Skip to main content

Full text of "Imago. Zeitschrift für Anwendung der Psychoanalyse auf die Geisteswissenschaften III 1914 Heft 3 Juni"

See other formats


A.GO 

ZEITSCHRIFT FÜR ANWENDUNG. 
DER. PSYCHOANALYSE AUF DIE 
GEISTESWISSENSCHAFTEN 


HERAUSGEGEBEN VON 

PROF. DE S1GM. FREUD 

REDIGIERT VON 

D£ OTTO RANK u. DE HANNS SACHS 



ffl. JAHRGANG / 1914 
HEFT 3 / / / JUNI 



1914 

HUGO HELLER. &>. Gl 

LEIPZIG u.WIEN-1-BAUERNMARKT 3 



D er Erfolg des zweiten Jahrgangs hat uns aufs neue des Interesses Jener versichert, 
an die sich die Zeitschrift zunächst wandte, nicht minder aber die Hoffnung bestätigt, 
daß auch weitere Kreise an den Problemen und Ergebnissen unserer jungen Wissen¬ 
schaft Anteil nehmen werden,« endlich hat uns die rege Mitarbeit der Vertreter verschiedener 
Fachgebiete das Bewußtsein gegeben, daß unser Unternehmen auch imstande war, der An¬ 
regung geistiger Produktionstätigkeit zu dienen. 

Die reiche und vielseitige Arbeit des abgelaufenen Jahrgangs zeigt die Inhaltsüber¬ 
sicht und wir dürfen hoffen, mit der Festhaltung und Ausgestaltung unseres Programms 
auch unseren Erfolg sichern und steigern zu können. 

Soweit es durchführbar ist, sollen alle jene Zweige der Geistes Wissenschaften, für 
die die Psychoanalyse Bedeutung gewonnen hat, zu Wort kommen,« auch soll weiterhin 
neben Sonderproblemen der Individualpsychologie besonders die Völkerpsychologie einen 
breiten Raum einnehmen, die ja am deutlichsten den Wert und die Fruchtbarkeit der am 
Einzelnen gewonnenen Seelenkenntnis erweist. 


Für die REDAKTION bestimmte Zuschriften und Sendungen wollen an 
Dr. HANNS SACHS,Wien XIX/l, Peter^Jordangasse 76 adressiert werden. 


»IMAGO« erscheint SECHSMAL jährlich im Gesamtumfang von 
etwa 36 Bogen und kann für M, 15.— == K 18.— pro Jahrgang durch 
jede gute Buchhandlung sowie direkt vom Verlage HUGO HELLER 
® CIE. in Wien I., Bauernmarkt 3 abonniert werden. Einzelne Hefte 
werden nicht abgegeben. 

Auch wird ein GEMEINSAMES ABONNEMENT auf »IMA^ 
GO« und die »INTERNATIONALE ZEITSCHRIFT FÜR ARZT* 
LICHE PSyCHOANALySE« zum ermäßigten Gesamtjahrespreis von 
Mk. 30.— = K 36.— eröffnet. 

Die wenigen noch verfügbaren Exemplare des abgeschlossenen 
II. Jahrgangs »IMAGO« werden im Preise erhöht, so daß der komplette 
II. Jahrgang nunmehr M. 18.— — K 21.60, gebunden M. 22.50 = K 27.— 
kostet. Auch vom ersten Jahrgange sind noch einige wenige Exemplare 
zu diesem Preise verfügbar. 

ORIGINAL * EINBANDDECKEN mit Lederrücken sind zum 
Preise von M. 3.— = K 3.60 durch jede gute Buchhandlung, sowie 
direkt vom Verlage zu beziehen. 


Copyright 1914. HUGO HELLER ® CIE., Wien I., Bauernmarkt 3. 




IMAGO 

ZEITSCHRIFT FÜR ANWENDUNG DER PSVCHO« 
ANALYSE AUF DIE GEISTESWISSENSCHAFTEN 

HERAUSGEGEBEN VON PROF. DR. SIGM. FREUD 

SCHRIFTLEITUNG: 

III. 3. DR. OTTO RANK / DR. HANNS SACHS 1914 


Von Dantes unbewußtem Seelenleben. 

Erinnerungen und Eindrücke aus seiner Kinderzeit. 
Von Dr. ALICE SPERBER <Wien>. 

I n der vorliegenden Arbeit wird der Versuch gemacht, die von 
Freud gefundene und ausgebildete psychoanalytische Methode 
für die literarhistorische Forschung zu verwerten, um in einem 
Fall, wo die Dokumente versagen und die Zeitgenossen schweigen, 
Eindrücke und Gedanken eines Dichters ans Licht zu ziehen, die 
bisher teils unbekannt waren, teils wenig beachtet wurden. 

Meine Argumente werden vielleicht das Befremden mancher 
Fachgelehrten erregen, was anfangs meist der Fall ist, wenn die 
Psychoanalyse in ein Wissensgebiet einzudringen sucht, das ihr 
bisher ferngestanden. Dazu kommt, daß ich innerhalb des Rahmens, 
in dem diese Arbeit erscheint, die Grundbegriffe der jungen 
Wissenschaft: im allgemeinen als bekannt voraussetzen muß, obwohl 
sie den meisten Literarhistorikern noch unbekannt sein dürften. Ich 
möchte aber alle Skeptiker darauf aufmerksam machen, daß es viel* 
leicht schade wäre, eine neue Forschungsmethode kurzweg abzu* 
lehnen, ohne sich eingehend mit der Wissenschaft vertraut gemacht 
zu haben, auf der sie beruht. 

Bevor ich auf mein Thema eingehe, möchte ich noch betonen, 
daß meine Ausführungen keinen Anspruch auf Vollständigkeit er¬ 
heben, denn das, was hier vorgebracht wird, ist bei weitem nicht 
alles, was die Psychoanalyse über Dante und seine Werke zu 
sagen hätte, ferner, daß die hier vorgebrachten psychoanalytischen 
Erklärungen keineswegs andere Erklärungsversuche ausschließen 
müssen, die bereits zum Gemeingut der Danteforschung gehören, 
sondern in vielen Fällen als Ergänzungen aufzufassen sind. 

Ich schicke ferner voraus, daß diese Arbeit auf folgender Vor* 
aussetzung basiert: nachdem die Psychoanalyse nachgewiesen hat, 
daß das Liebesschicksal des Menschen zum Teil durch Kindheits* 




INTERNATIONAL 
PSYCHOANALYTIC 
UNIVERSITY BERLIN 





206 


Dr. Alice Sperber 


erlebnisse vorausbestimmt ist, soll nun der Versuch gemacht werden, 
von ersterem auf letztere zu schließen. 

Das erste, womit wir uns beschäftigen wollen, ist daher Dantes 
unsterbliche Liebe, seine Liebe zu Beatrice. 

Diese Neigung hat Dante in jenen beiden Werken verewigt, 
für die ihm die Nachwelt dankbarer ist, als für alle anderen Schöp¬ 
fungen seines Geistes, in der Vita nuova und der Divina Commedia. 

Über die Geschichte seiner Liebe hat er in der Vita nuova 
ausführlich berichtet. Nach seinen Angaben hätte er Beatrice zum 
erstenmal gesehen, als sie den Beginn und er das Ende des neunten 
Lebensjahres erreicht hatte. Eine schwärmerische Leidenschaft habe 
ihn erfüllt, aus der sich aber nie etwas anderes entwickelte als eine 
ebenso grenzenlose wie entsagsreiche Zärtlichkeit. Diese platonische 
Liebe überdauerte den Tod der Geliebten, der sie, wie Dante uns 
sagt, im Alter von etwa fünfundzwanzig Jahre ereilte und erfüllte 
des Dichters Seele bis zum Ende seines sturmbewegten Lebens. In 
der Vita nuova weiß er mancherlei über Beatrice zu berichten, über 
ihre Kleidung, über ihre Art zu grüßen und ihr Lächeln oder über 
die Frauen, die sich in ihrer Gesellschaft befinden. Zumeist sind es 
Kleinigkeiten, die aber dem Liebenden unendlich bedeutungsvoll 
erscheinen. Auch ernste Ereignisse aus dem Leben der Geliebten 
werden uns mitgeteilt, so der Tod ihres Vaters, durch den sie in 
tiefe Trauer versetzt ward,* ob aber nun von wichtigen oder un- 
wichtigen Ereignissen die Rede ist, der Ton, in dem der Dichter 
von Beatrice erzählt, bleibt immer derselbe. Sie ist ein vollkommenes 
Ideal, ein Engel in Menschengestalt, der allen Segen spendet, die 
ihm nahen. Zorn und Stolz sdvwinden in Beatricens holder Gegen¬ 
wart. Wer sie sieht wird demütig und vergibt seinen Feinden,- als 
höchste Gnade hat ihr Gott verliehen, daß niemand schlecht enden 
kann, der mit ihr gesprochen hat. 

Der Dichter fordert nichts von ihr, ihr Gruß ist seine höchste 
Seligkeit. Er trachtet seine Liebe zu verbergen, und um die anderen 
irre zu führen, betet er scheinbar andere Frauen an <z. B. die 
»donna di schermo«),- da Dante infolgedessen in schlechten Ruf 
gerät, verweigert ihm Beatrice ihren Gruß, aber dem Dichter bleibt 
als letzte Quelle des Glückes die Freude an der Verherrlichung der 
Geliebten, die ihm niemand nehmen kann. Durch ihren Tod wird 
er in unbeschreibliche Trauer versetzt, doch gerät sein Herz bald 
darauf in Versuchung, sich einer anderen Frau zu ergeben, der 
»donna gentile«, die Mitleid mit seinen Qualen empfindet. Aber 
das Andenken an Beatrice trägt nach schwerem Kampf den Sieg 
davon und Dante schließt sein Werk, indem er der Absicht Aus¬ 
druck gibt, von der toten Geliebten das zu sagen, was noch von 
keiner Frau gesagt wurde, ein Versprechen, das er in der Divina 
Commedia eingelöst hat. 

Begreiflicherweise haben die Danteforscher das größte Intern 
esse für Beatrice an den Tag gelegt und recht verschiedene An^ 




Von Dantes unbewußtem Seelenleben 


207 


sichten in bezug auf Dantes Jugendliebe vertreten. Die Anhänger 
der sogenannten historisch-realistischen Richtung haben Dante Glauben 
geschenkt und halten die Vita nuova für ein biographisches Werk. 
Sie berufen sich dabei hauptsächlich auf das Zeugnis Boccaccios, 
der die Heldin der Vita nuova mit Beatrice Portinari 1 , der Tochter 
des Folco Portinari aus Dantes Heimatstadt Florenz identifiziert 
und als selbstverständlich voraussetzt, daß die Vita nuova eine 
glaubwürdige Darstellung von Dantes Jugendliebe sei 2 . 

Da aber die ältesten Kommentatoren der Divina Commedia, 
deren Werke zweifellos vor der Dantebiographie Boccaccios ver^ 
faßt wurden, von Beatrice Portinari 3 4 nichts wissen und mehrere von 
ihnen von der realen Existenz einer Beatrice nichts erwähnen, 
sprechen viele Gelehrte der Vita nuova jeden biographischen Wert 
ab und halten die ganze Liebesgeschichte für eine bloße Phantasie. 

Da Dante überdies wie die meisten seiner Zeitgenossen in 
Allegorien schwelgt und kein Zweifel daran bestehen kann, daß 
Beatrice in der Divina Commedia, ganz abgesehen von der persön¬ 
lichen Frage, eine allegorische Bedeutung hat und wahrscheinlich die 
Theologie 1 personifiziert, wollen die sogenannten Idealisten unter 
den Dante forschem auch der Beatrice der Vita nuova, deren reale 
Existenz sie ableugnen, allegorische Bedeutung zuerkennen. Die 
Meinungen sind hier wiederum geteilt und es soll hier nur einiges 
hervorgehoben werden. Nach Rossetti z. B. ist Beatrice sowohl 
in der Vita nuova als auch in der Commedia ein Symbol der 
kaiserlichen Gewalt, nach Perez eine Allegorie der »intelligenza 
attiva« und Bartoli, der ebenfalls an den biographischen Wert der 
Vita nuova nicht glauben will, hat einen Mittelweg eingeschlagen: 
Er meint, Beatrice sei wohl keine eigentliche Allegorie, aber doch 
eine Abstraktion, eine bloße Kreatur von Dantes Geist, d. h. ein 


1 Von Beatrice Portinari wissen wir, daß sie mit Messer Simone de' Bardi 
vermählt war, eine Tatsache, die in der Vita nuova allerdings mit keinem Wort 
erwähnt wird, doch ist dieser Umstand weniger auffallend als es im ersten Augen~ 
blick scheint, da ja die Anbetung verheirateter Frauen nach der Sitte der Zeit ein 
gutes Recht der Dichter war, gegen das sich die Ehemänner nicht aufzulehnen 
pflegten. Daß diese nicht nur im Leben, sondern auch in der Dichtung gerne 
übergangen wurden, ist psychologisch begreiflich. So wird z. B. in der Biographie 
des Troubadours Richautz de Berbesiu wohl gesagt, daß seine Dame die Gattin 
des Jaufre de Tonay war, aber obwohl sie bereit ist, mehr zu gewähren, als bloß 
platonische Liebe, wird der Ehemann mit keinem Worte mehr erwähnt. <F. Pro^ 
venzalische Chrestomathie von C. Appel, Leipzig 1895, p. 191.) 

2 Boccaccio. Vita di Dante. 

3 Eine Ausnahme bildet der cod. Ashburnamiano des Kommentars, das 
Pietro Alighiero, ein Sohn Dantes, zur Divina Commedia verfaßte. Dort finden 
wir, wie bei Boccaccio, die Identifizierung von Beatrice mit Beatrice Portinari. Da 
aber der betreffende Kodex von allen anderen Codices des Werkes in dieser 
Hinsicht ab weicht, gilt dieses Zeugnis als zweifelhaft. Ein anderer Sohn Dantes, 
Jacopo Alighieri, der ebenfalls einen Kommentar zur divina Commedia schrieb, 
erwähnt Beatrice Portinari nicht. 

4 Dies ist die Ansicht von Dantes Zeitgenossen und zahlreicher moderner 
Gelehrten, die sich mit dem Thema beschäftigt haben. 





208 


Dr. Alice Sperber 


allgemeines Schönheits^ und Weiblichkeitsideal überhaupt. Audi die 
Ansicht, daß Beatrice in der Vita nuova sowohl biographische als 
auch allegorische Bedeutung haben könne, läßt sich natürlich vem 
treten, insbesondere, da ja auch die Realisten von der Doppel¬ 
bedeutung Beatricens in der Commedia überzeugt sind. 

Da es natürlich für alle, die über Beatrice arbeiten, unerläß^ 
lieh ist, zu dieser Frage Stellung zu nehmen, möchte ich vor allem 
betonen, daß es für diese Arbeit nicht darauf ankommt, ob Dantes 
Beatrice mit Beatrice Portinari identisch war oder nicht. Für das, was 
hier vorgebracht werden soll, genügt die Voraussetzung, daß Dante 
in jungen Jahren irgendein weibliches Wesen platonisch geliebt habe, 
daß aber seine Beziehungen zu der Geliebten ein Ende fanden, als 
er in noch jugendlichem Alter stand, wobei es gleichgiltig ist, ob 
Beatrice wirklich von einem frühen Tode ereilt wurde, oder ob sie 
nur für ihren Dichter gestorben war. Ihr Andenken aber lebte so 
unvergänglich in Dantes Seele, daß ihre Verherrlichung zeitlebens 
sein höchstes Ziel blieb. 

Für alle, die diese Grundlage bestreiten sollten, kommt diese 
Arbeit nicht in Betracht, doch müßte man dann mit der merkwüm 
digen Erscheinung rechnen, daß fast das ganze Schaffen des Dichters 
durch eine Vorstellung inspiriert worden sei, die in seinem persön¬ 
lichen Erleben keine Rolle spielte. Sehr auffallend wäre dann auch 
das außerordentlich zähe Festhalten an dieser Vorstellung, denn die 
Vita nuova verfaßte er als er ungefähr sechsundzwanzig Jahre zählte 
und der Gedanke an die Divina Commedia beschäftigte ihn bis an 
sein Lebensende. 

Noch einen Umstand möchte ich hervorheben, der mir für das 
Beatriceproblem wichtig scheint. Bei Boccaccio, der in seiner Dante** 
biographie der Vita nuova volle Bewunderung zollt, findet sich foL 
gende Stelle: E comeche egli di aver questo libretto fatto 
negli anni piü maturi si vergognasse molto, nondimeno com* 
siderata la sua etä, e egli assai bello e piacevole e massimamente 
a' volgari 1 . 

Diese Bemerkung Boccaccios scheint sich auf eine Stelle in 
Dantes Convivio zu beziehen, den philosophischen Kommentar, 
welchen der Dichter zur Erklärung einiger von ihm selbst verfaßter 
philosophischer Kanzonen schrieb und zu dessen Abfassungszeit der 
Dichter nicht mehr jung war. Dort heißt es: E se nella presente 
opera la quäle e Convito nominato er vo'che sia, piü virilmente si 
trattasse che nella vita nuova, non intendo perö a quella in parte 
alcuna derogare, ma maggiormente giovare per questa quella, veg- 
gendo siccome ragionevolmente quella fervida e passionata, questa 


1 In sinngemäßer Übersetzung: Und obwohl er sich in reiferen Jahren sehr 
schämte, dieses Büchlein gemacht zu haben, ist es doch, wenn man das Alter 
bedenkt, in dem es verfaßt wurde, sehr schön und anmutig, besonders für die¬ 
jenigen, die nicht imstande sind lateinische Werke zu lesen. 






Von Dantes unbewußtem Seelenleben 


209 


temperata e virile essere conviene. Che altro si conviene e dire e 
operare a una etade, che ad altra, perche certi costumi sono idonei 
e laudabili a una etade, che sono sconci e biasimevoli ad altra, 
siccome di sotto nel quarto trattato di questo libro sarä per propia 
ragione mostrato. E io in quella dinanzi all'entrata di mia gioven^ 
tute parlai e in questa dipoi quella giä trapassata <cf. Convito 
Trattato I. Kap. 1>. 1 

Es bedarf nun der Erörterung, was Dante veranlaßt haben 
konnte, sich, wie Boccaccio 2 behauptet, der Vita nuova zu schämen 
und dieselbe mit den Ausdrücken sconci e biasimevoli zusammen¬ 
zubringen, denn obwohl Dante in der zitierten Stelle sagt, daß er 
der Vita nuova nicht Abbruch tun wolle, klingt das Ganze immer¬ 
hin wie eine Entschuldigung und überdies dürfte Boccaccios Be^ 
merkung auch auf zeitgenössische Mitteilungen zurückgehen, denn 
Boccaccio hatte gar keine Veranlassung ohne Grund eine derartige 
Behauptung aufzustellen. 

Qui s'excuse, s'accuse, und doch ist die Vita nuova ein Werk 
von hohem Adel, über deren Inhalt sich Dante weder in ethischer 
noch in religiöser Hinsicht Vorwürfe machen konnte, wohl aber 
können verschlossene Menschen, zu denen Dante zweifellos gehörte, 
es sich nicht verzeihen, wenn sie sich aus irgendeinem Grunde dazu 
verleiten lassen, mehr von ihrem Innenleben zu offenbaren, als es 
ihrer Natur im allgemeinen entspricht. Der Gedanke, die liebsten 
und zartesten Erinnerungen seiner Jugend der Öffentlichkeit preis^ 
gegeben zu haben, mag dem Dichter peinlich gewesen sein, was jeder 
verstehen wird, der auch nur oberflächlich die geheimnisvollen Re¬ 
gungen des Schamgefühls bei sich und anderen belauscht hat. Wäre 
Beatrice aber nichts anderes wie eine von den unzähligen farblosen 
und lebensfremden Allegorien, die zu jener Zeit modern waren, so 
hätte die Erinnerung an die Vita nuova schwerlich derartige unlust¬ 
betonte Affekte in der Seele des Dichters ausgelöst. 

Es wird daher der persönliche Faktor in der Vita nuova 
nicht zu unterschätzen sein, wenn auch anzunehmen ist, daß Dichtung 
und Wahrheit sich in diesem Werke vereinen. 


1 Und wenn ich nun in vorliegendem Werke, das ein Gastmahl heißen 
und sein soll, männlicher auftrete als im »Neuen Leben«, so habe ich doch keines^ 
wegs im Sinne, irgend etwas von diesem zurückzunehmen, vielmehr soll das vor^ 
liegende Werk ihm zu Hilfe kommen. Denn ich sehe wohl ein, daß jenes mit 
allem Grunde voll Glut und Leidenschaft geschrieben ist, dieses aber mit Mäßig¬ 
keit und Männlichkeit auftreten muß. Denn Worte und Taten müssen dem Lebens^ 
alter entsprechen. Es gibt Sitten, die für das eine Alter passend und lobenswert 
sind, die aber in einem anderen sich ungeschickt ausnehmen und zu tadeln 
sind. Das werde ich weiter unten im vierten Traktate dieses Buches auf besondere 
Weise zeigen. Im »Neuen Leben« sprach ich über die Tage, die vor dem Ein= 
tritt in das Mannesalter stehen, das mir bei Abfassung dieses Werkes schon 
zerronnen ist (nach Sauter). Das rüstige Mannesalter »gioventute« reicht nach 
Dantes Convito (IV, 24) vom 25.—45. Lebensjahr. 

2 Die Angaben Boccaccios genießen zum großen Teil das Vertrauen der 
Kritik, ausgenommen sind vor allem Anekdoten und legendenhafte Züge. 

Imago III/3 


14 





210 


Dr. Alice Sperber 


Wer die Vita nuova und die Divina Commedia kennt, muß 
bemerkt haben, wie sehr sich die Beatrice des ersten Werkes von 
jener des zweiten unterscheidet. 

In der Vita nuova zeigt die Darstellung der Geliebten jene 
außerordentliche Weichheit, die charakteristisch ist für die Frauen- 
Figuren des »dolce Stil nuovo«. 


Ella sen va sentendosi laudare 

Benignamente d'umiltä vestuta 

E par che sia una cosa venuta 

Di cielo in terra a miracol mostrare 

Mostrasi si piacente a chi la mira 

Che da per gli occhi una dolcezza 
al core 

Che intender non la puö chi non 
la prova 

E par die dalla sua labbia si mu= 
ova 

Uno spirito soave e pien d'amore 
Che va dicendo all'anima sospira 
<Vita nuova § XXVI.) 


Sie geht, wie vielen Preis sie mag 
erfahren. 

Selig bescheiden, Demut zum Ge¬ 
wand,* 

Und ist, als sei vom Himmel sie 
gesandt 

Auf Erden Wunder uns zu offen¬ 
baren 

Sie zeigt so huldreich sich, dem, 
der sie siehet, 

Das durch das Aug' ins Herz ihm 
Süße ziehet, 

Wie keiner kennt, der sie nicht 
selbst erfuhr. 

Und ist, es gehe aus von ihrem 
Munde 

Ein sanfter Hauch voll minniglicher 
Kunde, 

Der zu der Seele spricht: nun 
seufze nur! 

(Übersetzt nach Hortus deliciarum 
II. Bd.) 


Anders die Beatrice der Divina Commedia. In ihrem Wesen 
ist eine gewisse Strenge unverkennbar. Mit harten Worten wirft 
sie dem Dichter sein sündiges Leben und seine vergängliche Liebe 
zu anderen Frauen vor, um jene Reue in ihm zu erwecken, die ihn 
würdig machen soll, an ihrer Seite das Paradies zu sehen. 

Noch durch einen anderen Zug unterscheidet sie sich von ihrer 
Doppelgängerin in der Vita nuova. Während die sanfte Beatrice, 
die der Dichter in seiner Jugend liebte, von ihm nur sehr selten 
Notiz nimmt, ist die Beatrice der Divina Commedia unablässig um 
sein Wohl besorgt. 

Die Himmelskönigin hat Lucia, die wahrscheinlich die erleuch¬ 
tende Gnade darstellt, zu ihr gesandt und nun erfährt Beatrice 
durch Lucia von Dantes Sünden und Kämpfen. Von Mitleid 
gerührt, steigt Beatrice in die Hölle hinab, um Virgil zu bitten, 
Dante als Führer durch die Hölle und das Fegefeuer zu dienen, 
denn er kann nur gerettet werden, wenn er die furchtbaren Strafen 
sieht, die im Jenseits der Sünder harren. Sie selbst führt dann den 
geläuterten Dichter durch das Paradies, damit er auch die ewige 
Seligkeit erkenne, die der Lohn der Gerechten ist. — Beatrice und 
Virgil haben Dante gegenüber stets einen belehrenden Ton und 




Von Dantes unbewußtem Seelenleben 


211 


klären ihn über die verschiedensten irdischen und überirdischen Dinge 
in mittelalterlich scholastischer Weise auf. 

Manchmal werden wir freilich auch wieder an jene Beatrice 
der Vita nuova erinnert, die von so mildem Schein umflossen ist. 
So sagt Virgil von ihr: 


Lucevan gli occhi suoi piü (he la 

Stella 

E cominciommi a dir soave e 

piano 

Con angelica voce in sua favella 
(Inferno II, 55—57.) 


Ihr Auge glänzte mehr denn Ster^ 
nenlicht 

Und sie begann zu reden mit so 
schlichter 

Und sanfter Stimme wie ein Engel 
spricht. 

(Alle Stellen aus der Divina Com^ 
media sind nach der Übersetzung 
Gildemeisters zitiert.) 


Gewiß wäre es nicht schwer, noch mehr derartige Stellen aus 
der Divina Commedia zu zitieren, aber doch ist die Wandlung, die 
Beatrice in der Phantasie des Dichters durchgemacht hat, so auf¬ 
fallend, daß wir den Ursachen, die sie hervorgerufen haben mögen, 
nachgehen wollen. 

Glücklicherweise wird diese Aufgabe dadurch erleichtert, daß 
Dante sein Geheimnis selbst verraten hat, was man aus einigen 
Versen des Purgatorio leicht ersehen kann. Dante hat seine Reise 
durch das Purgatorio, das die Form eines aus dem Meere auf¬ 
ragenden abgestumpften Kegels hat, beendet,* er befindet sich nun 
im irdischen Paradies, das den obersten Teil des Kegels ausfüllt und 
die letzte Region ist, durch die der Heide Virgil ihn begleiten darf. 
Schon ist der von mystischen Emblemen umgebene Triumphwagen, 
der die Kirche darstellt und von einem Greif (Christus) gezogen 
wird, vor Dante erschienen und Beatrice (Theologie) steigt in einer 
Wolke von Blumen, die von Engeln gestreut werden, herab, um 
ihren Platz auf dem Wagen einzunehmen 1 . Als Virgil, der nun 
Beatrice die Führung abtreten muß, verschwindet, bricht Dante in 
Tränen aus, worauf sich ihm Beatrice streng und hoheitsvoll zu^ 
wendet. 


Ne quantunque perdeo l'antica 
madre, 

Valse alle guance nette di rugiada, 

Che lagrimando non tornassero 
adre. 

Dante, per che Virgilio se ne vada, 

Non piangere anco, non piangere 
ancora! 


Was Eva einst verlor (das Para^ 
dies), es reichte nicht, 
Daß es den Tränen neu zu trüben 
wehrte 

Mein jüngst vom Tau gewasch'nes 
Angesicht. 

»Dante, ob auch Virgil hinweg sich 
kehrte. 

Noch weine nicht, nicht weine 
dieses Mal! 


1 So bedeutsam auch die Rolle der Allegorie in der Divina Commedia ist, 
so darf man doch darum auch den senso letterale, auf den Dante bei der Er¬ 
klärung seiner Werke ebenfalls Wert legt, nicht vergessen <cf. Convito I, 2. Kap.). 


14 * 





212 


Dr. Alice Sperber 


Che pianger ti convien per altra 
spada.« 

Quasi ammiraglio, che in poppa 
ed in prora 

Viene a veder la gente, che mu 
nistra 

Per li alti legni, ed a ben far la 
incora. 

In su la sponda del carro sinistra, 

Quando mi volsi al suon del nome 
mio, 

Che di necessitä qui si rigistra, 

Vidi la donna, che pria mi appario, 

Velata sotto I'angelica festa, 

Drizzar li occhi ver me di qua dal 
rio. 

Tutto che il vel, che le scendea di 
testa, 

Cerchiato dalla fronda di Minerva, 

Non la lasciasse parer manifesta. 

Regalmente nello atto ancor 
proterva 

Continuö, come colui, che dice 

E il piü caldo parlar dietro riserva: 

Guardami ben! son ben, son ben 
Beatrice. 

Come degnasti di accedere al 
monte? 

Non sapei tu, che qui e 1' om 
felice? 

Gli occhi mi cadder giü nel chiaro 
fonte! 

Ma veggendomi in esso, io 
trassi alla erba,- 

Tanta vergogna mi gravo la 
fronte! 

Cosi la madre al figlio par 
superba. 

Com' ella parve a me: perche 
di amaro 

Sente il sapor della pietate 
acerba. 


Du mußt noch weinen, wund von 
anderem Schwerte.« 

Wie auf Kastell und Deck der 
Admiral 

Die Leut' aufsucht eh' sie die See^ 
schiacht schlagen 

Und sie ermahnt zu tun was er 
befahl. 

So, an dem linken Rand auf ihrem 
Wagen, 

Als bei dem Namen ich zusamt 
menfuhr 

<Der, weil es sein muß, hier steht 
eingetragen) 

Sah ich das Weib, das erst ver^ 
schieiert nur 

Der Engel Festgruß mir zu seh'n 
erlaubte 

Mich anschau'n von der andern 
Uferflur, 

Obwohl der Schleier, der von ihrem 
Haupte 

Hinfloß, umgürtet von Minervas 
Grün, 

Mir immer noch den vollen Anblick 
raubte. 

Königlich von Geberden frei 
und kühn 

Begannen sie, wie ein Mann, der 
klugen Sinnes 

Aufspart die Worte, die am 
meisten glüh'n. 

Schau her: ich bin Beatrice, ja ich 
bin es. 

Dünkt nun das Steigen auf den 
Berg dir gut? 

Warst du zuvor unkundig des 
Gewinnes 

Da sank mein Blick in die kry^ 
stall'ne Flut 

Und weil ich dort mich sah 
blickt ich geschwinde 

Ins Gras, gebeugt von Scham, 
die mich belud. 

Stolz schien sie, wie die MuU 
ter scheint dem Kinde 

Denn streng Erbarmen gab 
und gibt es nie 

Daß man nicht bitter den Ge¬ 
schmack empfinde. 


<Purg XXX, 76—81.) 




Von Dantes unbewußtem Seelenleben 


213 


Diese Gefühlseinstellung Dantes gegenüber Beatrice geht noch 
aus mehreren anderen Stellen hervor. Im ersten Gesänge des Pa^ 
radieses als der Dichter mit Beatrice zu Gottes Thron emporsteigt, 
fragt er sie, wie so er imstande sei, die Himmel zu durchkreuzen. 
Der gelehrten Antwort der Führerin werden folgende Verse vor¬ 
ausgeschickt: 


Ond' ella, apresso d 7 un pio 
sospiro, 

Gli occhi drizzö ver me, con 
quel sembiante, 

Che madre fa sopra figluol de* 
liro. 

<Par. I. 100—102.) 


Mitleidig seufzte sie und mild 
und lind 

Ließ sie auf mir die Augen 
ruh'n, als hingen 
Der Mutter Blick am fieber* 
krankem Kind. 


cf. ferner Par. III. 25—27 — als Dante die Seelen des cielo della 
luna irrtümlicherweise für Spiegelbilder hält: 


Non ti meravigliar, per che io sor- 
rida, 

Mi disse, apresso il tuo pueril 
coto, 

Poi sopra il vero ancor lo pie non 
fida. 


Nicht wund're dich <so ward mir 
d'rauf gesagt) 

Mein Lächeln bei dem kind* 
liehen Gedanken 
Daß noch dein Fuß sich nicht auf 7 s 
Wahre wag;. 


Par. XXII 1 ff. schildert Dante mit folgenden Worten, wie er 
durch die Stimmen der seeligen Geister betäubt wird: 


Oppresso di stupore alla mia 
guida 

Mi volsi, come parvol, che ri* 
corre 

Sempre colä dove piü si con* 
fida: 

E quella, come madre, che 
soccorre 

Subito al figlio pallido ed 
anelo 

Con la sua voce, che il suol 
ben disporre, 

Mi disse — — 


Von Schreck betäubt hatt 7 ich 
mich umgeschaut 

Nach meiner Führerin gleich 
einem Kinde 

Das stets dahin flieht, wo es 
meist vertraut. 

Und sie, wie eine Mutter, die 
geschwinde 

Dem blassen Söhnchen hilft, 
daß es bei ihr 

Gewohnten Trost in sanften 
Worten finde. 

Sprach — — 


Par. XXIII 1 ff. als Beatrice und Dante die triumphierenden 
Scharen Christ erwarten, erinnert ihn ihre schützende Liebe an den 
Vogel, der sein Nest behütet. 

Schon Michele Scherillo (Nuova Antologia, 3. Serie, 49. Bd. 
409ff.) hat darauf hingewiesen, daß Dante in den zitierten Stellen 
seiner Mutter ein Denkmal gesetzt hat und plötzlich beginnen wir 
zu verstehen, warum Beatrice in der Divina Commedia ganz im 
Gegensatz zur Vita nuova so streng, herb und lehrhaft geworden 
ist, denn solche Züge stehen der mütterlichen Autorität besser an 
als der weichen Anmut der Jugendgeliebten. Über die Ursachen 
dieser Veränderung ist noch vieles zu sagen. Ich will die Annahme 




214 


Dr. Alice Sperber 


Scher illos nicht bestreiten, der es natürlich findet, daß Beatrice in 
der Divina Commedia die edelste Seite des weiblichen Wesens dar¬ 
stellt, nämlich die Mütterlichkeit, denn sie ist ja »quanto di ben puö 
far natura«, doch möchte ich hinzufügen, was die Psychoanalyse in 
diesem Falle zu bemerken hat. 

Der Dichter, dessen Liebe überreich war an Schmerzen und 
Entsagung, hat sich in einer Weise mit seinem Schicksal abgefunden, 
die charakteristisch ist für unglücklich Liebende. Dem Gesetz der 
seelischen Regression folgend, träumte er sich in die seligen Zeiten der 
ersten Kindheit zurück, in der er wie fast jeder Knabe der Mutter 
ungeteilte Zuneigung entgegenbrachte und kombinierte in seiner 
Phantasie das Bild der Geliebten mit jenem der Mutter. Mit dieser 
Konstatierung eines ungemein häufigen Vorganges, der aber infolge 
seiner Unbewußtheit der Wissenschaft lange verborgen blieb, ist 
jedoch unser Problem noch lange nicht erledigt. Vielmehr ergeben 
sich neue Probleme und neue Gesichtspunkte. Vor allem liegt es 
nahe zu fragen: Läßt die Art und Weise, wie Dante in der Bea^ 
trice der Divina Commedia unbewußt seine Mutter schildert, auf 
das Wesen der letzteren schließen, was um so wichtiger wäre, als 
wir ja von Dantes Mutter nur wissen, daß sie Bella hieß und 
frühzeitig starb. Hat Dante nicht audi seinem Vater, den er schein¬ 
bar niemals erwähnt, nicht doch auch in seinen Werken ein Denk^ 
mal gesetzt, das sich durch psychoanalytische Forschung enthüllen 
ließe? Hat die Erinnerung an Lapa Cialuffi, die spätestens, als er 
dreizehn Jahre alt war, seine Stiefmutter wurde, was aus den An^ 
gaben Scherillos hervorgeht 1 , nicht auch Spuren in seinen Dich^ 
tungen hinterlassen und schließlich vollzog sich die Umwandlung, 
die das Bild Beatricens in der Phantasie des Dichters durchmachte, 
plötzlich, oder lassen sich nicht doch schon in der Vita nuova leise 
Ansätze zu einer Gefühlseinstellung entdecken, die später für die 
Charakteristik der Geliebten ausschlaggebend werden sollte? 

Indem wir es uns Vorbehalten, die beiden ersteren Fragen an 
anderer Stelle zu erledigen, wollen wir uns vorläufig mit dem letzt¬ 
genannten Problem beschäftigen und dabei von einem Moment aus¬ 
gehen, das charakteristisch ist für Dantes Verhältnis zur Beatrice 
der Divina Commedia. So sehr der Dichter sich bemüht, seinen 
Schmerz über die strafenden Worte der Geliebten möglichst glaub¬ 
würdig zu schildern, und so sehr ihm dies auch gelungen ist, kann 
man sich doch des Eindrucks nicht erwehren, daß er trotz aller Qual 
der Reue eine gewisse Befriedigung darin empfindet, von Beatrice 
gedemütigt zu werden. Die Szene ist sehr breit ausgesponnen und 
umfaßt beinahe zwei Gesänge <Purg. XXX und XXXI). Beatrice 
kann sich nicht genug tun in harter Anklage, so daß die Engel ihn 
mitleidig mit süßen Gesängen trösten. Aber Beatrice besteht darauf, 


1 F. M. Scherillo, la madre e la matrigna di Dante, Nuova Antologia 
49. Bd., 3. Serie, p. 415. 







Von Dantes unbewußtem Seelenleben 


215 


daß die Strafe nicht minder schwer sein dürfe als die Schuld und 
obwohl Dante in Tränen ausbricht, schildert sie den himmlischen 
Scharen die Größe seiner Sünde. In seiner Jugend sei er so gewesen, 
daß jede Tugend sich herrlich in ihnen hätte entfalten können, aber 
je kraftvoller das Erdreich ist, um so wilder und bösartiger schießt 
die schlechte Saat empor, wenn es nicht gepflegt wird. So lange sie 
lebte, sei sie der Leitstern seiner Seele gewesen. Als sie aber die 
irdische Hülle abgestreift hatte und nun noch schöner und voll¬ 
kommener geworden, habe er sie um anderer Frauen willen ver^ 
gessen und sich der Eitelkeit der Welt hingegeben, obwohl er schon 


in reifem Alter gewesen. 

Quäle i fanciulli vergognando 
muti, 

Con gli occhi a terra, stannosi 
ascoltando, 

E se riconoscendo, e ripentuti, 

Tal mi stav 7 io. Ed ella disse: 

Quando 

Per udir se' dolente, alza la barba, 

E prenderai piü doglia, riguar^ 
dando. 

Con men di resistenza si dibarba 

Robusto cerro, o vero a nostral 
vento, 

O vero a quel della terra di Iarba, 

Ch 7 io non levai al suo comando 
il mento: 

E quando per la barba il viso 
chiese, 

Ben conobbi il velen dell 7 argo- 
mento. 

E come la mia faccia si distese, 

Posarsi quelle prime creature 

Da loro aspersion Y occhio com- 
prese: 

E le mie luci, ancor poco sicure, 

Vider Beatrice volta in sulla fiera, 

Ch 7 e sola una persona in due 
nature. 

Sotto suo velo, ed oltre la riviera 

Verde, pareami piü se stessa antica 


Wie stumm und schamhaft 
ein gescholten Kind 

Dasteht und zuhört mit ge^ 
senkten Brauen 

Und reuig auf sich selber 
sich besinnt 

So stand ich, und sie sprach: »Ob 
noch so rauhen 

Schmerz dir das Hören macht, heb 7 
auf den Bart, 

Und größter Schmerz wird dir 

entsteh'n durch Schauen« 

Nicht glaub 7 ich, daß je auf so 
schnelle Art 

Die Zirneich ihre Wurzeln auf^ 
wärts streckte. 

Wann Südsturm sie ergriff auf 
seiner Fahrt 

Wie ich das Kinn bei ihrer Mah^ 
nung reckte 

Und wie sie also »Bart« das Ant~ 
litz hieß 

Fühlt 7 ich das Gift, das in dem 
Worte steckte. 

Und als ich meinen Blick aufsteigen 
ließ 

Sah ich den Chor der ersten 
Kreaturen, 

Wie er die Blumenstreuung untere 
ließ 

Und meine Augen, die unsicher 
fuhren, 

Sah'n nun Beatrice hinschau 7 n nach 
dem Tier, 

Das eins ist von Person in zwei 
Naturen 

Mehr übertraf sie ihre früh're Zier 

Im Schleier dort auf dem erhab'nen 
Sessel 





216 


Dr. Alice Sperber 


Vincer, die V altre qui, quando 
ella c era. 

Di penter si mi punse ivi Y ortica. 

Che di lutt' altre cose, quäl mi 
torse 

Piü nel suo amor, piü mi si fe nU 
mica. 

Tanta riconoscenza il cor mi 
morse, 

Ch' io caddi vinto: e quäle allora 
femmi, 

Salsi colei che la cagion mi porse. 
<Purg. XXX, 64—100.) 


Als einst die andern Fraun auf 
Erden hier 

Gewaltig stach mich dort der Reue 
Nessel 

Zwiefach verhaßt ward mir was 
anderwärts 

Am meisten mich fortzog in Liebes- 
fessel. 

Erkenntnis meiner selbst biß mich 
ins Herz, 

Und in den Staub warf dieses 
Schlag's Gewalt mich, 

Sie weiß es, die mir Grund gab 
für den Schmerz. 


Nachdem Dante wieder zu sich gekommen ist, wird er von 
Matelda, der Hüterin des irdischen Paradieses, in die Fluten des 
Lethe getaucht und herausgezogen. Nun ist die Erinnerung an seine 
Sünden in seinem Gedächtnis gelöscht und er darf die ganze himm¬ 
lische Herrlichkeit Beatricens erkennen, die sich vor ihm entschleiert. 

Da Dante so intensiv die Beschämung betont hat, die er 
seiner Richterin gegenüber empfindet, ist es interessant zu vergleichen, 
was er im Convivio über die Schamhaftigkeit sagt. Er meint, daß 
»vergogna« nur den Frauen und den Jünglingen wohl anstehe, denn 
den Alten und den Gelehrten, zu denen sich Dante mit Recht 
zählte, ziemt es, sich vor jenen Dingen in acht zu nehmen, deren 
man sich schämen muß. Dann fährt er fort: Alle giovani e alle 
donne non e tanto richiesto <dico tale riguardo),- e perö in loro e 
laudabile la paura del disonore ricevere per la colpa: dhe da no- 
biltä viene: e nobiltä si puö vedere il loro timore, e chiamare, sic- 
come viltä e ignobilitä la sfacciatezza, onde buono e ottimo segno 
di nobiltä e ne 11 i pargoli e imperfetti d'etade quando dopo il 
fallo nel viso loro vergogna si dipinge ch'e allora frutto di vera 
nobiltä (Trattato IV, Kap. 19)L 

Mußte es aber Dante, der uns selbst gesagt hat, wie stolz 
er war 1 2 , nicht unendlich schwer fallen, sich in seinem unsterblichsten 
Werk so tief zu demütigen und die Vorstellung auszumalen, daß er 


1 »Von jungen Leuten und von Frauen fordert man in dieser Hinsicht nicht 
so viel und darum ist an ihnen die Furcht, durch eine Verfehlung Unehre auf 
sich zu laden, löblich. Das ist ein Ausfluß des Adels. Und als Adel kann man 
ihre Zurückhaltung auslegen, so wie man die Unverschämtheit als ein Zeichen 
einer niedrigen und unedlen Herkunft auslegt. Darum ist es ein gutes, ja sehr 
gutes Zeichen von Edelsinn, wenn Kindern und Unerwachsenen nach 
einem Fehltritt die Scham auf das Antlitz tritt. Sie ist eine Frucht des wahren 
Adels« <nach Saut er). 

2 cf. Purg. XIII, 133 ff. Dante glaubt, daß er nicht viel durch Neid gesün^ 
digt habe, wohl aber fürchtet er die Strafe, welche die Stolzen ereilt, die im 
Fegefeuer unter schweren Lasten beinahe zusammenbrechen. 






Von Dantes unbewußtem Seelenleben 


217 


als reifer Mann 1 wie ein beschämtes Kind vor Beatrice gestanden 
sei? Die Antwort lautet: nein, denn die masochistische Gefühlsein¬ 
stellung gegenüber geliebten Personen, die von den meisten so 
ängstlich verhüllt wird und doch so unleugbar nachgewiesen ist, hat 
sich hier bei Dante geltend gemacht, als er auf Beatrice Gefühle 
übertrug, die sich der elterlichen Autorität gegenüber zuerst ein¬ 
stellen. 

Uns interessiert die Frage, ob nicht schon in der Vita nuova 
Ansätze zu dieser Übertragung vorhanden sind und da heißt es 
denn, als Dante erzählt, daß Beatrice ihm wegen eines Klatsches 
ihren Gruß verweigert habe: Ora, tornando al proposito, dico che 
poiche la mia beatitudine mi fu negata mi giunse tanto dolore che 
partitomi dalle genti in solinga parte andai a bagnare la terra 
d'amarissime lagrime: e poiche alquanto mi fu sollevato questo 
lagrimare misimi nella mia camera la' ove potea lamentarmi senza 
essere udito. E quivi chiamando misericordia alla donna della cor- 
tesia e dicndo,- »Amore aiuta il tuo fedele« m'addormentai come 
un pargoletto battuto lagrimando 2 . § XII. Nicht nur die An¬ 
spielung auf . die körperliche Züchtigung macht einen infantilen Ein^ 
druck, sondern auch noch ein anderer Zug. Menschen, die sich von 
Leid überwältigt in Schlaf weinen, erinnern immer ein wenig an 
Kinder. 

Noch andere Züge der Vita nuova sind von infantiler Her¬ 
kunft, z. B. die sich fortwährend wiederholenden Ahnungen und 
Phantasien vom Tode der Geliebten. Er hatte die Macht des Todes 
schon als Kind fürchten gelernt, war ihm doch die Mutter frühzeitig 
entrissen worden 3 . Nun könnte man sich ja mit der Bemerkung 
begnügen, Dante sei infolge jener traurigen Erfahrungen von KincL 
heit an disponiert gewesen, die Wiederholung eines derartigen Un^ 
glücks zu fürchten und diese Furcht habe sich in Sorge um das 
Leben Beatricens verwandelt, aber bei dem heutigen Stande der 
Psychoanalyse wäre es oberflächlich, sich mit solchen Erwägungen 


1 Dante gibt vor, daß seine Reise ins Jenseits stattgefunden habe, als er 
»nel mezzo del cammin di nostra vita« stand. Gemeint ist das 35. Jahr. 

2 Nun kehre ich zu meinem Gegenstände zurück und sage, daß, als meine 
Freude und Seligkeit mir verweigert ward, mich solcher Schmerz erfaßte, daß ich 
die Menschen mied und in einsame Gegenden entflohen, die Erde mit den bitter^ 
sten Tränen netzte,* und nachdem dieses Weinen mich ein wenig erleichtert hatte, 
begab ich mich in meine Kammer, wo ich klagen konnte, ohne gehört zu werden. 
Und hier rief ich die gütigste Herrin um Mitleid an und mit den Worten: »O 
Liebe, hilf doch deinem Getreuen!« schlief ich ein, wie ein Kindlein, das 
Schläge bekommen hat und weinend einschläft. (Nach der Übersetzung 
von Karl Federn.) 

3 Wie alt Dante war, als seine Mutter starb, wissen wir nicht, doch ist 
es sicher, daß er im Alter von dreizehn Jahren schon eine Stiefmutter besaß, was 
sich aus den Angaben M. Scherillos (Nuova Antologia 49. Bd., 3. Serie, p. 415) 
ergibt. Scherillo rechnet sogar mit der Möglichkeit, daß Bella gleich nach der 
Geburt Dantes gestorben sein könnte, was natürlich auch einen gewissen PessU 
mismus im Gefühlsleben des Dichters begreiflich machen würde. 





218 


Dr. Alice Sperber 


zufrieden zu geben. Wir wissen, weldi geheimnisvollen Reiz Todes¬ 
gedanken haben können, die ja eben deshalb einen unverwüstlichen 
Bestandteil der Lyrik bilden und müssen konstatieren, daß Dante 
derartigen Gefühlen sehr zugänglich gewesen ist, sonst hätte er sie 
nicht in so intensiver Weise zum Gegenstand seiner Dichtungen 
gemacht. 

In visionärem Zustand erblickt er Frauen mit erzürntem 
Gesichtsausdruck, die ihm zurufen: Morrati pur, morrati und in 
derselben Vision sieht er, wie die Sonne sich verfinstert und die 
Vögel zur Erde fallen. Ein bleicher Mann verkündet ihm, daß 
Beatrice gestorben sei,- er sieht die Geliebte tot vor sich, ein Bild 
des Friedens und der Demut. Engelscharen entschweben mit ihrer 
Seele zum Himmel. Dies ist die letzte unheilverkündende Vision 
vor dem Tode Beatricens, aber nicht die einzige in der Vita 
nuova. Gleich zu Anfang schildert der Dichter, wie Amore mit 
großer Freude die Geliebte in den Armen hält, die nur von 
einem leichten, blutroten Tuch bekleidet ist. Amore gibt Beatrice 
Dantes glühendes Herz zu essen und nachdem dies geschehen, 
verwandelt sich Amores Freude in Traurigkeit. Weinend entschwebt 
der Beherrscher der Herzen mit Beatrice gen Himmel, wobei 
Dante so große Angst empfindet, daß er aus dem traumhaften 
Zustand erwacht. Ein andermal, nachdem Beatrice ihm ihren Gruß 
verweigert hat, erzählt er in der berühmten Kanzone: Donne 
ch'avete intelletto d'amore, ein Engel und alle Heiligen haben Gott 
gebeten, Beatrice zu sich zu berufen, damit der Himmel durch sie 
vollkommener werde und Gott erwidert: 


Geliebten, wollt gedulden euch in 
Frieden, 

Laßt eure Hoffnung wandeln noch 
hienieden, 

Wo einer schon erbangt, sie 
bleibe nicht. 

