A.GO
ZEITSCHRIFT FÜR ANWENDUNG
DER. PSYCHOANALYSE AUT DIE
GEISTESWISSENSCHAFTEN
HERAUSGEGEBEN VON
PROF. DE SIGM. FREUD
REDIGIERT VON
OTTO RANK U. DE HANNS SACHS
in. JAHRGANG / 1914
HEFT 4 / / AUGUST
1914
HUGO HELLER &QL
LEIPZIG u.WIEN-1-BAUERNMARKT3
D IE UNREGELMÄSSIGKEITEN IM ERSCHEINEN UND IM UM¬
FANGE DIESER ZEITSCHRIFT, WELCHE UNS DURCH DIE
KRIEGSLAGE AUFERLEGT SIND, WOLLEN DIE P. T. ABONNEN^
TEN FREUNDLICHST ENTSCHULDIGEN. DAS VERSÄUMTE WIRD
NACH WIEDERKEHR NORMALER ZUSTÄNDE NACHGEHOLT
WERDEN.
Für die REDAKTION bestimmte Zuschriften und Sendungen wollen an
Dr. HANNS SACHS,Wien XIX/l, Peter-Jordangasse 76 adressiert werden.
»IMAGO« erscheint SECHSMAL jährlich im Gesamtumfang von
etwa 36 Bogen und kann für M. 15.— = K 18.— pro Jahrgang durch
jede gute Buchhandlung sowie direkt vom Verlage HUGO HELLER
'S) CIE. in Wien I., Bauernmarkt 3 abonniert werden. Einzelne Hefte
werden nicht abgegeben.
Auch wird ein GEMEINSAMES ABONNEMENT auf »IMA~
GO« und die »INTERNATIONALE ZEITSCHRIFT FÜR ARZT-
LICHE PSYCHOANALYSE« zum ermäßigten Gesamtjahrespreis von
Mk. 30.— = K 36.— eröffnet.
Die wenigen noch verfügbaren Exemplare des abgeschlossenen
II. Jahrgangs »IMAGO« werden im Preise erhöht, so daß der komplette
II. Jahrgang nunmehr M. 18.— = K 21.60, gebunden M. 22.50 = K 27.—
kostet. Auch vom ersten Jahrgange sind noch einige wenige Exemplare
zu diesem Preise verfügbar.
ORIGINAL - EINBANDDECKEN mit Lederrücken sind zum
Preise von M. 3.— = K 3.60 durch jede gute Buchhandlung, sowie
direkt vom Verlage zu beziehen.
BERICHTIGUNG.
Im vorigen Heft von »Imago« soll es S. 300, Anm. 2, statt »Her¬
mes 68. Bd.« richtig heißen »Philologus 68. Bd.«
Copyright 1914. HUGO HELLER 'S) CIE., Wien I., Bauernmarkt 3.
IMAGO
ZEITSCHRIFT FÜR ANWENDUNG DER PSVCHCE
ANALYSE AUF DIE GEISTESWISSENSCHAFTEN
HERAUSGEGEBEN VON PROF. DR. SIGM. FREUD
SCHRIFTLEITUNG:
III. 4. DR. OTTO RANK / DR. HANNS SACHS 1914
Der Wendepunkt im Leben Napoleons I.
Von Dr. LUDWIG JEKELS 1 .
Z ur Rechtfertigung des vorliegenden Versuches genügt meiner
Ansicht nach der Hinweis auf die ungeheuere Flut von Arbeiten
über Napoleon I./ beträgt doch nach F. Kircheisen die
Bibliographie des Napoleonischen Zeitalters — die überdies keinen
Anspruch auf Vollständigkeit erhebt — 80.000 Publikationen!
Diese gigantische, kaum einer anderen Geschichtsepoche auch
nur annähernd zukommende Ziffer weist ja darauf hin, daß hier
Probleme und Motive in Frage kommen mögen, welche in abgründiger
Tiefe verborgen liegen, und deshalb den selbst mit so beispielloser
Emsigkeit betriebenen gewöhnlichen Methoden der Geschichtsforschung
entweder vollends widerstehen oder durch dieselben nur unzuläng¬
lich und unbefriedigend aufgehellt werdenso, daß skh diese
mit der wohl am tiefsten dringenden und aufschlußreichsten, der
psychoanalytischen Methode kombinieren, ja stellenweise, an der
Grenze ihrer Leistungsfähigkeit angelangt, der Psychoanalyse sogar
ganz das Terrain überlassen müssen.
Wie im Nachstehenden gezeigt werden soll, erstreckt sich diese
Forderung in besonders hohem Maße auf die sogenannte »korsi¬
sche Periode« Napoleons, auf die sich die vorliegende Untere
suchung beschränkt, und von der ohnehin schon Massen in seiner
Vorrede zu den »Manuscripts inedits« meinte: »II faut une etude
particuliere pour ces deux annees <septembre 1791—juin 1793).«
I.
Die Insel Korsika, bekanntlich das Vaterland Napoleons,
stand seit dem vierzehnten Jahrhundert unter der Herrschaft der
1 Nach einem am 22. April 1914 in der »Wiener Psychoanalytischen Ver~
einigung« gehaltenen Vortrag.
Wim INTERNATIONAL
SSfl PSYCHOANALYTIC
VSJgH UNIVERSITY BERLIN
314
Dr. Ludwig Jekels
Republik Genua, die daselbst ein hartes und äußerst drückendes
Regiment führte,- so kam es zu unaufhörlichen Kämpfen zwischen
den Genuesen und den von stolzem Unabhängigkeitssinn ange¬
feuerten Gebirgsbewohnern Korsikas. Besonders mächtig wurde die
Empörung gegen die Fremdherrschaft im Jahre 1730, welche zu
einem nahezu vierzig Jahre währenden allgemeinen Aufstand der
Korsen führte. Dieser außerordentlich aufopferungsvolle, von dem
zeitgenössischen Europa vielbewunderte Kampf der Insulaner gegen
ihre Bedrücker gestaltete sich recht abwechslungsreich,- doch gelang
es den Genuesern trotz mancher Siege und trotz der ihnen von
seiten Frankreichs und Deutschlands geleisteten Hilfe nicht, die
Korsen zu unterjochen — besonders seitdem diese Pas quäle
Paoli im Jahre 1755 zum alleinigen Oberhaupt des korsischen
Volkes, zu ihrem Regenten ausgerufen hatten.
Dieser mit hoher Bildung, Umsicht, Klugheit und Energie
ausgestattete Mann, der bei seinem Regierungsantritte das Land im
Zustande höchster Verwilderung und Verwahrlosung vorfand, nahm
es außerordentlich ernst mit den übernommenen Pflichten. Er säuberte
das Land fast ganz von den Genuesen, denen nunmehr bloß einige
befestigte Küstenplätze verblieben, führte Ordnung und gute Ver^
waltung im Lande ein, gab ihm eine vernünftige Verfassung und
versetzte dasselbe solchergestalt in einen Stand, der den Zeitgenossin
sehen geistigen Größen: Rousseau, Voltaire, Friedrich d. Gr., Mon^
tesquieu etc. Bewunderung abgerungen hat und ihnen die Ver-
fassung Korsikas als nachzustrebendes Ideal erscheinen ließ.
Als nun Paoli daran ging, auch den geringen im genuesischen
Besitz noch befindlichen Rest des Landes zu befreien, da wandten
sich die bedrängten Genuesen um Hilfe an die Franzosen und über¬
ließen ihnen die noch innegehabten Küstenplätze zur Verteidigung.
Nachdem sie schließlich die Unmöglichkeit einsahen, das wohlbewaff=
nete und wohlorganisierte Land jemals zurückzugewinnen, übergaben
sie am 15. Mai 1768 die Insel in Gänze den Franzosen, wogegen
ihnen eine Geldentschädigung zugesprochen wurde.
Indessen ging audi die Besitzergreifung Korsikas durch die
Franzosen nicht so glatt vonstatten. Die Korsen sträubten sich mit
bewaffneter Hand ebenso gegen diese wie früher gegen die Genuesen,
und führten einen heldenmütigen Kampf gegen ihre neuen Bedränger.
Anfangs errangen sie auch einige Erfolge,- als aber die Franzosen
bedeutende Truppenverstärkungen heranzogen, wurde Paoli genau
nach einjähriger Dauer des Kampfes am 8. Mai 1769 bei Ponte
Nuovo entscheidend geschlagen, und die damalige Hauptstadt Corte
von den Franzosen erobert.
Paoli flüchtete nach England, wo ihm gerne Gastfreundschaft
gewährt wurde, während seine Anhänger sich den Franzosen
ergaben. In der Abordnung, die von den Franzosen den Frieden
erbat, befand sich als einer der Führer auch Carlo <Charles
Marie) Buonaparte, der Vater Napoleons, der bis dahin ein
Der Wendepunkt im Leben Napoleons 1.
315
wackerer Kämpfer für des Vaterlandes Freiheit und ein Anhänger
Paolis gewesen war. Diese seine Gefühle teilte vollkommen seine
Gattin Maria Lätizia, eine vom korsisdien Patriotismus durch*
glühte, ebenso sdiöne wie energische junge Frau, die an der Seite
ihres Mannes die Kämpfe gegen die Franzosen mitmachte, ein Kind
unter dem Herzen — den etwa vier Monate nach dem Friedens*
Schluß zur Welt gekommenen Napoleon.
Korsika erhielt nun französische Verwaltung, die auch hier,
wie überall in Frankreich unter dem Königtum, äußerst drückend
und despotisch war — und von der Bevölkerung, die ihre De*
mütigung und die Wunden noch nicht verschmerzt, ja vielleicht
ihren vielhundertjährigen Freiheitstraum noch nicht ausgeträumt
hatte, besonders hart empfunden wurde. Es gab zwar keine be*
waffneten Versuche mehr, das Schicksal zu verändern, wohl aber
solche im Rahmen der kargen Verfassung, die vor dem Ausbruch
der großen Revolution Korsika in noch dürftigerem Maße besaß als
das übrige Frankreich. Da bricht in Paris die revolutionäre Be*
wegung aus,- die Flammen derselben züngeln bald in ganz Frank*
reich und ergreifen auch das kurz vorher eroberte Korsika. Dieses
wird über Antrag der nationalliberalen korsischen Abgeordneten in
der inzwischen zur Macht gelangten Assemblee nationale zur gleich*
berechtigten französischen Provinz erhoben,* alle politischen Flücht*
linge werden amnestiert. Auch der korsische Nationalheros Paoli,
Gegenstand der Liebe und Bewunderung all seiner Konnationalen,
kehrt, nachdem er sich König Ludwig XVI. und der National*
Versammlung vorgestellt und den Treueid an Frankreich geleistet
hatte, in seine Heimat zurück. Von einer ihm entgegengefahrenen
Deputation in Lyon feierlich empfangen, landet er, 65 Jahre alt, am
14. Juli 1790, am Jahrestage des Sturmes auf die Bastille, in Bastia
in Korsika, inmitten einer enthusiastischen Menge, »in der jeder sehen,
hören und berühren wollte diesen Heros, der nach einundzwanzig*
jähriger Verbannung zurückkehrte«, schreibt Lucian Bonaparte.
Als es dann zwei Monate später, gemäß der neuen Ver*
fassung zur Wahl öffentlicher Beamten kommt, wird der ausgezeich*
nete Mann einstimmig zum Zeichen der Liebe, Verehrung und des
Zutrauens seiner Kompatrioten zum Gouverneur gewählt, und
widmet sich als solcher mit den ihm eigenen Qualitäten der Ver*
waltung des Landes.
Nun wollen wir, wenn auch nur in gedrängter Kürze und
skizzenhaft, das Verhältnis des jungen Napoleon sowohl zu seinem
Vaterlande als auch zum Vater desselben — wie Paoli von den
Korsen genannt wurde <il babbo) — bis zum gleichen Zeitpunkte
verfolgen.
Auch die abfälligsten Beurteiler und die härtesten Kritiker
Napoleons, solche, die in ihm bloß die Verkörperung des grenzen*
losesten Ehrgeizes und der krassesten Selbstsucht gesehen haben,
316
Dr. Ludwig Jekels
mußten es ihm zugestehen, daß er in seiner Jugend ein glühender
korsischer Patriot war,- er hat davon so viele Beweise in Schrift,
Wort und Tat geliefert, daß es bis nun niemand auch nur in
leisesten Zweifel ziehen konnte. Schon als Kind hat er, seinen
Biographen zufolge, stürmische Vaterlandsliebe bekundet. Und dies
war ja auch kaum verwunderlich bei der Stimmung, die damals im
Lande und in seinem Vaterhause herrschte. Patriotische Lieder dürften
ihm, dem im Kriegsjahre zur Welt Gekommenen, von der durch und
durch korsischen Mutter an der Wiege gesungen worden sein. »HalL*
wild,« meint Kircheisen, »war er auf der Insel aufgewachsen. Die
Erinnerung an die heißen Kämpfe um die Freiheit lebte dort noch
frisch und lebendig in den Herzen seiner Landsleute fort. Aus
ihrem Munde hatte der Knabe stets nur Drohungen und Flüche
? [egen die /Unterdrücker des Vaterlandes', die Franzosen, gehört,
n der Schule zu Autun bringt ihm das eine Wort /Besiegte', wie
seine französischen Kameraden die Korsen nannten, sein Blut in
Wallung. Dann ging er wütend, der Sprache kaum mächtig, mit
hitzigen Gebärden und maßlos empört auf die Spötter los.« Abbe
Chardon teilt eine Szene mit, in der der neuneinhalbjährige
Napoleon in der Militärschule zu Brienne, als ihn die Kollegen
wieder einmal mit der Eroberung Korsikas neckten und dabei
meinten, die Korsen seien feige, ihnen mit funkelnden Augen ge*
antwortet habe: »Wenn nur vier gegen einen gewesen wären, so
wäre Korsika niemals genommen worden,- es waren aber zehn gegen
einen!« »Hier in Brienne,« meint Chuquet, »zumal zu Anfang
seines Aufenthaltes, leidet er sehr an Heimweh. Er vermißte Kor¬
sika, die Klarheit seines Himmels, sein süßes Klima. Herausgerissen
aus der Heimat, verschickt nach der traurigen und rauhen Cham¬
pagne, dachte er mit Schmerzen daran, daß er für sechs Jahre zu¬
mindest dies teuere Korsika verließ, welches so eingeprägt war
seinem Herzen.«
Neben den Biographien griechischer und römischer Helden
war die Geschichte Korsikas, in der Paoli verherrlicht die Franzosen
aber verkleinert wurden, seine liebste Lektüre,- noch fünfzehnjährig,
schrieb er seinem Vater, er möge ihm Boswells Geschichte von
Korsika einsenden.
Aber auch als königlicher Leutnant läßt sein korsischer Patriot
tismus nicht nur nicht nach, sondern steigert sich womöglich noch.
»In der Garnison in Valence« <ich zitiere Kircheisen) »erhitzten
sich, durch intensive Lektüre der Geschichte seines Landes angefacht,
seine empfindliche Phantasie und sein Gefühlsvermö^en immer mehr.
Der Haß gegen die Tyrannen nahm von Tag zu Tag zu, und es
kümmerte Napoleon nicht, daß er als königlicher Leutnant gerade
diesen Tyrannen diente.«
Und welch feurige Vaterlandsliebe atmen nicht seine Jugend^
Schriften! Man lese z. B. in »Sur la Corse«. »Paolo, Colombano,
Sampiero, Pompiliano, Gaffoni! Berühmte Rächer der Menschheit!
317
Der Wendepunkt im Leben Napoleons I.
Ihr Helden, die ihr euere Landsleute von der Wut des Despotismus
befreitet! Was war euer Dank für euere Mühe? Doldie, Dolche,
nichts als Dolche! Ihr modernen Effeminierten, die ihr fast alle in
einer süßen Sklaverei schmachtet, diese Helden sind viel zu hoch
über eueren feigen Seelen,- aber betrachtet doch das Bild des jungen
Leonardo, des jungen Märtyrers für das Vaterland . . .« Oder in
»Sur le suicide« schreibt er von einer melancholischen und selbst¬
mörderischen Stimmung gepackt: »Warum soll ich denn dies Leben
ertragen, wenn mir nichts gelingt? Welch einen Anblick werde ich
denn in meinem Lande haben? Meine Kompatrioten mit Ketten
beladen und unter Zittern die sie bedrückende Hand küssend!«
Im »Sur l'amour de la patrie«: »Nur wenige Menschen glauben
an die Vaterlandsliebe. Welch eine gewaltige Menge von Werken
ist denn nicht erschienen, um zu beweisen, sie sei nur eine Chimäre!
Gefühle, welche eine erhabene Tat von Brutus gezeitigt haben, seid
ihr denn wirklich eine Chimäre?«
Nachdem er sich 1785 bei dem Genfer Buchhändler »alle
Werke, die er über Korsika besitzt oder die er ihm verschaffen
könne«, bestellt, beginnt er, kaum siebzehnjährig, eine zweibändige
Geschichte Korsikas zu schreiben — von ihm »Lettres sur la Corse«
betitelt. Offenbar bezieht sich darauf eine Notiz von ihm, in der
er sagt: »Ich bin kaum zu Jahren gekommen und schon führe ich
den Griffel der Geschichte.« Aber ». . . ich habe den Enthusiasmus,
der in unserem Herzen oft durch eine tiefe Kenntnis der Menschen
zerstört wird. Die Käuflichkeit des reifen Alters wird meine Feder
nicht beschmutzen. Ich atme nichts als Wahrheit,- ich fühle in mir
die Kraft, sie zu sagen und ich sehe euere Tränen rollen beim
Lesen dieser kleinen Schilderung unserer Leiden. Teuere Mitbürger,
wir waren immer unglücklich.« Oder gar in den berühmt gewordenen
»Lettres a Buttafuoco«, als er diesen in französischen Diensten
stehenden und sehr regierungstreuen Feldmarschall des Verrates am
Vaterlande zeiht, was diesem eine Infamieerktärung seitens seiner
Landsleute zuzieht: »Wie! Nicht zufrieden damit, daß Sie geholfen
haben, die Ketten zu schmieden, in die Ihr Vaterland gelegt wurde,
wollen Sie noch dasselbe dem absurden feudalen System unter¬
werfen! . . . Und wie! Sohn desselben Vaterlandes, empfinden Sie
nie etwas für dasselbe? Wie?! Ihr Herz sollte unbewegt bleiben
beim Anblick der Felsen, der Bäume, der Häuser« usw.
Ich meine, diese Stichproben sollten genügen, um zu beweisen,
wie stark in Napoleons Brust die Liebe für Korsika wogte. Aber
auch an Taten, und zwar solchen waghalsigster Natur ist diese
Periode seines Lebens zwischen 1789 und 1793 überreich, die von
einer brennenden Liebe und Sorge fürs Vaterland getragen sind,
und nicht mehr und nicht weniger als die Befreiung Korsikas
vom französischen Joche zum Ziele haben! Und dies alles
als königlicher Offizier — setzt er Fortkommen, Freiheit und Leben
aufs Spiel!
318
Dr. Ludwig Jekels
Im Nachfolgenden will ich diese seine Tätigkeit in dieser Zeit
skizzenhaft schildern:
In den im Jahre 1789 einberufenen Etats generaux stellten
die zwei nationalen Abgeordneten unter anderem den Antrag auf
Errichtung einer aus Söhnen des Landes bestehenden Volksmiliz.
Dieser Vorschlag war ganz im Sinne Napoleons, der schon damals
darauf gesonnen haben soll, Machtmittel in die Hand zu bekommen,
um damit die Franzosen zu verdrängen. Als nun diese Anträge
über Betreiben des oben erwähnten konservativen Buttafuoco von
der Regierung abgelehnt wurden, bereitet Napoleon eine regelrechte
Revolution in Ajaccio vor. Im patriotischen Klub von Ajaccio,
woselbst er seit September 1789 wieder auf Urlaub weilt, setzt er
seinen Plan auseinander: die reaktionäre Behörde solle gestürzt,
eine Nationalgarde organisiert, mit derselben dann die Zitadelle von
Ajaccio genommen werden, nachdem die Franzosen aus derselben
verdrängt worden sind. Es gelingt ihm auch alsbald, die Bürger¬
wehr zu organisieren,- indessen wird aber die Garnison verstärkt, der
Klub und die Garde aufgelöst, und die Bewegung im Keime erstickt.
Doch nur vorderhand — denn dieser Plan fixiert sich in
Napoleons Seele, und gleichgiltig, ob in seinen Garnisonen in
Frankreich oder auf seinen so häufigen und langen Urlauben auf
Korsika, stets steht die Einnahme der Zitadelle von Ajaccio und
die Vertreibung der Franzosen im Vordergründe seines Denkens
und Fühlens. Wir sehen ihn in diesen drei Jahren sich über alle
Hindernisse hinwegsetzen und alle Mittel ergreifen, um dieses Ziel
zu erreichen. Äußerst aufmerksam die Wechselfälle dieser für Franko
reich so ereignisschweren und bewegten Jahre verfolgend, stets über
die Stimmung in Korsika unterrichtet, läßt er sich, man kann es
ruhig sagen, beliebig oft beurlauben, wenn er meint, der Zeitpunkt
für seine Pläne sei günstig. Er überschreitet diese Urlaube ganz
willkürlich um sehr lange Zeiträume, ganz unbekümmert um seine
Offizierslaufbahn. »In diesen schwierigen Zeiten ist der Platz eines
guten Korsen in seinem Vaterlande.« Diese, in seinem Briefe an
den Kriegskommissär Sucy geäußerte Überzeugung genügt ihm.
Unbekümmert um seine Stellung in der regulären Truppe und um
seinen vor einem Jahre als Offizier geleisteten Eid, strebt er im
Jahre 1792 das Kommando des inzwischen von der National¬
versammlung wie überall in Frankreich so auch in Ajaccio errichteten
Freiwilligenbataillons an,- er setzt auch seine Wahl zum Oberst^
leutnant desselben mit den verwerflichsten und gewalttätigsten
Mitteln durch, wie z. B. Stimmenkauf, falsche Angaben, Ein¬
schränkung der persönlichen Freiheit etc. Zu Ostern 1792 versucht
er, sich der Zitadelle zu bemächtigen und zum Herrn der Stadt zu
machen, welcher Plan jedoch an der Wachsamkeit und der Pflicht^
treue des französischen Kommandanten derselben scheiterte.
Ebenso gewaltig wie die Liebe zu seinem Vaterlande war
auch der Haß gegen die Franzosen. Hier nur einige Belege hiefür
Der Wendepunkt im Leben Napoleons 1.
319
aus seinen Schriften, zumal später noch ausführlicher davon die
Rede sein wird. So z. B. im »Sur le Suicide«: »Franzosen! Nicht
zufrieden damit, daß ihr uns alles geraubt habt, was wir liebten,
habt ihr noch unsere Sitten verdorben!« Oder »Sur l'Amour de
la Patrie« werden alle Beispiele der echten Vaterlandsliebe der
Antike und Korsika entnommen, wogegen die Ruhmsucht ausschlie߬
lich an französischen Helden demonstriert wird. Am stärksten und
unzweideutigsten aber ist sein Franzosenhaß in der »Nouvelle
Corse« ausgedrückt, einer auf einer verlassenen Insel sich ab¬
spielenden Phantasie, wo jeder Franzose, zufolge einem von dem
Besitzer der Insel geleisteten Eid, erbarmungslos getötet wird.
Wir wollen nun das Verhältnis Napoleons zu Paoli beleuchten
und erörtern, was ihm dieser bedeutet hat.
Die Antwort darauf läßt sich kurz zusammenfassen: er war
ihm der Inbegriff alles Großen, Schönen, Edlen und Weisen.
Schon als ganz kleines Kind, da das Kriegsgetöse der eben
abgelaufenen Jahre noch nicht verklungen war, hörte er von seinen
Spiel- und Hausgenossen den Namen Paoli immer wieder mit
Liebe und Verehrung nennen,- was Wunder, »daß sich bei ihm
mit diesem Namen die Vorstellung eines gewaltigen, weit ver¬
bannten Helden verband, der über kurz oder lang als Messias er^
scheinen dürfte«, meint Jung in »Bonaparte et son temps«. Und
Chuquet sagt: »Wenn man, sowohl in Autun als auch in Brienne,
über Paoli sprach, da erhitzte er sich und geriet ins Feuer ... Er
duldete nicht, daß ein Lehrer oder ein Kollege die geringste Kritik
an Paoli übte, auch nur das Leiseste an ihm aussetzte.« Im weiteren
Verlaufe der füher erwähnten, von Abbe Chardon uns über¬
lieferten Szene in Autun soll Napoleon dem Abbe, der ihm die
Frage vorlegte: »Trotzdem ist doch Paoli ein guter General?« leb^
haft geantwortet haben: »Ja, Monsieur, und ich möchte ihm ähnlich
werden!« Und im Verlaufe einer anderen Szene in Brienne rief
einmal der kleine Junge: »Paoli wird wiederkehren und sollte er
unsere Ketten nicht zerbrechen können, so werde ich ihm zu Hilfe
eilen, sobald ich nur genug Kraft haben werde, und möglich, daß
es uns beiden gelingen wird, zu befreien Korsika von dem ver^
haßten Joch, welches es trägt!« Ein damaliger Kollege sagte: »Paoli
war sein Gott«.
Und ebenso stellte er sich zu Paoli in der Pariser Militär^
schule, wo er sein vierzehntes und fünfzehntes Lebensjahr zubrachte.
In seinen dortigen Gesprächen hält er Lobreden auf Paoli, ver¬
sichert wieder, daß er zusammen kämpfen möchte mit dem großen
Pasquale, ihm helfen und ihn unterstützen. Ein interessanter und
beredter Beleg für diese seine Gesinnung ist uns erhalten worden.
Es ist dies eine von einem seiner Kameraden verfertigte Karikatur,
darstellend Napoleon, der Paoli zu Hilfe eilt. Ein alter Professor
versucht ihn am Zopf zurückzuhalten/ doch vergeblich, denn der
320
Dr. Ludwig Jekels
junge Mensch entfernt sich mit festem Schritt, beide Hände auf den
Stock gestützt und mit entschlossener Miene. Unter der Zeichnung
ist zu lesen: »Bonaparte laufe, renne Paoli zu Hilfe, um ihn aus
den Händen der Feinde zu reißen.«
Welch große Rolle in seiner Gefühls^ und Vorstellungswelt
Paoli spielte, das möge folgende Episode demonstrieren: Als er im
Jahre 1787 nach achtjähriger Abwesenheit von der Heimat auf
Urlaub in Ajaccio war, fand er seinen Onkel und Vormund der
Familie, Ardhidiakon Lucian, schon seit Jahren durch Gicht ans
Bett gefesselt. Napoleon war dem alten Onkel in Liebe zugetan,
wollte ihm Hilfe verschaffen und wandte sich deshalb von Ajaccio
brieflich an den ihm persönlich ganz unbekannten Dr. Tissot — in
Lausanne um Rat!
Die Gründe für diese immerhin etwas sonderbare Handlungs^
weise sind aus dem Schreiben ersichtlich: »Sie haben das Leben
damit verbracht, die Menschheit zu belehren und Ihr Ruf drang bis
in die Gebirge Korsikas, wo man sich wenig der Ärzte bedient.
Es ist ja richtig, daß das kurze, aber rühmliche Lob, das Sie Ihrem
General <Paoli> gespendet haben, ein zureichender Titel ist, um sie
von Dankbarkeit durchdrungen sein zu lassen.« Die Stelle, auf die
sich Napoleon bezieht , betrifft die Arbeit Tissots: »Traite de sante
des gens de lettres«, worin er die Schreibtischarbeit als unhygienisch
bekämpft und dabei erwähnt: »Cesar, Mahomet, Cromwell, Paoli,
plus grands d'eux peuUetre, ont sans doute re$u de la nation
des forces plus qu'humaines.« — Diese kurze, auch Paoli so her^
vorhebende Zusammenstellung genügte schon, um Napoleon hohes
Vertrauen zu Dr. Tissot einzuflößen.
Als er seine »Lettres sur la Corse« vollendet hat, will er sie
Paoli dedizieren und teilt ihm dies in folgendem nach London ge^
richteten Schreiben mit <12. Juli 1789):
»Ich wurde geboren als mein Vaterland starb. 30.000 Fran¬
zosen auf unseren Küsten ausgespien, den Thron der Freiheit in
Strömen von Blut erstickend — dieses hassenswürdige Schauspiel
traf mein erster Blick . . . Ihr ginget von unserer Insel und mit
Euch verschwand jede Hoffnung auf Glück,- die Sklaverei wurde
der Lohn für diese Unterwerfung. Wenn mein Vermögen mir den
Aufenthalt in der Hauptstadt gestattet hätte, so hätte ich ohne
Zweifel andere Mittel gefunden, um unseren Klagen Gehör zu ver*
schaffen,- aber an den Dienst gebunden, bleibt mir nur dieser einzige
Weg an die Öffentlichkeit . . . Wenn Ihr, mein General, bereit
seid, eine Arbeit anzuerkennen, wo von Euch soviel die Rede sein
wird ... so wage ich auf einen Erfolg zu rechnen.
Ich hoffte nach London gehen zu können, um Euch die Ge^
fühle auszusprechen, die Ihr in mir erregt habt, um mit Euch über
das Unglück meines Vaterlandes zu sprechen, aber die Entfernung
hindert mich daran . . . Gestattet mir, General, daß ich Euch die
Huldigung meiner Familie ausspreche. Warum sage ich nicht meiner
Der Wendepunkt im Leben Napoleons I.
321
Landsleute? Sie seufzen bei der Erinnerung an eine Zeit, wo sie
auf Freiheit hofften. Meine Mutter, Madame Latizia, hat mich be«
auftragt. Euch an die Jahre in Corte zu erinnern.«
Auch die erwähnten, im zarten Jünglingsalter, zwischen dem
fünfzehnten und zwanzigsten Lebensjahre verfaßten Schriften
Napoleons bekunden sehr deutlich seine Verehrung und Bewunde«
rung für diesen bedeutenden Menschen. So z. B. spricht er sich in
den »Lettres sur la Corse« folgendermaßen über Paoli aus: »Ich
sollte sprechen über Paoli, dessen weise Einrichtungen einen Augen«
blick unser Glück waren und uns mit solch glänzenden Hoffnungen
erfüllten,- er war der erste, der den Grundsatz vom Gedeihen der
Völker heilig gehalten hat, und man muß seine Hilfsquellen, seine
Fertigkeit, seine Beredsamkeit bewundern: mitten unter äußeren und
inneren Kriegen stellt er stets seinen Mann,- mit starkem Arm legt
er die Grundlagen zu seiner Verfassung und läßt bis nach Genua
unsere stolzen Tyrannen erzittern.«
Und im »Discours de Lyon« spricht er über Paoli, den er
als Muster eines Gesetzgebers hinstellt, folgendermaßen: »Paoli, der
sich durch seine Sorgfalt für die Menschheit und für seine Mitbürger
besonders auszeichnete, der für einen Augenblick mitten im Mittel¬
ländischen Meere die schönen Zeiten von Sparta und Athen wieder
erstehen ließ, Paoli, voll der Gefühle und dieses Genies, die die
Natur in ein und demselben Menschen nur zum Wohle der Völker
vereinigt, — erschien in Korsika, um demselben die Blicke Europas
zuzuwenden ... In seiner Tätigkeit ohnegleichen, in seiner über«
zeugenden und heißen Beredsamkeit, in seinem durchdringenden
und fruchtbaren Genie wußte er Bürgschaften zu finden für seine
Verfassung« etc.
Und als Paoli zufolge der erflossenen Amnestie im Jahre 1790
nach Korsika zurückkehrt, da sehen wir gerade die Familie Bona«
parte mit unter den Rührigsten, um den Heros feierlich zu empfangen.
Uber Veranlassung Napoleons fährt sein älterer Bruder Joseph mit
der Deputation Paoli nach Lyon entgegen,- Napoleon selbst liest
ihm dann die Empfangsadresse vor. »II en est, pour ainsi dire, le
Dieu« und »Tous etaient ä la devotion de Paoli. On ne jurait que
par lui« — meint Jung.
In der nachfolgenden Zeit sehen wir Napoleon, wenn er auf
Urlaub in Korsika weilt, öfters den Gouverneur auf dessen Landsitze
Rostino besuchen,- sie machen da gemeinsame Ausflüge ins Land,
wobei ernste soziale und politische Gespräche geführt wurden. Napo«
leon soll sogar auf St. Helena erzählt haben: »Paoli klopfte mir oft
freundschaftlich auf den Kopf und sagte mir hiebei: »Sie sind einer
der Männer von Plutarch. Er ahnte, daß ich eines Tages ein außer«
gewöhnlicher Mensch sein werde.« Ein andermal soll er ihm gesagt
haben: »Napoleon! Du hast nichts vom modernen Menschen, du
gehörst ganz zu den Männern von Plutarch. Nur Mut! Du wirst
deinen Weg schon machen!«
Imago III/4
21
322
Dr. Ludwig Jekels
So standen diese beiden Männer zueinander, der eine dreiund*
zwanzig, der andere siebenundsedhzig Jahre alt,- das Attentat auf die
Zitadelle von Ajaccio zu Ostern 1792 scheint ebensowenig eine ernstliche
Trübung dieses Verhältnisses bewirkt zu haben, als die agitatorische
und revolutionäre Tätigkeit, die Napoleon — der inzwischen durch
vier Monate in Paris sich aufgehalten und es dort durchgesetzt
hatte, daß er trotz der gegen ihn erflossenen schweren Anzeige
restituiert und zum Hauptmann befördert wurde — nach seiner
Rückkehr aus Paris im Herbste und Winter dieses Jahres in Ajaccio
entfaltet hat.
Die nächsten hier zu erörternden Begebenheiten bilden wohl
den dunkelsten und kompliziertesten Abschnitt der napoleonischen
Geschichte — nach den übereinstimmenden Ansichten mehrerer
Autoren. Hier in kurzen Worten der Tatbestand:
Zu Anfang des Jahres 1793 veranstaltete Frankreich eine
Expedition gegen Sardinien, welche gänzlich gesäheitert ist. Als
Napoleon am 3. März 1793 von der Expedition nach Korsika
zurückkehrte, war die politische Situation gegenüber dem Vorjahre
eine völlig veränderte geworden. König Ludwig XVI. hingerichtet
<21. Januar), der Krieg an England erklärt <31. Januar),* auf Korsika
aber sollen die Freiwilligenbataillone aufgelöst und durch reguläre
Truppen ersetzt werden,* überdies wurde Paoli in seiner admini¬
strativen, besonders aber militärischen Machtvollkommenheit arg
beschränkt. Diese letzten Maßregeln sind einerseits auf die Machen¬
schaften seiner politischen Gegner, anderseits aber darauf zurückzu*
führen, daß Paoli, der während seiner Exilierung durch einund¬
zwanzig Jahre englische Gastfreundschaft genossen hatte und sogar
von England eine Pension bezog, auch aus seinen Sympathien für
England niemals ein Hehl machte — jetzt nach Ausbruch des
Krieges mit England der französischen Regierung nicht mehr ganz
zuverlässig erschien.
Es blieb aber nicht bloß bei den erwähnten Maßregeln,* denn
schon in den nächsten Wochen steigerte sich der Konflikt zwischen
dem Konvent und Paoli so, daß der erste seinen Kommissären
auf Korsika die Vollmacht erteilte, Paoli unter Anwendung aller
zu Gebote stehenden Mittel zu verhaften und nach Paris zu bringen
<Beschluß des Konvents vom 2. April 1793).
Es ist nicht schwer zu denken, daß diese den pater patriae so
rücksichtslos treffende Verfügung, die am 16. April in Ajaccio ein*
langte, eine ganz ungeheuere Aufregung unter den Korsen hervor*
gerufen hat, die sich mit ihrem Führer eins fühlten.
Noch unter dem frischen Eindruck dieser Nachricht, also etwa
Ende April, verfaßte Napoleon eine Adresse an den »Club des
amis de la Constitution« in Ajaccio behufs Vorlage derselben an
den Konvent. Er verteidigt in derselben äußerst warm Paoli und
widerlegt darin den etwaigen Vorwurf, als ob Paoli ein Ehrgeizling
oder ein Verderber wäre. »Also sollte Paoli ehrgeizig sein? Wenn
Der Wendepunkt im Leben Napoleons I.
323
Paoli ehrgeizig ist, was kann er denn mehr verlangen? Er ist
Gegenstand der Liebe seiner Mitbürger, die ihm nichts verweigern,-
er ist an der Spitze der Armee,- er steht unmittelbar vor der Pflicht
der Verteidigung des Landes gegen einen fremden Angriff.« Und
dann weiter: »Ja, in Koblentz, da dürfte Paoli für ehrgeizig gelten,
aber in Paris, im Zentrum der französischen Freiheit, wird Paoli,
wenn man ihn gut kennt, als Patriarch der Freiheit, als Vorbote
der französischen Republik gelten,* so wird die Nachwelt urteilen
und so meint es das Volk.« Er verteidigt ihn auch darin gegen
den unsinnigen Verdacht, Korsika an England ausliefern zu wollen
und meint weiter: »Hören Sie auf meine Stimme,* lassen Sie
schweigen die Verleumdung und die äußerst schlechten Leute, die
sich ihrer bedienen.«
Fast zugleich aber sehen wir ihn, den bis vor kurzem noch
unversöhnlichen Franzosenhasser, im Einvernehmen mit den fran^
zösischen Konventkommissären Saliceti und Lacomb-St. Michel
eifrig bemüht, das gegen Frankreich und seine Adhärenten auf der
Insel revoltierende Land für die Franzosen wiederzugewinnen,*
sehen ihn zu diesem Zwedce die in den Händen der paolistischen
Nationalgarde befindliche Zitadelle von Ajaccio wiederholt attakieren,
doch jetzt um sie für die Franzosen zu erobern, sehen ihn als
Antragsteller auf Erneuerung des Eides, der die Korsen mit Frank¬
reich verband! Überdies aber richtet er an den Konvent eine An¬
klage gegen Paoli, die er »Position politique et militaire du Departe¬
ment de Corse au F r juin 1793« betitelt und in der er ausführt:
alle Personen, die Paolis Vertrauen besaßen und die ein wenig
sehend waren, hätten denselben durchschaut,* er hielt nämlich Franko
reich <das damals zahlreiche äußere Feinde hatte) für verloren und
habe sich angeschickt, ihm gleichfalls einen Fußtritt zu geben. Er
erhebt darin gegen Paoli den Vorwurf, er hätte aus den Küsten¬
festungen reguläre Truppen entfernt und dieselben durch ihm ergebene
korsische Nationalgarden ersetzt, deren er sicherer war,- zu Offizieren
der letzteren aber hätte er solche Leute ernannt, deren Väter im
Jahre 1768 gegen Frankreich fielen, die somit Rachegedanken gegen
Frankreich hegen konnten.
Weiters klagt er Paoli der Schuld an dem Mißglücken der
sardinischen Expedition an, indem sich derselbe zwar nadi außen
so stellte, als würde er gerne die von ihm verlangten Soldaten
beistellen, anderseits aber es zu verhindern wußte, daß dieselben
sich nach Sardinien begaben, da er nicht wollte, daß die Korsen
französisch werden. Lind dann weiter: »Seit der Kriegserklärung
an England war die ganze Welt betroffen von der Vorliebe, mit
der er <Paoli> die Vornehmheit, die Güte, die Tugenden, die Madit
und den Reichtum der englischen Nation pries. Seine Absichten in
dieser Zeit waren klar und alle Personen, die ihm attachiert waren,
die aber das Vaterland ihm vorzogen, fingen an, sich von ihm zu
entfernen, sie hatten die gute Meinung von seiner Tugend verloren.
21*
324
Dr. Ludwig Jekels
um schließlich in ihm einen Verräter zu erblicken/ denn kein Verrat
sei so widerwärtig wie der seinige, er stürzt sein Land in einen
Bürgerkrieg und hält es ab von der Vereinigung mit Frankreich,
die allein das Glück Korsikas ausmachen könne.« Und dann ruft
er: »Kann denn soviel Perfidie sich finden im Menschenherzen?!
Ach, welch unseliger Ehrgeiz verwirrt diesen Greis von achtundsechzig
Jahren! Aber Paoli hat auf seinem Gesichte die Güte und Süße
geschrieben und den Haß und die Rachsucht im Herzen, die Weihe
des Gefühls in den Augen und die Galle in der Seele, — er hat
weder Charakter, noch Kraft, er ist ohne Mut!« usw.
Diese Stellungnahme Napoleons hatte bekanntlich zur Folge,
daß in einer allgemeinen Korsenversammlung die Familie Bonaparte
für infam erklärt und die Acht über sie ausgesprochen wurde.
