XII Band
Heft 1
193'
IMAGO
-Zeitschrift für A;
dune der Psvchoanal
ur nnwenaung aer jt syctioanaiyse
auf die ^hatur^ und Oeisteswissenschaften
H
erausgegeben von
iSigin. Freud
Redigiert von Otto Rank., HailllS iSadlS und A* J. Stor£
Müller~Braunschweig: Beiträge zur AAetapsychologie (über Desexualisierung
u. Identi Jfizierung. über Verli ebtheit, Hypnose u. Schlaf. Uber den Begriff
der Richtung) / Fön cler C/ii/s* Über das Unisono in der Komposition
(-Zur Psychoanalyse der Musik) / Juer tu Marbach: Eine südslawisch
Mär dienparallele zum Urtypus der Rolandsage / Hei • mann: .Modelle
den Ödipus- u. Kastrationskomplexen bei Aflen / Lowtzhy: Eine okkul-
tistisdic Bestätigung der Psychoanalyse / U^ol/fheim: Psydiologie des
modernen Erziehers / Fried jung: Der Ödipuskomplex im I ieberdelirium
eines neunjährigen Akäddiens / K ritiken und Referate
e
zu
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Internationaler** Psychoanalytischer** V^erlae
TVien VII. Andi *easgasse 3
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IMAGO
XII. BAND
1926
IMAGO
ZEITSCHRIFT FÜR ANWENDUNG
DER PSYCHOANALYSE AUF DIE
GEISTES WISSENSCHAFTEN
HERAUSGEGEBEN VON
SIGM. FREUD
REDIGIERT VON
OTTO RANK, HANNS SACHS
A. J. STORFER
XII. BAND
(1926)
INTERNATIONALER
PSYCHOANALYTISCHER VERLAG
LEIPZIG / W T E N / ZÜRICH
Alle Rechte,
insbesondere das der Übersetzung, Vorbehalten
*
Copyright 1926
by „Internationaler Psychoanalytischer Verlag
Ges. m. b. H, w , Wien
Druck: Christoph Reisser’s Söhne, Wien V
INTERNATIONAL
PSYCHOANALYTIC
UNIVERSITY
DIE PSYCHOANALYTISCHE HOCHSCHULE IN BERLIN
INHALTSÜBERSICHT DES XII. BANDES
Seite
Alice Der Familienvater..*-* 2 9 2
Ludwig Binswanger: Erfahren, Verstehen, Deuten in der Psychoanalyse 225
R. Brun: Experimentelle Beiträge zur Dynamik und Ökonomie des Trieb¬
konflikts (Biologische Parallelen zu Freuds Trieblehre)... *47
Trigant Burrow: Die Gruppenmethode in der Psychoanalyse —.. 211
p r . A . van der Chijs: Über das Unisono in der Komposition--- 2 5
Hans Christoffel: Farbensymbolik...... 5°5
Helene Deutsch: Okkulte Vorgänge während der Psychoanalyse.....41S
/ M. Z>. Eder: Kann das Unbewußte erzogen werden? ... 15^
Josef K . Friedjung: Der Ödipus-Komplex im Fieber delirium eines neun¬
jährigen Mädchens.....*.* - - 9 2
— Psychoanalyse und Kinderheilkunde,....*..
G. H* Gräber: C. G. Carus ..... * 515
Imre Hermann: Modelle zu den Ödipus- und Kastrationskomplexen bei
Äffen....... 59
— Das System Bw... 2 °5
Eduard Hitschmann: Ein Gespenst aus fler Kindheit Knut Hamsuns . .. 35$
Ludwig Jekels: Zur Psychologie der Komödie . 328
Franziska Itter und Otto Marbach: Eine südslawische Märchenparallele
zum Urtypus der Roland-Sage.... 32
Melanie Klein: Die psychologischen Grundlagen der Frühanalyse. 365
Heinrich Klüglein: Über die Romane Ina Seidels..... 4go
Vilma Koväcs: Das Erbe des Fortunatus. 3*1
M. Levi ßianchini: Libido-Mneme, Mystizismus und Hellsichtigkeit bei
einem Kinde.-. 4°5
F, Lowtzhy: Eine okkultistische Bestätigung der Psychoanalyse. 70
Otto Marbach: Die Bezeichnungen für Blutsverwandte. 47 ^
Carl Miiller-Braunschweig: Beiträge zur Metapsychologie.
F. P. Müller: Gefühlstheoretisches auf psychoanalytischer Grundlage- 363
VI
Inhaltsübersicht des XII» Bandes
Srjtc
S* Pfeifer; Umrisse einer Eioanalyse der organischen Pathologie. 171
Oskar Pfister; Die menschlichen Einigungsbestrebungen im Lichte der
Psychoanalyse (Von Kant zu Freud) .. 126
Otto Pötzl; Zur Metapsychologie des „däjä vu h .*. 395
Theodor Reih; Drei psychoanalytische Notizen ..».»...,.**,,******,**■.,. 448
Geza R 6 he im: Die Völkerpsychologie und die Psychologie der Völker*,, 273
— Die wilde Jagd .... *,,., 465
Hanns Sachs: Zum 70* Geburtstag Sigm. Freuds.* *, * *. ***».. 1(5
Raymond de Saussure: Zur psychoanalytischen Auffassung der Intelligenz 258
Paul Schilder; Zur Naturphilosophie »»».»,, .. *,, .117
Vera Schmidt; Die Bedeutung des Brustsaugens und des Fingerlutschens
für die psychische Entwicklung des Kindes. «»»» . 577
Ernst Schneider; Über Identifikation. 249
Emil Simonson: Über die Anwendbarkeit der Energielehre in der Psychologie 184
A. Stär cke: Über Tanzen, Schlagen, Küssen usw, (Der Anteil des Zerstörungs
Bedürfnisses an einigen Handlungen)....* < * * * 268
Margarete Stegmann: Die Psychogenese organischer Krankheiten und das
Weltbild-- 196
H * L. Wagner: Sind seelische Beeinflussungen wissenschaftlich erfaßbar und
praktisch verwertbar. 500
Alfred Winterstein: Zur Psychoanalyse des Spuks.... 454
Nelly Wolffheim: Zur Psychologie des modernen Erziehers..»»-- 88
REFERATE
Aichhorn: Verwahrloste Jugend .*... (Schaxtl) 94
Alverdes: Tiersoziologie.* * *. .,**,*,* .(Hermann) 530
Berkeley-Hill: Hindu-Muslim Unity., *.. (Femchd) 526
Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen.... (Hermann) 525
Chadwick: The Inter-Relations of Education and Neurosis..,. (Bernfeld) 105
Chesser: Health and Psycliology of the Child . *.. (Chadwick) 99
Brun: Psychologische Forschungen an Ameisen. . (Hermann) 107
Dahl: Vergleichende Psychologie.. . .. *, * • *... * .(Hermann) 106
Driesch: Grundprohleme der Psychologie.. .(Schilder) 524
Zürn Seelenleben des einzigen Kindes, von einem Einzigen »,.*.»» (Friedjung) 104
Förster: Religion und Charakterbildung .... .{Grober) 530
Frisch: Methoden sinnesphysiologischer und psychologischer Untersuchungen 527
an Bienen........ * *..*, *»*., (Hermann) 107
G au pp: Psychologie des Kindes.. . . . .... * * . * * * *, ♦ (Grober)
G i e s e: Theorie der Psychotechnik.* * *. *,***«. (Hermann) 108
Häberlin: Das Ziel der Erziehung. ..* *..* (Hemfeld) 5 a 9
Inhaltsübersicht des XIL Bandes VU
Seite
Henning: Psychologie der Gegenwart*..... * (Grober) 105
— Die Aufmerksamkeit.* * * -.* * -.* *.. (Bernfeld) 529
K ainz: Das Steigerungsphänomen als künstlerisches Gestaltungsprinzip (Hermann) 108
Kaufmann: Die Bewußtseinsvorgängc bei Suggestion und Hypnose (Buschmann) 110
Kurz: Christlich denken .. ■..... . -. >. (Friedjung) 552
Lagerborg: Platonische Liebe . , . ....*---. . ■ (Pfister) 527
McDougall: Professor Freuds Group Fsychology and his Theory of
Suggestion ......... (Kigali) 98
Marcus: Theorie einer natürlichen Magie. (Hermann) 107
Messe: Über Suggestion und Suggestionstherapie im Kind es alt er... (Friedjung) 104
Pagenstecher: Außersimilichc Wahrnehmung (Hit&chrnann) 110
Peter: Erscheinungen der Toten .. , *., . 4. (Hitsckmwm) 109
Zeitschrift für Psychologie, Bd. 94 und 95... (Hermann) 553
Rowlatid: A Pedagogues Gommonplace Book. (Chadwick) 101
Schmidt: Die okkulten Phänomene im Lichte der Wissenschaft* (Hitschmemn) 109
Sommer: Tierpsychologie (Hermann) 105
Strohmayer: Die Psychopathologie des Kindesalters.. ■ {'Friedjung) 103
Zull lg er: Aus dem unbewußten Seelenleben unserer Schuljugend . * * *. (Furrer) 105
Bücherdnlauf -........ *.....»* <. 555
Redaktionelle Mitteilung , , . * *.... * ..-.- - 55 ^
IMAGO
ZEITSCHRIFT FÜR ANWENDUNG DER PSYCHOANALYSE
AUF DIE NATUR- UND GEISTESWISSENSCHAFTEN
XII. Band 1926 Heft 1
Beiträge zur Metapsychologie
Uber Desexualisierung und Identifizierung — Über Verliebtheit,
Hypnose und Schlaf — Über den Begriff der Richtung
Nack einem Fort rag auf dem IX. Internat. Psychoanaljrtischen Kongreße Homburg, September
Von Carl Müller-Braunschweig (Berlin)
I
In seinem Buche: „Das Ich und das Es 11 beschreibt Freud Vorgänge,
bei denen das Ich durch Identifizierung mit einem Objekt die sexuelle
Objektlibido an die durch die Identifizierung entstandene Ichveränderung
bindet, wodurch die sexuelle Objektlibido zu narzißtischer, d. h. nicht¬
sexueller Libido wird. Eine solche Desexualisierung, sagt Freud, könne
auch Sublimierung genannt werden, und man könne vermuten, daß alle
Sublimierung auf solche Weise, durch Vermittlung des Ichs, zustande
komme.
Es ist nun wahrscheinlich zu machen, daß nicht nur Objektlibido,
sondern auch autoerotische Libido durch eben solche Identifizierungsvor-
gänge desexualisiert werden kann. Die Identifizierung wäre dann nicht
eine Identifizierung mit einem alloerotischen Objekt, sondern eine Identi¬
fizierung mit den autoerotischen Gegenständen, mit den erogenen Zonen,
Organen und Erregungsvorgängen des eigenen Körpers. Wir kennen diese
Identifizierungen alle in pathologischer Form in der Hysterie und den
Psychosen. In unseren jetzigen Überlegungen soll es sich aber um Identi¬
fizierungen handeln, die normaler- und rege! mäßiger weise vor sich gehen
und autoerotische Libido in nicht-sexuelle, narzißtische Libido verwandeln.
Imago XII
1
2
Carl Müller-Braun schweig
Wir unterscheiden den Narzißmus vom Autoerotismus. V\ lr wissen, daß
man von einem eigentlichen Narzißmus erst sprechen kann, wenn so etwas
wie ein Ich vorhanden oder im Entstehen begriffen ist. Vor diesem Stadium
gibt es nur die diffuse autoerotische Libido, die von einzelnen Zonen und
Organen des Körpers ausgeht und diese Zonen und Organe zu ihrem Ziel
und Objekt hat. Es ist nun nicht abzuweisen, daß mit der Bildung des
Ichs die im Ich wirksame und auf das Ich gerichtete Libido nicht nur
auf dem Umwege über die Objekte der Außenwelt aus der sexuellen
Libido entwickelt wird, sondern daß sie sich auch direkt aus der aiuo-
erotischen Libido entwickelt.
Der Charakter dieser Prozesse würde ein fortschreitendes Sich-ldentifi-
zieren-Lernen mit den vordem noch nicht 7 .U einein einheitlichen Ich
gerechneten Zonen, Organen und Erregungsvorgängen sein. Es ist wohl
auch kein Widerspruch darin zu sehen, daß solche Identifizierungsvorgänge
schon ein Ich voraussetzen, das sich identifizieren lernt, während anderseits
durch die Identifizierungsvorgänge erst ein Ich und eine narzißtische Li¬
bido ausgebaut werden, denn alle Entwicklungen des werdenden Indivi¬
duums, selbst diejenigen, die starker exogener Antriebe bedürfen, sind ja
doch erblich vorgezeichnet, in Ansatz-Elementen von Anfang an vorhanden.
Ichentwicklung, Identifizierungsmechanismus, Ausbau narzißtischer Libido
werden so zu einem biologisch vor gezeichneten Komplex gehören.
Es wird wesentlich für die nicht-normale oder normale Ichentwicklung
sein, wie weit dem Kinde diese frühesten Identifizierungen mit seinen
eigenen Zonen, Organen und Erregungsvorgängen nur mit Beimischung
pathogener Prozesse wie dem der (mißglückenden) Verdrängung geigen
oder wie weit sie ohne solche vor sich gehen. Vor allem die Identifizierung
mit dem eigenen Genitale und dessen Erregungen. Der Prozeß der Ver¬
drängung wird etwa bei der Identifizierung des Knaben mit seinem ems
die verfügbare Menge desexualisierbarer Penislibido verringern und die
Entwicklung gewisser Charaktereigenschaften, die genetisch mit
sanunenzuhimgen scheinen, wie Stola, Mut, Selbstbewußt,ein, beeinträchtigen.
Die hier beschriebenen frühinfantileo Identifizierungsvurgänge, durch ti
autoerotische Libido zu narzißtischer desexualisitrt wird, b(treffen,
gesagt, nicht-pathologische Identifizierungen. Solche nicht-pathologische
Identifizierungen durchziehen mannigfaltig das ganze spatere Leben. Sie
können in allen Systemen angreifen, dürfen nur nicht mit den Bedingungen
der Fixierung, der Regression und anderen, insbesondere aber der Vir
drängung Zusammentreffen, um normal zu heißen. Sie können bewußt
Beiträge zur Metapsyehologie
5
oder unbewußt vor sich gehen, können Identifizierungen mit Objekten und
Vorgängen der Außenwelt oder mit solchen des eigenen Körpers sein.
Es wäre nicht ausgeschlossen, daß die Verwandlung von sexueller Ob¬
jektlibido in narzißtische als ständiges, aber normalerweise nicht bemerk¬
bares Zwischenstadium eine Verwandlung von Objektlibido in autoerotische
zur Bedingung hätte. Wenigstens könnte man das schließen aus gewissen
Fällen pathologischer Identifizierung, die uns anmuten wie der mißlungene
Versuch einer Desexualisierung von Objektlibido, der in diesem Zwischen¬
stadium gleichsam steckengeblieben ist, und erst durch Prozesse, wie sie
die Psychoanalyse durch Aufhebung der Verdrängung auslöst, zu Ende
gebracht werden können.
