einsiht Nietzsches an die Seite: 

»Man muß doch den größten Teil des bewußten Denkens 


134 Dr. Eduard Hitshmann 


unter die Instinkttätigkeiten rechnen, . . . das meiste bewußte 
Denken eines Philosophen ist durch seine Instinkte heimlich geführt 
und in bestimmte Bahnen gezwungen, . . .. dahinter stehen Wert- 
shätzungen, deutlicher gesprochen, physiologische Forderungen zur 
Erhaltung einer bestimmten Art von Leben .. . ein abstrakt ge- 
macdter und durcgesiebter Herzenswunsch wird von ihnen mit 
hinterher gesuchten Gründen verteidigt.« 

Außer dem Genuß, den Schopenhauer in dem angeblich 
willenlosen Erkennen fand, vermag er dem Pessimismus auh nod 
die beglükende und erlösende Wirkung der Kunst entgegenzusetzen, 
die über des Daseins Schmerz und Langeweile erhebt. Ein willen- 
und interesseloses Anschauen soll auh die Grundlage des ästheti= 
schen Genusses sein, der ebenso, wie das reine philosophishe Er- 
kennen vom Willen befreit und von der Welt erlöst. Insbesondere 
das Trauerspiel lenkt zu Entsagung und Willensverneinung!, 
während die Musik am unmittelbarsten das »bessere Bewußtsein« 
anregt und am fernsten vom empirishen liegt. Der Musikgenuß ist 
bei ihm ein Quietiv des Willens; der Musik, welcher er eifrig 
huldigte, kann er niht genug nadrühmen, wie sehr sie das Ge- 
müt reinige, »sie spült alles Unreine, alles Kleinlihe, alles Schlechte 
weg, stimmt jeden hinauf, auf die höchste geistige Stufe, die seine 
Natur zuläßt« (N. P., p. 398). Man vergesse hier nicht, daß andere 
die Musik und die schönen Künste als Verführer empfanden, 
wie Plato, Stendhal, Tolstoi. Wenn Schopenhauer daher die 
sonst als sinnlih geltende Musik Wagners verwirft?, so zeigt 
er damit vielleiht auch seine Abkehr von der verführerischen 
Seite der Kunst, welhe Ablehnung auch wieder Nietzsche als 
die Grundlage der Schopenhauershen Ästhetik erkannt und 
damit zugleih die scharfsinnigste Deutung des ganzen Systems ge= 
geben hat: | 

»Schopenhauer hat sih die Kantishe Fassung des 
ästhetischen Problems zunutze gemadht ... . ‚Schön ist, hat Kant 
gesagt, was ohne Interesse gefällt. Ohne Interesse! Man ver- 
gleihe mit dieser Definition jene andere, die ein wirkliher »Zu= 
shauer« und Artist gemacht, — Stendhal, der das Schöne einmal 


! »Wir sehen im Trauerspiel die Edelsten nah langem Kampf und Leiden 
den Zwecken, die sie bis dahin so heftig verfolgten und allen Genüssen des 
Lebens auf immer entsagen, oder es selbst willig und freudig aufgeben, so »den 
standhaften Prinzen des Calderons (Schopenhauer). Durh Calderons Schau= 
spiel wurde er schon als Jüngling so erschüttert, daß er die gewohnte Gesellschaft 
bei seiner Mutter eine Zeitlang verlassen und die Einsamkeit aufsuchen mußte. 
Möbius vermutet daraus, daß Schopenhauer sehr früh das Erlebnis der Ent- 
sagung gemadt habe, »da er schon als Jüngling von einem Drama so tief 
erschüttert war, dessen Held in einer plötzlihen edeln Aufwallung seine Person 
und seine Interessen dem Vater zum Opfer bringt«. 


2 Rihard Wagner ließ er sagen, »er solle die Musik an den Nagel 
hängen, er habe mehr Genie zum Dichter. Er, Schopenhauer, bleibe Rossini 
und Mozart treus. (Grisebach, Gespräde.) 





Schopenhauer 135 


une promesse de bonheur nennt!. Hier ist jedenfalls gerade das 
abgelehnt und ausgestrihen, was Kant allein am ästhetischen 
Zustande hervorhebt: le desintöressement. . .. Kommen wir auf 
Schopenhauer zurück, der in ganz anderem Maße als Kant den 
Künsten nahe stand und doh nicht aus dem Bann der Kantschen 
Definition herausgekommen ist: wie kam das? Der Umstand 
ist wunderlih genug: Das Wort »ohne Interesse« interpretierte er 
sih in der allerpersönlihsten Weise, aus einer Erfahrung heraus, 
die bei ihm zu den regelmäßigsten gehört haben muß. Über wenige 
Dinge redet Schopenhauer so sicher wie über die Wirkung der 
ästhetishen Contemplation: Er sagt ihr nah, daß sie gerade der 
geschlechtlichen »Interessiertheit« entgegenwirke, ähnlih also 
wie Lupulin und Kampfer, er ist nie müde geworden, dieses 
Loskommen vom »Willen« als den großen Vorzug und Nutzen 
des ästhetishen Zustandes zu verherrlihen. Ja, man mödte ver- 
sucht sein zu fragen, ob nicht seine Grundconzeption von »Willen 
und Vorstellungs, der Gedanke, daß es eine Erlösung vom »Willen« 
einzig durh die »Vorstellung« geben könne, aus einer Verall- 
gemeinerung jener Sexualerfahrung ihren Ursprung genommen habe. 
»(Bei allen Fragen in betreff der Schopenhauershen Philo= 
sophie ist, anbei oe niemals außer acht zu lassen, daß sie die 
Konzeption eines sechsundzwanzigjährigen Jünglings ist, so daß sie nicht 
nur an dem Spezifishen Schopenhauers, sondern auch an dem Spezift= 
schen jener Jahreszeit des Lebens Änteil hat.) Hören wir zum Bei- 
spiel eine der ausdrücklichsten Stellen unter den zahllosen, die er 
zu Ehren des ästhetischen Zustandes geschrieben hat (W. W. I], 
p. 231), hören wir den Ton heraus, das Leiden, das Glück, die 
Dankbarkeit, mit der solhe Worte gesprohen sind. ‚Das ist der 
schmerzenslose Zustand, den Epikuros als das höchste Gut der 
Götter pries,; wir sind, für jenen Augenblik, des shnöden Willens- 
dranges entledigt, wir feiern den Sabbat der Zucthausarbeit des 
Wollens, das Rad des Ixion steht stil” . . . Welche Vehemenz 
der Worte! Welche Bilder der Qual und des langen Überdrusses! 
Welce fast pathologische Zeit-Gegenüberstellung ‚jenes Augenblicks’ 
und des sonstigen ‚Rads des Ixions’, der ‚Zucthausarbeit des 
Wollens’, ‚des schnöden Willensdrangs” — Aber gesetzt, daß 
Schopenhauer hundertmal für seine Person Recht hätte, was wäre 
damit für die Einsiht ins Wesen des Schönen getan? Schopen- 
hauer hat Eine Wirkung des Schönen beschrieben, die Willen- 
calmierende, — ist sie audh nur eine regelmäßige? Stendhal, wie 
gesagt, eine nicht weniger sinnlihe, aber glücklicher geratene Natur 
als Schopenhauer, hebt eine andere Wirkung des Schönen her- 
vor: ‚Das Schöne verspriht Glück‘, ihm scheint gerade die Er=- 


ı Vgl. dagegen Stendhals Übereinstimmung mit Schopenhauers Erklärung 
des ästhetishen Empfindens an anderer Stelle: »Die Seele, schon halb erlöst von 
den eitlen Wünschen dieser Welt, ist in der Stimmung, die erhabene Schönheit 
zu empfinden.« (Zit. nah Seilliere.) 


136 Dr. Eduard Hitschmann 


regung des Willens (‚des Interesses‘) durh das Schöne der 
Tatbestand. Und könnte man nicht zuletzt Schopenhauern selbst 
einwenden, daß er sehr mit Unredht sich hierin Kantianer dünke, 
daß er ganz und gar niht die Kantsche Definition des Schönen 
Kantish verstanden habe, — daß audh ihm das Schöne aus einem 
Interesse gefalle, sogar aus dem allerstärksten, allerpersönlihsten 
Interesse: dem des Torturierten, der von seiner Tortur los= 
kommt.« Aud eine Stelle aus der »Götzendämmerung« sei hier 
zitiert: »Schopenhauer ist für einen Psychologen ein Fall ersten 
Ranges: nämlih als bösartig genialer Versuh, zu Gunsten 
einer nihilistishen Gesamt-ÄAbwerthung des Lebens gerade die 
Gegen-Instanzen, die großen Selbstbejahungen des ‚Willens zum 
Leben’ .. . ins Feld zu führen. Er hat, der Reihe nad, die 
Kunst, den Heroismus, das Genie, die Schönheit, das große Mit- 
gefühl, die Erkenntnis, den Willen zur Wahrheit, die Tragödie 
als Folgeersheinungen der ‚Verneinung oder der Verneinungs- 
Bedürftigkeit des Willens’ interpretiert — die größte psychologische 
Falshmünzerei, die es, das Christenthum abgerechnet, in der Ge- 
schichte gibt.« 

Haben wir bisher, ganz im Sinne Schopenhauers selbst, 
den Sexualtrieb und dessen Ablehnung als tiefste Bedeutung für 
seinen Willen und seine Willensverneinung betont und Näheres 
dazu ausgeführt, so sind noh andere Hy Maniac Determinanten 
für diese seine Lösung des von Kant aufgegebenen Rätsels vom 
»Ding an sih« heranzuziehen. Das Treibende im Menschen ist nicht 
nur das Sexuelle, sondern auh die Summe der dem Ih dienenden 
Triebe (Selbsterhaltung), der Kampf um das Durdsetzen der Per- 
sönlichkeit. Der Wille ist nicht nur Wille zur Zeugung, Wille zum 
Leben, sondern auh Wille zur Macht. Im Gegensatz zu Fichte, 
Schelling und Hegel, die den Intellekt verherrlihten und die 
Welt für ein Produkt bewußter Entwicklung hielten, war es Schopen- 
hauer vorbehalten, dem Triebleben, dem Unbewußten, dem Wollen 

„das gebührende Redht einzuräumen. Ist aber der Wille auh das 
Madtbedürfnis, so erkennen wir, daß Schopenhauer, der von so 
willensstarken heftigen Vorfahren abstammt und dem robusten Vater 
unterworfen war, den Kampf des »Willens zur Mact« intensiv erlebt 
haben mußte, daß er für seinen übermädhtigen Vater, die Gewalt, 
die er in seiner Jugend so kräftig über sich fühlte, ein Symbol 
hinausprojiziert hat ins Weltall — als Wille. So geshah es dem 
soisdisant-ÄAtheisten Schopenhauer, daß er, wie Seillere ridti 
sagt, den Willen zu seinem Gotte (Gott und Teufel) macte, daß 
er die väterlihe Macht sozusagen vergöttlihte, Erst nach des Vaters 
Tode begann er im Leben seinen eigenen Willen durchzusetzen, 
bald darauf konzipierte er sein Werk. 

Aber auch die Willensverneinung ist mehr, als wir vorher 
ausgeführt haben, sie ist audh alles Nadgeben, Verzichten, alle 
Demut. Wir verstehen, warum Calderons »Standhafter Prinz« in 


Schopenhauer 137 


jener Szene tiefster Demütigung vor dem königlihen Vater, ihn 
so tief erschüttert hat. Der Gehorsam und die Demut des Heiligen 
blieb ihm darum das erstrebenswerteste Ideal. 

Daß der Wille Schopenhauers auh im leblosen Körper 

ewinnt, daß die ganze Welt wie durcseelt gedaht wird vom 

illen, das erinnert an die vorreligiösen und vorwissenshaftlihen, 
animistishen Anschauungen primitiver Völker. Der Mystiker 
Schopenhauer kann, wie es eben jenen Völkern durh ihre ani- 
mistishen Anschauungen gelingt, damit die ganze Welt aus einem 
Punkte erklären!, Eine naive, infantile Animisierung des Leblosen 
finden wir in der Anekdote, die Schopenhauer aus seiner frühen 
Kindheit berichtet: er warf einen Schuh in ein Mildhgefäß und bat 
ihn herzlih, doch herauszuspringen. 

Betrahten wir die Willenslehre Schopenhauers zusammen- 
fassend, so müssen wir diese gewaltige Inthronisierung des Unbe- 
wußten und des Trieblebens als eine geniale geistige Leistung aner- 
kennen. Die Verwendung dieser psydhologishen Einsicht zur philo- 
sophischen Systembildung behandeln wir am Schlusse unserer ÄAus- 
führungen. 


2. Ethik. 


In Nietzsche, der Schopenhauer in seiner Jugend fast 
väterlich verehrt hatte, erstand unserem Philosophen sein gefähr- 
lihster Gegner. Denn Nietzsche, der im Gegensatz zu dembei seiner 
Jugendkonzeption verharrenden Schopenhauer in stetig fort- 
schreitender Entwiklung immer tiefer in das Verständnis der 
menschlihen Seele vordrang, hat durch seine unerbittlihe Kritik 
dem »letzten Metaphysiker« den Boden unter den Füßen weg- 
gezogen. Nicht nur das »reine Erkennen« hat er zersetzt, nicht nur 
den »Heiligen« von seinem Piedestal gestoßen, sondern auch die 
Mitleidsmoral Schopenhauers, die so viele inbrünstige Verehrer 
fand, hat er kritish-psydhologish untergraben und intuitiv=-psycho- 
analytish auf ihre Triebwurzeln zurückgeführt. 

Es hat immer Schopenhauer-Forsher und =Verehrer ge- 
geben, die von der edeln und gefühlvollen Mitleidsmoral begeistert 
in dem Schöpfer derselben, — durh ihren Wunsch unkritish ge= 
macht, — einen besonders gemütvollen und guten Menschen gesehen 
haben. Es liegt der allgemeinen Auffassung gewiß näher und ist 
psyhologish leichter zu verstehen, wenn die Lebensführung des 
Philosophen seinem System entspricht, wie das etwa bei Spinoza, 
Kant, Fichte zunädhst den Eindruck macht, und es tut uns fast 
innerlih weh, wenn wir sehen, daß der Lehrer des Mitleids im 
Leben so wenig von tiefem Versenken in fremdes Leid, von Mit- 


ı Schopenhauers Sinn für magishe, abergläubishe und andere über- 
sinnlihe Phänomene kann mit dem Animismus in Zusammenhang gebraht werden, 
Vgl. Freud: »Animismus, Magie und Allmaht der Gedanken« (»Imago«. 
II. Jahrg., 1913, Heft 1). 


138 Dr. Eduard Hitshmann 


leiden mit anderen, zeigt. Von der psychoanalytishen Erfahrung aus=- 
gehend, daß das Mitleid eine Reaktionsbildung auf antisoziale, grau=- 
same Triebregungen darstellt, überhaupt das kulturelle Ih erst 
sekundär auf dem Trieb-Ih aufgebaut ist, werden wir erwarten, 
daß es verschiedene Übergänge gibt, von jenem Individuum, das 
diese Urtriebe unverändert behält und auslebt (Verbredher) bis zu 
jenem, das die Triebe restlos verdrängt und den altruistischen 
Charakter als Resultat davon aufzeigt. Schopenhauer ist es nicht 
gelungen, seine aggressiven Triebe im Leben zu Güte und Mitleid 
umzuwandeln und es läßt sich zeigen, daß er Regungen der Bosheit, 
der Grausamkeit, der Schadenfreude, des Neides, ferner Schimpflust, 
Spottsucht, Mangel an Menscenliebe in hohem Grade verraten hat. 

Schopenhauers Vorfahren zeigten shon, wie erwähnt, ein 
auffallend heftiges, zornmütiges, nah Tätigkeit drängendes Wesen, 
das in dem dem geistigen Leben zugewandten Philosophen nur in 
seinem groben und abweisenden Verhalten sowie in Schimpfen, 
Bosheiten und Aggressionen einen direkten Ausweg fand. In den 
Werken, welche das Mitleid idealisieren, darf man allerdings nicht 
danah suchen, aber in den unstilisierten Äußerungen im Umgang 
mit Menschen und in den Briefen verrät Schopenhauer viel Grob= 
heit, grimmig-aggressiven Humor, er schimpft mit Ausdrücken, die 
wir von Gebildeten sonst kaum zu hören gewohnt sind; auch im 
Disputieren wird er als heftig und rechthaberish geschildert. Wer 
nicht seinen Geist zu bewundern berufen und befähigt ist, der 
findet in ihm einen unfreundlihen, leicht gehässigen, unbeherrschten, 
Patron. So war er imstande, eine ältere, ärmlihe Frau wiederholt 
mit Gewalt vor die Tür zu setzen, weil es ihm nicht recht war, 
daß sie seine Hauswirtin in seinem Zimmer besuchte. Mit der Frau, 
welche eine Entshädigungsklage wegen einer durch den Sturz über die 
Treppe eingetretenen Arbeitsunfähigkeit anstrengte, hatte er sechs Jahre 
zu prozessieren und mußte der »höcdhst verschmitzten und boshaften 
Person« durch zwanzig Jahre eine ansehnlihe Entshädigungssumme 
zahlen. Auf ihren Totenshein schrieb er, über den od hinaus 
hassend, folgenden grausamen Witz: »Obit anus, abit onus.« Aus 
den Briefen ließen sich zahlreiche für seine Grobheit und seinen 
unstillbaren Haß beweisende Stellen anführen!. Sein Verleger 
Brockhaus äußerte niht mit UÜnreht im Zusammenhang mit der 
Verlagsangelegenheit des Hauptwerkes: »Ih muß mich mit diesem 
Menschen sehr zusammennehmen, er ist ein wahrer Kettenhund.« 
Audh hat er sih über die göttlihe Grobheit und Rustizität 
Schopenhauers, sowie über dessen sackgrobe Formen beklagt. 
An Dr. Asher screibt Schopenhauer einmal, als er sih über 
einen Gegner, Professor Weisse, zu ärgern hatte: »Fänden Sie 
Gelegenheit ihm dies irgendwo noch nadträglih einzureiben und 
spanischen Pfeffer darauf zu streuen, so würde mich das sehr freuen.« 


ı Vgl. Damm, p. 167. 





Schopenhauer 139 


Der gröbsten und herabsetzendsten Ausdrücke bedient er sich gegen- 
über den Philosophenprofessoren (den »windbeutelnden Sophisten«), 
namentlih Hegel. Er spriht von Hegeischer Afterweisheit, nennt 
dessen Werk eine philosophishe Hanswurstiade und bezeichnet es 
als den inhaltlosesten Wortkram, an welhem jemals Strohköpfe ihr 
Genüge gehabt, spriht von dessen Lehre als dem widerwärtigsten, 
unsinnigsten Gallimathias und wird dabei an die Deliramente der 
Tollhäusler erinnert. Man vergleihe nur einmal diesen rauhen, 
widerhaarigen, so sehr zum Hassen gestimmten Menschen, der auf 
der anderen Seite die Mitleidsmoral preist, mit dem feinen, zurück-= 
haltenden, leisen Nietzsche, der von sich selbst sagt: »Ich bin so 
gar niht zum Hassen und Feindsein gemaht« und — der in 
seiner Moral den Willen zur Madt, die Grausamkeit, die Rük- 
sichtslosigkeit preist! 

Über Schopenhauer finden wir nur spärlih Züge von Mit- 
leid berichtet, wie etwa aus seiner Jugend, wo er — namentlich beim 
Anblick des Bagno von Toulon — gequälte Menschen bemitleidet. 
Mag sein, daß er in der Jugend »durch sein erregbares Tempera- 
ment zur Empfindlichkeit, ja selbst zur Empfindsamkeit gedrängt« 
war, »bevor die harte Lebenserfahrung ihn in das andere Extrem 
trieb und ihn zum selbstsüdtigsten and gelegentlih zum brutalsten 
alten Sonderling madhtes (Seilliere). Ein Zug, den wir auch ge= 
wohnt sind als Reaktionsbildung auf Grausamkeitssuht den Menschen 
gegenüber analytish aufzufinden, findet sih bei Schopenhauer 
überaus entwickelt: das ist sein tiefes Mitgefühl für die Leiden 
der Tiere. Er war Zeit seines Lebens der schärfste Gegner der 
»wissenscaftlihen Tierfolter« (Vivisektion). Mit Worten flammender 
Entrüstung brandmarkt Schopenhauer die Abscheulichkeit eines 
Naturforschers, der zwei Kaninhen planmäßig tothungern ließ, und 
er stellt auch Vorschläge zu Scutzgesetzen auf. Aber: »Die in 
England zu jener Zeit für Tierquälerei eingeführte Prügelstrafe mochte 
der Philosoph auch in Deutschland recht ausgiebig gegen die armen 
zwei= und vierbeinigen Mitgeshöpfe der Menschen angewendet 
wissen« (Damm). Prügel für Menshen zum Schutz von Tieren! 
Diese Liebe zu den Tieren, die zu seinem schriftlih und mündlih 
oft geäußerten Menschenhaß in scheinbar paradoxem Widerspruch 
steht, hat er nicht nur von den Indern preisen gelernt, sondern 
selbst tief empfunden. So äußert er einmal unverhohlen (N. P., 


p. 363): 


»Ih muß es aufrihtig gestehen: der Anblik jedes Tiers erfreut mich 
unmittelbar und mir geht dabei das Herz auf... . Hingegen erregt der Anblick 
der Menschen fast immer meinen entshiedenen Widerwillen.« 


Und ähnlich sagt er in einer »Äntistrophe zum 73. Venetianischen 
Epigramm« (P. u. P. IL, p. 696): 


»Wundern darf es mich nicht, daß manche die Hunde verleumden, denn 
es beschämet zu oft leider den Menschen der Hund.s 


140 Dr. Eduard Hitschmann 





Bekannt ist Schopenhauers Vorliebe für Hunde!, insbesonders für 
seinen Pudel, den er im Testament noc treulich bedaht und versorgt 
hat. Die Wände seines Zimmers shmückten neben Porträts seiner großen 
Vorbilder, wie erwähnt, auch Tierbilder. Entgehen konnte einem 
so feinen Psychologen, wie es Schopenhauer war, die Bedeutung 
der Reaktionsbildung und Sublimierung doh nicht ganz. So kam er 
einmal beim Anblik eines jungen Orangs auf einer Marktmesse 
darauf zu sprehen, »wie es ihm schon in jungen Jahren aufgefallen 
sei, daß der Hund, dieses gezähmte Raubtier, der Verwandte, viel- 
leiht der Abkömmling des Schakals oder des Wolfs, — der treue, 
liebevolle, gelehrige, menschenähnlihe Gefährte des Menschen ge- 
worden sei, das harmlos grasfressende Schaf aber nicht, und daß 
beim Menschen etwas ähnliches stattzuhaben scheine, indem die ur= 
sprünglih wilden, harten, mit starken sinnlihen Neigungen und 
Leidenschaften behafteten Naturen zu den höchsten Tugenden ge- 
langen, wie denn shon Plato die starke Neigung zum Bösen in 
den trefflihen Naturen bemerktex (Gwinner p. 332). 

Aud einen Teil seiner Angst müssen wir wohl aus Ver- 
drängung von Aggressionsgelüsten erklären, die sih in der Angst 
unbewußterweise gegen das eigene Ich gerichtet zeigen. Es spricht 
für die Be Stärke seiner Triebanlage, daß sie trotz dieser 
Verdrängungen und teilweisen Reaktionsbildungen doh noch so 
deutlih die ganze Persönlichkeit durchzieht und färbt. Kaum je ein 
anderer hat sein Haßgefühl intensiver in sich erlebt, die Grausam- 
keitsinstinkte des Menschen ausgebildeter gesehen und stärker im 
Zusammenleben empfunden und mehr darunter gelitten. Vielleicht 
nur Nietzsche hat nad ihm in ähnliher Weise Macht-, Rahegefühle 
und Grausamkeit im Innersten erlebt und im Tiefsten erkannt. Aber 
er verwirft sie niht wie Schopenhauer, sondern entdeckt darin 
die Urkraft des Menschen und anerkennt sie als Ideal des Gesunden, 
nicht Dekadenten. Gleihwie bei Nietzsche? ist bei Schopen- 
hauer in der Ethik, wo er über die Triebfedern des menschlichen 
Handelns spricht, viel von der Bosheit die Rede: 


»Die drei Triebfedern der menschlichen Handlungen: 

a) Egoismus, der das eigene Wohl will (ist grenzenlos); 

b) Bosheit, die das fremde Wehe will (geht bis zur äußersten Grau= 
samkeit); 

c) Mitleid, weiches das fremde Wohl will (geht bis zum Edelmut und 


zur Großmut).« 


er hen heißt es in dem Nadtrag zur Ethik (P. u. P. II, 
| 3: 


! »'Wenn es keine Hunde gäbe, möchte ich nicht lebens (zu Frauenstädt). 


? »Die Bosheit hat nicht das Leiden des andern an sich zum Ziele, sondern 
unsern eigenen Genuß, zum Beispiel als Rachegefühl oder als stärkere Nervenauf- 
regung. Schon jede Necerei zeigt wie es Vergnügen macht, am anderen unsere 
Madt auszulassen und zum lustvollen Gefühle des Übergewichts zu bringen« 
(Nietzsche, Mensdi. Allzumensdl.). 


Schopenhauer 141 


. Zum gränzenlosen Egoismus unserer Natur geselft sih aber nod 
ein, mehr oder weniger in jeder Menschenbrust vorhandener Vorrat von Haß, 
Zorn, Neid, Geifer und Bosheit, angesammelt, wie das Gift in der Blase des 
Schlangenzahns, und nur auf Gelegenheit wartend, sih Luft zu machen, und 
dann wie ein entfesselter Dämon zu toben und zu wüten. Will kein großer 
Anlaß dazu sich einfinden;, so wird er am Ende den kleinsten benutzen, indem 
er ihn durch seine Phantasie vergrößert. 

. .. der Mensc ist das einzige Tier, welches anderen Schmerz verursacht, ohne 
weiteren Zweck als eben diesen... Kein Tier quält jemals, bloß um zu quälen, 
aber dies tut der Mensch, und dies maht den teuflischen Charakter aus, der 
weit ärger ist, als der bloß tierishe. Von der Sahe im Großen ist schon ge=- 
redet: aber auh im Kleinen wird sie deutlih, wo denn Jeder sie zu beobachten 
täglich Gelegenheit hat. Z. B. wenn zwei junge Hunde miteinander spielen, so 
friedliih und lieblih anzusehen — und ein Kind von drei bis vier Jahren kommt 
dazu: so wird es sogleih mit einer Peitshe oder Stock, heftig dareinshlagen, 
fast unausbleiblih, und dadurch zeigen, daß es shon jetzt Fanimal mecant par 
excellence ist. Sogar auch die so häufige zwecklose Neckerei und der Schaber- 
nack entspringt aus dieser Quelle ... . 

.». Wirklich also liegt im Herzen eines Jeden ein wildes Tier, das nur 
auf die Gelegenheit wartet, um zu toben und zu rasen, indem es Änderen wehe 
tun und, wenn sie gar ihm den Weg versperren, sie vernichten möchte: es ist 
eben das, woraus alle Kampf- und Kriegslust entspringt ..... es ist der Wille 
zum Leben, der durh das stete Leiden des Daseins mehr und mehr erbittert, 
seine eigene Qual durch das Verursachen der fremden zu erleihtern sucht. Äber 
auf diesem Wege entwickelt er sich allmählih zur eigentlihen Bosheit und 
Grausamkeit... 


Während sih Nietzsche bejahend zur Grausamkeitslust 
stell, wenn er sie auch persönlih fast restlos verdrängt und 
sublimiert hat, reagiert Schopenhauer, der in seiner Ethik das 
Mitleid als menschliche Regung katexochen preist, mit einer Ab- 
wehr, deren Ausdruck eben diese Ethik ist: 


Nichts empört so im tiefsten Grunde unser moralishes Gefühl wie 
Grausamkeit. Jedes andere Verbrechen können wir verzeihen, nur Grausamkeit 


nicht. Der Grund hievon ist, daß Grausamkeit gerade das Gegenteil des Mit- 
leids ist.« 


Ist er auh an die Darstellung seiner Ethik erst relativ spät 
und auf einen äußeren Anlaß hin gegangen, so hören wir doc viel- 
leiht seine tiefsten Gemütstöne hier erklingen, wie er auch die Ethik 
zum Schlußstein seiner ganzen Philosophie gemacht hat. Es zeigt 
wieder reht von den Gegensätzen, die in der menschlichen Seele 
herrshen, wo ja Reaktionsbildungen so vielfah die Wurzeln der 
Charaktereigenscaften darstellen, daß gerade Schopenhauer, dieser 
rauhe, unerbittlihe, neidishe und rachsühtige Mensch, der fast alle 
anderen Menschen so grundverschieden und tief unter sih distanziert 
empfand, daß gerade dieser griesgrämige, vereinsamte und eigen= 
sühtige Räsoneur — die Mitleidsmoral, die er freilih bei den 
Indern vorfand, zu der seinen machte! Er empfindet in sich gleich 
sam als Hemmungsmittel gegen die bösen Instinkte, ohne nach der 
Herkunft zu fragen, als ethisches Urphänomen die Mitleidsregung. 


142 Dr. Eduard Hitshmann 


Es ist nah ihm eine unmittelbare, sih als solhe von selbst an-= 
kündigende, instinktartig wirkende Triebfeder. Auch das die Vor- 
aussetzung des Mitleids bildende Durhshauen der Wesenseinheit 
alles Lebenden, welches die indische Philosophie als »tat twam asi« 
ausspricht, ist eine unmittelbar, ohne Schluß und logische Reflexion 
vor sich gehende intuitive Erkenntnis. Wir sehen hier Schopen- 
hauers Mangel an Bedürfnis nah einer Genealogie der Moral, im 
Gegensatz zu dem tiefshürfenden Trieb nach Aufklärung der letzten 
Wurzeln moralisher Wertung bei seinem Antipoden Nietzsche. 
Seltsam mutet es an, den jugendlihen Nietzsche als dankbar ver- 
ehrenden Schüler Schopenhauers auftreten zu sehen (in der be= 
geisterten Jugendschrift »Schopenhauer als Erzieher«)!. Aber Nietz=- 
sche wird auh darin das Gegenspiel Schopenhauers, daß er 
sih immer wieder selbsterkennend zu überwinden sucht, während 
Schopenhauer ein für allemal bei seiner Konzeption des Welt- 
bildes starr verharrte. So brachte die Selbstanalyse Nietzsche weit 
über seinen Lehrer hinaus, gegen den er namentlich in der »Genea= 
logie der Moral« nicht genug polemisieren kann. Für eines aber 
bieten diese beiden in Leben und Lehre so gegensätzlichen Persönlich- 
keiten die pradhtvollsten Beispiele: Die Moral eines jeden von ihnen 
erscheint als direkter Gegensatz ihrer Persönlihkeit und Lebens- 
führung. So sagt Simmel von Nietzsche: »Es ist oft hervorgehoben 
worden, daß die Lehre Nietzsches den Gegensatz seiner Persön- 
lihkeit bildete: dieser rauhe, kriegerishe und dann wieder bachantisch 
weittönende Ruf quoll aus einer höchst sensitiven, still in sih ge= 
kehrten, liebenswürdig milden Natur.« Und von Schopenhauer 
sagt Paulsen, man könne seine Moral bezeichnen als seinen cata= 
logus desideratorum. 

Sowohl Volkelt wie Simmel heben hervor, daß Schopen- 
hauer dort, wo er die Mitleidsmoral darstellt, niht jene echten, 
tiefen, auf Selbsterlebnis beruhenden schwärmerishen Gefühle 
äußere, wie in seiner Darstellung des »reinen willenlosen Erkennens«,. 
Sie wollen daraus schließen, daß diese Mitleidsmoral konstruiert sei. 
Wir hingegen versuchen dieselbe aus der aggressiv=-heftigen Anlage 
Schopenhauers und deren Verdrängung durh Reaktionsbildung 
unbewußt entstandenes, also psycdologish wahrhaftes und auf- 
richtiges Resultat abzuleiten. Denjenigen, die an einer solhen Zu= 
rückführung Anstoß nehmen, seien Nietzsches ironische Worte 
entge Are 

»Wie könnte etwas aus seinem Gegensatz entstehen? Z. B. 
die Wahrheit aus dem Irrtume? Oder der Wille zur Wahrheit aus 
dem Willen zur Täushung? Oder die selbstlose Handlung 
aus dem Eigennutze? Oder das reine, sonnenhafte Schauen 
des Weisen aus der Begehrlichkeit? Solcderlei Entstehung ist 
unmöglih,; wer davon träumt, ein Narr, ja Schlimmeres,; die Dinge 


{ Außer Schopenhauer (und Nietzsche in seiner Jugendperiode) hat 
kein Philosoph dem Mitleid als solhem moralishen Wert zuerkannt (A. Riehl). 


Schopenhauer 143 


höchsten Wertes müssen einen anderen eigenen Ursprung haben 
— aus dieser vergänglihen, verführerishen, täuschenden, geringen 
Welt, aus diesem Wirrsal von Wahn und Begierde sind sie unab- 
leitbar! Vielmehr im Schoße des Seins, im Unvergänglihen, im 
verborgenen Gotte, im ‚Ding an sih‘ — da muß ihr Grund liegen 
und sonst nirgendswo.« 

Wir sind überdies gewohnt, wo wir der Verschränkung von 
Agsressionstendenzen mit einer sexuellen Komponente (Sadismus) 
und deren Verdrängung begegnen, auh gegen die eigene Person 
gerihtete Grausamkeit, d. h. masodistishe Einstellung, zu finden, 
wie sie shon Nietzsche in der verweicdlichenden Mitleidsmoral 
erkannt hat. 

Ist die Ausschaltung aller gewalttätigen und egoistishen Motive 
nah Schopenhauer das Kriterium einer Handlung von moralischem 
Wert, so begnügt er sih doh nicht mit dieser Stufe der Voll» 
kommenheit. Es scheint, daß er schon sehr früh, jedenfalls aber als 
Jüngling, ein höheres ethisches Ideal vor sih sah: »er hatte den Hei- 
ligen als Richter des Daseins gesehen« (Nietzsche): Bevorzugte 
Menschen, hellblikende Geister erreihen in seltenen Fällen, eigent- 
lih nur durh Gnade, diese Vision der Sehnsucht. Sie töten ihren 
Willen ab und gehen über die Gerechtigkeit hinaus zu strenger 
Askese. Der erste Schritt ist geschlechtlihe Enthaltsamkeit, dann folgen 
freiwillige Armut, Vergebung der Beleidigungen, Nahrungsenthaltung, 
Kasteiungen und Sterben als Sühne. Dies ist das masodistisch-mysti- 
sche Bild, das Schopenhauer vom Heiligen entwirft: es läßt den 
Heiligen der cristlihen Religion weit hinter sih. Ganz besonders 
bewundert Schopenhauer jene plötzlihen radikalen Bekehrungen, 
für die ihm Buddha ein Vorbild war und mit rührend schönen 
Worten hat er diese Mythe dem Carl Bähr erzählt (April 1856). 
Aud hier sehen wir, wie Schopenhauer sich den mystischen 
Anschauungen der Inder nähert: die Heiligen gehen ins Nirwana ein, 
welches wieder nur ein Ausdruck der Wünsche und der Sehnsucht 
ist, die wir als die Motive aller Paradiesesshilderungen kennen. 
Dieses ganze Ideal des Heiligen, des Verzichtens, des sih Annäherns 
an Fakir- und Büßertum, müssen wir als Ausdruck schmerzfreudiger 
Phantasien ansehen, wie ja der Masohismus mit dem Sadismus eng 
verknüpft ist. Nur aus großen Schuldgefühlen können diese Selbst- 
bestrafungstendenzen ihre Intensität beziehen, und aus diesen 
Sculdgefühlen entspringt das Erlösungsbedürfnis!. Von sich selbst 
hat Schopenhauer gesagt, er sei in seinem siebzehnten Lebens- 
jahr plötzlih vom Jammer des Lebens so ergriffen worden, wie 


——————— 


i »Es ist der Kunstgriff der Religionen und Metaphysiken, welhe den 
Menschen als böse und sündhaft von Natur wollen, ihm die Natur zu verdäcdtigen 
und ‚so ihn selber shleht zu machen: denn so lernt er sih als shleht empfinden, 
da er das Kleid der Natur nicht ausziehen kann. Allmählih fühlt er sih.... von 
einer solchen Last von Sünden bedrückt, daß übernatürlihe Mächte nötig werden, 
um diese Last heben zu können: und damit ist das Erlösungsbedürfnis auf 
den Schauplatz getreten.« (Nietzsche, »Menscdi. Allzumensdl.«) 


144 Dr. Eduard Hitschmann 


Buddha in seiner Jugend. Es muß als hoch bedeutsam für die 
dieser Wandlung zugrunde liegenden Schuldgefühle und Erlösungs- 
tendenzen hervorgehoben werden, daß sie gerade nach dem Tode 
des Vaters sich verstärkten! Deutlih läßt sih die Freude am 
eigenen Leiden in der ganzen pessimistishen Darstellung und 
Auffassung des Lebens erkennen, da ja »am Mißraten, Ver- 
kümmern, am Schmerz, am Unfall, am Häßlihen, an der willkür- 
lihen Einbuße, an der Entselbstung, Selbstgeißelung, Selbstopferung 
ein Wohlgefallen empfunden und gesucht wird. Dies ist alles im 
höchsten Grade paradox: wir stehen hier vor einer Zwiespältigkeit, 
die sich selbst zwiespältig will, welche sih selbst in diesem Leiden 
genießt« (Nietzsche: »Was bedeuten asketische Ideale?«). Be- 
sonders klar drückt dies auh Simmel aus: »Das Schwelgen in den 
eigenen Schmerzen, das wollüstige sih verbohren in jeden Kummer, 
die Sucht, von seinem Mißgeshehen auch vor sich selbst viel ‚her 
zu madhen’ — dies äußert sih durdhgehends in den Formen mit 
dem Hintergrund oder dem Vordergrund einer pessimistishen Auf- 
fassung der ganzen Welts. 


3, Pessimismus, 


Die Popularität seiner Philosophie verdankt Schopenhauer 
vornehmlich der pessimistishen Weltanshauung. Kaum jemand vor- 
her gab seinem Leiden an der Welt, seiner Enttäushung an den 
Menschen, an der Liebe, an Wert und Inhalt des Lebens, an der 
Entwiclungsfähigkeit der Menschheit und des Individuums in so 
prägnanter Weise Ausdruk. Das wictigste der Argumente, mit 
denen Schopenhauer immer wieder die Mißgefühle, die ihm die 
Welt erregt, zu rationalisieren sucht, ist der bereits in diesem Sinne 
erwähnte blinde, vernunftlose, ziellose Wille, der niemals voll zu 
befriedigen ist und keinen Ruhepunkt kennt. Vielleicht mehr nod als 
dieses methaphysishe Prinzip ist es der empirishe Eindruck der 
Betrahtung der Welt und der Menschen, die Unverbesserlihkeit 
der Menschheit in jeder Hinsiht: Es sei viel mehr Unlust als Lust 
im Leben, welches Unverstand, Bosheit und Zufall regieren, die 
Gesclectsliebe sei eine Prellerei, im letzten Grunde ekelhaft, die 
Menschen voil Versteflung und Heucelei, alles Wirklihe nur ein 
Schein, Trugbild, Gehirnphänomen, die Zeit von einer trostlosen 
Flüdtigkeit, ein Phantom, mehr sei niht zu erstreben als Schmerz- 
losigkeit, nur in der Geistigkeit, der Abwendung vom Leben, sei 
Beruhigung als eine Art von Glük zu finden. Selbst von den 
Kindern, die durh ihre Harmlosigkeit mit allem zu versöhnen ver- 
mögen, sagt Schopenhauer: 

»Kinder sind wie unschuldige Delinquenten, die zwar nicht zum Tode, 
hingegen zum Leben verurteilt sind, jedoh den Inhalt des Urteils noch nicht 
vernommen haben.« 

»Wir gleichen den Lämmern, die auf der Wiese spielen, während der 
Metzger schon eines und das andere von ihnen mit den Augen auswählt: Denn 


Schopenhauer 145 


” 


wir wissen nicht, in unseren guten Tagen, welches Unheil eben das Schicksal uns 


bereitet — Krankheit, Verfolgung, Verarmung, Verstümmelung, Erblindung, 
Wahnsinn, Tod.,.« 


Und seinen Bindruk von den Menschen schildert er wieder- 
holt in folgender Weise: 


»Wer geistige und leiblihe Schönheit kennt, dem gibt der Anblik und 
die Bekanntschaft eines jeden neuen sogenannten Menschen in hundert‘ Fällen 
gegen einen nichts, als ein ganz neues, wirklich originales, bisher noh nicht in 
den Sinn gekommenes Beispiel eines Compositi von Häßlickeit, Plattheit, Ge= 
meinheit, Verkehrtheit, Dummheit, Bosheit, mit einem Worte, Widerlichkeit und 
Absceulickeit.« 

Das Leben erscheint ihm »als ein beständiger Kampf um diese Existenz 
selbst, mit der Gewißheit, ihn zuletzt zu verlieren. Ist nun aber die Not weit 
zurükgedrängt und ihr ein Stück Feldes abgewonnen, so tritt sogleih furdhtbare 
Leere und Langeweile ein, gegen welhe der Kampf fast noch quälender ist« 
(N. P, & 320). 

Er findet daher, »daß es ungleich wahrer ist zu sagen: Der Teufel hat 
die Welt geschaffen, als: Gott hat die Welt geschaffen.« (N. P., $ 316). 


Für den a Wa solch krass=pessimistisher Urteile aus Miß- 
stimmung spriht folgende Stelle, die volle Selbsterkenntnis verrät: 


»Es kann hiemit soweit kommen, daß vielleicht manchem, zumal in Äugen- 
bliken hypochondrisher Verstimmung, die Welt, von der ästhetischen Seite 
betrachtet als ein Karikaturenkabinett, von der intellektuellen als ein Narrenhaus 
und von der moralischen als eine Gaunerherberge erscheint. Wird solhe Ver- 
stimmung bleibend, so entsteht Misanthropie,.« (Preisshrift über die Grund- 
lage der Moral.) 


Nirgends läßt sih die strenge Subjektivität der Welt- 
anshauungen deutlicher erkennen, als in der Stellung, die der ein- 
zelne der Welt gegenüber als Optimist oder Pessimist einnimmt. 
- Es zeigt sih da, daß der Pessimismus gar keine Weltanschauung, 

sondern eine Stimmung, oder um es gleich mit dem richtigen Namen zu 
sagen, — Verstimmung ist. So fragt Gwinner, der ja Schopen- 
hauer persönlich gekannt, in seiner Grabrede auf Schopenhauer 
mit einem psycdologish tiefen Vergleih: »Lief er nicht beleidigt, 
wie ein Kind, das sich im Spiel erzürnt, durh sein ganzes Leben 
dahin — einsam und unverstanden, nur sich selbst getreu?«s — In 
frühen Jahren, wo der in einem wohlhabenden Patrizierhause auf- 
wachsende Knabe noch keine Bekanntschaft mit dem rauhen Leben 
Be haben konnte, hat er, wie seine Mutter sagt, »schon als 

nabe über das Elend der Menschheit gebrütets. (Gwinner, p. 22.) 
Vielleicht mit mehr innerer Berehtigung durfte er, seine persönliche 
Mißstimmung als Jüngling empfindend, später sagen: 


»In meinem siebzehnten Jahre, ohne alle gelehrte Shulbildung, wurde ih vom 
Jammer des Lebens so ergriffen, wie Buddha in seiner Jugend, als er Krankheit, 
Alter, Schmerz und Tod erblikte. Die Wahrheit, welche laut und deutlih aus 
der Welt sprah, überwand bald die auh mir eingeprägten Jüdischen Dogmen 
und mein Resultat war, daß diese Welt kein Werk eines allgütigen Wesens 


Imago II/2 10 


146 Dr. Eduard Hitschmann 


sein könnte, wohl aber das eines Teufels, der Geschöpfe ins Dasein gerufen, 
um am ÄAnblik ihrer Qual sih zu weiden: Darauf deuteten die Data und der 
Glaube, daß es so sei, gewann die Oberhand.« (N. P. $ 6506.) 


Als charakteristisch sei ferner noch eine Stelle hier angeführt, die 
um so mehr beweist, wenn man die Tatsache heranzieht, daß auch 
der melandholish Kranke morgens die größte, abends die geringste 
Verstimmung zeigt. Die analoge, von Schopenhauer gesdilderte 
Erscheinung kennen wir übrigens auch bei neurotishen und ver=- 
stimmten Menschen als Fluht aus der unbefriedigenden und peinlich 
empfundenen Realität in den Schlafzustand, den diese Menschen 
gelegentlih über Gebühr auszudehnen suchen. Schopenhauer 
formuliert diese zweifelsohne persönlihe Erfahrung so: 

»Was man auch sagen mag, der glücklichste Augenblik des Glüclichen 
ist doch der seines Einschlafens, wie der unglüklihste des Unglüklihen der 
seines Erwadhens.« (W. W. II.) 


Allen Schopenhauer-Forshern mußte die Frühzeitigkeit seines 
Lebensernstes und seiner Verstimmung auffallen. Möbius behauptet 
sogar, daß Schopenhauer »von Anfang an krankhaft« gewesen 
sei und meint, daß es schon auf Krankheit hindeute, »daß in der 
Jugend die Frage nah dem Werte des Lebens gestellt wird«. 
Treffend sagt Möbius: »Nict die Erkenntnis der Übel in der Welt 
hat ihn dazu (zum Philosophen des Pessimismus) gemacht, sondern 
er hat die Übel aufgesuht und gescildert, weil er Belege für 
seine lebensfeindlihe Stimmung brauhte.« — »Schopenhauer 
suhte nah Erklärungen für sein Wehgefühl, für seine Lebensangst 
und er fand seinen Pessimismus«, der das älteste Stück seiner Phil, 
sophie darstellt. Nah Möbius wird also das angeborene Gefühl 
der Dyskolie später durh die Lehre gerechtfertigt. Wir werden 
weiterhin ausführen, daß die eigenartige Stimmungslage Schopen- 
hauers nicht so sehr als angeboren, vielmehr als eine früh erwor= 
bene, zumindest aber durh frühe Eindrüke krankhaft verstärkte 
aufzufassen ist. 

Ferner sei — indem wir uns hier gestatten von der Öber- 
fläche des Psychologishen auszugehen — daran erinnert, daß die von 
Schopenhauers Mutter so rücsichtslos geschilderten abstoßenden 
Charaktereigenshaften ihres Sohnes, wie sein hochfahrendes und 
reizbaress Wesen, sein Bigendünkel, seine Gehässigkeit und Un- 
freundlihkeit, sein ewiges Besserwissenwollen, vielfah im Leben 
Anstoß erregen und dadurh wieder zu einer Steigerung seiner 
Mißstimmung führen mußten. So mußte er sich in seiner Bitelkeit 


= 


! Vgl. auh Hebbel (Tagebücher): »Sehr schön sagte meine liebe Frau 
gestern Abend, als wir zu Bette gingen: in der Jugend steht man fröhlich auf, 
im Alter legt man sich fröhlich nieder.« 

® Es gibt Familien, ja ganze Generationenreihen, die düsterer Stimmung 
sind; vom Vater her mag das Elternhaus Schopenhauers jenen von Ibsen 
oft geschildertem Mangel an Lebensfreude aufgewiesen haben. 


Schopenhauer 147 


und Empfindlihkeit um so mehr verletzt und herabgesetzt fühlen, 
als er in seinen maßlosen Ansprühen an die Menschen überhaupt 
nie zu befriedigen gewesen wäre. Tatsählih wird auh shon von 
seinen gesellschaftlihen Mißerfolgen berichtet, insbesondere den jungen 
Mädchen gegenüber,- die den mürrishen und abseits stehenden, 
jugendlichen Philosophen beläcdelten, der sie gewiß auch nicht ver= 
shonte und sie seine geistige Überlegenheit fühlen ließ, Schopen= 
hauer tröstet sich über diese Mißerfolge in der ihm geläufigen und 
sein ganzes Denken beherrschenden Manier durch Vergrößerung seiner 
Distanz zu den Menschen: 


»In meiner Jugend machte die Vernachlässigung, die ih in der Gesell- 
schaft erfuhr und der Vorzug, den man den Alltäglihen, Platten, Dürftigen vor 
mir gab, mih an mir selbst irre: bis ih, 26 Jahre alt, den Helvetius las und 
nun begriff, daß die Homogeneität jene vereinigte und die Heterogeneität 


mich ausshied .... « (N. P. $ 661.) 


Allzu leicht stieß er in allen Lebenslagen bei seinen Neben- 
menschen an und räcdte sich dafür, indem er ihnen Bosheit und 
Lieblosigkeit vorwarf. Ambivalent in seinen Gefühlen, war er einer 
reinen Liebe nicht fähig, sondern sie mischte sih ihm allzu leicht 
mit Haß. So blieb ihm kein Ausweg als die Vereinsamung, In 
diesem Sinne sagt Paulsen: »Er sah, daß er mit den Menschen 
nicht leben könne, weder im Guten, dazu war er zu hocdfahrend 
und reizbar, noch im Bösen, dazu fehlte es ihm an kaltblütiger 
Überlegenheit, so entschloß er sih, ohne Menschen zu leben.« 

In nicht für die Veröffentlihung bestimmten Aufzeichnungen 
(eis &avrov) hat Schopenhauer das ershütternde Bekenntnis 
gebudt: | 


»Mein ganzes Leben hindurh habe ich mich schrecklich einsam 
gefühlt und stets aufs tiefste geseufzt: ‚Jetzt gib mir einen Menschen!‘ Ver- 
gebens! Ih bin einsam geblieben! Aber ich kann aufrihtig sagen, es hat nicht 
an mir gelegen, ich habe keinen von mir gestoßen, keinen geflohen, der an 
Geist und Herz ein Mensch gewesen wäre; nichts als elende Wichte von 
beshränktem Kopf, schlehtem Herzen, niedrigem Sinn habe ich gefunden, 
Goethe, Fernow, allenfalls F. A. Wolf und wenige andere ausgenommen, 
die sämtlih 25 bis 40 Jahre älter als ih waren. Demnad hat allmählich der 
Unwille über einzelne der ruhigen Verahtung des Ganzen Platz machen müssen. 
Früh ist mir der Unterschied zwischen mir und den Menschen bewußt geworden. 
Aber ich habe gedaht: Lerne nur erst hundert kennen und du wirst deinen 
Mann schon finden, dann: Aber unter tausend wirst du’s; dann: Zuletzt 
muß er doh kommen, wenn auch unter vielen Tausenden. Endlih bin ih zu 
der Einsicht gelangt, daß die Natur noh unendlih karger ist und ih muß die 
‚solitude of Kings‘ Byrons mit Würde und Geduld tragen.« 


 Vergleiht man mit diesen zu sich selbst gesprochenen Worten 
die Äußerungen Schopenhauers für seine Leser, so st hier ein Ge= 
ständnis der Sehnsuht nach Vertrauten nicht zu finden, sondern stolz 


wird das Einsamkeitsbedürfnis als Zeihen der Größe und Tiefe 
angeführt: 


10* 





148 Dr. Eduard Hitschmann 


»Daß ein Mensch edlerer Art sei, zeigt sih zunähst daran, daß er kein 
Wohlgefallen an den übrigen hat, sondern mehr und mehr die Einsamkeit ihrer 
Gesellschaft vorzieht.« 

»Die eigentlihen großen Geister horsten, wie die Adler, in der Höhe, 


allein.« 

»Er ist ungesellig,« sagt beinahe shon: »er ist ein Mann von großen 
Eigenschaften.« 

»Denn je mehr Einer an sich selber hat, desto weniger bedarf er von 
außen und desto weniger können die Übrigen für ihn sein. Darum führt die 
Eminenz der Geister zur Ungeselligkeit.« 


Schopenhauers soziale Mißerfolge im Lehrberuf, bei Kol- 
legen, in der Geselligkeit, bei den Frauen, erregten sekundär bei 
ihm erst reht Groll (Ressentiment) und Überhebung, seine Miß- 
erfolge bei den Menschen legt er dann gegen die Betreffenden aus 
und war daher ein Menscenfeind, Feind jeder Geselligkeit und 
namentlih der Philosophieprofessoren und der Frauen. Wir erkennen 
in diesem Verhalten leiht den Mechanismus der Projektion, mittels 
dessen eine subjektive Enttäushung umgewandelt wird in objektive 
Entwertung. Selbstverständlih haben die Jahrzehnte vergeblichen 
Wartens auf äußeren Erfolg mit der großen Enttäuschung seines 
maßlosen Ehrgeizes Schopenhauer bis zu einem gewissen Grade 
beredtigt, an dem Wohlwollen und der Gerechtigkeit der Menschen 
zu zweifeln. Dafür mag auch sprehen, daß sein Älter, welches vom 
Glanz des späten Erfolges, von Popularität und Ruhm noch ver- 
klärt war, den Pessimismus und den Menschenhaß bedeutend ge- 
mildert hat. Doc sind jene Mißerfolge zweifellos in weitem Aus- 
maße durch sein Verhalten gegen die Menschen mitvershuldet und 
eben darum ist ja seine Reaktion ein so charakteristischer, die eigene 
Schuld überschreiender Rectfertigungsversud. 

Wir wollen nun den Medhanismus des Ressentiments klar- 
legen, welcher darin besteht, daß durch Enttäushung, Erfolglosig- 
keit, Nichtanerkanntsein, durh das Gefühl der SI akräen. 
heit etc. eine Art »seelisher Selbstvergiftung« (Scheler‘) Platz 
greift, indem der herabgesetzte und enttäuschte Mensch seine Racıe- 
gefühle und -Impulse, Haß, Zorn, Neid, anstatt sie abzureagieren, 
ins Ünbewußte verdrängt, vermutlich weil auch sonst seine heftigen 
Triebregungen im Leben gebrochen wurden, es setzt nämlich ein 
Ohnmadhtsgefühl voraus, daß man sich nicht anders rächen und ent= 
schädigen kann, es gehört dazu das dunkle Gefühl, daß man selbst 
unvollkommen ist. Alle jene Ziele, Kräfte und Tugenden, die uns 
unerreihbar sind, beginnen wir dann herabzusetzen und minder 
zu werten, Es tritt eine Wertefälshung ein, die Unlust über das 
Entbehrenmüssen und Nidtbesitzenkönnen wird dadurch erleichtert 
(»die Trauben sind dem Fuchse zu sauer«). Dies führt zu einer 
Verfälshung des Weltbildes; aber nicht nur die Aussage über das 


ı Max Scheler, Über Ressentiment und moralishe Werturteile (Zeitschr. 
f. Pathopsychologie, I. Bd., 1912, Heft 2/3). 


Schopenhauer | 149 





Weltbild wird verändert, »das wäre noh bewußte Fälschung, 
sondern allmählih wird das Urteil selbst ein anderes, d. h. audh 
das Unbewußte übernimmt die neue Wertung. 

Den gleihen Mechanismus haben wir bereits bei der Redt- 
fertigung der subjektiv-pessimistishen Verstimmung aus der 
Scledtigkeit und Verwerflichkeit der Welt, wirksam gesehen und 
dürfen auf Grund zahlreiher Erfahrungen auf anderen Gebieten 
geistigen Schaffens schließen, daß ein großes Stück der Systembildung 
in nihts anderem als in derartigen unbewußten Projektionen besteht. 

Die Flüchtigkeit der Zeit dient unserem Philosophen gleich- 
falls zur Begründung seiner traurigen Lebensanshauung: jeder Augen= 
blik ist nur insofern da, als er den vorhergehenden, seinen Vater, 
vertilgt hat und selbst wieder ebenso schnell vertilgt wird. Die 
Gegenwart ist nichts als Dauerlosigkeit, nichts als Dahinschwinden. 
So offenbart sich in der Zeit die Vergänglihkeit und die Nictig- 
keit aller Dinge. »Was im nächsten Augenblick nicht mehr ist, was 
sogleih verschwindet wie ein Traum, ist nimmermehr eines ernsten 
Strebens wert.« (Schopenhauer.) 

Die Flüctigkeit der Zeit hat niemand so schwer empfunden, 
als Schopenhauer, sie läßt bei ihm kein Glücksgefühl auf- 


kommen: 


»In einer solhen Welt, wo keine Stabilität irgendeiner Art, kein 
dauernder Zustand möglih, sondern alles in rastlosem Wirbel und Wechsel 
begriffen ist, alles eilt, fliegt, sih auf dem Seile, durch stetes Schreiten und Be= 
wegen, aufrecht erhält, läßt Glückseligkeit sich nicht einmal denken.« (P. P. II.) 

»Die Zeit ist die Form, mittels derer jene Nichtigkeit der Dinge als 
Vergänglichkeit derselben erscheint, indem, vermöge dieser, alle unsere Genüsse 
und Freuden unter unseren Händen zu Nichts werden und wir nachher ver= 
wundert fragen, wo sie geblieben seien.« (W. W. II) 

»Ihr klagt über die Fluht der Zeit: sie würde niht so unaufhaltsam 
fliehen, wenn irgendetwas, das in ihr ist, des Verweilens wert wäre. (N.P. $ 305.) 


Aud fand sih in Schopenhauers Papieren eine Übersetzung 
des Miltonshen Gedidhtes an die Zeit, das der Sehnsuht nad 
Erlösung von Zufall, Tod und Zeit Ausdruck gibt. (N, P, p. 365). 