Nachdem die Mutter mit den Kindern nur mit schwerer Mühe und
dank einem glücklichen Zufall ihr Leben gerettet hatte, wurde von
den entrüsteten Korsen das Haus der Bonaparte in Brand gesteckt,
der Weingarten und der sonstige Besitz verwüstet. Napoleon
schiffte sich mit den Seinigen am 11. Juni 1793 in Calvi ein und
übersiedelte nach Toulon, hiebei für immer im Stiche lassend die
beiden Ideale, die seine Jugend erfüllten, d. i. Korsika und Paoli
— nachdem er noch »das letztere durch Verleumdung und Be-
schimpfung vernichtet hat.« <Fournier.>
Das Faktum des Bruches mit Paoli ist von einer ganz unüber-
sehbaren Tragweite für die Menschheit geworden. Es genügt gar
nicht zu dessen Würdigung die Ansicht Jungs, der es als »si con-
siderable pour la France« bezeichnet oder an einer anderen Stelle
meint, »dieser eklatante Bruch sollte einen bestimmenden Einfluß
auf die Geschichte der Bonaparte und Frankreichs üben«, — sondern
seine Folgen waren unermeßlich und geradezu bestimmend für das
Schicksal der ganzen Welt. Denn dieser Bruch mit Paoli war
derjenige psychologische Moment, in welchem der
Napoleon geboren und geformt wurde, wie wir ihn aus
der Geschichte kennen, der durch zwei Dezennien die Welt in
Atem hielt, sie in Unruhe und Schrecken versetzte, aber auch, wie
Fournier richtig meint, »allüberall, sowohl am Manzanares wie
am Tiber, am Rhein wie an der Elbe, in Neapel und in Polen, in
Preußen und in Österreich, den Anlauf zu einer höheren sozialen
Ordnung bewirkte«, und dergestalt blutiger »Anwalt ward eines
Kulturprozesses von größter Bedeutung«.
Um so berechtigter erscheint nun die Frage nach den Motiven
dieses so plötzlichen Gesinnungswechsels Napoleons. Indessen ver¬
sagt gerade an dieser Stelle die bisherige Geschichtsforschung und
gibt uns nur ganz unvollkommenen Aufschluß. Jung z. B. ver-
zichtet offenbar gänzlich auf eine Erklärungsmöglichkeit und begnügt
sich damit, zu sagen: »Wieso unter diesen Umständen der Artillerie-
kapitän Bonaparte, Verfasser so vieler Beteuerungen der Ergeben¬
heit an Paoli, Redakteur der berühmten Adresse der Societe Popu-
Der Wendepunkt im Leben Napoleons I.
325
laire in Ajaccio an den Konvent, mit einem Sdilage diese Ver^
gangenheit verleugnen konnte, um Agent von Saliceti und seiner
Kollegen zu werden — das ist wahrlich schwer genug zu erklären!«
Durch die emsigen Nachforschungen und Zusammenstellungen
Chuquets, die zur Quelle für alle heutigen Biographen wurden,
wird die damalige Situation sowie der Lauf der Begebenheiten
nachstehend geschildert.
Paoli, der durch zwei Dezennien unter den geordneten und
geregelten Verhältnissen Englands gelebt hatte, war nach seiner Rück¬
kehr von den anarchischen Zuständen auf dem halbverwilderten
Korsika recht peinlich berührt gewesen. Unter anderem war er auch
recht unzufrieden mit den beiden ersten Direktorien, die seit seiner
Rückkehr die Departementsverwaltung inne hatten und deren führende
Mitglieder zuerst Arena und dann Saliceti waren. Die genannten
Generalsyndici empfanden nun die fortwährenden Beanstandungen
und Kritiken des Gouverneurs als sehr lästig, — und so sei eine
Spannung zwischen ihnen und dem bis nun von ihnen vergötterten
Paoli eingetreten. Die Situation wurde aber kritisch, als bei den
Wahlen im Dezember 1792 unter dem Einflüsse Paolis kein einziges
Mitglied des Direktoriums Saliceti wiedergewählt wurde, sondern
dasselbe nun aus ganz neuen und Paoli ganz ergebenen Mitgliedern
bestand, die sich obendrein als die »ehrlichen« bezeichneten —
offenbar im Gegensätze zu den vorangegangenen, die von ihm der
Partei^ und Mißwirtschaft geziehen wurden.
Das habe nun Saliceti zum Kampfe gegen Paoli bestimmt.
Saliceti war nach Paoli wohl der populärste Mann Korsikas ge¬
wesen, welches ihm vieles zu danken hatte. War er doch seit 1789
Chef der Patrioten-<Paolisten-)Partei und hatte mit Cesare Rocca
zusammen seinerzeit in der Nationalversammlung die Anträge auf
Errichtung eines wählbaren Administrationsrates und der Volksmiliz
auf Korsika gestellt,* er war es auch, der im Jahre 1789 die Be¬
völkerung Bastias zur Insurrektion aufrief, um, auf dieselbe gestützt,
in der Assemblee die Anerkennung Korsikas als gleichberechtigte
französische Provinz durchzusetzen/ endlich war auch ihm die Amne¬
stierung Paolis und dessen Rückberufung zu danken. Da ist es wohl
kein Wunder, daß er den Korsen als zweiter Befreier des Landes
galt und sich unter ihnen einer großen Popularität erfreute.
Nun aber fühlte er sich in dieser seiner Stellung arg bedroht,
zumal gegen ihn vom neuen Direktorium schwere Anwürfe erhoben
wurden, wie Kumulierung von einträglichen Ämtern, Bereicherung
und mangelhafte Rechnungslegung zu seinem Vorteile.
In dem Kampfe nun, der seit 1793 zwischen ihm und Paoli
entbrannte, fand Saliceti einen mächtigen Bundesgenossen in der
französischen Regierung, deren Mißtrauen gegen Paoli wegen seiner
englandfreundlichen Vergangenheit jetzt nach erfolgter Kriegserklärung
an England besonders rege wurde, so daß sie unter allerlei Voiv
wänden bemüht war, Paoli zur Reise und Übersiedlung nach Frank-
326
Dr. Ludwig Jekels
reich zu bewegen und ihn so auf Korsika unschädlich zu machen.
Dieser jedoch merkte offenbar die Absicht und im Bewußtsein seiner
Unschuld — da er den Franzosen und der Republik ganz ergeben
und völlig treu war — sowie besorgt um die Wahrung seiner
Würde weigerte er sich, den an ihn als französischen General
ergangenen Befehlen des Kriegsministers Folge zu leisten und blieb
auf Korsika.
Saliceti seinerseits stellte als Abgeordneter im Konvent
mehrere Anträge, deren Spitze sich gleichfalls gegen Paoli richtete:
so, die Regierung möge für den bevorstehenden Krieg mit England
für die Verteidigung Korsikas Vorsoge treffen, die Freiwilligen¬
bataillone daselbst <die Paoli ergeben waren) auflassen und durdi
reguläre Jägertruppen ersetzen, sddießfich für die Sicherheit der Häfen
sorgen,* und unter diesem Vorwände ließ er sich — nebst zwei
anderen Abgeordneten — als mit unbeschränkten Vollmachten aus¬
gestatteter Konventskommissär nach Korsika delegieren.
Dadurch wurde nun der Bürgerkrieg unausweichlich, da Saliceti
außer diesem sonstigen Anhang auch über die neuen Bataillone
verfügte, deren Offiziere fast ausschließlich ihm ihre Ernennung ver¬
dankten.
Trotzdem und trotz der nach Ankunft der Kommissäre auf
Korsika stattgefundenen mannigfachen Reibungen schien es jedoch ,
als sollten und könnten die Differenzen noch irgendwie friedlich ge¬
schlichtet werden — als ein Ereignis eintrat, das die bereits auf eine
friedliche Entspannung abzielenden Absichten Salicetis völlig kreuzte.
Der Konvent hatte nämlich die Verhaftung Paolis beschlossen, und
seinen Kommissären auf Korsika den bezüglichen Auftrag zukommen
lassen.
Dieser nach Ansicht aller, selbst Paoli noch so feindlich Ge¬
sinnter sehr übereilte Beschluß — der übrigens später, wie wir
sehen werden, tatsächlich revoziert wurde — war die Folge eines
Streiches, den Napoleons Bruder, Lucian Bonaparte, auf dem Ge¬
wissen hatte. Dieser achtzehnjährige, ebenso von sich eingenommene
wie exaltierte Jüngling, der das intensive Bedürfnis empfand, eine
Rolle zu spielen, hat im republikanischen Klub von Toulon, wo er
zurzeit weilte, eine Brandrede gegen Paoli gehalten. Wie er in seinen
Memoiren ausführt, ohne eigentlichen Grund, so von ungefähr, wie
aber die Historiker meinen, aus gekränktem Ehrgeiz — weil ihm
von Paoli die Stelle eines Sekretärs verweigert wurde — malte
er den Gouverneur und dessen tyrannisches Regiment auf Korsika
in sehr schwarzen Farben, um zum Schlüsse dessen sofortige Ab¬
setzung und Auslieferung an die Strenge des Gesetzes zu verlangen.
Nun war aber der Süden Frankreichs noch von der Zeit der
sardischen Expedition her, wo zwischen den Provencalen und Korsen
zahllose Reibungen stattgefunden hatten, sehr schlecht auf die Insu¬
laner und Paoli zu sprechen, den man sogar schließlich für das
Mißglücken dieser Expedition verantwortlich machte,* überdies ent-
Der Wendepunkt im Leben Napoleons I.
327
faltete gerade dort Arena eine heftige Agitation gegen Paoli, ihn
verräterischer Absichten zeihend/ kein Wunder nun, daß Lucians
Denunziation gierig aufgenommen und eiligst von Escudier, dem
Abgeordneten des Vardepartements, dem Konvent mitgeteilt wurde,
der — noch unter dem frischen Eindruck des Verrates von Du-
mouriez stehend und überall Verrat besorgend — die unverzügliche
Inhaftnahme Paolis dekretierte.
Als aber die Kommissäre, und speziell Saliceti, ganz ver¬
zweifelt über diesen Irrtum des Konvents »mit gequältem Herzen«
sich des ihnen gewordenen Auftrages entledigen wollten, da stießen
sie auf eine unverhohlene Auflehnung, die sich alsbald zum allgemeinen
Aufruhr der Korsen steigerte. Aus den Bergen strömten deren Be¬
wohner wohlbewaffnet herbei, um ihren »babbo« zu schützen, und
überfluteten die Städte,* die meisten derselben, darunter auch Ajaccio,
gingen für die Republik verloren, da sich ihre Bevölkerung gegen
die Franzosen und gegen die französisch Gesinnten kehrte.
Infolge dieser Wendung der Dinge und über Vorstellungen
der Freunde Paolis, endlich auch unter dem Eindrücke des Schreibens
von Paoli vom 26. April an den Konvent, worin er denselben in
gemäßigtem und leidenschaftslosem Tone über die Situation auf¬
klärte und seiner Anhänglichkeit an Frankreich versicherte und sich
sogar bereit erklärte, zum zweitenmal sein Vaterland zu verlassen,
falls seine Anwesenheit störend empfunden werden sollte, beschloß
der Konvent am 16. Mai das Dekret vom 2. April zu widerrufen,
ernannte am 30. Mai für die korsische Angelegenheit noch zwei
Kommissäre — Franzosen vom Kontinent — und beauftragte sie,
alle friedlichen Mittel zu versuchen und den General mit Schonung
und Mäßigung zu behandeln.
Indessen war es zu spät. Denn inzwisdien hatten die Kom¬
missäre die Geduld verloren und aus Angst, jegliche Autorität
einzubüßen und der Schwäche geziehen zu werden, griffen sie zu
Zwangsmaßregeln., wie Auflösung des Generalrates, Ersetzung des
Direktoriums durch ein neues, Abordnung von Militär in einige
revolutionierende Ortschaften,* überdies verurteilten sie Paoli öffentlich
und steigerten durch all dies mächtig die Erbitterung. Hingegen be¬
stärkte der Aufstand im Süden Frankreichs, der auf den Staats¬
streich vom 31. Mai folgte, Paoli, der es mit der gestürzten
Gironde hielt, in seiner Insurrektion,* auih wurden die beiden Kom¬
missäre durch ihn in ihrer Ankunft in Korsika stark aufgehalten,
und endlich glaubte Paoli nicht an die Suspension des Haftdekretes
und hielt sie bloß für eine Falle, zumal er die Aufrichtigkeit und
den Erfolg einer Aktion bezweifelte, an der auch Saliceti teilnahm,
den er von seinen Kollegen zu trennen suchte.
Noch vorher berief er für den 27. Mai eine Nationalversamm¬
lung nach Corte, die von über tausend Abgeordneten der Ge¬
meinden beschickt wurde und in der unter Beteuerung der Treue
an Frankreich und der Anhänglichkeit und des Vertrauens an Paoii
328
Dr. Ludwig Jekels
sowie unter Aufzählung der Sünden Salicetis und seiner Anhänger
unter anderem beschlossen wurde, daß Saliceti und seine zwei
Kollegen als Konventskommissäre nicht anzuerkennen, und dem^
gemäß ihre Anordnungen und Anträge nicht zu befolgen seien,«
überdies aber wurde in dieser Versammlung über die Familie Bona¬
parte die Acht des Volkes ausgesprochen.
Fast zugleich versuchten es die Kommissäre unter Napoleons
Anleitung und seinem Rate folgend, die Zitadelle von Ajaccio zu
überrumpeln, um sie und die Stadt den Paolisten zu entreißen und
wieder in französischen Besitz zu bringen, welcher Versuch ihnen
jedoch mißlang. Offenbar war dies, nebst der Stimmung und den
Beschlüssen derVersammlung in Corte die unmittelbare Ursache, daß nun
die Häuser der franzosenfreundlichen Korsen in Ajaccio geplündert
und ihr Besitz devastiert wurde, darunter auch, wie wir wissen,
der der Bonapartes.
Die angesichts dieser Wendung der Dinge ganz machtlosen
Kommissäre beschlossen nun sich zu trennen, und während Lacombe^
St. Michel auf Korsika zurückblieb, um die wenigen noch von den
Franzosen innegehabten Plätze zu verteidigen, eilten Saliceti und
Delcher nach Frankreich, um Verstärkungen zu holen. Über Ver^
anlassung und Schilderung Salicetis beschließt am 17. Juli der
Konvent, Paoli als Verräter an der französischen Republik und als
vogelfrei zu erklären, sowie gegen eine Anzahl seiner hervorragenden
Anhänger die Anklage zu erheben, was — wie bereits erwähnt —
die tatsächliche Auslieferung Korsikas an England zur Folge hatte.
Über die Anteilnahme Napoleons an diesen Vorgängen, seine
Stellung zu denselben, sowie über die Motive dieser Stellungnahme
äußert sich Chuquet wie folgt.
Napoleon habe sich ebenso wie Saliceti, wie Arena, wie
Volney gegen Paoli erklärt,« denn der Mensch, nach dem er sich
richtete und dem er zu folgen beschlossen, sei Saliceti gewesen.
Er habe schon im Ungestüm seiner Jugend lebhafte Bewunderung
für Saliceti empfunden und der Einfluß der Publikationen Salicetis
mache sich auch in den Jugendschriften Napoleons geltend. Sie traten
miteinander in nähere Berührung sowohl im Jahre 1792 auf Korsika
als auch dann in Paris,« sie seien auch miteinander in Korrespondenz
gewesen, die stellenweise tatsächlich das Gepräge inniger, wenn auch
junger Freundschaft trägt.
Unter Salicetis Einfluß, meint dieser Autor, habe sich Napoleon
endgiltig und für immer Frankreich zugewendet, nachdem er sich
überzeugt hatte, daß Korsika nicht unabhängig sein könne, ja nicht
sein dürfe. Und nun schwankte er nicht mehr, um bei jeder Gelegen¬
heit seine Anhänglichkeit an Frankreich zu bekunden,« ja er wurde
in diesem seinen Gefühl nicht im geringsten dadurch beirrt, daß vor
kurzem erst durch das Gesetz vom 2. September 1792 der Konvent
Der Wendepunkt im Leben Napoleons I.
329
der Familie Bonaparte die ihr seinerzeit vom König eingeräumte
Erbpacht der öffentlichen Güter: Haus Boldrini und Besitz Mitteli
entzogen hatte.
Außer diesem, wie wir sehen, als recht weittragend postulierten
Einfluß von Saliceti hätte aber audi die Haltung Paolis gegenüber
den Bonapartes zum Abfall Napoleons von ihm beigetragen. Paoli
soll nämlich nichts dazu getan haben, um Napoleon vom Abfall
abzuhalten, da er Mißtrauen gegen die Söhne Charles hegte, eben
weil sie die Söhne ihres Vaters waren, der, nachdem er Paoli ge¬
dient, sich nicht gescheut habe, um die Gunst der französischen Macht¬
haber zu werben und die Beweise derselben anzunehmen. Deshalb
habe sich Paoli vor dieser unruhigen und von Ehrgeiz verzehrten
Familie in acht genommen und sie kühl behandelt,* und nur deshalb,
weil er sich mit ihnen nicht »amalgamieren«, gemein machen wollte,
habe er Lucian bei Anerkennung aller seiner Talente die Stelle des
Sekretärs verweigert. Er sei auch mit der Haltung Josephs im Direk¬
torium unzufrieden gewesen und habe ihn dies oft fühlen lassen,*
aber auch Napoleon sei vom Gouverneur nicht viel besser behandelt
worden. Denn er habe ihm bei der Überreichung der Exemplare der
von Napoleon verfaßten und Paoli verteidigenden »Lettres ä Butta^
fuoco« nur kühl gedankt, sein Ersuchen um Ausfolgung von Doku^
menten, die er für seine Geschichte Korsikas benötigte, trocken ab^
geschlagen, überdies aber auch die vakante Stelle seines Adjutanten
ad personam, um die, wie Chuquet vermutet, sich auch Napoleon
beworben haben dürfte, nicht ihm, sondern einem anderen verliehen.
Außerdem sei Paoli in dieser seiner abwehrenden Haltung gegen¬
über den Bonapartes von dem geschworenen Feind derselben, Pozzo
di Borgo, bestärkt worden.
Unter dem Einfluß dieser Motive hätten nun die Brüder
Bonaparte Stellung genommen gegen den Gouverneur, zumal Joseph
nicht mehr ins Direktorium gewählt wurde und Napoleon durch
den sardischen Mißerfolg außer sich war,* beide nahmen auch keinen
Anstand, im Ajaccioer Patriotenklub sich in Angriffen gegen Paoli
zu ergehen, dem sie sowohl »inquisitorischen Ehrgeiz« als auch
Mangel an Liebe für Frankreich und Sympathien für England vor¬
warfen und den sie für das Mißglücken der sardischen Expedition
verantwortlich machten,- zugleich aber brüsteten sie sich mit ihrer
Verbindung mit Saliceti, von dem sie einst ihren Anteil an Macht
und Einfluß erhofften.
Als der Haftbefehl gegen Paoli in Korsika anlangte, befand
sich Napoleon in Ajaccio, wie gewöhnlich mit gespannter Aufmerk^
samkeit die Begebenheiten verfolgend. Die Nachricht erschreckte und
verwirrte ihn.
Denn er begriff sofort, daß ein Krieg zwischen Korsika und
der Republik im Anzuge war und daß Paoli, der sich im Besitze
der militärischen Machtmittel befand, zumindest am Anfang dieses
Ringens den Sieg davontragen und dann seine Widersacher ächten
330
Dr. Ludwig Jekels
und ihres Besitzes berauben könnte. Er wußte, daß die siegreichen
Paolisten auch die Bonapartes und ihr Eigentum nicht schonen
würden, und aus dieser schweren Besorgnis um das Wohl seiner
Familie habe nun Bonaparte die Verteidigungsschrift für Paoli
verfaßt.
Überdies aber und da ihm diese Adresse als Kundgebung
nicht bedeutsam genug erschien und er eine imposantere beab¬
sichtigte, richtete er, dem Rate Masserias folgend, der diese Ge¬
legenheit wahrnahm um Napoleon mit Paoli zu versöhnen, eine
Bitte an die Munizipalität von Ajaccio, dieselbe möge den Partei¬
ungen ein Ende machen und eine allgemeine Versammlung ein*
berufen, in der jeder Bürger von neuem den Eid der Treue an
die französische Republik leisten sollte.
Trotz der tiefen Spaltung, ja erbitterten Feindseligkeit, die
zwischen dem Patriotenklub und der paolistischen Societe des Amis
incorruptibles du peuple bestand, einer Feindseligkeit, an der nicht
zum geringsten Teile Napoleon schuldtragend war, da er Ursprünge
lieh gegen die von den Paolisten angestrebte Fusion beider Klubs
auftrat, wandte er sich an die gegnerische Vereinigung jetzt selbst
mit dem Vorschläge der Fusion, und wollte ihr beide von ihm
verfaßten Adressen vorlegen.
Abgewiesen von der Societe des Amis, die sich nun weigerte,
mit ihm in Unterhandlungen zu treten, läßt er sich nicht abschrecken
und wendet sich an — Paoli, indem er Masseria ersucht, dem
General zu schreiben. Er meint zu Masseria: »Paoli verdächtigt
mich / frage ihn, was ich machen soll, um ihm meine Anhänglichkeit
zu beweisen.« Doch Paoli hatte eben den Brief Lucian Bonapartes
an seine Brüder aufgefan^en, in dem dieser den Nichtsahnenden
von seinem Auftreten in Toulon und der Denunziation Paolis Mit¬
teilung macht. Da ist es wohl begreiflich, daß er die ihm angebotene
Freundschaft Napoleons geringschätzig abweist.
Nachdem er derart alle seine friedlichen Absichten 1 gescheitert
sah, soll Napoleon in den letzten Tagen des Monats April den
verwegenen Versuch gemacht haben, sidi der Zitadelle von Ajaccio
auf listige Weise zu bemächtigen, der jedoch gleichfalls mißlungen ist.
Nun wurde ihm aber der Boden von Ajaccio zu heiß. Denn
inzwischen hatte Paoli dafür Sorge getragen, daß der Brief Lucians
auf der ganzen Insel bekannt werde, und überdies wußte es jeder*
mann, daß Joseph Bonaparte sich in Bastia bei den Konvents¬
kommissären befand, sowie daß die Bonapartes die Vertrauten
Salicetis und Anhänger seiner Partei waren, welcher die Schuld an
der Verfolgung Paolis durch den Konvent sowie an all' den Wirren
1 Salgues und Arnault führen sogar an, Napoleon hätte in diesen
Tagen eigenhändig an den Mauern von Ajaccio die Antwort des Municipium
angeschlagen, »mit welcher dasselbe die Grundlagen des vom Konvent gegen Paoli
erlassenen Dekretes widerlegt«.
Der Wendepunkt im Leben Napoleons I.
331
beigemessen wurde. Um also dem grimmigen Zorn der Paolisten
zu entgehen, beschloß Napoleon, Ajaccio zu verlassen und sich zu
den Kommissären nach Bastia zu begeben. Er erreichte dies Ziel
erst auf einem Umwege und nachdem er einer großen Gefahr
entronnen war, denn er wurde unterwegs von ihm nachgeschickten
Gendarmen Paolis verhaftet und konnte sich nur durch die Schlau¬
heit seines Führers aus der Haft erretten.
Hier in Bastia bleibt Napoleon nicht müßig. Denn es gelingt
ihm, die Kommissäre von der Möglichkeit, sich Ajaccios zu be¬
mächtigen, zu überzeugen, und sie zur Veranstaltung einer Expe¬
dition gegen diese Stadt zu veranlassen. Doch scheitert auch dieser
Plan an der Wachsamkeit und Treue der paolistischen Besatzung
der Zitadelle, sowie der unversöhnlichen Haltung der Bevölkerung.
Ein Zurück gab es nun nicht mehr,* der Bruch mit Paoli war
endgiltig vollzogen. Außer sich vor Wut, verfaßt nun Napoleon,
der inzwischen von der Flucht der Seinigen, der Zerstörung des
Bonaparteschen Besitzes und von der Ächtung in der Versammlung
vom 27. Mai erfuhr, die Anklageschrift gegen Paoli, um wenige
Tage darauf nach Toulon zu übersiedeln, und jegliche Bande mit
seiner korsischen Heimat zu zerreißen.
Wir haben im Vorstehenden die Darstellung Chuquets
relativ ausführlich mitgeteilt, nicht bloß um den Leser zu orientieren,
sondern auch um zu bekunden, daß wir, ferne von jeder Einseitig¬
keit, außer unseren hier zu entwickelnden Gesichtspunkten auch die
anderen nicht nur nicht übersehen, sondern dieselben sehr wohl zu
berücksichtigen, ja sogar, wie im vorliegenden Falle, hoch einzu¬
schätzen bereit sind.
Indessen — bei aller Würdigung der Angaben Chuquets
— stehen wir nicht an, zu erklären, daß uns dieselben nach mancher
Richtung lückenhaft und daher unbefriedigend erscheinen.
Dieser Einwand betrifft vor allem die Kardinalfrage nach den
Ursachen der Abwendung Napoleons von Paoli, die mit der Mit^
teilung Chuquets: weil er Saliceti folgen wollte, zumal ihn Paoli
ablehnend behandelt hat, unseres Erachtens nicht genügend ge¬
klärt sind.
In obiger Darstellung des Paoli-Konfliktes begeht Chuquet
den Fehler, zu übersehen, welch einen enorm hohen, wenn nicht
überhaupt den höchsten affektiven Wert in Napoleons
Seelenleben Paoli repräsentierte, mit dem er seit seiner Kind^
heit aufgewachsen, mit dem er geradezu unzertrennlich verwachsen
schien! Niemand, der über die Kindheit und Jugend Napoleons gründ¬
lich orientiert ist, kann dies leugnen, und auch Chuquet betont und
hebt es in den früheren Perioden von Napoleons Leben sehr nach¬
drücklich hervor, um es gerade bei der Erörterung des Paoli-
Konfliktes fast ganz zu vernachlässigen!
332
Dr. Ludwig Jekels
Tut man dies aber nicht, dann bleibt das Problem, ungeachtet
der uns von Chuquet gegebenen Erklärung fast in ungeminderter
Stärke, vielleicht nur um etwas verschoben, weiter bestehen,- denn
nach wie vor halten wir es für erklärungsbedürftig, wieso es kommt,
daß ein Mensch, der durch zwei Dezennien ein Ideal hegt, dem er
mit der ganzen Glut seiner Seele anhängt, von dem er z. B. noch
vor drei Jahren meint <falls Korsika Frankreich nicht inkorporiert worden
wäre, dann): »hätten wir Paoli gerufen, diesen großen Menschen,
den Gegenstand unseres Enthusiasmus, den nur vierzigtausend
Bajonette und unglückselige Umstände uns entreißen konnten, und
wir hätten ihm gesagt: Du, der einzige Mensch, zu dem Korsika
Zutrauen hat, übernimm wieder das Steuer des Schiffes, das du so
gut zu lenken weißt,- unsere Liebe, unveränderlich wie deine
Tugenden, ist gewachsen durch dein Mißgeschick,- Räuber haben
über uns geherrscht und unsere Erde ist mit ihren Opfern bestreut,-
aber sie konnten uns nicht erniedrigen,- erscheine, wir sind nodi
deiner würdig«,- über welches Ideal er noch vor etwa einem
halben Jahre aus Paris, für den Fall, als Korsika von Frankreich
freigegeben werden sollte, sich äußert: »Paoli ist alles und wird
alles sein«, dahin gelangt, dieses Ideal in einer ganz kurzen Spanne
Zeit gegen die Freundschaft und Führerschaft des ihm unvergleichlich
weniger bedeutenden, bis dahin kaum jemals von ihm besonders
hervorgehobenen Saliceti restlos einzutauschen, ja dasselbe sogar
direkt zu bekämpfen?
Und ich meine auch, daß es sich hier um eine derart elementare
psychische Umwälzung handelt, daß sie auch durch die von Chuquet
gewiß mit Recht hervorgehobene ablehnende Haltung Paolis gegen¬
über den Bonapartes kaum provoziert worden sein mag, so daß
dieselbe nur die Bedeutung eines unterstützenden Momentes beam*
Sprüchen kann.
Besonders kraß zeigt sich bei Chuquet diese Außeracht¬
lassung der affektiven Bewertung des Verhältnisses Napoleons zu
Paoli z. B. darin, daß er als Motiv Napoleons bei der Abfassung
der Verteidigungsschrift lediglich die Angst und die Sorge um den
Besitz der Seinigen annimmt.
Gewiß war Bonaparte auch sehr besorgt um die Seinigen
und deren Habe als er vom Haftdekret erfuhr, und gab dem un¬
verhohlen Ausdruck,- gewiß war dies mit ein Motiv zur Abfassung
der Verteidigungsschrift. Es heißt aber das ganze Verhältnis ver^
kennen, wollte man, wie Chuquet es tut, nur diesem Motiv die
Entstehung dieser Schrift zuschreiben. Und ich meine, daß die weiteren
oben geschilderten Bemühungen Bonapartes und seine Annäherungs¬
versuche an Paoli gewiß nicht dagegen sprechen,- abgesehen davon,
daß er dadurch, daß er sich durch die Entziehung der für seine
Familie so bedeutsamen Erbpacht vom Attachement an Frankreich
nicht abhalten ließ, immerhin den Beweis erbrachte, daß er materielle
Vorteile idealen Gütern unterzuordnen weiß.
Der Wendepunkt im Leben Napoleons I.
333
Aber dieses Übersehen der affektiven Tragweite des Verhält¬
nisses Napoleons zu Paoli wird bei Chuquet womöglich noch
überboten von der Unterschätzung desselben Faktors, die er sich
bei Besprechung der nationalen Wandlung Napoleons, — vom
Korsentum zum Franzosentum, — zuschulden kommen läßt. Da
wird uns zur Erklärung bloß mitgeteilt, es sei dies »unter dem
Einfluß« von Saliceti eingetreten, ohne daß auch nur ein weiteres
Wort darauf verwendet würde, uns aufzuklären, worin dieser
spezifische Einfluß bestand, mit welchen Mitteln er sich geltend
machte und welche Saiten in Napoleons Seele durch ihn in Schwin*
gung gebracht wurden, damit dieses Resultat erzielt werde,* ebenso*
wenig wird aber auch die Frage erwogen, warum dieser Einfluß
Salicetis sich erst jetzt und nicht schon viel früher geltend gemacht
hatte, oder, warum Napoleon, für den doch hier so ohne weiteres
Beeinflußbarkeit in diesen Dingen postuliert wird, nicht schon früher,
etwa in der Pariser Militärschule oder in seinen französischen
Garnisonen umgestimmt wurde, wo es doch an franzosenfreund*
liehen Einflüssen gewiß nicht gefehlt hat.
lind so meine ich, daß diese Mitteilung Chuquets uns kaum
irgendwelche nennenswerte Aufklärung gebracht hat über das ge*
radezu kolossale psychologische Problem dieses nationalen Gesinnungs*
wandeis Napoleons, und daß es nach wie vor der Erklärung be*
dürftig sei, wieso es kommt, daß ein Mensch, der nahezu durch
zwei Dezennien einen elementaren Haß gegen die Franzosen hegt,
der noch vor kurzem in seinen an Franzosen gerichteten Briefen
von Frankreich stets als »votre pays« und »votre nation« spricht,
noch vor einem Jahre es versucht, die Franzosen von der Ajaccio'er
Festung zu verdrängen, ja von dem noch vor einigen Monaten,
zur Zeit seines Pariser Aufenthaltes, derselbe Chuquet meint:
»Seine Phantasie ist nicht beruhigt,* sie quält ihn. Er hat nichts im
Kopfe als seine Insel«, und der noch von Paris aus seinem Bruder
Joseph schreibt: »Nun ist es wahrscheinlicher denn je, daß all dies
mit unserer Unabhängigkeit enden wird«, und der nach seiner Er*
nennung zum Hauptmann, trotz der scharfen Mahnung des Ministers
von Paris aus nicht zu seinem im Kriege befindlichen Regiment,
sondern wieder nach Korsika sich begibt, dahin gelangt, in der
zwischen seiner Rückkehr aus Paris <15. Oktober 1792) und dem
Konfliktausbruch mit Paoli sich ergebenden, etwa fünf Monate be*
tragenden Spanne Zeit aus dem Saulus ein Paulus zu werden,
seine zwanzigjährige Vergangenheit zu vergessen, ja dieselbe sogar
in dem Maße ins Gegenteil zu verwandeln, daß er, den meisten
Autoren zufolge, dieser neuen Liebe bedenkenlos sein altes Idol,
Paoli, opfert? Meint ja sogar F. Kircheisen, daß selbst die
Paoli verteidigende Adresse bloß dieser Liebe Napoleons für Frank*
reich entsprungen ist, »dem er keinen besseren Dienst erweisen zu
können glaubte, als daß er dem Konvent die Widerrufung des
Dekretes gegen Paoli empfehle!«
334
Dr. Ludwig Jekels
Doch bin ich nicht der einzige, der an dieser Stelle diese
Reklamation erhebt. Denn H. Conrad, der Herausgeber und Über¬
setzer des »Memorial de St. Helene« {Napoleons Leben von ihm
selbst) erhebt in der Vorrede dieselbe Forderung mit nachstehenden
Worten: »Seiner Jugend und der Geschichte seiner Familie maß
der Kaiser keinerlei historische Bedeutung zu. Sein Leben wollte
er begonnen wissen mit den ersten Waffentaten, die seinen Ruhm
begründeten. All das was ihn werden ließ, sollte ausgestrichen sein,
und er handelte damit im Geiste der großen Republik, die auch mit
der Geburt stolz das Jahr I. datierte.« Doch mögen bei
Napoleon auch andere Gründe mitgespielt haben. Als
Franzose fühlte er sich zum erstenmal, da er die Artillerie vor
Toulon kommandierte. Und als Franzosen mußte ihm seine
Vergangenheit bis Toulon nicht nur historisch unwichtig, nein,
geradezu unangenehm erscheinen. Denn vorher war er
Korse. Und das Kapitel der Jugendgeschichte hat darum
die Aufgabe darzustellen: wie aus dem Korsen ein
Franzose wurde.«
Bei all den angeführten, das Verständnis so empfindlich
störenden Lücken, kann ich es, wiewohl mit seinen Ausführungen
sonst nicht einverstanden, Fournier nur als Verdienst anrechnen,
daß er, offenbar zum Teil aus dem gleichen Empfinden heraus,
diese Franzosenliebe Napoleons als Motiv des Bruches mit Paoli
gänzlich vernachlässigt und rein selbstische Motive, wie Napoleons
maßlosen Ehrgeiz, Herrschsucht und Strebertum, für diesen Abfall
verantwortlich macht und in ihnen die treibenden Kräfte erblidct,
die es bewirkten, »daß Napoleon aufhörte, Korse zu sein, ohne
daß er es jemals dahin gebracht hätte, Franzose zu sein«.
Indessen halte ich auch diese Erklärung aus mehreren Gründen
für viel zu wenig besagend und unzureichend.
Denn abgesehen von der sich aufdrängenden Frage, ob denn
der Ehrgeiz, namentlich ein so exorbitanter, wie er Napoleon zu¬
geschrieben wird, ein psychisches Letztes, ein Element ist, das keine
weitere Zurückführung zuläßt, ob er nicht vielmehr eine zusammen¬
gesetzte, somit noch reduzierbare psychische Erscheinung ist, müßte
uns vor allem zum restlosen Verständnis erklärt werden, warum
derselbe bei Napoleon gerade in diesem Momente sich so kraß
geltend gemacht hat, und warum derselbe gerade diese und keine
anderen Formen gewählt hat.
Überdies aber erscheint es mir schon gewagt, sich mit der
Erklärung durch Ehrgeiz zu begnügen, wenn ich mir nur vergegen¬
wärtige, wie er sich etwa anderthalb Jahre vorher, im Jahre 1791,
in seinem »Discours de Lyon« darüber ausläßt, nachdem er über
die »passions violentes«, die ungestümen Leidenschaften im all¬
gemeinen gepredigt hat: »Ist nun die Jugend vorüber und derselbe
junge Mann hat das Mannesalter erreicht und der Ehrgeiz hat sich
seiner bemächtigt? Der Ehrgeiz mit dem blassen Gesidit, mit dem
Der Wendepunkt im Leben Napoleons I.
835
irrigen Blicke, mit hastigem Gang, mit unregelmäßigen Be*
wegungen und mit dem sardonischen Lächeln? Das Verbrechen be¬
deutet ihm nicht mehr denn ein Spiel, Ränke nicht mehr denn ein
Mittel,- die Lüge, die Verleumdung, die Schmähsucht sind ihm bloß
ein Argument, eine rhetorische Wendung. Und wenn er schon zur
leitenden Stellung gelangt? Da ermüdet ihn bloß die Huldigung der
Völker.«
Oder an einer anderen Stelle: »Aber der Ehrgeiz, dieses
fressende Begehren, den Dünkel und die Unmäßigkeit zu befriedigen,
der nie zufriedengestellt ist, der Alexander von Theben nach Persien,
von Granichus nach Issus, von Issus nach Arbella und von da nach
Indien führt,- der Ehrgeiz, der ihn die Welt erobern und verwüsten
läßt, um ihn doch nicht zu befriedigen, dessen Feuer ihn verzehrt,-
in seinem Wahn weiß er nicht mehr, welchen Lauf er ihm geben
soll, er wird von ihm getrieben und verirrt sich . . . Alexander glaubt,
ein Gott zu sein, ein Sohn Jupiters und will es auch die anderen
glauben machen . . .« Oder an einer anderen Stelle: »Idi suchte
das Glück und fand bloß den Ruhm!« Oder im »Sur l'amour de
la patrie«: »Unsere Seele wird zweifellos entflammt durch die Er*
zählung der Taten von Alexander, Philipp, Karl d. Gr., Turenne,
Conde, Macchiavelli und so vieler anderer berühmter Männer, die
in ihrer Heldenlautbahn sich zum Leitstern die Schätzung der Men*
sehen nahmen,- aber welch ein Gefühl beherrscht unsere Seele beim
Anblick von Leonidas und seiner dreihundert Spartaner! Die gehen
nicht in eine Schlacht — sie rennen in den Tod für das ihr Vaters
land bedrohende Schicksal.«
Ja sollte die hier bekundete gewaltige Einsicht uns doch nicht
zur Vorsicht mahnen vor der allzustarken Würdigung des Ehrgeiz*
motives!
Und überdies möge man erwägen, daß Napoleon nach seiner
Flucht aus Korsika in der recht subalternen Stellung eines Artillerie*
hauptmannes seinen Dienst antrat, daß ihm seitens Frankreichs und
dessen Adhärenten wie Saliceti gar keine Avancen gemacht und
keine Vorteile zugewendet wurden, daß seine Familie während
dieser Zeit zuerst in einem Dorfe La Valette leben mußte, weil ihr
der Aufenthalt in Toulon zu teuer war, und daß sie dann in Mar*
seille in einer ans Elend grenzenden Armut ihr Dasein fristete, endlich
und hauptsächlich, daß Napoleons Aufstieg und damit die Besserung
in den Verhältnissen seiner Familie erst durch seine ehrlich verdiente
Leistung bei der Belagerung von Toulon — dessen Rückeroberung
im wesentlichen Bonaparte zu verdanken war — ihren Anfang
nahmen, um die Unzulänglichkeit dieser Motivierung durch Ehrgeiz
einzusehen.
Und dergestalt erachten wir, daß die beiden hier in Rede
stehenden Fragen: warum und wieso Napoleon aus dem Korsen
zum Franzosen wurde, sowie: warum Napoleon mit Paoli ge*
brochen hat, Fragen, welche stellenweise innig miteinander zusammen*
336
Dr. Ludwig Jekels
hängen und ineinanderfließen, und deren Beantwortung wir für un¬
erläßlich halten, wenn nicht anders dieser vielleicht bestimmendste
Abschnitt im Leben Napoleons in ewiges Dunkel gehüllt bleiben
soll, durch die bisherige Forschung kaum in genügender, geschweige
denn in zufriedenstellender Weise beantwortet wurden.
Dies Scheitern all der bisherigen Bemühungen wird uns aber
kaum verwundern, wenn wir bedenken, daß sich dieselben bloß auf
die Erforschung der Domäne des bewußten Seelenlebens Napoleons
erstreckten, während, wie wir anzunehmen uns für berechtigt halten,
die bestimmenden Einflüsse hier dem unbewußten Anteile des*
selben entsprangen, dessen Erschließung und wenn auch nur schemati*
sehen Darstellung, — wie übrigens bei der ungeheueren Größe des
Materials kaum anders möglich, — wir uns nun zuwenden wollen.
Kein geringerer als Victor Hugo erkannte offenbar die bei
Bonaparte wirksamen Kräfte, als er von ihm meinte:
»Bonaparte fut l'immense somnambule d'un reve ecroule.«
II.
Zum Zwecke eines analytischen Versuches sind wir bei
Napoleon insoferne gut daran, als uns das hiezu notwendige
Material, wie Pubertätsphantasien und Kindheitserinnerungen, in
ziemlich reichlichem Ausmaße zur Verfügung steht. Die ersten finden
wir in seinen 1786 bis 1793, somit zwischen dem siebzehnten und
vierundzwanzigsten Lebensjahre verfaßten Schriften, die uns nun
durch Wiederauffindung der durch Libri seinerzeit hinterzogenen
und verkauften Manuskripte Napoleons wieder zugänglich ge¬
worden sind.
In diesen Jugendschriften Napoleons ist — nach Ansicht aller
Biographen — der große Einfluß von zwei Schriftstellern unver*
kennbar, nämlich von Rousseau und Raynald. Den ersten von
ihnen vergöttert Napoleon geradezu in dieser Zeit <1785 bis
1792),- er ist nach ihm der tiefste, der durchdringendste Philosoph,
und es gibt kaum ein Werk desselben, das er nicht bewunderns*
wert fände. Die Erklärung für diese natürlich ausgezeichnet ratio*
nalisierte Liebe, ist wahrlich nicht schwer: schrieb doch Rousseau im
Jahre 1762 in seinem »Contrat social«: »Es gibt in Europa noch
ein Land, welches der Gesetzgebung fähig ist: das ist die Insel
Korsika. Der Mut und die Standhaftigkeit, mit welcher dieses
wackere Volk seine Freiheit wieder zu erlangen und zu verteidigen
gewußt hat, verdienten wohl, daß es irgendein Weiser lehrte, wie
es sich dieselben sichern könne. Mir ahnt gewissermaßen, daß diese
kleine Insel Europa eines Tages in Erstaunen setzen wird.« Und
war es doch Rousseau, der eines Tages es als seinen sehnlichsten
Wunsch aussprach, den Rest seiner Tage auf dem korsischen Eiland
verbringen zu können. Und überdies stand ja Rousseau seinerzeit
in regem Briefwechsel mit Paoli.
