A.GO
ZEITSCHRIFT FÜR ANWENDUNG.
DER. PSYCHOANALYSE AUF DIE
GEISTESWISSENSCHAFTEN
HERAUSGEGEBEN VON
PROF. DE S1GM. FREUD
REDIGIERT VON
D£ OTTO RANK u. DE HANNS SACHS
ffl. JAHRGANG / 1914
HEFT 3 / / / JUNI
1914
HUGO HELLER. &>. Gl
LEIPZIG u.WIEN-1-BAUERNMARKT 3
D er Erfolg des zweiten Jahrgangs hat uns aufs neue des Interesses Jener versichert,
an die sich die Zeitschrift zunächst wandte, nicht minder aber die Hoffnung bestätigt,
daß auch weitere Kreise an den Problemen und Ergebnissen unserer jungen Wissen¬
schaft Anteil nehmen werden,« endlich hat uns die rege Mitarbeit der Vertreter verschiedener
Fachgebiete das Bewußtsein gegeben, daß unser Unternehmen auch imstande war, der An¬
regung geistiger Produktionstätigkeit zu dienen.
Die reiche und vielseitige Arbeit des abgelaufenen Jahrgangs zeigt die Inhaltsüber¬
sicht und wir dürfen hoffen, mit der Festhaltung und Ausgestaltung unseres Programms
auch unseren Erfolg sichern und steigern zu können.
Soweit es durchführbar ist, sollen alle jene Zweige der Geistes Wissenschaften, für
die die Psychoanalyse Bedeutung gewonnen hat, zu Wort kommen,« auch soll weiterhin
neben Sonderproblemen der Individualpsychologie besonders die Völkerpsychologie einen
breiten Raum einnehmen, die ja am deutlichsten den Wert und die Fruchtbarkeit der am
Einzelnen gewonnenen Seelenkenntnis erweist.
Für die REDAKTION bestimmte Zuschriften und Sendungen wollen an
Dr. HANNS SACHS,Wien XIX/l, Peter^Jordangasse 76 adressiert werden.
»IMAGO« erscheint SECHSMAL jährlich im Gesamtumfang von
etwa 36 Bogen und kann für M, 15.— == K 18.— pro Jahrgang durch
jede gute Buchhandlung sowie direkt vom Verlage HUGO HELLER
® CIE. in Wien I., Bauernmarkt 3 abonniert werden. Einzelne Hefte
werden nicht abgegeben.
Auch wird ein GEMEINSAMES ABONNEMENT auf »IMA^
GO« und die »INTERNATIONALE ZEITSCHRIFT FÜR ARZT*
LICHE PSyCHOANALySE« zum ermäßigten Gesamtjahrespreis von
Mk. 30.— = K 36.— eröffnet.
Die wenigen noch verfügbaren Exemplare des abgeschlossenen
II. Jahrgangs »IMAGO« werden im Preise erhöht, so daß der komplette
II. Jahrgang nunmehr M. 18.— — K 21.60, gebunden M. 22.50 = K 27.—
kostet. Auch vom ersten Jahrgange sind noch einige wenige Exemplare
zu diesem Preise verfügbar.
ORIGINAL * EINBANDDECKEN mit Lederrücken sind zum
Preise von M. 3.— = K 3.60 durch jede gute Buchhandlung, sowie
direkt vom Verlage zu beziehen.
Copyright 1914. HUGO HELLER ® CIE., Wien I., Bauernmarkt 3.
IMAGO
ZEITSCHRIFT FÜR ANWENDUNG DER PSVCHO«
ANALYSE AUF DIE GEISTESWISSENSCHAFTEN
HERAUSGEGEBEN VON PROF. DR. SIGM. FREUD
SCHRIFTLEITUNG:
III. 3. DR. OTTO RANK / DR. HANNS SACHS 1914
Von Dantes unbewußtem Seelenleben.
Erinnerungen und Eindrücke aus seiner Kinderzeit.
Von Dr. ALICE SPERBER <Wien>.
I n der vorliegenden Arbeit wird der Versuch gemacht, die von
Freud gefundene und ausgebildete psychoanalytische Methode
für die literarhistorische Forschung zu verwerten, um in einem
Fall, wo die Dokumente versagen und die Zeitgenossen schweigen,
Eindrücke und Gedanken eines Dichters ans Licht zu ziehen, die
bisher teils unbekannt waren, teils wenig beachtet wurden.
Meine Argumente werden vielleicht das Befremden mancher
Fachgelehrten erregen, was anfangs meist der Fall ist, wenn die
Psychoanalyse in ein Wissensgebiet einzudringen sucht, das ihr
bisher ferngestanden. Dazu kommt, daß ich innerhalb des Rahmens,
in dem diese Arbeit erscheint, die Grundbegriffe der jungen
Wissenschaft: im allgemeinen als bekannt voraussetzen muß, obwohl
sie den meisten Literarhistorikern noch unbekannt sein dürften. Ich
möchte aber alle Skeptiker darauf aufmerksam machen, daß es viel*
leicht schade wäre, eine neue Forschungsmethode kurzweg abzu*
lehnen, ohne sich eingehend mit der Wissenschaft vertraut gemacht
zu haben, auf der sie beruht.
Bevor ich auf mein Thema eingehe, möchte ich noch betonen,
daß meine Ausführungen keinen Anspruch auf Vollständigkeit er¬
heben, denn das, was hier vorgebracht wird, ist bei weitem nicht
alles, was die Psychoanalyse über Dante und seine Werke zu
sagen hätte, ferner, daß die hier vorgebrachten psychoanalytischen
Erklärungen keineswegs andere Erklärungsversuche ausschließen
müssen, die bereits zum Gemeingut der Danteforschung gehören,
sondern in vielen Fällen als Ergänzungen aufzufassen sind.
Ich schicke ferner voraus, daß diese Arbeit auf folgender Vor*
aussetzung basiert: nachdem die Psychoanalyse nachgewiesen hat,
daß das Liebesschicksal des Menschen zum Teil durch Kindheits*
INTERNATIONAL
PSYCHOANALYTIC
UNIVERSITY BERLIN
206
Dr. Alice Sperber
erlebnisse vorausbestimmt ist, soll nun der Versuch gemacht werden,
von ersterem auf letztere zu schließen.
Das erste, womit wir uns beschäftigen wollen, ist daher Dantes
unsterbliche Liebe, seine Liebe zu Beatrice.
Diese Neigung hat Dante in jenen beiden Werken verewigt,
für die ihm die Nachwelt dankbarer ist, als für alle anderen Schöp¬
fungen seines Geistes, in der Vita nuova und der Divina Commedia.
Über die Geschichte seiner Liebe hat er in der Vita nuova
ausführlich berichtet. Nach seinen Angaben hätte er Beatrice zum
erstenmal gesehen, als sie den Beginn und er das Ende des neunten
Lebensjahres erreicht hatte. Eine schwärmerische Leidenschaft habe
ihn erfüllt, aus der sich aber nie etwas anderes entwickelte als eine
ebenso grenzenlose wie entsagsreiche Zärtlichkeit. Diese platonische
Liebe überdauerte den Tod der Geliebten, der sie, wie Dante uns
sagt, im Alter von etwa fünfundzwanzig Jahre ereilte und erfüllte
des Dichters Seele bis zum Ende seines sturmbewegten Lebens. In
der Vita nuova weiß er mancherlei über Beatrice zu berichten, über
ihre Kleidung, über ihre Art zu grüßen und ihr Lächeln oder über
die Frauen, die sich in ihrer Gesellschaft befinden. Zumeist sind es
Kleinigkeiten, die aber dem Liebenden unendlich bedeutungsvoll
erscheinen. Auch ernste Ereignisse aus dem Leben der Geliebten
werden uns mitgeteilt, so der Tod ihres Vaters, durch den sie in
tiefe Trauer versetzt ward,* ob aber nun von wichtigen oder un-
wichtigen Ereignissen die Rede ist, der Ton, in dem der Dichter
von Beatrice erzählt, bleibt immer derselbe. Sie ist ein vollkommenes
Ideal, ein Engel in Menschengestalt, der allen Segen spendet, die
ihm nahen. Zorn und Stolz sdvwinden in Beatricens holder Gegen¬
wart. Wer sie sieht wird demütig und vergibt seinen Feinden,- als
höchste Gnade hat ihr Gott verliehen, daß niemand schlecht enden
kann, der mit ihr gesprochen hat.
Der Dichter fordert nichts von ihr, ihr Gruß ist seine höchste
Seligkeit. Er trachtet seine Liebe zu verbergen, und um die anderen
irre zu führen, betet er scheinbar andere Frauen an <z. B. die
»donna di schermo«),- da Dante infolgedessen in schlechten Ruf
gerät, verweigert ihm Beatrice ihren Gruß, aber dem Dichter bleibt
als letzte Quelle des Glückes die Freude an der Verherrlichung der
Geliebten, die ihm niemand nehmen kann. Durch ihren Tod wird
er in unbeschreibliche Trauer versetzt, doch gerät sein Herz bald
darauf in Versuchung, sich einer anderen Frau zu ergeben, der
»donna gentile«, die Mitleid mit seinen Qualen empfindet. Aber
das Andenken an Beatrice trägt nach schwerem Kampf den Sieg
davon und Dante schließt sein Werk, indem er der Absicht Aus¬
druck gibt, von der toten Geliebten das zu sagen, was noch von
keiner Frau gesagt wurde, ein Versprechen, das er in der Divina
Commedia eingelöst hat.
Begreiflicherweise haben die Danteforscher das größte Intern
esse für Beatrice an den Tag gelegt und recht verschiedene An^
Von Dantes unbewußtem Seelenleben
207
sichten in bezug auf Dantes Jugendliebe vertreten. Die Anhänger
der sogenannten historisch-realistischen Richtung haben Dante Glauben
geschenkt und halten die Vita nuova für ein biographisches Werk.
Sie berufen sich dabei hauptsächlich auf das Zeugnis Boccaccios,
der die Heldin der Vita nuova mit Beatrice Portinari 1 , der Tochter
des Folco Portinari aus Dantes Heimatstadt Florenz identifiziert
und als selbstverständlich voraussetzt, daß die Vita nuova eine
glaubwürdige Darstellung von Dantes Jugendliebe sei 2 .
Da aber die ältesten Kommentatoren der Divina Commedia,
deren Werke zweifellos vor der Dantebiographie Boccaccios ver^
faßt wurden, von Beatrice Portinari 3 4 nichts wissen und mehrere von
ihnen von der realen Existenz einer Beatrice nichts erwähnen,
sprechen viele Gelehrte der Vita nuova jeden biographischen Wert
ab und halten die ganze Liebesgeschichte für eine bloße Phantasie.
Da Dante überdies wie die meisten seiner Zeitgenossen in
Allegorien schwelgt und kein Zweifel daran bestehen kann, daß
Beatrice in der Divina Commedia, ganz abgesehen von der persön¬
lichen Frage, eine allegorische Bedeutung hat und wahrscheinlich die
Theologie 1 personifiziert, wollen die sogenannten Idealisten unter
den Dante forschem auch der Beatrice der Vita nuova, deren reale
Existenz sie ableugnen, allegorische Bedeutung zuerkennen. Die
Meinungen sind hier wiederum geteilt und es soll hier nur einiges
hervorgehoben werden. Nach Rossetti z. B. ist Beatrice sowohl
in der Vita nuova als auch in der Commedia ein Symbol der
kaiserlichen Gewalt, nach Perez eine Allegorie der »intelligenza
attiva« und Bartoli, der ebenfalls an den biographischen Wert der
Vita nuova nicht glauben will, hat einen Mittelweg eingeschlagen:
Er meint, Beatrice sei wohl keine eigentliche Allegorie, aber doch
eine Abstraktion, eine bloße Kreatur von Dantes Geist, d. h. ein
1 Von Beatrice Portinari wissen wir, daß sie mit Messer Simone de' Bardi
vermählt war, eine Tatsache, die in der Vita nuova allerdings mit keinem Wort
erwähnt wird, doch ist dieser Umstand weniger auffallend als es im ersten Augen~
blick scheint, da ja die Anbetung verheirateter Frauen nach der Sitte der Zeit ein
gutes Recht der Dichter war, gegen das sich die Ehemänner nicht aufzulehnen
pflegten. Daß diese nicht nur im Leben, sondern auch in der Dichtung gerne
übergangen wurden, ist psychologisch begreiflich. So wird z. B. in der Biographie
des Troubadours Richautz de Berbesiu wohl gesagt, daß seine Dame die Gattin
des Jaufre de Tonay war, aber obwohl sie bereit ist, mehr zu gewähren, als bloß
platonische Liebe, wird der Ehemann mit keinem Worte mehr erwähnt. <F. Pro^
venzalische Chrestomathie von C. Appel, Leipzig 1895, p. 191.)
2 Boccaccio. Vita di Dante.
3 Eine Ausnahme bildet der cod. Ashburnamiano des Kommentars, das
Pietro Alighiero, ein Sohn Dantes, zur Divina Commedia verfaßte. Dort finden
wir, wie bei Boccaccio, die Identifizierung von Beatrice mit Beatrice Portinari. Da
aber der betreffende Kodex von allen anderen Codices des Werkes in dieser
Hinsicht ab weicht, gilt dieses Zeugnis als zweifelhaft. Ein anderer Sohn Dantes,
Jacopo Alighieri, der ebenfalls einen Kommentar zur divina Commedia schrieb,
erwähnt Beatrice Portinari nicht.
4 Dies ist die Ansicht von Dantes Zeitgenossen und zahlreicher moderner
Gelehrten, die sich mit dem Thema beschäftigt haben.
208
Dr. Alice Sperber
allgemeines Schönheits^ und Weiblichkeitsideal überhaupt. Audi die
Ansicht, daß Beatrice in der Vita nuova sowohl biographische als
auch allegorische Bedeutung haben könne, läßt sich natürlich vem
treten, insbesondere, da ja auch die Realisten von der Doppel¬
bedeutung Beatricens in der Commedia überzeugt sind.
Da es natürlich für alle, die über Beatrice arbeiten, unerläß^
lieh ist, zu dieser Frage Stellung zu nehmen, möchte ich vor allem
betonen, daß es für diese Arbeit nicht darauf ankommt, ob Dantes
Beatrice mit Beatrice Portinari identisch war oder nicht. Für das, was
hier vorgebracht werden soll, genügt die Voraussetzung, daß Dante
in jungen Jahren irgendein weibliches Wesen platonisch geliebt habe,
daß aber seine Beziehungen zu der Geliebten ein Ende fanden, als
er in noch jugendlichem Alter stand, wobei es gleichgiltig ist, ob
Beatrice wirklich von einem frühen Tode ereilt wurde, oder ob sie
nur für ihren Dichter gestorben war. Ihr Andenken aber lebte so
unvergänglich in Dantes Seele, daß ihre Verherrlichung zeitlebens
sein höchstes Ziel blieb.
Für alle, die diese Grundlage bestreiten sollten, kommt diese
Arbeit nicht in Betracht, doch müßte man dann mit der merkwüm
digen Erscheinung rechnen, daß fast das ganze Schaffen des Dichters
durch eine Vorstellung inspiriert worden sei, die in seinem persön¬
lichen Erleben keine Rolle spielte. Sehr auffallend wäre dann auch
das außerordentlich zähe Festhalten an dieser Vorstellung, denn die
Vita nuova verfaßte er als er ungefähr sechsundzwanzig Jahre zählte
und der Gedanke an die Divina Commedia beschäftigte ihn bis an
sein Lebensende.
Noch einen Umstand möchte ich hervorheben, der mir für das
Beatriceproblem wichtig scheint. Bei Boccaccio, der in seiner Dante**
biographie der Vita nuova volle Bewunderung zollt, findet sich foL
gende Stelle: E comeche egli di aver questo libretto fatto
negli anni piü maturi si vergognasse molto, nondimeno com*
siderata la sua etä, e egli assai bello e piacevole e massimamente
a' volgari 1 .
Diese Bemerkung Boccaccios scheint sich auf eine Stelle in
Dantes Convivio zu beziehen, den philosophischen Kommentar,
welchen der Dichter zur Erklärung einiger von ihm selbst verfaßter
philosophischer Kanzonen schrieb und zu dessen Abfassungszeit der
Dichter nicht mehr jung war. Dort heißt es: E se nella presente
opera la quäle e Convito nominato er vo'che sia, piü virilmente si
trattasse che nella vita nuova, non intendo perö a quella in parte
alcuna derogare, ma maggiormente giovare per questa quella, veg-
gendo siccome ragionevolmente quella fervida e passionata, questa
1 In sinngemäßer Übersetzung: Und obwohl er sich in reiferen Jahren sehr
schämte, dieses Büchlein gemacht zu haben, ist es doch, wenn man das Alter
bedenkt, in dem es verfaßt wurde, sehr schön und anmutig, besonders für die¬
jenigen, die nicht imstande sind lateinische Werke zu lesen.
Von Dantes unbewußtem Seelenleben
209
temperata e virile essere conviene. Che altro si conviene e dire e
operare a una etade, che ad altra, perche certi costumi sono idonei
e laudabili a una etade, che sono sconci e biasimevoli ad altra,
siccome di sotto nel quarto trattato di questo libro sarä per propia
ragione mostrato. E io in quella dinanzi all'entrata di mia gioven^
tute parlai e in questa dipoi quella giä trapassata <cf. Convito
Trattato I. Kap. 1>. 1
Es bedarf nun der Erörterung, was Dante veranlaßt haben
konnte, sich, wie Boccaccio 2 behauptet, der Vita nuova zu schämen
und dieselbe mit den Ausdrücken sconci e biasimevoli zusammen¬
zubringen, denn obwohl Dante in der zitierten Stelle sagt, daß er
der Vita nuova nicht Abbruch tun wolle, klingt das Ganze immer¬
hin wie eine Entschuldigung und überdies dürfte Boccaccios Be^
merkung auch auf zeitgenössische Mitteilungen zurückgehen, denn
Boccaccio hatte gar keine Veranlassung ohne Grund eine derartige
Behauptung aufzustellen.
Qui s'excuse, s'accuse, und doch ist die Vita nuova ein Werk
von hohem Adel, über deren Inhalt sich Dante weder in ethischer
noch in religiöser Hinsicht Vorwürfe machen konnte, wohl aber
können verschlossene Menschen, zu denen Dante zweifellos gehörte,
es sich nicht verzeihen, wenn sie sich aus irgendeinem Grunde dazu
verleiten lassen, mehr von ihrem Innenleben zu offenbaren, als es
ihrer Natur im allgemeinen entspricht. Der Gedanke, die liebsten
und zartesten Erinnerungen seiner Jugend der Öffentlichkeit preis^
gegeben zu haben, mag dem Dichter peinlich gewesen sein, was jeder
verstehen wird, der auch nur oberflächlich die geheimnisvollen Re¬
gungen des Schamgefühls bei sich und anderen belauscht hat. Wäre
Beatrice aber nichts anderes wie eine von den unzähligen farblosen
und lebensfremden Allegorien, die zu jener Zeit modern waren, so
hätte die Erinnerung an die Vita nuova schwerlich derartige unlust¬
betonte Affekte in der Seele des Dichters ausgelöst.
Es wird daher der persönliche Faktor in der Vita nuova
nicht zu unterschätzen sein, wenn auch anzunehmen ist, daß Dichtung
und Wahrheit sich in diesem Werke vereinen.
1 Und wenn ich nun in vorliegendem Werke, das ein Gastmahl heißen
und sein soll, männlicher auftrete als im »Neuen Leben«, so habe ich doch keines^
wegs im Sinne, irgend etwas von diesem zurückzunehmen, vielmehr soll das vor^
liegende Werk ihm zu Hilfe kommen. Denn ich sehe wohl ein, daß jenes mit
allem Grunde voll Glut und Leidenschaft geschrieben ist, dieses aber mit Mäßig¬
keit und Männlichkeit auftreten muß. Denn Worte und Taten müssen dem Lebens^
alter entsprechen. Es gibt Sitten, die für das eine Alter passend und lobenswert
sind, die aber in einem anderen sich ungeschickt ausnehmen und zu tadeln
sind. Das werde ich weiter unten im vierten Traktate dieses Buches auf besondere
Weise zeigen. Im »Neuen Leben« sprach ich über die Tage, die vor dem Ein=
tritt in das Mannesalter stehen, das mir bei Abfassung dieses Werkes schon
zerronnen ist (nach Sauter). Das rüstige Mannesalter »gioventute« reicht nach
Dantes Convito (IV, 24) vom 25.—45. Lebensjahr.
2 Die Angaben Boccaccios genießen zum großen Teil das Vertrauen der
Kritik, ausgenommen sind vor allem Anekdoten und legendenhafte Züge.
Imago III/3
14
210
Dr. Alice Sperber
Wer die Vita nuova und die Divina Commedia kennt, muß
bemerkt haben, wie sehr sich die Beatrice des ersten Werkes von
jener des zweiten unterscheidet.
In der Vita nuova zeigt die Darstellung der Geliebten jene
außerordentliche Weichheit, die charakteristisch ist für die Frauen-
Figuren des »dolce Stil nuovo«.
Ella sen va sentendosi laudare
Benignamente d'umiltä vestuta
E par che sia una cosa venuta
Di cielo in terra a miracol mostrare
Mostrasi si piacente a chi la mira
Che da per gli occhi una dolcezza
al core
Che intender non la puö chi non
la prova
E par die dalla sua labbia si mu=
ova
Uno spirito soave e pien d'amore
Che va dicendo all'anima sospira
<Vita nuova § XXVI.)
Sie geht, wie vielen Preis sie mag
erfahren.
Selig bescheiden, Demut zum Ge¬
wand,*
Und ist, als sei vom Himmel sie
gesandt
Auf Erden Wunder uns zu offen¬
baren
Sie zeigt so huldreich sich, dem,
der sie siehet,
Das durch das Aug' ins Herz ihm
Süße ziehet,
Wie keiner kennt, der sie nicht
selbst erfuhr.
Und ist, es gehe aus von ihrem
Munde
Ein sanfter Hauch voll minniglicher
Kunde,
Der zu der Seele spricht: nun
seufze nur!
(Übersetzt nach Hortus deliciarum
II. Bd.)
Anders die Beatrice der Divina Commedia. In ihrem Wesen
ist eine gewisse Strenge unverkennbar. Mit harten Worten wirft
sie dem Dichter sein sündiges Leben und seine vergängliche Liebe
zu anderen Frauen vor, um jene Reue in ihm zu erwecken, die ihn
würdig machen soll, an ihrer Seite das Paradies zu sehen.
Noch durch einen anderen Zug unterscheidet sie sich von ihrer
Doppelgängerin in der Vita nuova. Während die sanfte Beatrice,
die der Dichter in seiner Jugend liebte, von ihm nur sehr selten
Notiz nimmt, ist die Beatrice der Divina Commedia unablässig um
sein Wohl besorgt.
Die Himmelskönigin hat Lucia, die wahrscheinlich die erleuch¬
tende Gnade darstellt, zu ihr gesandt und nun erfährt Beatrice
durch Lucia von Dantes Sünden und Kämpfen. Von Mitleid
gerührt, steigt Beatrice in die Hölle hinab, um Virgil zu bitten,
Dante als Führer durch die Hölle und das Fegefeuer zu dienen,
denn er kann nur gerettet werden, wenn er die furchtbaren Strafen
sieht, die im Jenseits der Sünder harren. Sie selbst führt dann den
geläuterten Dichter durch das Paradies, damit er auch die ewige
Seligkeit erkenne, die der Lohn der Gerechten ist. — Beatrice und
Virgil haben Dante gegenüber stets einen belehrenden Ton und
Von Dantes unbewußtem Seelenleben
211
klären ihn über die verschiedensten irdischen und überirdischen Dinge
in mittelalterlich scholastischer Weise auf.
Manchmal werden wir freilich auch wieder an jene Beatrice
der Vita nuova erinnert, die von so mildem Schein umflossen ist.
So sagt Virgil von ihr:
Lucevan gli occhi suoi piü (he la
Stella
E cominciommi a dir soave e
piano
Con angelica voce in sua favella
(Inferno II, 55—57.)
Ihr Auge glänzte mehr denn Ster^
nenlicht
Und sie begann zu reden mit so
schlichter
Und sanfter Stimme wie ein Engel
spricht.
(Alle Stellen aus der Divina Com^
media sind nach der Übersetzung
Gildemeisters zitiert.)
Gewiß wäre es nicht schwer, noch mehr derartige Stellen aus
der Divina Commedia zu zitieren, aber doch ist die Wandlung, die
Beatrice in der Phantasie des Dichters durchgemacht hat, so auf¬
fallend, daß wir den Ursachen, die sie hervorgerufen haben mögen,
nachgehen wollen.
Glücklicherweise wird diese Aufgabe dadurch erleichtert, daß
Dante sein Geheimnis selbst verraten hat, was man aus einigen
Versen des Purgatorio leicht ersehen kann. Dante hat seine Reise
durch das Purgatorio, das die Form eines aus dem Meere auf¬
ragenden abgestumpften Kegels hat, beendet,* er befindet sich nun
im irdischen Paradies, das den obersten Teil des Kegels ausfüllt und
die letzte Region ist, durch die der Heide Virgil ihn begleiten darf.
Schon ist der von mystischen Emblemen umgebene Triumphwagen,
der die Kirche darstellt und von einem Greif (Christus) gezogen
wird, vor Dante erschienen und Beatrice (Theologie) steigt in einer
Wolke von Blumen, die von Engeln gestreut werden, herab, um
ihren Platz auf dem Wagen einzunehmen 1 . Als Virgil, der nun
Beatrice die Führung abtreten muß, verschwindet, bricht Dante in
Tränen aus, worauf sich ihm Beatrice streng und hoheitsvoll zu^
wendet.
Ne quantunque perdeo l'antica
madre,
Valse alle guance nette di rugiada,
Che lagrimando non tornassero
adre.
Dante, per che Virgilio se ne vada,
Non piangere anco, non piangere
ancora!
Was Eva einst verlor (das Para^
dies), es reichte nicht,
Daß es den Tränen neu zu trüben
wehrte
Mein jüngst vom Tau gewasch'nes
Angesicht.
»Dante, ob auch Virgil hinweg sich
kehrte.
Noch weine nicht, nicht weine
dieses Mal!
1 So bedeutsam auch die Rolle der Allegorie in der Divina Commedia ist,
so darf man doch darum auch den senso letterale, auf den Dante bei der Er¬
klärung seiner Werke ebenfalls Wert legt, nicht vergessen <cf. Convito I, 2. Kap.).
14 *
212
Dr. Alice Sperber
Che pianger ti convien per altra
spada.«
Quasi ammiraglio, che in poppa
ed in prora
Viene a veder la gente, che mu
nistra
Per li alti legni, ed a ben far la
incora.
In su la sponda del carro sinistra,
Quando mi volsi al suon del nome
mio,
Che di necessitä qui si rigistra,
Vidi la donna, che pria mi appario,
Velata sotto I'angelica festa,
Drizzar li occhi ver me di qua dal
rio.
Tutto che il vel, che le scendea di
testa,
Cerchiato dalla fronda di Minerva,
Non la lasciasse parer manifesta.
Regalmente nello atto ancor
proterva
Continuö, come colui, che dice
E il piü caldo parlar dietro riserva:
Guardami ben! son ben, son ben
Beatrice.
Come degnasti di accedere al
monte?
Non sapei tu, che qui e 1' om
felice?
Gli occhi mi cadder giü nel chiaro
fonte!
Ma veggendomi in esso, io
trassi alla erba,-
Tanta vergogna mi gravo la
fronte!
Cosi la madre al figlio par
superba.
Com' ella parve a me: perche
di amaro
Sente il sapor della pietate
acerba.
Du mußt noch weinen, wund von
anderem Schwerte.«
Wie auf Kastell und Deck der
Admiral
Die Leut' aufsucht eh' sie die See^
schiacht schlagen
Und sie ermahnt zu tun was er
befahl.
So, an dem linken Rand auf ihrem
Wagen,
Als bei dem Namen ich zusamt
menfuhr
<Der, weil es sein muß, hier steht
eingetragen)
Sah ich das Weib, das erst ver^
schieiert nur
Der Engel Festgruß mir zu seh'n
erlaubte
Mich anschau'n von der andern
Uferflur,
Obwohl der Schleier, der von ihrem
Haupte
Hinfloß, umgürtet von Minervas
Grün,
Mir immer noch den vollen Anblick
raubte.
Königlich von Geberden frei
und kühn
Begannen sie, wie ein Mann, der
klugen Sinnes
Aufspart die Worte, die am
meisten glüh'n.
Schau her: ich bin Beatrice, ja ich
bin es.
Dünkt nun das Steigen auf den
Berg dir gut?
Warst du zuvor unkundig des
Gewinnes
Da sank mein Blick in die kry^
stall'ne Flut
Und weil ich dort mich sah
blickt ich geschwinde
Ins Gras, gebeugt von Scham,
die mich belud.
Stolz schien sie, wie die MuU
ter scheint dem Kinde
Denn streng Erbarmen gab
und gibt es nie
Daß man nicht bitter den Ge¬
schmack empfinde.
<Purg XXX, 76—81.)
Von Dantes unbewußtem Seelenleben
213
Diese Gefühlseinstellung Dantes gegenüber Beatrice geht noch
aus mehreren anderen Stellen hervor. Im ersten Gesänge des Pa^
radieses als der Dichter mit Beatrice zu Gottes Thron emporsteigt,
fragt er sie, wie so er imstande sei, die Himmel zu durchkreuzen.
Der gelehrten Antwort der Führerin werden folgende Verse vor¬
ausgeschickt:
Ond' ella, apresso d 7 un pio
sospiro,
Gli occhi drizzö ver me, con
quel sembiante,
Che madre fa sopra figluol de*
liro.
<Par. I. 100—102.)
Mitleidig seufzte sie und mild
und lind
Ließ sie auf mir die Augen
ruh'n, als hingen
Der Mutter Blick am fieber*
krankem Kind.
cf. ferner Par. III. 25—27 — als Dante die Seelen des cielo della
luna irrtümlicherweise für Spiegelbilder hält:
Non ti meravigliar, per che io sor-
rida,
Mi disse, apresso il tuo pueril
coto,
Poi sopra il vero ancor lo pie non
fida.
Nicht wund're dich <so ward mir
d'rauf gesagt)
Mein Lächeln bei dem kind*
liehen Gedanken
Daß noch dein Fuß sich nicht auf 7 s
Wahre wag;.
Par. XXII 1 ff. schildert Dante mit folgenden Worten, wie er
durch die Stimmen der seeligen Geister betäubt wird:
Oppresso di stupore alla mia
guida
Mi volsi, come parvol, che ri*
corre
Sempre colä dove piü si con*
fida:
E quella, come madre, che
soccorre
Subito al figlio pallido ed
anelo
Con la sua voce, che il suol
ben disporre,
Mi disse — —
Von Schreck betäubt hatt 7 ich
mich umgeschaut
Nach meiner Führerin gleich
einem Kinde
Das stets dahin flieht, wo es
meist vertraut.
Und sie, wie eine Mutter, die
geschwinde
Dem blassen Söhnchen hilft,
daß es bei ihr
Gewohnten Trost in sanften
Worten finde.
Sprach — —
Par. XXIII 1 ff. als Beatrice und Dante die triumphierenden
Scharen Christ erwarten, erinnert ihn ihre schützende Liebe an den
Vogel, der sein Nest behütet.
Schon Michele Scherillo (Nuova Antologia, 3. Serie, 49. Bd.
409ff.) hat darauf hingewiesen, daß Dante in den zitierten Stellen
seiner Mutter ein Denkmal gesetzt hat und plötzlich beginnen wir
zu verstehen, warum Beatrice in der Divina Commedia ganz im
Gegensatz zur Vita nuova so streng, herb und lehrhaft geworden
ist, denn solche Züge stehen der mütterlichen Autorität besser an
als der weichen Anmut der Jugendgeliebten. Über die Ursachen
dieser Veränderung ist noch vieles zu sagen. Ich will die Annahme
214
Dr. Alice Sperber
Scher illos nicht bestreiten, der es natürlich findet, daß Beatrice in
der Divina Commedia die edelste Seite des weiblichen Wesens dar¬
stellt, nämlich die Mütterlichkeit, denn sie ist ja »quanto di ben puö
far natura«, doch möchte ich hinzufügen, was die Psychoanalyse in
diesem Falle zu bemerken hat.
Der Dichter, dessen Liebe überreich war an Schmerzen und
Entsagung, hat sich in einer Weise mit seinem Schicksal abgefunden,
die charakteristisch ist für unglücklich Liebende. Dem Gesetz der
seelischen Regression folgend, träumte er sich in die seligen Zeiten der
ersten Kindheit zurück, in der er wie fast jeder Knabe der Mutter
ungeteilte Zuneigung entgegenbrachte und kombinierte in seiner
Phantasie das Bild der Geliebten mit jenem der Mutter. Mit dieser
Konstatierung eines ungemein häufigen Vorganges, der aber infolge
seiner Unbewußtheit der Wissenschaft lange verborgen blieb, ist
jedoch unser Problem noch lange nicht erledigt. Vielmehr ergeben
sich neue Probleme und neue Gesichtspunkte. Vor allem liegt es
nahe zu fragen: Läßt die Art und Weise, wie Dante in der Bea^
trice der Divina Commedia unbewußt seine Mutter schildert, auf
das Wesen der letzteren schließen, was um so wichtiger wäre, als
wir ja von Dantes Mutter nur wissen, daß sie Bella hieß und
frühzeitig starb. Hat Dante nicht audi seinem Vater, den er schein¬
bar niemals erwähnt, nicht doch auch in seinen Werken ein Denk^
mal gesetzt, das sich durch psychoanalytische Forschung enthüllen
ließe? Hat die Erinnerung an Lapa Cialuffi, die spätestens, als er
dreizehn Jahre alt war, seine Stiefmutter wurde, was aus den An^
gaben Scherillos hervorgeht 1 , nicht auch Spuren in seinen Dich^
tungen hinterlassen und schließlich vollzog sich die Umwandlung,
die das Bild Beatricens in der Phantasie des Dichters durchmachte,
plötzlich, oder lassen sich nicht doch schon in der Vita nuova leise
Ansätze zu einer Gefühlseinstellung entdecken, die später für die
Charakteristik der Geliebten ausschlaggebend werden sollte?
Indem wir es uns Vorbehalten, die beiden ersteren Fragen an
anderer Stelle zu erledigen, wollen wir uns vorläufig mit dem letzt¬
genannten Problem beschäftigen und dabei von einem Moment aus¬
gehen, das charakteristisch ist für Dantes Verhältnis zur Beatrice
der Divina Commedia. So sehr der Dichter sich bemüht, seinen
Schmerz über die strafenden Worte der Geliebten möglichst glaub¬
würdig zu schildern, und so sehr ihm dies auch gelungen ist, kann
man sich doch des Eindrucks nicht erwehren, daß er trotz aller Qual
der Reue eine gewisse Befriedigung darin empfindet, von Beatrice
gedemütigt zu werden. Die Szene ist sehr breit ausgesponnen und
umfaßt beinahe zwei Gesänge <Purg. XXX und XXXI). Beatrice
kann sich nicht genug tun in harter Anklage, so daß die Engel ihn
mitleidig mit süßen Gesängen trösten. Aber Beatrice besteht darauf,
1 F. M. Scherillo, la madre e la matrigna di Dante, Nuova Antologia
49. Bd., 3. Serie, p. 415.
Von Dantes unbewußtem Seelenleben
215
daß die Strafe nicht minder schwer sein dürfe als die Schuld und
obwohl Dante in Tränen ausbricht, schildert sie den himmlischen
Scharen die Größe seiner Sünde. In seiner Jugend sei er so gewesen,
daß jede Tugend sich herrlich in ihnen hätte entfalten können, aber
je kraftvoller das Erdreich ist, um so wilder und bösartiger schießt
die schlechte Saat empor, wenn es nicht gepflegt wird. So lange sie
lebte, sei sie der Leitstern seiner Seele gewesen. Als sie aber die
irdische Hülle abgestreift hatte und nun noch schöner und voll¬
kommener geworden, habe er sie um anderer Frauen willen ver^
gessen und sich der Eitelkeit der Welt hingegeben, obwohl er schon
in reifem Alter gewesen.
Quäle i fanciulli vergognando
muti,
Con gli occhi a terra, stannosi
ascoltando,
E se riconoscendo, e ripentuti,
Tal mi stav 7 io. Ed ella disse:
Quando
Per udir se' dolente, alza la barba,
E prenderai piü doglia, riguar^
dando.
Con men di resistenza si dibarba
Robusto cerro, o vero a nostral
vento,
O vero a quel della terra di Iarba,
Ch 7 io non levai al suo comando
il mento:
E quando per la barba il viso
chiese,
Ben conobbi il velen dell 7 argo-
mento.
E come la mia faccia si distese,
Posarsi quelle prime creature
Da loro aspersion Y occhio com-
prese:
E le mie luci, ancor poco sicure,
Vider Beatrice volta in sulla fiera,
Ch 7 e sola una persona in due
nature.
Sotto suo velo, ed oltre la riviera
Verde, pareami piü se stessa antica
Wie stumm und schamhaft
ein gescholten Kind
Dasteht und zuhört mit ge^
senkten Brauen
Und reuig auf sich selber
sich besinnt
So stand ich, und sie sprach: »Ob
noch so rauhen
Schmerz dir das Hören macht, heb 7
auf den Bart,
Und größter Schmerz wird dir
entsteh'n durch Schauen«
Nicht glaub 7 ich, daß je auf so
schnelle Art
Die Zirneich ihre Wurzeln auf^
wärts streckte.
Wann Südsturm sie ergriff auf
seiner Fahrt
Wie ich das Kinn bei ihrer Mah^
nung reckte
Und wie sie also »Bart« das Ant~
litz hieß
Fühlt 7 ich das Gift, das in dem
Worte steckte.
Und als ich meinen Blick aufsteigen
ließ
Sah ich den Chor der ersten
Kreaturen,
Wie er die Blumenstreuung untere
ließ
Und meine Augen, die unsicher
fuhren,
Sah'n nun Beatrice hinschau 7 n nach
dem Tier,
Das eins ist von Person in zwei
Naturen
Mehr übertraf sie ihre früh're Zier
Im Schleier dort auf dem erhab'nen
Sessel
216
Dr. Alice Sperber
Vincer, die V altre qui, quando
ella c era.
Di penter si mi punse ivi Y ortica.
Che di lutt' altre cose, quäl mi
torse
Piü nel suo amor, piü mi si fe nU
mica.
Tanta riconoscenza il cor mi
morse,
Ch' io caddi vinto: e quäle allora
femmi,
Salsi colei che la cagion mi porse.
<Purg. XXX, 64—100.)
Als einst die andern Fraun auf
Erden hier
Gewaltig stach mich dort der Reue
Nessel
Zwiefach verhaßt ward mir was
anderwärts
Am meisten mich fortzog in Liebes-
fessel.
Erkenntnis meiner selbst biß mich
ins Herz,
Und in den Staub warf dieses
Schlag's Gewalt mich,
Sie weiß es, die mir Grund gab
für den Schmerz.
Nachdem Dante wieder zu sich gekommen ist, wird er von
Matelda, der Hüterin des irdischen Paradieses, in die Fluten des
Lethe getaucht und herausgezogen. Nun ist die Erinnerung an seine
Sünden in seinem Gedächtnis gelöscht und er darf die ganze himm¬
lische Herrlichkeit Beatricens erkennen, die sich vor ihm entschleiert.
Da Dante so intensiv die Beschämung betont hat, die er
seiner Richterin gegenüber empfindet, ist es interessant zu vergleichen,
was er im Convivio über die Schamhaftigkeit sagt. Er meint, daß
»vergogna« nur den Frauen und den Jünglingen wohl anstehe, denn
den Alten und den Gelehrten, zu denen sich Dante mit Recht
zählte, ziemt es, sich vor jenen Dingen in acht zu nehmen, deren
man sich schämen muß. Dann fährt er fort: Alle giovani e alle
donne non e tanto richiesto <dico tale riguardo),- e perö in loro e
laudabile la paura del disonore ricevere per la colpa: dhe da no-
biltä viene: e nobiltä si puö vedere il loro timore, e chiamare, sic-
come viltä e ignobilitä la sfacciatezza, onde buono e ottimo segno
di nobiltä e ne 11 i pargoli e imperfetti d'etade quando dopo il
fallo nel viso loro vergogna si dipinge ch'e allora frutto di vera
nobiltä (Trattato IV, Kap. 19)L
Mußte es aber Dante, der uns selbst gesagt hat, wie stolz
er war 1 2 , nicht unendlich schwer fallen, sich in seinem unsterblichsten
Werk so tief zu demütigen und die Vorstellung auszumalen, daß er
1 »Von jungen Leuten und von Frauen fordert man in dieser Hinsicht nicht
so viel und darum ist an ihnen die Furcht, durch eine Verfehlung Unehre auf
sich zu laden, löblich. Das ist ein Ausfluß des Adels. Und als Adel kann man
ihre Zurückhaltung auslegen, so wie man die Unverschämtheit als ein Zeichen
einer niedrigen und unedlen Herkunft auslegt. Darum ist es ein gutes, ja sehr
gutes Zeichen von Edelsinn, wenn Kindern und Unerwachsenen nach
einem Fehltritt die Scham auf das Antlitz tritt. Sie ist eine Frucht des wahren
Adels« <nach Saut er).
2 cf. Purg. XIII, 133 ff. Dante glaubt, daß er nicht viel durch Neid gesün^
digt habe, wohl aber fürchtet er die Strafe, welche die Stolzen ereilt, die im
Fegefeuer unter schweren Lasten beinahe zusammenbrechen.
Von Dantes unbewußtem Seelenleben
217
als reifer Mann 1 wie ein beschämtes Kind vor Beatrice gestanden
sei? Die Antwort lautet: nein, denn die masochistische Gefühlsein¬
stellung gegenüber geliebten Personen, die von den meisten so
ängstlich verhüllt wird und doch so unleugbar nachgewiesen ist, hat
sich hier bei Dante geltend gemacht, als er auf Beatrice Gefühle
übertrug, die sich der elterlichen Autorität gegenüber zuerst ein¬
stellen.
Uns interessiert die Frage, ob nicht schon in der Vita nuova
Ansätze zu dieser Übertragung vorhanden sind und da heißt es
denn, als Dante erzählt, daß Beatrice ihm wegen eines Klatsches
ihren Gruß verweigert habe: Ora, tornando al proposito, dico che
poiche la mia beatitudine mi fu negata mi giunse tanto dolore che
partitomi dalle genti in solinga parte andai a bagnare la terra
d'amarissime lagrime: e poiche alquanto mi fu sollevato questo
lagrimare misimi nella mia camera la' ove potea lamentarmi senza
essere udito. E quivi chiamando misericordia alla donna della cor-
tesia e dicndo,- »Amore aiuta il tuo fedele« m'addormentai come
un pargoletto battuto lagrimando 2 . § XII. Nicht nur die An¬
spielung auf . die körperliche Züchtigung macht einen infantilen Ein^
druck, sondern auch noch ein anderer Zug. Menschen, die sich von
Leid überwältigt in Schlaf weinen, erinnern immer ein wenig an
Kinder.
Noch andere Züge der Vita nuova sind von infantiler Her¬
kunft, z. B. die sich fortwährend wiederholenden Ahnungen und
Phantasien vom Tode der Geliebten. Er hatte die Macht des Todes
schon als Kind fürchten gelernt, war ihm doch die Mutter frühzeitig
entrissen worden 3 . Nun könnte man sich ja mit der Bemerkung
begnügen, Dante sei infolge jener traurigen Erfahrungen von KincL
heit an disponiert gewesen, die Wiederholung eines derartigen Un^
glücks zu fürchten und diese Furcht habe sich in Sorge um das
Leben Beatricens verwandelt, aber bei dem heutigen Stande der
Psychoanalyse wäre es oberflächlich, sich mit solchen Erwägungen
1 Dante gibt vor, daß seine Reise ins Jenseits stattgefunden habe, als er
»nel mezzo del cammin di nostra vita« stand. Gemeint ist das 35. Jahr.
2 Nun kehre ich zu meinem Gegenstände zurück und sage, daß, als meine
Freude und Seligkeit mir verweigert ward, mich solcher Schmerz erfaßte, daß ich
die Menschen mied und in einsame Gegenden entflohen, die Erde mit den bitter^
sten Tränen netzte,* und nachdem dieses Weinen mich ein wenig erleichtert hatte,
begab ich mich in meine Kammer, wo ich klagen konnte, ohne gehört zu werden.
Und hier rief ich die gütigste Herrin um Mitleid an und mit den Worten: »O
Liebe, hilf doch deinem Getreuen!« schlief ich ein, wie ein Kindlein, das
Schläge bekommen hat und weinend einschläft. (Nach der Übersetzung
von Karl Federn.)
3 Wie alt Dante war, als seine Mutter starb, wissen wir nicht, doch ist
es sicher, daß er im Alter von dreizehn Jahren schon eine Stiefmutter besaß, was
sich aus den Angaben M. Scherillos (Nuova Antologia 49. Bd., 3. Serie, p. 415)
ergibt. Scherillo rechnet sogar mit der Möglichkeit, daß Bella gleich nach der
Geburt Dantes gestorben sein könnte, was natürlich auch einen gewissen PessU
mismus im Gefühlsleben des Dichters begreiflich machen würde.
218
Dr. Alice Sperber
zufrieden zu geben. Wir wissen, weldi geheimnisvollen Reiz Todes¬
gedanken haben können, die ja eben deshalb einen unverwüstlichen
Bestandteil der Lyrik bilden und müssen konstatieren, daß Dante
derartigen Gefühlen sehr zugänglich gewesen ist, sonst hätte er sie
nicht in so intensiver Weise zum Gegenstand seiner Dichtungen
gemacht.
In visionärem Zustand erblickt er Frauen mit erzürntem
Gesichtsausdruck, die ihm zurufen: Morrati pur, morrati und in
derselben Vision sieht er, wie die Sonne sich verfinstert und die
Vögel zur Erde fallen. Ein bleicher Mann verkündet ihm, daß
Beatrice gestorben sei,- er sieht die Geliebte tot vor sich, ein Bild
des Friedens und der Demut. Engelscharen entschweben mit ihrer
Seele zum Himmel. Dies ist die letzte unheilverkündende Vision
vor dem Tode Beatricens, aber nicht die einzige in der Vita
nuova. Gleich zu Anfang schildert der Dichter, wie Amore mit
großer Freude die Geliebte in den Armen hält, die nur von
einem leichten, blutroten Tuch bekleidet ist. Amore gibt Beatrice
Dantes glühendes Herz zu essen und nachdem dies geschehen,
verwandelt sich Amores Freude in Traurigkeit. Weinend entschwebt
der Beherrscher der Herzen mit Beatrice gen Himmel, wobei
Dante so große Angst empfindet, daß er aus dem traumhaften
Zustand erwacht. Ein andermal, nachdem Beatrice ihm ihren Gruß
verweigert hat, erzählt er in der berühmten Kanzone: Donne
ch'avete intelletto d'amore, ein Engel und alle Heiligen haben Gott
gebeten, Beatrice zu sich zu berufen, damit der Himmel durch sie
vollkommener werde und Gott erwidert:
Geliebten, wollt gedulden euch in
Frieden,
Laßt eure Hoffnung wandeln noch
hienieden,
Wo einer schon erbangt, sie
bleibe nicht.
Der einst wird sprechen in der
Hölle grauen,
»Der Seßgen Hoffnung hab' ich
dürfen schauen!«
<Nadi Hortus deliciarum, II.)