Betrachten wir 2. B, den Fall der hysterischen Stuhlverstopfung eines
jungen Mädchens, das mit dieser eine partielle Identifizierung mit dem
Vater {dem väterlichen Penis) darstellt. Unter der Bedingung von Ver¬
drängung und Regression ist hier der Versuch gemacht worden, die vom
Ich abgewiesene sexuelle Strömung zu desexualisieren. Dieser Versuch ist
mißlungen. Der Prozeß ist nur bis zur Verwandlung der sexuellen Objekt¬
libido in autoerotische gediehen (daneben auch sexuelle Objektlibido in
Bindung an die Vaterimago durch Verdrängung weiterer Verarbeitung
entzogen), erst durch die Aufhebung der Verdrängung, die Verwandlung
der verdrängt unbewußten Identifizierung in eine bewußte ist die auto-
erotische Libido und die in ihr steckende sexuelle Objektlibido desexuali-
sierbar geworden. Man darf die Frage aufwerfen, ob wohl solche Libido,
die nicht, wie bei den Identifizierungen, an die dadurch entstandene Ich-
Veränderung, sondern, wie bei der Introversion, an Imagines gebunden ist,
ebenfalls in narzißtische verwandelt oder desexualisiert werden kann. Viel¬
leicht, daß das der Fall ist, sobald nur die Verdrängungswiderstände ge¬
fallen sind, welche diese wie jene Gebilde vom übrigen Ich abgespalten
und dadurch vor dessen verarbeitendem Angriffe bewahrt haben.
Wir dürfen bei dieser Gelegenheit äußern, daß wir den Vorgang, den
wir bisher, nach Freud, als Aufhebung der Verdrängungen, Rewußt-
machung des Unbewußten oder auch als Versöhnung des Ichs mit dem
Verdrängten bezeichnet haben, auch mit Hilfe des Vorgangs der Identifi¬
zierung beschreiben könnten. Wir könnten sagen, daß das Individuum
dahin zu bringen ist, daß es sich mit dem Verdrängten zu identifizieren
vermag, daß es eine bewußte, oder, besser gesagt: eine bewußtseinsfähige
Identifizierung mit dem Verdrängten zustande bringen kann. Diese Identi¬
fizierung wäre das notwendige Vorstadium der nun erst möglichen Ent-
4
Carl Müller-Braun schweig
Scheidung im Sinne einer Anerkennung oder Verurteilung des Verdrängten.
Das Individuum muß lernen, sich mit der verdrängten Regung zu identi¬
fizieren in dem Sinne, daß es sie zu seinem Ich hinzureclinet, daß es zu
einer theoretischen Anerkennung des Verdrängten als eines zu seinem
Ich Gehörigen gelangt, gleichviel, ob es von da aus auch zu einer prak¬
tischen Anerkennung oder zu einer praktischen Verurteilung {d. h. einer
motorischen Hemmung der aus dem ehemals Verdrängten folgenden Im¬
pulse) fortschreitet.
Wir sagten, es sei besser, von einer bewußtseinsfähigen Identifizierung als
von einer bewußten zu sprechen. Tn der T’at zeigen unsere Analysen, daß
Verdrängungen aufgehoben und die ehemals durch sie gehemmten Abläufe
mobilisiert, neue Libidoverteilungen erzielt werden können, auch wenn das
Verdrängte nicht voll bewußt geworden ist. Augenscheinlich hängt der hi
folg nicht an dem Bewußtwerden im deskriptiven und topischen Sinne,
sondern an dynamischen und ökonomischen Verhältnissen. Ls handelt sich
um etwas, das bewußt werden könnte, und zwar nicht nur im Sinne des
Vorbewußten, sondern auch im Sinne des, allerdings unverdrängten, Un
bewußten. Die Identifizierung, welche die Verdrängungen aufhebt, kann
unbewußt sein, es kommt darauf an, ob diejenigen Verhältnisse geschahen
worden sind, durch welche dem bisher durch die Verdrängungsschranken
an der Verarbeitung verhinderten Ich eine Angriffsfläche gegeben wird.
Wenn wir den Heilungsvorgang unter die Formel: Bewußtmachung des
Unbewußten bringen wollen, dürfen wir das Bewußte nicht deskriptiv und
topisch, sondern dürfen es nur dynamisch verstehen, es ist dasjenige, was
bewußt werden könnte, aber nicht immer bewußt zu werden braucht, ja
selbst unbewußt sein kann. Dieses potentielle Bewußtwerden deckt sich
nicht mit dem Vorbewußten, eher mit dem Begriff des Ichgerechten, wenn
man darunter die Fähigkeit, vom verarbeitenden Ich erreichbar, angreifbar
zu sein, versteht. Wir könnten sagen, das Verdrängte müsse „ichverarbei-
tungsfähig“ werden, damit es seine eventuelle pathogene Wirkung verliert.
Wir wollen jedoch zu unserem Ausgangsproblem zurückkehren und uns
fragen, was wir getan haben, wenn wir die Desexualisierung auf bestimmt*
Identifizierungsvorgänge zurückführten. Wir können damit nicht behauptet
haben, daß wir den ausschließlichen Entstehungsgrund nicht-sexueller Li
bido dargestellt hätten, sondern müssen es offen lassen, wie immer die
Herkunft narzißtischer Libido sein mag. Und weiterhin müssen "ir uns
vor Augen halten, daß die Identifizierungsvorgänge, die wir in bestimmten
Fällen bei der Entstehung narzißtischer Libido beteiligt linden, uns /.war
Beiträge zur Metapsychologie
D
in ihren mannigfaltigen Erscheinungsformen bekannt und praktisch ge¬
läufig, ihrem Wesen nach aber durchaus unbekannt sind. Wir können von
ihrem Wesen nur ein „als ob“ aussagen* Sie sind so, als ob sie Abkömm¬
linge der oralen Libidoorganisation wären, als ob sich in ihnen das Ich
benähme wie ein Körper, der sich ein Objekt oral einverleibt.
Wir dürfen also nicht beanspruchen, daß wir den Vorgang der De-
sexualisierung aufgeklärt hätten, sondern müssen uns dahin bescheiden,
daß wir einige Vorgänge, in deren Verlauf sich sexuelle in nicht-sexuelle
Libido verwandelt, mit den uns praktisch vertrauten Identifizierungsvorgängen
in Verbindung bringen konnten.
Vielleicht verheißt uns ein anderer Weg eine Lösung des Desexualisierungs-
problems? Wie ist es möglich, daß sexuelle Libido ihren sexuellen Charakter
verlieren, eine ganz andere Qualität, die der nicht-sexuellen Libido, an¬
nehmen kann? Freud hat die narzißtische Libido qualitativ indifferent
genannt* Sicherlich hat er damit u. a. bezeichnen wollen, daß die narzi߬
tische sich als etwas deutlich anderes abhebt von jeder Art sexueller Libido,
heiße sie nun oral, anal, genital, oder werde sie sonst mit einem Organ
oder einer Zone des Körpers als ihrer Quelle oder ihrem Angriffspunkte
in Verbindung gebracht* Ob die Bezeichnung der narzißtischen Libido als
„qualitätslos* treffend oder nur möglich ist (kann man überhaupt etwas
als qualitätslos bezeichnen?), möchte ich dahingestellt sein lassen, jedenfalls
mag sie gegenüber den eben genannten Libidoformen als von relativer
qualitativer Indifferenz bezeichnet werden. Man wird nicht verlegen zu
sein brauchen, wenn man auch ihr ein „Organ* 2uordnen möchte, und
wird es im nervösen System sehen. Durch die „qualitativ indifferente*
narzißtische Libido werden nach Freud die mannigfachen Verschiebungen
und Umwandlungen der sexuellen Libido ermöglicht. Sie kann sich zu den
verschiedensten Regungen hinzu gesellen und sie verstärken.
Im Grunde ist hier überall das Problem der Verwandlung von nicht-
sexueller in sexuelle und sexueller in nicht-sexuelle Libido wiederzufinden*
Wir können dieses Problem, wenn auch nicht lösen, so doch vorstell¬
barer machen, wenn wir uns zu der Annahme verstehen, daß nicht-sexuelle
(narzißtische) Libido und sexuelle (genitale, anale, orale usw.) Libido
entwicklungsgeschichtlich eine gemeinsame Wurzel haben. Die libidinöse
Energieform, die wir als solche gemeinsame Wurzel beider Libidoarten
anzusprechen hätten, würde in der Richtung auf älteste Formen, etwa in
Richtung auf die von Freud postulierte Zell-Libido hin, zu suchen sein.
Von dieser Wurzel aus hätte sich ein Zweig in zunehmender Differenzierung
6
Carl Müller-Braunschweig
zu oraler, analer, genitaler Libido entwickelt, während sich der andere
Zweig zu narzißtischer entwickelte, wobei er vielleicht, trotz aller Ver¬
feinerung, gewisse Ursprünglichkeiten ältester Phasen beibehalten hätte.
Die Annahme einer entwicklungsgeschichtlichen Verwandtschaft beider
Formen würde es vorstellbarer machen, daß sich sexuelle Libido in nicht-
sexuelle verwandeln könnte. In dieser Verwandlung würde dann ein I eil
Regression stecken. Also auch die Sublimierung hätte eine regressive Kom¬
ponente, ein freilich kaum paradoxes Ergebnis, wenn man bedenkt, daß
wohl alle progressiven Prozesse mit Hilfe von Regressionen vor sich gehen.
Vielleicht liegen die Dinge aber noch ganz anders und findet so etwas wie
eine eigentliche Desexualisierung, also eine richtige Verwandlung sexueller
in nicht-sexuelle Libido überhaupt nicht oder doch nur in geringem Maße
und nur unter der Voraussetzung größerer Zeitmaße statt, und ist das, was
uns für gewöhnlich als eine Verwandlung imponiert, also auch die an¬
scheinende Desexualisierung bei den Identifizierungsvorgängen, nur einem
mehr minder komplizierten Vorgang von Transport, von Verschiebung und
Verteilung, Mischung und Entmischung, Hemmung oder Auslösung von
Libidoquantitäten zuzuschreiben, an dem allerdings die narzißtische Libido
als eigentlicher und unentbehrlicher 'Präger dieser Punktion tätig wäre?
Wir wollen diese Erwägungen hier nicht fortsetzen, sondern die Frage
des Verhältnisses der nicht-sexuellen zur sexuellen Libido erst wieder auf¬
greifen, nachdem wir uns eine Strecke weit in die Metapsychologie der
Identifizierungsvorgänge hineinbegeben haben.
II
i) Wir sagten, über die Natur der Identifizierungsvorgänge sei nichts
auszusagen, als daß sie sich wie Abkömmlinge der oralen Organisations¬
stufe benähmen. Wenn wir nun auch das w Wesen der Identifizierung
nicht ergründen können, so können wir dafür um so mehr die mannig¬
faltigen empirischen Erscheinungsformen schildern, in denen wh ihr he
gegnen, besonders, wenn wir uns der drei metapsycliologischeii Gesichts
punkte Freuds, des topischen, dynamischen und ökonomischen bedienen.
Topisch gesehen, können die Identifizierungen in allen Schichten und
Instanzen des psychischen Organismus angreifen, im Bewußten, im V or-
bewußten, im verdrängten und niclilverdrängten Unbewußten; im Über¬
leit, im Ich und im Es.
Es geht den Identifizierungen wie allen seelischen Vorgängen, die über¬
wiegende Zahl verläuft unbewußt (vbiv und ubw), und die unbewußten
7
Beiträge zur Metapsychologie
Identifizierungen sind nur dann als d. eil eines pathologischen Vorganges
anzusehen, wenn sie unter die aus der Neurosenätiologie bekannten Bedin¬
gungen geraten, von denen die Verdrängung die conditio sine qua non ist.
Unser stundstündliches Denken durchzieht eine unzählige Menge von mehr
weniger flüchtigen Identifizierungsvorgängen, unser Konnex mit den Mit¬
menschen ist auf eben diesen aufgebaut, die wir alle in das Vbw-Bw und
Ubw verlegen müssen. Demgegenüber gehört der hysterische Husten des
Mädchens, das sich mit seinem Symptom unter der Einwirkung des
Schuldbewußtseins mit seiner Mutter identifiziert, in das verdrängte Ubw.
Betrachten wir weiter eine Reihe normaler wie nichtnormaler Erschei¬
nungen, zu denen IdentifizierungsVorgänge gehören, um den topischen oder
strukturellen Angriffspunkt festzustellen: In der Beziehung des Schülers
zum Lehrer, des Masseneinzelnen zum Führer, des Liebenden zum Geliebten,
des Hypnotisierten zum Hypnotiseur greift die Identifizierung im Über¬
leit an, in der Identifizierung des Kindes mit seinem Geschwister, des
Masseneinzelnen mit dem Genossen: im Ich. Betrachten wir die uns als
eine der möglichen Bedingungen männlicher Homosexualität bekannte
Identifizierung des Jünglings mit der Mutter, von der Freud sagt, daß sie
eine ganz besondere, umfassende Ichverändcrung erzeugt, indem sie das
Individuum ,,im Sexual-Charakter“ verändert, so können wir diese
Identifizierung nur ins Es verlegen. 1 Fragen wir uns, wo die epochalen
frühinfantilen Identifizierungen, durch die die Phase der Ödipuskonstellation
und ihr Abschluß charakterisiert sind, strukturell angreifen, so scheint sich
zunächst eine Schwierigkeit darin zu bieten, daß wir diese Identifizierungen
(wie etwa die des Schülers mit dem Lehrer) ins Über-Ich verlegen möchten,
während das Über-Ich anderseits erst aus jenen Identifizierungen entstanden
zu sein scheint. Der Widerspruch löst sich, wenn man bedenkt, daß, so
sehr jene Identifizierungen dem Über-Ich erst seine bedeutsamste Gestalt
verleihen mögen, dieses oder doch ein Ansatz von ihm bereits als phylo¬
genetische Bildung vorhanden sein muß. Anderseits hat das Über-Ich, nach
Freud, außer der sozialen Wurzel (von der die Elternidentifizierung die
erste Grundlage bildet) auch eine individuelle Wurzel, eben jenes Unge-
l'i Diese Topiken sind natürlich nur im theoretischen und schematischen Sinne
richtig, in Wirklichkeit gibt es, wie überall, alle möglichen Mischfalle. So kann
z B. die Identifizierung mit dem Geschwister außer im Ich, gleichzeitig auch, so¬
weit das Geschwister zum Ideal wird, im Über-Ich angreifen und so greift die
Identifizierung der Verliebtheit bei deren Umwandlung in ein laugdauerndes Liebes¬
verhältnis vom Über-Ich auf das Ich und Es über.
g Carl Müller-Braunschweig
nügen am eigenen Ich, das zur Rettung des ursprünglichen Narzißmus
treibt und zu diesem Zwecke das Ideal-Ich schafft. Aus diesem Ideal-Ich
und aus dem phylogenetischen Ansatz des Uber-Ichs besieht jenes infantile
Über-Ich, an dem die Elternidentifizierungen angreifen.