In auffälligem Gegensatz zu jener hartnäckigen Betonung der 
Flüctigkeit der Zeit steht des Philosophen immer wieder ange- 
stimmte Klage über die Unerträglihkeit der Langweile, welche 
die schmerzlosen Momente des Lebens ausfülle. Auch diesen 
Zug mödten wir aus der Verstimmung ableiten, da nur der Ver- 
stimmte oder vom Leben shwer Enttäuschte, der Vereinsamte und 
niht Liebende so schmerzlih über Langweile, d. h. über das Miß- 
empfinden der ungenützten Zeit klagen kann. Daß diese Empfindung 
namentlich bei genialen und scaffenden Menschen, die nur ihrem 
Werke leben, durh die Zeiten des Stillstandes der Produktion, also 
die Empfindung einer inneren Leere, gefördert und gesteigert wird, 
vi uns Freilich häufig die Selbstbekenntnisse großer produktiver 

änner. 


150 Dr. Eduard Hitshmann 


Schopenhauer hebt immer wieder hervor, daß seine Philo- 
sophie durh Anschauung der Welt gewonnen sei. Und so imponierte 
seiner Betrahtung, neben der Flüdtigkeit der Zeit, das Traum- 
hafte alles Irdishen, das Unwirklihe des Lebens so intensiv, daß 
ihm dieses Gefühl den zweiten Grundpfeiler seines philosophischen 
Systems zwingend entgegenbrahte: Die Welt ist nur unsere Vor- 
stellung. Knüpfte er selbstverständlih damit an Plato, Kant und 
die Inder eklektish an, so kann man überall aus seinen Werken 
nachweisen, daß tiefstes inneres Erleben ihm zu seiner genialen 
Begründung des Phänomenalismus Stoff und Affekt gegeben hat. 

Der Kantsche Vorstellungsidealismus gleitet, wie Volkelt 
treffend sagt, bei Schopenhauer unwillkürlic in indischen Traum- 
idealismus hinüber, es ist ihm vollkommen ernst damit: indem die 
Welt Vorstellung ist, hat sie damit auch niht mehr Existenzwahr- 
heit als ein Traum. An zahlreichen Stellen seiner Werke verkündet 
er bald mehr die Verwandtschaft, bald mehr die Wesenseinheit von 
Welt (Realität) und Traum. 

»Meine Phantasie spielt oft (besonders bei Musik) mit dem Gedanken, 
aller Menschen Leben und mein eigenes seien nur Träume eines ewigen Geistes, 
böse und gute Träume, und jeder Tod ein Erwaden.« (N. P. $ 275.) 

»Das Leben ist eine Nacht, die ein langer Traum füllt, der oft zum 
drückenden Alp wird.« (N. P. $ 273.) 

Besonders folgt er hierin der Anschauung der Vedänta-Philo- 
sophie, ihrer Lehre von der Maja und dem Schleier, der »die 
Augen der Sterblihen umhüllt und sie eine Welt sehen läßt, von 
der man weder sagen kann, daß sie sei, nodh aud, daß sie nicht 
seis. Schopenhauer will damit, wie es weiter in den Aus- 
führungen Volkelts heißt, das ganz und gar Nidtige, Bestand- 
lose, dem Nictsein Ähnliche, zugleih das Sinnlose und Bange der 
Erscheinungswelt zum Ausdruk bringen. Es ist sonah klar, daß 
für Schopenhauer die Welt, indem sie bloße Vorstellung ist, zu= 
gleih ein in seinem metaphysishen Werte herabgesetztes Sein be= 
deutet. Die erkenntnistheoretishe Würdigung der gegenständlichen 
Welt ist ihm unmittelbar zugleih ein metaphysishes, und zwar 
pessimistisch-metaphysishes Werturteil. Bedenkt man, daß gerade 
Schopenhauer das heftig Brutale des Lebenswillens schmerzlichst 
empfunden hat, so liegt es nahe, hinter dieser Verflühtigungs= 
tendenz des Irdishen den sehnsühtigen Wunsh nah Erlösung 
davon zu suchen. Es sei dabei als höchst bedeutsam hervorgehoben, 
daß wir diese Empfindung der Welt als Traum und Schein, als 
ein befremdendes Gefühl typish von den melandolishen Patienten 
angegeben hören, es scheint auh dort dem aus der Verstimmung 
stammenden Wunsch nach Erlösung von der unerträglichen 
Wirklichkeit des Daseins zu entspringen. 

So heißt es audh bei Paulsen; Wie überall, so ist auh bei 
Schopenhauer der theoretische Idealismus bedingt durh einen 
Idealismus praktisher Art, das Ungenügen der Wirklichkeit, wie sie 


Schopenhauer 151 


ist, führt zur Bildung der Idee einer vollkommenen Welt. Und 
diese drückt dann das empfindliche Dasein herab zuerst zur Unwertheit, 
sodann zur Unwirklihkeit: eine Welt, die nicht zu sein verdient, 
ist niht die wirklihe Welt.« 

Als weitere Wurzel seines Pessimismus müssen wir die Schopen-= 
hauers ganzes Leben verbitternde Angst hervorheben, die ihn dazu 
führt, immer und überall Unheil zu erwarten und zu wittern: Die 
Furcht vor allen Übeln und besonders vor dem Erzübel, dem Tod, 
beshatte das ganze Leben, zu dessen sorglos heiterem Genuß der 
Mensh daher kaum komme. Zum Trost für diesen unerträglichen 
Gedanken des persönlihen Todes dient dem Philosophen, wie der 
todesfürhtigen Menschheit überhaupt, die Phantasie eines ewigen 
Lebens, bei ihm in der Form eines ewigen unzerstörbaren Willens, 
der sich zeitweilig im Einzelnen durch das principium individuationis 
objektiviert. 

»Wir würden vielleiht, beim Anblik dieses Ablaufens unserer kurzen 
Zeitpause rasend werden, wenn niht im tiefsten Grunde unseres Wesens ein 
heimlihes Bewußtsein läge, daß uns der nie zu ershöpfende Born der Ewigkeit 


gehört« (P. P. ID. 


Fragen wir uns aber weiter nah dem Ursprung solcher ver- 
stimmender Angstgefühle, die Schopenhauer schon seit der Kind- 
heit begleiteten, so kommen wir, wie erwähnt, auf den Trieb, bei 
Schopenhauer auf einen überstarken und vermutlich sadistisch ge- 
färbten Sexualtrieb und dessen Unterdrückung: Die Angst entspräche 
einer mißglückten Verdrängung von Lust und Wut. Die Zusammen- 
hänge zwischen Sadomasodhismus und Pessimismus sind aber nodı viel 
weitere. Die Lust am fremden und die Lust am eigenen Leide ver- 
shlingen sih noch in ihren Erstrekungen in die Bbhraktioh hinein, 
gerade in der Erscheinung des Pessimismus selbst, wie Simmel meint: 

»Eine sublime Grausamkeitslust liegt in der Zerstörung, mit 
der er sonst anerkannte Werte trifft, in der Leidenschaft, mit 
der er sonst unbewußt oder unberechnet gebliebene Leiden ins 
Bewußtsein hebt, in der Abschätzung unseres Seins, das nichts 
Besseres als dieses Leben und diese Welt verdiente. Aber die all- 
gemeine pessimistishe Anschauung ist keineswegs nur mit subjek- 
tivem Leide, sondern oft mit einem gewissen Genuß gerade an 
diesem verknüpft.« 

Diese Zusammenhänge, die auh Nietzsche in meisterhafter 
Form in »Jenseits von Gut und Böse« aufgedeckt hat, rühren mit 
ihrer Zurükführung auf die Triebwurzeln an unsere psychoana- 
Iytishe Auffassung. 

Was bisher über den Pessimismus ausgeführt wurde, gibt nicht 
die letzten, eigentlih im Infantilen wurzelnden Ursprünge der Ver- 
stimmung und damit des Pessimismus. Auf die Bedeutung konsti- 
tutioneller, ererbter Momente wie Triebanlage und Stimmungs- 
neigung, sowie auf die Möglichkeit irgendeines realen Defektes in 
Schopenhauers Sexualität, vielleicht einer allzuleihten Anspreh- 





152 Dr. Eduard Hitschmann 


barkeit, haben wir schon hingewiesen. Die vielleiht entscheidendste 
Ursadhe einer bleibenden Charakter- oder Wesensform sind wir aber 
nah Freud gewohnt, in psychosexuellen Momenten der frühesten 
Kindheit aufzudecken, und audh hierin stoßen wir bei Schopen- 
hauer auf reiches Material zur Begründung einer pessimistischen 
Weltanschauung. 

Das Familienbild, welhes der erste verständnisvolle Blick des 
Knaben traf, zeigte ihm eine jugendliche, heitere, zärtlihe Mutter. 
Dafür sprehen die Bemerkungen Gwinners, daß die Mutter »am 

age wie in der Nacht kaum einen anderen Gedanken« als ihren 
Arthur hatte, von dem sie »wie alle jungen Mütter, fest überzeugt 
war, daß kein schöneres, frömmeres und klügeres Kind auf Gottes 
Erdboden lebes. Die Zärtlichkeit der Mutter pflegt sih gerade dann 
in übertriebener Weise dem erstgeborenen Knaben zuzuwenden, 
wenn die Ehe, wie es ja hier der Fall war, Enttäushungen gebracht 
hatte. Dann aber mögen dem kleinen Knaben des Vaters Strenge, 
sein strafender Ernst und seine hohen Anforderungen in unlieb- 
samer Erinnerung geblieben sein. Wenn man den heftigen Charakter 
des Vaters, der übrigens schon seine Vorfahren auszeichnete, seine 
gelegentlich exzedierende Rauheit in Betracht zieht, so wird man es 
verstehen können, daß Schopenhauer, trotzdem er später so sehr 
vom Vater dankbar shwärmt, unter dessen Jähzorn, Pedanterie und 
Strenge ursprünglih schwer gelitten hat. Er selbst sagt darüber mit 
charakteristishem Hinweis auf seinen Pessimismus: 


»Ich war als Jüngling immer sehr melandholish und einmal — ih mochte 
18 Jahre alt sein — dadte ih, nod so jung, bei mir: Diese Welt soll ein 
Gott gemadht haben? Nein! Eher ein Teufel! Ih hatte freilih schon viel in der 
Erziehung, durch die Härte meines Vaters, zu leiden gehabt.« (Frauenstädt, 
Memorabilia.) 


Diese Stelle ist eines der wichtigsten Dokumente dafür, daß der 
früheste Pessimismus, schon des Knaben, auh aus dem düsteren, 
heftigen und niederdrükenden Wesen des Vaters abzuleiten ist. 
Entstammt so die vielleicht bedeutendste und früheste Wurzel seines 
Pessimismus aus dem Verhältnis zum Vater, der ihm im Sinne seiner 
eigenen feindseligen Einstellung (Ödipuskomplex) um so böser und 
ungerehter erscheinen mußte, so geht die zweite entscheidende 
Wurzel seiner so düster gebliebenen Welt- und Menschenbeur- 
teilung, wie man der Bedeutung des ganzen Ödipuskomplexes ent= 
sprehend erwarten darf, aus seiner eigenartigen Beziehung zur 
Mutter hervor. Das Maßgebende in diesem Verhältnis ist das selt- 
same Umsclagen der gegenseitigen Zärtlihkeit zwischen Mutter und 
Sohn in eine Abneigung und Feindseligkeit, die sich im Laufe der 
Jahre zu einem erbitterten Hasse steigerte. 

In einer Stelle der Parerga (II, p. 659 verrät Schopenhauer 
sein Wissen von dem Schwinden einer instinktiven Mutterliebe in 
einer Ehe, in der die Gattin ihren Mann nicht lieben kann: 


Schopenhauer 153 


»Die ursprünglihe Mutterliebe ist wie bei den Tieren, so audh im 
Menschen, rein instinktiv, hört daher mit der physischen Hilflosigkeit der 
Kinder auf. Von da an soll an ihre Stelle eine auf Gewohnheit und Vernunft 
begründete treten, die aber oft ausbleibt, zumal wenn die Mutter den Vater 
nicht geliebt hat.« 


Bedenken wir, daß der neunjährige Knabe anläßlih der An- 
kunft eines Schwesterhens (geboren 1797) für zwei Jahre in die 
Fremde gegeben wurde, so liegt es nahe anzunehmen, daß in ihm 
eine Eifersuht auf diese ihn der Mutterliebe beraubende kleine 
Konkurrentin erstand, wie wir ja bei Kinderbeobahtungen soldhen 
Regungen bei der Ankunft jüngerer Geschwister so häufig begegnen. 
Es ist wahrsceinlih, daß hier eine bedeutsame Wurzel der Ab- 
wendung des Knaben von der Mutter und deren Entwertung ent- 
springt. Dieser Umshwung ist ein auffälliges Gegenstük zu dem 
re im Verhältnis zum Vater, der dem Sohne bei Lebzeiten 
anfangs als böser, den kindlihen Neigungen und Wünschen ent= 
an: Tyrann erschienen war, und dem er nah dem 

ode, mit einer übertriebenen, wir sagen »reaktiven«, Liebe und 
Verehrung huldigte?, die wir als Kompensation infantiler böser 
Wünsche gegen den Vater erkannt haben. Solhe heimliche kindliche 
Todeswünshe, wie sie sih im ersten Verdrängungsstadium be- 
reits in der Angst des secsjährigen Knaben verrieten, (»seine 
Eltern könnten von einem Spaziergange niht mehr zurück- 
kehrens), lassen sih ihrer Tendenz und Intensität nah nicht 
bloß aus der shwer empfundenen Strenge des Vaters erklären, 
die sie gewiß unterstützt und bewußterweise rechtfertigt, sondern 
scheinen auh aus unbewußten erotishen Quellen gespeist, welche 


i So sehr die Schwester, über die hier einiges eingefügt sei, dem Bruder 
mit Interesse, ja Liebe entgegenkam, dauernde Intimität, bis auf wiederholt 
gewechselte und vertrautere Briefe, kam nicht zustande. Auch hier isolierte sich 
Schopenhauer durh seine Ablehnung und Empfindlichkeit, ursprünglih muß 
er ihr doch sehr zugetan gewesen sein, denn er schreibt ihr einmal, außer ihr 
habe er nie eine Frau ohne Sinnlichkeit geliebt. Adele Schopenhauer war ein un- 
schönes, ihrem Water ähnlihes Mädchen, von verschiedensten Begabungen, ge- 
bildet und geistreih, von Goethe geschätzt. Unter der egoistishen Mutter litt 
sie gleichfalls sehr, machte die unschönsten Familienszenen mit, bei denen sie 
manchmal »die Lust empfand, sich aus dem Fenster zu stürzen, um dem Elend 
zu entgehen«, Aud ihr Leben verlief glücklos, oft war sie melandolisch und resig- 
niert, sie blieb trotz verschiedener Ansätze zur Liebe unverheiratet. Für den 
Bruder zu sie viel Verständnis und eine tiefe Zuneigung, und in ihren inter- 
essanten Tagebücdern heißt es einmal: »Eine Ahnung dessen, was ihm (ihrem 
Bruder) Liebe geben könnte, was aus ihm zu machen gewesen wäre — ein Blick 
ins Vergangene, ins Künftige zerstörte meine Heiterkeit, glühend tobten die Sehn- 
sucht und der Schmerz in meiner Seele«. 


: Vgl. dazu die warm empfundene »Dedikation« der zweiten Ausgabe seines 
Hauptwerkes an die »Manen meines Vaters«, wo anscheinend den früheren eigenen 
Berichten über die Härte des Vaters widersprochen wird: 

»Edler, vortreffliher Geist! dem ich alles danke, was ih bin und was ich 
leiste. Deine waltende Fürsorge hat mich beschirmt und getragen, nicht bloß durd 
die hilflose Kindheit und unbedachtsame Jugend, sondern auch ins Mannesalter 
und bis auf den heutigen Tag« etc. 


154 Dr. Eduard Hitschmann 


vornehmlich einer eifersühtigen Konkurrenz um die Liebe der Mutter 
entspringen (Ödipuskomplex). Die Annahme, daß der kleine Schopen- 
hauer schon frühzeitig vom Sexualverkehr zwischen den Eltern Erfah- 
rung gewonnen haben mag, ist niht von der Hand zu weisen. Aus 
Psychoanalysen von Kindern und Erwachsenen ist uns geläufig, daß der 
Knabe — wie hier —, wenn er diese für ihn unerhörte und das reine 
Bild seines Mutterideals beflekende Ernücterung erlebt, als typische 
Reaktion eine aus gemishten Gefühlen gegen beide Elternteile zu- 
sammengesetztes Verhalten an den Tag legt. Gegenüber der Mutter 
tauchen ihm aus Neid und Racegefühlen verstärkte Phantasien von 
deren Unreinheit, eventuell Verderbtheit auf (Dirnenphantasie), was 
zunächst ein enttäuschtes Abwenden von diesem ursprünglichen Ideal 
zur Folge hat. Entspriht im späteren Pubertätsleben, wo diese 
Phantasien unter dem Drang der mädtig erwadhenden Objektliebe 
ineu belebt werden, das Bild der Mutter dieser Knabenphantasie 
von ihrer moralishen Verderbtheit auh nur vermutungsweise oder 
in ganz geringem Grade, so erhält diese für ein gewisses Ent- 
wiclungsstadium typishe, aber sonst bald von normaler Gefühls- 
einstellung der Mutter und dem Weib gegenüber abgelöste pessi= 
mistisch-verähtlihe Auffassung von ihrer Schlechtigkeit — eine 
gewisse Fixierung. Dies trifft für Schopenhauers Mutter, welche 
ja nah des Vaters vermutlihem Selbstmord (an dem der Sohn ihr 
schuld gab) enge Beziehungen zu anderen Männern pflegte, doc 
so weit zu, daß auh dem erwachsenen und lebenserfahrenen Sohn 
Anhaltspunkte genug geboten waren, um seinen aus der Kindheit 
rege gebliebenen Phantasien eine reale Begründung und anscdeinende 
Beredtigung zu verleihen. Diese durch seine puerilen Erfahrungen 
verstärkte Enttäushung an dem unvergeßlihen infantilen Liebes- 
ideal der Mutter mußte bei Schopenhauer so tief und so nadh= 
haltig wirken, weil dieses als Untreue gegen ihn selbst aufgefaßte Ver- 
halten der Mutter, sowie überhaupt ihre ganze spätere lieblose und 
feindselige Einstellung gegen den Jüngling, in so krassem Widerspruch 
zu den allerersten intensiven Zärtlihkeiten stand. Während diese 
Phantasien normalerweise bald verdrängt und irgendwie nah dem 
Leben orientiert werden, wurde für Schopenhauer die an seiner 
heimlich immer geliebten Mutter erlittene schwere Enttäushung zur 
zweiten mächtigen Quelle seiner pessimistishen Lebensauffassung, 
insbesondere des Weiberhasses und der Weiberverahtung. So leitet 
er manche dem Weibe überhaupt geltende Herabsetzung direkt von 
gewissen an seiner Mutter gemachten Erfahrungen ab, wenn er z. B. 
gegen die Vershwendung er Weiber in allen Fällen eine männliche 
Kuratel verlangt, weil er glaubte, seiner Mutter Vergeudung des 
väterlihen Vermögens vorwerfen zu dürfen: 


i Dafür scheint auch die kleine Erzählung zu sprehen, die Schopenhauer 
dem K. Bähr anvertraute: Daß ihn eines nachts sein Vater beim verbotenen 
Romanlesen überraschte, als er unversehens eintrat, um ins Zimmer der Mutter 
zu gelangen. Es war »ein gegenseitiges Ertappen«, sagte Schopenhauer wörtlich. 


Schopenhauer 155 


»In den allermeisten Fällen wird ein solhes Weib, das vom Vater 
der Kinder und mit stärkendem Hinblik auf sie, durch die Arbeit seines ganzen 
Lebens Erworbene mit ihrem Buhlen verprassen, gleihviel ob sie heiratet 
oder niht ... . Die wirkliche Mutter wird nah dem Tode des Mannes, oft zur 
Stiefmutter .... Überhaupt aber wird eine Frau, die ihren Mann nidt geliebt 
hat, audh ihre Kinder von ihm nicht lieben, nämlih nachdem die Zeit der 
bloß instinktiven, daher nicht moralish ihr anzurechnenden Mutterliebe vorüber 
ist.« (P. P. II, p. 268.) 


Wir glauben so wahrsceinlih gemaht zu haben, daß die 
frühesten und zutiefst reihenden Wurzeln des Pessimismus bei 
Schopenhauer aus der eigenartigen Elternkonstellation entspringen, 
die ihm zu Zeiten den Erzeuger als grausam und teuflish, die 
Gebärerin als verworfen erscheinen ließ. Hierin ist wahrscheinlich 
auh die Begründung für die so oft von Schopenhauer betonte 
Verwerflichkeit des Geschlechtsaktes zu finden, den er als 
die erste Schuld des Menshen und — in Anlehnung an das 
Christentum — der Menschheit überhaupt auffaßt. 


»Das menschliche Dasein, weit entfernt den Charakter eines Geschenks 
zu tragen, hat ganz und gar den einer kontrahierten Schuld. Die Einforderung 
derselben erscheint in Gestalt der, durch jenes Dasein gesetzten, dringenden Be= 
dürfnisse, quälenden Wünsche und endlosen Not. Auf Abzahlung dieser Schuld 
wird, in der Regel, die ganze Lebenszeit verwendet: doch sind damit erst die 
Zinsen getilgt. Die Kapitalabzahlung geschieht durh den Tod. — Und wann 
wurde diese Schuld kontrahiert? — Bei der Zeugung.« (W. W. II, p. 683.) 

»Das Leben stellt sih dar als eine Aufgabe, ein Pensum zum Abarbeiten 
und daher, in der Regel, als ein steter Kampf gegen die Not. Demnadh sudt 
Jeder durch und davon zu kommen, so gut es gehen will: er tut das Leben ab 
wie einen Frondienst, welhen er schuldig war. Wer aber hat diese Schuld 
kontrahiert? — Sein Erzeuger, im Genuß der Wollust.« (W. W. II, p. 669.) 

»Auf die Zeugung folgt Leben und auf das Leben unwiderruflih der 
Tod. Nun ist es der Betrahtung wert, wie die Wollust der Zeugung, 
die das eine Individuum (der Vater) genießt, niht von ihm selbst, sondern von 


einem anderen (dem Sohne) durch Leben und mithin durh Tod gebüßt wird.« 
(N. P. $ 350.) 


Viele Züge Schopenhauers, wie besonders die Verstimmung, 
Lebens=- und Liebesverbitterung und pessimistishe Weltanshauung 
erinnern in auffälliger Weise — wie schon Paulsen ausgeführt 
hat — an Shakespeares Hamletgestalt. Die letzte Wurzel dieser 
Übereinstimmung, die eine noch viel weitergehende und tiefer reichende 
ist, wird auf Grund der Freudshen Deutung des Hamletproblems 
aus dem gleichartigen Ödipuskomplex klar: Hier wie dort handelt 
es sih in gleiher Weise um eine relativ überbetonte, zärtlihe Liebe 
des Jünglings zu seinem, durch angeblihe Schuld der Mutter vor- 
zeitig aus dem Leben geschiedenen Vater, sowie um eine Verachtung 
der ehebrecherishen Mutter. Daraus resultiert hier wie dort die 
Anschauung von der Schlehtigkeit der Welt und Menschen, philo= 
sophishes Grübeln, namentlih über das Thema des Todes, und die 
Sexualablehnung des ursprünglich verliebten, von der Mutter aber 


156 Dr. Eduard Hitshmann 


shwer enttäuschten Sohnes gegen das Weib überhaupt. Es kann 
kein Zufall sein, daß Schopenhauer selbst an einer Stelle, wo 
er von inneren Widerständen gegen rücsichtsloses Aufdecken der 
wissenschaftlihen Wahrheit spricht, als Gleichnis gerade den Ödipus- 
mythus anführt: 

»Der Muth, keine Frage auf dem Herzen zu behalten, ist es, der den 
Philosophen madht. Dieser muß dem Ödipus des Sophokles gleichen, der Auf- 
klärung über sein eignes, schreclihes Schicksal suchend, rastlos weiter forscht, 
selbst wenn er shon ahndet, daß sih aus den Antworten das Entsetzlichste 
für ihn ergeben wird. Aber da tragen die meisten die Jokaste in sih, welche 
den Ödipus um aller Götter willen bittet, nicht weiter zu forshen: und sie 
gaben ihr nah und darum steht es auch mit der Philosophie noch immer, wie 
es steht.« (Brief an Goethe vom 11. November 1815.) ! 


Diese Stelle scheint die Auffassung zu gestatten, daß das 
Ödipusthema für Schopenhauer in der Jugend ein bedeutsames, 
seelishes Erlebnis war. res hebt einmal hervor, daß erfahrungs- 
gemäß jene Männer, welche sih von der Mutter bevorzugt und aus- 
gezeichnet wissen, im Leben dann eine besondere Zuversiht zu sich 
selbst sowie unerschütterlichen Optimismus bekunden, die nicht 
selten als heldenhaft erscheinen und den wirklihen Erfolg erzwingen 
(Traumdeutung, 3. Aufl., p. 207, Anmerkung).? Einen Gegenbeweis 
für diese Beobachtung bietet Schopenhauer, den das auffällige Zu= 
rückgestoßenwerden und die scharfe, lieblose Beurteilung von seiten 
seiner Mutter in den entscheidenden Knaben- und Jünglingsjahren 
zum Pessimisten machen mußten. 

Auf Grund dieses eigenartigen Ödipuskomplexes zeigt Schopen-= 
hauer auch andere Charakterzüge und Eigenheiten der Lebensführung. 
Das Hagestolzbleiben hat neben den früher angeführten, äußeren und 
inneren Ursachen, vielleiht als wichtigste Motivierung, eine starke 
Verkettung des inneren Schicksales mit der Mutter. Ahleser Typus 
Mann zeigt, wenn er sih von der Mutter enttäuscht fühlt, neben 
der sonst entstehenden Verehrung eines auf die geliebte Mutter 
zurückgehenden Liebesideales, Weiberhaß und Weiberveradhtung, 
und im Liebesleben die Trennung von Sexualität und höherer 
seelisher Empfindung (Erotik), mit dem Herabsteigen zur Prostitu-= 
tion. Schopenhauer, der ja die höhere geistige Liebe (Erotik) 


! Vgl. zum psycdologishen Gehalt dieser Briefstelle die Arbeit von 
Ferenczi: »Symbolishe Darstellung des Lust- und Realitätsprinzips im Ödipus- 
mythos (gedeutet durch Schopenhauer).« (»Imago«, I, p. 276 ff.) 

® Es sei auf Goethe hingewiesen, dessen Eltern, worauf Möbius auf- 
merksam mact, von ähnliher Gemütsart waren wie die Schopenhauers, und 
der trotzdem von der Mutter dauernd zärtlich geliebt — lebensfreudig, optimistisch 
und menscenfreundlih sih entwickelte. 

: Als Beweis für die mütterlihe Wurzel von Schopenhauers Weiber- 
haß sei z. B. angeführt seine schroffe Abweisung auf Annäherungsversuhe weib- 
liher Schriftsteller, die ihm alle aus tiefster Seele zuwider waren, sowie seine 
scharfe Verurteilung der modernen »Dame« und ihrer bevorzugten Stellung in der 
Gesellschaft, er redet immer nur von » Weibern«. 


Schopenhauer 157 


kaum erlebt hat, sondern mit Mephistopheles meist das grob Sinn= 
lihe allein unter Liebe versteht (saus einem Punkte zu kurieren«), 
hat auh von hier Verstimmung und Pessimismus bezogen. Diese 
Auffassung von der Gescledtsliebe als jedes positiven, fördernden, 
erhebenden, geistigen Anteils bar, finden wir auch beim Pessimisten 
E. v. Hartmann, und sehr richtig betont Rosa Mayreder in ihrer 
»Kritik der Weiblichkeit« den generellen Zusammenhang zwischen 
der asketisch -pessimistischen Kektansdauun und der mit einer 
gesteigerten Geistigkeit verbundenen ern Sexualität. Unter- 
stützt wird diese auf die zwiespältige Empfindung gegen die Mutter 
zurückgehende Trennung von Sexus und Eros, mit besonderer 
Herabsetzung der Sexualität und des Weibes, durh eine frühzeitig 
erfolgende Verächtlihmahung des Sexuellen überhaupt. — Auch aus 
der psydhishen Einstellung zum Vater ergeben sih für das spätere 
Leben bedeutsame Charakterzüge: Wenn Schopenhauer aud die 
Umwertung seines Vaterhasses in Verehrung für den Verstorbenen 
gelang, so zeigt er doch gegen alle Welt, insbesondere aber gegen- 
über wissenschaftlihen Lehrern und seinen Vorgängern einen revo- 
lutionären Widerspruchsgeist, der sih gegen alles Bestehende und 
fast jede Autorität wendet, sowie ein ebenfalls aus dem Vaterkomplex 
stammendes ewiges Besserwissenwollen, das schon die Mutter sharf an 
ihm gerügt hatte. So sagt Paulsen: »Opposition und Widersprud ist 
das Element, worin ihm wohl wird; mögen andere ihrer Sache 
ewiß werden durh Anlehnung an das Geltende, er wird es durd 
iderspruh. Er würde sich veräctlih vorkommen, wenn er sic 
darauf ertappte, irgendwo zu denken, zu urteilen, zu empfinden, 
wie alle Welt urteilt und empfindet.« 

Für den inneren Kampf des Sohnes zwischen Liebe und Ab- 
neigung, Verehrung und Spott spriht das eigenartige Verhalten 
Schopenhauers gegen Lehrer und autoritative Personen, denen er 
viel zu danken hatte. So verdarb er sich es schon in seiner Kind- 
heit mit einem Lehrer durh ein Spottgediht, schrieb an den Rand 
seiner Kollegienhefte boshafte Et anmaßende kritische Spottworte 
über die Professoren nieder («Gewäsh«, »Sophist«, »Rindviehs). Er 
verfolgte dann die Philosophieprofessoren überhaupt (insbesondere 
Hegel) mit einem in der Form maßlosen Hohn und Spott, und 
selbst die Verehrung, die er für Kant empfindet, shützt diesen 
niht vor Verunglimpfung. Kants Veränderungen in der zweiten 
Auflage der »Kritik der reinen Vernunft« führt Schopenhauer 
»auf Heucelei und Menschenfurht zurük«. Nicht anders ging es 
Goethe, der dem jungen Philosophen anerkennend und fördernd 
entgegengekommen war. Wurde er von dem jungen Doktor wie ein 
Gott verehrt (vgl. im Brief an F. A. Wolf: »gepriesen sey sein 
Name in alle Ewigkeit«), so wurde er in späteren Jahren von 
Schopenhauer als Egoist und Grobian bezeichnet. Daß der 
Knabe schon früh irreligiös wurde und im Gegensatz zu dem frommen 
Kant nie gottesgläubig war, deutet auch auf ein frühes Untergehen 


158 Dr. Eduard Hitschmann 


der väterlihen Autorität hin. Den gleihen Ursprung mögen zum 
Teil wenigstens die Abneigung gegen Vaterland und Vaterstadt, 
sowie gelegentlihe Äußerungen über seine Nation nehmen, die er 
einmal die dümmste nennt. 

Haben wir in den vorstehenden Ausführungen über Schopen- 
hauers Pessimismus die individuell-psydhologishen Wurzeln dieser 
Einstellung hervorgehoben, die zum Teil in der Nähe des Patho- 
logishen ihre Nahrung ziehen, so haben wir damit indirekt eine 
Kritik dieses Pessimismus angedeutet, wie sie dem objektiven 
Beurteiler shon durch die krassen Übertreibungen Schopenhauers 
nahegelegt wird. Es ist bekannt, daß auh der Durcdhscnittsmensch 
vorübergehend und zwar gerade in den Stunden der Einkehr, zu 
skeptisch-pessimistischer Spruchweisheit geneigt ist, und daß der Heran- 
wachsende, namentlich zur Zeit der Pubertät, pessimistisch verstimmt 
sein kann. In solhen Zeiten wird man am leichtesten Anhänger 
eines pessimistishen Philosophen und auh dann, wenn einem im 
Leben und Lieben etwas mißglückt ist. Die Menschen werden aber 
nie dauernd zugeben, daß nur der Schmerz positiv, die Lust nur 
in der Befreiung vom Schmerz liege. Hier kann das natürliche 
Empfinden dem Philosophen nicht folgen, den offenbar persönliche 
Erfahrung anders sprechen ließ. Aber diesem, durh sein inneres 
Schicksal so isolierten Menschen, war die altruistisch bedingte Freude, 
die Mitfreude, völlig fremd; auf Hausgenossenschaft, Freundschaft, 
Familie, wo der Egoismus mehr zurücktritt, hat er fast sein ganzes 
Leben lang verzichten müssen. Bei Schopenhauer findet »alles, 
was stilles Behagen, traulihe Enge, munteren Scherz, frohes Spiel 
bedeutet, keine Würdigung« <(Volkelt, oder wie Paulsen 
meint: »Schopenhauer ist für diese Dinge, man mödte sagen 
farbenblind.« 

In Äußerungen späterer Jahre, besonders in seinen berühmten 
»Aphorismen zur Lebensweisheit« zeigt sih Schopenhauer zu 
einer optimistischeren Lebensauffassung gestimmt. Er verfaßte diese 
Aussprühe als »AÄnweisungen zu einem glücklihen Dasein«. »Ja, 
diese Aphorismen sagen uns auf jeder Zeile, daß der wahre Weise, 
der Mensch, dem das größtmöglichste Erdenglük beschieden war, 
den man sich bei allen seinen Entschließungen und Neigungen zum 
Vorbild nehmen solle, der Dr. Arthur Schopenhauer ist« 
(Seilliere).! Hier zeigt sich klar, wieviel selbstgefällige Selbstbe- 
trahtung (Narzißmus) an philosophishen Anschauungen mitwirkt. 

Schopenhauer hat also die Wahrhaftigkeit und Aufrichtigkeit, 
die ihn überhaupt auszeichnet, im späteren Lebensalter darin be- 
wiesen, daß er seine optimistischer gewordene Lebensansidht nicht 
verschwieg. Seinem Pessimismus darf man darum nicht Unaufridhtig- 
keit nachsagen, wie Kuno Fischer. Denn daß seine unbewußte 


i Übrigens ist erst kürzlih dem Optimismus Schopenhauers von 
S. Rzewusky eine Studie gewidmet worden (Paris 1911). 


Schopenhauer 159 


Freude am Leiden nicht weiter ging, als daß seine Anschauung der 
Welt und die Darstellung derselben pessimistish war, — daß er aber 
niht in Sack und Asche herumging, sih nicht selbstmordete; ist für 
uns kein Widerspruh, sondern zeigt nur die Grenze, bis zu welcher 
er unterlag. Auch der Märtyrer, der Büßer und der, der sich ent- 
leibt, tut ja letzten Grundes das, was er gerne tut. So war aud für 
Schopenhauer der Pessimismus schmerzlihe Lust, sein Schimpfen, 
Tadeln, Moralisieren Triebbefriedigung (man vergleihe den Satz »cela 
m’amuse, d’etre triste). Glück heißt, seine geistige Persönlichkeit aus- 
leben, seines inneren Wertes sich bewußt sein. In diesem Sinne durfte 
vielleiht Kuno Fischer sagen, daß Schopenhauer einer der glück- 
lihsten Menschen war, aber zu dem Glück gehörte auh — seinen Pes- 
simismus äußern zu können. »Die shönsten Güter des Lebens waren 
ihm beschieden: Eine hohe Geistesbegabung, eine völlige Ulnabhängig- 
keit des Daseins... ., alle Muße, um seinem Genius nadhzuleben und 
sih seinen Anlagen gemäß auszubilden ... ., die Erfüllung eines 
erhabenen Berufes in einer Reihe von Werken, deren Unsterblichkeit 
er mit untrügliher Gewißheit empfand und voraussah, eine in den 
letzten Jahrzehnten unverwüstlihe Gesundheit . . ., ein hohes, von 
der Sonne des Ruhmes glänzend erleuctetes und erwärmtes Älter .. 
endlih ein schneller und sanfter Tod.« 

Wir konstatieren freilih viele Passiven in diesem Leben: Die 
Heiterkeit der Stimmung, das Geben und Empfangen von Liebe, 
das Arbeiten für andere, — aber wo wäre auch sonst der Pessimismus 
geblieben!? 

Pessimismus und AÄAskese sind für Nietzsche ein Zeichen 
»niedergehenden Lebenss! Und Schopenhauer war einer jener 
Minorität von Tischgängern an des Herrgotts Tafel, denen es nicht 
schmeckt; ihr Kostverahten beweist nicht, daß das Gebotene schlecht 
ist, sondern — ihre psydho=physishe Konstitution. 


I 
Schlußbetrachtungen. 


Nacdıdem wir in psycdoanalytisher Eigenart die Persönlichkeit 
sowie die Grundzüge der Philosophie Schopenhauers gewürdigt 
haben, sind wir dem Ziele näher gekommen, das wir uns steckten. 
Wir wollten am Beispiel Schopenhauers zeigen, daß jeder Zug 
der lebendigen Persönlichkeit eines Menschen, das Charakteristische 
seiner Individualität, seine Betätigung, seine Arbeitsweise, seine Ver- 
schrobenheiten usw., daß all dies, von Vererbung und Einfluß des Er- 
lebens abgesehen, sich aus seinen schon in der Kindheit zutage treten- 
den Triebanlagen und seinen Schicksalen, namentlich der Familien- 
konstellation, erklären läßt. Wir haben auch den Versud intendiert, 
die Grundzüge einer Philosophie aus dem Unbewußten ihres Schöpfers 
abzuleiten und die Mechanismen aufzudecken, auf Grund welcher 
aus all den genannten Komponenten diese einzigartige Weltanschauung 


TE 


160 Dr. Eduard Hitshmann 


entstehen mußte. Schopenhauer ershien uns für das hier zu 
Beweisende ein klassishes Objekt. Es scheint an einer Art Simplizität 
des Schopenhauerschen Philosophierens, einem Näherstehen des 
Philosophen zur seelischen Primitivität zu liegen, daß seine Philosophie 
und ihre Triebwurzeln durdhsictiger sind als bei anderen Metaphysikern. 
Den Schopenhauerforshern ist dies häufig zu Bewußtsein gekommen. 
Paulsen glaubt, »es gibt vielleicht nicht einen zweiten Denker, bei 
dem der Zusammenhang zwishen der Philosophie und Persönlichkeit 
zugleih von so durcgreifender Bedeutung ist und so klar zutage 
liegts. Dem Philosophen Schopenhauer war es, wie Keyser- 
ling kritisch hervorhebt, niht ganz gelungen, »das Empirishe durch 
die Idee zu überwinden«, wie etwa Hegel und anderen. »>Schopen-= 
hauers Philosophie ist wirklich ein Selbstbekenntnis, aber sie ist auch 
keine große Philosophie«, formuliert der so temperamentvoll ab- 
urteilende Graf Keyserling. 

Da unsere psydologishe Betrahtungsweise zum großen Teil 
aus der Erfahrung ärztliher Psychoanalyse gewonnen und später 
erst einzelnes davon auf die Psychologie des Schaffenden angewendet 
wurde, empfiehlt es sih für uns, vor den pathologishen Kompo- 
nenten, die an der Persönlichkeit Schopenhauers Teil haben, 
nicht die Augen zu verschließen, wenn sie unsere Analyse fördern. 
Wir sehen zwar niht mit Schopenhauer im Genie (und im 
Heiligen) metaphysishe Wunder, sondern mit Nietzsche etwas 
Mensdlihes,;, wir verwahren uns aber hier gegen den Vor= 
wurf, daß wir die Großen herabsetzen, das Geniale banalisieren 
wollen, sondern sind uns deutliih bewußt, daß wir gerade vor 
dem Wesen der genialen Produktionsfähigkeit respektvoll Halt 
machen müssen. 

Wir wollen nun die pathologischen Züge Shopenhauers 
zusammenfassend darstellen. So sehr er schon als Jüngling aus dem 
Munde größter Männer Anerkennung und Voraussage seiner Größe 
erhielt, und so erfolgreih er auch seinen geistigen Willen zur Madt 
voll durchgesetzt hat, muß doch sein Bigenlob und sein Selbst- 
gefühl als maßlos bezeichnet werden. 

»Bei mir Widersprühe zu suchen, ist ganz eitel: alles ist aus 
einem Gußs«, schreibt er an J. A. Becker (1854, über seine Philo- 
sophie, welhe dodh nach dem Urteil der meisten berufenen Kritiker 
voll von inneren Widersprühen ist. So schreibt R. Haym 
am Schlusse seiner diesbezüglihen Ausführungen, daß Schopen= 
hauer sih durch seine eigenen Voraussetzungen aus den Fugen 
gehoben habe »und es ist nicht zu viel gesagt, wenn wir behaupten, 
daß dabei kein Stein auf dem anderen geblieben ist«. Das Wohn 
handensein zahlreiher Widersprühe im System Schopenhauers 
beruht teils auf der inneren Spaltung seines Wesens und der eigen= 
sinnigen Hartnäcigkeit, mit der er an einmal Gesagtem festhielt, 
aber auch auf seiner Untershätzung der bewußten begrifflihen 
Durdbildung gegenüber der intuitiven Anschauung. 


Schopenhauer 161 


Es seien hier zu früher angeführten Beweisstellen noch einige 


Belege für dieses übertriebene, an Größenwahn grenzende Selbst= 
gefühl angeführt: 


An Frauenstädt schrieb er: 


»Meine Philosophie wird in der Welt eine Rolle spielen wie noc nie irgend» 
eine andere in alter oder neuer Zeit. — 

»Meine Philosophie ist, innerhalb der Schranken der menschlichen Er- 
kenntnis überhaupt, die wirkliche Lösung des Rätsels der Welt. In diesem Sinne 
kann sie eine Offenbarung heißen. Inspiriert ist solche vom Geiste der Wahrheit: 
sogar sind im vierten Buche einige Paragraphen, die man als vom heiligen 
Geiste eingegeben ansehen könnte.« (N, P. $ 701). 

»Mir ist unter den Menschen fast immer, wie dem Jesus von Nazareth 
war, als er die Jünger aufrief, die immer alle schliefen« (Dresden 1816.) 


Schopenhauer hat sich ja selbst für den Stifter einer neuen 
Heils- und Erlösungslehre angesehen, sich selbst gleihsam als den 
abendländishen Buddha betrachtet, als den künftigen Gegenstand 
eines Bilder- und Reliquienkultus und hat seine Schüler und An- 
hänger allen Ernstes »als Apostel und Evangelisten!« bezeichnet 
(Kuno Fischer.) 

Verrät Schopenhauer in der Jugend nod einige Neigung zur 
Geselligkeit, so nahm mit dem Übergang ins Mannesalter sein Zu= 
rückziehen auf sich selbst geradezu krankhafte Formen an und 
von da an mehren sih auch die Äußerungen, welche diesen unbe- 
wußten Drang durch die et der Welt und Menschen in 


sozusagen paranoisher Weise rechtfertigen sollen. 


»In einer Welt, wo wenigstens fünf Sechstel Schurken und Narren und 
Dummköpfe seyen, müßte für jeden des letzten Sechstels und zwar um so mehr, 
je weiter er von andern abstehe, die Basis seines Lebenssystems Zurükgezogen= 
heit sein. Wenn man nicht ein Spiel in der Hand jedes Buben und der Spott 
jedes Narren seyn wollte, so sei die erste Regel: zugeknöpft. Was ein Mensch 
wie er fühle und denke, habe keine Ähnlihkeit mit dem was jene dächten und 
fühlten.« (Nach Seidlitz.) 


Fin solhes hypertrophisches Ihgefühl kommt gerade durch das 
Zurückziehen der sonst der Umwelt zugewendeten Liebe auf das 
eigene Ich zustande. Man könnte bei Schopenhauer von einer Art 
autistishen« Wesens {Bleuler) sprechen, so sehr ignoriert er die 
Umwelt zugunsten seines eigenen Innern und hält an seinem Träumen 
und Grübeln unentwegt fest. Wo er die Welt nicht ignorieren kann, 
wo er ihr nicht durch Libidoentziehung die Realität nehmen kann 
(»die Welt als Vorstellungs), da beschimpft er sie oder empfindet sie 
feindselig.. Wir haben beim Pessimismus darauf hingewiesen, daß 
Schopenhauer die feindlihe Beziehung zur Welt (wie zu seiner 
Mutter) erst sekundär eingenommen hat, nahdem er sich 
erwartungsvoll zärtlih hat nähern wollen, aber enttäuscht wurde. 
Diesen Mechanismus hat Freud aus der Analyse eines hodhintelli- 
genten Paranoikers abgeleitet, der sich gleichfalls ein, wenn aud 


Imago 11/2 il + 


162 Dr. Eduard Hitshmann 


verücktes, Weltgebäude entworfen hat.! Abgesehen vom Pessi- 
mismus, von dem Reindseligfühlen der Welt, finden sich tatsächlich Be- 
einträchtigungsideen? bei Schopenhauer, und zwar am deut- 
lihsten gegenüber den Philosophieprofessoren (Paulsen). Er hielt sie 
allen Ernstes für vershworen gegen sich: Seine Schriften würden nicht 
nur ignoriert, sondern auc »sekretiert« (absichtlih geheim gehalten). 

Deutlih krankhaft waren Schopenhauers Ängstgefühle, 
die wir bereits ausführlih geschildert haben. Man könnte Schopen- 
hauer direkt als Ängst-Kranken bezeichnen. Nicht nur die Ängst- 
Anfälle, die Träume, die Phobien seines späteren Lebens sind 
gemeint, sein ganzes Wesen ist durchtränkt von auf verdrängter 
Sexualität und Äggresion beruhender Angsteinstellung und Unheils- 
erwartung, gegen die alle möglichen Schutzmaßregeln ergriffen werden. 

Die eigenartige Stimmungslage Schopenhauers, von 
der wir schon in seiner Jugend Erwähnung tun hören, erinnert an das 
von der beschreibenden Schulpsyciatrie aufgestellte Bild der »konsti- 
tutionellen Verstimmung«, das eine erklärende und genetische Wissen= 
schaft jedesmal, wie wir hier, auf ihre Psydhogenese wird zurück= 
führen müssen. Es sei die Scilderung dieser Zustände hier 
mit den Worten Kraepelins zum Vergleih wiedergegeben: 
»Die konstitutionelle Verstimmung ist gekennzeihnet durh eine 
andauernd trübe Gefühlsbetonung aller Lebenserfahrungen ... 
Die Kranken haben eine besondere Empfänglihkeit für die 
Sorgen, Mühsale und Täushungen des Lebens .. . Das Leben, 
die Tätigkeit ist eine Last, die sie mit pflihtmäßiger Selbstver- 
feugnung gewohnheitsmäßig tragen, ohne durh die Lust am 
Dasein ... . entshädigt zu werden. Die gesamte Lebensführung 
der Kranken wird durh ihr Leiden erheblih beeinflußt. Sie sind 
unentsclossen, langsam, gehemmt durd ihre trübe Lebensauffassung;; 
jede Regung von Leicdtherzigkeit oder Wagemut wird erstickt 
durh das Zurükschrecken vor Verantwortung, durh die Furdt 
vor den entferntesten Möglichkeiten. Sie entwickeln nicht selten 
Schrullen und Eigenschaften, die in irgendeiner Beziehung zu der 
Verstimmung stehen und Schutzmaßregeln bedeuten, durh welcde 
sih der Kranke über die inneren Schwierigkeiten hinwegzuhelfen 
sucht ... .. Bei einer Gruppe von Fällen wird das Gefühlsleben 
dauernd von einer mißmutigen, gereizt galligen und verbitterten 
Stimmung beherrscht. Regelmäßig besteht dabei ein stark erhöhtes 
Selbstgefühl. Die Kranken sind leicht beleidigt, empfindlih, schwer 


! D. P. Schreber: »Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken«, 1903. 

° Mißtrauish, empfindlih und »paranoisch« findet man häufig Menschen, die 
in ihrem Gehör stark gestört sind. Es sei daher hier ergänzt, daß Schopen- 
hauer wie sein Vater an Gehörsstörungen litt, welcher Erbfehler, wie er sagt, 
ihn schon im Jünglingsalter und allezeit belästigt hat. Mit fünfunddreißig Jahren 
wurde sein rechtes Ohr beinahe völlig taub, im vierundsechzigsten Lebensjahr 
begann auch das linke allmählich sich zu vershlehtern. Aud für Schopenhauers 
gesellshaftlihe Isolierung muß dies eine Rolle gespielt haben. 


Schopenhauer 163 


zu behandeln, mißtrauish, nörgelnd, streitsühtig und unzufrieden. 
Sie sind unbotmäßig gegen die Obrigkeit, rechthaberish, wollen 
alles besser wissen. Bei einzelnen Kranken tritt ganz besonders eine 


krampfhafte Zornmütigkeit in den Vordergrund ... Einzelne 
Kranke sind sogar sehr begabt, oft mit ausgeprägten künstlerischen 
und schöngeistigen Neigungen .. . Mandhe vermögen auh auf 


geistigem Gebiet Genügendes und selbst Bedeutendes zu leisten.« 


Der profunde Uhntershied, den wir hier nicht näher auf- 
klären können und der nur ein glückliches Sichhinaussetzen über 
dieses drohende Schicksal dauernder Erkrankung war, liegt in der 
genialen Begabung und konzentrierten, zielbewußten Leistungs- und 
Arbeitsfähigkeit bei Schopenhauer, gegenüber der leiht zusammen-= 
brehenden neurasthenischen Halbheit der Patienten. — 


Gehen wir nun an den Versuh heran, verständliih zu 
machen, wie ein Philosoph und wie aus ihm wieder ein philo= 
sophishes System sih bilde, so hat hier Schopenhauer 
selbst im Sinne unserer psychologishen Erkenntnis vorgearbeitet. 
Wir leiten die philosophische Geistestätigkeit aus jenem kindlichen 
Forshungstrieb ab, der dem Entstehen und Vergehen, dem 
Woher und Wieso sih fragend zuwendet. Wir müssen an-= 
nehmen, daß ein Forshungstrieb von besonderer Intensität, von 
der Sexualforshung abgelenkt, als philosophisher Trieb nad 
Erkenntnis wiederkehrt und nun die intellektuellen Operationen 
mit Lust betont sind!. Das Leben muß enttäuscht haben, um bei 
diesen Problemen bleiben zu lassen und dem Denken vor dem 
Handeln den Vorzug zu geben. Wir haben schon erwähnt, 
daß Schopenhauer in jungen Jahren, da das Leben ihm »eine 
mißlihe Sahhes schien, beshloß, es mit Nachdenken darüber hinzu= 


bringen. 


»Erst nachdem wir mit der wirklihen Welt in gewissem Grade entzweit 
und unzufrieden sind, wenden wir uns um Befriedigung an die Welt des Ge- 
dankens.« 

»Das philosophische Staunen ist im Grunde ein bestürztes und betrübtes 
die Philosophie hebt, wie die Ouverture zu »Don Juan«, mit einem Moll- 
akkord an. 

»Nur der Mangel erhebt über dih selbst dich hinweg, (Goethe). So 
lange man hat, was den Willen befriedigt, oder nur Befriedigung verspricht, 
kommt es zu keiner genialen Produktion: denn die Aufmerksamkeit ist auf die 
eigene Person gerichtet. Nur wenn die Wünsche und Hoffnungen zunichte werden, 
unabänderliche Entbehrung sich zeigt und der Wille unbefriedigt bleiben muß, nur 
dann fragt man sih: Was ist diese Welt? 

Wer nur geringe, shwade, leicht zu befriedigende Wünsche hat, wird 
immerhin befriedigt und fest gehalten und kommt zu keiner Kontemplation. Nur 


! Zu dieser Auffassung vergleihe den Ausspruh Nietzsches: »Ich glaube 
nicht, daß ein ‚Trieb zur Erkenntnis‘ der Vater der Philosophie ist, sondern daß 
sih ein anderer Trieb, hier wie sonst, der Erkenntnis (und der Verkenntnis) nur 
wie eines Werkzeuges bedient hat.« 


11* 


164 Dr. Eduard Hitschmann 


wer gewaltig strebt, muß entweder ein Welteroberer oder großer Glücsritter 
werden oder untergehn, oder aber er kann, besonders wenn sein Streben durch 
gar nichts auf der Welt befriedigt werden kann, zur Kontemplation gelangen.« 


Gerade bei Personen mit heftig gesteigertem Triebleben finden 
wir in der Pathologie die Neigung zu Todesgrübelei und überhaupt 
zur reaktivien Wendung vom Sinnlichen zum Übersinn- 
lichen. So kann gerade der Sadistishe nah unseren Erfahrungen 
am ehesten zur Zwangsneurose kommen. Angst und Tod werden 
bei so Veranlagten als notwendige Reaktionen auf verdrängte 

rausame Todes- und Rahewünshe gegen Personen der nächsten 

sn zu Hauptthemen. Ganz in Analogie zu solchen 
Zwangskranken, denen Freud einen Mißbrauh des Denkens 
nachsagt, finden wir in der Form des Überwertigen bei Schopen- 
hauer neben seinem unterdrücten, heftigen Triebleben, wie eine 
Reaktion und einen Ersatz, sein philosophisches System einscließlich 
der Ethik. ! 

Es dürfte für die meisten spekulativen Philosophen gelten, daß sie, 
wie die Zwangsneurotiker, deshalb mit Vorliebe über übersinnliche 
Dinge grübeln, namentlih über Tod und Jenseits, weil das Denken 
ursprünglih erfüllt war von sinnlihen Vorstellungen. Die Energie 
der sexuellen Impulse wurde dann vom anstößigen Inhalt der Vor- 
stellungen auf das Vorstellen selbst vershoben, das Denken sozu= 
sagen sexualisiertt. Von anderen psychischen Besonderheiten der 
Zwangskranken zeigt Schopenhauer Zweifelsuht und Unent- 
schlossenheit, ferner einen bei einem Vielwisser und Ungläubigen 
doppelt auffallenden Aberglauben. Nidht nur glaubt er an die Br 
scheinungen des Geistersehens und des Spiritismus, er verteidigt 
auch den unvertilgbaren Hang der Menschen auf Omina zu achten, 
ihr Bibelaufshlagen, Kartenlegen u. dgl. Die Assekuranzprämie 
seiner Lebensversicherung ist ihm »ein öffentlih und von Allen auf 
dem Altar der bösen Dämonen gebradhtes Opfer.« (P. I. p. 527.) 
Für die bedeutsame Beziehung des Aberglaubens zum Thema des 
Todes, die Freud bei den Zwangskranken aufgedeckt hat, zeugen 
folgende Erlebnisse, in denen Schopenhauer die Warnung vor 
einem zukünftigen Schicksal erbliken wollte. Der Traum scheint die 
von uns vermutete gleihgeschlecdtlihe Einstellung Schopenhauers 
anzudeuten, die Vision ist geeignet, die verdrängten Todeswünsce 
auf die Eltern zu beweisen. 


! Um den Gegensatz zwischen dem Bedürfnis sih auszuleben und dem 
Bedürfnis nach philosophischer Erkenntnis der Welt zu charakterisieren, sei eine 
Stelle aus dem Roman »Ssanin« von Artzibaschew zitiert, der für das Aus- 
leben eine Lanze bricht: 

»Mein Leben, das sind meine Empfindungen die angenehmen und die un- 
angenehmen. Und was hinter ihren Grenzen liegt, ih spucke drauf, welche Hypo= 
these wir auch hinstellen mögen, es bleibt immer nur Hypothese und auf dieser 
Grundlage sein Leben aufbauen, das wäre Dummheit. Wem es Bedürfnis ist, der 
mag sih dafür absorgen, ih aber will leben.« 


Schopenhauer 165 


»Und um der Wahrheit in jeder Gestalt und bis an den Tod zu dienen, 
schreibe ich auf, daß ich in der Neujahrsnaht zwischen 1830 und 1831 folgenden 
Traum gehabt, der auf meinen Tod in gegenwärtigem Jahre deutet. — Von meinem 
sechsten bis zu meinem zehnten Jahr hatte ich einen Busenfreund und steten Spiel- 
kameraden ganz gleihen Alters, der hieß Gottfried Jänisch, und starb, als ich, 
in meinem zehnten Jahr, in Frankreih war. In den letzten dreißig Jahren habe 
ich wohl höchst selten seiner gedaht. — Aber in besagter Nacht kam id in ein 
mir unbekanntes Land, eine Gruppe Männer stand auf dem Felde und unter 
ihnen ein erwachsener schlanker, langer Mann, der mir, ih weiß nicht wie, als 
eben jener Gottfried Jänisch bekannt gemacht worden war, der bewillkomm=- 
nete mich. 

(Dieser Traum trug viel bei, mih zu bewegen beim Eintritt der Cholera 
1831 Berlin zu verlassen: er mag von hypothetisher Wahrheit, also ein 
Warnung gewesen seyn, d. h. wenn ich geblieben wäre, wäre ich an der Cholera 
gestorben.) | 

Gleih nah meiner Ankunft in Frankfurt hatte ich eine vollkommen deut= 
lihe Geisterersheinung: es waren (wie ich glaube) meine Eltern, und deutete an, 
daß ich jetzt die damals noch lebende Mutter überleben würde, der schon tote 
Vater trug ein Liht in der Hand.« (N. P. $ 194.) 


In bezug auf diese Träume bemerkt Frauenstädt (Memora= 
bilien, p. 202). »Wie Schopenhauer in den magishen Wirkungen 
die Allmacht des Willens sah, so sah er in den Ahnungen, den 
fatidiken Träumen, den das Abwesende und Zukünftige shauenden 
Visionen ‚unsere Ällwissenheit'«. 