Der Wendepunkt im Leben Napoleons I.
337
Nicht minder korsenfreundlich war auch das andere literarische
Vorbild Napoleons, der Abbe Raynald, der Verfasser der »L/histoire
philosophique de deux Indes«, der in diesem Werke in flammenden
Worten die Perfidie und die Gier der die Korsen bedrückenden
Genuesen brandmarkt, und den Korsen die Wiedererrichtung einer
nationalen Regierung sowie das Ende der französischen Herrschaft
vorhersagt.
Die Kindheitserinnerungen aber verdanken wir dem geradezu
unermüdlichen Sammeleifer der Biographen, die schon zu Zeiten
des Konsulats und des Empire damit begonnen haben. Ich betone
hier, daß die Authentizität der hier zur Verwendung gelangenden
Berichte über jeden Zweifel erhaben ist, denn dieselben werden
selbst von solchen Forschern als sichergestellt angeführt, die, wie
z. B. Chuquet und Masson, anderen Überlieferungen gegenüber
sich äußerst kritisch verhalten und nicht zögern, das Legendäre und
Romanhafte der historischen Wahrheit zu opfern.
Auf dieses Material gestützt wollen wir nun den Paoli-
Konflikt untersuchen und die während desselben von Napoleon
verfaßten Schriftstücke ins Auge fassen.
In dem ersten, in der Verteidigungsadresse, möchte ich den
Passus: II se trouve ä la veille de devoir defendre la patrie
contre une agression etrangere <er steht unmittelbar vor
der Pflicht der Verteidigung des Landes gegen einen
fremden Angriff) ganz besonders hervorheben.
Denn diesem Begriff des »Fremden«, »etranger« begegnen wir
in Napoleons literarischem Nachlaß aus jener Zeit recht häufig, und
zwar stets mit einem Beiklang von Feindseligkeit, der sehr weit
über das hinausreicht, was dieser Begriff schon natürlicherweise —
als Gegensatz zum Eigenen — beinhaltet.
Die beiden von ihm damals — als Unterdrücker seines Volkes
— so gehaßten Nationen, Genuesen und Franzosen, werden
stellenweise unter diesen generellen Begriff des »etranger« sub^
summiert,- ja, einmal stellt er sogar die beiden Begriffe »fremd und
feind« ganz deutlich als äquivalent hin, als er eine in den genueser*
korsischen Kämpfen des dreizehnten Jahrhunderts vergewaltigte
Genueserin ihre Klage darüber vor dem Korsenführer Sinucello
della Rocca mit den Worten einleiten läßt: »Je suis etrangere et
ton ennemi.« <Lettres sur la Corse, Masson et Biagi, pag. 408.)
Aber auch sonst trägt man bei dieser Lektüre den Eindruck der
stark negativen Affektfärbung davon, von der bei ihm dieser Begriff
begleitet ist: so z. B. wenn er, 1. c., p. 416, von »fremder Hilfe«,
»secours etranger« spricht, die er als eine unsinnige Maßregel <de-
marche imprudente) bezeichnet, die »dem Vaterlande teuer zu stehen
kam«, oder mit besonderer Emphase über das Schicksal der in das
»climat etranger« verschickten Korsen wehklagt. <Lettres sur la Corse.)
Und diese Stellung Napoleons zu den Fremden, zu denen
man sich nur immer »contre«, nie aber »avec« stellen, die man
Imago III/4
22
338
Dr. Ludwig Jekels
sich stets fern halten, nie zu Freunden oder Bundesgenossen nehmen
sollte, und die er eigentlich nur in der Rolle der Feinde kennt,
diese Einstellung, die auch in ihrer gegenteiligen Ausprägung, näm¬
lich in der tiefen Abneigung gegen den Bürgerkrieg wirksam ist,
auf den er in seinem »Souper de Beaucair« von einer solchen Höhe
herabsieht und »der bei Napoleon niemals Sympathien fand« <Kirch*
eisen), scheint mir nicht bloß ein Produkt der so oft von den Autoren
hervorgehobenen Clan-Psychologie der Korsen zu sein, sondern
hat auch seine individuellen wurzeln. Zumindest ist aber dieser
Fremdenhaß Napoleons sehr alten Datums. Denn einer ausgezeichnet
verbürgten Mitteilung zufolge, die ich hier nach Cos ton wieder^
gebe, hat er sich bereits als erster Konsul in einer seiner zahlreichen
Unterhaltungen mit Herrn de l'Eguille, seinem ehemaligen Geschichts¬
lehrer in der Militärschule in Paris aus dem Jahre 1784, den er oft
in Malmaison sehr gnädig empfangen hat, diesem gegenüber ge¬
äußert:
»Von allen Ihren Lektionen war es die über die Revolution
des Connetable de Bourbon, die mir den größten Eindrude gemacht
hat. Aber Sie hatten Unrecht, mir zu sagen, sein größtes Verbrechen
sei es gewesen, daß er seinem König den Krieg gemacht hat,* sein
wirkliches Verbrechen war, daß er herangerückt ist, um Frank¬
reich mit Fremden anzugreifen. <De toutes vos le^ons, celle
qui m'a laisse le plus d'impression c'est la Revolte du Connetable
de Bourbon. Mais vous aviez tort de me dire, que son plus
grand crime avait ete de faire la guerre ä son roi/ son veri-
table crime fut d'etre venu attaquer la patrie, avec les
etrangers).«
In der zweiten, der Anklageschrift gegen Paoli, findet sich aber
gleichfalls eine Stelle, die unsere volle Aufmerksamkeit verdient.
Sie gipfelt nämlich in dem Vorwurf: »II la <la patrie) soustrait
a l'association de la France«, »er hält sie ab von der Ver^
einigung mit Frankreich.«
Ich habe bereits in der Exposition darauf hingewiesen, wie
gewaltig sein Haß gegen diese Nation noch knapp vor dem Paoli-
Konflikt war,- und Chuquet hat da Recht, wenn er meint: »In
dieser Epoche ist der zukünftige Monarch Frankreichs, der Mann,
der ihm einmal den Namen der großen Nation verleihen und zur
Devise ,Frankreich über alles 7 nehmen wird, kein Franzose,- er
verachtet diese Franzosen, die er höher denn alle Völker einst ein¬
schätzen und zum ersten Volk der Erde proklamieren wird,- er
lehnt den Titel eines Franzosen ab, den er später als den schönsten
der Erde bezeichnet.« Gewiß hat Chuquet da recht, aber doch
mit der Einschränkung, daß dieser Franzosenhaß Napoleons nicht
bloß auf diese Epoche beschränkt, sondern ungleich älteren Datums
ist, fast so alt wie Napoleon selbst!
Erzählt doch Chuquet selbst, daß er noch in der Pariser
Militärakademie sich gegen Frankreich auflehnte, immer wieder von
Der Wendepunkt im Leben Napoleons I.
339
Paoli schwärmte und mit ihm zusammen kämpfen wollte für die
Unabhängigkeit Korsikas,* hier, wie noch früher in Brienne, rühmte
er die Korsen, die Europa in ihrem Widerstande gegen Frankreich
bewundert hat,* wie in Brienne verdammte er auch hier diesen von
einem großen Volk einem kleinen Völkchen aufgedrängten Krieg,
und geriet dadurch stets in arge Konflikte sowohl mit den Vor**
gesetzten als auch mit den Kameraden. Kaum neunjährig, beim
Eintritt in die Schule zu Brienne, bricht er, nicht im geringsten durch
das fremde Milieu eingeschüchtert und ganz unbekümmert um das^
selbe, beim Anblick des Porträts des Herzogs von Choiseul, des
Staatsmannes, der Korsika den Genuesen abgenommen um es
Frankreich anzugliedern, in wüste und leidenschaftserregte Schmähungen
gegen denselben los. Und noch an anderen Kundgebungen dieser
seiner Gesinnung in der Kindheit ist kein Mangel. Eine dieser
Szenen aber, die wir bei Cos ton, aber auch bei anderen Bio¬
graphen finden, möchte ich mit ganz besonderer Schärfe hervorheben,
weil sie uns eine für Napoleon richtunggebende Gefühlsströmung
verrät und ein grundlegendes Element darstellt, sowohl für die
psychologische Erschließung seiner Persönlichkeit als auch für die
Lösung des vorliegenden Problems. Die betreffende Notiz besagt,
Napoleon sei mit zirka neun Jahren beim Vorstand der Schule
zur Tafel geladen gewesen und habe, wie gewöhnlich, von einem
der Lehrer geneckt, diesem geantwortet:
»Paoli war ein großer Mann, er liebte sein Vater**
land,* und ich werde niemals meinem Vater, der sein
Adjutant war, verzeihen, daß er behilflich war, Korsika
mit Frankreich zu vereinigen. Er hätte seinem Schicksale
folgen und mit jenem zusammen unterliegen sollen. <Paoli
etait un grand homme,* il aimait son pays,* et jamais je ne pardon^
nerai ä mon pere qui etait son adjudant, d'avoir concouru ä la
reunion de la Corse ä la France. II avait du suivre sa fortune
et succomber avec lui.>«
Denn abgesehen davon, daß diese Worte Napoleons selbst
schon auf eine gewisse entgegengesetzte Rolle hinweisen, die er
den Gestalten des Vaters und Paolis in seiner Vorstellung zuweist,
braucht man ja bloß den Vorwurf an den Vater: »II a concouru
ä la reunion« etc. mit dem fünfzehn Jahre später an Paoli ge¬
richteten »il la soustrait ä la reunion« in ihrer strikt konträren,
sie geradezu zur Identität, zu zwei bloß verschiedenen Erscheinungs¬
weisen desselben Dinges stempelnden Gegensätzlichkeit zusammen¬
stellen, um sowohl die Bewertung dieses Ausspruches, als auch
seine Hervorhebung zu rechtfertigen.
Und im Lichte dieser Zusammenstellung hellen sich uns auf und
verschärfen sich plötzlich die bis nun für die Geschichtsforschung so
unbestimmten, uneinheitlichen Konturen der Napoleonischen Gestalt
und wir werden die ungeheuer plastische Gegensätzlichkeit des
Napoleon vor und nach seinem Bruche mit Korsika gewahr, wo
22*
340
Dr. Ludwig Jekels
aus dem bisherigen Franzosenhasser und Anglomanen — ein
Franzose und Englandfeind, aus dem Verurteiler Alexander d. Gr.
— sein schwärmerischer Bewunderer, aus dem grenzenlosen Ver*
ehrer Rousseaus — sein Geringschätzer, der ihn einen langweiligen
Schwätzer und Narren nennt, aus dem Jakobiner, GleichheitSf
Schwärmer und Königsstürzer — der mit unerhörtem fürstlichen
Glanz sich umgebende Oberbefehlshaber der italienischen Armee,
erster Konsul und die Gottesgleichheit herbeisehnende absolute
Kaiser wird.
Und nicht minder gegensätzlich sind die beiden Napoleone,
von denen der eine in der »Refoutation de Roustan« die Religion
als schädlich für den Staat erklärt, Apollonius von Tyana hoch
über Christus stellt, den Klerus verabscheut und Freimaurer wird,
— der andere aber Wieland gegenüber behauptet, »das Christentum
sei ein unübertreffliches philosophisches System, wodurch der Mensch
mit sich selbst versöhnt und zugleich die Ordnung und Ruhe der
Staaten ebenso stark verbürgt würden, wie Glück und Hoffnung
der Individuen«, der sich nicht krönen lassen will, ohne den Segen
des Papstes und diesen persönlich dazu nach Fontainebleau bezieht,
und der sein Testament einleitet mit ■den Worten: »Ich sterbe in
der apostolischen und römischen Religion, in deren Schoße ich
geboren wurde.«
Wir haben dergestalt den Konflikt mit Paoli eigentlich auf
zwei Formeln zurückgeführt:
»attaquer la patrie avec les etrangers« und
»il a concouru ä la reunion de la Corse ä la France«
und wollen dieselben nun analytisch interpretieren, zumal wir im
Gegensätze zur nichtanalytischen Welt, die dem Kinde viel eher
Orientierung selbst in der Politik als in Sexualibus zusprechen möchte,
programmatisch keine ursprünglichen Affekteinstellungen zu ab¬
strakten Vorstellungen kennen, sondern dieselben immer auf recht
konkrete, irdische Quellen zurückführen, da doch gerade die Psyche
des Kindes durch mangelnde Abstraktionsfähigkeit, Konkretismus
der Vorstellungen und Neigung zur Substitution der assoziierten
Vorstellungen ausgezeichnet ist.
Mit anderen Worten: Was bedeutet in den obigen Aus¬
sprüchen die Patrie (respektive Korsika) und was La France
(respektive etrangers)?
Wie bereits oben unter stellenweiser Anführung bemerkt
wurde, finden wir in den literarischen Erzeugnissen Napoleons in
dieser Zeit als stets wiederkehrendes Motiv eine heiße, geradezu
unstillbare Liebe für sein korsisches Vaterland. Dieses Leitmotiv
wird in denselben auf die unterschiedlichste Weise variiert und
unter den mannigfaltigsten Gesichtspunkten erörtert, analysiert, und
auf seine Existenzberechtigung untersucht. Ob es ein historischer
Essai über Korsika ist oder der Erguß einer selbstmörderischen
Der Wendepunkt im Leben Napoleons I.
341
Stimmung, eine unterscheidende Untersuchung zwischen Vaterlands¬
liebe und Ruhmsucht, im Dialogue sur l'amour und im Discours
de Lyon, stets sehen wir ihn auf die Patrie, und mag es von
noch so weit hergeholt sein, zurückkommen/ so daß man sich kaum
des Eindruckes erwehren kann, es hier mit einer stark überwertigen,
weil im Unbewußten wurzelnden Vorstellung zu tun zu haben. Chu*
quet äußert sich darüber in nichtanalytischer Ahnungslosigkeit:
»Leutnant Bonaparte atmet also nichts anderes als Liebe für seine
kleine Insel. Jede andere Leidenschaft scheint ihm fremd zu sein,
und er könnte wie der Held einer seiner Novellen sagen: ,Ich habe das
Leben aus Korsika geschöpft: <j'ai puise la vie en Corse) und damit
eine gewaltige Liebe für mein unglückliches Vaterland und seine
Unabhängigkeit.'« (Nouvelle Corse.)
Da ist es ja direkt, nicht einmal mehr figürlich oder in Form
eines Gleichnisses ausgesprochen, was sich mir aus Analysen von
neurotischen Patienten ergab, daß das Vaterland eine vorgeschobene
Vorstellung für die Mutter ist, und die Liebe zum Vaterlande
eigentlich die Liebe zur Mutter bedeutet. Doch diese gegenseitige
Valenz: Vaterland—Mutter war ja den Alten wohl bekannt,- denn
wir lesen bei Herodotos (Übersetzung von Lange, II. Teil, VI. Buch,
Erato 107): »Die Barbaren aber führte Hippias nach Marathon,
nachdem er in der vergangenen Nacht folgendes Traumgesicht ge*
habt: Es deuchte dem Hippias, er schliefe bei seiner eigenen Mutter.
Aus diesem Traum schloß er nun, er würde heimkommen nach
Athen und seine Herrschaft wieder erlangen und in seinem Vater*
lande sterben in seinen alten Tagen. Das schloß er aus dem
Traum.«
Daß die Vorstellung Vaterland aber dieselbe unbewußte
Valenz und somit dieselbe affektive Quelle hat wie die Vorstellung
Erde, deren Mutterbedeutung bereits ein psychoanalytischer Gemein*
platz geworden ist und für die ich bloß auf Dieterichs Werk
»Mutter Erde« 1 , auf den Traum von Julius Cäsar 2 , das Tarquinius*
Orakel 3 * * * * 8 etc. hinzuweisen brauche — läßt uns annehmen, daß der
deutsche Ausdruck dafür, das Land des Vaters, uns den Zusammen*
hang am deutlichsten enthüllt, indem er uns andeutet, daß hier die
1 »Mutter Erde«, Ein Versuch über Volksreligion von Albert Dieterich.
Berlin 1905, Teubner.
2 Otto Rank, »Inzest-Motiv in Dichtung und Sage«, p. 237. Sueton er¬
zählt c. 7: »Selbst wegen eines Traumes in der folgenden Nacht, der ihn beun¬
ruhigte — denn ihm träumte, er habe seine Mutter beschlafen — machten die
Traumdeuter ihm Mut zu den größten Hoffnungen,- sie gaben nämlich die Auslegung,
als sei es ein Vorzeichen seiner Herrschaft über den Erdkreis,- denn die Mutter,
die er habe unter sich liegen sehen, sei niemand anders, als die
Erde, die Allmutter.«
8 Livius, I, LXI: Demjenigen werde die Herrschaft Roms zufallen, der
zuerst die Mutter küsse (osculum matri tulerit), was Brutus als Hinweis auf
die Mutter Erde auffaßte <terram osculo contigit, scilicet quod ea communis
mater omnium mortalium esset).
342
Dr. Ludwig Jekels
Verschiebung über die Vorstellung Land-Erde stattgefunden hat.
Ich möchte nur hinzufügen, daß in den anderen, z. B. sämtlichen
slawischen Sprachen, bei der entsprechenden Bezeichnung sich nichts
von dem Elemente Land oder Erde befindet, wohl aber dasselbe
durch die dem Substantiv Vater angehängte Endung: zna oder
na etc., — welche etwas dem Vater gehöriges bedeutet, —
ersetzt ist.
Die in Napoleons Schriften so häufigen und plastischen Gleich*
nisse, wie z. B. »au sein de votre patrie« <Sur la Corse) oder
<Sur l'amour de la patrie) »Athen sei ihm <dem Sohne Cimons)
immer seine Mutter und sein Vaterland«, oder (Discours de Lyon)
das Gefühl <le Sentiment) sei dasjenige, »was den Sohn mit der
Mutter, den Bürger mit dem Vaterlande vereinigt«, sprechen gewiß
für diese Deutung, ebenso wie die für ein Gleichnis fast zu weit
gehende Plastizität, die wir im Briefe an Buttafuoco vorfinden:
»Wie denn, Sohn derselben Patrie, empfinden Sie nie etwas für sie?
Blieb Ihr Herz unbewegt beim Anblick der Felsen, der Bäume, der
Häuser, der Gegenden — der Bühne Ihrer kindlichen Spiele? Als
Sie zur Welt kamen, trug sie Sie an ihrem Busen und nährte Sie
von ihren Früchten,* als Sie in das Alter der Vernunft traten,
waren Sie ihre ganze Hoffnung,* sie schenkte Ihnen ihr Vertrauen.
Sie sagt Ihnen: mein Sohn, du siehst, in welch elendem Zu¬
stande etc.«
Diesen analytischen Schlüssel wollen wir nun, wenn auch nur
an wenigen Stellen seiner Jugendschriften, verifizieren und erproben.
Der Essai »Sur l'amour de la patrie«, den er im Alter von
achtzehn Jahren <27. November 1787) während eines kurzen, in
Familienangelegenheiten von Korsika aus unternommenen Aufent*
haltes in Paris geschrieben, ist in einer seelischen Verfassung ent¬
standen, die wir am besten mit Napoleons eigenen Worten charakteri*
sieren: »Ich stehe kaum im Alter des Morgenanbruches der Leiden*
sdiaften, mein Herz erzittert noch von dem Aufruhr, den diese
erste Bekanntschaft in unseren Gedanken erzeugt . . .« Nun denn,
zum Verständnis dieser Worte, sowie der nachfolgenden Gedanken*
? änge gereiche es, daß Napoleon diesen Essai geschrieben hat fünf
f age, nachdem er eine Nacht bei einer Prostituierten zugebracht
hat — und solchergestalt sein erstes sexuelles Erlebnis gehabt hat,
— worüber er uns im »Recontre au Palais Royal« ein unzweifel*
haftes Dokument zurückgelassen hat. Es ist aber nicht etwa der
die Welt durch die Brille der Sexualität sehende Analytiker allein,
dem sich dieser Zusammenhang aufdrängt,* denn die nach dieser
Richtung hin gewiß unvoreingenommene Gertrud Kircheisen
stellt ihn — mit dem Scharfsinn eines Weibes — gleichfalls und
widerstandslos her. Sie meint darüber: »Glaubt man jedoch,
Napoleon habe dieses Ereignis seines Lebens deswegen notiert
weil es einen besonderen Eindruck auf ihn hinterlassen hatte, so
irrt man sich. Die Aufzeichnung jenes flüchtigen Begegnens mit einem
Der Wendepunkt im Leben Napoleons I.
343
Weibe geschah weit mehr aus Neigung oder Grundsatz, jeden
Wendepunkt in seinem Leben mit der größten Genauigkeit zu ver¬
zeichnen, als aus einem inneren Erleben oder Empfinden heraus.
Napoleons Herz war viel zu sehr von der Vaterlandsliebe erfüllt,
als daß ein anderes Gefühl, und wäre es auch nur ein sinnliches,
dauernd darin Platz gefunden hätte. Er nahm von dem Abenteuer
im Palais Royal ganz andere Eindrücke mit sich fort, wenn auch
nicht ohne Kampf. Alle physischen Empfindungen suchte er durch
das seiner Ansicht nach allein echte Gefühl des Patriotismus zu
erdrücken.
Fünf Tage später, am 27. November, verfaßte er einen
Monolog über die Vaterlandsliebe. Er ist an eine nicht genannte
Dame gerichtet. Sollte Napoleon naiv genug gewesen sein und mit
der Anonymen die Schöne des Palais Royal im Auge gehabt haben?
Möglich wäre es.«
Aber auch, wenn wir Napoleons Aufzeichnung nicht besäßen,
so wäre es unschwer zu entnehmen, daß die Frage der Liebe und
der Sexualität für ihn akuter und ungestümer geworden war, so
daß sie ihn sogar bei diesem »Rencontre« dahin gebracht hat, die
»personne du sexe« anzusprechen, ihn, »der mehr denn jemand
durchdrungen war von dem Abscheu ihres Standes und sich immer
für beschmutzt hielt durch den bloßen Blick« (penetre plus que per¬
sonne de l'odieux de son etat, me suis toujours cru souille par un
seul regard). In diesem Essai nämlich vergleicht er die moderne
Zeit mit der von Sparta und Athen,* während damals Vaterlands¬
liebe herrschte, herrsche jetzt die Liebe,* und diese beiden Leiden¬
schaften wären infolge ihrer entgegengesetzten Wirkungen miteinander
unvereinbar,* denn wo ein Volk der Liebe fröhnt, da leide darunter
die Vaterlandsliebe,* und deshalb glaubten heute nur wenige Per¬
sonen an dieselbe. Beziehen wir diese Auslassung im Hinblick —
auf die oben angegebene Grundstimmung — auf die Person
Napoleons, setzen wir statt des Volkes ihn selbst ein, so würden
uns Athen und Sparta, die entlegenen Zeiten, nichts anderes denn
seine selige Kindheit bedeuten, und das ganze wäre ein Ausdruck
der Befürchtung, es könnte durch die Hingabe an die Frauen bei
ihm die Liebe zur Mutter eine Einbuße erleiden,* mit anderen
Worten: es ist in ihm ein Kampf entbrannt zwischen seiner eroti¬
schen Vergangenheit und Gegenwart.
Für die Richtigkeit dieser Deutung haben wir noch einen nicht
unwichtigen Beleg. In demselben Essai apostrophiert er nämlich
bald darauf in recht aggressiver und despektierlicher Weise die
modernen Frauen: »aber o du Geschlecht, das heutzutage die
Herzen der Männer an deinen (Triumph-)Wagen kettest, dessen
ganzes Verdienst in einem blendenden Aussehen besteht, erwäge
hier <i. e. in Sparta) deinen Triumph und erröte, daß du das nicht
mehr bist.« lind er verweist die heutigen Frauen auf die Heroinen
Spartas, sie ihnen als Muster und Vorbild hinstellend.
344
Dr. Ludwig Jekels
Nun denn: er kannte eine dieser Heroinen nur zu gut,
seine Mutter Lätizia, die einer der Biographen <Chuquet> folgender*
maßen charakterisiert: »Ein Mannesherz wohnte im Leibe dieser
stolzen, unerschrockenen, unverzagten Frau. Sie begleitete ihren
Mann in die Wälder und Berge in den letzten Tagen der Unab*
hängigkeit. Oft verließ sie, um Informationen über die Armee ein*
zuholen, die steilen Felsen, wo die Frauen ein sicheres Versteck
hatten,- sie wagte sich bis in Gegenden vor, die sehr gefährdet
waren,- sie hörte die Kugeln pfeifen, aber sie hatte keinen anderen
Gedanken, als das Wohl ihres Mannes und Korsikas. Sie war
noch schwanger mit Napoleon und trug ihr Kind mit dem gleichen
Glücke und derselben Heiterkeit, wie sie es später in den Armen
hielt.« Dies war die Vergangenheit und der Ruf Lätizias, die
Paoli als Mutter der Gracchen oder als Cornelia bezeichnete,-
was Wunder, daß diese Mutter dann dem kleinen Jungen zur
Heroine wurde.
Solchergestalt stellt sich uns dieser Essai, diese von edler
Begeisterung und jugendlichem Pathos getragene, angeblich kritische
Untersuchung, — abgesehen von den anderen, später noch zu be*
sprechenden Bedeutungen — als ein mächtiges Ringen mit dem
Mutterkomplex dar, der geradezu um seine Existenz zu kämpfen
scheint. Die hereingebrochene Pubertät, die den jungen Mann, wie
wir gesehen haben, gebieterisch zum anderen Geschlecht drängt,
was folgerichtig ein Loskommen von der Mutter erheischt, hat in
seinem Unbewußten einen mächtigen Kampf ausgelöst. Schon daß
er die Frage aufrollt, ob es überhaupt eine Vaterlandsliebe gibt
<ob es nicht vielmehr Ruhmsucht ist), zeigt uns an, daß in seiner
Seele die Ablösungstendenz eingesetzt hat, und der durch dieselbe
etwas ins Wanken geratene Mutterkomplex diese ganze, so em*
phatische Beweisführung inspiriert. Wir sehen ihn da in diesem Für
und Wider zuweilen bis zur Grellheit durchscheinen, so z. B. wenn
er dem Themistokles, der mit Hilfe der Perser zweifellos Griechen*
land unterjochen konnte, aber darauf verzichtet hat mit den Worten:
»O mon fils, nous perissions si nous n'avions peri« — gegenüber*
gestellt die Taten der von bloßer Ruhmsucht getriebenen Franzosen
Robert d'Artois, d'Orleans, Conde, die da »nicht rot wurden zu
verwüsten die Gefilde, die ihre Geburt gesehen haben« <qui ne
rougirent pas de devaster les campagnes qui les avaient vu naitre).
— Es ist wohl hier recht deutlich die Notwendigkeit des Ver*
zichtes auf das inzestuöse Verlangen nach der Mutter ausgesprochen
— das, realisiert, zum sicheren Untergange führt.
Und dieses Kämpfen für und wider diesen seinen Komplex
ist der eigentliche latente Inhalt so ziemlich aller anderen, in den
nächsten vier Jahren verfaßten Schriften. Zuweilen, wie z. B. im
»Discours de Lyon« in der Preisbewerbung über die Frage:
»Welche Wahrheiten und welche Gefühle soll man den Menschen
einflößen zu ihrem Glücke?« in dem, wie schon Chuquet bemerkt.
Der Wendepunkt im Leben Napoleons I.
345
Napoleon unter der Gewandung sozialpolitischer Reformen »sein
Herz überfließen läßt«, wird dieser sein Mutterkomplex auch durch
die Erde symbolisiert. So z. B. wenn er da seine Behauptungen
an einem jungen Manne exemplifiziert, der nach den Torheiten der
Kindheit ins Alter der erwachten Leidenschaften tritt: »Sein starker
Arm im Einklänge mit seinen Bedürfnissen verlangt nach Arbeit,-
aber ein Blick um ihn herum und er sieht die Erde unter wenige
Hände verteilt«. Nun wendet er sich an die sozialen Ordner, die
ihm jedoch bloß die Akten als zum Besitz berechtigend vorweisen,
und er, unzufrieden mit dieser unzulänglichen Antwort, entrüstet
ruft: »Wie, das sind die Besitztitel dieser Herren! Die meinigen
sind viel heiliger, viel unleugbarer, viel universeller! Sie erneuern
sich mit meiner Atmung, kreisen in meinem Blute, sind geschrieben
in meinen Nerven und in meinem Herzen. Sie sind die Not¬
wendigkeit meines Daseins und vor allem meines Glückes!«
Diese Exklamation mag uns illustrieren, mit welch' gewaltiger
Libido bei Napoleon die Vorstellung Erde besetzt und wie wenig
diese Libido noch abgetönt war.
In diesem durch Auflösung der Symbole gewonnenen Rück*
Schluß auf eine starke Fixierung Napoleons bei seiner Mutter
werden wir nur bestärkt, wenn wir diese Spur in seinem realen
Liebesieben verfolgen. Sie tritt weniger deutlich zutage in seinem
Verhältnis zur Mutter, das, soweit ich die einschlägige Literatur kenne
kaum etwas anderes als eine allerdings ganz ungewöhnliche Sohnes*
Zärtlichkeit aufweist. Es ist ja bekannt und soll im weiteren Ver*
lauf dieser Studie noch des öfteren betont werden, daß er Frau
Latizia gegenüber, von der er auf St. Helena sich äußerte, sie sei
mit dreißig Jahren »belle comme les amours« gewesen, der auf*
opferndste und aufmerksamste Sohn war, stets bemüht, ihr das
Leben so leicht und so angenehm als möglich zu gestalten. Auf
welcher Etappe seiner so ungeheuer bewegten und abwechslungs*
reichen Laufbahn wir dies Verhältnis auch beobachten, stets finden
wir Beweise seiner zärtlichsten Fürsorge für die Mutter,- »sa pre-
miere pensee est pour eile«, meint Masson an einer Stelle. Mit
der äußeren Situation wechseln bloß die Ausdrucksmittel dieser
stets gleichbleibenden Gefühlsströmung. Für die Mutter ist er stets
zu Opfern an Geld, Zeit und Geduld bereit,- sowohl als armer
Sekondleutnant und Hauptmann, der ihr aus seinem kargen Sold
aushilft und ihr die schweren Bürden tragen hilft, wie auch als
gigantische Pläne in seinem Kopfe wälzender Herrscher eines Welt*
reiches, wo er ihr Millionen zur Verfügung stellt, dafür Sorge
trägt, daß ihr in seinem strengen Hofzeremoniell ein gebührender
Platz angewiesen werde, selbst ihr den Hofstaat und den Ehren*
dienst bestimmt, ihr, um sie zu beschäftigen, das Protektorat der
Soeurs de charite verleiht, ja sogar persönlich die Tapeten zu dem
346
Dr. Ludwig Jekels
ihr geschenkten Schloß Pont sur Seine auswählt, und dabei noch
für die Klagen und oft ungebührlichen Rekriminationen der nimmer^
satten und sich beeinträchtigt fühlenden alten Frau stets ein geduldiges
Ohr und respektvolle Nachsicht hat.
Um so deutlicher aber prägt sich der Einfluß der Mutter^
imago im Liebesieben Napoleons aus, wo er unverkennbar eine
geradezu zwanghafte Wirkung ausübt,* er kann nur lieben und
heiraten in tunlichster Anlehnung an die Mutter.
Ein unverkennbares Merkmal starker Fixierung an die Mutter
— die frühe Sehnsucht nach der Ehe — sehen wir auch bei
Napoleon sehr stark ausgeprägt. Wir begegnen ihr oft in seinen
Jugendschriften, speziell im »Discours de Lyon«. Und als zwanzig^
jähriger Leutnant in Auxonne trägt er sich schon mit Heirats^
gedanken, ja soll sogar um die Hand der Manesca Pillet, Stief*
tochter eines reichen Holzhändlers, angehalten haben.
Sehr deutlich aber können wir den Einfluß des Komplexes in der
Episode mit der Schwester seiner Schwägerin Desiree Eugenie Clary,
der späteren Gattin Bernardottes, Königs von Schweden, beobachten.
Der sechsundzwanzigjährige, arme, ja völlig mittellose, weil von
seinem Kommando enthobene Brigadegeneral, findet die heiße Liebe
eines sechzehnjährigen, überdies reichen Mädchens, die ihm z. B.
schreibt: »mit einem Worte: mein ganzes Leben gehört Dir.«
Napoleon nimmt die Sache sehr ernst. Nach mehr als einjähriger
Bekanntschaft, in der zahlreiche Briefe gewechselt wurden, entschließt
er sich Eugenie zu heiraten, und drängt ungestüm seinen Bruder
Joseph, Schritte in dieser Sache zu machen: »Ich brenne darauf,
einen Hausstand zu haben. Entweder muß die Sache mit Eugenie
sich entscheiden oder abgebrochen werden.« — Nun, sie ging in
Brüche,* denn das war das letzte Wort. »Die Hymne Desiree ver¬
stummt von nun in Napoleons Briefen,-« aus welchen Ursachen, ist
aber den Biographen unbekannt. Sie meinen, er hätte Desiree nicht
geliebt und an diese Verbindung lediglich aus Opportunitäts^ und
Bequemlichkeitsgründen gedacht. Dem ist aber nicht so, und wir
können G. Kircheisen nur beistimmen, wenn sie meint: und doch
hat Napoleon Desiree geliebt. Denn erstens drücken die Briefe des
jungen Mädchens die Gewißheit, Gegenliebe zu besitzen, aus, dann
ist ja Napoleon immer ganz trostlos und unglücklich wenn ein
Brief von Desiree ausbleibt, und dann erhellt es ja auch aus der
Sorge und Mühe die er sich nimmt, um sie, nachdem er eine
andere geehelicht, recht glücklich zu verheiraten.
Er hat also zweifellos für sie empfunden,* nur daß diesem
Liebesobjekt eine Eigenschaft fehlte, die in Konsequenz unserer
bisherigen Ausführungen für Napoleon eine unerläßliche Bedingung
war, damit sein Gefühl für das Weib die notwendige Höhe er¬
reiche, um ihm dessen Besitz widerspruchslos als begehrenswert, ja
beglückend erscheinen zu lassen. Und welches diese Bedingung war,
wird uns sofort klar, wenn wir die weiteren Liebesobjekte
Der Wendepunkt im Leben Napoleons I.
347
Napoleons in Erwägung ziehen. Denn von der Desiree wendet er
sich fast unmittelbar zur Frau Permon, einer Witwe mit zwei
Kindern und der Freundin seiner Mutter, und macht ihr einen
Heiratsantrag/ nach ihr der gleichfalls bedeutend älteren Mme. de la
Boucharderie, um etwa ein Jahr darauf sich mit der ganzen Glut
seines Herzens in Josephine de Beauharnais zu verlieben, eine
Witwe, die er trotz ihrer zwei Kinder bedenkenlos heiratet, und
die, ebenso wie die früher genannten Frauen, wesentlich — um
sieben Jahre — älter ist als er selbst.
Ist doch diese Bedingung der »älteren Frau«, die bei
Napoleon auch G. Kircheisen aufgefallen ist <»wie es scheint,
fühlte sich Napoleon besonders zu Frauen hingezogen, die bedeutend
älter waren als er«), nach Freud das sicherste, weil am wenigsten
entstellte Merkmal der inzestuösen Fixierung an die Mutter.
Wir müssen nun konsequenterweise auch für den Affektwert
des Elementes »la France«, respektive »etranger«, die ursprüngliche
Quelle aufdecken und diesen Affekt gleichfalls auf konkrete Wurzeln
zurückführen/ mit anderen Worten, es muß da jemand »französi¬
schen« gegeben haben, von dem der kleine Napoleon annahm, daß
er sich unter der Beihilfe des Vaters mit der Mutter vereinige,-
oder wenn wir es aus der ohnedies durchsichtigen Verkleidung
herausschälen: von dem er meinte, daß er mit der Mutter sexuelle
Beziehungen unterhalte.
Nun gab es dort tatsächlich in der Kindheit Napoleons einen
Franzosen, der durch sein damaliges und späteres Verhältnis zur
Familie Bonaparte, sowie durch die offizielle Stellung die er be¬
kleidete, sehr geeignet war, eine hervorragende Rolle in der Vor^
Stellungswelt des kleinen Jungen zu spielen und den Argwohn des
kleinen Eifersüchtigen zu erregen. Es war dies Graf Louis Charles
Rene de Marbeuf, Gouverneur der Insel und Generalleutnant der
französischen Truppen — die oberste Macht im eben okkupierten
Lande,- also gewiß sehr geeignet, vom Kinde als Inkorporation des
Franzosentums, ja als Frankreich selbst angesehen zu werden!
Es waren aber auch recht innige Beziehungen, die Charles
Bonaparte und seine Familie mit dem Gouverneur verbanden. Nach
der Okkupation und Pazifizierung der Insel war Charles Bonaparte
— müde des Kampfes und durch die materielle Lage gezwungen
— eifrig bemüht, die Franzosenherrschaft zu stützen und sich en
revanche dafür alle möglichen Vorteile an Geld, Stellen und Titeln
zu verschaffen.
Demzufolge sehen wir den Gouverneur sowohl zu Lebzeiten
Charles für dessen Familie sorgen, als auch später der Witwe
Lätizia unermüdlich beistehen. Und nicht nur, daß er selbst es an
eifrigsten Bemühungen nicht fehlen ließ,- er verpflichtete dazu noch
seinen Neffen, zuerst Bischof in Autun, später Erzbischof von Lyon.
348
Dr. Ludwig Jekels
Und so kommt es, daß wir die beiden Brüder stets irgendwo und
irgendwie auf dem Wege der Familie Bonaparte treffen, wenn wir
das Schicksal derselben zu dieser Zeit verfolgen. Von General
Marbeuf wird Louis Bonaparte aus der Taufe gehoben,* durch seine
Protektion erhalten Joseph und Lucian Freiplätze in Autun,
Marianne Elisa in St. Cyr und der Halbbruder Napoleons, Fesch,
im geistlichen Seminar zu Aix, unser Napoleon aber in La Fleche,
und als dann die Disposition geändert wird, wieder in Brienne,*
unter Marbeufs Einfluß gibt Napoleon das ursprüngliche Projekt,
in die Marine einzutreten, auf, und wendet sich der Artillerie zu.
Außerdem aber ist Graf Marbeuf stets eifrig bemüht, dem in ewigen
Geldnöten befindlichen Vater Napoleons auch da auszuhelfen. Durch
Marbeufs Einfluß wird Charles wiederholt in die Adelsdeputation
gewählt, was mit einem Gehalt verbunden war,* durch Marbeuf
erhielt er eine ziemlich gute Dotation für die Erhaltung einer Maul-
beerbaumschule,* der Gouverneur unterstützt ihn auch in dem
Prozeß, den Charles gegen die Jesuiten wegen Herausgabe eines
ihnen von seinem verstorbenen Verwandten vermachten Besitzes
<Milleli> anstrengt.
Bei dieser Rolle Marbeufs in der Familie Charles Bonapartes
— von dem Jung berichtet, er sei »toujours absent«, immer auf
der Suche nach Geld, Beziehungen und Pläsier gewesen, — ist es
wohl kaum verwunderlich, wenn die öffentliche Meinung, zumal bei
der Schönheit und Jugend Frau Lätizias, der Anteilnahme des
Gouverneurs an den Geschicken der Familie erotische Motive untere
legte, somit zu denselben Resultaten gelangte wie der kleine Junge.
Cos ton meint da: »Die Bösartigkeit hat sich den Scherz gemacht,
hier eine andere Ursache zu finden.«
Auch Kircheisen notiert ebenso wie Massen dieses Gerücht,
wonach »man die Mutter Napoleons beschuldigt hat, dem alten
Marbeuf mehr als Freundin gewesen zu sein«, meint aber, »ihr
gerader, echt korsischer Charakter bürge allein schon für die Um*
gereimtheit solcher Gerüchte,* überdies besaß sie keinen Leichtsinn
und ihre Schönheit hätte mehr Bewunderung als Begehren erweckt.«
— Ich meine, daß etwas von dieser Auffassung des Verhältnisses
in dem Wortlaute durchklinge, mit dem die Bonapartes nach dem
Bruch mit Paoli in die Acht erklärt wurden. Da heißt es nämlich
von ihnen: »Die im Schmutze des Despotismus geborenen, unter
den Augen und auf Kosten eines an Luxus gewöhnten Paschas
<Marbeuf> . . . aufgewachsenen Bonapartes.«
Nun denn: mag dem in Wirklichkeit wie immer gewesen
sein,* für unsere Untersuchung handelt es sich darum, zu erweisen,
daß der kleine Napoleon ebenso wie die übrige Welt genügende
Anhaltspunkte fand, um an ein von seinem Vater toleriertes oder
gar unterstütztes Verhältnis seiner Mutter mit Marbeuf zu glauben,
zumindest aber, um eine Phantasie zu bilden, die dann, wie wir
wissen, den vollen Wert der Realität besitzt. Und daß dies tat-
Der Wendepunkt im Leben Napoleons I.