Der einst wird sprechen in der 
Hölle grauen, 

»Der Seßgen Hoffnung hab' ich 
dürfen schauen!« 

<Nadi Hortus deliciarum, II.) 


Diletti miei, or sofferite in pace 


Che vostra speme sia quanto mi 
piace 

La ov' e alcun che perder lei 
s'attende 

E che dirä n eil' Inferno a'malnati: 


Jo vidi la speranza de' beati. 


Für unsere Untersuchung ist es gleichgiltig, ob Dante wirklich 
vor dem Tode Beatricens von solch düsteren Ahnungen und Vi¬ 
sionen heimgesucht wurde, oder ob er sie erst nachträglich frei er¬ 
funden hat,- für uns kommt es darauf an, daß er sich darin gefiel, 
derartige Situationen auszumalen. 

Theoretisch kommt sogar die Möglichkeit in Betracht, daß 
Beatrice gar nicht so jung, wie Dante angibt, gestorben sei, sondern 
daß er nur durch irgendein uns unbekanntes Ereignis dazu ver¬ 
anlaßt wurde, sich mit zerrissenem Herzen von der lebenden Ge¬ 
liebten abzuwenden, und von ihrem Tode zu phantasieren. Dies 




Von Dantes unbewußtem Seelenleben. 


219 


entspricht übrigens keineswegs meiner persönlichen Ansicht, da man 
doch erwarten sollte, daß er auf etwas derartiges irgendwie in seinen 
Werken hinweisen mußte, was aber nicht der Fall ist. 

Meist gibt Dante, wenn er von dem bevorstehenden Tode 
Beatricens spricht, einer schmerzlichen Stimmung Ausdruck, die uns 
an die Gefühle erinnert, mit denen wir erwachen, wenn wir geträumt 
haben, daß ein uns teures Wesen gestorben sei. Obwohl Freuds 
Nachweis, daß derartige Träume unbewußte Todeswünsche gegen 
geliebte Personen offenbaren, auf heftigen Widerspruch gestoßen 
ist, zögere ich nicht, ihn auf Dante anzuwenden, da es sich um 
eine durch eingehende Forschung erwiesene Tatsache handelt. 

Für alle, die der Psychoanalyse fernestehen, füge ich 
noch hinzu, daß die im Kindesalter von Seite der Eltern 
oder deren Stellvertreter erlittene Unterdrückung nicht 
nur masochistische Empfindungen hervorruft, sondern 
gerade weil das Kind in der ersten Zeit seines Lebens 
jene Personen wie allgütige Wesen geliebt hat, infolge 
der erlittenen Enttäuschung auch Rachegedanken und 
Todeswünsche, die bald ins Unbewußte verbannt werden, 
aber in Form von Träumen und visionären Zuständen 
wieder zum Vorschein kommen. Nach dem Vorbild der 
Kindheitserlebnisse wiederholt sich dieser Vorgang in 
späterer Zeit, wenn der oder die Geliebte durch Kälte 
oder Ablehnung Anlaß zur Unzufriedenheit geben 1 . 

Es ist nur natürlich, daß auch Dante Beatrice unbewußt für 
alle Leiden verantwortlich gemacht hat, die er um ihretwillen er¬ 
dulden mußte. Als selbstverständliche Reaktion stellten sich bei un¬ 
serem Dichter, wie seinerzeit gegen die erste Erzieherin, Todes¬ 
wünsche 2 gegen diejenige ein, der er aus freier Wahl die Aufgabe 
zuerkannt hatte, ihm den Weg der Tugend zu weisen 3 , wie dies 
einer Mutter ziemt. 

Da er aber in seinem bewußten Denken gewiß vollständig 
unfähig war, sich Todeswünsche gegen Beatrice einzugestehen, durften 


1 Gerne beruft sich die Psychoanalyse auf das Dichterwort: 

And all men kill the thing they love 
By all let this be heard 
Some do it with a bitter look 
Some with a flattering word 
The coward does it with a kiss 
The brave man with a sword. 

<Wilde: Ballad of Reading Goal.) 

2 Leidenschaftliche Kinder, und es müssen nicht die schlechtesten sein, geben 
ihrer Empörung über eine erlittene Bestrafung manchmal Ausdruck, indem sie 
Eltern und anderen Autoritäten laut und unverhohlen den Tod wünschen. Man 
würde sich einer Täuschung hingeben, wollte man annehmen, daß jene Kinder, die 
aus irgendwelchen Rücksichten schweigen, solcher Gedanken unfähig sind. 

3 Dante und die anderen Dichter des dolce stel nuovo haben diese Mission 
der Geliebten besonders stark betont. 





22o 


Dr. Alice Sperber 


sie sich nur in Form von Todesahnungen äußern, d. h. sie erschienen 
gleichsam in einer Verkleidung als Sorge um das Leben der Ge¬ 
liebten, ist doch die bewußte scheinbar unmotivierte Angst um ge^ 
liebte Menschen die Strafe, die wir für unsere unbewußten Rache¬ 
gedanken bezahlen müssen. Die schmerzlich süßen Empfindungen, 
die sich bei solchen Todesphantasien trotz der sie begleitenden Angst 
oft einstellen, wurden bei Dante gewiß noch dadurch erhöht, daß 
er als gläubiger Christ davon überzeugt war, Beatrice dereinst im 
Himmel wiederzusehen, wie er ja als Kind gewiß oft gehört hatte, 
er werde mit der toten Mutter vor Gottes Thron vereint werden, 
wenn er nur fromm und gehorsam sei. Wie folgenschwer dieser 
Glaube für seine seelische und geistige Entwicklung wurde, werden 
wir noch sehen. 

Wahrscheinlich werden viele Literarhistoriker zu diesen Aus¬ 
führungen bemerken, daß es gar nicht nötig sei, wegen der Charak¬ 
teristik von Dantes Verhältnis zu Beatrice den psychoanalytischen 
Apparat in Bewegung zu setzen. Er habe ganz einfach wie alle 
Dichter der Bologneserschule in der geliebten Frau ein Wesen von 
moralischer Überlegenheit gesehen, das berufen ist zu bessern und 
zu läutern. Auch die Troubadours, die Dante ja sehr genau kannte, 
hatten gesagt, daß die Liebe den Menschen veredle und das Va^ 
sallenverhältnis des Rittertums auf den Minnedienst übertragen. Für 
sie ist die geliebte Frau die hohe Herrin, der sie in Demut dienen 
und Dante, werden viele sagen, habe diese Anschauung einfach 
von ihnen entlehnt. 

Dies wäre aber entschieden nicht die richtige Stellung zu un^ 
serem Problem. Es fragt sich doch, warum nicht nur Dante, son^ 
dern so viele andere Dichter in einer Zeit, in der die Frau vor 
dem Gesetz fast eine Sklavin war und der Autorität des Mannes 
völlig unterstand, zu einer solchen Auffassung von der Mission 
des Weibes gekommen. Das sei eben das Wesen der Liebe, dürfte 
die Erwiderung lauten, aber eine Erklärung des Problems ist damit 
nicht gegeben. Diese lautet: jedesmal, wenn sich die Neigung geltend 
macht, trotz aller gesetzlichen und sozialen Erniedrigung des weib¬ 
lichen Geschlechtes in der geliebten Frau die Herrin zu sehen, so 
hängt dies damit zusammen, daß jeder Knabe in seiner frühen 
Kindheit der Mutter gegenüber ein ähnliches Verhältnis kennen 
gelernt hat, und daß in seiner Seele die Disposition fortlebt, unter 
gewissen Umständen eine Wiederholung der infantilen Gefühlsein¬ 
stellung zu erleben. Was für besondere kulturelle und soziale Fak^ 
toren das Aufkommen einer solchen Richtung begünstigen, wollen 
wir hier nicht erörtern, wir wollten nur zeigen, in welcher Weise 
sich bei Dante dieser Prozeß abgespielt hat. 

Es ist das Verdienst von Rank, gezeigt zu haben, daß 
die Anwendung der psychoanalytischen Methode uns nicht nur 
befähigen soll in großen Zügen über ein Problem Aufschluß zu 
geben, sondern auch ein bestimmtes Detail zu erklären, das der Er- 




Von Dantes unbewußtem Seelenleben 


221 


örterung bedarf 1 . Ein solches für die Vita nuova sehr charakte¬ 
ristisches Detail ist das Spielen mit der Zahl Neun. Wir erinnern 
uns daran, »daß Dante behauptet, er habe Beatrice zum ersten¬ 
mal gesehen, als sie den Anfang des neunten Jahres erreicht hatte 
und er fast neun Jahre zählte. Als sie ihn in ihrem achtzehnten 
Lebensjahre durch ihren Gruß beglückt, ist es die neunte Stunde 
des Tages, auch die Visionen, die sich auf sie beziehen, stellen sich 
manchmal um diese Stunde ein und besonders bei ihrem Tode spielt 
diese Zahl eine große Rolle«. 

Io dico che, secondo l'usanza d'Italia l'anima sua nobilissima si parti 
nella prima ora del nono giorno del mese,- e secondo l'usanza di Siria 
ella si parti nel nono mese deH'anno; perche il primo mese e ivi Tis- 
min, il quäle a noi e Ottobre. E secondo l'usanza nostra ella si parti in 
quello anno della nostra indizione cioe degli anni Domini in cui il perfetto 
numero nove volte era compiuto in quel centinaio nel quäle in questo 
mondo ella fu posta ed ella fu de' cristiani del terzodecimo centinaio. 
Perche questo numero le fosse tanto amico questa potrebb'essere una ra* 
gione,- conciossiacosache secondo Tolemeo e secondo la cristiana veritä, 
nove siano i cieli che si muovono e secondo comune opinione astrolo- 
gica li detti cieli adoperino quaggiü secondo la loro abitudine insieme, 
questo numero fu amico di lei qer dare ad intendere che nella sua gene* 
razione tutti e nove li nobili cieli perfettissimamente s'aveano insieme. 
Questa e una ragione di ciö/ ma piü sottilmente pensando e secondo la 
infallibile verita, questo numero fu ella medesima per similitudine 
dico e ciö intendo cosi: Lo numero del tre e la radice del nove, perocche 
senz 'altro numero per se medesimo moltiplicato fa nove sicome vede^ 
mo manifestamente che tre via tre fa nove Dunque se il tre e fattore per 
se medesimo del nove e lo fattore dei miracoli per se medesimo e tre, 
cioe Padre, Figliuolo e Spirito santo li quali sono tre ed uno, questa donna 
fu accompagnata dal numero del nove a däre ad intendere, che ella 
era un nove cioe un miracolo la cui radice e solamente la mirabile 
Trinitade. — Nach diesen Angaben wäre also Beatrice am 9. Juni 1290 ge¬ 
storben. 

Die Erforschung der unbewußten Zahlensymbolik, die uns 
lehrt, daß die Zahl Neun ein Symbol für die neun Monate der 
Schwangerschaft ist 2 <cf. Stekel, Die Sprache des Traumes. Wies¬ 
baden: 1911, p. 414), bestätigt die hier vorgebrachte Anschauung über 


1 <cf. Mythus von der Geburt des Helden, 5. Heft der Schriften zur ange~ 
wandten Seelenkunde, herausgegeben von Freud, Leipzig und Wien 1909, p. 69.) 

2 Ihre viel edle Seele schied, sage ich, nach der italienischen Zeitrechnung 
in der ersten Stunde des neunten Tage des Monats,- und nach der syrischen Zeit¬ 
rechnung schied sie in dem neunten Monat des Jahres,- indem der erste Monat 
daselbst der Tisrin ist, unser Oktober. Und nach unserer Zeitrechnung schied sie 
in jenem Jahre unserer Zählung, d. i. der Jahre des Herrn, in welchen die volU 
kommene Zahl neunmal voll geworden war in jenem Jahrhundert, in welchem 
sie in diese Welt gesandt worden : und sie war von den Christen des dreizehnten 
Jahrhunderts. Daß diese Zahl ihr so freund war, dessen mag dieses ein Grund 
sein: da es nämlich nach Ptolemäus und der christlichen Wahrheit gemäß neun 
Himmel gibt, die sich bewegen und nach gemeiner Ansicht der Astrologen die 
besagten Himmel hier auf Erden ihre Wirkung üben nach ihrer Eigenschaft alle. 





222 


Dr. Alice Sperber 


die Rolle Beatricens in Dantes Phantasieleben * 1 . Die bei hochbegabten 
Kindern besonders leidenschaftliche Neugierde, die sich frühzeitig auf 
die Fortpflanzungsfunktionen des Frauenleibes richtet <Zerreißen der 
Puppe !> und naturgemäß bei der Beobachtung der Mutter oder 
deren Stellvertreterinnen einsetzt, äußert sich noch bei der Über¬ 
tragung auf Beatrice in der Formel: ella era un nove = in be¬ 
wußter Übersetzung: sie erscheint mir wie jene Frau, die 
einst mit mir schwanger war. 

Die Betonung der Zahl Neun, die Anspielung auf körper¬ 
liche Züchtigung, sowie die von der ersten Erzieherin auf Beatrice 
übertragenen Todeswünsche beweisen, daß die infantile Einstellung 
des Dichters gegenüber Beatrice, die in der Divina Commedia so 
stark hervortritt, schon der Vita nuova, wenn auch in viel geringerem 
Maße, ihren Stempel aufgedrückt hat und ich wende midi nun der 
Frage zu, die vor allem den Biographen interessiert. Gestattet die 
Art, wie der Dichter Beatrice schildert, irgendeinen Schluß auf das 
Wesen seiner Mutter Bella? Wenn die Frage in dieser Weise ge¬ 
stellt wird, lautet die Antwort negativ. Es ist nicht schwer zu 
konstatieren, wie sehr wir geneigt sind, unsere Erinnerungen, be¬ 
sonders wenn sie weit zurückreichen, durch unbewußtes und bewußtes 
Ausgleichen, Kombinieren und Weglassen umzumodeln, so daß sie 
gewiß kein klares Bild der Realität enthalten. Wir müssen daher 
fragen. Erfahren wir vielleicht aus der Vita nuova und der Divina 
Commedia, was für einen Eindruck Dante von seiner Mutter 
empfangen hatte? Audi hier ist Vorsicht geboten. Vor allem kommt 
die Charakterisierung von Beatrice in der Vita nuova hier nicht in 
Betracht, denn sie ist dazu nicht individuell genug und deckt sich zu 
sehr mit dem, was die anderen Dichter der Bologneser Schule, von den 
Frauen, die sie liebten, zu sagen wußten. Der Prozeß der Über¬ 
tragung ist ja auch nicht so weit vorgeschritten, wie in der Divina 
Commedia. Nur symbolisch und andeutungsweise bekennt Dante 
in dem Jugendwerk, daß er die Geliebte mit der Mutter identifiziert, 
vielleicht weil das in der Kindheit ungestillte Zärtlichkeitsbedürfnis 


so war diese Zahl ihr freund, um kund zu tun, daß bei ihrer Geburt alle die 
neun beweglichen Himmel auf das Vollkommenste zueinander standen. Dies ist 
ein Grund dessen,- aber genauer bedacht und nach der untrüglichen Wahrheit war 
diese Zahl sie selbst, im Gleichnis gesprochen, und dies verstehe ich also: Die 
Zahl Drei ist die Wurzel der Neun, indem sie ohne eine andere Zahl, nur mit 
sich selbst vervielfältigt. Neun ergibt, wie wir offenkundig sehen, daß dreimal 
drei neun macht. Demnach, wenn die Drei aus sich selbst die Neun hervorbringt 
und Er, der die Wunder aus sich selbst hervorbringt. Drei ist, nämlich Vater, 
Sohn und heiliger Geist, welche drei in einem sind, war jene Fraue von der Zahl 
Neun begleitet, auf daß es sich deutlich zeige, sie sei eine Neun, d. i. ein 
Wunder, dessen Wurzel allein die wunderbare Dreieinigkeit ist. <Hort. delic. II.) 

1 Die von Dante selbst gegebene Erklärung, daß die Zahl Neun Beatrice 
deshalb begleitet habe, weil die Wurzel von neun drei ist, nämlich die Zahl der 
heiligen Dreifaltigkeit, ist natürlich bewußt und sekundär und berechtigt uns keines^ 
wegs dazu, die Zahlenmystik Dantes von der allgemein menschlichen loszureißen, 
die in unzähligen abergläubischen Vorstellungen zutage tritt. 





Von Dantes unbewußtem Seelenleben 


223 


des Verwaisten, das ihn gewiß zeitlebens wie eine unheilbare Wunde 
schmerzte, einen Ausweg suchte, um sich auszuleben. Daß nämlich 
die Stiefmutter Lapa Cialuffi nicht die geeignete Persönlichkeit war, 
um ihm die Mutter zu ersetzen, erfahren wir aus folgender Stelle 
der Divina Commedia, in der Dante sich über das Verhältnis der 
päpstlichen Kurie zum Kaiser äußert: 


Se la gente, ch' al mondo, piü tra- 
ligna, 

Non fosse stata a Cesare noverca, 

Ma come madre a suo figluol beni- 
gna, 


Wär' die Entartete auf ihrem 
Thron 

Stiefmutter nicht gewesen den Cä^ 
saren. 

Nein, milde wie die Mutter für 

den Sohn ~ 


<Pur. XVI, 58.) 

Hätte Dante für die Stiefmutter Zärtlichkeit und Dankbar¬ 
keit empfunden, so hätte er diese Worte nicht niedergeschrieben, 
denn da die Divina Commedia ungemein viele persönliche An¬ 
spielungen und Schilderungen von Zeitgenossen und zeitgenössischen 
Verhältnissen enthält, mußte er damit rechnen, daß seine Leser auch 
jene Verse als persönliche Anspielung auslegen würden. Wenn 
Dante aber die Stiefmutter auch nicht liebte, so ist doch anzu^ 
nehmen, daß eine Frau, die ihm gegenüber die Rechte einer Mutter 
besaß und von der er sich wohl oft abhängig gefühlt hatte, einen 
starken Eindruck auf seine Phantasie gemacht haben mag. Vielleicht 
war er ihr auch nicht zu allen Zeiten seiner Jugend feindselig ge¬ 
sinnt. Es kann also leicht sein, daß die Erinnerung an die tote 
Mutter von dieser Quelle aus verfälscht wurde und es ist sogar 
die Möglichkeit nicht ausgeschlossen, daß von dieser Seite her der 
herbe Zug in das Wesen von Beatrice gekommen ist. Leider lassen 
uns die Dokumente auch in bezug auf Monna Lapa fast völlig im 
Stich. Für ihren Einzug in Dantes Vaterhaus haben wir ja nur 
einen terminus ad quem, nämlich Dantes dreizehntes Lebensjahr 
kennen gelernt <cf. p. 217 2 > dieser Arbeit). 

Andere Einflüsse, die auf die Vorstellung, die sich Dante 
von seiner Mutter machte, eingewirkt haben könnten, sind Berichte 
über die Verstorbene oder eventuell auch Abbildungen derselben, 
Faktoren, von denen der Dichter um so mehr abhängig gewesen sein 
dürfte, je weniger er die Mutter aus eigener Anschauung kannte. 
Sollte sie gleich nach der Geburt gestorben sein, und wir haben 
weder dafür noch dagegen einen Beweis, so war er jedenfalls ganz 
darauf angewiesen. 

In Betracht kommen ferner die Erinnerungsbilder von Frauen, 
etwa von weiblichen Bediensteten, Verwandten und Mütter von 
Gespielen, die sich möglicherweise des Knaben mütterlich angenommen, 
deren Namen der Nachwelt aber nicht überliefert sind. Zweifellos 
müssen wir außerdem damit rechnen, daß Wünsche und Bestrebungen, 
die in der Natur des Dichters lagen, auf die Vorstellung von seinem 
Mutterideal eingewirkt haben. 





224 


Dr. Alice Sperber 


Da ich also bei meiner Untersuchung in keiner günstigen Lage 
bin, kann das, was hier vorgebracht wird, nur den Wert einer Hy** 
pothese haben, zu deren Aufbau ich mich aber mit Rücksicht auf 
die Wichtigkeit des Problems doch entschließen will. 

Nur ein einziges Mal hat Dante seine Mutter in seinem 
Werk direkt erwähnt und zwar unter folgenden Umständen. Als er 
mit Virgil durch den stygischen Sumpf fährt, in dem die Zornigen 
gepeinigt werden, erfolgt die Begegnung mit Philippo Argenti, die 
von heißer Rachsucht Zeugnis ablegt. 

Philippo Argenti, ein Florentiner von äußerst jähzornigem 
Charakter und offenbar Dantes Feind, will in den Nachen flüchten, 
um den Qualen des Sumpfes zu entgehen, aber Dante, der sich 
überhaupt manchmal durch große Härte gegen die Sünder aus¬ 
zeichnet, weist ihn mitleidslos zurück. Da umarmt ihn Virgil, küßt 
ihn und preist die Mutter selig, die solch einen Sohn geboren hat. 
Die kleine Szene ist für Dante so charakteristisch und für unser 
Thema so wichtig, daß wir sie hier zitieren. <Inferno VIII, 31 ff.) 


Mentre noi correvam la morta gora, 

Dinanzi mi si fece un pien di 
fango, 

E disse: chi se' tu, che vieni anzi 
ora? 

Ed io a lui: s' io vegno, non 
rimango- 

Ma tu chi se', che si sei fatto 
brutto? 

Rispose: vedi, che son un che 
piango. 

Ed io a lui: con piangere e con 
lutto, 

Spirito maladetto. ti rimani! 

Ch' io ti conosco, ancor sie lordo 
tutto. 

Allora stese al legno ambo le mani: 

Perche il maestro accorto lo sos^ 
pinse, 

Dicendo: via costä, con gli altri 
cani? 

Lo collo poi con le braccia mi 
cinse, 

Baciommi il volto, e disse: alma 
sdegnosa! 

Benedetta colei, che in te s'in* 
cinse! 

Quei fu al mondo persona orgog- 
liosa: 


Indes wir fuhren durch das tote 
Meer 

Sah einen ganz voll Schlamm ich 
vor mir stehen. 

Der sprach: »Wie kommst du vor 
der Zeit hierher?« 

Und ich zu ihm: »Ich kam, doch 
werd' ich gehen. 

Doch wer bist du, entstelltes We^ 
sen? sprich.« 

Und er: »Ein Weinender,* das 
kannst du sehn.« 

Und ich zu ihm: »Dann wein' 
auch ewiglich, 

Verfluchter Geist, an deine Qual 
gebunden, 

Besudelt wie du bist, erkenn' ich 
dich.« 

Da griff er nach dem Kahn und 
war verschwunden. 

Der Meister stieß ihn, daß er 
niederging 

Und rief: »Hinweg du zu den 
andern Hunden!« 

Worauf er mit den Armen mich 
umfing 

Die Stirn mir küßt und sprach: 

»Feuriges Wesen, 

Gebenedeit ist die, die dich 
empfing.« 

Der ist ein stolzer in der Welt 
gewesen 




Von Dantes unbewußtem Seelenleben 


225 


Bonta non e, che sua memoria 
fregi: 

Cosi e la ombra sua qui furiosa. 

Quanti si tengon or lassü gran 
regi. 

Che qui staranno, como porci in 
brago, 

Di se lasciando orribili dispregi! 

Ed io: maestro, molto sarei vago 

Di vederlo attuffare in questa 
broda, 

Prima che noi uscissimo de! lago. 

Ed egli a me: avanti die la proda 

Ti si lasci veder, tu sarai sazio: 

Di tal disio converrä che tu goda. 

Dopo ciö poco vidi quello strazio 

Far di costui alle fangose genti. 

Che dio ancor ne lodo, e ne rin- 
grazio. 

Tutti gridavano: a Filippo Argenti! 

Lo fiorentino spirito bizzarro 

In se medesmo si volgea co' denti. 


Nichts löbliches, was sein Gedächte 
nis ziert, 

Und ist auch hier nicht von der 
Wut genesen. 

»Wie mancher dort als großer 
Fürst stolziert 

Der hier im Kot wird stecken 
gleich den Säuen 

Fluch hinterlassend, wann er aus^ 
regiert!« 

Und ich: »O Herr es würde midi 
erfreuen. 

Wenn ich ersäuft ihn seh' in dem 
Morast, 

Eh' wir die Wanderschaft zu Land 
erneuern.« 

Und er: »Eh' du den Strand vor 
Augen hast, 

Wirst du dich sättigen an solcher 
Speise: 

Des Wunsches dich zu freu'n, 
mach' dich gefaßt.« 

Bald sah ich schlammig Volk in 
solcher Weise 

Mißhandlung üben an dem stolzen 
Mann, 

Daß ich noch heute Gott im Her^ 
zen preise, 

Philipp Argenti, schrien sie, »drauf 
und dran« 

Und wütend fiel mit seinen eig'nen 
Zähnen 

Der grimme Florentiner Geist sich 
an. 


Die Worte Virgils: Benedetta colei che in te s'incinse 
werden von den Literarhistorikern in verschiedener Weise beurteilt. 
Die einen meinen, daß man sie nicht zur Charakteristik von Monna 
Bella heranziehen könne, wohl weil die Formel: Benedetta la madre 
die l'ha fatta ein Kompliment ist, das man in Italien noch heute 
oft hören kann, ohne daß sich der Sprechende dabei eine Vorstellung 
von der Mutter des Angeredeten bildet. Andere sind der Ansicht, 
daß Dante mit jenen Worten Monna Bella als eine hochsinnige 
Frau charakterisieren wollte und daß er ihr so ein unvergängliches 
Denkmal gesetzt habe 1 . Faßt man die Stelle in dieser Weise auf, 
so kann man annehmen, der Dichter habe seine stolze, starre, jedem 
Kompromiß abgeneigte Natur als ein Erbteil von seiner Mutter 
betrachtet, sonst würde Virgil sie nicht gerade in jenem Augenblick 


1 <cf. z. B. Petrocchi: La lingua e la storia letteraria d'Italia dalle ori~ 
gini fino a Dante, p. 260.) 

Imago III/3 


15 






226 


Dr. Alice Sperber 


preisen, in dem Dante dem Sünder so erbarmungslos entgegentritt. 
Ich will diese Frage nicht endgiltig entscheiden, möchte aber doch 
darauf hinweisen, daß die Schilderung Beatricens in der Divina 
Commedia zugunsten der letzteren Auffassung spricht. Jener Bea^ 
trice, die Dante herb erscheint »wie die Mutter dem Sohn«, fällt 
es ja auch schwer, dem Sünder zu verzeihen,- strenger wie die Engel, 
die Dante mitleidig trösten, besteht sie auf der Strafe, die er durch 
seine Schuld verdient hat und wie Dante nicht dulden will, daß 
der Sünder in der Hölle auch nur einen Augenblick der Strafe ent¬ 
rinne, die ihm die ewige Gerechtigkeit zuerkannt hat,* ebenso meint 
Beatrice im irdischen Paradies: 


L'alto fato di Dio sarebbe rotto 
Se Lete si passasse e tal vivanda 
Fosse gustata senza alcuno scotto 
Di pentimento che lagrime spanda 
<Purg. XXX. 142 ff.) 


Und wißt, daß Gottes Ratsdiluß 
Abbruch litte 

Wenn ihr in Lethe überschreiten 
ließ't 

Zu solchem Mahl, eh' er den Zoll 
bestritte 

Der Reue, welche Tränenström' 
ergießt. 


Es besteht also jedenfalls die Möglichkeit, daß Dante in seiner 
Mutter eine Frau von stolzem Wesen und unerschütterlicher Ge* 
rechtigkeitsliebe gesehen habe, die nur schwer ein Unrecht oder eine 
Kränkung vergessen konnte. Vielleicht war Dante auch der An¬ 
sicht, daß seine glühende Rachsucht von seiner Mntter herstamme, 
eine Eigenschaft, die ja den meisten Menschen eigen ist, die wie er 
stark im Zorn und in der Liebe sind. 

Echte innere Treue, wie sie ja auch Dante, der kein »zag^ 
hafter Freund« der Wahrheit sein wollte, in hohem Maße besaß, 
wäre ein Vorzug, der gut zu den Eigenschaften stimmen würde, 
mit denen der Dichter das mütterliche Ideal ausschmückte, das er im 
Herzen trug und wirklich ermahnt Beatrice die Sterblichen jedes 
Gelübde ernst zu nehmen und nichts zu geloben, was man nicht 
auch mit gutem Gewissen erfüllen kann. <cf. Par. V. 64 ff.) 


Non prendano i mortali il 

voto a ciancia: 

Siate fedeli, ed a ciö far non 
bieci, 

Come fu Jepte alla sua prima 
mancia: 

Cui piü si convenia dicer: mal feci. 

Che servando, far peggio: e cosi 
stolto 

Ritrovar puoi lo gran duca dei 
Greci: 

Onde pianse Ifigenia il suo bei 
volto, 


Gelübde sind kein Spiel, o 
Menschenwelt! 

Seid treu und schielet nicht wie 
der Hebräer 

Jephtha bei seinem ersten Opfern 
geld. 

Er mußte sagen: ich tat übel, 
eher 

Als zahlen und verschlimmern. SoL 
dien Schwur 

Tat auch der große Feldherr der 
Achäer, 

Drob Iphigeniens schönes Haupt 
nicht nur 




Von Dantes unbewußtem Seelenleben 


227 


E fe pianger di se e i folli e i 
savi, 

Ch' udir parlar di cosi fatto colto. 

Siate, cristiani, a muovervi piü 
gravi! 

Non siate come penna ad ogni 
vento, 

E non crediate, ch' ogni 

acqua vi lavi! 

Avete il vecchio e il nuovo testa- 
mento, 

E il pastor della Chiesa, che vi 
guida: 

Questo vi basti a vostro salva- 
mento! 

Se mala cupidigia altro vi grida, 

Uomini siate, e non pecore matte, 

Si die il Giudeo tra voi di voi non 
rida! 

Non fate come agn.el, che las- 
cia il latte 

Della sua madre, e semplice e 
lascivo 

Seco medesmo a suo piacer com^ 
batte! 


Sie selbst beweinte, sondern weinte 
jeder 

Wer von so schlimmem Gottes¬ 
dienst erfuhr. 

Ihr Christen folget nicht wie 
eine Feder 

Jedwedem Winde, wählet 
festen Grund 

Und glaubt nicht, alles 

Wasser lief're Bäder 

Ihr habt den alten und den neuen 
Bund 

Ihr habt die Kirche dunkles hell 
zu machen 

Was ihr zum Heile braucht, das 
ward euch kund 

Lehrt böse Habsucht anders diese 
Sachen 

So seid ihr Menschen, seid nicht 
Herden Viehs, 

Daß euch die Juden eurer Stadt 
verlachen 

Gleicht nicht dem Lamme, das 
die Milch verließ 

Der Mutter und nach eigenem 
Belieben 

Umherschweift, wie die Lust den 
Weg ihm wies 


Es ist bedeutungsvoll für unser Problem, daß sich gerade an 
dieser Stelle der infantile Komplex wieder vordrängt. Es liegt nahe 
zu glauben, daß Dante Monna Bella besondere Treue zugeschrieben 
habe, sonst würde nicht gerade in jenem Augenblick die infantile 
Gefühlseinstellung zum Vorschein kommen, in der er Beatrice jene 
Worte über die Treue in den Mund legt. 

Wollte sich aber jemand damit begnügen, nur die Züge von 
Dantes Mutterideal festzustellen, ohne die Quellen eruieren zu 
wollen, aus denen sie stammen, so wäre gegen eine derartige Vor- 
sicht nichts einzuwenden. 

Alle bisher aufgezählten Eigenschaften deuten auf eine En¬ 
ergie und Festigkeit, die dem weiblichen Geschlecht gerne abge¬ 
sprochen werden, es aber begreiflich erscheinen lassen, daß Dante 
die auf dem mystischen Wagen stehende Beatrice mit einem Mann 
vergleicht und zwar mit einem Admiral, der seine Untergebenen zu 
guter Arbeit anspornt, gewiß ein sonderbares Bild für die Geliebte 
<cf. p. 212 dieser Arbeit), das man in der Vita nuova vergeblich 
suchen würde. Aber gerade auf diese Eigentümlichkeit muß die 
psychoanalytische Forschung besonderen Wert legen, denn wir wissen 
ja, daß gerade solche Züge die den konventionellen Idealen direkt 
widersprechen, darauf hindeuten, daß hier der Phantasierende an 


15* 




228 


Dr Alice Sperber. 


einem Zug festhält, der ihm aus frühester Kindheit teuer ist und 
so der ersten Liebe die Treue hält. 

Ob dem Dichter nicht die mit männlicher Energie ausgerüstete 
Mutter vorschwebte, die im Hause herrschte und das Gesinde über* 
wachte ? 

Mit der majestätischen Beatrice kontrastiert Matelda, die Hüterin 
des irdischen Paradieses, die mit weniger imposanten, aber weicheren 
Linien gezeichnet ist. Singend schreitet sie auf den Dichter zu, der 
sie gebeten hat, näher zu kommen, auf daß er ihren Gesang besser 
vernehmen könne. <Pury. XXVIII, 52 ff.) 


Come si volge con le piante strette 

A terra ed intra se donna che balli, 

E piede innanzi piede a pena 
mette. 

Volsesi in su 7 vermigli ed in su i 
gialli 

Fioretti verso me, non altrimenti 

Che vergine, che gli occhi onesti 
avvalli : 

E fece i preghi miei esser con- 
tenti, 

Si appressando se, che il dolce suono 

Veniva a me co 7 suoi intendimenti. 

Tosto che fu lä dove 1' erbe sono 

Bagnate giä dall 7 onde del bei 
fiume, 

Di levar gli occhi suoi mi fece dono. 

Non credo, che splendesse tanto 
lume 

Sotto le ciglia a Venere trafitta 

Dal figlio, fuor di tutto suo costume. 

Ella ridea dall 7 altra riva dritta, 

Traendo piü color con le sue 
mani, 

Che l 7 alra terra senza seme gitta. 


Wie sich ein Mädchen wendet, 
Knie an Knie, 

Die Füß 7 am Boden fest, im Tanz 
sich schwenkend,- 

Kaum setzt sie Fuß an Fuß und 
hastet nie 

So über Blumenschmelz die Schritte 
lenkend 

Kam sie heran, nicht anders anzu^ 
seh'n 

Als eine Jungfrau, keusche Augen 
senkend 

Und sie befriedigte vollauf mein 
Fleh'n: 

Die süßen Töne drangen ans Ge^ 
stade 

Zu mir herüber, deutlich zu ver^ 
steh'n 

Sie trat dahin, wo in dem schönen 
Bade 

Des Stromes sich das Gras erquickt 
und itzt 

Erwies sie mir mich anzuseh'n die 
Gnade. 

Nie glaub 7 ich, daß so helles Licht 
geblitzt 

In Venus Augen, als mit seinem 
Brande 

Ihr Sohn sie wieder seinen Brauch 
erhitzt. 

Sie lächelte vom andern rechten 
Strande, 

Mehr Farben pflückend von des 
Wassers Saum, 

Die ohne Samen blüh 7 n im hohen 
Lande. 


Trotz der Anmut, die Matelda auszeichnet, hat auch sie 
Dante gegenüber einen belehrenden Ton, doch niemals bekommt 
der Dichter von ihr harte Worte oder Vorwürfe zu hören, ihr 





Von Dantes unbewußtem Seelenleben 


229 


Wesen ist stets sanft und freundlich. Nachdem Beatrice erschienen 
ist, tritt Matelda sehr zurück, aber trotzdem ist ihr noch eine wich¬ 
tige Rolle zugedacht, denn mit ihrer Hilfe vollzieht sich die geistige 
Wiedergeburt des Dichters. Sie taucht ihn in die reinigenden Fluten 
des Lethestromes, die die Erinnerung an seine Sünden in seinem 
Gedächtnis auslöschen und zieht ihn dann heraus. Derselbe Vor* 
gang vollzieht sich hierauf beim Flusse Bunoe, der die Erinnerung 
an die guten Taten in seinem Gedächtnis neu belebt. Dieser Akt 
Mateldas ist für unser Problem ungemein wichtig, da ja das Her* 
auskommen aus dem Wasser, das den integrierenden Bestandteil so 
vieler Geburtssagen bildet <z. B. Storchsage, Brunnen, aus dem die 
kleinen Kinder kommen) geradezu als ein Symbol der Geburt 
erkannt wurde, das besonders in Schwangerschaftsträumen eine große 
Rolle spielt 1 . (Fruchtwasser = Wasser aus dem das Leben stammt!) 

Heißt es dann in derartigen Fabeleien, eine Frau habe ein 
Kind aus dem Wasser gezogen, so bedeutet dies für das unbewußte 
Seelenleben, wo die bewußten geistigen Schöpfungen ihre Ent* 
sprechung haben müssen, ihr verdanke das Kind sein Leben. Sie 
legitimiert sich auf diese Art als seine Mutter, obwohl dies für 
psychoanalytisch ungeschulte Beobachter nicht immer auf den ersten 
Blick klar ist, weil die Sage jene Frau nicht in allen Fällen aus* 
drücklich als die Mutter des Kindes bezeichnen muß. Dies geht aus 
den Ausführungen von Rank 2 mit so unabweisbarer Deutlichkeit 
hervor, daß ich mich damit begnügen darf, auf jenes Buch zu ver* 
weisen und auf die spezielle Frage eingehen kann, die für unser 


1 Einen solchen Traum berichtet auch Boccaccio in seiner Dantebiographie 
von Dantes Mutter: 

Pareva alla gentile donna nel suo sogno essere sotto uno altissimo alloro, 
posto sopra un verde prato allato ad una chiarissima fonte e quivi si 
sentio partorire uno figliuolo, il quäle in brevissimo tempo nutricandosi 
solo delle orbacche le quali dello alloro cadevano e delle onde della chiara fonte, 
le parea che divenisse un pastore e s'ingegnasse a suo potere di avere delli frondi 
deir albero, il cui frutto l'aveva nudrito,* e a ciö sforzandosi, le pareva vederlo 
cadere, e nel rivelarsi non uomo piü ma pavone il vedea divenuto. Della quäl 
cosa tanta ammirazione le giunse die ruppe il sonno. 

Es schien der edlen Frau in ihrem Traum als befinde sie sich unter einem 
sehr hohen Lorbeerbaum auf einer grünen Wiese neben einer sehr klaren 
Quelle und gebäre dort einen Sohn und es schien ihr, daß er sehr bald, 
nachdem er nur von den Beeren, die von dem Lorbeerbäume fielen, genossen hatte 
und von dem Wasser der klaren Quelle, ein Hirte wurde und sich mit allen 
Kräften bemühte von dem Laub des Baumes zu pflücken, dessen Früchte ihn ge* 
nährt hatten. Und als er sich darum bemühte, schien es ihr, daß er falle und als 
er sich erhob, sah sie, daß er kein Mensch mehr war, sondern er war ein Pfau 
geworden. Darob empfand sie solches Staunen, daß sie aus dem Schlaf erwachte. — 
Es besteht kein Grund anzunehmen, daß Madonna Bella dies wirklich geträumt 
habe, doch liegt ein ganz richtig konstruierter, von ehrgeizigen Regungen durchs 
glühter Traum einer Schwangeren vor, wie er in ähnlicher Form Müttern von 
großen Männern gerne zugeschrieben wird. <cf. Scherillo, Alcuni capitoli della 
biografia di Dante, Torino 1896, p. 35ff.) 

2 Mythus von der Geburt des Helden, 5. Heft der Schriften zur angewandten 
Seelenkunde, herausgegeben von Freud. 





280 


Dr. Alice Sperber 


Thema interessant ist: Warum hat nicht Beatrice das Amt Mateldas 
übernommen, wie man es doch nach dem bisher Gesagten erwarten 
müßte? 

Derartige Übertragungen sind aber nichts Außergewöhnliches 
und sprechen nicht gegen unsere Theorie. <cf. z. B. die Sage von 
Moses.) Die Tochter des Pharao in der schon E. Meyer <Ber. d. 
kgl. preuß. Akad. d. Wiss. XXXI, 1905) unabhängig von psycho¬ 
analytischen Untersuchungen die ursprüngliche Mutter von Moses 
erkannt hat, zieht ihn auch nicht selbst aus dem Wasser, sondern 
überträgt dieses Amt einer Magd. 

Wenn wir nun erörtern wollen, warum Matelda mit einer 
Funktion betraut ist, die eigentlich Beatrice zufallen sollte, so müssen 
wir verschiedene Möglichkeiten in Betracht ziehen. Wir haben ja 
schon darauf hingewiesen, daß Beatrice auch sanfte Züge hat, obwohl 
der Gesamteindrudk eher ein strenger genannt werden kann. Ebenso 
wird auch Donna Bella in der Phantasie ihres Sohnes nicht immer 
die majestätische Gebieterin gewesen sein und wie jedes andere 
Kind wird auch unser Dichter in der Süßigkeit weiblicher Fürsorge 
geschwelgt haben, sei es, daß die lebende Mutter oder eine Stell¬ 
vertreterin derselben ihm Zärtlichkeit erwies, sei es, daß er sich in 
seiner Phantasie ausgemalt haben mag, wie schön es sein muß, eine 
sanfte und liebevolle Mutter von jugendlicher Anmut zu besitzen . 
Solchen Gefühlen scheint die Gestalt Mateldas ihren Ursprung zu 
verdanken. 

Die Doppelheit der Empfindungen den Eltern gegenüber, die 
in der populären Ansicht, daß Liebe und Strenge zugleich bei der 
Erziehung der Kinder mitwirken, ihre Entsprechung findet, ist hier 
bei Dante unsterbliche Schöpfung geworden. In jenem schwersten 
Augenblick, in dem ihm die mütterliche Geliebte oder die geliebte 
Mutter seine Sünden vorwirft, wollte er sich durch die Übertragung 
seiner Wiedergeburt auf Matelda auch der Gegenwart einer milderen 
Gesinnung versichern. Es ist viel darüber diskutiert worden, welche 
Frau Dante in Matelda verewigt hat. Mehrere historische Persön¬ 
lichkeiten, die diesen Namen führten, sind genannt worden, man 
hat sie auch mit jenen Frauen identifiziert, die außer Beatrice eine 
Rolle in der Vita nuova spielen, z. B. mit der Donna gentile oder 
der Donna dello schermo. Ich bestreite nicht, daß daran etwas 
Wahres sein könnte, aber außerdem muß ein Stück von Dantes 
Kindheitsgeschichte in jener Gestalt fortleben, sonst wäre ihr nicht 
ein Amt zugefallen, das die Phantasie im allgemeinen der Mutter 
zuschreibt. Ob aber Matelda und Beatrice die verschiedenen Seiten 
einer einzigen Persönlichkeit darstellen oder ob in Matelda eine von 
jenen verschollenen Frauen fortlebt, die vielleicht außer Donna Bella 
und Donna Lapa dem Knaben gegenüber die Rolle einer Mutter 
gespielt haben, wissen wir nicht,- auch eine Kombination von diesen 
beiden Möglichkeiten wäre nicht unwahrscheinlich. 

Möglicherweise hat Dante in Matelda auch die Beatrice der 




Von Dantes unbewußtem Seelenleben 


231 


Vita nuova neu belebt, dann hätte er damit symbolisch ausgedrückt, 
wie die Geliebte ihm das irdische und das himmlische Paradies 
gegeben. 

Ich weiß nicht, ob viele Leser der Divina Commedia in bezug 
auf das Altersverhältnis von Matelda und Beatrice so empfinden 
wie ich,* ich habe stets den Eindruck bekommen, daß Matelda viel 
jünger sei als Beatrice und glaube, daß ähnlich Empfindende vieL 
leicht meinen könnten, aus diesem Grunde sei Matelda gegenüber 
die infantile Gefühlseinstellung von seiten des Dichters unwahrschein¬ 
lich/ dies wäre aber nicht ganz zutreffend, denn es scheint, daß der^ 
artige Empfindungen unabhängig sein können von dem Alter der 
Beteiligten. In den so frisch und ursprünglich geschriebenen SchuL 
mädelgeschichten von Hermine Villinger, der man klarsehende Men¬ 
schenkenntnis nicht absprechen kann, hören wir von einem kleinen 
Mädchen, namens Stasia, die wegen ihres fürsorglichen Wesens 
von ihrer eigenen kindischen und leichtfertigen Mutter »Mütterchen« 
genannt wird. Stasia hingegen nennt ihre Mutter mit nachsichtiger 
Zärtlichkeit Mäuschen 1 . 

Wenn wir nun in der Analyse von Dantes unbewußtem 
Seelenleben fortschreiten, werden wir, da wir den Traum als den 
Ausdruck unbewußter infantiler Strömungen betrachten, den in 
Dantes Werken mitgeteilten Träumen und Visionen unsere 
Aufmerksamkeit zuwenden müssen, wobei in Betracht kommt, 
ob sich an jenen Gebilden die Charakteristika nachweisen lassen, 
welche die Psychoanalyse dem Traumleben im allgemeinen zuschreibt 
und ob wir auf diese Weise etwas Persönliches von dem Dichter er¬ 
fahren können. Bei derartigen Deutungen ist Vorsicht geboten,denn wenn 
wir auch durch die Analyse zahlreicher Träume zur Kenntnis gewisser 
typischer Traumformen gelangt sind, die stets auf dieselben seelischen 
Vorgänge schließen lassen, so kommt anderseits die Kenntnis des 
Individuums, dessen Träume wir deuten wollen, so sehr in Betracht, 
daß wir bei Dante von vornherein in keiner besonders günstigen 
Lage sind. Da die wertvollsten Quellen für die Traumdeutung 
stets die Einfälle sind, die uns der Träumer nach der Erzählung 
seines Traumes berichtet und zwar auch dann, wenn man bei ober^ 
flächlicher Betrachtung den Eindruck völliger Zusammenhangslosig¬ 
keit empfängt, wählen wir für unsere Zwecke einen Traum aus der 
Divina Commedia, zu dem Dante die dazugehörigen Einfälle mit¬ 
geteilt hat. Er ist auf seiner mühevollen Reise durch das Antipur- 
gatorio mit Virgil und dem Dichter Sordell, der sich ihnen angeschlossen 
hat, in das Tal gelangt, in dem die Großen der Erde, die ihre 
Bekehrung bis zum letzten Augenblick hinausgeschoben haben, warten 
müssen, bis sie zur Buße im eigentlichen Purgatorio zugelassen 


1 Ein Mädchen von sehr zartem und mädchenhaftem Aussehen wurde von 
ihren älteren Pensionskolleginnen im Scherz »Mama« genannt, weil sie stets bereit 
war, für andere zu sorgen. 





232 


Dr. Alice Sperber 


werden. Dort verbringt Dante die Nacht, in der er einen be^ 
deutungsvollen Traum hat. <Purg. IX. 19 ff.) 


In sogno mi parea veder sospesa 

Un 7 aquila nel ciel con penne 
d'oro, 

Con T ali aperte, ed a calare in^ 
tesa: 

Ed esser mi parea lä, dove foro 

Abbandonati i suoi da Ganimede, 

Quando fu ratto al sommo con^ 
cistoro. 

Fra me pensava: forse questa fiede 

Pur qui per uso, e forse d 7 altro 
loco 

Disdegna di portarne suso in piede. 

Poi mi parea, die roteata un 
poco, 

Terribil, come folgor, discen^ 
desse, 

E me rapisse suso infino al foco. 

Ivi parea, ch 7 ella ed io ardesse, 

E si T incendio immaginato cosse. 

Che convenne che il sonno si rom^ 
pesse. 

Non altrimenti Achille si riscosse, 

Gli occhi svegliati rivolgendo in 
giro, 

E non sapendo lä dove si fosse, 

Quando la madre da Chirone a 
Sciro 

Trafugö lui dormendo in le sue 
braccia, 

Lä, onde poi li Greci il dipartiro, 

Che mi scoss 7 io, si come dalla 
faccia 

Mi fuggi il sonno, e diventai 
smorto, 

Come fa Y uom, che spaventato ag^ 
ghiaccia. 


War's mir im Traum, als ob mit 
goldnen Schwingen 

Ein Adler schweb 7 im himmlischen 
Azur, 

Bereit in jähem Stoß herabzu¬ 
dringen. 

Es kam mir vor, als stünd 7 ich auf 
der Flur 

Wo Ganymed hinwegschied von 
den Seinen 

Und zu der höchsten Ratsversamm^ 
lung fuhr. 

Ich dacht 7 , er ist vielleicht nur 
diesen einen 

Jagdgrund gewohnt und Raub von 
anderm Ort 

Zu holen mag ihm wohl verächu 
lieh scheinen. 

Dann dünkte mich, ein Weilchen 
kreis 7 er dort. 

Und schrecklich dann wie 

Blitz fuhr er hernieder 

Und riß hinauf mich, bis ins Feuer 
fort. 

Da war's als brenn 7 ich selbst und 
sein Gefieder 

Und das geträumte Feuer sengte 
mich. 

Das brach den Schlaf und löste mir 
die Glieder 

Nicht anders schüttelt 7 einst Achilles 
sich 

Und wandte hin und wieder das 
erwachte 

Antlitz am unbekannten Küsten^ 
strich 

Als fort vom Chiron ihn die 
Mutter sachte, 

Dieweil er schlief, forttrug an Scy^ 
rus Strand, 

Von wo Ulisses ihn nach Troja 
brachte, 

Wie ich mich schüttelt, als der 
Schlaf verschwand 

Von meiner Stirn und fühlte mich 
erblassen. 

