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Full text of "Imago. Zeitschrift für Anwendung der Psychoanalyse auf die Natur- und Geisteswissenschaften XII 1926 Heft 1"

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XII Band 


Heft 1 


193' 


IMAGO 


-Zeitschrift für A; 


dune der Psvchoanal 


ur nnwenaung aer jt syctioanaiyse 
auf die ^hatur^ und Oeisteswissenschaften 


H 


erausgegeben von 


iSigin. Freud 

Redigiert von Otto Rank., HailllS iSadlS und A* J. Stor£ 


Müller~Braunschweig: Beiträge zur AAetapsychologie (über Desexualisierung 
u. Identi Jfizierung. über Verli ebtheit, Hypnose u. Schlaf. Uber den Begriff 
der Richtung) / Fön cler C/ii/s* Über das Unisono in der Komposition 
(-Zur Psychoanalyse der Musik) / Juer tu Marbach: Eine südslawisch 
Mär dienparallele zum Urtypus der Rolandsage / Hei • mann: .Modelle 
den Ödipus- u. Kastrationskomplexen bei Aflen / Lowtzhy: Eine okkul- 
tistisdic Bestätigung der Psychoanalyse / U^ol/fheim: Psydiologie des 
modernen Erziehers / Fried jung: Der Ödipuskomplex im I ieberdelirium 
eines neunjährigen Akäddiens / K ritiken und Referate 


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Internationaler** Psychoanalytischer** V^erlae 

TVien VII. Andi *easgasse 3 








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IMAGO 

XII. BAND 
1926 















IMAGO 

ZEITSCHRIFT FÜR ANWENDUNG 
DER PSYCHOANALYSE AUF DIE 
GEISTES WISSENSCHAFTEN 

HERAUSGEGEBEN VON 

SIGM. FREUD 


REDIGIERT VON 

OTTO RANK, HANNS SACHS 
A. J. STORFER 


XII. BAND 

(1926) 


INTERNATIONALER 
PSYCHOANALYTISCHER VERLAG 
LEIPZIG / W T E N / ZÜRICH 




Alle Rechte, 

insbesondere das der Übersetzung, Vorbehalten 
* 

Copyright 1926 

by „Internationaler Psychoanalytischer Verlag 
Ges. m. b. H, w , Wien 


Druck: Christoph Reisser’s Söhne, Wien V 



INTERNATIONAL 

PSYCHOANALYTIC 

UNIVERSITY 


DIE PSYCHOANALYTISCHE HOCHSCHULE IN BERLIN 






INHALTSÜBERSICHT DES XII. BANDES 

Seite 

Alice Der Familienvater..*-* 2 9 2 

Ludwig Binswanger: Erfahren, Verstehen, Deuten in der Psychoanalyse 225 
R. Brun: Experimentelle Beiträge zur Dynamik und Ökonomie des Trieb¬ 
konflikts (Biologische Parallelen zu Freuds Trieblehre)... *47 

Trigant Burrow: Die Gruppenmethode in der Psychoanalyse —.. 211 

p r . A . van der Chijs: Über das Unisono in der Komposition--- 2 5 

Hans Christoffel: Farbensymbolik...... 5°5 

Helene Deutsch: Okkulte Vorgänge während der Psychoanalyse.....41S 

/ M. Z>. Eder: Kann das Unbewußte erzogen werden? ... 15^ 

Josef K . Friedjung: Der Ödipus-Komplex im Fieber delirium eines neun¬ 
jährigen Mädchens.....*.* - - 9 2 

— Psychoanalyse und Kinderheilkunde,....*.. 

G. H* Gräber: C. G. Carus ..... * 515 

Imre Hermann: Modelle zu den Ödipus- und Kastrationskomplexen bei 

Äffen....... 59 

— Das System Bw... 2 °5 

Eduard Hitschmann: Ein Gespenst aus fler Kindheit Knut Hamsuns . .. 35$ 

Ludwig Jekels: Zur Psychologie der Komödie . 328 

Franziska Itter und Otto Marbach: Eine südslawische Märchenparallele 

zum Urtypus der Roland-Sage.... 32 

Melanie Klein: Die psychologischen Grundlagen der Frühanalyse. 365 

Heinrich Klüglein: Über die Romane Ina Seidels..... 4go 

Vilma Koväcs: Das Erbe des Fortunatus. 3*1 

M. Levi ßianchini: Libido-Mneme, Mystizismus und Hellsichtigkeit bei 

einem Kinde.-. 4°5 

F, Lowtzhy: Eine okkultistische Bestätigung der Psychoanalyse. 70 

Otto Marbach: Die Bezeichnungen für Blutsverwandte. 47 ^ 

Carl Miiller-Braunschweig: Beiträge zur Metapsychologie. 

F. P. Müller: Gefühlstheoretisches auf psychoanalytischer Grundlage- 363 




























VI 


Inhaltsübersicht des XII» Bandes 


Srjtc 


S* Pfeifer; Umrisse einer Eioanalyse der organischen Pathologie. 171 

Oskar Pfister; Die menschlichen Einigungsbestrebungen im Lichte der 

Psychoanalyse (Von Kant zu Freud) .. 126 

Otto Pötzl; Zur Metapsychologie des „däjä vu h .*. 395 

Theodor Reih; Drei psychoanalytische Notizen ..».»...,.**,,******,**■.,. 448 
Geza R 6 he im: Die Völkerpsychologie und die Psychologie der Völker*,, 273 

— Die wilde Jagd .... *,,., 465 

Hanns Sachs: Zum 70* Geburtstag Sigm. Freuds.* *, * *. ***».. 1(5 

Raymond de Saussure: Zur psychoanalytischen Auffassung der Intelligenz 258 

Paul Schilder; Zur Naturphilosophie »»».»,, .. *,, .117 

Vera Schmidt; Die Bedeutung des Brustsaugens und des Fingerlutschens 

für die psychische Entwicklung des Kindes. «»»» . 577 

Ernst Schneider; Über Identifikation. 249 

Emil Simonson: Über die Anwendbarkeit der Energielehre in der Psychologie 184 
A. Stär cke: Über Tanzen, Schlagen, Küssen usw, (Der Anteil des Zerstörungs 

Bedürfnisses an einigen Handlungen)....* < * * * 268 

Margarete Stegmann: Die Psychogenese organischer Krankheiten und das 

Weltbild-- 196 

H * L. Wagner: Sind seelische Beeinflussungen wissenschaftlich erfaßbar und 

praktisch verwertbar. 500 

Alfred Winterstein: Zur Psychoanalyse des Spuks.... 454 

Nelly Wolffheim: Zur Psychologie des modernen Erziehers..»»-- 88 


REFERATE 


Aichhorn: Verwahrloste Jugend .*... (Schaxtl) 94 

Alverdes: Tiersoziologie.* * *. .,**,*,* .(Hermann) 530 

Berkeley-Hill: Hindu-Muslim Unity., *.. (Femchd) 526 

Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen.... (Hermann) 525 

Chadwick: The Inter-Relations of Education and Neurosis..,. (Bernfeld) 105 

Chesser: Health and Psycliology of the Child . *.. (Chadwick) 99 

Brun: Psychologische Forschungen an Ameisen. . (Hermann) 107 

Dahl: Vergleichende Psychologie.. . .. *, * • *... * .(Hermann) 106 

Driesch: Grundprohleme der Psychologie.. .(Schilder) 524 

Zürn Seelenleben des einzigen Kindes, von einem Einzigen »,.*.»» (Friedjung) 104 

Förster: Religion und Charakterbildung .... .{Grober) 530 

Frisch: Methoden sinnesphysiologischer und psychologischer Untersuchungen 527 

an Bienen........ * *..*, *»*., (Hermann) 107 

G au pp: Psychologie des Kindes.. . . . .... * * . * * * *, ♦ (Grober) 

G i e s e: Theorie der Psychotechnik.* * *. *,***«. (Hermann) 108 

Häberlin: Das Ziel der Erziehung. ..* *..* (Hemfeld) 5 a 9 






































Inhaltsübersicht des XIL Bandes VU 


Seite 

Henning: Psychologie der Gegenwart*..... * (Grober) 105 

— Die Aufmerksamkeit.* * * -.* * -.* *.. (Bernfeld) 529 

K ainz: Das Steigerungsphänomen als künstlerisches Gestaltungsprinzip (Hermann) 108 
Kaufmann: Die Bewußtseinsvorgängc bei Suggestion und Hypnose (Buschmann) 110 

Kurz: Christlich denken .. ■..... . -. >. (Friedjung) 552 

Lagerborg: Platonische Liebe . , . ....*---. . ■ (Pfister) 527 

McDougall: Professor Freuds Group Fsychology and his Theory of 

Suggestion ......... (Kigali) 98 

Marcus: Theorie einer natürlichen Magie. (Hermann) 107 

Messe: Über Suggestion und Suggestionstherapie im Kind es alt er... (Friedjung) 104 

Pagenstecher: Außersimilichc Wahrnehmung (Hit&chrnann) 110 

Peter: Erscheinungen der Toten .. , *., . 4. (Hitsckmwm) 109 

Zeitschrift für Psychologie, Bd. 94 und 95... (Hermann) 553 

Rowlatid: A Pedagogues Gommonplace Book. (Chadwick) 101 

Schmidt: Die okkulten Phänomene im Lichte der Wissenschaft* (Hitschmemn) 109 

Sommer: Tierpsychologie (Hermann) 105 

Strohmayer: Die Psychopathologie des Kindesalters.. ■ {'Friedjung) 103 

Zull lg er: Aus dem unbewußten Seelenleben unserer Schuljugend . * * *. (Furrer) 105 

Bücherdnlauf -........ *.....»* <. 555 

Redaktionelle Mitteilung , , . * *.... * ..-.- - 55 ^ 



























































IMAGO 

ZEITSCHRIFT FÜR ANWENDUNG DER PSYCHOANALYSE 
AUF DIE NATUR- UND GEISTESWISSENSCHAFTEN 

XII. Band 1926 Heft 1 


Beiträge zur Metapsychologie 

Uber Desexualisierung und Identifizierung — Über Verliebtheit, 
Hypnose und Schlaf — Über den Begriff der Richtung 

Nack einem Fort rag auf dem IX. Internat. Psychoanaljrtischen Kongreße Homburg, September 

Von Carl Müller-Braunschweig (Berlin) 

I 

In seinem Buche: „Das Ich und das Es 11 beschreibt Freud Vorgänge, 
bei denen das Ich durch Identifizierung mit einem Objekt die sexuelle 
Objektlibido an die durch die Identifizierung entstandene Ichveränderung 
bindet, wodurch die sexuelle Objektlibido zu narzißtischer, d. h. nicht¬ 
sexueller Libido wird. Eine solche Desexualisierung, sagt Freud, könne 
auch Sublimierung genannt werden, und man könne vermuten, daß alle 
Sublimierung auf solche Weise, durch Vermittlung des Ichs, zustande 
komme. 

Es ist nun wahrscheinlich zu machen, daß nicht nur Objektlibido, 
sondern auch autoerotische Libido durch eben solche Identifizierungsvor- 
gänge desexualisiert werden kann. Die Identifizierung wäre dann nicht 
eine Identifizierung mit einem alloerotischen Objekt, sondern eine Identi¬ 
fizierung mit den autoerotischen Gegenständen, mit den erogenen Zonen, 
Organen und Erregungsvorgängen des eigenen Körpers. Wir kennen diese 
Identifizierungen alle in pathologischer Form in der Hysterie und den 
Psychosen. In unseren jetzigen Überlegungen soll es sich aber um Identi¬ 
fizierungen handeln, die normaler- und rege! mäßiger weise vor sich gehen 
und autoerotische Libido in nicht-sexuelle, narzißtische Libido verwandeln. 


Imago XII 


1 





2 


Carl Müller-Braun schweig 


Wir unterscheiden den Narzißmus vom Autoerotismus. V\ lr wissen, daß 
man von einem eigentlichen Narzißmus erst sprechen kann, wenn so etwas 
wie ein Ich vorhanden oder im Entstehen begriffen ist. Vor diesem Stadium 
gibt es nur die diffuse autoerotische Libido, die von einzelnen Zonen und 
Organen des Körpers ausgeht und diese Zonen und Organe zu ihrem Ziel 
und Objekt hat. Es ist nun nicht abzuweisen, daß mit der Bildung des 
Ichs die im Ich wirksame und auf das Ich gerichtete Libido nicht nur 
auf dem Umwege über die Objekte der Außenwelt aus der sexuellen 
Libido entwickelt wird, sondern daß sie sich auch direkt aus der aiuo- 
erotischen Libido entwickelt. 

Der Charakter dieser Prozesse würde ein fortschreitendes Sich-ldentifi- 
zieren-Lernen mit den vordem noch nicht 7 .U einein einheitlichen Ich 
gerechneten Zonen, Organen und Erregungsvorgängen sein. Es ist wohl 
auch kein Widerspruch darin zu sehen, daß solche Identifizierungsvorgänge 
schon ein Ich voraussetzen, das sich identifizieren lernt, während anderseits 
durch die Identifizierungsvorgänge erst ein Ich und eine narzißtische Li¬ 
bido ausgebaut werden, denn alle Entwicklungen des werdenden Indivi¬ 
duums, selbst diejenigen, die starker exogener Antriebe bedürfen, sind ja 
doch erblich vorgezeichnet, in Ansatz-Elementen von Anfang an vorhanden. 
Ichentwicklung, Identifizierungsmechanismus, Ausbau narzißtischer Libido 
werden so zu einem biologisch vor gezeichneten Komplex gehören. 

Es wird wesentlich für die nicht-normale oder normale Ichentwicklung 
sein, wie weit dem Kinde diese frühesten Identifizierungen mit seinen 
eigenen Zonen, Organen und Erregungsvorgängen nur mit Beimischung 
pathogener Prozesse wie dem der (mißglückenden) Verdrängung geigen 
oder wie weit sie ohne solche vor sich gehen. Vor allem die Identifizierung 
mit dem eigenen Genitale und dessen Erregungen. Der Prozeß der Ver¬ 
drängung wird etwa bei der Identifizierung des Knaben mit seinem ems 
die verfügbare Menge desexualisierbarer Penislibido verringern und die 
Entwicklung gewisser Charaktereigenschaften, die genetisch mit 
sanunenzuhimgen scheinen, wie Stola, Mut, Selbstbewußt,ein, beeinträchtigen. 

Die hier beschriebenen frühinfantileo Identifizierungsvurgänge, durch ti 
autoerotische Libido zu narzißtischer desexualisitrt wird, b(treffen, 
gesagt, nicht-pathologische Identifizierungen. Solche nicht-pathologische 
Identifizierungen durchziehen mannigfaltig das ganze spatere Leben. Sie 
können in allen Systemen angreifen, dürfen nur nicht mit den Bedingungen 
der Fixierung, der Regression und anderen, insbesondere aber der Vir 
drängung Zusammentreffen, um normal zu heißen. Sie können bewußt 











Beiträge zur Metapsyehologie 


5 


oder unbewußt vor sich gehen, können Identifizierungen mit Objekten und 
Vorgängen der Außenwelt oder mit solchen des eigenen Körpers sein. 

Es wäre nicht ausgeschlossen, daß die Verwandlung von sexueller Ob¬ 
jektlibido in narzißtische als ständiges, aber normalerweise nicht bemerk¬ 
bares Zwischenstadium eine Verwandlung von Objektlibido in autoerotische 
zur Bedingung hätte. Wenigstens könnte man das schließen aus gewissen 
Fällen pathologischer Identifizierung, die uns anmuten wie der mißlungene 
Versuch einer Desexualisierung von Objektlibido, der in diesem Zwischen¬ 
stadium gleichsam steckengeblieben ist, und erst durch Prozesse, wie sie 
die Psychoanalyse durch Aufhebung der Verdrängung auslöst, zu Ende 
gebracht werden können. 

Betrachten wir 2. B, den Fall der hysterischen Stuhlverstopfung eines 
jungen Mädchens, das mit dieser eine partielle Identifizierung mit dem 
Vater {dem väterlichen Penis) darstellt. Unter der Bedingung von Ver¬ 
drängung und Regression ist hier der Versuch gemacht worden, die vom 
Ich abgewiesene sexuelle Strömung zu desexualisieren. Dieser Versuch ist 
mißlungen. Der Prozeß ist nur bis zur Verwandlung der sexuellen Objekt¬ 
libido in autoerotische gediehen (daneben auch sexuelle Objektlibido in 
Bindung an die Vaterimago durch Verdrängung weiterer Verarbeitung 
entzogen), erst durch die Aufhebung der Verdrängung, die Verwandlung 
der verdrängt unbewußten Identifizierung in eine bewußte ist die auto- 
erotische Libido und die in ihr steckende sexuelle Objektlibido desexuali- 
sierbar geworden. Man darf die Frage aufwerfen, ob wohl solche Libido, 
die nicht, wie bei den Identifizierungen, an die dadurch entstandene Ich- 
Veränderung, sondern, wie bei der Introversion, an Imagines gebunden ist, 
ebenfalls in narzißtische verwandelt oder desexualisiert werden kann. Viel¬ 
leicht, daß das der Fall ist, sobald nur die Verdrängungswiderstände ge¬ 
fallen sind, welche diese wie jene Gebilde vom übrigen Ich abgespalten 
und dadurch vor dessen verarbeitendem Angriffe bewahrt haben. 

Wir dürfen bei dieser Gelegenheit äußern, daß wir den Vorgang, den 
wir bisher, nach Freud, als Aufhebung der Verdrängungen, Rewußt- 
machung des Unbewußten oder auch als Versöhnung des Ichs mit dem 
Verdrängten bezeichnet haben, auch mit Hilfe des Vorgangs der Identifi¬ 
zierung beschreiben könnten. Wir könnten sagen, daß das Individuum 
dahin zu bringen ist, daß es sich mit dem Verdrängten zu identifizieren 
vermag, daß es eine bewußte, oder, besser gesagt: eine bewußtseinsfähige 
Identifizierung mit dem Verdrängten zustande bringen kann. Diese Identi¬ 
fizierung wäre das notwendige Vorstadium der nun erst möglichen Ent- 








4 


Carl Müller-Braun schweig 


Scheidung im Sinne einer Anerkennung oder Verurteilung des Verdrängten. 
Das Individuum muß lernen, sich mit der verdrängten Regung zu identi¬ 
fizieren in dem Sinne, daß es sie zu seinem Ich hinzureclinet, daß es zu 
einer theoretischen Anerkennung des Verdrängten als eines zu seinem 
Ich Gehörigen gelangt, gleichviel, ob es von da aus auch zu einer prak¬ 
tischen Anerkennung oder zu einer praktischen Verurteilung {d. h. einer 
motorischen Hemmung der aus dem ehemals Verdrängten folgenden Im¬ 
pulse) fortschreitet. 

Wir sagten, es sei besser, von einer bewußtseinsfähigen Identifizierung als 
von einer bewußten zu sprechen. Tn der T’at zeigen unsere Analysen, daß 
Verdrängungen aufgehoben und die ehemals durch sie gehemmten Abläufe 
mobilisiert, neue Libidoverteilungen erzielt werden können, auch wenn das 
Verdrängte nicht voll bewußt geworden ist. Augenscheinlich hängt der hi 
folg nicht an dem Bewußtwerden im deskriptiven und topischen Sinne, 
sondern an dynamischen und ökonomischen Verhältnissen. Ls handelt sich 
um etwas, das bewußt werden könnte, und zwar nicht nur im Sinne des 
Vorbewußten, sondern auch im Sinne des, allerdings unverdrängten, Un 
bewußten. Die Identifizierung, welche die Verdrängungen aufhebt, kann 
unbewußt sein, es kommt darauf an, ob diejenigen Verhältnisse geschahen 
worden sind, durch welche dem bisher durch die Verdrängungsschranken 
an der Verarbeitung verhinderten Ich eine Angriffsfläche gegeben wird. 
Wenn wir den Heilungsvorgang unter die Formel: Bewußtmachung des 
Unbewußten bringen wollen, dürfen wir das Bewußte nicht deskriptiv und 
topisch, sondern dürfen es nur dynamisch verstehen, es ist dasjenige, was 
bewußt werden könnte, aber nicht immer bewußt zu werden braucht, ja 
selbst unbewußt sein kann. Dieses potentielle Bewußtwerden deckt sich 
nicht mit dem Vorbewußten, eher mit dem Begriff des Ichgerechten, wenn 
man darunter die Fähigkeit, vom verarbeitenden Ich erreichbar, angreifbar 
zu sein, versteht. Wir könnten sagen, das Verdrängte müsse „ichverarbei- 
tungsfähig“ werden, damit es seine eventuelle pathogene Wirkung verliert. 

Wir wollen jedoch zu unserem Ausgangsproblem zurückkehren und uns 
fragen, was wir getan haben, wenn wir die Desexualisierung auf bestimmt* 
Identifizierungsvorgänge zurückführten. Wir können damit nicht behauptet 
haben, daß wir den ausschließlichen Entstehungsgrund nicht-sexueller Li 
bido dargestellt hätten, sondern müssen es offen lassen, wie immer die 
Herkunft narzißtischer Libido sein mag. Und weiterhin müssen "ir uns 
vor Augen halten, daß die Identifizierungsvorgänge, die wir in bestimmten 
Fällen bei der Entstehung narzißtischer Libido beteiligt linden, uns /.war 












Beiträge zur Metapsychologie 


D 


in ihren mannigfaltigen Erscheinungsformen bekannt und praktisch ge¬ 
läufig, ihrem Wesen nach aber durchaus unbekannt sind. Wir können von 
ihrem Wesen nur ein „als ob“ aussagen* Sie sind so, als ob sie Abkömm¬ 
linge der oralen Libidoorganisation wären, als ob sich in ihnen das Ich 
benähme wie ein Körper, der sich ein Objekt oral einverleibt. 

Wir dürfen also nicht beanspruchen, daß wir den Vorgang der De- 
sexualisierung aufgeklärt hätten, sondern müssen uns dahin bescheiden, 
daß wir einige Vorgänge, in deren Verlauf sich sexuelle in nicht-sexuelle 
Libido verwandelt, mit den uns praktisch vertrauten Identifizierungsvorgängen 
in Verbindung bringen konnten. 

Vielleicht verheißt uns ein anderer Weg eine Lösung des Desexualisierungs- 
problems? Wie ist es möglich, daß sexuelle Libido ihren sexuellen Charakter 
verlieren, eine ganz andere Qualität, die der nicht-sexuellen Libido, an¬ 
nehmen kann? Freud hat die narzißtische Libido qualitativ indifferent 
genannt* Sicherlich hat er damit u. a. bezeichnen wollen, daß die narzi߬ 
tische sich als etwas deutlich anderes abhebt von jeder Art sexueller Libido, 
heiße sie nun oral, anal, genital, oder werde sie sonst mit einem Organ 
oder einer Zone des Körpers als ihrer Quelle oder ihrem Angriffspunkte 
in Verbindung gebracht* Ob die Bezeichnung der narzißtischen Libido als 
„qualitätslos* treffend oder nur möglich ist (kann man überhaupt etwas 
als qualitätslos bezeichnen?), möchte ich dahingestellt sein lassen, jedenfalls 
mag sie gegenüber den eben genannten Libidoformen als von relativer 
qualitativer Indifferenz bezeichnet werden. Man wird nicht verlegen zu 
sein brauchen, wenn man auch ihr ein „Organ* 2uordnen möchte, und 
wird es im nervösen System sehen. Durch die „qualitativ indifferente* 
narzißtische Libido werden nach Freud die mannigfachen Verschiebungen 
und Umwandlungen der sexuellen Libido ermöglicht. Sie kann sich zu den 
verschiedensten Regungen hinzu gesellen und sie verstärken. 

Im Grunde ist hier überall das Problem der Verwandlung von nicht- 
sexueller in sexuelle und sexueller in nicht-sexuelle Libido wiederzufinden* 

Wir können dieses Problem, wenn auch nicht lösen, so doch vorstell¬ 
barer machen, wenn wir uns zu der Annahme verstehen, daß nicht-sexuelle 
(narzißtische) Libido und sexuelle (genitale, anale, orale usw.) Libido 
entwicklungsgeschichtlich eine gemeinsame Wurzel haben. Die libidinöse 
Energieform, die wir als solche gemeinsame Wurzel beider Libidoarten 
anzusprechen hätten, würde in der Richtung auf älteste Formen, etwa in 
Richtung auf die von Freud postulierte Zell-Libido hin, zu suchen sein. 
Von dieser Wurzel aus hätte sich ein Zweig in zunehmender Differenzierung 









6 


Carl Müller-Braunschweig 


zu oraler, analer, genitaler Libido entwickelt, während sich der andere 
Zweig zu narzißtischer entwickelte, wobei er vielleicht, trotz aller Ver¬ 
feinerung, gewisse Ursprünglichkeiten ältester Phasen beibehalten hätte. 

Die Annahme einer entwicklungsgeschichtlichen Verwandtschaft beider 
Formen würde es vorstellbarer machen, daß sich sexuelle Libido in nicht- 
sexuelle verwandeln könnte. In dieser Verwandlung würde dann ein I eil 
Regression stecken. Also auch die Sublimierung hätte eine regressive Kom¬ 
ponente, ein freilich kaum paradoxes Ergebnis, wenn man bedenkt, daß 
wohl alle progressiven Prozesse mit Hilfe von Regressionen vor sich gehen. 
Vielleicht liegen die Dinge aber noch ganz anders und findet so etwas wie 
eine eigentliche Desexualisierung, also eine richtige Verwandlung sexueller 
in nicht-sexuelle Libido überhaupt nicht oder doch nur in geringem Maße 
und nur unter der Voraussetzung größerer Zeitmaße statt, und ist das, was 
uns für gewöhnlich als eine Verwandlung imponiert, also auch die an¬ 
scheinende Desexualisierung bei den Identifizierungsvorgängen, nur einem 
mehr minder komplizierten Vorgang von Transport, von Verschiebung und 
Verteilung, Mischung und Entmischung, Hemmung oder Auslösung von 
Libidoquantitäten zuzuschreiben, an dem allerdings die narzißtische Libido 
als eigentlicher und unentbehrlicher 'Präger dieser Punktion tätig wäre? 

Wir wollen diese Erwägungen hier nicht fortsetzen, sondern die Frage 
des Verhältnisses der nicht-sexuellen zur sexuellen Libido erst wieder auf¬ 
greifen, nachdem wir uns eine Strecke weit in die Metapsychologie der 
Identifizierungsvorgänge hineinbegeben haben. 


II 

i) Wir sagten, über die Natur der Identifizierungsvorgänge sei nichts 
auszusagen, als daß sie sich wie Abkömmlinge der oralen Organisations¬ 
stufe benähmen. Wenn wir nun auch das w Wesen der Identifizierung 
nicht ergründen können, so können wir dafür um so mehr die mannig¬ 
faltigen empirischen Erscheinungsformen schildern, in denen wh ihr he 
gegnen, besonders, wenn wir uns der drei metapsycliologischeii Gesichts 
punkte Freuds, des topischen, dynamischen und ökonomischen bedienen. 

Topisch gesehen, können die Identifizierungen in allen Schichten und 
Instanzen des psychischen Organismus angreifen, im Bewußten, im V or- 
bewußten, im verdrängten und niclilverdrängten Unbewußten; im Über¬ 
leit, im Ich und im Es. 

Es geht den Identifizierungen wie allen seelischen Vorgängen, die über¬ 
wiegende Zahl verläuft unbewußt (vbiv und ubw), und die unbewußten 














7 


Beiträge zur Metapsychologie 


Identifizierungen sind nur dann als d. eil eines pathologischen Vorganges 
anzusehen, wenn sie unter die aus der Neurosenätiologie bekannten Bedin¬ 
gungen geraten, von denen die Verdrängung die conditio sine qua non ist. 
Unser stundstündliches Denken durchzieht eine unzählige Menge von mehr 
weniger flüchtigen Identifizierungsvorgängen, unser Konnex mit den Mit¬ 
menschen ist auf eben diesen aufgebaut, die wir alle in das Vbw-Bw und 
Ubw verlegen müssen. Demgegenüber gehört der hysterische Husten des 
Mädchens, das sich mit seinem Symptom unter der Einwirkung des 
Schuldbewußtseins mit seiner Mutter identifiziert, in das verdrängte Ubw. 

Betrachten wir weiter eine Reihe normaler wie nichtnormaler Erschei¬ 
nungen, zu denen IdentifizierungsVorgänge gehören, um den topischen oder 
strukturellen Angriffspunkt festzustellen: In der Beziehung des Schülers 
zum Lehrer, des Masseneinzelnen zum Führer, des Liebenden zum Geliebten, 
des Hypnotisierten zum Hypnotiseur greift die Identifizierung im Über¬ 
leit an, in der Identifizierung des Kindes mit seinem Geschwister, des 
Masseneinzelnen mit dem Genossen: im Ich. Betrachten wir die uns als 
eine der möglichen Bedingungen männlicher Homosexualität bekannte 
Identifizierung des Jünglings mit der Mutter, von der Freud sagt, daß sie 
eine ganz besondere, umfassende Ichverändcrung erzeugt, indem sie das 
Individuum ,,im Sexual-Charakter“ verändert, so können wir diese 
Identifizierung nur ins Es verlegen. 1 Fragen wir uns, wo die epochalen 
frühinfantilen Identifizierungen, durch die die Phase der Ödipuskonstellation 
und ihr Abschluß charakterisiert sind, strukturell angreifen, so scheint sich 
zunächst eine Schwierigkeit darin zu bieten, daß wir diese Identifizierungen 
(wie etwa die des Schülers mit dem Lehrer) ins Über-Ich verlegen möchten, 
während das Über-Ich anderseits erst aus jenen Identifizierungen entstanden 
zu sein scheint. Der Widerspruch löst sich, wenn man bedenkt, daß, so 
sehr jene Identifizierungen dem Über-Ich erst seine bedeutsamste Gestalt 
verleihen mögen, dieses oder doch ein Ansatz von ihm bereits als phylo¬ 
genetische Bildung vorhanden sein muß. Anderseits hat das Über-Ich, nach 
Freud, außer der sozialen Wurzel (von der die Elternidentifizierung die 
erste Grundlage bildet) auch eine individuelle Wurzel, eben jenes Unge- 


l'i Diese Topiken sind natürlich nur im theoretischen und schematischen Sinne 
richtig, in Wirklichkeit gibt es, wie überall, alle möglichen Mischfalle. So kann 
z B. die Identifizierung mit dem Geschwister außer im Ich, gleichzeitig auch, so¬ 
weit das Geschwister zum Ideal wird, im Über-Ich angreifen und so greift die 
Identifizierung der Verliebtheit bei deren Umwandlung in ein laugdauerndes Liebes¬ 
verhältnis vom Über-Ich auf das Ich und Es über. 













g Carl Müller-Braunschweig 


nügen am eigenen Ich, das zur Rettung des ursprünglichen Narzißmus 
treibt und zu diesem Zwecke das Ideal-Ich schafft. Aus diesem Ideal-Ich 
und aus dem phylogenetischen Ansatz des Uber-Ichs besieht jenes infantile 
Über-Ich, an dem die Elternidentifizierungen angreifen. 

2) Übergehen wir von dieser kurzen dynamischen und topischen zur 
Ökonomischen Betrachtung der Identifizierung, so werden wir gut tun, 
diese im Zusammenhänge mit der Untersuchung von Erscheinungen wie 
der der Verliebtheit, der Bindung an den Führer, der Hypnose und des 
Schlafes vorzunehmen, wobei sich freilich der Schwerpunkt der Unter¬ 
suchung von der Identifizierung auf diese Erscheinungen verschieben muß. 

Wir wollen dabei von einem Gedankenzuge ausgehen, den wir in 
Freuds Massenpsychologie und Ich Analyse linden und der bei Freud 
dem Ziele zustrebt, einen Unterschied zwischen der Bindung des Massen¬ 
einzelnen an den Führer und der Bindung der Einzelnen untereinander 
festzustellen, und der seinen Ausgang nimmt von dein Versuche, einen 
Unterschied zwischen Verliebtheit und Identifizierung (s. 1 . der Massen¬ 
einzelnen untereinander) zu finden. Freud sieht diesen Unterschied zu¬ 
nächst darin, daß bei der Verliebtheit das Ich „verarmt bei der Identi¬ 
fizierung aber sich durch die Introjektion des Objektes bereichert. Er ver¬ 
wirft diese Unterscheidung mit dem Gedanken, Verarmung und Bereiche¬ 
rung können nicht ökonomisch aufgefaßl werden, man könne auch die 
Verliebtheit als eine Bereicherung, eine Introjektion auifassen. Die weitere 
Überlegung, der Unterschied könne darin liegen, daß bei der Verliebtheit 
das Objekt beibehalten, bei der Identifizierung aber aufgegeben werde, 
verwirft er durch den Hinweis, daß es auch Identifizierung hei nicht aufge 
gebenem Objekt gäbe. Er findet dann die Unterscheidung in der Formel: 
Bei der Identifizierung (d. h. der Masseneinzelnen miteinander) wird das 
Objekt an die Stelle des lchs, bei der Verliebtheit an die Stelle des Ich- 
Ideals gesetzt. 

Wir haben an diese Stelle in Freuds Massenpsychologie und Ich-Analyse 
erinnert, um an den ersten Gedanken dieser Überlegung anzuknüpfen. 
Freud verwirft hier die ökonomische Auffassung der „Verarmung bei 
der Verliebtheit augenscheinlich und mit Beeilt deswegen, weil sowohl 
eine Verminderung des vorhandenen Quantums narzißtischer Libido wie 
ein wirkliches „Überfließen“ narzißtischer Libido aufs Objekt schwer vor- 

1) Freud, Massenpsychologie und Ich-Analyse, Kap, VIII: „Wir erkennen, daß 
... in der Verliebtheit ein größeres Maß narzißtischer Libido auf das Objekt 
iiberfließt“. 















Beiträge zur Metapsychologie 


9 


stellbar sind. Mit der Verwerfung dieser Auffassung der Verliebtheits- 
„ Verarmung“ als einer ökonomischen ist aber die Frage gestellt: Wenn 
die verworfene es nicht vermag, welche Auffassung ist es dann, die den 
ökonomischen Gesichtspunkt in der Darstellung der Verliebtheit befriedigt. 
Denn der ökonomische Gesichtspunkt muß ja hier wie überall an greifen 
können. Und er wird in der Tat auch in unserem Kalle fruchtbar, wenn 
wir annehmen, daß im Zustande der Verliebtheit zwar nicht das Quantum 
überhaupt vorhandener narzißtischer Libido verringert wird, aber wohl 
das Quantum der frei beweglichen und zur Verfügung des Ichs stehenden 
narzißtischen Libido. Es entspricht ganz dem empirischen Bilde, das die 
Verliebtheit darbietet, wenn man sich diesen Zustand so vorstellt, daß 
einer großen Reihe von psychischen Vorgängen und Teilen aller Systeme 
bis dahin frei verfügbare narzißtische Libido entzogen und an alle jene 
Vorgänge und Systemteile gebunden wird, die durch die Richtung auf 
das geliebte Objekt fixiert worden sind. Es müssen das Vorgänge in allen 
Systemen sein. Zunächst ist es das Wahrnehmungs- (W~) System, durch 
das der Liebende in Konnex mit dem Objekt steht. Der Verliebte sieht 
und hört nichts als das geliebte Objekt. Den andern möglichen Wahr¬ 
nehmungen wird mehr oder weniger Besetzung zugunsten derjenigen ent¬ 
zogen, die durch die Richtung auf den Geliebten bestimmt sind. Die 
Vorstellungen vom Objekt, die wir in das Erinnerungs- (Er-) System (in 
das Vbw und das nichtverdrängle Ubw) verlegen, lassen andere Vorstellungen 
„verblassen“, entziehen ihnen die Besetzung. Die Wünsche und motorischen 
Impulse, durch Wahrnehmung und Vorstellung des Objektes ausgelöst (im 
Vbw, Ubw , im Es), ziehen gleichfalls ständig Besetzung narzißtischer 
Libido an sich. So werden alle Systeme von freier, bisher der Verfügung 
des Ichs zugänglicher narzißtischer Libido zugunsten aller jener in Ab¬ 
hängigkeit von der Einwirkung des geliebten Objektes befindlicher Vor¬ 
gänge und Systemteile mehr oder weniger entblößt. Wir erinnern uns 
nun weiter, daß im Zustand der Verliebtheit auch ein Identifizierungs¬ 
prozeß eine Rolle spielt, in dem der Verliebte sich in seinem Über-Ich mit 
dem Geliebten identifiziert. Diesen Vorgang können wir in unsere Ökono¬ 
mische Betrachtung zwanglos einfügen. Durch die Identifizierung mit dem 
Geliebten wird, indem der Verliebte sich das geliebte Objekt, besser: 
dessen Charakterzüge, Reaktionsweisen, seine Gesten, Ansichten, Wertungen 
introjiziert, im Verliebten eine Uber-Ich-Veränderung erzeugt. Dieses Gebilde 
entzieht mehr oder weniger dem bis dahin funktionierenden individuellen 
Über-Ich des Liebenden narzißtische Libido und zieht sie auf sich. Diese 






Carl Müller-Braunschweig 


10 


ökonomische Betrachtung erleichtert das Verständnis des Verarm ungsgefuh s, 
der Demut des Verliebten und für den extremen Fall, wo die Uber-Ich- 
Veränderung zu einer vollen Über-Ich-Ersetzun g geworden ist, das Ver¬ 
ständnis der von Freud beschriebenen Fälle von Hörigkeit und Aufgabe 
des eigenen Gewissens, in denen der Verliebte zum Verbrecher werden kann. 

Wir haben vorhin von einer Introjektion von Charakterzügen gesprochen 
und haben sie im Über-Ich des Verliebten statt linden lassen. Wir müssen 
uns deswegen, ehe wir weitergehen, gegen den Einwand rechtfertigen, daß 
Charakterzüge doch eher auf einer Veränderung des Ichs beruhen. Aber m 
unserem Falle der für die Verliebtheit bezeichnenden E)ber-Icli-\ eränderung 
handelt es sich noch nicht um so lang einwirkende Identifizierungen, als daß 
sie zu dauernden Ich Veränderungen in der Art von Charakterzügen führen 
könnten. Nichtsdestoweniger aber werden Charakterzüge des Geliebten ins 
Über-Ich des Verliebten introjiziert, wirken dort allerdings nicht im Sinne 
eigentlicher, also dauernder und resistenter Charakterzüge (das könnten sie 
nur bei Einverleibung ins Ich tun), aber wohl in dem Sinne dirigierender 
Anforderungen und Wertungen, wie sie das Wesen des Über-Ich b bezeichnen, 
in Zuständen von Verliebtheit unter anderem mehr weniger vorübergehend 
verändert werden und dem eigentlichen Ich oft nur flüchtig aufgesetzt 
sein können. 

5) Betrachten wir unter demselben Gesichtspunkte die mit der Verliebtheit 
verwandten Erscheinungen der Bindung an den Hihi er, dt 1 Iljpnose, 
Schlafes, so werden wir erwarten dürfen, daß die Metapsychologie dieser 
Erscheinungen in ähnlicher Weise aufgehellt wird. In allen den genannten 
Erscheinungen handelt es sich um strukturelle und ökonomische Änderungen 
der Libidobesetzung. Von gewissen Vorgängen und Systemteilen wird Libido 
abgezogen, um anderen zugeführt zu werden. Was wir für die Verliebtheit 
beschrieben haben, gilt mit einigen Abänderungen auch lur die Bindung 
an den Führer und für die Hypnose. Der Unterschied liegt in Umfang 
und Art der vom Objekt abhängigen Elemente. Während bei einer rege - 
rechten Verliebtheit z. B. jede Äußerung des geliebten Objektes, jedes 
Wort, jede Miene, Geste, jeder Zug seines Wesens die Aufmerksamkeit 
des Liebenden auf sich ziehen kann, und zugunsten dieser V\ ainnchimingen 
alle anderen verstummen können, liegt die Wirkung eiius 1 ührers in ei 
Vorherrschaft eines umschriebenen Momentes, nämlich irgendeiner poli 
tischen oder wissenschaftlichen Theorie, einer künstlerischen oder ethischen 
Idee. Während der Liebende den Geliebten im extremen Falle „mit allem, 
was er ist, und jedem Kleinsten seines Wesens“ im Herzen trügt, identi- 














Beiträge zur Metapsychologie 


11 


fiziert sich der Masseneinzelne mit dem Führer nur wegen seiner Idee und 
kann ihn dabei durchaus in Anderem ablehnen. Wir wissen, daß es freilich 
in Wirklichkeit jedes Mischungsverhältnis zwischen Verliebtheit und Bindung 
an den Führer gibt, die reine Darstellung dieser Typen nichtsdestoweniger 
richtig ist. 

Obgleich nun sozusagen dasjenige, was bei der Bindung an den Führer 
introjiziert ist, gemessen an dem Introjektionsgebilde der Verliebtheit, weniger 
mannigfaltig, weniger auf Umfassung des ganzen Objektes gerichtet, sondern 
umrissen ist, braucht es darum das Individuum in nicht geringerem Maße 
zu beherrschen, sein eigenes privates Ich-Ideal nicht weniger einzuschränken 
oder beiseite zu rücken, ihn nicht weniger kritiklos zu machen und es zu 
lähmen, als das bei der Verliebtheit der Fall ist. 1 

Der Unterschied beider Zustände mit dem der Hypnose ist zunächst auch 
in Art und Umfang und dann in der zeitlichen Dauer des Introjektions- 
gebildes zu sehen* Bei der Bindung an den Führer und bei der Verliebtheit 
handelt es sich mehr weniger um zeitlich ausgedehnte, sich akkumulierende 
und ausbauende Zustände, während sich der hypnotische Zustand, sensu 
strictiori } in einem zeitlich beschränkten Akte erschöpft, der den Charakter 
einer akuten experimentellen Halluzmose trägt. Im einzelnen hypnotischen 
Akt identifiziert sich der Hypnotisierte nicht wie der Verliebte mit einem 
möglichst großen Komplex von Elementen des Objektes, auch nicht wie 
bei der Bindung an den Führer mit einem um rissen en, ausgebauten und 
dauernd wirksamen Geistesprodukt, sondern der Hypnotisierte identifiziert 
sich mit einzelnen akuten Worten des Hypnotiseurs, die die Bedeutung 
von Geboten haben. 2 

Ökonomisch gesehen, handelt es sich also bei allen drei Zuständen einmal 
um Veränderung der frei bevceglichen narzißtischen Libido und Bindung 
der entzogenen Mengen an die in Abhängigkeit vom Objekt befindlichen 
Vorgänge und Systemteile und ein andermal um Entziehung von Besetzung 
des eigenen privaten IchTdeals zugunsten der durch Introjektion von Objekt- 


1) Auf die, an sich auch in eine Ökonomische Betrachtung einberiehbare Bedeutung 
der onto- wie phylogenetischen Vater- (Eltern-) Imago für die Erscheinung von Bindung 
an den Führer, Hypnose u, a. gehe ich hier absichtlich nicht ein und werde sie auch 
später nur streifen. 

2) Fälle, in denen ein Individuum sich in einer dauernden „hypnotischen Ab¬ 
hängigkeit“ von einem Objekt befindet, eignen sich nicht zum Studium des hypnotischen 
Zustandes, weil sie ihn nicht rein darstellen, sondern Mischfälle sind von verliebter 
Hörigkeit und hypnotischer Beeinflussung, Zum Studium eignet sich nur der isolierte 
hypnotische Akt. 









Carl Müller-Braunschweig 


1 2 


elementen entstandenen Ich- Ideal-Veränderung. Allgemein betrachtet, ist es 
bei allen drei Zuständen derselbe Ökonomische Vorgang. Der Unterschied 
liegt in der Besonderheit der Vorgänge und Systemteile, die in Abhängig¬ 
keit vom Objekt geraten und der Besonderheit der Ich-Tdeal- Veränderung. 

Während bei der Verliebtheit das JF-System an freier Energie verarmt 
zugunsten aller nur möglichen durch das geliebte Objekt bestimmten 
Wahrnehmungen, verarmt es bei der Bindung an den Führer zu Dunsten 
der umrissenen Wahrnehmung einer, wie immer, vorgetragenen Idee und 
schweigt es in der Hypnose zugunsten des einzelnen vom Hypnotiseur 
gesprochenen Wortes oder Satzes völlig. Es ist nicht der Hypnotiseur, der 
etwa wie ein Geliebter mit Haut und Haar introjiziert wird, sondern es 
ist das isolierte Wort, mit dem sich der Hypnotisierte identifiziert, das er 
in sein Über-Ich introjiziert, dem er dort allein Besetzung zukommen läßt. 

Beim Verliebten ist das Wahrnehmungssystem stark auf den Geliebten 
konzentriert, er „hat nur Auge und Ohr für den Geliebten , für die übrige 
Wahrnehmungswelt ist das Interesse mindestens stark herabgesetzt. Es kann 
freilich für bestimmte Gebiete und Aufgaben, gerade im Gegensatz zum 
Gesagten, stärker als je belebt werden, dann geschieht das aber, um dem 
Geliebten durch besondere Leistungen zu gefallen {führt also auf diese W eise 
wiederum zur Beziehung zum Geliebten zurück) und geschieht is zweitens 
aus der Wiederauffüllung des Quantums frei verfügbarer Libido durch das 
Wiedergelieb tw erden. 

Bei der Hypnose ist die Absperrung von der gesamten übrigen Wahr¬ 
nehmungswelt gründlicher als bei der Verliebtheit, diese Absperrung unter¬ 
scheidet sich anderseits von der des Schlafes darin, daß sie in einer einzigen 
Beziehung, eben in dem Rapport mit dem Hypnotiseur, durchbrochen ist. 

ökonomisch gesagt, werden in der Verliebtheit alle übrigen Objekt¬ 
besetzungen, soweit sie Bedingung der Wahrnehmung sind, zugunsten der 
auf das geliebte Objekt gerichteten herabgesetzt, werden in der Hypnose 
alle solche Objektbesetzungen zugunsten der auf den Hypnotiseur gerichteten, 
richtiger zugunsten derjenigen, die die Wahrnehmung seiner Worte ermög¬ 
lichen, 1 nicht bloß herabgesetzt, sondern völlig eingezogen, und werden im 
Schlafe alle Besetzungen, die die Wahrnehmung der Außenwelt möglich 
machen würden, eingezogen. Wohlgemerkt, ich habe hier nur \ on dt n 
Besetzungen gesprochen, die das Ich ausschickt, wenn es Wahrnehmungen, 


i) Vom Verliebten sagt man: „Er ist nur An ge und Ohr für den Geliebten“, vom 
Hypnotisierten kann inan sagen: lr Er ist nur Ohr, 


















Beiträge zur Metapsychologie 15 


und zwar solche der Außenwelt, haben will, ödei die es anderseits ein 
zieht, wenn es keine Wahrnehmungen haben wilL Ich habe nur vom 
W -System und dem Verhältnis des Ichs zu ihm gesprochen. Die Energie¬ 
verschiebungen bei Vorstellungen und Sexualregungen, im Er-System, 
im verdrängten und nichtv er drängten Unbewußten, im Es müssen einer 
besonderen Untersuchung Vorbehalten bleiben. 

4) Der Unterschied zwischen dem hypnotischen und dem normalen Schlaf 
läßt sich strukturell weiter verfolgen, wenn man fragt, welches bei diesen 
beiden Zuständen der agent provocateur ist, auf dessen Geheiß hin sie ent 
stehen. Bei der Hypnose ist es zunächst ein Objekt der Außenwelt, besser: 
ein von außen kommendes Wort, beim Schlaf der dem Ich, dessen he 
wußten und unbewußten Teil (dem Es) angehörende Schlafwunsch, Man 
darf auch sagen, den Anstoß zur Hervorrufung der beiden Zustände gibt 
in dem einen Falle die durch die Identifizierung mit dem Wort des 
Hypnotiseurs gegebene ÜberTch-Veränderung, in dem andern Falle die durch 
die Identifizierung mit dem Schlafwunsch des Es gegebene Ichveiänderung. 
In einem Falle unterwerfen sich Ich und Es dem (durch Identifizierung 
veränderten) ÜberTch, im andern unterwerfen sich Ich und Über-Ich dem 
(ebenfalls durch Identifizierung) veränderten Es. Der Schlafwunsch hat eine 
physiologische Basis, die periodischen Hrmüdungs- und Regenerationstendenzen 
des Organismus. Es paßt ganz zu dem Charakter des Ichs als der aus¬ 
gleichenden und erhaltenden Instanz, daß es sich dieser Tendenzen an nimmt 
und in seinem unbewußten Teil den Schlafwunsch als die psychische Re 
präsentanz dieser Tendenzen produziert. Der Unterschied zwischen Schlaf 
und Hypnose wäre danach auch so zu bezeichnen, daß beim Schlaf das Ich 
sich mit einer seinen eigenen Interessen gemäßen Tendenz identiiiziert und 
zu deren Belrnfe die Einziehung der den Rapport mit der Außenwelt 
tragenden Besetzungen veranlaßt, während es sich bei der Hypnose einer 
Instanz unterordnet, mit der es in einer phylogenetisch und ontogenetisch 
weit zurückreichenden und bedeutsamen Spannung lebt, dem Hypnotiseur 
(hinter dem der unbewußten Bedeutung nach in letzter Linie der Horden- 
vater steht) oder dem ÜberTch, besser: dem Worte (Gebote) des Hypnotiseurs 
oder des ÜberTchs (der ÜberTch-Veränderung), 

Die Tatsache, daß es eine Autohypnose gibt, weist uns darauf hin, daß 
an die Stelle des realen Objektes der Außenwelt und der realen Wahr- 

j) Bi s au f die durch die „Metapsychologische Ergänzung zur Traumlejire“ be¬ 
kannten, durch die Widerstände dem Verkehr entzogenen Kegungen im verdrängten 
Ubw des Es und Über-Ich, (Gesammelte Schriften, Bd. V.) 















Carl Müller-Braunschweig 


nehmung seines Wortes das eigene Über-Ich und sein Befehl treten kann. 
Auch in diesem Falle ist es nicht das Über-Ich schlechthin, von dem der 
Befehl ausgeht, sondern eine Über-Ich-Veränderung, die durch die Identi¬ 
fizierung, dieses Mal nicht mit dem realen Gebote eines Objektes der Außen¬ 
welt, sondern mit einem bloß vorgestellten Gebote vor sieb geht. 

Hinter diesem, bloß vorstellungsmäßigen Gebote, kann ontogenetisch und 
phylogenetisch nur die Imago eines väterlichen (oder elterlichen) Wortes 
stehen. Die Autohypnose stellte uns also vor die Annahme eines \ organges, 
den wir als eine im Über-Ich angreifende, eine Über-Ich-Veränderung erzeugende 
Identifizierung mit einer Imago (einer Wort-Imago) beschreiben müßten. 

Wir hatten in diesem Vorgang wohl auch das für die W irkung ent¬ 
scheidende Moment der Fremdhypnose zu sehen, bei der die reale Person 
des Hypnotiseurs nur die Bolle eines nicht unwillkommenen, aber nicht 
unentbehrlichen Statisten spielt. 