349
sächlich der Fall war und daß dies der tiefere Sinn des gegen den
Vater gerichteten Vorwurfes: »er habe beigetragen, Korsika mit
Frankreich zu vereinigen«, dafür besitzen wir noch einen leichten
Hinweis in einer Äußerung Napoleons aus der späteren Zeit, als
er von den Eindrücken seines ersten, nach achtjähriger Abwesenheit
in Korsika verbrachten Urlaubes sprach: »Meinem Glücke fehlten
damals nur zwei teuere Menschen: mein Vater und der Graf Mar*
beuf, den wir am zwanzigsten September <fünf Tage vor der An¬
kunft Napoleons) verloren hatten und den meine Familie lange
betrauerte.«
Durch diese Zusammenstellung Marbeufs mit dem Vater in
bezug auf den Affektwert wird indessen nicht allein die sexuelle
Auffassung der Worte: »il a concouru ä la reunion de la Corse
ä la France« gestützt, sondern es wird durch dieselbe auch die wohl
als Folge dieser Phantasie anzunehmende Unsicherheit Napoleons,
wer von diesen beiden sein Vater sei, — welcher Zweifel in der
Bestimmung des Code civile: la recherche de la patermite est in*
terdite, die legislatorische Projektion findet, — sehr wahrscheinlich
gemacht.
Überdies wird uns im Lichte dieser Phantasie klar, daß die
früher angeführte, den Connetable de Bourbon betreffende Be*
merkung Napoleons: »sein wirkliches Verbrechen sei gewesen, daß
er das Vaterland mit Fremden angegriffen habe«, im Jargon des
Unbewußten eigentlich besagt, daß man seine Mutter sexuell nicht
zusammenbringen darf mit Fremden, — sofern man nur eingedenk ist
der natürlich durch Unorientiertheit gestützten Vorstellung zahl*
reicher Kinder, die Beziehung zwischen den beiden Geschlechtern
sei ein dem Weib angetaner Gewaltakt und bestehe in einem
argen Kampfe, welche Kinder dadurch aber ihre sadistische Veran*
lagung bekunden, die man Napoleon wohl schwerlich wird ab*
sprechen können.
Somit deckt sich der an den Connetable de Bourbon gerichtete
Vorwurf inhaltlich vollkommen mit dem Vorwurf an den Vater.
Aber noch manch anderes wird uns jetzt verständlich und
wird sogar zur Stütze der Deutung, so z. B. wenn wir den sieb*
zehnjährigen Napoleon im »Sur le Suicide« — in dem er daran
denkt, sich das Leben zu nehmen, »weil seine Kompatrioten in
Ketten zitternd die sie bedrückende Hand küssen«, somit wegen
eines seit seiner Geburt bestehenden Zustandes, an den er reichlich
Zeit hatte sich zu gewöhnen, — exklamieren hören:
»Franzosen! Nicht zufrieden damit, daß ihr uns alles geraubt,
was wir geliebt haben, habt ihr auch noch unsere Sitten ver*
dorben. Das jetzige Bild, das mein Vaterland bietet und das Un*
vermögen, etwas daran zu ändern, ist doch ein neuer Grund, um
zu meiden die Erde, wo ich aus Pflicht loben muß die Men*
sehen, die ich aus Tugend hassen muß. Wenn ich in meinem
Vaterlande ankomme, welch eine Gestalt werde ich dort abgeben,
350
Dr. Ludwig Jekels
welche Sprache soll ich dort sprechen! Das Leben ist mir nur Last,
denn ich finde kein Vergnügen und alles ist mir ein Schmerz. Es
ist mir eine Last, denn die Menschen, mit denen ich lebe
und wahrscheinlich immer leben werde, haben Sitten, die
so verschieden sind von den meinigen, wie das Licht des
Mondes von dem der Sonne.«
Offenbar ist es eine Folge dieser Phantasie, daß im Sexual¬
leben Napoleons die Vorstellung des Mißbrauches einer Ehe
seitens Dritter mit einem so mächtigen Affektbetrag besetzt war,
so daß sie ihm als ein schweres Vergehen, als große Schuld galt.
Wir ersehen dies vorerst aus seinen Jugendschriften, speziell aus
dem »Discours de Lyon«, die heftige Ausfälle gegen das Jung^
gesellentum und die Junggesellen enthalten, die man von Staats¬
wegen daran hindern sollte, bei den Frauen anderer die Befriedigung
ihrer Begierden zu suchen. Und war doch Herr von Marbeuf tat¬
sächlich Junggeselle, und vermählte sich erst im Jahre 1784 im Alter
von zweiundsiebzig Jahren, als Napoleon bereits fünfzehn Jahre zählte.
Aber auch ein interessanter Irrtum Napoleons verrät uns,
meiner Ansicht nach, diesen seinen Komplex. In seinen Memoiren von
St. Helena erzählt Napoleon, er habe als fünfundzwanzigjähriger
Artilleriegeneral der italienischen Armee eine schwere Schuld auf
sich geladen,* er habe nämlich einer schönen Frau zuliebe, — es war
Louise Turreau de Lignieres, die junge Gattin des Volkrepräsentanten,
— einige Menschenleben geopfert, um seinen Dank für die genossene
Gunst zu erweisen. »Ich war damals noch sehr jung und stolz und
glücklich über meinen kleinen Erfolg. So suchte ich mich auch dafür
durch alle in meiner Macht stehenden Aufmerksamkeiten erkenntlich
zu erweisen. Sie werden gleich sehen, wie weit der Mißbrauch der
Gewalt führen und wovon oft das Geschick der Menschen ab-
hängen kann. Denn ich bin nicht besser als andere. Als ich an
einem schönen Septembermorgen in die Nähe des Col di Tenda
inmitten unserer Stellungen mit Frau Turreau spazieren ging, kam
mir plötzlich der Gedanke, vor ihren Augen ein wenig Krieg zu
spielen. Ich befahl einen Angriff der Vorposten. Wir waren zwar
Sieger, aber von einem Ergebnis konnte natürlich nicht die Rede
sein. Der Angriff war eine reine Phantasie — und doch blieben
einige Leute am Platze! Jedesmal, wenn ich daran denke, mache
ich mir die größten Vorwürfe.«
Sowohl Gertrud als auch Friedrich Kircheisen bestreiten
lebhaft die Richtigkeit dieser Erinnerung des Kaisers, vorerst mit
Rücksicht auf seinen Charakter, demzufolge er solch einer frivolen
Tat nicht fähig war, ferner gestützt auf die Aussage der Frau
Turreau, das betreffende Vorpostengefecht habe zwar stattgefunden,
dasselbe sei aber nicht ihr zuliebe, somit »nicht aus eitlem Wunsch
der Schönen zu gefallen«, anbefohlen worden. Überdies weist
Der Wendepunkt im Leben Napoleons I.
351
F. Kircheisen sehr glaubwürdig nach, daß sich Napoleon bei
dieser Reminiszenz sowohl bezüglich der Zeit als auch des Ortes
irrt,- denn Herr und Frau Turreau seien erst am 21. September
von Paris in Nizza angekommen und begaben sich erst von dort
aus zur Armee,- außerdem sei es aber unwahrscheinlich, daß das
Gefecht in der Umgebung des Col di Tenda stattgefunden habe,
denn im September sei von diesem Paß nicht mehr die Rede ge*
wesen, so daß das von Napoleon behauptete kleine Ereignis
möglicherweise beim Angriff auf die Redoute Union bei Vado, am
26. September stattgefunden habe.
Ich meine, daß uns die Lösung dieses Rätsels nicht schwer
fallen dürfte, sofern wir nur, ähnlich wie bei der Analyse neuroti*
scher Selbstvorwürfe, den Affekt des Vorwurfes wohl anerkennend,
lediglich den Inhalt desselben — zumal angesichts obiger recht
strikter Angaben Kircheisens — in Zweifel ziehen und dergestalt
annehmen, der weiter nicht zu leugnende Vorwurfsaffekt gehöre zu
einem anderen Inhalte,- der angegebene Inhalt sei bloß vorgeschoben,
an Stelle eines anderen gesetzt worden. Und welches der richtige
Inhalt dieses Selbstvorwurfes war erraten wir unschwer, wenn wir
bedenken, daß Napoleon sich darin bezichtigt einer Frau zuliebe
etwas Schlechtes begangen zu haben, und anderseits erfahren, daß
er ungefähr im Laufe dieses Jahres nicht weniger als mit vier
Frauen ehebrecherische Verhältnisse gehabt haben soll <Carteux,
Ricord, Saliceti, Turreau),- da »blieben freilich einige Leute am
Platze!« Und das er, Napoleon, der noch vor drei Jahren im
»Discours de Lyon« verlangt, man möge die ehebrecherischen Jung¬
gesellen vor der ganzen Gesellschaft anzeigen! »Vous les denoncerez
des lors ä la societe entiere!«
Er bestraft sich ja tatsächlich, indem er seinen Getreuen eine
Schandtat von sich erzählt!
Eine Art Bestätigung dieser Deutung bietet die in der Er*
zählung enthaltene Wendung, »der Angriff war eine reine Phantasie«,
wohl die uns aus Träumen so gut bekannte Anspielung auf die
Irrealität des erzählten Inhaltes,- ein zarter Wink, ein zwischen
den Zeilen Gesagtes!
Dagegen scheinen mir die Worte vom »Mißbrauch der Ge*
walt« auf den Ursprung seiner Abneigung gegen den Ehebruch,
die ihm denselben zum Konflikt gestaltet, nämlich auf den mächtigen
Gouverneur de Marbeuf hinzudeuten.
Und zweifellos ist, — wenn auch als ein schon entfernterer
Abkömmling, — auf die gleiche Quelle der bei ihm so charakteristische
Zug zurückzuführen, daß er stets nach außen hin den Schein seiner
eigenen Ehe so sorgsam wahrte, niemals wie seine Vorgänger
auf dem französischen Throne eine offizielle Geliebte hatte, sondern
stets nur in größter Diskretion und in den geheimen Gemächern
der Tuillerien der außerehelichen Liebe huldigte, wo er doch keinen
Anstand nahm, seiner Gattin gegenüber offen seine Untreue zur
352
Dr. Ludwig Jekels
Schau zu tragen und ihr zuweilen sogar von seinen Abenteuern zu
erzählen.
Schließlich wird, wie übrigens selbstverständlich, diese Phantasie
geradezu bestimmend für Napoleons Einstellung zum Weibe.
Sie schafft die Liebesbedingung der Untreue <Freud> und
Lasterhaftigkeit des Weibes,* die geliebte Frau muß untreu sein so
wie die Mutter es war. Auf dieser Bedingung ruht im Unbewußten
Napoleons ein großer Akzent.
Besonders deutlich können wir dies in seinem Verhalten zu
seiner ersten Gattin Josephine beobachten. Kaum daß er mit der
schönen Kreolin — in die er sich trotz (aber eigentlich wegen) all
der Liebesbeziehungen, die man ihr in der ersten Ehe nachsagte
und trotzdem (weil) sie die Maitresse von Barras gewesen, außer¬
ordentlich heftig verliebte und die er bedenkenlos ehelichte — getraut
war, muß er sie verlassen, um als neuernannter Oberkommandant
zur italienischen Armee zu stoßen. Von Mailand aus schreibt er
ihr stürmische, glühende Liebe atmende Briefe und fleht sie, sie
möge zu ihm, den die Sehnsucht verzehrt, kommen. Und als die
Undankbare, die inzwischen ganz in den Zerstreuungen des ver-
führerischen Paris aufgeht, zögert, da meint einmal der bedrückte
Gatte, dessen Ehe kaum nach Wochen zählt, zu Marmont: meine
Frau ist entweder krank oder — untreu.
Nun, sie betrog ihn tatsächlich, zwar noch nicht damals, aber
kurze Zeit nachher, als sie, die inzwischen doch nach Mailand ge¬
kommen war, nach kurzem Beisammensein allein in dieser Stadt
zurückblieb, während Napoleon gegen den Feind nach Verona
zog. Da knüpfte sie ein Liebesverhältnis an mit einem unbedeuten¬
den Offizier namens Charles, das bald zum Stadtgespräch wurde,-
seine Verwandten, die Josephine — la vieille — stets abhold
waren, ergriffen gerne diese Gelegenheit und machten Napoleon
Andeutungen über ihre Aufführung. In seinen darauffolgenden
Briefen an Josephine ist aber kaum eine Spur zu finden, die solche
niederschmetternde Enthüllungen sonst zurüddassen. Sie atmen
genau dieselbe gewaltige Liebe und dieselbe brennende Sehnsucht
wie die früheren,* nur hie und da ein Ton der Erbitterung, provo¬
ziert durch die offenkundige Gleichgiltigkeit und das Schweigen der
Angebeteten.
Ja, als der ruhmgekrönte Sieger nach Mailand zurückeilt, um
seiner Vergötterten die herrlichen Erfolge zu Füßen zu legen und
die heiß Entbehrte in seine Arme zu schließen, und ihm die Untreue
Josephines zur Gewißheit wird an der er nicht mehr zweifeln kann,
— da sie mit Charles zusammen in Genua weilt, — da ist er zwar
eine Nacht hindurch verstört, klammert sich aber an eine ganz
unzureichende Ausrede von ihr, um ihr schon am nächsten Tage
zu vergeben und schließt den Brief an sie wie folgt: »ich öffne
noch einmal meinen Brief, um dir einen Kuß zu geben . . . oh,
Der Wendepunkt im Leben Napoleons I.
353
Josephine! Josephine!« und begnügt sich damit, seinen Nebenbuhler
Charles unter irgendeinem Vorwände aus der Offiziersliste streichen
zu lassen. Einen Wandel in seinen Gefühlen für sie hatte aber
diese Untreue Josephines gewiß nicht zur Folge, denn noch ein
Jahr darauf lesen wir in einem Briefe Berthiers an Josephine: »Ich
bin Ihnen so zugetan, daß ich es sicher sagen würde, wenn Bona*
parte auch nur den geringsten Groll auf Sie hätte. Das schwöre ich
Ihnen. Nein, er hat nichts gegen Sie! Er liebt Sie, er betet Sie an.«
Aber auch als Josephine zwei Jahre später, während Napoleons
ägyptischem Feldzug, sich mit dem nämlichen Mr. Charles im Mal*
maison ein regelrechtes Idyll einrichtet, wo sie mit ihm Wochen
sorglosen Glückes zubringt, was natürlich von den Angehörigen
und Freunden Napoleon zugetragen wird, da klagt er zwar
darüber in seinen Briefen an Joseph und auch gegenüber seinen
Intimen, ja, nach Paris zurückgekehrt, sperrt er sich sogar gegen
Josephine ab, um jedoch nach drei Tagen solchen Schmollens sich
von den Fürbitten seiner Stiefkinder erweichen zu lassen und ihr,
allem Anscheine nach, ganz restlos zu verzeihen. Und daß er sogar
ganz kurz darauf dasselbe Malmaison, den Schauplatz des an ihm
begangenen krassen Betruges, zu seinem Lieblingsaufenthalt wählt,
mag darauf hindeuten, wie glatt er über dieses, für andere oft so
tragische Erlebnis hinweggegangen ist. Auch aus seinem ferneren
Zusammenleben mit Josephine bekundet uns gar nichts, daß ihre
Untreue irgendwelchen tieferen Schatten auf sein Empfinden zu ihr
geworfen hätte. Denn daß die ursprüngliche Glut seiner Liebe
später schwand, ist eine normale und bei allen Ehen zu beobachtende
Erscheinung, wo dieselbe der Innigkeit und Freundschaft den Platz
macht. Sonst aber stellen alle Eingeweihten übereinstimmend dieser
Ehe das Zeugnis aus, daß sie eine überaus glüddiche war und
Napoleon ein sehr friedlicher und zufriedener Gatte, der stets und
wo immer er gewesen sein mag, seiner Josephine gedachte, sie mit
Aufmerksamkeiten und Kostbarkeiten überhäufte, stets wieder und
gerne von anderen Frauen zu ihr zurüdekehrte und sich in ihrem
Besitze glücklich fühlte, wie dies seine Worte an Röderer beweisen:
»Wenn ich in meinem häuslichen Leben keine Ruhe und Zufrieden*
heit fände, wäre ich ein sehr ungliiddicher Mann.«
Und angesichts der hier angedeuteten Reaktionsweise halte ich
mich für wohl berechtigt anzunehmen, die von Napoleon geprägte
Ansicht: »l'adultere n'est pas un phenomene, mais une affaire de
canape,- il est tout commun« sei nichts anderes, denn ein Mittel,
ein Versuch, um die somit im Unbewußten lustbetonte und geradezu
gesuchte Vorstellung durdi Herabsetzung ihrer Tragweite und ihre
Verallgemeinerung auch für das Bewußtsein, mit dem sie recht inkom¬
patibel ist, erträglich zu machen, und so einem Konflikt vorzubeugen.
Doch, wie gesagt, galt diese unbewußte Forderung bloß der
Frau gegenüber die er liebte,- wo sein Herz schwieg oder nur ein
wenig engagiert war, verlangte er von der Frau unnachsichtig Treue und
Ima^o IH/4
23
354
Dr. Ludwig Jekels
Makellosigkeit. So Marie Louise gegenüber, der er kaum jemals
ein Gefühl, das Liebe genannt werden könnte, entgegenbrachte,
und die er doch — wiewohl angesichts ihrer großen Jugend, ihrer
Erziehung und ihrer Temperamentlosigkeit jegliche Anhaltspunkte
hiefür fehlten — aufs schärfste überwachte, so daß in deren Ge¬
mächer kein Mann ohne seine Erlaubnis Zutritt haben durfte, bei
deren Unterrichtsstunden über seine Anordnung stets und ununter¬
brochen eine Hofdame anwesend war, ebenso wie auch nachts erst
das Zimmer einer Hofdame passiert werden mußte, wenn man ins
Schlafgemach der Kaiserin gelangen wollte, und der er es brieflich
sehr strenge verweist, daß sie Cambaceres im Bette liegend emp^
fangen hatte. Der Kaiser führt als Grund für dieses sein Benehmen
an, »die Herrscherin eines großen Reiches müßte vor jedem Ver¬
dacht bewahrt bleiben«, und auch die Biographen, verlegen um eine
Erklärung, verbleiben dabei.
Uns aber muß dies als Rationalisierung erscheinen, zumal
wenn wir bedenken, wie streng er überhaupt in diesem Punkte
Frauen gegenüber war, die seinem Herzen ferner standen oder
gleichgiltig waren. Hier einige Beispiele nach Gertrud Kircheisen:
Er verschloß selbst der Geliebten eines seiner Intimsten, Berthier,
der Mme. Visconti, seinen Hof, obgleich sie durch Rang und Geburt
ein Recht dazu hatte,* ebensowenig durfte Talleyrands Frau bei
Hofe erscheinen, nur weil sie vor ihrer Ehe, die Talleyrand übrigens
unter dem Drucke des Kaisers schloß, die Geliebte ihres späteren
Mannes war. Der großen Agnes Forel wird ein Denkmal ver¬
weigert, weil sie die Geliebte eines Königs gewesen war. Lind wie
sdiändlich und undankbar hatte sich nicht der Konsul und Kaiser
der reizenden und von den Parisern als »Notre Dame de Thermidor«
und »Propriete du gouvernement« vielgeliebten Mme. Tallien gegen¬
über benommen, wiewohl er ihr doch für die seinerzeitige gastliche
Aufnahme des völlig mittellosen und destituierten Generals Bona^
parte, dem sie sogar eine neue Uniform verschafft hatte, zu Dank
verpflichtet war! Keine Rede davon, daß er sie trotz ihrer Jahre
hindurch fortgesetzten flehentlichen Bitten je zu Hofe gelassen hätte,*
aber er hat ja schon vorher Josephine strenge aufgetragen, jeglichen
Verkehr mit dieser wohl intimsten Freundin abzubrechen,* und als
Kaiser duldet er es, ist sogar damit einverstanden, daß Mme. Tallien
im offiziellen Polizeibulletin als Dirne bezeichnet wird! Und das
alles wegen des allerdings sehr bewegten Liebeslebens dieser sonst
ausgezeichneten Frau,* und er verbleibt dabei auch nachdem sie ge¬
heiratet und ein vorwurfsfreies Leben führt!
Der große Kaiser nimmt auch keinen Anstand, Frau Regnault,
deren Boudoir er als »die größte Schande von Paris« bezeidmet,
ihrem Gatten anzeigen zu lassen,* ja, sogar seinem Bruder Lucian
verzeiht er es nie, daß er eine Frau — Jouberthon — geheiratet,
die ihm vor der Ehe ein Kind geschenkt, und verlangt beharrlich
die Trennung dieser Ehe.
Der Wendepunkt im Leben Napoleons I.
355
Aber auch einen von diesem Dirnen-<Untreue->Komplex un¬
zertrennlichen Bestandteil desselben, nämlich die Verachtung der
geliebten, untreuen Frau, finden wir bei Napoleon — und
zwar gleichfalls verschoben — in starker Ausprägung. Napoleon
hat ja auch als Frauenverächter eine gewisse Berühmtheit erlangt,-
und er war es nicht bloß Frauen gegenüber, deren Leben nicht
einwandfrei war, sondern auch solchen, deren Konduite eine tadel¬
lose war, die ohnedies Zutritt zu seinem steifen und zurückhaltenden
Hofe hatten,- mit einem Worte, er verachtete alle Frauen. Während
der Hofcour zitterte jede Dame vor ihm, denn er brachte sie durch
verletzende, ja direkt brutale Fragen in peinlichste Verwirrung:
junge Mädchen frug er, wieviele Kinder sie hätten, in welchem
Monate sie guter Hoffnung wären, bei unschönen tadelte er ihre
Häßlichkeit,- er rügte oft ihre Toiletten und verriet vor aller Welt
ihre Abenteuer. Besonders kraß drückt sich diese Verachtung des
Weibes in der recht bekannten Episode mit der berühmten Schau¬
spielerin der Comedie Francaise, Mme. Duchesnois, aus, die der
erste Konsul zu einem Schäferstündchen in seine geheimen Gemächer
beordert, und — da er mit Arbeit beschäftigt — dort allein warten,
die Reklamierende sich entkleiden läßt, um dann, nachdem sie
mehrere Stunden entblößt und frierend vergeblich auf ihn gewartet,
sie einfach und ohne jeglichen Entschuldigungsversuch fortzuschicken.
Und noch so große geistige und intellektuelle Vorzüge einer
Frau konnten diese Verachtung nicht mildern,- eher waren sie ge¬
eignet, eben weil sie diesen Komplex bedrohten, heftigere Abwehr
seinerseits zu provozieren. Das Schidcsal der von ihm aus Paris
verbannten Mme. Stäel, auch der Königin Luise von Preußen und
manch anderer, bekunden dies recht deutlich.
»Nur gegen eine war er schwach« — meint Gertrud Kirch-
eisen — »gegen Josephine.« Nun denn, sie erfüllte wohl seine
Liebesbedingung der Untreue,- und das Verhältnis zu ihr wurde,
wie gewöhnlich in solchen Fällen, derart reguliert, daß die im Um*
bewußten unterschiedlos nebeneinanderliegenden und als solche gar
nicht empfundenen gegensätzlichen Regungen, für sein Bewußtsein —
das erst die Gegensätze schafft und empfindet — auf andere Frauen
verschoben wurden: sowohl die ihm unerläßliche Forderung der
Treue als auch die bewußt unerträgliche Verachtung des Liebes-
objektes.
Die nachstehende, von sämtlichen Biographen, wie Cos ton,
Chuquet, Fournier, Kircheisen etc. uns berichtete »Absonder^
lichkeit« des jungen Napoleon, die er während der ganzen Zeit
seines Brienner Schulaufenthaltes, somit vom neunten bis zum fünf¬
zehnten Lebensjahre gezeigt haben soll und die ich hier wörtlich
nach Chuquet wiedergebe, soll uns einerseits den ungeheueren
Affektwert der obigen Phantasie demonstrieren, anderseits aber die
Richtigkeit dieser Auffassung belegen:
23 *
356
Dr. Ludwig Jekels
»Der Vorstand hatte unter die Schüler ein großes Bodens
terrain verteilt, das sie ganz nach eigener Weise bearbeiten und
bebauen durften. Bonaparte entschied, zwang zwei seiner Kameraden
ihm ihren Teil abzutreten, und machte nun aus der Erde, deren
Herr er war, einen Garten. Er verwendete das Geld, das er für
seine geringen Ausgaben erhielt, zum Ankäufe von Pflöcken, und
eine starke Palissade verwehrte den Zutritt zu seiner kleinen
Domäne . . . Hier brachte Bonaparte die Erholungszeit mit Lesen
oder Träumen zu, und wehe, erzählt ein Kollege, wehe denen,
die aus Neugierde, Bosheit oder Scherz es gewagt hätten, ihn
in seiner Ruhe zu stören! Er stürzte wütend aus seiner Zurück¬
gezogenheit, um sie herauszudrängen, ohne zurüdczusdirecken vor
ihrer Anzahl.«
Und im Anschlüsse daran eine gleichfalls überall und über¬
einstimmend notierte Szene, die ich nach Kircheisen zitiere:
»Im letzten Jahre seines Aufenthaltes in Brienne lieferte er
ein Beispiel seiner egoistischen Wut, wobei er alles Leid anderer
vergaß, weil ein unvorhergesehener Zufall seine Neigungen störte.
Alljährlich feierte man nämlich in der Anstalt zu Ehren des Königs
den heiligen Ludwigstag. Den Schülern war an diesem Tage die
denkbar größte Freiheit gelassen. Das Hödiste aber war, daß jeder
Zögling , der das vierzehnte Lebensjahr erreicht hatte, eine gewisse
Menge Schießpulver zur Verfügung bekam. Es war für das schon
viele Tage vorher bereitete Feuerwerk bestimmt . . . Alle waren
überglücklich und wochenlang vor dem Feste in fieberhafter Auf¬
regung und Erwartung. Es befremdete, daß der junge Bonaparte,
der den Ludwigstag zum letztenmale mit seinen Schülern gemeinsam
feiern sollte, sich mürrischer und unnahbarer als gewöhnlich zeigte.
Er kam den ganzen Tag nicht aus seinem Versteck hervor, eifrig
und ernst über seine Bücher und Atlanten gebeugt. Mochte er, der
künftige Republikaner, schon damals nicht an einem Feste zu Ehren
des Königs teilnehmen? Oder war es nur Laune? Man weiß über
Napoleons damaliges Empfinden in dieser Hinsicht nichts, jedenfalls
zeigte er sich aus irgendeinem Grunde gegen den allgemein herr¬
schenden Jubel ablehnend.
Im Nebengarten hatte sein Nachbar einen selbstkonstruierten
Feuerwerkskörper aufgestellt, den er abends vor einigen seiner
Freunde zur Explosion bringen wollte. Gegen neun Uhr kamen
die Knaben in dem Gärtchen zusammen und umstanden bewundernd
das Werk ihres Kameraden. Plötzlich gab es einen fürchterlichen
Knall: einige Funken waren in das unvorsichtigerweise offenstehende
Pulverkästchen geflogen. Die Panik unter den jungen Leuten war groß.
Alle suchten sich so schnell wie möglidi zu retten ... In ihrem
Ungestüm kletterten manche Knaben die Bretterwand hin¬
auf, die Napoleons Garten von dem des Nachbars trennte
und rissen dabei ein paar Bretter der wenig standhaften Wand um.
Dies gewahrend, stürzte Napoleon mit einer Hacke be-
Der Wendepunkt im Leben Napoleons I.
357
waffnet, schäumend vor Wut und Aufregung . . . auf die
Ruhestörer zu und trieb sie alle ohne Erbarmen gegen
die Brandstätte zurück. Was kümmerte ihn das Unglüdt seiner
Mitschüler? Nur der Gedanke, daß man ihn aus seinen Studien
gerissen, daß man sein Heiligtum verletzt hatte, beschäftigte ihn!«
Welch eine ungeheuer ausdrucksvolle Symptomhandlung, die
wohl für jeden, der sehen will, eine sehr beredte Sprache spricht,-
braucht man sie ja doch bloß ihrer so leicht symbolischen Gewann
düng zu entkleiden, um zu erfahren, daß sie uns ganz dasselbe
sagt, wie das »attaquer la patrie avec les etrangers« oder das »il
a concouru ä la reunion ä la France«, nämlich, daß man niemand
Fremden zur Mutter zulassen darf, sondern sie ganz, ganz, ganz
allein besitzen soll!!
Und um selbst sehr skeptische Leser vollends und unwider¬
leglich von der Berechtigung und Richtigkeit dieser symbolischen
Auffassung zu überzeugen, sei hier auf eine Stelle im Werke von
F. Müller ^Ly er: »Phasen der Liebe« <bei Albert Langen, Mün¬
chen) hingewiesen, wo es heißt <p. 24): »Dem Manne gehören
die Kinder der Frau, auch wenn sie von jemand anderem er¬
zeugt worden sind, denn die Frau gehört ihm, gerade etwa <um
einen Vergleich Napoleons zu gebrauchen), wie alles, das
in einemGarten wächst, demBesitzer desGartens gehört« —
sowie daß Napoleon seine Stiefkinder, Hortense und Eugene Beau¬
harnais, als Früchte der Josephine ansah. <Masson: Napoleon
et sa famille, Bd. I, p. 142: il continue a envisager Hortense et
Eugene comme fruits de Josephine [im Original italica]).
« *
*
Auch das Befremden über das besonders mürrische und unnah¬
bare Verhalten und Benehmen Napoleons bei dieser Gelegenheit,
das sowohl seiner damaligen Umgebung als auch, wie man sieht,
noch seinen heutigen Biographen ganz rätselhaft erscheint, schwindet,
wenn man sich nur erinnert, daß es sich damals um das Namens¬
fest des Königs gehandelt hat, daß König, Kaiser und jegliche
Autorität überhaupt, ein ganz typisches Symbol des Vaters ist,
daß überdies die Wirkung dieser typischen Symbolik in diesem
Falle noch dadurch außerordentlich verstärkt worden sein mag, daß
es bei dieser Feier, wie Chuquet berichtet, über dem Hauptportal
ein großes Transparent gegeben habe, darstellend Ludwig XVI. auf
die Gerechtigkeit und Wahrheit gestützt, und darunter die Inschrift:
A Louis XVI., notre pere. Dergestalt wird uns dies so ganz
besonders auffallende Benehmen Napoleons an diesem Tage zum
Anzeichen seiner ablehnenden und feindseligen Gesinnung seinem
Vater gegenüber, deren eines wir bereits im obigen Vorwurf be¬
sitzen.
Das sind aber auch nicht die einzigen, denn in seinen Schriften
wie auch in seinen Briefen befinden sich weitere und redit beredte
358
Dr. Ludwig Jekels
Belege für diese seine Einstellung. Ich erinnere hier z. B. an die
früher aus dem »Discours de Lyon« zitierte Stelle, die so kraß
bei Napoleon die libidinöse Verschiebung von der Mutter auf die
Erde und auf den Besitz derselben zum Ausdruck brachte. Er läßt
nun in Verfolgung dieser Schilderung den entrechteten und ver¬
bitterten jungen Mann zu seinem Vater flüchten, der ihm Trost und
Hilfe spendet und ihn beruhigt. Derselbe Vater ist es aber zugleich,
von dem er an einer anderen Stelle dieses Bildes sagt: »Mein Vater
ruft mich vom Sdioße des Jenseits« <und Napoleons Vater war
schon mehrere Jahre tot), der ihn aufs Nachdrtiddichste und Ein¬
dringlichste vor der Besitzgier und dem Streben nach zu großem Be¬
sitz, der stets nur Unglück bringe, warnt, und ihm zuruft: »Lasse dich
niemals verleiten durch Besitzgier noch durch ungebändigte Leiden¬
schaft« <ne vous laissez jamais seduire par la cupidite ni par la
passion violente). Und wenn wir gar lesen, daß der junge Mann,
»wenn seine Seele zugänglich wird dem Schmerz oder der ungeregelten
Begierde«, sich an die verehrte Asche seines Vaters wendet, um sich
dort wieder mit seinen Pflichten und seiner Einfachheit abzufinden,
und die Phantasie ihres symbolischen Inhaltes entkleiden,- sehen wir
da nicht Napoleon eigentlich gegen ein aus unvordenklichen Zeiten
stammendes Verbot des Vaters gegen das inzestuöse Verlangen
nach der Mutter ankämpfen?
Über den Eindruck, den der Tod seines Vaters <24. Fe¬
bruar 1785) auf Napoleon machte, lesen wir bei Masson: »Der
Tod seines Vaters hat Napoleon keinen solchen Schmerz ver¬
ursacht, dem er in Tränen hätte einen Ablauf geben müssen. Das ist gut
für Weiber. Er nimmt es hin wie ein Mann, wie ein Soldat, der
er bereits ist. In der frühen Kindheit hat er wenig mit dem Vater
gelebt, innerhalb sechs Jahren hat er ihn einmal und nur während
einer Stunde gesehen. Da kann er doch für ihn keine Zärtlichkeit
empfinden, die sich vor allem durch Gewöhnung und tägliche Eim*
drücke heranbildet.«
Die Beileidschreiben, die Napoleon aus diesem Anlasse so¬
wohl an Onkel Lucian als auch an die Mutter richtet, finden fast
alle Biographen auffallend und Chuquet z. B. äußert über die¬
selben: »Der Schmerz Napoleons war außerordentlich, als er vom
Tode des Vaters erfuhr. Derselbe drückt sich in seinen Briefen
nidit mit soviel Natürlichkeit und Lebhaftigkeit aus, als man es
verlangen würde. Der Ton ist ein würdiger, aber ein wenig kühl,
zeremoniell, feierlich. In diesen von einem sechzehnjährigen Kinde
geschriebenen Zeilen ist zuviel Sorge und Mache <. . . trop de soin
et d'appret)«.
Und noch siebzehn Jahre später sehen wir Spuren dieser
Einstellung, als nämlich im Jahre 1802 der erste Konsul das Er^
suchen und den Beschluß des Munizipalrates von Montpellier zurück^
weist, seinem auf der Durchreise in dieser Stadt verstorbenen
Vater, dem die Welt den großen Sohn verdankt, ein Denkmal
Der Wendepunkt im Leben Napoleons I.
359
stellen zu dürfen. Er tut es mit nachfolgender seichter Begründung:
»Lassen wir das,* stören wir nicht den Frieden der Toten,- lassen
wir ihre Asche in Ruhe. Ich verlor doch auch meinen Großvater,
meinen Urgroßvater,- warum tat man denn nichts für diese? Das
führt zu weit.«
Derselbe Grund der Ablehnung des Vaters ist es offenbar
auch, der Louis Bonaparte die Leiche des Vaters ohne Wissen
des Bruders exhumieren und nach St. Lieu bringen läßt, woselbst
er ihm ein Grabmal setzen läßt.
Indessen nicht minder groß wie die Ablehnung ist auch seine
Liebe für den Vater,- sie ist so intensiv, daß sie ihn stellenweise
dahinbringt, sein psychisches Ich aufzugeben, um sich ganz eins mit
dem Vater zu fühlen, mit ihm zu identifizieren, Vater zu sein. Und
wer da sehen will, wie sehr Napoleon Vater war, der lese z. B.
die Briefe, die der Fünfzehnjährige in Angelegenheit seines älteren
Bruders Joseph an den Vater und an den Onkel Paravicini schreibt.
Mit welcher Liebe, Sorgfalt, Gründlichkeit und Genauigkeit erörtert
da der Knabe diese Frage. »Welcher Vorteil für die Familie«, das
ist seine Parole.
Nachdem der Vater gestorben, da »hat er den einzigen
Wunsch, bald etwas zu verdienen, um die Seinigen unterstützen zu
können«, meint Kircheisen. Und als Sekondleutnant in Valence
und auf seinem ersten Urlaub, wie wird da der kaum Siebzehnjährige
von der Sorge um die Seinigen bedrückt, über deren recht trostlose
Lage er stets durch Joseph unterrichtet ist. Weder jetzt noch später
erwägt er auch nur einen Augenblick, daß er doch der Zweite
geborene ist und daß eigentlich dem älteren Joseph die Rolle der
Stütze der Familie zukommt, sondern ladet sich mit einer sehr vieL
sagenden Selbstverständlichkeit die mannigfaltigsten und recht lästigen
Familiensorgen auf. Er interveniert im geistlichen Seminar zu Äix
zugunsten Lucians,- verlängert seinen Urlaub in Ajaccio, damit
seine Bezüge den Seinigen zugute kommen,- hier in Ajaccio macht
er allerlei Anstrengungen wegen der inzwischen eingestellten Dotation
der Maulbeerbaumschule, fährt audi speziell in dieser Angelegenheit
nach Paris, wo er bei den maßgebenden Faktoren vorstellig wird.
»Um zu seinem Rechte zu gelangen, ließ er nichts unversudit und
zeigte in dieser Hinsicht dieselbe Zähigkeit und dieselbe Ausdauer
wie der Vater«, meint Kircheisen, und »so schnell und kurz ließ
er sich nicht abfertigen, dazu war er viel zu sehr der Sohn Carlos«.
Er verteidigt so die Interessen seiner Familie, daß er doch einen
Teilerfolg erringt. Aber nicht genug daran,- er wendet sich nach
Versailles, erwirkt beim Finanzminister Brienne eine Audienz und
bringt demselben das Anliegen betreffs einer Freistelle für Lucian
vor. Man bedenke: kaum siebzehnjährig!! Und von Ajaccio zurüde¬
gekehrt, sehen wir ihn wadeer der Mutter beistehen, er schreibt für sie
allerlei Gesuche, ist »ihr Berater und Dolmetsch bei den Behörden
und gibt sich die redlichste Mühe, das Los der Mutter zu erleichtern«.
360
Dr. Ludwig Jekels
Und wie sehr er sich Vater fühlte und von seinen Ge¬
schwistern auch als solcher empfunden wurde, dafür legen gerade
diese das beste Zeugnis ab. So meint Joseph: »Wenn Napoleon
sprach, da mußte man sich beugen, und wir alle fügten uns«,-
während Lucian in seinen Memoiren bemerkt: »Er war unwillig
über die geringste Bemerkung und fuhr auf beim geringsten Wider¬
stand. Selbst Joseph wagte es nicht, seinem Bruder zu antworten.«
Und ganz deutlich drückt es seine Schwester Marianne Elisa aus,
als sie, Entlassung aus St. Cyr erbittend, in ihrem Gesuche schreibt:
». . . da ich nie einen anderen Vater als meinen Bruder kannte . . .«
Als blutarmer Leutnant in Auxonnes zögert er keinen Augen-
blidc, seinen kleinen Bruder Louis, den späteren König von
Holland, für den ein Freiplatz nicht zu erhalten war, zu sich zu
nehmen,- er erhält ihn aus seinem kargen Leutnantssold unter
den empfindlichsten Opfern für seine eigene Person, unterrichtet und
erzieht ihn sehr sorgsam und ist stolz auf seine Entwiddung, wie
es nur ein Vater auf sein Kind sein kann, denn er schreibt: »er
wird sicher der Beste von uns Vieren werden!«
Nach der Flucht aus Korsika ist er es, der Hauptmann
Bonaparte, der seine fast aller Mittel entblößte Familie ganz aus
Eigenem erhält, obzwar er es sehr knapp hat mit dem Gelde. Und
als er bald darauf, als — wegen seiner Weigerung von der Artillerie
zur Infanterie transferiert zu werden — von der Offiziersliste ge**
strichener General, nahezu völlig subsistenzlos, maßlos verbittert,
gänzlich verzweifelt und lebensüberdrüssig in Paris herumirrt, da
denkt er nodi immer an das Wohl der Seinigen. Wie hoffnungslos
und unglücklich er sich da auch fühlt, »aber wo es sich um seine
Familie handelt — schreibt Massen — ist er ganz anders,- da ist
keine Mühe für ihn zu groß und nichts ist ihm zu beschwerlich.
Und er legt in diesen Tagen so zahlreiche Beweise seiner Ergebene
heit für die Seinigen ab, daß ein Zweifel an der Lebhaftigkeit, Tiefe
und Stärke seiner Gefühle unmöglich ist«. Und ich kann Masson
nur beistimmen, wenn er diese Fürsorge Napoleons als eine »väter¬
liche« bezeidinet,- denn nur das intensivste Vaterschaftsgefühl konnte
ihm an Joseph die Worte diktieren: »Du weißt es, ich lebe nur
durch die Freude, die ich den Meinigen bereite. Wenn meine Hoff**
nungen von dem Glüdc unterstützt werden, das mich in meinen
Unternehmungen niemals verläßt, so werde ich Euch glücklich machen
und Eure Wünsche erfüllen können.«
Aber auch zu Zeiten seines Aufstieges — nach dem drei¬
zehnten Vendemiaire — hören die Seinigen nicht auf, Gegenstand
seiner liebevollsten Fürsorge zu sein, ja, da sind sie es erst recht.
Der mit Arbeit überbürdete Kommandant der Armee des Innern,
der ohnehin jeden Monat seiner Familie bedeutende Geldbeträge
zukommen läßt, findet stets die Zeit, um den einzelnen Mitgliedern
derselben die Wege zu ebnen und einen guten Lebensweg zu
sichern. Bald beschafft er dem Joseph nützliche Empfehlungen, bald
Der Wendepunkt im Leben Napoleons I.