Wie einer, den Entsetzen über^ 
mannt. 1 


1 Virgil. 






Von Dantes unbewußtem Seelenleben 


233 


Da lato m' era solo il mio Con^ 
forto, 

E il sole er' alto giä, piü di due 
ore, 

E il viso m' era alla marina torto, 

Non aver tema, disse il mio Sig^ 
nore ,* 

Fatti sicur, die noi siamo a buon 
punto, 

Non Stringer, ma rallarga ogni vL 
göre! 

Tu se' omai al Purgatorio giunto; 

Vedi lä il balzo, die il diiude d'in- 
torno! 

Vedi r entrata, lä 've par dis* 
giunto! 

Dinanzi nell' alba, die precede al 
giorno, 

Quando 1' anima tua dentro dor- 
mia, 

Sopra li fiori, onde laggiu e 
adorno, 

Venne una donna, e disse: I' son 
Lucia : 

Lasciatemi pigliar costui, che 
dorme, 

Si T agevolerö per la sua via. 

Sordel rimase, e 1' altre gentil 
forme: 

Ella ti tolse, e come il di fu 
chiaro, 

Sen venne suso, ed io per le sue 
orme. 

Qui ti posö: e pria mi dimostraro 

Gli occhi suoi belli quell' entrata 
aperta, 

Poi ella e il sonno ad una se 
n' andaro 

A guisa d'uom, die in dubbio si 
raccerta, 

E che muti in conforto sua paura, 

Poi che la veritä gli e discoverta, 

Mi cambia' io: e come senza cura 

Videmi il Duca mio, su per lo 
balzo 


Ich war mit meinem Trost allein 
gelassen,- 

Die Sonne stieg mehr denn zwei 
Stunden schon, 

Vor mir sah ich das Meer den 
Strand umfassen 

»Fürchte dich nicht <so sagte mein 
Patron), 

Sei guten Muts, wir sind zur 
rechten Stelle 

Weck' alle Kraft, statt sie zu Iah- 
men, Sohn 

Jetzt kömmst du an des Purgato* 
riums Wälle,- 

Dies ist die Wand, die es nm* 
schließt, und hier 

Wo sie getrennt scheint, ist des 
Eingangs Schwelle. 

Vorhin, als deine Seele schlief in 
dir, 

<A(s Dämmern zeigte, daß die 
Nacht entfliehe) 

Da, unten in dem blumigen Revier, 

Erschien ein Weib und sprach: ich 
bin Lucie,- 

Dieweil er schläft, heb' ich von 
hier ihn fort 

Damit er leichter seines Weges 
ziehe. — 

Sordell blieb bei den edlen Schatten 
dort, 

Und als es hell ward, trug sie aus 
dem Grunde 

Dich hier herauf,- ich folgt ihr an 
den Ort. 

Hier ließ sie dich, doch gaben erst 
mir Kunde 

Die schönen Augen, wo hinauf 
man steigt,* 

Dann schwand sie und der Schlaf 
zur selben Stunde.« 

Wie einer, dessen Zweifel plötzlich 
schweigt, 

So daß er Mut gewinnt, statt 
Furcht zu hegen. 

Nachdem man ihm die Wahrheit 
klar gezeigt, 

So fühlt' ich meine Unruh' jetzt 
sich legen, 

Und als der Führer meine Zuver¬ 
sicht 




234 


Dr. Alice Sperber 


Si mosse, ed io diretro inver 
l'altura. 

Lettor, tu vedi ben, com' io in^ 
nalzo 

La mia materia, e perö con piü 
arte 

Non ti maravigliar, s' io la rin^ 
calzo. 


Sah schritt er vor, ich nach, der 
Höh' entgegen. 

Du siehst wohl Leser, wie sich 
mein Gedicht 

Erhebt, und wenn ich drum mehr 
Kunst verwende, 

Um es zu stützen, wunder' es dich 
nicht. 


Es ist klar, daß Dante hier seiner Gewohnheit gemäß auf 
die allegorische Bedeutung seiner Verse anspielt, die ungefähr fol¬ 
gende ist. Die erleuchtende Gnade, die Lucia wahrscheinlich dar* 
stellt, hat ihm den Weg zur Pforte des Purgatorio, also zur Buße, 
abgekürzt und ihm so zur Läuterung seines Gemütes verholfen. 
Von der allegorischen Auslegung des Traumes und von seinem 
wörtlichen Sinn wollen wir im weiteren Verlauf absehen und uns 
nur mit den latenten, dem Träumer oder Phantasierenden selbst 
verborgenen Traumgedanken beschäftigen 1 ,* wobei die folgenden in 
Freuds Traumdeutung festgestellten Gesichtspunkte maßgebend sein 
werden: Ein Traum enthält die Erfüllung eines von der 
Realität versagten Wunsches. Dieser Wunsch ist unserem 
bewußten Denken nicht immer bekannt, denn er stammt 
aus früher Kinderzeit und ist in der Regel verdrängt wor¬ 
den, weil er mit den Forderungen, die Sitte und Kultur 
an uns stellen, nicht vereinbar war. Er ist häufig sexu* 
eller Natur in des Wortes weitester Bedeutung. Der Held 
des Traumes ist stets der Träumer selbst, obwohl der 
Traum in dieser Hinsicht oft an ein Vexierbild erinnert, 
dessen Hauptperson nur für den geduldigen und ge^ 
übten Betrachter erkennbar ist. Diese Schwierigkeit fällt übrigens 
für unseren Traum weg, da sich Dante ja selbst zum Helden 
des Traumerlebnisses macht, das die Mythologie von Gany¬ 
med berichtet. Es fragt sich nun, wie kam Dante dazu, sich 
in seiner Phantasie mit Ganymed zu vergleichen. Ist es ein Spiel 
des Zufalles, den wir ja für alles Unaufgeklärte verantwortlich 
machen oder können wir Gründe dafür angeben. Diese sind nicht 
schwer ausfindig zu machen, wenn wir uns vor Augen halten, was 
die Mythologie über die Abstammung des Ganymedes erzählt. Sein 
Vater war der König Tros, seine Mutter die Nymphe Kallirrhoe,* 
er stammte also von einem Sterblichen und von einem Wesen höhe* 
rer Art und ganz ähnlich mußte Dante in bezug auf seine Eltern 
empfinden, denn auch für seine gläubige Seele war ja die Mutter 
ein höheres Wesen, ein verklärter Engel im Paradies. Daß diese 


1 Alle verschiedenen Arten und Grade der Träume erforscht zu haben, 
würde bedeuten in einem weit tieferen Sinne als irgendeinem heutigen, Kenner 
der menschlichen Seele zu sein <cf. Hauptmann, Der Narr in Christo, Emanuel 
Quint, p. 168, S. Fischer, Berlin 1910). 





Von Dantes unbewußtem Seelenleben 


235 


Parallele für die Erklärung unseres Traumes nickt gleichgiltig ist, 
läßt sich nock auf andere Art beweisen,- Dante vergleickt nämlick 
sein Erwacken mit jenem des Ackilles, den seine Mutter Tketis 
von seinem Erzieher, dem Zentauren Cheiron, entfernt und nach 
der Insel Skyros gebracht hatte. Auch Ackilles war ja der Sohn 
eines Menschen und einer Göttin und bei dem infantilen Charakter 
des Traumes im allgemeinen dürfen wir uns nickt darüber wundern, 
daß in unserem besonderen Falle der Elternkomplex ausschlaggebend 
war. Nachdem wir so eine Grundlage für die Identifizierung Dantes 
mit Ganymed gewonnen haben, wollen wir sehen, was für eine 
Bedeutung dieselbe noch für den Dichter haben konnte. Von dem 
Knaben Ganymed heißt es, daß er wegen seiner unvergleichlichen 
Schönheit von dem Adler des Zeus für den Vater der Götter 
geraubt wurde,- andere Quellen berichten, daß Zeus selbst in Adler^ 
gestalt diesen Raub vollführt habe. Was veranlaßte aber Dante 
dazu, sich mit einem so besonders schönen Knaben zu identifizieren? 
denn wenn wir uns seine scharf ausgeprägten Züge auch noch so 
bedeutend vorstellen dürfen, das, was man ein schönes Kind nennt, 
wird er kaum gewesen sein. Hier tritt der Wunschcharakter des 
Traumes deutlich hervor,- die meisten Kinder wünschen gewiß, sich 
durch Schönheit auszuzeichnen, aber wie viel mehr mußte sich Dantes 
schönheitsdurstige, nach Ebenmaß ringende Seele danadi sehnen. 
Auch in diesem Punkt wird unsere Behauptung durch die weitere 
Identifizierung mit Achilles bestätigt, dem Schönsten und Stärksten 
der Achäer, die Troja belagerten. 

Der Wunsch schön zu sein, wird bekanntlich bei Kindern da¬ 
durch hervorgerufen, daß sie ihre Gefährten, insbesondere aber ihre 
Geschwister überstrahlen wollen, um sich so der über alles ersehnten 
Liebe der Eltern zu versichern. Bei Dante könnten derartige Kon¬ 
kurrenzgelüste eine Rolle gespielt haben, denn es scheint, daß er 
eine Schwester hatte, die von der Natur in bezug auf Anmut 
gütiger bedacht worden war als er. In der Vita nuova berichtet er, 
daß er einst, als er von unerträglichen Schmerzen gepeinigt wurde, 
eine Vision vom Tode Beatricens gehabt habe, so daß er selbst 
den Tod herbeiwünschte. 

»E dicendo questo parole con doloroso singulto di pianto e chia^ 
mando la Morte che venisse a me, una donna giovane e gentile la 
quäle era lungo il mio letto, credendo die il mio piangere e le mie parole 
fossero lamento per lo dolore della mia infermitade, con grande paura co^ 
minciö a piangere. Onde altre donne, die per la mia camera erano, s'accor^ 
sero die io piangeva per lo pianto die vedeano fare a questa: onde facendo 
lei partire da me la quäle era meco di propinquissima sanguinitä 
congiunta, ella si trassero verso me per isvegliarmi, credendo die io 
sognassi e diceanmi: No dormir piü, e non di sconfortare.« 

Und da ich diese Worte mit schmerzlichen Schluchzen und Weinen 
aussprach und den Tod rief, daß er doch zu mir komme, da glaubte ein 
junges und liebliches Weib, das an meinem Bette saß, daß mein Weinen 
und meine Worte Wehklagen seien, die mir der Schmerz meiner Krankheit 




236 


Dr. Alice Sperber 


erpreßte und sie begann gar erschrocken zu weinen. Und davon bemerkten 
auch andere Frauen, welche im Zimmer waren, daß ich weinte, da sie die 
andere weinen sahen. Da hießen sie jene, die durch die allernächsten 
Bande des Blutes mit mir verwandt war, von mir gehen und kamen 
auf midi zu, um mich zu erwecken, denn sie glaubten, daß ich träumte und 
sagten zu mir: Schlafe nicht mehr und verliere nicht so den Mut <Federn>. 

Ein junges weibliches Wesen, von dem der Dichter sagt, daß 
es durch engste Blutsverwandtschaft mit ihm verbunden war, kann 
doch wohl nur eine Schwester gewesen sein, deren Anmut er in 
der Kanzone, in der die Vision beschrieben wird, mit folgenden 
Worten schildert: 

Donna pietosa e di novella etade Adorna assai di gentilezze umane 
Era lä ov io chiamava spesso Morte. 

Ein junges und mitleidsvolles Weib, reich geschmückt mit irdischer 
Anmut, war dort, wo ich mehrmals nach dem Tode rief. 1 

Wir gehen nun zur Erklärung der Symbolik unseres Traumes 
über und beginnen mit der Bedeutung des Adlers. Aus den Versen 
Dantes geht hervor, daß der Adler identisch ist mit Lucia, seiner 
Fürsprecherin bei Beatrice. Da sie aber der Dichter bei dem Er¬ 
wachen mit Thetis vergleicht, die den schlafenden Sohn in den 
Armen fortträgt und da für diesen Traum Achilles ebenso wie 
Ganymed nichts anderes ist als eine unbewußte Identifizierung 
Dantes selbst, so ist es auch klar, daß er Lucia gegenüber von 
kindlichen Empfindungen beseelt war, das heißt, daß Lucia ähnlich 
wie Matelda und Beatrice ein Symbol der Mütterlichkeit ist. Es 
scheint nichts Außergewöhnliches zu sein, daß dieser Begriff mit un^ 
bewußter Symbolik durch das Bild eines Raubvogels dargestellt wird 2 . 

Der Adler ist für Dantes bewußtes Denken außerdem das 
Sinnbild der weltlichen Herrschaft <cf. Purg. X., p. 80, Par. VI, 

1 bis 3, XVIII, p. 107> und dies paßt gut zu dem imposanten 
Bilde der mütterlichen Autorität, das sich aus den Zügen Beatricens 
und der Stelle im Inferno, in der Dantes Mutter genannt wird, 
ergab. Übrigens vergleicht Dante Beatrice einmal direkt mit einen 
Adler. Als sie vom irdischen ins himmlische Paradies aufsteigen, 
blickt Beatrice in die Sonne mit festerem Blick als je ein Adler 
es vermochte, von dem ja die Sage geht, daß sein Auge in die 
Sonne sehen kann und von Beatrice geht diese Fähigkeit auf Dante 
über. Par. I, p. 43 ff. 

Fatto avea di lä mane, e di qua Jetzt machte dieser Schlund fast 
sera nodi hier Abend 

Tal foce quasi, e tutto era lä bianco Und drüben Tag, die Hemisphäre da 

1 Zu dieser Übersetzung ist man nach Convivio Trattato IV, Kap. 25, 
berechtigt. Gentilezza ist wohl für Dante meist mit Seelenadel identisch, offenbart 
sich seiner Ansicht nach aber in der Jugend auch durch Schönheit des Körpers. 

2 In einer Phantasie Leonardo da Vincis erscheint die Mutter in Gestalt 
eines Geiers <cf. S. Freud, Eine Kindheitserinnerung des Leonardo da Vinci, 
7. Heft der Schriften zur angewandten Seelenkunde, herausgegeben von Freud, 
p. 19 ff.). 





Von Dantes unbewußtem Seelenleben 


237 


Quello emisperio, e V altra parte 
nera, 

Quando Beatrice in sul sinistro 
fianco 

Vidi rivolta, e riguardar nel sole: 

Aquila si non gli s' affisse un^ 
quanco. 

E si come secondo raggio suole 

Uscir de! primo, e risalire insuso, 

Pur come peregrin, che tornar vuole, 

Cosi dell' atto suo, per gli oc- 
chi infuso 

Nell' imagine mia, il mio si 
fece, 

E fissi gli occhi al sole oltre 
a nostr' uso. 

Molto e licito lä, che qui non lece 

Alle nostre virtü, merce de! loco 

Fatto per proprio dell' umana 
spece. 


Versilbernd, hier in Schwärze sie 
begrabend; 

Als ich Beatrice links gewendet 
sah 

Hinschauend nach der Sonne, un* 
geblendet. 

Kein Adler käme solchem 
Blicke nah. 

Und wie ein Strahl den zweiten 
Strahl entsendet, 

Der wieder in die Höh' fliegt, ähn= 
lieh wie 

Ein Pilger seinen Schritt zur HeU 
mat wendet, 

So hat ihr Tun, das meine 
Phantasie 

Durch meine Augen einsog, 
meins entschieden, 

Daß ich die Sonn' anblickte 
wie noch nie 

Viel steht dem Menschen frei dort, 
was hienieden 

Versagt ist, dank der Kraft des 
heil'gen Gau's 

Der einst zum Eigentum uns war 
beschieden. 


Zu dieser Stelle zitiert Fraticelli in seiner Ausgabe der 
Divina Commedia eine Stelle folgenden Inhalts aus den Werken des 
heiligen Augustin: 

Derjenige von den jungen Adlern, der fest in die Sonne blicken 
kann, wird als Sohn des Adlers anerkannt. Derjenige, dessen Auge 
aber zittert, wird aus den Krallen fallen gelassen <cf. O. Keller, 
Tiere des klassischen Altertums, p. 268, Innsbruck 1887). Da Dante 
die Werke des heiligen Augustin ohne Zweifel kannte, dürfen wir 
ihm auch die Kenntnis dieser Sage zumuten und wenn er sagt, daß 
der Adlerblick Beatricens auf ihn übergegangen sei, so gibt er sich 
damit unbewußt als Sohn des Adlers zu erkennen. <Über den Adler¬ 
blick cf. Freud, Jahrbuch III, p. 588 ff.) Der Adler im Traum ist 
also das Produkt der Verdichtungsarbeit, die in der Traumwelt 
eine so große Rolle spielt und könnte die Namen Lucia-Bella-Bea^ 
trice führen. Allerdings könnte der Adler zum Teil auch ein Symbol 
Gottes und somit der höchsten väterlichen Gewalt sein, denn Christus 
wird von Dante »sommo Giove« genannt <Purg. VI, p. 118), wo¬ 
durch die unbewußte Ideenverbindung nahegelegt wird. Gott- 
Zeus raubt Dante^Ganymed. Zweifellos überwiegt aber in dem 
Adler das weibliche Element, was die Identifizierung mit Lucia und 
Beatrice beweist. 

Wenn wir hören, daß ein Weib in Adlergestalt sich her¬ 
niedersenkt, um Dante, der sich mit dem Knaben Ganymed ven* 






238 


Dr. Alice Sperber 


gleicht, emporzutragen, so enthüllt sich uns dadurch ein heißer 
Kinderwunsch des Dichters. Er wünschte, die tote Mutter möge 
wiederkehren, um ihr verlassenes Kind zu sich in den Himmel zu 
nehmen, d. h. er sehnte den Tod herbei. 

Wen die Götter lieben, der stirbt jung. Auch Achilles ereilt 
nach ruhmvoller Jugend ein früher Tod und wie Zeus den Knaben 
Ganymed in den Olymp entführt, so wird der tote Achilles von 
seiner Mutter auf die Insel Leuke im Schwarzen Meere entrückt, 
die nach dem Berichte des Plinius mit der Insel der Seeligen identU 
fiziert wurde. Obwohl Dante der Tradition der Odyssee folgend 
Achilles in die Unterwelt verbannt, wäre es doch möglich, daß ihm 
auch die andere Fassung bekannt war und daß sie nicht ohne Ein¬ 
fluß auf seine unbewußte Identifizierung mit Achilles gewesen ist. 

Noch hat uns der Traum sein dunkelstes Geheimnis nicht 
preisgegeben. Der Adler steigt mit Dante bis zum »Feuer« empor. 
Gemeint ist damit aller Wahrscheinlichkeit nach die Feuersphäre, die 
nach Dantes Begriffen an die äußerste Spitze des Purgatorio an¬ 
grenzte und schon als Eingang in das himmlische Paradies betrachtet 
werden kann. Interessanterweise erfolgt später der bewußte Ver^ 
gleich Beatricens mit dem Adler unmittelbar bevor Dante mit ihr 
durch die Feuersphäre emporschwebt <cf. Par. I, 43 ff.>. 

Der Sprachgebrauch überhebt uns der Mühe über die sym^ 
bolische Bedeutung des Feuers im Traum lange nachzudenken, er¬ 
zählen doch die Dichter aller Zeiten unaufhörlich von »Liebesglut«, 
von »feuriger« Leidenschaft und »glühender« Sinnlichkeit. Nach einer 
feurigen Umarmung mit der Mutter sehnte sich Dante und untere 
schied sich dadurch keineswegs von anderen Knaben, »denn viele 
Menschen sahen auch in Träumen sich zugesellt der Mutter« <So^ 
phokles, Oedipus) 1 . 

Schwerlich hätte der Dichter den in dem Traum verborgenen 
sexuellen Wunsch besser zum Ausdrudk bringen können als durch 
das Verhältnis Ganymeds zum Adler. Die flammende Sinnlichkeit, 
die diesem Verhältnis eigen ist, wird durch die reproduzierte Ab¬ 
bildung eher klar werden als durch Worte <s. letzte Seite des Bandes). 

Den Höhepunkt ungemein zahlreicher Träume bildet die sym¬ 
bolisch ausgedrückte Ausführung des Geschlechtsaktes, aber wenn 
diese Wunscherfüllung durch besondere Umstände mit dem kultu¬ 
rellen Niveau des Träumers allzu unvereinbar ist, regt sich selbst 
im Schlaf das, was von den meisten das Gewissen und von Freud 
die Zensur genannt wird und macht dem tollkühnen Traum ein 
Ende: der Schläfer wacht auf. Diese Regel wird durch unseren 
Traum, in dem die sinnliche Lust durch Flammen dargestellt wird, 
in vollem Umfange bestätigt: E si 1' incendio immaginato cosse. 
Che convenne che il sonno si rompesse 2 . 

1 Über die Bedeutung des Oedipuskomplexes. Freud, Traumdeutung. 

2 Und das geträumte Feuer sengte mich. Das bradi den Schlaf und löste 
mir die Glieder. 





Von Dantes unbewußtem Seelenleben 


239 


Der Raub des Ganymedes durch Zeus hat in hohem Grade 
homosexuellen Charakter und galt als Verherrlichung der Kna^ 
benliebe. 

Da nun Achilles ebenfalls im Rufe homosexueller Neigungen 
stand (wegen seiner Liebe zu dem schönen Knaben Troilus), wird 
man den Traum auch von diesem Gesichtspunkte aus betrachten 
müssen. Es ist natürlich schwer zu sagen, wie viel Dante von der 
Tradition, die Achilles jene Veranlagung zuschrieb, gewußt hat. Der 
erste, der das erotische Element in die Troilusepisode einführt, war 
Servius, der Kommentator der Aeneis aus dem vierten Jahrhundert 
und es kann leicht sein, daß Dante die betreffende Stelle kannte 1 . Je¬ 
denfalls dürfen wir mit dem Einfluß der Achilleis des Statius rechnen, 
da dieser Dichter von Dante hochverehrt wurde und zum Ge¬ 
meingut der Gelehrten des Mittelalters gehörte. In der Achilleis 
findet sich folgende charakteristische Stelle, die Dante veranlaßt 
haben könnte, Achilles homosexuelle Neigungen zuzutrauen. Thetis 
ist mit der Absicht zu Chiron gekommen, den jungen Achilles zu 
entführen, damit er nicht am Kampf der Griechen gegen Troja teiL 
nehmen müsse. Als die Nacht sich herniedersenkt, begibt sich Achilles 
zur Ruhe und da heißt es nun: 

Nox trahit in somnos Saxo collabitur ingens 
Centaurus blandusque humeris se innectit Achilles 
Quamquam ibi fida parens assuetaque pectora mavult. 

I. 195 bis 197. 

Im weiteren Verlauf wird berichtet, daß Thetis den Sohn an 
den Hof des Königs von Skyros bringt, wo er, als Mädchen ver¬ 
kleidet, unter weiblichen Gespielinnen leben soll, bis alle Gefahr 
vorbei ist. Auch diese Situation hat einen homosexuellen Einschlag, 
was von Statius dadurch zum Ausdrude gebracht wird, daß er jenen 
Zustand des Achilles als »sexus ambiguus« 2 bezeichnet. Daß Achill 
dann in seiner Verkleidung der Geliebte der Königstochter DeU 
damia wird und daß der Ganymedtraum trotz seiner Homosexualität 
auch die Vorliebe für das andere Geschlecht in so hohem Grade 
offenbart, bildet keineswegs einen Angriffspunkt gegen unsere Be¬ 
hauptungen, da ja der Traum die widersprechendsten Elemente in 
sich vereinigen kann,- zudem will es scheinen, daß die meisten, viel¬ 
leicht sogar alle Menschen homosexuellen Strömungen zugänglich 
sind und erst wenn diese Gefühle so mächtig werden, daß sie zur 
Tat führen, sprechen wir von Abnormitäten. Es bieten sich uns 
keine Anhaltspunkte dafür, daß letzteres bei Dante in Betracht 
kommen könnte (und selbst wenn es der Fall wäre, dürfte man vor 


1 Auch Plato hat in seinem Symposion der Freundschaft von Achilles und 
Patroklus homosexuellen Charakter zugeschrieben, wir wissen aber nicht, ob 
Dante, der des Griechischen wahrscheinlich nicht mächtig war, die Werke Platos 
kannte. 

2 cf. Horaz, puer vultu ambiguo = Knabe mit einem Mädchengesicht. 





240 


Dr. Alice Sperber 


der Untersuchung nicht zurückscheuen), da jedoch seit dem Buch von 
Wilhelm Fließ: »Vom Ablauf des Lebens«, die hochgradige Bi^ 
Sexualität künstlerisch veranlagter Naturen im Vordergrund des 
Interesses steht, möchte ich bei diesem Thema noch einen Augenblick 
verweilen. 

Die Gründe für eine kraftvolle Entfaltung homosexueller Triebe 
sind nicht immer dieselben L Einen günstigen Boden findet die homo^ 
sexuelle Komponente des Knaben, wenn das Wesen der Mutter 
einen hochgradig männlidien Einschlag hat, denn der Mann, der in 
späteren Liebesverhältnissen unbewußt die Erinnerung an die erste 
Liebe neu beleben will, wird seinen Geschlechtsgenossen gegenüber 
sexueller Empfindungen um so mehr fähig sein, je mehr sie in ihrem 
Wesen der Mutter verwandt sind. 

Das Frauenideal Dantes, der ja, wie schon erwähnt, Beatrice 
mit einem Admiral vergleicht, deutet darauf hin, daß jene Vor¬ 
bedingungen einer relativ stark ausgebildeten homosexuellen Strö¬ 
mung bei ihm vorhanden waren. Damit dürfte es Zusammenhängen, 
daß sich Dante an einen Mann und zwar an Virgil mit jenen Ge¬ 
fühlen wendet, mit denen »das Knäblein zu der Mutter eilt«, was 
doch gewiß sehr merkwürdig ist. 

Tosto che nel/a vista mi percosse 

L'alta vir tu, che giä mi avea trafttto, 

Prima che io for di puerizia fosse, 

Volsimi alla sinistra col re^ 
spitto, 

Col quäle il fantolin corre 
alla mamma, 

Quando ha paura, o quando 
egli e afflitto. 

Per dicere a Virgilio: 

<Purg. XXXI. 40-46.) 

Ähnliche Empfindungen kommen zum Ausdruck, als Dante 
schildert, wie ihn Virgil in Malebolge vor den Teufeln rettet <Inf. 
XXIII, 37 ff.). 


Wie sie nun meinen Blicken sich 
erschloß , 

Die hohe Kraft, die in vergangnen 
Tagen 

Da ich ein Kind war durch das 
Herz mir schoß 

Wandt ich zur Linken mich 

mit solchen Zagen 

Mit dem das Knäblein zu der 
Mutter rennt. 

Wann irgend Kummer oder 
Furcht es plagen, 

Um zu Virgil zu sprechen*. 


Lo Duca mio di subito mi prese, 

Come la madre ch'al romor e 
desta 

E vede presso a se le flamme ac- 
cese. 


Mein Führer säumte nicht mich zu 
umschlingen 

Wie eine Mutter, die, vom Lärm 
erweckt 

Die Flammen lodern sieht, die sie 
umringen 


1 cf. Freud, Eine Kindheitserinnerung des Leonardo da Vinci 
VII. Heft der Schriften zur angewandten Seelenkunde, herausgegeben 
von Freud, Leipzig 1910. 





Von Dantes unbewußtem Seelenleben 


241 


Che prende il figlio, e fugge, e non 
s' arresta, 

Avendo piü di lui die di se cura, 
Tanto che solo una camicia vesta. 


Und nimmt ihr Kind und flieht, so 
gar erschreckt. 

Mehr Sorg' um 's Kind als um 

sich selber hegend. 
Daß nicht einmal sie mit dem 

Hemd sich deckt. 


Abgesehen von diesen Absonderlichkeiten, ist es aber klar, 
welche Rolle Virgil in Dantes Phantasie spielte. Er ist das Ideal¬ 
bild des Vaters und Lehrers, was übrigens eine von den Literar¬ 
historikern oft erwähnte Tatsache ist. 

Er nennt Dante »dolce figlio« und wird von dem Dichter 
»dolcissimo padre« genannt, aber mehr als durch solche Äußerlich¬ 
keiten wird uns sein väterliches Bild durch die liebevolle Fürsorge 
vor Augen geführt, die er seinem Schützling angedeihen läßt. Wenn 
der Weg für die Kräfte eines Sterblichen gar zu schwer wird, so 
trägt er ihn in seinen Armen, cf. z. B. Inf. XXIII, 43 ff. 


E giü dal collo della ripa dura 

Supin si diede alla pendente roccia. 

Che V un dei lati all' altra bolgia 
tura. 

Non corse mai si tosto acqua per 
doccia, 

A volger ruota di mulin terragno, 

Quand' ella piü verso le pale ap* 
proccia, 

Come il Maestro mio per quel vU 
vagno, 

Portandosene me sovra il suo 
petto, 

Come suo figlio, non come 
compagno. 


Er mit dem Rücken an den Damm 
sich legend. 

Der rechts hinabfiel in das nächste 
Tal, 

Ließ so sich gleiten, abwärts sich 
bewegend. 

Nie ist so schnell das Wasser im 
Kanal 

Ein Mühlenwerk zu drehn, bergab 
geflossen, 

Wo fast schon auf die Schaufeln 
fällt der Strahl, 

Wie mein Begleiter war hinab** 
geschossen, 

Und auf dem Busen trug er 
mich entlang 

Wie seinen Sohn und nicht 
bloß Weggenossen. 


Wenn Dante auf seiner mühevollen Wanderung den Mut 
verliert, ermutigt ihn Virgil mit tröstenden Worten, er belehrt ihn 
über die verschiedensten Dinge, schilt ihn wohl auch zuweilen, wenn 
Dante nicht nach seinem Sinne handelt, vergibt aber sofort, wenn 
er sieht, daß Dante Reue empfindet <cf. Inf. XXX. 130ff.>. Un^ 
gemein anziehend wirkt die Milde seines Wesens. Statt Dante mit 
herben Worten zu bestrafen, sucht er ihn durch Güte auf den 
richtigen Pfad zu bringen. 

Es läßt sich der psychoanalytische Beweis dafür erbringen, daß 
Virgil wirklich das idealisierte Bild von Dantes Vater ist. Er muß 
in dem Augenblick verschwinden, in dem Beatrice erscheint, obwohl 
Dante diese Trennung sehr schmerzlich empfindet. »Weil er ein 
Heide ist«, wird man wohl allgemein sagen, der der Seligkeit des 
Paradieses nicht teilhaftig werden darf. Dies erklärt aber nicht. 


Imacro 111 3 


16 




242 


Dr. Alice Sperber 


warum Dante die Trennung nicht bis zu dem Augenblick hinaus^ 
geschoben hat, indem er mit Beatrice vom irdischen ins himmlische 
Paradies aufsteigt Warum verschwindet Virgil schon aus dem irdU 
sehen Paradies und warum ist es ihm nicht gegönnt, der Wieder¬ 
taufe seines Schülers beizuwohnen? Der Grund kann nicht darin 
liegen, daß ein Heide nicht würdig sei, einer christlichen Zeremonie 
beizuwohnen, hat Virgil doch im irdischen Paradies weilen dürfen, 
als der Wagen der Kirche erschien, gezogen von Christus in Gestalt 
eines Greif, begleitet von den Propheten und den Aposteln. Es ist 
klar, daß es die Anwesenheit Beatricens ist, die Dante mit jener 
Virgils nicht vereinigen kann 1 . Mit der Rücksichtslosigkeit, deren sich 
alle Liebenden in ihren Phantasien schuldig machen, muß Dante 
entfernen, was ihm das Schwelgen in seiner Liebe verbittern könnte, 
nämlich die Anwesenheit des ersten Nebenbuhlers, des Vaters, den 
er einst wie alle Knaben glühend beneidet hatte um seine Vorrechte 
gegenüber der zärtlich geliebten Mutterimago. Daß Dante beim 
Verschwinden Virgils Tränen vergießt, widerspräche dem nicht son^ 
dern entspricht nur der Doppelseitigkeit <Ambiralenz> der Emp^ 
findung des Knaben gegenüber dem Vater. 

Wir wenden uns nun der Frage zu, ob wir erfahren können, 
inwiefern das Idealbild, das Dante in Virgil der väterlichen Autorität 
gesetzt hat, auf den Eindruck zurückgeht, den der Dichter in seiner 
Kindheit von seinem Vater Alighiero II. empfangen hat. Wir befinden 
uns wiederum in einer wenig günstigen Lage, denn Alighiero II., 
der jedenfalls schon gestorben war, als Dante achtzehn Jahre zählte 2 , 
wird in der zeitgenössischen Literatur nur sehr selten genannt. Boc¬ 
caccio sagt von ihm »piü per la futura prole 3 che per se doveva 
essere chiaro,« was Boccaccio vielleicht nicht geschrieben hätte, wenn 
Dantes Vater ein bedeutender Mann gewesen wäre. In politischer 
Hinsicht dürfte er im Gegensatz zu seinem großen Sohn keine ge^ 
fürchtete und exponierte Persönlichkeit gewesen sein, denn es scheint, 
daß es ihm gestattet wurde, in Florenz zu bleiben, als die Häupter 


1 Ein ähnliches Schicksal wird Statius zuteil, der sich nach überstandener 
Buße im Purgatorio, den beiden Dichtern auf dem Wege ins Paradies anschließt 
<Purg. XXI, 10 ff.). Er darf wohl länger bei Dante und Beatrice verweilen als 
Virgil, gerät aber bald vollständig in Vergessenheit, ohne daß wir erfahren, was 
mit ihm geschieht. Nicht nur diese stillschweigende Ablehnung von seiten Dantes 
stempelt Statius zu einer sogenannten »Doublette« von Virgil, sondern auch sein 
Wesen und Gebaren, cf. Comparetti <Virgilio nel Medio Evo p. 303). Ad un 
certo punto adunque a lui <Virgilio> si unisce nell accompagnar Dante, Stazio 
che e presentato quasi una emanazione diVirgilio, come quegli che, non solo 
per lui fu poeta, ma per lui fu anche christiano, quäle sarebbe stato Virgilio se 
fosse nato dopo Cristo. »Mit Virgil, der Dante begleitet, vereinigt sich an einer 
gewissen Stelle Statius, der gleichsam eine Emanation Virgils ist. Er ist durch 
Virgil nicht nur Dichter sondern auch Christ geworden, was auch Virgil geworden 
wäre, wenn er nach Christus das Licht der Welt erblicht hätte.« 

2 Eine genaue Datierung ist bis jetzt nicht gelungen. 

3 »Er sollte durch seine Nachkommenschaft berühmter werden als durch 
sich selbst.« 





Von Dantes unbewußtem Seelenleben 


243 


der welfisdien Partei, der die Familie der Alighieri angehörte, im 
Jahre 1260 von den Ghibellinen vertrieben wurden 1 . 

Dazu kommt, daß Forese Donati, den Dante in einem bur* 
lesken Sonett »figluol di non so cui« <Sohn von ich weiß nicht wem) 
genannt hatte, sich revanchierte, indem er ebenfalls in einem derartigen 
Sonett erwiderte, Dante beweise durch seine Feigheit, daß er ein 
Sohn von Alighiero sei und auch dies läßt darauf schließen, daß 
Dantes Vater sich keines hervorragenden Rufes erfreute 2 . Dieser 
Ansicht huldigen z. B. Petrocchi 3 , Scherillo 4 und Kraus 5 ,* doch 
fügt letzterer wie übrigens auch Scartazzini 6 mit Recht hinzu, daß 
derartige groteske Scherzgedichte wie das Mittelalter sie liebte, kein 
einwandfreies Beweismaterial abgeben können. 

Da jedoch anderseits die Möglichkeit auch nicht abgelehnt 
werden kann, daß die Worte Boccaccios und Forese Donatis viel¬ 
leicht wirklich besagen, Dantes Vater sei ein schwacher und un¬ 
fähiger Mensch gewesen, so müssen wir uns fragen, ob denn die 
edle Erscheinung Virgils in der Divina Commedia mit einem solchen 
Vorbilde irgendwie in Verbindung stehen kann. Ausgeschlossen ist 
dies keineswegs. Wie sehr wir Vater und Mutter in unserer Vor* 
Stellung idealisieren, beweist ja die Tatsache, daß wir in unseren 
Phantasien und Träumen Kaisern und Königen unbewußt die Züge 
der Eltern verleihen und wenn Dante statt von fürstlicher Ab¬ 
stammung zu fabulieren, uns auf indirektem Wege verrät, daß er 
der Sohn eines Dichters und einer Heiligen sein wollte, so offen¬ 
bart sich dadurch der Adel seiner Seele. Gewiß hat sich der Ein* 
druck von dem Wesen des Vaters durch zahlreiche Einflüsse ver¬ 
ändert. Das »liebe, gute, väterliche Bild« Brunetto Latinis, der ja 
Dantes väterlicher Freund war <Inf. XV, 83), mag darauf ein* 
gewirkt haben, und sicher haben wir noch mit vielen Zuflüssen aus 
anderen Quellen zu rechnen, die wir nicht kontrollieren können, aber 
wäre es trotz aller idealisierenden Verschiebung und Verdichtung 
nicht doch möglich, daß Dante bei seinem Vater als Milde empfand, 
was anderen als Schwäche erschien? Auf einen Ein wand muß aller* 


1 cf. Scherillo: Alcuni capitoli della biografio di Dante, p. 11 ff. 

2 Foreses Sonett scheint im ganzen richtig von Del Lungo übersetzt zu 
sein. <Dante nei tempi di Dante), doch sind manche Stellen noch dunkel. Sche^ 
rillo loc. cit. zitiert noch ein anderes Sonett Foreses, in dem der Dichter erzählt, 
daß er Dantes Vater im Traum gesehen habe, wie er gebunden in einer Grube 
<fossa> lag und Forese bat ihn um seines Sohnes willen zu befreien. Scherillo 
meint, daß Forese Dantes Vater nicht ohne Grund einen so wenig ehrenvollen 
Platz angewiesen habe und sucht seine Ansicht durch Parallelen über den Gebrauch 
von fossa zu bekräftigen. Mario Chini <Giornale dantesco VIII, p. 145 ff) meint 
mit Bezug auf diese Stelle, daß Dantes Vater vielleicht wegen Zahlungsunfähigkeit 
eingesperrt gewesen sei, doch gelingt es Chini nicht, dies zu beweisen. 

3 La lingua e la storia letteraria dalle origini fino a Dante 

p. 259. 

4 loc. cit. 

5 Kraus: Dante, sein Leben und sein Werk. Berlin 1897. 

6 Enciclopedia dantesea. 





244 


Dr. Alice Sperber 




dings Rücksicht genommen werden. Virgil ist nämlich unversöhnlich 
streng gegen manche Sünden der Hölle, er ist es ja, der Filippo 
Argenti zurückstößt und Dantes Mutter selig preist, als unser 
Di Ater jenen Sünder mit harten Worten abweist. Er ist auA damit 
einverstanden, daß Dante den Papst Nikolaus III., der im aAten 
Höllenkreis grausam gequält wird, zornig sAmäht und verbietet 
Dante zu weinen, als er sieht, wie das traurige Los der Wahr¬ 
sager, deren Antlitz für ewig naA rüAwärts gewendet ist, seinem 
Schützling Tränen des Mitleids erpreßt. 


Certo i piangea, poggiato ad un 
de 7 rocchi 

Del duro scoglio, si Ae la mia 
scorta 

Mi disse: Ancor se' tu degli altri 
sciocAi? 

Qui vive la pietä, quando e ben 
morta. 

Chi e piü scellerato di colui, 

Che al giudizio divin passion porta. 
(Inf. XX, v. 25-30.) 


Gewiß iA weinte an einen der harten 
Felsen gelehnt, so daß mein Führer 
mir sagte: Bist du so töriAt? Hier 
lebt die Frömmigkeit 1 , wenn das 
Mitleid erstorben ist; wer ist rudi^ 
loser als derjenige, der Mitleid hat, 
wo Gott geriAtet. 


Hier finden wir also dieselbe herbe und großartige GereAtig- 
keit, die für Dantes mütterliches Ideal charakteristisch ist und dieser 
Zug entfernt siA sehr von dem niAt gerade imposanten Bilde, 
welAe siA mehrere DanteforsAer auf Grund der in dieser Arbeit 
angeführten zeitgenössisAen Anspielungen von Alighiero II. maAen. 
Es ist aber doA mögliA, daß die betreffenden Gelehrten in bezug 
auf Dantes Vater das RiAtige vermuten und daß trotzdem der 
EindruA, den Dante vom Wesen desselben empfing, für den 
Grundton der ErsAeinung Virgils bestimmend geworden ist. Der 
Fall ist ziemliA kompliziert. Es ist der Aufmerksamkeit der Dantes 
forsAer niAt entgangen, daß das Verhalten Virgils ein inkonse^ 
quentes zu sein scheint und es ist die Frage aufgeworfen worden, 
warum Virgil es niAt rügt, als Dante mit Ciacco, Francesca da 
Rimini und Pier della Vigna Mitleid empfindet, die doA auA von 
Gott verdammt sind <cf. Inf. VI. 58 ff. V. 80 ff., XIII. 84). 

Brunetto Latini, Jacopo Rusticucci, Guido Guerra und Teg* 
ghiaro Aldobrandi wären ebenfalls hier zu nennen <cf. XV. 
30 ff, XVI). 

Wenn Virgil wirkliA der AnsiAt ist, daß siA derjenige der 
gottlosesten Handlung sAuldig maAt, der siA gegen das göttlkhe 


1 Über die Bedeutung von pielä an dieser Stelle ist viel diskutiert worden. 
Häufig wird diesem Worte hier die Doppelbedeutung von pitie und piete zuge= 
schrieben, während z. B. d'Ovidio meint, ein derartiges Wortspiel sei nicht im 
Sinne der dantischen Kunst. Nach seiner Ansicht bedeutet der Vers nun: hier ist 
das Mitleid nicht am Platz <cf. d'Ovidio Studi sulla Divina Commedia 1901, p. 119 
und Per l'Esegesi della Divina Commedia 1., p. 19, 1902). 





Von Dantes unbewußtem Seelenleben 


245 


Gericht auflehnt, sei es auch nur durch Mitleid mit den Sündern, 
wie konnte er dann Dante, dessen Seelenheil ihm anvertraut war, 
dieses Verbrechen so oft begehen lassen, ehe er ihn warnte? 

Ich glaube, daß hier eine Nuance in das Bild Virgils gekommen 
ist, die mit dem Grundton nicht recht vereinbar war, denn die 
Spuren der unvollkommenen Verkittung sind noch sichtbar. Mehrere 
Gelehrte haben sich aber nicht mit der Konstatierung des Wider¬ 
spruches, auf den hier hingewiesen wurde, begnügt, sondern den 
Versuch gemacht, die zitierte Stelle anders zu interpretieren. Viele 
derartige Bemühungen gipfeln darin, daß die Worte: 

Chi e piü scellerato di colui 

Che al giudizio divin passion porta 

nicht auf Dante, sondern auf die Wahrsager bezogen werden,- es 
hieße dann ungefähr: »Hier ist das Mitleid nicht am Platz, denn 
wer ist ruchloser als derjenige, dessen Begierde sich nach dem gött¬ 
lichen Ratschluß richtet (um die Zukunft zu erfahren) cf. d'Ovidio 
Dante e la Magia, Nuova Antologia Bd. XLI, Serie 3, p. 223, 
»chi fra i rei d'inferno e pui scellerato dell'indovino che rivolge la 
sua passion al giudizio stesso di Dio volendo preoccupare il futuro 
che e nell'abisso del suo consiglio ed a lui riservato « x . Die Härte 
Virgils gegen die Wahrsager erklärt sich nach Ansicht d'Ovidios 
daraus, daß Dante den geliebten Führer von der Sünde der Magie 
freisprechen wollte, die Virgil im Mittelalter allgemein zugeschrieben 
wurde <cf. Comparetti, Virgilio nel Medio Evo, Firenze 1896). 
Dieses letztgenannte Moment hat sicher etwas für sich, läßt sich 
aber auch mit der vorhin erwähnten traditionellen Auffassung ver¬ 
einigen, denn wenn Virgil Dantes Mitleid mit den Verdammten 
gerade angesichts der Wahrsager als Auflehnung gegen das gött¬ 
liche Geridit so streng rügt, was er in anderen Fällen unterlassen 
hat, so involviert dies, daß er die Wahrsager besonders hart ver¬ 
urteilte und daher nicht dafür gelten wollte. 

Wenn ich der traditionellen Auffassung den Vorzug gebe, so 
geschieht dies, weil ich von Italienern höre, daß sie die einzige ist, 
die dem italienischen Sprachgefühl nicht Gewalt an tut 1 2 . Wie wenig 
aber die Härte Virgils zu seinem Gesamtcharakter paßt, selbst unter 
der Voraussetzung, daß sich die Worte »chi e piü scellerato di 
colui che al giudizio divin passion porta« auf die Wahrsager und 
nicht auf Dante beziehen, hat d'Ovidio selbst empfunden, sagt er 
doch in dem betreffenden Artikel: 


1 »Wer von den Schuldigen der Hölle ist gottloser als der Wahrsager, der 
seine Begierde auf den Ratschluß Gottes richtet, indem er die Zukunft erfahren 
will, die in der Tiefe der Vorsehung ruht und Gott allein gehört.« 

2 Aus diesem Grunde ist auch d'Ovidio wieder zur traditionellen Auffassung 
zurüdkgekehrt. <cf. d'Ovidio, Studi sulla Div. Comm. 1901, p. 121 und Per l'Esegesi 
della Divina Commedia I., p. 22 ff.) 





246 


Dr. Alice Sperber 


Contra questa <1 o fola della magia) e fatto insorgere Virgilio 
medesimo, che non sembra piü lui. <p. 223.) 1 

Ein sehr charakteristisches Bild von dem Virgil der Divina 
Commedia entwirft Comparetti, der ebenfalls versucht hat, die 
heiß umstrittene Stelle in recht gekünstelter Weise auf die Wahr* 
sager zu beziehen. 2 * 

»Infanti il carattere dei Virgilio dantesco e in fondo non solo quäle 
viene indicato nella biografia, v ma quäle realmente trasparisce nell indole 
di tutta la poesia virgiliana. E un anima dolce e mite che ha un nobile 
sentimento di se, affatto lontano da alterigia, dotata di una sensibilitä de- 
licatissima, che anche quando si adira rimane piena di candore, assennata 
e giusta, e dove sia pur leggermente malcontenta di se arrossisce e si 
confonde come una verginella. Dinanzi ad un tipo siffatto e impossU 
bile non rammentarsi il soave carattere d'uomo che trasparisce nella poesia 
virgiliana, »1'anima candida« che Orazio riconosce in Virgilio, il titolo di 
Virgo che si volle trovare in questo nome e di Parthenias che 
applicarono al poeta i suoi contemporanei napoletani. Non credo possa 
dubitarsi che lo Studio intenso ed intelligente del Mantovano deve avere 
ispirato e guidato il poeta nel fissare i lineamenti ideali di questa elevata 
e nobilissima figura.« <cf. Virgilio nel Medio Evo, p. 300, 301.) 

»In der Tat ist der Charakter des dantischen Virgils nicht nur so wie 
er in der Biographie beschrieben wird, sondern wie er sich durch den Geist 
der virgilianischen Poesie offenbart. Er hat eine sanfte, milde Seele, die ein 
edles Selbstgefühl besitzt. Er ist frei von Hochmut und mit einem äußere 
ordentlichen Zartgefühl begabt. Auch wenn er in Zorn gerät, bleibt er stets 
rein, besonnen und gerecht und wenn er nur ein wenig unzufrieden mit 
sich selbst ist, errötet er und wird verwirrt wie eine Jungfrau. An¬ 
gesichts eines solchen Typus ist es unmöglich, sich nicht an den sanften 
Charakter zu erinnern, der sich in der Poesie Virgils offenbart, an die 
»anima candida«, welche Horaz in Virgil erkennt an die Bezeichnung Virgo, 
die man in seinem Namen erkennen wollte und an dem Beinamen Par^ 
thenias, der dem Dichter von seinem neapolitanischen Zeitgenossen gegeben 
wurde. Man kann, wie ich glaube, nicht daran zweifeln, daß das eingehende 
und verständnisvolle Studium der Werke des Mantuaners den Dichter in^ 
spiriert und geleitet hat, als er die idealen Umrisse jener erhabenen und 
edlen Figur schuf. 

Muß man angesichts solcher Sanftmut und Milde, die an 
einigen Stelle der Divina Commedia hervortretende Härte Virgils 
gegen manche Sünder nicht als einen Fremdkörper empfinden, der 
schließlich einen Widerspruch auslöste? Aus welcher Quelle aber 


1 »Gegen die Tradition, daß Virgil ein Wahrsager gewesen, wird Virgil 
selbst ausgespielt, der nicht mehr er selbst zu sein scheint.« 

2 Comparetti legt das »portar passion« folgendermaßen aus: Das Wesen 
Gottes ist aktiv, die Wahrsager, die sich bemühen, die Zukunft zu erforschen, 
wollen es auf diese Weise in einem passiven Zustand versetzen und machen sich 
so eines Verbrechens schuldig. Doch ist es Comparetti nicht gelungen, ParalleU 
stellen für diese Auffassung aufzufinden. <cf. Virgilio nel Medio Evo, p. 290 4 .) 

