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Full text of "Imago. Zeitschrift für Anwendung der Psychoanalyse auf die Geisteswissenschaften III 1914 Heft 4 August"

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A.GO 

ZEITSCHRIFT FÜR ANWENDUNG 
DER. PSYCHOANALYSE AUT DIE 
GEISTESWISSENSCHAFTEN 



HERAUSGEGEBEN VON 

PROF. DE SIGM. FREUD 

REDIGIERT VON 
OTTO RANK U. DE HANNS SACHS 


in. JAHRGANG / 1914 
HEFT 4 / / AUGUST 



1914 

HUGO HELLER &QL 

LEIPZIG u.WIEN-1-BAUERNMARKT3 




D IE UNREGELMÄSSIGKEITEN IM ERSCHEINEN UND IM UM¬ 
FANGE DIESER ZEITSCHRIFT, WELCHE UNS DURCH DIE 
KRIEGSLAGE AUFERLEGT SIND, WOLLEN DIE P. T. ABONNEN^ 
TEN FREUNDLICHST ENTSCHULDIGEN. DAS VERSÄUMTE WIRD 
NACH WIEDERKEHR NORMALER ZUSTÄNDE NACHGEHOLT 

WERDEN. 


Für die REDAKTION bestimmte Zuschriften und Sendungen wollen an 
Dr. HANNS SACHS,Wien XIX/l, Peter-Jordangasse 76 adressiert werden. 


»IMAGO« erscheint SECHSMAL jährlich im Gesamtumfang von 
etwa 36 Bogen und kann für M. 15.— = K 18.— pro Jahrgang durch 
jede gute Buchhandlung sowie direkt vom Verlage HUGO HELLER 
'S) CIE. in Wien I., Bauernmarkt 3 abonniert werden. Einzelne Hefte 
werden nicht abgegeben. 

Auch wird ein GEMEINSAMES ABONNEMENT auf »IMA~ 
GO« und die »INTERNATIONALE ZEITSCHRIFT FÜR ARZT- 
LICHE PSYCHOANALYSE« zum ermäßigten Gesamtjahrespreis von 
Mk. 30.— = K 36.— eröffnet. 

Die wenigen noch verfügbaren Exemplare des abgeschlossenen 
II. Jahrgangs »IMAGO« werden im Preise erhöht, so daß der komplette 
II. Jahrgang nunmehr M. 18.— = K 21.60, gebunden M. 22.50 = K 27.— 
kostet. Auch vom ersten Jahrgange sind noch einige wenige Exemplare 
zu diesem Preise verfügbar. 

ORIGINAL - EINBANDDECKEN mit Lederrücken sind zum 
Preise von M. 3.— = K 3.60 durch jede gute Buchhandlung, sowie 
direkt vom Verlage zu beziehen. 


BERICHTIGUNG. 

Im vorigen Heft von »Imago« soll es S. 300, Anm. 2, statt »Her¬ 
mes 68. Bd.« richtig heißen »Philologus 68. Bd.« 



Copyright 1914. HUGO HELLER 'S) CIE., Wien I., Bauernmarkt 3. 





IMAGO 

ZEITSCHRIFT FÜR ANWENDUNG DER PSVCHCE 
ANALYSE AUF DIE GEISTESWISSENSCHAFTEN 

HERAUSGEGEBEN VON PROF. DR. SIGM. FREUD 

SCHRIFTLEITUNG: 

III. 4. DR. OTTO RANK / DR. HANNS SACHS 1914 


Der Wendepunkt im Leben Napoleons I. 

Von Dr. LUDWIG JEKELS 1 . 

Z ur Rechtfertigung des vorliegenden Versuches genügt meiner 
Ansicht nach der Hinweis auf die ungeheuere Flut von Arbeiten 
über Napoleon I./ beträgt doch nach F. Kircheisen die 
Bibliographie des Napoleonischen Zeitalters — die überdies keinen 
Anspruch auf Vollständigkeit erhebt — 80.000 Publikationen! 

Diese gigantische, kaum einer anderen Geschichtsepoche auch 
nur annähernd zukommende Ziffer weist ja darauf hin, daß hier 
Probleme und Motive in Frage kommen mögen, welche in abgründiger 
Tiefe verborgen liegen, und deshalb den selbst mit so beispielloser 
Emsigkeit betriebenen gewöhnlichen Methoden der Geschichtsforschung 
entweder vollends widerstehen oder durch dieselben nur unzuläng¬ 
lich und unbefriedigend aufgehellt werdenso, daß skh diese 
mit der wohl am tiefsten dringenden und aufschlußreichsten, der 
psychoanalytischen Methode kombinieren, ja stellenweise, an der 
Grenze ihrer Leistungsfähigkeit angelangt, der Psychoanalyse sogar 
ganz das Terrain überlassen müssen. 

Wie im Nachstehenden gezeigt werden soll, erstreckt sich diese 
Forderung in besonders hohem Maße auf die sogenannte »korsi¬ 
sche Periode« Napoleons, auf die sich die vorliegende Untere 
suchung beschränkt, und von der ohnehin schon Massen in seiner 
Vorrede zu den »Manuscripts inedits« meinte: »II faut une etude 
particuliere pour ces deux annees <septembre 1791—juin 1793).« 


I. 

Die Insel Korsika, bekanntlich das Vaterland Napoleons, 
stand seit dem vierzehnten Jahrhundert unter der Herrschaft der 


1 Nach einem am 22. April 1914 in der »Wiener Psychoanalytischen Ver~ 
einigung« gehaltenen Vortrag. 




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Dr. Ludwig Jekels 


Republik Genua, die daselbst ein hartes und äußerst drückendes 
Regiment führte,- so kam es zu unaufhörlichen Kämpfen zwischen 
den Genuesen und den von stolzem Unabhängigkeitssinn ange¬ 
feuerten Gebirgsbewohnern Korsikas. Besonders mächtig wurde die 
Empörung gegen die Fremdherrschaft im Jahre 1730, welche zu 
einem nahezu vierzig Jahre währenden allgemeinen Aufstand der 
Korsen führte. Dieser außerordentlich aufopferungsvolle, von dem 
zeitgenössischen Europa vielbewunderte Kampf der Insulaner gegen 
ihre Bedrücker gestaltete sich recht abwechslungsreich,- doch gelang 
es den Genuesern trotz mancher Siege und trotz der ihnen von 
seiten Frankreichs und Deutschlands geleisteten Hilfe nicht, die 
Korsen zu unterjochen — besonders seitdem diese Pas quäle 
Paoli im Jahre 1755 zum alleinigen Oberhaupt des korsischen 
Volkes, zu ihrem Regenten ausgerufen hatten. 

Dieser mit hoher Bildung, Umsicht, Klugheit und Energie 
ausgestattete Mann, der bei seinem Regierungsantritte das Land im 
Zustande höchster Verwilderung und Verwahrlosung vorfand, nahm 
es außerordentlich ernst mit den übernommenen Pflichten. Er säuberte 
das Land fast ganz von den Genuesen, denen nunmehr bloß einige 
befestigte Küstenplätze verblieben, führte Ordnung und gute Ver^ 
waltung im Lande ein, gab ihm eine vernünftige Verfassung und 
versetzte dasselbe solchergestalt in einen Stand, der den Zeitgenossin 
sehen geistigen Größen: Rousseau, Voltaire, Friedrich d. Gr., Mon^ 
tesquieu etc. Bewunderung abgerungen hat und ihnen die Ver- 
fassung Korsikas als nachzustrebendes Ideal erscheinen ließ. 

Als nun Paoli daran ging, auch den geringen im genuesischen 
Besitz noch befindlichen Rest des Landes zu befreien, da wandten 
sich die bedrängten Genuesen um Hilfe an die Franzosen und über¬ 
ließen ihnen die noch innegehabten Küstenplätze zur Verteidigung. 
Nachdem sie schließlich die Unmöglichkeit einsahen, das wohlbewaff= 
nete und wohlorganisierte Land jemals zurückzugewinnen, übergaben 
sie am 15. Mai 1768 die Insel in Gänze den Franzosen, wogegen 
ihnen eine Geldentschädigung zugesprochen wurde. 

Indessen ging audi die Besitzergreifung Korsikas durch die 
Franzosen nicht so glatt vonstatten. Die Korsen sträubten sich mit 
bewaffneter Hand ebenso gegen diese wie früher gegen die Genuesen, 
und führten einen heldenmütigen Kampf gegen ihre neuen Bedränger. 
Anfangs errangen sie auch einige Erfolge,- als aber die Franzosen 
bedeutende Truppenverstärkungen heranzogen, wurde Paoli genau 
nach einjähriger Dauer des Kampfes am 8. Mai 1769 bei Ponte 
Nuovo entscheidend geschlagen, und die damalige Hauptstadt Corte 
von den Franzosen erobert. 

Paoli flüchtete nach England, wo ihm gerne Gastfreundschaft 
gewährt wurde, während seine Anhänger sich den Franzosen 
ergaben. In der Abordnung, die von den Franzosen den Frieden 
erbat, befand sich als einer der Führer auch Carlo <Charles 
Marie) Buonaparte, der Vater Napoleons, der bis dahin ein 




Der Wendepunkt im Leben Napoleons 1. 


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wackerer Kämpfer für des Vaterlandes Freiheit und ein Anhänger 
Paolis gewesen war. Diese seine Gefühle teilte vollkommen seine 
Gattin Maria Lätizia, eine vom korsisdien Patriotismus durch* 
glühte, ebenso sdiöne wie energische junge Frau, die an der Seite 
ihres Mannes die Kämpfe gegen die Franzosen mitmachte, ein Kind 
unter dem Herzen — den etwa vier Monate nach dem Friedens* 
Schluß zur Welt gekommenen Napoleon. 

Korsika erhielt nun französische Verwaltung, die auch hier, 
wie überall in Frankreich unter dem Königtum, äußerst drückend 
und despotisch war — und von der Bevölkerung, die ihre De* 
mütigung und die Wunden noch nicht verschmerzt, ja vielleicht 
ihren vielhundertjährigen Freiheitstraum noch nicht ausgeträumt 
hatte, besonders hart empfunden wurde. Es gab zwar keine be* 
waffneten Versuche mehr, das Schicksal zu verändern, wohl aber 
solche im Rahmen der kargen Verfassung, die vor dem Ausbruch 
der großen Revolution Korsika in noch dürftigerem Maße besaß als 
das übrige Frankreich. Da bricht in Paris die revolutionäre Be* 
wegung aus,- die Flammen derselben züngeln bald in ganz Frank* 
reich und ergreifen auch das kurz vorher eroberte Korsika. Dieses 
wird über Antrag der nationalliberalen korsischen Abgeordneten in 
der inzwischen zur Macht gelangten Assemblee nationale zur gleich* 
berechtigten französischen Provinz erhoben,* alle politischen Flücht* 
linge werden amnestiert. Auch der korsische Nationalheros Paoli, 
Gegenstand der Liebe und Bewunderung all seiner Konnationalen, 
kehrt, nachdem er sich König Ludwig XVI. und der National* 
Versammlung vorgestellt und den Treueid an Frankreich geleistet 
hatte, in seine Heimat zurück. Von einer ihm entgegengefahrenen 
Deputation in Lyon feierlich empfangen, landet er, 65 Jahre alt, am 
14. Juli 1790, am Jahrestage des Sturmes auf die Bastille, in Bastia 
in Korsika, inmitten einer enthusiastischen Menge, »in der jeder sehen, 
hören und berühren wollte diesen Heros, der nach einundzwanzig* 
jähriger Verbannung zurückkehrte«, schreibt Lucian Bonaparte. 

Als es dann zwei Monate später, gemäß der neuen Ver* 
fassung zur Wahl öffentlicher Beamten kommt, wird der ausgezeich* 
nete Mann einstimmig zum Zeichen der Liebe, Verehrung und des 
Zutrauens seiner Kompatrioten zum Gouverneur gewählt, und 
widmet sich als solcher mit den ihm eigenen Qualitäten der Ver* 
waltung des Landes. 

Nun wollen wir, wenn auch nur in gedrängter Kürze und 
skizzenhaft, das Verhältnis des jungen Napoleon sowohl zu seinem 
Vaterlande als auch zum Vater desselben — wie Paoli von den 
Korsen genannt wurde <il babbo) — bis zum gleichen Zeitpunkte 
verfolgen. 

Auch die abfälligsten Beurteiler und die härtesten Kritiker 
Napoleons, solche, die in ihm bloß die Verkörperung des grenzen* 
losesten Ehrgeizes und der krassesten Selbstsucht gesehen haben, 





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Dr. Ludwig Jekels 


mußten es ihm zugestehen, daß er in seiner Jugend ein glühender 
korsischer Patriot war,- er hat davon so viele Beweise in Schrift, 
Wort und Tat geliefert, daß es bis nun niemand auch nur in 
leisesten Zweifel ziehen konnte. Schon als Kind hat er, seinen 
Biographen zufolge, stürmische Vaterlandsliebe bekundet. Und dies 
war ja auch kaum verwunderlich bei der Stimmung, die damals im 
Lande und in seinem Vaterhause herrschte. Patriotische Lieder dürften 
ihm, dem im Kriegsjahre zur Welt Gekommenen, von der durch und 
durch korsischen Mutter an der Wiege gesungen worden sein. »HalL* 
wild,« meint Kircheisen, »war er auf der Insel aufgewachsen. Die 
Erinnerung an die heißen Kämpfe um die Freiheit lebte dort noch 
frisch und lebendig in den Herzen seiner Landsleute fort. Aus 
ihrem Munde hatte der Knabe stets nur Drohungen und Flüche 

? [egen die /Unterdrücker des Vaterlandes', die Franzosen, gehört, 
n der Schule zu Autun bringt ihm das eine Wort /Besiegte', wie 
seine französischen Kameraden die Korsen nannten, sein Blut in 
Wallung. Dann ging er wütend, der Sprache kaum mächtig, mit 
hitzigen Gebärden und maßlos empört auf die Spötter los.« Abbe 
Chardon teilt eine Szene mit, in der der neuneinhalbjährige 
Napoleon in der Militärschule zu Brienne, als ihn die Kollegen 
wieder einmal mit der Eroberung Korsikas neckten und dabei 
meinten, die Korsen seien feige, ihnen mit funkelnden Augen ge* 
antwortet habe: »Wenn nur vier gegen einen gewesen wären, so 
wäre Korsika niemals genommen worden,- es waren aber zehn gegen 
einen!« »Hier in Brienne,« meint Chuquet, »zumal zu Anfang 
seines Aufenthaltes, leidet er sehr an Heimweh. Er vermißte Kor¬ 
sika, die Klarheit seines Himmels, sein süßes Klima. Herausgerissen 
aus der Heimat, verschickt nach der traurigen und rauhen Cham¬ 
pagne, dachte er mit Schmerzen daran, daß er für sechs Jahre zu¬ 
mindest dies teuere Korsika verließ, welches so eingeprägt war 
seinem Herzen.« 

Neben den Biographien griechischer und römischer Helden 
war die Geschichte Korsikas, in der Paoli verherrlicht die Franzosen 
aber verkleinert wurden, seine liebste Lektüre,- noch fünfzehnjährig, 
schrieb er seinem Vater, er möge ihm Boswells Geschichte von 
Korsika einsenden. 

Aber auch als königlicher Leutnant läßt sein korsischer Patriot 
tismus nicht nur nicht nach, sondern steigert sich womöglich noch. 
»In der Garnison in Valence« <ich zitiere Kircheisen) »erhitzten 
sich, durch intensive Lektüre der Geschichte seines Landes angefacht, 
seine empfindliche Phantasie und sein Gefühlsvermö^en immer mehr. 
Der Haß gegen die Tyrannen nahm von Tag zu Tag zu, und es 
kümmerte Napoleon nicht, daß er als königlicher Leutnant gerade 
diesen Tyrannen diente.« 

Und welch feurige Vaterlandsliebe atmen nicht seine Jugend^ 
Schriften! Man lese z. B. in »Sur la Corse«. »Paolo, Colombano, 
Sampiero, Pompiliano, Gaffoni! Berühmte Rächer der Menschheit! 




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Der Wendepunkt im Leben Napoleons I. 


Ihr Helden, die ihr euere Landsleute von der Wut des Despotismus 
befreitet! Was war euer Dank für euere Mühe? Doldie, Dolche, 
nichts als Dolche! Ihr modernen Effeminierten, die ihr fast alle in 
einer süßen Sklaverei schmachtet, diese Helden sind viel zu hoch 
über eueren feigen Seelen,- aber betrachtet doch das Bild des jungen 
Leonardo, des jungen Märtyrers für das Vaterland . . .« Oder in 
»Sur le suicide« schreibt er von einer melancholischen und selbst¬ 
mörderischen Stimmung gepackt: »Warum soll ich denn dies Leben 
ertragen, wenn mir nichts gelingt? Welch einen Anblick werde ich 
denn in meinem Lande haben? Meine Kompatrioten mit Ketten 
beladen und unter Zittern die sie bedrückende Hand küssend!« 
Im »Sur l'amour de la patrie«: »Nur wenige Menschen glauben 
an die Vaterlandsliebe. Welch eine gewaltige Menge von Werken 
ist denn nicht erschienen, um zu beweisen, sie sei nur eine Chimäre! 
Gefühle, welche eine erhabene Tat von Brutus gezeitigt haben, seid 
ihr denn wirklich eine Chimäre?« 

Nachdem er sich 1785 bei dem Genfer Buchhändler »alle 
Werke, die er über Korsika besitzt oder die er ihm verschaffen 
könne«, bestellt, beginnt er, kaum siebzehnjährig, eine zweibändige 
Geschichte Korsikas zu schreiben — von ihm »Lettres sur la Corse« 
betitelt. Offenbar bezieht sich darauf eine Notiz von ihm, in der 
er sagt: »Ich bin kaum zu Jahren gekommen und schon führe ich 
den Griffel der Geschichte.« Aber ». . . ich habe den Enthusiasmus, 
der in unserem Herzen oft durch eine tiefe Kenntnis der Menschen 
zerstört wird. Die Käuflichkeit des reifen Alters wird meine Feder 
nicht beschmutzen. Ich atme nichts als Wahrheit,- ich fühle in mir 
die Kraft, sie zu sagen und ich sehe euere Tränen rollen beim 
Lesen dieser kleinen Schilderung unserer Leiden. Teuere Mitbürger, 
wir waren immer unglücklich.« Oder gar in den berühmt gewordenen 
»Lettres a Buttafuoco«, als er diesen in französischen Diensten 
stehenden und sehr regierungstreuen Feldmarschall des Verrates am 
Vaterlande zeiht, was diesem eine Infamieerktärung seitens seiner 
Landsleute zuzieht: »Wie! Nicht zufrieden damit, daß Sie geholfen 
haben, die Ketten zu schmieden, in die Ihr Vaterland gelegt wurde, 
wollen Sie noch dasselbe dem absurden feudalen System unter¬ 
werfen! . . . Und wie! Sohn desselben Vaterlandes, empfinden Sie 
nie etwas für dasselbe? Wie?! Ihr Herz sollte unbewegt bleiben 
beim Anblick der Felsen, der Bäume, der Häuser« usw. 

Ich meine, diese Stichproben sollten genügen, um zu beweisen, 
wie stark in Napoleons Brust die Liebe für Korsika wogte. Aber 
auch an Taten, und zwar solchen waghalsigster Natur ist diese 
Periode seines Lebens zwischen 1789 und 1793 überreich, die von 
einer brennenden Liebe und Sorge fürs Vaterland getragen sind, 
und nicht mehr und nicht weniger als die Befreiung Korsikas 
vom französischen Joche zum Ziele haben! Und dies alles 
als königlicher Offizier — setzt er Fortkommen, Freiheit und Leben 
aufs Spiel! 







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Dr. Ludwig Jekels 


Im Nachfolgenden will ich diese seine Tätigkeit in dieser Zeit 
skizzenhaft schildern: 

In den im Jahre 1789 einberufenen Etats generaux stellten 
die zwei nationalen Abgeordneten unter anderem den Antrag auf 
Errichtung einer aus Söhnen des Landes bestehenden Volksmiliz. 
Dieser Vorschlag war ganz im Sinne Napoleons, der schon damals 
darauf gesonnen haben soll, Machtmittel in die Hand zu bekommen, 
um damit die Franzosen zu verdrängen. Als nun diese Anträge 
über Betreiben des oben erwähnten konservativen Buttafuoco von 
der Regierung abgelehnt wurden, bereitet Napoleon eine regelrechte 
Revolution in Ajaccio vor. Im patriotischen Klub von Ajaccio, 
woselbst er seit September 1789 wieder auf Urlaub weilt, setzt er 
seinen Plan auseinander: die reaktionäre Behörde solle gestürzt, 
eine Nationalgarde organisiert, mit derselben dann die Zitadelle von 
Ajaccio genommen werden, nachdem die Franzosen aus derselben 
verdrängt worden sind. Es gelingt ihm auch alsbald, die Bürger¬ 
wehr zu organisieren,- indessen wird aber die Garnison verstärkt, der 
Klub und die Garde aufgelöst, und die Bewegung im Keime erstickt. 

Doch nur vorderhand — denn dieser Plan fixiert sich in 
Napoleons Seele, und gleichgiltig, ob in seinen Garnisonen in 
Frankreich oder auf seinen so häufigen und langen Urlauben auf 
Korsika, stets steht die Einnahme der Zitadelle von Ajaccio und 
die Vertreibung der Franzosen im Vordergründe seines Denkens 
und Fühlens. Wir sehen ihn in diesen drei Jahren sich über alle 
Hindernisse hinwegsetzen und alle Mittel ergreifen, um dieses Ziel 
zu erreichen. Äußerst aufmerksam die Wechselfälle dieser für Franko 
reich so ereignisschweren und bewegten Jahre verfolgend, stets über 
die Stimmung in Korsika unterrichtet, läßt er sich, man kann es 
ruhig sagen, beliebig oft beurlauben, wenn er meint, der Zeitpunkt 
für seine Pläne sei günstig. Er überschreitet diese Urlaube ganz 
willkürlich um sehr lange Zeiträume, ganz unbekümmert um seine 
Offizierslaufbahn. »In diesen schwierigen Zeiten ist der Platz eines 
guten Korsen in seinem Vaterlande.« Diese, in seinem Briefe an 
den Kriegskommissär Sucy geäußerte Überzeugung genügt ihm. 
Unbekümmert um seine Stellung in der regulären Truppe und um 
seinen vor einem Jahre als Offizier geleisteten Eid, strebt er im 
Jahre 1792 das Kommando des inzwischen von der National¬ 
versammlung wie überall in Frankreich so auch in Ajaccio errichteten 
Freiwilligenbataillons an,- er setzt auch seine Wahl zum Oberst^ 
leutnant desselben mit den verwerflichsten und gewalttätigsten 
Mitteln durch, wie z. B. Stimmenkauf, falsche Angaben, Ein¬ 
schränkung der persönlichen Freiheit etc. Zu Ostern 1792 versucht 
er, sich der Zitadelle zu bemächtigen und zum Herrn der Stadt zu 
machen, welcher Plan jedoch an der Wachsamkeit und der Pflicht^ 
treue des französischen Kommandanten derselben scheiterte. 

Ebenso gewaltig wie die Liebe zu seinem Vaterlande war 
auch der Haß gegen die Franzosen. Hier nur einige Belege hiefür 




Der Wendepunkt im Leben Napoleons 1. 


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aus seinen Schriften, zumal später noch ausführlicher davon die 
Rede sein wird. So z. B. im »Sur le Suicide«: »Franzosen! Nicht 
zufrieden damit, daß ihr uns alles geraubt habt, was wir liebten, 
habt ihr noch unsere Sitten verdorben!« Oder »Sur l'Amour de 
la Patrie« werden alle Beispiele der echten Vaterlandsliebe der 
Antike und Korsika entnommen, wogegen die Ruhmsucht ausschlie߬ 
lich an französischen Helden demonstriert wird. Am stärksten und 
unzweideutigsten aber ist sein Franzosenhaß in der »Nouvelle 
Corse« ausgedrückt, einer auf einer verlassenen Insel sich ab¬ 
spielenden Phantasie, wo jeder Franzose, zufolge einem von dem 
Besitzer der Insel geleisteten Eid, erbarmungslos getötet wird. 

Wir wollen nun das Verhältnis Napoleons zu Paoli beleuchten 
und erörtern, was ihm dieser bedeutet hat. 

Die Antwort darauf läßt sich kurz zusammenfassen: er war 
ihm der Inbegriff alles Großen, Schönen, Edlen und Weisen. 

Schon als ganz kleines Kind, da das Kriegsgetöse der eben 
abgelaufenen Jahre noch nicht verklungen war, hörte er von seinen 
Spiel- und Hausgenossen den Namen Paoli immer wieder mit 
Liebe und Verehrung nennen,- was Wunder, »daß sich bei ihm 
mit diesem Namen die Vorstellung eines gewaltigen, weit ver¬ 
bannten Helden verband, der über kurz oder lang als Messias er^ 
scheinen dürfte«, meint Jung in »Bonaparte et son temps«. Und 
Chuquet sagt: »Wenn man, sowohl in Autun als auch in Brienne, 
über Paoli sprach, da erhitzte er sich und geriet ins Feuer ... Er 
duldete nicht, daß ein Lehrer oder ein Kollege die geringste Kritik 
an Paoli übte, auch nur das Leiseste an ihm aussetzte.« Im weiteren 
Verlaufe der füher erwähnten, von Abbe Chardon uns über¬ 
lieferten Szene in Autun soll Napoleon dem Abbe, der ihm die 
Frage vorlegte: »Trotzdem ist doch Paoli ein guter General?« leb^ 
haft geantwortet haben: »Ja, Monsieur, und ich möchte ihm ähnlich 
werden!« Und im Verlaufe einer anderen Szene in Brienne rief 
einmal der kleine Junge: »Paoli wird wiederkehren und sollte er 
unsere Ketten nicht zerbrechen können, so werde ich ihm zu Hilfe 
eilen, sobald ich nur genug Kraft haben werde, und möglich, daß 
es uns beiden gelingen wird, zu befreien Korsika von dem ver^ 
haßten Joch, welches es trägt!« Ein damaliger Kollege sagte: »Paoli 
war sein Gott«. 

Und ebenso stellte er sich zu Paoli in der Pariser Militär^ 
schule, wo er sein vierzehntes und fünfzehntes Lebensjahr zubrachte. 
In seinen dortigen Gesprächen hält er Lobreden auf Paoli, ver¬ 
sichert wieder, daß er zusammen kämpfen möchte mit dem großen 
Pasquale, ihm helfen und ihn unterstützen. Ein interessanter und 
beredter Beleg für diese seine Gesinnung ist uns erhalten worden. 
Es ist dies eine von einem seiner Kameraden verfertigte Karikatur, 
darstellend Napoleon, der Paoli zu Hilfe eilt. Ein alter Professor 
versucht ihn am Zopf zurückzuhalten/ doch vergeblich, denn der 





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Dr. Ludwig Jekels 


junge Mensch entfernt sich mit festem Schritt, beide Hände auf den 
Stock gestützt und mit entschlossener Miene. Unter der Zeichnung 
ist zu lesen: »Bonaparte laufe, renne Paoli zu Hilfe, um ihn aus 
den Händen der Feinde zu reißen.« 

Welch große Rolle in seiner Gefühls^ und Vorstellungswelt 
Paoli spielte, das möge folgende Episode demonstrieren: Als er im 
Jahre 1787 nach achtjähriger Abwesenheit von der Heimat auf 
Urlaub in Ajaccio war, fand er seinen Onkel und Vormund der 
Familie, Ardhidiakon Lucian, schon seit Jahren durch Gicht ans 
Bett gefesselt. Napoleon war dem alten Onkel in Liebe zugetan, 
wollte ihm Hilfe verschaffen und wandte sich deshalb von Ajaccio 
brieflich an den ihm persönlich ganz unbekannten Dr. Tissot — in 
Lausanne um Rat! 

Die Gründe für diese immerhin etwas sonderbare Handlungs^ 
weise sind aus dem Schreiben ersichtlich: »Sie haben das Leben 
damit verbracht, die Menschheit zu belehren und Ihr Ruf drang bis 
in die Gebirge Korsikas, wo man sich wenig der Ärzte bedient. 
Es ist ja richtig, daß das kurze, aber rühmliche Lob, das Sie Ihrem 
General <Paoli> gespendet haben, ein zureichender Titel ist, um sie 
von Dankbarkeit durchdrungen sein zu lassen.« Die Stelle, auf die 
sich Napoleon bezieht , betrifft die Arbeit Tissots: »Traite de sante 
des gens de lettres«, worin er die Schreibtischarbeit als unhygienisch 
bekämpft und dabei erwähnt: »Cesar, Mahomet, Cromwell, Paoli, 
plus grands d'eux peuUetre, ont sans doute re$u de la nation 
des forces plus qu'humaines.« — Diese kurze, auch Paoli so her^ 
vorhebende Zusammenstellung genügte schon, um Napoleon hohes 
Vertrauen zu Dr. Tissot einzuflößen. 

Als er seine »Lettres sur la Corse« vollendet hat, will er sie 
Paoli dedizieren und teilt ihm dies in folgendem nach London ge^ 
richteten Schreiben mit <12. Juli 1789): 

»Ich wurde geboren als mein Vaterland starb. 30.000 Fran¬ 
zosen auf unseren Küsten ausgespien, den Thron der Freiheit in 
Strömen von Blut erstickend — dieses hassenswürdige Schauspiel 
traf mein erster Blick . . . Ihr ginget von unserer Insel und mit 
Euch verschwand jede Hoffnung auf Glück,- die Sklaverei wurde 
der Lohn für diese Unterwerfung. Wenn mein Vermögen mir den 
Aufenthalt in der Hauptstadt gestattet hätte, so hätte ich ohne 
Zweifel andere Mittel gefunden, um unseren Klagen Gehör zu ver* 
schaffen,- aber an den Dienst gebunden, bleibt mir nur dieser einzige 
Weg an die Öffentlichkeit . . . Wenn Ihr, mein General, bereit 
seid, eine Arbeit anzuerkennen, wo von Euch soviel die Rede sein 
wird ... so wage ich auf einen Erfolg zu rechnen. 

Ich hoffte nach London gehen zu können, um Euch die Ge^ 
fühle auszusprechen, die Ihr in mir erregt habt, um mit Euch über 
das Unglück meines Vaterlandes zu sprechen, aber die Entfernung 
hindert mich daran . . . Gestattet mir, General, daß ich Euch die 
Huldigung meiner Familie ausspreche. Warum sage ich nicht meiner 




Der Wendepunkt im Leben Napoleons I. 


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Landsleute? Sie seufzen bei der Erinnerung an eine Zeit, wo sie 
auf Freiheit hofften. Meine Mutter, Madame Latizia, hat mich be« 
auftragt. Euch an die Jahre in Corte zu erinnern.« 

Auch die erwähnten, im zarten Jünglingsalter, zwischen dem 
fünfzehnten und zwanzigsten Lebensjahre verfaßten Schriften 
Napoleons bekunden sehr deutlich seine Verehrung und Bewunde« 
rung für diesen bedeutenden Menschen. So z. B. spricht er sich in 
den »Lettres sur la Corse« folgendermaßen über Paoli aus: »Ich 
sollte sprechen über Paoli, dessen weise Einrichtungen einen Augen« 
blick unser Glück waren und uns mit solch glänzenden Hoffnungen 
erfüllten,- er war der erste, der den Grundsatz vom Gedeihen der 
Völker heilig gehalten hat, und man muß seine Hilfsquellen, seine 
Fertigkeit, seine Beredsamkeit bewundern: mitten unter äußeren und 
inneren Kriegen stellt er stets seinen Mann,- mit starkem Arm legt 
er die Grundlagen zu seiner Verfassung und läßt bis nach Genua 
unsere stolzen Tyrannen erzittern.« 

Und im »Discours de Lyon« spricht er über Paoli, den er 
als Muster eines Gesetzgebers hinstellt, folgendermaßen: »Paoli, der 
sich durch seine Sorgfalt für die Menschheit und für seine Mitbürger 
besonders auszeichnete, der für einen Augenblick mitten im Mittel¬ 
ländischen Meere die schönen Zeiten von Sparta und Athen wieder 
erstehen ließ, Paoli, voll der Gefühle und dieses Genies, die die 
Natur in ein und demselben Menschen nur zum Wohle der Völker 
vereinigt, — erschien in Korsika, um demselben die Blicke Europas 
zuzuwenden ... In seiner Tätigkeit ohnegleichen, in seiner über« 
zeugenden und heißen Beredsamkeit, in seinem durchdringenden 
und fruchtbaren Genie wußte er Bürgschaften zu finden für seine 
Verfassung« etc. 

Und als Paoli zufolge der erflossenen Amnestie im Jahre 1790 
nach Korsika zurückkehrt, da sehen wir gerade die Familie Bona« 
parte mit unter den Rührigsten, um den Heros feierlich zu empfangen. 
Uber Veranlassung Napoleons fährt sein älterer Bruder Joseph mit 
der Deputation Paoli nach Lyon entgegen,- Napoleon selbst liest 
ihm dann die Empfangsadresse vor. »II en est, pour ainsi dire, le 
Dieu« und »Tous etaient ä la devotion de Paoli. On ne jurait que 
par lui« — meint Jung. 

In der nachfolgenden Zeit sehen wir Napoleon, wenn er auf 
Urlaub in Korsika weilt, öfters den Gouverneur auf dessen Landsitze 
Rostino besuchen,- sie machen da gemeinsame Ausflüge ins Land, 
wobei ernste soziale und politische Gespräche geführt wurden. Napo« 
leon soll sogar auf St. Helena erzählt haben: »Paoli klopfte mir oft 
freundschaftlich auf den Kopf und sagte mir hiebei: »Sie sind einer 
der Männer von Plutarch. Er ahnte, daß ich eines Tages ein außer« 
gewöhnlicher Mensch sein werde.« Ein andermal soll er ihm gesagt 
haben: »Napoleon! Du hast nichts vom modernen Menschen, du 
gehörst ganz zu den Männern von Plutarch. Nur Mut! Du wirst 
deinen Weg schon machen!« 

Imago III/4 


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Dr. Ludwig Jekels 


So standen diese beiden Männer zueinander, der eine dreiund* 
zwanzig, der andere siebenundsedhzig Jahre alt,- das Attentat auf die 
Zitadelle von Ajaccio zu Ostern 1792 scheint ebensowenig eine ernstliche 
Trübung dieses Verhältnisses bewirkt zu haben, als die agitatorische 
und revolutionäre Tätigkeit, die Napoleon — der inzwischen durch 
vier Monate in Paris sich aufgehalten und es dort durchgesetzt 
hatte, daß er trotz der gegen ihn erflossenen schweren Anzeige 
restituiert und zum Hauptmann befördert wurde — nach seiner 
Rückkehr aus Paris im Herbste und Winter dieses Jahres in Ajaccio 
entfaltet hat. 

Die nächsten hier zu erörternden Begebenheiten bilden wohl 
den dunkelsten und kompliziertesten Abschnitt der napoleonischen 
Geschichte — nach den übereinstimmenden Ansichten mehrerer 
Autoren. Hier in kurzen Worten der Tatbestand: 

Zu Anfang des Jahres 1793 veranstaltete Frankreich eine 
Expedition gegen Sardinien, welche gänzlich gesäheitert ist. Als 
Napoleon am 3. März 1793 von der Expedition nach Korsika 
zurückkehrte, war die politische Situation gegenüber dem Vorjahre 
eine völlig veränderte geworden. König Ludwig XVI. hingerichtet 
<21. Januar), der Krieg an England erklärt <31. Januar),* auf Korsika 
aber sollen die Freiwilligenbataillone aufgelöst und durch reguläre 
Truppen ersetzt werden,* überdies wurde Paoli in seiner admini¬ 
strativen, besonders aber militärischen Machtvollkommenheit arg 
beschränkt. Diese letzten Maßregeln sind einerseits auf die Machen¬ 
schaften seiner politischen Gegner, anderseits aber darauf zurückzu* 
führen, daß Paoli, der während seiner Exilierung durch einund¬ 
zwanzig Jahre englische Gastfreundschaft genossen hatte und sogar 
von England eine Pension bezog, auch aus seinen Sympathien für 
England niemals ein Hehl machte — jetzt nach Ausbruch des 
Krieges mit England der französischen Regierung nicht mehr ganz 
zuverlässig erschien. 

Es blieb aber nicht bloß bei den erwähnten Maßregeln,* denn 
schon in den nächsten Wochen steigerte sich der Konflikt zwischen 
dem Konvent und Paoli so, daß der erste seinen Kommissären 
auf Korsika die Vollmacht erteilte, Paoli unter Anwendung aller 
zu Gebote stehenden Mittel zu verhaften und nach Paris zu bringen 
<Beschluß des Konvents vom 2. April 1793). 

Es ist nicht schwer zu denken, daß diese den pater patriae so 
rücksichtslos treffende Verfügung, die am 16. April in Ajaccio ein* 
langte, eine ganz ungeheuere Aufregung unter den Korsen hervor* 
gerufen hat, die sich mit ihrem Führer eins fühlten. 

Noch unter dem frischen Eindruck dieser Nachricht, also etwa 
Ende April, verfaßte Napoleon eine Adresse an den »Club des 
amis de la Constitution« in Ajaccio behufs Vorlage derselben an 
den Konvent. Er verteidigt in derselben äußerst warm Paoli und 
widerlegt darin den etwaigen Vorwurf, als ob Paoli ein Ehrgeizling 
oder ein Verderber wäre. »Also sollte Paoli ehrgeizig sein? Wenn 




Der Wendepunkt im Leben Napoleons I. 


323 


Paoli ehrgeizig ist, was kann er denn mehr verlangen? Er ist 
Gegenstand der Liebe seiner Mitbürger, die ihm nichts verweigern,- 
er ist an der Spitze der Armee,- er steht unmittelbar vor der Pflicht 
der Verteidigung des Landes gegen einen fremden Angriff.« Und 
dann weiter: »Ja, in Koblentz, da dürfte Paoli für ehrgeizig gelten, 
aber in Paris, im Zentrum der französischen Freiheit, wird Paoli, 
wenn man ihn gut kennt, als Patriarch der Freiheit, als Vorbote 
der französischen Republik gelten,* so wird die Nachwelt urteilen 
und so meint es das Volk.« Er verteidigt ihn auch darin gegen 
den unsinnigen Verdacht, Korsika an England ausliefern zu wollen 
und meint weiter: »Hören Sie auf meine Stimme,* lassen Sie 
schweigen die Verleumdung und die äußerst schlechten Leute, die 
sich ihrer bedienen.« 

Fast zugleich aber sehen wir ihn, den bis vor kurzem noch 
unversöhnlichen Franzosenhasser, im Einvernehmen mit den fran^ 
zösischen Konventkommissären Saliceti und Lacomb-St. Michel 
eifrig bemüht, das gegen Frankreich und seine Adhärenten auf der 
Insel revoltierende Land für die Franzosen wiederzugewinnen,* 
sehen ihn zu diesem Zwedce die in den Händen der paolistischen 
Nationalgarde befindliche Zitadelle von Ajaccio wiederholt attakieren, 
doch jetzt um sie für die Franzosen zu erobern, sehen ihn als 
Antragsteller auf Erneuerung des Eides, der die Korsen mit Frank¬ 
reich verband! Überdies aber richtet er an den Konvent eine An¬ 
klage gegen Paoli, die er »Position politique et militaire du Departe¬ 
ment de Corse au F r juin 1793« betitelt und in der er ausführt: 
alle Personen, die Paolis Vertrauen besaßen und die ein wenig 
sehend waren, hätten denselben durchschaut,* er hielt nämlich Franko 
reich <das damals zahlreiche äußere Feinde hatte) für verloren und 
habe sich angeschickt, ihm gleichfalls einen Fußtritt zu geben. Er 
erhebt darin gegen Paoli den Vorwurf, er hätte aus den Küsten¬ 
festungen reguläre Truppen entfernt und dieselben durch ihm ergebene 
korsische Nationalgarden ersetzt, deren er sicherer war,- zu Offizieren 
der letzteren aber hätte er solche Leute ernannt, deren Väter im 
Jahre 1768 gegen Frankreich fielen, die somit Rachegedanken gegen 
Frankreich hegen konnten. 

Weiters klagt er Paoli der Schuld an dem Mißglücken der 
sardinischen Expedition an, indem sich derselbe zwar nadi außen 
so stellte, als würde er gerne die von ihm verlangten Soldaten 
beistellen, anderseits aber es zu verhindern wußte, daß dieselben 
sich nach Sardinien begaben, da er nicht wollte, daß die Korsen 
französisch werden. Lind dann weiter: »Seit der Kriegserklärung 
an England war die ganze Welt betroffen von der Vorliebe, mit 
der er <Paoli> die Vornehmheit, die Güte, die Tugenden, die Madit 
und den Reichtum der englischen Nation pries. Seine Absichten in 
dieser Zeit waren klar und alle Personen, die ihm attachiert waren, 
die aber das Vaterland ihm vorzogen, fingen an, sich von ihm zu 
entfernen, sie hatten die gute Meinung von seiner Tugend verloren. 


21* 




324 


Dr. Ludwig Jekels 


um schließlich in ihm einen Verräter zu erblicken/ denn kein Verrat 
sei so widerwärtig wie der seinige, er stürzt sein Land in einen 
Bürgerkrieg und hält es ab von der Vereinigung mit Frankreich, 
die allein das Glück Korsikas ausmachen könne.« Und dann ruft 
er: »Kann denn soviel Perfidie sich finden im Menschenherzen?! 
Ach, welch unseliger Ehrgeiz verwirrt diesen Greis von achtundsechzig 
Jahren! Aber Paoli hat auf seinem Gesichte die Güte und Süße 
geschrieben und den Haß und die Rachsucht im Herzen, die Weihe 
des Gefühls in den Augen und die Galle in der Seele, — er hat 
weder Charakter, noch Kraft, er ist ohne Mut!« usw. 