Diletti miei, or sofferite in pace
Che vostra speme sia quanto mi
piace
La ov' e alcun che perder lei
s'attende
E che dirä n eil' Inferno a'malnati:
Jo vidi la speranza de' beati.
Für unsere Untersuchung ist es gleichgiltig, ob Dante wirklich
vor dem Tode Beatricens von solch düsteren Ahnungen und Vi¬
sionen heimgesucht wurde, oder ob er sie erst nachträglich frei er¬
funden hat,- für uns kommt es darauf an, daß er sich darin gefiel,
derartige Situationen auszumalen.
Theoretisch kommt sogar die Möglichkeit in Betracht, daß
Beatrice gar nicht so jung, wie Dante angibt, gestorben sei, sondern
daß er nur durch irgendein uns unbekanntes Ereignis dazu ver¬
anlaßt wurde, sich mit zerrissenem Herzen von der lebenden Ge¬
liebten abzuwenden, und von ihrem Tode zu phantasieren. Dies
Von Dantes unbewußtem Seelenleben.
219
entspricht übrigens keineswegs meiner persönlichen Ansicht, da man
doch erwarten sollte, daß er auf etwas derartiges irgendwie in seinen
Werken hinweisen mußte, was aber nicht der Fall ist.
Meist gibt Dante, wenn er von dem bevorstehenden Tode
Beatricens spricht, einer schmerzlichen Stimmung Ausdruck, die uns
an die Gefühle erinnert, mit denen wir erwachen, wenn wir geträumt
haben, daß ein uns teures Wesen gestorben sei. Obwohl Freuds
Nachweis, daß derartige Träume unbewußte Todeswünsche gegen
geliebte Personen offenbaren, auf heftigen Widerspruch gestoßen
ist, zögere ich nicht, ihn auf Dante anzuwenden, da es sich um
eine durch eingehende Forschung erwiesene Tatsache handelt.
Für alle, die der Psychoanalyse fernestehen, füge ich
noch hinzu, daß die im Kindesalter von Seite der Eltern
oder deren Stellvertreter erlittene Unterdrückung nicht
nur masochistische Empfindungen hervorruft, sondern
gerade weil das Kind in der ersten Zeit seines Lebens
jene Personen wie allgütige Wesen geliebt hat, infolge
der erlittenen Enttäuschung auch Rachegedanken und
Todeswünsche, die bald ins Unbewußte verbannt werden,
aber in Form von Träumen und visionären Zuständen
wieder zum Vorschein kommen. Nach dem Vorbild der
Kindheitserlebnisse wiederholt sich dieser Vorgang in
späterer Zeit, wenn der oder die Geliebte durch Kälte
oder Ablehnung Anlaß zur Unzufriedenheit geben 1 .
Es ist nur natürlich, daß auch Dante Beatrice unbewußt für
alle Leiden verantwortlich gemacht hat, die er um ihretwillen er¬
dulden mußte. Als selbstverständliche Reaktion stellten sich bei un¬
serem Dichter, wie seinerzeit gegen die erste Erzieherin, Todes¬
wünsche 2 gegen diejenige ein, der er aus freier Wahl die Aufgabe
zuerkannt hatte, ihm den Weg der Tugend zu weisen 3 , wie dies
einer Mutter ziemt.
Da er aber in seinem bewußten Denken gewiß vollständig
unfähig war, sich Todeswünsche gegen Beatrice einzugestehen, durften
1 Gerne beruft sich die Psychoanalyse auf das Dichterwort:
And all men kill the thing they love
By all let this be heard
Some do it with a bitter look
Some with a flattering word
The coward does it with a kiss
The brave man with a sword.
<Wilde: Ballad of Reading Goal.)
2 Leidenschaftliche Kinder, und es müssen nicht die schlechtesten sein, geben
ihrer Empörung über eine erlittene Bestrafung manchmal Ausdruck, indem sie
Eltern und anderen Autoritäten laut und unverhohlen den Tod wünschen. Man
würde sich einer Täuschung hingeben, wollte man annehmen, daß jene Kinder, die
aus irgendwelchen Rücksichten schweigen, solcher Gedanken unfähig sind.
3 Dante und die anderen Dichter des dolce stel nuovo haben diese Mission
der Geliebten besonders stark betont.
22o
Dr. Alice Sperber
sie sich nur in Form von Todesahnungen äußern, d. h. sie erschienen
gleichsam in einer Verkleidung als Sorge um das Leben der Ge¬
liebten, ist doch die bewußte scheinbar unmotivierte Angst um ge^
liebte Menschen die Strafe, die wir für unsere unbewußten Rache¬
gedanken bezahlen müssen. Die schmerzlich süßen Empfindungen,
die sich bei solchen Todesphantasien trotz der sie begleitenden Angst
oft einstellen, wurden bei Dante gewiß noch dadurch erhöht, daß
er als gläubiger Christ davon überzeugt war, Beatrice dereinst im
Himmel wiederzusehen, wie er ja als Kind gewiß oft gehört hatte,
er werde mit der toten Mutter vor Gottes Thron vereint werden,
wenn er nur fromm und gehorsam sei. Wie folgenschwer dieser
Glaube für seine seelische und geistige Entwicklung wurde, werden
wir noch sehen.
Wahrscheinlich werden viele Literarhistoriker zu diesen Aus¬
führungen bemerken, daß es gar nicht nötig sei, wegen der Charak¬
teristik von Dantes Verhältnis zu Beatrice den psychoanalytischen
Apparat in Bewegung zu setzen. Er habe ganz einfach wie alle
Dichter der Bologneserschule in der geliebten Frau ein Wesen von
moralischer Überlegenheit gesehen, das berufen ist zu bessern und
zu läutern. Auch die Troubadours, die Dante ja sehr genau kannte,
hatten gesagt, daß die Liebe den Menschen veredle und das Va^
sallenverhältnis des Rittertums auf den Minnedienst übertragen. Für
sie ist die geliebte Frau die hohe Herrin, der sie in Demut dienen
und Dante, werden viele sagen, habe diese Anschauung einfach
von ihnen entlehnt.
Dies wäre aber entschieden nicht die richtige Stellung zu un^
serem Problem. Es fragt sich doch, warum nicht nur Dante, son^
dern so viele andere Dichter in einer Zeit, in der die Frau vor
dem Gesetz fast eine Sklavin war und der Autorität des Mannes
völlig unterstand, zu einer solchen Auffassung von der Mission
des Weibes gekommen. Das sei eben das Wesen der Liebe, dürfte
die Erwiderung lauten, aber eine Erklärung des Problems ist damit
nicht gegeben. Diese lautet: jedesmal, wenn sich die Neigung geltend
macht, trotz aller gesetzlichen und sozialen Erniedrigung des weib¬
lichen Geschlechtes in der geliebten Frau die Herrin zu sehen, so
hängt dies damit zusammen, daß jeder Knabe in seiner frühen
Kindheit der Mutter gegenüber ein ähnliches Verhältnis kennen
gelernt hat, und daß in seiner Seele die Disposition fortlebt, unter
gewissen Umständen eine Wiederholung der infantilen Gefühlsein¬
stellung zu erleben. Was für besondere kulturelle und soziale Fak^
toren das Aufkommen einer solchen Richtung begünstigen, wollen
wir hier nicht erörtern, wir wollten nur zeigen, in welcher Weise
sich bei Dante dieser Prozeß abgespielt hat.
Es ist das Verdienst von Rank, gezeigt zu haben, daß
die Anwendung der psychoanalytischen Methode uns nicht nur
befähigen soll in großen Zügen über ein Problem Aufschluß zu
geben, sondern auch ein bestimmtes Detail zu erklären, das der Er-
Von Dantes unbewußtem Seelenleben
221
örterung bedarf 1 . Ein solches für die Vita nuova sehr charakte¬
ristisches Detail ist das Spielen mit der Zahl Neun. Wir erinnern
uns daran, »daß Dante behauptet, er habe Beatrice zum ersten¬
mal gesehen, als sie den Anfang des neunten Jahres erreicht hatte
und er fast neun Jahre zählte. Als sie ihn in ihrem achtzehnten
Lebensjahre durch ihren Gruß beglückt, ist es die neunte Stunde
des Tages, auch die Visionen, die sich auf sie beziehen, stellen sich
manchmal um diese Stunde ein und besonders bei ihrem Tode spielt
diese Zahl eine große Rolle«.
Io dico che, secondo l'usanza d'Italia l'anima sua nobilissima si parti
nella prima ora del nono giorno del mese,- e secondo l'usanza di Siria
ella si parti nel nono mese deH'anno; perche il primo mese e ivi Tis-
min, il quäle a noi e Ottobre. E secondo l'usanza nostra ella si parti in
quello anno della nostra indizione cioe degli anni Domini in cui il perfetto
numero nove volte era compiuto in quel centinaio nel quäle in questo
mondo ella fu posta ed ella fu de' cristiani del terzodecimo centinaio.
Perche questo numero le fosse tanto amico questa potrebb'essere una ra*
gione,- conciossiacosache secondo Tolemeo e secondo la cristiana veritä,
nove siano i cieli che si muovono e secondo comune opinione astrolo-
gica li detti cieli adoperino quaggiü secondo la loro abitudine insieme,
questo numero fu amico di lei qer dare ad intendere che nella sua gene*
razione tutti e nove li nobili cieli perfettissimamente s'aveano insieme.
Questa e una ragione di ciö/ ma piü sottilmente pensando e secondo la
infallibile verita, questo numero fu ella medesima per similitudine
dico e ciö intendo cosi: Lo numero del tre e la radice del nove, perocche
senz 'altro numero per se medesimo moltiplicato fa nove sicome vede^
mo manifestamente che tre via tre fa nove Dunque se il tre e fattore per
se medesimo del nove e lo fattore dei miracoli per se medesimo e tre,
cioe Padre, Figliuolo e Spirito santo li quali sono tre ed uno, questa donna
fu accompagnata dal numero del nove a däre ad intendere, che ella
era un nove cioe un miracolo la cui radice e solamente la mirabile
Trinitade. — Nach diesen Angaben wäre also Beatrice am 9. Juni 1290 ge¬
storben.
Die Erforschung der unbewußten Zahlensymbolik, die uns
lehrt, daß die Zahl Neun ein Symbol für die neun Monate der
Schwangerschaft ist 2 <cf. Stekel, Die Sprache des Traumes. Wies¬
baden: 1911, p. 414), bestätigt die hier vorgebrachte Anschauung über
1 <cf. Mythus von der Geburt des Helden, 5. Heft der Schriften zur ange~
wandten Seelenkunde, herausgegeben von Freud, Leipzig und Wien 1909, p. 69.)
2 Ihre viel edle Seele schied, sage ich, nach der italienischen Zeitrechnung
in der ersten Stunde des neunten Tage des Monats,- und nach der syrischen Zeit¬
rechnung schied sie in dem neunten Monat des Jahres,- indem der erste Monat
daselbst der Tisrin ist, unser Oktober. Und nach unserer Zeitrechnung schied sie
in jenem Jahre unserer Zählung, d. i. der Jahre des Herrn, in welchen die volU
kommene Zahl neunmal voll geworden war in jenem Jahrhundert, in welchem
sie in diese Welt gesandt worden : und sie war von den Christen des dreizehnten
Jahrhunderts. Daß diese Zahl ihr so freund war, dessen mag dieses ein Grund
sein: da es nämlich nach Ptolemäus und der christlichen Wahrheit gemäß neun
Himmel gibt, die sich bewegen und nach gemeiner Ansicht der Astrologen die
besagten Himmel hier auf Erden ihre Wirkung üben nach ihrer Eigenschaft alle.
222
Dr. Alice Sperber
die Rolle Beatricens in Dantes Phantasieleben * 1 . Die bei hochbegabten
Kindern besonders leidenschaftliche Neugierde, die sich frühzeitig auf
die Fortpflanzungsfunktionen des Frauenleibes richtet <Zerreißen der
Puppe !> und naturgemäß bei der Beobachtung der Mutter oder
deren Stellvertreterinnen einsetzt, äußert sich noch bei der Über¬
tragung auf Beatrice in der Formel: ella era un nove = in be¬
wußter Übersetzung: sie erscheint mir wie jene Frau, die
einst mit mir schwanger war.
Die Betonung der Zahl Neun, die Anspielung auf körper¬
liche Züchtigung, sowie die von der ersten Erzieherin auf Beatrice
übertragenen Todeswünsche beweisen, daß die infantile Einstellung
des Dichters gegenüber Beatrice, die in der Divina Commedia so
stark hervortritt, schon der Vita nuova, wenn auch in viel geringerem
Maße, ihren Stempel aufgedrückt hat und ich wende midi nun der
Frage zu, die vor allem den Biographen interessiert. Gestattet die
Art, wie der Dichter Beatrice schildert, irgendeinen Schluß auf das
Wesen seiner Mutter Bella? Wenn die Frage in dieser Weise ge¬
stellt wird, lautet die Antwort negativ. Es ist nicht schwer zu
konstatieren, wie sehr wir geneigt sind, unsere Erinnerungen, be¬
sonders wenn sie weit zurückreichen, durch unbewußtes und bewußtes
Ausgleichen, Kombinieren und Weglassen umzumodeln, so daß sie
gewiß kein klares Bild der Realität enthalten. Wir müssen daher
fragen. Erfahren wir vielleicht aus der Vita nuova und der Divina
Commedia, was für einen Eindruck Dante von seiner Mutter
empfangen hatte? Audi hier ist Vorsicht geboten. Vor allem kommt
die Charakterisierung von Beatrice in der Vita nuova hier nicht in
Betracht, denn sie ist dazu nicht individuell genug und deckt sich zu
sehr mit dem, was die anderen Dichter der Bologneser Schule, von den
Frauen, die sie liebten, zu sagen wußten. Der Prozeß der Über¬
tragung ist ja auch nicht so weit vorgeschritten, wie in der Divina
Commedia. Nur symbolisch und andeutungsweise bekennt Dante
in dem Jugendwerk, daß er die Geliebte mit der Mutter identifiziert,
vielleicht weil das in der Kindheit ungestillte Zärtlichkeitsbedürfnis
so war diese Zahl ihr freund, um kund zu tun, daß bei ihrer Geburt alle die
neun beweglichen Himmel auf das Vollkommenste zueinander standen. Dies ist
ein Grund dessen,- aber genauer bedacht und nach der untrüglichen Wahrheit war
diese Zahl sie selbst, im Gleichnis gesprochen, und dies verstehe ich also: Die
Zahl Drei ist die Wurzel der Neun, indem sie ohne eine andere Zahl, nur mit
sich selbst vervielfältigt. Neun ergibt, wie wir offenkundig sehen, daß dreimal
drei neun macht. Demnach, wenn die Drei aus sich selbst die Neun hervorbringt
und Er, der die Wunder aus sich selbst hervorbringt. Drei ist, nämlich Vater,
Sohn und heiliger Geist, welche drei in einem sind, war jene Fraue von der Zahl
Neun begleitet, auf daß es sich deutlich zeige, sie sei eine Neun, d. i. ein
Wunder, dessen Wurzel allein die wunderbare Dreieinigkeit ist. <Hort. delic. II.)
1 Die von Dante selbst gegebene Erklärung, daß die Zahl Neun Beatrice
deshalb begleitet habe, weil die Wurzel von neun drei ist, nämlich die Zahl der
heiligen Dreifaltigkeit, ist natürlich bewußt und sekundär und berechtigt uns keines^
wegs dazu, die Zahlenmystik Dantes von der allgemein menschlichen loszureißen,
die in unzähligen abergläubischen Vorstellungen zutage tritt.
Von Dantes unbewußtem Seelenleben
223
des Verwaisten, das ihn gewiß zeitlebens wie eine unheilbare Wunde
schmerzte, einen Ausweg suchte, um sich auszuleben. Daß nämlich
die Stiefmutter Lapa Cialuffi nicht die geeignete Persönlichkeit war,
um ihm die Mutter zu ersetzen, erfahren wir aus folgender Stelle
der Divina Commedia, in der Dante sich über das Verhältnis der
päpstlichen Kurie zum Kaiser äußert:
Se la gente, ch' al mondo, piü tra-
ligna,
Non fosse stata a Cesare noverca,
Ma come madre a suo figluol beni-
gna,
Wär' die Entartete auf ihrem
Thron
Stiefmutter nicht gewesen den Cä^
saren.
Nein, milde wie die Mutter für
den Sohn ~
<Pur. XVI, 58.)
Hätte Dante für die Stiefmutter Zärtlichkeit und Dankbar¬
keit empfunden, so hätte er diese Worte nicht niedergeschrieben,
denn da die Divina Commedia ungemein viele persönliche An¬
spielungen und Schilderungen von Zeitgenossen und zeitgenössischen
Verhältnissen enthält, mußte er damit rechnen, daß seine Leser auch
jene Verse als persönliche Anspielung auslegen würden. Wenn
Dante aber die Stiefmutter auch nicht liebte, so ist doch anzu^
nehmen, daß eine Frau, die ihm gegenüber die Rechte einer Mutter
besaß und von der er sich wohl oft abhängig gefühlt hatte, einen
starken Eindruck auf seine Phantasie gemacht haben mag. Vielleicht
war er ihr auch nicht zu allen Zeiten seiner Jugend feindselig ge¬
sinnt. Es kann also leicht sein, daß die Erinnerung an die tote
Mutter von dieser Quelle aus verfälscht wurde und es ist sogar
die Möglichkeit nicht ausgeschlossen, daß von dieser Seite her der
herbe Zug in das Wesen von Beatrice gekommen ist. Leider lassen
uns die Dokumente auch in bezug auf Monna Lapa fast völlig im
Stich. Für ihren Einzug in Dantes Vaterhaus haben wir ja nur
einen terminus ad quem, nämlich Dantes dreizehntes Lebensjahr
kennen gelernt <cf. p. 217 2 > dieser Arbeit).
Andere Einflüsse, die auf die Vorstellung, die sich Dante
von seiner Mutter machte, eingewirkt haben könnten, sind Berichte
über die Verstorbene oder eventuell auch Abbildungen derselben,
Faktoren, von denen der Dichter um so mehr abhängig gewesen sein
dürfte, je weniger er die Mutter aus eigener Anschauung kannte.
Sollte sie gleich nach der Geburt gestorben sein, und wir haben
weder dafür noch dagegen einen Beweis, so war er jedenfalls ganz
darauf angewiesen.
In Betracht kommen ferner die Erinnerungsbilder von Frauen,
etwa von weiblichen Bediensteten, Verwandten und Mütter von
Gespielen, die sich möglicherweise des Knaben mütterlich angenommen,
deren Namen der Nachwelt aber nicht überliefert sind. Zweifellos
müssen wir außerdem damit rechnen, daß Wünsche und Bestrebungen,
die in der Natur des Dichters lagen, auf die Vorstellung von seinem
Mutterideal eingewirkt haben.
224
Dr. Alice Sperber
Da ich also bei meiner Untersuchung in keiner günstigen Lage
bin, kann das, was hier vorgebracht wird, nur den Wert einer Hy**
pothese haben, zu deren Aufbau ich mich aber mit Rücksicht auf
die Wichtigkeit des Problems doch entschließen will.
Nur ein einziges Mal hat Dante seine Mutter in seinem
Werk direkt erwähnt und zwar unter folgenden Umständen. Als er
mit Virgil durch den stygischen Sumpf fährt, in dem die Zornigen
gepeinigt werden, erfolgt die Begegnung mit Philippo Argenti, die
von heißer Rachsucht Zeugnis ablegt.
Philippo Argenti, ein Florentiner von äußerst jähzornigem
Charakter und offenbar Dantes Feind, will in den Nachen flüchten,
um den Qualen des Sumpfes zu entgehen, aber Dante, der sich
überhaupt manchmal durch große Härte gegen die Sünder aus¬
zeichnet, weist ihn mitleidslos zurück. Da umarmt ihn Virgil, küßt
ihn und preist die Mutter selig, die solch einen Sohn geboren hat.
Die kleine Szene ist für Dante so charakteristisch und für unser
Thema so wichtig, daß wir sie hier zitieren. <Inferno VIII, 31 ff.)
Mentre noi correvam la morta gora,
Dinanzi mi si fece un pien di
fango,
E disse: chi se' tu, che vieni anzi
ora?
Ed io a lui: s' io vegno, non
rimango-
Ma tu chi se', che si sei fatto
brutto?
Rispose: vedi, che son un che
piango.
Ed io a lui: con piangere e con
lutto,
Spirito maladetto. ti rimani!
Ch' io ti conosco, ancor sie lordo
tutto.
Allora stese al legno ambo le mani:
Perche il maestro accorto lo sos^
pinse,
Dicendo: via costä, con gli altri
cani?
Lo collo poi con le braccia mi
cinse,
Baciommi il volto, e disse: alma
sdegnosa!
Benedetta colei, che in te s'in*
cinse!
Quei fu al mondo persona orgog-
liosa:
Indes wir fuhren durch das tote
Meer
Sah einen ganz voll Schlamm ich
vor mir stehen.
Der sprach: »Wie kommst du vor
der Zeit hierher?«
Und ich zu ihm: »Ich kam, doch
werd' ich gehen.
Doch wer bist du, entstelltes We^
sen? sprich.«
Und er: »Ein Weinender,* das
kannst du sehn.«
Und ich zu ihm: »Dann wein'
auch ewiglich,
Verfluchter Geist, an deine Qual
gebunden,
Besudelt wie du bist, erkenn' ich
dich.«
Da griff er nach dem Kahn und
war verschwunden.
Der Meister stieß ihn, daß er
niederging
Und rief: »Hinweg du zu den
andern Hunden!«
Worauf er mit den Armen mich
umfing
Die Stirn mir küßt und sprach:
»Feuriges Wesen,
Gebenedeit ist die, die dich
empfing.«
Der ist ein stolzer in der Welt
gewesen
Von Dantes unbewußtem Seelenleben
225
Bonta non e, che sua memoria
fregi:
Cosi e la ombra sua qui furiosa.
Quanti si tengon or lassü gran
regi.
Che qui staranno, como porci in
brago,
Di se lasciando orribili dispregi!
Ed io: maestro, molto sarei vago
Di vederlo attuffare in questa
broda,
Prima che noi uscissimo de! lago.
Ed egli a me: avanti die la proda
Ti si lasci veder, tu sarai sazio:
Di tal disio converrä che tu goda.
Dopo ciö poco vidi quello strazio
Far di costui alle fangose genti.
Che dio ancor ne lodo, e ne rin-
grazio.
Tutti gridavano: a Filippo Argenti!
Lo fiorentino spirito bizzarro
In se medesmo si volgea co' denti.
Nichts löbliches, was sein Gedächte
nis ziert,
Und ist auch hier nicht von der
Wut genesen.
»Wie mancher dort als großer
Fürst stolziert
Der hier im Kot wird stecken
gleich den Säuen
Fluch hinterlassend, wann er aus^
regiert!«
Und ich: »O Herr es würde midi
erfreuen.
Wenn ich ersäuft ihn seh' in dem
Morast,
Eh' wir die Wanderschaft zu Land
erneuern.«
Und er: »Eh' du den Strand vor
Augen hast,
Wirst du dich sättigen an solcher
Speise:
Des Wunsches dich zu freu'n,
mach' dich gefaßt.«
Bald sah ich schlammig Volk in
solcher Weise
Mißhandlung üben an dem stolzen
Mann,
Daß ich noch heute Gott im Her^
zen preise,
Philipp Argenti, schrien sie, »drauf
und dran«
Und wütend fiel mit seinen eig'nen
Zähnen
Der grimme Florentiner Geist sich
an.
Die Worte Virgils: Benedetta colei che in te s'incinse
werden von den Literarhistorikern in verschiedener Weise beurteilt.
Die einen meinen, daß man sie nicht zur Charakteristik von Monna
Bella heranziehen könne, wohl weil die Formel: Benedetta la madre
die l'ha fatta ein Kompliment ist, das man in Italien noch heute
oft hören kann, ohne daß sich der Sprechende dabei eine Vorstellung
von der Mutter des Angeredeten bildet. Andere sind der Ansicht,
daß Dante mit jenen Worten Monna Bella als eine hochsinnige
Frau charakterisieren wollte und daß er ihr so ein unvergängliches
Denkmal gesetzt habe 1 . Faßt man die Stelle in dieser Weise auf,
so kann man annehmen, der Dichter habe seine stolze, starre, jedem
Kompromiß abgeneigte Natur als ein Erbteil von seiner Mutter
betrachtet, sonst würde Virgil sie nicht gerade in jenem Augenblick
1 <cf. z. B. Petrocchi: La lingua e la storia letteraria d'Italia dalle ori~
gini fino a Dante, p. 260.)
Imago III/3
15
226
Dr. Alice Sperber
preisen, in dem Dante dem Sünder so erbarmungslos entgegentritt.
Ich will diese Frage nicht endgiltig entscheiden, möchte aber doch
darauf hinweisen, daß die Schilderung Beatricens in der Divina
Commedia zugunsten der letzteren Auffassung spricht. Jener Bea^
trice, die Dante herb erscheint »wie die Mutter dem Sohn«, fällt
es ja auch schwer, dem Sünder zu verzeihen,- strenger wie die Engel,
die Dante mitleidig trösten, besteht sie auf der Strafe, die er durch
seine Schuld verdient hat und wie Dante nicht dulden will, daß
der Sünder in der Hölle auch nur einen Augenblick der Strafe ent¬
rinne, die ihm die ewige Gerechtigkeit zuerkannt hat,* ebenso meint
Beatrice im irdischen Paradies:
L'alto fato di Dio sarebbe rotto
Se Lete si passasse e tal vivanda
Fosse gustata senza alcuno scotto
Di pentimento che lagrime spanda
<Purg. XXX. 142 ff.)
Und wißt, daß Gottes Ratsdiluß
Abbruch litte
Wenn ihr in Lethe überschreiten
ließ't
Zu solchem Mahl, eh' er den Zoll
bestritte
Der Reue, welche Tränenström'
ergießt.
Es besteht also jedenfalls die Möglichkeit, daß Dante in seiner
Mutter eine Frau von stolzem Wesen und unerschütterlicher Ge*
rechtigkeitsliebe gesehen habe, die nur schwer ein Unrecht oder eine
Kränkung vergessen konnte. Vielleicht war Dante auch der An¬
sicht, daß seine glühende Rachsucht von seiner Mntter herstamme,
eine Eigenschaft, die ja den meisten Menschen eigen ist, die wie er
stark im Zorn und in der Liebe sind.
Echte innere Treue, wie sie ja auch Dante, der kein »zag^
hafter Freund« der Wahrheit sein wollte, in hohem Maße besaß,
wäre ein Vorzug, der gut zu den Eigenschaften stimmen würde,
mit denen der Dichter das mütterliche Ideal ausschmückte, das er im
Herzen trug und wirklich ermahnt Beatrice die Sterblichen jedes
Gelübde ernst zu nehmen und nichts zu geloben, was man nicht
auch mit gutem Gewissen erfüllen kann. <cf. Par. V. 64 ff.)
Non prendano i mortali il
voto a ciancia:
Siate fedeli, ed a ciö far non
bieci,
Come fu Jepte alla sua prima
mancia:
Cui piü si convenia dicer: mal feci.
Che servando, far peggio: e cosi
stolto
Ritrovar puoi lo gran duca dei
Greci:
Onde pianse Ifigenia il suo bei
volto,
Gelübde sind kein Spiel, o
Menschenwelt!
Seid treu und schielet nicht wie
der Hebräer
Jephtha bei seinem ersten Opfern
geld.
Er mußte sagen: ich tat übel,
eher
Als zahlen und verschlimmern. SoL
dien Schwur
Tat auch der große Feldherr der
Achäer,
Drob Iphigeniens schönes Haupt
nicht nur
Von Dantes unbewußtem Seelenleben
227
E fe pianger di se e i folli e i
savi,
Ch' udir parlar di cosi fatto colto.
Siate, cristiani, a muovervi piü
gravi!
Non siate come penna ad ogni
vento,
E non crediate, ch' ogni
acqua vi lavi!
Avete il vecchio e il nuovo testa-
mento,
E il pastor della Chiesa, che vi
guida:
Questo vi basti a vostro salva-
mento!
Se mala cupidigia altro vi grida,
Uomini siate, e non pecore matte,
Si die il Giudeo tra voi di voi non
rida!
Non fate come agn.el, che las-
cia il latte
Della sua madre, e semplice e
lascivo
Seco medesmo a suo piacer com^
batte!
Sie selbst beweinte, sondern weinte
jeder
Wer von so schlimmem Gottes¬
dienst erfuhr.
Ihr Christen folget nicht wie
eine Feder
Jedwedem Winde, wählet
festen Grund
Und glaubt nicht, alles
Wasser lief're Bäder
Ihr habt den alten und den neuen
Bund
Ihr habt die Kirche dunkles hell
zu machen
Was ihr zum Heile braucht, das
ward euch kund
Lehrt böse Habsucht anders diese
Sachen
So seid ihr Menschen, seid nicht
Herden Viehs,
Daß euch die Juden eurer Stadt
verlachen
Gleicht nicht dem Lamme, das
die Milch verließ
Der Mutter und nach eigenem
Belieben
Umherschweift, wie die Lust den
Weg ihm wies
Es ist bedeutungsvoll für unser Problem, daß sich gerade an
dieser Stelle der infantile Komplex wieder vordrängt. Es liegt nahe
zu glauben, daß Dante Monna Bella besondere Treue zugeschrieben
habe, sonst würde nicht gerade in jenem Augenblick die infantile
Gefühlseinstellung zum Vorschein kommen, in der er Beatrice jene
Worte über die Treue in den Mund legt.
Wollte sich aber jemand damit begnügen, nur die Züge von
Dantes Mutterideal festzustellen, ohne die Quellen eruieren zu
wollen, aus denen sie stammen, so wäre gegen eine derartige Vor-
sicht nichts einzuwenden.
Alle bisher aufgezählten Eigenschaften deuten auf eine En¬
ergie und Festigkeit, die dem weiblichen Geschlecht gerne abge¬
sprochen werden, es aber begreiflich erscheinen lassen, daß Dante
die auf dem mystischen Wagen stehende Beatrice mit einem Mann
vergleicht und zwar mit einem Admiral, der seine Untergebenen zu
guter Arbeit anspornt, gewiß ein sonderbares Bild für die Geliebte
<cf. p. 212 dieser Arbeit), das man in der Vita nuova vergeblich
suchen würde. Aber gerade auf diese Eigentümlichkeit muß die
psychoanalytische Forschung besonderen Wert legen, denn wir wissen
ja, daß gerade solche Züge die den konventionellen Idealen direkt
widersprechen, darauf hindeuten, daß hier der Phantasierende an
15*
228
Dr Alice Sperber.
einem Zug festhält, der ihm aus frühester Kindheit teuer ist und
so der ersten Liebe die Treue hält.
Ob dem Dichter nicht die mit männlicher Energie ausgerüstete
Mutter vorschwebte, die im Hause herrschte und das Gesinde über*
wachte ?
Mit der majestätischen Beatrice kontrastiert Matelda, die Hüterin
des irdischen Paradieses, die mit weniger imposanten, aber weicheren
Linien gezeichnet ist. Singend schreitet sie auf den Dichter zu, der
sie gebeten hat, näher zu kommen, auf daß er ihren Gesang besser
vernehmen könne. <Pury. XXVIII, 52 ff.)
Come si volge con le piante strette
A terra ed intra se donna che balli,
E piede innanzi piede a pena
mette.
Volsesi in su 7 vermigli ed in su i
gialli
Fioretti verso me, non altrimenti
Che vergine, che gli occhi onesti
avvalli :
E fece i preghi miei esser con-
tenti,
Si appressando se, che il dolce suono
Veniva a me co 7 suoi intendimenti.
Tosto che fu lä dove 1' erbe sono
Bagnate giä dall 7 onde del bei
fiume,
Di levar gli occhi suoi mi fece dono.
Non credo, che splendesse tanto
lume
Sotto le ciglia a Venere trafitta
Dal figlio, fuor di tutto suo costume.
Ella ridea dall 7 altra riva dritta,
Traendo piü color con le sue
mani,
Che l 7 alra terra senza seme gitta.
Wie sich ein Mädchen wendet,
Knie an Knie,
Die Füß 7 am Boden fest, im Tanz
sich schwenkend,-
Kaum setzt sie Fuß an Fuß und
hastet nie
So über Blumenschmelz die Schritte
lenkend
Kam sie heran, nicht anders anzu^
seh'n
Als eine Jungfrau, keusche Augen
senkend
Und sie befriedigte vollauf mein
Fleh'n:
Die süßen Töne drangen ans Ge^
stade
Zu mir herüber, deutlich zu ver^
steh'n
Sie trat dahin, wo in dem schönen
Bade
Des Stromes sich das Gras erquickt
und itzt
Erwies sie mir mich anzuseh'n die
Gnade.
Nie glaub 7 ich, daß so helles Licht
geblitzt
In Venus Augen, als mit seinem
Brande
Ihr Sohn sie wieder seinen Brauch
erhitzt.
Sie lächelte vom andern rechten
Strande,
Mehr Farben pflückend von des
Wassers Saum,
Die ohne Samen blüh 7 n im hohen
Lande.
Trotz der Anmut, die Matelda auszeichnet, hat auch sie
Dante gegenüber einen belehrenden Ton, doch niemals bekommt
der Dichter von ihr harte Worte oder Vorwürfe zu hören, ihr
Von Dantes unbewußtem Seelenleben
229
Wesen ist stets sanft und freundlich. Nachdem Beatrice erschienen
ist, tritt Matelda sehr zurück, aber trotzdem ist ihr noch eine wich¬
tige Rolle zugedacht, denn mit ihrer Hilfe vollzieht sich die geistige
Wiedergeburt des Dichters. Sie taucht ihn in die reinigenden Fluten
des Lethestromes, die die Erinnerung an seine Sünden in seinem
Gedächtnis auslöschen und zieht ihn dann heraus. Derselbe Vor*
gang vollzieht sich hierauf beim Flusse Bunoe, der die Erinnerung
an die guten Taten in seinem Gedächtnis neu belebt. Dieser Akt
Mateldas ist für unser Problem ungemein wichtig, da ja das Her*
auskommen aus dem Wasser, das den integrierenden Bestandteil so
vieler Geburtssagen bildet <z. B. Storchsage, Brunnen, aus dem die
kleinen Kinder kommen) geradezu als ein Symbol der Geburt
erkannt wurde, das besonders in Schwangerschaftsträumen eine große
Rolle spielt 1 . (Fruchtwasser = Wasser aus dem das Leben stammt!)
Heißt es dann in derartigen Fabeleien, eine Frau habe ein
Kind aus dem Wasser gezogen, so bedeutet dies für das unbewußte
Seelenleben, wo die bewußten geistigen Schöpfungen ihre Ent*
sprechung haben müssen, ihr verdanke das Kind sein Leben. Sie
legitimiert sich auf diese Art als seine Mutter, obwohl dies für
psychoanalytisch ungeschulte Beobachter nicht immer auf den ersten
Blick klar ist, weil die Sage jene Frau nicht in allen Fällen aus*
drücklich als die Mutter des Kindes bezeichnen muß. Dies geht aus
den Ausführungen von Rank 2 mit so unabweisbarer Deutlichkeit
hervor, daß ich mich damit begnügen darf, auf jenes Buch zu ver*
weisen und auf die spezielle Frage eingehen kann, die für unser
1 Einen solchen Traum berichtet auch Boccaccio in seiner Dantebiographie
von Dantes Mutter:
Pareva alla gentile donna nel suo sogno essere sotto uno altissimo alloro,
posto sopra un verde prato allato ad una chiarissima fonte e quivi si
sentio partorire uno figliuolo, il quäle in brevissimo tempo nutricandosi
solo delle orbacche le quali dello alloro cadevano e delle onde della chiara fonte,
le parea che divenisse un pastore e s'ingegnasse a suo potere di avere delli frondi
deir albero, il cui frutto l'aveva nudrito,* e a ciö sforzandosi, le pareva vederlo
cadere, e nel rivelarsi non uomo piü ma pavone il vedea divenuto. Della quäl
cosa tanta ammirazione le giunse die ruppe il sonno.
Es schien der edlen Frau in ihrem Traum als befinde sie sich unter einem
sehr hohen Lorbeerbaum auf einer grünen Wiese neben einer sehr klaren
Quelle und gebäre dort einen Sohn und es schien ihr, daß er sehr bald,
nachdem er nur von den Beeren, die von dem Lorbeerbäume fielen, genossen hatte
und von dem Wasser der klaren Quelle, ein Hirte wurde und sich mit allen
Kräften bemühte von dem Laub des Baumes zu pflücken, dessen Früchte ihn ge*
nährt hatten. Und als er sich darum bemühte, schien es ihr, daß er falle und als
er sich erhob, sah sie, daß er kein Mensch mehr war, sondern er war ein Pfau
geworden. Darob empfand sie solches Staunen, daß sie aus dem Schlaf erwachte. —
Es besteht kein Grund anzunehmen, daß Madonna Bella dies wirklich geträumt
habe, doch liegt ein ganz richtig konstruierter, von ehrgeizigen Regungen durchs
glühter Traum einer Schwangeren vor, wie er in ähnlicher Form Müttern von
großen Männern gerne zugeschrieben wird. <cf. Scherillo, Alcuni capitoli della
biografia di Dante, Torino 1896, p. 35ff.)
2 Mythus von der Geburt des Helden, 5. Heft der Schriften zur angewandten
Seelenkunde, herausgegeben von Freud.
280
Dr. Alice Sperber
Thema interessant ist: Warum hat nicht Beatrice das Amt Mateldas
übernommen, wie man es doch nach dem bisher Gesagten erwarten
müßte?
Derartige Übertragungen sind aber nichts Außergewöhnliches
und sprechen nicht gegen unsere Theorie. <cf. z. B. die Sage von
Moses.) Die Tochter des Pharao in der schon E. Meyer <Ber. d.
kgl. preuß. Akad. d. Wiss. XXXI, 1905) unabhängig von psycho¬
analytischen Untersuchungen die ursprüngliche Mutter von Moses
erkannt hat, zieht ihn auch nicht selbst aus dem Wasser, sondern
überträgt dieses Amt einer Magd.
Wenn wir nun erörtern wollen, warum Matelda mit einer
Funktion betraut ist, die eigentlich Beatrice zufallen sollte, so müssen
wir verschiedene Möglichkeiten in Betracht ziehen. Wir haben ja
schon darauf hingewiesen, daß Beatrice auch sanfte Züge hat, obwohl
der Gesamteindrudk eher ein strenger genannt werden kann. Ebenso
wird auch Donna Bella in der Phantasie ihres Sohnes nicht immer
die majestätische Gebieterin gewesen sein und wie jedes andere
Kind wird auch unser Dichter in der Süßigkeit weiblicher Fürsorge
geschwelgt haben, sei es, daß die lebende Mutter oder eine Stell¬
vertreterin derselben ihm Zärtlichkeit erwies, sei es, daß er sich in
seiner Phantasie ausgemalt haben mag, wie schön es sein muß, eine
sanfte und liebevolle Mutter von jugendlicher Anmut zu besitzen .
Solchen Gefühlen scheint die Gestalt Mateldas ihren Ursprung zu
verdanken.
Die Doppelheit der Empfindungen den Eltern gegenüber, die
in der populären Ansicht, daß Liebe und Strenge zugleich bei der
Erziehung der Kinder mitwirken, ihre Entsprechung findet, ist hier
bei Dante unsterbliche Schöpfung geworden. In jenem schwersten
Augenblick, in dem ihm die mütterliche Geliebte oder die geliebte
Mutter seine Sünden vorwirft, wollte er sich durch die Übertragung
seiner Wiedergeburt auf Matelda auch der Gegenwart einer milderen
Gesinnung versichern. Es ist viel darüber diskutiert worden, welche
Frau Dante in Matelda verewigt hat. Mehrere historische Persön¬
lichkeiten, die diesen Namen führten, sind genannt worden, man
hat sie auch mit jenen Frauen identifiziert, die außer Beatrice eine
Rolle in der Vita nuova spielen, z. B. mit der Donna gentile oder
der Donna dello schermo. Ich bestreite nicht, daß daran etwas
Wahres sein könnte, aber außerdem muß ein Stück von Dantes
Kindheitsgeschichte in jener Gestalt fortleben, sonst wäre ihr nicht
ein Amt zugefallen, das die Phantasie im allgemeinen der Mutter
zuschreibt. Ob aber Matelda und Beatrice die verschiedenen Seiten
einer einzigen Persönlichkeit darstellen oder ob in Matelda eine von
jenen verschollenen Frauen fortlebt, die vielleicht außer Donna Bella
und Donna Lapa dem Knaben gegenüber die Rolle einer Mutter
gespielt haben, wissen wir nicht,- auch eine Kombination von diesen
beiden Möglichkeiten wäre nicht unwahrscheinlich.
Möglicherweise hat Dante in Matelda auch die Beatrice der
Von Dantes unbewußtem Seelenleben
231
Vita nuova neu belebt, dann hätte er damit symbolisch ausgedrückt,
wie die Geliebte ihm das irdische und das himmlische Paradies
gegeben.
Ich weiß nicht, ob viele Leser der Divina Commedia in bezug
auf das Altersverhältnis von Matelda und Beatrice so empfinden
wie ich,* ich habe stets den Eindruck bekommen, daß Matelda viel
jünger sei als Beatrice und glaube, daß ähnlich Empfindende vieL
leicht meinen könnten, aus diesem Grunde sei Matelda gegenüber
die infantile Gefühlseinstellung von seiten des Dichters unwahrschein¬
lich/ dies wäre aber nicht ganz zutreffend, denn es scheint, daß der^
artige Empfindungen unabhängig sein können von dem Alter der
Beteiligten. In den so frisch und ursprünglich geschriebenen SchuL
mädelgeschichten von Hermine Villinger, der man klarsehende Men¬
schenkenntnis nicht absprechen kann, hören wir von einem kleinen
Mädchen, namens Stasia, die wegen ihres fürsorglichen Wesens
von ihrer eigenen kindischen und leichtfertigen Mutter »Mütterchen«
genannt wird. Stasia hingegen nennt ihre Mutter mit nachsichtiger
Zärtlichkeit Mäuschen 1 .
Wenn wir nun in der Analyse von Dantes unbewußtem
Seelenleben fortschreiten, werden wir, da wir den Traum als den
Ausdruck unbewußter infantiler Strömungen betrachten, den in
Dantes Werken mitgeteilten Träumen und Visionen unsere
Aufmerksamkeit zuwenden müssen, wobei in Betracht kommt,
ob sich an jenen Gebilden die Charakteristika nachweisen lassen,
welche die Psychoanalyse dem Traumleben im allgemeinen zuschreibt
und ob wir auf diese Weise etwas Persönliches von dem Dichter er¬
fahren können. Bei derartigen Deutungen ist Vorsicht geboten,denn wenn
wir auch durch die Analyse zahlreicher Träume zur Kenntnis gewisser
typischer Traumformen gelangt sind, die stets auf dieselben seelischen
Vorgänge schließen lassen, so kommt anderseits die Kenntnis des
Individuums, dessen Träume wir deuten wollen, so sehr in Betracht,
daß wir bei Dante von vornherein in keiner besonders günstigen
Lage sind. Da die wertvollsten Quellen für die Traumdeutung
stets die Einfälle sind, die uns der Träumer nach der Erzählung
seines Traumes berichtet und zwar auch dann, wenn man bei ober^
flächlicher Betrachtung den Eindruck völliger Zusammenhangslosig¬
keit empfängt, wählen wir für unsere Zwecke einen Traum aus der
Divina Commedia, zu dem Dante die dazugehörigen Einfälle mit¬
geteilt hat. Er ist auf seiner mühevollen Reise durch das Antipur-
gatorio mit Virgil und dem Dichter Sordell, der sich ihnen angeschlossen
hat, in das Tal gelangt, in dem die Großen der Erde, die ihre
Bekehrung bis zum letzten Augenblick hinausgeschoben haben, warten
müssen, bis sie zur Buße im eigentlichen Purgatorio zugelassen
1 Ein Mädchen von sehr zartem und mädchenhaftem Aussehen wurde von
ihren älteren Pensionskolleginnen im Scherz »Mama« genannt, weil sie stets bereit
war, für andere zu sorgen.
232
Dr. Alice Sperber
werden. Dort verbringt Dante die Nacht, in der er einen be^
deutungsvollen Traum hat. <Purg. IX. 19 ff.)
In sogno mi parea veder sospesa
Un 7 aquila nel ciel con penne
d'oro,
Con T ali aperte, ed a calare in^
tesa:
Ed esser mi parea lä, dove foro
Abbandonati i suoi da Ganimede,
Quando fu ratto al sommo con^
cistoro.
Fra me pensava: forse questa fiede
Pur qui per uso, e forse d 7 altro
loco
Disdegna di portarne suso in piede.
Poi mi parea, die roteata un
poco,
Terribil, come folgor, discen^
desse,
E me rapisse suso infino al foco.
Ivi parea, ch 7 ella ed io ardesse,
E si T incendio immaginato cosse.
Che convenne che il sonno si rom^
pesse.
Non altrimenti Achille si riscosse,
Gli occhi svegliati rivolgendo in
giro,
E non sapendo lä dove si fosse,
Quando la madre da Chirone a
Sciro
Trafugö lui dormendo in le sue
braccia,
Lä, onde poi li Greci il dipartiro,
Che mi scoss 7 io, si come dalla
faccia
Mi fuggi il sonno, e diventai
smorto,
Come fa Y uom, che spaventato ag^
ghiaccia.
War's mir im Traum, als ob mit
goldnen Schwingen
Ein Adler schweb 7 im himmlischen
Azur,
Bereit in jähem Stoß herabzu¬
dringen.
Es kam mir vor, als stünd 7 ich auf
der Flur
Wo Ganymed hinwegschied von
den Seinen
Und zu der höchsten Ratsversamm^
lung fuhr.
Ich dacht 7 , er ist vielleicht nur
diesen einen
Jagdgrund gewohnt und Raub von
anderm Ort
Zu holen mag ihm wohl verächu
lieh scheinen.
Dann dünkte mich, ein Weilchen
kreis 7 er dort.
Und schrecklich dann wie
Blitz fuhr er hernieder
Und riß hinauf mich, bis ins Feuer
fort.
Da war's als brenn 7 ich selbst und
sein Gefieder
Und das geträumte Feuer sengte
mich.
Das brach den Schlaf und löste mir
die Glieder
Nicht anders schüttelt 7 einst Achilles
sich
Und wandte hin und wieder das
erwachte
Antlitz am unbekannten Küsten^
strich
Als fort vom Chiron ihn die
Mutter sachte,
Dieweil er schlief, forttrug an Scy^
rus Strand,
Von wo Ulisses ihn nach Troja
brachte,
Wie ich mich schüttelt, als der
Schlaf verschwand
Von meiner Stirn und fühlte mich
erblassen.
Wie einer, den Entsetzen über^
mannt. 1
1 Virgil.
Von Dantes unbewußtem Seelenleben
233
Da lato m' era solo il mio Con^
forto,
E il sole er' alto giä, piü di due
ore,
E il viso m' era alla marina torto,
Non aver tema, disse il mio Sig^
nore ,*
Fatti sicur, die noi siamo a buon
punto,
Non Stringer, ma rallarga ogni vL
göre!
Tu se' omai al Purgatorio giunto;
Vedi lä il balzo, die il diiude d'in-
torno!
Vedi r entrata, lä 've par dis*
giunto!