Weitere Literatur über diese Verse, die aber im wesentlichen nicht viel Neues 
bringt, ist im Bulletino della societä dantesca verzeichnet, cf. Indice decennale 

1912, p. 43. 





Von Dantes unbewußtem Seelenleben 


247 


dieser Zug stammen mag, darüber wage ich vorläufig keine Ver¬ 
mutung auszusprechen. Die Tatsache besteht, daß Dante für sein 
mütterliches Ideal männliche Bilder und Vergleiche braucht, während 
er Virgil gegenüber gelegentlich empfindet wie das Kind für die 
Mutter 1 . 

Daraus geht hervor, daß er in früher Kindheit Eindrücke von 
den beiden Geschlechtern empfangen hat, die sich nicht mit dem 
decken, was man im allgemeinen von dem »starken« und dem 
»schwachen« Geschlecht behauptet. Die Vermutung ist naheliegend, 
daß er einen Vater mit sogenanntem femininen Einschlag und eine 
Mutter, respektive Stiefmutter von maskulinem Wesen gehabt habe 
oder daß sie dem Knaben zumindest so vorgekommen sind. In 
irgendeiner Weise müssen ja die Eltern und vielleicht auch die 
Stiefmutter an dem Aufbau von Dantes Elternideal beteiligt sein, 
wenn wir auch über Art und Größe dieses Anteils vorläufig nur 
Vermutungen Vorbringen können. 

Jedenfalls waren die Eltern wie sonst niemand dazu geeignet, 
den sündigen Sohn zu bekehren, indem sie ihm zeigten, welche 
Strafen der Bösen und welche Belohnungen der Guten im Jenseits 
harren,- beschäftigen sich doch viele Eltern gerne damit, ihren Kindern 
in recht lebhaften Farben auszumalen, wie es anderen guten und 
bösen Kindern ergangen sei. Bekannt ist das glühende Interesse, das 
die Kinder solchen Erzählungen im allgemeinen und dem Bericht über 
die Strafen im besonderen entgegenbringen. Keine Strafe ist ihnen 
hart genug, was man übrigens auch beobachten kann, wenn Kinder 
Schule spielen, wobei sie stets über das Maß der gesetzlich erlaubten 
Strenge hinausgehen. Daß es sich hier um sadistische Triebe handelt, 
kann keinem Zweifel unterliegen 2 und daß sie bei Dante in 
der denkbar großartigsten Weise entfaltet waren, ebensowenig. 
Wie leicht konnte die Phantasie des Dichters in seiner Kind¬ 
heit durch derartige Erzählungen genährt worden sein, die sich 
später zum unsterblichen Werke entfalteten. Hätte Dante nicht die 
Möglichkeit gehabt, seinen Sadismus dichterisch auszuleben, indem 
er den Verdammten mit der exaktesten Genauigkeit die qualvollsten 
Strafen zuerkannte, so hätte er die Welt vielleicht durch Handlungen 


1 Der Ruf der Homosexualität, der Virgil hauptsächlich wegen der fünften 
Ecloge anhaftete, mag Dante, ohne daß es ihm mit voller Deutlichkeit zum Be¬ 
wußtsein kam, in der Wahl seines Führers beeinflußt haben. Seine Sympathie für 
einen Dichter, dem ein feminines Wesen nachgesagt wurde, könnte zum Teil 
darauf zurückgehen, daß ihn derartige Naturen an seinen Vater erinnerten. 

2 Ich habe es versäumt, rechtzeitig die sadistischen Phantasien aufzuzeichnen, 
die mir ein Knabe von ungefähr sechs bis sieben Jahren unaufgefordert berichtete 
und die er als erlebte Ereignisse hinstellte. Es handelte sich um die Züchtigung 
eines unliebsamen Spielgefährten <ob er wirklich existiert, weiß ich nicht), die der 
Kleine mit anderen Knaben an dem Betreffenden vorgenommen haben wollte. Die 
Details sind mir nicht mehr ganz in Erinnerung, doch kann ich versichern, daß der 
hochbegabte, sonst sehr gefühlvolle Knabe eine äußerst grausame Freude an 
körperlichen Mißhandlungen zeigte. 





248 


Dr. Alice Sperber 


entsetzt, wie kein Torquemada sie zu ersinnen vermochte. Da aber 
jeder, der imstande ist, den Qualen anderer einen Lustgewinn für 
sich zu erpressen, auch befähigt ist, aus eigenen Leiden Lust zu 
ziehen, finden wir bei Dante Beatrice gegenüber die masochistische 
Gefühlseinstellung. 

Ich möchte diese Arbeit nicht schließen, ohne auf die außer¬ 
ordentliche Bedeutung einzugehen, die der Elternkomplex für Dantes 
seelische und künstlerische Entwicklung gehabt hat. Das Rätsel seines 
Wesens und seines Schaffens ist das Zusammentreffen von kühner 
Auflehnung und demütigem Gehorsam, von bewunderungswürdig 
neuen Gedanken und sklavischem Autoritätsglauben. Derselbe Mann, 
der wilde Flüche gegen die Päpste ausstößt, war der treueste Sohn 
der Kirche. Der Dichter, der kein Herz ungerührt läßt, hat sich von 
dem kalten Formalismus der Scholastik nidit befreien können. Der 
Gelehrte, der es als erster wagte, wissenschaftliche Probleme in ita^ 
lienischer statt in lateinischer Sprache zu erörtern und der als erster 
in so geistvoller Weise das komplizierte Problem der italienU 
sehen Schriftsprache erörterte, hält in seinem kühnsten Gedanken¬ 
flug inne und verweist auf die Autorität des Aristoteles und der 
Bibel. Wie kommt es, daß dieser universelle, geniale und mutige 
Geist wie durch einen Zauber in den Fesseln des Autoritätsprin- 
zipes schmachtete, während doch Petrarca, der gewiß nicht so mutig 
war wie Dante, es wagte, dem vierzehnten Jahrhundert zu ver^ 
künden, daß die Autorität des Aristoteles nicht die höchste wissen^ 
schaftliche Instanz sei. 

Der Autoritätsglaube hat seine Wurzel in der Anerkennung 
der elterlichen, insbesondere aber der väterlichen Autorität <cf. Freud, 
Eine Kindheitserinnerung des Leonardo da Vinci). Diejenigen Ge¬ 
setze, die die Macht des Vaters schützen, hüten zu gleicher Zeit 

die Macht des Thrones, der Kirche und aller anderen durch das 
Alter geheiligten Institutionen und Anschauungen. Bricht aber in 
einem Individuum der Glaube an den Vater zusammen, so wird 
dem Autoritätsglauben das Fundament entzogen und der Betreffende 
wird sich dagegen autlehnen, noch irgendeiner Institution jenen 
kritiklosen Gehorsam zu leisten, der den Eltern gegenüber nidit 

mehr am Platze ist. Es ist möglich, daß Dante an seinen Vater 

geglaubt hat, jedenfalls hat er ihn in seiner Kindheit sehr geliebt, 
denn die Liebe, die Virgil umstrahlt, ist ja nur ein Abglanz der 
Zärtlichkeit, die der leidenschaftliche Knabe einst dem Vater ent¬ 
gegenbrachte. Während Petrarca in keinem guten Verhältnis zu 
seinem Vater stand, weil dieser des Dichters künstlerische Nei- 
gungen bekämpfte, sagt uns Dante in der Vita nuova, es gebe 
keine innigere Freundschaft als jene, die ein gutes Kind mit einem 
guten Vater verbindet, § XXII. Es ist dies die Stelle, in der Dante 
den Schmerz Beatricens über ihres Vaters Tod sdiildert und MU 
chele Scherillo findet es auffallend, daß der Dichter mit keinem 
Wort des Leides gedenkt, das ihm selbst durch den frühen Tod 





Von Dantes unbewußtem Seelenleben 


249 


Alighiero II. widerfahren. Auch daß Dante überhaupt den Vater 
nie erwähnt, hält Michele Scherillo für »beredtes Schweigen« und 
deutet es zuungunsten des Verhältnisses zwischen Alighiero II. und 
Da.nte 1 . Ich halte diese Argumentation nicht für zwingend, denn 
äußerste Zurüdchaltung in bezug auf intime seelische Erlebnisse ist 
nicht selten ein Charakteristikon außerordentlicher Naturen. Vielleicht 
hat Dante auch stillschweigend zugegeben, daß sein Vater keine 
hervorragende Persönlichkeit war und sich trotzdem von der väter¬ 
lichen Autorität nicht emanzipieren könne,- das Schwanken zwischen 
Glaube und Zweifel, zwischen Anerkennung und Ablehnung wäre 
dann die infantile Wurzel des Konfliktes zwischen dem hochfliegen* 
den Streben des kühnen Denkers und seiner Demut gegenüber er* 
erbten Anschauungen. 

Ich halte es jedoch für wahrscheinlich, daß sein Autoritätsglaube, 
insbesondere aber seine tiefe Frömmigkeit, noch eine andere Wurzel 
hatte. Der Traum von Ganymed hat uns gesagt, wie leidenschaft* 
lieh sich der verwaiste Knabe nach der toten Mutter sehnte, wie es 
sein heißer Wunsch war, sie möge ihn zu sich in den Himmel 
nehmen. Vor dieser Sehnsucht mußte der zersetzende kritische Ver* 
stand schweigen, denn offenbar konnte der Dichter nicht ohne die 
Hoffnung leben, irgend einmal mit der Mutter vereint zu werden. 

Der Mann mit dem Riesengeist und dem trotzigen Herzen 
war der Kirche, jener treuesten Hüterin des Autoritätsprinzipes 
sicher, weil sie ihm Heilung von dem Schmerz versprach, der ihn 
in seiner Kindheit bezwungen. 

Nicht nur die seelische und geistige Entwicklung Dantes 
scheint durch den frühen Tod der Mutter bestimmt worden zu 
sein,- ich glaube, daß er diesem Ereignis auch bis zu einem gewissen 
Grade den Dichterlorbeer verdankt, denn der Gedanke, den Men* 
sehen die Wunder des Jenseits zu künden, dürfte in letzter Linie 
darauf zurückgehen, daß er sich als Kind sehnsuchtsvoll in die Welt 
hineinträumte, in der er die Mutter zu finden glaubte und wenn 
Beatrice ein glorreiches Schicksal zuteil wurde, weil Dante sich 
entschloß von ihr zu sagen, was noch von keiner anderen gesagt 
worden war, so teilt sie diesen Ruhm mit Madonna Bella, denn 
auch sie ist erhöht worden vor allen Frauen der Erde. 


1 cf. Scherillo, Afcuni capitofi deila biografia di Dante, Torino 
1896, p. 13. 






250 


•jrl,. r,-.j LVI' <'v- ,> 

-^ * — - - 

Emil Franz Lorenz 


Die Geschichte des Bergmanns von Falun, 

vornehmlich bei E. T. A. Hoffmann, Richard Wagner und 
Hugo von Hofmannsthal. 

Von Dr. EMIL FRANZ LORENZ. 

Es liegt um uns herum 

Gar mancher Abgrund, den das Schicksal grub. 
Doch hier unserm Herzen ist der tiefste 
Und reizend ist es, sich hinabzustürzen. 

Goethe, »Tasso«. 

Erster Teil. 

Der geschichtliche Kern und die literarische Entwicklung. 
E. T. A. Hoffmanns Verhältnis zu Novalis. 

I m Monat Dezember des Jahres 1719 sollte im Kupferbergwerk 
zu Falun ein Stollen des Wrede^Schachtes gegen den Märdskin- 
Schacht gezogen werdendabei kam im letztgenannten Schacht 
in einer Tiefe von 82 Klaftern, hart an der Grenze des Felsens, 
in einem vom Wasser erfüllten Einsturzraum von 5 Klafter Höhe 
der Leichnam eines Mannes zum Vorschein. Beide Unterschenkel, 
den rechten Arm und das <Hinter->Haupt hatte die Wucht des 
losgerissenen Gesteins zerdrückt, das Antlitz jedoch und der übrige 
Körper samt der Kleidung war, wie man sehen konnte, völlig un¬ 
versehrt geblieben. Der Mann hatte versucht, den Saum seines 
Halstuches mit Hilfe der linken Hand in den Mund zu stopfen 1 . 
In dem Lederbeutel, den er bei sich hatte, befand sich eine läng~ 
liehe Büchse aus Messing, in der Büchse aber eine Krume Tabak, 
beides völlig unversehrt. Das eiserne Scharnier hingegen, mit dem 
der Deckel an die Büchse befestigt zu sein und gedreht zu werden 
pflegt, hatte die farbige Flüssigkeit des Vitriols gänzlich aufgezehrt. 
Das Fleisch und die Haut des Mannes erschien zwar bei ober^ 
flächlicher Berührung hart und rauh, doch hatte sie nicht die Härte 
des Steines, sondern war mehr hornartig, was sich auch darin 
zeigte, daß sie dem Drude des Messers nachgab und sich schnei¬ 
den ließ. 

Als man den Leichnam aus der Grube herausgeschafft hatte, 
wurde eifrig danach geforscht, ob es jemanden gebe, der die Person 
des Toten feststellen könnte und anzugeben wüßte, wann er ver¬ 
unglückt sei. Da bezeugte Magnus Johannssen, ein Bergmann in 


1 Scheintote suchen zuweilen nach dem Erwachen im Grabe ihre Kleider 
zu benagen, was für die Ausbildung des Vampirglaubens von Bedeutung war,- 
vgl. Stefan Hock, Die Vampirsagen in der deutschen Literatur (Forschungen zur 
neueren Literaturgeschichte von Muncker, Heft 17> p. 26 und den dort ange¬ 
führten »Traktat von dem Kauen und Schmatzen der Toten in Gräbern« von 
Michael Ranft, 1734. Offenbar hatte auch der verschüttete Bergmann noch einige 
Zeit nach dem Einsturz gelebt und seinen Hunger auf diese Weise zu stillen 
versucht. 









Die Geschichte des Bergmanns von Falun 


251 


Korsgärden, vor dem Bergsthing, daß er ihn nach dem Gesicht, 
das alle Züge unversehrt bewahrt habe, sicher zu erkennen glaube,* 
auch seinen Namen fügte er bei, indem er sagte, er habe Mathias 
Israelsson geheißen, wegen seiner großen Gestalt auch der große 
Mathias genannt, gebürtig aus Boda, einem Dorfe der Pfarre 
Swerdsjö, und er sei im Dienste des Jonas Peter in Dykarebraken 
gestanden. Weiter fiel ihm ein, daß dieser Mathias Israelsson im 
Jahre 1670 zur Herbstzeit allein in die Grube eingefahren, seitdem 
vermißt und ohne Zweifel durch einen Einsturz ums Leben ge¬ 
kommen sei. Diese Angaben bekräftigten durch gleichlautende Aus¬ 
sagen der Bergmeister Erik Michelsen und der Seiler Erik Petersen. 
Dazu kam noch ein altes Weiblein, mit dem jener Mathias zu Leb¬ 
zeiten verlobt gewesen war und die mit dem Rechte der alten und 
jetzt neu autlebenden Liebe verlangte, man solle ihr den Leichnam 
überlassen oder ihn wenigstens der Erde übergeben. Auch fanden 
sich noch andere Leute, die den Toten erkannten und die Wahr* 
heit dieser Erzählung bekräftigten.« 

So lautet in deutscher Übersetzung der Bericht über das 
Schicksal des Bergmanns von Falun, wie er sich im ersten 
Bande der Acta litteraria Sveciae Upsalae publicata des 
Jahres 1722 findet,* Verfasser des Berichtes ist der Bergassessor 
Adam Leyel. Seine Darstellung ist die ausführlichste und zuver* 
lässigste des interessanten Ereignisses, läßt jedoch, jedenfalls als 
nicht unbedingt zur Sache gehörig, die von den Kopenhagener Zeit** 
Schriften »Nye Tidender om lärde Säger« <20. Juli 1720) und 
»Extrait des Nouvelles« (September 1720) berichtete Geschichte 
von dem Handel um den Leichnam, der sich zwischen der Frau 
und der medizinischen Fakultät entspann und damit endete, daß 
jene sich schließlich herbeiließ, den Leichnam gegen eine Geldent¬ 
schädigung der Fakultät zu überlassen, weg. Daß Leyel darum 
gewußt hat, scheint aus den von ihm gebrauchten Ausdrücken her* 
vorzugehen. 

In die deutsche Literatur hielt die Geschichte vom Faluner Berg** 
mann ihren Einzug durch G. H. v. Schuberts »Ansichten von 
der Nachtseite der Naturwissenschaft« <1808). Der Verfasser spricht 
davon, daß menschliche Körper, die in Salz- und Gipsauflösungen 
vielleicht ein paar Jahrhunderte gelegen hatten, nach einigen Tagen 
an der Luft zerflossen, während tierische Funde sich erhalten hätten. 

»Auf gleiche Weise zerfiel auch ein merkwürdiger Leichnam ... in 
eine Art von Asche, nachdem man ihn, dem Anschein nach in festen 
Stein verwandelt, unter einem Glasschranken vergeblich vor dem Zutritt 
der Luft gesichert hatte. Man fand diesen ehemaligen Bergmann in der 
schwedischen Eisengrube zu Fahlun, als zwischen zwei Schachten ein 
Durchschlag versucht wurde. Der Leichnam, ganz mit Eisenvitriol durch* 
drungen, war anfangs weich, wurde aber, sobald man ihn an die Luft ge* 
bracht, so hart wie Stein. Fünfzig Jahre hatte derselbe in einer Tiefe von 
dreihundert Ellen in jenem Vitriolwasser gelegen,* und niemand hatte die 




252 


Dr. Emil Franz Lorenz 


noch unveränderten Gesichtszüge des verunglückten Jünglings erkannt, 
niemand die Zeit, seit welcher er in dem Schachte gelegen, gewußt, da die 
Bergchroniken sowie die Volkssagen bei der Menge der Unglücksfälle in 
Ungewißheit waren, hätte nicht das Andenken der ehemals geliebten Züge 
eine alte treue Liebe bewahrt. Denn als um den kaum hervorgezogenen 
Leichnam das Volk, die unbekannten jugendlichen Gesichtszüge betrachtend, 
steht, da kommt an Krücken und mit grauem Haar ein Mütterchen, mit 
Tränen über den geliebten Toten, der ihr verlobter Bräutigam gewesen, 
hinsinkend, die Stunde segnend, da ihr noch an den Pforten des Grabes 
ein solches Wiedersehn gegönnt war, und das Volk sah mit Verwunderung 
die Wiedervereinigung dieses seltenen Paares, da sich das eine im Tode 
und in tiefer Gruft das jugendliche Aussehen, das andere bei dem Ver^ 
welken und Veraltern des Leibes die jugendliche Liebe treu und unver¬ 
ändert erhalten hatte,* und wie bei der fünfzigjährigen Silberhochzeit der 
noch jugendliche Bräutigam starr und kalt, die alte und graue Braut voll 
warmer Liebe gefunden wurde. 

Diese Darstellung fußt, wie Georg Friedmann 1 nach weist, 
auf Hülfers Dagbok öfwer en Resa igenom de under Stora 
Koppar-Bergs Höfdingdöme lydande Lähn och Dalarne är 1757 
Wästeräs 1762, p. 420. An ihr ist zweierlei bemerkenswert: 
erstens, daß der Körper als ganz unversehrt gedacht ist, zweitens, 
daß die Zahl derer, die ihn wiedererkannt haben, auf die Braut 
eingeschränkt wird. 

Die ersten poetischen Bearbeitungen erschienen 1810, ver¬ 
anlaßt durch eine von der Zeitschrift »Jason« ausgehende Auf¬ 
forderung. Sie bieten wenig Interessantes <vgl. die Besprechung bei 
Friedmann, p. 19ff.>. Ein Anonymus fügt als neues Motiv hin¬ 
zu, daß die greise Braut über dem Leichnam stirbt, worin ihm die 
Mehrzahl der späteren Bearbeiter nachgefolgt ist. Aus dem Jahre 
1810 stammt auch J. P. Hebels Erzählung »Unverhofftes Wieder¬ 
sehen«, die sich jetzt als Stück 147 im Schatzkästlein des rheini¬ 
schen Hausfreundes findet. Hebel macht in anspruchsloser Aus^ 
Schmückung der Geschichte, wie es scheint, als erster den Versuch, 
die Vorgeschichte des verunglückten Bergmanns breiter zu ge¬ 
stalten, indem er erzählt, wie sich der Bergmann an seinem letzten 
Tage von seiner Braut mit der Erinnerung an ihre baldige Hochzeit ver¬ 
abschiedet und ihr ein Halstuch für den Hochzeitstag zum Ein¬ 
säumen übergibt. Die weitere Entwicklung unserer Geschichte be¬ 
ruht im wesentlichen auf der immer weiter und tiefer gehenden 
Ausgestaltung der Vorgeschichte. Darum dürfen wir alle Bear¬ 
beitungen des Themas, die nicht diese Richtung einschlagen, sondern 
das alte Motiv der Auffindung und Wiedererkennung abhandeln, 
mit gutem Gewissen übergehen. Das gilt von Rückerts Gedicht 
»Die goldene Hochzeit«, der einige wunderbare Züge, wie Ver¬ 
jüngung der Braut, flüchtige Belebung des Leichnams, einführt, von 
Trinius' »Bergmannsleiche«, von Kinds, Haugwitz', Lanz- 

1 In seiner Berliner Dissertation »Die Bearbeitungen der Geschichte des 
Bergmanns von Falun«, 1887, p. 17 f. 





Die Geschichte des Bergmanns von Fahrn 


253 


bei ns darauf bezüglichen Gedichten. Außer Betracht bleiben auch 
Oehlenschlägers dramatische Idylle »Der Hirtenknabe« und 
Franz von Holsteins Oper »Der Haideschacht«, und zwar des¬ 
halb, weil in ihnen das Motiv der Auffindung einer gut erhaltenen 
Leiche in theatralischer Weise zur Lösung eines dramatischen 
Knotens verwendet wird und gar nicht tiefer in die Handlungen 
verwoben ist. 

In der Richtung, die Hebel eingeschlagen hatte, bewegt sich 
das der Hebe Ischen Darstellung folgende Gedicht von Ludwig 
Kossarki im Odeum X <1839) 

Ein neues und sehr wichtiges Motiv führt in die Vor¬ 
geschichte AchiiO^v Qn Arnim ein. Das Gedicht heißt »Des 
Bergmanns ewige JugendV" uncl findet sich im zweiten Bande des 
Romans »Armut, Reichtum, Schuld und Buße der Gräfin Dolores« 
<Berlin 1810, p. 336—342). 

Ein Knabe lacht sich an im Bronnen, 

Hält Festtagskuchen in der Hand/ 

Er hatte lange nachgesonnen. 

Was drunten für ein neues Land. 

Gar lange hatte er gesonnen. 

Wie drunten sei der Quellen Lauf/ 

So grub er endlich einen Bronnen 
Und rufet still in sich, Glück auf! 

Ihm ist sein Kopf voll Fröhlichkeiten, 

Von selber lacht der schöne Mund, 

Er weiß nicht, was es kann bedeuten, 

Doch tut sich ihm so vieles kund. 

Er höret fern den Tanz erschallen, 

Er ist zum Tanzen noch zu jung, 

Der Wasserbilder spiegelnd Wallen 
Umzieht ihn mit Verwandelung. 

Es wandelte wie Wetterleuchten 
Der stillen Wolken Wunderschar, 

Doch anders will es ihm noch deuchten. 

Als eine Frau sich stellet dar: 

Da weichen alle bunten Wellen, 

Sie schauet, küßt sein spiegelnd Bild, 

Er sieht sie, wo er sich mag stellen, 

Auch ist sie gar kein Spiegelbild. 

»Ich hab' nicht Fest, nicht Festtagskuchen, 

Bin in die Tiefen lang verbannt.« 

1 Karl Reuschel, Über Bearbeitungen der Geschichte des Bergmanns von 
Falun (Studien zur vergleichenden Literaturgeschichte, herausg. von Max Koch, 
III. Bd., 1903) p. 17. 









254 


Dr. Emil Franz Lorenz 


So sprach sie, möchte ihn versuchen, 

Er reicht ein Stück ihr mit der Hand. 

Er kann es gar kein Wunder nennen, 

Viel wunderbarer ist ihm heut', 

In seinem Kopf viel Lichter brennen 
Und ihn umfängt ganz neue Freud'. 

Von seiner Schule dumpfem Zimmer,* 

Von seinen Eltern Scheltwort frei, 

Umfließet ihn ein sel'ger Schimmer 
Und alles ist ihm einerlei. 

Sie faßt die Hand, dem Knaben schaudert. 

Sie ziehet stark, der Knabe lacht, 

Kein Augenblick sein Mut verzaudert, 

Er zieht mit seiner ganzen Macht. 

Und hat sie kräftig überrungen. 

Die Königin der dunklen Welt, 

Sie fürchtet harte Mißhandlungen 
Und bietet ihm ihr blankes Geld. 

»Mag nicht Rubin, nicht Goldgeflimmer,« 

Der starke Knabe schmeichelnd spricht, 

»Ich mag den dunklen Feuerschimmer 
Von deinem wilden Angesicht.« 

Der Knabe gewinnt die Liebe der Bergkönigin und bringt 
viel Gold aus der Tiefe zutage, das er seinen Eltern schenkt. Diese 
verlangen immer mehr von ihm und wollen ihn auf den Festen der 
Oberwelt nicht dulden. Trotzig besteht er darauf, auch Anteil an 
den Freuden des Daseins zu haben und verliebt sich in ein 
Mädchen. Damit hat er aber die Gunst der Bergkönigin ver¬ 
scherzt. 

Die Lieb' ist aus, das Haus geschlossen 
Im Schacht der reichen Königin. 

Er hat die Türe eingestoßen 
Und steigt so nach Gewohnheit hin. 

Die Eifersücht'ge hört ihn rufen, 

Sie leuchtet nicht, er stürzt herab. 

Er fand zur Kammer nicht die Stufen, 

So findet er nun dort sein Grab. 

Nun seufzt sie, wie er schön gewesen. 

Lind legt ihn in ein Grab von Gold, 

Das ihn bewahrt vor dem Verwesen, 

Das ist ihr letzter Minnesold. 

Wie in den früheren Bearbeitungen folgt nach fünfzig Jahren 
die Auffindung des Leichnams und seine Wiedererkennung durch 






Die Geschichte des Bergmanns von Falun 


255 


die Braut/ im übrigen stellen wir vorläufig nur fest, daß in der 
Arnimschen Ballade die erste breiter ausgeführte Vorgeschichte 
vorliegt und daß sie die Frage, warum der Bergmann zugrunde , 
gegangen ist, damit beantwortet, daß er einer im Bergesinnern 
wohnenden Macht untreu geworden und dafür von dieser bestraft 
worden sei. 

Auf der Bahn, die Achim von Arnim eingeschlagen hat, U 
bewegt sich E. T. A. Hoffmann weiter. Seine Darstellung ist 
sowohl zeitlich als auch inhaltlich die nächste und hat, wie wir 
gleich sagen können, gewissermaßen klassische Bedeutung erlangt. 

Wir meinen damit die Erzählung »Die Bergwerke zu Falun«, wie 
sie im zweiten Abschnitt des ersten Buches der »Serapions^ 
brüder« <1819) zu finden ist. Ihr Inhalt ist im Auszug folgender: 

Elis Fröbom, ein junger Seemann, hat bei der Rückkehr von einer 
Fahrt nach Ostindien seine Mutter nicht mehr am Leben getroffen. Es 
ergreift ihn ein tiefer Lebensüberdruß. Während sich seine Kameraden aus 
Anlaß der Heimkehr der lautesten Fröhlichkeit hingeben, sitzt er stumm 
und verloren da. Auch eine Dirne, die ihm ein Kamerad vor die Schenke 
hinausschickt, vermag ihn nicht aus seinem trüben Sinnen zu erwecken. 

Da gesellt sich ein alter Bergmann zu Elis und es ist ihm, »als trete 
in wilder Einsamkeit, in die er sich verloren geglaubt, eine bekannte Ge^ 
stalt ihm freundlich tröstend entgegen«. Elis sagt dem Alten, der ihn ver¬ 
geblich zu trösten versucht hatte, er würde nie mehr zur See gehen, seitdem 
er, von der weiten Fahrt heimkehrend, sein Mütterchen tot angetroffen habe. 
Darauf fordert ihn der Alte auf, ein Bergmann zu werden. 

Elis Fröbom erschrak beinahe über die Worte des Alten. »Wie«, 
rief er, »was ratet Ihr mir? Von der schönen freien Erde, aus dem heitern, 
sonnenhellen Himmel, der mich umgibt, labend, erquickend, soll ich hinaus 
— hinab in die schauerliche Höllentiefe und dem Maulwurf gleich wühlen 
und wühlen nach Erzen und Metallen, schnöden Gewinnes halber?« 

Zuerst erzürnt sich der alte Bergmann über diese Rede des Elis. 
Ruhiger geworden, beginnt er den Bergbau in glühenden Farben zu 
schildern. ~ — 

»Er durchwanderte die Schachten wie die Gänge eines Zaubergartens. 

Das Gestein lebte auf, die Fossile regten sich, der wunderbare Pyrosmalith, 
der Almandin blitzten im Scheine der Grubenlichter, die Bergkristalle leuchteten 
und flimmerten durcheinander. 

Elis horchte hoch auf, des Alten seltsame Weise, von den untere 
irdischen Wundern zu reden, als stehe er gerade in ihrer Mitte, erfaßte 
sein ganzes Ich. Er fühlte seine Brust beklemmt, es war ihm, als sei er 
schon hinabgefahren mit dem Alten in die Tiefe und ein mächtiger Zauber 
halte ihn unten fest, so daß er nie mehr das freundliche Licht des Tages 
schauen werde. Und doch war es ihm wieder, als habe ihm der Alte eine 
neue unbekannte Welt erschlossen, in die er hineingehöre, und aller Zauber 
dieser Welt sei ihm schon zur frühesten Knabenzeit in seltsamen geheimnis^ 
vollen Ahnungen aufgegangen.« 

Der Alte verläßt ihn. In der Nacht hat Elis einen wunderbaren 
Traum, in dem sich Sehnsucht und Grauen in seltsamer Weise ver^ 
mischen l . Er kämpft einen langen Kampf, bis er sich entschließt, dem Rate 




1 Vgl. den Traum auf p. 165. 





256 


Dr. Emil Franz Lorenz 


des alten Bergmanns zu folgen und nach Falun zu gehen, um dort ein 
Bergmann zu werden. Nadi einem letzten Grauen, das ihn beim Anblick 
der trostlos öden Tagesöffnung in Falun befällt, folgt er halb willenlos 
einem Zug von festlich gekleideten Bergleuten, deren Art ihm tief zu 
Herzen gegangen war, in das Haus der Afdermanns Pehrson Dahlsjö, wo 
sie gelegentlich eines Festes bewirtet und von Ulla, der schönen Tochter 
Pehrsons, empfangen und bedient werden. In Ulla glaubt Elis eine Gestalt 
wieder zu erkennen, die ihm in jenem Traum die rettende Hand gereicht 
hatte. Des alten Bergmanns vergessend, preist er das Schicksal, dem er nach 
Falun gefolgt. 

Er wird bald einer der tüchtigsten Knappen und gewinnt nicht nur 
Pehrsons, sondern auch Ullas Gunst. Die Erinnerung an sie verleiht ihm 
Kraft bei der Arbeit in der unterirdischen Tiefe,* da erscheint ihm eines 
Tages bei der Arbeit der alte Bergmann, mit furchtbaren Drohungen, daß 
er seine Liebe an Ulla geheftet habe. Er sei hier unten ein blinder 
Maulwurf und auch oben vermöge er nichts zu unternehmen. Nimmer 
würde Ulla sein Weib werden. Verstört kommt Elis ans Tageslicht empor. 
Torberns Prophezeiung scheint sich auch alsbald zu bewahrheiten. Pehrson 
eröffnet ihm, ein junger Handelsherr habe um Ulla angehalten und er gebe 
sie ihm zum Weibe. In wilder Verzweiflung rennt Elis aus dem Hause 
fort, bis zur großen Pinge. Torbern rufend, steigt er in die Tiefe hinab und 
verfällt einem traumhaft-halluzinatorischen Zustand, in dem er die Berg¬ 
königin zu sehen und von ihr umfaßt zu werden glaubt. — Da ruft man 
von oben seinen Namen, der Schein von Fackeln fällt in den Schacht und 
Pehrson Dahlsjö steigt zu ihm herab, um ihn ins Freie zu bringen. Dort 
erfährt er, daß die Werbung durch den fremden Handelsmann ein Märchen 
gewesen sei, ausgesonnen, um die Liebe der beiden zu prüfen und den 
Elis zu einer Entscheidung zu zwingen. 

Doch mitten in all der Seligkeit, die nun plötzlich wie ein süßer 
Traum über ihn gekommen war, fühlte er sich bisweilen »übermannt von 
einer unbeschreiblichen Angst,* der Gedanke peinigte ihn, es werde nun 
plötzlich einer von den Bergleuten riesengroß sich vor ihm erheben und er 
werde zu seinem Entsetzen den Torbern erkennen, der gekommen, ihn fürchten 
lieh zu mahnen an das unterirdische Reich der Steine und Metalle, dem 
er sich ergeben«. 

»Pehrson merkte wohl Elis Fröboms verstörtes Wesen und schrieb 
es dem überstandenen Weh, der nächtlichen Fahrt in den Schacht zu. Nicht 
so Ulla, die, von geheimer Ahnung ergriffen, in den Geliebten drang, ihr 
doch nur zu sagen, was ihm denn Entsetzliches begegnet, das ihn ganz von 
ihr hinwegreiße. Dem Elis wollte die Brust zerspringen. — Vergebens rang 
er danach, der Geliebten von dem wunderbaren Gesicht, das sich ihm in 
der Teufe aufgetan, zu erzählen. Es war, als verschlösse ihm eine unbe¬ 
kannte Macht mit Gewalt den Mund, als schaue aus seinem Innern heraus 
das furchtbare Antlitz der Königin und nenne er ihren Namen, so würde, 
wie bei dem Anblick des entsetzlichen Medusenhauptes, sich alles um ihn 
her versteinern zum düstern schwarzen Geklüft! 

Alle Herrlichkeit, die ihn unten in der Teufe mit der höchsten 
Wonne erfüllt, erschien ihm jetzt wie eine Hölle voll trostloser Qual, 
trügerisch ausgeschmückt zur verderblichsten Verlockung. 

Pehrson Dahlsjö gebot, daß Elis Fröbom einige Tage hindurch da^ 
heim bleiben sollte, um sich ganz von der Krankheit zu erholen, in die er 
gefallen schien. In dieser Zeit verscheuchte Ullas Liebe, die nun hell und 




Die Geschichte des Bergmanns von Falun 


257 


klar aus ihrem kindlichen frommen Herzen ausströmte, das Andenken an 
die verhängnisvollen Abenteuer im Schacht. Elis lebte ganz auf in Wonne 
und Freude und glaubte an sein Glück, das wohl keine böse Macht mehr 
verstören könne. 

Als er wieder hinabfuhr in den Schacht, kam ihm in der Teufe alles 
ganz anders vor wie sonst. 

Die herrlichsten Gänge lagen offen ihm vor Augen, er arbeitete mit 
verdoppeltem Eifer, er vergaß alles, er mußte sich, auf die Oberfläche 
hinauf gestiegen, auf Pehrson Dahlsjö, ja auf seine Ulla besinnen, er 
fühlte sich wie in zwei Hälften geteilt, es war ihm, als stiege sein besseres, sein 
eigentliches Ich hinab in den Mittelpunkt der Erdkugel und ruhe aus in 
den Armen der Königin, während er in Falun sein düsteres Lager suche. 
Sprach Ulla mit ihm von ihrer Liebe und wie sie so glücklich mitein^ 
ander leben würden, so begann er von der Pracht der Teufen zu reden, 
von den unermeßlich reichen Schätzen, die dort verborgen lägen, und ver~ 
wirrte sich dabei in solch wunderliche, unverständliche Reden, daß Angst 
und Beklommenheit das arme Kind ergriff und sie gar nicht wußte, wie 
Elis sich auf einmal so in seinem ganzen Wesen geändert. Dem Steiger, 
Pehrson Dahlsjö, selbst verkündete Elis unaufhörlich in voller Lust, wie er 
die reichhaltigsten Adern, die herrlichsten Trappgänge entdeckt, und wenn 
sie dann nichts fanden als taubes Gestein, so ladite er höhnisch und meinte, 
freilich verstehe er nur allein die geheimen Zeichen, die bedeutungsvolle 
Schrift, die die Hand der Königin selbst hineingrabe in das Steingeklüft, 
und genug sei es auch eigentlich, die Zeichen zu verstehen, ohne das, was 
sie verkündeten, zutage zu fördern.« 

Pehrson hofft, es sei nur die Liebe, die ihm den Kopf verrückt habe, 
nach der Hochzeit werde sich seine Verwirrung schon geben. Einige Tage 
vor der Hochzeit ändert sich auch Elis' Benehmen, er wird stiller als je^ 
mals, »aber auch nie hatte er sich so ganz in Liebe der holden Ulla hin** 
gegeben als in dieser Zeit, . . . kein Wort von dem unterirdischen Reich 
kam über seine Lippen«. Alles atmet auf, alle Besorgnis ist verschwunden. 

»Am frühen Morgen des Hochzeitstages — es war der Johannistag ~ 
klopfte Elis an die Kammer seiner Braut. Sie öffnete und fuhr erschrocken 
zurück, als sie den Elis erblickte, schon in den Hochzeitskleidern, todbleich, 
dunkel sprühendes Feuer in den Augen. »Ich will«, sprach er mit leiser, 
schwankender Stimme, »ich will dir nur sagen, meine herzgeliebte Ulla, 
daß wir dicht an der Spitze des höchsten Glücks stehen, wie es nur dem 
Menschen hier auf Erden beschieden. Mir ist in der Nacht alles entdeckt 
worden.« 

Er erzählt ihr von einem wunderbaren S|dn, den er aus der Tiefe 
herausholen müsse, um ihn ihr zum Hochzeitsgescftenk zu bringen. Bis da^ 
hin möge sie sich gedulden, er sei gleich wieder hier. Vergeblich beschwört 
Ulla ihren Bräutigam, von seinem Unternehmen abzustehen, vergeblich 
wartet auch die Hochzeitsgesellschaft bis gegen Mittag auf sein Erscheinen. 
»Da stürzten plötzlich Bergleute herbei, Angst und Entsetzen in den bleichen 
Gesichtern, und meldeten, wie eben ein fürchterlicher Bergfall die ganze 
Grube, in der Dahlsjös Kuxe befindlich, verschüttet.« 

Damit endet bei E. T. A. Hoffmann die Vorgeschichte und 
es schließt sich, an Umfang von dieser weit übertroffen, der Bericht 
über die Auffindung des Leichnams an, der gegenüber den uns 
schon bekannten Fassungen nichts wesentlich Neues bietet. Er- 

Ima<?o III, 3 


17 





258 


Dr. Emil Franz Lorenz 


wähnenswert wäre vielleicht, daß Ulla von dem alten Torbern die 
Versicherung erhalten hatte, sie würde ihren Bräutigam noch Wieder¬ 
sehen auf Erden. 

Hier wollen wir innehalten und uns der literarischen Analyse 
der Hoffmannschen Erzählung zuwenden. Zwei von E. T. A. 
Ho ff mann abhängige Gestaltungen der Geschichte des Faluner 
Bergmanns — von Richard Wagner und Hugo von Hofmanns^ 
thal — sollen uns erst weiter unten beschäftigen. 

Die Quellenfrage zur Vorgeschichte der Hoffmannschen 
Erzählung ist bis jetzt nur in unzureichender Weise behandelt 
worden. Friedmann <1. c.> berührt sie gar nicht,- Ellinger 1 weist 
auf Beziehungen zu Novalis. Er schreibt: 

Die Grundzüge der dieser Entwicklung des Helden <nämlich Zwie- 
spalt zwischen Liebe zur Braut und zu den Schätzen der geheimnisvollen 
Tiefe) vorausgehenden Darstellung sind offenbar durch die Erzählung des 
alten Bergmanns im fünften Kapitel des ersten Teiles von Novalis' 
Heinrich von Ofterdingen angeregt. Die Wanderung Elis Fröboms nach 
Falun, der Empfang, der ihm dort zuteil wird, das Verhältnis zu Pehrson 
Dahlsjö, und die Tatsache, daß dieser ihm zuletzt seine Tochter zur Frau 
gibt, all dies findet sich schon bei Novalis vorgebildet. 

Eine weitere Beziehung zu Novalis zeigt Karl Reuschel 2 
auf, indem er Hoffman ns Darstellung von Elis Hochzeitsmorgen 
in Verbindung setzt mit den folgenden Worten des alten Bergmanns 
bei Novalis: 

Den Tag, wie ich Häuer wurde, legte er seine Hände auf uns als 
Braut und Bräutigam und wenige Wochen darauf führte ich sie als meine 
Frau in meine Kammer. Denselben Tag hieb ich in der Frühschicht, noch 
als Lehrhäuer, eben wie die Sonne oben aufging, eine reiche Ader an. 

Durch geänderte Beziehung der Bestimmung »denselben Tag« 
ist es, wie Reuschel zeigt, möglich geworden, daß Hoff mann 
den Elis am Hochzeitsmorgen in die Tiefe steigen läßt. <Das Motiv 
der bevorstehenden Hochzeit findet sich auch schon bei J. P. Hebel 
in der oben erwähnten Geschichte.) 

Eines fehlt jedoch in dieser Geschichte des Novalis, so sehr 
auch ihre Vorbildlichkeit für Ho ff mann außer Zweifel steht. Dieses 
Eine ist das die Hoffmannsche Erzählung durchgängig kenn^ 
zeichnende pathologische Moment. Der Bergmann im »Heinrich von 
Ofterdingen« ist ein Greis von einer schönen Ausgeglichenheit des 
Charakters. Von den furchtbaren Stürmen, die Elis Fröbom durchs 
zumachen hatte, ist keine Spur bei ihm zu finden. 

Nur die kindliche Neugier, die ihn in früher Jugend zum 
Bergbau geführt hat, wollen wir uns für später merken: 

»Von Jugend auf habe er eine heftige Neugierde gehabt, 

1 E. T. A. Hoff man ns Leben und Werke, Hamburg und Leipzig 1894/ 
auch in der Einleitung zu den Serapionsbrüdern in seiner Ausgabe von Hoff- 
man ns Werken, 5. Bd. <Goldene Klassikerbibliothek.) 

2 Über einige Bearbeitungen der Geschichte des Bergmanns in Falun <s. o.>. 





Die Geschichte des Bergmanns von Falun 


259 


zu wissen, was in den Bergen verborgen sein müsse, wo das 
Wasser zu den Quellen herkomme und wo das Gold und Silber 
und die köstlichen Steine gefunden würden, die den Menschen so 
unwiderstehlich an sich zögen. Er sei fleißig in den Felsenritzen 
und Höhlen umhergeklettert und habe sich mit unaussprech¬ 
lichem Vergnügen in diesen uralten Hallen und Gewölben um^ 
gesehen. Endlich sei ihm einmal ein Reisender begegnet, der zu ihm 
gesagt, er müsse ein Bergmann werden, da könne er die Befriedi¬ 
gung seiner Neugier finden.« 

Und wie er dann in Eule in den Schacht hinuntergefahren 
ist, schildert er seine Empfindungen in folgenden Worten: 

»Es läßt sich auch diese volle Befriedigung eines angeborenen 
Wunsches, diese wundersame Freude an Dingen, die ein näheres 
Verhältnis zu unserem geheimen Dasein haben mögen, zu 
Beschäftigungen, für die man von der Wiege an bestimmt und aus¬ 
gerüstet ist, nicht erklären und beschreiben. 

Vielleicht daß sie jedem anderen gemein, unbedeutend und 
abschreckend vorgekommen wären,* aber mir schienen sie so unent¬ 
behrlich zu sein wie die Luft der Brust und die Speise dem 
Magen.« 

Eine ähnliche, jugendlicher Grübelei entstammende Spannung, 
in der sich auch bereits eine an unsere Hoffmannsche Erzählung 
erinnernde Übertragung der Erotik auf Naturobjekte, Höhlen und 
Schachte findet, ist der Gegenstand des Märchens von Hyazinth 
und Rosenblüte, das bei Novalis in dem naturphilosophischen 
Fragment »Die Lehrlinge von Sais« enthalten ist. 

Vor langen Zeiten lebte weit gegen Abend ein blutjunger Mensch. 
Er war sehr gut, aber auch über die Maßen wunderlich. Er grämte sich 
unaufhörlich um nichts und wieder nichts, ging immer still für sich hin, 
setzte sich einsam, wenn die andern spielten und fröhlich waren und hing 
seltsamen Dingen nach . . . Seine Eltern waren sehr betrübt, sie wußten 
nicht, was sie anfangen sollten. Er war gesund und aß, nie hatten sie ihm 
beleidigt, er war auch bis vor wenig Jahren fröhlich und lustig gewesen wie 
keiner,* bei allen Spielen voran, von allen Mädchen gern gesehn . . . Da* 
mals war Rosenblüte . . . dem bildschönen Hyazinth . . . von Herzen 
gut und er hatte sie lieb zum Sterben . . . 

Ach, wie bald war die Herrlichkeit vorbei. Es kam ein Mann aus 
fremden Landen gegangen, der war erstaunlich weit gereist, hatte einen 
langen Bart, tiefe Augen, entsetzliche Augenbrauen, ein wunderliches Kleid 
mit vielen Falten und seltsame Figuren hineingewebt. Er setzte sich vor 
das Haus, das Hyazinths Eltern gehörte. Nun war Hyazinth sehr neu* 
gierig und setzte sich zu ihm und holte Brot und Wein. Da tat er seinen 
weißen Bart voneinander und erzählte bis tief in die Nacht und Hyazinth 
wich und wankte nicht und wurde auch nicht müde zuzuhören. Soviel 
man nachher vernahm, so hat er viel von fremden Ländern, unbe* 
kannten Gegenden, von erstaunlich wunderbaren Sachen erzählt und ist 
drei Tage dageblieben und mit Hyazinth in tiefe Schachten hinunter* 
gekrochen . . . Endlich hat jener sich fortgemacht, doch dem Hyazinth 
ein Büchelchen dagelassen, das kein Mensch lesen konnte. Dieser hat ihm 



17 * 




260 


Dr. Emil Franz Lorenz 


noch Früchte, Brot und Wein mitgegeben und ihn weit weg begleitet. 
Und dann ist er tiefsinnig zurückgekommen und hat einen ganz neuen 
Lebenswandel begonnen. Rosenblütchen hat recht zum Erbarmen um ihn 
getan, denn von der Zeit an hat er sich wenig aus ihr gemacht und 
ist immer für sich geblieben. Nun begab sich's, daß er einmal nach Hause 
kam und war wie neu geboren. Er fiel seinen Eltern um den Hals und 
weinte. Ich muß fort in fremde Länder, sagte er,* die alte wunderliche 
Frau im Walde hat mir erzählt, wie ich gesund werden müßte, das 
Buch hat sie ins Feuer geworfen und mich getrieben, zu euch zu gehen 
und euch um euren Segen zu bitten. Vielleicht komme ich bald, vielleicht 
nie wieder. Grüßt Rosenblütchen. Ich hätte sie gern gesprochen, ich weiß 
nicht, wie mir ist, es drängt mich fort,- wenn ich an die alten Zeiten zurück^ 
denken will, kommen gleich mächtigere Gedanken dazwischen, die Ruhe ist 
fort, Herz und Liebe mit, ich muß sie suchen gehen. Ich wollt euch gerne 
sagen, wohin, ich weiß selbst nicht, dahin, wo die Mutter der Dinge 
wohnt, die verschleierte Jungfrau. Nach der ist mein Gemüt enU 
zündet. Lebt wohl. — Er riß sich los und ging fort . . . — Nach langer 
Wanderung, zuerst durch rauhe und dann durch liebliche Gegenden, ge* 
langt er zum geheiligten Wohnsitz der Isis. »Sein Herz klopfte in un^ 
endlicher Sehnsucht und die süßeste Bangigkeit durchdrang ihn in dieser 
Behausung der ewigen Jahreszeiten. Unter himmlischen Wohlgedüften enU 
schlummerte er, weil ihn nur der Traum in das Allerheiligste führen durfte. 
Wunderlich führte ihn der Traum durch unendliche Gemächer voll seit* 
samer Sachen auf lauter reizenden Klängen und in abwechselnden Akkorden. 
Es dünkte ihm alles so bekannt und doch in niegesehener Herrlichkeit/ da 
schwand auch der letzte irdische Anflug, wie in Luft verzehrt, und er stand 
vor der himmlischen Jungfrau. Da hob er den leichten, glänzenden Schleier 
und Rosenblütchen sank in seine Arme. Eine ferne Musik umgab die Ge^ 
heimnisse des liebenden Wiedersehens, die Ergießungen der Sehnsucht und 
schloß alles Fremde von diesem entzückenden Ort aus. Hyazinth lebte 
nachher noch lange mit Rosenblütchen unter seinen frohen Eltern und 
Gespielen und unzählige Enkeln dankten der alten wunderlichen Frau für 
ihren Rat und ihr Feuer . . .« 

Es wird übereinstimmend angenommen, daß der Sinn dieses 
Märchens auf naturphilosophischem Gebiete gefunden werden muß 1 . 
Und zwar ist es besonders die Schellingsche Naturphilosophie, 
die hier den Gedanken des Novalis die Richtung gewiesen hat. 
Huber führt dafür unter anderem eine Stelle aus den Ideen zur 
Naturphilosophie (Schelling S. W., 12, 13> an: Er entwindet 
sich den Fesseln der Natur und überläßt sich dem ungewissen 
Schicksal seiner Kräfte, um einst als Sieger und durch eigenes Ver¬ 
dienst in jenen Zustand zurückzukehren, in welchem er, unwissend 
über sich selbst, die Kindheit seiner Vernunft verlebte. — In der 
Tat klingt unser Märchen <und das Fragment überhaupt) wie eine 
Dichtung über die Worte des Philosophen. 