Eine Eigenart des Zwangsdenkens ist auh ein auf der Emp- 
findung der Allmacht der Gedanken beruhender Glaube an magische 
Beeinflussungen anderer Personen. Dieses Bedürfnis, die Gedanken 
zu Kräften zu machen, finden wir gewissermaßen in Schopenhauers 
Grundauffassung wieder. Die ganze mädtige objektive Sinnenwelt 
ist nichts anderes als ein Produkt unseres Denkens: Die Welt ist 
meine Vorstellung. Daß die Welt anderseits Wille <= das Unbe= 
wußte) ist, — der Titel des Hauptwerkes faßt beides zusammen — 
weist auf die von uns hervorgehobene Projektion des Zwiespalts vom 
Bewußten und Unbewußten bei Schopenhauer in sein System, 
das die ganze Welt unter diesem Doppelglas betrachtet. — »Wie 
der Philosoph selber ein Doppelwesen ist, so wird er die Welt unter 
dem Gesichtspunkt dieser Doppelheit betrachten: als Wille und Vor- 
stellung. Überall wird er diesen großen Gegensatz wiederfinden und 
aufzeigen: in der theoretischen Philosophie ist es der Gegensatz vom 
Ding an sich und Erscheinung, in der Metaphysik von Körper und 
Wille, in der Ästhetik von Idee und Individuum, in der praktishen 
Philosophie von egoistischer Willensbejahung und überindividualisti- 
sher Willensverneinung.« (Paulsen.) 

So kommen wir immer näher unserem Ziel zu zeigen, daß das, 
was der Philosoph für die objektive Wahrheit, für letzte Lösungen 
des Welträtsels ansieht, zunächst nur individuellste Zwangsgedanken- 
bildung und deren Projektion vorstellt, daß seine eigensten Affekte 
ihn in bestimmte Richtungen zwingen. Schopenhauer zeigt so 


166 Dr, Eduasd Bsdinann 





deutlih die von Rosa Mayreder hervorgehobenen »beiden, das 
menschliche Geistesleben in seinen Untergründen am stärksten binden- 
den Eigentümlichkeiten: die Abhängigkeit alles Denkens von der 
angeborenen Eigenart und die Neigung, die Ergebnisse des eigenen 
Denkens für objektive Wahrheiten zu halten.« 

Und Paulsen sagt in ähnlihem Sinne: 

»Ih glaube nicht, daß es einen Fall gibt, an dem man den 
Einfluß des Affektes auf das Denken besser als an Schopenhauer 
studieren kann.« 

Es ist dies keine neue Weisheit, die wir hier propagieren; 
der Subjektivismus philosophisher Betrachtungen ist ja längst in die 
Anschauungsweise der Einsihtigen übergegangen. Wenn Zola von 
der Kunst gesagt hat, sie wäre ein Weltbild, gesehen durch ein 
Temperament, so ist die Philosophie, nah Simmel, ein Temperament, 
gesehen durh ein Weltbild. Auch Goethe hat sehr hübsh die 
Philosophen mit den Ärzten verglihen, die uns etwas verbieten 
oder vorschreiben, je nachdem sie selbst es hassen oder lieben. 
»Der eine ist zum Stoiker geboren, gelangt deshalb zum Stoizismus 
und ebenso wird der andere Epikuräer;, die strenge Mäßigkeit 
Kants fordert eine Philosophie, die diesen seinen angeborenen 
Neigungen gemäß war. Jedes Individuum hat vermittels seiner 
Neigungen ein Recht zu Grundsätzen, die es als Individuum nicht 
aufheben. Hier oder nirgends wird wohl der Ursprung aller 
Philosophie sein.« (Falk, Biedermann, IV., p. 314.) 

Dies gilt nah dem radikalen Nietzsche, der im Denken 
nur ein »gewißes Verhalten der Triebe zueinanders, in der Ver- 
nunft u ihren Gesetzen nicht viel mehr als ein »grammatisches 
Vorurteil« sieht, sogar für moralishe Grundsätze: 

»Es gibt Moralen, welhe ihren Urheber vor anderen recht- 
fertigen sollen, andere Moralen sollen ihn beruhigen und mit sic 
zufrieden stimmen, mit anderen will er sih selbst ans Kreuz 
schlagen und demütigen, mit anderen will er Radhe üben, mit 
anderen sich verstecken, mit anderen sih verklären und hinaus, in 
die Höhe und Ferne setzen, diese Moral dient ihrem Urheber, um 
zu vergessen, jene, um sich oder etwas von sich vergessen zu 
machen, Kant gibt mit dieser Moral zu verstehen, »was an mir 
achtbar ist, das ist, daß ich gehorhen kann — und bei eudh soll 
es nicht anders stehen als bei mir! — Kurz die Moralen sind audh 
nur eine Zeichensprache der Äffekte«. (»Jenseits von Gut 
und Böse«.) 

Wir haben bisher nicht näher ausgeführt, in welchem Bild wir 
es anshaulih machen könnten, wie das in der Seele Geschaute — 
und bekanntlih kann man so recht nur in die eigene Seele schauen — 
unwillkürlih erfaßt, zu Gedanken, Worten werden kann und als 
Metaphysik oder Religion Gestalt und Geltung findet. Freud hat 
den genialen Gedanken ausgesprohen, »daß ein großes Stück der 
mythologishen Weltauffassung, die weit bis in die modernsten 


Schopenhauer 167 


Religionen hineinreicht, nichts anders ist, als in die Außenwelt 
projizierte Psychologie. Die dunkle Erkenntnis (sozusagen: 
endopsyhishe Wahrnehmung) psychischer Faktoren und Verhält- 
nisse des Unbewußten spiegelt sih in der Konstruktion einer 
übersinnlichen Realität, welhe von der Wissenschaft in Psy- 
chologie des Unbewußten zurükverwandelt werden soll. Man 
könnte sich getrauen, die Mythen vom Paradies und Sündenfall, 
von Gott, vom Guten und Bösen, von der Unsterblichkeit u, dgl. 
in solher Weise aufzulösen, die Metaphysik in Metapsychologie 
umzusetzen«, 

Solhe unbewußte Projektionen endopsyhisher Wahrnehmungen 
spielen offenbar bei allen Aussagen von sih und den Menschen, allen 
Verallgemeinerungen eine Rolle und es ist dem Menschen gar nicht 
anders möglih, als anthropomorphish zu denken. Aud hier werden 
wir übrigens erinnert an die Symptombildung Paranoisher, zu deren 
Erklärung Freud gleichfalls jene »Projektion innerer (unterdrückter) 
Wahrnehmungen nah außen« herangezogen hat. Man muß uns 
gestatten, auf diese Analogien aus der Pathologie hinzuweisen; 
denn gerade dort konnte die Psydhoanalyse zuerst deutlih und 
gründlihst die Mechanismen studieren, Die mißlungenen, philoso- 
phishen Systeme und Kosmogonien, die die Psychoanalyse jetzt 
kunstvoller Weise bei den ganz in sih eingesponnenen Paraphre= 
nikern durchleuchtet hat, sind nur das pathologishe Zerrbild der 
offenbar aus ähnlihen Komplexen und mit Hilfe analoger Medha- 
nismen entworfenen Weltbilder ernst zu nehmender und über- 
ragender Philosophen. Bei den Kranken läßt sich aber deutlih nad- 
weisen, daß es verdrängte Vorstellungen sexueller Natur sind, die 
eine solhe Zurückziehung und spätere Projektion in die Außenwelt 
erfahren und als mehr weniger unkenntlihe Vergeistigungen banalster 
körperliher und psychischer Dinge erscheinen. 

Schopenhauers Werk ist also im wesentlichen als ein Abbild — 
sei es nun ein Positiv oder ein Negativ — seines eigensten Wesens. 
Seine Metaphysik ist das riesenhafte Abbild seines tiefinnersten 
Naturells. »Ich habe,s sagt Schopenhauer, »den Satz umgekehrt, 
mit dem man seit den ältesten Zeiten den Menschen als Mikrokosmos 
angesprohen hat. Ich habe die Welt als Makranthropos 
nachgewiesen«, 

Alle Philosophie ist letzten Grundes eine Selbstbetrachtung. 
Mit der Wohlgefälligkeit, mit der Narzißus sih im Wasser spiegelt 
oder mit der ein Vater sich in den ähnlihen Zügen seiner Kinder 
wiederliebt, erscheint im System des Philosophen die Physiognomie 
seines Wesens wieder, Schopenhauer war, wie Seidlitz sagt, 
»von seinem Hauptwerke bis zum Fanatismus entzükt: es war das 
einzige in der Welt, was er wahrhaft liebte und in welchem er 
sih selber liebte«. Bei keinem anderen Philosophen mag dies so 
grob deutlich ins Auge springen, daß »das A und OÖ seiner Philo- 
sophie, das Zentrum, auf welches sich alles bei ihm bezieht, wohin 


168 Dr. Eduard Hitschmann 


auc der fernste Ausblick reflektorish zurückweist, Arthur Schopen- 
hauers Person ist«. (Keyserling.) 

In den vorstehenden Ausführungen wurde gezeigt, wie das 
Unbewußte, daß sih in der Persönlichkeit und so deutlih in den 
pathologishen Zügen Schopenhauers manifestierte, auh in der 
Form der Projektion zur Syerchitildung geführt hat. Das psycdo- 
logishe Genie Schopenhauers hat das gerade in ihm besonders 
wirksame und lebendige Unbewußte nicht nur in sich selbst (endo= 
psychish) wahrgenommen, sondern auh — freilih nur brudhstück-= 
weise — an einzelnen Lebensphänomenen erkannt. 

Vor allem war es der Traum, der ihm, wie wir bereits an 
Beispielen zeigen konnten, wiederholt tiefsten Eindruk machte, Schon 
in der Grundlegung seiner Lehre tritt er als wichtiges Problem auf, 
welches er in seinem Aufsatz Ȇber das Geistersehen und was 
damit zusammenhängt« zu lösen glaubte. Das Anshauungsvermögen 
des Genies erscheint ihm fast identish mit dem » Traumorgan«, von 
dem er aussagt, es lasse in der Zukunft lesen. 

Audh gewisse, charakteristisherweise meist vom Traumleben 
ausgehende Beobadhtungen Schopenhauers lesen sih, wenn man 
nur von den daraus gezogenen metaphysishen Konsequenzen abzu= 
sehen weiß, als hätte der Philosoph ein deutlihes Empfinden eines 
unbewußten Seelenlebens gehabt: 


»Es gibt etwas, das jenseits des Bewußtseins liegt, aber zuzeiten in das- 
selbe hereinbriht, wie ein Mondstrahl in die umwölkte Nadt. Alsdann be= 
merken wir, daß unser Lebenslauf uns ihm weder näher noch ferner bringt, der 
Greis ihm so nahesteht wie das Kind und werden inne, daß unser Leben zu 
ihm keine Parallaxe hat, so wenig wie die Erdbahn zu den Fixsternen.« (N. P. 
& 145.) 

»Wenn wir aus einem uns lebhaft affizierenden Traum erwacden, so ist, 
was uns von seiner Nichtigkeit überzeugt, nicht sowohl sein Verschwinden, als 
das Aufdeken einer zweiten Wirklihkeit, die unter jener, uns so sehr be=- 
wegenden verborgen lag und nun hervortritt. Wir haben eigentlih alle eine 
bleibende Ahndung oder Vorgefühl, daß auch unter dieser Wirklichkeit, in der 
wir leben und sind, eine zweite ganz andre verborgen liegt . . .x (N. P. $ 146.) 

»Das Bewußtsein ist die bloße Oberfläche unseres Geistes, von welchem, 
wie vom Erdkörper, wir nicht das Innere, sondern nur die Schale kennen.« 


Diese und ähnliche Stellen, sowie sein intensives Interesse für 
Magie, Hellsehen, Tishrüken etc. ein deutlihes Vorgefühl von der 
mäctigen Einwirkung unbewußten Seelenlebens. 

Schopenhauer interessierte sih auch schon frühzeitig für 
Abnormitäten der Psyche. Es wird berichtet, daß er wiederholt 
die Charite besuht habe, wo zwei Melandoliker sein besonderes 
Interesse erregt hatten. Er wies in Polemik gegen Fichte schon 
auf die Zusammenhänge zwishen Genie und Irrsinn hin. Am 
überraschendsten ist aber sein Versuch einer Erklärung des Wahn- 
sinns, welcher die Lehre von der Verdrängung peinliher Vor- 
stellungen ins Unbewußte als Veranlassung der Psychoneurosen und 


Schopenhauer 169 


mancher Geisteskrankheiten deutlih ausspriht! und auffallendste 
Analogien zu den Lehren Freuds aufweist. 

Im ersten Band seines Hauptwerkes ($ 36) behandelt Schopen- 
hauer auh die Verwandtschaft von Genialität und Wahn- 
sinn und sagt von den genialen Menschen direkt: »Daher endlich 
sind sie zu Monologen geneigt? und können überhaupt mehrere 
Schwächen zeigen, die sih wirklih dem Wahnsinn nähern.« Im An- 
schluß daran hebt er als Wesen des Wahnsinns eine Schädigung 
des Gedäcdtnisses hervor und zwar in dem Sinne, 

»daß der Faden des Gedäctnisses zerrissen, der fortlaufende Zusammenhang 
desselben aufgehoben und keine gleihmäßig zusammenhängende Rücerinnerung 


der Vergangenheit möglich ist... in ihrer Rückerinnerung sind Lücken, welche 
sie dann mit Fiktionen ausfüllen ... . Immer mehr vermischt sich in seinem Ge- 
dächtnisse Wahres mit Falshem ... der Einfluß dieser falschen Vergangenheit 
verhindert nun auh den Gebrauh der rihtig erkannten Gegenwart... Daß 


heftiges geistiges Leiden, unerwartete entsetzlihe Begebenheiten häufig Wahn- 
sinn veranlassen, erkläre ich mir folgendermaßen. Jedes solches Leiden ist immer 
als wirklihe Begebenheit auf die Gegenwart beschränkt, also nur vorübergehend 
und insofern noch immer nicht übermäßig schwer: überschwänglich groß wird es 
erst, sofern es bleibender Schmerz ist: aber als solcher ist es wieder allein ein 
Gedanke und liegt daher im Gedächtnis: wenn nun ein solher Kummer, ein 
solches schmerzlihes Wissen, oder Andenken, so qualvoll ist, daß es schledter- 
dings unerträglich fällt, und das Individuum ihm unterliegen würde — dann greift 
die dermaßen geängstigte Natur zum Wahnsinn als zum letzten Rettungs- 
mittel des Lebens: der so sehr gepeinigte Geist zerreißt nun gleihsam den Faden 
seines Gedäctnisses, füllt die Lücken mit Fiktionen aus und flüchtet so sih von 
dem seine Kräfte übersteigenden geistigen Schmerz zum Wahnsinn ... Ein 
shwades Analogon jener Art des Überganges vom Schmerz zum Wahnsinn 
ist dieses, daß wir Alle oft ein peinigendes Andenken, das uns plötzlich einfällt, 
wie mecanish, durh irgend eine laute Äußerung oder Bewegung zu ver- 
scheudhen?, uns selbst davon abzulenken, mit Gewalt uns zu zerstreuen sudhen«. 


Zeigt schon diese ihrer Wichtigkeit wegen so ausführlich 
zitierte Stelle deutlih Schopenhauers Verständnis für die 
Verdrängung peinlicher Vorstellungen aus dem Bewußt- 
sein und ihre Bedeutung für die Entstehung seelischer Störungen, 
sowie für die determinierende Bedeutung des Wunscdlebens, das 
unter Ulmständen zur Flucht des Individuums in die Krankheit führt, 
so enthält die Erläuterung hiezu im zweiten Band seines Haupt- 
werkes (Kap. 32) eine ausgezeichnete Formulierung der Verdrän- 
gungslehre, sogar mit Berücksichtigung des Begriffes Er »mißglückten 
Verdrängungs (Freud): 


' Auf die Übereinstimmung dieser Schopenhauershen Auffassung mit 
der psydoanalytishen hat zuerst Rank (Zentralbl. f. Psa., I. Bd., p. 69 ff.) hin- 
gewiesen. Die Parallele zwishen Schopenhauer und Freud bringt dann Hin- 
richsen in seiner Arbeit: »Zur Psychologie und Psychopathologie des Dichters« 
(Wiesbaden, 1911). Auf Juliusburgers einshlägige Ausführungen (Allg. Zeit- 
schrift f. Psychiatrie, 1912) ist oben im Text verwiesen. 

? Daß Schopenhauer häufig laute Selbstgesprähe auf der Straße führte, 


a darauf hinzudeuten, daß er diese Beobahtungen an der eigenen Person 
machte. 


170 Dr. Eduard Hitschmann 


»Die im Texte gegebene Darstellung der Entstehung des Wahnsinns 
wird faßliher werden, wenn man sich erinnert, wie ungern wir an Dinge 
denken, welche unser Interesse, unsern Stolz, oder unsere Wünsche stark ver- 
verletzen, wie schwer wir uns entschließen, Dergleihen dem eigenen Intellekt zu 
genauer und ernster Untersuhung vorzulegen, wie leiht wir dagegen unbe- 
wußt davon wieder abspringen, oder abscleichen, wie hingegen angenehme 
Angelegenheiten ganz von selbst uns in den Sinn kommen und, wenn ver- 
scheudt, uns stets wieder beschleichen, daher wir ihnen stundenlang nachhängen. 
In jenem Widerstreben des Willens, das ihm Widrige in die Be- 
leuchtung des Intellekts kommen zu lassen, liegt die Stelle, an 
welcher der Wahnsinn auf den Geist einbrechen kann. Jeder widrige 
neue Vorfall nämlich muß vom Intellekt assimiliert werden, d.h. im System der 
sih auf unseren Willen und sein Interesse beziehenden Wahrheiten eine Stelle 
erhalten, was immer Befriedigenderes er auh zu verdrängen haben mag. So= 
bald dies geschehen ist, schmerzt er schon viel weniger: aber diese Operation 
selbst ist oft sehr schmerzlich, geht auch meistens nur langsam und mit Wider- 
streben vonstatten. Inzwischen kann nur, sofern sie jedesmal ridhtig voll- 
zogen werden, die Gesundheit des Geistes bestehen. Erreicht hingegen, 
in einem einzelnen Fall, das Widerstreben und Sträuben des Willens wider die 
Aufnahme einer Erkenntnis den Grad, daß jene Operation nicht rein durch- 
geführt wird, werden demnah dem Intellekt gewisse Vorfälle oder Umscdläze 
völlig untershlagen, weil der Wille ihren Anblick nicht ertragen kann, 
wird alsdann, des notwendigen Zusammenhanges wegen, die dadurch entstandene 
Lücke beliebig ausgefüllt, — so ist der Wahnsinn da. Denn der Intellekt hat seine 
Natur aufgegeben, dem Willen zu gefallen: der Mensch bildet sich jetzt ein, 
was nicht ist. Jedoch wird der so entstandene Wahnsinn jetzt der Lethe uner= 
trägliher Leiden: er war das letzte Hilfsmittel der geängstigten Natur, d. i. des 
Willens ... 

Der obigen Darstellung zufolge kann man also den Ursprung des Wahn= 
sinns ansehen als ein gewaltsames »Sich aus dem Sinn schlagen« 
irgendeiner Sache, welches jedoh nur möglih ist mittels des »Sich in den 
Kopf setzens irgend einer anderen. Seltener ist der umgekehrte Hergang, daß 
nämlih das »Sich in den Kopf setzen« das Erste und das »Sih aus dem Sinn 
schlagen« das Zweite ist. Er findet jedoh statt in den Fällen, wo einer den 
Anlaß, über welhem er verrückt geworden, beständig gegenwärtig behält und 
niht davon loskommen kann: so z. B. bei mandhem verliebten Wahnsinn, 
Erotomanie, wo dem Anlaß fortwährend nachgehangen wird; auch bei dem aus 
Schrek über einen plötzlichen, entsetzlihen Vorfall entstandenen Wahnsinn. 
Solhe Kranke halten den gefaßten Gedanken gleihsam krampfhaft fest, so daß 
kein anderer, am wenigsten ein ihm entgegenstehender, aufkommen kann. Bei 
beiden Hergängen bleibt aber das Wesentlihe des Wahnsinns das Selbe, näm- 
lih die Unmöglichkeit einer gleihförmig zusammenhängenden Rücerinnerung, 
wie solche die Basis unserer gesunden, vernünftigen Besonnenheit ist. — Vielleicht 
könnte der hier dargestellte Gegensatz der Entstehungsweise, wenn mit Urteil 
angewandt, einen scharfen und tiefen Einteilungsgrund des eigentlihen Irr=- 
wahns abgeben. 

Übrigens habe ih nur den psychischen Ursprung des Wahnsinns in Be- 
tracht genommen, also den durch äußere, objektive Anlässe herbeigeführten. 
Öfter jedoch beruht er auf rein somatishen Ursachen ... Jedoch werden beider- 
lei Ursachen des Wahnsinns meistens voneinander partizipieren, zumal die psy- 
chishe von der somatishen . . . Ich habe die psychische Entstehung des 
Wahnsinns dargelegt, wie sie bei dem, wenigstens allem Anschein nah, Ge- 


Schopenhauer 171 


sunden durch ein großes Unglück herbeigeführt wird. Bei dem somatisch bereits 
stark dazu Disponierten wird eine sehr geringe Widerwärtigkeit dazu hin= 
reihend sein ... . Bei entschiedener körperliher Anlage, bedarf es, sobald diese 
zur Reife gekommen, gar keines Änlasses. Der aus bloß psydhishen Ursahen 
entsprungene Wahnsinn kann vielleiht, durch die ihn erzeugende, gewaltsame 
Verkehrung des Gedankenlaufes, auh eine Art Lähmung oder sonstige Depra- 
vation irgendwelcher Gehirnteile herbeiführen, welche, wenn nicht bald gehoben, 
bleibend wird; daher Wahnsinn nur im Anfang, nicht aber nad längerer Zeit 
heilbar ist. 


Wie weit Schopenhauer außerdem ein Vorläufer der Freud- 
shen Erkenntnis des Unbewußten und anderer psychoanalytischer 
Einsihten war, zeigte Juliusburger, der nebst anderem auf die 
von Schopenhauer bereits erkannte fundamentale Bedeutung der 
Sexualität, sowohl für die Entstehung seelisher Störungen als auch 
für das Begehen von Verbrehen hinweist. 

Steht das eigentlih Unbewußte in engster Beziehung mit dem 
Triebartigen im Masten so mußte ja Schopenhauer die unge= 
heure Bedeutung der Sexualität klar werden, die, wie wir wissen, 
bei ihm besonders stark und eigenartig ausgebildet war. Wir haben 
shon früher Worte Schopenhauers zitiert, welche diese Bedeu= 
tung für die menshlihe Psyhe im weitesten Umfang anerkennen. 
Dafür ist ja auch ein Beweis, daß Schopenhauer die »Meta- 
physik der Gesclectsliebes geschrieben hat. Es ist kein Zufall, 
daß er gerade über dieses Thema sehr viel nahgedaht und 
gegrübelt hat. Er scheint damit zu bestätigen, daß dies vielleicht in 
seiner frühen Kindheit das Thema seiner ersten Forshung war. 
Nicht jeder hat aber gegenüber der Sexualität ein metaphysisches 
Bedürfnis, vielleiht ist es in Analogie zu unseren früheren Äus- 
führungen auh hier Verwundern, Leiden, Unbefriedigtsein, was 
nach Hintergründen suchen läßt. 

Schopenhauer selbst hat sein philosophisches Schaffen als ein 
unbewußtes bezeichnet und auf diese Entstehungsweise hin den Re- 
sultaten den größtmöglichen Wahrheitsgehalt zugesprochen. Versichert 
er auch gelegentlih (in seinen Cogitata) »Alle Gedanken, welche ic 
aufgeschrieben, sind auf äußeren Anlaß, meistens auf einen anshau= 
lihen Eindruck, entstanden und vom Objektiven ausgehend nieder- 
geschrieben«, so stehen dem doc eine Anzahl von Bekenntnissen 
gegenüber, aus denen die persönliche, intuitive Art seines Schaffens 
unzweifelhaft erhellt. Außer den shon an anderer Stelle ange= 
führten Bemerkungen über die unbewußte Triebkraft seines Schaffens, 
sei hier auf eine der prägnantesten Stellen hingewiesen (N. P. 
% 630): 

»Unter meinen Händen und vielmehr in meinem Geiste erwäcdst ein 
Werk... wäcst, konkresziert allmählih und langsam, wie das Kind im 
Mutterleibe: ich weiß nicht, was zuerst und was zuletzt entstanden ist... . Ich 
werde ein Glied, ein Gefäß, einen Teil nah dem anderen gewahr, d. h. id 
schreibe auf, unbekümmert wie es zum Ganzen passen wird: denn ich weiß, 
es ist alles aus einem Grunde entsprungen ..... Ih, der ich hier sitze, den 


172 Dr. Eduard Hitschmann 


meine Freunde kennen, begreife das Entstehen des Werkes nicht, wie die 
Mutter niht das des Kindes in ihrem Leibe begreift.« 


Und an anderer Stelle (N. P. $ 652): 


»Was mir die Echtheit und daher die Unvergänglichkeit meiner Philo- 
sopheme verbürgt, ist, daß ich sie gar nicht gemacht habe, sondern sie haben 
sich selbst gemacht. Sie sind in mir entstanden ganz ohne mein Zutun, in Mo= 
menten, wo alles Wollen in mir gleihsam tief eingeschlafen war und der 
Intellekt nun völlig herrenlos und dadurch müßig thätig war, die Anschauung 
der wirklihen Welt auffaßte... Mit dem Wollen ist aber aud alle Individualität 
vershwunden und aufgehoben: daher war mein Individuum hier nicht im Spiel, 
sondern es war die Anschauung selbst, rein und für sih, d. h. die rein objek- 
tive Anschauung oder die objektive Welt selbst, die sich in den Begriff rein und 
für sich absetzte.« 


Schopenhauer will niht mehr zugeben, als was Nietz- 
sche in den Worten ausgedrückt hat: »Es denkt in mir.« Daß es 
aber kein Denken ohne Fühlen und Wollen gibt, ist ihm zuweilen 
entfallen. Möbius sagt treffend: »Schopenhauer ließ sih durd 
seine Anknüpfung an Kant verleiten, zuerst vom Erkennen, Vor= 
stellen, a zu reden als von etwas, das niht zum Wollen 

ehöre. In Wahrheit kann Denken oder Vorstellen nicht ohne 

ollen gedaht werden.« Im Grunde aber lehre Schopenhauer 
das Rechte, daß der Wille alles tut, und seine Lehre führt im 
Gegensatz zu der aller Früheren direkt zu der Einsicht, daß unser 
bewußtes Leben nur ein Ausschnitt aus dem großen für uns Unbe- 
wußten ist. »Immer kommen wir in der inneren Erfahrung rasch 
zu der Stelle, wo das Bewußtsein aufhört, wo der Weg in das 
für uns unbewußte führt, rückwärts sowohl wie vorwärts. Der 
Instinkt ist vor aller individuellen Vernunft, die Hand, die uns 
leitet, ist im Dunkel. Solche Erkenntnis shimmert sozusagen bei 
Schopenhauer immer durh.« (Möbius). Daß diese Worte ganz 
dem entsprehen, was Freud vom Unbewußten gelehrt hat, ist klar. 
Wirsehen aus diesen Hinweisen auf die Psychologie des Unbewußten, 
die sih bei Schopenhauer finden, auch eine Beredhtigung für 
unsere Ärbeit, die Hauptberechtigung, die wir längst gezeigt haben, 
ist die, daß Schopenhauer eines der trefflihsten Beispiele für die 
Richtigkeit der psydhoanalytisch gefundenen Tatsahen darstellt, die 
er allerdings mehr repräsentiert und demonstriert, als er sie selbst 
bewußt äußern konnte. 

Indem wir nun von Schopenhauers ragender Erscheinung 
Abschied nehmen, erweisen wir noch einmal tiefsten Respekt 
diesem Entdeker des »Willenss, des treibenden Unbewußten, 
dem Prediger der Güte und des Mitleids, dem Verherrlicher 
des Genies, der Kunst und alles Geistigen, des Wahrhaftigen 
und Ecten, der nur die inneren Werte des Menschen aner- 
kannte, keine andere Überlegenheit zugab als die des Geistes 
und des Charakters. So sehr wir alle diese edlen Züge bewundern 
müssen und Schopenhauer als »Erzieher« verpflihtet sind, reißen 


Schopenhauer 173 


wir uns doch los von den düsteren und allzupersönlihen Schatten- 
seiten seiner Weltanshauung und sehnen uns, ihn zu überwinden. 
Nietzsche ist eispiüihglidh als größter Bewunderer, später als 
freiester Überwinder Schopenhauers vorbildiih für die Me lih- 
keit einer solhen Überwindung des Philosophen auf dem Wege 
psydhologisher Erkenntnis und der Einsiht in die persönlichsten 
subjektiven Bedingungen des Philosophierens überhaupt. 

»Allmählich hat sich nun herausgestellt, was jede Philosophie 
bisher war: nämlih das Selbstbekenntnis des Urhebers und 
eine Art ungewollter und unvermerkter m&moires. Die Philosophie 
schafft immer die Welt nach ihrem Bilde, sie kann nicht anders, 
Philosophie ist dieser tyrannische Trieb selbst, der geistige Wille 
zur Macht, zur ‚Schaffung der Welt, zur causa prima.« 
(Nietzsche.) 

In ihrer Subjektivität liegt die shon von Nietzsche erkannte 
Beschränktheit aller philosophischen Wahrheit, die zur Resignation 
führen muß, da kein System imstande sein kann, das rätselhafte 
Wesen der Welt und des Lebens zu erklären, vielmehr nur dem 
einen Typus Mensh und seinem metaphysischen Bedürfnis ent- 
sprehen kann. In diesem Sinne dürfte man von einer Hoffnungs- 
losigkeit aller Philosophie sprehen: »Sobald — sagt Nietzsche 
— die Religion, Kunst und Moral in ihrer Entstehung so be- 
schrieben sind, daß man sie vollständig sich erklären kann, ohne 
zur Annahme metaphysischer Eingriffe am Beginn und im 
Verlauf der Bahn seine Zufluht zu nehmen, hört das stärkste 
Interesse an dem rein theoretishen Problem vom »Ding an sihs und 
der ‚Ersceinung’ auf ... Mit voller Ruhe wird man die Frage, 
wie unser Weltbild so stark sih von dem erschlossenen Wesen 
der Welt unterscheiden könne, der Physiologie und der Entwic- 
lungsgeshichte der Organismen und Begriffe überlassen.« 


Sollte nun jemand, enttäusht darüber, daß sih Schopen- 
hauer »nicht gesund genug zum Philosophen« (Riehl) erwiesen 
hat, bei einem anderen sein Seelenheil suhen wollen, so sei er 
gewarnt. Audh Nietzsche, dem wir hier als Schopenhauer- 
Kritiker und Tiefenpsychologen so breiten Raum gewährt haben, 
scheint nicht berufen, zum Richter des Lebens gemaht zu werden. 

er da auszöge, einen zu suchen, der gesund genug zum Philo- 
sophieren ist, dem erginge es wie jenem Boten eines kranken 
Königs, der das Hemd eines Glüclichen zur Heilung seines Herrn 
suhen ging. Denn als er endlih in einem Hirten den Glüclichen 
fand, besaß dieser kein Hemd. — Wer zum Philosophieren gesund 
genug wäre, der — philosophiert eben nicht! 


174 Dr. Eduard Hitschmann 


Literatur: 


DAMM, ©. F.: Arthur Schopenhauer. Eine Biographie. Reklam, 1912. 

EBSTEIN, Dr. W.: Arthur Schopenhauer, Seine wirklihen und vermeintlihen 
Krankheiten. Stuttgart 1907. 

FISCHER, Kuno: Schopenhauers Leben, Werke und Lehre. Heidelberg 1898, 

GWINNER, W. v.: Schopenhauers Leben. Leipzig 1910. 

JOEL, K.: Nietzshe und die Romantik. Jena 1905. 

HERTOLET, W. L.: Schopenhauer-Register. Leipzig 1910. 

KEYSERLING, H., Graf: Schopenhauer als Verbilder. Leipzig 1910. 

LINDNER, E. ©. und FRAUENSTÄDT, J.: Arthur Schopenhauer (Memora- 
bilien etc.). Berlin 1863. 

MÖBIUS, P. J.: Schopenhauer. Leipzig 1904. 

NIETZSCHES Werke. Taschenausgabe. 

PAULSEN, F.: Schopenhauer. Hamlet. Mephistopheles. Drei Aufsätze zur 
Naturgeshichte des Pessimismus. Berlin 1900. 

RICHERT, H.: Schopenhauer. Seine Persönlichkeit, seine Lehre, seine Bedeutung. 
6 Vorträge. Leipzig 1909. 

RIEHL, A.: Friedrih Nietzshe, der Künstler und der Denker. Stuttgart 1898. 

SCHEMANN, L.: Gesprähe und Briefwechsel mit a a Aus dem Nadh- 
lasse von Karl Bähr. Leipzig 1894. 

SCHOPENHAUERS Werke, Nachlaß, Briefe. Reklam. 

SCHOPENHAUER, Adele: Tagebücher. Leipzig 1909. 

SEIDLITZ, C. v.: Dr. Arthur Schopenhauer vom medizinischen Standpunkte aus 
betrachtet. Dorpat 1872. 

SEILLIERE, Ernest: Arthur Schopenhauer als romantischer Philosoph. (Deutsche 
Übersetzung) Berlin 1912. 

SIMMEL, Georg: Schopenhauer und Nietzsche. Ein Vortragszyklus. Leipzig 1907, 

SIMMEL: Hauptprobleme der Philosophie. Leipzig 1911. 

VOLKELT, Johannes: Arthur Schopenhauer. Seine Persönlichkeit, seine Lehre, 
sein Glaube, Stuttgart 1900. 

WAGNER, G. F., Encyklop. Register zu Schopenhauers Werken. Karls- 
ruhe 1909, 





Psydoanalytishe Anmerkungen zur Geschichte der Philosophie 175 


Psychoanalytishe Anmerkungen zur Geschichte der 
Philosophie‘. 
Von Dr. ALFR, Frh, v. WINTERSTEIN. 


»In der ‚Kalewala’, einem finnishen Epos, kehrt 
ein eigentümlicher Vorgang von auffallender und selt- 
samer Bedeutung einigemale wieder. Der alte Held 
Wäinämöinen unterwirft sih hier die elementarishen 
Hindernisse, die er zu besiegen hat, nach vielen ver= 
geblihen Versuchen und Bemühungen endlih durch eine 
beshwörende Formel, die in jedem Fall von geradezu 
furhtbar bezwingendem Eindruck auf seine phantasti- 
schen Gegner ist: er spricht ihnen nämlich die Drohung 
aus, ihren Ursprung zu singen.«? 


Mi: wird gut tun, bei der Aufgabe, die ih mir auf den 


folgenden Blättern setze, ein Zweifahes zu unterscheiden: 

einerseits wird es sih darum handeln — ohne irgendwie 
ins Detail einzugehen — festzustellen, was für wesentliche Bestand= 
teile in den Lehren der Philosophen nicht durch objektive Erkenntnis 
gefordert, sondern durh unbewußte Wünshe bedingt erscheinen 
(diese Teiluntersuhung wird in die Frage auslaufen, welhe Welt- 
anshauung sih auf dem Boden der Psychoanalyse mit Fug er= 
heben darf); anderseits wird in einem zweiten ÄAbscdnitt, wenn 
auh sadhgemäß nicht streng geschieden, der Versuh gemadt 
werden, die unbewußten Grundlagen der Persönlichkeit des Philosophen 
zu skizzieren. Vorab bemerke ih noch dieses: Festhaltend an dem 
von der Psychoanalyse vertretenen Prinzip der Schichtenbildung im 
Seelenleben, glaube ich keineswegs, mit dem Aufzeigen der untersten 
Scicte eine erschöpfende Konstitutionsformel (um einen Terminus 
aus der Chemie zu gebrauchen) des philosophishen Typus zu bieten, 
ferner lege ich schon hier gegen den etwa erhobenen Einwand der 
Unvollständigkeit Verwahrung ein, man wird von einem einzelnen 
nicht erwarten dürfen, daß er einen Urwald fällt, und sich zufrieden- 
geben müssen, wenn seine Axt da und dort eine Lichtung ge= 
schaffen hat, die einen freieren Ausblick ermöglicht. 


I. Die Systeme. 
Daß es im weiten Felde der Geschichte der Philosophie nur 


einige wenige, stets wiederkehrende Weltanshauungen — Varis 
ationen im einzelnen abgerehnet — gibt, wird den nicht ver= 
wundern, der vom Studium des Unbewußten und seiner geringen 
Anzahl pathogener Komplexe herkommt. 

Eine historishe Übersiht über die Entwicklung des Problems 


! In Erweiterung eines im Dezember 1912 in der » Wiener psydhoanalytischen 
Vereinigung« gehaltenen Vortrages. 

® Zit. nah L. Ziegler, Der abendländische Rationalismus und der Eros. 
Diederihs, 1905, p. 216. 


176 Alfr. Frh. v. Winterstein 


eines Weltbegriffs und seiner Lösungen liefern, ja auch nur die aus 
dem Unbewußten stammenden Elemente in den einzelnen Systemen 
dartun, hieße den mir gesteckten Rahmen der Arbeit weit über- 
schreiten, ih will bloß bei einigen Philosophen, die typishe Ver- 
treter einer bestimmten Weltanshauung zu sein scheinen, die Ver- 
mengung des Wunschmaterials mit dem Erkenntnismaterial! nach- 
weisen. Zunächst gilt es jedoh, ein verbreitetes Vorurteil zu zer- 
streuen: man neigt leiht dazu, einem philosophishen System, das 
logish einwandfrei errichtet ist, deshalb auh den Wert der unbe- 
dingten Wahrheit zuzusprehen. Hier mag an Nietzsches aller- 
dings übertriebene Bemerkungen über die Bedeutung der Logik er- 
innert werden. Wir geben zwei bezeichnende Stellen aus »Jenseits von 
Gut und Böses mit Vorbehalt wieder: »Hinter aller Logik und 
ihrer ansheinenden Selbstherrlihkeit der Bewegung stehen Wert- 
schätzungen, deutliher geredet, physiologishe Forderungen zur 
Erhaltung einer bestimmten Art von Leben.« »Die Falschheit eines 
Urteils ist uns noh kein Einwand gegen das Urteil. Die Frage ist, 
wieweit es lebenfördernd, lebenerhaltend, vielleiht gar artzüctend 
ist; und wir sind grundsätzlih geneigt zu behaupten, daß die 
falshesten Urteile uns die unentbehrlihsten sind.« Das heißt: Logik 
ist ein Instrument, ein Mittel zu einem Zweck, oft nur ein will- 
fähriger Diener im Dienste einer Leidenschaft, eine »Laterne der 
Schritte des Willens«s (Schopenhauer), niht etwas in sich Be- 
ruhendes von unbedingtem Wert. Auc der Paranoiker, der Zwangs- 
neurotiker sind in ihren Folgerungen von großer logisher Treff- 
siherheit und dennoh spriht niemand ihren Produkten objektiv 
realen Wert zu. Überscharfe Logizität ist manchmal — und hiemit 
berühren wir das Wesen der Scholastik — geradezu ein verdächtiges 
Symptom, Überkompensation eines gewissermaßen endopsydhisch 
wahrgenommenen Mangels im Unterbau, der durch verdrängte 
Regungen geschaffen wurde. Man wird vielen in sih geschlossenen 
Systemen nicht leicht logische Fehler nahweisen können und braudt 
dennoh mit der Annahme nicht fehlzugehen, daß das Fundament 
des stolzen Baues niht auf den Boden konkreter Tatsahen er- 
richtet ist, sondern von den Fluten der Leidenschaft getragen wird. 
Dodh zurük zu der uns oben gestellten Aufgabe! 

Zwei Dinge sind es vor allem, die uns bei flüchtigster Durch- 
sicht der Philosophiegeshichte als metaphysishe, nicht durch objek- 
tive Tatsahenbetrahtung, wohl aber durh eine Nötigung des Un- 
bewußten erforderte Dogmen erscheinen: der Begriff einer über- 
sinnlihen Welt und die Einführung Gottes in ein wissenscaftliches 
System. Übersinnlih ist »dasjenige, was prinzipiell nicht in die 


i H. Silberer, Phantasie und Mythos, Jahrb. II, 1910, p. 622. Unter 
Wunschmaterial verstehe ih hier — niht ganz in Übereinstimmung mit Silberer, 
der darunter bloß infantile verdrängte Vorstellungen begreift — alle durh das 
tee des Subjekts, nicht aber durh objektive Erkenntnis geforderten 
nhailte. 


Psydhoanalytishe Anmerkungen zur Geschichte der Philosophie 177 


Sphäre des Sinnlihen hineingreift und daher prinzipiell nit mit 
Sinnesorganen wahrgenommen werden kann«. (O. Ewald.) Nun 
sind viele täglih von uns im Munde geführte Begriffe übersinn= 
lihe: die Materie ist etwas Übersinnlihes ebensogut wie die Kraft 
oder das Ih als Bewußtseinssubjekt oder das Unbewußte. Man 
kann im Denken und Sprehen schlehtweg nicht auf Metaphysik 
verzihten. Vershieden von dieser gleihsam durh die Ökonomie 
unseres Denkens gebotenen Metaphysik ist die Annahme einer 
zweiten Welt, die häufig! einer durh unbewußte Motive be- 
bestimmten Tendenz zur Entwertung der gegebenen Realität ent- 
springt, mag es sih nun beispielsweise um das Nirwana des 
Buddhismus, um die Ideenwelt Platons oder um das Ding an 
sih Kants handeln. Mehr oder weniger verhüllt blikt der wahre 
psyhologishe Sachverhalt aus allen diesen Fiktionen hervor. 

Fassen wir zunächst das psydhologishe Phänomen, das im 
Laufe der Jahrtausende im Morgen- und Abendlande zu so ver= 
schiedenartigen Lehren geführt hat, näher ins Auge! 

‚Auf Grund der Forshungen Freuds und C. G. Jungs 
wissen wir, daß es in unserem Seelenleben zwei entgegengesetzte 
Strömungen? gibt: die eine strebt vorwärts, von der Mutter, der 
Kindheit weg zur Eroberung der Außenwelt, durch sie löst sich 
der Heranwachsende, der das Realitätsprinzip auf seine Fahne ge- 
shrieben hat, von der Gemeinshaft mit dem unendlihen Leben, 
mit dem er im Mutterleib zusammenhing, los, um ein Individuum 
im höheren Sinne des Wortes zu werden. Nicht ohne schmerzliche 
Kämpfe vollzieht sih der Aufstieg zur Höhe des Lebens, doch den 
schlimmsten Feind trägt der Mensch in sich selbst, »die Sehnsucht 
nach rückwärts, nah dem eigenen Abgrund, dem Ertrinken in der 
eigenen Quelle, nah der Vershlingung in die Mutter. Sein Leben 
ist ein beständiges Ringen mit dem Tode, eine gewaltsame und 
vorübergehende Befreiung von der stets lfauernden Nadt. Dieser 
Tod ist kein äußerer Feind, sondern ein eigenes und inneres Sehnen 
nach der Stille und tiefen Ruhe des Nictseins, dem traumlosen 
Schlaf im Meere des Werdens und Vergehens«.® Die »Sehnsuct 
hin zur heiligen Nachts, zur Mutter, wo der Untershied zwischen 
Subjekt und Objekt aufgehoben ist, ist die eine Quelle unserer 
Jenseitshoffnungen, sofern sie nicht, einem zähen Lebenswillen ent= 
sprungen, eine bloße Fortsetzung dieses Lebens voll Streit und 
Gefahr (mit einer leihten Korrektur) erstreben;, auh Kunst und 
Philosophie tragen in ihrem innersten Kern das Verlangen »nach 
dem Tode, der Bewegungslosigkeit, der Sättigung und der Ruhes.t 
Alle Entwicklung beruht auf einer Wechselwirkung dieser zwei 


! Bezüglich der zweiten Quelle unserer Jenseitswünscde s. u. 

? Die bei Schopenhauer nicht recht begreiflihe Entzweiung des Willens 
wird durh die Annahme zweier Richtungen in uns psycdologish verständlich. 

® Jung: Wandlungen und Symbole der Libido, Jahrb. IV, 1912, p. 386. 


Jung: k.& 


Imago 11/2 | Bar 


178 Alfr. Frh. v. Winterstein 


Strömungen. Der Schöpfer steigt immer wieder in die Tiefe seines 
Unbewußten herab, um Kraft zu neuen Werken und Taten zu ge- 
winnen. Jeder Fortschritt vollzieht sih in der Weise jener Echter- 
nacher Springprozession, bei der die Teilnehmer zwei Schritte vor=- 
wärts und einen rückwärts machen müssen. 

Es liegt nahe, drei Iypen von Menschen zu unterscheiden, 
Der eine, der Künstler, der Held, kehrt aus seinem eigenen Innern 
stets wiedergeboren herauf, »ein Antäus an Gemüte«, der den 
mütterlihen Ursprung berührt hat, der andere, der Neurotiker, 
ertrinkt in seiner eigenen Quelle, der dritte lebt ewig fremd seinem 
Unbewußten, aber auh ohne AÄußerordentlihes zu vollbringen. 

Das Unbewußte ist das Typische, das Generelle, das Band, 
das uns mit der Geshihte unseres Geschlechtes und dadurch mit 
dem Leben des Alls überhaupt vereinigt, wohingegen das Bewußt- 
sein unseren eigensten Besitz, das wahrhaft Individuelle vorstellt. 
Wir verstehen von hier aus vielleicht, wie man immer wieder — 

auf dem Wege über die Tiefe unseres Ihs — als der Weisheit 
letzten Schluß die Ineinssetzung von Mikrokosmos und Makrokosmos, 
von innerstem Ih und zentraler Weltpotenz, von mensclichem 
Atman und Atman des Universum verkündigt hat. Denn je weiter 
man in die Schichten seines Unbewußten hinabgelangt, je persön- 
liher die Tiefe zu werden scheint, desto mehr nähert man sid 
faktish dem Allgemeinen. 

Wenn auch eine persönlihe Unsterblichkeit unwahrsceinlich, 
ja ausgeschlossen ist, so leben wir doch gewiß in unseren Kindern, 
unseren Werken, in den Spuren unserer bildenden Tätigkeit fort. 
Das innere Erlebnis jedoh, das uns diesen Glauben eingibt, ist der 
im Unbewußten dunkel gefühlte Zusammenhang mit der Gene- 
rationskette, deren Glied wir sind. Ein solher Glaube kann, falls 
er sich mit einer Entwertung dieses Lebens verbindet, »das Reid, 
das niht von dieser Welt ists, nur aus infantilem (individuell- 
prähistorishem) Material aufbauen und entstammt einer rückwärts 
gerichteten Sehnsucht, deren Wurzel in Anpassungsschwierigkeiten 
(Unmöglichkeit des Verzihtes auf das Lustprinzip) begründet ist. 

In der dünnen Luftshicht allgemeinster Betrahtungen auf dem 
Berggipfel der platonischen Ideenlehre landend, haben wir uns 
zu fragen, welhe unbewußten Kräfte an der Errichtung dieses 
hohen Baues schöpferish tätig gewesen sein dürften. Doch ist 
Folgendes vorauszushicken: Das ganz auf die Außenwelt gerichtete 
reine Auge des griehishen Volkes, das in seinen Philosophen von 
einem naiven Realismus zum Phänomenalismus (auf Grund des 
Mißtrauens in unsere sinnlihe Wahrnehmung) übergegangen war, 
wendet sich erstmals mit Sokrates einer Betrahtung der Innenwelt 
zu. Diese für die Geshihte des abendländishen Denkens hoc be- 
deutsame und folgenshwere Tat, von Sokrates mehr als Forderung 
ausgesprohen denn erfüllt, vollzieht sih in großartiger Weise bei 
Plato, der dem Geist eine Richtung ins Transzendente wies, die man 


Psydhoanalytishe Anmerkungen zur Geschichte der Philosophie 179 


ganz allgemein als Platonismus bezeichnen darf und in der das Christen= 
tum durch zwei Jahrtausende schnurgerade weiterging. Die Wandlung, 
die sich seit dem siebenten und achten Jahrhundert allmählih in der 
griehishen Psyche vorbereitete, führte im fünften Jahrhundert im 
Gesamtleben des Volkes und im Leben des einzelnen zu tiefer- 
gehenden Störungen: an die Stelle des geschlossenen Kampfes gegen 
den äußeren Feind, den Perser, trat der innere Zwist zwischen 
Stadt und Stadt, ja selbst innerhalb der einzelnen Stadt, die De- 
mokratie nimmt immer mehr überhand. In dieser Zeit, der Zeit des 
peloponnesishen Krieges, zeigt die Kunst ein ruhiges Antlitz von 
nie wieder erreihter Schönheit und verrät nichts von den Leiden- 
schaften in der Brust der Künstler. Aber auch sie vermag nicht 
mehr die erregten Gemüter zu heilen, das Individuum wird asozial 
und sucht im Labyrinth seines eigenen Innern Trost und Zuflucht. 
Es beginnt die Geringshätzung der Außenwelt. Sokrates tritt auf 
und erklärt, er gehe nicht vor der Stadt spazieren, denn man könne 
von den Bäumen und Wiesen nichts lernen. Sein I’v@dı oadTov 
(die Forderung des delphishen Apollo) ertönt als eine ernste 
Mahnung in dem Getümmel der hellenishen Welt. 

Erst Platon hat den Bruh mit der Sinnenwelt vollzogen, 
nachdem bereits die Eleaten gelehrt hatten, daß hinter der Welt der 
Mannigfaltigkeit und des wechselnden Scheines das eine wahre Sein 
ruhe, Er, besser noh: Sokrates sind die Ahnherren des Ratio- 
nalismus, der die wahre Erkenntnis aus der Vernunft ableitet und 
das metaphysishe Än-sich-sein der Dinge a priori und apodiktisch 
gewiß mittels intellektualer Anshauung zu erfassen vermeint. In 
dem schönen Buhe von L. Ziegler »Der abendländishe Ratio- 
nalismus und der Eros« wird gezeigt, wie das, was man später 
intellektuale Anschauung genannt hat, nichts anderes bedeutet wie 
den platonishen Eros, von dem im »Symposion«! die Rede ist. 
Der von Mystik fast ganz freie Rationalist $ okrates, bei dem das 
Daimonion, das Unbewußte nur warnenden, negativen, nicht positiv= 
shöpferishen Charakter trug, — hinter dem die Logik, um ein Bild 
Nietzsches in der »Geburt der Tragödie usw.« anzuziehen, wie 
ein Triebwerk stand, hinterließ seinem Schüler, in dessen Brust Be- 
wußtes und Unbewußtes, Philosophie und Theologie ein Leben 
lang miteinander haderten, den Ausbau der Ideenwelt, die durch 
den »Begriff« gefordert wurde, als sein Vermächtnis. 

Diese Welt von übersinnliher Reinheit, von unbewegter und 
unveränderter Hoheit ist bei Platon nur auf künstliche Weise mit 
der Welt der Erscheinungen in Einklang gebraht. Die Ideenwelt, 
das » Wesens, övrog Öv, odoia ist der Zweck des » Werdenss, y&veoıs, 
das, was in der Seele aus Anlaß der Wahrnehmung der Sinnen- 
dinge unendlihe Sehnsuht nah dem Urbild, nah der verlorenen 


ı Platons Gastmahl. Ins Deutsche übertragen von Dr. Rudolf Kassner. 
Diederichs, p. 63 ff. 


12° 


180 Alfr. Frh. v. Winterstein 


Einheit erregt; dieses Streben nah der Höhe, das audh in den zer- 
streuten und unvollständigen Erscheinungen waltet, aber ist der Eros, 
der philosophische Trieb, die platonische Liebe. 

Platons metaphysisher Dualismus, unter dem Einfluß jener 
religiösen Strömung entstanden, die in den orphisch=dionysischen 
Mysterien ihren Ausdruck gefunden hat, ist eine Konsequenz seiner 
erkenntnistheoretishen Anschauung, die in dem Begriff etwas von der 
sinnlihen Wahrnehmung wesentlih Verschiedenes, und zwar quali= 
tativ Höheres, dem auch eine andere, wertvollere Wirklichkeit ent- 
sprechen müsse, erblickte. Diese jenseitige, immaterielle Welt aber 
ist nicht geistiger Art. Hatte bisher ein Strich Sinneswahrnehmung 
und Körperwelt getrennt, so wurde nun durh Plato die Grenz= 
linie zwischen diesen beiden als einer Einheit und dem Reich der 
Ideen, von dem sih nur die negative Eigenschaft des Immateriellen 
aussagen ließ, gezogen, wenn auch dieser Scheidung psycholo- 
gisch der Abfall des Geistes vom Körper, der Widerstreit von 
Bewußtem und Unbewußtem, mit einem Wort: der anthropologisce 
Dualismus! (man könnte beinahe von einem neurotischen Dua- 
lismus sprechen) zugrunde lag. 

Vor Plato mußte die Re Frage aufsteigen: Wie gelangen 
wir zur Kenntnis dieser unbewegt thronenden Ideenwelt, deren 
shwäcdster Abglanz im Menschen das logish-sprahlihe Abstrak- 
tum der Begriffe ist? Auf keine andere Weise, lautete die Antwort, 
als durh ein unmittelbar gewisses intellektuales Schauen, und diese 
Erwiderung entsprah völlig dem visuellen Typus des hellenishen 
Volkes. Die Induktion der Erfahrung konnte niemals ein unfehlbar 
siheres Wissen um das A-priori-Sein verbürgen. 

Eine zusammenhängende Darstellung der Ideenlehre zu geben, 
ist niht unsere Aufgabe, es verlohnt sich aber, die intellektuelle 
Anschauung, den Eros, der in der folgenden Geschichte des Den- 
kens eine so wichtige Rolle gespielt hat, als unleugbar vorhandenes 
psychologisches Phänomen, das bloß eine falsche Deutung erfuhr, 
näher zu untersuhen. Leopold Ziegler hat in seinem oben er- 
wähnten Bud eine trefflihe Schilderung dieser psydhisch realen Er- 
fahrung — wir haben keinen Grund, an der Aussage so vieler be=- 
deutender und wahrheitsliebender Männer zu zweifeln — unter- 
nommen und ist dabei diht an die Grenze dessen, was die Psydho- 
analyse aufgezeigt hat, gelangt. Wir geben zunächst seine Gredanken 
gekürzt wieder <(p. 66 ff.): Jede Konzentration des Bewußtseins 
auf einen einzigen Gegenstand hat ein erhöhtes Gefühl für die 
alleinige Wirklichkeit desselben zur Folge. Sucht der Mensch unter 
all dem Wandel der rastlosen Vorstellungszusammenhänge, die in 


ı Nietzsche hat im »Problem des Sokrates« die Behauptung aufgestellt: 
»Die Instinkte bekämpfen müssen — das ist die Formel der Dekadenz: solange 
das Leben aufsteigt, ist Glük gleih Instinkt.« Wir würden sagen: seine Triebe 
verdrängen müssen, aber darin liegt noh nicht einmal etwas Neurotisches, da die 
Neurose erst auf Grund der mißglückten Verdrängung entsteht. 


Psydoanalytishe Anmerkungen zur Geschichte der Philosophie 181 


ihm auftauchen, eine einzige Vorstellung festzuhalten, so gelangt er 
bald dazu, diesem Objekt eine vergleihsweise höhere Wirklichkeit 
als der vershwindenden Gesamtheit der übrigen zuzuschreiben. Ist 
dieser Gegenstand auh nodh durdh seinen eenderen Inhalt von 
allen anderen verschieden, scheint er shon in sih durdhaus aus= 
nehmend, unvergleichlih, beziehungslos und gewissermaßen absolut, 
so wird eine starke Konzentration auf dieses Objekt das Gefühl 
erwecken, als sei das gewöhnlihe Dasein mit seinem gewohnten 
Geschehen verlassen, eine neue, schönere, über dem Weltgesetze 
der zeitlihen Kontinuität stehende Sphäre erreicht. Ein solhes Ob- 
jekt »sui generis« finden wir in uns selbst vor, in der Betrachtung 
unserer reinen Innerlichkeit. Die Vorstellung des bei sich beharrenden 
Ihs ist, wie alle Objekte im psydologishen Sinn, frei von den 
Formen der Kausalität und der Räumlichkeit, hingegen verläuft sie 
in der Zeitlihkeit und besitzt eine gewisse Intensität (die Stärke 
der sie begleitenden Gefühle). Da aber eine jede Versunkenheit des 
Menschen in sich selbst, jeder Akt der Kontemplation eben dadurch 
ausgezeichnet ist, daß die Beziehungen zu allen übrigen Objekten 
außer dem eigenen Ih unterbrohen und aufgehoben sind, so fehlt 
auh die Möglichkeit, sich der Zeitlihkeit und Gefühlsstärke dieses 
Erkenntnisaktes bewußt zu werden, da alles Bewußtsein von diesen 
Dingen auf dem Vergleihen beruht und sofort aufhört, wo dieses 
unterbleibt. Aus dem subjektiven Gefühl nun, daß die Betradh- 
tung des Ichs frei ist von den wichtigen kategorialen Gesetzen und 
Formen, denen unsere Vorstellungen unterworfen sind, wird die 
tatsächliche Ulnbedingtheit der Selbstbesinnung gefolgert und so 
aus dem uns nächsten Symbol des Ewigen das An-sich-seiende 
Ewige selbst gemaht. Der Anhänger des Eros vergißt, daß nur 
sein Gefühl im Augenblick der Selbstshau die Zeitlihkeit und 
Intensität seines Objektes aus dem Blickpunkt des Bewußtseins ver=- 
loren hat, weil er aufhörte, seinen Zustand mit dem vorhergehenden 
und nachfolgenden zu vergleihen, diese kategorishen Formen aber 
sind noch lange nicht in der Wirklichkeit aufgehoben, wenn sie sich 
dem beobadtenden Bewußtsein entzogen haben. Die selbstreflektierte 
Versunkenheit in das Ih wird zu einem tatsächlihen Verlassen der 
irdishen Welt und zu einem Verweilen im ewigen Ansih des 
metaphysishen Seins. Aus dem erscheinenden Abglanz des wahren 
Ansihs %, den wir gerade noh in glüclich-feierlihen Augen- 
bliken zu erhashen vermögen, wird das Metaphysische an sich selber, 
aus dem angeshauten Ih der Urgrund der Welt, das »seiend 
Seiende«. 