2) Übergehen wir von dieser kurzen dynamischen und topischen zur
Ökonomischen Betrachtung der Identifizierung, so werden wir gut tun,
diese im Zusammenhänge mit der Untersuchung von Erscheinungen wie
der der Verliebtheit, der Bindung an den Führer, der Hypnose und des
Schlafes vorzunehmen, wobei sich freilich der Schwerpunkt der Unter¬
suchung von der Identifizierung auf diese Erscheinungen verschieben muß.
Wir wollen dabei von einem Gedankenzuge ausgehen, den wir in
Freuds Massenpsychologie und Ich Analyse linden und der bei Freud
dem Ziele zustrebt, einen Unterschied zwischen der Bindung des Massen¬
einzelnen an den Führer und der Bindung der Einzelnen untereinander
festzustellen, und der seinen Ausgang nimmt von dein Versuche, einen
Unterschied zwischen Verliebtheit und Identifizierung (s. 1 . der Massen¬
einzelnen untereinander) zu finden. Freud sieht diesen Unterschied zu¬
nächst darin, daß bei der Verliebtheit das Ich „verarmt bei der Identi¬
fizierung aber sich durch die Introjektion des Objektes bereichert. Er ver¬
wirft diese Unterscheidung mit dem Gedanken, Verarmung und Bereiche¬
rung können nicht ökonomisch aufgefaßl werden, man könne auch die
Verliebtheit als eine Bereicherung, eine Introjektion auifassen. Die weitere
Überlegung, der Unterschied könne darin liegen, daß bei der Verliebtheit
das Objekt beibehalten, bei der Identifizierung aber aufgegeben werde,
verwirft er durch den Hinweis, daß es auch Identifizierung hei nicht aufge
gebenem Objekt gäbe. Er findet dann die Unterscheidung in der Formel:
Bei der Identifizierung (d. h. der Masseneinzelnen miteinander) wird das
Objekt an die Stelle des lchs, bei der Verliebtheit an die Stelle des Ich-
Ideals gesetzt.
Wir haben an diese Stelle in Freuds Massenpsychologie und Ich-Analyse
erinnert, um an den ersten Gedanken dieser Überlegung anzuknüpfen.
Freud verwirft hier die ökonomische Auffassung der „Verarmung bei
der Verliebtheit augenscheinlich und mit Beeilt deswegen, weil sowohl
eine Verminderung des vorhandenen Quantums narzißtischer Libido wie
ein wirkliches „Überfließen“ narzißtischer Libido aufs Objekt schwer vor-
1) Freud, Massenpsychologie und Ich-Analyse, Kap, VIII: „Wir erkennen, daß
... in der Verliebtheit ein größeres Maß narzißtischer Libido auf das Objekt
iiberfließt“.
Beiträge zur Metapsychologie
9
stellbar sind. Mit der Verwerfung dieser Auffassung der Verliebtheits-
„ Verarmung“ als einer ökonomischen ist aber die Frage gestellt: Wenn
die verworfene es nicht vermag, welche Auffassung ist es dann, die den
ökonomischen Gesichtspunkt in der Darstellung der Verliebtheit befriedigt.
Denn der ökonomische Gesichtspunkt muß ja hier wie überall an greifen
können. Und er wird in der Tat auch in unserem Kalle fruchtbar, wenn
wir annehmen, daß im Zustande der Verliebtheit zwar nicht das Quantum
überhaupt vorhandener narzißtischer Libido verringert wird, aber wohl
das Quantum der frei beweglichen und zur Verfügung des Ichs stehenden
narzißtischen Libido. Es entspricht ganz dem empirischen Bilde, das die
Verliebtheit darbietet, wenn man sich diesen Zustand so vorstellt, daß
einer großen Reihe von psychischen Vorgängen und Teilen aller Systeme
bis dahin frei verfügbare narzißtische Libido entzogen und an alle jene
Vorgänge und Systemteile gebunden wird, die durch die Richtung auf
das geliebte Objekt fixiert worden sind. Es müssen das Vorgänge in allen
Systemen sein. Zunächst ist es das Wahrnehmungs- (W~) System, durch
das der Liebende in Konnex mit dem Objekt steht. Der Verliebte sieht
und hört nichts als das geliebte Objekt. Den andern möglichen Wahr¬
nehmungen wird mehr oder weniger Besetzung zugunsten derjenigen ent¬
zogen, die durch die Richtung auf den Geliebten bestimmt sind. Die
Vorstellungen vom Objekt, die wir in das Erinnerungs- (Er-) System (in
das Vbw und das nichtverdrängle Ubw) verlegen, lassen andere Vorstellungen
„verblassen“, entziehen ihnen die Besetzung. Die Wünsche und motorischen
Impulse, durch Wahrnehmung und Vorstellung des Objektes ausgelöst (im
Vbw, Ubw , im Es), ziehen gleichfalls ständig Besetzung narzißtischer
Libido an sich. So werden alle Systeme von freier, bisher der Verfügung
des Ichs zugänglicher narzißtischer Libido zugunsten aller jener in Ab¬
hängigkeit von der Einwirkung des geliebten Objektes befindlicher Vor¬
gänge und Systemteile mehr oder weniger entblößt. Wir erinnern uns
nun weiter, daß im Zustand der Verliebtheit auch ein Identifizierungs¬
prozeß eine Rolle spielt, in dem der Verliebte sich in seinem Über-Ich mit
dem Geliebten identifiziert. Diesen Vorgang können wir in unsere Ökono¬
mische Betrachtung zwanglos einfügen. Durch die Identifizierung mit dem
Geliebten wird, indem der Verliebte sich das geliebte Objekt, besser:
dessen Charakterzüge, Reaktionsweisen, seine Gesten, Ansichten, Wertungen
introjiziert, im Verliebten eine Uber-Ich-Veränderung erzeugt. Dieses Gebilde
entzieht mehr oder weniger dem bis dahin funktionierenden individuellen
Über-Ich des Liebenden narzißtische Libido und zieht sie auf sich. Diese
Carl Müller-Braunschweig
10
ökonomische Betrachtung erleichtert das Verständnis des Verarm ungsgefuh s,
der Demut des Verliebten und für den extremen Fall, wo die Uber-Ich-
Veränderung zu einer vollen Über-Ich-Ersetzun g geworden ist, das Ver¬
ständnis der von Freud beschriebenen Fälle von Hörigkeit und Aufgabe
des eigenen Gewissens, in denen der Verliebte zum Verbrecher werden kann.
Wir haben vorhin von einer Introjektion von Charakterzügen gesprochen
und haben sie im Über-Ich des Verliebten statt linden lassen. Wir müssen
uns deswegen, ehe wir weitergehen, gegen den Einwand rechtfertigen, daß
Charakterzüge doch eher auf einer Veränderung des Ichs beruhen. Aber m
unserem Falle der für die Verliebtheit bezeichnenden E)ber-Icli-\ eränderung
handelt es sich noch nicht um so lang einwirkende Identifizierungen, als daß
sie zu dauernden Ich Veränderungen in der Art von Charakterzügen führen
könnten. Nichtsdestoweniger aber werden Charakterzüge des Geliebten ins
Über-Ich des Verliebten introjiziert, wirken dort allerdings nicht im Sinne
eigentlicher, also dauernder und resistenter Charakterzüge (das könnten sie
nur bei Einverleibung ins Ich tun), aber wohl in dem Sinne dirigierender
Anforderungen und Wertungen, wie sie das Wesen des Über-Ich b bezeichnen,
in Zuständen von Verliebtheit unter anderem mehr weniger vorübergehend
verändert werden und dem eigentlichen Ich oft nur flüchtig aufgesetzt
sein können.
5) Betrachten wir unter demselben Gesichtspunkte die mit der Verliebtheit
verwandten Erscheinungen der Bindung an den Hihi er, dt 1 Iljpnose,
Schlafes, so werden wir erwarten dürfen, daß die Metapsychologie dieser
Erscheinungen in ähnlicher Weise aufgehellt wird. In allen den genannten
Erscheinungen handelt es sich um strukturelle und ökonomische Änderungen
der Libidobesetzung. Von gewissen Vorgängen und Systemteilen wird Libido
abgezogen, um anderen zugeführt zu werden. Was wir für die Verliebtheit
beschrieben haben, gilt mit einigen Abänderungen auch lur die Bindung
an den Führer und für die Hypnose. Der Unterschied liegt in Umfang
und Art der vom Objekt abhängigen Elemente. Während bei einer rege -
rechten Verliebtheit z. B. jede Äußerung des geliebten Objektes, jedes
Wort, jede Miene, Geste, jeder Zug seines Wesens die Aufmerksamkeit
des Liebenden auf sich ziehen kann, und zugunsten dieser V\ ainnchimingen
alle anderen verstummen können, liegt die Wirkung eiius 1 ührers in ei
Vorherrschaft eines umschriebenen Momentes, nämlich irgendeiner poli
tischen oder wissenschaftlichen Theorie, einer künstlerischen oder ethischen
Idee. Während der Liebende den Geliebten im extremen Falle „mit allem,
was er ist, und jedem Kleinsten seines Wesens“ im Herzen trügt, identi-
Beiträge zur Metapsychologie
11
fiziert sich der Masseneinzelne mit dem Führer nur wegen seiner Idee und
kann ihn dabei durchaus in Anderem ablehnen. Wir wissen, daß es freilich
in Wirklichkeit jedes Mischungsverhältnis zwischen Verliebtheit und Bindung
an den Führer gibt, die reine Darstellung dieser Typen nichtsdestoweniger
richtig ist.
Obgleich nun sozusagen dasjenige, was bei der Bindung an den Führer
introjiziert ist, gemessen an dem Introjektionsgebilde der Verliebtheit, weniger
mannigfaltig, weniger auf Umfassung des ganzen Objektes gerichtet, sondern
umrissen ist, braucht es darum das Individuum in nicht geringerem Maße
zu beherrschen, sein eigenes privates Ich-Ideal nicht weniger einzuschränken
oder beiseite zu rücken, ihn nicht weniger kritiklos zu machen und es zu
lähmen, als das bei der Verliebtheit der Fall ist. 1
Der Unterschied beider Zustände mit dem der Hypnose ist zunächst auch
in Art und Umfang und dann in der zeitlichen Dauer des Introjektions-
gebildes zu sehen* Bei der Bindung an den Führer und bei der Verliebtheit
handelt es sich mehr weniger um zeitlich ausgedehnte, sich akkumulierende
und ausbauende Zustände, während sich der hypnotische Zustand, sensu
strictiori } in einem zeitlich beschränkten Akte erschöpft, der den Charakter
einer akuten experimentellen Halluzmose trägt. Im einzelnen hypnotischen
Akt identifiziert sich der Hypnotisierte nicht wie der Verliebte mit einem
möglichst großen Komplex von Elementen des Objektes, auch nicht wie
bei der Bindung an den Führer mit einem um rissen en, ausgebauten und
dauernd wirksamen Geistesprodukt, sondern der Hypnotisierte identifiziert
sich mit einzelnen akuten Worten des Hypnotiseurs, die die Bedeutung
von Geboten haben. 2
Ökonomisch gesehen, handelt es sich also bei allen drei Zuständen einmal
um Veränderung der frei bevceglichen narzißtischen Libido und Bindung
der entzogenen Mengen an die in Abhängigkeit vom Objekt befindlichen
Vorgänge und Systemteile und ein andermal um Entziehung von Besetzung
des eigenen privaten IchTdeals zugunsten der durch Introjektion von Objekt-
1) Auf die, an sich auch in eine Ökonomische Betrachtung einberiehbare Bedeutung
der onto- wie phylogenetischen Vater- (Eltern-) Imago für die Erscheinung von Bindung
an den Führer, Hypnose u, a. gehe ich hier absichtlich nicht ein und werde sie auch
später nur streifen.
2) Fälle, in denen ein Individuum sich in einer dauernden „hypnotischen Ab¬
hängigkeit“ von einem Objekt befindet, eignen sich nicht zum Studium des hypnotischen
Zustandes, weil sie ihn nicht rein darstellen, sondern Mischfälle sind von verliebter
Hörigkeit und hypnotischer Beeinflussung, Zum Studium eignet sich nur der isolierte
hypnotische Akt.
Carl Müller-Braunschweig
1 2
elementen entstandenen Ich- Ideal-Veränderung. Allgemein betrachtet, ist es
bei allen drei Zuständen derselbe Ökonomische Vorgang. Der Unterschied
liegt in der Besonderheit der Vorgänge und Systemteile, die in Abhängig¬
keit vom Objekt geraten und der Besonderheit der Ich-Tdeal- Veränderung.
Während bei der Verliebtheit das JF-System an freier Energie verarmt
zugunsten aller nur möglichen durch das geliebte Objekt bestimmten
Wahrnehmungen, verarmt es bei der Bindung an den Führer zu Dunsten
der umrissenen Wahrnehmung einer, wie immer, vorgetragenen Idee und
schweigt es in der Hypnose zugunsten des einzelnen vom Hypnotiseur
gesprochenen Wortes oder Satzes völlig. Es ist nicht der Hypnotiseur, der
etwa wie ein Geliebter mit Haut und Haar introjiziert wird, sondern es
ist das isolierte Wort, mit dem sich der Hypnotisierte identifiziert, das er
in sein Über-Ich introjiziert, dem er dort allein Besetzung zukommen läßt.
Beim Verliebten ist das Wahrnehmungssystem stark auf den Geliebten
konzentriert, er „hat nur Auge und Ohr für den Geliebten , für die übrige
Wahrnehmungswelt ist das Interesse mindestens stark herabgesetzt. Es kann
freilich für bestimmte Gebiete und Aufgaben, gerade im Gegensatz zum
Gesagten, stärker als je belebt werden, dann geschieht das aber, um dem
Geliebten durch besondere Leistungen zu gefallen {führt also auf diese W eise
wiederum zur Beziehung zum Geliebten zurück) und geschieht is zweitens
aus der Wiederauffüllung des Quantums frei verfügbarer Libido durch das
Wiedergelieb tw erden.
Bei der Hypnose ist die Absperrung von der gesamten übrigen Wahr¬
nehmungswelt gründlicher als bei der Verliebtheit, diese Absperrung unter¬
scheidet sich anderseits von der des Schlafes darin, daß sie in einer einzigen
Beziehung, eben in dem Rapport mit dem Hypnotiseur, durchbrochen ist.
