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Full text of "Imago. Zeitschrift für Anwendung der Psychoanalyse auf die Geisteswissenschaften III 1914 Heft 2 April"

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ZEITSCHRIFT FÜR ANWENDUNa 
DEB. PSYCHOANALYSE AUF DIE 
OEISTESWISSENSCHAFTEN 


HERAUSGEGEBEN VON 

PROF. DSSIGM.FREUD 

REDIGIERT VON 

nrOTTO RANK aOr HANNS SACHS 

DI. JAHRGANG / 1914 
HEFT 2 / / / APRIL 



1914 

HUGO HELLER 

LEIPZIG U.W1EN I BAUERNMARKT5 




'T’^er Erfolg des zweiten Jahrgangs hat uns aufs neue des Interesses Jener versidiert, 
an die si'di die Zeitschrift zunächst wandte^ nicht minder aber die Hoffnung bestätigt, 
daß auch weitere Kreise an den Problemen und Ergebnissen unserer jungen Wissen^ 
Schaft Anteil nehmen werden/ endlich hat uns die rege Mitarbeit der Vertreter verschiedener 
Fachgebiete das Bewußtsein gegeben, daß unser Unternehmen auch imstande war, der Aa^ 
regung geistiger Produktionstätigkeit zu dienen. 

Die reiche und vielseitige Arbeit des abgefaufenen Jahrgangs zeigt die Inhaltsüber^ 
sicht und wir dürfen hoffen, mit der Festhaftung und Ausgestaltung unseres Programms 
auch unseren Erfolg sichern und steigern zu können. 

Soweit es durchführbar ist, sollen alle jene Zweige der Geisteswissenschaften, für 
die die Psychoanalyse Bedeutung gewonnen hat, zu Wort kommen/ auch soll weiterhin 
neben Sonderprobfemen der Individualpsychologie besonders die Völkerpsychologie einen 
breiten Raum einnehmen, die ja am deutlichsten den Wert und die Fruchtbarkeit der am 
Einzelnen gewonnenen Seelenkenntnis erweist. 


Für die REDAKTION bestimmte Zuschriften und Sendungen wollen an 
Dr. HANNS SACHS,Wien XIX/l, Peter-Jordangasse 76 adressiert werden. 


»IMAGO« erscheint SECHSMAL jährlich im Gesamtumfang von 
etwa 36 Bogen und kann für M. 15.— = K 18.— pro Jahrgang durch 
jede gute Buchhandlung sowie direkt vom Verlage HUGO HELLER 
® CIE. in Wien I., Bauernmarkt 3 abonniert werden. Einzelne Hefte 
werden nicht abgegeben. 

Auch wird ein GEMEINSAMES ABONNEMENT auf »IMA¬ 
GO« und die »INTERNATIONALE ZEITSCHRIFT FÜR ÄRZT¬ 
LICHE PSyCHOANALySE« zum ermäßigten Gesamtjahrespreis von 
Mk. 30.— = Ä* 36.— eröffnet. 

Die wenigen noch verfügbaren Exemplare des abgeschlossenen 
II. Jahrgangs »IMAGO« werden im Preise erhöht, so daß der komplette 
II. Jahrgang nunmehr M. 18.— = K 21.60, gebunden M. 22.50 = K 27.— 
kostet. Auch vom ersten Jahrgange sind noch einige wenige Exemplare 
zu diesem Preise verfügbar. 

ORIGINAL - EINBANDDECKEN mit Lederrücken sind zum 
Preise von M. 3.— = K 3.60 durch jede gute Buchhandlung, sowie 
direkt vom Verlage zu beziehen. 


Copyright 1914. HUGO HELLER ® CIE., Wien I., Ba uernm arkt 3. 




IMAGO 

ZEITSCHRIFT FÜR ANWENDUNG DER PSYCHO- 
ANALYSE AUF DIE GEISTESWISSENSCHAFTEN 

HERAUSGEGEBEN VON PROF. DR. SIGM. FREUD 

SCHRIFTLEITUNG: 

III. 2. DR. OTTO RANK / DR. HANNS SACHS 1914 


Der Doppelgänger. 

Von Dr. OTTO RANK. 


Partout oü j'ai voulu dormir. 

Partout oü j"ai voulu mourir. 
Partout oü j'ai touche la terre, 

Sur ma route est venu s'asseoir 
Un malheureux vetu de noir, 

Qui me ressemblait comme un frere. 


D ie Psychoanalyse, die auf Grund ihrer Methodik gewohnt ist, 
jeweils von der aktuellen psychischen Oberfläche ausgehend, 
tieferliegendes und bedeutsames seelisches Erleben aufzu¬ 
decken, hat am wenigsten Anlaß, einen zufälligen und banalen Aus¬ 
gangspunkt zur Aufrollung weiterreichender psydiologischer Probleme 
zu scheuen. Es soll uns also nidit weiter stören, wenn wir die 
Entwidrlungs* und Bedeutungsgesdiiditc einer altüberlieferten Volks» 
Vorstellung, die phantasievolle und grüblerische Dichter auch zur 
Darstellung reizte, von einem »romantischen Drama« zurück ver» 
folgen, welches vor kurzem die Runde durch unsere Kinotheater 
gemacht hat. Das literarische Gewissen mag sich damit beruhigen, 
daß auch der Verfasser dieses rasch populär geworcienen Stückes 
»Der Student von Prag« ein Dichter von Ruf ist und daß er 
sich an hervorragende, in der Wirkung bewährte VorHlder gehalten 
hat/ andere Becienken gegen den innerlichen Gehalt eines so sehr 
auf äußerliche Wirkungen angewiesenen Schaustückes wollen wir so 
lange beiseite schieben, bis sich gezeigt hat, in welchem Sinne ein 
auf uralter Volksüberlieferung basierter Stoff von eminent psycho» 
logischem Gehalt durch die Anforderungen neuer Darstellungsmittel 
verändert wird. Vielleicht ergibt sich, daß die in mehrfacher Hinsicht 
an die Traumtechnik gemahnende Kinodarstellung auch gewisse psycho» 
logische Tatbestände und Beziehungen, die der Dichter oft nicht in 


Imago III/2 




INTERNATIONAL 
PSYCHOANALYTIC 
UNIVERSITY BERLIN 




Otto Rank 


klare Worte fassen kann, in einer deutlichen und sinnfälligen Bilder^ 
spräche zum Ausdruck brin^ und uns dadurch den Zugang zu 
ihrem Verständnis erleichtert. Zumal wir aus ähnlichen Untersuchungen 
erfahren haben, daß es oft einem modernen Bearbeiter gelingt, dem 
eigentlichen Sinn eines uralten und im Laufe der Überlieferung un¬ 
verständlich gewordenen oder mißverstandenen Stoffes auf intuitivem 
Wege wieder näherzukommen. 

Versuchen wir zunächst, die schattenhaft flüchtigen, aber ein¬ 
drucksvollen Bilder des von Hans Heinz Ewers stammenden Film^ 
dramas festzuhalten: 

Balduin, Prags flottester Student und bester Fechter, hat sein ganzes 
Geld vertan und ist seines wüsten Treibens überdrüssig. Mißmutig wendet 
er sich von seinen Kumpanen und ihren Vergnügungen mit der Tänzerin 
Lyduschka ab. Da naht sich ihm ein unheimlicher Alter und bietet ihm 
Hilfe an. Im Gespräch mit diesem sonderbaren Abenteurer, Scapinelli, durch 
den Wald lustwandelnd, wird Balduin Zeuge eines Jagdunfalles der jungen 
Komtesse von Schwarzenberg, die er aus dem Wasser rettet. Er wird aufs 
Schloß eingeladen und trifft dort mit dem Bräutigam und Vetter der Kom^ 
tesse, Baron Waldis-Schwarzenberg zusammen. Obwohl er sich unbeholfen 
benimmt und beschämt abziehen muß, hat er auf die Komtesse solchen 
Eindruck gemacht, daß sie ihren Verlobten von da an kühl zurückweist. 

Auf seiner Bude übt Balduin vor dem großen Spiegel Fechter^ 
Stellungen,* dann versinkt er in trübes Nachdenken über seine mißliche 
Lage. Da erscheint Scapinelli und bietet ihm ein Vermögen an gegen Untere 
Zeichnung eines Kontraktes, der ihm gestatte, aus Balduins Zimmer mit¬ 
zunehmen, was ihm beliebe. Balduin weist lachend auf die kahlen Wände 
und die primitive Einrichtung und unterzeichnet fröhlich den Schein. Scapi^ 
nelli sieht sich suchend im Zimmer um und findet anscheinend nichts was ihm 
entspricht, bis er endlich auf Balduins Spiegelbild weist. Dieser geht willig 
auf den vermeintlichen Sdierz ein, erstarrt aber vor Staunen beim Anblick 
seines zweiten Selbst, das sich vom Spiegel loslöst und dem Alten durdi 
die Türe und auf die Straße hinaus folgt. t 

Als vornehmer Herr hat der ehemalige arme Student Zutritt in Kreise 
erlangt, wo er die verehrte Komtesse wiedersieht. Bei einem Ball hat er 
Gelegenheit, ihr auf der Schloßterrasse seine Liebe zu gestehen. Das Mond^ 
Scheinidyll wird aber durch Dazwischentreten des Bräutigams gestört und 
von Lyduschka belauscht, die Balduin bald als Blumenmädchen in den Weg 
tritt, bald ihm auf halsbrecherischen Wegen unablässig folgt. Aus den süßen 
Gedanken an den ersten Erfolg seiner Liebeswerbung wird Balduin jäh 
durch die Erscheinung seines Spiegelbildes gerissen, das an eine Säule gelehnt 
auf der Brüstung der Veranda auftaucht. Er glaubt seinen Augen nicht zu 
trauen und wird erst durch die herannahenden Freunde aus seinem Dämmer^ 
zustand gerissen. Bei der Abfahrt steckt Balduin der Komtesse in ihrem 
vorhin fallen gelassenen ^ Taschentuch einen Zettel zu, auf dem er 
sie bittet, in der nächsten Nacht auf den Judenfriedhof zu kommen. Ly¬ 
duschka schleicht der Komtesse bis in ihr Zimmer nach, um den Inhalt des 
Zettels zu erfahren, findet aber nur das Taschentuch und Balduins Kra^ 
Wattennadel, die ihm als Briefverschluß gedient hatte. 

Am nächsten Abend eilt die Prinzessin zum Stelldichein,* Lyduschka, 
die sie zufällig erblickt, folgt ihr wie ein Schatten, Auf dem einsamen 




Der Doppelgänger 


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Friedhof wandeln die Liebenden in herrlicher Mondnacht. Auf einer kleinen 
Anhöhe machen sie Halt und eben ist Balduin im Begriffe, die Geliebte 
zum erstenmal zu küssen, als er entsetzt innehält und auf seinen DoppeU 
ganger starrt, der sich plötzlich hinter einem der Grabsteine gezeigt hat. 
Während Komtesse Margit, von der unheimlichen Erscheinung erschreckt, 
die Flucht ergreift, sucht Balduin vergebens, seines ebenso plötzlich ver^ 
schwundenen Ebenbildes habhaft zu werden. 

Inzwischen hat Lyduschka das Taschentuch Margits mit Balduins 
Busennadel dem Verlobten der Komtesse überbracht, der beschließt, Balduin 
auf Säbel zu fordern. Da er aller Warnungen vor- Balduins Fechtkunst 
nicht achtet, entschließt sich der alte Graf Schwarzenberg, der Balduin schon 
für die Rettung seiner Tochter verpflichtet ist, um Schonung seines künftigen 
Schwiegersohnes und einzigen Erben zu bitten. Nach einigem Widerstreben 
läßt sidi Balduin das Wort abnehmen, seinen Gegner nicht zu töten. Auf 
dem Wege zum Duell kommt ihm aber im Wald sein früheres Ich mit dem 
blutigen Schläger entgegen und wischt ihn blank. Ehe Balduin noch an den 
Ort des Duells kommt, sieht er von Ferne, daß sein anderes Ich den Gegner 
bereits getötet hatte. 

Seine Verzweiflung wächst noch, als er von da an im Hause des 
Grafen nicht mehr vorgelassen wird. Vergebens sucht er seine Liebe beim 
Wein zu vergessen; beim Kartenspiel sieht er sich seinem Doppelgänger 
gegenüber; Lyduschka lockt ihn ohne Erfolg. Er muß die Geliebte wieder^ 
sehen und schleicht bei Nacht ^ auf demselben Wege wie früher schon 
Lyduschka — in das Zimmer Margits, die ihn noch nicht vergessen hat. 
Er wirft sich ihr schluchzend zu Füßen, sie vergibt ihm und ihre Lippen 
finden sich zum ersten Kuß. Da bemerkt sie bei einer zufälligen Bewegung, 
daß neben ihrem Bild im Spiegel das seinige fehle: erschreckt fragt sie ihn 
nach der Ursache, da verhlült er beschämt sein Haupt und grinsend er¬ 
scheint in der Tür sein Spiegelbild. Margit fällt bei dessen Anblick in 
Ohnmacht und Balduin entweicht entsetzt, nunmehr auf Schritt und Tritt 
von dem grausigen Schatten gefolgt. Er flieht gehetzt durch Gassen 
und Straßen, über Wall und Graben, durch Wiese und Wald; endlich 
begegnet er einem Wagen, wirft sich hinein und spornt den Kutscher zur 
höchsten Eile an. Nach einer längeren Fahrt in rasendem Tempo glaubt 
er sich geborgen, steigt aus und will den Kutschsr entlohnen da erkennt 
er in ihm sein Spiegelbild. Rasend stürzt er weiter: an allen Ecken sieht 
er die Spukgestalt, an ihr vorbei muß er in sein Haus stürmen. Türen 
und Fenster verschließt er sicher. Er will seinem Leben ein Ende machen, 
legt die geladene Pistole bereit und schickt sich an, seinen letzten Willen 
aufzusetzen. Da steht der Doppelgänger wieder grinsend vor ihm,- seiner 
Sinne nicht mächtig, greift Balduin zur Waffe und schießt nach dem Phantom, 
das mit einem Schlage verschwunden ist. Befreit lacht er auf und glaubt 
sich von aller Qual erlöst. Rasch enthüllt er den sonst dicht verhängten 
Handspiegel und sieht sich zum erstenmal seit langer Zeit wieder darin. Im 
selben Moment verspürt er einen heftigen Schmerz an der linken Brust¬ 
seite, fühlt sein Hemd voll Blut und merkt, daß er angeschossen ist. Im 
nächsten Augenblick stürzt er tot zu Boden und Scapinelli erscheint schmun¬ 
zelnd, um den Kontrakt über der Leiche zu zerreißen. 

Das letzte Bild zeigt Balduins Grab an einem Wasser, überschattet von 
einer mächtigen Trauerweide. Auf dem Grabhügel sitzt sein Doppelgänger 
mit dem schwarzen unheimlichen Vogel, dem ständigen Begleiter Scapinellis. 
Zur Erläuterung dienen die schönen Verse Mussets <La nuit de decembre): 


7 * 




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Otto Rank 


Oü tu vas, j'y scrais toujours, 

Jusques au dernier de tes jour, 

Oü j'irai m'asseoir sur ta pierre. 

Über Sinn und Bedeutung dieser unheimlichen Begebenheiten 
will das Programm nicht lange im Zweifel lassen. Die »Grundidee« 
soll die sein, daß die Vergangenheit eines Menschen ihm unent¬ 
rinnbar anhaftet und ihm zum Verhängnis wird, sobald er versucht, 
sich ihrer zu entledigen,* diese Vergangenheit soll sich in Balduins 
Spiegelbild selbst verkörpern, aber audi in der rätselhaften Gestalt 
der Lyduschka, die ihn aus seinem früheren Studentenleben her 
verfolgt. Es mag sein, daß dieser Erklärungsversuch — um einen 
solchen handelt es sich, nicht um das Herausheben der in der Sache 
selbst liegenden Grundidee — in gewisser Beziehung genügen könnte, 
sicher aber vermag diese allegorisierende Deutung weder den Ge^ 
halt des Stüches zu erschöpfen, noch den lebhaften Eindruck der 
Handlung voll zu rechtfertigen. Es bleiben noch genug auffällige 
Züge, die eine Erklärung fordern. Vor allem die Tatsache, daß der 
unheimliche Doppelgänger gerade nur »alle Stunden süßen Bei*^ 
sammenseins« mit der Geliebten stören muß und auch nur für sie 

— und den Helden selbst — sichtbar wird. Und zwar tritt er um 
so erschreckender dazwischen, je inniger die Liebe zu werden sucht: 
beim ersten Geständnis auf der Terrasse erscheint das Spiegelbild 
gewissermaßen als ruhiger Mahner, bei der nächtlichen Liebesszene 
auf dem Friedhof stört es die intime Annäherung, indem es den ersten 
Kuß hindert, und bei der entscheidenden Versöhnung endlich, die 
mit Kuß und Umarmung besiegelt wird, trennt es die Liebenden 
gewaltsam für immer. So erweist sich der Held eigentlich als un*^ 
fähig zur Liebe, die in der rätselhaften Gestalt der charakteristischer¬ 
weise von ihm nicht beachteten Lyduschka verkörpert scheint. Von 
seinem eigenen verkörperten Ich wird Balduin an der Liebe zum 
Weibe gehindert und wie ihm sein Spiegelbild zur Geliebten folgt, 
so folgt Lyduschka der Komtesse wie ein Schatten: und beide 
Doppelgänger stellen sich zwischen das Heldenpaar, um es zu ent^ 
zweien. Außer diesen bei Anwendung des allegorischen Schlüssels 
unerklärlichen Zügen ist vor allem nicht einzusehen, was den Dichter 

— oder seine literarischen Vorgänger — dazu bewogen haben 
sollte, die Vergangenheit gerade in der Gestalt des selbständig 
gewordenen Spiegelbildes darzustellen,* auch begreift man mit 
dem rationellen Denken allein nicht die schweren seelischen Folgen, 
die sich an dessen Verlust knüpfen und am allerwenigsten den 
sonderbaren Tod des Helden. Ein dunkles, aber unabweisbares 
Gefühl, das den Zuschauer gepackt hält, scheint uns zu verraten, 
daß hier tiefe menschliche Probleme berührt werden und die Be¬ 
sonderheit der Kinotechnik, seelisches Geschehen bildlich zu veran^ 
schaulichen, macht uns mit übertriebener Deutlichkeit darauf auf¬ 
merksam, daß es das interessante und bedeutsame Problem des Ver^ 




Der Doppelgänger 


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hältnisses des Menschen zu seinem Ich ist, welches uns in seiner 
Störung als Schicksal des Individuums versinnbildlicht wird. 

Um die Bedeutung dieses Grundproblems für das Verständnis 
des Stückes würdigen zu können, müssen wir die verwandten Motive 
gestaltungen in den literarischen Vorbildern und Parallelen verfolgen 
und mit den entsprechenden folkloristischen, ethnographischen und 
mythischen Überlieferungen vergleichen,* es soll daran deutlich wer¬ 
den, wie alle diese in die Urgeschichte der Menschheit, auf primU 
tive Vorstellungen zurückgehenden Motive in einzelnen besonders 
disponierten Dichtern eine poetische Gestalt gewinnen, die sich in 
hohem Grade mit ihrem ursprünglichen, später verwischten Sinne 
deckt und in letzter Linie auf das Urproblem des Ich zurüdcführt, 
das der moderne Bearbeiter, unterstützt oder genötigt durch die neue 
Darstellungstechnik, so aufdringlich in den Vordergrund gerückt hat 
und eine so anschauliche Sprache sprechen läßt. 

II. 


»Ich denke mir mein Ich durch ein Ver^ 
vielfältigungsglas/ alle Gestalten, die sich 
um midi bewegen, sind Ichs und ich 
ärgere mich über ihr Tun und Lassen.« 

E. Th. A. Hoffmann. 

Es ist kaum zweifelhaft, daß Ewers, der moderne E. Th. 
A. Hoffmann, wie man ihn nennt, zu seiner Filmidee hauptsächlich 
von seinem literarischen Ahn und Meister inspiriert wurde, wenn^ 
gleich noch andere Quellen und Einflüsse wirksam gewesen sind^. 
Hoffmann ist der klassische Gestalter des Doppelgängertums, das 
in der romantischen Dichtung zu den beliebtesten Motiven zählte. 
Fast keines seiner zahlreichen Werke ist völlig frei von Anspielungen 
auf dieses Thema, in vielen bedeutsamen Dichtungen von ihm do¬ 
miniert es. Das nächste Vorbild der Ewersschen Gestaltung findet 
sich im Abschnitt III. <»Die Abenteuer der Sylvesternacht«) des 
zweiten Teils der »Phantasiestücke« und ist überschrieben: »Die Ge¬ 
schichte vom verlornen Spiegelbilde.« <1, 265 bis 279.)^ Sie erzählt 
in seltsamer Verknüpfung mit dem Phantasie^ und Traumleben des 
»reisenden Enthusiasten« wie Erasmus Spikher, ein ehrsamer deut¬ 
scher Ehemann und Familienvater, bei einem Aufenthalt in Florenz 
in das Liebesnetz der dämonischen Giulietta gerät und bei seiner 


' Selbstverständlich soll damit die eigene dichterische Initiative, als die Haupt¬ 
triebkraft der poetischen Produktion, nicht im mindesten unterschätzt werden. Daß 
Ewers den absonderlichen und okkulten Phänomenen des Seelenlebens seit jeher 
besonderes Interesse entgegenbracht hat, braucht Kennern seiner Werke nicht erst 
gesagt zu werden. Zu verweisen wäre nur auf sein letztes Drama »Das Wunder*^ 
mäddien von Berlin« <1912), das einzelne leise Beziehungen zu dem späteren »Stu« 
dent von Prag« verrät. 

* Sämtliche Hinweise auf Ho ff man ns Werke beziehen sich auf die fünfzehn* 
bändige Ausgabe von Griesebach in Hesses Klassikern. 





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Otto Rank 


Fludit wegen Totschlages eines Nebenbuhlers der Heißgeliebten 
auf ihre Bitten sein Spiegelbild zurückläßt. Sie standen gerade vor 
dem Spiegel, »der ihn und Giulietta in süßer Liebesumarmung zurück^ 
warf«/ sie »streckte sehnsuchtsvoll die Arme aus nach dem Spiegel. 
Erasmus sah, wie sein Bild unabhängig von seinen Bewegungen 
hervortrat, wie es in Giuliettas Arme glitt, wie es mit ihr im selt¬ 
samen Duft verschwand.« <1, 271 >. Schon auf der Heimreise wird 
Erasmus wegen seines zufällig entdeckten Mangels zum Gespött der 
Leute. Darum »ließ er überall wo er hinkam, unter dem Vorwand 
eines natürlichen Abscheus gegen jede Abspiegelung, alle Spiegel 
schnell verhängen und man nannte ihn daher spottweise den Ge¬ 
neral Suwarow, der ein gleiches that« <274>. Zu Hause stößt ihn seine 
Frau von sich, während sein Sohn ihn verhöhnt. In seiner Verzweiflung 
naht sich ihm der geheimnisvolle Begleiter Giuliettas, der Doktor 
Dapertutto und verspricht ihm Wiedererlangung ihrer Liebe und 
seines Spiegelbildes, wenn er sich entschlöße, v7eib und Kind dafür 
aufzuopfern. Die Erscheinung Giuliettas bringt ihn in neue Liebes^ 
raserei/ sie zeigt ihm, wie getreu sie das Spiegelbild bewahrte, in¬ 
dem sie das Tuch vom Spiegel zieht. »Erasmus sah mit Entzücken 
sein Bild der Giulietta sich anschmiegend/ unabhängig von ihm selbst 
warf es aber keine seiner Bewegungen zurück« <277>. Er ist nahe 
daran, den höllischen Pakt abzuschließen, der ihn selbst und die 
Seinen den fremden Mächten überliefern soll, als er durch die plötz^ 
liehe Erscheinung seiner Frau gewarnt, die Höllengeister hinweg zu 
beschwören vermag. Er zieht ciann auf den Rat seiner Frau in die 
weite Welt, sein Spiegelbild zu suchen, und trifft mit dem schatten¬ 
losen Peter Schlemihl zusammen, der bereits in der Einleitung zu 
der »Geschichte« vorgekommen war <»Die Gesellschaft im Keller,« 
I, p. 257 bis 261) und darauf hin weist, daß Hoffmann mit seiner 
phantastischen Erzählung ein Gegenstück zu der berühmten »wun¬ 
dersamen Geschichte« von Chamisso geben wollte, deren Inhalt 
wohl als bekannt vorausgesetzt werden kann. 

Des Zusammenhanges wegen seien nur die wesentlichen Über¬ 
einstimmungen und Parallelen kurz hervorgehoben. Wie bei Balduin 
und ^ikher handelt es sich auch bei Schlemihls Schattenverkauf um 
eine Seelenverschreibung <Teufelspakt> und auch hier bekommt der 
Held Spott und Verachtung der w'elt zu verspüren. Als Analogie 
zur Bewunderung des Spiegelbildes ist die sonderbare Bewunderung 
des Schattens durch den grauen Mann hervorzuheben ^ wie über¬ 
haupt die Eitelkeit einer der hervorstechendsten Charakterzüge 
Schlemihls ist <»das ist im Menschen, wo der Anker am zuver^ 


' »Während der kurzen Zeit, wo ich das Glück genoß, midi in Ihrer Nähe 
zu befinden, hab' ich, mein Herr, einige Male — erlauben Sie, daß ich es Ihnen 
sage — wirklich mit unaussprechlicher Bewunderung den schönen, schönen Schatten 
betrachten können, den Sie in der Sonne, und gleichsam mit einer gewissen edeln 
Verachtung, ohne selbst darauf zu merken, von sich werfen, den herrlichen Schatten 
da zu ihren Füßen«. 





Der Doppelgänger 


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lässigsten Grund faßt«). Die Katastrophe wird auch hier — wie in 
den bisher betrachteten Fällen — durch die Beziehung zum Weib 
herbeigeführt. Schon die schöne »Fanny« ist von der Schattenlosig^ 
keit Schlemihls entsetzt und derselbe Mangel läßt ihn auch sein 
Lebensglück bei der liebevollen Mina verscherzen. Der bei Balduin 
offen hervortretende Wahnsinn im Gefolge der Katastrophe ist bei 
Spikher und Schlemihl, die sich schließlich beide dem Bösen noch zu 
entwinden vermögen, nur vorübergehend angedeutet. Nach dem 
Bruch mit Mina durchschweift Schlehmil »in irrem Lauf Wälder und 
Fluren. Angstschweiß troff von meiner Stirne, ein dumpfes Stöhnen 
entrang sich meiner Brust, in mir tobte Wahnsinn«. 

Schon aus dieser Parallele ergibt sich die später von anderer 
Seite zu stützende Gleichwertigkeit des SpiegeU und des Schatten¬ 
bildes, die beide als selbständig gewordene Ebenbilder dem Ich ent¬ 
gegentreten. Von den zahlreichen Nachahmungen des Peter Schle- 
mihF sei hier nur das feine Andersensche Märchen »Der Schatten« 
erwähnt, das von dem Gelehrten erzählt, dessen Schatten sich in 
den Ländern der heißen Zone von seinem Besitzer freimacht und 
ihm einige Jahre später als Mensch wieder begegnet. Zunächst hatte 
der Schattenverlust für den Mann keinerlei üble Folgen — nach 
Art von Schlemihls Schicksal — gehabt, denn es wudis ihm ein 
neuer, wenn auch bescheidener Schatten nach. Aber dem ersten sehr 
vermögend und ansehnlich gewordenen Schatten gelingt es allmählich, 
seinen ursprünglichen Besitzer sich dienstbar zu machen. Zuerst 
fordert er von ihm Stillschweigen über sein früheres Schattendasein, 
da er beabsichtigt, sich zu verloben. Bald treibt er jedoch die Kühn^ 
heit so weit, seinen ehemaligen Herrn wie seinen Schatten zu be^ 
handeln. Er erregt dadurch die Aufmerksamkeit einer Königstochter, 
die ihn schließlich zum Manne begehrt. Der Schatten sucht endlich 
seinen früheren Herrn gegen ein hohes Gehalt dazu zu bewegen, 
die Rolle des Schattens vor aller Welt zu spielen. Dagegen lehnt 
sich aber alles in ihm auf und er trifft Anstalten, den Usurpator 
seiner menschlichen Rechte zu verraten. Dieser aber kommt ihm zu^ 
vor und läßt ihn ins Gefängnis sperren,- da er seiner Braut ver^ 
sichert, sein »Schatten« wäre verrückt geworden und halte sich für 
einen Menschen, wird es ihm leicht, noch am Abend der Hochzeit 
die heimliche Beseitigung des seiner Liebe gefährlichen Mannes zu 
bewirken und so sein Liebesglück zu sichern. 

Diese in einem bewußten Gegensatz zur Geschichte Peter 
Schlemihls gestaltete Erzählung verbindet die Fabel von den schweren 
Folgen der Schattenlosigkeit mit der Gestaltung des Motivs, wie sie 
beim Studenten von Prag vorliegt. Denn auch im Märchen Andere 
sens handelt es sich nicht bloß um einen Mangel wie bei Cha>» 
misso, sondern um die Verfolgung durch den selbständig gewordenen 
Doppelgänger, der seinem Ich immer und überall — mit katastro^ 


' Vgl. Goedecke, Grundriß der deutschen Dichtung VI, 149f. 





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Otto Rank 


phaler Wirkung aber wieder in der Liebe — hindernd in den 
Weg tritt. 

Deutlidier ist wieder die Sdiattenlosigkeit betont in Lenaus 
Gedicht »Anna«, dem die schwedische Sage^ von einem hübschen 
Mädchen zugrunde liegt, welches den Verlust seiner Schönheit durch 
Kindersegen fürchtet. Ihr Wunsch, immer so jung und schön zu 
bleib en, treibt sie vor der Hochzeit zu einer geheimnisvollen Alten, 
die sie durch Zauber von den sieben ihr zugedachten Kindern befreit. 
In unwandelbarer Schönheit verlebt sie sieben Ehejahre, bis einst 
ihr Gatte im Mondenschein bemerkt, daß sie keinen Schatten wirft. 
Zur Rede gestellt, bekennt sie ihre Schuld und wird verstoßen. Nach 
weiteren sieben Jahren harter Buße und schweren Jammers, die ihre 
tiefen Spuren hinterlassen haben, wird Anna durch einen Einsiedler 
entsühnt und stirbt mit Gott versöhnt, nachdem ihr vorher in einer 
Kapelle die Schatten ihrer sieben ungeborenen Kinder erschienen waren. 

Von entfernteren dichterischen Darstellungen des Schattenmotivs 
seien noch kurz genannt: In Goethes »Märchen« die Schilderung des 
Riesen, der am Flußufer wohnt und dessen Schatten mittags unvermögend 
und schwach ist, um so mächtiger aber bei Sonnenauf^ und Untergang, Setzt 
man sich da auf den Nacken seines Schattens, so wird man, während er 
sich bewegt, zugleich mit über den Fluß gehoben. Um sich von dieser Be-r 
förderungsart unabhängig zu machen, baut man an dieser Stelle eine Brücke. 
Aber wenn der Riese sidi nun morgens die Augen rieb, so fuhr der Schatten 
seiner Fäuste so mächtig unter Menschen und Tiere, daß alle zusammen^ 
stürzten. — Ferner Mörikes Gedicht »Der Schatten«: Ein Graf, der ins 
Heilige Land zieht, läßt sich von seinem Weib Treue schwören. Der Eid ist 
falsch, denn die Frau vergnügt sich mit ihrem Buhlen und sendet dem Mann 
einen Gifttrank nach, an dem er stirbt. Zur selben Stunde stirbt aber auch 
das treulose Weib, nur ihr Schatten bleibt unauslöschlich im Saal bestehen. 
— Endlich noch ein kleines Gedicht von Richard Dehmel »Der Schatten« 
nach R. L. Stevenson, das sehr hübsch die Rätselhaftigkeit des Schattens 
für das Kind schildert, cias nicht weiß, wozu es seinen kleinen Schatten hat: 

»Das Sonderbarste an ihm ist, wie er sich anders macht,* 

Gar nicht wie artige Kinder tun, hübsch alles mit Bedacht. 

Und manchmal springt er schneller hoch als mein Gummimann,* 

Und manchmal macht er sich so klein, daß Keiner ihn finden kann.« 

<Deutsche Chansons, Brettllieder, Leipzig 1911, p, 64.). 

Stevenson hat übrigens das Problem der Doppelexistenz in seiner Er¬ 
zählung »Der seltsame Fall des Doktor Jekyll und des Herrn Hyde« be^ 
handelt. 

Von den bisher betrachteten Gestaltungen des Stoffes, in denen 
der unheimliche Doppelgänger deutlich eine selbständig und sichtbar 

^ Dieselbe Sage hat Frankl in der Ballade »Die Kinderlose« <Ges. Werke 
2, 116, 1880) und Hans Müller von derLeppe in seinem Kronberger Lieder^ 
buch <Frankfurt 1895, p. 62> unter dem Titel »Fluch der Eitelkeit« behandelt. — 
Vgl. die auch über die verschiedenen Fassungen der Sage orientierende Arbeit 
von J. Bolte: »Lenaus Gedicht Anna« <Euphorion IV, 1897, p. 323). 





Der Doppelgänger 


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gewordene Abspaltung des Ichs ist <Sdiatten, Spiegelbild), untere 
scheiden sich jene eigentlichen Doppelgängerfiguren, die einander als 
reale und leibhaftige Personen von ungewöhnlicher äußerer Ähnlich¬ 
keit gegenüberstehen und die Wege kreuzen. Hoffmanns erster 
Roman »Die Elixiere des Teufels« <1814) basiert auf einer zu den 
sonderbarsten Verwechslungen führenden Ähnlichkeit zwischen dem 
Mönche Medardus und dem Grafen Viktorin, die — ohne es zu 
wissen — vom selben Vater stammen. Ihre merkwürdigen Schick¬ 
sale sind nur auf Grund dieser mystischen Voraussetzung möglich 
und verständlich. Beide erkranken, vom Vater erblich belastet, an 
seelischen Störungen, deren meisterhafte Schilderung den Hauptinhalt 
des Romans bildet ^ Der durch einen Sturz wahnsinnig gewordene 
Viktorin hält sich in seiner Krankheit für Medardus und gibt sich 
für ihn aus. Seine Identifizierung mit Medardus geht — allerdings 
nur unter Berücksichtigung der poetischen Lizenz — so weit, daß 
er dessen eigene Gedanken ausspricht, so daß Medardus glaubt, sich 
selbst sprechen zu hören, sein innerstes Denken als Stimme von 
außen zu vernehmen 2 . Dieses paranoische Bild wird ergänzt durch 
die Beachtungs- und Verfolgungsideen, denen er im Kloster aus¬ 
gesetzt ist, durch die Erotomanie, die sich an das nur flüchtig 
geschaute Bild der Geliebten knüpft, sowie das krankhaft gesteigerte 
Mißtrauen und Selbstgefühl. Auch wird er von der quälenden Idee 
beherrscht, einen kranken Doppelgänger zu haben, worin ihn die 
Erscheinung des geistesgestörten Kapuziners bestärkt. — In deut^ 
lieber Verknüpfung mit der Rivalität um das geliebte Weib erscheint 
das Hauptmotiv dieses Romans herausgearbeitet in der späteren 
Erzählung »Die Doppeltgänger« <XIV, 5 bis 52). Wieder handelt 
es sich um zwei, äußerliA zum VerweAseln ähnliAe und durA ge¬ 
heimnisvolle Familienbeziehungen einander nahestehende Jünglinge, 
die infolge dieses seltsamen SchiAsals und durA ihre Liebe zu dem^ 
selben MädAen in die unverständliAsten Abenteuer geraten, welAe 
ihre Lösung erst finden, als siA die beiden Nebenbuhler vor der 


^ Vg[. O. Klinke: Hoffmanns Leben und Werke vom Standpunkt eines 
Irrenarztes. Halle <1902), 2. Aufl. 1908. 

2 Eine psychologische Einsicht in diese Gestaltung des Doppelgängers verrät 
Dostojewskis Roman »Die Brüder Karamasow«. Bevor Iwan Karamasow wahn^ 
sinnig wird, erscheint ihm der Teufel und bekennt sich als seinen Doppelgänger. Als 
Iwan eines abends spät nach Hause kommt, tritt ein unheimlicher Herr ein und 
erzählt ihm Dinge, von denen sich herausstellt, daß Iwan sie selbst einmal in seiner 
Jugend ausgedacht, aber wieder vergessen hatte. Er sträubt sich dagegen, die Wirk¬ 
lichkeit der Erscheinung anzuerkennen: »Nicht eine Minute lang akzeptiere ich dich 
als reale Wahrheit. Eine Lüge bist du, eine Krankheit bist du, ein Trugbild. Nur 
weiß ich nicht, womit ich dich vernichten kann. — Du bist meine Halluzination. 
Du bist die Verkörperung meiner selbst, übrigens nur einer Seite von mir . . . 
meiner Gedanken und Gefühle, aber nur der allerscheußlidisten und dümmsten. — 
Alles, . . . was sich schon längst überlebt hat, worüber ich sAon längst zu einer 
anderen Ansicht gekommen bin . . . schleppst du mir heran, als wären es Neuig^» 
keiten. Du bist ich selbst, nur mit einer anderen Fratze, du sprichst gerade das, 
was ich denke .. .« 





106 


Otto Rank 


Geliebten gegenüberstehen und freiwillig auf ihren Besitz verzichten. 
Die gleiche äußere Ähnlichkeit verbindet in den »Lebensansichten 
des Katers Murr« das Schicksal des zur Geisteskrankheit dispo^ 
nierten Kreisler mit dem des wahnsinnigen Malers Ettlinger, ciem 
Kreisler nach dem Ausspruch der Prinzessin Hedwiga so ähnlich 
sieht, als wäre er sein Bruder <X, 139>. Dies geht so weit, daß 
Kreisler sein im Wasser geschautes Spiegelbild für den wahnsinnigen 
Maler hält und ihn ausschilt, während er unmittelbar darauf glaubt, 
sein eigenes Ich und Ebenbild neben sich einherschreiten zu sehen 
<X, 146 f.>. Von tiefstem Entsetzen erfaßt, stürzt er ins Zimmer 
zu Meister Abraham und fordert ihn auf, den lästigen Verfolger 
mit einem Dolchstodc niederzustoßen, ein Impuls, dessen Ausführung 
der Student von Prag mit seinem Leben bezahlen muß. 

Hoffmann, der das Doppelgängerproblem noch in anderen 
Werken behandelte <»Prinzessin Brambilla«, »Das steinerne Herz«, 
»Die Brautwahl«, »Der Sandmann«, u. a.> hat zweifellos starke 
persönliche Antriebe dazu gehabt,* dennoch ist der Einfluß nicht zu 
unterschätzen, den der damals auf der Höhe seines Ruhmes ste¬ 
hende Jean Paul übte, der das Doppelgängermotiv in die Romantik 
eingeführt hattet Auch im Schaffen J. Pauls dominiert dieses Thema 
in allen seinen psychologischen Varianten. Wirkliche Doppelgänger 
sind Leibgeber und sein Freund Siebenkäs, der ihm aufs Haar 
ähnlich sieht und sogar den Namen mit ihm tauscht. Im »Siebenkäs« 
steht die ständige Verwechslung der beiden — ein Motiv, das auch 
sonst bei Jean Paul häufig ist <z. B. in »Katzenbergers Badereise«) — 
im Mittelpunkt des Interesses, im »Titan« kommt sie noch episodisch 
vor. Neben diesem leibhaftigen Doppelgängertum, welches sich bei 
Jean Paul auch in der Form findet, daß jemand in der Gestalt des 
Geliebten dessen Geliebte zu verführen versucht <Amphytrionmotiv>, 
hat der Dichter, wie kein zweiter vor- und nachher, das Problem 
der Spaltung und Vervielfachung des Ich in krasser Ausprägung 
immer wieder behandelt. »Im ,Hesperus' läßt er das Ich bereits als 
unheimliches Gespenst vor sich erstehen« <Schneider>, Viktor wird 
schon in der Kindheit von solchen Geschichten besonders gepadct, in 
denen Leute sich selbst sehen. »Oft besieht er abends vor dem 
Einschlafen seinen Körper so lange, daß er ihn von sich abtrennt 
und als eine fremde Gestalt neben seinem Ich stehen und gestiku¬ 
lieren sieht. Darauf legt er sich mit dieser fremden Gestalt schlafen« 
(Czerny). Auch hatte Viktor eine heftige Abneigung gegen Wachs¬ 
figuren, die er mit Ottomar (»Die unsichtbare Loge«) teilt, welcher 
als Scheintoter sein Ich in den Lüften sieht. Dieser Schauder vor 
Wachsfiguren wird verständlich im »Titan«, wo Albano in ohn^ 
mächtiger Wut seine eigene Wachsbüste zerquetscht,* aber es ist ihm 

^ Vgl. dazu und zum folgenden F. }. Schneider: Jean Pauls Jugend und 
sein Auftreten in der Literatur. Berlin 1905 <bes. p. 316 bis 320> sowie J. Czerny: 
Jean Pauls Beziehungen zu Hoffmann. Gymn. Progr. Mies 1906/07 und 
1907/08. 






Der Doppelgänger 


107 


dabei »wie Selbstmord und Betasten des Idis.« Sdioppe und Al¬ 
bano sind von dem zerstörenden Wahn eines sie verfolgenden 
Doppelgängers besessen. Aus dem Traumtempel, wohin sidi 
Albano verirrt hat, wird er durch die mitlaufenden Spiegelichs 
verscheucht. »Auch Leibgeber im ,Siebenkäs' sieht sich von einem 
Heer von Ichs umgeben, indem er sein Ich, sein und Firmians, seines 
Doppelgängers Spiegelbild, also drei Ich mit Firmian selbst, dem 
vierten, in Vergleich zieht .... Firmian tritt zum Spiegel und drückt 
mit dem Finger den Augapfel seitwärts, so daß er im Glase sein 
Bild doppelt sehen mußte, und wendet sich mitleidig an seinen 
Freund mit den Worten: aber du kannst freilich die dritte Person 
darin nicht sehen« <Schneider>. Die im Namen Leibgeber ange¬ 
deutete Entpersönlichungstendenz finden wir im »Titan« wieder. Ro- 
quairol, der als grenzenloser Egoist geschildert ist, sehnt sich doch 
einmal nach einer Freundschaft und schreibt an Albano: »Da sah 
ich Dich und wollte Dein Du werden — aber es geht nicht, denn ich 
kann nicht zurück, aber Du vorwärts. Du wirst mein Ich einmal.«^ 
»Spielend seine eigene Tragödie, nachäffend sein eigenes Ich gibt er 
sich den Tod« <Sdineider>. »Zur entsetzlichsten Pein steigert sich 
die Vorstellung, vom Ich verfolgt zu werden, bei Schoppe. Er denkt 
sich die Seligkeit in einer ewigen Befreiung vom Ich. Fällt sein Blick 
nur zufällig einmal auf seine Hände oder Beine, so fährt schon 
über ihn die kalte Furcht, er könne sich erscheinen und den Ich sehen. 
Der Spiegel muß verhangen werden, denn er bebt vor seinem 
Spiegelurangutang« <Schneider>. Auch finden sich verjüngende 
und altmachende Spiegel <ähnlich auch Bilder, die ihre richtigen Züge 
nur unter einer bestimmten Lupe erkennen lassen), was auf Spikher 
übergegangen zu sein scheint, dem auch einmal sein Gesicht ver^ 
altet und verzerrt entgegengrinst. Wir erinnern uns hier daran, daß 
Spikher auch — wie Balduin — alle Spiegel verhängen läßt: »aber 
aus dem entgegengesetzten Grunde, weil sie sein Ich nicht mehr 
wiedergeben« <Czerny>. Bei Schoppe geht diese Angst sogar so 
weit, ciaß er die gehaßten Spiegel zerschlägt, da ihm aus ihnen sein 
Ich entgegentritt. Und wie Kreisler und Balduin den Doppelgänger 
töten wollen, so sendet Schoppe an Albano seinen Stockdegen mit 
der Aufforderung, die unheimliche Erscheinung in Rattos Keller zu 
töten. »Schoppe stirbt schließlich an seiner Wahnidee mit dem Satz 

* Die gleidhe Tendenz hat Richard Dehrn el, der Nach dichter des erwähnten 
Schattengedichtes von Stevenson, in dem schönen Gedicht »Masken« ausgedrückt, 
welches schildert, wie der Dichter auf einem Maskenball in versdiiedenen Masken 
vergebens sein Ich sucht und jede Strophe mit den Worten beschließt: »Du bist es 
nicht — doch Ich bin Du,« bis er zuletzt das findet, was er suchte: 

Und Du, bist du's: du Domino im Spiegel, 

In dessen Blick die Farben meerhaft schwanken. 

Du maskenlos Gesicht: zeig her das Siegel, 

Das mir ausdrückt den Grund deiner Gedanken: 

Bist du es selbst? Ausdruck — du nickst mir zu: 

Grundsiegel — Maske — Bist Ich Du? 





108 


Otto Rank 


der Identität auf den Lippen« <Schneider). Es ist bekannt, daß 
Jean Paul im »Titan« Stellung nahm zur Fichtesdien Philosophie 
und zeigen wollte, wohin der transzendentale Idealismus bei äußerster 
Konsequenz führen müsse. Man hat darüber gestritten, ob der Dichter 
dem Philosophen bloß seine Anschauungen gegenüberstellen oder 
ob er ihn ad absurdum führen wollte,* wie dem auch sei, scheint es 
jedenfalls deutlich, daß beide auf ihre eigene Weise versuchten, sich 
mit dem ihnen persönlich nahe gehenden Problem des Ich ausein^ 
ander zu setzen. 

Einzelne originelle Gestaltungen leiten von den leibhaftigen 
Doppelgängerfiguren zu den Darstellungen über, welche die subjek¬ 
tive Bedingtheit und Bedeutung der sonderbaren Einstellung wieder 
erkennen lassen. Eine davon ist Ferdinand Raimunds romantisch- 
komisches Märchen »Der Alpenkönig und der Menschenfeind«, wo 
der Doppelgänger des reichen Rappelkopf von dem mit echt Rai*^ 
mundscher Naivität objektivierten Alpengeist dargestellt wird. Dem 
in der Verkleidung seines Schwagers auftretenden Rappelkopf spielt 
der Alpenkönig Astragalus in der Rolle des Rappelkopf selbst dessen 
lächerliche Fehler und Schwächen vor. Die Handlung führt des Helden 
Heilung von seiner hypochondrischen Menschenfeindlichkeit und seinem 
paranoischen Mißtrauen herbei, indem der Dichter ihm sein eigenes 
Ich wie in einem »Seelenspiegel« erblicken läßt,* er lernt dadurch sich 
selbst hassen und seine früher so verhaßte Umgebung lieben. Be¬ 
merkenswert ist, daß einige typische Motive des Doppelgängertums 
hier aus ihrer unbewußten Tragik in die Erkenntnissphäre des 
Humors gehoben erscheinen. In den Seelentausch fügt sich der hals¬ 
starrige Rappelkopf schließlich wie in einen Scherz und die Gegen¬ 
überstellung der beiden Doppelgänger in den Hauptszenen des 
Stückes führt zu mehrfachen Verwechslungen und Verwicklungen, 
so daß der Held schließlich nicht weiß, wo er sein Ich suchen soll 
und bemerkt: »Ich fürcht' mich vor mir selber.« Die »verdammte 
Doppelgängerei« führt endlich zu gegenseitigen Beleidigungen und 
zum Duell. Der Impuls, sich von dem unheimlichen Gegenspieler 
auf gewaltsame Weise zu befreien, gehört, wie wir sahen, zu den 
wesentlichen Zügen des Motivs und wo dem Impuls nachgegeben 
wird, wie beispielsweise im Studenten von Prag und anderen noch 
zu besprechenden Gestaltungen, da zeigt es sich deutlich, daß das 
Leben des Doppelgängers mit dem der Person selbst aufs engste 
verknüpft ist. Diese geheimnisvolle Grundlage des Problems wird 
bei Raimund zur bewußten Voraussetzung der Probe. Im letzten 
Moment vor dem Duell erinnert sich Rappelkopf dieser Bedingung: 
»Wir haben alle zwei nur ein Leben. Wann ich ihn erschieße, so 
schieß ich mich selber tot.« Er wird dadurch vom Banne gelöst, daß 
Astragalus sich ins Wasser stürzt und Rappelkopf, der in ihm zu 
ertrinken fürchtet, in eine Ohnmacht fällt, aus der er dann geheilt 
erwacht. Besonders interessant ist uns ein Rest des Spiegelmotivs, 
das auf die innerliche Bedeutung des Doppelgängers hinweist. Auf 




Der Doppelgänger 


109 


dem Höhepunkt des Wahnes, kurz vor der Fludit von Haus und 
Familie, erblickt sich Rappelkopf in dem hohen Wandspiegel seines 
Zimmers,- er verträgt den Anblick seines Gesichtes nicht und »zer¬ 
schlägt den Spiegel mit geballter Faust«. In einem hohen Wand¬ 
spiegel in Rappelkopfs Hause wird aber dann der Alpenkönig sichte 
bar, der später als Doppelgänger erscheint. 

In anderer Form hat Raimund dasselbe Thema im »Ver^ 
schwender« behandelt. Der Bettler, der Flottwell ein Jahr lang 
überall hin folgt, stellt sich zwanzig Jahre später als sein DoppeU 
gänger heraus, der ihn — nach Art eines ochutzgeistes, wie auch 
der Alpenkönig einer ist — vor gänzlichem Ruin bewahrte. Tat¬ 
sächlich glaubt Flottwell in ihm den Geist seines Vaters zu erblicken, 
bis er, durch sein hartes Schicksal belehrt, in der warnenden Er^ 
scheinung sich selbst in seinem fünfzigsten Lebensjahr erkennt. Auch 
hier versucht der Verfolgte den lästigen Begleiter zu töten, aber er 
vermag ihm nichts anzuhaben. Die Beziehung dieses Doppelgängers 
zu dem im Alpenkönig auftretenden ist in einem gemeinsamen Motiv 
angedeutet, dessen psychologische Erörterung in einen anderen Zu¬ 
sammenhang gehört. Wie nämlich der Bettler von Flottwell Schätze 
erbettelt, um sie dann dem gänzlich Verarmten zurückzustellen <»ich 
hab' für dich bei dir gebettelt«), so wendet Rappelkopf, der gleich^ 
falls ein scheinbar Verarmter und schließlich wiecier reich Gewordener 
ist, dieses Motiv der »gemeinsamen Kasse« ins Komische, indem er 
das von seinem Doppelgänger weggeworfene Geld mit dem Be¬ 
merken aufhebt, daß diese Gemeinsamkeit des Besitzes eine weit 
bequemere Einrichtung wäre, als die unerwünschte Gemeinschaft 
mit Gesundheit und Leben des anderen. Steht auch das Thema des 
Altwerdens mit dem hier unberücksichtigt gebliebenen Geldkomplex 
in einem interessanten Zusammenhang, so lassen sich doch einzelne 
Verbindungsfäden auch zum Doppelgängerproblem verfolgen. Daß 
der Bettler in der Gestalt des um zwanzig Jahre gealterten Flott¬ 
well erscheint, erinnert an den auf den Alpenkönig bezüglichen 
Mädchenglauben, daß sein Anblick um vierzig Jahre älter mache. 
Und wie der Alpenkönig im Spiegel erscheint, schließt Lieschen die 
Augen, aus Furcht, ihre Schönheit einzubüßen. Dieser Zug stellt 
wieder die Verbindung zu den altmachenden und verjüngenden 
Spiegeln bei Jean Paul sowie den Zerrspiegeln bei Ho ff mann und 
anderen her. 