Wir haben es hier, falls es sih um einen länger dauernden 
Zustand handelt, mit dem zu tun, was Jung »Introversion« 
nennt. Die betreffenden Individuen schließen sih immer mehr von 
der Realität ab und versinken in ihre Phantasie, wobei in dem 
Maße, wie die Realität ihren Akzent verliert, die Innenwelt an 
Realität und determinierender Kraft zunimmt. Eine Folge ist, daß 


182 Alfr, Frh. v. Winterstein 


sih die Libido von den Objekten der Außenwelt auf das Ih zu- 
rückzieht und sich in die Regression begibt, wobei die infantilen 
Imagines! wiederbelebt werden. Dieses Vernlen in die eigene 
Tiefe, Heruntersteigen zu den »Müttern«, hat infolge der libidinösen 
Überbesetzung das ganz einzigartige Gefühl einer besonderen Wirk=- 
lichkeit zur Folge, gegenüber dem Entstehen und Vergehen der 
Sinnenwelt, der wechselnden Libidobesetzung, herrscht hier Unver- 
änderlichkeit, »Beharren« im Gegensatz zum »Heraustreten« und 
»Zurückkehrens (Proklus). In dem Wesen der Libido, des Unbe- 
wußten, wurzelt der Begriff der Ewigkeit, der nicht eine unendlich 
lange Zeit vorstellt, sondern einer ganz anderen Bewußtseins- 
dimension angehört. Die Ewigkeit fängt nicht erst an, wenn die 
ER oe aufhört, sondern beide bestehen sozusagen überein- 
ander. 

Die intellektuelle Anschauung besteht eigentlih in dem un- 
möglihen Verlangen eines dem visuellen Typus angehörenden Indi- 
viduums, sein eigenes Unbewußte, das ER Verbotene zu 
shauen. Sobald man das Ineinanderfallen von Subjekt und Objekt 
nachgewiesen hat, verliert jeder Glaube an eine metaphysishe Welt 
seine Berehtigung. Das erstrebte Schauen wird auf dem Höhepunkt 
der Ekstase beispielsweise bei Plotin durh eine grobsinnlihe »Be- 
rührung«?, ein »lustvolles Erfassen des Äbsoluten« ersetzt und dieses 
Absolute selbst ist die eigene mütterlihe Tiefe, das All-Eine, 
wo der Untershied zwishen Subjekt und Objekt aufgehoben ist. 

Ziegler hat vergessen, seinen klaren Ausführungen hinzuzu= 
fügen, daß jede intensive Einkehr in sich selbst, jedes Zurücziehen 
von der äußeren Realität motiviert ist. Es ist jene früher be= 
schriebene regrediente Strömung des Seelenlebens, der wir uns vor 
allem im Falle der Versagung, d. h. bei einer Entbehrung im 
realen Leben, oder bei einer allgemeinen Libidosteigerung, die auf den 
bereits eröffneten Bahnen nicht befriedigt werden kann, überlassen. 
Die Libido, für die die Realität durh die hartnäckige Versagung 
oder Unmöglichkeit ihrer Befriedigung an Wert verloren hat, be=- 
setzt unsere Gedankenbildungen, nun gilt nur mehr die von Freud 
sogenannte »neurotishe Währung«, mit anderen Worten: die 
Übereinstimmung mit der äußeren Wirklihkeit wird gleichgiltig, die 
seelishen Vorgänge werden infolge ihrer Affektbetonung überschätzt. 
Doch nur mit einem Änteil seiner Persönlihkeit ist es dem Indi- 
viduum gelungen, auf die infantilen Bahnen zu regredieren, neue 
Wunschbildungen zu schaffen und die Spuren früherer, vergessener 
Wunscbildungen wieder aufzufrishen, der andere Anteil ist mit 
der Realität in Beziehung geblieben. Der daraus entstehende 
Konflikt wird Kompromißshöpfungen ins Leben rufen. Wenden wir 


ı Bezüglih der Bedeutung von »Imagos s. Jung, Wandlungen und Sym-= 
bole der Libido, Jahrb. III, 1911, p. 164. 
2 Stammesgeshidtlih werden die Tastempfindungen als die ursprünglihen 


angesehen — eine phylogenetische Regression! 


Psycoanalytishe Anmerkungen zur Geschichte der Philosophie 183 





uns nach diesen allgemein giltigen Erwägungen der platonishen 
Ideenlehre zu. 

Hatte shon bei Sokrates der Begriff gegenüber der sinn- 
lihen Wahrnehmung eine entschiedene Höherwertung erfahren, die 
mit einer Übershätzung der geistigen Realität zusammenhing und 
der Ausgangspunkt einer Problemstellung geworden ist, deren 
charakteristishe Äußerung der Universalienstreit des Mittelalters 
war, so wird bei Plato die ganze Frage ungleich mehr vertieft und 
ins Metaphysishe gewendet. Sokrates meinte, man gelange zu 
den Begriffen induktiv, an der Hand der Erfahrung. Hier war nur 
Wahrsceinlihkeit, niht Gewißheit zu erreichen. Plato hingegen, 
der der Erfahrung innerlih viel fremder! gegenüberstand, drang 
auf unmittelbare Oewißheit In dem, was er bezeichnenderweise 
»Eros« nannte, in der intellektualen Anshauung, glaubte er die 
Methode gefunden zu haben, zur Kenntnis des An-sich-seins der 
Dinge vorzudringen. Diese Sehnsucht, das reine Urbild von neuem 
zu shauen und ihm im begrifflihen Denken ähnlih zu werden, 
projiziert Plato auh in das Sinnending selbst, dem er ein gleiches 
Streben nah dem Übersinnlihen, ein gleihes Verlangen, die Idee 
in sih darzustellen, zuscreibt. 

Indem sih Plato aus Gründen, die wir bloß vermuten, nicht 
wissen können «verdrängte Homosexualität’), in die Innerlichkeit 
zurückzog, löste er sich von den sinnlichen Vorstellungen der Außen- 
welt los, um zu den allgemeinen Begriffen aufzusteigen. Dieses 
Allgemeine, das in der äußeren Realität nicht anzutreffen war, er- 
hielt nun aus der eben erwähnten Ursahe eine intensive Gefühls- 
verstärkung, bot anderseits auh an und für sich infolge seiner 
Eigenshaft, vieles einzelne unter sih zu fassen, diesem über- 
geordnet zu sein wie der Vater seinen Kindern, die Möglichkeit, als 
eine Art Kompromißbildung zwischen den wiederbelebten infantilen 
Imagines des A are und dem in Relation zur Außenwelt ver- 
bliebenen Stück der Persönlichkeit zu gelten. Wem diese Auffassung 
des Begriffes unglaubhaft dünkt, sei daran erinnert, daß sih Vor- 
läufer der Platonishen Idee bei den Peruanern, den Irokesen 
Nordamerikas, den Bewohnern der samoanischen Inselgruppe und 
den Finnen gefunden haben: das einer Erklärung bedürftige Vor- 
handensein einer Anzahl gleichartiger Dinge wird auf die Erzeugung 
durh ein Urwesen zurückgeführt, das bald als ein älterer, den 
fraglihen Wesen an Kraft und Größe überlegener Bruder, bald als 
ihr im Land der Seelen wohnendes Urbild, bald als der auf einem 
Stern wohnhafte Gott oder Genius betrachtet wird?. 

ı Man wende mir niht ein, daß Plato beständig vom Streben nah Ver- 
besserung der äußeren Welt geleitet wurde, also keineswegs bloß Theoretiker war. 
Eben in jenen mißglückten Reformversuhen verrät sih nur allzudeutlih der 
Glaube an die Allmaht seiner Gedanken. Auch die sokratische Gleichsetzung von 
Einsiht und (praktischer) Tugend ist für diese Überschätzung des rein Geistigen 


charakteristisch. 
® Vgl. Gomperz, Griehishe Denker, II., p. 320, 573, 


184 Alfr. Frh. v. Winterstein 


Es klingt wie eine endopsyhishe Wahrnehmung der tat- 
sächlichen Determiniertheit des logish-sprahlihen Abstraktums durch 
das Unbewußte bei Plato, wenn dieser in leidenschaftlihen Worten 
eine diesen blassen Ideen entsprehende höhere Wirklichkeit fordert. 
Als solche bot sih nur »das längst nicht mehr Vorhand’nes — die 
»Mütters, »umshwebt von Bildern aller Kreatur«!. Hätte uns nicht 
Goethe den Schlüssel zur Lösung des Geheimnisses in die Hände 
gespielt, wir fänden vielleiht einen bedeutsamen Hinweis auf die 
»Imagines« des Unbewußten in dem platonishen Vergleih der Idee 
des Cars mit der Sonne, die ein in der Mythologie sowohl als 
auh in der Psydhose und Psycdoneurose geläufiges Vatersymbol 
ist, jene Sehnsuht nah der metapsydhishen Wirklichkeit, »wo nicht 
Ort, noh weniger eine Zeit« (l), heißt bei Platon — Eros, Philo- 
sophieren ist ihm Sterbenwollen, d. h. der Wunsch, ins Unbe- 
wußte wieder einzugehen, zu introvertieren, an einer anderen Stelle 
wieder Erinnerung, und zwar an die infantile Präexistenz, von der 
der Erwachsene ja gewöhnlih durh gänzlihe Amnesie ge= 
trennt ist. 

Die dem Unbewußten eigentümlihe Veränderungslosigkeit der 
Imagines kommt in der von Plato den Ideen verliehenen starren 
Ruhe trefflih zum Ausdruck, die Körperwelt dagegen ist die Welt 
der Unruhe, des Entstehens und Vergehens, das bedeutet die ewig 
wecselnde Libidobesetzung der Objekte, denn immer sucht man das 
verlorene Ideal, ohne es zu finden. Liebt man aber einmal einen 
irdishen Gegenstand, so liebt man ihn nur als Bild des intelligibeln. 
Erinnert das niht an die Bemerkungen Freuds über die Reihen- 
bildung bei der Objektwahl nah dem Vorbild der Mutter? Der 
Begriff der platonishen Liebe, wie er heute verstanden wird, erhält 
in diesem Zusammenhang einen sehr guten Sinn: er bezeichnet eine 
libidinöse Gefühlseinstellung, deren Aktivierung wohl durh unbe- 
wußt-inzestuöse Phantasien (oft die Ursahe der psyd&hischen Im- 
potenz) verhindert wird. 

In großartiger Weise projiziert Plato den Eros in den ge= 
samten Lebensprozeß der sichtbaren Welt. Das ganze Weltall 
beherrsht der Trieb, in der unendlihen Reihe der sinnlihen Er- 
sheinungen die ewige Wahrheit und Schönheit der Idee zur Dar- 
stellung zu bringen. Die Idee ist das sehnsuhtweckende Bild und 
so Ziel und Zwec&ursadhe des irdishen Treibens. 

Wir haben oben flüchtig erwähnt, welch mächtigen Einfluß die 
orphisch=-dionysische Religion auf Platos Anschauungen von 
einem Jenseits ausgeübt hatte. In diesen Vorstellungskreis gehört auch 
die Auffassung, der Eros sei der Schmerz, womit der Dämon, 
der durh eigene rätselhafte Schuld in die Geburt gestürzt? 


1 Denn woraus soll eine solhe zweite wesensvershiedene Welt erbaut 
werden, wenn nicht aus dem prähistorischen Material des Individuums? 

2 Der Ausdruk »Sturz in die Geburt« findet sih nicht nur bei den 
Orphikern, sondern auch im Buddhismus. 


Psydoanalytishe Anmerkungen zur Geschichte der Philosophie 185 


sei, nah dem verlorenen Paradies seines reinen und eigentlihen 
Wesens zurückverlange. Es ist wiederum nichts anderes wie jene 
Sehnsuht nah der Kindheit, die also symbolish verhüllt auftritt, 
das dunkle Schuldgefühl mag in längst verdrängten infantil-sexuellen 
Regungen und Todeswünshen wurzeln. Nicht nur hier, auch in der 
Denkweise primitiver Völker finden wir die Identifizierung des 
Eintrittes in die Pubertät, in das Stadium der verstärkten Sexuali= 
tät mit einer Greburt!. 

Ziehen wir die Summe, Die Ideenlehre Platos stellt sih uns 
ihrem letzten Grunde nad (wir sehen von dem intellektuellen Über- 
bau ab) als eine Libidotheorie dar, die eine Richtung unserer 
Psyche, jene »passion de la paresse« (La Rochefoucauld), von 
der Jung in seiner bedeutenden Arbeit »Wandlungen und Symbole 
der Libidos? handelt, in wundervoll durchgeistigter Weise zum 
Ausdruk bringt. Mit einem wissenscaftlihen erdeinse der 
äußeren Wirklichkeit? hat sie freilich nichts zu tun. Das hindert aber 
nicht, daß sie den allergrößten Einfluß auf die folgenden Denker 
ausgeübt hat, wodurdh sie ihre psychologish=-reale Wurzel in der 
menschlichen Natur bewährt. Mit Sokrates-Plato beginnt die Er- 
oberung der Innenwelt. Fast scheint es, als wäre in jenem Jahr- 
hundert die Neurose* des abendländishen Denkens ausgebroden, 
von der wir uns heute noch nicht befreit haben. Das Christentum 
fällt unter den erweiterten Begriff des Platonismus — das Jenseits 
als Wille zur Verneinung der Realität! »Aber an der Wirklichkeit 
leiden, heißt eine verunglükte Wirklichkeit sein.« 

Kehren wir noch einmal zu dem, was wir oben intellektuelle 
Anschauung nannten, zurück. 

Wir haben gesehen, daß sie in dem Verlangen bestand, das 
Metaphysische, wir dürfen dafür einsetzen: das Metapsycische, mit 
dem inneren Auge zu schhauen5. Die unmittelbare Gewißheit, auf 
die das Individuum stürmish drang, erinnert uns beinahe an die 
Zweifel der Zwangskranken und ihr Streben nah Sicherheit, indes 
die Betonung des Sehens einen Hinweis auf den sogenannten visu= 
ellen Typus enthält. Nicht ohne einiges Zögern werfe ih an dieser 
Stelle die Frage auf, inwieweit vielleicht ein Zusammenhang zwischen 
diesem »type visuel« und dem infantilen Schautrieb, den das Ver- 
botene zu schauen reizt, besteht. Über die Zusammenstellung der 
intellektuellen Anschauung mit diesem Schautrieb wird sich wohl 


i Vgl. Frazer, Totemism and Exogamy, IV, p. 228 u. passim. 

?2 Jahrb. III und IV, 1911 und 1912. 

® »Er dringt in die Tiefen, mehr um sie mit seinem Wesen auszufüllen, 
als um sie zu erforshen.< Goethe über Plato. 

* Man darf vielleiht im übertragenen Sinn von Neurosen einer Massen- 
psyhe sprechen. Der Vergleich ist natürlich nicht wörtlich aufzufassen. Und es ist 
— etwaigen Einwendungen gegenüber — hinzuzufügen, daß die Neurosen den 
Fortschritt machen helfen. 

5 Bei Fichte ist die intellektuelle Anschauung die unmittelbare Auffassung 
des reinen Ichs, das nichts anderes wie unser Unbewußtes bedeutet. 


186 Alfr. Frh. v. Winterstein 


nur derjenige entrüsten, der die Vorbildlihkeit des Sexuellen noch 
nicht kennen gelernt hat. Wie eine auf höherem Niveau erfolgende 
Wiederkehr der verpönten und verdrängten Schaulust — deren 
enauere Untersuhung uns tief in das Studium der infantilen 
Sexualität und speziell des Narzißmus hineinführen würde — mutet 
uns die infolge der Abkehr von der Realität libidinös überbesetzte 
Selbstbetrahtung des Denkers an, der, ein geistiger Narziß, seinem 
Denken förmlih zuschaut. Sein tiefstes Verlangen geht aber dahin, 
nicht mehr sein bewußtes psycologishes Ich, sondern sein Unbe- 
wußtes, den »Willen« Schopenhauers, das »Fünklein« Meister 
Eckharts zu erblicken. 

Freud hat einmal die Phasen einer Zwangsneurose ganz all= 
gemein folgendermaßen beschrieben: An Stelle des verdrängten 
Sexuellen tritt eine affektvoll akzentuierte Handlung, die möglichst 
weit davon entfernt ist, das Sexuelle setzt sih aber dann as SO= 
weit durch, daß es in der Zwangshandlung geradezu nahgeahmt wird. 
An diese Bemerkungen wird man erinnert, wenn man den Er- 
kenntnisprozeß bei einem Mystiker wie Eckhart beschrieben findet. 
»Das Erkennen«, heißt es dort, »setzt Gleichartigkeit voraus im 
Erkennenden und Erkannten. Schon das sinnliche Wahenklnes be- 
deutet eine reale Vereinigung zwishen dem Wahrnehmenden und 
dem Wahrgenommenen.« Die Auffassung des Erkennens als einer 
geschlechtlihen Vermishung ist übrigens uralt und findet sich be= 
kanntlih schon in der Bibel. »Er erkannte sie«, d. h. er begattete 
sie, da die Erkenntnis ursprünglih vor allem auf das Sexual- 
geheimnis geht (auh im Englishen: »He new her«). Der Prozeß 
der Selbsterkenntnis, die an sih den idealen Fall der Gleichartigkeit 
um Subjekt und Objekt darstellt, ist, wenn sexualisiert, niht nur 
durh seinen Inhalt, sondern auh durh die Tätigkeit des eigenen 
Denkens lustvoll (Funktionslust). An irgendeiner Stelle spriht Freud 
von einem »Mißbrauh des Denkensse — ein Ausdruck, dem man 
angesihts mancher unfruchtbaren metaphysishen Spekulation nur 
zustimmen kann. Vielleiht paßt auh der Ausspruh Lessings in 
diesen Zusammenhang, daß ihm mehr am Suchen der Wahrheit als 
an ihr selbst gelegen sei. 

Es ist bedeutsam, daß der Mystiker Eckhart den Vorgang 
der Erkenntnis des eigenen Ihs als göttliche Dreieinigkeit! darstellt. 
Ich setze einige bezeihnende Stellen aus Eckhart hieher: »In dem 
klaren Spiegel der Ewigkeit, dem ewigen Sichselbstwissen des 
Vaters, da gestaltet er ein Abbild seiner Selbst, seinen Sohn. In 
diesem Spiegel bilden sich alle Begriffe ab und man erkennt sie 
darin, freilih niht als Kreaturen, sondern als Gott in Gott.« 
Außer Gott ist bei Eckhart die Kreatur ein lfauteres Nichts. »Das 
reine Wissen als Beziehung der Seele auf sich selbst ist immateriell 
und hat mit Raum und Zeit nichts zu schaffen« (vgl. das oben über 

I Schlegel hat einmal die Hegelshe dialektishe Methode die Methode 


der Dreieinigkeit genannt. 


Psychoanalytishe Anmerkungen zur Geschichte der Philosophie 187 





die intellektuelle Anshauung Gesagte). »Diabolus est Deus inversus« 
das Böse ist der verkehrte Wille des Guten. »Gott liebt nichts als 
sich selbst oder sein Gleichnis in allen Dingen« (hier wird der 
Narzißmus im Gegensatz zur Objektliebe deutlih ausgesproden; 
man denke auh an die Liebe Gottes bei Spinoza), 

»Durh den Akt des in sich selbst Reflektierens wird die Natur 
zur Person und als Person heißt die Natur ‚Vater’.« Schließlich: 
»Die Reflexion in sich ist das Wissen, der Vater ist also die reine 
Vernunft, die sih selbst vollkommen durhschaut. Das Objekt dieses 
Wesens ist der Sohn oder das Wort und die Liebe zwishen Vater 
und Sohn, als ihre ewige gegenseitige Beziehung aufeinander, ist 
der heilige Geist.« Hier wird Erzeugen und Sprechen gleichgesetzt. 
Aus diesen und ähnlihen Aussprühen Eckharts geht aud her- 
vor, wie groß die Rolle des Narzißmus vornehmlih bei den My- 
stikern ist. So, wenn sie beispielsweise lehren, daß im Paradies ein 
jedes Ding sih im anderen spiegelt, der Baum im Menschen, der 
Mensh im Tiere usw!, 

Was hier als Vergleih gebrauht wird: das Bewußtseins=- 
subjekt setzt das Bewußtseinsobjekt, der Geist erzeugt das Wort — 
so gebiert der Vater den Sohn, kann für uns, die wir keinen Zu= 
fall im Psycdhischen anerkennen, nicht ohne Bedeutung sein. Die Ver- 
mutung ist vielleiht nicht völlig abzuweisen, daß der an und für 
sih neutrale Akt der Selbstbetrahtung (der die psychologisch inter- 
essante Frage nahelegt, ob es sih dabei um eine tatsächliche 
Gliederung in Bewußtseinssubjekt und =objekt handelt) dem Miß- 
brauch ausgeliefert wurde, »den die weggelogene und verdrängte 
Sexualität mit den höchsten seelishen Funktionen treibt»?, Gefühle, 
die dem Vater gegenüber unterdrükt werden mußten, steigen aus 
Tiefen der Verdrängung herauf und hypostasieren zwei Bestand- 
teile des Erkenntnisvorganges zu zwei Personen, wobei sie die 
Zweideutigkeit des Wortes »Erkennens und seine erkenntnis=- 
theoretishe Auffassung (reelle Einigung mit dem Objekt) benützen, 
um libidinöse Beziehungen zwischen Sl zwei nicht scharf von- 
einander zu sondernden Gliedern des einen Aktes herzustellen. 
Möglih, daß die Relation zwishen Vater und Sohn, den Personi- 
fikationen von Bewußtseinssubjekt und =objekt, das unbewußte 
Motiv jenes Rückzuges vor der Außenwelt war, der den Narziß- 
mus und die Mißachtung der Kreatur als lauteren Nihts zur Folge 
hatte. Und die auch anderwärts ausgesprochene Meinung, daß ein 
tieferer Zusammenhang zwishen Narzißmus und Homosexualität 
bestehe, würde in diesem Falle wenigstens keinen Widerspruch er- 
fahren. Die älteste Form der Beziehung zwischen zwei gleic- 


ı Zit. nah R. Kassner: Der indishe Gedanke, Inselverlag, 1913. — 
Nietzsche: »Im Grunde spiegelt sih der Mensch in den Dingen, er hält alles 
für a was ihm sein Bild zurükwirft: das Urteil ‚schön‘ ist seine Gattungs- 
eitelkeit.« 


? Jung, Jahrb. IV, p. 346. 


188 Alfr. Frh. v. Winterstein 


geschlechtlihen Individuen, die noh überdies einander oft sehr 
ähnlih sind, die Identifikation mit diesem väterlihen Sexualobjekt 
— und die beim Narzißmus vorhandene Identität mit dem Gegen- 
stand seiner Liebe: ih glaube, das spricht deutlih genug für eine 
Annäherung der zwei Phänomene. Sublimierte Homosexualität und 
geistiger Narzißmus sind bei Eckhart gewissermaßen auf einen 
Ausdruk gebradt!. 

Hinter Gott, der Einen göttlihen Natur, die sih »zu einer 
Dreiheit von Personen entfaltet, indem sie sih selbst erkennend sich 
anschaut als ein reales Objekt ihres Erkennens und sich in Liebe 
und Freude an diesem ihrem Tun immer wieder in sih zurücknimmts, 
ruht das in sich selbst verborgene Absolute, die Gottheit. Wir 
dürfen wohl sagen: der kleinere Kreis des Bewußten und seiner 
Erkenntnistätigkeit ist vom größeren Kreis des Unbewußten einge- 
schlossen. Die sittlihe Aufgabe besteht nah Eckhart darin, sic 
durh unmittelbare Anshauung mit dem Absoluten zu vereinigen 
und so die Gottheit lustvoll zu besitzen. Das heißt mit anderen 
Worten: man soll in die eigene Tiefe steigen und sich seiner infantil 
gebundenen Libido hingeben. Das Sollen drükt nur die für 
Eckhart natürlihe Richtung der rückläufigen Strömung im Seelen- 
leben aus. Aud hier liegt dasselbe Mißverständnis wie bei dem 
oben erwähnten Begriff der Ewigkeit vor: etwas, was höchstens als 
Symbol des Absoluten gelten kann, der in der Mutter wurzelnde 
Urgrund des Individuums, wird für das Absolute selbst ausgegeben. 

Vergleihen wir Mystik und Rationalismus, so sehen wir, wie 
innig beide zusammenhängen? Man könnte sagen: der Rationalis= 
mus ist eine aufgeklärte Mystik, die Mystik ein theologischer 
Rationalismus. Beim Rationalismus heißt das metaphysishe An-sich- 
sein nicht mehr Gott, bei ihm überwiegt der Erkenntniszwec&, indes 
der Mystiker vor allem die Vereinigung mit der Gottheit im Auge 
hat. Beide bedeuten einen Fortschritt gegenüber den Projektionen 
der Religion, indem sie das tiefste Geschehen in das mensclice 
Gemüt verlegen. Und von da ist der Weg nicht mehr allzuweit zu 
ihrer Interpretation als (verschobene and symbolish verkleidete) 
Libidotheorien. Mag man über jene Entgötterung der Welt aud 
klagen: aber möge man nicht vergessen, daß noch genug des Rätsel- 
haften und Schicksalsmädtigen in der eigenen Seele bleibt. 

ı Über den Mystiker hat L. Feuerbach in den Noten zum »Wesen des 
Christentums (Kröners Volksausgabe, p. 181) nachstehende treffende Worte ge- 
sagt: »Sein Kopf ist stets umnebelt von den Dämpfen, die aus der ungelöshten 
Brunst seines begehrlihen Gemüts aufsteigen.« Ferner: »Er setzt sich einen Gott, 
mit dem er in der Befriedigung seines Erkenntnistriebes unmittelbar zugleich seinen 
Gescdlectstrieb, d. h. den Trieb nach einem persönlihen Wesen befriedigt. So ist 
auh nur aus der Unzucdt eines mystischen Hermaphroditismus, aus einem wol= 
lüstigen Traume, aus einer krankhaften Metastase des Zeugungsstoffes in das 
Hirn das Monstrum der Schellingshen Natur in Gott entsprossen, denn diese 
Natur repräsentiert, wie gezeigt, nichts weiter, als die das Licht der Intelligenz 


verfinsternden Begierden des Fleisches.« 
® Vgl. auh L. Zieglers op. cit., p. 70. 


Psydoanalytishe Anmerkungen zur Geschichte der Philosophie 189 





Schon mehr als einmal war im Verlaufe dieser Arbeit vom 
Gottesbegriff die Rede. Bevor wir nun zur Besprehung der kosmo- 
gonishen Phantasien — denn das sind die philosophishen Systeme, 
die Gott an den Anfang setzen — übergehen, wollen wir einen 
Augenblick Halt mahen und die möglihen Bedeutungen des UGottes=- 
begriffes ganz flühtig betrachten. Gott ist, abgesehen davon, daß er 
eine Erhöhung des Vaters! darstellt, eine Personifikation psychischer 
Phänomene. Er kann einmal — mit einigen Einschränkungen — 
als Projektion der wunscerfüllenden, allmächtigen, allweisen endo- 
psydhishen Instanz des Unbewußten gelten, welch letztere während 
unseres sanzen Lebens das leistet, was der Vater nur dem be= 
BranTee Kind zu leisten shien. Auch der Kindern, Primitiven 
und gewissen Neurotikern eigentümlihe Glaube an die »Allmadht 
der Sedaukals (Freud) erschafft sih, wenn ihn die Wirklichkeit eines 
anderen belehrt, in Gott eine Wunscherfüllung, vielleiht auf dem Um- 
wege über den Vater, unser erstes Ideal. Wir wissen, daß das Kind 
seinem Grotte die Züge des Vaters, des zornigen und des liebenden 
(Altes und Neues Testament), leiht und sih der Erwachsene in 
Momenten der Hilfsbedürftigkeit in den Schutz dieser infantilen 
Mad begibt. 

Der Teufel, »Deus inversus», der eine Personifikation unseres 
elementaren Trieblebens (Freud) vom Standpunkt des ablehnenden 
Bewußtseins (oder auc der entgegengesetzt gerichteten, regredienten 
Strömung im Seelenleben) ist, kann, wenn er als von Gott ab- 
fallend dargestellt wird, die im Verhältnis zum Vater existierende 
Komponente des Hasses bedeuten, während Gott auch ein Symbol 
unseres Bewußtseins, unserer höchsten Sexualverdrängung, unserer 
sittlihen Persönlichkeit, kurz: unser Ideal ist. 

In der Auffassung des Verhältnisses Gottes zur Welt kann 
man zweierlei Systeme untersheiden: das Emanations- und das 
Kreationssystem?. Dem erstgenannten begegnen wir in der grie= 
chishen Philosophie zuerst bei Heraklit und dann bei den Stoikern. 
Beide fassen das Wesen Gottes als feurige, erwärmende und 
bildende Kraft auf (Urfeuer bei Heraklit, A6yos omeouarızdz bei 
den Stoikern), die alles in der Welt in ewig erneutem Kreislauf 
aus sih hervorgehen und in sih zurückströmen läßt, wobei das 
Ganze das Beharrende, sich ewig neu Erzeugende ist (Schwegler). 
Die Welt ist also eine Ausstrahlung Gottes in der Art, daß die 
mittelbare oder entferntere Emanation einen geringeren Grad von 
Vollkommenheit besitzt als ihr Prinzip, daß demnah die Gesamt- 
heit des Seienden ein absteigendes Stufenverhältnis darstellt. Die 
Emanationslehre findet ihre großartige Ausgestaltung bei den Neu- 
platonikern, später bei Scotus Eriugena und Meister Eck- 
hart, in der neuzeitlihen Philosophie kehrt sie beispielsweise bei 


' »Die Gefühlsbedeutung des Vaters ist in Gott als äußerlihe Macht 
projiziert.< Freud. 
: Thomas von Aquino hat einen Mittelweg eingeschlagen. 


19) Alfr. Frh. v. Winterstein 


Jakob Böhme und Spinoza! (dessen Auffassung sih in vielen 
Punkten eng mit der stoischen berührt) wieder. Dem Kenner der Psyho- 
analyse erscheint diese ganze Theorie, die sih auh im Wahn- 
system des geistvollen Paranoikers Schreber? findet, als eine Pro- 
jektion gewissermaßen endopsydhish wahrgenommener Libidovor- 
gänge, als eine Darstellung der Emanation der beim Ih im 
Stadium des Narzißmus® verbleibenden Triebe, die zur Objekt- 
besetzung führt, und der immer wieder zu diesem Ausgangspunkt 
erfolgenden Regression. »Im Wechsel liegt Erholungs, sagt Heraklit. 
Ein solhes Alternieren zwishen den zwei Strömungen gehört 
vielleiht zu den normalen Vorgängen in uns. Und der Unterschied 
im Rang, den beispielsweise ein Plotin zwischen dem »Unendlih- 
Einens, wo die Entgegensetzung von Subjekt und Objekt aufge- 
hoben ist, und der din Welt als der entferntesten Emanation 
macht (voös und Seele sind eingeshobene Glieder dieses kosmo-= 
logishen Prozesses), drükt auf recht bezeihnende Art die ver- 
shiedene Bewertung von eigenem Sexualsubjekt-Objekt und dem 
fremden Libidoobjekt aus. Auch das von Plotin angewendete 
Gleichnis des Lichtes, welches, ohne selbst an seinem Wesen einzu= 
büßen, in die Finsternis strahlt, deutet geradeso wie die »Gottes- 
strahlen« Schrebers auf ein Libidosymbol. Ich erinnere ferner an 
das, was ih oben über die intime Beziehung von Narzißmus und 
» Vaterimago« (Gott) gesagt habe. 

Der vom Neuplatonismus wie von aller Mystik erstrebte 
subjektive Zustand der Ekstase, wo das Subjekt »sich des Abso- 
futen innerhalb seiner selbst bemädtigt, es umarmt (l), wo das 
innere mystische Schauen? einer Berührung (dm/woıs) des Absoluten 
gleihkommt, wo das Subjekt sih vom Absoluten erleuchtet und 
erfüllt fühlt«, ist uns ebenfalls seinem Wesen nah schon bekannt 
(gesteigerte Introversion, die Vaterimago trinkt wie der Schatten in 

er griehishen Unterwelt gewissermaßen Blut und erwadht zu 
vollem Dasein). Der vermutete Zusammenhang zwischen Narziß- 
mus und infantiler, konstitutionell verstärkter Schaulust® — Alfred 
Adler würde von einer Triebvershränkung sprehen — wird durch 
die große Bedeutung, die in den Plotinishen »Enneadens dem 
»ÜdEewoeiv« eingeräumt wird, bis zu einem gewissen Grade bestätigt. 


ı Welder Unterschied freilih zwishen dem Urfeuer Heraklits und der 
abstrakten Substanz Spinozas! 

? »Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken«, Leipzig 1903, Mutze, p. 19. 

> Vgl. Freud, Psydhoanalyt. Bemerkungen über einen autobiographisch be- 
schhriebenen Fall von Paranoia, Jahrb. III, 1911, p. 54. 

* Ich erinnere hier auh an die drei Momente des dialektischen Prozesses 
bei Proklos: Beharren, Heraustreten, Zurükkehren, Movn, stoöoÖdog, EtLoToogn. 
Bi 5 Das mystische Fühlen der Gottesnähe, das sogenannte persönliche innere 

rlebnis. 

6 Die narzißtishe Lust am eigenen Gliede ist mit der Lust, die Genitalien 
des anderen zu schauen, vershränkt. — Schreber madht auf p. 16 seines oben 
zitierten Buches folgende Bemerkung: »Die Seligkeit bestand in einem Zustand 
ununterbrochenen Genießens, verbunden mit der Anschauung Gottes.s 


Psydhoanalytishe Anmerkungen zur Geschichte der Philosophie 191 





In der III. Enneade, Buch 8, antwortet die Natur jemandem auf 
die Frage: »Weswegen schaffst du?« »Weil ich eine schaulustige 
Natur bin.« Und über den Narzißmus, der unser aller Denkweise 
beherrscht, äußert sih Plotin in der V. Enneade, Buh 8, wie 
folgt: »Wir indessen, die niht gewöhnt sind oder nicht verstehen, 
in das Innere zu schauen, jagen dem Äußeren nah, ohne zu 
wissen, daß es das Innere ist, was uns bewegt, wir gleichen einem 
Menschen, der beim Anblick seines eigenen Bildes niht wüßte, wo- 
her es kommt, und ihm nadjagte.«! 

Wir sagen nihts Neues, wiederholen vielmehr nur mit 
anderen Worten schon Gehörtes, wenn wir dem Gedanken Aus- 
druk geben, daß dieses Absolute, mag es nun (mit deutlihem Hin- 
weis auf seinen Symboldarakter) Urfeuer, Gottheit, Erstes, Sub- 
stanz, Geist, Wille oder wie immer heißen, oft gegenüber der 
flüchtigen, veränderlihen Sinnenwelt die - Libido 
gegenüber ihren ewig wecselnden Besetzungen bedeuten kann. Im 
»Rigvedas ist die Welt direkt als Libidoemanation aufgefaßt. In 
Wagners »Tristan und Isoldes kommt es auf dem Höhepunkt der 
Liebesraserei zu einem Weltuntergange. Indes hier das Sexual- 
objekt alle der Außenwelt geschenkten Besetzungen an sich zieht, 
saugt während des stürmishen Stadiums der Paranoia das Ih des 
Kranken selbst diese Besetzungen ein, wodurh die Weltkatastrophe 
herbeigeführt wird. 

Das Versinken in die eigene Libidoquelle, das Verlangen, 
in die eigenen Eltern wieder einzugehen, den Weg von neuem zu 
betreten, der in die dunkelste, fernste Vergangenheit, ins Absolute 
zurückführt, drükt auh den Wunsch jener mädtigen Strömung 
in unserem Innern aus, zu einem neuen und anders beschaffenen 
Leben geboren zu werden. Wie hier kosmisches und egoistisches 
Gefühl durdheinanderspielen, läßt sich im einzelnen nicht mehr sagen. 

Im Absoluten ist der Untershied zwischen Subjekt und Ob- 
jekt ausgelösht. Dies wird von dem Individuum als lustvoll 
empfunden und ist unseres Erachtens von wesentlicher Bedeutung 
bei den ästhetishen Einfühlungsvorgängen. Vielleiht liegt darin 
eine Art Sehnsuht nah dem Zustande vor der Geburt‘. 

Absdließend mödhte ih noch die Emanationstheorie® 
J. Böhmes mit wenigen Worten berühren. Da ist vorerst seine 
Lehre von der ewigen Natur in Gott. Der anthropologishe Dualis- 
mus zwishen Materie, Unreinem, Finsternis auf der einen und 
Geist, Bewußtsein, Licht auf der anderen Seite wird in Gott, den 


! Nadı einem alten Mythus war Bacdus, als er sih in einem Spiegel be- 
trachtete, so entzückt von seiner Schönheit, daß er die Natur nach seinem Bilde 
formte. (Zit. bei ©. Kiefer, Die Enneaden des Plotin, Diederichs, 1905.) 

? Freud, Psychoanalytishe Bemerkungen über einen autobiographish be= 
schriebenen Fall von Paranoia, Jahrb. II, p. 61. 

® Vgl. Karl Joel, »Das Urerlebnise. Zit. bei Jung, Jahrb. IV, p. 316. 

* Eigentlih eine Verbindung von Emanation und Kreation. 


192 Alfr. Frh. v. Winterstein 


gemeinsamen Urgrund, als von Anfang an bestehend, verlegt — 
eine Umgehung, nicht eine Lösung des Problems von Körper und 
Geist. Hier wird der Widerstreit von Bewußtem und Unbewußtem 
unnötigerweise auf Gott übertragen, Gott ist bei Böhme nichts 
anderes wie eine Projektion seiner eigenen neurotishen Psyche, Es 
ist, als ob Böhme den Konflikt, dessen Lösung für ihn zu shwer 
war, vertrauensvoll seinem Vater übergeben hätte. Da ihm ein 
Madtspruh Gottes zum Verständnis der Schöpfung nicht genügte, 
sudhte er nah einer natürlihen Erklärung der Natur und entdeckte 
so zwei letzte Qualitäten. Weil aber die Annahme von zwei 
selbständig existierenden Urelementen mit seiner religiösen Ge- 
sinnung unvereinbar gewesen wäre, setzte er diesen Gegensatz in 
Gott selbst — er untershied ein sanftes, wohltätiges und ein 
grimmiges, verzehrendes Wesen (das vollkommenste Wesen und 
die böse Welt). Alles Feurige, Bittere, Herbe, Zusammenziehende, 
Finstere, Kalte kommt aus einer göttlihen Herbigkeit, Bitterkeit, 
Kälte und Finsternis, alles Milde, Glänzende, Erwärmende, Weide, 
Sanfte, Nacdgiebige aus einer milden, sanften, erleuchtenden Quali- 
tät in Gott!. Die Ersheinungswelt spaltet sih noch einmal in 
Gutes und Böses, Schönes und Häßlihes, Wahrheit und Irrtum. 
Wir dürfen vielleiht sagen, daß die dem Vater gegenüber herr- 
schende ambivalente? Gefühlseinstellung auf Gott projiziert und auf 
sie alle Verschiedenheit in der Qualität der Dinge zurückgeführt 
wurde. Ic erinnere an dieser Stelle auh an Empedokles, der zwei 
Kräfte als Prinzipien der Bewegung annahm: die Liebe als das Ver- 
einende und den Haß als das reale 

Im Gegensatz zu der Emanationstheorie, wo die Ersheinungs- 
welt aus dem Ding an sich emaniert (mit oder ohne Remanation), 
ist nah der Kreationsauffassung das Ding an sih von uns völlig 
wesensvershieden. Für Augustinus, den bedeutendsten Vertreter 
dieser Richtung, ist »mundus a deo ex nihilo creatus«. Über die 
Bedeutung des »nihil« ist viel gestritten worden, einige nahmen ein 
totales Nihts an, andere meinten, das »nihil« heiße soviel wie 
wüste ungeformte Materie. In diesem Falle würde es sih um die 
stärkste Enntwertung des gegenüber der Emanationstheorie immerhin 
wenigstens noch vorhandenen sexuellen Partners? handeln. 

Das anfänglihe Befremden über diese Gleichstellung von 
letzten kosmischen Potenzen und den zwei Geschlechtern verliert ein 
gutes Stück seiner Berechtigung, wenn man sih vor Augen hält, 
daß die Menschheit in ihren urtümlichen Bildern überall den Körper, 
die Materie (vgl. den etymologishen Zusammenhang mit mater) 
als das weiblihe, negative, gebärende, den Geist, das Erkennen 


ı Zit. nah L. Feuerbach, Das Wesen des Christentums, p. 58. 
Kröners Volksausgabe. 

2 Nach einem treffenden Ausdruk von E. Bleuler. 

® Bei einem Philosophen unserer Tage, ©. Weininger, ist die Gleihung 
Weib-Nichts-Materie zu neuem Leben erwacht. 


Psycdoanalytishe Anmerkungen zur Geschichte der Philosophie 193 





als das männliche, positive, zeugende Prinzip aufgefaßt hat. In der 
indishen Bhagavad Gita werden die Körper Kscetra (Gefäße, 
fruchttragender Boden, Mutterleib) genannt. Dasjenige, was (in dem- 
selben) Bewußtsein hat, heißt Kscetradshna (der Geist). Der 
höchste Weltgeist ist die erzeugende, befruchtende Kraft, die Welt- 
seele (Paramatma) in der ganzen Natur. Und in der Lehre des 
Buddhismus ist das Erkennen die formende Kraft, die aus den 
materiellen Elementen ein Wesen, das einen Namen trägt und mit 
einem Körper bekleidet ist, entstehen läßt!. Die chinesische Schrift 
besitzt für das Wort »Weibs und das Wort »Negations? das 
gleihe Zeichen. Die Beispiele ließen sih natürlih vermehren. 

Hätte — um an das Frühere wieder anzuknüpfen — das 
»nihil« hingegen die Bedeutung eines völligen Nichts, so käme bei 
der Ershaffung der Welt etwas Ähnliches wie der früher erwähnte 
Glaube an die »Allmaht der Gedanken«® in Betraht. »Und 
Gott spraht: Es werde Liht. Und es ward Liht.« Gott ist 
hier der wunscerfüllenden endopsydhishen Instanz gleichzusetzen. 

Zur Unterstützung dieser »sexualistishen« Interpretation führe 
ih folgende Sätze Jungs an: »Bei Anaxagoras handelt es sich 
darum, daß die lebendige Urpotenz des voös der toten Urpotenz 
der Materie wie durh einen Windstoß die Bewegung erteilt. Dieser 
voös, der dem späteren Begriff des Philo, dem /oyos omsouarızös 
der Gnosis und dem paulinishen wveöua sowie dem sweöua der 
nebendhristlihen Theologien shon reht ähnlih ist, hat die alte 
mythologishe Bedeutung des befruhtenden Windhaudhs, der die 
Stuten Lusitaniens und die ägyptischen Geier befruchtete.« 

Es ist im höchsten Grade bemerkenswert, daß die bei den 
Naturvölkern überaus verbreiteten Weltelternmythen, die sich indes 
auh in den Kosmogonien® der Kulturvölker finden, in den ent- 
wickelten Religions- und Philosophiesystemen zumeist den Shöpfungen 
der Welt durh Gott allein den Platz einräumen, was sich vielleicht 
dadurh erklärt, daß die Libidobesetzung der Mutter infolge von 
Inzestwiderständen schon sehr bald und in ausgiebiger Weise auf 
den Vater vershoben wurde, wodurdh dessen beinahe pathologische 
Überbesetzung begreiflih wird. Ih hege überhaupt die Vermutung, 
daß die religionsbildende Kraft vom Sohne ausgeht, Religion hat der 
Sohn, indes der Vater (nah einer Äußerung Freuds) die Gesetze 
gibt. Der Gott der Juden ist ein strenger Gesetzgeber der Un- 
mündigen, das Christentum (wohl auch der Mithraskult) die Shöpfung 


ı Oldenberg, Buddha, p. 256. 

®: Was am Weibe negiert wird, ist der Penis. Die Feststellung dieses 
Untersciedes hat für das kindlihe Denken die folgenreichste Bedeutung. 

> Vgl. auch den bergeversetzenden Glauben des Christentums! 

* Wir haben an früherer Stelle Gelegenheit gehabt, auf die Identifikation 
von Sprehen und Zeugen hinzuweisen. 

5 Unter den Gnostikern ist es namentlih Bardesanes, der dem »Vater 
‚des Lebens« eine weiblihe Gottheit als empfangende Potenz bei der Weltbildung 
zur Seite gab. 


Imago II/2 13 


194 Alfr. Frh. v. Winterstein 


des mündig gewordenen liebenden Sohnes. Das Alte Testament 
kennt nur den Begriff des Gerehten, niht den des Heiligen wie 
die Jesus-Religion (Kassner). Der Heilige ist ein Mensc, der, um nicht 
eine Person lieben zu müssen, alle, ja alles liebt! und so auf eine 
arhaische Stufe regrediert, wo die Sonne sein Bruder und der Mond 
seine Schwester ist (hl. Franciscus von Ässisi, ähnlih mande 
Geisteskranken). Der Heilige hat ein exquisit infantiles Weltbild: es 
ist alles eine Familie, die Eltern sorgen shon für einen?. 

Einen Hinweis auf die der Verdrängung verfallene Bedeutung 
der Mutter können wir — wie oben festgestellt wurde — in der 
völlig zurücktretenden Rolle entdecken, die in einem System die 
Materie, aus der Gott die Welt schafft, gegenüber seiner Allmadt 
spielt. Es besteht ein tieferer Konnex zwischen der Tendenz zur 
Entwertung des Weibes, die aus der Sexualablehnung® resultiert, 
und dem neurotish verstärkten Glauben an den besonderen Reali=- 
tätsgrad des Geistigen. Die zurücgezogene Libido hat eine Über- 
besetzung des Denkens zur Folge. Aber »naturam si expellas furca, 
tamen usque recurret«. Die blutlosesten Begriffsverhältnisse werden 
nun einmal nach dem Vorbild des Sinnlihen aufgefaßt. 

Allgemeinste Seinskategorien sollen die einzelnen Erscheinungen 
»erzeugen«, ihre Gesetze sollen sih Befolgung »erzwingen«*. Nod 
die Hegelsche dialektishe Methode, die die der Position zur Seite 
gestellte Negation zum Vehikel des dialektischen Fortschritts und der 
realen Entwicklung überhaupt madt, zeigt die Spuren dieser irdi- 
shen Herkunft. Selbst die höchsten intellektuellen Operationen sind 
also oft an die Vorbildlihkeit des Sexuellen gebunden. 

Die Annahme, daß die Erscheinungen durh Gott allein erzeugt 
werden, hat ihre Heimstätte in der Religion und geht wohl auf die 
früher erwähnte Abkehr von der Mutterlibido und entsprechend ver- 
stärkte Besetzung der Vaterimago zurük. Der Glaube an die All- 
macht der Gedanken fließt ununtersheidbar in den Glauben an die 
Allmaht des Vaters über. In der dhristlihen Religion hat Gott 
seinem Sohn gegenüber direkt androgynen Charakter, indem er mit 
einer Gebärmutter versehen wird (Mißlungene Verdrängung des 
anderen Elternteils). Bei Petavius, de Trinitate lib. V. c. 7, $ 4 
heißt es: »Ebenso sagt die Schrift, daß der Sohn aus der Gebär- 
mutter vom Vater erzeugt sei, denn obgleich in Gott keine Gebär- 
mutter, überhaupt nichts Körperliches ist, so ist doh in ihm wahre 
Erzeugung, wahre Geburt, die eben mit dem Worte: Gebärmutter, 
angezeigt wird.« 

ı Vgl. die Worte: »Da sie (die Welt) ein Korn Staubes ist, nimm allen 
Staub an dein Herz! Da du einen Menschen nicht lieben darfst, liebe alle 
Menschen !« 

2 Wie ganz anders empfand die Antike mit ihrer Distanz zum Objekt, 
ihrem kriegerischen Hasse gegen die Feinde. 

3 Ihre Gründe sind inzestuöser Natur. 

EN 4 Me G. Simmel, Vom Wesen der Kultur, Österr. Rundshau, XV. Bd, 
ı P- , 





Psychoanalytishe Anmerkungen zur Geschichte der Philosophie 195 





Es ist nicht völlig ausgeschlossen, daß die Fiktion einer leib- 
lihen Abstammung vom Vater die Überkompensation eines infantilen, 
namentlih aber von Zwangskranken gehegten Zweifels, ob man der 
Sohn seines Vaters sei,! bedeutet. Nach der Anschauung der maz- 
däishen Sekte Gajomarthija entstand Ahriman durch den Zweifel 
des Gottes Jazdans?. Man darf aber anderseits nicht vergessen, 
daß der Glaube an das Hervorgehen des Kindes aus dem Vater 
ein der primitiven Denkweise nicht fremder ist: er findet sich 
so gut bei Stämmen Südostaustraliens wie in den »Eumeniden« des 
Äschylus, in der Bibel u. a. a. ©. 

Daß Gott gerade einen Sohn hat, findet möglicherweise eine 
(freilih nur partielle) Erklärung in der bekannten kindlihen und 
ee Auffassung, daß die Mutter Töchter macht, der Vater 

öhne. 

Im Vorübergehen sei nun bloß mit einigen Worten dreier 
Lehren Erwähnung getan, die im Laufe der Zeit immer wieder die 
Gedanken der Philosophen beschäftigt haben: ih meine den Glauben 
an eine Präexistenz, an die Seelenwanderung und an »die ewige 
Wiederkehr des Gleihen«. Die erstgenannte Überzeugung hat wohl 
ihre individuelle Wurzel in dem bekannten Gefühl des »deja vus, 
das nah Freud? der Erinnerung an eine unbewußte Phantasie ent- 
sprehen soll. Die Präexistenz ist höchstens eine soldhe in bezug 
auf die Existenz des Erwachsenen, der infolge einer großen Lücke 
in seinem Gedäcdtnis seiner Kindheit ganz fremd geworden ist und 
sie als ein früheres, anderes Dasein empfindet. Charakteristisch hie- 
für ist der Ausspruch von Liebenden, die ihr Objekt unbewußt nach 
dem Vorbild der Mutter gewählt haben: Mir ist, als hätte ich sie 
schon vor Jahrtausenden gekannt, als hätten wir bereits auf einem 
anderen Stern zusammen gelebt, und so ähnlich. 

Die mit dem Glauben an eine Präexistenz verwandte Auf- 
fassung, daß die noch nicht geläuterten Seelen nah dem Tode einer 
Wanderung durh neue Menschen-, Tier- oder Pflanzenleiber unter- 
worfen sind, entspringt in erster Linie wohl ethisch=religiösen Motiven, 
vor allem dem Glauben an eine sittlihe Weltordnung. Aud das 
Bewußtsein, daß unser innerstes Wesen mit seinen Begehrungen und 
Fähigkeiten in einem individuellen Dasein nie und nimmer erschöpft 
werden könne, mag bei der Entstehung dieses allerdings über- 
wiegend pessimistish gefärbten Glaubens mitgewirkt haben. Eine 
Bestätigung shien dem Anhänger der Seelenwanderungslehre aus 
der Außenwelt entgegenzukommen: er konnte in einer Zeit, wo die 


! Lichtenberg, »Ob der Mond bewohnt ist, weiß der Astronom ungerähr 
mit der Zuverlässigkeit, mit der er weiß, wer sein Vater war, aber nicht mit der, 
woher er weiß, wer seine Mutter gewesen ist«. (Zit. bei Freud, Bemerkungen 
über einen Fall von Zwangsneurose, Jahrb. I., 1909. 

® Zit. bei J. Nelken, Analytishe Beobahtungen über Phantasien eines 
Schizophrenen, Jahrb. IV, p. 536. 

3 Freud, Zur Psychopathologie des Alltagslebens. Berlin 1910, p. 139. 

* »Das Geheimnis der Reminiszenzs im Sinne Schillers. 


13* 


196 Alfr. Frh. v. Winterstein 


ihn umgebenden Objekte noch mit Libido besetzt und zum Teil 
schon im Begriffe waren, Libidosymbole zu werden, oder auch später, 
wenn die Libido, von ihrem ursprünglihen Ziele aus irgendwelchen 
Gründen abgelenkt, sih an die Gegenstände der Natur heftete, in 
dem Blicke eines Hundes so gut wie im Wehen einer Pflanze eine 
ihm ähnliche Seele vermuten, die wie zur Strafe — denn der Mensch 
hatte sih schon als Krone der Schöpfung empfinden gelernt — in 
diese Gestalten gebannt zu sein schien. Nur seine untermensdliche 
Natur, seine bösen Triebe und Neigungen, personifizierte er nun in 
gewissen Tieren. Erhielt ein Tier den Charakter eines Libidosymbols, 
so setzte das einen Dualismus im Menschen, einen Widerstreit 
zwishen Bewußtem und Unbewußtem voraus. Auf diesem Boden 
erst waren ethisch=religiöse Wertungen entstanden, die, vom Stand- 
punkt des ablehnenden Bewußtseins aus vollzogen, die Existenz der 
ne in einem soldhen tierishen Symbol als Erniedrigung auffassen 
mußten. 

Die Seelen wandern also in dem Maße, als die Libido wandert. 
Ein auffallender Hinweis auf ihre Gleichstellung findet sich in der 
Schrebershen Biographie!. Auf p. 333 lesen wir: »Die Seelen 
gleihen kleinen Kindern, die auf ihre Nashware — die Seelen- 
wollust — nicht einen Augenblick verzichten können oder wollen.« 

Die dritte der zu besprehenden Theorien, die Lehre von der 
ewigen Wiederkehr des Gleichen, ist uralt?, tritt bei den Orphikern, 
bei Pythagoras, Heraklit, Anaximander und Empedokles, 
dann bei Plato und den Stoikern auf und wir finden sie bei 
Nietzsche wieder (verwandte Anschauungen sprahen auh Herder 
und Goethe aus). So wie Nietzsche die Lehre von der »ewigen 
Wiederkunfts in der »fröhlihen Wissenschafts? formuliert: »Jeder 
Schmerz und jede Lust und jeder Gedanke und Seufzer und alles 
unsäglih Kleine und Große dieses Lebens muß dir wiederkommen 
und alles in derselben Reihe und Folge — und ebenso diese Spinne 
und dieses Mondliht zwishen den Bäumen und ebenso dieser 
Augenblik und ich selber. Die ewige Sanduhr des Daseins wird 
immer umgedreht — und du mit ihr, Stäubchen vom Staube!« — 
in dieser Übertreibung und Übershätzung des Augenblicks erscheint 
sie jeder realen Berechtigung entbehrend. Sie hat ihre Quelle in der 
Beobachtung äußerer und innerer Periodizität; auch das bekannte un- 
heimlihe Gefühl, genau dieselbe Situation schon einmal erlebt zu 
haben* — das oben zur flüchtigen Erörterung gelangte — mag 


ı Schreber erwähnt übrigens auch flüchtig die Seelenwanderung (Il. c., p. 15): 
»Die betreffenden Menschenseelen wurden dabei (nämlich bei der Seelenwanderung) 
auf anderen Weltkörpern, vielleicht mit einer dunklen Erinnerung an ihre frühere 
Existenz, zu einem neuen menschlichen Leben gerufen, äußerlih vermutlich im 
Wege der Geburt, wie es sonst bei Menschen der Fall ist«. 

®2 Assyrish=-babylonishen Ursprungs. 

° Ähnlih dann auh im »Zarathustra«. 

* »L’essentiel du ‚deja vu’ est beaucoup plutöt la negation du present que 
laffırmation du passe.« P. Janet, Les nevroses, Paris, Alcan, 


Psydhoanalytishe Anmerkungen zur Geschichte der Philosophie 197 





seinen Anteil an der Entstehung dieses Glaubens haben. Es ist 
dann ferner der periodische, für alle Entwicklung im Menschen wesent=- 
lihe Wechsel in der progredienten und regredienten Strömung unseres 
Seelenlebens, der sih der endopsyhishen Wahrnehmung bemerkbar 
macht und bei Heraklit eine durdhsichtige symbolishe Darstellung 
erfahren hat: im Weltgeschehen existieren zwei ewig alternierende 
Prozesse, der Weg des Urfeuers nah unten (6öös xarow), der Prozeß 
der Erstarrung, durch den die Einzeldinge (Natur) entstehen, — und 
das Übergehen ins Feuer, der Weg nach oben (dos dvo), Ganz 
ähnlich lautet die stoishe Lehre von der periodishen »Ermiowoıs« 
und »walıyyeveoia« der Welt, immer entstehen dieselben Menschen, 


die das gleihe Geschick erfahren. | 


Ih erinnere hier auh an die Goetheshen Verse aus der 
»Legende«: »Immer wird es wiederkehren, immer steigen, immer sinken, 
sich verdüstern, sich verklären, so hat Brahma dies gewollt.« Im 
paranoishen System Schrebers findet gleihfalls diese Lehre »von 
dem ewigen Kreislauf der Dinge, der der Weltordnung zugrunde 
liegts, Erwähnung. Auf p. 19 seiner »Denkwürdigkeiten usw.« lesen 
wir: »Indem Gott etwas schafft, entäußert er sich in gewissem Sinn 
eines Teiles seiner selbst oder gibt einem Teil seiner Nerven eine 
veränderte Gestalt. Der scheinbar hiedurch entstehende Verlust wird 
aber wiederum ersetzt, wenn nad Jahrhunderten und Jahrtausenden 
die selig gewordenen Nerven verstorbener Menschen, denen während 
ihres Erdenlebens die übrigen erschaffenen Dinge zur körperlihen 
Erhaltung gedient haben, als ‚Vorhöfe des Himmels’! ihm wieder 
zuwadsen.« Hier ist — wie auch aus anderen Stellen des Buches 
zur Genüge hervorgeht — das Aussenden und Wiedereinziehen der 
Libidobesetzungen in dingliher Weise zur Darstellung gebraht. In 
endopsydhish wahrgenommenen Libidovorgängen können wir also 
die gemeinsame Grundlage der Emanations- (beziehungsweise Re= 
manations=-) Systeme und bis zu einem gewissen Grad auh der 
Lehre von der ewigen Wiederkehr des Gleihen erbliken. Ewigkeit, 
Zeitlosigkeit ist eine dem Unbewußten wesentlihe Bestimmung. Eine 
psychoanalytische Untersuhung der buddhistishen und vorbuddhisti= 
schen Spekulation würde wahrsceinlih eine Beziehung zwischen ihrer 
Verinnerlihungstendenz und der gering geschätzten Rolle, die der 
Zeitbegriff? in ihr spielt, aufdecken. 