ökonomisch gesagt, werden in der Verliebtheit alle übrigen Objekt¬
besetzungen, soweit sie Bedingung der Wahrnehmung sind, zugunsten der
auf das geliebte Objekt gerichteten herabgesetzt, werden in der Hypnose
alle solche Objektbesetzungen zugunsten der auf den Hypnotiseur gerichteten,
richtiger zugunsten derjenigen, die die Wahrnehmung seiner Worte ermög¬
lichen, 1 nicht bloß herabgesetzt, sondern völlig eingezogen, und werden im
Schlafe alle Besetzungen, die die Wahrnehmung der Außenwelt möglich
machen würden, eingezogen. Wohlgemerkt, ich habe hier nur \ on dt n
Besetzungen gesprochen, die das Ich ausschickt, wenn es Wahrnehmungen,
i) Vom Verliebten sagt man: „Er ist nur An ge und Ohr für den Geliebten“, vom
Hypnotisierten kann inan sagen: lr Er ist nur Ohr,
Beiträge zur Metapsychologie 15
und zwar solche der Außenwelt, haben will, ödei die es anderseits ein
zieht, wenn es keine Wahrnehmungen haben wilL Ich habe nur vom
W -System und dem Verhältnis des Ichs zu ihm gesprochen. Die Energie¬
verschiebungen bei Vorstellungen und Sexualregungen, im Er-System,
im verdrängten und nichtv er drängten Unbewußten, im Es müssen einer
besonderen Untersuchung Vorbehalten bleiben.
4) Der Unterschied zwischen dem hypnotischen und dem normalen Schlaf
läßt sich strukturell weiter verfolgen, wenn man fragt, welches bei diesen
beiden Zuständen der agent provocateur ist, auf dessen Geheiß hin sie ent
stehen. Bei der Hypnose ist es zunächst ein Objekt der Außenwelt, besser:
ein von außen kommendes Wort, beim Schlaf der dem Ich, dessen he
wußten und unbewußten Teil (dem Es) angehörende Schlafwunsch, Man
darf auch sagen, den Anstoß zur Hervorrufung der beiden Zustände gibt
in dem einen Falle die durch die Identifizierung mit dem Wort des
Hypnotiseurs gegebene ÜberTch-Veränderung, in dem andern Falle die durch
die Identifizierung mit dem Schlafwunsch des Es gegebene Ichveiänderung.
In einem Falle unterwerfen sich Ich und Es dem (durch Identifizierung
veränderten) ÜberTch, im andern unterwerfen sich Ich und Über-Ich dem
(ebenfalls durch Identifizierung) veränderten Es. Der Schlafwunsch hat eine
physiologische Basis, die periodischen Hrmüdungs- und Regenerationstendenzen
des Organismus. Es paßt ganz zu dem Charakter des Ichs als der aus¬
gleichenden und erhaltenden Instanz, daß es sich dieser Tendenzen an nimmt
und in seinem unbewußten Teil den Schlafwunsch als die psychische Re
präsentanz dieser Tendenzen produziert. Der Unterschied zwischen Schlaf
und Hypnose wäre danach auch so zu bezeichnen, daß beim Schlaf das Ich
sich mit einer seinen eigenen Interessen gemäßen Tendenz identiiiziert und
zu deren Belrnfe die Einziehung der den Rapport mit der Außenwelt
tragenden Besetzungen veranlaßt, während es sich bei der Hypnose einer
Instanz unterordnet, mit der es in einer phylogenetisch und ontogenetisch
weit zurückreichenden und bedeutsamen Spannung lebt, dem Hypnotiseur
(hinter dem der unbewußten Bedeutung nach in letzter Linie der Horden-
vater steht) oder dem ÜberTch, besser: dem Worte (Gebote) des Hypnotiseurs
oder des ÜberTchs (der ÜberTch-Veränderung),
Die Tatsache, daß es eine Autohypnose gibt, weist uns darauf hin, daß
an die Stelle des realen Objektes der Außenwelt und der realen Wahr-
j) Bi s au f die durch die „Metapsychologische Ergänzung zur Traumlejire“ be¬
kannten, durch die Widerstände dem Verkehr entzogenen Kegungen im verdrängten
Ubw des Es und Über-Ich, (Gesammelte Schriften, Bd. V.)
Carl Müller-Braunschweig
nehmung seines Wortes das eigene Über-Ich und sein Befehl treten kann.
Auch in diesem Falle ist es nicht das Über-Ich schlechthin, von dem der
Befehl ausgeht, sondern eine Über-Ich-Veränderung, die durch die Identi¬
fizierung, dieses Mal nicht mit dem realen Gebote eines Objektes der Außen¬
welt, sondern mit einem bloß vorgestellten Gebote vor sieb geht.
Hinter diesem, bloß vorstellungsmäßigen Gebote, kann ontogenetisch und
phylogenetisch nur die Imago eines väterlichen (oder elterlichen) Wortes
stehen. Die Autohypnose stellte uns also vor die Annahme eines \ organges,
den wir als eine im Über-Ich angreifende, eine Über-Ich-Veränderung erzeugende
Identifizierung mit einer Imago (einer Wort-Imago) beschreiben müßten.
Wir hatten in diesem Vorgang wohl auch das für die W irkung ent¬
scheidende Moment der Fremdhypnose zu sehen, bei der die reale Person
des Hypnotiseurs nur die Bolle eines nicht unwillkommenen, aber nicht
unentbehrlichen Statisten spielt.
Ein Wort sei hier noch eingefügt über die eigentümliche Resistenz, die
der Hypnotisierte zumeist unmoralischen oder verbrecherischen Suggestionen
des Hypnotiseurs entgegensetzt, Sie ist vielleicht ähnlich zu verstehen, wie
die Resistenz der verdrängten Regungen gegenüber dem normalen Schlaf-
wünsch. Es könnte so sein, daß die Libidoverschiebung, die infolge der
Introjektion der Worte des Hypnotiseurs das bisherige Über-Ich des Hypno
tisierten zugunsten dieser Worte an Besetzung verarmen läßt, vor den
Forderungen des Gewissens haltmachen muß, soweit dies«' zufolge ihres
Ursprungs aus dem Ödipuskonflikt mit dem Verdrängten Zusammenhängen.
Soweit das Über-Ich als eine Reaktionsbildung gegen die zu verdrängenden
inzestuösen Regungen (d. i. das Prototyp der verbrecherischen Regung)
anzusehen ist, hängt es sicher eng mit dem verdrängten übw zusammen
und mag sich, soweit dies der Fall ist, gegenüber der ßesetZungsentziehung
resistent verhalten, während es sich in anderen Elementen, die von jenen
Zusammenhängen frei oder freier sind, zugunsten der hypnotischen Sug¬
gestion Energie mag entziehen lassen.
5) Wir haben uns bisher der Aufgabe entzogen, über die Bedeutung zu
sprechen, die in unseren Erscheinungen die direkten Sexuahegungi 11 be
sitzen. Freud hat in „Massenpsychologie und lch-Analyse darauf hin¬
gewiesen, daß sich die Bindung an den Führer und die Hypnose durch
den Wegfall dieser Strebungen auszeichnen, während die Verliebtheit sie
in geringerem oder größerem Ausmaße einschließen kann. Wollten wir
diese Tatsachen in unsere ökonomische Betrachtung einbeziehen, so könnten
wir die Vermutung haben, daß in dem gleichen Sinne, wie durch die
Beiträge zur Metapsychologie
*5
Bindung bisher freier narzißtischer Libido an bestimmte Vorgänge und
Systemteile anderen Vorgängen und Systemteilen narzißtische Libido entzogen
wird, der Wegfall direkter Sexualstrebungen dadurch entstanden sein könnte,
daß diesen Strebungen Energie entzogen wird, die sie benötigen, um aktiv
zu sein. Wenn wir, was schwierig vorzustellen wäre, nicht annehmen wollen,
daß es sich bei einem solchen passageren Wegfall um eine wirkliche De-
sexualisierung, also um eine Umwandlung sexueller in nichtsexuelle Energie
handelt, so können wir uns doch denken, daß die Energieentziehung, welche
die Sexualstrebungen inaktiv macht, auch hier nichts anderes als eine Ent¬
ziehung narzißtischer Libido ist. Das würde voraussetzen, daß eine Sexual¬
regung, um aktiv zu werden (und nicht nur in dem Sinne, daß sie als
Sexualbedürfnis bewußt wird, sondern vermutlich weitergehend auch in
dem Sinne, daß sie überhaupt zum motorischen Antrieb fähig wird), durch¬
gängig einer Besetzung mit narzißtischer Libido bedarf. Das würde nicht
im Widerspruch damit stehen, daß so und so oft (Freud, das Ich und das
Es) das Ich nichts besseres tun kann, als schleunigst einer Sexualregung
nachzugeben, denn eine solche Besetzung mit narzißtischer Libido ist sicher
nicht in allen Fällen in das Belieben des Tchs gestellt, sondern kann ihm
so und so oft abgezwungen werden.
Wir hatten uns also vorzustellen, daß die narzißtische Libido im Verhältnis
zur sexuellen die Rolle eines unumgänglichen 1 ransporteurs zu spielen hätte,
daß es anderseits dem Ich gelingen kann, der sexuellen Regung die narzißti¬
sche Libidobesetzung zu entziehen und dadurch eine direkte Regung ebenso
zum Schweigen zu bringen als irgendeinen anderen Vorgang, sei es ein
Affekt oder eine Vorstellung oder ein beliebiger motorischer Antrieb.
So würde sich das Schweigen der direkten Sexualregungen bei der Hypnose
der sonstigen motorischen Lähmung anschließen. Die Entziehung von Be¬
setzung, die diese Festlegung hervorbrächte, w r äre aber nur ein Teil des
ökonomischen Vorganges, der überhaupt allen möglichen Vorgängen und
Systemteilen die Besetzung entzieht, um sie anderswo zu konzentrieren.
Dieser Wegfall der direkten Sexual Strebungen ist gerade auch in vielen
Fallen von Verliebtheit in gleichem Maße vorhanden wie bei der Bindung
an den Führer und bei der Hypnose, eine Tatsache, die die Verliebtheit
den anderen Zuständen noch verwandter erscheinen läßt, aber durch die
Beziehung auf unsere ökonomische Betrachtung eine Merkwürdigkeit ver¬
lieren läßt, die sie auf den ersten Blick zu haben scheint. Denn man sollte
zunächst meinen, daß die Verliebtheit ohne irgendeine wesentliche Wirk¬
samkeit direkter Sexualstrebungen schwer vorstellbar wäre. Halt man sich
1 6
Carl M üller-Braunsch weiß
aber vor, daß Verliebtheit auf zweierlei Weise ausgelöst werden kann, nämlich
einmal dadurch, daß primär eine direkte Sexualstrebung vorhanden ist, die
sich sekundär auch zu narzißtischer (zärtlicher) Besetzung aushaut, ein andermal
dadurch, daß zunächst ein narzißtisches (zärtliches) Interesse vorwaltet, das
sekundär die direkte Sexualstrebung auslösl, so kann man sich durch den
ökonomischen Vorgang der Entziehung narzißtischer Libido vorstellen, daß
sie im letzteren Falle die Sexualregung überhaupt erst gar nicht aufkommen
lassen, im ersteren nachträglich zum Schweigen bringen kann.
In die Fälle der Ausschaltung direkter Sexualstrebungen durch Entziehung
narzißtischer Besetzung ist auch der Schlaf einzuordnen. Doch liegen hier
die Verhältnisse besonders. Die unzweideutigen Äußerungen direkter sexueller
Strebung und Abfuhr im Schlaf (Pollutionen u. dgl.) geschehen trotz der
vom Schlafwunsch des Es und Ich ausgehenden Besetzungsentziehung. Sie
werden ermöglicht dadurch, daß sie an den dem Ich nicht erreichbaren
verdrängten Strebungen haften, denen also auch das zu ihnen gehörende,
in die Verdrängung mitgerissene Quantum transportierender narzißtischer
Libido nicht entzogen werden kann, die aber anderseits durch die Herab¬
setzung der Gegenbesetzung mitsamt jener transportierenden Energie i in*
erhöhte Aktivität erworben haben.
III
1 ) Ich möchte mich in einem vorletzten Teile mit einem Sprung zu
der Betrachtung eines metapsychologischen Gesichtspunktes wenden, dem
ich das Recht auf eine selbständige Geltung neben dem topischen, dyna¬
mischen und ökonomischen zuspreche, so sehr er dein topischen ungeglie¬
dert werden mag. Der Gesichtspunkt ist von jeher und implicite ange¬
wandt worden; man kann ihn nicht erfinden, man braucht ilm nur heraus¬
zuheben und zu beschreiben. Tch meine den Gesichtspunkt der Richtung.
Sprachlich ist er in vielen psychoanalytischen lerminis enthalten, in den
Wendungen „aufs Objekt gerichtet“, oder „aufs eigene Ich gerichtet , in
den Worten: Introversion, lntrojektion, Projektion, Verschiebung oder auch
Inversion und in anderen. Seine Unterscheidung vom 1 hi n laßt sh h
vielleicht am ehesten durch einen Hinweis darauf zeigen, daß wir den
Begriff der narzißtischen Libido in zweierlei Bedeutung zu gebrauchen
pflegen, einmal im Sinne einer „im Ich wirksamen“, dann im Sinne einer
„aufs Ich gerichteten Libido“. Im ersten Falle meinen wir, daß die nar¬
zißtische Libido, topisch, diejenige sei, welche im Ich (dem Gesamt-Ich),
und zwar in allen Systemen desselben, im Über-Ich, Ich und Es, wirkt.
Beiträge zur Metapsychoiogie
l 7
im zweiten Falle, daß sie durch eine Richtung charakterisiert sei, die
Richtung auf die Instanz des Ich. Der Begriff der Richtung schließt die
Vorstellung ein, daß Libido, oder überhaupt psychische Energie von einem
Ausgangspunkte, einem Subjektgcbilde, ausgehe und zu einem Endpunkte,
einem Objektgebilde, hinstrebe. Illustrieren wir das an der Betrachtung
des Satzes: Ich liebe mich. Hier richtet sich die Libido entweder vom
Es auf das Ich 1 oder vom Ich auf das Über-Ich (im Sinne des Ideal-
Ichs) das Ich liebt sein Ideal, das Bild seiner, wie es sein möchte —
oder drittens vom Über-Ich auf das Ich, Das letztere ist der Fall, wo
(als erotisches Gegenstück des destruktiven Wütens der Melancholie) das
UberTch, die kritische Instanz, sich wohlwollend und freundlich gegen
das Ich verhält. Wie gesagt, gilt der Begriff der Richtung nicht nur von
den lihidinösen, sondern von allen psychischen Energien, also auch den
destruktiven. Wichtig und ausschlaggebend ist der Begriff der Richtung
bei der Unterscheidung von Gebilden wie den Introversionsprodukten (den
Imagines) einerseits und den Introjektions-(Identifizierungs-)Produkten ander¬
seits. Die Imagines sind Objektgebilde, zu ihnen strebt die Libido hin, die
Identifizierungsprüdukte sind Subjektgebilde, von ihnen geht sie aus. s
Die Betrachtung von Verdrängung und Widerstand unter dem Gesichts¬
punkt der Richtung würde ergeben, daß die Energien der verdrängten
Tendenz zum verarbeitenden Ich hinstreben, die Energien des Widerstandes
von eben diesem Ich ausgehen. Durch die letzteren werden Energiequanten
der erst er eil durch Bindung entzogen. Die Betrachtung der ^Verdrängungs“-
prozesse in Traum, Psychose und gewissen Fehl Wahrnehmungen und Wahr-
nehmungsausfällen des Alltags unter Zuhilfenahme des Gesichtspunktes der
Richtung wollen wir uns für eine spätere Untersuchung aufsparen.