Aber auch wenn wir uns dieser philosophischen Deutung an¬ 
schließen, begeben wir uns nicht des Rechtes, zu dieser meta- 

1 Weißenfels, Zeitschr. f. vergl. Literaturgesch., Bd. 10, und Adolf 
Huber, Studien zu Novalis mit besonderer Berücksichtigung der Naturphilo^ 
sophie <Euphorion, 4. Ergänzungsband, 1898). 





Die Geschichte des Bergmanns von Falun 


261 


physischen Funktion des Individuums noch ihre konkreten psycho^ 
logischen Bedingungen zu erforschen. Wir sehen dann einen jungen 
Menschen vor uns, dessen Lebenslinie bis zu einem bestimmten 
Punkte scheinbar ganz gerade verlaufen ist. Er lebt mit sich und 
mit der Natur in der seligen Eintracht der fehlenden Reflexion. Die 
Liebe, die er an die Welt zu verschenken hat, hat keine vom Ge¬ 
wöhnlichen abweichende Richtung eingeschlagen. Da geschieht 
plötzlich der verhängnisvolle Sprung und er verwandelt sich in 
einen anderen Menschen. Wir dürfen fragen, welche seelischen Be^ 
dingungen bei Hyazinth es dem Manne aus der Fremde ermög^ 
lichten, eine solche Umkehr der Lebensrichtung in ihm hervorzu^ 
rufen. Es muß wohl, so schließen wir, etwas in ihm gesteckt haben, 
das durch die Liebe zu Rosenblüte nicht völlig ausgefüllt werden 
konnte. Was war dies nun? Wir werden eine Einsicht darin er¬ 
langen, wenn wir die einzelnen Züge seines geänderten Verhaltens 
ins Auge fassen. Da ist nun der hervorstechendste eine starke Wiß^ 
begierde und Grübelei, die sich auf die verschiedenen Natur¬ 
objekte richtet. Das erinnert uns, wie oben erwähnt, an Elis Frö- 
bom, der nach dem Tode seiner Mutter, von den Herrlichkeiten 
des unterirdischen Reiches ergriffen, ein Bergmann wird. Nun sind 
allerdings die Schicksale des Hyazinth im übrigen sehr verschieden 
von denen des Elis, deren Psychologie wir weiter unten ausführlich 
behandeln werden, doch läßt sich schon jetzt zeigen , daß die Mutter 
in Hyazinths Phantasien eine geradeso wichtige Rolle spielt wie 
in denen des Elis. Sein Erkenntnisdrang, der sich anfänglich einzelnen 
Naturobjekten zugewandt hatte, gipfelt schließlich in dem Ver¬ 
langen, die Mutter der Dinge selbst zu erblicken. Ziehen wir in 
Betracht, daß jene Naturgegenstände, Höhlen und Schachte, auch 
sonst durchgehends Mutterbedeutung haben, so wird es uns nicht 
mehr schwer fallen, die eigentliche Natur von Hyazinths Zustand 
zu verstehen. Die Mutter ist der eigentliche Gegenstand seiner 
Wißbegierde, wie sie es einst wohl bei den meisten Menschen in 
früher Jugend gewesen war. Diese nie völlig gestillte Wißbegierde 
war dann langsam auf die Dinge der Welt hinübergewandert und 
hatte sie mit Leben, mit Lust und Geheimnis erfüllt. Das war jener 
Zustand unreflektierter Harmonie, in dem sich Hyazinth bis zum 
Ausbruch seiner Krankheit befindet. Diese Krankheit aber, die 
seiner Liebe zu Rosenblütchen ein Ende zu bereiten droht, zeigt 
uns, daß noch etwas von jener nie ganz gestillten KinderwifL 
begierde in ihm steckt, die einst um die Mutter gekreist hat. Es 
mag gerade die Liebe zu Rosenblüte gewesen sein, die den Wider^ 
Spruch jener alten vergessenen Regungen hervorgerufen hat. Ein 
äußerer Anlaß genügt, daß seine Liebe sich von jenem zuletzt ge* 
wonnenen Gegenstand zurückzieht und jetzt von ihren früheren 
Objekten in umgekehrter Reihenfolge wieder Besitz ergreift <Freuds 
»Regression«). Es erwacht in ihm der Forschertrieb und sucht 
rastlos in den Dingen der Natur, ohne darin völlig Befriedigung zu 




262 


Dr. Emil Franz Lorenz 


finden. Er schreitet darum auch über diese hinweg und sucht wie 
einst des Rätsels Lösung bei der Mutter. Aber es ist nicht die 
wirkliche Mutter, denn auch von dieser reißt er sich los, sondern 
ihr in der Kindheit geformtes Idealbild — die allwissende Mutter 
der Dinge. Und wenn ihm dann unter dem Schleier der Isis Rosen¬ 
blütchen wieder in die Arme sinkt, so bedeutet dieses liebliche 
Wunder, daß- er Rosenblütchen, seine echte Braut, nur durch die 
schmerzvolle Überwindung der gespenstischen Mächte, die die Seele 
immer wieder nach rückwärts zu ziehen suchen, endgiltig sein Eigen 
nennen durfte. Er hat sich frei gemacht, indem er den Weg zurück- 
schritt, den seine Liebe bis dahin gegangen war, vor das Bild der 
Mutter hintrat und von ihm das Organ seiner Seele zurückforderte, 
das noch immer in ihren Fesseln lag. 

Hyazinth ist Novalis selbst, und zwar der Novalis 
zwischen Sophie von Kühn und Julie von Charpentier. Am 
19.\ März 1797 starb Sophie, die Verlobte des Novalis, zu 
seinem grenzenlosen Schmerze. Er verließ am 1. Dezember des^ 
selben Jahres seine Stelle als Akzessist bei der Salinendirektion in 
Weißenfels und ging nach Freiberg, um sich dort eine gründliche 
wissenschaftliche Kenntnis des Bergwesens zu erwerben. Unter der 
Leitung Werners, des berühmten Geologen und Vertreters des 
Neptunismus, versenkte er sich in seine Studien und gewann ein 
ganz persönliches Verhältnis zu ihnen, wie die Bergmannslieder im 
»Heinrich von Ofterdingen« (1800) bezeugen. Und der Schmerz 
um Sophie hat ihn zum Dichter gemacht. Es dauerte aber nicht 
lange, etwa anderthalb Jahre, so verlobte er sich mit Julie, der 
Tochter des Bergrats von Charpentier, die ihn in seinem Schmerz 
liebevoll getröstet hatte. Das sind die äußeren Erlebnisse des Novalis, 
die in dem Märchen von Hyazinth und Rosenblüte dichterisch ver^ 
wertet wurden 1 . In der Wirklichkeit findet er für Sophie, nachdem 
er sich, wie Hyazinth, eine Zeit in die Welt der Gedanken zurück¬ 
gezogen hatte, einen Ersatz in Julie,- in der Dichtung, die seine 
Trennung von ihr nicht ihrem Tode, sondern eben diesem damals 
auftretenden Forscherdrang zuschreibt, vermag sie selbst wieder¬ 
zukehren und ihm aus der Hülle des Isisbildes in die Arme zu 
sinken. Als Symbol für die Rückverwandlung dieses Dranges ist sie 
auch in Wirklichkeit »dieselbe«. — Die Geschichte des alten Berg^ 
manns im »Heinrich von Ofterdingen« benutzt nahezu die gleichen 
Motive und ist sozusagen eine Fortsetzung des Märchens. 

Unsere Absicht bestand darin, die Quellen und Vorbilder zu 


1 Rosenblüte mit ihren blonden Locken und schwarzen Augen ist auch 
äußerlich das Abbild Sophiens, Novalis hatte dieselbe Komplexion, vermutlich 
auch seine Mutter. Julie war ebenfalls blond und hatte den geistvollen Typus der 
echten französischen Aristokratin. Oberbergrat Charpentier, offenbar aus einer 
Hugenottenfamilie, war indes erst einige Jahre zuvor in Sachsen nobilitiert worden. 
Man vergleiche die Porträts in der Ausgabe von Minor und das Biographische 
bei Emst Heilborn, Novalis' Leben und Werke. 






Die Geschichte des Bergmanns von Falun 


263 


Hoffmanns »Bergwerke von Falun« in größerer Vollständigkeit 
aufzuweisen, als es bisher geschehen war. Wir glaubten uns be¬ 
rechtigt, auch für das Motiv der seelischen Erkrankung — zweifellos 
das wichtigste, das je in die Geschichte des Bergmanns von Falun 
Aufnahme gefunden hat — nach einer Vorlage zu suchen. Eine 
Reihe von gemeinsamen Motiven zwischen dem Märchen von No¬ 
valis und der Erzählung E. T. A. Hoffmanns läßt uns vermuten, daß 
diese von jenem beeinflußt ist. Indem aber Hoffmann das Motiv 
der seelischen Erkrankung mit Bergwerksphantasien aus Novalis 
sich aneignet, so nimmt er dabei eine charakteristische Umgestaltung 
vor. Wenn Hyazinth bei Novalis unter dem Banne neurotischer 
Grübelei sich von seiner Braut abwendet, so deutet Hoffmann 
den Zustand seines Helden in eine auf Anlaß des Todes seiner 
Mutter ausbrechende Neurose um. Einen Anhaltspunkt fand er 
dafür ohne Zweifel in dem an einer Stelle des Märchens durchs 
scheinenden, von uns bereits gewürdigten Zusammenhang der neu¬ 
rotischen Grübelei mit dem Mutterkomplex. Wenn wir demgemäß 
die von El 1 in ge r herausgestellten Parallelen aus dem »Heinrich 
von Ofterdingen« mit unseren Ergebnissen Zusammenhalten, so 
dürfen wir zusammenfassend sagen, daß die ganze Ho ffmannsche 
Fabel ihrer äußeren wie ihrer inneren Gestalt nach schon bei No¬ 
valis vorliegt. — Wenn schon literargeschichtlich nicht völlig un- 
determiniert, so doch nur als schwach determiniert ist uns bis jetzt 
die Tatsache in der Erzählung Hoffmanns übrig geblieben, daß 
der Held in die Krankheit aus Anlaß des Todes seiner Mutter 
verfällt. Es ist nun vielleicht nicht ohne Bedeutung, daß dem Kreis 
der Serapionsbrüder in Berlin auch ein namhafter Vertreter der 
deutschen Romantik angehörte, der tatsächlich im Alter von elf Jahren 
beim Tode seiner Mutter in eine Neurose verfallen war. Es ist dies 
Fouque. Er hat in seiner viel später erschienenen Lebensbeschreibung 
den Verlauf der Krankheit selbst ausführlich beschrieben 1 . 

Bei der Vertrautheit des Fouque mit Hoffmann 2 liegt die 
Annahme nicht gar ferne, daß jener dem für psychologische Merk^ 
Würdigkeiten bekanntermaßen überaus eingenommenen Freunde von 
seiner Jugendgeschichte vieles erzählt hat, was er nachmals in seiner 
Lebensgeschichte niedergelegt und zum Teil ausdrücklich der Auf¬ 
merksamkeit der Psychologen anempfohlen hat. 

Zweiter Teil. 

A. Psychanalyse der »Bergwerke zu Falun« des 
E. T. A. Hoffmann. 

Wir fassen nun die Hoffmannsche Erzählung als Objekt 
psychanalytischer Untersuchung ins Auge. Die Krankheit des Elis 


1 Lebensgeschichte des Baron Friedrich de La Motte Fouque. Aufgezeichnet 
durch ihn selbst. Halle 1840. Vgl. Imago II, 5. Heft, p. 513 ff. 

2 Vgl. die Bemerkungen bei Ellinger op. c. p. 124f. 





264 


Dr. Emil Franz Lorenz 


Fröbom ist, wie die des elfjährigen Fouques eine Neurose, aus- 
gebrochen beim Tod seiner Mutter. Dem Elfjährigen gelingt eine 
spontane Heilung. Anders bei Elis. Seine Libido ist dauernd an 
die Mutter fixiert. Er kehrt von seinen Seefahrten zu ihr zurück 
wie andere zu ihrer Liebsten. Wie er sie schließlich bei einer aber- 
maligen Heimkehr nicht mehr am Leben findet, verfällt er in die 
Krankheit, deren Ursache wir in nichts anderem als in eingetretener 
Versagung seines auf infantiler Stufe verbliebenen erotischen Be- 
dürfnisses erblicken dürfen. Ist diese Diagnose richtig, so müssen 
sich in seinen Träumen und Wahnvorstellungen die neurotischen 
Ersatzbildungen für seine versagten Wünsche nach weisen lassen. 
Der Dichter hat uns, wie man sieht, vor eine Aufgabe gestellt, die 
im allgemeinen leichter ist als die der ärztlichen Praxis. Dort liegt 
uns in der Regel das Material der neurotischen Ersatzbildungen 
allein vor und nur glückliche Zufälle setzen uns zuweilen in den 
Stand, den aktuellen Anlaß der Erkrankung im voraus zu wissen. 
Hat uns nun der Dichter diesen Anlaß mit verraten, so dürfen wir 
das engere Problem in die Worte fassen, die Elis bei E. T. A. 
Ho ff mann selber zu sich sagt: »Und doch wußte er wieder gar 
nicht, warum ihm der gespenstige Alte feind sein, was überhaupt 
sein Bergmannshantieren mit seiner Liebe zu schaffen 
haben soll. Wir haben uns demgemäß auf die Beantwortung der 
Frage einzurichten, wieso der Seemann Elis dazukommt, in der 
Arbeit im Bergesinnern einen Ersatz für die verstorbene Mutter 
zu suchen,- die Antwort wird sich uns, wie gesagt, aus der Ana¬ 
lyse seiner Phantasien ergeben. 

Der Wahn des Elis beginnt mit dem Erscheinen des ge¬ 
spenstischen Bergmanns Torbern, der nicht, wie man wohl glaubt, 
eine freie Erfindung des E. T. A. Hoffmann ist, sondern sein Vor¬ 
bild in dem fremden Mann hat, der bei Novalis in dem ange¬ 
führten Märchen durch sein Erscheinen und seine Erzählungen die 
Sinnesänderung des Hyazinth bewirkt. Wenn es dort heißt, er sei 
mit Hyazinth in tiefe Schachten hinuntergekrochen, so haben wir 
in ihm eben des unmittelbare Vorbild zu dem Torbern zu erkennen, 
der dem Elis rät, sich dem Bergmannsberuf zu ergeben 1 . Das Er¬ 
scheinen des Torbern verkörpert einen Wunsch des Elis, gegen den 
sich die bewußte Instanz seines Seelenlebens anfänglich aufs heftigste 
sträubt, während er sich später mit ihm mehr und mehr befreundet, 
ohne jedoch das anfängliche Grauen je vollständig überwinden zu 
können. Diese doppelseitige Einstellung zu seinem Wunsche ver¬ 
bleibt ihm bis nahe an sein Ende und wirkt besonders auf sein 
Traumleben gestaltend ein. Das gilt vorzüglich von dem Traum, 
den er nach jener Unterredung mit Torbern träumt. 


1 Der Name des Bergmanns stammt wohl von dem Verfasser einer Scia^ 
graphia regni mineralis (Leipzig 1783), der Torbern Bergmann heißt (Hinweis von 
Grisebach in seiner Ausg. H.s. p. LXXXIII.). 






Die Geschichte des Bergmanns von Falun 


265 


»Es war ihm, als schwämme er in einem schönen Schilf mit vollen 
Segeln auf dem spiegelblanken Meer und über ihm wölbe sich ein dunkler 
Wolkenhimmel. Doch wie er nun in die Wellen hinabschaute, erkannte er 
bald, daß das, was er für das Meer gehalten, eine feste, durchsichtige, fun¬ 
kelnde Masse war, in deren Schimmer das ganze Schiff auf wunderbare 
Weise zerfloß, so daß er auf dem Kristallboden stand und über sich ein 
Gewölbe von schwarz flimmerndem Stein erblickte. Gestein war das 
nämlich, was er erst für den Wolkenhimmel gehalten. Von unbekannter 
Macht fortgetrieben, schritt er vorwärts, aber in dem Augenblicke regte sich 
alles um ihn her, und wie kräuselnde Wogen erhoben sich jetzt aus dem 
Boden wunderbare Blumen und Pflanzen von blinkendem Metall, die ihre 
Blüten und Blätter aus der tiefsten Tiefe emporrankten und auf anmutige 
Weise ineinander verschlangen. Der Boden war so klar, daß Elis die 
Wurzeln der Pflanzen deutlich erkennen konnte, aber bald immer tiefer mit 
dem Blick eindringend, erblickte er ganz unten unzählige holde jungfräuliche 
Gestalten, die sich mit weißen," glänzenden Armen umschlungen hielten und 
aus ihren Herzen sproßten jene Wurzeln, jene Blumen und Pflanzen empor, 
und wenn die Jungfrauen lächelten, ging ein süßer Wollaut durch das 

weite Gewölbe und höher und freudiger schossen die wunderbaren MetalD 
blüten empor. Ein unbeschreibliches Gefühl von Schmerz und Wollust 
ergriff den Jüngling, eine Welt von Liebe, Sehnsucht und brünstigem Ver¬ 
langen ging auf in seinem Innern. »Hinab, hinab zu euch«, rief er und 
warf sich mit ausgebreiteten Armen auf den kristallenen Boden nieder. 

Aber der wich unter ihm und er schwebte wie in schimmerndem Äther. 
»Nun, Elis Fröbom, wie gefällt es dir in dieser Herrlichkeit?« — So rief 
eine starke Stimme. Elis gewahrte neben sich den alten Bergmann, aber so 
wie er ihn mehr und mehr anschaute, wurde er zur Riesengestalt, aus 
glühendem Erz gegossen. Elis wollte sich entsetzen, aber in dem Augen¬ 
blick leuchtete es auf aus der Tiefe wie ein jäher Blitz und das ernste 

Antlitz einer mächtigen Frau wurde sichtbar. Elis fühlte, wie das Entzücken 
in seiner Brust immer steigend und steigend, zur zermalmenden Angst 
wurde. Der Alte hatte ihn umfaßt und rief: »Nimm dich in acht, Elis 
Fröbom, das ist die Königin, noch magst du heraufschauen«. — UnwilL 
kürlich drehte er das Haupt und wurde gewahr, wie die Sterne des nächt¬ 
lichen Himmels durch eine Spalte des Gewölbes leuchteten. Eine sanfte 
Stimme rief wie in trostlosem Weh seinen Namen. Es war die Stimme 
seiner Mutter. Er glaubte ihre Gestalt zu schauen oben an der Spalte. 
Aber es war ein holdes junges Weib, die ihre Hand tief hinabstreckte in 
das Gewölbe und seinen Namen rief. »Trage mich empor«, rief er dem 
Alten zu, »ich gehöre doch der Oberwelt an und ihrem freundlichen 
Himmel«. — »Nimm dich in acht«, sprach der Alte dumpf, »nimm dich in 
acht, Fröbom! — Sei treu der Königin, der du dich ergeben.« Sowie nun 
aber der Jüngling hinabschaute in das starre Antlitz der mächtigen Frau, 
fühlte er, daß sein Ich zerfloß in dem glänzenden Gestein. Er kreischte auf 
in namenloser Angst und erwachte aus dem wunderbaren Traum, dessen 
Wonne und Entsetzen tief in seinem Innern wiederklang. 

Dieser Traum ist manifesterweise eine Darstellung seines 
Lebensganges. Die Verwandlung des Meeres in eine unterirdische 
Höhle soll den bevorstehenden Wechsel von Elis 7 Beruf ausdrücken. 
Die Gestalt, die wie in trostlosem Weh seinen Namen ruft, ist 
Ulla, die ihn in Falun, als er vor Verzweiflung über ihren Verlust 




266 


Dr. Emil Franz Lorenz 


ins Bergwerk hinabgefahren war, gerettet und ans Tageslicht gezogen 
hatte. Doch ist es die Stimme seiner Mutter, mit der sie ihn ruft. 
Seine Mutter ist es auch allein, nach der er in Wahrheit Begehr 
trägt und die ihn aus diesem Ort befreien könnte, in den er aus 
Anlaß ihres Todes gelangt ist. Seine Mutter in dem verklärenden 
Schleier, den die Phantasie der frühen Kindheit um sie gewoben 
hat, ist aber auch die Bergkönigin, die er in seliger Angst aus weiter 
Ferne erblickt. Seine Mutter im tiefsten Sinne ist schließlich der 
ganze wunderbare Raum, in dem er sich befindet, das unendlich 
fruchtbare Schwellen der Pflanzen, die in dem geheimnisvollen 
Grunde wurzeln, aus dem sein eigenes Leben einst wie eine Blüte 
hervorgewachsen ist. 

Diese Höhle, durch deren einzigen Spalt er die Sterne des 
Himmels durchleuchten sieht, entspricht in der Phantasie des Elis 
einem Wunsche nach Rückkehr in den Zustand vor der Geburt, 
wobei der Mutterleib durch sein gebräuchlichstes Symbol, die Höhle 
oder das Berginnere dargestellt ist 1 . 

Schon dieser erste Traum des Elis hat uns den Aufschluß 
über die Frage gebracht, welche Bedeutung das Symbol des Berg- 
innern und Elis' Glauben, er sei zum Bergmann berufen, für seinen 


1 Eine dem Traum des Elis sehr ähnliche Vision findet sich bei I b= 
sen, Kaiser und Galiläer, I. Teil, III. Akt, in der Szene zwischen Julian und 
Gregor. Julian: Wie darfst du über die heimlichen Dinge urteilen? Das 
ist nichts für deine Lehre, Gregor! Der Weg in die große Herrlichkeit ist 
entsetzlich. Jene Träume in Eleusis waren der rechten Spur nahe,- Maximos 
fand die Spur und seitdem auch ich — an seiner Hand. Ich habe dunkle Klüfte 
durchwandert. Ein düstres, sumpfiges Wasser war zu meiner linken Seite — ich 
glaube, es war ein Strom, der vergessen hatte zu fließen. Rauhe Stimmen sprachen 
wirr durcheinander, plötzlich und ohne alle Ursache in der Nacht. Ab und zu sah 
ich ein bläuliches Licht,- schreckliche Erscheinungen jagten an mir vorbei,- — ich 
ging und ging in Todesangst,- aber ich überstand die Prüfung. — Seitdem, seit^ 
dem — o ihr Teuren, bin ich mit diesem meinen zum Geist verwandelten Körper 
lange Zeit im Paradiese gewesen,- die Engel haben ihre Lobgesänge von mir 

gesungen und ich habe das mittelste Licht geschaut.-Weißt du, wie der 

Geist der Erkenntnis über mich kam? — Es geschah in einer Nacht unter Gebet 
und Fasten. Da vernahm ich, daß ich weit, weit im Raume und in der Zeit hin- 
ausgerückt war ,- denn es war hoher, sonnenflimmernder Tag um mich her und ich 
stand einsam auf einem Schilf, mit schlaffer Segel, mitten in dem hellstrahlenden 
Griechenmeer. Inseln türmten sich auf, gleich einer dichten Wolkenschicht, weithin 
in der Ferne und das Schiff lag schwer, wie wenn es schlief, auf der weinblauen 
Flut. — Sieh, da wurde diese Flut mehr und mehr durchsichtig, leicht und klar,- 
zuletzt war sie gar nicht mehr da und mein Schiff hing über einem leeren, entsetz^ 
liehen Abgrund. Kein Grün, kein Boden darunter, nur der tote, schleimige, schwarze 
Meergrund in all seiner schaurigen Kahlheit. — Aber droben, in der unendlichen 
Wölbung, die mir früher leer erschienen war, — dort war Leben,- dort erschienen 
ununterscheidbare Formen und Töne erklangen aus dem Schweigen. — Da erfaßte 
ich die große erlösende Erkenntnis. — Gregor: Welche Erkenntnis meinst du? — 
Julian: Was ist, ist nicht,- und was nicht ist, ist. Diese »Erkenntnis« Julians ist 
die theoretische Ausdeutung seines ekstatischen Zustandes, in dem er die Welt 
<das, was ist) verlassen und sich — um mit dem Ursprung der Dinge eins zu 
werden — in die Mutter <den Zustand vor der Geburt — das, was nicht (mehr) 
ist) zurückbegeben hatte. 





Die Geschichte des Bergmanns von Falun 


267 


Wahn besitzt. Die Abkehr vom Seefahrerberuf und die Hinwendung 
zu dem von ihm so verschiedenen Bergmannsberuf bedeutet nichts 
anderes, als daß er hinfort unter der Herrschaft der inzestuösen 
Neigungen steht, die dem Unbewußten angehören. Für dieses Un¬ 
bewußte im allgemeinen wie auch für das besondere Objekt seiner 
Neigung ist aber der unterirdische Raum eines Bergwerks das zu¬ 
treffendste Symbol. 

»Sei treu der Königin, der du dich ergeben!« ruft Torbern 
dem Elis in jenem Traume zu. Dieses Ergeben kann nur auf Elis' 
Unbewußtes bezogen werden, das jener Torbern anscheinend besser 
kennt als Elis selbst/ denn sowohl im Traum als auch in der wachen 
Wirklichkeit leistet sein Bewußtsein dagegen Widerstand. Im Traum 
ruft er: trage mich empor, ich gehöre doch der Oberwelt an und 
ihrem freundlichen Himmel! und so zögert er auch vier Tage, sich 
auf den Weg nach Falun zu machen. Dort ergreift ihn beim An¬ 
blick des Bergwerks abermals Entsetzen,- das Bewußtsein reagiert 
noch immer gegen den im Unbewußtsein heimischen Wahn. Nirgends 
hat aber dieses noch vorhandene Schwanken einen treffenderen 
Ausdruck gefunden als in der von uns noch nicht angeführten Epi¬ 
sode unmittelbar nach dem Erwachen aus dem Traum. 

»Er raffte sich auf und rannte nach dem Klippahafen, wo der 
Jubel des Hönsnings aufs neue sich erhob. Aber bald gewahrte er, 
wie alle Lust an ihm vorüberging, wie er keinen Gedanken in der 
Seele festhalten konnte, wie Ahnungen, Wünsche, die er nicht zu 
nennen vermochte, sein Inneres durchkreuzten. — Er dachte mit 
tiefer Wehmut an seine verstorbene Mutter, dann war es ihm aber 
wieder, als sehne er sich nur, jener Dirne zu begegnen, die ihn 
gestern so freundlich angesprochen. Und dann fürchtete er wieder, 
träte aber auch die Dirne aus dieser oder jener Gasse ihm ent¬ 
gegen, so würde es am Ende der alte Bergmann sein, vor dem er 
sich, selbst konnte er es nicht sagen warum, entsetzen müsse. Und 
doch hätte er wieder auch von dem Alten sich gerne mehr erzählen 
lassen von den Wundern des Bergbaues.« 

Die drei Gestalten von Mutter, Dirne und Bergmann, die in 
dieser Phantasie ineinander übergehen, sind Hinweise auf die mög¬ 
lichen Einstellungen seiner Libido. Die Mutter selbst hat er ver^ 
loren, das Mädchen bezeichnet die Möglichkeit der Übertragung, 
der Bergmann Elis selbst in neurotischer Fixierung. Das Verfließen 
dieser Gestalten ist darum tief begründet. 

Der entscheidende Kampf zwischen den beiden Instanzen knüpft 
sich aber an Elis 7 Verhältnis zu Ulla an. Durch die von Elis ver¬ 
suchte Übertragung auf ein normales Objekt gerät die Fixierung 
der Libido im Unbewußten in Gefahr gelöst zu werden. Es ent¬ 
spinnt sich ein Kampf, der mit dem Siege der dunklen Mächte 
endigt. 

Den Verlauf dieses Kampfes wollen wir nun im einzelnen 
betrachten. — Nach einer längeren Zeit der Ruhe und Zuversicht, 




268 


Dr. Emil Franz Lorenz 


die er der Gunst des Pehrson wie der Liebe zu der schönen Ulla 
verdankt, meldet sich das Unbewußte wie das erstemal in Gestalt 
des alten Torbern. Dessen Ausspruch: »Hier unten bist du ein 
blinder Maulwurf, dem der Metallfürst ewig abhold sein wird, und 
oben vermagst du auch nichts zu unternehmen«, scheint sich alsbald 
in bitterer Weise zu bewahrheiten. Er hatte stets gezögert, um Ulla 
anzuhalten, wie wir wissen, unter dem geheimen Einfluß unbewußter 
Widerstände. Zu Hause angekommen, sieht er, daß ein anderer um 
Ulla gefreit und sie ihm weggenommen hat. Sein Versuch, durch 
Ulla den dunklen Mächten seines Innern zu entrinnen, ist fehl* 
geschlagen und augenblicklich ist er ihnen wieder verfallen. Er eilt 
zum Bergwerk und ruft, von Reue erfüllt, nach Torbern, gegen den 
er kurz vorher den Hammer geschwungen hatte. Er flüchtet wieder 
in das Reich des Wahns. Jene verhängnisvolle erste Phantasie kehrt 
wieder, aber nicht als Traum, sondern als Halluzination. »Doch als 
er fester und fester den Blick auf die wunderbare Ader im Gestein 
richtete, war es, als ginge ein blendendes Licht durch den ganzen 
Schacht und seine Wände wurden durchsichtig wie der reinste 
Kristall. Jener verhängnisvolle Traum, den er in Götheborg geträumt, 
kam zurück. Er blickte in die paradiesischen Gefilde der herrlichsten 
Metallbäume und Pflanzen, an denen wie Früchte, Blüten und 
Blumen feuerstrahlende Steine hingen. Er sah die Jungfrauen, er 
schaute das hohe Antlitz der mächtigen Königin. Sie erfaßte ihn, 
zog ihn hinab, drückte ihn an ihre Brust, da durchzuckte ein glühen* 
der Strahl sein Inneres und sein Bewußtsein war nur das Gefühl, 
als schwämme er in den Wogen eines blauen, durchsichtig funkeln* 
den Nebels.« Deutlich ist der Fortschritt zu erkennen, den die Neu* 
rose unter dem erneuten Einfluß der Versagung gemacht hat. Er 
sieht die Bergkönigin nicht mehr wie aus weiter Ferne, sondern sie 
selbst ist es, die ihn an ihre Brust zieht und umfaßt. Die Angst, 
die in jenem ersten Traum sein Entzücken übertönte, ist verschwun* 
den. — Der glühende Strahl, der sein Inneres durchzuckt, hat die 
Bedeutung einer Zeugungsphantasie, ebenso wie das Schwimmen 
im Nebel l . 


1 Das schließen wir nicht nur aus Träumen, sondern auch aus der sehr 
verbreiteten mythologischen Vorstellung, nach der die Befruchtung der Erde durch 
den Blitzstrahl geschieht <vgl. Adalbert Kuhn, »Die Herabkunft des Feuers«.) 
Dieselbe Anschauung reproduziert das Denken der Dementia praecox <vgl. 
S. Spielrein, Jahrb. f. psychoanalyt. etc. Forschungen IV, p. 357). — »Es 
blitzt« ist ein volkstümlicher Ausdruck, wenn bei zufälliger Entblößung <etwa im 
Bade) genitalia apparent. — Ein im Peloponnes gefundener Skarabäus, dessen Ab¬ 
bildung sich bei Müller-Wieseler, Denkmäler der antiken Kunst II, p. 831 
findet, wird in RLM <111 2, p. 3102) in folgender Weise beschrieben: Ein bart¬ 
loser, fast nackter Mann, nach rechts schreitend, trägt in der Rechten einen Stab 
von besonderer Form, die Spitze abwärts geneigt, in der Linken eine kleine 
menschliche Figur, der er das Antlitz zuwendet. Unten zwischen den Schenkeln 
zuckt ein Blitz nieder. — Diese Figur wird als Prometheus oder Hermes Psycho- 
pompos gedeutet <vgl. die Diskussion bei Müller-Wieseler und in RLM),* wir 
wollen zur Entscheidung der nicht leichten Frage nur soviel beibringen, daß wir 





Die Geschichte des Bergmanns von Falun 


269 


Dem beglückendsten Wahn hingegeben, scheinen die Wirklich¬ 
keit und ihre Proteste für Elis nicht mehr zu existieren. Doch 
gerade diese Wirklichkeit ist es, die sich ihm gleich darauf mit aller 
Macht wieder fühlbar macht. Von außen wird an ihm ein Heilungs¬ 
versuch unternommen. Ulla und Pehrson kommen selbst zu ihm in 
das Bergwerk. 

Man eröffnet ihm, er habe keinen Grund zu verzweifeln,- die 
Werbung sei nur zum Scheine gespielt worden, um ihn zu einer 
Erklärung zu nötigen. Es scheint, als müsse Elis jetzt gesund 
werden. Doch dem ist nicht so. Mahnend steht das Unbewußte in 
seiner Seele: Ist es nun noch dein Höchstes, daß du Ulla er¬ 
worben? Hast du nicht das Antlitz der Königin geschaut? Die 
Therapie, mit der man seiner Krankheit beizukommen sucht, ist 
suggestiver Art, samt ihren eine Zeitlang andauernden Schein¬ 
erfolgen. Daß Pehrsons Entgegenkommen, das ihn für einige Tage 
von der Arbeit entbindet, und Ullas Liebe das Andenken an die 
Abenteuer im Schacht verscheuchen, werden wir gerne glauben,- 
daß aber diese Heilung den eigentlichen Herd der Krankheit unbe^ 
rührt läßt, geht daraus hervor, daß sie bei dem Nachlassen der 
suggestiven Beeinflussung durch die Umgebung sofort wieder zum 
Ausbruch gelangt. Die Halluzinationen wiederholen sich, sobald er 
wieder in den Schacht hinabsteigt, und »es war ihm, als stiege 
sein besseres , eigentliches Ich hinab in den Mittelpunkt der Erd^ 
kugel und ruhe aus in den Armen der Königin, während er in 
Falun sein düsteres Lager suche«. Auch die Liebe zu Ulla scheint 
wieder gänzlich aus seinem Herzen gewichen. Nur noch einmal, 
einige Tage vor der Hochzeit, scheint er einen Versuch zu machen, 
den Wahn von sich abzustoßen. An dem Tage jedoch, an dem ihn 
eine symbolische Handlung für immer an die Oberwelt festbinden 
soll, bricht der Protest der infantil und inzestuös fixierten Libido 
mit elementarer Heftigkeit los. Unter dem Bann der Wahn¬ 
vorstellung von einem herrlichen, in der Tiefe verborgenen Stein, 
den er heraufschaffen und seiner Braut bringen müsse, verläßt er 
sie, um für immer zu verschwinden. 

Die Bedeutung dieses Steines zu ergründen ist nicht leicht 
und möglicherweise derzeit noch gar nicht vollständig darzustellen. 
Wenn sich die Fixierung an unbewußte Objekte unter dem Bilde 
des Bergwerks darstellt, so könnte die Einführung eines wunder^ 
baren verborgenen Steines in den Wahn zunächst als eine sekun¬ 
däre, bereits in höherem Grade dem Bewußtsein angehörige Kon¬ 
sequenz der im Unbewußten ruhenden Phantasie des Kranken an¬ 
gesehen werden. Denn daß die verschiedenen Motive eines dichte- 


die Deutung des Blitzes sicherstellen, der nicht, wie geglaubt wird, als von Zeus 
gesandt, die drohende Bestrafung des Prometheus bedeutet, sondern die Gestalt, sie 
sei wer immer, als Erzeuger des Kindes bezeichnet, das sie auf ihrer linken 
Hand trägt. 






270 


Dr. Emil Franz Lorenz 


rischen Phantasiegebildes alle sozusagen auf einer Ebene liegen, 
ist ja ohnehin ausgeschlossen. Indes sollte das — schon des guten 
Beispieles wegen — die letzte Möglichkeit sein, mit der man zu 
rechnen hat. Auch zeigt die nähere Beschreibung des Steines 
wieder so auffällige Züge, daß sie bei einer Psychanalyse nicht 
übergangen werden dürfen. 

»Unten in der Tiefe liegt, in Chlorit und Glimmerschiefer 
eingeschlossen, der kirschrot funkelnde Almandin, auf den 
unsere Lebenstafel eingegraben, den mußt du von mir empfangen 
als Hochzeitsgabe. Er ist schöner als der herrlichste blutrote 
Karfunkel, und wenn wir, in treuer Liebe verbunden, hineinblicken 
in sein strahlendes Licht, können wir es deutlich erschauen, wie 
unser Inneres verwachsen ist mit dem wunderbaren Ge- 
zweige, das aus dem Herzen der Königin im Mittelpunkt der 
Erde emporkeimt.« 

Die letzten Worte erinnern an Elis' ersten Traum, wo be¬ 
schrieben wurde, wie unzählige Metallblüten aus den Herzen von 
glänzenden jungfräulichen Gestalten emporsprießten, die sich am 
Grunde des kristallenen Bodens umschlungen hielten. Diese Jung w 
frauen sind aber gewiß als Abspaltungen von der zentralen Gestalt 
der Königin und als die Mutter der Blüten zu betrachten , die aus 
ihren Herzen hervorwachsen. Diese wunderbaren Blüten und 
Früchte sind in dem Stein, der mit dem Herzen der Königin in 
Verbindung steht, auf die Einzahl zurückgeführt. Was Elis eigent¬ 
lich will, ist noch immer nicht leicht zu sagen, denn es laufen die 
verschiedensten Fäden durch seine Rede. Zunächst fällt uns eine 
besondere Sorge um Ulla auf: zu ihr kommt er frühmorgens, ihr 
verkündet er das bevorstehende Glück, ihr will er den Stein bringen, 
ihr Inneres und das seinige sollen verwachsen sein, mit dem Ge- 
zweige, das aus dem Herzen der Königin emporkeimt. Wir wissen 
aber, was wir von diesem Ausbruch der Neigung zu Ulla zu 
halten haben. Tatsächlich befindet sich ja Elis auf dem Punkte, wo 
das Unbewußte sein Bewußtes völlig überschwemmt. Wir haben 
also in diesem Auftritt die fetzte Auseinandersetzung zwischen den 
beiden Instanzen vor uns, die durch Ulla und die Bergkönigin dar¬ 
gestellt sind. Der in einem besonderen Verhältnis zur Erdtiefe und 
zur Bergkönigin stehende Stein bietet nun dem Wahn des Elis ein 
Mittel, sich mit dieser und mit Ulla in Vereinigung zu setzen. 
Wir haben also hier den letzten Versuch vor uns, den Elis macht, 
um die zwei symbolischen Gestalten von Ulla und der Königin 
<Mutter>, an deren Zwiespalt sein Inneres krankt, miteinander aus¬ 
zusöhnen. Er will selbst in den Schacht, in sein Inneres steigen, 
die Mutterneigung überwinden und den Stein, der dann jedenfalls 
ein Bild der Mutter wäre, als Zeichen der geschehenen Überwindung 
ans Licht schaffen und seiner Braut zum Geschenk darbringen. Das 
dürfte zum Verständnis der Szene zwischen Elis und Ulla genügen, 
das weitere müßte einer auf ein größeres Material gestützten Unter- 




Die Geschichte des Bergmanns von Falun 


271 


suchung der mythischen Bedeutung des Steinsymbols überhaupt 
anheimgestellt werden, die ich an anderer Stelle zu geben beab¬ 
sichtige L 

B. Richard Wagners Entwurf. 

Der Entwurf Richard Wagners zu der unausgeführten 
Oper »Die Bergwerke zu Falun« stammt aus der Pariser Zeit,* 
datiert ist das Manuskript vom 5. März 1842. Wagner, der in 
demselben Jahre nach Dresden übersiedelte, hat das Thema fallen 
gelassen und den Entwurf seinem Freunde Röckel zur Aus¬ 
arbeitung überlassen, ohne daß dieser das Werk, an dem er eine 
Zeitlang arbeitete, zur Vollendung gebracht hätte. Veröffentlicht 
wurde der Entwurf erst 1905 durch Hubert Er misch in der 
»Deutschen Rundschau« (7. Heft),* jetzt findet er sich im elften 
Bande der »Gesammelten Schriften und Dichtungen«. 

Die Fabel der Oper folgt der Erzählung E. T. A. HofF 
man ns, mit zwei hauptsächlichen Abweichungen. Erstens hat 
Wagner die Geschichte der verunglückten Werbung des Elis ab¬ 
geändert, und zwar in einer für den Dichter des Fliegenden 
Holländer durchaus bezeichnenden Weise. Bei Hoffmann will 
Pehrson Dahlsjö den Elis durch die scheinbare Werbung des 
Fremden zu einem Einbekenntnis seiner Liebe zwingen. Wagner 
hat hier die Gestalt des Seemanns Joe ns eingeführt, eines alten 
Kameraden des Elis. 

Ihm erzählt Elis zu Anfang des Stückes, »daß er heute noch allein 
im Schachte gearbeitet und seine Gedanken nur auf seine Geliebte ge¬ 
richtet habe. Da sei ihm plötzlich jener seltsame alte Bergmann erschienen, 
und habe ihm Vorwürfe darüber gemacht, daß er sein Herz einem Mädchen 
zugewandt habe, auf die allein bei der Arbeit sein ganzer Sinn gerichtet 
sei,- er habe ihm gedroht und gesagt, wolle er die wahren Wunder der 
Tiefe erschauen und zum Anblick der hohen Königin gelangen, so müsse 
er sich alle Liebesgedanken aus dem Sinne schlagen«. — Joens rät ihm, 
zur See zurückzukehren. Er selber wolle ein Weib freien, Elis möge das~ 
selbe tun,- besitze er zu wenig, so teile Joens sein Gut mit ihm. Elis 


1 In der Romantik findet der wunderbare Stein öfter Verwendung, so in 
Novalis' »Heinrich von Ofterdingen«, der verlorene Karfunkel der Prinzessin, 
über den der Jüngling, der ihn findet, die nicht leicht verständlichen Verse nieder^ 
schreibt: 

Es ist dem Stein ein rätselhaftes Zeichen 
Tief eingegraben in sein glühend Blut, 

Er ist mit einem Herzen zu vergleichen. 

In dem das Bild der Unbekannten ruht. 

Man sieht um jenen tausend Funken streichen. 

Um dieses woget eine lichte Flut. 

In jenem liegt des Glanzes Licht begraben. 

Wird dieses auch das Herz des Herzens haben? 

Eine ähnliche Verwendung findet das Motiv in Tiecks »Genoveva«. — Bei 
Hofmannsthal ruft, wie wir unten sehen werden, Elis seine im Grabe ruhen^ 
den Eltern als »blutrote Funkelsteine, hocherlauchte« an. 





272 


Dr. Emil Franz Lorenz 


schlägt ein. Da erscheint Ulla und Joens, der nicht weiß, daß sie es ist, der 
Elis seine Neigung zugewandt hat, sagt zu ihm : »Wollen wir sie aus* 
horchen? Wäre sie bereit, einem Seemann zu folgen, so dürfte man es 
wohl auch von mancher anderen hoffen.« Elis glaubt, Joens errate sein 
Liebesgeheimnis, und gibt ihm recht. Ulla wiederum glaubt, Joens rede für 
Elis, blickt diesem schnell ins Auge und wendet sich dann freudig zu 
Joens mit den Worten: »O, mit Liebe im Herzen folgt man überall hin.« 
Elis und Joens, beide Ullas Erklärung auf sich beziehend, sind darüber 
hocherfreut. — Der Abend ist angebrochen, . . . Joens wirbt um Ulla und 
Pehrson nimmt die Werbung an. Elis stürzt in Verzweiflung zum Schacht 
davon. 

Bedeutsam ist die zweite Abweichung der Fabel dieses Ent^ 
wurfs von seiner Vorlage in den Erzählungen der Serapionsbrüder. 
Wagner hat sich nämlich bestimmt gefunden, die Erzählung von 
der Auffindung des verschütteten Bergmanns aus der dramatischen 
Handlung auszuschalten. Diese Geschichte erscheint bereits bei 
Hoffmann mehr wie ein Anhängsel, angesichts der Tatsache je^ 
doch, daß sie die eigentliche Tradition ist und den historischen 
Kern enthält, an den sich die von dichterischer Phantasie gebildete 
Vorgeschichte angesetzt hat, ist die Frage wohl am Platze, welche 
Bedeutung diesem Vorgehen Wagners beizumessen sei. Es liegt 
nahe, an dramatische Rücksichten zu denken. Einerseits wäre bei 
einer Einbeziehung der Auffindung der Leiche die Einheit der 
Handlung nicht mehr aufrechterhalten geblieben, fünfzig Jahre liegen 
dazwischen — diese Zahl um ein Bedeutendes herabzusetzen, wird 
wieder durch andere Rücksichten verboten — und über diesen 
Zeitraum hinaus ist Ulla die einzig Überlebende aus der Zeit des 
Elis. Das wäre nur dann dramatisch möglich gewesen, wenn sie 
auch früher die Hauptperson gewesen wäre. Ulla zur Haupt¬ 
person zu machen, hat aber weder Wagner noch Hofmanns¬ 
thal versucht,- aus Gründen, die man angesichts der dramatischen 
Momente in der Hoffmannschen Erzählung, deren Held eben 
durchaus Elis ist, nicht auseinanderzusetzen braucht. — Der erste 
Herausgeber des Wagnerschen Entwurfes vermutet indes, daß 
Wagner nicht eigentlich die Absicht gehegt hatte, diesen Kern der 
Sage zu übergehen, sondern daß vielleicht »die Schwierigkeit, die 
gerade diese Episode der dramatischen Bearbeitung bot«, ihn bestimmt 
habe, das Thema fallen zu lassen. Das ist jedenfalls unzutreffend. 
Den Kern der Sage zu verwenden, besteht für den Dramatiker 
keine Verpflichtung. Die Fabel des Entwurfs ist ein Ganzes, die 
Verschüttung des Elis bedeutet wirklich ein Ende. Der Hinweis 
auf Franz von Holstein, der das Problem in seiner Oper »Der 
Haideschacht« »in eigenartig poetischer Weise« gelöst habe, ist 
völlig eine Profanation. Holstein hat nämlich, was der Vollständig¬ 
keit halber hier erwähnt sei, sich aus unserer Geschiche das Allere 
gröbste angeeignet und in eine ganz andere Handlung das Motiv 
— nicht der Verschüttung, sondern einer Art Exhumierung hinein** 
gezogen. 





Die Gesdiidite des Bergmanns von Falun 


273 


C. Hugo von Hofmannsthals Fragment »Das Bergwerk 

von Falun«. 

Erst die Psychanalyse befähigt uns zu der Einsicht, daß die 
Geschichte des Elis, die wir als die Geschichte eines Neurotikers 
erkannt haben, mit der Verschüttung nicht nur aus dramatischen, 
sondern auch aus psychologischen Gründen wirklich zu Ende ist. 
Das Kupferbergwerk zu Falun in Schweden ist in derHoffmann- 
schen Erzählung zum Symbol des Unbewußten geworden. Wenn 
Elis darin verschüttet wird, d. h. dem dauernden Wahn anheimfällt 
und in ihm zugrunde geht, was hätte uns noch die Auffindung 
eines Leichnams nach fünfzig Jahren zu bedeuten? Man bemerkt, 
daß hier von zwei ganz verschiedenen Dingen die Rede ist. Die 
Abstoßung dieses sogenannten Kerns der Sage ist ein naturnot^ 
wendiger Vorgang. 

Diese Auffassung findet eine weitere Stütze in der Tatsache, 
daß auch eine zweite, direkt von E. T. A. Hoffmann ausgehende 
Bearbeitung unseres Themas mit der Verschüttung des Elis ihr 
Ende findet. Diese Bestätigung ist um so höher einzuschätzen, als 
ihr Verfasser gerade Hugo von Hofmannsthal ist, der schon zu 
wiederholtenmalen seine bewundernswerte Fähigkeit für die Durchs 
dringung des ursprünglichsten seelischen Gehaltes überlieferter 
dichterischer Motive und für schöpferische Neugestaltung im Rahmen 
des eigenen Kunstwerkes dargetan hat. Wir dürfen darum erwarten, 
daß die Hofmannsthal eigene Verlebendigung der Motive uns 
vieles in deutlicheres Licht, in größere Erlebnisnähe rücken wird, zu 
dessen Erfassung wir uns durch unsere Analyse durchgearbeitet 
haben, ohne vielleicht gerade dem, der unserem Standpunkt in der 
Interpretation fernesteht, völlig überzeugend geworden zu sein. 