Im folgenden gehen wir zu einem anderen Kapitel über: wir 
wollen nämlich die typischen Begriffe der Welt in aller Kürze vom 
Standpunkt der Psychoanalyse aus mustern, um festzustellen, welcher 
Weltbegriff einer solchen Prüfung standhält und sich nicht als durch 
unbewußte Motive bestimmt erweist. Die Aufgabe der Psychoana- 


‘ Der Ausdruk »Vorhöfe des Himmels« kommt auch bei Eckhart vor. 


® Das scheint auch mit Eigentümlichkeiten des indischen Volksgeistes zu=- 


sammenzuhängen, »der für das Wann der Dinge nie ein rechtes Organ gehabt 
hat« (Oldenberg). 


198 Alfr. Frh. v. Winterstein 


Iyse ist also eine rein negative. Was uns als wesentlich neurotische, 
infantile oder primitive Betrahtungsweise der Wirklichkeit erscheint, 
scheidet aus der Gruppe der Weltanshauungen, die auf objektiven 
Wert Anspruch erheben, aus, ohne daß die Psychoanalyse es als 
ihre Aufgabe eradhten dürfte, innerhalb dieses Kreises selbst end- 
giltige Entscheidungen zu treffen. Als rein psychologisch orientierte 
Wissenshaft hat sie den Erkenntnisinhalt als psydhischen Tatbestand 
hinzunehmen und zu versuchen, auf seine individuellen und generellen 
Entstehungsbedingungen zurückzugehen, eine erkenntnistheoretische 
Würdigung liegt ihr fern, sie kann nicht die Giltigkeit von Normen 
begründen, denn aus der eindringendsten Kenntnis dessen, was ist 
und gescieht, leitet sih nicht mit innerer Notwendigkeit ab, was 
sein und geschehen soll. Wer sich für eine kritische a 
die den Erkenntnisinhalt seiner Geltung, seiner Bedeutung und Trag- 
weite nach nimmt, interessiert, möge die vorzüglihe Arbeit eines 
Wiener Philosophen: Weltbegriff und Erkenntnisbegriff, von Dr. Viktor 
Kraft! einsehen. 

Gehen wir vorerst von der fundamentalen Einteilung der Welt- 
begriffe in monistishe und dualistishe? (eventuell pluralistische) aus, 
so werden wir auf der einen Seite die materialistishe Auffassung 
den Weltbegriff der psychophysischen Identität, den idealistishen und 
positivistishen Weltbegriff, auf der anderen Seite den realistish- 
dualistishen Weltbegriff vorfinden. Ih füge hinzu, daß sich diese 
einzelnen Typen trotz des befremdenden, ja verdrehten Eindrucs, 
den dieser oder jener auf den sogenannten gesunden Menschenver- 
stand machen mag, schließlih nur als konsequente Fortbildungen der 
naiven, an inneren Widersprühen reihen Weltansicht, eines »vagen 
Dualismus« (Jerusalem), herausstellen. 

Der Materialismus, die bequemste und plumpste Art, die Ver- 
schiedenheit von Seelishem und Körperlihem aufzuheben, ist ja 
seinem Wesen nah bekannt. Das Seelishe mit einem Gehirnvorgang 
einfach zu identifizieren — wie es der primitive Materialismus tut —, 
ist offensichtlich falsch, dabei ist er aber doch eine der verbreitetsten 
Weltansihten. Es ist schon viel weniger grob, wenn man das Seeli- 
sche als Resultat körperliher Vorgänge auffaßt oder jenes an diese 
unlösbar geknüpft denkt. Hier ist bereits ein Dualismus, obzwar nodh 
nicht auf dem Boden der Gleichberehtigung, angedeutet. 

Einer gewissen Beliebtheit erfreut sich in philosophischen 


! Joh. Ambros Barth, Leipzig 1912. — Ich halte mich im nachstehenden an 
sein Schema. 
| ? Diese Gliederung hat mit der metaphysishen Frage nach einem Jenseits, 
heiße es nun wahres Sein, Ideenwelt, Ding an sich oder Noumenon, unmittelbar 
nichts zu schaffen. Hier handelt es sih bloß um das psychophysische Problem: Zwei 
Wesenheiten oder eine? indes die Annahme eines Jenseits zumeist die Tendenz 
zur Entwertung der gegebenen körperlich-geistigen Welt voraussetzt. Es gibt frei- 
lfih auch einen metaphysishen Idealismus, der beide Probleme zusammen erledigt. 
In Wirklichkeit fließen sie leicht ineinander über. 


Psychoanalytishe Anmerkungen zur Geschichte der Philosophie 199 


Kreisen der Begriff der psyhophysischen Identität. Entweder werden 
Physishes und Psydisches als Erscheinungsweisen desselben unbe= 
kannten Wesens oder als eine zweifahe Beschaffenheit des einen 
Absoluten, als zwei Arten von Eigenschaften, von Ȁttributens, 
von »objektiven Realitätsformen« angesehen, Kraft hat mit Redt 
darauf hingewiesen, daß die erste Auffassung ein Subjekt als 
Träger eines Bewußtseins voraussetzt, indem sih das X »das eine 
Mal von innen, das andere Mal von außen, das eine Mal direkt 
in der Selbstwahrnehmung, das andere Mal indirekt, d. h. durdh 
die Sinnesorgane«! darstellt. Wir stünden also wieder vor einer 
Dualität von Sein und Bewußtsein, vor einem Phänomenalismus. 
In der zweiten Fassung liegt ein wirklicher, allerdings metaphysischer 
Monismus vor. Diese Ineinsetzung jenseits der Erfahrung hat die 
deutlih empfundene Verschiedenheit von Geist und Materie zur 
Bedingung und ist ein bloß spekulativer Gedanke. 

Fin Monismus, wenn auch zumeist empirisher Art, ist die 
Lehre des Positivismus und Idealismus. Vorab eine kurze Be- 
merkung über die beiden Termini: sie sind keineswegs etwas Ein- 
deutiges. Man spriht von einem subjektiven, objektiven, absoluten, 
transzendentalen, metaphysiscen, erkenntniskritishen, psychologischen, 
ja »magishen« Idealismus, man untersheidet den Positivismus 
Auguste Comtes, von dem eines J. St. Mill, Laas und Avena- 
rius. Beshränken wir uns auf diesen letzteren. Er erhebt das »Be- 
wußtsein zum übergeordneten Begriff, der sowohl Körperlihes als 
Seelisches in völlig neutrale Erlebnisphänomene auflöst. Beide be- 
deuten nur eine bestimmte Zusammenhangsbeziehung innerhalb des 
Bewußten «Eingeordnetheit im Natur-, im Ich-Zusammenhang). 
Derselbe Erkenntnisinhalt kann je nach der Eingliederung, je nad 
der Betrahtungsweise als seelisch oder körperlih genommen werden«?, 
Diese Trennung gegenüber dem Idealismus, de Bewußtsein und 
Seelisches gleichsetzt, ist jedoch im letzten Grund nicht haltbar; das 
Bewußte ist ja seiner Realitätsart nach nichts anderes wie das 
Seelishe und damit ordnen sich Positivismus und Idealismus der 
gleihen psychoanalytischen Betrachtung unter. 

Jeder Idealismus — der nah Krafts überzeugender Darlegung 
in seiner konsequenten Weiterbildung bewußtseinsimmanenter Sub= 
jektivismus werden muß — geht von einer unbewußten Tendenz zur 
Entwertung der materiellen Außenwelt aus. In der Gestalt des 
metaphysishen Idealismus beispielsweise läßt er neben der immateri- 
ellen Welt der Jdeen die niedrigere Welt der Körper und der 
Wahrnehmung bestehen, der Solipsist hingegen anerkennt überhaupt 
nur seinen individuellen Bewußtseinsinhalt: das Binzige, was 
existiert, sind seine Vorstellungen. Als eine Fortsetzung des vor= 
platonishen metaphysishen Gegensatzes von Erscheinung und 


! Jodl, Lehrbuch der Psychologie, I. Bd., p. 91. 
?: Kraft, b €, p. 122 


200 Alfr. Frh. v. Winterstein 


wahrem Sein erweist sih der transzendentale Idealismus oder 
Phänomenalismus, der uns bloß eine Erkenntnis der Phänomena, 
aber nicht der erfahrungsjenseitigen Noumena einräumt und in sich 
nun auch den Gegensatz! von Seeliih-Bowaßtem und Körperlichem 
einschließt. Auch diese Kantishe Lehre leitet, energish zu Ende 
gedacht, zum subjektiven Idealismus über. Der magische Idealismus 
eines Novalis — ohne nennenswerte visseischa Bedeutung 
— fußt auf dem Glauben an die »Gedankenallmahts: die Körper- 
welt sol[ durh den Geist willkürlih beeinflußt werden, höchstes 
Ziel ist die faktishe Aufhebung des Lebens durh den Willen. 
Aud andere Gestaltungen des Idealismus: die Monadenlehre 
Leibniz’, die Theorien Berkeleys, der subjektive Idealismus 
Fichtes, der objektive Schellings, der absolute Hegels bieten 
der erkenntniskritishen Betrahtung ebensoviele verschiedene Prob- 
lemstellungen, für den Psychoanalytiker vershwimmen diese Uhnter- 
shiede gegenüber der ähnlihen psychischen Ausgangssituation, auf 
deren Beschreibung es mir hier ankommt. Es handelt sih nämlich 
in allen Fällen um das Verhältnis zur äußeren Realität, deren ob= 
jektiver Charakter vom Idealismus, wenn nicht aufgehoben, so doch 
mindestens graduell beeinträchtigt wird. Das Geistige, das von der 
naiven Weltansiht des Erwachsenen? überhaupt nicht als mit einem 
spezifishen Wirklihkeitsgrad versehen empfunden wird, erhält — 
wahrsceinlih infolge der von der Außenwelt zurücgezogenen 
Triebbesetzungen — ein ungewöhnliches, erhöhtes Realitätsgefühl. 
Ih habe den Ausdruck Triebbesetzungen gewählt, da ih mir vor- 
stelle, daß das Interesse, das wir der Außenwelt entgegenbringen, 
niht nur aus libidinösen, zumindest nicht aus »rezentsexuellen« ? 
Quellen allein gespeist wird. Dabei ist folgender Unterschied zu 
beachten. Die Besetzungen, die von den Ichtrieben, namentlih vom 
Nahrunsgstrieb, ausgehen, sind infolge der besseren Befriedigung, die 
diesen Trieben gewöhnlih im Gegensatz zum Sexualtrieb gewähr- 
leistet ist, oft von geringer Intensität, ja, hier die Störungen des 
Kontaktes mit der Außenwelt viel seltener, da beispielsweise beim 
gene eine halluzinatorishe Besetzung des Erinnerungs- 
bildess des Nahrungsobjektes praktish wertlos ist, indes beim 
Sexualtrieb die Besetzungen vor allem infolge der stärkeren Berük- 
sihtigung des Individuellen bei der Objektwahl und der größeren 


! Der Dualismus von Körper und Seele hat seine Vorbereitung bereits in 
der späteren Stoa und dem Neupythagoräismus, seine Vollendung bei Augustin 
gefunden. 

?2 Beim Primitiven und beim Kinde ist das Denken noch in reihem Maße 
sexualisiert;, aus dieser Überbesetzung folgt der Glaube an die Allmadht der 
Gedanken (vgl. Freud, Über Animismus, Magie und Allmadht der Gedanken, 
»Imagos, II, 1). 

® S. Jung, Wandlungen und Symbole der Libido, Jahrb. IV, p. 171ff;, an 
dieser Stelle wird einem genetischen Begriff der Libido das Wort geredet, »der 
das Rezentsexuale um einen beliebig großen Betrag an desexualisierter Urlibido 
erweitert«. 


Psydhoanalytishe Anmerkungen zur Geschichte der Philosophie 201 





Schwierigkeit der Bedürfnisstillung ihrer Intensität nach erhöht sind, 
Störungen leicht eintreten und jederzeit der Rükzug auf sich selbst, 
die Introversion und Wiederbelebung der infantilen Imagines durdh= 
führbar ist. Mit Freud wird man die Möglichkeit von Rük- 
wirkungen der Libidostörungen auf die Ichbesetzungen ebensogut 
zulassen dürfen wie die Umkehrung davon, die sekundäre oder 
induzierte Störung der Libidovorgänge durh abnorme Ver- 
änderungen im Ih. Da diese aber ziemlich selten sind, anderseits 
die Ichbesetzungen der Außenwelt auh im Falle einer Libido- 
störung noch aufrechterhalten werden, kann man faktish, die ge- 
störte Relation zur Umgebung auf den Ausfall des Libidointeresses 
allein zurückführen. Die endopsyhishe Wahrnehmung einer solhen 
Affektablösung (Differenzierung) kommt nun in dem Gefühl des 
Fremden!, Traumartigen zum Ausdruck. Diese Affektablösung kann 
nur eine gewünschte, eine vollkommene oder teilweise gelungene 
sein. Den möglihen Zusammenhang einer solhen psyaischen 
Konstellation mit dem »idealistishens Standpunkt des Philosophen 
ersieht man vielleiht aus einer (natürlih einseitigen) Bemerkung 
Schopenhauers: er bezeichnet nämlih geradezu die Gabe, daß 
einem zu Zeiten die Menschen und alle Dinge als bloße Phantome 
oder Traumbilder vorkommen, als das Kennzeichen philosophischer 
Begabung?. Nun ist das sicherlih nicht die einzige Bedingung, um 
ein idealistisher Philosoph zu werden. Wir werden über einige 
weitere, wahrscheinlich notwendigen Voraussetzungen im zweiten Teil 
unserer Ärbeit handeln. 

Ziehen wir die »Denkwürdigkeiten« Schrebers zu Rate, jenes 
geistvollen Paranoikers, der ein in sich geschlossenes theologisch- 
philosophishes System errichtete, so erfahren wir daraus, daß sein 
Verkehr mit übersinnlihen Kräften — von denen er sich sehr be= 
stimmte Vorstellungen maht — in dem Augenblick beginnt, wo 
die Libidoablösung von der Realität vollzogen wurde. Auc das 
dadurch bedingte Gefühl des Fremden fehlt hier nicht:® »In der 
Rihtung des Barreike Bahnhofs sah ich über die Mauern der 
Anstalt hinweg nur einen schmalen Streifen Landes, der mir einen 
durchaus fremdartigen, von der eigentlihen Beschaffenheit der mir 
wohlbekannten Gegend völlig abweichenden Eindruck machte, man 
sprah zuweilen von einer ‚heiligen Landschaft‘.« Es klingt fast wie 
eine innere Wahrnehmung der Hand in Hand mit der Ablösung 


! Stekel, Die Sprahe des Traumes, Bergmann, 1911, p. 437. Ferner: 
Löwenfeld, Über traumartige und verwandte Zustände, Zentralbl. f. Nerven- 
heilk., 20. Bd., 1909, — Goethe: »Trocknet nicht, trocknet nicht, Tränen der 
ewigen Liebe, Ad, nur dem halbgetrockneten Auge wie öde, wie tot die Welt 
ihm erscheint !« 

2 Siehe auh C. Ph, Moritz, Anton Reiser, Reklam, p. 96: Beobachtung 
»eines unserer größten jetzt lebenden Philosophen hinsichtlih der Verwechslung 
von Traum und Waden.« 


50 ud 


202 Alfr. Frh. v. Winterstein 


ehenden Introversion! der Libido, wenn Schreber sih an zwei 
tellen seines Buches? folgendermaßen äußert: »Ein anderes Mal 
durchquerte ih die Erde vom Ladogasee bis Brasilien und baute 
dort in einem scloßartigen Gebäude in Gemeinschaft mit einem 
Wärter eine Mauer zum Scutz der Gottesreihe gegen eine sic 
heranwälzende gelblihe Meeresflut — ich bezog es auf die Gefahr 
syphilitisher Verseuhung.« Und die zweite Vision lautet: Ich habe 
ferner Erinnerungen, nah denen ich eine Zeitlang in einem Schlosse 
an irgendeinem Meere gewesen bin, das in der Folge wegen drohender 
Überflutung verlassen werden mußte und aus ia ih dann nadı 
langer, langer Zeit in die Flehsigshe Anstalt zurückgekehrt bin, in 
der ih mich auf einmal in den von früher bekannten Verhältnissen 
wiederfand.« 

Es ist nicht ausgeschlossen, daß das in allen möglihen Mytho- 
logien und Kulten vorkommende uralte Motiv der Sintflut mit der 
Rettung eines einzigen Menschen neben anderen Determinanten auch 
auf die endopsyhishe Erkenntnis einer zum Stadium des Narzißmus 
regredierenden Strömung (wir gebrauhen noch immer das Bild!) der 
Libido zurückgeht. Wir werden also Schreber nicht widersprechen, 
wenn er findet, »daß in seinen Visonen Methode lage. Und in 
der Sintflutsage selbst: der eine tugendhafte Mensch gegenüber den 
vielen Sündern — diese Fiktion verträgt sih sehr gut mit der 
narzißtishen Selbstübershätzung, die sih bei Schreber in dem 
a an eine unerhörte »Änziehungskraft auf die Gottesnerven« 
audert. 

Wenden wir uns wieder zu unserem eigentlihen Thema 
zurük. Das Gefühl des Fremden, das beispielsweise Schreber in 
den Menschen »flühtig hingemahte Männer« erblicken ließ, bedeutet 
nicht viel anderes wie jener Schopenhauershe Eindruk von den 
Menschen als bloßen Phantomen oder Traumbildern. 

Dieses Ineinanderfließen von Traum und Wirklichkeit scheint 
für die idealistishen Philosophen gewissermaßen von heuristischer 
Bedeutung für ihre Weltanshauung zu sein. Der Denker, der zu=- 
erst in der neueren Philosophie die Frage aufgeworfen hat: Viel- 
leiht ist das Leben ein Traum? — Descartes schreibt in einem 
Brief? an seinen Freund Balzac vom Jahre 1631: »Ich schlafe hier 
jede Nacht zehn Stunden, und nachdem der Traumgott meinen aller 
Sorge ledigen Geist lange durch verzauberte Wälder, Gärten und 
Paläste geführt hat, in denen ih alle Freuden genieße, die die 
Märcden geschildert haben, vermengen sich allmählich beim Erwachen 
die Träume des Tages mit denen ieh Nadt.« In den »Meditationes 


! Jung erklärt die Sintflut als Introversionssymbol. — Schon in der Ilias 
(XIV. Ges.) heißt es von Zeus, daß die Liebe seinen Sinn »rings umflutend 
bewältigt«. 

21.0: 974573. 


® Rene Descartes Epistolae, Frankfurt 1692. Epistola CI ad Dominum 
Balzacium (Officii ergo). 


Psychoanalytishe Anmerkungen zur Geschichte der Philosophie 203 


de prima philosophias stellt er eingangs die Behauptung auf, es 
lasse sih an allem zweifeln! nur niht daran, daß wir zweifeln?, 
also da das Zweifeln ein Denken ist, niht daran, daß wir denken. 
Der von ihm gesuchte archimedishe Punkt, der völlig gewisse und 
unzweifelhafte Sa ist dann für ihn das berühmte: Cogito ergo 
sum, ih denke und in diesem Denken besteht eben mein inneres 
Sein (Identität, niht Folgerung). Das Denken ist die unmittelbar 
gewisse Tätigkeit in uns. Aber, fragt Descartes weiter, bin ich 
dessen auh wirklih sicher, könnte ich niht von einem Dämon trotz 
der klaren und bestimmten Perzeption des Behaupteten getäuscht 
worden sein? Er geht nun zur Uhntersuhung des Daseins Gottes 
über und vermag im weiteren Verfolg nur durh Appellation an 
die Wahrhaftigkeit Gottes und seine Unfähigkeit zur Lüge die 
Realität der empirishen Welt zu beweisen. 

Wer jemals Einblick in die Gedankengänge und Eigentüm- 
lihkeiten eines Zwangsneurotikers gewonnen hat, dem muß die 
Ähnlichkeit mit den Descartesshen Erwägungen und Zweifeln 
eine auffällige dünken. Die Isolierung von der äußeren Wirklichkeit, 
die Übershätzung der Denkrealität, der Zweifel und vielleicht auc die 
Rolle des Vaters, beziehungsweise Gottes — hiemit sind die haupt- 
sächlihsten Übereinstimmungen aufgezählt. Ih füge hinzu, daß der 
Vater im Leben Descartes von großem Einfluß gewesen ist. Wenn 
es wahr ist, daß das Verhältnis zum Vater von vorbildliher Be- 
deutung für das religiöse Verhalten eines Menschen ist, so dürfen 
wir uns nicht die den aufgeklärten Philosophen sein Leben 
lang in einem respektvollen Verhältnis zur Kirche stehen zu sehen. 
Für seine Beziehung zu Gott findet Descartes folgende shwär- 
merishe Worte®: »Die Überzeugung von dem warmen und innigen 
Anteil, den das allerhödste Wesen an unserem Geschick nimmt, 
wird uns nicht nur mit Dankbarkeit ihm gegenüber erfüllen, sie 
wird auh das Gefühl einer außerordentlihen unsagbar großen 
Liebe zu ihm in uns wacrufen, ein Gefühl, das so mächtig zum 
Ausdruk gelangen kann, daß ihm sogar nichts von der sinnlichen 
Lebhaftigkeit und Glut, mit der die Liebe zu einem irdishen 
Geshöpf verknüpft ist, zu fehlen braucht.« Die sinnlihe Liebe zu 
Frauen scheint indes im Leben des Philosophen im allgemeinen 
keine allzugroße Rolle gespielt zu haben. »Les enchantemens de 
voluptez«, berichtet sein erster Biograph Baillet*, »ne purent agir 


! Es gebe aud kein zuverlässiges Kriterium, um zu entscheiden, ob wir in 
diesem Augenblick träumen oder wachen. 

® Ganz ähnlih shon Augustin: »Indem ich zweifle, weiß ich, daß ich der 
Zweifelnde bin«, und so erzeugt gerade der Zweifel die Überzeugung von der 
Realität des bewußten Wesens. An einer anderen Stelle: »Tu, qui vis te nosse, 
scis esse te? Scio. Unde scis? Nescio. Simplicem te scis an multiplicem? Nescio. 
Moveri te scis? Nescio. Cogitare te scis? Scio«. — Verwandt ist der Ausgangs=- 
punkt des Philosophierens bei Occam und Campanella. 

> Akademieausgabe, IV. Bd., p. 608 und 609. 

* A. Baillet, La vie de Mr. des Cartes, Paris 1691, Chap. VIII, p. 39. 


204 Alfr. Frh. v. Winterstein 





en Juy que tres=foiblement contre les charmes de la philosophie et 
des mathematiques.« 

Es liegt vielleiht ein tiefer psydhologisher Sinn darin, daß 
für Descartes die Realität der Außenwelt aus der Existenz jenes 
so persönlich gestalteten Gottes folgte. Ludwig Feuerbad hat den 
wahren Sachverhalt folgendermaßen formuliert: »Alle Gewißheit von 
Dingen außer uns ist uns vermittelt durh die Urtatsahe von der 
Existenz anderer Menschen (‚alter ego’). Denn ‚Ich’ bin zugleich ein 
‚Du’ für den Nädhsten.« 

Soll man es wagen, Einzelheiten aus der Lebensgeschichte des 
Descartes mit seiner Stellung zum Vater in Zusammenhang zu 
bringen? Es hat im Leben des Philosophen — bald nach dem Ab- 
gang von der Schule -—— eine Periode gegeben, in der eine mystische 
Naturstimmung den anfänglichen Skeptizismus ablöste: es existiert, 
hieß es damals, nur eine lebendige Kraft in den Dingen, das ist die 
Liebe, das Mitgefühl und die Harmonie. Wie weit sind wir hier 
von jenem Zweifel an der Realität alles und jeden entfernt, der den 
ersten Abschnitt der »Meditationes« durchdringt! Muß es gerade ein 
Zufall sein, daß der junge Descartes nicht lange nah Ablauf 
dieser pantheistishen Epoche seines Denkens in die Dienste der 
aufstrebenden, freiheitlih gesinnten Niederlande trat und es vermied, 
an den inneren Kämpfen, die in seinem Vaterlande wüteten, teilzu= 
nehmen? Der auch äußerlih! dokumentierte Versuh, zur Unab- 
hängigkeit zu gelangen, droht ihn aber in seinem Denken der Rea- 
lität der Außenwelt zu entfremden — worauf die einleitenden Sätze 
der »Meditationes« hinzudeuten sheinen? —, bis er auf dem Um- 
wege über Gott in alte Bahnen zurüclenkt und sein normales Ver- 
hältnis zur Umgebung wiedergewinnt. 

Der oben erwähnte Vergleich des Lebens mit einem Traum 
ist natürlih längst vor Descartes gemaht worden. Wir treffen 
ihn in den indishen Veden und Puranas, bei Plato, Sopho- 
kles, Shakespeare und Calderon, dessen bekannte Dichtung 
Schopenhauer »ein gewissermaßen metaphysishes Dramas nennt. 

Ich möcte schon jetzt? einem Mißverständnisse vorbeugen, 
das möglicherweise aus meiner Nebeneinanderstellung des Philosophen 
Descartes und eines beliebigen Zwangskranken entstanden sein 
könnte: es fällt mir nicht ein, zu behaupten, daß beide völlig 
identisch seien. Bin großer Denker, bei dem man ähnliche neurotische 
Züge nacdweist, ist viel mehr, wenngleih er in manchen Fällen 


! Descartes nahm Kriegsdienste in fremden Ländern. — Bezüglih der 
Reiselust des Philosophen verweise ih auf meinen Aufsatz »Zur Psychoanalyse 
des Reisens«, Imago, I, 5. 

? »„Quil falloit nier (aumoins pour quelque tEms) qu’il y eüt un Dieu, que 
Dieu pouvoit nous tromper; qu’il falloit revoquer toutes choses en doute, que l’on 
ne devoit aucune cr&ance aux sens, que le sommeil ne pouvoit se distinguer de 
la veille« (Baillet). 

® Man entschuldige die nun folgende längere Abschweifung, die in manchem 
wesentlichen Stück streng genommen in den zweiten Teil der Arbeit gehört. 


Psydhoanalytishe Anmerkungen zur Geschichte der Philosophie 205 


auch ein Zwangsneurotiker ist. So wie wir mit dem pathologischen 
Experiment arbeiten, bedient sich vielleiht das Genie! gewissermaßen 
seines eigenen krankhaft veränderten Persönlichkeitsteiles, um mikro- 
skopish vergrößert das zu schauen, was dem gesunden Menschen- 
verstand ewig entgeht. Ich will mih durdh ein erfundenes Beispiel 
deutliher machen. Die Tatsahe der Determiniertheit des Willens 
ist wohl eine feststehende: aber der normale Mensch fühlt sie nicht, 
man wird ihm nicht feiht ausreden können, daß sein Wille völlig 
frei sei. Es mußte denkbarerweise ein einzelner kommen, der sich 
— was in der Neurose der Fall sein kann — nicht als den nad 
Willkür schaltenden Urheber seiner Handlungen empfindet, um den 
rihtigen Tatbestand zu erraten®. Mit einem Wort: Nervöse 
Störungen können einen heuristischen Wert besitzen, indem sie 
den besonders befähigten Geist in eine bestimmte Richtung einstellen, 
ermöglihen sie es ihm, neue Seiten des Daseins zu entdeken. Man 
kann vielleiht die Behauptung wagen, daß die Neurosen den Fort= 
schritt machen; es ginge jedoch entschieden zu weit, sie für den Fort- 
schritt zu erklären. 

So beredhtigt es nun auh in manchen Fällen ist, die ver- 
drängten Triebkräfte des Unbewußten bloß als Agens — ohne 
nennenswerten inhaltlihen Einfluß auf die Denkprodukte des Philo- 
sophen — zu betrachten, so begründet ist in anderen Fällen die 
Annahme einer materialen Determinierung durh unbewußte Phanta- 
sien, Zwischen einer bloßen Steigerung der im Ichbetrieb vorhandenen 
Anlagen und einer stärkeren em mit dem Sexualtrieb im 
einzelnen Falle zu entscheiden, ist bisweilen fast unmöglih. Die 
größere oder geringere Anerkennung bei den anderen ist eben= 
falls kein ae or Kriterium in der Frage nah dem Anteils= 
verhältnis des Wunsch- und Erkenntnismaterials. Was subjektiven 
Wert für den Neurotiker besitzt, kann immer auch einen mehr oder 
weniger objektiven (Massen-) Wert darstellen, d. h. mehr oder 
minder allgemein giltig werden. Nicht ein (fiktiver) Wert an sich 
spielt in den Augen der Mehrzahl eine Rolle, sondern die Frage, 
ob das nerrefiende Geistesprodukt die Gemütsbedürfnisse möglichst 
vieler Menschen befriedigt. Und da ist zu sagen, daß die soge- 
nannten interessanten Philosophen, ein Platon, ein Schopenhauer 
vielleiht weniger Erkenntnis- und mehr Wunscmaterial bieten als 
beispielsweise ein Locke, ein Spencer, ein Auguste Comte, dabei 


! Man hat der Psychoanalyse — mit Unrecht, wie mir scheint — vorge- 
worfen, daß sie das Genie verdähtige und verkleinere. Sie hat bloß — was 
keineswegs selbstverständlih schien — nachgewiesen, daß auch der Genius nicht 


von oben kommt, sondern aus dunkler Tiefe nach oben geht. Sie hat ferner 
zwishen Echtem und Falshem oder sagen wir: zwischen objektiver Erkenntnis 
und subjektiver Phantasie unterscheiden gelehrt. Ihr Fehler war freilich bisweilen, 
die Dinge ohne die nötigen Einschränkungen und in allzu schroffer, einseitiger Form 
geschildert zu haben. 


® Ih behaupte nun aber keineswegs, daß sich der Vorgang tatsächlich so 
abgespielt hat. 


206 Alfr. Frh. v. Winterstein 


aber viel weiter reihende Wirkungen erzielt haben. Sie heißen dem 
interessant, dessen gleichgestimmtes Unbewußte sie mitschwingen 
lassen. Die größere oder geringere Allgemeinheit der Komplexe 
und die Art ihrer Darstellung (die intellektuelle Blendung) entscheidet 
über ihre Aufnahme bei den anderen. 

Bei der zweiten Gruppe von Denkern, den nüchternen, handelt 
es sih nur zum geringsten Teil um das Ausleben der Komplexe 
und ein solhes durh das Unbewußte nicht wesentlih gefälschte 
Weltbild verdankt seine Entstehung bloß einem kräftigen Forscher- 
trieb, zu dem sich eine in Wißbegierde sublimierte Libido als Ver- 
stärkung gesellt. Der bei diesen Denkern nicht zu unterschätzende 
Anteil der Ichtriebe soll noch im Verlauf unserer Arbeit zur Sprache 
kommen. | 
Auf dieser nicht mehr mythologishen Stufe des Erkennens 
hätte es keinen Sinn, das Unbewußte für die Forschungsresultate 
verantwortliih zu machen, da die Libido hier bloß als Motor des 
Denkens wirkt. Es wäre geradeso, wie wenn man aus dem Brenn= 
material der Lokomotive die Eigentümlihkeit der durchfahrenen 
Landschaft herleiten wollte. 

Die vorläufige Untersheidung von nüchternen und mytholo- 
gischen Philosophen deckt sih ungefähr mit der von »Denkern« und 
»Scauern« (Chamberlain), wozu ih bemerke, daß diese Bezeich- 
nungen nur ein Mehr oder Minder, d. h. eine vorwaltende Anlage 
des eieres ausdrücken. Vielleicht sind eigentlihe » Weltanshauungen« 
bloß die Schöpfungen dieses visuellen ae dem der Typus des 
Dichters so nahesteht!. Ich erinnere nur an Plato. Es sei mir ge- 
stattet, über dieses Vorbild eines idealistishen Philosophen noch 
Einiges zu sagen. 

Wenn wir ihn in die Nähe der Künstler stellen durften, so 
verdankt er dies niht nur der hohen Kunst seiner Sprahe, sondern 
auch seiner ganzen persönlichen Art, bildlich aufzufassen. Wer ent- 
sinnt sih nicht des glänzenden Vergleiches des irdishen Daseins mit 
dem Aufenthalt in einer unterirdishen Höhle am Anfang des sie- 
benten Buches der »Republik<? Wieder im »Phädross erscheint 
Plato die Seele unter dem Bilde eines Gespannes. Der vernünf- 
tige Seelenteil (Aoyıorıxov) ist der Lenker zweier geflügelter Rosse: 
eines edlen (des Övuoeıöes) und eines unedlen (der &midvuia). Im 
»Staate« endlih wird der begehrende Seelenteil mit einem Hunde 
verglihen. Es sind aus der Traumdeutung bekannte Symbole, teil- 
weise der funktionalen Kategorie?, die als unvergeßlihe Eindrücke 
in uns haften. 

! Der halluzinatorishe Charakter des Unbewußten dürfte bei den »Schauern« 
ein gewichtiges Wort mitzureden haben. Man könnte vielleiht kurz und ungenau 
sagen: Bei diesen findet eine Regression von Gedanken zu Bildern statt, während 
umgekehrt der Dichter aus Bildern einen gedanklihen Zusammenhang zu gewinnen 


sucht. 
® H. Silberer: Beriht über eine Methode, gewisse symbolische Halluzi- 


nationserscheinungen hervorzurufen und zu beobachten. Jahrb. I, p. 


Psychoanalytishe Anmerkungen zur Geschichte der Philosophie 207 


Platon der Künstler stellt in dem eben erwähnten Höhlenvergleich 
die Idee des Guten, die bei ihm wohl der Gottheit gleihkommt, 
durh das Bild der Sonne dar, bei deren Anblick der aus der Höhle 
Tretende Schmerz empfände, kaum vermödte er die Helligkeit der 
Flamme zu ertragen. Wer den Nadtrag zu der Arbeit Freuds 
über Schreber! kennt, wird sih der Vermutung nicht erwehren 
können, daß das dort über das Verhältnis zur Sonne Gesagte denk- 
barerweise auch bei Plato seine Anwendung findet. Ich setze die 
bezeihnenden Stellen aus dem Aufsatz hieher: ȀAuf p. 48? er- 
wähne ih das besondere Verhältnis des Kranken zur Sonne, die 
ih für ein sublimiertes ‚Vatersymbol’ erklären mußte. Die Sonne 
spriht zu ihm in menshlihen Worten und gibt sich ihm so als ein 
belebtes Wesen zu erkennen. Er pflegte sie zu beschimpfen, mit 
Drohworten anzuscreien, er versihert auh, daß ihre Strahlen vor 
ihm erbleihen, wenn er gegen sie gewendet laut spricht. Nad seiner 
Genesung rühmt er sich, daß er ruhig in die Sonne sehen kann’ 
und davon nur in sehr bescheidenem Maße geblendet wird, was 
natürlich früher nicht möglich gewesen wäre (Anmerkung auf p. 139 
des Schrebershen Buces).« 

»An dieses wahnhafte Vorredht, ungeblendet in die Sonne 
shauen zu können, knüpft nun das mythologische Interesse an. Man 
liest bei S. Reinach* (nah Keller, Tiere des Altertums), daß die 
alten Naturforscher dieses Vermögen allein den Adlern zugestanden, 
die als Bewohner der höchsten Luftshihten zum Himmel, zur 
Sonne und zum Blitze in besonders innige Beziehung gebracht 
wurden. Dieselben Quellen berihten aber auh, daß der Adler 
seine Jungen einer Probe unterzieht, ehe er sie als legitim erkennt. 
Wenn sie es nicht zustande bringen, in die Sonne zu schauen, ohne 
zu blinzeln, werden sie aus dem Nest geworfen.« 

Ȇber die Bedeutung dieser Tiermythos kann kein Zweifel 
sein. Gewiß wird hier den Tieren nur zugeschrieben, was bei den 
Menschen geheiligter Gebraud ist. Was der Adler mit seinen Jungen 
anstellt, ist ein Srle eine Abkunftsprobe, wie sie von den ver- 
sciedensten Völkern aus alten Zeiten berichtet wird.« Folgen nun 
einige Beispiele. 

»Der Adler, der seine Jungen in die Sonne schauen läßt und 
verlangt, daß sie von ihrem Lichte nicht geblendet werden, benimmt 
sih also wie ein Abkömmling der Sonne, der seine Kinder der 
Ahnenprobe unterwirft. Und wenn Schreber sich rühmt, daß er 
ungestraft und ungeblendet in die Sonne shauen kann, hat er den 
mythologishen Ausdruk für seine Kindesbeziehung zur Sonne 


! Freud: Nadtrag zu dem autobiographish beschriebenen Falle von 
Paranoia (Dementia paranoides). Jahrb. III, p. 588. 

2 Jahrb. III, p. 48. 

> Von mir im Druck hervorgehoben. 


* Cultes, Mythes et Religions, T. II, 1908, p.80 (Anmerkung Freuds). 


208 Alfr, Frh. v. Winterstein 


wiedergefunden, hat uns von Neuem bestätigt, wenn wir seine Sonne 
als ein Symbol des Vaters auffassen.« 

Um zu unserem Ausgangspunkt zurückzukehren: drückt mög- 
liherweise der Höhlenvergleih für den, der an keinen Zufall im 
Psydhishen glaubt und die typischen Bilder des Ünbewußten kennt, 
auch eine Mutterleibsphantasie! aus, so dürfen wir wiederum in der 
Sonne, der Idee des Guten, ein sublimiertes Vatersymbol vermuten 
und in der Unfähigkeit, anfangs ungeblendet in die Sonne zu schauen, 
könnten wir die mythologishe Äußerung eines Zweifels an der Ab- 
stammung vom Vater erblicken. Im zweiten Teil dieser Abhandlung 
soll die Bedeutung eines derartigen infantilen Zweifels für die System- 
bildung der Philosophen erörtert werden. Der Aufstieg zur Welt der 
Ideen hingegen würde im Bilde einer Geburt die Verschiebung der 
Libidobesetzung von der Mutter zum Vater, eine Entwicklung? an- 
zeigen. Diese Überleitung scheint von großer Bedeutung für die 
Entstehung von Philosophie und Religion zu sein. 

Wir haben erst durh die Psychoanalyse die Vorbildlihkeit des 
Sexuellen für das Verhalten des Individuums erkennen gelernt. Kühle 
oder feindselige Einstellung zur Frau, die wieder in der Beziehung 
zur Mutter ihre Quelle haben dürfte, hat leicht die Neigung, sic 
zu verallgemeinern?® und die Beurteilung der Sinnenwelt zu beein- 
flussen. Hieraus erwäcdst oft die allzu hohe Schätzung der rein geistigen 
Wirklihkeit. Die ganze sinnenfeindlihe Position des Platonismus, die 
indem Christentum und seinem Willen zur Entwertung der gegebenen 
Realität zwei Jahrtausende nachklang, wurzelt nur zum Teil in den 
individuellen Lebensbedingungen ihres Urhebers, zum größeren 
Teil hat sie ihren Ursprung in den Libidowandlungen der griehishen 
Gesamtpsyche. Es wäre eine eines psydhoanalytisch geshulten Kultur- 


ı Vgl. das orphishe ooua — onua! Plato ist durch die orphische Religion 
sehr beeinflußt. Bezüglich der Mutterleibsphantasie, deren Bedeutung und Häufigkeit 
verweise ih auf Freud (»Traumdeutung«, p. 198 und 199) und Stekel (Die 
Sprahe des Traumes«, p. 284 ff). — Um empörte gegnerishe Stimmen zu be= 
schwicdtigen, bemerke ih noch dies: Die Aufdekung der tiefsten Shiht will 
nicht mit einer erschöpfenden Darstellung des möglichen Ideengehaltes jener 
Bilder verwechselt werden. 

? Vielleicht lassen sich die nachstehenden Ausführungen Bachofens (»Das 
Mutterrechts, Stuttgart 1901, p. XXVID als Ergänzung zu dem oben Gesagten 
auffassen: »In der Hervorhebung der Paternität liegt die Losmachung des Geistes 
von den Erscheinungen der Natur, in ihrer siegreihen Durchführung eine Er- 
hebung des menschlichen Daseins über die Gesetze des stofflihen Lebens. Ist das 
Prinzip des Muttertums allen Sphären der tellurischen Schöpfung gemeinsam, so 
tritt der Mensch durh das Übergewicht, das er der zeugenden Potenz einräumt, 
aus jener Verbindung heraus und wird sich seines höheren Berufes bewußt. Über 
das körperliche Dasein erhebt sih das geistige und der Zusammenhang mit den 
tieferen Kreisen der Schöpfung wird nun auf jenes beschränkt. Das Muttertum ge- 
hört der leiblichen Seite des Menschen an und nur für diese wird fortan sein Zu= 
sammenhang mit den übrigen Wesen festgehalten, das väterlich-geistige Prinzip 
eignet ihm allein... Das siegreiche Vatertum wird ebenso entschieden 
an das himmlische Licht angeknüpft, als das gebärende Muttertum 
an die allgebärende Erde«. 


> Vgl. den Ausdruk »Frau Welts. 


Psycdoanalytishe Anmerkungen zur Geschichte der Philosophie 209 


historikers würdige Aufgabe festzustellen, was die Ursache des mächtigen 
Verdrängungsshubes im acıten und siebenten vordristlihen Jahr- 
hundert, nah Rhode der wichtigsten Periode griehisher Entwicklung, 
gewesen sein mag. Möglich, daß die Verdrängungswelle von Ägypten 
herüberflutete. Seit dieser Zeit tritt in der griehischen Volksseele 
jener Zwiespalt zwishen Bewußtem und Unbewußtem, zwischen 
Apollinishem und Dionysishem — um die berühmte und völker- 
sydhologishe bedeutsame Unterscheidung Nietzsches in der »Ge- 
but der Tragödie usw.« zu gebrauhen — immer wieder auf. Die 
Bedeutung dieses Widerstreites für die griehishe Ethik hoffe ich 
einmal in anderem Zusammenhang darlegen zu können. Die Seele ist 
vom Leibe zu reinigen als einem beflekenden Hindernisse — das ist 
das Ziel des in jener Epoche blühenden, an die Tendenzen anderer 
Reinheitsreligionen: des Brahmanismus oder Zoroastrismus, 
gemahnenden orphischen Geheimdienstes. Was hier gebändigt und 
geläutert wurde, strömte ursprünglih in wilden Wellen von den 
Bergen des Nordens herunter: ich meine den Dionysoskult thrakischer ! 
Herkunft. Seine Ergänzung findet der orphische Glaube im pytha- 
goräischen Geheimbund, dem auc der Leib ein Kerker der in ihn 
gebannten, aus höheren Regionen verirrten Seele ist. Ägyptische und 
vielleiht auch indishe Einflüsse sind bei Pythagoras zu verspüren. 
Der Dienst des Dionysos und die Askese des großen Reformers 
bezwecken eigentlih dasselbe. Es gibt ja zwei Möglichkeiten, mit 
der lästigen Sexualität fertig zu werden: entweder man verdrängt 
seine Libido oder man entledigt sich ihrer durch fortgesetzte Real- 
übertragung. Das zweite Verfahren, durch rücsichtslose Hingabe an 
die Natur ihrer überdrüssig zu werden, das Schwelgen »in impuris 
naturalibuss (Nietzsche) scheint dann wieder in der Schule der 
Kyniker aufzuleben. Diese will aber durhaus niht den Menschen 
von der Welt ablösen, sondern nur den Einzelnen mitten in der 
Welt von deren Herrschaft über seinen Willen freimahen?. Der 
Zynismus entspringt nämlih im letzten Grunde nicht einer freudigen 
Wertschätzung der natürlihen Triebe, sondern einer Erniedrigungs- 
tendenz im Sinne einer Ablehnung. So paradox es aud klingt: der 
Überempfindlihe wehrt sich oft durh Zynismen (ein Shutzcharakter 
des Schamhaften). So wie ein Feigling, wenn er gereizt wird, am 
gefährlichsten werden kann. 

Die uns überlieferten Aussprühe der Kyniker kommen unserer 
Auffassung stark entgegen. Äntisthenes soll gesagt haben: »Könnte 
ih der Aphrodite habhaft werden, so würde ich sie erschießen«.® Von 


einem anderen wird berichtet, er habe sich geäußert: »Lieber will ich 
verrückt sein als genießen«.t 


! Der thrakishe Ursprung ist nach neueren Untersuchungen nicht feststehend. 
2 Siehe J. Burckhardt, Griehishe Kulturgeshicte, II. Bd 


> frg. 35 (Mullach, Fragmenta philosophorum graecorum II. Paris, Didot 
1867, p. 274 ff.). 


* frg. 65. Diog. Laert. VI, 3. 
Imago 11/2 14 


210 Alfr. Frh. v. Winterstein 


Aud die hedonische Meß- und Rehenkunst, Ausdruck einer 
an Instinkten ärmer gewordenen Zeit, die mißtrauish in die Zukunft 
blickt, zeigt immer mehr ihr wahres Gesicht: um sich gegen die Herrschaft 
der Triebe zu sichern, strebt sie Leidlosigkeit an, die Meeresstille 
des Gemüts, Ruhe und Glük ist nur im Tode, lehrt Hegesias, 
der »reioıdavaross, wie der Verfasser der Schrift »Der Selbstmörder 
durch Nahrungsverzicht« (»drroxagreo@v«) genannt wurde. Die Ehe- 
losigkeit dieser Männer entspringt nicht minder dem neurotischen 
Dualismus von Bewußtem und Unbewußtem. 

In diesen Jahrhunderten der Verdrängung, wo die Seele dem 
Leibe entfliegen und sih mit der Gottheit vereinigen will, ist kein 
Platz für die Frau. In der harmonischen, hellen Welt Homers, viel- 
leiht viel später noh bei Herodot!, hören wir zum ersten- und 
zum letztenmal starke Gefühlstöne als Ausdruck der Beziehungen 
zwishen Mann und Weib. Um Helenas? willen kämpft man vor 
Troja, Hektor nimmt Abschied von Andromadhe. Diese Klänge ver- 
stummen fortan. Was an zärtlihen Regungen in der Seele des 
Mannes keimt, wird zur Knabenliebe®? verwendet, die ihren sublimsten, 
leuchtendsten Ausdruk im »Gastmahl« des Plato* erhalten hat. Alle 
Wissenshaften und Künste stammen aus dem Eros, heißt es dort. 
Trotzdem wird Eros dem Menschen zum Feinde. Äußere Umstände 
gleiherweise wie innere führen zu einer immer größeren Isolierung 
des einzelnen, der Stoiker bedarf keiner Güter mehr, da er das 
Himmelreih in sich selber, in seines Unbewußten wunscerfüllender 
Instanz trägt. Die Ethik wird vollkommen individualistish,; die 
Kyniker der vordristlihen Zeit nehmen bereits die Anshauungen 
der Mönde des dritten und vierten Jahrhunderts vorweg: die Apo- 
litie, die Verahtung der Welt, die Freiheit von Menschen, Bedürf- 
nissen und Meinungen?. So sieht der Boden aus, der das Christen= 
tum vorbereitete. 

Schüctern erst und dann mutiger wagt sih in diesem ein 
Marienkultus hervor, im mittelalterlihen Minnedienst findet dann der 
Mensch jene veredelten Beziehungen zur Frau wieder®, entwickelt 
sich jener Frauenkultus, in dem es die folgenden Jahrhunderte auf 
Kosten des homosexuellen Fühlens so weit gebradht haben. 
Schopenhauer bezeichnet eine vereinzelte Reaktion dagegen. 

Wenn wir im Auge behalten, daß die Homosexualität aus dem 

ı Vgl. Go mperz, »Griehishe Denker«, II. Bd. 
? Spätere griechische Schriftsteller haben sich bezeichnenderweise darüber lustig 
gemacht, daß die Ilias den Kampf um die Frau besang. 

3 Dorishen Ursprungs. Die Jonier haben eine abweichende Entwicklung 
durchgemadht. 

+ In den »Gesetzens wird die Knabenliebe aufs schärfste verurteilt! 

5 Vgl. Jodl, Geshichte der Ethik, I. Bd. 

6 In der hellenistishen Periode spannen sih zwischen den Geschlechtern 
Fäden einer vergeistigten Sinnlihkeit an, die an das achtzehnte Jahrhundert er- 
innern. — Ich weiß sehr genau, daß das Verhalten der Römer zur Frau ein anderes 
wie das der Griehen war, bin aber mit Absicht hier nicht darauf eingegangen. 


Psydhoanalytishe Anmerkungen zur Geschichte der Philosophie 211 


Verhältnis zum Vater ihre stärkste Anregung empfängt und eine 
ursprünglih intensive Fixierung bei der Mutter voraussetzt, werden 
wir nicht erstaunt sein, Plato durh den Mund des Sokrates, einer 
Neuauflage des väterlichen Ideals, sein Leben lang sprechen zu hören. 
Für die im »Symposion« gefeierte Knabenliebe! aber läßt sich fol- 
gende Erklärung geben: Wenn der Betreffende Vater wird (ich meine 
nicht: physischer Vater), identifiziert er sich mit seinem eigenen Er- 
zeuger und liebt, indem er die alte väterlihe Rolle den Knaben 
egenüber durchführt, eigentlich seine eigene Jugend, sich selbst. Jener 
Nelbmii hat dann bei Aristoteles in der Schilderung des sich selbst 
genießenden, ewig seligen Gottes großartigen Ausdruck gefunden — 
was wieder an die Liebe erinnert, mit der sich Gott bei Spinoza 
selbst liebt. Auch die heterosexuelle Rihtung verrät nod ihren Ein- 
fluß in der Liebe vorzugsweise zu solhen Knaben, deren Aussehen 
ein mädchenhaftes ist. 

Bei einem Individuum wie Plato, dem wir ein besonders 
hohes Maß von Sublimierungsfähigkeit werden zusprechen müssen, 
dürfen wir eine ebenso starke Ablehnung alles Grobsexuellen 
erwarten. Vieles deutet darauf hin: seine Seelenlehre, diese ganze 
Auffassung des Verhältnisses zwischen Leib und Seele, die En 
sucht der Seele nach ihrer wahren Heimat, der idealen Welt, der 
Unsterblichkeitsglaube? — der eigentlih im Widerspruch mit seiner 
Ideenlehre steht —, die nur scheinbar überbrükte Kluft zwishen dem 
göttlichen Aoyıorıxov und dem vergänglihen Erd vunrtıxov in der mensh- 
lihen Brust, endlih der Kultus der unsinnlihen Begriffe, der sich 
nach einem treffenden Worte Iherings einen Begriffshimmel errichtet. 

Furcht vor übermädtigen Sinnen — wir würden sagen: Ab- 
lehnung drängender Triebe — hielt auh Nietzsche? für den Grund 
des Idealismus Platos, in dem der Künstler und der Theolog nie 
zur Versöhnung gelangten. Nur halbwegs gesicherte psychoanalytische 
Aufshlüsse über die Beziehung von Philosophie und psychosexueller 
Konstitution bei Plato zu geben — Plato selbst nennt den Eros 
den philosophishen Zeugungstrieb —, ist bei der nicht allzugroßen 
Ausführlihkeit der Nadrichten über sein Leben und der Ungeeignet- 
heit des Materials ein Ding der Unmöglichkeit. Wir sind daher hier 
wie anderwärts bloß auf Vermutungen angewiesen. 

Wir wissen, daß Plato nah dem Tode des Sokrates aus 
äußeren, politischen und wahrsceinlih auch aus inneren Gründen 
Athen verließ und erst nad beiläufig zehnjähriger Reise nah Athen 
zurükkehrte. In der Fremde mag die Sehnsuht nah dem verlorenen 
väterlihen Ideal des Lehrers den herangereiften Schüler zur Abkehr 
von der äußeren Welt und zu jener Vertiefung in sich selbst ver- 


! Plato sagte, daß es gar keine platonische Philosophie geben würde, wenn 
es niht so schöne Jünglinge in Athen gäbe. 

2 Zwischen Todesfurdt, die Unsterblihkeit fordert, und unbefriedigter Sexu=- 
alität besteht ein Zusammenhang (die Wünsche sind das Unsterbliche). 

3 »Die fröhlihe Wissenschaft«, p. 329. 


14* 


212 Alfr. Frh. v. Winterstein 


anlaßt haben, die die Voraussetzung einer Lehre war, in der die 
Ideen allein objektive Realitäten und Sitz aller Wesenheit und Wahr- 
heit, umgekehrt die Ersheinungen der Sinnenwelt unzulänglihe Ab- 
bilder derselben sind. Die Erinnerungen seiner Jugendzeit scheinen 
bei Platos Heimkehr verstärkten Einfluß auf ihn gewonnen zu haben. 
Dafür spricht, daß die Schriften dieser Periode sih wieder mit Vor- 
liebe zur Persönlihkeit des Sokrates zurükwenden, die Überhand- 
nahme der mythishen Form verrät vielleiht auch eine größere Nähe 
des Unbewußten. Jetzt entsteht der »Phädross, das »Symposions, 
der »Phädons, Werke, in denen die Erhebung zur Erkenntnis der 
Ideen, die Auffahrt der Seele zum überhimmlishen Ort ihre voll- 
endetste künstlerische Gestaltung erhalten hat. 

Nur scheinbar entflieht Plato auf den Flügeln der Seele ir- 
dischen Begehrungen und Leidenschaften, in Wirklichkeit kehrt er auf 
den Gipfelpunkt seines Schaffens zum »tiefsten, allertiefsten Grunds 
zurük, »umshwebt von Bildern aller Kreatur«. Jeder Himmelsflug 
führt tatsähhlih ins bodenlose Unbewußte hinab. »Versinke denn! 
Ich könnt” auch sagen: Steige! ’s ist einerlei«!, 

Im »Staate« läßt Plato der Dreiteilung der Seele in ziemlich 
gezwungener Parallele die Dreiteilung der Stände entsprechen. Der 
Staat wiederum ist für den Philosophen eine Welt im kleinen. Ich 
habe dieses Beispiel angeführt, um den Übergang zu einer Behauptung 
zu finden: daß nämlih das ganze Altertum von der Voraussetzung 
ausging, der Mensc sei ein Mikrokosmos. Erst Schopenhauer? ist 
zu dem entgegengesetzten Bilde des Kosmos als Makranthropos ge=- 
kommen, »sofern Wille und Vorstellung ihn wie sein Wesen er- 
schöpft«. Er hat insoweit recht, als der Mensch eigene bewußte und 
unbewußte Regungen in die Außenwelt projiziert; der Mensd ist 
für sih tatsählih das größte Hindernis, um zur Welt zu gelangen. 
In unzähligen Fällen stellt er, indem er ein Weltbild zu geben glaubt, 
nichts anderes wie sein eigenes Unbewußtes, eigene psychische Struktur 
verhältnisse mit Hilfe des Materials der Außenwelt dar. Denn er 
weiß nichts von diesem Prozesse der Einfühlung, im Bilde kommt 
ihm bloß sein eigenes? Wesen entgegen. 

Der »Urmythos aller Mythen« <H. St. Chamberlain), die 
Annahme einer Identität von Geshautem und Gedadhtem, Natur 
und Vernunft, Denken und Sein beruht in der einen seiner mög- 
lihen Gestaltungen auf dem Mißverständnis einer anthropomorphen, 


ı Vgl. Augustinus: »Ih werde mih also auh noch über diese Kraft 
meiner Natur erheben, schrittweise emporsteigend zu dem, der mich bereitet 
hat, werde kommen zu den Gefilden und weiten Palästen meines Gedäcdtnisses«. 
(Bek. Buh X, Kap. VII, zit. bei Jung, Wandlungen und Symbole der Libido). 

2 Die Welt als Wille und Vorstellung, II. Bd., Kap. 50. 

3 Novalis, Die Lehrlinge zu Sais: »Erkennen sie in der Natur nicht den 
treuen Abdruck ihrer selbst: Sie selbst verzehren sih in wilder Gedankenlosigkeit. 
Sie wissen nicht, daß ihre Natur ein Gedankenspiel, eine wüste Phantasie ihres 
Traumes ist. Jawohl ist sie ihnen ein entsetzliches Tier, eine seltsam abenteuerliche 
Larve ihrer Begierdens«. 