Dinanzi nell' alba, die precede al
giorno,
Quando 1' anima tua dentro dor-
mia,
Sopra li fiori, onde laggiu e
adorno,
Venne una donna, e disse: I' son
Lucia :
Lasciatemi pigliar costui, che
dorme,
Si T agevolerö per la sua via.
Sordel rimase, e 1' altre gentil
forme:
Ella ti tolse, e come il di fu
chiaro,
Sen venne suso, ed io per le sue
orme.
Qui ti posö: e pria mi dimostraro
Gli occhi suoi belli quell' entrata
aperta,
Poi ella e il sonno ad una se
n' andaro
A guisa d'uom, die in dubbio si
raccerta,
E che muti in conforto sua paura,
Poi che la veritä gli e discoverta,
Mi cambia' io: e come senza cura
Videmi il Duca mio, su per lo
balzo
Ich war mit meinem Trost allein
gelassen,-
Die Sonne stieg mehr denn zwei
Stunden schon,
Vor mir sah ich das Meer den
Strand umfassen
»Fürchte dich nicht <so sagte mein
Patron),
Sei guten Muts, wir sind zur
rechten Stelle
Weck' alle Kraft, statt sie zu Iah-
men, Sohn
Jetzt kömmst du an des Purgato*
riums Wälle,-
Dies ist die Wand, die es nm*
schließt, und hier
Wo sie getrennt scheint, ist des
Eingangs Schwelle.
Vorhin, als deine Seele schlief in
dir,
<A(s Dämmern zeigte, daß die
Nacht entfliehe)
Da, unten in dem blumigen Revier,
Erschien ein Weib und sprach: ich
bin Lucie,-
Dieweil er schläft, heb' ich von
hier ihn fort
Damit er leichter seines Weges
ziehe. —
Sordell blieb bei den edlen Schatten
dort,
Und als es hell ward, trug sie aus
dem Grunde
Dich hier herauf,- ich folgt ihr an
den Ort.
Hier ließ sie dich, doch gaben erst
mir Kunde
Die schönen Augen, wo hinauf
man steigt,*
Dann schwand sie und der Schlaf
zur selben Stunde.«
Wie einer, dessen Zweifel plötzlich
schweigt,
So daß er Mut gewinnt, statt
Furcht zu hegen.
Nachdem man ihm die Wahrheit
klar gezeigt,
So fühlt' ich meine Unruh' jetzt
sich legen,
Und als der Führer meine Zuver¬
sicht
234
Dr. Alice Sperber
Si mosse, ed io diretro inver
l'altura.
Lettor, tu vedi ben, com' io in^
nalzo
La mia materia, e perö con piü
arte
Non ti maravigliar, s' io la rin^
calzo.
Sah schritt er vor, ich nach, der
Höh' entgegen.
Du siehst wohl Leser, wie sich
mein Gedicht
Erhebt, und wenn ich drum mehr
Kunst verwende,
Um es zu stützen, wunder' es dich
nicht.
Es ist klar, daß Dante hier seiner Gewohnheit gemäß auf
die allegorische Bedeutung seiner Verse anspielt, die ungefähr fol¬
gende ist. Die erleuchtende Gnade, die Lucia wahrscheinlich dar*
stellt, hat ihm den Weg zur Pforte des Purgatorio, also zur Buße,
abgekürzt und ihm so zur Läuterung seines Gemütes verholfen.
Von der allegorischen Auslegung des Traumes und von seinem
wörtlichen Sinn wollen wir im weiteren Verlauf absehen und uns
nur mit den latenten, dem Träumer oder Phantasierenden selbst
verborgenen Traumgedanken beschäftigen 1 ,* wobei die folgenden in
Freuds Traumdeutung festgestellten Gesichtspunkte maßgebend sein
werden: Ein Traum enthält die Erfüllung eines von der
Realität versagten Wunsches. Dieser Wunsch ist unserem
bewußten Denken nicht immer bekannt, denn er stammt
aus früher Kinderzeit und ist in der Regel verdrängt wor¬
den, weil er mit den Forderungen, die Sitte und Kultur
an uns stellen, nicht vereinbar war. Er ist häufig sexu*
eller Natur in des Wortes weitester Bedeutung. Der Held
des Traumes ist stets der Träumer selbst, obwohl der
Traum in dieser Hinsicht oft an ein Vexierbild erinnert,
dessen Hauptperson nur für den geduldigen und ge^
übten Betrachter erkennbar ist. Diese Schwierigkeit fällt übrigens
für unseren Traum weg, da sich Dante ja selbst zum Helden
des Traumerlebnisses macht, das die Mythologie von Gany¬
med berichtet. Es fragt sich nun, wie kam Dante dazu, sich
in seiner Phantasie mit Ganymed zu vergleichen. Ist es ein Spiel
des Zufalles, den wir ja für alles Unaufgeklärte verantwortlich
machen oder können wir Gründe dafür angeben. Diese sind nicht
schwer ausfindig zu machen, wenn wir uns vor Augen halten, was
die Mythologie über die Abstammung des Ganymedes erzählt. Sein
Vater war der König Tros, seine Mutter die Nymphe Kallirrhoe,*
er stammte also von einem Sterblichen und von einem Wesen höhe*
rer Art und ganz ähnlich mußte Dante in bezug auf seine Eltern
empfinden, denn auch für seine gläubige Seele war ja die Mutter
ein höheres Wesen, ein verklärter Engel im Paradies. Daß diese
1 Alle verschiedenen Arten und Grade der Träume erforscht zu haben,
würde bedeuten in einem weit tieferen Sinne als irgendeinem heutigen, Kenner
der menschlichen Seele zu sein <cf. Hauptmann, Der Narr in Christo, Emanuel
Quint, p. 168, S. Fischer, Berlin 1910).
Von Dantes unbewußtem Seelenleben
235
Parallele für die Erklärung unseres Traumes nickt gleichgiltig ist,
läßt sich nock auf andere Art beweisen,- Dante vergleickt nämlick
sein Erwacken mit jenem des Ackilles, den seine Mutter Tketis
von seinem Erzieher, dem Zentauren Cheiron, entfernt und nach
der Insel Skyros gebracht hatte. Auch Ackilles war ja der Sohn
eines Menschen und einer Göttin und bei dem infantilen Charakter
des Traumes im allgemeinen dürfen wir uns nickt darüber wundern,
daß in unserem besonderen Falle der Elternkomplex ausschlaggebend
war. Nachdem wir so eine Grundlage für die Identifizierung Dantes
mit Ganymed gewonnen haben, wollen wir sehen, was für eine
Bedeutung dieselbe noch für den Dichter haben konnte. Von dem
Knaben Ganymed heißt es, daß er wegen seiner unvergleichlichen
Schönheit von dem Adler des Zeus für den Vater der Götter
geraubt wurde,- andere Quellen berichten, daß Zeus selbst in Adler^
gestalt diesen Raub vollführt habe. Was veranlaßte aber Dante
dazu, sich mit einem so besonders schönen Knaben zu identifizieren?
denn wenn wir uns seine scharf ausgeprägten Züge auch noch so
bedeutend vorstellen dürfen, das, was man ein schönes Kind nennt,
wird er kaum gewesen sein. Hier tritt der Wunschcharakter des
Traumes deutlich hervor,- die meisten Kinder wünschen gewiß, sich
durch Schönheit auszuzeichnen, aber wie viel mehr mußte sich Dantes
schönheitsdurstige, nach Ebenmaß ringende Seele danadi sehnen.
Auch in diesem Punkt wird unsere Behauptung durch die weitere
Identifizierung mit Achilles bestätigt, dem Schönsten und Stärksten
der Achäer, die Troja belagerten.
Der Wunsch schön zu sein, wird bekanntlich bei Kindern da¬
durch hervorgerufen, daß sie ihre Gefährten, insbesondere aber ihre
Geschwister überstrahlen wollen, um sich so der über alles ersehnten
Liebe der Eltern zu versichern. Bei Dante könnten derartige Kon¬
kurrenzgelüste eine Rolle gespielt haben, denn es scheint, daß er
eine Schwester hatte, die von der Natur in bezug auf Anmut
gütiger bedacht worden war als er. In der Vita nuova berichtet er,
daß er einst, als er von unerträglichen Schmerzen gepeinigt wurde,
eine Vision vom Tode Beatricens gehabt habe, so daß er selbst
den Tod herbeiwünschte.
»E dicendo questo parole con doloroso singulto di pianto e chia^
mando la Morte che venisse a me, una donna giovane e gentile la
quäle era lungo il mio letto, credendo die il mio piangere e le mie parole
fossero lamento per lo dolore della mia infermitade, con grande paura co^
minciö a piangere. Onde altre donne, die per la mia camera erano, s'accor^
sero die io piangeva per lo pianto die vedeano fare a questa: onde facendo
lei partire da me la quäle era meco di propinquissima sanguinitä
congiunta, ella si trassero verso me per isvegliarmi, credendo die io
sognassi e diceanmi: No dormir piü, e non di sconfortare.«
Und da ich diese Worte mit schmerzlichen Schluchzen und Weinen
aussprach und den Tod rief, daß er doch zu mir komme, da glaubte ein
junges und liebliches Weib, das an meinem Bette saß, daß mein Weinen
und meine Worte Wehklagen seien, die mir der Schmerz meiner Krankheit
236
Dr. Alice Sperber
erpreßte und sie begann gar erschrocken zu weinen. Und davon bemerkten
auch andere Frauen, welche im Zimmer waren, daß ich weinte, da sie die
andere weinen sahen. Da hießen sie jene, die durch die allernächsten
Bande des Blutes mit mir verwandt war, von mir gehen und kamen
auf midi zu, um mich zu erwecken, denn sie glaubten, daß ich träumte und
sagten zu mir: Schlafe nicht mehr und verliere nicht so den Mut <Federn>.
Ein junges weibliches Wesen, von dem der Dichter sagt, daß
es durch engste Blutsverwandtschaft mit ihm verbunden war, kann
doch wohl nur eine Schwester gewesen sein, deren Anmut er in
der Kanzone, in der die Vision beschrieben wird, mit folgenden
Worten schildert:
Donna pietosa e di novella etade Adorna assai di gentilezze umane
Era lä ov io chiamava spesso Morte.
Ein junges und mitleidsvolles Weib, reich geschmückt mit irdischer
Anmut, war dort, wo ich mehrmals nach dem Tode rief. 1
Wir gehen nun zur Erklärung der Symbolik unseres Traumes
über und beginnen mit der Bedeutung des Adlers. Aus den Versen
Dantes geht hervor, daß der Adler identisch ist mit Lucia, seiner
Fürsprecherin bei Beatrice. Da sie aber der Dichter bei dem Er¬
wachen mit Thetis vergleicht, die den schlafenden Sohn in den
Armen fortträgt und da für diesen Traum Achilles ebenso wie
Ganymed nichts anderes ist als eine unbewußte Identifizierung
Dantes selbst, so ist es auch klar, daß er Lucia gegenüber von
kindlichen Empfindungen beseelt war, das heißt, daß Lucia ähnlich
wie Matelda und Beatrice ein Symbol der Mütterlichkeit ist. Es
scheint nichts Außergewöhnliches zu sein, daß dieser Begriff mit un^
bewußter Symbolik durch das Bild eines Raubvogels dargestellt wird 2 .
Der Adler ist für Dantes bewußtes Denken außerdem das
Sinnbild der weltlichen Herrschaft <cf. Purg. X., p. 80, Par. VI,
1 bis 3, XVIII, p. 107> und dies paßt gut zu dem imposanten
Bilde der mütterlichen Autorität, das sich aus den Zügen Beatricens
und der Stelle im Inferno, in der Dantes Mutter genannt wird,
ergab. Übrigens vergleicht Dante Beatrice einmal direkt mit einen
Adler. Als sie vom irdischen ins himmlische Paradies aufsteigen,
blickt Beatrice in die Sonne mit festerem Blick als je ein Adler
es vermochte, von dem ja die Sage geht, daß sein Auge in die
Sonne sehen kann und von Beatrice geht diese Fähigkeit auf Dante
über. Par. I, p. 43 ff.
Fatto avea di lä mane, e di qua Jetzt machte dieser Schlund fast
sera nodi hier Abend
Tal foce quasi, e tutto era lä bianco Und drüben Tag, die Hemisphäre da
1 Zu dieser Übersetzung ist man nach Convivio Trattato IV, Kap. 25,
berechtigt. Gentilezza ist wohl für Dante meist mit Seelenadel identisch, offenbart
sich seiner Ansicht nach aber in der Jugend auch durch Schönheit des Körpers.
2 In einer Phantasie Leonardo da Vincis erscheint die Mutter in Gestalt
eines Geiers <cf. S. Freud, Eine Kindheitserinnerung des Leonardo da Vinci,
7. Heft der Schriften zur angewandten Seelenkunde, herausgegeben von Freud,
p. 19 ff.).
Von Dantes unbewußtem Seelenleben
237
Quello emisperio, e V altra parte
nera,
Quando Beatrice in sul sinistro
fianco
Vidi rivolta, e riguardar nel sole:
Aquila si non gli s' affisse un^
quanco.
E si come secondo raggio suole
Uscir de! primo, e risalire insuso,
Pur come peregrin, che tornar vuole,
Cosi dell' atto suo, per gli oc-
chi infuso
Nell' imagine mia, il mio si
fece,
E fissi gli occhi al sole oltre
a nostr' uso.
Molto e licito lä, che qui non lece
Alle nostre virtü, merce de! loco
Fatto per proprio dell' umana
spece.
Versilbernd, hier in Schwärze sie
begrabend;
Als ich Beatrice links gewendet
sah
Hinschauend nach der Sonne, un*
geblendet.
Kein Adler käme solchem
Blicke nah.
Und wie ein Strahl den zweiten
Strahl entsendet,
Der wieder in die Höh' fliegt, ähn=
lieh wie
Ein Pilger seinen Schritt zur HeU
mat wendet,
So hat ihr Tun, das meine
Phantasie
Durch meine Augen einsog,
meins entschieden,
Daß ich die Sonn' anblickte
wie noch nie
Viel steht dem Menschen frei dort,
was hienieden
Versagt ist, dank der Kraft des
heil'gen Gau's
Der einst zum Eigentum uns war
beschieden.
Zu dieser Stelle zitiert Fraticelli in seiner Ausgabe der
Divina Commedia eine Stelle folgenden Inhalts aus den Werken des
heiligen Augustin:
Derjenige von den jungen Adlern, der fest in die Sonne blicken
kann, wird als Sohn des Adlers anerkannt. Derjenige, dessen Auge
aber zittert, wird aus den Krallen fallen gelassen <cf. O. Keller,
Tiere des klassischen Altertums, p. 268, Innsbruck 1887). Da Dante
die Werke des heiligen Augustin ohne Zweifel kannte, dürfen wir
ihm auch die Kenntnis dieser Sage zumuten und wenn er sagt, daß
der Adlerblick Beatricens auf ihn übergegangen sei, so gibt er sich
damit unbewußt als Sohn des Adlers zu erkennen. <Über den Adler¬
blick cf. Freud, Jahrbuch III, p. 588 ff.) Der Adler im Traum ist
also das Produkt der Verdichtungsarbeit, die in der Traumwelt
eine so große Rolle spielt und könnte die Namen Lucia-Bella-Bea^
trice führen. Allerdings könnte der Adler zum Teil auch ein Symbol
Gottes und somit der höchsten väterlichen Gewalt sein, denn Christus
wird von Dante »sommo Giove« genannt <Purg. VI, p. 118), wo¬
durch die unbewußte Ideenverbindung nahegelegt wird. Gott-
Zeus raubt Dante^Ganymed. Zweifellos überwiegt aber in dem
Adler das weibliche Element, was die Identifizierung mit Lucia und
Beatrice beweist.
Wenn wir hören, daß ein Weib in Adlergestalt sich her¬
niedersenkt, um Dante, der sich mit dem Knaben Ganymed ven*
238
Dr. Alice Sperber
gleicht, emporzutragen, so enthüllt sich uns dadurch ein heißer
Kinderwunsch des Dichters. Er wünschte, die tote Mutter möge
wiederkehren, um ihr verlassenes Kind zu sich in den Himmel zu
nehmen, d. h. er sehnte den Tod herbei.
Wen die Götter lieben, der stirbt jung. Auch Achilles ereilt
nach ruhmvoller Jugend ein früher Tod und wie Zeus den Knaben
Ganymed in den Olymp entführt, so wird der tote Achilles von
seiner Mutter auf die Insel Leuke im Schwarzen Meere entrückt,
die nach dem Berichte des Plinius mit der Insel der Seeligen identU
fiziert wurde. Obwohl Dante der Tradition der Odyssee folgend
Achilles in die Unterwelt verbannt, wäre es doch möglich, daß ihm
auch die andere Fassung bekannt war und daß sie nicht ohne Ein¬
fluß auf seine unbewußte Identifizierung mit Achilles gewesen ist.
Noch hat uns der Traum sein dunkelstes Geheimnis nicht
preisgegeben. Der Adler steigt mit Dante bis zum »Feuer« empor.
Gemeint ist damit aller Wahrscheinlichkeit nach die Feuersphäre, die
nach Dantes Begriffen an die äußerste Spitze des Purgatorio an¬
grenzte und schon als Eingang in das himmlische Paradies betrachtet
werden kann. Interessanterweise erfolgt später der bewußte Ver^
gleich Beatricens mit dem Adler unmittelbar bevor Dante mit ihr
durch die Feuersphäre emporschwebt <cf. Par. I, 43 ff.>.
Der Sprachgebrauch überhebt uns der Mühe über die sym^
bolische Bedeutung des Feuers im Traum lange nachzudenken, er¬
zählen doch die Dichter aller Zeiten unaufhörlich von »Liebesglut«,
von »feuriger« Leidenschaft und »glühender« Sinnlichkeit. Nach einer
feurigen Umarmung mit der Mutter sehnte sich Dante und untere
schied sich dadurch keineswegs von anderen Knaben, »denn viele
Menschen sahen auch in Träumen sich zugesellt der Mutter« <So^
phokles, Oedipus) 1 .
Schwerlich hätte der Dichter den in dem Traum verborgenen
sexuellen Wunsch besser zum Ausdrudk bringen können als durch
das Verhältnis Ganymeds zum Adler. Die flammende Sinnlichkeit,
die diesem Verhältnis eigen ist, wird durch die reproduzierte Ab¬
bildung eher klar werden als durch Worte <s. letzte Seite des Bandes).
Den Höhepunkt ungemein zahlreicher Träume bildet die sym¬
bolisch ausgedrückte Ausführung des Geschlechtsaktes, aber wenn
diese Wunscherfüllung durch besondere Umstände mit dem kultu¬
rellen Niveau des Träumers allzu unvereinbar ist, regt sich selbst
im Schlaf das, was von den meisten das Gewissen und von Freud
die Zensur genannt wird und macht dem tollkühnen Traum ein
Ende: der Schläfer wacht auf. Diese Regel wird durch unseren
Traum, in dem die sinnliche Lust durch Flammen dargestellt wird,
in vollem Umfange bestätigt: E si 1' incendio immaginato cosse.
Che convenne che il sonno si rompesse 2 .
1 Über die Bedeutung des Oedipuskomplexes. Freud, Traumdeutung.
2 Und das geträumte Feuer sengte mich. Das bradi den Schlaf und löste
mir die Glieder.
Von Dantes unbewußtem Seelenleben
239
Der Raub des Ganymedes durch Zeus hat in hohem Grade
homosexuellen Charakter und galt als Verherrlichung der Kna^
benliebe.
Da nun Achilles ebenfalls im Rufe homosexueller Neigungen
stand (wegen seiner Liebe zu dem schönen Knaben Troilus), wird
man den Traum auch von diesem Gesichtspunkte aus betrachten
müssen. Es ist natürlich schwer zu sagen, wie viel Dante von der
Tradition, die Achilles jene Veranlagung zuschrieb, gewußt hat. Der
erste, der das erotische Element in die Troilusepisode einführt, war
Servius, der Kommentator der Aeneis aus dem vierten Jahrhundert
und es kann leicht sein, daß Dante die betreffende Stelle kannte 1 . Je¬
denfalls dürfen wir mit dem Einfluß der Achilleis des Statius rechnen,
da dieser Dichter von Dante hochverehrt wurde und zum Ge¬
meingut der Gelehrten des Mittelalters gehörte. In der Achilleis
findet sich folgende charakteristische Stelle, die Dante veranlaßt
haben könnte, Achilles homosexuelle Neigungen zuzutrauen. Thetis
ist mit der Absicht zu Chiron gekommen, den jungen Achilles zu
entführen, damit er nicht am Kampf der Griechen gegen Troja teiL
nehmen müsse. Als die Nacht sich herniedersenkt, begibt sich Achilles
zur Ruhe und da heißt es nun:
Nox trahit in somnos Saxo collabitur ingens
Centaurus blandusque humeris se innectit Achilles
Quamquam ibi fida parens assuetaque pectora mavult.
I. 195 bis 197.
Im weiteren Verlauf wird berichtet, daß Thetis den Sohn an
den Hof des Königs von Skyros bringt, wo er, als Mädchen ver¬
kleidet, unter weiblichen Gespielinnen leben soll, bis alle Gefahr
vorbei ist. Auch diese Situation hat einen homosexuellen Einschlag,
was von Statius dadurch zum Ausdrude gebracht wird, daß er jenen
Zustand des Achilles als »sexus ambiguus« 2 bezeichnet. Daß Achill
dann in seiner Verkleidung der Geliebte der Königstochter DeU
damia wird und daß der Ganymedtraum trotz seiner Homosexualität
auch die Vorliebe für das andere Geschlecht in so hohem Grade
offenbart, bildet keineswegs einen Angriffspunkt gegen unsere Be¬
hauptungen, da ja der Traum die widersprechendsten Elemente in
sich vereinigen kann,- zudem will es scheinen, daß die meisten, viel¬
leicht sogar alle Menschen homosexuellen Strömungen zugänglich
sind und erst wenn diese Gefühle so mächtig werden, daß sie zur
Tat führen, sprechen wir von Abnormitäten. Es bieten sich uns
keine Anhaltspunkte dafür, daß letzteres bei Dante in Betracht
kommen könnte (und selbst wenn es der Fall wäre, dürfte man vor
1 Auch Plato hat in seinem Symposion der Freundschaft von Achilles und
Patroklus homosexuellen Charakter zugeschrieben, wir wissen aber nicht, ob
Dante, der des Griechischen wahrscheinlich nicht mächtig war, die Werke Platos
kannte.
2 cf. Horaz, puer vultu ambiguo = Knabe mit einem Mädchengesicht.
240
Dr. Alice Sperber
der Untersuchung nicht zurückscheuen), da jedoch seit dem Buch von
Wilhelm Fließ: »Vom Ablauf des Lebens«, die hochgradige Bi^
Sexualität künstlerisch veranlagter Naturen im Vordergrund des
Interesses steht, möchte ich bei diesem Thema noch einen Augenblick
verweilen.
Die Gründe für eine kraftvolle Entfaltung homosexueller Triebe
sind nicht immer dieselben L Einen günstigen Boden findet die homo^
sexuelle Komponente des Knaben, wenn das Wesen der Mutter
einen hochgradig männlidien Einschlag hat, denn der Mann, der in
späteren Liebesverhältnissen unbewußt die Erinnerung an die erste
Liebe neu beleben will, wird seinen Geschlechtsgenossen gegenüber
sexueller Empfindungen um so mehr fähig sein, je mehr sie in ihrem
Wesen der Mutter verwandt sind.
Das Frauenideal Dantes, der ja, wie schon erwähnt, Beatrice
mit einem Admiral vergleicht, deutet darauf hin, daß jene Vor¬
bedingungen einer relativ stark ausgebildeten homosexuellen Strö¬
mung bei ihm vorhanden waren. Damit dürfte es Zusammenhängen,
daß sich Dante an einen Mann und zwar an Virgil mit jenen Ge¬
fühlen wendet, mit denen »das Knäblein zu der Mutter eilt«, was
doch gewiß sehr merkwürdig ist.
Tosto che nel/a vista mi percosse
L'alta vir tu, che giä mi avea trafttto,
Prima che io for di puerizia fosse,
Volsimi alla sinistra col re^
spitto,
Col quäle il fantolin corre
alla mamma,
Quando ha paura, o quando
egli e afflitto.
Per dicere a Virgilio:
<Purg. XXXI. 40-46.)
Ähnliche Empfindungen kommen zum Ausdruck, als Dante
schildert, wie ihn Virgil in Malebolge vor den Teufeln rettet <Inf.
XXIII, 37 ff.).
Wie sie nun meinen Blicken sich
erschloß ,
Die hohe Kraft, die in vergangnen
Tagen
Da ich ein Kind war durch das
Herz mir schoß
Wandt ich zur Linken mich
mit solchen Zagen
Mit dem das Knäblein zu der
Mutter rennt.
Wann irgend Kummer oder
Furcht es plagen,
Um zu Virgil zu sprechen*.
Lo Duca mio di subito mi prese,
Come la madre ch'al romor e
desta
E vede presso a se le flamme ac-
cese.
Mein Führer säumte nicht mich zu
umschlingen
Wie eine Mutter, die, vom Lärm
erweckt
Die Flammen lodern sieht, die sie
umringen
1 cf. Freud, Eine Kindheitserinnerung des Leonardo da Vinci
VII. Heft der Schriften zur angewandten Seelenkunde, herausgegeben
von Freud, Leipzig 1910.
Von Dantes unbewußtem Seelenleben
241
Che prende il figlio, e fugge, e non
s' arresta,
Avendo piü di lui die di se cura,
Tanto che solo una camicia vesta.
Und nimmt ihr Kind und flieht, so
gar erschreckt.
Mehr Sorg' um 's Kind als um
sich selber hegend.
Daß nicht einmal sie mit dem
Hemd sich deckt.
Abgesehen von diesen Absonderlichkeiten, ist es aber klar,
welche Rolle Virgil in Dantes Phantasie spielte. Er ist das Ideal¬
bild des Vaters und Lehrers, was übrigens eine von den Literar¬
historikern oft erwähnte Tatsache ist.
Er nennt Dante »dolce figlio« und wird von dem Dichter
»dolcissimo padre« genannt, aber mehr als durch solche Äußerlich¬
keiten wird uns sein väterliches Bild durch die liebevolle Fürsorge
vor Augen geführt, die er seinem Schützling angedeihen läßt. Wenn
der Weg für die Kräfte eines Sterblichen gar zu schwer wird, so
trägt er ihn in seinen Armen, cf. z. B. Inf. XXIII, 43 ff.
E giü dal collo della ripa dura
Supin si diede alla pendente roccia.
Che V un dei lati all' altra bolgia
tura.
Non corse mai si tosto acqua per
doccia,
A volger ruota di mulin terragno,
Quand' ella piü verso le pale ap*
proccia,
Come il Maestro mio per quel vU
vagno,
Portandosene me sovra il suo
petto,
Come suo figlio, non come
compagno.
Er mit dem Rücken an den Damm
sich legend.
Der rechts hinabfiel in das nächste
Tal,
Ließ so sich gleiten, abwärts sich
bewegend.
Nie ist so schnell das Wasser im
Kanal
Ein Mühlenwerk zu drehn, bergab
geflossen,
Wo fast schon auf die Schaufeln
fällt der Strahl,
Wie mein Begleiter war hinab**
geschossen,
Und auf dem Busen trug er
mich entlang
Wie seinen Sohn und nicht
bloß Weggenossen.
Wenn Dante auf seiner mühevollen Wanderung den Mut
verliert, ermutigt ihn Virgil mit tröstenden Worten, er belehrt ihn
über die verschiedensten Dinge, schilt ihn wohl auch zuweilen, wenn
Dante nicht nach seinem Sinne handelt, vergibt aber sofort, wenn
er sieht, daß Dante Reue empfindet <cf. Inf. XXX. 130ff.>. Un^
gemein anziehend wirkt die Milde seines Wesens. Statt Dante mit
herben Worten zu bestrafen, sucht er ihn durch Güte auf den
richtigen Pfad zu bringen.
Es läßt sich der psychoanalytische Beweis dafür erbringen, daß
Virgil wirklich das idealisierte Bild von Dantes Vater ist. Er muß
in dem Augenblick verschwinden, in dem Beatrice erscheint, obwohl
Dante diese Trennung sehr schmerzlich empfindet. »Weil er ein
Heide ist«, wird man wohl allgemein sagen, der der Seligkeit des
Paradieses nicht teilhaftig werden darf. Dies erklärt aber nicht.
Imacro 111 3
16
242
Dr. Alice Sperber
warum Dante die Trennung nicht bis zu dem Augenblick hinaus^
geschoben hat, indem er mit Beatrice vom irdischen ins himmlische
Paradies aufsteigt Warum verschwindet Virgil schon aus dem irdU
sehen Paradies und warum ist es ihm nicht gegönnt, der Wieder¬
taufe seines Schülers beizuwohnen? Der Grund kann nicht darin
liegen, daß ein Heide nicht würdig sei, einer christlichen Zeremonie
beizuwohnen, hat Virgil doch im irdischen Paradies weilen dürfen,
als der Wagen der Kirche erschien, gezogen von Christus in Gestalt
eines Greif, begleitet von den Propheten und den Aposteln. Es ist
klar, daß es die Anwesenheit Beatricens ist, die Dante mit jener
Virgils nicht vereinigen kann 1 . Mit der Rücksichtslosigkeit, deren sich
alle Liebenden in ihren Phantasien schuldig machen, muß Dante
entfernen, was ihm das Schwelgen in seiner Liebe verbittern könnte,
nämlich die Anwesenheit des ersten Nebenbuhlers, des Vaters, den
er einst wie alle Knaben glühend beneidet hatte um seine Vorrechte
gegenüber der zärtlich geliebten Mutterimago. Daß Dante beim
Verschwinden Virgils Tränen vergießt, widerspräche dem nicht son^
dern entspricht nur der Doppelseitigkeit <Ambiralenz> der Emp^
findung des Knaben gegenüber dem Vater.
Wir wenden uns nun der Frage zu, ob wir erfahren können,
inwiefern das Idealbild, das Dante in Virgil der väterlichen Autorität
gesetzt hat, auf den Eindruck zurückgeht, den der Dichter in seiner
Kindheit von seinem Vater Alighiero II. empfangen hat. Wir befinden
uns wiederum in einer wenig günstigen Lage, denn Alighiero II.,
der jedenfalls schon gestorben war, als Dante achtzehn Jahre zählte 2 ,
wird in der zeitgenössischen Literatur nur sehr selten genannt. Boc¬
caccio sagt von ihm »piü per la futura prole 3 che per se doveva
essere chiaro,« was Boccaccio vielleicht nicht geschrieben hätte, wenn
Dantes Vater ein bedeutender Mann gewesen wäre. In politischer
Hinsicht dürfte er im Gegensatz zu seinem großen Sohn keine ge^
fürchtete und exponierte Persönlichkeit gewesen sein, denn es scheint,
daß es ihm gestattet wurde, in Florenz zu bleiben, als die Häupter
1 Ein ähnliches Schicksal wird Statius zuteil, der sich nach überstandener
Buße im Purgatorio, den beiden Dichtern auf dem Wege ins Paradies anschließt
<Purg. XXI, 10 ff.). Er darf wohl länger bei Dante und Beatrice verweilen als
Virgil, gerät aber bald vollständig in Vergessenheit, ohne daß wir erfahren, was
mit ihm geschieht. Nicht nur diese stillschweigende Ablehnung von seiten Dantes
stempelt Statius zu einer sogenannten »Doublette« von Virgil, sondern auch sein
Wesen und Gebaren, cf. Comparetti <Virgilio nel Medio Evo p. 303). Ad un
certo punto adunque a lui <Virgilio> si unisce nell accompagnar Dante, Stazio
che e presentato quasi una emanazione diVirgilio, come quegli che, non solo
per lui fu poeta, ma per lui fu anche christiano, quäle sarebbe stato Virgilio se
fosse nato dopo Cristo. »Mit Virgil, der Dante begleitet, vereinigt sich an einer
gewissen Stelle Statius, der gleichsam eine Emanation Virgils ist. Er ist durch
Virgil nicht nur Dichter sondern auch Christ geworden, was auch Virgil geworden
wäre, wenn er nach Christus das Licht der Welt erblicht hätte.«
2 Eine genaue Datierung ist bis jetzt nicht gelungen.
3 »Er sollte durch seine Nachkommenschaft berühmter werden als durch
sich selbst.«
Von Dantes unbewußtem Seelenleben
243
der welfisdien Partei, der die Familie der Alighieri angehörte, im
Jahre 1260 von den Ghibellinen vertrieben wurden 1 .
Dazu kommt, daß Forese Donati, den Dante in einem bur*
lesken Sonett »figluol di non so cui« <Sohn von ich weiß nicht wem)
genannt hatte, sich revanchierte, indem er ebenfalls in einem derartigen
Sonett erwiderte, Dante beweise durch seine Feigheit, daß er ein
Sohn von Alighiero sei und auch dies läßt darauf schließen, daß
Dantes Vater sich keines hervorragenden Rufes erfreute 2 . Dieser
Ansicht huldigen z. B. Petrocchi 3 , Scherillo 4 und Kraus 5 ,* doch
fügt letzterer wie übrigens auch Scartazzini 6 mit Recht hinzu, daß
derartige groteske Scherzgedichte wie das Mittelalter sie liebte, kein
einwandfreies Beweismaterial abgeben können.
Da jedoch anderseits die Möglichkeit auch nicht abgelehnt
werden kann, daß die Worte Boccaccios und Forese Donatis viel¬
leicht wirklich besagen, Dantes Vater sei ein schwacher und un¬
fähiger Mensch gewesen, so müssen wir uns fragen, ob denn die
edle Erscheinung Virgils in der Divina Commedia mit einem solchen
Vorbilde irgendwie in Verbindung stehen kann. Ausgeschlossen ist
dies keineswegs. Wie sehr wir Vater und Mutter in unserer Vor*
Stellung idealisieren, beweist ja die Tatsache, daß wir in unseren
Phantasien und Träumen Kaisern und Königen unbewußt die Züge
der Eltern verleihen und wenn Dante statt von fürstlicher Ab¬
stammung zu fabulieren, uns auf indirektem Wege verrät, daß er
der Sohn eines Dichters und einer Heiligen sein wollte, so offen¬
bart sich dadurch der Adel seiner Seele. Gewiß hat sich der Ein*
druck von dem Wesen des Vaters durch zahlreiche Einflüsse ver¬
ändert. Das »liebe, gute, väterliche Bild« Brunetto Latinis, der ja
Dantes väterlicher Freund war <Inf. XV, 83), mag darauf ein*
gewirkt haben, und sicher haben wir noch mit vielen Zuflüssen aus
anderen Quellen zu rechnen, die wir nicht kontrollieren können, aber
wäre es trotz aller idealisierenden Verschiebung und Verdichtung
nicht doch möglich, daß Dante bei seinem Vater als Milde empfand,
was anderen als Schwäche erschien? Auf einen Ein wand muß aller*
1 cf. Scherillo: Alcuni capitoli della biografio di Dante, p. 11 ff.
2 Foreses Sonett scheint im ganzen richtig von Del Lungo übersetzt zu
sein. <Dante nei tempi di Dante), doch sind manche Stellen noch dunkel. Sche^
rillo loc. cit. zitiert noch ein anderes Sonett Foreses, in dem der Dichter erzählt,
daß er Dantes Vater im Traum gesehen habe, wie er gebunden in einer Grube
<fossa> lag und Forese bat ihn um seines Sohnes willen zu befreien. Scherillo
meint, daß Forese Dantes Vater nicht ohne Grund einen so wenig ehrenvollen
Platz angewiesen habe und sucht seine Ansicht durch Parallelen über den Gebrauch
von fossa zu bekräftigen. Mario Chini <Giornale dantesco VIII, p. 145 ff) meint
mit Bezug auf diese Stelle, daß Dantes Vater vielleicht wegen Zahlungsunfähigkeit
eingesperrt gewesen sei, doch gelingt es Chini nicht, dies zu beweisen.
3 La lingua e la storia letteraria dalle origini fino a Dante
p. 259.
4 loc. cit.
5 Kraus: Dante, sein Leben und sein Werk. Berlin 1897.
6 Enciclopedia dantesea.
244
Dr. Alice Sperber
dings Rücksicht genommen werden. Virgil ist nämlich unversöhnlich
streng gegen manche Sünden der Hölle, er ist es ja, der Filippo
Argenti zurückstößt und Dantes Mutter selig preist, als unser
Di Ater jenen Sünder mit harten Worten abweist. Er ist auA damit
einverstanden, daß Dante den Papst Nikolaus III., der im aAten
Höllenkreis grausam gequält wird, zornig sAmäht und verbietet
Dante zu weinen, als er sieht, wie das traurige Los der Wahr¬
sager, deren Antlitz für ewig naA rüAwärts gewendet ist, seinem
Schützling Tränen des Mitleids erpreßt.
Certo i piangea, poggiato ad un
de 7 rocchi
Del duro scoglio, si Ae la mia
scorta
Mi disse: Ancor se' tu degli altri
sciocAi?
Qui vive la pietä, quando e ben
morta.
Chi e piü scellerato di colui,
Che al giudizio divin passion porta.
(Inf. XX, v. 25-30.)
Gewiß iA weinte an einen der harten
Felsen gelehnt, so daß mein Führer
mir sagte: Bist du so töriAt? Hier
lebt die Frömmigkeit 1 , wenn das
Mitleid erstorben ist; wer ist rudi^
loser als derjenige, der Mitleid hat,
wo Gott geriAtet.
Hier finden wir also dieselbe herbe und großartige GereAtig-
keit, die für Dantes mütterliches Ideal charakteristisch ist und dieser
Zug entfernt siA sehr von dem niAt gerade imposanten Bilde,
welAe siA mehrere DanteforsAer auf Grund der in dieser Arbeit
angeführten zeitgenössisAen Anspielungen von Alighiero II. maAen.
Es ist aber doA mögliA, daß die betreffenden Gelehrten in bezug
auf Dantes Vater das RiAtige vermuten und daß trotzdem der
EindruA, den Dante vom Wesen desselben empfing, für den
Grundton der ErsAeinung Virgils bestimmend geworden ist. Der
Fall ist ziemliA kompliziert. Es ist der Aufmerksamkeit der Dantes
forsAer niAt entgangen, daß das Verhalten Virgils ein inkonse^
quentes zu sein scheint und es ist die Frage aufgeworfen worden,
warum Virgil es niAt rügt, als Dante mit Ciacco, Francesca da
Rimini und Pier della Vigna Mitleid empfindet, die doA auA von
Gott verdammt sind <cf. Inf. VI. 58 ff. V. 80 ff., XIII. 84).
Brunetto Latini, Jacopo Rusticucci, Guido Guerra und Teg*
ghiaro Aldobrandi wären ebenfalls hier zu nennen <cf. XV.
30 ff, XVI).
Wenn Virgil wirkliA der AnsiAt ist, daß siA derjenige der
gottlosesten Handlung sAuldig maAt, der siA gegen das göttlkhe
1 Über die Bedeutung von pielä an dieser Stelle ist viel diskutiert worden.
Häufig wird diesem Worte hier die Doppelbedeutung von pitie und piete zuge=
schrieben, während z. B. d'Ovidio meint, ein derartiges Wortspiel sei nicht im
Sinne der dantischen Kunst. Nach seiner Ansicht bedeutet der Vers nun: hier ist
das Mitleid nicht am Platz <cf. d'Ovidio Studi sulla Divina Commedia 1901, p. 119
und Per l'Esegesi della Divina Commedia 1., p. 19, 1902).
Von Dantes unbewußtem Seelenleben
245
Gericht auflehnt, sei es auch nur durch Mitleid mit den Sündern,
wie konnte er dann Dante, dessen Seelenheil ihm anvertraut war,
dieses Verbrechen so oft begehen lassen, ehe er ihn warnte?
Ich glaube, daß hier eine Nuance in das Bild Virgils gekommen
ist, die mit dem Grundton nicht recht vereinbar war, denn die
Spuren der unvollkommenen Verkittung sind noch sichtbar. Mehrere
Gelehrte haben sich aber nicht mit der Konstatierung des Wider¬
spruches, auf den hier hingewiesen wurde, begnügt, sondern den
Versuch gemacht, die zitierte Stelle anders zu interpretieren. Viele
derartige Bemühungen gipfeln darin, daß die Worte:
Chi e piü scellerato di colui
Che al giudizio divin passion porta
nicht auf Dante, sondern auf die Wahrsager bezogen werden,- es
hieße dann ungefähr: »Hier ist das Mitleid nicht am Platz, denn
wer ist ruchloser als derjenige, dessen Begierde sich nach dem gött¬
lichen Ratschluß richtet (um die Zukunft zu erfahren) cf. d'Ovidio
Dante e la Magia, Nuova Antologia Bd. XLI, Serie 3, p. 223,
»chi fra i rei d'inferno e pui scellerato dell'indovino che rivolge la
sua passion al giudizio stesso di Dio volendo preoccupare il futuro
che e nell'abisso del suo consiglio ed a lui riservato « x . Die Härte
Virgils gegen die Wahrsager erklärt sich nach Ansicht d'Ovidios
daraus, daß Dante den geliebten Führer von der Sünde der Magie
freisprechen wollte, die Virgil im Mittelalter allgemein zugeschrieben
wurde <cf. Comparetti, Virgilio nel Medio Evo, Firenze 1896).
Dieses letztgenannte Moment hat sicher etwas für sich, läßt sich
aber auch mit der vorhin erwähnten traditionellen Auffassung ver¬
einigen, denn wenn Virgil Dantes Mitleid mit den Verdammten
gerade angesichts der Wahrsager als Auflehnung gegen das gött¬
liche Geridit so streng rügt, was er in anderen Fällen unterlassen
hat, so involviert dies, daß er die Wahrsager besonders hart ver¬
urteilte und daher nicht dafür gelten wollte.
Wenn ich der traditionellen Auffassung den Vorzug gebe, so
geschieht dies, weil ich von Italienern höre, daß sie die einzige ist,
die dem italienischen Sprachgefühl nicht Gewalt an tut 1 2 . Wie wenig
aber die Härte Virgils zu seinem Gesamtcharakter paßt, selbst unter
der Voraussetzung, daß sich die Worte »chi e piü scellerato di
colui che al giudizio divin passion porta« auf die Wahrsager und
nicht auf Dante beziehen, hat d'Ovidio selbst empfunden, sagt er
doch in dem betreffenden Artikel:
1 »Wer von den Schuldigen der Hölle ist gottloser als der Wahrsager, der
seine Begierde auf den Ratschluß Gottes richtet, indem er die Zukunft erfahren
will, die in der Tiefe der Vorsehung ruht und Gott allein gehört.«
2 Aus diesem Grunde ist auch d'Ovidio wieder zur traditionellen Auffassung
zurüdkgekehrt. <cf. d'Ovidio, Studi sulla Div. Comm. 1901, p. 121 und Per l'Esegesi
della Divina Commedia I., p. 22 ff.)
246
Dr. Alice Sperber
Contra questa <1 o fola della magia) e fatto insorgere Virgilio
medesimo, che non sembra piü lui. <p. 223.) 1
Ein sehr charakteristisches Bild von dem Virgil der Divina
Commedia entwirft Comparetti, der ebenfalls versucht hat, die
heiß umstrittene Stelle in recht gekünstelter Weise auf die Wahr*
sager zu beziehen. 2 *
»Infanti il carattere dei Virgilio dantesco e in fondo non solo quäle
viene indicato nella biografia, v ma quäle realmente trasparisce nell indole
di tutta la poesia virgiliana. E un anima dolce e mite che ha un nobile
sentimento di se, affatto lontano da alterigia, dotata di una sensibilitä de-
licatissima, che anche quando si adira rimane piena di candore, assennata
e giusta, e dove sia pur leggermente malcontenta di se arrossisce e si
confonde come una verginella. Dinanzi ad un tipo siffatto e impossU
bile non rammentarsi il soave carattere d'uomo che trasparisce nella poesia
virgiliana, »1'anima candida« che Orazio riconosce in Virgilio, il titolo di
Virgo che si volle trovare in questo nome e di Parthenias che
applicarono al poeta i suoi contemporanei napoletani. Non credo possa
dubitarsi che lo Studio intenso ed intelligente del Mantovano deve avere
ispirato e guidato il poeta nel fissare i lineamenti ideali di questa elevata
e nobilissima figura.« <cf. Virgilio nel Medio Evo, p. 300, 301.)
»In der Tat ist der Charakter des dantischen Virgils nicht nur so wie
er in der Biographie beschrieben wird, sondern wie er sich durch den Geist
der virgilianischen Poesie offenbart. Er hat eine sanfte, milde Seele, die ein
edles Selbstgefühl besitzt. Er ist frei von Hochmut und mit einem äußere
ordentlichen Zartgefühl begabt. Auch wenn er in Zorn gerät, bleibt er stets
rein, besonnen und gerecht und wenn er nur ein wenig unzufrieden mit
sich selbst ist, errötet er und wird verwirrt wie eine Jungfrau. An¬
gesichts eines solchen Typus ist es unmöglich, sich nicht an den sanften
Charakter zu erinnern, der sich in der Poesie Virgils offenbart, an die
»anima candida«, welche Horaz in Virgil erkennt an die Bezeichnung Virgo,
die man in seinem Namen erkennen wollte und an dem Beinamen Par^
thenias, der dem Dichter von seinem neapolitanischen Zeitgenossen gegeben
wurde. Man kann, wie ich glaube, nicht daran zweifeln, daß das eingehende
und verständnisvolle Studium der Werke des Mantuaners den Dichter in^
spiriert und geleitet hat, als er die idealen Umrisse jener erhabenen und
edlen Figur schuf.
Muß man angesichts solcher Sanftmut und Milde, die an
einigen Stelle der Divina Commedia hervortretende Härte Virgils
gegen manche Sünder nicht als einen Fremdkörper empfinden, der
schließlich einen Widerspruch auslöste? Aus welcher Quelle aber
1 »Gegen die Tradition, daß Virgil ein Wahrsager gewesen, wird Virgil
selbst ausgespielt, der nicht mehr er selbst zu sein scheint.«
2 Comparetti legt das »portar passion« folgendermaßen aus: Das Wesen
Gottes ist aktiv, die Wahrsager, die sich bemühen, die Zukunft zu erforschen,
wollen es auf diese Weise in einem passiven Zustand versetzen und machen sich
so eines Verbrechens schuldig. Doch ist es Comparetti nicht gelungen, ParalleU
stellen für diese Auffassung aufzufinden. <cf. Virgilio nel Medio Evo, p. 290 4 .)
Weitere Literatur über diese Verse, die aber im wesentlichen nicht viel Neues
bringt, ist im Bulletino della societä dantesca verzeichnet, cf. Indice decennale
1912, p. 43.
Von Dantes unbewußtem Seelenleben
247
dieser Zug stammen mag, darüber wage ich vorläufig keine Ver¬
mutung auszusprechen. Die Tatsache besteht, daß Dante für sein
mütterliches Ideal männliche Bilder und Vergleiche braucht, während
er Virgil gegenüber gelegentlich empfindet wie das Kind für die
Mutter 1 .
Daraus geht hervor, daß er in früher Kindheit Eindrücke von
den beiden Geschlechtern empfangen hat, die sich nicht mit dem
decken, was man im allgemeinen von dem »starken« und dem
»schwachen« Geschlecht behauptet. Die Vermutung ist naheliegend,
daß er einen Vater mit sogenanntem femininen Einschlag und eine
Mutter, respektive Stiefmutter von maskulinem Wesen gehabt habe
oder daß sie dem Knaben zumindest so vorgekommen sind. In
irgendeiner Weise müssen ja die Eltern und vielleicht auch die
Stiefmutter an dem Aufbau von Dantes Elternideal beteiligt sein,
wenn wir auch über Art und Größe dieses Anteils vorläufig nur
Vermutungen Vorbringen können.