Vielleicht besteht wahre dichterische Größe gerade darin, die 
Gestaltung der Motive aus dem Bereich eines ihnen aus guten 
Gründen anhaftenden Symbolismus in die Richtung des persönlichen 
Erlebens soweit als möglich heranzurücken und erst unmittelbar 
davor jene Schranke aufzurichten, die diese erlebte Wirklichkeit 
doch wieder in das Bereich des bloß Gefühlten und Geahnten zu¬ 
rückdrängt. Dieses Helldunkel ist es nun ganz und gar, in das Hob* 
mannsthal sein »Bergwerk von Falun« hineingestellt hat. — Leider 
hat der Dichter von dem so betitelten fünfaktigen Drama, das im 
Jahre 1899 entstanden ist, bisher nur den drei Szenen umfassenden 
ersten Akt, unter der Bezeichnung eines Vorspiels, veröffentlicht. 
Dieses Vorspiel enthält die Erlebnisse des Elis bis zur Abfahrt 
nach Falun. Der äußere Umriß der Fabel ist Hoffmann nach^ 
gebildet. Elis' Geschick, die Ursache seiner Traurigkeit, seine Stellung 
zu seinen Kameraden, das Erscheinen der Dirne, Torberns Mah* 
nung, ein Bergmann zu werden, die Vision des unterirdischen Reiches 
bezeichnen hier wie dort die Hauptpunkte der Handlung. Es seien 
zunächst einige Abweichungen psychologisch gewürdigt. 

Imago II1/3 


18 




274 


Dr. Emil Franz Lorenz 


In der Episode mit der Dirne läßt E. T. A. Hoffmann den 
Elis nicht unempfänglich gegen ihre Reize sein und ihr Gelispel 
gar sehr in des Burschen Herz eindringen. Hofmannsthal führt 
sein Verhalten entsprechend der in Elis zum Ausbruch gelangen¬ 
den Neurose mit dem Inhalt der infantilen Fixierung auf die Mutter 
in der Richtung auf vollständige Sexualablehnung weiter. Elis' Stellung 
zu ihr könnte dadurch vertieft erscheinen, daß er sie vordem als 
Kind geliebt hat, ein Zug, den Hofmannsthal hinzufügt/ da das 
Mädchen aber von anderer Seite der Verführung unterlegen und 
als Dirne anzusehen ist, brauchte des Elis Sinnesänderung an und für 
sich nicht einer allgemeinen Ablehnung zu entspringen. Das diese 
aber vorhanden ist, geht mit Deutlichkeit aus seinen Worten hervor. 

Schön warst du freilich. Nun ich trunken hab, 

Kommt mir's zurück. Die Züge scharfgezackt 
Wie die Korallen, die tief drunten wachsen. 

Blaß das Gesicht, allein so rot die Lippen . . . 

So schön warst du, wo hast du's hingetan? 

Hör auf mit Weinen. Kann auch sein, du bist 
Nicht gar so anders. Ich hab' and're Augen. 

Den Star hat mir's gestochen und mir kehrt 
Das Leben wie ein Wrack die Eingeweide zu. 

Wenn ich dich anschau fest, so seh' ich deutlich 
Zwei Augen, glasig Zeug, gefüllt mit Wasser, 

Zwei Lippen, rund wie Egel, auch geformt 
Sich festzusaugen. Was steckt dahinter. 

Was denn für große Lust? Und dann nachher 
Was für ein Schmerz, was weiter für ein Schmerz? 

Was ist daran so viel? (Schlägt sich an den Kopf.) 

Wie könnt' ich träumen 
Und danach hungern, immerfort danach! 

Es ist doch über alle Maßen schal! 

Ilsebill als reine, vollerblühte Jungfrau von Elis verschmäht, 
würde in diesem Sinne vielleicht stärker wirken und Elis' Stellung 
zu ihr etwa dem Verhältnis zwischen Hamlet und Ophelia ent* 
sprechen. Doch stimmt anderseits dieses Bild der geknickten Blume 
besser zu dem unendlich trostlosen Weltdurchschnittsbild, in das 
Elis starren Auges hineinblickt. — Vortrefflich ist es, daß Hof¬ 
mannsthal die Beschenkung des Mädchens durch Elis beibehalten 
hat, die als Ersatzhandlung von durchsichtiger Bedeutung auf ein 
unter der Decke der Verdrängung noch immer vorhandenes Ver^ 
langen hinweist. 

Von einschneidender Bedeutung für die Fortbildung unseres 
Motivs ist die zuerst durch Hofmannsthal vorgenommene Ein¬ 
beziehung des Vaters in die Phantasie des Elis. Er spricht zu 
Ilsebill: 


Liebes Mädchen, 

Verstehst du, meines Vaters Sohn zu sein, 

Das war kein Kinderspiel. Er war nicht hart. 




Die Geschichte des Bergmanns von Falun 


275 


Allein sein Wandeln war stille Verzweiflung. 

Tief war sein Sinn. Er lebte in der Furcht. 

Er hatte ein Gesicht, ehdem er starb. 

Und wußte seinen Tod drei Tage vorher 
Und ging so hin, der alte Mann und schwieg. 

Gleich nachher kam die Sehnsucht über mich. 

Nach ihm nicht, nach der Mutter! 

's war ein Auftrag 

Von ihm, drum kam's so plötzlich über mich. 

Sie geben solchen Auftrag, die dort unten. 

Mir fuhr das Schilf zu langsam: in den Adern 
Quoll mir das Blut wie schweres glühndes Erz 
Und drückte mich zur Nacht: da ward aus mir 
Jedwede andre Sehnsucht ausgeglüht: 

Dies einzige Verlangen fraß die andern 
Im Finstern auf,- wäre ich im Krampf erstarrt 
Und so gestorben, auf den Lippen hätte, 

Den starren, jedes Aug' den Laut gelesen, 

Mit dem du anhebst, wenn du Mutter sagst. 

Die war schon unten, als ich kam. Die Reden, 

Die mir im voraus von den Lippen trieften. 

Wie Wasser von des gierigen Hundes Lefze, 

Die schlugen sich nach innen. Mir ist übel, 

Die Landluft widert mir, mir widert Seeluft. 

Indem der Dichter hier die Fahrt des Elis zu seiner Mutter 
sich an den Tod des Vaters anschließen läßt, vervollständigt er die 
damalige Situation des Elis durch ihr psychologisches Korrelat, wie 
es vom Ödipuskomplex gefordert wird. 

Der Tod des Vaters löst in Elis längst unbewußt gewordene 
Seelenregungen zu neuer Tätigkeit aus. Ein Wunsch der Kinder^ 
jahre, selber so stark und mächtig wie der Vater zu werden und 
sich an seine Stelle zu setzen, scheint ihm der Erfüllung nahe^ 
zurücken. Mit dem Vater hat er sich in seinen Phantasien oft iden¬ 
tifiziert und die Gabe des zweiten Gesichts, die er mit ihm gemein 
hat, hat ihm die Kunde von seinem Tode vermittelt. Aber soweit 
scheinen bereits alle Gefühle infantiler Nebenbuhlerschaft verdrängt 
zu sein, daß der Vater ihm selbst den Auftrag geben kann, jetzt, 
wo er tot sei, zu seiner Mutter zu eilen. 

Die von uns schon früher angedeutete Höhlensymbolik erfährt 
bei Hofmannsthal im Munde des Elis mancherlei Verdeutlichung. 
Die der Symbolik des Traums zugrunde liegende unbewußte Phan^ 
tasie dringt in seine wachen Reden ein und gewinnt in ihnen eine 
ergreifende Gestaltung. Bei E. T. A. Hoffmann spricht Torbern zu 
Elis, als er ihn für den Bergmannsberuf zu überreden sucht, fol¬ 
gendes Gleichnis: Wenn der blinde Maulwurf in blindem Instinkt 
die Erde durchwühlt, so möcht' es wohl sein, daß in der tiefsten 
Teufe bei dem schwachen Schimmer des Grubenlichts des Menschen 
Augen hellsehender wird, ja daß es endlich, sich mehr und mehr 


18 * 





276 


Dr. Emil Franz Lorenz 


erkräftigend, in dem wunderbaren Gestein die Abspiegelung dessen 
zu erkennen vermag, was oben über den Wolken verborgen 1 . 

Bei Hofmannsthal wird das Gleichnis vom Maulwurf von 
Elis selbst, eben als Torbern unbeachtet nahekommt und seine 
Augen auf ihm ruhen läßt, aufgenommen, nachdem ihn ein Kamerad 
wegen seines kopfhängerischen Wesens einen Maulwurf genannt 
hatte. 

Das kann schon sein. Mir ist, du hast ganz recht. 

Das ist nicht dumm, was du da sagst. Mir war 
Sehr wohl, könnt ich mich in die dunkle Erde 
Einwühlen. Ging es nur, mir sollt es schmecken. 

Als kroch ich in den Mutterleib zurück. 


<Gegen die Erde) 

Du tiefes Haus, was streben wir von dir, 

Wir sinnentblößt Wahnwitzige aufs Meer, 

Dem Lügensinn, dem Aug allein gehorchend, 

Der uns vorspiegelt, was für ewig uns 
Verborgen sollte sein, die bunte Welt, 

Die wir doch nie besitzen! Seht die Unke, 

Das tagblinde, verborgene Geschöpf 
Ist strahlend gegen unsre Finsternis 
Und winkt mir mit bediademtem Haupte, 

Denn ihr ist noch Gemeinschaft mit der Erde. 

Hier ist die Erde in einer der mythologischen Forschung 
wohlbekannten Weise deutlich als Muttersymbol angesprochen. — 
Die im Gespräch mit Ilsebill zuerst aufgetauchten Phantasien über 
den Vater kehren nun in verstärkter Form wieder. 

Haus, tu dich auf, gib deine Schwelle her. 

Ein Sohn pocht an, auf tu dich, tiefe Kammer, 

Wo Hand in Hand und Haar versträhnt in Haar, 

Der Vater mit der Mutter schläft, ich komme! 

Entblößt euch, ihr geheimnisvollen Adern, 

Ausbluten lautlos sich die meinen schon! 

Mein Haar sträubt sich vor Lust, bei euch zu sein, 

Ihr Wurzeln, die ihr an dem Finstern saugt, 

Euch funkelnd nährt aus jungfräulicher Erde, 

Mein Herz will glühn in einem Saal mit euch. 

Blutrote Funkelsteine, hocherleuchte, 

Schlaflose Lampen, täuscht mich nicht, ich seh euch, 

Ich seh euch glühen wie durch fahles Horn, 

Versinkt mir nicht, ich halt euch mit der Seele. 


1 Nachträglich noch ein Hinweis auf Novalis (Lehrlinge von Sais): Wer 
dieses Stammes und Glaubens ist,. . . wird nimmer müde, die Natur zu betrachten 
und mit ihr umzugehen, geht überall ihren Fingerzeigen nach, verschmäht keinen 
mühseligen Gang, wenn sie ihm winkt, und sollte er auch durch Modergrüfte 
gehen: er findet sicher unsägliche Schätze, das Grubenlichtchen steht am Ende 
still und wer weiß, in welche himmlische Geheimnisse ihn dann eine reizende Be¬ 
wohnerin des unterirdischen Reichs einweiht. 






Die Geschichte des Bergmanns von Falun 


277 


Dieser Augenblick der höchsten Ekstase, in dem sich in seiner 
Phantasie das Bild des Vaters dem der Mutter zugesellt, bedeutet 
zugleich den Übergang aus der Sphäre der bloßen Vorstellung in 
die der Halluzination. Seine Kameraden und das Mädchen haben 
ihn verlassen, er steht in der Erregung des Wahnes vor dem Hause. 
Ein Bettler — so nennt man ihn später in der Wirtstube — geht 
vorbei, in die Tracht eines Bergmanns gehüllt. Dieser Bettler gestaltet 
sich im Wahn des Elis zum Boten der unterirdischen Welt, mit 
dem Auftrag an ihn gesandt, ein Bergmann zu werden 1 . 

Diese Gestalt ist der alte Torbern. — Wieder entspinnt sich 
der Widerstreit der beiden durch den Seemann und Bergmann ver¬ 
sinnbildlichten seelischen Instanzen, der für die Lage des Elis ganz 
typisch ist. Die Natur dieses Kampfes ist in lapidarer Einfachheit 
gekennzeichnet, wenn Elis fragt: Womit bezwingst du mich? wor¬ 
auf Torbern entgegnet: Durch deinen Willen. Und als bezwungen 
hat auch sein Widerstand zu gelten, nach der Art und Weise, in 
der sich seine Wahngesichte fortsetzen. Sein früher ausgesprochener 
Wunsch nach Gemeinschaft mit der Erde geht ihm in Erfüllung. 
Ähnliche entzückende und angstvolle Visionen, wie sie Hoffmann 
in jenen Traum des Elis verlegt hatte, begeben sich nun im Wege 
eines Halluzinierens im Wachzustände. Er versinkt und gelangt in 
einen Raum unterhalb der Erde 2 * * * * * 8 . Des Elis Worte: 

Ich fiel durch endlos rötlich schwarze Schlünde, verbunden 
mit den späteren Worten der Königin: 

War dir, du fielest, war dir nicht, du flogest? lassen über die 
eigentliche Natur dieses Vorganges, in dessen Bestandteilen wir 
wohlbekannte Traumsymbole wiederfinden, keinen Zweifel übrig. 
Es ist das Bild eines Eindringens und Aufenthalts im Mutterleib. 
Wir erinnern uns der Worte, die Elis sprach, als er die Bezeich¬ 
nung Maulwurf billigte. Im übrigen zeigt die Vision des Elis durch¬ 
wegs die Eigenschaften eines Traums, so durch die eingeschobene 
Reflexion über die Wirklichkeit des Erlebten,* ferner durch das In¬ 
einanderübergehen der erscheinenden Personen. Er sieht zuerst die 


1 Man wird vielleicht in den früheren Reden des Elis, die wir oben ange^ 

führt haben, Todesphantasien und ^wünsche erkennen und unsere Deutung, die 

die Motive der psychosexueilen Familienkonstellation darin wiederfindet, als unbe¬ 

gründet ansehen wollen. Es ist zweifellos richtig, daß Todeswünsche des Elis 

vorliegen — wer in seiner Lage hätte sie auch nicht? Doch wollen wir gerade 

das behauptet haben, daß die aktuellen Todesphantasien sich zum mindesten immer 

in einem Material darstellen, das andersartiger Herkunft ist, sehr oft aber a priori 
nicht eigentliche Todesphantasien sind, wie die lustvollen Vorstellungen des gänz¬ 
lichen Vergehens, Verlöschens, Eingehens ins Nichts. — Sehr deutlich ist bei 
unserem Gegenstand der positive Inhalt der anscheinenden Todeswünsche in der 
nun folgenden Entwicklung des Wahns zu erkennen. Alles vorher Gewünschte 
erfüllt sich dem Elis, aber in einer Gestalt, die nicht Tod, sondern Leben ist. 

8 Im Innern des Berges. Ein nicht sehr großer Raum, rechteckig, dessen 
Wände aus dunklem, fast schwarzem Silber. Zwischen Pfeilern rechts ein Aus^ 
gang, von Finsternis völlig verhangen, zu dem drei runde Stufen aufsteigen. Die 
Decke flach gewölbt. Alles aus dem gleichen, prunkvoll finsteren Stoff gebildet. 






278 


Dr. Emil Franz Lorenz 


Königin und empfängt von ihr die Versicherung, daß er nicht 
träume,- den Knaben Agmahd, den sie ihm sendet, um ihm zu 
trinken zu bringen, sieht er zuerst für eine Javanerin, dann für einen 
jungen Matrosen an, die er beide sehr geliebt hat. Es sind die¬ 
selben Gemeinsamkeiten der Personen, die ihre Verwandlung inein¬ 
ander ermöglichen, wie in der Phantasie des Elis bei E. T. A. HofL 
mann, wo Mutter, Dirne und Bergmann einander ablösen. Diese 
Gestalten gehören in die Vision unseres Dramas, die wie viele 
unserer Träume einen verdichteten Auszug aus des Elis.Seelen¬ 
geschichte gibt und deren Kern die Vergegenwärtigung des ver¬ 
klärten Urbild aller Libido-Objekte desselben Elis ist, der an der 
endgiltigen Ablösung von diesem Urbild zu scheitern im Begriffe 
steht. In diesem Sinne wird ihr Erscheinen auch von der Königin 
gedeutet, wenn sie ihn später vor sich entläßt, mit der Begründung, 
seine Sinne seien noch zu sehr mit Sehnsucht nach den Gestalten 
der Oberwelt erfüllt. 

Der Knabe Agmahd, 

Ein schwankend wesenlos Gebilde ist's: 

Ein Spiegel. Jedem zeigt's, was heimlich ihm 
Am Herzen ruht. Du stießest sie von dir, 

Die droben, aber etwas lebt von ihnen. 

Noch etwas lebt in dir, du mußt hinauf. 

Die Doppelheit von Angst und Entzücken, die den Traum 
des Elis bei Hoff mann kennzeichnet, ist hier nach der Seite der 
Angst verschoben. Er hat Angst vor der Königin: Mir graut's 
vor dir . . . Du sinnst auf meinen Tod . . . Das deutet auf eine 
größere Macht der die Begierde in Angst verwandelnden Ver^ 
drängung hin. Die Macht der Verdrängung steht auch hier im 
verkehrten Verhältnis zu der Deutlichkeit der zugrunde liegenden 
Wünsche, ein Erfordernis der Zensur. — Der Angst, die den Elis 
erfüllt, entspricht auf Seite der Königin ein ungeduldiges Verlangen 
nach seinem Besitz, in dem wir die Projektion seiner eigenen posL 
tiven Wünsche erkennen. Aus diesem Grunde eröffnen uns erst 
ihre Reden die letzten Einsichten in die Natur der dieser Phantasie 
zugrunde liegenden Begehrungen. Ich gebe die Stelle im Zusam¬ 
menhang. 

Elis: 

Den Händen, die du hast, entblüht ein Glanz, 

Mir ist, als trat mein Blut aus mir ins Freie, 

Wenn ich hinseh. 

Königin <streckt die Hände aus): 

Tritt her und rühr sie an. 

Elis Unbeweglich an seinem Platz): 

Ich kann nicht. Wir sind nicht aus einer Welt. 

Ich kanns nicht fassen, daß ich hier steh, ich! 

Warum denn ich? Droben sind Tausende! 

Warum denn ich? Mich schauderts bis ins Mark. 





Die Geschichte des Bergmanns von Falun 


279 


Königin: 

Und ich hab midi so lang nach dir gesehnt. 

Wohl hundert Jahr. Was zuckst du? Grauts dich so? 

Sieh, ich kann doch für dich nicht fremder sein, 

Nicht unbegreiflicher als du für mich. 

Mich schauderts nicht. Und glaub mir, manches, was ich weiß 
Von euch da droben, ist wohl schauerlich. 

Ich weiß, ihr kennt das Angesicht des Wesens, 

Das euch geboren hat. Ihr nennt es »Mutter«, 

Wohnt unter einem Dach mit ihm, berührt es! 

Das macht mich grauen, wenn ichs denken soll. 

Ich weiß, ihr sdilummert niemals lang, doch wenn 
Ihr euch hinlegt zu einem langen Schlaf, 

So seid ihrs schon nicht mehr: der Erdengrund, 

Der mich mit klingendem Gehaus umschließt, 

Euch löst er eure Glieder auseinander, 

Und Bäume wachsen auf aus eurer Brust, 

Und Korn schlägt seine Wurzeln euch im Aug. 

Und die dann droben leben, die ernährt, 

Was also auf keimt aus der Brüder Leib. 

Mich dünkt, ich stürb vor Graun, müßt ich so leben. 

Hervor aus einem Leib, hinab zu Leibern. 

Und wenn ich eurer einen atmen seh, 

Werd ichs nicht los, mir ist, als müßt an ihm 
Noch hängen Ungewordnes und Verwestes 
Als war er nie allein, wo er auch geht und steht. 

Und dennoch lieb ich dich und will dich halten! 

<Ringt ungeduldig die Hände) 

Graut dir, daß ich schon war, bevor du warst? 

Macht dich das zornig, daß ich schlafen kann. 

So lang und rein und tief? Daß ich allein bin, 

Nur spielend mit Geschöpfen, die mir dienen? 

Gib mir doch Antwort, steh nicht stumm und hart! 

Sieh: euch da droben flutet ohne Halt 
Die Zeit vorüber, doch mir ists gegeben, 

In ihren lautlosen kristallnen Strom 
Hinabzutauchen ihrem Lauf entgegen. 

Und ihren heiligen Quellen zuzugleiten! 

Heft nicht so dumpf den starren Blich auf mich! 

Begreifst du nicht: das uralt heilige Gestern, 

Ruf ich es auf, umgibts mich und wird Heut: 

Und Dunkelndes und Funkelndes vergeht 
Und Längstversunknes blüht und glüht herein. 


Alle die infantilen Momente der Mutterneigung sind in diese 
Worte der Königin zusammengedrängt. Der Altersunterschied, das 
tragische Problem des Kindes,* die Schranke der Ehrfurcht vor der 
Macht und Größe der Mutter,* überaus schön ist daran zu erkennen, 
wie sich die relative Präexistenz der Mutter dabei zur absoluten 
Herrschaft über die Zeit umgestaltet/ wie aus ihrer einmaligen 





280 


Dr. Emil Franz Lorenz 


Schöpfertätigkeit, durch die sie dem Kinde das Leben gab, in der 
nachschaffenden Phantasie ein allmächtiges Gebot über den Verlauf 
aller Dinge der Welt wird. 

Es erscheint nun Torbern, den Elis über das aufzuklären, 
was seiner harre. Er ist vom Dichter in folgerichtiger Weiterbildung 
der Überlieferung zum Geliebten oder Gemahl der Bergkönigin 
gemacht worden. Nun soll er dem Elis weichen. Es ist nun aas 
Seltsame, daß er, der in der Gunst Verdrängte, den Auftrag emp^ 
fangen hat, seinen Nachfolger selbst in die Tiefe zu geleiten und 
in die Geheimnisse des unterirdischen Reiches einzuweihen. Wir 
erinnern uns, daß von einer ähnlichen Botschaft schon früher die 
Rede war, als Elis im Gespräch mit Ilsebill von seinem Vater redete, 
wie er starb und ihn gleich nachher die Sehnsucht nach der Mutter 
überkam, was Elis als einen Auftrag seines Vaters betrachtete, zu 
ihr zurückzukehren. In der Halluzination wiederholen sich also die 
früheren Wunschgedanken in traumhaft^symbolischer Form und 
rüdcen gleichzeitig ihrer Erfüllung nahe, denn Torbern ist nach 
alldem nichts anderes als der Vater des Elis, wie die Bergkönigin 
seine Mutter ist, in der Weise, daß die sexuellen Beziehungen und 
Bedeutungen von den zwei Ur^ und Vorbildern <Vater und Mutter) 
auf die Ersatzfiguren <Torbern und die Königin > übertragen wurden, 
eine Verdoppelung und Zerteilung, die leicht erkennbaren, affektiven 
Bedürfnissen entspricht. Erinnern wir uns auch, daß die Gestalt 
des Torbern in dem Augenblick in den Gesichtskreis des Elis 
getreten ist, als sich in seiner Phantasie das Bild des Vaters dem 
der Mutter zugesellte. Wir stehen damit vor dem typischen Thema 
der Verdrängung des Vaters durch den Sohn. Von diesem Gesichts¬ 
punkte aus verstehen wir auch die eigentümlich schattenhafte Stellung, 
die er der Königin gegenüber einnimmt, als eine Erscheinung der 
Projektion,- diese beseitigt das Große und Mächtige im Vater, indem 
sie es durch eine Art intellektuelle Halluzination ins Schwache und 
Unselbständige umdeutet. Zugleich ermöglicht diese Umdeutung die 
beabsichtigte Identifikation des Sohnes mit dem Vater, ein Wunsch, 
der ganz offenkundig wird, wenn Elis bei der Bergkönigin an Tor¬ 
berns Stelle treten soll. — Auch der Name des alten Torbern ist 
im Sinne dieser Identifikation zu verstehen. Alt kann einerseits den 
Vater bezeichnen, der den Sohn nie einzuholen vermag, anderseits 
kennen wir es aus der Traumsymbolik als eine Bezeichnung des 
Infantilen und Unbewußten, das ja zum größten Teil individuelle 
Prähistorie ist. Der alte Torbern ist also Elis' Vater und insoferne 
sich Elis in seinem Unbewußten mit diesem identifiziert, Elis selbst,- 
das letztere haben wir bereits bei E. T. A. Hoffmann festgestellt. 
Nur war bei Hoffmann vom Vater gar nirgends die Rede. Eine 
gewisse intellektuelle Bescheidenheit würde sich mit dem Hinweis 
begnügen, daß er eben tot sei, wogegen sich nichts machen lasse. 
Ohne uns der Wucht eines solchen Arguments völlig entziehen zu 
wollen, haben wir den Versuch gemacht, in dieser Frage ein me- 






Die Geschichte des Bergmanns von Falun 


281 


thodisches Prinzip der Psychanalyse zur Anwendung zu bringen, 
welches dahin lautet, daß man in all den Fällen, wo in einer Re¬ 
lation ein Glied offenbar fehlt, dieses fehlende Glied schließlich doch 
unter irgendeiner Verkleidung zu entdecken vermag. Es war uns 
auch keineswegs schwer, in den vielen bereits erörterten Zügen 
des Torbern ebensoviele Hinweise auf seine Vater-Bedeutung zu 
finden. 

Der Konflikt zwischen der Inzestneigung und Verdrängung, 
der nach unseren früheren Ausführungen die Phantasie des Elis 
beherrscht, findet seinen entscheidenden Ausdruck in der Szene, wo 
die Königin vor Elis ihren Schleier emporhebt und dieser sich dem 
Glanze, der von ihrer Gestalt ausgeht, nicht gewachsen zeigt. Da¬ 
durch bleibt ihm ihre Nähe vorläufig verschlossen. Mit der Auf¬ 
forderung, nach Falun zu gehen und ein Bergmann zu werden, die 
also hier auch der Königin in den Mund gelegt wird, entläßt 
sie ihn. 

Was kann jene Aufforderung der Königin, er solle ein Berg¬ 
mann werden, für Elis noch bedeuten, wo doch dieses Bergmann¬ 
sein der symbolische Ausdruck eben jenes Zustandes ist, in dem 
sich Elis ohnehin befindet, des Zustandes, dessen Symptome die 
Wahnbilder sind, mit deren Analyse wir uns eben beschäftigen? 
Hatte doch schon Torbern zu ihm gesagt: Niemand wird, was er 
nicht ist. In diesem Sinne ist Elis bereits Bergmann. Wollten wir 
uns die Antwort aus der Schilderung von Elis 7 Erlebnissen in Falun 
holen, so steht dem der schon bekannte Umstand entgegen, daß der 
Dichter uns diese bislang vorenthalten hat. Die Antwort läßt sich 
aber auch vielleicht dem Inhalt des uns bekannten Vorspiels ent¬ 
nehmen. Wir hatten Gelegenheit zu bemerken, daß die Phantasien 
des Elis durchgängig mit dem Affekt der Angst besetzt sind. Eben 
diese Angst, die verdrängte Libido ist, gilt es zurückzuver¬ 
wandeln. 


Elis. Dies Grauen — 

Königin. Wirf's von dir. 

Das Bergmannwerden bedeutet darum soviel wie das Durch¬ 
machen einer Entwicklung, in deren Verlauf die hemmenden Affekte 
gegen die unbewußten Neigungen abgestoßen werden. 

Wenn es erlaubt ist, sich von diesem Gesichtspunkte aus von 
den Möglichkeiten der weiteren Gestaltung unseres Stoffes in der 
Hand eines die Regungen der Seele intuitiv durchmessenden Diditers 
ein Bild zu machen, so muß das Verhältnis zu Ulla die Bestimmung 
haben, eben dieser Entwicklung zu dienen. Die Übertragung auf 
Ulla muß dadurch ermöglicht werden, daß sie der Mutter^Imago 
in einer unbewußten Weise gleicht. Elis wird dadurch, daß sie trotz 
dieser Ähnlichkeit ein erlaubtes Sexualobjekt ist, in den Stand 
gesetzt, die in Angst konvertierte Libido, die er dem in ihm fort¬ 
lebenden Phantasiebild der Bergkönigin angeheftet hat, zurückzu- 




282 


Dr. Emil Franz Lorenz 


verwandeln. In Ulla liebt er in Wahrheit seine Mutter und die 
Liebe zu Ulla muß in dem Augenblidc zu Ende sein, wo die Rück^ 
Verwandlung der Angst der Vollendung naht und er seine unge^ 
hemmte Neigung dem inzestuösen Objekt zuwenden kann. Der 
symbolische Abschluß dieser Entwicklung muß wieder die Ver¬ 
schüttung sein. Damit endet auch das Hofmannsthalsche Drama 1 . 
Die wie schon bei Besprechung von Wagners Entwurf gesagt 
wurde, für unseren Zusammenhang sinnlose Wiederauffindung der 
Leiche fehlt demgemäß auch bei Hofmannst ha 1, wobei selbstver^ 
stündlich von einer Beeinflussung durch den erst 1905 veröffent^ 
lichten Entwurf Wagners keine Rede sein kann 2 . Doch muß der 
Rahmen des Vorspiels wie eine sinnvolle Spur dieses Motivs an¬ 
gesehen werden, wenn der Sohn des alten Fischers, ein junger 
Bootsführer, der am Anfang des Stückes, als seit zehn Tagen durch 
einen schweren Unfall bewußtlos und dem Tod geweiht, an die 
frische Luft des Strandes getragen wird, am Ende des Vorspiels 
auf wunderbare Weise zu neuem Leben erwacht, um Elis nach 
Falun zu bringen. Dieser junge Fischer ist eine Abspaltung des 
Elis. Das Wunder, das sich mit ihm begibt, ist dasselbe, das der 
Wahn des Neurotikers in die Wirklichkeit umzusetzen bestrebt ist: 

Der tote Mann stand auf zu meinem Dienst, 

Die Sterne stürzen, meinem Pfad zu feuchten. 

Und wenn dies Boot zerscheitert unter mir, 

Die grüne Woge starrt und wird mich tragen. 

Mein Innres schaudert auf und fort und fort 
Gebierts in mir ihr funkelnd Antlitz wieder. 

Und was mir widerfährt, nun sterb ich nicht. 

Denn dieser Welt Gesetz ist nicht auf mir. 

Dritter Teil. 

Der Zusammenhang der Motive. 

Einige wichtige Fragen sind noch unerledigt. Die erste betrifft 
das Verhältnis von ursprünglicher Tradition und weiterer Aus¬ 
gestaltung der Sage. Wir billigten zuvor die Abstoßung des Kernes 
als völlig zu Redht bestehend. Zur Vollendung unserer Analyse 
gehört noch die Rechenschaft darüber, wieso es denn überhaupt dazu 
kam, daß zu jenem ursprünglichen Kern eben diese Vorgeschichte 
dazugedichtet werden konnte. Mit der Stellung dieses Problems 
weisen wir die Ansicht derer ab, die sich hiebei auf die »freie« 
Phantasie des Dichters berufen und einen Beweis für diese behauptete 
Freiheit etwa gleich darin zu finden behaupteten, daß Kern und 
Vorgeschichte sich tatsächlich getrennt haben, woraus offenbar her^ 


1 Nach privater Mitteilung des Dichters bei Reuschle 1. c. 

2 Die einzige Quelle für den Dichter war E. T. A. Hoffmann. Der sagen^ 
hafte Einfluß Freuds auf Hofmannsthal ist bei diesem Stücke schon zeitlich 
ein Unding. 





Die Geschichte des Bergmanns von Falun 


283 


vorgehe, daß die von Hoffmann der Erzählung aus Schuberts 
Ansichten von der Nachtseite der Naturwissenschaft angefügte Er¬ 
weiterung damit in keinem notwendigen Zusammenhang stünde. Sie 
würden auch auf die große Zahl von Bearbeitungen unseres Themas 
hinweisen, die nichts dieser Vorgeschichte Ähnliches enthalten. — 
Diesem Standpunkt gegenüber wollen wir versuchen, die Deter¬ 
minanten dieses Prozesses nachzuweisen. 

Unsere Frage wird zunächst zu lauten haben: Welcher Art 
sind die Verbindungsfäden zwischen der Vorgeschichte und dem 
Kern der Sage? An sich bietet ja die Auffindung eines Leichnams, 
der durch den Aufenthalt in einem versteckten Raum und eingebettet 
in eine konservierende Flüssigkeit seine Lebensfrische bewahrt hatte, 
des Wunderbaren genug, so daß sie immer wieder erzählt und auch 
dichterischer Behandlung teilhaftig wurde. Indes konnten wir an einer 
Reihe dieser Bearbeitungen beobachten, daß gerade die tiefsten 
Schichten des Seelenlebens davon am mächtigsten ergriffen wurden. 
Wir müssen darum versuchen, den Zusammenhang zwischen dem 
oberflächlichen Interesse an einer Kuriosität und jener tiefen Er¬ 
regung des Unbewußten aufzudecken, die in unseren Dichtwerken 
Gestalt angenommen hat. 

Zunächst war für die Entstehung der Vorgeschichte wohl eine 
einfache, aus der Erfahrung stammende Beobachtung wirksam, daß 
gewisse Berufe an und für sich asketische Anforderungen stellen 
und demgemäß zur Neurose disponieren. 

Es lag also nahe, in dem Verschütteten einen Bergmann zu 
erblicken, der Großes leisten wollte, dem aber der Verzicht auf 
Frauenliebe, den seine Aufgabe von ihm forderte, nicht gelungen 
ist, weshalb er, als ein ungetreuer Knecht, die Rache der Beherrscher 
des Berginnern erfahren mußte. Hier wäre also die Verschüttung 
als Strafe aufgefaßt. Es ist aber noch ein anderes, und zwar gerade 
entgegengesetztes Motiv wirksam. Die Verschüttung hatten wir bereits 
oben gedeutet als ein endgiltiges Verfallen in die unbewußten Pham* 
tasien des Neurotikers. Ist in diesen das Bergwerk Symbol für den 
Mutterleib, so ist jenes Bild des in einer von Wasser erfüllten 
Höhle eingebetteten menschlichen Körpers die genaue Entsprechung 
eben jenes Wunsches nach Vereinigung mit der Mutter. Der Her^ 
gang bei der Konzeption der Hoffmannschen Vorgeschichte muß 
demgemäß der folgende gewesen sein: Die bei Schubert sich fin^ 
dende Beschreibung von der Auffindung der Bergmannsleiche erwedcte 
in dem Dichter unbewußterweise Phantasien vom Aufenthalt im 
Leib der Mutter. Dieser lange nach der Geburt in den Mutterleib 
zurückgekehrte Bergmann zeigte ihm diese Phantasien in ihrer Er^ 
füllung. Daran schloß sich in folgerichtiger Weise die Konzeption 
der psychischen Bedingungen, die einem solchen Wunschgedanken 
in der Seele eines erwachsenen Menschen entsprechen. Der Mann, 
der hier drinnen liegt, hat, so würde der in Worte gefaßte Ge^ 
danke lauten, den Wunsch erreicht, den auch ich oftmals im Leben 




284 


Dr. Emil Franz Lorenz 


gehegt habe, wenn ich die Anforderungen der Realität zu hart fand 
und in jene traumlose Ruhe zurückstrebte, in der alle meine Be^ 
dürfnisse sich ohne mein Zutun befriedigt fanden. Denn das sind 
die äußersten Punkte der Pendelbewegung des Lebens: die Forderung 
des lages, die seelische und körperliche Anspannung, deren Ziel in 
der theoretischen und praktischen Auseinandersetzung mit der Wirk^ 
lichkeit liegt, und die einer jeden Periode der Anspannung folgende 
Rückkehr in den anfänglichen Zustand der Ruhe L — Und so dichtete 
Hoffmann die Geschichte eines Menschen, aus dessen Lebens- 
bedingungen und innerer Veranlagung es sich als möglich heraus- 
stellen konnte, daß er eine gewisse infantile Fixierung zeitlebens 
nicht zu überwinden und sich mit den Anforderungen der Realität, 
die diese Überwindung von jedem verlangen, zeitlebens nicht 
auseinanderzusetzen vermocht hat. Zu diesen Anforderungen 
gehört aber besonders die endliche Ablenkung der Libido von den 
infantilen Formen ihrer Betätigung, auch von der Befriedigung des 
kindlichen Zärtlichkeitsbedürfnisses. Der Mensch wird Vater und 
Mutter verlassen und einem Weibe nachhangen: an dem Unver* 
mögen der dazu erforderten Übertragung scheitert der Neurotiker. 
— E. T. A. Hoffmann machte darum seinen Helden zu einem 
Seemann, in dessen Lebensbedingungen es liegt, daß er seine Libido 
längere Perioden hindurch in der Phantasie befriedigen muß, worin 
eben die Möglichkeit der Rückkehr auf die infantile Stufe der Mutter¬ 
neigung gegeben ist. Auch hat das Meer mythologisch Mutter^ 
bedeutung. — Die weitere Ausgestaltung der Geschichte hing 
zunächst von der Fähigkeit des Dichters ab, die berührten Komplexe 
zu größerer Lebendigkeit zu erwecken und den Gesetzen des Un¬ 
bewußten gemäß folgerichtig zu entwickeln. Diese Fähigkeit hat 
Hoffmann in hervorragendem Maße besessen. Das bezeugen auch 
andere Werke des Dichters, von denen nur »Der goldene Topf« 
und »Der Sandmann« wegen ihres verwandten Inhaltes genannt 
seien. Jenes Märchen aus der neuen Zeit behandelt wie »Die Berg¬ 
werke von Falun« den Gegensatz zwischen der himmlischen, un¬ 
erreichbaren Geliebten Serpentina und der irdischen Veronika. Im 
»Sandmann« ist geschildert, wie ein mit einem Mädchen verlobter 
junger Mann auf einen äußeren Anlaß hin eine Wiederkehr infan^ 
tiler Angstzustände erlebt, die sich damals an die Person des Sand^ 
mannes, eines Kinderschreckgespenstes, knüpften, das sein Urbild in der 
Person eines von den Kindern gefürchteten Freundes ihres Vaters, 
also einer Abspaltung des Vaters selbst, hatte. Der Held dieser 
Geschichte endet im Wahnsinn, indem er sich von einem hohen 
Turme herabstürzt. 


1 Vgl. den psychologisch hochbedeutsamen Aufsatz von S. Ferenczi, Ent-* 
wicklungsstufen des Wirklichkeitssinns. Internat. Ztschr. f. ärztl. Psychoanalyse I, 
2., sowie Jung, Wandlungen und Symbole der Libido, Jahrb. f. ps.^a. u. ps.^path. 
Forsch. IV 1. p. 334 ff. <p. 283 d. S.-A.). 





Die Geschichte des Bergmanns von Falun 


285 


Als zweites, die Ausgestaltung unseres Motivs förderndes 
Moment trat die empirische Kenntnis abnormer Seelenzustände im 
allgemeinen hinzu, die Hoffmann selbst in dem der Verlesung 
unserer Geschichte folgenden Gespräch bezeugt 1 . Sehr wichtig, wenn 
auch für uns keineswegs in erster Reihe stehend, ist der Einfluß 
literarischer Reminiszenzen, besonders von Novalis 7 »Lehrlingen 
von Sais« und »Heinrich von Ofterdingen«. Darüber wurde schon 
gesprochen. 

Der völlig neue Sinn, den Hoffmann hiemit einer Ursprünge 
lieh mehr rührseligen Geschichte gegeben hat, konnte ihr nur von 
einem wahrhaftigen Dichter untergelegt und nur wieder von anderen 
seiner Art als eine Ausdeutung eigener Erlebnisse verstanden und 
sinnvoll weitergebildet werden,- kleinere Geister kreisten fruchtlos um 
den sogenannten Kern der Sage. 

Nach ihrem Hauptmotiv gehört die Geschichte des Bergmanns 
von Falun in die große Gruppe jener Stoffe, die den Zwiespalt 
der Neigung eines Mannes zu zwei in ihrem Wesen durchaus ver¬ 
schiedenen Frauengestalten behandeln. — Wir erkennen hierin ein 
Lieblingsthema des Sturms und Drangs und der Romantik,- das 
neunzehnte Jahrhundert hat es bis zum Überdruß abgewandelt, bis 
hinab in den Stumpfsinn der Ehebruchsdramatik. Das Motiv fehlt 
aber auch der mittelalterlichen Sagendichtung nicht. Es sei nur auf 
die Melusina^Sage und auf die Geschichte des Ritters Peter 
von Stauffenberg und der Meerfeye verwiesen, die in des 
Knaben Wunderhorn enthalten ist 2 . Fouques Undine ist ein 
unter Verwendung von Zügen aus diesen Legenden sowie von 
naturphilosophischen Lehren des Theophrastus Paracelsus <Liber de 
nymphis) verfaßtes individuelles Phantasieprodukt des Dichters. Von 
Hoffmanns Goldenem Topf wurde bereits gesprochen. 

Die psychische Realität dieses Motivs liegt in dem Zwiespalt 
zwischen den Libido-Objekten des infantilen und des entwickelten 
Bewußtseins, in den aus der Tiefe der Seele hervorwachsenden 
Hemmungen, die sich der vollständigen Loslösung von den einmal 
besessenen Liebesobjekten entgegenstellen. 

Das zweite wichtige Motiv unserer Geschichte ist die Ver¬ 
bindung, in der jenes dämonische Wesen — als Bergkönigin — mit 
der Tiefe eines Bergwerks steht. Es wurde oben festgestellt, daß 
es als Symbol des Mutterleibes anzusehen ist. Ehe wir diese aus 


1 Vgl. Otto Klinke, E. T. A. Hoffmanns Leben und Werke vom 
Standpunkt eines Irrenarztes, Halle 1908, p. 24, über Hoffmanns Verkehr mit 
Irrenärzten (Markus, Speyer, Kluge, Koreff). Bekannt sind Hoffmanns 
eigene pathologische Züge, über die dieser Autor mit großer Besonnenheit handelt. 
(Auf p. 176 erwähnt er bei Gelegenheit der Zwangsvorstellungen ablehnend »die 
Rede einiger neuerer Autoren, daß stets sexuelle Vorgänge dabei im Spiel seien« 
und zitiert Freud, ohne Ort und Namen.) — Vgl. auch Artur Sakheim, E. T. 
A. Hoffmann, Studien zu seiner Persönlichkeit. Leipzig 1908. 

2 Vgl. Otto Rank, Die Nacktheit in Sage und Dichtung. Imago II, p. 413 ff. 







286 


Dr. Emil Franz Lorenz 


der Analyse dieses einzelnen Phantasieprodukts sich ergebende 
Deutung durch Belege aus der analytischen Praxis, Mythologie und 
Volkskunde zu stützen versuchen, empfiehlt es sich, die eigentliche 
Bedeutung dieser Phantasie ins Licht zu stellen. Es handelt sich um 
die Auffassung des Inzestproblems. 

Man wird im allgemeinen das Vorhandensein des Inzestmotivs 
in diesem Stoffe ohne weiteres zugeben, wofern man überhaupt unserer 
Analyse derselben Berechtigung zuerkennt. Diese Analyse hat den 
Weg nach dieser Richtung gewiesen,- sie hat unter dem Bild des 
Bergwerks ein Symbol des Mutterleibes entdeckt, sie hat die Königin 
als die Mutter gedeutet und sie hat schließlich auch die Umarmung 
der Königin und den Blitzstrahl als Zeugungs-, beziehungsweise 
Inzestphantasie erklärt. Es schienen sich uns in dem Wahn und in 
den Träumen des Elis die Symbole dieser Phantasie zu immer 
größerer Deutlichkeit zn entwickeln — entsprechend dem Schwächer* 
werden der Proteste des Bewußtseins im Verlauf der Krankheit. 
Man darf jedoch hier nicht vergessen, daß hierin schon ziemlich viel 
Interpretation liegt. Es ist nämlich gar nicht ausgemacht, daß z. B. 
das Bergwerk, der Schacht, die Höhle nur Symbole für eben das 
sind, was sich dann in deutlicherer Gestalt als Königin offenbart 
und von uns als Mutter übersetzt wird. Unserer Überzeugung nach 
muß vielmehr ein strenger Unterschied gemacht werden zwischen 
Höhle, Schacht etc., die Mutterleibssymbole sind , unter Umständen 
auch solche des Unbewußten, aber sonst nichts, — der Aufenthalt 
in ihnen eine Mutterleibsphantasie und sonst nichts —, und der 
Königin <Mutter> deren Umarmung erst eine Inzestphantasie bedeutet. 
Die genaue Unterscheidung dieser beiden Phantasien dürfte sehr 
viel zur Klärung beitragen. Offenbar hat der symbolisch ausgedrückte 
Wunsch, in den Zustand vor der Geburt zurückzukehren, gar nichts 
von der Inzestphantasie an sich. Er kann die Folge des Versagens 
der Realitätsanpassung in einem besonders schweren Falle sein <das, 
was Jung mit einem nicht ganz zutreffenden Ausdruck als Sterben¬ 
wollen bezeichnet), genauer ausgedrückt, der Wunsch, in den Zm» 
stand der absoluten Allmacht <die in der automatischen Befriedigung 
aller Bedürfnisse besteht) zurückzukehren \ Auf der anderen Seite 
enthält auch die Inzestphantasie, deren Inhalt die äußerste Kon¬ 
sequenz einer erotischen Neigung zur Mutter ist, nichts von jener 
Phantasie der Rückkehr. Diese zwei Arten der Vereinigung kann 
wohl auch das Unbewußte auseinanderhalten. Indes bleibt die Tat¬ 
sache der mangelnden Unterscheidung bestehen. Es hängt aber alles 
davon ab, was die eigentliche bedeutungsvolle Ursache des tatsäch^ 
liehen Verfließens dieser beiden Phantasien ist. Betrachten wir zu 
diesem Zweck den Zustand des Elis Fröbom, so ergibt sich uns 
eine große Ähnlichkeit desselben mit dem des Hyazinth, von dem 


1 Vgl. den oben zitierten Aufsatz von Ferenczi über die Entwicklungs¬ 
stufen des Wirklichkeitssinnes. 





Die Geschichte des Bergmanns von Falun 


287 


wir bereits früher festgestellt haben, daß er eine Ursache in dem 
Unvermögen des Individuums hat, seine bis zu einem gewissen 
Grade auf infantiler Stufe verbliebene erotische Bindung an die 
Mutter — die als inzestuös zu bezeichnen kein Anlaß vorliegt — 
zu lösen und auf ein normales Objekt zu übertragen. In beiden 
Fällen gesellt sich auch zu diesem unentwickelten Zustand der 
Libido ein normales erotisches Bedürfnis. Der Unterschied liegt nur 
sozusagen in der Quantität gebundener Libido, die bei Elis weit 
überwiegt. Der Zustand des Hyazinth darf als ein für einen höher 
entwickelten Menschentypus nahezu normaler bezeichnet werden. 
Dieser partielle Infantilismus ist die Quelle des Sublimierungsprozesses 
und demgemäß die Grundbedingung aller höheren Kultur. Bei Elis 
steht die Sache anders. Jenes glückliche Maß gebundener Libido, das 
einerseits zur Sublimierung führt, sich aber anderseits der Realitäts¬ 
anpassung doch zugänglich erweist und nur so die Entstehung des 
Werkes als objektiven Wertes ermöglicht, ist bei Elis nicht vor¬ 
handen. Die Folge davon ist die einseitige, nur auf das Subjekt 
beschränkte Sublimierung des Traumes und des Wahns. 

Die wegen fortdauernder infantiler Bindung gehemmte Über- 
tragung beim Erwachen des normalen Bedürfnisses, objektiv ein 
Unvermögen der Realitätsanpassung, ergibt subjektiv ein Regressions- 
streben. Dieses Rückwärtsstreben der Ohnmacht äußert sich in Ge¬ 
stalt der Mutterleibsphantasie, unter den uns schon bekannten Sym¬ 
bolen. In dieser Phantasie gleitet die Libido in ihren ersten Anfang 
zurück, wo alle noch ungeschiedene physische Lust dem Individuum 
ohne die der Schwachheit so schmerzvolle und so oft versagende 
Anspannung ungehindert von selbst zufließt. Haben wir in dieser 
Phantasie die Verneinung aller entwickelten Erotik, ja auch die 
Verneinung aller äußeren Realität überhaupt zu erblicken, so setzt 
sich auf der anderen Seite das trotzdem vorhandene, weil physio- 
logisch begründete normale erotische Bedürfnis mit Unwiderstehlich¬ 
keit durch. Der von der Uterusphantasie erwünschte Zustand infan- 
tiler und vorinfantiler Befriedigung wird nachträglich mit Motiven 
entwickelter Erotik ausgestattet. Indem sich diese Motive nun mit' 
Notwendigkeit an die Mutter, die Spenderin jener ersten Befriedi¬ 
gung heften, entsteht die Inzestphantasie und mit ihr die mächtige 
psychologische Bedeutsamkeit der Mutter. Den symbolischen Aus- 
druck findet diese sekundäre Verbindung der Inzest- mit der Uterus- 
phantasie in den Träumen und Visionen des Elis darin, daß inner¬ 
halb des wunderbaren Raumes, in den er sich versetzt sieht, »das 
ernste Antlitz einer mächtigen Frau« sichtbar wird. So ist es im 
ersten Traum. Die letzte Vision im Schachte zu Falun zeigt die 
dadurch angebahnte Übertragung von Motiven entwickelter Erotik 
in ihrer Vollendung. — An der Verklammerung der beiden, in dieser 
Stärke miteinander unverträglichen Libidotendenzen geht der Neurotiker 
Elis zugrunde, während es bei Hyazinth nur der geringeren Stärke 
der infantilen Bindung zu danken ist, daß er diese Krise überwindet. 