Psydhoanalytishe Anmerkungen zur Geschichte der Philosophie 213 


die eigene Libido projizierenden Anshauungsweise, die in dem Sein 
immer nur sich selber finden kann. So kam Schopenhauer, der 
auh hier angeführt werden muß, dazu, beispielsweise in der 
Schwerkraft eine Äußerung des »Willens« zu erbliken, Und für 
diese Art, die Dinge zu betrachten, gilt das Wort des Novalis: 
»Die Welt ist ein Ulhniversaltropus des Geistes, ein symbolisches 
Bild desselben.« Bei Fidhte, Schelling und Hegel, auf die ich 
in diesem Zusammenhang nicht näher eingehen kann, ist jene 
Identitätstheorie in abstrakten Gedankenverknüpfungen wieder zu 
hohen Ehren gelangt. Es sind bei dieser Einheitslehre zunädhst 
zwei entgegengesetzte Sclußfolgerungen möglih. Wer in seinem 
Innern das Drängen von dumpfen Kräften verspürt und sih als 
Tätigkeitszentrum empfindet, wird nur allzuleicht geneigt sein, die 
Beseeltheit der Außenwelt zu übershätzen. Daher audh der 
Pantheismus der Jugend. Anders bei jenem, der, durch kein ge- 
schäftiges Weben der Seele gestört, die Dinge um sich mit leiden- 
ya spiegelndem Auge auffängt. Ihm wird das All zu einem 
leblosen, seelenlosen Mechanismus und sein eigenes Psydhisces also 
auch. Natürlich ist der oben gebraudhte Ausdruk »Sclußfolgerungen« 
etwas irreführend: es handelt sich niht um logishe Konklusionen, 
sondern um einen gefühlsmäßigen Eindruk, der durch die Libido- 
konstellation des betreffenden Individuums mitbedingt ist. 

In arhaishen Zeiten hat gewiß die erstere Anschauung allein 
geherrsht. Damals waren weitaus mehr Objekte der Außenwelt, 
lebendige und leblose, mit Libido primär besetzt als später, die 
Sonne war nicht ein Vatersymbol, sondern etwas, dem eine — 
sagen wir — gleich starke Libido wie einem Vater entgegengebradt 
wurde. Nadträglich, mit zunehmender Exklusivität und Konzentration 
der Libido, konnte ein Libidostärkeäquivalent. wie beispielsweise die 
Sonne oder die Erde als Vater- oder Muttersymbol verwendet 
werden. Es eignete sih dazu, da es niht mehr Libidobedeutun 
besaß. Um bei unserem Exempel zu bleiben: ich glaube aud, daß 
ursprünglih bereits oder wenigstens sehr frühe (in diesem Fall 
immerhin sekundär) der Sonne und der Erde eine differenzierte 
Libido infolge eines verschiedenen, sozusagen physishen Entgegen- 
kommens gewidmet wurde. Die Erde ist etwa in jener prähistori- 
shen Zeit als wirklihe Urmutter, die Sonne als wirkliher Urvater 
verehrt worden. Im Verlaufe einer Entwicklung, deren Dauer wir 
niht abzushätzen vermögen, hat sih die Libido von vielen 
Objekten zurückgezogen, sih teils für die nunmehr als solce 
a Liebesobjekte verstärkt, teils sublimiert und jetzt erst 
onnten die der Urlibido ledigen Objekte als Symbole — wie wir 
es noh immer im Traum, in der Dichtung, in der Neurose! und 


!Freud deutete einmal den Angstanfall eines Patienten, den dieser bei einer 
Erdarbeit bekam, als die Sonne ihn beschien, nah den eigenen Angaben des 
Kranken dahin, daß er Angst vor dem zusehenden Sonnen-Vater hatte, der ihn 
beim Herumarbeiten in der Mutter-Erde überraschte. 


214 Alfr, Frh. v. Winterstein 


Psychose! erleben — gebrauht werden. Mit einem Wort: Vieles, 
was jetzt als Libidosymbol angesehen wird, war vielleicht 
einmal Libidoobjekt. 

Der Mythos, das Unbewußte, ist die Regenbogenbrüce 
zwishen Innen und Außen, zwischen Geist und Natur. Was ic 
in die Dinge projiziert habe, täuscht mir eine Ähnlichkeit ihres 
Wesens mit dem meinigen vor. Auf allen Pfaden des Denkens tritt 
ewig der Mensh nur sich selber entgegen? und erkennt sich nicht. 
Im Rierede heißt es: »Im Herzen schuf Varuna den Willen, am 
Himmel die Sonne, gleicherart sind beides.* Und Jahrhunderte später 
lehrte Giordano Bruno, daß die Stufenleiter der menschlichen 
Gemütsbewegungen genau der Stufenleiter der Natur entspreche®. 

In einem gewissen Sinn gilt von unserem gesamten Erkennen 
der Satz, daß jeder nur das findet, was er zu finden voraussetzt — 
kraft seiner eigentümlichen Beschaffenheit. Auch der Philosoph nur 
das, was sein UÜnbewußtes wünscht, sofern er dessen Herrschaft 
nicht eingedämmt hat. Die Forderung Ferenczis erscheint deshalb 
sehr berechtigt, daß jeder, der an die Behandlung philosophischer 
Probleme herangeht, sih vorher gründlih analysieren solle. 

Und so ist die Philosophie verwandt mit der Erdihtung von 
Mythen, ja ihre Tochter, wie schon Aristoteles bemerkt, der hinzu- 
fügt, daß der Philomythos notwendig ein Philosophos sein müsse. 
Wir werden von unserem heutigen Standpunkte aus umgekehrt 
sagen, daß der Philosoph, der Metaphysiker, notwendig ein Freund 
von Wunschdidhtungen sei. 

Figentlihe Philosophiegeshihte zu treiben, ist dieses Ortes 
nicht, aber wir verstehen von hier aus die verschiedenen Gabelungen, 
die in den entgegengesetztesten Systemen Vertretung gefunden Pin 
Die Kluft zwishen Geist und Natur, Denken und Ausdehnung 
schließt sih — dies ist eine Lösungsmöglichkeit — in einer trans- 
zendentalen Substanz, Gott genannt, zusammen. Jedoch ist das eine 
äußerlihe Vermittlung, da diese beiden Attribute als dasjenige, was 
der Verstand an der Substanz als ihr Wesen ausmachend wahr- 
nimmt, Gott selbst gleihgiltig, da sie nicht immanente Unterschiede 
der Substanz sind. Gott ist hier wirklih nur ein Deus ex 
macina. Spinoza, ein Vernunftungeheuer, das die Prinzipien des 
Seins more geometrico zu demonstrieren unternahm und vermeinte, 
alles lasse sih »commodissime explicari«®, konnte aus unmittelbarer 


ı Siehe die Sonne als Vatersymbol bei Schreber. 

2 Inwieweit das Unbewußte tatsächlich als Vermittlung zwishen Psycdhischem 
und Somatishem aufgefaßt werden könne, soll späterhin dargelegt werden. 

3 „Einem gelang es — er hob den Schleier der Göttin zu Sais — Aber 
was sah er? Er sah — Wunder des Wunders, sich selbst.« 

* Die philosophishe Ansiht des Rigveda erfaßt nah Jung (Jahrb. IV, 
p. 408) die Welt als eine Libidoemanation. 

‚5 Zit. nah Chamberlain, Immanuel Kant, p. 326 (2. Aufl.) 
6 Zit. bei Chamberlain, I. c., p. 392. 


Psydoanalytishe Anmerkungen zur Geschichte der Philosophie 215 


Anschauung niemals die Brücke finden. Sein Geist war zu sehr der 
sinnlihen Aue entwacdsen. Die Vernunft war zum Äffekt 
geworden, der sih in Syllogismen auslebte. Dem kühlen Denker, 
der ssh nah einem shwahen Anlauf zur Objektliebe bei der 
Tochter seines Lehrers, Clara Maria van den Ende, narziß- 
tish auf sich selbst zurükzog und in der abstrakten Persönlichkeit 
Gottes sich selbst liebte (Beziehung zwischen Narzißmus und Vater- 
imago), vermochte sich gefühlsmäßig ein Zusammenhang zwischen 
Außenwelt und mathematish-nüdhterner Gedankenwelt nur in 
dem Abgrund der göttlihen Substanz zu ergeben. Der »amor 
intellectualis«, mit Es der endlihe Mensh, »Stäubhen vom 
Staubes, dem Versinken in die unendlihe Tiefe zustrebt, ist ein 
Nadfahr jener Unterwürfigkeit, mit der sich Israel vor dem strengen 
Gott in den Staub warf!. Die innere Auflehnung Spinozas gegen 
seine Eltern, die wir aus seiner Biographie ers liefen dürfen und 
die seinem Denken den Stempel der ehe aufgeprägt 
hat, war nicht imstande, die Bedeutung des Vaters für ihn zu 
mindern?. In der Rolle, die Gott in seinem System innehat, er- 
kennen wir sie wieder. Er wagt es nicht, von ihm für seine grenzen= 
lose Hingebung Liebe zu fordern, »nicht Gott liebt uns, sondern 
wir, die wir Gott erkennen, lieben Gott. Weil aber alle Menschen 
zusammen einen Teil des unendlihen Verstandes bilden, welcher 
ein Attribut der ewigen Substanz ist, einen Teil jener Kraft, die 
allüberall Gott erkennt und Gott liebt, so kann gesagt werden, daß 
unsere Liebe ein Teil der Liebe ist, mit der Gott sich selber liebt« ®. 

Sollte nun mit der Vermittlung zwischen Innen und Außen 
ernst gemacht werden, so ergaben sih zwei Möglichkeiten: der 
Realismus (Empirismus, Sensualismus) und der Idealismus. Nur 
über diesen will ih noch einiges bemerken. Leibniz faßt die 
Substanz als lebendige Aktivität, als tätige Kraft auf, die Substanz 
ist ihm ferner Einzelwesen, Monade, es gibt eine Vielheit von 
Monaden, die alle psyhishen Charakter haben. Sie sind die Grund- 
wesen des ganzen physishen wie geistigen Universums und unter- 
scheiden sih voneinander nur durch größere oder geringere Deut- 


! Der masodistishe Zug rükt Spinoza in die Nähe der Mystiker. Es 
fehlen — was nicht erstaunlih ist — auch nicht sadistische Neigungen. Sein Bio- 
graph Colerus (1705) berichtet: »Wenn es ihm um irgendeinen anderen Zeit- 
vertreib zu tun war, so fing er einige Spinnen und ließ sie miteinander kämpfen; 
oder er fing einige Fliegen, warf sie in das Netz der Spinne und sah diesem 
Kampfe mit großem Vergnügen, selbst mit Lahen zu.< Freudenthal merkt 
hiezu an: »Die Zusammenstellung dieser Angabe mit der nachfolgenden über 
Spinozas mikroskopische Untersuhungen beweist, daß er nicht aus Grausamkeit 
Spinnen und Fliegen miteinander kämpfen ließ, sondern um wissenscaftlicher 
Zwecke willene. — Als ob das — nad den Erkenntnissen der Psychoanalyse — 
ein Widerspruh wäre! 

®2 Die Kinder des Hauses (bei Hendrik van der Spyk) ermahnte er zur 
Unterwürfigkeit und zum Gehorsam gegen die Eltern (Colerus). 

® Eth. V, Prop. 35 u. 36. Es soll — trotz der vorstehenden Ausführungen 
— nicht verkannt werden, welche Großartigkeit in der Auffassung Spinozas liegt. 


216 Alfr. Frh. v. Winterstein 


lihkeit der Erkenntnis. Aus den näheren Bestimmungen der 
Leibnizshen Monaden geht hervor, daß wir in ihnen bloß 
Projektionen der eigenen seelishen Spontaneität in den gesamten 
Kosmos auf Ghand eines AÄnalogieshlusses zu erbliken haben. 
Hier haben wir es eigentlich mit einem wissenscaftlihen, atomistisch 
gefärbten »Änimatismus«! zu tun. Die den einzelnen Monaden zu= 
Unfähigkeit, aufeinander einzuwirken, gestattet viel= 
eiht Rückschlüsse auf einen ziemlih weitgehenden »Äutismus« ? 
bei diesem Denker. Geradeso, wie in der Feststellung, daß in jeder 
Monade sih alles, was ist und geschieht, reflektiert?, aber durch 
ihre eigene spontane Kraft, die Interessebesetzung bei der Wahr- 
nehmung der Außenwelt möglicherweise ihren indirekten Aus= 
druk findet. Die Monade ist — nah dem Aussprudhe Leibniz’ 
— >parvus in suo genere deuss. Gott ist die Monade mit der 
distinktesten Erkenntnis. Der Gottesbegriff spielt im ganzen bei 
Leibniz eine durch sein Monadensystem in nichts gerectfertigte, 
wohl durh Gefühlsmomente bedingte Rolle. 

Berkeley ist einen Schritt über den Idealismus Leibniz’ 
hinausgegangen. Sein religiöses Gefühl allein hinderte ihn, in Solip- 
sismus auszuarten. Esse = percipi,; es existieren nur Geister, d. h. 
denkende Wesen. Zur Erklärung des nicht spontan von uns Ge- 
setzten wird Gott herbeigezogen, der die sinnlihen Empfindungen 
in uns hervorbringt. Die Ideen, die er uns mitteilt, muß er konse- 
quenterweise auh in sih tragen, diese Ideen in Gott heißen 
Ärchetype (Urbilder), diejenigen in uns Ektype (Abbilder). Die 
Entwertung der materiellen Außenwelt, die überragende Bedeutung 
Gottes, den man sich in Analogie mit dem in uns selbst Wirken- 
den zu denken hat — alles das spriht eine für den Psydo-= 
analytiker durchsichtige Sprache‘. 

Jeder Idealismus führt — wie Kraft in seiner früher zitierten 
Arbeit scharfsinnig darlegt — in folgerihtiger Weiterbildung zu 
einem Solipsismus, dem auch Nidtssychöahkisikens pathologischen 
Charakter zuschreiben müssen. Ein idealistishes System wie das 
Fichtes liegt trotz der Größe des Gedankens auf dem Wege 
dazu. Die Welt ist eine Schöpfung des reinen oder unendlichen 


ı Vgl. auhR.R. Marett, Preanimistic Religion, Folk-Lore, XI, London, 1900, 

2 Der Ausdruk stammt von E. Bleuler,; siehe auh dessen Arbeit: Das 
autistishe Denken, Jahrb. IV, 1 

8 Leibniz (Principes de la Nature et de la Gräce, $ 3): »Chaque 
monade est un miroir vivant, representatif de l’univers suivant son point 
de vue.« 

* Im Leben war Berkeley ein warmherziger Philanthrop. 

5 Die Verneinung der objektiven Welt könnte als praktishe Überzeugung 
»nur im Tollhaus gefunden werdens (Schopenhauer). Der englische Psydholog 
James Sully spriht an irgendeiner Stelle von dem »Solipsismuss oder »Berkeley- 
anismuss des Kindes und des Wilden. Der erste Ausdruck trifft nur teilweise zu, 
der zweite ist entschieden unridhtig, falls er das gleihe damit bezeichnen soll. 


Psydhoanalytishe Anmerkungen zur Geschichte der Philosophie 217 


Ihs!; der shaffende Geist erzeugt das (empirishe) Ih und Nict- 
Ih. Dem Ich tritt das Nicht-Ih als seine Beschränkung entgegen, 
aber von ihm als metaphysishem Daseinsgrund selbst gesetzt. Die 
wirklihe Welt ist das versinnlihte Material unserer Pfliht. Das 
Beispiel des Traumes mag die etwas unklar wirkende Behauptung 
von der Schöpfung der endlihen Ihs und ihrer Schranken verdeut= 
lihen. Im Traume ershafft das Ih unbewußt seine Traumwelt, die 
dem Ih im Traum als sinnlih=objektiv gegenübersteht. »Das ganze 
System unserer Vorstellungen«, heißt es in der »Wissenschafts- 
lehres, »hängt von unserem Triebe und unserem Willen abs. 
Dieses ursprünglihe Wirken aber ist bei Fichte das reine Ih als 
»Tathandlung«. Wenn er behauptet, die wahre Realität liege in 
dem (notwendigen, gesetzmäßigen) Wirken, das ohne unser Wissen 
das Weltbild in unserem Bewußtsein erzeugt, so hat er damit 
Schopenhauers Lehre vorweggenommen, die durch ihn mehr, als 
ihr Urheber zugestehen wollte, beeinflußt ist. 

Ohne die erkenntnistheoretishe Berechtigung der Theorie 
Fichtes ausshöpfen zu wollen, bemerke ih, daß Fichte eine 
äußerst energische, geistige, selbstherrlihe Natur war, die sich wohl 
vermögend fühlte, eine Welt zu gebären, um an ihrem Widerstand 
ihre Kräfte zu proben. 

Sofern wir Schöpfung Interessebesetzung gleichstellen, besteht 
der Satz Fichtes zu Redt. In einem gewissen Sinne existiert ja 
wirklih die Außenwelt — freilih nur für uns — nicht, sofern wir 
sie nicht beachten. Bei Schopenhauer, der den Willen, die Libido 
als Urgrund des Seienden ansah, ist der Prozeß des Bewußtwerdens 
des — ich möchte sagen — metaphysishen Mechanismus shon weit 
fortgeschritten und liefert gewissermaßen eine Probe auf die Richtig- 
keit unserer Behauptungen?. Schopenhauer ist — nebenbei be= 
merkt — der erste atheistische Philosoph. Der irrationale Wille tritt 
an stelle des höchst weisen Gottes. 

Über die unsterblihe Geistestat Kants, der die Metaphysik 
vom Throne jagte und ihren Platz der von der Psychoanalyse nicht 
anfechtbaren Erkennt einräumte, — der den ganzen Apparat 
der übersinnlihen Welt in den Menschen verlegte, will und kann 
ih hier nicht reden, da dies den mir gesteckten Rahmen der Arbeit 
sprengen würde, möcte nur jeden, der die Absicht hat, Kant mit 
dem Rüstzeug der Psychoanalyse zu bearbeiten, zu allergrößter Vor- 


! Dieses reine Ih, das bei Fichte die Rolle Gottes einnimmt, entspricht 
ungerähr dem Unbewußten. In einer späteren, mehr mystischen Periode lehrte 
Fichte, daß das unendlihe Ich, dessen Erscheinung alles ist, selbst nur »die 
Erscheinung einer absoluten Realität, einer unendlihen Kraft, eines Lebens, eines 
Lichtes ist, das bloß in gebrochenen Strahlen in unser Bewußtsein gelangt«. 

®? Was Schopenhauer über die Metaphysik der Gesclecdtsliebe und den 
Wahnsinn sagt, stimmt auffällig mit Ergebnissen der Psychoanalyse überein. Vgl. 
OÖ. Rank, Schopenhauer über den Wahnsinn. Zentralbl. f. Psychoan., I. Bd., 
1/2, und ©, Juliusburger, Weiteres von Schopenhauer, ebenda, I. Bd., 4. 


218 Alfr. Frh. v. Winterstein 


siht mahnen, will er sich nicht einer gröblihen Verwedslung von 
Erkenntnistheorie und Psychoanalyse shuldig macen. 

Es ist so gut wie eine Tautologie, wenn ich sage, daß der 
Idealismus, je energisher und konsequenter er entwickelt wird, um 
so mehr den Charakter des Asozialen annimmt. Was die Philosophen 
im allgemeinen unbewußt abhielt, diesen letzten Scritt, so sehr er 
durch die Logik geboten schien, zu vollziehen, war ein größerer oder 
geringerer Rest von sozialem Gefühl!, der sie neben anderem Uhnter- 
rk ren von den vorwiegend asozialen Psycdotikern (besonders 
die Dementia praecox) trennt. Übrigens ist beispielsweise die Para- 
noia, die uns im Wahnsystem des Senatspräsidenten Schreber so 
viel zur Erkenntnis der philosophischen Systembildung lieferte, keines- 
wegs so asozial wie manche Neurose. In der Psychose können wir 
ebenso wie in Religion und Philosophie eine Umwandlungs-, An- 
passungs- und Heilungstendenz wahrnehmen, die vielleiht ihren mehr 
oder weniger sozialen Charakter erklärt. Auc der Paranoiker richtet 
wie der Philosoph den Wunsh an die Gesamtheit, anerkannt zu 
werden, er wirbt um den anderen, der konsequente Idealist? freilich 
dürfte das niht tun, er würde damit in Widerptu mit seiner 
eigenen Lehre geraten, da es ja für ihn kein anderes Ih gibt. 

Ih mödte es an dieser Stelle als Vermutung aussprechen, daß 
in der Paranoia? sowohl als in der metaphysishen Systembildung 
der Anteil der Vaterimago ein überwiegend großer* ist und ihnen 
deshalb einen mehr oder weniger sozialen Charakter verleiht, indes 
in der Dichtkunst, je mehr sie sih der Lyrik nähert, und in den 
neurotischen Produktionen vielleiht der Anteil der Mutterimago vor- 
herrsht und das soziale Moment mehr in den Hintergrund rückt. 
Die Erklärung hiefür läge in der Tatsache, daß die erstrebte Rück- 
kehr zur Mutter eine zunehmende Aufhebung des Unterschiedes 
zwishen Subjekt und Objekt, zwishen Ih und Du: herbeiführen 
würde, wohingegen der Vater einem von Anfang an als fremdes 
gleihgeschlehtlihes Du gegenübertritt. Eine in den metaphysischen 


! Die sublimierte Homosexualität, die nah Freud einen wichtigen Beitrag zur 
Konstituierung der sozialen Triebe liefert, scheint bei den Philosophen eine gewisse 
Bedeutung zu haben; ihre oft vorhandene Ehelosigkeit würde nicht dagegen sprechen. 

® Ein solcher Idealist steht dem neurotishen Tagträumer sehr nahe, 

3 Freud, Psychoanalyt. Bemerkungen über einen Fall von Paranoia usw., 
Jahrb. III, 1. 

* Die Naturphilosophen — beispielsweise ein Giordano Bruno, ein 
Vanini — scheinen eine Ausnahme zu bilden. Die affektive Beziehung zur Mutter 
ist bloß auf die Natur übertragen, doh in ihrer Äußerung nicht unterdrükt. N o= 
valis hat für diese Sexualisierung der Natur folgende Worte gefunden: »Er fühlt 
sih in ihr (der Natur) wie am Busen seiner züchtigen Braut und vertraut auch 
nur dieser seine erlangten Einsihten in süßen vertraulihen Stunden. Glücklich 
preis’ ich diesen Sohn, diesen Liebling der Natur, dem sie verstattet, sie in ihrer 
Zweiheit, als erzeugende und gebärende Macht, und in ihrer Einheit, als eine un- 
endlihe, ewig dauernde Ehe, zu betrachten. Sein Leben wird eine Fülle aller Ge- 
nüsse, eine Kette der Wollust und seine Religion der eigentliche, ehte Naturalis- 
mus sein«. 


Psychoanalytishe Anmerkungen zur Geschichte der Philosophie 219 


Systemen manchmal nahzuweisende » Vaterleibsphantasie«, auf deren 
Existenz in Träumen Stekel und Silberer! hingewiesen haben und 
die ihrer Hauptbedeutung nah den Wunsh zum Inhalt hat, das 
gegenwärtige Leben los zu sein, spräce freilih für eine andere Auf- 
fassung des Verhältnisses; doch ergibt sich diese Phantasie (die bei 
dem Mystiker in Gestalt eines Verlangens nach Vereinigung mit der 
Gottheit auftauchen kann, sich wünsche mir allein in meines Heilands 
Schoß tief einversenkt zu sein,« heißt es bei Angelus Silesius) 
möglicherweise aus einer bloßen Vershiebung von der Mutter her, 
also als etwas Sekundäres. Der Neurotiker und der Künstler folgen 
offensichtlih dem Lustprinzip?, während der Philosoph das Realitäts- 
prinzip? zu beobachten glaubt, freilich projiziert er oft, ohne es zu 
wissen, mehr oder weniger infantiles Wunschmaterial in seine Welt- 
anschauung. Je mythologisher diese ist, um so mehr nähern sich die 
»Begriffsdihtungen« Produkten der Kunst°. 

Eine Welt mehrfahen Individualbewußtseins, wie sie beispiels= 
weise die Monadenlehre Leibniz’ annimmt, ist eine Halbheit, was 
hier nicht gründlicher erörtert zu werden braucht. Wir haben es also 
nur mit diesem letzten Gegensatz in den Weltbegriffen zu tun: 
mit dem Realismus, der die Welt aus einer objektiv für sich be= 
stehenden Natur neben den vielfahen Einheiten des Bewußtseins 
aufbaut, und der Philosophie der Bewußseinsimmanenz (Idealismus 
und Positivismus), die sie nur als ein begrifflihes System von Ge- 
setzen für die Verknüpfung der Wahrnehmungen und » Vorstellungen« 
denken darf‘. 

Nicht nur, daß diese zweite Weltanshauung erkenntnistheore- 
tisch unhaltbar ist: wir konnten aud in bestimmten, durch Anpassungs- 
schwierigkeiten verursachten regressiven® Vorgängen der Libido, die 
zu einer Übershätzung der Denkrealität führen, ihre unbewußten 
Determinanten erkennen. Die Schopenhauershe Verneinung des 
Willens entspricht psychologisch einer solchen Introversion. »Wo kein 
Wille ist, da ist keine Realität,« hat Ludwig Feuerbach einmal 
gesagt, wir dürfen den Satz psydhoanalytisch dahin erweitern: Wo 

eine vorwärts gerichtete Libido ist, da ist keine objektive Realität. 
Und an einer anderen Stelle äußert der große Denker, der mande 
Erkenntnis der Psychoanalyse schon vorweg genommen hat: »In der 
Tat, niht der Verstand, nur die Liebe ist es, welhe Wesen außer 
sich setzt, und zwar nicht nur der Vorstellung nah, sondern wirklich, 
wahrhaft, leibhaftig, wie die Geschlectsliebe sinnfällig beweist«®. 


‘ HA. Silberer, Spermatozoenträume, Jahrb. IV. 

? Freud, Formulierungen über die zwei Prinzipien des psych. Geschehens. 
Jahrb, III, 1. 

® Die zweite Welt des Künstlers ist »die Realität noch einmal, nur in einer 
Verstärkung, Auswahl und Korrektur« (Nietzsche), indes die wahre Welt des 
Philosophen und Theologen eine Absage an die gegebene bedeutet. 

+ Zit. nah Kraft, I. c. p. 166. 

5 Die Regression reicht häufig bis zum Stadium des Narzißmus zurück. 

® Kritik des Idealismus. Ausg. von Bolin und Jodl, X. Bd., p. 216. 


220 Alfr. Frh. v. Winterstein 


Schließlih möchte ih noch Fichte heranziehen, der in der »Än- 
weisung zum seligen Leben« bemerkt: »Die Liebe ist die Quelle 
aller Gewißheit und aller Wahrheit und aller Realität.« 

Wo die Realität gesuht und gefunden wird, das begründet 
nah Weininger! alle Untershiede zwishen den Menschen. Das 
Erfassen der Wirklichkeit aber ist in der Hauptsahe durch unsere 
Libidokonstellation bedingt. Ja, hinter unserem gesamten Denken 
stehen treibende Wünshe — es wäre sonst leer und unfructbar. 
Der Mensh ohne Binnenleben, für den das Geistige keine Realität 
vorstellt, wünscht gar nicht, zu einer anderen Weltanshauung als 
der materialistishen? zu gelangen, wohingegen der Phantasiemensch, 
»tatenarm und gedankenvoll,« regressiv Gedanken die unerfüllbaren 
Taten vertreten läßt, die objektive Realität entwertet und Idealist 
wird, scheinbar allerdings auf Grund scarfsinniger logisher Er-= 
Ser 

ollte man schließlich fragen, welher Weltbegriff der Freud-= 
schen Psychologie am gemäßesten erscheint, d. h., weldher ein Minimum 
von subjektiver oder mythologisher Betrahtungsweise und ein 
Maximum von Anpassung an die objektive Wirklichkeit aufweist, 
so muß man sich vor Augen halten, daß das eine Glied der oben 
dargelegten Alternative, der subjektive Idealismus, abgesehen von 
seiner erkenntnistheoretishen Unvollziehbarkeit? auh aus Gründen, 
die in ihm das Erzeugnis einer ganz bestimmten Libidokonstellation 
erkennen lassen, ausfallen muß. Bleibt also nur der realistisch-dualisti- 
N Wie verhalten sih nun die Anshauungen Freuds 
azu? 

Im Gegensatz zu der sonst vorwiegend üblichen Meinung hat 
dieser* uns gelehrt, daß es für das Bewußtsein ein zweifahes von 
ihm bloß erschlossenes Reales, das seiner inneren Natur nah un- 
bekannt bleiben muß, gibt: einerseits die sogenannte Außenwelt, d. h. 
Seen der ee e Apparat, der mit dem Sinnesorgan der 

=Systeme® der Außenwelt zugekehrt ist, ist selbst Außenwelt für 
das Sanesdreas des Bw, — anderseits das eigentlih reale Psydi- 
she, das Unbewußte (durch die Daten des Bewußtseins uns ebenso 


ı Vgl. Novalis: »Wo der Mensch seine Realität hinsetzt, was er fixiert, 
das ist sein Gott, seine Welt, sein Alles.« 

2 „Der Materialismus, der das Ih ganz in der Außenwelt aufgehen läßt, 
bezeichnet das Maximum der denkbaren Projektion, der Solipsismus, der die ganze 
Außenwelt in das Ich aufnimmt, das Maximum der Introjektion«. (Ferenczi, 
Zur Begriffsbestimmung der Introjektion, Zentralbl. f. Psydıoan., II. Bd., 4.) 

3 Siehe Kraft, I. c. p. 164ff. 

* Traumdeutung, 2. Aufl., p. 380ff. 

5 Nah Freud ist der seelishe Apparat aus Instanzen oder Systemen zu= 
sammengesetzt und hat eine bestimmte Rihtung vom sensiblen zum motorischen 
Ende. An jenem Wahrnehmungsende befindet sih das System W.,; das letzte der 
Systeme am motorishen Ende heißt das Vorbewußte (Vbw), das System dahinter 
das Unbewußte, weil es keinen Zugang zum Bewußtsein hat, außer durh das 
Vorbewußte, bei welchem Durchgang sein Erregungsvorgang sih Abänderungen 
gefallen lassen muß. Vgl. Genaueres darüber in der Traumdeutung, p. 331 ff. 


Psycdhoanalytishe Anmerkungen zus Gedichte der Philosophie 221 


unvollständig gegeben wie die Außenwelt durch die Angaben unserer 
Sinnesorgane), das durh das System Vbw vom Bewußtsein abge- 
schlossen ist. Das Bewußtsein hat die Rolle eines Sinnesorgans zur 
Wahrnehmung psydhisher Qualitäten. 

Gegen diese Aufstellungen muß ich jedoch persönlich folgenden 
Einwand erheben: Mit welhem Recht behauptet Freud, das Be- 
wußtsein sei ein Sinnesorgan zur Wahrnehmung psychischer Quali=- 
täten, und in demselben Zusammenhang: das Unbewußte sei das 
eigentlihe Psyhish-Reale? So ausgedrückt, sheinen mir beide Sätze 
irreführend zu sein. Halte ih mich an die Bedeutung des Wortes 
»Sinnesorgan«, so heißt das, daß ein von mir bloß gedadter, aber 
niht anschaulich vorstellbarer, realer Gegenstand des Bewußtseins 
mittels einer unbegreiflihen werdßaoıs eis dAAo yEvos — und darum 
dreht sich ja die Streitfrage: Wie ist überhaupt eine Erkenntnis von 
etwas jenseits des Bewußtseins Liegendem, an sich Seiendem möglich ? — 
zu einem Bewußtseinsinhalt wird. Ebenso sind nun beispiels- 
weise Träume oder Halluzinationen niht Gegenstände des Be- 
wußtseins, sondern nur dessen Inhalte, von denen wir Psydo- 
analytiker auf ein determinierendes reales Unbewußtes mit dem 
gleihen Rechte schließen müssen (falls das Bewußtsein ein Sinnes- 
organ ist) wie von der Vorstellung! »Baum« auf die Existenz eines 
einem anderen Wirklichkeitsbereih angehörigen Gegenstandes »Baum« 
der Außenwelt. Warum sollte man nun dieses Unbewußte für das 
eigentlih Psychische ansehen? Das heißt nur, ein uns geläufiges Wort 
für ein tatsächlihes X setzen, das, sofern man bei der Auffassung als 
Sinnesorgan verharrt, eher etwa dem Somatishen (Cerebrations- 
vorgängen) gleichzustellen wäre. 

Aud die Identifizierung der W-Systeme mit einer Außenwelt 
für das Sinnesorgan des Bw ist, wörtlih genommen, unrihtig. Das 
Bewußtsein bewirkt, daß das von den Sn sateanen übermittelte 
Empfindungsdatum apperzipiert, begrifflih verstanden und dadurdh 
zur Wahrnehmung werde, das Bewußtsein apperzipiert das Perzi- 
pierte, das bereits Psycdishes, also niht Außenwelt für das 
Apperzeptionsorgan ist. Mit einem Wort: Was Gegenstand des 
Bewußtseins ist, kann nichts Psycdisces sein. 

Aber lassen wir diesen Vergleih des Bewußtseins mit einem 
Sinnesorgan zur Wahrnehmung psychischer Qualitäten, der vielleicht 
nicht streng durchgeführt werden sollte, fallen; bescheiden wir uns 
bei der empirisch ziemlich gesicherten Annahme, daß es neben dem 
Bewußtpsyhishen auch ein Unbewußtpsycdisches gibt, das Freud 
im Sinne eines Wert-, nicht eines Existentialurteils das reale Psy- 
hische nennt. Die Bedeutung dieses Wortes weist wohl nicht auf 
einen der Art nah vom Bewußtsein vershiedenen Wirklichkeits- 
zusammenhang hin, sondern drükt nur den zur Äusfüllung von 
Lücken in der Kausalkette des seelishen Geschehens statuierten 


! Vorstellung niht im Sinn von Erinnerungsbild. 


222 Alfr. Frh. v. Winterstein 


Unterbau aus, den wir dem unmittelbar erlebten Zusammenhang 
der Bewußtseinserlebnisse als Träger zugrunde legen müssen. 
Schien es also vorhin niht widersprudhsvoll, das Unbewußte 
etwa als eine Summe von Cerebrationsvorgängen der Körperwelt 
einzugliedern, so dürfen wir nah dem eben Gesagten das Unbe- 
wußte, dieses qualitativ an sih völlig unbekannte Geschehen, in den 
Kreis des Psyhishen — Subjektiv-Psydhishen: damit wäre schon 


vielleiht zuviel gesagt — einbeziehen. 
Welche der beiden Auffassungen — die somatishe oder die 
psyhishe — man sih auch zu eigen madht, — der realistisch- 


dualistishe Weltbegriff wird dadurch nicht wesentlich berührt, sofern 
man nicht das Reale des Unbewußten als einen zwischen den beiden 
anderen Wirklihkeitszusammenhängen vermittelnden! dritten Reali- 
tätszusammenhang betrahten wollte. Denn dies allein wäre ein 
monistisher Realismus. 


I. Die Persönlichkeit. 


»Kein Wunder, daß sich Stutzer so gern im Spiegel 
sehen: sie sehen sih ganz. Wenn der Philosoph einen 
Spiegel hätte, in welhem er sich so wie jene sehen 
könnte, er würde nie davon wegkommen.« 

Lichtenberg. 


Der bekannte Satz Fichtes: Was für eine Philosophie man 
wählt, hängt davon ab, was für ein Mensch man ist?, hat erst durch 
die Lehren Freuds eine gesicherte wissenshaftlihe Grundlage er- 
halten, nachdem bereits Re tzlche — um nur einen bedeutungs- 
vollen Namen zu nennen — tiefgehende Auskünfte zur Beant- 
wortung der Frage nah der psydologishen Abstammung des 
Philosophen gegeben hat. Es fehlt zwar auch sonst niht an ge= 
legentlichen Sei stbekenntnissen der Denker — ich erinnere hier an 
Descartes, an Pascal —, dodh sind jene zu unvollständig und 
ermangeln zumeist der letzten Aufrichtigkeit, um für mehr denn als 
Winke in unserer Untersuhung dienen zu können. Aud Nietzsche 
hat keine zusammenhängende Darstellung geliefert; die uns inter- 


1 Einerseits psychische Gesetzmäßigkeit, anderseits niht zum Bewußtseins- 
ih gehörig, niht subjektiv. — Ich halte bei dem gegenwärtigen Stande unserer 
Kenntnisse den Dualismus für die der Erfahrung am meisten entsprehende An=- 
shauung. Das Psychische ist etwas anderes wie das Physishe — womit ich 
nichts über die Herkunft des Geistigen gesagt haben will — und der Versud, sie 
in einem völlig unbekannten Ding an sich zu vereinigen, bleibt jedem unbenommen, 
bedeutet aber einen Schritt ins Transzendente. 

? In der »Ersten Einleitung in die Wissenschaftslehres« (1797) wird des 
weiteren ausgeführt: Ein philosophisches System ist kein lebloses Gerät, das man 
nach Belieben besitzen und veräußern kann, es entspringt aus der innersten Seele 
des Menschen. Die Wahl (zwischen Idealismus und Dogmatismus) wird darauf 
beruhen, ob das Selbständigkeits- und Tätigkeitsgefühl oder das Abhängigkeits- und 
Passivitätsgefühl die Oberhand in uns hat (zit. nah. Höffding, Gesch. der neueren 
Philosophie, II. Bd., p. 157). 


Psydhoanalytishe Anmerkungen’ zur Geschichte der Philosophie 223 


essierenden Bemerkungen sind in bunter Fülle über alle seine Schriften 
verstreut. Aus der großen Zahl setzen wir in beliebiger Reihenfolge 
einige bezeihnende Aussprühe hieher. In der inleduo zur 
»Fröhlihen Wissenshaft« spriht Nietzsche über das Verhältnis 
von Gesundheit und Philosophie und davon, »wenn die Notstände 
Philosophie treiben«. Ferner heißt es dort: »Die unbewußte Ver- 
kleidung physiologisher Bedürfnisse unter die Mäntel des Objektiven, 
Ideellen, Reingeistigen geht bis zum Erschrecken weit und oft genug 
habe ih mic gefragt, ob nicht, im großen gerechnet, Philosophie 
bisher überhaupt nur eine Auslegung des Leibes gewesen ist. Hinter 
den hödsten Kernen: von denen bisher die Geschichte des 
Gedankens geleitet wurde, liegen Mißverständnisse der leiblichen 
Beschaffenheit verborgen, sei es von Einzelnen, sei es von Ständen 
oder ganzen Rassen.« An einer anderen Stelle seiner Werke lesen 
wir, daß zum Entstehen des Gelehrten »eine Menge sehr mensch- 
liher Triebe und Triebchen zusammengegossen werden mußs, das- 
selbe gilt vom Wesen des Philosophen. — »Jede Philosophie war 
bisher das Selbstbekenntnis ihres Urhebers und eine Art ungewollter 
memoires, es gibt an dem Philosophen ganz und gar nichts Unper- 
sönlihes.« — »Wenn ih etwas vor allen Psychologen voraus habe, 
so ist es das, daß mein Blick geschärfter ist für jene schwierigste und 
verfänglihste Art des Rücsclusses, in der die meisten Fehler ge- 
macht werden — des Rücsclusses vom Werk auf den Urheber, 
von der Tat auf den Täter, vom Ideal auf den, der es nötig hat, 
von jeder Denk- und Wertungsweise auf das dahinter komman- 
dierende Bedürfnis.« — »Audh die Segnungen und Beseligungen 
einer Philosophie, einer Religion beweisen für ihre Wahrheit nichts: 
ebensowenig als das Glück, welches der Irrsinnige von seiner fixen 
Idee her genießt, etwas für die Vernünftigkeit dieser Ideen beweist.« 

Im Denken sieht Nietzsche nur ein gewisses Verhalten der 
Triebe zueinander, von den Philosophen sagt er: »Ihr Wille zur 
Wahrheit ist — Wille zur Madt.« Mikeische selbst sucht nach 
Riehls! Worten das »Wehetuende der Erkenntnis« auf wie einen 
neuen Reiz, der von ihr ausgeht. »Neugierig bis zum Laster, 
Forscher bis zur Grausamkeit« hat er sich genannt und verheißen, 
man werde ihm eine »ausschweifende Redlichkeit« nachsagen, nadhı- 
rühmen. Das Wort: Don Juan der Erkenntnis, ist von ihm. »Br- 
kenntnis — eine Form des Asketismus,« schreibt Nietzsche im 
>AÄntichrist«. Endlih: »Die Wertshätzungen eines Menschen ver- 
raten etwas vom Aufbau seiner Seele und worin sie ihre Lebens- 
bedingungen, ihre eigentlihe Not sieht.s 

>Il nr a pas de maladies, il n’y a que des maladess — es 
gibt kein alleinseligmachendes philosophishes System, sondern nur 
verschiedene Philosophen mit sehr menschlicher Herkunft: dies ist die 
uns nicht mehr fremde Einsicht. Aber es mußten sih noh die 


ı A. Riehl, Fr. Nietzshe, Der Künstler und der Denker, Dritte Aufl., 
Fromann, Stuttgart. 


224 Alfr, Frh. v. Winterstein 


grundlegenden Ergebnisse der Freudshen Forshungen zu einer 
Einheit zusammensdließen, um ein ungefähres Verständnis des 
geistigen Typus des Philosophen zu ermöglichen. 

Der Trieb, den Kausalzusammenhang des Weltgeshehens im 
ganzen zu erforschen, und das Verhältnis zur Realität sind die 
wichtigsten Elemente in der Persönlichkeitsformel des Philosophen. 
Über beide Ersheinungen hat Freud! schon das meiste gesagt, so 
daß ih mich wohl begnügen darf, seine Auffassung ganz kurz zu 
wiederholen. 

Aus der durch einen Schub energischer Sexualverdrängung ab- 
geschlossenen Periode der infantilen Sexualforshung? erübrigen sich 
für das weitere Schicksal des Forscertriebes aus seiner frühzeitlihen 
Verknüpfung mit sexuellen Interessen drei Möglichkeiten, von denen 
wir die erste: die neurotishe Hemmung (die erworbene Denk- 
shwäde leistet dem Ausbruch einer neurotishen Erkrankung Vor- 
schub), hier außer aht lassen können. Die zwei anderen Typen: der 
des neurotishen Grüblers®? und des nicht neurotishen Forscers, 
mögen sich aber gleicherweise unter den Philosophen finden. In 
beiden Fällen wird das Forshen zum Zwang und Ersatz der 
Sexualbetätigung, die intellektuellen Operationen sind beim Grübler 
mit der Lust und der Angst der eigentlihen Sexualvorgänge betont 
und die Beschäftigung mit den ursprünglihen Komplexen der infan=- 
tilen Sexualforshung macht sih noch bemerkbar, indes der zweite 
seinen kräftigen Forscertrieb, der bloß durh die sublimierte Libido 
eine Verstärkung erfahren hat, aber an sich niht aus dem Sexuellen 
abstammt, frei im Dienste des intellektuellen Interesses betätigen 
wird. Der Sexualverdrängung trägt er insofern noh Rechnung, als 
er die Beschäftigung mit sexuellen Themen vermeidet. Die zugrunde 
liegenden psychischen Prozesse sind also verschieden: das eine Mal 
erfolgte ein Durhbruh aus dem Unbewußten, das andere Mal kam 
es zur »Sublimierung«e — was freilih bloß ein Wort, das eine 
große Lücke in unseren Kenntnissen geschickt verdekt. Man hat 
sih etwa vorzustellen, daß im Ichbetrieb vorhandene Anlagen durdh 
einen sexuellen Zushuß gewissermaßen befrucdtet, zur Aktualität 
erweckt werden (Fließ faßt das Werk des Genies als ein Produkt 
der inneren Befruchtung des Bisexuellen auf). 

Was das Verhältnis zur Realität anbelangt, so hat shon vor 
Freud P. Janet? in einer Störung der »fonction du reel«, in einer 
herabgesetzten psychologischen Spannung einen besonderen Charakter 
der »psycdastheniex zu erkennen geglaubt. Ich greife aus seinen 


! Freud: Eine Kindheitserinnerung des Leonardo da Vinci, Schriften z. 
angew. Seelenk. I. Hefl. — Bemerkungen über einen Fall von Zwangsneurose, 
Jahrb. . — Formulierungen über die zwei Prinzipien des psydhishen Ge= 
schehens. Jahrb. III, 1 und passim. 

2 Siehe die Arbeit über Leonardo, p. 15 ff. 

83 Lichtenberg: »Der gesunde Gelehrte: der Mann, bei dem Nachdenken 
keine Krankheit ist.« 

4 P. Janet, Les nevroses, Paris, Alcan, 1900, p. 354 ff. 


Psydhoanalytishe Anmerkungen zur Geschichte der Philosophie 225 


interessanten Ausführungen einige wenige heraus: »Leurs fonctions 
psychologiques ne presentent aucun trouble dans les operations qui 
portent sur l’abstrait ou sur l’imaginaire, elles ne prösentent du 
dösordre que lorsqu’il s’agit d'une operation portant sur la r£alite 
concrete et presente,«e — »Quand ils conservent quelque activite, 
on voit qu’ils se complaisent dans les hoses qui sont les plus 
eloignees de la realit& materielle: ils sont quelquefois psychologues, 
ils aiment surtout la philosophie et deviennent de terribles mötaphysi- 
ciens. Quand on a vu beaucoup de scrupuleux, on en arrive A se 
demander avec tristesse si Ja speculation philosophique n’est pas une 
maladie de l’esprit humain.« — »Qui ne croirait A premiere vue, 
qu’un raisonnement syllogistique demande plus de traveil celebral 
que la perception d’un arbre ou d’une fleur avec le sentiment de 
leur röalitE et cependant, je crois que ce point de sens commun se 
trompe. L’operation la plus difficile, celle qui disparait le plus vite 
et le plus souvent, dans toutes les döpressions, est celle dont on 
vient justement de reconnaitre limportance, l’apprehension de la 
realite sous toutes ses formes.« — Freud selber erblickt in der 
Tendenz zur Isolierung von der Realität einen für die Neurose 
wesentlihen Zug. Die Durdhleuhtung der Genese und des feineren 
Mechanismus der Zwangsneurose, die uns unter anderem die Vorliebe 
der Kranken für den Zweifel und die Unsicherheit sowie ihren Glau- 
ben an die Allmaht der Gedanken dargetan hat, und die Analysen 
einiger Wahnsysteme der Paranoia und Dementia praecox!, die eine 
überrashende Ähnlichkeit mit den metaphysishen Konstruktionen 
der Philosophen zeigen, schließen sih an die anderen Erkenntnisse an 
und gestatten uns, ein annähernd richtiges Bild von den unbewußten 
Grundlagen der philosophishen Produktion zu gewinnen. 
enn wir nun darangehen, in einem bestimmten Verhalten 
der Triebe ein entscheidendes Moment für die Entwicklung zum 
Denker herauszustellen, wollen wir nicht vergessen, vorher zu er- 
wähnen, daß wir uns nicht vermessen, eine Synthese der Elemente, 
die die Persönlichkeit irgendeines großen Philosophen konstituieren, 
zu geben, denn wie Sexualtrieb und Ictriebe im einzelnen zu= 
sammenwirken, wieviel auf Rehnung der angeborenen Anlage zu 
setzen oder den »Zufälligkeitens des Erlebens zu verdanken ist, 
welches ferner der organische Hintergrund von Sublimierungsfähigkeit 
und Verdrängungstendenz sein mag und worin schließlih das 
Spezifishe einer solchen Begabung beruht — alles das sind ebenso- 
viele ungelöste Probleme. 
Aber der Eindruk, den man aus den Analysen namentlich 
gewisser Zwangskranker und dann auch der Paranoiker erhält, 
stimmt so auffällig zu jenem, den man sich bei Betrahtung von 


! Vor allem Freud, Psychoanalytishe Bemerkungen über einen Fall von 
Paranoia usw., ferner J. Nelken, Analytishe Beobahtungen über Phantasien 
eines Schizophrenen, Jahrb. IV und S. Spielrein, Über den psyciologischen 
Inhalt eines Falles von Schizophrenie (Dementia praecox), Jahrb. III. 


Imago II/2 15 


226 Alfr. Frh. v. Winterstein 





Lehre und Leben vieler Denker holt, daß man dieser Ähnlichkeit 
eine mehr als zufällige Bedeutung beimessen muß. »Denn wie der 
Baum mit lichtentfernten Wurzeln die etwa trübe Nahrung saugt 
tief aus dem Boden, so scheint der Stamm, der Weisheit wird 
genannt, und der dem Himmel eignet mit den Ästen, Kraft und 
Bestehn aus trübem Irdishen, dem Fehler nah Verwandten auf- 
zusaugen«!, 

Wir haben an einem früheren Ort hervorgehoben, daß eine 
besonders verstärkte infantile Wißbegierde?, die namentlih die Her- 
kunft der Kinder, die Beschaffenheit der Genitalien des anderen 
Geschlehts und die shwer zu ergründende Rolle des Vaters zum 
Gegenstand nimmt, sih aber im Verkehr mit Erwachsenen dieser 
speziellen Fragen zumeist enthält, um desto unermüdliher über alle 
möglihen anderen Dinge Auskunft zu verlangen, ein — soweit 
unsere Interessen in Betraht kommen — doppeltes Schicksal erfahren 
kann und das mädtigste Motiv für alle spätere Denkarbeit abgibt. 
Wir sind natürlich im allgemeinen bloß auf Vermutungen angewiesen, 
wenn es sih darum handelt, diese Besonderheit bei allen Individuen, 
die nach den letzten Dingen forshen, durch biographishe Details zu 
belegen. Um so willkommener ist es uns, Descartes’ ersten Bio- 
graphen Baillet? berichten zu hören, daß der Vater des Philosophen 


i Grillparzer, Die Jüdin von Toledo, I. Aufzug. 


® Einen schönen Nachweis für den Zusammenhang von Sexualtrieb und 
Forscherfreude — wenigstens in einem Falle — hat Dr. K. Furtmüller im 
Zentralbl. f. Psycdhoan., I, 5/6, durh Anführung einiger Sätze aus einem Briefe 
Multatulis erbradt. Die betreffende Stelle (Multatuli-Briefe, herausgegeben von 
W, Spohr, 2 Bde., p. 72f.) lautet: ».... Ich hoffe, ich hoffe, eine vereinfachte 
Methode für die Trigonometrie zu finden. Alle Schüler werden mir dankbar sein. 
Ich. habe noch viele andere Dinge von dieser Art zu untersuchen. Es ist herrliche 
Poesie, das Aufheben des keushen Gewandes der Natur, das Suhen nad ihren 
Formen, das Forshen nach ihren Verhältnissen, das Betasten ihrer Gestalt, das 
Eindringen in die Gebärmutter der Wahrheit. Siehe da die Wollust der 
Mathematik! 

Und — ih Tor — ih bin ihr Freund! Wahrlih, sie stößt mich nicht zurück, 
ergibt sie sich gleich nicht mühelos. Just Mysterium genug, um gewünscht und 
begehrt und angebetet zu bleiben. Nicht genug, um den stürmischen Bewerber 
mutlos zu machen. Ich habe ihre Fußknödel, ihre Knie gesehen, ja die Hüfte und 
die Lenden, dann und wann .... aber, aber, dann stößt sie mih weg und flieht 
dahin, Daphne, die sie ist, Sylphe, die sie ist, Irrliht, Courtisane, Jungfrau . . 
Und bei alledem die große, mächtige Isis, die Frau Jehovah, die ist, war und sein 
wird, unveränderlih, unantastbar, unvernihtbar: das Sein, die Wahrheit.« 

Ähnlih auh Schopenhauer in den »Fragmenten zur Geschichte der 
Philosophie«: »Als den eigentümlihen Charakter meines Philosophierens darf ich 
anführen, daß ich überall den Dingen auf den Grund zu kommen suche, indem ich 
nicht ablasse, sie bis auf das letzte, real Gegebene zu verfolgen. Dies geschieht 
vermöge eines natürlichen Hanges, der es mir fast unmöglich macht, mic bei irgend 
noch allgemeiner und abstrakter, daher noch unbestimmter Erkenntnis, bei bloßen 
Begriffen, geschweige bei Worten zu beruhigen, sondern mich weitertreibt, bis ich 
die letzte Grundlage aller Begriffe und Sätze, die allemal anschaulich ist, nackt 
vor mir habe... « 


3 Baillet, I. c. I. ap. IV, p. 16. 


Psychoanalytishe Anmerkungen zur Geschichte der Philosophie 227 


die Gewohnheit hatte, den kleinen Rene seinen Philosophen zu 
nennen, wegen der unersättlihen Neugier, mit der ihn dieser um 
die Ursahen und Wirkungen alles dessen, was ihm gerade durch 
den Kopf ging, befragte. Derselbe Descartes hat später in dem 
»Discours de la Methode« seinen Erfolg als Denker nicht seiner 
besonderen Genialität, sondern bloß unermüdlicher, harter und kon-= 
sequenter Gedankenarbeit zugeschrieben. 

An dieser Stelle möchte ich eine kleine Einshiebung maden. 
Ih halte den Antrieb zum Denken bei den Menshen für durdh- 
schnittlich recht gering; man wundert sih wirklich oft, über wieviele 
Dinge sie sih nicht den Kopf zerbrehen, wieviel sie gedankenlos 
hinnehmen, und ich glaube, daß die Qualitätsuntershiede im Denken 
sih ziemlich häufig, wenigstens zum guten Teil, auf Intensitäts- 
differenzen (bei großer Intensität wird oft ein sexuelles Agens an- 
zunehmen sein) zurückführen fassen. In diesem Sinne behielte der 
Ausspruh: »Genie ist Fleiß«, reht gegen den Goethe’shen Satz: 
»Alles Denken in der Welt wird uns nicht auf Gedanken bringen.« 

Es muß entweder der Inhalt des Denkens oder die Tätig- 
keit des Denkens an sich lustvoll sein, um als Anreiz zum Forschen 
zu wirken. Was den ersten Faktor betrifft, so sind es gerade in 
der Metaphysik die alten infantilen Komplexe, die in nur leicht zen- 
surierter Form immer wieder zur Bearbeitung gelangen. Mander 
vertieft sh — nah den Worten Freuds — in die Wissenshaft, um 
die Leidenschaft in Wissensdrang umzuwandeln, um ein Äusleben 
der Komplexe zu ermöglihen und damit ihre Wirkung zu dämpfen. 

In dem sinnreihen Märchen des Novalis von Hyazinth und 
Rosenblüthen sehnt sich der junge Hyazinth, die unausspredhliche 
Natur zu umfassen. Er muß sie suchen gehen. »Ich wollt’ euch 
gerne sagen, wohin, ih weiß selbst niht, dahin wo die Mutter 
der Dinge wohnt, die verschleierte Jungfrau. Nah der ist 
mein Gemüt entzündet.« Er fahndet nach dem geheimnisvollen Auf- 
enthalt der Isis. Sein Vaterland und seine Geliebten verläßt er und 
achtet nicht im Drange seiner Leidenshaft auf den Kummer seiner 
Braut Rosenblütchen. Lange währt seine Reise. Endlich begegnet er 


ı Vgl. audh die folgende, von E. Jones (Jahrb. IV, p. 583) mitgeteilte 
Phantasie eines Zwangsneurotikers: »Der Held, natürlih er selbst, verfolgt ein 
stets ausweichendes Etwas. das er nie erreicht und das ihm der wirkliche Sinn 
und Mittelpunkt des Lebens zu sein scheint. Nadı jahrelangem Umherwandern 
kommt er wieder in die Nähe seiner alten Heimat, traumverloren in einen tiefen 
Teich starrend. Träumend malt er sich aus, wie er vor vielen hundert Jahren 
Maid Marion aus den Händen der Normannen befreite und zur Strafe eine große 
Anzahl derselben tötete. Er erwachte aus seinem Tagtraum und findet sih zur 
Seite seiner Cousine, von der er vor Jahren geschieden war, und weiß nun plötzlich, 
was er so lange gesuht hat.« »Der Patient war als Kind,« fügt Jones hinzu, 
»sehr verliebt in eine erwachsene Cousine, natürlih als Ersatz rür die Mutter.« 
Derselbe Patient, bei dem die Analerotik eine große Rolle spielte, wollte über- 
haupt bei allem im Leben, sei es konkret oder abstrakt, zum »Mittelpunkt« oder 
auf den »Grund« gelangen. Sein Streben ging auch dahin, die zentrale Bedeutung 
des Lebens, des Weltalls usw. herauszufinden. 


15* 


228  Alfr. Frh. v. Winterstein 


einem Quell und Blumen, die einen Weg für eine Geisterfamilie 
bereiten. Sie verraten ihm den Pfad zum Heiligtum. Er tritt ein 
und steht vor der himmlischen Jungfrau, da hebt er den leichten, 
glänzenden Schleier und — Rosenblütchen sinkt in seine Arme. — 

Der tiefsinnige Dichter hat hier den Zusammenhang zwischen 
(vershobener) Mutterlibido und Forshungsdrang in deutliher Weise 
ersichtlih gemadt. h 

Die Frage nah dem Ursprung der Dinge geht audh auf das 
Grübeln über die eigene Herkunft zurück und der kindlihe Zweifel an 
der Abstammung vom Vater (hinter dem sich vielleiht manchmal 
der feindselige Wunsh, keine Gemeinschaft mit dem Vater zu 
haben, dessen Rivale der Sohn bei der Mutter ist, birgt) erfährt 
mit der Verdrängung der inzestuösen Mutterlibido eine Art Über- 
kompensation durch Phantasien von der Geburt aus dem Vater! 
und der Shöpfung der Welt durh Gott. Die aus unbewußten 
Gründen erfolgende Entwertung der Mutter- und Überbesetzung 
der Vaterimago (Ausnahmen haben wir früher erwähnt!) führt 
also zu exquisit männlichen Geburtsphantasien, die einerseits viel- 
leiht bisweilen auf die eben besprohene Unkenntnis betreffs des 
Anteils des Vaters hinweisen, anklöfseits gewisse infantile Wünsce, 
wie sie beispielsweise der kleine Hans in Freuds Ȁnalyse der 
Phobie eines fünfjährigen Knaben«? äußert, nämlih in Identifizie- 
rung mit der Mutter Kinder zu kriegen, zu wiederholen scheinen. 
Die manifeste Bedeutung des Vaters dünkt mir in manchen philo- 
sophishen Systemen von so überragender Bedeutung gegenüber 
der der Mutter zu sein, daß ihr wohl einige Bemerkungen ge- 
widmet werden müssen. Es ist vielleiht mehr als ein Zufall, daß 
so viele hervorragende Denker in Pfarrhäusern geboren wurden, 
eine sehr religiöse © feichung genossen haben oder Theologen waren, 
ehe sie sih in Auflehnung gegen die religiöse und väterliche 
Autorität zur Unabhängigkeit des Geistes durhrangen. Aud jene 
mystishe Stimmung, in die nicht selten diese Männer auf dem 
sih senkenden Stük Leben gerieten, wird begreiflih, wenn man 
bedenkt, daß das Alter, besonders bei unverheirateten Individuen, 
die Realübertragung zurücktreten und die infantilen Imagines 
regressiv wiederbeleben läßt. Vor den dräuenden Schatten des 
Todes flüchten sie wie einstmals als Kinder in den tiefsten Schoß 
des Friedens. 