Diese Furcht vor dem Altwerden wird als eines der tiefsten 
Probleme des Ich behandelt in Oskar Wildes Roman »Das Bildnis 
des Dorian Gray« <1890). Der schöne und jugendfrische Dorian 
äußert beim Anblick seines wohlgetroffenen Porträts den vermessenen 
Wunsch, immer so jung und schön zu bleiben und die Spuren des 
Alters und der Sünde auf das Bild übertragen zu können. Dieser 
Wunsch sollte ihm unheimlicherweise in Erfüllung gehen. Zum ersten^ 
mal bemerkt er eine Änderung an dem Bilde, als er die ihn über 
alles liebende Sibyl grausam und kalt von sich stößt, ähnlidi wie 




110 


Otto Rank 


die meisten seiner Sdiicksalsgenossen in der Liebe zum Weibe am 
eigenen Idi irre werden. Von da an bleibt das stets alternde 
und die Spuren der Sünde verratende Bild das sichtbare Gewissen 
Dorians. An ihm lernt er, der sich selbst über die Maßen liebt, 
seine eigene Seele verabscheuen und er verhüllt und verschließt 
das ihm Furcht und Entsetzen einflößende Bild, um es nur in be^ 
sonderen Momenten seines Lebens zu betrachten und mit seinem 
eigenen ewig unveränderten Spiegelbild zu vergleichen. Das frühere 
Entzücken an seiner Schönheit macht allmählich einem Abscheu vor 
dem eigenen Ich Platz. Schließlich »verfluchte er die eigene Schön¬ 
heit, und indem er den Spiegel auf den Boden schleuderte, zertrat 
er ihn mit dem Absatz in tausend Splitter«. Eine ausgesprochen 
neurotische Spiegelphobie ist mit feiner künstlerischer Wirkung als 
Inhalt eines vom Helden geschätzten Romans erzählt, dessen Held 
im vollen Gegensatz zu Dorian seine außerordentliche Schönheit in 
früher Jugend verloren hatte. Seither blieb ihm eine »groteske Furcht 
vor Spiegeln, polierten Metallplatten und stehendem Wasser«. Nach¬ 
dem Dorian den Maler des verhängnisvollen Bildes ermordet und 
Sibyl in den Tod getrieben hat, findet er keine Ruhe mehr: »es 
wurde ihm zur Gewißheit, daß er verfolgt, umgarnt und schließlich 
zu Tode gehetzt würde.« Er beschließt ein Ende zu machen und 
das Bild zu vernichten, um sich auf diese Weise von der unerträg¬ 
lichen Vergangenheit zu befreien. Er durchschneidet das Bild und 
fällt im selben Augenblick gealtert und entstellt mit dem Messer 
im Herzen tot zu Boden, während das Bild ihn unversehrt in 
jugendlicher Schönheit zeigt. 

Von anderen Romantikern, die das Doppelgängermotiv behandelten 
-- und in irgendeiner Form hat es fast bei jedem Verwendung gefunden ^ 
—' sei hier nur Heine noch kurz erwähnt, weil bei ihm der Doppelgänger, 
der nach literarhistorischem Urteil zu seinen Urmotiven gehört ^ auch nicht 
als leibhaftiger Gegenspieler, sondern in einer mehr verinnerlichten Form 
auftritt. »Im ,Ratcliff' will er das Schicksal zweier Menschen gestalten, deren 
Leben durch den Zwang einer Doppelexistenz von Sinnlosigkeit erfüllt ist, 
die sich morden müssen, obwohl sie sich lieben. Ihre Alltagsexistenz wird 
fort durchkreuzt von dem Leben ihrer Ahnen, das sie noch einmal zu leben 
gezwungen sind. Dieser Zwang bedingt die Spaltung der Persönlichkeit«^. 
Ratcliff gehorcht einer inneren Stimme, die ihn ermahnt, jeden zu morden, 
der sich Marien naht. In anderer Form findet sich das Motiv in den »floren* 
tinischen Nächten«: das Doppelsein der Madame Laurencer, deren heiteres 
Tagesleben mit nächtlichen Tanzekstasen wechselt, von denen sie am Tage 


^ Bei Tieck, Arnim, Brentano vorwiegend in der äußerlichen Form der 
Verwechslung oder der Lösung verwidcelter Handlungen durch Identifizierung ver^ 
schiedener Personen,- bei Novalis u. a. in einer mystischen Verschwommenheit,- 
bei Fouque <»Der Zauberring« II, 13), Kerner <»Die Reiseschatten«) u. a. nur 
episodisch. 

2 Herrmann Helene; Studien zu Heines Romanzero. Berlin 1906. — Vgl. 
auch W. Siebert: Heines Beziehungen zu Hoffmann <Beitr. z. deutsch, lit. Wiss. 
Bd. VII). Marburg 1908. 





Der Doppelgänger 


111 


ruhig wie von etwas längst Vergangenem spricht. Verwandt ist die Ge- 
schidhte des toten Laskaro im »Atta Troll«, »dem die Mutterliebe nächtlich 
mit der stärksten Salbe ein verzaubert Leben einreibt«. In »Deutschland. 
Ein Wintermärchen« <Kap. VI> erscheint dem Dichter immer ein sonder 
barer Geselle, wenn er nachts am Schreibtisch sitzt,* gefragt gibt er sich zu 
erkennen: »ich bin die Tat von deinen Gedanken.« Auch in manche Ge^ 
dichte Heines spielt ähnliches hinein und in der berühmten Vision der 
wilden Jagd träumt er sich selbst ein Doppelleben. 

Wie man sieht, nähern sich diese Gestaltungen des Motivs 
einem Extrem, das mit unserem Thema nur in loserem Zusammen¬ 
hang steht. Hat es sich bisher entweder um einen leibhaftigen 
Doppelgänger gehandelt, der wieder in die entferntere Verwechs¬ 
lungskomödie ausmündet oder um ein vom Ich losgelöstes und 
selbständig gewordenes Ebenbild (Schatten, Spiegelbild, Porträt), so 
stoßen wir hier auf die darstellerisch entgegengesetzte Ausdrucksform 
der gleichen seelischen Konstellation: es werden nämlich zwei ver¬ 
schiedene, durch Amnesie getrennte Existenzen von ein und derselben 
Person dargestellt. Diese Fälle von Doppelbewußtsein, die auch 
klinisch zur Beobachtung gelangt sind 2 , haben in der neueren Literatur 
vielfach Darstellung gefunden ^ können jedoch für unsere weitere 
Untersuchung außer Betracht bleiben^. 

Wir wenden uns von diesen Grenzfällen aus wieder jenen 
für unsere Analyse ergiebigeren Stoffen zu, in denen es zu einer 
mehr oder minder deutlichen Gestaltung einer Doppelgängerfigur 
kommt, die jedoch zugleich als spontane subjektive Schöpfung kranke 
hafter Phantasietätigkeit erscheint. An die beiseite gelassenen Fälle 
von Doppelbewußtsein, die psychologisch als Grundlage und dar^ 
stellerisch gewissermaßen als Vorstufe des voll ausgeprägten Doppel¬ 
gängerwahns erscheinen, schließt sich unmittelbar als Übergang zu 
der uns interessierenden Gruppe Maupassants eindrucksvolle Er¬ 
zählung »Le Horla« (1887). Der Held der Geschichte, dessen Tage- 


^ Der unsterbliche Lustspielstoff, der von Plantus' »Menaedimi« bis zu 
Fuldas »Zwillingsscbwester« seiner Wirkung sicher war,- als bekannte Typen 
seien genannt: Shakespeare »Comedy of the errors«, Lecoque »Girofle^ 
Giroflä, Nestroy »Der Färber und sein Zwillingsbruder«. 

* Vgl. die orientierende Schrift von Max Dessoir: »Das Doppel-Ich«. 
2. Aufl. Leipzig 1896. 

3 So in dem berühmten, später auch dramatisierten Roman von George 
du Maurier »Trilby«, ferner Hugb Conway »Calied bade«, Dick^May 
»L^affaire Allard« (»Unheimliche Geschichten«), Paul Lindaus neuerdings auch 
verfilmtes Drama »Der Andere«, Georg Hirschfeld »Das zweite Leben« u. a. m. 

* Gänzlich außer acht lassen wir die okkulte Auffassung des DoppeU 
gängertums, wie sie als gleichzeitige Existenz desselben Individuums an zwei ver* 
schiedenen Orten interpretiert wird. Als typischen Vertreter dieser Lehre vergleiche 
man Strindberg: »Inferno. Legenden« <Sämtl. Sehr., deutsch v. Schering, IV, 4, 
Verlag Müller, München), p. 50 f, 285 etc. — In vielen Dichtungen Strindbergs 
ist die Spaltung der Persönlichkeit bis zum Extrem geführt <vgl. bes. den Roman 
»Am offenen Meere«). Über Strindbergs Paranoia vergleiche man die Patho.® 
graphie von S. Rahmer (Grenzfragen d. Lit. u. Mediz. Heft 6, 1907). 





112 


Otto Rank 


buAaufzeicfinungen uns der Dichter vorlegt erkrankt an Ängste 
Zuständen, die ihn insbesondere nachts quälen, ihn bis in seine 
Träume verfolgen und keinem Mittel dauernd weichen wollen. Eines 
nachts entdeckt er zu seinem Entsetzen, daß die Wasserflasche, die 
abends gefüllt war, völlig geleert dastand, obwohl niemand in das 
versperrte Zimmer eindringen konnte. Von diesem Augenblick an 
konzentriert sich sein ganzes Interesse auf jenen unsichtbaren Geist 
— den Horla —, der in ihm oder neben ihm lebt. Er stellt Ver¬ 
suche an und sucht ihm auf jede Weise zu entgehen. Vergebens: 
er wird nur immer mehr von der selbständigen Existenz des Ge¬ 
heimnisvollen überzeugt. Überall fühlt er sich belauert, betrachtet, 
durchdrungen, beherrscht, verfolgt von ihm. Oft wendet er sich blitze 
schnell um, damit er ihn endlich zu sehen und fassen bekäme. Oft 
stürzt er sich in das leere Dunkel seines Zimmers, wo er den 
Horla wähnt, um »ihn zu packen, ihn zu erwürgen und zu töten«. 
Schließlich gewinnt dieser Gedanke der Befreiung von dem unsicht^ 
baren Tyrannen die Oberhand. Er läßt Fenster und Türen seines 
Zimmers mit fest verschließbaren eisernen Laden versehen und 
schleicht sich eines abends vorsichtig heraus, um den Horla unent¬ 
rinnbar einzuschließen. Dann steckt er das Haus in Brand und sieht 
von Ferne zu, wie es mit allem, was darin lebt, zugrunde geht. 
Aber zuletzt kommen ihm doch Zweifel, ob der Horla, dem das 
ganze galt, vernichtet werden könne und er sieht als einzig sicheren 
Weg zur Befreiung den eigenen Selbstmorde Auch hier trifft also 
wieder der dem doppelgängerischen Ich zugedachte Tod die eigene 
Person. Wie weit die Spaltung derselben geht, zeigt eine vor der 
entscheidenden Katastrophe sich abspielende Spiegelphantasie. Der 
Held hat sein Zimmer hell erleuchtet, um dem Horla aufzulauern. 
»Hinter mir steht ein hoher Spiegelschrank, der mir täglich dazu 
gedient hat, mich zu rasieren, mich anzuziehen und in dem ich mich 
jedesmal, wenn ich vorüberging, von Kopf bis zu Fuß betrachtete. Ich 
tat also, als schriebe ich, um ihn zu täuschen, denn auch er spähte 
nach mir. Und plötzlich fühlte ich, ich war meiner Sache ganz sicher, 
daß er über meiner Schulter gebeugt las, daß er da war und mein 
Ohr streifte. Ich stand auf, streckte die Hände aus und drehte mich 
so schnell um, daß ich beinahe gefallen wäre. Und nun? Man sah hier 
so gut wie am hellen Tage, und ich sah mich nicht in meinem 
Spiegel. Das Glas war leer, klar, tief, hell erleuchtet, aber mein 
Bild war nicht darin, und ich stand doch davor, ich sah die große, 
klare Spiegelscheibe von oben bis unten und sah das mit entsetzten 
Augen an! Ich wagte nicht mehr, vorwärts zu gehen, ich wagte 
keine Bewegung zu machen, ich fühlte, daß er da war, aber daß er 
mir wieder entwischen würde, er, dessen undurchdringlicher Körper 


■ ^ In einer ähnlichen Schilderung vön Poritzky <»Geistergeschichten«> ist 
»der Unbekannte« der Tod, der dem Betreffenden gleichfalls unablässig und un* 
sichtbar folgt. 





Der Doppelgänger 


113 


hinderte, daß ich mich selbst spiegeln konnte. Und Entsetzen! — 
plötzlich sah ich mich selbst in einem Nebel mitten im Spiegel, in 
einem Schleier, wie durch Wasser hindurch und mir war es, als ob 
dieses Wasser von links nach rechts glitte, ganz langsam, so daß 
von Sekunde zu Sekunde mein Bild in schärferen Linien erschien . . . 
Endlich konnte ich mich vollkommen erkennen, wie täglich, wenn ich 
in den Spiegel blicke. Ich hatte ihn gesehen und das Entsetzen blieb 
mir in den Gliedern, daß ich jetzt noch zittere«^. 

In einer kleinen Skizze »Lui«^ die sich wie ein Entwurf zum 
»Horla« ausnimmt, hat Maupassant einzelne für uns interessante 
Züge deutlicher hervortreten lassen. So die Beziehung zum Weib, 
denn die ganze Erzählung von dem geheimnisvollen »Er«, der dem 
Helden die grauenhafte Furcht vor sich selbst einflößt, erscheint als 
das Geständnis eines Mannes, der sich gegen seine bessere Einsicht 
verheiraten will, verheiraten muß, einfach aus dem Grunde, weil er 
es nicht mehr erträgt, nachts allein zu sein, seit er einmal beim 
Nachhausekommen »Ihn« im Lehnsessel am Kamin den Platz ein¬ 
nehmen sah, den er selbst innezuhaben pflegte. »Er verfolgt mich 
unaufhörlich. Das ist Wahnsinn! Doch es ist so. Wer, Er? Ich weiß 
sehr wohl, daß er nicht existiert, daß er nicht wirklich ist. Er lebt 

bloß in meiner Ahnung, in meiner Furcht, in meiner Angst!- 

Wenn wir jedoch zu zwei sein werden, fühle ich deutlich, ja ganz 
deutlich, wird er nicht mehr da sein. Denn er ist nur da, weil ich 
allein bin, einzig weil ich allein bin!« 

Die gleiche Stimmung hat, zu melancholischer Resignation ab« 
getönt, ergreifenden Ausdruck in Mussets »La nuit de decembre« 
<1835> gefunden. In einem Zwiegespräch mit der »Vision« erzählt 
der Diditer, daß ihm seit der Kindheit immer und überall ein 
schattenhafter Doppelgänger folge, der ihm wie ein Bruder gleiche. 
In den entscheidenden Momenten seines Lebens erscheint ihm der 
schwarzgekleidete Begleiter, dem er nicht entrinnen kann, so weit er 
auch vor ihm flieht und dessen Natur er nicht zu erkennen vermag. 
Und wie er einst als verliebter Jüngling mit seinem Doppelgänger 
allein war^ so ist er nun viele Jahre später eines nachts in süße 
Erinnerungen an die Zeit der Liebe versunken, als die Erscheinung 
sich wieder zeigt. Der Dichter sucht ihr Wesen zu ergründen, er 
spricht sie als böses Geschick, als guten Engel und schließlich, als 
die Erinnerungen an die Liebe sich nicht verscheuchen lassen, als sein 
eigenes Spiegelbild an: 

* Maupassants gesammelte Werke, übersetzt von G. v. Ompteda. 
Bd. VII. 

2 Deutsch von Moeller-^Bruck, Reclam-Bibl. Nr. 4315, p. 10 fF. 

* A I'äge oü I'on croit ä Tamour, 

J'etais seul dans ma chambre un jour, 

Pleurant ma premiere misere. 

Au coin de mon feu vint s'asseoir 
Un etranger vetu de noir, 

Qui me ressemblait comme un frere. 


Imago 111/2 


S 





114 


Otto Rank 


Mais tout ä coup j'ai vu dans la nuit sombre 
Une forme glisser sans bruit. 

Sur mon rideau j'ai vu passer une ombre,* 

Elle vient s'asseoir sur mon lit. 

Qui donc es-tu, morne et pale visage, 

Sombre portrait vetu de noir? 

Que me veux^tu, triste oiseau de passage? 

Est^ce un vain reve? est-ce ma propre image 
Que j'aper^ois dans ce miroir? 

Sdiließlidi gibt sich die Erscheinung als »Einsamkeit« zu er^ 
kennen. — Mag es auch auf den ersten Blick sonderbar erscheinen, 
daß die Einsamkeit, ähnlich wie bei Maupassant, als lästige Ge¬ 
sellschaft eines Zweiten empfunden und dargestellt wird, so liegt doch 
der Akzent — was auch Nietzsche aussprach — auf der Ge¬ 
selligkeit mit dem eigenen Ich, das sich als Doppelgänger objektiviert. 
Ein ähnliches Selbstgespräch mit dem eigenen personifizierten Ich 
liegt Jean Pauls »Beichte des Teufels bei einem großen Staats^ 
bediensteten« zugrunde In interessanter psychologischer Einkleidung 
findet sich das gleiche Motiv in der »Eines Nachts« betitelten Er¬ 
zählung von J. E. Poritzky^ Dem in der Blüte der Jahre stehen^ 
den Helden der feinen Skizze scheint sich eines Nachts »ein Faust 
an Alter und Weisheit« anzuschließen zu tiefsinnigem, erinnerungs¬ 
reichem Zwiegespräch. Der Alte erzählt von einer tags zuvor erlebten 
Mitternachtsstunde, in der ihn vor dem Spiegel eine Erinnerung aus 
der Kinderzeit überkam, welche die abergläubische Furcht, um Mitter¬ 
nacht in den Spiegel zu schauen, zum Inhalt hatte. »Ich lächelte in 
Erinnerung daran und trat vor den Spiegel hin, als wollte ich heute 
noch die Legenden der Jugend Lüge strafen und verhöhnen. Ich 


^ Ähnliches findet sich bei Coleridge <Poems> und Baudelaire <FIeurs 
du Mal). Vom ersten sei das Gedicht »Verwandlung« <in der Nachdichtung von 
Hugo V. Hofmannsthal) erwähnt, das ähnlich wie Mussets Verse ein Zwie* 
gespräch zwischen dem Freund und dem Dichter darstellt, dem sein eigenes wahres 
Ich erscheint: 

»Bann es in eines Augenblickes Räume, 

So ist's ein bröckelnd Nichts vom Land der Träume. 

Nimm, Jahre haben dunkel dir gewirkt. 

Du siehst, was jedes Leben in sich birgt.« 

Von Baudelaire stehe hier als Beispiel eine Strophe aus »Le jeu« <über* 
setzt von Wolf v. Kaickreuth): 

»Das ist das schwarze Bild, das ich im bösen Traume 
Mit allzuklarem Blick erspäht in nächtger Zeit. 

Ich selber schaute in dem grauenhaften Raume 
Mich aufgestützt, stumm und von tiefem Neid.« 

Die Unmöglichkeit, von der Vorstellung des eigenen Ich loszukommen, hat 
Wedekind in dem Gedicht »Der Gefangene« geschildert. 

2 »Gespenstergeschichten.« Georg Müller, Verlag, München 1913. In der 
im selben Bande befindlichen Erzählung »Im Reiche der Geister« erscheint dem 
Studenten Orest Najaddin in geheimnisvoller Weise sein Doppelgänger <p. 84). 





Der Doppelgänger 


115 


blickte hinein, aber da meine Vorstellung ganz von meinen Knaben¬ 
jahren erfüllt war, und ich mich im Geiste so schaute, wie ich als 
Knabe ausgesehen hatte, da ich gewissermaßen ganz mein gegen^ 
wärtiges Sein vergessen hatte, blickte ich mit stierem Befremden in 
das durchfurchte Greisenantlitz, das mir aus dem Spiegel entgegen¬ 
blickte.« Diese Entrückung geht so weit, daß die Gestalt vor dem 
Spiegel mit ihrer ehemaligen Knabenstimme um Hilfe ruft und der 
Greis die Erscheinung schützen will, die plötzlich verschwunden ist. 
Er sucht sich Rechenschaft von dem Erlebnis zu geben: »Ich kenne 
die Spaltung unseres Bewußtseins sehr wohl,* mehr oder minder 
stark hat sie jeder schon empfunden: Jene Spaltung, in der man 
seine eigene Person in allen bereits durchlaufenen Verwandlungen 
schattenhaft am Auge vorüberziehen sieht ^ . . . Aber es liegt auch 
die Möglichkeit in uns, zuweilen unsere zukünftigen Lebensformen 
zu erblicken . . . dieses Schauen des zukünftigen Selbst ist manchmal 
so stark, daß wir glauben, fremde Menschen zu sehen, die sich 
körperlich leibhaftig von uns ablösen, wie ein Kind vom Mutterleibe. 
Und dann begegnet man diesen von unserem Ich heraufbeschworenen 
Erscheinungen der Zukunft und nickt ihnen zu. Das ist meine ge^ 
heimnisvolle Entdeckung 2 . Dem französischen Psychologen Ribot 
verdankt man einige sehr seltsame Beispiele seelischer Spaltung, die 
sich nicht schlechtweg, als Halluzinationen erklären lassen. Ein sehr 
intelligenter Mann besaß die Fähigkeit, seinen Doppelgänger vor sich 
hin zu bannen. Er lachte stets laut über die Vision und der Doppel¬ 
gänger antwortete mit dem gleichen Lachen. Lange Zeit hindurch 
belustigte ihn das gefährliche Spiel,* schließlich nahm es aber ein 
böses Ende. Er kam allmählich zu der Überzeugung, daß er von 
sich selbst verfolgt wurde, und da das andere Ich ihn unaus^ 
gesetzt plagte, neckte und ärgerte, beschloß er eines Tages diesem 
traurigen Dasein ein Ende zu machen.« Nach Anführung eines 
weiteren Beispiels fragt der Greis den Begleiter, ob er sich noch 
nie alt fühlte, trotz seiner fünfunddreißig Jahre, und als dieser ver^ 
neint, verabschiedet er sich. Der Jüngere will die Hand ergreifen, 
faßt aber zu seinem Erstaunen ins Leere,* weit und breit ist kein 
Mensch zu sehen. »Ich war allein und mir gegenüber stand ein 
Spiegel, dessen Gefangener ich war, und erst jetzt, als er meine Augen 
treigegeben hatte, sah ich, daß die Kerze tief herabgebrannt war 
. . . Hatte ich mit mir gesprochen? Hatte ich meinen Körper verlassen, 
und war ich erst jetzt in ihn zurückgekehrt? Wer weiß . . . Oder 


^ Wie in Mussets Versen. 

2 Man vergleidie dazu den in Hebbels Tagebüchern <3. VI. 1847) mit* 
geteilten Traum seiner Frau, wo sie in einem Spiegel ihr ganzes zukünftiges 
Leben sieht,* zuerst sieht sie ihr Gesicht ganz jugendlich, dann immer älter 
werdend und am Schluß wendet sie sich ab in der Furcht, ihr Gerippe werde nun 
kommen. Siehe auch Hebbels Eintragung vom 15. Dezember 1846: »Jemand, der 
sich selbst im Spiegel sieht, und um Hilfe schreit, weil er einen Fremden zu sehen 
glaubt/ man hat ihn nämlich angemalt.« 


8* 





116 


Otto Rank 


hatte ich mich, wie Narziß, gegen mich selber gekehrt und 
war dann den künftigen Gestalten meines eigenen Ich begegnet und 
habe ihnen zugenickt? Wer weiß . . .« 

Eine für manche späteren Bearbeiter vorbildliche Gestaltung 
hat Edgar Allan-Poe dem Doppelgängerstoff in seiner Novelle 
»William Wilson« gegeben. Der Held der in der ersten Person 
erzählten Geschichte, der sich William Wilson nennt, begegnet schon 
in seiner Kindheit auf der Schule einem Dcmpelgänger, der mit ihm 
Namen, Geburtstag, aber auch Gestalt, oprache, Benehmen und 
Gang so sehr teilt, daß sie für Brüder, ja sogar für Zwillinge 
gelten. Bald wird der sonderbare Namensvetter, der den Helden in 
allem und jedem nachahmt, zum treuen Kameraden, unzertrennlichen 
Gefährten, schließlich aber zum gefürchtetsten Rivalen. Nur durch 
seine Stimme, die sich über den Flüsterton nicht erheben kann, 
unterscheidet sich der Doppelgänger noch von seinem Vorbild,- aber 
auch diese ist in Tonfall und Aussprache identisch, so daß »sein 
eigenartiges Flüstern zum vollkommenen Echo meiner eigenen 
Stimme wurde«. ^ Trotz dieser unheimlichen Nachäffung ist der 
Held nicht fähig, sein Gegenstück zu hassen und vermag auch 
nicht, sich den von ihm »heimlich angedeuteten Ratschlägen«, denen 
er nur mit Widerwillen gehorcht, zu entziehen. Diese Toleranz wird 
einigermaßen dadurch gerechtfertigt, daß die Imitation anscheinend 
nur vom Helden selbst wahrgenommen wird, seinen Kameraden 
aber nicht weiter auffällt. Ein Umstand war einzig geeignet, den 
Helden in Ärger zu versetzen und das war die Nennung seines 
Namens. »Sein Klang war meinen Ohren abstoßend, und als ich 
am Tage meines Schulantrittes erfuhr, daß gleichzeitig ein zweiter 
William Wilson eintrete, war ich auf diesen zornig, weil er den 
verhaßten Namen trug, und dem Namen doppelt feind, weil auch 
noch ein Fremder ihn führte, der nun schuld war, daß ich ihn 
doppelt so oft hören mußte.« Eines Nachts schleicht der Held in 
die Schlafkammer seines Dojmelgängers und muß sich dort über¬ 
zeugen, daß die Züge des Schlafenden nicht das Resultat einer 
bloßen spöttischen Nachahmungssucht sein können. 

Entsetzt flieht er aus der Schule und kommt nach einigen 
Monaten eines Aufenthalts zu Hause als Student nach Eton. Dort 
beginnt er ein lockeres Leben zu führen und hat an die unheimliche 
Episode in der Schule längst vergessen, als ihm eines Nachts bei 
einem Zechgelage sein Doppelgänger, in der gleichen modernen 
Kleidung, nur mit undeutlichen Gesichtszügen, erscheint. Er flüstert 
nur warnend die Worte »William Wilson« und verschwindet. Alle 
Nachforschungen nach seinem Wesen und seinem Verbleib sind 


' übersetzt von Gisela Etzel <Poe: Das Feuerpferd u. a. Novellen. Mit 
15 Bildbeigaben von Alfred Kubin. Verlag Georg Müller, München 1910). Es sei 
darauf hingewiesen, daß Poe auch eine Parabel »Shadow« geschrieben hat <vgl. 
den Novellenband in Everyman's Library, p. 109). 





Der Doppelgänger 


117 


erfolglos. Es stellt sich nun heraus, daß er am selben Tage aus 
der Schule verschwunden war wie sein Vorbild. 

Bald danach geht der Held nach Oxford, wo er sein äußerst 
luxuriöses Leben fortsetzt, aber moralisch immer tiefer sinkt und 
auch vor den Kniffen des Falschspiels nicht zurückschreckt. Eines 
Abends, als er in Gesellschaft eben hohe Summen auf diese Weise 
gewonnen hatte, tritt der Doppelgänger plötzlich ein und enthüllt 
sein Gebaren. Beschämt und geächtet muß sich Wilson zurückziehen 
und verläßt am nächsten Morgen Oxford, um — ähnlich wie Mussets 
Dichter — durch ganz Europa ruhelos von Ort zu Ort zu fliehen. 
Aber überall durchkreuzt der Doppelgänger seine Unternehmungen, 
allerdings immer in einer Unheil verhütenden Weise. Endlich 
kommt es, nachdem Wilson beschlossen hatte, sich der drückenden 
Tyrannei des Unbekannten um jeden Preis zu entziehen, in Rom 
auf einem Maskenball zur Katastrophe. Eben versucht Wilson, sich 
der reizenden Gattin seines alternden Gastgebers zu nahen, als ihn 
eine Hand an der Schulter faßt. Er erkennt in der Maske, die 
genau wie er gekleidet ist, seinen Doppelgänger und zieht ihn in 
einen Nebenraum, wo er ihn zum Duell herausfordert. Nach kurzem 
Zweikampf stößt er dem Doppelgänger den Degen ins Herz. Da 
rüttelt jemand an der Türe, Wilson wendet sich für einen Augen^ 
blick ab, aber im nächsten Moment hat sich die Situation in über^ 
raschender Weise geändert. »Ein großer Spiegel — so schien es 
mir zuerst in meiner Verwirrung — stand jetzt da, wo vorher 
keiner gewesen war,* und als ich im höchsten Entsetzen zu ihm 
hinschritt, näherten sich mir aus seiner Fläche meine eigenen Züge 

— bleich und blutbesudelt — meine eigene Gestalt, ermatteten 
Schrittes. So schien es, sage ich, doch war es nicht so. Es war mein 
Gegner — es war Wilson, der da im Todeskampfe vor mir stand. 
Seine Maske und sein Mantel lagen auf dem Boden, da, wo er sie 
hingeworfen. Kein Faden an seinem Anzug — keine Linie in den 
ausgeprägten und eigenartigen Zügen seines Antlitzes, die nicht bis 
zur vollkommenen Identität mein eigen gewesen wären! Es war 
Wilson,- aber seine Sprache war kein Flüsterton mehr, und ich hätte 
mir einbilden können, ich selber sei es, der da sagte: ,Du hast 
gesiegt, und ich unterliege. Dennoch, von nun an bist auch du tot 

— tot für die Welt, den Himmel und die Hoffnung! In mir lebtest 
du — und nun ich sterbe, sieh hier im Bilde, das dein eigenes ist, 
wie du dich selbst ermordet hast'.« 

Wohl die erschütterndste und psychologisch tiefste Darstellung 
hat unser Thema in Dostojewskis Jugendroman »Der Doppel^ 
gänger« <1846) gefunden. Er schildert den Ausbruch einer geistigen 
Störung bei einem Menschen, der sich dessen — bei fehlender Kranke 
heitseinsicht — nicht bewußt ist und der alle seine peinlichen Erlebe 
nisse in paranoischer Auslegung als Verfolgungen seiner Feinde 
ansieht. Das allmähliche Hineingleiten in den Wahn und dessen 
Vermengung mit der Realität — eigentlich der ganze Inhalt der an 




118 


Otto Rank 


äußerer Handlung armen Erzählung — ist mit unübertrefflicher 
Meisterschaft geschildert. Die hohe künstlerische Leistung ist gekenn¬ 
zeichnet durch die vollkommene Objektivität der Schilderung, die 
nicht nur keinen Zug des paranoischen Krankheitsbildes übersieht, 
sondern die Wahnbildung vom Standpunkt ihres Opfers selbst auf 
die Umgebung wirken läßt. Die in wenige Tage zusammengedrängte 
Entwicklung bis zur Katastrophe ließe sich kaum anders als durch 
Abdruck der ganzen Erzählung wiedergeben Hier können nur kurz 
die einzelnen Etappen bezeichnet werden. 

Der unglückliche Held der Geschichte, Titularrat Goljädkin, 
kleidet sich eines Morgens, anstatt ins Amt zu gehen, mit besonderer 
Sorgfalt und Eleganz an, um zu einem Diner beim Staatsrat Berendejeff 
zu fahren, seinem »Wohltäter seit undenklichen Zeiten, der mir in 
gewissem Sinne den Vater ersetzt hat«. Doch schon auf dem Wege 
passiert ihm allerlei, was ihn zunächst zu einer Änderung seiner Ab^ 
sicht bestimmt. Aus dem Wagen bemerkt er zwei junge Kollegen 
des Amtes, von denen ihm schien, als hätte der eine mit dem Finger 
nach ihm gewiesen, während der andere laut seinen Namen gerufen 
habe. Im Arger über »diese dummen Jungen« wird er von einem 
neuen, noch peinlicheren Erlebnis gestört. An seinem Wagen rollt die 
elegante Equipage seines Abteilungschefs, Andrej Philippowitsch, vorbei, 
der sich offenbar wundert, seinen Unterbeamten unter solchen Um^ 
ständen zu sehen. Goljädkin fragt sich »in unbeschreiblich qualvoller 
Beklemmung:« »Soll ich ihn erkennen oder soll ich tun, als wäre ich 
gar nicht ich, sondern irgendein anderer, der mir zum Verwechseln 
ähnlich sieht?« »Jawohl, ich bin einfach nicht ich . . . ganz einfach, bin 
ein ganz anderer — und nidits weiter.« Und er grüßt den Vorgesetzten 
nicht. Im reuevollen Nachdenken über diese begangene Dummheit und 
die Bosheit seiner Feinde, die ihn dazu genötigt hatte, empfand Herr 
Goljädkin »das dringende Bedürfnis, zu seiner eigenen Beruhigung 
etwas sehr wichtiges seinem Arzt Krestjan Iwanowitsch mitzuteilen«, 
obwohl er ihn erst seit wenigen Tagen kannte. Dem Doktor, dem 
er in äußerster Verlegenheit gegenübersteht, vertraut er in um^ 
stündlicher Erzählung und mit der charakteristischen Unbestimmt^ 
heit der Paranoischen, daß ihn Feinde verfolgen, »gehässige Feinde, 
die sich verschworen haben, mich zugrunde zu richten«. Er wirft 
nebenbei hin, daß man auch vor Gift nicht zurückscheuen würde, 
daß es aber vorwiegend auf seinen moralischen Tod abgesehen sei, 
bei dem die geheimnisvoll angedeutete Beziehung zu einer Frau die 
Hauptrolle spiele. Diese, eine deutsche Köchin, mit der man ihn 
in verleumderische Beziehungen bringt, und Klara Olssuphjewna, 
die Tochter seines alten Protektors, zu dem er eben am Beginn der 
Geschichte fahren will, beherrschen seine überaus fein und charak^ 
teristisch dargelegten erotomanischen Phantasien. In der Überzeugung, 


^ Dostojewskis sämtlidie Werke, herausgegeben von Meresdikowski und 
Moeller van den Brude. Bd. XIV, p. 237 bis 500. — Deutsch von E. K. Rahsin. 





Der Doppelgänger 


119 


daß »im Nest dieser abscheulichen Deutschen sich die ganze Macht 
der bösen Kräfte verbirgt«, gesteht er dem Arzt unter Scham, daß 
sein Abteilungschef und dessen eben avancierter Neffe, der sich 
um Klara bewirbt, über ihn Klatschgeschichten verbreiten: er habe 
der Köchin, bei der er früher wohnte, an Stelle seiner Schuld für 
das Essen ein schriftliches Heiratsversprechen geben müssen, sei 
also »bereits der Bräutigam einer anderen.« 

Beim Staatsrat, wo er etwas zu früh erscheint, wird ihm 
bedeutet, daß man ihn nicht empfange,- er muß beschämt abziehen 
und sehen, wie die anderen Gäste, darunter sein Abteilungschef 
und dessen Neffe vorgelassen werden. Später schleicht er sich 
unter beschämenden Umständen doch zu der Feierlichkeit ein, die 
zu Ehren von Klaras Geburtstag stattfindet. Er benimmt sich bei 
der Gratulation höchst ungeschickt und erregt allgemein Anstoß. 
Als er dann noch beim Tanz mit Klara stolpert, entfernt man ihn 
gewaltsam aus der Gesellschaft. 

Um Mitternacht eilt er, »um sich vor seinen Feinden zu retten«, 
in einem fürchterlichen Wetter ziellos durch die menschenleeren 
Straßen Petersburgs. Er sah aus, »als wolle er sich vor sich selbst 
verstecken, als wolle er am liebsten vor sich selbst fortlaufen«. Er^ 
schöpft und in namenloser Verzweiflung bleibt er endlich am Kanal 
stehen, auf das Geländer gestützt. Plötzlich »schien es ihm, daß im 
Augenblick jemand neben ihm, dicht neben ihm gestanden hatte, 
gleidifalls auf das Geländer gestützt, und — seltsam! — es war, 
als habe der Betreffende ihm sogar etwas gesagt, schnell und kurz 
und nicht ganz deutlich, aber ir^ndetwas ihm Naheliegendes, etwas, 
das ihn persönlich anging«. Er sucht sich über diese sonderbare 
Erscheinung zu beruhigen, aber beim Weitergehen kommt ihm ein 
Mann entgegen, den er für die Hauptperson der gegen ihn gerich^ 
teten Intrige hält und der ihm in der Nähe Entsetzen einflößt durch 
die auffällige äußere Übereinstimmung: »Er ging gleichfalls sehr 
eilig, war gleichfalls ganz vermummt . . . und ging wie er, Herr 
Goljädkin, mit kleinen, schnellen, trippelnden Sdiritten . . .« Noch 
ein drittesmal begegnet ihm zu seiner maßlosen Überraschung der¬ 
selbe Unbekannte,- Goljädkin läuft ihm nach, ruft ihn an, entschuldigt 
aber dann im Scheine der nächsten Laterne seinen Irrtum. Trotzdem 
zweifelte er nicht daran, den Mann genau zu kennen, »er wußte 
sogar wie er hieß, mit dem Familiennamen und mit dem Ruf- und 
Vatersnamen. Und doch hätte er ihn selbst für alle Schätze der 
Welt nicht mit Namen genannt«. Im Verlaufe der weiteren Über^ 
legungen begann er, die unheimliche Begegnung, die ihm nunmehr 
unvermeidlich schien, je schneller desto lieber herbeizuwünschen und 
tatsächlich ging der Unbekannte bald darauf in kurzer Entfernung 
vor ihm her. Unser Held befand sich jetzt auf dem Nachhause¬ 
wege, den der unverkennbare Doppelgänger vollkommen genau zu 
kennen schien,- er trat in Herrn Goljädkins Haus ein, eilte behende 
die halsbrecherische Treppe hinauf und trat schließlich in die Woh- 




120 


Otto Rank 


nung ein, die der Diener bereitwillig öffnete. Als Herr Goljädkin 
atemlos in sein Zimmer trat, saß »der Unbekannte vor ihm auf 
seinem Bett, gleichfalls im Hut und Mantel«,- unfähig seinen Emp¬ 
findungen irgendwie Luft zu machen, setzt er »sich starr vor Schreck 
neben den anderen hin . . . Herr Goljädkin erkannte sofort seinen 
nächtlichen Freund. Dieser nächtliche Freund aber war niemand 
anders als er selbst — ja: Herr Goljädkin selbst, ein anderer Herr 
Goljädkin und doch Herr Goljädkin selbst — mit einem Wort und 
in jeder Beziehung war er das, was man einen Doppelgänger 
nennt.« 

Der mächtige Eindruck dieses Erlebnisses vom Schluß des 
vergangenen Tages macht sich am nächsten Morgen durch Verstärk 
kung der Verfolgungsideen bemerkbar, die nun immer deutlicher 
von dem Doppelgänger auszugehen scheinen, der bald leibhaftige 
Gestalt annimmt und nicht mehr aus dem Mittelpunkt der Wahn^ 
gebilde verschwindet. Im Bureau, wo er »einen Verweis wegen 
Vernachlässigung des Dienstes« befürchten muß, findet der Held an 
seinem Nebenplatz einen neuen Beamten, der niemand anderer ist 
als der zweite Herr Goljädkin. Dabei aber »ein anderer Herr GoL 
jädkin, ein vollkommen anderer, und zugleich doch einer, der volL 
kommen ähnlich dem ersten war. Von gleichem Wuchs, derselben 
Gestalt und Haltung, ebenso gekleidet, ebenso kahlköpfig — kurz, 
es war nichts, aber auch nichts zur vollkommenen Ähnlichkeit ver^ 
gessen worden, so daß, wenn man die beiden nebeneinander auf¬ 
gestellt hätte, niemand, aber auch wirklich niemand hätte sagen 
können, wer der wirkliche Herr Goljädkin und wer der nachgemadite 
sei, wer der alte und wer der neue, wer das Original und wer die 
Kopie«. Und doch ist dieses getreue »Spiegelbild«, das sogar die^ 
selben Vornamen hat und aus derselben Stadt gebürtig ist, so daß 
die beiden für Zwillinge gelten, in seinen Charaktereigenschaften 
gewissermaßen ein Gegenstück seines Vorbildes: er ist ein Drauf¬ 
gänger, Heuchler, Schmeichler und Streber, der sich überall beliebt 
zu machen weiß und so seinen unbeholfenen, schüchternen, patho^ 
logisch aufrichtigen Konkurrenten bald ausgestochen hat^. 

Das sich nunmehr entwickelnde Verhältnis des Herrn Goljädkin 
zu seinem Doppelgänger, dessen Darstellung den Hauptinhalt des 
Romans bildet, kann hier nur in seinen wichtigsten Phasen fixiert werden. 
Anfangs kommt es zu einer äußerst intimen Freundschaft, ja sogar 
zu einem Bündnis gegen die Feinde des Helden, der seinem neuen 
Freunde die wichtigsten Geheimnisse mitteilt: »Ich liebe, ich liebe 
dich, liebe dich brüderlich, sage ich dir. Aber zusammen Sascha, da 
wollen wir ihnen einen Streich spielen.« Aber bald wittert Goljäd^ 
kin in seinem Ebenbilde den Hauptfeind und sucht sich gegen ihn 
zu schützen: sowohl im Amt, wo der Doppelgänger ihm die Gunst 


* Einzelne Züge seiner Karriere erinnern auffällig an das Hauptmotiv in 
E. T. A. Hoffmanns Märdien »Klein Zadies«. 





Der Doppelgänger 


121 


der Kollegen und Vorgesetzten abspenstig macht, als auch im Privat*' 
leben, wo er bei Klara zu reüssieren scheint. Der widerwertige Kerl 
verfolgt den Helden bis in seine Träume, in denen er, auf der Flucht 
vor dem Doppelgänger, sich von einer großen Schar von Eben^ 
bildern ungeben sieht, denen er nicht entkommen kann <p. 411).^ 
Aber auch im Wachen quält ihn dieses unheimliche Verhältnis der^ 
art, daß er schließlich den Gegner zum Duell auf Pistolen heraus¬ 
fordert. Neben diesem typischen Motiv fehlen auch hier nicht die 
Spiegelszenen, für deren Bedeutsamkeit es zu sprechen scheint, daß 
die Erzählung mit einer solchen beginnt. »Kaum war er nun aus 
dem Bett gesprungen, so war das erste, was er tat, daß er zu dem 
runden Spiegelchen stürzte, das auf der Kommode stand. Und ob^ 
wohl das verschlafene Gesicht mit den kurzsichtigen Augen und dem 
ziemlich gelichteten Haupthaar, das ihm aus dem Spiegel engegen*' 
schaute, von so unbedeutender Art war, daß es ganz entschieden 
sonst keines Menschen Aufmerksamkeit hätte fesseln können, schien 
der Besitzer desselben doch mit dem Erlebten sehr zufrieden zu 
sein.« Im Stadium der höchsten Verfolgung durch den Doppelgänger, 
als Goljädkin am Buffet eines Restaurants ein Pastetchen zu sich 
nimmt, fordert man von ihm für das Zehnfache Bezahlung, mit dem 
bestimmten Hinweis, er habe so viel gegessen. Sein sprachloses Er*' 
staunen weicht einem Verständnis, da er aufblickt und in der gegen¬ 
überliegenden Türe, »die unser Held vorhin als Spiegelglas ange¬ 
sehen«, den anderen Herrn Goljädkin erkennt, mit dem man ihn 
verwechselte und der es in dieser Weise gewagt hatte, ihn blo߬ 
zustellen. Einer ähnlichen Täuschung unterliegt der Held, als er in 
größter Verzweiflung seinen höchsten Vorgesetzten aufsucht, um sich 
seinem »väterlichen« Schutz anzuvertrauen. Sein unbeholfenes Ge¬ 
spräch mit Ihrer Exzellenz unterbricht plötzlich »ein sonderbarer Gast. 
In der Tür, die unser Held bis jetzt für einen Spiegel angesehen 
hatte, wie es ihm schon einmal passiert war — erschien er — wir 
wissen ja schon wer: der Bekannte und Freund Herrn Goljädkins«. 

Durch sein sonderbares Benehmen gegen Kollegen und Vor¬ 
gesetzte bringt es Goljädkin zur Entlassung aus dem Dienste. Aber 
die eigentliche Katastrophe knüpft sich, wie die aller anderen Doppelt 
gängerhelden an ein Weib, an Klara Olssuphjewna. In Korrespon¬ 
denzen mit seinem Doppelgänger und mit Wachramejeflf, einem der 
»Verteidiger« der »deutschen Köchin«, verwickelt, erhält Goljädkin 
einen Brief zugesteckt, der seine erotomanischen Phantasien aufs 
neue entfacht. In diesem Briefe bittet Klara Olssuphjewna, sie 
vor einer ihr wider Willen aufgezwungenen Verheiratung zu 
schützen und mit ihr, die bereits der Arglist eines Nichtswürdigen 
zum Opfer gefallen sei und sich nun ihrem edlen Retter anvertraut, 
zu entfliehen. Nach vielfachen Bedenken und Überlegungen beschließt 


^ Ein ähnlicher Angsttraum von zahlreichen Ebenbildern des eigenen Ich 
bei Jerome K. Jerome »Roman^Studien« (Engelhorn^Bibl. XII, 19, p. 38>. 





122 


Otto Rank 


der mißtrauisdie Goljädkin dem Rufe dodi Folge zu leisten und 
Klara, wie angegeben, um 9 Uhr abends im Wagen vor ihrem 
Hause zu erwarten. Aber auf dem Wege zum Stelldichein untere 
nimmt er noch einen letzten Versuch, alles in Ordnung zu bringen. 
Er will sich Seiner Exzellenz als einem Vater zu Füßen werfen 
und von ihm Rettung vor dem schändlichen Doppelgänger erflehen. 
Er würde sagen: »Er ist ein anderer Mensch, Ew. Exzellenz, und 
auch ich bin ein anderer Mensch! Er ist einer für sich und ich bin 
einer für mich, wirklich, ich bin ganz für mich.« Doch wie er vor dem 
hohen Herrn steht, wird er verlegen, beginnt zu stottern und zu fabeln, 
so daß die Exzellenz und ihre Gäste bedenklich werden. Besonders 
der anwesende Doktor, derselbe den Goljädkin konsultiert hatte, beob^ 
achtet ihn scharf, und natürlich ist auch wieder sein bei Exzellenz in 
Gunst stehender Doppelgänger da, der ihn schließlich hinauswirft. 

Nachdem Goljädkin lange Zeit im Hofe von Klaras Hause 
verborgen gewartet und dabei alles Für und Wider seines Vor^ 
habens nochmals erwogen hatte, wird er plötzlich von den hell 
erleuchteten Fenstern der Wohnung aus entdeckt und — natürlich 
von seinem Doppelgänger — in der liebenswürdigsten Weise ins 
Haus eingeladen. Er glaubt seinen Plan entdeckt und ist auf das 
Ärgste vorbereitet/ statt dessen geschieht nichts dergleichen, im Gegen¬ 
teil wird er von allen liebenswürdig und zuvorkommend empfangen. 
Eine glüddiche Stimmung überkommt ihn und er fühlt sich voll 
Liebe, nicht nur zu Olssuph Iwanowitsch, sondern zu allen Gästen, 
sogar zu seinem gefährlichen Doppelgänger, der durchaus nicht mehr 
böse, der gar nicht mehr der Doppelgänger zu sein schien, sondern 
ein ganz gleichgiltiger und liebenswürdiger Mensch.« Dennoch hat 
der Held von den Gästen den Eindruck, daß sich etwas Besonderes 
vorbereiten müsse,* er glaubt, es handle sich um eine Versöhnung 
mit seinem Doppelgänger und reicht ihm die Wange zum Kusse,* 
doch schien es ihm, »als tauchte etwas Böses in dem unedlen Gesicht 
Herrn Goljädkins des Jüngeren auf — die Grimasse des Judas¬ 
kusses ... Im Kopfe Herrn Goljädkins dröhnte es und vor seinen 
Augen wurde es dunkel: ihm schien eine endlose Reihe Goljädkin^ 
scher Ebenbilder mit großem Geräusch durch die Tür ins Zimmer 
zu stürmen«. In Wirklichkeit tritt dort unerwartet ein Mann ein, 
bei dessen Anblick unseren Helden Entsetzen faßt, obwohl er 
»schon früher alles gewußt und ähnliches geahnt« hatte. Es ist der 
Doktor, wie der triumphierende Doppelgänger ihm boshaft zuflüstert. 
Der Doktor nimmt den bedauernswerten Goljädkin, der sidi vor 
den Anwesenden zu rechtfertigen sucht, mit sich fort und besteigt 
mit ihm einen Wagen, der sich sogleich in Bewegung setzt. »Gel¬ 
lende, ganz unbändige Schreie seiner Feinde folgten ihm als Ab^ 
schiedsgrüße auf den Weg. Eine Zeitlang hielten noch mehrere Ge^ 
staken mit dem Gefährt gleichen Schritt und sahen in den Wagen 
hinein. Allmählich jedoch wurden ihrer immer weniger, bis sie schlie߬ 
lich verschwanden und nur noch der schamlose Doppelgänger Herrn 




Der Doppelgänger 


123 


Goljädkins übrig blieb«, der bald links, bald redits neben dem Wagen 
herlaufend, zum Abschied Kußhände warf. Schließlich verschwindet 
auch er und Goljädkin verfällt in Bewußtlosigkeit, aus der er im 
Dunkel der Nacht neben seinem Begleiter erwacht und von ihm 
erfährt, daß er von Staatswegen freie Station erhalte: »Unser Held 
stieß einen Schrei aus und griff sich an den Kopf. Das war es: und 
das hatte er schon lange geahnt!« 

Alle diese Erzählungen weisen, abgesehen von der in Form 
verschiedener Typen gestalteten Doppelgängerfigur, eine Reihe so 
auffällig übereinstimmender Motive auf, daß es kaum nötig scheint, 
sie noch besonders hervorzuheben. Immer handelt es sich um ein 
dem Helden bis auf die kleinsten Züge, wie Namen, Stimme, 
Kleidung ähnliches Ebenbild, das wie »aus dem Spiegel gestohlen« 
(Hoffmann> dem Helden auch meist im Spiegel erscheint,- immer 
auch tritt dieser Doppelgänger seinem Vorbild hindernd in den Weg 
und in der Regel kommt es beim Verhältnis zum Weib zur Kata¬ 
strophe, die meist in Selbstmord — auf dem Umweg des dem 
lästigen Verfolger zugedaditen Todes — endet. In einer Anzahl von 
Fällen ist dies verquickt mit einem regelrechten Verfolgungswahn 
oder gar ersetzt durch einen solchen, der dann zu einem vollkom^ 
menen paranoischen Wahnsystem ausgestaltet erscheint. 

Die Aufzeigung dieser gemeinsamen typischen Züge bei einer 
Reihe von Autoren soll nicht so sehr deren literarische Abhängigkeit 
beweisen, die in einigen Fällen ebenso sicher wie in anderen unmöglich 
ist, als vielmehr auf die identische seelische Struktur dieser Diditer 
aufmerksam machen, die wir nun etwas näher betrachten wollen. 

III. 

»Liebe zu sidi selbst ist immer der An¬ 
fang eines romanhaften Lebens . . . denn 
nur wo das Ich eine Aufgabe ist, hat 
es einen Sinn zu schreiben.« 

Thomas Mann. 