288 


Dr. Emil Franz Lorenz 


Unsere an diesem bestimmten Material, der Geschichte des 
Bergmanns von Falun, gegebene Interpretation der Inzestphantasie 
schließt andere Möglichkeiten ihrer Entstehung nicht aus. Es ist 
z. B. keineswegs notwendig, daß jeder Inzestphantasie im Traume 
eine Uterusphantasie vorangeht (obwohl das meistens der Fall sein 
wird). Das Wesentliche ist nicht diese Phantasie, sondern ein be* 
stimmtes Verhalten unserer geistigen und physischen Kräfte zur 
Realität, das Bild ihrer erfüllten Forderung, beziehungsweise unseres 
erfüllten Willens zur Macht. Das kann nun auch durch Wieder¬ 
belebung der Machtphantasien bewerkstelligt werden, die im Ödipus¬ 
komplex liegen, wobei dann der Besitz der Mutter zum Symbol 
der Überwindung des Vaters, der einstmals größten Macht, wird. 
Der Akzent liegt nicht auf dem Besitz der Mutter, sondern darauf, 
was dieser Besitz bedeutet oder zur Voraussetzung hat — das ist 
unsere eigene höchste Macht. In diesem Sinne sind auch die Inzest* 
träume des Hippias und Cäsar zu verstehen. 

Diese beiden Bilder, in denen sich der erfüllte Machtwille 
darstellt (Mutterleibs* und Ödipussituation), sind in ihren Tendenzen 
gleich, in ihrer Darstellung verschieden,- jenes stellt die Erfüllung in 
einer Situation dar, die tatsächlich außerhalb der Erreichbarkeit durch 
menschliches Streben liegt, sie ist passiv, quietistisch, ein Ideal für 
Träumer, diese wagt sich in die Welt der Dinge selbst, in der man 
kämpfen und siegen kann. Offenbar hat die Wahl dieser oder jener 
Ausdrucksweise charakterologische Bedeutung. 

Es könnte Bedenken erregen, daß wir der schöpferischen Kon* 
sequenz des dichterischen Schaffens soviel Zutrauen, daß wir an 
seinen Werken und nicht an einem wirklichen Krankheitsfall ein 
Problem von solcher Tragweite wie das berührte zu behandeln ver¬ 
suchen. Indes lag eine mehr als kursorische Erörterung desselben 
schon zufolge unseres Hauptthemas, das uns eben den Anlaß dazu 
geboten hat, nicht in unserer Absicht und ist auch eine Verteidigung 
der Konsequenz des dichterischen Unbewußten heute wohl nicht 
mehr nötig. Es bleibt uns darum nur noch übrig, das in unserer 
Geschichte wichtigste Symbol des Bergwerks, wie schon oben an¬ 
gekündigt, durch eine Reihe von Parallelen aus klinischer Beobachtung, 
Mythus, Folklore zu erläutern. 

Ernest Jones hat (im Jahrb. f. psychoanalyt. etc. Forsch. IV) 
einige Fälle von Zwangsneurose beschrieben und dabei eine Phan* 
tasie angeführt, die mit der des Elis die allergrößte Ähnlichkeit 
besitzt. Es heißt dort (p. 581): 

Dunkle, geheimnisvolle Lokalitäten übten einen besonderen 
Reiz auf ihn aus. Seine Knabenphantasie beschäftigte sich stark mit 
unterirdischen Gängen, Kanälen, Gräbern, Katakomben, Brunnen, 

Höhlen und ähnliches.Brunnen waren noch interessanter, da 

sie tiefe Löcher mit Wasser waren, wo man den Grund nicht er* 
reichen konnte ... Es regte ihn immer sehr auf, wenn er von 
Höhlen las, in denen Leichen gefunden wurden. Ein Leichnam, der 






Die Geschichte des Bergmanns von Falun 


289 


versteckt wurde, etwas, das lebendig gewesen und nun tot war, 
bedeutet, wie dies oft der Fall ist, faeces. 

Über die Zurückführung dieser Phantasie auf den Defäkations- 
komplex muß ich mich des Urteils enthalten. Eine andere Phantasie 
handelt von einem »unterirdischen Palast, einer Art heimlichen, 
wunderbaren Zauberlands, wo inmitten von Blumen eine Königin 
auf ihn wartete« <p. 582). 

Dann sei auf eine Mitteilung von Dr. Mae der 1 verwiesen, 
wo der Berg für einen Zwangsneurotiker als Symbol für das weib^ 
liehe Genitale und den Geschlechtsakt Verwendung findet. Allerdings 
muß zwischen Berg und Bergwerk <= Berginneres) unterschieden 
werden. 

Instruktiv ist ein mir berichteter Traum, von dem ich den 
Text vollständig, die Analyse soweit es notwendig erscheint, am* 
führe. 

Der Träumer befindet sich in der Ecke eines sehr dunklen Zimmers, 
in dem er gar keine Möbel wahrnimmt. Neben ihm steht ein junger Mann, 
etwa gleichaltrig, in unbestimmter Weise bekannt. Der Träumer tritt auf 
eine in der Ecke der Zimmers im Fußboden angebrachte Platte und gleitet, 
auf dieser stehend und unter Beihilfe des oben zurückbleibenden jungen 
Mannes, mit ziemlicher Geschwindigkeit in einen schmalen, durchaus dunklen 
Schacht hinunter. Unten angelangt, muß er auf einem schmalen, halb erleucht 
teten Gang weitergehen, dessen Boden leicht geneigt ist. Der Gang ist ziemlich 
kurz und führt ihn in ein Zimmer, das ganz rot austapeziert ist. Von der Decke 
hängt ein Luster mit Gasbeleuchtung herab. Sein Schein erhellt den schmalen 
Gang, der in das Zimmer führt. Man hat die Empfindung, als sei dieses 
Zimmer tief unter der Erde, eingebaut in starke Felsen, als führten die 
kleinen Luken unter der Decke nicht ins Freie, sondern in irgendwelche 
unbenennbare Dunkelheiten hinaus und als sei die künstliche Beleuchtung 
in diesem Raum eine Notwendigkeit. Der Träumer empfindet einige Be¬ 
klemmung in dem Raume, es ist ihm, als habe er auf jemanden zu warten, 
auf eine Frau, die zu ihm kommen soll, in deren Zimmer er sich befindet,* 
angstvoll blickt er aus dem Zimmer in den Gang hinaus, aber kein Laut 
regt sich. 

Zu den seltsamen Liftfahrten nach abwärts ergab sich als 
Assoziation die Fahrt in ein Kohlenbergwerk, die einzige, die der 
Träumer einige Jahre zuvor gemacht hatte. Damit stimmt nun auch 
eine Reihe von Bestandteilen des Traumes insoferne überein, als 
dem Einfahrtsschacht genau der finstere Schacht des Traumes, dem 
Stollen, in dem er, unten angelangt, weitergehen mußte, der schmale 
Gang entspricht, der in das Zimmer führt. Selbst dieses Zimmer 
hat seine Analogie in der Bergwerksassoziation in der höhlenartigen 
Erweiterung am Ende des Stollens, wo die Bergleute im Scheine 
der Grubenlampe arbeiteten. 

Verfolgen wir unser Motiv auf dem Gebiet von Sage, Mythus 
und Märchen, so erschließt uns die von uns erkannte Uterusnatur 


1 Zentralblatt f. Psychoan. II. 1. Heft,- vgl. Stekel, ibid. I., p. 107. 
Imago II1/3 


19 





290 


Dr. Emil Franz Lorenz 


des als hohl gedachten Berges zunächst das psychologische Ver¬ 
ständnis all der Sagen, die ich nach ihrem bekanntesten Vertreter 
als Kyffhäusersagen bezeichnen möchte (Friedrich Rotbart im 
Kyffhäuser, Kaiser Karl im llntersberg, Marko Kraljeviö) 1 . Das 
ewige Leben ist den im Berg verborgen weilenden Personen durch 
nichts anderes als eben durch die Uterusbedeutung ihres Aufent^ 
haltsortes verbürgt, ganz so, wie die Lebensfrische des verschütteten 
Bergmanns von Falun zwar tatsächlich seiner Absperrung von der 
Außenwelt, in unserem Unbewußten aber, vor allem in dem der 
Dichter, die ihre Phantasie damit spielen ließen, seiner Einbettung 
in den von der Mutterlauge erfüllten Leib der Erde zugeschrieben 
wurde, wie die Ausgestaltung dieser Phantasie durch die dazu er^ 
fundene Vorgeschichte beweist. Nichts anderes ist aber der Grund 
für die in vielen anderen Bergmannssagen zutage tretenden Glauben, 
daß verschüttete Bergleute noch lange Jahre unten weitergelebt hätten 
und schließlich wieder an die Oberwelt gelangt seien. Ich erinnere 
an die Geschichte von den drei Beugleuten in Kuttenberg 2 . In der 
von Richard Wagner in seinem Aufsatz »Der Virtuos und der 
Künstler« <1839) herangezogenen Bergmannssage ist das Motiv 
ebenfalls enthalten. Die Erzählung bei Richard Wagner in einzelnen 
Zügen gewiß von E. T. A. Hoffmann beeinflußt, sei darum hieher- 
gesetzt 3 . 

Nach einer alten Sage gab es irgendwo ein unschätzbares Juwel, 
dessen strahlender Glanz plötzlich dem begünstigten Sterblichen, der seine 
Augen darauf heftet, alle Gaben des Geistes und alles Glück eines befrie^ 
digten Gemütes gewährt. Doch liegt dieser Schatz im tiefsten Grunde ver^ 
graben. Es heißt, daß es ehedem vom Glück hoch Begünstigte gab, die 
auch übermenschlich gewaltig die aufgehäuften Trümmer, welche wie Tor¬ 
pfeiler und unförmliche Bruchstücke riesiger Paläste übereinander lagen, 
durchdrangen: durch diese Chaos hindurch leuchtete dann der wundervolle 
Glanz des magischen Juwels zu ihnen herauf und erfüllte ihr Herz mit un¬ 
säglicher Entzückung. Da erfaßte sie die Sehnsucht, all den Trümmerschutt 
hinwegzuräumen, um aller Augen die Pracht des magischen Schatzes auf¬ 
zudecken, vor dem die Sonnenstrahlen erblassen sollten, wenn sein Anblick 
unser Herz mit göttlicher Liebe, unseren Geist mit seliger Erkenntnis erfüllet. 
Doch vergeblich all ihre Mühe: sie konnten die trägen Massen nicht er^ 
schüttern, die den Wunderstein bargen. 

Jahrhunderte vergingen. . . . Da legte man Schachten, durch Minen 
und Stollen ward in die Eingeweide der Erde hineingedrungen, de? künst^ 
lichste unterirdische Bau kam zustande und immer grub man von neuem, 
legte Gänge und Nebenminen an, bis endlich die Verwirrung im Labyrinth 
wuchs und die Kunde von der rechten Richtung ganz und gar verloren 


1 Vgl. über bergentrückte Helden Grimm, Deutsche Mythologie. 32. Kap., 
Bd. II, p. 794, sowie das Kapitel in Rohdes Psyche über Höhlengötter (Amphia^ 
raos, Trophonios) und Bergentrückung,- ferner Georg Gräber, Sagen aus Kärnten 
(Leipzig 1914). 8. Kap.: Schlafende Helden und Totenseelen im Berg. 

2 Brüder Grimm, Deutsche Sagen. 

3 Gesammelte Schriften und Dichtungen, I., p. 167 ff. 





Die Geschichte des Bergmanns von Falun 


291 


ging. So lag der ganze Irrbau, über dessen Mühen das Juwel endlich selbst 
vergessen worden war, nutzlos da,* man gab ihn schon auf. Verlassen 
wurden Schachten, Gänge und Minen, schon drohten sie einzustürzen, als, 
wie es heißt, ein armer Bergmann aus Salzburg kam. Der untersuchte genau 
die Arbeit seiner Vorgänger: voll Verwunderung folgte er den zahllosen 
Irrgängen, deren nutzlose Anlage ihm ahnungsvoll aufging. Plötzlich fühlte 
er sein Herz von wollüstiger Empfindung bewegt: durch eine Spalte lachte 
ihm das Juwel entgegen, mit einem Blich umfaßte er das ganze Labyrinth: 
der ersehnte Weg zu dem Wunderstein tut sich ihm auf,* von dem Lichte 
glanz geleitet, drang er in den tiefsten Abgrund, bis zu ihm, dem göttlichen 
Talisman selber. Da erfüllte eine wunderbare Ausstrahlung die ganze Erde 
mit flüchtiger Pracht und alle Herzen erbebten vor unsäglichem Entzüdcen: 
den Bergmann aus Salzburg sah aber niemand wieder. 

Dann war es wieder ein Bergmann, der kam aus Bonn, vom Sieben¬ 
gebirge her, der wollte den verschollenen Salzburger in den verlassenen 
Schachten aufsuchen: schnell gelangte er auf seine Spur und so plötzlich 
traf sein Auge der wunderbare Glanz des Juwels, daß es sofort davon 
erblindete. Ein wogendes Lichtmeer durchdrang seine Sinne: von göttlichem 
Schwindel erfaßt, schwang er sich in den Abgrund und krachend brachen 
die Schachten über ihm zusammen: ein furchtbares Getöse drang wie Welt* 
Untergang dahin. Auch den Bonner Bergmann sah man nie wieder. 

So endete, wie alle Bergmannssagen, audi diese: mit der Ver* 
Schüttung ... in den letzten Jahren hat man sich sogar aufgemacht, den 
beiden verunglückten Bergleuten nachzugraben, denn gutmütig hieß es,* sie 
könnten wohl gar noch am Leben sein . . . 

Wenn Wagner im weiteren Verlauf der Erzählung den wunder¬ 
baren Stein als das »Wunderjuwel der Musik« deutet, so sind die 
beiden Bergleute natürlich Mozart und Beethoven und ist die 
ganze Geschichte, bis auf die allgemeinen, aller Bergmannssagen 
gemeinsamen Grundzüge, seine eigene Erfindung. Eine Anzahl von 
Motiven ist ihr mit dem Entwurf der »Bergwerke von Falun« ge¬ 
meinsam, der ungefähr aus derselben Zeit stammt und es ist inter¬ 
essant, hier durch die von Wagner gegebene Übersetzung des 
Steinsymbols die aktuellen Wünsche zu erraten, die jedenfalls auch 
bei jenem Entwurf tätig waren, und damit die Sprache zu ver¬ 
gleichen, in der sie sich ausgedrüdct haben. 

Der Studierende an der Bergakademie zu Freiberg in Sachsen, 
Friedrich von Hardenberg, früher Akzessist an der Salinendirektion 
zu Weißenfels, wo sein Vater Salinendirektor war, durfte sich selbst 
als Bergmann betrachten. Wir haben die Bedeutung dieses Motivs 
ja schon kennen gelernt. Ergänzend setzen wir darum noch den 
Anfang des Bergmannsliedes im »Heinrich von Ofterdingen« hieher. 
Der ist der Herr der Erde, 

Wer ihre Tiefen mißt, 

Und jeglicher Beschwerde 
In ihrem Schoß vergißt. 

Wer ihrer Felsenglieder 
Geheimen Bau versteht 
Und unverdrossen nieder 
Zu ihrer Werkstatt geht. 


19 * 




292 


Dr. Emil Franz Lorenz 


Er ist mit ihr verbündet 
Und inniglich vertraut, 

Und wird von ihr entzündet. 

Als war sie seine Braut, etc. 

Derselbe Novalis hat im Jahre 1798 an seine Mutter zu 
ihrem 49. Geburtstage ein Gedicht gerichtet, das in unseren Aus^ 
gaben »An die Fundgrube Auguste« überschrieben ist. 

Glück auf, Fundgrube, das Säkulum 
Ist nun zur Hälfte für dich bald um. 

Viel edle Geschicke hast du beschert 
Und gute Wetter uns immer gewährt. 

Zum Glück des Bergmanns streiche dein Gang 
Geschart mit freundlichen Gängen noch lang. 

In dem Orestes des griechischen Mythus haben wir die am* 
scheinend vollkommenste Inversion der Mutterneigung vor uns. 
Seine ehemals positive Natur im Sinne des Ödipuskomplexes, wie 
sie die Analysen Ranks erschlossen haben 1 , ist nur noch im Namen 
erhalten, der »durchsichtiger als sehr viele andere« Etymologien 2 
»Bergmann« bedeutet. 

Auch Gyges, der Besitzer des wunderbaren Ringes, ist 
eigentlich so ein Bergmann. Die Motivgestaltung dieser Geschichte 
ist ja durchsichtig genug und man braucht sie wohl gar nicht mehr 
in ihrer Gänze zu entwickeln 3 . Bekanntlich wird sie zuerst von 
Herodot erzählt <1, 7>, dann auch von Platon (Staat II, 3>. Ich setze 
die letztere Darstellung, da sie ein wichtiges Motiv enthält, hieher: 

Eine völlige Freiheit, an die ich soeben dachte, hätten jene beiden 
wohl so am ausgiebigsten, wenn sie über eine Macht verfügten, wie sie 
etwa Gyges, des Lyders Vorfahr, besessen haben soll, der sich gerade 
bei dem damaligen Herrscher von Lydien im Dienste befand, als ein 
schreckliches Gewitter und Erdbeben entstand. Die Erde vor ihm barst, 
und wo er eben weidete, gähnte ihm ein Schlund entgegen. Voll Staunen 
sah er ihn, stieg hinunter und erblickte dort — nach der Erzählung der 
Leute gar manche Wunderdinge, worunter auch ein ehernes Pferd, hohl, 
mit Fenstern, durch die er sich zwängte. Im Innern jedodi erblickte er einen 
Leichnam von — wie ihm schien — überirdischer Größe. Nichts weiter 
trug er an sich: nur einen Goldreif an der Hand,* den zog ihm jener ab 
und stieg sodann ans Licht. Als dann die Hirten wie gewöhnlich sich ver^ 
sammelten, um vor dem Könige den monatlichen Rechenschaftsbericht zu 
geben über ihren Hüterdienst, war auch er mit seinem Ring gekommen,* 
mitten unter allen andern saß er da. Da, als er ganz zufällig den Ring 
nach innen drehte, so daß der Stein in die Handfläche schaute, war er mit 
einem Male für seine Nachbarn unsichtbar! Sie redeten von ihm, als sei 
er nicht mehr da. Wie groß war sein Erstaunen! Noch einmal berührte 


1 Das Inzestmotiv, p. 328 ff. 

2 Radermacher, Das Jenseits im Mythus der Hellenen, p. 54. 

3 Vgl. über Gyges auch Otto Rank, Die Nacktheit in Sage und Dichtung, 
Imago II, p. 436. 





Die Geschichte des Bergmanns von Falun 


293 


er den Ring und drehte ihn, jetzt nadh außen — sofort erblickte man ihn 
wieder! 

Auf diese Wahrnehmung hin stellte er den Ring auf die Probe, ob 
er wirklich solche Macht berge, und es glückte ihm stets, sich durch die 
Umdrehung des Steins nach innen unsichtbar, durch die nach außen sichtbar 
zu machen. 

Nach dieser Entdeckung setzte er es rasch durch, unter die Besten 
des Königs aufgenommen zu werden. Zur Königin begab er sich, verführte 
sie, verschwor sich mit ihr zu einem Anschlag auf den König und machte 
sich selber zum Herrscher- <Nach der Übertragung von Preisendanz.) 

Das Ödipusmotiv in der Geschichte von der Gewinnung der 
Königin und der Ermordung des Königs bedarf keiner Interpretation. 
Hingegen werden wir vermuten dürfen, daß die einzelnen Züge der 
Vorgeschichte, die uns zunächst unverständlich sind, ihren Sinn darin 
haben werden, daß sie die mehr oder weniger manifeste spätere 
Darstellung des Hauptmotivs in symbolischer Form vorausnehmen. 
Die Deutung des wunderbaren Ringes bietet keine Schwierigkeit: er 
ist ein Vaginasymbol/ damit erklärt sich auch seine Fähigkeit, 
»unsichtbar« zu machen. In seiner Erwerbung haben wir das Symbol 
für die Gewinnung der »Königin«. — Er zieht den Ring einem 
Leichnam von übermenschlicher Größe ab, d. h. er muß den frü¬ 
heren Besitzer der Königin gewaltsam beseitigen. — Im weiteren 
Zurückschreiten stoßen wir auf eine auffallende Häufung von Sym¬ 
bolen. Der Ring an der Hand der überlebensgroßen Gestalt ist ja 
an sich ein soldhes für den Besitz der Königin <Gattin, Mutter),- 
wenn wir aber weiterhin Jungs Deutung des Pferdes als Mutter^ 
symbol 1 versuchsweise als richtig annehmen — es fehlt nämlich 
vorläufig dafür an eigentlichen Beweisen — so stehen wir vor der 
Tatsache, daß eine und dieselbe Gestalt <die Mutter) auf zweifache 
Weise dargestellt ist. Wollten wir diese doppelte Darstellung er^ 
klären, so könnten wir die Vermutung aussprechen, daß der Ring 
als Symbol vom Standpunkt des Vaters und Gatten, das Pferd vom 
Standpunkt des Sohnes (Mutterleib, vgl. Jung 1. c.) zu gelten habe 
und daß das Nebeneinander derselben die beabsichtigte Identifikation 
des Sohnes mit dem Vater anzeige. — Die Reihe der Einschachte¬ 
lungen ist jedoch noch nicht zu Ende. Das eherne Pferd befindet sich 
wieder in einer unterirdischen Höhle: deren Bedeutung kennen wir 
bereits,- eben dieser Höhle wegen, in die der Held hinabsteigt, haben 
wir ja die Geschichte des Gyges hier angeführt. Diese keineswegs 
seltene Symbolhäufung soll einerseits das Tiefverborgene und Un¬ 
zugängliche des versinnbildlichten Gegenstandes bezeichnen, bietet 
aber anderseits eben durch die mehrfache Ausdrucksweise dem 
Psychanalytiker ein Mittel, von irgendeinem Punkte aus zu ihrem 
Verständnis zu gelangen. — Betrachten wir schließlich noch den 
Anfang der Geschichte genauer. Bei einem schrecklichen Gewitter 


1 WSL, p. 296 <S.-A. 245). 





294 


Dr. Emil Franz Lorenz 


zerbirst die Erde und ein Schlund öffnet sich, durch den der Held 
hinabsteigt. Man wird nicht fehlgehen, wenn man als objektiven 
Ausgangspunkt für die ganze Phantasie dieses Gewitter, sowie 
seinen subjektiven Reflex, einen starken Angstaffekt ansetzt. Dann 
ist jenes Hinabsteigen in die Erde eine Rückkehr zur schützenden 
Mutter, eine Uterusphantasie in dem von uns früher <nach Ferenczi 
und Jung) festgestellten Sinne 1 . Es bleibt jedoch nicht bei dieser 
negativen Reaktion gegenüber dem Angstaffekt. Das Bewußtsein 
reagiert darauf positiv, in der Weise, daß es mit Hilfe der mytho** 
logischen Apperzeption dem angsterregenden Himmelsvorgang des 
Gewitters einen menschlich begreiflichen Sinn verleiht. Das Gewitter 
gilt aber allerwege als Begattung des Himmels mit der Erde 2 , wobei 
der Zeugungsvorgang unter dem Bild des die Erde durchbohrenden 
Blitzes vorgestellt wird. So verbindet sich also die negative Reaktion, 
die in der Uterusphantasie zutage tritt, mit der positiven der Bildung 
des Welteltern-Motivs, bei dem Himmel und Erde in ihrer Um^ 
armung angeschaut werden. Die Folge davon ist, daß sich die 
Uterusphantasie nachträglidi in derselben typischen Weise mit 
einer Inzestphantasie verbindet, wie wir es oben bei der Analyse 
der Träume des Elis Fröbom dargestellt haben. 

Die affektive Verknüpfung, die versuchte und gehinderte Idem* 
tifikation des Helden mit dem sich umfangenden Weltelternpaar ist 
dann die Ursache der nicht mehr objektiv <auf Bedrohung der Ich** 
tendenz) begründeten, sondern libidinösen Angst, die sich dann in 
symbolischen Phantasien entlädt und in der Phantasie von der Ver** 
führung der Königin und Beseitigung des Königs endgiltig abreagiert 
wird und für uns, die die Runen des Unbewußten ohne Trans** 
skription nicht mehr zu lesen vermögen, zuerst einen verständlichen 
Ausdruck gewinnt. 

Das bei Hofmannsthal und in dem oben <p. 265) angeführten 
Traum sich findende Versinken in einen unterirdischen Raum hat 
als Grundlage dasselbe Traumerlebnis, das bei Fausts Abstieg 
zu den Müttern Verwendung gefunden hat. Die Mütter werden 
von den Erklärern allgemein als die schöpferischen Naturkräfte, 
als die personifizierten platonischen Ideen erklärt. Um Helena, das 
Urbild der Schönheit, ans Tageslicht zu rufen, müsse Faust sich mit 
den Ideen der Dinge selbst, ihrem Maß, ihrer Ordnung, in denen 
das Wesen der Schönheit bestehe, nicht nur durch äußeres Anschauen, 
sondern gleichsam von innen heraus in eins setzen. Wir können 
vielleicht in unserer Sprache kürzer sagen, daß Faust, vor die Auf¬ 
gabe einer schöpferischen Tat gestellt, das Wunder der Schöpfung 
nur durch die zeitweilige Rückkehr in den schöpferischen Schoß der 
Erde, der Natur oder der Mutter zu vollbringen vermag. Eine 

1 Vgl. die schützende Mutter der polynesischen Erzählung von der Windflut 
Imago II, p. 30. 

2 Urindogermanisch nach Sigmund Feist, Kultur, Ausbreitung und Her*' 
kunft der Indogermanen. Berlin 1913, p. 341. 






Die Geschichte des Bergmanns von Falun 


295 


nähere Erörterung des ganzen Themas darf ich indes jetzt mit dem 
Hinweis auf Jungs Ausführungen <WSL II, Jahrb. IV 1, p. 249f.) 
unterlassen. Es ist nur ein Motiv in der Szene, wo Faust von Me^ 
phistopheles von der ihm bevorstehenden Aufgabe unterrichtet wird, 
welches noch kurz besprochen werden soll. Wir finden nämlich, daß 
im Faust wie in der Szene zwischen Elis und der Königin im 
Drama Hofmannsthals das in Aussicht stehende wie das unmittel¬ 
bare Erlebnis in dem Bewußtsein des Helden die Affekte der Angst, 
des Schauderns, des Grauens hervorruft, ja daß es genau dasselbe 
Wort ist, bei dem dieser Abwehraffekt ausgelöst wird. 

Mephistopheles: 

Ungern entdeck' ich höheres Geheimnis. — 

Göttinnen thronen hehr in Einsamkeit, 

Um sie kein Ort, noch weniger eine Zeit, 

Von ihnen sprechen ist Verlegenheit. 

Die Mütter sind es! 

Faust <aufgeschreckt>: 

Mütter! 

Mephistopheles: 

Schauderts dich? 

Faust: 

Die Mütter! Mütter! — 's klingt so wunderlich! 


Mephistopheles: 

Der Schlüssel wird die rechte Stelle wittern, 

Folg' ihm hinab, er führt dich zu den Müttern! 

Faust (schaudernd): 

Den Müttern! Trifft's mich immer wie ein Schlag! 

Was ist das Wort, das ich nicht hören mag? 

Im »Bergwerk zu Falun«, spricht die Königin, die verklärte 
Traumgestalt von Elis' Mutter, das Geheimnis des Grauens, das 
Elis vor ihr empfindet, selbst aus: 

Ihr kennt das Angesicht des Wesens, 

Das euch geboren, nennt es Mutter, 

Wohnt unter einem Dach mit ihm, berührt es, 

Das macht mich schaudern, wenn ich's denken soll. 

Man bemerkt, daß im »Faust«, wo der eigentliche Aufenthalt 
bei den Müttern nicht geschildert ist, der Affekt bereits durch den 
Klang des Namens hervorgerufen wird. Das Schaudern vor der 
bloßen Berührung wird man als die Überkompensation des der 
ganzen Phantasie in der oben besprochenen Weise enge vergeselU 
schäfteten, aber verdrängten Inzestwunsches deuten dürfen, was dann 
bei unserer Auffassung des Inzestmotivs das Schaudern der Indi¬ 
vidualität ist vor dem Versinken in das unterschiedslose All-Eine, 






296 


Dr. Emil Franz Lorenz 


in den mütterlichen »Grund, der da grundlos ist« <Eckehard>, dem 
wir stets entfliehen und in den wir stets wieder zurückgleiten. 

Im Märchen ist das Höhlensymbol und das Motiv des Ab^ 
stiegs in die Erde sehr oft zur Ausgestaltung der Unterwelts- und 
Jenseitsvorstellungen verwendet. Eine eingehende Untersuchung der 
letzteren, besonders auch der Hadesstrafen, würde überhaupt ihr 
stark sexuelles Moment an den Tag bringen 1 . Hier nur einige 
Beispiele. 

In einem sizilischen Märchen bei L. Gonzenbach 2 steigt ein 
Abbatino <junger Kleriker) durch einen Brunnen zur Unterwelt hinab, 
um die Königstochter zu erlösen. Durch eine silberne, goldene und 
demantene Türe gelangt er in einen wunderschönen Garten, steigt 
über eine Treppe und kommt in einen Saal, wo er sich an Speisen 
sättigt. Durch einen Kampf mit einem Lindwurm und einem Riesen 
gelingt es ihm schließlich, die Prinzessin zu erlösen. 

In dem Märchen vom starken Hans <bei Grimm Nr. 189) ist 
erzählt, wie der Held nach der Geburt mit seiner Mutter von 
Räubern geraubt und in einer Höhle gefangen gehalten wird. Im 
neunten Jahre faßt er den Entschluß, sich und die Mutter zu 
befreien und fordert den Hauptmann zum Zweikampf heraus. Er 
wird indes besiegt und wiederholt ein Jahr später seinen Versuch, 
diesmal mit günstigem Ausgang (Motiv von dem in der Erde ein-* 
geschlossenen Sproß des Himmels und der Erde mit dem Kampf 
gegen seinen Vater: Welteltern- und Titanenmythus). — Eine ganz 
hervorragend schöne Parallele bietet uns ein polynesisches Märchen 
aus der Legende von Maui, einem Kulturheros von der Art des 
griechischen Prometheus. Dieses Märchen ist ungemein reich an schon 
bekannten typischen Zügen, aber auch in der mir vorliegenden 
Gestalt 3 aus zwei zum Teil nicht genau aneinanderpassenden Stücken 
zusammengesetzt. Eine Behandlung der Überlieferung nach dieser 
Richtung muß hier schon aus äußeren Gründen unterbleibenes 
genügt, darauf hinzuweisen. Aber auch die psychologische Behandlung 
wird sich auf einige kurze Hinweise beschränken dürfen. Der Leser 
wird nicht ungehalten sein, wenn man ihm etwas zu denken 
übrig läßt. 

Die merkwürdige Geschichte seiner Geburt erzählt Maui seiner Mutter 
mit eigenen Worten folgendermaßen: 

»Ich weiß, ich war vorzeitig an der Meeresküste geboren und wurde, 
nachdem du mich in eine Locke deines Haares gewickelt hattest, welche du 
dir zu dem Zwecke abschnittest, in den Meeresschaum geworfen. Da um^ 
schlang mich das Seegras mit seinen langen Flechten, formte und bildete 


1 Das Volk ersinnt mit Vorliebe die Strafen für Hagestolze und alte Jung-* 
fern,* vgl. Haberlandt, Altjungfernschicksal nach dem Tode, Globus Bd. 34/ Otto 
Was er, Danaos und die Danaiden, Arch. f. Religionswsch., Bd. II. 

2 Sizilische Märchen II, p. 40, Nr. 63. 

3 George Grey, Polynesian Mythology, London 1855. Ich habe die Über^ 
tragung an einigen unwichtigen, besonders bezeichneten Stellen gekürzt. 





Die Geschichte des Bergmanns von Falun 


297 


mich, die weichen Schleimfische * 1 wickelten sich um mich, mich zu beschützen, 
Myriaden von Fliegen summten um mich herum und legten ihre Eier auf 
mich, damit die Maden mich essen möchten. Schwärme von Vögeln sam^ 
melten sich um mich, um an mir zu picken. Aber in dem Augenblick 
erschien mein großer Ahnherr, der Himmel, Tama^nuUkUte^Rangi, und er 
sah die Fliegen und die Vögel. Der alte Mann eilte, so schnell er konnte, 
herbei, löste die umwickelten Schleimfische ab, und fand da ein menschliches 
Wesen.« Nicht lange nach dieser seiner Rettung begibt sich Maui auf die 
Suche nach seinen Eltern und Geschwistern. Er findet sie im Gesellschaft^ 
haus <house of assembly) und gibt sich dort unter Erzählung seiner Ge¬ 
schichte der Mutter zu erkennen, die über seine Rettung hocherfreut ist. 

»Nach dem Gespräch, das bei dieser Gelegenheit stattfand, rief seine 
Mutter Tarango ihren Letztgeborenen und sprach: ,Komm her, mein Kind, 
und schlafe mit der Mutter, die dich geboren, damit ich dich küssen möge 
und damit du mich küssen mögest/ Und er lief, um mit seiner Mutter zu 
schlafen. Da waren seine älteren Brüder eifersüchtig und begannen darob 
zueinander zu murmeln: Das ist wirklich sehr gut, uns fordert unsere 
Mutter niemals auf, mit ihr zu gehen und zu schlafen, und wir sind doch 
die Kinder, deren Geburt sie tatsächlich gesehen hat und über deren Ab^ 
stammung es keinen Zweifel gibt.« Indessen gelingt es den beiden älteren 
Brüdern, diese der Eifersucht entsprungene Erregung zu beschwichtigen. 

»Es war jetzt Nacht, aber frühmorgens erhob sich Taranga und 
plötzlich, in einem Augenblick, war sie aus dem Hause verschwunden, in 
dem ihre Kinder wohnten. Sobald sie erwacht waren, schauten sich alle 
vergeblich um, denn sie konnten sie nicht mehr sehen,- die älteren Brüder 
wußten, daß sie das Haus verlassen hatte, und waren es schon so gewohnt, 
aber der kleine Junge war außerordentlich beunruhigt. Doch er dachte: Ich 
kann sie nicht sehen, das ist wahr, aber vielleicht hat sie sich nur entfernt, 
um etwas zum Essen für uns zu richten. Nein — nein — sie war fort 
— weit, weit hinweg.« 

Das wiederholt sich einigemal; da gebrauchte Maui, um seine Mutter 
festzuhalten, eine List. Er »kroch in der Nacht aus dem Bette und stahl 
seiner Mutter ihre Schürze, ihren Gürtel und ihre Kleider und versteckte 
sie. Dann stopfte er jeden Spalt in dem hölzernen Fenster und im Torweg 
zu, damit das Tageslicht nicht hineinfallen und seine Mutter erwecken 
könnte. Aber nachdem er das getan hatte, fühlte sich sein kleines Herz recht 
angstvoll und beklommen, seine Mutter könnte in ihrer Ungeduld in der 
Dunkelheit erwachen und seine Pläne vereiteln«. Die Mutter erwacht 
schließlich, kann sich die Dunkelheit nicht erklären und schläft wieder ein¬ 
schließlich springt sie auf, findet sich ganz nackt und beginnt nach ihren 
Kleidern zu suchen. »Dann lief sie hin und riß die Dinge heraus, mit denen 
die Luken in den Fenstern und den Türen verstopft waren, und indem sie 
das tat, o du meine Güte! da sah sie die Sonne bereits hoch am Himmel 
stehen. Da riß sie, als sie davonlief, den alten Lappen eines Flachsmantels, 
mit dem das Tor verstopft gewesen war, an sich und warf sich ihn um, als 
ihre einzige Bedeckung,- schließlich ins Freie gelangt, lief sie eilends davon, 
weinend bei dem Gedanken, von ihren eigenen Kindern so übel behandelt 


1 the soft jelly^fishes. Eine Patientin von C. G. Jung sagte, als er ihr 
Aufklärungen über den Zustand des Embryo gab: It makes me squirm, as if 

I touched a jelly-fish. <Vgl. Jahrb. f. psa. u. ps.^path. Forsch. IV, 1, p. 361, 
dazu p. 286.) 





293 


Dr. Emil Franz Lorenz 


worden zu sein . . . Sie gelangte hinab zu einem Rasenfleck, riß ihn schnell 
vom Erdboden weg und sprang in eine Höhle unterhalb desselben hinein 
und indem sie den Rasenfleck wieder auf die Höhle daraufwarf, als ob er 
ihr Verschluß wäre, verschwand sie. Da sprang der kleine Maui auf seine 
Füße und lief, so schnell er konnte, aus dem Hause, zog den Rasenfleck 
weg und entdeckte beim Hinabgucken eine wunderschöne Höhle, die ganz 
tief in die Erde hineinlief.« Maui eilt nach Hause zurück, weckt seine 
Brüder auf und fragt sie, wo seine Eltern seien. Sie antworten ihm: 
»Meinst du den Platz finden zu können, den du zu sehen so gespannt bist? 
Welche Bedeutung hat er für dich? Kannst du nicht ruhig bei uns bleiben? 
Was kümmern wir uns um unseren Vater oder um unsere Mutter? Hat sie 
uns genährt mit Speise, bis wir zu Männern herangewachsen sind? Keine 
Spur davon! Lins haben der Himmel, die Erde und . . . <die Kräfte der 
Natur ) 1 ernährt.« Maui entgegnete: »Was ihr sagt, ist völlig richtig, aber 
solche Reden würden eher mir geziemen, da ich im Meeresschaum genährt 
und mit Speise versehen wurde. Erinnert euch der Zeit, da ihr an der 
Brust eurer Mutter lagt. Ihr konntet unmöglich früher die verschiedenen 
Arten von Speisen, die ihr erwähntet, essen, ehe ihr aufgehört hattet, von 
ihrer Milch ernährt zu werden. Aber was mich betrifft, o meine Brüder, 
ich habe niemals einen Teil bekommen weder von ihrer Milch noch von 
ihrer Nahrung, und doch liebe ich sie, einzig und allein aus dem Grunde, 
daß ich in ihrem Leibe gelegen bin. Und weil ich sie liebe, wünsche ich den 
Platz zu wissen, wo sie und mein Vater sich aufhalten. — Seine Brüder 
waren von dieser Rede sehr überrascht und erfreut und munterten ihn auf, 
nach den Eltern zu suchen.« Er verwandelt sich zu dem Zweck in eine 
Taube, eine Gestalt, die seinen Brüdern ausnehmend gut gefällt. Was ihn 
so schön machte, war der Gürtel und die Schürze seiner Mutter, die er ihr 
damals entwendet hatte, als sie im Schlafe lag. 

»Dann flog er fort, bis er zu der Höhle kam, in die seine Mutter 
hinuntergelaufen war,- er hob den Rasenfleck empor, dann ging er hinab, 
verschwand in der Höhle und verschloß wiederum die Mündung, um die 
Eingangsstelle unkenntlich zu machen. Er flog drinnen mit sehr großer 
Schnelligkeit fort und zweimal stieß er sich die Flügel an, weil die Höhle 
eng war,- bald gelangte er in die Nähe des Bodens der Höhle und flog 
entlang desselben,- und wiederum, weil die Höhle so eng war, stößt er 
zuerst mit der einen, dann mit der anderen Schwinge an: aber jetzt er* 
weitert sich die Höhle und er eilt geradeaus weiter. Schließlich sah er eine 
Schar von Leuten einherziehen, unter einem Gehölz von Manapaubäumen, 
und weiterfliegend setzt er sich auf die Spitze eines dieser Bäume, unter 
welche die Leute sich gelagert hatten. Und als er seine Mutter unten im 
Gras an der Seite ihres Gatten liegen sah, da erriet er sofort, wo sie wären, 
und er dachte: Ah, da sitzt mein Vater und meine Mutter gerade unter 
mir,- und bald hörte er auch ihre Namen, da sie von ihren Freunden ange* 
redet wurden, die bei ihnen saßen. Da sprang die Taube herunter und 
setzte sich auf einen anderen Zweig, ein wenig niedriger, pickte eine von 
den Beeren des Baumes ab, warf sie behutsam hinunter und traf den 
Vater damit an der Stirne. Da sagten einige aus der Gesellschaft: War 
es ein Vogel, der das hinuntergeworfen hat? Doch der Vater sagte darauf: 
Es war nur eine Beere, die zufällig heruntergefallen ist. — Da pflückte die 
Taube wieder einige Beeren ab und warf sie mit aller Kraft hinunter und 


Im Text einzeln aufgezählt. 





Die Geschichte des Bergmanns von Falun 


299 


traf sowohl Vater wie Mutter 1 . Sie schrien auf, die ganze Gesellschaft 
sprang auf und blickte auf den Baum, und als die Taube zu girren begann, 
fanden sie es nach dem Geräusch bald heraus, wo sie verstecht saß, zwischen 
Laub und Ästen. Und allesamt begannen sie mit Steinen nach ihr zu werfen, 
sie warfen aber ziemlich lange Zeit, ohne sie zu treffen. Schließlich ver^ 
suchte der Vater nach ihr zu werfen. Ah, er traf sie, Maui hatte es selbst 
so angestellt, daß er von dem Stein getroffen würde, den sein Vater 
nach ihm warf 2 . Denn ohne seinen Willen hätte ihn niemand treffen 
können,- er war getroffen gerade an seinem linken Bein, hinab fiel er und 
als er flatternd und sich abmühend am Boden lag, da liefen sie alle hinzu, 
um ihn zu fangen. Aber siehe, die Taube hatte sich in einen Menschen 
verwandelt.« — Taranga bemerkt, der Mann sähe ähnlich aus wie einer, 
den sie sah, als sie allnächtlich ihre Kinder zu besuchen pflegte. Sie erzählt 
von der Fehlgeburt und erkennt schließlidi Maui wieder: »Willkommen, 
o mein Kind, willkommen, durch dich wird später einmal die Schwelle des 
Hauses deiner großen Vorfahrin Hine*nuLte-po erstiegen werden und 
der Tod soll von da an keine Macht mehr haben über die Menschen.« 
Maui kehrt, nachdem er von seinem Vater getauft worden (wahrscheinlich 
christliche Umdeutung einer Pubertätszeremonie) zu seinen Brüdern zurück. 

Der oben erwähnte Widerspruch besteht offensichtlich darin, 
daß die Geschichte der Wiedererkennung des Maui im Gesellschafts¬ 
haus die Mutter als lebend voraussetzt, während die sich unmittelbar 
anschließende Erzählung des Besuchs der Mutter während der Nacht 
<d. h. allen Anzeichen nach wohl im Traum), ihr sofortiges Verschwind 
den beim Erwachen, die Suche Mauis nach ihr und ihre Entdeckung 
unter der Erde <d. h. in der Unterwelt) den Tod der Mutter vor- 
aussetzt. Möglicherweise wäre dieser Widerspruch mit dem Hinweis 
auf die Unklarheit eines infantil gearteten Denkens zu entkräften, 
das den Tod mit dem Fortgehen und das Fortgehen mit dem Tod 
verwechselt. Von Bedeutung wäre natürlich auch die astrale Be- 
deutung des Mythus (Maui = Sonne, die Mutter der Mond). — 
Was das Analytische betrifft, so ist auf die Darstellung des Ein^ 
dringens in die Unterwelt hinzuweisen, die deutlich sexuellen Cha¬ 
rakter hat (Verwandlung in eine Taube, fliegen in dem engen Schacht). 

Wir haben noch die spezielle Deutung der Motive in der 
oben (p. 253 f.) angeführten Arnimschen Ballade nachzutragen. Der 
Grund, aus dem wir das bis jetzt verschoben haben, liegt in dem 
Umstand, daß sie zwar der Reihe E. T. A. Hoffmann, Richard 
Wagner, Hugo von Hofmannsthal, die wir als ein zusammen¬ 
gehöriges Ganzes behandelten, zeitlich vorangeht, sich jedoch durch 
einzelne Motive für eine erste Analyse weniger zugänglich erweist. 
Es ist in dieser Ballade erst von einem Brunnen die Rede, in dem 
sich ein Knabe bespiegelt. Dieser Brunnen geht aber unvermerkt in 
ein Bergwerk über, aus dem der Knabe Schätze emporschafft 3 . Wir 

1 Beeren spielen oft eine Rolle bei parthenogenetischer Befruchtung. 

2 Sühne, die er sich selbst für den Angriff gegen den Vater auferlegt. 

3 Die Bedeutung des letzteren Motivs gebe ich hier nicht. Der Leser wird 
sie aus Ferenczis Abhandlung über die ontogenetische Wurzel des kapitalistb* 
sehen Triebes entnehmen können. 





300 


Dr. Emil Franz Lorenz 


kennen aber aus der Volkskunde die Symbolik des Brunnens (Ge¬ 
burt aus dem Brunnen etc.) und wissen demgemäß, daß Brunnen 
und Bergwerk dasselbe bedeuten. »Im Märchen korrespondieren 
Höhle oder Loch oder Brunnen. Ein Loch, von den herrlichsten 
Blumen umstanden, führt tief in die Erde zur Hölle nach einem 
lappländischen Märchen (Poestion Nr. 52)« L — Von Bedeutung ist 
es für uns, daß die Geschichte bei Achim von Arnim in mancher 
Beziehung noch mehr ins Infantile zurückgerückt ist. Dann klingt es 
aber wieder daraus hervor, in Stimmung und Rhythmus, wie ein 
ferner Nachhall einer keimenden Erotik, die sich aus der Schwüle 
der Pubertät in sehnsüchtigem Forscherdrang zu einer helleren Er^ 
kenntnis durchgerungen hat und sich im Besitze derselben ungehemmt 
ihren Phantasien hingibt. Zu diesen gehört in erster Linie der 
Brunnen, das symbolische Forschungs* und Libido-Objekt,* wie aber 
zu dem Bilde des Bergwerks in den anderen Bearbeitungen des 
Themas das realere Objekt der Königin hinzutritt, so auch hier: in 
dem Brunnen sieht er die Bergkönigin 1 2 . Daß er mit ihr seinen Fest^ 
tagskuchen teilt, könnte man für einen rein individuellen auf irgend 
eine konkrete Kindheitserinnerung des Dichters zurückgehenden Zug 
halten, wenn wir nicht wüßten, daß das gemeinsame Essen ein sym^ 
bolischer Akt ist, was schon Novalis intuitiv erfaßt hatte, als er 
in seinen Fragmenten 3 schrieb: 

Das gemeinschaftliche Essen ist eine sinnbildliche Handlung der Ver^ 
einigung. Alle Vereinigungen außer der Ehe sind bestimmt gerichtete, durch 
ein Objekt bestimmte und gegenseitig dasselbe bestimmende Handlungen. 
Die Ehe hingegen ist eine unabhängige Totalvereinigung. Alles Genießen, 
Zueignen und Assimilieren ist Essen oder Essen ist vielmehr nichts als 
eine Zueignung. 

Oder die Schlagworte an anderer Stelle 4 : 

Synthesis von Mann und Weib. (Grund der Gastfreundschaft der 
Alten — Abendmahl, gemeinschaftliches Essen und Trinken ist eine Art Ver^ 
einigung, ein Generationsakt). 

Mit E. T. A. Hoffmann und den von ihm angeregten Be^ 
arbeitungen hat die Ballade noch das Eifersuchts^ und Verschüttungs^ 
motiv gemeinsam. Indes zeigt die psychologische Motivierung im 


1 Radermacher, Das Jenseits etc., p. 87 h 

2 Der Name der großen vorderasiatischen Muttergottheit Kybele bedeutet 
»Höhle, Gemach« (x'ößeha ävzQa xai fiala/noL Hesych). Er bezeichnet »die typU 
sehen phrygischen Felsenheiligtümer der kleinasiatischen Höhlenbewohner der Urzeit. 
Demgemäß werden die Kultbilder der ,Kybele' dort, wo die heilige Höhle — 
Mutter und Geburtstätte des Gottkindes zugleich — der religiösen Phantasie der 
eingewanderten Arier nicht mehr genügt, in seltsamer Weise aus dem Felsen selbst 
herausgehauen, so daß die Göttin — sie, die selbst der ,Berg' oder ,FeIsen', 
das ,Haus des Berges' und die ,Höhle' ist — zwischen den ebenfalls aus dem 
Felsen gehauenen Flügeltüren der Höhle sichtbar wird«. Robert Eisler, Kuba** 
Kybele, Hermes 68. Bd., p. 143 f. 

3 Werke, herausgeg. v. Minor, III, p. 65 f. 

♦ ibid. II, p. 210. 





Die Gesdiidite des Bergmanns von Falun 


301 


einzelnen noch manche Schwächen, die erst durch die wunderbaren 
Intuitionen Hoffmanns beseitigt wurden, der den Stoff neun Jahre 
später, ohne Zweifel auch durch Arnim angeregt, aufgriff und jenes 
psychologische Kunstwerk schuf, das wiederum im Geiste Hof¬ 
mannsthals — wie wir nach dem Vorspiel glauben behaupten zu 
dürfen — zu einer schlackenlosen Verkörperung von Phänomenen 
des unbewußten Seelenlebens geführt hat. — Es wäre zu wünschen, 
daß der Dichter, der unterdessen in »Ödipus und die Sphinx« das 
Geheimnis der Bindung an die Mutter in den wundervollen Versen 
vor uns ausgebreitet hat, die Ödipus zu Phönix spricht, auch »Das 
Bergwerk zu Falun«, als das geläutertste Endglied in der literarU 
sehen Entwicklung unseres Motivs, der Veröffentlichung nicht länger 
entziehen möge. 


rfcsrta 







302 


Bücher 


Bücher. 

ARTHUR SCHNITZLER ALS PSYCHOLOGE. 

Von Dr. Theodor Reik. 