361
dem Lucian eine vorteilhafte Anstellung, befaßt sich mit der Offiziers¬
karriere von Louis, unterbringt den kleinen Jerome in einer Pariser
Pension und bekümmert sich um seinen Studienfortgang. Er kenn¬
zeichnet wohl selber am besten diese seine Tätigkeit, wenn er
schreibt: »ich kann ja nicht mehr machen, als ich schon tue für alle.«
Hiezu Masson: »um den Seinigen dienlich zu sein, entfaltet er
eine Beflissenheit, eine Geduld und einen Willen, die geradezu er^
staunlich wären, wenn man ihn nicht schon früher am Werke ge¬
sehen hätte, wenn man nicht wüßte, daß er schon seit dem Tode
des Vaters für sie diese Anstrengungen machte.«
Indessen bürdet er sich nicht bloß die Pflichten eines Vaters
auf, denn er beansprucht für sidi auch das Recht eines solchen, über die
Geschicke seiner Geschwister zu entscheiden, und erstreckt seine
Forderung sogar auf das intimste und privateste Gebiet, auf ihr
Liebes- und Eheleben, wie uns die Geschichte der Ehen von
Marianne Elisa, von Jerome und vor allem von Lucian beweist.
Nicht minder instruktiv ist auch seine briefliche Mahnung an Pauline,
die nach ihrer Verheiratung mit Borghese nicht sonderlich zufrieden
ist mit Rom, und nicht übel Lust hätte, diese Stadt und ihren Mann
gegen Paris zu vertauschen: »Liebe Deinen Mann und seine Familie«,
— schreibt ihr Napoleon — »sei entgegenkommend und gewöhne
Dich an die Stadt Rom und merke Dir wohl, daß, falls Du in dem
Alter, in dem Du Dich befindest, schlechte Ratschläge befolgen
solltest. Du auf mich nicht mehr rechnen kannst. Und was Paris
anlangt, so kannst Du sicher sein, daß Du hier keine Stütze finden
wirst, und daß ich Dich niemals empfangen würde, es sei denn mit
Deinem Manne.« Indessen, meint Masson, er ist nicht so schlecht
wie er sich hier macht, denn gleichzeitig richtet er in derselben Am*
gelegenheit einen Brief an Onkel Fesch, voll voraussehender und
zärtlicher Fürsorge. Ganz wie ein Vater, bei dem man — wie dem
selbe Autor meint — »in der Zärtlichkeit gegenüber den Seinigen,
in der unaufhörlichen Nachsicht, die er ihren schwersten Fehlern
entgegenbringt, in den Illusionen, die er sich über sie macht, in
seinem Eifer, sie auf die höchsten Stellen zu bringen, ohne daß er
hiebei etwas anderes berücksichtigen würde, als die Bande des Blutes
die sie einigen, — ebenso einen schwachen Punkt seines Verstandes
wie einen bezaubernden Zug seines Herzens herausfühlt.«
Und wie enorm in ihm diese Vaterschaft für die Seinigen
vibrierte bewies er auch, als er, mitten im fürchterlichen Ungemach
seines welterschütternden Zusammenbruches, und kaum daß er in Fon¬
tainebleau die Abdankungsurkunde unterschrieben, zu Coulaincourt
sagte: »Verschafft meiner Familie, daß sie wovon zu leben haben,-
das ist alles, was ich brauche.«
Unter allen seinen Vorgängern auf dem französischen Throne,
aber auch unter den sonstigen Gestalten der Weltgeschichte, gab
362
Dr. Ludwig Jekels
es wohl kaum eine, der Kaiser Napoleon auch nur annähernd eine
derartige Vorliebe und Verehrung entgegengebracht hätte, wie
Charlemagne.
Bei jeder Gelegenheit ruft er die Erinnerung an ihn wach,
dediziert ihm das großartige Monument, das für den Vendomeplatz
in Aussicht genommen war, errichtet ihm eine Statue in Aachen
und bringt den Reliquien Karls daselbst eine ganz besondere Ver¬
ehrung dar.
Karl d. Gr. wählt er sich zum Muster und zum Vorbild, im
großen und im kleinen. Denn nicht nur, daß er vom Papst und nur
vom Papst, gerade wie Karl d. Gr. seine Investitur verlangt, aber
selbt das Kostüm für die Salbungszeremonie Napoleons wird nach
dem Ornat Karl d. Gr. entworfen, und der Kaiser wählt auch das
Wappenschild, welches man Karl d. Gr. zuschreibt, zum seinigen,*
am Krönungstage werden auch die alten kaiserlichen Insignien,
Krone, Zepter und Schwert getragen. Aber auch den größten Teil
der Titel, mit denen Kaiser Napoleon die Großwürdenträger
schmückt, entnimmt er dem heiligen römischen Reiche Karl d. Gr.
Wie Karl d. Gr. hat Napoleon seine Herzoge und seine
Grafen,* und wenn er Barone und Ritter einführt, so geschieht
es nur, weil diese Titel im heiligen römischen Reich Vorkommen.
Wenn er endlich den Söhnen, welche er zu haben hoffte, selbst
ehe er noch seine zweite Ehe geschlossen hatte, mit Senatsbeschluß
vom 17. Februar 1810 die Titel und Ehrenbezeigungen eines
Königs von Rom beilegt, welchen Beweises bedarf es da noch, um
zu zeigen, wie die Erinnerungen an Karl d. Gr. und sein Reich
ihn unablässig in Anspruch nehmen?
Er träumt von einer vollkommenen Identifizierung seines
Reiches mit dem Karls.
Ja, noch mehr! Napoleon bezeichnet sich wiederholt als
Karl d. Gr., so wenn er sagt: »Ich bin Charlemagne, weil ich wie
er meine Krone von Frankreidi mit der der Lombardei vereinigt
trage und mein Reich an den Orient grenzt«, oder wenn er an
seinen Gesandten in Rom, Kardinal Fesch, schreibt: »Sagen Sie,
daß ich Charlemagne bin, Ihr Kaiser, und daß ich als soldier be^
handelt sein will!«
Masson, dessen Werk »Napoleon I. zu Hause« obige
Details fast in wörtlicher Anführung entnommen sind, erklärt diese
Einstellung Napoleons aus seinem Streben, das durch ihn repräsen^
tierte Autoritätsprinzip, welches der natürlichsten und mächtigsten
Stütze, nämlich einer Reihe seiner Vorfahren auf dem Throne, ent¬
behrte, zu stärken und tunlichst zur Geltung zu bringen. In diesem
Streben habe er sich Charlemagne zum Muster und Beispiel ge¬
nommen, weil ihn mit demselben viel Ähnlichkeit in den Schicksalen
verbunden habe. Denn ebenso wie der gleichfalls nicht erbberechtigte
Charlemagne war auch Napoleon Gründer einer neuen Dynastie
und wurde, wie jener, von einer ganzen Nation gewählt,* auch er
Der Wendepunkt im Leben Napoleons I.
863
hat seine Augen auf Italien geheftet, das er zweimal erobert hat,
auch er hält sein Reidh für unvollkommen, wenn er nicht mit seiner
Herrschaft über die Franzosen auch die über die Völker der
hispanischen Halbinsel verbindet. Auch er habe die Deutschen des
Ostens in der Erhebung gegen das Prinzip gesehen das er ver¬
tritt, und seine Paladine haben mit ihm die Empörung unterdrückt.
Und darum habe er sich entschlossen, die vierte Dynastie mit der
zweiten zu verbinden, und deshalb habe er gerade Charlemagne
zu seinem »erhabenen Vorgänger« gemacht.
So weit Masson. Wir aber, denen die oft so krausen, ge*
radezu bei den Haaren herbeigezogenen, ja direkt läppisch an*
mutenden und der entferntesten Möglichkeiten, vor allem aber der
oberflächlichsten Klangähnlichkeiten sich bedienenden Ausdrucks*
weisen des Unbewußten wohl bekannt und glaubhaft sind, möchten
hier darauf verweisen, daß der Vater Napoleons — Charles Marie
hieß, und hiebei unserer Überzeugung Ausdruck verleihen, daß die
so intensive Identifikation Napoleons mit Charlemagne gewiß nicht
in Gänze der bewußten Denkarbeit bei Napoleon zugeschrieben
werden darf, sondern daß sie zumindest in sehr hohem Grade auf
dem Wege jener Namenähnlichkeit von der unbewußten Identi*
fizierung mit seinem Vater abgeleitet wurde.
Und als Beleg führe ich das Expose zu dem angeführten
Senatsbeschluß an, worin es heißt:
»Napoleon versagte es sich, in den ersten Tagen seines
Ruhmes in Rom als Sieger einzuziehen. Er behält sich vor, dort
als Vater aufzutreten. Er will sich auch dort zum zweitenmal die
Krone Karl d. Gr. auf das Haupt setzen lassen!«
Ist doch für die Kinderpsyche — die dann im Unbewußten
fortlebt — der Vater nicht bloß Kaiser und König,- er ist auch
stets »der Große«!!
III.
Wir haben im voranstehenden die psychische Situation des
jungen Bonaparte bis zu dem hier abgehandelten Zeitabschnitte ge*
schildert, bestehend in einer außerordentlich starken Fixierung an
die Mutter und der entsprechenden, konträr entgegengesetzte
Regungen, nämlich Liebe und Haß in sich bergenden, uns als so*
genannte Ambivalenz aus der Neurosenpsychologie so wohl*
bekannten Einstellung zum Vater.
In dieser psychischen Situation Napoleons erblicken wir das
dispositioneile Moment für allerlei Möglichkeiten, so daß sich aus
derselben bei versagender Wirklichkeit ebenso eine recht schwere
Neurose, wie bei entgegenkommender sehr hochwertige Sublimierungs*
Produkte entwickeln konnten.
Das beweist unter anderem auch die Tatsache, daß bei der
ungeheuren Belastung, unter der Napoleons Seele gemäß unseren
364
Dr. Ludwig Jekels
Ausführungen stand, Ansätze zu einer Neurose vorhanden waren.
Denn nahezu übereinstimmend entwerfen die Biographen Schilde¬
rungen vom jungen Napoleon, die den Eingeweihten kaum anders
als die einer Kindheits- und Pubertätsneurose anmuten. Cos ton
z. B. hebt hervor, Napoleon sei schon in der Schule zu Autun düster
und nachdenklich gewesen, habe sich mit niemandem unterhalten und
sei einsam herumgegangen, und Jung entwirft aus der gleichen Zeit
folgendes Bild von ihm: »Welch ein Kind! Das ist doch ein Wilder,
ein Triebmensch, mit seinem bleichen Gesicht, mit dem steifen Haar,
der kleinen Gestalt und dem schlechten Aussehen«, und bemerkt
dann, »einsam war er, einsam ist er, einsam wird er bleiben.«
Und dieses in sich gekehrte, völlig asoziale Wesen, das die
Autoren mit des Knaben Sehnsucht nach der korsischen Heimat
erklären, und das auch Napoleon selbst später anerkannte mit der
Bemerkung, er sei »immer melancholisch« gewesen, potenziert sich
noch im Laufe seines Aufenthaltes in Brienne. Einmal hier zu
einer empfindlichen Strafe verurteilt — er sollte das Mittagmahl
kniend auf der Schwelle des Refektorium und in ein härenes Ge¬
wand gekleidet einnehmen — entzieht er sich der Strafe dadurch,
daß er bei Antritt derselben einen gewaltigen Nervenanfall und
Erbrechen bekommt.
Übereinstimmend wird von den Autoren das aparte und vom
normalen völlig abweichende, finstere, scheue und verschlossene Wesen
des in der Vorpubertät befindlichen Bonaparte hervorgehoben,
desgleichen seine Tendenz sich zu isolieren und demzufolge seine
Unbeliebtheit bei den Kameraden, die Napoleon übrigens selbst zu¬
gab mit den Worten: »mes camerades ne m'aimaient guere«. Und
in seiner Schilderung Napoleons aus dieser Periode spricht Chuquet
direkt von seinen »nervös zusammengepreßten Lippen« und von
den »Anfällen von Wut und Raserei«, während der unter den
Biographen wohl mit der größten Intuition begabte Jung für dieses
so abnorme Wesen des etwa vierzehnjährigen Napoleon verant^
wörtlich macht »das Ungestüm der Gedanken, ... die in diesem
Jünglingsgehirn brodelten«. Chuquet betont noch ein Jahr später
— in der Pariser Militärschule — die Introversion bei Napoleon
mit den Worten »il est toujours entier dans ses idees«. Und mit
einer vollkommenen Klarheit diagnostiziert der scharfsinnige Jung
den Anlauf zur Neurose, als er von dem auf seinem ersten Urlaub
auf Korsika weilenden und die Seinigen mit von Rousseau und
Voltaire entlehnten Tiraden beunruhigenden Leutnant Bonaparte
meint, er habe mit denselben bloß beim alten, dem Korsentum treu
gebliebenen Onkel Anklang gefunden, während die nüchterne Mutter
sie leidenschaftslos anhörte, denn »sie hielt ihren Sohn für krank.
Er war ja auch tatsächlich moralisdi krank. Ein nervöses Fieber
durchwühlte ihn«.
Wiewohl nun auch in Napoleons späterem Leben so manche,
wenn auch vereinzelte so doch direkt neurotisch ansprechende Züge
Der Wendepunkt im Leben Napoleons I.
365
gleichfalls zu finden sind, so wollen wir uns doch mit dem ange*
führten Material begnügen, das wohl unsere frühere Behauptung
von der bei so hochgradiger psychischer Spannung gleichfalls vor¬
handenen Möglichkeit der Entstehung einer Neurose vollauf stützt
und bekräftigt.
Und bei aller noch so exorbitanten Bewertung von Napoleons
zweifellos exzeptioneller Libido, ist es, unserer Ansicht nach, an den
Bedingungen der damaligen Napoleon umgebenden Wirklichkeit ge¬
legen gewesen, daß hier die Bildung einer völlig unproduktiven und
wahrscheinlich zerstörenden Neurose eingedämmt und hintangehalten
und aus dem gleichen Material ein reales Schicksal gestaltet wurde,
wie es großartiger, reichhaltiger und produktiver nicht bloß die
Annalen der Geschichte nicht kennen, sondern auch die Phantasie
kaum ersinnen könnte.
Durch diese Auffassung setzen wir uns zwar in einen Wider¬
spruch mit dem gestürzten Kaiser, der auf St. Helena in einer An*
Wandlung von allzu großer, den Beitrag seiner Persönlichkeit ganz
übersehenden Besdieidenheit meinte: »nidits war einfacher als meine
Erhebung, ... sie lag in dem eigentümlichen Charakter der Zeit,
... ich bin das Produkt der Zeitumstände«/ wohl aber wissen wir
uns da im Einklänge mit manchem der Biographen, wie z. B.F. Kirch*
eisen, der meint, »die Zeit, in der Napoleon lebte, war seinem
Genie behilflich«, und »seine außerordentlichen Fähigkeiten konnten
sich nur in einer Umgebung wie der der Revolution entwickeln«,-
nur daß wir uns mit der bloßen Konstatierung dieser Beeinflussung
nicht bescheiden, sondern bestrebt sind klarzulegen, warum dieselbe
überhaupt stattgefunden hat, ja sogar, warum sie stattfinden und
nach einer ganz bestimmten Richtung sich geltend machen mußte.
Jedem, der mit der dynamischen Arbeitsweise unseres seeli*
sehen Apparates vertraut ist, scheint es selbstverständlich, daß bei
der ambivalenten Einstellung die beiden miteinander ringenden
Strömungen in einem Liebesobjekte nur so lange vereinigt werden
können, als die negative durch die Liebe noch erfolgreich gebunden
werden kann. Ist dies nicht mehr der Fall, dann kommt es zu einer
Vervielfältigung des Objektes, von dem dann, unter Mengung der
beiden Libidokomponenten in ganz verschiedenen Verhältnissen,
ganze Reihen — bald mit überwiegender positiver, bald aber nega^
tiver Färbung — gebildet werden.
Und eben dieser Vorgang ist bei Napoleon — dessen enorme
Libido einen Ausgleich im Rahmen der Einheitlichkeit vielleicht be*
sonders erschwerte — ganz deutlich zu beobachten,- dies ist auch
die für das Verständnis unserer Probleme in Betracht kommende
psychische Grundsituation.
Denn auch bei ihm finden wir eine ganze Vaterreihe vor, um
nur vorderhand außer Charles Bonaparte noch Marbeuf und Paoli
366
Dr. Ludwig Jekels
zu nennen, und sehen ihn gegen diese Abspaltungen der Vaters
imago naturgemäß genau so ambivalent eingestellt, wie gegen das
Original.
Dem Verhältnisse zu Paoli wird weiter unten eine gesonderte
Besprechung gewidmet,* hier sei bloß darauf hingewiesen, daß
Napoleon auch Marbeuf gegenüber nicht bloß von dem analytisch
erschlossenen Haß erfüllt ist, sondern daß es auch an Anzeichen
von einer gewissen Anhänglichkeit nicht mangelt. Wir haben ja
schon einer solchen recht deutlichen Kundgebung Napoleons Er^
wähnung getan <s. p. 349), und möchten hier noch darauf hinweisen,
was Chuquet hervorhebt, daß Napoleon, der in seinen Jugend¬
schriften so schonungslos gegen die Korsika vor der Autonomie¬
verleihung verwaltenden französischen Generäle ins Feld zieht, nie^
mals unter denselben Marbeufs Erwähnung tat, und sich mit der
Nennung anderer wie z. B. Narbonne Fritzlar oder Sionville be¬
gnügt, obwohl gerade Marbeuf sogar auf einer öffentlichen Gedenk¬
tafel als »Tyrann des stöhnenden Korsika« bezeichnet wurde.
Doch ist mit den genannten Gestalten die Vaterreihe bei
Napoleon nicht erschöpft,* denn wie uns bereits die so bedeutsame
Symptomhandlung in der Brienner Schule bekundet hat, finden wir
in derselben auch den König, diesen entwicklungsgeschichtlich den
Menschenseelen tiefst eingeprägten Vater.
Bei allen Biographen gilt Bonaparte in dieser Periode seines
Lebens als ganz überzeugter, ja als fanatischer Republikaner,* und
das Zeugnis der Charlotte Robespierre, die ihn sogar als »Mon-
tagnard« bezeichnet, vorher noch aber seine Valencer Gespräche
mit Sucy und Montalivet, vor allem aber seine Jugendschriften, in
denen sich dieser königliche Offizier als erbitterter Feind und Hasser
des Königtums kundgibt, lassen tatsächlich nicht den geringsten
Zweifel daran. So z. B. wenn er die »Dissertation sur lautorite
royale« mit der Bemerkung einleitet: »Dieses Werk wird mit
allgemeinen Gedanken darüber beginnen, wie die Bezeichnung
, König' in den Vorstellungen der Menschen entstanden und ge¬
wachsen ist. Hierauf wird in die Einzelheiten der usurpierten Ge¬
walt eingegangen, deren sich die Könige in den zwölf Monarchien
Europas heute erfreuen. Es gibt nur äußerst wenige unter ihnen,
die es nicht verdient hätten, abgesetzt zu werden.« Oder im »Dis-
cours de Lyon«: »Man weiß zur Genüge, wie die Könige immer
egoistisch waren,* sie glaubten in ihnen wäre ihr Volk, ihre
Nation etc.«
Über den Ursprung, die Quelle und die Beschaffenheit dieses
Königshasses finden wir im Traktat »Sur l'amour de la Patrie«
einen bezeichnenden und für den Analytiker nicht uninteressanten
Hinweis, dort nämlich, wo der Syrakusaner Dion als Muster einer
wahren und echten Vaterlandsliebe angeführt wird. Es geschieht
zuerst mit den Worten: »Dion besaß ein großes Vermögen,
war von vornehmem Geschlecht und genoß eine verdiente Hoch^
Der Wendepunkt im Leben Napoleons I.
367
achtung. Was fehlte ihm denn zu seinem Glüdke? Ihr schwächlichen
Seelen, ihr könnt nicht erraten und ihr wagt zu sprechen? Sein
Vaterland ist Sklave eines Tyrannen, den er liebt und achtet, aber
doch eines Tyrannen.« lind daß mein Rückschluß, es spiegle sich
in dieser Stelle ganz deutlich Napoleons Verhältnis zum Vater,
kein willkürlicher ist, daß auch für Napoleon selbst die Analogie
zu durchsichtig geworden und die unbewußte Strömung zu sehr an
die Oberfläche gedrungen sein mag, dafür spricht, daß er diesen,
wie man sieht, in Form und Inhalt korrekten und geschichtlich ge¬
treuen Passus ohne jede Nötigung durchgestrichen und durch einen
anderen ersetzt hat, in dem mit keinem Worte mehr der Ver¬
wandtschaft, Liebe oder Achtung Dions für Dionysos Erwähnung
getan wird. Es ist dies in der Massonsehen Ausgabe die zweite
größte durchstrichene Stelle.
Haben wir nun dergestalt für das Ersatzverhältnis Vater—
König auch bei Napoleon sichere Anhaltspunkte gewonnen, so muß
ganz besonders hervorgehoben werden, daß gerade hier in diesem
Punkte die von uns oben postulierte günstige Wechselbeziehung
zwischen Napoleons Phantasie und der Wirklichkeit, die selten ge¬
naue Kongruenz dieser beiden das Schidcsal gestaltenden Faktoren,
mit besonderer Klarheit zu beobachten ist.
Fiel doch Napoleons Jugend mit der großen Revolution zu¬
sammen, dieser einzigartigen Bewegung, in der der stammesgeschidn>
liehe Haß gegen den Vater entfesselt war wie kaum je zuvor, und
die Mensdienseelen völlig in seinem Banne hielt. F. Müller-Lyer 1
weist ja von ganz anderen, rein soziologischen Gesichtspunkten nach,
welch kolossale Bresche gerade durch diese Revolution in die bis
dahin ehern dastehende Stellung des Vaters geschlagen wurde.
Durch diese allgemeine gegen den Vater gerichtete Bewegung
wird nun einerseits auch Napoleons Vaterkomplex mächtig entfacht,
in starke Schwingungen versetzt und neu belebt,- anderseits aber erhält
bei ihm infolge der allgemeinen Libidozuwendung das schattenhafte
Symbol Fleisch und Blut und wird zur lebendigen Wirklichkeit, die
nun auch von Napoleon mit seiner bis nun so unproduktiv, ja
zerstörend am Vater fixierten Libido, im reichsten Ausmaße be^
setzt wird.
Zum Beweise hiefür führen wir an, daß er sich zum König
ebenso ambivalent stellte wie zum Vater <und zu Marbeuf), daß
er somit bloß mit halber Seele Revolutionär und Königsstürzer,
mit der anderen aber der Revolution abhold und dem König ge¬
neigt war. Denn abgesehen davon, daß er in der Charakteristik
des Verhältnisses Dions zu Dionysos auf diese Liebe hinweist
<s. oben), so finden wir, verläßlichen Autoren zufolge, genügende
Anhaltspunkte hiefür in seiner Jugendgeschichte. In Seurre, wo er
1789 das »Wetterleuchten der Revolution«, die Getreideunruhen,
1 F. Mülier^Lyer: Die Familie. München 1912, p. 196 bis 202.
368
Dr. Ludwig Jekels
bekämpfen soll, macht er Cos ton zufolge scharfe Äußerungen
gegen Revolutionen im allgemeinen. Und als einige Wochen später
wieder die gleichen Unruhen in seiner Garnisonstadt Auxonne aus*
brechen, »da flößte ihm die wilde, entfesselte Masse des Pöbels,
der auf diese Weise seine Rechte zu erlangen suchte, Abscheu ein,
und ... er mißbilligte die gegen die königliche Familie ausgestoßenen
Flüche« <Kircheisen>. Bei Coston finden wir es vermerkt, daß
Napoleon nach dem Eid auf die neue Verfassung vom 14. Juli 1791
sich folgendermaßen geäußert hat: »Bis nun, wenn ich den Befehl
erhalten hätte, meine Kanonen gegen das Volk zu richten, zweifle
ich nicht, daß Gewohnheit, Erziehung, . . . der Name des Königs
mich zum Gehorsam veranlaßt hätten.« Nach dem mißglückten
Fluchtversuch des Königs vom 20. Juni 1791 — mit dem das
Debacle Ludwig XVI. eigentlich begann — hören wir aus einer
Rede, die Napoleon im Valencer Klub hielt, dem König wohl*
wollende Akzente heraus, als er von einem »den König verfolgenden
Verhängnis« und davon spricht, daß »die ganze Schuld für all
das laste auf den Ratgebern des Königs, die ihn in den Abgrund stürzen«.
Und ganz unzweideutig klingt seine Anteil* und Parteinahme für den
König in den Äußerungen durch, die er beim Anblick der Szenen
vom 20. Juni und 10. August 1792 getan hat. Denn am ersten
dieser Tage, wo der König von dem in die Tuillerien gewaltsam
eingedrungenen Vorstadtpöbel stundenlang maßlos beschimpft und ihm
die Jakobinermütze aufgesetzt wird, da äußert sich Napoleon zu
seinem Freunde Bourrienne: »Coglione! Wie konnte man diesen
Vorstadtpöbel einlassen! Man hätte vierhundert bis fünfhundert mit
Kanonen wegfegen sollen und der Rest hätte das Weite gesucht.«
Noch deutlicher aber äußert er seine Stellungnahme für den König
am 10. August, wo gleichfalls gegen die Tuillerien aufgebrodiene
Jakobinerscharen die Schweizergarde niedermetzeln und durch ihre
Raserei den König zwingen, in der Nationalversammlung Schutz
zu suchen, wo er aber suspendiert und verhaftet wird,- da meint
er: »ich fühlte, daß, wenn man mich gerufen hätte, ich den König
verteidigt haben würde.«
Indessen, bei der Abhängigkeit von Napoleons Einstellung
zum Vater von der Allgemeinheit, ist es wohl natürlich, daß durch
den während des Schlußaktes derKönigstragödieso enorm entfachten und
geschürten Haß und die Erbitterung gegen Ludwig XVI. audi
Napoleons Libido in die gleiche Richtung gewiesen und die negative
Komponente seiner ambivalenten Einstellung zum Vater zur mächtig*
sten Entfaltung gebracht wird. Denn wir befinden uns da in einer
Periode, wo — seit Anfang November 1792 — im Konvent fort*
während die die Welt in Atem haltenden Verhandlungen über das
Schicksal des im Temple gefangen gehaltenen Ludwig XVI. statt*
finden, und ganz Frankreich widerhallt und aufs gewaltigste erregt
wird von den daselbst gehaltenen Reden, die, wie z. B. Robespierres
vom 3. Dezember »vom tiefsten Abscheu vor dem Königtum« ge*
Der Wendepunkt im Leben Napoleons I.
369
tragen sind, und dasselbe ebenso wie den König geradezu brande
marken.
Aber außer diesem allgemeinen gibt es für Napoleon in
diesem Königsschidcsal noch ein ganz spezielles Motiv, geeignet
Napoleons ganzen Vaterhaß zu wecken und zur Entfaltung zu
bringen. Steht dodi während der Revolutionsjahre der König fort¬
während im Verdachte, fremde Mächte zu Hilfe rufen und mit
ihnen sein Vaterland angreifen zu wollen! Wird ihm doch in den
Konventsverhandlungen vorgeworfen, er habe, »um sein Volk zu
züchtigen, die Waffen fremder Tyrannen, seiner Mitbrüder, herbei**
gerufen«, und betrifft auch in seinem Prozesse die Hauptschuldfrage
seine »Anschläge auf die allgemeine Sicherheit des Staates!«
Somit will ja audi Ludwig XVI. — genau so wie in der
Phantasie der Vater Bonaparte — die Mutter den Fremden aus*
liefern! Was Wunder nun, daß da ein mächtiger Widerhall gewedct
wird, und durch diesen Windstoß die unter der Asche glimmenden
Funken des alten Vaterhasses in mächtigen Flammen auflodern.
lind dadurch werden eigentlich die Geschicke
Ludwig XVI. auch zum Schicksal Napoleons.
Denn wie nachstehend ausgeführt werden soll, sind sie es, die
in zwei so wesentlichen Fragen wie die hier abgehandelten Napoleons
Stellung bestimmen und endgiltig entscheiden.
Vorerst seine Einstellung zu Frankreich. Wie nämlich um*
schwer erwiesen werden kann, oszilliert dieselbe recht synchron mit
dem Verlaufe der Königstragödie.
So z. B. läßt ihn, der sich bis dahin in seiner korsischen Un*
Versöhnlichkeit gar nicht an Frankreichs politischem Leben aktiv
beteiligt hat, die verunglückte Flucht des Königs vom 30. Juni 1791
den nationalen Unterschied gänzlich vergessen und der Verfassungs*
frage völlig unterordnen ,• denn wir sehen da den königlichen Offizier
im Valencer Klub der Verfassungsfreunde eine von glühender Frei¬
heitsliebe getragene und alle Anwesenden begeisternde Rede halten.
Als nun am 14. Juli 1791 die Truppen und Bürger ihren
Treueid nicht mehr dem Könige, sondern der Nationalversammlung
als der obersten Macht geleistet haben, da atmet er erleichtert auf
und meint: »er kenne jetzt niemanden als die Nation.«
Und wenige Tage darauf <27. Juli 1791) schreibt er, offenbar
noch ganz im Banne all der Herabsetzungen und Einschränkungen
des Königs, »den Kopf voll von großen öffentlichen Angelegen*
heiten« und getrieben »von meinem südlichen Blute, das in den
Adern mit der Geschwindigkeit der Rhone fließt«, einen von allen
Autoren als merkwürdig vermerkten Brief an den Kriegskommissär
Naudin, in dem sich die deutliche Annäherung an Frankreich bei
ihm zum ersten Male ausdrückt: »Beruhigt über das Schicksal
meines Landes (Korsika) und den Ruhm meines Freundes <Paoli>,
Imago III/4
24
370
Dr. Ludwig Jekels
liegt mir nichts mehr am Herzen, als die Sorge um mein Mutter^
land <mere patrie, Frankreich).«
Wir vermeinen in seiner so starken Ambivalenz gegen seinen
Vater einen genügenden Erklärungsgrund dafür zu besitzen, daß
Napoleons obiger Anlauf zum Franzosentum nicht von langem
Bestände ist/ denn alsbald schnellt er wieder zurück ins Korsentum,
ist zwei Monate später wieder in Ajaccio und entfaltet hier die
früher geschilderte, auf die Verdrängung der Franzosen gerichtete
Tätigkeit, die in dem späteren Attentat auf die Zitadelle gipfelt.
Ach dürfte derselbe Grund dafür verantwortlich sein, daß die
von uns bereits erwähnten und von ihm mitangesehenen Szenen
vom 20. Juni und 10. August 1792 — von welch letzterer er sich
noch auf St. Helena gewundert hat, daß ihm niemals später eines
seiner Schlachtfelder auch nur annähernd den Eindruck so vieler
Leichen gemacht hat, wie hier die niedergemetzelten Schweizer (!) —
ihn nicht dahin bestimmen, sich Frankreidi zuzuwenden, zumal ja,
wie bereits oben hervorgehoben, er sich in beiden Fällen auf die
Seite des Königs gestellt hat. Denn Chuquet zufolge hat er zu
der Zeit »noch immer nur seine Insel im Kopfe und kommt immer
wieder auf sie zurück«, und berichtet den Seinigen über Frankreichs
damalige Zustände »in einem Tone, der kalt und fast indifferent
erscheint, so daß man auf den ersten Blick meinen würde, diese
Berichte stammen von einem Fremden, . . . der alle diese Dinge
bloß aus Neugierde betrachtet«. Und zu dieser Zeit ist es, wo er
noch an Joseph schreibt: »nun ist es wahrscheinlicher denn je, daß
all dies mit unserer Unabhängigkeit enden wird«, und wo er, wie^
wohl scharf vom Minister ermahnt, statt zu seinem Regiment, wieder
am 15. Oktober sich nach Korsika begibt.
Aber sdion etwa drei oder vier Monate später sehen wir
Napoleon unter dem Einflüsse der erwähnten, die Negation des
Vaters so aufrüttelnden Konventsverhandlungen, und unter dem
Eindrude des im Dezember gegen den König vor dem Konvent
stattfindenden Prozesses, Frankreich wesentlich genähert, denn nach
Chuquet ermahnt er da sogar bei den gleichzeitig auf Korsika
stattfindenden und von uns früher erwähnten administrativen Wahlen,
seine Landsleute zum Franzosentum.
Doch erst nachdem gegen den König am 18. Januar 1793
das Todesurteil erflossen, da erst äußert sich bei Napo¬
leon der Anschluß an Frankreich in entschiedener, unzweU
deutiger und unwiderruflicher Weise.
ln seinen Memoiren berichtet darüber der Kanzler Pasquier
wie folgt: . . . »Bonaparte, anfangs wie Pozzo an Paoli attackiert,
zögerte nicht sich von ihm zu trennen, um die Rechte der französi¬
schen Regierung zu verteidigen. Es war dies bei Nachricht über die
Verurteilung Louis XVI., daß er diese Partei nahm. Ich habe das
Faktum von Herrn von Semonville, der damals als Kommissär
der französischen Regierung sich in Korsika aufhielt.«
Der Wendepunkt im Leben Napoleons I.
371
Bonaparte weckte ihn bei Nacht.
»Herr Kommissär,« sprach er, »ich habe gut unsere
Lage erwogen,* man will hier eine Torheit begehen,* der
Konvent hat zweifellos ein großes Verbrechen begangen
und ich beklage es mehr denn jemand,* aber Korsika muß,
was auch kommen mag, mit Frankreich vereinigt sein,- es
kann nicht anders, als unter dieser Bedingung existieren,*
ich und die Meinigen, wir werden, ich setze Sie davon in
Kenntnis, die Sache der Union verteidigen.«
Nun erst, nadidem der Vater, der verhaßte Anstifter all des
Unheils, der ihn am Besitze der Mutter gehindert, sie aber trotz¬
dem mit Fremden geteilt hat, sein Verbrechen mit seinem Kopfe
gesühnt hat, — erst da sehen wir Napoleon sich entschieden Frank¬
reich zuwenden.
Denn durch die Tötung des Königs ist ja der wesentliche
Teil seiner Ödipus-Phantasie erfüllt worden, und da ist es ja nur
selbstverständlich, daß er — durch den Anschluß an Frankreidi —
die freigewordene Mutter in Besitz nimmt, und so diese symbolische
Realisierung zu einer vollständigen macht.
Überdies ist aber diese Akzeptierung des vom Vater ge¬
schaffenen Sachverhaltes auch die Identifizierung mit dem Vater,
somit auch Ausdrudc der Liebe.
Sie erfolgt aber zugleich aus einem, nach Stillung des Hasses
sich stark regenden Sduildgefühl — worauf wohl seine Worte an
Semonville von »großem Verbrechen, das er mehr denn jemand
beklage«, hindeuten, — und ist dergestalt auch eine Sühne- und
Bußhandlung.
Und schließlich dürfte auch die Identifikation Napoleons mit
Marbeuf dieselbe in irgendeinem Grade mitbestimmt haben.
Und mit der ganzen, uns aus Träumen und neurotischen
Symptomen so wohlbekannten Ungebundenheit des bloß seine
jeweiligen Bedürfnisse berücksichtigenden Unbewußten, wird nun aus
den angeführten Motiven auch Frankreich — das bis nun Napoleon
Marbeuf und die Preisgebung der Mutter an denselben bedeutet
hat — zum Symbol der Mutter selbst, zur mere patrie, der er
nun seine glühende Liebe zuwenden, die er heiß begehren, seinen
»Polarstern« nennen, und aufs äußerste verteidigen wird.
Unter den vier Gestalten, welche in der Vorstellungswelt
Napoleons mit den Attributen des Vaters ausgestattet wurden,
— haben wir doch in dieser Rolle außer Charles noch Marbeuf,
Ludwig XVI. und Paoli kennen gelernt — kommt Paoli eine ganz
besondere Stellung zu/ ist er doch der gute, der mustergiltige Vater,
das Vaterideal.
Und zur Verwendung als solch eine Lichtgestalt war Paoli
— ohnedies von den Korsen il babbo <Vater> und von den Bona-
24 *
372
Dr. Ludwig Jekels
partes compere genannt — dank seiner Vergangenheit, der um sein
Haupt geschlungenen Aureole, vor allem aber dank seiner Haltung
im Unabhängigkeitskriege, ganz besonders geeignet. War er dodi in
der Sprache des Unbewußten der Vater, der die Mutter vor
Fremden bewahrt und dieselben bis zum äußersten abwehrt, im
Gegensätze zum wirklichen Vater, der sogar behilflich ist, die
Mutter mit dem Fremden Marbeuf zu vereinigen. Da ist es wohl
selbstverständlich, daß die ganze mächtige Liebe Napoleons mit
ihren sublimierten Äußerungen der Bewunderung und Verehrung
Paoli zugewendet wird.
So sehen wir denn diese verklärte Vaterimago die ganze
Kindheit und Jugend Napoleons dominieren und seine Seele ganzaus^
füllen, wofür wir hinlängliche Belege erbracht zu haben vermeinen.
Wir sehen aber auch Napoleon mit ungeminderter Begeisterung
an diesem Vaterideal festhalten noch während seines bereits öfters
hervorgehobenen Aufenthaltes in Paris im Sommer 1792. Denn in
dem Traume den er träumt, Frankreich würde aus innerer Schwäche
Korsika nicht halten können und es von selbst freigeben, worauf
dasselbe eine nationale Regierung erhalten wird, soll Paoli wieder
der General, der Regent von Korsika werden, wie ehedem vor der
französischen Okkupation,- denn, meint da Napoleon, »er ist alles
und wird alles sein!«
Indessen, je düsterer und tragischer sich in den nächsten
darauffolgenden Monaten das Schicksal des im Gefängnis schmach^
tenden Königs gestaltet, je mehr der in den Konventsdebatten und
im Prozeß gegen ihn sidi entladende Haß auch in Napoleons Brust
die nämlichen Saiten zum Schwingen bringt und so die alte Ab¬
rechnung mit dem Vater aktualisiert, um so mehr entfernt sich
Napoleon, durch die ablehnende Haltung des Gouverneurs natürlich
noch darin unterstützt, von diesem seinen Jugendideal.
Doch obzwar authentische historische Belege hiefür nicht auh»
findbar sind, so erscheint es mir schon aus psychologischen Gründen
unzweifelhaft, daß Napolen zur offenen und konsequenten Gegner^
schaft gegen Paoli erst überging, als der König auf dem Schaffot
sein Haupt gelassen hatte. Denn in seinem, ihn von einem Neurotiker
so stark unterscheidenden regen Kontakt — und Anlehnungsbedürfnis
an die Allgemeinheit und Wirklichkeit, die übrigens seiner psycho¬
logischen Konstellation audi in diesem so bestimmenden Punkte
außerordentlidi entgegengekommen ist, wird er, wie bereits wieder¬
holt bemerkt, durdi dieses Ereignis nach der Richtung der end^
giltigen und extremen Negation des Vaters überhaupt gedrängt.
Jeglicher Vater — und mag er noch so gut und ideal sein —
muß gestürzt werden, nur weil er Vater ist,- genau so, wie es
Oncken 1 für das Sdiidcsal Ludwig XVI. formuliert: Die Ermordung
eines Königs — bloß weil er König war.
1 Wilhelm Oncken, Das Zeitalter der Revolution, des Kaiserreiches und
der Befreiungskriege. Berlin 1884, bei Grote.
Der Wendepunkt im Leben Napoleons I.
873
Und so kommt es, daß nun Napoleons letzte Vater*Imago, Paoli,
fallen muß. Nun zögert er nicht mehr, sidi zu ihm in offene Gegner*
Schaft zu stellen und mit Paolis erbittertem Feinde, Saliceti, end*
giltig und eng zu verbinden.
Und daß er nun in dieser Zeit, wo von Unterschieden in der
politischen oder nationalen Gesinnung keine Rede sein konnte, da
doch Paoli damals noch ebenso franzosentreu und republikanisch
war wie Saliceti, vor die Wahl zwischen den Beiden gestellt, sich
gegen Paoli, wohl aber für Saliceti entschließt und diesem nun
treue Gefolgschaft leistet, das bekräftigt wohl nachdrücklich die von
uns postulierte Bedeutung der Hinrichtung des Königs für die
Wandlung Napoleons. Hat doch Paoli ausdrücklich die Tötung des
Königs verdammt, meinend, die Korsen wären wohl Feinde der
Könige, aber nicht ihre Henker, während Saliceti unter den korsi*
sehen Abgeordneten der einzige war, der für den Tod des Königs
gestimmt hatte.
Es waren indessen noch andere unbewußte Motive vorhanden,
welche Napoleon zur Veränderung seiner Stellung zu Paoli gedrängt
haben mochten. Denn wie bereits hervorgehoben, hat er sich nach
Beseitigung des Vaters <Königs> mit demselben identifiziert, sich
selbst zum Vater gemacht, wofür wohl seine Akzeptierung des po¬
litischen Programmes des Vaters <der mit Marbeuf verbundenen
Mutter), unwiderleglich spricht,* und da ist es wohl natürlich, daß
er auch die letzte Vater*Imago, Paoli, beseitigen wollte.
Überdies aber muß er, ebenso zufolge dieser Identifizierung,
das Vorgehen des Vaters gegenüber Paoli wiederholen,* denn Charles
hatte ja, nachdem er durch viele Jahre an der Seite Paolis in treuer
Anhängerschaft gestanden, denselben dann gegen das Ende des Un*
abhängigkeitskrieges gleichfalls verlassen und sich den Franzosen
zugewendet, — so daß Napoleon darin seinen Vater geradezu
imitiert.