2) Wenden wir uns zum Schluß noch einmal den Identifizierungsvorgängen
und zwar deren Umfang zu. Es werden nicht nur Objekte oder Teile von
Objekten introjiziert, sondern ganze Vorgänge (Beziehungen zwischen Ich
und Außenwelt und zwischen Objekten der Außenwelt), sozusagen ganze
ij Freud, Das Ich und das Es. Kap. III: „Wenn das Ich die Züge des Objekts
annimmt, drängt es sich sozusagen selbst dem Es als Liebesobjekt auf (Ges.
Schriften, Bd> VT, S. 574.)
2) Vgl Freud, Massenpsychologie und Ich-Analyse, Kap. VII, wo allerdings nicht
von der Richtung der Libido auf eine Imago, sondern auf ein wirkliches Objekt die
Rede ist: „Es ist leicht, den Unterschied einer solchen Vater-Identifizierung von einer
Vater-Objekt wähl in einer Formel auszusprechen. Im ersten Fall ist der Vater das, was
man sein, im zweiten das, was man haben möchte. Es ist also der Unterschied, ob
die Bindung am Subjekt oder am Objekt des Ichs angreift.“ (Ges. Schriften, Bd.Vf, S.504.'
Imago XII.
2
Carl Müller-Braunschweig
1 8
Dramen Das wichtigste dieser introjizierten Dramen ist, auf eine kurze
Formel gebracht, der Koitus der Eltern. Diese Introjektion finden wir bei
der Aufgabe, die Ödipus-Konstellation zu überwinden, mit der hbidinoaen
und sonstigen (destruktiven) Objektbeziehung und mehr minder starker,
daraus hervorgegangener Introversion der auf Vater und Mutter gerichteten
Libido verknüpft. Es ist nun von entscheidender Bedeutung, welchen Aus
gang diese Introjektion unter dem Gesichtspunkte der Richtung der Li ho
nimmt. Sehen wir von der weiteren Komplikation ab, die die Betrachtung
der destruktiven Anteile der Energien ergeben würde, so käme (beim
männlichen Kind) für einen normalen Ausgang alles darauf an, daß die¬
jenigen Libidoquanten, die von dem durch die Identifizierung mit dem
Vater entstandenen Subjektgebilde ausgehen und auf das durch d.eObjekt-
beziehung zur Mutter und durch Introversion entstandene Objektgt ite
(die Mutter-Imago) gerichtet sind, über diejenigen überwiegen, du umgekehrt
von dem durch die Identifizierung mit der Mutter entstandenen Subjekt¬
gebilde ausgehen und auf das Objektgebilde der Vater-Imago gerichtet sin .
IV
Im folgenden wollen wir an Stelle von Noten, die den Text zu sehr
überlasten und vielleicht unübersichtlich machen wurden, einige r g an
zungen an das Gesagte anschließen: ,
x) Das Wiedergeliebtwerden: Im Anschluß an die Schilderung der
ökonomischen Verhältnisse bei der Verliebtheit kann auch eine Aufklärung
der Erscheinung versucht werden, die im Liebenden statt in et, wenn er
wiedergeliebt wird, und die in einer Aufhebung des Gefühles der Demu ,
einer Wiederkehr des Selbstgefühls, ja, in dem Erwachen eine. iHochgefuh
besteht. Wir haben die für die Verliebtheit beschriebenen Vorgänge um
zukehren, um diese Erscheinung zu verstehen. Während durch das Verhebt-
sein bisher freie narzißtische Libido an alle objektbezogenen Vorgänge und
Systemteile, einschließlich der durch die Identifizierung entstandenen Uber-
Ich-Veränderung gebunden wird. Hießt durch das Wiedergehcbl werden nar
zißtische Libido auf die verlassenen Positionen zurück.
Am deutlichsten wird das zunächst bei der Betrachtung der Libi o
Verschiebungen im Über-Ich. Der Geliebte liebt ja, wenn es sich um eine
volle Gegenliebe handelt, am Liebenden den ganzen Menschen, also auch
^ Freud, Zur Einführung des Narzißinus, Kup. 111. (Ges. Schriften, Kd. VI,
S. 182 f.l
19
Beiträge zur Metapsychologie
dessen charakteristische Wertungen, wie sie neben anderem in dessen Über¬
leb lokalisiert sind. Der Liebende läßt einfach sein Interesse durch das
des Geliebten* der ihn wiederliebt, lenken, wenn er nunmehr beginnt,
auch sein durch die Verliebtheit verlassenes individuelles Über-Ich wieder
zu lieben, libido-ökonomisch ausgedrückt, dem privaten Über-Ich, dem er
zugunsten der durch die Introjektion des Objektes entstandenen Über-Ich-
Veränderung Libido entzogen hatte, diese wieder zuzuführen. Den gleichen
Mechanismus (des Sich-Führen-Lassens durch die Richtung der Libido des
wiederliebenden Geliebten) haben wir anzunehmen, wenn sich der Liebende
den anderen verlassenen Positionen und Interessen wieder zuwendet. Er
wird ja wiedergeliebt nicht nur wegen seines Über-Ichs, sondern wegen
aller seiner Äußerungen und Tendenzen, denen er sich nun wieder zu¬
wenden kann.
Wir haben anzunehmen, daß es so zu einer regen Wechselwirkung
zwischen Über-Ich-Veränderung und dem bisherigen Über-Ich kommt,
ebenso zu einer solchen zwischen allen einerseits objekt-, anderseits subjekt¬
bezogenen Vorgängen, auf welchen Wechselbeziehungen sowohl die belebende
Wirkung einer glücklichen gegenseitigen Liebe beruht, wie durch sie die
häufige Erscheinung der fortschreitenden, auf das Ich übergreifenden Assi¬
milation zu verstehen sein mag, die man bei den Partnern dauernder und
glücklicher Liebes- und Ehebündmsse vorzufinden pflegt.
Man könnte die Frage der Vorgänge beim Wiedergeliebtwerden auch
anders darstellen und damit zugleich ergänzen: Der Verliebte erhöht sein
Liebesobjekt, in der Vorstellung (Freuds ^ Sexual -Überschätzung“), in
gleicher Weise, wie das infantile Ich seinerzeit, sich selber nicht mehr
genügend, sich idealisierte und damit die auch weiterhin wirksame Seite
des Über-Ichs schuf, die Freu d das IdeaFIch genannt hat. Das Liebesobjekt,
indem es wiederliebt, idealisiert damit wiederum den Liebenden. Wenn
sich nun der Liebende mit seinem Liebesobjekt identifiziert, identifiziert
er sich auch mit dessen den Liebenden erhöhenden idealisierenden Ten¬
denzen und gewinnt dadurch eine Wiederbelebung der vordem durch
Libidoentziehung geschwächten, auf sein eigenes IdealTch gerichteten
Energien. Er darf sich, d. h. sein Ideal-Ich, in dem gleichen, ja in er¬
höhtem Maße wiederlieben, als das vor seiner Verliebtheit der Fall war.
Diese Betrachtung zwingt uns, die Auffassung, daß der Verliebte sich nur
in seinem Über-Ich mit dem Liebesobjekt identifiziere, anders gesagt,
das Liebesobjekt nur in sein Über-Ich introjiziere, dahin zu ergänzen, daß
er sich auch partiell in seinem Ich mit dem Liebesobjekt identifiziert.
20
Carl Müller-Braunschweig
Da™ zwingt uns nicht die Tatsache, daß die narzißtische Besetzung durch
die das Liebesobjeitt die Idealisierung seiner Vorstellung vom Lieben tu
vornimm., als nur vom Ich des Liebe.objek.es ausgehend angesehen wer¬
den muß, denn wir sahen vorhin, daß auch den. Ich angcLonge Mom
wie Charakterzüge, durch Introjektion in ein fremdes Über- oh dort als
dirigierende Elemente wicderkohren können, aber wohl der Dmstan ,
der Liebende als Erfolg seiner Identifizierung mit der Idealisierung, le
das Liebesobjekt mit ihm vornimmt, sich selber wieder idealisieren kann
was doch nur als von seinem Ich ausgehend und als auf sein Eber c i
(Ideal-Ich) gerichtet vorgestellt zu werden vermag. Anderseits behalt a er
neben diesem Vorgang eine Introjektion ins Über-Ich ihre Geltung. Denn
die Idealisierung, die Überschätzung, die das Liebesobjekt mit dem Lie¬
benden vornimmt, ist anderseits eine Wertung, geht also wie alle Wertungen
auch vom Über-Ich aus. Soweit das der Fall ist, wird sie auch beim
Liebenden gleichzeitig als Wertung, also in dessen Über-Ich, auftauchen:
Der Liebende wertet sich. Hebt sich, sein Ich, nun auch von seinem Uber-
Ich aus so, wie sein Liebesobjekt ihn wertet.
Die Identifizierung des Verliebten mit dem Liebesobjtkt, soweit iese
wiederliebt, wird also zwei Folgen haben. Soweit diese Identifizierung im
Ich des Verliebten angreift, wird die vom Ich auf das Lber-Ich ge¬
richtete, die Liebe zum eigenen Ich-Ideal ermöglichende Besetzung wieder¬
hergestellt. Soweit sie im Über-Ich angreift, wird die vom Uber-Ic
auf das Ich gerichtete Besetzung, die die positive wohlwollende Kritik
dem eigenen Ich gegenüber ermöglicht, wiederhergestellt.
2 ) Narzißtische Libido und zärtliche (zielgehemmte) Strebungen.
Wir haben in Kap. II, 5 narzißtische und zärtliche Strebungen einander
gleichgesetzt. Darin liegt eine Ungenauigkeit.
Unter zärtlichen oder zielgehemmten Strebungen verstehen wir me
zwei Arten von Strebungen, deren eine in reinster Form sich von den
direkten Sexualstrebungen nur dadurch unterscheidet, daß sie vom genital
Ziel ganz, von den anderen sexuellen Zielen nur mehr oder weniger ab¬
gelenkt ist. Je mehr extragenitale sexuelle Ziele ihr beigese t uti tn, ]
mehr fällt sie mit den Vorluststrebungen zusammen. Wir bezeichnen
z. B. Küsse und Berührungen als „Zärtlichkeiten .
Die reinste Form der zweiten, auch zärtlich genannten Sticbungcn
behrt im Gegensätze zu der ersten ganz der sexuellen Komponente. an
könnte sie „seelische Zärtlichkeit“ nennen. Sie gehl vom Gefühl, von ur
Vorstellung und zum Teil von jener Art der Identifizierung aus, die wir
Beiträge zur Metapsychologie
2 1
Einfühlung nennen. Diese Art der Objektbesetzung ist auch eine narzi߬
tische zu nennen, denn sie ist eine Besetzung des Objektes mit desexuali-
sierter Libido.
Wir haben mit diesen beiden Formen der Zärtlichkeit die Endglieder
einer Reihe beschrieben, in deren Verlaufe wir uns jeden Grad von Mischung
zwischen der Zärtlichkeit aus Besetzung mit desexualisierter (narzißtischer)
Libido und der aus zielgehemmter sexueller Besetzung denken können.
5) Das Verhältnis der narzißtischen zur sexuellen Libido: Daß
die sexuelle Libido ohne die narzißtische nichts vermag (Kap. II, 5), paßt
durchaus zu der uns durch Freud längst vertraut gemachten Vorstellung,
daß die im narzißtischen Reservoir des Es befindlichen Sexualregungen
zunächst objektlos sind. Erst das Ich (und wir müssen ergänzen, vermittels
seiner Verfügung über die narzißtische Libido) und seine durch das /F-System
und die Beziehung zur Motilität gegebene Verbindung mit der Außenwelt,
kann die Sexualregungen mit den Wahrnehmungen und Vorstellungen und
den motorischen Impulsen verknüpfen, die sie befähigen, sich mit einem
realen sexuellen Objekt in Verbindung zu bringen.
Wir fassen also die Bedeutung der transportierenden Funktion der narzißti¬
schen Libido so auf, daß durch Entziehung narzißtischer Libido sexuelle
Regungen 2um Schweigen gebracht, durch Hinzufügung aktiviert werden
können, und daß es außerdem die narzißtische Libido ist, die die \ er
knüpfüng der im Es (entsprechend dem Charakter des Primärsystems) objekt-,
ziel- und wahllos herumirrenden Sexualregungen mit Elementen (Wahr¬
nehmungen, Vorstellungen, Wünschen, motorischen Impulsen) besorgt, die
ihnen erst die reale Beziehung zu einem Objekte der Außenwelt ermöglicht.
4) Absinken und Wiederauf steigen des Narzißmus vor und
nach Befriedigung des Sexualbedürfnisses: In diesem Zusammen¬
hänge wird auch die Erscheinung verständlicher, daß bei Richtung sexueller
Wünsche auf ein Objekt, solange diese Wünsche unbefriedigt bleiben, der
Narzißmus des Begehrenden eine Herabsetzung erfährt, die erst nach der
Befriedigung wieder aufgehoben wird. Diese Erscheinung müssen wir nach
dem bisher Gesagten auf die hei sexueller 0bjektbeset2ung unumgängliche
Mitbeteiligung der narzißtischen Libido zurückführen. Wir müssen uns
vorstellen, daß, wie zuerst die sexuellen Strebungen das Ich zwangen, die
zur Findung des Objektes unentbehrliche transportierende narzißtische Libido
zu mobilisieren, hinterher diese narzißtische Libido ihrerseits, von der
sexuellen Libido mitgerissen und an die nunmehr auf das Objekt bezogenen
Sexualregungen und andere objektbezogenen Vorgänge geheftet, in eben
Carl MüUer-Braunschweig: Beiträge zur Metapsychologie
dem Maße dem Ich, wie wir es beschrieben haben, entzogen wird. Durch
diese Entziehung narzißtischer Libido erklärte sich uns die Herabsetzung
des Selbstgefühls. Umgekehrt, nach Befriedigung des Sexualbedurfnisses,
löst sich nicht nur die sexuelle Libido aus ihrer Bindung an die sie mit
dem Objekt verknüpfenden Elemente, sondern mit ihr gleichzeitig auch die
narzißtische, so daß die verwendbare narzißtische Libido wieder zur allen
Höhe steigt.