»Dichter sind doch immer Narzisse.« 

W. Schlegel. 

Es kann nicht unsere Absicht sein, Leben und Schaffen der 
hier in Betracht kommenden Dichter pathographisch oder gar ana¬ 
lytisch zu durchforschen,- nur ein Querschnitt durch eine bestimmte 
Schichte ihrer seelischen Konstitution soll die weitgehenden Überein¬ 
stimmungen in gewissen Grundzügen erweisen, aus denen dann die 
gleichen psychisdien Reaktionen folgen. 

Als oberste Gemeinsamkeit fällt auf, daß die uns hier inter¬ 
essierenden — wie einige gleichgeartete ^ — Dichter ausgesprochen 

‘ Nahe stehen etwa noch: Villiers de TIsIe-Adam, Baudelaire, 
Strindberg, Kleist, Günther, Lenz, Grabbe, Hölderlin. 





124 


Otto Rank 


pathologisdie Persönlidikeiten waren, die das sonst dem Künstler 
zugestandene Maß von Neurotik nadi mehr als einer Richtung über^ 
schritten. Sie litten nämlich nicht nur offenkundig an psychischen 
Störungen oder Nerven- und Geisteskrankheiten, sondern bewiesen 
auch im Leben ein ausgesprochen exzentrisches Tun und Treiben, 
sei es daß sie im Trinken, im Gebrauch von Opiaten, in Sexualibus 
— mit besonderer Betonung des Abnormen — exzedierten. 

Von Hoffmann, der von einer hysterischen Mutter stammt, 
ist bekannt, daß er nervös, exzentrisch und Stimmungen stark untere 
worfen war, ja daß er an Halluzinationen, Wahnideen und Zwangs^ 
Vorstellungen litt, die er in seinen Dichtungen darzustellen liebte^. 
Er hatte Ar^st, wahnsinnig zu werden und »glaubte manchmal sein 
leibhaftiges Spiegelbild, seinen Doppelgänger und andere spukhafte 
Gestalten in Vermummung vor sich zu sehen« <Klinke>. Die DoppeL 
gänger und Schauergestalten sah er, wenn er sie beschrieb, wirklich 
um sich und weckte deshalb bei nächtlicher Arbeit oft in Angst 
seine Frau, um ihr die Gestalten zu zeigen*. Nach einem Gelage 
schrieb er ins Tagebuch: »Anwandlung von Todesgedanken: Doppelt¬ 
gänger« <Hitzig I, 174, 275). Er ging mit 47 Jahren an einer Nerven¬ 
krankheit zugrunde, die Klinke als Chorea diagnostiziert, die aber 
auch als Paralyse aufgefaßt wurde und die jedenfalls auf seine neu^ 
ropathische Konstitution schließen läßt, die er mit den meisten seiner 
noch zu besprechenden Schicksalsgenossen teilt. 

So mit Jean Paul, der gleichfalls an Angst vor dem Wahnsinn 
litt und mit schweren seelischen Erschütterungen zu kämpfen hatte, 
um sich zum Schaffen durchzuringen. Im Mittelpunkt seiner Seelen^ 
kämpfe steht das Verhältnis zum Ich, dessen Bedeutung für die 
psychischen Störungen und die dichterischen Gestalten Jean Pauls 
sein Biograph Schneider eingehend würdigt. »Als eine der merk¬ 
würdigsten Erinnerungen aus seiner Kindheit erzählt Jean Paul, daß 
ihm einst als Knaben das innere Gesicht ,ich bin ein Ich' wie ein 
Blitzstrahl vom Himmel kam und seitdem leuchtend vor ihm stehen 
blieb ... In der Leipziger Zeit drängt sich ihm jene mächtige Emp^ 
findung des eigenen Selbst wie ein schreckendes Gespenst auf.« <1. c.). 
»Vorher die Geschichte«, schreibt der Dichter 1819 in sein Vita^ 
buch, »wie ich einmal Nachts in Leipzig nach ernstem Gespräche 
Oerthel ansehe und er mich, und uns beiden vor unserem Ich 


^ Vgl. dazu Klinke <1. c.), Schaukal: Hoffmann <»Die Dichtung«, 
Bd. XII, Berlin 1904) sowie die dort zitierten Quellen, namentlich Hitzigs Er^ 
innerungen »Aus HofFmanns Leben«. 2 Teile, Berlin 1823. 

Hoffmann, der die psychiatrische und okkulte Literatur gut kannte, hat 
auch von dort her Anregung für seine Stoffe geschöpft. Insbesondere Schuberts 
damals stark gelesenen Büchern soll Hoffmann viel verdanken. In der 1814 er^ 
schienenen »Symbolik« heißt es, daß das Gefühl »einer doppelten Persönlichkeit vom 
Nachtwandler und auch nach langen Krankheiten empfunden wird und sie ist bei 
Wahnsinn mit leichten Intervallen und im Traume wirklich vorhanden« <p. 151>. 

2 ln Maupassants »Lui« nimmt sich der Held eine Frau, um vor solchen 
Anwandlungen geschützt zu sein. 





Der Doppelgänger 


125 


schaudert.« . . . »Im ,Hesperus' läßt er das Ich bereits als unheim^ 
liches Gespenst vor sich erstehen, das wie mit einem Basiliskenblick 
auf den Beschauer wirkt. Schon sehen wir den Dichter an der künst¬ 
lerischen Ausgestaltung seiner Wahnidee. Er kann sie nicht mehr 
los werden, er verliert sich immer und immer wieder, wenn er ein^ 
sam ist, in die Betrachtung seines eigenen Ich . , . Aus dem Ich, 
dem ursprünglich empfundenen Absoluten im wirbelnden Wechsel 
der Relationen <»LInsichtbare Loge«), ist allmählich »der Ich« ge¬ 
worden, welcher bald als Traumgestalt durchsichtig und zitternd 
neben dem eigenen Ich steht, bald als Spiegelbild sich drohend 
emporreckt, gegen das Glas sich bewegt und heraustreten will. 
Immer weiter treibt es Jean Paul mit seiner furchtbaren Idee« 
(Schneider 1. c.>, deren künstlerische Ausgestaltung wir bereits 
verfolgt haben. 

In einem Atem mit Hoff mann ist man gewohnt Edgar 
Allan-Poe zu nennen, dessen Leben ebenso exzentrisch war wie 
sein Dichten^. Wie bei Hoffmann und Jean Paul finden sich auch 
hier ungünstige Verhältnisse im Elternhaus. Poe verlor seine Eltern 
mit zwei Jahren und wurde bei Verwandten erzogen. Schon in der 
Pubertät trat eine schwere Melancholie auf, als die Mutter eines 
Kameraden, die er sehr verehrte, starb. Um diese Zeit begann er 
auch schon mit dem Alkoholgenuß und verfiel später in Trunksucht, 
bis er, etwa in den letzten zehn Jahren seines Lebens, zum Opium 
griff. Mit 27 Jahren heiratete er seine kaum vierzehnjährige Cousine, 
die einige Jahre später an Schwindsucht starb, an der auch seine Eltern 
zugrunde gegangen waren. Bald nach dem Tode seiner Frau hatte 
er den ersten Anfall von Delirium tremens. Eine zweite Ehe kam 
nicht zustande, weil er am Tage vor der Hochzeit unmäßig Alkohol 
genossen hatte und exzedierte Im Jahre seines Todes knüpfte er 
noch Beziehungen mit einer inzwischen verwitweten Jugendgeliebten 
an. Er starb, nur 37 Jahre alt, angeblich an Delirium tremens. 
Neben den typisch alkoholistischen und epileptischen Charakterzügen 
weist Poe Angstvorstellungen (besonders vor dem Lebendigbegraben¬ 
werden) und zwangsneurotische Grübelsucht auf (man vergleiche die 
Novellen: »Berenice«, »The telLtale Heart« etc.). Sein Pathograph 
Probst nennt ihn feminin und betont die Asexualität seiner Phan¬ 
tasien: »es fehlt ihm die Geschlechtsliebe«, was er als Folge des 
Alkohol- und Opiumgenusses ansieht. Außerdem schildert er ihn 
als egozentrisch: »all sein Denken dreht sich nur um sein Id\« (1. c. 
p. 25). Die Novelle »William Wilson« gilt allgemein als Selbst^ 
bekenntnis Poes und er schildert ja darin auch einen Menschen, der 


1 Hanns Heinz Ewers: Poe. Berlin 1905. — H. Probst: Poe (Grenz-^ 
fragen der Lit. und Mediz. hg. von S. Rahmer, H. VIII) München 1908. 

2 Baudelaire erklärt in seinem feinen Essai über Poe diese Tatsache 
psychologisch daraus, daß der Dichter seiner ersten Frau treu bleiben wollte und 
darum die Entlobung provozierte <BaudeIaires Werke, deutsch von Max Bruns, 
Bd. III). 





126 


Otto Rank 


durch Spiel und Trunksucht immer mehr herabkommt, um sich schlie߬ 
lich gegen sein besseres Selbst zugrunde zu richten. 

Ähnlich, wenn auch von größerer Tragik, ist das Leben und 
Leiden Maupassants^ Auch er stammt, wie Hoffmann, von 
einer ausgesprochen hysterischen Mutter und war zweifellos zu seiner 
durch einen äußeren Anlaß verursachten geistigen Erkrankung stark 
prädisponiertWie Poe im Alkohol, so exzedierte Maupassant 
in der Liebe. Zola sagt von ihm: »Er war ein gefürchteter Mädchen¬ 
jäger, der von seinen Streifzügen immer die erstaunlichsten Frauen^ 
Zimmergeschichten mitbrachte, allerlei unmögliche Liebesabenteuer, bei 
deren Erzählung unserem guten Freunde Flaubert vor Lachen 
die Tränen in die Augen traten.« Als sich Maupassant mit etwa 
28 Jahren bei Flaubert beklagt, daß er den Weibern keinen Ge^ 
Schmach mehr abgewinnen könne, schreibt ihm dieser: »Immer die 
Weiber, Schweinchen.« — »Zu viel Huren, zu viel Ruderei, zu viel 
Körperbewegung . . .« <Vorberg, p. 4>. Doch war er um diese Zeit 
ein kräftiger, gesunder, abenteuerlustiger Mensch von einer geradezu 
fabelhaften Arbeitskraft^. Aber schon im 30. Lebensjahre machten 
sich die ersten Anzeichen der progressiven Paralyse bemerkbar, 
der der Dichter mit 43 Jahre erlegen ist. Seine ursprünglich 
anekdotenhaften und ergötzlidien, oft von derber Sinnenlust strotzen^ 
den Geschichten machen allmählich düsteren Selbstbekenntnissen Platz, 
in denen die schwere Verstimmung dominiert. Sein Buch »Sur 
TEau« <1888) schildert diese Zustände in Tagebuchform. Nach 
und nach nahm Maupassant zu allerhand narkotischen Mitteln 
seine Zuflucht und scheint sich auch zeitweise mit ihrer Hilfe auf¬ 
recht erhalten zu haben. Ja, manche seiner Werke sollen nach seiner 
eigenen Angabe unter cier Einwirkung solcher Mittel geschrieben 
sein, was man auch von Poe, Hoffmann, Baudelaire u. a. 
behauptet hat. Wie diese Dichter, litt auch Maupassant, wenn¬ 
gleich aus anderer Ursache, an Halluzinationen und Illusionen, die 
er auch oft in seinen Werken geschildert hat. Später produzierte 
er eine Reihe interessanter Wahngebilde, hatte Größen- und Ver¬ 
folgungsideen und unternahm auch einen Selbstmordversuch. Lange 
vorher schon kämpfte er gegen den »inneren Feind«, den er im 
»Horla« so großartig dargestellt hat. Auch diese Novelle ist, ebenso 
wie »Lui« und vieles andere nichts als eine ergreifende Selbst¬ 
schilderung. Die innere Spaltung in sich hat er schon früh deutlich 
erkannt: »Weil ich in mir jenes Doppelsehen trage, das die Kraft 
und zugleich das Elend des Schriftstellers ist. Ich schreibe, weil ich 

^ Paul Mahn, Maupassant, Berlin 1908. 

Gaston Vorberg, Maupassants Krankheit <Grenzfragen des Nerven^ und 
Seelenlebens, herausgegeben von L. Löwenfeld, Heft 60>. Wiesbaden 1908. 

2 Für hereditäre Belastung spricht der Umstand, daß audi sein jüngerer 
Bruder Herve an Paralyse zugrunde ging. 

^ »Von 1880 bis 1890 schrieb er außer zahlreichen Zeitungsartikeln sechzehn 
Bände Novellen, sechs Romane und drei Bände Reiseschilderungen« <Vorberg, 
pag. 5>. 





Der Doppelgänger 


127 


empfinde, und idi leide an allem, was ist, weil idi es nur zu gut 
kenne und vor allem, weil ich, ohne es kosten zu können, es in mir 
selbst, in dem Spiegel meiner Gedanken sehe.« <Sur feau, 10. April.) 
Ähnlich wie Poe ist auch Maupassant stark egozentrisch eingestellt 
<»Mich ermüdet sehr rasch alles, was sich nicht in mir selbst volU 
zieht«) und trotz seines intensiven Sexuallebens hat er doch niemals 
das richtige Verhältnis zum Weib gefunden, die Liebe, »ein Glück, 
das ich nicht kannte und das ich in stiller Ahnung für das Höchste 
auf Erden hielt«. <Sur Teau.) Gerade die Frauen Tassen ihn deutlich 
seine Unfähigkeit zu wirklicher Hingabe fühlen: »Am meisten lassen 
mich die Frauen empfinden, daß ich allein bin . . . Nach jedem Kuß, 
nach jeder Umarmung wird das Vereinsamungsgefühl größer ... Ja, 
sogar in jenen Augenblicken, wo scheinbar ein geheimnisvolles Ein¬ 
verständnis besteht, wo sich Wunsch und Sehnsucht verschmelzen 
und man in die Tiefe ihrer Seele hinabzutauchen glaubt, läßt ein 
Wort, ein einziges Wort, uns unseren Irrtum erkennen und zeigt 
uns, wie ein Blitzstrahl in der Gewitternacht, den Abgrund zwischen 
uns beiden« <»Solitude«). Wie er hier von seinem Ich nicht zum 
Weibe loskommt, so flüchtet er in »Lui« von diesem unheimlichen 
und grauenhaften Ich zum Weib. Daß sich ihm die innerliche seeli¬ 
sche Spaltung auch direkt in der Doppelgängerphantasie objektivierte, 
zeigt eine von Sollier^ berichtete Halluzination Maupassants, 
die der Dichter »eines nachmittags im Jahre 1889 hatte und noch 
am Abend desselben Tages einem vertrauten Freunde erzählte. Er 
saß in seinem Arbeitszimmer am Schreibtisch. Der Diener hatte 
strengen Befehl, niemals einzutreten, während sein Herr arbeitete. 
Plötzlich kam es Maupassant vor, als wenn die Türe geöffnet 
würde. Er dreht sich um und zu seinem größten Erstaunen sieht 
er, wie seine eigene Person eintritt und ihm gegenüber Platz 
nimmt, den Kopf in der Hand haltend. Alles, was er schreibt, wird 
ihm diktiert. Als der Schriftsteller mit der Arbeit fertig war und 
aufstand, verschwand die Halluzination« <Vorberg, p. 16). 

Ähnliche Selbsterscheinungen hatten übrigens auch andere Dichter. Am 
bekanntesten ist wohl die von Goethe <am Schluß des elften Buches vom 
III. Teil seiner Selbstbiographie »Dichtung und Wahrheit«) berichtete Episode 
in Sesenheim, wo er von Friederike Abschied nahm und auf dem Fußpfad 
gegen Drusenheim fortritt. »Da überfiel mich eine der sonderbarsten 
Ahnungen. Ich sah nämlich, nicht mit den Augen des Leibes, sondern des 
Geistes, mich mir selbst, denselben Weg, zu Pferde wieder entgegenkommen, 
und zwar in einem Kleide, wie ich es nie getragen: es war hechtgrau mit 
etwas Gold. Sobald ich mich aus diesem Traum aufschüttelte, war Ae 
Gestalt ganz hinweg. Sonderbar ist es jedoch, daß ich nach acht Jahren in 
dem Kleide, das mir geträumt hatte und das ich nicht aus Wahl, sondern 
aus Zufall gerade trug, mich auf demselben Wege fand, um Friederiken 
noch einmal zu besuchen. Es mag sich übrigens mit diesen Dingen wie cs 
will verhalten, das wunderliche Trugbild gab mir in jenen Augenblicken des 
Scheidens einige Beruhigung. Der Schmerz, das herrliche Elsaß, mit allem. 


^ Paul SoIIier, »Les phenomenes d'autoscopie. Paris 1903, Felix Alcan. 





128 


Otto Rank 


was idi darin erworben, auf immer zu verlassen, war gemildert , , Ist 
hier der Wunsdi, die Geliebte nidit verlassen zu müssen, zweifellos der 
Antrieb zu dieser sich in entgegengesetzter Richtung bewegenden Selbst* 
erscheinung, so werden ähnliche Halluzinationen in verschiedenen anderen 
Situationen von Shelley berichtet^ 

Es ist nun bemerkenswert, daß auch C harn iss o, der Dichter 
des »Peter Schlemihl« ein ähnliches Doppeltsehen künstlerisch ver^ 
arbeitet hat: in dem Gedicht »Die Erscheinung«. Er schildert dort, 
wie er nach einem Gelage um Mitternacht naA Hause kommt und 
sein Zimmer vom Doppelgänger besetzt findet, wie Maupassant 
in >Lui«, Dostojewski im »Doppelgänger« u. a. m. 

Da ward mir ein Gesicht gar schreckenreich, — 

Ich sah mich selbst an meinem Pulte stehen. 

Ich rief: »Wer bist Du, Spuk?« — Er rief zugleich: 

»Wer stört mich auf in später Geisterstunde?« 

Und sah mich an und ward, wie ich, auch bleich. 

Es entspinnt sich nun zwischen beiden ein Streit darum, wer 
der Rechte sei^: 

»Es soll mein ächtes Ich sich offenbaren. 

Zu Nichts zerfließen dessen leerer Schein!« 

Der Dichter weist sich als einer aus, der stets nach dem Schönen, 
Guten, Wahren getrachtet habe, während sein Doppelgänger sich 
rühmt, feig, heuchlerisch und eigennützig gewesen zu sein, worauf 
der Dichter ihm als dem echten Selbst beschämt das Feld räumt. 

Wie die meisten der besprochenen Dichtungen wird auch Chamissos 
Peter SchlemihI allgemein als ausgesprochen autobiographisches Werk aner* 
kannt: »Peter SchlemihI ist Chamisso selbst/ ,dem ich vielmehr in dem Leibe 
stecke', sagt er in einem Briefe an Hitzig«®. Dafür spricht nicht nur die 
äußere Erscheinung Schlemihls und manches in seinem Wesen, sondern auch 
die anderen Personen, die unverkennbare Vorbilder in des Dichters Leben 
haben. Bendel hieß sein eigener Diener; die kokette, eitle und genußsüchtige 
Fanny hat ihr Urbild in Ceres Duvernay, der schönen, aber egoistischen^ 
Landsmännin des Dichters, »durch die er jahrelang glücklich und Unglück* 
lieh ward« und die hingebungsvolle schwärmerische Mina erinnert an Cha* 

* Downey: Literary SeIf*Projection. Psychol. Rev. XIX, 1912, p. 299. 

® Man vergleiche die Anmaßung des Schattens in Andersens Märchen. 
Die ethisierende Gegenüberstellung der Doppelgängerfigur als Personifikation der 
eigenen bösen Regungen findet sich besonders deutlich in den Fällen von Doppel* 
bewußtsein (Stevenson »Dr. Jekyll), aber auch bei Dostojewskis Goljädkin, 
und ist auch im »Studenten von Prag« angedeutet, während in »William Wilson« 
von Poe der Doppelgänger die Rolle eines Schutzengels oder Warners zu spielen sucht. 

® Chamisso von Ludw. Geiger (Dichter*Biographien, Bd. XIV, Reclam* 
Bibliothek). 

Geiger, Aus Chamissos Fruhzeit. Ungedruckte Briefe und Studien. Berlin 1905. 

Fr. Chabozy, Über das Jugendleben Chamissos zur Beurteilung seiner 
Dichtung Peter Schemihl. Diss. München 1879. 

^ Chamisso macht ihr darüber Vorwürfe in einem Briefe; »Tu es dans 
ton triste egoisme et dans ton faux orgueil, ma chere soeur, un vice que j'ai 
quelquefois repris avec vehemence et qu'il faut que je gourmande encore parce 
qu'il m'alarme et que c'est moi qu'il peut offenser (Chabozy, Anmerkung p. 7.). 





Der Doppelgänger 


129 


missos kurzes Liebesicfyll mit der Dichterin Helmina v. Chezy, Auf die 
persönlichen Wurzeln der Dichtung wirft auch die Anekdote Licht, die Cha^ 
misso als Anlaß erwähnt. »Ich hatte«, heißt es in einem Briefe, »auf einer 
Reise Hut, Mantelsadc, Handschuhe, Schnupftuch und mein ganzes beweg¬ 
liches Gut verloren, Fouque frug, ob ich nicht auch meinen Schatten ver¬ 
loren habe? und wir malten uns das Unglück aus«‘. Diese Szene zeigt deut* 
lieh, daß der unbeholfene und schüchterne Chamisso selbst in den Kreisen 
seiner Freunde als »Schlemihl« galt 2 . 

Daß er sich selbst als solchen gefühlt hat, geht aus einzelnen Gedichten 
deutlich hervor: so »Pech« und »Geduld«, beide aus dem Jahre 1828 <mit 
fast 50 Jahren), worin er sein »Unglück« schon in der Kindheit beginnen 
läßt. Aus dem' Jahre seiner Heirat <1819) stammt das Gedicht »Adelbert 
an seine Braut«, das den hohen Trost zeigt, den der Dichter für seine 
vielen Entsagungen endlich in der Liebe gefunden hatte. Auch in einem 
Brief vom Juni desselben Jahres preist er sidi glücklich, eine liebevolle Braut 
gefunden zu haben und kein »Schlemihl« geworden zu sein. 

Es muß auffallen, daß so viele von den hier in Betracht kom¬ 
menden Dichtern an schweren Nerven^ oder Geisteskrankheiten 
zugrunde gingen, wie Hoffmann, Poe, Maupassant, fernerhin 
Lenau, Heine und Dostojewski. Wenn wir diese Tatsache, zu^ 
nächst nur im Sinne einer besonderen hereditären Disposition be¬ 
trachten, darf doch nicht übersehen werden, daß diese sich eben oft 
schon vor dem Ausbruch des zerstörenden Leidens und auch in an^ 
derer Form zu äußern pflegt. So war Lenau unstät, lebensüber^ 
drüssig, melancholisch und trübsinnig^ und auch Heine litt unter 
Stimmungen und neurotischen Zuständen, ehe ihn die schwere 
Nervenkrankheit, an deren paralytischem Charakter neuerdings wieder 
gezweifelt wurde, niederwarf. Charakteristisch für den tief gewurzelten 

^ Ein andermal ging der Dichter, nach dem Bericht eines Freundes, mit 
Fouque in der Sonne spazieren, so daß der kleine Fouque nach seinem Schatten 
fast so groß aussah wie der hoch gewachsene Chamisso. Dieser soll nun den Freund 
mit der Drohung geneckt haben, ihm seinen Schatten aufzurollen. 

2 Über den Namen »Schlemihl« schreibt Chamisso am 27. März 1821 an 
seinen Bruder Hippolyt: »Schlemihl oder besser Schlemiel ist ein hebräischer Name 
und bedeutet Gottlieb, Theophil oder aime de dieu. Dies ist in der gewöhnlichen 
Sprache der Juden die Benennung von ungeschickten und unglücklichen Leuten, 
denen nichts in der Welt gelingt. Ein Schlemihl bricht sich den Finger in der 
Westentasche ab, er fällt auf den Rücken und bricht sich das Nasenbein, er kommt 
immer zur Unzeit, Schlemihl, dessen Name sprichwörtlich geworden, ist eine Person, 
von der der Talmud folgende Geschichte erzählt; Er hatte Umgang mit der Frau 
eines Rabbi, läßt sich dabei ertappen und wird getötet. Die Erläuterung stellt das 
Unglück dieses Schlemihl ins Licht, der so teuer das, was jedem anderen hingeht, 
bezahlen muß.« 

Nach Heine <Romanzero, drittes Buch, viertes Gedicht: Jehuda ben Halevy) 
stellt sich dieses letzte Unglück noch drastischer dar: Pinchas wollte den mit einem 
Weib buhlenden Simri erstechen, traf aber den ganz unschuldigen Schelumiel 
<Schlemiehl>. — Andere leiten den Namen von »schlimm mazzel« =»= unglückliches 
Schicksal ab <vgl. Jewish Encyclopedia). Nach Anton <Wb. d. Gauner- und Diebs^ 
spräche, Magdeburg 1843, p. 61) wäre der Name aus dem Jenischen und bedeutete 
Pechvogel. <Bekanntlich enthält die Gaunersprache viele jüdische Elemente.) 

3 Vgl, die psychographische Studie von J. Sadger (Schriften z. angew. 
Seelenkunde, herausgegeben von Freud, Heft VI, 1910). 

Imajo III/2 


9 





130 


Otto Rank 


Dualismus im Fühlen und Denken ist das frühzeitige Erkennen 
desselben, wie es uns bei Jean Paul gelegentlidi seines ersten Idi- 
erlebnisses in der Kindheit entgegengetreten ist und wie es auch 
Heine, Müsset und andere von sich berichten. In seinen Memoiren 
spricht Heine davon, daß er als Knabe selbst eine Art alteration de 
la personnalite erlitten und das Leben seines Großoheims zu führen 
geglaubt habe^. Und Müsset hat von sich erzählt, daß sich schon 
von seiner Knabenzeit an ein scharfer Dualismus durch sein Seelen¬ 
leben gezogen habe Welch deutliche Gestalt dieser mit der Zeit 
gewonnen hat, zeigt das besprochene Gedicht, in welchem bei allen 
bedeutungsvollen Anlässen der Doppelgänger erscheint. In seiner 
»Confession d'un enfant du siede« schildert der Dichter seine Ver¬ 
stimmungen wie auch seine Anfälle <acces de colere), deren ersten 
er im Alter von neunzehn Jahren aus Eifersucht auf seine Geliebte 
erlitten hatte Diese Eifersuchtsanfälle wiederholten sich später, 
besonders im Verhältnis mit der älteren George Sand, welches die 
beiden selbst als »inzestuös« charakterisierten. Nach dem Bruch dieses 
Liebesverhältnisses ergab sich der auch früher schon leichtsinnige 
Müsset dem Trünke und sexuellen Ausschweifungen und ging früh 
seelisch und körperlich zugrunde. 

Die Reihe der pathologischen Dichtergestalten beschließen zwei 
mit ausgesprochen schweren neurotischen Symptomen. Auch bei 
Ferdinand Raimund spielt zweifellos die ungünstige Disposition 
ebenso ihre Rolle ^ wie bei den geistesgestörten Dichtern, obwohl 
er vorwiegend an schweren Verstimmungen, Melancholie und hypo- 
'chondrischen Befürchtungen litt, die ihn schließlich zum Selbstmord 
trieben. Schon von seinen Jünglingsjahren an zeigte er abnorme Züge, 
— Reizbarkeit, Jähzorn, Mißtrauen etc., auch Selbstmordimpulse und 
-versuche — die sich im Laufe der Jahre zu einem schweren Ge¬ 
mütsleiden entwickelten. In der selbstbiographischen Skizze schreibt 
Raimund: »Durch die fortwährende geistige und physische An^ 
strengung und Kränkungen im Leben verfiel ich im Jahre 1824 
in eine bedeutende Nervenkrankheit, welche mich der Auszehrung 
nahe brachte.« Er glaubte sich von falschen Freunden hintergangen, 
Wutausbrüche wechselten mit tief melancholischer Resignation und 
Schlaflosigkeit stellte sich ein. Dazu hatte wahrscheinlich auch seine 
unglückliche, bald getrennte Ehe beigetragen, die als Endpunkt einer 
Reihe unglücklicher Liebesgeschichten erscheint,- immer wieder verfiel 
der Dichter dieser für ihn unseligen Leidenschaft, die ihn, wie er 

^ »Es gibt nichts Unheimlicheres, als wenn man bei Mondschein das eigene 
Gesicht zufällig im Spiegel sieht.« Heine <Harzreise>. 

2 Vgl. die Biographie des Dichters von seinem Bruder Paul. — Ferner Paul 
Lindau, Ä. de Müsset, 2. Aufl. Berlin 1877. 

® In seinem ersten Gedichtband, den er mit achtzehn Jahren veröfFentlidite, 
behandelte Müsset fast ausschließlich das Thema des Ehebruchs und der Untreue 
mit Duell der Rivalen, von denen immer einer fällt. 

* Vgl. J. Sadger, F. Raimund, eine pathologische Studie. Wage, I. Halb¬ 
jahr <1898>. Heft 23 bis 25. 





Der Doppelgänger 


131 


selbst sagte, am heftigsten beherrschte. Auch seine letzte, große Liebe 
zu Toni war nicht ganz glücklich, aber er fühlte selbst, (faß die Schuld 
in ihm lag, daß er im tiefsten Grunde unfähig zur Liebe war^ und 
dies mag eine Hauptursache für die Ausführung des Selbstmord^ 
Impulses gewesen sein, der in ihm schlummerte und sich des äußeren 
Anlasses <Fur(ht vor Tollwut) nur zur Rationalisierung bediente. Denn 
schon Jahre vor dem gewaltsamen Ende sind deutliche Anzeichen 
einer tiefen Störung bemerkbar. 1831 sagte der Dichter selbst zu 
dem Romanschriftsteller Spindler: »In mir sitzt es tief und böse, 
was mich untergräbt, und ich versichere Sie, daß meine komischen 
Erfolge nur zu oft eine gründliche Desperation zur Mutter haben. 
Man sollte mirs oft nicht ansehen, welch ein trauriger Spaßmacher 
ich bin«2. Der Dichter wird immer ungenügsamer, mißtrauischer, 
melancholischer,- zu seinen früheren Befürchtungen gesellt sich noch 
die, seine ohnehin schwache Stimme zu verlieren. Sein Zustand war 
damals — vier Jahre vor dem Tode — bereits derart, daß Coste^ 
noble in sein Tagebuch schrieb: »Der wird noch toll oder bringt 
sich um.« Im Todesjahr steigerten sich die hypochondrischen und 
ängstlichen Befürchtungen zur Unerträglichkeit. »So schloß er schon 
um halb acht LIhr abends alle Türen und Fensterladen fest zu, und 
selbst der Briefbote, der ihm eine wichtige Nachricht zu übermitteln 
hatte, vermochte nicht, ihn zum Öffnen der Tür zu bewegen. Seit 
dieser Zeit ging er auch nie mehr ohne Pistole außer Haus« 
<Börner, p. 91). »Von Furcht und Bangigkeit übermannt, sdiloß er 
sich in den letzten Wochen am Abend oft ein und wollte nicht ein^ 
mal die Freundin sehen« <Castle, p. CXI). Als ihn in dieser Zeit 
zufällig sein Hund gebissen hattet befiel ihn die bereits zehn Jahre 
früher geäußerte Wahnvorstellung wieder, an Tollwut erkrankt zu 
sein und er machte seinem Leben ein Ende. 

Diese pathologischen Züge lassen es begreiflich erscheinen, daß 
man in »Alpenkönig und Menschenfeind« das deutlichste Selbst^ 
porträt des Dichters erblickte. Schon Grillparzer, auf dessen Rat 
Raimund das Thema nochmals behandeln wollte^ hat hervorgehoben. 


1 »Einsam bin idi selber in der Menge, Streb' idi gleich zu sein, wo Men^ 
sdien weilen. Einsam selbst im wildesten Gedränge, Wer soll Lust, wer Freuden 
mit mir teilen? Fremd sind die bekanntesten Gestalten Mir geworden, und seit du 
mir fern, Schmerz allein und Grab und Trübsinn walten. Weil ich stets sie pflege, 
bei mir gern. Sie umschmeicheln mich, doch ach! sie haben Meine Ruh' auf immer 
untergraben: Schlaue Diener, zwingen sie den Herrn« (Stammbuchblatt 1834). 

2 Raimunds Werke, hg. von Castle (Hesses Klassiker^Ausgabe), p. CIX. 
— Vgl. zu anderen biographischen Details Wilh. Börner, F. Raimund (Dichter^ 
Biogr. Bd. XI, Reclam Bibi.). 

3 Vielleicht könnte sich von der Wirkung dieses Bisses eine Beziehung zu 
dem von Castle (XL) angeführten Faktum ergeben, daß der Dichter bei einem 
Streit unmittelbar vor der Trauung von seiner später von ihm geschiedenen Frau 
in den Finger gebissen worden war. 

^ Statt des Gestaltentausches wollte er einen Wesensaustausch zur Dar¬ 
stellung bringen. Das Stück, das den Titel >Eine Nacht am Himalaja« führen sollte, 
kam nicht zustande (Börner, p. 71). 





132 


Otto Rank 


daß der Dichter »in der wunderlichen Hauptperson ein wenig sich 
selbst habe kopieren können«. Entschiedener meint Sauer^: »Hier 
konnte sich Raimund selbst spielen, selbst in Szene setzen,- zu seinem 
Rappelkopf hat sich Raimund selbst Modell gesessen,- er suchte sich 
durch diese poetische Kopie von eigenen krankhaften Stimmungen 
zu befreien.« Dafür spricht auch die »Abdankung« nach der ersten 
Aufführung des Stückes <17. Oktober 1828), in der es unter an^ 
derem von der Rolle heißt: 

»Denn alles Üble, was ich schwer empfunden. 

Ist mit ihr leicht aus dem Gemüt entschwunden. 

Verachtung, Zorn, mißtrauisches Erbeben, 

Der Rache Wut, die Unlust zu dem Leben, 

Beschämung, Reu', kurz Leiden unermessen . . .«^ 

Auch Dostojewskis schwere seelische Krankheit kann keinem 
Zweifel unterliegen, wenn auch die Frage der Diagnose <Epilepsie> 
strittig ist. Er war schon frühzeitig ein Sonderling, lebte scheu und 
zurückgezogen auf sich selbst. Wie Raimund war er äußerst mi߬ 
trauisch und erblickte in allem, was man ihm gegenüber tat, eine 
Beleidigung und die Absicht, ihn zu kränken und zu ärgern^. Als 
Jüngling in der Ingenieurschule soll er eingestandenermaßen schon 
leichte Anfälle (epileptischer Art) gehabt haben, — die er mit Poe 
teilt, gleichwie die Furcht vor dem lebendig Begrabenwerden — 
so daß jedenfalls die Behauptung, die Krankheit sei erst in der Ver¬ 
bannung ausgebrochen, unhaltbar scheint^. Im Gegenteil sagt Do¬ 
stojewski selbst, daß von dem Moment der Verhaftung seine 


^ Raimund, Eine Charakteristik. Allgemeine Deutsche Biographie. Bd. XXVII, 
p. 736 bis 754. 

2 Außer Rappelkopf und dem bereits angeführten Verschwender hat Rai¬ 
mund auch die Persönlichkeit Wurzeis <>Der Bauer als Millionär«) gespalten und 
dem Manne den Jüngling und Greis gegenübergestellt. Dieses Motiv des Alterns 
wird uns noch beschäftigen. — Als charakteristisch sei noch aus Raimunds Knaben-»^ 
zeit erwähnt, daß der künftige Schauspieler >stundenx'ang vor dem Spiegel stand, 
Grimassen schnitt und sich bemühte, seinen Mund auszudehnen, um auch darin 
seinem Vorbild zu ähneln« <Börner, p. 9). 

^ >Dostojewskis Krankheit« von Dr. Tim Segaloff (Grenzfr. d. Lit. und 
Medizin, hg. v. Rahmer, Heft 5), München 1907. 

* Mereschkowski <>ToIstoi und Dostojewski«, Leipzig 1903, p. 77 f.) 
macht eine für den infantilen Ursprung der Krankheit bedeutsame Bemerkung: >In 
jedem Falle ist es sehr wahrscheinlich, daß die Sittenstrenge des Vaters, sein 
mürrisches, aufbrausendes Wesen und sein tiefes Mißtrauen einen tiefen Einfluß 
auf Fedor Michailowitsch ausgeübt haben. . . . Nur einer von Dostojewskis 
Biographen lüftet den Vorhang, der dieses Familiengeheimnis bedeckt, ein wenig, 
läßt ihn aber sofort wieder fallen. Indem er auf den Ursprung der Fallsucht bei 
Dostojewski zu sprechen kommt, bemerkt er sehr zurückhaltend und dunkel: 
»Es gibt noch eine ganz besondere Überlieferung über die Krankheit Fedor Mi^ 
diailowitsch', die sie auf ein tragisches Ereignis aus seiner frühesten 
Kindheit, das sich innerhalb seiner Familie abspielte, zurückführt/ aber obgleich 
ich es von einem Fedor Michailowitsch sehr nahestehenden Menschen gehört, so 
habe ich doch nirgends .eine Bestätigung dieses Gerüchtes erhalten und entschließe 
mich daher nicht, es ausführlich und genau darzulegen.« 





Der Doppelgänger 


133 


Krankheit geschwunden sei und daß er während der ganzen Dauer 
der Strafe keinen einzigen Anfall erlitten habe. Seine Frau schreibt 
in ihr Notizbuch, daß er, nach seinen eigenen Worten, wahnsinnig 
geworden wäre, wenn nicht die Katastrophe eingetreten wäre. Dieser 
psychologisch leicht begreifliche Umstand scheint aber doch eher 
für ein hysterisches Leiden <mit pseudoepileptischen Anfällen) zu 
sprechen. Diese Anfälle traten später nach des Dichters Rückkehr 
ins Leben mit großer Häufigkeit und Intensität auf und er hat sie 
auch in seinen Werken vielfach meisterhaft geschildert ^ Von seinen 
Anfällen sagt Dostojewski selbst: »Einige Augenblicke empfinde 
ich ein solches Glück, wie es im gewöhnlichen Zustande unmöglich 
ist und von dem andere Menschen keinen BegrifF haben können . . - 
Diese Empfindung ist so stark und so süß, daß man für die Selige 
keit einiger solcher Sekunden zehn Jahre seines Lebens oder auch 
das ganze hingeben könnte.« Nach dem Anfall jedoch war sein 
seelischer Zustand sehr bedrückt,* * er fühlte sich als Verbrecher und 
ihm schien, als ob eine unbekannte Schuld auf ihm lastete^. — 
»Jeden zehnten Tag habe ich einen Anfall«, schreibt er in den 
letzten Tagen seines Petersburger Aufenthalts, »und dann komme 
ich in fünf Tagen nicht zu mir, ich bin ein verlorener Mensch.« — 
»Der Verstand litt wirklich, das ist Wahrheit. Ich fühle es,* denn 
die Nervenzerrüttung brachte mich zuweilen dem Wahnsinn nahe«^. 

In seinem Verhalten war er exzentrisch nach jeder Richtung, 
»beim Kartenspiel, bei wohllüstigen Ausschweifungen, beim Auf¬ 
suchen mystischer Schrecken« <1. c. 84). »Überall und immer«, schreibt 
er von sich, »bin ich bis zur letzten Grenze gegangen, in meinem 
ganzen Leben habe ich immer die Linie übersdiritten.« 

Zu seiner Charakteristik ist noch zu ergänzen, daß er — ex¬ 
zentrisch wie Poe — auch von hoher Selbstachtung und Selbst^ 
Schätzung erfüllt war,* er selbst schreibt in seinen Jünglingsjahren 
<um die Zeit der Vollendung des Doppelgängers) an den Bruder: »Ich 
habe ein schreckliches Laster, eine grenzenlose Eigenliebe und Ehr¬ 
geiz« und sein Pathograph sagt, er sei das Gemisch aller Arten 
von Eigenliebe. Eitelkeit und Eigenliebe kennzeichnen auch viele 
seiner Figuren, wie den Paranoiker Goljädkin, dem der Dichter, als 
einer seiner frühesten Schöpfungen, viele für sein späteres Schaffen 
bezeichnende Züge der eigenen Persönlichkeit verliehen hatte und 
den er selbst wiederholt als »Bekenntnis« bezeichnete <Hoffmann 
1. c., p. 49). 

Nach Mereschkowskis Darlegungen <p. 273, 274) wäre das 
Doppelgängermotiv bei Dostojewski ein zentrales Problem: »So 
entpuppen sich bei Dostojewski alle tragischen, kämpfenden Paare, 
der allerlebendigsten, realsten Menschen, die sich selbst und anderen 

1 Vgl. Mereschkowski, p. 241, 243, sowie N. Hoffmann: »Th. 
M. Dostojewski.« Eine biogr. Studie. Berlin 1899, p. 225. 

* Mereschkowski, p. 92. 

3 I. c. p. 113. 





134 


Otto Rank 


als einige, ganze Wesen erscheinen, tatsächlich nur als zwei Hälften 
eines dritten gespaltenen Wesens, als Hälften, die sich ge^nseitig 
wie Doppelgänger suchen und verfolgen.« — Und über Dosto^ 
jewskis Krankhaftigkeit als Künstler sagt er: »Tatsächlich — was 
ist das für ein sonderbarer Künstler, der mit unersättlicher Neu^ 
gierde nur in den Krankheiten, nur in den schrecklichsten und schmäh¬ 
lichsten Geschwüren der menschlichen Seele herumstochert. . . Und 
was für sonderbare Helden sind diese »Glückseligen«, diese Be¬ 
sessenen, Narren, Idioten, Geistesgestörten? Vielleicht ist er nicht so 
sehr Künstler, denn ein Arzt seelischer Krankheiten, dabei ein Arzt, 
zu dem man sagen müßte: Arzt, heile dich erst selbst!« <237>. 

Die enge Verwandtschaft der skizzierten Dichterpersönlichkeiten 
ist so deutliA, daß zur Rekapitulation gewissermaßen die Hervor¬ 
hebung des Grundgerüstes genügt. 

Die pathologisAe Disposition zu geistigen und seelisAen Stö^ 
rungen bedingt ein hohes Maß von Spaltung der PersönliAkeit, mit 
besonderer Hervorkehrung des lAkomplexes, dem ein abnorm 
starkes Interesse an der eigenen Person und ihren seelisAen Zu^ 
ständen und SAicksalen entspriAt. Diese Einstellung führt zu der 
gesAilderten AarakteristisAen Beziehung zur Welt, dem Leben und 
insbesondere dem Liebesobjekt, zu dem kein harmonisAes Verhält¬ 
nis gefunden wird: direkte Unfähigkeit zur Liebe oder eine — zum 
gleichen Effekt führende — übermäßig hoAgespannte LiebessehnsuAt 
kennzeiAnen die beiden Pole dieser krassen Einstellung zum eigenen 
lA. Diese auffälligen und weitgehenden Übereinstimmungen im 
Wesen und in einzelnen Charakterzügen des gesAilderten Typus 
maAen die bis auf geringfügige Details ähnliAen Gestaltungen 
des behandelten Themas wie die Vorliebe für dasselbe über die 
literarisAe Abhängigkeit und VorbildliAkeit hinaus psyAologisA 
begreif liA. 

Aber die typisA wiederkehrenden wesentliAen Formen, in die 
siA diese Gestaltungen kleiden, werden aus der individuellen DiAter- 
persönliAkeit niAt verständliA, ja sAeinen dieser in gewissem Grade 
fremd, unangemessen und ihrer sonstigen WeltansAauung wider^ 
spreAend. Es sind dies die sonderbaren Darstellungen des Doppel- 

f ängers als SAatten, Spiegelbild oder Porträt, deren bedeutsame 
LinsAätzung wir nicht reAt verstehen, wenn wir ihr auA gefühls^ 
mäßig folgen können. Es sAeint hier beim DiAter wie bei seinem 
Leser ein überindividuelles Moment unbewußt mitzusAwingen und 
diesen Motiven eine geheimnisvolle seelisAe Resonanz zu verleihen. 
Diesen völkerpsyAologisAen Anteil aus den ethnographisAen, folklo- 
ristisAen und mythologisAen Überlieferungen aufzuzeigen und mit 
den individuell wiederbelebten gleiAsinnigen Zügen in Beziehung zu 
bringen ist die AbsiAt des folgenden AbsAnittes, der uns zugleiA 
auf die gemeinsame psyAologisAe Grundlage der abergläubisAen 
und der künstlerisAen Darstellung dieser Regungen vorbereiten soll. 




Der Doppelgänger 


135 


IV. 

»Idi dadite, der mensdilidie Sdiatten 
sei seine Eitelkeit.« Nietzsche. 

Wir gehen von den an den Sdiatten geknüpften abergläubi- 
sdien Vorstellungen aus, die noch heute unter uns lebendig sind und 
an welche sich Dichter, wie beispielsweise Chamisso, Andersen, 
Goethe bewußtermaßen anlehnen konnten. 

Allbekannt ist eine in Österreich, ganz Deutschland, aber auch 
bei den Südslawen am Silvester- oder heiligen Abend geübte Probe: 
Wer beim Lichtanzünden an die Zimmerwand keinen Schatten wirft 
oder wessen Schatten ohne Kopf ist, der muß binnen Jahresfrist 
sterben^. Ähnliches gibt es bei den Juden, die in der siebenten Nacht 
des Pfingstfestes in den Mondschein gehen,- wessen Schatten keinen 
Kopf zeigt, der stirbt im selben JahrIn deutschen Landen heißt 
es, wenn man in seinen eigenen Schatten tritt, muß man sterben^. 
In Widerspruch zu dem Glauben, daß, wer keinen Schatten wirft, 
sterben müsse, steht ein deutscher Glaube; Wer in den Zwölf¬ 
nächten seinen Schatten doppelt sieht, der muß sterben^. Zur Er^ 
klärung dieser Anschauung sind verschiedene, darunter auch recht 
komplizierte Theorien aufgestellt worden, von denen wir die auf 
den Glauben an einen Schutzgeist bezügliche hervorheben wollen^. 
Aus dem Schattenaberglauben hat sich nämlich, nach Ansicht ein^ 
zelner Forscher^ der Schutzgeistglaube entwickelt, der wieder mit 
dem Doppelgängertum in inniger Beziehung steht. Als den Ursprünge 
liehen Inhalt der Geschichten vom zweiten Gesicht, vom Sichselbst^ 
sehen, vom Schatten im Lehnsessel, vom Doppelgänger, vom Bett¬ 
gespenst in der Schlafkammer bezeichnet Rochholz <1. c.> den seinem 
Körper folgenden Schatten"^. Nach und nach war der Schatten, der 
über das Orab hinaus fortlebte, zum Doppelgänger geworden, der 
mit jedem Kind geboren wird^. Den Glauben an die verderbliche 

^ Vernaleken, Mythen und Bräuche des Volkes in Österreich, p. 341/ 
Reinsberg^Düringsfeld: Das festliche Jahr, p. 401,- Wuttke, Der deutsche 
Volksaberglaube 2 , p. 207, § 314. 

2 Rochholz: Ohne Schatten, ohne Seele. Der Mythus vom Körperschatten 
und vom Schattengeist (Germania V, 1860). Enthalten in »Deutscher Glaube und 
Brauch« I, 1867, p. 59 bis 130 (Zitate danach). Über jüdische Schattenüberlieferungen 
speziell vgl. Gast er, Germania 26, 1881, 210. 

3 Wuttke, p. 388/ in Schlesien und Italien heißt es, daß man in solchen 
Fällen nicht mehr wachse. Pradel, Der Schatten im Volksglauben. Mitt. d. Schles. 
Ges. f. Volksk. 12, p. 1 bis 36. 

^ Wuttke, I. c. Dasselbe gilt bei den Slowaken für den heiligen Abend. Nege^ 
lein: Bild, Spiegel und Schatten im Volksglauben. Arch. f. Rel.^Wiss. V, p. 1 bis 17. 

® Pradel 1. c., Rochholz 1. c. 

® z. B. E. H. Meyer: Germ. Myth., 62, 66ff. — Im Neugriechischen wird 
Schatten direkt im Sinne von Schutzgeist gebraucht. Vgl. Bernh. Schmidt, Volks-' 
leben d. Neugr. I, 181, 229, 244, 169, 199. 

Gegen diese von manchen als zu einseitig empfundene Erklärung wandte 
sich zuerst Pfannenschmied (Germ. Opferfeste, 447). 

® Negelein 1. c. 





136 


Otto Rank 


Wirkung des Doppelsdiattens erklärt demnach Pradel <1. c.) damit 
daß in der Todesstunde dem Menschen sein Genius erscheine und neben 
den Schatten trete^. Darin wurzelt die für unser Thema bedeutsame 
Vorstellung, daß der Doppelgänger, der sich selbst sieht, in Jahres^ 
Frist sterben muß^. Rochholz, der sich besonders mit dem Schutz^ 
geistglauben beschäftigt hat, meint, daß die wohltätige <Schutzgeist-> 
Bedeutung die ursprüngliche war und daß sich daraus erst allmählich, 
mit der Verstärkung des Jenseitsglaubens, die schädigende <Todes^> 
Bedeutung entwickelt habe^: »So muß sich des Menschen Schatten, 
der einst hilfreicher Gefolgsgeist im Leben war^ in ein erschreckendes 
und verfolgungssüchtiges Gespenst verkümmern, das seinen Schützling 
peinigt und zu Tode jagt« <Rochholz 1. c.)^. Inwieweit dies zutrifft, 
wird bei der psychologischen Erörterung des ganzen Themas deutlich 
werden. 

Diese auf den Schatten bezüglichen abergläubischen Vorstel¬ 
lungen und Befürchtungen der heutigen Kulturvölker finden ihr 
Gegenstück in zahlreichen weitverbreiteten Verboten <Tabus> der 
Wilden, die sich auf den Schatten beziehen. Aus der reichen Ma^ 
terialsammlung bei Frazer® ersieht man, daß unser »Aberglaube« 
in dem »Glauben« der Wilden sein reales Gegenstück findet. Jede 


1 Hierher gehört das Grimmsche Märchen Nr. 44 vom »Gevatter Tod«, 
dem der Held erfoTgreidi entkommt, indem er sich im Bett umgekehrt legt (vgl. dazu 
auch die Anm. Grimms im III. Band der Märchen). 

^ Bastian, Elemente, p. 87, Wuttke I. c. 212, Rochholz I. c. 103, 
Henne am Rhyn, Kultur der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. 1892, I, 
193. — Nach Wuttke <p. 49) hatte der Ausdruck »Zweites Gesicht« ursprünglich 
die Bedeutung des Sehens eines Doppelgängers,- wenn der Mensch aber sich selbst 
sieht, muß er im Laufe eines Jahres sterben. — Vgl. Villiers de I'IsIe^Adam: 
»Das zweite Gesicht« <übers. v. Oppeln-^Bronikowski/ Bücher des deutschen Hauses 
IV, 84). 

® Rochholz I. c. 128 ff. — Später ist nach ihm Schatten = Schaden, d. h. 
synonym genommen mit: schwarz, links, falsch, unfrei, schädlich, verdammt. 

^ Rochholz unterscheidet für clas deutsche Altertum dreierlei Arten des 
Schutzgeistes, die den drei Lebensaltern des Menschen und den drei Tageszeiten — 
verkörpert im jeweiligen Schattenwurf — entsprechen und irgendwelche Beziehungen 
zu den Nomen zu haben scheinen. An den nordischen Glauben: Wer seine Fylgja 
schaut, den verläßt sie und der verliert damit sein Leben, knüpft Rochholz intern 
essante Hinweise auf die Sagen vom Staufenberger, von Melusine, der weißen Frau, 
Orpheus etc. — Die Buhlschaft dieser Fylgja mit ihrem Körper führt zu anderen 
Problemen, wie der mystischen Seelenbräutigamschaft u. ä. — Über den Schutzgeist^ 
glauben vgl. man noch »Sreca, Glück und Schicksal im Glauben der Südslawen« 
von F. S. Krauß, Wien 1888. 