Und es ist wohl einleuchtend, daß all diese Motive sehr wirk¬
sam genährt und unterstützt wurden durch den unter den Repres¬
sionen des Konvents immer reger werdenden Paolismus, der von
den aufgepeitschten Tendenzen Napoleons nicht als bloße Ab¬
wehraktion, sondern vielmehr als Paolis Streben nach unabhängiger
Herrschergewalt sowie als Kampf gegen Frankreich gedeutet werden
konnte. Und da Napoleon nun, nach erfolgter Identifizierung mit
seinem Vater, unverbrüdilich an dem von Charles geschaffenen Sach*
verhalt festhält, so kehrt er sich jetzt ebenso energisch gegen den
keimenden Paolismus, wie er sich kurze Zeit vorher gegen die, als
Protest gegen die Hinrichtung des Königs sich unter den Korsen
leise meldende Abfallbewegung gewendet hatte, worauf sich seine
an Semonville gerichteten Worte: »man ist hier im Begriffe, eine
große Torheit zu begehen,« beziehen.
Es hieße aber das Wesen der Ambivalenz verkennen und den
Grad derselben bei Napoleon unterschätzen, wollte man meinen.
374
Dr. Ludwig Jekels
daß nunmehr seine Verhaltungslinie zu Paoli eine ganz geradlinige
und lediglich vom Haß vorgezeichnete ist. Denn selbst in diesem
Kampfe äußert sich noch recht kräftig der positive Pol, die Liebe zu
Paoli, und ihr unwiderleglicher Ausdruck sind sowohl die nach Er¬
lassung des Haftdekretes vom 2. April von Napoleon versuchte An^
näherung an Paoli, als auch seine Bemühungen um Beilegung der
Spannung, vor allem aber die warme und energische Verteidigungs¬
adresse. Freilich läßt uns schon die fragende Form derselben, die
sehr zahlreichen Fragezeichen, — als semee d'interrogations bezeich¬
net sie Chuquet —, beim Verfasser eine innere Unsicherheit ver^
muten, und wir meinen, daß dies audi ein bei sich Anfragen, —
vielleicht nach den inneren Motiven dieser Parteinahme sowie nach
der Aufrichtigkeit derselben, — bedeutet.
Zu den von den Forschern angeführten und natürlich auch
von uns vollauf gewürdigten Ursachen, wie z. B. die nach dem
Bekanntwerden der Denunziation Lucians ausgesprochene Feinde
Seligkeit Paolis und demzufolge die allgemeine Verfolgung der Fa^
milie Bonaparte, — möchten wir noch ein durch das Unbewußte
konstelliertes und sehr affektbetontes Motiv hinzufügen, welches es
gleichfalls bewirkte, daß die Liebe Napoleons zu Paoli nun ver^
stummte, dagegen die Negation in die Höhe geschnellt und zu einer
endgiltigen wurde, wofür uns die vernichtende Anklageschrift wohl
ein beredtes Zeugnis gibt.
Je mehr ich mich nämlich in die Lebensgeschichte Napoleons,
speziell aber in den hier abgehandelten Abschnitt derselben vertiefte,
um so mehr gewann ich die Überzeugung, daß dieses ausschlag^
gebende, den Brudi mit Paoli sozusagen finalisierende Motiv nichts
anderes gewesen ist, als die Einstellung, die Napoleon bei Paoli
betreffs Englands vermeinte, und die tatsächlich, nach dem durch die
neuere Forschung erschlossenen Ablauf der Begebenheiten, eine
wechselnde und progrediente gewesen ist.
Denn im Anfang seines Konfliktes mit der Regierung war ja
Paoli überzeugter Franzose und dachte gar nicht an einen Verrat
an England, so daß zu dieser Zeit der gegen ihn von seiten ÜbeL
wollender konstruierte Vorwurf nichts anderes war denn eine Ver^
leumdung, der allerdings Paolis frühere Beziehungen zu England
sowie seine Sympathien für dieses Land, den Anschein ziemlicher
Glaubhaftigkeit und Wahrscheinlichkeit verleihen konnten. Erst im
weiteren Verlauf des Konfliktes hat sidi Paoli, — hineingetrieben
in die Erbitterung sowohl durch das Mißtrauen der Regierung als
auch durdi die zahllosen gegen ihn in Szene gesetzten Ränke und
Intriguen sowie durch die Aufsässigkeit und Voreiligkeit des Kon¬
vents, — mehr und mehr dem Gedanken eines Abkommens mit
England genähert, bis er sehr kurz darauf Korsika tatsächlich an
dasselbe auslieferte.
Und im gleichen Maße beobachten wir nun bei Napoleon,
der seinen eigenen auf St. Helena gemachten Äußerungen zufolge
Der Wendepunkt im Leben Napoleons I,
375
gleichfalls unter dem Einflüsse dieser ausgestreuten Gerüchte stand,
auch die Progression seiner Feindseligkeit gegenüber Paoli, und dies
kann uns auch den grellen Widerspruch zwischen den beiden, zeitlich
etwa durch einen Monat getrennten Adressen erklären. Denn in der
ersten glaubt er noch nicht an diese Verdächtigung Paolis oder zu*
mindest, wenn wir hier wieder die fragende Form dieser Adresse
als Zeichen der Unsicherheit und die nachfolgende Argumentation
als ein Niederringen der eigenen Zweifel auffassen, will er an diese
Möglichkeit nicht glauben. Im weiteren Verlaufe jedoch haben sich
seine Zweifel, teils durch die nun trotz des Entgegenkommens des
Konvents so unversöhnliche Haltung Paolis, teils infolge seiner
wahrscheinlich tatsächlich bereits stattfindenden Unterhandlungen
mit England verstärkt, sind ihm zur Gewißheit geworden, der er
nun in der, natürlich auch von anderen Motiven inspirierten Anklage*
schrift unverhohlenen Ausdrude: verleiht.
Und daß es gerade die Englandpolitik Paolis war, die so
schicksalsschwer für Napoleon wurde, ergibt sich aus folgenden Er*
wägungen: Es ist mit voller Bestimmtheit bekannt, daß Napoleon
in seiner Jünglingszeit sehr viel Liebe und Sympathie für England
und die Engländer besaß, so daß er, nebst seinem Bruder Joseph
und Freund Masseria, in Ajaccio den Spitznamen »Anglomanec
hatte. Man kann nur Chuquet beipflichten, der, nachdem er zuerst
die Quellen dieser Vorliebe Napoleons für England in der Lektüre
von Rousseau, Raynal und Boswell gesucht, schließlich und haupt*
sächlich sie in der Aufnahme erblickt, die Paoli seinerzeit in Eng*
land gefunden hatte. Ganz deutlich bekundet Napoleon diese Liebe
für England in der bereits erwähnten »Nouvelle Corse«,* denn
dort rettet sich einer das Leben, indem er sich als Engländer aus*
gibt, während die Franzosen erbarmungslos getötet werden.
Und nun beobachten wir bei Napoleon seit der Flucht aus
Korsika einen Wandel in ganz entgegengesetztem, entschieden eng*
landfeindlichem Sinne. Und so sehen wir ihn. Cos ton zufolge, in
den ersten Tagen des September 1793, als er mit der Pazifizierung
des aufständischen Südens beschäftigt, vernahm, Toulon sei durch
Verrat den Engländern ausgeliefert worden, freiwillig <spontaneament>
nach Paris eilen und um das Artilleriekommando bei der Belagerung
dieser Festung bitten. Allerdings wird diese Angabe Costons von
den späteren Forschern ignoriert, die im Gegenteil meinen, das
durch den Tod des Vorgängers vakante Kommando sei Napoleon
von Saliceti angeboten worden. Mehrere Jahre später lesen wir
in seiner Antwort an die englischen Zeitungen <13. Oktober 1803):
»Ihr genösset in Europa den Ruf einer weisen Nation, aber ihr
seid seit den Tagen euerer Väter stark entartet. Alle euere Reden
rufen auf dem Kontinente Mitleid und Verachtung hervor.« Und
im Briefe an die Engländer vom 15. August 1805: »Glaubt nur
nicht, daß ihr Bundesgenossen auf dem Festlande habt. Ihr seid der
Feind aller Völker und alle freuen sich, wenn ihr gedemütigt
376
Dr. Ludwig Jekels
werdet.« Und nur zu bekannt ist sein späteres, so wohl rationale
siertes Verhalten gegen England und die Engländer, die ihm geradezu
zum Schreckgespenst wurden, deren korrumpierenden Einfluß er
immer hervorhob <siehe Briefe aus Italien an das Direktorium), die
er sogar aus dem Salon der Frau Remusat verbannt wissen wollte,
die er stets als seinen einzigen dauernden und «größten Feind be^
trachtete, gegen die er ganz Europa zur Bundesgenossenschaft
organisieren wollte, gegen die er Jahre hindurch die Kontinental^
sperre verhängte, indem er ihnen alle Häfen von Hannover bis
Tarent schloß, von denen er auf Elba schrieb: <Considerations sur
l'etat de l'Europe) »Was die Engländer anlangt, kann ich nur
sagen, daß uns die Geschichte kein Faktum anführt, das beweisen
würde, daß ein Handelsvolk jemals zum Glück des Menschen¬
geschlechtes arbeiten würde«, — gegen dieses England, das solcher¬
gestalt eigentlich diesem einzigartigen Gestirn auf Korsika den Lauf
vorzeichnete, um es dann bei Waterloo zum Erlöschen zu bringen.
Macht uns nun die hier geschilderte Einstellung Napoleons
zu England den ausgesprochenen Eindruck, als ob sie zumindest
auch eine affektive wäre, so daß sie uns zweifellos als ein so^
genannter Komplex anmutet, so erblicken wir darin eine Stütze für
unsere frühere Behauptung, daß es die Haltung Paolis gegenüber
England war, die in Napoleons Konflikt mit ihm nicht bloß eine
sehr wesentliche Rolle spielte, sondern sogar ausschlaggebend wurde
für den definitiven Bruch mit Paoli, sowie die erbitterte Feindselig¬
keit gegen denselben.
Und die Erklärung für diese Reaktion Napoleons — dessen
Franzosentum doch kaum einige Monate alt war — auf diese
politische Stellungnahme Paolis erscheint uns wahrlich nicht schwer,
sofern wir nur auch Napoleons unbewußte Phantasien berüdc-
sichtigen. Gedenkt doch Paoli das große Verbrechen, das seiner^
zeit Charles Bonaparte begangen und mit dem sich Napoleon
kaum eben, und zwar um den Preis eines schweren Opfers abge¬
funden, zu wiederholen! Also auch dieser vortreffliche Vater,
auch er ist bereit die Mutter den Franzosen preiszugeben, — genau
so wie die schlechten Väter: Charles und der König, der diese
Schandtat eben mit dem Kopfe gebüßt hat!
Und nachdem derart dieser bis nun stärkste Pfeiler seiner Seele
völlig zusammengestürzt ist, läßt er nichts unversucht, um die
Mutter gegen die verräterischen Absichten dieses Vaters zu ver^
teidigen,* zertrümmert aber zugleich mit wuchtiger Hand restlos den
Tempel, den er diesem seinerzeit aufgerichtet, ja — belehrt durch
das Schicksal des Königs, wie man mit solch verräteri¬
schen Vätern verfahren soll — fordert er sogar den Kopf
dieses Vaters, da er ihn vor dem blutrünstigen Konvent des
Hochverrates anklagt.
Durch diesen endgiltigen und restlosen Zusammenbruch der
Liebe zum Vater, den er mit sich brachte, sollte dieser Konflikt
Der Wendepunkt im Leben Napoleons I.
377
mit Paoli eminente Bedeutung sowohl für die Persönlichkeit Napo^
leons als auch für die Weltgeschichte gewinnen.
Wie katastrophal er für die erste ward und wieviel hiebei an
moralischen Werten zugrundegegangen ist, darüber mögen uns die
Worte des Kaisers an Talleyrand orientieren, als dieser, in der
Absicht gefällig zu sein, ihm das mittels Spezialkouriers aus Lyon
geholte Manuskript des »Discours« vorwies. Da riß es ihm der
Kaiser aus der Hand und warf es ins Feuer, »weil es überfloß
von Gefühlen und Prinzipien, die in meiner Jugend gehegt zu haben
es mir nicht schmeichelhaft gewesen wäre, falls man es mir vor**
halten würde.«
Für die Weltgeschichte aber ward er von ungeheuerer Trag^
weite, weil durch diesen Konflikt das LInbewußte Napoleons ein~
deutig und endgiltig nur auf die extremste Negation des Vaters
eingestellt wurde, gegen den er von nun ab einen unaufhörlichen,
schonungs^ und erbarmungslosen Kampf führen sollte.
IV.
Von nun ab soll in Napoleons Brust das unstillbare Verlangen
nach dem Besitze der Mutter nie mehr zur Ruhe gelangen, und der
gewaltige Kampf um sie mit dem Vater bilden wohl das gewaltigste
Epos der Menschheitsgeschichte. Das ist die Leitlinie, die mit seltener
Klarheit dieses einzigartige Leben durchzieht und der er alles andere
unterordnet, und zu deren Durchsetzung ihm sämtliche Wege und
alle Mittel gut scheinen: »denn ich bin nicht ein Mensch, wie ein
anderer und die Gesetze der Moral und der Sitte gelten nicht
für mich«.
Vor allem sehen wir nun sein Verhältnis zu Korsika völlig
geändert. Denn ebenso, wie sich der kleine Junge bei seinem stets
okkupierten Vater die Vernachlässigung der Gattin mit der Preise
gebung derselben an Marbeuf erklärt haben mag, sehen wir, daß
nun auch Korsika bei Napoleon kaum irgendwelche affektive Be¬
wertung mehr findet. Im Jahre 1795 soll er als Artillerieinspektor
an einer — übrigens unterbliebenen — Expedition teilnehmen,
welche die im englischen Besitz befindliche Insel zurückgewinnen soll,-
im darauffolgenden Jahre veranlaßt er als Oberkommandeur der
italienischen Armee selbst die Zurückerorberung Korsikas, doch ohne
irgendwelchen Affekt an dieses Ereignis zu knüpfen. Mit Recht
meint daFournier: »Seine Heimat war nicht mehr imstande, sein
Interesse im höherem Grade zu fesseln, als etwa Korfu oder
Malta.«
Ja, noch mehr! Es ist offenbar die Wirkung desselben Korm*
plexes, daß, wie wir in Mas so n ausdrüddich lesen, Napoleon als
allmächtiger erster Konsul nadi Ansicht der Frau Lätizia, die un¬
beirrt durch die fabelhafte Wendung in ihrem Schidcsal ihrer Ver¬
gangenheit und Korsika stets treu geblieben ist, sich gegen seine
378
Dr. Ludwig Jekels
Heimat und ihre Bewohner mit Undank benimmt. »Aber seit Tom*
Ion ist er so: er hat nicht einmal gestattet, daß man zu ihm kor*
sisch spreche«.
Lind erst nach vielen Bemühungen gelingt es endlich der Ma*
dame Mere beim Kaiser die Regelung der Situation all der korsischen
Verwandten durchzusetzen. Denn von dem ehemaligen großen kor*
sischen Troß hat Napoleon nur zwei <Arrighi und Ornano) in seine
Umgebung aufgenommen, und auch die erst, nachdem er sie vor*
erst in Italien, Ägypten, San Domingo, »von Kadix bis Moskau«
die Feuerprobe auf ihre Verläßlichkeit bestehen ließ! Aber nun:
assez des Corses/ er hat nicht die Absicht, ihnen Frankreich aus*
zuliefern: er weist ihnen Korsika an, und opfert sogar seinen ganzen
Besitz auf der Insel, den er unter sie verteilt, nur damit sie sich
nicht über Frankreich ergießen!
Konnte doch infolge dieser Gleichgiltigkeit und Abneigung
Buttafuoco den gegen ihn seinerzeit von Leutenant Bonaparte er*
hobenen Vorwurf <s. p. 317) schlagend mit den gleichen Waffen ver*
gelten, als er in seinen zurückgelassenen Papieren den Kaiser Na*
poleon folgendermaßen apostrophierte: »Welchen Grund hätte nicht
Korsika, um Ihnen zu sagen: Wie, mein Sohn, ist denn dein Herz
unempfänglich für die Insel, wo du das Leben empfingest? Als du
ins Alter der Vernunft tratest, erhoffte ich Gutes von dir. Als ich
dich einen großen Schauplatz betreten sah, da erzitterte mein Herz
vor Freude, denn ich hoffte, daß dir dein Vaterland, deine Brüder
teuer sein würden. Es ist entsetzlich, daß Sie einer ihrer Brüder bis
zu diesem Grade vernachlässigt.«
Nun aber Korsika entwertet und verloren, beginnt bei Na*
poleon eine nimmermüde und nimmersatte Suche nach Ersatz, auf
welcher seine von Heißhunger gequälte Phantasie gierig ein Land
nach dem anderen begehrt, derart eine schier endlose Reihe von
Surrogaten bildend, die jedoch als solche seine Gier nie auch nur
annähernd zu befriedigen vermögen. Er tränkt auf dieser Suche die
Länder in Blut, versetzt die Welt in Schrecken, verändert das Ant*
litz Europas, umsonst, all das kann seinen Hunger nicht stillen!
Das erste, die Reihe eröffnende und von ihm wohl am hart*
näckigsten begehrte dieser Ersatzobjekte ist Italien. »Im Januar
1795, lesen wir im Memorial de St. Helene, verbrachte Napoleon
eine Nacht auf dem Col di Tenda, von wo er bei Sonnenaufgang
die schönen Ebenen erblickte, die bereits der Gegenstand seiner Ge*
danken waren. Italiam, Italiam!«
Nun wissen wir ja, welche Ströme von Blut er um den
Besitz dieses Landes mit den Österreichern, Sarden, Neapolitanern,
sogar mit dem Papste vergossen: und wenn schon dieser sehn*
süchtige Ausruf Napoleons auf die Beteiligung des Affektes hiebei
hinweist, so sei es gestattet hier ergänzend hervorzuheben, daß Frau
Lätizia geborene Ramolino, wie schon Chuquet hervorhebt, im
gleichen Maße Italienerin wie Korsin war. Und als Stütze für diese
Der Wendepunkt im Leben Napoleons I.
379
Annahme verweise ich auf das kleine Detail, daß Napoleon seinen
italienischen Namen: Napolione Buonaparte zum letztenmal ge-*
brauchte, als er seine Trauungsurkunde mit Josephine Beauharnais
unterschrieb,- denn der nächste in unserem Besitze befindliche, eine
Woche später an Rossi gerichtete Brief trägt schon die französische
Unterschrift Bonaparte, die er fortab ausnahmslos gebrauchte. Nicht
ganz ohne Belang dürfte hier auch die unscheinbare Tatsache sein,
daß er in seinen Liebesbriefen Josephine wiederholt mit italienisdien
Kosenamen apostrophiert.
Und kaum, daß der Frieden von Campo Formio geschlossen
da drängt es ihn schon — offenbar wegen des stärkeren Anklanges
an Korsika — sich der Inseln Malta, Korfu und Zante zu bemäch¬
tigen, denn »sie sind für uns von größerem Interesse, als Italien,«
meint er im Briefe an das Direktorium.
Von da geht es weiter, nach Ägypten, Palästina, von hier soll
es nach Damaskus, Aleppo und Konstantinopel, denn dann »stürze
ich das türkische Reich, gründe im Oriente ein großes Kaiserreich,
— und kehre über Adrianopel nach Wien zurück« — nicht zu
vergessen Indiens, das gleichfalls von hier aus von seiner beispiellos
gierigen Phantasie verschlungen wird. Und als Kaiser bescheidet er
sich ebensowenig mit der »Maitresse«, die ihm nach seinem eigenen
Ausspruche Frankreich bedeutet, sondern ist von der gleichen
Ländergier gepeinigt wie als Oberbefehlshaber und Konsul,- denn
wir sehen ihn Reiche stürzen und neu gründen, Länder wie Spreu
durcheinanderschütteln, um sich, wie er meinte, »Europa zu Füßen
zu legen«, ja, sogar »Herr des Universum zu sein«, — und dies
alles getrieben von einer kaum dagewesenen Gewalt des inzestuösen
Verlangens nach der Mutter, und einem schrankenlosen Trotz
gegen den Vater, wie er in der Mensdiheitsgeschichte ganz vereinzelt
dasteht!
Es hieße wohl hier die ganze Geschichte des napoleonischen
Zeitalters rekapitulieren, wollte man den Haß und Trotz, den Na*
poleon bei dieser nie rastenden Suche nach der Mutter seiner Vater*
Imago — den unterschiedlichsten Herrschern Europas — entgegen*
brachte, im Detail nach weisen. Nur summarisch möge hier daran
erinnert werden, wie er sich zu Kaiser Franz von Österreich, König
Friedrich Wilhelm III. von Preußen, zu den Königen von Spanien,
Portugal, Neapel, zu den deutschen Königen und den Bundesfürsten
und nicht zuletzt zum Papst Pius VII. gestellt, wie er sie provoziert
und die Besiegten drangsaliert, gedemütigt, herabgesetzt und erniedrigt
und die Abhängigkeit von ihm hat fühlen lassen. Ich überlasse es
Berufeneren, dies wenn auch nur an wenigen Beispielen zu illu*
strieren:
Fournier: »In Dresden versammelten sich huldigend die Fürsten
des Rheinbundes, über die der Korse unbedingter gebot, als seit
langer Zeit ein römischer Kaiser deutscher Nation. Auch der letzte
von diesen, Franz von Österreich, fand sich ein. Hatte Napoleon
380
Dr. Ludwig Jekels
die Zusammenkunft mit seinem Schwiegervater gewünscht, um seine
Verwandtschaft mit der ältesten Dynastie der Welt als Relief für
seine unerhörte Geltung zu benützen? Er hat damals Franz I. auf-
gefordert, ihn auf seinem Kriegszug zu begleiten. Dazu ist es aller¬
dings nicht gekommen. Im übrigen aber trat der Kaiser von Öster-
reich, trotz allem vertraulichen Verkehr mit dem Eidam, ebenso
gehorsam wie der König von Preußen und die kleinen Souveräne
in den Schatten des gewaltigen Parvenüs . . .«
G. Kircheisen über die Zusammenkunft in Tilsit, die un-
mittelbar nach der für Preußen entscheidenden Niederlage bei Friede
land stattgefunden hat: »In der Tat fand am nächsten Tage, am
25. Juni 1807, eine Zusammenkunft der beiden Kaiser auf einem
Flosse auf dem Niemen statt. Der König von Preußen blieb am
Ufer zurück, da Napoleon ihn nicht eingeladen hatte . . . Dann
kamen die Monarchen in Tilsit zusammen . . . Napoleon vermied
es, mit Friedrich Wilhelm über die schwebenden Angelegenheiten zu
sprechen und behandelte ihn wie eine nebensächliche Person. Er
unterhielt sich mit ihm über die nichtigsten Dinge, wie über Uniform-
knöpfe, Tschakos und so weiter, und spottete bei jeder Gelegenheit
über ihn.«
Aus einem Briefe der Herzogin Louise von Sachsen-Weimar
(nach der gleichen Quelle): ». . . Sie haben keine Ahnung, wie leicht-
fertig Napoleon die vier Könige behandelt, die in Erfurt sind. Ich
versichere Sie, es lohnt der Mühe, das zu sehen. Gestern z. B.
waren sie genötigt, eine Stunde lang vor dem Diner im Vorzimmer
zu warten« . . .
Aber keine Dynastie hat er auch nur annähernd mit dem
gleichen Hasse behandelt, wie die Ludwigs XVI, die Bourbons, deren
glänzende Anerbieten er noch als Oberbefehlshaber schroff zurück-
weist, von denen er sagt, er hätte sie, im Falle ihrer Restitution,
zum zweitenmale zu depossedieren gewußt, von welcher er nach
Austerlitz in einem einfachen Armeebefehle kundmacht: »sie habe
aufgehört, in Neapel zu herrschen« und deren ahnungs- und schuld-
losen Sprossen, den Prinzen d'Enghien er zum Entsetzen aller Welt
füsilieren läßt.
Das wirkliche und tiefere Motiv all dieses Beginnens verraten
uns aber seine aus dem Jahre 1804 stammenden Worte, wonach
er keinen Vater dulden und die Stelle aller einnehmen wollte, denn
»es wird nicht Ruhe in Europa eintreten, als bis es unter einem
einzigen Oberhaupte steht, unter einem Kaiser . . .«
Und so hätten wir nun auch in dieser, ganz solitär scheinen¬
den und als Paradigma des Ehrgeizes geltenden Menschenseele, im
letzten Grunde libidinöse Antriebe aufgedeckt, und auch dies Schick¬
sal als in letzter Linie durch Sublimierung sexueller Motive gestaltet,
erkannt.
Der Wendepunkt im Leben Napoleons I.
381
Ich meine, daß durch diese Zurüdeführung auf Allgemein-mensch¬
liches und Typisches, weder seine ungeheuere Größe, noch auch seine
Bedeutung als eine ganz unvergleichliche Kulturpotenz irgendwie
beeinträchtigt wird, und daß ungeachtet derselben, die Ansicht Wol-
seleys, er sei »der Größte der Großen« gewesen, aufrecht bleiben,
kann.
Und ebensowenig widersprechen wir Ansichten, wie etwa der
Victor Hugos, der da von ihm meinte:
»Er besaß alles, er war vollkommen. Er hatte in seinem Ge-
hirne die menschlichen Fähigkeiten in der sechsten Potenz. Er machte
Gesetzbücher wie Justinianus, diktierte wie Cäsar, in seinen Ge¬
sprächen war er Pascal und Tacitus, er machte Geschichte und
schrieb sie, seine Bulletins sind Iliaden, ... er hinterließ im Orient
Worte, groß wie die Pyramiden, in Tilsit brachte er Herrschern
Majestät bei, und in der Akademie der Wissenschaften disputierte
er mit Laplace . . .«
Nur, daß wir in analytischer Konsequenz noch hinzufügen
müssen, die Bewunderung und das dieser Gestalt für immer ge¬
sicherte und stets von Neuem erwachende Interesse der Menschheit
kämen überdies und im letzten Grunde von dem mächtigen Wider¬
hall, den dieser gewaltige Ödipuskomplex, in seiner so leichten und
typischen Gewandung, in der nämlichen verdrängten Regung unserer
eigenen Brust findet.
Und vielleicht war es weniger, wie Fournier meint, aus Be¬
rechnung, als aus dieser Empfindung heraus, daß in Erfurt, als »vor
einem Parterre von Königen« der Voltairesche »Ödipe« aufgeführt
wurde, sich Alexander von Rußland erhob und Napoleon unter dem
Beifall des Saales umarmte?
Literatur:
1. Chuquet A.: La Jeunesse de Napoleon. Paris 1897.
2. Coston: Biographie des premieres annees de Napoleon Bonaparte.
Paris 1840.
3. Fournier A.: Napoleon I. Eine Biographie. Wien^Leipzig 1913.
4. Jung: Bonaparte et son temps d'apres les documents inedits. Paris.
5. Kircheisen F. M.: Napoleon, sein Leben und seine Zeit.
München 1911.
6. Kirch eisen G.: Die Frauen um Napoleon. München 1912.
7. Landsberg Hans: Napoleons Briefe. »Das Museum«, Berlin 1906.
8. Lucien Bonaparte: Memoires, herausgegeben von Jung.
9. Märtel Tancrede: Napoleon Bonaparte Oeuvres litteraires.
Paris 1888.
10. Masson F.: Napoleon dans sa jeunesse. Paris.
11. Masson F.: Napoleon et sa famille.
12. Masson F.: Napoleon zu Hause <übersetzt von Biberstein).
Leipzig.
13. Masson et Biagi: Napoleon, Manuscripts inedits.
□ □ □
382
John T. Mac Curdy
Die Allmacht der Gedanken und die Mutterleibs=
phantasie in den Mythen von Hephästos und einem
Roman von Buhver Lytton.
Von JOHN T. MAC CURDy <Wards Island, New^york).
F reud hat vielleicht keinen wichtigeren Einzelgrundsatz als Resultat
seiner psychoanalytischen Durdiforschung der Psychoneurosen
und Psychosen ausgesprochen, als den, daß in unserem Innern
zwei Gegner ununterbrochen miteinander ringen, die er »Lust-« und
»Realitätsprinzip« genannt hat. Die strengen Anforderungen der
Umwelt versagen uns die Erfüllung vieler, ja vielleicht der meisten
unserer tiefsten Wünsche, ohne doch imstande zu sein, sie völlig zu
vernichten. Das unerfüllt gebliebene Begehren drängt unausgesetzt
nach Äußerung, die ihm wegen seiner antisozialen oder unmorali¬
schen Tendenz verwehrt werden muß. Doch gibt es zweierlei Mög¬
lichkeiten, eine indirekte Befriedigung zu erlangen: Der Wunsch
kann eine symbolische Erfüllung finden, wie zum Beispiel, wenn ein
Sdioßhund oder irgendein Steckenpferd all die Liebe empfängt, die
sonst in der Brust eines kinderlosen Weibes aufgehäuft bleiben
müßte,- das Begehren kann aber auch in einer Phantasie gestillt
werden, wenn die Einbildungskraft die verbotenen Genüsse in dra¬
matisierter Form vorzaubert. Die durch den ersten dieser beiden
Auswege erreichbare Befriedigung steht im Verhältnis zu dem Grade,
in welchem der Affekt von seinem ursprünglichen Gegenstand auf
das Symbol übertragen werden konnte, das heißt, sie wird um so
ausreichender, je mehr Gleichwertiges der Ersatz zu bieten vermag,-
im anderen Falle hängt sie von der Lebendigkeit ab, mit der das
Begehren in der Phantasie dargestellt erscheint. Auf solche Weise
könnte ein vollständiges Sich-Ausleben erzielt werden, wenn das
kritische Urteil nicht den Mangel an Realität bemerken würde. Für
das Kind, den Wilden und bis zu einem gewissen Grad den Dichter,
existiert die strenge Wirklichkeitstreue nicht, die der Existenzkampf
dem herangewachsenen, zivilisierten Manne aufnötigt. Daraus entsteht
der fortwährende Kampf zwischen dem symbolischen und der Phan¬
tasie zugekehrten Denken auf der einen und der Lebenswirklichkeit
auf der anderen Seite. Die Entwicklung von der Kindheit zum
Mannesalter, vom Wilden zur Zivilisation besteht tatsächlich in nichts
anderem, als in der fortschreitenden Anerkennung der Realität und
der Anpassung daran. Keiner der beiden sich befehdenden Teile
kann jemals vollständig über den anderen triumphieren. Wenn die
unbewußten Strebungen erlöschen würden, müßte das Leben seines
stärksten Antriebs verlustig gehen, aber immer gibt es auch
»das eigensinnige Fragen
Nach einem Sinn, an dem die Dinge sich da draußen binden,
Die uns entfallend in das Nichts hinüberschwinden.
Die Allmacht der Gedanken und die Mutterleibsphantasie etc.
Das nachte Mißtrauen einer Kreatur
Die eine Welt durchwandert, nicht erkennt
Und tiefes Sehnen, das die sterbliche Natur
Nur zitternd, wie ein Schuldiger den Richter nennt.«
Wenn dieses »tiefe Sehnen« zu stark wird, bricht das Ver¬
ständnis der Realität an einem oder mehreren Punkten nieder und
an die Stelle der richtigen treten symbolische Wertungen, aus denen
sich die Symptome der Neurosen oder Psychosen bilden.
Es gibt eine Form einer solchen Realitätsverfälschung, die von
einem Patienten Freuds, einem Zwangsneurotiker, »Allmacht der
Gedanken« genannt wurde. Es ist dies ein Geisteszustand, in welchem
das Individuum vermeint, daß seine bloßen Gedanken unwiderstehliche
Gewalt besitzen,* er fühlt, daß eine Handlung, an die er‘nur gedacht
hat, bereits vollzogen ist,* ein Feind wird z. B. dadurch wirklich
geschädigt, daß man ihm Übles wünscht. Diese Vorstellungsweise
bildet die Grundlage für viele magische Zeremonien, so, wenn ein
Bild desjenigen Menschen zerstört wird, den der Zauberer umbringen
will/ tatsächlich haben die meisten Flüche für die Gedanken des¬
jenigen, der sie hervorstößt, nur soweit Wirksamkeit, als er an die
Allmacht seiner Gedanken glaubt. Wenn wir uns schuldig fühlen,
weil wir jemandem linglüdc gewünscht haben, so kommt das daher,
daß wir unbewußt glauben, unsere Gedanken hätten ihn verletzt.
Nun steht dieser Phantasie*Typus im allerschärfsten Gegen*
satz zum Realitätsprinzip und von Ferenczi 1 stammt eine meistere
hafte Untersuchung der Entwiddungsstufen des Wirklichkeitssinnes,
der immer mehr und mehr siegreich die Allmacht der Gedanken
bekämpft. Es ergibt sich selbstverständlidi, daß die ersten Kindheits¬
jahre diesen Glauben stärker aufweisen, als die späteren. Die Psycho*
analytiker sind dazu gelangt, es nahezu als ein psydiologisches Gesetz
anzusehen, daß jede geistige Verirrung im Leben des Erwadisenen
etwas wiederholt, was in einem vorangegangenen Stadium der Ent*
widdung normal gewesen war. Es ist daher nicht überraschend, daß
der Glaube — man könnte sonst sagen die Ausübung — der All*
macht der Gedanken stärker wird, je weiter man beim Studium der
geistigen Einstellung des Individuums in seiner Entwiddung zurüdt*
greift. So zeigt Ferenczi, daß das Kind in utero sich tatsächlich
eines Zustandes erfreut, in weldtem seine Bedürfnisse gestillt werden,
bevor es an sie zu denken vermag,* das wichtigste für sein Wohl*
befinden, Wärme, Schutz und Nahrung stehen ohne eine Anstren*
gung von seiner Seite bereit,* es braucht nicht einmal zu atmen. Die
Umgebung ist zu dieser Zeit keine feindlidie Macht, der er sich an*
passen muß, sondern sie unterwirft sich seinen Wünschen. Die wil*
deste Phantasie des erhabensten Herrschers könnte die Vision einer
solchen dienstbereiten Umgebung nicht heraufbeschwören. Vor der
Heft 2.
1 Ferenczi, Internationale Zeitschrift für ärztliche Psychoanalyse. Jahrg. I.,
384
John T. Mac Curdy
Geburt existiert der Kampf ums Dasein — Realität — noch nicht.
Doch selbst nach seiner gefährlichen Fahrt in die Außenwelt kann
er nicht so bald
»Die Herrlichkeit vergessen, die er kannte
Und jenes Kaiserschloß, aus dem er kam.«
Auch nach der Geburt beherrscht es noch seine Umgebung.
Seine Mutter und seine Pflegerin bieten alles auf, zunächst um so
genau als möglich den wundervollen Aufenthaltsort, den es verlassen
hat, nachzuahmen, indem sie ihn in warme Dechen hüllen und seine
Augen gegen das Licht schützen,- später, indem sie sein Geschrei
und seine Bewegungen als Befehle nach Nahrung oder anderen An¬
nehmlichkeiten deuten und ihnen gehorchen. Seine Gedanken sind
noch immer allmächtig. Mit Verlauf der Zeit werden die Ansprüche
der Realität dringender und das Kind lernt, daß es selbständig
handeln muß. Doch während einiger Jahre dauert, wenngleich die
Macht über die Umgebung ständig nachläßt, noch immer der Zustand
an, daß seine Wünsche und Bedürfnisse, sobald es sie äußert, auto¬
matisch befriedigt werden.
Wenn der Kampf mit der Realität, das dringende Bedürfnis nach
Anpassung, schärfer wird, so erwacht eine Tendenz zur Rückkehr
zu jenem Entwicklungszustand, wo die Umgebung der Diener, nicht
der Herr war. In jenen Psychosen, wo Symbole zum direkten Aus¬
druck gelangen, finden wir ausreichende Beweise, die hier nicht mit¬
geteilt werden können, daß der Patient in seiner Einbildung in den
Mutterleib zurückkehrt. Das normale Individuum sucht Erleichterung
in Träumen, Mythen und anderen Phantasiebildungen, die nach dem
Muster des Traumes gebaut sind, doch stets in der Ausdrucksform
des Symbols. Die Psychoanalyse und die alltägliche Sprachgewohn-
heit lehren uns, daß die Erde ein Symbol für die Mutter ist —
Mutter Erde. Daher kann natürlich jedes Loch und jede Höhle in der
Erde die Höhlung des Mutterleibes darstellen, in der das Kind sich
vor der Geburt auf hielt, oder, wie der Psalmist sagt: ». . . da ich
in Heimlichkeit geschaffen wurde und seltsamlich ausgeformet in den
tiefsten Teilen der Erde.« Jede Symbolik wird im wesentlichen in
der Kindheit bestimmt und wir müssen uns deshalb mit den Theo¬
rien, die sich das Kind über den Ursprung des Lebens bildet, ver¬
traut machen. Wahrscheinlich weiß es dank seiner Erinnerungen
an die eigene Geburt, daß es aus dem Leib der Mutter gekommen
ist. Es betrachtet den Bauch als eine große Höhle und schließt auf
ihren Inhalt nach dem, was es aus dieser Höhle herauskommen
gesehen hat. Daher stehen infantile Geburtstheorien mit Wasser
<Urin> und Fäces in Zusammenhang. So wird der Ort, aus dem das
Kind herkommt, die Kloake. Im Besitz dieser Auffassung können
wir verstehen, wieso jeder dunkle, abgeschlossene Ort den Mutter¬
leib im Traum symbolisch darstellen kann und warum in den My¬
then aller Nationen der Held als Kind stets im Wasser gefunden
Die Allmacht der Gedanken und die Mutterleibsphantasie etc.
385
oder daraus hervorgeholt wird. Wenn wir diese Symbolik annehmen,
sehen wir, daß ein Gott oder Geschöpfe, die ein Dasein unter dem
Wasser oder der Erde führen, dadurch symbolisch als im Uterus
lebend dargestellt werden. Es ist meine These, daß solche Personen
in den Phantasieprodukten leicht mit der Allmacht der Gedanken
ausgestattet werden können.
Bevor wir zur Erörterung der Hephästos* und anderer Mythen
übergehen, ist es notwendig, ein immer wiederkehrendes Symbol
für aas intrauterine Dasein zu erwähnen. Unsterblichkeit kann eine
verstandesmäßige Überzeugung sein, aber als solche ist sie niemals
angeboren. In unserem Unbewußten sind wir unsterblich und selbst
im Bewußtsein unfähig, die Vorstellung des Verlustes unserer Per*
sonsidentität ganz zu erfassen. Doch führen offenbar sowohl Geburt
wie Tod irgendeinen Wechsel in uns herbei. Was ist natürlicher,
als daß das Dasein vor der Geburt und nach dem Tode als idem*
tisch angesehen wurde? Wirklich hat die Psychoanalyse gezeigt, daß
der Tod ein Symbol der Existenz im Mutterleib ist und die Dichter
erzählen uns unaufhörlich dasselbe. So sagt z. B. Shelley:
»Das Kind hat Friede im Mutterleib,
Im Grab die Leiche ruhigen Verbleib,
Wir beginnen bei unserem End'.«
Und im Buche Hiob lesen wir: »Nackend bin ich aus meiner Mutter
Leib gekommen und nackend werde ich dahin zurückkehren.«
Ich habe die Hephästos-Mythen untersucht, weil sie geeignet
schienen, den Nachweis für den Zusammenhang zwischen der All-
macht der Gedanken und dem Leben in einem Aufenthaltsort unter
der Erde <d. h. in symbolischer Ausdrudksform, Leben im Mutter*
leib) zu liefern,- doch soll auch auf die analoge Assoziation der
beiden in anderen Mythen Bezug genommen werden. Damit ist
keineswegs Anspruch auf erschöpfende Behandlung des Themas
erhoben und die wenigen verstreuten Beispiele, die den Geschichten
von Hephästos hinzugefügt sind, werden nur zur Bestätigung der
Theorie angeführt, daß im unbewußten Seelenleben die beiden Vor*
Stellungen sehr innig miteinander verlötet sind.
Hephästos war, wie der nordische Loki und der indische Agni,
der Gott des Feuers, er war auch ein Schmied, der Qberwacher
des Blitzes und der Gott der Fruchtbarkeit. Ein Sohn der Hera
und des Zeus,- jene warf ihn während eines Streites mit dem Gemahl
aus dem Himmel und er stürzte in die See. Hier wurde er von
Thetis und den Töchtern des Okeanos beschützt, für die er eine
wunderbare Höhle, vor Gott und Menschen verborgen, erbaute.