Über das Unisono in der Komposition
Beitrag zur Psychoanalyse der Musik
Fortrag in der ^Nederlandscke Fereeniging voor Psjrcho-Analyse“ am 2* Dezember i $22
Von Dr. A. van der Chijs (Amsterdam)
Die verdienstvollen Forschungen von Bardas, Graf, Hitschmann,
Lach, Pfeifer, Rank, Rdvesz, Teller, die sich mehr oder weniger
psychoanalytisch mit Musikproblemen beschäftigen, beschränken sich auf
die Kompositionen selbst, ohne jedenfalls den lebenden Komponisten per*
sÖnlich zu vernehmen. So spricht Pfeifer in seiner gründlichen Abband*
lung über Robert Lachs Studien zur Entwicklungsgeschichte der ornamen¬
talen Melopöie 1 hauptsächlich über die reproduzierende Musik, über den
Ursprung der Töne, des Gesanges usw. Lach betont den Zusammenhang
zwischen Gesang und Libido, beweist auf Grund von Darwins Theorie, daß
Gesang und Sexualleben der Völker miteinander in engstem Zusammen¬
hang stehen, sowie daß die Gipfelpunkte des Gesanges und des Sexual¬
lebens der Vögel meist im Frühjahr zusammenfallen, Y\ eiter betont er die
Sublimierungstendenz der Musik und ihre Bedeutung als Kraft Affekt
Entladung. Die Ursache dieser phänomenalen Modifikation des Sexualtriebes
liegt in der Verdrängung. Max Graf behandelt in seinem ausgezeichneten
Buche „Die innere Werkstatt des Musikers' 1 auch die Kompositionen. Er
weist unter anderem auf das Suchen nach Ausdruck für alle Affekte in der
Musik hin. Er zergliedert manche Schöpfung großer Meister in bezug auf
Aufbau, Melodie, Rhythmik usw. Graf findet keine direkte Umformung
von krankhaften Neigungen in Töne. Er treibt aber keine pathologische
Anatomie der Musik, und das ist gerade das, was ich anstreben wollte.
Einen der besten Anhaltspunkte für die Musikanalyse findet man in der
symphonischen Dichtung oder in der sogenannten Programmusik.
Man kommt aber ohne unmittelbare Analyse des Komponisten meistens
1) Imago, Bd. VII, S. 505 ff.
24
Dr. A. van der Chijs
nicht weiter als zur Erkennung von mehr allgemeinen Begriffen, oder
es gibt der Tondichter selbst sein „Programm“, das man mehr oder weniger
deutlich in der Musik manifest wiederfindet. Die Verdrängung aber wird
auf diese Weise gewöhnlich nicht gelöst werden.
Und dennoch muß es möglich sein, in der Musik wie im Traum den
latenten seelischen Gehalt, die Konflikte der Seele aufzufinden und sie
zu lösen. *
Ein Komponist brachte mir ein Lied mit Klavierbegleitung. Wir
unternahmen versuchsweise die Analyse.
Beim ersten Anblick bot es nichts besonderes. Ilei näherem Eingehen
aber fiel mir eine Passage auf, welche durch ein an dieser Stelle nicht
schön klingendes Unisono auffällig war, Im Text war von der unglück¬
lichen, todbringenden Liebe zwischen einem jungen Mädchen und einem
Jüngling die Rede.
Die Einfälle des Komponisten ergaben, daß hei ihm, nachdem ihm ein
Freund von seiner unglücklichen Liebe für ein Mädchen erzählt hatte,
die Anregung zu dieser Komposition entstanden war. Nennen wir diesen
Freund X. Erfühlt sich mit X. ganz einig und verwandt. Die Singstimme
im Lied ist die Stimme des von seiner Liebe lür das Mädchen erzählenden
Freundes, er die Begleitung. So ist auch in Wirklichkeit das Verhältnis
zwischen beiden. Das oben genannte Unisono ist liier nicht nur ein ln
Oktaven-Zusammengehen. Es ist so beschallen, daß gerade di< Singstimme
genau dieselben Noten wie die Begleitung bringt. Diese immerhin
auffällige Art des Unisonos darf wohl Anlaß sein, hier eine tielere Be¬
deutung zu suchen, um so mehr, als der Komponist dieses Unisono gar
nicht bewußt niedergeschrieben hat. Der Patient teilt mit, daß ihn schon
früher einmal ein Musiker auf solch ein Unisono in einer Komposition
aufmerksam gemacht hat. Er erkennt es selbst als etwas Infantiles an, „so
wie ein Kind mit zwei Händen eine Melodie unisono spielt“. Es weist bei
ihm auf ein gewisses Zurückbleiben in der Entwicklung hin.
Deutlicher wird dies, wenn wir erfahren, daß er zu X. in einer unzweifel
haft homosexuellen Bindung steht. Seine Entwicklung ist noch nicht
genügend von der homosexuellen Einstellung befreit. Er ist mit X. ganz
und gar „unisono“; die unglückliche Liebe von X. zum Mädchen muß
sterben. Er und X. müssen ganz vereint weiter Zusammengehen. Sie
singen beide nur eine Melodie und mit derselben Stimme.
Über das Unisono in der Komposition
25
Es ergibt sich jetzt die Frage: „Ist dieses Unisono etwa pathogno-
monisch für den Ausdruck der Homosexualität in der Musik?“
Ich maße mir nicht an, zu antworten und berichte lieber über einen
zweiten Komponisten, der kurz nachher in meine Behandlung kam. Genau
vor dem Ausbruch seiner Neurose hatte er ein Klavierstück komponiert.
Ich forderte ihn auf, bei den verschiedenen Motiven seine Einfälle mit¬
zuteilen und ich will diese hier im besonderen soweit berücksichtigen, als
sie mit Unisonostellen in Beziehung stehen. (Der Patient selbst wußte
übrigens nicht, daß ich diesen Stellen besondere Aufmerksamkeit entgegen¬
brachte.)
Das Hauptmotiv I, Andante, drückt ruhige Zufriedenheit aus. Er
hat zwar die Freundschaft von zwei Freunden verloren, aber anderseits
einen neuen Freund gefunden. Der ruhige Charakter erinnert ihn an diesen
Freund, Er wollte damit sagen, daß diese Freundschaft für ihn das größte
Glück war.
Die Freude wird jetzt lebhafter, es entsteht Motiv II: Allegretto, wo
die Begleitung der linken Hand etwas trocken, öde gehalten ist, um zu
beweisen, daß eben alles Glück nur vergänglich ist, schließlich doch zur
Melancholie führt.
Es kommt hier nicht zu einem Unisono, nur zu einem Zusammengehen
der beiden Stimmen, besser gesagt: Hände, in Terzen. Warum? Die Ein¬
heitlichkeit der Liebesfreude war eben gerade nicht vollkommen (alles Glück
ist doch vergänglich, wie er zuvor betont hat), kann daher kein unberührtes
Unisono bilden. Er genießt die schönen Augenblicke nicht, verdüstert die¬
selben durch Wehmut und schafft sich selbst Leiden. Die Gedanken an die
öde Vergangenheit bändigen seine Freude. Er hat doch durch den Verlust
der beiden ersten Freunde die Unbeständigkeit der Freundschaft erfahren!
Er verarbeitet Motiv II weiter zu einem Walzerthema* und endet in
Motiv III, das er schon längere Zeit vorher gefunden hatte. Er las damals
in den Äneis von Vergil, wie Dido, von Äneas verlassen, sich ihrer Ver¬
zweiflung überläßt. Patient beschreibt hier diese Verzweiflung, abwechselnd
drohend und flehend, während der Rhythmus, wie er sagt, an das Wogen
des heftig atmenden Frauenbusens erinnert.
Die melancholische Stimmung wird nun vertrieben durch ein naives
Motiv IV, um zu sagen, daß wahrhaftiges Glück nur im kindlich Ein¬
fachen zu finden, während das Ganze mit Motiv [ endet, wobei die linke
Hand fast fortwährend in Oktaven geschrieben ist. Hier haben wir also das
erwartete richtige Unisono, obwohl nur noch allein in der linken Hand.
2 6
Dr. A, van der Chijs
Das Glücksmotiv der Freundschaft hat gesiegt, aber noch nicht auf
Was finden wir nun, wenn wir rekapitulieren? Er leidet an psychi¬
schem Infantilismus, hat außerdem noch die stete Neigung rur Re¬
zession (Vergangenheit) und Melancholie. Er sucht das Gluck, kann
es wo er es gefunden, ohne Mißklang nicht genießen. Er bereitet sich
selbst Weh, ist Sado-Masochist, freut sich kindlich Über das Finden eines
neuen Freundes, nachdem er zwei andere verloren hat, wöbe, er sich so
fühlt wie die verlassene Dido, also als Weib. Das richtige Unisono finden
wir in der Durcharbeitung des Freundesmotivs am Schluß angedeutet,
nicht lege artis angewandt.
Würde das vielleicht einen prophezeienden, prospektiven Wert haben,
wie das Unbeschlossene in der Komposition erwarten läßt? Wir werden
es später erfahren. *
Seine zweite Komposition ist ebenfalls für Klavier. Sie ist nur ku**
und könnte wohl „Melancholie“ benannt werden. Patient sagt anfänglich,
daß das Ganze die Umgestaltung seines traurigen Zustandes malt, o ine
daß er dabei an etwas Bestimmtes denkt. Wir finden im Mittelsatz ein
Hauptmotiv, das für beide Hände eine getragene Melodie unisono
Er hat hiebei die folgenden fWiationent „Ich kompomerte ... cvahreml
ich .ehr krank war. Ich hatte viel über Mythologie gele.en und bc.onder.
hatten die keltischen und br.hmani.che„ Sagen auf mich Et..druck gemacht.
Sie enthalten «ine starke Symbolik, und es war mir immer ... Genuß,
die Motive nach ihrem Ursprung xu verlegen. Sie zeigten nur immer das
Nutzlose des Seins, Auf die alten kelti.chen Mythen führe teil auch
Personifikation der Naturkräfte zurück.“ Weiter denkt er an I mh.r
Versammlungen in einem heiligen Walde, an Kontgtn Maäb, dt. Kneg
führen wollte, den Prototypus des Mannweibes, an Heldenve.ehrung,
speziell an den Helden Cuchulin, dessen Bild, stehend auf einem Streu-
wagen, er lange betrachtete.
In diesen Mythen, sagt er, wird der Gedanke von selbst aul die Manner-
figuren gelenkt, da das weichere, weibliche Element fasl ganz fehlt.
Die Frauen haben dabei oft männliche Charaktere oder smd pervers.
Im allgemeinen tritt in diesen Mythen eine bis zur Perversität durch¬
gebildete Libido sexualis hervor. Diese Einfälle entwickeln sich weiter zur
Parsi fal-Sage. Der Mann wird Weib, das Weib wird Mann, wie Königin
1
Über das Unisono in der Komposition
27
Maeb. Er bewundert die beiden, das Weib aber hauptsächlich in ihrer
Männlichkeit, nicht als Frau an sich. In seiner Identifizierung mit der
Dido zeigt er inzwischen sowohl sein Sich-selb st -als- Weib -Fühlen als seinen
Narzißmus.
In der Gralszene von Parsifal erinnerten ihn die langen weißen Gewänder
der Ritter an die Frauenkleidung. Während seiner Krankheit ging er selbst
auch am liebsten in langen weißen Kleidern herum. Ja, später noch ließ
er immer seine Röcke länger machen, als der Herrenschneider es für wünschens¬
wert hielt. Sein während dem Komponieren des letztgenannten Stückes ge¬
fundener Freund sollte jetzt eine ernsthafte venerische Krankheit akquiriert
und ihm versprochen haben, niemals mehr mit Frauen zu verkehren. Diese
Tatsache hat selbstverständlich seinen Widerwillen gegen die Frauen
stark vermehrt. Längere Zeit vorher, wenn er fast zwangsmäßig immer
seinen Freunden gegenüber über die keltischen Mythen redete, sagte ein
Freund zu ihm: „Laß doch ab von diesen ewigen Geschichten, du gleichst
wohl selbst einem Myth* Er erschrak fürchterlich über dieses häßliche
Wortspiel, das ihm nie mehr aus der Erinnerung fortkam, und einen stark
suggestiven Einfluß auf ihn hatte. Um dies zu verstehen, muß ich Ihnen
mitteilen, daß das Diminutiv von Mytk , im Holländischen Mythje (Verkürzung
von Sodomit), ein Schimpfwort für Urning ist.
Die ganze Komposition nun ist eine gewisse Selbstanklage, die blucht
vor der Realität, vor dem Menschlichen in die Ewigkeit. Sie spricht von
der Bewunderung für das Mannweib und den Mann, vom Vertreiben der
Frauen aus der Männergesellschaft, von der homosexuellen Freundschaft,
der begeisterten Verehrung des starken Helden, von seiner Identifizierung
mit der Frau in der Gestalt der Dido, von der Einheit der in weißen langen
Gewändern umhergehenden, ohne Frauen lebenden Priester, von seinem
Studentenverein, der auch den Namen „Dido" trägt, und unter dessen Mit¬
gliedern mehrere Homosexuelle sein sollen.
Im Unisono nun ist diese nach der schwachen und jetzt wirklich als
Prophezeiung aufzufassenden Andeutung in der ersten Komposition erwartete
Homosexualität jetzt deutlich kundgegeben. Außerdem zwingt sie ihn
zur Erkenntnis, daß er selbst schon diese Homosexualität vermutet und
gefürchtet, aber es nie auszusprechen gewagt, also verdrängt hatte. Endlich
beichtet er, was er ebenfalls noch verschwiegen hatte, daß er gerade am
Abend, bevor er diese Komposition angefangen hatte, einen homosexuellen
Akt beging. Es zeigt sich, daß er heiß verliebt ist in seinen neuen Freund,
den er küssen und umarmen wollte.
28
Dr. A. van der Chijs
Bei weiterer tieferer Analyse fanden wir, daß seine Homosexualität be¬
gründet war in Inzestgedanken der Mutter und Schwester gegenüber,
aber auch in einem psychischen Infantilismus. .
Die inneren Konflikte waren die treibenden Kräfte 7.ur Komposition, sie
strebten nach Erlösung. Wir finden hier aufs neue bestätigt, daß das Be¬
deutende in der Kunst seinen Ursprung im verdrängten Inzest wünsch hat
und im Infantilismus.
Graf sagt, daß die Künstler Stunden der Melancholie und Verdüsterung
kennen, in denen die Erregungen des Unbewußten wie eine trübe Flut
sich stauen an den Dämmen, die Bewußtes und Unbewußtes scheiden.
Immer sind es Suchende und was sie suchen, sagt Graf, ist ihre Kind¬
heit. Alles künstlerische Schaffen stammt von der Spiel freu de und
Phantasielust des Kindes.
Wir kommen also von verschiedenen Seiten zur selben Ansicht.
*
Die dritte, kurz nach dieser Analyse entstandene Komposition soll im
allgemeinen den Sieg des Guten über das Böse vorstellen. Die breiten
Akkorde am Anfang des ersten Satzes sind Introduktion. Sie enden im
D-moll-Dominant-Septim-Akkord, also ohne Lösung der gestellten Aufgabe,
und bedeuten eine Frage. Die Antwort gibt er in der weiteren Motiv¬
verarbeitung. Das erste Motiv malt die Einsamkeit. Eine darin angewandte
Tr iolenfigur fällt auf und ist begleitet von traurig klingenden Bässen. Das
Ganze erinnert ihn an die unzugänglichen Felsen der norwegischen Küsten
im Winter. Seine Melancholie tritt hervor, alles ist trostlos, fast unhörbar
schluchzend erreicht ihn da das Einsamkeitsmotiv, das allmählich abklingt.