Ein Wort sei hier noch eingefügt über die eigentümliche Resistenz, die 
der Hypnotisierte zumeist unmoralischen oder verbrecherischen Suggestionen 
des Hypnotiseurs entgegensetzt, Sie ist vielleicht ähnlich zu verstehen, wie 
die Resistenz der verdrängten Regungen gegenüber dem normalen Schlaf- 
wünsch. Es könnte so sein, daß die Libidoverschiebung, die infolge der 
Introjektion der Worte des Hypnotiseurs das bisherige Über-Ich des Hypno 
tisierten zugunsten dieser Worte an Besetzung verarmen läßt, vor den 
Forderungen des Gewissens haltmachen muß, soweit dies«' zufolge ihres 
Ursprungs aus dem Ödipuskonflikt mit dem Verdrängten Zusammenhängen. 
Soweit das Über-Ich als eine Reaktionsbildung gegen die zu verdrängenden 
inzestuösen Regungen (d. i. das Prototyp der verbrecherischen Regung) 
anzusehen ist, hängt es sicher eng mit dem verdrängten übw zusammen 
und mag sich, soweit dies der Fall ist, gegenüber der ßesetZungsentziehung 
resistent verhalten, während es sich in anderen Elementen, die von jenen 
Zusammenhängen frei oder freier sind, zugunsten der hypnotischen Sug¬ 
gestion Energie mag entziehen lassen. 

5) Wir haben uns bisher der Aufgabe entzogen, über die Bedeutung zu 
sprechen, die in unseren Erscheinungen die direkten Sexuahegungi 11 be 
sitzen. Freud hat in „Massenpsychologie und lch-Analyse darauf hin¬ 
gewiesen, daß sich die Bindung an den Führer und die Hypnose durch 
den Wegfall dieser Strebungen auszeichnen, während die Verliebtheit sie 
in geringerem oder größerem Ausmaße einschließen kann. Wollten wir 
diese Tatsachen in unsere ökonomische Betrachtung einbeziehen, so könnten 
wir die Vermutung haben, daß in dem gleichen Sinne, wie durch die 















Beiträge zur Metapsychologie 


*5 


Bindung bisher freier narzißtischer Libido an bestimmte Vorgänge und 
Systemteile anderen Vorgängen und Systemteilen narzißtische Libido entzogen 
wird, der Wegfall direkter Sexualstrebungen dadurch entstanden sein könnte, 
daß diesen Strebungen Energie entzogen wird, die sie benötigen, um aktiv 
zu sein. Wenn wir, was schwierig vorzustellen wäre, nicht annehmen wollen, 
daß es sich bei einem solchen passageren Wegfall um eine wirkliche De- 
sexualisierung, also um eine Umwandlung sexueller in nichtsexuelle Energie 
handelt, so können wir uns doch denken, daß die Energieentziehung, welche 
die Sexualstrebungen inaktiv macht, auch hier nichts anderes als eine Ent¬ 
ziehung narzißtischer Libido ist. Das würde voraussetzen, daß eine Sexual¬ 
regung, um aktiv zu werden (und nicht nur in dem Sinne, daß sie als 
Sexualbedürfnis bewußt wird, sondern vermutlich weitergehend auch in 
dem Sinne, daß sie überhaupt zum motorischen Antrieb fähig wird), durch¬ 
gängig einer Besetzung mit narzißtischer Libido bedarf. Das würde nicht 
im Widerspruch damit stehen, daß so und so oft (Freud, das Ich und das 
Es) das Ich nichts besseres tun kann, als schleunigst einer Sexualregung 
nachzugeben, denn eine solche Besetzung mit narzißtischer Libido ist sicher 
nicht in allen Fällen in das Belieben des Tchs gestellt, sondern kann ihm 
so und so oft abgezwungen werden. 

Wir hatten uns also vorzustellen, daß die narzißtische Libido im Verhältnis 
zur sexuellen die Rolle eines unumgänglichen 1 ransporteurs zu spielen hätte, 
daß es anderseits dem Ich gelingen kann, der sexuellen Regung die narzißti¬ 
sche Libidobesetzung zu entziehen und dadurch eine direkte Regung ebenso 
zum Schweigen zu bringen als irgendeinen anderen Vorgang, sei es ein 
Affekt oder eine Vorstellung oder ein beliebiger motorischer Antrieb. 

So würde sich das Schweigen der direkten Sexualregungen bei der Hypnose 
der sonstigen motorischen Lähmung anschließen. Die Entziehung von Be¬ 
setzung, die diese Festlegung hervorbrächte, w r äre aber nur ein Teil des 
ökonomischen Vorganges, der überhaupt allen möglichen Vorgängen und 
Systemteilen die Besetzung entzieht, um sie anderswo zu konzentrieren. 
Dieser Wegfall der direkten Sexual Strebungen ist gerade auch in vielen 
Fallen von Verliebtheit in gleichem Maße vorhanden wie bei der Bindung 
an den Führer und bei der Hypnose, eine Tatsache, die die Verliebtheit 
den anderen Zuständen noch verwandter erscheinen läßt, aber durch die 
Beziehung auf unsere ökonomische Betrachtung eine Merkwürdigkeit ver¬ 
lieren läßt, die sie auf den ersten Blick zu haben scheint. Denn man sollte 
zunächst meinen, daß die Verliebtheit ohne irgendeine wesentliche Wirk¬ 
samkeit direkter Sexualstrebungen schwer vorstellbar wäre. Halt man sich 







1 6 


Carl M üller-Braunsch weiß 


aber vor, daß Verliebtheit auf zweierlei Weise ausgelöst werden kann, nämlich 
einmal dadurch, daß primär eine direkte Sexualstrebung vorhanden ist, die 
sich sekundär auch zu narzißtischer (zärtlicher) Besetzung aushaut, ein andermal 
dadurch, daß zunächst ein narzißtisches (zärtliches) Interesse vorwaltet, das 
sekundär die direkte Sexualstrebung auslösl, so kann man sich durch den 
ökonomischen Vorgang der Entziehung narzißtischer Libido vorstellen, daß 
sie im letzteren Falle die Sexualregung überhaupt erst gar nicht aufkommen 
lassen, im ersteren nachträglich zum Schweigen bringen kann. 

In die Fälle der Ausschaltung direkter Sexualstrebungen durch Entziehung 
narzißtischer Besetzung ist auch der Schlaf einzuordnen. Doch liegen hier 
die Verhältnisse besonders. Die unzweideutigen Äußerungen direkter sexueller 
Strebung und Abfuhr im Schlaf (Pollutionen u. dgl.) geschehen trotz der 
vom Schlafwunsch des Es und Ich ausgehenden Besetzungsentziehung. Sie 
werden ermöglicht dadurch, daß sie an den dem Ich nicht erreichbaren 
verdrängten Strebungen haften, denen also auch das zu ihnen gehörende, 
in die Verdrängung mitgerissene Quantum transportierender narzißtischer 
Libido nicht entzogen werden kann, die aber anderseits durch die Herab¬ 
setzung der Gegenbesetzung mitsamt jener transportierenden Energie i in* 
erhöhte Aktivität erworben haben. 


III 

1 ) Ich möchte mich in einem vorletzten Teile mit einem Sprung zu 
der Betrachtung eines metapsychologischen Gesichtspunktes wenden, dem 
ich das Recht auf eine selbständige Geltung neben dem topischen, dyna¬ 
mischen und ökonomischen zuspreche, so sehr er dein topischen ungeglie¬ 
dert werden mag. Der Gesichtspunkt ist von jeher und implicite ange¬ 
wandt worden; man kann ihn nicht erfinden, man braucht ilm nur heraus¬ 
zuheben und zu beschreiben. Tch meine den Gesichtspunkt der Richtung. 

Sprachlich ist er in vielen psychoanalytischen lerminis enthalten, in den 
Wendungen „aufs Objekt gerichtet“, oder „aufs eigene Ich gerichtet , in 
den Worten: Introversion, lntrojektion, Projektion, Verschiebung oder auch 
Inversion und in anderen. Seine Unterscheidung vom 1 hi n laßt sh h 
vielleicht am ehesten durch einen Hinweis darauf zeigen, daß wir den 
Begriff der narzißtischen Libido in zweierlei Bedeutung zu gebrauchen 
pflegen, einmal im Sinne einer „im Ich wirksamen“, dann im Sinne einer 
„aufs Ich gerichteten Libido“. Im ersten Falle meinen wir, daß die nar¬ 
zißtische Libido, topisch, diejenige sei, welche im Ich (dem Gesamt-Ich), 
und zwar in allen Systemen desselben, im Über-Ich, Ich und Es, wirkt. 














Beiträge zur Metapsychoiogie 


l 7 


im zweiten Falle, daß sie durch eine Richtung charakterisiert sei, die 
Richtung auf die Instanz des Ich. Der Begriff der Richtung schließt die 
Vorstellung ein, daß Libido, oder überhaupt psychische Energie von einem 
Ausgangspunkte, einem Subjektgcbilde, ausgehe und zu einem Endpunkte, 
einem Objektgebilde, hinstrebe. Illustrieren wir das an der Betrachtung 
des Satzes: Ich liebe mich. Hier richtet sich die Libido entweder vom 
Es auf das Ich 1 oder vom Ich auf das Über-Ich (im Sinne des Ideal- 
Ichs) das Ich liebt sein Ideal, das Bild seiner, wie es sein möchte — 
oder drittens vom Über-Ich auf das Ich, Das letztere ist der Fall, wo 
(als erotisches Gegenstück des destruktiven Wütens der Melancholie) das 
UberTch, die kritische Instanz, sich wohlwollend und freundlich gegen 
das Ich verhält. Wie gesagt, gilt der Begriff der Richtung nicht nur von 
den lihidinösen, sondern von allen psychischen Energien, also auch den 
destruktiven. Wichtig und ausschlaggebend ist der Begriff der Richtung 
bei der Unterscheidung von Gebilden wie den Introversionsprodukten (den 
Imagines) einerseits und den Introjektions-(Identifizierungs-)Produkten ander¬ 
seits. Die Imagines sind Objektgebilde, zu ihnen strebt die Libido hin, die 
Identifizierungsprüdukte sind Subjektgebilde, von ihnen geht sie aus. s 

Die Betrachtung von Verdrängung und Widerstand unter dem Gesichts¬ 
punkt der Richtung würde ergeben, daß die Energien der verdrängten 
Tendenz zum verarbeitenden Ich hinstreben, die Energien des Widerstandes 
von eben diesem Ich ausgehen. Durch die letzteren werden Energiequanten 
der erst er eil durch Bindung entzogen. Die Betrachtung der ^Verdrängungs“- 
prozesse in Traum, Psychose und gewissen Fehl Wahrnehmungen und Wahr- 
nehmungsausfällen des Alltags unter Zuhilfenahme des Gesichtspunktes der 
Richtung wollen wir uns für eine spätere Untersuchung aufsparen. 

2) Wenden wir uns zum Schluß noch einmal den Identifizierungsvorgängen 
und zwar deren Umfang zu. Es werden nicht nur Objekte oder Teile von 
Objekten introjiziert, sondern ganze Vorgänge (Beziehungen zwischen Ich 
und Außenwelt und zwischen Objekten der Außenwelt), sozusagen ganze 

ij Freud, Das Ich und das Es. Kap. III: „Wenn das Ich die Züge des Objekts 
annimmt, drängt es sich sozusagen selbst dem Es als Liebesobjekt auf (Ges. 

Schriften, Bd> VT, S. 574.) 

2) Vgl Freud, Massenpsychologie und Ich-Analyse, Kap. VII, wo allerdings nicht 
von der Richtung der Libido auf eine Imago, sondern auf ein wirkliches Objekt die 
Rede ist: „Es ist leicht, den Unterschied einer solchen Vater-Identifizierung von einer 
Vater-Objekt wähl in einer Formel auszusprechen. Im ersten Fall ist der Vater das, was 
man sein, im zweiten das, was man haben möchte. Es ist also der Unterschied, ob 
die Bindung am Subjekt oder am Objekt des Ichs angreift.“ (Ges. Schriften, Bd.Vf, S.504.' 


Imago XII. 


2 








Carl Müller-Braunschweig 


1 8 


Dramen Das wichtigste dieser introjizierten Dramen ist, auf eine kurze 
Formel gebracht, der Koitus der Eltern. Diese Introjektion finden wir bei 
der Aufgabe, die Ödipus-Konstellation zu überwinden, mit der hbidinoaen 
und sonstigen (destruktiven) Objektbeziehung und mehr minder starker, 
daraus hervorgegangener Introversion der auf Vater und Mutter gerichteten 
Libido verknüpft. Es ist nun von entscheidender Bedeutung, welchen Aus 
gang diese Introjektion unter dem Gesichtspunkte der Richtung der Li ho 
nimmt. Sehen wir von der weiteren Komplikation ab, die die Betrachtung 
der destruktiven Anteile der Energien ergeben würde, so käme (beim 
männlichen Kind) für einen normalen Ausgang alles darauf an, daß die¬ 
jenigen Libidoquanten, die von dem durch die Identifizierung mit dem 
Vater entstandenen Subjektgebilde ausgehen und auf das durch d.eObjekt- 
beziehung zur Mutter und durch Introversion entstandene Objektgt ite 
(die Mutter-Imago) gerichtet sind, über diejenigen überwiegen, du umgekehrt 
von dem durch die Identifizierung mit der Mutter entstandenen Subjekt¬ 
gebilde ausgehen und auf das Objektgebilde der Vater-Imago gerichtet sin . 


IV 

Im folgenden wollen wir an Stelle von Noten, die den Text zu sehr 
überlasten und vielleicht unübersichtlich machen wurden, einige r g an 

zungen an das Gesagte anschließen: , 

x) Das Wiedergeliebtwerden: Im Anschluß an die Schilderung der 
ökonomischen Verhältnisse bei der Verliebtheit kann auch eine Aufklärung 
der Erscheinung versucht werden, die im Liebenden statt in et, wenn er 
wiedergeliebt wird, und die in einer Aufhebung des Gefühles der Demu , 
einer Wiederkehr des Selbstgefühls, ja, in dem Erwachen eine. iHochgefuh 
besteht. Wir haben die für die Verliebtheit beschriebenen Vorgänge um 
zukehren, um diese Erscheinung zu verstehen. Während durch das Verhebt- 
sein bisher freie narzißtische Libido an alle objektbezogenen Vorgänge und 
Systemteile, einschließlich der durch die Identifizierung entstandenen Uber- 
Ich-Veränderung gebunden wird. Hießt durch das Wiedergehcbl werden nar 
zißtische Libido auf die verlassenen Positionen zurück. 

Am deutlichsten wird das zunächst bei der Betrachtung der Libi o 
Verschiebungen im Über-Ich. Der Geliebte liebt ja, wenn es sich um eine 
volle Gegenliebe handelt, am Liebenden den ganzen Menschen, also auch 

^ Freud, Zur Einführung des Narzißinus, Kup. 111. (Ges. Schriften, Kd. VI, 

S. 182 f.l 
















19 


Beiträge zur Metapsychologie 


dessen charakteristische Wertungen, wie sie neben anderem in dessen Über¬ 
leb lokalisiert sind. Der Liebende läßt einfach sein Interesse durch das 
des Geliebten* der ihn wiederliebt, lenken, wenn er nunmehr beginnt, 
auch sein durch die Verliebtheit verlassenes individuelles Über-Ich wieder 
zu lieben, libido-ökonomisch ausgedrückt, dem privaten Über-Ich, dem er 
zugunsten der durch die Introjektion des Objektes entstandenen Über-Ich- 
Veränderung Libido entzogen hatte, diese wieder zuzuführen. Den gleichen 
Mechanismus (des Sich-Führen-Lassens durch die Richtung der Libido des 
wiederliebenden Geliebten) haben wir anzunehmen, wenn sich der Liebende 
den anderen verlassenen Positionen und Interessen wieder zuwendet. Er 
wird ja wiedergeliebt nicht nur wegen seines Über-Ichs, sondern wegen 
aller seiner Äußerungen und Tendenzen, denen er sich nun wieder zu¬ 
wenden kann. 

Wir haben anzunehmen, daß es so zu einer regen Wechselwirkung 
zwischen Über-Ich-Veränderung und dem bisherigen Über-Ich kommt, 
ebenso zu einer solchen zwischen allen einerseits objekt-, anderseits subjekt¬ 
bezogenen Vorgängen, auf welchen Wechselbeziehungen sowohl die belebende 
Wirkung einer glücklichen gegenseitigen Liebe beruht, wie durch sie die 
häufige Erscheinung der fortschreitenden, auf das Ich übergreifenden Assi¬ 
milation zu verstehen sein mag, die man bei den Partnern dauernder und 
glücklicher Liebes- und Ehebündmsse vorzufinden pflegt. 

Man könnte die Frage der Vorgänge beim Wiedergeliebtwerden auch 
anders darstellen und damit zugleich ergänzen: Der Verliebte erhöht sein 
Liebesobjekt, in der Vorstellung (Freuds ^ Sexual -Überschätzung“), in 
gleicher Weise, wie das infantile Ich seinerzeit, sich selber nicht mehr 
genügend, sich idealisierte und damit die auch weiterhin wirksame Seite 
des Über-Ichs schuf, die Freu d das IdeaFIch genannt hat. Das Liebesobjekt, 
indem es wiederliebt, idealisiert damit wiederum den Liebenden. Wenn 
sich nun der Liebende mit seinem Liebesobjekt identifiziert, identifiziert 
er sich auch mit dessen den Liebenden erhöhenden idealisierenden Ten¬ 
denzen und gewinnt dadurch eine Wiederbelebung der vordem durch 
Libidoentziehung geschwächten, auf sein eigenes IdealTch gerichteten 
Energien. Er darf sich, d. h. sein Ideal-Ich, in dem gleichen, ja in er¬ 
höhtem Maße wiederlieben, als das vor seiner Verliebtheit der Fall war. 
Diese Betrachtung zwingt uns, die Auffassung, daß der Verliebte sich nur 
in seinem Über-Ich mit dem Liebesobjekt identifiziere, anders gesagt, 
das Liebesobjekt nur in sein Über-Ich introjiziere, dahin zu ergänzen, daß 
er sich auch partiell in seinem Ich mit dem Liebesobjekt identifiziert. 







20 


Carl Müller-Braunschweig 


Da™ zwingt uns nicht die Tatsache, daß die narzißtische Besetzung durch 
die das Liebesobjeitt die Idealisierung seiner Vorstellung vom Lieben tu 
vornimm., als nur vom Ich des Liebe.objek.es ausgehend angesehen wer¬ 
den muß, denn wir sahen vorhin, daß auch den. Ich angcLonge Mom 
wie Charakterzüge, durch Introjektion in ein fremdes Über- oh dort als 
dirigierende Elemente wicderkohren können, aber wohl der Dmstan , 
der Liebende als Erfolg seiner Identifizierung mit der Idealisierung, le 
das Liebesobjekt mit ihm vornimmt, sich selber wieder idealisieren kann 
was doch nur als von seinem Ich ausgehend und als auf sein Eber c i 
(Ideal-Ich) gerichtet vorgestellt zu werden vermag. Anderseits behalt a er 
neben diesem Vorgang eine Introjektion ins Über-Ich ihre Geltung. Denn 
die Idealisierung, die Überschätzung, die das Liebesobjekt mit dem Lie¬ 
benden vornimmt, ist anderseits eine Wertung, geht also wie alle Wertungen 
auch vom Über-Ich aus. Soweit das der Fall ist, wird sie auch beim 
Liebenden gleichzeitig als Wertung, also in dessen Über-Ich, auftauchen: 
Der Liebende wertet sich. Hebt sich, sein Ich, nun auch von seinem Uber- 

Ich aus so, wie sein Liebesobjekt ihn wertet. 

Die Identifizierung des Verliebten mit dem Liebesobjtkt, soweit iese 
wiederliebt, wird also zwei Folgen haben. Soweit diese Identifizierung im 
Ich des Verliebten angreift, wird die vom Ich auf das Lber-Ich ge¬ 
richtete, die Liebe zum eigenen Ich-Ideal ermöglichende Besetzung wieder¬ 
hergestellt. Soweit sie im Über-Ich angreift, wird die vom Uber-Ic 
auf das Ich gerichtete Besetzung, die die positive wohlwollende Kritik 
dem eigenen Ich gegenüber ermöglicht, wiederhergestellt. 

2 ) Narzißtische Libido und zärtliche (zielgehemmte) Strebungen. 
Wir haben in Kap. II, 5 narzißtische und zärtliche Strebungen einander 

gleichgesetzt. Darin liegt eine Ungenauigkeit. 

Unter zärtlichen oder zielgehemmten Strebungen verstehen wir me 
zwei Arten von Strebungen, deren eine in reinster Form sich von den 
direkten Sexualstrebungen nur dadurch unterscheidet, daß sie vom genital 
Ziel ganz, von den anderen sexuellen Zielen nur mehr oder weniger ab¬ 
gelenkt ist. Je mehr extragenitale sexuelle Ziele ihr beigese t uti tn, ] 
mehr fällt sie mit den Vorluststrebungen zusammen. Wir bezeichnen 
z. B. Küsse und Berührungen als „Zärtlichkeiten . 

Die reinste Form der zweiten, auch zärtlich genannten Sticbungcn 
behrt im Gegensätze zu der ersten ganz der sexuellen Komponente. an 
könnte sie „seelische Zärtlichkeit“ nennen. Sie gehl vom Gefühl, von ur 
Vorstellung und zum Teil von jener Art der Identifizierung aus, die wir 









Beiträge zur Metapsychologie 


2 1 


Einfühlung nennen. Diese Art der Objektbesetzung ist auch eine narzi߬ 
tische zu nennen, denn sie ist eine Besetzung des Objektes mit desexuali- 
sierter Libido. 

Wir haben mit diesen beiden Formen der Zärtlichkeit die Endglieder 
einer Reihe beschrieben, in deren Verlaufe wir uns jeden Grad von Mischung 
zwischen der Zärtlichkeit aus Besetzung mit desexualisierter (narzißtischer) 
Libido und der aus zielgehemmter sexueller Besetzung denken können. 

5) Das Verhältnis der narzißtischen zur sexuellen Libido: Daß 
die sexuelle Libido ohne die narzißtische nichts vermag (Kap. II, 5), paßt 
durchaus zu der uns durch Freud längst vertraut gemachten Vorstellung, 
daß die im narzißtischen Reservoir des Es befindlichen Sexualregungen 
zunächst objektlos sind. Erst das Ich (und wir müssen ergänzen, vermittels 
seiner Verfügung über die narzißtische Libido) und seine durch das /F-System 
und die Beziehung zur Motilität gegebene Verbindung mit der Außenwelt, 
kann die Sexualregungen mit den Wahrnehmungen und Vorstellungen und 
den motorischen Impulsen verknüpfen, die sie befähigen, sich mit einem 
realen sexuellen Objekt in Verbindung zu bringen. 

Wir fassen also die Bedeutung der transportierenden Funktion der narzißti¬ 
schen Libido so auf, daß durch Entziehung narzißtischer Libido sexuelle 
Regungen 2um Schweigen gebracht, durch Hinzufügung aktiviert werden 
können, und daß es außerdem die narzißtische Libido ist, die die \ er 
knüpfüng der im Es (entsprechend dem Charakter des Primärsystems) objekt-, 
ziel- und wahllos herumirrenden Sexualregungen mit Elementen (Wahr¬ 
nehmungen, Vorstellungen, Wünschen, motorischen Impulsen) besorgt, die 
ihnen erst die reale Beziehung zu einem Objekte der Außenwelt ermöglicht. 

4) Absinken und Wiederauf steigen des Narzißmus vor und 
nach Befriedigung des Sexualbedürfnisses: In diesem Zusammen¬ 
hänge wird auch die Erscheinung verständlicher, daß bei Richtung sexueller 
Wünsche auf ein Objekt, solange diese Wünsche unbefriedigt bleiben, der 
Narzißmus des Begehrenden eine Herabsetzung erfährt, die erst nach der 
Befriedigung wieder aufgehoben wird. Diese Erscheinung müssen wir nach 
dem bisher Gesagten auf die hei sexueller 0bjektbeset2ung unumgängliche 
Mitbeteiligung der narzißtischen Libido zurückführen. Wir müssen uns 
vorstellen, daß, wie zuerst die sexuellen Strebungen das Ich zwangen, die 
zur Findung des Objektes unentbehrliche transportierende narzißtische Libido 
zu mobilisieren, hinterher diese narzißtische Libido ihrerseits, von der 
sexuellen Libido mitgerissen und an die nunmehr auf das Objekt bezogenen 
Sexualregungen und andere objektbezogenen Vorgänge geheftet, in eben 











Carl MüUer-Braunschweig: Beiträge zur Metapsychologie 


dem Maße dem Ich, wie wir es beschrieben haben, entzogen wird. Durch 
diese Entziehung narzißtischer Libido erklärte sich uns die Herabsetzung 
des Selbstgefühls. Umgekehrt, nach Befriedigung des Sexualbedurfnisses, 
löst sich nicht nur die sexuelle Libido aus ihrer Bindung an die sie mit 
dem Objekt verknüpfenden Elemente, sondern mit ihr gleichzeitig auch die 
narzißtische, so daß die verwendbare narzißtische Libido wieder zur allen 

Höhe steigt. 















Über das Unisono in der Komposition 

Beitrag zur Psychoanalyse der Musik 

Fortrag in der ^Nederlandscke Fereeniging voor Psjrcho-Analyse“ am 2* Dezember i $22 

Von Dr. A. van der Chijs (Amsterdam) 

Die verdienstvollen Forschungen von Bardas, Graf, Hitschmann, 
Lach, Pfeifer, Rank, Rdvesz, Teller, die sich mehr oder weniger 
psychoanalytisch mit Musikproblemen beschäftigen, beschränken sich auf 
die Kompositionen selbst, ohne jedenfalls den lebenden Komponisten per* 
sÖnlich zu vernehmen. So spricht Pfeifer in seiner gründlichen Abband* 
lung über Robert Lachs Studien zur Entwicklungsgeschichte der ornamen¬ 
talen Melopöie 1 hauptsächlich über die reproduzierende Musik, über den 
Ursprung der Töne, des Gesanges usw. Lach betont den Zusammenhang 
zwischen Gesang und Libido, beweist auf Grund von Darwins Theorie, daß 
Gesang und Sexualleben der Völker miteinander in engstem Zusammen¬ 
hang stehen, sowie daß die Gipfelpunkte des Gesanges und des Sexual¬ 
lebens der Vögel meist im Frühjahr zusammenfallen, Y\ eiter betont er die 
Sublimierungstendenz der Musik und ihre Bedeutung als Kraft Affekt 
Entladung. Die Ursache dieser phänomenalen Modifikation des Sexualtriebes 
liegt in der Verdrängung. Max Graf behandelt in seinem ausgezeichneten 
Buche „Die innere Werkstatt des Musikers' 1 auch die Kompositionen. Er 
weist unter anderem auf das Suchen nach Ausdruck für alle Affekte in der 
Musik hin. Er zergliedert manche Schöpfung großer Meister in bezug auf 
Aufbau, Melodie, Rhythmik usw. Graf findet keine direkte Umformung 
von krankhaften Neigungen in Töne. Er treibt aber keine pathologische 
Anatomie der Musik, und das ist gerade das, was ich anstreben wollte. 

Einen der besten Anhaltspunkte für die Musikanalyse findet man in der 
symphonischen Dichtung oder in der sogenannten Programmusik. 
Man kommt aber ohne unmittelbare Analyse des Komponisten meistens 


1) Imago, Bd. VII, S. 505 ff. 






24 


Dr. A. van der Chijs 


nicht weiter als zur Erkennung von mehr allgemeinen Begriffen, oder 
es gibt der Tondichter selbst sein „Programm“, das man mehr oder weniger 
deutlich in der Musik manifest wiederfindet. Die Verdrängung aber wird 
auf diese Weise gewöhnlich nicht gelöst werden. 

Und dennoch muß es möglich sein, in der Musik wie im Traum den 
latenten seelischen Gehalt, die Konflikte der Seele aufzufinden und sie 
zu lösen. * 

Ein Komponist brachte mir ein Lied mit Klavierbegleitung. Wir 
unternahmen versuchsweise die Analyse. 

Beim ersten Anblick bot es nichts besonderes. Ilei näherem Eingehen 
aber fiel mir eine Passage auf, welche durch ein an dieser Stelle nicht 
schön klingendes Unisono auffällig war, Im Text war von der unglück¬ 
lichen, todbringenden Liebe zwischen einem jungen Mädchen und einem 
Jüngling die Rede. 

Die Einfälle des Komponisten ergaben, daß hei ihm, nachdem ihm ein 
Freund von seiner unglücklichen Liebe für ein Mädchen erzählt hatte, 
die Anregung zu dieser Komposition entstanden war. Nennen wir diesen 
Freund X. Erfühlt sich mit X. ganz einig und verwandt. Die Singstimme 
im Lied ist die Stimme des von seiner Liebe lür das Mädchen erzählenden 
Freundes, er die Begleitung. So ist auch in Wirklichkeit das Verhältnis 
zwischen beiden. Das oben genannte Unisono ist liier nicht nur ein ln 
Oktaven-Zusammengehen. Es ist so beschallen, daß gerade di< Singstimme 
genau dieselben Noten wie die Begleitung bringt. Diese immerhin 
auffällige Art des Unisonos darf wohl Anlaß sein, hier eine tielere Be¬ 
deutung zu suchen, um so mehr, als der Komponist dieses Unisono gar 
nicht bewußt niedergeschrieben hat. Der Patient teilt mit, daß ihn schon 
früher einmal ein Musiker auf solch ein Unisono in einer Komposition 
aufmerksam gemacht hat. Er erkennt es selbst als etwas Infantiles an, „so 
wie ein Kind mit zwei Händen eine Melodie unisono spielt“. Es weist bei 
ihm auf ein gewisses Zurückbleiben in der Entwicklung hin. 

Deutlicher wird dies, wenn wir erfahren, daß er zu X. in einer unzweifel 
haft homosexuellen Bindung steht. Seine Entwicklung ist noch nicht 
genügend von der homosexuellen Einstellung befreit. Er ist mit X. ganz 
und gar „unisono“; die unglückliche Liebe von X. zum Mädchen muß 
sterben. Er und X. müssen ganz vereint weiter Zusammengehen. Sie 
singen beide nur eine Melodie und mit derselben Stimme. 












Über das Unisono in der Komposition 


25 


Es ergibt sich jetzt die Frage: „Ist dieses Unisono etwa pathogno- 
monisch für den Ausdruck der Homosexualität in der Musik?“ 

Ich maße mir nicht an, zu antworten und berichte lieber über einen 
zweiten Komponisten, der kurz nachher in meine Behandlung kam. Genau 
vor dem Ausbruch seiner Neurose hatte er ein Klavierstück komponiert. 
Ich forderte ihn auf, bei den verschiedenen Motiven seine Einfälle mit¬ 
zuteilen und ich will diese hier im besonderen soweit berücksichtigen, als 
sie mit Unisonostellen in Beziehung stehen. (Der Patient selbst wußte 
übrigens nicht, daß ich diesen Stellen besondere Aufmerksamkeit entgegen¬ 
brachte.) 

Das Hauptmotiv I, Andante, drückt ruhige Zufriedenheit aus. Er 
hat zwar die Freundschaft von zwei Freunden verloren, aber anderseits 
einen neuen Freund gefunden. Der ruhige Charakter erinnert ihn an diesen 
Freund, Er wollte damit sagen, daß diese Freundschaft für ihn das größte 
Glück war. 

Die Freude wird jetzt lebhafter, es entsteht Motiv II: Allegretto, wo 
die Begleitung der linken Hand etwas trocken, öde gehalten ist, um zu 
beweisen, daß eben alles Glück nur vergänglich ist, schließlich doch zur 
Melancholie führt. 

Es kommt hier nicht zu einem Unisono, nur zu einem Zusammengehen 
der beiden Stimmen, besser gesagt: Hände, in Terzen. Warum? Die Ein¬ 
heitlichkeit der Liebesfreude war eben gerade nicht vollkommen (alles Glück 
ist doch vergänglich, wie er zuvor betont hat), kann daher kein unberührtes 
Unisono bilden. Er genießt die schönen Augenblicke nicht, verdüstert die¬ 
selben durch Wehmut und schafft sich selbst Leiden. Die Gedanken an die 
öde Vergangenheit bändigen seine Freude. Er hat doch durch den Verlust 
der beiden ersten Freunde die Unbeständigkeit der Freundschaft erfahren! 

Er verarbeitet Motiv II weiter zu einem Walzerthema* und endet in 
Motiv III, das er schon längere Zeit vorher gefunden hatte. Er las damals 
in den Äneis von Vergil, wie Dido, von Äneas verlassen, sich ihrer Ver¬ 
zweiflung überläßt. Patient beschreibt hier diese Verzweiflung, abwechselnd 
drohend und flehend, während der Rhythmus, wie er sagt, an das Wogen 
des heftig atmenden Frauenbusens erinnert. 

Die melancholische Stimmung wird nun vertrieben durch ein naives 
Motiv IV, um zu sagen, daß wahrhaftiges Glück nur im kindlich Ein¬ 
fachen zu finden, während das Ganze mit Motiv [ endet, wobei die linke 
Hand fast fortwährend in Oktaven geschrieben ist. Hier haben wir also das 
erwartete richtige Unisono, obwohl nur noch allein in der linken Hand. 







2 6 


Dr. A, van der Chijs 


Das Glücksmotiv der Freundschaft hat gesiegt, aber noch nicht auf 

Was finden wir nun, wenn wir rekapitulieren? Er leidet an psychi¬ 
schem Infantilismus, hat außerdem noch die stete Neigung rur Re¬ 
zession (Vergangenheit) und Melancholie. Er sucht das Gluck, kann 
es wo er es gefunden, ohne Mißklang nicht genießen. Er bereitet sich 
selbst Weh, ist Sado-Masochist, freut sich kindlich Über das Finden eines 
neuen Freundes, nachdem er zwei andere verloren hat, wöbe, er sich so 
fühlt wie die verlassene Dido, also als Weib. Das richtige Unisono finden 

wir in der Durcharbeitung des Freundesmotivs am Schluß angedeutet, 

nicht lege artis angewandt. 

Würde das vielleicht einen prophezeienden, prospektiven Wert haben, 
wie das Unbeschlossene in der Komposition erwarten läßt? Wir werden 
es später erfahren. * 

Seine zweite Komposition ist ebenfalls für Klavier. Sie ist nur ku** 
und könnte wohl „Melancholie“ benannt werden. Patient sagt anfänglich, 
daß das Ganze die Umgestaltung seines traurigen Zustandes malt, o ine 
daß er dabei an etwas Bestimmtes denkt. Wir finden im Mittelsatz ein 
Hauptmotiv, das für beide Hände eine getragene Melodie unisono 

Er hat hiebei die folgenden fWiationent „Ich kompomerte ... cvahreml 
ich .ehr krank war. Ich hatte viel über Mythologie gele.en und bc.onder. 
hatten die keltischen und br.hmani.che„ Sagen auf mich Et..druck gemacht. 
Sie enthalten «ine starke Symbolik, und es war mir immer ... Genuß, 
die Motive nach ihrem Ursprung xu verlegen. Sie zeigten nur immer das 
Nutzlose des Seins, Auf die alten kelti.chen Mythen führe teil auch 
Personifikation der Naturkräfte zurück.“ Weiter denkt er an I mh.r 
Versammlungen in einem heiligen Walde, an Kontgtn Maäb, dt. Kneg 
führen wollte, den Prototypus des Mannweibes, an Heldenve.ehrung, 
speziell an den Helden Cuchulin, dessen Bild, stehend auf einem Streu- 
wagen, er lange betrachtete. 

In diesen Mythen, sagt er, wird der Gedanke von selbst aul die Manner- 
figuren gelenkt, da das weichere, weibliche Element fasl ganz fehlt. 
Die Frauen haben dabei oft männliche Charaktere oder smd pervers. 
Im allgemeinen tritt in diesen Mythen eine bis zur Perversität durch¬ 
gebildete Libido sexualis hervor. Diese Einfälle entwickeln sich weiter zur 
Parsi fal-Sage. Der Mann wird Weib, das Weib wird Mann, wie Königin 


1 


















Über das Unisono in der Komposition 


27 


Maeb. Er bewundert die beiden, das Weib aber hauptsächlich in ihrer 
Männlichkeit, nicht als Frau an sich. In seiner Identifizierung mit der 
Dido zeigt er inzwischen sowohl sein Sich-selb st -als- Weib -Fühlen als seinen 
Narzißmus. 

In der Gralszene von Parsifal erinnerten ihn die langen weißen Gewänder 
der Ritter an die Frauenkleidung. Während seiner Krankheit ging er selbst 
auch am liebsten in langen weißen Kleidern herum. Ja, später noch ließ 
er immer seine Röcke länger machen, als der Herrenschneider es für wünschens¬ 
wert hielt. Sein während dem Komponieren des letztgenannten Stückes ge¬ 
fundener Freund sollte jetzt eine ernsthafte venerische Krankheit akquiriert 
und ihm versprochen haben, niemals mehr mit Frauen zu verkehren. Diese 
Tatsache hat selbstverständlich seinen Widerwillen gegen die Frauen 
stark vermehrt. Längere Zeit vorher, wenn er fast zwangsmäßig immer 
seinen Freunden gegenüber über die keltischen Mythen redete, sagte ein 
Freund zu ihm: „Laß doch ab von diesen ewigen Geschichten, du gleichst 
wohl selbst einem Myth* Er erschrak fürchterlich über dieses häßliche 
Wortspiel, das ihm nie mehr aus der Erinnerung fortkam, und einen stark 
suggestiven Einfluß auf ihn hatte. Um dies zu verstehen, muß ich Ihnen 
mitteilen, daß das Diminutiv von Mytk , im Holländischen Mythje (Verkürzung 
von Sodomit), ein Schimpfwort für Urning ist. 

Die ganze Komposition nun ist eine gewisse Selbstanklage, die blucht 
vor der Realität, vor dem Menschlichen in die Ewigkeit. Sie spricht von 
der Bewunderung für das Mannweib und den Mann, vom Vertreiben der 
Frauen aus der Männergesellschaft, von der homosexuellen Freundschaft, 
der begeisterten Verehrung des starken Helden, von seiner Identifizierung 
mit der Frau in der Gestalt der Dido, von der Einheit der in weißen langen 
Gewändern umhergehenden, ohne Frauen lebenden Priester, von seinem 
Studentenverein, der auch den Namen „Dido" trägt, und unter dessen Mit¬ 
gliedern mehrere Homosexuelle sein sollen. 

Im Unisono nun ist diese nach der schwachen und jetzt wirklich als 
Prophezeiung aufzufassenden Andeutung in der ersten Komposition erwartete 
Homosexualität jetzt deutlich kundgegeben. Außerdem zwingt sie ihn 
zur Erkenntnis, daß er selbst schon diese Homosexualität vermutet und 
gefürchtet, aber es nie auszusprechen gewagt, also verdrängt hatte. Endlich 
beichtet er, was er ebenfalls noch verschwiegen hatte, daß er gerade am 
Abend, bevor er diese Komposition angefangen hatte, einen homosexuellen 
Akt beging. Es zeigt sich, daß er heiß verliebt ist in seinen neuen Freund, 
den er küssen und umarmen wollte. 







28 


Dr. A. van der Chijs 


Bei weiterer tieferer Analyse fanden wir, daß seine Homosexualität be¬ 
gründet war in Inzestgedanken der Mutter und Schwester gegenüber, 

aber auch in einem psychischen Infantilismus. . 

Die inneren Konflikte waren die treibenden Kräfte 7.ur Komposition, sie 
strebten nach Erlösung. Wir finden hier aufs neue bestätigt, daß das Be¬ 
deutende in der Kunst seinen Ursprung im verdrängten Inzest wünsch hat 

und im Infantilismus. 

Graf sagt, daß die Künstler Stunden der Melancholie und Verdüsterung 
kennen, in denen die Erregungen des Unbewußten wie eine trübe Flut 
sich stauen an den Dämmen, die Bewußtes und Unbewußtes scheiden. 
Immer sind es Suchende und was sie suchen, sagt Graf, ist ihre Kind¬ 
heit. Alles künstlerische Schaffen stammt von der Spiel freu de und 
Phantasielust des Kindes. 

Wir kommen also von verschiedenen Seiten zur selben Ansicht. 


* 

Die dritte, kurz nach dieser Analyse entstandene Komposition soll im 
allgemeinen den Sieg des Guten über das Böse vorstellen. Die breiten 
Akkorde am Anfang des ersten Satzes sind Introduktion. Sie enden im 
D-moll-Dominant-Septim-Akkord, also ohne Lösung der gestellten Aufgabe, 
und bedeuten eine Frage. Die Antwort gibt er in der weiteren Motiv¬ 
verarbeitung. Das erste Motiv malt die Einsamkeit. Eine darin angewandte 
Tr iolenfigur fällt auf und ist begleitet von traurig klingenden Bässen. Das 
Ganze erinnert ihn an die unzugänglichen Felsen der norwegischen Küsten 
im Winter. Seine Melancholie tritt hervor, alles ist trostlos, fast unhörbar 
schluchzend erreicht ihn da das Einsamkeitsmotiv, das allmählich abklingt. 

Da kommt mit harten Schmiedehammerschlägen das Felienmotiv. Er 
sieht sich auf dem Meere und sehnt sich nach der Küste. Während der 
Analyse hat er einmal ein Wikingerschiff gezeichnet. Das galt einem 
früher gehabten Traum vom Fahren nach einem fremden Lande und soll 
der Grund für diese Komposition gewesen sein. Wir stoßen hier auf seine 
narzißtische Identifizierung mit Lohengrin und Parsihil, aber g toc 1- 
zeitig auf den Begriff der Homosexualität, wie es sich schon oben zeigte. 
Das Felsenmotiv nun enthält, wie das Kinsamkeitsinotiv, ebenfalls eine 
Triolenfigur; beide Motive zeigen eine Verwandtschaft. Auch dies ist wieder 
unisono geschrieben und entwickelt sieb in schnell in du Höhe 
strebenden Oktav-, also Unisonopassagen, die Wellen des Meeres, 
die um ihn herum an der Felsenwand auseinanderspritzen, unter brausender 
Gewalt in Schaum sich lösend. 











Über das Unisono in der Komposition 


29 


Jetzt folgt ein prophezeiendes Motiv, nur rhythmisch bedeutend, aber 
auch wieder mit einer Triolenfigur. Es ist das Symbol einer Kraft, außer 
und über ihm, das ihm ermahnend zuruft: „Verzweifle nie, alles wird 
sich ändern, es sind Dinge im Werden, welche du nicht, ich aber wohl 
sehen kann“. Fortwährend tritt dieses Motiv in der Komposition hervor 
und hat eine beschwörende Kraft. Dann treffen wir eine neue Melodie, 
das Singmotiv, eine Stimme, die, hinter den Felsen, fern im Lande (denken 
wir an die Gralserzählung von Lohengrin „in fernem Land usw.“), mit 
lieblichem Klang, lockend ruft. Seine Antwort ist ein Motiv des Flehens, 
ein demütiges Bitten, in das neue Land eingelassen zu werden. 

Ein Heldenkampf fängt an. Immer zurückgeschlagen in Sturm und 
Wind, verdoppelt er seine Anstrengungen, indem der lockende Gesang 
immer widerhallt. 

Fast völlig niedergeschlagen, tönt auf einmal wieder das Prophezeiungs¬ 
motiv und kündigt die Erlösung an. Plötzlich erscheint das neue Licht, 
ein noch nicht gehörtes Lenzmotiv, den Sieg des Weiblichen über 
das Männliche vorstellend, als eine majestätische Göttin sich fort- 
bewegend, ganz ohne irgendwelche Andeutung von Unisono. 

Die Komposition endet mit einem strahlenden D-dur-Akkord, die frohe 
Stimme vom herrlichen, neuen Leben. 

Die tiefere Analyse lehrt uns folgendes: 

Im Einsamkeitsmotiv gibt Patient sein eigenes Ich, den melancho¬ 
lischen Sucher. Sein neu gefundener Freund erwüdert seine Liebe nicht 
so, wie er es sich erträumt hat. Der Freund ist wie ein Felsen, hart wie 
Stein, zurückweisend. 

Im Felsenmotiv trafen wir, wie schon gesagt, dieselbe Triolenfigur 
wie im Einsamkeitsmotiv, das heißt: seine Identifizierung mit 
dem Freunde, aber außerdem das jetzt bekannte Unisono, die Vor¬ 
stellung seiner mit dem Freunde sich als ein Wesen fühlenden Liebe. 

Anfänglich sucht er sich dem Felsen, also seinem Freund, zu nähern. 
Er fleht um seine Liebe, er will sich hingeben, aber gleichfalls erobern, 
herrschen und unterwerfen, er manifestiert seinen Sado-Masochismus. 

Der immer höher steigende Unisono-Oktavengang, die Wellen, der 
Sturm, der Schaum, der dann um ihn umherspritzt, wir erkennen leicht 
die Symbolik des Kontraktions- und Detumeszenztriebes, die 
Ausmalung des oben erwähnten homosexuellen Aktes. Das Prophezeiungs¬ 
motiv ist die Stimme des Arztes (auch hier treffen wir die Triolen¬ 
figur als Ausdruck der Übertragung), aber gleichzeitig das Symbol des 
















normalen Naturtriebes, durch den Am sozusagen herauf beschworen. 

Er sucht und bekämpft im gleichen Moment seine homosexuelle 
Liebe. Nach heftigem Ringen siegt er endlich und erobert den 
seinen Freund. Aber er muß weiter. Dies darf nicht sein Endziel bleiben. 
Über den Felsen, über seine Flomosexualität hinaus, kann er erst das ge¬ 
lobte Land erreichen. _ 

Fern im Lande lockt ihn die Göttin der Liebe, der Lenz, die I rau. 

Jetzt sucht er seine Elsa, Die Stürme legen sich, das Lenzmotiv malt, 
mit dem D-dur-Akkord als Erlösung, den Sieg des Weibes. 

Die Unisonos bleiben ganz weg, nachdem der Streit beendet ist. 


Ich wiederhole jetzt meine Frage: 

Ist das in dieser Form vorkommende Unisono wirklich pathognomo- 

nisch für homosexuelle Regungen?“ 

Wohl schrecke ich vor der Bejahung zurück, wenn ich überlege, wie 
oft wir das Unisono in den Schöpfungen eines Mozart, Beethoven, 
Wagner, Brahms antreffen. Ich glaube es denn auch kaum, um so mehr, 
da es an sich keine abweichende Konstruktion ist. Es strebt nach der 
vollkommensten Harmonie, und das ist, kurz gesagt die L" , 
und der Inhalt der Liebe wieder ist, qua talis, immer derselbe, nur ist 

die Objektwahl eine andere. 

Ich bringe hier in Erinnerung, daß das Unisono nur an den Mellen 
hervortrat, wo wirklich von Liebe die Rede war, und komme also 

zu folgender Flypothese. , 

„Das Unisono in der musikalischen Komposition ist anschei¬ 
nend geeignet, als Symbol der Einheit in der Liebe, ^Deicht 
speziell für die homosexuelle oder pseudo-homosexuelle Liehe, 

auftreten zu können.“ t . , 

Für den Fall, daß die homosexuellen Komponenten bei diesen beiden 

Patienten nur eine zufällige Koinzidenz darstellen sollten, 
doch jedenfalls daran denken, daß, wenn es unbewußt angewandt wur e, 
das Unisono eine Verdrängung von Liebesgefühlen sein kann, un 
dadurch, regressiv oder als Entwicklungshemmung wirkend, (ine 
mehr infantile Form wählen kann. Umgekehrt kann der Infantilismus an 
sich die Ursache der unbeholfenen Unisono- Liebeserklärung sein. 

Weitere Untersuchungen über das hier angeregte Problem können viel¬ 
leicht später eine Entscheidung bringen. 















Über das Unisono in der Komposition 


5 1 


Abschließend sei noch erwähnt, daß jene letzte Analyse für den Patienten 
von großer Bedeutung war, denn, was er anfangs zufolge unbewußten und 
bewußten Widerstandes verschwieg, ist durch die Analyse seiner Kompo¬ 
sitionen zur Aussprache und Deutung gekommen. So verschwand denn 
auch während der Analyse allmählich seine homosexuelle Neigung, 
die Liebe zwischen den beiden Freunden ging ganz zu Ende, und nun 
liebte unser Komponist (zuerst psychisch, später auch physisch) ein Mäd¬ 
chen, eine „Elsa“, seine Lenzgöttin mit ihrer lockenden Stimme (seine 
Geliebte ist öffentlich auftretende Sängerin). Seine Homosexualität war 
eine Pseudohomosexualität, eine Psychoneurose, und stellte meines Er¬ 
achtens auch nur das infantile, noch nicht differenzierte, oder schon bis zur 
Bisexualität ausgewachsene Stadium seiner Entwicklung dar, die Folge einer 
durch ungünstige Verhältnisse (Inzestmotiv, allgemeinen psychischen Infantilis¬ 
mus usw.) entstandenen Verdrängung und verlängerten Pubertät. 

Der Fall dieses Patienten bestätigt schließlich die diesbezüglichen An¬ 
sichten von Kerenczi und er w r äre dann den Objekt-Homoerotikern 
zuzuzählen. 









Eine südslawische Märchenparallele 
zum Urtypus der Roland-Sage 

Von Dr. Franziska Juer (Wien) und 
Dr. Otto Marbach (Wien) 


Die entscheidende Tatsache, daß gleiche und ähnliche Märchenmotive sich, 
bei den verschiedensten Völkern finden, wurde zuerst von den Brüdern Grimm 
erkannt. Damals begann die Märchenforschung, deren Hauptaugenmerk sic aixf 
das Sammeln und Zusammenstellen von Motiven richtete. Bald versuchte man 
auch, mit mehr oder weniger Erfolg, den „Sinn dieser eigenartigen künst¬ 
lerischen Produkte zu fassen. .... . , 

Die psychoanalytische Methode mit ihrem tiefen Eindringen in die \ syche 
des Kranken, des Kindes und des Volkes hat auch ein ganz neues Licht auf 
diese Probleme geworfen. Mythen- und Märchenfowchung ist bere.ts ein eigenes 
Teilgebiet dieser Wissenschaft geworden. Abgesehen von der neuen rt, ea j 
Sinn zu deuten“, sind diese Arbeiten in ihrer Zusammenstellung den fiuheter* 
ähnlich: denn entweder werden größere Marchengruppen unter einem bestimmten 
Gesichtspunkt betrachtet, oder man verfolgt ein Motiv durch eine Anzahl 

^nn^T'zusammenhänge bestehen zwischen Traum und Märchen — die« U*j 
seit Freuds Traumdeutung“ unabweisbar klar. 