® Eine verbreitete Redensart: seinen Schatten fürchten, findet sich vielfach 
bei Dichtern illustriert. Vgl. dazu die peinvolle Angst von Maeterlincks »Prin^ 
cesse Maleine« beim Anblick eines Schattens. Ferner in R. St ratz' »Törichte 
Jungfrau« <p. 307): »Vor dir selber hast du Angst und läufst vor dir davon wie 
der Mann, der sich mit seinem Schatten gezankt hat</ wozu Pradel, dem diese 
Hinweise entnommen sind, aus Platon <Apol. 118 D, Republ. 520) den Ausdruck 
omai-iaxetv zitiert. In Strindbergs »Inferno. Legenden« heißt es: »Ich glaube, 
ihr fürchtet euch vor euerem eigenen Schatten, lachte der Arzt verächtlich« <p. 228). 

® The golden bough: Taboo and the Perils of the Soul. 3. ed. p. 77—lÖO; 
»The Soul as a Shadow and a Reflection.« 





Der Doppelgänger 


137 


dem Sdiatten zugefügte Verletzung trifft seinen Träger, wie eine 
große Anzahl primitiver Völker glaubt <1. c. p. 78>. Damit ist na^ 
türlich dem Zauber und der Magie ein weites Feld geöffnet,* be^ 
merkenswert ist, daß in einigen der mitgeteilten diditerisdien Dar^ 
Stellungen ein Nachklang der magischen Beeinflussung in dem Tod 
des Helden bei Verwundung seines Spiegelbildes, Porträts oder 
Doppelgängers zu erkennen ist^. »Weit verbreitet und schon aus dem 
Altertum bekannt, ist — nach Ne ge lein — der Versuch, Menschen 
durch Verletzung ihres Doppelgängers zu vernichten.« Auch nach 
indischem Glauben vernichtet man einen Feind, indem man dessen 
Bild oder Schatten ins Herz sticht <01denburg, Veda, p. 508)^. Die 
Wilden haben eine Unmenge von speziellen, den Schatten betreffende 
Tabus: sie hüten sich, ihren Schatten auf gewisse Dinge <besonders 
Speisen) fallen zu lassen, fürchten anderseits selbst den Schatten 
anderer Menschen <besonders schwangerer Frauen,* der Schwieger¬ 
mutter etc. Frazer 1. c. 83 ff.) und achten darauf, daß niemand in 
ihren Schatten trete. Auf den Salomonsinseln, östlich von Neu^Gui- 
nea, wird jeder Eingeborne, der auf den Schatten des Königs tritt, 
mit dem Tode bestraft <Rochholz, p. 114), ebenso in Neu^Georgien 
<Pradel, p. 21) und bei den Kaffem <Frazer 1. c. 83). Beson^ 
ders achten die Primitiven auch darauf, daß ihr Schatten nicht auf 
einen Toten oder dessen Grab, respektive Sarg falle, weswegen die 
Leichenbegängnisse vielfach bei Nacht stattfanden <Frazer 1. c. p. 80). 

Abgeschwächt erscheint die Todesbedeutung all dieser Ereignisse 
als Furcht vor Krankheit oder sonstiger Schädigung. Wer keinen 
Schatten wirft, der stirbt,* wer einen kleinen oder schwachen Schatten 
hat, ist krank, während ein scharfer Schatten auf Genesung hinweist 
<Pradel). Derartige Gesundheitsproben wurden wirklich veranstaltet 
und manche Völker tragen ihre Kranken auch heute noch in die 
Sonne, um mit ihrem Schatten die entschwindende Seele wieder herbei¬ 
zulocken. In der entgegengesetzten Absicht verlassen die Bewohner 

^ Diese Beziehung klingt audi im germanischen Rechtsbrauch der sogenannten 
>Schattenbuße« nach, wonach z. B. ein von einem Freien beleidigter Unfreier an 
dessen Schatten Rache nimmt. <Lit. bei Roch holz, p. 119, vgl. auch Grimm D. 
R. 677 ff.) Noch unter Kaiser Maximilian war die Strafe des mit einem Spaten 
»abgestochenen« Schattens eine scharfe. Darauf bezieht sich eine Stelle in Luthers 
Tisdireden <nach Pradel p. 24ff.) und eine Erzählung von Hermann Kurtz 
<Erz. Bd. I. Stuttg. 1858). Diese hier in vollster Ernsthaftigkeit gemeinte Schatten-' 
büße erscheint in einzelnen orientalischen <von Pradel p. 23 angeführten) Qber^ 
lieferungen mit ironischer Betonung ihrer Nichtigkeit. Im Bahar Danush <Benfey, 
Pantschatantra I, 127) soll auf die Klage eines Mädchens, dessen Spiegelbild ein 
Jüngling geküßt hat, des Jünglings Schatten durchgepeitscht werden. — Auf König 
Bokchoris von Ägypten, den weisesten Richter seiner Zeit, führte man den berühmten 
Urteilsspruch zurück, nach dem eine Hetäre, die ein Liebhaber im Traume genossen 
hatte, mit ihrer Klage auf Entschädigung auf den Schatten oder das SpiegelbiH 
der zu zahlenden Summe verwiesen wurde (Plutarch, Demetr. 27). Rohde <Gr. 
Rom. 370, 1) sieht darin das Urbild für den Prozeß um des Esels Schatten <vgl. 
dazu Wielands »Abderiten« und Rob. Reinick: Märchen, Lieder u. Gesch.). 

® Auf den Schatten bezügliche Begrüßungen und Verwünsdhungen, ebenda 
p. 526^, 






138 


Otto Rank 


von Amboyna und Uliase, zweier Inseln am Äquator, ihre Häuser 
niemals um die Mittagszeit, weil dann in diesen Gegenden der 
Schatten verschwindet und sie fürchten, damit auch ihre Seele zu 
verlieren <Frazer, p. 87). Hier spielen die Vorstellungen vom kurzen 
und langen, vom kleinen und anwachsenden Schatten hinein, auf 
denen Goethes^ und Andersens Märchen wie das Gedicht von 
Stevenson^Dehmel beruhen. Der Glaube, daß eines Menschen 
Gesundheit und Kraft mit der Länge seines Schattens zunehme 
<Frazer, p. 86 f.)^ gehört ebenso hieher wie die Unterscheidung 
der Zulus zwischen dem langen Schatten eines Menschen, der zum 
Ahnengeist wird und dem kurzen, welcher bei dem Verstorbenen 
bleibt. Daran schließt sich ein anderer Aberglaube, der mit der Wie¬ 
dergeburt des Vaters im Sohne® zusammenhängt. Die Wilden, die 
glauben, daß die Seele des Vaters oder Großvaters im Kinde wieder^ 
geboren wird^ fürchten nämlich nach Frazer <1. c. p. 88) eine zu 
große Ähnlichkeit des Kindes mit den Eltern. Wenn ein Kind 
seinem Vater auffällig gleicht, so muß dieser bald sterben, da das 
Kind sein Abbild oder Schattenbild an sich gezogen hat. Ähnliches 
gilt für den Namen, in dem der Primitive ein wesentliches Stüde 
der Persönlichkeit sieht,* noch in der europäischen Kultur hat sich 
der Glaube erhalten, daß von zwei Kindern derselben Familie, die 
den gleichen Namen tragen, eines sterben muß^ Wir erinnern uns 
dabei an dieselbe »Namenphobie« in Poes »William Wilson« und 
verstehen auf Grund der »Namenmagie« auch die Geisterbeschwö¬ 
rung durch Namensnennung®. 

Wie alle tabuierten Dinge nach Freud den Charakter der 
Ambivalenz zeigen, so fehlen auch beim Schatten und dem sich 
daran knüpfenden Glauben solche Andeutungen nicht. Die eben 
besprochenen Wiedergeburtsideen des väterlichen Schattens im Kind 


^ Dem Sdiattenmotiv im Goethesdien Märdien auffallend ähnlidi ist eine 
von Frazer <1. c. 87) erzählte Geschichte aus Südamerika: >The Mangaians teil 
of a mighty warrior, Tukaitawa, whose strength waxed and waned with the 
length of his shadow. — Endlich entdeckt ein Held das Geheimnis von Tukai^ 
tawas Kraft <Simson-Motiv> und erschlägt ihn am Mittag, wo sein Schatten den 
geringsten Grad erreicht. 

2 So glauben die Baganda Zentralafrikas und die Kaffem in Südafrika. — 
In Solothurn galt die mehr oder minder starke Färbung des Schattens als Gesund^ 
heitskriterium (nach Walze! Ein!, zu Chamissos Werken, Deutsche Nat. Lit. Bd. 149). 

^Negelein, Ein Beitrag zum indischen Seelenwanderungsglauben. Arch. 
f. Rel.^Wiss. 1901. 

^ Frazer: The Belief in Immortality and the Worship of the Dead. Vol. I: 
Among the Aborigines of Australia etc., London 1913, p. 92, 315, 417. 

® Henne am Rhyn 1. c. p. 187. 

® Zur Verhinderung magischer Bräuche war den Juden auch die Nennung 
des Namens Jehova verboten. Giesebrecht (»Über die alttest. Schätzung des 
Götternamens«, Königsberg 1901) zeigt, daß Name, Schatten und Seele im Volks^ 
glauben identisch sind (p. 79) und führt aus, daß der Name zu einem bedrohlichen 
Doppelgänger des Menschen wird (p. 94>. Über das Namentabu vgl. Freuds 
Abhandlung, Imago I, p. 317 ff. und über Reste desselben in unserem Seelenleben 
»Psychopathologie des Alltagslebens«. 





Der Doppelgänger 


139 


führen zu den bereits erwähnten Vorstellungen vom Schatten als Schutz^ 
geist, der mit dem Kind zugleich geboren wird. Direkt entgegen¬ 
gesetzt den Todesvorstellungen im Schattenaberglauben sind die 
wenn auch bei weitem weniger verbreiteten Ideen vom befruchten^ 
den Schatten, die Pradel <p. 25f.) mitteilt. Der Redensart vom 
Schatten des Todes, der den Menschen umnachtet, steht der biblische 
Ausdruck in der Verkündigung gegenüber, der Maria einen Sohn 
verheißt, obwohl sie mit keinem Manne zu tun hatte,- denn övvafxtg 
v'iplotov BTCiOKidasi 001 <die Kraft des Höchsten wird dich über¬ 
schatten,- Luc. I, 15>. Bemerkenswert ist, daß Augustinus und an¬ 
dere Kirchenväter in dem Ausdruck sjttamdasL den Begriff der 
Kühle als Gegensatz wollüstiger Erzeugung finden. Pradel <1. c.) 
zitiert dazu die Redensart: »Schweig nur, du bist auch nicht vom 
heiligen Geist überschattet«^ und führt einen Mythus von Tahiti 
an, demzufolge die Göttin Hina dadurch schwanger wird, daß der 
Schatten eines Brotfruchtlaubes, das ihr Vater Taaroa schüttelte, 
auf sie fieP. Der Verhinderung solcher inzestuösen Schattenbefruchtung 
dienen offenbar die auf den Schatten der Schwiegermutter bezüg¬ 
lichen Tabus, die Frazer anführt^. So ist es z. B. bei den Ein- 
gebornen Südostaustraliens ein Grund zur Scheidung, wenn der 
Schatten des Mannes zufällig auf seine Schwiegermutter fällt. In 
Zentralindien ist diese Furcht vor der Schattenbefruchtung allgemein 
und die schwangeren Frauen vermeiden es, in den Schatten eines 
Mannes zu gehen, weil sonst das Kind ihm nachgeraten könnte 
<1. c. 93). Halten wir diese Vorstellungen mit denen des zu- und 
abnehmenden Schattens und der entsprediend variablen Manneskraft 
zusammen (Simson^Motiv), so ergibt sich seine symbolische Stell¬ 
vertretung für die männliche Potenz, die ihrerseits mit dem eigenen 
Wiederaufleben in den Nachkommen und so mit der Fruchtbarkeit 
zusammenhängt. 

Wie fast alle Glückssymbole ursprünglich Fruchtbarkeitssymbole waren, 
so hat auch der Schatten von dieser Seite her Glücksbedeutung erhalten. 
Hieher gehört nicht nur die heilkräftige Wirkung des Schattens gewisser 
Bäume <besonders in der Bibel), sondern vor allem die Rolle des Schattens 
als Schatzhüter <vgl. Pradel I. c.>, ja sogar Schatzmehrer <auch praktisch 
galt der Schatten als Eigentumsabgrenzer). Im indischen Märchen von des 
Holzhauers Tochter spricht der Geist, der um das arme Mädchen freit, zum 
Vater desselben: Gib mir deine Tochter, dann soll euer Schatten wadisen, 
eure Schätze sollen groß werden <Roch holz nach der Märchensammlung 
des Somadeva Bhatta, übersetzt v. Brockhaus, II, 193). Man wird hier an 


^ Nach Rehsener in d. Zeitschr. d. Vereins f. Volksk. VIII, 128. 

2 Nach Waitz <>Anthropol. d. Naturvölker* VI, 624f.>, der darin den 
Rest des alten tahitischen Glaubens sieht, daß sich der — brotfruchtähnliche — 
Mond während des Neumondes begatte. 

3 1. c. p. 83 ff. Frazer glaubt übrigens selbst, daß die »Vermeidungen« 
im Verhältnis von Schwiegermutter und Schwiegersohn der Inzestfurcht entstammen 
dürften <p. 85®). Die psychoanalytische Begründung und Vertiefung dieser Auf^ 
fassung hat Freud gegeben <Totem und Tabu, 1913, I>. 





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Otto Rank 


Peter SchlemihI, den Studenten Balduin und andere erinnert, die für den 
Schattenverlust durch Reichtum entschädigt werden, den sie zur Eroberung 
des geliebten Mädchens benützen wollen, dabei aber kläglich scheitern. 

Über die Bedeutung von Schlemihls Schatten ist viel gestritten worden 
und die Literatur darüber ist ziemlich groß <vgl, Julius Schapler, Chamisso* 
Studien, 1909). Man wollte im Schatten eine allegorische Darstellung des 
Vaterlandes, der Lebensstellung, der Familie, der Heimat, der Konfession, 
von Orden und Titeln, der Achtung der Menschen, gesellschaftlichen Talents 
etc. sehen und dementsprechend im Schatten Verlust den Mangel an diesen 
Dingen. Noch bei Lebzeiten des Dichters, der sich gegen alle diese Aus¬ 
legungen skeptisch verhielt, soll mit seiner Zustimmung der Schatten als 
äußere Ehre cles Menschen gedeutet worden sein <Simrok, Deutsche Mythol., 
4. Aufl., p. 482). Das würde aber durchaus nicht hindern, daß er andere <auch 
unbewußte) Bedeutungen hätte, wie Chamisso selbst deren mehrere ange^ 
geben hat. Interessant, weil sie an den Volksaberglauben erinnert, ist folgende 
Äußerung des Dichters, die er wenige Wochen vor seinem Tode einem Freunde 
gegenüber gemacht haben soll: »Die Leute haben so oft gefragt, was der 
Schatten sei,* ja wollten sie fragen, was jetzt mein Schatten sei, so würde 
ich sagen, es sei die fehlende Gesundheit, meine Schattenlosigkeit bestehe in 
meiner Krankheit. <Kern Franz, Zu deutschen Dichtern, Berlin 1895, p. 115.) 

In psychoanalytischen Kreisen ist vor einigen Jahren die Idee auf^ 
getaucht, die Schattenlosigkeit Schlemihls als Impotenz aufzufassen <Stekel), 
wofür die Befruchtungsfähigkeit des Schattens spräche sowie gewisse 
symbolisch zu fassende Details: die kleine Tasche des grauen Mannes, in 
der die größten Dinge <z. B. ein Fernrohr) Platz haben, der unerschöpfliche 
Wunschsäckel, die Siebenmeilenstiefel etc. ^ Auch eine Stelle in Harnerlings 
»Homunculus« <V. Buch) scheint auf ähnliches anzuspielen ». . . Peter 
Schlemihl: der bekannte »Mann« <der ärmste!) ohne Schatten . . . .« '^ Zur 
Kastrationsbedeutung des Schatten Verlustes würde Wildes Märchen »Der 
junge Fischer und seine Seele« <Das Granatapfelhaus) passen, wo der Held 
seine Seele, die zwischen ihm und seinem geliebten Meermädchen steht, 
loswerden will und sich den Schatten mit einem Messer vom Leibe 
schneidet/ er endet schließlich, wie Dorian Gray, durch Selbstmord. 

Daß der einzelne Dichter die gegebenen Vorstellungen im Sinne seiner 
Komplexe verwenden oder auch ausgestalten kann, ist nicht zu bezweifeln, 
aber darum muß diese vereinzelte Bedeutung noch nicht das ganze Problem 
decken. Tatsächlich spielt diese im Sinne eines Mangels gefaßte sexuaU 
symbolische Bedeutung des Schattens in den Fällen von Verfolgung durdi 
das als Gewissen gedachte Ebenbild keine nennenswerte Rolle. Anderseits 
sind ja auch die übrigen, in selbstgefälliger Eigenliebe befangenen Helden 
zur Geschlechtsliebe unfähig und man wird Eitelkeit einem Schlemihl nicht 
absprechen, der seinen Bericht an den Dichter mit dem Rat beschließt: »Willst 
du unter den Menschen leben, so lerne verehren zuvorderst den Schatten und 
dann das Geld. Willst du nur dir und deinem besseren Selbst leben, 
oh, so brauchst du keinen Rat.« Und auch Walzel <1. c. LVIII) hebt als 
Moral der Geschichte hervor, der Mensch solle sich rechtzeitig zur Erkenntnis 
durchringen, »daß er nur sich allein braucht, um glücklich zu sein«. 

Inwieweit sich die hier und andere von Sadger <»Psychiatrisch^Neuro^ 
logisches in psychoanalyt. Beleuchtung.« Zentralbl. f. d. Gesamtgeb. d. 
Medizin, 1908, Nr. 7 u. 8) angeführte sexualsymbolische Deutungen einem 
umfassenderen psychologischen Verständnis einordnen, soll im Schlußabschnitt 
ersichtlich werden. 




Der Doppelgänger 


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In allen angeführten Überlieferungen erweist sich, wie die 
Folkloristen übereinstimmend hervorheben, der Schatten als gleich^ 
bedeutend mit der Seele des Menschen und daraus erklärt sich 
sowohl seine besondere Schätzung sowie alle darauf bezüglichen 
Tabus und abergläubischen Todesbefürchtungen bei Übertretung 
derselben, da Verletzung, Schädigung oder Verlust der Seele den 
Tod nach sich ziehen muß. Über die Identifizierung des Schattens 
mit der Seele bei den Naturvölkern, die bis zu den am tiefsten 
stehenden Eingebornen Tasmaniens reicht, sagt Tylor^: 

»So gebrauchte der Tasmanier sein Wort für Schatten zugleich 
für den Geist,* die Algonkin^Indianer nennen die Seele eines Men^ 
sehen »seinen Schatten«,* in der Quichesprache dient nahib für 
»Schatten, Seele«,* das arawakische neja bedeutet »Schatten, Seele, 
Bild«/ die Abiponer hatten nur ein Wort loäkal für »Schatten, 
Seele, Echo, Bild« . . . Die Basutos nennen nicht nur den nach dem 
Tode übrigbleibenden Geist den seriti oder »Schatten«, sondern sie 
meinen, wenn ein Mensch am Flußufer einhergehe, so könne ein 
Krokodil seinen Schatten im Wasser ergreifen und hineinziehen,* 
und in Alt-Calabar findet sich dieselbe Identifizierung des Geistes 
mit dem »Schatten«, dessen Verlust für den Menschen sehr gefähr^ 
lieh ist«^. 

Nach Frazer^ wird bei gewissen Eingebornen Australiens 
neben einer im Herzen lokalisierten Seele <ngai> auch eine mit dem 
Schatten in engster Beziehung stehende <choi> angenommen. Bei den 
Massim in Britisch Neu-Guinea heißt der Geist oder die Seele 
eines Verstorbenen arugo, was gleichbedeutend ist mit Schatten 
oder Spiegelbild^. Die Kai in Deutsdi Neu^Guinea sehen im Spiegel 
bild und im Schatten ihre Seele oder Teile derselben^ und hüten 
sich darum, auf den Schatten zu treten. In Nord^Melanesien be^ 
zeichnet das Wort nio oder niono Schatten und Seele®. Bei den 
Fidschi-Insulanern ist die Bezeichnung für den Schatten, yaloyalo, 
eine Reduplikation des Wortes für Seele »yalo«*^. Gelegentlich einer 
Bemerkung, daß bei den Eingebornen der Inseln der Torres-Straße 
das Wort für Geist, mari, zugleich Schatten oder Spiegelbild be^ 
zeichnet, meint Frazer, viele wilde Völker hätten ihre Bezeichnung 
für die menschliche Seele von der Beobachtung des Schattens oder 
der Spiegelung des Körpers im Wasser abgeleitet®. 

Daß der primitive Mensch seinen geheimnisvollen Doppelgänger, 
den Schatten, als Seelenwesen real nimmt, ist durch eine Reihe 


1 Primitive Culture I, p. 423 fF. 

“ Bastian, Vorst, v. d. Seele, p. 9f. 

3 The Belief in Immortalitv etc. p. 129. 
^ I. c. p. 207. 

5 I. c. p. 267. 

® 1. c. p. 395. 

7 l c. p. 412 

8 I. c. p. 173. 





142 


Otto Rank 


weiterer folkloristisdier Erhebungen außer Zweifel gestellt: »Jener 
Kamerunmann meinte natürlich den Schatten, wenn er sagte, ,i(h 
kann meine Seele jeden Tag sehen, ich stelle mich einfach gegen die 
Sonne' <Mansfeld>. So berichtet Spieth von den Eweleuten: ,In 
seinem Schatten ist die Seele des Menschen zu sehen', J. Warnek 
von den Batak: ,Den persönlich gedachten . . . Seelenstoff glaubt 
man verkörpert im Schatten', Klamroth von den Saramo: ,Der 
Schatten, den der lebendige Mensch warf, wird durch Vereinigung 
mit der Seele des Verstorbenen zum kungu <Geist>', ,Denn die 
Seele <mayo auch = anatomisch Herz) verwest, aber der Schatten 
verwest nicht', Guttmann von den Dschagganegern: ,Was von den 
Gestorbenen bleibt und in das Totenreich hinabsteigt, das ist sein 
Schatten: kirische. Dies ist nicht etwa nur ein Bild für die durch 
den Tod körperlos gewordene Persönlichkeit, sondern es bezeichnet 
rein wörtlich den Schatten des Menschen, wie er sich im Sonnen- 
lidite auf die Erde zeichnet. Dieselbe Vorstellung bei den Salisch 
und Dene im fernen Westen Kanadas'«^. Die FidschUlnsulaner 
glauben, daß jeder Mensch zwei Seelen habe: eine dunkle Seele, 
die in seinem Schatten besteht und zum Hades geht und eine lichte, 
in seinem Spiegelbild an der Wasseroberfläche oder im Glase, 
welche in der Nähe seines Sterbeplatzes bleibt^. Aus dieser Be¬ 
deutung des Schattens erklären sich hinreichend die zahlreichen Vor¬ 
sichten und Verbote <Tabus), die sich auf ihn beziehen. 

Fragt man, wie die Menschen dazu kamen, im Schatten 
ihre Seele zu sehen, so belehren einen die Anschauungen der pri^ 
mitiven Natur^ wie der antiken Kulturvölker darüber, daß die ur¬ 
sprünglichste Seelenvorstellung, wie Negelein <1. c.) sich aus¬ 
drückt, ein »primitiver Monismus« war, wobei die Seele ein Ana^ 
logon zum Bild des Körpers darstellte. So wird der vom Men¬ 
schen unzertrennliche Schatten zu einer der ersten »Verkörperungen« 
der menschlichen Seele, »lange bevor der erste Mensch sein Bild im 
Spiegel sah» <Negelein>. Der bei den Naturvölkern der ganzen 
Erde verbreitete Glaube von der Seele des Menschen als einem 
genauen, zunächst im Schatten wahrgenommenen Abbild des Körpers^ 
ist auch der ursprüngliche Seelenglaube der antiken Kulturvölker 
gewesen. Rohde, wohl der feinsinnigste Bearbeiter des griechi- 


^ Zitiert nach G. Heinzeimann, »Animismus und Religion«. 1913/ 
p. 18, 19. 

- Frazer, Belief etc. p. 411,- ähnliche Anschauungen von zw.ei Seelen bei 
den Grönländern und Algonkin berichtet Radestock, Schlaf und Traum, Leipzig 
1878, p. 252 <Anmkg. 11>. Auch die Tami in Deutsch Neu^Guinea unterscheiden 
zwischen einer langen, beweglichen, mit dem Schatten identifizierten Seele und einer 
kurzen, welche den Körper nur mit dem Tode verläßt (Frazer I. c. p. 291). 

3 Die ziemlich tief stehenden Nord^Melanesier, bei denen die Bezeichnungen 
für Seele und Schatten von derselben Wortwurzel gebildet fsind <s. oben p. 441 >, 
»think that the souI is like the man himself« (Frazer l. c. 395) und »the Fijisan 
pictured to themselves the human souI Jas a miniature of the man himself« (I. c* 
p. 412). 





Der Doppelgänger 


143 


sdien Seelenglaubens und Seelenkultes, sagt darüber^: »Der Mensdi 
ist nadi homerisdier Auffassung zweimal da, in seiner wahrnehm¬ 
baren Erscheinung und in seinem unsichtbaren Abbild, welches frei 
wird erst im Tode. Dies und nichts anderes ist seine Psyche^. In 
dem lebendigen, voll beseelten Menschen wohnt, wie ein fremder 
Gast, ein schwächerer Doppelgänger, sein anderes Ich als seine 
Psyche, .... dessen Reich ist die Traumwelt. Wenn das andere Ich, 
seiner selbst unbewußt, im Schlafe liegt, wirkt und wacht der Doppelt 
gänger«. — »Ein solches, das sichtbare Ich wiederholende sldcoXov 
und zweites Ich ist in seiner ursprünglichen Bedeutung der Genius 
der Römer, die Fravauli der Perser, das Ka der Ägypter.« Auch 
im Ägyptischen war die älteste Form der Seele der Schatten <Nege¬ 
lein nach Maspero) und nach Moret^ wechselten die Bezeichnungen 
für Seele, Doppelgänger <Ka>, Abbild, Schatten und Name^. Den 
Glauben der Wilden an die Fortdauer einer schattenhaften Seele 
nach dem Tode stützt auch Spieß <1. c. 172) durch den Hinweis 
auf eine reiche Literatur. Nach ihm bezeichnet auch der hebräische 
Ausdruck »Rephaim« für das, was im Tode vom Menschen übrig 
bleibt, »die Matten oder die Kraftlosen, d. i. die Schatten, die Be¬ 
wohner des Totenreiches, ein der griechischen Bezeichnung analoger 
Name« <p. 422). 

Der ursprünglichste Seelenglaube selbst knüpft also, wie Spieß 
namentlich für die Kulturvölker, insbesondere aberFrazer <Beliefetc.> 
für die primitivsten Wilden gezeigt hat, an den Tod an: die erste 
und für die ganze Entwicklung der Menschheitsgeschichte bedeutsame 
Seelenvorstellung der Primitiven ist die der Geister der Verstorbenen, 
die in den meisten Fällen als Schatten gedacht werden, wie wir ja 
auch heute noch vom »Schattenreich« der Abgeschiedenen sprechen. 

Da die Seelen der Verstorbenen Schatten sind, so werfen sie 
selbst keinen Schatten, wie beispielsweise die Perser von den wieder 
zum Leben Erweckten direkt behaupteten^. Ja, nach manchen Autoren® 

^ Psydie, p. 3 f. — Ähnliches von den Grönländern und anderen Völkern 
bei Radestock I. c. Kap. I und die Anmerkungen dazu. 

2 Man vgl. die homerische Auffassung der Seele als Schatten (sldcDAov) des 
einst lebenden Menschen <IIias XXIII, 104/ Od. X, 495/ XI, 207). Adiilles, dem 
der erschlagene Patroklus im Traume ersdieint, ruft aus: >Ihr Götter, so bleibt 
denn wirklich auch in des Hades Behausung eine Psyche und ein Sdiattenbild des 
Menschen!« Nach Spieß <EntwickIungsgesch. d. Vorstellungen vom Zustande nach 
dem Tode, Jena 1877, p. 283) wird nadi dem Tode die 'ipvxVr die Seele, die iden^ 
tisch ist mit dem Geiste, zum eldco?.ov, d. i. zu einem Schatten, zu einem Traum^ 
bild <Od. XI, 222). 

* Annales du Musee Guimet T. XIV, p. 33. 

^ Auch der besonders bei den Ägyptern (aber auch anderwärts: Spieß 
182 f., 87/ Frazer, Belief, p. 144 ff.) geübte Gebrauch des Einbalsamierens der 
Toten, sowie der von vielen Völkern geübte Brauch der Grabbeigaben (Essen und 
Feuer für die Seelen) weist darauf hin, daß man sich die Seele ursprünglich sehr 
materiell und dem Körper gleich dachte. 

® Spieß I. c. p. 266. 

® Negelein I. c., Spencer, Prinzipien der Soziologie, deutsch, v. Vetter, 
II, p. 426. 





144 


Otto Rank 


soll die Beobachtung, daß der tote <Iiegende> Körper keinen Schatten 
mehr wirft, zur Annahme der im Schatten entflohenen Seele beU 
getragen haben. So hat man auch den heiligen Bezirk der Arkader, 
das Lykaion, innerhalb dessen vollkommene Schattenlosigkeit herrscht, 
als das Reich der Totgeweihten aufgefaßt Nach Pausanias <VIII, 
38, 6> war der Eintritt in diesen Bezirk den Menschen untersagt,* * 
wer das Gesetz übertrat, mußte notwendig binnen Jahresfrist sterben. 
Die Schattenlosigkeit deutet also hier, wie in fast allen angeführten 
abergläubischen Vorstellungen, auf den bevorstehenden Tod, dessen 
Schattenlosigkeit vorweggenommen wird, und so weicht nach Roch^ 
holz <1. c. p. 19) im lykaiischen abaton »der schützende Dämon 
von der Person des gottgeweihten Eindringlings und überläßt ihn 
den Schrecken des Todes«^. Aber nicht nur die Seelen, sondern 
auch die ihnen nahestehenden Geister, Elfen ^ Dämonen, Gespenster 
und Zauberer^ sind schattenlos, weil sie ursprünglich selbst Sdiatten, 
d. i. Seelen sind. Die nach der Vorstellung der Neuseeländer schatten* 
losen Geister und Elfen nehmen darum von dargebotenen Dingen 
nichts mit als den Schatten^. Das Burg* oder Mittagsfräulein 
erkennt man daran, daß es keinen Schatten wirft, weil es ein Geist 
ist. Auch der Teufel hat als böser Dämon nach russischem Glauben 
<Gaster 1. c.> keinen Schatten und darum ist er so begierig nach den 
Schatten der Menschen <vgl. den Pakt von Schlemihl, Balciuin u. a.>. 
Wer dem Teufel verfallen ist, zeigt darum keinen Schatten <Pradel 
1. c.>. Die zahlreichen Sagen, in denen der Teufel um seinen Lohn 
geprellt wird, indem er statt der ihm verfallenen Seele »nur« den 
Schatten erhält ^ scheinen schon eine Reaktion auf den zu bedeut* 
sam genommenen Schattenverlust darzustellen und ursprünglich 
dürfte — wie ja noch Schlemihl und seine Nachfahren lehren — der 


' Wcicker, KI. Sdir. 3, p. 161, der sidi auf den Glauben der Pythago* 
raer beruft, welche die Redensart von dem »Schattenlos Werden« gemäß ihrer 
Anschauung, daß die Seele des Verstorbenen keinen Schatten mache, wörtlich 
nahmen, während man in Arkadien damit zuerst den Tod euphemistisch be* 
zeichnete <unser »umschatten«) und erst später diese Redensart buchstäblich nahm. 
Über die verschiedenen Auffassungen dieser kultischen Schattenlosigkeit vgl. man 
W. H. Roscher »Die Schattenlosigkeit des Zeus Abatons auf dem Lykaion« 
<FIeckeisens Jahrb. f. klass. Altert. Bd- 145, 1892) sowie die daselbst angeführte 
Literatur. 

2 Über die im lykaiischen Heiligtum abgehaltenen Menschenopfer Nege» 
lein I. c. 

* Germania V, 75. 

* Negelein 1. c. 

5 Waitz I. c. 297, 300. 

® Siehe Grimm, D. Mythol.S 2, p. 855, 976 und Note p. 302/ Müllenhoff, 
Schlesw ^Holst. Sagen, p. 554 f. Über die spanische Sage des Teufels von Sala-^ 
manca, die Th. Körner in einer Romanze behandelt hat, vgl. die Quellen bei 
Rochholz 1. c. p. 119. Das Gedicht selbst in »Deutsche Nat.-Lit.« Bd. 152, p. 200. 
Der Teufel unterhielt in Salamanca sieben Schüler, deren letzter mit seiner Seele 
bezahlen mußte. Einst zeigte dieser aber auf seinen Schatten mit dem Bemerken, 
der sei der letzte, der das Zimmer verlasse. Der Teufel nahm den Schatten, der 
Schüler blieb sein Leben lang schattenlos und unglücklich. 





Der Doppelgänger. 


145 


Mensdi in diesem Falle der betrogene gewesen sein, da er den 
Schatten gering schätzte, dessen Wert der Teufel noch kannte^. 

Daß »die vom Spiegelbild ausgehenden abergläubischen An^ 
schauungen und Gebräuche den vom Schattenbild hervorgerufenen 
in allen Hauptpunkten gleichen«, hat Negelein an reichem folklo- 
ristischen Material der Kulturvölker gezeigt. Auch hier stehen die 
Todes^ und Unheilsbefürchtungen in erster Reihe. In deutschen 
Landen gilt das Verbot, die Leiche vor einen Spiegel zu stellen 
oder im Spiegel zu betrachten, denn sonst erscheinen dort zwei 
Leichen und die zweite verkündet einen zweiten Todesfall^. Nach 
dalmatinischem Aberglauben, der sich auch in Oldenburg findet, stirbt 
derjenige, der sich in einen Spiegel sieht, während eine Leiche im 
Hause ist^. Die allgemeine Geltung dieser Befürchtung ersieht man 
aus der weiten Verbreitung der darauf bezüglichen Gegenmaßregel, 
welche gebietet, bei einem Todesfall die Spiegel zu verhängen, da¬ 
mit die Seele des Toten nicht im Hause bleibe. Diese Sitte wird 
noch heute in Deutschland, Frankreich, bei den Juden, Litauern u. a. 
geübtDa die Seele des Verstorbenen im Spiegel gedacht wird, 
kann sie dort unter gewissen Umständen sichtbar werden. In Schlei 
sien heißt es, daß in der Neujahrsmitternacht, wenn man mit zwei 
brennenden Lichtern von den Spiegeln tritt und den Namen eines 
Verstorbenen ruft, dieser im Spiegel erscheinet In Frankreich soll 
man sich selbst wie in der Todesstunde im Spiegel erblicken, wenn 
man in der Dreikönigsnacht eine bestimmte Zeremonie vor dem^ 
selben äusführt®. An diese Vorstellungen knüpfen die Verbote an, 

^ Dies zeigen die Überlieferungen, in denen der Teufel sidi direkt den 
Schatten als Lohn für seine Hilfe ausbedingt <z. B. Konrad Maurers Isl. Sag., 
p. 121) oder in denen ein Mensch, der den Teufel irgendwie geprellt hat, dann 
zeitlebens ohne Schatten gehen muß (Müllenhoff 1. c. p. 454f., Grimm, D. Myth. 
p. 976). — Interessant ist die von Rochholz <p. 119> angeführte Überlieferung, 
wonach ein Graf Villano <= Schufterle), der dem Teufel seinen Schatten überlassen 
hatte, von diesem die Kunst erlernte, alte Leute zu verjüngen <vgl. Wildes »Dorian 
Gray«) und diese an sich selbst anwenden wollte. Er ließ sich also im Alter 
töten, zerstückeln, die einzelnen Teile in ein Glas tun und dieses in Pferdemist 
vergraben. Dies wurde aber vorzeitig entdeckt und das noch nicht voll entwickelte 
Kind verbrannt. Vgl. über dieses Thema SiIberers Abhandlung >Homunculus« 
<Imago III, H. 1, 1914). 

2 Wuttke, p. 435 ff. 

® Haberland Karl, Der Spiegel im Glauben und Brauch der Völker. 
Zeitschr. f. Völkerpsychol. 1882, Bd. XIII, p. 324-347. - Vgl. auch Rieß, Rhein. 
Mus. 1894, LIX, p. 185. 

* Haberland, p. 344. — Nach Frazer 1. c. p. 95 auch in Belgien, England, 
Schottland, Madagaskar und bei den Juden der Krim,* ebenso bei den Mohammedanern 
auf Bombay. Mit der Begründung, daß die im Spiegel reflektierte Seele der Über¬ 
lebenden von dem im Hause weilenden Geist des Verstorbenen mit sich weg^ 
genommen werden könnte. 

^ Haberland 1. c. 

• I. c. 


Imago III/2 


10 





146 


Otto Rank 


sidi überhaupt nachts in den Spiegel zu schauen: wenn man das 
tut, verliert man sein eigenes Spiegelbild ^ d. h. die Seele, woraus 
der Tod notwendig folgt. In Ostpreußen gibt man dafür die Be¬ 
gründung, daß in solchen Fällen hinter einem das Bild des Teufels 
auftaucht. Bemerkt überhaupt jemand im Spiegel neben seinem Ge^ 
sicht noch ein anderes, so wird er bald sterben^. Aus ähnlichen 
Gründen ist kranken und schwachen Personen ihr Spiegelbild unheiU 
volF, insbesondere nach böhmischem Glauben^. — Das Herabfallen 
oder Zerbrechen des Spiegels gilt als Todesanzeichen in ganz Deutsch^ 
land^ obwohl daneben sieben Jahre Ungemach als euphemistischer 
Ersatz steht®. Auch wer zum letztenmal in einen zersprungenen 
Spiegel gesehen hat, muß sterben''^ oder leidet sieben Jahre Not®. 
Sitzen Dreizehn beisammen, so muß der sterben, der dem Spiegel 
gegenüber sitzt®. Um sich vor den geheimnisvollen Kräften des 
Spiegels zu schützen, läßt man in gewissen Gegenden in einen neuen 
Spiegel eine Katze sehen Auch hütet man sich, kleine Kinder 
überhaupt in den Spiegel sehen zu lassen aus Furcht vor dem 
eigenen Spiegelbild, das den Doppelgänger allen Schädigungen preis¬ 
gibt und mit der Begründung, das Kind werde sonst stolz und 
leichtsinnig oder krank werden und sterben^®. Auf dem Glauben an 
den Doppelgänger beruht nach Negelein die Überzeugung, daß 
der Spiegel verborgene Dinge anzeigt. Hierher gehört vor allem die 
magische Verwendung des Spiegels zur Ergründung der Zukunft. 
So heißt es z. B. in Oldenburg, daß man seine Zukunft im Spiegel 
sehe, wenn man um Mitternacht mit zwei brennenden Lichtern vor 
denselben trete und aufmerksam hineinschaue, während man dreimal 
den eigenen Namen rufe. Im Zusammenhang mit den angeführten 
Bräuchen ist klar, daß hier unter der »Zukunft« nicht das Was, 
sondern das Ob zu verstehen ist, d. h. daß den Menschen von 
allem Zukünftigen am meisten seine eigene Lebensdauer interessiert. 
Demgegenüber tritt die Bedeutung des Spiegels als Liebesprophet 
zurüä, obwohl das Mädchen bei Ausübung ähnlicher Bräuche meist 
»den Zukünftigen« <für sie gleichbedeutend mit dem Zukünftigen) 

^ I. c. p. 341 fF. nach Grimms Mythol. Anh., Deutsdier Abergl. Nr. 104,- 
Panzer, Beitr. z. ci. Myth. 2, 298/ Strackerjan, Abergl. aus OMenburg, 1, 262,- 
Wolff-Mannhardt 1, 243/ 4, 147/ Alpenburg, Mythen u. Sagen Tirols 252, 
Wuttke 1. c. § 205. 

2 Wuttke, p. 230. 

3 Negelein I. c. 

* Haberland I. c., Frazer 1. c. p. 95. 

5 Haberland I. c. 

® Wuttke, p. 198. 

’ Wuttke, p. 404. 

® Wuttke, p. 198. 

® Haberland 1. c. 

Negelein 1. c. 

'' Negelein 1. c. 

Wuttke, p. 368f. — Auch Webers Demokrites IV, 46. ‘ 





Der Doppelgänger 


147 


im Spiegel sieht ^ Eitle Mädchen aber sehen nachts im Spiegel das 
Gesidit des Teufels^. 

Die magischen und man tischen Verwendungen des Spiegels 
<auch Wasserspiegels), von denen Negelein und Haberland 
berichten, übergehen wir hier, um uns direkt ihrem Ursprung bei 
den Primitiven zuzuwenden. Wie im Schatten so sehen die Wilden 
auch in dem im Glas, Wasser oder Porträt wiedergegebenen Ebenbild 
die Seele verkörpert^ und darauf beziehen sich die vielfachen Tabus, 
die an diesen Dingen ebenso wie am Schatten haften^. Bei einem 
Stamm in Niederländisch-Indien dürfen halb erwachsene Kinder nicht 
in den Spiegel sehen, weil sie meinen, er nehme ihre Schönheit 
hinweg und lasse sie häßlich zurüdc^. Die Zulus schauen nicht in 
einen schmutzigen Sumpf, weil er ihr Spiegelbild nicht zurückwirft, 
und sie meinen, ein darin hausendes Untier habe es weggenommen, 
so daß sie sterben müssen. Wenn bei den Basutos jemand 
plötzlich, ohne ersichtliche Todesursache stirbt, so glauben sie, ein 
Krokodil habe das Schattenbild von der Wasseroberfläche hinab^ 
gezogen. 

Die ähnlich begründete Scheu vor dem Porträt oder der Photo¬ 
graphie der eigenen Person ist nach Frazer® über die ganze Erde 
verbreitet. Sie findet sich ebenso bei den Eskimos wie bei den In¬ 
dianern Amerikas, bei den zentralafrikanischen Stämmen, in Asien, 
Ostindien und — in Europa. Da sie im Abbild des Menschen seine 
Seele sehen, so fürchten sie, daß der fremde Besitzer desselben 
schädlichen oder tödlichen Einfluß auf sie üben könnte. Manche 
Primitive glauben direkt, daß sie sterben müßten, wenn ihr Bild an^ 
gefertigt werde oder sich in fremden Händen befinde. Ergötzliche 
Geschichten von der Angst der Wilden vor dem Photographieren 
erzählt Frazer <1. c.) und neuestens der Missionär Leuschner 


^ Wuttke, p. 229 f, 234/ Haberland l. c. — Diesen Volksglauben hat auch 

E. Th. A. Hoff mann in seinen Diditungen mehrfach verwendet. Vgl. K. 01b= 
rieh, HofFmann und der deutsche Volksaberglaube. Mitt. d. Ges. f. Schlesische Volksk. 
1900. — Über den an die »Andreasnächte« geknüpften Spiegelaberglauben handelt 

F. S. Krauß im »Urquell«. 

2 Negelein I. c. 

® Thomas Williams, der unter den Fidschi^Insulanern lebte, erzählt foU 
gende für die Seelenbedeutung des Spiegelbildes bezeichnende Geschiebe »I once 
placed a good-^looking native suddenly before a mirror. He stood delighted. ,Now', 
said he, softly, ,I can see into the world of spirits'.« (Nach Frazer, Belief etc., 
p. 412). 

* Frazer 1. c. p. 92fF. 

5 1. c. p. 93. Die psychologische Grundlage dieses Aberglaubens gibt Kleist, 
der das Doppelgängerproblem im »Amphytrion« behandelte, in seinen Bemerkungen 
»über das Marionettentheater«. Er erzählt dort von einem schönen und wohl^ 
gebildeten Jüngling, der, um die Stellung des »Dornausziehers« nachzuahmen, anfing 
»tagelang vor dem Spiegel zu stehen/ und immer ein Reiz nach dem andern verließ 
ihn ... . und als ein Jahr verflossen war, war keine Spur mehr von der Lieblich^ 
keit in ihm zu entdecken.« Man vgl. dazu die Sage von Entelidas (unten S. 149) 
und den Lieblingsromanhelden von Dorian Gray (oben S. 110). 

® 1. c. p. 96 bis 1(X). 


10* 





148 


Otto Rank 


von den Jautz in Süddiina^. Diese Furcht vor dem eigenen Eben¬ 
bild greift auf Grund des Seelenglaubens auf jede bildliche Darstellung 
über. So erzählt Meinhof <1. c.> »Ein plastisches Abbild des Men¬ 
schen kann den Afrikaner in die größte Unruhe versetzen, und es 
ist vorgekommen, daß das Kunstwerk vernichtet werden mußte, um 
die aufgeregten Menschen zu beruhigen.« Von den Waschamba 
berichtet Warneck^ daß sie mit den menschlichen Photographien, 
welche die Missionäre in ihrem Zimmer aufgehängt hatten, nicht 
allein sein wollten,* * sie fürchteten, die Bilder könnten lebendig werden 
und auf sie zukommen. 

Nach deutschem Aberglauben darf man sich nicht malen lassen^, 
weil man sonst stirbt^. Auch in Griechenland, Rußland^ und Al¬ 
banien weist Frazer denselben Glauben nach® und zeigt Spuren 
desselben im heutigen England und Schottland auf. 

Auch bei den antiken Kulturvölkern finden sich die den ange^ 
führten abergläubischen Vorstellungen entsprechenden Ideen. So bei 
den alten Indern und Griechen die Regel, nicht nach seinem Spiegel¬ 
bild im Wasser zu sehenda dies den baldigen Tod zur Folge 
hätte®. Auch galt es bei den Griechen als Todesvorzeichen, wenn 
man im Traum sein Wasserspiegelbild erblickte®. Der germanische 
Glaube legte gleichfalls dem Wasserbild Todesbedeutung bei,* wenn 
jedoch das gleiche im Traum andere Male als Anzeichen langen 
Lebens aufgefaßt wurde so verstehen wir dies nicht nur als Wunsch^ 
gegensatz, sondern werden es auch mit der Geburtsbedeutung der 
Wasserträume in Zusammenhang bringen. 

Hier fügen sich zwanglos die interessanten mythologischen 
Überlieferungen an, welche den Glauben an die befruchtende Wir^ 
kung, die dem Schatten zugeschrieben wird, auch beim Spiegelaber¬ 
glauben zeigen Hauptsächlich kommt dafür der Dionysosmythos 


1 Mitt. d. Geogr. Ges. zu Jena, 1913. Über ähnlidies auf dem malayisdien 
Ardiipel vgl. man Ztsdi. f. Ethnol. 22, p. 494 f. — Nadi Meinhof <Afrik. Rel. 
1912) begegnet die Aufnahme der Stimme im Phonographen gelegentlidi ähnlichen 
Schwierigkeiten. 

2 »Lebenskräfte des Evangeliums«, 1908, p. 30, Anmkg. 3. 

3 Wuttke, p. 289. 

* Köhler, Volksbrauch, Aberglauben etc. im Voigtlande, Leipzig 1867, 

p. 423. 

^ Nach russischem Aberglauben steht das Spiegelbild eines Menschen in 
Verbindung mit seinem inneren Wesen (Spencer I. c. p. 426). 

6 p. 100. 

^ Frazer, p. 94. 

® Preller, Griech. Mythol. I, p. 598. 

® Frazer, p. 94. 

Haberland I. c. 

“ Das Folgende nach Haberland I. c. p. 328 f. — Nur nebenbei sei hier 
der antike von Aristoteles und Plinius berichtete Glaube angeführt, daß ein 
Spiegel, in den eine menstruierende Frau hineinschaue, fleckig werde. — In Mecklen^ 
bürg und Schlesien werden die Spiegel wie bei einem Todesfall auch dann verhängt, 
wenn eine Wöchnerin im Hause ist/ offenbar um das Kind im Mutterleib vor 
Bezauberung zu schützen. 





Der Doppelgänger 


149 


und die daran knüpfenden Mysterien in Betracht. Schon seine Mutter 
Persephone hatte sich, ehe sie den Zagreus gebar, in einem Spiegel 
betrachtetS was Negelein <1. c.) als eine »Zeugung durch Zu¬ 
sammenwirken von Persönlichkeit und Doppelgänger« auffaßt- Be^ 
kanntlich wurde dann Zagreus bei seiner Wiedergeburt als Dionysos, 
gewissermaßen als Ausgleich seiner ursprünglich rein weiblichen 
Zeugung, von Zeus allein in seinem Schenkel ausgetragen. Auch 
in dieser Wiedergeburtsgeschichte spielt ein Spiegel eine Rolle. Der 
vielgestaltige Zagreus betrachtete sich gerade als Stier in einem von 
Hephaistos verfertigten Spiegel, als die von der feindlichen Hera 
gesandten Titanen kamen und ihn trotz seiner Verwandlung in Stücke 
rissen,- einzig das Herz wurde gerettet, aus dem dann mittels der 
Semele Dionysos in der erwähnten Weise geboren wurde Aber 
noch einen bedeutungsvollen Schöpfungsmythos berichtet Proklus von 
Dionysos: Er soll sich selbst in dem von Hephaistos geschmiedeten 
Spiegel betrachtet und, von diesem Bild verführt, danach alle 
Dinge geschaffen haben Diese spätgriechische Auffassung von der 
Schöpfung der materiellen Welt findet ihr Urbild in der indischen 
Kosmogonie, welche die Selbstbespiegelung des Urwesens als Grund 
der materiellen Welt kannte, und setzt sich in die neuplatonischen 
und gnostischen Lehren fort. So behaupteten die Gnostiker, Adam 
habe dadurch, daß er sich in einem Spiegel beschaute und sich in 
sein eigenes Bild verliebte, seine himmlische Natur verloren^. 

Die vom Anblick des Spiegelbildes ausgehende schädigende 
Wirkung stellt deutlich die von Plutarch^ berid^tete Sage des 
Entelidas dar, der von seinem Anblick im Wasser entzückt, durch 
den eigenen bösen Blid^ erkrankte und mit seinem Wohlbefinden die 
Schönheit verlor. 

Beide Seiten des Glaubens, die verderbliche und die erotische, 
vereinigt in einzigartiger Synthese die bekannte Fabel von Nar- 
kissos in der späten Form, in der sie auf uns gekommen ist. Ovid 
erzählt ^ daß bei der Geburt des Narkissos der Seher Tiresias 
befragt wurde, ob dem Kinde ein langes Leben beschieden sei, 
und er habe geantwortet: wenn er sich nicht sehen würde. Einst 
erblickt jedoch der gegen Jünglinge und Mädchen gleich spröde 
Narkissos im Wasser sein Spiegelbild und verliebt sich dermaßen 
in den schönen ihm daraus entgegenstrahlenden Knaben, daß er aus 
Sehnsucht zu ihm dahinsiecht. Nach späterer Sage entleibt sich Nar^ 
kissos selbst, nachdem er sich in sein Spiegelbild verliebt hatte. Noch 
in der Unterwelt schaut er im Styx sein Bild. Nach einer noch 


1 Creuzer, Symbolik 4, p. 196. 

2 W. Menzel, Die vorchristliche Unsterblichkeitslehre. Leipzig 1870, 
II, p. 66. 

3 Menzel I. c., Creuzer I. c. 4, p. 129. 

^ Menzel I. c. p. 68. 