Diese Stellungnahme Napoleons hatte bekanntlich zur Folge, 
daß in einer allgemeinen Korsenversammlung die Familie Bonaparte 
für infam erklärt und die Acht über sie ausgesprochen wurde. 
Nachdem die Mutter mit den Kindern nur mit schwerer Mühe und 
dank einem glücklichen Zufall ihr Leben gerettet hatte, wurde von 
den entrüsteten Korsen das Haus der Bonaparte in Brand gesteckt, 
der Weingarten und der sonstige Besitz verwüstet. Napoleon 
schiffte sich mit den Seinigen am 11. Juni 1793 in Calvi ein und 
übersiedelte nach Toulon, hiebei für immer im Stiche lassend die 
beiden Ideale, die seine Jugend erfüllten, d. i. Korsika und Paoli 
— nachdem er noch »das letztere durch Verleumdung und Be- 
schimpfung vernichtet hat.« <Fournier.> 

Das Faktum des Bruches mit Paoli ist von einer ganz unüber- 
sehbaren Tragweite für die Menschheit geworden. Es genügt gar 
nicht zu dessen Würdigung die Ansicht Jungs, der es als »si con- 
siderable pour la France« bezeichnet oder an einer anderen Stelle 
meint, »dieser eklatante Bruch sollte einen bestimmenden Einfluß 
auf die Geschichte der Bonaparte und Frankreichs üben«, — sondern 
seine Folgen waren unermeßlich und geradezu bestimmend für das 
Schicksal der ganzen Welt. Denn dieser Bruch mit Paoli war 
derjenige psychologische Moment, in welchem der 
Napoleon geboren und geformt wurde, wie wir ihn aus 
der Geschichte kennen, der durch zwei Dezennien die Welt in 
Atem hielt, sie in Unruhe und Schrecken versetzte, aber auch, wie 
Fournier richtig meint, »allüberall, sowohl am Manzanares wie 
am Tiber, am Rhein wie an der Elbe, in Neapel und in Polen, in 
Preußen und in Österreich, den Anlauf zu einer höheren sozialen 
Ordnung bewirkte«, und dergestalt blutiger »Anwalt ward eines 
Kulturprozesses von größter Bedeutung«. 

Um so berechtigter erscheint nun die Frage nach den Motiven 
dieses so plötzlichen Gesinnungswechsels Napoleons. Indessen ver¬ 
sagt gerade an dieser Stelle die bisherige Geschichtsforschung und 
gibt uns nur ganz unvollkommenen Aufschluß. Jung z. B. ver- 
zichtet offenbar gänzlich auf eine Erklärungsmöglichkeit und begnügt 
sich damit, zu sagen: »Wieso unter diesen Umständen der Artillerie- 
kapitän Bonaparte, Verfasser so vieler Beteuerungen der Ergeben¬ 
heit an Paoli, Redakteur der berühmten Adresse der Societe Popu- 




Der Wendepunkt im Leben Napoleons I. 


325 


laire in Ajaccio an den Konvent, mit einem Sdilage diese Ver^ 
gangenheit verleugnen konnte, um Agent von Saliceti und seiner 
Kollegen zu werden — das ist wahrlich schwer genug zu erklären!« 

Durch die emsigen Nachforschungen und Zusammenstellungen 
Chuquets, die zur Quelle für alle heutigen Biographen wurden, 
wird die damalige Situation sowie der Lauf der Begebenheiten 
nachstehend geschildert. 

Paoli, der durch zwei Dezennien unter den geordneten und 
geregelten Verhältnissen Englands gelebt hatte, war nach seiner Rück¬ 
kehr von den anarchischen Zuständen auf dem halbverwilderten 
Korsika recht peinlich berührt gewesen. Unter anderem war er auch 
recht unzufrieden mit den beiden ersten Direktorien, die seit seiner 
Rückkehr die Departementsverwaltung inne hatten und deren führende 
Mitglieder zuerst Arena und dann Saliceti waren. Die genannten 
Generalsyndici empfanden nun die fortwährenden Beanstandungen 
und Kritiken des Gouverneurs als sehr lästig, — und so sei eine 
Spannung zwischen ihnen und dem bis nun von ihnen vergötterten 
Paoli eingetreten. Die Situation wurde aber kritisch, als bei den 
Wahlen im Dezember 1792 unter dem Einflüsse Paolis kein einziges 
Mitglied des Direktoriums Saliceti wiedergewählt wurde, sondern 
dasselbe nun aus ganz neuen und Paoli ganz ergebenen Mitgliedern 
bestand, die sich obendrein als die »ehrlichen« bezeichneten — 
offenbar im Gegensätze zu den vorangegangenen, die von ihm der 
Partei^ und Mißwirtschaft geziehen wurden. 

Das habe nun Saliceti zum Kampfe gegen Paoli bestimmt. 
Saliceti war nach Paoli wohl der populärste Mann Korsikas ge¬ 
wesen, welches ihm vieles zu danken hatte. War er doch seit 1789 
Chef der Patrioten-<Paolisten-)Partei und hatte mit Cesare Rocca 
zusammen seinerzeit in der Nationalversammlung die Anträge auf 
Errichtung eines wählbaren Administrationsrates und der Volksmiliz 
auf Korsika gestellt,* er war es auch, der im Jahre 1789 die Be¬ 
völkerung Bastias zur Insurrektion aufrief, um, auf dieselbe gestützt, 
in der Assemblee die Anerkennung Korsikas als gleichberechtigte 
französische Provinz durchzusetzen/ endlich war auch ihm die Amne¬ 
stierung Paolis und dessen Rückberufung zu danken. Da ist es wohl 
kein Wunder, daß er den Korsen als zweiter Befreier des Landes 
galt und sich unter ihnen einer großen Popularität erfreute. 

Nun aber fühlte er sich in dieser seiner Stellung arg bedroht, 
zumal gegen ihn vom neuen Direktorium schwere Anwürfe erhoben 
wurden, wie Kumulierung von einträglichen Ämtern, Bereicherung 
und mangelhafte Rechnungslegung zu seinem Vorteile. 

In dem Kampfe nun, der seit 1793 zwischen ihm und Paoli 
entbrannte, fand Saliceti einen mächtigen Bundesgenossen in der 
französischen Regierung, deren Mißtrauen gegen Paoli wegen seiner 
englandfreundlichen Vergangenheit jetzt nach erfolgter Kriegserklärung 
an England besonders rege wurde, so daß sie unter allerlei Voiv 
wänden bemüht war, Paoli zur Reise und Übersiedlung nach Frank- 





326 


Dr. Ludwig Jekels 


reich zu bewegen und ihn so auf Korsika unschädlich zu machen. 
Dieser jedoch merkte offenbar die Absicht und im Bewußtsein seiner 
Unschuld — da er den Franzosen und der Republik ganz ergeben 
und völlig treu war — sowie besorgt um die Wahrung seiner 
Würde weigerte er sich, den an ihn als französischen General 
ergangenen Befehlen des Kriegsministers Folge zu leisten und blieb 
auf Korsika. 

Saliceti seinerseits stellte als Abgeordneter im Konvent 
mehrere Anträge, deren Spitze sich gleichfalls gegen Paoli richtete: 
so, die Regierung möge für den bevorstehenden Krieg mit England 
für die Verteidigung Korsikas Vorsoge treffen, die Freiwilligen¬ 
bataillone daselbst <die Paoli ergeben waren) auflassen und durdi 
reguläre Jägertruppen ersetzen, sddießfich für die Sicherheit der Häfen 
sorgen,* und unter diesem Vorwände ließ er sich — nebst zwei 
anderen Abgeordneten — als mit unbeschränkten Vollmachten aus¬ 
gestatteter Konventskommissär nach Korsika delegieren. 

Dadurch wurde nun der Bürgerkrieg unausweichlich, da Saliceti 
außer diesem sonstigen Anhang auch über die neuen Bataillone 
verfügte, deren Offiziere fast ausschließlich ihm ihre Ernennung ver¬ 
dankten. 

Trotzdem und trotz der nach Ankunft der Kommissäre auf 
Korsika stattgefundenen mannigfachen Reibungen schien es jedoch , 
als sollten und könnten die Differenzen noch irgendwie friedlich ge¬ 
schlichtet werden — als ein Ereignis eintrat, das die bereits auf eine 
friedliche Entspannung abzielenden Absichten Salicetis völlig kreuzte. 
Der Konvent hatte nämlich die Verhaftung Paolis beschlossen, und 
seinen Kommissären auf Korsika den bezüglichen Auftrag zukommen 
lassen. 

Dieser nach Ansicht aller, selbst Paoli noch so feindlich Ge¬ 
sinnter sehr übereilte Beschluß — der übrigens später, wie wir 
sehen werden, tatsächlich revoziert wurde — war die Folge eines 
Streiches, den Napoleons Bruder, Lucian Bonaparte, auf dem Ge¬ 
wissen hatte. Dieser achtzehnjährige, ebenso von sich eingenommene 
wie exaltierte Jüngling, der das intensive Bedürfnis empfand, eine 
Rolle zu spielen, hat im republikanischen Klub von Toulon, wo er 
zurzeit weilte, eine Brandrede gegen Paoli gehalten. Wie er in seinen 
Memoiren ausführt, ohne eigentlichen Grund, so von ungefähr, wie 
aber die Historiker meinen, aus gekränktem Ehrgeiz — weil ihm 
von Paoli die Stelle eines Sekretärs verweigert wurde — malte 
er den Gouverneur und dessen tyrannisches Regiment auf Korsika 
in sehr schwarzen Farben, um zum Schlüsse dessen sofortige Ab¬ 
setzung und Auslieferung an die Strenge des Gesetzes zu verlangen. 

Nun war aber der Süden Frankreichs noch von der Zeit der 
sardischen Expedition her, wo zwischen den Provencalen und Korsen 
zahllose Reibungen stattgefunden hatten, sehr schlecht auf die Insu¬ 
laner und Paoli zu sprechen, den man sogar schließlich für das 
Mißglücken dieser Expedition verantwortlich machte,* überdies ent- 




Der Wendepunkt im Leben Napoleons I. 


327 


faltete gerade dort Arena eine heftige Agitation gegen Paoli, ihn 
verräterischer Absichten zeihend/ kein Wunder nun, daß Lucians 
Denunziation gierig aufgenommen und eiligst von Escudier, dem 
Abgeordneten des Vardepartements, dem Konvent mitgeteilt wurde, 
der — noch unter dem frischen Eindruck des Verrates von Du- 
mouriez stehend und überall Verrat besorgend — die unverzügliche 
Inhaftnahme Paolis dekretierte. 

Als aber die Kommissäre, und speziell Saliceti, ganz ver¬ 
zweifelt über diesen Irrtum des Konvents »mit gequältem Herzen« 
sich des ihnen gewordenen Auftrages entledigen wollten, da stießen 
sie auf eine unverhohlene Auflehnung, die sich alsbald zum allgemeinen 
Aufruhr der Korsen steigerte. Aus den Bergen strömten deren Be¬ 
wohner wohlbewaffnet herbei, um ihren »babbo« zu schützen, und 
überfluteten die Städte,* die meisten derselben, darunter auch Ajaccio, 
gingen für die Republik verloren, da sich ihre Bevölkerung gegen 
die Franzosen und gegen die französisch Gesinnten kehrte. 

Infolge dieser Wendung der Dinge und über Vorstellungen 
der Freunde Paolis, endlich auch unter dem Eindrücke des Schreibens 
von Paoli vom 26. April an den Konvent, worin er denselben in 
gemäßigtem und leidenschaftslosem Tone über die Situation auf¬ 
klärte und seiner Anhänglichkeit an Frankreich versicherte und sich 
sogar bereit erklärte, zum zweitenmal sein Vaterland zu verlassen, 
falls seine Anwesenheit störend empfunden werden sollte, beschloß 
der Konvent am 16. Mai das Dekret vom 2. April zu widerrufen, 
ernannte am 30. Mai für die korsische Angelegenheit noch zwei 
Kommissäre — Franzosen vom Kontinent — und beauftragte sie, 
alle friedlichen Mittel zu versuchen und den General mit Schonung 
und Mäßigung zu behandeln. 

Indessen war es zu spät. Denn inzwisdien hatten die Kom¬ 
missäre die Geduld verloren und aus Angst, jegliche Autorität 
einzubüßen und der Schwäche geziehen zu werden, griffen sie zu 
Zwangsmaßregeln., wie Auflösung des Generalrates, Ersetzung des 
Direktoriums durch ein neues, Abordnung von Militär in einige 
revolutionierende Ortschaften,* überdies verurteilten sie Paoli öffentlich 
und steigerten durch all dies mächtig die Erbitterung. Hingegen be¬ 
stärkte der Aufstand im Süden Frankreichs, der auf den Staats¬ 
streich vom 31. Mai folgte, Paoli, der es mit der gestürzten 
Gironde hielt, in seiner Insurrektion,* auih wurden die beiden Kom¬ 
missäre durch ihn in ihrer Ankunft in Korsika stark aufgehalten, 
und endlich glaubte Paoli nicht an die Suspension des Haftdekretes 
und hielt sie bloß für eine Falle, zumal er die Aufrichtigkeit und 
den Erfolg einer Aktion bezweifelte, an der auch Saliceti teilnahm, 
den er von seinen Kollegen zu trennen suchte. 

Noch vorher berief er für den 27. Mai eine Nationalversamm¬ 
lung nach Corte, die von über tausend Abgeordneten der Ge¬ 
meinden beschickt wurde und in der unter Beteuerung der Treue 
an Frankreich und der Anhänglichkeit und des Vertrauens an Paoii 





328 


Dr. Ludwig Jekels 


sowie unter Aufzählung der Sünden Salicetis und seiner Anhänger 
unter anderem beschlossen wurde, daß Saliceti und seine zwei 
Kollegen als Konventskommissäre nicht anzuerkennen, und dem^ 
gemäß ihre Anordnungen und Anträge nicht zu befolgen seien,« 
überdies aber wurde in dieser Versammlung über die Familie Bona¬ 
parte die Acht des Volkes ausgesprochen. 

Fast zugleich versuchten es die Kommissäre unter Napoleons 
Anleitung und seinem Rate folgend, die Zitadelle von Ajaccio zu 
überrumpeln, um sie und die Stadt den Paolisten zu entreißen und 
wieder in französischen Besitz zu bringen, welcher Versuch ihnen 
jedoch mißlang. Offenbar war dies, nebst der Stimmung und den 
Beschlüssen derVersammlung in Corte die unmittelbare Ursache, daß nun 
die Häuser der franzosenfreundlichen Korsen in Ajaccio geplündert 
und ihr Besitz devastiert wurde, darunter auch, wie wir wissen, 
der der Bonapartes. 

Die angesichts dieser Wendung der Dinge ganz machtlosen 
Kommissäre beschlossen nun sich zu trennen, und während Lacombe^ 
St. Michel auf Korsika zurückblieb, um die wenigen noch von den 
Franzosen innegehabten Plätze zu verteidigen, eilten Saliceti und 
Delcher nach Frankreich, um Verstärkungen zu holen. Über Ver^ 
anlassung und Schilderung Salicetis beschließt am 17. Juli der 
Konvent, Paoli als Verräter an der französischen Republik und als 
vogelfrei zu erklären, sowie gegen eine Anzahl seiner hervorragenden 
Anhänger die Anklage zu erheben, was — wie bereits erwähnt — 
die tatsächliche Auslieferung Korsikas an England zur Folge hatte. 


Über die Anteilnahme Napoleons an diesen Vorgängen, seine 
Stellung zu denselben, sowie über die Motive dieser Stellungnahme 
äußert sich Chuquet wie folgt. 

Napoleon habe sich ebenso wie Saliceti, wie Arena, wie 
Volney gegen Paoli erklärt,« denn der Mensch, nach dem er sich 
richtete und dem er zu folgen beschlossen, sei Saliceti gewesen. 
Er habe schon im Ungestüm seiner Jugend lebhafte Bewunderung 
für Saliceti empfunden und der Einfluß der Publikationen Salicetis 
mache sich auch in den Jugendschriften Napoleons geltend. Sie traten 
miteinander in nähere Berührung sowohl im Jahre 1792 auf Korsika 
als auch dann in Paris,« sie seien auch miteinander in Korrespondenz 
gewesen, die stellenweise tatsächlich das Gepräge inniger, wenn auch 
junger Freundschaft trägt. 

Unter Salicetis Einfluß, meint dieser Autor, habe sich Napoleon 
endgiltig und für immer Frankreich zugewendet, nachdem er sich 
überzeugt hatte, daß Korsika nicht unabhängig sein könne, ja nicht 
sein dürfe. Und nun schwankte er nicht mehr, um bei jeder Gelegen¬ 
heit seine Anhänglichkeit an Frankreich zu bekunden,« ja er wurde 
in diesem seinen Gefühl nicht im geringsten dadurch beirrt, daß vor 
kurzem erst durch das Gesetz vom 2. September 1792 der Konvent 






Der Wendepunkt im Leben Napoleons I. 


329 


der Familie Bonaparte die ihr seinerzeit vom König eingeräumte 
Erbpacht der öffentlichen Güter: Haus Boldrini und Besitz Mitteli 
entzogen hatte. 

Außer diesem, wie wir sehen, als recht weittragend postulierten 
Einfluß von Saliceti hätte aber audi die Haltung Paolis gegenüber 
den Bonapartes zum Abfall Napoleons von ihm beigetragen. Paoli 
soll nämlich nichts dazu getan haben, um Napoleon vom Abfall 
abzuhalten, da er Mißtrauen gegen die Söhne Charles hegte, eben 
weil sie die Söhne ihres Vaters waren, der, nachdem er Paoli ge¬ 
dient, sich nicht gescheut habe, um die Gunst der französischen Macht¬ 
haber zu werben und die Beweise derselben anzunehmen. Deshalb 
habe sich Paoli vor dieser unruhigen und von Ehrgeiz verzehrten 
Familie in acht genommen und sie kühl behandelt,* und nur deshalb, 
weil er sich mit ihnen nicht »amalgamieren«, gemein machen wollte, 
habe er Lucian bei Anerkennung aller seiner Talente die Stelle des 
Sekretärs verweigert. Er sei auch mit der Haltung Josephs im Direk¬ 
torium unzufrieden gewesen und habe ihn dies oft fühlen lassen,* 
aber auch Napoleon sei vom Gouverneur nicht viel besser behandelt 
worden. Denn er habe ihm bei der Überreichung der Exemplare der 
von Napoleon verfaßten und Paoli verteidigenden »Lettres ä Butta^ 
fuoco« nur kühl gedankt, sein Ersuchen um Ausfolgung von Doku^ 
menten, die er für seine Geschichte Korsikas benötigte, trocken ab^ 
geschlagen, überdies aber auch die vakante Stelle seines Adjutanten 
ad personam, um die, wie Chuquet vermutet, sich auch Napoleon 
beworben haben dürfte, nicht ihm, sondern einem anderen verliehen. 
Außerdem sei Paoli in dieser seiner abwehrenden Haltung gegen¬ 
über den Bonapartes von dem geschworenen Feind derselben, Pozzo 
di Borgo, bestärkt worden. 

Unter dem Einfluß dieser Motive hätten nun die Brüder 
Bonaparte Stellung genommen gegen den Gouverneur, zumal Joseph 
nicht mehr ins Direktorium gewählt wurde und Napoleon durch 
den sardischen Mißerfolg außer sich war,* beide nahmen auch keinen 
Anstand, im Ajaccioer Patriotenklub sich in Angriffen gegen Paoli 
zu ergehen, dem sie sowohl »inquisitorischen Ehrgeiz« als auch 
Mangel an Liebe für Frankreich und Sympathien für England vor¬ 
warfen und den sie für das Mißglücken der sardischen Expedition 
verantwortlich machten,- zugleich aber brüsteten sie sich mit ihrer 
Verbindung mit Saliceti, von dem sie einst ihren Anteil an Macht 
und Einfluß erhofften. 

Als der Haftbefehl gegen Paoli in Korsika anlangte, befand 
sich Napoleon in Ajaccio, wie gewöhnlich mit gespannter Aufmerk^ 
samkeit die Begebenheiten verfolgend. Die Nachricht erschreckte und 
verwirrte ihn. 

Denn er begriff sofort, daß ein Krieg zwischen Korsika und 
der Republik im Anzuge war und daß Paoli, der sich im Besitze 
der militärischen Machtmittel befand, zumindest am Anfang dieses 
Ringens den Sieg davontragen und dann seine Widersacher ächten 




330 


Dr. Ludwig Jekels 


und ihres Besitzes berauben könnte. Er wußte, daß die siegreichen 
Paolisten auch die Bonapartes und ihr Eigentum nicht schonen 
würden, und aus dieser schweren Besorgnis um das Wohl seiner 
Familie habe nun Bonaparte die Verteidigungsschrift für Paoli 
verfaßt. 

Überdies aber und da ihm diese Adresse als Kundgebung 
nicht bedeutsam genug erschien und er eine imposantere beab¬ 
sichtigte, richtete er, dem Rate Masserias folgend, der diese Ge¬ 
legenheit wahrnahm um Napoleon mit Paoli zu versöhnen, eine 
Bitte an die Munizipalität von Ajaccio, dieselbe möge den Partei¬ 
ungen ein Ende machen und eine allgemeine Versammlung ein* 
berufen, in der jeder Bürger von neuem den Eid der Treue an 
die französische Republik leisten sollte. 

Trotz der tiefen Spaltung, ja erbitterten Feindseligkeit, die 
zwischen dem Patriotenklub und der paolistischen Societe des Amis 
incorruptibles du peuple bestand, einer Feindseligkeit, an der nicht 
zum geringsten Teile Napoleon schuldtragend war, da er Ursprünge 
lieh gegen die von den Paolisten angestrebte Fusion beider Klubs 
auftrat, wandte er sich an die gegnerische Vereinigung jetzt selbst 
mit dem Vorschläge der Fusion, und wollte ihr beide von ihm 
verfaßten Adressen vorlegen. 

Abgewiesen von der Societe des Amis, die sich nun weigerte, 
mit ihm in Unterhandlungen zu treten, läßt er sich nicht abschrecken 
und wendet sich an — Paoli, indem er Masseria ersucht, dem 
General zu schreiben. Er meint zu Masseria: »Paoli verdächtigt 
mich / frage ihn, was ich machen soll, um ihm meine Anhänglichkeit 
zu beweisen.« Doch Paoli hatte eben den Brief Lucian Bonapartes 
an seine Brüder aufgefan^en, in dem dieser den Nichtsahnenden 
von seinem Auftreten in Toulon und der Denunziation Paolis Mit¬ 
teilung macht. Da ist es wohl begreiflich, daß er die ihm angebotene 
Freundschaft Napoleons geringschätzig abweist. 

Nachdem er derart alle seine friedlichen Absichten 1 gescheitert 
sah, soll Napoleon in den letzten Tagen des Monats April den 
verwegenen Versuch gemacht haben, sidi der Zitadelle von Ajaccio 
auf listige Weise zu bemächtigen, der jedoch gleichfalls mißlungen ist. 

Nun wurde ihm aber der Boden von Ajaccio zu heiß. Denn 
inzwischen hatte Paoli dafür Sorge getragen, daß der Brief Lucians 
auf der ganzen Insel bekannt werde, und überdies wußte es jeder* 
mann, daß Joseph Bonaparte sich in Bastia bei den Konvents¬ 
kommissären befand, sowie daß die Bonapartes die Vertrauten 
Salicetis und Anhänger seiner Partei waren, welcher die Schuld an 
der Verfolgung Paolis durch den Konvent sowie an all' den Wirren 


1 Salgues und Arnault führen sogar an, Napoleon hätte in diesen 
Tagen eigenhändig an den Mauern von Ajaccio die Antwort des Municipium 
angeschlagen, »mit welcher dasselbe die Grundlagen des vom Konvent gegen Paoli 
erlassenen Dekretes widerlegt«. 





Der Wendepunkt im Leben Napoleons I. 


331 


beigemessen wurde. Um also dem grimmigen Zorn der Paolisten 
zu entgehen, beschloß Napoleon, Ajaccio zu verlassen und sich zu 
den Kommissären nach Bastia zu begeben. Er erreichte dies Ziel 
erst auf einem Umwege und nachdem er einer großen Gefahr 
entronnen war, denn er wurde unterwegs von ihm nachgeschickten 
Gendarmen Paolis verhaftet und konnte sich nur durch die Schlau¬ 
heit seines Führers aus der Haft erretten. 

Hier in Bastia bleibt Napoleon nicht müßig. Denn es gelingt 
ihm, die Kommissäre von der Möglichkeit, sich Ajaccios zu be¬ 
mächtigen, zu überzeugen, und sie zur Veranstaltung einer Expe¬ 
dition gegen diese Stadt zu veranlassen. Doch scheitert auch dieser 
Plan an der Wachsamkeit und Treue der paolistischen Besatzung 
der Zitadelle, sowie der unversöhnlichen Haltung der Bevölkerung. 

Ein Zurück gab es nun nicht mehr,* der Bruch mit Paoli war 
endgiltig vollzogen. Außer sich vor Wut, verfaßt nun Napoleon, 
der inzwischen von der Flucht der Seinigen, der Zerstörung des 
Bonaparteschen Besitzes und von der Ächtung in der Versammlung 
vom 27. Mai erfuhr, die Anklageschrift gegen Paoli, um wenige 
Tage darauf nach Toulon zu übersiedeln, und jegliche Bande mit 
seiner korsischen Heimat zu zerreißen. 


Wir haben im Vorstehenden die Darstellung Chuquets 
relativ ausführlich mitgeteilt, nicht bloß um den Leser zu orientieren, 
sondern auch um zu bekunden, daß wir, ferne von jeder Einseitig¬ 
keit, außer unseren hier zu entwickelnden Gesichtspunkten auch die 
anderen nicht nur nicht übersehen, sondern dieselben sehr wohl zu 
berücksichtigen, ja sogar, wie im vorliegenden Falle, hoch einzu¬ 
schätzen bereit sind. 

Indessen — bei aller Würdigung der Angaben Chuquets 
— stehen wir nicht an, zu erklären, daß uns dieselben nach mancher 
Richtung lückenhaft und daher unbefriedigend erscheinen. 

Dieser Einwand betrifft vor allem die Kardinalfrage nach den 
Ursachen der Abwendung Napoleons von Paoli, die mit der Mit^ 
teilung Chuquets: weil er Saliceti folgen wollte, zumal ihn Paoli 
ablehnend behandelt hat, unseres Erachtens nicht genügend ge¬ 
klärt sind. 

In obiger Darstellung des Paoli-Konfliktes begeht Chuquet 
den Fehler, zu übersehen, welch einen enorm hohen, wenn nicht 
überhaupt den höchsten affektiven Wert in Napoleons 
Seelenleben Paoli repräsentierte, mit dem er seit seiner Kind^ 
heit aufgewachsen, mit dem er geradezu unzertrennlich verwachsen 
schien! Niemand, der über die Kindheit und Jugend Napoleons gründ¬ 
lich orientiert ist, kann dies leugnen, und auch Chuquet betont und 
hebt es in den früheren Perioden von Napoleons Leben sehr nach¬ 
drücklich hervor, um es gerade bei der Erörterung des Paoli- 
Konfliktes fast ganz zu vernachlässigen! 






332 


Dr. Ludwig Jekels 


Tut man dies aber nicht, dann bleibt das Problem, ungeachtet 
der uns von Chuquet gegebenen Erklärung fast in ungeminderter 
Stärke, vielleicht nur um etwas verschoben, weiter bestehen,- denn 
nach wie vor halten wir es für erklärungsbedürftig, wieso es kommt, 
daß ein Mensch, der durch zwei Dezennien ein Ideal hegt, dem er 
mit der ganzen Glut seiner Seele anhängt, von dem er z. B. noch 
vor drei Jahren meint <falls Korsika Frankreich nicht inkorporiert worden 
wäre, dann): »hätten wir Paoli gerufen, diesen großen Menschen, 
den Gegenstand unseres Enthusiasmus, den nur vierzigtausend 
Bajonette und unglückselige Umstände uns entreißen konnten, und 
wir hätten ihm gesagt: Du, der einzige Mensch, zu dem Korsika 
Zutrauen hat, übernimm wieder das Steuer des Schiffes, das du so 
gut zu lenken weißt,- unsere Liebe, unveränderlich wie deine 
Tugenden, ist gewachsen durch dein Mißgeschick,- Räuber haben 
über uns geherrscht und unsere Erde ist mit ihren Opfern bestreut,- 
aber sie konnten uns nicht erniedrigen,- erscheine, wir sind nodi 
deiner würdig«,- über welches Ideal er noch vor etwa einem 
halben Jahre aus Paris, für den Fall, als Korsika von Frankreich 
freigegeben werden sollte, sich äußert: »Paoli ist alles und wird 
alles sein«, dahin gelangt, dieses Ideal in einer ganz kurzen Spanne 
Zeit gegen die Freundschaft und Führerschaft des ihm unvergleichlich 
weniger bedeutenden, bis dahin kaum jemals von ihm besonders 
hervorgehobenen Saliceti restlos einzutauschen, ja dasselbe sogar 
direkt zu bekämpfen? 

Und ich meine auch, daß es sich hier um eine derart elementare 
psychische Umwälzung handelt, daß sie auch durch die von Chuquet 
gewiß mit Recht hervorgehobene ablehnende Haltung Paolis gegen¬ 
über den Bonapartes kaum provoziert worden sein mag, so daß 
dieselbe nur die Bedeutung eines unterstützenden Momentes beam* 
Sprüchen kann. 

Besonders kraß zeigt sich bei Chuquet diese Außeracht¬ 
lassung der affektiven Bewertung des Verhältnisses Napoleons zu 
Paoli z. B. darin, daß er als Motiv Napoleons bei der Abfassung 
der Verteidigungsschrift lediglich die Angst und die Sorge um den 
Besitz der Seinigen annimmt. 

Gewiß war Bonaparte auch sehr besorgt um die Seinigen 
und deren Habe als er vom Haftdekret erfuhr, und gab dem un¬ 
verhohlen Ausdruck,- gewiß war dies mit ein Motiv zur Abfassung 
der Verteidigungsschrift. Es heißt aber das ganze Verhältnis ver^ 
kennen, wollte man, wie Chuquet es tut, nur diesem Motiv die 
Entstehung dieser Schrift zuschreiben. Und ich meine, daß die weiteren 
oben geschilderten Bemühungen Bonapartes und seine Annäherungs¬ 
versuche an Paoli gewiß nicht dagegen sprechen,- abgesehen davon, 
daß er dadurch, daß er sich durch die Entziehung der für seine 
Familie so bedeutsamen Erbpacht vom Attachement an Frankreich 
nicht abhalten ließ, immerhin den Beweis erbrachte, daß er materielle 
Vorteile idealen Gütern unterzuordnen weiß. 




Der Wendepunkt im Leben Napoleons I. 


333 


Aber dieses Übersehen der affektiven Tragweite des Verhält¬ 
nisses Napoleons zu Paoli wird bei Chuquet womöglich noch 
überboten von der Unterschätzung desselben Faktors, die er sich 
bei Besprechung der nationalen Wandlung Napoleons, — vom 
Korsentum zum Franzosentum, — zuschulden kommen läßt. Da 
wird uns zur Erklärung bloß mitgeteilt, es sei dies »unter dem 
Einfluß« von Saliceti eingetreten, ohne daß auch nur ein weiteres 
Wort darauf verwendet würde, uns aufzuklären, worin dieser 
spezifische Einfluß bestand, mit welchen Mitteln er sich geltend 
machte und welche Saiten in Napoleons Seele durch ihn in Schwin* 
gung gebracht wurden, damit dieses Resultat erzielt werde,* ebenso* 
wenig wird aber auch die Frage erwogen, warum dieser Einfluß 
Salicetis sich erst jetzt und nicht schon viel früher geltend gemacht 
hatte, oder, warum Napoleon, für den doch hier so ohne weiteres 
Beeinflußbarkeit in diesen Dingen postuliert wird, nicht schon früher, 
etwa in der Pariser Militärschule oder in seinen französischen 
Garnisonen umgestimmt wurde, wo es doch an franzosenfreund* 
liehen Einflüssen gewiß nicht gefehlt hat. 

lind so meine ich, daß diese Mitteilung Chuquets uns kaum 
irgendwelche nennenswerte Aufklärung gebracht hat über das ge* 
radezu kolossale psychologische Problem dieses nationalen Gesinnungs* 
wandeis Napoleons, und daß es nach wie vor der Erklärung be* 
dürftig sei, wieso es kommt, daß ein Mensch, der nahezu durch 
zwei Dezennien einen elementaren Haß gegen die Franzosen hegt, 
der noch vor kurzem in seinen an Franzosen gerichteten Briefen 
von Frankreich stets als »votre pays« und »votre nation« spricht, 
noch vor einem Jahre es versucht, die Franzosen von der Ajaccio'er 
Festung zu verdrängen, ja von dem noch vor einigen Monaten, 
zur Zeit seines Pariser Aufenthaltes, derselbe Chuquet meint: 
»Seine Phantasie ist nicht beruhigt,* sie quält ihn. Er hat nichts im 
Kopfe als seine Insel«, und der noch von Paris aus seinem Bruder 
Joseph schreibt: »Nun ist es wahrscheinlicher denn je, daß all dies 
mit unserer Unabhängigkeit enden wird«, und der nach seiner Er* 
nennung zum Hauptmann, trotz der scharfen Mahnung des Ministers 
von Paris aus nicht zu seinem im Kriege befindlichen Regiment, 
sondern wieder nach Korsika sich begibt, dahin gelangt, in der 
zwischen seiner Rückkehr aus Paris <15. Oktober 1792) und dem 
Konfliktausbruch mit Paoli sich ergebenden, etwa fünf Monate be* 
tragenden Spanne Zeit aus dem Saulus ein Paulus zu werden, 
seine zwanzigjährige Vergangenheit zu vergessen, ja dieselbe sogar 
in dem Maße ins Gegenteil zu verwandeln, daß er, den meisten 
Autoren zufolge, dieser neuen Liebe bedenkenlos sein altes Idol, 
Paoli, opfert? Meint ja sogar F. Kircheisen, daß selbst die 
Paoli verteidigende Adresse bloß dieser Liebe Napoleons für Frank* 
reich entsprungen ist, »dem er keinen besseren Dienst erweisen zu 
können glaubte, als daß er dem Konvent die Widerrufung des 
Dekretes gegen Paoli empfehle!« 




334 


Dr. Ludwig Jekels 


Doch bin ich nicht der einzige, der an dieser Stelle diese 

Reklamation erhebt. Denn H. Conrad, der Herausgeber und Über¬ 
setzer des »Memorial de St. Helene« {Napoleons Leben von ihm 
selbst) erhebt in der Vorrede dieselbe Forderung mit nachstehenden 
Worten: »Seiner Jugend und der Geschichte seiner Familie maß 
der Kaiser keinerlei historische Bedeutung zu. Sein Leben wollte 
er begonnen wissen mit den ersten Waffentaten, die seinen Ruhm 
begründeten. All das was ihn werden ließ, sollte ausgestrichen sein, 
und er handelte damit im Geiste der großen Republik, die auch mit 
der Geburt stolz das Jahr I. datierte.« Doch mögen bei 

Napoleon auch andere Gründe mitgespielt haben. Als 

Franzose fühlte er sich zum erstenmal, da er die Artillerie vor 
Toulon kommandierte. Und als Franzosen mußte ihm seine 
Vergangenheit bis Toulon nicht nur historisch unwichtig, nein, 
geradezu unangenehm erscheinen. Denn vorher war er 
Korse. Und das Kapitel der Jugendgeschichte hat darum 
die Aufgabe darzustellen: wie aus dem Korsen ein 

Franzose wurde.« 

Bei all den angeführten, das Verständnis so empfindlich 
störenden Lücken, kann ich es, wiewohl mit seinen Ausführungen 
sonst nicht einverstanden, Fournier nur als Verdienst anrechnen, 
daß er, offenbar zum Teil aus dem gleichen Empfinden heraus, 
diese Franzosenliebe Napoleons als Motiv des Bruches mit Paoli 
gänzlich vernachlässigt und rein selbstische Motive, wie Napoleons 
maßlosen Ehrgeiz, Herrschsucht und Strebertum, für diesen Abfall 
verantwortlich macht und in ihnen die treibenden Kräfte erblidct, 
die es bewirkten, »daß Napoleon aufhörte, Korse zu sein, ohne 
daß er es jemals dahin gebracht hätte, Franzose zu sein«. 

Indessen halte ich auch diese Erklärung aus mehreren Gründen 
für viel zu wenig besagend und unzureichend. 

Denn abgesehen von der sich aufdrängenden Frage, ob denn 
der Ehrgeiz, namentlich ein so exorbitanter, wie er Napoleon zu¬ 
geschrieben wird, ein psychisches Letztes, ein Element ist, das keine 
weitere Zurückführung zuläßt, ob er nicht vielmehr eine zusammen¬ 
gesetzte, somit noch reduzierbare psychische Erscheinung ist, müßte 
uns vor allem zum restlosen Verständnis erklärt werden, warum 
derselbe bei Napoleon gerade in diesem Momente sich so kraß 
geltend gemacht hat, und warum derselbe gerade diese und keine 
anderen Formen gewählt hat. 

Überdies aber erscheint es mir schon gewagt, sich mit der 
Erklärung durch Ehrgeiz zu begnügen, wenn ich mir nur vergegen¬ 
wärtige, wie er sich etwa anderthalb Jahre vorher, im Jahre 1791, 
in seinem »Discours de Lyon« darüber ausläßt, nachdem er über 
die »passions violentes«, die ungestümen Leidenschaften im all¬ 
gemeinen gepredigt hat: »Ist nun die Jugend vorüber und derselbe 
junge Mann hat das Mannesalter erreicht und der Ehrgeiz hat sich 
seiner bemächtigt? Der Ehrgeiz mit dem blassen Gesidit, mit dem 







Der Wendepunkt im Leben Napoleons I. 


835 


irrigen Blicke, mit hastigem Gang, mit unregelmäßigen Be* 
wegungen und mit dem sardonischen Lächeln? Das Verbrechen be¬ 
deutet ihm nicht mehr denn ein Spiel, Ränke nicht mehr denn ein 
Mittel,- die Lüge, die Verleumdung, die Schmähsucht sind ihm bloß 
ein Argument, eine rhetorische Wendung. Und wenn er schon zur 
leitenden Stellung gelangt? Da ermüdet ihn bloß die Huldigung der 
Völker.« 

Oder an einer anderen Stelle: »Aber der Ehrgeiz, dieses 
fressende Begehren, den Dünkel und die Unmäßigkeit zu befriedigen, 
der nie zufriedengestellt ist, der Alexander von Theben nach Persien, 
von Granichus nach Issus, von Issus nach Arbella und von da nach 
Indien führt,- der Ehrgeiz, der ihn die Welt erobern und verwüsten 
läßt, um ihn doch nicht zu befriedigen, dessen Feuer ihn verzehrt,- 
in seinem Wahn weiß er nicht mehr, welchen Lauf er ihm geben 
soll, er wird von ihm getrieben und verirrt sich . . . Alexander glaubt, 
ein Gott zu sein, ein Sohn Jupiters und will es auch die anderen 
glauben machen . . .« Oder an einer anderen Stelle: »Idi suchte 
das Glück und fand bloß den Ruhm!« Oder im »Sur l'amour de 
la patrie«: »Unsere Seele wird zweifellos entflammt durch die Er* 
zählung der Taten von Alexander, Philipp, Karl d. Gr., Turenne, 
Conde, Macchiavelli und so vieler anderer berühmter Männer, die 
in ihrer Heldenlautbahn sich zum Leitstern die Schätzung der Men* 
sehen nahmen,- aber welch ein Gefühl beherrscht unsere Seele beim 
Anblick von Leonidas und seiner dreihundert Spartaner! Die gehen 
nicht in eine Schlacht — sie rennen in den Tod für das ihr Vaters 
land bedrohende Schicksal.« 

Ja sollte die hier bekundete gewaltige Einsicht uns doch nicht 
zur Vorsicht mahnen vor der allzustarken Würdigung des Ehrgeiz* 
motives! 

Und überdies möge man erwägen, daß Napoleon nach seiner 
Flucht aus Korsika in der recht subalternen Stellung eines Artillerie* 
hauptmannes seinen Dienst antrat, daß ihm seitens Frankreichs und 
dessen Adhärenten wie Saliceti gar keine Avancen gemacht und 
keine Vorteile zugewendet wurden, daß seine Familie während 
dieser Zeit zuerst in einem Dorfe La Valette leben mußte, weil ihr 
der Aufenthalt in Toulon zu teuer war, und daß sie dann in Mar* 
seille in einer ans Elend grenzenden Armut ihr Dasein fristete, endlich 
und hauptsächlich, daß Napoleons Aufstieg und damit die Besserung 
in den Verhältnissen seiner Familie erst durch seine ehrlich verdiente 
Leistung bei der Belagerung von Toulon — dessen Rückeroberung 
im wesentlichen Bonaparte zu verdanken war — ihren Anfang 
nahmen, um die Unzulänglichkeit dieser Motivierung durch Ehrgeiz 
einzusehen. 

Und dergestalt erachten wir, daß die beiden hier in Rede 
stehenden Fragen: warum und wieso Napoleon aus dem Korsen 
zum Franzosen wurde, sowie: warum Napoleon mit Paoli ge* 
brochen hat, Fragen, welche stellenweise innig miteinander zusammen* 





336 


Dr. Ludwig Jekels 


hängen und ineinanderfließen, und deren Beantwortung wir für un¬ 
erläßlich halten, wenn nicht anders dieser vielleicht bestimmendste 
Abschnitt im Leben Napoleons in ewiges Dunkel gehüllt bleiben 
soll, durch die bisherige Forschung kaum in genügender, geschweige 
denn in zufriedenstellender Weise beantwortet wurden. 

Dies Scheitern all der bisherigen Bemühungen wird uns aber 
kaum verwundern, wenn wir bedenken, daß sich dieselben bloß auf 
die Erforschung der Domäne des bewußten Seelenlebens Napoleons 
erstreckten, während, wie wir anzunehmen uns für berechtigt halten, 
die bestimmenden Einflüsse hier dem unbewußten Anteile des* 
selben entsprangen, dessen Erschließung und wenn auch nur schemati* 
sehen Darstellung, — wie übrigens bei der ungeheueren Größe des 
Materials kaum anders möglich, — wir uns nun zuwenden wollen. 

Kein geringerer als Victor Hugo erkannte offenbar die bei 
Bonaparte wirksamen Kräfte, als er von ihm meinte: 

»Bonaparte fut l'immense somnambule d'un reve ecroule.« 


II. 

Zum Zwecke eines analytischen Versuches sind wir bei 
Napoleon insoferne gut daran, als uns das hiezu notwendige 
Material, wie Pubertätsphantasien und Kindheitserinnerungen, in 
ziemlich reichlichem Ausmaße zur Verfügung steht. Die ersten finden 
wir in seinen 1786 bis 1793, somit zwischen dem siebzehnten und 
vierundzwanzigsten Lebensjahre verfaßten Schriften, die uns nun 
durch Wiederauffindung der durch Libri seinerzeit hinterzogenen 
und verkauften Manuskripte Napoleons wieder zugänglich ge¬ 
worden sind. 