Wir haben nun in vorliegender Arbeit versucht die Methode der 1 raum- 
deutung konsequent auf die Märchendeutung zu übertragen d. h. « haben 
Stück für Stück des Märchentextes herausgegriffen und analysiert, als ob t m 
Traum vorläge. Dabei erwiesen sich auch die kleinsten, bisher noch unbeachteten 
Details als sinnvoll und psychisch determiniert. ne , 

Das analysierte Märchen ist der Sammlung von I*. S. 11111 * . 7 * 

Märchen der Südslaven“ (Leipzig 1884, bei W. Friedrich), entnommen. Es hoxüx. 
„Der Sohn der Königstochter“ (.. Bd., Nr. 41) und wurde wegen seiner Be¬ 
ziehung zur Rolands Sage, wie wegen des in ihm enthaltenen ,. 11 ‘ 1 V *» 

eines Teilmotivs des Inzestproblems gewählt. . , 

Vor die eigentliche Deutung stellen wir eine gedrängte Inhaltsangabe er 

Erzählung. 









Eine südslawische Märchenparallele zum Urtyp us der Roland-Sage 


53 


„Es war einmal ein König* der hatte eine wunderschöne Tochter, die er Viel mehr 
liebte als seine Gemahlin, So kam’s, daß er seine Gemahlin wie einen Dienstboten* 
die Tochter aber wie seine Frau behandelte*“ Deshalb kränkt sich die Königin sehr 
und klagt einst einem vorbeiziehenden Wanderer ihr Leid — und der weiß wirklich 
Rat, Er gibt ihr einen Zauber an, der bewirken solle, daß die Tochter schwanger 
werde* Dies geschieht tatsächlich* Der König — um nicht ins Gerede zu kommen — 
sieht sich daher gezwungen, die Tochter verschwinden zu lassen. Zu diesem Zweck 
läßt er eine Art von Arche hauen, verlockt die Tochter, sich hineinzubegeben und setzt 
sie auf diese Weise aus* — Während ihrer Meeresfahrt gebiert die Königstochter 
einen buntgefleckten Knaben, der von allem Anfang an außergewöhnliche Vorzüge 
an sich erkennen läßt. Denn er kann sofort laufen und sprechen* Nach einiger Zeit 
vollbringt er bereits unerhörte Kraftleistungen. Vorn Meer aus erblickt die Mutter 
den König in seiner Kutsche, wie er gerade seinen Mähern das Essen bringt* Da springt 
der Knabe über das Meer bis ans Land, zieht das Schiff ans Ufer, läuft der Kutsche nach 
und nimmt dem König alle Speisen weg. Dann fahren sie wieder eine Weile auf dem 
Meer und gelangen zu einem großen* verwunschenen Schloß* In jedem der zwölf 
Schloßzimmer ist ein Teufel, Der Knabe springt wieder ans Land, findet einen zehn 
Zentner schweren Eleiknüttel und begibt sich, damit bewaffnet, ins Schloß. Die Teufel 
wollen ihn nicht einlassen. Er aber zertrümmert eine Tür nach der anderen, ver¬ 
prügelt jeden Teufel und schickt danach alle die Besiegten ans Gestade zur Mutter* 
Der zwölfte Teufel behauptet, ihn nicht einlassen zu können, weil er festgeschmiedet 
sei* Da schlägt der Knabe die Türe durch, daß das Schloß erdröhnt und der Teufel 
mit der Kraft ans trengung der höchsten Angst die Fesseln zerreißt. Darauf nimmt 
er allen zwölf Teufeln den Eid ab, nicht mehr ins Schloß zurückzukehren* Ein Teufel 
sucht zu entfliehen, aber die Bleikeule trifft ihn zu Tode* — Danach wohnten der 
Knabe und seine Mutter im Schloß, wo es zwar viele Schätze, aber keine Speisen 
gab* Deshalb schickte die Mutter den Knaben um Lebensmittel auf den Markt. — 
Er läßt sich dort ein großes Tuch mit Brot füllen, wirft das Bündel über die Schulter — 
und zahlt nicht* Da die entrüsteten Verkäuferinnen Bezahlung verlangen, droht er mit 
dem Bleikolben zu bezahlen* Ebenso spielt er einem Fleischhauer mit, dem er einen 
ganzen Ochsen davonträgt, wofür er gleichfalls nur in Prügeln zahlen will. Da sich 
die Mutter verwundert, daß er das ganze Geld zurückbringt, antwortet er: „Du hast 
mir nur gesagt, ich soll Brot und Fleisch nach Haus bringen, vom Zahlen hast du 
mir nicht gesprochen*“ — Als der Vorrat verzehrt ist, schickt ihn die Mutter wieder 
zur Stadt und er treibt es wie das erstemal* Man führt daher beim König über ihn 
Klage. Der König läßt sich ein Gerüst erbauen und beobachtet von dort aus den 
Knaben* Beim drittenmal ladet ihn der König-, als der Knabe bei seinem Gerüst 
vorüberkommt, für den folgenden Tag zum Essen* Er geht mit einem großen Korb 
versehen in die königliche Burg, läßt die Herrschaften, die an der Tafel versammelt 
sind, aus seinem Teller Suppe essen, verzehrt aber dann ganz allein die ganze Suppe, 
sowie alle aufgetragenen Speisen und trinkt den ganzen Wein aus* Dann füllt er noch 
den Korb für seine Mutter an. Inzwischen hatte man ein Regiment Soldaten kommen 
lassen, die auf ihn zu schießen begannen* Er aber fordert sie nur auf, ibn nicht an- 
zuspucken, und als sie das Schießen nicht einstellen, liest er alle Kugeln auf* erschlägt 
damit die Soldaten und zertrümmert überdies mit seinem Bleikolben die halbe Burg. 
Daraufhin unterhandelt der entsetzte König mit ihm und forscht schließlich nach des 
Knaben Mutter, die er, trotz der Versicherung, sie sei häßlich, aufs Schloß bringen 
heißt. Am nächsten Tag bringt der Junge seine Mutter, der König sieht, daß sie 
schön ist und heiratet sie* Nach dem Hochzeitsfest geht der Knabe mit dem König 
in einen Wald. Dort sind in einem hohlen Baum viele verrostete Säbel, Der Junge 


Imago XII, 


3 






toi 


Dr. Franziska .iuer uml Dr. 

_ , • f sich e i n en zu wählen und ihm damit den Kopf ah Zuschlägen, 

fordert den König auf, si drobt er wcr dc es dem König tun, wenn nicht 

Der König wiU nicht, □■ ^ dcr Köjjig j)rm selbcn Augenblicke verwandelte sich 

der e buni^ckt U e e Knabe in einen wunderschönen Jüngling von blendend weißer Farbe. 

Diese kurze und skizzenhafte Inhaltsangabe läßt eines bereits erkennen: Ihe 
Diese uae u eutlichkeit der Märchenzusammenhänge. W ieder werden 

Sprunghaft^keitun^Undeu paraMeil) ^ den urspr üngliche« Sinn 

^ir bewahrt haben, weiter kommen und schließlich wieder erkennen 

STTÄ Zerrissene, förmlich Zerkiüftete „es vorliegende» 
Volksmärchens, das anmutet wie eine willkürliche Vereinigung, ein Konglomerat 
unzusammenhängender Motive, seine innerliche Berechtigung, tiefere Grün e 
eines 1 notwendigen Zusammenhanges hat. Ein in sich geschlossenes Ganze«, 
ein berechtigter und notwendiger Zusammenhang, der freilich nur dem Forscher 
klar wird, L mit psychoanalytischen Methoden an die Autlösung des scheinbar 
Verworrenen und Unzusammenhängenden geht. Ein Beweis ur tle unuiu^ung 
liehe Notwendigkeit der Kenntnis und Handhabung der psychoanalytischen Metho e 
für den Ethnologen und Folkloristen, Mythen- und Märchenforscher. Demi iva* 
läge — ohne die Kenntnis dieser Methode — näher, als das infolge de. eigenen 
Unkenntnis Undenkbare und scheinbar Unerklärliche der SprunghafUgkeit, 
Gedankenlosigkeit oder Inkonsequenz der Volksphantasie aufzuburden. lnAe ^ 
doch dem simpelsten „Schnadahüpfl“ mehr Sinn und ästhetische Ko.iseq. j 
innewohnt, als gewissen Herren vom Fach persönlich zur Verfügung st - 
Doch wenden wir uns nun der Analyse unseres Märchens zu. 
freilich läßt an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig: 

„Es ivar einmal ein König, der hatte eine wunderschöne Tochter, die er viel mehr liebte 
als seine Gemahlin* 

Es liegt also das Griseldis-Motiv in «Her nur möglichen Offenheit vor' Vor 
die Fraee gestellt, von wessen Psyche aus das Märchen ln diesem Ml gesell, t 
sei, SSJL wir’nicht umhin, der Tochter einen b fMcndcn Anteil an d r 
Entstehung diese» Motivs zugestehen >u müssen Zwar bo ,h “''' wio 
phantastischen Ersatzbildungen des Vater-Tochter-Komplexe, gehennicht, 
man er analcgia erwarten sollte, auch vom ^ngen Kmd, der Tester , 
sondern erscheinen zum größten Teil vom Standpunkt des V««™ gMrbritet 
(Inzestmotiv S *68.) Uns erscheint jedoch zumindest ein Motiv, 
von der Dienstbarkeit der Tochter, die von der bösen Mutter erzwungen wir , 
unzweifelhaft der Tochterpsyche entsprungen. (Die,™ Motiv ersche nt am deut 
lichsten in den Aschenbitidel-Märchen, K, H. M., Nr. .. und Parallalen bet 

0 Zahlreiche Parallelen bei Bollc-pIÜ.k«, Anm. in “"d«' •"£ 

1= K. H. M.) Nr. 31 („Das Mädchen ohne Hände“) und . r. >5 ( , n 0 r 

psychoanalytischer Seite wurde das Motiv an.führhch be.pr.chen n,lU nk^Uar 
Sinn der Griseldafnbel“, Imago I (Mar» .91»), und ” Jj, 1 , AuB „ dom 

Dichtung und Sage, XI, Di. Beeiebungen Zürcher Zeitung 

L P Betz: ,jDie Griseldis-Sage in Dicht- und 1 onkunst. 

1905, Nr. 64.) 














Eine südslawische Märchenparallele zum Urtypus der Roland-Sage 55 


Bolte-Polivka. Die Heldin muß der bösen Mutter und den bösen [älteren] 
Schwestern Magddienste leisten. Dieses Motiv ist zu spezifisch weiblich, als 
daß man dafür den Vater als Erfinder in Anspruch nehmen dürfte-) Durch 
derartige Märchenzüge sind die beiden Möglichkeiten der primitiven Stellung 
des Weibes zu erkennen. Das Weib war eben (noch der homerische Kultur¬ 
kreis weist darauf hin) entweder Sklavin (SouXri) oder Beischläferin, Lagergenossin 
(ako%oc)~ Die Mutter, um die Inzestgefühle zwischen ihrem Gatten und der 
Tochter wissend und bestrebt, die jüngere Rivalin unschädlich zu machen, 
sucht dies durch entstellende Magddienste zu erreichen, zu denen sie die Tochter 
anhält. Wunsch der Tochter muß nun eine Umkehrung der Verhältnisse sein, 
so daß sie Lagergenossin des geliebten Vaters wird, die Mutter aber zu ent¬ 
würdigenden und entstellenden Magddiensten verdammt wird. Und dieser Wunsch 
wird eindeutig und klar formuliert: 

„So kam’s, daß er seine Gemahlin wie einen Dienstboten, die Tochter aber wie seine Frau 
behandelte. Die Gemahlin des Königs weinte immer bitterlich , daß sie getneine Arbeiten wie ein 
Dienstbote verrichten und in der Küche schiaßen mußte.“ 

Wir sehen, wie sich liier das „Griseldis-Motiv" mit dein Motiv von der 
„wahren Königin als Magd** verbindet. 1 Die Deutung der meisten dieser 
Motivgestaltungen ergibt, daß es sich um die durch die Mutter verdrängt 
fühlende Tochter handelt. (So Grimm, K. H. M., Nr. 8g: „Die Gänsemagd“, 
ebenso in der Berta-Sage; siehe die Anm.) Die böse Mutter ist es gewöhnlich, 
die die Stelle, die die Phantasiegestaltung der Tochter für sich in Anspruch 
nimmt, mit List und Tücke usurpiert und die eigentliche, rechtmäßige Gattin 
(die zu sein sich die Wunschphantasie der Tochter dünkt) zum „Aschenputtel“ 
(K. H. M., Nr. 21) erniedrigt. In unserem Zusammenhang setzt die Tochter 
offener, unverdrängter ihren Wunsch durch. In den übrigen Märchengestaltungen 
pflegt die Tochter erst Erniedrigung, Schmach und Elend zu leiden (voraus¬ 
genommene Bestrafung), dann aber ihren Wunsch doch durchzusetzen. Sie 
wird rechtmäßige Gattin und die Mutter-Imago (Stiefmutter, Stiefschwester, 
böse Dienerin, Amme usw.) wird bestraft — zumeist sogar auf grausamste 
Weise getötet. (Vgl. K. H. M., Nr. 21, 53, 89.) Hier jedoch wird die sonst 
überall verdrängte Ursache des Leidens eingestanden: Der Inzestwunsch der 

1) Man vergleiche K. H. M., Nr. n, Nr. 89 — beide dem Märchonkreise von der 
, untergeschobenen Braut“ angehörend und die bei Bolte-Polivka hiezu angeführten 
Parallelen. Ausführlich über „das Motiv von der untergeschobenen Braut“: Arfert 
(Kostocker Diss. 1897), wo auch die Sage von Berta, der Mutter Karls des Großen, 
behandelt wird. (S, 59 ff.) Da wir im folgenden Gelegenheit haben werden, auf den 
karolingischen Sagenkreis zurück zukommen, wollen wir darauf hinw eisen, daß sich 
also auch dieses Motiv der Karls-Sage hier findet. Nach den deutschen Fassungen 
(Weihenstephaner Chronik, Ulrich Füeterer, Heinrich Wolters Chronica Bremensis) 
wird Prinzessin Berta, die Braut König Fipins, auf der Reise vom ungetreuen Höf¬ 
marschall mit dem Tode bedroht, einsam im Walde zurückgelassen und statt ihrer 
des Hofmarschalls Tochter dem betrogenen König untergeschoben. Die romanischen 
Quellen („Reali di Franeia“, VI, „Berte aus grans pies“ etc.) lassen den Brauttausch 
viel raffinierter in der Hochzeitsnacht selbst stattfinden. 










3 6 


Dr. Franziska Juer und Dr. Otto Marbach 


Tochter. Der Wunsch, die Mutter solle in der Rüche schlafen müssen, be¬ 
deutet die Verbannung aus dem ehelichen Schlafgemach. 


Nun traf es sich einmal, daß ein Wanderer des Weges einherkam, die weinende Königin 
sah" und sie anredete: finädige Frau, was fehlt Euch, daß Ihr so bitterlich WCOV? -St* 


Tagt';ln offen und frei ihr ganzes Leid und er gab ihr folgenden Ha, ,Gnädige Frau, 
verfügt Euch am Karfreitag auf den Friedhof, grabt dort ein Grab auf, nehmt em Totenbem, 
schabt das Bein ab und gebt das Abgeschabte am nächsten Morgen Eurer Iachter in den Kaffee 
und Sie wird augenblicklich in gesegnete Umstände kommen• — l>te Königin befolgte genau 
des Wanderers Worte, und wirklich, die Tochter wurde schwanger .“ 


Wir wollen bei dieser Stelle, die in mannigfachster Hinsicht der Deutung 
bedarf, zunächst wieder an das soeben Gesagte anknüpfen. Der von der Mutter 
vollführte Zauber — ist Tochterwunsch in zweifacher Hinsicht. Denn erstens 
reinigt sie sich dadurch von dem Verdacht, als wünschte sie den Inzest mit 
dem °Vater, — wird sie doch, sozusagen unschuldig, durch den Zauber der 
bösen Mutter dazu gezwungen. Zweitens erreicht sie dadurch die Charakteristik 
der Mutter, als der „bösen Mutter“, der „Zauberin“. — Hier liegt das Motiv 
noch unverdeckt vor, das in seiner weitergehenden Verarbeitung und \ er- 
deckung aus der „bösen Mutter“ die „böse Stiefmutter gemacht hat. Zum 
Totenzauber selbst ist zu sagen, daß das Totenbein, wie der Knochen überhaupt, 
allenthalben in Märchen und Mythos als Symbol des Phallus (eines göttlichen 
oder väterlichen Phallus) — begegnet. Das „Abgeschabte im Kaffee“ hier (sonst 
häufig auch das „Spülwasser“), enthüllt sich der Analyse als Sperma Symbol. 
Die Befruchtung durch den Genuß von Speise oder Trank, oder überhaupt 
irgendwie durch den Mund (conceptio oralis), gehört in den Kreis der infantilen 
Sexualtheorien und findet sich demgemäß sehr häufig im Märchen. Die 
wunderbare Befruchtung“ geschieht gewöhnlich durch ein Penis-Symbol. So 
z. B. bei Grimm, K. H. M, Nr. 85 („Die Goldkinder ), durch einen (goldenen) 
Fisch oder in den verschiedenen Versionen, die das Brüdermärchen (K. H. 

Nr. 60 Die zwei Brüder“) einleiten (siehe Bolte-Polivka, Anm.au Nr. 60), 
durch einen Wasserstrahl. 1 2 * * * Die conceptio oralis und die damit verbundene 


1) Noch ohne symbolische Verdeckung wird in der Os int-Sago das Glied des 
Gottes selbst verschluckt, worauf Rank (Iniestmotiv, 514) hinge wiesen hat; »Auf eine 
typische infantile Sexualtheorie weist es auch hin, wenn d.e zerstückelten GUader, 
wie in der Osiris-Sage der Phallus, verschlungen werden, da nach infantiler Vorst. W g 
die Befruchtung durch Essen erfolgt; meist von Früchten, welche die Fruchtbarkeit 
symbolisieren, in der Osiris-Sage durch Verschlucken des eigentlichen Hefrnclitungs- 
organs selbst.« Und ferner Anm.: „Hier verbinden sich die Befruchtung symbolisierenden 
Verschlingungsmythcn (. . . verschluckt . . • und wieder aitsgespien . . .) ,nl us 

setzungsmythus, wo auch ein im Kästchen Verschlossener auf dem llss< 1 ns 1111m 

und dann befreit wird.“ Diese Verbindung ist in unserem Märchen besonders deutlich. 

s) Bolte-Folivka, Anm. zu Nr. 60, S. 5 * 9 * teUen folgende Version mit: „Ein 

König hatte eine Tochter, welche die Mäuse verfolgen,“ [ 1 ] — (Pcnlianglt, d. h. 
verdrängter und ins Gegenteil umgcschlagener Wunsch der Tochter; so erklärt sich 

wohl auch die hysterische Mäuse- und Battenangst vieler Frauen) — „so daß er sie 
nicht anders zu retten weiß, als daß er einen Turm mitten in einem großen Fluß 


































Eine südslawische Märchenparallele zum Urtypus der Roland-Sage 


„wunderbare Befruchtung 4 ' ist „typische Abwehr des Inzests mit dem Vater“* 
(Rank, Inzestmotiv, 566.) Das an der zitierten Stelle von Rank besprochene 
kyprische Märchen ist für uns ganz besonders interessant } weil das Grundschema 
des doppelten Inzestes (Vater-Tochter, Sohn-Mutter) hier wie dort dasselbe ist* 
Wir wollen nur darauf Hinweisen, daß im kyprischen Märchen die Tochter 
durch den Genuß eines Apfels schwanger wird, den sie — ahnungslos — von 
einem Baum gepflückt hat, der dem Grabe des toten Vaters entwächst. Auch 
an das Motiv von der wunderbaren Befruchtung durch den toten Vater sei 
erinnert, wozu sich mehrere Märchen, in denen der Tote deutliche Vater- 
Imago ist, als Bestätigung ergeben, * 1 Dies beweist uns wieder die richtige 
Deutung der Symbolik des Tütenbeines als väterlichen Phallus, Der gesamte 
Märchen- wie Traummechanismus ist im Grunde immer Wunscherfüllung. 
Der Wunsch der Tochter im vorliegenden Fall ist es, vom Vater geschwängert 
zu werden. Was also aussieht wie eine böse Intrige der Mutter, ist nur 
Deckung für den eigenen Wunsch, Das hier angeschlagene Thema von der 
„wunderbaren Empfängnis" zwingt uns wegen seiner Bedeutsamkeit noch ein 
wenig dabei zu verweilen. Bekanntlich pflegt ältester und neuerer Mythus 
seine Helden und Religionsstifter aus „wunderbarer Empfängnis“ entstehen 
zu lassen, — Der „Mythus von der wunderbaren Empfängnis“ geht nun 
freilich, wie auch Rank meint, aus der schroffen und absoluten Ablehnung des 
Vaters von seiten des Helden hervor (auch in unserem Zusammenhang liegt 
diese Ursache vor), doch können wir nicht umhin, die Frage aufzuwerfen, ob 
die „wunderbare Empfängnis" nicht auch als verdrängter Inzestwunsch der 
Tochter determiniert ist? Im Märchen liegt gewöhnlich verdeckter Vater- 
Tochter-Inzest vor, wenn das Motiv der wunderbaren Empfängnis verwendet 
wird. (Vgl, das oben Gesagte und Anm. 2 auf S, 36.) Die Sage ist deutlicher* Man 
denke nur an die verschiedenen Stammsagen, an die Sagen von der Geburt 
der Stammesheroen! Dort erscheint die wunderbare Befruchtung noch als 
Befruchtung durch einen Gott, Der Gott ist aber die bedeutsamste Vater-Imago, 
(Vgl. Rank: „Mythus von der Geburt des Helden“,) So erscheint z. B, Mars 
als Vater des Romulus usw. Eine Stufe weiter in der Verdeckung — und 
die Befruchtung geschieht nicht mehr durch den (Vater-) Gott in Person, sondern 
durch ein symbolisches Medium, (Zeus befruchtet Danae als goldener Regen.) 
In der ausgebildeten Jesus-Mythe geschieht die wunderbare Befruchtung ebenfalls 
durch den Gott-Vater, aber nicht in Person, sondern durch das Medium des 
Heiligen Geistes, der in Gestalt einer Taube (Vogel — Penissymbol) erscheint. 


hauen und sie dorthin bringen läßt* Sie hat eine Dienerin bei sich und einmal, als 
sie zusammen in dem Turin sitzen, springt ein Wasserstrahl zum Fenster herein. 
Sie beißt die Dienerin ein Gefäß hinsetzen, welches sich füllt, worauf der Strahl 
aufhört* Beide trinken von dem Wasser und gebären danach zwei Söhne * , 

1) So F. 5 . Krauß: „Sagen und Märchen der Südslaven“, Nr. 34 („Stahlpascha“: 
der tote Kaiser erscheint wieder als Gespenst, um sich seine Töchter zur Ehe zu 
holen); Nr* 70 („Die Spinnerin und der Tote“: Der Tote stellt dem Mädchen ununter¬ 
brochen nach und raubt es schließlich dem Gatten; ähnlich „Der Vampir“, ebendort.) 









58 


Dr, Franziska Juer und Dr, Otto Marbach 


„Nach einigen Monaten merkten wohl die Leute des Fräuleins gesegnete Umstände und 
munkelten, der König sei der Vater des Kindes.“ 

Das Munkeln 1 2 * * * * * * * * * * * 14 _ will der manifeste Märchentext glauben machen, sei 

böswillige Verleumdung. Der latente Sinn des Märchens, als eines Erzeugnisses 
des wirkenden Volksgeistes, ‘der nicht, wie man wohl zu sagen pflegt, das 
Gesamtbewußtsein, sondern vielmehr das Gesamtunbewußte darstellt, verrät 
die Berechtigung dieses „Munkeins“. Vox popidi, vox dei! 

Der König schämte sich nicht wenig, daß sich ein solches Gerücht unter den Leuten ver¬ 
breitete und ließ auf einem Schiffe am Meere ein kleines Häuschen erbauen, das auf dem 
Meere schwimmen konnte, u 

Diese Schilderung ist besonders interessant, weil wir Schuld!)©wußtsem und 
Verdrängung förmlich an der psychischen Arbeit sehen* Der Ausdruck „Ge- 
nicht “ 7 wie oben „Munkeln“, entspringt der Verdrängung. Dadurch soll die 
Unschuld des Königs betont werden. Seine Handlungsweise entspringt dem 
Schuldbewußtsein und bezeugt daher seine Schuld, 

Das schwimmende Häuschen auf dem Meer gehört zu den bekannten 
Mutterleibssymbolen, denen wir in den Aussetzungsmythen regelmäßig begegnen/ 
ebenso die große Flut oder das Meer als Symbol für das Geburtswasser* 
Hiemit ist die Vorgeschichte beendet. Wir erkennen das Schema* Es ist die 
typische Vorgeschichte von der wunderbaren Geburt eines Helden* Die typische 
Aussetzung, die in der Mehrzahl der Falle erst unmittelbar nach der Geburt 
vorgenommen zu werden pflegt, geschieht hier schon vor dieser* Der noch 
ungeborene Held wird gemeinsam mit der Mutter, also noch im Mutterleibe, 
ausgesetzt* Der manifeste Grund hier ist also: dem Gemunkel zu entgehen. 
Der latente: die Furcht vor dem — noch ungeborenen — Sohn/ 


1) Vgl, die Arche, das Kästchen in dem Moses, das Körbchen in dem Romulm 

ausgesetzt wird. Vgl* hiezu und zum Folgenden* Rank: „Mythus von der Geburt 
des Helden“, a. Auf!., S. 70: „Die Aussetzung im Wasser symbolisiert die Geburt . * 

bezeichnet den Geburtsvorgaug, allerdings in der Darstellung durch sein Gegenteil.** 

2) Die gemeinsame Aussetzung mit der Mutter findet sich auch in der Telepho»- 
Sage* Vgl* Rank: „Mythus von der Geburt des Helden“, S* 22, Anm,: „Bei Furipidrs, 
von dem die Tragödien ,Auge* und /Tclophos* existieren, ließ Aleos Mutier und 

Kind in einem Kasten ins Meer werfen.“ — Auch die Perseus-Sage gehört in diesen 

Kreis. (Vgl* Rank: Mythus, S, 22 l) Danae, Tochter des Akriiios, gebiert den Perseus 

von Zeus* Beachtenswert ist, daß Pindar und andere behaupten, Danae sei nicht von 

Zeus, sondern vom Bruder ihres Vaters (!) geschwängert worden. Der König läßt 

Mutter und Kind in einem Kasten ins Meer werfen* Perseus wird aber 

gerettet und tötet später — zufällig — seinen (Groß-) Vater Akrisios* — Der Sym¬ 

bolik der Aussetzung (Entbindung eines Kindes aus dem Fruchtwasser wird mittels 

der Umkehrung, als Eintritt des Kindes ins Wasser dargestellt) liegt der \Y umch 

zugrunde, das —- wie in unserem und den parallelen Fällen — einem Inzest 

entstammende Kind solle lieber nicht gehören werden. Zurück ins Wasser bedeutet 

soviel, wie zurück in den Mutterleib* Vgl* Rank; Inzestmotiv, S. 588: „Die Aus¬ 
setzung erfolgt, als der unbewußt vollzogene Inzest entdeckt wird, oder die Kinder 

aus dem bewußten Inzest beseitigt werden sollen. — So wird Rhoio, die 















Eine südslawische Märchenparallele zum Urtypus der Roland-Sage 59 


Im folgenden Text, der erzählt, wie die Tochter das Häuschen auf dem 
Meer bemerkt, sogleich hineingehen will (sexuelle Neugier!), und der Vater 
sie, mit den nötigen Speisen versehen, einsperrt, ist nur die Schilderung der 
Gemütsverfassung der Getrennten interessant; 

er ging und stand , weinte er und grämte sich um die Tochter ah , Die Tochter konnte 
sich auch nicht trösten und war stets traurig 

Dies ist — im Sinne des künstlerischen Aufbaues — wichtig: Am Ende der 
Vorgeschichte, eine Wiederaufnahme des Liebesmotivs. Vater und Tochter 
benehmen sich wie ein getrenntes Liebespaar, — Wir kommen nun zum 
zweiten Abschnitt: Zur Geschichte von Mutter und Solm, Zunächst, der 
wunderbaren Befruchtung entsprechend, eine wunderbare Geburt: 

r Nachdem sie längere Zeit in ihrem Häuschen auf dem Meere herumgeirrt, gebar sie einen 
ganz buntgefleckten Knaben , der* kaum aus dem Mutterliebe draußen^ herumzulaufen anßng. a 

Wenden wir unsere Aufmerksamkeit vorerst dem eigentümlichen Attribut 
zu, das dem Knaben beigelegt ist. „Bunt gefleckt/' Nicht nur an dieser Stelle, 
sondern auch in Fassungen, wo etwa ein Tier gefleckt erscheint, vermutet 
und sucht der Psychologe mit Recht einen tieferen Sinn. Was hat nun dieses 
„bunt gefleckt" zu bedeuten? Die Frage wird sich klären, wenn wir Bei¬ 
spiele anführen, bei denen wir solche oder ähnliche Merkmale vor finden. 
Es handelt sich hier überall um die nicht einheitliche Körperhülle. Die Volks¬ 
sprache würde unseren bunt gefleckten Knaben wahrscheinlich 4 sch eckig w 
nennen. Sprach historische Betrachtung lehrt ferner, daß den Wörtern „gefleckt" 
und „geflickt" dieselbe Bedeutung zugrunde liegt. Für den später erfolgenden 
Hinweis auf die Rolands-Sage ist diese Tatsache von besonders großer Be¬ 
deutung, Aber auch psychologisch sind die beiden Begriffe identisch, d, h. sie 
haben denselben latenten Inhalt. Bei Grimm, K, H. M, II, Nr. 165 („Der 
gläserne Sarg u ), ergibt die Deutung ein inzestuöses Bruder-Schwester-Verhältnis. 
Der Bruder erscheint in zweifacher Gestalt, als Hirsch und als Männchen, 
„das ein von buntfarbigen Lappen zusammengesetztes Kleid ' anhat. * 1 Auch das viel¬ 
fältig zusammengeflickte Haarkleid Allerleirauhs (K. H. M, I, 65) gehört in diesen 
Zusammenhang. „Allerleirauh“ ist bekanntlich eines von jenen Märchen, die 
einer verhältnismäßig geringen „Zensur" unterlagen und daher das Inzest- 

Mutter des Aino, von ihrem Vater schwanger, in einen Kasten gesteckt und ins Wasser 
geworfen*“ — Um noch einen Grund zur Analyse der Aussetzung beizubringen, ver¬ 
weisen wir auf das Zitat eines Traumes bei Rank (Mythus, S. 96), zu dessen Deutung 
gesagt wird: „Dazu kommt die gleichfalls typische Auffassung der Gravidität als 
infektiöse Krankheit.“ — Schwerkranke — bei denen Ansteckungsgefahr besteht, 
werden von den übrigen Menschen abgesondert, — ausgesetzt. (Vgl. die Wörter Aussatz, 
Aussätziger usw.) —■ Auch dieser Grund mag in primitiven Zelten fiir die Aussetzung 
einer Schwangeren ausschlaggebend gewesen sein. 

1) Auch im Märchen von „Brüderchen und Schwesterchen“, Grimm, K.H.M. I, 11, 
handelt es sich um Geschwisterinzest. Das Brüderchen wird dort in ein Reh ver¬ 
wandelt. In den zahlreichen Parallelfassungen bei B olte-P oli vka I, Nr. 11, S. 86 ff., 
wird der Bruder deutlicher in ein Sexualtier umgewandelt; Vogel, Ziegenbock, 
Hirsch, Stier. 








4° 


Dr. Franziska Juer und Dr. Otto Marbach 


Verhältnis (Vater-Tochter-Inzest) ziemlich unverdrängt zur Schau trägt. — Auch 
der Mythus kennt das Motiv des „Gefleckten“, 1 Die Völsunga-Saga läßt Odin 
einmal von geflecktem Mantel umwallt erscheinen, und zwar in einer 
Situation, deren tiefere Deutung wieder den latenten V ater-Tochter-Inzest er¬ 
kennen läßt. 2 Ein Zug, der um so auffallender ist, als die Sage Odin gewöhnlich 
einen einfarbig dunklen Mantel tragen läßt Warum also just hier dieses Ab- 
weichen von der Tradition? Wir meinen aus den angeführten Beispielen — die 
sich aus dem Gesamtmaterial der Mythen und Märchen der Weltliteratur 
natürlich noch entsprechend vermehren ließen — bereits erkannt zu haben, was 
das Symbol des Scheckigen, Gefleckten, Genickten usw. bedeute. Es weist 
immer auf einen Inzest hin. Es ist das optisches Symbol für den Inzestwunsch 
dessen, der als scheckig, gefleckt usw. erscheint, oder das Kennzeichen einer 
Inzestfrucht — wie in unserem Fall. Eine Abschwächung des Motivs ist es 
bereits, wenn sich die Befleckung nicht über den ganzen Körper erstreckt, 
sondern nur auf einzelne Teile (gewöhnlich Genitalsymbole: Hand, Finger; 
oder symbolische Gegenstände: Ei, Schlüssel usw.). Diese Befleckung wurde 
bereits zur symbolischen Strafe und ist als solche mit Angstaffekten behaftet. (Blut¬ 
flecken, die man nicht mehr entfernen kann! Grimm, K. II. M. I, 5 jMarien- 
kind], I, 46 [Fitchers Vogel], Perrault „La bar he bleue“, Lady Macbeth usw.) 
Diesen Teil des Motivs hat O. Rank bereits in seinem Werk „Das Inzestrnotiv 
in Dichtung und Sage“ (S. 262, Anmerkung) besprochen und als Onanieangst 
gedeutet. 

Da aber Onanieangst, wie Kastrationsangst aus dem Inzestkomplex abzu¬ 
leiten sind, können wir endgültig folgende Wurzeln für das Motiv des Gefleckt- 
seins oder der Befleckung anführen: I) Inzestwunsch: 2) symbolische Mani¬ 
festation des vollzogenen Inzests; aj an der Frucht, bj ain eigenen Leib. In 
letzterem Fall bedeutet die Befleckung (gewöhnlich mit Blut) nicht nur Mani¬ 
festation, sondern zugleich auch: )) Inzest strafe (Kastration). 

Hier wollen wir einen sprachpsychologischen Versuch einschalten, zumal 
das Auszuführende nur eine notwendige Ergänzung des angeschlagenen Themas 
ist. Wir werden die Doppelbedeutung des Verbums „beflecken und der 
übrigen Worte vom selben Stamm einer historisch - psychologischen Unter¬ 
suchung unterziehen und hoffen daraus die Aufklärung zu gewinnen, wie das- 
selbe Symptom des Geflecktseins sowohl als Symbol für einen — moralisch 
nicht gewerteten — Inzestwunsch, als auch als Symbol für die Inzeststrafe 
stehen kann. Mit anderen Worten — wie kommen die Wörter vom Stamme 
„piek*' zu ihrer übertragenen, moralischen Bedeutung? Ein Bedeutungswandel, 
der nicht auf das Deutsche beschrankt ist, sondern allenthalben im Indo- 


1) Der ägyptische Apis* Stier mit gefleckter Stirn, Tier-Gott der sexuellen 
Erregung. 

2) Vgl, „Bibliothek der ältesten deutschen Literaturdenkmäler“, Bd. 9* „Die 
prosaische Edda“, lierausgegeben von E. Wilken, S. 155» Vöhiuiga-Saga, III, Kap.: 

„ t maifr rinn gekk in i hollina; so maitr er momium dAtmnr at syn; sja mnär . . . heßr 
heklu flekkota yfir ser * * 
















Eine südslawische Märchenparallele zum Urtypus der Roland-Sage 41 


germanischen nachzu weisen ist. Die zugrunde liegende indogermanische Wurzel, 
in ihrem Ablauts Verhältnis ist: piek — plok. — Die Grundbedeutung der zu 
diesem Stamm gehörigen Wörter ist durchwegs eine sexuelle, mit starker 
Betonung des sadistischen Elementes. Es ist ein Beweis für den „Gegensinn 
der Urworte“, für die ursprüngliche Einheit von Liehe und Haß, wenn wir, 
als zum selben Stamm gehörig, einerseits griechisch: jtXricKKö (schlagen), srkrjYirj, 
lateinisch plaga (plango) ansetzen müssen, ferner eine germanische Wurzel: 
Jlek (abreißen, Haut abziehen), altnordisch: fletta (entkleiden), littauisch: pleszti 
(reißen, zausen), woraus man noch die sadistische Urbedeutung entnehmen kann, 
zumal wenn anderseits ergänzend ein griechisches 7 iXiy\x a, izki\ (Spreizen der 
Beine), Tthiyw; (interfemininum) hinzutritt. Sexuelle Bedeutung besitzt gleichfalls 
der verwandte Stamm: ph, plquo (Korperhaar — ursprünglich Schamhaar), 
hiezu griechisch jiuXlyycs, (lateinisch pilus), Die Grundbedeutung coire Hegt wohl 
in dem germanischen plagian (sich schnell bewegen, spielen, tanzen; englisch 
play) vor- Dazu faltaii (schlagen, stoßen), Falz, Balz (Begattung der Waldvögel). 
Zu den Verben nl^aatw, plagian (an deren Grundbedeutung als Ausdruck für 
die sadistisch-sexuelle Tätigkeit wir festhalten wollen), stellen wir zwei Reihen 
von Substantiven, von denen wir annehmen, daß sie ursprünglich das mann* 
liehe und weibliche Genitale bedeuteten. Denn einerseits wäre hier ein ger* 
manischer Stamm: piekto (keilförmiges Stück) anzuführen, wozu plegga, plugga 
(Pflock, Nagel usw.) und schließlich auch plogu (Pflug -— ursprünglich: Keil) 
gehört. Zinna! in letzterem Fall ist die phallische Bedeutung (des Pfluges) bis 
in späte Kulturzeiten bewahrt worden. Einem germanischen plagila entspricht 
das deutsche „Flegel**, das das Grimmsche Wörterbuch in der Bedeutung von 
penis zitiert, 1 

Das Wort Flegel hat übrigens die ursprüngliche Doppelbedeutung behalten, 
da es sowohl penis, als auch — und zwar in seiner gewöhnlicheren Bedeutung — 
einen „groben Flegel * bedeutet, was noch das sadistische Element durch* 
schimmern läßt. Ebenso sprechen wir von „Flegeljähren"' als den rohen 
Pubertätsjahren. — Anderseits gehört zur Bedeutung von jiXVjoaeiv (breit schlagen) 
das Substantiv nXu£ (das Breitgeschlagene, die Fläche), und entsprechend alt¬ 
nordisch: fiekhr ; althochdeutsch: flecco, fiech; mittelhochdeutsch: vlec(e); neu¬ 
hochdeutsch: Fleck. — Halten wir dazu altnordisch: fiaka (sich Öffnen), fiak 
(Scheibe), flikja (gähnen, klaffen, sich öffnen), Jlik (Zipfel), flikkia (Speckseite), 
flaiki {eigentlich: abgeschlitztes Stück, Fleischlappen, Fleisch), lettisch: plade 
(Mutterkuchen, placenta ) 9 so erhellt daraus die ursprüngliche Bedeutung: weib* 
lieh es Genitale. Eine Verschiebung liegt vor, wenn nun als „Fleck“ dialektisch 
die Schürze der Frau bezeichnet wird. Die Bedeutung: „Fetzen, Fleisch“ ist 
erhalten in „Kuttelfleck“. „Flecken" in der Bedeutung „ Aufschneiden, Prahlen“ 


1) J t und W. Grimm: Deutsches Wörterbuch, Artikel „Flegel“. , und kan 
ich iiit treachen niit dem flegel so so! man mich besehenden vor allen frauen,“ 
„mein flegel sol nit in deiner Scheunen treschen“. Zu den zitierten Wortstämmen 
vergleiche die entsprechenden Artikel bei A, Fick: „Vergleichendes Wörterbuch der 
indogermanischen Sprachen.“ 

















42 


Dr. Franziska Juer und Dr. Otto Marbach 


ist in dieser Bedeutung nur zu erklären, wenn man als Grundbedeutung coire 
annimmt, mit dem Nebensinn des kraftvollen Selbstbewußtseins. Die ältere 
Sprache verwendet, wie man aus dem Grimmschen Wörterbuch ersehen kann: 
beflecken = flicken (etwa: einen Schuh beflecken). Wir müssen also für die 
Verba flecken, beflecken, flicken, als Grundbedeutung: coire annehrnen, zumal 
das Sadistische in der Redensart: „einem die Haut, das Fell, den Hintern 
flicken, am Zeuge flicken“ noch durchschinmiert, während bayrisch -öster¬ 
reichisch: „einen flicken 4 * soviel bedeutet wie „mit einem Kameradschaft, Um¬ 
gang haben**. Außerdem gehört zu unserer Wurzelgruppe noch die Wurzel: 
npluk u 7 die unserem „Fliegen“ zugrunde liegt (gotisch: Jliugan) f dessen sexual- 
symbolische Bedeutung bekannt ist. „Flicken“ ist überdies verwandt mit 
„Ficken“ (vom Stamme: fiti, dazu griechisch: nomEXo;, bunt gefleckt); ger¬ 
manisch: fehjan (bunt machen, beflecken). — Wir halten demnach die sexuelle 
Urbedeutung von „flicken, beflecken“ (“ coire) und „ Fleck > Flick 44 (Genitale) 
fiir erwiesen. Diese reale Urbedeutung unterlag der Verdrängung und ver¬ 
flüchtigte sich zum Symbol. Seine Herkunft verrät dieses Symbol noch in der 
Geschichte von den gefleckten Schafen Jakobs (I, Mos. 50, »8 ff.). Das Geflockte 
erscheint ah Zeichen besonderer Geilheit, sexueller Über kraft und schließlich 
physischer Kraft überhaupt. Außerdem ist dort das Gefleckte ein Symbol 
wunderbarer Befruchtung. (Die Schafe werden an geschälten [gefleckten] Stäben 
brünstig. I, 50, 57—59.) Das gefleckte Tier betont also die Sexualkraft des 
Tieres, die sexuelle Obergewalt gegenüber dem Menschen. Wenn man sich 
die Tierzeichnungen der Primitiven ansieht, wird es auffallm, wie sehr das 
Scheckige, Gefleckte betont wird. 1 

Aber nicht nur die größere Sexualkraft hat das Tier vor dem Menschen 
voraus — es genießt außerdem den heiß beneideten Vorzug, keine Inzest¬ 
schranke anerkennen zu müssen. So finden die latenten Inzestwünsche ihren 
Ausweg im symbolischen Ausdruck der Identifizierung mit dem Tier. — 
Allerleirauh z. B. bezeugt durch ihr tierisches Fellkleid den Wunsch, ihrem 
inzestuösen Drang nachgeben zu dürfen — wie die Tiere des Waldes, denen 
sie sich angleicht. 2 

Wir glauben die Symbolisierung des Inzestwunsches durch das Scheckige, 
Fleckige usw. bereits ausreichend erklärt zu haben und wenden uns der Auf¬ 
deckung jenes psychischen Mechanismus zu, der aus dem Fleck, dein Zeichen 
sexueller Überkraft, also etwas Auszeichnen dem, jedenfalls nichts Herabsetzendem — 
den Schandfleck machte. Auch diesen Vorgang deuten wir um besten an 


1) Siebe Reinhard Piper: Das Tier in der Kunst, München 1923. Abb. 6: Rinder¬ 
raub — Buschmann‘Zeichnung. Von dreizehn Rindern sind nur zwei ungedeckt, 
Abb. 41 : (Zwei Pferde; chinesisch.) Naturalistische Darstellung ist gewiß nicht der 
einzige Grund. 

2) Zu der von Rank (Inzestmotiv, S. 594) ausgesprochenen Meinung: , in 

diesem Märchen wird der , , . Inzest , . , ermöglicht, indem die Tochter ihr Ge licht 
entstellt, so daß sie vom Vater nicht erkannt wird * « «teilt unsere Ansicht nur 
eine Überdeterminierung dar. 











Eine südslawische Märchenparallele zum Urtypus der Roland-Sage 


45 


Hand der biblischen Erzählung vom ersten Schandfleck: dem Kainszeichen. 
Daß die eigentliche Sünde Kains der Inzestwunsch ist und der Brudermord 
nur dessen Folge, ist freilich aus dem manifesten Bibeltext, dem Resultat 
strenger Verdrängungsarbeit., nicht mehr zu ersehen. Aber es ist kein Zufall, 
daß fast jede höher zu wertende dichterische Gestaltung des Stoffes (Byron, 
Wildgans) als tiefste Triebkraft in Kain die latente Inzestgier hinstellt. Auch 
läßt sich die ursprüngliche Wahrheit indirekt aus der Bibel selbst rekonstru¬ 
ieren. Der Paradiesesmythus ist schon als dem Inzestkomplex entwachsen ge¬ 
deutet worden. Kain handelt nun an Adam, wie jener einst gegen Gott-Vater. 
Auch daß Kain ein Ackerbauer ist (also: „die mütterliche Erde*' -—■ juyrQcpav 
ÜQou(>uv [Ödip, Tyr* 1256 f.] bebaut), hat symbolische Bedeutung. Das Zeichen, 
das Gott Kain aufdrückt, wird freilich rationell erklärt und soll Gottes Milde 
anzeigen. (I, 4—15 „Und der Ewige setzte Kain ein Zeichen, daß ihn nicht 
erschlage, wer ihn fände. ) Aber fortan ist Kain durch das Mal allen Men¬ 
schen gekennzeichnet. Dieses Mal — gemäß der Überlieferung: ein Fleck auf 
der Stirne — fordert unsere Aufmerksamkeit. Durch den Fleck ist der inzestuöse 
Kain als der Sünder gekennzeichnet, der sich wider das Gebot des sexuellen 
Tabu vergeht* Der Fleck verrät den Sünder auf dem Gebiet des Sexuellen, 
d. h. denjenigen, der die Ursünde begeht, sich gegen das Urverbot der Inzest¬ 
schranke aufzulehnen. Was das Ziel seiner frevelhaften Wünsche ist, das mütter¬ 
liche Genitale, was sein Begehren und \ orstellen innerlich erfüllt, wird — 
zur Strafe — symbolisch nach außen projiziert. Diese schmachvolle Kenn¬ 
zeichnung durch den Fleck wird infolge der immer strenger werdenden Inzest¬ 
verbote und der immer mächtiger werdenden Verdrängung mit den moralischen 
Gefühlen des Abscheus und der Verachtung belegt — und wir haben den 
psyschischen Ursprung des „Schandflecks“ gefunden. Wie schon erwähnt, kennt 
das Märchen dasselbe Symbol: Blutfleck, der nicht mehr abzuwaschen (rein¬ 
zuwaschen), gleichzeitig Verbrechen und Strafe anzeigend. Von hier geht der 
Weg zum Verständnis des weitverbreiteten Motivs der Tier Verwandlung oder 
des Geflecktseins, Schwarzseins (K. H. M. II, 121, 157) a ^ s Strafe und Ver¬ 
wünschung. Hiezu war aber bereits eine lange, zeitliche Entwicklung not¬ 
wendig. Eine Zeit, die schon so viel moralische Kultur entwickelt hat, das 
Inzestverbot als oberstes Gesetz aufrechtzuhalten, fühlt sich durch diese Moral 
über das Tier erhaben; zugleich ist ihr der Mensch schon so sehr das Maß 
aller Dinge geworden, daß sie, wie moralisch nun auch ästhetisch wertend, 
das (einst verehrte und beneidete) Tier im Vergleich zum Menschen häßlich 
findet. Daher wird die Tierverwandlung oder auch nur die Annäherung an 
eine solche — zur Strafe. 

Wir weisen gleich hier auf diejenige Parallele zu unserem Märchen hin, 
deren Wichtigkeit uns hauptsächlich bestimmte, dieses Märchen, in dem wir 
eine Vorstufe der Parallelgestaltung erkannten, zu besprechen. In dieser kom¬ 
plizierteren Parallelgestaltung sind die angeborenen Flecken freilich bereits zu 
Flicken der Kleidung geworden. — Wir meinen den Sagenkreis, der sich um 
Roland gebildet hat, Uhland (der Forscher romanischer Sagenkreise) hat in 
zwei seiner bekanntesten Balladen („Klein Roland ' u und „Roland Schildträger“) 












44 


Dr* Franziska .luer und Dr. Otto Marbach 


den Roland-Stoff behandelt, Uhlands Quelle sind die spanischen ^ Noch es de 
Jnuierno“ (Winternächte) des Antonio de Esclava (1609), die ihm in einer 
deutschen Übersetzung des Mathias Drummer von Papenbach (Nürnberg 1715) 
Vorlagen, Diese „Noches“ stimmen mit der literarischen Hauptquelle* die die 
Roland-Sage im Zusammenhang behandelt, nämlich den „Real! de Francia“ 
überein. — Wir zitieren nun diejenigen Stellen der Uhlandschen Ballade 
„Klein Roland“, die von den Flicken des Gewandes sprechen, Flicken — die, 
wie wir behaupteten, der Verdrängungsrest angeborener Flecken (InaesUeiehen) 

s * n ' V, 56 f. «Des Knaben Kleid ist wunderbar, 

Vierfarb zusammengestückt * . . 41 

V* 85 ff* „Wie Regenbogen anzuschaun, 

Mit Farben mancherlei 

„Ich hab bezwungen der Knaben acht 
Von jedem Viertel der Stadt, 

Die haben mir als Zins gebracht 
Vierfaltig Tuch zur Wat*“ 

Man beachte, daß Roland hier den Spott wegen des vielfach geflickten 
Gewandes zum Triumphzeichen seiner Stärke zu wenden weiß* — Wenn in 
der Roland-Sage eine Parallelgestaltung zu unserem Märchen vorliegt, wäre 
es interessant aufzuzeigen, daß auch Roland, wie der „Sohn der Königstochter“ 
einem Vater-Tochter-Inzest entstammt Man muß freilich bedenken, daß die 
Sage verhältnismäßig spät entstanden ist und daher die ursprünglichen Motive 
nur mehr sehr verdeckt erkennen lassen wird* Nach den „Reali de Franeia“ 
ist Bertha die Schwester Karls des Großen und wird von Milon von Angl ante 
verführt. Der erzürnte König verurteilt Bertha zum Tode. Sie entflieht aber 
mit dem Verführer nach Italien und gebiert in einer wüsten Felsschlucht bei 
Siena einen Sohn — Roland. Nun erscheint aber Kurl der Große noch ein 
andermal in derselben Rolle — und wir halten dieses andere Mal, da es einer 
älteren Sage zugrunde liegt, für ursprünglicher* Eine schon im frühen Mittel- 
alter verbreitete Sage war die von der Liebe Emmas, der Tochter Karls des 
Großen, zu dessen gelehrtem Geschichtsschreiber Eginhard* (Siehe: Dahl, 
„Über Eginhard und Emma.“ Darmstadt 1817.) Auch dort erscheint Karl 
als der zürnende, dann aber verzeihende König — und Vater! Aber es ist 
gar nicht nötig anzunehmen, daß diese Fassung auf die Bertha Milon Geschichte 
erst übertragen werden mußte* Als König erscheint Karl Bertha gegenüber 
ohnehin in Vaterrolle* Wir hätten also die typische Sagenfastung des Könige, 
der seine Tochter eifersüchtig bewacht und keinem Bewerber gönnt, auch in 
der Karl-Bertha-Sage zu sehen* Dies ist indes noch kein Inzest, und Roland 
ist nach der Sage: Milons, nicht Karls Sohn* Freilich, wenn man sich der 
bevorzugten Stellung erinnert, die Roland unter den Helden der Tafelrunde 
König Karls einnimmt, der väterlichen Sorgfalt und Liebe, die Karl seinem 
Neffen Roland angedeihen läßt — so konnte man doch wieder vermuten, daß 
hier ein Vater Sohn-Verhältnis vorliegt* Wir werden im folgenden noch einige, 
nicht unbedeutsame Beweise für die Richtigkeit dieser Ansicht erbringen. 