Die Zwerge der nordischen Mythologie arbeiteten auch in Höhlen
und wir sehen, daß sie in mancher Beziehung dem Hephästos
ähnelten. Auch Agni wurde in der Höhle verborgen gehalten und
herausgeholt/ auch er suchte beim Wasser Zuflucht. Bei Thetis
verblieb Hephästos neun Jahre. Die Zahl Neun legt den Ge*
Imago III/4
25
386
John T. Mac Curdy
danken an die Schwangerschaftsperiode nahe, denn die Griechen
hatten zwölf Monate in ihrem Jahr. Rapp 1 gelangt zu der Fol*
gerung, daß die neun Jahre die Winter darstellen, wo der Blitz
im Hohlraum der Wolken verweilt. Der Ozean war nach Ursprünge
lieber griechischer Vorstellung ein Wasser oben ebenso wie ein Wasser
unten, so daß Hephästos in den Wolken oben geboren und dann
in das Wasser unten gesteckt wird und an beiden Orten sich in
einer Höhle auf hält. Ebenso bleibt Agni während der Winters in
den Donnerwolken. Nun stellt der Winter wie wir aus den Venus*
und Adonis*, Persephone*, Ishtar* und Tammuzmythen wissen,
die Zeit dar, wo die Saat in der Erde und das Kind im Mutter¬
leib wächst. Dem »Hohlraum der Wolken« gibt Shelley eine klare
Mutterleib-Bedeutung:
»Ich verlach meinen Schlaf d'rin im Cenotaph,
Aus des Regens Gewölb, wie ein Kind
Aus dem Leib, den es barg, wie ein Geist aus dem Sarg
Steh' ich auf und zerbrech ihn geschwind.«
Nicht nur bei seiner Geburt und in seinen ersten Jahren lebte
Hephästos in einer Höhle. Er war im wesentlichen eine unterirdische
Gottheit, die verschiedene Vulkane bewohnte, insbesondere in Lemnos.
Ein Sarkophag im Capitolinischen Museum zeigt ihn in einer Höhle,
tief im Gebirge drin arbeitend. Auf vielen seiner Abbildungen hat
er ein zwerghaftes gnomähnliches Aussehen, mit einem großen Kopf
und Körper und kleinen Beinen, was unzweifelhaft an das Aussehen
eines neugebornen Kindes mahnt. Seine Verbindungen mit anderen
Gottheiten weisen auch auf diese beiden Eigenschaften, Fruchtbarkeit
und Tod, hin, welche, wie wir wissen, in enger Verknüpfung mit
dem Unterirdischen stehen. Seine Gemahlin war Aphrodite, die ur*
sprünglich auch eine Todesgottheit war und eine andere Gattin, die
ihm ebenfalls zugeschrieben wurde, ist Aglaia, die dritte der Gratien.
Freuds jüngsthin veröffentlichter Aufsatz »Das Motiv der Kästchen*
wähl« hat gezeigt, daß die Ehe mit der dritten von drei Mädchen
Tod bedeutet. Es ist deshalb von Interesse zu bemerken, daß Plutos
auf den Bildsäulen in den Armen der Eirene dargestellt wird, der
dritten unter den Jahreszeiten und der Gottheit des Winters. Nun
war Plutos eine späte Personifikation gewisser Eigenschaften des
Pluto, des Gottes der Unterwelt und stellte die Macht des Goldes
vor. »In einem Fragment eines griechischen Kalenders, der im Louvre
aufbewahrt wird, ist der Aufstieg <der Göttin Persephone) als der
siebente Tag des Monates Dius datiert und der Abstieg oder das
Niedersitzen der Gottheit ist als der vierte Tag des Monates He*
phästius datiert, der sonst unbekannt zu sein scheint« 2 . Dies dürfte
auf eine ganz bestimmte Verbindung mit Pluto hinweisen. Schließ*
1 In R oschers Lexikon der griechischen und römischen Mythologie.
2 Fußnote bei Frazer, The Golden Bough: Spirits of the Corn and of
the Vine, Vol. I, p. 46.
Die Allmacht der Gedanken und die Mutterleibsphantasie etc.
387
lieh würde Rapps Deutung der Mythe von der Geburt der Paliki
dem Hephästos eine entschieden unterirdische Stellung anweisen. Die
von Zeus geschwängerte Nymphe Thalia wünschte, daß die Erde
sie verschlingen möchte. Ein Wirbel entstand und von ihm umhüllt
stieg sie hinunter. Doch als die Kinder reif geworden waren, öffnete
sich die Erde und die Paliki wurden geboren. Aus dem Vergleich
dieser Erzählung mit der Geburt des Erichthonios <der aus der Erde
hervorsprang, wo der Same des Hephästos hingefallen war) und
aus dem Umstand, daß die Paliki manchmal mit dem Hammer dar*
gestellt werden, schließt Rapp, daß Hephästus ihr Vater war.
Die Macht des Hephästos nahm zweierlei Formen an, eine
klar sexuelle und eine sublimierte. Die erste kann nach den männ*
liehen und weiblichen Attributen der Zeugungskraft eingeteilt wer*
den, die aber oft untrennbar vermischt sind, da er als Gott der
Fruchtbarkeit im allgemeinen verehrt wurde. Die Mythe von der
Geburt des Erichthonios gibt den rohesten Ausdrudc dieser väter*
liehen Stärke wieder. Auf der Frangois*Vase reitet er auf einem
Maultier mit erigiertem Glied. Ein Funken aus der Schmiede des
Vulkan <des römischen Hephästos) verursachte die Zeugung des
Caeculus. Seine Bisexualität zeigt sich bei der Geburt Pandoras.
Er formte sie, indem er Erde und Wasser zusammenmischte und
wurde so der Urerzeuger aller Frauen. Wohl wegen seines unter*
irdischen Wohnsitzes wurde er als Gatte der Aphrodite dargestellt
und als Fruchtbarkeitsgott betrachtet. Er wurde als Gott des Feuers
verehrt, dem in allen Riten primitiver Völker eine entschieden
sexuelle Bedeutung zukommt. In Lemnos wurde alljährlich ihm zu
Ehren ein Fest gefeiert. Alle Feuer blieben während neun Tagen
ausgelöscht (wieder die Zahl der Schwangerschaftsmonate)/ dann
wurde frisches Feuer auf einem heiligen Schiff aus Delos gebracht
und ein neues Leben, wie man es nannte, begann. Doch er war
auch der Gott aller Dinge, die mittels Feuer verfertigt wurden. Der
Familienvater pflegte dem Herd eine Flamme zu entnehmen und
zu Hephästos, als der Gottheit des Herdfeuers, um Fruchtbarkeit
für sein Weib zu beten.
Seine stärker sublimierten Kräfte lassen sich am besten ver*
stehen als die Materialisation und übertreibende Ausgestaltung jener
Eigenschaften, welche ihm zuerst rein symbolisch zugelegt wurden.
Seine Männlichkeit wird als physische Stärke wiedergegeben —
KQavrjQÖxeig — und in der alles verzehrenden Madit seines Feuers.
Mit dieser unterdrückte er den Fluß Xanthos, als Achilles trotz der
Hilfe Apollos und Athenes nicht gegen ihn anzukämpfen vermochte.
Er überwachte den Blitz, das schrecklichste aller Naturphänomen.
Mit seinem Beil (und hier zeigen sich wieder sexuelle Züge) schlug
er Zeus auf den Kopf und Athene sprang ins Dasein. Eine Zeich*
nung auf der Bengnot*Vase zeigt Hephästos, wie er beim Erschei*
nen Athenes mit einem Blick naiven Erstaunens und Überraschung
zurückfährt, als wäre er ein wenig ängstlidi über das, was er selbst
25 *
388
John T. Mac Curdy
getan hatte. So könnte ein Kind blicken — der eigenen Macht
unbewußt — das zufälligerweise ein Gewehr abgeschossen hat.
Doch die wirkliche Allmacht der Gedanken lernen wir an den
Werken kennen, die er schuf. Er konnte Dinge ausführen, die andere
nur phantasierten. Brunn, von dem Antlitz der Vatikanischen He*
phästos*Büste sprechend, bezeichnet als deren hervorspringendes
Charaktermerkmal »Eine ruhige Besonnenheit, welche die Schwierig*
keiten abwägt und zu bewältigen weiß«. Rapp sagt: »Was nun die
ihm zugeschriebenen Werke betrifft, die sgya 'HcpacoTov , so ist daran
festzuhalten, daß, wie die Gestalt und die Werkstatt des Götter*
Schmiedes mit ihrer ganzen Ausrüstung der Wirklichkeit des Lebens
entnommen ist, so auch seine Werke der Kunst des homerischen
Zeitalters entsprechen und durch die Phantasie des Dichters nur etwa
zur höchsten, <d. h. für den Standpunkt der damaligen Erfahrung)
denkbaren Vollendung gesteigert wurden.« Er konnte Dinge schaffen,
die selbstätig wirkten, die selbst Kraft und Sinn besaßen, d. h.
seine Gedanken handelten. Wenn er ein Ding getan wünschte, war
es schon von selbst vollendet. Sein Blasebalg arbeitete automatisch
und Homer sagt: »Er . . . nahm einen starken Stab und schritt
hinkend von hinnen,* doch Mädchen aus Gold waren zur Hand, die
eilten herbei, ihrem Herrn zur Hilfe, lebenden Mädchen ganz gleich
gebildet. Bei ihnen ist Verständnis im Herzen, bei ihnen ist Stimme
und Stärke und sie sind gewandt, wie unsterbliche Götter.« Dann
»schmiedet er Dreifüße, zwanzig an Zahl, an den Wänden der
ragenden Halle zu stehen und jedem hatte er unter die Füße goldene
Räder gesetzt, so das sie in eigener Bewegung die Versammlung
der Götter zu betreten vermochten und zu seinem Hause zurück*
kehren, ein Wunder anzuschauen.«
Er verfertigte Hunde aus Gold und Silber, die den Palast des
Alkinous bewachten. Unsichtbarkeit ist ein sicheres Zeichen der All*
macht der Gedanken, es ist die Kraft, die ohne sichtbare und daher
ohne wirkliche und körperliche Vermittlung wirkt. Hephästos sandte
in Wut über seine Vertreibung aus dem Himmel einen Thron für
Hera, der sie, als sie sich darauf gesetzt hatte, mit unsichtbaren
Banden festhielt, welche nur er allein zu lösen wußte. In der Odyssee
lesen wir, wie er Ares und Aphrodite in einem ähnlichen, listigen
Netz einfing, als jener sein Ehebett entehrte, worauf die Götter
einer zum anderen sprachen: »Der Langsame fängt den Schnellen!
Sieh, wie Hephästos, langsam wie er ist, den Ares überholt hat,
obgleich er der Schnellste der Götter ist, die der Olympus faßt,
durch seine Kunst hat er ihn festgehalten, trotz seiner Lahmheit.«
Spätere Poeten schrieben ihm die Verfertigung des Zepters und der
Ägis für Zeus zu — der Symbole der höchsten Macht in der ganzen
griechischen Mythologie. Sie sagen auch, daß er die fernhintreffenden
Pfeile des Apollo und der Artemis gemacht habe, deren Zerstörungs*
kraft wir kennen. Er schmiedete den Panzer des Herakles und dem
Peleus schenkte er bei dessen Heirat mit Thetis ein Schwert, das
Die Alimadht der Gedanken und die Mutterleibsphantasie etc.
889
überall Sieg bringt. Harmonias Halsband, das dem, der es trug,
fortwährendes Leid schuf, wurde von demselben göttlichen Schmied
angefertigt. Vielleicht die raffinierteste Entwiddung der Allmacht der
Gedanken ist die Gabe der Weissagung. Die Fähigkeit, die Zukunft
vorherzusagen, schließt die Beeinflußung der kommenden Ereignisse
in sich ein, und bedeutet noch weit Schwierigeres als die Beherrschung
der Gegenwart. Hephästos besaß diese Gabe und galt deshalb als
der Vater des Rhadamantys. Diesem wurde von späteren Autoren
der Platz des allwissenden Richters in der Unterwelt angewiesen.
Hephästos war nicht der einzige, der eine unterirdische Tätig¬
keit mit der Allmacht der Gedanken verband, noch waren die
Griechen allein im Besitz derartiger Mythen. Hades, so mächtig, daß
selbst die Götter sich seinen Beschlüssen neigen mußten, hatte einen
unsichtbarmachenden Helm, der an die Mütze der höhlenbewohnen¬
den Zwerge der nordischen Mythologie erinnert, die dieselbe Eigen¬
schaft verlieh. Als die Helden Asgards den Fenrir zu binden trach*
teten und Thor sich dreimal vergeblich bemüht hatte, stieg Skinrir
nach Svortheim hinab, wo die Zwerge eine Kette verfertigten, die
Fenrir nicht zu brechen imstande war. Sie war so zart, daß sie
zusammengerollt auf der Fingerspitze eines Zwerges Platz fand und
wog nicht mehr als Distelflaum. Sie war aus sechs Dingen zusammen¬
gesetzt: Dem Schall von Katzentritten, dem Bart auf Weiberlippen,
den Wurzeln der Steine, den Sehnen der Bären, dem Atem der
Fische und dem Speichel der Vögel. Mit anderen Worten, sie war
aus Dingen verfertigt, die nirgends bestehen, außer in der Phantasie.
Die Zwerge wurden mit demselben Abzeichen dargestellt wie He¬
phästos — dem Schmiedehammer. Loki unternahm einst eine Reise
in die Unterwelt,- da traf er einen Zwerg, namens Brok, und schloß
mit ihm eine Wette. Als Folge davon mußte dieser Brok seinen
Bruder veranlassen, eine Reihe von Gaben herzustellen, die Loki
zu den Göttern mit sich heim nahm. Als die beste von allen erach¬
teten die Äsen den Hammer Thors. Diese Waffe war so hart, daß
sie in Trümmer schlug, was immer sie traf,- fortgeschleudert kehrte
sie in die Hand zurück und konnte so verkleinert werden, daß man
sie in die Tasche stecken konnte. Dies ist vielleicht das anschaulichste
Beispiel für die Allmacht der Gedanken in der gesamten Mythologie,
Die griechischen Furien, die selbstverständlich eine unterirdische Meute
waren, besaßen so viel Macht, daß die Götter sich außerstande
sahen, ihre Rache zu verhindern. Sie schmiedeten das schreckliche
Schwert des Ajax und das vergiftete Kleid des Herakles war
Eoivvwv äfMpißXrjOXQOV. Ihre Geburt wurde der Erde <Hesiod>
oder der Nacht, oder der Erde und der Finsternis zugeschrieben.
Die unvermeidliche Verknüpfung des Unterirdischen mit der Frucht*
barkeit beeinflußte die Anschauungen der Antike unwiderstehlich und
so finden wir sie manchmal unter die Gottheiten der Fruchtbarkeit
aufgenommen. Agni, der indische Feuergott machte bei seiner Geburt
eine ähnliche Erfahrung wie Hephästos und er stand nur dem Indra
390
John T. Mac Curdy
an Macht nach. Er konnte das Schicksal der Menschen selbst in der
Welt nach dem Tode lenken. Die Figur des Prometheus gilt vielen
Mythologen als eine Variante des Hephästos. Sie haben dieselbe
Geschichte vom Himmelssturz,- sie hatten einen gemeinsamen Altar
in Athen,- beide hielten sich in der Unterwelt auf {Prometheus im
Tartarus) und beide waren mit der Feueranbetung verknüpft. Pro¬
metheus brachte das Feuer auf die Erde in einem hohlen Stab,-
damit ist der »Vrif«-Stab vorausgeahnt, den Bulwer Lytton in
der später zu erörternden Novelle beschreibt. Auch er formte Men-'
sehen aus Lehm und beseelte sie. Wie Hephästos und die nordi*
sehen Zwerge besaß er die Gabe der Weissagung. Die Ana aus
Bulwers »Das Volk der Zukunft« sind rot, ebenso Agni und
auch Mephistopheles. Hephästos, Prometheus und Satan wurden
alle drei aus dem Himmel geschleudert. In welchem Grade entspricht
die Gewalt des Teufels den Gewalten der Finsternis?
Alle Vorstellungen von rein physischer Kraft hängen wahr¬
scheinlich mit potentia sexualis zusammen. Ob die Allmacht der
Gedanken unabhängig davon entsteht oder nicht, können wir nicht
sagen, aber dieser kurze Abriß scheint doch wenigstens darauf hin^
zuweisen, daß das menschliche Seelenleben bisher Bestrebungen
gezeigt hat, die magischen Gedanken mit Mutterleib^Symbolen zu
verknüpfen. Solche Vorstellungen haben ein zähes Leben. Frazer
macht in »The Golden Bough « 1 nach Schilderung vieler Festlich^
keiten in verschiedenen Teilen Europas, bei denen Abbildungen des
Todes durch das Dorf getragen und zerstört werden, die folgende
Bemerkung: » . . . Das Wesen, das eben zerstört wurde — der
sogenannte Tod — muß als begabt mit lebenerweckender und ^er¬
höhender Kraft gedacht werden, die es der Pflanzen- und selbst der
Tierwelt mitzuteilen vermag. Daß der Figur des Todes eine leben-
schaffende Wirkung zugeschrieben wurde, wird über alle Zweifel
hinaus sicher gestellt durch den an manchen Orten beobachteten Ge*
brauch, Stücke der Strohpuppe zu nehmen und sie auf die Felder
zu bringen, um das Wachstum der Saat zu befördern, oder zur
Vermehrung des Viehstandes in die Krippen zu legen . . . Jeder,
der ein Stück der Puppe erraffen kann, bindet es um einen Zweig
des größten Baumes in seinem Garten, oder vergräbt es in sein
Feld, in dem Glauben, daß davon die Ernte besser werde . . .
Jeder bemüht sich eine Welle von dem Stroh, aus dem die Puppe
gemacht ist, zu bekommen, weil man von ihr glaubt, daß sie, in die
Krippe gelegt, den Viehstand vermehre. Oder das Stroh wird in
die Hühnernester gelegt, weil man annimmt, daß es die Hennen
hindert, ihre Eier wegzutragen und sie besser brüten läßt. Dieselbe
Zuteilung einer fruchtbarmachenden Kraft an die Figur des Todes
spricht aus dem Glauben, daß, wenn die Träger der Puppe, gleich
nachdem sie sie weggeworfen haben, mit ihren Stöcken die Rinder
The Dying God, p. 250 und 251.
Die Allmacht der Gedanken und die Mutterleihsphantasie etc.
391
schlagen, dies die Tiere fett und vermehrungstüchtig machen wird.
Vielleicht wurden die Stöcke früher dazu benützt, den Tod zu
schlagen und hatten auf diese Weise die Kraft, fruchtbar zu machen,
erworben, die der Puppe zugeschrieben wurde. Wir haben auch
f ;ehen, daß in Leipzig eine Strohpuppe des Todes den jungen
eibern gezeigt wurde, um sie fruchtbar zu machen.« So sind für
die Bauern Europas Tod und Fruchtbarkeit zusammengehörig und
eine magische Kraft an das geknüpft, was aus dem Reich des Todes
stammt.
Die Völker des Altertums haben unbewußte Befriedigung darin
gefunden, solche Mythen zu schaffen und wiederzuerzählen. Ahn**
liehen Gewinn ziehen die Bauern unserer Zeit aus der Beibehaltung
ihrer sonderbaren Gebräuche,- für den modernen Gebildeten sind
beide Auswege durchaus ungangbar, doch er kann seine innersten
Gelüste stillen, indem er sich in eine von seiner Phantasie erzeugte
Geschichte versenkt und sie niederschreibt. Bulwer Lyttons »Das
Volk der Zukunft« <The Coming Race) ist ein Beispiel für diesen
Vorgang.
Die Erzählung schildert die Abenteuer eines Mannes, der den
Weg in eine unterirdische Welt findet, wo ein Volk von ungewöhn-
lieber Macht lebt. Seine Erlebnisse dort können schnell abgetan
werden, da für den Analytiker, wie für den Autor das Haupte
interesse in den Eigenschaften jenes Volkes und der Umgebung, in
der es lebt, gelegen ist. Die Geschichte wird als Autobiographie
erzählt. Der Erzähler läßt sich durch einen tiefen, unerforschten
Schacht einer Mine hinunter in eine ausgedehnte Höhle, wo durch
einen Unglücksfall sein Gefährte getötet wird, so daß er ohne die
Möglichkeit einer Rückkehr allein bleibt. Ein Knabe, der Sohn des
Mannes, der an der Spitze der Behörden des Volkes steht, das
eine Reihe jener Höhlen bewohnt, entdeckt ihn und führt ihn in
ihre Stadt. Er wird aufgenommen, lernt ihre Sprache und studiert
viele ihrer Gewohnheiten. Alles geht so lange gut, bis zwei Mädchen
sich in ihn verlieben,- um seine Heirat mit einer von beiden zu ver¬
hindern, soll er umgebracht werden, denn nach der Ansicht dieses
Stammes würde die Vermischung mit einem so niedrig entwickelten
1 ypus wie es die »oberirdischen« Sterblichen sind, ihre Rasse ver¬
schlechtern. Er entrinnt, dank des Beistandes des einen Mädchens,
welches von ihm betört ist. Eine ganze Anzahl von Zügen weist
mit großer Deutlichkeit darauf hin, daß dieser unterirdische Aufent¬
haltsort den Mutterleib darstellt.
Wir erfahren, daß dieses Volk einst auf der Erde lebte, doch
als die große Flut kam, krochen sie in eine Berghöhle und gingen
spurlos verloren. Hier haben wir das Zusammentreffen von Wasser
mit einer Durchfahrt durch eine enge Öffnung — eine traumartige
Schilderung der Geburt. Die Haut des ursprünglichen Stammes war
dunkelrot, wohl eine unbewußte Hindeutung auf das Aussehen des
neugebornen Kindes. Einige Tiere, die diese unterirdische Welt
392
John T. Mac Curdy
durchscbweiften, hatte die Höhle selbst hervorgebracht. Der Erzähler
gelangt durch eine enge Öffnung hinein, die sich wiederum schließt,*
er entrinnt mit Hilfe eines jungen Weibes, das für seine Befreiung
sein Leben wagt, was eine recht deutliche Wiedergabe der Ereignisse
bei der Geburt ist. Die eine große Angst, der diese Menschen
unterworfen sind, ist die vor vollkommener Finsternis. <Vgl. die
gewöhnliche Bezeichnung der Geburt »das Licht der Welt erblicken.«)
Die Assoziationen mit Wasser sind ganz direkt: Sie halten an einer
Theorie fest, daß alle Menschen sich ursprünglich aus Fröschen ent¬
wickelt haben. Dies ist vielleicht ein Echo der Entwicklung aus der
amphibischen Form, Leben zuerst im Wasser und später in der
Luft. Für das Kind ist das Wasser in der Blase,* für den Erwach^
senen bedeutet es die amniotische Flüssigkeit. Nachdem sie durch
die Überschwemmung unter die Erde getrieben worden waren, hatten
sie lange gegen den Ozean zu kämpfen, bis sie es erlernten, ihn
zu beherrschen. Sie badeten regelmäßig in Wasser, daß mit Vril
<der Name ihrer Kraft) geschwängert war. Mit anderen Worten, sie
erhielten ihre Macht direkt vom Mutterleib.
Die Merkmale, die ihren Aufenthaltsort als Eingeweide oder
Kloake charakterisieren, sind ebenso schwach verhüllt wie die bisher
aufgezählten 1 . Wir lesen von den Leuten als »Gemeinschaften, die
in den Eingeweiden der Erde begraben liegen.« Das Volk nannte
sich »Ana« und dieser Name erinnert allzu auffallend an den ana^
tomischen Terminus, um als bloßer Zufall gelten zu können. Die
Vegetation war auch zum größten Teil »ein ruhiges Braun, auf
welchem das Auge mit demselben Gefühl der Erleichterung ausruht,
wie auf dem Grün der Oberwelt.« Auch mehrere Flatus-rhantasien
werden bei der Schilderung dieser Rasse erwähnt. Der Abenteurer
erwartete, daß es in dieser Tiefe unter der Oberfläche zu heiß sein
müsse, um leben zu können <Mutterleibswärme) 2 , doch er fand, daß
die ungeheure Ausdehnung der Höhle für die Erzeugung freier
Luftströmungen und häufiger Winde dienlich sei. Die Einwohner
gewannen Licht aus Gasen, Mangan oder Petroleum. Die beiden
wichtigsten Eigenschaften des Flatus — Geräusch und Geruch —
sind wie gewöhnlich in Melodie und Parfüm sublimiert,* so sagt der
Autor, daß sie »in einer Atmosphäre von Musik und Wohlgeruch«
1 Lord Lytton wies jene Charakterzüge auf, von denen Freud behauptet,
daß sie mit einer abnorm starken Entwicklung der Analerotik Zusammenhängen.
Er war sparsam bis zum Geiz, aber zur Zeit seiner stärksten finanziellen Not
brachte er sich in den Besitz mehrerer Häuser und erhielt sich darin. Seine Vorliebe
für Nettigkeit und Eleganz der Kleider machte ihn zum Stutzer. Schließlich war er
im höchsten Maße eigensinnig.
2 Wenn das Kind die Luft der Außenwelt erreicht, wird es sofort von ihrer
Kälte im Vergleich zur Wärme jenes Ortes, den es eben verlassen hat, unangenehm
berührt. Es betrachtet natürlich den Mutterleib als den Ort der intensivsten Hitze,
da es die stärkste ist, die es je kennen gelernt hat. Diese Vorstellung lebt, wie
ich an den Psychosen erfahren habe, im Unbewußten fort und hat es vielleicht
verursacht, daß Hephästos in einen Vulkan versetzt wurde.
Die Allmacht der Gedanken und die Mutterleibsphantasie etc.
393
lebten. In einer großen Halle erklang leise Musik in sanften Mo*
dulationen wie von unsichtbaren Instrumenten, die naturgemäß mit
dem Ort zusammenzugehören schien.
Worin bestand nun die Gewalt jenes Volkes, das das Licht
des Tages noch nicht geschaut hatte? Es war ein alles durchdringen*
des Fluidum, die Essenz aller kosmischen und menschlichen Kraft.
Auf den ersten Blick sehen wir, daß es mit der männlichen Zeu*
gungskraft Ähnlichkeit hatte. Es wurde »Vril« genannt,- es war in
einem hohlen Stab enthalten, der gewöhnlich als Spazierstock getragen
wurde, aber je nach Wunsch verlängert und verkürzt werden konnte
und eine wesentliche Voraussetzung für die Übung des »Vril« war
der große Daumen, der sich bei jener Rasse entwickelt hatte <beide
ithyphallische Symbole). Die Kraft zeigte sich manchmal als bloße
Steigerung physischer Stärke — mit ihrer Hilfe konnte ein Kind
einen normalen Mann so leicht umbringen, als ein Mann einen
Schmetterling tötet. Sie konnte Felsen durchbrechen — aber ihre
Hauptmerkmale waren die geistige Übermadit, die Fähigkeit, die
über Entfernungen und auf das Seelenleben anderer wirkt. Vor
allem war es eine Kraft, die die Dinge veranlaßte, sich von selber
zu »tun«. Diese Eigenschaften, insbesondere die letzte, bildeten
immer die Hauptzüge der magischen und der Phantasiegewalt.
Dies ist Allmacht der Gedanken, dies ist die Umgebung, die die
Wünsche des Kindes errät. So lesen wir, daß Vril aus der Ent*
fernung zerstören, heilen, einen Dampf zerstreuen oder sowohl Leib
wie Seele beeinflussen konnte. Es konnte dazu gebraudit werden,
einen Mann wie mit Elektrizität zurückzuschleudern. Wenn ein Museum
gezeigt wurde, ließ der Führer alle Gegenstände sich herumbewegen,
ebenso wie Hephästos seine Automaten. »Hier setzte sie, bloß durch
ein bestimmtes Spiel ihres Vrilstabes, selbst in der Entfernung
stehend, große und schwere Massen in Bewegung. Sie schien sie
mit Vernunft zu begaben, so daß sie imstande waren, ihre Befehle
zu verstehen und auszuführen. Sie ließ komplizierte Maschinen ihre
Bestandteile bewegen, hielt die Bewegung an oder ließ sie weiter*
gehen bis in einer unglaublich kurzen Zeit aus verschiedenen Arten
von Rohmaterial symmetrische Kunstprodukte, völlig fertig und voll*
endet, entstanden waren.« Wir haben bereits in der Hephästos*
Mythe diese weibliche Auffassung der Zeugungskraft kennen gelernt.
Wie um die Verwechslung dieser Kraft mit bloßer Muskelkraft zu
verhindern, geht der Autor gründlich auf die geistigen Eigenschaften
dieses Vril ein. Er vergleicht ihn häufig mit Mesmerismus und
erzählt, wie einer aus dem Volke ihn einschläferte, indem er bloß
den Finger gegen ihn hob. Während dieses Trancezustandes teilte
ihm sein Wirt die Kenntnis ihrer Sprache mit. Wie die Stärke des
Intellektes ist auch diese Kraft je nach dem Individuum verschieden
und die Fähigkeit, damit umzugehen, wird vererbt. Der Verfasser
sagt ganz klar heraus, daß das Geheimnis des Fliegens in der Nutz*
barmachung des Vril besteht. Z. B. konnte der Erzähler selbst nicht
394
John T. Mac Curdy
fliegen 1 wie die anderen, nicht weil sein Körper, sondern weil sein
Wille dazu nicht ausreichte.
Daß in einer erfundenen Geschichte ein Autor die Allmacht
der Gedanken einer unterirdischen Menschenrasse zugeschrieben hat,
ist interessant genug, doch ist es ebenso bedeutungsvoll, womöglich
zu bestimmen, wieso er dazu kam, eine solche Erzählung überhaupt
zu schreiben. Was konnte einen außerordentlich stark beschäftigten
Mann veranlassen, seine Zeit damit hinzubringen, daß er, während
der Tod schon vor seiner Türe stand, sich eine Geschichte zusammen«
dachte, die weder Handlung noch wissenschaftliche Möglichkeit ent-
hält, ja im Grunde nichts ist als ein Knäuel kindischer Phantasien?
Die Antwort auf diese Frage kann die Psychoanalyse geben: Durch
das Studium der Neurosen und noch viel mehr der Psychosen haben
wir erfahren, daß eine andauernde Tendenz existiert, Verpflichtungen
des Lebens und der Realität durch die Materialisation und Inkar-
nation von Phantasien aus dem Wege zu gehen. Wir wissen, daß
alle Halluzinationen und Sinnestäuschungen der direkte oder sym-
bolisdhe Ausdruck von Wünschen sind, die aus dem Unbewußten
stammen. Zu Beginn des Daseins gibt es eine ungeteilte Persönlich¬
keit — zu einer Zeit, wo zwischen Realität und Phantasie keine
scharfe Grenze gezogen wird — doch sowie gewisse Begierden des
Kindes mit den ethischen Anforderungen oder dem Nützlichkeits¬
standpunkt, der sich nach und nach entwickelnden bewußten Persön¬
lichkeit in Konflikt geraten, werden sie in ein tieferes Seelengebiet,
in das Unbewußte verdrängt, ohne doch je unterzugehen. Sie exi¬
stieren weiter, bestimmen jede unserer Affektreaktionen und formen
unnachsichtig unser Leben. Aber dieses Ventil genügt nicht. Wenn
aus den Anforderungen des Lebens Situationen entstehen, welche
eine allzugroße Anpassungsleistung erfordern, dann regrediert das
Individuum zu dem Zustand seiner ersten Kindheit und beginnt
wieder in der Welt seiner Phantasie zu leben. Wenn ihm eine
Schwäche des Anpassungsvermögens konstitutionell anhaftet, so sieht
er diese Einbildungen für reale Erfahrungen an und ist »verrückt«,-
ein Mensch mit elastischerem Charakter findet für die durch die un¬
bewußten Wünsche aufgehäufte Energie einen Ausweg, der mit der
Realität vereinbar ist. Dies kann er so tun, daß er eine niedrigere
Leidenschaft in ein höherstehendes symbolisches Äquivalent subli¬
miert, wie es z. B. der Fall ist, wenn ein Mädchen, das von seiner
Bindung an den Vater überwältigt wird, den Trieb dieser verbotenen
Liebe in den Dienst des göttlichen Vaters hinüberlenkt. Der Mann,
dem unsere gegenwärtige Untersuchung gilt, zeigt eine andere Me¬
thode. Er verwirklicht seine Wünsche in der Form eines Romans.
1 Die symbolische Bedeutung des Fliegens, das nach Ansicht der Psycho¬
analytiker häufig den Koitus darstellt, wird dadurch aufgehellt, daß vom weiblichen
Geschlecht der Sitte gemäß ausschließlich Jungfrauen ihre Flügel benützen. Bei der
Heirat wurden die Flügel über dem Ehebett aufgehängt/ symbolische Befriedigung
war nun nicht weiter notwendig.
Die Allmacht der Gedanken und die Mutterleibsphantasie etc.
395
Nun ist von allen eingebildeten Befürchtungen, unter denen
der Melancholiker und insbesondere derjenige leidet, der an senilen
Depressionen erkrankt ist, keine so allgemein als die Erwartung
des Todes,* diese wird nicht immer, doch gewöhnlich als Furcht
empfunden. Wenn wir Bulwer Lyttons Leben und »das Volk
der Zukunft« Zusammenhalten, beginnen wir einzusehen, wie eng
die Parallele zwischen den Zügen der Erzählung und den Gefühls*
Strömungen ist, die seinem Leben zugrunde lagen, und daß für den
Verfasser diese Erzählung dieselbe Lösung brachte, wie die Vor¬
stellung des Todes dem Melancholiker, der den Verstand ver*
loren hat.
Selbst wenn wir eine Biographie dieses Staatsmannes und
Schriftstellers lesen 1 , die sich fast ausschließlich mit der dem öffent¬
lichen Leben zugewandten Seite befaßt, lassen sich ausreichende
Beweise für quälende Konflikte in seinem Liebesieben finden, die
eine andauernde Rastlosigkeit und häufige Anfälle schmerzlicher De*
pression bewirkten und in »plötzlichen Ausbrüchen von überwältigen*
dem Pessimismus und tiefer Verdrossenheit« ihren Ausdruck fanden.
Seine Rastlosigkeit — ein typischer Zug im manisch*depressiven Sym*
ptombild — verursachte eine unaufhörliche, fieberische Tätigkeit, die
bis zu seinem Tode andauerte, die sich aber am deutlichsten in
seiner Jünglingszeit, bei seinem ersten Pariser Aufenthalt zeigte. Er
führte damals ein Leben der Ausschweifung in und außerhalb der
Gesellschaftskreise der heiteren Hauptstadt Frankreichs, das von Pe*
rioden wütender Arbeit unterbrochen wurde, während deren er wie
ein Einsiedler in der Abgeschiedenheit eines kleinen, verborgenen
Häuschens in Versailles lebte.
Die Ursache dieses freudlosen Daseins lag in der Bindung an
seine Mutter, die zu stark war, um die dauernde Übertragung seiner
Gefühle auf eine andere Frau zu gestatten. Er war, wie die Dinge
lagen, das einzige Kind, denn nach seinem vierten Jahre, in dem sein
Vater starb, lebte er allein mit der Mutter. Selbst während der
Lebenszeit des Vaters war die abnorm starke Zuneigung des Knaben
für den anderen Elternteil ebenso unzweideutig, wie daß er im
Vater seinen Rivalen sah. Dieser war wohl geeignet, die Rolle
eines verhaßten Eindringlings zu spielen, denn er wird als rauh,
befehlshaberisch und zornig geschildert. Daß auch er eifersüchtig war,
zeigt die Feststellung, daß »die Zärtlichkeit, mit welcher der Knabe
ihre Liebe erwiderte, durch den Verdacht, ja durch die Gewißheit
vertieft worden war, daß der strenge Vater ihm seinen übermäßig
großen Anteil an der Mutterliebe mißgönnte«. Nachdem er das Haus
seiner Mutter verlassen hatte, geriet er, sowohl in London wie in
Paris unter den Einfluß mehrerer Frauen, von denen jede an Jahren
und Erfahrung alt genug war, um seine Mutter zu sein und denen
1 Edward Bulwer, First Baron Lytton, of Knebworth. T. H.
Escott.
396
John T. Mac Curdy
er Achtung ebenso wie Neigung zollte. Seine Verliebtheit in sie
war, wie man sagt, rein platonisch, aber in einem Fall rief seine
Verehrung sehr viel Tratsch hervor. Mehr als gewöhnlich blieb der
unaufhörliche Einfluß seiner Mutter dauernd manifest. Er untere
drückte seine erste Erzählung, weil sie ihr mißfiel,* er nahm Geld
an, von dem er wußte, daß es von ihr komme, selbst zu einer Zeit,
wo er sich in Konflikt mit ihr befand,* er duldete es, daß durch ihre
Einmischung seine erste »Backfischliebe» abgeschnitten wurde, indem
sie ihn aus der Nachbarschaft, wo seine Braut lebte, entfernte,* ihre
Gegnerschaft verzögerte erst seine Heirat und später machte ihre
Kritik seiner Gattin den tiefsten Eindruck auf sein Gemüt und trug
viel zu jener Disharmonie bei, welche die Scheidung veranlaßte,*
schließlich, nach ihrem Tod gab er den Namen seines Vaters auf
und behielt nur den seiner Mutter, Lytton. Sie war offenbar ein
zur Herrscherin geborenes Weib, wohl geeignet, die infantile Theorie,
nach der das Weib ebensolche Organe besitzt, wie der Knabe selbst,
zu bestärken. Auch sein Weib, in das er sich auf den ersten Blick
verliebte, spielte bei diesem Zusammentreffen den angreifenden Teil,
indem sie ihn öffentlich lächerlich machte,* auch war sie sowohl der
äußeren Erscheinung wie der Erfahrung nach älter als er. Seine
Liebe zu ihr währte nicht lange und es ist recht wahrscheinlich, daß
seine Heirat nur einen Versuch darstellte, sich aus den Banden, die
ihn an die Mutter knüpften, zu lösen. Nach neun Jahren des bitter*
sten häuslichen Kriegs trennte er sich von seiner Frau und lebte
von da an nur der Freundschaft mit Männern. Da er so lange die
masochistische Rolle im Verhältnis zu seiner Mutter gespielt hatte
<das ist die passive sexuelle Rolle, der das Beherrschtwerden und
selbst Grausamkeit willkommen ist), ist es nicht überraschend,
daß er zuletzt zur psychischen Homosexualität neigte. In seiner
Kleidung war er stets weibisch und er trug sein Haar noch lang,
auch als dies nicht mehr Mode war. Sein Masochismus zeigte
sich in seiner außerordentlichen Empfänglichkeit gegen Kritik, wäh*
rend die ergänzende sadistische Strömung in der Schärfe seiner
literarischen Angriffe manifest wird, sowie auch als Reaktionsbildung,
in seinem Absdieu gegen die Jagd. In seiner Bemühung, das Be*
gehren nach Zufügung von Schmerzen verdrängt zu erhalten, wurde
er abnorm empfindlich gegen alles Leiden und äußerst mitleidig.
Mit einer solchen Veranlagung wäre eine vollkommene An*
passung an irgendeine Umgebung unmöglich gewesen, und das
Glück, das er fand, bestand nur in einer Flucht in die Arbeit. Be*
denken wir, daß der Mann, der »Das Volk der Zukunft« schrieb,
außer seinen lebenslangen Leiden auch noch den Verlust der Ge*
sundheit und die Aussicht auf den nahenden Tod zu ertragen hatte,
so läßt sich nichts natürlicher erklären, als daß er auf jedem Weg,
der mit geistiger Gesundheit vereinbar war, zu jener Zeit zurück*
strebte, wo Phantasien Tatsachen waren, daß er den Tod seiner
Schrecken beraubte und ihn mit Frieden und höchster Macht be*
Die Allmacht der Gedanken und die Mutterleibsphantasie etc.
397
gabte. Dies waren die unbewußten Motive, die ihn zur Abfassung
seiner Geschichte trieben.
Keine tiefere Neigung kann bestehen, ohne daß nicht bewußt
oder unbewußt ein Streben nach physischem Ausdruck wach wird.
Zwischen Eltern und Kind jedoch schließt die Inzestschranke die Er¬
reichung dieses Zieles bei alten aus, die ein etwas höheres moralisches
Niveau erreicht haben. Ein häufiges Resultat der hieraus folgenden
Verdrängung der Inzestliebe ist die Verdrängung der Heterosexualität
überhaupt. Der Geschlechtsverkehr wird an und für sich als Aus*
Schweifung und Sünde betrachtet. In »Das Volk der Zukunft« finden
wir daher, daß kein unerlaubter Geschlechtsverkehr stattfinde, und
daß die Menschen dort kein Fleisch essen — eine symbolische Ver¬
drängung der fleischlichen Begierde. Der Autor fühlt sogar, daß in
der leidenschaftlichen Elternliebe etwas unheiliges liege, denn er sagt,
»die Neigung zum Nachwuchs nimmt die Gestalt von Mitleid und
Zärtlichkeit gegen alles was Hilfe und Schutz bedarf an und äußert
sich nicht als tierische Liebe gegen ihre Sprößlinge«.
Für das Kind ist die Mutter eine allweise Beschützerin,
mächtig und doch gütig,* sie wird, wie die Psychoanalytiker glauben,
gleichzeitig männlich und weiblich vorgestellt und ist deshalb rätsel¬
haft und unverständlich. Wir finden nun alle Bewohner jenes seit*
samen Landes bartlos, von übermenschlicher Statur <die Größe der
Eltern, nach welcher die Riesen im Märchen geformt sind) und mit
einem sphinxhaften Ausdruck im Antlitz. »Es schien, als ob eben
in dieser Güte und Sanftmut das Geheimnis des Schreckens be*
stünde, den die Gesichter erweckten.« Wer Freuds »Eine Kind*
heitserinnerung des Leonardo da Vinci« kennt, wird verstehen,
wie gut diese geheimnisvolle, bisexuelle Figur der klassischen
Kunst und Mythe die Mutter*Imago vertritt. Erinnerungen an
die mütterliche Zärtlichkeit werden durch folgende Episoden wieder*
gegeben: Ein Kind lindert seine Schmerzen, indem es auf seine
Stirne haucht, worauf es in eine ruhige Betäubung und schließ*
lieh in Schlaf verfällt. Einer der Ana legte seine linke Hand auf
seine Stirne und berührte seine Schulter mit dem VriLStab.