In diesen Jugendschriften Napoleons ist — nach Ansicht aller 
Biographen — der große Einfluß von zwei Schriftstellern unver* 
kennbar, nämlich von Rousseau und Raynald. Den ersten von 
ihnen vergöttert Napoleon geradezu in dieser Zeit <1785 bis 
1792),- er ist nach ihm der tiefste, der durchdringendste Philosoph, 
und es gibt kaum ein Werk desselben, das er nicht bewunderns* 
wert fände. Die Erklärung für diese natürlich ausgezeichnet ratio* 
nalisierte Liebe, ist wahrlich nicht schwer: schrieb doch Rousseau im 
Jahre 1762 in seinem »Contrat social«: »Es gibt in Europa noch 
ein Land, welches der Gesetzgebung fähig ist: das ist die Insel 
Korsika. Der Mut und die Standhaftigkeit, mit welcher dieses 
wackere Volk seine Freiheit wieder zu erlangen und zu verteidigen 
gewußt hat, verdienten wohl, daß es irgendein Weiser lehrte, wie 
es sich dieselben sichern könne. Mir ahnt gewissermaßen, daß diese 
kleine Insel Europa eines Tages in Erstaunen setzen wird.« Und 
war es doch Rousseau, der eines Tages es als seinen sehnlichsten 
Wunsch aussprach, den Rest seiner Tage auf dem korsischen Eiland 
verbringen zu können. Und überdies stand ja Rousseau seinerzeit 
in regem Briefwechsel mit Paoli. 





Der Wendepunkt im Leben Napoleons I. 


337 


Nicht minder korsenfreundlich war auch das andere literarische 
Vorbild Napoleons, der Abbe Raynald, der Verfasser der »L/histoire 
philosophique de deux Indes«, der in diesem Werke in flammenden 
Worten die Perfidie und die Gier der die Korsen bedrückenden 
Genuesen brandmarkt, und den Korsen die Wiedererrichtung einer 
nationalen Regierung sowie das Ende der französischen Herrschaft 
vorhersagt. 

Die Kindheitserinnerungen aber verdanken wir dem geradezu 
unermüdlichen Sammeleifer der Biographen, die schon zu Zeiten 
des Konsulats und des Empire damit begonnen haben. Ich betone 
hier, daß die Authentizität der hier zur Verwendung gelangenden 
Berichte über jeden Zweifel erhaben ist, denn dieselben werden 
selbst von solchen Forschern als sichergestellt angeführt, die, wie 
z. B. Chuquet und Masson, anderen Überlieferungen gegenüber 
sich äußerst kritisch verhalten und nicht zögern, das Legendäre und 
Romanhafte der historischen Wahrheit zu opfern. 

Auf dieses Material gestützt wollen wir nun den Paoli- 
Konflikt untersuchen und die während desselben von Napoleon 
verfaßten Schriftstücke ins Auge fassen. 

In dem ersten, in der Verteidigungsadresse, möchte ich den 
Passus: II se trouve ä la veille de devoir defendre la patrie 
contre une agression etrangere <er steht unmittelbar vor 
der Pflicht der Verteidigung des Landes gegen einen 
fremden Angriff) ganz besonders hervorheben. 

Denn diesem Begriff des »Fremden«, »etranger« begegnen wir 
in Napoleons literarischem Nachlaß aus jener Zeit recht häufig, und 
zwar stets mit einem Beiklang von Feindseligkeit, der sehr weit 
über das hinausreicht, was dieser Begriff schon natürlicherweise — 
als Gegensatz zum Eigenen — beinhaltet. 

Die beiden von ihm damals — als Unterdrücker seines Volkes 
— so gehaßten Nationen, Genuesen und Franzosen, werden 
stellenweise unter diesen generellen Begriff des »etranger« sub^ 
summiert,- ja, einmal stellt er sogar die beiden Begriffe »fremd und 
feind« ganz deutlich als äquivalent hin, als er eine in den genueser* 
korsischen Kämpfen des dreizehnten Jahrhunderts vergewaltigte 
Genueserin ihre Klage darüber vor dem Korsenführer Sinucello 
della Rocca mit den Worten einleiten läßt: »Je suis etrangere et 
ton ennemi.« <Lettres sur la Corse, Masson et Biagi, pag. 408.) 
Aber auch sonst trägt man bei dieser Lektüre den Eindruck der 
stark negativen Affektfärbung davon, von der bei ihm dieser Begriff 
begleitet ist: so z. B. wenn er, 1. c., p. 416, von »fremder Hilfe«, 
»secours etranger« spricht, die er als eine unsinnige Maßregel <de- 
marche imprudente) bezeichnet, die »dem Vaterlande teuer zu stehen 
kam«, oder mit besonderer Emphase über das Schicksal der in das 
»climat etranger« verschickten Korsen wehklagt. <Lettres sur la Corse.) 

Und diese Stellung Napoleons zu den Fremden, zu denen 
man sich nur immer »contre«, nie aber »avec« stellen, die man 


Imago III/4 


22 




338 


Dr. Ludwig Jekels 


sich stets fern halten, nie zu Freunden oder Bundesgenossen nehmen 
sollte, und die er eigentlich nur in der Rolle der Feinde kennt, 
diese Einstellung, die auch in ihrer gegenteiligen Ausprägung, näm¬ 
lich in der tiefen Abneigung gegen den Bürgerkrieg wirksam ist, 
auf den er in seinem »Souper de Beaucair« von einer solchen Höhe 
herabsieht und »der bei Napoleon niemals Sympathien fand« <Kirch* 
eisen), scheint mir nicht bloß ein Produkt der so oft von den Autoren 
hervorgehobenen Clan-Psychologie der Korsen zu sein, sondern 
hat auch seine individuellen wurzeln. Zumindest ist aber dieser 
Fremdenhaß Napoleons sehr alten Datums. Denn einer ausgezeichnet 
verbürgten Mitteilung zufolge, die ich hier nach Cos ton wieder^ 
gebe, hat er sich bereits als erster Konsul in einer seiner zahlreichen 
Unterhaltungen mit Herrn de l'Eguille, seinem ehemaligen Geschichts¬ 
lehrer in der Militärschule in Paris aus dem Jahre 1784, den er oft 
in Malmaison sehr gnädig empfangen hat, diesem gegenüber ge¬ 
äußert: 

»Von allen Ihren Lektionen war es die über die Revolution 
des Connetable de Bourbon, die mir den größten Eindrude gemacht 
hat. Aber Sie hatten Unrecht, mir zu sagen, sein größtes Verbrechen 
sei es gewesen, daß er seinem König den Krieg gemacht hat,* sein 
wirkliches Verbrechen war, daß er herangerückt ist, um Frank¬ 
reich mit Fremden anzugreifen. <De toutes vos le^ons, celle 
qui m'a laisse le plus d'impression c'est la Revolte du Connetable 
de Bourbon. Mais vous aviez tort de me dire, que son plus 
grand crime avait ete de faire la guerre ä son roi/ son veri- 
table crime fut d'etre venu attaquer la patrie, avec les 
etrangers).« 

In der zweiten, der Anklageschrift gegen Paoli, findet sich aber 
gleichfalls eine Stelle, die unsere volle Aufmerksamkeit verdient. 
Sie gipfelt nämlich in dem Vorwurf: »II la <la patrie) soustrait 
a l'association de la France«, »er hält sie ab von der Ver^ 
einigung mit Frankreich.« 

Ich habe bereits in der Exposition darauf hingewiesen, wie 
gewaltig sein Haß gegen diese Nation noch knapp vor dem Paoli- 
Konflikt war,- und Chuquet hat da Recht, wenn er meint: »In 
dieser Epoche ist der zukünftige Monarch Frankreichs, der Mann, 
der ihm einmal den Namen der großen Nation verleihen und zur 
Devise ,Frankreich über alles 7 nehmen wird, kein Franzose,- er 
verachtet diese Franzosen, die er höher denn alle Völker einst ein¬ 
schätzen und zum ersten Volk der Erde proklamieren wird,- er 
lehnt den Titel eines Franzosen ab, den er später als den schönsten 
der Erde bezeichnet.« Gewiß hat Chuquet da recht, aber doch 
mit der Einschränkung, daß dieser Franzosenhaß Napoleons nicht 
bloß auf diese Epoche beschränkt, sondern ungleich älteren Datums 
ist, fast so alt wie Napoleon selbst! 

Erzählt doch Chuquet selbst, daß er noch in der Pariser 
Militärakademie sich gegen Frankreich auflehnte, immer wieder von 




Der Wendepunkt im Leben Napoleons I. 


339 


Paoli schwärmte und mit ihm zusammen kämpfen wollte für die 
Unabhängigkeit Korsikas,* hier, wie noch früher in Brienne, rühmte 
er die Korsen, die Europa in ihrem Widerstande gegen Frankreich 
bewundert hat,* wie in Brienne verdammte er auch hier diesen von 
einem großen Volk einem kleinen Völkchen aufgedrängten Krieg, 
und geriet dadurch stets in arge Konflikte sowohl mit den Vor** 
gesetzten als auch mit den Kameraden. Kaum neunjährig, beim 
Eintritt in die Schule zu Brienne, bricht er, nicht im geringsten durch 
das fremde Milieu eingeschüchtert und ganz unbekümmert um das^ 
selbe, beim Anblick des Porträts des Herzogs von Choiseul, des 
Staatsmannes, der Korsika den Genuesen abgenommen um es 
Frankreich anzugliedern, in wüste und leidenschaftserregte Schmähungen 
gegen denselben los. Und noch an anderen Kundgebungen dieser 
seiner Gesinnung in der Kindheit ist kein Mangel. Eine dieser 
Szenen aber, die wir bei Cos ton, aber auch bei anderen Bio¬ 
graphen finden, möchte ich mit ganz besonderer Schärfe hervorheben, 
weil sie uns eine für Napoleon richtunggebende Gefühlsströmung 
verrät und ein grundlegendes Element darstellt, sowohl für die 
psychologische Erschließung seiner Persönlichkeit als auch für die 
Lösung des vorliegenden Problems. Die betreffende Notiz besagt, 
Napoleon sei mit zirka neun Jahren beim Vorstand der Schule 
zur Tafel geladen gewesen und habe, wie gewöhnlich, von einem 
der Lehrer geneckt, diesem geantwortet: 

»Paoli war ein großer Mann, er liebte sein Vater** 
land,* und ich werde niemals meinem Vater, der sein 
Adjutant war, verzeihen, daß er behilflich war, Korsika 
mit Frankreich zu vereinigen. Er hätte seinem Schicksale 
folgen und mit jenem zusammen unterliegen sollen. <Paoli 
etait un grand homme,* il aimait son pays,* et jamais je ne pardon^ 
nerai ä mon pere qui etait son adjudant, d'avoir concouru ä la 
reunion de la Corse ä la France. II avait du suivre sa fortune 
et succomber avec lui.>« 

Denn abgesehen davon, daß diese Worte Napoleons selbst 
schon auf eine gewisse entgegengesetzte Rolle hinweisen, die er 
den Gestalten des Vaters und Paolis in seiner Vorstellung zuweist, 
braucht man ja bloß den Vorwurf an den Vater: »II a concouru 
ä la reunion« etc. mit dem fünfzehn Jahre später an Paoli ge¬ 
richteten »il la soustrait ä la reunion« in ihrer strikt konträren, 
sie geradezu zur Identität, zu zwei bloß verschiedenen Erscheinungs¬ 
weisen desselben Dinges stempelnden Gegensätzlichkeit zusammen¬ 
stellen, um sowohl die Bewertung dieses Ausspruches, als auch 
seine Hervorhebung zu rechtfertigen. 

Und im Lichte dieser Zusammenstellung hellen sich uns auf und 
verschärfen sich plötzlich die bis nun für die Geschichtsforschung so 
unbestimmten, uneinheitlichen Konturen der Napoleonischen Gestalt 
und wir werden die ungeheuer plastische Gegensätzlichkeit des 
Napoleon vor und nach seinem Bruche mit Korsika gewahr, wo 


22* 




340 


Dr. Ludwig Jekels 


aus dem bisherigen Franzosenhasser und Anglomanen — ein 
Franzose und Englandfeind, aus dem Verurteiler Alexander d. Gr. 

— sein schwärmerischer Bewunderer, aus dem grenzenlosen Ver* 
ehrer Rousseaus — sein Geringschätzer, der ihn einen langweiligen 
Schwätzer und Narren nennt, aus dem Jakobiner, GleichheitSf 
Schwärmer und Königsstürzer — der mit unerhörtem fürstlichen 
Glanz sich umgebende Oberbefehlshaber der italienischen Armee, 
erster Konsul und die Gottesgleichheit herbeisehnende absolute 
Kaiser wird. 

Und nicht minder gegensätzlich sind die beiden Napoleone, 
von denen der eine in der »Refoutation de Roustan« die Religion 
als schädlich für den Staat erklärt, Apollonius von Tyana hoch 
über Christus stellt, den Klerus verabscheut und Freimaurer wird, 

— der andere aber Wieland gegenüber behauptet, »das Christentum 
sei ein unübertreffliches philosophisches System, wodurch der Mensch 
mit sich selbst versöhnt und zugleich die Ordnung und Ruhe der 
Staaten ebenso stark verbürgt würden, wie Glück und Hoffnung 
der Individuen«, der sich nicht krönen lassen will, ohne den Segen 
des Papstes und diesen persönlich dazu nach Fontainebleau bezieht, 
und der sein Testament einleitet mit ■den Worten: »Ich sterbe in 
der apostolischen und römischen Religion, in deren Schoße ich 
geboren wurde.« 

Wir haben dergestalt den Konflikt mit Paoli eigentlich auf 
zwei Formeln zurückgeführt: 

»attaquer la patrie avec les etrangers« und 

»il a concouru ä la reunion de la Corse ä la France« 
und wollen dieselben nun analytisch interpretieren, zumal wir im 
Gegensätze zur nichtanalytischen Welt, die dem Kinde viel eher 
Orientierung selbst in der Politik als in Sexualibus zusprechen möchte, 
programmatisch keine ursprünglichen Affekteinstellungen zu ab¬ 
strakten Vorstellungen kennen, sondern dieselben immer auf recht 
konkrete, irdische Quellen zurückführen, da doch gerade die Psyche 
des Kindes durch mangelnde Abstraktionsfähigkeit, Konkretismus 
der Vorstellungen und Neigung zur Substitution der assoziierten 
Vorstellungen ausgezeichnet ist. 

Mit anderen Worten: Was bedeutet in den obigen Aus¬ 
sprüchen die Patrie (respektive Korsika) und was La France 
(respektive etrangers)? 

Wie bereits oben unter stellenweiser Anführung bemerkt 
wurde, finden wir in den literarischen Erzeugnissen Napoleons in 
dieser Zeit als stets wiederkehrendes Motiv eine heiße, geradezu 
unstillbare Liebe für sein korsisches Vaterland. Dieses Leitmotiv 
wird in denselben auf die unterschiedlichste Weise variiert und 
unter den mannigfaltigsten Gesichtspunkten erörtert, analysiert, und 
auf seine Existenzberechtigung untersucht. Ob es ein historischer 
Essai über Korsika ist oder der Erguß einer selbstmörderischen 





Der Wendepunkt im Leben Napoleons I. 


341 


Stimmung, eine unterscheidende Untersuchung zwischen Vaterlands¬ 
liebe und Ruhmsucht, im Dialogue sur l'amour und im Discours 
de Lyon, stets sehen wir ihn auf die Patrie, und mag es von 
noch so weit hergeholt sein, zurückkommen/ so daß man sich kaum 
des Eindruckes erwehren kann, es hier mit einer stark überwertigen, 
weil im Unbewußten wurzelnden Vorstellung zu tun zu haben. Chu* 
quet äußert sich darüber in nichtanalytischer Ahnungslosigkeit: 
»Leutnant Bonaparte atmet also nichts anderes als Liebe für seine 
kleine Insel. Jede andere Leidenschaft scheint ihm fremd zu sein, 
und er könnte wie der Held einer seiner Novellen sagen: ,Ich habe das 
Leben aus Korsika geschöpft: <j'ai puise la vie en Corse) und damit 
eine gewaltige Liebe für mein unglückliches Vaterland und seine 
Unabhängigkeit.'« (Nouvelle Corse.) 

Da ist es ja direkt, nicht einmal mehr figürlich oder in Form 
eines Gleichnisses ausgesprochen, was sich mir aus Analysen von 
neurotischen Patienten ergab, daß das Vaterland eine vorgeschobene 
Vorstellung für die Mutter ist, und die Liebe zum Vaterlande 
eigentlich die Liebe zur Mutter bedeutet. Doch diese gegenseitige 
Valenz: Vaterland—Mutter war ja den Alten wohl bekannt,- denn 
wir lesen bei Herodotos (Übersetzung von Lange, II. Teil, VI. Buch, 
Erato 107): »Die Barbaren aber führte Hippias nach Marathon, 
nachdem er in der vergangenen Nacht folgendes Traumgesicht ge* 
habt: Es deuchte dem Hippias, er schliefe bei seiner eigenen Mutter. 
Aus diesem Traum schloß er nun, er würde heimkommen nach 
Athen und seine Herrschaft wieder erlangen und in seinem Vater* 
lande sterben in seinen alten Tagen. Das schloß er aus dem 
Traum.« 

Daß die Vorstellung Vaterland aber dieselbe unbewußte 
Valenz und somit dieselbe affektive Quelle hat wie die Vorstellung 
Erde, deren Mutterbedeutung bereits ein psychoanalytischer Gemein* 
platz geworden ist und für die ich bloß auf Dieterichs Werk 
»Mutter Erde« 1 , auf den Traum von Julius Cäsar 2 , das Tarquinius* 
Orakel 3 * * * * 8 etc. hinzuweisen brauche — läßt uns annehmen, daß der 
deutsche Ausdruck dafür, das Land des Vaters, uns den Zusammen* 
hang am deutlichsten enthüllt, indem er uns andeutet, daß hier die 


1 »Mutter Erde«, Ein Versuch über Volksreligion von Albert Dieterich. 
Berlin 1905, Teubner. 

2 Otto Rank, »Inzest-Motiv in Dichtung und Sage«, p. 237. Sueton er¬ 

zählt c. 7: »Selbst wegen eines Traumes in der folgenden Nacht, der ihn beun¬ 

ruhigte — denn ihm träumte, er habe seine Mutter beschlafen — machten die 

Traumdeuter ihm Mut zu den größten Hoffnungen,- sie gaben nämlich die Auslegung, 

als sei es ein Vorzeichen seiner Herrschaft über den Erdkreis,- denn die Mutter, 

die er habe unter sich liegen sehen, sei niemand anders, als die 
Erde, die Allmutter.« 

8 Livius, I, LXI: Demjenigen werde die Herrschaft Roms zufallen, der 
zuerst die Mutter küsse (osculum matri tulerit), was Brutus als Hinweis auf 
die Mutter Erde auffaßte <terram osculo contigit, scilicet quod ea communis 
mater omnium mortalium esset). 





342 


Dr. Ludwig Jekels 


Verschiebung über die Vorstellung Land-Erde stattgefunden hat. 
Ich möchte nur hinzufügen, daß in den anderen, z. B. sämtlichen 
slawischen Sprachen, bei der entsprechenden Bezeichnung sich nichts 
von dem Elemente Land oder Erde befindet, wohl aber dasselbe 
durch die dem Substantiv Vater angehängte Endung: zna oder 
na etc., — welche etwas dem Vater gehöriges bedeutet, — 
ersetzt ist. 

Die in Napoleons Schriften so häufigen und plastischen Gleich* 
nisse, wie z. B. »au sein de votre patrie« <Sur la Corse) oder 
<Sur l'amour de la patrie) »Athen sei ihm <dem Sohne Cimons) 
immer seine Mutter und sein Vaterland«, oder (Discours de Lyon) 
das Gefühl <le Sentiment) sei dasjenige, »was den Sohn mit der 
Mutter, den Bürger mit dem Vaterlande vereinigt«, sprechen gewiß 
für diese Deutung, ebenso wie die für ein Gleichnis fast zu weit 
gehende Plastizität, die wir im Briefe an Buttafuoco vorfinden: 
»Wie denn, Sohn derselben Patrie, empfinden Sie nie etwas für sie? 
Blieb Ihr Herz unbewegt beim Anblick der Felsen, der Bäume, der 
Häuser, der Gegenden — der Bühne Ihrer kindlichen Spiele? Als 
Sie zur Welt kamen, trug sie Sie an ihrem Busen und nährte Sie 
von ihren Früchten,* als Sie in das Alter der Vernunft traten, 
waren Sie ihre ganze Hoffnung,* sie schenkte Ihnen ihr Vertrauen. 
Sie sagt Ihnen: mein Sohn, du siehst, in welch elendem Zu¬ 
stande etc.« 

Diesen analytischen Schlüssel wollen wir nun, wenn auch nur 
an wenigen Stellen seiner Jugendschriften, verifizieren und erproben. 

Der Essai »Sur l'amour de la patrie«, den er im Alter von 
achtzehn Jahren <27. November 1787) während eines kurzen, in 
Familienangelegenheiten von Korsika aus unternommenen Aufent* 
haltes in Paris geschrieben, ist in einer seelischen Verfassung ent¬ 
standen, die wir am besten mit Napoleons eigenen Worten charakteri* 
sieren: »Ich stehe kaum im Alter des Morgenanbruches der Leiden* 
sdiaften, mein Herz erzittert noch von dem Aufruhr, den diese 
erste Bekanntschaft in unseren Gedanken erzeugt . . .« Nun denn, 
zum Verständnis dieser Worte, sowie der nachfolgenden Gedanken* 

? änge gereiche es, daß Napoleon diesen Essai geschrieben hat fünf 
f age, nachdem er eine Nacht bei einer Prostituierten zugebracht 
hat — und solchergestalt sein erstes sexuelles Erlebnis gehabt hat, 
— worüber er uns im »Recontre au Palais Royal« ein unzweifel* 
haftes Dokument zurückgelassen hat. Es ist aber nicht etwa der 
die Welt durch die Brille der Sexualität sehende Analytiker allein, 
dem sich dieser Zusammenhang aufdrängt,* denn die nach dieser 
Richtung hin gewiß unvoreingenommene Gertrud Kircheisen 
stellt ihn — mit dem Scharfsinn eines Weibes — gleichfalls und 
widerstandslos her. Sie meint darüber: »Glaubt man jedoch, 
Napoleon habe dieses Ereignis seines Lebens deswegen notiert 
weil es einen besonderen Eindruck auf ihn hinterlassen hatte, so 
irrt man sich. Die Aufzeichnung jenes flüchtigen Begegnens mit einem 




Der Wendepunkt im Leben Napoleons I. 


343 


Weibe geschah weit mehr aus Neigung oder Grundsatz, jeden 
Wendepunkt in seinem Leben mit der größten Genauigkeit zu ver¬ 
zeichnen, als aus einem inneren Erleben oder Empfinden heraus. 
Napoleons Herz war viel zu sehr von der Vaterlandsliebe erfüllt, 
als daß ein anderes Gefühl, und wäre es auch nur ein sinnliches, 
dauernd darin Platz gefunden hätte. Er nahm von dem Abenteuer 
im Palais Royal ganz andere Eindrücke mit sich fort, wenn auch 
nicht ohne Kampf. Alle physischen Empfindungen suchte er durch 
das seiner Ansicht nach allein echte Gefühl des Patriotismus zu 
erdrücken. 

Fünf Tage später, am 27. November, verfaßte er einen 
Monolog über die Vaterlandsliebe. Er ist an eine nicht genannte 
Dame gerichtet. Sollte Napoleon naiv genug gewesen sein und mit 
der Anonymen die Schöne des Palais Royal im Auge gehabt haben? 
Möglich wäre es.« 

Aber auch, wenn wir Napoleons Aufzeichnung nicht besäßen, 
so wäre es unschwer zu entnehmen, daß die Frage der Liebe und 
der Sexualität für ihn akuter und ungestümer geworden war, so 
daß sie ihn sogar bei diesem »Rencontre« dahin gebracht hat, die 
»personne du sexe« anzusprechen, ihn, »der mehr denn jemand 
durchdrungen war von dem Abscheu ihres Standes und sich immer 
für beschmutzt hielt durch den bloßen Blick« (penetre plus que per¬ 
sonne de l'odieux de son etat, me suis toujours cru souille par un 
seul regard). In diesem Essai nämlich vergleicht er die moderne 
Zeit mit der von Sparta und Athen,* während damals Vaterlands¬ 
liebe herrschte, herrsche jetzt die Liebe,* und diese beiden Leiden¬ 
schaften wären infolge ihrer entgegengesetzten Wirkungen miteinander 
unvereinbar,* denn wo ein Volk der Liebe fröhnt, da leide darunter 
die Vaterlandsliebe,* und deshalb glaubten heute nur wenige Per¬ 
sonen an dieselbe. Beziehen wir diese Auslassung im Hinblick — 
auf die oben angegebene Grundstimmung — auf die Person 
Napoleons, setzen wir statt des Volkes ihn selbst ein, so würden 
uns Athen und Sparta, die entlegenen Zeiten, nichts anderes denn 
seine selige Kindheit bedeuten, und das ganze wäre ein Ausdruck 
der Befürchtung, es könnte durch die Hingabe an die Frauen bei 
ihm die Liebe zur Mutter eine Einbuße erleiden,* mit anderen 
Worten: es ist in ihm ein Kampf entbrannt zwischen seiner eroti¬ 
schen Vergangenheit und Gegenwart. 

Für die Richtigkeit dieser Deutung haben wir noch einen nicht 
unwichtigen Beleg. In demselben Essai apostrophiert er nämlich 
bald darauf in recht aggressiver und despektierlicher Weise die 
modernen Frauen: »aber o du Geschlecht, das heutzutage die 
Herzen der Männer an deinen (Triumph-)Wagen kettest, dessen 
ganzes Verdienst in einem blendenden Aussehen besteht, erwäge 
hier <i. e. in Sparta) deinen Triumph und erröte, daß du das nicht 
mehr bist.« lind er verweist die heutigen Frauen auf die Heroinen 
Spartas, sie ihnen als Muster und Vorbild hinstellend. 






344 


Dr. Ludwig Jekels 


Nun denn: er kannte eine dieser Heroinen nur zu gut, 
seine Mutter Lätizia, die einer der Biographen <Chuquet> folgender* 
maßen charakterisiert: »Ein Mannesherz wohnte im Leibe dieser 
stolzen, unerschrockenen, unverzagten Frau. Sie begleitete ihren 
Mann in die Wälder und Berge in den letzten Tagen der Unab* 
hängigkeit. Oft verließ sie, um Informationen über die Armee ein* 
zuholen, die steilen Felsen, wo die Frauen ein sicheres Versteck 
hatten,- sie wagte sich bis in Gegenden vor, die sehr gefährdet 
waren,- sie hörte die Kugeln pfeifen, aber sie hatte keinen anderen 
Gedanken, als das Wohl ihres Mannes und Korsikas. Sie war 
noch schwanger mit Napoleon und trug ihr Kind mit dem gleichen 
Glücke und derselben Heiterkeit, wie sie es später in den Armen 
hielt.« Dies war die Vergangenheit und der Ruf Lätizias, die 
Paoli als Mutter der Gracchen oder als Cornelia bezeichnete,- 
was Wunder, daß diese Mutter dann dem kleinen Jungen zur 
Heroine wurde. 

Solchergestalt stellt sich uns dieser Essai, diese von edler 
Begeisterung und jugendlichem Pathos getragene, angeblich kritische 
Untersuchung, — abgesehen von den anderen, später noch zu be* 
sprechenden Bedeutungen — als ein mächtiges Ringen mit dem 
Mutterkomplex dar, der geradezu um seine Existenz zu kämpfen 
scheint. Die hereingebrochene Pubertät, die den jungen Mann, wie 
wir gesehen haben, gebieterisch zum anderen Geschlecht drängt, 
was folgerichtig ein Loskommen von der Mutter erheischt, hat in 
seinem Unbewußten einen mächtigen Kampf ausgelöst. Schon daß 
er die Frage aufrollt, ob es überhaupt eine Vaterlandsliebe gibt 
<ob es nicht vielmehr Ruhmsucht ist), zeigt uns an, daß in seiner 
Seele die Ablösungstendenz eingesetzt hat, und der durch dieselbe 
etwas ins Wanken geratene Mutterkomplex diese ganze, so em* 
phatische Beweisführung inspiriert. Wir sehen ihn da in diesem Für 
und Wider zuweilen bis zur Grellheit durchscheinen, so z. B. wenn 
er dem Themistokles, der mit Hilfe der Perser zweifellos Griechen* 
land unterjochen konnte, aber darauf verzichtet hat mit den Worten: 
»O mon fils, nous perissions si nous n'avions peri« — gegenüber* 
gestellt die Taten der von bloßer Ruhmsucht getriebenen Franzosen 
Robert d'Artois, d'Orleans, Conde, die da »nicht rot wurden zu 
verwüsten die Gefilde, die ihre Geburt gesehen haben« <qui ne 
rougirent pas de devaster les campagnes qui les avaient vu naitre). 

— Es ist wohl hier recht deutlich die Notwendigkeit des Ver* 
zichtes auf das inzestuöse Verlangen nach der Mutter ausgesprochen 

— das, realisiert, zum sicheren Untergange führt. 

Und dieses Kämpfen für und wider diesen seinen Komplex 
ist der eigentliche latente Inhalt so ziemlich aller anderen, in den 
nächsten vier Jahren verfaßten Schriften. Zuweilen, wie z. B. im 
»Discours de Lyon« in der Preisbewerbung über die Frage: 
»Welche Wahrheiten und welche Gefühle soll man den Menschen 
einflößen zu ihrem Glücke?« in dem, wie schon Chuquet bemerkt. 





Der Wendepunkt im Leben Napoleons I. 


345 


Napoleon unter der Gewandung sozialpolitischer Reformen »sein 
Herz überfließen läßt«, wird dieser sein Mutterkomplex auch durch 
die Erde symbolisiert. So z. B. wenn er da seine Behauptungen 
an einem jungen Manne exemplifiziert, der nach den Torheiten der 
Kindheit ins Alter der erwachten Leidenschaften tritt: »Sein starker 
Arm im Einklänge mit seinen Bedürfnissen verlangt nach Arbeit,- 
aber ein Blick um ihn herum und er sieht die Erde unter wenige 
Hände verteilt«. Nun wendet er sich an die sozialen Ordner, die 
ihm jedoch bloß die Akten als zum Besitz berechtigend vorweisen, 
und er, unzufrieden mit dieser unzulänglichen Antwort, entrüstet 
ruft: »Wie, das sind die Besitztitel dieser Herren! Die meinigen 
sind viel heiliger, viel unleugbarer, viel universeller! Sie erneuern 
sich mit meiner Atmung, kreisen in meinem Blute, sind geschrieben 
in meinen Nerven und in meinem Herzen. Sie sind die Not¬ 
wendigkeit meines Daseins und vor allem meines Glückes!« 

Diese Exklamation mag uns illustrieren, mit welch' gewaltiger 
Libido bei Napoleon die Vorstellung Erde besetzt und wie wenig 
diese Libido noch abgetönt war. 


In diesem durch Auflösung der Symbole gewonnenen Rück* 
Schluß auf eine starke Fixierung Napoleons bei seiner Mutter 
werden wir nur bestärkt, wenn wir diese Spur in seinem realen 
Liebesieben verfolgen. Sie tritt weniger deutlich zutage in seinem 
Verhältnis zur Mutter, das, soweit ich die einschlägige Literatur kenne 
kaum etwas anderes als eine allerdings ganz ungewöhnliche Sohnes* 
Zärtlichkeit aufweist. Es ist ja bekannt und soll im weiteren Ver* 
lauf dieser Studie noch des öfteren betont werden, daß er Frau 
Latizia gegenüber, von der er auf St. Helena sich äußerte, sie sei 
mit dreißig Jahren »belle comme les amours« gewesen, der auf* 
opferndste und aufmerksamste Sohn war, stets bemüht, ihr das 
Leben so leicht und so angenehm als möglich zu gestalten. Auf 
welcher Etappe seiner so ungeheuer bewegten und abwechslungs* 
reichen Laufbahn wir dies Verhältnis auch beobachten, stets finden 
wir Beweise seiner zärtlichsten Fürsorge für die Mutter,- »sa pre- 
miere pensee est pour eile«, meint Masson an einer Stelle. Mit 
der äußeren Situation wechseln bloß die Ausdrucksmittel dieser 
stets gleichbleibenden Gefühlsströmung. Für die Mutter ist er stets 
zu Opfern an Geld, Zeit und Geduld bereit,- sowohl als armer 
Sekondleutnant und Hauptmann, der ihr aus seinem kargen Sold 
aushilft und ihr die schweren Bürden tragen hilft, wie auch als 
gigantische Pläne in seinem Kopfe wälzender Herrscher eines Welt* 
reiches, wo er ihr Millionen zur Verfügung stellt, dafür Sorge 
trägt, daß ihr in seinem strengen Hofzeremoniell ein gebührender 
Platz angewiesen werde, selbst ihr den Hofstaat und den Ehren* 
dienst bestimmt, ihr, um sie zu beschäftigen, das Protektorat der 
Soeurs de charite verleiht, ja sogar persönlich die Tapeten zu dem 





346 


Dr. Ludwig Jekels 


ihr geschenkten Schloß Pont sur Seine auswählt, und dabei noch 
für die Klagen und oft ungebührlichen Rekriminationen der nimmer^ 
satten und sich beeinträchtigt fühlenden alten Frau stets ein geduldiges 
Ohr und respektvolle Nachsicht hat. 

Um so deutlicher aber prägt sich der Einfluß der Mutter^ 
imago im Liebesieben Napoleons aus, wo er unverkennbar eine 
geradezu zwanghafte Wirkung ausübt,* er kann nur lieben und 
heiraten in tunlichster Anlehnung an die Mutter. 

Ein unverkennbares Merkmal starker Fixierung an die Mutter 
— die frühe Sehnsucht nach der Ehe — sehen wir auch bei 
Napoleon sehr stark ausgeprägt. Wir begegnen ihr oft in seinen 
Jugendschriften, speziell im »Discours de Lyon«. Und als zwanzig^ 
jähriger Leutnant in Auxonne trägt er sich schon mit Heirats^ 
gedanken, ja soll sogar um die Hand der Manesca Pillet, Stief* 
tochter eines reichen Holzhändlers, angehalten haben. 

Sehr deutlich aber können wir den Einfluß des Komplexes in der 
Episode mit der Schwester seiner Schwägerin Desiree Eugenie Clary, 
der späteren Gattin Bernardottes, Königs von Schweden, beobachten. 
Der sechsundzwanzigjährige, arme, ja völlig mittellose, weil von 
seinem Kommando enthobene Brigadegeneral, findet die heiße Liebe 
eines sechzehnjährigen, überdies reichen Mädchens, die ihm z. B. 
schreibt: »mit einem Worte: mein ganzes Leben gehört Dir.« 
Napoleon nimmt die Sache sehr ernst. Nach mehr als einjähriger 
Bekanntschaft, in der zahlreiche Briefe gewechselt wurden, entschließt 
er sich Eugenie zu heiraten, und drängt ungestüm seinen Bruder 
Joseph, Schritte in dieser Sache zu machen: »Ich brenne darauf, 
einen Hausstand zu haben. Entweder muß die Sache mit Eugenie 
sich entscheiden oder abgebrochen werden.« — Nun, sie ging in 
Brüche,* denn das war das letzte Wort. »Die Hymne Desiree ver¬ 
stummt von nun in Napoleons Briefen,-« aus welchen Ursachen, ist 
aber den Biographen unbekannt. Sie meinen, er hätte Desiree nicht 
geliebt und an diese Verbindung lediglich aus Opportunitäts^ und 
Bequemlichkeitsgründen gedacht. Dem ist aber nicht so, und wir 
können G. Kircheisen nur beistimmen, wenn sie meint: und doch 
hat Napoleon Desiree geliebt. Denn erstens drücken die Briefe des 
jungen Mädchens die Gewißheit, Gegenliebe zu besitzen, aus, dann 
ist ja Napoleon immer ganz trostlos und unglücklich wenn ein 
Brief von Desiree ausbleibt, und dann erhellt es ja auch aus der 
Sorge und Mühe die er sich nimmt, um sie, nachdem er eine 
andere geehelicht, recht glücklich zu verheiraten. 

Er hat also zweifellos für sie empfunden,* nur daß diesem 
Liebesobjekt eine Eigenschaft fehlte, die in Konsequenz unserer 
bisherigen Ausführungen für Napoleon eine unerläßliche Bedingung 
war, damit sein Gefühl für das Weib die notwendige Höhe er¬ 
reiche, um ihm dessen Besitz widerspruchslos als begehrenswert, ja 
beglückend erscheinen zu lassen. Und welches diese Bedingung war, 
wird uns sofort klar, wenn wir die weiteren Liebesobjekte 






Der Wendepunkt im Leben Napoleons I. 


347 


Napoleons in Erwägung ziehen. Denn von der Desiree wendet er 
sich fast unmittelbar zur Frau Permon, einer Witwe mit zwei 
Kindern und der Freundin seiner Mutter, und macht ihr einen 
Heiratsantrag/ nach ihr der gleichfalls bedeutend älteren Mme. de la 
Boucharderie, um etwa ein Jahr darauf sich mit der ganzen Glut 
seines Herzens in Josephine de Beauharnais zu verlieben, eine 
Witwe, die er trotz ihrer zwei Kinder bedenkenlos heiratet, und 
die, ebenso wie die früher genannten Frauen, wesentlich — um 
sieben Jahre — älter ist als er selbst. 

Ist doch diese Bedingung der »älteren Frau«, die bei 
Napoleon auch G. Kircheisen aufgefallen ist <»wie es scheint, 
fühlte sich Napoleon besonders zu Frauen hingezogen, die bedeutend 
älter waren als er«), nach Freud das sicherste, weil am wenigsten 
entstellte Merkmal der inzestuösen Fixierung an die Mutter. 


Wir müssen nun konsequenterweise auch für den Affektwert 
des Elementes »la France«, respektive »etranger«, die ursprüngliche 
Quelle aufdecken und diesen Affekt gleichfalls auf konkrete Wurzeln 
zurückführen/ mit anderen Worten, es muß da jemand »französi¬ 
schen« gegeben haben, von dem der kleine Napoleon annahm, daß 
er sich unter der Beihilfe des Vaters mit der Mutter vereinige,- 
oder wenn wir es aus der ohnedies durchsichtigen Verkleidung 
herausschälen: von dem er meinte, daß er mit der Mutter sexuelle 
Beziehungen unterhalte. 

Nun gab es dort tatsächlich in der Kindheit Napoleons einen 
Franzosen, der durch sein damaliges und späteres Verhältnis zur 
Familie Bonaparte, sowie durch die offizielle Stellung die er be¬ 
kleidete, sehr geeignet war, eine hervorragende Rolle in der Vor^ 
Stellungswelt des kleinen Jungen zu spielen und den Argwohn des 
kleinen Eifersüchtigen zu erregen. Es war dies Graf Louis Charles 
Rene de Marbeuf, Gouverneur der Insel und Generalleutnant der 
französischen Truppen — die oberste Macht im eben okkupierten 
Lande,- also gewiß sehr geeignet, vom Kinde als Inkorporation des 
Franzosentums, ja als Frankreich selbst angesehen zu werden! 

Es waren aber auch recht innige Beziehungen, die Charles 
Bonaparte und seine Familie mit dem Gouverneur verbanden. Nach 
der Okkupation und Pazifizierung der Insel war Charles Bonaparte 

— müde des Kampfes und durch die materielle Lage gezwungen 

— eifrig bemüht, die Franzosenherrschaft zu stützen und sich en 
revanche dafür alle möglichen Vorteile an Geld, Stellen und Titeln 
zu verschaffen. 

Demzufolge sehen wir den Gouverneur sowohl zu Lebzeiten 
Charles für dessen Familie sorgen, als auch später der Witwe 
Lätizia unermüdlich beistehen. Und nicht nur, daß er selbst es an 
eifrigsten Bemühungen nicht fehlen ließ,- er verpflichtete dazu noch 
seinen Neffen, zuerst Bischof in Autun, später Erzbischof von Lyon. 





348 


Dr. Ludwig Jekels 


Und so kommt es, daß wir die beiden Brüder stets irgendwo und 
irgendwie auf dem Wege der Familie Bonaparte treffen, wenn wir 
das Schicksal derselben zu dieser Zeit verfolgen. Von General 
Marbeuf wird Louis Bonaparte aus der Taufe gehoben,* durch seine 
Protektion erhalten Joseph und Lucian Freiplätze in Autun, 
Marianne Elisa in St. Cyr und der Halbbruder Napoleons, Fesch, 
im geistlichen Seminar zu Aix, unser Napoleon aber in La Fleche, 
und als dann die Disposition geändert wird, wieder in Brienne,* 
unter Marbeufs Einfluß gibt Napoleon das ursprüngliche Projekt, 
in die Marine einzutreten, auf, und wendet sich der Artillerie zu. 
Außerdem aber ist Graf Marbeuf stets eifrig bemüht, dem in ewigen 
Geldnöten befindlichen Vater Napoleons auch da auszuhelfen. Durch 
Marbeufs Einfluß wird Charles wiederholt in die Adelsdeputation 
gewählt, was mit einem Gehalt verbunden war,* durch Marbeuf 
erhielt er eine ziemlich gute Dotation für die Erhaltung einer Maul- 
beerbaumschule,* der Gouverneur unterstützt ihn auch in dem 
Prozeß, den Charles gegen die Jesuiten wegen Herausgabe eines 
ihnen von seinem verstorbenen Verwandten vermachten Besitzes 
<Milleli> anstrengt. 

Bei dieser Rolle Marbeufs in der Familie Charles Bonapartes 

— von dem Jung berichtet, er sei »toujours absent«, immer auf 
der Suche nach Geld, Beziehungen und Pläsier gewesen, — ist es 
wohl kaum verwunderlich, wenn die öffentliche Meinung, zumal bei 
der Schönheit und Jugend Frau Lätizias, der Anteilnahme des 
Gouverneurs an den Geschicken der Familie erotische Motive untere 
legte, somit zu denselben Resultaten gelangte wie der kleine Junge. 
Cos ton meint da: »Die Bösartigkeit hat sich den Scherz gemacht, 
hier eine andere Ursache zu finden.« 

Auch Kircheisen notiert ebenso wie Massen dieses Gerücht, 
wonach »man die Mutter Napoleons beschuldigt hat, dem alten 
Marbeuf mehr als Freundin gewesen zu sein«, meint aber, »ihr 
gerader, echt korsischer Charakter bürge allein schon für die Um* 
gereimtheit solcher Gerüchte,* überdies besaß sie keinen Leichtsinn 
und ihre Schönheit hätte mehr Bewunderung als Begehren erweckt.« 

— Ich meine, daß etwas von dieser Auffassung des Verhältnisses 
in dem Wortlaute durchklinge, mit dem die Bonapartes nach dem 
Bruch mit Paoli in die Acht erklärt wurden. Da heißt es nämlich 
von ihnen: »Die im Schmutze des Despotismus geborenen, unter 
den Augen und auf Kosten eines an Luxus gewöhnten Paschas 
<Marbeuf> . . . aufgewachsenen Bonapartes.« 

Nun denn: mag dem in Wirklichkeit wie immer gewesen 
sein,* für unsere Untersuchung handelt es sich darum, zu erweisen, 
daß der kleine Napoleon ebenso wie die übrige Welt genügende 
Anhaltspunkte fand, um an ein von seinem Vater toleriertes oder 
gar unterstütztes Verhältnis seiner Mutter mit Marbeuf zu glauben, 
zumindest aber, um eine Phantasie zu bilden, die dann, wie wir 
wissen, den vollen Wert der Realität besitzt. Und daß dies tat- 





Der Wendepunkt im Leben Napoleons I. 