Eine südslawische Märchenparallele zuin Urtypus der Roland-Sage 


45 


„Sie war nun wieder sehr traurig, weil sie für ihren Sohn keinen Paten hatte. Der Knabe 
aber sagte zu ihr, als er sie fortwährend so niedergeschlagen sah : y Lieb Mütterchen , ich brauche 
keinen Paten; ich habe genug Paten an diesen Flecken am ganzen Körpert Sprach die Mutter: 
7 Äuch gut , wenn nur diPs recht ist.™ 

Die Trauer der Mutter hat ihren wahren Grund in der illegitimen Heim¬ 
lichkeit , der inzestuösen Abstammung ihres Sohnes. Der „Pate“ ist hier um¬ 
schreibendes Symbol für den „ Pater“. Der Vater ist nicht hier, um sein 
Kind anzuerkennen! — Das ist der wahre Grund ihrer Trauen Daß „Pate* £ 
hier wirklich »Vater bedeutet, wird man um so eher einsehen, wenn man 
sich der Bedeutung der geistigen Verwandtschaft erinnert, die die Kirche der 
Patenschaft zuschrieb. Aus dieser Verwandtschaft erklären sich auch die Be¬ 
zeichnungen der Paten in der Kirchensprache als propaires , compatres — was 
am besten als „Vaterersatz * zu übersetzen ist, womit man auch die tiefste 
Bedeutung der Patenschaft aufgedeckt hat. Die Kirche selbst hat in konsequenter 
Durchführung dieser Patenschaft als Vaterersatz das Paten Verhältnis zum Ehe¬ 
hindernis gemacht. Erst die Welle der Reformation beseitigte dieses Verbot. 
Dementsprechend wird die et priori vorhandene Haß einstell ung des Knaben 
gegen den fiktiven „Paten klar. Es ist die typische, radikale Vaterablehnung 
des Helden. Er wurde, mit Ausschaltung des V aters — auf wunderbare Weise 
gezeugt (Totenknochen) — er kommt vollkommen selbständig zur Welt, er 
kann sofort herumlaufen und sprechen. — Welcher Zusammenhang besteht 
aber zwischen dem „Paten" und den „Flecken am ganzen Körper“? — Rank 
meint (Mythus von der Geburt des Helden, S> 144)? daß die Körperfehler 
gewisser Helden (Ödipus, Hephaistos) vom Helden selbst als Schuld des Vaters 
dargestellt werden, um eine Rechtfertigung für ihre feindliche Einstellung zu 
haben . 1 2 — Auch in unserem Fall werden die „Flecken als Schuld des Vaters 
empfunden, denn sie sind — nach den Ergebnissen unserer Analyse — die 
brandmarkenden Kennzeichen der Inzestfrucht. Der Vater hat also die Schuld 
an den entstellenden Körperfehlern und darum haßt der Knabe diesen Vater 
von allem Anfang an. „Ich habe genug Paten an diesen Flecken“, heißt also 
aus der Traum-Märchensp rache in die Sprache des Bewußtseins übertragen: 
„Ich habe schon genug von dem Vater, der mich so schimpflich gefleckt = 
befleckt hat. Ich brauche ihn nicht. w Wir sehen uns damit wieder bei dem 
Thema von der „Reflecktheit^ angelangt und müssen noch eine letzte Ergän¬ 
zung dazustellen. Wir haben oben behauptet, die „Geflecktheit bedeute 
sowohl Brandmarkung der Inzestfrucht, als auch Kennzeichen der Inzestlüstern¬ 
heit. Im Falle des Helden unserer Erzählung trifft beides zu — denn wie 
gewöhnlich m jenen Erzählungen, die den Inzest mehrerer Generationen an¬ 
einanderreihen, ist auch hier der Inzestgezeugte selbst ein Inzestlüsterner . 3 — 

1) Sehr sublimiert ist das Motiv auch in Ibsens „Klein Eyolf“ zu erkennen. 
Deutlicher in den „Gespenstern«. — Das Motiv vom vielfarb geflickten Kleid, als 
brandmarkende Schmach, liegt dem bunten Karrenkleid zugrunde. (VgL auch den 
„Judetifleck“.) 

2) Rank: Inzestmotiv, 557 . . Die Sucht nach Verstärkung der sündhaften 

Greuel läßt den ersten Inzest zwischen Vater und Tochter geschehen, so daß die 






46 


Dr. Franziska Juer und Dr. Otto Marbach 


Wir haben die Ansicht Hanks, derzufolge die Berußung (Aschenbrödel), Ent¬ 
stellung (Grimms Deutsche Sagen, Nr. i«i, Sage vom lliilfenberg nsw.), 1 2 
Tierbehaarung (Allerleirauh) die geeignete Verstellung sei, um mit Umgehung 
der Inzestscheu den abgelehnten Inzest dennoch durchzusetzen, nur dahin zu 
erweitern, daß diese Motive — besonders das Motiv der Befleckung zugleich 
auch die Selbstbestrafung anzeigen, da sie als Brandmarkung aufzufassen sind. 
Diese Entstellungen dienen dem — oder meist der — Inzestlüsternen angeblich: 
um dem Inzest zu entgehen — wirklich: um ihn durchzusetzen — aber zugleich 
auch als Kennzeichnung dev begangenen Sünde. Die Kennzeichnung kann — 
wie in unserem Fall — auf die Inzestfrucht übertragen werden. 3 


Nachdem sie lange Zeit auf dem Meere geschifft, bekamen sie Land in Sicht, Der Knabe 
sah zum Fenster hinaus und erblickte jemand , der in weiter Ferm in einer Kutsche fuhr . 
Mütterchen? rief er aus, schau mal ? es führen Leute auf einem Wagen einen Iliihnerschlagr 
Das ist ja kein Hühner schlag* erwiderte die Mutter, ,sondern eine Kutsche, in welcher der 
König den Mähern das Essen bringt * . *. Der Knabe beschließt, durchs Fenster hinauszuschlUpfen 
und dem König die Speiseti wegzunehmen — obwohl sie sich auf dem Meer befinden, hr springt 
ans Ufer, läuft der Kutsche nach , ,raffte alles Eßwtrk zusammen und kehrte zum Schiff ans 
Gestade zurück *•“ 


Dieses Verwechseln der Klitsche mit einem Hühnerschlag sieht aus wie eine 
lächerliche Dummheit, Im Grunde ist es aber eine gehässige Degradierung, 
eine Beschimpfung des Vaters — unter der Maske naiver Dummheit. Wir 
berühren damit das große Gebiet des Dummstellens der Märchen- und 
Sagenhelden (Brutus, Hamlet, Parzifal). Rank hat bereits (inzestmotiv, sfii) 
das Dummstellen, erwachsen aus dein Forschungßverhot gegen die kindliche 
Sexualneugierde dargestellt: . . das spezifische Merkmal dieser Dummheit, 


Mutier zugleich die Schwester ist, also ein doppelter Inzest mit ein und derselben 
Person verübt wird,“ (Zum Beispiel Historia Albani marlyris, Hniiptmonatsbericht 
der Akademie zu Berlin 1860* S* 141 ff*, und Legende von Sanctus J ulmnus Hospitator 
in „Gesta Romano rum“ [häufiges Motiv der Dichtung: Lope de \ ega, l'laubcrt].) 

1} Eine ganz ähnliche Legende findet sich auf einem der vielen alten Votivbilder 
der Wiltener Pfarrkirche (bei Innsbruck), Ein König will seine Tochter zur Heirat 
zwingen. Sie aber hat sich dem Heiland gelobt In ihrer Bedrängnis ruft sie zu Gott 
und der Heiland verändert ihr schönes Gesicht, indem er ihre Züge vollkommen 
seinen eigenen angleicht, wahrend doch der iihrigo Körper mädchenhaft bleibt, (Das 
Bild stellt ein Mädchen mit Christusgesicht dar,) Der erzürnte Vater läßt die un¬ 
gehorsame Tochter, wie Christus, kreuzigen. 

2) Das „mißgestaltete Kind“ ist ein eigenes Kapitel der Märchen Lorsch ung. 

(Vgl. Grimm, K* H, M *, Nr. 108, „Hans, mein Igel“*) Häufig erscheint das Neugeborene 
in Träumen weiblicher Personen als Tier dargestellt* (Siche Rank: „Mythus von 
der Geburt des Helden“, Ilf, S, goff*, Zitat nach Abraham (Traum und Mythus, 
S. 22 ff,, „Ich hebe also eine Klappe im Fußboden auf, sogleich erscheint ein in einem 
bräunlichen Pelz gekleidetes Geschöpf * * * Es wirft den Pelz ab und entpuppt sich 
als mein Bruder . , «) Die Häßlichkeit des unmittelbar Neugeborenen hat wohl diese 
Tierassoziation hervorgerufen. — Übrigens wäre im vorliegenden Fall auch die Mög¬ 
lichkeit unbewußter Inzestwünsche zu erwägen: „Bruder ♦ , -* dem die 1 räumerin 
mütterliche Gefühle entgegenbrachte , . 


















Eine südslawische Marchenparallele zum Urtypus der Roland-Sage 


+7 


die sexuelle Unwissenheit des Kindes „ . . wozu auch die Verstellung am besten 
paßt; denn das Kind stellt sich eigentlich immer dumm, es weiß viel mehr, 
als man ihm gewöhnlich zutraut/ 4 Zugleich ist der besprochene Fall ein Bei¬ 
spiel, wie die Dummheit als notwendige Larve dient, unter deren Schutz die 
Auflehnung gegen den Vater, die durch das For sch ungs verbot nur immer neue 
Nahrung erhalt, in Beschimpfungen des Vaters entladen werden kann. (Künst¬ 
lerische Verwertung dieses Motivs im Shakespeareschen Hamlet) 

Das Motiv vom w egge nommenen Essen gehört nun wieder in den Kreis 
der Roland-Sage. Wir werden sehen, wie sich das Motiv bis zur Wegnahme 
der Speisen von des Königs Tisch steigert. Die gewöhnliche Märchenfassung, 
wo es sich um „Hungernlassen handelt, ist die, daß der Vater oder Vater- 
Imago (etwa Wirt) dem Helden keine Speise vergönnt. Die hier vorliegende 
Komposition erklärt sich aus der Vergeltungslust, denn hier nimmt eben der 
Sohn dem Vater das „Essen“ weg. Zugleich vollfuhrt er diese Heldentat für 
die Mutter — und gegen den \ ater. Er ist also Rächer der Mutter am treu¬ 
losen Vater, und zugleich maßt er sich als Ernährer, Erhalter der Mutter, 
selbst die Vaterrolle an. — Vergleichen wir die Situation mit der Roland- 
Sage: Dort wird erzählt, daß Milan, der zunächst die Seinen von seiner Hände 
Arbeit ernährt, eines Tages in einem Bach versinkt, worauf der vierjährige 
Roland fortab Ernährer und Erhalter seiner Mutter wird. 

„Nachdem sie wieder eine Weih auf dem Meere gefähren y erblickte der Knahe ein großes 
Schloß und sprach zur Mutter : fichau, Mutter , dort die ungeheuer große Hühner steiget — 
,Das ist , mein Kind , keine HühnerSteigef antwortete sie , ^sondern ein verwunschenes Schloß 
mit zwölf Zimmern und in jedem Zimmer ist ein Teufet*** 

Man beachte, daß der Märchenheld, obwohl er bereits an Land gegangen 
war, doch wieder auf das Meer zurück kehrt. Auch die Mutter — obwohl das 
Schiff schon am Gestade log — betritt das Ufer nicht. Es liegt hier eben 
wieder der Wunsch zugrunde, die Zeit des „Schwimmens auf dem Meer“, 
des Vereintseins mit der Mutter — die Zeit des Fötalzustandes möge nicht zu 
rasch beendet sein. — Die Verwechslung von Schloß und Hühnersteige ge¬ 
schieht wieder der Tendenz des Dummheitsmotivs zulieb. — Zur Deutung 
des Motivs vom verwunschenen Schloß nur soviel: Schloß (wie Haus) ist 
Weib-, Muttersymbol, Das „verwunschene Schloß“ befindet sich in der Macht 
eines Unholdes (Vater-Imago; meist Doublierung). Der Held besiegt, vertreibt 
den Unhold und erlöst das Schloß, wobei überdies als zweite Mutter-Imago 
meist die zugleich mit dem Schloß erlöste, verwunschene Prinzessin erscheint — 
die er in Erfüllung seines Inzestwunsches — heiratet. Hier ist der Sohn 
ohnehin mit der Mutter vereint — also fehlt das Motiv der verwunschenen 
Prinzessin. — Der Wunsch des Helden geht nach Unabhängigkeit; er wünscht 
den Vater aus dem Haus zu treiben und allein mit der Mutter zu wohnen. 

„Sprach der Knahe: ^Mütterchen, weißt du was? Ich gehe hin , vertreibe die Teufel und 
wir bewohnen dann das Schloß selbst.* Erwiderte die Mutter: JVas fällt dir nicht ein? Wie 
willst du die Teufel allein vertreiben, das könnte ja nicht einmal ein ganzes Regiment Soldaten,* 
Aber der Knabe springt doch ans Ufer , zieht das Schiff ans Land und findet einen zehn 
Zentner schweren Knüttel aus Blei (PhallusSymbol, wie alle berühmten Götter- und Helden- 







4 8 


I)r. Franziska Juer und Dr. Otto Marbach 


waffen). > Er geht im Schloß , pocht an die erste Tur, der leufel fragt: ,Her da Der 
Knab/erzählte ihn, wer er sei , doch der Teufel wollte ihn keinen hmhß gehren. Da er¬ 
grimmte der Knabe, schlug mit seinem Bleiknüttel auf du Tür los, dqß s,e nt Stucke zerfiel 
und fand den Teufel damit beschäftigt, das Zimmer auszukehren.™ 


Wir erkennen das Motiv von der verbotenen Tür, das Hank (Inzestmotiv, 
261) auf das Verbot nachzuforschen, d. h. nach dem sexuellen Geheimnis zu 
fragen, zurückführt. (Vgl. auch Freud: „Traumdeutung“, VI, S. 241.) Die oben 
zitierte Stelle ist diesbezüglich äußerst instruktiv: Der Teufel (Vater-Imago) 
fra^t wer draußen sei. Die Antwort, aller Symbolik und Verdrängung der 
Märchenarbeit entkleidet, müßte lauten: dein Sohn! — Natürlich wird er nicht 
eingelassen und empfindet dieses Verbot, seine sexuelle Neugier zu befriedigen, 
als grausame Tyrannei, gegen die er sich mit Gewalt auflehnt. Wir müssen 
daran wieder erkennen, wie konsequent das Märchen in der Komposition 
seiner Motive ist. Dein Motiv der Sexualneugier entsprach bereits das Dumm¬ 
stellen und nun — gleichsam als Beweis — das „Zertrümmern der verbotenen 
T^r“, das „Eindringen in das verbotene Zimmer. — Und was geschieht 
hinter der verschlossenen Tür? Der Teufel fegt das Zimmer aus. Dies wäre 
wörtlich genommen, lächerlich in seinem grotesken Unverhältnis zwischen 
gespanntester Erwartung und banalster Tatsache. Doch dieses „Zimmer-Ausfegen 
wird uns zuin Beweis, wenn wir uns der obszön-symbolischen Bedeutung der 
Redensart entsinnen. „Fegen“, „Kehren“, „Auskehren sind ebenso Symbole 
für „coire“, als der „Besen“ Penissymbol ist. (Die Hexen reiten auf Böcken 
und Besen. Beides Phallussymbole. — Der Aberglaube schreibt dem Kamin¬ 
feger [bayrisch-österreichisch: „Rauchfangkehrer“] glückbringende Macht zu ■ 
daher gleichfalls Phallussymbol.) Der Märchenheld findet sich also in seiner 
Erwartung nicht getäuscht — hn Gegenteil: sein Verdacht wird bestätigt, seine 
Neugier befriedigt. Aber die Lust der befriedigten Neugier wird aufgewogen von 
der Unlust der Erkenntnis, daß die Eifersucht auf den Vater nur allzu 
begründet sei - von der Unlust der geschauten Wahrheit. Dies das 
Motiv, das dem „Verschleierten Bild zu Sais“ zugrunde liegt.) — Und dein- 
entsprechend sein Verhalten: 


1) Hieher gehören z. B. Jupiters Donnerkeile, Donors Hammer, Odins bpeer, 
Herakles’ Keule, Simsons Eselskinnbacken, Siegfrieds Schwert. In der nor isch- 
germanischen Mythologie haben diese besonderen Waffen und Uernte eigene Hamen, 
sowie besondere* eigene Entstehungsgeschichten. /um Beispiel Httlmiin^, ***** * 

Schwert, — Weisung, Dielleibs Schwert (im mittelhoch deutschen epischen Gedicht 
„Biterolf“), — Hildegrin, Dietrichs Helm usw. Die Waffe ward wie cm Glied dee 
eigenen Körpers behandelt und mit Liebe umgeben, — wie eben nur — das Olied, 
auf primitiv auto-erotischem Standpunkt* (Kinderonanio, zärtliche Namen ur in 
Penis*) In der Waffe — wie im Glied — liegt des Helden Kraft. Nicht zu un- 
bedeutende Rudimente dieser psychischen Einstellung begegnen wir auch noch m 
modernster Zeit — auch heute. Eine Art übertriebener Kult gewisser Personen, 
meist Virtuosen oder Sportsleute, mit „ihrer“ Geige — „ihrem“ Racket usw. . . . 
Das Gemeinsame zwischen Symbol und Symbolisiertem ist das, worin oder u onut 
man stark, unübertroffen ist — oder sein will. 













Eine südslawische Märchenparallele zum Urtypus der Roland-Sage 


49 


züchtigte ihn und schickte ihn ans Gestade zur Mutter ^ nachdem er ihm eingeschürft , 
sich beileihe nicht an ihr zu vergreifend (!) 

So rächt sieh der Held an dem Vater-Nebenbuhler* Er züchtigt ihn, weil 
er ihn „in flagranti " darüber ertappte, wie er sich an der Mutter „vergriff“ 
(sadistische Auffassung des Koitus) und verbietet es für die Zukunft. Zugleich — 
um mit seiner Kraft zu prahlen — schickt er den überwundenen und ge- 
demütigten „Teufel zur Mutter. D. h. er zeigt ihr an, daß er stärker sei als 
der Vater, daß er diesen Tyrannen, der ihn quäle und sich an ihr „vergreife a , 
zum gehorsamen Sklaven gemacht habe. 

„Ebenso machte cr's auch vor den anderen zehn Türen. Als er an der zwölften an klopfte, 
meldete sich von drinnen der Teufel: fVer da? Antwortete der Knabe t Jch hin der und der} 
Doch der Teufel entgegnetc: fch kann dir nicht öffnen; denn ich bin mit einer Kette fest- 
geschmiedet} — Da schlug der Knabe mit seiner Keule die Tür durch, daß das ganze Schloß 
erdröhnte und der Teufel voll Entsetzen mit dem äußersten Aufgebot seiner Kräfte die Fesseln 
sprengte , mit welchen er fest ge schmiedet war . Nun schickte er auch diesen zwölften Teufel 
zur Mutter? 

Wir begegnen hier dem — in slawischen und orientalischen Märchen be¬ 
sonders häufigen Motiv vom „gefesselten Unhold", (VgL etwa „Der Geist in 
der Flasche" aus 1001 Nacht und das Märchen vom „Stahlpascha“ bei F, S* 
Krauß; „Sagen und Märchen der Südslawen“, I, Nr* 54.) 1 — Zur Deutung 
dieses Motivs erinnern wir uns der Unabhängigkeitssucht des Sohnes. Er will 
dem Vater nichts zu danken haben . . . „und muß es doch immer wieder 
empfinden, daß er ihm eigentlich alles zu verdanken habe, da er ihm das 
Leben verdankt* Diese Schuld ist nur abzutragen, wenn der Sohn dem Vater 
Gleiches mit Gleichem vergilt, wenn er ihm das Leben rettet, als Gegen¬ 
geschenk für seine eigene Gehurt*" (Rank: Inzestmotiv, 104^) Den symboli- 


1) Inhalt des Stahlpascha ist, in aller Kürze, folgender: Ein Kaiser hat drei 
Sohne und drei Tochter* Als er stirbt, befiehlt er seinen Söhnen, sie mochten die 
Schwestern dem ersten, der da kommt, verheiraten(I) Der Kaiser stirbt und bald 
darauf erscheinen dreimal hintereinander mächtige Flammen geslallen, die jedesmal 
nach einer der Schwestern verlangen* Die beiden älteren Brüder wollen sie ver¬ 
weigern, der jüngste gibt die Schwestern an die unbekannten Gewalten* Schließlich 
bedrücken die Brüder Zweifel wegen des Schicksals der Schwestern und sie be¬ 
schließen, sie aufzusu dien. Auf der Wanderschaft erlegt jeder der drei einen Drachen, 
der sich nachts aus dem See, an dem sie immer rasten, erhebt* Jeder schneidet dem 
Untier die Ohren uh (Vater-Kastration), Außerdem besteht der Jüngste, während die 
Brüder schlafen, ein Abenteuer, indem er eine Menge menschenfressender Hünen 
tötet und so eine von den Unholden schon fast ganz entvölkerte Stadt erlöst. Als er 
die Stadt durchwandert, gelangt er in einen Turm, wo eine schöne Prinzessin 
schlummert. Gerade will eine Schlange sic beißen (!), er aber durchbohrt das Tier 
mit seinem Schwert, heftet es an die Wand und wünscht, daß niemand außer ihm, 
das Schwert wieder herausziehen könne. Der Kaiser der Stadt freut sich über die 
Erlösung und verspricht dem Helden großen Lohn. Um den unbekannten Befreier 
zu finden, läßt er in allen Wirtshäusern nachforschen* Die Brüder kehren in einem 
Wirtshaus ein, der Wirt erfährt, daß der Held unter ihnen sei und meldet es dem 


Imago XII 


4 

























Dr* Franziska Juer und Dr* Otto Marbach 


sehen Ausdruck dieses Gedankens gibt z. B. das Märchen vorn „Stahlpascha 44 . 
(Siehe die Anmerkung ) Dort haben wir es mit einer der in Traum und 
Märchen so beliebten „Umkehrungen* 4 zu tun. Die schreckliche Lage der ge¬ 
fesselten Vater-Imago ist die— Fötalsituation. (Vgl* Rank: „Das Trauma der 
Geburt.“) Der Sohn schenkt dein Vater-Imago-Fötus das Leben, indem er ihn 
mit Lebenswasser beschüttet. Drei Leben schenkt ihm die Vater-Imago (Häu¬ 
fung) die er sofort durch drei Belebungen vergilt. Wie der Vater dem 

Sohn — so schenkt der Sohn dem Vater: Leben — und schuldet ihm fortan 
nichts mehr. Aber der Vater raubt das Weib. Der Vater steht daher in Schuld — 
er tut dem Sohn, der ihm nichts mehr schuldet -— Unrecht an. — Dies der 
Sinn des Motivs vom „gefesselten Unhold £ \ In unserem Märchen ist das Motiv 
freilich abgeblaßt und mehr angedeutet als konsequent durchgeführt. 

Hierauf begab er sich selbst dorthin und sagte: ,Jetzt schwört mir, daß ihr nimmermehr 
in dieses Schloß wiederkommen wollt!* — Alle 7 Imfel sein vor en^ y nur einer nahm Reißaus und 
suchte zu entfliehen 1 . Er schleudert ihm die Keule nach, der Teufel verendet und wird ins 
Meer geworfen. Die anderen Teufel entfernen sich für immer. Der Knabe wohnt fortan mit 
seiner Mutter im Schloßt 

Der „eine 44 Teufel ist natürlich (in Anwendung des über das Motiv vom 
„gefesselten Unhold“ Ausgeführten) der zwölfte Teufel, also Vater-Imago. Der 
unbestimmte „eine Teufel“ entspringt der Verdrängung, denn hier liegt sym¬ 
bolisch das Motiv der Vatertötung vor. Man beachte, wie der Held in vier¬ 
stufigem Aufbau von bloßer Vaterablehnung zum Vatermord gelangt, 

1) Ablehnung („Brauche keinen Paten!“) und Beschimpfung („Hühnersteige“)* 

2) Wegnahme des Essens, 

)) Überwindung der Teufel (Vater-Doubletten). 

4) Tötung des zwölften Teufels (Vater-Imago). 


Kaiser. Der Jüngste bekommt tatsächlich die Tochter des Kaisers, die beiden älteren 
Brüder kehren heim. Obwohl verheiratet, „vermehrt sich der Jüngste in Sehnsucht 
nach seinen Schwestern“ (!) Einst läßt der Kaiser seinen Eidam allein und übergibt 
ihm neun Schlüssel. Acht Türen dürfe er öffnen — die nennte nicht * . * „sonst 
würde es ihm schlimm ergehen“. — In der verbotenen Kummer „befindet sich ein 
Mensch, die Füße bis zu den Knien, die Arme bis m den Ellenbogen in Eisen 
festgeschmiedet, dünn stunden auf vier Seiten vier Pflücke fest eingerammt, an 
welchen schwere, eiserne Ketten befestigt waren, deren Ende jenem Manne um den 
Hals sich wanden und ihn so stark schraubten, daß er nicht die geringste Bewegung 
machen konnte“. Er fleht den Prinzen um Wasser. Der gibt ihm zwei Krüge zu 
trinken und erhält dafür zwei Leben geschenkt. Einen dritten Krug schüttet er, 
auf inständiges Bitten des Gefesselten, ihm über das Haupt; sogleich fallen die 
Fesseln ab, Stablpaschn breitet seine Fittiche aus. raubt die Kamerftochtcr, das Weib 
seines Erlösers, und entflieht mit ihr* Der Kaiser kehrt heim, macht dem Un¬ 
gehorsamen Vorwürfe, sucht ihn aber von seinem Vorhaben, die Verlorene wieder 
zu suchen, abzubr fugen (!) Auf seiner Reise findet der Prinz zunächst die drei 
Schwestern als Gemahlinnen des Dradicnkaisers, des Fulkeukaisers, des Adlerkaisers. 
Alle drei Schwäger versprechen Hilfe und schenken eine Feder* Nach drei mißglückten 
Versuchen gewinnt er auch mit ihrer Hilfe sein Weib wieder. 













Eine südslawische Märchenparallele zum Urtypus der Roland-Sage 


Hiemit wäre der erste Teil des Märchens beendet. Die Wiederholung des 
Motivs vom geraubten Essen bildet den Übergang. Der zweite Teil baut sich 
in derselben Stufenleiter aus denselben Motiven auf. Übergangsmotiv: Wieder¬ 
holung: Speisenraub an den Marktleuten. Schema des Aufbaus im zweiten Teil: 

Ij Beschimpfung des Königs („Wildschwein“). 

2) Wegnahme des Essens von der königlichen Tafel. 

}) Überwindung der Soldaten (Vater-Doubletten). 

4) Motiv vom Kopfabschlagen (Selbstbestrafung). 

Wie in den Träumen, so herrscht auch hier, je weiter das Märchen fort¬ 
schreitet, größere Deutlichkeit. 

„<Jetzt gu?g der Knabe mit seiner Mutter ms Schloßt um dort zu wohnen. Sie fanden dort 
Geld und Schätze im Überßuß, nur nichts zu essen . Da sie Hunger bekamen , sagte die Mutter 
zum Salme: ,Geh auf den Marktplatz und bring Lebensmittel nach Id aus P Der Knabe begab 
sich mit einem großen Tuche und seiner Bleikeule auf den Markt und sagte dort zu den 
Weibern: ,Füllt mir das Tuch mit Brot und bindet mir's zuP — Die Weiber füllten sogleich 
das Tuch mit Brot und banden es zu, der Knabe warf es aber auf die Schulter und ging 
weiter. Verblüfft sahen ihm im ersten Augenblick die Hökerinnen nach , dann erhoben sie aber 
ein furchtbares Geschrei: ^Willst du uns denn nicht zahlenP 6 7 So kommt her* rief er ihnen 
zurück , yich zahle euch mit diesem Bleikolben heim!' 

* . * Ebenso macht er es mit einem Fleischhauer 7 dem er einen Ochsen wegnimmt } ohne zu 
zahlen* Das Brot über der einen Schulter , den Ochsen über der andern , kehrt er heim . . * 
Da sprach die Mutter: 7 Du bringst ja das ganze Geld zurück , warum hast du nicht gleich 
bezahlt ? i Antwortete der Knabe ; ,Du hast mir nur gesagt 7 ick solle Brot und Fleisch nach 
Haus bringen , vom Zahlen hast du mir nicht gesprochen / Nachdem sie den ganzen Formt 
verzehrt 7 schichte ihn die Mutter wieder in die Stadt und er machte es wieder, wie das erstemal. 

Er wird also auf diese Weise wieder der Ernährer und Erhalter der Mutter. 
Der seltsame „Einkauf“ ist eine ausgesprochene Eulenspiegelei. 1 Er hat auch 
das Charakteristische der Eulenspiegeleien — nämlich die allzu wörtliche Er¬ 
füllung eines Gebotes. Hier verdeckt ein förmlich sklavischer Gehorsam gegen 
die Mutter (sie hat nichts vom Bezahlen gesagt, daher bezahlt er nicht) nur 
den Trieb, das allgemein gültige Gesetz über den Haufen zu stoßen. Das Gesetz, 
das er verletzt, ist die Macht des Königs, — da der König die reale Verkörperung 
des Gesetzes ist. Der Sohn, der sich gegen den Vater-König und sein Eigentums“ 
gesetz (Bezahlen!) vergeht, ist eben der Revolutionär. 

n Die Leute waren über diese Raubzüge sehr erbittert und gingen zum König* ihn zu verklagen. 
Der König ließ nun ein großes Gerüst erbauen, um von dort aus den Knaben zu beobachten , , 

Der König hätte also die Verpflichtung, die Übertretung seines Gesetzes an 
dem aufrührerischen Sohn-Hel den zu rächen. Aber er beobachtet ihn von einem 
Gerüst aus. Er ist also — ganz wörtlich — über ihn erhaben. So wie die 
Vorstellung von einem allwissenden Gott, der vom Himmel aus alles sieht und 
beobachtet. Außerdem ist der König durch die Höhe des Gerüstes vor etwaigen 
Gewalttaten des Aufrührers geschützt — wie der erwachsene „große Vater“ 
vor der ohnmächtigen Wut des unerwachsenen, kleinen Sohnes. 


j) Vgh Volksbuch vom Till Eulenspiegel, VI, Historie. 


4’ 









52 


Dr. Franziska Juer und Dr. Ollo Marbach 


„Ein drummal raubt er wieder alles auf dem Markt, muß aber beim Heimweg am Gerüst 
des Königs vorbei ...Der König rief ihn zu sich, klopfte ihn auf die Schulter und sprach: 
,Komm morgen zu mir zum Essen . 1 — ,Gut, ich komme % antwortete der Knabe, /.u Hause 
erzählte er seiner Mutter: ,Ein Wildschwein hat mich zwn Essen eingeladen — Antwortete 
die Mutter: ,0 weh , warum hast du zu kommen zugesagt; sie werden dich ja umbringen 
lassen? — ,0 Mutterberuhigte er sie, fürchte dich nicht um mich, ich bewältige sie alle. 

Man beachte die Art der Einladung! Das „Auf-die-Schulter-Klopfen“ sieht 
freundlich aus, dennoch plant der König-Vater natürlich — wie auch der weitere 
Verlauf des Märchens beweist — die Vernichtung des Sohnes. Der Held konnte — 
will das Märchen mit den Gedanken des Königs sogen — nur durch List unschädlich 
gemacht werden — denn an Stärke ist er dem König überlegen. Aber eben auch 

an List!_Unter der Larve der Dummheit ermöglicht er sich die Beschimpfung der 

Vater-Imago. (»Wildschwein!“) Übrigens übersehe man nicht die Gleichsetzung des 
Vaters mit einem phallischen Tier! (Totem.) Beweis, daß liier eine Beschimpfung 
vorliegt — eine Beschimpfung des Vaters, der den Sohn tatsächlich umzubringen 
gedenkt, ist der Ausspruch der Mutter, die die Situation in jeder Hinsicht durch¬ 
schaut. Sie weiß, wer mit dem Wildschwein gemeint ist, sie weiß auch, daß »sie , 
d. h. die Gewalt des Vaters, den Sohn „umbringen“ wollen. 

„Am nächsten Tage nahm er einen großen Korb und begab steh in die königliche Burg. 
Dort stellte er den Korb vor dis Tür und schärfte den Leuten ein , denselben um keinen Preis 
anzurühren. Die Herrschaften insgesamt standen bei seinem Eintritt auf. Da wurde die Suppe 
aufgetragen und der Knabe forderte die Herren auf, sie mögen jeder einen Löffel voll Suppe 
aus seinem Teller nehmen. Sie taten''s, worauf er allen die Suppe auStrank , sich über alle auj- 
getragtnen Speisen machte und alles rein wegputzte. Ebenso trank er allein den ganzen ff ein aus . 1 

Also wieder das Motiv vom geraubten Essen. Wir sehen die dreistufige 
Steigerung dieses Motivs, l) Diebstahl des Essens aus der Kutsche des Königs. 
2) (In die Mitte des Märchens gestelltes Überleitungsmotiv.) Kaub der Speisen 
auf dem Markt. 5) Raub der Speisen von der Tafel des Königs. Die Betonung 
dieses höchst markanten Motivs erinnert uns wieder an die Roland-Sage. — 
Uhlands Quelle berichtet die entsprechende Geschichte folgendermaßen: Als 
Karl der Große von seiner Romfahrt heimkehrt, verteilt er in Siena an alle 
Armen Almosen. Dies geschieht mehrere Tage hindurch und der kleine Roland 
ist immer unter den Beteilten. Einmal aber kommt er zu spät. Er geht nun 
unbedenklich in das kaiserliche Gemach und nimmt von der Tafel eine silberne 
Spelseschüssely die er sogleich zu seiner Mutter trägt* Ebenso Bin nächsten . 
einen goldenen Becher. Der Kaiser schreit ihn wütend an, er aber erschrickt 
nicht, sondern faßt Karl am Bart und sagt: „Eines Kaisers Stimme ist nicht 
stark genug, um mich zu erschrecken. M Und in Uhlands Ballade: 

„Herein zum Saal klein Roland tritt 
Als war’s sein eigen Haus* 

Er liebt eine Schüssel von 1 iselies IVIilt 
Und trägt sie stumm hinaus* 

Der König denkt: ,Was muß ich sehn? 

Das ist ein sondrer Brauch. 1 
Doch weil er’s ruhig läßt geschelni. 

So lassend die andern auch* 















Eine südslawische Märchenparallele zum Urtypus der Roland-Sage 


Es stund nur an eine kleine Weil 7 , 

Klein Roland kehrt in den SaaL 
Er tritt zum König hin mit Eil* 

Und faßt seinen GoldpokaL 

,Heida! halt an, du kecker Wicht! 4 
Der König ruft es laut. 

Klein Roland läßt den Becher nicht. 

Zum König auf er schaut,“ , , , (usw,) 

Wir erkennen zunächst eindeutig, daß es sich hei unserem Märchen und 
der Roland-Sage psychisch um dieselbe Geschichte handelt. Das Motiv ist das 
vom armen Kind, dem Bettler jungen, der eigentlich der Sohn des Kaisers ist und 
sich daher auch, als er eines Tages in des Kaisers Saal erscheint, mit Fug und 
Recht benimmt „wie zu Hause"'*- (Familienroman,) Um das Problem ganz zu 
erfassen, zitieren wir zunächst den folgenden Text unseres Märchens: 

„Im ersten Augenblick war man darüber vor Erstaunen ganz verblüfft. Dann aber ließen 
die Herren an allen Türen Wächter auf stellen und ein ganzes Regiment Soldaten in die Burg 
kommen - Nachdem sich der Knabe satt gegessen, ging er hinaus , holte seinen Korb und füllte 
ihn mit dem Rest der Speisen an, um sie seiner Mutter nach Haus zu bringen* Wie er aber 
hinaustrat, fingen die Soldaten an, auf ihn zu schießen“ 

Hier tritt also die tückische Mordabsicht des Vaters klar zutage. Obzwar 
es unausgesprochen bleibt (beginnende Verdrängung!), weiß der „König^ natürlich, 
daß er den „Sohn“, den Aufrührer und Gegner vor sich hat und will ihn — 
weil er dies weiß — töten, — In der Sage und in der Dichtung Uhlands 
ist die Verdrängung soweit vorgeschritten, daß die Beschimpfung, die der König 
dort Roland und dessen Mutter zufügt, nur aus Unkenntnis der Verwandtschaft 

erklärt wird. j} er König ruft mit ein einmal: 

,Hilf Himmel! seh ich recht? 

Ich hab- verspottet im offnen Saal 
Mein eigenes Geschlecht. 4 

Wie zumeist in der Kunstdichtung ist eben auch hier ethische Umgestaltung 
eines alten Motivs eingetreten. 

„Die Kugeln prallten von ihm ab und er rief aus: y Hört doch auf mich anzuspucken, denn , 
fang"* ich zu spucken an, tst's um euch gar bald getan.' Doch die Soldaten stellten das Geknatter 
nicht ein , darüber wurde er bbse y las die Kugeln auf und erschlug mit ihnen alle Soldaten. 
Zum Schluß hohe er mit seinem Bleikolben aus und schlug mit einem Schlag die halbe Burg 
in Trümmer.“ 

Der Held ist also — wie die meisten Helden von wunderbarer Geburt — 
unverwundbar. Der Ausdruck „anspucken“ für „anschießen“ entspricht wieder 
jener herabsetzenden Ironie, die er in der Bezeichnung „Hühnersteige“ für 
„Königsschloß", „Wildschwein“ für „König“ schon früher — unter der Maske 
der Dummheit — hatte spielen lassen. Es ist dies eigentlich die Ironie des 
Übermächtigen, mit der er auf die ohnmächtige Kraftanstrengung des Schwächeren 
herabsieht. Psychische W urzel ist wohl die dem Kind übermächtig erscheinende 
Kraft des Vaters. Man entsinne sich nur gewisser Scherzspiele, bei denen der 
Vater sich von dem kleinen Söhnchen „schlagen“ oder sonstiges „Leid“ zu- 










V 


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Dr. Franziska Juer und Dr. Otto Marbach 


fügen läßt, jedoch für dessen äußerste Kraftanstrengung nur ein spottendes 
Lachen übrig hat. Wer je beobachtete, mit welchem Ingrimm die kleinen 
Fäustchen dann immer wütender zustoßen oder die große Hand des V aters 
oder dessen Finger „umzudrehen" versuchen, oder an Haaren, Ohren und Nase 
zupfen, wird verstehen, daß der Vater, der über all diese Bemühungen nur 
lacht, der kindlichen Psyche als unverwundbar und übermächtig erscheinen 
muß. (Man beachte — als Beweis dessen — das fröhliche Triumphgjekrätl, wenn 
der Vater oder überhaupt die erwachsene Person, die sich zu diesem Spiel hergibt, 
Schmerzempfindung fingiert!) In Märchen und Mythus entspringt dieser psychischen 
Wurzel das Motiv vom Riesen, dem in keiner Weise beizukoniincn ist (I Hoher 
gehört z. R. der nordische Mythus von Thors Fahrt zu Utgardaloki.) 1 * * Durch den 
Mechanismus der Umkehrung — die dem Wunsch der kindlichen Psyche ent¬ 
spricht — ergibt sich der häufige Märchentypus vorn kleinen Menschlein, der den 
dummen Riesen durch seine angeblichen Kraftleutungen ungemein imponiert. (Zum 
Beispiel Grimm, K. H ,M., Nr. 20: „Das tapfere Schneidurlein"* Mit zahlreichen 
Parallelen bei Bolte-Polivka,) Hier ist die Märchengestaltung soweit Wunsch' 
erfüllung, daß die sonst nur angemaßte Überkruft dos Kleinen tatsächlich besteht. 
Ebenso — als Wunscherfüllung — sind die Kraftleistungen mancher Helden 
(Herakles) von göttlicher oder wunderbarer Abstammung aufzufassen, die schon 
in der Wiege Heldentaten vollführen, (Schlangen erdrosseln I) 

König entsetzte sich , ließ ihn vor sich auf sein Zimmer rufen und sprach zu ihm: 
y Schau , was für einen großen Schaden du mir angerichtet hast * * ? Der Knabe antwortete 
ihm; fVarum? Mußten mich die Soldaten anspucken? Habe mich dafür gerächt? ß last du 

eine Mutter und ist sie schön?* — Der Knabe: ^Freilich habe ich eine Müllirr, aber die t$t 
noch häßlicher als ich 4 , imd der König versetzte: ,So bring sie morgen zu mir her?“ 


Diese Stelle ist wohl die interessanteste des ganzen Märchens, Zwischen den 
Gegnern — Vater und Sohn — kommt es hier zu einem Paktieren, wie es 
eben der Kompromißtendenz des Märchens überhaupt entspricht* Zwar hat 
der Sohn die Soldaten getötet, die Burg zertrümmert, d. h. seine Macht be¬ 
wiesen, die ihn befähigen würde, auch den Vater zu töten (wie er dadurch 
symbolisch andeutet), nun aber kommt es zwischen ihm und dem V ater zur 
Aussprache, Daß der Vater gezwungen ist, ihn als übergeordnete Macht uimt- 
erkennen, ist für ihn Teilbefriedigung seines Hasses, Die Frage des Königs: 
„Hast du eine Mutter , . . usw., die, wenn man das Märchen nicht einet 
analytischen Deutung unterzöge, recht unvermittelt und unzusammenhängend 
erscheinen könnte, ist im Gegenteil außerordentlich logisch und richtig psycho¬ 
logisch an das Vorhergehende gereiht* — Hier ist die Situation die, daß der 


1) (Gylfaginning, cap, 44—47,) Thor schlägt dem schlafenden Kiesen Skrynur 

(der Utgardaloki ist) dreimal den Hammer auf den Kopf. Aber der Riese iragt nur: 

„Ist ein Laubblatt gefallen?“ — „fiel eine Eichel?“ — „haben die Vögel auf dem 

Baum etwas fallen lassen?“ — Im weiteren Verlauf vermag Thor, der Kruft gut t, 
nicht einmal ein Trinkhorn leer tu trinken, nicht einmal eine graue Kette tu heben, 
nicht einmal die alte Amme Utgardnlokis im Ringkampf au besiegen, (Vgh Fr. v. d, 
Leyen: „Das Märchen in den Göttersagen der Edda“, Berlin 1899, p. 40 ff«) 

























Kine südslawische Märchen parallele zum Urtypus der K oland-Sage 


55 


Kampf um die Mutter sich bis zur vereitelten Mordabsicht des Vaters gesteigert 
hatte, die in ihrer Darstellung zugleich dem Sohn Gelegenheit gegeben hatte, 
seine Vatermordgelüste symbolisch (durch die Tötung der Soldaten, Zertrüm¬ 
merung der Burg) auszuleben. Der Sohn ist also dem Vater zu stark, er sucht 
sich daher mit ihm zu vertragen. Er straft ihn nicht für den „angerichteten 
Schaden“, (die Mordabsicht) verlangt aber dafür — als Gegendienst — die 
Abtretung des Weibes, (Vgl. hiezu Rank; Inzestmotiv. „Das Motiv der Braut- 
abnahme“, S. 81 f.) In all dein ist der Sohneswunsch deutlich, der Vater 
möge ihn als anerkannten und mächtigen Rivalen bitten, ihm nicht mehr 
im AVege zu sein, — Wieder ein wichtiger Unterschied zwischen Mythen- 
und Märchenheld. Im Heldenmythus geht der Kampf um das Mutter-AA r eib 
unerbittlich bis zum tragischen Ende, im Märchen realisiert sich entweder die 
vollkommenste Befriedigung der Wunschphantasie oder — es kommt sogar 
unter dem Einfluß der allmählich großer gewordenen Moral Verdrängung zu 
einer Art Friedensschluß zwischen den beiden Urgegnem: A^ater und Sohn. — 
Allerdings setzt sich der ursprüngliche Trieb trotz der Hemmungen durch, wenn 
z, B, der Sohn sagt: „Sie ist noch häßlicher als idh* f ; — er will List an¬ 
wenden, um sie doch behalten zu können. Aber es ist kein entschiedenes 
Kein und der König-Vater durchschaut diese List. 

»Der Junge ging nach Haus und brachte am nächsten Tag seine Mutter vor den König* Als der 
König sah, daß sie gar so schön sei, heiratete er sie auf der Stelle und ließ ein großes Fest 
veranstalten . M 

Wir erkennen also in unserem Märchen eine Geschichte von jenem Typus, 
in dem der Sohn als AViedervereiniger der Eltern auftritt, (Vgl. Rank: Inzest- 
inotiv, V, S. 169 ff. [Sage von Milun].) Diese Rolle spielt auch Roland in der 
Sage, da er Bertha und Kaiser Karl wieder vereinigt. AAir folgen in der Nach¬ 
erzählung der Sage wieder der Darstellung von Uhlands Quelle; ... Der Kaiser 
schickt vier Truchsessen dem kühnen Knaben nach und sie linden Bertha in 
ihrer Höhle. Drei kehren zurück, um für sie um Gnade zu liehen. Nun schickt 
Karl Frauen und Jungfrauen, die Bertha vor ihn geleiten, Abei bei ihrem 
Anblick übermannt ihn derart der Zorn, daß er sie mit einem Fußtritt zur 
Erde stößt (!), Roland hätte deshalb den Kaiser fast getötet (!). Nun sieht Karl 
seine Übereilung ein und begnadigt die Schwester. Auch Milon, der bis 

jetzt durch einen Zauber ferngehalten war, findet sich wieder ein (!)« Man 
beachte besonders diesen letzten Zug der Sage, daß der verschwundene (weg¬ 
gewünschte) Vater im Moment der Wiedervereinigung Karls mit Bertha wieder 
erscheint, da er eben nur eine Abspaltung Karls ist. Die Heirat selbst stellt 
die Erfüllung des inzestuösen AA r unsches des Märchenbeginnes dar — der A^ater- 
Tochter-Inzest wird offen durchgesetzt, Dabei ist zu beachten, daß — da in 
den Märchen vom Sohn als Wie der v er ein er der Eltern, wie Rank nachweist 
(Inzestmotiv, A r , S. 168, 171), eine Identifizierung mit dem Vater vorliegt — 
der Sohn auch hier auf diese A\ r eise seine Inzestphantasie durchzusetzen vermag, 

„Nach der Festlichkeit sagte der Knabe zum König, dessen Stiefsohn er nun war: ,Komm 
mit mir, wir wollen uns eine Weile ergehen} Der König ging mit ihm, und als sie in einen 






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Dr. Franziska Juer und Dr, Otto Marbach 


großen JVald kamen , fanden sh in einem hohlen Baum eine Menge verrosteter Säbel , Sprach 
der Sohn zum Fat er; ßueh dir einen Säbel aus ! 1 — Der Fater suchte sich einen passenden 
ßus und fragte: y Was soll ich denn mit diesem Säbel anfangen — Antwortete der Sohn : 
^Schlag mir den Kopf ab? — Das wollte der König nicht , doch der Sohn sagte; fVenn dus 
nicht gleich mir tust , tu ich's Air?** 

Bevor wir auf die Deutung dieser gleichfalls buchst interessanten Stelle 
eingehen, sei auf das Einschiebsel: „dessen Stiefsohn 1 * usw, hingewiesen. 

Der Märchendichter fürchtet zu deutlich geworden zu sein, fürchtet seine Inzest- 
phantasie verraten zu haben und will dies nun durch den Ausdruck „Stief¬ 
sohn" verdecken* Er will vorgeben, es handle sich um einen anderen König 
aber es gelingt ihm nicht, die Täuschung durchzuführen. Gleich darauf spricht 
er wieder von „Sohn" und „Vater", so daß jetzt auch die Verdeckung, die 
früher den Sohn hinter dem „Knaben" und den Vater hinter dem „König“ 
barg, aufgedeckt wird, — Zur Deutung ist es am besten, von dem „Wenn 
du’s nicht gleich mir tust, tu ich's dir!“ auszugehen, — Zugrunde liegt der Todes¬ 
wunsch gegen den Vater, Doch wird die Mord ab sicht verdrängt und statt seiner 
selbst vereint er den Vater mit der Mutter (Ambivalenz). Nichtsdestoweniger 
ist er sich wohl bewußt, gesündigt zu haben. Zur Symbolisiert!ng der Region, 
in der er sündigte, erscheint der „hohle Baum" und die „Säbel“ (beides Phallus- 
symbole). Er weiß, daß er die Tötung Kastration („schlag mir den Kopf ab“) 
verdient, denn er sinnt das gleiche gegen den Vater („Wenn ilu’s nicht , , . 
tu ich's dir), — Dem Tod es wünsch gegen den Vater entspringt also ein Schuld¬ 
gefühl, das nach dem primitiv-starren Gebot der Vergeltung von Gleichem mit 
Gleichem, sich zum masochistischen Wunsch steigert: der Vater solle töten. 
(Strafbedürfnis,) — Wir erkennen hier den psychischen Mechanismus des Ver¬ 
folgungswahnes, bei dem eben der so entstandene Wunsch, vom Vater getötet 
zu werden, auf die verschiedensten Vater-Imagines übertragen wird und der 
Wunsch, getötet zu werden, als Angst, getötet zu werden erscheint. — Das 
Märchen zeigt hier also die Wurzel und den Beginn einer Neurose, die aber — 
wie alle Märchenkonflikte — sofort gelöst (analysiert) wird, (Wenn du’s nicht ■ . . 
tu ich's dir!) Die sofortige Lösung, ul est Analyse jedes Märchenkonflikts ist 
ein wichtiger Grund für die Gesundheitskraft, die jedem Märchen innewohnt, 

„Da holte der König aus und streifte mit dem Säbel den Sohn leicht über den Kopf, hn 
selben Augenblick verwandelte sich der bunt gefleckte Knabe in einen wunderschönen Jüngling von 
blendend weißer Karbe* Sie kehrten nun heim ..,, der Fater gewann den Sohn gar viel heb , ließ 
eine große Festbarkeit veranstalten * . erzählte die ganze Geschichte. Bei diesem Gastmahl war 
ich auch zugegen) trank aus rotem Becher roten FFein und horte die Geschichte mit atu u 

Die ursprüngliche Kastration ist hier also bereits zutn Symbol von rituellem 
Charakter abgeschwächt. (Pubertätsriten der Primitiven, Ritterschlag.) Der 
Märchenschluß vom „Kopfabhauen“ erscheint noch häufig dort, wo es der 
Märchenheld gewöhnlich an dem „hilfreichen Tier“ vollzieht 1 (Zum Beispiel 


i) Wo es sich um das „hilfreiche Tier“ handelt kommt cs tatsächlich zum 
„Kopfabschlagen“. Ursprünglich jedenfalls auch hier so gewesen. Die vorliegende 
Fassung (leicht über den Kopf streifen) stellt die Verdrüngungsurbcit dar. 