Jedenfalls waren die Eltern wie sonst niemand dazu geeignet,
den sündigen Sohn zu bekehren, indem sie ihm zeigten, welche
Strafen der Bösen und welche Belohnungen der Guten im Jenseits
harren,- beschäftigen sich doch viele Eltern gerne damit, ihren Kindern
in recht lebhaften Farben auszumalen, wie es anderen guten und
bösen Kindern ergangen sei. Bekannt ist das glühende Interesse, das
die Kinder solchen Erzählungen im allgemeinen und dem Bericht über
die Strafen im besonderen entgegenbringen. Keine Strafe ist ihnen
hart genug, was man übrigens auch beobachten kann, wenn Kinder
Schule spielen, wobei sie stets über das Maß der gesetzlich erlaubten
Strenge hinausgehen. Daß es sich hier um sadistische Triebe handelt,
kann keinem Zweifel unterliegen 2 und daß sie bei Dante in
der denkbar großartigsten Weise entfaltet waren, ebensowenig.
Wie leicht konnte die Phantasie des Dichters in seiner Kind¬
heit durch derartige Erzählungen genährt worden sein, die sich
später zum unsterblichen Werke entfalteten. Hätte Dante nicht die
Möglichkeit gehabt, seinen Sadismus dichterisch auszuleben, indem
er den Verdammten mit der exaktesten Genauigkeit die qualvollsten
Strafen zuerkannte, so hätte er die Welt vielleicht durch Handlungen
1 Der Ruf der Homosexualität, der Virgil hauptsächlich wegen der fünften
Ecloge anhaftete, mag Dante, ohne daß es ihm mit voller Deutlichkeit zum Be¬
wußtsein kam, in der Wahl seines Führers beeinflußt haben. Seine Sympathie für
einen Dichter, dem ein feminines Wesen nachgesagt wurde, könnte zum Teil
darauf zurückgehen, daß ihn derartige Naturen an seinen Vater erinnerten.
2 Ich habe es versäumt, rechtzeitig die sadistischen Phantasien aufzuzeichnen,
die mir ein Knabe von ungefähr sechs bis sieben Jahren unaufgefordert berichtete
und die er als erlebte Ereignisse hinstellte. Es handelte sich um die Züchtigung
eines unliebsamen Spielgefährten <ob er wirklich existiert, weiß ich nicht), die der
Kleine mit anderen Knaben an dem Betreffenden vorgenommen haben wollte. Die
Details sind mir nicht mehr ganz in Erinnerung, doch kann ich versichern, daß der
hochbegabte, sonst sehr gefühlvolle Knabe eine äußerst grausame Freude an
körperlichen Mißhandlungen zeigte.
248
Dr. Alice Sperber
entsetzt, wie kein Torquemada sie zu ersinnen vermochte. Da aber
jeder, der imstande ist, den Qualen anderer einen Lustgewinn für
sich zu erpressen, auch befähigt ist, aus eigenen Leiden Lust zu
ziehen, finden wir bei Dante Beatrice gegenüber die masochistische
Gefühlseinstellung.
Ich möchte diese Arbeit nicht schließen, ohne auf die außer¬
ordentliche Bedeutung einzugehen, die der Elternkomplex für Dantes
seelische und künstlerische Entwicklung gehabt hat. Das Rätsel seines
Wesens und seines Schaffens ist das Zusammentreffen von kühner
Auflehnung und demütigem Gehorsam, von bewunderungswürdig
neuen Gedanken und sklavischem Autoritätsglauben. Derselbe Mann,
der wilde Flüche gegen die Päpste ausstößt, war der treueste Sohn
der Kirche. Der Dichter, der kein Herz ungerührt läßt, hat sich von
dem kalten Formalismus der Scholastik nidit befreien können. Der
Gelehrte, der es als erster wagte, wissenschaftliche Probleme in ita^
lienischer statt in lateinischer Sprache zu erörtern und der als erster
in so geistvoller Weise das komplizierte Problem der italienU
sehen Schriftsprache erörterte, hält in seinem kühnsten Gedanken¬
flug inne und verweist auf die Autorität des Aristoteles und der
Bibel. Wie kommt es, daß dieser universelle, geniale und mutige
Geist wie durch einen Zauber in den Fesseln des Autoritätsprin-
zipes schmachtete, während doch Petrarca, der gewiß nicht so mutig
war wie Dante, es wagte, dem vierzehnten Jahrhundert zu ver^
künden, daß die Autorität des Aristoteles nicht die höchste wissen^
schaftliche Instanz sei.
Der Autoritätsglaube hat seine Wurzel in der Anerkennung
der elterlichen, insbesondere aber der väterlichen Autorität <cf. Freud,
Eine Kindheitserinnerung des Leonardo da Vinci). Diejenigen Ge¬
setze, die die Macht des Vaters schützen, hüten zu gleicher Zeit
die Macht des Thrones, der Kirche und aller anderen durch das
Alter geheiligten Institutionen und Anschauungen. Bricht aber in
einem Individuum der Glaube an den Vater zusammen, so wird
dem Autoritätsglauben das Fundament entzogen und der Betreffende
wird sich dagegen autlehnen, noch irgendeiner Institution jenen
kritiklosen Gehorsam zu leisten, der den Eltern gegenüber nidit
mehr am Platze ist. Es ist möglich, daß Dante an seinen Vater
geglaubt hat, jedenfalls hat er ihn in seiner Kindheit sehr geliebt,
denn die Liebe, die Virgil umstrahlt, ist ja nur ein Abglanz der
Zärtlichkeit, die der leidenschaftliche Knabe einst dem Vater ent¬
gegenbrachte. Während Petrarca in keinem guten Verhältnis zu
seinem Vater stand, weil dieser des Dichters künstlerische Nei-
gungen bekämpfte, sagt uns Dante in der Vita nuova, es gebe
keine innigere Freundschaft als jene, die ein gutes Kind mit einem
guten Vater verbindet, § XXII. Es ist dies die Stelle, in der Dante
den Schmerz Beatricens über ihres Vaters Tod sdiildert und MU
chele Scherillo findet es auffallend, daß der Dichter mit keinem
Wort des Leides gedenkt, das ihm selbst durch den frühen Tod
Von Dantes unbewußtem Seelenleben
249
Alighiero II. widerfahren. Auch daß Dante überhaupt den Vater
nie erwähnt, hält Michele Scherillo für »beredtes Schweigen« und
deutet es zuungunsten des Verhältnisses zwischen Alighiero II. und
Da.nte 1 . Ich halte diese Argumentation nicht für zwingend, denn
äußerste Zurüdchaltung in bezug auf intime seelische Erlebnisse ist
nicht selten ein Charakteristikon außerordentlicher Naturen. Vielleicht
hat Dante auch stillschweigend zugegeben, daß sein Vater keine
hervorragende Persönlichkeit war und sich trotzdem von der väter¬
lichen Autorität nicht emanzipieren könne,- das Schwanken zwischen
Glaube und Zweifel, zwischen Anerkennung und Ablehnung wäre
dann die infantile Wurzel des Konfliktes zwischen dem hochfliegen*
den Streben des kühnen Denkers und seiner Demut gegenüber er*
erbten Anschauungen.
Ich halte es jedoch für wahrscheinlich, daß sein Autoritätsglaube,
insbesondere aber seine tiefe Frömmigkeit, noch eine andere Wurzel
hatte. Der Traum von Ganymed hat uns gesagt, wie leidenschaft*
lieh sich der verwaiste Knabe nach der toten Mutter sehnte, wie es
sein heißer Wunsch war, sie möge ihn zu sich in den Himmel
nehmen. Vor dieser Sehnsucht mußte der zersetzende kritische Ver*
stand schweigen, denn offenbar konnte der Dichter nicht ohne die
Hoffnung leben, irgend einmal mit der Mutter vereint zu werden.
Der Mann mit dem Riesengeist und dem trotzigen Herzen
war der Kirche, jener treuesten Hüterin des Autoritätsprinzipes
sicher, weil sie ihm Heilung von dem Schmerz versprach, der ihn
in seiner Kindheit bezwungen.
Nicht nur die seelische und geistige Entwicklung Dantes
scheint durch den frühen Tod der Mutter bestimmt worden zu
sein,- ich glaube, daß er diesem Ereignis auch bis zu einem gewissen
Grade den Dichterlorbeer verdankt, denn der Gedanke, den Men*
sehen die Wunder des Jenseits zu künden, dürfte in letzter Linie
darauf zurückgehen, daß er sich als Kind sehnsuchtsvoll in die Welt
hineinträumte, in der er die Mutter zu finden glaubte und wenn
Beatrice ein glorreiches Schicksal zuteil wurde, weil Dante sich
entschloß von ihr zu sagen, was noch von keiner anderen gesagt
worden war, so teilt sie diesen Ruhm mit Madonna Bella, denn
auch sie ist erhöht worden vor allen Frauen der Erde.
1 cf. Scherillo, Afcuni capitofi deila biografia di Dante, Torino
1896, p. 13.
250
•jrl,. r,-.j LVI' <'v- ,>
-^ * — - -
Emil Franz Lorenz
Die Geschichte des Bergmanns von Falun,
vornehmlich bei E. T. A. Hoffmann, Richard Wagner und
Hugo von Hofmannsthal.
Von Dr. EMIL FRANZ LORENZ.
Es liegt um uns herum
Gar mancher Abgrund, den das Schicksal grub.
Doch hier unserm Herzen ist der tiefste
Und reizend ist es, sich hinabzustürzen.
Goethe, »Tasso«.
Erster Teil.
Der geschichtliche Kern und die literarische Entwicklung.
E. T. A. Hoffmanns Verhältnis zu Novalis.
I m Monat Dezember des Jahres 1719 sollte im Kupferbergwerk
zu Falun ein Stollen des Wrede^Schachtes gegen den Märdskin-
Schacht gezogen werdendabei kam im letztgenannten Schacht
in einer Tiefe von 82 Klaftern, hart an der Grenze des Felsens,
in einem vom Wasser erfüllten Einsturzraum von 5 Klafter Höhe
der Leichnam eines Mannes zum Vorschein. Beide Unterschenkel,
den rechten Arm und das <Hinter->Haupt hatte die Wucht des
losgerissenen Gesteins zerdrückt, das Antlitz jedoch und der übrige
Körper samt der Kleidung war, wie man sehen konnte, völlig un¬
versehrt geblieben. Der Mann hatte versucht, den Saum seines
Halstuches mit Hilfe der linken Hand in den Mund zu stopfen 1 .
In dem Lederbeutel, den er bei sich hatte, befand sich eine läng~
liehe Büchse aus Messing, in der Büchse aber eine Krume Tabak,
beides völlig unversehrt. Das eiserne Scharnier hingegen, mit dem
der Deckel an die Büchse befestigt zu sein und gedreht zu werden
pflegt, hatte die farbige Flüssigkeit des Vitriols gänzlich aufgezehrt.
Das Fleisch und die Haut des Mannes erschien zwar bei ober^
flächlicher Berührung hart und rauh, doch hatte sie nicht die Härte
des Steines, sondern war mehr hornartig, was sich auch darin
zeigte, daß sie dem Drude des Messers nachgab und sich schnei¬
den ließ.
Als man den Leichnam aus der Grube herausgeschafft hatte,
wurde eifrig danach geforscht, ob es jemanden gebe, der die Person
des Toten feststellen könnte und anzugeben wüßte, wann er ver¬
unglückt sei. Da bezeugte Magnus Johannssen, ein Bergmann in
1 Scheintote suchen zuweilen nach dem Erwachen im Grabe ihre Kleider
zu benagen, was für die Ausbildung des Vampirglaubens von Bedeutung war,-
vgl. Stefan Hock, Die Vampirsagen in der deutschen Literatur (Forschungen zur
neueren Literaturgeschichte von Muncker, Heft 17> p. 26 und den dort ange¬
führten »Traktat von dem Kauen und Schmatzen der Toten in Gräbern« von
Michael Ranft, 1734. Offenbar hatte auch der verschüttete Bergmann noch einige
Zeit nach dem Einsturz gelebt und seinen Hunger auf diese Weise zu stillen
versucht.
Die Geschichte des Bergmanns von Falun
251
Korsgärden, vor dem Bergsthing, daß er ihn nach dem Gesicht,
das alle Züge unversehrt bewahrt habe, sicher zu erkennen glaube,*
auch seinen Namen fügte er bei, indem er sagte, er habe Mathias
Israelsson geheißen, wegen seiner großen Gestalt auch der große
Mathias genannt, gebürtig aus Boda, einem Dorfe der Pfarre
Swerdsjö, und er sei im Dienste des Jonas Peter in Dykarebraken
gestanden. Weiter fiel ihm ein, daß dieser Mathias Israelsson im
Jahre 1670 zur Herbstzeit allein in die Grube eingefahren, seitdem
vermißt und ohne Zweifel durch einen Einsturz ums Leben ge¬
kommen sei. Diese Angaben bekräftigten durch gleichlautende Aus¬
sagen der Bergmeister Erik Michelsen und der Seiler Erik Petersen.
Dazu kam noch ein altes Weiblein, mit dem jener Mathias zu Leb¬
zeiten verlobt gewesen war und die mit dem Rechte der alten und
jetzt neu autlebenden Liebe verlangte, man solle ihr den Leichnam
überlassen oder ihn wenigstens der Erde übergeben. Auch fanden
sich noch andere Leute, die den Toten erkannten und die Wahr*
heit dieser Erzählung bekräftigten.«
So lautet in deutscher Übersetzung der Bericht über das
Schicksal des Bergmanns von Falun, wie er sich im ersten
Bande der Acta litteraria Sveciae Upsalae publicata des
Jahres 1722 findet,* Verfasser des Berichtes ist der Bergassessor
Adam Leyel. Seine Darstellung ist die ausführlichste und zuver*
lässigste des interessanten Ereignisses, läßt jedoch, jedenfalls als
nicht unbedingt zur Sache gehörig, die von den Kopenhagener Zeit**
Schriften »Nye Tidender om lärde Säger« <20. Juli 1720) und
»Extrait des Nouvelles« (September 1720) berichtete Geschichte
von dem Handel um den Leichnam, der sich zwischen der Frau
und der medizinischen Fakultät entspann und damit endete, daß
jene sich schließlich herbeiließ, den Leichnam gegen eine Geldent¬
schädigung der Fakultät zu überlassen, weg. Daß Leyel darum
gewußt hat, scheint aus den von ihm gebrauchten Ausdrücken her*
vorzugehen.
In die deutsche Literatur hielt die Geschichte vom Faluner Berg**
mann ihren Einzug durch G. H. v. Schuberts »Ansichten von
der Nachtseite der Naturwissenschaft« <1808). Der Verfasser spricht
davon, daß menschliche Körper, die in Salz- und Gipsauflösungen
vielleicht ein paar Jahrhunderte gelegen hatten, nach einigen Tagen
an der Luft zerflossen, während tierische Funde sich erhalten hätten.
»Auf gleiche Weise zerfiel auch ein merkwürdiger Leichnam ... in
eine Art von Asche, nachdem man ihn, dem Anschein nach in festen
Stein verwandelt, unter einem Glasschranken vergeblich vor dem Zutritt
der Luft gesichert hatte. Man fand diesen ehemaligen Bergmann in der
schwedischen Eisengrube zu Fahlun, als zwischen zwei Schachten ein
Durchschlag versucht wurde. Der Leichnam, ganz mit Eisenvitriol durch*
drungen, war anfangs weich, wurde aber, sobald man ihn an die Luft ge*
bracht, so hart wie Stein. Fünfzig Jahre hatte derselbe in einer Tiefe von
dreihundert Ellen in jenem Vitriolwasser gelegen,* und niemand hatte die
252
Dr. Emil Franz Lorenz
noch unveränderten Gesichtszüge des verunglückten Jünglings erkannt,
niemand die Zeit, seit welcher er in dem Schachte gelegen, gewußt, da die
Bergchroniken sowie die Volkssagen bei der Menge der Unglücksfälle in
Ungewißheit waren, hätte nicht das Andenken der ehemals geliebten Züge
eine alte treue Liebe bewahrt. Denn als um den kaum hervorgezogenen
Leichnam das Volk, die unbekannten jugendlichen Gesichtszüge betrachtend,
steht, da kommt an Krücken und mit grauem Haar ein Mütterchen, mit
Tränen über den geliebten Toten, der ihr verlobter Bräutigam gewesen,
hinsinkend, die Stunde segnend, da ihr noch an den Pforten des Grabes
ein solches Wiedersehn gegönnt war, und das Volk sah mit Verwunderung
die Wiedervereinigung dieses seltenen Paares, da sich das eine im Tode
und in tiefer Gruft das jugendliche Aussehen, das andere bei dem Ver^
welken und Veraltern des Leibes die jugendliche Liebe treu und unver¬
ändert erhalten hatte,* und wie bei der fünfzigjährigen Silberhochzeit der
noch jugendliche Bräutigam starr und kalt, die alte und graue Braut voll
warmer Liebe gefunden wurde.
Diese Darstellung fußt, wie Georg Friedmann 1 nach weist,
auf Hülfers Dagbok öfwer en Resa igenom de under Stora
Koppar-Bergs Höfdingdöme lydande Lähn och Dalarne är 1757
Wästeräs 1762, p. 420. An ihr ist zweierlei bemerkenswert:
erstens, daß der Körper als ganz unversehrt gedacht ist, zweitens,
daß die Zahl derer, die ihn wiedererkannt haben, auf die Braut
eingeschränkt wird.
Die ersten poetischen Bearbeitungen erschienen 1810, ver¬
anlaßt durch eine von der Zeitschrift »Jason« ausgehende Auf¬
forderung. Sie bieten wenig Interessantes <vgl. die Besprechung bei
Friedmann, p. 19ff.>. Ein Anonymus fügt als neues Motiv hin¬
zu, daß die greise Braut über dem Leichnam stirbt, worin ihm die
Mehrzahl der späteren Bearbeiter nachgefolgt ist. Aus dem Jahre
1810 stammt auch J. P. Hebels Erzählung »Unverhofftes Wieder¬
sehen«, die sich jetzt als Stück 147 im Schatzkästlein des rheini¬
schen Hausfreundes findet. Hebel macht in anspruchsloser Aus^
Schmückung der Geschichte, wie es scheint, als erster den Versuch,
die Vorgeschichte des verunglückten Bergmanns breiter zu ge¬
stalten, indem er erzählt, wie sich der Bergmann an seinem letzten
Tage von seiner Braut mit der Erinnerung an ihre baldige Hochzeit ver¬
abschiedet und ihr ein Halstuch für den Hochzeitstag zum Ein¬
säumen übergibt. Die weitere Entwicklung unserer Geschichte be¬
ruht im wesentlichen auf der immer weiter und tiefer gehenden
Ausgestaltung der Vorgeschichte. Darum dürfen wir alle Bear¬
beitungen des Themas, die nicht diese Richtung einschlagen, sondern
das alte Motiv der Auffindung und Wiedererkennung abhandeln,
mit gutem Gewissen übergehen. Das gilt von Rückerts Gedicht
»Die goldene Hochzeit«, der einige wunderbare Züge, wie Ver¬
jüngung der Braut, flüchtige Belebung des Leichnams, einführt, von
Trinius' »Bergmannsleiche«, von Kinds, Haugwitz', Lanz-
1 In seiner Berliner Dissertation »Die Bearbeitungen der Geschichte des
Bergmanns von Falun«, 1887, p. 17 f.
Die Geschichte des Bergmanns von Fahrn
253
bei ns darauf bezüglichen Gedichten. Außer Betracht bleiben auch
Oehlenschlägers dramatische Idylle »Der Hirtenknabe« und
Franz von Holsteins Oper »Der Haideschacht«, und zwar des¬
halb, weil in ihnen das Motiv der Auffindung einer gut erhaltenen
Leiche in theatralischer Weise zur Lösung eines dramatischen
Knotens verwendet wird und gar nicht tiefer in die Handlungen
verwoben ist.
In der Richtung, die Hebel eingeschlagen hatte, bewegt sich
das der Hebe Ischen Darstellung folgende Gedicht von Ludwig
Kossarki im Odeum X <1839)
Ein neues und sehr wichtiges Motiv führt in die Vor¬
geschichte AchiiO^v Qn Arnim ein. Das Gedicht heißt »Des
Bergmanns ewige JugendV" uncl findet sich im zweiten Bande des
Romans »Armut, Reichtum, Schuld und Buße der Gräfin Dolores«
<Berlin 1810, p. 336—342).
Ein Knabe lacht sich an im Bronnen,
Hält Festtagskuchen in der Hand/
Er hatte lange nachgesonnen.
Was drunten für ein neues Land.
Gar lange hatte er gesonnen.
Wie drunten sei der Quellen Lauf/
So grub er endlich einen Bronnen
Und rufet still in sich, Glück auf!
Ihm ist sein Kopf voll Fröhlichkeiten,
Von selber lacht der schöne Mund,
Er weiß nicht, was es kann bedeuten,
Doch tut sich ihm so vieles kund.
Er höret fern den Tanz erschallen,
Er ist zum Tanzen noch zu jung,
Der Wasserbilder spiegelnd Wallen
Umzieht ihn mit Verwandelung.
Es wandelte wie Wetterleuchten
Der stillen Wolken Wunderschar,
Doch anders will es ihm noch deuchten.
Als eine Frau sich stellet dar:
Da weichen alle bunten Wellen,
Sie schauet, küßt sein spiegelnd Bild,
Er sieht sie, wo er sich mag stellen,
Auch ist sie gar kein Spiegelbild.
»Ich hab' nicht Fest, nicht Festtagskuchen,
Bin in die Tiefen lang verbannt.«
1 Karl Reuschel, Über Bearbeitungen der Geschichte des Bergmanns von
Falun (Studien zur vergleichenden Literaturgeschichte, herausg. von Max Koch,
III. Bd., 1903) p. 17.
254
Dr. Emil Franz Lorenz
So sprach sie, möchte ihn versuchen,
Er reicht ein Stück ihr mit der Hand.
Er kann es gar kein Wunder nennen,
Viel wunderbarer ist ihm heut',
In seinem Kopf viel Lichter brennen
Und ihn umfängt ganz neue Freud'.
Von seiner Schule dumpfem Zimmer,*
Von seinen Eltern Scheltwort frei,
Umfließet ihn ein sel'ger Schimmer
Und alles ist ihm einerlei.
Sie faßt die Hand, dem Knaben schaudert.
Sie ziehet stark, der Knabe lacht,
Kein Augenblick sein Mut verzaudert,
Er zieht mit seiner ganzen Macht.
Und hat sie kräftig überrungen.
Die Königin der dunklen Welt,
Sie fürchtet harte Mißhandlungen
Und bietet ihm ihr blankes Geld.
»Mag nicht Rubin, nicht Goldgeflimmer,«
Der starke Knabe schmeichelnd spricht,
»Ich mag den dunklen Feuerschimmer
Von deinem wilden Angesicht.«
Der Knabe gewinnt die Liebe der Bergkönigin und bringt
viel Gold aus der Tiefe zutage, das er seinen Eltern schenkt. Diese
verlangen immer mehr von ihm und wollen ihn auf den Festen der
Oberwelt nicht dulden. Trotzig besteht er darauf, auch Anteil an
den Freuden des Daseins zu haben und verliebt sich in ein
Mädchen. Damit hat er aber die Gunst der Bergkönigin ver¬
scherzt.
Die Lieb' ist aus, das Haus geschlossen
Im Schacht der reichen Königin.
Er hat die Türe eingestoßen
Und steigt so nach Gewohnheit hin.
Die Eifersücht'ge hört ihn rufen,
Sie leuchtet nicht, er stürzt herab.
Er fand zur Kammer nicht die Stufen,
So findet er nun dort sein Grab.
Nun seufzt sie, wie er schön gewesen.
Lind legt ihn in ein Grab von Gold,
Das ihn bewahrt vor dem Verwesen,
Das ist ihr letzter Minnesold.
Wie in den früheren Bearbeitungen folgt nach fünfzig Jahren
die Auffindung des Leichnams und seine Wiedererkennung durch
Die Geschichte des Bergmanns von Falun
255
die Braut/ im übrigen stellen wir vorläufig nur fest, daß in der
Arnimschen Ballade die erste breiter ausgeführte Vorgeschichte
vorliegt und daß sie die Frage, warum der Bergmann zugrunde ,
gegangen ist, damit beantwortet, daß er einer im Bergesinnern
wohnenden Macht untreu geworden und dafür von dieser bestraft
worden sei.
Auf der Bahn, die Achim von Arnim eingeschlagen hat, U
bewegt sich E. T. A. Hoffmann weiter. Seine Darstellung ist
sowohl zeitlich als auch inhaltlich die nächste und hat, wie wir
gleich sagen können, gewissermaßen klassische Bedeutung erlangt.
Wir meinen damit die Erzählung »Die Bergwerke zu Falun«, wie
sie im zweiten Abschnitt des ersten Buches der »Serapions^
brüder« <1819) zu finden ist. Ihr Inhalt ist im Auszug folgender:
Elis Fröbom, ein junger Seemann, hat bei der Rückkehr von einer
Fahrt nach Ostindien seine Mutter nicht mehr am Leben getroffen. Es
ergreift ihn ein tiefer Lebensüberdruß. Während sich seine Kameraden aus
Anlaß der Heimkehr der lautesten Fröhlichkeit hingeben, sitzt er stumm
und verloren da. Auch eine Dirne, die ihm ein Kamerad vor die Schenke
hinausschickt, vermag ihn nicht aus seinem trüben Sinnen zu erwecken.
Da gesellt sich ein alter Bergmann zu Elis und es ist ihm, »als trete
in wilder Einsamkeit, in die er sich verloren geglaubt, eine bekannte Ge^
stalt ihm freundlich tröstend entgegen«. Elis sagt dem Alten, der ihn ver¬
geblich zu trösten versucht hatte, er würde nie mehr zur See gehen, seitdem
er, von der weiten Fahrt heimkehrend, sein Mütterchen tot angetroffen habe.
Darauf fordert ihn der Alte auf, ein Bergmann zu werden.
Elis Fröbom erschrak beinahe über die Worte des Alten. »Wie«,
rief er, »was ratet Ihr mir? Von der schönen freien Erde, aus dem heitern,
sonnenhellen Himmel, der mich umgibt, labend, erquickend, soll ich hinaus
— hinab in die schauerliche Höllentiefe und dem Maulwurf gleich wühlen
und wühlen nach Erzen und Metallen, schnöden Gewinnes halber?«
Zuerst erzürnt sich der alte Bergmann über diese Rede des Elis.
Ruhiger geworden, beginnt er den Bergbau in glühenden Farben zu
schildern. ~ —
»Er durchwanderte die Schachten wie die Gänge eines Zaubergartens.
Das Gestein lebte auf, die Fossile regten sich, der wunderbare Pyrosmalith,
der Almandin blitzten im Scheine der Grubenlichter, die Bergkristalle leuchteten
und flimmerten durcheinander.
Elis horchte hoch auf, des Alten seltsame Weise, von den untere
irdischen Wundern zu reden, als stehe er gerade in ihrer Mitte, erfaßte
sein ganzes Ich. Er fühlte seine Brust beklemmt, es war ihm, als sei er
schon hinabgefahren mit dem Alten in die Tiefe und ein mächtiger Zauber
halte ihn unten fest, so daß er nie mehr das freundliche Licht des Tages
schauen werde. Und doch war es ihm wieder, als habe ihm der Alte eine
neue unbekannte Welt erschlossen, in die er hineingehöre, und aller Zauber
dieser Welt sei ihm schon zur frühesten Knabenzeit in seltsamen geheimnis^
vollen Ahnungen aufgegangen.«
Der Alte verläßt ihn. In der Nacht hat Elis einen wunderbaren
Traum, in dem sich Sehnsucht und Grauen in seltsamer Weise ver^
mischen l . Er kämpft einen langen Kampf, bis er sich entschließt, dem Rate
1 Vgl. den Traum auf p. 165.
256
Dr. Emil Franz Lorenz
des alten Bergmanns zu folgen und nach Falun zu gehen, um dort ein
Bergmann zu werden. Nadi einem letzten Grauen, das ihn beim Anblick
der trostlos öden Tagesöffnung in Falun befällt, folgt er halb willenlos
einem Zug von festlich gekleideten Bergleuten, deren Art ihm tief zu
Herzen gegangen war, in das Haus der Afdermanns Pehrson Dahlsjö, wo
sie gelegentlich eines Festes bewirtet und von Ulla, der schönen Tochter
Pehrsons, empfangen und bedient werden. In Ulla glaubt Elis eine Gestalt
wieder zu erkennen, die ihm in jenem Traum die rettende Hand gereicht
hatte. Des alten Bergmanns vergessend, preist er das Schicksal, dem er nach
Falun gefolgt.
Er wird bald einer der tüchtigsten Knappen und gewinnt nicht nur
Pehrsons, sondern auch Ullas Gunst. Die Erinnerung an sie verleiht ihm
Kraft bei der Arbeit in der unterirdischen Tiefe,* da erscheint ihm eines
Tages bei der Arbeit der alte Bergmann, mit furchtbaren Drohungen, daß
er seine Liebe an Ulla geheftet habe. Er sei hier unten ein blinder
Maulwurf und auch oben vermöge er nichts zu unternehmen. Nimmer
würde Ulla sein Weib werden. Verstört kommt Elis ans Tageslicht empor.
Torberns Prophezeiung scheint sich auch alsbald zu bewahrheiten. Pehrson
eröffnet ihm, ein junger Handelsherr habe um Ulla angehalten und er gebe
sie ihm zum Weibe. In wilder Verzweiflung rennt Elis aus dem Hause
fort, bis zur großen Pinge. Torbern rufend, steigt er in die Tiefe hinab und
verfällt einem traumhaft-halluzinatorischen Zustand, in dem er die Berg¬
königin zu sehen und von ihr umfaßt zu werden glaubt. — Da ruft man
von oben seinen Namen, der Schein von Fackeln fällt in den Schacht und
Pehrson Dahlsjö steigt zu ihm herab, um ihn ins Freie zu bringen. Dort
erfährt er, daß die Werbung durch den fremden Handelsmann ein Märchen
gewesen sei, ausgesonnen, um die Liebe der beiden zu prüfen und den
Elis zu einer Entscheidung zu zwingen.
Doch mitten in all der Seligkeit, die nun plötzlich wie ein süßer
Traum über ihn gekommen war, fühlte er sich bisweilen »übermannt von
einer unbeschreiblichen Angst,* der Gedanke peinigte ihn, es werde nun
plötzlich einer von den Bergleuten riesengroß sich vor ihm erheben und er
werde zu seinem Entsetzen den Torbern erkennen, der gekommen, ihn fürchten
lieh zu mahnen an das unterirdische Reich der Steine und Metalle, dem
er sich ergeben«.
»Pehrson merkte wohl Elis Fröboms verstörtes Wesen und schrieb
es dem überstandenen Weh, der nächtlichen Fahrt in den Schacht zu. Nicht
so Ulla, die, von geheimer Ahnung ergriffen, in den Geliebten drang, ihr
doch nur zu sagen, was ihm denn Entsetzliches begegnet, das ihn ganz von
ihr hinwegreiße. Dem Elis wollte die Brust zerspringen. — Vergebens rang
er danach, der Geliebten von dem wunderbaren Gesicht, das sich ihm in
der Teufe aufgetan, zu erzählen. Es war, als verschlösse ihm eine unbe¬
kannte Macht mit Gewalt den Mund, als schaue aus seinem Innern heraus
das furchtbare Antlitz der Königin und nenne er ihren Namen, so würde,
wie bei dem Anblick des entsetzlichen Medusenhauptes, sich alles um ihn
her versteinern zum düstern schwarzen Geklüft!
Alle Herrlichkeit, die ihn unten in der Teufe mit der höchsten
Wonne erfüllt, erschien ihm jetzt wie eine Hölle voll trostloser Qual,
trügerisch ausgeschmückt zur verderblichsten Verlockung.
Pehrson Dahlsjö gebot, daß Elis Fröbom einige Tage hindurch da^
heim bleiben sollte, um sich ganz von der Krankheit zu erholen, in die er
gefallen schien. In dieser Zeit verscheuchte Ullas Liebe, die nun hell und
Die Geschichte des Bergmanns von Falun
257
klar aus ihrem kindlichen frommen Herzen ausströmte, das Andenken an
die verhängnisvollen Abenteuer im Schacht. Elis lebte ganz auf in Wonne
und Freude und glaubte an sein Glück, das wohl keine böse Macht mehr
verstören könne.
Als er wieder hinabfuhr in den Schacht, kam ihm in der Teufe alles
ganz anders vor wie sonst.
Die herrlichsten Gänge lagen offen ihm vor Augen, er arbeitete mit
verdoppeltem Eifer, er vergaß alles, er mußte sich, auf die Oberfläche
hinauf gestiegen, auf Pehrson Dahlsjö, ja auf seine Ulla besinnen, er
fühlte sich wie in zwei Hälften geteilt, es war ihm, als stiege sein besseres, sein
eigentliches Ich hinab in den Mittelpunkt der Erdkugel und ruhe aus in
den Armen der Königin, während er in Falun sein düsteres Lager suche.
Sprach Ulla mit ihm von ihrer Liebe und wie sie so glücklich mitein^
ander leben würden, so begann er von der Pracht der Teufen zu reden,
von den unermeßlich reichen Schätzen, die dort verborgen lägen, und ver~
wirrte sich dabei in solch wunderliche, unverständliche Reden, daß Angst
und Beklommenheit das arme Kind ergriff und sie gar nicht wußte, wie
Elis sich auf einmal so in seinem ganzen Wesen geändert. Dem Steiger,
Pehrson Dahlsjö, selbst verkündete Elis unaufhörlich in voller Lust, wie er
die reichhaltigsten Adern, die herrlichsten Trappgänge entdeckt, und wenn
sie dann nichts fanden als taubes Gestein, so ladite er höhnisch und meinte,
freilich verstehe er nur allein die geheimen Zeichen, die bedeutungsvolle
Schrift, die die Hand der Königin selbst hineingrabe in das Steingeklüft,
und genug sei es auch eigentlich, die Zeichen zu verstehen, ohne das, was
sie verkündeten, zutage zu fördern.«
Pehrson hofft, es sei nur die Liebe, die ihm den Kopf verrückt habe,
nach der Hochzeit werde sich seine Verwirrung schon geben. Einige Tage
vor der Hochzeit ändert sich auch Elis' Benehmen, er wird stiller als je^
mals, »aber auch nie hatte er sich so ganz in Liebe der holden Ulla hin**
gegeben als in dieser Zeit, . . . kein Wort von dem unterirdischen Reich
kam über seine Lippen«. Alles atmet auf, alle Besorgnis ist verschwunden.
»Am frühen Morgen des Hochzeitstages — es war der Johannistag ~
klopfte Elis an die Kammer seiner Braut. Sie öffnete und fuhr erschrocken
zurück, als sie den Elis erblickte, schon in den Hochzeitskleidern, todbleich,
dunkel sprühendes Feuer in den Augen. »Ich will«, sprach er mit leiser,
schwankender Stimme, »ich will dir nur sagen, meine herzgeliebte Ulla,
daß wir dicht an der Spitze des höchsten Glücks stehen, wie es nur dem
Menschen hier auf Erden beschieden. Mir ist in der Nacht alles entdeckt
worden.«
Er erzählt ihr von einem wunderbaren S|dn, den er aus der Tiefe
herausholen müsse, um ihn ihr zum Hochzeitsgescftenk zu bringen. Bis da^
hin möge sie sich gedulden, er sei gleich wieder hier. Vergeblich beschwört
Ulla ihren Bräutigam, von seinem Unternehmen abzustehen, vergeblich
wartet auch die Hochzeitsgesellschaft bis gegen Mittag auf sein Erscheinen.
»Da stürzten plötzlich Bergleute herbei, Angst und Entsetzen in den bleichen
Gesichtern, und meldeten, wie eben ein fürchterlicher Bergfall die ganze
Grube, in der Dahlsjös Kuxe befindlich, verschüttet.«
Damit endet bei E. T. A. Hoffmann die Vorgeschichte und
es schließt sich, an Umfang von dieser weit übertroffen, der Bericht
über die Auffindung des Leichnams an, der gegenüber den uns
schon bekannten Fassungen nichts wesentlich Neues bietet. Er-
Ima<?o III, 3
17
258
Dr. Emil Franz Lorenz
wähnenswert wäre vielleicht, daß Ulla von dem alten Torbern die
Versicherung erhalten hatte, sie würde ihren Bräutigam noch Wieder¬
sehen auf Erden.
Hier wollen wir innehalten und uns der literarischen Analyse
der Hoffmannschen Erzählung zuwenden. Zwei von E. T. A.
Ho ff mann abhängige Gestaltungen der Geschichte des Faluner
Bergmanns — von Richard Wagner und Hugo von Hofmanns^
thal — sollen uns erst weiter unten beschäftigen.
Die Quellenfrage zur Vorgeschichte der Hoffmannschen
Erzählung ist bis jetzt nur in unzureichender Weise behandelt
worden. Friedmann <1. c.> berührt sie gar nicht,- Ellinger 1 weist
auf Beziehungen zu Novalis. Er schreibt:
Die Grundzüge der dieser Entwicklung des Helden <nämlich Zwie-
spalt zwischen Liebe zur Braut und zu den Schätzen der geheimnisvollen
Tiefe) vorausgehenden Darstellung sind offenbar durch die Erzählung des
alten Bergmanns im fünften Kapitel des ersten Teiles von Novalis'
Heinrich von Ofterdingen angeregt. Die Wanderung Elis Fröboms nach
Falun, der Empfang, der ihm dort zuteil wird, das Verhältnis zu Pehrson
Dahlsjö, und die Tatsache, daß dieser ihm zuletzt seine Tochter zur Frau
gibt, all dies findet sich schon bei Novalis vorgebildet.
Eine weitere Beziehung zu Novalis zeigt Karl Reuschel 2
auf, indem er Hoffman ns Darstellung von Elis Hochzeitsmorgen
in Verbindung setzt mit den folgenden Worten des alten Bergmanns
bei Novalis:
Den Tag, wie ich Häuer wurde, legte er seine Hände auf uns als
Braut und Bräutigam und wenige Wochen darauf führte ich sie als meine
Frau in meine Kammer. Denselben Tag hieb ich in der Frühschicht, noch
als Lehrhäuer, eben wie die Sonne oben aufging, eine reiche Ader an.
Durch geänderte Beziehung der Bestimmung »denselben Tag«
ist es, wie Reuschel zeigt, möglich geworden, daß Hoff mann
den Elis am Hochzeitsmorgen in die Tiefe steigen läßt. <Das Motiv
der bevorstehenden Hochzeit findet sich auch schon bei J. P. Hebel
in der oben erwähnten Geschichte.)
Eines fehlt jedoch in dieser Geschichte des Novalis, so sehr
auch ihre Vorbildlichkeit für Ho ff mann außer Zweifel steht. Dieses
Eine ist das die Hoffmannsche Erzählung durchgängig kenn^
zeichnende pathologische Moment. Der Bergmann im »Heinrich von
Ofterdingen« ist ein Greis von einer schönen Ausgeglichenheit des
Charakters. Von den furchtbaren Stürmen, die Elis Fröbom durchs
zumachen hatte, ist keine Spur bei ihm zu finden.
Nur die kindliche Neugier, die ihn in früher Jugend zum
Bergbau geführt hat, wollen wir uns für später merken:
»Von Jugend auf habe er eine heftige Neugierde gehabt,
1 E. T. A. Hoff man ns Leben und Werke, Hamburg und Leipzig 1894/
auch in der Einleitung zu den Serapionsbrüdern in seiner Ausgabe von Hoff-
man ns Werken, 5. Bd. <Goldene Klassikerbibliothek.)
2 Über einige Bearbeitungen der Geschichte des Bergmanns in Falun <s. o.>.
Die Geschichte des Bergmanns von Falun
259
zu wissen, was in den Bergen verborgen sein müsse, wo das
Wasser zu den Quellen herkomme und wo das Gold und Silber
und die köstlichen Steine gefunden würden, die den Menschen so
unwiderstehlich an sich zögen. Er sei fleißig in den Felsenritzen
und Höhlen umhergeklettert und habe sich mit unaussprech¬
lichem Vergnügen in diesen uralten Hallen und Gewölben um^
gesehen. Endlich sei ihm einmal ein Reisender begegnet, der zu ihm
gesagt, er müsse ein Bergmann werden, da könne er die Befriedi¬
gung seiner Neugier finden.«
Und wie er dann in Eule in den Schacht hinuntergefahren
ist, schildert er seine Empfindungen in folgenden Worten:
»Es läßt sich auch diese volle Befriedigung eines angeborenen
Wunsches, diese wundersame Freude an Dingen, die ein näheres
Verhältnis zu unserem geheimen Dasein haben mögen, zu
Beschäftigungen, für die man von der Wiege an bestimmt und aus¬
gerüstet ist, nicht erklären und beschreiben.
Vielleicht daß sie jedem anderen gemein, unbedeutend und
abschreckend vorgekommen wären,* aber mir schienen sie so unent¬
behrlich zu sein wie die Luft der Brust und die Speise dem
Magen.«
Eine ähnliche, jugendlicher Grübelei entstammende Spannung,
in der sich auch bereits eine an unsere Hoffmannsche Erzählung
erinnernde Übertragung der Erotik auf Naturobjekte, Höhlen und
Schachte findet, ist der Gegenstand des Märchens von Hyazinth
und Rosenblüte, das bei Novalis in dem naturphilosophischen
Fragment »Die Lehrlinge von Sais« enthalten ist.
Vor langen Zeiten lebte weit gegen Abend ein blutjunger Mensch.
Er war sehr gut, aber auch über die Maßen wunderlich. Er grämte sich
unaufhörlich um nichts und wieder nichts, ging immer still für sich hin,
setzte sich einsam, wenn die andern spielten und fröhlich waren und hing
seltsamen Dingen nach . . . Seine Eltern waren sehr betrübt, sie wußten
nicht, was sie anfangen sollten. Er war gesund und aß, nie hatten sie ihm
beleidigt, er war auch bis vor wenig Jahren fröhlich und lustig gewesen wie
keiner,* bei allen Spielen voran, von allen Mädchen gern gesehn . . . Da*
mals war Rosenblüte . . . dem bildschönen Hyazinth . . . von Herzen
gut und er hatte sie lieb zum Sterben . . .
Ach, wie bald war die Herrlichkeit vorbei. Es kam ein Mann aus
fremden Landen gegangen, der war erstaunlich weit gereist, hatte einen
langen Bart, tiefe Augen, entsetzliche Augenbrauen, ein wunderliches Kleid
mit vielen Falten und seltsame Figuren hineingewebt. Er setzte sich vor
das Haus, das Hyazinths Eltern gehörte. Nun war Hyazinth sehr neu*
gierig und setzte sich zu ihm und holte Brot und Wein. Da tat er seinen
weißen Bart voneinander und erzählte bis tief in die Nacht und Hyazinth
wich und wankte nicht und wurde auch nicht müde zuzuhören. Soviel
man nachher vernahm, so hat er viel von fremden Ländern, unbe*
kannten Gegenden, von erstaunlich wunderbaren Sachen erzählt und ist
drei Tage dageblieben und mit Hyazinth in tiefe Schachten hinunter*
gekrochen . . . Endlich hat jener sich fortgemacht, doch dem Hyazinth
ein Büchelchen dagelassen, das kein Mensch lesen konnte. Dieser hat ihm
17 *
260
Dr. Emil Franz Lorenz
noch Früchte, Brot und Wein mitgegeben und ihn weit weg begleitet.
Und dann ist er tiefsinnig zurückgekommen und hat einen ganz neuen
Lebenswandel begonnen. Rosenblütchen hat recht zum Erbarmen um ihn
getan, denn von der Zeit an hat er sich wenig aus ihr gemacht und
ist immer für sich geblieben. Nun begab sich's, daß er einmal nach Hause
kam und war wie neu geboren. Er fiel seinen Eltern um den Hals und
weinte. Ich muß fort in fremde Länder, sagte er,* die alte wunderliche
Frau im Walde hat mir erzählt, wie ich gesund werden müßte, das
Buch hat sie ins Feuer geworfen und mich getrieben, zu euch zu gehen
und euch um euren Segen zu bitten. Vielleicht komme ich bald, vielleicht
nie wieder. Grüßt Rosenblütchen. Ich hätte sie gern gesprochen, ich weiß
nicht, wie mir ist, es drängt mich fort,- wenn ich an die alten Zeiten zurück^
denken will, kommen gleich mächtigere Gedanken dazwischen, die Ruhe ist
fort, Herz und Liebe mit, ich muß sie suchen gehen. Ich wollt euch gerne
sagen, wohin, ich weiß selbst nicht, dahin, wo die Mutter der Dinge
wohnt, die verschleierte Jungfrau. Nach der ist mein Gemüt enU
zündet. Lebt wohl. — Er riß sich los und ging fort . . . — Nach langer
Wanderung, zuerst durch rauhe und dann durch liebliche Gegenden, ge*
langt er zum geheiligten Wohnsitz der Isis. »Sein Herz klopfte in un^
endlicher Sehnsucht und die süßeste Bangigkeit durchdrang ihn in dieser
Behausung der ewigen Jahreszeiten. Unter himmlischen Wohlgedüften enU
schlummerte er, weil ihn nur der Traum in das Allerheiligste führen durfte.
Wunderlich führte ihn der Traum durch unendliche Gemächer voll seit*
samer Sachen auf lauter reizenden Klängen und in abwechselnden Akkorden.
Es dünkte ihm alles so bekannt und doch in niegesehener Herrlichkeit/ da
schwand auch der letzte irdische Anflug, wie in Luft verzehrt, und er stand
vor der himmlischen Jungfrau. Da hob er den leichten, glänzenden Schleier
und Rosenblütchen sank in seine Arme. Eine ferne Musik umgab die Ge^
heimnisse des liebenden Wiedersehens, die Ergießungen der Sehnsucht und
schloß alles Fremde von diesem entzückenden Ort aus. Hyazinth lebte
nachher noch lange mit Rosenblütchen unter seinen frohen Eltern und
Gespielen und unzählige Enkeln dankten der alten wunderlichen Frau für
ihren Rat und ihr Feuer . . .«
Es wird übereinstimmend angenommen, daß der Sinn dieses
Märchens auf naturphilosophischem Gebiete gefunden werden muß 1 .
Und zwar ist es besonders die Schellingsche Naturphilosophie,
die hier den Gedanken des Novalis die Richtung gewiesen hat.
Huber führt dafür unter anderem eine Stelle aus den Ideen zur
Naturphilosophie (Schelling S. W., 12, 13> an: Er entwindet
sich den Fesseln der Natur und überläßt sich dem ungewissen
Schicksal seiner Kräfte, um einst als Sieger und durch eigenes Ver¬
dienst in jenen Zustand zurückzukehren, in welchem er, unwissend
über sich selbst, die Kindheit seiner Vernunft verlebte. — In der
Tat klingt unser Märchen <und das Fragment überhaupt) wie eine
Dichtung über die Worte des Philosophen.
Aber auch wenn wir uns dieser philosophischen Deutung an¬
schließen, begeben wir uns nicht des Rechtes, zu dieser meta-
1 Weißenfels, Zeitschr. f. vergl. Literaturgesch., Bd. 10, und Adolf
Huber, Studien zu Novalis mit besonderer Berücksichtigung der Naturphilo^
sophie <Euphorion, 4. Ergänzungsband, 1898).