Betrahtet man die Lebensgeshichte vieler Denker, so hat 
man wirklih den Eindruk, daß sie niemals von ihrem WVater- 
komplex — sei es in positivem oder negativem Verhalten — ganz 


i Jung schreibt in seiner mehrfah zitierten hochbedeutsamen Arbeit 
»Wandlungen und Symbole der Libido«: »Ein Sohn darf natürlih denken, daß ein 
Vater ihn auf fleishlihem Wege erzeugt habe, nicht aber, daß er selber die Mutter 
befruchtet und so, sih selber gleih, zu neuer Jugend wiedergebären lasse.« 
(Jahrb. IV, p. 269.) 


2 Jahrb. I, p. 70/71. 


Psydhoanalytishe Anmerkungen zur Geschichte der Philosophie 229 


losgekommen sind. Auf ihre negative Einstellung läßt sih bisweilen 
mit Recht der von einem französischen Soziologen geprägte Ausdruck 
»contre=imitation« anwenden. Die psydhishe Konstellierung durch 
den Vater kann sih nun auf die verschiedenste Art und Weise 
geltend machen. Entweder besteht die ambivalente Einstellung 
. nebeneinander wie beispielsweise bei Descartes, der ein unab- 

hängiger Denker und Zurich ein ergebener Sohn der Kirche war, 
der im Lande der Freiheit, in Holland, lebte und jeden Meinungs- 
konflikt mit der Geistlichkeit ängstlich vermied!, oder sie verschmilzt 
zu eigenartigen Gestaltungen innerhalb des Systems. So kann dieses 
von dharakteristisher Neuheit und Kühnheit sein und zugleich eine 
mystishe Beziehung des Menshen zur Gottheit lehren. Ich darf 
hier wohl an Spinoza erinnern. Je stärker das konventionell- 
religiöse Moment bei einem solhen Denker betont erscheint, desto 
höher dürfen wir die Bedeutung der positiven Komponente der 
Vaterlibido gegenüber der negativen veranshlagen. Oder endlich die 
zwei Verhaltungsweisen lösen einander im Leben des Individuums 
ab, die Abhängigkeit vom Vater wird sich in diesem Falle haupt= 
sählih am Anfang und Ende des Lebens geltend mahen. Fichte 
ist vielleicht der Verraien eines solchen Typus. Es ist natürlih audh 
möglih, daß der Einfluß des Vaters shon frühzeitig und voll- 
ständig überwunden wurde, doh ist dies bei den Metaphysikern 
niht eben wahrsceinlic. 

So interessant eine nähere Untersuchung der Mystiker und 
dann auh der Gnostiker wäre, in deren Lehre das sexuelle 
Fundament besonders unverhüllt durhschlägt, müssen wir doc des 
Raumes wegen davon absehen und begnügen uns nur mit der 
einen, aber, wie es scheint, nicht bedeutungslosen Bemerkung, daß 
alle Mystiker Masodisten® sind. Die alte passiv-homosexuelle Ein=- 
stellung zum Vater, auf die mögliherweise dessen seinerzeitige 
Kastrationsandrohung von nachhaltiger Wirkung gewesen ist, kann 
sih in späteren Jahren im Rahmen eines Systems beispielsweise als 
Streben nach lustvollem Aufgehen im Absoluten? äußern. Die Ver- 
einigung* mit der Gottheit ist ja das Erlebnis und das Ziel jedes 
Mystikers. Die Schleier heben sih, wenn man in den »Denk- 
würdigkeiten« des philosophishen Paranoikers Schreber liest, daß 
dieser von Gott entmannt und als Weib mißbrauht wurde. Natür- 
lih gehört das Verlangen des Mystikers und die Schrebersche 
Phantasie nicht demselben psydhishen Niveau an. Der Mystiker 
gibt den ungeeignetsten iss für eine nücdterne Tatsahen- 
forshung ab. Der Forsher hat — im Gegensatz auh zum 
Künstler — ein, man möchte sagen, feindlihes, grausames Verhältnis 


! Aud Leibniz gehört in diese Kategorie. 
2 Siehe auch die interessante Arbeit von OÖ, Pfister, Hysterie und Mystik 
bei Margaretha Ebner. Zentralbl. f. Psychoan., I. Bd., 10/11. 


3 „Aber sich so verlieren, ist mehr sich finden« (Franciscus Ludovicus 
Blosius). 


* Die Berührung (änAwoıs) des Absoluten! 


230 Alfr. Frh. v. Winterstein 


zur Außenwelt; er will Macht, Herrschaft über die Dinge erlangen, 
und zwar durh Erkenntnis. »Wissen ist Maht«!. »Tantum possu- 
mus, quantum scimus.« Unter den Philosophen ist vor allem ein 
Bacon,? einHegel zu nennen. Die eigentlihen Metaphysiker, die das 
Reich der Ahnungen mit Wunschmaterial ausbauen, sind dagegen wohl 
überwiegend Masodisten.: Bezüglich der Gelehrten aber heißt es in 
Nietzsches Scrift »Schopenhauer als Erziehers®: »Dazu füge 
man einen gewissen dialektishen Spür- und Spieltrieb, die jägerische 
Lust an verschmitzten Fuchsgängen des Gedankens, so daß nict 
eigentlih die Wahrheit gesucht, sondern das Suchen gesucht wird? 
und der Hauptgenuß in listigem Herumsdleihen, Umzingeln, kunst= 
mäßigem Abtöten besteht. Nun tritt noch der Trieb zum Wider- 
spruch hinzu, die Persönlichkeit will, allen anderen entgegen, sich 
fühlen und fühlen lassen, der Kampf wird zur Lust und der per- 
sönlihe Sieg ist das Ziel, während der Kampf um die Wahrheit 
nur der Vorwand ist.« 

Man kann vielleicht geradezu die Philosophen in die zwei Typen 
des mystishen Masodisten und amystishen Sadisten — im Sinne 
einer vorläufigen Auskunft — einteilen. Bei dem ersten Typus dieser 
Gattung äußert sih die seinerzeitige Auflehnung gegen den Vater, 
dessen Überlegenheit man nicht mehr anerkannte, später in einer 
rücsictslosen, unbefangenen Betrahtung der Dinge, eine Art ver= 
feinerten Sadismus, eine gewisse intellektuelle Grausamkeit zeichnet 
diese Individuen aus. Sie gewähren dem Psydhoanalytiker wegen des 
Vorherrshens des Realitätsprinzips weniger Interesse als der zweite 
Typus, dessen Denken in reiherem Maße nicht nur aus infantilen 
Quellen intensiv verstärkt, sondern ebenfalls material bestimmt ist. 
Um Mißverständnissen vorzubeugen, muß ich immer wieder bemerken, 
daß in Wirklichkeit die zwei eben skizzierten Typen nicht so scharf 
gegeneinander abgesetzt sind, wie ih es hier zu tun versucht habe, 


ı Vgl. Nietzsche über die Philosophen: »Ihr Wille zur Wahrheit ist 
Wille — zur Madt.« Der »Wille zur Madhts Nietzsches steht zwar in einer 
gewissen Beziehung zum Sadismus, ist aber mit ihm keineswegs identish. Er ist 
(nah einer mündlihen Äußerung des Wiener Philosophen Professor A. Stöhr) 
eine gemeinsame Erscheinungsform aller Grundtriebe. Der Madtwille des einzelnen 
Triebes ist jedoch unseres Erachtens von dem Willen zur Madt des Individuums 
zu unterscheiden, der als Resultante eines bestimmten Verhältnisses der Triebe zu= 
einander (gleichsinniges Zusammenwirken der konstitutionell verstärkten Trieb- 
aktivitäten) die inhaltlichen Bestimmungen der betreffenden für das Individuum 
charakteristishen Triebe gegenüber der formalen Eigentümlichkeit der Hemmungs=- 
losigkeit, der Expansionssudht, der das fremde Individuum zur gleichgiltigen Sache 
wird, zurücktreten läßt. Der Sadismus ist gewissermaßen als sexueller Repräsentant 
dieses „Willens zur Macdhts anzusprehen. Wenn dem Fichteschen Ih die Welt 
das Material seiner Pfliht ist, so ist diese Welt dem »Willen zur Madts ein 
Material seiner Mactgelüste. 

2? Nah ©. Weininger eine Art Zauberer, Eroberer auf dem Gebiete der 
Wissenschaft. 

3 Nietzsches Werke, I. Bd., p. 455. Naumann, Leipzig 1903. 

4 Vgl. Lessings Aussprudh, daß ihm mehr am Suchen der Wahrheit als 
an ihr selbst gelegen sei. Anmerk. d. Ref. 


Psychoanalytishe Anmerkungen zur Geshichte der Philosophie 231 


daß im Leben eines Denkers abwechselnd bald das eine, bald das 
andere Moment deutliher vorklingen kann, daß ferner ja bekanntlich 
Sadismus und Masodhismus nie ganz voneinander getrennt vor= 
kommen und sich schließlih von beiden Typen Fäden zu gemein- 
samen eigentümlihen Charakteren des Seelishen herüberspinnen. 
Über den Schautrieb und seine mögliche Beziehung zu Rationa- 
liimus und Mystik ist shon im ersten Teil der Arbeit in Ver- 
mutungen — und mehr können wir heute noh nidht geben — 
gesprohen worden. Wie wir 'bei diesem im einzelnen Fall einen 
Zusammenhang mit der infantilen Relation zum Vater (eventuell 
zu beiden Eltern) angenommen haben, so gilt das Gleihe auch vom 
Narzißmus (im geistigen Sinn), den wir als einen für die Philosophen 
wesentlihen Zug! anführen mußten. Nur die Funktionslust am 
Denken an und für sich erklärt jenen »Mißbrauh des Denkenss, 
der oft zu den abenteuerlihsten und unsinnigsten Spekulationen 
geführt hat. Die intellektuellen Operationen sind hier mit der Lust 
und Angst der eigentlichen Sexualvorgänge betont?. Die Überbesetzung 
des Denkens hat natürlih einen erhöhten Glauben an die Realität 
des Gedahten und eine Entwertung der transsubjektiven Wirklich- 
keit zur Folge. Die fortgesetzte Introversion kann einen völligen 
Abbruch der Beziehungen mit der Außenwelt bewirken. Das System, 
das in Anknüpfung an die Realität ein Ausleben uralter Komplexe 
ermöglicht, erinnert in bezug auf seine biologische Bedeutung bis- 
weilen an den mißlingenden kompensierenden Übertragungsversuc 
mancher Geisteskranker im Aphelium ihrer Entfernung von der 
Außenwelt, wo ihnen die Abspaltung bewußt zu werden vermag.’ 
Betreffs des geistigen Narzißmus der Denker wage ih die Bemer- 
kung, daß der Übergang des Narzißmus vom Objekt auf die 
Funktion vielleiht die Brüke zur Sublimierung bildet. Die »Re- 
gression von Handeln aufs Denkens sowie einige andere, teilweise 
noh anzuführende Charaktere der Philosophen erinnern in so auf- 
fälliger Weise an Symptome der Zwangsneurose, daß man nicht 
umhin kann, die meisten Philosophen in die Nähe jenes Typus, den 
Freud als »Zwangstypus« bezeichnet, zu stellen. Der genannte 
Forscher hat in seinen tief shürfenden »Bemerkungen über einen 
Fall von Zwangsneurose« der Verdrängung des infantilen Hasses 
gegen den Vater die allergrößte Bedeutung für den Aufbau dieser 
Neurose zugesprodhen, Der auf intellektuelle Probleme diffundierende 
Zweifel ist eigentlich der Zweifel an der Liebe, die durch einen 
eben so starken Haß im Unbewußten gebunden wird. Das 


! Fichte ist ein besonders schönes Beispiel dafür, der das Ih und die Er- 
kenntnis desselben in den Mittelpunkt der Weltbetrahtung stellt. 

2 Vielleicht liegt darin eine Quelle der Behauptung einer Verwandtschaft 
zwishen Erkennen und Zeugen, welch letztere von Franz v. Baader in merk- 
würdiger Weise dargetan wurde. Selbstverständlih ist die Gegensatzrelation im 
Unbewußten auh an der Herstellung dieser Beziehung beteiligt. 


s Vgl. J. Nelken, Analyt. Beobahtungen über Phantasien eines Schizo- 
phrenen. Jahrb. IV. 


232 Alfr. Frh. v. Winterstein 


stimmt sehr gut zu dem, was ich früher über die Bedeutung 
des Vaters für das Schicksal des Philosophen gesagt habe, und 
wenn wir mit Stekel den Zweifel einen negativen Glauben! 
nennen wollen, verstehen wir auh das oft ein Leben lang währende 
Schwanken zwishen Atheismus und Glauben? und die endliche 
Flucht in die Religion. Das frühzeitige Auftreten des sexuellen 
Shau- und Wißtriebes sowie die Ausbildung der sadistischen 
Komponente? würden als von Freud festgestellte Bigentümlich- 
keiten der Zwangskranken das Material für die oben erörterten 
Sublimierungen ergeben. Wenn Freud ferner hervorhebt, daß 
die Zwangshandlungen sih immer mehr, und je länger das 
Leiden dauert, infantilen Sexualhandlungen autoerotishen Charakters 
nähern, ist vielleiht im Rahmen dieser Krankheit audh Platz für den 
von uns so oft herangezogenen Narzißmus. Die ziemlih gleich- 
lautenden Aussprüche lee und Descartes*, daß sie erst 
im Zweifel ihrer Existenz gewiß geworden seien, weisen offenbar 
auf die libidinöse Überbesetzung des Denkaktes hin, dem die sonst 
den Inhalten des Denkens gewidmete Lust und Angst verliehen 
wird. Wer den Aberglauben und das Phänomen des Todes in seiner 
Bedeutung für die Zwangsneurotiker kennen gelernt hat, wird auf- 
merksam, wenn Schopenhauer das Todesproblem® an den Ein- 
gang der Philosophie stellt. Ih weiß nun sehr genau, daß der Tod 
einerseits auh Nichtneurotiker zu philosophishen Betrahtungen an= 
regen kann, anderseits der Tod allein die Menschen nicht zur Phi- 
fosophie veranlaßt haben wird. Das »davuaßeıw« ®, die Verwunderung 
über alles, in der Aristoteles die Quelle des Philosophierens 
erblikt, mahnt hinwiederum an den Verstehzwang, an die Vorliebe 
der Kranken für die Unsicherheit und den Zweifel. Auch der Philo- 
soph beschäftigt sich mit Problemen, die einer gesicherten Lösung 
widerstreben, so z. B. mit dem Ursprung der Welt und ähnlichen 
ihrer Natur nah schwebenden Fragen. Gewissermaßen als Ersatz 
für die fehlende Einsicht in die Determinierung des Innern regt sich 
bei Denkern und Zwangsneurotikern ein erhöhtes Kansalitätsbedüffnis 
der Außenwelt gegenüber, das mit treffender Anschaulichkeit, wenn 
aud in pathologisher Verzerrung, von Schreber beschrieben worden 


ı »]st doch der Glaube nur das Gefühl der Eintracht mit dir selbst.« Grill- 
parzer. 

2 Audh Schreber war seiner eigenen Aussage nah vor Ausbrud seiner 
Krankheit ein Zweifler. 

3 Nacı späteren Untersuhungen dürfte gleichfalls der Analerotik eine gewisse 
Bedeutung für die Zwangsneurose zukommen. 

* Aus den von Baillet (I. c., p. 81 ff.) mitgeteilten Träumen des dreiundzwanzig- 
jährigen Descartes geht das innere Shwanken des Philosophen zur Evidenz hervor. 

5 Die Welt als Wille und Vorstellung, II., 4 Buh, 41. Kap.: »Der Tod 
ist der eigentliche inspirierende Genius oder der Musaget der Philosophie, weshalb 
Sokrates diese auh Vavarov ueietn definiert hat. Schwerlih sogar würde aud, 
ohne den Tod, philosophiert werden.« 

6 Aristoteles, Metaphysik: »Aıa yao To Yavudlsıw ol Avdooroı zai vöv 
xai TO no@tov Nolavro YıLooogelvs. 


Psycdoanalytishe Anmerkungen zur Geschichte der Philosophie 233 


ist (4. c., p. 229: »Gerade das zusammenhanglose Hineinwerfen 
der das Kausalitätsbedürfnis oder irgendwelhe andere Beziehung 
ausdrückenden Konjunktionen in meine Nerven (warum nur usw.) 
hat mih zum Nachdenken über viele Dinge genötigt, an denen der 
Mensch sonst ahtlos vorüberzugehen pflegt und dadurh zur Ver- 
tiefung meines Denkens beigetragen. Jede Vornahme irgendeiner 
menschlichen Tätigkeit in meiner Nähe, die ih sehe, jede Natur- 
betrahtung im Garten oder von meinem Fenster aus regt gewisse 
Gedanken in mir an, höre ich dann in zeitlihem Ansclusse an diese 
Gedankenentwiclung ein in meine Nerven hineingesprohenes ‚Warum 
nur” — so bin ih dadurh genötigt oder ae in ungleich 
höherem Grade, als andere Menschen veranlaßt, über den Grund 
oder Zweck der betreffenden Erscheinungen nachzudenken. 

Und dieses Kausalitätsbedürfnis konstruiert sih — gleichsam 
als späte Wunscerfüllung für den unabscließbaren Charakter der 
Kinderforshung — beim Philosophen ein in sich geschlossenes 
System, wo die Beantwortung er quälenden Frage ihren Platz 
findet, eine Zufluchtsstätte der Sicherheit und Beruhigung. 

In Parenthese merke ih an, daß die pythagoräische Tafel 
der Gegensätze (die assyrish-babylonishen Ursprungs ist) vielleicht 
denselben Zweck verfolgt, gewissermaßen: Tertium non datur. Sie 
enthält unter anderem die Oenshenisllene von Rechts und Links, 
Männlih und Weiblih, Liht und Finsternis, Gut und Böse und 
bringt die »antithetische Einheitsbeziehung zwischen Vorstellung und 
Gegenvorstellung« (Lipps) zum Ausdruck. Diese uns auch aus der 
Traumsymbolik (z. B. linker Weg — Weg des Unrehts) und dem 
Folklore geläufigen Entsprehungen findensich zum Teil in der Zeugungs- 
theorie des Parmenides wieder, wo der männlihe und weibliche 
Charakter des Individuums von der Lage des Embryo im Mutter- 
leib — ob rechts oder links — abhängig gemadht wird!. 

Von Freud ist die frühzeitige Scheidung der Gegensätze von 
Liebe und Haß beim Individuum als eine Bedin ung der Ent- 
stehung der Zwangsneurose angesprochen worden. Die durh Ver- 
shiebung allgemein gewordene und durch den Zweifel stets lebendig 
erhaltene Empfindung »des scharfen Widerspruchs, des unerbitt= 
lihen Entweder-Oder« mag denkbarerweise ihren Anteil an der 
Errihtung der pythagoräishen Tafel der Gegensätze? haben. 

! Der Biologe Fließ erblickt in der linken Hand den Index des Gegen- 
geschledhtlihen. Nah desselben Ansicht liegt, wie schon früher erwähnt, das 
Wesen des Genies im Hermaphroditishen, das Werk ist ein Produkt der inneren 
Befruchtung des Bisexuellen. Vielleiht ist die »Sehnsuct, sich selbst zu gebärens, 
von der in einer J. Böhme nacempfundenen Schrift Schellings die Rede ist, 
ein Ausdruck dieser biologischen Verhältnisse. Schreber spricht auf p. 4 seiner 
»Denkwürdigkeiten« eine hieher gehörige Beobachtung aus. Die Schule der Züricher 
Psydoanalytiker würde die Vorstellung der Selbstgeburt in Analogie mit den 
Vorstellungen vom Sterben und Wiedergeborenwerden wohl als den bloß mit 
ardhaischen Mitteln dargestellten Begriff von Umwandlung und Entwicklung auffassen. 


? Vgl. die große Bedeutung des Gefühls für Symmetrie bei Kant, der sicher=- 
lih dem Zwangstypus angehörte. 


234 Alfr. Frh. v. Winterstein 


Wer diese Verquickung von philosophishem Denker und 
Zwangskranken unangenehm und ungeredtfertigt findet, soll nicht 
außer act lassen, daß einerseits shon einem gewöhnlihen Zwangs- 
neurotiker im Durchschnitt eine ziemlich große intellektuelle Begabung 
zugesprohen werden muß, anderseits der Denkzwang! — gute 
geistige Fähigkeiten vorausgesetzt — zu Resultaten führen kann, 
über deren Wert und Giltigkeit ihre Genese ja nicht ent- 
scheiden darf, 

Wenn ih vorhin einen sadistishen und masodistishen Typus 
beim Philosophen unterschied, so gilt für diese und für andere ähn- 
jihe Einteilungen der Satz, daß die Typen in Wirklichkeit nicht so 
streng voneinander getrennt sind, daß nur ein Mehr oder Weniger 
betont werden soll, daß mit einem Wort die Wissenshaft die Dinge 
einfacher sieht, als es der vielfahen Verschlungenheit und Kompli- 
kation der Erscheinungen entspriht. Auch der nücterne Forscher 
wird nicht ganz frei von den Einwirkungen persönlicher Komplexe 
bleiben, so gut der mythologishe Denker sih in den Schöpfungen 
seiner Phantasie niht völlig vom Boden der Realität zu entfernen 
brauht. Mindestens den Wert des Psycdologish-Realen wird er 
für sein Werk beanspruhen dürfen. Wir wollen freilih nicht so 
weit wie Feuerbach gehen, dem alle Theologie und Philosophie 
nur Psychologie ist; das müßte erst streng bewiesen werden. Die 
Psydhoanalyse kann — um einen Einwand H. Höffdings? gegen 
Feuerbachs Religionsphilosophie modifiziert wiederzugeben — alle 
philosophishen Vorstellungen als psycdologishe Erzeugnisse er= 
klären, daß sie aber wirklih nichts anderes und nicht mehr sein 
sollten, läßt sich nicht beweisen. Es ließe sih die Realität einer 
philosophishen Idee denken, die dem tiefsten Trahten des mensch- 
lihen Gemüts entsprungen wäre. Ob hinter dieser Denkbarkeit sich 
allerdings nicht bloß ein schühterner Wunsch verbirgt, ist nicht 
auszumachen. 

Ohne uns in eine Diskussion über den Anspruh auf objek=- 
tiven Wert, der von der oder jener Weltauffassung erhoben werden 
könnte, einzulassen, stellen wir fest, daß viele he 
Libidotheorien zu sein scheinen, die sih entweder als vershobene 
Bearbeitungen psychoanalytisher Erkenntnisse darstellen oder mit 
den Ergebnissen der Psychoanalyse direkt übereinstimmen. 

Es sei mir an dieser Stelle, bevor ih zu den Schlußgedanken 
übergehe, gestattet, in Form einer kleinen Einshiebung dem philo- 
sophishen Optimismus und Pessimismus einige wenige Betradh- 
tungen zu widmen. Man hat hier weit klarer als in anderen Fällen 
shon lange erkannt, daß ein philosophishes System, das sich auf 


ı Freud, |. c. p. 417: »Der Zwang ist ein Versuh zur Kompensation 
des Zweifels und zur Korrektur der unerträglihen Hemmungszustände, von denen 
der Zweifel Zeugnis ablegt.« 

= ® H. Höffding, Geschichte der neueren Philosophie, II. Bd., Leipzig 1906, 
p. 


Psydhoanalytishe Anmerkungen zur Geschichte der Philosophie 235 





einer bestimmten Wertshätzung des Lebens autbaut, nur »der 
kosmishe Ausdruck eines bestimmten Temperamentes« ist. Nietz- 
sche! hat das Entsceidende gesagt: »Urteile, Werturteile über 
das Leben, für oder wider, können zuletzt niemals wahr sein: sie 
haben nur Wert als Symptome, sie kommen nur als Symptome in 
Betraht — an sih sind solhe Urteile Dummheiten. Man muß 
durchaus seine Finger danah ausstrecken und den Versuh maden, 
diese erstaunliche ns zu fassen, daß der Wert des Lebens 
nicht abgeshätzt werden kann. Von einem Lebenden nicht, weil ein 
solcher Partei, ja sogar Streitobjekt ist und nicht Richter; von einem 
Toten nicht, aus einem anderen Grunde. Von seiten eines Philo- 
sophen im Wert des Lebens ein Problem sehen, bleibt dergestalt 
sogar ein Einwurf gegen ihn, ein Fragezeihen an seiner Weisheit, 
eine Unweisheit.« 

Wenn sih auh eine Weltanshauung wie die Schopen- 
hauers, die das Lebensgefühl eines einzelnen zu dem der ganzen 
Welt madht, gewiß nicht auf objektive Wahrheit berufen kann, so 
darf doh niht verkannt werden, daß sein radikaler Pessimismus 
dazu beigetragen hat, gewisse uns manchmal abgewendete Facetten 
des Daseins in einem deutliheren Lichte zu erblicken. Daß der 
Weltschmerz fast stets mit einer ganz bestimmten Libidokonstellation 
(Unfähigkeit zur Realübertragung, Fälle der Versagung, Unmöglih- 
keit der Befriedigung auf den bereits eröffneten Bahnen infolge einer 
allgemeinen Libidosteigerung) einhergeht, ist wohl evident, indes ein 
übertriebener Optimismus stark an die Euphorie von Manischen 
erinnern kann?. 

Im weiten Umkreise unserer Untersuhung konnten wir vor 
allem zwei Dinge in den Mittelpunkt stellen: den geistigen Narziß- 
mus der Philosophen und ihr Verhältnis zu den Eltern. Jener ist 
ein doppelter: einerseits wird die oft zwangsmäßig? ausgeübte 
Denkfunktion förmlih zu einer autoerotishen Handlung, der Phi- 
losoph betradhtet mit Lust sein Denken, das bisweilen bloß um 
seinetwillen betrieben wird, unbekümmert um Erfahrung und Inhalt 
— wir haben traurige Beispiele dafür. Anderseits spiegelt sich der 
Denker im Kosmos; das Tiefste, was ihm von außen entgegen- 
tritt, wiederholt nur seine eigene innerste Natur, aber er erkennt es 


ı Götzendämmerung, p. 69, Naumann, Leipzig 1895. 

? In der »Geburt der Tragödie usw.« wirft Nietzsche die Frage auf: 
»Ist Pessimismus notwendig ein Zeichen des Niedergangs, Verfalls, des Mißraten- 
seins, der ermüdeten und geshwäcten Instinkte? — Wie er es bei den Indern 
war, wie er es, allem Anschein nah, bei uns, den modernen Menshen und 
Europäern ist? Gibt es einen Pessimismus der Stärke?« WVielleiht gehört die 
Schwermut der Jugend hieher, die auf einer aus äußeren oder inneren Gründen 
stattfindenden Triebstauung beruhen dürfte. Vgl. auh Nietzsches Aussprud: 
»Carlyle: der Pessimist oder das zurückgetretene Mittagessen.« In dieser witzigen 
Form ist die physishe Verursahung des Pessimismus gekennzeichnet. 

3 Freud erblikt im Denkzwang häufig eine Reaktion gegen die Drohung 
oder Befürhtung, man werde durch sexuelle Betätigung, speziell durch Onanie, 
den Verstand verlieren. Vgl. die Arbeit über Schreber. 


236 Alfr. Frh. v. Winterstein 


nicht als solhe, sofern er nicht zuerst den umgekehrten Weg nadı 
innen geschritten ist. Dann glaubt er, im Abgrund des Gemüts den 
Kern der Natur! entdeckt zu haben. 

Es ist das Verdienst des deutshen Volkes, nahdrüklich in 
jene Rihtung gewiesen zu haben, aber die Frage wird wohl kaum 
je von der Philosophie beantwortet werden können, ob der Mittel- 
punkt unseres Wesens wirklih eins sei mit dem, »was die Welt 
im Innersten zusammenhält«. Von unserem nicht egozentrischen 
Standpunkte aus möchten wir diese Lösung eher verneinen. 

Die Bedeutung der Eltern, namentlih des Vaters, scheint für 
das Schicksal des Metaphysikers von maßgebendstem Einflusse zu 
sein. Die an die Eltern gerichtete Frage nad der Herkunft des 
kleinen Menshenkindes wiederholt der Erwachsene, wenn er sich 
an die Natur wendet, um das Geheimnis ihres Daseins zu er- 
forshen? und die Allmadhıt des Vaters überträgt er auf Gott, den 
er die Welt erschaffen läßt. Auch der Glaube an die Allmadht der 
Gedanken, hinter dem ein Stück kindlihen Größenwahns steckt, 
wird auf Gott projiziert. So heißt es bei Leibniz: »Dum deus 
calculat, fit mundus.« Im Erkennen des göttlihen Urgrundes liegt 
eine Art Vereinigung und das tiefste Streben des Denkers geht 
dahin, sih in den »Schoß des weltenshwangeren Nicts«®, des 
Einen, des Absoluten zu retten. Der von den Eltern ausgeübte 
Bann zeigt sich vielleiht auh noch in der Ehelosigkeit der meisten 
Philosophen, in diesen Zusammenhang gehört gleichfalls die »Re- 
gression vom Handeln auf’s Denken«. »Primum vivere, deinde 
philosophari« — einige aber haben von vornherein auf das Leben 
verzihten und grübeln müssen‘. 

Damit wird keine Abdankung der Metaphysik verkündigt. Sie 
ist eine notwendige Erscheinung des menschlichen Geistes und wenn 
ı Goethe: »Ist nicht der Kern der Natur Menschen im Herzen?« 

2 In einem »Philosoph« überschriebenen Gedichte von Fr. Langheinrich, 
das sich auf die beigegebene Radierung von Klinger bezieht, heißt es: 

»Natur, wie hab ich tief vor dir gekniet, 
Das dumpfe Haupt an deine Brust versunken: 


‚Irink‘, sprachst du, ‚daß dein Auge Klarheit sieht‘, 
Und Liht und Wunder hat mein Mund getrunken. 
Nun lehre mih, warum dies Dasein glüht, 

Die Seele, Mutter, gib mir deine Seele!« 

Die Aufklärung über das Sexualgeheimnis kann eventuell auch eine 
praktische sein. »Wenn dann,« schreibt Novalis in den ‚Lehrlingen zu Sais‘, 
»jenes mächtige Gefühl, wofür die Sprahe keine anderen Namen als Liebe und 
Wolfust hat, sih in ihm ausdehnt, wie ein gewaltiger, alles auflösender Dunst 
und er bebend in süßer Angst in den dunkeln lockenden Schoß der 
Natur versinkt, die arme Persönlichkeit in den übershlagenden Wogen der Lust 
sih verzehrt und nichts als ein Brennpunkt der unermeßlichen Zeugungskraft, ein 
verschluckender Wirbel im großen Ozean übrig bleibt!« 

s Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, Il. Bd., #4. Kap. 41. 
— Was als Vergleih gebrauht wird, ist hier das psyhish Zugrundeliegende. 

* Schopenhauer, »Das Leben ist eine mißliche Sache, ich habe mir vor= 
genommen, das meine mit dem Nachdenken darüber zuzubringen.« 


Psycdoanalytishe Anmerkungen zur Geschichte der Philosophie 237 


sih auch ihre Anhänger über die Tragweite der dort gegebenen 
Aufshlüsse wahrscheinliih Täushungen hingeben, sofern sie in 
ihnen objektive Wahrheiten erblicken, so ist anderseits niht zu 
leugnen, daß wir durch die Weltanshauungen der Philosophen eine 
höchst wirksame Förderung in psycologisher Hinsicht erfahren, 
indem jene Schöpfer, oft mehr geniale Künstler als Forscher, be- 
deutsame Einsichten in unser eigenes UÜnbewußtes symbolish zum 
Ausdruck gebradht haben. Gleihwie Feuerbach gegenüber Voltaire 
in der Auffassung der Religion einen Fortschritt Breähk, indem er 
die festgestellte Subjektivität religiöser Dogmen zu einer Verherr- 
lihung der menschlihen Natur eher hat, werden wir in dem 
Umstande, daß der Philosoph sein Weltbild in Übereinstimmung 
mit unbewußten Kräften des eigenen Gemüts zusammenscdaut, nur 
einen verstärkten Äntrieb sehen, die Schöpferkraft der menschlichen 
Phantasie zu bewundern. Und bei aller Ähnlichkeit, die viele philo- 
sophishe Systeme mit den kunstvollen Konstruktionen beispiels- 
weise der Paranoia auch aufweisen mögen, dürfen wir nicht das 
Spezifisch-Differenzierende gegenüber neurotishen und psy= 
aotishen Erscheinungen außer aht lassen: ich meine ganz all- 
gemein die jarellekttaik: Blendung, deren Vorbild die von Freud 
so genannte sekundäre Traumbearbeitung! ist. Je feiner und reicher 
die im Ictrieb vorhandenen Anlagen des Individuums entwickelt 
sind und je größer seine Realitätsanpassung ist, umso stärker treten 
in der Fassade eines philosophishen Gebäudes die subliminalen 
Mächte, die am Werke tätig waren und deren verhüllter Äußerung 
jene Fassade zunächst dienen sollte, zurük und das Gebäude 
erhält, gewissermaßen nah dem Gesetz der Heterogonie der 
Zwedke (Wundt), eine seiner ursprünglihen Bestimmung fremde, 
selbständige Bedeutung. 


ı Freud versteht darunter die in ihrem Ausmaß inkonstante Über- 
arbeitung des Trauminhalts durh das zum Teil gewekte Wachdenken während 
der Traumbildung. Vgl. Traumdeutung, 2. Aufl., p. 302 ff. 








238 S. Ferenczi 


Aus der »Psychologie*t von Hermann Lotze. 
Mitgeteilt von Dr. S. FERENCZI (Budapest). 


In den Werken des mit Recht berühmten und populären deut- 
shen Denkers und Universitätslehrers Hermann Lotze! fand id 
einige Sätze, die — obzwar rein spekulativ entstanden — eine so 
weitgehende Übereinstimmung mit den auf empirishem Wege ge- 
wonnenen psycdologishen Erkenntnissen der Psycoanalytik auf- 
weisen, daß wir ihren Autor als einen der Vorahner der Ideen 
Freuds betrahten dürfen. Eine solhe Kongruenz der Resultate 
intuitiven Denkens und Dichtens? mit den Ergebnissen der prakti- 
schen Erfahrung ist niht nur vom geschictlihen Standpunkt inter- 
essant, sondern sie kann auch als ein Ärgument für die Stihhältigkeit 
jener Erkenntnisinhalte selbst in Betraht kommen. 

In der »Psychopathologie des Alltagslebens« erklärt bekanntlich 
Freud das Vergessen als ein Ünbewußtwerden von Vorstellungen, 
begründet durh Unlustmotive. In seinen »Grundzügen der Psydho- 
logiexs (VII. Aufl. Leipzig, S. Hirzel) sagt Lotze über dieses 
Thema u. a. folgendes: 

815. ».... die Erinnerungsbilder früherer Eindrüke (sind) 
nicht immer im Bewußtsein vorhanden, sondern treten nur zeitweilig 
in demselben wieder auf, dann aber so, daß kein äußerer Reiz nötig 
war, um sie von neuem zu erzeugen. 

Hieraus schließen wir, daß sie in der Zwischenzeit für uns 
niht ganz verloren gewesen sind, sondern sih in irgendweldhe 
‚unbewußte’” Zustände verwandelt haben, die wir natürlih nicht 
beschreiben können, und für die wir den an sich widersprehenden 
aber bequemen Namen ‚unbewußte Vorstellungen, brauden ...« 

16. ».... Zwei Ansichten standen sich hier gegenüber. Man 
hielt früher das Vershwinden der Vorstellungen für natürlih und 
glaubte das Gegenteil, das Gedächtnis, erklären zu müssen. Man 
folgt jetzt der Analogie des physishen Gesetzes der Beharrung 
und glaubt das Vergessen erklären zu müssen, weil an sih die 
ewige Fortdauer eines einmal erregten Zustandes sih von selbst 
verstehe. 

Diese Analogie ist niht ohne Bedenken. Sie gilt von der Be- 
wegung der Körper. Allein Bewegung ist nur eine Änderung äußerer 
Relationen, von welcher der bewegte Körper nichts leidet, denn er 
befindet sih an einem Orte genau so wie am andern, und hat daher 
weder einen Grund, noch einen Maßstab für einen der Bewegung 
zu leistenden Widerstand. Die Seele dagegen befindet sich selbst 


1 Rud. Hermann Lotze (1817—1881) war Professor der Philosophie und 
Physiologie in Leipzig, Göttingen und Berlin. Er war ein Schüler Herbarts und 


Anhänger von Leibnitz. 
2 Ähnliche Übereinstimmungen mit der Psychoanalyse sind bereits in den 
Werken von Schopenhauer, Nietzsche, Änatole France u. a. nahgewiesen 


worden. 


Aus der »Psydologie« von Hermann Lotze 239 


in vershiedenen Zuständen, je nachdem sie a vorstellt oder b oder 
auh gar nichts. Denkbar wäre daher, daß sie gegen jeden 
ihr aufgedrängtenEindruck zurückwirkte, wodurchsie zwar 
niemals diesen ganz annullieren, aber doch vielleicht aus 
bewußter Empfindung in einen unbewußten Zustand ver- 
wandeln könnte,«! 

8 19. »Als Grundlage einer ‚psychischen Mechanik’ 
könnten .... die Begriffe von Stärke und Gegensatz nur dann selbst= 
verständlih dienen, wenn sie sih auf die vorstellenden Tätig- 
keiten bezögen. Das ist nicht der Fall. — Man würde es daher 
als eine bloße Tatsache anerkennen müssen, wenn die Stärke und 
Gegensatz des vorgestellten Inhalts die entscheidenden Bedin= 
gungen für die Wechselwirkung der Vorstellungen wären. Die Er- 
fahrung bestätigt dies niht. Die Vorstellung größeren Inhalts 
verdrängt keineswegs immer die von kleinerem, im Gegen- 
teil ist die letztere selbst imstande, zuweilen die Empfin- 
dung äußerer Reize zu unterdrücken?. 

un kommen aber Vorstellungen niemals in einer Seele vor, 
die außerdem nichts anderes täte, sondern. an jeden Bindruk knüpft 
sih außer dem was in dessen Folge vorgestellt wird auh nod 
ein Gefühl des Wertes, den derselbe für das körperlihe und 
geistige Wohlbefinden des Perzipierenden hat. Diese Gefühle von 
Lust und Unlust sind einer Gradabstufung offenbar ebenso fähig, 
wie das bloße Vorstellen unfähig dazu ist. Nach der Größe nun 
dieses Gefühlsanteils, welche übrigens außerordentlih wechselnd 
ist je nach der Verschiedenheit des Gesamtzustandes, in dem die 
Seele sih eben befindet, oder kurz gesagt: nah dem Grad des 
Interesses, welche eine Vorstellung aus vielerlei Gründen in jedem 
Augenblike zu erwecken vermag, richtet sih ihre größere oder 
geringere Macht zur Verdrängung anderer Vorstellungen. Und 
nur hierin, aber nicht in einer ursprünglihen Eigenschaft, welche sie 
als bloße Vorstellung hätte, besteht das, was wir ihre Stärke nennen 
können.« 

In diesen Sätzen finden wir zum Teil Freuds Feststellungen 
über die bestimmende Rolle der Lust- und Unlustqualität für die 
Perzeption und Reproduktion wieder. Daß dies kein Zufall ist, 
darauf läßt eine andere Stelle der »Psydhologies Lotzes schließen, 
an der er — ganz wie es die Psychoanalyse zu tun gezwungen 
ist — gegen die Haltlosigkeit der reinen Bewußtseinspsychologie und 
philosophie Stellung nahm. 

886»... Die Frage nah der Art und Wahrheit unserer 
Erkenntnis oder nah dem Verhältnis zwischen Subjekt und 
Objekt hatte so sehr alle Aufmerksamkeit gefesselt, daß der Vor- 
gang, durh welchen das Seiende dazu kommt, sich selbst zu er- 
fassen, d. h. die Entwicklung des Selbstbewußtseins, für das 


ı Vom Referenten hervorgehoben. 
®: Vom Referenten gesperrt. 


240 S. Ferenczi 


eigentlihe Ziel oder für den letzten Inhalt der ganzen Weltordnung 
gehalten wurde. Nun erschien die Seele nur Kar bestimmt, diese 
Aufgabe der Selbstbespiegelung innerhalb des irdischen Lebens auf- 
zulösen, und die verschiedenen Formen, in denen diese Aufgabe 
der reinen Intelligenz stufenweise immer mehr gelöst wird, nahmen 
ziemlich allen Platz in der Psychologie ein. Der Inhalt dessen aber, 
was empfunden, angeshaut oder begriffen wird, trat ebensosehr 
dagegen zurück, wie das ganze übrige Seelenleben, der Gefühle 
und Strebungen, die selbst wieder bloß so weit in Betradt 
kamen, als sie auh zu jener formellen Aufgabe der Selbstobjekti- 
vierung in bezug gesetzt werden konnten.« 

In der Sprahe der Psychoanalyse heißt das etwa: Bewußtheit 
ist keine notwendige Qualität des Psydhishen, ja: der Inhalt der 
Psydhe ist an sih unbewußt und nur ein Bruchteil dieses Inhalts 
wird vom Bewußtsein, dem Sinnesorgan für (an sih ubw.) psydhische 
Qualitäten, wahrgenommen. 

Audh die Anshauung Lotzes über die Rictkraft des Lust=- 
prinzips bei der Entstehung der Triebe deckt sich mit unseren 
Anschauungen. »$ 102... . Triebe sind ursprünglih nur Gefühle, 
und zwar meistens der Unlust oder doh der Unruhe, sie pflegen 
aber verknüpft zu sein mit Bewegungsantrieben, welhe in der 
Weise der Reflexbewegungen zu allerhand Bewegungen führen, 
durh die nach längerem Bike kürzerem Irrtum die Mittel gefunden 
werden, jene Unlust zu beseitigen.« (Vgl. dazu Freuds »Prin- 
zipien des psydishen Geschehens« und den theoretishen Teil 
seiner »Traumdeutung«.) 

Audh das Problem der objektivierenden Projektion und der 
Introjektion wird von Lotze angescnitten. Wo er von der Bildung 
des »Ich« im Gegensatz zur Objektwelt spriht. »Jeder unserer 
eigenen Zuständes — sagt er im $ 52 — »alles was wir selber 
wirklih leiden, empfinden oder tun, ist dadurch ausgezeichnet, daß 
sih daran unmittelbar ein Gefühl (der Lust, der Unlust, des Inter- 
esses) knüpft, während diese Begleitung demjenigen fehlt, was wir 
als die Zustände, das Tun, Empfinden, Leiden anderer Wesen 
bloß vorstellen aber nicht selber erfahren oder erleiden... Ein 
bloßess Wissen überhaupt kann) niht das Motiv dieser 
ganz beispiellosen Unterscheidung sein, durh die jedes beseelte 
Wesen sich selbst der ganzen übrigen Welt entgegenstellt.« »Äuf 
die dargelegte Weise wird, glauben wir, zuerst der Sinn des 
Possessivpronomen ‚mein’” uns deutlih; erst nachher, wenn 
wir unsere denkende Reflexion auf diese Umstände richten, bilden 
wir auch den substantivishen Namen des Ich als des Wesens, 
dem das, was ‚mein’ hieß, zukommts« (& 53). (Vgl. dazu aud 
meine Ausführungen in der Arbeit »Introjektion und Übertragung« 
(Jahrbuch für Psychoanalyse, I. Jahrg.). 

Wenn Lotze die »beispiellose Untersheidung«s des Ih von 
der übrigen Erfahrungswelt auf seinen Wert für das Individuum 


Aus der »Psycdologies von Hermann Lotze 241 


zurükführt, (worunter er zweifellos dessen Lustwert und nicht den 
Nutzwert versteht), so nähert er sich der psychoanalytischen Auffas- 
sung, nad der die Ih-Bildung im innigsten Konnex steht mit dem 
Narzißmus, dem Verliebtsein in die eigene Person. (Vgl. Freud: 
Animismus, Magie und Allmaht der Gedanken, »Imagos, II. Jahrg., 
1, Heft, p. 12.) 

Dafür spriht unter anderem aud folgende Stelle bei Lotze 
d, c.8 53): »... Zweierlei muß man unterscheiden. Das Bild, 
welches wir uns von unserem eigenen Wesen machen, kann mehr 
oder weniger zutreffend oder irrig sein, das hängt von der 
Höhe der Erkenniniekran ab, durh weldhe jedes Wesen sich über 
diesen Mittelpunkt seiner eigenen Zustände theoretish aufzuklären 
sucht. Die Evidenz dagegen und die Innigkeit, mit der jedes 
fühlende Wesen sich selbst von der ganzen Welt untersceidet, 
hängt gar nicht von der Vortrefflihkeit dieser seiner Einsicht in 
sein eigenes Wesen ab, sondern äußert sich bei den niedrigsten Tieren, 
soweit sie durch Schmerz oder Lust ihre Zustände als die ihrigen 
anerkennen, ebenso lebhaft, als bei dem intelligentesten Geiste.« 

Interessant ist, was er über den Sinn »der vielen, zum Teil 
zierlihen, zum Teil sonderbaren beweglihen Zusätze oder An- 
hänge an unseren Körper« sagt, »deren sih die Putzsuht zu be- 
dienen pflegt«. Lotze meint, daß man damit gleihsam einen Teil 
der Außenwelt zum Ih schlagen will um dieses zu vergrößern, 
diese Zusätze »geben uns im allgemeinen das angenehme Gefühl 


einer über die Grenzen unseres Körpers erweiterten geistigen 
Gegenwarte. 





Imago 11/2 16 


242 Büder 


»Wenn wir eine Gemütsbewegung oder einen 
Affekt von dem Gedanken der äußerlichen Verursahung 
trennen und mit anderen Gedanken verbinden, so werden 
Liebe oder Haß gegen die äußerliche Verursahung und 
damit auh die Schwankungen des Gemüts, die aus 
diesen Affekten entspringen, vernihtet werden. Ein 
Affekt, der ein Leiden ist, hört auf ein Leiden zu sein, 
sobald wir eine klare und deutliche Idee von ihm bilden. 
Und es gibt keine Körpererregung und also auch keinen 
Affekt, wovon wir niht einen klaren und deutlihen 
Begriff bilden könnten. Ein jeder hat die Madt, sich 
und seine Äffekte, wenn auch nicht absolut, so doch zum 
Teil klar und deutlih zu erkennen und folglih auh zu 
bewirken, daß er weniger von ihnen leide. Darauf 
hauptsählih muß daher unser Bemühen gerichtet sein, 
daß wir jeden Affekt, so viel wie möglih, klar und 
deutlih erkennen, damit so der Verstand, von dem 
Affekt aus, zum Denken dessen bestimmt werde, 
was er klar und deutlich erfaßt und worin er sich selb- 
ständig beruhigt, und so der ÄAffekt selbst von dem 
Gedanken der äußerlihen Verursahung losgelöst und 
mit wahren Gedanken verbunden werde.< Spinozal!. 


Bücher. 


DR. PAUL HÄBERLIN, Privatdozent an der Universität zu Basel: 
Wissenschaft und Philosophie, ihr Wesen und ihr Verhältnis. II. Bd.: 
Beer (426 S. Basel, Kober, C. F. Spittlers Nachfolger 1912, 6 M,, 
geb. ni 

Es ist vielleicht nicht das höchste Lob, das man einem philosophi- 
schen Werke spenden kann, wenn man sagt, es erscheine gerade im richtigen 
Zeitpunkt, es hieße jedoch die eigentlihe Absicht des vorliegenden Buches 
gänzlich verkennen, wenn man daran denken wollte, ihm das Prädikat des 
Unzeitgemäßen zuzuerkennen. Häberlins Buch hat eingestandenermaßen 
propädeutischen Charakter und beabsichtigt, in der gegenwärtigen Krisis 
klärend über das Wesen, die Aufgabe und die Möglichkeit der Philo- 
sophie überhaupt zu wirken. Das wichtigste, das Wesen der Philosophie 
selbst angehende Problem, vor dem unsere deutsche Philosophie heute steht, 
laßt sich zusammenfassen in die Disjunktion: nur-wissenschaftlihe (positi= 
vistische) Philosophie oder Philosophie in universalem Sinn mit dem Rechte 
einer metaphysischen Position. 

Der Verfasser betrachtet als ”die Aufgabe der ideal gedachten Philo- 
sophie einheitlihe, überzeugungskräftige Problemlösung im umfassendsten 
Sinnes, er stellt damit an die Philosophie die Forderung, ?nicht nur umfassende 
und einheitliche theoretishe Wahrheit zu suchen, sondern auh harmonische 
und universale Wahrheit im praktishen Sinne zu erstreben und beide zu 
einer Weltanshauung zu vereinigen“ (p, 4). 

Den Weg dazu bahnt sich der Verfasser durch eine eindringliche 
Analyse des Wesens der praktishen Wahrheit, die im ersten Kapitel ab- 
gehandelt wird, während die Probleme der theoretischen Wahrheit im ersten 
Band des Werkes behandelt worden sind, und zum Teil im zweiten Kapitel 
(Das Werden der Weltanschauung) noc einmal zur Sprache kommen, Dem- 
gemäß beginnt dieser Band mit der Untersuchung der elementaren Tatsachen 


ı Mitgeteilt von Dr. E. Simonson. 


Büder 243 


und Beziehungen des praktischen Erlebens überhaupt, zunächst durh die 
Analyse der »gewöhnlichen Handlung als psychischen Vorgangs«, ein Kapitel, 
das wegen der Herausarbeitung der entscheidenden psychischen Momente 
des Handelns sehr verdienstvoll zu nennen ist. Man vergleihe die Aus- 
führungen über die Zielphantasie und ihre drei Begleitgefühle, die zwei posi=- 
tiven und das eine negative (p. 14f.) und die Resultatgefühle (p. 38f.), so- 
wie die allgemeine Feststellung, daß die negativen Gefühle stets mit posi- 
tiven gepaart sind, — »Die praktische Seite der ganzen Sukzession bedeutet 
ein Oszillieren der Gefühlslage zwischen negativen und positiven Nuancen. 
Dem negativen ÄAusgangsgefühl entspricht ein positives, zunächst vorgestelltes, 
aber auch bereits als Vorgefühl vorweggenommenes Zielgefühl. Den nega- 
tiven Wunschgefühlen der Absicht entsprechen die positiven Vorgefühle der 
erfüllten Wünsche, dem Spannungsgefühl entspriht das Gefühl der Ent- 
spannung. Je ein Paar soldher Gefühle gehört zusammen, als Kontraste oder 
Pole derselben Art des Fühlens. Es offenbart sich in ihnen je eine Art des 
Fühlens oder Werdens überhaupt, sie sei mehr individuell oder mehr Ge- 
meingut vieler Individuen, Das Treibende liegt im Kontrast oder vielmehr 
im Zusammensein positiv=negativer Gefühlspaare, — in einer bestimmten 
Art des (negativ-positiven) Fühlens überhaupt.« 

Unser besonderes Interesse erregen die Ausführungen des Verfassers 
über die Fehlhandlungen, als welche er solhe Erlebnissukzessionen be- 
zeichnet, denen »charakteristishe Züge augenscheinlich fehlen«, Handlungen, 
die nicht das erwartete und gewünschte Resultat bringen. Ob Handlungen 
mit Alteration der Resultatgefühle (wegen eingetretener Änderung der 
Wertungsweise der Zielphantasie) als Fehlhandlungen zu bezeichnen sind, 
darüber ließe sich streiten — vielleiht wäre es ein Streit um Worte. Hin- 
gegen hat sih Häberlin den Dank aller — von Seite der Philosophen ja 
nicht gerade verwöhnten — Anhänger der psycdanalytishen Methode ver- 
dient, wenn er die andere, eigentlih so zu nennende Art der Fehlhand- 
lungen unserem Verfahren gemäß auf eine nicht überwundene Zwiespältig- 
keit der Absicht zurückführt, wobei die eine der beiden Absichten über- 
haupt niht bewußt oder nicht voll bewußt ist. Dies führt den Verfasser 
zu einer Auseinandersetzung mit dem Begriff des Unbewußten, 

Er unterscheidet zwischen solchen Erlebnissen, die von Anfang an 
nicht im Bewußtsein sind, und solchen, die einmal bewußt waren, aber zu 
einem gewissen Zeitpunkt entweder vergessen, oder verdrängt wurden, 
ein Unterschied indes, den der Verfasser, ohne sich darüber näher zu äußern, 
nicht als konstitutiv angesehen haben möchte. Der psychologisch zunächst nicht 
ganz klare Begriff des von Änfang an Unbewußten, wird (p. 57f.) durch 
ein Beispiel erläutert. Das Charakteristische dieser Art des Unbewußten er- 
blikt der Verfasser darin, daß der betreffende Inhalt von Anfang mit an- 
deren bewußten Erlebnissen nicht in Beziehung gesetzt wurde: »die augen- 
bliklihe Reproduktion ist das Kennzeichen des bewußten Erlebens« (p. 58f.), 
»dodh sind diese Grenzen fließend« (p. 60), man könne sagen, »alles Er- 
leben ist ursprünglih unbewußt,; aber ein Teil wird gleih, ein anderer 
später reproduziert.« » Warum nun einiges Erleben gleich, anderes erst später 
bewußt wird, das wäre eine Frage für sic.« 

Es liegt wohl in der Natur des Zusammenhangs, in dem der Ver- 
fasser die in Rede stehenden Probleme behandelt, wenn er dabei nicht (Ge- 
legenheit findet, sich theoretish des näheren mit dem umstrittenen Begriff 
des Unbewußten auseinanderzusetzen, da wir doc bei ihm erwarten dürften, 
darüber etwas anderes als den sprachlich orientierten Einwand zu vernehmen, 


16* 


244 Büder 





das Unbewußte als Psydisches im Sinne der Psychoanalyse sei ein unmög- 
liher Begriff, da alles Psydhishe nur als Bewußtes vorhanden sein könne, 
Das Vorhandensein eines Unbewußten überhaupt wird vom Verfasser wie 
von der Psychoanalyse mit wünschenswertester Sicherheit erschlossen, die 
Frage aber, ob das Unbewußte als ein Wort für neurozerebrale Vorgänge 
und Dispositionen oder als etwas Psychisches mit fehlender Selbstspiegelung 
betrachtet werden müsse, wird niht zur Diskussion gestellt. Der Ver- 
fasser stellt sich vielmehr, auh hierin dem Verfahren der meisten Psych- 
analytiker folgend, auf den Standpunkt des unbewußt Psychischen, wenn 
er den Gedanken als möglich hinstellt, es könnten nicht nur die Bewegungen 
„willkürliher« Muskeln, sondern auch andersartige Veränderungen im Or- 
ganismus, Kontraktion »unwillkürliher« Muskeln psychische Hintergründe 
und Prämissen haben. Dieser Gedanke ist, wie man weiß, sehr alt. In un- 
serem Zusammenhang berührt er unmittelbar das zweite Problem im Be- 
griff des Unbewußten;, ob dieses nämlich entweder ein bloßes Refugium 
unbrauchbaren seelischen Hausrates oder die Residenz derjenigen Gewalten 
ist, die die apollinishe Außenseite des Seelenlebens aus einer unnahbaren 
Ferne regieren. — Vielleiht dürfen wir uns der Hoffnung hingeben, daß 
der Verfasser an anderer Stelle seine glänzenden, in scharfen Disjunktionen 
arbeitenden logischen Fähigkeiten in den Dienst der Bearbeitung dieses Be- 
griffes stellt, den die Psychoanalyse, wie jede ehrlih zu Werke gehende 
Wissenschaft, auf Grund hingebungsvoller Einzelforshung als notwendig auf- 
gestellt hat, ohne bis jetzt Zeit gefunden zu haben, ihn eindeutig zu de- 
finieren. 

Nad der Fehlhandlung, deren anscheinende Unvollständigkeit sich 
bei Ansetzung unbewußter Absichten völlig verflüchtigt, wird in ähnlich 
orientierter Weise die Ersatzhandlung beschrieben, die bei völliger 
Hemmung (als Vorsatz oder schöne Phantasie) in die »innere Handlung 
Br mit ihrer versuchten Umgestaltung sekundärer Größen« (p. 7/ 

is 64). 

Häberlin unterscheidet weiter an jedem praktischen Erleben die vier 
Momente der Intensität des den theoretishen Inhalt des Erlebens be- 
gleitenden Gefühls; der Modalität des Gefühls als Bezogenseins desselben 
auf ein bestimmtes Objekt, der Polarität mit den Unterschieden positiver 
oder negativer Wertung (ein Gut oder ein Übel), schließlih der Qualität 
als desjenigen Moments, in dem zum Ausdruk kommt, unter welchem 
»Gesichtspunktes das Wertobjekt gewertet werde. — »Wir schätzen — 
oder lehnen ab« — ein »Ding« entweder um seinetwillen oder um 
unsertwillen. (p. 109), 

Die Ableitung der Momente der Intensität, Qualität und Polarität 
aus den vom Verfasser angesetzten Grundtendenzen, der Identifikations- 
eg und der Ichtendenz gehört zu den gelungensten Teilen des 

uches. 