Eine südslawische Märchenparallele /.um Urtypus der Roland-Sage 


57 


Grimm, K. H. IVL, I ? 57,) In manchen Märchen schimmert die ursprüngliche 
Vaterkastration noch durch das Symbol, z. B. in der von Grimm angeführten 
Parallele zu I, 57 (III, 57): „Einmal wird auch erzählt, daß der Fuchs, nachdem 
er den Schuß zuletzt empfangen, ganz verschwindet und nicht zu einem Menschen 
wird/* -— Meist aber ist der Fall, daß das geköpfte „hilfreiche Tier** (das 
immer um die Köpfung selbst bittet) dadurch erlöst erscheint, entzaubert, als 
schöner Prinz usw. — Dadurch soll natürlich die Schuld verdeckt, zugleich 
aber eine Identifizierung mit der Vater-Imago durchgeführt werden* Denn der 
Jugendliche selbst, an dem in primitiveren Kulturkreisen jene Pubertätsriten 
vorgenommen wurden, hat jene wunderbare Verwandlung erlebt* Nun ist auch 
er berechtigt, ein YV eib zu besitzen und Vater (König) zu werden, — Zuvor 
unbefriedigten Trieben preisgegeben und inzestlüstern (Symbolisierung durch 
die Tiergestalt, Haarkleid, Geflecktheit, Buntheit), wird er durch den Schlag 
(Kastrationssymbol) entsühnt, 1 — In unserem Fall hat aber die Verwandlung 
noch tieferen Sinn, „Der Sohn der Königstochter" war durch seine Flecken 
als Inzestfrucht gebrandmarkt, als Kind einer heimlichen, verbotenen, illegitimen 
Verbindung. Dieser Inzest wird aber nun — nachträglich — legitim gemacht, 
die früher verbotene Verbindung doch durchgesetzt. Daher wird nun auch der 
Sohn der „Vermählten ein eheliches, „schönes Kind, es verschwinden „die 
Flecken der Geburt"'. — Die heitere Schluß Wendung entspringt den Hemmungen 
des Märchendichters — Erzählers. Er will nicht zugeben, daß diese Geschichte 
seiner Phantasie entsprungen sei, sondern sie wurde ihm vom König erzählt. 
Dadurch erreicht er dreierlei. l) Bei ganz primitiven Gemütern verstärkte Glaub¬ 
haftigkeit seiner Erzählung. 2) Bei ungläubigeren eine Vernichtung eventuellen 
Verdachtes (denn das Ganze ist ja ohnehin nicht wahr, so wenig der allen 
bekannte Märchenerzähler je Gast des Märchenkönigs war), jj Auf jeden Fall 
ist er für den Inhalt unverantwortlich. 

Im Verlauf der Deutung unseres Märchens haben sich häufig so auffallende 
Parallelen zur Roland-Sage ergeben, daß wir vermuten, es müsse diese Sage 
nach dem Grundschema unseres Märchens gebaut gewesen sein. 
Obwohl sie in ihrer Gänze nicht mehr besteht, sondern sich nur einzelne 
Bruchstücke dieses Sagenganzen bei verschiedenen Nationen und zu verschie¬ 
denen Zeiten finden, wollen wir versuchen, aus diesen Bruchstücken ein Schema 
zusammenzustellen, das dem unseres Märchens entsprechen müßte. 

I) Der Vater-Tochter-Inzest 

Diesbezüglich verweisen wir auf die Fußnote auf S. 55. Das Motiv der „unter¬ 
geschobenen Braut entspringt der Inzestphantasie der Tochter. Man beachte, 
daß die betrogene und mißhandelte Braut dieser Erzählung gleichfalls Bertha 
heißt. Wahrscheinlich liegt hier der Typus einer Wiederholung derselben 
Ereignisse innerhalb zweier aufeinanderfolgender Generationen (Pipin — Karl) 

1) Man beachte dabei die taub er ab wehr ende, verwünschtmgslö sende Macht des 
Säbels oder Schwertes, mit dem der Schlag geschieht (Phallussymbol), Dies besonders 
beim Ritterschlag. 









58 Dr. Juer und Dr. Marbach: Eine südslawische Märchenparallele usw. 


vor, — 
der ang 


Daß Karl gegenüber Bertha in Vaterrolle auftritt, beweist seine ^ ut 
etlichen Mesalliance wegen. (Typus: Vater, der die Tochter eifersüchtig 


bewacht) 


W 


Verstoßung der schwangeren Tochter 
(Verdeckung des Inzestgehei inrmses) 


MUo ist eine Abspaltung Karls, — Er selbst vereint sich mit Bertha — 
als MUo und wütet ebendeshalb als Hüter der öffentlichen Moral. — Verstoßung 
der schwangeren Tochter, Er unterwirft sich der Moral und trennt sich von 
der Verführten — daher verschwindet auch seine Abspaltung: Milo, 


III) Aussetzung von Mutter und Sohn 
Geburt des Heldensohnes Roland in der Einöde (Höhle(!) bei Siena), Mutter- 
Sohn-Gemeinschaft, Sohneswunsch, die Mutter zu ernähren. Identifizierung mit 
dem Vater. 

IV) Der Sohn als Rächer der Mutter 
Der Sohn will für die Mutter am Vater, der sie grausam und treulos (ver¬ 
lassen) verstoßen, Rache nehmen. Faßt ihn am Bart, beschimpft ihn („Eines 
Kaisers Stimme ist nicht stark genug usw.), nimmt Geschirr und Speisen von der 
Tafel -— ja, will ihn schließlich sogar töten. (Sogar nach der Wiedervereinigung, 
Wie das „Kopfabschlagen“ in unserem Märchen [... tu kh\s dir). Beides beweist 
ein Bereuen der Versöhnung und eine letzte aufflackemdc Regung von Sohnes- 
trotz.) 

V) Der Sohn vereint die getrennten Eltern wieder 
Durch Roland versöhnt sich Karl mit Bertha. (Identifizierung mit dem Vater.) Milo 
taucht wieder auf, 

VI) Des Helden Tod 

Die Roland Sage ist eine Heldensage — kein Märchen, Daher kann der 
Kompromiß nicht aufrecht erhalten werden. Der Held muß sterben. Spal¬ 
tung des Vaters in eine gütige Vater-Imago (Karl) und eine böte, den „Stief¬ 
vater“ Ganelon. 1 — Rolands Tod im Tal zu Ronceval durch Gnnelons Verrat* 
(Vernichtung des Sohnes.) 


i) Dies ist der Hauptinhalt des französischen Chansons, das wahrscheinlich selbst 
auf Fseudo-Turpins lateinische Chronik zurückgehend, Vorlage für das mittelhoch¬ 
deutsche „Ruolandes-liet“ des Pfaffen Konrud war. (Ausgabe von W. Grimm [1858], 
Bartsch [1874]; — über das Verhältnis zur Quelle; Golther: „Das Roland-Lied des 
Pfaffen Konrad“ [1886]); „Karl der Grolle hat fast das ganze sarazenische Spanien 
unterworfen, nur Saragossa mit König Mnrsiho leistet Widerstand. Auf Rolands Rat 
sciiickt Karl Ganelon (den Bertha nach Mi Ions Tod geheiratet) als Gesandten an den 
Sarazenenkonig, Ganelon vermutet hinter Rolands, seines Stiefsohn es, Rat schlimme 
Absicht (die psychisch ja tatsächlich vorhanden war* — Furcht vor Wiedervergeltung). 
Daher beschließt er, sich zu rächen. Auf seinen Rat heucheln die Heiden Unterwerfung, 
er überredet den Kaiser ahzuziehen lind Roland als Statthalter zurück zu lassen. Dies 
geschieht — und Roland mit der Nachhut wird im Tal Ronceval verräterisch über¬ 
fallen und getötet. 

















Modelle zu den Ödipus- und Kastrations¬ 
komplexen bei Affen 1 

Von Dr. Im re Hermann (Budapest) 

Einem psychoanalytisch orientierten vergleichend-tierpsychologischen Auf¬ 
sätze muß stets eine Warnung vorangestellt werden, eine Warnung gegen 
jede leichtfertige Übertragung von der Menschenpsychologie auf die 
vor uns mehr verborgene Ps3Thologie der Tiere, Uie Erfahrungsdaten der 
Tierpsychologie sollen aus sich selbst, für sich selbst sprechen; aus der 
Psychoanalyse dürfen nur die Gesichtspunkte, nicht aber die Resultate 
geschöpft werden. Es muß ganz allgemein gelten, was Freud in Hinsicht 
auf die Systeme Bw, Uhw , ebenfalls als Warnungsruf, fordert: „Wir be¬ 
schreiben die Verhältnisse, wie sie sich beim reifen Menschen zeigen, bei 
dem das System Uhw streng genommen nur als Vorstufe der höheren 
Organisation funktioniert. Welchen Inhalt und welche Beziehungen dies 
System während der individuellen Entwicklung hat, und welche Bedeutung 
ihm beim Tiere zukommt, das soll nicht aus unserer Beschreibung ab¬ 
geleitet, sondern selbständig erforscht werden.“ 2 

Eine andere Warnung könnte lauten: man verlasse das in der Psycho¬ 
analyse so sehr bewährte Kontinuitätsprinzip nicht. Wir glauben am 
wenigsten ins Irre gehen zu müssen, wenn wir den Weg „von oben“, 
und nicht den Weg „von unten“ einschlagend die menschenähnlichsten 
Tiere, die Affen, einer psychoanalytisch orientierten Betrachtung unterziehen. 
Die Affen leben ja in dauernden Verbänden von kleinerer und größerer 
Mitgliederzahl, in diesen Verbänden drängt sich meistens ein Individuum 


1) Vgl, des Verfassers frühere Mitteilung zur vergleichenden Psychologie der 
Menschen und der Affen: „Zur Psychologie der Schimpansen: 4 * Internationale Zeit¬ 
schrift für Psychoanalyse IX (1925), S, So ff, 

2) S, Freud: Das Unbewußte. Gesammelte Schriften, Bd. V, S. 504. 







6 o 


Di\ Imre Hermann 


als Führer auf, so daß in sozialer Hinsicht eine gewisse Übereinstimmung 
zwischen Affe und Mensch, wenigstens in der ersten Annäherung, khir 
Hegt; auch ist von einer wichtigen biologischen Übereinstimmung zu 
sprechen, insofern, als mehrere Affenarten die Hand als ausführenden 
Apparat des Intellektes gebrauchen, ferner statt einer Brunstzeit beim 
Weibchen eine regelmäßige Menstruation, beim Männchen eine von der 
Jahreszeit im großen unabhängige Lust zum Geschlechtsakte vorhanden sind. 1 2 

Dabei wäre jedoch nichts methodologisch unrichtiger, als die sozialen 
Verbände der Affen, deren Form übrigens auch unter den verschiedenen 
Arten variiert, mit derjenigen der Menschen kultureller oder unkultureller 
Stufe gleichzusetzen; nichts wäre ärger, als einfach von einem „Ödipus- 
Komplex“ der Affen zu sprechen aus dem Grunde, weil hei ihnen ein 
Kampf zwischen älteren und jüngeren Männchen stattfinden kann. Der 
(männliche) Ödipus-Komplex hat seinen guten Sinn nur unter menschlichen 
Verhältnissen, zwischen Vater und Sohn, hei menschlichem Willens* und 
Gefühlsleben, menschlicher Einsicht, menschlichen Trieben, ganz ebenso, 
wie der Kastrationskomplex nicht eine „Verstümmelung überhaupt* , nicht 
eine Leibesloslosung beliebiger Art zu bedeuten hat, sondern die Ver¬ 
stümmelung, welche infolge der Beschädigung der männlichen Genitalien, 
in hervorragendem Maße des Phallus zustande kommt» 3 

Dieser methodologischen Überlegung entsprechend werden wir in Situa¬ 
tionen, Szenen, Verhaltungsweisen, welche den typischen Komplex nicht 
darstellen, aber gedanklich durch eine einfache psychische Denkoperation 
(Verschiebung, Personenvertauschung, Symbolisierung u. s. w») in die typi¬ 
schen Komplexsituationen, Szenen, Verhaltungswewen überführt werden 

1) „Bei den erwähnten Affen“ (Cercopitheeus, Pavian, Brilll&ife) „scheint eine 
Brnnstperiade mit jährlicher Wiederkehr nicht zu existieren. Die Männchen Kind 
wohl ständig, die Weibchen jedenfalls abhängig von der Menstruation s in monatlichen 
Perioden?) brünstig.“ P, Deegener: Die Formen der Vergesellschaftung im 1 ier* 
reiche, 1918, S, 281. — Eine Menstruation, und zwar eine regelmäßig slattfindeutle, 
ist durch mehrere Beobachter für den Schimpansen fcstgestelll. „Dieser Vorgang 
dürfte wohl auch hei den übrigen Formen nicht aus bl eiben»“ II ar Linanil: Die 
menschenähnlichen Äffen und ihre Organisation im Vergleich zur Menschlichkeit, 
1885. Internationale Wissenschaftliche Bibliothek, Bd. 60, S» 179. 

2) So lehrt es Freud: „Es ist mit Recht darauf hingewiescn worden, daß das 
Kind die Vorstellung einer narzißtischen Schädigung durch Körperverlust aus dem 
Verlieren der Mutterbrust nach dem Saugen, aut der täglichen Abgabe der Fäzes, 
ja schon aus der Trennung vom Mutterleib bei der Geburt gewinnt. Von einem 
Kastration skomplex sollte man aber doch erst sprechen, wenn sich diese Vorstellung 
eines Verlustes mit dem männlichen Genitale verknüpft hat.“ Die infantile Genital* 

Organisation. Gesammelte Schriften, Bd. V, S, 255. 














1 


Modelle zu den Ödipus- und Kastrationskomplexen bei Affen 61 


können, Modelle zu diesen bestimmten Komplexsituationen, Szenen, Ver¬ 
haltungsweisen erblicken, wobei wir nur ein 11 eschreiben, nicht ein 
kausales Erklären als Ziel vor Augen halten. Wir nennen also demgemäß 
2* ß* die in der Freud sehen Anmerkung beschriebenen Situationen und 
Szenen Modelle zum Kastrationskomplex» 1 

Gaben wir im obigen eigentlich nur Warnungen, methodologische Ein¬ 
schränkungen an, so sind wir auch in der Lage, eine mögliche und leicht 
auftauchende Warnung aus dem Weg zu schaffen, die Warnung nämlich, 
wir dürften, um der Forderung des Kontinuitätsprinzips Genüge zu tun, 
uns vorerst nur mit den Menschenaffen abgeben, die übrigen Affenarten 
sollten wir aber unberücksichtigt lassen» Dieser Standpunkt ist falsch, aus 
mehreren Gründen; cs ist doch nicht so, der Mensch stamme vom Gorilla, 
Schimpanse oder Orang ab. Diese jetzt lebenden Affenarten sind auf Ur¬ 
formen zurückzuführen, ebenso wie die Abstammung des Menschen auf 
eine Urform zurückgeht. Wirklich nahe Beziehungen waren aber nur bei 
den Urformen vorhanden* Es kann sodann auch nicht behauptet werden, 
dem heutigen Menschen stünden die Menschenaffen psychisch am nächsten, 
denn erstens bieten diese Affenarten auch unter sich verschiedene seelische 
Strukturen dar, zweitens gibt es Charakterzüge, in welchen z. B* der Schim¬ 
panse dem nicht anthropoiden Pavian näher steht als dem Orang. 2 * * Auch 
anatomisch-physialügisch gilt dasselbe, ganz besonders, was die Genitalien 
anbelangt. Nach der Beschreibung Hartman ns sollen die männlichen 
Geschlechtsteile der Anthropoiden im großen und ganzen der menschlichen 
Gestalt und Anordnung folgen, doch sei es auffallend, daß „die Rute des 
schwemschwämigen Pavians und anderer Hundsaffen einen noch weit 
menschlicheren Eindruck als diejenige der Anthropoiden (mit Ausnahme 
des Gorilla)“ hervorruft* 5 Demzufolge müssen wir lernen, das ganze Reich 
der Affen vorurteilslos in Betracht zu ziehen, wenn wir auch nur in dem 

i) Vgl. Psychoanalyse und Logik. Imago-Bücher VII, 19241 S, 

2} „Fahriges, unstetes Gebaren, welches inan als charakteristisch fiir Affen ansieht, 
ist den afrikanischen Anthropoiden nicht entfernt in dem Maße eigentümlich, wie 

niederen Primaten des afrikanischen Kontinents* Hievon abgesehen, wirken manche 

Paviane in einer Reihe von Eigentümlichkeiten des sozusagen alltäglichen Gebarens, 
Bewegungsart {besonders im Affekt), Lautgehung u. dgl, dem Schimpansen äußerst 
ähnlich. In eben solchen Dingen des fortwährenden Verhaltens besteht ein ganz 
gewaltiger Unterschied, fast eine Art Unvergleichbarkeit der Typen Schimpanse und 
Orang (also auch zwischen Pavian und Orang)*“ W* Köhler: Die Methoden der 
psychologischen Forschung au Affen, S. 75. Ans Abderhalden: Handbuch der bio¬ 
logischen Arbeitsmethoden, Abt* VI, Teil D. 

5) Hartmann, a. a. O* S. 179, 













gg Dr, Imre Hermann 

Falle befriedigt werden können, wenn eine Beobachtung als eine möglichst 
allgemeine Erscheinung anthropoide und ihnen wenigstens näher stehende 
Affenarten gleichmäßig betrifft. 

Nach diesen allgemeineren Erörterungen wäre jetzt unsere Aufgabe, die 
Psychologie der Affen einer speziellen Musterung zu unterwerfen, inwiefern 
sie Modelle zu den Ödipus- beziehungsweise Rastra l ionskom¬ 
plexen liefert. Es wird sich auch lohnen, den kompliziert gestalteten, 
durch gewisse Situationen hervorgelockten, durch gewisse Szenen in Er¬ 
scheinung tretenden und durch gewisse Verhaltungsweisen sich kundgeben¬ 
den Ödipus-Komp lex aufzuteilen und uns zu einer partiellen Betrachtung 
Zutritt zu verschaffen. Dabei werden wir darauf gefaßt sein, solche Modelle 
und partielle Modelle aufzufinden, welche man als symbolische Darstellung 
der typischen Komplexe auch von der menschlichen Psychologie aus kennt, 
da doch unser Modellbegriff einen einfachen Denkzusammenhang fordert, 
was in der symbolischen Darstellungsweise der menschlichen Seele eben¬ 
falls oft durchführbar ist 1 (z. B. Abreisen, Aus-den-Augen-Kommen des 
Vaters als Darstellung des Tötungsgedankens, vgl. mit sechstem partiellem 
Modell zum Ödipus-Komplex, S. 65—67). Während aber die symbolische Dar¬ 
stellung die Anwesenheit des Komplexes (im Vbw\ in der Psychologie der 
Affen laut der früheren Anmerkung eine gehinderte Äußerung) fordert, ist 
mit der Konstatierung eines Modells keine solche (oder eine umgekehrte) 
Abhängigkeit ausgesagt. 

A) Partielle Modelle zum Ödipus-Komplex 

1) Situationen des strengen Vaters. Modelle: Brehm beschreibt den 
Leitaffen als einen äußerst strengen Herrscher. „Wer sich nicht gutwillig 
unterordnen will, wird durch Bisse und Püffe gemaßregelt, bis er Vernunft 
annimmt. Dem Starken gebührt die Krone: in seinen Zähnen liegt seine 
Weisheit. Der Eeitaffe verlangt und genießt unbedingten Oehöisam, und 
zwar in jeder Hinsicht. Ritterlich» Artigkeit gegen das schwächere Ge¬ 
schlecht übt er nicht: im Sturme erringt er der Minne Sold ... Im übrigen 
übt der Leitaffe sein Amt mit Würde aus. Schon die Achtung, welche er 
genießt, verleiht ihm Sicherheit und Selbständigkeit, welche seinen llnter- 

1) Es soll hier bemerkt werden, daß in der Psychologie der Alfen der Begriff 
„symbolisch“ für „gerichtete AITektäußcrungen“ bei gehinderter adäquater Handlungs¬ 
weise reserviert werden könnte (x. B. Werfen in der Uichtung des SrhnsuchUnhjckles . 
Auf die gerichteten AfFektiiußerungen macht Köhler aufmerksam (Intelligenz- 
priifungen usw., S. 64—65, Zur Psychologie des Schimpansen, S. 55). 
















1 


Modelle zu den Ödipus- und Kastrationskomplexen bei Affen 


gebenen fehlt; auch wird ihm von diesen in jeder Weise geschmeichelt.“ 1 
Man werfe mir nicht vor, ich zitiere einen nicht vollständig verläßlichen, 
nach Volkstümlichkeit strebenden Autor! Die übrigen, neueren, ganz ver¬ 
läßlichen Beschreibungen stimmen mit dieser Beschreibung überein. Nach 
Köhler ist der Leitaffe Sultan ein Egoist par excellence. 2 3 4 In der Dar¬ 
stellung von Knottnerus-Meyer heißt es: „Alle beherrschend steht das 
stärkste Männchen da wie ein Despot, nicht belastet mit konstitutionellen 
Einrichtungen irgendwelcher Art/ Nach seiner Beobachtung haben sich 
dem Capo, dev Vorherrschaft des Stärksten alle bedingungslos zu unterwerfen. 
Er sei ein Despot orientalischer Art. „Hat er sich einmal, was oft recht 
schnell geht, zur Alleinherrschaft durchgebissen, dann braucht er seinen 
Launen und Begierden nicht mehr im geringsten die Zügel anzulegen, und — 
er tut es wahrhaftig nicht. Die Würde seines Auftretens, die Stöße, die er 
ihn nicht beachtenden, im Wege sitzenden Käfiggenossen versetzt, der ver¬ 
ächtliche Blick, mit dem er seine Untertanen mustert, und deren scheues 
Zurückweichen zeigen, daß der Bandenchef sich seiner Würde bewußt ist 
und als solcher anerkannt wird/ „So lebt denn die große Masse der Streber 
und Denunzianten, die jeden Abend wieder sich freuen, wenn sie am Tage 
das Fell gerettet haben, in ständiger Furcht des Herrn .“3 

Sokolowsky gibt ebenfalls eigene Beobachtungen bei den Rhesusaffen 
folgend wieder: Es warf sich der stärkste und älteste männliche Affe zum 
Führer auf und ging bei etwaigen Anlässen rücksichtslos gegen seine Art¬ 
genossen vor. „Am Tage, wenn alles durcheinanderlief, führte er unbedingt das 
Kommando, strafte Ruhestörer, trennte Streitende und genoß in geschlecht¬ 
licher Hinsicht unbedingtes Vorrecht . . . Die von ihm begehrten weiblichen 
Exemplare ergaben sich ihm unbedingt zum geschlechtlichen Genuß ohne viel 
Widerstreben; oft setzte es hiebei stürmische Szenen ab, indem er sich sein 
Mannesrecht durch gewalttätigen Einspruch erkaufte.“ Auch von den Pavianen 
und Meerkatzen erzählt er, daß in ihren, nicht selten aus sehr vielen Individuen 
bestehenden Banden besonders große, starke und ältere Männchen als Führer 
fungieren. Diese Leitaffen sollen häufig äußerst rabiate, unleidliche Wesen 
sein, die mit den Genossen grob und rücksichtslos verfahren. + 


1) Brehms Ticrieben, 2. Aufl. 1876, I. Bd., S. 48. 

2) W. Köhler: Intelligenzprüfimgen usw. S. 5. 

3) Tb. h n o 11 n c r 11 s - IM e y e r: Tiere im Zoo. Beobachtungen eines Tierfreundes, 
1924, S. 21, 52, 35- Viele der hier niedergelegten Beobachtungen stammen aus dem 
„Affen paradies“ des Tiergartens, wo die Affen ein möglichst freies Loben führten. 

4) A. Sokolowsky: Affe und Mensch in ihrer biologischen Eigenart, 1911, S.6^,68. 










6 4 


Dr. Imre Hermann 


2) Verhal lungs weise des strengen Vaters, der den Sohn im ge¬ 
schlechtlichen Verkehr mit der Mutter hindert, Modelle (statt Vater: 
Bandenführer, statt Sohn: mannliehe Mitglieder der Bande, statt Mutter: 
weibliche Mitglieder der Bande), Man erfahrt, daß alle älteren zeugungs¬ 
fähigen Weibchen, sei ihre Zahl noch so groß, ausschließlich dem Herrscher 
gehören, und daß gerade die stärksten Männchen von ihm am schärfsten 
überwacht werden. 1 

)) Verhaltungsweise des Sohnes, der den geichlechtlichen Ver¬ 
kehr mit der Mutter begehrt. Modelle: Die vom Führer zurückgesetzten 
Männchen bleiben trotzdem keine Junggesellen, der Führer muß stets auf 
der Hut sein, um seine geschlechtlichen Rechte zu bewahren; er muß die 
Konkurrenten energisch fernhalten, 2 es herrschen doch ständig Eifersüchteleien 
und Nebenbuhlerschaften unter den Allen, 3 

4) Szene des Kampfes zwischen Vater und Sohn mit Tötung 
des Vaters. Modell: Es liegen ältere Angaben vor (Winwood Reade, an¬ 
geblich verläßlich; 4 Iluxleys Berichterstatter 5 ), nach welchen bei den Gorillas 
in jeder Gruppe nur ein erwachsenes Männchen geduldet wird; beim 
Heranwachsen der jungen Männchen beginne nämlich ein Kampf und der 
stärkste soll nach Tötung oder Forttreiben der übrigen sich als Überhau pt 
auftun. (Im Modell statt Töten auch Vertreiben 1 — ob Vater oder Sohn 
getötet wird, ist nicht bestimmt, vertauschbar,) Auch ein Modell des Bruder- 
kampfes ist hierin mitangegeben, 

$) Szene der Empörung gegen den strengen Vater, Modelle: Es 
ist sehr auffallend, daß der Führer, ist er auch als „orientalischer Herrscher w 
beschrieben, doch nicht vollständig konstitutionslos regiert. Seine Rücksichts¬ 
losigkeit darf scheinbar eine gewisse Grenze nicht überschreiten. Derselbe 
Leitafle, bei dem Sokolowsky die gewaltsamsten Akte zur Bewahrung 
seiner Rechte sah, gestattete ab und zu auch jüngeren männlichen Allen 
die Ausübung des sexuellen Verkehrs, ohne einzuschreiten, 6 Weshalb? Die 
Antwort kann aus der Erfahrung von Kn0ttnerus“Meyer geholt werden. 


1) Knottnerus-Meyer, a. a, O, S, 32, 33, 

2) Sokolowsky, a. a, O. S, 68. 

3) Kno ttnerus« Meyer, n. a. O. S. 52. 

4) Brehm, a, a. O. S, 66. 

5) Hartmann, a. a, Ö. S. 215, 

6) Sokolowsky, a. a. O. S. 6tf, Ob das neben der früher erwähnten Erfahrung, 
daß 11 am! ich gerade die stärksten Männchen vom Füll rer besonders überwacht werden, 
keine Beziehung zur Latenz periöde, zur zweizeitigen Entwicklung der Sexualität 
beim Menschen hat? 










Modelle zu den Ödijjus- und Kastrationskomplexen bei Affen 


nach welcher aus verschiedenen Anlässen Palastrevolutionen vorzukommen 
pflegen. Eine solche Empörung entstand, als nach der Herrschaft eines 
brutalen „Capo", der wegen seiner bösen Art von der Direktion des zoo¬ 
logischen Gartens zum Tode verurteilt wurde, seine Witwe die Herrschaft 
auf eine Weile an sich zog. 1 2 ein anderes Mal entstand eine Empörung, als 
ein neuer starker Rhesus-Affe, nach dem Tode des Hauptes, die Herrschaft 
an sich riß. Er „kannte nicht die Familienbezüge seiner Untertanen, wußte 
nicht, daß einige kleine Affen im Dorfe geboren waren und darum den 
Schutz aller genossen. Brutal, wie er war, mißhandelte er einige von ihnen, 
und als er dann auch noch die dazwischentretenden Mütter, zwei prächtige 
Äffinnen ohrfeigte, kam es zum Aufstand. Alles fiel über den ,Risiko* 
her, und zum Schluß warf man ihn ins Wasser. An dem Rande des Wasser¬ 
beckens blieben drei junge Männchen als Wache zurück und sobald der 
,Risiko* Miene machte, das recht kühle Bad zu verlassen, riefen sie durch 
Alarmschreie die Bande herbei". 3 Auch ein Affenführer „ Mart in o“ war sehr 
brutal. Er war längere Zeit Herrscher einer größeren Hamadryasbande. Er 
war äußerst eifersüchtig; fressen ließ er aber seine Bevorzugten noch 
weniger als die übrigen. „Eines Tages kam es zu einer Art Hungerrevolte. 
Drei jüngere Männchen gingen gegen Martino vor, er mußte flüchten, 
und — sein ganzer Harem schloß sich pünktlichst den neuen Machthabern 
zu , . . sein jüngerer Bruder wurde sein Nachfolger.*" 3 

6 ) Szene, in welcher der Sohn nach Tötung des Vaters mit der 
Mutter geschlechtlich verkehrt. Modelle: Als Fortsetzung der oben an 
erster Stelle berichteten Palastrevolution wird erzählt, daß, als man den 
getöteten Capo forttrug, „sah ihm seine Witwe hoch vom Baume aus nach, 
solange sie ihn sehen konnte. Weniger aber aus Schmerz als aus Freude, 
daß dieser brutale Gatte nicht mehr war, denn während der Wärter den 
Toten forttrug, vereinigte sie sich schon in luftiger Höhe mit dem neuen 
Gatten, der bisher im Trupp keine beneidenswerte Rolle gespielt hatte“. 4 

Ein ganz spezielles hieher gehöriges Modell wird verständlich, wenn man 
beachtet, was unser Begriff „Tod" bei den Affen bedeuten soll. „Aus den 
Augen — aus dem Sinn" sollte in der Affensprache heißen: Aus den 
Augen — gestorben, tot! Köhler stellt fest, daß die in der Gruppe ver¬ 
bliebenen Affen (Schimpansen) ein isoliertes Tier nur dann bemerken, 

1) Knottnerus-Meyer, a. a. O. S. 50. 

2) Daselbst» S, 51* 

5) Daselbst» S* 42. 

4) Daselbst, S. 30. 


Jmw£o. XII 


5 









66 


Dr. Imre Hermann 


wenn letzteres Lärm schlägt; es fällt, ebenso wie ein nicht schreiender 
kranker oder sterbender Affe, wenn er nicht gerade vor ihren Augen liegt, 
ganz aus ihrem Interessenkreise . 1 * Die Existenzfrage scheint hei ihnen nur 
durch Sinneseindrücke fundiert zu sein. Rhesus-Äffinnen sollen ihre toten. 
Kleinen noch tagelang mit sich herumschleppen, ihnen das Fell durchsuchen, 
und sie an sich drücken, und sollen sie erst nach langen Tagen im Stich 
lassen, wenn sich nämlich die Verwesung allzustark bemerkbar macht; 
dann beachten sie die Leiche aber gar nicht mehr . 3 Es ist allerdings dem¬ 
gegenüber auch möglich, daß ein totes Tier starke Wirkung auf den ihn 
Liebenden ausübt , 5 6 doch auch in diesem Falle ist es nicht das Totsein, 
sondern der Augenblick des Fortnehmens der Leiche, des Scheidens, 
welcher die niederschlagende Wirkung hervorruft, in welcher dann das 
allein gebliebene Tier eventuell verbleiben kann. „Ein Beispiel zärtlicher 
Gattenliebe zeigte ein brauner Pavian. Als diesem sein Weibchen gestorben 
war, schien er zunächst von ihrem Tode keine Notiz zu nehmen. Er hielt 
es für schlafend und folgte bereitwillig, als er abgelassen werden sollte, in 
dem Glauben, sein Weibchen komme nach. Als er sich aber getäuscht sah 
und man das tote Tier aus dem Käfig nahm, raste er vor Wut und Schmerz, 
Tagelang saß er ganz apathisch da, ohne zu fressen .“ 4 

In der Umkehrung dieser Verhältnisse finden wir dann auch bei den 
Affen das Sichtotstellen als zweckmäßige Handlung vor (sich Ducken 
und Totstellen, bis die böse Laune des Gatten, eines Hamadryas, wich ; 5 
um ihre Opfer zu täuschen). 1 ’ 

Von dieser foppenden Weise führt dann nur ein Schritt zum Sei bst - 
foppen, in der Form des Nichtbeachtens eines Feindes. So beachtete 
eine Schimpansin den im Nachbarkäfig wohnenden anderen Schimpansen 
gar nicht, wahrscheinlich aus tiefer Eifersucht, da sie so sein an ihrem 
Wärter hing. „Ein Zusammentreffen im gleichen Käfige würde wohl zu 
einem Kampfe auf Leben und Tod geführt haben. Räumlich getrennt 
beachtete man sich nicht. Ähnlich© Beobachtungen kann man ja aucli an 


1) W. Köhler: Zur Psychologie des Schimpansen, S. ia. 

4) Knottnerus-Meyer, a. a. O. S. 44. 

5) Die Trennung von der Gruppe verursacht im isoliert verbleibenden 1 ier, 
besonders bei den jüngeren, Angst. 

4) Knottnerus-Meyer, a. a. O. S. 23. 

5) Daselbst, S. 41. 

6) Rom an es: Die geistige Entwicklung im Tierreiche, 1885, S. 545—345, durch 
zwei Beobachter, unabhängig voneinander, gesehen. 















Modelle zu den Ödipus- und Kastrationskomplexen bei Affen 


Hunden machen, 1 Auch ihre ehemaligen Herren wollen die dem Tiergarten 
übergebenen Affen nicht erkennen, „Es liegt bewußte Nichtachtung vor“, 
sie wollen vom unzuverlässigen Herrn nichts mehr wissen, 2 Es könnte 
heißen: ich sehe dich ja nicht, also du bist „tot“. 

So wäre also das Nichtbemerken, Nichtvor denaugenhahen ein 
Modell des Todeswunsches. Dann aber können wir ein sehr wichtiges 
Modell der letztangegebenen Ödipus-Szene hier anreihen: das Stelldichein 
der Affen und Äffinnen im Graben, in einer Grotte, nachdem sie scheinbar 
ungezwungen nach dem Häuptling sich umsahen und ihn nicht aufmerksam 
fanden . 3 

B) Modelle zum Kastrationskomplex 

1) Es wäre eigentlich schon von einem „biologischen Modell“ zu 
sprechen. Die meisten Nicht-Anthropoiden besitzen einen Schwanz, den 
Menschenaffen fehlt ein solcher gänzlich. 4 Aber auch ein Charakteristikum 
altweltlicher Affen, die Gesäß sch wielen, fehlen (mit Ausnahme des 
Gibbons, bei dem sie rudimentär nachzuweisen sind) den Anthropoiden, 5 
Es ist weiterhin auffallend, was beschrieben wird: „Alte Individuen (Orang) 
verlieren nicht allein sehr häufig die Nägel ihrer großen Zehen, sondern 
zuweilen sogar noch die Nagelglieder derselben. Es ist dies nicht bloß ein 
Effekt jener Krankheit gefangener Individuen, jenes gar nicht selten an 
Meerkatzen, Hyänen usw, zu beobachtende Abfallen von Schwanz- und 
Nagelgliedern, sondern es kommt auch bei freilebenden Orangaffen vor.“ 6 7 

2) Modell, als Reißen, Abreißen am fremden Körper. Von ver¬ 
schiedenen Beobachtern ist beschrieben worden, wie die Affen langschwänzige 
Affen oder andere Tiere am Schwänze ziehen, einige Schimpansen Ab¬ 
neigung gegen Affen mit langen Schwänzen habend ein Siamang ergriff, 
sobald er nur konnte, einen seiner mitgefangenen Affen und „trieb mit 
dem Schwänze wahren Unfug“. 8 Von einigen Pavianen schreibt Brehm, 


1) Knottnerus-Meyer, a. a. O. S. 10. 

2) Daselbst, S. 45, 

3) Daselbst, S. 55. Die relative Realangepaßtheit dieser Handlungsart soll einen 
nicht beirren. 

4) Siehe z. R. Brehm, a. a, O. S, 55, 

5) Hartmann, a* a. 0 . S. 41, Sokolowsky, a, a. 0 , S, 56, Daß Gesäß Schwielen 
zum Genitalapparat gehören, zeigt ihre Schwellung und Rötung während der Men¬ 
struation. (Hart mann, a. a, O. S, 179,) 

6) Hartnimin, daselbst, S, 58, 

7) Knottnerus-Meyer, a. a. O. S. 10. 

8^ Groos: Die Spiele der Tiere, 2. Auf!., 1907, S. 145. 


5 * 












IJr. Imre Hermann 


sie hätten ihre Gesellen, einige Budengs maulachelltiert, „gaben ihnen Rippen¬ 
stöße, zogen sie an dem Schwänze und machten sich ein besonderes Vergnügen 
daraus, ihre innige Vereinigung zu stören“. 1 Ein weiblicher Pavian ergriff 
wieder beim Schlafe den Schwanz eines Hundes und erweckte den Schlafenden 
durch einen plötzlichen Riß am Schwänze; nach Reuggers Beobachtung zerren 
die Affen Hunde und Katzen beim Schwänze, Hühnern und Enten reißen sie 
Federn aus. 2 * Über Federausrupfen am ganzen Körper des Vogels berichtet 
Romanes sehr anschaulich („der Affe nahm die Krähe bedächtig zwischen 
seinen Knien und fing an mit dem größten Ernste zu rupfen“ — in einem 
Falle; in einem anderen wurde sogar beobachlet, wie der Affe dabei den Saft 
aus dem Ende der großen Federn zu saugen pflegte 5 — man vergleiche das mit 
dem Lausen 1) Nach Rothmann undTeuber sollen die Schimpansen gelegent¬ 
lich Eidechsen fangen und besondere Freude daran haben, diese an dem 
Schwänze zu zupfen. 4 Auch über Zerren an den Haaren wird berichtet, 5 und 
da wir anderseits wissen, daß Kopfhaare in der Wut emporgesträubt werden, 6 * 8 
ebenso wie eine Erektion in der Wut entstehen kann, ist es fraglich, ob nicht 
diese Körperveränderungen besondere Anlässe zum Reißen abgeben können, 
j) Modell, als „Verletzungen hervorrufen“. Aus den Köhler- 
schen Beschreibungen ist bekannt, daß es Schimpansen viele Freud0 macht, 
einen spitzen Stock beim Heranschleichen mitzunehmen und dem ahnungs¬ 
losen Opfer damit plötzlich an die Beine, in den Leib zu rennen. 
Fremdkörper herausheben und Furunkel ausdrücken am anderen Tiere* 
kann eine realangepaßte Anwendung dieser beiden Modelle sein. 


1) Gr00s: Die Spiele der Tiere, 2 , Aufl., S. 1 44 - 

3) Daselbst, S. 144. 

*) Romanes, a. a. O. S. 543— 545 - , r _ 

4) M.Rothmann und E. Teuber: Aus der AnthropmdenSlntmn auf I cnwiffa, 
1015. — Fr. Alverdes berichtet über ganz ähnliche Beobachtungen (TieriOWClOgie, 
1925, S. 92), meint aber, das wären Folgen der BeichäftigungilOBigheit In der Ge¬ 
fangenschaft. Es sei nun hervorgehoben, — und dies bezieht Hieb aiil das gnnu hier 
vorgefuhrte Tatsachenmaterial — daß auch aus Beschnfügungsloiig t it me Mir 
Erscheinung gelangen kann, was nicht seine vorgex ei ebneten Bahnen hat, «en*o, wie 
die Affen nur das nathalimen, was in ihrer eigenen Natur liegt. (,Vg . u er t as 
letztere besonders Köhler: Intelligenxprüfungcn uaw M S. 48, 49*} 

5) Knottnerus-Meyer, a. a. O. S. 56. 

6) Bei Orang und Gorilla, Hartmann, a. a. O. S. 24 und 148; in Hitgiuic ler 
Erregung beim Schimpansen Sträuben aller Haare weitab vom Körper, Kühler, Zur 
Psychologie des Schimpansen, S. 13. 

Köhler, Intelligemprüfungeii usw. S. 35. 

8) Daselbst, S. 60, 

9, Köhler: Zur Psychologie des Schimpansen, S. 30. 













Modelle zu den Ödipus- und Kastrationskomplexen bei Affen 


4 ) Modell, welches im „Lausen“ mitgegeben ist. Es wurde das 
Lausen bereits durch die Wiederherstellung des Mutter-Kind-Verhältnisses, 
also als die temporäre Überwindung eines Modells zum Kastrationskomplex, 
der Lostrennung von der Mutter, erklärt. 1 2 Es soll auch hervorgehoben 
werden, daß „das Herumsuchen unter dem Fell, auf der Haut, am 
Anus usw.“ stattfindet, Anus und Genitalien aber einer sehr engen Region 
angehören und die Genitalien nach hinten verschoben sind. 3 

j) Modell, welches im angstvollen Fern halten des Vaters vom 
Säugling mit gegeben ist. (Vgl. die ubw Gleichung Penis-Kind.) Es 
wird vielfach berichtet, daß die Mutter den Vater (auch die übrigen 
Genossen) von den Jungen ängstlich fernhält. 3 


il Hermann: Zur Psychologie der Schimpansen, a. a. O. S. 85, 86, 

2) Köhler: Intelligenstpriifungen, S. 69. 

3) Alverdes, a. a. O. S. 42; Knottnerus-Meyer, a. a. O. S. 23. — Zum even¬ 
tuellen Kastrat ionskomplex des Weibchens: Während heim Gorilla-Männchen der 
äußere Geschlechtsapparat von einer faltigen Bauchhaut überdeckt wird, so daß er 
im Zustande der Ruhe nur wenig hervortritt, zeigt sich der weibliche deutlich, mit 
sehr großen Nymphen und großer Klitoris. (Hartmann, a. a. O. S. 18.) 










Eine okkultistische Bestätigung der 
Psychoanalyse 

Von Dr. F. Lowtzky (Berlin) 


Die Theorie Freuds vom unbewußten psychischen Sinn neurotischer 
Symptome findet eine bemerkenswerte Bestätigung in den von E. Magnin 
in Paris veröffentlichten Fällen der Frau IE, der Frau G. und der Frau M. 1 

Frau H. litt an einer schweren Zwangsneurose, Sieben Jahre hindurch 
hatte sie sich ohne Erfolg von den hervorragendsten Arsten behandeln lassen; 
sie wurde Herrn Magnin von ihrem Nervenarzt zur psychoanalytischen Be¬ 
handlung empfohlen. Dieser nahm aber keine Psychoanalyse vor, da sich — 
ihm selber unerwartet — die Möglichkeit bot, mit Hilfe eines Mediums in das 
unbewußte Erleben der Patientin vorzudringen, ihr die eigentliche Bedeutung 
der pathologischen Symptome ihrer Krankheit zu erklären und sie Im Verlauf 
einer Sitzung vollständig zu heilen, 

Das Vorhandensein telepathischer Fälligkeiten bei einigen Somnambulen 
wird von niemand, der sich mit dieser Frage befaßt hui, bezweifelt. Darum 
ist es auch nicht erstaunlich, daß es Magnins „Hellseherin gelang, in die 
geheimsten, ihr selber unbekannten Tiefen der Seele der Patientin cinzu dringen. 

Das Verfahren, Nervenkrankheiten durch ein Medium zu heilen, ist längst 
bekannt. Bereits zu Beginn des vorigen Jahrhunderts wurde dieses Heilverfahren 
von Dr. Despine, der weit über die Grenzen seiner Heimatstadt hinaus den 
Ruf eines erfahrenen Arztes halte, auf das wärmste empfohlen.* Die Heilung 
von Nervenerkrankungen durch mediuinistische Einflüsse ist natürlich zu un¬ 
sicher, als daß sie als methodisches Heilverfahren in Betracht käme, da Som¬ 
nambule, die über telepathische Fähigkeiten verfügen, eine Seltenheit sind, 
noch seltener aber in der erforderlichen Stimmung sind, ihre seltene Begabung 
auch anzuwenden. Der von Magnin beschriebene Fall ist nicht wegen des 
neuen Heilverfahrens, wie er meint, bemerkenswert, sondern wegen der An- 


1} Magnin: Obsession — Persecution h allun «piritoTdc, guerie pur enteilte uvee 
la personnalit£ ofaseklantc. Revue Mdtapsychique, Nov. Die. lyai, N, B, p. 456—^41. — 
Magnin: Devant le myst^re de la n^vrose. Paris igao, p. 54—60. 

2) A. Despine: „Observation de m^cleciiie prntique“, 1838, p. 19* 2o % 174. 







Eine okkultistische Bestätigung der Psychoanalyse 


schau lichkeit, mit welcher der Fall der Frau H., dank diesem Verfahren, die 
Richtigkeit der Grundlagen der Freud sehen Theorie bestätigt. 

Frau H.s Krankheit bestand „in der Furcht zu fallen 4 *, sie war vom 
Gedanken besessen, daß sie „fallen müsse"* Sie wurde ständig von diesem 
Gedanken verfolgt, auch dann, wenn sie sich in voller Ruhe befand. Bei jedem 
Gehversuch fiel sie. Die Fälle, daß sie hinstürzte, mehrten sich täglich — 
von fünfundzwangzig- bis zu vierzigmal. Die Kranke behauptete hartnäckig, 
daß sie nicht hinfiele, sondern daß sie „zu Boden geworfen würde“* 

Eines Tages saß Frau H. im Wartezimmer Magnins mit einigen anderen 
Damen, und wartete, bis die Reihe an sie käme. Eine der Damen hatte 
mediumistische Fähigkeiten. Obwohl das Medium kein Wort mit Frau II. 
gewechselt hatte, obwohl sie einander gar nicht kennen konnten, da sie in 
verschiedenen Städten Frankreichs lebten, sah das Medium an der Seite von 
Frau II. „ein böses* gewalttätiges, grobes, rachsüchtiges Wesen — einen sehr 
bösen Geist*, was sie Magnin mitteilte. Genau mit denselben Wendungen hatte 
die Patientin Magnin ihren Vater geschildert* Die Mitteilung erregte sein 
Interesse. Er veranstaltete eine Begegnung der beiden Damen in seinem Arbeits¬ 
zimmer, verschwieg aber beiden gegenüber sorgfältig, was er vom Leben der 
einen und der andern wußte. 

Die „Hellseherin" verfiel gleich nach ihrer Ankunft in Trance, Ihr Gesicht 
verzerrte sich und nahm einen brutalen Ausdruck an, „Meine Tochter, meine 
arme Tochter, 4 sagte sie, „die Füße schmerzen mich * * . Ich wollte nichts Böses 
tun . . „Wem?* fragte Magnin, „Meiner Tochter/' „Wie heißt sie?“ 
„.leanne,“ Das Medium fuhr fort zu klagen, stöhnte, bewegte die Arme. 
Plötzlich ergriff es die Hand der Kranken und sagte: „Luise, meine arme 
Luise (sie hieß in der Tat so), ich habe dir viele Qualen bereitet . . . Warum 
hast du mir aber auch immer verboten auszugehen, warum hast du jeden 
meiner Schritte bewacht? W eißt du noch * . * Dieser Paletot? 

Hierauf erzählte der Geist ausführlich seine Lebensgeschichte, wie er viele 
Jahre vor seinem Tode zu kränkeln begann; die Tochter wäre stets besorgt 
um ihn gewesen, voller Liebe und Aufmerksamkeit; dieses Verhalten habe er 
aber als eine Vergewaltigung seines Willens empfunden, als Zwang, dem er 
sich nicht habe fügen wollen. „Sterbend hatte ich den Gedanken, daß 
meine Tochter, meine Luise, mir das Leben verbittert, mich meiner Unab¬ 
hängigkeit beraubt, mir nicht erlaubt hatte auszugehen, mich frei zu bewegen, 
und ich heftete mich an sie, damit sie ihren Felder einsehe. Sie muß mir 
deswegen nicht böse sein . . * Ich habe niemandem Böses getan . . * Sie haben 
mir die Augen geöffnet* ich danke Ihnen für alles, was Sie für sie tun: Sie 
geben mir moralische Erleichterung, indem Sie ihr physische Erleichterung 
schaffen.“ 

Alles, was das Medium sagte, entsprach den Tatsachen. In der Tat war 
der Vater der Frau H. eine despotische, aufbrausende, unduldsame Natur; 
er duldete nicht den geringsten Widerspruch. Wegen des Mantels hatte er 
einmal mit seiner Tochter Streit gehabt — trotz Winterkälte und trotz seines 
hohen Alters hatte er ihn nicht anziehen wollen* Die Besorgtheit der Tochter 









72 


Dr. F. Lowtzky 


um ihn konnte ihn rasend machen. In einem solchen Wutanfall war er 
gestorben. 

Man kann sich leicht verstellen, was für einen erschütternden Eindruck 
dieser Tod auf die Tochter machen mußte* Sie, die ihrer Natur nach „sehr 
nervös und ängstlich Veranlagte*', war ihrem Vater zärtlich zugetan. Natur¬ 
gemäß mußte der Tod des Vaters eine furchtbare Seelenerschütterung zur 
Folge haben, da er ja in einem Wutanfall gegen sie gestorben war mit dem 
Gedanken, „daß sie ihm das Leben vergällt habe 44 . Es ist verständlich, daß 
dieser Gedanke sich in ihr festsetzen mußte. Sie erwähnt ihn aber nicht, hat 
keine Erinnerung an ihn, und hieraus folgt, daß es ihr gelungen war, ihn 
zu verdrängen5 die ins Bereich des Unbewußten vertriebene Idee blieb aber 
nach wie vor lebendig, „heftete" sich an sie und offenharte sich in Form 
eines Krankheitssymptoms, welches die Verwirklichung ihres unbewußten 
Wunsches — für ihre Schuld am Vater gestraft zu werden — symbolisch zum 
Ausdruck brachte. Sie „muß fallen % und dieses Fallen erfolgte darum mit 
solcher Vehemenz, — hatte es doch mitunter Verwundungen und sogar Knochen- 
brüche zur Folge — weil es die Verwirklichung des Wunsches der Kranken, 
bestraft zu werden, darstellte, 

„Die Furcht zu fallen“, der Gedanke, daß sie „fallen müsse“, daß sie „zu 
Boden geworfen werde 1 *, diese Ideen, von welchen die Krank« besessen ist, 
das Fallen selbst, das Verletzungen und Knochenbrüche zur böige hatte, sind 
mehrfach determiniert. 