Die Geschichte des Bergmanns von Falun
261
physischen Funktion des Individuums noch ihre konkreten psycho^
logischen Bedingungen zu erforschen. Wir sehen dann einen jungen
Menschen vor uns, dessen Lebenslinie bis zu einem bestimmten
Punkte scheinbar ganz gerade verlaufen ist. Er lebt mit sich und
mit der Natur in der seligen Eintracht der fehlenden Reflexion. Die
Liebe, die er an die Welt zu verschenken hat, hat keine vom Ge¬
wöhnlichen abweichende Richtung eingeschlagen. Da geschieht
plötzlich der verhängnisvolle Sprung und er verwandelt sich in
einen anderen Menschen. Wir dürfen fragen, welche seelischen Be^
dingungen bei Hyazinth es dem Manne aus der Fremde ermög^
lichten, eine solche Umkehr der Lebensrichtung in ihm hervorzu^
rufen. Es muß wohl, so schließen wir, etwas in ihm gesteckt haben,
das durch die Liebe zu Rosenblüte nicht völlig ausgefüllt werden
konnte. Was war dies nun? Wir werden eine Einsicht darin er¬
langen, wenn wir die einzelnen Züge seines geänderten Verhaltens
ins Auge fassen. Da ist nun der hervorstechendste eine starke Wiß^
begierde und Grübelei, die sich auf die verschiedenen Natur¬
objekte richtet. Das erinnert uns, wie oben erwähnt, an Elis Frö-
bom, der nach dem Tode seiner Mutter, von den Herrlichkeiten
des unterirdischen Reiches ergriffen, ein Bergmann wird. Nun sind
allerdings die Schicksale des Hyazinth im übrigen sehr verschieden
von denen des Elis, deren Psychologie wir weiter unten ausführlich
behandeln werden, doch läßt sich schon jetzt zeigen , daß die Mutter
in Hyazinths Phantasien eine geradeso wichtige Rolle spielt wie
in denen des Elis. Sein Erkenntnisdrang, der sich anfänglich einzelnen
Naturobjekten zugewandt hatte, gipfelt schließlich in dem Ver¬
langen, die Mutter der Dinge selbst zu erblicken. Ziehen wir in
Betracht, daß jene Naturgegenstände, Höhlen und Schachte, auch
sonst durchgehends Mutterbedeutung haben, so wird es uns nicht
mehr schwer fallen, die eigentliche Natur von Hyazinths Zustand
zu verstehen. Die Mutter ist der eigentliche Gegenstand seiner
Wißbegierde, wie sie es einst wohl bei den meisten Menschen in
früher Jugend gewesen war. Diese nie völlig gestillte Wißbegierde
war dann langsam auf die Dinge der Welt hinübergewandert und
hatte sie mit Leben, mit Lust und Geheimnis erfüllt. Das war jener
Zustand unreflektierter Harmonie, in dem sich Hyazinth bis zum
Ausbruch seiner Krankheit befindet. Diese Krankheit aber, die
seiner Liebe zu Rosenblütchen ein Ende zu bereiten droht, zeigt
uns, daß noch etwas von jener nie ganz gestillten KinderwifL
begierde in ihm steckt, die einst um die Mutter gekreist hat. Es
mag gerade die Liebe zu Rosenblüte gewesen sein, die den Wider^
Spruch jener alten vergessenen Regungen hervorgerufen hat. Ein
äußerer Anlaß genügt, daß seine Liebe sich von jenem zuletzt ge*
wonnenen Gegenstand zurückzieht und jetzt von ihren früheren
Objekten in umgekehrter Reihenfolge wieder Besitz ergreift <Freuds
»Regression«). Es erwacht in ihm der Forschertrieb und sucht
rastlos in den Dingen der Natur, ohne darin völlig Befriedigung zu
262
Dr. Emil Franz Lorenz
finden. Er schreitet darum auch über diese hinweg und sucht wie
einst des Rätsels Lösung bei der Mutter. Aber es ist nicht die
wirkliche Mutter, denn auch von dieser reißt er sich los, sondern
ihr in der Kindheit geformtes Idealbild — die allwissende Mutter
der Dinge. Und wenn ihm dann unter dem Schleier der Isis Rosen¬
blütchen wieder in die Arme sinkt, so bedeutet dieses liebliche
Wunder, daß- er Rosenblütchen, seine echte Braut, nur durch die
schmerzvolle Überwindung der gespenstischen Mächte, die die Seele
immer wieder nach rückwärts zu ziehen suchen, endgiltig sein Eigen
nennen durfte. Er hat sich frei gemacht, indem er den Weg zurück-
schritt, den seine Liebe bis dahin gegangen war, vor das Bild der
Mutter hintrat und von ihm das Organ seiner Seele zurückforderte,
das noch immer in ihren Fesseln lag.
Hyazinth ist Novalis selbst, und zwar der Novalis
zwischen Sophie von Kühn und Julie von Charpentier. Am
19.\ März 1797 starb Sophie, die Verlobte des Novalis, zu
seinem grenzenlosen Schmerze. Er verließ am 1. Dezember des^
selben Jahres seine Stelle als Akzessist bei der Salinendirektion in
Weißenfels und ging nach Freiberg, um sich dort eine gründliche
wissenschaftliche Kenntnis des Bergwesens zu erwerben. Unter der
Leitung Werners, des berühmten Geologen und Vertreters des
Neptunismus, versenkte er sich in seine Studien und gewann ein
ganz persönliches Verhältnis zu ihnen, wie die Bergmannslieder im
»Heinrich von Ofterdingen« (1800) bezeugen. Und der Schmerz
um Sophie hat ihn zum Dichter gemacht. Es dauerte aber nicht
lange, etwa anderthalb Jahre, so verlobte er sich mit Julie, der
Tochter des Bergrats von Charpentier, die ihn in seinem Schmerz
liebevoll getröstet hatte. Das sind die äußeren Erlebnisse des Novalis,
die in dem Märchen von Hyazinth und Rosenblüte dichterisch ver^
wertet wurden 1 . In der Wirklichkeit findet er für Sophie, nachdem
er sich, wie Hyazinth, eine Zeit in die Welt der Gedanken zurück¬
gezogen hatte, einen Ersatz in Julie,- in der Dichtung, die seine
Trennung von ihr nicht ihrem Tode, sondern eben diesem damals
auftretenden Forscherdrang zuschreibt, vermag sie selbst wieder¬
zukehren und ihm aus der Hülle des Isisbildes in die Arme zu
sinken. Als Symbol für die Rückverwandlung dieses Dranges ist sie
auch in Wirklichkeit »dieselbe«. — Die Geschichte des alten Berg^
manns im »Heinrich von Ofterdingen« benutzt nahezu die gleichen
Motive und ist sozusagen eine Fortsetzung des Märchens.
Unsere Absicht bestand darin, die Quellen und Vorbilder zu
1 Rosenblüte mit ihren blonden Locken und schwarzen Augen ist auch
äußerlich das Abbild Sophiens, Novalis hatte dieselbe Komplexion, vermutlich
auch seine Mutter. Julie war ebenfalls blond und hatte den geistvollen Typus der
echten französischen Aristokratin. Oberbergrat Charpentier, offenbar aus einer
Hugenottenfamilie, war indes erst einige Jahre zuvor in Sachsen nobilitiert worden.
Man vergleiche die Porträts in der Ausgabe von Minor und das Biographische
bei Emst Heilborn, Novalis' Leben und Werke.
Die Geschichte des Bergmanns von Falun
263
Hoffmanns »Bergwerke von Falun« in größerer Vollständigkeit
aufzuweisen, als es bisher geschehen war. Wir glaubten uns be¬
rechtigt, auch für das Motiv der seelischen Erkrankung — zweifellos
das wichtigste, das je in die Geschichte des Bergmanns von Falun
Aufnahme gefunden hat — nach einer Vorlage zu suchen. Eine
Reihe von gemeinsamen Motiven zwischen dem Märchen von No¬
valis und der Erzählung E. T. A. Hoffmanns läßt uns vermuten, daß
diese von jenem beeinflußt ist. Indem aber Hoffmann das Motiv
der seelischen Erkrankung mit Bergwerksphantasien aus Novalis
sich aneignet, so nimmt er dabei eine charakteristische Umgestaltung
vor. Wenn Hyazinth bei Novalis unter dem Banne neurotischer
Grübelei sich von seiner Braut abwendet, so deutet Hoffmann
den Zustand seines Helden in eine auf Anlaß des Todes seiner
Mutter ausbrechende Neurose um. Einen Anhaltspunkt fand er
dafür ohne Zweifel in dem an einer Stelle des Märchens durchs
scheinenden, von uns bereits gewürdigten Zusammenhang der neu¬
rotischen Grübelei mit dem Mutterkomplex. Wenn wir demgemäß
die von El 1 in ge r herausgestellten Parallelen aus dem »Heinrich
von Ofterdingen« mit unseren Ergebnissen Zusammenhalten, so
dürfen wir zusammenfassend sagen, daß die ganze Ho ffmannsche
Fabel ihrer äußeren wie ihrer inneren Gestalt nach schon bei No¬
valis vorliegt. — Wenn schon literargeschichtlich nicht völlig un-
determiniert, so doch nur als schwach determiniert ist uns bis jetzt
die Tatsache in der Erzählung Hoffmanns übrig geblieben, daß
der Held in die Krankheit aus Anlaß des Todes seiner Mutter
verfällt. Es ist nun vielleicht nicht ohne Bedeutung, daß dem Kreis
der Serapionsbrüder in Berlin auch ein namhafter Vertreter der
deutschen Romantik angehörte, der tatsächlich im Alter von elf Jahren
beim Tode seiner Mutter in eine Neurose verfallen war. Es ist dies
Fouque. Er hat in seiner viel später erschienenen Lebensbeschreibung
den Verlauf der Krankheit selbst ausführlich beschrieben 1 .
Bei der Vertrautheit des Fouque mit Hoffmann 2 liegt die
Annahme nicht gar ferne, daß jener dem für psychologische Merk^
Würdigkeiten bekanntermaßen überaus eingenommenen Freunde von
seiner Jugendgeschichte vieles erzählt hat, was er nachmals in seiner
Lebensgeschichte niedergelegt und zum Teil ausdrücklich der Auf¬
merksamkeit der Psychologen anempfohlen hat.
Zweiter Teil.
A. Psychanalyse der »Bergwerke zu Falun« des
E. T. A. Hoffmann.
Wir fassen nun die Hoffmannsche Erzählung als Objekt
psychanalytischer Untersuchung ins Auge. Die Krankheit des Elis
1 Lebensgeschichte des Baron Friedrich de La Motte Fouque. Aufgezeichnet
durch ihn selbst. Halle 1840. Vgl. Imago II, 5. Heft, p. 513 ff.
2 Vgl. die Bemerkungen bei Ellinger op. c. p. 124f.
264
Dr. Emil Franz Lorenz
Fröbom ist, wie die des elfjährigen Fouques eine Neurose, aus-
gebrochen beim Tod seiner Mutter. Dem Elfjährigen gelingt eine
spontane Heilung. Anders bei Elis. Seine Libido ist dauernd an
die Mutter fixiert. Er kehrt von seinen Seefahrten zu ihr zurück
wie andere zu ihrer Liebsten. Wie er sie schließlich bei einer aber-
maligen Heimkehr nicht mehr am Leben findet, verfällt er in die
Krankheit, deren Ursache wir in nichts anderem als in eingetretener
Versagung seines auf infantiler Stufe verbliebenen erotischen Be-
dürfnisses erblicken dürfen. Ist diese Diagnose richtig, so müssen
sich in seinen Träumen und Wahnvorstellungen die neurotischen
Ersatzbildungen für seine versagten Wünsche nach weisen lassen.
Der Dichter hat uns, wie man sieht, vor eine Aufgabe gestellt, die
im allgemeinen leichter ist als die der ärztlichen Praxis. Dort liegt
uns in der Regel das Material der neurotischen Ersatzbildungen
allein vor und nur glückliche Zufälle setzen uns zuweilen in den
Stand, den aktuellen Anlaß der Erkrankung im voraus zu wissen.
Hat uns nun der Dichter diesen Anlaß mit verraten, so dürfen wir
das engere Problem in die Worte fassen, die Elis bei E. T. A.
Ho ff mann selber zu sich sagt: »Und doch wußte er wieder gar
nicht, warum ihm der gespenstige Alte feind sein, was überhaupt
sein Bergmannshantieren mit seiner Liebe zu schaffen
haben soll. Wir haben uns demgemäß auf die Beantwortung der
Frage einzurichten, wieso der Seemann Elis dazukommt, in der
Arbeit im Bergesinnern einen Ersatz für die verstorbene Mutter
zu suchen,- die Antwort wird sich uns, wie gesagt, aus der Ana¬
lyse seiner Phantasien ergeben.
Der Wahn des Elis beginnt mit dem Erscheinen des ge¬
spenstischen Bergmanns Torbern, der nicht, wie man wohl glaubt,
eine freie Erfindung des E. T. A. Hoffmann ist, sondern sein Vor¬
bild in dem fremden Mann hat, der bei Novalis in dem ange¬
führten Märchen durch sein Erscheinen und seine Erzählungen die
Sinnesänderung des Hyazinth bewirkt. Wenn es dort heißt, er sei
mit Hyazinth in tiefe Schachten hinuntergekrochen, so haben wir
in ihm eben des unmittelbare Vorbild zu dem Torbern zu erkennen,
der dem Elis rät, sich dem Bergmannsberuf zu ergeben 1 . Das Er¬
scheinen des Torbern verkörpert einen Wunsch des Elis, gegen den
sich die bewußte Instanz seines Seelenlebens anfänglich aufs heftigste
sträubt, während er sich später mit ihm mehr und mehr befreundet,
ohne jedoch das anfängliche Grauen je vollständig überwinden zu
können. Diese doppelseitige Einstellung zu seinem Wunsche ver¬
bleibt ihm bis nahe an sein Ende und wirkt besonders auf sein
Traumleben gestaltend ein. Das gilt vorzüglich von dem Traum,
den er nach jener Unterredung mit Torbern träumt.
1 Der Name des Bergmanns stammt wohl von dem Verfasser einer Scia^
graphia regni mineralis (Leipzig 1783), der Torbern Bergmann heißt (Hinweis von
Grisebach in seiner Ausg. H.s. p. LXXXIII.).
Die Geschichte des Bergmanns von Falun
265
»Es war ihm, als schwämme er in einem schönen Schilf mit vollen
Segeln auf dem spiegelblanken Meer und über ihm wölbe sich ein dunkler
Wolkenhimmel. Doch wie er nun in die Wellen hinabschaute, erkannte er
bald, daß das, was er für das Meer gehalten, eine feste, durchsichtige, fun¬
kelnde Masse war, in deren Schimmer das ganze Schiff auf wunderbare
Weise zerfloß, so daß er auf dem Kristallboden stand und über sich ein
Gewölbe von schwarz flimmerndem Stein erblickte. Gestein war das
nämlich, was er erst für den Wolkenhimmel gehalten. Von unbekannter
Macht fortgetrieben, schritt er vorwärts, aber in dem Augenblicke regte sich
alles um ihn her, und wie kräuselnde Wogen erhoben sich jetzt aus dem
Boden wunderbare Blumen und Pflanzen von blinkendem Metall, die ihre
Blüten und Blätter aus der tiefsten Tiefe emporrankten und auf anmutige
Weise ineinander verschlangen. Der Boden war so klar, daß Elis die
Wurzeln der Pflanzen deutlich erkennen konnte, aber bald immer tiefer mit
dem Blick eindringend, erblickte er ganz unten unzählige holde jungfräuliche
Gestalten, die sich mit weißen," glänzenden Armen umschlungen hielten und
aus ihren Herzen sproßten jene Wurzeln, jene Blumen und Pflanzen empor,
und wenn die Jungfrauen lächelten, ging ein süßer Wollaut durch das
weite Gewölbe und höher und freudiger schossen die wunderbaren MetalD
blüten empor. Ein unbeschreibliches Gefühl von Schmerz und Wollust
ergriff den Jüngling, eine Welt von Liebe, Sehnsucht und brünstigem Ver¬
langen ging auf in seinem Innern. »Hinab, hinab zu euch«, rief er und
warf sich mit ausgebreiteten Armen auf den kristallenen Boden nieder.
Aber der wich unter ihm und er schwebte wie in schimmerndem Äther.
»Nun, Elis Fröbom, wie gefällt es dir in dieser Herrlichkeit?« — So rief
eine starke Stimme. Elis gewahrte neben sich den alten Bergmann, aber so
wie er ihn mehr und mehr anschaute, wurde er zur Riesengestalt, aus
glühendem Erz gegossen. Elis wollte sich entsetzen, aber in dem Augen¬
blick leuchtete es auf aus der Tiefe wie ein jäher Blitz und das ernste
Antlitz einer mächtigen Frau wurde sichtbar. Elis fühlte, wie das Entzücken
in seiner Brust immer steigend und steigend, zur zermalmenden Angst
wurde. Der Alte hatte ihn umfaßt und rief: »Nimm dich in acht, Elis
Fröbom, das ist die Königin, noch magst du heraufschauen«. — UnwilL
kürlich drehte er das Haupt und wurde gewahr, wie die Sterne des nächt¬
lichen Himmels durch eine Spalte des Gewölbes leuchteten. Eine sanfte
Stimme rief wie in trostlosem Weh seinen Namen. Es war die Stimme
seiner Mutter. Er glaubte ihre Gestalt zu schauen oben an der Spalte.
Aber es war ein holdes junges Weib, die ihre Hand tief hinabstreckte in
das Gewölbe und seinen Namen rief. »Trage mich empor«, rief er dem
Alten zu, »ich gehöre doch der Oberwelt an und ihrem freundlichen
Himmel«. — »Nimm dich in acht«, sprach der Alte dumpf, »nimm dich in
acht, Fröbom! — Sei treu der Königin, der du dich ergeben.« Sowie nun
aber der Jüngling hinabschaute in das starre Antlitz der mächtigen Frau,
fühlte er, daß sein Ich zerfloß in dem glänzenden Gestein. Er kreischte auf
in namenloser Angst und erwachte aus dem wunderbaren Traum, dessen
Wonne und Entsetzen tief in seinem Innern wiederklang.
Dieser Traum ist manifesterweise eine Darstellung seines
Lebensganges. Die Verwandlung des Meeres in eine unterirdische
Höhle soll den bevorstehenden Wechsel von Elis 7 Beruf ausdrücken.
Die Gestalt, die wie in trostlosem Weh seinen Namen ruft, ist
Ulla, die ihn in Falun, als er vor Verzweiflung über ihren Verlust
266
Dr. Emil Franz Lorenz
ins Bergwerk hinabgefahren war, gerettet und ans Tageslicht gezogen
hatte. Doch ist es die Stimme seiner Mutter, mit der sie ihn ruft.
Seine Mutter ist es auch allein, nach der er in Wahrheit Begehr
trägt und die ihn aus diesem Ort befreien könnte, in den er aus
Anlaß ihres Todes gelangt ist. Seine Mutter in dem verklärenden
Schleier, den die Phantasie der frühen Kindheit um sie gewoben
hat, ist aber auch die Bergkönigin, die er in seliger Angst aus weiter
Ferne erblickt. Seine Mutter im tiefsten Sinne ist schließlich der
ganze wunderbare Raum, in dem er sich befindet, das unendlich
fruchtbare Schwellen der Pflanzen, die in dem geheimnisvollen
Grunde wurzeln, aus dem sein eigenes Leben einst wie eine Blüte
hervorgewachsen ist.
Diese Höhle, durch deren einzigen Spalt er die Sterne des
Himmels durchleuchten sieht, entspricht in der Phantasie des Elis
einem Wunsche nach Rückkehr in den Zustand vor der Geburt,
wobei der Mutterleib durch sein gebräuchlichstes Symbol, die Höhle
oder das Berginnere dargestellt ist 1 .
Schon dieser erste Traum des Elis hat uns den Aufschluß
über die Frage gebracht, welche Bedeutung das Symbol des Berg-
innern und Elis' Glauben, er sei zum Bergmann berufen, für seinen
1 Eine dem Traum des Elis sehr ähnliche Vision findet sich bei I b=
sen, Kaiser und Galiläer, I. Teil, III. Akt, in der Szene zwischen Julian und
Gregor. Julian: Wie darfst du über die heimlichen Dinge urteilen? Das
ist nichts für deine Lehre, Gregor! Der Weg in die große Herrlichkeit ist
entsetzlich. Jene Träume in Eleusis waren der rechten Spur nahe,- Maximos
fand die Spur und seitdem auch ich — an seiner Hand. Ich habe dunkle Klüfte
durchwandert. Ein düstres, sumpfiges Wasser war zu meiner linken Seite — ich
glaube, es war ein Strom, der vergessen hatte zu fließen. Rauhe Stimmen sprachen
wirr durcheinander, plötzlich und ohne alle Ursache in der Nacht. Ab und zu sah
ich ein bläuliches Licht,- schreckliche Erscheinungen jagten an mir vorbei,- — ich
ging und ging in Todesangst,- aber ich überstand die Prüfung. — Seitdem, seit^
dem — o ihr Teuren, bin ich mit diesem meinen zum Geist verwandelten Körper
lange Zeit im Paradiese gewesen,- die Engel haben ihre Lobgesänge von mir
gesungen und ich habe das mittelste Licht geschaut.-Weißt du, wie der
Geist der Erkenntnis über mich kam? — Es geschah in einer Nacht unter Gebet
und Fasten. Da vernahm ich, daß ich weit, weit im Raume und in der Zeit hin-
ausgerückt war ,- denn es war hoher, sonnenflimmernder Tag um mich her und ich
stand einsam auf einem Schilf, mit schlaffer Segel, mitten in dem hellstrahlenden
Griechenmeer. Inseln türmten sich auf, gleich einer dichten Wolkenschicht, weithin
in der Ferne und das Schiff lag schwer, wie wenn es schlief, auf der weinblauen
Flut. — Sieh, da wurde diese Flut mehr und mehr durchsichtig, leicht und klar,-
zuletzt war sie gar nicht mehr da und mein Schiff hing über einem leeren, entsetz^
liehen Abgrund. Kein Grün, kein Boden darunter, nur der tote, schleimige, schwarze
Meergrund in all seiner schaurigen Kahlheit. — Aber droben, in der unendlichen
Wölbung, die mir früher leer erschienen war, — dort war Leben,- dort erschienen
ununterscheidbare Formen und Töne erklangen aus dem Schweigen. — Da erfaßte
ich die große erlösende Erkenntnis. — Gregor: Welche Erkenntnis meinst du? —
Julian: Was ist, ist nicht,- und was nicht ist, ist. Diese »Erkenntnis« Julians ist
die theoretische Ausdeutung seines ekstatischen Zustandes, in dem er die Welt
<das, was ist) verlassen und sich — um mit dem Ursprung der Dinge eins zu
werden — in die Mutter <den Zustand vor der Geburt — das, was nicht (mehr)
ist) zurückbegeben hatte.
Die Geschichte des Bergmanns von Falun
267
Wahn besitzt. Die Abkehr vom Seefahrerberuf und die Hinwendung
zu dem von ihm so verschiedenen Bergmannsberuf bedeutet nichts
anderes, als daß er hinfort unter der Herrschaft der inzestuösen
Neigungen steht, die dem Unbewußten angehören. Für dieses Un¬
bewußte im allgemeinen wie auch für das besondere Objekt seiner
Neigung ist aber der unterirdische Raum eines Bergwerks das zu¬
treffendste Symbol.
»Sei treu der Königin, der du dich ergeben!« ruft Torbern
dem Elis in jenem Traume zu. Dieses Ergeben kann nur auf Elis'
Unbewußtes bezogen werden, das jener Torbern anscheinend besser
kennt als Elis selbst/ denn sowohl im Traum als auch in der wachen
Wirklichkeit leistet sein Bewußtsein dagegen Widerstand. Im Traum
ruft er: trage mich empor, ich gehöre doch der Oberwelt an und
ihrem freundlichen Himmel! und so zögert er auch vier Tage, sich
auf den Weg nach Falun zu machen. Dort ergreift ihn beim An¬
blick des Bergwerks abermals Entsetzen,- das Bewußtsein reagiert
noch immer gegen den im Unbewußtsein heimischen Wahn. Nirgends
hat aber dieses noch vorhandene Schwanken einen treffenderen
Ausdruck gefunden als in der von uns noch nicht angeführten Epi¬
sode unmittelbar nach dem Erwachen aus dem Traum.
»Er raffte sich auf und rannte nach dem Klippahafen, wo der
Jubel des Hönsnings aufs neue sich erhob. Aber bald gewahrte er,
wie alle Lust an ihm vorüberging, wie er keinen Gedanken in der
Seele festhalten konnte, wie Ahnungen, Wünsche, die er nicht zu
nennen vermochte, sein Inneres durchkreuzten. — Er dachte mit
tiefer Wehmut an seine verstorbene Mutter, dann war es ihm aber
wieder, als sehne er sich nur, jener Dirne zu begegnen, die ihn
gestern so freundlich angesprochen. Und dann fürchtete er wieder,
träte aber auch die Dirne aus dieser oder jener Gasse ihm ent¬
gegen, so würde es am Ende der alte Bergmann sein, vor dem er
sich, selbst konnte er es nicht sagen warum, entsetzen müsse. Und
doch hätte er wieder auch von dem Alten sich gerne mehr erzählen
lassen von den Wundern des Bergbaues.«
Die drei Gestalten von Mutter, Dirne und Bergmann, die in
dieser Phantasie ineinander übergehen, sind Hinweise auf die mög¬
lichen Einstellungen seiner Libido. Die Mutter selbst hat er ver^
loren, das Mädchen bezeichnet die Möglichkeit der Übertragung,
der Bergmann Elis selbst in neurotischer Fixierung. Das Verfließen
dieser Gestalten ist darum tief begründet.
Der entscheidende Kampf zwischen den beiden Instanzen knüpft
sich aber an Elis 7 Verhältnis zu Ulla an. Durch die von Elis ver¬
suchte Übertragung auf ein normales Objekt gerät die Fixierung
der Libido im Unbewußten in Gefahr gelöst zu werden. Es ent¬
spinnt sich ein Kampf, der mit dem Siege der dunklen Mächte
endigt.
Den Verlauf dieses Kampfes wollen wir nun im einzelnen
betrachten. — Nach einer längeren Zeit der Ruhe und Zuversicht,
268
Dr. Emil Franz Lorenz
die er der Gunst des Pehrson wie der Liebe zu der schönen Ulla
verdankt, meldet sich das Unbewußte wie das erstemal in Gestalt
des alten Torbern. Dessen Ausspruch: »Hier unten bist du ein
blinder Maulwurf, dem der Metallfürst ewig abhold sein wird, und
oben vermagst du auch nichts zu unternehmen«, scheint sich alsbald
in bitterer Weise zu bewahrheiten. Er hatte stets gezögert, um Ulla
anzuhalten, wie wir wissen, unter dem geheimen Einfluß unbewußter
Widerstände. Zu Hause angekommen, sieht er, daß ein anderer um
Ulla gefreit und sie ihm weggenommen hat. Sein Versuch, durch
Ulla den dunklen Mächten seines Innern zu entrinnen, ist fehl*
geschlagen und augenblicklich ist er ihnen wieder verfallen. Er eilt
zum Bergwerk und ruft, von Reue erfüllt, nach Torbern, gegen den
er kurz vorher den Hammer geschwungen hatte. Er flüchtet wieder
in das Reich des Wahns. Jene verhängnisvolle erste Phantasie kehrt
wieder, aber nicht als Traum, sondern als Halluzination. »Doch als
er fester und fester den Blick auf die wunderbare Ader im Gestein
richtete, war es, als ginge ein blendendes Licht durch den ganzen
Schacht und seine Wände wurden durchsichtig wie der reinste
Kristall. Jener verhängnisvolle Traum, den er in Götheborg geträumt,
kam zurück. Er blickte in die paradiesischen Gefilde der herrlichsten
Metallbäume und Pflanzen, an denen wie Früchte, Blüten und
Blumen feuerstrahlende Steine hingen. Er sah die Jungfrauen, er
schaute das hohe Antlitz der mächtigen Königin. Sie erfaßte ihn,
zog ihn hinab, drückte ihn an ihre Brust, da durchzuckte ein glühen*
der Strahl sein Inneres und sein Bewußtsein war nur das Gefühl,
als schwämme er in den Wogen eines blauen, durchsichtig funkeln*
den Nebels.« Deutlich ist der Fortschritt zu erkennen, den die Neu*
rose unter dem erneuten Einfluß der Versagung gemacht hat. Er
sieht die Bergkönigin nicht mehr wie aus weiter Ferne, sondern sie
selbst ist es, die ihn an ihre Brust zieht und umfaßt. Die Angst,
die in jenem ersten Traum sein Entzücken übertönte, ist verschwun*
den. — Der glühende Strahl, der sein Inneres durchzuckt, hat die
Bedeutung einer Zeugungsphantasie, ebenso wie das Schwimmen
im Nebel l .
1 Das schließen wir nicht nur aus Träumen, sondern auch aus der sehr
verbreiteten mythologischen Vorstellung, nach der die Befruchtung der Erde durch
den Blitzstrahl geschieht <vgl. Adalbert Kuhn, »Die Herabkunft des Feuers«.)
Dieselbe Anschauung reproduziert das Denken der Dementia praecox <vgl.
S. Spielrein, Jahrb. f. psychoanalyt. etc. Forschungen IV, p. 357). — »Es
blitzt« ist ein volkstümlicher Ausdruck, wenn bei zufälliger Entblößung <etwa im
Bade) genitalia apparent. — Ein im Peloponnes gefundener Skarabäus, dessen Ab¬
bildung sich bei Müller-Wieseler, Denkmäler der antiken Kunst II, p. 831
findet, wird in RLM <111 2, p. 3102) in folgender Weise beschrieben: Ein bart¬
loser, fast nackter Mann, nach rechts schreitend, trägt in der Rechten einen Stab
von besonderer Form, die Spitze abwärts geneigt, in der Linken eine kleine
menschliche Figur, der er das Antlitz zuwendet. Unten zwischen den Schenkeln
zuckt ein Blitz nieder. — Diese Figur wird als Prometheus oder Hermes Psycho-
pompos gedeutet <vgl. die Diskussion bei Müller-Wieseler und in RLM),* wir
wollen zur Entscheidung der nicht leichten Frage nur soviel beibringen, daß wir
Die Geschichte des Bergmanns von Falun
269
Dem beglückendsten Wahn hingegeben, scheinen die Wirklich¬
keit und ihre Proteste für Elis nicht mehr zu existieren. Doch
gerade diese Wirklichkeit ist es, die sich ihm gleich darauf mit aller
Macht wieder fühlbar macht. Von außen wird an ihm ein Heilungs¬
versuch unternommen. Ulla und Pehrson kommen selbst zu ihm in
das Bergwerk.
Man eröffnet ihm, er habe keinen Grund zu verzweifeln,- die
Werbung sei nur zum Scheine gespielt worden, um ihn zu einer
Erklärung zu nötigen. Es scheint, als müsse Elis jetzt gesund
werden. Doch dem ist nicht so. Mahnend steht das Unbewußte in
seiner Seele: Ist es nun noch dein Höchstes, daß du Ulla er¬
worben? Hast du nicht das Antlitz der Königin geschaut? Die
Therapie, mit der man seiner Krankheit beizukommen sucht, ist
suggestiver Art, samt ihren eine Zeitlang andauernden Schein¬
erfolgen. Daß Pehrsons Entgegenkommen, das ihn für einige Tage
von der Arbeit entbindet, und Ullas Liebe das Andenken an die
Abenteuer im Schacht verscheuchen, werden wir gerne glauben,-
daß aber diese Heilung den eigentlichen Herd der Krankheit unbe^
rührt läßt, geht daraus hervor, daß sie bei dem Nachlassen der
suggestiven Beeinflussung durch die Umgebung sofort wieder zum
Ausbruch gelangt. Die Halluzinationen wiederholen sich, sobald er
wieder in den Schacht hinabsteigt, und »es war ihm, als stiege
sein besseres , eigentliches Ich hinab in den Mittelpunkt der Erd^
kugel und ruhe aus in den Armen der Königin, während er in
Falun sein düsteres Lager suche«. Auch die Liebe zu Ulla scheint
wieder gänzlich aus seinem Herzen gewichen. Nur noch einmal,
einige Tage vor der Hochzeit, scheint er einen Versuch zu machen,
den Wahn von sich abzustoßen. An dem Tage jedoch, an dem ihn
eine symbolische Handlung für immer an die Oberwelt festbinden
soll, bricht der Protest der infantil und inzestuös fixierten Libido
mit elementarer Heftigkeit los. Unter dem Bann der Wahn¬
vorstellung von einem herrlichen, in der Tiefe verborgenen Stein,
den er heraufschaffen und seiner Braut bringen müsse, verläßt er
sie, um für immer zu verschwinden.
Die Bedeutung dieses Steines zu ergründen ist nicht leicht
und möglicherweise derzeit noch gar nicht vollständig darzustellen.
Wenn sich die Fixierung an unbewußte Objekte unter dem Bilde
des Bergwerks darstellt, so könnte die Einführung eines wunder^
baren verborgenen Steines in den Wahn zunächst als eine sekun¬
däre, bereits in höherem Grade dem Bewußtsein angehörige Kon¬
sequenz der im Unbewußten ruhenden Phantasie des Kranken an¬
gesehen werden. Denn daß die verschiedenen Motive eines dichte-
die Deutung des Blitzes sicherstellen, der nicht, wie geglaubt wird, als von Zeus
gesandt, die drohende Bestrafung des Prometheus bedeutet, sondern die Gestalt, sie
sei wer immer, als Erzeuger des Kindes bezeichnet, das sie auf ihrer linken
Hand trägt.
270
Dr. Emil Franz Lorenz
rischen Phantasiegebildes alle sozusagen auf einer Ebene liegen,
ist ja ohnehin ausgeschlossen. Indes sollte das — schon des guten
Beispieles wegen — die letzte Möglichkeit sein, mit der man zu
rechnen hat. Auch zeigt die nähere Beschreibung des Steines
wieder so auffällige Züge, daß sie bei einer Psychanalyse nicht
übergangen werden dürfen.
»Unten in der Tiefe liegt, in Chlorit und Glimmerschiefer
eingeschlossen, der kirschrot funkelnde Almandin, auf den
unsere Lebenstafel eingegraben, den mußt du von mir empfangen
als Hochzeitsgabe. Er ist schöner als der herrlichste blutrote
Karfunkel, und wenn wir, in treuer Liebe verbunden, hineinblicken
in sein strahlendes Licht, können wir es deutlich erschauen, wie
unser Inneres verwachsen ist mit dem wunderbaren Ge-
zweige, das aus dem Herzen der Königin im Mittelpunkt der
Erde emporkeimt.«
Die letzten Worte erinnern an Elis' ersten Traum, wo be¬
schrieben wurde, wie unzählige Metallblüten aus den Herzen von
glänzenden jungfräulichen Gestalten emporsprießten, die sich am
Grunde des kristallenen Bodens umschlungen hielten. Diese Jung w
frauen sind aber gewiß als Abspaltungen von der zentralen Gestalt
der Königin und als die Mutter der Blüten zu betrachten , die aus
ihren Herzen hervorwachsen. Diese wunderbaren Blüten und
Früchte sind in dem Stein, der mit dem Herzen der Königin in
Verbindung steht, auf die Einzahl zurückgeführt. Was Elis eigent¬
lich will, ist noch immer nicht leicht zu sagen, denn es laufen die
verschiedensten Fäden durch seine Rede. Zunächst fällt uns eine
besondere Sorge um Ulla auf: zu ihr kommt er frühmorgens, ihr
verkündet er das bevorstehende Glück, ihr will er den Stein bringen,
ihr Inneres und das seinige sollen verwachsen sein, mit dem Ge-
zweige, das aus dem Herzen der Königin emporkeimt. Wir wissen
aber, was wir von diesem Ausbruch der Neigung zu Ulla zu
halten haben. Tatsächlich befindet sich ja Elis auf dem Punkte, wo
das Unbewußte sein Bewußtes völlig überschwemmt. Wir haben
also in diesem Auftritt die fetzte Auseinandersetzung zwischen den
beiden Instanzen vor uns, die durch Ulla und die Bergkönigin dar¬
gestellt sind. Der in einem besonderen Verhältnis zur Erdtiefe und
zur Bergkönigin stehende Stein bietet nun dem Wahn des Elis ein
Mittel, sich mit dieser und mit Ulla in Vereinigung zu setzen.
Wir haben also hier den letzten Versuch vor uns, den Elis macht,
um die zwei symbolischen Gestalten von Ulla und der Königin
<Mutter>, an deren Zwiespalt sein Inneres krankt, miteinander aus¬
zusöhnen. Er will selbst in den Schacht, in sein Inneres steigen,
die Mutterneigung überwinden und den Stein, der dann jedenfalls
ein Bild der Mutter wäre, als Zeichen der geschehenen Überwindung
ans Licht schaffen und seiner Braut zum Geschenk darbringen. Das
dürfte zum Verständnis der Szene zwischen Elis und Ulla genügen,
das weitere müßte einer auf ein größeres Material gestützten Unter-
Die Geschichte des Bergmanns von Falun
271
suchung der mythischen Bedeutung des Steinsymbols überhaupt
anheimgestellt werden, die ich an anderer Stelle zu geben beab¬
sichtige L
B. Richard Wagners Entwurf.
Der Entwurf Richard Wagners zu der unausgeführten
Oper »Die Bergwerke zu Falun« stammt aus der Pariser Zeit,*
datiert ist das Manuskript vom 5. März 1842. Wagner, der in
demselben Jahre nach Dresden übersiedelte, hat das Thema fallen
gelassen und den Entwurf seinem Freunde Röckel zur Aus¬
arbeitung überlassen, ohne daß dieser das Werk, an dem er eine
Zeitlang arbeitete, zur Vollendung gebracht hätte. Veröffentlicht
wurde der Entwurf erst 1905 durch Hubert Er misch in der
»Deutschen Rundschau« (7. Heft),* jetzt findet er sich im elften
Bande der »Gesammelten Schriften und Dichtungen«.
Die Fabel der Oper folgt der Erzählung E. T. A. HofF
man ns, mit zwei hauptsächlichen Abweichungen. Erstens hat
Wagner die Geschichte der verunglückten Werbung des Elis ab¬
geändert, und zwar in einer für den Dichter des Fliegenden
Holländer durchaus bezeichnenden Weise. Bei Hoffmann will
Pehrson Dahlsjö den Elis durch die scheinbare Werbung des
Fremden zu einem Einbekenntnis seiner Liebe zwingen. Wagner
hat hier die Gestalt des Seemanns Joe ns eingeführt, eines alten
Kameraden des Elis.
Ihm erzählt Elis zu Anfang des Stückes, »daß er heute noch allein
im Schachte gearbeitet und seine Gedanken nur auf seine Geliebte ge¬
richtet habe. Da sei ihm plötzlich jener seltsame alte Bergmann erschienen,
und habe ihm Vorwürfe darüber gemacht, daß er sein Herz einem Mädchen
zugewandt habe, auf die allein bei der Arbeit sein ganzer Sinn gerichtet
sei,- er habe ihm gedroht und gesagt, wolle er die wahren Wunder der
Tiefe erschauen und zum Anblick der hohen Königin gelangen, so müsse
er sich alle Liebesgedanken aus dem Sinne schlagen«. — Joens rät ihm,
zur See zurückzukehren. Er selber wolle ein Weib freien, Elis möge das~
selbe tun,- besitze er zu wenig, so teile Joens sein Gut mit ihm. Elis
1 In der Romantik findet der wunderbare Stein öfter Verwendung, so in
Novalis' »Heinrich von Ofterdingen«, der verlorene Karfunkel der Prinzessin,
über den der Jüngling, der ihn findet, die nicht leicht verständlichen Verse nieder^
schreibt:
Es ist dem Stein ein rätselhaftes Zeichen
Tief eingegraben in sein glühend Blut,
Er ist mit einem Herzen zu vergleichen.
In dem das Bild der Unbekannten ruht.
Man sieht um jenen tausend Funken streichen.
Um dieses woget eine lichte Flut.
In jenem liegt des Glanzes Licht begraben.
Wird dieses auch das Herz des Herzens haben?
Eine ähnliche Verwendung findet das Motiv in Tiecks »Genoveva«. — Bei
Hofmannsthal ruft, wie wir unten sehen werden, Elis seine im Grabe ruhen^
den Eltern als »blutrote Funkelsteine, hocherlauchte« an.
272
Dr. Emil Franz Lorenz
schlägt ein. Da erscheint Ulla und Joens, der nicht weiß, daß sie es ist, der
Elis seine Neigung zugewandt hat, sagt zu ihm : »Wollen wir sie aus*
horchen? Wäre sie bereit, einem Seemann zu folgen, so dürfte man es
wohl auch von mancher anderen hoffen.« Elis glaubt, Joens errate sein
Liebesgeheimnis, und gibt ihm recht. Ulla wiederum glaubt, Joens rede für
Elis, blickt diesem schnell ins Auge und wendet sich dann freudig zu
Joens mit den Worten: »O, mit Liebe im Herzen folgt man überall hin.«
Elis und Joens, beide Ullas Erklärung auf sich beziehend, sind darüber
hocherfreut. — Der Abend ist angebrochen, . . . Joens wirbt um Ulla und
Pehrson nimmt die Werbung an. Elis stürzt in Verzweiflung zum Schacht
davon.
Bedeutsam ist die zweite Abweichung der Fabel dieses Ent^
wurfs von seiner Vorlage in den Erzählungen der Serapionsbrüder.
Wagner hat sich nämlich bestimmt gefunden, die Erzählung von
der Auffindung des verschütteten Bergmanns aus der dramatischen
Handlung auszuschalten. Diese Geschichte erscheint bereits bei
Hoffmann mehr wie ein Anhängsel, angesichts der Tatsache je^
doch, daß sie die eigentliche Tradition ist und den historischen
Kern enthält, an den sich die von dichterischer Phantasie gebildete
Vorgeschichte angesetzt hat, ist die Frage wohl am Platze, welche
Bedeutung diesem Vorgehen Wagners beizumessen sei. Es liegt
nahe, an dramatische Rücksichten zu denken. Einerseits wäre bei
einer Einbeziehung der Auffindung der Leiche die Einheit der
Handlung nicht mehr aufrechterhalten geblieben, fünfzig Jahre liegen
dazwischen — diese Zahl um ein Bedeutendes herabzusetzen, wird
wieder durch andere Rücksichten verboten — und über diesen
Zeitraum hinaus ist Ulla die einzig Überlebende aus der Zeit des
Elis. Das wäre nur dann dramatisch möglich gewesen, wenn sie
auch früher die Hauptperson gewesen wäre. Ulla zur Haupt¬
person zu machen, hat aber weder Wagner noch Hofmanns¬
thal versucht,- aus Gründen, die man angesichts der dramatischen
Momente in der Hoffmannschen Erzählung, deren Held eben
durchaus Elis ist, nicht auseinanderzusetzen braucht. — Der erste
Herausgeber des Wagnerschen Entwurfes vermutet indes, daß
Wagner nicht eigentlich die Absicht gehegt hatte, diesen Kern der
Sage zu übergehen, sondern daß vielleicht »die Schwierigkeit, die
gerade diese Episode der dramatischen Bearbeitung bot«, ihn bestimmt
habe, das Thema fallen zu lassen. Das ist jedenfalls unzutreffend.
Den Kern der Sage zu verwenden, besteht für den Dramatiker
keine Verpflichtung. Die Fabel des Entwurfs ist ein Ganzes, die
Verschüttung des Elis bedeutet wirklich ein Ende. Der Hinweis
auf Franz von Holstein, der das Problem in seiner Oper »Der
Haideschacht« »in eigenartig poetischer Weise« gelöst habe, ist
völlig eine Profanation. Holstein hat nämlich, was der Vollständig¬
keit halber hier erwähnt sei, sich aus unserer Geschiche das Allere
gröbste angeeignet und in eine ganz andere Handlung das Motiv
— nicht der Verschüttung, sondern einer Art Exhumierung hinein**
gezogen.
Die Gesdiidite des Bergmanns von Falun
273
C. Hugo von Hofmannsthals Fragment »Das Bergwerk
von Falun«.
Erst die Psychanalyse befähigt uns zu der Einsicht, daß die
Geschichte des Elis, die wir als die Geschichte eines Neurotikers
erkannt haben, mit der Verschüttung nicht nur aus dramatischen,
sondern auch aus psychologischen Gründen wirklich zu Ende ist.
Das Kupferbergwerk zu Falun in Schweden ist in derHoffmann-
schen Erzählung zum Symbol des Unbewußten geworden. Wenn
Elis darin verschüttet wird, d. h. dem dauernden Wahn anheimfällt
und in ihm zugrunde geht, was hätte uns noch die Auffindung
eines Leichnams nach fünfzig Jahren zu bedeuten? Man bemerkt,
daß hier von zwei ganz verschiedenen Dingen die Rede ist. Die
Abstoßung dieses sogenannten Kerns der Sage ist ein naturnot^
wendiger Vorgang.
Diese Auffassung findet eine weitere Stütze in der Tatsache,
daß auch eine zweite, direkt von E. T. A. Hoffmann ausgehende
Bearbeitung unseres Themas mit der Verschüttung des Elis ihr
Ende findet. Diese Bestätigung ist um so höher einzuschätzen, als
ihr Verfasser gerade Hugo von Hofmannsthal ist, der schon zu
wiederholtenmalen seine bewundernswerte Fähigkeit für die Durchs
dringung des ursprünglichsten seelischen Gehaltes überlieferter
dichterischer Motive und für schöpferische Neugestaltung im Rahmen
des eigenen Kunstwerkes dargetan hat. Wir dürfen darum erwarten,
daß die Hofmannsthal eigene Verlebendigung der Motive uns
vieles in deutlicheres Licht, in größere Erlebnisnähe rücken wird, zu
dessen Erfassung wir uns durch unsere Analyse durchgearbeitet
haben, ohne vielleicht gerade dem, der unserem Standpunkt in der
Interpretation fernesteht, völlig überzeugend geworden zu sein.
Vielleicht besteht wahre dichterische Größe gerade darin, die
Gestaltung der Motive aus dem Bereich eines ihnen aus guten
Gründen anhaftenden Symbolismus in die Richtung des persönlichen
Erlebens soweit als möglich heranzurücken und erst unmittelbar
davor jene Schranke aufzurichten, die diese erlebte Wirklichkeit
doch wieder in das Bereich des bloß Gefühlten und Geahnten zu¬
rückdrängt. Dieses Helldunkel ist es nun ganz und gar, in das Hob*
mannsthal sein »Bergwerk von Falun« hineingestellt hat. — Leider
hat der Dichter von dem so betitelten fünfaktigen Drama, das im
Jahre 1899 entstanden ist, bisher nur den drei Szenen umfassenden
ersten Akt, unter der Bezeichnung eines Vorspiels, veröffentlicht.
Dieses Vorspiel enthält die Erlebnisse des Elis bis zur Abfahrt
nach Falun. Der äußere Umriß der Fabel ist Hoffmann nach^
gebildet. Elis' Geschick, die Ursache seiner Traurigkeit, seine Stellung
zu seinen Kameraden, das Erscheinen der Dirne, Torberns Mah*
nung, ein Bergmann zu werden, die Vision des unterirdischen Reiches
bezeichnen hier wie dort die Hauptpunkte der Handlung. Es seien
zunächst einige Abweichungen psychologisch gewürdigt.