Darauf — »an Stelle des früheren Schredcens nahm mich ein Ge*
fühl der Zufriedenheit, der Freude, des Zutrauens in mich selbst
und in das Wesen, das vor mir stand, ein.« Als Ärzte waren in
diesem Lande nur Frauen tätig, insbesondere verwitwete und kinder*
lose. Die Frauen waren alle feinfühliger und klüger, größer, stärker
und vermochten den Vril besser zu beherrschen. Das Werben war
ausschließlich auf ihrer Seite, weil die Natur der Frauen liebevoller
ist. Das wenige, was die Geschichte an Handlung enthält, sind die
Liebesangelegenheiten des Abenteurers. Er wird von zwei Frauen
f ^eliebt,- die eine ist die imponierendste und weiseste unter allen
ungfrauen ihres Stammes. Er erklärt keine Gegenliebe empfunden
zu haben, aber durch das liebevolle Entgegenkommen eines weit
schwächeren Geschöpfes, der Tochter des an der Spitze der Behör*
398
John T. Mac Curdy
A f
•fk
den stehenden Mannes, wurde sein Herz gerührt. Diese zweite stellt
wohl die Frau des Dichters dar, die nach der Geschichte die schwache
Rivalin seiner geistig hervorragenden Mutter war. Die Inzestvor*
Stellung der Verbindung mit irgendeiner aus diesem »Muttervolk«
wird augenscheinlich rationalisiert durch das Verhalten des Stammes
gegen eine Heirat mit dem Helden der Geschichte, die von ihnen
als unerlaubte Artvermischung angesehen wurde. Die Unerreichbar*
keit der Mutter wird durch die Eigenschaften der stärkeren der
beiden Bewerberinnen ausgedrückt. Er fühlte, daß er sie wegen ihrer
größeren sittlichen und intellektuellen Stärke nicht lieben könne. Der
Vergleich trifft noch besser zu, wenn wir hören, daß sie ihn durch
einen engen Spalt, den sie herstellen ließ, auf die Erde zurücksendet
und seinem Entkommen mit Gefahr des eigenen Lebens behilflich
ist. Beim Lebewohlsagen »küßte sie mich leidenschaftlich auf die
Stirne, doch mit der Leidenschaft einer Mutter«. Er gibt schließlich
<dem Leser) zu, daß er sie liebte und nach seiner Rückkehr auf die
Oberwelt hinderte ihr stets vor seinen Augen stehendes Bild jede
spätere Heirat.
Wie es von einem Land, wo die Frauen die erste Rolle
spielen, zu erwarten steht, bedeuten die Väter nicht viel und werden
nicht oft erwähnt. Der Dichter beseitigt also auf negativem Wege
seinen ersten Rivalen, indem er ihn als so gut wie nicht vorhanden
behandelt. Die Anspielungen, die wir finden, sind rein symbolisch
eingekleidet. Das Volk lebt in vollständiger Abwesenheit der Sonne
— ein Phänomen, das eine so natürliche Konsequenz ihres unter*
irdischen Lebens bildet, daß seine häufige Erwähnung auffallen muß.
Einmal ist er Zeuge, wie ein kleiner Knabe auszieht, um einen
Drachen <ein anderes archaisches Vatersymbol) zu töten, was eine
ebenso naive Wunscherfüllung ist, wie sie in irgendeinem Märchen
vorkommt. Von der Religion dieses Volkes wird mehreremale
gesprochen. Sie glaubten an einen Gott, den sie den Allgott nannten
— hielten aber seine Existenz für unzweifelhaft und ließen sich nie
durch religiöse Fragen beunruhigen. Sie waren ethisch, aber ihre
Ethik hatte mit dem Glauben an Gott nichts zu tun. Dies war,
wenn wir seinem Biographen Glauben schenken dürfen, ganz genau
die Überzeugung von Lord Lytton 1 .
1 Die Sprache des Volkes war eine Kindersprache. Sie bestand aus ono*
matopoetisdien Silben. Zwei davon können vom Standpunkt der Symbolik intern
essieren. Pu war ein Prefix, das Ekel bedeutete — »eine Äußerung, bei welcher
man den Athem mit Gewalt aus den Lippen stößt« (flatus). Der Buchstabe Z
— ein Laut, der entsteht, wenn man den Athem einzieht — bezeichnet etwas,
was anzieht und gefällt, vielleicht unter Beziehung auf fellatio. Es kann nicht über-'
raschen, daß der Name des majestätischen Wesens, das so leidenschaftliche Liebe
für ihn empfand, — Zee lautete. Die erste Berührung des Kindes mit der Mutter
ist an ihrer Brust und Freud führt die Benützung des Mundes bei gewissen Per*
Versionen auf die Fixierung des Säuglings an diese erogene Zone zurück, weil die
Betätigung dieser Zone die höchste sexuelle Befriedigung gewährt.
Die Allmacht der Gedanken und die Mutterleibsphantasie etc.
399
Für das Kind bedeutet die Familie die ganze Welt. Wir
erfahren deshalb, daß in diesem Stamme die Regierung auf der Basis
des Familienlebens gebildet und durchgeführt wurde. Sie empfanden
eine tiefe Verachtung für die Demokratie, auf welche der Dichter
mehrere Male zu sprechen kommt. Nun begann Bulwer Lytton
sein öffentliches Leben als Whig und endete als enthusiastischer
Konservativer. Mit anderen Worten, er ersehnte die Herrschaft
der wenigen, begünstigten Familien — der englischen Aristokratie.
Durch unsere psychoanalytische Erfahrung haben wir hin*
reichende Zeugnisse dafür gewonnen, daß der Tod ein Symbol für
die Rückkehr in den Mutterleib ist. Welches Zeugnis haben wir
nun dafür, daß sich die Ana des Friedens des Todes erfreuten?
Wieder und immer wieder wird die Ruhe dieses Volkes erwähnt.
Infolge ihrer Allmacht hatte jeder Kampf aufgehört und ein Zustand
sich entwickelt, der ganz genau der Vorstellung der Alten von dem
Leben nachher gleicht:
'O/Jßia ö’äjTavteg ciloa Ivöljzovov tsXsvxdv
xai acbjjia fisv jtävrcov ijrerat ftavaTco jtegiodevsi
gcoöv ö’eti Xefozevai aicovog eiöcokov. Tö ydg satt fiovov
ix Oecov, evdei di jragaaaövtcov /uehecov, di rag svöovteaoiv iv
jrokXotg öveigoig
dsixvvoi Tsgjtvcov iy&gjioiaav yaXsjvtiv rexglotv. 1 <Pindar.)
So verlief ihr Leben. Sie kannten nichts dergleichen wie Wett*
bewerb, in welchem Sinne immer,- niemand war hilflos oder ver*
lassen,- sie arbeiteten wenig und ohne Anstrengung, weshalb sollten
sie auch? Nichts konnte den ruhigen Ernst ihres Lebens stören, da
der bloße Wunsch des Schwächsten unter ihnen wunderbare Lei*
stungen vollbringen oder ganze Armeen vernichten konnte. Sie sehen
in den Kämpfen der Oberwelt nichts herrliches, sondern nur beein*
trächtigte Klarheit des Urteils und nutzlose Bemühung. Noch mehr,
sie fürchteten den Tod nicht, und Begräbnisse waren eine fröhliche
Feier, bei welcher »die Begräbnishymne Geburtslied genannt wurde«.
Sie behandelten den Tod als nichts anderes, als einen Eintritt in
ein neues Leben. Das eben bedeutet der Tod für das unbewußte
Seelenleben. Er ist nicht das Auslöschen der Persönlichkeit und die
erbarmungslose Zerstörung lang gehegter Pläne. Er ist die Erfüllung
eines stolzeren Traumes, als ihn unser Bewußtsein fassen kann, in
unserem Zustand von Bedrängtheit durch die mitleidlosen Wirklich*
keiten des Daseins. Doch wenn die melancholischen Jahre die Zeit
heranbringen, wo »der Böse von seinen Taten abläßt und der Müde
1 Das Schicksal löst am Schluß die Mühen aller
Dem starken Tod folgt jeder Menschenleib
Doch lebend bleibt des Daseins Widerbildnis, das allein
Von Göttern stammt/ es schläft, von Nicht'gem frei,
Doch zeigt es eingehüllt in seine Träume
Der Lust Gefolgschaft und dem Leiden Deutung.
400
John T. Mac Curdy
Ruhe findet« oder wenn sich Lytton von dem Gedränge der großen
Welt abwendet, um in dieser Phantasie von einem neuem Leben
zu schwelgen, dann entsteht der Wunsch zu jenem Zustand ruhiger
Allmacht zurückzukehren, den sie einst im Leibe oder in den Armen
der schützenden Mutter genossen, den Himmel wiederzufinden, den
sie einst kannten.
Diese kurze Skizze zeigt, was die Psychoanalyse für unser
Verständnis mancher bisher ungelöster Probleme leisten kann. Wir
lernen zuerst den Sinn gewisser Symbole kennen und wenn wir
unsere Kenntnis auf die Mythen anwenden, vermögen wir ein*
sehen, warum ihre Helden gewisse Eigenschaften haben, deren
Existenz und Zuteilung sonst nur auf den Zufall zuruckgeführt
werden könnte. Wir lernen auch verstehen, wieso die Verfassung
einer phantasierten Erzählung das Innenleben des Dichters auszu*
drücken und seinen unbewußten Begierden einen Ausweg zu schaffen
vermag. Schließlich gewinnen wir Einblick in eines der Geheimnisse
der Kunst. Wir lernen, woher es kommt, daß Mythen Jahrhunderte
hindurch von Alt und Jung noch immer eifrig gelesen wurden, als
schon Jahrhunderte seit ihrer ersten Niederschrift vergangen waren,*
und wir können einige Einsicht in die Anziehungskraft gewinnen,
die gewisse Werke auf uns alle üben — eine Anziehungskraft, die
der gewöhnlichen intellektuellen Kritik spottet. Solche künstlerische
Leistungen wirken auf uns, weil sie den Ausdruck von Wünschen
darstellen, die im eigenen Unbewußten heimlich fortglimmen. Auch
diese Arbeit hier ist so entstanden, daß der Verfasser sich veranlaßt
sah, »Das Volk der Zukunft« zu lesen, um es zu erklären, warum
ein sonst literarisch recht interesseloser Zwangsneurotiker davon einen
so tiefen Eindruck erhalten hatte. Er konnte die Lächerlichkeit des
Lebens und der Situation der »Ana« einsehen und doch konnte er
sich nicht davon zurückhalten, mir fortwährend von dem Buch zu
erzählen/ die Erinnerung daran verschaffte ihm offenbar eine große
Befriedigung, wie ihr häufiges Auftauchen im Verlauf freier Asso*
ziationen erkennen ließ. Er konnte aus dem Frieden und der Macht,
die jenes Volk besaß, Lust gewinnen, weil er sich selbst in die Rolle
der handelnden Personen einer Geschichte versetzte, die bloß aus der
Phantasie entsprungen war.
Die Psychopathologie der neuen Tänze
401
Die Psychopathologie der neuen Tänze.
Von Dr. A. A. BRILL, NeW^ork
Chef der psychiatrischen Klinik und klinischer Assistent am neurologischen Institut
der Columbia Universität 1 .
D a die augenblicklich herrschende Tanzmanie von Individuum
auf Individuum übertragen worden ist und sich immer mehr
ausbreitet, sind wir berechtigt, von einer psychischen Epidemie
zu sprechen. Solche psychische Epidemien sind wohlbekannte Vor¬
kommnisse und treten häufig im Lauf der Geschichte auf. Für den
Psychiater bedürfen sie keiner weiteren Erklärung. Wir haben alle
Fälle von Folie ä deux beobachtet und können daher leicht verstehen,
wie solche psychische Vorgänge von einem Individuum auf das
andere übertragen werden können, bis ein Ort, bis ein ganzes Land
davon ergriffen ist.
Man denke z. B. an die verschiedenen Kreuzzüge ins Heilige
Land und andere ähnliche religiöse und weltliche Bewegungen. Auch
unsere heutige Tanzepidemie ist in der Geschichte nicht neu. Vor
Jahrhunderten schon brachen in den verschiedenen Ländern Tanz¬
manien aus, und wenn sie auch nicht so verbreitet waren wie die
heutige, so erregten sie doch ebensoviel, wenn nicht mehr Aufsehen.
Und doch scheinen zwischen den alten Tanzmanien und der jetzigen
Unterschiede zu bestehen. Erstens hatten die meisten alten Epide¬
mien einen religiösen Hintergrund. Man tanzte zur Ehre Gottes.
Als Beispiele von wichtigeren Tanzepidemien will ich die von Aachen
<1374) und Straßburg <1518) erwähnen. Bei der Straßburger konnten
die Tänzer nur durch eine Wallfahrt zum Altar des St. Veit geheilt
werden. Zweitens hatten die alten Epidemien schlimmere Folgen
— viele Tänzer wurden zu Tode getrampelt, wenn sie vor Er^
Schöpfung niederfielen — und waren auf ein begrenztes Gebiet
beschränkt. Die heutigen Tänze haben nichts mit Religion zu tun
und sind an keinen Ort gebunden. Jeder, fast die ganze Welt, tanzt
heute die neuen Tänze.
Wir wollen jetzt diese über die ganze Erde verbreitete Be^
wegung, die vor zwei Jahren in den Vereinigten Staaten auf kam
und sich wie ein Lauffeuer über die ganze Welt verbreitete, untere
suchen. Wir kennen alle die Wichtigkeit, mit der sie in der Familie
und in der Gesellschaft behandelt wird. Man kann ohne Übertreibung
sagen, daß der größte Teil unserer Bevölkerung in zwei Klassen
eingeteilt werden kann: in eine, die tanzt, und in eine, die mit Ver^
gnügen zusieht. Während die große Mehrzahl das Tanzen billigt,
sind einige wenige dagegen. So haben sich gekrönte Häupter ver^
pflichtet gefühlt, Tanzverbote zu erlassen. Man kann die Bedeutung
1 Nach einem Originalartikel im New York Medical Journal vom
25. April 1914.
Imago II1/4
26
402
Dr. A. A. Brill
der Tanzepidemie auch daran erkennen, daß Preßnachrichten zufolge
sogar der Papst sich dagegen ausgesprochen und weniger tadelns*
werten Ersatz angeboten hat, und daß die meisten Religionslehrer
aller Kirchen das Tanzen scharf verurteilen. Doch die Epidemie
f :ift weiter um sich und wird allem Anschein nach immer populärer.
ohin man auch immer kommt, sei es in ein Restaurant oder in
ein Privathaus, man kann sicher sein, zu jeder Tageszeit mit den
wohlbekannten Melodien der neuen Tänze begrüßt zu werden. Neben
den Thees dansants und dem nicht authörenden Tanzen am Abend
und in der Nacht, gibt es in einigen Lokalen auch schon Dejeuners
dansants. Eine Tatsache steht ganz zweifellos fest, daß die große
Mehrzahl der Menschen, ob reich oder arm, die neuen Tänze tanzen
will, allen Einwendungen zum Trotz.
Was ist nun die Ursache und worin besteht die Bedeutung
dieses psychischen Ausbruchs? Bevor wir diese Fragen beantworten
wird es das beste sein zu hören, was einige bekannte Autoren
über das Tanzen im allgemeinen zu sagen haben. Havelock Ellis,
der dieses Gebiet am eingehendsten studiert hat, kommt zu dem
Schluß, daß die alten Tänze nichts anderes waren als Kundgebungen
des sexuellen Instinktes 1 . Er sagt: »Bei zivilisierten Völkern ist es
<das Tanzen) nicht nur ein Anreiz zur Liebe, sondern sehr oft ein
Ersatz für die normale Befriedigung des sexuellen Instinktes, indem
es etwas von dem Wohlbehagen und von der Erleichterung nach
dem Liebesgenuß gewährt. Man kann das besonders bei jungen
Frauen beobachten, die oft eine große Summe von Energie beim
Tanzen verausgaben, und sich dadurch keine Müdigkeit, sondern
ein Gefühl des Glückes und der Befriedigung verschaffen. Es ist
bezeichnend, daß junge Mädchen, wenn sie angefangen haben, mit
Männern geschlechtlich zu verkehren, gewöhnlich sehr viel von ihrem
Eifer beim Tanzen verlieren. Es ist interessant festzustellen, daß
selbst unsere modernen Tänze alten Stils einen sexuellen Ursprung
haben. So war der populärste aller Tänze, der Walzer, Ursprünge
lieh <wie Schaller, von Groos zitiert, feststellt) »der Schluß eines
komplizierten Tanzes, der die ganze Geschichte einer Liebe darstellt,
mit dem Verfolgen und Entfliehen, dem neckischen Schmollen und
Sichentziehen und der Apotheose der Hochzeit«.
Eduard Fuchs 2 sagt, daß ebenso wie Gesang und Schmuck
der Tanz ein erotischer Köder ist, und daß, ganz gleich in welcher
Form, er immer etwas Erotisches ist, das in Rhythmen übertragen
das Lieben, Werben, Zögern, Versprechen und endliche Nachgeben
darstellt. In der Tat kommen alle Beobachter zu demselben Schluß 3 .
Sie behaupten übereinstimmend, daß der Tanz einem sexuellen Zweck
dient, nicht nur bei zivilisierten Menschen, sondern auch bei den
1 Analysis of sexual impuls, p. 47.
2 Illustrierte Sittengeschichte.
3 Vgl. auch Scheuer, die Erotik im Tanze (Sexualprobleme, Januar 1911).
Die Psychopathologie der neuen Tänze
403
primitiven Völkern, den höheren Tieren und Vögeln. Kurz gesagt,
die allgemeine Auffassung geht dahin, daß der Zweck des Tanzes
ist, einen Tumeszenzzustand herbeizuführen. Daß die neuen Tänze
dasselbe Ziel haben, braucht kaum erwähnt zu werden, denn es ist
wohlbekannt, daß die Haupteinwendungen gegen sie aus diesem
Grunde gemacht werden. Die Gegner nennen sie indezent, ver¬
führerisch und sexuell erregend. Aber man darf nicht vergessen, daß
auch der alte Walzer, als er zuerst aufkam, nicht weniger Gegner
gefunden hatte. Er fand auch Widerstand, weil man ihn für unan^
ständig hielt und kein geringerer als Byron gab seinem Unwillen
in folgenden Versen Ausdruck:
Walzer, Walzer, wo Füße und Arme von Nöten,
Hoch schwingt sie das Bein, und ohne zu erröten
Läßt sie im Angesicht der Menge den Händen freies Spiel,
Zu tasten, wo sie nimmer es gewagt — Licht aus, es ist zu viel.
Die Einwendungen gegen die alten Tänze, oder gegen das
Tanzen im allgemeinen, sind nie ganz verschwunden. Viele Religions¬
gemeinschaften haben immer gegen jede Form des Tarizes geeifert.
Wenn man in Betracht zieht, was Ellis und die anderen sagen, so
sind ihre Einwendungen verständlich.
Und doch, wenn man den Walzer mit den neuen Tänzen
vergleicht, so muß man zugeben, daß ein großer Unterschied zwischen
ihnen besteht. Im Aussehen und in der Ausführung hat der »Tun*
key Trott« etwas »Wildes« und »Aufregendes«, während der
Walzer als schicklich und konventionell erscheint. Ich habe viele
Tänzer, intelligente Leute, nach dem Unterschied zwischen den alten
und neuen Tänzen gefragt, und ihre Antworten gaben im großen
ganzen wieder, was ich weiter oben gesagt habe. Sie alle hielten
die neuen Tänze mit der dazu gehörigen Musik für wild, anreizend
und aufregend, und das war der einzige Grund, weshalb sie sie dem
Walzer vorzogen. Solche Ausführungen scheinen sehr seltsam. Leben
wir doch in einer sehr weit vorgeschrittenen Zeit und da geben
gebildete und intelligente Menschen offen zu, daß sie »ganz ver¬
rückt« sind nach etwas, nur weil es primitiv ist. Ist das nicht ein
Zeichen von Rückschritt?
In der Absicht, mir darüber Klarheit zu verschaffen, besuchte
ich einige Tanzlokale. Ich muß sagen, daß ich bald ein sehr inter¬
essierter Zuschauer wurde und ich überzeugte mich sehr bald, daß
meine Freunde und Patienten recht hatten, wenn sie die Tänze als
wild und aufregend bezeichneten. Aber ich sah noch etwas, das sie
nicht ausgedrückt hatten, daß nämlich mit den neuen Tänzen mehr
Muskelanstrengung, mehr Berührung und mehr Bewegung verbunden
war. Mit anderen Worten, die neuen Tänze boten mehr Gelegen¬
heit zur Tumeszenz als die alten. Da stellte ich mir die Frage: ist das
vielleicht die Ursache für die Beliebtheit der neuen Tänze? Und dem
Satze folgend: »alles was existiert muß einen Grund haben zu
26 *
404
Dr. A. A. Brill
existieren«, fragte ich mich: befriedigt diese Epidemie, von der Tau-
sende ergriffen sind, ein Bedürfnis? Es war nicht schwer zu dem
Schluß zu kommen, daß die Tänze deutlich erotisch sind. Deshalb
mußte es auch klar sein, daß die Natur dieser Gefühlsentladung
erotisch war. Aber da die alten Tänze von derselben Art sind und
demselben Zwecke dienen, so entstand die Frage, ob ein anderer
Unterschied in der Reaktion zwischen den alten und neuen Tänzen
besteht. Mit anderen Worten, ist es wahr, daß die neuen Tänze
als stärkerer Anreiz für somatische sexuelle Gefühle wirken?
Um diese Frage zu beantworten, entschloß ich mich folgende
Fragebogen an einige hundert enthusiastische Tänzer zu versenden:
1. Haben Sie sich, während Sie die neuen Tänze tanzten, jemals
sexuell erregt? 2. Haben Sie sich jemals sexuell erregt, während
Sie den neuen Tänzen zusahen? 3. Haben Sie jemals dieselben
Gefühle gehabt, wenn Sie die alten Tänze tanzten oder ihnen zu*
sahen? Ich legte diese Fragen meinen Freunden und Patienten vor,
und bat sie, diese Auskünfte für mich von ihren intimen Freunden,
bei denen man sich darauf verlassen konnte, daß sie die Wahrheit
sagten, zu sammeln. Nach einigen Monaten hatte ich von 342 Per^
sonen Antwort, von 119 Frauen und 223 Männern. Von diesen
beantworteten 14 Männer und 8 Frauen die erste Frage mit ja,
16 Männer und 9 Frauen die zweite mit ja und 11 Männer und
6 Frauen gaben auf die dritte Frage eine bejahende Antwort. Die
16 Männer und 9 Frauen, die die zweite Frage bejahend beant^
wertet hatten, hatten auch die erste und dritte in diesem Sinne
beantwortet. Das heißt, nur 16 Männer und 9 Frauen wurden beim
Tanzen oder Ansehen der neuen Tänze sexuell erregt und von
diesen 25 erging es 9 Männern und 6 Frauen bei den alten Tänzen
ebenso. Sechs dieser Männer und alle die Frauen kenne ich persön^
lieh und weiß, daß sie sexuell sehr hyperästhetisch sind. Drei von
den Männern werden auch stark sexuell erregt, wenn sie Automobil
fahren, Radeln oder Reiten. Die anderen gehören zu der Klasse von
Leuten, die an schmutzigen Witzen und pornographischer Literatur
ihre Freude haben. Fünf Frauen standen im Alter von 35 bis
43 Jahren und waren aus verschiedenen Gründen plötzlich ohne
jede sexuelle Befriedigung. Mit anderen Worten: soweit man aus
den gesammelten Antworten schließen darf, kann man nicht sagen,
daß die neuen Tänze mehr geeignet sind, sexuelle Erregungen
herbeizuführen als die alten, wobei wir unter sexueller Erregung
somatisch sexuelle Äußerungen verstehen wollen. Was die ästhe^
tischen Gefühle betrifft, so wirken auf diese die neuen Tänze
stärker und anregender, darüber sind sich fast alle meine Gewährs¬
männer einig.
Es ist interessant festzustellen, daß die Zuschauer den größten
Prozentsatz von denjenigen stellten, die grobe sexuelle Gefühle
hatten. Selbst wenn wir uns auf die normalen Personen beschränken,
müssen wir zugeben, daß das Zuschauen beim Tanzen Vergnügen
Die Psychopathologie der neuen Tänze
405
macht. So sagt Havelock Ellis 1 : »Nicht nur das Tanzen selbst
ist aufregend, sondern schon das bloße Zusehen, und selbst bei den
Wilden haben die Tänze ein Publikum, das beinahe ebenso leiden*
schaftlich erregt wird, wie die Tänzer selbst.« Diese Bemerkung
trifft besonders auf die neuen Tänze zu, die durch ihre Neuheit
und durch ihre auf das Sexuelle anspielenden Bewegungen immer
eine gewisse Erregung bei den Zuschauern hervorrufen. Und wäh¬
rend die Anstrengung beim Tanzen beim Tänzer einen gewissen
Grad von Detumeszenz hervorruft, bleibt der bloße Zuschauer in
einem Stadium der Appetenz (Begierde), der bei hyperästhetischen
Leuten leicht zu somatisch sexuellen Gefühlen führen kann. Dafür
spricht auch die Tatsache, daß die meisten, die gegen die neuen
Tänze sind, denselben nur zugesehen und sie nie selbst getanzt
haben. Das Zusehen erzeugt ein Quantum von sexuellen Gefühlen,
das sogleich verdrängt wird, und durch einen »Abwehrmechanismus«
entsteht aus ihnen ein starker Ausbruch der Entrüstung. Das ist
natürlich ein unbewußter Vorgang. Er erklärt solche Fälle, wie den
meines Freundes S., der im vorigen Jahre gegen die neuen Tänze
wetterte, weil er sie für unzüchtig und indezent hielt und die Tat¬
sache beklagte, daß einige seiner Freunde sie tanzten. Während der
Sommerferien bekam er auch das »Fieber« und wurde ein enthu*
siastischer Tänzer. Er versicherte mir, daß er trotz aller darauf
zielenden Anspielungen niemals während des Tanzes sich irgend*
welcher sexueller Gefühle bewußt wäre. In der Tat empfinden die
meisten Tänzer nur ein Gefühl der inneren Heiterkeit und des Wohl¬
behagens. Mit Ausnahme der oben erwähnten ist mir in allen Ant*
Worten, die ich von Frauen bekommen habe, versichert worden, daß
sie trotz aller anzüglichen Bemerkungen, die sie über die neuen
Tänze gehört haben, sich beim Tanzen nie eines sexuellen Gefühls
bewußt gewesen wären. Ich muß hinzufügen, daß alle, von denen
ich die hier benützten Angaben erhalten habe, gebildete Leute sind.
Ganz zweifellos bietet die engere Berührung bei diesen Tänzen
denen eine günstige Gelegenheit, die überall etwas Geschlechtliches
suchen. So berichteten mir einige meiner Patienten, daß ihnen durch
gewisse Bewegungen ihres Partners beim Tanzen somatische sexuelle
Gefühle auf seiner Seite zum Bewußtsein gekommen seien. Aber
das kann Vorkommen und ist zweifellos auch schon vorgekommen,
bevor die neuen Tänze bestanden. Kurz, die Frage, ob die neuen
Tänze den Reiz für starke sinnliche Gefühle bieten, kann mit aller
Entschiedenheit verneint werden. Trotz anzüglicher Bemerkungen
und Anspielungen kommen da nur sexuell ganz abnorme Personen
in Frage oder solche Leute, die mit Vorbedacht starke sexuelle Er*
regungen beim Tanzen suchen.
Wenn wir den Mechanismus des Tanzes weiter untersuchen,
so finden wir, daß er im Grunde nichts anderes ist, als eine Be*
1 Loco citato, p. 49.
406
Dr. A. A. Brill
wegung in bestimmter Form. So spricht Stoll 1 vom Tanze als von
einer rhythmischen Bewegung des Körpers, die unter Begleitung von
einigen Takten Musik ausgeführt wird und dazu dient, gewisse
Affekte und Seelenzustände in mehr oder weniger konventioneller
Form auszudrüdcen. Aber es ist eine bekannte Tatsache, daß Be*
wegung in jeder Form Vergnügen schafft. Das Kind liebt es, mit
den Beinen zu strampeln und die Arme zu bewegen, und wenn es
einmal in den Schlaf gewiegt wird, so wird es gutwillig auf dieses Ver*
gnügen nicht verzichten. Kinder lieben alle Spiele, die mit einer
Bewegung verbunden sind, wie das Hochgehobenwerden und
Herumschwingen in der Luft,* das Schütteln beim Reiten hat auf
ältere Kinder einen bedeutenden Einfluß 2 . Daß Bewegung mit dem
Geschlechtsleben zu tun hat und sogar oft mit starken sexuellen
Gefühlen verbunden sein kann, ist den Forschern anormaler Psycho¬
logie wohl bekannt. Die Psychoanalyse zeigt oft, daß bei Neurasthe*
nikern diese kindlichen Vergnügen häufig verdrängt und ins Gegen*
teil »verkehrt« werden und wir finden dann Nausea als Reaktion
auf das Schaukeln und Rollen. Außerdem zeigen Analysen von
nervösen Störungen beim Gehen — wie Agoraphobie — die
sexuelle Natur der Freude an der Bewegung 3 . Ich habe viele Fälle
analysiert, die diese Mechanismen ganz deutlich zeigten. Wir können
also sagen, daß die Freude an der Bewegung eine auto*erotische
sexuelle Äußerung ist, und da die Bewegung die Grundlage des
Tanzes ist, so können wir leicht einsehen, warum sämtliche Be*
obachter das sexuelle Element bei allen Formen des Tanzes klar
erkennen. Wir können nun die Bedeutung des Tanzes im allge*
meinen und die der neuen Tänze im besonderen verstehen. Beide
dienen sie zur Abfuhr einer sexuellen Spannung und unterscheiden
sich nur in ihrer mehr oder weniger starken Wirkung. Infolge der
engeren Berührung und der größeren Muskelanstrengung bieten die
neuen Tänze einen besseren Ersatz für die normale Befriedigung
des sexuellen Instinktes und gewähren so mehr Vergnügen und
mehr das Gefühl befriedigter Liebe als die alten Tänze. Das bringt
uns auf die Ursache dieser psychischen Epidemie.
Dank dem Genie von Freud sind wir heute in der Lage
festzustellen, daß abnormale Erscheinungen, sei es in der Form
einer Neurose oder Psychose, alle das Resultat von einer früheren
geistigen und gemütlichen Verdrängung sind. Die Ursachen der
psychischen Epidemien zeigen einen ähnlichen Mechanismus. So
waren die Tanzepidemien im zwölften und dreizehnten Jahrhundert
das Ergebnis der Tyrannei der Feudalherren und der Kirche, die
das Volk lange Zeit in einem unterdrückten und elenden Zustande
1 Das Geschlechtsleben in der Völkerpsychologie, p. 581.
5 Freud, Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie, p. 54.
3 Loco citato, p. 55, und Abraham, Über eine konstitutionelle Grund*
läge der lokomotorisdien Angst. (Internat. Ztschr. f. ärztl. Psychoanalyse,
II. Jahrg., 1914.)
Die Psychopathologie der neuen Tänze
407
belassen und ihm keine Gelegenheit gegeben hatten, seinen Gefühlen
irgendwelchen Ausdruck zu verschaffen. Unsere gegenwärtige Tanz¬
epidemie ist im Grunde durch ähnliche Ursachen bedingt. Sie ist
auch das Resultat von unterdrückten Gefühlen und aus der Art,
wie sie sich äußert, muß man schließen, daß es eine sexuelle Ver*
drängung war, die nun durchgebrochen ist. Puritanische Prüderie
und angelsächsische Heuchelei haben Jahrhunderte hindurch die Rolle
des Vogels Strauß gespielt und sich geweigert, das Bestehen eines
Sexualtriebes anzuerkennen. Unwissenheit wurde mit Unschuld ver*
wechselt, und die wichtigsten Funktionen des menschlichen Körpers
wurden nicht nur ignoriert, sondern unerbittlich unterdrückt. Schon
der Gedanke an etwas Sexuelles wurde als etwas Teuflisches und
Widerliches betrachtet. Bis zu einem gewissen Maße trifft dies auch
auf das kontinentale Europa zu, doch ging es dort nie so weit,
wie hier und in England. Deswegen werden auch in Europa die
neuen Tänze viel langsamer aufgenommen. Die Frauen sind die
eifrigsten Tänzer, denn sie haben die schwerste Last unseres
Systems kultureller Entwicklung zu tragen. Die doppelte Auffassung
von Moral erlaubt den Männern gewisse Befriedigung, während
man die Tugend der Frauen so behandelt, wie der törichte Bauer
seinen wertvollen Pelz auf dem Markte: Er war nicht mit dem
hohen Preis zufrieden, den ihm die Händler boten, weil er dachte,
er könne mehr verdienen, wenn er die Haare aus dem Felle heraus*
risse und sie einzeln verkaufe. Das unausgesetzte Fortschreiten
der angelsächsischen Zivilisation mit seinen verwickelten ökonomi*
sehen Problemen findet seinen Ausdruck in einer ständigen Zunahme
an frigiden Frauen und »alten Jungfern«. Nicht nur aaß die »Sub*
limation« bis zu einem sehr hohen Grade geführt wird, die Frauen
werden auch gezwungen, akademische und andere Berufe zu ergreifen,
um mit den Männern zu konkurrieren. Die Religion, das Auslaß*
ventil par excellence für alle Frauen, verschwindet rapid. Es gibt in
Amerika und England beinahe ebenso viele irreligiöse Frauen als
Männer. Abnehmen der Religiosität bedeutet ein Zunehmen der
Nervosität. Diese Ursachen haben schon eine lange Zeit gewirkt
und da ein Ausgleich eintreten mußte, so bescherte uns England
mit den Suffragetten und Amerika mit den neuen Tänzen. Beide
haben ihren Ursprung im Gefühls* und Wirtschaftsleben, aber
beide dienen einem guten Zweck. Die Suffragetten und die Tanz*
epidemien bedeuten für das Geschlechtsleben dasselbe, wie die
Horminga brava <Feuerameise> für den Baumwollwurm <Boll
Weevil). Die erstere mag an sich nicht wünschenswert sein, muß
aber gepflegt werden, um ein größeres Übel zu zerstören. Suffra*
getten und die neuen Tänze, beide sind Kompromißbildungen, die
hervorgebracht werden durch zwei entgegengesetzte Ströme: Wunsch
und Unterdrüdcung, und sie dienen als Sicherheitsventil für eine
unterdrückte Spannung. Im kontinentalen Europa, wo man nicht so
viel Prüderie findet und die Frauen nicht zwingt Männer zu sein.
408
Dr. A. A. Brill
kann man beides entbehren. Dort gewinnen die neuen Tänze nur
langsam Boden, und erst vor wenigen Tagen wurde in Deutschland
eine Frau wegen Beleidigung verurteilt, weil sie eine andere
»Suffragette« genannt hatte. Hier sind die neuen Tänze ein Ersatz
für die normale Befriedigung des sexuellen Instinktes in der Form
der Freude an der Bewegung, sie sind in gewisser Weise mit dem
Sport zu vergleichen, der in angelsächsischen Ländern soviel ange^
wandt wird, um die Jugend von sexueller Betätigung fern zu halten,
und mit den charakteristischen Vergnügungen in unseren Sommer^
frischen. Alles das dient dazu, das sexuelle Vergnügen durch die
Freude an der Bewegung zu ersetzen und die sexuelle Tätigkeit
auf eine infantile Stufe herunterzudrücken.
Von diesem Standpunkt aus müssen die neuen Tänze als
nützlich für unser herrschendes gesellschaftliches System betrachtet
werden. In der Tat habe ich erst in der letzten Zeit etwa zwölf
Fälle von nervösen Erkrankungen gesehen, denen durch die neuen
Tänze sehr geholfen worden ist. So kann ich über eine sehr hypo¬
chondrische Frau in mittlerem Alter berichten, die Jahre hindurch
sich viermal die Woche massieren ließ, und zwar mit sehr wenig
Erfolg. Sie tanzt jetzt statt dessen ebenso oft mit großem Nutzen
und viel Vergnügen. Ferner kenne ich zwei verschlossene und
schüchterne Personen, die durch die neuen Tänze völlig verändert
sind. Sie fürchten sich nicht mehr mit dem anderen Geschlecht
zusammenzukommen und denken ernstlich ans Heiraten. Ebenso
hörte ich von einer jungen Witwe, die an deutlichen Angstzuständen
mit Phobien litt und die durch den Besuch eines Tanzzirkels sehr
gebessert wurde. Ich könnte aus meinen und anderen Beobachtungen
noch mehr solcher Fälle anführen. Mäßiges Tanzen nach dem alten
oder neuen Stil kann nur gutes tun und man sollte es empfehlen.
Ich stimme mit denen durchaus nicht überein, die behaupten, daß
es schädlich ist, die Sexualität zu erwecken usw. Meine eigenen
Erfahrungen <ich tanze nicht) zeigen mir gerade das Gegenteil. Die
neuen Tänze bieten Tausenden eine gute körperliche Übung und
ein Vergnügen und dienen außerdem als ausgezeichnete »Sub^
limation«.
Die Moralprediger aber und die übrigen, die anders über das
neue Tanzen denken, sollen beherzigen, was Lucian sagt: »Quid^
quid multis peccatur, inultum est.«
Inhalt des vierten Heftes.
Dr. LUDWIG JEKELS <Wien>: Der Wendepunkt im Leben Napoleons I.
JOHN T. MAC CURDY <Wards Island, New-York): Die Allmacht
der Gedanken und die Mutterleibsphantasie in den Mythen von
Hephästos und einem Roman von Bulwer Lytton.
Dr. A. A. BRILL <New*York>: Die Psychopathologie der neuen Tänze.
Nachdruck verboten.
IIIBIUIHII»
WIENER GRAPHISCHES KABINETT
HUGO HELLER, WIEN I„ BAUERNMARKT NR. 3
Zur Subskription ist gestellt:
SIGMUND FREUD.
Portraitradierung von MAX POLLAK.
Plattengröße 4772:47V 2 cm, Papiergröße 85:63 cm.
Es werden insgesamt nur 50 Exemplare von der Kupferplatte gezogen, und zwar
Nr. 1—25 auf kaiserlich Japan, Nr. 26—50 auf van Geldern-Bütten.
Jedes Blatt ist vom Künstler handschriftlich signiert und numeriert.
Der Subskriptionspreis beträgt für die Abzüge auf kais. Japan 100 K = 85 M.
für die Abzüge auf van Geldern-Bütten 60 K = 50 M.
Ein ausgezeichnetes Porträt und hervorragendes Kunstwerk, das auch losgelöst
vom gegenständlichen Interesse besteht und fesselt, bietet hier der treffliche Wiener Ra¬
dierer den Sammlern und Kunstfreunden. Die Aufgabe des künstlerischen Porträtisten,
den geistigen Gehalt einer Persönlichkeit auszuschöpfen und sichtbar zu machen, ist in
diesem Kunstblatte nahezu restlos gelöst.
»■■■flaBBBaaauBaHBHaaBaflaBaorBBKarB3H0aaMBBaaaHBBHaaBavB»B!iBaaHanMaH«HBBaaaBzaBBaaaaaua0aasaaa
BUCHDRUCKEREI CARL FROMME, GES. M. B. H., IN WIEN.
Inhalt des vierten Heltes.
Dr. LUDWIG JEKELS <Wien>: Der Wendepunkt im Leben Napoleons I.
JOHN T. MAC CURDY <Wards Island, New-York): Die Allmacht
der Gedanken und die Mutterleibsphantasie in den Mythen von
Hephästos und einem Roman von Bulwer Lytton.
Dr. A. A. BRILL <New*York>: Die Psychopathologie der neuen Tänze.
Nadidruck verboten.
WIENER GRAPHISCHES KABINETT
HUGO HELLER, WIEN L, BAUERNMARKT NR, 3
Zur Subskription ist gestellt:
SIGMUND FREUD,
Portraitradierung von MAX POLLAK.
Plattengröße A7 1 I^A7 1 U cm, Papiergröße 85:63 cm.
Es werden insgesamt nur 50 Exemplare von der Kupferplatte gezogen, und zwar
Nr. 1—25 auf kaiserlich Japan, Nr. 26—50 auf van Geldern«Bütten.
Jedes Blatt ist vom Künstler handschriftlich signiert und numeriert.
Der Subskriptionspreis beträgt für die Abzüge auf kais. Japan 100 K = 85 M.
für die Abzüge auf van Geldern-Bütten 60 K = 50 M.
Ein ausgezeichnetes Porträt und hervorragendes Kunstwerk, das auch losgelöst
vom gegenständlichen Interesse besteht und fesselt, bietet hier der treffliche Wiener Ra«
dierer den Sammlern und Kunstfreunden. Die Aufgabe des künstlerischen Porträtisten,
den geistigen Gehalt einer Persönlichkeit auszuschöpfen und sichtbar zü machen, ist in
diesem Kunstblatte nahezu restlos gelöst.
BUCHDRUCKEREI CARL FROMME, GES. M. B. H„ IN WIEN.