349 


sächlich der Fall war und daß dies der tiefere Sinn des gegen den 
Vater gerichteten Vorwurfes: »er habe beigetragen, Korsika mit 
Frankreich zu vereinigen«, dafür besitzen wir noch einen leichten 
Hinweis in einer Äußerung Napoleons aus der späteren Zeit, als 
er von den Eindrücken seines ersten, nach achtjähriger Abwesenheit 
in Korsika verbrachten Urlaubes sprach: »Meinem Glücke fehlten 
damals nur zwei teuere Menschen: mein Vater und der Graf Mar* 
beuf, den wir am zwanzigsten September <fünf Tage vor der An¬ 
kunft Napoleons) verloren hatten und den meine Familie lange 
betrauerte.« 

Durch diese Zusammenstellung Marbeufs mit dem Vater in 
bezug auf den Affektwert wird indessen nicht allein die sexuelle 
Auffassung der Worte: »il a concouru ä la reunion de la Corse 
ä la France« gestützt, sondern es wird durch dieselbe auch die wohl 
als Folge dieser Phantasie anzunehmende Unsicherheit Napoleons, 
wer von diesen beiden sein Vater sei, — welcher Zweifel in der 
Bestimmung des Code civile: la recherche de la patermite est in* 
terdite, die legislatorische Projektion findet, — sehr wahrscheinlich 
gemacht. 

Überdies wird uns im Lichte dieser Phantasie klar, daß die 
früher angeführte, den Connetable de Bourbon betreffende Be* 
merkung Napoleons: »sein wirkliches Verbrechen sei gewesen, daß 
er das Vaterland mit Fremden angegriffen habe«, im Jargon des 
Unbewußten eigentlich besagt, daß man seine Mutter sexuell nicht 
zusammenbringen darf mit Fremden, — sofern man nur eingedenk ist 
der natürlich durch Unorientiertheit gestützten Vorstellung zahl* 
reicher Kinder, die Beziehung zwischen den beiden Geschlechtern 
sei ein dem Weib angetaner Gewaltakt und bestehe in einem 
argen Kampfe, welche Kinder dadurch aber ihre sadistische Veran* 
lagung bekunden, die man Napoleon wohl schwerlich wird ab* 
sprechen können. 

Somit deckt sich der an den Connetable de Bourbon gerichtete 
Vorwurf inhaltlich vollkommen mit dem Vorwurf an den Vater. 

Aber noch manch anderes wird uns jetzt verständlich und 
wird sogar zur Stütze der Deutung, so z. B. wenn wir den sieb* 
zehnjährigen Napoleon im »Sur le Suicide« — in dem er daran 
denkt, sich das Leben zu nehmen, »weil seine Kompatrioten in 
Ketten zitternd die sie bedrückende Hand küssen«, somit wegen 
eines seit seiner Geburt bestehenden Zustandes, an den er reichlich 
Zeit hatte sich zu gewöhnen, — exklamieren hören: 

»Franzosen! Nicht zufrieden damit, daß ihr uns alles geraubt, 
was wir geliebt haben, habt ihr auch noch unsere Sitten ver* 
dorben. Das jetzige Bild, das mein Vaterland bietet und das Un* 
vermögen, etwas daran zu ändern, ist doch ein neuer Grund, um 
zu meiden die Erde, wo ich aus Pflicht loben muß die Men* 
sehen, die ich aus Tugend hassen muß. Wenn ich in meinem 
Vaterlande ankomme, welch eine Gestalt werde ich dort abgeben, 




350 


Dr. Ludwig Jekels 


welche Sprache soll ich dort sprechen! Das Leben ist mir nur Last, 
denn ich finde kein Vergnügen und alles ist mir ein Schmerz. Es 
ist mir eine Last, denn die Menschen, mit denen ich lebe 
und wahrscheinlich immer leben werde, haben Sitten, die 
so verschieden sind von den meinigen, wie das Licht des 
Mondes von dem der Sonne.« 


Offenbar ist es eine Folge dieser Phantasie, daß im Sexual¬ 
leben Napoleons die Vorstellung des Mißbrauches einer Ehe 
seitens Dritter mit einem so mächtigen Affektbetrag besetzt war, 
so daß sie ihm als ein schweres Vergehen, als große Schuld galt. 

Wir ersehen dies vorerst aus seinen Jugendschriften, speziell aus 
dem »Discours de Lyon«, die heftige Ausfälle gegen das Jung^ 
gesellentum und die Junggesellen enthalten, die man von Staats¬ 
wegen daran hindern sollte, bei den Frauen anderer die Befriedigung 
ihrer Begierden zu suchen. Und war doch Herr von Marbeuf tat¬ 
sächlich Junggeselle, und vermählte sich erst im Jahre 1784 im Alter 
von zweiundsiebzig Jahren, als Napoleon bereits fünfzehn Jahre zählte. 

Aber auch ein interessanter Irrtum Napoleons verrät uns, 
meiner Ansicht nach, diesen seinen Komplex. In seinen Memoiren von 
St. Helena erzählt Napoleon, er habe als fünfundzwanzigjähriger 
Artilleriegeneral der italienischen Armee eine schwere Schuld auf 
sich geladen,* er habe nämlich einer schönen Frau zuliebe, — es war 
Louise Turreau de Lignieres, die junge Gattin des Volkrepräsentanten, 
— einige Menschenleben geopfert, um seinen Dank für die genossene 
Gunst zu erweisen. »Ich war damals noch sehr jung und stolz und 
glücklich über meinen kleinen Erfolg. So suchte ich mich auch dafür 
durch alle in meiner Macht stehenden Aufmerksamkeiten erkenntlich 
zu erweisen. Sie werden gleich sehen, wie weit der Mißbrauch der 
Gewalt führen und wovon oft das Geschick der Menschen ab- 
hängen kann. Denn ich bin nicht besser als andere. Als ich an 
einem schönen Septembermorgen in die Nähe des Col di Tenda 
inmitten unserer Stellungen mit Frau Turreau spazieren ging, kam 
mir plötzlich der Gedanke, vor ihren Augen ein wenig Krieg zu 
spielen. Ich befahl einen Angriff der Vorposten. Wir waren zwar 
Sieger, aber von einem Ergebnis konnte natürlich nicht die Rede 
sein. Der Angriff war eine reine Phantasie — und doch blieben 
einige Leute am Platze! Jedesmal, wenn ich daran denke, mache 
ich mir die größten Vorwürfe.« 

Sowohl Gertrud als auch Friedrich Kircheisen bestreiten 
lebhaft die Richtigkeit dieser Erinnerung des Kaisers, vorerst mit 
Rücksicht auf seinen Charakter, demzufolge er solch einer frivolen 
Tat nicht fähig war, ferner gestützt auf die Aussage der Frau 
Turreau, das betreffende Vorpostengefecht habe zwar stattgefunden, 
dasselbe sei aber nicht ihr zuliebe, somit »nicht aus eitlem Wunsch 
der Schönen zu gefallen«, anbefohlen worden. Überdies weist 





Der Wendepunkt im Leben Napoleons I. 


351 


F. Kircheisen sehr glaubwürdig nach, daß sich Napoleon bei 
dieser Reminiszenz sowohl bezüglich der Zeit als auch des Ortes 
irrt,- denn Herr und Frau Turreau seien erst am 21. September 
von Paris in Nizza angekommen und begaben sich erst von dort 
aus zur Armee,- außerdem sei es aber unwahrscheinlich, daß das 
Gefecht in der Umgebung des Col di Tenda stattgefunden habe, 
denn im September sei von diesem Paß nicht mehr die Rede ge* 
wesen, so daß das von Napoleon behauptete kleine Ereignis 
möglicherweise beim Angriff auf die Redoute Union bei Vado, am 
26. September stattgefunden habe. 

Ich meine, daß uns die Lösung dieses Rätsels nicht schwer 
fallen dürfte, sofern wir nur, ähnlich wie bei der Analyse neuroti* 
scher Selbstvorwürfe, den Affekt des Vorwurfes wohl anerkennend, 
lediglich den Inhalt desselben — zumal angesichts obiger recht 
strikter Angaben Kircheisens — in Zweifel ziehen und dergestalt 
annehmen, der weiter nicht zu leugnende Vorwurfsaffekt gehöre zu 
einem anderen Inhalte,- der angegebene Inhalt sei bloß vorgeschoben, 
an Stelle eines anderen gesetzt worden. Und welches der richtige 
Inhalt dieses Selbstvorwurfes war erraten wir unschwer, wenn wir 
bedenken, daß Napoleon sich darin bezichtigt einer Frau zuliebe 
etwas Schlechtes begangen zu haben, und anderseits erfahren, daß 
er ungefähr im Laufe dieses Jahres nicht weniger als mit vier 
Frauen ehebrecherische Verhältnisse gehabt haben soll <Carteux, 
Ricord, Saliceti, Turreau),- da »blieben freilich einige Leute am 
Platze!« Und das er, Napoleon, der noch vor drei Jahren im 
»Discours de Lyon« verlangt, man möge die ehebrecherischen Jung¬ 
gesellen vor der ganzen Gesellschaft anzeigen! »Vous les denoncerez 
des lors ä la societe entiere!« 

Er bestraft sich ja tatsächlich, indem er seinen Getreuen eine 
Schandtat von sich erzählt! 

Eine Art Bestätigung dieser Deutung bietet die in der Er* 
zählung enthaltene Wendung, »der Angriff war eine reine Phantasie«, 
wohl die uns aus Träumen so gut bekannte Anspielung auf die 
Irrealität des erzählten Inhaltes,- ein zarter Wink, ein zwischen 
den Zeilen Gesagtes! 

Dagegen scheinen mir die Worte vom »Mißbrauch der Ge* 
walt« auf den Ursprung seiner Abneigung gegen den Ehebruch, 
die ihm denselben zum Konflikt gestaltet, nämlich auf den mächtigen 
Gouverneur de Marbeuf hinzudeuten. 

Und zweifellos ist, — wenn auch als ein schon entfernterer 
Abkömmling, — auf die gleiche Quelle der bei ihm so charakteristische 
Zug zurückzuführen, daß er stets nach außen hin den Schein seiner 
eigenen Ehe so sorgsam wahrte, niemals wie seine Vorgänger 
auf dem französischen Throne eine offizielle Geliebte hatte, sondern 
stets nur in größter Diskretion und in den geheimen Gemächern 
der Tuillerien der außerehelichen Liebe huldigte, wo er doch keinen 
Anstand nahm, seiner Gattin gegenüber offen seine Untreue zur 




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Dr. Ludwig Jekels 


Schau zu tragen und ihr zuweilen sogar von seinen Abenteuern zu 
erzählen. 


Schließlich wird, wie übrigens selbstverständlich, diese Phantasie 
geradezu bestimmend für Napoleons Einstellung zum Weibe. 
Sie schafft die Liebesbedingung der Untreue <Freud> und 
Lasterhaftigkeit des Weibes,* die geliebte Frau muß untreu sein so 
wie die Mutter es war. Auf dieser Bedingung ruht im Unbewußten 
Napoleons ein großer Akzent. 

Besonders deutlich können wir dies in seinem Verhalten zu 
seiner ersten Gattin Josephine beobachten. Kaum daß er mit der 
schönen Kreolin — in die er sich trotz (aber eigentlich wegen) all 
der Liebesbeziehungen, die man ihr in der ersten Ehe nachsagte 
und trotzdem (weil) sie die Maitresse von Barras gewesen, außer¬ 
ordentlich heftig verliebte und die er bedenkenlos ehelichte — getraut 
war, muß er sie verlassen, um als neuernannter Oberkommandant 
zur italienischen Armee zu stoßen. Von Mailand aus schreibt er 
ihr stürmische, glühende Liebe atmende Briefe und fleht sie, sie 
möge zu ihm, den die Sehnsucht verzehrt, kommen. Und als die 
Undankbare, die inzwischen ganz in den Zerstreuungen des ver- 
führerischen Paris aufgeht, zögert, da meint einmal der bedrückte 
Gatte, dessen Ehe kaum nach Wochen zählt, zu Marmont: meine 
Frau ist entweder krank oder — untreu. 

Nun, sie betrog ihn tatsächlich, zwar noch nicht damals, aber 
kurze Zeit nachher, als sie, die inzwischen doch nach Mailand ge¬ 
kommen war, nach kurzem Beisammensein allein in dieser Stadt 
zurückblieb, während Napoleon gegen den Feind nach Verona 
zog. Da knüpfte sie ein Liebesverhältnis an mit einem unbedeuten¬ 
den Offizier namens Charles, das bald zum Stadtgespräch wurde,- 
seine Verwandten, die Josephine — la vieille — stets abhold 
waren, ergriffen gerne diese Gelegenheit und machten Napoleon 
Andeutungen über ihre Aufführung. In seinen darauffolgenden 
Briefen an Josephine ist aber kaum eine Spur zu finden, die solche 
niederschmetternde Enthüllungen sonst zurüddassen. Sie atmen 
genau dieselbe gewaltige Liebe und dieselbe brennende Sehnsucht 
wie die früheren,* nur hie und da ein Ton der Erbitterung, provo¬ 
ziert durch die offenkundige Gleichgiltigkeit und das Schweigen der 
Angebeteten. 

Ja, als der ruhmgekrönte Sieger nach Mailand zurückeilt, um 
seiner Vergötterten die herrlichen Erfolge zu Füßen zu legen und 
die heiß Entbehrte in seine Arme zu schließen, und ihm die Untreue 
Josephines zur Gewißheit wird an der er nicht mehr zweifeln kann, 
— da sie mit Charles zusammen in Genua weilt, — da ist er zwar 
eine Nacht hindurch verstört, klammert sich aber an eine ganz 
unzureichende Ausrede von ihr, um ihr schon am nächsten Tage 
zu vergeben und schließt den Brief an sie wie folgt: »ich öffne 
noch einmal meinen Brief, um dir einen Kuß zu geben . . . oh, 






Der Wendepunkt im Leben Napoleons I. 


353 


Josephine! Josephine!« und begnügt sich damit, seinen Nebenbuhler 
Charles unter irgendeinem Vorwände aus der Offiziersliste streichen 
zu lassen. Einen Wandel in seinen Gefühlen für sie hatte aber 
diese Untreue Josephines gewiß nicht zur Folge, denn noch ein 
Jahr darauf lesen wir in einem Briefe Berthiers an Josephine: »Ich 
bin Ihnen so zugetan, daß ich es sicher sagen würde, wenn Bona* 
parte auch nur den geringsten Groll auf Sie hätte. Das schwöre ich 
Ihnen. Nein, er hat nichts gegen Sie! Er liebt Sie, er betet Sie an.« 

Aber auch als Josephine zwei Jahre später, während Napoleons 
ägyptischem Feldzug, sich mit dem nämlichen Mr. Charles im Mal* 
maison ein regelrechtes Idyll einrichtet, wo sie mit ihm Wochen 
sorglosen Glückes zubringt, was natürlich von den Angehörigen 
und Freunden Napoleon zugetragen wird, da klagt er zwar 
darüber in seinen Briefen an Joseph und auch gegenüber seinen 
Intimen, ja, nach Paris zurückgekehrt, sperrt er sich sogar gegen 
Josephine ab, um jedoch nach drei Tagen solchen Schmollens sich 
von den Fürbitten seiner Stiefkinder erweichen zu lassen und ihr, 
allem Anscheine nach, ganz restlos zu verzeihen. Und daß er sogar 
ganz kurz darauf dasselbe Malmaison, den Schauplatz des an ihm 
begangenen krassen Betruges, zu seinem Lieblingsaufenthalt wählt, 
mag darauf hindeuten, wie glatt er über dieses, für andere oft so 
tragische Erlebnis hinweggegangen ist. Auch aus seinem ferneren 
Zusammenleben mit Josephine bekundet uns gar nichts, daß ihre 
Untreue irgendwelchen tieferen Schatten auf sein Empfinden zu ihr 
geworfen hätte. Denn daß die ursprüngliche Glut seiner Liebe 
später schwand, ist eine normale und bei allen Ehen zu beobachtende 
Erscheinung, wo dieselbe der Innigkeit und Freundschaft den Platz 
macht. Sonst aber stellen alle Eingeweihten übereinstimmend dieser 
Ehe das Zeugnis aus, daß sie eine überaus glüddiche war und 
Napoleon ein sehr friedlicher und zufriedener Gatte, der stets und 
wo immer er gewesen sein mag, seiner Josephine gedachte, sie mit 
Aufmerksamkeiten und Kostbarkeiten überhäufte, stets wieder und 
gerne von anderen Frauen zu ihr zurüdekehrte und sich in ihrem 
Besitze glücklich fühlte, wie dies seine Worte an Röderer beweisen: 
»Wenn ich in meinem häuslichen Leben keine Ruhe und Zufrieden* 
heit fände, wäre ich ein sehr ungliiddicher Mann.« 

Und angesichts der hier angedeuteten Reaktionsweise halte ich 
mich für wohl berechtigt anzunehmen, die von Napoleon geprägte 
Ansicht: »l'adultere n'est pas un phenomene, mais une affaire de 
canape,- il est tout commun« sei nichts anderes, denn ein Mittel, 
ein Versuch, um die somit im Unbewußten lustbetonte und geradezu 
gesuchte Vorstellung durdi Herabsetzung ihrer Tragweite und ihre 
Verallgemeinerung auch für das Bewußtsein, mit dem sie recht inkom¬ 
patibel ist, erträglich zu machen, und so einem Konflikt vorzubeugen. 

Doch, wie gesagt, galt diese unbewußte Forderung bloß der 
Frau gegenüber die er liebte,- wo sein Herz schwieg oder nur ein 
wenig engagiert war, verlangte er von der Frau unnachsichtig Treue und 

Ima^o IH/4 


23 




354 


Dr. Ludwig Jekels 


Makellosigkeit. So Marie Louise gegenüber, der er kaum jemals 
ein Gefühl, das Liebe genannt werden könnte, entgegenbrachte, 
und die er doch — wiewohl angesichts ihrer großen Jugend, ihrer 
Erziehung und ihrer Temperamentlosigkeit jegliche Anhaltspunkte 
hiefür fehlten — aufs schärfste überwachte, so daß in deren Ge¬ 
mächer kein Mann ohne seine Erlaubnis Zutritt haben durfte, bei 
deren Unterrichtsstunden über seine Anordnung stets und ununter¬ 
brochen eine Hofdame anwesend war, ebenso wie auch nachts erst 
das Zimmer einer Hofdame passiert werden mußte, wenn man ins 
Schlafgemach der Kaiserin gelangen wollte, und der er es brieflich 
sehr strenge verweist, daß sie Cambaceres im Bette liegend emp^ 
fangen hatte. Der Kaiser führt als Grund für dieses sein Benehmen 
an, »die Herrscherin eines großen Reiches müßte vor jedem Ver¬ 
dacht bewahrt bleiben«, und auch die Biographen, verlegen um eine 
Erklärung, verbleiben dabei. 

Uns aber muß dies als Rationalisierung erscheinen, zumal 
wenn wir bedenken, wie streng er überhaupt in diesem Punkte 
Frauen gegenüber war, die seinem Herzen ferner standen oder 
gleichgiltig waren. Hier einige Beispiele nach Gertrud Kircheisen: 
Er verschloß selbst der Geliebten eines seiner Intimsten, Berthier, 
der Mme. Visconti, seinen Hof, obgleich sie durch Rang und Geburt 
ein Recht dazu hatte,* ebensowenig durfte Talleyrands Frau bei 
Hofe erscheinen, nur weil sie vor ihrer Ehe, die Talleyrand übrigens 
unter dem Drucke des Kaisers schloß, die Geliebte ihres späteren 
Mannes war. Der großen Agnes Forel wird ein Denkmal ver¬ 
weigert, weil sie die Geliebte eines Königs gewesen war. Lind wie 
sdiändlich und undankbar hatte sich nicht der Konsul und Kaiser 
der reizenden und von den Parisern als »Notre Dame de Thermidor« 
und »Propriete du gouvernement« vielgeliebten Mme. Tallien gegen¬ 
über benommen, wiewohl er ihr doch für die seinerzeitige gastliche 
Aufnahme des völlig mittellosen und destituierten Generals Bona^ 
parte, dem sie sogar eine neue Uniform verschafft hatte, zu Dank 
verpflichtet war! Keine Rede davon, daß er sie trotz ihrer Jahre 
hindurch fortgesetzten flehentlichen Bitten je zu Hofe gelassen hätte,* 
aber er hat ja schon vorher Josephine strenge aufgetragen, jeglichen 
Verkehr mit dieser wohl intimsten Freundin abzubrechen,* und als 
Kaiser duldet er es, ist sogar damit einverstanden, daß Mme. Tallien 
im offiziellen Polizeibulletin als Dirne bezeichnet wird! Und das 
alles wegen des allerdings sehr bewegten Liebeslebens dieser sonst 
ausgezeichneten Frau,* und er verbleibt dabei auch nachdem sie ge¬ 
heiratet und ein vorwurfsfreies Leben führt! 

Der große Kaiser nimmt auch keinen Anstand, Frau Regnault, 
deren Boudoir er als »die größte Schande von Paris« bezeidmet, 
ihrem Gatten anzeigen zu lassen,* ja, sogar seinem Bruder Lucian 
verzeiht er es nie, daß er eine Frau — Jouberthon — geheiratet, 
die ihm vor der Ehe ein Kind geschenkt, und verlangt beharrlich 
die Trennung dieser Ehe. 




Der Wendepunkt im Leben Napoleons I. 


355 


Aber auch einen von diesem Dirnen-<Untreue->Komplex un¬ 
zertrennlichen Bestandteil desselben, nämlich die Verachtung der 
geliebten, untreuen Frau, finden wir bei Napoleon — und 
zwar gleichfalls verschoben — in starker Ausprägung. Napoleon 
hat ja auch als Frauenverächter eine gewisse Berühmtheit erlangt,- 
und er war es nicht bloß Frauen gegenüber, deren Leben nicht 
einwandfrei war, sondern auch solchen, deren Konduite eine tadel¬ 
lose war, die ohnedies Zutritt zu seinem steifen und zurückhaltenden 
Hofe hatten,- mit einem Worte, er verachtete alle Frauen. Während 
der Hofcour zitterte jede Dame vor ihm, denn er brachte sie durch 
verletzende, ja direkt brutale Fragen in peinlichste Verwirrung: 
junge Mädchen frug er, wieviele Kinder sie hätten, in welchem 
Monate sie guter Hoffnung wären, bei unschönen tadelte er ihre 
Häßlichkeit,- er rügte oft ihre Toiletten und verriet vor aller Welt 
ihre Abenteuer. Besonders kraß drückt sich diese Verachtung des 
Weibes in der recht bekannten Episode mit der berühmten Schau¬ 
spielerin der Comedie Francaise, Mme. Duchesnois, aus, die der 
erste Konsul zu einem Schäferstündchen in seine geheimen Gemächer 
beordert, und — da er mit Arbeit beschäftigt — dort allein warten, 
die Reklamierende sich entkleiden läßt, um dann, nachdem sie 
mehrere Stunden entblößt und frierend vergeblich auf ihn gewartet, 
sie einfach und ohne jeglichen Entschuldigungsversuch fortzuschicken. 

Und noch so große geistige und intellektuelle Vorzüge einer 
Frau konnten diese Verachtung nicht mildern,- eher waren sie ge¬ 
eignet, eben weil sie diesen Komplex bedrohten, heftigere Abwehr 
seinerseits zu provozieren. Das Schidcsal der von ihm aus Paris 
verbannten Mme. Stäel, auch der Königin Luise von Preußen und 
manch anderer, bekunden dies recht deutlich. 

»Nur gegen eine war er schwach« — meint Gertrud Kirch- 
eisen — »gegen Josephine.« Nun denn, sie erfüllte wohl seine 
Liebesbedingung der Untreue,- und das Verhältnis zu ihr wurde, 
wie gewöhnlich in solchen Fällen, derart reguliert, daß die im Um* 
bewußten unterschiedlos nebeneinanderliegenden und als solche gar 
nicht empfundenen gegensätzlichen Regungen, für sein Bewußtsein — 
das erst die Gegensätze schafft und empfindet — auf andere Frauen 
verschoben wurden: sowohl die ihm unerläßliche Forderung der 
Treue als auch die bewußt unerträgliche Verachtung des Liebes- 
objektes. 

Die nachstehende, von sämtlichen Biographen, wie Cos ton, 
Chuquet, Fournier, Kircheisen etc. uns berichtete »Absonder^ 
lichkeit« des jungen Napoleon, die er während der ganzen Zeit 
seines Brienner Schulaufenthaltes, somit vom neunten bis zum fünf¬ 
zehnten Lebensjahre gezeigt haben soll und die ich hier wörtlich 
nach Chuquet wiedergebe, soll uns einerseits den ungeheueren 
Affektwert der obigen Phantasie demonstrieren, anderseits aber die 
Richtigkeit dieser Auffassung belegen: 


23 * 





356 


Dr. Ludwig Jekels 


»Der Vorstand hatte unter die Schüler ein großes Bodens 
terrain verteilt, das sie ganz nach eigener Weise bearbeiten und 
bebauen durften. Bonaparte entschied, zwang zwei seiner Kameraden 
ihm ihren Teil abzutreten, und machte nun aus der Erde, deren 
Herr er war, einen Garten. Er verwendete das Geld, das er für 
seine geringen Ausgaben erhielt, zum Ankäufe von Pflöcken, und 
eine starke Palissade verwehrte den Zutritt zu seiner kleinen 
Domäne . . . Hier brachte Bonaparte die Erholungszeit mit Lesen 
oder Träumen zu, und wehe, erzählt ein Kollege, wehe denen, 
die aus Neugierde, Bosheit oder Scherz es gewagt hätten, ihn 
in seiner Ruhe zu stören! Er stürzte wütend aus seiner Zurück¬ 
gezogenheit, um sie herauszudrängen, ohne zurüdczusdirecken vor 
ihrer Anzahl.« 

Und im Anschlüsse daran eine gleichfalls überall und über¬ 
einstimmend notierte Szene, die ich nach Kircheisen zitiere: 

»Im letzten Jahre seines Aufenthaltes in Brienne lieferte er 
ein Beispiel seiner egoistischen Wut, wobei er alles Leid anderer 
vergaß, weil ein unvorhergesehener Zufall seine Neigungen störte. 
Alljährlich feierte man nämlich in der Anstalt zu Ehren des Königs 
den heiligen Ludwigstag. Den Schülern war an diesem Tage die 
denkbar größte Freiheit gelassen. Das Hödiste aber war, daß jeder 
Zögling , der das vierzehnte Lebensjahr erreicht hatte, eine gewisse 
Menge Schießpulver zur Verfügung bekam. Es war für das schon 
viele Tage vorher bereitete Feuerwerk bestimmt . . . Alle waren 
überglücklich und wochenlang vor dem Feste in fieberhafter Auf¬ 
regung und Erwartung. Es befremdete, daß der junge Bonaparte, 
der den Ludwigstag zum letztenmale mit seinen Schülern gemeinsam 
feiern sollte, sich mürrischer und unnahbarer als gewöhnlich zeigte. 
Er kam den ganzen Tag nicht aus seinem Versteck hervor, eifrig 
und ernst über seine Bücher und Atlanten gebeugt. Mochte er, der 
künftige Republikaner, schon damals nicht an einem Feste zu Ehren 
des Königs teilnehmen? Oder war es nur Laune? Man weiß über 
Napoleons damaliges Empfinden in dieser Hinsicht nichts, jedenfalls 
zeigte er sich aus irgendeinem Grunde gegen den allgemein herr¬ 
schenden Jubel ablehnend. 

Im Nebengarten hatte sein Nachbar einen selbstkonstruierten 
Feuerwerkskörper aufgestellt, den er abends vor einigen seiner 
Freunde zur Explosion bringen wollte. Gegen neun Uhr kamen 
die Knaben in dem Gärtchen zusammen und umstanden bewundernd 
das Werk ihres Kameraden. Plötzlich gab es einen fürchterlichen 
Knall: einige Funken waren in das unvorsichtigerweise offenstehende 
Pulverkästchen geflogen. Die Panik unter den jungen Leuten war groß. 
Alle suchten sich so schnell wie möglidi zu retten ... In ihrem 
Ungestüm kletterten manche Knaben die Bretterwand hin¬ 
auf, die Napoleons Garten von dem des Nachbars trennte 
und rissen dabei ein paar Bretter der wenig standhaften Wand um. 
Dies gewahrend, stürzte Napoleon mit einer Hacke be- 




Der Wendepunkt im Leben Napoleons I. 


357 


waffnet, schäumend vor Wut und Aufregung . . . auf die 
Ruhestörer zu und trieb sie alle ohne Erbarmen gegen 
die Brandstätte zurück. Was kümmerte ihn das Unglüdt seiner 
Mitschüler? Nur der Gedanke, daß man ihn aus seinen Studien 
gerissen, daß man sein Heiligtum verletzt hatte, beschäftigte ihn!« 

Welch eine ungeheuer ausdrucksvolle Symptomhandlung, die 
wohl für jeden, der sehen will, eine sehr beredte Sprache spricht,- 
braucht man sie ja doch bloß ihrer so leicht symbolischen Gewann 
düng zu entkleiden, um zu erfahren, daß sie uns ganz dasselbe 
sagt, wie das »attaquer la patrie avec les etrangers« oder das »il 
a concouru ä la reunion ä la France«, nämlich, daß man niemand 
Fremden zur Mutter zulassen darf, sondern sie ganz, ganz, ganz 
allein besitzen soll!! 

Und um selbst sehr skeptische Leser vollends und unwider¬ 
leglich von der Berechtigung und Richtigkeit dieser symbolischen 
Auffassung zu überzeugen, sei hier auf eine Stelle im Werke von 
F. Müller ^Ly er: »Phasen der Liebe« <bei Albert Langen, Mün¬ 
chen) hingewiesen, wo es heißt <p. 24): »Dem Manne gehören 
die Kinder der Frau, auch wenn sie von jemand anderem er¬ 
zeugt worden sind, denn die Frau gehört ihm, gerade etwa <um 
einen Vergleich Napoleons zu gebrauchen), wie alles, das 
in einemGarten wächst, demBesitzer desGartens gehört« — 
sowie daß Napoleon seine Stiefkinder, Hortense und Eugene Beau¬ 
harnais, als Früchte der Josephine ansah. <Masson: Napoleon 
et sa famille, Bd. I, p. 142: il continue a envisager Hortense et 
Eugene comme fruits de Josephine [im Original italica]). 

« * 

* 

Auch das Befremden über das besonders mürrische und unnah¬ 
bare Verhalten und Benehmen Napoleons bei dieser Gelegenheit, 
das sowohl seiner damaligen Umgebung als auch, wie man sieht, 
noch seinen heutigen Biographen ganz rätselhaft erscheint, schwindet, 
wenn man sich nur erinnert, daß es sich damals um das Namens¬ 
fest des Königs gehandelt hat, daß König, Kaiser und jegliche 
Autorität überhaupt, ein ganz typisches Symbol des Vaters ist, 
daß überdies die Wirkung dieser typischen Symbolik in diesem 
Falle noch dadurch außerordentlich verstärkt worden sein mag, daß 
es bei dieser Feier, wie Chuquet berichtet, über dem Hauptportal 
ein großes Transparent gegeben habe, darstellend Ludwig XVI. auf 
die Gerechtigkeit und Wahrheit gestützt, und darunter die Inschrift: 
A Louis XVI., notre pere. Dergestalt wird uns dies so ganz 
besonders auffallende Benehmen Napoleons an diesem Tage zum 
Anzeichen seiner ablehnenden und feindseligen Gesinnung seinem 
Vater gegenüber, deren eines wir bereits im obigen Vorwurf be¬ 
sitzen. 

Das sind aber auch nicht die einzigen, denn in seinen Schriften 
wie auch in seinen Briefen befinden sich weitere und redit beredte 




358 


Dr. Ludwig Jekels 


Belege für diese seine Einstellung. Ich erinnere hier z. B. an die 
früher aus dem »Discours de Lyon« zitierte Stelle, die so kraß 
bei Napoleon die libidinöse Verschiebung von der Mutter auf die 
Erde und auf den Besitz derselben zum Ausdruck brachte. Er läßt 
nun in Verfolgung dieser Schilderung den entrechteten und ver¬ 
bitterten jungen Mann zu seinem Vater flüchten, der ihm Trost und 
Hilfe spendet und ihn beruhigt. Derselbe Vater ist es aber zugleich, 
von dem er an einer anderen Stelle dieses Bildes sagt: »Mein Vater 
ruft mich vom Sdioße des Jenseits« <und Napoleons Vater war 
schon mehrere Jahre tot), der ihn aufs Nachdrtiddichste und Ein¬ 
dringlichste vor der Besitzgier und dem Streben nach zu großem Be¬ 
sitz, der stets nur Unglück bringe, warnt, und ihm zuruft: »Lasse dich 
niemals verleiten durch Besitzgier noch durch ungebändigte Leiden¬ 
schaft« <ne vous laissez jamais seduire par la cupidite ni par la 
passion violente). Und wenn wir gar lesen, daß der junge Mann, 
»wenn seine Seele zugänglich wird dem Schmerz oder der ungeregelten 
Begierde«, sich an die verehrte Asche seines Vaters wendet, um sich 
dort wieder mit seinen Pflichten und seiner Einfachheit abzufinden, 
und die Phantasie ihres symbolischen Inhaltes entkleiden,- sehen wir 
da nicht Napoleon eigentlich gegen ein aus unvordenklichen Zeiten 
stammendes Verbot des Vaters gegen das inzestuöse Verlangen 
nach der Mutter ankämpfen? 

Über den Eindruck, den der Tod seines Vaters <24. Fe¬ 
bruar 1785) auf Napoleon machte, lesen wir bei Masson: »Der 
Tod seines Vaters hat Napoleon keinen solchen Schmerz ver¬ 
ursacht, dem er in Tränen hätte einen Ablauf geben müssen. Das ist gut 
für Weiber. Er nimmt es hin wie ein Mann, wie ein Soldat, der 
er bereits ist. In der frühen Kindheit hat er wenig mit dem Vater 
gelebt, innerhalb sechs Jahren hat er ihn einmal und nur während 
einer Stunde gesehen. Da kann er doch für ihn keine Zärtlichkeit 
empfinden, die sich vor allem durch Gewöhnung und tägliche Eim* 
drücke heranbildet.« 

Die Beileidschreiben, die Napoleon aus diesem Anlasse so¬ 
wohl an Onkel Lucian als auch an die Mutter richtet, finden fast 
alle Biographen auffallend und Chuquet z. B. äußert über die¬ 
selben: »Der Schmerz Napoleons war außerordentlich, als er vom 
Tode des Vaters erfuhr. Derselbe drückt sich in seinen Briefen 
nidit mit soviel Natürlichkeit und Lebhaftigkeit aus, als man es 
verlangen würde. Der Ton ist ein würdiger, aber ein wenig kühl, 
zeremoniell, feierlich. In diesen von einem sechzehnjährigen Kinde 
geschriebenen Zeilen ist zuviel Sorge und Mache <. . . trop de soin 
et d'appret)«. 

Und noch siebzehn Jahre später sehen wir Spuren dieser 
Einstellung, als nämlich im Jahre 1802 der erste Konsul das Er^ 
suchen und den Beschluß des Munizipalrates von Montpellier zurück^ 
weist, seinem auf der Durchreise in dieser Stadt verstorbenen 
Vater, dem die Welt den großen Sohn verdankt, ein Denkmal 




Der Wendepunkt im Leben Napoleons I. 


359 


stellen zu dürfen. Er tut es mit nachfolgender seichter Begründung: 
»Lassen wir das,* stören wir nicht den Frieden der Toten,- lassen 
wir ihre Asche in Ruhe. Ich verlor doch auch meinen Großvater, 
meinen Urgroßvater,- warum tat man denn nichts für diese? Das 
führt zu weit.« 

Derselbe Grund der Ablehnung des Vaters ist es offenbar 
auch, der Louis Bonaparte die Leiche des Vaters ohne Wissen 
des Bruders exhumieren und nach St. Lieu bringen läßt, woselbst 
er ihm ein Grabmal setzen läßt. 

Indessen nicht minder groß wie die Ablehnung ist auch seine 
Liebe für den Vater,- sie ist so intensiv, daß sie ihn stellenweise 
dahinbringt, sein psychisches Ich aufzugeben, um sich ganz eins mit 
dem Vater zu fühlen, mit ihm zu identifizieren, Vater zu sein. Und 
wer da sehen will, wie sehr Napoleon Vater war, der lese z. B. 
die Briefe, die der Fünfzehnjährige in Angelegenheit seines älteren 
Bruders Joseph an den Vater und an den Onkel Paravicini schreibt. 
Mit welcher Liebe, Sorgfalt, Gründlichkeit und Genauigkeit erörtert 
da der Knabe diese Frage. »Welcher Vorteil für die Familie«, das 
ist seine Parole. 

Nachdem der Vater gestorben, da »hat er den einzigen 
Wunsch, bald etwas zu verdienen, um die Seinigen unterstützen zu 
können«, meint Kircheisen. Und als Sekondleutnant in Valence 
und auf seinem ersten Urlaub, wie wird da der kaum Siebzehnjährige 
von der Sorge um die Seinigen bedrückt, über deren recht trostlose 
Lage er stets durch Joseph unterrichtet ist. Weder jetzt noch später 
erwägt er auch nur einen Augenblick, daß er doch der Zweite 
geborene ist und daß eigentlich dem älteren Joseph die Rolle der 
Stütze der Familie zukommt, sondern ladet sich mit einer sehr vieL 
sagenden Selbstverständlichkeit die mannigfaltigsten und recht lästigen 
Familiensorgen auf. Er interveniert im geistlichen Seminar zu Äix 
zugunsten Lucians,- verlängert seinen Urlaub in Ajaccio, damit 
seine Bezüge den Seinigen zugute kommen,- hier in Ajaccio macht 
er allerlei Anstrengungen wegen der inzwischen eingestellten Dotation 
der Maulbeerbaumschule, fährt audi speziell in dieser Angelegenheit 
nach Paris, wo er bei den maßgebenden Faktoren vorstellig wird. 
»Um zu seinem Rechte zu gelangen, ließ er nichts unversudit und 
zeigte in dieser Hinsicht dieselbe Zähigkeit und dieselbe Ausdauer 
wie der Vater«, meint Kircheisen, und »so schnell und kurz ließ 
er sich nicht abfertigen, dazu war er viel zu sehr der Sohn Carlos«. 
Er verteidigt so die Interessen seiner Familie, daß er doch einen 
Teilerfolg erringt. Aber nicht genug daran,- er wendet sich nach 
Versailles, erwirkt beim Finanzminister Brienne eine Audienz und 
bringt demselben das Anliegen betreffs einer Freistelle für Lucian 
vor. Man bedenke: kaum siebzehnjährig!! Und von Ajaccio zurüde¬ 
gekehrt, sehen wir ihn wadeer der Mutter beistehen, er schreibt für sie 
allerlei Gesuche, ist »ihr Berater und Dolmetsch bei den Behörden 
und gibt sich die redlichste Mühe, das Los der Mutter zu erleichtern«. 




360 


Dr. Ludwig Jekels 


Und wie sehr er sich Vater fühlte und von seinen Ge¬ 
schwistern auch als solcher empfunden wurde, dafür legen gerade 
diese das beste Zeugnis ab. So meint Joseph: »Wenn Napoleon 
sprach, da mußte man sich beugen, und wir alle fügten uns«,- 
während Lucian in seinen Memoiren bemerkt: »Er war unwillig 
über die geringste Bemerkung und fuhr auf beim geringsten Wider¬ 
stand. Selbst Joseph wagte es nicht, seinem Bruder zu antworten.« 
Und ganz deutlich drückt es seine Schwester Marianne Elisa aus, 
als sie, Entlassung aus St. Cyr erbittend, in ihrem Gesuche schreibt: 
». . . da ich nie einen anderen Vater als meinen Bruder kannte . . .« 

Als blutarmer Leutnant in Auxonnes zögert er keinen Augen- 
blidc, seinen kleinen Bruder Louis, den späteren König von 
Holland, für den ein Freiplatz nicht zu erhalten war, zu sich zu 
nehmen,- er erhält ihn aus seinem kargen Leutnantssold unter 
den empfindlichsten Opfern für seine eigene Person, unterrichtet und 
erzieht ihn sehr sorgsam und ist stolz auf seine Entwiddung, wie 
es nur ein Vater auf sein Kind sein kann, denn er schreibt: »er 
wird sicher der Beste von uns Vieren werden!« 

Nach der Flucht aus Korsika ist er es, der Hauptmann 
Bonaparte, der seine fast aller Mittel entblößte Familie ganz aus 
Eigenem erhält, obzwar er es sehr knapp hat mit dem Gelde. Und 
als er bald darauf, als — wegen seiner Weigerung von der Artillerie 
zur Infanterie transferiert zu werden — von der Offiziersliste ge** 
strichener General, nahezu völlig subsistenzlos, maßlos verbittert, 
gänzlich verzweifelt und lebensüberdrüssig in Paris herumirrt, da 
denkt er nodi immer an das Wohl der Seinigen. Wie hoffnungslos 
und unglücklich er sich da auch fühlt, »aber wo es sich um seine 
Familie handelt — schreibt Massen — ist er ganz anders,- da ist 
keine Mühe für ihn zu groß und nichts ist ihm zu beschwerlich. 
Und er legt in diesen Tagen so zahlreiche Beweise seiner Ergebene 
heit für die Seinigen ab, daß ein Zweifel an der Lebhaftigkeit, Tiefe 
und Stärke seiner Gefühle unmöglich ist«. Und ich kann Masson 
nur beistimmen, wenn er diese Fürsorge Napoleons als eine »väter¬ 
liche« bezeidinet,- denn nur das intensivste Vaterschaftsgefühl konnte 
ihm an Joseph die Worte diktieren: »Du weißt es, ich lebe nur 
durch die Freude, die ich den Meinigen bereite. Wenn meine Hoff** 
nungen von dem Glüdc unterstützt werden, das mich in meinen 
Unternehmungen niemals verläßt, so werde ich Euch glücklich machen 
und Eure Wünsche erfüllen können.« 

Aber auch zu Zeiten seines Aufstieges — nach dem drei¬ 
zehnten Vendemiaire — hören die Seinigen nicht auf, Gegenstand 
seiner liebevollsten Fürsorge zu sein, ja, da sind sie es erst recht. 
Der mit Arbeit überbürdete Kommandant der Armee des Innern, 
der ohnehin jeden Monat seiner Familie bedeutende Geldbeträge 
zukommen läßt, findet stets die Zeit, um den einzelnen Mitgliedern 
derselben die Wege zu ebnen und einen guten Lebensweg zu 
sichern. Bald beschafft er dem Joseph nützliche Empfehlungen, bald 




Der Wendepunkt im Leben Napoleons I. 