Imago II1/3
18
274
Dr. Emil Franz Lorenz
In der Episode mit der Dirne läßt E. T. A. Hoffmann den
Elis nicht unempfänglich gegen ihre Reize sein und ihr Gelispel
gar sehr in des Burschen Herz eindringen. Hofmannsthal führt
sein Verhalten entsprechend der in Elis zum Ausbruch gelangen¬
den Neurose mit dem Inhalt der infantilen Fixierung auf die Mutter
in der Richtung auf vollständige Sexualablehnung weiter. Elis' Stellung
zu ihr könnte dadurch vertieft erscheinen, daß er sie vordem als
Kind geliebt hat, ein Zug, den Hofmannsthal hinzufügt/ da das
Mädchen aber von anderer Seite der Verführung unterlegen und
als Dirne anzusehen ist, brauchte des Elis Sinnesänderung an und für
sich nicht einer allgemeinen Ablehnung zu entspringen. Das diese
aber vorhanden ist, geht mit Deutlichkeit aus seinen Worten hervor.
Schön warst du freilich. Nun ich trunken hab,
Kommt mir's zurück. Die Züge scharfgezackt
Wie die Korallen, die tief drunten wachsen.
Blaß das Gesicht, allein so rot die Lippen . . .
So schön warst du, wo hast du's hingetan?
Hör auf mit Weinen. Kann auch sein, du bist
Nicht gar so anders. Ich hab' and're Augen.
Den Star hat mir's gestochen und mir kehrt
Das Leben wie ein Wrack die Eingeweide zu.
Wenn ich dich anschau fest, so seh' ich deutlich
Zwei Augen, glasig Zeug, gefüllt mit Wasser,
Zwei Lippen, rund wie Egel, auch geformt
Sich festzusaugen. Was steckt dahinter.
Was denn für große Lust? Und dann nachher
Was für ein Schmerz, was weiter für ein Schmerz?
Was ist daran so viel? (Schlägt sich an den Kopf.)
Wie könnt' ich träumen
Und danach hungern, immerfort danach!
Es ist doch über alle Maßen schal!
Ilsebill als reine, vollerblühte Jungfrau von Elis verschmäht,
würde in diesem Sinne vielleicht stärker wirken und Elis' Stellung
zu ihr etwa dem Verhältnis zwischen Hamlet und Ophelia ent*
sprechen. Doch stimmt anderseits dieses Bild der geknickten Blume
besser zu dem unendlich trostlosen Weltdurchschnittsbild, in das
Elis starren Auges hineinblickt. — Vortrefflich ist es, daß Hof¬
mannsthal die Beschenkung des Mädchens durch Elis beibehalten
hat, die als Ersatzhandlung von durchsichtiger Bedeutung auf ein
unter der Decke der Verdrängung noch immer vorhandenes Ver^
langen hinweist.
Von einschneidender Bedeutung für die Fortbildung unseres
Motivs ist die zuerst durch Hofmannsthal vorgenommene Ein¬
beziehung des Vaters in die Phantasie des Elis. Er spricht zu
Ilsebill:
Liebes Mädchen,
Verstehst du, meines Vaters Sohn zu sein,
Das war kein Kinderspiel. Er war nicht hart.
Die Geschichte des Bergmanns von Falun
275
Allein sein Wandeln war stille Verzweiflung.
Tief war sein Sinn. Er lebte in der Furcht.
Er hatte ein Gesicht, ehdem er starb.
Und wußte seinen Tod drei Tage vorher
Und ging so hin, der alte Mann und schwieg.
Gleich nachher kam die Sehnsucht über mich.
Nach ihm nicht, nach der Mutter!
's war ein Auftrag
Von ihm, drum kam's so plötzlich über mich.
Sie geben solchen Auftrag, die dort unten.
Mir fuhr das Schilf zu langsam: in den Adern
Quoll mir das Blut wie schweres glühndes Erz
Und drückte mich zur Nacht: da ward aus mir
Jedwede andre Sehnsucht ausgeglüht:
Dies einzige Verlangen fraß die andern
Im Finstern auf,- wäre ich im Krampf erstarrt
Und so gestorben, auf den Lippen hätte,
Den starren, jedes Aug' den Laut gelesen,
Mit dem du anhebst, wenn du Mutter sagst.
Die war schon unten, als ich kam. Die Reden,
Die mir im voraus von den Lippen trieften.
Wie Wasser von des gierigen Hundes Lefze,
Die schlugen sich nach innen. Mir ist übel,
Die Landluft widert mir, mir widert Seeluft.
Indem der Dichter hier die Fahrt des Elis zu seiner Mutter
sich an den Tod des Vaters anschließen läßt, vervollständigt er die
damalige Situation des Elis durch ihr psychologisches Korrelat, wie
es vom Ödipuskomplex gefordert wird.
Der Tod des Vaters löst in Elis längst unbewußt gewordene
Seelenregungen zu neuer Tätigkeit aus. Ein Wunsch der Kinder^
jahre, selber so stark und mächtig wie der Vater zu werden und
sich an seine Stelle zu setzen, scheint ihm der Erfüllung nahe^
zurücken. Mit dem Vater hat er sich in seinen Phantasien oft iden¬
tifiziert und die Gabe des zweiten Gesichts, die er mit ihm gemein
hat, hat ihm die Kunde von seinem Tode vermittelt. Aber soweit
scheinen bereits alle Gefühle infantiler Nebenbuhlerschaft verdrängt
zu sein, daß der Vater ihm selbst den Auftrag geben kann, jetzt,
wo er tot sei, zu seiner Mutter zu eilen.
Die von uns schon früher angedeutete Höhlensymbolik erfährt
bei Hofmannsthal im Munde des Elis mancherlei Verdeutlichung.
Die der Symbolik des Traums zugrunde liegende unbewußte Phan^
tasie dringt in seine wachen Reden ein und gewinnt in ihnen eine
ergreifende Gestaltung. Bei E. T. A. Hoffmann spricht Torbern zu
Elis, als er ihn für den Bergmannsberuf zu überreden sucht, fol¬
gendes Gleichnis: Wenn der blinde Maulwurf in blindem Instinkt
die Erde durchwühlt, so möcht' es wohl sein, daß in der tiefsten
Teufe bei dem schwachen Schimmer des Grubenlichts des Menschen
Augen hellsehender wird, ja daß es endlich, sich mehr und mehr
18 *
276
Dr. Emil Franz Lorenz
erkräftigend, in dem wunderbaren Gestein die Abspiegelung dessen
zu erkennen vermag, was oben über den Wolken verborgen 1 .
Bei Hofmannsthal wird das Gleichnis vom Maulwurf von
Elis selbst, eben als Torbern unbeachtet nahekommt und seine
Augen auf ihm ruhen läßt, aufgenommen, nachdem ihn ein Kamerad
wegen seines kopfhängerischen Wesens einen Maulwurf genannt
hatte.
Das kann schon sein. Mir ist, du hast ganz recht.
Das ist nicht dumm, was du da sagst. Mir war
Sehr wohl, könnt ich mich in die dunkle Erde
Einwühlen. Ging es nur, mir sollt es schmecken.
Als kroch ich in den Mutterleib zurück.
<Gegen die Erde)
Du tiefes Haus, was streben wir von dir,
Wir sinnentblößt Wahnwitzige aufs Meer,
Dem Lügensinn, dem Aug allein gehorchend,
Der uns vorspiegelt, was für ewig uns
Verborgen sollte sein, die bunte Welt,
Die wir doch nie besitzen! Seht die Unke,
Das tagblinde, verborgene Geschöpf
Ist strahlend gegen unsre Finsternis
Und winkt mir mit bediademtem Haupte,
Denn ihr ist noch Gemeinschaft mit der Erde.
Hier ist die Erde in einer der mythologischen Forschung
wohlbekannten Weise deutlich als Muttersymbol angesprochen. —
Die im Gespräch mit Ilsebill zuerst aufgetauchten Phantasien über
den Vater kehren nun in verstärkter Form wieder.
Haus, tu dich auf, gib deine Schwelle her.
Ein Sohn pocht an, auf tu dich, tiefe Kammer,
Wo Hand in Hand und Haar versträhnt in Haar,
Der Vater mit der Mutter schläft, ich komme!
Entblößt euch, ihr geheimnisvollen Adern,
Ausbluten lautlos sich die meinen schon!
Mein Haar sträubt sich vor Lust, bei euch zu sein,
Ihr Wurzeln, die ihr an dem Finstern saugt,
Euch funkelnd nährt aus jungfräulicher Erde,
Mein Herz will glühn in einem Saal mit euch.
Blutrote Funkelsteine, hocherleuchte,
Schlaflose Lampen, täuscht mich nicht, ich seh euch,
Ich seh euch glühen wie durch fahles Horn,
Versinkt mir nicht, ich halt euch mit der Seele.
1 Nachträglich noch ein Hinweis auf Novalis (Lehrlinge von Sais): Wer
dieses Stammes und Glaubens ist,. . . wird nimmer müde, die Natur zu betrachten
und mit ihr umzugehen, geht überall ihren Fingerzeigen nach, verschmäht keinen
mühseligen Gang, wenn sie ihm winkt, und sollte er auch durch Modergrüfte
gehen: er findet sicher unsägliche Schätze, das Grubenlichtchen steht am Ende
still und wer weiß, in welche himmlische Geheimnisse ihn dann eine reizende Be¬
wohnerin des unterirdischen Reichs einweiht.
Die Geschichte des Bergmanns von Falun
277
Dieser Augenblick der höchsten Ekstase, in dem sich in seiner
Phantasie das Bild des Vaters dem der Mutter zugesellt, bedeutet
zugleich den Übergang aus der Sphäre der bloßen Vorstellung in
die der Halluzination. Seine Kameraden und das Mädchen haben
ihn verlassen, er steht in der Erregung des Wahnes vor dem Hause.
Ein Bettler — so nennt man ihn später in der Wirtstube — geht
vorbei, in die Tracht eines Bergmanns gehüllt. Dieser Bettler gestaltet
sich im Wahn des Elis zum Boten der unterirdischen Welt, mit
dem Auftrag an ihn gesandt, ein Bergmann zu werden 1 .
Diese Gestalt ist der alte Torbern. — Wieder entspinnt sich
der Widerstreit der beiden durch den Seemann und Bergmann ver¬
sinnbildlichten seelischen Instanzen, der für die Lage des Elis ganz
typisch ist. Die Natur dieses Kampfes ist in lapidarer Einfachheit
gekennzeichnet, wenn Elis fragt: Womit bezwingst du mich? wor¬
auf Torbern entgegnet: Durch deinen Willen. Und als bezwungen
hat auch sein Widerstand zu gelten, nach der Art und Weise, in
der sich seine Wahngesichte fortsetzen. Sein früher ausgesprochener
Wunsch nach Gemeinschaft mit der Erde geht ihm in Erfüllung.
Ähnliche entzückende und angstvolle Visionen, wie sie Hoffmann
in jenen Traum des Elis verlegt hatte, begeben sich nun im Wege
eines Halluzinierens im Wachzustände. Er versinkt und gelangt in
einen Raum unterhalb der Erde 2 * * * * * 8 . Des Elis Worte:
Ich fiel durch endlos rötlich schwarze Schlünde, verbunden
mit den späteren Worten der Königin:
War dir, du fielest, war dir nicht, du flogest? lassen über die
eigentliche Natur dieses Vorganges, in dessen Bestandteilen wir
wohlbekannte Traumsymbole wiederfinden, keinen Zweifel übrig.
Es ist das Bild eines Eindringens und Aufenthalts im Mutterleib.
Wir erinnern uns der Worte, die Elis sprach, als er die Bezeich¬
nung Maulwurf billigte. Im übrigen zeigt die Vision des Elis durch¬
wegs die Eigenschaften eines Traums, so durch die eingeschobene
Reflexion über die Wirklichkeit des Erlebten,* ferner durch das In¬
einanderübergehen der erscheinenden Personen. Er sieht zuerst die
1 Man wird vielleicht in den früheren Reden des Elis, die wir oben ange^
führt haben, Todesphantasien und ^wünsche erkennen und unsere Deutung, die
die Motive der psychosexueilen Familienkonstellation darin wiederfindet, als unbe¬
gründet ansehen wollen. Es ist zweifellos richtig, daß Todeswünsche des Elis
vorliegen — wer in seiner Lage hätte sie auch nicht? Doch wollen wir gerade
das behauptet haben, daß die aktuellen Todesphantasien sich zum mindesten immer
in einem Material darstellen, das andersartiger Herkunft ist, sehr oft aber a priori
nicht eigentliche Todesphantasien sind, wie die lustvollen Vorstellungen des gänz¬
lichen Vergehens, Verlöschens, Eingehens ins Nichts. — Sehr deutlich ist bei
unserem Gegenstand der positive Inhalt der anscheinenden Todeswünsche in der
nun folgenden Entwicklung des Wahns zu erkennen. Alles vorher Gewünschte
erfüllt sich dem Elis, aber in einer Gestalt, die nicht Tod, sondern Leben ist.
8 Im Innern des Berges. Ein nicht sehr großer Raum, rechteckig, dessen
Wände aus dunklem, fast schwarzem Silber. Zwischen Pfeilern rechts ein Aus^
gang, von Finsternis völlig verhangen, zu dem drei runde Stufen aufsteigen. Die
Decke flach gewölbt. Alles aus dem gleichen, prunkvoll finsteren Stoff gebildet.
278
Dr. Emil Franz Lorenz
Königin und empfängt von ihr die Versicherung, daß er nicht
träume,- den Knaben Agmahd, den sie ihm sendet, um ihm zu
trinken zu bringen, sieht er zuerst für eine Javanerin, dann für einen
jungen Matrosen an, die er beide sehr geliebt hat. Es sind die¬
selben Gemeinsamkeiten der Personen, die ihre Verwandlung inein¬
ander ermöglichen, wie in der Phantasie des Elis bei E. T. A. HofL
mann, wo Mutter, Dirne und Bergmann einander ablösen. Diese
Gestalten gehören in die Vision unseres Dramas, die wie viele
unserer Träume einen verdichteten Auszug aus des Elis.Seelen¬
geschichte gibt und deren Kern die Vergegenwärtigung des ver¬
klärten Urbild aller Libido-Objekte desselben Elis ist, der an der
endgiltigen Ablösung von diesem Urbild zu scheitern im Begriffe
steht. In diesem Sinne wird ihr Erscheinen auch von der Königin
gedeutet, wenn sie ihn später vor sich entläßt, mit der Begründung,
seine Sinne seien noch zu sehr mit Sehnsucht nach den Gestalten
der Oberwelt erfüllt.
Der Knabe Agmahd,
Ein schwankend wesenlos Gebilde ist's:
Ein Spiegel. Jedem zeigt's, was heimlich ihm
Am Herzen ruht. Du stießest sie von dir,
Die droben, aber etwas lebt von ihnen.
Noch etwas lebt in dir, du mußt hinauf.
Die Doppelheit von Angst und Entzücken, die den Traum
des Elis bei Hoff mann kennzeichnet, ist hier nach der Seite der
Angst verschoben. Er hat Angst vor der Königin: Mir graut's
vor dir . . . Du sinnst auf meinen Tod . . . Das deutet auf eine
größere Macht der die Begierde in Angst verwandelnden Ver^
drängung hin. Die Macht der Verdrängung steht auch hier im
verkehrten Verhältnis zu der Deutlichkeit der zugrunde liegenden
Wünsche, ein Erfordernis der Zensur. — Der Angst, die den Elis
erfüllt, entspricht auf Seite der Königin ein ungeduldiges Verlangen
nach seinem Besitz, in dem wir die Projektion seiner eigenen posL
tiven Wünsche erkennen. Aus diesem Grunde eröffnen uns erst
ihre Reden die letzten Einsichten in die Natur der dieser Phantasie
zugrunde liegenden Begehrungen. Ich gebe die Stelle im Zusam¬
menhang.
Elis:
Den Händen, die du hast, entblüht ein Glanz,
Mir ist, als trat mein Blut aus mir ins Freie,
Wenn ich hinseh.
Königin <streckt die Hände aus):
Tritt her und rühr sie an.
Elis Unbeweglich an seinem Platz):
Ich kann nicht. Wir sind nicht aus einer Welt.
Ich kanns nicht fassen, daß ich hier steh, ich!
Warum denn ich? Droben sind Tausende!
Warum denn ich? Mich schauderts bis ins Mark.
Die Geschichte des Bergmanns von Falun
279
Königin:
Und ich hab midi so lang nach dir gesehnt.
Wohl hundert Jahr. Was zuckst du? Grauts dich so?
Sieh, ich kann doch für dich nicht fremder sein,
Nicht unbegreiflicher als du für mich.
Mich schauderts nicht. Und glaub mir, manches, was ich weiß
Von euch da droben, ist wohl schauerlich.
Ich weiß, ihr kennt das Angesicht des Wesens,
Das euch geboren hat. Ihr nennt es »Mutter«,
Wohnt unter einem Dach mit ihm, berührt es!
Das macht mich grauen, wenn ichs denken soll.
Ich weiß, ihr sdilummert niemals lang, doch wenn
Ihr euch hinlegt zu einem langen Schlaf,
So seid ihrs schon nicht mehr: der Erdengrund,
Der mich mit klingendem Gehaus umschließt,
Euch löst er eure Glieder auseinander,
Und Bäume wachsen auf aus eurer Brust,
Und Korn schlägt seine Wurzeln euch im Aug.
Und die dann droben leben, die ernährt,
Was also auf keimt aus der Brüder Leib.
Mich dünkt, ich stürb vor Graun, müßt ich so leben.
Hervor aus einem Leib, hinab zu Leibern.
Und wenn ich eurer einen atmen seh,
Werd ichs nicht los, mir ist, als müßt an ihm
Noch hängen Ungewordnes und Verwestes
Als war er nie allein, wo er auch geht und steht.
Und dennoch lieb ich dich und will dich halten!
<Ringt ungeduldig die Hände)
Graut dir, daß ich schon war, bevor du warst?
Macht dich das zornig, daß ich schlafen kann.
So lang und rein und tief? Daß ich allein bin,
Nur spielend mit Geschöpfen, die mir dienen?
Gib mir doch Antwort, steh nicht stumm und hart!
Sieh: euch da droben flutet ohne Halt
Die Zeit vorüber, doch mir ists gegeben,
In ihren lautlosen kristallnen Strom
Hinabzutauchen ihrem Lauf entgegen.
Und ihren heiligen Quellen zuzugleiten!
Heft nicht so dumpf den starren Blich auf mich!
Begreifst du nicht: das uralt heilige Gestern,
Ruf ich es auf, umgibts mich und wird Heut:
Und Dunkelndes und Funkelndes vergeht
Und Längstversunknes blüht und glüht herein.
Alle die infantilen Momente der Mutterneigung sind in diese
Worte der Königin zusammengedrängt. Der Altersunterschied, das
tragische Problem des Kindes,* die Schranke der Ehrfurcht vor der
Macht und Größe der Mutter,* überaus schön ist daran zu erkennen,
wie sich die relative Präexistenz der Mutter dabei zur absoluten
Herrschaft über die Zeit umgestaltet/ wie aus ihrer einmaligen
280
Dr. Emil Franz Lorenz
Schöpfertätigkeit, durch die sie dem Kinde das Leben gab, in der
nachschaffenden Phantasie ein allmächtiges Gebot über den Verlauf
aller Dinge der Welt wird.
Es erscheint nun Torbern, den Elis über das aufzuklären,
was seiner harre. Er ist vom Dichter in folgerichtiger Weiterbildung
der Überlieferung zum Geliebten oder Gemahl der Bergkönigin
gemacht worden. Nun soll er dem Elis weichen. Es ist nun aas
Seltsame, daß er, der in der Gunst Verdrängte, den Auftrag emp^
fangen hat, seinen Nachfolger selbst in die Tiefe zu geleiten und
in die Geheimnisse des unterirdischen Reiches einzuweihen. Wir
erinnern uns, daß von einer ähnlichen Botschaft schon früher die
Rede war, als Elis im Gespräch mit Ilsebill von seinem Vater redete,
wie er starb und ihn gleich nachher die Sehnsucht nach der Mutter
überkam, was Elis als einen Auftrag seines Vaters betrachtete, zu
ihr zurückzukehren. In der Halluzination wiederholen sich also die
früheren Wunschgedanken in traumhaft^symbolischer Form und
rüdcen gleichzeitig ihrer Erfüllung nahe, denn Torbern ist nach
alldem nichts anderes als der Vater des Elis, wie die Bergkönigin
seine Mutter ist, in der Weise, daß die sexuellen Beziehungen und
Bedeutungen von den zwei Ur^ und Vorbildern <Vater und Mutter)
auf die Ersatzfiguren <Torbern und die Königin > übertragen wurden,
eine Verdoppelung und Zerteilung, die leicht erkennbaren, affektiven
Bedürfnissen entspricht. Erinnern wir uns auch, daß die Gestalt
des Torbern in dem Augenblick in den Gesichtskreis des Elis
getreten ist, als sich in seiner Phantasie das Bild des Vaters dem
der Mutter zugesellte. Wir stehen damit vor dem typischen Thema
der Verdrängung des Vaters durch den Sohn. Von diesem Gesichts¬
punkte aus verstehen wir auch die eigentümlich schattenhafte Stellung,
die er der Königin gegenüber einnimmt, als eine Erscheinung der
Projektion,- diese beseitigt das Große und Mächtige im Vater, indem
sie es durch eine Art intellektuelle Halluzination ins Schwache und
Unselbständige umdeutet. Zugleich ermöglicht diese Umdeutung die
beabsichtigte Identifikation des Sohnes mit dem Vater, ein Wunsch,
der ganz offenkundig wird, wenn Elis bei der Bergkönigin an Tor¬
berns Stelle treten soll. — Auch der Name des alten Torbern ist
im Sinne dieser Identifikation zu verstehen. Alt kann einerseits den
Vater bezeichnen, der den Sohn nie einzuholen vermag, anderseits
kennen wir es aus der Traumsymbolik als eine Bezeichnung des
Infantilen und Unbewußten, das ja zum größten Teil individuelle
Prähistorie ist. Der alte Torbern ist also Elis' Vater und insoferne
sich Elis in seinem Unbewußten mit diesem identifiziert, Elis selbst,-
das letztere haben wir bereits bei E. T. A. Hoffmann festgestellt.
Nur war bei Hoffmann vom Vater gar nirgends die Rede. Eine
gewisse intellektuelle Bescheidenheit würde sich mit dem Hinweis
begnügen, daß er eben tot sei, wogegen sich nichts machen lasse.
Ohne uns der Wucht eines solchen Arguments völlig entziehen zu
wollen, haben wir den Versuch gemacht, in dieser Frage ein me-
Die Geschichte des Bergmanns von Falun
281
thodisches Prinzip der Psychanalyse zur Anwendung zu bringen,
welches dahin lautet, daß man in all den Fällen, wo in einer Re¬
lation ein Glied offenbar fehlt, dieses fehlende Glied schließlich doch
unter irgendeiner Verkleidung zu entdecken vermag. Es war uns
auch keineswegs schwer, in den vielen bereits erörterten Zügen
des Torbern ebensoviele Hinweise auf seine Vater-Bedeutung zu
finden.
Der Konflikt zwischen der Inzestneigung und Verdrängung,
der nach unseren früheren Ausführungen die Phantasie des Elis
beherrscht, findet seinen entscheidenden Ausdruck in der Szene, wo
die Königin vor Elis ihren Schleier emporhebt und dieser sich dem
Glanze, der von ihrer Gestalt ausgeht, nicht gewachsen zeigt. Da¬
durch bleibt ihm ihre Nähe vorläufig verschlossen. Mit der Auf¬
forderung, nach Falun zu gehen und ein Bergmann zu werden, die
also hier auch der Königin in den Mund gelegt wird, entläßt
sie ihn.
Was kann jene Aufforderung der Königin, er solle ein Berg¬
mann werden, für Elis noch bedeuten, wo doch dieses Bergmann¬
sein der symbolische Ausdruck eben jenes Zustandes ist, in dem
sich Elis ohnehin befindet, des Zustandes, dessen Symptome die
Wahnbilder sind, mit deren Analyse wir uns eben beschäftigen?
Hatte doch schon Torbern zu ihm gesagt: Niemand wird, was er
nicht ist. In diesem Sinne ist Elis bereits Bergmann. Wollten wir
uns die Antwort aus der Schilderung von Elis 7 Erlebnissen in Falun
holen, so steht dem der schon bekannte Umstand entgegen, daß der
Dichter uns diese bislang vorenthalten hat. Die Antwort läßt sich
aber auch vielleicht dem Inhalt des uns bekannten Vorspiels ent¬
nehmen. Wir hatten Gelegenheit zu bemerken, daß die Phantasien
des Elis durchgängig mit dem Affekt der Angst besetzt sind. Eben
diese Angst, die verdrängte Libido ist, gilt es zurückzuver¬
wandeln.
Elis. Dies Grauen —
Königin. Wirf's von dir.
Das Bergmannwerden bedeutet darum soviel wie das Durch¬
machen einer Entwicklung, in deren Verlauf die hemmenden Affekte
gegen die unbewußten Neigungen abgestoßen werden.
Wenn es erlaubt ist, sich von diesem Gesichtspunkte aus von
den Möglichkeiten der weiteren Gestaltung unseres Stoffes in der
Hand eines die Regungen der Seele intuitiv durchmessenden Diditers
ein Bild zu machen, so muß das Verhältnis zu Ulla die Bestimmung
haben, eben dieser Entwicklung zu dienen. Die Übertragung auf
Ulla muß dadurch ermöglicht werden, daß sie der Mutter^Imago
in einer unbewußten Weise gleicht. Elis wird dadurch, daß sie trotz
dieser Ähnlichkeit ein erlaubtes Sexualobjekt ist, in den Stand
gesetzt, die in Angst konvertierte Libido, die er dem in ihm fort¬
lebenden Phantasiebild der Bergkönigin angeheftet hat, zurückzu-
282
Dr. Emil Franz Lorenz
verwandeln. In Ulla liebt er in Wahrheit seine Mutter und die
Liebe zu Ulla muß in dem Augenblidc zu Ende sein, wo die Rück^
Verwandlung der Angst der Vollendung naht und er seine unge^
hemmte Neigung dem inzestuösen Objekt zuwenden kann. Der
symbolische Abschluß dieser Entwicklung muß wieder die Ver¬
schüttung sein. Damit endet auch das Hofmannsthalsche Drama 1 .
Die wie schon bei Besprechung von Wagners Entwurf gesagt
wurde, für unseren Zusammenhang sinnlose Wiederauffindung der
Leiche fehlt demgemäß auch bei Hofmannst ha 1, wobei selbstver^
stündlich von einer Beeinflussung durch den erst 1905 veröffent^
lichten Entwurf Wagners keine Rede sein kann 2 . Doch muß der
Rahmen des Vorspiels wie eine sinnvolle Spur dieses Motivs an¬
gesehen werden, wenn der Sohn des alten Fischers, ein junger
Bootsführer, der am Anfang des Stückes, als seit zehn Tagen durch
einen schweren Unfall bewußtlos und dem Tod geweiht, an die
frische Luft des Strandes getragen wird, am Ende des Vorspiels
auf wunderbare Weise zu neuem Leben erwacht, um Elis nach
Falun zu bringen. Dieser junge Fischer ist eine Abspaltung des
Elis. Das Wunder, das sich mit ihm begibt, ist dasselbe, das der
Wahn des Neurotikers in die Wirklichkeit umzusetzen bestrebt ist:
Der tote Mann stand auf zu meinem Dienst,
Die Sterne stürzen, meinem Pfad zu feuchten.
Und wenn dies Boot zerscheitert unter mir,
Die grüne Woge starrt und wird mich tragen.
Mein Innres schaudert auf und fort und fort
Gebierts in mir ihr funkelnd Antlitz wieder.
Und was mir widerfährt, nun sterb ich nicht.
Denn dieser Welt Gesetz ist nicht auf mir.
Dritter Teil.
Der Zusammenhang der Motive.
Einige wichtige Fragen sind noch unerledigt. Die erste betrifft
das Verhältnis von ursprünglicher Tradition und weiterer Aus¬
gestaltung der Sage. Wir billigten zuvor die Abstoßung des Kernes
als völlig zu Redht bestehend. Zur Vollendung unserer Analyse
gehört noch die Rechenschaft darüber, wieso es denn überhaupt dazu
kam, daß zu jenem ursprünglichen Kern eben diese Vorgeschichte
dazugedichtet werden konnte. Mit der Stellung dieses Problems
weisen wir die Ansicht derer ab, die sich hiebei auf die »freie«
Phantasie des Dichters berufen und einen Beweis für diese behauptete
Freiheit etwa gleich darin zu finden behaupteten, daß Kern und
Vorgeschichte sich tatsächlich getrennt haben, woraus offenbar her^
1 Nach privater Mitteilung des Dichters bei Reuschle 1. c.
2 Die einzige Quelle für den Dichter war E. T. A. Hoffmann. Der sagen^
hafte Einfluß Freuds auf Hofmannsthal ist bei diesem Stücke schon zeitlich
ein Unding.
Die Geschichte des Bergmanns von Falun
283
vorgehe, daß die von Hoffmann der Erzählung aus Schuberts
Ansichten von der Nachtseite der Naturwissenschaft angefügte Er¬
weiterung damit in keinem notwendigen Zusammenhang stünde. Sie
würden auch auf die große Zahl von Bearbeitungen unseres Themas
hinweisen, die nichts dieser Vorgeschichte Ähnliches enthalten. —
Diesem Standpunkt gegenüber wollen wir versuchen, die Deter¬
minanten dieses Prozesses nachzuweisen.
Unsere Frage wird zunächst zu lauten haben: Welcher Art
sind die Verbindungsfäden zwischen der Vorgeschichte und dem
Kern der Sage? An sich bietet ja die Auffindung eines Leichnams,
der durch den Aufenthalt in einem versteckten Raum und eingebettet
in eine konservierende Flüssigkeit seine Lebensfrische bewahrt hatte,
des Wunderbaren genug, so daß sie immer wieder erzählt und auch
dichterischer Behandlung teilhaftig wurde. Indes konnten wir an einer
Reihe dieser Bearbeitungen beobachten, daß gerade die tiefsten
Schichten des Seelenlebens davon am mächtigsten ergriffen wurden.
Wir müssen darum versuchen, den Zusammenhang zwischen dem
oberflächlichen Interesse an einer Kuriosität und jener tiefen Er¬
regung des Unbewußten aufzudecken, die in unseren Dichtwerken
Gestalt angenommen hat.
Zunächst war für die Entstehung der Vorgeschichte wohl eine
einfache, aus der Erfahrung stammende Beobachtung wirksam, daß
gewisse Berufe an und für sich asketische Anforderungen stellen
und demgemäß zur Neurose disponieren.
Es lag also nahe, in dem Verschütteten einen Bergmann zu
erblicken, der Großes leisten wollte, dem aber der Verzicht auf
Frauenliebe, den seine Aufgabe von ihm forderte, nicht gelungen
ist, weshalb er, als ein ungetreuer Knecht, die Rache der Beherrscher
des Berginnern erfahren mußte. Hier wäre also die Verschüttung
als Strafe aufgefaßt. Es ist aber noch ein anderes, und zwar gerade
entgegengesetztes Motiv wirksam. Die Verschüttung hatten wir bereits
oben gedeutet als ein endgiltiges Verfallen in die unbewußten Pham*
tasien des Neurotikers. Ist in diesen das Bergwerk Symbol für den
Mutterleib, so ist jenes Bild des in einer von Wasser erfüllten
Höhle eingebetteten menschlichen Körpers die genaue Entsprechung
eben jenes Wunsches nach Vereinigung mit der Mutter. Der Her^
gang bei der Konzeption der Hoffmannschen Vorgeschichte muß
demgemäß der folgende gewesen sein: Die bei Schubert sich fin^
dende Beschreibung von der Auffindung der Bergmannsleiche erwedcte
in dem Dichter unbewußterweise Phantasien vom Aufenthalt im
Leib der Mutter. Dieser lange nach der Geburt in den Mutterleib
zurückgekehrte Bergmann zeigte ihm diese Phantasien in ihrer Er^
füllung. Daran schloß sich in folgerichtiger Weise die Konzeption
der psychischen Bedingungen, die einem solchen Wunschgedanken
in der Seele eines erwachsenen Menschen entsprechen. Der Mann,
der hier drinnen liegt, hat, so würde der in Worte gefaßte Ge^
danke lauten, den Wunsch erreicht, den auch ich oftmals im Leben
284
Dr. Emil Franz Lorenz
gehegt habe, wenn ich die Anforderungen der Realität zu hart fand
und in jene traumlose Ruhe zurückstrebte, in der alle meine Be^
dürfnisse sich ohne mein Zutun befriedigt fanden. Denn das sind
die äußersten Punkte der Pendelbewegung des Lebens: die Forderung
des lages, die seelische und körperliche Anspannung, deren Ziel in
der theoretischen und praktischen Auseinandersetzung mit der Wirk^
lichkeit liegt, und die einer jeden Periode der Anspannung folgende
Rückkehr in den anfänglichen Zustand der Ruhe L — Und so dichtete
Hoffmann die Geschichte eines Menschen, aus dessen Lebens-
bedingungen und innerer Veranlagung es sich als möglich heraus-
stellen konnte, daß er eine gewisse infantile Fixierung zeitlebens
nicht zu überwinden und sich mit den Anforderungen der Realität,
die diese Überwindung von jedem verlangen, zeitlebens nicht
auseinanderzusetzen vermocht hat. Zu diesen Anforderungen
gehört aber besonders die endliche Ablenkung der Libido von den
infantilen Formen ihrer Betätigung, auch von der Befriedigung des
kindlichen Zärtlichkeitsbedürfnisses. Der Mensch wird Vater und
Mutter verlassen und einem Weibe nachhangen: an dem Unver*
mögen der dazu erforderten Übertragung scheitert der Neurotiker.
— E. T. A. Hoffmann machte darum seinen Helden zu einem
Seemann, in dessen Lebensbedingungen es liegt, daß er seine Libido
längere Perioden hindurch in der Phantasie befriedigen muß, worin
eben die Möglichkeit der Rückkehr auf die infantile Stufe der Mutter¬
neigung gegeben ist. Auch hat das Meer mythologisch Mutter^
bedeutung. — Die weitere Ausgestaltung der Geschichte hing
zunächst von der Fähigkeit des Dichters ab, die berührten Komplexe
zu größerer Lebendigkeit zu erwecken und den Gesetzen des Un¬
bewußten gemäß folgerichtig zu entwickeln. Diese Fähigkeit hat
Hoffmann in hervorragendem Maße besessen. Das bezeugen auch
andere Werke des Dichters, von denen nur »Der goldene Topf«
und »Der Sandmann« wegen ihres verwandten Inhaltes genannt
seien. Jenes Märchen aus der neuen Zeit behandelt wie »Die Berg¬
werke von Falun« den Gegensatz zwischen der himmlischen, un¬
erreichbaren Geliebten Serpentina und der irdischen Veronika. Im
»Sandmann« ist geschildert, wie ein mit einem Mädchen verlobter
junger Mann auf einen äußeren Anlaß hin eine Wiederkehr infan^
tiler Angstzustände erlebt, die sich damals an die Person des Sand^
mannes, eines Kinderschreckgespenstes, knüpften, das sein Urbild in der
Person eines von den Kindern gefürchteten Freundes ihres Vaters,
also einer Abspaltung des Vaters selbst, hatte. Der Held dieser
Geschichte endet im Wahnsinn, indem er sich von einem hohen
Turme herabstürzt.
1 Vgl. den psychologisch hochbedeutsamen Aufsatz von S. Ferenczi, Ent-*
wicklungsstufen des Wirklichkeitssinns. Internat. Ztschr. f. ärztl. Psychoanalyse I,
2., sowie Jung, Wandlungen und Symbole der Libido, Jahrb. f. ps.^a. u. ps.^path.
Forsch. IV 1. p. 334 ff. <p. 283 d. S.-A.).
Die Geschichte des Bergmanns von Falun
285
Als zweites, die Ausgestaltung unseres Motivs förderndes
Moment trat die empirische Kenntnis abnormer Seelenzustände im
allgemeinen hinzu, die Hoffmann selbst in dem der Verlesung
unserer Geschichte folgenden Gespräch bezeugt 1 . Sehr wichtig, wenn
auch für uns keineswegs in erster Reihe stehend, ist der Einfluß
literarischer Reminiszenzen, besonders von Novalis 7 »Lehrlingen
von Sais« und »Heinrich von Ofterdingen«. Darüber wurde schon
gesprochen.
Der völlig neue Sinn, den Hoffmann hiemit einer Ursprünge
lieh mehr rührseligen Geschichte gegeben hat, konnte ihr nur von
einem wahrhaftigen Dichter untergelegt und nur wieder von anderen
seiner Art als eine Ausdeutung eigener Erlebnisse verstanden und
sinnvoll weitergebildet werden,- kleinere Geister kreisten fruchtlos um
den sogenannten Kern der Sage.
Nach ihrem Hauptmotiv gehört die Geschichte des Bergmanns
von Falun in die große Gruppe jener Stoffe, die den Zwiespalt
der Neigung eines Mannes zu zwei in ihrem Wesen durchaus ver¬
schiedenen Frauengestalten behandeln. — Wir erkennen hierin ein
Lieblingsthema des Sturms und Drangs und der Romantik,- das
neunzehnte Jahrhundert hat es bis zum Überdruß abgewandelt, bis
hinab in den Stumpfsinn der Ehebruchsdramatik. Das Motiv fehlt
aber auch der mittelalterlichen Sagendichtung nicht. Es sei nur auf
die Melusina^Sage und auf die Geschichte des Ritters Peter
von Stauffenberg und der Meerfeye verwiesen, die in des
Knaben Wunderhorn enthalten ist 2 . Fouques Undine ist ein
unter Verwendung von Zügen aus diesen Legenden sowie von
naturphilosophischen Lehren des Theophrastus Paracelsus <Liber de
nymphis) verfaßtes individuelles Phantasieprodukt des Dichters. Von
Hoffmanns Goldenem Topf wurde bereits gesprochen.
Die psychische Realität dieses Motivs liegt in dem Zwiespalt
zwischen den Libido-Objekten des infantilen und des entwickelten
Bewußtseins, in den aus der Tiefe der Seele hervorwachsenden
Hemmungen, die sich der vollständigen Loslösung von den einmal
besessenen Liebesobjekten entgegenstellen.
Das zweite wichtige Motiv unserer Geschichte ist die Ver¬
bindung, in der jenes dämonische Wesen — als Bergkönigin — mit
der Tiefe eines Bergwerks steht. Es wurde oben festgestellt, daß
es als Symbol des Mutterleibes anzusehen ist. Ehe wir diese aus
1 Vgl. Otto Klinke, E. T. A. Hoffmanns Leben und Werke vom
Standpunkt eines Irrenarztes, Halle 1908, p. 24, über Hoffmanns Verkehr mit
Irrenärzten (Markus, Speyer, Kluge, Koreff). Bekannt sind Hoffmanns
eigene pathologische Züge, über die dieser Autor mit großer Besonnenheit handelt.
(Auf p. 176 erwähnt er bei Gelegenheit der Zwangsvorstellungen ablehnend »die
Rede einiger neuerer Autoren, daß stets sexuelle Vorgänge dabei im Spiel seien«
und zitiert Freud, ohne Ort und Namen.) — Vgl. auch Artur Sakheim, E. T.
A. Hoffmann, Studien zu seiner Persönlichkeit. Leipzig 1908.
2 Vgl. Otto Rank, Die Nacktheit in Sage und Dichtung. Imago II, p. 413 ff.
286
Dr. Emil Franz Lorenz
der Analyse dieses einzelnen Phantasieprodukts sich ergebende
Deutung durch Belege aus der analytischen Praxis, Mythologie und
Volkskunde zu stützen versuchen, empfiehlt es sich, die eigentliche
Bedeutung dieser Phantasie ins Licht zu stellen. Es handelt sich um
die Auffassung des Inzestproblems.
Man wird im allgemeinen das Vorhandensein des Inzestmotivs
in diesem Stoffe ohne weiteres zugeben, wofern man überhaupt unserer
Analyse derselben Berechtigung zuerkennt. Diese Analyse hat den
Weg nach dieser Richtung gewiesen,- sie hat unter dem Bild des
Bergwerks ein Symbol des Mutterleibes entdeckt, sie hat die Königin
als die Mutter gedeutet und sie hat schließlich auch die Umarmung
der Königin und den Blitzstrahl als Zeugungs-, beziehungsweise
Inzestphantasie erklärt. Es schienen sich uns in dem Wahn und in
den Träumen des Elis die Symbole dieser Phantasie zu immer
größerer Deutlichkeit zn entwickeln — entsprechend dem Schwächer*
werden der Proteste des Bewußtseins im Verlauf der Krankheit.
Man darf jedoch hier nicht vergessen, daß hierin schon ziemlich viel
Interpretation liegt. Es ist nämlich gar nicht ausgemacht, daß z. B.
das Bergwerk, der Schacht, die Höhle nur Symbole für eben das
sind, was sich dann in deutlicherer Gestalt als Königin offenbart
und von uns als Mutter übersetzt wird. Unserer Überzeugung nach
muß vielmehr ein strenger Unterschied gemacht werden zwischen
Höhle, Schacht etc., die Mutterleibssymbole sind , unter Umständen
auch solche des Unbewußten, aber sonst nichts, — der Aufenthalt
in ihnen eine Mutterleibsphantasie und sonst nichts —, und der
Königin <Mutter> deren Umarmung erst eine Inzestphantasie bedeutet.
Die genaue Unterscheidung dieser beiden Phantasien dürfte sehr
viel zur Klärung beitragen. Offenbar hat der symbolisch ausgedrückte
Wunsch, in den Zustand vor der Geburt zurückzukehren, gar nichts
von der Inzestphantasie an sich. Er kann die Folge des Versagens
der Realitätsanpassung in einem besonders schweren Falle sein <das,
was Jung mit einem nicht ganz zutreffenden Ausdruck als Sterben¬
wollen bezeichnet), genauer ausgedrückt, der Wunsch, in den Zm»
stand der absoluten Allmacht <die in der automatischen Befriedigung
aller Bedürfnisse besteht) zurückzukehren \ Auf der anderen Seite
enthält auch die Inzestphantasie, deren Inhalt die äußerste Kon¬
sequenz einer erotischen Neigung zur Mutter ist, nichts von jener
Phantasie der Rückkehr. Diese zwei Arten der Vereinigung kann
wohl auch das Unbewußte auseinanderhalten. Indes bleibt die Tat¬
sache der mangelnden Unterscheidung bestehen. Es hängt aber alles
davon ab, was die eigentliche bedeutungsvolle Ursache des tatsäch^
liehen Verfließens dieser beiden Phantasien ist. Betrachten wir zu
diesem Zweck den Zustand des Elis Fröbom, so ergibt sich uns
eine große Ähnlichkeit desselben mit dem des Hyazinth, von dem
1 Vgl. den oben zitierten Aufsatz von Ferenczi über die Entwicklungs¬
stufen des Wirklichkeitssinnes.
Die Geschichte des Bergmanns von Falun
287
wir bereits früher festgestellt haben, daß er eine Ursache in dem
Unvermögen des Individuums hat, seine bis zu einem gewissen
Grade auf infantiler Stufe verbliebene erotische Bindung an die
Mutter — die als inzestuös zu bezeichnen kein Anlaß vorliegt —
zu lösen und auf ein normales Objekt zu übertragen. In beiden
Fällen gesellt sich auch zu diesem unentwickelten Zustand der
Libido ein normales erotisches Bedürfnis. Der Unterschied liegt nur
sozusagen in der Quantität gebundener Libido, die bei Elis weit
überwiegt. Der Zustand des Hyazinth darf als ein für einen höher
entwickelten Menschentypus nahezu normaler bezeichnet werden.
Dieser partielle Infantilismus ist die Quelle des Sublimierungsprozesses
und demgemäß die Grundbedingung aller höheren Kultur. Bei Elis
steht die Sache anders. Jenes glückliche Maß gebundener Libido, das
einerseits zur Sublimierung führt, sich aber anderseits der Realitäts¬
anpassung doch zugänglich erweist und nur so die Entstehung des
Werkes als objektiven Wertes ermöglicht, ist bei Elis nicht vor¬
handen. Die Folge davon ist die einseitige, nur auf das Subjekt
beschränkte Sublimierung des Traumes und des Wahns.
Die wegen fortdauernder infantiler Bindung gehemmte Über-
tragung beim Erwachen des normalen Bedürfnisses, objektiv ein
Unvermögen der Realitätsanpassung, ergibt subjektiv ein Regressions-
streben. Dieses Rückwärtsstreben der Ohnmacht äußert sich in Ge¬
stalt der Mutterleibsphantasie, unter den uns schon bekannten Sym¬
bolen. In dieser Phantasie gleitet die Libido in ihren ersten Anfang
zurück, wo alle noch ungeschiedene physische Lust dem Individuum
ohne die der Schwachheit so schmerzvolle und so oft versagende
Anspannung ungehindert von selbst zufließt. Haben wir in dieser
Phantasie die Verneinung aller entwickelten Erotik, ja auch die
Verneinung aller äußeren Realität überhaupt zu erblicken, so setzt
sich auf der anderen Seite das trotzdem vorhandene, weil physio-
logisch begründete normale erotische Bedürfnis mit Unwiderstehlich¬
keit durch. Der von der Uterusphantasie erwünschte Zustand infan-
tiler und vorinfantiler Befriedigung wird nachträglich mit Motiven
entwickelter Erotik ausgestattet. Indem sich diese Motive nun mit'
Notwendigkeit an die Mutter, die Spenderin jener ersten Befriedi¬
gung heften, entsteht die Inzestphantasie und mit ihr die mächtige
psychologische Bedeutsamkeit der Mutter. Den symbolischen Aus-
druck findet diese sekundäre Verbindung der Inzest- mit der Uterus-
phantasie in den Träumen und Visionen des Elis darin, daß inner¬
halb des wunderbaren Raumes, in den er sich versetzt sieht, »das
ernste Antlitz einer mächtigen Frau« sichtbar wird. So ist es im
ersten Traum. Die letzte Vision im Schachte zu Falun zeigt die
dadurch angebahnte Übertragung von Motiven entwickelter Erotik
in ihrer Vollendung. — An der Verklammerung der beiden, in dieser
Stärke miteinander unverträglichen Libidotendenzen geht der Neurotiker
Elis zugrunde, während es bei Hyazinth nur der geringeren Stärke
der infantilen Bindung zu danken ist, daß er diese Krise überwindet.
288
Dr. Emil Franz Lorenz
Unsere an diesem bestimmten Material, der Geschichte des
Bergmanns von Falun, gegebene Interpretation der Inzestphantasie
schließt andere Möglichkeiten ihrer Entstehung nicht aus. Es ist
z. B. keineswegs notwendig, daß jeder Inzestphantasie im Traume
eine Uterusphantasie vorangeht (obwohl das meistens der Fall sein
wird). Das Wesentliche ist nicht diese Phantasie, sondern ein be*
stimmtes Verhalten unserer geistigen und physischen Kräfte zur
Realität, das Bild ihrer erfüllten Forderung, beziehungsweise unseres
erfüllten Willens zur Macht. Das kann nun auch durch Wieder¬
belebung der Machtphantasien bewerkstelligt werden, die im Ödipus¬
komplex liegen, wobei dann der Besitz der Mutter zum Symbol
der Überwindung des Vaters, der einstmals größten Macht, wird.