® Moralia, quest. conv. V, 7, 3. 

® Metamorph. III, 342 fF. 





150 


Otto Rank 


späteren rationalistischen Auffassung bei Pausanias^ ist Narkissos 
nach dem Tod seiner ihm an Kleidung und Aussehen völlig gleichen 
Zwillingsschwester untröstlich, bis er sein Spiegelbild erblickt und 
obwohl er weiß, daß er nur seinen Schatten sieht, doch eine gewisse 
Erleichterung seines Liebeskummers empfindet 2 . Weiß man nun auch, 
daß die Befragung des Tiresias und anderes^ als spätere dichterische 
Zutat der ursprünglichen Sage nicht angehört, so scheint es doch nicht 
ausgemacht, daß die Fabel ursprünglich, wie Frazer^ meint, nur 
in poetischer Einkleidung des Aberglaubens besagte, daß der Jüngling 
starb, nachdem er sein Spiegelbild ^seinen Doppelgänger) im Wasser 
erblickt hatte, und daß die Verliebtheit in das eigene Ebenbild, die 
ja das Wesentliche der Narzißsage ausmacht, erst später zur Er¬ 
klärung herangezogen wurde, als man diesen ursprünglichen Sinn 
nicht mehr kannte. 


V. 

»Es ist das Phantom unseres eigenen Idis, 
dessen innige Verwandtschaft und dessen tiefe 
Einwirkung auf unser Gemüt uns in die 
Hölle wirft, oder in den Himmel verzückt.« 

A. T. A. Hoffmann. 

Die Psychoanalyse kann es unter keinen Umständen als bloßen 
Zufall betrachten, daß die Todesbedeutung des Doppelgängers mit 
der narzißtischen — wie in der griechischen Sage so auch anderwärts 
— eng verbunden erscheint. Zudem ergibt sidi der Anlaß, es nicht 
bei der Frazersehen Erklärung bewenden lassen, daraus, daß seine 
Zurückführung der Narzißfabel das Problem nur auf die Frage nach 
Herkunft und Bedeutung der zugrunde liegenden abergläubischen 
Vorstellungen verschiebt. Sucht man aber doch zunächst auf Grund 
der Fr azerschen Annahme nach einer Erklärung dafür, warum die 
an den Anblick des Doppelgängers geknüpfte Todesvorstellung ^ in der 
Narzißsage gerade durA das Motiv der Selbstliebe^ verdeckt worden 
sein sollte, so wird man zunäAst an die allgemein wirksame Ten¬ 
denz denken müssen, welAe die überaus peinliAe Vorstellung des 
Todes mit besonderer Hartnäckigkeit aus dem Bewußtsein aus- 

^ 9, 31, 6. 

2 Ein komisdies Seitenstück dazu bietet die kamtsdiadalisdie Erzählung von 
dem einfältigen Gotte Kutka, dem die Maus einen Streick spielt, indem sie ihm 
im Sdilafe das Gesicht wie einer Frau anmalt/ als er dies im Wasser erblidct, 
verliebt er sich in sich selbst <TyIor I. c. I, p. 104). Vgl. die ähnliche Idee Hebbels, 
oben S. 1152 . 

3 So die Verbindung des Narkissos mit der Echo, die von dem Spröden 
unerhört, sich in Gram verzehrt, bis nur mehr »vox tantum atque ossa supersunt«. 
Als Bestrafung für diese verschmähte Liebe läßt der Dichter den Jüngling in 
quälerische Selbstliebe verfallen. 

* l. c. p. 94. 

5 Wieseler (Narkissos, Göttingen 1856) faßt Narziß als Todesdämon 
<S. 76 ff.>, bezieht den Mythus aber audi auf die kalte Selbstliebe <S. 3^, 74). 






Der Doppelgänger 


151 


sdhließen will. Dieser Tendenz entsprechen ja die häufigen euphe¬ 
mistischen Ersatzvorstellungen, die im Aberglauben allmählich die 
ursprüngliche Todesbedeutung überlagern. Daß diese Tendenz aus 
einem begreiflichen Kompensationsbestreben trachtet, ein möglichst 
entferntes und angenehmes Äquivalent einzusetzen, hat Freud am 
Parzenmythos gezeigt^, in dessen verwandelten Gestaltungen an 
Stelle der Todesgöttin die Liebesgöttin tritt Diese Entwicklung des 
Motivs ist aber keine willkürliche, sondern greift nur auf eine 
alte, ursprüngliche Identität dieser beiden Gestalten zurücfe, die 
bewußterweise auf der Überwindung des Todes durch eine neue 
Zeugung beruht und ihre unbewußte Grundlage im Mutterkomplex 
findet. Daß die Todesbedeutung des Doppelgängers gleichfalls zur 
Ersetzung durch die Liebesbedeutung neigt, ersieht man aus den 
offenbar späten, sekundären und vereinzelten Überlieferungen, nach 
denen Mädchen unter denselben Bedingungen ihren Liebsten im 
Spiegel sehen können, unter denen sonst Tod oder Unheil sich an- 
künciigen^. Und in der Ausnahmsregel, daß dies für eitle Mädchen 
nicht zutreffe, dürfen wir einen Hinweis auf den die Liebeswah! 
störenden Narzißmus erkennen. Ähnlich ist es ja auch in der Narziße 
sage, von der eine zwar späte, aber psychologisch gleichwertige 
Version berichtet, der schöne Jüngling habe im Wasserspiegel die 
geliebte Zwillingsschwester <die Liebste) zu erblicken geglaubt. Nur 
steht hier neben dieser deutlich narzißtischen Verliebtheit auch die 
Todesbedeutung noch so weit in Geltung, daß die enge Verknüpfung 
und tiefe Beziehung beider Komplexe außer Zweifel gestellt wird. 

Daß dem Doppelgängermotiv, welches in dem folkloristischen 
Material die Seelen- und Todesbedeutung hervorkehrt, auch der 
narzißtische Sinn von Natur aus nicht fremd ist, zeigen außer den 
angeführten mythologischen Überlieferungen vor allem die dichte¬ 
rischen Bearbeitungen, welche neben dem Todesproblem, sei es 
direkt, sei es in pathologischer Verzerrung, das narzißtische Thema 
in den Vordergrund treten lassen. 

Neben Furcht und Haß dem Doppelgänger gegenüber er¬ 
scheint die narzißtische Verliebtheit in das eigene Ebenbild und Ich 
am deutlichsten ausgeprägt bei Oskar Wildes »Dorian Gray«. 
»Die eigene Schönheit offenbart sich ihm« beim ersten Anblick 
seines Porträts, als er »das Abbild seiner eigenen Herrlichkeit sah« 
<1. c. 39)^. Und zugleich befällt ihn die Furcht, er könnte jemals alt 
und anders werden als jetzt, die eng mit der Todesvorstellung ver¬ 
knüpft ist: »wenn ich bemerke, daß ich alt werde, werde ich 
mich töten« <1. c.). Dorian, der direkt als Narziß bezeichnet wird 


^ Das Motiv cfer Kästchenwahl. Imago II, 1913. 

2 Auch dort, wo die Todesbedeutung, wie wir gesehen haben, zur Zukunfts^ 
andeutung im allgemeinen sidi verflüchtigt hat, ist der Übergang zur Glücksbedeutung 
{Liebe, Reichtum) leicht gegeben, indem an Stelle der unausweichlichen düsteren 
Zukunft die Wunschvorstellungen einer verheißungsvollen Erwartung treten. 

^ Übersetzt v. M. Preiß, Reclam Bibi. 





152 


Otto Rank 


<p. 13>S liebt sein eigenes Bild und in diesem seinen eigenen Körper; 
»Einmal hatte er wie ein knabenhaft ausgelassener Narzissus die 
gemalten Lippen geküßt, die ihn jetzt so grausam anlächelten. 
Morgen für Morgen hatte er vor dem Bilde gesessen und seine 
Schönheit bewundert, oftmals war er darüber in Verzückung geraten« 
<1. c. 129). Oft... schlich er zu dem verschlossenen Zimmer hinauf 
und stand dann mit einem Spiegel in der Hand vor dem Bilde . . . 
Bald sah er auf das häßliche und alternde Antlitz auf der Lein¬ 
wand, bald auf das schöne jugendliche Gesicht, das ihm aus dem 
blanken Spiegel entgegenlachte. Er verliebte sich immer mehr in 
seine eigene Sdiönheit« <154). Mit dieser narzißtischen Einstellung 
hängt sein imposanter Egoismus, seine Unfähigkeit zur Liebe und 
sein abnormes Sexualleben zusammen. Die intimen Freundschaften 
mit jungen Männern, die ihm Hallward vorwirft <1. c. p. 179), 
suchen die erotische Verliebtheit in das eigene jugendliche Ebenbilcl 
zu realisieren 2 und den Frauen vermag er nur die gröbsten sinn^ 
liehen Genüsse abzugewinnen, ohne einer seelischen Beziehung fähig 
zu sein. Diese mangelnde Liebesfähigkeit teilt Dorian mit fast allen 
Doppelgängerhelden ^ und er spricht es selbst an einer bedeutsamen 


^ Hallward hatte ihn vorher auch so gemalen; »Du hast dich über den ein^ 
Samen Weiher in einer griechischen WaMung gebeugt und in dem silbernen Wasser^ 
Spiegel das Wunder der eigenen Schönheit geschaut« (I. c. p. 139). 

2 Über die Bedeutung des Narzißmus für die homosexuelle Einstellung und 
Liebeswahl vgl. meinen »Beitrag zum Narzissismus« <jahrb. f. Ps.^A. III, 1911) 
sowie die Arbeiten von Freud, Sa dg er u. a., auf die er sich stützt. — Auf die 
Beziehung des Doppelgängertums zum Narzißmus und zu verschiedenen SexuaU 
Phantasien hat Sa dg er bereits aufmerksam gemacht (Psychiatrisch-Neurologisches 
etc., I. c.>. — In der interessanten Selbstbeobachtung eines Mannes, der mit seinem 
zweiten Ich gerne und viel spricht, findet sich ein pathologisch ausgeprägter Nar¬ 
zißmus: »Besonders abends nehme ich einen Stuhl und Spiegel her und betrachte 

nahezu eine Stunde lang mein Gesicht.Dann lege ich mich ins Bett, nehme 

den Spiegel vor und lädile mich an und denke mir: Es ist jammerschade, daß dich 

jetzt niemand sieht.ein ganzes Mädchen (bist du). Dann küsse ich mich im 

Spiegel, d. h. ich ziehe den Spiegel, mich darin besehend, langsam an meine Lippen. 
Ich küsse also derart mein zweites Ich, und bewundere sein gutes Aussehen.« Auch 
nennt er das zweite Ich einen »schlechten Kerl« (Zentralbl. f. Ps.*A. IV, H. 7—8, 
ApriUMai 1914, S. 415). 

® Als ein feiner dichterischer Zug muß es erscheinen, daß Lenau der schwer 
dischen Sage vom Zusammenhang des Schattenverlustes mit der Unfruchtbarkeit 
eine narzißtische Begründung gibt: 


Anna steht in sich versunken. 
Blicket in den See hinein. 

Weidet eigner Schönheit trunken. 
Sich an ihrem Widerschein. 


Nach dem Bilde niederhangend. 
Starrt sie zweifelnd und beglüit. 
Und das Bild, ihr nachverlangencl. 
Starrt bewunclernd und entzückt. 


Sie beginnt hinab zu reden: 
Wunderholde Jungfrau, sprich. 
Schönstes Bild im Lande Schweden^ 
Bin ich du? und bist du ich? 

Anna neigt vom grünen Strande 
Sich in ihres Bildes Näh', 

Streift vom Busen die Gewände, 
Läßt ihn leuchten in den See. 


In den seligen Gebärden, 

Die das Bild ihr abgelauscht. 

Sieht sich Anna schöner werden. 
Und die Jungfrau steht berauscht. 

»Wenn so schön ich immer bliebe! 
Muß dies Bild denn auch vergehn?« 
Ruft sie, eitler Eigenliebe, 

Horch! die Winde sausend wehn! 







Der Doppelgänger 


153 


Stelle deutlich aus, daß sie aus der narzißtischen Fixierung an das 
eigene Ich stammt: »Ich wünschte, ich könnte lieben«, sagte Dorian 
Gray, eine tiefe Bewegung in seiner Stimme verratend. ,Aber es 
scheint, daß ich die Leidenschaft verloren und den Wunsch vergessen 
habe. Ich habe mich zu stark auf mich selbst konzentriert. 
Die eigene Persönlichkeit ist mir eine Last geworden. Ich möchte 
entfliehen, Weggehen, vergessen« <p. 240). In besonders deutlicher 
Abwehrform zeigt dann der »Student von Prag«, wie sich das 
gefürchtete Ich der Liebe zum Weib hindernd in den Weg stellt 
und in Wildes Roman wird eben klar, daß Furcht und Haß dem 
doppelgängerischen Ich gegenüber mit der narzißtischen Liebe zu 
demselben und deren Abwehr in engem Zusammenhang steht. Je 
mehr Dorian sein alt und häßlich werdendes Ebenbild verabscheut, 
desto intensiver wird seine Selbstliebe: »Der sich von Tag zu Tag 
steigernde Kontrast erfüllte ihn mit lebhafter Freude. Er verliebte 
sich immer mehr in seine eigene Schönheit . . .« <p. 154). 

Diese erotische Einstellung zum eigenen Ich ist aber nur mög¬ 
lich, weil daneben die abwehrenden Gefühle sich an dem gehaßten 
und gefürchteten Doppelgänger entladen können. Der Narziß steht 
seinem Ich ambivalent gegenüber, etwas in ihm scheint sich gegen die 
ausschließliche Selbstliebe zu sträuben und die Abwehrform gegen 
den Narzißmus äußert sich zunächst in zweierlei Weise In Furcht 


Rausdiend wird ihr Bild zertrümmert 
Im empörten Wellenschaum/ 

Und das Mädchen sieht bekümmert 
Sich darin vergehn wie Traum. 

Da erscheint die Alte und warnt sie vor der Gefahr des Kindersegens für 
ihre Schönheit: 

»O dann frage deinen Schatten: 

Wangen, seid ihr mein, so bleich? 

Augen mein, ihr hohlen, matten? 

Weinen wirst du in den Teich.« 

Sie verlangt von der Alten, daß ihre Schönheit nie vergehen möge und 
erfreut sich auch sieben volle Jahre dieser Gunst: 

Oftmals bei verschloss'nem Riegel 
Ist sie unbelauscht allein. 

Stürzt ihr Aug' sich in den Spiegel, 

Schwelgt in ihrem Widerschein. 

* Welche Formen die abwehrende Einstellung gegen das Spiegelicht an«- 
nehmen kann, zeigt ein kürzlich in London verhandelter Prozeß, aus dessen Bericht 
in einer Tageszeitung (v. 9. Dezember 1913) folgendes angeführt sei. Ein junger 
Lord hatte seine schöne ungetreue Geliebte zur Buße für acht Tage in ein Zimmer 
gesperrt, dessen Wände aus Spiegelscheiben bestanden, welche den Zweck hatten, 
»der jungen Dame fortwährend ihr Antlitz vorzuhalten, damit sie es betrachte und 
sich im eigenen Angesicht Besserung gelobe. Im Laufe der Tage und Nächte, die 
das junge Mädchen zum Teil wachend zubrachte, bekam es vor dem ewig wieder¬ 
kehrenden Bilde des eigenen Gesichtes ein solches Grausen, daß sich der Verstand 
zu verwirren begann. Immer versuchte sie, dem Spiegelbild auszuweichen, und von 
allen Seiten grinste und lächelte ihr ihr eigenes Bild entgegen. Da wurde eines 
Morgens die alte Dienerin durch ein fürchterliches Poltern herbeigerufen. Miß R. 





154 


Otto Rank 


und Absdieu vor dem eigenen Spiegelbild, wie es Dorians fiktiver 
Romanheld und die meisten Gestalten Jean Pauls zeigen oder, wie 
in der Mehrzahl der Fälle, im Verlust des Schatten-, respektive 
Spiegelbildes, der aber, wie die Verfolgungen zeigen, gar kein Ver¬ 
lust ist, sondern im Gegenteil eine Verstärkung, Verselbständigung, 
ein Übermächtigwerden, das eben wieder nur das überstarke Inter¬ 
esse am eigenen Ich erweist. So erklärt sich der scheinbare Wider¬ 
spruch, daß der Verlust des Schatten- oder Spiegelbildes als Ver^ 
folgung durch dasselbe dargestellt werden kann, als Darstellung 
durchs Gegenteil auf der Basis der Wiederkehr des Verdrängten 
im Verdrängenden <siehe unten Schlußabsatz). 

Denselben Mechanismus zeigt der mit der Verfolgung durch 
den Doppelgänger, das eigene Ich, so häufig verknüpfte Ausgang 
in Wahnsinn, der fast regelmäßig zum Selbstmord führt. Auch wo 
die klinische Exaktheit nicht an Dostojewskis unübertreffliche Ge¬ 
staltung heranreicht, wird doch deutlich, daß es sich um paranoiische 
Verfolgungs- und Beeinträchtigungsideen handelt, denen der Held 
von Seite seines Doppelgängers ausgesetzt ist. Nun wissen wir 
seit Freuds psychoanalytischer Aufklärung der Paranoia\ daß dieser 
Erkankung »eine Fixierung im Narzißmus« zugrunde liegt, welcher 
der typische Größenwahn, die Sexualüberschätzung des eigenen Ich, 
entspricht. Die Entwicklungsstufe, von der die Paranoiker auf den 
ursprünglichen Narzißmus regredieren, ist die sublimierte Homo¬ 
sexualität, gegen deren unverhüllten Durchbruch sie sich mit dem 
charakteristischen paranoischen Mechanismus der Projektion zur Wehre 
setzen. Auf Grund dieser Einsicht läßt sich leicht zeigen, daß die 
Verfolger des Kranken regelmäßig den ursprünglich geliebten Per¬ 
sonen <oder deren Ersatzfiguren) entsprechen. Nun bestätigen die 
dichterischen Darstellungen des Doppelgängermotivs, die den Ver^ 
folgungswahn schildern, nicht nur die Freudsdie Auffassung von 

scfilug mit beiden Fäusten in die Spiegelwände, die Scherben flogen herum, flogen 
ihr in das Gesicht, sie achtete nidit darauf, sie schlug hinein, nur um nicht mehr 
das Bild zu sehen, vor dem sie ein solches Grausen bekommen hatte. Der sofort 
herbeigerufene Arzt konstatierte, daß Tobsucht ausgebrochen, die wahrscheinlidi 
unheilbar geworden sei. Die Ursache führte er auf die Einsamkeit im Zimmer 
zurüdc, in dem das junge Mädchen nichts zu sehen bekommen hatte wie ihr eigenes 
Spiegelbild.« — Die furchtbare Wirkung dieser Strafe weist darauf hin, wie sehr sie 
psychologisch getroffen hatte. Daß die der Liebe geweihten Orte verschwenderisch 
mit Spiegeln ausgestattet wurden, berichtet Fuchs im Erg. Bd. z. galanten Zeit 
seiner »Illustr. Sittengesch.«, indem er sich auch auf das Zeugnis Casanovas 
beruft. Als Gegensatz zum obigen sei folgende Stelle zitiert: »Sie war überrascht von 
dem Wunder, daß sie, ohne sich zu rühren, ihre reizende Person in tausendfach ver¬ 
schiedener Art sah. Ihr Abbild, das von den Spiegeln, dank einer sinnreichen An¬ 
ordnung der Kerzen, vervielfältigt wurde, bot ihr ein neues Schauspiel, von dem 
sie ihre Blicke nicht abwenden konnte« <1. c. p. 16). — In einer Variante des 
Schneewittchen-Märchens aus dem rumänischen Siebenbürgen wird die Pflegemutter 
am Schluß zur Strafe <für ihre Eitelkeit) in ein Zimmer gesperrt, dessen Wände 
aus lauter Spiegeln bestehen <Böklen, Schneewittchen-Studien, p. 51). 

^ Psychoanalytische Bemerkungen über einen autobiographisch beschriebenen 
Fall von Paranoia (Dementia paranoides). Jahrb. f. Ps.-A. III, 1911, p. 64. 





Der Doppelgänger 


155 


der narzißtisdien Disposition zur Paranoia, sondern sie reduzieren 
audi in einer von den Geisteskranken relativ selten erreiditen An^ 
sdiaulidikeit den Hauptverfolger auf das eigene Idi, die ehemals 
geliebteste Person, gegen die sich nun die Abwehr richtet Diese Auf^ 
fassung ersdieint keineswegs als Widerspruch gegen die homosexuelle 
Ätiologie der Paranoia, denn wir wissen, wie bereits erwähnt, daß 
das gleichgeschlechtliche Liebesobjekt ursprünglich in narzißtischer Ein¬ 
stellung nach dem eigenen Ebenbilde gewählt wurde. 

In Zusammenhang mit der paranoischen Verfolgung steht ein 
anderes Thema, das noch Hervorhebung verdient. Wir wissen, daß 
die Person des Verfolgers häufig den Vater oder dessen Ersatz 
(Bruder, Lehrer etc.) vertritt und finden auch in unserem Material 
den Doppelgänger oft mit dem Bruder identifiziert. Am deutlichsten 
bei Müsset, aber auch bei Hoffmann (Elixiere des Teufels, Die 
Doppelgänger), Poe, Dostojewski und anderen, meist sogar als 
Zwillingsbruder, was noch in der Sage vom weibischen Narziß nadi- 
klingt, der in seinem Ebenbild die ihm in allem ähnliche Zwillings¬ 
schwester zu erblicken glaubt. Daß die Dichter, welche das Doppel¬ 
gängermotiv bevorzugen, auch mit dem Bruderkomplex zu kämpfen 
hatten, ergibt sich aus der nicht seltenen Behandlung der Bruder^ 
rivalität in anderen Werken von ihnen. So hat Jean Paul in dem 
berühmten Roman »Flegeljahre« das Motiv der miteinander rivalU 
sierenden Zwillingsbrüder behandelt, ebenso Maupassant in »Pierre 
et Jean« und dem unvollendeten Roman »L'Ängelus«, Dosto^ 
jewski in »Die Brüder Karamasow« etc.^ Tatsächlich ist der Doppel¬ 
gänger, von außen betrachtet, der Rivale seines Urbildes in allem 
und jedem, in erster Linie aber in der Liebe zum Weibe und diesen 
Zug dürfte er zum Teil auch der Identifizierung mit dem Bruder 
verdanken. Über dieses Verhältnis äußerte jüngst ein Autor in 
anderem Zusammenhänge^: »Der jüngere Bruder pflegt auch im ge¬ 
wöhnlichen Leben bereits äußerlich dem älteren irgendwie ähnlich zu 
sein. Er ist gleichsam das lebendig gewordene Spiegelbild des brüder- 

' Die Bedeutung eines eventuell andersgescfiledhtlidien Verfolgers im Bild 
der Paranoia kann hier nicht erörtert werden,- doch scheint sie sich der von Freud 
entwidcelten Gesamtauffassung ganz ausgezeichnet einzufügen. — Ein Gegenstück 
der paranoisdien Erkrankung im Gefolge der Abwehr des Narzißmus bildet die 
von Raimund dargestellte Heilung des Rappelkopf von seinem paranoischen 
Wahn durch bewußte Vorführung des Doppelgängers. Auch Rappelkopfs Beein-- 
trächtigungsideen gehen zunächst von der eigenen Frau aus, von der er sich ver^ 
folgt glaubt und vor der er flüchtet, um sich mit der Einsamkeit »zärtlich zu 
beweiben«. Aber hier gelingt es, die Projektion rückgängig zu machen: anstatt sich 
zu lieben und andere zu hassen, lernt der Held andere lieben und sich hassen, 

2 Nebenbei seien genannt: die beiden Dramen »Die Brüder« von Poritzki 
<1907), dem Verfasser mehrerer Doppelgängergeschichten und das gleichnamige 
Stück von Paul Lindau (nach dem gleichnamigen Roman desselben), der dem 
Thema des Doppelgängers gleichfalls besonderes Interesse schenkte. Die auf dem 
Motiv der Zwillingsgeschwister beruhende Verwechslungskomödie <s. oben p. 1112) 
gestattet die humoristische Auflösung der tragischen Brüderrivalität. 

* J. B. Schneider, Das Geschwisterproblem. Geschl. u. Gesellsch. VIII, 
1913, p. 381 (September). 





156 


Otto Rank 


lidien Jdis' und darum audi ein Nebenbuhler in allem und jedem, 
was jener sieht, fühlt und denkt.« Wie diese Identifizierung mit der 
narzißtischen Einstellung Zusammenhängen könnte, mag aus einer 
anderen Äußerung desselben Autors hervorgehen. »Das Verhältnis 
des älteren zum jüngeren Bruder ist analog dem des Autoerotikers 
zu sich selbst.« 

Aus dieser brüderlichen Rivalitätseinstellung gegen den gehaßten 
Nebenbuhler in der Liebe wird auch der Todeswunsch und der 
Mordimpuls gegen den Doppelgänger ein Stück weit verständlich ^ 
wenngleich die Bruderbedeutung in diesem Falle das Verständnis 
nicht erschöpft. Das Brüdermotiv ist eben nicht die Wurzel des 
Doppelgängerglaubens, sondern nur eine — allerdings wohldeter¬ 
minierte — Interpretation der zunächst unzweifelhaft rein sub^ 
jektiven Bedeutung des Doppelgängers. Allerdings genügt zu deren 
Aufdeckung nicht die psychologische Konstatierung, daß »der seelische 
Zwiespalt den Doppelgänger schafft«, der einer »Projektion der 
inneren Zerrissenheit« entspricht und dessen Gestaltung eine innere 
Befreiung, eine Entlastung mit sich bringt, wenn auch um den Preis 
der »Angst vor Begegnung«. So »gestaltet die Furcht aus dem 
Ichkomplex das SAreckgespenst des Doppelgängers«, der »die 
geheimen und stets unterdrückten WünsAe seiner Seele wahrmaAt«^. 
Jenseits der Feststellung dieser formalen Bedeutung des DoppeL 
gängers erheben siA erst die eigentliAen Probleme, die auf ein Ver^ 
ständnis der psyAologisAen Situation und der Einstellung zielen, 
welAe eine solAe innere Spaltung und Projektion sAaffen. 

Als auffälligstes Symptom dieser Gestaltungen ersAeint ein 
mäAtiges SAuldbewußtsein, das den Helden nötigt, für gewisse 
Handlungen seines lA die Verantwortung niAt mehr auf siA zu 
nehmen, sondern einem anderen lA, einem Doppelgänger, aufzu^ 
bürden, der entweder im Teufel selbst personifiziert ist^ oder durA 
die TeufelsversAreibung gesdiaffen wird. Diese abgespaltene Per¬ 
sonifikation der als verwerfliA empfundenen Triebe und Neigungen, 
denen auf diesem Umweg doA verantwortungslos gefrönt werden 
kann, verwandelt siA in anderen, offenbar sekundären Gestaltungen 
des Themas aus einem verderbliAen Verführer in einen wohltuen^ 
den Warner <»William Wilson«), der direkt als das »Gewissen« 
des MensAen angesproAen wird <z. B. »Dorian Gray« u. a. m.>. Dieses 
SAuldbewußtsein, das versAiedene Quellen hat, mißt, wie Freud 


' Natürlidi ebenso die Sympathie, die aus dem Rivalen sekundär eine Art 
Schutzgeist (William Wilson) macht oder gar eine Person, die sich für das Wohl 
ihres Doppelgängers opfert, wie beispidsweise in Dickens' »Tale of Two Cities«, 
wo die Doppelgänger dasselbe Mädchen lieben (Rivalität) und der eine sich für 
den anderen hinrichten läßt, was den ursprünglichen Todeswunsch, wenn auch in 
gemilderter Form, doch realisiert, indem der Nebenbuhler bei Seite geschafft wird. 

2 Emil Lucka, Dostojewski und der Teufel (Lit. Echo XVI, 6, 15. De^ 
zember 1913). 

® Dostojewskis »Brüder Karamosow«, Jean Pauls »Beichte« oder in den 
von Sadger 1. c. zitierten »Memoiren des Satans«. 





Der Doppelgänger 


157 


dargelegt hat^ einerseits die Distanz zwischen dem Idiideal und der 
erreichten Wirklichkeit, anderseits wird es aus einer mächtigen Todes¬ 
furcht gespeist und schafft heftige Selbstbestrafungstenclenzen, die 
auch den Selbstmord mitbedingen. 

Nachdem wir die narzißtische Bedeutung des Doppelgängers 
in ihrem positiven Sinne wie auch in den verschiedenen Abwehr¬ 
formen hervorgehoben haben, erübrigt uns noch, die im Material breit 
vertretene Todesbedeutung unserem Verständnis näher zu bringen 
und ihre Beziehung zu dem bereits ermittelten Sinn aufzuzeigen. 
Was uns die folkloristischen und manche der dichterischen Dar¬ 
stellungen ohne weiteres verraten, ist eine ungeheuere Todesfurcht, 
die sich insoferne mit den bisher besprochenen Abwehrsymptomen 
berührt, als auch in diesen die Angst <vor dem Ebenbild, vor dessen 
Verlust oder Verfolgung) das hervorstechendste Merkmal bildete. 

Ein Motiv, welches einen gewissen Zusammenhang der Todes¬ 
angst mit der narzißtischen Einstellung verrät, ist der Wunsch, 
immer jung zu bleiben^, der einerseits die libidinöse Fixierung des 
Individuums an ein bestimmtes Entwiddungsstadium des Ich darstellt, 
anderseits aber der Furcht vor dem Altwerden Ausdruck gibt, 
hinter der letzten Endes die Todesfurcht steckt. So sagt Wildes 
Dorian: »Wenn ich bemerke, daß ich alt werde, werde ich mich 
töten« <p. 39). Damit sind wir bei dem bedeutsamen Thema des 
Selbstmords, mit dem eine ganze Reihe der von ihrem DoppeU 
gänger verfolgten Helden enden. Von diesem der behaupteten Todes^ 
furcht scheinbar so sehr widersprechenden Motiv läßt sich nun gerade 
aus seiner besonderen Verwendung in diesem Zusammenhang zeigen, 
daß es mit dem Thema der Todesfurcht, aber auch mit dem Nar¬ 
zißmus in enger Beziehung steht. Denn nicht den Tod fürchten diese 
Helden und ihre Dichter — soweit sie Selbstmord versucht oder 
verübt haben (Raimund, Maupassant) —, sondern die Erwart 
tung des unvermeidlichen Todesschicksals ist ihnen unerträglich oder 
wie Dorian Gray es ausdrückt: »Ich habe keine Furcht vor dem 
Tode. Nur das Nahen des Todes beängstigt mich« <p. 239). Der 
normalerweise unbewußte Gedanke von der bevorstehenden Ver^ 
nichtung des Ich, das allgemeinste Beispiel • der Verdrängung eines 
unerträglichen Wissens, peinigt diese Unglüddichen mit der bewußten 
Vorstellung ihres ewigen, ewigen Nichtmehrwiederkommens, von 
der die Erlösung einzig im Tode möglich ist. So kommt es zu 
der sonderbaren Paradoxie, daß der Selbstmörder, um sich von der 
unerträglichen Todesangst zu befreien, den Tod freiwillig sucht. 

Man könnte nun einwenden, daß die Todesfurcht einfach Äußerung 
eines überstarken Selbsterhaltungstriebes sei, der auf seine Durch¬ 
setzung nicht verzichten will und gewiß hat die nur zu berechtigte 

* Freud: Zur Einführung des Narzißmus. Jahrbuch der Psychoanalyse. 
VI. Bd., 1914. 

2 Man vgl. die in bezug auf die Liebe zum Weib interessante Darstellung 
dieses Motivs in Wilbrandts »Meister von Palmyra«. 





158 


Otto Rank 


Furdit vor dem Tode, der ja eines der Grundübel der Menschheit ist, 
ihre Hauptwurzel in der durch den Tod aufs stärkste bedrohten Selbst^ 
erhaltung. Aber für die pathologische Todesangst, die unter Um¬ 
ständen direkt zum Selbstmord führt, reicht diese Motivierung nicht 
hin. In dieser neurotischen Konstellation, in der das zu Verdrän¬ 
gende, gegen das sich das Individuum wehrt, schließlich wirklich 
realisiert wird, handelt es sich um einen komplizierten Konflikt, an 
dem neben den der Selbsterhaltung dienenden Ichtrieben auch die 
libidinösen Regungen beteiligt sind. Ihr Anteil erklärt uns erst voll 
die hier zustande kommende pathologische Angst, hinter der wir ein 
Stüde verdrängter Libido erwarten müssen. Dieses glauben wir nun — 
neben anderen bereits bekannten Faktoren^ — in dem Stück Nar^ 
zißmus gefunden zu haben, das sich von der Todes Vorstellung 
ebenso intensiv bedroht fühlt wie die reinen Ichtriebe und das 
darauf mit der pathologischen Todesangst und ihren eventuellen 
Konsequenzen reagiert. Zum Beweise dafür, daß die reinen Ich- 
interessen der Selbsterhaltung die pathologische Todesangst auch für 
andere Beobachter nicht befriedigend zu erklären vermögen, führen 
wir das Zeugnis eines psychologisch gänzlich unvoreingenommenen 
Forschers an. Spieß, aus dessen Werk wir manchen Beleg ent¬ 
nommen haben, gibt der Ansicht Ausdruck, daß »der Schauder 
des Menschen vor dem Tode nicht bloß aus der natürlichen Liebe 
zum Leben entspringt« und führt dies mit folgenden Worten aus 
<p. 115): »Es ist das aber nichteine Anhänglichkeit an das Erdendasein/ 
denn das haßt der Mensch oft . . . Nein, es ist die Liebe zu seiner 
ihm eignen, im bewußten Besitz befindlichen Persönlichkeit, die 
Liebe zu seinemSelbst, zu dem zentralen Ich seiner Individuale 
tät, die ihn ans Leben fesselt. Diese Selbstliebe ist ein unzertrenn^ 
liches Element seines Wesens,- in ihr ist der Instinkt der Selbst¬ 
erhaltung gewurzelt und gegründet, und daraus entspringt ihm die 
tiefe und gewaltige Sehnsucht, dem Tod, dem Versinken in das 
Nichts zu entrinnen ^ und die Hoffnung, zu einem neuen Leben 

^ Aus libidinösen Quellen <Eifersucbt> entspringende Todeswünsdie gegen 
nahestehende Konkurrenten <z. B. Bruder) und deren Abwehr in Form der Hin^ 
Wendung gegen das eigene Ich <SeIbstbestrafung>. In einem Falle mit schweren 
Todesangstanfällen ließ sich die Zwischenstufe der gegen Nahestehende gerichteten 
Todeswünsche leicht aufzeigen. Pat. gibt nämlich an, daß die schweren Todes^ 
Befürchtungen sich anfangs auf seine nädiste Familie <Mutter, Bruder) bezogen, ehe 
sie sich auf ihn selbst warfen. 

2 Es sei hier an die Furcht vor dem Lebendigbegrabenwerden erinnert, die 
Poe, Dostojewski und andere Dichter verraten. Diese pathologische Angst vor 
dem Tode hat Meresc hkowski <1. c.) als wichtigsten Faktor zum Verständnis 
von Tolstois Wandlung und Persönlichkeit aufgezeigt <p. 27 f.). Ende der 
Siebziger)ahre hat ihn ein solcher »Anfall von Todesfurcht« nach Mereschkowskis 
Worten »fast zum Selbstmord getrieben« <p. 30). Die Grundlage für diese über-' 
mächtige Todesangst findet Mereschkowski folgerichtig in ihrer Kehrseite — 
einer starken Liebe zum Leben, die sich in Form einer grenzenlosen Liebe zum 
eigenen Körper manifestiert. Mereschkowski wird nicht müde, diese Liebe zum 
eigenen Ich als den wesentlichsten Charakterzug Tolstois hervorzuheben. Schon 
von der dunklen Erinnerung an die früheste Kindheit an, wo Tolstoi, drei bis 





Der Doppelgänger 


159 


und einer anderen Ära der Fortentwicklung wieder zu erwachen. 
Der Gedanke, sich selbst zu verlieren, ist dem Menschen so uner¬ 
träglich, und ciieser Gedanke ist es, der ihm den Tod so fürchterlich 
macht . . . Man schelte dieses hoffende Verlangen immerhin kindU 
sehe Eitelkeit, lächerlichen Größenwahn,* es lebt einmal in der Brust, 
es beeinflußt und regiert unser Dichten und Trachten.« Dieser Zu¬ 
sammenhang liegt nun mit aller wünschenswerten Deutlichkeit, ja 
geradezu plastisdi in dem dichterischen Material zutage, in dem ja 
überhaupt die narzißtisdie Selbstbehauptung und Selbstüberschätzung 
vorherrscht. Die häufige Tötung des Doppelgängers, durch die sich 
der Held vor den Verfolgungen durch sein lA endgiltig zu sAützen 
sucht, ist eigentliA ein Selbstmord — und zwar in der sAmerzlosen 
Form der Tötung eines anderen lAs: eine unbewußte Illusion von 
Abspaltung eines bösen, strafwürdigen lA, welAe die Vorbedingung 
jedes Selbstmordes zu sein sAeint. Der Selbstmörder ist niAt im^ 
Stande, die aus der Bedrohung seines Narzißmus folgende Todes^ 
angst durA direkte SelbstverniAtung zu beseitigen,* er greift 
zwar zur einzig mögliAen Befreiung, zum Selbstmord, ist aber un^ 
fähig, diesen anders als an dem Phantom des gefürAteten und 
gehaßten Doppelgängers auszuführen, weil er sein lA zu sehr liebt 
und sAätzt, um ihm SAmerz zuzufügen oder die Idee seiner Ver- 
niAtung in die Tat umzusetzen. ^ Der Doppelgänger erweist siA in 
dieser subjektiven Bedeutung als ein funktionaler AusdruA der 
psyAologisAen TatsaAe, daß das derart eingestellte Individuum von 
einer bestimmten Phase seiner narzißtisA geliebten lAentwiAlung 
niAt loskommen kann, die ihm immer und überall wieder entgegen¬ 
tritt und seine Aktionen in einer bestimmten RiAtung hemmt. Hier 
bekommt die allegorisAe Deutung des Doppelgängers als eines 
StüAes unabstreifbarer Vergangenheit ihren psyAologisAen Sinn und 


vier Jahre alt, als einen seiner glücklichsten Eindrüd^e ein Bad erwähnt: »Zum 
erstenmal erblickte ich meinen kleinen Körper mit den mir sichtbaren Rippen auf 
der Brust und gewann ihn lieb.« Mereschkowski weist nun nach, daß von 
diesem Augenblidke an ihn diese Einstellung zu seinem Körper sein ganzes Leben 
lang nicht mehr verlassen habe <p. 52f.>. Von Tolstois Tätigkeit als Lehrer 
sagt Mereschkowski (p. 15): »Er erfreute sich — ein ewiger Narziß — an 
der Abspiegelung seines Ichs in den kindlichen Seelen ... Er liebte auch in den 
Kindern . . . nur sich selbst, sich allein.« Als Gegenstück zu der bei Jean Paul 
ausgeprägten Furcht vor dem Anblick der eigenen Gliedmaßen sei, als ein Beispiel 
für mehrere, auf die Stelle in »Anna Karenina« hingewiesen, wo Wronski selbst^ 
gefällig seine »elastische Wade« betrachtet, die er sich kurz vorher verletzt hat: 
»Auch früher hatte er das freudige Bewußtsein seines körperlichen Lebens empfunden, 
aber noch niemals vorher hatte er sich — seinen Körper so geliebt« <1. c. p. 53). 
»Die Liebe zu sich selbst, damit beginnt und endet alles. Liebe oder Haß zu sich 
selbst, nur zu sich selbst, das sind die hauptsächlichsten, einzigen, bald offen 
liegenden, bald verdeckten Achsen, um die sich alles in den ersten, vielleicht auf^ 
richtigsten Werken L. Tolstois dreht und bewegt« <1. c. p. 12>. 

^ Ähnlich läßt Balduin den Duellgegner von seinem anderen (schlechteren) 
Ich töten/ es ist sozusagen sein Narzißmus, der sich gegen die mögliche Ver^ 
nichtung des Ich durch den Gegner instinktiv und wider seinen Willen zur 
Wehre setzt. 





160 


Otto Rank 


es wird deutlidi, was den Mensdien an die Vergangenheit fesselt 
und warum diese die Gestalt des Doppelgängers annimmt ^ 

Aber auch die Bedeutung des Doppelgängers als Verkörperung 
der Seele, wie sie der primitive Glaube darstellt, der in unserem 
Aberglauben fortlebt, steht mit den bisher erörterten Momenten 
in engem Zusammenhang. Es scheint nämlich, daß die Entwicklung 
des primitiven Seelenglaubens den hier am pathologischen Material 
dargelegten psYchologischen Verhältnissen in weitem Maße analog 
ist, was die Ȇbereinstimmung im Seelenleben der Wilden und der 
Neurotiker« aufs neue zu bestätigen geeignet wäre. Dieser Umstand 
würde es auch erklärlich machen, daß die primitiven Verhältnisse 
in den späteren mythischen und künstlerischen Darstellungen des 
Themas sich wiederholen und zwar mit besonderer Betonung der in 
der Urgeschichte noch nicht so deutlich hervortretenden libidinösen 
Faktoren, die jedoch einen Rückschluß auf die undurchsichtigeren 
Urphänomene gestattete. 

Daß wir uns den primitiven Menschen — ebenso wie das 
Kind2 — exquisit narzißtisch eingestellt denken müssen, hat Freud^ 

1 M ickiewicz hat in seiner fragmentarischen Dichtung »Totenfeier« 
<»Dziady«> cias Doppelgängerprohlem in cier Form behandelt, daß der Selbstmörder 
Gustav im Moment seines Todes zu einem neuen zweiten Leben erwacht, in 
welchem er eigentlich sein erstes Leben bis zum selben Punkte wiederlebt, da er 
über eine bestimmte Phase desselben nicht hinauskommen kann <Frdl. Mitteilung 
von Dr. Federn). Diesen psychologischen Mechanismus finden wir im Sinne unserer 
Auffassung verbildlicht in dem Lied vom versteinerten Jüngling, das ein Kind 
als Einlage singt. Der Ritter von Twardow erstürmt einst ein altes Schloß und 
findet in einem verschlossenen Gewölbe in Ketten vor einem Spiegel einen Jüngling 
stehend, der durch einen Zauber Stückchen um Stückchen zu Stein verwächst. Im 
Verlauf von zwei Jahrhunderten ist er schon bis zur Brust versteinert, doch sein 
Gesicht ist noch frisch und lebensvoll! Der des Zaubers kundige Ritter will den 
Spiegel zerschlagen und den Jüngling dadurch befreien, dieser aber verlangt den 
Spiegel, um sich selbst vom Banne zu erlösen: 

»Nahm ihn und seufzte, — erbleichend blickt er 
Und tränenden Auges hinein: 

Und einen Kuß auf den Spiegel drückt er — 

Und wurde ganz zu Stein.« 

<Totenfeier, übers, von Siegfr. Lipiner, Leipzig 1887, p. 9>. 

2 Sehr hübsch schildert das Erwachen des kindlichen Ichbewußtseins und 
dessen Zusammenhang mit der Selbstliebe Fritz Wittels: »Als ich noch ein kleiner 
Knabe war, erwachte ich eines Tages mit der überwältigenden Erkenntnis, daß ich 
ein Ich sei, daß ich zwar äußerlich aussähe, wie andere Kinder, aber dennoch 
grundverschieden sei und um ein Ungeheures wichtiger. Ich stellte mich vor den 
Spiegel, betrachtete mich aufmerksam und sprach mein Spiegelbild oftmals hinter^ 
einander mit meinem Vornamen an, womit ich offenbar bezweckte, von dem Bild 
in der Außenwelt zu mir eine Brücke zu schlagen, über die ich in mein uner^ 
gründliches Ich eindringen könnte. Ich weiß nicht, ob ich mein Spiegelbild geküßt 
habe, aber ich habe gesehen, daß andere Kinder cias Spiegelbild küssen. Sie finden 
sich mit ihrem Ich damit ab, daß sie es lieben.« <»Das Ich des Kindes.« — In 
»Die sexuelle Not«, Wien 1909, p. 109.) — Während der Korrektur kommt mir zu^ 
fällig das letzte Buch desselben Autors zu Gesicht <»Über den Tod« etc., Wien, 
M. Perles, 1914), welches das Problem des Todes auf das der Todesangst reduziert. 

2 Animismus, Magie und Allmacht der Gedanken. Imago II, 1913. 





Der Doppelgänger 


161 


an der auf der Allmadit der Gedanken beruhenden animistisdien 
Weltauffassung wahrsdieinlidi gemacht und die angeführten narzi߬ 
tischen Weltschöpfungstheorien weisen, ähnlich wie die späteren auf 
dem Ich basierenden philosophischen Systeme <z. B. Fichte), darauf 
hin, daß der Mensch die ihn umgebende Realität zunächst nur als 
Widerspiel oder Teil seines Ich zu apperzipieren vermag^. Ebenso 
hat Freud <a. a. O.) darauf hingewiesen, daß der Tod, die uner^ 
bittliche Ananke es ist, die sich dem Narzißmus des Primitiven 
widersetzt und ihn nötigt, einen Teil seiner Allmacht an die Geister 
abzugeben. An diese dem Menschen aufgedrängte Tatsache des 
Todes, die er ständig von sich abzuleugnen sucht, knüpfen aber die 
ersten Seelenvorstellungen an, wie sich für die Natur^ wie die 
Kulturvölker nachweisen läßt. Zu den allerersten und primitivsten 
Seelenvorstellungen gehört nun der Schatten, der ein getreues Eben¬ 
bild des Körpers und dabei doch von einer leichteren Substanz 
scheint. Wundt^ bestreitet zwar, daß der Schatten ein ursprüng¬ 
liches Motiv zur Seelenvorstellung abgegeben habe,* * er glaubt, daß 
die von der Körperseele verschiedene »Sdiattenseele«, das alter Ego, 
»allem Anschein nach im Traum und Vision die einzige Quelle 
hat«^. Doch haben andere Forscher, wie beispielsweise Tylor^ an 
reichem Material gezeigt, daß bei den Naturvölkern die Bild^ oder 
Schattenbezeichnungen überwiegen und noch Heinzeimann, der 
sich auf die neuesten Ergebnisse stützt, nimmt in diesem Punkte 
gegen Wundt Stellung, indem er an einer Fülle von Beispielen 
nach weist, »daß es sich aber auch hier um ganz beständige und 
weithin wiederkehrende Anschauungen handelt« <1. c. p. 19). Der 
Primitive betrachtet, ähnlich wie Spencer mit Recht für das 
Kind behauptet^, den Schatten als etwas Reales, als ein dem 
Menschen angehängtes Wesen und wird in seiner Auffassung als 
Seele bestärkt durch die Tatsache, daß der Tote (Liegende) eben 
keinen Schatten mehr wirft®. Den Beweis für den Glauben, daß das 
bewegliche Ich auch nach dem Tode noch existiere, mag der Mensch 
aus der Traumerfahrung geschöpft haben,- aber daß er auch schon 
bei Lebzeiten einen geheimnisvollen Doppelgänger habe, kann ihm 
nur der Schatten und das Spiegelbild nahegebracht haben. Die ver¬ 
schiedenen Tabus, Vorsichten und Vermeidungen, mit denen der 
Wilde den Schatten bedenkt, weisen in gleich hohem Grade auf die 


^ Vgl. Fra z er. Belief etc. p. 19. — »Frist grenzenioserEgoist«, sagt Hei nzel^ 
mann <1. c. p. 14) nach H. Visscher, Religion und soziales Leben bei den Natur-r 
Völkern, Bonn 1911, I, p. 117/ II, p. 243 ff. 

* Völkerpsychologie, Bd. II, Teil 2. 

2 Den Traum als die Hauptquelle für den Glauben an das Fortleben der 
Seele nach dem Tode betont auch Frazer, Belief etc., p. 57, 140, 214; und Rade-' 
stock I. c. p. 251. — Nicht zu vergessen ist, daß man sich im Traume selbst 
sieht. — 

^ Anf. d. Kultur, I, p. 423 ff. 

® Vgl. auch das oben angeführte Gedicht von Stevenson * Dehmel. 

® Spencer l. c., Negelein l. c. 

Imago 111/2 


11 





162 


Otto Rank 


narzißtisdie Sdiätzung des Ich wie auf die ungeheuere Angst vor 
seiner Bedrohung hin. Es spricht nun sehr deutlidi dafür, daß es 
der primitive Narzißmus ist, welcher sich vorwiegend durch die un^ 
ausweichliche Vernichtung des Ich bedroht fühlt, wenn als die ur^ 
sprünglichste Seelenvorstellung ein dem körperlichen Ich möglichst 
ähnliches Ebenbild, also ein wahrhaftiger Doppelgänger, angeführt, 
wenn also die Todesvorstellung durch eine Vercioppelung des Ich, 
die sich im Schatten oder Spiegelbild verkörpert, dementiert wird. 
Wir haben gesehen, daß den wilden Völkern die Bezeichnungen für 
Schatten, Spiegelbild und ähnliche Begriffe auch für die Vorstellung 
»Seele« dienen und daß die ursprünglichste Seelenvorstellung der 
Griechen, Ägypter und anderer hochstehender Kulturvölker sich mit 
der eines dem Körper wesensgleichen Doppelgängers decktund 
auch die Auffassung der Seele als Spiegelbild setzt voraus, daß sie 
einem genauen Abbild des Körpers gleiche. Ja Negelein spricht 
direkt von einem »primitiven Monismus von Leib und Seele«, 
womit er meint, daß sich ursprünglich die Vorstellung der Seele mit 
der eines zweiten Leibes völlig deckte,* und er führt zum Beweise 
dafür an, daß man bei den Ägyptern Abbilder der Toten herstellte 
um diese vor ewigem Untergang zu schützen. Einen so materiellen 
Ursprung hat die Seelenvorstellung, die sich später mit zunehmen^ 
der Realerfahrung des Menschen, der doch den Tod als ewige Ver^ 
nichtung nicht anerkennen will, wenigstens zum immateriellen Begriff 
verflüchtigen mußte. Ursprünglich handelt es sich allerdings noch nicht 
um einen Unsterblichkeitsglauben, sondern dem primitiven Narzißmus, 
wie er sich auch noch beim Kinde äußert, entspringt die vollständige 
Unkenntnis der Todesvorstellung: für den Primitiven ist es — wie 
für das Kind — selbstverständlich, daß er ewig so weiterleben werde ^ 
und der Tod wird als ein unnatürliches, durch Zauberei bewirktes 
Ereignis aufgefaßt Erst bei der Apperzeption der Todesvorstellung 
und der aus dem bedrohten Narzißmus folgenden Todesangst taucht 
der Unsterblichkeitswunsch als solcher auf, der eigentlich den ur^ 


^ Nadi Rohde fuhrt die ursprüngliche Seelenvorstellung zur Verdoppelung 
der Person, zur Bildung eines zweiten Ich. — »Die mit dem Tod entschwundene 
Seele ist das genaue Abbild des hier unten körperlich lebenden Menschen« <Hein^ 
zelmann 1. c. p. 20). Noch nach Abschluß der Korrektur kann ich diese Belege 
mit einem Hinweis auf das eben erschienene Buch von Rudolf Kleinpaul <Volks^ 
Psychologie, Berlin 1914, Göschenscher Verlag) vermehren, der gleichfalls als die 
ursprünglichste Seelenvorstellung einen Doppelgänger aufzeigt <S. 5f., 131, 171). 