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dem Lucian eine vorteilhafte Anstellung, befaßt sich mit der Offiziers¬ 
karriere von Louis, unterbringt den kleinen Jerome in einer Pariser 
Pension und bekümmert sich um seinen Studienfortgang. Er kenn¬ 
zeichnet wohl selber am besten diese seine Tätigkeit, wenn er 
schreibt: »ich kann ja nicht mehr machen, als ich schon tue für alle.« 
Hiezu Masson: »um den Seinigen dienlich zu sein, entfaltet er 
eine Beflissenheit, eine Geduld und einen Willen, die geradezu er^ 
staunlich wären, wenn man ihn nicht schon früher am Werke ge¬ 
sehen hätte, wenn man nicht wüßte, daß er schon seit dem Tode 
des Vaters für sie diese Anstrengungen machte.« 

Indessen bürdet er sich nicht bloß die Pflichten eines Vaters 
auf, denn er beansprucht für sidi auch das Recht eines solchen, über die 
Geschicke seiner Geschwister zu entscheiden, und erstreckt seine 
Forderung sogar auf das intimste und privateste Gebiet, auf ihr 
Liebes- und Eheleben, wie uns die Geschichte der Ehen von 
Marianne Elisa, von Jerome und vor allem von Lucian beweist. 
Nicht minder instruktiv ist auch seine briefliche Mahnung an Pauline, 
die nach ihrer Verheiratung mit Borghese nicht sonderlich zufrieden 
ist mit Rom, und nicht übel Lust hätte, diese Stadt und ihren Mann 
gegen Paris zu vertauschen: »Liebe Deinen Mann und seine Familie«, 
— schreibt ihr Napoleon — »sei entgegenkommend und gewöhne 
Dich an die Stadt Rom und merke Dir wohl, daß, falls Du in dem 
Alter, in dem Du Dich befindest, schlechte Ratschläge befolgen 
solltest. Du auf mich nicht mehr rechnen kannst. Und was Paris 
anlangt, so kannst Du sicher sein, daß Du hier keine Stütze finden 
wirst, und daß ich Dich niemals empfangen würde, es sei denn mit 
Deinem Manne.« Indessen, meint Masson, er ist nicht so schlecht 
wie er sich hier macht, denn gleichzeitig richtet er in derselben Am* 
gelegenheit einen Brief an Onkel Fesch, voll voraussehender und 
zärtlicher Fürsorge. Ganz wie ein Vater, bei dem man — wie dem 
selbe Autor meint — »in der Zärtlichkeit gegenüber den Seinigen, 
in der unaufhörlichen Nachsicht, die er ihren schwersten Fehlern 
entgegenbringt, in den Illusionen, die er sich über sie macht, in 
seinem Eifer, sie auf die höchsten Stellen zu bringen, ohne daß er 
hiebei etwas anderes berücksichtigen würde, als die Bande des Blutes 
die sie einigen, — ebenso einen schwachen Punkt seines Verstandes 
wie einen bezaubernden Zug seines Herzens herausfühlt.« 

Und wie enorm in ihm diese Vaterschaft für die Seinigen 
vibrierte bewies er auch, als er, mitten im fürchterlichen Ungemach 
seines welterschütternden Zusammenbruches, und kaum daß er in Fon¬ 
tainebleau die Abdankungsurkunde unterschrieben, zu Coulaincourt 
sagte: »Verschafft meiner Familie, daß sie wovon zu leben haben,- 
das ist alles, was ich brauche.« 


Unter allen seinen Vorgängern auf dem französischen Throne, 
aber auch unter den sonstigen Gestalten der Weltgeschichte, gab 





362 


Dr. Ludwig Jekels 


es wohl kaum eine, der Kaiser Napoleon auch nur annähernd eine 
derartige Vorliebe und Verehrung entgegengebracht hätte, wie 
Charlemagne. 

Bei jeder Gelegenheit ruft er die Erinnerung an ihn wach, 
dediziert ihm das großartige Monument, das für den Vendomeplatz 
in Aussicht genommen war, errichtet ihm eine Statue in Aachen 
und bringt den Reliquien Karls daselbst eine ganz besondere Ver¬ 
ehrung dar. 

Karl d. Gr. wählt er sich zum Muster und zum Vorbild, im 
großen und im kleinen. Denn nicht nur, daß er vom Papst und nur 
vom Papst, gerade wie Karl d. Gr. seine Investitur verlangt, aber 
selbt das Kostüm für die Salbungszeremonie Napoleons wird nach 
dem Ornat Karl d. Gr. entworfen, und der Kaiser wählt auch das 
Wappenschild, welches man Karl d. Gr. zuschreibt, zum seinigen,* 
am Krönungstage werden auch die alten kaiserlichen Insignien, 
Krone, Zepter und Schwert getragen. Aber auch den größten Teil 
der Titel, mit denen Kaiser Napoleon die Großwürdenträger 
schmückt, entnimmt er dem heiligen römischen Reiche Karl d. Gr. 

Wie Karl d. Gr. hat Napoleon seine Herzoge und seine 
Grafen,* und wenn er Barone und Ritter einführt, so geschieht 
es nur, weil diese Titel im heiligen römischen Reich Vorkommen. 
Wenn er endlich den Söhnen, welche er zu haben hoffte, selbst 
ehe er noch seine zweite Ehe geschlossen hatte, mit Senatsbeschluß 
vom 17. Februar 1810 die Titel und Ehrenbezeigungen eines 
Königs von Rom beilegt, welchen Beweises bedarf es da noch, um 
zu zeigen, wie die Erinnerungen an Karl d. Gr. und sein Reich 
ihn unablässig in Anspruch nehmen? 

Er träumt von einer vollkommenen Identifizierung seines 
Reiches mit dem Karls. 

Ja, noch mehr! Napoleon bezeichnet sich wiederholt als 
Karl d. Gr., so wenn er sagt: »Ich bin Charlemagne, weil ich wie 
er meine Krone von Frankreidi mit der der Lombardei vereinigt 
trage und mein Reich an den Orient grenzt«, oder wenn er an 
seinen Gesandten in Rom, Kardinal Fesch, schreibt: »Sagen Sie, 
daß ich Charlemagne bin, Ihr Kaiser, und daß ich als soldier be^ 
handelt sein will!« 

Masson, dessen Werk »Napoleon I. zu Hause« obige 
Details fast in wörtlicher Anführung entnommen sind, erklärt diese 
Einstellung Napoleons aus seinem Streben, das durch ihn repräsen^ 
tierte Autoritätsprinzip, welches der natürlichsten und mächtigsten 
Stütze, nämlich einer Reihe seiner Vorfahren auf dem Throne, ent¬ 
behrte, zu stärken und tunlichst zur Geltung zu bringen. In diesem 
Streben habe er sich Charlemagne zum Muster und Beispiel ge¬ 
nommen, weil ihn mit demselben viel Ähnlichkeit in den Schicksalen 
verbunden habe. Denn ebenso wie der gleichfalls nicht erbberechtigte 
Charlemagne war auch Napoleon Gründer einer neuen Dynastie 
und wurde, wie jener, von einer ganzen Nation gewählt,* auch er 




Der Wendepunkt im Leben Napoleons I. 


863 


hat seine Augen auf Italien geheftet, das er zweimal erobert hat, 
auch er hält sein Reidh für unvollkommen, wenn er nicht mit seiner 
Herrschaft über die Franzosen auch die über die Völker der 
hispanischen Halbinsel verbindet. Auch er habe die Deutschen des 
Ostens in der Erhebung gegen das Prinzip gesehen das er ver¬ 
tritt, und seine Paladine haben mit ihm die Empörung unterdrückt. 
Und darum habe er sich entschlossen, die vierte Dynastie mit der 
zweiten zu verbinden, und deshalb habe er gerade Charlemagne 
zu seinem »erhabenen Vorgänger« gemacht. 

So weit Masson. Wir aber, denen die oft so krausen, ge* 
radezu bei den Haaren herbeigezogenen, ja direkt läppisch an* 
mutenden und der entferntesten Möglichkeiten, vor allem aber der 
oberflächlichsten Klangähnlichkeiten sich bedienenden Ausdrucks* 
weisen des Unbewußten wohl bekannt und glaubhaft sind, möchten 
hier darauf verweisen, daß der Vater Napoleons — Charles Marie 
hieß, und hiebei unserer Überzeugung Ausdruck verleihen, daß die 
so intensive Identifikation Napoleons mit Charlemagne gewiß nicht 
in Gänze der bewußten Denkarbeit bei Napoleon zugeschrieben 
werden darf, sondern daß sie zumindest in sehr hohem Grade auf 
dem Wege jener Namenähnlichkeit von der unbewußten Identi* 
fizierung mit seinem Vater abgeleitet wurde. 

Und als Beleg führe ich das Expose zu dem angeführten 
Senatsbeschluß an, worin es heißt: 

»Napoleon versagte es sich, in den ersten Tagen seines 
Ruhmes in Rom als Sieger einzuziehen. Er behält sich vor, dort 
als Vater aufzutreten. Er will sich auch dort zum zweitenmal die 
Krone Karl d. Gr. auf das Haupt setzen lassen!« 

Ist doch für die Kinderpsyche — die dann im Unbewußten 
fortlebt — der Vater nicht bloß Kaiser und König,- er ist auch 
stets »der Große«!! 


III. 

Wir haben im voranstehenden die psychische Situation des 
jungen Bonaparte bis zu dem hier abgehandelten Zeitabschnitte ge* 
schildert, bestehend in einer außerordentlich starken Fixierung an 
die Mutter und der entsprechenden, konträr entgegengesetzte 
Regungen, nämlich Liebe und Haß in sich bergenden, uns als so* 
genannte Ambivalenz aus der Neurosenpsychologie so wohl* 
bekannten Einstellung zum Vater. 

In dieser psychischen Situation Napoleons erblicken wir das 
dispositioneile Moment für allerlei Möglichkeiten, so daß sich aus 
derselben bei versagender Wirklichkeit ebenso eine recht schwere 
Neurose, wie bei entgegenkommender sehr hochwertige Sublimierungs* 
Produkte entwickeln konnten. 

Das beweist unter anderem auch die Tatsache, daß bei der 
ungeheuren Belastung, unter der Napoleons Seele gemäß unseren 





364 


Dr. Ludwig Jekels 


Ausführungen stand, Ansätze zu einer Neurose vorhanden waren. 
Denn nahezu übereinstimmend entwerfen die Biographen Schilde¬ 
rungen vom jungen Napoleon, die den Eingeweihten kaum anders 
als die einer Kindheits- und Pubertätsneurose anmuten. Cos ton 
z. B. hebt hervor, Napoleon sei schon in der Schule zu Autun düster 
und nachdenklich gewesen, habe sich mit niemandem unterhalten und 
sei einsam herumgegangen, und Jung entwirft aus der gleichen Zeit 
folgendes Bild von ihm: »Welch ein Kind! Das ist doch ein Wilder, 
ein Triebmensch, mit seinem bleichen Gesicht, mit dem steifen Haar, 
der kleinen Gestalt und dem schlechten Aussehen«, und bemerkt 
dann, »einsam war er, einsam ist er, einsam wird er bleiben.« 

Und dieses in sich gekehrte, völlig asoziale Wesen, das die 
Autoren mit des Knaben Sehnsucht nach der korsischen Heimat 
erklären, und das auch Napoleon selbst später anerkannte mit der 
Bemerkung, er sei »immer melancholisch« gewesen, potenziert sich 
noch im Laufe seines Aufenthaltes in Brienne. Einmal hier zu 
einer empfindlichen Strafe verurteilt — er sollte das Mittagmahl 
kniend auf der Schwelle des Refektorium und in ein härenes Ge¬ 
wand gekleidet einnehmen — entzieht er sich der Strafe dadurch, 
daß er bei Antritt derselben einen gewaltigen Nervenanfall und 
Erbrechen bekommt. 

Übereinstimmend wird von den Autoren das aparte und vom 
normalen völlig abweichende, finstere, scheue und verschlossene Wesen 
des in der Vorpubertät befindlichen Bonaparte hervorgehoben, 
desgleichen seine Tendenz sich zu isolieren und demzufolge seine 
Unbeliebtheit bei den Kameraden, die Napoleon übrigens selbst zu¬ 
gab mit den Worten: »mes camerades ne m'aimaient guere«. Und 
in seiner Schilderung Napoleons aus dieser Periode spricht Chuquet 
direkt von seinen »nervös zusammengepreßten Lippen« und von 
den »Anfällen von Wut und Raserei«, während der unter den 
Biographen wohl mit der größten Intuition begabte Jung für dieses 
so abnorme Wesen des etwa vierzehnjährigen Napoleon verant^ 
wörtlich macht »das Ungestüm der Gedanken, ... die in diesem 
Jünglingsgehirn brodelten«. Chuquet betont noch ein Jahr später 
— in der Pariser Militärschule — die Introversion bei Napoleon 
mit den Worten »il est toujours entier dans ses idees«. Und mit 
einer vollkommenen Klarheit diagnostiziert der scharfsinnige Jung 
den Anlauf zur Neurose, als er von dem auf seinem ersten Urlaub 
auf Korsika weilenden und die Seinigen mit von Rousseau und 
Voltaire entlehnten Tiraden beunruhigenden Leutnant Bonaparte 
meint, er habe mit denselben bloß beim alten, dem Korsentum treu 
gebliebenen Onkel Anklang gefunden, während die nüchterne Mutter 
sie leidenschaftslos anhörte, denn »sie hielt ihren Sohn für krank. 
Er war ja auch tatsächlich moralisdi krank. Ein nervöses Fieber 
durchwühlte ihn«. 

Wiewohl nun auch in Napoleons späterem Leben so manche, 
wenn auch vereinzelte so doch direkt neurotisch ansprechende Züge 




Der Wendepunkt im Leben Napoleons I. 


365 


gleichfalls zu finden sind, so wollen wir uns doch mit dem ange* 
führten Material begnügen, das wohl unsere frühere Behauptung 
von der bei so hochgradiger psychischer Spannung gleichfalls vor¬ 
handenen Möglichkeit der Entstehung einer Neurose vollauf stützt 
und bekräftigt. 

Und bei aller noch so exorbitanten Bewertung von Napoleons 
zweifellos exzeptioneller Libido, ist es, unserer Ansicht nach, an den 
Bedingungen der damaligen Napoleon umgebenden Wirklichkeit ge¬ 
legen gewesen, daß hier die Bildung einer völlig unproduktiven und 
wahrscheinlich zerstörenden Neurose eingedämmt und hintangehalten 
und aus dem gleichen Material ein reales Schicksal gestaltet wurde, 
wie es großartiger, reichhaltiger und produktiver nicht bloß die 
Annalen der Geschichte nicht kennen, sondern auch die Phantasie 
kaum ersinnen könnte. 

Durch diese Auffassung setzen wir uns zwar in einen Wider¬ 
spruch mit dem gestürzten Kaiser, der auf St. Helena in einer An* 
Wandlung von allzu großer, den Beitrag seiner Persönlichkeit ganz 
übersehenden Besdieidenheit meinte: »nidits war einfacher als meine 
Erhebung, ... sie lag in dem eigentümlichen Charakter der Zeit, 
... ich bin das Produkt der Zeitumstände«/ wohl aber wissen wir 
uns da im Einklänge mit manchem der Biographen, wie z. B.F. Kirch* 
eisen, der meint, »die Zeit, in der Napoleon lebte, war seinem 
Genie behilflich«, und »seine außerordentlichen Fähigkeiten konnten 
sich nur in einer Umgebung wie der der Revolution entwickeln«,- 
nur daß wir uns mit der bloßen Konstatierung dieser Beeinflussung 
nicht bescheiden, sondern bestrebt sind klarzulegen, warum dieselbe 
überhaupt stattgefunden hat, ja sogar, warum sie stattfinden und 
nach einer ganz bestimmten Richtung sich geltend machen mußte. 


Jedem, der mit der dynamischen Arbeitsweise unseres seeli* 
sehen Apparates vertraut ist, scheint es selbstverständlich, daß bei 
der ambivalenten Einstellung die beiden miteinander ringenden 
Strömungen in einem Liebesobjekte nur so lange vereinigt werden 
können, als die negative durch die Liebe noch erfolgreich gebunden 
werden kann. Ist dies nicht mehr der Fall, dann kommt es zu einer 
Vervielfältigung des Objektes, von dem dann, unter Mengung der 
beiden Libidokomponenten in ganz verschiedenen Verhältnissen, 
ganze Reihen — bald mit überwiegender positiver, bald aber nega^ 
tiver Färbung — gebildet werden. 

Und eben dieser Vorgang ist bei Napoleon — dessen enorme 
Libido einen Ausgleich im Rahmen der Einheitlichkeit vielleicht be* 
sonders erschwerte — ganz deutlich zu beobachten,- dies ist auch 
die für das Verständnis unserer Probleme in Betracht kommende 
psychische Grundsituation. 

Denn auch bei ihm finden wir eine ganze Vaterreihe vor, um 
nur vorderhand außer Charles Bonaparte noch Marbeuf und Paoli 





366 


Dr. Ludwig Jekels 


zu nennen, und sehen ihn gegen diese Abspaltungen der Vaters 
imago naturgemäß genau so ambivalent eingestellt, wie gegen das 
Original. 

Dem Verhältnisse zu Paoli wird weiter unten eine gesonderte 
Besprechung gewidmet,* hier sei bloß darauf hingewiesen, daß 
Napoleon auch Marbeuf gegenüber nicht bloß von dem analytisch 
erschlossenen Haß erfüllt ist, sondern daß es auch an Anzeichen 
von einer gewissen Anhänglichkeit nicht mangelt. Wir haben ja 
schon einer solchen recht deutlichen Kundgebung Napoleons Er^ 
wähnung getan <s. p. 349), und möchten hier noch darauf hinweisen, 
was Chuquet hervorhebt, daß Napoleon, der in seinen Jugend¬ 
schriften so schonungslos gegen die Korsika vor der Autonomie¬ 
verleihung verwaltenden französischen Generäle ins Feld zieht, nie^ 
mals unter denselben Marbeufs Erwähnung tat, und sich mit der 
Nennung anderer wie z. B. Narbonne Fritzlar oder Sionville be¬ 
gnügt, obwohl gerade Marbeuf sogar auf einer öffentlichen Gedenk¬ 
tafel als »Tyrann des stöhnenden Korsika« bezeichnet wurde. 

Doch ist mit den genannten Gestalten die Vaterreihe bei 
Napoleon nicht erschöpft,* denn wie uns bereits die so bedeutsame 
Symptomhandlung in der Brienner Schule bekundet hat, finden wir 
in derselben auch den König, diesen entwicklungsgeschichtlich den 
Menschenseelen tiefst eingeprägten Vater. 

Bei allen Biographen gilt Bonaparte in dieser Periode seines 
Lebens als ganz überzeugter, ja als fanatischer Republikaner,* und 
das Zeugnis der Charlotte Robespierre, die ihn sogar als »Mon- 
tagnard« bezeichnet, vorher noch aber seine Valencer Gespräche 
mit Sucy und Montalivet, vor allem aber seine Jugendschriften, in 
denen sich dieser königliche Offizier als erbitterter Feind und Hasser 
des Königtums kundgibt, lassen tatsächlich nicht den geringsten 
Zweifel daran. So z. B. wenn er die »Dissertation sur lautorite 
royale« mit der Bemerkung einleitet: »Dieses Werk wird mit 
allgemeinen Gedanken darüber beginnen, wie die Bezeichnung 
, König' in den Vorstellungen der Menschen entstanden und ge¬ 
wachsen ist. Hierauf wird in die Einzelheiten der usurpierten Ge¬ 
walt eingegangen, deren sich die Könige in den zwölf Monarchien 
Europas heute erfreuen. Es gibt nur äußerst wenige unter ihnen, 
die es nicht verdient hätten, abgesetzt zu werden.« Oder im »Dis- 
cours de Lyon«: »Man weiß zur Genüge, wie die Könige immer 
egoistisch waren,* sie glaubten in ihnen wäre ihr Volk, ihre 


Nation etc.« 

Über den Ursprung, die Quelle und die Beschaffenheit dieses 
Königshasses finden wir im Traktat »Sur l'amour de la Patrie« 
einen bezeichnenden und für den Analytiker nicht uninteressanten 
Hinweis, dort nämlich, wo der Syrakusaner Dion als Muster einer 
wahren und echten Vaterlandsliebe angeführt wird. Es geschieht 
zuerst mit den Worten: »Dion besaß ein großes Vermögen, 
war von vornehmem Geschlecht und genoß eine verdiente Hoch^ 




Der Wendepunkt im Leben Napoleons I. 


367 


achtung. Was fehlte ihm denn zu seinem Glüdke? Ihr schwächlichen 
Seelen, ihr könnt nicht erraten und ihr wagt zu sprechen? Sein 
Vaterland ist Sklave eines Tyrannen, den er liebt und achtet, aber 
doch eines Tyrannen.« lind daß mein Rückschluß, es spiegle sich 
in dieser Stelle ganz deutlich Napoleons Verhältnis zum Vater, 
kein willkürlicher ist, daß auch für Napoleon selbst die Analogie 
zu durchsichtig geworden und die unbewußte Strömung zu sehr an 
die Oberfläche gedrungen sein mag, dafür spricht, daß er diesen, 
wie man sieht, in Form und Inhalt korrekten und geschichtlich ge¬ 
treuen Passus ohne jede Nötigung durchgestrichen und durch einen 
anderen ersetzt hat, in dem mit keinem Worte mehr der Ver¬ 
wandtschaft, Liebe oder Achtung Dions für Dionysos Erwähnung 
getan wird. Es ist dies in der Massonsehen Ausgabe die zweite 
größte durchstrichene Stelle. 

Haben wir nun dergestalt für das Ersatzverhältnis Vater— 
König auch bei Napoleon sichere Anhaltspunkte gewonnen, so muß 
ganz besonders hervorgehoben werden, daß gerade hier in diesem 
Punkte die von uns oben postulierte günstige Wechselbeziehung 
zwischen Napoleons Phantasie und der Wirklichkeit, die selten ge¬ 
naue Kongruenz dieser beiden das Schidcsal gestaltenden Faktoren, 
mit besonderer Klarheit zu beobachten ist. 

Fiel doch Napoleons Jugend mit der großen Revolution zu¬ 
sammen, dieser einzigartigen Bewegung, in der der stammesgeschidn> 
liehe Haß gegen den Vater entfesselt war wie kaum je zuvor, und 
die Mensdienseelen völlig in seinem Banne hielt. F. Müller-Lyer 1 
weist ja von ganz anderen, rein soziologischen Gesichtspunkten nach, 
welch kolossale Bresche gerade durch diese Revolution in die bis 
dahin ehern dastehende Stellung des Vaters geschlagen wurde. 

Durch diese allgemeine gegen den Vater gerichtete Bewegung 
wird nun einerseits auch Napoleons Vaterkomplex mächtig entfacht, 
in starke Schwingungen versetzt und neu belebt,- anderseits aber erhält 
bei ihm infolge der allgemeinen Libidozuwendung das schattenhafte 
Symbol Fleisch und Blut und wird zur lebendigen Wirklichkeit, die 
nun auch von Napoleon mit seiner bis nun so unproduktiv, ja 
zerstörend am Vater fixierten Libido, im reichsten Ausmaße be^ 
setzt wird. 

Zum Beweise hiefür führen wir an, daß er sich zum König 
ebenso ambivalent stellte wie zum Vater <und zu Marbeuf), daß 
er somit bloß mit halber Seele Revolutionär und Königsstürzer, 
mit der anderen aber der Revolution abhold und dem König ge¬ 
neigt war. Denn abgesehen davon, daß er in der Charakteristik 
des Verhältnisses Dions zu Dionysos auf diese Liebe hinweist 
<s. oben), so finden wir, verläßlichen Autoren zufolge, genügende 
Anhaltspunkte hiefür in seiner Jugendgeschichte. In Seurre, wo er 
1789 das »Wetterleuchten der Revolution«, die Getreideunruhen, 


1 F. Mülier^Lyer: Die Familie. München 1912, p. 196 bis 202. 





368 


Dr. Ludwig Jekels 


bekämpfen soll, macht er Cos ton zufolge scharfe Äußerungen 
gegen Revolutionen im allgemeinen. Und als einige Wochen später 
wieder die gleichen Unruhen in seiner Garnisonstadt Auxonne aus* 
brechen, »da flößte ihm die wilde, entfesselte Masse des Pöbels, 
der auf diese Weise seine Rechte zu erlangen suchte, Abscheu ein, 
und ... er mißbilligte die gegen die königliche Familie ausgestoßenen 
Flüche« <Kircheisen>. Bei Coston finden wir es vermerkt, daß 
Napoleon nach dem Eid auf die neue Verfassung vom 14. Juli 1791 
sich folgendermaßen geäußert hat: »Bis nun, wenn ich den Befehl 
erhalten hätte, meine Kanonen gegen das Volk zu richten, zweifle 
ich nicht, daß Gewohnheit, Erziehung, . . . der Name des Königs 
mich zum Gehorsam veranlaßt hätten.« Nach dem mißglückten 
Fluchtversuch des Königs vom 20. Juni 1791 — mit dem das 
Debacle Ludwig XVI. eigentlich begann — hören wir aus einer 
Rede, die Napoleon im Valencer Klub hielt, dem König wohl* 
wollende Akzente heraus, als er von einem »den König verfolgenden 
Verhängnis« und davon spricht, daß »die ganze Schuld für all 
das laste auf den Ratgebern des Königs, die ihn in den Abgrund stürzen«. 
Und ganz unzweideutig klingt seine Anteil* und Parteinahme für den 
König in den Äußerungen durch, die er beim Anblick der Szenen 
vom 20. Juni und 10. August 1792 getan hat. Denn am ersten 
dieser Tage, wo der König von dem in die Tuillerien gewaltsam 
eingedrungenen Vorstadtpöbel stundenlang maßlos beschimpft und ihm 
die Jakobinermütze aufgesetzt wird, da äußert sich Napoleon zu 
seinem Freunde Bourrienne: »Coglione! Wie konnte man diesen 
Vorstadtpöbel einlassen! Man hätte vierhundert bis fünfhundert mit 
Kanonen wegfegen sollen und der Rest hätte das Weite gesucht.« 
Noch deutlicher aber äußert er seine Stellungnahme für den König 
am 10. August, wo gleichfalls gegen die Tuillerien aufgebrodiene 
Jakobinerscharen die Schweizergarde niedermetzeln und durch ihre 
Raserei den König zwingen, in der Nationalversammlung Schutz 
zu suchen, wo er aber suspendiert und verhaftet wird,- da meint 
er: »ich fühlte, daß, wenn man mich gerufen hätte, ich den König 
verteidigt haben würde.« 

Indessen, bei der Abhängigkeit von Napoleons Einstellung 
zum Vater von der Allgemeinheit, ist es wohl natürlich, daß durch 
den während des Schlußaktes derKönigstragödieso enorm entfachten und 
geschürten Haß und die Erbitterung gegen Ludwig XVI. audi 
Napoleons Libido in die gleiche Richtung gewiesen und die negative 
Komponente seiner ambivalenten Einstellung zum Vater zur mächtig* 
sten Entfaltung gebracht wird. Denn wir befinden uns da in einer 
Periode, wo — seit Anfang November 1792 — im Konvent fort* 
während die die Welt in Atem haltenden Verhandlungen über das 
Schicksal des im Temple gefangen gehaltenen Ludwig XVI. statt* 
finden, und ganz Frankreich widerhallt und aufs gewaltigste erregt 
wird von den daselbst gehaltenen Reden, die, wie z. B. Robespierres 
vom 3. Dezember »vom tiefsten Abscheu vor dem Königtum« ge* 





Der Wendepunkt im Leben Napoleons I. 


369 


tragen sind, und dasselbe ebenso wie den König geradezu brande 
marken. 

Aber außer diesem allgemeinen gibt es für Napoleon in 
diesem Königsschidcsal noch ein ganz spezielles Motiv, geeignet 
Napoleons ganzen Vaterhaß zu wecken und zur Entfaltung zu 
bringen. Steht dodi während der Revolutionsjahre der König fort¬ 
während im Verdachte, fremde Mächte zu Hilfe rufen und mit 
ihnen sein Vaterland angreifen zu wollen! Wird ihm doch in den 
Konventsverhandlungen vorgeworfen, er habe, »um sein Volk zu 
züchtigen, die Waffen fremder Tyrannen, seiner Mitbrüder, herbei** 
gerufen«, und betrifft auch in seinem Prozesse die Hauptschuldfrage 
seine »Anschläge auf die allgemeine Sicherheit des Staates!« 

Somit will ja audi Ludwig XVI. — genau so wie in der 
Phantasie der Vater Bonaparte — die Mutter den Fremden aus* 
liefern! Was Wunder nun, daß da ein mächtiger Widerhall gewedct 
wird, und durch diesen Windstoß die unter der Asche glimmenden 
Funken des alten Vaterhasses in mächtigen Flammen auflodern. 

lind dadurch werden eigentlich die Geschicke 
Ludwig XVI. auch zum Schicksal Napoleons. 

Denn wie nachstehend ausgeführt werden soll, sind sie es, die 
in zwei so wesentlichen Fragen wie die hier abgehandelten Napoleons 
Stellung bestimmen und endgiltig entscheiden. 


Vorerst seine Einstellung zu Frankreich. Wie nämlich um* 
schwer erwiesen werden kann, oszilliert dieselbe recht synchron mit 
dem Verlaufe der Königstragödie. 

So z. B. läßt ihn, der sich bis dahin in seiner korsischen Un* 
Versöhnlichkeit gar nicht an Frankreichs politischem Leben aktiv 
beteiligt hat, die verunglückte Flucht des Königs vom 30. Juni 1791 
den nationalen Unterschied gänzlich vergessen und der Verfassungs* 
frage völlig unterordnen ,• denn wir sehen da den königlichen Offizier 
im Valencer Klub der Verfassungsfreunde eine von glühender Frei¬ 
heitsliebe getragene und alle Anwesenden begeisternde Rede halten. 

Als nun am 14. Juli 1791 die Truppen und Bürger ihren 
Treueid nicht mehr dem Könige, sondern der Nationalversammlung 
als der obersten Macht geleistet haben, da atmet er erleichtert auf 
und meint: »er kenne jetzt niemanden als die Nation.« 

Und wenige Tage darauf <27. Juli 1791) schreibt er, offenbar 
noch ganz im Banne all der Herabsetzungen und Einschränkungen 
des Königs, »den Kopf voll von großen öffentlichen Angelegen* 
heiten« und getrieben »von meinem südlichen Blute, das in den 
Adern mit der Geschwindigkeit der Rhone fließt«, einen von allen 
Autoren als merkwürdig vermerkten Brief an den Kriegskommissär 
Naudin, in dem sich die deutliche Annäherung an Frankreich bei 
ihm zum ersten Male ausdrückt: »Beruhigt über das Schicksal 
meines Landes (Korsika) und den Ruhm meines Freundes <Paoli>, 


Imago III/4 


24 





370 


Dr. Ludwig Jekels 


liegt mir nichts mehr am Herzen, als die Sorge um mein Mutter^ 
land <mere patrie, Frankreich).« 

Wir vermeinen in seiner so starken Ambivalenz gegen seinen 
Vater einen genügenden Erklärungsgrund dafür zu besitzen, daß 
Napoleons obiger Anlauf zum Franzosentum nicht von langem 
Bestände ist/ denn alsbald schnellt er wieder zurück ins Korsentum, 
ist zwei Monate später wieder in Ajaccio und entfaltet hier die 
früher geschilderte, auf die Verdrängung der Franzosen gerichtete 
Tätigkeit, die in dem späteren Attentat auf die Zitadelle gipfelt. 

Ach dürfte derselbe Grund dafür verantwortlich sein, daß die 
von uns bereits erwähnten und von ihm mitangesehenen Szenen 
vom 20. Juni und 10. August 1792 — von welch letzterer er sich 
noch auf St. Helena gewundert hat, daß ihm niemals später eines 
seiner Schlachtfelder auch nur annähernd den Eindruck so vieler 
Leichen gemacht hat, wie hier die niedergemetzelten Schweizer (!) — 
ihn nicht dahin bestimmen, sich Frankreidi zuzuwenden, zumal ja, 
wie bereits oben hervorgehoben, er sich in beiden Fällen auf die 
Seite des Königs gestellt hat. Denn Chuquet zufolge hat er zu 
der Zeit »noch immer nur seine Insel im Kopfe und kommt immer 
wieder auf sie zurück«, und berichtet den Seinigen über Frankreichs 
damalige Zustände »in einem Tone, der kalt und fast indifferent 
erscheint, so daß man auf den ersten Blick meinen würde, diese 
Berichte stammen von einem Fremden, . . . der alle diese Dinge 
bloß aus Neugierde betrachtet«. Und zu dieser Zeit ist es, wo er 
noch an Joseph schreibt: »nun ist es wahrscheinlicher denn je, daß 
all dies mit unserer Unabhängigkeit enden wird«, und wo er, wie^ 
wohl scharf vom Minister ermahnt, statt zu seinem Regiment, wieder 
am 15. Oktober sich nach Korsika begibt. 

Aber sdion etwa drei oder vier Monate später sehen wir 
Napoleon unter dem Einflüsse der erwähnten, die Negation des 
Vaters so aufrüttelnden Konventsverhandlungen, und unter dem 
Eindrude des im Dezember gegen den König vor dem Konvent 
stattfindenden Prozesses, Frankreich wesentlich genähert, denn nach 
Chuquet ermahnt er da sogar bei den gleichzeitig auf Korsika 
stattfindenden und von uns früher erwähnten administrativen Wahlen, 
seine Landsleute zum Franzosentum. 

Doch erst nachdem gegen den König am 18. Januar 1793 
das Todesurteil erflossen, da erst äußert sich bei Napo¬ 
leon der Anschluß an Frankreich in entschiedener, unzweU 
deutiger und unwiderruflicher Weise. 

ln seinen Memoiren berichtet darüber der Kanzler Pasquier 
wie folgt: . . . »Bonaparte, anfangs wie Pozzo an Paoli attackiert, 
zögerte nicht sich von ihm zu trennen, um die Rechte der französi¬ 
schen Regierung zu verteidigen. Es war dies bei Nachricht über die 
Verurteilung Louis XVI., daß er diese Partei nahm. Ich habe das 
Faktum von Herrn von Semonville, der damals als Kommissär 
der französischen Regierung sich in Korsika aufhielt.« 





Der Wendepunkt im Leben Napoleons I. 


371 


Bonaparte weckte ihn bei Nacht. 

»Herr Kommissär,« sprach er, »ich habe gut unsere 
Lage erwogen,* man will hier eine Torheit begehen,* der 
Konvent hat zweifellos ein großes Verbrechen begangen 
und ich beklage es mehr denn jemand,* aber Korsika muß, 
was auch kommen mag, mit Frankreich vereinigt sein,- es 
kann nicht anders, als unter dieser Bedingung existieren,* 
ich und die Meinigen, wir werden, ich setze Sie davon in 
Kenntnis, die Sache der Union verteidigen.« 

Nun erst, nadidem der Vater, der verhaßte Anstifter all des 
Unheils, der ihn am Besitze der Mutter gehindert, sie aber trotz¬ 
dem mit Fremden geteilt hat, sein Verbrechen mit seinem Kopfe 
gesühnt hat, — erst da sehen wir Napoleon sich entschieden Frank¬ 
reich zuwenden. 

Denn durch die Tötung des Königs ist ja der wesentliche 
Teil seiner Ödipus-Phantasie erfüllt worden, und da ist es ja nur 
selbstverständlich, daß er — durch den Anschluß an Frankreidi — 
die freigewordene Mutter in Besitz nimmt, und so diese symbolische 
Realisierung zu einer vollständigen macht. 

Überdies ist aber diese Akzeptierung des vom Vater ge¬ 
schaffenen Sachverhaltes auch die Identifizierung mit dem Vater, 
somit auch Ausdrudc der Liebe. 

Sie erfolgt aber zugleich aus einem, nach Stillung des Hasses 
sich stark regenden Sduildgefühl — worauf wohl seine Worte an 
Semonville von »großem Verbrechen, das er mehr denn jemand 
beklage«, hindeuten, — und ist dergestalt auch eine Sühne- und 
Bußhandlung. 

Und schließlich dürfte auch die Identifikation Napoleons mit 
Marbeuf dieselbe in irgendeinem Grade mitbestimmt haben. 

Und mit der ganzen, uns aus Träumen und neurotischen 
Symptomen so wohlbekannten Ungebundenheit des bloß seine 
jeweiligen Bedürfnisse berücksichtigenden Unbewußten, wird nun aus 
den angeführten Motiven auch Frankreich — das bis nun Napoleon 
Marbeuf und die Preisgebung der Mutter an denselben bedeutet 
hat — zum Symbol der Mutter selbst, zur mere patrie, der er 
nun seine glühende Liebe zuwenden, die er heiß begehren, seinen 
»Polarstern« nennen, und aufs äußerste verteidigen wird. 


Unter den vier Gestalten, welche in der Vorstellungswelt 
Napoleons mit den Attributen des Vaters ausgestattet wurden, 

— haben wir doch in dieser Rolle außer Charles noch Marbeuf, 
Ludwig XVI. und Paoli kennen gelernt — kommt Paoli eine ganz 
besondere Stellung zu/ ist er doch der gute, der mustergiltige Vater, 
das Vaterideal. 

Und zur Verwendung als solch eine Lichtgestalt war Paoli 

— ohnedies von den Korsen il babbo <Vater> und von den Bona- 


24 * 





372 


Dr. Ludwig Jekels 


partes compere genannt — dank seiner Vergangenheit, der um sein 
Haupt geschlungenen Aureole, vor allem aber dank seiner Haltung 
im Unabhängigkeitskriege, ganz besonders geeignet. War er dodi in 
der Sprache des Unbewußten der Vater, der die Mutter vor 
Fremden bewahrt und dieselben bis zum äußersten abwehrt, im 
Gegensätze zum wirklichen Vater, der sogar behilflich ist, die 
Mutter mit dem Fremden Marbeuf zu vereinigen. Da ist es wohl 
selbstverständlich, daß die ganze mächtige Liebe Napoleons mit 
ihren sublimierten Äußerungen der Bewunderung und Verehrung 
Paoli zugewendet wird. 

So sehen wir denn diese verklärte Vaterimago die ganze 
Kindheit und Jugend Napoleons dominieren und seine Seele ganzaus^ 
füllen, wofür wir hinlängliche Belege erbracht zu haben vermeinen. 

Wir sehen aber auch Napoleon mit ungeminderter Begeisterung 
an diesem Vaterideal festhalten noch während seines bereits öfters 
hervorgehobenen Aufenthaltes in Paris im Sommer 1792. Denn in 
dem Traume den er träumt, Frankreich würde aus innerer Schwäche 
Korsika nicht halten können und es von selbst freigeben, worauf 
dasselbe eine nationale Regierung erhalten wird, soll Paoli wieder 
der General, der Regent von Korsika werden, wie ehedem vor der 
französischen Okkupation,- denn, meint da Napoleon, »er ist alles 
und wird alles sein!« 

Indessen, je düsterer und tragischer sich in den nächsten 
darauffolgenden Monaten das Schicksal des im Gefängnis schmach^ 
tenden Königs gestaltet, je mehr der in den Konventsdebatten und 
im Prozeß gegen ihn sidi entladende Haß auch in Napoleons Brust 
die nämlichen Saiten zum Schwingen bringt und so die alte Ab¬ 
rechnung mit dem Vater aktualisiert, um so mehr entfernt sich 
Napoleon, durch die ablehnende Haltung des Gouverneurs natürlich 
noch darin unterstützt, von diesem seinen Jugendideal. 

Doch obzwar authentische historische Belege hiefür nicht auh» 
findbar sind, so erscheint es mir schon aus psychologischen Gründen 
unzweifelhaft, daß Napolen zur offenen und konsequenten Gegner^ 
schaft gegen Paoli erst überging, als der König auf dem Schaffot 
sein Haupt gelassen hatte. Denn in seinem, ihn von einem Neurotiker 
so stark unterscheidenden regen Kontakt — und Anlehnungsbedürfnis 
an die Allgemeinheit und Wirklichkeit, die übrigens seiner psycho¬ 
logischen Konstellation audi in diesem so bestimmenden Punkte 
außerordentlidi entgegengekommen ist, wird er, wie bereits wieder¬ 
holt bemerkt, durdi dieses Ereignis nach der Richtung der end^ 
giltigen und extremen Negation des Vaters überhaupt gedrängt. 

Jeglicher Vater — und mag er noch so gut und ideal sein — 
muß gestürzt werden, nur weil er Vater ist,- genau so, wie es 
Oncken 1 für das Sdiidcsal Ludwig XVI. formuliert: Die Ermordung 
eines Königs — bloß weil er König war. 

1 Wilhelm Oncken, Das Zeitalter der Revolution, des Kaiserreiches und 
der Befreiungskriege. Berlin 1884, bei Grote. 







Der Wendepunkt im Leben Napoleons I. 


873 


Und so kommt es, daß nun Napoleons letzte Vater*Imago, Paoli, 
fallen muß. Nun zögert er nicht mehr, sidi zu ihm in offene Gegner* 
Schaft zu stellen und mit Paolis erbittertem Feinde, Saliceti, end* 
giltig und eng zu verbinden. 

Und daß er nun in dieser Zeit, wo von Unterschieden in der 
politischen oder nationalen Gesinnung keine Rede sein konnte, da 
doch Paoli damals noch ebenso franzosentreu und republikanisch 
war wie Saliceti, vor die Wahl zwischen den Beiden gestellt, sich 
gegen Paoli, wohl aber für Saliceti entschließt und diesem nun 
treue Gefolgschaft leistet, das bekräftigt wohl nachdrücklich die von 
uns postulierte Bedeutung der Hinrichtung des Königs für die 
Wandlung Napoleons. Hat doch Paoli ausdrücklich die Tötung des 
Königs verdammt, meinend, die Korsen wären wohl Feinde der 
Könige, aber nicht ihre Henker, während Saliceti unter den korsi* 
sehen Abgeordneten der einzige war, der für den Tod des Königs 
gestimmt hatte. 

Es waren indessen noch andere unbewußte Motive vorhanden, 
welche Napoleon zur Veränderung seiner Stellung zu Paoli gedrängt 
haben mochten. Denn wie bereits hervorgehoben, hat er sich nach 
Beseitigung des Vaters <Königs> mit demselben identifiziert, sich 
selbst zum Vater gemacht, wofür wohl seine Akzeptierung des po¬ 
litischen Programmes des Vaters <der mit Marbeuf verbundenen 
Mutter), unwiderleglich spricht,* und da ist es wohl natürlich, daß 
er auch die letzte Vater*Imago, Paoli, beseitigen wollte. 