Der Akzent liegt nicht auf dem Besitz der Mutter, sondern darauf,
was dieser Besitz bedeutet oder zur Voraussetzung hat — das ist
unsere eigene höchste Macht. In diesem Sinne sind auch die Inzest*
träume des Hippias und Cäsar zu verstehen.
Diese beiden Bilder, in denen sich der erfüllte Machtwille
darstellt (Mutterleibs* und Ödipussituation), sind in ihren Tendenzen
gleich, in ihrer Darstellung verschieden,- jenes stellt die Erfüllung in
einer Situation dar, die tatsächlich außerhalb der Erreichbarkeit durch
menschliches Streben liegt, sie ist passiv, quietistisch, ein Ideal für
Träumer, diese wagt sich in die Welt der Dinge selbst, in der man
kämpfen und siegen kann. Offenbar hat die Wahl dieser oder jener
Ausdrucksweise charakterologische Bedeutung.
Es könnte Bedenken erregen, daß wir der schöpferischen Kon*
sequenz des dichterischen Schaffens soviel Zutrauen, daß wir an
seinen Werken und nicht an einem wirklichen Krankheitsfall ein
Problem von solcher Tragweite wie das berührte zu behandeln ver¬
suchen. Indes lag eine mehr als kursorische Erörterung desselben
schon zufolge unseres Hauptthemas, das uns eben den Anlaß dazu
geboten hat, nicht in unserer Absicht und ist auch eine Verteidigung
der Konsequenz des dichterischen Unbewußten heute wohl nicht
mehr nötig. Es bleibt uns darum nur noch übrig, das in unserer
Geschichte wichtigste Symbol des Bergwerks, wie schon oben an¬
gekündigt, durch eine Reihe von Parallelen aus klinischer Beobachtung,
Mythus, Folklore zu erläutern.
Ernest Jones hat (im Jahrb. f. psychoanalyt. etc. Forsch. IV)
einige Fälle von Zwangsneurose beschrieben und dabei eine Phan*
tasie angeführt, die mit der des Elis die allergrößte Ähnlichkeit
besitzt. Es heißt dort (p. 581):
Dunkle, geheimnisvolle Lokalitäten übten einen besonderen
Reiz auf ihn aus. Seine Knabenphantasie beschäftigte sich stark mit
unterirdischen Gängen, Kanälen, Gräbern, Katakomben, Brunnen,
Höhlen und ähnliches.Brunnen waren noch interessanter, da
sie tiefe Löcher mit Wasser waren, wo man den Grund nicht er*
reichen konnte ... Es regte ihn immer sehr auf, wenn er von
Höhlen las, in denen Leichen gefunden wurden. Ein Leichnam, der
Die Geschichte des Bergmanns von Falun
289
versteckt wurde, etwas, das lebendig gewesen und nun tot war,
bedeutet, wie dies oft der Fall ist, faeces.
Über die Zurückführung dieser Phantasie auf den Defäkations-
komplex muß ich mich des Urteils enthalten. Eine andere Phantasie
handelt von einem »unterirdischen Palast, einer Art heimlichen,
wunderbaren Zauberlands, wo inmitten von Blumen eine Königin
auf ihn wartete« <p. 582).
Dann sei auf eine Mitteilung von Dr. Mae der 1 verwiesen,
wo der Berg für einen Zwangsneurotiker als Symbol für das weib^
liehe Genitale und den Geschlechtsakt Verwendung findet. Allerdings
muß zwischen Berg und Bergwerk <= Berginneres) unterschieden
werden.
Instruktiv ist ein mir berichteter Traum, von dem ich den
Text vollständig, die Analyse soweit es notwendig erscheint, am*
führe.
Der Träumer befindet sich in der Ecke eines sehr dunklen Zimmers,
in dem er gar keine Möbel wahrnimmt. Neben ihm steht ein junger Mann,
etwa gleichaltrig, in unbestimmter Weise bekannt. Der Träumer tritt auf
eine in der Ecke der Zimmers im Fußboden angebrachte Platte und gleitet,
auf dieser stehend und unter Beihilfe des oben zurückbleibenden jungen
Mannes, mit ziemlicher Geschwindigkeit in einen schmalen, durchaus dunklen
Schacht hinunter. Unten angelangt, muß er auf einem schmalen, halb erleucht
teten Gang weitergehen, dessen Boden leicht geneigt ist. Der Gang ist ziemlich
kurz und führt ihn in ein Zimmer, das ganz rot austapeziert ist. Von der Decke
hängt ein Luster mit Gasbeleuchtung herab. Sein Schein erhellt den schmalen
Gang, der in das Zimmer führt. Man hat die Empfindung, als sei dieses
Zimmer tief unter der Erde, eingebaut in starke Felsen, als führten die
kleinen Luken unter der Decke nicht ins Freie, sondern in irgendwelche
unbenennbare Dunkelheiten hinaus und als sei die künstliche Beleuchtung
in diesem Raum eine Notwendigkeit. Der Träumer empfindet einige Be¬
klemmung in dem Raume, es ist ihm, als habe er auf jemanden zu warten,
auf eine Frau, die zu ihm kommen soll, in deren Zimmer er sich befindet,*
angstvoll blickt er aus dem Zimmer in den Gang hinaus, aber kein Laut
regt sich.
Zu den seltsamen Liftfahrten nach abwärts ergab sich als
Assoziation die Fahrt in ein Kohlenbergwerk, die einzige, die der
Träumer einige Jahre zuvor gemacht hatte. Damit stimmt nun auch
eine Reihe von Bestandteilen des Traumes insoferne überein, als
dem Einfahrtsschacht genau der finstere Schacht des Traumes, dem
Stollen, in dem er, unten angelangt, weitergehen mußte, der schmale
Gang entspricht, der in das Zimmer führt. Selbst dieses Zimmer
hat seine Analogie in der Bergwerksassoziation in der höhlenartigen
Erweiterung am Ende des Stollens, wo die Bergleute im Scheine
der Grubenlampe arbeiteten.
Verfolgen wir unser Motiv auf dem Gebiet von Sage, Mythus
und Märchen, so erschließt uns die von uns erkannte Uterusnatur
1 Zentralblatt f. Psychoan. II. 1. Heft,- vgl. Stekel, ibid. I., p. 107.
Imago II1/3
19
290
Dr. Emil Franz Lorenz
des als hohl gedachten Berges zunächst das psychologische Ver¬
ständnis all der Sagen, die ich nach ihrem bekanntesten Vertreter
als Kyffhäusersagen bezeichnen möchte (Friedrich Rotbart im
Kyffhäuser, Kaiser Karl im llntersberg, Marko Kraljeviö) 1 . Das
ewige Leben ist den im Berg verborgen weilenden Personen durch
nichts anderes als eben durch die Uterusbedeutung ihres Aufent^
haltsortes verbürgt, ganz so, wie die Lebensfrische des verschütteten
Bergmanns von Falun zwar tatsächlich seiner Absperrung von der
Außenwelt, in unserem Unbewußten aber, vor allem in dem der
Dichter, die ihre Phantasie damit spielen ließen, seiner Einbettung
in den von der Mutterlauge erfüllten Leib der Erde zugeschrieben
wurde, wie die Ausgestaltung dieser Phantasie durch die dazu er^
fundene Vorgeschichte beweist. Nichts anderes ist aber der Grund
für die in vielen anderen Bergmannssagen zutage tretenden Glauben,
daß verschüttete Bergleute noch lange Jahre unten weitergelebt hätten
und schließlich wieder an die Oberwelt gelangt seien. Ich erinnere
an die Geschichte von den drei Beugleuten in Kuttenberg 2 . In der
von Richard Wagner in seinem Aufsatz »Der Virtuos und der
Künstler« <1839) herangezogenen Bergmannssage ist das Motiv
ebenfalls enthalten. Die Erzählung bei Richard Wagner in einzelnen
Zügen gewiß von E. T. A. Hoffmann beeinflußt, sei darum hieher-
gesetzt 3 .
Nach einer alten Sage gab es irgendwo ein unschätzbares Juwel,
dessen strahlender Glanz plötzlich dem begünstigten Sterblichen, der seine
Augen darauf heftet, alle Gaben des Geistes und alles Glück eines befrie^
digten Gemütes gewährt. Doch liegt dieser Schatz im tiefsten Grunde ver^
graben. Es heißt, daß es ehedem vom Glück hoch Begünstigte gab, die
auch übermenschlich gewaltig die aufgehäuften Trümmer, welche wie Tor¬
pfeiler und unförmliche Bruchstücke riesiger Paläste übereinander lagen,
durchdrangen: durch diese Chaos hindurch leuchtete dann der wundervolle
Glanz des magischen Juwels zu ihnen herauf und erfüllte ihr Herz mit un¬
säglicher Entzückung. Da erfaßte sie die Sehnsucht, all den Trümmerschutt
hinwegzuräumen, um aller Augen die Pracht des magischen Schatzes auf¬
zudecken, vor dem die Sonnenstrahlen erblassen sollten, wenn sein Anblick
unser Herz mit göttlicher Liebe, unseren Geist mit seliger Erkenntnis erfüllet.
Doch vergeblich all ihre Mühe: sie konnten die trägen Massen nicht er^
schüttern, die den Wunderstein bargen.
Jahrhunderte vergingen. . . . Da legte man Schachten, durch Minen
und Stollen ward in die Eingeweide der Erde hineingedrungen, de? künst^
lichste unterirdische Bau kam zustande und immer grub man von neuem,
legte Gänge und Nebenminen an, bis endlich die Verwirrung im Labyrinth
wuchs und die Kunde von der rechten Richtung ganz und gar verloren
1 Vgl. über bergentrückte Helden Grimm, Deutsche Mythologie. 32. Kap.,
Bd. II, p. 794, sowie das Kapitel in Rohdes Psyche über Höhlengötter (Amphia^
raos, Trophonios) und Bergentrückung,- ferner Georg Gräber, Sagen aus Kärnten
(Leipzig 1914). 8. Kap.: Schlafende Helden und Totenseelen im Berg.
2 Brüder Grimm, Deutsche Sagen.
3 Gesammelte Schriften und Dichtungen, I., p. 167 ff.
Die Geschichte des Bergmanns von Falun
291
ging. So lag der ganze Irrbau, über dessen Mühen das Juwel endlich selbst
vergessen worden war, nutzlos da,* man gab ihn schon auf. Verlassen
wurden Schachten, Gänge und Minen, schon drohten sie einzustürzen, als,
wie es heißt, ein armer Bergmann aus Salzburg kam. Der untersuchte genau
die Arbeit seiner Vorgänger: voll Verwunderung folgte er den zahllosen
Irrgängen, deren nutzlose Anlage ihm ahnungsvoll aufging. Plötzlich fühlte
er sein Herz von wollüstiger Empfindung bewegt: durch eine Spalte lachte
ihm das Juwel entgegen, mit einem Blich umfaßte er das ganze Labyrinth:
der ersehnte Weg zu dem Wunderstein tut sich ihm auf,* von dem Lichte
glanz geleitet, drang er in den tiefsten Abgrund, bis zu ihm, dem göttlichen
Talisman selber. Da erfüllte eine wunderbare Ausstrahlung die ganze Erde
mit flüchtiger Pracht und alle Herzen erbebten vor unsäglichem Entzüdcen:
den Bergmann aus Salzburg sah aber niemand wieder.
Dann war es wieder ein Bergmann, der kam aus Bonn, vom Sieben¬
gebirge her, der wollte den verschollenen Salzburger in den verlassenen
Schachten aufsuchen: schnell gelangte er auf seine Spur und so plötzlich
traf sein Auge der wunderbare Glanz des Juwels, daß es sofort davon
erblindete. Ein wogendes Lichtmeer durchdrang seine Sinne: von göttlichem
Schwindel erfaßt, schwang er sich in den Abgrund und krachend brachen
die Schachten über ihm zusammen: ein furchtbares Getöse drang wie Welt*
Untergang dahin. Auch den Bonner Bergmann sah man nie wieder.
So endete, wie alle Bergmannssagen, audi diese: mit der Ver*
Schüttung ... in den letzten Jahren hat man sich sogar aufgemacht, den
beiden verunglückten Bergleuten nachzugraben, denn gutmütig hieß es,* sie
könnten wohl gar noch am Leben sein . . .
Wenn Wagner im weiteren Verlauf der Erzählung den wunder¬
baren Stein als das »Wunderjuwel der Musik« deutet, so sind die
beiden Bergleute natürlich Mozart und Beethoven und ist die
ganze Geschichte, bis auf die allgemeinen, aller Bergmannssagen
gemeinsamen Grundzüge, seine eigene Erfindung. Eine Anzahl von
Motiven ist ihr mit dem Entwurf der »Bergwerke von Falun« ge¬
meinsam, der ungefähr aus derselben Zeit stammt und es ist inter¬
essant, hier durch die von Wagner gegebene Übersetzung des
Steinsymbols die aktuellen Wünsche zu erraten, die jedenfalls auch
bei jenem Entwurf tätig waren, und damit die Sprache zu ver¬
gleichen, in der sie sich ausgedrüdct haben.
Der Studierende an der Bergakademie zu Freiberg in Sachsen,
Friedrich von Hardenberg, früher Akzessist an der Salinendirektion
zu Weißenfels, wo sein Vater Salinendirektor war, durfte sich selbst
als Bergmann betrachten. Wir haben die Bedeutung dieses Motivs
ja schon kennen gelernt. Ergänzend setzen wir darum noch den
Anfang des Bergmannsliedes im »Heinrich von Ofterdingen« hieher.
Der ist der Herr der Erde,
Wer ihre Tiefen mißt,
Und jeglicher Beschwerde
In ihrem Schoß vergißt.
Wer ihrer Felsenglieder
Geheimen Bau versteht
Und unverdrossen nieder
Zu ihrer Werkstatt geht.
19 *
292
Dr. Emil Franz Lorenz
Er ist mit ihr verbündet
Und inniglich vertraut,
Und wird von ihr entzündet.
Als war sie seine Braut, etc.
Derselbe Novalis hat im Jahre 1798 an seine Mutter zu
ihrem 49. Geburtstage ein Gedicht gerichtet, das in unseren Aus^
gaben »An die Fundgrube Auguste« überschrieben ist.
Glück auf, Fundgrube, das Säkulum
Ist nun zur Hälfte für dich bald um.
Viel edle Geschicke hast du beschert
Und gute Wetter uns immer gewährt.
Zum Glück des Bergmanns streiche dein Gang
Geschart mit freundlichen Gängen noch lang.
In dem Orestes des griechischen Mythus haben wir die am*
scheinend vollkommenste Inversion der Mutterneigung vor uns.
Seine ehemals positive Natur im Sinne des Ödipuskomplexes, wie
sie die Analysen Ranks erschlossen haben 1 , ist nur noch im Namen
erhalten, der »durchsichtiger als sehr viele andere« Etymologien 2
»Bergmann« bedeutet.
Auch Gyges, der Besitzer des wunderbaren Ringes, ist
eigentlich so ein Bergmann. Die Motivgestaltung dieser Geschichte
ist ja durchsichtig genug und man braucht sie wohl gar nicht mehr
in ihrer Gänze zu entwickeln 3 . Bekanntlich wird sie zuerst von
Herodot erzählt <1, 7>, dann auch von Platon (Staat II, 3>. Ich setze
die letztere Darstellung, da sie ein wichtiges Motiv enthält, hieher:
Eine völlige Freiheit, an die ich soeben dachte, hätten jene beiden
wohl so am ausgiebigsten, wenn sie über eine Macht verfügten, wie sie
etwa Gyges, des Lyders Vorfahr, besessen haben soll, der sich gerade
bei dem damaligen Herrscher von Lydien im Dienste befand, als ein
schreckliches Gewitter und Erdbeben entstand. Die Erde vor ihm barst,
und wo er eben weidete, gähnte ihm ein Schlund entgegen. Voll Staunen
sah er ihn, stieg hinunter und erblickte dort — nach der Erzählung der
Leute gar manche Wunderdinge, worunter auch ein ehernes Pferd, hohl,
mit Fenstern, durch die er sich zwängte. Im Innern jedodi erblickte er einen
Leichnam von — wie ihm schien — überirdischer Größe. Nichts weiter
trug er an sich: nur einen Goldreif an der Hand,* den zog ihm jener ab
und stieg sodann ans Licht. Als dann die Hirten wie gewöhnlich sich ver^
sammelten, um vor dem Könige den monatlichen Rechenschaftsbericht zu
geben über ihren Hüterdienst, war auch er mit seinem Ring gekommen,*
mitten unter allen andern saß er da. Da, als er ganz zufällig den Ring
nach innen drehte, so daß der Stein in die Handfläche schaute, war er mit
einem Male für seine Nachbarn unsichtbar! Sie redeten von ihm, als sei
er nicht mehr da. Wie groß war sein Erstaunen! Noch einmal berührte
1 Das Inzestmotiv, p. 328 ff.
2 Radermacher, Das Jenseits im Mythus der Hellenen, p. 54.
3 Vgl. über Gyges auch Otto Rank, Die Nacktheit in Sage und Dichtung,
Imago II, p. 436.
Die Geschichte des Bergmanns von Falun
293
er den Ring und drehte ihn, jetzt nadh außen — sofort erblickte man ihn
wieder!
Auf diese Wahrnehmung hin stellte er den Ring auf die Probe, ob
er wirklich solche Macht berge, und es glückte ihm stets, sich durch die
Umdrehung des Steins nach innen unsichtbar, durch die nach außen sichtbar
zu machen.
Nach dieser Entdeckung setzte er es rasch durch, unter die Besten
des Königs aufgenommen zu werden. Zur Königin begab er sich, verführte
sie, verschwor sich mit ihr zu einem Anschlag auf den König und machte
sich selber zum Herrscher- <Nach der Übertragung von Preisendanz.)
Das Ödipusmotiv in der Geschichte von der Gewinnung der
Königin und der Ermordung des Königs bedarf keiner Interpretation.
Hingegen werden wir vermuten dürfen, daß die einzelnen Züge der
Vorgeschichte, die uns zunächst unverständlich sind, ihren Sinn darin
haben werden, daß sie die mehr oder weniger manifeste spätere
Darstellung des Hauptmotivs in symbolischer Form vorausnehmen.
Die Deutung des wunderbaren Ringes bietet keine Schwierigkeit: er
ist ein Vaginasymbol/ damit erklärt sich auch seine Fähigkeit,
»unsichtbar« zu machen. In seiner Erwerbung haben wir das Symbol
für die Gewinnung der »Königin«. — Er zieht den Ring einem
Leichnam von übermenschlicher Größe ab, d. h. er muß den frü¬
heren Besitzer der Königin gewaltsam beseitigen. — Im weiteren
Zurückschreiten stoßen wir auf eine auffallende Häufung von Sym¬
bolen. Der Ring an der Hand der überlebensgroßen Gestalt ist ja
an sich ein soldhes für den Besitz der Königin <Gattin, Mutter),-
wenn wir aber weiterhin Jungs Deutung des Pferdes als Mutter^
symbol 1 versuchsweise als richtig annehmen — es fehlt nämlich
vorläufig dafür an eigentlichen Beweisen — so stehen wir vor der
Tatsache, daß eine und dieselbe Gestalt <die Mutter) auf zweifache
Weise dargestellt ist. Wollten wir diese doppelte Darstellung er^
klären, so könnten wir die Vermutung aussprechen, daß der Ring
als Symbol vom Standpunkt des Vaters und Gatten, das Pferd vom
Standpunkt des Sohnes (Mutterleib, vgl. Jung 1. c.) zu gelten habe
und daß das Nebeneinander derselben die beabsichtigte Identifikation
des Sohnes mit dem Vater anzeige. — Die Reihe der Einschachte¬
lungen ist jedoch noch nicht zu Ende. Das eherne Pferd befindet sich
wieder in einer unterirdischen Höhle: deren Bedeutung kennen wir
bereits,- eben dieser Höhle wegen, in die der Held hinabsteigt, haben
wir ja die Geschichte des Gyges hier angeführt. Diese keineswegs
seltene Symbolhäufung soll einerseits das Tiefverborgene und Un¬
zugängliche des versinnbildlichten Gegenstandes bezeichnen, bietet
aber anderseits eben durch die mehrfache Ausdrucksweise dem
Psychanalytiker ein Mittel, von irgendeinem Punkte aus zu ihrem
Verständnis zu gelangen. — Betrachten wir schließlich noch den
Anfang der Geschichte genauer. Bei einem schrecklichen Gewitter
1 WSL, p. 296 <S.-A. 245).
294
Dr. Emil Franz Lorenz
zerbirst die Erde und ein Schlund öffnet sich, durch den der Held
hinabsteigt. Man wird nicht fehlgehen, wenn man als objektiven
Ausgangspunkt für die ganze Phantasie dieses Gewitter, sowie
seinen subjektiven Reflex, einen starken Angstaffekt ansetzt. Dann
ist jenes Hinabsteigen in die Erde eine Rückkehr zur schützenden
Mutter, eine Uterusphantasie in dem von uns früher <nach Ferenczi
und Jung) festgestellten Sinne 1 . Es bleibt jedoch nicht bei dieser
negativen Reaktion gegenüber dem Angstaffekt. Das Bewußtsein
reagiert darauf positiv, in der Weise, daß es mit Hilfe der mytho**
logischen Apperzeption dem angsterregenden Himmelsvorgang des
Gewitters einen menschlich begreiflichen Sinn verleiht. Das Gewitter
gilt aber allerwege als Begattung des Himmels mit der Erde 2 , wobei
der Zeugungsvorgang unter dem Bild des die Erde durchbohrenden
Blitzes vorgestellt wird. So verbindet sich also die negative Reaktion,
die in der Uterusphantasie zutage tritt, mit der positiven der Bildung
des Welteltern-Motivs, bei dem Himmel und Erde in ihrer Um^
armung angeschaut werden. Die Folge davon ist, daß sich die
Uterusphantasie nachträglidi in derselben typischen Weise mit
einer Inzestphantasie verbindet, wie wir es oben bei der Analyse
der Träume des Elis Fröbom dargestellt haben.
Die affektive Verknüpfung, die versuchte und gehinderte Idem*
tifikation des Helden mit dem sich umfangenden Weltelternpaar ist
dann die Ursache der nicht mehr objektiv <auf Bedrohung der Ich**
tendenz) begründeten, sondern libidinösen Angst, die sich dann in
symbolischen Phantasien entlädt und in der Phantasie von der Ver**
führung der Königin und Beseitigung des Königs endgiltig abreagiert
wird und für uns, die die Runen des Unbewußten ohne Trans**
skription nicht mehr zu lesen vermögen, zuerst einen verständlichen
Ausdruck gewinnt.
Das bei Hofmannsthal und in dem oben <p. 265) angeführten
Traum sich findende Versinken in einen unterirdischen Raum hat
als Grundlage dasselbe Traumerlebnis, das bei Fausts Abstieg
zu den Müttern Verwendung gefunden hat. Die Mütter werden
von den Erklärern allgemein als die schöpferischen Naturkräfte,
als die personifizierten platonischen Ideen erklärt. Um Helena, das
Urbild der Schönheit, ans Tageslicht zu rufen, müsse Faust sich mit
den Ideen der Dinge selbst, ihrem Maß, ihrer Ordnung, in denen
das Wesen der Schönheit bestehe, nicht nur durch äußeres Anschauen,
sondern gleichsam von innen heraus in eins setzen. Wir können
vielleicht in unserer Sprache kürzer sagen, daß Faust, vor die Auf¬
gabe einer schöpferischen Tat gestellt, das Wunder der Schöpfung
nur durch die zeitweilige Rückkehr in den schöpferischen Schoß der
Erde, der Natur oder der Mutter zu vollbringen vermag. Eine
1 Vgl. die schützende Mutter der polynesischen Erzählung von der Windflut
Imago II, p. 30.
2 Urindogermanisch nach Sigmund Feist, Kultur, Ausbreitung und Her*'
kunft der Indogermanen. Berlin 1913, p. 341.
Die Geschichte des Bergmanns von Falun
295
nähere Erörterung des ganzen Themas darf ich indes jetzt mit dem
Hinweis auf Jungs Ausführungen <WSL II, Jahrb. IV 1, p. 249f.)
unterlassen. Es ist nur ein Motiv in der Szene, wo Faust von Me^
phistopheles von der ihm bevorstehenden Aufgabe unterrichtet wird,
welches noch kurz besprochen werden soll. Wir finden nämlich, daß
im Faust wie in der Szene zwischen Elis und der Königin im
Drama Hofmannsthals das in Aussicht stehende wie das unmittel¬
bare Erlebnis in dem Bewußtsein des Helden die Affekte der Angst,
des Schauderns, des Grauens hervorruft, ja daß es genau dasselbe
Wort ist, bei dem dieser Abwehraffekt ausgelöst wird.
Mephistopheles:
Ungern entdeck' ich höheres Geheimnis. —
Göttinnen thronen hehr in Einsamkeit,
Um sie kein Ort, noch weniger eine Zeit,
Von ihnen sprechen ist Verlegenheit.
Die Mütter sind es!
Faust <aufgeschreckt>:
Mütter!
Mephistopheles:
Schauderts dich?
Faust:
Die Mütter! Mütter! — 's klingt so wunderlich!
Mephistopheles:
Der Schlüssel wird die rechte Stelle wittern,
Folg' ihm hinab, er führt dich zu den Müttern!
Faust (schaudernd):
Den Müttern! Trifft's mich immer wie ein Schlag!
Was ist das Wort, das ich nicht hören mag?
Im »Bergwerk zu Falun«, spricht die Königin, die verklärte
Traumgestalt von Elis' Mutter, das Geheimnis des Grauens, das
Elis vor ihr empfindet, selbst aus:
Ihr kennt das Angesicht des Wesens,
Das euch geboren, nennt es Mutter,
Wohnt unter einem Dach mit ihm, berührt es,
Das macht mich schaudern, wenn ich's denken soll.
Man bemerkt, daß im »Faust«, wo der eigentliche Aufenthalt
bei den Müttern nicht geschildert ist, der Affekt bereits durch den
Klang des Namens hervorgerufen wird. Das Schaudern vor der
bloßen Berührung wird man als die Überkompensation des der
ganzen Phantasie in der oben besprochenen Weise enge vergeselU
schäfteten, aber verdrängten Inzestwunsches deuten dürfen, was dann
bei unserer Auffassung des Inzestmotivs das Schaudern der Indi¬
vidualität ist vor dem Versinken in das unterschiedslose All-Eine,
296
Dr. Emil Franz Lorenz
in den mütterlichen »Grund, der da grundlos ist« <Eckehard>, dem
wir stets entfliehen und in den wir stets wieder zurückgleiten.
Im Märchen ist das Höhlensymbol und das Motiv des Ab^
stiegs in die Erde sehr oft zur Ausgestaltung der Unterwelts- und
Jenseitsvorstellungen verwendet. Eine eingehende Untersuchung der
letzteren, besonders auch der Hadesstrafen, würde überhaupt ihr
stark sexuelles Moment an den Tag bringen 1 . Hier nur einige
Beispiele.
In einem sizilischen Märchen bei L. Gonzenbach 2 steigt ein
Abbatino <junger Kleriker) durch einen Brunnen zur Unterwelt hinab,
um die Königstochter zu erlösen. Durch eine silberne, goldene und
demantene Türe gelangt er in einen wunderschönen Garten, steigt
über eine Treppe und kommt in einen Saal, wo er sich an Speisen
sättigt. Durch einen Kampf mit einem Lindwurm und einem Riesen
gelingt es ihm schließlich, die Prinzessin zu erlösen.
In dem Märchen vom starken Hans <bei Grimm Nr. 189) ist
erzählt, wie der Held nach der Geburt mit seiner Mutter von
Räubern geraubt und in einer Höhle gefangen gehalten wird. Im
neunten Jahre faßt er den Entschluß, sich und die Mutter zu
befreien und fordert den Hauptmann zum Zweikampf heraus. Er
wird indes besiegt und wiederholt ein Jahr später seinen Versuch,
diesmal mit günstigem Ausgang (Motiv von dem in der Erde ein-*
geschlossenen Sproß des Himmels und der Erde mit dem Kampf
gegen seinen Vater: Welteltern- und Titanenmythus). — Eine ganz
hervorragend schöne Parallele bietet uns ein polynesisches Märchen
aus der Legende von Maui, einem Kulturheros von der Art des
griechischen Prometheus. Dieses Märchen ist ungemein reich an schon
bekannten typischen Zügen, aber auch in der mir vorliegenden
Gestalt 3 aus zwei zum Teil nicht genau aneinanderpassenden Stücken
zusammengesetzt. Eine Behandlung der Überlieferung nach dieser
Richtung muß hier schon aus äußeren Gründen unterbleibenes
genügt, darauf hinzuweisen. Aber auch die psychologische Behandlung
wird sich auf einige kurze Hinweise beschränken dürfen. Der Leser
wird nicht ungehalten sein, wenn man ihm etwas zu denken
übrig läßt.
Die merkwürdige Geschichte seiner Geburt erzählt Maui seiner Mutter
mit eigenen Worten folgendermaßen:
»Ich weiß, ich war vorzeitig an der Meeresküste geboren und wurde,
nachdem du mich in eine Locke deines Haares gewickelt hattest, welche du
dir zu dem Zwecke abschnittest, in den Meeresschaum geworfen. Da um^
schlang mich das Seegras mit seinen langen Flechten, formte und bildete
1 Das Volk ersinnt mit Vorliebe die Strafen für Hagestolze und alte Jung-*
fern,* vgl. Haberlandt, Altjungfernschicksal nach dem Tode, Globus Bd. 34/ Otto
Was er, Danaos und die Danaiden, Arch. f. Religionswsch., Bd. II.
2 Sizilische Märchen II, p. 40, Nr. 63.
3 George Grey, Polynesian Mythology, London 1855. Ich habe die Über^
tragung an einigen unwichtigen, besonders bezeichneten Stellen gekürzt.
Die Geschichte des Bergmanns von Falun
297
mich, die weichen Schleimfische * 1 wickelten sich um mich, mich zu beschützen,
Myriaden von Fliegen summten um mich herum und legten ihre Eier auf
mich, damit die Maden mich essen möchten. Schwärme von Vögeln sam^
melten sich um mich, um an mir zu picken. Aber in dem Augenblick
erschien mein großer Ahnherr, der Himmel, Tama^nuUkUte^Rangi, und er
sah die Fliegen und die Vögel. Der alte Mann eilte, so schnell er konnte,
herbei, löste die umwickelten Schleimfische ab, und fand da ein menschliches
Wesen.« Nicht lange nach dieser seiner Rettung begibt sich Maui auf die
Suche nach seinen Eltern und Geschwistern. Er findet sie im Gesellschaft^
haus <house of assembly) und gibt sich dort unter Erzählung seiner Ge¬
schichte der Mutter zu erkennen, die über seine Rettung hocherfreut ist.
»Nach dem Gespräch, das bei dieser Gelegenheit stattfand, rief seine
Mutter Tarango ihren Letztgeborenen und sprach: ,Komm her, mein Kind,
und schlafe mit der Mutter, die dich geboren, damit ich dich küssen möge
und damit du mich küssen mögest/ Und er lief, um mit seiner Mutter zu
schlafen. Da waren seine älteren Brüder eifersüchtig und begannen darob
zueinander zu murmeln: Das ist wirklich sehr gut, uns fordert unsere
Mutter niemals auf, mit ihr zu gehen und zu schlafen, und wir sind doch
die Kinder, deren Geburt sie tatsächlich gesehen hat und über deren Ab^
stammung es keinen Zweifel gibt.« Indessen gelingt es den beiden älteren
Brüdern, diese der Eifersucht entsprungene Erregung zu beschwichtigen.
»Es war jetzt Nacht, aber frühmorgens erhob sich Taranga und
plötzlich, in einem Augenblick, war sie aus dem Hause verschwunden, in
dem ihre Kinder wohnten. Sobald sie erwacht waren, schauten sich alle
vergeblich um, denn sie konnten sie nicht mehr sehen,- die älteren Brüder
wußten, daß sie das Haus verlassen hatte, und waren es schon so gewohnt,
aber der kleine Junge war außerordentlich beunruhigt. Doch er dachte: Ich
kann sie nicht sehen, das ist wahr, aber vielleicht hat sie sich nur entfernt,
um etwas zum Essen für uns zu richten. Nein — nein — sie war fort
— weit, weit hinweg.«
Das wiederholt sich einigemal; da gebrauchte Maui, um seine Mutter
festzuhalten, eine List. Er »kroch in der Nacht aus dem Bette und stahl
seiner Mutter ihre Schürze, ihren Gürtel und ihre Kleider und versteckte
sie. Dann stopfte er jeden Spalt in dem hölzernen Fenster und im Torweg
zu, damit das Tageslicht nicht hineinfallen und seine Mutter erwecken
könnte. Aber nachdem er das getan hatte, fühlte sich sein kleines Herz recht
angstvoll und beklommen, seine Mutter könnte in ihrer Ungeduld in der
Dunkelheit erwachen und seine Pläne vereiteln«. Die Mutter erwacht
schließlich, kann sich die Dunkelheit nicht erklären und schläft wieder ein¬
schließlich springt sie auf, findet sich ganz nackt und beginnt nach ihren
Kleidern zu suchen. »Dann lief sie hin und riß die Dinge heraus, mit denen
die Luken in den Fenstern und den Türen verstopft waren, und indem sie
das tat, o du meine Güte! da sah sie die Sonne bereits hoch am Himmel
stehen. Da riß sie, als sie davonlief, den alten Lappen eines Flachsmantels,
mit dem das Tor verstopft gewesen war, an sich und warf sich ihn um, als
ihre einzige Bedeckung,- schließlich ins Freie gelangt, lief sie eilends davon,
weinend bei dem Gedanken, von ihren eigenen Kindern so übel behandelt
1 the soft jelly^fishes. Eine Patientin von C. G. Jung sagte, als er ihr
Aufklärungen über den Zustand des Embryo gab: It makes me squirm, as if
I touched a jelly-fish. <Vgl. Jahrb. f. psa. u. ps.^path. Forsch. IV, 1, p. 361,
dazu p. 286.)
293
Dr. Emil Franz Lorenz
worden zu sein . . . Sie gelangte hinab zu einem Rasenfleck, riß ihn schnell
vom Erdboden weg und sprang in eine Höhle unterhalb desselben hinein
und indem sie den Rasenfleck wieder auf die Höhle daraufwarf, als ob er
ihr Verschluß wäre, verschwand sie. Da sprang der kleine Maui auf seine
Füße und lief, so schnell er konnte, aus dem Hause, zog den Rasenfleck
weg und entdeckte beim Hinabgucken eine wunderschöne Höhle, die ganz
tief in die Erde hineinlief.« Maui eilt nach Hause zurück, weckt seine
Brüder auf und fragt sie, wo seine Eltern seien. Sie antworten ihm:
»Meinst du den Platz finden zu können, den du zu sehen so gespannt bist?
Welche Bedeutung hat er für dich? Kannst du nicht ruhig bei uns bleiben?
Was kümmern wir uns um unseren Vater oder um unsere Mutter? Hat sie
uns genährt mit Speise, bis wir zu Männern herangewachsen sind? Keine
Spur davon! Lins haben der Himmel, die Erde und . . . <die Kräfte der
Natur ) 1 ernährt.« Maui entgegnete: »Was ihr sagt, ist völlig richtig, aber
solche Reden würden eher mir geziemen, da ich im Meeresschaum genährt
und mit Speise versehen wurde. Erinnert euch der Zeit, da ihr an der
Brust eurer Mutter lagt. Ihr konntet unmöglich früher die verschiedenen
Arten von Speisen, die ihr erwähntet, essen, ehe ihr aufgehört hattet, von
ihrer Milch ernährt zu werden. Aber was mich betrifft, o meine Brüder,
ich habe niemals einen Teil bekommen weder von ihrer Milch noch von
ihrer Nahrung, und doch liebe ich sie, einzig und allein aus dem Grunde,
daß ich in ihrem Leibe gelegen bin. Und weil ich sie liebe, wünsche ich den
Platz zu wissen, wo sie und mein Vater sich aufhalten. — Seine Brüder
waren von dieser Rede sehr überrascht und erfreut und munterten ihn auf,
nach den Eltern zu suchen.« Er verwandelt sich zu dem Zweck in eine
Taube, eine Gestalt, die seinen Brüdern ausnehmend gut gefällt. Was ihn
so schön machte, war der Gürtel und die Schürze seiner Mutter, die er ihr
damals entwendet hatte, als sie im Schlafe lag.
»Dann flog er fort, bis er zu der Höhle kam, in die seine Mutter
hinuntergelaufen war,- er hob den Rasenfleck empor, dann ging er hinab,
verschwand in der Höhle und verschloß wiederum die Mündung, um die
Eingangsstelle unkenntlich zu machen. Er flog drinnen mit sehr großer
Schnelligkeit fort und zweimal stieß er sich die Flügel an, weil die Höhle
eng war,- bald gelangte er in die Nähe des Bodens der Höhle und flog
entlang desselben,- und wiederum, weil die Höhle so eng war, stößt er
zuerst mit der einen, dann mit der anderen Schwinge an: aber jetzt er*
weitert sich die Höhle und er eilt geradeaus weiter. Schließlich sah er eine
Schar von Leuten einherziehen, unter einem Gehölz von Manapaubäumen,
und weiterfliegend setzt er sich auf die Spitze eines dieser Bäume, unter
welche die Leute sich gelagert hatten. Und als er seine Mutter unten im
Gras an der Seite ihres Gatten liegen sah, da erriet er sofort, wo sie wären,
und er dachte: Ah, da sitzt mein Vater und meine Mutter gerade unter
mir,- und bald hörte er auch ihre Namen, da sie von ihren Freunden ange*
redet wurden, die bei ihnen saßen. Da sprang die Taube herunter und
setzte sich auf einen anderen Zweig, ein wenig niedriger, pickte eine von
den Beeren des Baumes ab, warf sie behutsam hinunter und traf den
Vater damit an der Stirne. Da sagten einige aus der Gesellschaft: War
es ein Vogel, der das hinuntergeworfen hat? Doch der Vater sagte darauf:
Es war nur eine Beere, die zufällig heruntergefallen ist. — Da pflückte die
Taube wieder einige Beeren ab und warf sie mit aller Kraft hinunter und
Im Text einzeln aufgezählt.
Die Geschichte des Bergmanns von Falun
299
traf sowohl Vater wie Mutter 1 . Sie schrien auf, die ganze Gesellschaft
sprang auf und blickte auf den Baum, und als die Taube zu girren begann,
fanden sie es nach dem Geräusch bald heraus, wo sie verstecht saß, zwischen
Laub und Ästen. Und allesamt begannen sie mit Steinen nach ihr zu werfen,
sie warfen aber ziemlich lange Zeit, ohne sie zu treffen. Schließlich ver^
suchte der Vater nach ihr zu werfen. Ah, er traf sie, Maui hatte es selbst
so angestellt, daß er von dem Stein getroffen würde, den sein Vater
nach ihm warf 2 . Denn ohne seinen Willen hätte ihn niemand treffen
können,- er war getroffen gerade an seinem linken Bein, hinab fiel er und
als er flatternd und sich abmühend am Boden lag, da liefen sie alle hinzu,
um ihn zu fangen. Aber siehe, die Taube hatte sich in einen Menschen
verwandelt.« — Taranga bemerkt, der Mann sähe ähnlich aus wie einer,
den sie sah, als sie allnächtlich ihre Kinder zu besuchen pflegte. Sie erzählt
von der Fehlgeburt und erkennt schließlidi Maui wieder: »Willkommen,
o mein Kind, willkommen, durch dich wird später einmal die Schwelle des
Hauses deiner großen Vorfahrin Hine*nuLte-po erstiegen werden und
der Tod soll von da an keine Macht mehr haben über die Menschen.«
Maui kehrt, nachdem er von seinem Vater getauft worden (wahrscheinlich
christliche Umdeutung einer Pubertätszeremonie) zu seinen Brüdern zurück.
Der oben erwähnte Widerspruch besteht offensichtlich darin,
daß die Geschichte der Wiedererkennung des Maui im Gesellschafts¬
haus die Mutter als lebend voraussetzt, während die sich unmittelbar
anschließende Erzählung des Besuchs der Mutter während der Nacht
<d. h. allen Anzeichen nach wohl im Traum), ihr sofortiges Verschwind
den beim Erwachen, die Suche Mauis nach ihr und ihre Entdeckung
unter der Erde <d. h. in der Unterwelt) den Tod der Mutter vor-
aussetzt. Möglicherweise wäre dieser Widerspruch mit dem Hinweis
auf die Unklarheit eines infantil gearteten Denkens zu entkräften,
das den Tod mit dem Fortgehen und das Fortgehen mit dem Tod
verwechselt. Von Bedeutung wäre natürlich auch die astrale Be-
deutung des Mythus (Maui = Sonne, die Mutter der Mond). —
Was das Analytische betrifft, so ist auf die Darstellung des Ein^
dringens in die Unterwelt hinzuweisen, die deutlich sexuellen Cha¬
rakter hat (Verwandlung in eine Taube, fliegen in dem engen Schacht).
Wir haben noch die spezielle Deutung der Motive in der
oben (p. 253 f.) angeführten Arnimschen Ballade nachzutragen. Der
Grund, aus dem wir das bis jetzt verschoben haben, liegt in dem
Umstand, daß sie zwar der Reihe E. T. A. Hoffmann, Richard
Wagner, Hugo von Hofmannsthal, die wir als ein zusammen¬
gehöriges Ganzes behandelten, zeitlich vorangeht, sich jedoch durch
einzelne Motive für eine erste Analyse weniger zugänglich erweist.
Es ist in dieser Ballade erst von einem Brunnen die Rede, in dem
sich ein Knabe bespiegelt. Dieser Brunnen geht aber unvermerkt in
ein Bergwerk über, aus dem der Knabe Schätze emporschafft 3 . Wir
1 Beeren spielen oft eine Rolle bei parthenogenetischer Befruchtung.
2 Sühne, die er sich selbst für den Angriff gegen den Vater auferlegt.
3 Die Bedeutung des letzteren Motivs gebe ich hier nicht. Der Leser wird
sie aus Ferenczis Abhandlung über die ontogenetische Wurzel des kapitalistb*
sehen Triebes entnehmen können.
300
Dr. Emil Franz Lorenz
kennen aber aus der Volkskunde die Symbolik des Brunnens (Ge¬
burt aus dem Brunnen etc.) und wissen demgemäß, daß Brunnen
und Bergwerk dasselbe bedeuten. »Im Märchen korrespondieren
Höhle oder Loch oder Brunnen. Ein Loch, von den herrlichsten
Blumen umstanden, führt tief in die Erde zur Hölle nach einem
lappländischen Märchen (Poestion Nr. 52)« L — Von Bedeutung ist
es für uns, daß die Geschichte bei Achim von Arnim in mancher
Beziehung noch mehr ins Infantile zurückgerückt ist. Dann klingt es
aber wieder daraus hervor, in Stimmung und Rhythmus, wie ein
ferner Nachhall einer keimenden Erotik, die sich aus der Schwüle
der Pubertät in sehnsüchtigem Forscherdrang zu einer helleren Er^
kenntnis durchgerungen hat und sich im Besitze derselben ungehemmt
ihren Phantasien hingibt. Zu diesen gehört in erster Linie der
Brunnen, das symbolische Forschungs* und Libido-Objekt,* wie aber
zu dem Bilde des Bergwerks in den anderen Bearbeitungen des
Themas das realere Objekt der Königin hinzutritt, so auch hier: in
dem Brunnen sieht er die Bergkönigin 1 2 . Daß er mit ihr seinen Fest^
tagskuchen teilt, könnte man für einen rein individuellen auf irgend
eine konkrete Kindheitserinnerung des Dichters zurückgehenden Zug
halten, wenn wir nicht wüßten, daß das gemeinsame Essen ein sym^
bolischer Akt ist, was schon Novalis intuitiv erfaßt hatte, als er
in seinen Fragmenten 3 schrieb:
Das gemeinschaftliche Essen ist eine sinnbildliche Handlung der Ver^
einigung. Alle Vereinigungen außer der Ehe sind bestimmt gerichtete, durch
ein Objekt bestimmte und gegenseitig dasselbe bestimmende Handlungen.
Die Ehe hingegen ist eine unabhängige Totalvereinigung. Alles Genießen,
Zueignen und Assimilieren ist Essen oder Essen ist vielmehr nichts als
eine Zueignung.
Oder die Schlagworte an anderer Stelle 4 :
Synthesis von Mann und Weib. (Grund der Gastfreundschaft der
Alten — Abendmahl, gemeinschaftliches Essen und Trinken ist eine Art Ver^
einigung, ein Generationsakt).
Mit E. T. A. Hoffmann und den von ihm angeregten Be^
arbeitungen hat die Ballade noch das Eifersuchts^ und Verschüttungs^
motiv gemeinsam. Indes zeigt die psychologische Motivierung im
1 Radermacher, Das Jenseits etc., p. 87 h
2 Der Name der großen vorderasiatischen Muttergottheit Kybele bedeutet
»Höhle, Gemach« (x'ößeha ävzQa xai fiala/noL Hesych). Er bezeichnet »die typU
sehen phrygischen Felsenheiligtümer der kleinasiatischen Höhlenbewohner der Urzeit.
Demgemäß werden die Kultbilder der ,Kybele' dort, wo die heilige Höhle —
Mutter und Geburtstätte des Gottkindes zugleich — der religiösen Phantasie der
eingewanderten Arier nicht mehr genügt, in seltsamer Weise aus dem Felsen selbst
herausgehauen, so daß die Göttin — sie, die selbst der ,Berg' oder ,FeIsen',
das ,Haus des Berges' und die ,Höhle' ist — zwischen den ebenfalls aus dem
Felsen gehauenen Flügeltüren der Höhle sichtbar wird«. Robert Eisler, Kuba**
Kybele, Hermes 68. Bd., p. 143 f.
3 Werke, herausgeg. v. Minor, III, p. 65 f.
♦ ibid. II, p. 210.
Die Gesdiidite des Bergmanns von Falun
301
einzelnen noch manche Schwächen, die erst durch die wunderbaren
Intuitionen Hoffmanns beseitigt wurden, der den Stoff neun Jahre
später, ohne Zweifel auch durch Arnim angeregt, aufgriff und jenes
psychologische Kunstwerk schuf, das wiederum im Geiste Hof¬
mannsthals — wie wir nach dem Vorspiel glauben behaupten zu
dürfen — zu einer schlackenlosen Verkörperung von Phänomenen
des unbewußten Seelenlebens geführt hat. — Es wäre zu wünschen,
daß der Dichter, der unterdessen in »Ödipus und die Sphinx« das
Geheimnis der Bindung an die Mutter in den wundervollen Versen
vor uns ausgebreitet hat, die Ödipus zu Phönix spricht, auch »Das
Bergwerk zu Falun«, als das geläutertste Endglied in der literarU
sehen Entwicklung unseres Motivs, der Veröffentlichung nicht länger
entziehen möge.
rfcsrta
302
Bücher
Bücher.
ARTHUR SCHNITZLER ALS PSYCHOLOGE.
Von Dr. Theodor Reik.