* Man vgl. auch die Spiegel als Grabbeigaben in den ältesten griechischen 
Zeiten <Creuzer 4, p. 196) und bei den Mohammedanern (Haberland 1. c.>. 

3 Frazer. Belief etc., p. 33, 35, 53 etc. Bezeichnend für diese naive Ein^ 
Stellung ist die Bemerkung des Anthropologen K. von den Steinen, der einem 
Bakairi-^Indianer den Satz: »Alle Mensdien müssen sterben« zur Übersetzung in 
dessen Sprache vorsagte. Zu seinem großen Erstaunen zeigte sich, daß der Mann 
nicht imstande war, den Sinn dieses Satzes zu erfassen, da er von der Notwendige 
keit des Todes keine Ahnung hatte. (»Unter den Naturvölkern ZentraUBrasiliens«, 
Berlin 1894, p. 344, 348,- nach Frazer. Belief etc., p. 35.) 

4 1. c. p. 84 ff. 





Der Doppelgänger 


163 


sprünglidien naiven Glauben an die ewige Fortexistenz in einer 
teilweisen Akkomodation an die inzwischen apperzipierte Todes¬ 
erfahrung wiederbringt. So ist also der primitive Seelenglaube ur^ 
sprünglich nichts anderes als eine Art des Unsterblichkeitsglaubens ^ 
der die Macht des Todes energisch dementiert, und auch heute noch ist 
ja der wesentliche Inhalt des Seelenglaubens, wie er in Religion, 
Aberglauben und modernem Kultus ^ enthalten ist, nichts anderes und 
nicht viel mehr geworden. Der Todesgedanke ist erträglich gemacht 
dadurch, daß man sich nach diesem Leben eines zweiten in einem 
Doppelgänger versichert. Wie bei der Bedrohung des Narzißmus 
durch clie Geschlechtsliebe ^ so kehrt auch bei der Todesbedrohung 
die ursprünglich mit dem Doppelgänger abgewehrte Todesvorstellung 
in ihm selbst wieder, der ja nach allgemeinem Aberglauben den 
Tod ankündigt oder dessen Verletzung das Individuum schädigt. 

So sehen wir also den primitiven Narzißmus, in dem die 
libidinösen und die der Selbsterhaltung dienenden Interessen in 
gleichmäßiger Intensität auf das Ich konzentriert sind, sich in gleicher 
Weise gegen eine Reihe von Bedrohungen schützen durch Reak¬ 
tionen, die gegen die gänzliche Vernichtung des Ich oder Schädig 
gungen und Beeinträchtigungen desselben gerichtet sind. Daß diese 


^ Tatsächlich kennt der Primitive keinen Unsterbiichkeitsglauben in unserem 
Sinne/ auch <Jas schattenhafte Leben der Seele denken sich manche Naturvölker 
allmählich erblassend, bezeichnenderweise oft zugleich mit der Verwesung des 
Körpers <Frazer I. c. p. 165, 286>, oder sie haben die Anschauung, der Mensch 
sterbe in der Unterwelt noch mehrere Male, bis er endlich definitiv tot sei. Diese 
Vorstellung deckt sich in hohem Maße mit der infantilen, der auch der Begriff des 
Totseins in unserem Sinne fehlt und die ihn für graduell abstufbar hält <vgl. die 
entsprechenden Mitteilungen in der Rubrik »Kinderseele« von »Imago«). 

* Das zeigt am besten der heutige Spiritismus, der ja eine Wiederkehr der 
Seelen Verstorbener in ihrer menschlichen Gestalt (Geist) behauptet, und ebenso der 
okkulte Sinn des Doppelgängers, wonach die Seele den Körper verläßt und sich in 
eine materielle Gestalt kleidet, die unter günstigen Umständen sichtbar wird 
(Exteriorisation der Seele). Ferner zeigt sich, daß die Seele ursprünglich mit dem 
im Tode verlöschenden Selbstbewußtsein identifiziert wurde und auch von dieser 
Vorstellung hat sich unsere heutige wissenschaftliche WeltansAauung noch nicht 
frei gemacht, wie der affektive Widerstand gegen die Annahme eines unbewußten 
Seelenlebens lehrt. Diese hier bloß gestreiften Probleme hat der belgisdhe Dichter 
M. Maeterlinck in einem tiefsinnigen Buche »Vom Tode« bis an die äußersten 
Grenzen ihrer Denkmöglichkeit verfolgt (Obers, von F. v. Oppeln^Bronikowski, 
Verlag E. Diederichs, Jena 1913). 

* Turgeniew schreibt an einen Freund: »Die Liebe ist eine von den 
Leidenschaften, die unser eigenes ,Ich' vernichten« (Nach Mereschkowski, p. 65). 
Wie sich der Narzißmus des Mannes damit abzufinden sucht, zeigt eine für 
Strindbergs ganze Einstellung zum Weib typische Stelle aus »Legenden« (p. 293): 
»Wir beginnen ein Weib zu lieben, indem wir bei ihr Stück für Stück unserer 
Seele niederlegen. Wir verdoppeln unsere Persönlichkeit und die Geliebte, die 
bisher gleichgiltig, neutral war, beginnt sich in unser anderes Ich zu kleiden und 
sic wird unser Doppelgänger.« In Villiers de TIsIe-^Adams Novelle »Vera« 
genügt cs dem Manne, seine junge verstorbene Frau zu halluzinieren, gleichsam 
in seiner eigenen Person auch sie zu verkörpern und er fühlt sich in diesem 
Doppelleben glücklich. — Narzißtische Phantasien und Spiegelphantasien in des^ 
selben Autors Novelle »Sei ein Mann« (l. c.). 


11* 





164 


Otto Rank 


Reaktionen nicht bloß cler normalen Furcht entspringen, die man 
sehr gut mit Vis sch er <1. c.> als die defensive Form eines über^ 
starken Selbsterhaltungstriebes bezeichnen kann, geht daraus hervor, 
daß der Primitive diese sozusagen normale Furcht mit den Neu¬ 
rotiker zur pathologischen Angst gesteigert zeigt, die aus den »wirk^ 
liehen Erlebnissen des Schreckens nicht zu erklären« ist^. Den libi- 
dinösen Anteil, der hier mitwirkt, haben wir aus der ebenso intensiv 
empfundenen Bedrohung des Narzißmus abgeleitet, der sich gegen 
die gänzliche Vernichtung des Ich ebenso sträubt wie gegen sein 
Aufgehen in der Geschlechtsliebe. Daß es tatsächlich der primitive 
Narzißmus ist, der sich gegen die Bedrohungen sträubt, zeigen mit 
aller Deutlichkeit die Reaktionen, in denen wir den bedrohten Nar^ 
zißmus mit verstärkter Intensität sich behaupten sehen: sei es in der 
Form der pathologischen Selbstliebe wie in der griechischen Sage 
oder bei Oskar Wilde, dem Vertreter des modernsten Ästhetentums, 
sei es in der Abwehrform der pathologischen, oft bis zum paranoischen 
Wahnsinn führenden Angst vor dem eigenen Ich, das im verfolgen^ 
den Schatten, Spiegelbild oder Doppelgänger personifiziert erscheint. 
Auf der anderen Seite kehrt aber in denselben Phänomenen der Ab^ 
wehr auch die Bedrohung wieder, vor der sich das Individuum schützen 
und behaupten will, und so kommt es, daß der die narzißtische 
Selbstliebe verkörpernde Doppelgänger gerade zum Rivalen in der 
Geschlechtsliebe werden muß oder daß er, ursprünglich als Wunsch* 
abwehr des gefürchteten ewigen Untergangs geschaffen, im Aber* 
glauben als Todesbote erscheint. 

* Heinzeimann I. c. p. 60. 






Der Fisdi als Sexualsymbol 


165 


Der Fisdi als Sexualsymbol. 


Von ROBERT EISLER <Feldafing>. 


D ie Vorstellungsvcrknüpfung, die im folgenden auf der Grunde 
läge einer gewiß nicht vollständigen, aber doch alle wesentlichen 
Züge dieses Gedankengebildes veranschaulichenden Stoffe 
Sammlung aus Folklore und Geschichte erörtert werden soll, scheint 
in der psychoanalytischen Kasuistik — soweit die Veröffentlichungen 
noch zu übersehen sind — keine wesentliche Rolle zu spielen^. Ver^ 
mutlich erklärt sich das daraus, daß das bisher der Psychoanalyse untere 
worfene Aussagenmaterial vorzüglich aus Ländern und Gesellschafts^ 
schichten stammt, in denen die Fischnahrung — etwa verglichen mit 
ihrer Bedeutung in der griechisch-römischen oder gar der orientali¬ 
schen Lebenshaltung — doch sehr zurücktritt. Dazu kommt, daß 
die Hantierung mit noch lebenden oder rohen Fischen, ebenso wie 
der eigentliche Fischfang dem Gesichtskreis gerade der hier in Be¬ 
tracht kommenden sozialen Gruppen mehr oder minder entrückt sind. 

Trotzdem ist ein einigermaßen auffallender Tatbestand, nämlich 
die ausgesprochene Idiosynkrasie einzelner gegen jeden Fischgenuß 
überhaupt, nicht selten zu beobachten. Jeder Leser dieser Zeitschrift 
dürfte einen oder den anderen Fall der Art kennen und auch schon 
versucht haben, sich irgendeine Erklärung dafür zurecht zu legen: 
hier sei ein Beispiel^ einer derartigen sogenannten »unerklärlichen« 
Aversion angeführt, das in gewissen Begleitumständen lehrreiche 
Fingerzeige für die Erkenntnis der mitwirkenden unbewußten Beweg¬ 
gründe zu bieten scheint: das fragliche Individuum — ein wahres 
Musterexenmlar eines wählerisch-kapriziösen Essers, beobachtete bis 
gegen das Ende des zwanzigsten Lebensjahres — in welche Zeit 
eine lange, selbständig durchgeführte Studienreise fiel — eine Reihe von 
Speisetabus und zwar gegen Fische, gleichgiltig welcher Art und Zu¬ 
bereitung und gegen eine Reihe von Gemüsen <alle Kohlarten, ins¬ 
besondere Sprossenkohl, Blumenkohl, vor allem Spargel, während 
Spinat, Erbsen, Bohnen, Kartoffeln, Tomaten u. dgl. gern ange¬ 
nommen wurden). Von Spargeln wurde, anscheinend ganz sinnloser¬ 
weise, mit aller Entschiedenheit behauptet, sie widerstünden wegen 
ihres »violetten Geschmacks«. Auch wurde als widerwärtig be¬ 
tont, daß man die Spargelstangen nicht wie andere Gerichte mit dem 
Besteck zum Munde führte, sondern mit den Fingern ergreife. Der 
psychologisch so merkwürdige angebliche Geschmacksfarbeneindruck 
ließ sich ohne weiteres als eine sehr bezeichnende, bloß sprachlich 
durchgeführte Verschmelzung zweier Sondereindrücke erweisen: Ex- 
plorand suchte den besonderen Charakter jener »violetten« Farbe, 
die ihm vorschwebte, durch den Hinweis auf die bläulich unter der 


^ Anfällige Hinweise auf übersehene Belegstellen oder noch unveröffentlichte 
Analysen aus dem Leserkreis wären sehr erwünscht. 

* Nach gütiger Mitteilung eines befreundeten Arztes und Psychoanalytikers. 





166 


Robert Eisler 


mensdilidhen Haut durdischimmernden Adern im Gesicht älterer, 
apoplektisdi aussehender Personen zu verdeutlichen,* ist sich audi 
jetzt noch eines starken Widerwillens gegen solche Gesichter, blau¬ 
rote Nasen, aderige Hände u. dgl. bewußt, fixiert gegen seinen 
Willen oft gesprungene Blutgefäße in solchen Gesichtern, obwohl 
er das als ungehörig empfindet und aufsteigenden Ekel zu beherrschen 
hat/ brachte nach Durchführung dieses Vergleichs ohne Nachhilfe und 
beiläufig die Bemerkung an, daß ja in der Tat die Köpfchen der 
Spargelstangen eine leichte Verfärbung in dieses sogenannte »Violett« 
aufweisen. Mit dem Ausdruck »Spargel schmecken violett« drückt 
er offenbar nur die Verschiebung des Gefühlstons von der im 
Unbewußten verabscheuten Farbnuance auf das bewußte Objekt 
des Widerwillens, d. h. eben den Spargelgeschmack aus. Auch die 
anderen antipathischen Gemüse schmecken, soweit ein bestimmtes im 
Spargel besonders stark hervortretendes Aroma sich geltend mache, 
»violettlich«, in den anderen, oben genannten Gemüsen sei es un- 
merklich,* starkes Salzen, Zusatz von Zitrone verdecke dieses Aroma. 
Gegenwärtig werden Spargel anstandslos gegessen, aber in der ersten 
Übergangszeit nach dem oben datierten Erlöschen der Idiosynkrasie 
war, trotz ironischer Angriffe der Umgebung und trotz der sonst 
stark hervortretenden Affektation korrektester äußerer Formen die 
Neigung, beim Spargelessen nicht die Finger, sondern Besteck zu 
gebrauchen, auffallend und nicht leicht zu überwinden. Die Idio¬ 
synkrasie gegen Fische ist fast in eine Vorliebe für diese Speise 
umgeschlagen, aber noch immer wird der charakteristische Fischgeruch 
roher, besonclers Seefische, in übertriebenem Maß verabscheut: der 
häufig angewendete Klebstoff Syndetikon — ein Fischleim mit Fisch- 
gerum — wird nicht auf dem Schreibtisch geduldet und behauptet, 
daß selbst eine verschlossene, zufällig dorthin gelegte, von anderen 
gar nicht bemerkte Tube das ganze Zimmer verpeste. Es ergab 
sich durch kurze, auf sehr geringe Widerstände stoßende Analyse, 
daß die Idiosynkrasie gegen Fische und Spargel veranlaßt war durch 
eine intensive, durch Erziehungsmaßnahmen verstärkte Scheu vor Be^ 
rührung der glans pennis <Spargelköpfe! durchscheinende Blutgefäße! 
Gebrauch des Bestecks). Der nach Pollutionen aufgetretene Ekelaffekt 
war vom Sperma auf die schleimige Haut und den Geruch der Fische 
übertragen worden. Die Idiosynkrasie verschwand mit dem Auf^ 
hören der fast vollständigen geschlechtlichen Abstinenz, 
die dem Exploranden, teils durch häusliche Überwachung <Spazier- 
gänge fast nur in Begleitung des Hofmeisters) teils durch väterliche 
Belehrung über die Ansteckungsgefahren beim Umgang mit Straßen^ 
dirnen auferlegt war, auf der eingangs erwähnten Reise. 

Zu allgemeineren Folgerungen aus diesem Befund scheinen die 
Tatsachen zu ermutigen, daß fast alle kulinarischen Kunstgriffe der 
Fischküche dahin zielen, jenen charakteristischen ekelerregenden Geruch 
zu beseitigen, der im wesentlichen an dem Schleimsekret der Fische 
haut haftet oder doch zu haften scheint, während anderseits der 




Der Fisd» als Sexualsymbol 


167 


verbreitete Widerwillen gegen das Berühren roher oder gar lebender 
Fische zweifellos durch die Tastqualitäten der schlüpfrigen, an sekre-^ 
tierende Schleimhäute erinnernden Fischhaut veranlaßt ist, die diese 
mit der Epidermis von Schlangen, Schnecken, Kröten und anderen 
derartigen Objekten eines allverbreiteten Ekels gemeinsam hat. 

Da die Sexualsymbolik der Schlange ^ der Kröte etc. längst 
bekannt und oft erörtert worden ist, anderseits aber nachweislich 
gewisse Naturvölker^ zwischen Schlangen und Fischen keinen Unter¬ 
schied machen, scheint es durchaus denkbar, daß die bei so vielen 
Völkern und Religionsgemeinschaften nachweisbare Idiosynkrasie 
gegen den Fischgenuß ^ — die sich gewiß nur in wenigen Fällen 
rationalistisch auf Gesundheitsschädigungen durch Fischgenuß ^ zu*^ 

^ C. St. Wake, Serpent^worship, London 1888, p. 3 f. Fergusson, 
Tree and Serpent^worship in India, London 1872/ Oldham, Sun and Serpent, London 
1905. — Sal. Rein ach, cultes, mythes, religions vol. II, p. 398, über den durdi 
die Belege bei Ploß^Bartels das Weib 517—518 bezeugten Aberglauben, der die 
weiblichen Blutungen (ursprünglich natürlich die Blutung bei der Defloration) auf 
einen »Schlangen«biß zurüdcführt und über die spridiwörtlich^biblisdie Aversion des 
Weibes gegen die »Schlange«. Über das Ungeheuer mit dem Sdilangenphallos auf 
dem Palastrelief von Persepolis, über die dtaxogevöig mit der »goldenen Schlange« 
der Mysterien vgl. Dieterich, Mithrasliturgie p. 125i/ Rohde, »Hermes« XXI 24/ 
Gruppe, Myth. u. Religionsgesch. 866i u. 2 / Eisler, Weltenmantel u. Himmelszelt, 
p. 123 ff./ Erich Küster, Religionsgesch. Vers. u. Vorarb. XIII 2, p. 151. 

2 Insbesondere die Wanika, Wakamba, Galla, Somali u. Bantu in Afrika 
(Belege bei Scheftelowitz, Arch. f. Rel.-Wiss. XIV, 358 f.>. Das jüdische Tabu 
gegen Fische ohne Schuppen und Flossen zielt offenbar auf besonders 
schlangenähnliche, schlüpfrige Fische. Vgl. J. Lippert, Seelenkult, Berlin 1881, 
p. 38/ Wundt, Völkerpsychologie II 2, p. 61 f.: »an die Schlange reiht sich 
schließlich noch der Fisch an, der vermöge seiner Schuppenhaut für eine naive Auf» 
fassung mit jener wiederum zusammenfließen kann.« 

^ Schon den Alten war es aufgefallen, daß die homerischen Helden nie oder 
nur im äußersten Notfall Fische genießen. (Eubul. 3 Meineke, Com. fragm. 
262/2): :»lx'0‘vv ö* ’’0^r)Qog iöd'Lovx* eiQr)Ke Jiov ztva ÄxclLcov;«) Lobeck, 
Aglaophamus p. 248 ff.,- Stengel, »Hermes« XXII,"p. 98. Noch in historischer 
Zeit hielten gewisse Priesterschaften — der Hera und des Poseidon und My» 
sterienkulte an diesem Tabu fest. Dio Cassius, epitome XXVI 12 berichtet von 
den alten Britanniern, daß sie keine Fische essen, obwohl sie in jenen Gegenden 
sehr zahlreich sind. Da die keltischen Ureinwohner noch zur Zeit, da die Angel» 
Sachsen nach England kamen, keine Fische aßen, bezeichneten sie die fremden Ein» 
dringlinge verächtlich als »Fischesser«, ähnlich wie die ältesten Griechen gewisse 
Barbaren (möglicherweise die skythischen Massageten [eran. tnagyd = Fisch, also 
»Fisch»Geten«]) »Ichthyophagen« nannten. Ebenso verabscheuen die Siahposch in 
Kafiristan den Genuß der Fische, an denen ihre Flüsse so reich sind. (R. Andree, 
ethnogr. Parallelen, Stuttgart 1878, p. 125.) Ferner mieden und meiden zum Teil 
heute noch die Syrer ängstlich jeden Fischgenuß (nächste Anm.). Die Akiküyu in 
Britisch»Ostafrika enthalten sich des Fischgenusses, da sie hiedurch rituell unrein 
würden. 

* Die Syrer glaubten nach Plutarch, de superstit. 10, der Genuß der tabuierten 
Fische würde GesAwüre und Leberkrankheiten nach sich ziehen. Tatsächlich hat 
Cumont, les relig. Orient, etc. Paris 1907, p. 285 u. 35 aus einem Reisebericht 
des bekannten Erforschers von Klein»Asien M. Ramsay einen Fall von schwerer 
Vergiftung durch den Genuß gewisser kleinasiatischer Süßwasserfische — und zwar 
im frischgefangenen, nicht etwa in verdorbenem Zustand — belegen können (Im» 
pressions of Turkey, London 1897, p. 288: »in the clcar, sparkling mountain» 
stream that flows through the Taurus by Bozanti Khan a small kind of fish is 





168 


Robert Eisler 


rückführen läßt — ebenfalls durch Ideenassoziationen sexuellen Cha^ 
rakters veranlaßt ist. 

Daß es Tabus gibt, die ausschließlich durch sexuelle Nebenvor^ 
Stellungen bedingt sind, ist leicht zu erweisen. So verabscheuen z. B. 
die Fythagoräer — die auch den Fischgenuß verbieten — den Ge¬ 
nuß der Bohnen mit der ausdrücklichen Motivierung, daß sie »den 
Schamgliedern ähnlich seien« Daß auch das Fischverbot ähnlichen 
Rücksichten entsprungen ist, wird durch verschiedene Erwä^ngen 
nahegelegt. Zunächst durch gewisse nähere Bestimmungen der Tabu- 
vorsdirift, wie wenn es bei den Baele <Afrika>2 gerade den eben 
zur Pubertät gelangten Jünglingen verboten ist, Fische oder 
VögeF zu essen,* wenn die Meeräsche, der heilige Fisch der Hawaii 
Insulaner, von schwangeren Frauen nicht einmal berührt werden 
darf^ Wenn Kinder, die noch nicht gehen können, diesen Fisch 
nicht essen dürfen <ibid.>,* wenn es in Borneo gerade menstruierende 
Frauen sind, die während der Saatzeit gewisse Fische nicht ge¬ 
nießen dürfen^. Dann scheinen doch auch manche ätiologische Tabu¬ 
mythen eine beredte Sprache zu führen: so wird in Ägypten das 
Speiseverbot für den Phagros^ und den Oxyrhynchos^Pisdi damit er^ 
klärt, daß diese Tiere das ins Wasser geworfene Zeugungsglied 
des vom bösen Feind zerstückelten Gottes Osiris gefressen hätten^. 
Die Griechen wiederum wissen von einem »heiligen« — d. h. 

caught. I had a most violent attack of sickness in 1891 after eating some of them 
and so had all who partook«. Vgl. auch Brehms »Tierleben« über die (^eise — 
Trachinus draco^ auA »Petermännchen« genannt, weil die holländischen Fischer den 
(wohlschmeckenden und audi bekömmlichen) Fisch nicht essen, sondern dem heiligen 
Petrus opfern: »eine von diesen Fischen beigebrachte Verwundung ruft peinliche 
Schmerzen und eine heftige Entzündung hervor. Nicht bloß der verletzte Teil, 
sondern das ganze Glied pflegt aufzuschwellen und erst nach längerer Zeit 
tritt Linderung ein. Zweifellos ist der an den Rückenstacheln haftende 
Schleim sehr giftig«. Diese Geschwulst erinnert an die von Porphyr, de abstin. IV, 
p. 253, Nauck zitierten Verse des Komikers Menander, nach denen die Syrer vom 
Fischgenuß Schwellungen des Leibes und der Füße befürchten. Ich führe diese 
Zeugnisse in aller Ausführlichkeit an, möchte jedoch die Leser, besonders Ärzte, 
bei denen noch häufig das historisch ganz unhaltbare Vorurteil anzutreffen ist, als 
seien sinnlose Tabus etwa vom Typus der mosaischen Speisegesetze hygienischer 
Empirie entsprungen, nachdrücklich vor einer Überschätzung solcher Motive warnen. 
Gewisse Tabus erhalten sich wegen ihrer (unbeabsichtigten) Zweckmäßigkeit, 
kaum eines entsteht aus prophylaktischen Beweggründen. 

‘ Aristoteles in seiner Schrift über die Pythagoräer (fr. 195 Rose,* ap. Diog. 
Laert. VIII 34, Diels Fragm. Vorsokr. 45 (3 p. 279). Die vielen abgeleiteten Be¬ 
lege anzuführen ist wohl überflüssig. — Es scheint, daß man die Schoten mit dem 
Phallus, die Bohnen selbst mit der weiblichen Scham verglich. 

2 Frobenius, Masken und Geheimbünde Afrikas, p. 217. Scheftelowitz, 
1. c. 334. 

3 Ober die Symbolik des ucello braucht wohl hier kein Wort verloren zu 
werden. 

* Th. G. Thrum, Hawaian Folktales, Chicago 1907, p. 271 f.,* Schef- 
tclowitz 1. c. p. 336. 

* A. W. Nieuvenhuis, Quer durch Borneo 1904, I. Bd., p.324/ Schef- 
tclowitz 1. c. 

® Plutarch, de Iside et Osiride c. 17. 





Der Fisdi als Sexualsymbol 


169 


tabuierten —, besonders in den Samothrakisdien Mysterien ver¬ 
ehrten^ Fisdi »Pompilos« <d. i. der »Lotsenfisdi«, naucrates ductor 
Linnaei) zu erzählen ^ er sei zugleich mit Aphrodite — der »schaum¬ 
benetzten« Göttin^ aus den Blutstropfen entstanden, die mit dem 
abgesichelten Zeugungsglied des Himmelsgottes Uranos ins 
Meer fielen. 

Genau die gleiche Urs^ungslegende bietet die indische Über¬ 
lieferung^ für den mythischen Retterkönig Matsya = »Fisch«, der aus 
dem ins Wasser gefallenen Sperma der Adityas Mitra und Varuna^ 
hervorgegangen sein soll. 

Dazu bedenke man ferner, daß heute noch im südlichen Italien 
der menschliche Phallos vulgär »ro pescc« = »der Fisch« genannt 
wird, ein Ausdruck, den die Fremden regelmäßig vom eingebornen 
Cicerone zu hören bekommen — und fast ebenso regelmäßig nicht 
verstehen — wenn sie zu dem antiken Priapusstein in der Kata¬ 
kombe von S. Gennaro geführt werden®. Diese VorstellungsVer¬ 
knüpfung muß uralt sein. 

Zwar wird man sich nicht mehr mit de Witteauf ein antikes 
Vasenbild® mit der Darstellung eines Phallenhändlers berufen können, 
wo unter der Ware dieses sonderbaren Kaufmanns auch ein Phallus 
mit Fisch flössen dargestellt ist, da diese von Mil 1 in »publicierten« 
Vasenbilder wahrscheinlich nie existiert haben® und die Stiche also 
nur für die Volkstümlichkeit der Vorstellung im achtzehnten Jahr¬ 
hundert zeugen. 

Allein es kann kein Zufall sein, daß eine ganze Reihe von 


1 Aelian negl ^(bcov XV 23, p. 382, Herdier. 

2 Xenomedcs bei Müller, fragm. hist. Graec. II 433. 

® Aphrodite von äcpQÖg = »Sdiaum« und einem Verbum * di(o <vgl. öiaCvo 
dtSQÖg; so Gruppe Hdb., p. 13482) = »benetzen«. Gemeint ist im hesiodeischen 
Mythus von der Entstehung der schaumgeborenen Göttin natürlich zunächst der 
Wellenschaum des Meeres. Aber viele antike Autoren haben den Namen auf den 
äq)Q6g der önegfiaxa bezogen <Korn. 24, p. 133 Osann,- Isid etym. VIII ll77>. 
Man hat das für eine gelehrte Klügelei stoisch rationalistischer Mythendeutung ge^ 
halten, aber das ist sicher falsch, da Sydney Hartland, the Legend of Perseus, 
vol. 1, p. 134, zu den gleich zu besprechenden Märchen von der wunderbaren 
Empfängnis durch Genuß eines Fisches Parallelen beigebracht hat, wonach 
Schwangerschaft durch Verschlucken von Meeresschaum verursacht wird. 
Diese Vorstellung ist im Zusammenhang zu würdigen, mit der besonders im 
semitischen Orient häufigen, von Sam. yves Gurt iss belegten Vorstellung 
»männlicher« {deker), d. h. zeugungskräftiger Gewässer, von Flüssen, in die sich 
Frauen, gegen die Strömung gekehrt, hineinlegen, um Nachkommenschaft zu er¬ 
zielen, vom Kinderteich und den Heilcjuellen gegen Unfruchtbarkeit etc. — dgppdg“ = 
»Schaum«, »Schleim« heißt auch eine der Aphrodite heilige Fischart. 

^ Brhaddevata V 149 ff. ed. Macdonell. 

® sk. Varuna <arisch Uinima in den neuen Inschriften von Boghazkiöj) ist 
bekanntlich = griech. Uranos. 

® Vgl. auch F. J. Dölger, IX6YC, p. 109. 

^ Nouv. Ann. Inst. arch. I 1836. 

® In Mil lins »Trois peintures du Musee de Portici«. 

® Vgl. Sal. Re in ach, Repertoire de vases in der Bibliographie zu dem in 
der vorhergehenden Anmerkung genannten Titel. 





170 


Robert Eisler 


griediisdien Darstellungen des Gottes ErosmitdemFischzwischen 
den Beinen^ oder mit dem Fisch in der Hand^ erhalten sind, 
während anderseits in indischen Texten der Liebesgott minaketu, 
minadhvaja, minalänchana^ minänka = »der den Fisch als Symbol 
hat« ^nannt wird^ und der Fisch als sein Bannerzeichen erscheint^. 

Ebenso weit verbreitet ist der Fisch als Symbol der Liebes^, 
beziehungsweise Mutter- oder Fruchtbarkeitsgöttin. 

Bei den nordischen Völkern war der Fisch der Freya, der 
Göttin der Liebe und Fruchtbarkeit ^weiht. Ihr haben die Skandi^ 
navier am sechsten Tag der Woche Fische geopfert ^ Die keltisch^ 
germanischen Muttergottheiten scheinen in ihrer Eigenschaft als 
Spenderinnen der Fruchtbarkeit durch Fische versinnbilcilicht zu sein. 
Viele Funde aus dem dritten Jahrhundert nach Christus haben klar^ 
gelegt, daß im Jülicher Land, in der Eifelgegend und am Rhein 



Reliefmedaillon im Bonner Kunst* 
museum. 



Fig. 2. Eros mit dem Fisdi 
in der Hand. Goldschmuck 
im Cabinet des Medailles 
in Paris. 


zwischen Köln und Bonn diese keltisdi=germanis(hen Muttergottheiten 
— Matres oder Matronae mit echt germanischen Beinamen verehrt 
wurden. In Bonn ist ein ziemlich gut erhaltener Votivaltar der gött» 
liehen Mutter Aufaniae <= »die Überfluß habende«) aufgefunden 
worden. Die über dem Sims angebrachte Bekrönung der Ära läuft 
an ihren beiden äußeren Enden in Schneckenrollen aus, welche an 
der Vorderseite mit Rosetten geschmückt sind. In der Mitte erhebt 
sich von vorn und hinten eine Giebelspitze, deren Verzierung höchst 

^ Vgl. Fig. 1 und die Nummern 1, 2, 3, 4, 14 und 22 der Münztafel in 
Useners Sintflutsagen (Text p. 278 ebenda). Zur Symbolik des Reitens vgl. das 
nur scheinbar so harmlose Kinderverschen »so reiten, so reiten die Jüngferlein, 
wenn sie klein und winzig sein, wenn sie größer werden etc.« mit dem dazuge* * 
hörigen Wippspiel. 

* Fig. 2 nach de Witte, Nouv. Ann. Inst, archeol. I 1836, pl. A., Fig. 2. 

3 Böhtlingk, Sanskrit*Wörterbuch V 81 f.,- Vaijanyanti ed. Oppert p. 5, 

V 54, Benfey, Pancatantra II 184/ Scheftelowitz 1. c. p. 392. 

* Pischel, Sitzungsber. Berl. Akad. Wiss. 1905, p. 5302. 

3 R. M. Lawrence, the Magic of the horse shoe, Boston, 1899, p. 259/ 
Scheftelowitz 1. c. p. 378. 







Der Fisdi als Scxualsymbol 


171 


einfach gehalten ist. Ganz in der Mitte ruht auf der Bedachung eine 
oblonge, wahrscheinlich einen Opfertisch bezeichnende Platte, auf 
der ein Fisch mit weitgeöffnetem Munde^ liegt. Da nun diese 
Muttergöttinnen auf den bisher bekannten Votivdenkmälern als 
Spenderinnen der Fruchtbarkeit bezeichnet werden, so ist es sehr 
wahrscheinlich, daß der zu opfernde Fisch hier die Fruchtbarkeit 
symbolisiert 2. Auf einem anderen Matronendenkmal im Mannheimer 
Museum^ ist ein Sessel, auf dem die Matrone sitzt, mit Delphinen^ 
geschmückt. 

Der griechischen Aphrodite ist außer dem bereits oben er^ 
wähnten Lotsenfisch und der Sardelle <dgppdg = Schleim[fisch] oder 
äq)vr}'^} noch die phalaris, deren Namen die Alten an den Phallos 
erinnerte, oder die »Eidechsenfisch« genannte Makrele heilig. Den 
»beiden Göttinnen« von Eleusis, Demeter, der Erdmutter und 
der »Jungfrau« <Kore> war die rote Meerbarbe (trigle oder 
myllos}^ geweiht. Derselbe Fisch war im Kult der argivischen Hoch- 
zeits^ und Ehegöttin Hera tabuiert^ und auch der Jungfrauen^ und 
Geburtshelfergottheit Artemis geweiht Die antike Medizin ver¬ 
wendet ihn als Gegenmittel gegen Menstruationsbeschwerden/ Wein, 
in dem eine lebende Seebarbe erstickt worden war, wurde — offene 
bar wegen der bekannten antierotischen Wirkung übermäßigen AlkohoU 
genusses — als Antaphrodisiacum verordnet Heilige Meeräschen 
(kesireis^^) und heilige Aale^^ in der Arethusaquelle bei Chalkis und 
heilige Fische in der Arethusaquelle auf der Ortygiainsel vor Syrakus 
— in der heute noch zahme Fische gehalten werden — waren der 
Artemis geweiht, der auch wahrscheinlich die unverletzlichen Fische 
von Smyrna gehörten, wenn anders hier nicht eher an Fische der 
kleinasiatischen Göttermutter Kybele zu denken ist. Heilige Fische 
der syrischen Göttin von Hierapolis^Bambyke (Mabbua, jetzt Man- 
bija} und Askalon bezeugt Mnaseas im zweiten Buch seiner Schrift 

^ Vgl. unten S. 174, Anm. 9, über den »Lippfisdi« der Demeter. 

2 1. Klein, Bonner Jahrbudi 1879, 67. Bd., p. 66 f.,- Ihm, ibid. 83. Bd., 
p. 136/ ocheftelowitz I. c. p. 379 f. 

* F. Haug, Ardiäol. Zeit. 1876, XXXIV, p. 61/ Scheftelowitz I. c. 

^ Vgl. unten S. 174® über de?>,q)'6g-dsX(pCg. 

^ Athen. VII, p. 325 B. In Syracus baiön genannt, cf. Hesydi. s. v. ßaicdZLC. 

® Athen, ibid. p. 325 B. 

^ kolias oder köUas, dazu kole oder kolötes = »Eidechse«, ein Tiernamen, 
der bei den Alten <die Zeugnisse in de Wittes mehrfach zitiertem Aufsatz über 
die nach der Makrele benannte Geburtsgöttin Aphrodite Kolias) als euphemistische 
Bezeichnung für den Phallos gebraucht wurde. 

® Aelian n. a. 951 / Melanthios bei Athen. VII 126, p. 325 c. 

® Aelian 1. c. 965 . 

10 Korn. 34, p. 209, Anthol. Pakt. VI 105^. 

Plin. n. h. 3244 , cf. 2832 . 

Athen. VII 126, p. 325 e nach Terpsikles. 

Vgl. oben S. 168, Anm. 4. 

Vgl. oben über schlangenähnliche Fische. 

Dittenberger, Sylloge inscript. 2. Aufl., II, Nr. 584. 

16 Dieterich, Aberkiosinschr. 40 ff.,- Hepding, Attis 156 ff., 189. 





172 


Robert Eisler 


über Asien ^ und heute nodi sind diese heiligen Tiere in Teichen 
bei der großen Moschee von Edessa Gegenstand der hergebrachten 
Verehrung^. Ebenso ist der Fisch auch bei den westlichsten Semiten, 
denPuniern von Karthago der Muttergöttin 'Anna ^ geheiligt ^ während 
ihre östlichsten Stammesbrüder im Zweistromland seit unvordenklichen 
Zeiten eine Fruchtbarkeitsgöttin geradezu unter dem Namen Ish~ 
hanna = »Haus des Fisches«^ verehren, wobei mit »Haus« nach 
ursemitischer Vorstellung® die Göttin selbst als »Wohnung« des 
heiligen Fisches gedacht ist, und zwar in einer ganz sinnfälligen 
Auffassung, die sehr gut clurch ein orientalisierendes, archaisches 
boiotisches Vasenbild ^ veranschaulicht wird, auf dem der Fisch 
geradezu im Leibe einer sogenannten Artemis (rcotvia 'd^QCOV dar^? 


Fig. 3. Das Symbol 
auf augusteisdien Müi 
Siedelung Abdera 

gestellt erscheint. Endlich wird eine, der Überlieferung nach aus 
Indien stammende chinesische, von den Buddhisten als einer der 


^ Bei Athen. VIII 37, p. 346. Vgl. Lucian, de dea Syria c. 14/ Lagrange, 
Etudes sur les relig. semit. Paris 1903, p. 130/ Dölger, IX&YC 132 f. 

2 Sachau, Reise in Syrien 1883, p. 196 ff., Lord Warkworth, Diary in 
Asiatic Turkey, London 1898, p. 242/ Cumont, relig. Orient, p. 285 u. 35. 

® Daß * *Anna nur ein anderer Name ist für die karthagisdie Göttin Dido 
<= dodah = 'Geliebte*> Elissa <= arab. Elusa, Halasa = der Venusstern, ZDMG 
38, 647 f.) hat schon O. Roßbach in PauIy^V^is sowas Realenc. I 2223 richtig 
erkannt. 

* Vgl. die Denkmäler bei Dölger IXQYC, p. 431 ff. 

® Hommel, Die Schwurgöttin Esh^hanna, Anhang zu The Reverend Samuel 
B. Mercer, the Oath in Babylonia, Paris <Geuthner 1912). Vgl.das »Haus derFische« 
auf Münzen des punischen Abdera in Spanien aus der Zeit des Augustus. <Fig. 3.) 

® Eisler, Kuba-Kybele, im Philologus LXVIII, VI. 

’ Paul Wolters, Ephemeris archaiologike \&91, pinax i. <Fig. 5.) 























Der Fisdi als Sexualsymbol 


173 


Boddhisatvas übernommene Liebes- und Muttergöttin Kwan-Yin 
häufig dargestellt ^ wie sie einen Fisdi — und zwar wiederum die 
heilige Seebarbe — »zu Markte trägt« ^ oder auf einem Fisch 
»reitet«^ Hier ist der Fisch regelmäßig als in einem Korbe ruhend 
dargestellt, ein Zug, der nach Analogie der griechischen Mysterien^ 
riten mit der heiligen Schlange im Korbe ^ vielleicht auch nicht ohne 
sexuelle Nebenbecleutung ist. Genau dasselbe Attribut wird in Japan 
der volkstümlichen Liebesgöttin Beriten beigelegt. Ein sehr feines 
Schnitzbild dieser Göttin mit dem Korb und dem Fisch besitzt das 
Field^Museum in Chicago^. 

In allen diesen Fällen scheint das Sinnbild des Fisches das 
männliche Glied zu vertreten, eine Stellvertretung, die auch auf 



Fig. 5. Der Fis<b im Leib der Muttergöttin. Ardiaisdie boeotiscbe Vase im 
Athenischen Nationalmuseum. 

einem babylonischen Siegelzylinder ® mit einer ganzen Reihe typischer 
Fruchtbarkeits^ und Zeugungssymbole — Ziegenbock, Wasser, Baum 


^ Zwei Abbildungen — aus dem Museum Pei-lm von Sinyenfu vom Jahr 
1451 n. Chr. — in The Open Court für Juli 1911 (Chicago), p. 389. 

2 So das Gedicht auf dem Holzschnitt Fig. 6. 

2 Farbenholzschnitt von Hokusai reprod. ibid. p. 388. 

^ Über Paris und Helena als Heroisierungen der Opferschlange {Tiagig) 
und des heiligen Korbes vgl. Gruppe I. c. p. 350ii/ Dieterich, Mithras^ 

liturgie p. 125 u. Eisler, Weltenmantel p. 123 ff. (über die mystisdie Feier mit 
dem Phallos im Korbe in Eleusis). Für das Korbsymbol tritt (Zeugnisse ebenda) 
auch die xCarn (Truhe) ein. (Vgl. Freud, Traumdeutung p. 210, über die 
Symbole »Dosen, Schachteln, Schränke, Kästen etc.«) 

® The Open Court I. c. Beilage zu p. 391. (Fig. 7.) 

® J. Menant, Les pierres gravees de la Haute Asie, Recherches sur la 
glyptique orientale, vol. II Cylindres de TAssyrie, Paris 1886, p. 34, Fig. 17/ 
Dölger, IXeYC, p. 429, Fig. 74. 

















174 


Robert Eisler 


des Lebens, Mond^ Sonnenrad ^ Fisdi^ und Raute <= Vulva ^ 
angenommen wird. Ebenso dürfte diese Bedeutung vorauszusetzen 
sein, wenn die Japaner durch Aufziehen einer Papierflagge, die einen 
Karpfen darstellt, die Geburt eines männlichen Erben anzeigend. 
Nicht mißverständlich ist endlich die Symbolik eines Vasenbildes ^ 
wo der dem Geliebten durch ein Erosknäblein einen Fisch 

überbringen läßt®. 

Der Fisch kommt jedoch auch als Symbol der weiblichen 
Geschlechtsteile vor. So enthält eine Tafel mit buddhistischen Sym^ 
holen eine Darstellung der yoni <= vulva) durch zwei Fische und 
ein Feigenblatt. Hiezu gibt es merkwürdige griechische Analogien: 
Zunächst ist nämlich das Wort delphys für »Mutterleib« aufs engste 
verwandt, wenn nicht identisch mit delphis = der »Delphin«®. 



Fig. 8. Babylonischer Siegelzylindcr 
mit Bo(h, Wasser, Baum, Mond, 
Sonne, Fisch und Raute <= vulva). 



Fig. 9. 


Zweitens wurde das Wort myllos = Seebarbe ^ in Sizilien als Spitze 
namen für das weibliche Organ gebraucht^®. Das hievon abgeleitete 

^ Der zunehmende Mond ist bei allen Naturvölkern Symbol der Gravidität 
und der menses <= Monde). 

* Empfängnis durch Sonnenstrahlen verursacht, ist ebenfalls als Märchen* * 
motiv zu belegen (Sydney Hartland I. c., pp. 99, 137 f., 170). 

* Dölger a. a. Ö. 

^ The Open Court I. c., p. 395. 

® Gerhard, auserl. Vasenbilder Taf. LXV 1. 

® Vgl. Gaedechens, Glaukos, Göttingen 1860, p. 211, Anm. 2: »Gewiß 
ist der Delphin hier als das den Griechen so geläufige Liebessymbol zu fassen, 
welches hier ein Jüngling seinem Geliebten durch Eros darbringen läßt und sicher 
war dieses Gefäß bestimmt, als Liebesgabe eines Epheben dem geliebten Knaben 
dargereicht zu werden.« 

^ Fig. 9. Veröffentlicht im Journal of the Royal Asiatic Society (old series) 
vol. XVIII, p. 392, pl. II. 

® Vgl. Praciel, Archiv für Religionswissenschaft 1909, p. 152. 

® Vgl. oben S. 171® über die Heiligkeit gerade dieses Fisches. Die wörtliche 
Bedeutung ist »Lippfisch«. 

Athen. XIV, p. 647 A. 













Der Fisch als Sexualsymbol 


175 


myllas bedeutet nadi dem Lexikon des Byzantiners Suidas — wahr^ 
scbeinlidi aus Komikertexten — eine Hure. Ebenso wird plati- 
stakos, der Name einer besonders großen Seebarbenart ^ im Lexikon 
des Photios mit tö yvvatxslov ixoqiov erklärt. Derselbe Fisdi^, nadi 
anderen ^ aber eine Herings^ oder Sardellenart, soll saperdes geheißen 
haben, während das Deminutivum dieses Fischnamens saperdion — 
wie macreau frais im modernen Argot vom Montmartre — ein 
»Dirneben« bezeichnet. 

Unter diesen Umständen wird man begreifen, wieso das he^ 
bräische Verbum dagah »sich vermehren« neben dem nomen dag = 
»Fisch« steht^ wieso im deutschen Mittelalter dem Fischessen ^ in 
Indien dem Genuß von Fisch brühe dieselbe potenzsteigernde Wirkung 
zugeschrieben wird^, die die moderne Volksmedizin auch heute noch 
vom Genuß von Kaviar und von anderem Fischroggenerwartet. 
Denselben Zweck hat natürlich auch die bei den verschiedensten 
Völkern nachweisbare Sitte, Fische als Hauptgericht bei der Hoch¬ 
zeitsmahlzeit zu verzehren. So pflegen die Juden Großpolens un¬ 
mittelbar nach beendeter Trauung ein Fischessen zu geben, welches 
ausdrücklich »se^'üdat dägim« = »Fischbanquett« genannt wird und 
als solches schon im sechzehnten Jahrhundert bezeugt ist®. Schon 
aus dem Talmud Semähöt (Pereq 8 und 14) ergibt sich, daß beim 
altjüdischen Hochzeitsmahl der Fisch die Hauptspeise bildete. Dazu 
stimmt nun vorzüglich, daß bei den marokkanischen Juden der letzte, 
siebente Tag des siebentägigen Hochzeitsfestes »der Fisch tag« ge¬ 
nannt wird, weil an diesem Tag der Bräutigam der Braut eine 
Menge Fische übersendet und sie durch seine Mutter oder irgend¬ 
eine andere Frau auf die Füße seiner neuangetrauten Gattin werfen 
läßt^. Was dann schließlich mit den Fischen geschieht, ist nicht gesagt, 
aber nach dem Sinn des Brauches ist wohl nichts anderes denkbar, 
als daß sie zu einer Mahlzeit verwendet werden. Hiezu vergleiche 
man die Anweisung des Rabbi bar Kappära Imli almud Ketuböt 5a^®: 

1 Aus dem Fisdibudi des Dorion bei Athen. III 118 D. 

2 ibid. VII, p. 308 F. 

3 Archestratos und Timokles nach Athen. XIII 339 e,- Luc. Gail. 22/ hist 
conscr. 26. 

* Olshausen, Lehrbuch der hebt Sprache, § 2156, p. 404. 

® Der im 11. Jahrhundert lebende Bischof Burchard von Worms {Loci 
communeSy Köln 1560, p. 200/ Scheftelowitz I. c. p. 392) erwähnt in seiner 
Zusammenstellung kanonischer Verordnungen über Kirchenbußen auch den Zauber^ 
brauch, daß Frauen behufs Steigerung der Libido und der Zeugungspotenz ihrer 
Männer diesen Fische zu essen gaben. 

6 Pischel, Sitzungsber. der Berl. Akad. d. Wiss. 1905, p. 530. 

^ Vgl. das Märchen vom Mädchen, das durch den Genuß von Fischroggen 
schwanger wurde, bei Sydney Hart fand I. c-, vol. I, p. 74. 

® Moses Isserles in seinem Kommentar zum Schulhan Aruch: Jöre de'äj 
§391/ Abraham Danzig § I 6 I 2 / Scheftelowitz I. c. p, 3763 . 

2 Leo Africanus, Äfricae descripHOy Leyden 1632, p. 326/ Marchand, 
Journal Asiatique X, 6/ 1905, p. 467,* * Zachariae, Wiener Zeitschrift für Kunde 
des Morgenlandes XVIII 306/ XX 291 f./ Scheftelowitz I. c. p. 377. 

Cf. den Jalkut zu Genes. 1, AbsAnitt 16/ Scheftelowitz 1. c. p. 376. 





176 


Robert Eisler 


»man heirate eine Frau am fünften Wochentag, da Gott an diesem 
Tag bei der Weltschöpfung die Fische gesegnet hat mit den Worten 
»seid fruchtbar und mehret euch«. 

Analoge Anschauungen bei den alten Griechen sind daraus 
zu erschließen, daß die wenigen erhaltenen Bruchstücke der Komödie 
»die Hochzeit der Hebe« des Dichterphilosophen Epicharm^ fast 
aus nichts anderem bestehen, als aus einer langatmigen Aufzählung 
aller erdenklichen Fischgattungen, die die Gottheiten beim Hochzeits¬ 
mahl verzehren, wobei ausdrücklich hervorgehoben wird, daß Zeus 
das einzige vorhandene Stück des heilig gehaltenen, überaus seltenen 
»Stummfisches« ^ für sich und Hera beiseite legen ließ^ Zwei lustige 
schwarzfigurige Vasenbilder <Fig. 10>, die sich allem Anschein nach auf 
diese Komödie des Epicharm beziehen, zeigen uns Herakles, den 



Fig. 10. Herakles für sein HoAzeitsmahl Fisdie fangend. Sdiwarzfiguriges Vascnbild. 


Bräutigam der göttlichen Hebe, wie er vor der Hochzeitsfeier im Beisein 
und mit Hilfe der Schutzgötter des Fischfangs Hermes und Poseidon im 
Schweiß seines Angesichtes bemüht ist, die nötigen Fische für dieses 
ungeheure Fischessen zu erangeln. Freilich würde man zunächst 
nicht meinen, daß der riesenstarke Held, dessen sagenhafte Leistungen 

^ Fr. Nr. 71 bei Athenäus p. 282 D. 

2 ellopSy wahrscbeinlidi das Sterlet <vgl. Georg Schmidt, Philologus. Suppl. 
XI, p. 281)/ wenn ein solcher Fisch gefangen wurde — was manchmal in der 
sogenannten Pamphylischen See vorkam — pflegten sich die Fischer zu bekränzen 
und den Fang mit Flötenspiel zu feiern. Audi am römischen Kaiserhof wurde 
dieser Fisch unter Flötenmusik aufgetragen. Es soll der schon in der homerischen 
Patroklie »heilig« genannte Fisch sein. <Aelian, nat. anim. VIII 28/ Sammonius 
Serenus bei Macrobius, Saturn. III löis.) 

3 Wahrscheinlich nicht bloß des berühmten Wohlgeschmackes wegen. Da die 
antiken Arzte <Rufus bei Orib. III 9i) den Frauen den Genuß des ellops verbaten, 
muß man ihm eine besondere, vermutlich erregende Wirkung auf das Geschlechts^ 
leben zugeschrieben haben. 













Fig. 6. Kwan-yin, diinesische Liebesgöttin 
mit dem Fisdi im Korb, 
Farbenholzsdmitt im Museum von Sin^yen-fu. 


BEILAGE: ZU 
„IMAGO" I1I/2. 







Fig. 7. Japanische Liebesgöttin Beuten mit 
dem Fisch. 

Elfenbeinrelief im Field^^Museum, Chicago. 


BEILAGE ZU 
„IMAGO" II1/2. 













Fig. 12, Fisch zwischen die Beine eines Pferdes gemalt. 
Mykenisdie Vasenscherbe aus Tiryns <NationaI=Museum, Athen). 


Fig. 17. Babylonierin, vor dem heiligen Fisch auf dem Altar 
Garn spinnend. Sumerisches Dioritrelief im Louvre. 

BEILAGE ZU 
„IMAGO" 111/2. 