Da kommt mit harten Schmiedehammerschlägen das Felienmotiv. Er
sieht sich auf dem Meere und sehnt sich nach der Küste. Während der
Analyse hat er einmal ein Wikingerschiff gezeichnet. Das galt einem
früher gehabten Traum vom Fahren nach einem fremden Lande und soll
der Grund für diese Komposition gewesen sein. Wir stoßen hier auf seine
narzißtische Identifizierung mit Lohengrin und Parsihil, aber g toc 1-
zeitig auf den Begriff der Homosexualität, wie es sich schon oben zeigte.
Das Felsenmotiv nun enthält, wie das Kinsamkeitsinotiv, ebenfalls eine
Triolenfigur; beide Motive zeigen eine Verwandtschaft. Auch dies ist wieder
unisono geschrieben und entwickelt sieb in schnell in du Höhe
strebenden Oktav-, also Unisonopassagen, die Wellen des Meeres,
die um ihn herum an der Felsenwand auseinanderspritzen, unter brausender
Gewalt in Schaum sich lösend.
Über das Unisono in der Komposition
29
Jetzt folgt ein prophezeiendes Motiv, nur rhythmisch bedeutend, aber
auch wieder mit einer Triolenfigur. Es ist das Symbol einer Kraft, außer
und über ihm, das ihm ermahnend zuruft: „Verzweifle nie, alles wird
sich ändern, es sind Dinge im Werden, welche du nicht, ich aber wohl
sehen kann“. Fortwährend tritt dieses Motiv in der Komposition hervor
und hat eine beschwörende Kraft. Dann treffen wir eine neue Melodie,
das Singmotiv, eine Stimme, die, hinter den Felsen, fern im Lande (denken
wir an die Gralserzählung von Lohengrin „in fernem Land usw.“), mit
lieblichem Klang, lockend ruft. Seine Antwort ist ein Motiv des Flehens,
ein demütiges Bitten, in das neue Land eingelassen zu werden.
Ein Heldenkampf fängt an. Immer zurückgeschlagen in Sturm und
Wind, verdoppelt er seine Anstrengungen, indem der lockende Gesang
immer widerhallt.
Fast völlig niedergeschlagen, tönt auf einmal wieder das Prophezeiungs¬
motiv und kündigt die Erlösung an. Plötzlich erscheint das neue Licht,
ein noch nicht gehörtes Lenzmotiv, den Sieg des Weiblichen über
das Männliche vorstellend, als eine majestätische Göttin sich fort-
bewegend, ganz ohne irgendwelche Andeutung von Unisono.
Die Komposition endet mit einem strahlenden D-dur-Akkord, die frohe
Stimme vom herrlichen, neuen Leben.
Die tiefere Analyse lehrt uns folgendes:
Im Einsamkeitsmotiv gibt Patient sein eigenes Ich, den melancho¬
lischen Sucher. Sein neu gefundener Freund erwüdert seine Liebe nicht
so, wie er es sich erträumt hat. Der Freund ist wie ein Felsen, hart wie
Stein, zurückweisend.
Im Felsenmotiv trafen wir, wie schon gesagt, dieselbe Triolenfigur
wie im Einsamkeitsmotiv, das heißt: seine Identifizierung mit
dem Freunde, aber außerdem das jetzt bekannte Unisono, die Vor¬
stellung seiner mit dem Freunde sich als ein Wesen fühlenden Liebe.
Anfänglich sucht er sich dem Felsen, also seinem Freund, zu nähern.
Er fleht um seine Liebe, er will sich hingeben, aber gleichfalls erobern,
herrschen und unterwerfen, er manifestiert seinen Sado-Masochismus.
Der immer höher steigende Unisono-Oktavengang, die Wellen, der
Sturm, der Schaum, der dann um ihn umherspritzt, wir erkennen leicht
die Symbolik des Kontraktions- und Detumeszenztriebes, die
Ausmalung des oben erwähnten homosexuellen Aktes. Das Prophezeiungs¬
motiv ist die Stimme des Arztes (auch hier treffen wir die Triolen¬
figur als Ausdruck der Übertragung), aber gleichzeitig das Symbol des
normalen Naturtriebes, durch den Am sozusagen herauf beschworen.
Er sucht und bekämpft im gleichen Moment seine homosexuelle
Liebe. Nach heftigem Ringen siegt er endlich und erobert den
seinen Freund. Aber er muß weiter. Dies darf nicht sein Endziel bleiben.
Über den Felsen, über seine Flomosexualität hinaus, kann er erst das ge¬
lobte Land erreichen. _
Fern im Lande lockt ihn die Göttin der Liebe, der Lenz, die I rau.
Jetzt sucht er seine Elsa, Die Stürme legen sich, das Lenzmotiv malt,
mit dem D-dur-Akkord als Erlösung, den Sieg des Weibes.
Die Unisonos bleiben ganz weg, nachdem der Streit beendet ist.
Ich wiederhole jetzt meine Frage:
Ist das in dieser Form vorkommende Unisono wirklich pathognomo-
nisch für homosexuelle Regungen?“
Wohl schrecke ich vor der Bejahung zurück, wenn ich überlege, wie
oft wir das Unisono in den Schöpfungen eines Mozart, Beethoven,
Wagner, Brahms antreffen. Ich glaube es denn auch kaum, um so mehr,
da es an sich keine abweichende Konstruktion ist. Es strebt nach der
vollkommensten Harmonie, und das ist, kurz gesagt die L" ,
und der Inhalt der Liebe wieder ist, qua talis, immer derselbe, nur ist
die Objektwahl eine andere.
Ich bringe hier in Erinnerung, daß das Unisono nur an den Mellen
hervortrat, wo wirklich von Liebe die Rede war, und komme also
zu folgender Flypothese. ,
„Das Unisono in der musikalischen Komposition ist anschei¬
nend geeignet, als Symbol der Einheit in der Liebe, ^Deicht
speziell für die homosexuelle oder pseudo-homosexuelle Liehe,
auftreten zu können.“ t . ,
Für den Fall, daß die homosexuellen Komponenten bei diesen beiden
Patienten nur eine zufällige Koinzidenz darstellen sollten,
doch jedenfalls daran denken, daß, wenn es unbewußt angewandt wur e,
das Unisono eine Verdrängung von Liebesgefühlen sein kann, un
dadurch, regressiv oder als Entwicklungshemmung wirkend, (ine
mehr infantile Form wählen kann. Umgekehrt kann der Infantilismus an
sich die Ursache der unbeholfenen Unisono- Liebeserklärung sein.
Weitere Untersuchungen über das hier angeregte Problem können viel¬
leicht später eine Entscheidung bringen.
Über das Unisono in der Komposition
5 1
Abschließend sei noch erwähnt, daß jene letzte Analyse für den Patienten
von großer Bedeutung war, denn, was er anfangs zufolge unbewußten und
bewußten Widerstandes verschwieg, ist durch die Analyse seiner Kompo¬
sitionen zur Aussprache und Deutung gekommen. So verschwand denn
auch während der Analyse allmählich seine homosexuelle Neigung,
die Liebe zwischen den beiden Freunden ging ganz zu Ende, und nun
liebte unser Komponist (zuerst psychisch, später auch physisch) ein Mäd¬
chen, eine „Elsa“, seine Lenzgöttin mit ihrer lockenden Stimme (seine
Geliebte ist öffentlich auftretende Sängerin). Seine Homosexualität war
eine Pseudohomosexualität, eine Psychoneurose, und stellte meines Er¬
achtens auch nur das infantile, noch nicht differenzierte, oder schon bis zur
Bisexualität ausgewachsene Stadium seiner Entwicklung dar, die Folge einer
durch ungünstige Verhältnisse (Inzestmotiv, allgemeinen psychischen Infantilis¬
mus usw.) entstandenen Verdrängung und verlängerten Pubertät.
Der Fall dieses Patienten bestätigt schließlich die diesbezüglichen An¬
sichten von Kerenczi und er w r äre dann den Objekt-Homoerotikern
zuzuzählen.
Eine südslawische Märchenparallele
zum Urtypus der Roland-Sage
Von Dr. Franziska Juer (Wien) und
Dr. Otto Marbach (Wien)
Die entscheidende Tatsache, daß gleiche und ähnliche Märchenmotive sich,
bei den verschiedensten Völkern finden, wurde zuerst von den Brüdern Grimm
erkannt. Damals begann die Märchenforschung, deren Hauptaugenmerk sic aixf
das Sammeln und Zusammenstellen von Motiven richtete. Bald versuchte man
auch, mit mehr oder weniger Erfolg, den „Sinn dieser eigenartigen künst¬
lerischen Produkte zu fassen. .... . ,
Die psychoanalytische Methode mit ihrem tiefen Eindringen in die \ syche
des Kranken, des Kindes und des Volkes hat auch ein ganz neues Licht auf
diese Probleme geworfen. Mythen- und Märchenfowchung ist bere.ts ein eigenes
Teilgebiet dieser Wissenschaft geworden. Abgesehen von der neuen rt, ea j
Sinn zu deuten“, sind diese Arbeiten in ihrer Zusammenstellung den fiuheter*
ähnlich: denn entweder werden größere Marchengruppen unter einem bestimmten
Gesichtspunkt betrachtet, oder man verfolgt ein Motiv durch eine Anzahl
^nn^T'zusammenhänge bestehen zwischen Traum und Märchen — die« U*j
seit Freuds Traumdeutung“ unabweisbar klar.
Wir haben nun in vorliegender Arbeit versucht die Methode der 1 raum-
deutung konsequent auf die Märchendeutung zu übertragen d. h. « haben
Stück für Stück des Märchentextes herausgegriffen und analysiert, als ob t m
Traum vorläge. Dabei erwiesen sich auch die kleinsten, bisher noch unbeachteten
Details als sinnvoll und psychisch determiniert. ne ,
Das analysierte Märchen ist der Sammlung von I*. S. 11111 * . 7 *
Märchen der Südslaven“ (Leipzig 1884, bei W. Friedrich), entnommen. Es hoxüx.
„Der Sohn der Königstochter“ (.. Bd., Nr. 41) und wurde wegen seiner Be¬
ziehung zur Rolands Sage, wie wegen des in ihm enthaltenen ,. 11 ‘ 1 V *»
eines Teilmotivs des Inzestproblems gewählt. . ,
Vor die eigentliche Deutung stellen wir eine gedrängte Inhaltsangabe er
Erzählung.
Eine südslawische Märchenparallele zum Urtyp us der Roland-Sage
53
„Es war einmal ein König* der hatte eine wunderschöne Tochter, die er Viel mehr
liebte als seine Gemahlin, So kam’s, daß er seine Gemahlin wie einen Dienstboten*
die Tochter aber wie seine Frau behandelte*“ Deshalb kränkt sich die Königin sehr
und klagt einst einem vorbeiziehenden Wanderer ihr Leid — und der weiß wirklich
Rat, Er gibt ihr einen Zauber an, der bewirken solle, daß die Tochter schwanger
werde* Dies geschieht tatsächlich* Der König — um nicht ins Gerede zu kommen —
sieht sich daher gezwungen, die Tochter verschwinden zu lassen. Zu diesem Zweck
läßt er eine Art von Arche hauen, verlockt die Tochter, sich hineinzubegeben und setzt
sie auf diese Weise aus* — Während ihrer Meeresfahrt gebiert die Königstochter
einen buntgefleckten Knaben, der von allem Anfang an außergewöhnliche Vorzüge
an sich erkennen läßt. Denn er kann sofort laufen und sprechen* Nach einiger Zeit
vollbringt er bereits unerhörte Kraftleistungen. Vorn Meer aus erblickt die Mutter
den König in seiner Kutsche, wie er gerade seinen Mähern das Essen bringt* Da springt
der Knabe über das Meer bis ans Land, zieht das Schiff ans Ufer, läuft der Kutsche nach
und nimmt dem König alle Speisen weg. Dann fahren sie wieder eine Weile auf dem
Meer und gelangen zu einem großen* verwunschenen Schloß* In jedem der zwölf
Schloßzimmer ist ein Teufel, Der Knabe springt wieder ans Land, findet einen zehn
Zentner schweren Eleiknüttel und begibt sich, damit bewaffnet, ins Schloß. Die Teufel
wollen ihn nicht einlassen. Er aber zertrümmert eine Tür nach der anderen, ver¬
prügelt jeden Teufel und schickt danach alle die Besiegten ans Gestade zur Mutter*
Der zwölfte Teufel behauptet, ihn nicht einlassen zu können, weil er festgeschmiedet
sei* Da schlägt der Knabe die Türe durch, daß das Schloß erdröhnt und der Teufel
mit der Kraft ans trengung der höchsten Angst die Fesseln zerreißt. Darauf nimmt
er allen zwölf Teufeln den Eid ab, nicht mehr ins Schloß zurückzukehren* Ein Teufel
sucht zu entfliehen, aber die Bleikeule trifft ihn zu Tode* — Danach wohnten der
Knabe und seine Mutter im Schloß, wo es zwar viele Schätze, aber keine Speisen
gab* Deshalb schickte die Mutter den Knaben um Lebensmittel auf den Markt. —
Er läßt sich dort ein großes Tuch mit Brot füllen, wirft das Bündel über die Schulter —
und zahlt nicht* Da die entrüsteten Verkäuferinnen Bezahlung verlangen, droht er mit
dem Bleikolben zu bezahlen* Ebenso spielt er einem Fleischhauer mit, dem er einen
ganzen Ochsen davonträgt, wofür er gleichfalls nur in Prügeln zahlen will. Da sich
die Mutter verwundert, daß er das ganze Geld zurückbringt, antwortet er: „Du hast
mir nur gesagt, ich soll Brot und Fleisch nach Haus bringen, vom Zahlen hast du
mir nicht gesprochen*“ — Als der Vorrat verzehrt ist, schickt ihn die Mutter wieder
zur Stadt und er treibt es wie das erstemal* Man führt daher beim König über ihn
Klage. Der König läßt sich ein Gerüst erbauen und beobachtet von dort aus den
Knaben* Beim drittenmal ladet ihn der König-, als der Knabe bei seinem Gerüst
vorüberkommt, für den folgenden Tag zum Essen* Er geht mit einem großen Korb
versehen in die königliche Burg, läßt die Herrschaften, die an der Tafel versammelt
sind, aus seinem Teller Suppe essen, verzehrt aber dann ganz allein die ganze Suppe,
sowie alle aufgetragenen Speisen und trinkt den ganzen Wein aus* Dann füllt er noch
den Korb für seine Mutter an. Inzwischen hatte man ein Regiment Soldaten kommen
lassen, die auf ihn zu schießen begannen* Er aber fordert sie nur auf, ibn nicht an-
zuspucken, und als sie das Schießen nicht einstellen, liest er alle Kugeln auf* erschlägt
damit die Soldaten und zertrümmert überdies mit seinem Bleikolben die halbe Burg.