Überdies aber muß er, ebenso zufolge dieser Identifizierung, 
das Vorgehen des Vaters gegenüber Paoli wiederholen,* denn Charles 
hatte ja, nachdem er durch viele Jahre an der Seite Paolis in treuer 
Anhängerschaft gestanden, denselben dann gegen das Ende des Un* 
abhängigkeitskrieges gleichfalls verlassen und sich den Franzosen 
zugewendet, — so daß Napoleon darin seinen Vater geradezu 
imitiert. 

Und es ist wohl einleuchtend, daß all diese Motive sehr wirk¬ 
sam genährt und unterstützt wurden durch den unter den Repres¬ 
sionen des Konvents immer reger werdenden Paolismus, der von 
den aufgepeitschten Tendenzen Napoleons nicht als bloße Ab¬ 
wehraktion, sondern vielmehr als Paolis Streben nach unabhängiger 
Herrschergewalt sowie als Kampf gegen Frankreich gedeutet werden 
konnte. Und da Napoleon nun, nach erfolgter Identifizierung mit 
seinem Vater, unverbrüdilich an dem von Charles geschaffenen Sach* 
verhalt festhält, so kehrt er sich jetzt ebenso energisch gegen den 
keimenden Paolismus, wie er sich kurze Zeit vorher gegen die, als 
Protest gegen die Hinrichtung des Königs sich unter den Korsen 
leise meldende Abfallbewegung gewendet hatte, worauf sich seine 
an Semonville gerichteten Worte: »man ist hier im Begriffe, eine 
große Torheit zu begehen,« beziehen. 

Es hieße aber das Wesen der Ambivalenz verkennen und den 
Grad derselben bei Napoleon unterschätzen, wollte man meinen. 






374 


Dr. Ludwig Jekels 


daß nunmehr seine Verhaltungslinie zu Paoli eine ganz geradlinige 
und lediglich vom Haß vorgezeichnete ist. Denn selbst in diesem 
Kampfe äußert sich noch recht kräftig der positive Pol, die Liebe zu 
Paoli, und ihr unwiderleglicher Ausdruck sind sowohl die nach Er¬ 
lassung des Haftdekretes vom 2. April von Napoleon versuchte An^ 
näherung an Paoli, als auch seine Bemühungen um Beilegung der 
Spannung, vor allem aber die warme und energische Verteidigungs¬ 
adresse. Freilich läßt uns schon die fragende Form derselben, die 
sehr zahlreichen Fragezeichen, — als semee d'interrogations bezeich¬ 
net sie Chuquet —, beim Verfasser eine innere Unsicherheit ver^ 
muten, und wir meinen, daß dies audi ein bei sich Anfragen, — 
vielleicht nach den inneren Motiven dieser Parteinahme sowie nach 
der Aufrichtigkeit derselben, — bedeutet. 

Zu den von den Forschern angeführten und natürlich auch 
von uns vollauf gewürdigten Ursachen, wie z. B. die nach dem 
Bekanntwerden der Denunziation Lucians ausgesprochene Feinde 
Seligkeit Paolis und demzufolge die allgemeine Verfolgung der Fa^ 
milie Bonaparte, — möchten wir noch ein durch das Unbewußte 
konstelliertes und sehr affektbetontes Motiv hinzufügen, welches es 
gleichfalls bewirkte, daß die Liebe Napoleons zu Paoli nun ver^ 
stummte, dagegen die Negation in die Höhe geschnellt und zu einer 
endgiltigen wurde, wofür uns die vernichtende Anklageschrift wohl 
ein beredtes Zeugnis gibt. 

Je mehr ich mich nämlich in die Lebensgeschichte Napoleons, 
speziell aber in den hier abgehandelten Abschnitt derselben vertiefte, 
um so mehr gewann ich die Überzeugung, daß dieses ausschlag^ 
gebende, den Brudi mit Paoli sozusagen finalisierende Motiv nichts 
anderes gewesen ist, als die Einstellung, die Napoleon bei Paoli 
betreffs Englands vermeinte, und die tatsächlich, nach dem durch die 
neuere Forschung erschlossenen Ablauf der Begebenheiten, eine 
wechselnde und progrediente gewesen ist. 

Denn im Anfang seines Konfliktes mit der Regierung war ja 
Paoli überzeugter Franzose und dachte gar nicht an einen Verrat 
an England, so daß zu dieser Zeit der gegen ihn von seiten ÜbeL 
wollender konstruierte Vorwurf nichts anderes war denn eine Ver^ 
leumdung, der allerdings Paolis frühere Beziehungen zu England 
sowie seine Sympathien für dieses Land, den Anschein ziemlicher 
Glaubhaftigkeit und Wahrscheinlichkeit verleihen konnten. Erst im 
weiteren Verlauf des Konfliktes hat sidi Paoli, — hineingetrieben 
in die Erbitterung sowohl durch das Mißtrauen der Regierung als 
auch durdi die zahllosen gegen ihn in Szene gesetzten Ränke und 
Intriguen sowie durch die Aufsässigkeit und Voreiligkeit des Kon¬ 
vents, — mehr und mehr dem Gedanken eines Abkommens mit 
England genähert, bis er sehr kurz darauf Korsika tatsächlich an 
dasselbe auslieferte. 

Und im gleichen Maße beobachten wir nun bei Napoleon, 
der seinen eigenen auf St. Helena gemachten Äußerungen zufolge 





Der Wendepunkt im Leben Napoleons I, 


375 


gleichfalls unter dem Einflüsse dieser ausgestreuten Gerüchte stand, 
auch die Progression seiner Feindseligkeit gegenüber Paoli, und dies 
kann uns auch den grellen Widerspruch zwischen den beiden, zeitlich 
etwa durch einen Monat getrennten Adressen erklären. Denn in der 
ersten glaubt er noch nicht an diese Verdächtigung Paolis oder zu* 
mindest, wenn wir hier wieder die fragende Form dieser Adresse 
als Zeichen der Unsicherheit und die nachfolgende Argumentation 
als ein Niederringen der eigenen Zweifel auffassen, will er an diese 
Möglichkeit nicht glauben. Im weiteren Verlaufe jedoch haben sich 
seine Zweifel, teils durch die nun trotz des Entgegenkommens des 
Konvents so unversöhnliche Haltung Paolis, teils infolge seiner 
wahrscheinlich tatsächlich bereits stattfindenden Unterhandlungen 
mit England verstärkt, sind ihm zur Gewißheit geworden, der er 
nun in der, natürlich auch von anderen Motiven inspirierten Anklage* 
schrift unverhohlenen Ausdrude: verleiht. 

Und daß es gerade die Englandpolitik Paolis war, die so 
schicksalsschwer für Napoleon wurde, ergibt sich aus folgenden Er* 
wägungen: Es ist mit voller Bestimmtheit bekannt, daß Napoleon 
in seiner Jünglingszeit sehr viel Liebe und Sympathie für England 
und die Engländer besaß, so daß er, nebst seinem Bruder Joseph 
und Freund Masseria, in Ajaccio den Spitznamen »Anglomanec 
hatte. Man kann nur Chuquet beipflichten, der, nachdem er zuerst 
die Quellen dieser Vorliebe Napoleons für England in der Lektüre 
von Rousseau, Raynal und Boswell gesucht, schließlich und haupt* 
sächlich sie in der Aufnahme erblickt, die Paoli seinerzeit in Eng* 
land gefunden hatte. Ganz deutlich bekundet Napoleon diese Liebe 
für England in der bereits erwähnten »Nouvelle Corse«,* denn 
dort rettet sich einer das Leben, indem er sich als Engländer aus* 
gibt, während die Franzosen erbarmungslos getötet werden. 

Und nun beobachten wir bei Napoleon seit der Flucht aus 
Korsika einen Wandel in ganz entgegengesetztem, entschieden eng* 
landfeindlichem Sinne. Und so sehen wir ihn. Cos ton zufolge, in 
den ersten Tagen des September 1793, als er mit der Pazifizierung 
des aufständischen Südens beschäftigt, vernahm, Toulon sei durch 
Verrat den Engländern ausgeliefert worden, freiwillig <spontaneament> 
nach Paris eilen und um das Artilleriekommando bei der Belagerung 
dieser Festung bitten. Allerdings wird diese Angabe Costons von 
den späteren Forschern ignoriert, die im Gegenteil meinen, das 
durch den Tod des Vorgängers vakante Kommando sei Napoleon 
von Saliceti angeboten worden. Mehrere Jahre später lesen wir 
in seiner Antwort an die englischen Zeitungen <13. Oktober 1803): 
»Ihr genösset in Europa den Ruf einer weisen Nation, aber ihr 
seid seit den Tagen euerer Väter stark entartet. Alle euere Reden 
rufen auf dem Kontinente Mitleid und Verachtung hervor.« Und 
im Briefe an die Engländer vom 15. August 1805: »Glaubt nur 
nicht, daß ihr Bundesgenossen auf dem Festlande habt. Ihr seid der 
Feind aller Völker und alle freuen sich, wenn ihr gedemütigt 







376 


Dr. Ludwig Jekels 


werdet.« Und nur zu bekannt ist sein späteres, so wohl rationale 
siertes Verhalten gegen England und die Engländer, die ihm geradezu 
zum Schreckgespenst wurden, deren korrumpierenden Einfluß er 
immer hervorhob <siehe Briefe aus Italien an das Direktorium), die 
er sogar aus dem Salon der Frau Remusat verbannt wissen wollte, 
die er stets als seinen einzigen dauernden und «größten Feind be^ 
trachtete, gegen die er ganz Europa zur Bundesgenossenschaft 
organisieren wollte, gegen die er Jahre hindurch die Kontinental^ 
sperre verhängte, indem er ihnen alle Häfen von Hannover bis 
Tarent schloß, von denen er auf Elba schrieb: <Considerations sur 
l'etat de l'Europe) »Was die Engländer anlangt, kann ich nur 
sagen, daß uns die Geschichte kein Faktum anführt, das beweisen 
würde, daß ein Handelsvolk jemals zum Glück des Menschen¬ 
geschlechtes arbeiten würde«, — gegen dieses England, das solcher¬ 
gestalt eigentlich diesem einzigartigen Gestirn auf Korsika den Lauf 
vorzeichnete, um es dann bei Waterloo zum Erlöschen zu bringen. 

Macht uns nun die hier geschilderte Einstellung Napoleons 
zu England den ausgesprochenen Eindruck, als ob sie zumindest 
auch eine affektive wäre, so daß sie uns zweifellos als ein so^ 
genannter Komplex anmutet, so erblicken wir darin eine Stütze für 
unsere frühere Behauptung, daß es die Haltung Paolis gegenüber 
England war, die in Napoleons Konflikt mit ihm nicht bloß eine 
sehr wesentliche Rolle spielte, sondern sogar ausschlaggebend wurde 
für den definitiven Bruch mit Paoli, sowie die erbitterte Feindselig¬ 
keit gegen denselben. 

Und die Erklärung für diese Reaktion Napoleons — dessen 
Franzosentum doch kaum einige Monate alt war — auf diese 
politische Stellungnahme Paolis erscheint uns wahrlich nicht schwer, 
sofern wir nur auch Napoleons unbewußte Phantasien berüdc- 
sichtigen. Gedenkt doch Paoli das große Verbrechen, das seiner^ 
zeit Charles Bonaparte begangen und mit dem sich Napoleon 
kaum eben, und zwar um den Preis eines schweren Opfers abge¬ 
funden, zu wiederholen! Also auch dieser vortreffliche Vater, 
auch er ist bereit die Mutter den Franzosen preiszugeben, — genau 
so wie die schlechten Väter: Charles und der König, der diese 
Schandtat eben mit dem Kopfe gebüßt hat! 

Und nachdem derart dieser bis nun stärkste Pfeiler seiner Seele 
völlig zusammengestürzt ist, läßt er nichts unversucht, um die 
Mutter gegen die verräterischen Absichten dieses Vaters zu ver^ 
teidigen,* zertrümmert aber zugleich mit wuchtiger Hand restlos den 
Tempel, den er diesem seinerzeit aufgerichtet, ja — belehrt durch 
das Schicksal des Königs, wie man mit solch verräteri¬ 
schen Vätern verfahren soll — fordert er sogar den Kopf 
dieses Vaters, da er ihn vor dem blutrünstigen Konvent des 
Hochverrates anklagt. 

Durch diesen endgiltigen und restlosen Zusammenbruch der 
Liebe zum Vater, den er mit sich brachte, sollte dieser Konflikt 








Der Wendepunkt im Leben Napoleons I. 


377 


mit Paoli eminente Bedeutung sowohl für die Persönlichkeit Napo^ 
leons als auch für die Weltgeschichte gewinnen. 

Wie katastrophal er für die erste ward und wieviel hiebei an 
moralischen Werten zugrundegegangen ist, darüber mögen uns die 
Worte des Kaisers an Talleyrand orientieren, als dieser, in der 
Absicht gefällig zu sein, ihm das mittels Spezialkouriers aus Lyon 
geholte Manuskript des »Discours« vorwies. Da riß es ihm der 
Kaiser aus der Hand und warf es ins Feuer, »weil es überfloß 
von Gefühlen und Prinzipien, die in meiner Jugend gehegt zu haben 
es mir nicht schmeichelhaft gewesen wäre, falls man es mir vor** 
halten würde.« 

Für die Weltgeschichte aber ward er von ungeheuerer Trag^ 
weite, weil durch diesen Konflikt das LInbewußte Napoleons ein~ 
deutig und endgiltig nur auf die extremste Negation des Vaters 
eingestellt wurde, gegen den er von nun ab einen unaufhörlichen, 
schonungs^ und erbarmungslosen Kampf führen sollte. 


IV. 

Von nun ab soll in Napoleons Brust das unstillbare Verlangen 
nach dem Besitze der Mutter nie mehr zur Ruhe gelangen, und der 
gewaltige Kampf um sie mit dem Vater bilden wohl das gewaltigste 
Epos der Menschheitsgeschichte. Das ist die Leitlinie, die mit seltener 
Klarheit dieses einzigartige Leben durchzieht und der er alles andere 
unterordnet, und zu deren Durchsetzung ihm sämtliche Wege und 
alle Mittel gut scheinen: »denn ich bin nicht ein Mensch, wie ein 
anderer und die Gesetze der Moral und der Sitte gelten nicht 
für mich«. 

Vor allem sehen wir nun sein Verhältnis zu Korsika völlig 
geändert. Denn ebenso, wie sich der kleine Junge bei seinem stets 
okkupierten Vater die Vernachlässigung der Gattin mit der Preise 
gebung derselben an Marbeuf erklärt haben mag, sehen wir, daß 
nun auch Korsika bei Napoleon kaum irgendwelche affektive Be¬ 
wertung mehr findet. Im Jahre 1795 soll er als Artillerieinspektor 
an einer — übrigens unterbliebenen — Expedition teilnehmen, 
welche die im englischen Besitz befindliche Insel zurückgewinnen soll,- 
im darauffolgenden Jahre veranlaßt er als Oberkommandeur der 
italienischen Armee selbst die Zurückerorberung Korsikas, doch ohne 
irgendwelchen Affekt an dieses Ereignis zu knüpfen. Mit Recht 
meint daFournier: »Seine Heimat war nicht mehr imstande, sein 
Interesse im höherem Grade zu fesseln, als etwa Korfu oder 
Malta.« 

Ja, noch mehr! Es ist offenbar die Wirkung desselben Korm* 
plexes, daß, wie wir in Mas so n ausdrüddich lesen, Napoleon als 
allmächtiger erster Konsul nadi Ansicht der Frau Lätizia, die un¬ 
beirrt durch die fabelhafte Wendung in ihrem Schidcsal ihrer Ver¬ 
gangenheit und Korsika stets treu geblieben ist, sich gegen seine 






378 


Dr. Ludwig Jekels 


Heimat und ihre Bewohner mit Undank benimmt. »Aber seit Tom* 
Ion ist er so: er hat nicht einmal gestattet, daß man zu ihm kor* 
sisch spreche«. 

Lind erst nach vielen Bemühungen gelingt es endlich der Ma* 
dame Mere beim Kaiser die Regelung der Situation all der korsischen 
Verwandten durchzusetzen. Denn von dem ehemaligen großen kor* 
sischen Troß hat Napoleon nur zwei <Arrighi und Ornano) in seine 
Umgebung aufgenommen, und auch die erst, nachdem er sie vor* 
erst in Italien, Ägypten, San Domingo, »von Kadix bis Moskau« 
die Feuerprobe auf ihre Verläßlichkeit bestehen ließ! Aber nun: 
assez des Corses/ er hat nicht die Absicht, ihnen Frankreich aus* 
zuliefern: er weist ihnen Korsika an, und opfert sogar seinen ganzen 
Besitz auf der Insel, den er unter sie verteilt, nur damit sie sich 
nicht über Frankreich ergießen! 

Konnte doch infolge dieser Gleichgiltigkeit und Abneigung 
Buttafuoco den gegen ihn seinerzeit von Leutenant Bonaparte er* 
hobenen Vorwurf <s. p. 317) schlagend mit den gleichen Waffen ver* 
gelten, als er in seinen zurückgelassenen Papieren den Kaiser Na* 
poleon folgendermaßen apostrophierte: »Welchen Grund hätte nicht 
Korsika, um Ihnen zu sagen: Wie, mein Sohn, ist denn dein Herz 
unempfänglich für die Insel, wo du das Leben empfingest? Als du 
ins Alter der Vernunft tratest, erhoffte ich Gutes von dir. Als ich 
dich einen großen Schauplatz betreten sah, da erzitterte mein Herz 
vor Freude, denn ich hoffte, daß dir dein Vaterland, deine Brüder 
teuer sein würden. Es ist entsetzlich, daß Sie einer ihrer Brüder bis 
zu diesem Grade vernachlässigt.« 

Nun aber Korsika entwertet und verloren, beginnt bei Na* 
poleon eine nimmermüde und nimmersatte Suche nach Ersatz, auf 
welcher seine von Heißhunger gequälte Phantasie gierig ein Land 
nach dem anderen begehrt, derart eine schier endlose Reihe von 
Surrogaten bildend, die jedoch als solche seine Gier nie auch nur 
annähernd zu befriedigen vermögen. Er tränkt auf dieser Suche die 
Länder in Blut, versetzt die Welt in Schrecken, verändert das Ant* 
litz Europas, umsonst, all das kann seinen Hunger nicht stillen! 

Das erste, die Reihe eröffnende und von ihm wohl am hart* 
näckigsten begehrte dieser Ersatzobjekte ist Italien. »Im Januar 
1795, lesen wir im Memorial de St. Helene, verbrachte Napoleon 
eine Nacht auf dem Col di Tenda, von wo er bei Sonnenaufgang 
die schönen Ebenen erblickte, die bereits der Gegenstand seiner Ge* 
danken waren. Italiam, Italiam!« 

Nun wissen wir ja, welche Ströme von Blut er um den 
Besitz dieses Landes mit den Österreichern, Sarden, Neapolitanern, 
sogar mit dem Papste vergossen: und wenn schon dieser sehn* 
süchtige Ausruf Napoleons auf die Beteiligung des Affektes hiebei 
hinweist, so sei es gestattet hier ergänzend hervorzuheben, daß Frau 
Lätizia geborene Ramolino, wie schon Chuquet hervorhebt, im 
gleichen Maße Italienerin wie Korsin war. Und als Stütze für diese 




Der Wendepunkt im Leben Napoleons I. 


379 


Annahme verweise ich auf das kleine Detail, daß Napoleon seinen 
italienischen Namen: Napolione Buonaparte zum letztenmal ge-* 
brauchte, als er seine Trauungsurkunde mit Josephine Beauharnais 
unterschrieb,- denn der nächste in unserem Besitze befindliche, eine 
Woche später an Rossi gerichtete Brief trägt schon die französische 
Unterschrift Bonaparte, die er fortab ausnahmslos gebrauchte. Nicht 
ganz ohne Belang dürfte hier auch die unscheinbare Tatsache sein, 
daß er in seinen Liebesbriefen Josephine wiederholt mit italienisdien 
Kosenamen apostrophiert. 

Und kaum, daß der Frieden von Campo Formio geschlossen 
da drängt es ihn schon — offenbar wegen des stärkeren Anklanges 
an Korsika — sich der Inseln Malta, Korfu und Zante zu bemäch¬ 
tigen, denn »sie sind für uns von größerem Interesse, als Italien,« 
meint er im Briefe an das Direktorium. 

Von da geht es weiter, nach Ägypten, Palästina, von hier soll 
es nach Damaskus, Aleppo und Konstantinopel, denn dann »stürze 
ich das türkische Reich, gründe im Oriente ein großes Kaiserreich, 
— und kehre über Adrianopel nach Wien zurück« — nicht zu 
vergessen Indiens, das gleichfalls von hier aus von seiner beispiellos 
gierigen Phantasie verschlungen wird. Und als Kaiser bescheidet er 
sich ebensowenig mit der »Maitresse«, die ihm nach seinem eigenen 
Ausspruche Frankreich bedeutet, sondern ist von der gleichen 
Ländergier gepeinigt wie als Oberbefehlshaber und Konsul,- denn 
wir sehen ihn Reiche stürzen und neu gründen, Länder wie Spreu 
durcheinanderschütteln, um sich, wie er meinte, »Europa zu Füßen 
zu legen«, ja, sogar »Herr des Universum zu sein«, — und dies 
alles getrieben von einer kaum dagewesenen Gewalt des inzestuösen 
Verlangens nach der Mutter, und einem schrankenlosen Trotz 
gegen den Vater, wie er in der Mensdiheitsgeschichte ganz vereinzelt 
dasteht! 

Es hieße wohl hier die ganze Geschichte des napoleonischen 
Zeitalters rekapitulieren, wollte man den Haß und Trotz, den Na* 
poleon bei dieser nie rastenden Suche nach der Mutter seiner Vater* 
Imago — den unterschiedlichsten Herrschern Europas — entgegen* 
brachte, im Detail nach weisen. Nur summarisch möge hier daran 
erinnert werden, wie er sich zu Kaiser Franz von Österreich, König 
Friedrich Wilhelm III. von Preußen, zu den Königen von Spanien, 
Portugal, Neapel, zu den deutschen Königen und den Bundesfürsten 
und nicht zuletzt zum Papst Pius VII. gestellt, wie er sie provoziert 
und die Besiegten drangsaliert, gedemütigt, herabgesetzt und erniedrigt 
und die Abhängigkeit von ihm hat fühlen lassen. Ich überlasse es 
Berufeneren, dies wenn auch nur an wenigen Beispielen zu illu* 
strieren: 

Fournier: »In Dresden versammelten sich huldigend die Fürsten 
des Rheinbundes, über die der Korse unbedingter gebot, als seit 
langer Zeit ein römischer Kaiser deutscher Nation. Auch der letzte 
von diesen, Franz von Österreich, fand sich ein. Hatte Napoleon 






380 


Dr. Ludwig Jekels 


die Zusammenkunft mit seinem Schwiegervater gewünscht, um seine 
Verwandtschaft mit der ältesten Dynastie der Welt als Relief für 
seine unerhörte Geltung zu benützen? Er hat damals Franz I. auf- 
gefordert, ihn auf seinem Kriegszug zu begleiten. Dazu ist es aller¬ 
dings nicht gekommen. Im übrigen aber trat der Kaiser von Öster- 
reich, trotz allem vertraulichen Verkehr mit dem Eidam, ebenso 
gehorsam wie der König von Preußen und die kleinen Souveräne 
in den Schatten des gewaltigen Parvenüs . . .« 

G. Kircheisen über die Zusammenkunft in Tilsit, die un- 
mittelbar nach der für Preußen entscheidenden Niederlage bei Friede 
land stattgefunden hat: »In der Tat fand am nächsten Tage, am 
25. Juni 1807, eine Zusammenkunft der beiden Kaiser auf einem 
Flosse auf dem Niemen statt. Der König von Preußen blieb am 
Ufer zurück, da Napoleon ihn nicht eingeladen hatte . . . Dann 
kamen die Monarchen in Tilsit zusammen . . . Napoleon vermied 
es, mit Friedrich Wilhelm über die schwebenden Angelegenheiten zu 
sprechen und behandelte ihn wie eine nebensächliche Person. Er 
unterhielt sich mit ihm über die nichtigsten Dinge, wie über Uniform- 
knöpfe, Tschakos und so weiter, und spottete bei jeder Gelegenheit 
über ihn.« 

Aus einem Briefe der Herzogin Louise von Sachsen-Weimar 
(nach der gleichen Quelle): ». . . Sie haben keine Ahnung, wie leicht- 
fertig Napoleon die vier Könige behandelt, die in Erfurt sind. Ich 
versichere Sie, es lohnt der Mühe, das zu sehen. Gestern z. B. 
waren sie genötigt, eine Stunde lang vor dem Diner im Vorzimmer 
zu warten« . . . 

Aber keine Dynastie hat er auch nur annähernd mit dem 
gleichen Hasse behandelt, wie die Ludwigs XVI, die Bourbons, deren 
glänzende Anerbieten er noch als Oberbefehlshaber schroff zurück- 
weist, von denen er sagt, er hätte sie, im Falle ihrer Restitution, 
zum zweitenmale zu depossedieren gewußt, von welcher er nach 
Austerlitz in einem einfachen Armeebefehle kundmacht: »sie habe 
aufgehört, in Neapel zu herrschen« und deren ahnungs- und schuld- 
losen Sprossen, den Prinzen d'Enghien er zum Entsetzen aller Welt 
füsilieren läßt. 

Das wirkliche und tiefere Motiv all dieses Beginnens verraten 
uns aber seine aus dem Jahre 1804 stammenden Worte, wonach 
er keinen Vater dulden und die Stelle aller einnehmen wollte, denn 
»es wird nicht Ruhe in Europa eintreten, als bis es unter einem 
einzigen Oberhaupte steht, unter einem Kaiser . . .« 


Und so hätten wir nun auch in dieser, ganz solitär scheinen¬ 
den und als Paradigma des Ehrgeizes geltenden Menschenseele, im 
letzten Grunde libidinöse Antriebe aufgedeckt, und auch dies Schick¬ 
sal als in letzter Linie durch Sublimierung sexueller Motive gestaltet, 
erkannt. 





Der Wendepunkt im Leben Napoleons I. 


381 


Ich meine, daß durch diese Zurüdeführung auf Allgemein-mensch¬ 
liches und Typisches, weder seine ungeheuere Größe, noch auch seine 
Bedeutung als eine ganz unvergleichliche Kulturpotenz irgendwie 
beeinträchtigt wird, und daß ungeachtet derselben, die Ansicht Wol- 
seleys, er sei »der Größte der Großen« gewesen, aufrecht bleiben, 
kann. 

Und ebensowenig widersprechen wir Ansichten, wie etwa der 
Victor Hugos, der da von ihm meinte: 

»Er besaß alles, er war vollkommen. Er hatte in seinem Ge- 
hirne die menschlichen Fähigkeiten in der sechsten Potenz. Er machte 
Gesetzbücher wie Justinianus, diktierte wie Cäsar, in seinen Ge¬ 
sprächen war er Pascal und Tacitus, er machte Geschichte und 
schrieb sie, seine Bulletins sind Iliaden, ... er hinterließ im Orient 
Worte, groß wie die Pyramiden, in Tilsit brachte er Herrschern 
Majestät bei, und in der Akademie der Wissenschaften disputierte 
er mit Laplace . . .« 

Nur, daß wir in analytischer Konsequenz noch hinzufügen 
müssen, die Bewunderung und das dieser Gestalt für immer ge¬ 
sicherte und stets von Neuem erwachende Interesse der Menschheit 
kämen überdies und im letzten Grunde von dem mächtigen Wider¬ 
hall, den dieser gewaltige Ödipuskomplex, in seiner so leichten und 
typischen Gewandung, in der nämlichen verdrängten Regung unserer 
eigenen Brust findet. 

Und vielleicht war es weniger, wie Fournier meint, aus Be¬ 
rechnung, als aus dieser Empfindung heraus, daß in Erfurt, als »vor 
einem Parterre von Königen« der Voltairesche »Ödipe« aufgeführt 
wurde, sich Alexander von Rußland erhob und Napoleon unter dem 
Beifall des Saales umarmte? 


Literatur: 

1. Chuquet A.: La Jeunesse de Napoleon. Paris 1897. 

2. Coston: Biographie des premieres annees de Napoleon Bonaparte. 
Paris 1840. 

3. Fournier A.: Napoleon I. Eine Biographie. Wien^Leipzig 1913. 

4. Jung: Bonaparte et son temps d'apres les documents inedits. Paris. 

5. Kircheisen F. M.: Napoleon, sein Leben und seine Zeit. 
München 1911. 

6. Kirch eisen G.: Die Frauen um Napoleon. München 1912. 

7. Landsberg Hans: Napoleons Briefe. »Das Museum«, Berlin 1906. 

8. Lucien Bonaparte: Memoires, herausgegeben von Jung. 

9. Märtel Tancrede: Napoleon Bonaparte Oeuvres litteraires. 
Paris 1888. 

10. Masson F.: Napoleon dans sa jeunesse. Paris. 

11. Masson F.: Napoleon et sa famille. 

12. Masson F.: Napoleon zu Hause <übersetzt von Biberstein). 
Leipzig. 

13. Masson et Biagi: Napoleon, Manuscripts inedits. 


□ □ □ 




382 


John T. Mac Curdy 


Die Allmacht der Gedanken und die Mutterleibs= 
phantasie in den Mythen von Hephästos und einem 
Roman von Buhver Lytton. 

Von JOHN T. MAC CURDy <Wards Island, New^york). 

F reud hat vielleicht keinen wichtigeren Einzelgrundsatz als Resultat 
seiner psychoanalytischen Durdiforschung der Psychoneurosen 
und Psychosen ausgesprochen, als den, daß in unserem Innern 
zwei Gegner ununterbrochen miteinander ringen, die er »Lust-« und 
»Realitätsprinzip« genannt hat. Die strengen Anforderungen der 
Umwelt versagen uns die Erfüllung vieler, ja vielleicht der meisten 
unserer tiefsten Wünsche, ohne doch imstande zu sein, sie völlig zu 
vernichten. Das unerfüllt gebliebene Begehren drängt unausgesetzt 
nach Äußerung, die ihm wegen seiner antisozialen oder unmorali¬ 
schen Tendenz verwehrt werden muß. Doch gibt es zweierlei Mög¬ 
lichkeiten, eine indirekte Befriedigung zu erlangen: Der Wunsch 
kann eine symbolische Erfüllung finden, wie zum Beispiel, wenn ein 
Sdioßhund oder irgendein Steckenpferd all die Liebe empfängt, die 
sonst in der Brust eines kinderlosen Weibes aufgehäuft bleiben 
müßte,- das Begehren kann aber auch in einer Phantasie gestillt 
werden, wenn die Einbildungskraft die verbotenen Genüsse in dra¬ 
matisierter Form vorzaubert. Die durch den ersten dieser beiden 
Auswege erreichbare Befriedigung steht im Verhältnis zu dem Grade, 
in welchem der Affekt von seinem ursprünglichen Gegenstand auf 
das Symbol übertragen werden konnte, das heißt, sie wird um so 
ausreichender, je mehr Gleichwertiges der Ersatz zu bieten vermag,- 
im anderen Falle hängt sie von der Lebendigkeit ab, mit der das 
Begehren in der Phantasie dargestellt erscheint. Auf solche Weise 
könnte ein vollständiges Sich-Ausleben erzielt werden, wenn das 
kritische Urteil nicht den Mangel an Realität bemerken würde. Für 
das Kind, den Wilden und bis zu einem gewissen Grad den Dichter, 
existiert die strenge Wirklichkeitstreue nicht, die der Existenzkampf 
dem herangewachsenen, zivilisierten Manne aufnötigt. Daraus entsteht 
der fortwährende Kampf zwischen dem symbolischen und der Phan¬ 
tasie zugekehrten Denken auf der einen und der Lebenswirklichkeit 
auf der anderen Seite. Die Entwicklung von der Kindheit zum 
Mannesalter, vom Wilden zur Zivilisation besteht tatsächlich in nichts 
anderem, als in der fortschreitenden Anerkennung der Realität und 
der Anpassung daran. Keiner der beiden sich befehdenden Teile 
kann jemals vollständig über den anderen triumphieren. Wenn die 
unbewußten Strebungen erlöschen würden, müßte das Leben seines 
stärksten Antriebs verlustig gehen, aber immer gibt es auch 

»das eigensinnige Fragen 

Nach einem Sinn, an dem die Dinge sich da draußen binden, 

Die uns entfallend in das Nichts hinüberschwinden. 




Die Allmacht der Gedanken und die Mutterleibsphantasie etc. 


Das nachte Mißtrauen einer Kreatur 

Die eine Welt durchwandert, nicht erkennt 

Und tiefes Sehnen, das die sterbliche Natur 

Nur zitternd, wie ein Schuldiger den Richter nennt.« 

Wenn dieses »tiefe Sehnen« zu stark wird, bricht das Ver¬ 
ständnis der Realität an einem oder mehreren Punkten nieder und 
an die Stelle der richtigen treten symbolische Wertungen, aus denen 
sich die Symptome der Neurosen oder Psychosen bilden. 

Es gibt eine Form einer solchen Realitätsverfälschung, die von 
einem Patienten Freuds, einem Zwangsneurotiker, »Allmacht der 
Gedanken« genannt wurde. Es ist dies ein Geisteszustand, in welchem 
das Individuum vermeint, daß seine bloßen Gedanken unwiderstehliche 
Gewalt besitzen,* er fühlt, daß eine Handlung, an die er‘nur gedacht 
hat, bereits vollzogen ist,* ein Feind wird z. B. dadurch wirklich 
geschädigt, daß man ihm Übles wünscht. Diese Vorstellungsweise 
bildet die Grundlage für viele magische Zeremonien, so, wenn ein 
Bild desjenigen Menschen zerstört wird, den der Zauberer umbringen 
will/ tatsächlich haben die meisten Flüche für die Gedanken des¬ 
jenigen, der sie hervorstößt, nur soweit Wirksamkeit, als er an die 
Allmacht seiner Gedanken glaubt. Wenn wir uns schuldig fühlen, 
weil wir jemandem linglüdc gewünscht haben, so kommt das daher, 
daß wir unbewußt glauben, unsere Gedanken hätten ihn verletzt. 

Nun steht dieser Phantasie*Typus im allerschärfsten Gegen* 
satz zum Realitätsprinzip und von Ferenczi 1 stammt eine meistere 
hafte Untersuchung der Entwiddungsstufen des Wirklichkeitssinnes, 
der immer mehr und mehr siegreich die Allmacht der Gedanken 
bekämpft. Es ergibt sich selbstverständlidi, daß die ersten Kindheits¬ 
jahre diesen Glauben stärker aufweisen, als die späteren. Die Psycho* 
analytiker sind dazu gelangt, es nahezu als ein psydiologisches Gesetz 
anzusehen, daß jede geistige Verirrung im Leben des Erwadisenen 
etwas wiederholt, was in einem vorangegangenen Stadium der Ent* 
widdung normal gewesen war. Es ist daher nicht überraschend, daß 
der Glaube — man könnte sonst sagen die Ausübung — der All* 
macht der Gedanken stärker wird, je weiter man beim Studium der 
geistigen Einstellung des Individuums in seiner Entwiddung zurüdt* 
greift. So zeigt Ferenczi, daß das Kind in utero sich tatsächlich 
eines Zustandes erfreut, in weldtem seine Bedürfnisse gestillt werden, 
bevor es an sie zu denken vermag,* das wichtigste für sein Wohl* 
befinden, Wärme, Schutz und Nahrung stehen ohne eine Anstren* 
gung von seiner Seite bereit,* es braucht nicht einmal zu atmen. Die 
Umgebung ist zu dieser Zeit keine feindlidie Macht, der er sich an* 
passen muß, sondern sie unterwirft sich seinen Wünschen. Die wil* 
deste Phantasie des erhabensten Herrschers könnte die Vision einer 
solchen dienstbereiten Umgebung nicht heraufbeschwören. Vor der 


Heft 2. 


1 Ferenczi, Internationale Zeitschrift für ärztliche Psychoanalyse. Jahrg. I., 





384 


John T. Mac Curdy 


Geburt existiert der Kampf ums Dasein — Realität — noch nicht. 
Doch selbst nach seiner gefährlichen Fahrt in die Außenwelt kann 
er nicht so bald 

»Die Herrlichkeit vergessen, die er kannte 

Und jenes Kaiserschloß, aus dem er kam.« 

Auch nach der Geburt beherrscht es noch seine Umgebung. 
Seine Mutter und seine Pflegerin bieten alles auf, zunächst um so 
genau als möglich den wundervollen Aufenthaltsort, den es verlassen 
hat, nachzuahmen, indem sie ihn in warme Dechen hüllen und seine 
Augen gegen das Licht schützen,- später, indem sie sein Geschrei 
und seine Bewegungen als Befehle nach Nahrung oder anderen An¬ 
nehmlichkeiten deuten und ihnen gehorchen. Seine Gedanken sind 
noch immer allmächtig. Mit Verlauf der Zeit werden die Ansprüche 
der Realität dringender und das Kind lernt, daß es selbständig 
handeln muß. Doch während einiger Jahre dauert, wenngleich die 
Macht über die Umgebung ständig nachläßt, noch immer der Zustand 
an, daß seine Wünsche und Bedürfnisse, sobald es sie äußert, auto¬ 
matisch befriedigt werden. 

Wenn der Kampf mit der Realität, das dringende Bedürfnis nach 
Anpassung, schärfer wird, so erwacht eine Tendenz zur Rückkehr 
zu jenem Entwicklungszustand, wo die Umgebung der Diener, nicht 
der Herr war. In jenen Psychosen, wo Symbole zum direkten Aus¬ 
druck gelangen, finden wir ausreichende Beweise, die hier nicht mit¬ 
geteilt werden können, daß der Patient in seiner Einbildung in den 
Mutterleib zurückkehrt. Das normale Individuum sucht Erleichterung 
in Träumen, Mythen und anderen Phantasiebildungen, die nach dem 
Muster des Traumes gebaut sind, doch stets in der Ausdrucksform 
des Symbols. Die Psychoanalyse und die alltägliche Sprachgewohn- 
heit lehren uns, daß die Erde ein Symbol für die Mutter ist — 
Mutter Erde. Daher kann natürlich jedes Loch und jede Höhle in der 
Erde die Höhlung des Mutterleibes darstellen, in der das Kind sich 
vor der Geburt auf hielt, oder, wie der Psalmist sagt: ». . . da ich 
in Heimlichkeit geschaffen wurde und seltsamlich ausgeformet in den 
tiefsten Teilen der Erde.« Jede Symbolik wird im wesentlichen in 
der Kindheit bestimmt und wir müssen uns deshalb mit den Theo¬ 
rien, die sich das Kind über den Ursprung des Lebens bildet, ver¬ 
traut machen. Wahrscheinlich weiß es dank seiner Erinnerungen 
an die eigene Geburt, daß es aus dem Leib der Mutter gekommen 
ist. Es betrachtet den Bauch als eine große Höhle und schließt auf 
ihren Inhalt nach dem, was es aus dieser Höhle herauskommen 
gesehen hat. Daher stehen infantile Geburtstheorien mit Wasser 
<Urin> und Fäces in Zusammenhang. So wird der Ort, aus dem das 
Kind herkommt, die Kloake. Im Besitz dieser Auffassung können 
wir verstehen, wieso jeder dunkle, abgeschlossene Ort den Mutter¬ 
leib im Traum symbolisch darstellen kann und warum in den My¬ 
then aller Nationen der Held als Kind stets im Wasser gefunden 




Die Allmacht der Gedanken und die Mutterleibsphantasie etc. 


385 


oder daraus hervorgeholt wird. Wenn wir diese Symbolik annehmen, 
sehen wir, daß ein Gott oder Geschöpfe, die ein Dasein unter dem 
Wasser oder der Erde führen, dadurch symbolisch als im Uterus 
lebend dargestellt werden. Es ist meine These, daß solche Personen 
in den Phantasieprodukten leicht mit der Allmacht der Gedanken 
ausgestattet werden können. 

Bevor wir zur Erörterung der Hephästos* und anderer Mythen 
übergehen, ist es notwendig, ein immer wiederkehrendes Symbol 
für aas intrauterine Dasein zu erwähnen. Unsterblichkeit kann eine 
verstandesmäßige Überzeugung sein, aber als solche ist sie niemals 
angeboren. In unserem Unbewußten sind wir unsterblich und selbst 
im Bewußtsein unfähig, die Vorstellung des Verlustes unserer Per* 
sonsidentität ganz zu erfassen. Doch führen offenbar sowohl Geburt 
wie Tod irgendeinen Wechsel in uns herbei. Was ist natürlicher, 
als daß das Dasein vor der Geburt und nach dem Tode als idem* 
tisch angesehen wurde? Wirklich hat die Psychoanalyse gezeigt, daß 
der Tod ein Symbol der Existenz im Mutterleib ist und die Dichter 
erzählen uns unaufhörlich dasselbe. So sagt z. B. Shelley: 

»Das Kind hat Friede im Mutterleib, 

Im Grab die Leiche ruhigen Verbleib, 

Wir beginnen bei unserem End'.« 

Und im Buche Hiob lesen wir: »Nackend bin ich aus meiner Mutter 
Leib gekommen und nackend werde ich dahin zurückkehren.« 

Ich habe die Hephästos-Mythen untersucht, weil sie geeignet 
schienen, den Nachweis für den Zusammenhang zwischen der All- 
macht der Gedanken und dem Leben in einem Aufenthaltsort unter 
der Erde <d. h. in symbolischer Ausdrudksform, Leben im Mutter* 
leib) zu liefern,- doch soll auch auf die analoge Assoziation der 
beiden in anderen Mythen Bezug genommen werden. Damit ist 
keineswegs Anspruch auf erschöpfende Behandlung des Themas 
erhoben und die wenigen verstreuten Beispiele, die den Geschichten 
von Hephästos hinzugefügt sind, werden nur zur Bestätigung der 
Theorie angeführt, daß im unbewußten Seelenleben die beiden Vor* 
Stellungen sehr innig miteinander verlötet sind. 