Fig. 13, Fischschwingende Maenade. Attisches Vasenbild im Wiener Hofmuseum. 











BEILAGE ZU 
,,IMAGO'' lli 2. 


Fig. 18. La nzegnay neapolitanisdies Volksfest in S. Lucia. 








Der Fisdi als Sexualsymbol 


177 


bei den neunundvierzig in einer Nadit gefreiten Töchtern des The- 
spios ^ im Altertum unter die meistgefeierten Herkulestaten gerechnet 
wurden, noch dieser stärkenden Mahlzeit bedurft hätte: vermutlich 
hat sich aber dieser ziemlich gröblich-pantagruelistische Schwank die 
entsprechenden Anspielungen auf die konkrete Grundbedeutung des 
Namens der Braut nicht entgehen lassen. Heißt doch rjßr) wörtlich 
soviel wie lateinisch piibes = »Scham«, so daß Epicharm in ähnlichen 
Hyperbeln, wie sie sich in der biblischen Spruch Weisheit ^ über die 
Unersättlichkeit des Hades, der trockenen Erde und des weiblichen 
Schoßes finden, gespottet haben mag, selbst ein Herakles müsse sich 
am Hochzeitsmorgen um Fische umsehen, wenn er der »Hebe«^ 
^nügen wolle. Ein — eigentümlich totemistisch gedeutetes — 
Fischgericht am Ende des Hochzeitsmahles scheint auch in dem 
pseudo-Hesiodeischen Gedicht »die Hochzeit des Keyx^« vorge¬ 
kommen zu sein. Daß sich die Sitte bis in die hellenistische Zeit 
hinein erhalten hat, zeigen die Nachrichten von dem Weißfisch 
»leukos«, der der Königin Berenike am Abend vor ihrer Hochzeits^ 
nacht von der Fischergilde Alexanchias überreicht wurde 

Fische beim Hochzeitsmahl sind ferner im Folklore der sieben- 
bürgischen Sachsen bezeugt^. Ebenso werden bei den Mandschu dem 
Brautpaar Fische als ^eise gereicht mit dem Wunsche: »in Hülle 
und Fülle möge Euch Glück zuteil werden«®. Auf den HerveyJnseln 
<Ozeanien> wird bei einer Hochzeit ein roher Fisch zum Bräutigam 
gebracht, dann wird der Fisch auf einem menschlichen Körper 
in Stücke zerlegt und vom Bräutigam vollständig roh verzehrt"^. 

Auch im Fruchtbarkeitszauber spielt das Bild eines Fisches 
eine entsprechende Rolle. In Ceylon glaubten früher die Bauern, 
deren Acher es an genügender Bewässerung mangelte, durch das 
Bild eines in einer Zisterne® ruhenden Fisches eine gute Ernte zu 
erzielen®. Hiezu verweist der Mitarbeiter dieser Zeitschrift, Dr. Emil 
Lorenz in Klagenfurt, brieflich auf die alpenländische Sitte, stets 
einen Fisch, gewöhnlich eine Forelle, im Dorfbrunnen lebend zu 


^ Gruppe I. c., p. 485. 

2 Prov. 30 i6. 

3 Fragm. 154 Rzadi, Plut. Sympos. VIII 84 , p. 730 E/ vgl. Eisler, Or¬ 
pheus the Fisher, London 1914, p. 258 n. 6 . 

* Aelian n. a. X 46,- Strabo XVII 812,- Athen. VII 17, p. 284,* * Seneca 
bei Augustin, de civ. Dei XVI 10. 

5 Sydney Hartland, I. c. I, p. 155. 

ß Wilhelm Grube, Zur Pekinger Volkskunde, p. 25,- Scheftelovt^itz, 
I. c., p. 377s. 

^ W. W. Gill, Life in the Southern Isles, London 1876, p. 60,- Sc hef¬ 
te low itz, ibid., p. 377 1 . 

® Vgl. Prov. 5 i 5 den metaphorischen Gebrauch von Brunnen (be^er) und 
Zisterne (bör) für »Weib«, beziehungsweise weibliches Genital (dazu »Philologus« 
LXVIII B. p. 209 zu p. 193, sowie unten S. 186 den »Fisch aus der Quelle« in 
der Aberkiosinschrift. 

® H. Parker, Ancient Ceylon, London 1909, p. 514/ Scheftelowitz, 
1. c., p. 380. 

Ima^o ni/2 


12 





178 


Robert Eisler 


erhalten. Ebenso gehört zur Brautaussteuer der Chinesen ein Glas¬ 
behälter mit Goldfischen, die mit größter Vorsicht in das neue 
Heim getragen werden, damit sie durch das Schütteln nicht leiden, 
denn stirbt einer dieser Fische, so gilt das für ein böses Omen^. 
Auf einem Geweihfragment mit prähistorischen Ritzzeichnungen aus 
der Grotte von Lortet^ sind zwischen den Beinen einer Renntier¬ 
herde Fische eingekratzt. Da die Gravierungen dieser vorgeschicht¬ 
lichen Völker nicht schmückenden, sondern zauberischen Zwecken 
gedient zu haben scheinen, steht zu vermuten, daß der Zeichner 
durch diesen Bildzauber seine Herde zu befruchten gesucht hat. 
Dieselbe Deutung liegt sehr nahe bei einer zu Tiryns gefundenen 
Vasenscherbe der sogenannten mykenischen Periode <achtes bis 
neuntes Jahrhundert v. Chr.>, wo ein Fisch mit dem Kopf gegen 

die Schamgegend gewandt zwi¬ 
schen die Beine eines Pferdes 
gemalt ist^. <Fig. 12.) 

Über die ganze Erde ver^ 
breitet, finden sich Sagen und 
Märchen von der magischen 
Schwängerung von Jungfrauen 
oder unfruchtbaren Frauen, be¬ 
ziehungsweise von weiblichen 
Tieren durch den Genuß eines 
Fisches. Sehr viele davon sind 
in Sydney Hartlands mehr^ 
fach zitierter Untersuchung über 
die Perseussage in einem be¬ 
sonderen Kapitel behandelt worden,* hier folgen zunächst ein paar 
Musterbeispiele aus Hahns Sammlung albanischer und griechischer 
Volksmärchen: In einer solchen Sage verspricht eine Jungfrau dem 
Prinzen, sie würde vom bloßen Ansehen schwanger werden. Sie wird 
daraufhin in einen Turm ohne Stiege verschlossen und bittet nur, 
man möge ihr einen Fisch — und zwar einen ungesottenen 
— senden und gleich Kleider für das Kind vorbereiten, das auch in 
der Tat richtig zur Welt kommt <Hahn, Nr. 112>. 

In einem anderen Märchen <Hahn, Nr. 64, Variante 3> bringt 
ein Fischer einem König, der zu seinem Leidwesen keine Kinder 
hatte, jeden Morgen frische Fische. Eines Tages ist zufällig eine Schleie 
darunter, der König ißt die eine, die Königin die zweite Hälfte ^ und 
in kürzester Zeit fühlt sich die Herrscherin gesegneten Leibes. 

Wieder in einem anderen Märchen fängt sich ein kinderloser 



Fig. 11. Prähistorisdie Ritzzeidinung. 


^ Wilhelm Grube, I. c., p. 36/ Scheftelowitz, I. c., p. 3772- 
2 Fig. 11 u. 12 nach Hoernes, Urgeschichte der bildencien Kunst, Wien 1898, 
p. 15/vgl. Scheftelowitz, I. c., p. 381. Über dem rechten Renntier zweimal das 
rautenförmige Vulvensymbol. 

® Vgl. oben S. 176, Anm. 3 Zeus, der für sich und Hera den Sterlet beiseite 
legen läßt. 





Der Fisdi als Sexualsymbol 


179 


Fischer auf den Rat einer weisen alten Frau ein goldenes Fisch- 
chen, das er in sechs Stücke schneidet^. Je ein Stückchen ißt der 
Fischer, eines seine Frau, eines die Hünclin, eines die Stute im 
Stall, zwei werden vergraben. In kurzer Zeit werden die Fischerin, 
die Stute und die Hündin schwanger — die Fischerin sogar mit 
Zwillingen — während aus der Erde, an jener Stelle, wo die Fisch¬ 
stückchen vergraben sind, je zwei Zypressenstämme emporsprießen 
<Hahn, Nr. 22>. 

Dieselbe Geschichte kommt als deutsches Volksmärchen bei 
Grimm, Nr. 85, als lettisches bei Andrejanoff^ und in Zingerles 
Sammlung tirolischer Volksmärchen als Nr. 25 vor. In einer indischen 
Fassung wird ein Fisch gekocht. Die Kuh, die die Fischbrühe ^ trank, 
die Dienerin, die von dem Fisch naschte und die Königin, die den 
Fisch aß, gebären sämtlich nach neun Monaten^. In den von Sydney 
Hartlanclgesammelten Varianten wird der schwängernde Fisch einmal 
<p. 63> als rot, einmal <p. 34> aber ausdrücklich als rote Seebarbe'* 
bezeichnet. In einer weiteren Variante <p. 52> wird die Schwängerung 
schon durch einen Trunk Wassers, in dem ein Fisch gewaschen 
worden ist, verursacht, ein andermal durch Fischblut <p. 69>. 

In einer isländischen Sage® wird von der kincierlosen Frau 
eines Jarls erzählt, ihr seien im Traum drei Frauen in blauen 
Mänteln^ erschienen, die ihr befahlen, zu einem ihr bekannten 
Strom zu gehen, sich niederzulegen, aus dem Strom zu trinken 
und dabei zu versuchen, eine gewisse Forelle, die sie dort er^ 
blicken würde, in den Mund zu bekommen, dann werde sie 
gleich empfangen. Hier liegt offensichtlich eine jener gar nicht so 
seltenen Sagen vor, deren Sammlung und Bearbeitung Friedrich 
Ranke-Göttingen erst kürzlich in den «bayrischen Heften für Volks¬ 
kunde«® nachdrücklich angeregt hat, die auf ein wahres — psychi¬ 
sches — Erlebnis zurückgehen. Für jeden Leser dieser Zeitschrift 
ist der Traum der Jarlsfrau ein geradezu klassisches Beispiel des 
Wunschtraumes einer kinderlosen Frau, die“ im Unbewußten mit 
dem von der Selbstzensur verworfenen Wunsche spielt, durch fellatio 


1 Vgl. den Hodizeitsbraudi der Hervey-Insulaner oben S. 177, Anm. 7. 

^ Lettische Märchen, p. 21 f.,* Schefteiowitz, I c., p. 378. 

3 Vgl. oben S. 175, Anm. 6. 

^ De Gubernatis, Tiere in der indogermanischen Mythologie I, cap. 3,- 
Schefteiowitz, I. c., p. 392. 

^ Vgl. oben S. 171, Anm. 8, aber die Heiligkeit der roten Seebarbe und 
S. 174, Anm. 9, über die Doppelbecleutung von 

® Po well und Magnusson, Icelandic Legends, London 1864 bis 1866, 
p. 435/ Maurer, Isländische Volkssagen, Leipzig 1860, p. 284,* Sydney Hartland, 
a. a. O., p. 74. 

^ Natürlich die Nomen! 

8 Jahrg. 1914, pp. 40 bis 51, »Sage und Erlebnis«. 

8 <Anm. d. Redaktion.) Eher: die infolge der aktuellen Unbefriedigung im 
Unbewußten auf die infantile Lustzone des Mundes und die entsprechende SexuaW 
theorie zurückgreift. 


12* 





180 


Robert Eisler 


die sdilummernde Libido des kühlen Gatten aufzureizen. Das 
Zeugnis ist deshalb so wertvoll, weil es in die Entstehung des 
Fisdisymbols durch die Traumarbeit unter dem Einfluß jener 
Hemmungen, die Freud als »Zensur« bezeichnet, deutlich hinein¬ 
blicken läßt. Hartland und nach ihm der größte lebende Kenner der 
Primitiven und ihres Aberglaubens J. G. Frazer haben bekanntlich 
alle die häufigen Mythen von einer wunderbaren jungfräulichen 
Empfängnis als Rudimente jener bei den Aruntas in Südaustralien 
nachweisbaren tiefsten Kulturstufe angesprochen, auf der noch jede 
Einsicht in den Kausalzusammenhang zwischen Begattungsakt und 
Schwangerschaft fehlt Allein gerade bei den erörterten Fisch¬ 
mythen ist kaum daran zu zweifeln, daß ein mehr oder weniger 
klares Bewußtsein von der phallischen Bedeutung des Fischsymboles 
vorhanden und nur »durch die Zensur abgeblendet« ist — wie z. B. 
in der brasilianischen Sage 2 , wo von dem Helden erzählt wird, er 
habe ein Mädchen <wörtlich) »by means of a mysterious fish« ge^ 
schwängert. 

Die isländische Traumsage zeigt ferner sehr deutlich, wie die 
ständig wiederkehrende Vorstellung vom Essen des Fisches sexuaL 
psychologisch bedingt erscheint. 

Eine sehr hübsche Parallele zur hysterischen Aversion gegen 
das anscheinend harmlose Objekt einer aus dem Bewußtsein ver¬ 
drängten Sexualsymbolik bietet das ebenfalls von Sydney Hartland^ 
verzeichnete lustige Geschichtchen von dem überkeuschen Türken^ 
mädchen, das sich weigert, auch nur einen Fisch anzusehen, 
aus Angst, es könnte ein Männchen sein! Der weise Herr des 
Harems schließt bezeichnenderweise aus dieser übertriebenen Scham^ 
haftigkeit geradezu auf ein Schuldgefühl, läßt den Harem durch¬ 
suchen und findet in der Tat versteckte Buhler dort vor. 

Psychologisch überaus lehrreich für das vorliegende Problem 
sind auch die Denkmäler jenes kultischen »Rasens« der ekstatischen 
griechischen »Schwärmerinnen« in den Dionysosmysterien. Lewis R. 
FarneiF hat sehr schön und meines Erachtens ganz unzweifelhaft 
nachgewiesen, daß der äußere Zweck dieser eigentümlichen Be^ 
gehungen in einer Förderung der Fruchtbarkeit in der Natur zu 
suchen ist. 

^ Diese auf den ersten Blick absurd anmutende und viel verhöhnte Theorie 
geht von der sicheren Tatsache aus, daß bei diesen wilden Völkern der Koitus 
hemmungslos und in größter Häufigkeit schon in einem Alter geübt wird, wo 
infolge der mangelnden Geschlechtsreife beider Teile oder des einen oder des 
anderen eine Empfängnis nicht eintreten kann. Man schiebt also die erste wie 
die folgenden Schwangerschaften nicht auf diesen ständig vorhandenen, kaum be^ 
achteten Faktor, sondern auf irgendein auffallendes Ereignis — Begegnung mit 
irgend einem Tier, Genuß einer bestimmten Speise — das unmittelbar den ersten 
wahrgenommenen Regungen des neuen Lebewesens vorangeht. Daraus erklärt sich 
dann auch das vollständige Fehlen des Paternitätsbegriffes auf dieser Kulturstufe. 

2 Sydney Hartland, p. 105. 

» p. 123. 

^ Cults of the Greek States vol. V (Oxford 1909) p. 161 ff. 





Der Fisdi als Sexualsymbol 


181 


Daneben hat aber dieser urtümlicbe Vegetationszauber zweifellos 
auch eine innere, persönliche Bedeutung gehabt, aus der sidi der 
große und — wie sidi aus den Zeugnissen, vor allem aus den 
»Bakcben« des Euripides, erkennen läßt — von den Männern mit 
gemischten Gefühlen begleitete Zulauf der griechischen Frauen^ zu 
diesem ursprünglich ungriechischen Kult erklärt: der byzantinische 
Lexikograph Suidas hat ein ebenso eigentümliches als bezeichnendes 
Sprichwort — dem Metrum nach vielleicht einen Tragikervers — 
aufbewahrt. Es lautet: 

fj XQ)) vqaycßdslv Jtdvvaq i] i^isXayxoläv 

»Alle müssen sich an den <Dionysischen> ,Bocksgesang' = 
<riten> beteiligen oder der Melancholie verfallen.« Das stimmt 
genau zu den antiken Vorstellungen vom Dionysos Mainoles, aber 
auch Lysios oder Eleuthereus, dem Heiland und Befreier vom Wahn^ 
sinn durch das bakchische »Rasen«. Wenn überliefert ist, daß 
Melampous, der Prophet des Dionysos, den Wahnsinn der Töchter 
des Proitos durch Vorführung kultischer Tänze von Jünglingen 
heilte <Apollodors Bibliothek 2, 2, 2>, wenn es anderswo heißt, daß 
die Töchter des dionysischen Heros Eleuther durch den Glauben an 
»Dionysos in der schwarzen Bochshaut« (Dionysos Melanaigis) von 
Wahnsinn geheilt wurden <Suidas s. v. Melanaigis), wenn Aristoteles 
<Pol. 8. 7, 4 bis 9> der Flötenmusik der phrygischen und dionysi¬ 
schen ekstatischen Kulte die Wirkung zuschreibt, eine heilsame Ent¬ 
ladung für die zurückgestauten Affekte krankhaft leidenschaft¬ 
licher Individuen zu bewirken, wenn der Zweck der Dionysischen 
alaxQoloyla — Zoten-, Schmutz^ und Spottreden, satyrisdie An^ 
griffe und Anklagen, öffentlich erhoben, aus denen sich die Satyrik 
der älteren Komödie entwickelte — in einem nad^aQ^ög töv 'iyivyßiv 
erblickt wurde <Suidas s. v. äfjid^r^g), wenn endlich Aristoteles 

in seiner Poetik als Zweck der aus den Dionysienfeiern hervor¬ 
gegangenen kunstmäßigen Tragödie noch die berühmte »Katharsis« 
von Affekten der Furcht u. dgl. bezeichnet^ so gewinnen alle diese 
Berichte im Licht der neueren Lehren von den hysterischen Depressions^ 
erscheinungen und den Symptomen der Affektverdrängung erhöhte 
Bedeutsamkeit. Es kann kaum zweifelhaft sein, daß das, zwar nicht mit 
den Mitteln orientalischer Haremsbewachung abgeschlossene, aber 

' Vgl. die einleitenden Verse in der Lysistrata des Aristophanes, in der 
die Heldin über den mangelhaften Erfolg ihres Aufrufes klagt, indem sie sagt: 
»Ganz anders war es, rief sie einer ins Bakcheion <ins Heiligtum des Pan, 
zur Aphrodite Kolias) oder zu der Athene Genetyllis.« Man sieht, es sind als die 
bei den Frauen beliebtesten Göttinnen witzig zwei ithyphallisdie und zwei Göttinnen 
des weiblichen Geschlechtslebens <über die Kolias s. o. S. 171, Anm. 7> genannt. 

2 Vgl. A. Freih. von Berger im Anhang zu Theodor Gomperz' Qber^ 
Setzung der Poetik des Aristoteles (Leipzig 1897) p. 81: »die kathartische Be^ 
handlung der Hysterie, welche die Arzte Dr. Josef Breuer und Dr. Sigm. Freud 
beschrieben haben, ist sehr geeignet, die kathartische Wirkung der Tragödie ver^ 
ständlich zu machen . . . etc. Siehe auch Hermann Bahrs Dialog vom Tragisdien 
(Berlin, S. Fischer, 1904). 





182 


Robert Eisler 


dodi durdi Recht, Sitte und Familiengewalt einem Herrn vorbei 
haltene altgriechische Frauengemach für die Entstehung hysterischer 
Ercheinungen einen jedenfalls nicht ungünstigeren, im Gegenteil wahr^ 
scheinlich noch weit fruchtbareren Nährboden gebildet hat, als die 
moderne, wenigstens der Fiktion nach monogamische und auf freier 
Gattenwahl aufgebaute Ehe mit ihrem Korrelat unfreiwilliger Jung¬ 
fräulichkeit. Unter diesen Voraussetzungen ist es ohne weiteres be^ 
greiflich, wieso leidensdiaftliche Musik sinnlich erregenden Charakters, 
derwischartig bis zur physischen Erschöpfung und Benommenheit 
fortgesetzte Tänze, rythmische Schleuderbewegungen des Kopfes, 
verbunden mit dem Genuß von Wein und anderen halluzinations^ 
fördernden Nervengiften^, Geißelungen der kultisch »rasenden« Frauen 
einerseits 2 , anderseits Befriedigung der Agressionstriebe durch Hetzen, 
Einfangen und orgiastisches Zerreißen lebender Tiere, sowie durch 
Rohessen des blutrauchenden Fleisches der Opfer und Prügelung, 
beziehungsweise Steinigung mitwirkender männlicher Mysten^ endlich 
das freie Hinausschleudern aller angehäuften, sonst in Schweigen 
zurückgepreßten Antipathien in Form aggressiver Spottreden, Flüche, 
Schimpfreden, ja Zoten in der Urform alter »Satyrik«, und das 
Austoben aller individuellen, persönlichen Schmerzen in der er¬ 
schütternden gemeinsamen Klage um den gemarterten und getöteten 
Gott eine machtvolle kathartische Wirkung gegen die 
hysterischen Depressionszustände des ^sXayxokäv aus¬ 
üben konnten. 

Daß wirkliche geschlechtliche Ausschreitungen zu den Orgien 
gehörten, wird von Euripides"^ implizite bestritten und die im römi^ 
sehen Bacchanalienprozeß <Livius 39, 13> erhobenen Beschuldig 
gungen sind allzu tendenziös, um für beweisend gelten zu dürfen. 
Sicher ist jedoch, daß sexualsymbolische Begehungen — vor 
allem die sogenannte Phallophorie — in dem beabsichtigten Vege¬ 
tationszauber eine Hauptrolle spielten und es ist klar, daß auch 


^ Vgl. Roh de, Psyche^ p. 17. Unter anderem wurden die audi noch in 
der älteren Pharmakopoe zur Herstellung der sogenannten »Schlafschwämme« be^ 
nutzten Epheublätter zerkaut. 

2 Lykurg peitscht die Maenaden mit dem Ochsenziemer,* im arkadischen Alea 
wurden die Weiber des Dionysos gegeißelt <Paus. 8, 23, 1,* Farnell, I. c., d. 163). 

® Es ist dieser Teil der Orgien, cler sich in den Mythen vom Tod des 
Pentheus, Orpheus oder Thamyris durch die Maenaden spiegelt. Sachlich betrachtet 
sind die Geißelriten ein Fruchtbarkeitszauber, die Omophagie ein theophagischer 
Kommunionsritus,* die subjektive Seite und die erstaunliche Thatsache, daß Frauen 
einer hoch kultivierten Nation mit Leidenschaft an so entsetzlichen Zeremonien 
teilnehmen mochten, wird man am ehesten verstehen, wenn man sich an die 
modernen englischen Wahlrechtskämpferinnen erinnert, die mit Zähnen und Krallen 
über die Schutzleute herfallen und kein Mittel unversucht lassen, um die urtümlich 
instinktive männliche Roheit in ihren Gegnern zu wecken. 

* ».. y,al ydß iv odxpQOv oi) diaq)d'aQrjOSTaL€ 

Allerdings ist Dionysos kein Gott, der auf Sinneszucht und Zurückhaltung in 
Vene7*e bei den Frauen Gewicht legt <ibid. 314 f.: »oi)X d ooq^QOvetv 

ävayxäost yvvaty.ag elg xfjv KvTtQiv<f). 





Der Fisdi als Sexualsymbol 


183 


dieser Zug in der erzielten subjektiven Kdd'aQOtg täv jva^rjf^ä'vcov 
von hervorragender Bedeutung war. Was unter Phallophorie zu 
verstehen ist, lassen die zahlreichen Schrift- und Kunstdenkmäler 
zusammengenommen wohl erkennen. Zunächst einmal gehörte zur 
Festtracht der als »wilde Männer« <Satyrn, Silene, Pane u. dgl. m.> 
vermummten Teilnehmer außer der Rinder^, Ziegen-, Reh-, Pferde-, 
Leopardenhaut oder noch anderen Fellen regelmäßig auch ein vorge^ 
bundener Phallos von übertriebener Größe,* * zweitens wurden in der 
Prozession noch wahre Riesenphallen von der Gestalt und Größe 
ganzer Sturmböcke mitgetragen ^ und allenfalls noch mit Seilzügen 
in charakteristischen Wippbewegungen erhalten. Drittens aber — 
und diese Sitte kommt für den hier behandelten Zusammenhang vor 
allem in Betracht — pflegten die Maenaden selbst bei ihren Tänzen 
große Phallen durch die Luft zu wirbeln. 

Das wichtige Zeugnis — ein attisches Vasenbild mit der Dar¬ 
stellung einer nackten Maenade, die einen Phallos verzückt in den 
Händen bewegt^, auf einer Scherbe aus dem Perserschutt auf der 
Akropolis — ist leider noch unveröffentlicht. Der Leser wird seiner¬ 
zeit in einer späteren Lieferung der von Prof. Botho Graef-Jena 
geleiteten Veröffentlichung dieser Scherben, von denen erst die aller¬ 
ältesten herausgegeben sind, eine Abbildung dieses Stückes finden. 

Dagegen zeigt die beigegebene Fig. 13, ein ebenfalls attisches 
Vasenbild aus der Sammlung des Grafen La mb erg, jetzt in der 
Antikensammlung des kunsthistorischen Hofmuseums in Wien, eine 
bekleidete Maenade, die in jeder Hand einen Fisch — d. h. den heiligen 
Bakchosfisch, wahrscheinlich die Springmeeräsche ^ — schwingt, 
während ein ithyphallischer Satyr — d. h. im wirklichen Ritus ein 
Tänzer mit Tiermaskenabzeichen und vorgebundenem Phallos, eine 
zweite Maenade am Arm ergreift. Analoge Tanzbilder und ein¬ 
schlägige Überlieferungen^ scheinen zu beweisen, daß diese Fische 
ebenso wie die anderen Tiere — Schlangen^ Hunde®, Jung¬ 
stiere, Ziegenböcklein, Widder etc. — am Ende des Tanzes 

1 Heydemann, Mitteilungen aus oberitalienisdien Sammlungen III, p. 95, 
Taf. 2/3. 

2 Nilsson, Griediisdie Feste, p. 261, Anm. 2,- Farneil, l. c., p. 265 e. 

® G. Schmidt, Philol. Suppl. XI, p. 331. Nach dem Fisdibudi des Dorion 

bei Athenaeus III 118 c wäre der Bakchosfisch aber identisch mit der heiligen See^ 
rotbarbe der Demeter. Wieder nach anderen <s. die Zeugnisse bei Eisler, Orpheus 
the Fisher, London 1914, ch. XXXV> müßte es eine mittelländische Schellfischart 
<der Merlan?) sein. 

* Eisler, l. c. 

^ Vgl. oben S. 167 über Schlange = Fisch = Phallos. 

® Hund = griech. yjvGiv <= der Zeugende) ist nach Hesych = t6 dvÖQBlov 
ßÖQiov <das männliche Glied). Vgl. den Schwur des Sokrates vat ßä %bv Kvva 
<nidit = »beim Hund«, sondern gleich dem spanischen Beteuerungsfluch carajol 
= pennis). Der Schwur beim Phallos kommt schon Genes. 42, 4 vor,* vgl. die ganz 
unumwundene Illustration zur Stelle in dem von Scato de Vries nach Aufnahmen 
des Verfassers in den Sijthofschen Codices photogrophice depicti herausgegebenen 
Octateuch von Smyrna. 





184 


Robert Eisler 


zerrissen und verschlungen^ wurden. In der Tat scheint die 
zweite Bakchantin ein Stück eines zerrissenen Fisches in der rechten, 
vom Satyr umklammerten Hand zu halten. Die objektive Bedeutung 
dieses phallischen oder Fischtanzes — der am besten den sexual^ 
symbolischen (7oro6omtänzen der Australier verglichen wird — 
ist natürlich wiederum die eines Fruchtbarkeitszaubers. Von der 
subjektiven Seite gesehen, wird eine mystische Hierogamie und 
sinnliche Vermählung der Orgiasten mit der Gottheit erstrebt. So 
sonderbar solche Riten dem heutigen Forscher erscheinen mögen, 
so tief begründet sind sie in den Urtiefen religiösen Bewußtseins. 
Kennen doch die jüdischen Mystiker, die sogenannten Chassidim, 
bis auf den heutigen Tag noch ganz eindeutige erotische Gebets¬ 
gesten — »une gymnastiqice corporelle pour produire tine sorte de 
cohabitation . . . avec les spMres supirieures«^. Unter diesen Um¬ 
ständen ist es gewiß bemerkenswert, daß auch eine geradezu als 
»Fischtanz« bezeichnete Zeremonie heute noch unter den Hochzeits¬ 
riten der sephardischen Juden — der sogenannten Spaniolen — vor¬ 
kommt: aus einem bosnischen Lokalblatt ist durch Vermittlung der 
»Allgemeinen Zeitung des Judentums«^ in den »Globus«^ und die 
»Wiener Zeitschrift für Kunde des Morgenlandes« ^ der folgende merk¬ 
würdige Bericht übergegangen: 

»Im Juni dieses Jahres <1891> fand zu Sarajewo in Bosnien 
unter genauer Beachtung der bei den Spaniolen üblichen herge¬ 
brachten Gebräuche die Trauung des Herrn Abraham Levi mit 
Fräulein Simha Salmon statt, wobei die Honoratioren der Stadt 
zugegen waren. Nach dem Austausch der Ringe fand in der Wohnung 
des Bräutigams der übliche Fischtanz statt. Die Verwandten 
traten nacheinander vor die Braut hin und jeder legte einen oder 
mehrere Fische, die am Kopfe mit Blumen und am Leibe mit Rausch^ 
gold® geschmückt waren, zu den Füßen der Braut, die dann über jeden 
Fisch hinweghüpfen mußte. An diesem Brauche, der den Wunsch der 
Fruchtbarkeit symbolisiert, wird noch immer streng festgehalten.« 

Es erübrigt nur noch die Behandlung einer merkwürdigen 
Metapher, die vom Fischsymbol in genau derselben Weise abgeleitet 
ist, wie der gebräuchlichste deutsche Vulgärausdruck für den Ge^ 
schlechtsverkehr von dem weitverbreiteten Phallossymbol des <ital.> 
ucello <auch papagallo delle donzelle etc. etc.). Ist »der Fisch« ein 
Euphemismus für den Phallos, so stellt sich sinngemäß die Empfängnis ^ 

' Vgl. oben S. 179 f. über den verschluckten Fisdi in Märdien und Traum. 

2 Karppe, le Zohar, Paris 1901, p. 434, n. 1. Vgl. Eisler, Philologus 
LXVIII, p. 180, Anm. 183. 

3 Jahrgang 1891, dritte Seite des Umschlages. 

* LX. Bd., p. 128. Vgl. auch Theophil Löbel, Hochzeitsbräuche in der 
Türkey, mit einer Vorrede von Hermann Vambery, Amsterdam 1897, S. 286. 

5 XX. Bd., p. 292. 

® Vgl. o. S. 179 Z. 1 den goldenen Fisch. 

^ »empfangen« = »in sich fangen«, wie »empfinden« = »in sich finden«. 
Concipere zu caperCy griech. ov?.kafxßdv£iv etc. 





Der Fisdi als Sexualsymbol 


185 



Fig. 15. Sog. Ring des 
hl. Amulph von Trier 
im Metzer Domsdiatz. 


als ein »Fischfang« dar. In der Tat vergleicht in einem Hochzeitslied 
der Suaheli^ der Sänger die Braut mit einem Fischnetz »in das 
jeder Fisch hineingehen möchte«. Hiebei 
ist an konisch geformte Fischnetze, Fischreusen 
oder Schilfkörbe zum Fischfang zu denken, wie 
man sie auf dem Fischerring Fig. 15 oder dem 
dionysischen Vasenbild des Chachrylios <Fig. 16> 
dargestellt findet und wie sie noch heute auf der 
ganzen Welt von den Fischern gebraucht werden. 

Eine sinnfällige Darstellung eines der^ 
artigen Vergleiches der Braut mit einem Fisdi^ 
netz scheint beabsichtigt zu sein, wenn in Ruß^ 
land der Braut, nachdem sie ihren Hochzeitsstaat angelegt hat, noch 
ein Fischnetz übergeworfen wird^ oder wenn bei den Gurjern^ 
die Wöchnerin im 
Kindbett mit einem 
Netz bedeckt wird. 

In der Tat ver¬ 
binden zwei rus¬ 
sische Märchen 
der Sammlung von 
Afanasieff^ die 
Geschichte von dem 
wundertätigen, 
kinderzeugenden 
Fisch in ganz un¬ 
mißverständlicher 
Weise mit dem 
Netzmotiv: auf 

Anraten eines frem¬ 
den Bettlers versam¬ 
melt der kinderlose 
König je sieben sie¬ 
benjährige Mädchen 
und Knaben und läßt 
die Mädchen Garn 
s p i n n e n, die Knaben 
aber daraus in einer 
Nacht ein Netz knüpfen. In dem Netz wird sidi dann ein 
Karpfen mit goldenen Flossen^ fangen,- wenn die Königin den 
ißt, wird sie sogleich schwanger werden und einen Prinzen gebären 



Fig. 16. Angelfisdier und Fischreuse auf der Schale 
des Chachrylios. 


1 Velten, Sitten und Gebräuche der Suaheli 1903, p. 126,- Scheftel o witz, 
I. c., p. 392/ Eisler, Orpheus — the Fisher, p. 262, n. 2. 

2 Frazer, The Golden Boughy vol. II, p. 339. 

® Floss, das Weih, siebente Auflage, Bd. II, p. 415. 

* Sydney Hartland, I. c., vol. I, p. 73. 

* Vgl. oben S. 184, Anm. 6. 











186 


Robert Eisler 


etc. etc. In der zweiten Fassung muß das Netz aus Seide sein, 
im übrigen zeigt die Erzählung die gleichen Züge. Wahrscheinlich 
ist dieses »spinnen« und »netzen« ein ebenso uralter Konzeptions¬ 
zauber, wie das gleich zu belegende »Fischen« von Nachkommen^ 
Schaft. Wenigstens haben die französischen Ausgrabungen in Tello^ 
ein altbabvlonisches Relief aus schwarzem Stein — aus jener ältesten, 
sicher mehrere Jahrtausende vor Christus zurückreichenden Kultur^ 
Schicht der vorsemitischen, sumerischen Bevölkerung des Zweistrom¬ 
landes — zutage gefördert, das eine vornehme Dame zeigt, wie sie, 
eben von ihrem Sklaven gefächelt, vor dem auf dem Altar 
ruhenden heiligen Fisch ihr Garn spinnt. Die Darstellung 
ist besonders interessant, weil die Beziehungen zur Kultsymbolik 
der vorderasiatischen Muttergottheit unverkennbar sind. Weiß doch 
der Lykier Xanthos^ von einem göttlichen Fisch als Sohn der 
Göttin Derketo von Askalon und Hierapolis ^ zu erzählen, während 
Mnaseas^ tägliche Fischopfer erwähnt, die auf dem Altar dieser 
Göttin dargebracht wurden und Lucian^ von ihrem Standbild in 
Bambyke berichtet, daß es einen Spinnrocken in der Hand hält. 
Hiezu vergleiche man die Mythen von der spinnenden kleinasiatischen 
Muttergöttin Kybele-Omphale^ und die — in vielen Kunstwerken^ 
nach wirkende — kirchliche Überlieferung“^, daß die Jungfrau Maria 
Christum während des Spinnens empfangen habe,- ferner 
die merkwürdige Legende, auf die die Grabschrift des Bischofs 
Aberkios von Hieropolis <um 180 n. Chr.) in jenen rätselhaften 
Worten anzuspielen scheint, in denen Christus der »reine Fisch« 
genannt wird, den eine »heilige Jungfrau gefangen« <d. h. empfangen®) 
hat/ endlich den heidnischen Parallelmythus von der Göttermutter 
Hera »Quelle«, die mit der Angel der Gottheit »einen Fisch ge^ 
fangen«, d. h. von dem Sonnengott Zeus Helios einen Sohn 
empfangen und geboren hat®, lauter Sagentypen, deren Sinn erst 

1 De Morgan, Memoir. Deleg. en Perse, Paris 1900, tomc I, pl. XI u. 
p. 159 f. <Fig. 17.) 

2 Bei Athenäus, p. 364 E. 

3 Vgl. oben p. 172, Anm. 1. 

^ de Dea Syria c. 32. 

5 Über Kybele-^Omphale s. Eisler, Philologus LXVIII, p. 143 ff. Das Spindel^ 
Symbol ist durdi den Mythus bezeugt, daß Herakles sein Löwenfell und die Keule 
mit der Kunkel der Omphale vertauscht. 

® In einer Reihe von Verkündigungsbildern, deren ältestes ins fünfte Jahr-^ 
hundert gehört. Vgl. die Aufzählung bei Rohault de Fleury, Tevangile, Tours 
1874, vol. I, n. 11 ff./ La Sa inte Vierge, Paris 1878, vol. I, p. 77,- F. X. Kraus, 
Realencyclopädie des christl. Altertums II, p. 936 f. 

^ Protoevangelium Jacobi, Hennecke, neutest. Apocryphen, p. 58/ De 
ortu beatae Mariae et infantia Salvatoris, Thilo, corpus apocr. p. 352, n. 307. 

® Vgl. über diese vielumstrittene Inschrift Dölger, IX&YC, Rom 1910, 
p. 87—113/ Eisler, Orpheus •— the Fisher, London 1914, ch. XXXIV. 

® Der Text, der sich jetzt in einer byzantinischen Schrift über eine fingierte 
Religionsdisputation zwischen Rabbinern und christlichen Bischöfen am Hofe des 
Perserkönigs befindet, hat eine lange und merkwürdige Geschichte hinter sich. Es 





Der Fisdi als Sexualsymbol 


187 


durdi die oben erörterte Märdiengruppe und die daraus zu er^ 
schließende euphemistisch-metaphorisdieBezeichnung:derEmpfängnis 
als eines Fischfanges aufgeklärt werden. 

Diese Symbolik des Fischens ist sehr deutlich in einem Hoch¬ 
zeitsbrauch, den das altindische Ritualbuch Bandhäyana Grhyasütra 
I 13^ überliefert: das neuvermählte Brautpaar watet bis zum Knie 
in das Wasser des nächsten Flusses und traditet mit einem neuen 
Gewände <väsasä>^ dessen Saum der aufgehenden Sonne^ zuge^ 
wendet ist, ein paar Fische zu fangen. Dabei fragen sie einen 
Brahmagärin »was siehst Du?« Der antwortet: »Söhne und Vieh«^. 
Wenn sie viele Fische gefangen haben, so gilt das als eine Vor^ 
bedeutung reichen Kindersegens. Es gibt auch eine Variante dieses 
Hochzeitsbrauches bei der in einem Wasserbecken ein künstlicher 
Fisch in Bewegung erhalten wird, auf den die Braut einen Pfeil 
abschießen muß. In der Tat wurden und werden ja Fische nicht nur 
gefangen, sondern auch mit SchießwafFen erlegt®. Derselbe Brauch, 
mit Pfeil und Bogen auf einen goldenen Fisdi zu schießen, kommt 
auch in dem indischen Heldenepos Mahäbhärata I ISSo ff. als Hoch^ 
Zeitsprüfung vor. 

In Südindien kommt eine etwas abgeblaßte Form desselben 
Ritus vor: ein Ring wird in einen tiefen Wasserkübel geworfen und 


scfieint, daß ein Brudistüd^ aus einem Kybelemysterium in dramatischer Form — 
solche Aufführungen sind durch die Kirchenväter bezeugt — eine symbolische 
Fassung des Mythus von der Empfängnis und der Geburt des Götterkindes 
darbot, die ihrerseits von einer altbabylonischen Legende beeinflußt ist,- daß dieses 
Bruchstück dann zuerst in einem <jüdischen?> Alexanderroman als Allegorie auf die 
wunderbare Geburt Alexanders d. Gr. gedeutet, später aber in Bethlehem mit der 
Empfängnis Jesu und der Geschidite von den Magiern in Zusammenhang gebracht 
worden ist. Vgl. Eisler, 1. c., ch. XXXV, wo auch die ältere Literatur ange¬ 
geben ist. 

^ Zachariae, Wiener Zeitschrift für Kunde des Morgenlandes XVIII, 
1904, p. 299/ Pischel, Sitzungsberichte der Berliner Akademie der Wissen¬ 
schaften 1905, p. 530/ Baldäus, Abgötterei der indischen Heiden in »Beschreibung 
der ostindischen Küsten«, Amsterdam 1672. D'Penha, Indian Antiquary XXV 144/ 
Chettur, Calcutta Review CXIII, 1901, p. 221 flF. 

2 Wirkliche Fische fängt man natürlich nicht »im Gewand«. Hier bietet der 
Ritus eine ähnliche scheinbar sinnlose Gedankenverbindung, wie sie im Traum so 
häufig sind. Der Mythus hat denselben Zug: vgl. Hahn Nr. 8, wo der »halbe 
Mensch« »durch Draufwerfen seines Zottenmantels« den wundertätigen Fisch im 
Gewände fängt. 

® Vgl. oben p. 174, Anm. 2, über die befruchtende Kraft der Sonne. 

^ Zu diesem zweiten Teil der Antwort vgl. oben p. 178, Anm. 2, u. p. 179, 
die befruchtende Wirkung, die der »Fisch« audi auf das Vieh ausübt. 

^ De laFlotte, essays historiques sur TJnde, Paris 1769, p. 299 bis 301,* 
Zachariae, 1. c. 

® Vgl. Schomburgks Bericht über den von den Eingeborenen Guyanas 
mit Pfeil und Bogen ebenso wie mit der Angel verfolgten Riesenfisch Arapaima 
gigas in dem betreffenden Abschnitt von Brehms Tierleben. Als Untergymnasiast 
habe ich noch auf dem Millstättcrsee Hechte mit der Schrotflintc schießen gesehen 
und eines der letzten Hefte des »Country Life« <vol. XXXV, p. 359> bringt eine 
Photographie von montenegrinischen Büchsenschützen auf der Fischjagd. 

^ K. Graul, Reise nach Ostindien, IV, p. 173. 





188 


Robert Eisler 


die Braut muß dieses Symbol des ehelidien Bandes wieder heraus^ 
fischen 

In England pflegte man früher ^ einen Milcheimer mit soge¬ 
nanntem sillahuhj einer Art Milchpunsch aus Milch, Wein oder ObsN 
wein und Zucker, zu füllen und d^n Brautring hineinzuwerfen, den 
dann die Braut wieder herausfischen mußte. 

In einer besonders merkwürdigen Weise hat sich der Ritus 
als Volksbrauch in Neapel erhalten. Zu Maria Geburt feiern bis 
auf den heutigen Tag die Nachkommen der alten Fischer^ und 
SchiflFersippen von S. Lucia ein besonderes Fest auf dem Kai von 
S. Lucia Nuova. Jeder Fremde, der an diesem Tage ahnungslos 
über den genannten Strandweg schlendert, wird unter großem Halloh 
ins Meer geworfen — das natürlich dort ziemlich seicht ist^. Die 
einheimischen jungen Leute kommen alle in Masken aus Papier und 
anderen billigen Stoffen, unter denen sie Schwimmhosen anhaben, 
und springen mit diesem Staat, der dann im Wasser zurückbleibt, 
ins Meer. Ursprünglich — d. h. bis zur Mitte des neunzehnten 
Jahrhunderts — war das Fest eine gemeinsame Feier der jungen 
Leute, die im Begriffe waren sich zu verloben. Diese pflegten damals 
neue Kleider anzulegen — von diesem Brauch des »incignarsi« 
kommt der übliche Namen des Festes »la nzegna« — und sich am 
Strand aufzustellen, wo ihnen die künftigen Bräute den Verlobungs¬ 
ring in kühnem Schwung ins Meer warfen. Die Burschen hatten 
dann eilends nachzuspringen und jeder seinen Ring herauszu¬ 
fischen, beziehungsweise vom Meeresgrund emporzuholen. Ging 
der Ring verloren, d. h. mißlang das »Fischen«, so galt das 
als böses Vorzeichen und die betreffende Verlobung ging in die 
Brüche^. 

Dieses Fischen nach dem Brautring muß eine außerordentlich 
verbreitete Sitte gewesen sein, da es in allen romanischen Ländern 
zahlreiche Volkslieder^ gibt, die das Motiv behandeln. An Schillers 
»Taucher«, der dem Ring des Königs nachspringt, um sich die Hand 
der Prinzessin zu erringen, braucht kaum eigens erinnert zu werden 
Wichtiger ist der von mir versuchte Nachweis®, daß auch bei der 
berühmten alljährlichen Hochzeit des Dogen von Venedig mit dem 
Meer der ins Wasser geworfene Ring in früherer Zeit wieder auf¬ 
gefischt wurde, und daß gerade dieser Zug für die Zeremonie — 


^ Vgl. G. Salzberger, die Salomosage, Berlin 1907, p. 128 über ein 
koptisches Märchen, in dem der Ring als Liebeszauber in den Becher der Königin 
geworfen wird. 

2 F. T. Thiselton Dyer, Populär Customs in England etc-, p. 257. 

® Über den Sinn dieses Brauches s. E i s 1 e r, Orpheus — the Fisher, Kap. LXIV. 

^ Vgl. die '»Domenica del Corriere«. Mailand 13. Sept. 1908. (Die beigegebene 
Abbildung 18 ist mit freundlicher Erlaubnis des Direktors Signor AttÜio Centelli 
aus dieser Nummer der »Domenica« entnommen.) 

* Moriz Haupt, Franzos. Volkslieder, Leipzig 1877, p. 29 und 78. 
»Melusine« Jahrgang II, p 5/ III, p. 37 und 70 etc. etc. 

® Vgl. die Literatur bei Eisler, Orpheus, a. a. O- 





Der Fisch als Scxualsymbol 


189 


die audi im alten Samos üblidi war und dort die Sage vom Poly- 
kratesring erzeugt hat — wesentlich war. 

Natürlich hängt es auch mit der Sexualsymbolik des »Fischens« 
zusammen, wenn die jüdischen Spaniolen^ die Braut über ein mit 
Fischen gefülltes Netz ^ hinweg die Schwelle ihres künftigen Hauses 
überschreiten lassen. 

Sehr wahrscheinlich liegt ferner der oben S. 185 erörterte Ver^ 
gleich der Braut mit einem Netz, beziehungsweise einer Fischreuse 
und der zugehörige Konzeptionszauber des Spinnens und Netzens 
gewissen orphischen Mysterienlehren zugrunde, in denen das mensch¬ 
liche Sperma dem gesponnenen Faden ^ die Entstehung der Lebe- 



Fig. 19. Fischer, unter dem Schutz einer ithyphallischen Gottheit fischend. 
Rotfiguriges Vasenbild im k. k. Museum für Kunst und Industrie in Wien. 


wesen aber dem Strichen eines Netzes oder dem Flechten einer 
Fischreuse verglichen wurde>. 

Daß der Gott Priap den Alten als Patron der Fischer galt^ 

^ Wiener Zeitschrift f. Kunde des Morgenlandes, XX, 292 ff. 

2 Vgl. oben S. 185, Fig. 15. 

3 fxtTog = ojisQfjia, »Orpheus« bei Clemens Alex, ström, V, 236 f. In 
Theben gab es in den Mysterien der Kabiren auch einen Kult des personifizierten 
Mtxog vgl. Kern, y>Hermes<^ XXV 1890, p. 1 bis 16. Vgl. hiezu und zum 
folgenden Eisler, Weltenmantel p. 242 f. Die Gleichung Sperma^Faden findet 
sich auch an einer berühmten Stelle des Atharva Veda X, 2 i 7 <Scherman, p. 43> 
»Wer legte in ihn <sc. den Menschen) den Samen, damit der Faden <= Lebens^ 
faden der Generationen) fortgewoben würde?« 

^ Vgl. über die verlorene Schrift »Diktyon« <= «Netz«) des Orphikers 
Brontin Eisler, I. c., p. 242, Anm. 2. Dazu Platos Timams, eine ganz auf pytha- 
goräische Einflüsse zurückweisende Schrift <p. 1079), wo das Adernetz eines Lebe-^ 
Wesens dem Geflecht einer Fischreuse verglichen wird und Aristoteles, de 
, generatione animalium II 1, 613 c; fj ydp JiävTa ylyvexm rä ßÖQia iq)s^fjg &ö 7Z8Q 
iv xolg xa?^ovi.ievotg ’Opgptxotg iiceöiv ixec ydp öf^ioCcog <f r)al ytyveo'd'ai tö ^6)ov 
%%) Tov ÖLTiTvov nkoxf), Photius »Bibliothek« CLXXXV, p. 226, erwähnt ein 
verlorenes Buch des Dionysios Aegaensis über die Entstehung der Menschen mit 
dem Titel AiKTvaxd, 

5 Anthol. Pal. VI, 33,89,* X, 8,9,- Usener, der hl.Tychon, Leipzig 1907,p.28*. 










190 


Robert Eisler 


und tatsädilidi ein attisches Vasenbild im österreichischen Museum 
für Kunst und Industrie <Fig. 19) arbeitende Fischer unter dem Schutz 
eines ithyphallischen Gottes^ z^igt, wird wohl auch hieher gehören. 

Endlich findet sich unter den Wandgemälden der versdiütteten 
Städte Campaniens etwa zehnmal^ — darunter bezeichnenderweise 
einmal an der Wand des Lupanars — die offenbar sehr beliebte Dar¬ 
stellung eines mit Beihilfe des Liebesgottes Fische fangenden 
Mädchens^. Der Gegenstand wird am besten mit dem bei dem 
Redner Alkiphron^ bezeugten Ausdruck »Liebesfischen« (igcotixr] 
äyQa) bezeichnet. Der zugrunde liegende Gedanke aber ist nirgends 
anschaulicher und reizender zur Darstellung gekommen als in Mörikes 
wunderschönem, vielleicht auf irgendein unbekanntes Volkslied zu¬ 
rückweisenden Gedicht 

Erstes Liebeslied eines Mädchens^ <1834): 

»Was im Netze?*^ Schau einmal! 

Aber ich bin bange: 

Greif ich einen süßen Aal? 

Greif ich eine Schlange?^ 

Lieb ist blinde 

Fischerin, 

Sagt dem Kinde, 

Wo greiffs hin? 

Schon schnellt mirs in Händen! 

Ach Jammer, o Lust! 

Mit Schmiegen und Wenden 

Mir schlüpft's an die Brust. 

Es beißt sich, o Wunder! 

Mir keck durch die Haut®, 

Schießfs Herze hinunter! 

O Liebe, mir graut! 

1 Nach Robert v. Schneider, arch.^epigr. Mitt. a. österr.^Ung. 1879, 
p. 642 , ist es Hermes, nach Eisler, Orpheus c. XXXVII aber Dionysos Halieus 
= »der Fischer«. 

2 Hel big, Wandgem. Nr. 346 bis 355. 

3 Museo Borbonico IV, 4,. Gell II, 42, II, 94,. III, 26,. p. 109, Z. 18. Zahn, 
I 20," Panofka, Bilder antiken Lebens I 84 ,. Fiorelli, Pompeian antiquities III, 
p. 58. Bull. Nap. VI, p. 169,. Jahn, Ardi. Beiträge, p. 214,. Ternite, Sdilußheft 4, 
p. 198,. Bull. ist. 1847, p. 131,. archaeol. Zeit. 1847, p. 142. <Fig. 20.) 

^ Or. III, fr. 6 , p. 96, Z. 24. Der Verfasser verdankt die Stelle einem 
frdl. Hinweis von Geheimrat Prof. O. Crusius. 