Mit Vergnügen darf festgestellt werden, wie sehr sich seit dem letzten 
Buch desselben Verfassers über Flauberts »Tentation« — sein Auge ge* 
schärft, sein psychologisches Gesichtsfeld erweitert hat. Er begnügt sich nicht 
mehr mit den ungefähren Umrißlinien des unbewußten Seelenlebens, sondern 
folgt ihm durch seine Windungen und Entstellungen, Schichtungen und Kom* 
promisse hindurch und weiß die feinsten Ausläufer, die zartesten Details 
seiner Deutungskunst dienstbar zu machen. Ohne den Ödipuskomplex zu 
vernachlässigen, zieht er die anderen, für das Unbewußte bedeutungsvollen 
seelischen Mechanismen in den Kreis seiner Beobachtung, vor allem die 
»Allmacht der Gedanken«, die Beziehungen zwischen Eifersucht und Homo* 
Sexualität, das Problem der Vergänglichkeit des Ich und des Narzißmus. 
Dadurch hält sich das Buch von der pedantischen Monotonie frei, die die 
Gefahr solcher Untersuchungen bildet, der Gedankenzug erhält Fülle und 
Geschmeidigkeit und wird so den untersuchten Dichtungen näher gerückt 
und besser geeignet, ihnen in der eigenen Weise gerecht zu werden. 

Besonders genußvoll ist es, an der Hand des Autors die Wege zu 
verfolgen, auf denen die Motive Schnitzlers wandeln und mitanzusehen, 
wie sie, im Innersten unverändert, sich einer pathetischen oder ironischen, 
wichtigen oder nebensächlichen Verwendung anzupassen verstehen. Durch 
solche Enthüllungen läßt sich auch der Behauptung am besten begegnen , 
die Psychoanalyse verkleinere gewaltsam die Persönlichkeit des Dichters und 
mindere die Empfänglichkeit für seine Werke,* denn erst nach der Zurücks 
führung auf die wenigen, ewig wiederkehrenden Grundmotive kann man das 
Verdienst des Künstlers nach Gebühr bewundern, der aus so geringem 
Stoffe den unzerstörbaren Eindruck reichster und verwirrender Vielgestalt 
hervorzuzaubern vermochte. 

Ein kühnes Unterfangen Reiks ist es, die Träume, die Sdmitzler in 
seine Werke eingestreut hat, nach den Regeln der »Traumdeutung« auf* 
zuklären ,* daß dieses Wagnis so vollkommen gelungen ist, darf sich wohl 
nicht nur der Psychoanalytiker zur Ehre rechnen, sondern auch der Dichter, 
der bei der Komposition gewiß rein intuitiv, ohne Rücksicht auf wissen* 
schaftliche Befunde vorgegangen ist. Natürlich muß von einer gewissen 
Schichte an die erfundene Gestalt des Träumers mit der ihres Erfinders in 
Eins zusammenschmelzen und von da ab läßt sich die Deutung nicht mehr 
als ästhetisches Experiment, sondern nur als persönliche Analyse fortsetzen. 
So läßt sich etwa, wenn Georg Wergenthin von den »Partituren« träumt, 
die er bei der Ankunft in Amerika vorzeigen muß, vermuten, daß zwar 
nicht der träumende Musiker, wohl aber der dichtende Arzt von der Ver* 
wandtschaft des Wortes mit der Bezeichnung einer Schwangeren als »pari* 
tura« beeinflußt wurde. Zu Reiks Deutung dieses Traumes ließe sich noch 
hinzufügen, daß er die Situation Georgs im Sinne seines Wunsches ab* 
ändert: er macht aus der Reise zu Anna hin, auf welcher der Schläfer be* 
griffen ist, eine Fahrt von ihr weg nach Amerika. Darin liegt wohl der 
nächste Anlaß für das Schuldgefühl, das den ganzen Traum durchzieht,* der 
zweite Traum dient dann dazu, das böse Gewissen zu beschwichtigen, da 
er heimkehrend seinen inzwischen herangewachsenen Sohn und Anna, beide 
blühend und glücklich, wiederfindet. 





Bücher 


303 


Sehr zutreffend und wertvoll sind die Ausführungen Reiks über die 
unsichtbare aber entscheidende Rolle, die der tote Vater Georgs in »Der 
Weg ins Freie« spielt: beginnt doch der Roman damit, daß Georg v. Wer* 
genthin zum erstenmal, seitdem sein Vater aus der Reihe der Lebenden 
geschieden ist, seinen Blick und sein Interesse wieder der Umwelt zuwendet. 
Sein Verhältnis zu den Menschen hat sich während der ersten Trauer, ohne 
daß er es weiß, gewandelt,- wie er nun, von den Eindrücken, die der Tod 
des Vaters in seinem LInbewußten hinterlassen hat, gehemmt, tastend und 
unsicher eine neue Einstellung sucht, ist das Thema des Romans, und 
wie er schließlich, durch den heimlich ersehnten Tod des Kindes begünstigt, 
die vorzeitige Identifikation mit dem Vater abschüttelt, das ist der eigent¬ 
liche »Weg ins Freie«. 

Schnitzler hat es verschmäht, das Verhältnis zwischen Vater und 
Sohn unmittelbar darzustellen, er läßt es nur unterirdisch fortwirken. Von 
den Gefühlen des Sohnes wird uns nur die eine, bewußtseinsfähige Hälfte 
angedeutet, in der Kindesliebe, Bewunderung, Pietät und Dankbarkeit 
sich zu einem Gefühl der Hingebung und Sehnsucht mischen,- die an* 
dere, dunklere, läßt sich kaum erraten. So konnte kein Werk entstehen, das 
durch das Feuer und die Wahrheit seiner Leidenschaft mitreißt und die 
Menschengemüter in ihren Grundvesten erschüttert, das Raum und Zeit in 
seiner Wirkung nicht abzuschwächen vermögen. Statt dessen hat der Dichter 
es verstanden, die unbewußten Gefühle wie Rufe aus einem fernen Geister* 
reich über sein Werk hinwehen zu lassen, eine Stimmung von einzig¬ 
artiger, herber Süße daraus zu keltern, die trivialste Episode in ihrem abend¬ 
stillen Abglanz zu vergolden, so daß sie uns teuer wird, wie ein schönstes 
eigenes Erleben. 

Wir dürfen von dem Autor, dem wir ein neues Verständnis 
Schnitzlers und der von seinen Werken ausgehenden Wirkungen ver¬ 
danken, nicht Abschied nehmen ohne ihn aufzufordern, sich ein paar kleine 
Schwächen abzugewöhnen, die sein Buch ganz unnötigerweise verunzieren. 
Dahin gehört vor allem die an manchen Stellen unterlaufende Vernach¬ 
lässigung des im übrigen durchaus lobenswerten und lebendigen Stils. Ferner 
die Gewohnheit, eine eigene Wendung hie und da, wo der Inhalt es 
zu erlauben scheint, in ein klassisches Zitat auslaufen zu lassen, und da* 
durch beiden den Charakter unpersönlicher Gemeinplätzigkeit zu geben. 

Doch dies sind, wie gesagt, nur kleine Flecken, die niemand hervor* 
zuheben berechtigt wäre, wenn sie nicht als Folie gegen so hohen Wert 
ständen. Hanns Sachs. 

ERNEST JONES, The Case of Louis Bonaparte, King of Holland. 

Es ist reizvoll, welthistorisches Geschehen auf die Entwicklung im 
Seelenleben eines Einzelnen zurückzuführen und hier die Gesetzmäßigkeit 
und strenge Kausalität zu finden, die uns die verworrenen Fäden der Po* 
litik so leicht versagen. Zu einem solchen Versuch fordert vielleicht keine 
andere Gestalt der Geschichte so sehr heraus, wie der Imperator, dessen Wille 
anderthalb Jahrzehnte hindurch die Geschicke Europas geformt hat. 

Der englische Forscher, der eine groß angelegte Arbeit über Napoleon 
vorbereitet, gibt uns als Vorkost eine Aufklärung des höchst seltsamen 
V erhaltens, das Louis Bonaparte gegen den älteren Bruder zeigte. Ur* 
sprünglich voll leidenschaftlicher Hingabe für ihn, der den Knaben erzogen 
und ihm den Vater ersetzt hatte, wandte sich Louis nach dem ersten ita* 
lienischen Feldzug wie mit einem Schlage innerlich ab,- während der nun 




304 


Bücher 


folgenden sechzehn Jahre gab er unzweideutige Beweise seiner feindseligen 
Einstellung, die in seiner Eifersucht — seine Frau, Hortense Beauharnais, 
galt in der Meinung von ganz Europa als die Geliebte ihres Stiefvaters 
— Nahrung fand und sich stellenweise bis zu Verfolgungsideen steigerte. 
Jones, der diese Züge aus der großen Masse historischen Materials sehr 
glüddich herauszuarbeiten weiß, sieht in ihnen wohl mit Recht die Folgen 
der mißglückten Verdrängung einer überstarken erotischen Bindung an den 
Bruder. Diese Aufhebung des bisherigen psychischen Gleichgewichtes fällt 
zeitlich mit einer venerischen Infektion zusammen, die einen Teil der bisher 
im normalen Liebesieben verausgabten Libido in ihr altes, infantiles Bett 
zurücklenkte. 

Nach dem endgiltigen Sturz des Kaisers und noch stärker nach seinem 
Tode durfte die ursprüngliche Neigung unentstellt zurückkehren,- der ehe* 
malige König von Holland verwendete seinen Lebensabend dazu, den 
großen Bruder, dem er im Glück getrotzt und im Unglück Untreue bewiesen 
hatte, zu vergöttern, seine Schwächen literarisch zu verteidigen und seine 
Kritiker anzugreifen. 

An dem kleinen Aufsatz ist nicht nur der psychologische Scharfblick 
des Autors, sondern auch seine Beherrschung des Stoffes und noch mehr 
die Klarheit und Konzentration der Darstellung rühmenswert. 

Dr. Hanns Sachs. 

EINE PSYCHOLOGISCHE GESCHICHTE DER EROTIK. 

Ich muß gestehen, daß ich Sätzen wie diesem: »Denn der Liebestod 
ist der definitive und nicht mehr rückgängig zu machende Sieg des Gefühles, 
er ist die Ekstase als Lösung des Weltproblems und des Weltprozesses«, 
ratlos gegenüberstehe. Es fehlt mir also vielleicht die Eignung, über Luckas 
Buch zu sprechen 1 : Denn das Werk bewegt sich auf dem Niveau einer 
solchen Überschwenglichkeit und Irrationalität der Sprache und Gefühle, wie 
sie in dem zitierten Satze ausgedrückt sind. Die auftauchenden Bedenken 
wegen meiner Inkompetenz mußte ich fallen lassen, als ich in der Vor* 
rede des Buches las, daß es »zu allen Gebildeten« spreche. Der Rezen* 
sent eines Werkes ist dann in der schwierigsten Lage, wenn er findet, 
daß darin ein prinzipiell richtiger Gedankengang mit unzulänglichen 
Mitteln durchgeführt wird. Richtig erscheint in Luckas Buch die Idee, daß 
das Liebesgefühl eine Geschichte hat, daß es sich in seiner Entwicklung 
vom Altertum bis zur Jetztzeit differenziert und modifiziert hat. Der Autor 
unterscheidet drei Stufen der Erotik: den Geschlechtstrieb, die Liebe und 
die Einheit von Geschlechtlichkeit und Liebe. Diese Einteilung ist, soweit 
sie eine Entwicklungstendenz belegt, richtig, wird aber sofort angreifbar, 
wenn sie sich mit Wertungen verbindet, die persönlicher Natur sind. Hier 
aber stehen wir am Knotenpunkt seiner Anschauungen: er beurteilt die 
Liebesphänomene von einem metaphysischen Standpunkt. Der Liebestod 
erscheint ihm als die höchste Form der Erotik. Es muß hier gesagt werden, 
daß Metaphysik heute und wohl für immer nur als eine Sonderart künst* 
lerischer Intuition angesehen werden kann, daß sie mit Wissenschaft nur so 
viel zu tun hat, als sie Objekt wissenschaftlicher Forschung werden kann. 
Das Buch Luckas erscheint aber als eine Verquickung nicht gereifter 
Wissenschaftlichkeit, Dichtung und Metaphysik. Den Liebestod als die 


1 Emil Lucka, Die drei Stufen der Erotik <Schuster und Loeffler, Leipzig 
und Berlin, 1913). 





Bücher 


305 


höchste Form der Erotik ansehen, bedeutet etwa so viel wie der sdierz* 
hafte Rat, sich bei Zahnschmerzen den Kopf mit Hilfe von Kokain reißen 
zu lassen. Man begreift diese Wertung erst dann, wenn man erfährt, daß 
Lucka in Richard Wagner den hödisten Triumph aller Menschlichkeit 
und aller Kultur sieht und dessen »Tristan und Isolde« als das Weihespiel 
metaphysischer Erotik feiert. Allein diese Oper wird man ohne Orchester¬ 
begleitung kaum als dies ansehen dürfen und sich in bezug auf Wagner 
mancher ebenso scharfsinnigen wie boshaften Bemerkungen Nietzsches über 
den verborgenen Zusammenhang von Sexualität und metaphysischer Erotik 
erinnern. Es kann nur vom Standpunkte eines verzückten Wagnerianers 
das Urteil abgegeben werden, daß Shakespeares Romeo <im Vergleich 
zu Parsifal etwa) ein »ganz primitiver Erotiker mit sadistischen Zügen ist, 
der sich über die erste Stufe der Sexualität kaum erhoben hat«. Mit der 
Grundthese Luckas, daß nämlich die seelische Liebe und die metaphysische 
Erotik nichts mit Sexualität zu tun habe, wird sich gerade der Psycho* 
analytiker, welcher die Libidoentwicklung der Individuen studiert hat, schwer* 
lieh einverstanden erklären. Er wird es auch vertreten müssen, daß die 
»oberflächliche Meinung, daß alle Mystik entgleiste Sexualität sei«, immerhin 
mehr Berechtigung hat, als die von Lucka ausgesprochene, daß sie die 
Ursehnsucht nach der Vereinigung mit dem Kosmos ist. Im ganzen muß 
man sagen, daß Lucka die von ihm supponierten drei Stadien der Erotik 
einfach nebeneinander stellt und schildert, ohne zu zeigen, welche psychischen 
Momente zu ihrer Genese führten. Das Buch erinnert in manchen Teilen 
an Oskar Ewalds »Gründe und Abgründe«, mit dem es die absonder* 
liehe Verhimmelung des Liebestodes gemeinsam hat. Beide Bücher sind so* 
Zusagen vorwissenschaftliche Werke. Ebenso das von Lucka oft zitierte 
Buch des bedeutenderen, aber nicht minder konfusen Otto Weininger. 

Ein Irrtum bleibt zu berichtigen. Seite 305 wird von Freud gesagt, 
seine Forschungen bewiesen, daß der Geschlechtstrieb in früher Kindheit 
kein Fortpflanzungstrieb sei/ »was Freud übrigens selbst nicht folgert.« 
Freud zieht aber ganz entschieden diese Folgerung und glaubt, daß die 
Fortpflanzungstendenz <falls sie überhaupt eine allgemeine genannt werden 
darf) erst mit dem Primat der Genitalzone ihren Anfang nehmen kann. 

Besonders unangenehm an Luckas Buche werden vollkommen un* 
berechtigte Wertungen erscheinen wie die Unterscheidung zwischen Ger* 
manentum einerseits, Orientalismus und Barbarentum anderseits. Wenn 
Lucka behauptet, daß erst das Christentum im Gegensatz zu allem 
Asiatentum den Mittelpunkt des Lebens in die Seele des Menschen gelegt 
habe, so darf vielleicht daran erinnert werden, daß diese Verinnerlichung 
nicht am Christentum als Institution haftet, sondern an der fortschreitenden 
Verdrängung, welche schließlich zur Introversion fuhrt. Man darf ferner 
schüchtern einwerfen, daß jener Rabbi Joschuah von Nazareth, welcher mit 
Recht als Gründer des Christentums gilt, Asiate gewesen sei. Man wird 
endlich die Umwandlung des Sonnensymbols aus einem männlichen in ein 
weibliches Prinzip in anderen seelischen Vorgängen begründet glauben, als 
in einer spezifisch germanischen Rasseneigentümlichkeit. 

Dr. Theodor Reik. 

Eine Urweltdichtung. 

Johannes V. Jensen hat vor nicht allzulanger Zeit einen mythischen 
Roman »Der Gletscher« veröffentlicht, in welchem das allmähliche Entstehen 
der Kultur durch die Not geschildert wird. Fritz Wittels gibt uns nun 

Ima^o III/3 


20 




306 


Bücher 


einen phantastischen Urweltroman, der sich zu der Jensensehen Konzeption 
in bewußten Gegensatz stellt 1 . »Alles um Liebe« ist sein Titel und in 
seinem Verlaufe wird dargestellt und oft ausdrücklich ausgesprochen, daß 
sich alles um Liebe drehe. Der Psychoanalytiker ist gewiß dem Verdachte, 
den stärksten Anteil an der Kulturentwicklung anderen Kräften als den 
libidinösen zuzuschreiben, nicht ausgesetzt,* dennoch wird er es als übertrieben 
erkennen müssen, wenn Wittels den egoistischen Regungen gar keinen 
Raum gönnt. Der bedeutsame Einfluß der Gefühle gegen den Vater, 
welche vielleicht zu den ersten Organisationen und Institutionen des Kultur^ 
lebens führten, wird nur in der ersten Hälfte seiner Konzeption von Wittels 
gewürdigt,- hier freilich in einer Hypothese, weiche der von Freud auf^ 
gestellten Geschichte der Urhorde sehr nahe kommt. Auch bei Wittels 
steht der Vatermord an der Spitze, ohne daß aber seine inzestuöse Mo¬ 
tivierung ausgeführt würde. Der zwischen Affe und Mensch stehende Gru 
wird von seinen Söhnen ermordet. Diese Tat hat aber keine anderen Folgen, 
als daß die Söhne nun in die Welt ziehen, und jeder sein Schicksal erlebt, 
ohne weitere Verbindung mit seinen Geschwistern. Bekanntlich folgt nach 
Freud dem Vatermord notwendigerweise die Gründung des Bruderclans. 

Es ist unmöglich, hier alle Etappen der Kulturentwicklung, wie sie 
sich nach Wittels durch die weltumspannende Macht der Sexualtriebe 
gestalteten, wiederzugeben. Die Ableitung der Koketterie und des Scham^ 
gefühles sind durchaus nicht zwingend; beide Erscheinungen gehören auch 
sicher einer späteren Epoche an. Ebenso willkürlich erscheint die Annahme, 
welche Wittels in bezug auf die bildliche Darstellung Gottes in der prä* 
historischen Zeit macht. Der mächtige und grausame Birubu war gestorben 
und die Menge erhob ihn zum Allvater, zu Gott. Ein Mann nun ergriff 
einen weichen, farbigen Stein und zeichnete Gott an die Wand der Höhle. 
Es entstand ein nacktes Weib mit üppigen Formen und einem Kopfe, den 
niemand erkennen konnte. Hier klafft offenbar ein Widerspruch, den WiU 
tels nicht zu lösen unternimmt. Es kann natürlich nicht die Rede davon 
sein, darüber zu diskutieren, ob die Psychogenese der Gottesdarstellung 
sich wirklich so vollzog; wir haben es ja mit einem Romane zu tun. Immer^ 
hin erfordert die Baustilgerechtigkeit des Werkes eine Begründung: Birubu 
war ein Mann gewesen,* warum sollte ihn sein Darsteller als Weib zeichnen 
und seine Zeitgenossen damit einverstanden sein? Solcher Einwände ließen 
sich manche erheben. Doch es erscheint wichtiger, darauf hinzuweisen, daß hier 
ein reizvoller Versuch vorliegt, die tiefgehende und weitunterschätzte Be^ 
deutung der Libido und ihrer Transformierbarkeit in der Kulturentwicklung 
der primitiven Menschheit zu würdigen. Freilich, dieser Libidobegriff des 
Autors erweist sich manchmal als sehr vage. So heißt es an einer Stelle, 
die Erziehung solle über jenen Urstrom aufklären, »den man Libido nennt 
oder Vitalität oder wie man will«. Alle Errungenschaften der Psychoanalyse, 
denen der Verfasser fast alles verdankt, gehen durch solche unklare Defini¬ 
tionen und —' was schlimmer ist — Begriffe verloren. Soll man aber mit 
einem Dichter rechten? 

Der Fall läge einfacher, wenn er schlechter läge,* wenn wir es wirk^ 
lieh nur mit einem Roman zu tun hätten. Doch der Autor beansprucht 
zugleich, als wissenschaftlicher Psychologe zu gelten und so beurteilt zu 
werden. Sein Werk stellt sich uns als ein anorganisches Gemenge von 
Phantastik und Wissenschaftlichkeit, Biologie und Psychologie dar, an 


1 »Alles um Liebe« (Egon Fleische! ® Co., Berlin, 1912). 







Bücher 


307 


welcher die Lust zu fabulieren und der Forschungsdrang gleichen Anteil 
haben. Es ist schwer, dazu einen Standpunkt zu gewinnen: es gibt sowohl 
dem naiven Leser als auch dem Psychologen mehr und weniger, als er 
sucht. Dieser Vielseitigkeit in der Form, welche sich am ehesten dem Essai 
nähert, steht eine Einseitigkeit der Betrachtungsweise gegenüber, welche 
geeignet ist, an die komplexe Natur solcher Phänomene wie des Tanzes 
und der Satire vergessen zu machen. Wird auf der einen Seite gesagt: 
»Leben, Kunst und Hysterie fließen ohne Grenzen ineinander und über 
allem schwebt die unergründliche Macht des Wahnsinns«, so wird auf der 
anderen die Schauspielkunst einseitig auf exhibitionistische Neigungen zurück^ 
geführt. Namentlich so wirre und feuilletonistische Behauptungen wie die 
erste sind des scharfsinnigen Autors nicht würdig. 

Der Scharfsinn zeigt sich nicht nur in der Aufdeckung seelischer Me¬ 
chanismen, sondern auch in der Wertung psychischer Produkte. Abschnitte 
wie »Ideen der Völker« und »Napoleon« sind nicht nur vortrefflich ge¬ 
schrieben, sondern liefern auch wirklich brauchbare psychologische Resultate, 
deren Wert — wenn man von den erwähnten Einseitigkeiten absieht — 
kein geringer ist. Am besten scheint mit der Versuch zu sein, der Psycho^ 
logie der Todesangst nahe zu kommen,- hier schließt sich Wittels auch 
enge an die Psychoanalyse an. 

Es sind nicht die schlechtesten Bücher, welche wie das Wittelssche 
in Zustimmung und Abwehr reiche Anregungen geben. 

Dr. Theodor Reik. 

J. MÜLLER-LyER: Die Entwicklungsstufen der Mensch¬ 
heit. III, Bd.: Formen der Ehe. — IV. Bd.: Die Familie <Verlag 
J. F. Lehmann, München. — III. Bd. geh. M. 1.80, geb. 2.60; IV. Bd. 
geh. M. 5.—, geb. M. 6.~). V. Bd.: Phasen der Liebe <Verlag Al¬ 
bert Langen, München 1913). 

Diese drei eng zusammengehörigen Bücher aus dem auf 10 Bände 
angelegten Gesamtwerk behandeln die Geneonomie, d. i. die Summe 
aller derjenigen Lebensäußerungen der Gesellschaft, die sich auf die Erhal¬ 
tung der Art beziehen. Diese Soziologie der Fortpflanzung umfaßt die 
Entwicklungsgeschichte der Liebe, Ehe, Familie, Verwandtschaft, der Frauen^ 
erwerbung der sozialen Stellung der Frau etc. 

Der Verfasser, der ein überreiches und interessantes Material über^ 
sichtlich zu gruppieren, einzuordnen und in gemeinverständlicher Darstellung 
zu verarbeiten weiß, geht dabei nach der von ihm in die Soziologie ein^ 
geführten »Phaseologischen Methode« vor, d. i. die vergleichende Methode 
der Naturwissenschaften in ihrer Anwendung auf die Kulturwissenschaft. 

»Nach dieser Methode wird das Gesamtgebiet der Kultur zunächst 
in seine einzelnen Hauptteile zerspalten, als deren wichtigste zu nennen 
sind: Wirtschaft, Familie, Staat, Sprache, Wissenschaft, Religion, Moral, 
Recht und Kunst. 

Auf jedem dieser Einzelgebiete wird der Verlauf, den die einzelnen 
Kulturerscheinungen von den ältesten Zeiten bis auf unsere Tage genommen 
haben, in eine Folge von Stadien oder Stufen oder Phasen zerlegt. 

Vergleichen wir nun nach den Regeln der komparativen Methode die 
einzelnen Phasen miteinander, so entdecken wir die Richtungslinien des 
Fortschrittes, d. h. Linien, die sich durch den gesamten Phasenverlauf 
hindurchziehen und uns die Richtung, in der sich die Kultur bewegt, er¬ 
kennen lassen. 


20* 




308 


Bücher 


Und wenn wir das Studium dieser Linien vertiefen durch die Untere 
suchung der wirkenden Ursachen, der soziologischen Mächte, die den Wunder^ 
bau der Kultur aufgerichtet haben, dann werden aus den Richtungslinien: 
Richtungsgesetze, d. h. wir gelangen zur Erkenntnis der Gesetzmäßige 
keiten, denen die Kulturbewegung Folge leistet.« 

Als allgemeines Entwicklungsgesetz ergibt sich dem Verf. das »Gesetz 
der Bewußtwerdung« oder der »fortschreitenden Bewußtseinserweiterung«, das 
auch die Psychoanalyse zu ihren Grundgesetzen rechnet 1 2 . Folgerichtig steht 
dabei auch für den Verfasser »hinter und unter der Soziologie die Psycho^ 
logie«, »hinter der ökonomischen Entwicklung eine noch tiefer verborgene, 
die sozial ^ psychologische Entwicklung, die Entfaltung des menschlichen 
Willens«. Um so mehr muß es wundernehmen, daß der Verfasser über 
den wirtschaftlichen Gesichtspunkten <die, wie er zeigt, die Entwicklung des 
Liebesgefühles entscheidend beeinflußten) die psychologischen ganz außer acht 
läßt, vornehmlich aber die unbewußten, die ja eine Betrachtungsweise heran^ 
ziehen müßte, welche die Bewußtwerdung erst als Ziel der Entwicklung 
auffaßt. Hier hätte der Verfasser manches von der Psychoanalyse profitieren 
können. So besonders bei der Auffassung der Inzestscheu, deren biologische 
Begründung (Degeneration der Nachkommen) er mit Recht zurückweist (Fa^ 
milie, p. 69), um an ihre Stelle — überhaupt keine andere zu setzen, 
sondern zu erklären, der Sexualtrieb sei von Natur aus wie polygam so auch 
exogam <1. c. p. 37 f.). Abgesehen davon, daß auch dies erst zu beweisen 
wäre, bliebe es in diesem Falle unverständlich, wozu es erst strenger Ver^ 
bote gegen die Endogamie bedurft hätte, wenn der Sexualtrieb ohnehin 
von Natur aus exogam wäre. Überdies ist die weitverbreitete Sitte des 
Frauentausches, die darin besteht, die Schwester oder die Tochter einem 
fremden Stamm für die Frau zu überlassen, geeignet, eine neue Stütze 
für die inzestverhütende Funktion der Exogamie zu liefern. Ähnlich unbefrie^ 
digend sind die Erklärungen der Raubehe, der Vermeidungen und des Tote^ 
mismus. Zum Beweis dafür, daß in der vor der Familie bestehenden Horde 
absolute Promiskuität nicht geherrscht haben braucht, führt der Verf. Br eh ms" 
Schilderung von den Herdenalfen an, die sich in so weitgehendem Maße 
mit den von Freud (Totemismus) supponierten Verhältnissen in der Ur^ 
horde decken, daß wir sie als nachträglichen Beweis für diese Auffassung 
hier anführen wollen: 

»Das stärkste oder älteste, also befähigteste Mitglied einer Herde 
schwingt sich zum Zugführer oder Leitaffen auf. Diese Würde wird ihm 
nicht durch das allgemeine Stimmrecht übertragen, sondern erst nach sehr 
hartnäckigem Kampfe und Streite mit anderen Bewerbern, d. h. mit sämU 
liehen übrigen alten Männchen, zuerteilt ... Wer sich nicht gutwillig untere 
ordnen will, wird durch Bisse und Püffe gemaßregelt, bis er Vernunft an¬ 
nimmt . . . Der Leitaffe verlangt und genießt unbedingten Gehorsam und 
zwar in jeder Hinsicht. Ritterliche Artigkeit gegen das schwächere Geschlecht 
übt er nicht, im Sturme erringt er der Minne Sold. Kein weibliches Glied 
der Bande darf sich einer albernen Liebschaft mit irgend einem Grün^ 
Schnabel hingeben. Seine Augen sind scharf und seine Zucht ist streng/ er 
versteht in Liebessachen keinen Spaß. Auch die Äffinnen, welche sich oder 
besser ihn vergessen sollten, werden gemaulschellt und zerzaust, daß ihnen 
der Umgang mit anderen Helden der Bande gewiß verleidet wird; der be* 


1 Vgl. Rank, »Der Künstler«. 1907. 

2 Tierleben, III. Aufl. Leipzig 1899, Bd. I, p. 47. 





Bücher 


309 


treffende Affenjüngling, welcher die Haremsgesetze des auf sein Recht stolzen 
Sultans verletzt, kommt noch schlimmer weg . . . l Wird diese Herde zu 
groß, dann sondert sich unter der Führung eines inzwischen stark gewordenen 
Mitbruders ein Teil vom Haupttrupp ab und beginnt nun für sich den 
Kampf und den Streit um die Oberherrschaft der Herde und in der Liebe.« 

Dazu halte man die Stellung des Vaters innerhalb der Familie in 
patriarchalisch organisierten Verbänden wie in der altrömischen oder 
chinesischen Großfamilie. In der letzten ist »die Macht des Pater Familias 
eine große, fast unumschränkte. Er verwaltet das ganze Familienvermögen, 
Frau, Kinder und Kindeskinder sind seiner fast absoluten Gewalt anheim^ 
gegeben« (Familie, p. 149 ff.). Aus der eingehenden Schilderung seien einige 
Beispiele dafür angeführt: »Der Vater kann mit den Kindern machen was 
er will/ er darf sie nicht nur züchtigen, sondern auch verkaufen, verpfänden 
und unter Umständen töten .. . Sitte und Gesetz in China verlangen 
von den Familienangehörigen eine völlige Hingabe an den Vater mit Ver^ 
leugnung aller Selbständigkeit und Selbstheit! ... so weit geht, daß er^ 
wadhsene Söhne ohne Murren die Schläge von der Hand des Vaters empfangen. 
Ein Sohn, der seinen Vater beleidigt, wird mit dem Tode bestraft. Der Vater, 
der ein Kind totprügelt, wird nur zu 100 Bambusstreichen verurteilt . . . 
Ein Vater, der von seinem Sohn geschlagen wird, hat das Recht, ihn zu 
töten. Die Söhne und Töchter werden nadi dem Willen des Vaters ver¬ 
heiratet . . . Die Gewalt des Vaters über den Sohn dauert solange der 
Vater lebt,* sie hört nur auf, wenn der Sohn Beamter wird, denn nun tritt 
nach chinesischer Auffassung der Kaiser an die Stelle des Vaters . . . 
Über die Tochter besteht die väterliche Gewalt, bis sie in die Gewalt eines 
Mannes kommt, die ungefähr dem väterlichen Regiment gleichkommt.« Ähn^ 
lieh war die römische Großfamilie beschaffen. »Diese Gewalt des Vaters 
dauerte das ganze Leben,* mag der Sohn noch so alt sein, in hohen Staats^ 
würden als Prätor, Zensor oder Konsul, er ist gerade wie als Kind volL 
kommen in der Hand des Pater Familias, der ihn jeden Augenblick aller 
Errungenschaften seiner persönlichen Arbeit berauben, ihn verkaufen oder 
töten kann. Der Vater galt deshalb als der verhaßte und gefürchtete 
Zwingherr der Familie, sein Tod war für die erwachsenen Kinder 
eine Wohltat. Es finden sich, wie Lecky bemerkt, in der römischen Ge¬ 
schichte kaum Beispiele von der Liebe der Kinder zum Vater« (Familie, 
p. 151). Selbst bis ins achtzehnte und neunzehnte Jahrhundert hinein änderte 
sich der Charakter der Familie nicht wesentlich. Die Beispiele, die Verf. nach 
Stephan anführt, zeigen deutlich, daß »die elterliche Autorität tatsächlich 
einen ausschweifenden Grad erreichte«. Der große Umschwung vollzog 
sich erst mit der französischen Revolution (Familie p. 202), was psycho¬ 
analytisch leicht verständlich sein wird. Es beginnt jene Umwandlung sich 
zu vollziehen, die im »Jahrhundert des Kindes« gipfelt. »Ein großer Teil 
der väterlichen Autorität geht auf den pädagogisch geschulten Lehrer über.« 

In den »Phasen der Liebe« zeigt der Verf. das auch anderwärts aub* 
zuzeigende Dreistufengesetz wirksam, das die Wandlungs- und Entwick¬ 
lungsgeschichte des Liebesgefühls beherrscht. Er unterscheidet von den 
Liebesgefühlen — die für die Fortpflanzung der Art notwendige Anziehung 
der Geschlechter, Mutterliebe, der weibliche Abwehrtrieb und die Besitz^ 
eifersucht — die sekundären — der sexuellen Eifersucht, der Keuschheit, 


1 Diese diskrete Lücke im Text (bei Müller^Lyer) weist vielleicht auf die 
»Kastration« der Sünder hin oder wenigstens etwas ihr Analoges. 





310 


Bücher 


des geschlechtlichen Schamgefühls, Wertschätzung der Erzeugerschaft und 
personale oder »romantische« Liebe — die erst eine Folge der Kultur sind. 
In erfreulichem Gegensatz zu gewissen modernen, mystisch verzückten 
Schwärmern wird an instruktivem Material gezeigt, daß diese sekundären 
Liebesgefühle aus den primären im Laufe der Entwicklung hervorgehen 
und keinen »höheren« Ursprung haben. »Sobald sich Gelegenheiten, günstige 
Umstände bieten, bricht immer wieder die Natur siegreich hervor.« 
Folgerichtig faßt der Autor, grob gesprochen, die Liebe als gehemmte Sexua** 
lität auf: »Durch die natürliche Befriedigung wird der Trieb zur Ruhe 
gebracht und kann sich nicht zu leidenschaftlicher Stärke entwickeln. Unter** 
drückt dagegen, bäumt er sich auf und erfüllt die Seele mit heißen Leiden** 
schäften und Phantasien ... ist es eine bekannte Tatsache, daß die Liebes** 
Schwärmerei dauernd wird, wo sie unglücklich ist. Die berühmten Liebes^ 
paare in der Dichtung waren unglücklich Liebende,- z. B. Tristan und Isolde, 
Romeo und Julia usw. — Schließlich, die Entwicklung der romantischen 
Liebe ging parallel mit den Erschwerungen, die nach und nach der Befrie^ 
digung der Liebessehnsucht auferlegt wurden . . . Aus diesen Gründen muß 
man wohl annehmen, daß die romantische Liebe, wenigstens in ihren höheren 
Graden, wo sie leicht in sentimentale Überspanntheit übergeht, eine mit der 
Abstinenz zusammenhängende Erscheinung ist.« <Phasen d. L., p. 90>. — 

Es konnten hier nur einige wenige Probleme aus dem ungeheueren 
Zusammenhang der geneonomisdhen Entwicklung gewürdigt werden. Das 
Werk von Müller**Lyer bietet reiche Anregung und Belehrung ver ** 
schiedenster Art und wir wollen auf die weiteren, in Aussicht gestellten 
Bände noch zurückkommen. Dr. O. Rank. 

FRANZ STRUNZ: Die Vergangenheit der Naturforschung. Ein 
Beitrag zur Geschichte des menschlichen Geistes. Mit zwölf Tafeln. Jena, 
1913. Verlegt bei Eugen Diederichs. Brosch. Mk. 4. — , geb. Mk. 5.50. 

Für die Psychologie ist das Interessanteste an den Naturwissenschaften 
ihr Werden. Man hat es lange versäumt, diesem Werden überall liebevoll 
nachzugehen. Heute sind eine Anzahl Männer am Werk, das Vernach¬ 
lässigte an den Tag zu bringen und Verständnis zu gewinnen und zu ver^ 
breiten für das, was man mangels Kenntnis der Zusammenhänge in falschem 
Licht sah, wenn man's überhaupt eines Blickes würdigte. Jene Zusammen^ 
hänge aber, die nicht ignoriert werden wollen, sind großenteils psychologisch ,- 
und es sei hinzugefügt, daß es hier der Aufgaben für die Psychanalyse 
nicht ermangelt. Was bei Franz Strunz, dem bekannten Wiener Gelehrten, 
einem Spezialisten in der Geschichte der Naturforschung, besonders ange** 
nehm auffällt, ist, daß er ein offenes Auge für das Psychologische in der 
Entwicklungsgeschichte hat. Er arbeitet zwar diese Seite der Sache nicht aus, 
läßt dem Psychologen seinen Teil übrig: aber eben nur »übrig«, denn der 
psychologische Betrachter kann an das, was ihm Strunz erschlossen hat, an 
vielen Stellen einfach anknüpfen. 

In seinem jüngsten Buch bietet Strunz neben einigen allgemeinen 
Artikeln <wie: Die Vergangenheit der Naturforschung, Naturgefühl und 
Naturerkenntnis) den historischen Stoff sozusagen in Porträtform. Die Ge** 
dankenkreise der mittelalterlichen Forscherin Hildegard von Bingen, des 
Comenius, des Johann Baptist van Helmont werden gezeichnet, und 
das Schlußkapitel ist einer Betrachtung von Rousseaus Naturgefühl ge** 
widmet. Man merkt in dem ganzen Buch einen sympathischen Zug, der 
das zu verwirklichen strebt, was im Vorwort angekündigt wird, daß näm- 




Bücher 


311 


lieh der Zusammenhang mit dem Leben fühlbar sein soll .... Geschichte 
ist ja nichts Totes, sondern Vollendung. Die Wurzeln unseres innigsten 
Seins haften im Gewesenen, so wie wir der Mutterboden der Zukunft 
sind. In uns verwirklicht sich das Einst und wir werden uns im Kommen¬ 
den vollenden. Wir leben noch immer von den Kräften, die in der 
Arbeit der Vergangenheit am Werke waren. Ich sage, um Leben 
handelt es sich. Aber Leben sind Menschen . . . Die Seele ist der große 
Baumeister der Historie, sie schafft Einheit, Zusammenhang, Pathos und 
Unsterblichkeit. Sie ist Baumeister der Vergangenheit und der Zukunft, ob 
sie gleich nicht weiß, zu welchem Ende ihre Arbeit führt. Geschichte ist 
erweiterte Lebenserfahrung und Empirie des Lebens,* das innere Ereignis, 
das sich aus dem Menschen hebt und angewandtes Menschentum und prak* 
tische Menschenkunde wird ... Es ist doch seltsam, wie gerade die fruchte 
barsten Entdeckungen und Erfindungen am frühesten anonym werden. Das 
Werk schreitet weiter, es macht schicksalsreiche Epochen der Umwandlung 
durch, die Praxis entkleidet es aller Individualität, es wird Gemeingut, es 
wird unpersönlich und banal. Aber dabei verschwindet der im Gewesenen 
und Fernen, dem einst das Werk als Idee in der Seele reifte. Bestenfalls 
sagt der Gebildete nach Jahren noch ungeübt den Namen, kaum, daß er 
ihn richtig buchstabiert/ aber meistens weiß man ihn nicht mehr, und in 
den Büchern und Zeitschriften der Fachleute steht hie und da ein Wort 
darüber, aber auch das oft ungenau oder ohne besondere Anteilnahme mit* 
geteilt. Freilich heute wird das anders, wo die Geschichte der Naturwissen* 
schäften und der Technik und vor allem die Durchforschung der alten Natur* 
erkenntnis überhaupt neuen Aufschwung bekommt und emsige Gelehrten* 
arbeit den Anfängen aller Entdeckungs* und Erfindungssehnsucht unermüd* 
lieh nachgeht. Aber ich will das audi hier sagen: dauern werden diese Er* 
gebnisse nur dann, wenn man den Menschen, der entdeckt oder erfunden 
hat, höher stellt als das Entdeckte und Erfundene. Das, was auch in diesen 
oft so seltsamen Forschern Schicksal und Sehnsucht war, das ist ja das 
Leben, darin alles andere verankert ist. Alle Geschichte ist Seelengeschichte, 
Tragödie und Wandlung das Ich.« Wie kräftig hier das Ich, das Seelische, 
in den Mittelpunkt gestellt wird, das regt zu tiefem Denken an. Kann sein, 
daß ein ganz neuartiges Verstehen gewisser Entwicklungsvorgänge des 
menschlichen Geisteslebens im Zuge ist. 

Fast psychoanalytisch mutet es an, wenn der Verfasser z. B. schreibt: 
»Viele Jahrhunderte war die ganze naturwissenschaftliche Arbeit ich 
denke an die mittelalterlichen Gelehrten — nichts anderes als eine Ratio* 
nalisierung des einstigen religiösen Naturgefühls« <S, 10). 

Das »Naturgefühl« spielt überhaupt eine große Rolle bei dem Werden 
der Naturwissenschaft. »Ganz zuerst sind Naturbetrachtung, Naturerkenntnis 
und Naturgefühl voneinander nicht zu scheiden. Es war ein rein sinnliches 
Weltbild. Das Streben geht dahin, die ungeheuere Mannigfaltigkeit der 
Erscheinungswelt auf einen geheimnisvollen Anfang, eine mythologische 
Idee zurückzuführen. Die frühesten und naivsten Versuche des primitiven 
Monismus! Die ,Einheit der Natur' hat man das später genannt. Aber 
Glaube und Meinung haben mit ihr immer gemeinsame Sache gemacht. Es 
gab Zeiten, wo diese Lehren das Kernstück alles Naturerkennens waren 
und man den Wirklichkeitszusammenhang nicht anders begriff als im Sinne 
eines einheitlichen gefühlsmäßigen Systems. Erst viel später erdachte man 
sich gewisse Beziehungen, die in diesem System bestehen und noch später 
wertete man sie als notwendige Abhängigkeitsbeziehungen gesetzmäßiger 




312 


Bücher 


Art. Gewiß sind die ältesten Quellen und Ursprünge der Naturerforschung 
niefit der rechnende Verstand oder bewußt praktisdLtechnische Bedürfnisse. 
Aus dem Naturgefühl und mythologischen Denken sind die ersten feineren 
Spekulationen über Wesen, Sinn, Gesetzmäßigkeit und Entwicklung empor^ 
gestiegen. Mit den Jahrtausenden hat sich dieses eigenwertige Erleben ge^ 
ändert, indem man immer wieder anders alles Sein und Werden vermensch= 
lichte. Der Mensch blieb ja nicht der gleiche. Er versenkte ein immer neues 
Ichbewußtsein, das allem Lebendigen sein Interesse schenkt, in seine dama¬ 
lige Umwelt, in die Formen- und Farbenvielfalt der Natur, in ihr rand~ 
loses Leben, Streben und Werden, in ihre Masken und Spiegelungen der 
Welt und in all dem, was immer wieder im ewigen Rundlauf des Ge^ 
schehens wiederkommt. Nur soweit begriff der Mensch die Natur, als er 
das vermochte. Es war Gefühl, was den Anfängen einer Gesamtgemein*- 
schaft von Kosmos zugrunde lag.« 

Allen denen, die einer psychologischen Betraditung des menschlichen 
Lebens und Schaffens nahestehen, muß eine historische Behandlung der 
Naturwissenschaften, weldie diesen Geist atmet, mit Freude erfüllen. 

Herbert SiIberer. 






^iiiiiiiiiiiiiiiuniiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiuiiiiiimiiiiiiiiiiiiiumiimmiiuiiuiiiiiiiiiiiiiiiiiiuiimiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiii 

| Verlag Hugo Heller <S^ Cie., Leipzig u.Wien I., Bauernmarkt 3. 

= Im zweiten Jahrgang erscheint: 

| Internationale Zeitschrift für 
| ärztliche Psychoanalyse. 

| Offizielles Organ der Intern. Psychoanalytischen Vereinigung, 

Es Herausgegeben von 

| Prof. Dr. SIGM. FREUD. 

Redigiert von 

E Dr. S. FERENCZI <Budapest>, Prof. ERNEST JONES <London) 
| und Dr. OTTO RANK <Wien>. 

E Jährlich 6 Hefte bei 40 Bogen stark M. 18.— = K 21.60. 

= Soeben erschien: 

=3 

| Probleme der Mystik und ihrer 
| Symbolik. 

| Von HERBERT SILBERER. 

E 18 Bogen, mit mehreren Abbildungen, geheftet M. 9.— = K 10.80, 
E in Halbfranz geb. M. 12.— = K 14.40. 

EE: INHALT. 1. Einleitender Teil. 1. Die Parabola. 2. Trauma und Märchendeutung. 

Es ~ H- Analytischer Teil. 1. Psychoanalytische Deutung der Parabola. 2. Alchemie. 

ZZ 3. Hermetische Kunst. 4. Rosenkreuzerei und Freimaurerei. 5. Das Problem der mehr» 

== fachen Deutung. — III. Synthetischer Teil. 1. Introversion und Wiedergeburt. 

== A. Verinnerlichung und Introversion. B. Folgen der Introversion. C. Wiedergeburt. 2. Das 

es mystische Ziel. 3. Königliche Kunst. ~ Anmerkungen. — Quellen. — Index. 

H Dieses tiefschürfende Werk hält mehr, als der bescheidene Titel verspricht. Es führt 
= ins innerste Wesen der Mystik selbst und gibt endgiltige Aufschlüsse. 
Es Durch die Anwendung der psychoanalytischen Methode gelangt der Autor 
=: zu ebenso überraschenden als zwingenden Ergebnissen. Die Bildersprache der Mystik 
= (wovon uns das Werk zahlreiche Beispiele aus seltenen Quellen vor Augen führt) 
= ist schon an sich teils wegen ihrer Kuriosität, teils wegen der Größe und Schönheit 
EE ihrer Gedanken bemerkenswert. In der Beleuchtung des Verfassers aber entfalten 
== die Rätselworte der Mystiker, Alchemisten und Rosenkreuzer erst ihre volle 
= Kraft, und die Zusammenhänge zwischen erotisch und mystisch reli» 
= giöser Symbolik treten klar zu Tage. Insbesonders auch wird das Wesen und 
E= die Symbolik der Freimaurerei, sowie ihr Ursprung in eine ganz neue 
Es Beleuchtung gerückt, wobei den Verfasser ein reiches historisches und philosophi» 
== sches Wissen unterstützt. 

^iiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiHiiiniiiiiiiiiiiifiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiHiüKUKiiiiiiHiiuHiiiimmnffuminiiinHmiij 


aiiiiiniiiiiiiHiiiiiiiiiininiiiiiHiMiiiiiiniiiiiiiimiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiuiiiiiiiniiiiiinniniiiiiininiiiiiiiiniiiuuiiiniiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiuiuiiiniiiiiiu 




Inhalt des dritten Heftes. 

DR. ALICE SPERBER <Wien>: Von Dantes unbewußtem Seelenleben. 
DR. EMIL LORENZ <Klagenfurt>: Die Geschichte des Bergmanns 
von Falun. 

BÜCHER: 

THEODOR REIK: Arthur Schnitzler als Psychologe. 

ERNEST JONES: Louis Bonaparte, King of Holland. 

EMIL LUCKA: Die drei Stufen der Erotik. 

FRITZ WITTELS: Alles um Liebe. 

MÜLLER-LyER: Die Entwicklungsstufen der Menschheit. 

FRANZ STRUNZ: Die Vergangenheit der Naturforschung. 


Nachdruck verboten. 


WIENER GRAPHISCHES KABINETT 

HUGO HELLER, WIEN I., BAUERNMARKT NR. 3 


Zur Subskription ist gestellt: 

SIGMUND FREUD. 

Portraitradierung von MAX POLLAK. 

Plattengröße 47V 2 :47V2 cm, Papiergröße 85:63 cm. 

Es werden insgesamt nur 50 Exemplare von der Kupferplatte gezogen, und zwar 
Nr. 1—25 auf kaiserlich Japan, Nr. 26—50 auf van Geldern-Bütten. 

Jedes Blatt ist vom Künstler handschriftlich signiert und numeriert. 

Der Subskriptionspreis beträgt für die Abzüge auf kais. Japan 100 K 85 M. 

für die Abzüge auf van GeldernJBütten 60 K = 50 M. 

Ein ausgezeichnetes Porträt und hervorragendes Kunstwerk, das auch losgelost 
vom gegenständlichen Interesse besteht und fesselt, bietet hier der treffliche Wiener Ra* 
dierer den Sammlern und Kunstfreunden. Die Aufgabe des künstlerischen Porträtisten, 
den geistigen Gehalt einer Persönlichkeit auszuschöpfen und sichtbar zu machen, ist in 
diesem Kunstblatte nahezu restlos gelöst. 

Der ganzen Auflage liegt ein Prospekt des Verlages Julius Klinkhardt 
in Leipzig bei, betreffend »PFISTER, Die psychoanalytische Methode.« 


K. U. K. HO F*BUCHDRUCKEREI CARL FROMME IN WIEN.