Die Kranke hat „Angst zu fallen“. Jede Angst ist die Äußerung einer 
verdrängten sexuellen Regung, Das Medium, welches das Unbewußte von 
Frau FL getreu widerspiegelt, behauptet, der Vater „hafte“ an der Tochter, „er 
zwinge sie zum Fallen“* 

Jeder Kranke hat, nach Freud, in seinen Behauptungen irgendwie recht, 
wenn er es auch nicht wisse, wieso und warum. Jede Phantasie (in diesem 
Falle die Behauptung der Frau HL) ist eine Wimscherfüllung, welche so wie 
der Traum oft mit dem Gegenteil arbeitet. Es ist die Tochter, die an den 
Vater gebunden ist, die sich von dem Vater nicht los lösen kann, sie ist es, 
die an ihm „haftet" und nicht er an ihr; es ist ihre Bindung an den Vater, 
die sie zum „Fallen“ bringt. Ja, sie fällt tatsächlich und dieses Fallen ist eine 
symbolische Darstellung der Erfüllung ihres infantilen Wunsches {„sie wird 
zu Boden geworfen“)* Ihre inzestuösen Gefühle kommen klar zum Vorschein 
in ihrer ambivalenten Einstellung zum Vater. Die iiberzaetliche Liebe und 
Sorge um den Vater, die ihm sein Leben unerträglich machten und ihn 
schließlich zum Tode führten. Sterbend hat er den Gedanken gehabt, daß 
seine Tochter ihm das Leben verbittert, ihn seiner Unabhängigkeit beraubt 
hat, ihm nicht erlaubt hat auszugehen und sich frei zu bewegen. Er ist mit 
der Tochter unzufrieden: in einem Wutanfalle gegen sie ist er auch gestorben. 
Entgegengesetzt der zärtlichen Neigung der Tochter sind die Gefühle des 
Vaters zu ihr feindselig; er fühlt eine Verbitterung gegen sie* Diese Versagung 
der Liebe ist es wahrscheinlich, die die feindseligen Gefühle der Tochter ver¬ 
ursacht hat, es ist die unbewußt«? Rache für die unerwiderte Liebe. 














Eine okkultistische Bestätigung der Psychoanalyse 


75 


Die Verletzungen beim „Fallen" sind die Strafe für das moralische Fallen, 
für das infantile Begehren des Vaters von seiten der Tochter; sie sind aber 
auch die Strafe für ihre feindseligen Regungen gegen denselben. Frau H, 
weiß nicht, was sie dazu veranlaßt, immer dasselbe zu wünschen und dieselbe 
Handlung zu wiederholen, weil die Ursachen, welche die Idee, von der sie 
verfolgt wird, Hervorrufen und sie zu bestimmter Handlungsweise veranlassen, 
unter der Schwelle ihres Bewußtseins, im Willensbereich ihres Unbewußten 
liegen — und diesen Willen nun empfindet sie als eine fremde, in ihr wir¬ 
kende Kraft; daher „fühlt“ sie auch, daß sie nicht selber fällt, sondern daß 
sie „zu Boden geworfen wird , 

Das Medium behauptet, daß Frau H. von dem Vater „zum Fallen ge¬ 
zwungen" werde. Außer des Hinausprojizierens der eigenen Gefühle auf den 
Vater, hat diese Behauptung noch einen anderen Sinn: Es handelt sich um 
eine Introjektion des Vaters, uni die Identifizierung mit ihm, um Bildung des 
Über-Ichs (des Ich-Ideals), das gegen das arme verschuldete Ich wütet und es 
durch Verletzungen und Knochenbrüche für seine inzestuösen und feindseligen 
Gefühle gegen den Vater straft. „Ich hefte mich an sie," sagt der Vater, 
„damit sie ihren Fehler einsieht . * * Sie muß mir deswegen nicht böse sein.* 
Die Kranke identifiziert sich also mit ihrem Vater, von dem sie zu Boden 
geworfen und auf diese Weise bestraft wird, Freud berichtet in seinen „Vor¬ 
lesungen zur Einführung in die Psychoanalyse" 1 einen außergewöhnlich inter¬ 
essanten Fall einer solchen Identifizierung, 

Die Fähigkeit der Identifizierung zeigt sich auch hei Medien. Bei der 
Begegnung der „Hellseherin* mit Frau II. in Magnins Arbeitszimmer verfiel 
sie erst in Trance, d. h. in einen hypnotischen Zustand. Äußerungen mediumisti- 
scher Ekstase müssen nach James als Folge hypnotischer Beeinflussung betrachtet 
werden. Das Medium findet sich in seine Rolle, weil das von den Anwesenden 
erwartet wird. 

Spiritistischer Lehre zufolge können die Geister Verstorbener durch Medien 
mit lebenden Menschen verkehren. Magnin selber bekennt sich als „überzeugter 
Adept zu dieser Lehre". Die Somnambule teilte augenscheinlich diese Überzeugung, 
sonst hätte sie jenen alten Mann, den sie in Magnins Wartezimmer gesehen hatte, 
nicht einen „bösen Geist* genannt. Es liegt in der Natur der Dinge, daß ein 
in Trance befindliches Medium die Rolle spielt, die die Anwesenden und die 
es selber von sich erwartet. Es „verkörpert* den verstorbenen Vater der Frau H., 
d. h. es identifiziert sich mit ihm, es spielt seine Rolle. 

Diese Fähigkeit zur „Verkörperung“, zur Personifizierung ist eine der grund¬ 
legenden Eigenschaften des Unbewußten. Wird einem im Zustande der Hypnose 
befindlichen Menschen irgendeine Idee suggeriert, die er zu personifizieren 
habe, so geht er diese Verkörperung ein. Man kann ihm beispielsweise suggerieren, 
er wäre ein Vogel, ein Kind, ein König — und er wird sich einbilden, er wäre 
es, wobei er seine Rolle häufig meisterlich, geradezu mit erstaunlicher Voll¬ 
endung spielt. Diese Fähigkeit der Somnambulen zu personifizieren, wird von 


i) Ges. Schriften, Bd, VII, S* 26S—270, 











74 


Dr. F. Lowtzky 


Morton Frince durch das den Menschen eigentümliche Streben erklärt, ihren 
geistigen Gehalt als Person zu gestalten. Dieses Streben des «ubliminalen „Ich** 
nach Personifizierung, nach dem bildlichen Ausdruck lür die von ihm durch¬ 
lebten Empfindungen ist recht eigentlich die ihm eigentümliche Ausdrucksart, 
seine eigene Sprache, die die Stelle der artikulierten Sprache des Bewußtseins 
vertritt. Die moralische Kränkung, die von der Kranken als „Schlag ins Gesicht“ 
empfunden wurde, wird vom Unbewußten auf symbolische Weise in Gestalt 
von Gesichtsneuralgien zum Ausdruck gebracht, Auch in Träumen finden wir* 
die symbolische Sprache des Unbewußten wieder. Die Personifizierung, „das 
Bestreben den geistigen Gehalt als Person zu gestalten u , ist eben dieselbe Art 
des Ausdrucks von inneren Erlebnissen des subliminalen „Ich“, das seinen 
geistigen Gehalt zu Personen und Handlungen umprägt. Das Medium wird zur 
Verkörperung des verstorbenen Vaters der Frau H., es spielt seine Bolle, d, h. 
es identifiziert sich selber mit ihm, wie die junge Frau in dem oben angeführten 
Freudschen Falle sich mit ihrem Manne identifizierte und dessen Holle spielte. 
Der Unterschied zwischen ihnen besteht nur darin, daß die junge Frau in dein 
von ihr verkörperten Bilde den Gehalt der eigenen unbewußten Vorgänge wieder- 
gibt, während Magnins „ Hellseherin * wie ein Spiegel das, was sich unter der 
Schwelle des Bewußtseins der Frau H« ereignete, widerspiegelte. 

Die Möglichkeit einer Gedankenübertragung oh ne Beteiligung der Sinnes¬ 
organe wird von hervorragenden gelehrten Autoritäten anerkannt. Fr. Myers, 
der die Grundlagen zur Erforschung des Subliminalen geschaffen und diesen 
Untersuchungen fast seine ganze Lebensarbeit gewidmet hut, gibt zu, obwohl 
er leidenschaftlicher Anhänger des Spiritismus ist, daß die vom Medium ver¬ 
körperten Gebilde aus dem auf telepathischem Wege übertragenen, bewußten 
oder unbewußten Gedankengehalt der Anwesenden entstehen können. 1 Zum 
selben Ergebnis gelangt«? aucli der bekannte Schweizer Psychologe Fh. 1 ’ lournoy, 
der sich jahrelang mit mediumistischen Erscheinungen befaßt hat. Er teilt mit, 
das Medium könne in Trance mit so außerordentlicher Dorste) lungikraft einen 
Verstorbenen, den es nie gekannt habe, verkörpern, daß ei den Anwesenden 
die unumstößliche Überzeugung von der Echtheit des „Geistes vermittelt. 
Sie ahnen nicht einmal daß das Medium sich der Erinnerungen eines der 
Anwesenden bedient, die in ihm das Bild des Verstorbenen erstehen lassen, 
der sich dann wie in einem Spiegel im Unbewußten des Mediums wider- 
spiegelt. Mit verblüffender Ähnlichkeit reproduziert das Medium den Verstorbenen 
in Worten und Handlungen, aber der Verstorbene hat zu diesem Bilde nicht 
die geringste Beziehung/ 

Das Medium verkörperte nicht nur das aufs Medium übertragene Bild des 
Greises, es hat diesen auch vor sich gesehen. 

Die Fähigkeit der Somnambulen, in „Bildern zu denken“ und ihre Gedanken 
in Halluzinationen zu verwandeln, wird von allen Beobachtern* die sich mit 


i F. W* Myers: La persrmnalit6 hununnu. 19051 p. 338, 
2} Th. Flournoy: Esprits et medium*. p« 481. 











Eine okkultistische Bestätigung der Psychoanalyse 


75 


der Erforschung dieser Frage befassen, festgestellt. „Ihr (der Somnambulen} 
Denken“, sagt Janet, „ist farbig und lebendig, es ist Bild und * . . fast immer 
Halluzination 1 Als P. Janet eine Somnambule fragte, wieviel Uhr es sei, 
antwortete sie ihm zuerst: „Warten Sie, ich sehe es nicht “ 7 und fügte dann 
hinzu: „Jetzt weiß ich es.~ Sie sah das Zifferblatt mit den Zeigern vor sich, 
die die Stunden angaben, 2 Halluzinationen lassen sich bei Somnambulen durch 
Suggestion künstlich Hervorrufen, Die Fähigkeit einer solchen Objektivierung 
seiner Gedanken besitzt nicht nur das Bewußtsein, sondern auch das unbewußte 
„Ich“, wobei der Gedankenmhalt des Unbewußten zum Gegenstand von 
Halluzinationen des Bewußtseins werden kann, 3 Deshalb ist dem Menschen, 
der sie im normalen Zustande erlebt, die Entstehung von Halluzinationen dieser 
Art völlig unverständlich. 

Das erstemal sieht die „Hellsichtige" das Bild des verstorbenen Greises 
im Wartezimmer Magnins. Die von der Tochter ihrem Unbewußten tele¬ 
pathisch vermittelte Vorstellung von ihm wird zum Gegenstand einer Halluzina¬ 
tion ihres Bewußtseins, dem der Greis völlig unbekannt war, und das natürlich 
sein Erscheinen als etwas Jenseitiges erklärt. Das zweitemal sieht sie ihn im 
Sprechzimmer Magnins, und zwar in eben jenem Überzieher, der Ursache 
des Streites zwischen ihm und seiner Tochter gewesen war, und der sich 
deshalb ihrem Gedächtnis besonders deutlich hatte einprägen müssen. 

Die Somnambule gab eine ungemein exakte, sehr treue und detaillierte 
Beschreibung des Greises, ganz als ob sie ihn leibhaftig vor sich sähe. Diese 
außerordentliche Lebendigkeit der Halluzination, die ihre Wahrnehmung 
wirklichen Empfindungen ähnlich macht, wird auch von F* Janet* und 
anderen hervorragenden Psychologen festgestellt. Dem bekannten französischen 
Gelehrten A. Binet 5 gelang es, die Ursache einer solchen Realität der Hallu¬ 
zination auf experimentell ein Wege festzustellen. Die „Gedankenbilder , wie er 
sie nennt, wurden von ihm auf einer Leinwand fixiert und einer genauen 
Untersuchung unterzogen, welche ergab, daß die Wahrnehmung dieser Bilder 
einer sonstigen Empfindung gleich ist. Bei der Fortsetzung dieser Untersuchungen 
konstatierten die italienischen Gelehrten Lombroso und Ottolenghi, daß 
diese Bilder den optischen Gesetzen unterliegen, als wären sie reale, außerhalb 
des Subjektes befindliche Gegenstände. Ihre Beobachtungen wurden durch 
experimentelle Untersuchungen bestätigt. Auf Grund ihrer zahlreichen Versuche 
kamen diese Gelehrten zum Schluß, daß die Vorstellungen nach außen projiziert, 
exterriorisiert werden, in den Baum hinaustreten und darauf wieder wahr- 
genommen werden können, als wären sie wirkliche, außerhalb des Menschen 


1) F. Janet: L'automatisme psyehologique, Paris, F, Alcan, 1905, p, 206. 

2) Op. cit., p, 206. 

5) Op, eit,, p, 455, 454- 

4) Op. cit*, p. 147* 

5) A. Binet: La vision mentale. Rev. philos, T. 27, 188g, p. 546, 347, 354, 555, 557. 

6) Lombroso et Ottolenghi: L’smage psychique et Facuite i-isuelle dans 
Phypnotisme, ftev. philos,, 1890, T, 29, p. 73, 










7 6 


Dr. F. Lowt'/.ky 


existierende Bilder. Der menschliche Gedanke kann sich objektivieren, die 
Form realer Wirklichkeit annehmen, weshalb die Wahrnehmung solcher 
optischer Phänomene mit Empfindungen identisch ist. 

* 

Ein anderer, nicht weniger charakteristischer Fall einer wunderbaren Heilung 
ist die Heilung der Frau G., einer jungen Frau von 28 Jahren* Die Kranke 
litt jahrelang an starken nervösen Kopfschmerzen, denen sich dann zuletzt 
auch ein Selbstmordzwang zugesellte. Sie hatte vielt? Ärzte konsultiert, doch 
brachten ihr die Kuren nicht die geringste Erleichterung* Einer der Arzte 
hatte sie an Magnin empfohlen. Organische Mangel lagen nicht vor, doch ließ 
das Psychische zu wünschen übrig. Sie war leicht erregbar, eigensinnig und 
launisch, und Suggestionen ungemein zugänglich* Ihre Krankheit bestand darin, 
daß sie „wahnsinniges Weh u (angoisse affolante) im Nacken und eine gleichsam 
physische Last auf den Schultern spürte, die so drückend war, daß sie mitunter 
die kaum zu überwindende Neigung hatte, ihrem Leben ein Ende zu machen* 

Auf Befragen wurde festgestellt, daß die Kranke vor ihrer Heirat einen ausländi¬ 
schen Offizier geliebt hatte. Er erwiderte ihre Neigung, doch weigerten stell die 
Eltern, die Heirat zu gestatten. Er meldete sich als Freiwilliger bei der Fremden¬ 
legion und starb. Gerüchtweise verlautete, er habe sich das Leben genommen- Bald 
nach seinem Tode wurde Frau G* von dem Selbstmordzwang befallen* Magnin 
war es klar, daß die Krankheitsursache bei der jungen Frau in ihrer Liebe zu 
jenem Offizier zu suchen wäre. Er versuchte es mit verschiedenen I Ißilv er fahren: 
Analyse des Unbewußten der Patientin, Psychotherapie und Hypnose — aber 
nichts wollte helfen. Der Zustand der Kranken war sehr gefährlich* Ihr 
Untergang schien gewiß, so lebhaft wünschte sie, ihrem Leben ein Ende zu 
machen* Magnin entschloß sielt, eine ^Hellseherin heruitzuzirhoii. Ol me \ or- 
wissen der Patientin, doch mit Wissen ihres Mannes, veranstaltete er eine 
Begegnung zwischen ihr und dem Medium* Das Medium kannte sie nicht, 
wußte auch nichts von ihrem Leben und von ihrer Krankheit, Als du* 
„Hellseherin" das Zimmer betrat, schlief die Kranke bereits* Da Magnin vom 
Medium nur das erfahren wollte, was es selber 8Ah, nahm er von allen Fragen 
Abstand* 

Kaum befand sich das Medium in der Nahe der in tiefem Schlafe liegenden 
jungen Frau, als es ein Wesen erblickte, welches sich an ihren Bücken klammet te 
(agrippij. Die Beschreibung dieses Wesens, die das Medium gab* entsprach 
genau dem Aussehen des Offiziers, den Frau G* vor ihrer Heirat geliebt hatte* 
Mit der einen Hand drückte es ihren Nacken zusammen, mit der anderen 
verdeckte es die eigene Stirn oder wies darauf hin* Dieses Bild bringt symbolisch 
den Inhalt der unter der Bewußtseinsschwelle liegenden Erlebnisse der brau G, 
zum Ausdruck. Ein junger Mann preßte miL seiner Hand den [\*ickeit der 
Kranken zusammen, d* h*, er hat sie in seiner Gewalt, oder richtiger sie 
ist mit ihrem Gefühlsleben an ihn gekettet. Darin liegt die eigentliche „Be¬ 
deutung" ihres Krank heitssyniptorns, nämlich eines dauernden Empfinden* 
eines „unsäglichen Wehs“ im Nacken ( „angoisseajfotante“)} — die Kranke bestand 









! 


Eine okkultistische Bestätigung der Psychoanalyse 


77 


auf diesem Ausdruck, —- das Wort „affolante“ bezeichnet im Französischen aber 
noch etwas anderes, „affolement^ heißt nämlich Abweichung (z. B* von der 
Magnetnadel gesagt). Symbolisch kommt dieser Gedanke noch in einem anderen 
Krankheitssymptom zum Ausdruck — im physischen Empfinden, eine Last auf 
den Schultern zu haben. Es handelt sich hier um eine moralische Last, durch 
Gewissensbisse hervorgerufen, als Folgeerscheinung des GefühlskonOikts ihrer 
Neigung zum Offizier einerseits und der Pflichten ihrem Manne gegenüber 
anderseits. Sie vermag diese Last nicht zu ertragen, sie treibt sie zur Ver¬ 
zweiflung, bringt sie um den Verstand und führt zu dem fast unüberwindbaren 
Verlangen, Selbstmord zu begehen. Die Haltung des jungen Menschen, der 
sich an ihren Rücken klammert (agrippej, ist bildlicher Ausdruck für die Ver¬ 
wirklichung des geheimen Wunsches der Kranken. Das Medium, das der Kranken 
unbewußte Erlebnisse wie in einem Spiegel wiedergibt, formuliert diesen 
Wunsch klar in den folgenden Worten, atemlos vor Erregung ruft es: „11 
s’est suicide et il veut qu*eüe le rejoigne“ (Er hat Selbstmord begangen und 
will, daß sie ihm folgt.) Sie identifiziert sich mit dem Offizier, wie Frau H. 
sich mit ihrem Mann identifizierte, und das war nicht er, sondern sie, die 
Selbstmord begangen hatte. Und tatsächlich war ihr Leben kein Leben mehr; 
es war zu einer einzigen Qual geworden, seit sie dem einen ihre Neigung 
geschenkt hatte, während sie gezwungenermaßen mit dem anderen zusammen¬ 
lebte. Und darum sucht sie sich wieder mit ihm zu vereinigen — „il veut 
qu’elle le rejoigne“. In diesem sexuellen Trieb zum jungen Offizier, in der 
gedanklichen Zugehörigkeit zu ihm einerseits und in dem Gefühl der Pflicht 
ihrem Manne gegenüber anderseits, liegt das Tragische ihrer Lage beschlossen, 
die Krankheitsursache, die in den Krankheitssymptomen klar zum Aus¬ 
druck kommt. 

Mngnin glaubt ebenfalls, wie oben bereits gesagt wurde, daß die Liebe 
der jungen Frau zum Offizier die eigentliche Krankheitsursache ist. Einge¬ 
zogenen Erkundigungen zufolge hatte er Grund zu glauben, daß diese Neigung 
keine platonische gewesen war; Frau G. hatte ihm das aber niemals 
ein gestanden. Zwischen den jungen Leuten sollte ein plötzlicher Bruch 
herbeigeführt werden, Oie Notwendigkeit der unerwarteten Trennung einei- 
seits, und das Gefühl der Pflichtverletzung ihrem Manne gegenüber anderseits, 
mußte naturgemäß die Nerven der Frau G. furchtbar erschüttern und den 
inneren Kampf herbeiführen, der damit endete, daß sie ihre unerlaubte 
Neigung niederzwang. Wie sehr diese aber in der Tiefe ihres unbewußten 
Ich « wurzelte, geht daraus hervor, daß weder umständliche Unterredungen, 
noch die „sorgfältigste“ Analyse ihres Seelenzustandes Magnin die Möglichkeit 
gab, sie an den Tag zu bringen. Was Magnin aber nicht gelingen wollte, 
erreichte das Medium mit Leichtigkeit. Dank seiner außerordentlichen Fähig¬ 
keiten drang es ins Unbewußte der Frau G. ein und enthüllte die eigentliche 
Bedeutung der Krankheitssymptome. Zwischen der „Hellseherin“ und dem 
„Geist“ des Offiziers kommt es zu einer lebhaften Auseinandersetzung, an 
welcher auch Herr Magnin aktiv teilnimmt. Das Medium diente als Ver¬ 
mittlerin, gab die Fragen weiter und teilte die Antworten mit. Dieses Gespräch 












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Dr. F. Lowtzky 


wurde bald sehr erregt. Magnin war bemüht* seinen unsichtbaren Gesprächs¬ 
partner zu veranlassen* sein Opfer freizugeben, witlireml dieser durchaus nicht 
nachgeben wollte und den Streit mit all der Hartnäckigkeit und Lflidcnschaft 
führte* wie sie ihm bei Lebzeiten eignete* Endlich gelang es Magnin mit 
größter Mühe, ihn dazu zu bestimmen, sich seiner Forderung unterzuordnen* 
Erst zwei Stunden nach Fortgang der „Hellseherin 1 * weckte Magnin die 
Patientin* der er aber nichts vom Geschehenen mitteilte* 

Nach dieser Sitzung wurde Frau G. wieder vollkommen gesund. Sie war 
nicht wiederzuerkennen — heiter, zufrieden und vollkommen glücklich. Alle 
Symptome ihrer Krankheit verschwanden, und sie empfand nie wieder — 
weder „Weh irn Genick“, noch den Druck der Last auf den Schultern* noch 
endlich den Wunsch, Selbstmord zu begehen. Später erfuhr Magnin* daß sie 
gesunde Zwillinge zur Welt gebracht hatte. 

Das Medium erlebt einerseits in sieh den jungen Offizier und gibt mit 
ungemeiner Kunstfertigkeit seinen Charakter wieder* anderseits aber sah ihn 
das Medium vor sich, wie im Falle der Frau H. die „Hellseherin k * deren 
Vater vor sich stehen sah. Die Krankheit der Frau G. bestand in ihrem 
Empfinden für den Offizier, das sie zwar unterdrückt hatte, das aber dennoch 
auch weiterhin in ihrem Unbewußten wirksam war und von diesem in der 
Form eines Krankheitssymptoms, nämlich des Gefühls einer „angczsje ßffdante 
im Nacken, zum Ausdruck gebracht wurde. Die „Hellseherin“ bringt in ihrer 
symbolischen Redeweise denselben Gedanken in Gestalt des Offiziers zum 
Ausdruck* der sich an die junge Frau „geheftet habe* Die Bedeutung des 
Krankheitssymptoms ist Magnin klar geworden, daher redet er dem jungen 
Mann mit solcher Hartnäckigkeit zu, er möge von seinem Opfer nblassen; er 
weiß, daß hievon die Genesung der Patientin ah hangt, doch muß die ilun 
persönlich klar gewordene Bedeutung des Krankheitiiymptorns auch in das 
Bewußtsein der Kranken eindringen* sie muß sie sich zu eigen machen und nur 
dann gelangt die Psychoanalyse zu positiven Ergebnissen. 1 ud darum brauchte 
Magnin auch so viel Zeit, bis seine Bemühungen vun Erfolg gekrönt waren. 

Magnin teilt noch folgenden* sehr interessanten Fall einer wunderbaren 
Heilung mit: 

Die Kranke, Frau M., eine junge Dame von riebemmdzwanzig Jahren, ist 
physisch gesund, stammt aus einer psychisch normalen hamilie und hat eine 
gute „moralische und religiöse“ Erziehung genossen. 

Ihre Krankheit bestand darin, daß sie kein Wort, das sich auf Religion 
oder auf religiöse Handlungen bezog, ertragen konnte. Die Krankheit nahm 
damit ihren Anfang* daß Frau M. beim Anblick eines ihr längst bekannten 
Abbes in unbeschreibliches Entsetzen geriet. Das geschah zwei Wochen nach 
ihrer Hochzeit, als sie ihr junges Glück in vollen Zügen genoß. Das Angib* 
gefühl, das sich ihrer bemächtigte, wur so groß, daß sie außerstande war* 
es zu bekämpfen. Von dieser Zeit an hörte sie auf, die Kirche zu besuchen 
und fühlte sich unfähig, ihren religiösen Pflichten zu genügen. Sie konnte kein 
Wort sprechen, überhaupt nichts tun, was, wenn auch nur indirekt* auf 
Religion oder religiöse Handlungen Bezug hatte; sie selber war hiezu außer- 













Eine okkultistische Bestätigung der Psychoanalyse 


79 


stände und verbot es auch ihrem Mann, sich mit diesen Dingen abzugeben; 
das Leben der beiden wurde zu einer wahren Folter, da ihre Phantasie in 
dieser Hinsicht geradezu unerschöpflich war. Die Worte Altar, Kirche, Abbe, 
Priester machten sie erbleichen und brachten sie außer sich. Sie konnte keinen 
Wein trinken und kein Brot essen, weil Wein und Brot sie an das Abend¬ 
mahl erinnerten. Sie ließ sich nur dazu bewegen, etwas Kognak zu sich zu 
nehmen, aber nicht aus Flaschen, welche die Etikette Benediktiner oder 
Chartreuse trugen, deren Anblick allein genügte, um sie zittern zu machen* 
Sie konnte das Wort „weiß" nicht ertragen, da es sich ihr mit der Vorstellung 
von der Hostie assoziierte. Ehe sie sich dazu entschließen konnte, ihre Wäsche 
anzuziehen, pflegte sie sie stundenlang mit der Bürste zu reiben, damit sie 
aufhörte weiß zu sein. Sie selber wusch sich unzähligeraal am Tage die Hände 
und nötigte auch ihren Mann dazu. Sie konnte weder selber Pfirsiche essen, 
noch duldete sie, daß ihr Mann es tat, weil sie das Wort Pfirsich (picke) an 
das Wort packe — das französische Wort für Sünde — erinnerte. Wurden 
ihre Wünsche nicht erfüllt, so hatte dies fürchterliche Szenen im Gefolge: 
die Kranke wurde sehr aggressiv. Der Mann erfüllte alle ihre Forderungen, 
er weigerte sich nur strikte, ein Medaillon abzulegen, das ihm seine Mutter 
zur ersten Kommunion geschenkt hatte. 

In ihrer Heimat, Pointe-ä-Petre, versuchte man es, die Kranke mit physi¬ 
schen Methoden zu heilen, allein ohne jeden Erfolg. Die Ärzte versuchten es, 
psychisch auf sie einzuwirken, doch weder Zureden, noch freundliche Worte, 
weder Forderungen, noch Drahmigen hatten die gewünschte Wirkung. Sie 
mußte in einer Anstalt untergebracht werden. Da entschloß sich der Mann 
dazu, mit ihr nach Europa zu reisen. 

Die französischen Arzte verordneten ihr verschiedene gesundheitfördernde 
Mittel, die allerdings ihr physisches Ergehen hoben, während ihr psychischer 
Zustand nach wie vor unverändert blieb. 

Magnin vernichte, die Kranke im Zustande des Wachens durch Suggestion 
zu behandeln, erreichte aber nichts damit; da entschloß er sich dazu, dasselbe 
Verfahren in Anwendung zu bringen, während sie sich in einem „passiven** 
Zustande befand, d. h. in einem Zustand, welcher dem ersten Schlaf in der 
Hypnose analog ist. Dieses Verfahren erwies sich als erfolgreich. Die Kranke 
begann nun wieder Brot zu essen; sie trank Wein, war bereit, an Kirchen 
vorbeizugehen, sprach, wenn auch mit Mühe, Worte aus, welche auf die 
Religion Bezug nahmen, beispielsweise Maria, der Heilige Geist, Hostie (dieses 
letztere Wort sagte sie nur einmal), sie Öffnete wieder die Türen und trug 
Wäsche* Magnin glaubte schon, auf eine vollständige Heilung rechnen zu 
können, als dann die mit so großer Mühe erreichten Heilerfolge durch das 
inzwischen eintretende Osterfest vollkommen in Frage gestellt wurden. Wieder 
begann Frau M. der Gedanke zu quälen, sie könne vielleicht, ohne es zu 
bemerken, in die Nähe einer Kirche kommen, Worte hören, welche auf 
Religion oder auf religiös-kultische Handlungen Bezug nehmen. Um sich dem 
nicht auszusetzen, beschloß sie, nur mit der Untergrundbahn zu fahren* Auf der 
Straße überkam sie Furcht; ihr schien, daß ihr Hostienkrümchen in den 


















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Dr. F, Lowtzky 


Mund kämen; darum pflegte sie den Mund fest äu schließen und ihn erst zu 
öffnen, wenn sie wieder zu Hause war* Zu Haute angelangt, begann sie zu 
spucken und sich den Mund sorgfältig zu spülen* Dann hörte sie auf, den 
Speichel herunterzuschluckexi und wurde ganz stumm« 

Magnin hatte den Eindruck, die Kranke wäre von irgendeiner Kraft be¬ 
sessen, daher beschloß er, ihr Vorleben genauer zu erforschen. Auf Befraget* 
erfuhr er von dem Mann, daß dieser kurz vor seiner Heirat Erpressung«- 
versuchen einer Negerin ausgesetzt gewesen war, die als Bediente im Hause 
seiner Familie angestellt war. Sie hatte ihm, als sie von der bevorstehenden 
Hochzeit hörte, erklärt: „Wenn Sie heiraten, werden Sie keinen ruhigen Augen¬ 
blick haben* “ Er hatte die Drohung gar nicht beachtet, und auch zu keinen* 
davon gesprochen* Wie schon oben bemerkt, war Frau M* zwei Wochen nach 
der Hochzeit ohne jeden äußeren sichtbaren Grund gerade in der Blüte ihres 
jungen Glückes plötzlich erkrankt. 

Als Herr M. sah, daß die Behandlung der Ärzte seiner Frau keine Hilfe brachten* 
und daß gar keine Hoffnung auf ihre Genesung vorhanden war, beschloß er* 
sich an einen Wahrsager am Ort zu wenden, der im Rufe stand, ein außer¬ 
gewöhnlicher Heilkünstler zu sein. Weder er selber, noch seini 1 Frau kannten 
ihn, hatten ihn auch nie früher gesehen, der Wahrsager dagegen kannte sie 
recht wohl, wie sich später herausstellle; er hatte die beiden zusammen in 
der Kirche kurz vor ihrer Trauung gesehen. Dieser Umstand fehlen Herrn M* 
verdächtig zu sein: ihm kam der Gedanke, ob der Wahrsager nicht in irgend- 
einem Verhältnis zur Krankheit seiner Frau stünde; er beschloß daher, ihn 
aufmerksam zu beobachten, 

Herr M. forderte den Wahrsager auf, bei ihm im Hause zu wohnen. Ob¬ 
wohl er nie allein mit Frau M. zusammen war, und auch nie ein Wort mit 
ihr gewechselt hatte, vermochte er doch schon nach einigen Tagen sie pur 
distance dazu zu bringen, alles zu tun, was er wünschte: sie aß oder sie hörte 
auf zu essen, sie kleidete sich an oder blieb vollständig unangekleidet, sie 
verließ das Zimmer nicht, sie legte sich krank 7,u Bett, sie war gesund und 
ging aus* Alles hing davon ab, wieviel Geld er dafür erhielt* Nachrichten 
zufolge, die Herrn M* zugegangen waren, erwies m sich, daß der Wahrsager 
während seines Aufenthaltes in dem Hause in Beziehungen zu der Negerin 
stand, die Herrn M, gedroht hatte, er würde keine Ruhe finden* falls er 
heirate. Herr ftL setzte ihn alsbald vor die Tür* 

Als Magnin dies hörte, wurde ihm klar, daß die Kranke sich unter einem 
bösen Einfluß befände. Um festzustellen, was in der Kranken vorging, beschloß 
Magnin, ein ihm bekanntes Medium, Fräulein IV., hinztizuziehen, die brau M, 
nie zuvor gesehen, auch nichts von ihr gehört hatte* Als die Kranke zur 
Sitzung kam, befand sich das Medium schon in Trance* 

Magnin führt wörtlich Fräulein R.s Worte an, wie er sie niedergcsch rieben hat; 

r DIe junge Dame“, sagte sie, „hat einen ganz eigentümlichen, unabhängigen, 
herrischen Charakter , , ,, sie ist grenzenlos in ihren Forderungen, in ihren 
Wünschen, nicht eigenbrötlerisch, über grenzenlos in Ihren Wünschen; sie ist 
nicht glücklich; sie versteht es nicht, ihr Leben einzurichten, immer wird sie 







Eine okkultistische Bestätigung der Psychoanalyse 


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durch irgend etwas gestört; sie vermag nicht die erforderlichen Anstrengungen 
zu machen, um die Hindernisse zu beseitigen; sie faßt wohl Entschlusse* führt 
sie aber niemals aus . * . Sie steht unter einem verderblichen Einfluß, von 
dem sie nicht freizukommen vermag . # . Das ist eine alte Frau . . . Ich weiß 
nicht, was das für eine alte Frau ist * . nein, sie ist nicht so alt * . ., gar 
nicht alt . . nur das Gesicht ist alt, so ein Gesicht wie wir es haben * , , 9 
graue Haut . . nicht gepudert . * ,, grau * . eine Negerin! Sie ist böse und 
zänkisch, eifersüchtig und rachsüchtig, sie ist unzufrieden mit ihrem Schicksal; 
sie will Dame sein, will nicht Dienstmagd sein, will zart und aufmerksam 
behandelt werden wie diese kleine Dame. Wie ist sie doch böse! Sie wollte 
dem Mann der kleinen Dame Böses zufugen, sie hat es nicht gekonnt, nun 
rächt sie sich an der kleinen Dame - . ,, sie gibt ihr Gedanken ein, die jene 
zittern machen, sie hat sich in sie hereinversetzt, sie hat sie verzaubert, und 
jene vermag sich nicht vor ihr zu schützen . . . Um die kleine Dame von 
ihr zu befreien, muß die kleine Dame selber und ihre ganze Umgebung an 
den Kampf mit der bösen Macht denken, und dieser Kampf darf nicht auf¬ 
geschoben werden, weil diese Kraft wächst, je weniger man gegen sie ankämpft* 
Man muß der bösen Macht befehlen, die kleine Dame zu verlassen, man muß 
sie vertreiben, mit lauter, befehlender Stimme muß man ihr befehlen darf 
aber nicht mit ihr wie mit einem vernünftigen Wesen reden, auch die kleine 
Dame muß selber befehlen, und zwar nicht nur mit Worten, sondern auch 
durch Bewegungen muß sie diese Kraft vertreiben. Sie wird fühlen, daß diese 
Kraft von ihr selber ausgeht* Dies ist durchaus möglich und geht nicht über 
die Grenzen des Möglichen hinaus, das ist ganz einfach eine moralische Ope¬ 
ration * . und die kleine Dame muß sie noch vor ihrer Abreise vollziehen , , 
sie reist sehr weit * * oh, weit, weit, weit . . lange auf dem Wasser, auf 

dein Wasser * * ., oh, wie ist es heiß * * der Äquator * * ich sehe eine 
Insel, Guadeloupe . * ,, eine Stadt, ein komplizierter Name * * Pointe, ich sehe 
einen Bindestrich * . ich sehe nichts mehr * . *, sie wird sich viel besser fühlen 
nach der Abreise von hier/' 

Während Fräulein IV diese Worte sprach, verharrten die Anwesenden in 
vollkommenem Schweigen, welches nur einmal von Magnin unterbrochen 
wurde, der sie nach dem Namen der Stadt und der Insel fragte* 

Magnin erklärt diese Worte des Mediums nicht etwa durch dessen tele¬ 
pathische Fähigkeiten, weil das Faktum der Gedankenübertragung von der 
Wissenschaft nicht anerkannt wird, obwohl er in eben demselben Buch in 
einem anderen Falle wunderbarer Heilung zu berichten weiß, die Kranke 
habe seine Gedanken „gelesen", und außerdem teilt er selber mit, daß der 
Wahrsager, der im Hause der Frau M. wohnte, sie auf Entfernungen hin 
zwang, das zu tun, was er wollte, d. h* mit anderen Worten, daß ihr dessen 
Gedanken übertragen wurden* Er zieht es vor, zur Erklärung der Worte des 
Mediums sich an eine andere, von der Wissenschaft ebenso nicht aner¬ 
kannte, ihm aber sympathischere Hypothese zu halten: daß die Kranke nämlich 
tatsächlich von einer bösen Macht besessen wäre, und daß das Medium dies 
gesehen habe. Da er zu dieser Schlußfolgerung gelangte, beschloß er, sie un- 


Imago XII* 


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Dr. F. Lowttky 


bedingt von dieser Macht zu befreien, und zu diesem liweck das Heilverfahren 
des englischen Arztes Forbes Win slow anzuwenden; dieses Verfahren besteht 
in der Übertragung „der bösen Macht“ vom Patienten auf einen gesunden 
Menschen. Ein anderes Medium, das Magnin kannte, ein Fräulein Georgette 
Abel, erklärte sich liebenswürdigerweise bereit, sich ihm für diesen Versuch 
zur Verfügung zu stellen. Nachdem Magnin das Medium hypnotisiert hatte, 
verband er dessen Hand mit der Hand der Kranken. Alsbald nahm das Gesicht 
Fräulein Abels einen sehr bekümmerten Ausdruck an, und sie begann leise zu 
klagen, ln genauer Befolgung der Angaben des ersten Mediums begann Magnin 
der bösen Macht“ mit lauter Stimme zu befehlen, Frau M. zu verlassen. 
Von dem Wunsche beseelt, der jungen Frau zu helfen, wünschte er aus aller 
Kraft, daß die „böse Macht"' sie verließe, und er legte in seine Worte zur 
Erreichung seines Zieles so viel leidenschaftliches Wünschen hinein, daß es 
den Anschein hatte, als risse er diese Macht aus ihr heraus, und seine Stimme 
wurde immer befehlender. 

Plötzlich fühlte Frau M. eine ungemeine Erleichterung, während Fräulein 
Ahel gleichzeitig zu Boden stürzte, heisere Schreie ausstieß und sich wand; 
dann preßte sie den Mund fest zusammen, wie dies früher der Kranken häutig 
widerfahren war, und verstummte vollständig, wobei sie verschiedene unregel¬ 
mäßige Bewegungen vollführte. Je mehr die Erregung des Mediums sich 
steigerte, desto ruhiger wurde die Kranke. Der Ausdruck ihres Gesichts war 
vollkommen ruhig geworden. Sie ergriff Magnins Hand und sagte ihm, daß 
sie sich befreit fühlte. Auf seine Bitte hin, sagte sie lächelnd und ganz unge¬ 
zwungen alle Worte, die sie früher mit solcher Angst erfüllt hatten, wie bei¬ 
spielsweise Kirche, Altar, Heiliger Geist, Abbü, Priester, Hostie, Segen usw» 

Im Gegensatz zu Frau M, ging es Fräulein Abel immer schlechter und 
schlechter. Sie wand sich auf dem Fußboden in furchtbaren Krämpfen und 
schlug mit dem Kopf gegen die Wand. Die Kranke nahm aus det Hand ihres 
Mannes das Medaillon, das sie früher nicht ohne Entsetzen hatte sehen können, 
und betrachtete es ganz ruhig. Als Fräulein Abel dies sah, sprang sie auf und 
wollte fliehen, Frau M, sprach laut ein kurzes Gebet, was sie seit dem Aus¬ 
bruch ihrer Krankheit nicht hatte tun können. Damit brachte sie das Medium 
in völlige Verzweiflung. 

Frau M. versprach, am nächstfolgenden Tage in die Kirche zu gehen, um 
Gott für ihre Rettung zu danken und ihn um seinen Segen für die junge Frau 
zu bitten, die sich in so rührender Weil© für sie zum Opfer dftrgehraelit hatte. 
Diese Worte versetzten das Medium in unbeschreibliche ü ut. 

Nachdem sich Frau M, entfernt hatte, suggerierte Magnin briiulein Abel f 
alles zu vergessen, wus ihr im Verlaufe der Sitzung widerfahren war und sich 
wieder gesund zu fühlen, was sie denn auch, nachdem sic wieder erwacht w ur, 
genau erfüllte. 

Auf diese Weise war es Magnin in zwei Sitzungen gelungen, die Kranke 
zu heilen, die im Verlaufe von sieben Jahren hervorragende Neuropu t) \ ologeii 
und Psychiater vergebens zu heilen versucht hatten. Naturgemäß ergibt sich 
die Frage, wie diese Erscheinung zu erklären ist? 











Eine okkultistische Bestätigung der Psychoanalyse 


% 


Wie Bereits oben bemerkt, kann das Vorhandensein der Telepathie für jeden, 
der mit der Literatur über diese Frage vertraut ist, gar keinem Zweifel unter¬ 
liegen. Magnins Medium gibt den Inhalt der Seele der Kranken wie in einem 
Spiegel wieder; das Seelenleben der Kranken ist erfüllt mit der Negerin und 
mit deren Liebe zu ihrem Mann. Die Negerin will nicht mehr Dienstbote 
sein; sie will Dame sein, will genau wie Frau M. von der zarten Liebe ihres 
Mannes umgeben sein. Die ganze Aufmerksamkeit der Kranken ist auf diese 
Frau konzentriert, die von ihr „Besitz ergriffen“, „sie bezaubert“ hat; „sie 
floßt ihr Gedanken ein, die sie in Entsetzen bringen“, und ihr fehlt die Kraft, 
sich ihrer zu erwehren, von ihr fortzugehen, sich von dem Gedanken an die 
Untreue ihres Mannes loszureißen. Dieses Ereignis erfüllt ihre Seele ganz; sie 
ist gleichsam daran geschmiedet. Es ist ihr Trauma. Obwohl nun dieses Er¬ 
eignis für die Kranke von so gewaltiger Bedeutung war, hatte sie nie zu Magnin 
darüber gesprochen, der sie doch sechs Monate behandelt hatte; er erfuhr es 
erst durch ihren Mann. Der Schluß liegt nahe, daß Frau M. die Geschichte 
mit der Negerin verdrängt und vergessen hatte. Das Medium teilt gleich in 
der ersten Sitzung das unbewußte Erleben der Kranken mit. Dank seiner un¬ 
gewöhnlichen Fähigkeiten gelingt es ihm, den Prozeß der Übertragung des 
Inhaltes des Unbewußten ins Vorbewußte, wozu der Psychoanalytiker vielleicht 
Monate gebraucht , haben würde, in einer Sitzung vorzunehmen. 

Zieht man Frau M.s Charakter in Betracht, ihre Herrschsucht, die Ma߬ 
losigkeit ihrer Forderungen, ihre Liebe zur Unabhängigkeit, so konnte, vom 
rein psychologischen Standpunkte aus gesehen, der Gedanke an die Untreue 
ihres Mannes, oder richtiger gesagt, seiner Liebe zu einer anderen nur einen 
großen Eindruck auf die junge Frau machen, eine nervöse Erschütterung hervor- 
rufen; damit dieses Ereignis aber zu einem traumatischen würde, mußte bei 
der jungen Frau die Bereitschaft dazu vorhanden sein. Erblich war sie nicht 
belastet, folglich mußte bei ihr eine andere Veranlagung zu einer nervösen 
Erkrankung eine Rolle spielen. Nach P. Janets Meinung, die er gelegentlich 
einer Unterredung mit dem Verfasser dieses Aufsatzes äußerte, kann die Un¬ 
treue eines geliebten Menschen, selbst die des eigenen Vaters oder der Mutter, 
nicht die Ursache für eine Nervenkrankheit abgeben; er hatte sehr häufig Ge¬ 
legenheit, solche Fälle der Untreue der Eltern zu beobachten, hatte aber keine 
pathologischen Folgen feststellen können. Hätte Jan et Freuds überaus wichtige 
Entdeckungen betreffs der Bereitschaft, die als eine Folge der Hemmungen in 
der Entwicklung der Libido und der Fixierung derselben, anzusehen ist, be¬ 
rücksichtigt, so wäre er natürlich zu einer anderen Schlußfolgerung gekommen 
und hätte sich ohne weiteres davon überzeugen können, daß bei Menschen 
mit einer derartigen Disposition Erlebnisse, wie sie Frau M. bei der Mitteilung 
über die Geschichte der Negerin mit ihrem Mann erduldet hatte, unbedingt 
zu einer Neurose führen müssen. 

Die Geschichte des Mannes der Frau M. mit der Negerin mußte, um zu 
einer Nervenstörung zu führen, an irgendein anderes, analoges Erlebnis, das 
sie in ihrer Kindheit gehabt hatte, welches mit dem Ödipuskomplex verbunden 
war, an knüpfen, nämlich an das Gefühl der Zugehörigkeit zu ihrem Vater und 


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an das Schuldgefühl für ihre inzestuöse Bindung an Ihn* l)t*r Sitzung mit dem 
ersten Medium ist, wie oben bemerkt, zu entnehmen, daß alle ihre Gedanken 
an die Negerin geheftet sind; sie hat sie „verzaubert", sic hat „Besitz von ihr 
ergriffen“; mit ihr sind die Gedanken verbunden, die sie „in Entsetzen bringen“, 
von ihnen vermag sie sich nicht zu befreien, kann sich ihrer nicht erwehren. 
Offenbar identifiziert sie die Kranke mit irgendeiner anderen, „Es ist eine 
alte Frau, ich weiß nicht, was das für eine alte Frau ist ,.sagt das Medium. 
..Nein, sie ist nicht so alt . .sie ist gar nicht so alt, mir das Gesicht ist alt ,. 
ein Gesicht, wie auch wir es haben . . ., graue Haut, nicht gepudert * , ., eine 
Negerin!“ Diese alle Frau, die sich hinter der jungen Frau mit der grauen 
Haut verbirgt, ist eben jene Person, mit der Frau M. die Negerin identifiziert — 
es i s t ihre Mutter. Nun wird auch begreiflich, warum die (Jedanken, die ihr 
die Negerin suggeriert, sie in Entsetzen bringen und eine so „verheerende“ 
Bedeutung für sie haben. Indem sie die Negerin mit der Mutter identifiziert, 
identifiziert sie nach Analogie der Situation der Mutter zum Vater — ihren 
Mann mit dem Vater. Wie in der Kindheit sah sie, daß ihr Vater eine andere 
(die Mutter) liebte, einer anderen angehörte, und dasselbe erfährt sie nun auch 
von ihrem Mann, nur mit dem Unterschiede, daß sie es zu einem Zeitpunkt 
erfährt, da sie ihm schon angehört (zwei Wochen nach der Hochzeit), lolglich 
hat sie mit dem Mann (dem Vater) eine furchtbare Sünde begangen, ein un¬ 
verzeihliches Verbrechen. Sie kann Pfirsiche (picke) nicht essen und erlaubt 
es auch ihrem Manne nicht, sie zu essen, weil das Wort piche an das Wort 
pecke erinnert, welches im Französischen Sünde bedeutet; sie wäscht nicht 
nur sich selber, sondern zwingt auch ihren Mann, sich unzähligemal am Tage 
die Hände zu waschen, d. h. sie bemüht sich, ihn und sieh von der Begehung 
einer Sünde abzuhalten und ist bestrebt, sich selber und ihn davon zu reinigen. 

Alle Symptome ihrer Krankheit stellen sich entweder als ein Bestreben zur 
Befriedigung ihrer infantilen Wünsche in bezug auf den Vater und ihres Kampfes 
mit diesen Wünschen dar, oder aber als Kompromiflbildung dieser beiden gegen¬ 
einander ankämpfenden Kräfte. Ihre Krankheit begann damit, (Ul) sie in un¬ 
beschreibliches Entsetzen geriet, dessen sie nicht Herr zu werden vermochte, 
wenn sie den ihr seit langem bekannten Abb$ kommen sali. Der Ahbi er¬ 
scheint als Lehrer und Lebensfühler der Menschen, welche, wie Frau M., eine 
gute „moralische und religiöse Bildung u genossen haben, als geistliche Autorität; 
so ist es denn natürlich, daß die Kranke ihn mit ihrem Vater identifiziert. 
Wenn sie ihn sieht, verwandelt sich das sexuelle Begehren des Vaters in Angst, 
und die Kranke ergreift die Flucht. Von diesem Zeitpunkt an vermag sie nicht 
inehr in die Kirche zu gehen und ihren religiösen Pflichten zu genügen. Sit* 
kann die Worte Abbe, Kirche, Kommunion nicht misspreehen, sie kann kein 
Brot essen, sie karin keinen Wein trinken. Den Wein genießt der Priester 
während der Kommunion, das Brot — die Hostie aber legt er den IvuuiumtiU 
kanten in den Mund. Der Ritus der Kommunion hat für die Kranke die Be¬ 
deutung eines Koitus mit ihrem Vater, darum flieht sie alles, was in irgend¬ 
welcher Verbindung zu diesem Ritus steht. Sie kämpft gegen ihre Gefühle an 
und weigert sich, aus einer Flasche zu trinken, auf deren Etikette „Benedik- 







Eine okkultistische Bestätigung der Psychoanalyse 


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tiner 4 ' oder „ Chartreuse w zu lesen steht, ist aber bereit, ein wenig Kognak zu 
sich zu nehmen aus einer Flasche, welche diese Aufschriften nicht hat, d. h. 
sie gibt ihren Gefühlen nach. Begreiflich ist auch, warum die Weigerung des 
Mannes, das Medaillon abzunehmen, sie in Verzweiflung bringt. Dieses Medaillon 
hatte er zu seiner ersten Kommunion erhalten, und es war ihm eine Erinnerung 
an seine Mutter, Es mußte in ihrem Unbewußten eine Erinnerung an ihre 
Mutter und an das Abendmahl wachrufen, welches für sie eine symbolische 
Bedeutung hatte, d, h. ihre und ihres Mannes Sündhaftigkeit. Da sie fürchtete, 
daß ihr auf der Straße Hostienkrümchen in den Mund gekommen seien, preßt 
sie die Lippen zusammen und öffnet den Mund nicht, ehe sie nach Hause 
kommt, sie läßt eben dieselben Hostienkrümchen nicht aus dem Munde heraus, 
von denen sie so sehr fürchtete, sie könnten ihr in den Mund kommen. Zu 
Hause spuckt sie, spült sich sorgfältig den Mund, schluckt dann nicht mehr den 
Speichel herunter und verstummt, d. h. wiederum bewahrt sie das, wovor sie 
sich so fürchtete, daß es ihr in den Mund kommen könne eben dadurch, daß 
sie den Speichel nicht herunterschluckt und den Mund nicht öffnet. Sie kann 
nichts Weißes tragen, weil die weiße Farbe sie an die Kommunion erinnert, 
an die Hostie. Weiß symbolisiert aber auch gleichzeitig die Unschuld, und das 
vermag sie nicht zu ertragen; stundenlang reibt sie ihre Wäsche, bis sie aufhört, 
weiß zu sein, und erst dann ist sie bereit, sie anzuziehen, wiederum gibt sie 
ihrem Inzestempfinden nach, gegen welches sie anfangs ankampfte. Sie fürchtet 
sich, die Kirche zu besuchen. Die Kirche ist ein Mutterleibssymbol. Sie hat 
Angst vor dieser Phantasie, vor der Verwirklichung ihrer geheimen Wünsche. 
Um nicht zAifällig in die Nahe einer Kirche zu gelangen, um dieser Versuchung 
aus dem Wege zu gehen, beschließt sie, in Paris nur die Untergrundbahn als 
Beförderungsmittel zu benutzen, doch ist die Untergrundbahn ihrer Lage nach 
und in bezug auf die Menschenmenge, endlich auch wegen ihrer rhythmischen 
Bewegung dieselbe Mutterleibsphantasie, d. h. die Verwirklichung eben des¬ 
selben Wunsches, gegen welchen die Kranke ankämpft, wenn sie sich fürchtet, 
die Kirche zu besuchen. In der ersten Sitzung überführt das Medium dank 
seiner außergewöhnlichen Befähigung die unbewußten Gedanken in das Be¬ 
wußtsein der Kranken; es kommt dadurch zur Erinnerung der Kranken an 
das Verdrängte. 