^ Ich verdanke den Hinweis auf das bereits zweimal <ZentralbIatt f. Psycho^ 
analyse I, 1910/11, S. 611 und Jahrbuch f. Ps.^A. III, 1911, S. 126) psycho^ 
analytisch herangezogene Gedicht Herrn Dr. Emil Lorenz in Klagenfurt. 

6 Vgl. oben SS. 185 u. 189, Anm. 2. 

^ Vgl. oben p. 167 über Fisch und Schlange. Dazu das 40. Fragm, der Sappho, 
wo Eros als »bittersüßes unwiderstehliches Kriechtier« bezeichnet wird. Hier ist bei 
der Schlange natürlich die Nebenbedeutung der Falschheit maßgebend. 

® Vgl. oben p. 167, Anm. 2, die folkloristischen Zeugnisse für die Symbolik 
des Schlangenbisses. 





Der Fisdi als Sexualsymbol 


191 


Was tun, was beginnen? 
Das schaurige Ding, 

Es schnalzet da drinnen. 
Es legt sich im Ring. 

Gift muß ich haben! 

Hier schleicht es herum. 
Tut wonniglidi graben 
Und bringt midi noch um! 


Hier rührt jedes Wort mit einer Zartheit^ und Tiefe der sinn¬ 
lichen Anspielung, wie sie nur den ganz großen Lyrikern gegeben 
ist — ohne daß dem 
Dichter oder dem un¬ 
befangenen Leser das 
Wieso zum Bewußt¬ 
sein kommt — an 
F äden, die das mannig¬ 
fachste und vielfältigste 
Spiel unterbewußter 
erotischer Vorstellung 
gen anklingen lassen. 

Im großen und 
ganzen sind diese Vor^ 
stellungs»fransen« 

<»fringes«,wieWilliam 
James es ausgedrückt 
hätte) für den Leser 
des vorangeschickten 
ohne weiteres er¬ 
faßbar. 

Nur zu den Zei¬ 
len »Ach Jammer, o 
Lust, mit Schmiegen 
und Wenden mir 
schlüpfts an die 
Brust« und zu den 
Schlußversen lassen 
sich noch weitere lehr¬ 
reiche Parallelen anfügen: Zunächst eine Darstellung des Mythus 
von Apollon und der <Baumnymphe> Dryope bei Antoninus Libe- 
ralis, Mythograph. Graeci II 1, c. 32, wo der Autor — nach einer 
hellenistischen Quelle — beschreibt, wie sich Apollon dem geliebten 
Mädchen in Gestalt einer Schildkröte*^ naht. Die Nymphe drückt 



Fig. 20. Das Liebesfisdien. Pompeianisdies Wand¬ 
gemälde. 


' Als Gegensatz sei auf die bekannte, schon von Freud gelegentlich heran¬ 
gezogene obszöne Verballhornung des Couplets »Fischerin, du kleine« etc. hin¬ 
gewiesen. 

2 Die Schildkröte war bei den Alten ein Symbol der Aphrodite,- Plutarch, 
de Iside et Osiride 75. Eine nackte Aphrodite, auf der Schildkröte stehend, als 















192 


Robert Eisler 


das harmlose Tier spielend an ihren Busen. Augenblicklich ver¬ 
wandelt sich der Gott in eine Schlange, gleitet in den Kokjtog 
der Jungfrau hinab »Kai ovvcog ^AjtoXXcov ÄQvojtrj jjclyvvTat«, 

Die Verbindung des Schlangensymbols mit clem KÖXjtog ist 
hier tief begründet. Bekanntlich ^ hieß die Schlange, die bei gewissen 
dionysischen und wahrscheinlich auch bei den eleusinischen Weihen 
dem Mysten zum Zeichen der vollzogenen geschlechtlichen Ver^ 
einigung mit dem Gott durch den Schoß gezogen wurde »6 deä 
Ko^ov 'd'8Ög\< Clemens Alexandrinus erklärt <Protrept. II 16) das 
avfjißoXov der Einweihung in die Sabaziosmysterien ^ folgendermaßen: 
6 öiä KoXjtcov d'sog* * dgaxeov ös ioti xal ovvog ötsXKOfisvog tov 
koXjvov x(bv vsXovf^svcov«, Ebenso sagt Arnobius V 21: »aureus^ 
coluber in sinum dimittitur consecratis et eximitur rursus 
ab inferioribus partibus atque imis.» Dazu stimmt noch Firmicus 
Maternus, de err. prof. rel. c. 10 »Sabazium colentes Jovem 
anguem, cum initiantur, per sinum ducunt«. Im orphischen 
Hymnus LII 11 auf den Bakchos 'VQiSftrjQiKÖg wird dieser als »vjto- 
K6X:raog« angerufen. Endlich sagt Lucian, wo er die schamlose Nach¬ 
ahmung eines IsQÖg ydjbiog in den Kultvorführungen des Alexander 
von Abounoteichos erzählt <c. 39), wenn nicht so viele Fächeln ge^ 
brannt hätten »Tcix^ äv ti xal tcov vjtö koXjzov 

Im eleusinisAen Mysterienkult scheint die Verführung der 
Göttin durch den Gott, der sie zuerst in Gestalt einer Schlange 
liebkost, dramatisch dargestellt worden zu sein^. Leider sind bei dem 
Dichter Nonnos ^ geraefe hinter dem Vers 

»Kai yafjiiatg ysvvsaaov ösixag Xv/jtä^ei;o KOVQi]g fj.siXtxog^^ 

ein paar Verse — wie in der neuesten Ko ec h ly sehen Ausgabe auch 
richtig bemerkt ist — ausgefallen, d. h. durch irgendeinen mönchi^ 
sehen Abschreiber in einem byzantinischen Kloster getilgt worden. 
Die Tatsache eines solchen Kultbrauches scheint aber für Eleusis 
genügend durch die entrüstete Tirade des Tatian"^ 


bronzener Spiegelgriff, Ephemeris ardiaiol. 1895, S. 170,* Gerhard, Akad. Ab¬ 
handlungen T. XXIX 3/ Curtius, Sitzungsber. Berl. Akad. Wissensch. 1869, 
p. 475/ Farnell, Cults of Greek States vol. II, p. 674a. 

^ Vgl. Dieterich, Mithrasliturgie p. 123 f. 

2 Ein besonders altertümlicher, in die Zeit vor Einführung des Weines aus 
dem semitischen Orient zurückreichender Kult eines thrakischen Bier^Dionysos 
<illyr. sabaium = Bier, ital. zabbajone = Eierpunsch. Vgl. Jane E. Harri so n, 
Prolegomena to the Study of Greek Religion, Cambridge 1906/ Eisler, Welten¬ 
mantel 124). 

* Vgl. oben SS. 184, Anm. 6 und 179, Z. 1 den goldenen Fisch. 

Die Zeugnisse, zu denen noch das Scholion zum Gorgias des Platon 
p. 497 c zu fügen ist, bei Eisler, Weltenmantel u. Himmelszelt SS. 121 bis 127. 

^ Dionys., VI 163 f. 

® scil. Zeus Meilichios, der in Schlangengestalt den Leib des Mädchens 
brünstig beleckt. 

^ Oratio adv. Graecos, Kap. 6, p. 251. 





Der Fisdi als Sexualsymbol 


193 


»Zsvg 'd^yatgl avyyivstac Kai f] 'd^ydtriQ (Lt’ airov kvsl 
/,iaQTVQi]a€t fjioi ""Eksvaig xai doaxcov ö fivaviKog ktX.« 
bezeugt zu sein. 

Mit den Sdilußzeilen des Mörikeschen Lieddiens vergleidie man 
endlich folgende Schilderung in Freuds »Traumdeutung«:^ 

»Ein Konsilium im Vorjahre führte mich zu einem intelligent 
und unbefangen blickenden Mädchen. Ihr Aufzug ist befremdend/ 
wo doch sonst die Kleidung des Weibes bis in die letzte Falte be^ 
seelt ist, trägt sie einen Strumpf herabhängend und zwei Knöpfe 
der Bluse offen. Sie klagt über Schmerzen in einem Beine und 
entblößt unaufgefordert eine Wade. Ihre Hauptklage aber lautet 
wörtlich: Sie hat ein Gefühl im Leibe, als ob etwas darin stecken 
würde, was sich hin und her bewegt und sie durch und durch er¬ 
schüttert. Manchmal wird ihr dabei der ganze Leib wie steif Mein 
mitanwesender Kollege sieht mich dabei an,* er findet die Klage nicht 
mißverständlich. Merkwürdig erscheint uns beiden, daß die Mutter 
der Kranken sich dabei nichts denkt/ sie muß sich ja wiederholt in 
der Situation befunden haben, welche ihr Kind beschreibt. Das 
Mädchen selbst hat keine Ahnung von dem Belang ihrer 
Rede, sonst würde sie dieselbe nicht im Munde führen. 
Hier ist es gelungen, die Zensur so abzublenden, daß eine 
sonst im Vorbewußten verbleibende Phantasie wie harmlos 
in der Maske einer Klage zum Bewußtsein zugelassen wird. 

Zusatz der Redaktion: 

Modernes Bildmaterial zur phallischen Symbolik des Fisches 
bieten die drei Ergänzungsbände von Ed. Fuchs' »Illustrierte 
Sittengeschichte« (Privatdrudce bei Albert Langen, München). Band 
»Renaissance« Bild Nr. 86: »Die Liebeskranke« von Jan Steen: 
Der eben eingetretene Arzt befühlt mit ernster Miene den Puls der 
sitzenden »Liebeskranken«, hinter der ein junger Bursche steht und 
lachend einen Fisch mit zwei Fingern in die Höhe hält. Eine 
Klavierspielende belächelt die Szene und im Hintergrund empfängt 
ein — offenbar nicht liebeskrankes — Mädchen ihren Liebhaber in 
der Türe. 

Zu der Darstellung bemerkt Fuchs <1. c., p. 93): »Die 
Geste <mit dem Fisch) hat einen erotischen Sinn,* die Redensarten 
,man muß den Fisch in die Reusen^ tun'^ oder ,ihr hungert nach 
Liebe wie der Reuse nach dem Fisch' erklären diesen Sinn hin¬ 
länglich. Einer Frau in dieser Weise einen Fisch zu demonstrieren, 

^ 3. Aufl., Wien^Leipzig 1911, p. 412. 

2 Vgl. o. S. 185. 

3 Vgl. dazu im Ergänzungsband »Das bürgerliche Zeitalter« Nr. 225: 
»Wollen Sie ihn gefälligst rein besorgen?« — Ein Mann, der einen Fisdi gekauft 
hat und ihn unzweideutig schmunzelnd mit diesen Worten von der Verkäuferin 
ins Netz befördern läßt. 


Imago III/Z 


13 





194 


O. Rank 


war darum die deutlichste Form dafür, um welche Art Gunst man 
bei ihr buhlt. Die gleichzeitige Vorweisung von Knoblauch <wie auf 
Nr. 92 desselben Bandes ,Der symbolisdie Liebesantrag' von Jan 
Steen, wo die zwei mit der anderen Hand unter den Fisch ge¬ 
haltenen Zwiebel die Testikel symbolisieren) hat natürlich auch einen 
erotischen Sinn: der Mann verspricht damit, ein unermüdlicher Lieb¬ 
haber zu sein, denn Knoblauch, Sellerie und SpargeF gehören von 
jeher zu den populärsten Stimulanzmitteln. Auch dieses Thema war 
ein Lieblingsmotiv Jan Steens. Vgl. auch die Beilage ,Verliebte 
Unterhandlung'.« ^ 

Den in der Fußnote angeführten symbolischen Darstellungen 
des vom Weibe betasteten Phallus reiht sich ein »symbolisch^ 
erotischer Kupferstich von B. Debucourt ,Je Tai pris!'« an <Er- 
gänzungsband »Galante Zeit« zu p. 225): Im Fond eines Kahnes 
liegt ein Liebespaar in zärtlicher Umarmung, während im Vorder¬ 
teil des Bootes ein stehender Mann angelt. Der exklamatorische 
Titel des Bildes bezieht sich darauf, daß im gleichen Augenblick, 
in dem der Angler einen Fisch halb aus dem Wasser gezogen 
hat, das Mädchen den völlig fischgestalteten Phallus ihres Lieb¬ 
habers mit der Hand halb aus dessen Hose herausgezogen hat. 
Ein ähnliches Motiv behandelt Nr. 128 (desselben Bandes) »Le 
jeu de TAnguille« ein anonymer französischer Kupferstich^ der den 
Liebhaber in zärtlicher Stellung mit der Frau zeigt, während der 
Mann zum Fenster hinausschaut. Der Liebhaber hält ihr einen Aal 
unter die aufgehobenen Röcke, während sie den symbolisch ange¬ 
deuteten Hodensack mit der Hand liebkost: 

»Je vois que l'anguille va droit 
Se cadier en certain endroit . . .« 

Ähnlich ein »erotisches Stammbuchblatt« aus dem siebzehnten 
Jahrhundert <»Renaissance«, Nr. 218): Ein Angler, der einen Fisch 
hält, und eine Frau, die nach der Angelrute greift,- Spruch: 

»Jungfraw sol ich fischen in eur weigriein. 

Wer ein freude dem hertzen mein. 

Zu Schlaf ist euer angelrut, 

Darzu ist auch das aß nicht gut.« 


^ SpargeUPhalloi <o. S. 165) zeigen unter anderem die Abbildungen Nr. 305 
und 345 im Ergänzungsband »Das bürgerliche Zeitalter«. 

2 Dieser Stich von van Haeften (Ergänzungsband »Renaissance« z. p. 272> 
zeigt eine Gemüse zurichtende Frau, der ein Mann seine Liebe erklärt und die 
zum Zeichen ihres Einverständnisses einen langen, dicken, am Ende dicht be-» 
wurzelten Meerrettigstrunk fest umklammert. — Derartige Darstellungen waren über¬ 
haupt in symbolischer Einkleidung sehr beliebt. Man vgl. z. B. noch das berühmte 
Gemälde »Le Prelude«, das Fran9ois Boucher im Auftrag Ludwig XV. für das 
Boudoir der Pompadour malte (»Galante Zeit« zu p. 40>. Im Vordergrund ein 
Paar, das sich gegenseitig die Genitalien betastet und im Hintergründe eine 
Spinnerin (vgl. o. S. 186, Anm. 4, Fig. 17), die den oberen, senkrecht stehenden Teil des 
Rockens ebenso umklammert hält wie die andere den Penis (vgl. weiter oben im Text). 





Der Fisdi als Sexualsymbol in modernen Bildwerken 


195 


Die letztgenannten Beispiele scheinen darauf hinzuweisen, daß 
die — im Eingang dieser Arbeit erwähnten — Tastqualitäten bei 
der Vergleichung des Fisches mit dem Phallus neben der Formen¬ 
ähnlichkeit eine ausschlaggebende Rolle spielen. 

Andere erotische, auf Trinkgläsern eingeschliffene Bilderscherze 
aus dem achtzehnten Jahrhundert <Germ. Museum, Nürnberg) zeigen 
gleichfalls die Verwendung der phallischen Fisch- [und VogeU] Symbolik 
<Ergänzungsband »Galante Zeit«, Nr. 160, 161) in einer den 
antiken Beispielen angenäherten simplen Form. 

»Das vielleicht bezeichnendste Beispiel, wie man es fertig 
brachte, selbst ganz abseits liegenden Gegenständen eine erotische 
Pointe einzufügen, zeigt die Darstellung eines im Februar 1598 bei 
Katwyk in Holland gestrandeten Riesenwalfisches. Der Zeichner gibt 
das Bild dieses Fisches in der Weise, daß dem Beschauer unbedingt 
das riesige Membrum des Tieres zuerst ins Auge fallen muß. 
Dieser Körperteil ist vom Künstler mehr als jeder andere pointiert, 
er dient einem Neugierigen als Stützpunkt, um auf den Rücken des 
Tieres zu klettern, während ein zweiter damit beschäftigt ist, in 
Gegenwart eines Mannes und einer Frau mit einem Maßstab die 
Dimensionen des riesigen Membrums festzustellen <Bild 213>.« 
Fuchs <Ergänzungsband »Renaissance«, p. 318). 

Hierhergehöriges Material bietet ferner das Werk »Die Weiber^ 
herrschaft in der Geschichte der Menschheit« von Fuchs und Kind. 
Bd. I, Nr. 103 »Ausgelegte Angeln«, Zeichnung von Heinrich 
Ramberg <1800), wozu Kind <S. 173) bemerkt: »Die Putten und 
Frösche, die hier aus dem Teich gezogen werden .... sind Liebes^ 
götter, wie sie schon die römische Kaiserzeit zum Verkauf stellte,- 
leise ist auch die Storchfabel hineingemengt«. — Ferner Nr. 469 
»Vorspiel zum Auslegen des Netzes«. Gemälde von A. Lejeune 
<1855); Eine Dame am Strand, die sich zum Krabbenfang rüstet,- 
den Rock hat sie hochgeschürzt, einen Fuß bereits entblößt, das 
andere Bein, bis hoch übers Knie sichtbar, ist sie im Begriffe zu 
entkleiden. Das »Vorspiel« war, wie Kind bemerkt, »ein neu ent¬ 
decktes Nebenmotiv für das ewige Hauptmotiv: die Schönheit des 
Fußes«. Der Anblick des Bildes und sein Vergleich mit ähnlichen 
Darstellungen lassen keinen Zweifel daran zu, daß es sich um ein 
»Vorspiel« zum Auslegen (zeigen) der Vagina (Netz) handelt. — 
Endlich noch Nr. 301 »Angebissen«, Radierung von A. Sommer 
(1885): Eine Dame, die an einer über die Schulter herabhängenden 
Angel ein Männlein als Beute fortträgt. 

Weiteres folkloristisches und besonders sprachsymbolisches Ma¬ 
terial zur Fischsymbolik findet sich in den (10) bisher erschienenen 
Bänden der von F. S. Krauss herausgegebenen »Anthropophyteia- 
Jahrbüchern« und den (VI) »Beiwerken« dazu. 

Zu der, besonders im Märchen, häufigen Befruchtung durch 
Essen eines Fisches vgl. man die reiche Literatur in der Neu^ 
bearbeitung der »Anmerkungen zu den Grimm'schen Märchen« von 


13 




196 


O, Rank 


Bolte und Polivka (Leipzig 1913), Bd. I, S. 544 f. — Über den 
Fisdi als Fruditbarkeitssymbol handeln Kunike (Anthropos VII, 
1912) und Scheftelowitz; Das stellvertretende Huhnopfer <Relig. 
Gesdi, Vers. XIV, 3, 1914, S. 12 f.). 

Zur kultischen Bedeutung ist auch zu vergleichen das Kapitel 
»Fisch« in Storfers Buch »Marias jungfräuliche Mutterschaft«. 
Ein völkerpsychologisches Fragment über Sexualsymbolik (Berlin 
1914, H. Barsdorf). 

® * 

* 

Zu dem S. 194 angeführten Vers 

»Jungfraw, sol ich fischen in eur weigriein« 

verweist Dr. Charles Wharton Stork, Anglist an der Pennsylvania 
University, freiindlichst auf Shakespeares ,Measure for Measure' 
Akt I, Szene II, Auftritt III (in der Schlegel-Tieckschen Übersetzung 
nicht ganz verstanden): 

Clown.: yonder man is carried to prison. 

Bawd.: Well, what has he done? 

Clo.: A woman 
Bawd.: But what's his offence? 

Clo.: Groping for dronts^ in a pecidiar Hver 
Bawd.: ^Vhat, is ihere a maid with cliild hy kimf 


^ Vgl. o. S. 179 die Forelle ini Traum der Jarlsfrau. 









Der sexuelle Anteil an der Theologie der Mormonen 


197 


Der sexuelle Anteil an der Theologie der 
Mormonen, 

Von THEODORE SCHROEDER <Ncw*york>. 

I n dieser Abhandlung beabsichtige ich, einige von den das Mor¬ 
monentum betreffenden Tatsachen wiederzugeben, die mich zu 
einer erotogenetischen Betrachtungsweise der Religion geführt 
haben. Ich schicke zunächst eine skizzenhafte Information über den 
Charakter der Auferstehungsbewegung voraus, im Verlauf welcher 
sich die mormonische Theologie entwickelte, hierauf werde ich von 
dieser selbst einen Abriß geben und endlich ihre Beziehung zur 
erotogenetischen Theorie aufzeigen. 

Die Auferstehungsbewegung in Kirtland. 

Das streng eroterische Mormonentum ist herausgewachsen aus 
dem Brauch und der Übung der Polygamie und mit dieser eng 
verflochten. Die Mormonenreligion entstand im Jahre 1813 in oder 
bei Kirtland <Ohio>, wo innerhalb der Kirche eine ungewöhnliche 
religiöse Erregung die Gemüter ergriffen hatte. Diese Auferstehungs¬ 
bewegung war hauptsächlich das Werk von Sidney Rigdon, einem 
in diesen Dingen erfahrenen und außerordentlich enthusiastischen 
Manne, der einer der Gründer der »Christian« oder »Campbellite« 
Kirche gewesen war und zur Zeit seiner Konversion zum Mormonen¬ 
tum als einer von dessen populärsten Predigern galt. Seine Art, den 
allgemeinen Enthusiasmus zu schüren, war die von den berufs¬ 
mäßigen Auferstehungsmännern <revivalist> gewöhnlich angewandte. 

Zurzeit als die Mormonen im Begriffe waren, an den heiligen 
Sakramenten teilzunehmen, schlossen sie Fenster und Türen und 
führten Szenen auf, weldie dem Benehmen von Wahnsinnigen 
glichen. »Viele ,falsche' Geister wurden eingeführt, viele sonderbare 
Erscheinungen wahrgenommen«, unter ihnen Martin Harris' Vision 
des Teufels, der »aussah wie ein Esel und Haare gleich einer Maus 
hatte«. Zur nächtlichen Geisterstunde konnte man junge Männer 
über Felder und Hügel laufen sehen, gefolgt, wie sie sagten, von 
feurigen Ballen, Lichtern etc. — »Black Pete«, ein schwarzer <Neger-> 
Konvertite der neuen Religion, wurde einer Offenbarung teilhaftig: 
einer Schar, geführt von schwarzen Engeln mit struppigem Haar, 
die ihm nachjagte, um sich einen Schatz zu verschaffen. In seiner 
wahnsinnigen Betörtheit vollkommen blind für die Umgebung, rannte 
er über den Rand eines Abgrundes hinaus und fiel über die Äste 
eines Baumes in den Chagrinfluß. 

Diese Anfälle von ansteckender Begeisterung traten regelmäßig 
nach gemeinsamen Andachtsübungen auf, die meist jeden Abend 
stattfanden. Die Fähigkeit der Wunder und die Kraft des heiligen 
Geistes wurde dem Handauflegen zugeschrieben und dieses war 




198 


Theodore Sdiroeder 


gefolgt von den sonderbarsten Wirkungen. Manche fielen unter dem 
Tor hin und blieben dort einige Zeit scheinbar leblos liegen/ zu¬ 
weilen riefen sie auch, daß der Geist Gottes sie zu Boden geschlagen 
hätte, um sie auf diese Weise durch eine neue und wunderbare 
Form des Todes zu führen, welche ihnen Unsterblichkeit verlieh. 
Jünglinge und Mädchen, die wahrscheinlich infolge von Abstinenz 
ein unnatürliches Sexualleben führten — abgesehen von den nervösen 
Störungen, welche die Pubertät als solche mit sich bringt, — waren 
zum größten Teil die Opfer solcher Delirien. Solche junge Menschen 
zeigten die sonderbarsten Nachahmungshandlungen, die man sidi 
denken kann, indem sie lächerliche Grimassen schnitten, auf allen 
Vieren krochen, sich auf dem gefrorenen Erdboden wälzten, ver¬ 
schiedenes von Indianern auf dem Kriegspfad Geübtes nachahmten, 
wie Niederschlagen, Skalpieren, Aufreißen und Zerfleischen der 
Eingeweide. Anderemale liefen sie über die Felder, sprangen über 
Wurzeln und Bäume, indem sie einer eingebildeten Versammlung 
predigten, oder sie stiegen ins Wasser und nahmen die Taufe 
und andere Zeremonien vor. Viele sollen Anfälle mit Kauderwelsch- 
reden gehabt haben, was »Zungensprache« genannt wird. Die 
Versammlungen wurden meist unterbrochen durch das Jauchzen 
einiger verzückter Brüder, die plötzlich vom heiligen Geist besessen 
schienen. 

Einige litten an der Halluzination, daß sie Engel zu sehen 
glaubten, andere empfingen Briefe vom Himmel, noch andere sahen 
das Gesicht des Heilands. Einer von den Irren wirkte erheiternd, 
da er zu versuchen schien, durch die Zimmerdecke zu springen, 
indem er die Ankunft »der Feinde des Himmels und der Reiter« 
verkündete. Beinahe wären neue Propheten entstanden, von denen 
jeder nach Offenbarungen trachtete, indem er Wunder verrichtete, 
und oft stritten sie über die Echtheit von Smiths Prophetentum. 

Es bestand die Gefahr, daß die ganze Mormonengemeinschaft 
von dieser Gemütstollheit angestedct würde und dies veranlaßte 
den Propheten zur Verlautbarung einer Offenbarung, in welcher Gott 
über all diese Exzesse seine Mißbilligung aussprach. 

Die Entwicklung des Sensualismus im Mormonentum. 

Selbst wer die Geschichte der fanatischen Bewegungen genau 
studiert hat und die Folgen der Beziehung von religiösem Wahn¬ 
sinn und sexueller Verzückung kennt, wird dennoch überrascht sein 
zu hören, daß im Verlaufe der stürmischen Bewegung in Kirtland 
»viele sich dem Geist des Ehebruchs ergaben«, selbst Apostel und 
andere hervorragende Vertreter des Mormonentums. Und gleich¬ 
zeitig mit dieser ausgebreiteten Hingabe an den Ehebruch hat der 
Prophet der Mormonen, Joseph Smith Jr., zuerst für sich auf Grund 
einer Offenbarung die Schönheit in Anspruch genommen und »die 
Ewigkeit der ehelichen Verbindung, einschließlich einer Mehrzahl von 




Der sexuelle Anteil an der Theologie der Mormonen 


199 


Frauen«/ außerdem weitere Geheimlehren über diesen Punkt, die 
niemals bekannt geworden sind, außer durch Unachtsamkeit. 

Der Neubekehrte wurde damals durch den Hohepriester der 
Mormonen mit einem »Kuß der Nächstenliebe« geweiht. Unter der 
sorgfältigen Pflege besonders nachhaltiger Erbauungsstunden und der 
dabei entflammten Gemüter ergab sich leicht und von selbst eine ins- 
Sinnliche gehende Entwicklung des »Kusses der Nächstenliebe« über 
die Zwischenstufe eines geistigen Weibertums zur fleischlichen Poly¬ 
gamie, welche den vielleidit höchsten Grad von Abnormität gelegent^ 
lieh einer anderen Auferstehungsbewegung erreichte. Zwischen 1855 
und 1860 war in verschiedenen Teilen von Utah ein heftiger reli¬ 
giöser Wahn ausgebrochen, allgemein bekannt unter dem Namen 
der »Reformation«. Seine Entwicklung verlief so wie die in Kirtland 
geschilderte. 

Zur selben Zeit war die Polygamie auch hier eine allgemein 
von der Kirche anerkannte und geübte Lehre. Alles strebte danach 
»zu heiraten und in die Ehe gegeben zu werden«. Die Göttlichkeit 
der polygamischen Einrichtung und die Pflicht der Fortpflanzung als 
des Mannes höchste Leistung an die Gottheit, war der ewig wieder^ 
holte Refrain aller und jeglicher Ermahnung. Und da einmal die 
Ausübung der Sexualfunktion als das höchste Gebot erachtet wurde 
und die Polygamie als die Form der Ehe, welche am meisten Aus¬ 
sicht auf reichen Kindersegen gewährt, so war es, zumal ständig, 
in Wort und Tat, die Aufmerksamkeit jedes Mitgliedes der Ge¬ 
meinde fortwährend auf diese sexuellen Angelegenheiten gelenkt 
wurde, unvermeidlich, daß das Mormonentum abnorme sexuelle 
Gelüste erweckte. 

Die Armut zwang oft die polygam Lebenden, dasselbe Bett 
mit zwei oder drei Frauen zu teilen, während die Kinder im selben 
Raum schliefen. Öffentliche Diskussionen über die Polygamie, in 
welchen sowohl die wohltätigen als auch die verderblichen Wir¬ 
kungen dieses ungewöhnlichen Sexuallebens stark übertrieben wurden, 
daneben die heftige Aufmunterung, den Brauch weiter zu üben, 
überdies die erwähnten Mängel des Familienlebens der Armen — 
und nahezu alle waren arm —, konzentrierten notwendigerweise 
die Aufmerksamkeit auf all das Ungehörige in diesem Sexualleben, 
so daß, innerhalb einer Generation, die sexuellen Abnormitäten mächtig 
anwuchsen und den Grund zu einer abnormen Erotik legten. 

Auf diese Weise wurde der sozusagen normale Zustand einer 
Anzahl von Personen in eine sexuelle Hyperästhesie verwandelt. 
Durch die polygamischen Lehren züchtete der Mormonismus eine 
Klasse von Menschen, welche, übersättigt durch die normale Sexual¬ 
befriedigung, unaufhörlich dazu getrieben wurden, unnatürliche Rei¬ 
zungen und Befriedigungen für ihre erschlafften Begierden zu suchen. 
Die sexuelle Gier solcher Individuen fand ihren Ausdruck zumeist 
im Mißbrauch von Kindern, in inzestuösen Verbindungen, sowie in 
sadistischen und päderastischen Akten. Ich verfüge über die Zeugen^ 





200 


Theodore Schroeder 


sdiafi eines Mannes — die vielleicht durdi seine Verbitterung etwas 
beeinträchtigt wird —, welcher sich erbötig machte, über jeden Zweifel 
hinaus zu beweisen, daß der Bischof John D. Lee und einige von 
seinen Genossen bei den blutigen Gräueln im südlichen Utah <um 
1887) Sadisten waren. William Hooper young, ein Enkel von 
Brigham Young, der nun zum zweitenmale im Zuchthaus sitzt, 
wurde das zweitemal eingezogen wegen Ermordung einer Frau. Die 
Umstände, unter denen das Verbrechen verübt wurde, zeigen über¬ 
aus deutlich, daß der Mord im Verlauf einer sadistischen Manie 
ausgeführt worden war. Auch habe ich untadelige Beweise dafür, 
daß von einigen älteren Polygamisten um das Jahr 1880 Päderastie 
geübt wurde. 

Theologie und Sensualismus der Mormonen. 

Der Durchschnittsmormone mit einem beklagenswerten Mangel 
an allen Elementen höherer geistiger Entwicklung neigt natürlich zur 
Mystik. Mystische Tendenzen scheinen überall in der ganzen Welt¬ 
geschichte ein fruchtbarer Boden für die Entfaltung von Hyper- 
sexiialität gewesen zu sein. Es ist vollkommen klar, daß aus^' 
schweifende Sexualität die Theologie der Mormonen bestimmte und 
formte. Für die Begründung fast jedes theologischen Dogmas und 
jedes Glaubens der Kirche der neuen Heiligen <so nennen die Mor¬ 
monen ihre Organisation) könnte eine sexuelle Ursache gefunden 
werden. 

So betrachtet die mormonische Kirche die Fähigkeit, die Spezies 
fortzupflanzen, nicht als eine der vielen gleichartigen und gleich¬ 
wertigen Körperfunktionen, sondern erklärt sie für die »größte« von 
Gott den Menschen verliehene Macht, und das höchste Versprechen, 
das Gott den Menschen gab, ist die Verheißung an Abraham, 
seinen Samen so zahlreich zu machen wie den Sand am Meere. 
Wenn die Geschlechtsorgane das heilbringende Zeugnis von Gottes 
größter, dem Menschen geschenkten Macht darstellen, so ist die na^ 
türliche Folge davon die Verpflichtung des Menschen Gott gegen¬ 
über, eine möglichst große Zahl frommer Nachkommen hervorzu¬ 
bringen. »Wir sind geschaffen«, sagt ein mormonisches Dokument, 
»zu dem ausgesprochenen Zweck, uns zu vermehren«. Gott selbst 
wird von den Mormonen als Polygamist dargestellt — ein neuer 
Beweis dafür, daß der Mensch seinen Gott gewöhnlich nach seinem 
eigenen Bilde schafft. Natürlich wäre es sinnlos, einen polygamischen 
Gott zu haben, wenn er nicht kleine Götter hervorbringen könnte. 
Zeugungskräfte sind also nicht nur von Gott gegeben, sondern auch, 
Gott entsprechend, göttlich. Nachkommenschaft ist ein direktes Zeugnis 
Gottes, ein Geschenk an die Eltern. Götter, Engel und Mensdien 
sind alle eine Gattung, eine Rasse, eine große Familie,- Joseph 
Smith, der Gründer der Kirche ist ebenso Gottes Sohn wie Jesus. 
Ja, die Götter haben die Macht, in der Geisterwelt Söhne und 




Der sexuelle Anteil an der Theologie der Mormonen 


201 


Töchter zu zeugen, die sich dadurch, daß sie für eine Zeit Körper von 
Fleisch und Bein einnehmen, selbst für die Göttlichkeit vorbereiten und 
ihrerseits gleich ihren Vätern, den großen Göttern, die göttliche Macht 
erhalten, ihr Geschlecht durch alle Ewigkeit fortzupflanzen. 

Das Bedürfnis nach »Tabernakeln« von Fleisch, die Gottes 
Söhne und Töchter eine Zeitlang bewohnen müssen, als Bedingung 
für ihre Entwicklung zur vollkommenen Göttlichkeit, ist der Grund, 
weshalb die Allmadit in ihrer Weisheit der Eva befahl, sich zu 
vermehren und die Erde zu füllen,* dadurch legte sie allen Töchtern 
Evas dieselbe sexuelle Verpflichtung auf. Wir sind alle buchstäblich 
Söhne und Töchter Gottes, aber Adam wird der Gott dieser Welt 
und er ist der einzige Gott, mit dem wir es unmittelbar zu tun haben. 

Adam brachte Eva, eine seiner Frauen, mit sich vom Himmel 
und durch ihn kamen wir ins Sein. Adam, der Sohn dieser Welt, 
kam hierher von einem anderen Planeten als ein Wesen mit poten¬ 
tieller Unsterblichkeit begabt. So ist der Mensch buchstäblich der 
Sprößling eines göttlichen Vaters und einer göttlichen Mutter. Hätte 
nicht der »Fall« stattgefunden, so würde Adam durch alle Ewigkeit 
herrschen, mit Eva als erster Königin an seiner Seite. Durch den 
»Fall« wurden Adam und sein Geschlecht sterblich und seine Nach¬ 
kommen wurden zur irdischen und vorübergehenden Wohnung der 
geistigen Sprößlinge anderer Götter. Anderseits wurde es nur durch 
Adams »Fall« und unserer daraus folgenden Sterblichkeit, die der 
mormonischen »Convenant»-Ehe — diese ist ewig — vorangehen 
mußte, für uns möglich, Götter zu werden und unsterbliche Nach¬ 
kommenschaft zu gewinnen. 

Diese kurzen Exzerpte der ein wenig verwirrenden und wider^ 
spruchsvollen Lehren sind aus den wichtigsten offiziellen Dokumenten 
der Mormonen gesammelt. Es ist schwierig, irgend etwas einem 
Gedankensystem Ähnliches aus diesem Wirrwarr zu konstruieren. 
Hier seien noch einige andere Absonderlichkeiten berichtet, die sich 
zum Teil auf die mormonische Polygamie und ihre theologische 
Rechtfertigung beziehen: Gott war nicht immer in seinem jetzigen 
erhabenen Zustand, sondern er war einst dasselbe, was wir jetzt 
sind, und erreichte den Himmelsthron im Jenseits durch eine Art 
Hierarchie, in der er sich selbst Wachstum und Beförderung verlieh. 
In dieser Lehre ist ein verborgener Wunsch, daß das Beste für uns 
noch aussteht. Ebenso wie Adam der Gott dieser Welt ist, so sind 
Joseph Smith, Brigham Young und alle ihre Nachfolger im prophe¬ 
tischen Dienste der mormonischen Kirche jeder ein »Gott für sein Volk«. 

Als »alle Morgensterne miteinander sangen und die Söhne 
Gottes vor Freude jubelten«, waren Jesus und wohl auch Joseph 
Smith dabei, nicht als die fleischlichen Nachkommen unseres eigenen 
Gottes Adam, denn er hatte noch nicht seinen Platz im Staate 
Missouri erhalten, der nach der Ansicht der Mormonen den Garten 
Eden enthält. Geistige Söhne und Töchter der Götter, Millionen 
an Zahl, warteten bis zur Beendigung dieser Schöpfung, daß die 




202 


Theodore Sdiroeder 


Reihe und die Gelegenheit für sie käme, »Tabernakel« von Fleisdh 
und Gebein zu erhalten,* sie alle waren anwesend, als Gott diese 
Schöpfung begann. Auch Jesus war da und überwachte das Werk, 
denn durch ihn schuf Gott die Welten . . . Sie wußten, daß die 
Schöpfung, die damals geformt wurde, zu ihrem Wohnort bestimmt 
war, wo ihre Geister hingehen und in »Tabernakeln« von Fleisch 
und Bein einziehen würden und sie freuten sich dieser Aussicht . . . 
Sie sahen, daß ihre Geister ohne Tabernakeln nie zur Vollendung 
gelangen, nie in die Lage gebracht werden könnten, große Macht, 
Herrschaft und Ruhm zu erreichen wie ihr Vater«. Der unange- 
sprochene, aber deutlich wahrnehmbare Grund ist, daß sie ohne 
Körper von Fleisch keine Untertanen erzeugen könnten, um über 
sie zu herrschen, sondern selbst Untertanen bleiben müßten. 

So haben wir alle also eine greifbare Portion Göttlichkeit in 
uns,* in der Tat behauptet ein 'offizielles mormonisches Dokument, 
daß »die Gottheit in uns es ist, die unsere Vermehrung hervor- 
ruft«. Demnach ist unsere Vermehrungsfähigkeit das Maß für unsere 
Erhebung und unseren Fortschritt auf dem v7ege zur Gottwerdung,* 
jedes neue Weib ist ein neues Mittel der Erhebung zum himm¬ 
lischen Königreich. Fortpflanzungsfähigkeit ist tatsächlidi das einzige, 
in der mormonischen Literatur genannte Unterscheidungsmittel zwischen 
den niedrigeren und höheren Stufen himmlischer Erhebung. Wenn 
die mormonischen »Heiligen« von der Möglichkeit sprechen, zu 
Göttern zu werden, durdi das Empfangen des Zeugnisses Jesus' 
und durch die Erfüllung der mormonischen Vorschriften, so meinen 
sie damit nur, daß sie durch die Ewigkeit der »Covenant«-Ehe, 
die nur durch sie geschlossen werden kann, ihren Gläubigen die 
Ewigkeit sexueller Freuden garantieren können. Es ist ein außer^ 
halb der Mormonen sehr verbreiteter Irrtum zu glauben, daß die 
Mormonen Polygamie für einen angemessenen oder auch nur er¬ 
laubten Zustand bei allen Völkern halten. Im Gegenteil,* nicht ein¬ 
mal alle Mormonen können für dieses Privilegium erwählt werden: 
Das Recht, mehr als eine Frau zu haben, ist eine Belohnung der 
Frömmigkeit und kommt nur den Mormonen zu, die die spezielle 
göttliche Sanktion erlangt haben. Jeder sexuelle Verkehr eines ver¬ 
heirateten Mannes, der nicht auf diese Weise autorisiert ist, wird 
als Ehebruch angeklagt und die Schuldigen setzen sich nach der 
mormonischen Lehre von der Blutbuße der Todesstrafe aus. 

Den gefallenen Sterblichen zu dem Zustand der ursprünglichen, 
adamitischen Reinheit und Unsterblichkeit zurückzuführen, ist .,die 
Mission des Mormonismus und ein Mittel dazu die ewige Ehe, zu 
deren feierlicher Begehung er ein göttlich autorisiertes Monopol 
besitzt. »Die Ehe wird von den neuen Heiligen als Sakrament an¬ 
gesehen«, berichtet ein gut informierter Schriftsteller. »Ihr hohes, 
kirchliches Gesetz schließt ein ewig dauerndes Bündnis in sich. Dieses 
endet nicht mit dem Tode. Die Ehe beginnt nicht erst bei der Auf^ 
erstehung, sondern bei Lebzeiten und in dieser Welt. Sie ist von 





Der sexuelle Anteil an der Theologie der Mormonen 


203 


derselben Art wie die Ehe im Garten Eden zwischen einem Mann 
und einem Weib, die damals keinen Tod kannten,* es war ein Hoch¬ 
zeitsfest Unsterblicher. Das, was durch Sünde beim »Fall« verloren 
ging, wurde wieder gewonnen durch den Gehorsam und die Buße 
Christi bei der Wiedergeburt,* die Auferstehung bringt das getrennte 
Paar wieder zusammen als eines — »nicht mehr zwei, sondern ein 
Fleisch« — <Geist ist auch dem Mormonismus nur verfeinerte Ma¬ 
terie) geistig aber greifbar und ewig. Was heute auf Erden von 
gotterleuchteter <mormonischer> Autorität besiegelt wird, ist auch 
im Himmel besiegelt und bleibt trotz des Todes unveränderlich und 
von ewiger Dauer. 

»Die auf diese Weise gegründete Familie ist die Basis für ein 
immer wachsendes Königreich und eine Herrschaft in Welten ohne 
Ende. Aber auch zeitliche Ehen sind gestattet, da nicht alle geeignet 
sind für die höheren Verhältnisse und die reinen und heiligen 
Pflichten, die dadurch auferlegt werden.«^ 

Diejenigen, denen die mormonischen Priester die Erfüllung der 
Bestimmungen einer ewigen Ehe nicht gestatten oder jene, die vor^ 
sätzlich die Verantwortlidikeiten der Mutterschaft ablehnen, werden 
nur »ministrierende Engel« im Himmel sein, d. h. eine Art himm^ 
lischer Diener für die erhabeneren Mormonen,* solche Frauen müssen 
in dienender Stellung bleiben, ohne Aussicht auf die Würde einer 
Königin und ohne Hoffnung auf sexuelle Betätigung und die daraus 
hervorgehende unsterbliche Nachkommenschaft. Audi ein Mann kann 
ins Jenseits nicht ohne ein Weib an seiner Seite gerettet werden, 
denn ohne sie besitzt er nicht jene Macht sich fortzupflanzen, die 
das ausreichende Merkmal und die Wonne der Göttlichkeit ist. 

Jene aber, die durch das »Siegel ewiger Ehe« der vollendeten 
Göttlichkeit näher sind, können sich dadurch der Beziehungen zwi= 
sehen Mann und Frau, zwischen Eltern und Kindern in tausendfach 
höherem Grade erfreuen als im irdischen Leben. So werden die 
himmlischen Freuden als verstärkte, nie erlangte Fleischesfreuden 
dargestellt. »Die von Gott verliehene Zeugungskraft ist kein noch 
zu wichtiges vergängliches Ding, sie ist eines der Hauptmittel zu 
Erhebung und Ruhm in der großen Ewigkeit.« 

Die neuen Heiligen, wie die Mormonen sich selbst nennen, 
glauben an eine buchstäbliche physische Auferstehung von Fleisch 
und Gebein des Menschen. Alles ist für sie materiell. Die Ewigkeit 
von ehelichen Beziehungen ist daher für sie keine bloße mystische 
Vereinigung immaterieller und körperloser Geister, wie andere das 
Spirituelle auffassen würden, sondern es bedeutet die sexuelle Be¬ 
tätigung von auferstandenem Fleisch und Gebein im Himmel, 
wobei Mann und Frau miteinander geistige und ewige Nach¬ 
kommenschaft auf dieselbe Weise zeugen wie auf Erden. Ihr poly- 


Joseph F, Smith, The Arena, May 1893, p. 452. 





204 


Theodore Schroeder 


gamisdies »Haus wird heilig gehalten von den Heiligen als Beginn 
ihres Himmels.«^ 

Jene, die nach Christi Kommen im Fleische sind, werden durch 
das ganze Millennium Kinder zeugen. 

Das »Geistige« ist nach den Lehren der Mormonen nur ver¬ 
feinerte Materie. Dementsprechend kann der heilige Geist nicht mit 
Gott Vater oder Gott Sohn eins sein, sondern die drei sind ver^ 
schiedene Personen. Auch dafür deutet Brigham young, der Führer, 
einen sexuellen Grund an,- er sagt: »wäre der Sohn durch den 
heiligen Geist erzeugt worden, so wäre es sehr gefährlich, weibliche 
Wesen zu taufen oder zu konfirmieren und ihnen den heiligen 
Geist zu reichen, denn er könnte Kinder zeugen, und das Volk 
würde es auf die Ältesten <die mormonische Geistlichkeit) schieben, 
die in große Schwierigkeiten käme.« Aus diesen praktischen Gründen 
erklären die mormonischen Autoritäten, daß Jesus auf die gewöhn¬ 
liche menschliche Art gezeugt wurde. 

Schluß. 

Wir haben gesehen, wie die Mormonen das widerspruchsvolle 
Arbeiten ihres Gehirns vor uns offenbaren,- sie haben uns die 
Götter ihrer eigenen Schöpfung gezeigt, gestaltet ganz nach ihrem 
eigenen Bilde. Gleich ihnen selbst sind diese Götter Sensualisten,- sie 
selbst hoffen, durch die Sexualität die Stufe der Göttlichkeit zu er¬ 
reichen. Auch hoffen sie, sich eines Himmels zu erfreuen, dessen 
Wonnen in der Hauptsache nur die in alle Ewigkeit verlängerten 
und entsprechend verstärkten sexuellen Freuden sind. 

Psychopathologen werden ohne Schwierigkeit die psychischen 
Prozesse erkennen, durch die grobe Sinnlichkeit und Unzucht des 
Geistes in etwas verwandelt wird, das die Opfer für die »Gnade 
Gottes« halten. Ich habe in »Religion und Sinnlichkeit. Äußerungen 
von Geistlichen über ihren Zusammenhang« ^ die Beobachtungen zabU 
reicher Geistlicher verschiedener Sekten gesammelt, die bewiesen, daß 
das Nebeneinander oder die Konkurrenz sexueller Ausschweifung und 
starker religiöser Erhebung keineswegs auf die Mormonen beschränkt, 
sondern im Gegenteil bei allen Religionen ganz allgemein zu finden ist. 

Die Auferstehungsbewegung ist am mächtigsten in der Hervor¬ 
bringung religiöser Raserei bei jenen, deren nervöser Organismus 
schwankend ist infolge von Störungen, die bei der sexuellen Reife oder 
auch bei der Abnahme der sexuellen Kraft eintreten. Auch packen 
diese Bewegungen besonders jene, die infolge von unnatürlichen 
sexuellen Erlebnissen oder von sexueller Verdrängung Affektschwan¬ 
kungen unterliegen und die Bekehrungsmethoden der mormonischen 
Pioniere verlaufen stets in der Richtung von Auferstehungsversuchen. 

^ President Joseph F. Smith, President of the Church of the batter-day 
saints, in The Arena, Mai, 1903, p. 455. 

2 Vgl. 5^SexuaUProbleme«, März 1914. 


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I Verlag Hugo Heiler <S^ Cie., Leipzig u.Wien L, Bauernmarkt 3, | 

S Im zweiten Jahrgang erscheint: 5 

I Internationale Zeitschrift für | 
I ärztlidhe Psychoanalyse. | 

S Offizielles Organ der Intern. Psychoanalytischen Vereinigung. = 

S Herausgegeben von £ 

I Prof. Dr. SIGM. FREUD. | 

S Redigiert von £ 

i Dr. S. FERENCZI (Budapest), Prof. ERNEST JONES (London) 1 
I und Dr. OTTO RANK (Wien). | 

S Jährlich 6 Hefte bei 40 Bogen stark M. 18.— = K 21.60. = 


Soeben erschien: 


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= 18 Bogen, mit mehreren Abbildungen, geheftet M. 9.— = K 10.80, = 
S in Halbfranz geb. M. 12.— = K 14.40. £ 

^ INHALT. I. Einleitender Teil. 1. Die Parabola. 2. Traum« und Märchendeutung. £ 

^ — II. Analytischer Teil. I. Psychoanalytische Deutung der Parabola. 2. Alchemie. =: 

sr 3. Hermetische Kunst. 4. Rosenkreuzerei und Freimaurerei. 5. Das Problem der mehr« ^ 

= fachen Deutung. — III. Synthetischer Teil. 1. Introversion und Wiedergeburt. £ 

:zz A. Verinnerlichung und Introversion. B. Folgen der Introversion. C. Wiedergeburt. Z Das S 

= mystische Ziel. 3. Königliche Kunst. — Anmerkungen. — Qyellen. — Index. — 

£ Dieses tiefschürfende Werk hält mehr, als der bescheidene Titel verspricht. Es führt £ 
= ins innerste Wesen der Mystik selbst und gibt endgiltige Aufschlüsse. = 
= Durch die Anwendung der psychoanalytischen Methode gelangt der Autor = 
= zu ebenso überraschenden als zwingenden Ergebnissen. Die Bildersprache der Mystik = 
= (wovon uns das Werk zahlreiche Beispiele aus seltenen Quellen vor Augen führt) £ 
S ist schon an sich teils wegen ihrer Kuriosität, teils wegen der Größe und Schönheit = 
= ihrer Gedanken bemerkenswert. In der Beleuchtung des Verfassers aber entfalten = 
S die Rätselworte der Mystiker, Alchemisten und Rosenkreuzer erst ihre volle = 
= Kraft, und die Zusammenhänge zwischen erotisch und mystisch reli« = 
S giöser Symbolik treten klar zu Tage. Insbesonders auch wird das Wesen und S 
= die Symbolik der Freimaurerei, sowie ihr Ursprung in eine ganz neue = 

2 Beleuchtung gerückt, wobei den Verfasser ein reiches historisches und phifosophi« = 

= sches Wissen unterstützt. = 










Inhalt des zweiten Heftes. 


Dr, OTTO RANK <Wien>: Der Doppelgänger. 

Dr. ROBERT EISLER <FeIdafing>: Der Fisch als Sexualsymbol. 
THEODORE SCHROEDER <New^york>: Der sexuelle Anteil an 


der Theologie der Mormonen. 


Nachdruck verboten. 



WIENER GRAPHISCHES KABINETT 



HUGO HELLER, WIEN 1„ BAUERNMARKT NR, 3 


Zur Subskription ist gestellt: 


SIGMUND FREUD. 


Portraitradierung von MAX POLL AK. 


Plattcngröße 47V2:47V2 cm, Papiergröße 85:63 cm. 

Es werden insgesamt nur 50 Exemplare von der Kupferplatte gezogen, und zwar 
Nr, 1—25 auf kaiserlich Japan, Nr. 26—50 auf van Geldern^Bütten. 

Jedes Blatt ist vom Künstler handschriftlich signiert und numeriert. 

Der Subskriptionspreis beträgt für die Abzüge auf kais. Japan 100 K = 85 M. 

für die Abzüge auf van Geldern^Bütten 60 K = 50 M. 

Ein ausgezeichnetes Porträt und hervorragendes Kunstwerk, das auch losgelöst 
vom gegenständlichen Interesse besteht und fesselt, bietet hier der treffliche Wiener Ra-^ 
dierer den Sammlern und Kunstfreunden. Die Aufgabe des künstlerischen Porträtisten, 
den geistigen Gehalt einer Persönlichkeit auszuschöpfen und sichtbar zu machen, ist in 
diesem Kunstblatte nahezu restlos gelöst. 


K. U. K. HOF-BUCHDRUCKEREI CARL FROMME IN WIEN.