Wir alle streben in jedem Moment unseres bewußten und unbe- 
wußten Erlebens danah, mit Anderem Eins zu sein, darin aufzugehen, uns 
in Anderes zu versenken, oder in Änderem zu sein. Dies Andere kann 
jedes beliebige Element und jeder Komplex theoretischen Erlebens sein, also 
jedes möglihe Wertobjekt.« Diese »Veranderung bedeutet, wenn sie 
vollzogen ist, ein Miterleben, oder besser Zusammenleben, Zusammen- 
existieren mit einem Änderen« .... diese »Tendenz braucht Persönlich- 
keiten«,; sie »ist das harmonische Miterleben mit dem Persönlihen, das in 
den Objekten gesehen wird« .. .. Mit fremdem Erleben streben wir uns 





Bücer 245 


nach unserer »seelischen« Seite zu identifizieren, mit dem »leiblihen« Aus- 
druck fremder Persönlihkeit streben wir nach unserer »leiblichen« Seite Eins 
zu sein, 

»Die Sehnsucht nah Einheit setzt das Erleben der Andersheit, den 
Gegensatz, das Getrenntsein voraus. Daß dieser Gegensatz existiert, schreiben 
wir der zweiten Grundtendenz zu. Wir alle gehen darauf aus, Individuen 
zu sein... .„ Selbstdarstellen, Selbstsein, ist die allgemeine Idee dieser 
zweiten Tendenz« (Ichtendenz), »Sie brauht Anderes, braucht einen 
Gegensatz, eine Folie. Sie macht, daß etwas im Erleben dem Ich gegen- 
übergesetzt wird ... . nicht als andere Wesen, sondern einfach als Anderes, 
als Gegenstände,« Dieser Gegenstände bedarf das Individuum, um sich in 
seiner »Ichheit« zu erleben, wie es vom Identifikationstrieb aus der Persön- 
lichkeit bedurfte, um sich identifizieren zu können, ,.. ?Die Ichtendenz strebt 
weiter danach, gerade am Anderen selbst zu sein . . . durch Beherrschung, 
d. h. durh Einbeziehung in die eigene Existenz.« 

Aus dem Zusammensein dieser beiden Tendenzen entsteht ein »Wett= 
streit, der das ganze praktische Erleben jedes Individuums ausmadht«. 

»Es handelt sih ... . in jedem Moment und jedem Objekt gegen- 
über um einen Kampf ... . beider Tendenzen. So gelangen wir zum Be- 
griff der Intensität und des Intensitätsverhältnisses der Urabsichten.« — Der 
SL: der einen oder anderen Tendenz entscheidet über die Qualität des 

ertes. 

»Er wird ein Identifikationswert, wenn die Identifikationstendenz 
im ganzen überwiegt, im anderen Falle ein Ichwert«, (Persönlihkeitswert 
oder Sachwert), »ohne daß jedoch jemals ein absoluter Sieg festzustellen 
wäre« (p. 132). — Die Ichtendenz wird im Falle des Unterliegens auf 
die besondere Form des Identifikationswertes in solcher Weise einwirken, 
daß sie das Sonderdasein des Individuums gegenüber dem anerkannten Per- 
sönlichen erst recht hervorzuheben versuchen wird, während die Identifikations- 
tendenz über die bloße Konstatierung hinaus gänzlih in die fremde Per- 
- sönlichkeit eingehen will. Der Ausgang dieses erneuten Kampfes entscheidet 

über den polaren Charakter des Wertes: »Das Objekt wird positiv ge- 
wertet, sofern es der Identifikationstendenz gelingt, der Ichtendenz das Auf- 
geben des Sonderdaseins abzuringens, im Gegenfall negativ. 

»Mit dem Gelingen oder Nicdtgelingen der Durchsetzung der einzelnen 
Tendenz sind die Urwerte gegeben, bei gelungener Identifikation in Gestalt 
eines Gefühls der Seligkeit« .... im Falle der Unmöglichkeit der Identifi- 
kation in Form eines Gefühls, das »eine Form der Angst darstellt«. 

»Gelingt einem Objekt gegenüber die restlose Einbeziehung ins Ich ... 
so begleitet diese gelungene Aktion ein Triumphgefühl . . .«, im gegen- 
teiligen Fall der Ohnmadıt, Shwäche, der anderen Form der Angst. »Ängst 
im allgemeinen Sinne wäre dann das Gefühl der Hemmung einer 
Urtendenz überhaupt, das Gefühl des (partiellen) Nichtseins 
und zugleich etwas wie ein Vorgefühl des Todess (p. 117). 

Aus diesen Urgefühlen entstehen die (primären) Objektswerte, indem 
wir den einzelnen Objekten das »Verdienst« am Gelingen der Identifikations= 
oder Ichtendenz »zuschieben« und ihnen einen positiven (oder negativen) 
Identifikations- oder Ichwert beilegen. Um seinetwillen gefällt es, wenn es 
der Identifikationstendenz entspricht, (wir lieben es, finden es schön und gut), 
um unsertwillen, wenn es der Ichtendenz entspricht (brauchbar, nützlich). — 
Qualität, polarer Charakter und Intensität jedes primären Wertes sind vari- 
able Größen und hängen ab von der Variabilität der Grundtendenzen selbst. 


246 Büder 


Die Einsiht in diese Verhältnisse gibt uns aber auch unmittelbar den 
Schlüssel zum Verständnis der Erscheinungen der Ambivalenz in die 
Hand. Sie ist dann vorhanden, wenn die Entscheidung über den Sieg der 
einen oder anderen Grundtendenz »in einer oder der anderen Phase lange 
niht oder überhaupt einem Objekt gegenüber nicht auftritt« (p. 136). 

Wir müssen es uns versagen, an dieser Stelle die weitere gedank- 
lihe Entwicklung dieses Werkes durch so reihlihe Anführungen zu schildern 
und glaubten dies im eben geschehenen Falle nur deshalb tun zu müssen, 
weil wir zeigen wollten, wie der von der Psychanalyse empirish gewonnene 
Begriff der Ambivalenz durch die Deduktionen Häberlins eine wohlfundierte 
Begründung erhält, die, besonders was die Ansetzung der beiden Grund- 
anlangt, der ernstesten Beahtung der Psychanalytiker sicher 
sein darf. 

Nur noch einige Hinweise auf den Weg, auf dem der Verfasser das 
ethishe Normproblem zu lösen versuht. — Der vorhandenen Variabilität 
der primären Werte und der darauf begründeten Inkonstanz des Handelns 
tritt gegenüber ein Ideal des praktischen Verhaltens; dieses »schließt ein 
Ideal aller drei Wertcharaktere mit Bezug auf jedes Objekt und damit aud 
ein Ideal der Wertverhältnisse aller Objekte untereinander ein, dazu ein 
Ideal der Überzeugung von den theoretischen Beziehungen zwischen den 
Objekten« (p. 158), vollendet in einem Wertsystem (p. 164), aus dem 
die Normen für das eigene Verhalten abgeleitet werden. Die Überwindung 
der Schwierigkeit, über die das nach Normen verlangende Individuum nicht 
hinaus kann, nämlich, wie denselben die Autorität und Absolutheit verbürgt 
werde, glaubt der Verfasser in der Identifikation mit einem anderen prakti- 
shen Ich zu erkennen, einer Einzelpersönlihkeit oder einer persönlichen 
Gemeinschaft (p. 191 f.), die als ein dem eigenen Ich Überlegenes, als eine 
Persönlichkeit höherer Ordnung imponiert (p. 194). 

»Diese Identifikation mit einem Überlegenen, dieses Einswerden mit 
einem Imponierenden, einer ‚Autorität‘ ist das große Geheimnis aller 
Normbildung und daher aud aller wirklichen Problemlösung. Es ist einfach 
das Geheimnis aller Erziehungsmöglichkeit.« , .. . »Man kann allgemein so 
viel sagen, daß in allen diesen Dingen der frühen Kindheit und damit der 
Familie oder dem, was ihre Stelle vertritt, die wichtigste Rolle zufällt« 
(p. 195): — Häberlin unterscheidet weiter zwischen allogener und autogener 
Normbildung und meint mit letzterem Ausdruck die »Findung des eigenen 
Ideals ohne Führer, selbständig, autogen«; macht aber dazu die psydo- 
logish höchst wichtige Bemerkung: »Man geht wohl nicht fehl, wenn man 
alle autogene oder originale Normbildung in kindlihen Erlebensweisen be= 
gründet sieht, die nachträglich unbewußt die Normbildung leiten.« — Der 
Verfasser berührt sich mit dieser Einsicht wieder direkt mit den Ergebnissen 
der Psychanalyse, die ja im Hintergrund nicht nur der persönlichen (fürst- 
lihen) Autorität, sondern auh der transzendenten Idealbilder die Vater- 
imago als wirkendes Motiv aufgedeckt hat. 

Angesichts der von uns als Psychanalytikern mit Genugtuung aner- 
kannten Bearbeitung und Einordnung wichtiger Begriffe und Erkenntnisse 
unserer Wissenschaft wird es nicht schwer ins Gewict fallen, wenn ich vom 
Standpunkt der Philosophie mir einige Bemerkungen zu Häberlins Lösung 
des Normproblems erlaube, Der Verfasser scheint mir nämlich in seiner 
Zurükführung der Normen auf eine wie immer gedachte Autorität zu sehr 
pädagogisch orientiert. Es liegt darin eine Hinausschiebung des eigentlichen 
ethischen Problems, die auch sozusagen von ihm eingestanden wird, wenn 


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Bücer 247 


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er den Begriff eines absoluten persönlihen Normzentrums einführt, mit dem 
ich offengestanden nichts anzufangen weiß, 

Wir erfahren nichts über die ontologishe Natur dieser Normen und 
gerade darin liegt der philosophishe Kern des ethischen Problems. Wir 
möchten uns wehren gegen die Annahme, als sei es überhaupt möglich, 
Einzelobjekte oder Objektgruppen ihrem Werte nach zu bestimmen und 
diese Werte zu einem ethishen Gesamtaspekt zusammenzusetzen, ohne 
eine vorausgehende allgemeinste Überzeugung von einem Sinne alles 
Geschehens überhaupt, der erst die Werte bestimmt. In dieser von uns 
geforderten Grundüberzeugung liegt aber die eigentlih schöpferishe philo= 
sophische Intuition, der Häberlin an anderen Stellen seines Buches so warme 
Worte widmet. 

Sind wir in diesem einen Punkte, an dem wir — vielleicht über- 
flüssigerweise — unsere eigene Meinung angedeutet haben, mit dem Ver- 
fasser verschiedener Ansicht, so muß ihm jeder von den yıyolog Yılooopodvres 
ohne Vorbehalt beistimmen, wenn er die höchste Aufgabe der Philosophie 
in der Entwerfung eines Weltplans erblickt, »der zugleich umfassenden Vor- 
satz des gesamten eigenen Handelns wie Vorstellung desjenigen W eltlaufs 
bedeutet, welcher zur Realisierung der Idealwelt führen mußte«, und er- 
bliken hierin das niht hoch genug anzuschlagende Verdienst, den echten 
Begriff der Philosophie, wie er zuletzt in den Systemen des deutschen 
Idealismus seinen mäctigsten Ausdruck gefunden hat, auf Grund ein- 
dringendster Analyse der theoretishen und praktischen Probleme heraus- 
gearbeitet und die Möglichkeit seiner Verwirklihung dargetan zu haben. 
Dafür sei auf das Buch selbst verwiesen, von dem wir aus den angeführten 
Gründen glauben, daß sie gerade zur rechten Zeit ans Licht getreten ist. 

Dr. Lorenz. 

ADOLF STÖHR, Psychologie der Aussage. (»Das Redht.« Samm- 
fung von Abhandlungen für Juristen und Laien. IX. u. X. Bd.) Berlin. 
Puttkammer & Mühlbredt, 

Der Wert der kleinen Schrift, die den bekannten Professor der Philo- 
sophie an der Universität Wien zum Verfasser hat, liegt nicht nur darin, 
daß sie zuerst einen orientierenden Überblik über die Aussagepsychologie 
bietet, sondern auh in ihrer klaren und besonnenen Kritik und den viel- 
fahen Anregungen, die sie spendet. 

Ein kurzer, historischer Abschnitt über die Entwicklung der Aussage- 
psychologie dient zur Einführung. Es folgt eine komprimierte Darstellung 
ihres gegenwärtigen Standes, in welcher den Forshungen von Freud, 
Jung und Riklin ein großer Raum reserviert ist. Professor Stöhr zeigt 
das Neue und Fructbare, das die Psychoanalyse gerade für dieses Gebiet 
geliefert hat. Er scheidet in seiner Kritik den allgemeinen Gesichtspunkt 
Freuds, dem er die größte Bedeutung zuerkennt, von den besonderen Aus- 
führungen der Psychoanalyse, Sein erster Binwand erwächst aus seiner De- 
finition des Charakters. Charakter ist das Intensitätenverhältnis der Grund- 
triebe. Ist bei einem Menschen der Geschlectstrieb am stärksten entwickelt, 
so wird man vom Charakter des Sexualisten reden müssen. In ähnlicher 
Weise müsse man auch vom Charakter des Egoisten, des Altruisten usw., 
schließlih auh von einem harmonischen Charakter, in dem alle Grund- 
triebe sich gleihmäßig entwickelt haben, ausgehen. Eine Besonderheit der 
Freudshen Theorie bestehe nun darin, daß die Menschheit den Charakter 
des Sexualisten haben solle. Man kann die Definition des Charakters, die 
der Autor aufstellt, als eine sehr glücklihe ansehen, ohne darum mit den 


248 E Bücer 


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ferneren Ausführungen einverstanden zu sein. Denn die Charakterbildung 
ist shon ein sehr später, komplizierter Begriff, den eine psychologische 
Forschungsmethode an den Schluß ihrer Untersuchungen stellen muß. Die 
überragende Bedeutung, die die Psychoanalyse der infantilen Sexualität und 
ihrer Weiterentwicklung zuscreibt, ist kein Resultat abstrakter Gedanken- 
arbeit, sondern streng empirischer Beobachtung. Der Weg zur Aufstellung 
typisher Charaktere kann nur über eine Geschichte der Libido, welche der 
Verteilung, Umformung und Verdrängung des kindlichen Trieblebens folgt, 
führen. Die Psychoanalyse hat auf diesem Gebiet shon manche wertvolle 
Ergebnisse zutage gefördert, gleichsam einige Stufen zu dieser letzten Höhe 
psyhologisher Forshung ausgehauen ').. 

Ein anderer Einwand Stöhrs richtet sih gegen die Annahme einer 
allgemeinen Tendenz peinlicher Vorstellungen, verdrängt zu werden. Aud 
hier müßten verschiedene Typen untershieden werden. Die Lebenskräftigen 
scheinen die Gabe zu haben, unangenehme Eindrücke zu vergessen und zu 
verdrängen, während sich in anderen, vermutlich lebensuntüchtigeren Naturen 
gerade das Peinlihe einwühle., Diese Unterscheidung besticht wohl auf den 
ersten Blik, doc sie erscheint in einem anderen Lichte, wenn man gelungene 
und mißlungene Verdrängung trennt. Sicher ist, daß alle Kulturmenschen 
gewisse lust- und unlustbetonte Erinnerungen ihrer Kinderzeit verdrängt 
haben. Ob diese Verdrängung geglückt ist oder nicht, ob diese Menschen 
psychisch gesund bleiben oder Neurotiker werden, das hängt wohl in letzter 
Linie von der psychophysischen Konstitution ab. 

Diese zwei prinzipiellen Einwände verleiten den Autor indessen nicht, 
die große Bedeutung der Psychoanalyse in der Aussagepsychologie zu unter- 
schätzen. Er widmet einen Abschnitt der »unbewußten Aussages und be- 
tont, welchen großen Fortschritt die psychoanalytishe Forschung in der Ent- 
wicklung dieses wichtigen Zweiges namentlich durch die Assoziationsmethoden 
Freuds und Jungs gebraht habe. Schon früher waren durh Wert- 
heimer und Klein Assoziationsversuche zu forensishen Zwecken gemacht 
worden; auch über die Methode W,. Sterns enthält das Buch interessante 
Ausführungen. 

Bei diesen Versuchen, welche bei Personen angewendet wurden, die 
etwas ableugneten, bei Zeugen, die z. B. etwas nicht gehört zu haben be- 
haupteten, wechselten harmlose und sogenannte »komplexe« Reizworte ab. 
Vorher war shon von Kräpelin, Bleuler, Sommer u. A, die Ässoziations- 
methode zur Prüfung des Vorstellungssystems verwendet worden. 

Die Neuheit des Jungschen Verfahrens aber besteht darin, daß es 
jedes beliebige Wort zur Aufnahme des Versuches für geeignet hält, (wegen 
der durchgängigen Determiniertheit des Psyhischen) und daß es das Haupt- 
gewicht auf die Wirkung der unbewußten Seelenvorgänge legt. Die Ein- 
wendungen, die Max Lederer den üblichen Assoziationsmethoden macht, 
scheinen berechtigt: es ist zweifelsohne rihtig, daß schon die Forderung, 
nur in einem Worte zu antworten, eine Formung des Reaktionsablaufes 
bedeutet, die zwangsmäßiges Reagieren ausschließt. Die Versuchsperson kann 
auch Impulse zu Gesten, zu Gefühlsausbrüchen verspüren, es können ihr 
auch Melodien, Figuren usw. einfallen. Der Psychoanalytiker, dem der 
seelische Mechanismus des Unbewußten bekannt ist, wird in der Lage sein, 
auch diese Reaktionen zu verstehen. Besonders interessant erscheint das letzte 
Kapitel, das der Deutung, Lenkung und Reizung der Aussage gewidmet 


1) Charakter und Analerotik in Freuds »Kleineren Schriften zur Neurosen-= 


lehres, II. Bd, 


Bücher 249 


ist. Vieles von dem, was hier Stöhr über die Psychologie des Verhörenden 
sagt, trifft auf den Psycdoanalytiker zu. 

Einige Bedenken und Anregungen mögen hier nod ihren Platz finden. 
Die freisteigende Erinnerung im Traume ist nah den Traumforshungen 
Freuds kaum mehr annehmbar. In dem sehr interessanten Abschnitt über 
den sprachlihen Ausdruck der Aussage vermißt man eine gerade durd die 
Psychoanalyse geforderte Hervorhebung der Determiniertheit der Wortwahl 
und Wortfügung. Vielleicht sind den Begriffen der Identifikation und Intro= 
jektion neue entscheidende Aufklärungen über die Rolle der Suggestion in 
der Aussage abzugewinnen. Es wäre auch zu untersuchen, wie weit die 
Autosuggestion im Dienste eigener Komplexe steht. 

Rückblickend kommt Professor Stöhr zu dem Schlusse, daß die An- 
wendbarkeit der Assoziationsmethode in der Gerichtspraxis noh in der 
Ferne liege, während »die Deutung der unbewußten Aussage viele Erfolge 
versprichts. 

Das durch Inhalt und Form gleih wertvolle Buh wird jeden, der 
sih für die wichtigen Probleme der Aussage interessiert, fesseln. Wir be- 
grüßen es nicht nur als den bis jetzt wertvollsten, kritischen Überblick dieses 
Gebietes, sondern auch als Vorläufer eines fange erwarteten, vollständigen 
Psychologielehrbuches, das zu geben Professor Stöhr wie wenige berufen ist. 


Dr. Theodor Reik. 
ZUR PSYCHOLOGIE DES PRIESTERS,. 


Beethoven sagte, nahdem er die »Eleonora« von Paer gehört hatte: 
»Diese Oper gefällt mir, ich hätte Lust, sie in Musik zu setzen.« Ähnlich 
ergeht es einem nach der Lektüre des großangelegten Werkes, in dem August 
Horneffer das Problem des Priesters in seiner ganzen Tiefe zu umfassen 
sucht!. Der Hauptfehler des psychologischen Teiles (die sozialen und refor- 
matorischen Ausführungen kommen für uns erst in zweiter Linie in Betracht) 
scheint mir der zu sein, daß der Autor hier einen deskriptiven Standpunkt 
einnimmt, wo ein psychogenetischer geboten wäre, Zwar hat er, was das völker- 
psychologische Material betrifft, fast zu reichlih das Werden des Priester- 
charakters belegt, darüber aber die andere Seite des Problems, die individual- 
psychologische, vernachlässigt. Hier aber wären die Fragen nach den seelischen 
Bedingungen der Berufswahl, wie sie sich dem Psychologen aus der Ent- 
wicklungsgeshichte der Libido und der wechselnden Verhältnisse der Trieb- 
komponenten ergeben, am Platz. Der Wert der beiden starken Bände, die 
sicherlih eine Arbeit mehrerer Jahre voraussetzen, ist dadurch leider ver- 
ringert; doch bleibt er immerhin ein sehr großer und kein Psychologe, der 
sih mit den vielen Religionsfragen beschäftigt, wird es unterlassen, sie mit 
großem Interesse zu lesen. Besonders lehrreich erscheinen die Ausführungen 
Horneffers über die primitiven Glaubensformen, über die Tabuierung und 
andere Arten religiöser Gesetzgebung. Als feiner Beobachter kommt er oft 
psydhoanalytishen Gedankengängen nahe, Ein hübsches Beispiel für die 
»Allmacht der Gedankens, das er erzählt, ist folgendes; wenn ein Skythen- 
könig erkrankte, ließ er die drei bedeutendsten Wahrsager kommen. »In der 
Regel lautet ihr Spruch dahin, daß ein Stammesgenosse, den sie namhaft 
machen, einen Meineid auf die königlichen Hausgötter geschworen habe,s 
Die Therapie ist einfach und radikal: der Schuldige wird ergriffen und geköpft, 

In dem Kapitel »Der Priester als Kranker« prüft Horneffer alle 


i »Der Priester. Seine Vergangenheit und Zukunft.« Verlag Eugen Diederichs. 


250 Bücher 


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jene pathologishen Züge des Priestertums, die namentlih in primitiveren 
Kulturstufen hervortreten, Seine Betrahtungsweise ist in ihrer Verbindung 
von Psychologie und Biologie sehr fruchtbar. Er zeigt, daß Krankheit nicht 
nur Kräfte lahmlegt, sondern auch entbindet und erklärt so den »Willen 
zur Krankheit«. Er weist auch auf den Zusammenhang zwischen dem Ver- 
siegen der Zeugungskraft und gewissen auffallenden, religiösen Wandlungen 
im Alter hin, die sich bei Männern wie Swedenborg, Tolstoi, Heine, 
Brentano, Huymans usw, zeigen. Wie mir scheint, haben an dieser 
Wandlung Veränderungen innerhalb des von der Psychoanalyse aufgedeckten 
Vaterkomplexes einen großen Änteil, Der »religiöse Anfall«e — wie ihn 
Horneffer beschreibt — ist wohl psydhologish zu einfach erklärt. Der 
Priester werde von ihm ergriffen, wenn er ein bestimmtes Kleid anlege, eine 
gewisse Handlung vornehme, etwas berühre usw. »Die Wirkung dieser Um- 
stände ist suggestiver Art, ihr Zusammenhang ist zufällig und beruht auf 
religiöser Konvention. »Ein Psychoanalytiker, der die strenge Gesetzmäßigkeit 
des seelishen Geschehens kennt, wird nicht leiht solche Zufälligkeiten zu- 
geben können, sondern nach assoziativen und zwanghaften Zusammenhängen 
suchen. Sehr hübsch klärt der Autor die Beziehungen zwischen religiösem 
Tanz und Sexualität auf. Er erzählt, wie die Ängst, die eine der treuesten 
Begleiterinnen des Priesters war, ihn zu ablenkenden und entladenden Zere- 
monien, zu Gebeten und Waschungen geführt habe. Die Zauber- und Kult- 
handlungen »sind in den meisten Fällen Scheinhandlungen, sie bringen eine 
Phantasiebefriedigung, eine scheinbare Lösung von Stauungen hervor. Sie 
lenken Trieberregungen ab und erfüllen unerfüllbare Wünsche«. Mit gutem 
Recht zieht Horneffer manche Vergleihe zwischen den religiösen Ge- 
bräuhen der Wilden und den dristlihen Taufzeremonien. So wascen z. B. 
die Krieger in Südafrika nah der Schlaht sih und ihre Waffen, damit, wie 
sie sagen, die Schatten der Erschlagenen sie nicht mehr verfolgen. 

Interessant, wenn auch oft zum Widersprud reizend, sind Horneffers 
Ausführungen über Totemismus, über die Stellung der Wilden zum Tod 
und zu den Träumen. Aud ihm fällt die ambivalente Einstellung der pri- 
mitiven Völker zu teuren Toten auf. »Man schlägt sih blutig, wälzt sich 
im Kote, streut Erde auf sein Haupt, um den Toten mitleidig zu stimmen 
und ihn ja nicht auf den Gedanken kommen zu lassen, daß man sich über 
sein Äbleben freue. Man zieht Trauerkleider, meistens schwarzer oder weißer 
Farbe an, vielleiht um sich der verfolgenden Seele unkenntlich zu machen. 
Ferner übt man kräftigen Gegenzauber gegen den gefährlihen Zauber der 
toten Seele aus, hauptsählih dadurh, daß man sich stärker und lebens- 
voller macht: die Waffe gegen den Tod ist das Leben. Daher hält man 
einen üppigen Leichenschmaus, nimmt belebende Rauscgifte zu sich, führt 
Tänze auf.« 

Aud über die Magie und den Totemismus, die durh Freuds psy- 
cologishe Erklärungen viel von ihrer Dunkelheit verloren haben, weiß 
Horneffer mandes Interessante mitzuteilen. Es scheint, als wären die An- 
fänge der Kunst enger mit der Magie verbunden, als man bisher annahm. 
»Wenn die Männer vor der Jagd einen Tanz aufführen, sih in zwei Gruppen 
teilen, deren eine den Jäger, die andere die verfolgten Tiere darstellt und 
nun eine scheinbare Jagd möglichst naturgetreu veranstalten, so wird dadurch 
der Erfolg bei der wirklichen Jagd gewährleistet. Die symbolishe Anwesen- 
heit der Tiere zwingt sie in Wirklichkeit herbei, die symbolishe Erlegung 
erlegt sie in Wirklichkeit.« Er erklärt, auch hier in Übereinstimmung mit 
psychoanalytischen Resultaten, daß der Ausübung erotisher Handlungen 


Büder 251 


magisher Wert zukomme. Nach Meinung der primitiven Menschheit be- 
steht nämlich zwischen der Fruchtbarkeit der Natur und der tierish-mensch- 
lihen Zeugung ein sehr enger Zusammenhang. Die Aufführung der lasziven 
Tänze wirkt unmittelbar stärkend und befruchtend auf die in der Erde und 
in den Pflanzen und Bäumen vorhandenen Schaffenskräfte. Wenn die dionysi= 
schen Bacchhanten einherrasen, vollführen sie einen wichtigen und heilbringenden 
Frucdtbarkeitszauber. Der weiblihe Shoß wird dem nach Befruchtung ver- 
langenden Acer gleichgesetzt; der Pflug oder Grabstok ist das Zeugungs- 
glied;, mit seiner Hilfe wird der Same in die Erde gesenkt. In manchen 
Mythologien hören wir von dem Vater Himmel, der in liebender Um- 
armung auf der Mutter Erde liegt, wenn die Zeugung vollbracht ist, weicht 
er hinweg in die Höhe und damit beginnt der Tag, der Frühling, das Leben 
auf Erden. Der Gedanke der Weltshöpfung verbindet sih hier mit der 
Erfahrung.« Horneffer zählt noch andere Mythenmotive auf, die den 
sexuellen Sinn des Mythos verraten und stützt sich des öfteren auf Freuds 
und Ranks Forschungsergebnisse. Er madt ferner darauf aufmerksam, daß 
die Christen der Frühzeit, um ihrer religiösen Stimmung Ausdruck zu ver- 
leihen, mit Vorliebe Vergleihe aus dem sexuellen Gebiet wählten. Die 
Änderung, die mit dem Christentum eintrat, besteht im wesentlichen darin, 
daß man jetzt durch die Kulthandlungen nicht irdische, sondern himmlische 
Güter, erwerben wollte. Die vorschreitende Verdrängung und die Ver- 
änderungen, die sie im Seelenleben der Menschen hervorrief, entgehen auch 
Horneffer nicht. Er zeigt, wie diejenigen Bräuche, die das Triebleben und 
die zeugende Natur bejahten, als Teufelswerk erschienen, Ziemlich willkürlich 
scheint mir die Unterscheidung der Gemeindereligionen in männlihe und 
weiblihe Formen. In der ‚ersteren entlädt sih die Erregung nach außen, in 
der zweiten nach innen. Es handelt sich hier um eine Verschiedenheit des 
seelischen Mechanismus, deren späteren Fall wir Introversion nennen. Den 
bisher nicht genug beacdteten Sadismus des Priestertums hebt Horneffer 
zu Redtt hervor. »Die Priester waren die reinen Metzger; sie wateten im 
Blut; die Luft, die sie atmeten, war geschwängert mit Blutgeruh. Die 
heiligsten und wichtigsten Handlungen ihrer Berufstätigkeit waren Tötungen. 
Und die Tempel und Opferplätze hallten wider vom Gebrüll und Röcdeln 
der sterbenden Tiere.« Horneffer erzählt uns von drei privatpriesterlihen 
Typen, die in primitiver Zeit als heilkundig galten: der Schmied, der Henker 
und die alte Frau. Richtig errät Horneffer, daß der Schmied diesen ärzt- 
lihen Ruf der dämonischen Kraft seiner Werkzeuge und der Waffen, die er 
schmiedet, verdankt. »Lanzen und Pfeile, die der Schmied mit so eisernen Spitzen 
versieht, haben doppelte Eigenschaft: Wunden zu schlagen und zu heilen. 
Das klingt noch in der christlihen Sage von der heiligen Lanze nad, bei 
deren Berührung sich eine unheilbare Wunde schließt.« Ähnlich wie beim 
Schmied verhält es sich beim Henker und bei der alten Frau, Das Medizin- 
weib ist Hebamme und hat als solhe mit den Frauen zu tun, die durch 
die Schwangerschaft tabu sind. Alle diese Ausnahmsstellungen werden durch 
die »Ambivalenz der Gefühlsregungen« vermittelt. 


Den hervorragendsten Platz aber in der ärztlihen Reihe nahm der 
Priester ein. Ihm oblag es, den Krankheitserreger zu entdecken. »Er legt 
sih also im Tempel zum Schlaf nieder und hofft, durh ein Traumbild 
diagnostisch und therapeutisch belehrt zu werden. Of muß auc der Kranke 
selbst diesen medizinishen Tempelschlaf halten, der in den Mittelmeerländern 
allgemein üblih war. In Griechenland, wo wir über den Gebrauch des 
Tempelsclafes genauer unterrichtet sind, hatte sih der ursprüngliche Sinn 


252 Bücder 


dieser Heilweise schon etwas verschoben. Die kranken Griechen, die zum 
Asklepiosheiligtum wallfahrteten, um den Tempelshlaf zu halten, wollten 
niht den Krankheitserreger erfahren, sondern hofften mit dem Heilgott 
Asklepios in Traumverkehr zu treten und von ihm Angaben über das ein- 
zuschlagende Heilverfahren zu erhalten. Ursprünglich aber war dieser Heil- 
gott vermutlich zugleih der Krankheitsdämon und der Tempelschlaf hatte 
den Zweck, die Bedingungen in Erfahrung zu bringen, unter denen dieser 
Dämon den Kranken freigeben würde.« Die letzte Vermutung hat alle 
Wahrsceinlihkeit für sich. Diese Völker haben — wenigstens was psydi= 
she Krankheiten anlangt — nicht so ungereimte Ansichten als es auf den 
ersten Blik scheinen möchte. Die Krankheitserreger werden von der Psycdho- 
analyse tatsählih in den Träumen der Neurotiker aufgedeckt. 

Ebenso eigentümlih ist eine andere Heilmethode. Der Medizinmann 
wendet sich nämlih an den Kranken (oder den in ihm wohnenden Dämon); 
er bedroht ihn, beshwört im Namen aller guten Geister, Er beschimpft 
und bittet in reizvoller Abwechslung den Dämon, den Kranken zu ver- 
lassen. »Nocd heute ‚bespriht’ man im Volke manche Krankheiten, d. h. 
man kämpft mit Worten gegen sie und bringt sie durch Beschreibung des 
Heilvorganges oder durch ÄAufforderungen und Schimpfworte dahin, sich 
aus dem Staube zu mahen.« Wir erkennen hier etwas der Moralpredigt 
Ähnliches. Der Priester will dem Kranken durch dieses Zureden dazu ver- 
helfen, die Gewalt der übermädhtigen Triebe zu unterdrücken. 

Eine Veränderung dieses Heilverfahrens ist das Heraussaugen der 
Krankheit. Der Priester berührt den Kranken und saugt an ihm, bis er alle 
bösen Krankheitsdämonen herausgetrieben hat. Doch nicht immer ist der 
Priesterarzt so geduldig. Er vertreibt auch den Dämon durch eine Radikal- 
kur: er prügelt ihn aus dem Kranken, übergießt ihn mit Wasser, gibt ihm 
Fußtritte usw. Es ist klar, daß diese Mißhandlungen nur den bösen Trieben 
(= dem Dämon) gelten. Mit Recht bemerkt Horneffer, daß in diesen alten 
Heilpraktiken, die ja alle bloß psychische Kuren waren, manches Wertvolle 
enthalten war. Über die Grundlagen der Inspiration weiß der Verfasser 
vieles Rihtige zu sagen. Er erkennt, daß die Quelle unseres tiefsten Wissens 
das unbewußte Seelenleben ist. Wieweit sein Glaube an die Determinierung 
des Psydhischen geht, läßt das folgende Urteil erkennen: »Ein visionäres 
Erlebnis, ein in der Ekstase gefundenes Wort kann zwar an und für sich 
Sinn und Wert haben, denn es entspringt stets einem tiefen Wünschen und 
Wähnen des Kranken — zufällige und sinnlose Gebilde erzeugt unser 
Geist überhaupt nicht, auch der des Irrsinnigen nicht; alles ist begründet, 
alles folgt einer inneren Logik, alles hat innerhalb des Trieblebens des 
Kranken seine berechtigte Stelle.« Ebenso stimmt er fast überall den Re- 
sultaten der Freudschen Traumdeutung bei und weist auf die Wichtigkeit 
der Herrscher- und Priesterträume hin. Gegenüber dem Unbewußten der 
Traumvorgänge verhalfen die Traumdeuter und Orakelpriester der bewußten 
Instanz berihtigend und ergänzend in ihre Rehte. Eine ebenso interessante 
Erscheinung ist die »Allmacht des Wortes«, von der Horneffer im Zu- 
sammenhang mit dem primitiven Gebet berichtet. 

Das primitive Gebet war ein Machtwort, durch dessen Aussprechen 
Zauberwirkungen entstehen. Es richtet sich niht an Götter, es trägt seine 
Kraft in sih. »Wenn ich z. B. sage: jener Mensch wird sofort einen Schmerz 
in der Brust verspüren, wird umsinken und nach kurzer Krankheit sterben, 
so sind diese Erklärungen, wenn sie in die richtigen zauberkräftigen Worte 
gebraht werden, ein Gebet, das sih nach Meinung der primitiven Mensch- 


T—————nmnm Le 


Bücher 253 





heit unfehlbar verwirklicht, falls kein Gegenzauber angewendet wird.« In 
dem Kapitel »Der Priester als Künstler und Denker« zieht der Autor eine 
Parallele zwischen religiöser Betätigung und Spiel und vertieft sie durch 
Fortführung der in einem Freudschen Aufsatz (Kleine Schriften zur Neu- 
rosenlehre, II.) ausgesprohenen Gedanken. 

Er weist auf den uralten Glauben hin, daß das Abbilden eines Ge- 
shöpfes Macht über dasselbe verleihe, Die Kunst hat ihren Ursprung in 
Zauberhandlungen. Wenn ein Krieger einen Löwen auf seinen Körper 
malte, ging die Kraft des Tieres in seinen Körper über. Doch diese magische 
Wirkung geht weiter. Die dargestellten Tiere werden zu Schutzgeistern: 
auch die Wappentiere, die der Kulturmensh auf seinem Schild oder seinem 
Siegelring anbringt, sind Abkömmlinge solcher Stammesdämonen. Auch das 
Lied hat magishe Wirkung und zwingt den Erfolg herbei. Die Erlösung 
von den Zwangsgedanken, die zur religiösen Bildung führen, vollzog sich 
auf zwei Arten: indem man die Zwangsgebilde in Kunstwerken gestaltete 
oder indem man ihnen durch die Forshung auf den Grund ging. In Über- 
einstimmung mit der psycdhoanalytishen Ästhetik beschreibt Horneffer die 
kathartishe Wirkung der Kunst. »Indem der Priesterkünstler dem Volke 
unter dem Bilde der alten, furchtbaren Mythen — man denke z. B. an den 
Mythus von Ödipus, der seinen Vater tötet und seine Mutter eheliht — 
seine eigenen Sünden und Leiden vorhielt, die Seelen erschütterte, das 
Tiefste, Verborgenste, Böseste aus ihnen hervorholte, die verwegensten 
Wünsche und lärmendsten Schauer zu sichtbaren und greifbaren Gestalten 
verdichtete, dies alles aber nicht als formlose Gefühlsmassen, als wüste 
Phantasieerzeugnisse stehen ließ, sondern es in rhythmisierter und organi- 
sierter Form vorbradte, befreite er die Seelen, sprach sie los und befähigte 
sie zu dem schönsten Gottesdienste der Tat.« So anfechtbar der Stil dieser 
Zeilen ist, so richtig und erfreulih wirkt die psychologishe Erkenntnis, zu- 
mal sie unabhängig von der Psychoanalyse zustande kam: immer anregend, 
wenn auch oft zum Widerspruch reizend, bleibt Horneffer auch dort, wo 
er über die Beziehungen von Religion und Sexualität in unseren Tagen 
spriht. Der Priester der Zukunft wird ein Prediger der Norm sein, seine 
Aufgabe ist eine seelsorgerische, d. h. psychotherapeutische, Der Autor weist 
auf Freud und Dubois hin, die als Ärzte diesen Heilweg, der ein 
priesterliher im edelsten Sinne genannt werden muß, wiederfinden. Der Zu- 
sammenhang zwischen Psychoanalyse und Beichte, die von ihm als psyci- 
sche Entladungsersheinung aufgefaßt wird, wird hergestellt und Freuds 
psychoanalytishes Verfahren als eine Beichte niht begangener und nicht be- 
wußter Sünden bezeichnet, Ein tieferes Eindringen wird Horneffer auch 
seine Bedenken wegen der gefährlihen »Übertragung« leicht nehmen lehren. 

Zu den eingangs erwähnten Mängeln des Buches kommt noc seine 
ungünstige Einteilung, die ihm viel an Übersichtlihkeit nimmt. Seine Ehr- 
lichkeit, sein Fleiß und seine psychologische Forschungsarbeit verdienen aber 
hohes Lob. Was haben wir bis jetzt besseres in dieser Art? Dieses ist das 
beste. Dr. Theodor Reik. 

ANSCHAUUNG UND BEGRIFF, Grundzüge eines Systems 
der Begriffsbildung von Dr. Max Brod und Dr. Felix Weltsch. Verlag 
Kurt Wolff, Leipzig. 

»Die genaue Abgrenzung zwischen den beiden Bereichen des Spontanen 
und der Reziptivität ist es, die in jeder psychologishen Arbeit aus dem 
Gebiet der reinen Deskriptive unwiderstehlih in das der Theorien und 
Zusammenfassungen drängt.« Dieses deskriptiv psychologishe Problem 


254 | Bücher 


bekommt oft eine ethische und erkenntnistheoretische Fassung; die Diskussion 
zwischen den »Unmittelbaren«s und den »Logikerns wird eine lebhafte, 
erhält eine affektive Betonung und weitet sih »zum unüberbrückbaren 
Gegensatz zwischen ‚Leben’ und ‚Begriff’«. 

Primär haben wir eine »einheitlihe ungegliederte Gesamtanshauungs«. 
In weiterer Folge wird das Phänomen der verschwommenen Vor- 
stellung aufgezeigt, die in dem System eine fundamentale Bedeutung 
gewinnt. Die »vershwommene Vorstellung«, deren näheren Beschreibung 
ein großer Teil des Buches gewidmet ist, resultiert in dieser Untersuhung 
als eine Vorstellung, die mehrere Einzelvorstellungen umfaßt, mit denen 
sie durh Aufmerksamsteigerung identish werden kann, dabei doc 
eine einheitlihe anschauliche Vorstellung bleibt und somit die erste 
Form des menschlichen Begriffes darstellt. »Wir sehen somit in den Begriffen 
keineswegs, wie es sonst geschieht, einen Gegensatz zur ‚Änscaulichkeit”, 
sondern eine Fortbildung, Modifizierung des Änscaulichen.« 

Nebenbei wird in Fortführung der Gedankengänge die Ent- 
tehsung der Symbole gestreift. 

Im wissenschaftlichen Denken ist zwar die größtmöglihe Atomi- 
sierung und Erstarrung der Anschauung erreicht, aber »es ist doch wieder 
nur Anschauung, die in dieser veränderten Form den wissenscaftlichen 
Begriff durchdringt und sih bis in seine feinsten Adern verzweigt. 
Nicht als ein neu von uns Geschaffenes, als eine leere Form, oder viel=- 
leiht als etwas Eingeborenes, bringen wir ihn an die Erfahrung heran, 
sondern im Gegenteil, in natürliher Entwicklung erwähst auch er uns aus 
der Anschauung. Denn sein ganzes Material entnimmt er der Anschauung, 
die ihm so ewig fließende Lebensquelle ist.« — Zum Nachweise, daß 
selbst abstraktes Denken oft in anschaulihen Symbolen ohne Worte vor 
sih geht, werden auh Silberers Forschungen (die autosymbolishen 
Phänomene) herangezogen. 

Die Entwicklung der dargestellten Resultate aus dem Prinzip der 
verschwommenen Vorstellung gibt den Autoren Anlaß zu sehr tief- 
gehenden Gedankengängen, jedenfalls hat das Buch dem Probleme des 
Konzeptualismus eine neue und bedeutende Lösung gegeben, deren stilistische 
Fassung dem Referenten nur manchmal etwas langwierig und überladen 
scheint. Gaston Rosenstein. 


MAX SCHLESINGER: Gesdhidhte des Symbols. Ein Versuch. 
(Berlin 1912. Verlag von Leonhard Simions Nadhf. Mk. 12.—.) 

Der Verfasser bietet in seinem groß angelegten Werke eine verdienst- 
volle Zusammenfassung der Symbolgeshichte. Er behandelt zunächst die 
Wortgeshichte des Symbols, ferner die naturgeshictlichen Grundlagen seines 
Vorkommens (Psychologie, Pathologie, Traumleben) und gibt eine aus- 
führlihe Darstellung der Entwicklung des Symbolbegriffess von den alt- 
griehishen Philosophen bis in unsere Tage. Der dritte Hauptteil seines 
Werkes endlich bietet eine Übersiht über die Symbolersheinungen im Recht, 
in der Religion, in der Kunst, der Sprache und im Menschenleben. Ein aus- 
führlihes Namen- und Sachverzeicnis erleichtert die Übersicht über die Fülle 
des streng gegliederten Materials. 

Es ist im Rahmen eines Referates unmöglich, den reichen Inhalt des 
Werkes aurzushöpfen, das den Psychoanalytiker in hohem Grade interes- 
sieren muß. Einzelne Stichproben mögen zu der lehrreihen Lektüre des 


Buches selbst anregen. 
Der Autor hebt in der Einleitung die Bedeutung des Symbols für 





Bücer 255 


das Geistesleben und die Kulturgeshichte der Menschheit hervor und be= 
weist durh die vornehme und großzügige Art der Behandlung des Themas, 
wie sehr er von dieser Auffassung durchdrungen ist. Das Symbol ist ihm — 
und darin trifft er mit der psychoanalytishen Auffassung zusammen — ein 
Stük herabgesunkener Wirklihkeit: >Was seine Lebenskraft verloren hat, 
schwindet dahin, langsam zwar, aber es hört doch allmählih auf, Ursache 
zu sein. Oft überdauert sein Zustand der Madhtlosigkeit den Zeitraum dieser 
Blüte. Wenn es sich solchergestalt in Symbol verwandelt... so bleibt es 
erhalten... es stellt ein großes Stück auch jetzt noch nicht erloschener 
Menscheitsgeshihte dar“ (p. 2). Der Verfasser zeigt, »daß der Inhalt des 
Symbols keine objektive, dauernde Wahrheit ist, daß symbolische Darstellung 
und symbolisches Begreifen nur bedingt sind, bedingt sowohl durch die Kunst 
des Symbolbildners, bedingt aber auch durch die Begabung des Einzelwesens 
und ganzer Völker. Was dem Fortgescritteneren nur noch als veran- 
schaulichendes Bild erscheint, das hat sich der größeren Menge durch Ge- 
wöhnung in Wirklichkeit verwandelt und zwischen beiden Entgegenstreben- 
den flutet die große Zahl der Shwankenden, die durch die Zeitströmungen 
hin und her getrieben werdens.. Auch auf die in der Kinderseele zu be- 
obachtende Neigung zur Symbolisierung, »die aus Unerfahrenheit mit der 
Umwelt hervorgeht“, wird als ontogenetisher Parallele hingewiesen (p. 37). 


Der Sexualsymbolik weist der Verfasser, wenn auch keinen breiten 
Raum, so doch eine um so größere Bedeutung an: »Die sexuelle Begierde 
neigt mehr als jede andere Erregung zum Symbolismus hin, ja, das sexuelle 
Gefühl des Erregsamen kristallisiert sih im Symbol, ohne aber deshalb un- 
natürlih zu sein.“ — ”In Sprahen, Mythen, Legenden, in Kranken- und 
Verbrehergeshidhten sind so viele Formen der sexuellen Symbolbetätigung 
niedergelegt, daß es hier. zur Zusammenfassung an Platz fehlt« (p. 52). Vor 
der Eingangspforte des menschlichen und alles Lebens stand als hochbedeut- 
sames Symbol der männlihen Zeugungskraft das Phallusbild. Kein Symbol 
dürfte eine weitere Verbreitung gefunden haben als dieses... und fast 
täglich wird Neues herbeigetragen, das Ethnographie, Medizin und Volks= 
kunde wissenshaftlih sichten. Jene leiteten von den dem Phallusdienste 
verbundenen Sagenkreisen religiöse und astronomishe Mythen, Feste, 
Mysterien, Sitten und Bräuche ab, diese zeigen an ihm dem Historiker den 
Weg, den einst die Kultur gegangen ist... Alle Formen, welche das 
Phallusbild von seiner natürlihen‘ Wiedergabe bis zu den kühnsten Aus- 
gestaltungen im ägyptischen Obelisk und den kolossalen syrischen Tempel- 
türen durchlief — alle die Arten seiner Verehrung, die von tiefsinniger 
Grübelei in den heiligen Mysterien bis zu der ausgelassensten Unzucdht im 
Hexensabbat und weit darüber hinausreichen, können hier nicht namhaft ge- 
macht werden“ (p. 437), 

Wir wissen dem erstaunlich belesenen Verfasser gewiß Dank, daß er — 
wenn auch nur der Vollständigkeit zuliebe — die ”neuesten Forschungen“ 
der »Zürcherishen Schule*, womit er die Psychoanalyse meint, an ver- 
schiedenen Stellen erwähnt, hätten es jedoch lieber gesehen, wenn er dazu 
deutlih Stellung genommen hätte, anstatt sie im Anschluß an andere Auf- 
lassungen einfach zu referieren. Er wäre dann vielleiht dazu gekommen, 
der psychoanalytischen Bewegung, die ein erstes Liht auf die psychische 
Genese des Symbols wirft, eine besondere Stellung in der Geschichte der 
von ihm so intensiv geförderten ”Symbolwissenshaft* anzuweisen. Der 
Verfasser ist vielleiht zu bescheiden, wenn er die Erforshung des Symbols 
als seelishes Erlebnis »Berufeneren überlassen« möchte, und »die Ge= 


256 Bücher 


schichte des Symbols im wesentlihen nur als eine Materialsammlung* für 
diese Aufgabe ansieht. »Daß aber die wirklihen Maßstäbe der Wissen= 
schaft nicht in der Geschichte, sondern in der Psychologie liegen, entspricht 
völlig unserer Auffassung von der Lösung der vorliegenden Aufgabe“ 
(p. 44). Ein wesentliches Stück dieser Aufgabe ist in den kritischen Ein- 
wendungen angedeutet, die der zum Katholizismus übergetretene Arnobius 
(300 n. Chr.) seinen Landsleuten in tendenziöser Weise vorhielt, als sie die 
die griechischen Götter verunglimpfenden Mythen in allegorishem Sinn aus= 
zulegen suchten. Arnobius apostrophiert die Griechen in folgender Weise: 

»Wir fragen zuerst, ob diese Dinge dort, wo ihr sie gefunden und 
angenommen habt, im allegorischen Sinne erfaßt worden sind oder so ver- 
standen werden müssen? ob euch nämlih die Scriftsteller zur Beratung 
herbeigerufen? oder ob ihr in deren Brust verborgen ward, als sie mit 
Verhüllung der Wahrheit das eine für das andere untershoben? ... 
Inwiefern seid ihr denn wohl sicher, daß ihr in der Erklärung und Äus- 
legung denselben Sinn wahrnehmt und darlegt, den jene Historiker selbst 
in ihren verborgenen Gedanken hatten, den sie aber nicht mit dem eigent- 
lihen Ausdruck, sondern in anderen Worten dargestellt haben? Es kann 
doh ein zweiter eine andere, scharfsinnigere und wahrsceinlihere Aus- 
legung ersinnen ... Da dem so ist, wie könnt ihr etwas Gewisses von 
vieldeutigen Dingen herleiten und eine bestimmte Erklärung dem Worte 
geben, das ihr durch zahllose Arten der Auslegung durchgeführt findet? ... 
Wie wollt ihr denn wissen, welcher Teil der Erzählung in gewöhnlicher 
Darstellung abgefaßt, was dagegen in ihr durch zweideutige und fremd- 
artige Ausdrücke verhüllt ist, wo die Sache selbst kein Merkmal enthält, 
welches die Unterscheidung an die Hand gibt? Entweder muß alles in 
allegorisher Weise abgefaßt sein, und von uns so erklärt werden oder 
nihts ... Vordem war es üblich, allegorishen Reden den ehrbarsten 
Sinn zu geben, schmutzige und häßlih lautende Dinge mit dem Shmuk 
anständiger Benennung zu verhüllen, jetzt sollen sittsame Dinge zotig und 
garstig eingehüllt werden«. 

Diese Ausführungen sind niht nur insofern aktuell, als sie die 
naturmythologishe Deutung der Göttersagen aufs entschiedenste ablehnen, 
sondern auch weil sie — abgesehen von ihrem tendenziösen Sinn — sic 
gegen die Willkür in der Symboldeutung überhaupt wenden und bestimmte 
Kriterien der symbolischen Deutung fordern, deren Feststellung die Psydho- 
analyse durh Aufdeckung der Genese der Symbolik und ihrer Beziehung 
zum Unbewußten zu fördern glaubt. Dr. Rank. 


0 DR © Anne = 


Druckfehlerberichtigung: 


In dem Artikel von Dr. Lorenz: »Das Titanen-Motiv in der allgemeinen 
Mythologie«, »Imago«, II. Jahrg., Heft 1, ist zu lesen: 


Seite 30, Zeile 15: zunächst statt zuredt. 
Seite 37, Zeile 14 von oben M. Meyer stattt K. Bapp. 
Zeile 10 von unten: ysvväodaı, 
Zeile 1 von unten: gesegneten. 
Seite 49, Zeile 3 von unten: Schrift über die Sprahenverwirrung (Kap. 2). 
Seite 61, Zeile 18: dem Ödipuskompfex. 
Seite 69, Zeile 31: Mythologie der Germanen. 





DAS KAUSALGESETZ 


DER 


WELTGESCHICHTE 


VON DR MAX KEMMERICH 


Unter diesem zusammenfassenden Titel erscheint in unserem 
Verlag ein zweibändiges Werk, das folgende vier Teile umfaßt: 


Erster Teil: INDIVIDUALPSYCHOLOGIE. Erbringt erst= 
malig den Beweis für die Giltigkeit des Gesetzes von der Er= 
haltung der Energie auch für das Geistesleben und wendet die 
Naturgesetze (Physik, Biologie, Mechanik etc.) auf dieses an. 

Zweiter Teil: ETHIK. Fordert eine Synthese der Moral Christi 
mit der Nietzsches als Menschheitmoral der Zukunft und wen= 
det das Gesetz der Energieerhaltung auf religiöses Gebiet an. 

Dritter Teil: GESCHICHTSPHILOSOPHIE. Führt zu dem 
Resultat, daß sich die Zukunft berechnen läßt und erbringt 
Beweise. Denn die Naturgesetze haben auch Geltung für 

die Menschheitsgeschichte. 

Vierter Teil: POLITIK. Zieht Nutzanwendungen auf die Gar 
gebung,Verwaltung,die i innere u. äußerePolitik der Kulturstaaten. 

Der erste Band, der die beiden ersten Teile umfassen wird, erscheint im Mai, 

der zweite, der die Schlußteile bringt, wird im September 1913 ausgegeben. 


Subskriptionspreis bis 15. Juli 25 Mark, nach dem 15. Juli 30 Mark für das 
komplett in zwei Bänden gebundene Werk von etwa 1000 Druckseiten auf 





























holländischem Büttenpapier. Einzelne Bände werden nicht abgegeben. 
München, Ende März 1913. Albert Langen, Verlag, München 


BESTELLSCHEIN 


Bei. der Buchhandlung won... a. rs Bear. 
subskribiere ich auf das bei ALBERT LANGEN, MeHtaE in München, 
erscheinende Werk 

Dr. Max KEMMERICH, Das Kausalgesetz der Weltgeschichte 
Zwei Bände, gebdn. 25 Mk. (Der Subskriptionspreis erlischt am 15. Juli 1913.) 
Der Betrag folgt gleichzeitig — ist mit dem ersten Band nachzunehmen. 


Name, Stand, Datum, genaue Adresse: 






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Inhalt des zweiten Heftes. 


DR. EDUARD HITSCHMANN (Wien): Schopenhauer, N n/ 
DR. ALFR. FRH. V. WINTERSTEIN (Wien): Poychoanapiche 2 
Anmerkungen zur Geschichte der Philosophie. | Be) 
DR. S. FERENCZI (Budapest): Aus der »Psydologies von a ‘ A F 
Lotze. © N 
BÜCHER: N. 
PAUL HÄBERLIN: Wissenschaft und Philosophie. En TA 
ADOLF STÖHR: Psychologie der Aussage. en 3 
AUGUST HORNEFFER: Der Priester. | BE an 
MAX BROD UND F. WELTSCH: Anschauung und Begriff. : | a 
MAX SCHLESINGER: Gesdidte des nahe ERS a 


Kunstbeilage: »Der Pfilosophe. Örsinalrndierung von Prof. Max Klinger. 
Naddruck verboten. 


Buch= und Kunsthandlung HUGO HELLER & CIE. Bee F: 
ST N N TAN TEE —————— —— ’ q i 


Wien I, Bauernmarkt 3, 


Max Klingers Original-Radierungen: | 7 





Rettungen ovidischer Opfer, 5. Ausgabe, 15 Orig. -Radgn. in Mappe . K Be a 

Eva und die Zukunft, 6. Ausgabe, 6 Orig.-Radgn. in Mappe 72.— v t 

Paraphrase über den Fund eines Handschuhs, 4. Ausg. 10 Org.-Radgn.i.M. „ 120,— i 
Der Mittag, Original-Radierung, Bildgröße 45x37 cm 12 E 
Die Chaussee, „ 7 2 52,5X36,5 cm um. IL— Bi; 
Mondnacht, er y F 36x54 cm | 72.— Re 
Sommernachmittag, nn EEELAR IL EM N <a 
Ein Leben, 4. Ausgabe, 15 Original-Radierangen in Mappe 180.— \. 
Eine Liebe, 3. e 10 r H ;, 300.— 4 . 
Vom Tode ], 4. 7 10 180,— en 
Epithalamia, Titel’ u. 16 Gravüren nach ahnen ih Aredersdchhäe | "a 
Mit Text von Elsa Asenijeff, Ausgabe auf holländischem Papier .. „ 300,— ur 
An die Schönheit, Kupferätzung nach der Radierung aus „Vom Tode II” 3 
auf Chinapapier, Bildgröße 35x26 cm 18.— ur 
Jedem Klinger-Sammier ist unentbehrlich: r 
Max Klingers Radierungen, Stiche und Steindrucke. EZ 
Wissenschaftliches Verzeichnis von HANS WOLFGANG SINGER. Fi Kr 
Ein starker Quartband von XVIII und 148 Seiten Text und 69 Tafeln mit 329 Abbildungen | > 
in vollkommenstem Lichtdruck. In Ganzleinen gebunden K 48.—, Numerierte Luxus=Ausgabe auf Ay 
schwerem Kupferdruckpapier. der Straßburger Manufaktur in Ganzleder gebunden und mit dem von ” 
Klinger radierten Selbstbildnis als Titelkupfer K 108,—. x 
K. U. K. HOF-BUCHDRUCKEREI CARL FROMME IN WIEN. | es $