Nicht nur Frau M.s, sondern auch Magnins Gedanken werden auf das Medium 
übertragen. Er dachte, die junge Frau stünde unter dem Einfluß einer bösen 
Macht, von der man sie befreien müsse. Die Drohungen der Negerin, noch 
mehr aber die Geschichte mit dem Wahrsager bestärkten ihn in diesem Ge¬ 
danken* Darum redet er auch ständig von einer bösen Macht und von der 
Notwendigkeit, sie zu vertreiben. Die Übertragung von Gedanken etlicher an 
der Sitzung beteiligter Personen auf das Medium läßt sich häufig während der 
Versuche mit Subjekten beobachten, deren telepathische Fähigkeiten festgestellt 
werden sollen. O. Lodge teilt beispielsweise mit, er habe während einer Sitzung 
eine Teekanne gezeichnet, auf welche einige Personen ihre Aufmerksamkeit 
gerichtet hatten. Eine hinter einem Schirm befindliche Person sollte nun den 
auf diese Weise gedachten Gegenstand auf Papier reproduzieren. Als man die 






Dr. F. Lowtzky 


Person fragte, welcher Gegenstand gedacht sei, erwiderte sie - ein \ ogel, 
doch als man seine Zeichnung mit der Teekanne, die O. Lodge gezeichnet 
hatte, verglich, erwies es sich, daß beide Zeichnungen völlig identisch waren. 
Es stellte sich heraus, daß einer der Anwesenden, während er auf die Iee- 
kanne blickte, als der Gegenstand fixiert werden sollte, gedacht hatte, daß sie 
einem Vo»el gleiche, und aur diese Weise hatte sich auf die Person O. I a>dges 
ursprünglicher Gedanke und dessen falsche Deutung durch die nn der Sitzung be¬ 
teiligte Persönlichkeit übertragen. Dasselbe ereignete sich mit dem Medium 
gelegentlich der Sitzung, an der Frau M. teilnahm: deren wirkliche Gedanken 
und deren falsche Deutung durch Magnin wurden auf das Medium übertragen. 

Während der zweiten Sitzung gibt das Medium die Erlebnisse der Frau M. 
wieder, und zwar als Handlung wieder. Es schreit, röchelt, windet sich, gerät 
außer sich, schlägt mit dem Kopf an die Wand usw. Zum Erinnern gesellt 
sich in dieser Sitzung das Agieren der Kranken, das Wiedererleben der 
Konflikte, nur mit dem Unterschied, daß das Erleben dieser Konflikte sich 
nunmehr unter der Leitung eines Arztes vollzieht, der nicht zuläßt, daß die 
Kranke sie wieder in sich unterdrückt. Magnin befiehlt „der bösen Macht , 
die Kranke zu verlassen, er gibt sich sogar den Anschein, als vertriebe er sie 
aus ihr; sein ganzer Willensimpuls ist darauf gerichtet, die junge brau von 
ihren Konflikten zu befreien, nicht zu dulden, daß die Kranke sie unterdrückt. 
Je mehr die Kranke alles, was sich früher mit ihr ereignete, aufs neue durch¬ 
lebt, desto freier wird sie und desto ruhiger, während das Medium umgekehrt, 
die Erlebnisse der Kranken in sich sammelt, in immer größere Erregung gerät, 
da es sich von diesen solange nicht zu befreien vermag, bis es hiezu von Magnin 
ermächtigt worden ist, der ihm auch suggerierte, diese Erlebnisse auf sich zu 
nehmen. 

So hat denn Magnin dank der außergewöhnlichen Fähigkeit der Medien, 
ohne es selber zu wissen, Frau M. einer Psychoanalyse unterzogen, indem er 
zunächst in ihrem Bewußtsein die unterdrückten und vergessenen Erlebnisse 
wieder erstehen ließ und auf diese Welse deren eigentlichen Sinn klarstellte, 
dann dadurch, daß er die Führung über diese Erlebnisse übernahm und nicht 
erlaubte, daß die Kranke sie aufs neue in sich unterdrückte; eben luedurch 
befreite er sie und führte sie ihrer völligen Genesung entgegen. 

Diese ganz außerordentlichen Fälle wunderbarer Heilung lassen sich sonnt 
durch die Fähigkeit des unbewußten „Ich" - den Gehalt der Vorgänge im 
Unbewußten des Kranken widerzuspiegeln und sie in Bildern und Handlungen 
zu verkörpern — auf natürliche Weise erklären. Indem das Unbewußte des 
Mediums den Gehalt der „jenseitigen“ psychischen Prozesse des Subjekts wieder¬ 
gibt, klärt das Unbewußte des Mediums die dem Subjekt selber völlig ver¬ 
schlossenen Ursachen für seine Erkrankung auf, nimmt sozusagen eine Analyse 
seines unbewußten psychischen Tuns vor, d. h. es bringt, ohne darum zu wissen, 
die Freudsche Heilmethode in Anwendung, nur mit dem Unterschiede, daß 
seine außergewöhnlichen Fähigkeiten es ihm möglich machen, erst in diu Region 
des Unbewußten des Kranken vorzudringen und dann die Bedeutung der Sym¬ 
ptome seiner Erkrankung klar zu legen, während die Psychoanalyse zunächst 


i 













Eine okkultistische Bestätigung der Psychoanalyse 


87 


darauf ausgeht, die symbolische Sprache des Unbewußten zu dechiffrieren und 
dann erst in die jenseits der Schwelle liegende Region vordringt und Sinn und 
Bedeutung der Symptome feststellt. Daher sind auch die angeführten Fälle der 
Frau H,, Frau G. und Frau M. ein ganz augenfälliger Beweis für die Richtigkeit 
der psychoanalytischen Methode. 
















Zur Psychologie des modernen Erziehers 

Von Nelly Wolffheim 

Die Stellung des modernen Erziehers zu in Rinde hat sich von Grund auf 
geändert. Bei der alten Erziehung — die ja heute noch die vielfach anerkannte 
ist — ist der Erzieher der Beherrscher des Kindes, Er befiehlt, es hat zu 
folgen. Er führt, es soll sich führen lassen. Der Erzieher nimmt dabei das Kind 
als „kleinen Erwachsenen", den man allmählich den Maßen des wirklich Er¬ 
wachsenen angleichen müsse. Nicht etwa das Kind gleicht sich an, ans sich heraus, 
aus selbstverständlichem Werden, sondern es wird an geglichen, geformt — 
erzogen. 

Der moderne Erzieher setzt vor allem Zweifel vor die Krage, ob das Kind 
überhaupt erziehbar, d, h, durch direkte, bewußt ausgeführte Erziehungsma߬ 
nahmen beeinflußbar sei. Die Achtung vor der Persönlichkeit steht neben diesem 
Zweifel; sie verhindert, daß der Erzieher in. die Entwicklung des Kindes ein¬ 
greift und es hemmt, wo keine wesentlichen Notwendigkeiten dafür vorliegen. 
Nicht Führer will der moderne Erzieher sein, sondern Schützer und Berater — 
doch auch hiebei ist er zurückhaltend, und nach Möglichkeit sucht er seine 
Aktivität dem Kinde gegenüber zurückzudrängen, 

Aus der veränderten Einstellung des Erziehers zum Kinde ergeben sich für 
ihn selbst seelische Schwierigkeiten, die nicht unbeachtet bleiben dürfen. Bei 
der Berufswahl schon sollte man das Augenmerk auf sie richten. 

Die Liebe zu Kindern ist es, die in den meisten Fällen zu einer Beschäfti¬ 
gung mit ihnen drängt. Was aber steht hinter der bewußten Liebe im Ln- 
bewußten der Persönlichkeit? Sich erlich entspringt die Liebe zu Kindern immer 
einer Identifizierung mit ihnen. Nur, wer sich — wenn auch unbewußt —- an 
Stelle des Kindes setzt, wird ihm wirkliche Zuneigung entgegen bringen. Gedanken 
an eigene Kindheit, oft an eigene Leiden, bilden die Grundlage zu einem Hel ren- 
wollen; man will es als Erzieher den Kindern eben besser gestalten, als man 
selbst es einst hatte. Häufig wird bei der Wahl des Erzieherberufes eine Gegner¬ 
schaft gegen die eigenen Eltern und Erzieher mitsprechen, obgleich in den 
seltensten Fällen dieser Gedanke aus dem Unbewußten hervor ins Bewußtsein 
dringt. Entspringt doch zumeist ein Re formieren wollen unbewußten Antrieben, 
die im Verhältnis zu einem Elternteil ihre Wurzeln haben. Daß diese Motive 
wo sie den Hintergrund zur Berufswahl bildeten — den Pädagogen zu einer 












Zur Psychologie des modernen Erziehers 


8 9 


Aktivität führen möchten, die er bewußt nicht gutheißt, steht außer Zweifel, 
und Konflikte erwachsen ihm sicherlich daher* Noch vielmehr dort, wo etwa 
sozialpolitische Einstellung, der Wunsch, Ideen zu verbreiten, Richtungen anzu¬ 
bahnen, den Ausgangspunkt für erzieherisches Wirken bilden* Hier liegt auch 
die Gefallr nahe, — und sie spielt bei der alten Erziehung sicherlich eine 
Rolle — daß man das Kind als Objekt behandelt und selbst bei bewußter 
Ablehnung der Autorität, unbewußt zu seinem Führer werden will. 

Die Mitwirkung unbewußter Komponenten bei mancherlei Schwierig¬ 
keiten des Pädagogen kann nicht scharf genug in das Blickfeld gerückt werden* 
Mancher Erzieher leidet unter gelegentlichen Disziplinschwierigkeiten* Das 
Versagen eines Kindes, der Widerstand einer Klasse beleidigt, oft auch bei 
bewußt freier Einstellung des Erziehers, seinen Narzißmus; er nimmt solche 
Reaktionen als eine Folge eigener Fehler, faßt sie als Bloßstellung auf und 
läßt sie dadurch als Kränkung auf sich wirken. Ehrgeizige Erwachsene ertragen 
es nur schlecht, wenn sie die Kinder nicht den ihnen vorschwebenden. Weg 
gehen sehen* Und hier zeigt es sich, wieviel schwerer es der moderne Er¬ 
zieher hat: Ein Erzieher alten Schlages will regieren, der moderne Erzieher 
lehnt dieses Wollen ab, doch spielt sein Unbewußtes ihm oft einen unangenehmen 
Streich, indem es seine Auswirkungen eine zu deutliche Sprache sprechen läßt* 
Auch den modernen Erzieher kann gelegentlich ein vom Unbewußten ge¬ 
leiteter Trieb überkommen, ein Kind zu quälen* Gibt es Pädagogen, die nie 
Fehlgriffe taten, nie — trotz bewußter Ablehnung derartiger Handlungen — 
ihren Willen dem des Kindes aufzwingen wollten? Machtgier, Sadismus und 
noch manches andere kann da mitschwingen. Vielleicht waren es gerade solche 
Triebe, die den Erzieher seinen Beruf wählen ließen, unbewußt freilich und 
nach außen hin durch einleuchtende und bestechende Gründe verschleiert. Man 
denke daran, daß Übergüte oft Grausamkeit kompensiert, daß Weichheit, auch 
in der Pädagogik, häufig sadistische Antriebe verdeckt* 

Welche Rolle die — zumeist unbewußten -—■ Schuldgefühle bei der Erzieher¬ 
tätigkeit spielen, sei hervorgehoben. Wo der Erzieher selbst seine schwache 
Stelle spürt oder auch nur dunkel ahnt, wird er unduldsam dem Kinde gegen¬ 
über* Er will — und wohl gerade bei einem sehr geliebten Kinde — nicht 
gleiche Fehler sich entwickeln lassen* Vielleicht will er auch unbewußt an den 
Kindern heimzahlen, was ihn selbst quälte oder noch quält. Die Auswirkungen 
des Unbewußten sind dem bloßen Auge nicht erkennbar und nur mit Hilfe 
der psycho analytischen Brille gelingt es, sie zu durchschauen, 

Schwierigkeiten, die dem modern gerichteten Erzieher erwachsen, erhalten 
starke Antriebe aus seiner eigenen Kindheit* Nicht nur die bewußten Erinne¬ 
rungen kommen hier in Betracht, sondern Bindungen, die im geheimen mit¬ 
sprechen* Auch oft dort, wo der Erzieher im Gegensatz zur eigenen Erziehung 
steht, ihre Fehler kennt, sie zu umgehen sucht und vielleicht, wie oben erwähnt, 
dadurch zu seiner Berufswahl kam, gerade dort klammert sich vielleicht sein 
Unbewußtes an eigene Erziehungseindrücke, heißt sie gut, weil der geliebte 
Elternteil sie vermittelte* Auch an Einflüsse seiner Ausbildung und Studien ist 
der Pädagoge gebunden, und selbst wenn er mit voller Anerkennung zu neuen 








Nelly Wolffheim 


Prinzipien und Einsichten Überlegungen ist, wird besonders der nicht mehr 
ganz junge Erzieher durch früher Aufgenom inciies und Anerkanntes gebunden, 
ja, vielfach in seinem Schaffen behindert sein. Niemand vermag über seinen 
Werdegang hinwegzukommen, 1 

Die alte Erziehung ist weniger konflikterfüllt als die moderne: Sie stützt 
sich auf den festen Glauben an ihre Allmacht Ihr steht ihre Aufgabe und ihr 
Ziel und das Bewußtsein ihres Einflusses fest; moderne Erziehung — wohl 
weil sie noch nichts fest Umrissenes ist — entbehrt dieses sicheren Gerüstes. 
Kommen dem Pädagogen die oben erwähnten Zweifel, dann verliert er leicht 
den Boden unter den Füßen und fragt sich, ob es überhaupt einen tieferen 
Sinn habe, Berufserzieher zu sein, Moderne Erziehung läßt pädagogische 
Wirksamkeit geringer erscheinen, soweit sie sich in Maßnahmen und Methoden 
dartut, doch weiter, wenn sie sich als höheres Menschentum auswirkt Will 
man aus erzieherischem Tun einen Lebensberuf machen, gilt es, sich ein Ideal 
zu gestalten, eine Forme) für seine Aufgaben zu finden. Der Narzißmus des 
Menschen würde es nicht vertragen, auf die Dauer nur die passive Bolle zu 
spielen, die der moderne Erzieher sich zuweist Freilich, wenn sich sein Wirken 
auf den Einfluß von Mensch zu Mensch — der Übertragung im psycho¬ 
analytischen Sinne — aufbaut, wenn es ihm gelingt, Kinder und junge Men¬ 
schen auch ohne bewußte Aktivität mitzuziehen, dann wird er sich nicht in 
die unbefriedigende Rolle des nur gelegentlich eingreifenden Beraters versetzt 
fühlen. Aber man vergesse nicht: Durchaus nicht jeder, der Kinder liebt und 
für sie leben will, nicht jeder, der Erzieher sein möchte, hat die Eignung, in 
einem größeren Kreise eine gute Bindung herzustellen. Und wo der Einfluß 
der mit den Kindern lebenden Persönlichkeit versagt, wird auch sein W 1 irken 
ohne Widerhall bleiben und ihn selbst daher unbefriedigt lasten* Die alte 
Erziehung hat positive Stützen in ihren Maßnahmen, Vorschriften, Strafen* 
Moderne Erziehung setzt alles auf die Persönlichkeit und das durch sie ge¬ 
schaffene Milieu. 

Wer heute „Erzieher* werden will (bis für die umgcstaltete Wirksamkeit 
ein zutreffenderes Wort gefunden wird, sei fliese Bezeichnung gewählt), muß 
seine Stellung zum Kinde und zu seiner Aufgabe gut überschauen; er stillte 
versuchen, sich klar zu werden, welche Vorgänge in seinem Unbewußten ihn 
zum Kinde, zum Erzieherberuf führen. Es wäre daher wünschenswert, wenn 
auch fürs erste praktisch noch nicht möglich — daß sich jeder angehende 


1) Nach Beendigung dieser Arbeit fand ich in der Zeitschrift „The new hrn u einen 
Bericht über die von Tagore in Indien begründete Schule „StuUüiiketim“* Ich möchte 
in diesem Zusammenhänge eine Stelle daraus wiedergeben* Nachdem der Bericht¬ 
erstatter auf Schwierigkeiten hinwies, die die Durchführung de» von Tagore befür¬ 
worteten freiheitlichen Systems gelegentlich den Lehrern bereite!* fährt er fort: 
^Practically every one of us Teachers has heen to sotne extent inoculattd with thr potson of the 
old Systems * * * The 7 old Adam < is sträng in all of 115, and it ist somttinus hard for t/* not 
to impose upon the children over whom we hat\e control some of the $o~calUd ydisciphne* oj the 
older methods of education* u 





















Zur Psychologie des modernen Erziehers 


9 1 


Erzieher einer Psychoanalyse unterzöge* Es läge dies in seinem Interesse, 
um Enttäuschungen und Fehlschläge einzuschränken, doch auch im Interesse 
der Kinder, denen ein analysierter Erzieher einsichtsvoller und verständnis- 
reicher gegen üb er tritt. 


Eingegangen im Sommer l$2J* 











Der Ödipus-Komplex im Fieberdelirium 
eines neunjährigen Mädchens 
Von Dozent Dr. Josef K. Friedjung (Wien) 

Während man seit Jung vielfach mit Erfolg den Versuch machte, die 
psychischen Produkte Geisteskranker mit den Mitteln der Psychoanalyse zu 
deuten und zu verstehen, ist meines Wissens diese Methode auf die flüchtigen 
Gebilde akuter Intoxikationspsychosen, irn besonderen der im Kindesalter so 
häufigen Fieberdelirien, noch nicht angewendet worden, ln der letzten Morbülen- 
epidemie Wiens vom Frühjahre 1925 konnte ich die folgende Beobachtung 
festhalten, die auch ohne ausführliche Analyse wegen ihrer Durchsichtigkeit 
die Annahme zuläßt, daß ein akutes Intoxikationsdelir den gleichen Gesetzen 
folgen kann, wie die Traum bildung* 

Die neunjährige N, L., das erste Kind gesunder Wiener jüdischer Eltern, 
ist von blühender Gesundheit, intelligent, gutmütig, leicht erziehbar. Die vier¬ 
jährige Schwester zeigt neuropathische Züge. N. hat seit Jahren ihr eigenes 
Schlafzimmer, doch soll es in früheren Jahren in der Ferienzeit vorgekommen 
sein, daß sie das Schlafzimmer der Eltern manchmal teilte. Kürzlich gestand 
sie der Mutter ohne stärkeren Affekt im Gespräche, sie habe ein Geheimnis, 
Ohne viel Widerstand erzählte sie, vor etwa einem Jahre habe sie, da sie an 
den Storch nicht mehr glaubte, die Mutter nach der Herkunft der Kinder 
gefragt. Die Antwort sei ihr verweigert worden, aber einige Monate später 
habe sie es von einem anderen Mädchen erfahren. Der Mutter aber habe sie 
das verschwiegen. Während der Krankheit liegt sie in einem der Ehebetten 
neben der Mutter. 

Dieses Kind erkrankte an Morbiden. Beim Exanthermiubruch mißt sie 
38 8° in axilla. Dabei spielen sich im Delir folgende Szenen ab; KL: „Mama, 
du darfst nicht bös sein!“ — Mu, sucht sie zu beruhigen: „Du bist doch ein 
braves Kind, Warum sollte ich denn böse sein?“ — KL: „Weil ich geheiratet hübe* 
Ein Weilchen der Beruhigung* Dann: „Sagst du es dem Papa? — Mu.: „Was 
soll ich denn dem Papa sagen? 44 — KL: „Mit ihm liab ich doch geheiratet, 44 
Mu, beruhigt sie wieder; das mache doch nichts, sie soll*' jetzt nur schlafen. ~- 
KL: „Ich kann doch nicht schlafen, der Papa macht doch so einen Lärm! 
Dabei hat sie die Mutter schmerzhaft fest an der Hand gefallt, so daß man 
noch am Morgen die Spuren ihrer Fingernagel sieht. 








Der Ödipus-Komplex im Fieberdelirium eines neunjährigen Mädchens 95 


Bei meinem Kommen am Vormittag finde ich sie schon ziemlich munter * 
Ich frage nach dem Traume, und es entwickelt sich folgendes Gespräch: 

Ki>: „Wir haben in keinem Tempel und in keiner Kirche geheiratet , u —- 
Ich: „Ja, wo denn?" — KL: „Im Wald. (Nach einer Pause J Und das schönste 
war, daß wir im Nachthemd waren, ich und der Papa/* — Ick: „Nun, und 
was habt ihr dann gemacht?“ — KL: „Dann sind wir nach Hause gegangen 
und schlafen gegangen/* — Ich: „Nun, hast du gut geschlafen?“ — KL: „Aber 
ich habe nicht schlafen können; der Papa hat einen solchen Lärm gemacht. — 

Auf dem Kästchen neben ihrem Bette steht ein Blumenstrauß. Ich: „Von 
wem hast du denn die Blumen?“ — KL (lächelnd): „Vom Papa! Das ist das 
Hochzeitsbukett.“ —- Dann erzählt sie noch {und das hat sich wirklich ab¬ 
gespielt): „Heute habe ich mit dem Papa telephoniert und habe ihn gefragt, 
wann wir auf die Hochzeitsreise gehen. Und er hat nicht gewußt, was ich 
will/ — Ich: „Hast du denn deinen Papa so lieb?“ — KL (ernst): „Ja, 
sehr!“- 

Die ganzen Aufzeichnungen beruhen auf einem Stenogramm, so daß ich ihre 
Verläßlichkeit verbürgen kann. Einer Deutung bedarf das kleine Protokoll 
wohl nicht. Wohl aber wäre es interessant, kindliche Fieberdelirien öfters zu 
fixieren, um ihren Inhalt kennen zu lernen. 











KRITIKEN UND REFERATE 

AUGUST AICHHORN: Verwahrloste Jugend, Die Psychoanalyse in der 
Fürsorgeerziehung. Zehn Vorträge zur ersten Einführung, Mit einem Geleit* 
wort von Prof. Dr. Sigm. Freud. Internationaler Psychoanalytischer Verlag, 
Leipzig, Wien, Zürich 1925. 


Aichhorn hat lange Jahre als Leiter 
staatlicher Erziehungsanstalten und als 
Erzieher in Erziehungsheratungsstellen 
gewirkt. Er ist ein Praktiker und sein 
Buch wendet sich an die praktisch in der 
Erziehung Tätigen, Er hat sich ein Teil¬ 
problem der Erziehung, die Fürsorge-Er¬ 
ziehung, zur eigentlichen Domäne gewählt. 
Sein Buch ist nicht für Analytiker ge¬ 
schrieben. Der Analytiker kann daraus 
bloß entnehmen, inwiefern es für die 
Fürsorgeerziehung und für die Erziehung 
im allgemeinen ein Fortschritt ist, wenn 
sie sich von der Psychoanalyse Rüstzeug 
holt. „Erziehungsarbeit ist etwas sui generis, 
das nicht mit psychoanalytischer Beein¬ 
flussung verwechselt und nicht durch sie 
ersetzt werden kann. Die Psychoanalyse 
des Kindes kann von der Erziehung als 
Hilfsmittel herangezogen werden. Aber 
sie ist nicht dazu geeignet, an ihre Stelle 
zu treten“, sagt Freud in seinem Geleit¬ 
wort, 

Erziehung ist eine zielgerichtete Tätig¬ 
keit. Der Erzieher ist Funktionär der Ge¬ 
sellschaft, „Wir sind Fürsorgeerzieher“, 
sagt Aichhorn, „und haben die soziolo¬ 
gischen Zusammenhänge zu erkennen. 
Wir können uns für unsere Person zu 
irgendwelcher Ordnung bekennen, haben 


aber einen streng vorgczeichneten Weg 
vor uns: die heutige diisoziale Jugend 
zur sozialen Einordnung 741 führen. w Der 
Begriff „verwahrlost“ umschließt ein sozio¬ 
logisches Werturteil, daraus folgt, daß er 
sich mit der wechselnden Gesellschaft** 
Struktur ändert und sich dem jeweils herr¬ 
schenden Gesellschaft*ideol anpaßt, Aich- 
harn setzt die gesetzlichen Grundlagen 
der Fürsorgeerziehung auseinander und 
zeigt dabei, wie enge Grenzen das Gesetz 
und unsere heutige Auffassung von der 
elterlichen Erziekungsgewalt dem amt¬ 
lichen Erzieher stecken. Vorbeugende Er- 
ziehungsfürsorge ist in fast allen Fällen 
unmöglich, es bleibt meist nur die viel 
schwerere Aufgabe, Schäden wieder gut 
zu machen. Der Autor schildert seine 
Tätigkeit in der Anstalt und in der offenen 
Jugendfürsorge. In der offenen Fürsorge, 
in der Erzielunigsbrrahing muß das Ein¬ 
greifen des Beraters rasch zu praktischen 
Resultaten führen. Der Erzieher muß 
trachten, möglichst schnell einen Über¬ 
blick zu bekommen, um die geeigneten 
Maßnahmen Vorschlägen zu können. Die 
Zeit, so oft die Helferin des Analytikers, 
ist die Feindin des Erzichungsberafert. 
Aichhorn, der ohne Zweifel ein un¬ 
gewöhnliches Maß von Intuition und 








Kritiken und Referate 


95 


Einfühlungsgabe besitzt, kennt die psy¬ 
chische Situation eines Zöglings, der nach 
mannigfachen Reibungen mit der Um¬ 
gebung nur gezwungen zu ihm kommt. 
Er tragt seinem Mißtrauen Rechnung und 
weiß die Übertragung herzustellen. Der 
Erfassung des psychischen Sachverhaltes 
dient die Exploration, die Aichhorn 
unter der Bezeichnung einer Symptom- 
analyse schildert. Ich halte diese Bezeich¬ 
nung nicht für sehr glücklich gewählt 
— denn mit Analyse oder analytischer 
Technik hat diese Art der Ausforschung 
nichts zu tun. Selbstverständlich haben 
schon vor Aichhorn alle Erziehungs- 
b erat er solche Ausforschungen versucht. 
Aber ihre Bemühungen mit oder ohne 
wissenschaftliche Apparatur mußten alle 
mehr oder weniger im rein Intellektuellen 
und Formalen stecken bleiben, weil ihre 
Denkriehtung und Beobachtungsscliulung 
ihnen die affektive Seite des Problems zu 
wenig enthüllte. Aichhorn hat hingegen 
bewußt und theoretisch wohl fundiert die 
Ergebnisse dynamischer psychoanalyti¬ 
scher Psychologie auf die Erziehung ange¬ 
wandt. 

Er erzeugt die Affektsituationen, wie 
er sie für seine Zwecke braucht, experi- 
menteil. Dem Hochstapler, dessen korrekte 
Glätte eine unüberwindliche Waffe ist, 
entwindet er diese, indem er den Zögling 
durch ein suggestives Gespräch zum Durch- 
brennen veranlaßt. Der zurückgekehrte 
Flüchtling bietet ihm dann die psychische 
Situation, die er braucht. Der Dieb an 
der Tabakskasse, dem er auf der Höhe 
der Affekte das Abreagieren verwehrt, um 
die Katharsis wirksam vorzubereiten, ist 
ein zweites Beispiel für die Art und Durch¬ 
führung solcher Experimente. W eiche 
große Bedeutung Aichhorn der Affekt¬ 
situation beimißt, beweist auch der Um¬ 
stand, daß er dem Erzieherpersonal durch 
gemeinsame Aussprachen und Unterredun¬ 


gen unter vier Augen die Möglichkeit zu 
Affektentladungen bot. 

Aichhorn stellt die Übertragung in 
den Mittelpunkt der Erziehung, Sie ist 
ihm Ausgangspunkt, und wie es scheint, 
einziges Erziehungsmittel, Was eine ge¬ 
schickt gehandliabte Übertragung zu leisten 
imstande ist, zeigen seine Erfahrungen 
an den Aggressiven. Solche Zöglinge 
machen die größten Führungsschwierig¬ 
keiten und man zog, allzu sehr beein¬ 
druckt durch die praktischen Erwägungen 
den Schluß, daß diese Fälle auch erzie¬ 
herisch die hoffnungslosesten und un¬ 
günstigsten sein müßten. Aichhorn gab 
diesen Burschen in der Person der weib¬ 
lichen Erzieherinnen das Objekt, an das 
sich ihre durch Nachlassen der Aggres¬ 
sionen frei werdende Libido am leichtesten 
anhängen konnte, und erreichte dadurch 
Objektbesetzung und Erziehbarkeit, Für 
den Analytiker sind solche Erfahrungen 
eine hübsche Bestätigung seiner theo¬ 
retischen xAnnahmen, für die Erziehimgs- 
praktiker sind es neuartige Tatsachen auf 
Grund neuartiger Überlegungen. Wie er 
in der offenen Fürsorge, in der Erziehungs- 
beratimg, die Übertragung handhabt, 
schildert er an zahlreichen Beispielen. Er 
redet mit den Burschen vom Fußball und 
vom Kino; mit den Mädchen von der 
Haarschleife oder vom Bubikopf. 

Der Autor unterscheidet eine latente 
und eine manifeste Verwahrlosung. „Unter 
Verwahrlosung versteht man den Zustand, 

bei dem die Mechanismen, die das soziale 
Handeln bestimmen, nicht normal ablaufen. 
Unter Anlaß, Auslösung der Verwahrlosung, 
versteht er alles das, was man bisher als 
die Ursache der Verwahrlosung ansah: die 
Gesellschaft, die Lektüre, das Kino usw. 
Den Verwahrlosungsäußerungen kommt 
nur symptomatische und soziologische Be¬ 
deutung zu. Allgemeinste Ursache der 
Verwahrlosung ist immer ein Zuwenig 





g6 


Kritiken und Referate 


oder Zuviel. Ein Zuviel an geforderter 
Trieb ein schränkung und Zuwenig an ge¬ 
währter Triebbefriedigung, oder ein Zu¬ 
viel an gewährter Triebbefriedigung und 
ein Zuwenig an verlangter Triebeinschrän¬ 
kung. Diese Ergebnisse beweisen auch, 
wie oberflächlich die modernen Erzie¬ 
hungsbestrebungen das Problem treffen, 
die Erziehen mit Gewäbrenlasseu gleich¬ 
setzen, Sicher wurde durch allzu harte 
Zucht an den Erz iehungs Objekten viel 
verdorben, aber das andere Extrem ist 
ebenso undurchführbar und kann zu den 
gleichen Schädigungen führen. Er gibt 
absichtlich keine Definition der Verwahr¬ 
losung und keine Theorie. Er schildert 
seine praktischen Erfahrungen und greift 
einige Typen heraus, die ihm rnit Hilfe 
seiner psychoanalytischen Schulung durch¬ 
sichtiger waren, wie den Erziehern ohne 
eine solche Vorbildung. Er versucht die 
Aufhellung des Problems vom Einzel¬ 
individuum aus. Man hat bis jetzt meist 
versucht, das Problem von außen anzu- 
gehen, von der Gesellschaft aus, und die 
Wirkungen auf die Gesellschaft waren es 
vorwiegend, die die Aufmerksamkeit der 
Bearbeiter auf sich zogen. Aichhorn fragt 
sich, unter welchen Umständen wir ein 
Kind als normal bezeichnen. Als normal 
vom Standpunkte der Erziehung aus ge¬ 
sehen, bezeichnen wir ein Kind, das sich 
den von der Umwelt geforderten Trieb¬ 
einschränkungen unterwirft, die Wege 
und Ziele seiner Triebbefriedigung im 
Sinne der kulturellen Forderungen formt. 
Setzt es dem auf seine Triebbefriedigung 
geübten Druck einen erfolgreichen Wider¬ 
stand entgegen, so muß es sich, da es 
keine Vernichtung von Trieben gibt, ab¬ 
norm entwickeln. Er gibt einige Beispiele, 
die zeigen, unter welchen Umständen 
solche fehlerhafte Entwicklungen zustande 
kommen. Er führt Fälle an, bei denen das 
unbewältigbare psychische Trauma solche 


Folgen zeitigt. Ein anderes Mal zeitigt 
eine unbewußte inzestuöse Bindung das 
gleiche unerwünschte PliHlergebtiis. El 
wären noch viele Voraussetzungen denk¬ 
bar, die gleiche Wirkungen haben können. 
Auch der Verbrecher uns Schuldgefühl 
gehört in diesen Zusammenhang. Aich- 
horn erwähnt ausd rück lieh, daß nicht 
jeder Verwahrloste ein neurotisches Pro¬ 
blem biete. Wenn er trotzdem so viele 
Beispiele gerade aus Gruppen bringt, die 
alle große Ähnlichkeit«! mit Neurotikern 
oder Psychotikern aufweiien, so liegt das 
an der Auswahl des Materials. Diese Fälle 
waren natürlich dem analytisch Geschulten 
am durchsichtigsten. Gerade an diesen 
Fullen kann er die Leistungsfähigkeit 
seiner Betrachtungsweise am treffendsten 
beweisen. 

Um den Pädagogen feine theoretischen 
Folgerungen klarzulegen, stellt sich Aieh- 
horn absichtlich auf einen einseitigen 
Standpunkt, auch um zu zeigen, wie weit 
diese Betrachtungsweise führt* Zuerst 
macht er das Lust- und Healitütspriniip 
zum Ausgangspunkt seiner Überlegungen 
und untersucht das Problem der Ver¬ 
wahrlosung in seiner Stellung zum Lust- 
und Ilunlilütsprinzip. Er schildert das 
Kind, absichtlich schematisierend und 
vereinfachend, ab das primitive Lust- 
Ich. Er geht weiter und zeigt, wie 
die ullereinfaclisten Anforderungen des 
Lebens die Alleinherrschaft des Lust¬ 
prinzips brechen und demRealitätsprinsip 
Geltung verschaffen. Das JAealitätspriuxip 
wird so weit dominierend, daß die Selbst¬ 
behauptung, die Befriedigung der ein¬ 
fachsten vitalen Interessen gewährleistet 
wird. Das soziale Handeln wird dadurch 
noch keineswegs garantiert — das soziale 
Handeln ist das Resultat der gelungenen 
Unterordnung unter die hemmenden, 
tricbbeschränkenden Mächte. Diese Ein¬ 
stellung macht auch die Tatsache ver- 











Kritiken und Referate 


97 


staudlicli, daß Dissoziale, die in den Äuße¬ 
rungen ihrer Verwahrlosung so wirklich¬ 
keitsfremd und triebhaft blind Vorgehen, 
sich oft dem täglichen Leben und dem Beruf 
glanzend anpassen. Die Äußerungen der 
Sexualität sind bei den Dissozialen nicht 
unter einheitliche Gesichtspunkte zu ord¬ 
nen, Es gibt unter ihnen solche, die sich 
auf sexuellem Gebiet scheinbar völlig 
normal verhalten; Früh entwickelte und 
Spätentwickelte, Potente oder wenig 
Potente und auch Impotente, 

Tin letzten Vortrag untersucht Aich¬ 
horn sein Problem von strukturellen 
Gesichtspunkten aus. Das soziale Handeln 
setzt einen normalen Kontakt zwischen 
Ich und Über-Ich voraus, und ein Ich- 
Ideal, das die Gesellschaftsnormen als 
bindend anerkennt und bei von diesen 
Normen abweichendem Verhalten das nor¬ 
male, bewußte Schuldgefühl auslöst. Auch 
liier zeigt Aichhorn an einigen Typen 
Konstellationen, die eine solche Entwick¬ 
lung erschweren oder unmöglich machen, 
Angehörige von Verbrecherplatten z, B. 
verhalten sich innerhalb ihrer Lebens¬ 
gemeinschaft oft völlig sozial. Aber ihr 
Tch-Ideal stellt im Gegensatz zu den all¬ 
gemein herrschenden Gesell sehaftsnormen, 
und so muß es zu Reihungen, zu irgend¬ 
welchen, von der Gesellschaft als asozial 
empfundenen Äußerungen kommen. Ein 
uneheliches Kind, das wie ein überall 
störender Gegenstand von Ecke zu Ecke 
gestoßen wird und von Pflegestelle zu 
Pflegestelle wandert, bat niemals Zeit und 
Ruhe geinig, um dauerhafte Objektbe¬ 
setzungen einzugehen, es wird nie dazu 
kommen, durch Introjektion einen Über- 
Ich-Xern zu bilden. In einem anderen 
Falle entlehnt das Kind eines SHufers dem 
unbrauchbaren Vorbild unbrauchbare Züge 
für eine Über-Ich-Bildung. Die Roheits- 
delikte solcher Kinder lassen sich auf 
dieser Basis ohne die Annahme einer 


hereditären Belastung erklären. Es ist auch 
anzunehmen, daß es Kinder gibt, wo bereits 
durch Anlage die Faktoren, die die Mecha¬ 
nismen der Objektbesetzung und Intro¬ 
jektion auslöseii, nicht funktionieren; auch 
in diesen Fällen, die freilich meist der 
Psychose sehr nahe stehen werden, kann 
es zu Verwahrlosung kommen. Ein eben¬ 
so mangelhaftes Endresultat wird sich 
ergeben, wenn die Eltern unvereinbare 
Gegensätze sind und dadurch die Identi¬ 
fizierung erschweren, wenn Identifizie¬ 
rung und Objektbesetzung gegeneinander 
spielen. 

Damit ein Dissozialer sozial wird, muß 
er das fehlende Stück Entwicklung nach¬ 
holen, Er muß über die Mechanismen 
der Objektbesetzung, Identifizierung und 
Introjektion zu einem für diese Ge¬ 
sellschaftsordnung passenden Ich-Ideal 
kommen, dessen Forderungen sich das 
Ich fügt. Der Erzieher des Dis sozialen 
muß die Situation kennen und wissen, 
welche psychische Prozesse in seinem 
Erziehungsohjekt ablaufen müssen. Ein 
analysierter Erzieher, der die Übcrtra- 
gungs- und Widerstandszeichen an seinen 
Zöglingen bemerkt und ihnen mit bewußter 
Überlegung begegnen kann, wird sichrere 
und häufigere Erfolge haben, wie ein 
anderer, den Unkenntnis des eigenen und 
fremden Seelenlebens immer wieder um 
die Früchte seines Wirkens bringen. Der 
Persönlichkeit des Erziehers fällt eine 
wichtige Rolle zu im Erziehungswerk. 
Den Verwahrlosten muß die Übertra¬ 
gung das fehlende Stück Entwicklung 
nachholen lassen. Der Erzieher arbeitet 
im Gegensatz zuin Analytiker nur mit 
der positiven Übertragung; sie ist ihm 
Helferin und Wegbereiterin, Aber die 
Objektbesetzung, die Übertragung ist auch 
hier bloß der erste Schritt — und wenn 
Aichhorn von „Ausheilung“ in der Über¬ 
tragung spricht, so meint er damit kein 


Imago XII. 





98 


Kritiken und Referate 


Analogon zu dem, was wir in der Ana¬ 
lyse einen Übertragungserfolg nennen. 
Die Dynamik einer erzieherisehen Aus¬ 
heilung ist eine etwas andere wie die 
einer analytischen Ausheilung. Ob die 
Persönlichkeitsstruktur des Zöglings es 
erlaubt, sich mit der Erzieherperson zu 
identifizieren und sie tu introjizieren, ist 
das ausschlaggebende Moment. Ein Stück 
Über-Ich muß nach dem Erzieh er Vorbild 
sich formen. Dafür ist natürlich die 
Struktur und Genese des Über-Ichs wichtig, 
weil ja, wie Freud im Ich und Es aus- 
führt, „der Charakter deslchs ein Nieder¬ 
schlag der aufgegebenen Objektbesettim- 
gen ist und die Geschichte dieser Objekt¬ 
wahlen enthält“. Dort, wo das vorhandene 
Über-Ich den Anforderungen des Erziehers 
konträr ist, wird die Erziehung ebenso 
scheitern wie dort, wo ein überstarker 
Narzißmus die Objekt wähl verhindert. 
Die Frage der Erziehbarkeit fallt zu¬ 
sammen mit der Frage der Übertragungs- 

frihigkeit. 

Aichhorns Buch, von einem Päd¬ 
agogen für Pädagogen geschrieben, ent¬ 
hält vieles, was dem Analytiker selbst- 

WILLXAM McDOUGALL: Professo 
his Theory of Suggestion. British 
Bd. V, p. 14. 

In dieser Arbeit, die ein Beitrag zu 
einer Festschrift für Morton Pr i nee 
( Morton Prince Commemoration Volume) 
ist, schreibt McDougall eine Kritik zur 
Freudschen Auffassung der Massen- 
Psychologie. Er beginnt in sarkastischem 
Ton und macht Freud den Vorwurf von 
Widersprüchen bei Anwendung der Worte 
grausam, brutal und destruktiv in be¬ 
zug auf die Instinkte, Freud anerkennt 
McDougalls grundlegende Theorie der 
Massenpsyehologie, daß, trotz Herab¬ 
setzung des individuellen Niveaus in der 


verständlich erscheint und vieles nicht, 
was der Analytiker vom Pädagogen gerne 
wissen mochte. Für das Publikum dieses 
Pädagogen, mit seinem Mißtrauen gegen 
die Analyse und seinem Sexual widerstand 
sind die außerordentlich zurückhaltenden 
Formulierungen analytischer Tatbestände 
bestimmt. Für dieses Publikum ist auch 
die Sprache, die alle in der Erziehung 
üblichen Fach nusdrücke so verwendet, 
wie es die pädagogische Literatur lut* 
Für den Analytiker, der unter manifest* 
latent oder Regression ganz bestimmte 
in seiner Disziplin scharf umschrie¬ 
bene Begriffe kennt, ist dieser Um¬ 
stund manchmal irreführend, Aichhorns 
Buch will werben und interessieren* der 
Analyse neue Kreise erschließen und 
Sympathien gewinnen* Er will tatsächlich« 
wie der Titel sagt, eine erste Einführung 
geben, und zeigen, wie alte Probleme 
durch eine neue Disziplin, eben die Psycho¬ 
analyse, ihrer Beantwortung näher ge¬ 
bracht werden. Ich glaube, daß das Buch 
die Aufgabe, die sich sein Autor gestellt 
hat, in mustergültiger Weise erfüllt. 

Hedwig Schaxel (Wien), 

■ Freud’s Group Psychology and 
Journal of Medical Psychology, 1925, 

Masse, die Menschheit sich nur durch das 
Leben in der Gemeinschaft über das Tier 
erhebt. McDougall beklagt sich darüber, 
daß trotz dieser Anerkennung Freud 
seine Auffassung der Organisation verwirft 
und bloß das Problem von neuem auf¬ 
stellt, ohne eine andere Lösung Voran¬ 
schlägen. Weiter wendet er ein, daß Freud 
seine Theorie der gesteigerten Affektivität 
der Masse mißversteht, indem er von ihm 
(McDougall) behauptet, daß er das Phä¬ 
nomen „durch die um bereits bekannte 
Gefühlsamteckung“ erkläre. McDougall 















Kritiken und Referate 


99 


versichert uns, daß er gar keine Erklärung 
gegeben hat und versucht ziemlich aus* 
führlich zu beweisen, daß Le Bon zwar 
diese Gefühls ans teckung als eine Sug- 
gestionswirkting hinstellt, er aber darin 
ein ganz anderes Grundphänomen erblickt. 
In seinen „I ntroductiom to Social Psycho- 
logy“ erklärt der Autor, daß er diese 
Punkte deutlich unterscheide, und stellt 
auch eine eindeu ti ge Theorie der 
gestion atif, die Freud anscheinend über¬ 
sehen hat. Er argumentiert, daß man hei 
Herdentieren einen ausgesprochenen spe¬ 
zifischen Unterwerfnngs trieb fin det, welch er 
als wichtigster Triebfaktor bei der echten 
Suggestion am Werk Ist. Freud hat nach 
Behauptung des Autors keine Definition 
der Ich-Triebe zu geben versucht, wäre 
aber, wenn er es getan hätte, zu dem 
Ergebnis gekommen, diese den Selbst- 
erhaltungs- und Unterwerfungstrieben 
gleichzusetzen. Mo D o n g a 11 beginnt d ann 
eine Polemik gegen Freuds Aufstellung 
der libidinÖsen Bindungen einerseits au 
den Führer, anderseits an die anderen 
Mitglieder der Masse. Er will uns nahe- 
legen, daß das Vorhandensein solcher Bin¬ 
dungen von Freud behauptet worden sei, 
um die Massenpsychologie bloß zu einem 
Anhang seines psychologischen Systems 
zu stempeln. Weiters untersucht der Autor 
Freuds Unterscheidung zwischen der 
echten Panik und der bloßen Massenangsk 
wobei erstere durch den Tod des Führers 
gekennzeichnet ist. Er findet, daß diese 


Theorie durch Anführung authentischer 
Fälle im letzten Kriege hätte unterstützt 
werden müssen. Nach McDougall ist 
die Panik Funktion eines in der unorgani¬ 
sierten Masse wirkenden Triebes und 
nicht, wie Freud angibt* „eine Leistung 
des igroup mind Ui . Tn einer späteren Be¬ 
hauptung verrät der Autor seine Unfähig¬ 
keit, Freuds umfassende Libidotheorie 
zu verstehen; er meint, es wäre viel ein¬ 
facher, die Elternliebe ganz gesondert vom 
Sexualtrieb an Zusehen. Seine Neigung zu 
dieser Annahme eines unabhängigenEltem- 
triebes unterstützt er durch den Hinweis, 
daß bei den meisten Tieren die beiden 
Triebe ganz unabhängig arbeiten. Gegen 
die Auffassung der Masse als Wiederauf¬ 
leben der Urhorde w'endet er ein, daß es 
weniger ausgefallene ErklärimgsmÖglich- 
keiten gibt, daß dabei die führerlose 
Masse nicht in Betracht gezogen ist, daß 
sie nichts zum Verständnis der gegen¬ 
seitigen Suggestibilität unter den Mit¬ 
gliedern einer Masse beiträgt, schlie߬ 
lich stellt diese Auffassung das ganze 
Gemeinschaftsleben als archaische Re¬ 
gression hin und sieht in Neid und sexu¬ 
eller Eifersucht die Wurzeln höherer Lei¬ 
stungen, wobei die Wurzeln selbst un¬ 
erklärt bleiben, McDougall schließt mit 
den Worten: „unbewiesen und höchst un¬ 
wahrscheinlich“. Er für seine Person will 
von der geheimnisvollen Macht des Ur¬ 
vaters unberührt bleiben, 

Robert M. Rigall. 


Health and Psychology of the Child. — Herausgegeben von Elizabeth 
Sloan Chesser MD. Verlag W. Heinemann Ltd. 


Die vielen Besprechungen, die über 
das Buch bereits erschienen sind, ließen 
uns erwarten, darin viel Neues für Eltern 
und Lehrer zu finden. Dies ist aber nicht 
der Fall. Die Tatsachen und die Art, wie 
sie dargestellt sind, bewegen sich auf aus¬ 


gefahrenen Bahnen, und während die ver¬ 
schiedenen Autoren häufig von der unge¬ 
heueren Bedeutung der Kinderpsychologie 
sprechen, müssen wir uns oft erstaunt 
fragen, wie weit die tiefere Psychologie 
des Kindes wirkliche Berücksichtigung 


r 1 









ioo 


Kritiken und Referate 


gefunden hat; dasselbe gilt von seinen 
Strebungen und TriebäuGerungen und 
deren — normalen oder pathologischen 
Umbildungen im Laufe der Entwicklung, 
Auf die Ursache vieler, nur allzu bekannter 
Schwierigkeiten im Leben des Kindes 
wird nicht näher eingegangen und immer 
wieder die Mutter als geeignetste Person 
zur Behebung aller Übelstände gepriesen. 
Und doch weiß jeder, der dieses Thema 
im Lichte der neuesten psychologischen 
Funde untersucht hat, daß die innigen 
Bande zwischen Eltern und Kind, die 
Tatsache, daß jene in ihrem Verhalten 
von der unbewußten Einstellung zu 
ihren Kindern bestimmt werden, was 
eigentlich bei allen Fällen die Ursache 
des Übels ist, nicht dazu angetan sind, 
die Eltern zum Arzt einer Krankheit zu 
machen, die sie selbst verschuldet haben, 
Wir sind überrascht, von Autoren, die 
Einzeluntersuchungen an Kindern und 
über kindliche Probleme angestellt haben, 
etwa folgende Bemerkungen zu hören, 
um einige besonders krasse Beispiele her¬ 
auszugreifen: „Wenn jedoch ein Ver¬ 
halten tatsächlich Schmerz oder Unbe¬ 
hagen zur Folge hat, werden selbst sehr 
kleine Kinder es nicht wiederholen wollen 
und einen anderen Weg der Reaktion 
wählen* Die frühe Erwerbung guter und 
die Vermeidung schlechter Gewohnheiten 
ist eine der ersten Stufen der psycho¬ 
logischen Erziehung des kleinen Kindes, 
eines der Hauptziele einer guten Mutter, 
Daraus erklärt sich die Berechtigung kor¬ 
rektiver Strafen auch schon bei ganz 
kleinen Kindern,“ Nach diesen Ausfüh¬ 
rungen könnte man schließen, daß Dr. Eric 
Pritchard die Anwendung schmerz¬ 
hafter, korrektiver Strafen schon bei „ganz 
kleinen Kindern“ empfiehlt. Eine der¬ 
artige Ansicht überrascht uns in einem 
Buch, das die Psychologie des Kindes be¬ 
handelt, da wir mit anderen modernen 


Autoren zu glauben geneigt sind, daß 
solche Methoden nachgewiesenermaßen 
häufig von schlimmsten Folgen begleitet 
waren und den Grundstein zu Neurosen 
oder störenden Chare kt erzögen im Leben 
des Erwachsenen gelegt haben, weshalb 
sic gewöhnlich nicht für ratsam gelten. 
Es klingt — um cs milde auszudrücken — 
wie Rachsucht von seilen des Erwach* 
senen, daß er wünschen sollte, einem 
Säugling eine schmerzhafte, korrektive 
Strafe zuzufügen, An anderer Stelle schreibt 
derselbe Autor: „Die Suggestion bildet 
während der ersten Lebensjahre eine so 
mächtige Quelle der Beeinflussung, daß 
man oft Gefahr lauft, ihre Macht zu mi߬ 
brauchen . * * unter diesen Um ständen 
kann die kleinste Gebärde, der leiseste 
Wechsel im Ausdruck genügen, um unter¬ 
würfigen Gehorsam zu erreichen* Obwohl 
für eine günstige Charakterbildung unbe¬ 
dingter Gehorsam zu jeder 7*eit durchaus 
notwendig ist, wird trotzdem die kluge 
Mutter eine solche Autorität so selten 
wie möglich in Anwendung bringen und, 
soweit es die Umstünde erlauben, den 
Geist der Selbständigkeit und Unabhängig¬ 
keit im Kinde fördern* Das Kind, das 
man beständig mit Ermahnungen quält, 
dies zu tun, jenes zu unterlassen, wird 
bald neurotisch und gehemmt. 4 Diesem 
abschließenden Satz müssen wir aus 
ganzem Herzen bei pflichten, über zweifel¬ 
los widerspricht sich der Autor im Laufe 
dieses Abschnittes; ist cs doch schwer 
einzuschen, wie der „jederzeit unbedingte 
Gehorsam“ eines Kindes ohne die Wir¬ 
kung sehr starker Vcrdriingungsmaß- 
nalnnen erzielt werden kann; diese werden 
gleichzeitig die Entwicklung des „selb¬ 
ständigen, unabhängigen Geistei 44 hemmen 
und unweigerlich zu „Hemmungen und 
Neurose“ führen* Man muß sich wohl 
für den einen oder anderen Weg ent¬ 
scheiden. 