Mit Vergnügen darf festgestellt werden, wie sehr sich seit dem letzten
Buch desselben Verfassers über Flauberts »Tentation« — sein Auge ge*
schärft, sein psychologisches Gesichtsfeld erweitert hat. Er begnügt sich nicht
mehr mit den ungefähren Umrißlinien des unbewußten Seelenlebens, sondern
folgt ihm durch seine Windungen und Entstellungen, Schichtungen und Kom*
promisse hindurch und weiß die feinsten Ausläufer, die zartesten Details
seiner Deutungskunst dienstbar zu machen. Ohne den Ödipuskomplex zu
vernachlässigen, zieht er die anderen, für das Unbewußte bedeutungsvollen
seelischen Mechanismen in den Kreis seiner Beobachtung, vor allem die
»Allmacht der Gedanken«, die Beziehungen zwischen Eifersucht und Homo*
Sexualität, das Problem der Vergänglichkeit des Ich und des Narzißmus.
Dadurch hält sich das Buch von der pedantischen Monotonie frei, die die
Gefahr solcher Untersuchungen bildet, der Gedankenzug erhält Fülle und
Geschmeidigkeit und wird so den untersuchten Dichtungen näher gerückt
und besser geeignet, ihnen in der eigenen Weise gerecht zu werden.
Besonders genußvoll ist es, an der Hand des Autors die Wege zu
verfolgen, auf denen die Motive Schnitzlers wandeln und mitanzusehen,
wie sie, im Innersten unverändert, sich einer pathetischen oder ironischen,
wichtigen oder nebensächlichen Verwendung anzupassen verstehen. Durch
solche Enthüllungen läßt sich auch der Behauptung am besten begegnen ,
die Psychoanalyse verkleinere gewaltsam die Persönlichkeit des Dichters und
mindere die Empfänglichkeit für seine Werke,* denn erst nach der Zurücks
führung auf die wenigen, ewig wiederkehrenden Grundmotive kann man das
Verdienst des Künstlers nach Gebühr bewundern, der aus so geringem
Stoffe den unzerstörbaren Eindruck reichster und verwirrender Vielgestalt
hervorzuzaubern vermochte.
Ein kühnes Unterfangen Reiks ist es, die Träume, die Sdmitzler in
seine Werke eingestreut hat, nach den Regeln der »Traumdeutung« auf*
zuklären ,* daß dieses Wagnis so vollkommen gelungen ist, darf sich wohl
nicht nur der Psychoanalytiker zur Ehre rechnen, sondern auch der Dichter,
der bei der Komposition gewiß rein intuitiv, ohne Rücksicht auf wissen*
schaftliche Befunde vorgegangen ist. Natürlich muß von einer gewissen
Schichte an die erfundene Gestalt des Träumers mit der ihres Erfinders in
Eins zusammenschmelzen und von da ab läßt sich die Deutung nicht mehr
als ästhetisches Experiment, sondern nur als persönliche Analyse fortsetzen.
So läßt sich etwa, wenn Georg Wergenthin von den »Partituren« träumt,
die er bei der Ankunft in Amerika vorzeigen muß, vermuten, daß zwar
nicht der träumende Musiker, wohl aber der dichtende Arzt von der Ver*
wandtschaft des Wortes mit der Bezeichnung einer Schwangeren als »pari*
tura« beeinflußt wurde. Zu Reiks Deutung dieses Traumes ließe sich noch
hinzufügen, daß er die Situation Georgs im Sinne seines Wunsches ab*
ändert: er macht aus der Reise zu Anna hin, auf welcher der Schläfer be*
griffen ist, eine Fahrt von ihr weg nach Amerika. Darin liegt wohl der
nächste Anlaß für das Schuldgefühl, das den ganzen Traum durchzieht,* der
zweite Traum dient dann dazu, das böse Gewissen zu beschwichtigen, da
er heimkehrend seinen inzwischen herangewachsenen Sohn und Anna, beide
blühend und glücklich, wiederfindet.
Bücher
303
Sehr zutreffend und wertvoll sind die Ausführungen Reiks über die
unsichtbare aber entscheidende Rolle, die der tote Vater Georgs in »Der
Weg ins Freie« spielt: beginnt doch der Roman damit, daß Georg v. Wer*
genthin zum erstenmal, seitdem sein Vater aus der Reihe der Lebenden
geschieden ist, seinen Blick und sein Interesse wieder der Umwelt zuwendet.
Sein Verhältnis zu den Menschen hat sich während der ersten Trauer, ohne
daß er es weiß, gewandelt,- wie er nun, von den Eindrücken, die der Tod
des Vaters in seinem LInbewußten hinterlassen hat, gehemmt, tastend und
unsicher eine neue Einstellung sucht, ist das Thema des Romans, und
wie er schließlich, durch den heimlich ersehnten Tod des Kindes begünstigt,
die vorzeitige Identifikation mit dem Vater abschüttelt, das ist der eigent¬
liche »Weg ins Freie«.
Schnitzler hat es verschmäht, das Verhältnis zwischen Vater und
Sohn unmittelbar darzustellen, er läßt es nur unterirdisch fortwirken. Von
den Gefühlen des Sohnes wird uns nur die eine, bewußtseinsfähige Hälfte
angedeutet, in der Kindesliebe, Bewunderung, Pietät und Dankbarkeit
sich zu einem Gefühl der Hingebung und Sehnsucht mischen,- die an*
dere, dunklere, läßt sich kaum erraten. So konnte kein Werk entstehen, das
durch das Feuer und die Wahrheit seiner Leidenschaft mitreißt und die
Menschengemüter in ihren Grundvesten erschüttert, das Raum und Zeit in
seiner Wirkung nicht abzuschwächen vermögen. Statt dessen hat der Dichter
es verstanden, die unbewußten Gefühle wie Rufe aus einem fernen Geister*
reich über sein Werk hinwehen zu lassen, eine Stimmung von einzig¬
artiger, herber Süße daraus zu keltern, die trivialste Episode in ihrem abend¬
stillen Abglanz zu vergolden, so daß sie uns teuer wird, wie ein schönstes
eigenes Erleben.
Wir dürfen von dem Autor, dem wir ein neues Verständnis
Schnitzlers und der von seinen Werken ausgehenden Wirkungen ver¬
danken, nicht Abschied nehmen ohne ihn aufzufordern, sich ein paar kleine
Schwächen abzugewöhnen, die sein Buch ganz unnötigerweise verunzieren.
Dahin gehört vor allem die an manchen Stellen unterlaufende Vernach¬
lässigung des im übrigen durchaus lobenswerten und lebendigen Stils. Ferner
die Gewohnheit, eine eigene Wendung hie und da, wo der Inhalt es
zu erlauben scheint, in ein klassisches Zitat auslaufen zu lassen, und da*
durch beiden den Charakter unpersönlicher Gemeinplätzigkeit zu geben.
Doch dies sind, wie gesagt, nur kleine Flecken, die niemand hervor*
zuheben berechtigt wäre, wenn sie nicht als Folie gegen so hohen Wert
ständen. Hanns Sachs.
ERNEST JONES, The Case of Louis Bonaparte, King of Holland.
Es ist reizvoll, welthistorisches Geschehen auf die Entwicklung im
Seelenleben eines Einzelnen zurückzuführen und hier die Gesetzmäßigkeit
und strenge Kausalität zu finden, die uns die verworrenen Fäden der Po*
litik so leicht versagen. Zu einem solchen Versuch fordert vielleicht keine
andere Gestalt der Geschichte so sehr heraus, wie der Imperator, dessen Wille
anderthalb Jahrzehnte hindurch die Geschicke Europas geformt hat.
Der englische Forscher, der eine groß angelegte Arbeit über Napoleon
vorbereitet, gibt uns als Vorkost eine Aufklärung des höchst seltsamen
V erhaltens, das Louis Bonaparte gegen den älteren Bruder zeigte. Ur*
sprünglich voll leidenschaftlicher Hingabe für ihn, der den Knaben erzogen
und ihm den Vater ersetzt hatte, wandte sich Louis nach dem ersten ita*
lienischen Feldzug wie mit einem Schlage innerlich ab,- während der nun
304
Bücher
folgenden sechzehn Jahre gab er unzweideutige Beweise seiner feindseligen
Einstellung, die in seiner Eifersucht — seine Frau, Hortense Beauharnais,
galt in der Meinung von ganz Europa als die Geliebte ihres Stiefvaters
— Nahrung fand und sich stellenweise bis zu Verfolgungsideen steigerte.
Jones, der diese Züge aus der großen Masse historischen Materials sehr
glüddich herauszuarbeiten weiß, sieht in ihnen wohl mit Recht die Folgen
der mißglückten Verdrängung einer überstarken erotischen Bindung an den
Bruder. Diese Aufhebung des bisherigen psychischen Gleichgewichtes fällt
zeitlich mit einer venerischen Infektion zusammen, die einen Teil der bisher
im normalen Liebesieben verausgabten Libido in ihr altes, infantiles Bett
zurücklenkte.
Nach dem endgiltigen Sturz des Kaisers und noch stärker nach seinem
Tode durfte die ursprüngliche Neigung unentstellt zurückkehren,- der ehe*
malige König von Holland verwendete seinen Lebensabend dazu, den
großen Bruder, dem er im Glück getrotzt und im Unglück Untreue bewiesen
hatte, zu vergöttern, seine Schwächen literarisch zu verteidigen und seine
Kritiker anzugreifen.
An dem kleinen Aufsatz ist nicht nur der psychologische Scharfblick
des Autors, sondern auch seine Beherrschung des Stoffes und noch mehr
die Klarheit und Konzentration der Darstellung rühmenswert.
Dr. Hanns Sachs.
EINE PSYCHOLOGISCHE GESCHICHTE DER EROTIK.
Ich muß gestehen, daß ich Sätzen wie diesem: »Denn der Liebestod
ist der definitive und nicht mehr rückgängig zu machende Sieg des Gefühles,
er ist die Ekstase als Lösung des Weltproblems und des Weltprozesses«,
ratlos gegenüberstehe. Es fehlt mir also vielleicht die Eignung, über Luckas
Buch zu sprechen 1 : Denn das Werk bewegt sich auf dem Niveau einer
solchen Überschwenglichkeit und Irrationalität der Sprache und Gefühle, wie
sie in dem zitierten Satze ausgedrückt sind. Die auftauchenden Bedenken
wegen meiner Inkompetenz mußte ich fallen lassen, als ich in der Vor*
rede des Buches las, daß es »zu allen Gebildeten« spreche. Der Rezen*
sent eines Werkes ist dann in der schwierigsten Lage, wenn er findet,
daß darin ein prinzipiell richtiger Gedankengang mit unzulänglichen
Mitteln durchgeführt wird. Richtig erscheint in Luckas Buch die Idee, daß
das Liebesgefühl eine Geschichte hat, daß es sich in seiner Entwicklung
vom Altertum bis zur Jetztzeit differenziert und modifiziert hat. Der Autor
unterscheidet drei Stufen der Erotik: den Geschlechtstrieb, die Liebe und
die Einheit von Geschlechtlichkeit und Liebe. Diese Einteilung ist, soweit
sie eine Entwicklungstendenz belegt, richtig, wird aber sofort angreifbar,
wenn sie sich mit Wertungen verbindet, die persönlicher Natur sind. Hier
aber stehen wir am Knotenpunkt seiner Anschauungen: er beurteilt die
Liebesphänomene von einem metaphysischen Standpunkt. Der Liebestod
erscheint ihm als die höchste Form der Erotik. Es muß hier gesagt werden,
daß Metaphysik heute und wohl für immer nur als eine Sonderart künst*
lerischer Intuition angesehen werden kann, daß sie mit Wissenschaft nur so
viel zu tun hat, als sie Objekt wissenschaftlicher Forschung werden kann.
Das Buch Luckas erscheint aber als eine Verquickung nicht gereifter
Wissenschaftlichkeit, Dichtung und Metaphysik. Den Liebestod als die
1 Emil Lucka, Die drei Stufen der Erotik <Schuster und Loeffler, Leipzig
und Berlin, 1913).
Bücher
305
höchste Form der Erotik ansehen, bedeutet etwa so viel wie der sdierz*
hafte Rat, sich bei Zahnschmerzen den Kopf mit Hilfe von Kokain reißen
zu lassen. Man begreift diese Wertung erst dann, wenn man erfährt, daß
Lucka in Richard Wagner den hödisten Triumph aller Menschlichkeit
und aller Kultur sieht und dessen »Tristan und Isolde« als das Weihespiel
metaphysischer Erotik feiert. Allein diese Oper wird man ohne Orchester¬
begleitung kaum als dies ansehen dürfen und sich in bezug auf Wagner
mancher ebenso scharfsinnigen wie boshaften Bemerkungen Nietzsches über
den verborgenen Zusammenhang von Sexualität und metaphysischer Erotik
erinnern. Es kann nur vom Standpunkte eines verzückten Wagnerianers
das Urteil abgegeben werden, daß Shakespeares Romeo <im Vergleich
zu Parsifal etwa) ein »ganz primitiver Erotiker mit sadistischen Zügen ist,
der sich über die erste Stufe der Sexualität kaum erhoben hat«. Mit der
Grundthese Luckas, daß nämlich die seelische Liebe und die metaphysische
Erotik nichts mit Sexualität zu tun habe, wird sich gerade der Psycho*
analytiker, welcher die Libidoentwicklung der Individuen studiert hat, schwer*
lieh einverstanden erklären. Er wird es auch vertreten müssen, daß die
»oberflächliche Meinung, daß alle Mystik entgleiste Sexualität sei«, immerhin
mehr Berechtigung hat, als die von Lucka ausgesprochene, daß sie die
Ursehnsucht nach der Vereinigung mit dem Kosmos ist. Im ganzen muß
man sagen, daß Lucka die von ihm supponierten drei Stadien der Erotik
einfach nebeneinander stellt und schildert, ohne zu zeigen, welche psychischen
Momente zu ihrer Genese führten. Das Buch erinnert in manchen Teilen
an Oskar Ewalds »Gründe und Abgründe«, mit dem es die absonder*
liehe Verhimmelung des Liebestodes gemeinsam hat. Beide Bücher sind so*
Zusagen vorwissenschaftliche Werke. Ebenso das von Lucka oft zitierte
Buch des bedeutenderen, aber nicht minder konfusen Otto Weininger.
Ein Irrtum bleibt zu berichtigen. Seite 305 wird von Freud gesagt,
seine Forschungen bewiesen, daß der Geschlechtstrieb in früher Kindheit
kein Fortpflanzungstrieb sei/ »was Freud übrigens selbst nicht folgert.«
Freud zieht aber ganz entschieden diese Folgerung und glaubt, daß die
Fortpflanzungstendenz <falls sie überhaupt eine allgemeine genannt werden
darf) erst mit dem Primat der Genitalzone ihren Anfang nehmen kann.
Besonders unangenehm an Luckas Buche werden vollkommen un*
berechtigte Wertungen erscheinen wie die Unterscheidung zwischen Ger*
manentum einerseits, Orientalismus und Barbarentum anderseits. Wenn
Lucka behauptet, daß erst das Christentum im Gegensatz zu allem
Asiatentum den Mittelpunkt des Lebens in die Seele des Menschen gelegt
habe, so darf vielleicht daran erinnert werden, daß diese Verinnerlichung
nicht am Christentum als Institution haftet, sondern an der fortschreitenden
Verdrängung, welche schließlich zur Introversion fuhrt. Man darf ferner
schüchtern einwerfen, daß jener Rabbi Joschuah von Nazareth, welcher mit
Recht als Gründer des Christentums gilt, Asiate gewesen sei. Man wird
endlich die Umwandlung des Sonnensymbols aus einem männlichen in ein
weibliches Prinzip in anderen seelischen Vorgängen begründet glauben, als
in einer spezifisch germanischen Rasseneigentümlichkeit.
Dr. Theodor Reik.
Eine Urweltdichtung.
Johannes V. Jensen hat vor nicht allzulanger Zeit einen mythischen
Roman »Der Gletscher« veröffentlicht, in welchem das allmähliche Entstehen
der Kultur durch die Not geschildert wird. Fritz Wittels gibt uns nun
Ima^o III/3
20
306
Bücher
einen phantastischen Urweltroman, der sich zu der Jensensehen Konzeption
in bewußten Gegensatz stellt 1 . »Alles um Liebe« ist sein Titel und in
seinem Verlaufe wird dargestellt und oft ausdrücklich ausgesprochen, daß
sich alles um Liebe drehe. Der Psychoanalytiker ist gewiß dem Verdachte,
den stärksten Anteil an der Kulturentwicklung anderen Kräften als den
libidinösen zuzuschreiben, nicht ausgesetzt,* dennoch wird er es als übertrieben
erkennen müssen, wenn Wittels den egoistischen Regungen gar keinen
Raum gönnt. Der bedeutsame Einfluß der Gefühle gegen den Vater,
welche vielleicht zu den ersten Organisationen und Institutionen des Kultur^
lebens führten, wird nur in der ersten Hälfte seiner Konzeption von Wittels
gewürdigt,- hier freilich in einer Hypothese, weiche der von Freud auf^
gestellten Geschichte der Urhorde sehr nahe kommt. Auch bei Wittels
steht der Vatermord an der Spitze, ohne daß aber seine inzestuöse Mo¬
tivierung ausgeführt würde. Der zwischen Affe und Mensch stehende Gru
wird von seinen Söhnen ermordet. Diese Tat hat aber keine anderen Folgen,
als daß die Söhne nun in die Welt ziehen, und jeder sein Schicksal erlebt,
ohne weitere Verbindung mit seinen Geschwistern. Bekanntlich folgt nach
Freud dem Vatermord notwendigerweise die Gründung des Bruderclans.
Es ist unmöglich, hier alle Etappen der Kulturentwicklung, wie sie
sich nach Wittels durch die weltumspannende Macht der Sexualtriebe
gestalteten, wiederzugeben. Die Ableitung der Koketterie und des Scham^
gefühles sind durchaus nicht zwingend; beide Erscheinungen gehören auch
sicher einer späteren Epoche an. Ebenso willkürlich erscheint die Annahme,
welche Wittels in bezug auf die bildliche Darstellung Gottes in der prä*
historischen Zeit macht. Der mächtige und grausame Birubu war gestorben
und die Menge erhob ihn zum Allvater, zu Gott. Ein Mann nun ergriff
einen weichen, farbigen Stein und zeichnete Gott an die Wand der Höhle.
Es entstand ein nacktes Weib mit üppigen Formen und einem Kopfe, den
niemand erkennen konnte. Hier klafft offenbar ein Widerspruch, den WiU
tels nicht zu lösen unternimmt. Es kann natürlich nicht die Rede davon
sein, darüber zu diskutieren, ob die Psychogenese der Gottesdarstellung
sich wirklich so vollzog; wir haben es ja mit einem Romane zu tun. Immer^
hin erfordert die Baustilgerechtigkeit des Werkes eine Begründung: Birubu
war ein Mann gewesen,* warum sollte ihn sein Darsteller als Weib zeichnen
und seine Zeitgenossen damit einverstanden sein? Solcher Einwände ließen
sich manche erheben. Doch es erscheint wichtiger, darauf hinzuweisen, daß hier
ein reizvoller Versuch vorliegt, die tiefgehende und weitunterschätzte Be^
deutung der Libido und ihrer Transformierbarkeit in der Kulturentwicklung
der primitiven Menschheit zu würdigen. Freilich, dieser Libidobegriff des
Autors erweist sich manchmal als sehr vage. So heißt es an einer Stelle,
die Erziehung solle über jenen Urstrom aufklären, »den man Libido nennt
oder Vitalität oder wie man will«. Alle Errungenschaften der Psychoanalyse,
denen der Verfasser fast alles verdankt, gehen durch solche unklare Defini¬
tionen und —' was schlimmer ist — Begriffe verloren. Soll man aber mit
einem Dichter rechten?
Der Fall läge einfacher, wenn er schlechter läge,* wenn wir es wirk^
lieh nur mit einem Roman zu tun hätten. Doch der Autor beansprucht
zugleich, als wissenschaftlicher Psychologe zu gelten und so beurteilt zu
werden. Sein Werk stellt sich uns als ein anorganisches Gemenge von
Phantastik und Wissenschaftlichkeit, Biologie und Psychologie dar, an
1 »Alles um Liebe« (Egon Fleische! ® Co., Berlin, 1912).
Bücher
307
welcher die Lust zu fabulieren und der Forschungsdrang gleichen Anteil
haben. Es ist schwer, dazu einen Standpunkt zu gewinnen: es gibt sowohl
dem naiven Leser als auch dem Psychologen mehr und weniger, als er
sucht. Dieser Vielseitigkeit in der Form, welche sich am ehesten dem Essai
nähert, steht eine Einseitigkeit der Betrachtungsweise gegenüber, welche
geeignet ist, an die komplexe Natur solcher Phänomene wie des Tanzes
und der Satire vergessen zu machen. Wird auf der einen Seite gesagt:
»Leben, Kunst und Hysterie fließen ohne Grenzen ineinander und über
allem schwebt die unergründliche Macht des Wahnsinns«, so wird auf der
anderen die Schauspielkunst einseitig auf exhibitionistische Neigungen zurück^
geführt. Namentlich so wirre und feuilletonistische Behauptungen wie die
erste sind des scharfsinnigen Autors nicht würdig.
Der Scharfsinn zeigt sich nicht nur in der Aufdeckung seelischer Me¬
chanismen, sondern auch in der Wertung psychischer Produkte. Abschnitte
wie »Ideen der Völker« und »Napoleon« sind nicht nur vortrefflich ge¬
schrieben, sondern liefern auch wirklich brauchbare psychologische Resultate,
deren Wert — wenn man von den erwähnten Einseitigkeiten absieht —
kein geringer ist. Am besten scheint mit der Versuch zu sein, der Psycho^
logie der Todesangst nahe zu kommen,- hier schließt sich Wittels auch
enge an die Psychoanalyse an.
Es sind nicht die schlechtesten Bücher, welche wie das Wittelssche
in Zustimmung und Abwehr reiche Anregungen geben.
Dr. Theodor Reik.
J. MÜLLER-LyER: Die Entwicklungsstufen der Mensch¬
heit. III, Bd.: Formen der Ehe. — IV. Bd.: Die Familie <Verlag
J. F. Lehmann, München. — III. Bd. geh. M. 1.80, geb. 2.60; IV. Bd.
geh. M. 5.—, geb. M. 6.~). V. Bd.: Phasen der Liebe <Verlag Al¬
bert Langen, München 1913).
Diese drei eng zusammengehörigen Bücher aus dem auf 10 Bände
angelegten Gesamtwerk behandeln die Geneonomie, d. i. die Summe
aller derjenigen Lebensäußerungen der Gesellschaft, die sich auf die Erhal¬
tung der Art beziehen. Diese Soziologie der Fortpflanzung umfaßt die
Entwicklungsgeschichte der Liebe, Ehe, Familie, Verwandtschaft, der Frauen^
erwerbung der sozialen Stellung der Frau etc.
Der Verfasser, der ein überreiches und interessantes Material über^
sichtlich zu gruppieren, einzuordnen und in gemeinverständlicher Darstellung
zu verarbeiten weiß, geht dabei nach der von ihm in die Soziologie ein^
geführten »Phaseologischen Methode« vor, d. i. die vergleichende Methode
der Naturwissenschaften in ihrer Anwendung auf die Kulturwissenschaft.
»Nach dieser Methode wird das Gesamtgebiet der Kultur zunächst
in seine einzelnen Hauptteile zerspalten, als deren wichtigste zu nennen
sind: Wirtschaft, Familie, Staat, Sprache, Wissenschaft, Religion, Moral,
Recht und Kunst.
Auf jedem dieser Einzelgebiete wird der Verlauf, den die einzelnen
Kulturerscheinungen von den ältesten Zeiten bis auf unsere Tage genommen
haben, in eine Folge von Stadien oder Stufen oder Phasen zerlegt.
Vergleichen wir nun nach den Regeln der komparativen Methode die
einzelnen Phasen miteinander, so entdecken wir die Richtungslinien des
Fortschrittes, d. h. Linien, die sich durch den gesamten Phasenverlauf
hindurchziehen und uns die Richtung, in der sich die Kultur bewegt, er¬
kennen lassen.
20*
308
Bücher
Und wenn wir das Studium dieser Linien vertiefen durch die Untere
suchung der wirkenden Ursachen, der soziologischen Mächte, die den Wunder^
bau der Kultur aufgerichtet haben, dann werden aus den Richtungslinien:
Richtungsgesetze, d. h. wir gelangen zur Erkenntnis der Gesetzmäßige
keiten, denen die Kulturbewegung Folge leistet.«
Als allgemeines Entwicklungsgesetz ergibt sich dem Verf. das »Gesetz
der Bewußtwerdung« oder der »fortschreitenden Bewußtseinserweiterung«, das
auch die Psychoanalyse zu ihren Grundgesetzen rechnet 1 2 . Folgerichtig steht
dabei auch für den Verfasser »hinter und unter der Soziologie die Psycho^
logie«, »hinter der ökonomischen Entwicklung eine noch tiefer verborgene,
die sozial ^ psychologische Entwicklung, die Entfaltung des menschlichen
Willens«. Um so mehr muß es wundernehmen, daß der Verfasser über
den wirtschaftlichen Gesichtspunkten <die, wie er zeigt, die Entwicklung des
Liebesgefühles entscheidend beeinflußten) die psychologischen ganz außer acht
läßt, vornehmlich aber die unbewußten, die ja eine Betrachtungsweise heran^
ziehen müßte, welche die Bewußtwerdung erst als Ziel der Entwicklung
auffaßt. Hier hätte der Verfasser manches von der Psychoanalyse profitieren
können. So besonders bei der Auffassung der Inzestscheu, deren biologische
Begründung (Degeneration der Nachkommen) er mit Recht zurückweist (Fa^
milie, p. 69), um an ihre Stelle — überhaupt keine andere zu setzen,
sondern zu erklären, der Sexualtrieb sei von Natur aus wie polygam so auch
exogam <1. c. p. 37 f.). Abgesehen davon, daß auch dies erst zu beweisen
wäre, bliebe es in diesem Falle unverständlich, wozu es erst strenger Ver^
bote gegen die Endogamie bedurft hätte, wenn der Sexualtrieb ohnehin
von Natur aus exogam wäre. Überdies ist die weitverbreitete Sitte des
Frauentausches, die darin besteht, die Schwester oder die Tochter einem
fremden Stamm für die Frau zu überlassen, geeignet, eine neue Stütze
für die inzestverhütende Funktion der Exogamie zu liefern. Ähnlich unbefrie^
digend sind die Erklärungen der Raubehe, der Vermeidungen und des Tote^
mismus. Zum Beweis dafür, daß in der vor der Familie bestehenden Horde
absolute Promiskuität nicht geherrscht haben braucht, führt der Verf. Br eh ms"
Schilderung von den Herdenalfen an, die sich in so weitgehendem Maße
mit den von Freud (Totemismus) supponierten Verhältnissen in der Ur^
horde decken, daß wir sie als nachträglichen Beweis für diese Auffassung
hier anführen wollen:
»Das stärkste oder älteste, also befähigteste Mitglied einer Herde
schwingt sich zum Zugführer oder Leitaffen auf. Diese Würde wird ihm
nicht durch das allgemeine Stimmrecht übertragen, sondern erst nach sehr
hartnäckigem Kampfe und Streite mit anderen Bewerbern, d. h. mit sämU
liehen übrigen alten Männchen, zuerteilt ... Wer sich nicht gutwillig untere
ordnen will, wird durch Bisse und Püffe gemaßregelt, bis er Vernunft an¬
nimmt . . . Der Leitaffe verlangt und genießt unbedingten Gehorsam und
zwar in jeder Hinsicht. Ritterliche Artigkeit gegen das schwächere Geschlecht
übt er nicht, im Sturme erringt er der Minne Sold. Kein weibliches Glied
der Bande darf sich einer albernen Liebschaft mit irgend einem Grün^
Schnabel hingeben. Seine Augen sind scharf und seine Zucht ist streng/ er
versteht in Liebessachen keinen Spaß. Auch die Äffinnen, welche sich oder
besser ihn vergessen sollten, werden gemaulschellt und zerzaust, daß ihnen
der Umgang mit anderen Helden der Bande gewiß verleidet wird; der be*
1 Vgl. Rank, »Der Künstler«. 1907.
2 Tierleben, III. Aufl. Leipzig 1899, Bd. I, p. 47.
Bücher
309
treffende Affenjüngling, welcher die Haremsgesetze des auf sein Recht stolzen
Sultans verletzt, kommt noch schlimmer weg . . . l Wird diese Herde zu
groß, dann sondert sich unter der Führung eines inzwischen stark gewordenen
Mitbruders ein Teil vom Haupttrupp ab und beginnt nun für sich den
Kampf und den Streit um die Oberherrschaft der Herde und in der Liebe.«
Dazu halte man die Stellung des Vaters innerhalb der Familie in
patriarchalisch organisierten Verbänden wie in der altrömischen oder
chinesischen Großfamilie. In der letzten ist »die Macht des Pater Familias
eine große, fast unumschränkte. Er verwaltet das ganze Familienvermögen,
Frau, Kinder und Kindeskinder sind seiner fast absoluten Gewalt anheim^
gegeben« (Familie, p. 149 ff.). Aus der eingehenden Schilderung seien einige
Beispiele dafür angeführt: »Der Vater kann mit den Kindern machen was
er will/ er darf sie nicht nur züchtigen, sondern auch verkaufen, verpfänden
und unter Umständen töten .. . Sitte und Gesetz in China verlangen
von den Familienangehörigen eine völlige Hingabe an den Vater mit Ver^
leugnung aller Selbständigkeit und Selbstheit! ... so weit geht, daß er^
wadhsene Söhne ohne Murren die Schläge von der Hand des Vaters empfangen.
Ein Sohn, der seinen Vater beleidigt, wird mit dem Tode bestraft. Der Vater,
der ein Kind totprügelt, wird nur zu 100 Bambusstreichen verurteilt . . .
Ein Vater, der von seinem Sohn geschlagen wird, hat das Recht, ihn zu
töten. Die Söhne und Töchter werden nadi dem Willen des Vaters ver¬
heiratet . . . Die Gewalt des Vaters über den Sohn dauert solange der
Vater lebt,* sie hört nur auf, wenn der Sohn Beamter wird, denn nun tritt
nach chinesischer Auffassung der Kaiser an die Stelle des Vaters . . .
Über die Tochter besteht die väterliche Gewalt, bis sie in die Gewalt eines
Mannes kommt, die ungefähr dem väterlichen Regiment gleichkommt.« Ähn^
lieh war die römische Großfamilie beschaffen. »Diese Gewalt des Vaters
dauerte das ganze Leben,* mag der Sohn noch so alt sein, in hohen Staats^
würden als Prätor, Zensor oder Konsul, er ist gerade wie als Kind volL
kommen in der Hand des Pater Familias, der ihn jeden Augenblick aller
Errungenschaften seiner persönlichen Arbeit berauben, ihn verkaufen oder
töten kann. Der Vater galt deshalb als der verhaßte und gefürchtete
Zwingherr der Familie, sein Tod war für die erwachsenen Kinder
eine Wohltat. Es finden sich, wie Lecky bemerkt, in der römischen Ge¬
schichte kaum Beispiele von der Liebe der Kinder zum Vater« (Familie,
p. 151). Selbst bis ins achtzehnte und neunzehnte Jahrhundert hinein änderte
sich der Charakter der Familie nicht wesentlich. Die Beispiele, die Verf. nach
Stephan anführt, zeigen deutlich, daß »die elterliche Autorität tatsächlich
einen ausschweifenden Grad erreichte«. Der große Umschwung vollzog
sich erst mit der französischen Revolution (Familie p. 202), was psycho¬
analytisch leicht verständlich sein wird. Es beginnt jene Umwandlung sich
zu vollziehen, die im »Jahrhundert des Kindes« gipfelt. »Ein großer Teil
der väterlichen Autorität geht auf den pädagogisch geschulten Lehrer über.«
In den »Phasen der Liebe« zeigt der Verf. das auch anderwärts aub*
zuzeigende Dreistufengesetz wirksam, das die Wandlungs- und Entwick¬
lungsgeschichte des Liebesgefühls beherrscht. Er unterscheidet von den
Liebesgefühlen — die für die Fortpflanzung der Art notwendige Anziehung
der Geschlechter, Mutterliebe, der weibliche Abwehrtrieb und die Besitz^
eifersucht — die sekundären — der sexuellen Eifersucht, der Keuschheit,
1 Diese diskrete Lücke im Text (bei Müller^Lyer) weist vielleicht auf die
»Kastration« der Sünder hin oder wenigstens etwas ihr Analoges.
310
Bücher
des geschlechtlichen Schamgefühls, Wertschätzung der Erzeugerschaft und
personale oder »romantische« Liebe — die erst eine Folge der Kultur sind.
In erfreulichem Gegensatz zu gewissen modernen, mystisch verzückten
Schwärmern wird an instruktivem Material gezeigt, daß diese sekundären
Liebesgefühle aus den primären im Laufe der Entwicklung hervorgehen
und keinen »höheren« Ursprung haben. »Sobald sich Gelegenheiten, günstige
Umstände bieten, bricht immer wieder die Natur siegreich hervor.«
Folgerichtig faßt der Autor, grob gesprochen, die Liebe als gehemmte Sexua**
lität auf: »Durch die natürliche Befriedigung wird der Trieb zur Ruhe
gebracht und kann sich nicht zu leidenschaftlicher Stärke entwickeln. Unter**
drückt dagegen, bäumt er sich auf und erfüllt die Seele mit heißen Leiden**
schäften und Phantasien ... ist es eine bekannte Tatsache, daß die Liebes**
Schwärmerei dauernd wird, wo sie unglücklich ist. Die berühmten Liebes^
paare in der Dichtung waren unglücklich Liebende,- z. B. Tristan und Isolde,
Romeo und Julia usw. — Schließlich, die Entwicklung der romantischen
Liebe ging parallel mit den Erschwerungen, die nach und nach der Befrie^
digung der Liebessehnsucht auferlegt wurden . . . Aus diesen Gründen muß
man wohl annehmen, daß die romantische Liebe, wenigstens in ihren höheren
Graden, wo sie leicht in sentimentale Überspanntheit übergeht, eine mit der
Abstinenz zusammenhängende Erscheinung ist.« <Phasen d. L., p. 90>. —
Es konnten hier nur einige wenige Probleme aus dem ungeheueren
Zusammenhang der geneonomisdhen Entwicklung gewürdigt werden. Das
Werk von Müller**Lyer bietet reiche Anregung und Belehrung ver **
schiedenster Art und wir wollen auf die weiteren, in Aussicht gestellten
Bände noch zurückkommen. Dr. O. Rank.
FRANZ STRUNZ: Die Vergangenheit der Naturforschung. Ein
Beitrag zur Geschichte des menschlichen Geistes. Mit zwölf Tafeln. Jena,
1913. Verlegt bei Eugen Diederichs. Brosch. Mk. 4. — , geb. Mk. 5.50.
Für die Psychologie ist das Interessanteste an den Naturwissenschaften
ihr Werden. Man hat es lange versäumt, diesem Werden überall liebevoll
nachzugehen. Heute sind eine Anzahl Männer am Werk, das Vernach¬
lässigte an den Tag zu bringen und Verständnis zu gewinnen und zu ver^
breiten für das, was man mangels Kenntnis der Zusammenhänge in falschem
Licht sah, wenn man's überhaupt eines Blickes würdigte. Jene Zusammen^
hänge aber, die nicht ignoriert werden wollen, sind großenteils psychologisch ,-
und es sei hinzugefügt, daß es hier der Aufgaben für die Psychanalyse
nicht ermangelt. Was bei Franz Strunz, dem bekannten Wiener Gelehrten,
einem Spezialisten in der Geschichte der Naturforschung, besonders ange**
nehm auffällt, ist, daß er ein offenes Auge für das Psychologische in der
Entwicklungsgeschichte hat. Er arbeitet zwar diese Seite der Sache nicht aus,
läßt dem Psychologen seinen Teil übrig: aber eben nur »übrig«, denn der
psychologische Betrachter kann an das, was ihm Strunz erschlossen hat, an
vielen Stellen einfach anknüpfen.
In seinem jüngsten Buch bietet Strunz neben einigen allgemeinen
Artikeln <wie: Die Vergangenheit der Naturforschung, Naturgefühl und
Naturerkenntnis) den historischen Stoff sozusagen in Porträtform. Die Ge**
dankenkreise der mittelalterlichen Forscherin Hildegard von Bingen, des
Comenius, des Johann Baptist van Helmont werden gezeichnet, und
das Schlußkapitel ist einer Betrachtung von Rousseaus Naturgefühl ge**
widmet. Man merkt in dem ganzen Buch einen sympathischen Zug, der
das zu verwirklichen strebt, was im Vorwort angekündigt wird, daß näm-
Bücher
311
lieh der Zusammenhang mit dem Leben fühlbar sein soll .... Geschichte
ist ja nichts Totes, sondern Vollendung. Die Wurzeln unseres innigsten
Seins haften im Gewesenen, so wie wir der Mutterboden der Zukunft
sind. In uns verwirklicht sich das Einst und wir werden uns im Kommen¬
den vollenden. Wir leben noch immer von den Kräften, die in der
Arbeit der Vergangenheit am Werke waren. Ich sage, um Leben
handelt es sich. Aber Leben sind Menschen . . . Die Seele ist der große
Baumeister der Historie, sie schafft Einheit, Zusammenhang, Pathos und
Unsterblichkeit. Sie ist Baumeister der Vergangenheit und der Zukunft, ob
sie gleich nicht weiß, zu welchem Ende ihre Arbeit führt. Geschichte ist
erweiterte Lebenserfahrung und Empirie des Lebens,* das innere Ereignis,
das sich aus dem Menschen hebt und angewandtes Menschentum und prak*
tische Menschenkunde wird ... Es ist doch seltsam, wie gerade die fruchte
barsten Entdeckungen und Erfindungen am frühesten anonym werden. Das
Werk schreitet weiter, es macht schicksalsreiche Epochen der Umwandlung
durch, die Praxis entkleidet es aller Individualität, es wird Gemeingut, es
wird unpersönlich und banal. Aber dabei verschwindet der im Gewesenen
und Fernen, dem einst das Werk als Idee in der Seele reifte. Bestenfalls
sagt der Gebildete nach Jahren noch ungeübt den Namen, kaum, daß er
ihn richtig buchstabiert/ aber meistens weiß man ihn nicht mehr, und in
den Büchern und Zeitschriften der Fachleute steht hie und da ein Wort
darüber, aber auch das oft ungenau oder ohne besondere Anteilnahme mit*
geteilt. Freilich heute wird das anders, wo die Geschichte der Naturwissen*
schäften und der Technik und vor allem die Durchforschung der alten Natur*
erkenntnis überhaupt neuen Aufschwung bekommt und emsige Gelehrten*
arbeit den Anfängen aller Entdeckungs* und Erfindungssehnsucht unermüd*
lieh nachgeht. Aber ich will das audi hier sagen: dauern werden diese Er*
gebnisse nur dann, wenn man den Menschen, der entdeckt oder erfunden
hat, höher stellt als das Entdeckte und Erfundene. Das, was auch in diesen
oft so seltsamen Forschern Schicksal und Sehnsucht war, das ist ja das
Leben, darin alles andere verankert ist. Alle Geschichte ist Seelengeschichte,
Tragödie und Wandlung das Ich.« Wie kräftig hier das Ich, das Seelische,
in den Mittelpunkt gestellt wird, das regt zu tiefem Denken an. Kann sein,
daß ein ganz neuartiges Verstehen gewisser Entwicklungsvorgänge des
menschlichen Geisteslebens im Zuge ist.
Fast psychoanalytisch mutet es an, wenn der Verfasser z. B. schreibt:
»Viele Jahrhunderte war die ganze naturwissenschaftliche Arbeit ich
denke an die mittelalterlichen Gelehrten — nichts anderes als eine Ratio*
nalisierung des einstigen religiösen Naturgefühls« <S, 10).
Das »Naturgefühl« spielt überhaupt eine große Rolle bei dem Werden
der Naturwissenschaft. »Ganz zuerst sind Naturbetrachtung, Naturerkenntnis
und Naturgefühl voneinander nicht zu scheiden. Es war ein rein sinnliches
Weltbild. Das Streben geht dahin, die ungeheuere Mannigfaltigkeit der
Erscheinungswelt auf einen geheimnisvollen Anfang, eine mythologische
Idee zurückzuführen. Die frühesten und naivsten Versuche des primitiven
Monismus! Die ,Einheit der Natur' hat man das später genannt. Aber
Glaube und Meinung haben mit ihr immer gemeinsame Sache gemacht. Es
gab Zeiten, wo diese Lehren das Kernstück alles Naturerkennens waren
und man den Wirklichkeitszusammenhang nicht anders begriff als im Sinne
eines einheitlichen gefühlsmäßigen Systems. Erst viel später erdachte man
sich gewisse Beziehungen, die in diesem System bestehen und noch später
wertete man sie als notwendige Abhängigkeitsbeziehungen gesetzmäßiger
312
Bücher
Art. Gewiß sind die ältesten Quellen und Ursprünge der Naturerforschung
niefit der rechnende Verstand oder bewußt praktisdLtechnische Bedürfnisse.
Aus dem Naturgefühl und mythologischen Denken sind die ersten feineren
Spekulationen über Wesen, Sinn, Gesetzmäßigkeit und Entwicklung empor^
gestiegen. Mit den Jahrtausenden hat sich dieses eigenwertige Erleben ge^
ändert, indem man immer wieder anders alles Sein und Werden vermensch=
lichte. Der Mensch blieb ja nicht der gleiche. Er versenkte ein immer neues
Ichbewußtsein, das allem Lebendigen sein Interesse schenkt, in seine dama¬
lige Umwelt, in die Formen- und Farbenvielfalt der Natur, in ihr rand~
loses Leben, Streben und Werden, in ihre Masken und Spiegelungen der
Welt und in all dem, was immer wieder im ewigen Rundlauf des Ge^
schehens wiederkommt. Nur soweit begriff der Mensch die Natur, als er
das vermochte. Es war Gefühl, was den Anfängen einer Gesamtgemein*-
schaft von Kosmos zugrunde lag.«
Allen denen, die einer psychologischen Betraditung des menschlichen
Lebens und Schaffens nahestehen, muß eine historische Behandlung der
Naturwissenschaften, weldie diesen Geist atmet, mit Freude erfüllen.
Herbert SiIberer.
^iiiiiiiiiiiiiiiuniiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiuiiiiiimiiiiiiiiiiiiiumiimmiiuiiuiiiiiiiiiiiiiiiiiiuiimiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiii
| Verlag Hugo Heller <S^ Cie., Leipzig u.Wien I., Bauernmarkt 3.
= Im zweiten Jahrgang erscheint:
| Internationale Zeitschrift für
| ärztliche Psychoanalyse.
| Offizielles Organ der Intern. Psychoanalytischen Vereinigung,
Es Herausgegeben von
| Prof. Dr. SIGM. FREUD.
Redigiert von
E Dr. S. FERENCZI <Budapest>, Prof. ERNEST JONES <London)
| und Dr. OTTO RANK <Wien>.
E Jährlich 6 Hefte bei 40 Bogen stark M. 18.— = K 21.60.
= Soeben erschien:
=3
| Probleme der Mystik und ihrer
| Symbolik.
| Von HERBERT SILBERER.
E 18 Bogen, mit mehreren Abbildungen, geheftet M. 9.— = K 10.80,
E in Halbfranz geb. M. 12.— = K 14.40.
EE: INHALT. 1. Einleitender Teil. 1. Die Parabola. 2. Trauma und Märchendeutung.
Es ~ H- Analytischer Teil. 1. Psychoanalytische Deutung der Parabola. 2. Alchemie.
ZZ 3. Hermetische Kunst. 4. Rosenkreuzerei und Freimaurerei. 5. Das Problem der mehr»
== fachen Deutung. — III. Synthetischer Teil. 1. Introversion und Wiedergeburt.
== A. Verinnerlichung und Introversion. B. Folgen der Introversion. C. Wiedergeburt. 2. Das
es mystische Ziel. 3. Königliche Kunst. ~ Anmerkungen. — Quellen. — Index.
H Dieses tiefschürfende Werk hält mehr, als der bescheidene Titel verspricht. Es führt
= ins innerste Wesen der Mystik selbst und gibt endgiltige Aufschlüsse.
Es Durch die Anwendung der psychoanalytischen Methode gelangt der Autor
=: zu ebenso überraschenden als zwingenden Ergebnissen. Die Bildersprache der Mystik
= (wovon uns das Werk zahlreiche Beispiele aus seltenen Quellen vor Augen führt)
= ist schon an sich teils wegen ihrer Kuriosität, teils wegen der Größe und Schönheit
EE ihrer Gedanken bemerkenswert. In der Beleuchtung des Verfassers aber entfalten
== die Rätselworte der Mystiker, Alchemisten und Rosenkreuzer erst ihre volle
= Kraft, und die Zusammenhänge zwischen erotisch und mystisch reli»
= giöser Symbolik treten klar zu Tage. Insbesonders auch wird das Wesen und
E= die Symbolik der Freimaurerei, sowie ihr Ursprung in eine ganz neue
Es Beleuchtung gerückt, wobei den Verfasser ein reiches historisches und philosophi»
== sches Wissen unterstützt.
^iiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiHiiiniiiiiiiiiiiifiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiHiüKUKiiiiiiHiiuHiiiimmnffuminiiinHmiij
aiiiiiniiiiiiiHiiiiiiiiiininiiiiiHiMiiiiiiniiiiiiiimiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiuiiiiiiiniiiiiinniniiiiiininiiiiiiiiniiiuuiiiniiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiuiuiiiniiiiiiu
Inhalt des dritten Heftes.
DR. ALICE SPERBER <Wien>: Von Dantes unbewußtem Seelenleben.
DR. EMIL LORENZ <Klagenfurt>: Die Geschichte des Bergmanns
von Falun.
BÜCHER:
THEODOR REIK: Arthur Schnitzler als Psychologe.
ERNEST JONES: Louis Bonaparte, King of Holland.
EMIL LUCKA: Die drei Stufen der Erotik.
FRITZ WITTELS: Alles um Liebe.
MÜLLER-LyER: Die Entwicklungsstufen der Menschheit.
FRANZ STRUNZ: Die Vergangenheit der Naturforschung.
Nachdruck verboten.
WIENER GRAPHISCHES KABINETT
HUGO HELLER, WIEN I., BAUERNMARKT NR. 3
Zur Subskription ist gestellt:
SIGMUND FREUD.
Portraitradierung von MAX POLLAK.
Plattengröße 47V 2 :47V2 cm, Papiergröße 85:63 cm.
Es werden insgesamt nur 50 Exemplare von der Kupferplatte gezogen, und zwar
Nr. 1—25 auf kaiserlich Japan, Nr. 26—50 auf van Geldern-Bütten.
Jedes Blatt ist vom Künstler handschriftlich signiert und numeriert.
Der Subskriptionspreis beträgt für die Abzüge auf kais. Japan 100 K 85 M.
für die Abzüge auf van GeldernJBütten 60 K = 50 M.
Ein ausgezeichnetes Porträt und hervorragendes Kunstwerk, das auch losgelost
vom gegenständlichen Interesse besteht und fesselt, bietet hier der treffliche Wiener Ra*
dierer den Sammlern und Kunstfreunden. Die Aufgabe des künstlerischen Porträtisten,
den geistigen Gehalt einer Persönlichkeit auszuschöpfen und sichtbar zu machen, ist in
diesem Kunstblatte nahezu restlos gelöst.
Der ganzen Auflage liegt ein Prospekt des Verlages Julius Klinkhardt
in Leipzig bei, betreffend »PFISTER, Die psychoanalytische Methode.«
K. U. K. HO F*BUCHDRUCKEREI CARL FROMME IN WIEN.