Hephästos war, wie der nordische Loki und der indische Agni, 
der Gott des Feuers, er war auch ein Schmied, der Qberwacher 
des Blitzes und der Gott der Fruchtbarkeit. Ein Sohn der Hera 
und des Zeus,- jene warf ihn während eines Streites mit dem Gemahl 
aus dem Himmel und er stürzte in die See. Hier wurde er von 
Thetis und den Töchtern des Okeanos beschützt, für die er eine 
wunderbare Höhle, vor Gott und Menschen verborgen, erbaute. 
Die Zwerge der nordischen Mythologie arbeiteten auch in Höhlen 
und wir sehen, daß sie in mancher Beziehung dem Hephästos 
ähnelten. Auch Agni wurde in der Höhle verborgen gehalten und 
herausgeholt/ auch er suchte beim Wasser Zuflucht. Bei Thetis 
verblieb Hephästos neun Jahre. Die Zahl Neun legt den Ge* 

Imago III/4 


25 




386 


John T. Mac Curdy 


danken an die Schwangerschaftsperiode nahe, denn die Griechen 
hatten zwölf Monate in ihrem Jahr. Rapp 1 gelangt zu der Fol* 
gerung, daß die neun Jahre die Winter darstellen, wo der Blitz 
im Hohlraum der Wolken verweilt. Der Ozean war nach Ursprünge 
lieber griechischer Vorstellung ein Wasser oben ebenso wie ein Wasser 
unten, so daß Hephästos in den Wolken oben geboren und dann 
in das Wasser unten gesteckt wird und an beiden Orten sich in 
einer Höhle auf hält. Ebenso bleibt Agni während der Winters in 
den Donnerwolken. Nun stellt der Winter wie wir aus den Venus* 
und Adonis*, Persephone*, Ishtar* und Tammuzmythen wissen, 
die Zeit dar, wo die Saat in der Erde und das Kind im Mutter¬ 
leib wächst. Dem »Hohlraum der Wolken« gibt Shelley eine klare 
Mutterleib-Bedeutung: 

»Ich verlach meinen Schlaf d'rin im Cenotaph, 

Aus des Regens Gewölb, wie ein Kind 

Aus dem Leib, den es barg, wie ein Geist aus dem Sarg 

Steh' ich auf und zerbrech ihn geschwind.« 

Nicht nur bei seiner Geburt und in seinen ersten Jahren lebte 
Hephästos in einer Höhle. Er war im wesentlichen eine unterirdische 
Gottheit, die verschiedene Vulkane bewohnte, insbesondere in Lemnos. 
Ein Sarkophag im Capitolinischen Museum zeigt ihn in einer Höhle, 
tief im Gebirge drin arbeitend. Auf vielen seiner Abbildungen hat 
er ein zwerghaftes gnomähnliches Aussehen, mit einem großen Kopf 
und Körper und kleinen Beinen, was unzweifelhaft an das Aussehen 
eines neugebornen Kindes mahnt. Seine Verbindungen mit anderen 
Gottheiten weisen auch auf diese beiden Eigenschaften, Fruchtbarkeit 
und Tod, hin, welche, wie wir wissen, in enger Verknüpfung mit 
dem Unterirdischen stehen. Seine Gemahlin war Aphrodite, die ur* 
sprünglich auch eine Todesgottheit war und eine andere Gattin, die 
ihm ebenfalls zugeschrieben wurde, ist Aglaia, die dritte der Gratien. 
Freuds jüngsthin veröffentlichter Aufsatz »Das Motiv der Kästchen* 
wähl« hat gezeigt, daß die Ehe mit der dritten von drei Mädchen 
Tod bedeutet. Es ist deshalb von Interesse zu bemerken, daß Plutos 
auf den Bildsäulen in den Armen der Eirene dargestellt wird, der 
dritten unter den Jahreszeiten und der Gottheit des Winters. Nun 
war Plutos eine späte Personifikation gewisser Eigenschaften des 
Pluto, des Gottes der Unterwelt und stellte die Macht des Goldes 
vor. »In einem Fragment eines griechischen Kalenders, der im Louvre 
aufbewahrt wird, ist der Aufstieg <der Göttin Persephone) als der 
siebente Tag des Monates Dius datiert und der Abstieg oder das 
Niedersitzen der Gottheit ist als der vierte Tag des Monates He* 
phästius datiert, der sonst unbekannt zu sein scheint« 2 . Dies dürfte 
auf eine ganz bestimmte Verbindung mit Pluto hinweisen. Schließ* 


1 In R oschers Lexikon der griechischen und römischen Mythologie. 

2 Fußnote bei Frazer, The Golden Bough: Spirits of the Corn and of 
the Vine, Vol. I, p. 46. 







Die Allmacht der Gedanken und die Mutterleibsphantasie etc. 


387 


lieh würde Rapps Deutung der Mythe von der Geburt der Paliki 
dem Hephästos eine entschieden unterirdische Stellung anweisen. Die 
von Zeus geschwängerte Nymphe Thalia wünschte, daß die Erde 
sie verschlingen möchte. Ein Wirbel entstand und von ihm umhüllt 
stieg sie hinunter. Doch als die Kinder reif geworden waren, öffnete 
sich die Erde und die Paliki wurden geboren. Aus dem Vergleich 
dieser Erzählung mit der Geburt des Erichthonios <der aus der Erde 
hervorsprang, wo der Same des Hephästos hingefallen war) und 
aus dem Umstand, daß die Paliki manchmal mit dem Hammer dar* 
gestellt werden, schließt Rapp, daß Hephästus ihr Vater war. 

Die Macht des Hephästos nahm zweierlei Formen an, eine 
klar sexuelle und eine sublimierte. Die erste kann nach den männ* 
liehen und weiblichen Attributen der Zeugungskraft eingeteilt wer* 
den, die aber oft untrennbar vermischt sind, da er als Gott der 
Fruchtbarkeit im allgemeinen verehrt wurde. Die Mythe von der 
Geburt des Erichthonios gibt den rohesten Ausdrudc dieser väter* 
liehen Stärke wieder. Auf der Frangois*Vase reitet er auf einem 
Maultier mit erigiertem Glied. Ein Funken aus der Schmiede des 
Vulkan <des römischen Hephästos) verursachte die Zeugung des 
Caeculus. Seine Bisexualität zeigt sich bei der Geburt Pandoras. 
Er formte sie, indem er Erde und Wasser zusammenmischte und 
wurde so der Urerzeuger aller Frauen. Wohl wegen seines unter* 
irdischen Wohnsitzes wurde er als Gatte der Aphrodite dargestellt 
und als Fruchtbarkeitsgott betrachtet. Er wurde als Gott des Feuers 
verehrt, dem in allen Riten primitiver Völker eine entschieden 
sexuelle Bedeutung zukommt. In Lemnos wurde alljährlich ihm zu 
Ehren ein Fest gefeiert. Alle Feuer blieben während neun Tagen 
ausgelöscht (wieder die Zahl der Schwangerschaftsmonate)/ dann 
wurde frisches Feuer auf einem heiligen Schiff aus Delos gebracht 
und ein neues Leben, wie man es nannte, begann. Doch er war 
auch der Gott aller Dinge, die mittels Feuer verfertigt wurden. Der 
Familienvater pflegte dem Herd eine Flamme zu entnehmen und 
zu Hephästos, als der Gottheit des Herdfeuers, um Fruchtbarkeit 
für sein Weib zu beten. 

Seine stärker sublimierten Kräfte lassen sich am besten ver* 
stehen als die Materialisation und übertreibende Ausgestaltung jener 
Eigenschaften, welche ihm zuerst rein symbolisch zugelegt wurden. 
Seine Männlichkeit wird als physische Stärke wiedergegeben — 
KQavrjQÖxeig — und in der alles verzehrenden Madit seines Feuers. 
Mit dieser unterdrückte er den Fluß Xanthos, als Achilles trotz der 
Hilfe Apollos und Athenes nicht gegen ihn anzukämpfen vermochte. 
Er überwachte den Blitz, das schrecklichste aller Naturphänomen. 
Mit seinem Beil (und hier zeigen sich wieder sexuelle Züge) schlug 
er Zeus auf den Kopf und Athene sprang ins Dasein. Eine Zeich* 
nung auf der Bengnot*Vase zeigt Hephästos, wie er beim Erschei* 
nen Athenes mit einem Blick naiven Erstaunens und Überraschung 
zurückfährt, als wäre er ein wenig ängstlidi über das, was er selbst 


25 * 




388 


John T. Mac Curdy 


getan hatte. So könnte ein Kind blicken — der eigenen Macht 
unbewußt — das zufälligerweise ein Gewehr abgeschossen hat. 

Doch die wirkliche Allmacht der Gedanken lernen wir an den 
Werken kennen, die er schuf. Er konnte Dinge ausführen, die andere 
nur phantasierten. Brunn, von dem Antlitz der Vatikanischen He* 
phästos*Büste sprechend, bezeichnet als deren hervorspringendes 
Charaktermerkmal »Eine ruhige Besonnenheit, welche die Schwierig* 
keiten abwägt und zu bewältigen weiß«. Rapp sagt: »Was nun die 
ihm zugeschriebenen Werke betrifft, die sgya 'HcpacoTov , so ist daran 
festzuhalten, daß, wie die Gestalt und die Werkstatt des Götter* 
Schmiedes mit ihrer ganzen Ausrüstung der Wirklichkeit des Lebens 
entnommen ist, so auch seine Werke der Kunst des homerischen 
Zeitalters entsprechen und durch die Phantasie des Dichters nur etwa 
zur höchsten, <d. h. für den Standpunkt der damaligen Erfahrung) 
denkbaren Vollendung gesteigert wurden.« Er konnte Dinge schaffen, 
die selbstätig wirkten, die selbst Kraft und Sinn besaßen, d. h. 
seine Gedanken handelten. Wenn er ein Ding getan wünschte, war 
es schon von selbst vollendet. Sein Blasebalg arbeitete automatisch 
und Homer sagt: »Er . . . nahm einen starken Stab und schritt 
hinkend von hinnen,* doch Mädchen aus Gold waren zur Hand, die 
eilten herbei, ihrem Herrn zur Hilfe, lebenden Mädchen ganz gleich 
gebildet. Bei ihnen ist Verständnis im Herzen, bei ihnen ist Stimme 
und Stärke und sie sind gewandt, wie unsterbliche Götter.« Dann 
»schmiedet er Dreifüße, zwanzig an Zahl, an den Wänden der 
ragenden Halle zu stehen und jedem hatte er unter die Füße goldene 
Räder gesetzt, so das sie in eigener Bewegung die Versammlung 
der Götter zu betreten vermochten und zu seinem Hause zurück* 
kehren, ein Wunder anzuschauen.« 

Er verfertigte Hunde aus Gold und Silber, die den Palast des 
Alkinous bewachten. Unsichtbarkeit ist ein sicheres Zeichen der All* 
macht der Gedanken, es ist die Kraft, die ohne sichtbare und daher 
ohne wirkliche und körperliche Vermittlung wirkt. Hephästos sandte 
in Wut über seine Vertreibung aus dem Himmel einen Thron für 
Hera, der sie, als sie sich darauf gesetzt hatte, mit unsichtbaren 
Banden festhielt, welche nur er allein zu lösen wußte. In der Odyssee 
lesen wir, wie er Ares und Aphrodite in einem ähnlichen, listigen 
Netz einfing, als jener sein Ehebett entehrte, worauf die Götter 
einer zum anderen sprachen: »Der Langsame fängt den Schnellen! 
Sieh, wie Hephästos, langsam wie er ist, den Ares überholt hat, 
obgleich er der Schnellste der Götter ist, die der Olympus faßt, 
durch seine Kunst hat er ihn festgehalten, trotz seiner Lahmheit.« 
Spätere Poeten schrieben ihm die Verfertigung des Zepters und der 
Ägis für Zeus zu — der Symbole der höchsten Macht in der ganzen 
griechischen Mythologie. Sie sagen auch, daß er die fernhintreffenden 
Pfeile des Apollo und der Artemis gemacht habe, deren Zerstörungs* 
kraft wir kennen. Er schmiedete den Panzer des Herakles und dem 
Peleus schenkte er bei dessen Heirat mit Thetis ein Schwert, das 




Die Alimadht der Gedanken und die Mutterleibsphantasie etc. 


889 


überall Sieg bringt. Harmonias Halsband, das dem, der es trug, 
fortwährendes Leid schuf, wurde von demselben göttlichen Schmied 
angefertigt. Vielleicht die raffinierteste Entwiddung der Allmacht der 
Gedanken ist die Gabe der Weissagung. Die Fähigkeit, die Zukunft 
vorherzusagen, schließt die Beeinflußung der kommenden Ereignisse 
in sich ein, und bedeutet noch weit Schwierigeres als die Beherrschung 
der Gegenwart. Hephästos besaß diese Gabe und galt deshalb als 
der Vater des Rhadamantys. Diesem wurde von späteren Autoren 
der Platz des allwissenden Richters in der Unterwelt angewiesen. 

Hephästos war nicht der einzige, der eine unterirdische Tätig¬ 
keit mit der Allmacht der Gedanken verband, noch waren die 
Griechen allein im Besitz derartiger Mythen. Hades, so mächtig, daß 
selbst die Götter sich seinen Beschlüssen neigen mußten, hatte einen 
unsichtbarmachenden Helm, der an die Mütze der höhlenbewohnen¬ 
den Zwerge der nordischen Mythologie erinnert, die dieselbe Eigen¬ 
schaft verlieh. Als die Helden Asgards den Fenrir zu binden trach* 
teten und Thor sich dreimal vergeblich bemüht hatte, stieg Skinrir 
nach Svortheim hinab, wo die Zwerge eine Kette verfertigten, die 
Fenrir nicht zu brechen imstande war. Sie war so zart, daß sie 
zusammengerollt auf der Fingerspitze eines Zwerges Platz fand und 
wog nicht mehr als Distelflaum. Sie war aus sechs Dingen zusammen¬ 
gesetzt: Dem Schall von Katzentritten, dem Bart auf Weiberlippen, 
den Wurzeln der Steine, den Sehnen der Bären, dem Atem der 
Fische und dem Speichel der Vögel. Mit anderen Worten, sie war 
aus Dingen verfertigt, die nirgends bestehen, außer in der Phantasie. 
Die Zwerge wurden mit demselben Abzeichen dargestellt wie He¬ 
phästos — dem Schmiedehammer. Loki unternahm einst eine Reise 
in die Unterwelt,- da traf er einen Zwerg, namens Brok, und schloß 
mit ihm eine Wette. Als Folge davon mußte dieser Brok seinen 
Bruder veranlassen, eine Reihe von Gaben herzustellen, die Loki 
zu den Göttern mit sich heim nahm. Als die beste von allen erach¬ 
teten die Äsen den Hammer Thors. Diese Waffe war so hart, daß 
sie in Trümmer schlug, was immer sie traf,- fortgeschleudert kehrte 
sie in die Hand zurück und konnte so verkleinert werden, daß man 
sie in die Tasche stecken konnte. Dies ist vielleicht das anschaulichste 
Beispiel für die Allmacht der Gedanken in der gesamten Mythologie, 
Die griechischen Furien, die selbstverständlich eine unterirdische Meute 
waren, besaßen so viel Macht, daß die Götter sich außerstande 
sahen, ihre Rache zu verhindern. Sie schmiedeten das schreckliche 
Schwert des Ajax und das vergiftete Kleid des Herakles war 
Eoivvwv äfMpißXrjOXQOV. Ihre Geburt wurde der Erde <Hesiod> 
oder der Nacht, oder der Erde und der Finsternis zugeschrieben. 
Die unvermeidliche Verknüpfung des Unterirdischen mit der Frucht* 
barkeit beeinflußte die Anschauungen der Antike unwiderstehlich und 
so finden wir sie manchmal unter die Gottheiten der Fruchtbarkeit 
aufgenommen. Agni, der indische Feuergott machte bei seiner Geburt 
eine ähnliche Erfahrung wie Hephästos und er stand nur dem Indra 





390 


John T. Mac Curdy 


an Macht nach. Er konnte das Schicksal der Menschen selbst in der 
Welt nach dem Tode lenken. Die Figur des Prometheus gilt vielen 
Mythologen als eine Variante des Hephästos. Sie haben dieselbe 
Geschichte vom Himmelssturz,- sie hatten einen gemeinsamen Altar 
in Athen,- beide hielten sich in der Unterwelt auf {Prometheus im 
Tartarus) und beide waren mit der Feueranbetung verknüpft. Pro¬ 
metheus brachte das Feuer auf die Erde in einem hohlen Stab,- 
damit ist der »Vrif«-Stab vorausgeahnt, den Bulwer Lytton in 
der später zu erörternden Novelle beschreibt. Auch er formte Men-' 
sehen aus Lehm und beseelte sie. Wie Hephästos und die nordi* 
sehen Zwerge besaß er die Gabe der Weissagung. Die Ana aus 
Bulwers »Das Volk der Zukunft« sind rot, ebenso Agni und 
auch Mephistopheles. Hephästos, Prometheus und Satan wurden 
alle drei aus dem Himmel geschleudert. In welchem Grade entspricht 
die Gewalt des Teufels den Gewalten der Finsternis? 

Alle Vorstellungen von rein physischer Kraft hängen wahr¬ 
scheinlich mit potentia sexualis zusammen. Ob die Allmacht der 
Gedanken unabhängig davon entsteht oder nicht, können wir nicht 
sagen, aber dieser kurze Abriß scheint doch wenigstens darauf hin^ 
zuweisen, daß das menschliche Seelenleben bisher Bestrebungen 
gezeigt hat, die magischen Gedanken mit Mutterleib^Symbolen zu 
verknüpfen. Solche Vorstellungen haben ein zähes Leben. Frazer 
macht in »The Golden Bough « 1 nach Schilderung vieler Festlich^ 
keiten in verschiedenen Teilen Europas, bei denen Abbildungen des 
Todes durch das Dorf getragen und zerstört werden, die folgende 
Bemerkung: » . . . Das Wesen, das eben zerstört wurde — der 
sogenannte Tod — muß als begabt mit lebenerweckender und ^er¬ 
höhender Kraft gedacht werden, die es der Pflanzen- und selbst der 
Tierwelt mitzuteilen vermag. Daß der Figur des Todes eine leben- 
schaffende Wirkung zugeschrieben wurde, wird über alle Zweifel 
hinaus sicher gestellt durch den an manchen Orten beobachteten Ge* 
brauch, Stücke der Strohpuppe zu nehmen und sie auf die Felder 
zu bringen, um das Wachstum der Saat zu befördern, oder zur 
Vermehrung des Viehstandes in die Krippen zu legen . . . Jeder, 
der ein Stück der Puppe erraffen kann, bindet es um einen Zweig 
des größten Baumes in seinem Garten, oder vergräbt es in sein 
Feld, in dem Glauben, daß davon die Ernte besser werde . . . 
Jeder bemüht sich eine Welle von dem Stroh, aus dem die Puppe 
gemacht ist, zu bekommen, weil man von ihr glaubt, daß sie, in die 
Krippe gelegt, den Viehstand vermehre. Oder das Stroh wird in 
die Hühnernester gelegt, weil man annimmt, daß es die Hennen 
hindert, ihre Eier wegzutragen und sie besser brüten läßt. Dieselbe 
Zuteilung einer fruchtbarmachenden Kraft an die Figur des Todes 
spricht aus dem Glauben, daß, wenn die Träger der Puppe, gleich 
nachdem sie sie weggeworfen haben, mit ihren Stöcken die Rinder 


The Dying God, p. 250 und 251. 





Die Allmacht der Gedanken und die Mutterleihsphantasie etc. 


391 


schlagen, dies die Tiere fett und vermehrungstüchtig machen wird. 
Vielleicht wurden die Stöcke früher dazu benützt, den Tod zu 
schlagen und hatten auf diese Weise die Kraft, fruchtbar zu machen, 
erworben, die der Puppe zugeschrieben wurde. Wir haben auch 

f ;ehen, daß in Leipzig eine Strohpuppe des Todes den jungen 
eibern gezeigt wurde, um sie fruchtbar zu machen.« So sind für 
die Bauern Europas Tod und Fruchtbarkeit zusammengehörig und 
eine magische Kraft an das geknüpft, was aus dem Reich des Todes 
stammt. 

Die Völker des Altertums haben unbewußte Befriedigung darin 
gefunden, solche Mythen zu schaffen und wiederzuerzählen. Ahn** 
liehen Gewinn ziehen die Bauern unserer Zeit aus der Beibehaltung 
ihrer sonderbaren Gebräuche,- für den modernen Gebildeten sind 
beide Auswege durchaus ungangbar, doch er kann seine innersten 
Gelüste stillen, indem er sich in eine von seiner Phantasie erzeugte 
Geschichte versenkt und sie niederschreibt. Bulwer Lyttons »Das 
Volk der Zukunft« <The Coming Race) ist ein Beispiel für diesen 
Vorgang. 

Die Erzählung schildert die Abenteuer eines Mannes, der den 
Weg in eine unterirdische Welt findet, wo ein Volk von ungewöhn- 
lieber Macht lebt. Seine Erlebnisse dort können schnell abgetan 
werden, da für den Analytiker, wie für den Autor das Haupte 
interesse in den Eigenschaften jenes Volkes und der Umgebung, in 
der es lebt, gelegen ist. Die Geschichte wird als Autobiographie 
erzählt. Der Erzähler läßt sich durch einen tiefen, unerforschten 
Schacht einer Mine hinunter in eine ausgedehnte Höhle, wo durch 
einen Unglücksfall sein Gefährte getötet wird, so daß er ohne die 
Möglichkeit einer Rückkehr allein bleibt. Ein Knabe, der Sohn des 
Mannes, der an der Spitze der Behörden des Volkes steht, das 
eine Reihe jener Höhlen bewohnt, entdeckt ihn und führt ihn in 
ihre Stadt. Er wird aufgenommen, lernt ihre Sprache und studiert 
viele ihrer Gewohnheiten. Alles geht so lange gut, bis zwei Mädchen 
sich in ihn verlieben,- um seine Heirat mit einer von beiden zu ver¬ 
hindern, soll er umgebracht werden, denn nach der Ansicht dieses 
Stammes würde die Vermischung mit einem so niedrig entwickelten 
1 ypus wie es die »oberirdischen« Sterblichen sind, ihre Rasse ver¬ 
schlechtern. Er entrinnt, dank des Beistandes des einen Mädchens, 
welches von ihm betört ist. Eine ganze Anzahl von Zügen weist 
mit großer Deutlichkeit darauf hin, daß dieser unterirdische Aufent¬ 
haltsort den Mutterleib darstellt. 

Wir erfahren, daß dieses Volk einst auf der Erde lebte, doch 
als die große Flut kam, krochen sie in eine Berghöhle und gingen 
spurlos verloren. Hier haben wir das Zusammentreffen von Wasser 
mit einer Durchfahrt durch eine enge Öffnung — eine traumartige 
Schilderung der Geburt. Die Haut des ursprünglichen Stammes war 
dunkelrot, wohl eine unbewußte Hindeutung auf das Aussehen des 
neugebornen Kindes. Einige Tiere, die diese unterirdische Welt 






392 


John T. Mac Curdy 


durchscbweiften, hatte die Höhle selbst hervorgebracht. Der Erzähler 
gelangt durch eine enge Öffnung hinein, die sich wiederum schließt,* 
er entrinnt mit Hilfe eines jungen Weibes, das für seine Befreiung 
sein Leben wagt, was eine recht deutliche Wiedergabe der Ereignisse 
bei der Geburt ist. Die eine große Angst, der diese Menschen 
unterworfen sind, ist die vor vollkommener Finsternis. <Vgl. die 
gewöhnliche Bezeichnung der Geburt »das Licht der Welt erblicken.«) 
Die Assoziationen mit Wasser sind ganz direkt: Sie halten an einer 
Theorie fest, daß alle Menschen sich ursprünglich aus Fröschen ent¬ 
wickelt haben. Dies ist vielleicht ein Echo der Entwicklung aus der 
amphibischen Form, Leben zuerst im Wasser und später in der 
Luft. Für das Kind ist das Wasser in der Blase,* für den Erwach^ 
senen bedeutet es die amniotische Flüssigkeit. Nachdem sie durch 
die Überschwemmung unter die Erde getrieben worden waren, hatten 
sie lange gegen den Ozean zu kämpfen, bis sie es erlernten, ihn 
zu beherrschen. Sie badeten regelmäßig in Wasser, daß mit Vril 
<der Name ihrer Kraft) geschwängert war. Mit anderen Worten, sie 
erhielten ihre Macht direkt vom Mutterleib. 

Die Merkmale, die ihren Aufenthaltsort als Eingeweide oder 
Kloake charakterisieren, sind ebenso schwach verhüllt wie die bisher 
aufgezählten 1 . Wir lesen von den Leuten als »Gemeinschaften, die 
in den Eingeweiden der Erde begraben liegen.« Das Volk nannte 
sich »Ana« und dieser Name erinnert allzu auffallend an den ana^ 
tomischen Terminus, um als bloßer Zufall gelten zu können. Die 
Vegetation war auch zum größten Teil »ein ruhiges Braun, auf 
welchem das Auge mit demselben Gefühl der Erleichterung ausruht, 
wie auf dem Grün der Oberwelt.« Auch mehrere Flatus-rhantasien 
werden bei der Schilderung dieser Rasse erwähnt. Der Abenteurer 
erwartete, daß es in dieser Tiefe unter der Oberfläche zu heiß sein 
müsse, um leben zu können <Mutterleibswärme) 2 , doch er fand, daß 
die ungeheure Ausdehnung der Höhle für die Erzeugung freier 
Luftströmungen und häufiger Winde dienlich sei. Die Einwohner 
gewannen Licht aus Gasen, Mangan oder Petroleum. Die beiden 
wichtigsten Eigenschaften des Flatus — Geräusch und Geruch — 
sind wie gewöhnlich in Melodie und Parfüm sublimiert,* so sagt der 
Autor, daß sie »in einer Atmosphäre von Musik und Wohlgeruch« 


1 Lord Lytton wies jene Charakterzüge auf, von denen Freud behauptet, 
daß sie mit einer abnorm starken Entwicklung der Analerotik Zusammenhängen. 
Er war sparsam bis zum Geiz, aber zur Zeit seiner stärksten finanziellen Not 
brachte er sich in den Besitz mehrerer Häuser und erhielt sich darin. Seine Vorliebe 
für Nettigkeit und Eleganz der Kleider machte ihn zum Stutzer. Schließlich war er 
im höchsten Maße eigensinnig. 

2 Wenn das Kind die Luft der Außenwelt erreicht, wird es sofort von ihrer 
Kälte im Vergleich zur Wärme jenes Ortes, den es eben verlassen hat, unangenehm 
berührt. Es betrachtet natürlich den Mutterleib als den Ort der intensivsten Hitze, 
da es die stärkste ist, die es je kennen gelernt hat. Diese Vorstellung lebt, wie 
ich an den Psychosen erfahren habe, im Unbewußten fort und hat es vielleicht 
verursacht, daß Hephästos in einen Vulkan versetzt wurde. 





Die Allmacht der Gedanken und die Mutterleibsphantasie etc. 


393 


lebten. In einer großen Halle erklang leise Musik in sanften Mo* 
dulationen wie von unsichtbaren Instrumenten, die naturgemäß mit 
dem Ort zusammenzugehören schien. 

Worin bestand nun die Gewalt jenes Volkes, das das Licht 
des Tages noch nicht geschaut hatte? Es war ein alles durchdringen* 
des Fluidum, die Essenz aller kosmischen und menschlichen Kraft. 
Auf den ersten Blick sehen wir, daß es mit der männlichen Zeu* 
gungskraft Ähnlichkeit hatte. Es wurde »Vril« genannt,- es war in 
einem hohlen Stab enthalten, der gewöhnlich als Spazierstock getragen 
wurde, aber je nach Wunsch verlängert und verkürzt werden konnte 
und eine wesentliche Voraussetzung für die Übung des »Vril« war 
der große Daumen, der sich bei jener Rasse entwickelt hatte <beide 
ithyphallische Symbole). Die Kraft zeigte sich manchmal als bloße 
Steigerung physischer Stärke — mit ihrer Hilfe konnte ein Kind 
einen normalen Mann so leicht umbringen, als ein Mann einen 
Schmetterling tötet. Sie konnte Felsen durchbrechen — aber ihre 
Hauptmerkmale waren die geistige Übermadit, die Fähigkeit, die 
über Entfernungen und auf das Seelenleben anderer wirkt. Vor 
allem war es eine Kraft, die die Dinge veranlaßte, sich von selber 
zu »tun«. Diese Eigenschaften, insbesondere die letzte, bildeten 
immer die Hauptzüge der magischen und der Phantasiegewalt. 
Dies ist Allmacht der Gedanken, dies ist die Umgebung, die die 
Wünsche des Kindes errät. So lesen wir, daß Vril aus der Ent* 
fernung zerstören, heilen, einen Dampf zerstreuen oder sowohl Leib 
wie Seele beeinflussen konnte. Es konnte dazu gebraudit werden, 
einen Mann wie mit Elektrizität zurückzuschleudern. Wenn ein Museum 
gezeigt wurde, ließ der Führer alle Gegenstände sich herumbewegen, 
ebenso wie Hephästos seine Automaten. »Hier setzte sie, bloß durch 
ein bestimmtes Spiel ihres Vrilstabes, selbst in der Entfernung 
stehend, große und schwere Massen in Bewegung. Sie schien sie 
mit Vernunft zu begaben, so daß sie imstande waren, ihre Befehle 
zu verstehen und auszuführen. Sie ließ komplizierte Maschinen ihre 
Bestandteile bewegen, hielt die Bewegung an oder ließ sie weiter* 
gehen bis in einer unglaublich kurzen Zeit aus verschiedenen Arten 
von Rohmaterial symmetrische Kunstprodukte, völlig fertig und voll* 
endet, entstanden waren.« Wir haben bereits in der Hephästos* 
Mythe diese weibliche Auffassung der Zeugungskraft kennen gelernt. 
Wie um die Verwechslung dieser Kraft mit bloßer Muskelkraft zu 
verhindern, geht der Autor gründlich auf die geistigen Eigenschaften 
dieses Vril ein. Er vergleicht ihn häufig mit Mesmerismus und 
erzählt, wie einer aus dem Volke ihn einschläferte, indem er bloß 
den Finger gegen ihn hob. Während dieses Trancezustandes teilte 
ihm sein Wirt die Kenntnis ihrer Sprache mit. Wie die Stärke des 
Intellektes ist auch diese Kraft je nach dem Individuum verschieden 
und die Fähigkeit, damit umzugehen, wird vererbt. Der Verfasser 
sagt ganz klar heraus, daß das Geheimnis des Fliegens in der Nutz* 
barmachung des Vril besteht. Z. B. konnte der Erzähler selbst nicht 




394 


John T. Mac Curdy 


fliegen 1 wie die anderen, nicht weil sein Körper, sondern weil sein 
Wille dazu nicht ausreichte. 

Daß in einer erfundenen Geschichte ein Autor die Allmacht 
der Gedanken einer unterirdischen Menschenrasse zugeschrieben hat, 
ist interessant genug, doch ist es ebenso bedeutungsvoll, womöglich 
zu bestimmen, wieso er dazu kam, eine solche Erzählung überhaupt 
zu schreiben. Was konnte einen außerordentlich stark beschäftigten 
Mann veranlassen, seine Zeit damit hinzubringen, daß er, während 
der Tod schon vor seiner Türe stand, sich eine Geschichte zusammen« 
dachte, die weder Handlung noch wissenschaftliche Möglichkeit ent- 
hält, ja im Grunde nichts ist als ein Knäuel kindischer Phantasien? 
Die Antwort auf diese Frage kann die Psychoanalyse geben: Durch 
das Studium der Neurosen und noch viel mehr der Psychosen haben 
wir erfahren, daß eine andauernde Tendenz existiert, Verpflichtungen 
des Lebens und der Realität durch die Materialisation und Inkar- 
nation von Phantasien aus dem Wege zu gehen. Wir wissen, daß 
alle Halluzinationen und Sinnestäuschungen der direkte oder sym- 
bolisdhe Ausdruck von Wünschen sind, die aus dem Unbewußten 
stammen. Zu Beginn des Daseins gibt es eine ungeteilte Persönlich¬ 
keit — zu einer Zeit, wo zwischen Realität und Phantasie keine 
scharfe Grenze gezogen wird — doch sowie gewisse Begierden des 
Kindes mit den ethischen Anforderungen oder dem Nützlichkeits¬ 
standpunkt, der sich nach und nach entwickelnden bewußten Persön¬ 
lichkeit in Konflikt geraten, werden sie in ein tieferes Seelengebiet, 
in das Unbewußte verdrängt, ohne doch je unterzugehen. Sie exi¬ 
stieren weiter, bestimmen jede unserer Affektreaktionen und formen 
unnachsichtig unser Leben. Aber dieses Ventil genügt nicht. Wenn 
aus den Anforderungen des Lebens Situationen entstehen, welche 
eine allzugroße Anpassungsleistung erfordern, dann regrediert das 
Individuum zu dem Zustand seiner ersten Kindheit und beginnt 
wieder in der Welt seiner Phantasie zu leben. Wenn ihm eine 
Schwäche des Anpassungsvermögens konstitutionell anhaftet, so sieht 
er diese Einbildungen für reale Erfahrungen an und ist »verrückt«,- 
ein Mensch mit elastischerem Charakter findet für die durch die un¬ 
bewußten Wünsche aufgehäufte Energie einen Ausweg, der mit der 
Realität vereinbar ist. Dies kann er so tun, daß er eine niedrigere 
Leidenschaft in ein höherstehendes symbolisches Äquivalent subli¬ 
miert, wie es z. B. der Fall ist, wenn ein Mädchen, das von seiner 
Bindung an den Vater überwältigt wird, den Trieb dieser verbotenen 
Liebe in den Dienst des göttlichen Vaters hinüberlenkt. Der Mann, 
dem unsere gegenwärtige Untersuchung gilt, zeigt eine andere Me¬ 
thode. Er verwirklicht seine Wünsche in der Form eines Romans. 


1 Die symbolische Bedeutung des Fliegens, das nach Ansicht der Psycho¬ 
analytiker häufig den Koitus darstellt, wird dadurch aufgehellt, daß vom weiblichen 
Geschlecht der Sitte gemäß ausschließlich Jungfrauen ihre Flügel benützen. Bei der 
Heirat wurden die Flügel über dem Ehebett aufgehängt/ symbolische Befriedigung 
war nun nicht weiter notwendig. 





Die Allmacht der Gedanken und die Mutterleibsphantasie etc. 


395 


Nun ist von allen eingebildeten Befürchtungen, unter denen 
der Melancholiker und insbesondere derjenige leidet, der an senilen 
Depressionen erkrankt ist, keine so allgemein als die Erwartung 
des Todes,* diese wird nicht immer, doch gewöhnlich als Furcht 
empfunden. Wenn wir Bulwer Lyttons Leben und »das Volk 
der Zukunft« Zusammenhalten, beginnen wir einzusehen, wie eng 
die Parallele zwischen den Zügen der Erzählung und den Gefühls* 
Strömungen ist, die seinem Leben zugrunde lagen, und daß für den 
Verfasser diese Erzählung dieselbe Lösung brachte, wie die Vor¬ 
stellung des Todes dem Melancholiker, der den Verstand ver* 
loren hat. 

Selbst wenn wir eine Biographie dieses Staatsmannes und 
Schriftstellers lesen 1 , die sich fast ausschließlich mit der dem öffent¬ 
lichen Leben zugewandten Seite befaßt, lassen sich ausreichende 
Beweise für quälende Konflikte in seinem Liebesieben finden, die 
eine andauernde Rastlosigkeit und häufige Anfälle schmerzlicher De* 
pression bewirkten und in »plötzlichen Ausbrüchen von überwältigen* 
dem Pessimismus und tiefer Verdrossenheit« ihren Ausdruck fanden. 
Seine Rastlosigkeit — ein typischer Zug im manisch*depressiven Sym* 
ptombild — verursachte eine unaufhörliche, fieberische Tätigkeit, die 
bis zu seinem Tode andauerte, die sich aber am deutlichsten in 
seiner Jünglingszeit, bei seinem ersten Pariser Aufenthalt zeigte. Er 
führte damals ein Leben der Ausschweifung in und außerhalb der 
Gesellschaftskreise der heiteren Hauptstadt Frankreichs, das von Pe* 
rioden wütender Arbeit unterbrochen wurde, während deren er wie 
ein Einsiedler in der Abgeschiedenheit eines kleinen, verborgenen 
Häuschens in Versailles lebte. 

Die Ursache dieses freudlosen Daseins lag in der Bindung an 
seine Mutter, die zu stark war, um die dauernde Übertragung seiner 
Gefühle auf eine andere Frau zu gestatten. Er war, wie die Dinge 
lagen, das einzige Kind, denn nach seinem vierten Jahre, in dem sein 
Vater starb, lebte er allein mit der Mutter. Selbst während der 
Lebenszeit des Vaters war die abnorm starke Zuneigung des Knaben 
für den anderen Elternteil ebenso unzweideutig, wie daß er im 
Vater seinen Rivalen sah. Dieser war wohl geeignet, die Rolle 
eines verhaßten Eindringlings zu spielen, denn er wird als rauh, 
befehlshaberisch und zornig geschildert. Daß auch er eifersüchtig war, 
zeigt die Feststellung, daß »die Zärtlichkeit, mit welcher der Knabe 
ihre Liebe erwiderte, durch den Verdacht, ja durch die Gewißheit 
vertieft worden war, daß der strenge Vater ihm seinen übermäßig 
großen Anteil an der Mutterliebe mißgönnte«. Nachdem er das Haus 
seiner Mutter verlassen hatte, geriet er, sowohl in London wie in 
Paris unter den Einfluß mehrerer Frauen, von denen jede an Jahren 
und Erfahrung alt genug war, um seine Mutter zu sein und denen 


1 Edward Bulwer, First Baron Lytton, of Knebworth. T. H. 
Escott. 





396 


John T. Mac Curdy 


er Achtung ebenso wie Neigung zollte. Seine Verliebtheit in sie 
war, wie man sagt, rein platonisch, aber in einem Fall rief seine 
Verehrung sehr viel Tratsch hervor. Mehr als gewöhnlich blieb der 
unaufhörliche Einfluß seiner Mutter dauernd manifest. Er untere 
drückte seine erste Erzählung, weil sie ihr mißfiel,* er nahm Geld 
an, von dem er wußte, daß es von ihr komme, selbst zu einer Zeit, 
wo er sich in Konflikt mit ihr befand,* er duldete es, daß durch ihre 
Einmischung seine erste »Backfischliebe» abgeschnitten wurde, indem 
sie ihn aus der Nachbarschaft, wo seine Braut lebte, entfernte,* ihre 
Gegnerschaft verzögerte erst seine Heirat und später machte ihre 
Kritik seiner Gattin den tiefsten Eindruck auf sein Gemüt und trug 
viel zu jener Disharmonie bei, welche die Scheidung veranlaßte,* 
schließlich, nach ihrem Tod gab er den Namen seines Vaters auf 
und behielt nur den seiner Mutter, Lytton. Sie war offenbar ein 
zur Herrscherin geborenes Weib, wohl geeignet, die infantile Theorie, 
nach der das Weib ebensolche Organe besitzt, wie der Knabe selbst, 
zu bestärken. Auch sein Weib, in das er sich auf den ersten Blick 
verliebte, spielte bei diesem Zusammentreffen den angreifenden Teil, 
indem sie ihn öffentlich lächerlich machte,* auch war sie sowohl der 
äußeren Erscheinung wie der Erfahrung nach älter als er. Seine 
Liebe zu ihr währte nicht lange und es ist recht wahrscheinlich, daß 
seine Heirat nur einen Versuch darstellte, sich aus den Banden, die 
ihn an die Mutter knüpften, zu lösen. Nach neun Jahren des bitter* 
sten häuslichen Kriegs trennte er sich von seiner Frau und lebte 
von da an nur der Freundschaft mit Männern. Da er so lange die 
masochistische Rolle im Verhältnis zu seiner Mutter gespielt hatte 
<das ist die passive sexuelle Rolle, der das Beherrschtwerden und 
selbst Grausamkeit willkommen ist), ist es nicht überraschend, 
daß er zuletzt zur psychischen Homosexualität neigte. In seiner 
Kleidung war er stets weibisch und er trug sein Haar noch lang, 
auch als dies nicht mehr Mode war. Sein Masochismus zeigte 
sich in seiner außerordentlichen Empfänglichkeit gegen Kritik, wäh* 
rend die ergänzende sadistische Strömung in der Schärfe seiner 
literarischen Angriffe manifest wird, sowie auch als Reaktionsbildung, 
in seinem Absdieu gegen die Jagd. In seiner Bemühung, das Be* 
gehren nach Zufügung von Schmerzen verdrängt zu erhalten, wurde 
er abnorm empfindlich gegen alles Leiden und äußerst mitleidig. 

Mit einer solchen Veranlagung wäre eine vollkommene An* 
passung an irgendeine Umgebung unmöglich gewesen, und das 
Glück, das er fand, bestand nur in einer Flucht in die Arbeit. Be* 
denken wir, daß der Mann, der »Das Volk der Zukunft« schrieb, 
außer seinen lebenslangen Leiden auch noch den Verlust der Ge* 
sundheit und die Aussicht auf den nahenden Tod zu ertragen hatte, 
so läßt sich nichts natürlicher erklären, als daß er auf jedem Weg, 
der mit geistiger Gesundheit vereinbar war, zu jener Zeit zurück* 
strebte, wo Phantasien Tatsachen waren, daß er den Tod seiner 
Schrecken beraubte und ihn mit Frieden und höchster Macht be* 




Die Allmacht der Gedanken und die Mutterleibsphantasie etc. 


397 


gabte. Dies waren die unbewußten Motive, die ihn zur Abfassung 
seiner Geschichte trieben. 

Keine tiefere Neigung kann bestehen, ohne daß nicht bewußt 
oder unbewußt ein Streben nach physischem Ausdruck wach wird. 
Zwischen Eltern und Kind jedoch schließt die Inzestschranke die Er¬ 
reichung dieses Zieles bei alten aus, die ein etwas höheres moralisches 
Niveau erreicht haben. Ein häufiges Resultat der hieraus folgenden 
Verdrängung der Inzestliebe ist die Verdrängung der Heterosexualität 
überhaupt. Der Geschlechtsverkehr wird an und für sich als Aus* 
Schweifung und Sünde betrachtet. In »Das Volk der Zukunft« finden 
wir daher, daß kein unerlaubter Geschlechtsverkehr stattfinde, und 
daß die Menschen dort kein Fleisch essen — eine symbolische Ver¬ 
drängung der fleischlichen Begierde. Der Autor fühlt sogar, daß in 
der leidenschaftlichen Elternliebe etwas unheiliges liege, denn er sagt, 
»die Neigung zum Nachwuchs nimmt die Gestalt von Mitleid und 
Zärtlichkeit gegen alles was Hilfe und Schutz bedarf an und äußert 
sich nicht als tierische Liebe gegen ihre Sprößlinge«. 