Kritiken und Referate 


101 


Dr. Cameron gibt ebenfalls über¬ 
raschende Ratschläge in seiner „Treat¬ 
ment“ überschriebenen Arbeit, wo er das 
von ihm als „NahrungsVerweigerung aus 
Negativismus“ (Refus al of Food caused hy 
^Negativism 1 ) bezei ebnete Thema behandelt 
Er meint, das Symptom sei nicht schwer 
zu bekämpfen, und empfiehlt den Eltern, 
systematisch ihre Handlungsweise der des 
Kindes amu passen, d, h. von ihm tatsäch¬ 
lich das genaue Gegenteil des Gewünschten 
zu verlangen, in der Hoffnung, das Kind 
werde in seinem Negativismus fortfahren. 
Aber Kinder sind nicht ganz so einfältig, 
wie Dr. Camcron annimmt Schon sehr 
kleine Kinder würden eine so durchsichtige 
List bald durchschaut haben und ihre 

EDITH ROWLAND: A. Pedagog 
& Sons S. T. D. 

Wenn wir auch nicht wissen, welche 
Motive die Autorin dazu bestimmt haben, 
die Erkenntnisse pädagogischer Fachleute 
des sechzehnten und siebzehnten Jahrhun¬ 
derts aus zu wählen, um sie in einem kleinen 
Band zusammen zufassen, sind wir ihr für 
das Resultat zu höchstem Dank verpflichtet. 
Wir haben es bisher fiir das Verdienst 
unseres aufgeklärten Zeitalters gehalten, 
daß wir uns mit dem wichtigen Thema 
der Kleinkindererziehung beschäftigen und 
unsere Aufgabe darin sehen, die Wir¬ 
kungen der einzelnen Methoden zu er¬ 
forschen, uns über die schlimmen Folgen 
begangener Erziehungsfehler klar zu wer¬ 
den und zu versuchen, den angerichteten 
Schaden wieder gut zu machen oder 
wenigstens theoretisch einen Ausweg zu 
finden. Alis der Lektüre dieses Buches 
sehen wir, daß wir keineswegs Pioniere 
der Forschung auf .diesem Gebiete waren. 

Wir neigen vielfach zu der Annahme, 
daß die Erziehungsmethoden früherer 
Zeiten streng waren und als einziges 
Mittel, größeren Fleiß im Leimen zu er- 


Eltern dementsprechend beurteilen. Wenn 
Eltern nach eigenem Gutdünken in dieser 
Weise Vorgehen, erkennen sie früher oder 
später, welch schweren Fehler sie be¬ 
gangen haben, wenn es entweder zu 
spät oder schwer ist, ihn wieder gut zu 
machen. Ist es da nicht unnötig, Eltern 
noch den verderblichen Rat zu geben, 
gerade das zu tun, was sie bessern wollen, 
indem sie ihren Kindern ein Beispiel 
von Unaufrichtigkeit mid unehrlicher Ab¬ 
sicht geben, und dabei von diesen zu 
erwarten, daß sie zu rechtlichen Men¬ 
schen he ran wachsen und nicht ihre Eltern 
bei jeder Gelegenheit zu hintergehen 
trachten werden. 

Mary Chadwick (London), 

es Commonplace Book. Dent 

zwingen, die Rute angewendet wurde. 
\ on Roger Asch am hören wir jedoch 
das Gegenteil: „Kleine Kinder“, schreibt 
er, „sollte man lieber durch Freundlich¬ 
keit und Liebe zum Lernen verführen, 
statt sie durch Schläge und Gewalt dazu 
zu zwingen.“ An einer anderen Stelle 
heißt es: „Wo Liebe herrscht, fehlt Arheit 
selten.“ Von mehr als einem dieser wür¬ 
digen Männer hören wir die Ansicht ver¬ 
treten, daß durch Schläge das eigensinnige 
Kind leicht noch trotziger wird und daß 
die Schule, in der zu strenge Zucht herrscht, 
aus dem Knaben einen Rebell und Aus¬ 
reißer macht, was , eine nur „schwer zu 
behebende“ Schädigung seines Charakters 
b e de utet. Erfahren e P sy cb o an a ly tik er h ab en 
dasselbe Thema behandelt und teilen diese 
Ansichten, wenn auch ihre Sprache im 
einzelnen und in der Terminologie ab- 
wei eben mag. 

Hezekiah Woodward, ein Pionier 
der Pädagogik im Anfang des siebzehnten 
Jahrhnnderts, mit tieferem psychologischen 
Verständnis für diese Probleme als manche 










102 


Kritiken und Referate 


seiner Zeitgenossen besaßen, versichert 
nicht nur, beobachtet 211 haben, daß »das 
Kind unter einer strengen Hand frecher 
wird“, und daß „Gewalt und Heftigkeit 
das Herz verhärten, während liebevolle 
und freundliche Überredung es gewinnen, 
auftauen und schmelzen“, sondern meint 
auch, daß Charakterlüge der Eltern sich 
in den Kindern widerspiegeln. So macht 
er Eltern, die in Zorn und Härte ihre 
Kinder strafen, darauf aufmerksam, daß 
sie ihr eigenes Bild mißhandeln: „Es ist 
eine sichere Wahrheit, daß ein Vater sein 
eigenes aufrührerisches und trotziges 
Herz nirgends lebenswahrer wiederfindet, 
als bei seinem trotzigen Kind; dort kann 
er es so klar sehen, wie das Spiegelbild 
im Wasser das wahre Gesicht wiedergibt; 
dies ist eine schwerwiegende Wahrheit, 
wenn man sie beherzigt,“ Freud ist 
in seinem letzten Buch „Das Ich und das 
Es“ zum Ergebnis gekommen, daß der 
Knabe die männlichen Eigenschaften seines 
Vaters oder einer väterlichen Ersatzperson 
in die Bildung seines Ich-Ideals aufnehmen 
muß. Diese Erscheinung, wenn auch 
nicht die Unterscheidung von Identifi¬ 
kation und Nachahmung, war im sech¬ 
zehnten Jahrhundert bekannt, zumindest 
empfiehlt Sir Thomas Elyot; »Ich 
halte es für ratsam, daß ein Kind 
von seinem siebenten Lebensjahre der 
weiblichen Obhut entzogen wird , - ,, daß 
man ihm einen Hofmeister hält - . „ wo¬ 
möglich einen, durch dessen Nachahmung 
das Kind sich zum Besten entwickelt“, 
ferner ist er der Ansicht, daß man hei 
der Wahl eines Lehrers nicht bloß seine 
didaktischen Fälligkeiten in Betracht 
ziehen soll; es sei auch zu überlegen, ob 
er „seiner Anlage nach enthaltsam und 
tugendhaft sei, besonders keusch in der 
Lebensführung, sehr freundlich und ge¬ 
duldig, auf daß durch keinerlei unreines 
Vorbild die zarte Seele des Kindes ver¬ 


giftet würde, wovon sie nachher nur 
schwer genesen könnte“, 

Richard M ul caster verdanken wir 
in so früher Zeit die Erkenntnis, daß das 
Ziel der Pädagogik (Uhingehe, „das Kind 
nicht zu einem Leben für sich, sondern 
unter anderen Menschen zu erziehen“. 
Den Wahrheitsgehalt dieses Gedankens 
zu erkennen, hat der Psychoanalytiker 
vielleicht mehr Gelegenheit als viele an¬ 
dere; zeigt sich ihm doch da* Versagen 
von Erziehung und Beeinflussung durch 
die Umgebung — in jenem zarten Alter 
die Hauptfaktoren der Erziehung - selten 
mit solcher Klarheit, wie in der Analyse; 
dort treten ihm die Kumpfe des Neuroti¬ 
kers, mit anderen Menschen zusammen* 
zuleben, unmittelbar vor Augen, er sieht 
dessen völlige Unfähigkeit, — es sei denn 
unter schwersten Schädigungen seiner 
Person — dies zustande zu bringen* 

Erst hei dem Kapitel über Mudehen- 
erziehung merken wir einen bedeutenden 
Unterschied zwischen dem pädagogischen 
Standpunkt von damals und jetzt. Wollen 
wir lieilte einen Widerhall oder richtiger 
ein Weiterleben jener Ideen linden, müßten 
wir das Unbewußte des modernen Mannes 
untersuchen; denn dort finden sich seine 
Anschauungen und Wünsche fast unbe¬ 
rührt vom Lauf der Jahrhunderte* Die 
meisten, an anderer Stelle des Buches 
bereits angeführten Autoren vertreten die 
Ansicht, daß Mädchen auch unterrichtet 
werden sollten, aber nicht zuviel* da es 
für sie nicht notwendig sei. Der Beruf 
der Frau geht nicht dahin, geistig zu 
arbeiten, sondern dem Mann zu dienen 
und Lust zu bereiten; denn „nach ihm 
und für ihn ist sie geschaffen worden«* 
Daher brauchen sie nicht mehr Bildung 
und Kenntnisse, als für die Besorgung 
seines Haushaltes, die Pflege seiner 
Kinder und die Bewirtung seiner (niste 
nötig ist. 










Kritiken und Referate 


105 


Dieses Buch wird jeder mit Vorteil 
lesen, der sich für das reichhaltige Thema 
der Kinderpsychologie und Erziehung 
interessiert; denn hier sieht man wirklich, 
wie ein Zeitalter mit Eifer an die Neu¬ 


entdeckung von Erkenntnissen und Theo¬ 
rien geht, die aus früheren Bemühungen 
hervorgegangen, aber inzwischen in Ver¬ 
gessenheit geraten waren, 

Mary Chadwick (London). 


MARY CHADWICK: The Inter-Relations of Education and Neurosis, 
The New Era. V, No. 18. 1924, 


Dieser kleine Aufsatz verdient Beach¬ 
tung. Weniger seiner Ergebnisse wegen, 
diese sind nicht zahlreich und nicht er¬ 
staunlich, sondern wegen der Betrachtungs¬ 
weise. Er begnügt sich nicht mit der be¬ 
haglichen immer wieder feststellenden 
Freude, daß in den letzten Jahren ein 
lebhaftes psychologisches Interesse unter 
den Pädagogen entstanden ist und immer 
weiter um sich greift. Vielmehr wird ver¬ 
sucht, diesem Interesse gegenüber die Frage 
nach seinen psychischen Motivationen zu 
stellen, und von hier aus einige Schritte 
zur Psychologie des Erziehers (und ins¬ 
besondere der Erzieherin) zu tun. Es ge¬ 
schieht das auf dem Boden der Psycho¬ 
analyse, Die Psychoanalyse hat sich bisher 


damit begnügt, unter voller Akzeptierung 
des Umrisses und der Ziele der Päd¬ 
agogik, ihre Erkenntnisse über die seeli¬ 
schen Erscheinungen beim Kinde und 
Jugendlichen in den Dienst dieser Päd¬ 
agogik zu stellen. Als erfreuliches Symptom 
dafür, daß die Möglichkeit und Notwendig¬ 
keit des nächsten wichtigen Schrittes in 
unserem Kreise gesehen wird, darf man 
diesen Aufsatz buchen. Die Pädagogik 
selbst und das Verhalten der Erzieher 
psychoanalytisch zu verstehen, ist die 
bevorstehende Phase in der Anwendung 
der Psychoanalyse auf die Pädagogik, 
So ist wenigstens die Ansicht des Refe¬ 
renten, und, wie es scheint, auch der Autorin, 
Bernfeld (Wien). 


Dr. W. STROHMAYER, Professor an der Universität Jena: Die Psychopatho¬ 
logie des Kindesalters, Vorlesungen für Mediziner und Pädagogen. 2., neu¬ 
bearbeitete Auflage, J. F, Bergmann, München 1925. 


Das Buch, bereits in seiner ersten 
Auflage wegen seines reichen Inhalts, der 
vorurteilsfreien Darstellung, leicht fließen¬ 
den Sprache höchsten Lobes wert, hat 
in seiner neuen Fassung noch gewonnen. 
Überall spricht vertiefte Erfahrung, 95 
klug ausgewählte, oft sehr ausführliche 
Krankengeschichten beleben und veran¬ 
schaulichen den Text auf das glücklichste. 
Die Absicht, „ein Buch schlichter, prak¬ 
tischer Belehrung und nicht prunkender 
Gelehrsamkeit“ zu bieten, kann als gut 
gelungen bezeichnet werden. Der \ erfasser 
ist bemüht, der Leistung Freuds und 
seiner Schule ziemlich gerecht zu werden. 


ohne ihr jedoch in der Therapie einen 
Platz anzuweisen. Aber a\ich in der Pro¬ 
phylaxe, der ein breiterer Raum gegönnt 
ist, vermissen wir ihre Verwertung an 
mancher Stelle. 

Die zwölf Vorlesungen behandeln das 
Verhältnis der Psychiatrie zur Pädagogik, 
die allgemeine Ätiologie und Prophylaxe 
kindlicher Nervosität, die psychopathischen 
Konstitutionen des Kindes alters, Neur¬ 
asthenie und Chorea beim Kinde, die Hy¬ 
sterie im Kindesalter, die Epilepsie, die 
Ursachen, Symptomatologie und Behand¬ 
lung des angeborenen Schwachsinns, die 
wichtigsten akuten Geisteskrankheiten des 









104 


Kritiken und Referate 


Kindesalters. Ein reiches Literaturver¬ 
zeichnis erhöht den Wert des Buches, 
In manchen Einzelheiten kann, in 
anderen muß man dem Verfasser wider¬ 
sprechen* Seine grundsätzliche Anerken¬ 
nung der kindlichen Sexualität sollte 
auch im Einzelfalle immer zur Deutung 
der Erscheinungen bereitgestellt werden. 
Bei seiner Kasuistik vermißt man öfters 
diese Folgerichtigkeit, Daß die Mastur¬ 
bation bei Säuglingen selten ist, trifft 
nicht zu. — Allzu oft scheint mir die 
Rachitis bei der Ätiologie hervorgeh oben 
zu sein. Eine Krankheit, der unsere ganze 
Kinder weit mit geringen Ausnahmen ver- 

KARL MOSSE: Über Suggestion 
alter, Beiträge zur 
1922, Hermann Beyer & Söhne. 

Mittels einfacher Versuche wird an 
einem kleinen Materiale ermittelt, daß 
Kinder schon mit drei Jahren suggestibel 
sind. Gesunde, normale Schulkinder sind 
der Suggestion im hohen Maße (etwa 
zugänglich, die jüngeren mehr als 
die älteren. Bei Neuropathen und Hyste¬ 
rikern nimmt umgekehrt die Suggestibi- 
lität mit dem Alter zu. Schwachsinnige 


zur Kinderforschung und Heilerziehung, 
Beyer & Söhne. 

Der ungenannte Verfasser unterzieht 
die bekannte Arbeit Neters „Das einzige 
Kind und seine Erziehung“ (Zeitschr. f. 
Kinderforschung, 1916, Heft 9) einer kri¬ 
tischen Besprechung und mißt ihre Er¬ 
gebnisse an dem eigenen Charakter: er 
ist ein „Einziger“. Der Versuch des offen¬ 
bar feingebildeten Mannes ist sehr lesens¬ 
wert, doch kann er Neters Befunde nicht 
entkräften. Denn diese sind eben an einem 
Kreise von mindestens bescheidenemWohl- 
stande in der Stadt gewonnen und haben 


Fällt, wie die Rachitis, wird sich in der 
Anamnese fast jedes Kindes, also auch 
des nturopathi sehen, epileptischen, geistes¬ 
kranken nach weisen lassen. Den vagen 
Begriff der „Skrophuloie“ alten Stils sollte 
der Verfasser fallen lassen. Dagegen scheint 
er in der Diagnose der hereditären Syphilis 
zu vorsichtig. Nach der Schilderung scheint 
mancher seiner Rachitikcr eher ein Ileredo- 
syphilitiker zu sein* Die Fortschritte der 
klinischen Diagnostik der ErbiyphiHi (nicht 
bloß der Laboratoriumsdingnostik) in den 
letzten Jahren harren noch ihrer Verwer¬ 
tung in dem sonst so empfehlenswerten 
Buche. Friedj un g (Wien)* 


Kinder sind weniger suggestibel als nor¬ 
male {etwa 50Im Gerichtsverfahren 
muß die große Suggoitibilitiit des Kindes 
wohl beachtet werden* — In der Therapie 
können allerlei Mittel der Suggestion beim 
Kinde Erfolg haben. Die Persönlichkeit 
des Suggerierenden ist dabei von ent¬ 
scheidender Bedeutung. — Literatur. 

Fried jung (Wien). 

Beiträge 
I lermann 

vornehmlich für ihn Geltung, Der „Ein¬ 
zige“ eines ärmlichen Arbeiterpnares in 
ländlichen Verhältnisse» wuchst doch 
unter anderen Bedingungen auf. Immer¬ 
hin muß der Verfasser auch für sich 
cinräumen, daß Neter in vielen Stücken 
recht hat. Im übrigen kann ich mich 
nicht entschließen, die freimütige Art 
des Kritikers mit einer lieblosen Argu¬ 
mentation an der Hund seiner Selbst¬ 
bekenntnisse zu vergelten, 

Fried jung (Wien). 


und Suggestionstherapie im Kindes- 
Kinderforschung und Heileraehung* Heft 184, Langensalza 


Zum Seelenleben des einzigen Kindes. Von einem „Einzigen“, 

Heft 175. Langensalza 1921, 











Kritiken und Referate 


10 5 


HAINS ZULLIGER: Aus dem unbewußten Seelenleben unserer Schul¬ 
jugend, (IX. Heft der „Schriften zur Seelenkunde und Erziehungskunst^.} 


Verlag Bircher, Bern, 

Ein ganz vorzügliches Büchlein! Es 
liest sich wie Dichtung, wie gute Novellen, 
und d o ch stehen 1 aut er wirkliche G e- 
schichten aus dem Schulleben drin. Zöl¬ 
liger s neues Werk gehört zu denjenigen, 
von denen man gerade das Wesentliche 
in einer Besprechung nicht wiedergeben 
kann. Es will selber gelesen sein. 

Sein Inhalt beweist am besten, wie 
recht der Verfasser hat, wenn er sagt: 
„Der Pädagoge, der die psychoanalytischen 
Errungenschaften kennt, wird seine Zög¬ 
linge besser verstehen, anders beurteilen, 
anders behandeln und vor allem solche 
erzieherische Hilfen vermeiden, die einen 
Fehler nur noch verschlimmern.“ Zulhger 
betont aber, daß nur der durch einen 
tüchtigen Analytiker analysierte Lehrer, 
der überdies die psychoanalytische Lite¬ 
ratur gründlich studiert habe und der 
beständig mit einem Arzt in Verbindung 
bleibe, es verantworten dürfe, die Psycho¬ 
analyse praktisch ans zuüben. Der Lehrer 


wird in der Regel bei eigenen Schülern 
keine „Durch analysen“ machen. Er tut nur, 
was unbedingt notwendig ist, um zu helfen 
(kleinere Gelegenheitsanalysen). Der Er¬ 
zieher verwendet auch die suggestive 
Beeinflussung, die aber gerichtet und de¬ 
terminiert ist von der vorhergehenden 
psychoanalytischen Arbeit. 

In außerordentlich feiner Weise schil¬ 
dert uns Zulligcr Fälle von Selbstbestra- 
fungs-, Sühne- und Opferhandlungen, die er 
in seiner Schule beobachtete. Die Analyse 
eines „Wahrheitsfanatikers“ darf als Mei¬ 
sterstück bezeichnet werden. Es wird darin 
gezeigt, wie eine schwere Lehenslüge, die 
größtenteils unbewußt geblieben ist, den 
krampfhaften Wahrheitsdrang entstehen 
ließ. Es geht aber auch aus diesem Büch¬ 
lein hervor, daß Zulliger durch das Studium 
der psychoanalytischen Literatur seine ana¬ 
lytische Bildung bedeutend vertieft hat und 
daß er die Technik meisterlich handhabt. 

Für rer (Zürich). 


Dr. HANS HENNING: Psychologie 
dige Wissenschaft“, Bd. II.) Mauritius 
Die gut disponierte Schrift orientiert 
über die modernen Strömungen in der 
Psychologie, Leider wird der Verfasser 
(Professor an der Universität Danzig) nicht 
jeder Richtung objektiv-kritisch gerecht 
Die Psychoanalyse, der er ein längeres 
Kapitel widmet, lehnt er trotz Freuds 
„außerordentlicher Verdienste“ in ihrem 
Wesentlichsten ab, verwickelt sich aber 
dabei in Widersprüche. Als Beweis gegen 
die Wunscherfiillung im Traum wird an¬ 


der Gegenwart. (Sammlung „Leben- 
- Verlag, Berlin 1925. 

geführt: „Drei Viertel sämtlicher Träume 
sind unangenehmer Natur“; einige Seiten 
später findet sich folgender Passus: „Unter 
dem Eindruck beängstigender Kriegs - 
träume suggerierte ich mir 1914 in festem 
Entschluß, nie wieder vom Krieg und nie 
wieder unangenehm zu träumen; in den ver¬ 
flossenen zehn Jahren hatte ich nur ange¬ 
nehme Träume meist von humoristischer 
Färbung: ein Vorsatz änderte also meinen 
gesamten Typus.“ Gräber (Bern), 


ROBERT SOMMER: Tierpsychologie. Quelle & Meyer, Leipzig 1925. 

Sommers Buch scheint dem Refe- neuesten Tierpsychologien zu sein. Es 
reuten das sympathischeste unter den spricht hier ein erfahrener Psychiater von 








Kritiken und Referate 


i 06 


der Tierseele, von eigenen und fremden 
Tierheobachtnngen. Physiologie, verglei¬ 
chende Anatomie, Psychologie und Psycho¬ 
pathologie werden dem ausgesprochenen 
Programm gemäß miteinander verbunden, 
um eine v erg! eich ende Tierpsycho¬ 
logie schaffen zu können. Dabei wird 
auch ein Blick, obgleich nur in einer 
methodologischen Bemerkung im Kapitel 
über die Gewohnheiten, auf die Psycho¬ 
analyse geworfen. 

Wir lernen hier durch Beispiele, daß 
die Tierpsychologie nur nach genauem 
Studium der Morphologie und der äußeren 
Lebensverhältnisse zu Worte kommen 
darf. Ein ganz besonderer Wert wird auf 
die Motorik und Sinneserlcbnisse gelegt; 
durch periphere Leistungen sollen viele 
sonst unverständliche Vorkommnisse der 
Tiere erklärbar werden (z* E. die Gedächt¬ 
nisleistungen der Pferde auf Grund der 
optisch-motorischen Daten, der Hunde 
auf Grund des Geruchssystems.) Der ent- 
wicklungs ps ychologische Gesichts¬ 
punkt ist wo möglich durchgeführt und 
dabei ein Prinzip der Entwicklung, die 
Gleichwertigkeit (Äquivalenz) ver¬ 
schiedener Systeme im Laufe der Ent¬ 
wicklung herausgearheitet (2. B. Aufmerk- 
s ainkeitse ins teil ung bei den Pferden mittels 


Als erste Orientierung im Tatsachen- 
gebiet der Tierpsychologie wird dies 
Büchlein willkommen sein, aber nur was 
die Tatsachen, nicht, was die Theorien 
anbelangt. Daß z* B. im Tierreiche in 
den weitaus meisten Fällen das Männchen 
bald nach der Paarung zugrunde geht, 
daß „die Natur zuerst bei der geschlecht¬ 
lichen Fortpflanzung der Bewußtseins Vor¬ 
gänge bedurfte“, muß jeden Psychoana- 


dorOhrmuskulatur,beim MDuschen mittels 
der Gesichtsmnsknlatur, besonders der 
Stirn). Für die Psychologie des Raumes 
und der Zei t ist e* bedeutsam, daß diese 
keine koordinierte Begriffe sein sollen, 
wie es die Philosophie wünscht, sondern 
Begriffe mit verschiedenem Entwickln ngi- 
niveau, indem die Raum Vorstellung zum 
Althirn, die ZeitvoTstcllung zu dem Neu¬ 
hirn gehört. 

Der Instinkt ist etwas stiefmütter¬ 
lich behandelt. Instinkte sollen auf uralten, 
angeborenen Reiz - Bcwcgungl"Systemen 
beruhen, sollen aber auch vorgetäuscht 
werden können, da die geistigen Fähig¬ 
keiten vieler Tiere in vielen Beziehungen 
als „genial“ dem Menschen gegenüber 
bezeichnet werden können. 

DieSexualpsychologic kommt kaum 
zu Worte* Die SMugetutigkeit soll kein 
sexual psychologisch es Moment enthalten. 

Die Titel der größeren Kapitel heißen 
psychologische Grundbegriffe 4 , ,Aus der 
speziellen Tierpsychologie 1 , Vergleichende 
Psychopathologie bei Menschen und Tie¬ 
ren*; in diesem letzteren wird x. B* die 
Katatonie mit ursprünglich bei tiefer 
stehenden Tieren vorhandenen Bewegungs- 
mechanismen in Parallele gestellt. 

Hermann (Budapest), 

oder Die 

Jena 1922, 

lytiker zum weiteren Nachdenken an¬ 
regen* Von einem tiefen Stand der heuti¬ 
gen Tierpsychologie (auch G, Kafkas 
neu erschienene „Tierpsychologie“ mit¬ 
gerechnet) zeigt aber die durchgehende 
Identifizierung von Bewußtseinivorgängeii 
mit psychischen Abläufen überhaupt (Ver¬ 
fasser findet sinnvolle Leistungen vor 
und spricht von Anwesenheit bewußter 
Prozesse), die Vergleichung der tierischen 


Prof. Dr* FRIEDRICH DAHL: Vergleichende Psychologie 
Lehre von dem Seelenleben des Menschen und der Tiere, 
Gustav Fischer» 











Kritiken und Referate 


1 


Leistlingen mit den Leistungen eines auf 
der Stufe der Sekimdärvorgänge stellenden 
Menschen (Kinder inbegriffen). Das vom 
Verfasser verwendete Prinzip der Spar¬ 
samkeit kann unseres Erachtens in der 
Frage des Inerscheinungtretens des Be¬ 
wußtseins nicht verwendet werden, da es 


doch nicht von vornherein klar ist, daß das 
„Bewußtsein“ nicht zum Wesen der bio¬ 
logischen Vorgänge gehöre; dieses Prinzip 
Kat aber auch keinen Sinn im eigenen 
System des Verfassers, der die Bewußt- 
Seinsvorgänge als anenergetische be¬ 
trachten will. Hermann (Budapest). 


K. von FRISCH: Methoden sinnesphysiologischer und psychologi¬ 
scher Untersuchungen an Bienen, — RUDOLF BRUN: Psychologische 
Forschungen an Ameisen. (Bienen- und Ameisenpsychologie aus: Abder¬ 
haldens Handbuch der biologischen Arbeitsmethoden, Abt, VI, Teil D, Heft 2, 
S* 121—252. 1922. Urban & Schwarzenberg.) 


Es interessieren uns hier weniger die 
sorgsam ausgearbeiteten experimentellen 
Methoden, als einige Ergebnisse: So sollen 
Bienen imstande sein „Erfahrungen“ zu ver¬ 
werten, doch verrate sich die „hohe Intelli¬ 
genz“ nur in den natürlichen Umständen 
ähnlichen Anordnungen (2. B. Blütengestalt 
gegenüber geometrischer Gestalt, wie Drei¬ 
eck, Viereck), — Die Grundtatsache des 
Ameisenstaates, daß nämlich „alle Indi¬ 


viduen einer und derselben Ameisenkolonie 
unter sich 'befreundet* seien, während Indi¬ 
viduen verschiedener Kolonien sich bei Be¬ 
gegnung meist zu bekämpfen pflegen, und 
zwar auch dann, wenn sie der gleichen 
Sp e z i e s an g chö re n s ollten“, b eru h e w e s ent¬ 
lieh auf psychischen Phänomenen* — Bie¬ 
nen und Ameisen besitzen nachgewiesener¬ 
maßen die Fähigkeit, einander Mitteilungen 
zu machen, Hermann (Budapest), 


ERNST MARCUS: Theorie einer 
Kants Weltlehre, München 1924, E, 

Der Ausdruck „natürliche Magie“ soll 
die verborgene, doch praktisch verwertbare 
Willens Wirkung des Ichs auf sich selbst 
bezeichnen. Jede Willens Wirkung sei auf 
den ersten Blick etwas Wunderbares, 
Übernatürliches, sie werde aber verständ¬ 
lich, wenn man die Kontinuität zwischen 
den organischen Wachstums- und Re¬ 
organisationsprozessen einerseits, den be¬ 
wußten Willeusprozessen anderseits, theo¬ 
retisch herstellt. Im organischen Geschehen 
soll das „Ich“ sich ebenfalls nach der Weg- 
weisung von Denkprozessen (durch das 
organische Denken, was an die Stelle 
des Unterbewußten anderer Autoren zu 
stellen sei) auswirken. 

Die Kontinuität der bewußten und or¬ 
ganischen Denkprozesse soll sodann er- 


natürlichen Magie, gegründet auf 
Reinhardt, 

möglichen, daß vom Bewußtsein aus das 
organische Geschehen beeinflußt werde, 
und zwar bieten sich dazu zwei Wege 
auf: 1) die intendierte Ablösung der Ge¬ 
fühlswirkung von der Vorstellung, durch 
die Bildung einer (organischen) „Isolier¬ 
schichte“ und 2) die Unterdrückung der 
Vorstellung, Empfindung durch das willens¬ 
mäßige Auf lassen der fundierten Regriffs- 
bildung und infolgedessen durch das Ver¬ 
hindern der neuen Organisation des Ge¬ 
hirns. Beide Vorsätze sollen nur dann 
gelingen können, wenn sie „nicht heftig, 
gewaltsam, plötzlich, sondern stetig, bald 
nachlassend, bald energisch nach drängend, 
aber ohne Unterbrechung“ wirken. Ein 
allgemeiner G es undungs wälle und ein 
unbedingtes Ablegen der Todesfurcht 









Kritiken und Referate 


108 


sollten als ideale Motive die Seele stets 
erfüllen. 

Ein Hinweis auf Kants Schrift „Von 
der Macht des Gemüts, durch den bloßen 
Vorsatz seiner krankhaften Gefühle Meister 
zu sein“ erweckt das Interesse des Ana¬ 
lytikers für die Persönlichkeit Kants, eines 
Denkers*, der über seine Schmerzen ebenso. 


wie viele andere Denker, Herr werden 
konnte. 

Die Psychoanalyse wird, als eine even- 
tu eil auch die bösen Geister des dunklen 
Bewußtseinshernufbeschwörende Methode, 
in zwei Fußnoten abgetan. Was geschieht 
aber mit den w i 11 ensk ranken Neurotikern? 

Hermann (Budapest)« 


FRITZ GIESE: Theorie der Psychotechnik, Grundzüge der praktischen 
Psychologie I. — „Die Wissenschaft*, Bd* 75, Braunschweig 1925. Vieweg & Sohn* 


Gi es e hat hier durch methodologische 
und wissenschaftsgeschfchtlIche, verglei¬ 
chende Auseinandersetzungen ein lehr* 
reiches Bild des heutigen psychologischen 
Arbeitsfeldes entworfen. Er versucht stets 
der Psychoanalyse die ihr zukommendc 
Rolle zu sichern und dadurch unterscheidet 
sich diese Darstellung von sämtlichen 
übrigen, mir bekanntgewordenen, die 
Psychoanalyse höchstens hie und da er¬ 
wähnenden Arbeiten* Wenn auch die 


psychoanalytischen Tatsachen oft schwei¬ 
gen, so laßt sich doch wenigstens der 
psychoanalytische Geist stets erblicken, 
z. B, in den zwei wichtigen Thesen, daß 
das Experiment der Psychotech 11 ik nur 
Scha ffung von B eo b 11 chtungagc- 
Icgenheiten zu Zwecken der psycho¬ 
logischen Analyse sein soll und daß „letzten 
Endes die Einfühlung ins Psychische das 
Wesen der Fsychotccknik sein muß“, 
Hermann (Budapest)« 


FRIEDRICH KAINZ: Das Steigerungsphünomen als künstlerisches 
Gestaltungsprinzip. Eine literarpsychologische Untersuchung* Beiheft 55 der 
Zeitschr. f. angew* Psychol. Leipzig 1924. Joh. Ambr, Barth, 


Das Steigerurigsphänomen sei ein 
seelisches, meistens schon aus dem „Unter¬ 
bewußten“ triebhaft wirkendes, allge¬ 
meines, nicht nur in den Kunstwerken, 
sondern in jeder Phantasietätigkeit, ja 
sogar in der schlichten Wahrnehmung 
und Erinnerung aufzeigbares formales 
Urprinzip. Unter dieses Phänomen soll 
„jede während eines geistigen Produktions¬ 
vorganges sich vollziehende Umänderung, 
die bewußt oder unbewußt teleologisch 
orientiert, eine Erhöhung, eine Inten¬ 
sivierung der erstrebten Wirkung zum 
Ziele hat“, eingereiht werden. Die psy¬ 
chologischen Wurzeln der Steigerung 
seien: Das Bedürfnis nach erhöhter Ak- 
reak tionsnvöglichkeit, das Bedürfnis und 


die Freude an der geistigen Produktion, 
der elementare Trieb nach Expansion, 
nach N e u e m, Bedeut u n g s v olle m, nach 
Wunschwahrhoit, endlich das Ver¬ 
langen nach Wirkung, Jeder Mensch 
soll diese Bedürfnisse in sich tragen und 
dem Lnstkorrolate gemäß nach ihrer Be¬ 
friedigung streben, doch sei beim Künstler 
dieses Streben in höherem Maße vor¬ 
handen* Fun reiches Material am der 
Literaturgeschichte und Kunstgeschichte 
verfolgt di eso Behauptungen ins Einzelne* 
Wir vermissen jeden Hinweis auf die 
analytische Literatur, obzwar ständig 
analytische Behauptungen gestreift werden 
(Wun scherf iil lung in der Phantasie, das 
Wirken unbewußt-primitiver Mechanismen 











Kritiken und Referate 


109 


beim Künstler, Lustprämie der Produktion, 
das Unbewußte als ein vergrößerndes, 
die Extreme suchendes Agens), Meiner 
Auffassung nach bildet das Steigerungs¬ 


phänomen einen speziellen Fall der R an d- 
bevoruigung, deren Wirkungsbereich 
weiter reicht als derjenige der Steigerung. 

Hermann (Budapest). 


Dr. K, H. SCHMIDT: Die okkulten Phänomene im Lichte der Wissen- 


schaft, (Sammlung Göschen 1925.) 

Eine kurze klare Darstellung der ein¬ 
schlägigen Beobachtungen, Hypothesen 
und Ein wände. Der Traum wird mit Be¬ 
nützung der psychoanalytischen Literatur 
und in deren Sinn abgehandelt. Die Hy¬ 
pothese einer besonderen Lebenskraft, 
eines zielstrebigen Lebenswillens, einer 
Entelechie leiste für das Gebiet des Ma¬ 
gischen — nahezu alles. Teleplastie, Tele- 
kinesie und Telästhesie erklären sich durch 
die Annahme, daß die den Körper auf- 

JOSEF PETER: Erscli einungen der 
Pfullingen. Johannes Raum Verlag. 

Angeblich sind neben legendären auch 
Fälle von Erscheinungen Verstorbener be¬ 
kannt, welche auf einwandfrei gut beob¬ 
achteten Tatsachen beruhen. Die englische 
Gesellschaft für psychische Forschung hat 
in dem sogenannten „Gensus“ eine große 
Anzahl solcher Fälle nach eingehender 
Untersuchung als bewiesen festgestellt. 
Einwandfreie Fälle — wo also subjektive 
Halluzination auszuschließen ist — haben 
folgende Bedingungen zu erfüllen: 1) Die 
Erscheinung eines dem Perzipienten be¬ 
kannt gewesenen Toten weist Kennzeichen 
auf (z. B. Narben, besondere Kleidung 
usw.), welche der Erschienene ohne 
Kenntnis des Perzipienten im Leben be¬ 
sessen bat. 2) Der Erschienene ist eine 
dem Perzipienten unbekannte Person, kann 
aber durch seine Beschreibung genau 
identifiziert werden. 5) Die Erscheinung 
gibt eine richtige Nachricht, oder be¬ 
richtet eine Tatsache, welche dem Per¬ 
zipienten unbekannt ist. 4) Das Phantom 


bauende und erhaltende Kraft bei den 
magisch Begabten imstande sei, auch 
außerhalb der Haut zu wirken, Telepath 
und Hellseher erwiesen ihre Begabung 
in erweitertem psychischem Können im 
Wissens- und Willenskreis. Um aber das 
Hellsehen in Vergangenheit und Zukunft 
zu erklären, müssen wir ein Üb erb ewußt- 
sein annelmien, ein Alleswissen einer Uber¬ 
seele, in der die Einzelseele verwurzelt ist. 

Hitsehmann (Wien). 

Toten. (Die okkulte Welt. Nr* 41/42.) 

wird photographiert. 5) Mehrere Zeugen 
sind gleichzeitig von der Manifestation 
betroffen. 6) Tiere und Menschen haben 
die Erscheinung zusammen (kollektiv) ge¬ 
sehen. 

Nach Aufzahlung einer Reihe von Fäl¬ 
len von solchen Erscheinungen eben oder 
längere Zeit Verstorbener, von Geister¬ 
spuk in Gebäuden u. dgl. wird zur Er¬ 
klärung die Telepathie herange zogen. 
Auch sind die Ansichten der auf diesem 
Gebiete führenden Forscher der Neuzeit 
angeführt, von F. W* H. Myers, James 
Hy sin p und Oliver Lodge. 

Mag sich der Psychoanalytiker gegen¬ 
über der Tatsächlichkeit der Telepathie 
auch objektiv zu wartend verhalten, so 
wird er doch in Fällen der angeblichen 
Erscheinung eines Toten den Wahmehmer 
analysieren, sein psychisches Verhältnis 
zum Toten kennen wollen. Der Ausnahms¬ 
zustand, in den unbewußt tiefst Fixierte 
durch den Tod des Liebesobjektes geraten; 





1 1 o 


Kritiken und Referate 


die Whb scherfüllung im Wiedererwecken; 
die Bedeutung der unbewußten Homo¬ 
sexualität bei Ers cli ei mm gen des gleichen 
Geschlechtes (vgl, im Traum); die durch 
den Tod entstandenen oder verschärften 
Schuldgefühle; die psychische Einstellung 

durch hellen Mondschein im Schlafxi mm er; 
die Identifizierung als Ursache kollektiver 
Halluzination; die Einstellung des Perzi¬ 


pienten zum Thema Tod und Jenseits* 
sein Bedürfnis nach der Existenz mysti¬ 
scher Phänomene und nach der Hebung 
seines Selbstgefühls durch ihm xuxuspre¬ 
chende übernatürliche Fähigkeiten — all 
dies scheint in bisherigen Beobachtungen 
unterschätzt. Mehr Skepsis, mehr Psycho¬ 
analyse! Qui vivrtty verra. 

Hitscluivnuti (Wien), 


San.-Rat Dr. GUSTAV PAGENSTECHER 1 Außersinnliche Wahrnehmung. 
Experimentelle Studie über den sogenannten Trancexustand, Halle a. S. 1924, 
Carl Marhold. 


Wieder ein „parapsychischer“ Fall, in 
Amerika seit Jahren bekannt, nun In 
deutscher Sprache herieiltet. Der Arzt 
wurde anläßlich einer hypnotischen Heil¬ 
behandlung auf hellseherische Fähigkeiten 
seiner Patientin aufmerksam; aber die 
Kontrolle ist selbst nach Ansicht von 
Wasiliewski, der das Vorwort schrieb, 
unbefriedigend. Auch Pagensiech ers 
spiritistische Erklärung des Hauptfalles 
(psychometrische Prüfung der Flaschen¬ 
post eines untergegangenen Dampfers) 
ist phantastisch genug, Folgendem Vorfall 
verdankte der Arzt das Interesse für 
Okkultismus: Während er — wie gewöhn¬ 
lich — hypnotisierte, erriet die Patientin 
und blieb hartnäckig dabei, daß ihre 
älteste Tochter hinter der Tür stehe und 
durchs Schlüsselloch sehe; sie sagte so¬ 
gar: „Ich sehe meine Tochter ganz deut¬ 


lich durch die Tür hindurch.* 4 Daß ein 
solches Erraten, Fürchten, visuell Wahr- 
iielirnen — dem Arzt a 1 s eino O ffc nh n ru 11 g 
imponierte, zeigt von seiner Naivität und 
Übersehen der erotischen Atmosphäre der 
Hypnose, die der M utter Schuldgefühl und 
Angst und halluzinierende Wahrnehmung 
begünstigte. Referent hatte sich zunächst 
die Fragen vorgelegt: 1) Wodurch ist 
Patientin schlaflos? 2) Wie isl ihre Be¬ 
ziehung zu Gatte und Kind? Die Hörig¬ 
keit der Patientin ist offensichtlich: 
ENeunundsiobzig Hypnosen wurden in zirka 
elf Monaten tu Studie«wecken gemacht! 
Wie schwer ist es gewesen, hier in Wien 
untersuchte Medien zu entlarven; Ver¬ 
suche von „da hinten, wo der Pfeffer 
wächst“ — aus Mexiko —* können uns 
daher ernstes Interesse nicht leicht abge- 
winnen. Hitschntann (Wien). 


ProF MAX KAUFMANN: Die Bewußtseinsv orgänge bei Suggestion 
und Hypnose. Halle a, S. FQ2 2, Carl Marhold, 


Die wichtigsten Ergebnisse dieser mit 
graphischen Darstellungen versehenen Ar¬ 
beit lauten, da es derzeit (1922) in Deutsch¬ 
land nicht Mode ist, ein Unbewußtes zuzu¬ 
geben oder zu nennen, folgendermaßen: 

Ob man das Nichtbewußte als psy¬ 
chisch oder nur als latente, rein materielle 
geistige Tätigkeit auffaßt — Tatsache ist, 


daß sowohl Suggestion wie Hypnose sich 
in einem Bewußtsein «zustande ab spielen, 
der dein gewöhnlichen Wachzustand 
nicht entspricht, 

Außer unserem Wachbe mißt* ein ver¬ 
fügen wir nämlich noch über eine In ne 11- 
sccle, die uns zwar nicht klar bewußt, 
der Selbstbeobachtung nicht ohne weiters 


t 

















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Kritiken und Referate 


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zugänglich, aber trotzdem von großer 
Bedeutung ist für normales und beson¬ 
ders für krankhaftes Denken, Fühlen und 
Wollen* 

Vielleicht beruht des ganze Geheimnis 
der Suggestion und Hypnose auf der schon 
erwähnten Tatsache, daß sie sich nicht 
im hellsten Bewußtsein abspielen, 
sondern in mehr oder weniger tiefen Gra¬ 
den der B ewußts ein$verdunkelung 
oder, wie ich sagen möchte, im inneren 


Bewußtsein. l)amit treten die Wach- 
hemmungen zurück und das Trieb artige, 
der Kurzschluß mit der Körperlichkeit, 
das sinnliche Moment, herrscht vor. So 
erlangen die suggerierten Vorstellungs¬ 
und Gefühls gruppen (Affekte) eine den 
originalen Reizen gleichwertige, ja oft 
überlegene geistige Energie, 

(Das gesperrt Gedruckte vom Refe¬ 
renten hervorgelioben.) 

Hitschmann (Wien * 









* 
















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IMAGO. Band XII (, 9 aC), Heft 1 


(Aui£r§rbffti im Krbnitr igib) 

f v toidfrt-Ermimchimfi Beitrage tue Metipijchologlt , . ... P . , . i 

Dr, ,f i« der i'ktji: Uber den Uniiona in der EämpoiLtlon . . , . p P , , . aj 

/> f ’±*zuhi Jusr U. Dr. Otto Mirbach* Blue iüd)aw liehe Märchen parallele mm Ur- 

der Rotandiage , , * . .* . „ . ^ 

£> fms* Hermann; Modelle tu den ödipui* und Kai) ratienikomplnen bei Afifen * . $9 

£>< F L+mtsky KJne ukkullkliiche Uritatignng der r>)ihüannlyie . * fv 

-V' > Woiffhtim: Zur Psychologie de* inudiTiien Ente her» . . . 

Dr, Jk>trf A. Fried jung, Der ödiptiikomple* im Flebenfflirluiti ein« neunjährigen 

Made hem , * * * . , .. _ t t * . * , m t n . Qa 

KRITIKEN MHD REFERATE t . ...... k 9+ 

Aich horu, YuwabirlOtt« Jugend (Schumi) — Me Du 11**11, Frefewor Ffcuit Grcup Ply* 
»nd huTHfory ot SAggeittuii (Hifnll) ijH, — Health «mL Paycholog? ur Ihe Child, Jicrnii*jr»jt*b*n 
toi. E Slo.n Chtiiflr (ChtliwicA) gg. — RgwUnd* A PtdD*fl C ii«i GoimnoupUcv B®ok fUhidividU mt. 

- Chadwick, Thi' Int«r Relatiön* of Cdittaliöii and Nturwi* (lUmfild) inj. — Sl r oh m* y# j-, Di« 
Piycbopatholof^t dt* *Trtdrt*h*r# fFrttdjung 105 - Mont, lb<r >ujEjg-r»l iicia und SufffnifaEuthtmple iin 
k*t»driaJirr (Fwdjmf) 104. — Zmn £ee!f!it#b«rii de* rimi*rn hiiidtf. *on eirrrn "Einiif«H« (Ftirtjung) 
1 I - ZuNigtr, Aem dpiu uiihi>«y£)t*n 3 **l#a|rb«ii unterer Schiiljujrejid (Ab nt?) 1115. — Kenn ing.Pty- 
cholojfip d*r Gegenwart (Gtwkrr] 1«^. — Sommer* Titrpiyrhidogi* 1 fitrmmvi 1*5. — [> ahU Vergleichend« 
Piychelogi« Ifa/rumn} lob. — PH ich, Methoden liimHßhjridagUthtr und ppjehaln^itcher rmermebm^rr. 
an Hirnen Htrmanv 107*- Brün, Psycholog ach« Forschungcn an Arne iw n iilc rrrumvij %pf, — M arctll. 
Thronr einer naliirhrb«! Magi« JlffTiMw) 107, — G 1 e »«, Theorie drr Piytlimcrhink {Jfrmmti) 10B, — 
K*1 III, Dis Slei|pruii|iphlitmii«tn «I» kämtleritah*« G*it*LlUH g*j>rmdp (ßfmwnn) lofl. — Schmidt, diu 
ob, kotiert PliJitipinene im Lieht« der Wiiirn^chafl {HittJhmm) mp* — Peter, EnrJi? in 1111*011 der Talen 
l/fcu’W-utfi) 1 09 . l'iflfl n i I e e h • r, AiiDDriiiinlich« U" nlii-iir-larmm* 11 », Kaii Fm a. 11 n, 

Di« Hewuütivuiivur^ün^c hri 5 ü^jtrit[qn und. ^IfilMAmaNn) up. 

^-^pyrsin 1 »y „InTeriialiüüAlei- Pay JiimiutlyLiJierVerL^ Cea h in. fc. JL*, Wien 


AfiV diesem Hefte beginnt Band XI T, lyiiy; 
Abonnement iqxC (j Hefte, über Soo Seiten) Mark m-, 

Dic-^rni Hrlh 

p itt ein Prospekt sie* Verliigp.T C, L. Htr^Jifelil, LeEp-ig, 


(]eiig«gebpiii iler =nr Beaditung ctnpfolik’ai wirJ, 




{rlrtiJiEtifig trat dt eint imn Jer / n rer #1 a t i *j nult 11 it$c h rtft f ü r 

PsvtUanalf? liaml XII (i 9 ,0 H*ft 1 mit folgendem Inhalt: 

I reu(h Karl Abraham 7 / Eereiic^la Kontra indikalionea der aküven Technik / 
RtiUn 9) L» dkouomUdfi Prliuip der Technik / Reich: Über die chronische hyps>- 
chnndrm kc» Itenie / Lu rin: Die mpdonie rtissiiclie PlL>'*ioli>^ie und die Pi) 1 " 1 - 

choanjhte ; J.iforgüe: VerdrlngUEi(j und Skqtomiialion / Ihehm: Homoiexualilht 
und 1 >dipüjkoruplc\ t Pick worth l'arrow: Kino Kindheitleriimenni^ aui dem 
h l ei rnimcuiil Fenicheh UnbpTAuflte Vcisiäudi^ung / Sy^dr: Die Rollo des 
Zjhöji'iimoüv» bfi P>ychoien / IJor ti i?t a j n: SchiiophTotio Symptom« / Rrferatc 
t Uvitteg ung Korrei ponidenzbl«tt der Inteniaiionnleii PiA, Vereinigung, 

Pr*U Jes Hr/f rr Af. 6.So; Ato/Mktofnt lijjab (ßd Xllf .f Hffu, 5 — ^*0 &)n+-. 

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* l^* f !>• *itm Vwrtid, Wirn. - V*rantwörtlich für die EUdaktlatL; D*.Paul Ptdern, Wkn T.Rjr.nnjtunr 1 . 
GrinttJti bei cyn^ph HdD?r'i Söhne, Wjrfl V. ArbtitiriHiir i-?, »