Für das Kind ist die Mutter eine allweise Beschützerin, 
mächtig und doch gütig,* sie wird, wie die Psychoanalytiker glauben, 
gleichzeitig männlich und weiblich vorgestellt und ist deshalb rätsel¬ 
haft und unverständlich. Wir finden nun alle Bewohner jenes seit* 
samen Landes bartlos, von übermenschlicher Statur <die Größe der 
Eltern, nach welcher die Riesen im Märchen geformt sind) und mit 
einem sphinxhaften Ausdruck im Antlitz. »Es schien, als ob eben 
in dieser Güte und Sanftmut das Geheimnis des Schreckens be* 
stünde, den die Gesichter erweckten.« Wer Freuds »Eine Kind* 
heitserinnerung des Leonardo da Vinci« kennt, wird verstehen, 
wie gut diese geheimnisvolle, bisexuelle Figur der klassischen 
Kunst und Mythe die Mutter*Imago vertritt. Erinnerungen an 
die mütterliche Zärtlichkeit werden durch folgende Episoden wieder* 
gegeben: Ein Kind lindert seine Schmerzen, indem es auf seine 
Stirne haucht, worauf es in eine ruhige Betäubung und schließ* 
lieh in Schlaf verfällt. Einer der Ana legte seine linke Hand auf 
seine Stirne und berührte seine Schulter mit dem VriLStab. 
Darauf — »an Stelle des früheren Schredcens nahm mich ein Ge* 
fühl der Zufriedenheit, der Freude, des Zutrauens in mich selbst 
und in das Wesen, das vor mir stand, ein.« Als Ärzte waren in 
diesem Lande nur Frauen tätig, insbesondere verwitwete und kinder* 
lose. Die Frauen waren alle feinfühliger und klüger, größer, stärker 
und vermochten den Vril besser zu beherrschen. Das Werben war 
ausschließlich auf ihrer Seite, weil die Natur der Frauen liebevoller 
ist. Das wenige, was die Geschichte an Handlung enthält, sind die 
Liebesangelegenheiten des Abenteurers. Er wird von zwei Frauen 

f ^eliebt,- die eine ist die imponierendste und weiseste unter allen 
ungfrauen ihres Stammes. Er erklärt keine Gegenliebe empfunden 
zu haben, aber durch das liebevolle Entgegenkommen eines weit 
schwächeren Geschöpfes, der Tochter des an der Spitze der Behör* 




398 


John T. Mac Curdy 


A f 

•fk 


den stehenden Mannes, wurde sein Herz gerührt. Diese zweite stellt 
wohl die Frau des Dichters dar, die nach der Geschichte die schwache 
Rivalin seiner geistig hervorragenden Mutter war. Die Inzestvor* 
Stellung der Verbindung mit irgendeiner aus diesem »Muttervolk« 
wird augenscheinlich rationalisiert durch das Verhalten des Stammes 
gegen eine Heirat mit dem Helden der Geschichte, die von ihnen 
als unerlaubte Artvermischung angesehen wurde. Die Unerreichbar* 
keit der Mutter wird durch die Eigenschaften der stärkeren der 
beiden Bewerberinnen ausgedrückt. Er fühlte, daß er sie wegen ihrer 
größeren sittlichen und intellektuellen Stärke nicht lieben könne. Der 
Vergleich trifft noch besser zu, wenn wir hören, daß sie ihn durch 
einen engen Spalt, den sie herstellen ließ, auf die Erde zurücksendet 
und seinem Entkommen mit Gefahr des eigenen Lebens behilflich 
ist. Beim Lebewohlsagen »küßte sie mich leidenschaftlich auf die 
Stirne, doch mit der Leidenschaft einer Mutter«. Er gibt schließlich 
<dem Leser) zu, daß er sie liebte und nach seiner Rückkehr auf die 
Oberwelt hinderte ihr stets vor seinen Augen stehendes Bild jede 
spätere Heirat. 

Wie es von einem Land, wo die Frauen die erste Rolle 
spielen, zu erwarten steht, bedeuten die Väter nicht viel und werden 
nicht oft erwähnt. Der Dichter beseitigt also auf negativem Wege 
seinen ersten Rivalen, indem er ihn als so gut wie nicht vorhanden 
behandelt. Die Anspielungen, die wir finden, sind rein symbolisch 
eingekleidet. Das Volk lebt in vollständiger Abwesenheit der Sonne 

— ein Phänomen, das eine so natürliche Konsequenz ihres unter* 
irdischen Lebens bildet, daß seine häufige Erwähnung auffallen muß. 
Einmal ist er Zeuge, wie ein kleiner Knabe auszieht, um einen 
Drachen <ein anderes archaisches Vatersymbol) zu töten, was eine 
ebenso naive Wunscherfüllung ist, wie sie in irgendeinem Märchen 
vorkommt. Von der Religion dieses Volkes wird mehreremale 
gesprochen. Sie glaubten an einen Gott, den sie den Allgott nannten 

— hielten aber seine Existenz für unzweifelhaft und ließen sich nie 
durch religiöse Fragen beunruhigen. Sie waren ethisch, aber ihre 
Ethik hatte mit dem Glauben an Gott nichts zu tun. Dies war, 
wenn wir seinem Biographen Glauben schenken dürfen, ganz genau 
die Überzeugung von Lord Lytton 1 . 


1 Die Sprache des Volkes war eine Kindersprache. Sie bestand aus ono* 
matopoetisdien Silben. Zwei davon können vom Standpunkt der Symbolik intern 
essieren. Pu war ein Prefix, das Ekel bedeutete — »eine Äußerung, bei welcher 
man den Athem mit Gewalt aus den Lippen stößt« (flatus). Der Buchstabe Z 
— ein Laut, der entsteht, wenn man den Athem einzieht — bezeichnet etwas, 
was anzieht und gefällt, vielleicht unter Beziehung auf fellatio. Es kann nicht über-' 
raschen, daß der Name des majestätischen Wesens, das so leidenschaftliche Liebe 
für ihn empfand, — Zee lautete. Die erste Berührung des Kindes mit der Mutter 
ist an ihrer Brust und Freud führt die Benützung des Mundes bei gewissen Per* 
Versionen auf die Fixierung des Säuglings an diese erogene Zone zurück, weil die 
Betätigung dieser Zone die höchste sexuelle Befriedigung gewährt. 





Die Allmacht der Gedanken und die Mutterleibsphantasie etc. 


399 


Für das Kind bedeutet die Familie die ganze Welt. Wir 
erfahren deshalb, daß in diesem Stamme die Regierung auf der Basis 
des Familienlebens gebildet und durchgeführt wurde. Sie empfanden 
eine tiefe Verachtung für die Demokratie, auf welche der Dichter 
mehrere Male zu sprechen kommt. Nun begann Bulwer Lytton 
sein öffentliches Leben als Whig und endete als enthusiastischer 
Konservativer. Mit anderen Worten, er ersehnte die Herrschaft 
der wenigen, begünstigten Familien — der englischen Aristokratie. 

Durch unsere psychoanalytische Erfahrung haben wir hin* 
reichende Zeugnisse dafür gewonnen, daß der Tod ein Symbol für 
die Rückkehr in den Mutterleib ist. Welches Zeugnis haben wir 
nun dafür, daß sich die Ana des Friedens des Todes erfreuten? 
Wieder und immer wieder wird die Ruhe dieses Volkes erwähnt. 
Infolge ihrer Allmacht hatte jeder Kampf aufgehört und ein Zustand 
sich entwickelt, der ganz genau der Vorstellung der Alten von dem 
Leben nachher gleicht: 

'O/Jßia ö’äjTavteg ciloa Ivöljzovov tsXsvxdv 
xai acbjjia fisv jtävrcov ijrerat ftavaTco jtegiodevsi 
gcoöv ö’eti Xefozevai aicovog eiöcokov. Tö ydg satt fiovov 
ix Oecov, evdei di jragaaaövtcov /uehecov, di rag svöovteaoiv iv 
jrokXotg öveigoig 

dsixvvoi Tsgjtvcov iy&gjioiaav yaXsjvtiv rexglotv. 1 <Pindar.) 

So verlief ihr Leben. Sie kannten nichts dergleichen wie Wett* 
bewerb, in welchem Sinne immer,- niemand war hilflos oder ver* 
lassen,- sie arbeiteten wenig und ohne Anstrengung, weshalb sollten 
sie auch? Nichts konnte den ruhigen Ernst ihres Lebens stören, da 
der bloße Wunsch des Schwächsten unter ihnen wunderbare Lei* 
stungen vollbringen oder ganze Armeen vernichten konnte. Sie sehen 
in den Kämpfen der Oberwelt nichts herrliches, sondern nur beein* 
trächtigte Klarheit des Urteils und nutzlose Bemühung. Noch mehr, 
sie fürchteten den Tod nicht, und Begräbnisse waren eine fröhliche 
Feier, bei welcher »die Begräbnishymne Geburtslied genannt wurde«. 
Sie behandelten den Tod als nichts anderes, als einen Eintritt in 
ein neues Leben. Das eben bedeutet der Tod für das unbewußte 
Seelenleben. Er ist nicht das Auslöschen der Persönlichkeit und die 
erbarmungslose Zerstörung lang gehegter Pläne. Er ist die Erfüllung 
eines stolzeren Traumes, als ihn unser Bewußtsein fassen kann, in 
unserem Zustand von Bedrängtheit durch die mitleidlosen Wirklich* 
keiten des Daseins. Doch wenn die melancholischen Jahre die Zeit 
heranbringen, wo »der Böse von seinen Taten abläßt und der Müde 

1 Das Schicksal löst am Schluß die Mühen aller 
Dem starken Tod folgt jeder Menschenleib 
Doch lebend bleibt des Daseins Widerbildnis, das allein 
Von Göttern stammt/ es schläft, von Nicht'gem frei, 

Doch zeigt es eingehüllt in seine Träume 
Der Lust Gefolgschaft und dem Leiden Deutung. 





400 


John T. Mac Curdy 


Ruhe findet« oder wenn sich Lytton von dem Gedränge der großen 
Welt abwendet, um in dieser Phantasie von einem neuem Leben 
zu schwelgen, dann entsteht der Wunsch zu jenem Zustand ruhiger 
Allmacht zurückzukehren, den sie einst im Leibe oder in den Armen 
der schützenden Mutter genossen, den Himmel wiederzufinden, den 
sie einst kannten. 

Diese kurze Skizze zeigt, was die Psychoanalyse für unser 
Verständnis mancher bisher ungelöster Probleme leisten kann. Wir 
lernen zuerst den Sinn gewisser Symbole kennen und wenn wir 
unsere Kenntnis auf die Mythen anwenden, vermögen wir ein* 
sehen, warum ihre Helden gewisse Eigenschaften haben, deren 
Existenz und Zuteilung sonst nur auf den Zufall zuruckgeführt 
werden könnte. Wir lernen auch verstehen, wieso die Verfassung 
einer phantasierten Erzählung das Innenleben des Dichters auszu* 
drücken und seinen unbewußten Begierden einen Ausweg zu schaffen 
vermag. Schließlich gewinnen wir Einblick in eines der Geheimnisse 
der Kunst. Wir lernen, woher es kommt, daß Mythen Jahrhunderte 
hindurch von Alt und Jung noch immer eifrig gelesen wurden, als 
schon Jahrhunderte seit ihrer ersten Niederschrift vergangen waren,* 
und wir können einige Einsicht in die Anziehungskraft gewinnen, 
die gewisse Werke auf uns alle üben — eine Anziehungskraft, die 
der gewöhnlichen intellektuellen Kritik spottet. Solche künstlerische 
Leistungen wirken auf uns, weil sie den Ausdruck von Wünschen 
darstellen, die im eigenen Unbewußten heimlich fortglimmen. Auch 
diese Arbeit hier ist so entstanden, daß der Verfasser sich veranlaßt 
sah, »Das Volk der Zukunft« zu lesen, um es zu erklären, warum 
ein sonst literarisch recht interesseloser Zwangsneurotiker davon einen 
so tiefen Eindruck erhalten hatte. Er konnte die Lächerlichkeit des 
Lebens und der Situation der »Ana« einsehen und doch konnte er 
sich nicht davon zurückhalten, mir fortwährend von dem Buch zu 
erzählen/ die Erinnerung daran verschaffte ihm offenbar eine große 
Befriedigung, wie ihr häufiges Auftauchen im Verlauf freier Asso* 
ziationen erkennen ließ. Er konnte aus dem Frieden und der Macht, 
die jenes Volk besaß, Lust gewinnen, weil er sich selbst in die Rolle 
der handelnden Personen einer Geschichte versetzte, die bloß aus der 
Phantasie entsprungen war. 






Die Psychopathologie der neuen Tänze 


401 


Die Psychopathologie der neuen Tänze. 

Von Dr. A. A. BRILL, NeW^ork 

Chef der psychiatrischen Klinik und klinischer Assistent am neurologischen Institut 
der Columbia Universität 1 . 

D a die augenblicklich herrschende Tanzmanie von Individuum 
auf Individuum übertragen worden ist und sich immer mehr 
ausbreitet, sind wir berechtigt, von einer psychischen Epidemie 
zu sprechen. Solche psychische Epidemien sind wohlbekannte Vor¬ 
kommnisse und treten häufig im Lauf der Geschichte auf. Für den 
Psychiater bedürfen sie keiner weiteren Erklärung. Wir haben alle 
Fälle von Folie ä deux beobachtet und können daher leicht verstehen, 
wie solche psychische Vorgänge von einem Individuum auf das 
andere übertragen werden können, bis ein Ort, bis ein ganzes Land 
davon ergriffen ist. 

Man denke z. B. an die verschiedenen Kreuzzüge ins Heilige 
Land und andere ähnliche religiöse und weltliche Bewegungen. Auch 
unsere heutige Tanzepidemie ist in der Geschichte nicht neu. Vor 
Jahrhunderten schon brachen in den verschiedenen Ländern Tanz¬ 
manien aus, und wenn sie auch nicht so verbreitet waren wie die 
heutige, so erregten sie doch ebensoviel, wenn nicht mehr Aufsehen. 
Und doch scheinen zwischen den alten Tanzmanien und der jetzigen 
Unterschiede zu bestehen. Erstens hatten die meisten alten Epide¬ 
mien einen religiösen Hintergrund. Man tanzte zur Ehre Gottes. 
Als Beispiele von wichtigeren Tanzepidemien will ich die von Aachen 
<1374) und Straßburg <1518) erwähnen. Bei der Straßburger konnten 
die Tänzer nur durch eine Wallfahrt zum Altar des St. Veit geheilt 
werden. Zweitens hatten die alten Epidemien schlimmere Folgen 
— viele Tänzer wurden zu Tode getrampelt, wenn sie vor Er^ 
Schöpfung niederfielen — und waren auf ein begrenztes Gebiet 
beschränkt. Die heutigen Tänze haben nichts mit Religion zu tun 
und sind an keinen Ort gebunden. Jeder, fast die ganze Welt, tanzt 
heute die neuen Tänze. 

Wir wollen jetzt diese über die ganze Erde verbreitete Be^ 
wegung, die vor zwei Jahren in den Vereinigten Staaten auf kam 
und sich wie ein Lauffeuer über die ganze Welt verbreitete, untere 
suchen. Wir kennen alle die Wichtigkeit, mit der sie in der Familie 
und in der Gesellschaft behandelt wird. Man kann ohne Übertreibung 
sagen, daß der größte Teil unserer Bevölkerung in zwei Klassen 
eingeteilt werden kann: in eine, die tanzt, und in eine, die mit Ver^ 
gnügen zusieht. Während die große Mehrzahl das Tanzen billigt, 
sind einige wenige dagegen. So haben sich gekrönte Häupter ver^ 
pflichtet gefühlt, Tanzverbote zu erlassen. Man kann die Bedeutung 


1 Nach einem Originalartikel im New York Medical Journal vom 
25. April 1914. 


Imago II1/4 


26 





402 


Dr. A. A. Brill 


der Tanzepidemie auch daran erkennen, daß Preßnachrichten zufolge 
sogar der Papst sich dagegen ausgesprochen und weniger tadelns* 
werten Ersatz angeboten hat, und daß die meisten Religionslehrer 
aller Kirchen das Tanzen scharf verurteilen. Doch die Epidemie 

f :ift weiter um sich und wird allem Anschein nach immer populärer. 

ohin man auch immer kommt, sei es in ein Restaurant oder in 
ein Privathaus, man kann sicher sein, zu jeder Tageszeit mit den 
wohlbekannten Melodien der neuen Tänze begrüßt zu werden. Neben 
den Thees dansants und dem nicht authörenden Tanzen am Abend 
und in der Nacht, gibt es in einigen Lokalen auch schon Dejeuners 
dansants. Eine Tatsache steht ganz zweifellos fest, daß die große 
Mehrzahl der Menschen, ob reich oder arm, die neuen Tänze tanzen 
will, allen Einwendungen zum Trotz. 

Was ist nun die Ursache und worin besteht die Bedeutung 
dieses psychischen Ausbruchs? Bevor wir diese Fragen beantworten 
wird es das beste sein zu hören, was einige bekannte Autoren 
über das Tanzen im allgemeinen zu sagen haben. Havelock Ellis, 
der dieses Gebiet am eingehendsten studiert hat, kommt zu dem 
Schluß, daß die alten Tänze nichts anderes waren als Kundgebungen 
des sexuellen Instinktes 1 . Er sagt: »Bei zivilisierten Völkern ist es 
<das Tanzen) nicht nur ein Anreiz zur Liebe, sondern sehr oft ein 
Ersatz für die normale Befriedigung des sexuellen Instinktes, indem 
es etwas von dem Wohlbehagen und von der Erleichterung nach 
dem Liebesgenuß gewährt. Man kann das besonders bei jungen 
Frauen beobachten, die oft eine große Summe von Energie beim 
Tanzen verausgaben, und sich dadurch keine Müdigkeit, sondern 
ein Gefühl des Glückes und der Befriedigung verschaffen. Es ist 
bezeichnend, daß junge Mädchen, wenn sie angefangen haben, mit 
Männern geschlechtlich zu verkehren, gewöhnlich sehr viel von ihrem 
Eifer beim Tanzen verlieren. Es ist interessant festzustellen, daß 
selbst unsere modernen Tänze alten Stils einen sexuellen Ursprung 
haben. So war der populärste aller Tänze, der Walzer, Ursprünge 
lieh <wie Schaller, von Groos zitiert, feststellt) »der Schluß eines 
komplizierten Tanzes, der die ganze Geschichte einer Liebe darstellt, 
mit dem Verfolgen und Entfliehen, dem neckischen Schmollen und 
Sichentziehen und der Apotheose der Hochzeit«. 

Eduard Fuchs 2 sagt, daß ebenso wie Gesang und Schmuck 
der Tanz ein erotischer Köder ist, und daß, ganz gleich in welcher 
Form, er immer etwas Erotisches ist, das in Rhythmen übertragen 
das Lieben, Werben, Zögern, Versprechen und endliche Nachgeben 
darstellt. In der Tat kommen alle Beobachter zu demselben Schluß 3 . 
Sie behaupten übereinstimmend, daß der Tanz einem sexuellen Zweck 
dient, nicht nur bei zivilisierten Menschen, sondern auch bei den 


1 Analysis of sexual impuls, p. 47. 

2 Illustrierte Sittengeschichte. 

3 Vgl. auch Scheuer, die Erotik im Tanze (Sexualprobleme, Januar 1911). 





Die Psychopathologie der neuen Tänze 


403 


primitiven Völkern, den höheren Tieren und Vögeln. Kurz gesagt, 
die allgemeine Auffassung geht dahin, daß der Zweck des Tanzes 
ist, einen Tumeszenzzustand herbeizuführen. Daß die neuen Tänze 
dasselbe Ziel haben, braucht kaum erwähnt zu werden, denn es ist 
wohlbekannt, daß die Haupteinwendungen gegen sie aus diesem 
Grunde gemacht werden. Die Gegner nennen sie indezent, ver¬ 
führerisch und sexuell erregend. Aber man darf nicht vergessen, daß 
auch der alte Walzer, als er zuerst aufkam, nicht weniger Gegner 
gefunden hatte. Er fand auch Widerstand, weil man ihn für unan^ 
ständig hielt und kein geringerer als Byron gab seinem Unwillen 
in folgenden Versen Ausdruck: 

Walzer, Walzer, wo Füße und Arme von Nöten, 

Hoch schwingt sie das Bein, und ohne zu erröten 

Läßt sie im Angesicht der Menge den Händen freies Spiel, 

Zu tasten, wo sie nimmer es gewagt — Licht aus, es ist zu viel. 

Die Einwendungen gegen die alten Tänze, oder gegen das 
Tanzen im allgemeinen, sind nie ganz verschwunden. Viele Religions¬ 
gemeinschaften haben immer gegen jede Form des Tarizes geeifert. 
Wenn man in Betracht zieht, was Ellis und die anderen sagen, so 
sind ihre Einwendungen verständlich. 

Und doch, wenn man den Walzer mit den neuen Tänzen 
vergleicht, so muß man zugeben, daß ein großer Unterschied zwischen 
ihnen besteht. Im Aussehen und in der Ausführung hat der »Tun* 
key Trott« etwas »Wildes« und »Aufregendes«, während der 
Walzer als schicklich und konventionell erscheint. Ich habe viele 
Tänzer, intelligente Leute, nach dem Unterschied zwischen den alten 
und neuen Tänzen gefragt, und ihre Antworten gaben im großen 
ganzen wieder, was ich weiter oben gesagt habe. Sie alle hielten 
die neuen Tänze mit der dazu gehörigen Musik für wild, anreizend 
und aufregend, und das war der einzige Grund, weshalb sie sie dem 
Walzer vorzogen. Solche Ausführungen scheinen sehr seltsam. Leben 
wir doch in einer sehr weit vorgeschrittenen Zeit und da geben 
gebildete und intelligente Menschen offen zu, daß sie »ganz ver¬ 
rückt« sind nach etwas, nur weil es primitiv ist. Ist das nicht ein 
Zeichen von Rückschritt? 

In der Absicht, mir darüber Klarheit zu verschaffen, besuchte 
ich einige Tanzlokale. Ich muß sagen, daß ich bald ein sehr inter¬ 
essierter Zuschauer wurde und ich überzeugte mich sehr bald, daß 
meine Freunde und Patienten recht hatten, wenn sie die Tänze als 
wild und aufregend bezeichneten. Aber ich sah noch etwas, das sie 
nicht ausgedrückt hatten, daß nämlich mit den neuen Tänzen mehr 
Muskelanstrengung, mehr Berührung und mehr Bewegung verbunden 
war. Mit anderen Worten, die neuen Tänze boten mehr Gelegen¬ 
heit zur Tumeszenz als die alten. Da stellte ich mir die Frage: ist das 
vielleicht die Ursache für die Beliebtheit der neuen Tänze? Und dem 
Satze folgend: »alles was existiert muß einen Grund haben zu 


26 * 




404 


Dr. A. A. Brill 


existieren«, fragte ich mich: befriedigt diese Epidemie, von der Tau- 
sende ergriffen sind, ein Bedürfnis? Es war nicht schwer zu dem 
Schluß zu kommen, daß die Tänze deutlich erotisch sind. Deshalb 
mußte es auch klar sein, daß die Natur dieser Gefühlsentladung 
erotisch war. Aber da die alten Tänze von derselben Art sind und 
demselben Zwecke dienen, so entstand die Frage, ob ein anderer 
Unterschied in der Reaktion zwischen den alten und neuen Tänzen 
besteht. Mit anderen Worten, ist es wahr, daß die neuen Tänze 
als stärkerer Anreiz für somatische sexuelle Gefühle wirken? 

Um diese Frage zu beantworten, entschloß ich mich folgende 
Fragebogen an einige hundert enthusiastische Tänzer zu versenden: 
1. Haben Sie sich, während Sie die neuen Tänze tanzten, jemals 
sexuell erregt? 2. Haben Sie sich jemals sexuell erregt, während 
Sie den neuen Tänzen zusahen? 3. Haben Sie jemals dieselben 
Gefühle gehabt, wenn Sie die alten Tänze tanzten oder ihnen zu* 
sahen? Ich legte diese Fragen meinen Freunden und Patienten vor, 
und bat sie, diese Auskünfte für mich von ihren intimen Freunden, 
bei denen man sich darauf verlassen konnte, daß sie die Wahrheit 
sagten, zu sammeln. Nach einigen Monaten hatte ich von 342 Per^ 
sonen Antwort, von 119 Frauen und 223 Männern. Von diesen 
beantworteten 14 Männer und 8 Frauen die erste Frage mit ja, 
16 Männer und 9 Frauen die zweite mit ja und 11 Männer und 
6 Frauen gaben auf die dritte Frage eine bejahende Antwort. Die 
16 Männer und 9 Frauen, die die zweite Frage bejahend beant^ 
wertet hatten, hatten auch die erste und dritte in diesem Sinne 
beantwortet. Das heißt, nur 16 Männer und 9 Frauen wurden beim 
Tanzen oder Ansehen der neuen Tänze sexuell erregt und von 
diesen 25 erging es 9 Männern und 6 Frauen bei den alten Tänzen 
ebenso. Sechs dieser Männer und alle die Frauen kenne ich persön^ 
lieh und weiß, daß sie sexuell sehr hyperästhetisch sind. Drei von 
den Männern werden auch stark sexuell erregt, wenn sie Automobil 
fahren, Radeln oder Reiten. Die anderen gehören zu der Klasse von 
Leuten, die an schmutzigen Witzen und pornographischer Literatur 
ihre Freude haben. Fünf Frauen standen im Alter von 35 bis 
43 Jahren und waren aus verschiedenen Gründen plötzlich ohne 
jede sexuelle Befriedigung. Mit anderen Worten: soweit man aus 
den gesammelten Antworten schließen darf, kann man nicht sagen, 
daß die neuen Tänze mehr geeignet sind, sexuelle Erregungen 
herbeizuführen als die alten, wobei wir unter sexueller Erregung 
somatisch sexuelle Äußerungen verstehen wollen. Was die ästhe^ 
tischen Gefühle betrifft, so wirken auf diese die neuen Tänze 
stärker und anregender, darüber sind sich fast alle meine Gewährs¬ 
männer einig. 

Es ist interessant festzustellen, daß die Zuschauer den größten 
Prozentsatz von denjenigen stellten, die grobe sexuelle Gefühle 
hatten. Selbst wenn wir uns auf die normalen Personen beschränken, 
müssen wir zugeben, daß das Zuschauen beim Tanzen Vergnügen 




Die Psychopathologie der neuen Tänze 


405 


macht. So sagt Havelock Ellis 1 : »Nicht nur das Tanzen selbst 
ist aufregend, sondern schon das bloße Zusehen, und selbst bei den 
Wilden haben die Tänze ein Publikum, das beinahe ebenso leiden* 
schaftlich erregt wird, wie die Tänzer selbst.« Diese Bemerkung 
trifft besonders auf die neuen Tänze zu, die durch ihre Neuheit 
und durch ihre auf das Sexuelle anspielenden Bewegungen immer 
eine gewisse Erregung bei den Zuschauern hervorrufen. Und wäh¬ 
rend die Anstrengung beim Tanzen beim Tänzer einen gewissen 
Grad von Detumeszenz hervorruft, bleibt der bloße Zuschauer in 
einem Stadium der Appetenz (Begierde), der bei hyperästhetischen 
Leuten leicht zu somatisch sexuellen Gefühlen führen kann. Dafür 
spricht auch die Tatsache, daß die meisten, die gegen die neuen 
Tänze sind, denselben nur zugesehen und sie nie selbst getanzt 
haben. Das Zusehen erzeugt ein Quantum von sexuellen Gefühlen, 
das sogleich verdrängt wird, und durch einen »Abwehrmechanismus« 
entsteht aus ihnen ein starker Ausbruch der Entrüstung. Das ist 
natürlich ein unbewußter Vorgang. Er erklärt solche Fälle, wie den 
meines Freundes S., der im vorigen Jahre gegen die neuen Tänze 
wetterte, weil er sie für unzüchtig und indezent hielt und die Tat¬ 
sache beklagte, daß einige seiner Freunde sie tanzten. Während der 
Sommerferien bekam er auch das »Fieber« und wurde ein enthu* 
siastischer Tänzer. Er versicherte mir, daß er trotz aller darauf 
zielenden Anspielungen niemals während des Tanzes sich irgend* 
welcher sexueller Gefühle bewußt wäre. In der Tat empfinden die 
meisten Tänzer nur ein Gefühl der inneren Heiterkeit und des Wohl¬ 
behagens. Mit Ausnahme der oben erwähnten ist mir in allen Ant* 
Worten, die ich von Frauen bekommen habe, versichert worden, daß 
sie trotz aller anzüglichen Bemerkungen, die sie über die neuen 
Tänze gehört haben, sich beim Tanzen nie eines sexuellen Gefühls 
bewußt gewesen wären. Ich muß hinzufügen, daß alle, von denen 
ich die hier benützten Angaben erhalten habe, gebildete Leute sind. 
Ganz zweifellos bietet die engere Berührung bei diesen Tänzen 
denen eine günstige Gelegenheit, die überall etwas Geschlechtliches 
suchen. So berichteten mir einige meiner Patienten, daß ihnen durch 
gewisse Bewegungen ihres Partners beim Tanzen somatische sexuelle 
Gefühle auf seiner Seite zum Bewußtsein gekommen seien. Aber 
das kann Vorkommen und ist zweifellos auch schon vorgekommen, 
bevor die neuen Tänze bestanden. Kurz, die Frage, ob die neuen 
Tänze den Reiz für starke sinnliche Gefühle bieten, kann mit aller 
Entschiedenheit verneint werden. Trotz anzüglicher Bemerkungen 
und Anspielungen kommen da nur sexuell ganz abnorme Personen 
in Frage oder solche Leute, die mit Vorbedacht starke sexuelle Er* 
regungen beim Tanzen suchen. 

Wenn wir den Mechanismus des Tanzes weiter untersuchen, 
so finden wir, daß er im Grunde nichts anderes ist, als eine Be* 


1 Loco citato, p. 49. 





406 


Dr. A. A. Brill 


wegung in bestimmter Form. So spricht Stoll 1 vom Tanze als von 
einer rhythmischen Bewegung des Körpers, die unter Begleitung von 
einigen Takten Musik ausgeführt wird und dazu dient, gewisse 
Affekte und Seelenzustände in mehr oder weniger konventioneller 
Form auszudrüdcen. Aber es ist eine bekannte Tatsache, daß Be* 
wegung in jeder Form Vergnügen schafft. Das Kind liebt es, mit 
den Beinen zu strampeln und die Arme zu bewegen, und wenn es 
einmal in den Schlaf gewiegt wird, so wird es gutwillig auf dieses Ver* 
gnügen nicht verzichten. Kinder lieben alle Spiele, die mit einer 
Bewegung verbunden sind, wie das Hochgehobenwerden und 
Herumschwingen in der Luft,* das Schütteln beim Reiten hat auf 
ältere Kinder einen bedeutenden Einfluß 2 . Daß Bewegung mit dem 
Geschlechtsleben zu tun hat und sogar oft mit starken sexuellen 
Gefühlen verbunden sein kann, ist den Forschern anormaler Psycho¬ 
logie wohl bekannt. Die Psychoanalyse zeigt oft, daß bei Neurasthe* 
nikern diese kindlichen Vergnügen häufig verdrängt und ins Gegen* 
teil »verkehrt« werden und wir finden dann Nausea als Reaktion 
auf das Schaukeln und Rollen. Außerdem zeigen Analysen von 
nervösen Störungen beim Gehen — wie Agoraphobie — die 
sexuelle Natur der Freude an der Bewegung 3 . Ich habe viele Fälle 
analysiert, die diese Mechanismen ganz deutlich zeigten. Wir können 
also sagen, daß die Freude an der Bewegung eine auto*erotische 
sexuelle Äußerung ist, und da die Bewegung die Grundlage des 
Tanzes ist, so können wir leicht einsehen, warum sämtliche Be* 
obachter das sexuelle Element bei allen Formen des Tanzes klar 
erkennen. Wir können nun die Bedeutung des Tanzes im allge* 
meinen und die der neuen Tänze im besonderen verstehen. Beide 
dienen sie zur Abfuhr einer sexuellen Spannung und unterscheiden 
sich nur in ihrer mehr oder weniger starken Wirkung. Infolge der 
engeren Berührung und der größeren Muskelanstrengung bieten die 
neuen Tänze einen besseren Ersatz für die normale Befriedigung 
des sexuellen Instinktes und gewähren so mehr Vergnügen und 
mehr das Gefühl befriedigter Liebe als die alten Tänze. Das bringt 
uns auf die Ursache dieser psychischen Epidemie. 

Dank dem Genie von Freud sind wir heute in der Lage 
festzustellen, daß abnormale Erscheinungen, sei es in der Form 
einer Neurose oder Psychose, alle das Resultat von einer früheren 
geistigen und gemütlichen Verdrängung sind. Die Ursachen der 
psychischen Epidemien zeigen einen ähnlichen Mechanismus. So 
waren die Tanzepidemien im zwölften und dreizehnten Jahrhundert 
das Ergebnis der Tyrannei der Feudalherren und der Kirche, die 
das Volk lange Zeit in einem unterdrückten und elenden Zustande 

1 Das Geschlechtsleben in der Völkerpsychologie, p. 581. 

5 Freud, Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie, p. 54. 

3 Loco citato, p. 55, und Abraham, Über eine konstitutionelle Grund* 
läge der lokomotorisdien Angst. (Internat. Ztschr. f. ärztl. Psychoanalyse, 
II. Jahrg., 1914.) 





Die Psychopathologie der neuen Tänze 


407 


belassen und ihm keine Gelegenheit gegeben hatten, seinen Gefühlen 
irgendwelchen Ausdruck zu verschaffen. Unsere gegenwärtige Tanz¬ 
epidemie ist im Grunde durch ähnliche Ursachen bedingt. Sie ist 
auch das Resultat von unterdrückten Gefühlen und aus der Art, 
wie sie sich äußert, muß man schließen, daß es eine sexuelle Ver* 
drängung war, die nun durchgebrochen ist. Puritanische Prüderie 
und angelsächsische Heuchelei haben Jahrhunderte hindurch die Rolle 
des Vogels Strauß gespielt und sich geweigert, das Bestehen eines 
Sexualtriebes anzuerkennen. Unwissenheit wurde mit Unschuld ver* 
wechselt, und die wichtigsten Funktionen des menschlichen Körpers 
wurden nicht nur ignoriert, sondern unerbittlich unterdrückt. Schon 
der Gedanke an etwas Sexuelles wurde als etwas Teuflisches und 
Widerliches betrachtet. Bis zu einem gewissen Maße trifft dies auch 
auf das kontinentale Europa zu, doch ging es dort nie so weit, 
wie hier und in England. Deswegen werden auch in Europa die 
neuen Tänze viel langsamer aufgenommen. Die Frauen sind die 
eifrigsten Tänzer, denn sie haben die schwerste Last unseres 
Systems kultureller Entwicklung zu tragen. Die doppelte Auffassung 
von Moral erlaubt den Männern gewisse Befriedigung, während 
man die Tugend der Frauen so behandelt, wie der törichte Bauer 
seinen wertvollen Pelz auf dem Markte: Er war nicht mit dem 
hohen Preis zufrieden, den ihm die Händler boten, weil er dachte, 
er könne mehr verdienen, wenn er die Haare aus dem Felle heraus* 
risse und sie einzeln verkaufe. Das unausgesetzte Fortschreiten 
der angelsächsischen Zivilisation mit seinen verwickelten ökonomi* 
sehen Problemen findet seinen Ausdruck in einer ständigen Zunahme 
an frigiden Frauen und »alten Jungfern«. Nicht nur aaß die »Sub* 
limation« bis zu einem sehr hohen Grade geführt wird, die Frauen 
werden auch gezwungen, akademische und andere Berufe zu ergreifen, 
um mit den Männern zu konkurrieren. Die Religion, das Auslaß* 
ventil par excellence für alle Frauen, verschwindet rapid. Es gibt in 
Amerika und England beinahe ebenso viele irreligiöse Frauen als 
Männer. Abnehmen der Religiosität bedeutet ein Zunehmen der 
Nervosität. Diese Ursachen haben schon eine lange Zeit gewirkt 
und da ein Ausgleich eintreten mußte, so bescherte uns England 
mit den Suffragetten und Amerika mit den neuen Tänzen. Beide 
haben ihren Ursprung im Gefühls* und Wirtschaftsleben, aber 
beide dienen einem guten Zweck. Die Suffragetten und die Tanz* 
epidemien bedeuten für das Geschlechtsleben dasselbe, wie die 
Horminga brava <Feuerameise> für den Baumwollwurm <Boll 
Weevil). Die erstere mag an sich nicht wünschenswert sein, muß 
aber gepflegt werden, um ein größeres Übel zu zerstören. Suffra* 
getten und die neuen Tänze, beide sind Kompromißbildungen, die 
hervorgebracht werden durch zwei entgegengesetzte Ströme: Wunsch 
und Unterdrüdcung, und sie dienen als Sicherheitsventil für eine 
unterdrückte Spannung. Im kontinentalen Europa, wo man nicht so 
viel Prüderie findet und die Frauen nicht zwingt Männer zu sein. 




408 


Dr. A. A. Brill 


kann man beides entbehren. Dort gewinnen die neuen Tänze nur 
langsam Boden, und erst vor wenigen Tagen wurde in Deutschland 
eine Frau wegen Beleidigung verurteilt, weil sie eine andere 
»Suffragette« genannt hatte. Hier sind die neuen Tänze ein Ersatz 
für die normale Befriedigung des sexuellen Instinktes in der Form 
der Freude an der Bewegung, sie sind in gewisser Weise mit dem 
Sport zu vergleichen, der in angelsächsischen Ländern soviel ange^ 
wandt wird, um die Jugend von sexueller Betätigung fern zu halten, 
und mit den charakteristischen Vergnügungen in unseren Sommer^ 
frischen. Alles das dient dazu, das sexuelle Vergnügen durch die 
Freude an der Bewegung zu ersetzen und die sexuelle Tätigkeit 
auf eine infantile Stufe herunterzudrücken. 

Von diesem Standpunkt aus müssen die neuen Tänze als 
nützlich für unser herrschendes gesellschaftliches System betrachtet 
werden. In der Tat habe ich erst in der letzten Zeit etwa zwölf 
Fälle von nervösen Erkrankungen gesehen, denen durch die neuen 
Tänze sehr geholfen worden ist. So kann ich über eine sehr hypo¬ 
chondrische Frau in mittlerem Alter berichten, die Jahre hindurch 
sich viermal die Woche massieren ließ, und zwar mit sehr wenig 
Erfolg. Sie tanzt jetzt statt dessen ebenso oft mit großem Nutzen 
und viel Vergnügen. Ferner kenne ich zwei verschlossene und 
schüchterne Personen, die durch die neuen Tänze völlig verändert 
sind. Sie fürchten sich nicht mehr mit dem anderen Geschlecht 
zusammenzukommen und denken ernstlich ans Heiraten. Ebenso 
hörte ich von einer jungen Witwe, die an deutlichen Angstzuständen 
mit Phobien litt und die durch den Besuch eines Tanzzirkels sehr 
gebessert wurde. Ich könnte aus meinen und anderen Beobachtungen 
noch mehr solcher Fälle anführen. Mäßiges Tanzen nach dem alten 
oder neuen Stil kann nur gutes tun und man sollte es empfehlen. 
Ich stimme mit denen durchaus nicht überein, die behaupten, daß 
es schädlich ist, die Sexualität zu erwecken usw. Meine eigenen 
Erfahrungen <ich tanze nicht) zeigen mir gerade das Gegenteil. Die 
neuen Tänze bieten Tausenden eine gute körperliche Übung und 
ein Vergnügen und dienen außerdem als ausgezeichnete »Sub^ 
limation«. 

Die Moralprediger aber und die übrigen, die anders über das 
neue Tanzen denken, sollen beherzigen, was Lucian sagt: »Quid^ 
quid multis peccatur, inultum est.« 




Inhalt des vierten Heftes. 

Dr. LUDWIG JEKELS <Wien>: Der Wendepunkt im Leben Napoleons I. 
JOHN T. MAC CURDY <Wards Island, New-York): Die Allmacht 
der Gedanken und die Mutterleibsphantasie in den Mythen von 
Hephästos und einem Roman von Bulwer Lytton. 

Dr. A. A. BRILL <New*York>: Die Psychopathologie der neuen Tänze. 


Nachdruck verboten. 




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HUGO HELLER, WIEN I„ BAUERNMARKT NR. 3 


Zur Subskription ist gestellt: 

SIGMUND FREUD. 


Portraitradierung von MAX POLLAK. 

Plattengröße 4772:47V 2 cm, Papiergröße 85:63 cm. 

Es werden insgesamt nur 50 Exemplare von der Kupferplatte gezogen, und zwar 
Nr. 1—25 auf kaiserlich Japan, Nr. 26—50 auf van Geldern-Bütten. 

Jedes Blatt ist vom Künstler handschriftlich signiert und numeriert. 

Der Subskriptionspreis beträgt für die Abzüge auf kais. Japan 100 K = 85 M. 

für die Abzüge auf van Geldern-Bütten 60 K = 50 M. 

Ein ausgezeichnetes Porträt und hervorragendes Kunstwerk, das auch losgelöst 
vom gegenständlichen Interesse besteht und fesselt, bietet hier der treffliche Wiener Ra¬ 
dierer den Sammlern und Kunstfreunden. Die Aufgabe des künstlerischen Porträtisten, 
den geistigen Gehalt einer Persönlichkeit auszuschöpfen und sichtbar zu machen, ist in 
diesem Kunstblatte nahezu restlos gelöst. 

»■■■flaBBBaaauBaHBHaaBaflaBaorBBKarB3H0aaMBBaaaHBBHaaBavB»B!iBaaHanMaH«HBBaaaBzaBBaaaaaua0aasaaa 


BUCHDRUCKEREI CARL FROMME, GES. M. B. H., IN WIEN. 












Inhalt des vierten Heltes. 

Dr. LUDWIG JEKELS <Wien>: Der Wendepunkt im Leben Napoleons I. 
JOHN T. MAC CURDY <Wards Island, New-York): Die Allmacht 
der Gedanken und die Mutterleibsphantasie in den Mythen von 
Hephästos und einem Roman von Bulwer Lytton. 

Dr. A. A. BRILL <New*York>: Die Psychopathologie der neuen Tänze. 


Nadidruck verboten. 


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Zur Subskription ist gestellt: 

SIGMUND FREUD, 

Portraitradierung von MAX POLLAK. 

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Es werden insgesamt nur 50 Exemplare von der Kupferplatte gezogen, und zwar 
Nr. 1—25 auf kaiserlich Japan, Nr. 26—50 auf van Geldern«Bütten. 

Jedes Blatt ist vom Künstler handschriftlich signiert und numeriert. 

Der Subskriptionspreis beträgt für die Abzüge auf kais. Japan 100 K = 85 M. 

für die Abzüge auf van Geldern-Bütten 60 K = 50 M. 

Ein ausgezeichnetes Porträt und hervorragendes Kunstwerk, das auch losgelöst 
vom gegenständlichen Interesse besteht und fesselt, bietet hier der treffliche Wiener Ra« 
dierer den Sammlern und Kunstfreunden. Die Aufgabe des künstlerischen Porträtisten, 
den geistigen Gehalt einer Persönlichkeit auszuschöpfen und sichtbar zü machen, ist in 
diesem Kunstblatte nahezu restlos gelöst. 


BUCHDRUCKEREI CARL FROMME, GES. M. B. H„ IN WIEN.