Daraufhin unterhandelt der entsetzte König mit ihm und forscht schließlich nach des
Knaben Mutter, die er, trotz der Versicherung, sie sei häßlich, aufs Schloß bringen
heißt. Am nächsten Tag bringt der Junge seine Mutter, der König sieht, daß sie
schön ist und heiratet sie* Nach dem Hochzeitsfest geht der Knabe mit dem König
in einen Wald. Dort sind in einem hohlen Baum viele verrostete Säbel, Der Junge
Imago XII,
3
toi
Dr. Franziska .iuer uml Dr.
_ , • f sich e i n en zu wählen und ihm damit den Kopf ah Zuschlägen,
fordert den König auf, si drobt er wcr dc es dem König tun, wenn nicht
Der König wiU nicht, □■ ^ dcr Köjjig j)rm selbcn Augenblicke verwandelte sich
der e buni^ckt U e e Knabe in einen wunderschönen Jüngling von blendend weißer Farbe.
Diese kurze und skizzenhafte Inhaltsangabe läßt eines bereits erkennen: Ihe
Diese uae u eutlichkeit der Märchenzusammenhänge. W ieder werden
Sprunghaft^keitun^Undeu paraMeil) ^ den urspr üngliche« Sinn
^ir bewahrt haben, weiter kommen und schließlich wieder erkennen
STTÄ Zerrissene, förmlich Zerkiüftete „es vorliegende»
Volksmärchens, das anmutet wie eine willkürliche Vereinigung, ein Konglomerat
unzusammenhängender Motive, seine innerliche Berechtigung, tiefere Grün e
eines 1 notwendigen Zusammenhanges hat. Ein in sich geschlossenes Ganze«,
ein berechtigter und notwendiger Zusammenhang, der freilich nur dem Forscher
klar wird, L mit psychoanalytischen Methoden an die Autlösung des scheinbar
Verworrenen und Unzusammenhängenden geht. Ein Beweis ur tle unuiu^ung
liehe Notwendigkeit der Kenntnis und Handhabung der psychoanalytischen Metho e
für den Ethnologen und Folkloristen, Mythen- und Märchenforscher. Demi iva*
läge — ohne die Kenntnis dieser Methode — näher, als das infolge de. eigenen
Unkenntnis Undenkbare und scheinbar Unerklärliche der SprunghafUgkeit,
Gedankenlosigkeit oder Inkonsequenz der Volksphantasie aufzuburden. lnAe ^
doch dem simpelsten „Schnadahüpfl“ mehr Sinn und ästhetische Ko.iseq. j
innewohnt, als gewissen Herren vom Fach persönlich zur Verfügung st -
Doch wenden wir uns nun der Analyse unseres Märchens zu.
freilich läßt an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig:
„Es ivar einmal ein König, der hatte eine wunderschöne Tochter, die er viel mehr liebte
als seine Gemahlin*
Es liegt also das Griseldis-Motiv in «Her nur möglichen Offenheit vor' Vor
die Fraee gestellt, von wessen Psyche aus das Märchen ln diesem Ml gesell, t
sei, SSJL wir’nicht umhin, der Tochter einen b fMcndcn Anteil an d r
Entstehung diese» Motivs zugestehen >u müssen Zwar bo ,h “''' wio
phantastischen Ersatzbildungen des Vater-Tochter-Komplexe, gehennicht,
man er analcgia erwarten sollte, auch vom ^ngen Kmd, der Tester ,
sondern erscheinen zum größten Teil vom Standpunkt des V««™ gMrbritet
(Inzestmotiv S *68.) Uns erscheint jedoch zumindest ein Motiv,
von der Dienstbarkeit der Tochter, die von der bösen Mutter erzwungen wir ,
unzweifelhaft der Tochterpsyche entsprungen. (Die,™ Motiv ersche nt am deut
lichsten in den Aschenbitidel-Märchen, K, H. M., Nr. .. und Parallalen bet
0 Zahlreiche Parallelen bei Bollc-pIÜ.k«, Anm. in “"d«' •"£
1= K. H. M.) Nr. 31 („Das Mädchen ohne Hände“) und . r. >5 ( , n 0 r
psychoanalytischer Seite wurde das Motiv an.führhch be.pr.chen n,lU nk^Uar
Sinn der Griseldafnbel“, Imago I (Mar» .91»), und ” Jj, 1 , AuB „ dom
Dichtung und Sage, XI, Di. Beeiebungen Zürcher Zeitung
L P Betz: ,jDie Griseldis-Sage in Dicht- und 1 onkunst.
1905, Nr. 64.)
Eine südslawische Märchenparallele zum Urtypus der Roland-Sage 55
Bolte-Polivka. Die Heldin muß der bösen Mutter und den bösen [älteren]
Schwestern Magddienste leisten. Dieses Motiv ist zu spezifisch weiblich, als
daß man dafür den Vater als Erfinder in Anspruch nehmen dürfte-) Durch
derartige Märchenzüge sind die beiden Möglichkeiten der primitiven Stellung
des Weibes zu erkennen. Das Weib war eben (noch der homerische Kultur¬
kreis weist darauf hin) entweder Sklavin (SouXri) oder Beischläferin, Lagergenossin
(ako%oc)~ Die Mutter, um die Inzestgefühle zwischen ihrem Gatten und der
Tochter wissend und bestrebt, die jüngere Rivalin unschädlich zu machen,
sucht dies durch entstellende Magddienste zu erreichen, zu denen sie die Tochter
anhält. Wunsch der Tochter muß nun eine Umkehrung der Verhältnisse sein,
so daß sie Lagergenossin des geliebten Vaters wird, die Mutter aber zu ent¬
würdigenden und entstellenden Magddiensten verdammt wird. Und dieser Wunsch
wird eindeutig und klar formuliert:
„So kam’s, daß er seine Gemahlin wie einen Dienstboten, die Tochter aber wie seine Frau
behandelte. Die Gemahlin des Königs weinte immer bitterlich , daß sie getneine Arbeiten wie ein
Dienstbote verrichten und in der Küche schiaßen mußte.“
Wir sehen, wie sich liier das „Griseldis-Motiv" mit dein Motiv von der
„wahren Königin als Magd** verbindet. 1 Die Deutung der meisten dieser
Motivgestaltungen ergibt, daß es sich um die durch die Mutter verdrängt
fühlende Tochter handelt. (So Grimm, K. H. M., Nr. 8g: „Die Gänsemagd“,
ebenso in der Berta-Sage; siehe die Anm.) Die böse Mutter ist es gewöhnlich,
die die Stelle, die die Phantasiegestaltung der Tochter für sich in Anspruch
nimmt, mit List und Tücke usurpiert und die eigentliche, rechtmäßige Gattin
(die zu sein sich die Wunschphantasie der Tochter dünkt) zum „Aschenputtel“
(K. H. M., Nr. 21) erniedrigt. In unserem Zusammenhang setzt die Tochter
offener, unverdrängter ihren Wunsch durch. In den übrigen Märchengestaltungen
pflegt die Tochter erst Erniedrigung, Schmach und Elend zu leiden (voraus¬
genommene Bestrafung), dann aber ihren Wunsch doch durchzusetzen. Sie
wird rechtmäßige Gattin und die Mutter-Imago (Stiefmutter, Stiefschwester,
böse Dienerin, Amme usw.) wird bestraft — zumeist sogar auf grausamste
Weise getötet. (Vgl. K. H. M., Nr. 21, 53, 89.) Hier jedoch wird die sonst
überall verdrängte Ursache des Leidens eingestanden: Der Inzestwunsch der
1) Man vergleiche K. H. M., Nr. n, Nr. 89 — beide dem Märchonkreise von der
, untergeschobenen Braut“ angehörend und die bei Bolte-Polivka hiezu angeführten
Parallelen. Ausführlich über „das Motiv von der untergeschobenen Braut“: Arfert
(Kostocker Diss. 1897), wo auch die Sage von Berta, der Mutter Karls des Großen,
behandelt wird. (S, 59 ff.) Da wir im folgenden Gelegenheit haben werden, auf den
karolingischen Sagenkreis zurück zukommen, wollen wir darauf hinw eisen, daß sich
also auch dieses Motiv der Karls-Sage hier findet. Nach den deutschen Fassungen
(Weihenstephaner Chronik, Ulrich Füeterer, Heinrich Wolters Chronica Bremensis)
wird Prinzessin Berta, die Braut König Fipins, auf der Reise vom ungetreuen Höf¬
marschall mit dem Tode bedroht, einsam im Walde zurückgelassen und statt ihrer
des Hofmarschalls Tochter dem betrogenen König untergeschoben. Die romanischen
Quellen („Reali di Franeia“, VI, „Berte aus grans pies“ etc.) lassen den Brauttausch
viel raffinierter in der Hochzeitsnacht selbst stattfinden.
3 6
Dr. Franziska Juer und Dr. Otto Marbach
Tochter. Der Wunsch, die Mutter solle in der Rüche schlafen müssen, be¬
deutet die Verbannung aus dem ehelichen Schlafgemach.
Nun traf es sich einmal, daß ein Wanderer des Weges einherkam, die weinende Königin
sah" und sie anredete: finädige Frau, was fehlt Euch, daß Ihr so bitterlich WCOV? -St*
Tagt';ln offen und frei ihr ganzes Leid und er gab ihr folgenden Ha, ,Gnädige Frau,
verfügt Euch am Karfreitag auf den Friedhof, grabt dort ein Grab auf, nehmt em Totenbem,
schabt das Bein ab und gebt das Abgeschabte am nächsten Morgen Eurer Iachter in den Kaffee
und Sie wird augenblicklich in gesegnete Umstände kommen• — l>te Königin befolgte genau
des Wanderers Worte, und wirklich, die Tochter wurde schwanger .“
Wir wollen bei dieser Stelle, die in mannigfachster Hinsicht der Deutung
bedarf, zunächst wieder an das soeben Gesagte anknüpfen. Der von der Mutter
vollführte Zauber — ist Tochterwunsch in zweifacher Hinsicht. Denn erstens
reinigt sie sich dadurch von dem Verdacht, als wünschte sie den Inzest mit
dem °Vater, — wird sie doch, sozusagen unschuldig, durch den Zauber der
bösen Mutter dazu gezwungen. Zweitens erreicht sie dadurch die Charakteristik
der Mutter, als der „bösen Mutter“, der „Zauberin“. — Hier liegt das Motiv
noch unverdeckt vor, das in seiner weitergehenden Verarbeitung und \ er-
deckung aus der „bösen Mutter“ die „böse Stiefmutter gemacht hat. Zum
Totenzauber selbst ist zu sagen, daß das Totenbein, wie der Knochen überhaupt,
allenthalben in Märchen und Mythos als Symbol des Phallus (eines göttlichen
oder väterlichen Phallus) — begegnet. Das „Abgeschabte im Kaffee“ hier (sonst
häufig auch das „Spülwasser“), enthüllt sich der Analyse als Sperma Symbol.
Die Befruchtung durch den Genuß von Speise oder Trank, oder überhaupt
irgendwie durch den Mund (conceptio oralis), gehört in den Kreis der infantilen
Sexualtheorien und findet sich demgemäß sehr häufig im Märchen. Die
wunderbare Befruchtung“ geschieht gewöhnlich durch ein Penis-Symbol. So
z. B. bei Grimm, K. H. M, Nr. 85 („Die Goldkinder ), durch einen (goldenen)
Fisch oder in den verschiedenen Versionen, die das Brüdermärchen (K. H.
Nr. 60 Die zwei Brüder“) einleiten (siehe Bolte-Polivka, Anm.au Nr. 60),
durch einen Wasserstrahl. 1 2 * * * Die conceptio oralis und die damit verbundene
1) Noch ohne symbolische Verdeckung wird in der Os int-Sago das Glied des
Gottes selbst verschluckt, worauf Rank (Iniestmotiv, 514) hinge wiesen hat; »Auf eine
typische infantile Sexualtheorie weist es auch hin, wenn d.e zerstückelten GUader,
wie in der Osiris-Sage der Phallus, verschlungen werden, da nach infantiler Vorst. W g
die Befruchtung durch Essen erfolgt; meist von Früchten, welche die Fruchtbarkeit
symbolisieren, in der Osiris-Sage durch Verschlucken des eigentlichen Hefrnclitungs-
organs selbst.« Und ferner Anm.: „Hier verbinden sich die Befruchtung symbolisierenden
Verschlingungsmythcn (. . . verschluckt . . • und wieder aitsgespien . . .) ,nl us
setzungsmythus, wo auch ein im Kästchen Verschlossener auf dem llss< 1 ns 1111m
und dann befreit wird.“ Diese Verbindung ist in unserem Märchen besonders deutlich.
s) Bolte-Folivka, Anm. zu Nr. 60, S. 5 * 9 * teUen folgende Version mit: „Ein
König hatte eine Tochter, welche die Mäuse verfolgen,“ [ 1 ] — (Pcnlianglt, d. h.
verdrängter und ins Gegenteil umgcschlagener Wunsch der Tochter; so erklärt sich
wohl auch die hysterische Mäuse- und Battenangst vieler Frauen) — „so daß er sie
nicht anders zu retten weiß, als daß er einen Turm mitten in einem großen Fluß
Eine südslawische Märchenparallele zum Urtypus der Roland-Sage
„wunderbare Befruchtung 4 ' ist „typische Abwehr des Inzests mit dem Vater“*
(Rank, Inzestmotiv, 566.) Das an der zitierten Stelle von Rank besprochene
kyprische Märchen ist für uns ganz besonders interessant } weil das Grundschema
des doppelten Inzestes (Vater-Tochter, Sohn-Mutter) hier wie dort dasselbe ist*
Wir wollen nur darauf Hinweisen, daß im kyprischen Märchen die Tochter
durch den Genuß eines Apfels schwanger wird, den sie — ahnungslos — von
einem Baum gepflückt hat, der dem Grabe des toten Vaters entwächst. Auch
an das Motiv von der wunderbaren Befruchtung durch den toten Vater sei
erinnert, wozu sich mehrere Märchen, in denen der Tote deutliche Vater-
Imago ist, als Bestätigung ergeben, * 1 Dies beweist uns wieder die richtige
Deutung der Symbolik des Tütenbeines als väterlichen Phallus, Der gesamte
Märchen- wie Traummechanismus ist im Grunde immer Wunscherfüllung.
Der Wunsch der Tochter im vorliegenden Fall ist es, vom Vater geschwängert
zu werden. Was also aussieht wie eine böse Intrige der Mutter, ist nur
Deckung für den eigenen Wunsch, Das hier angeschlagene Thema von der
„wunderbaren Empfängnis" zwingt uns wegen seiner Bedeutsamkeit noch ein
wenig dabei zu verweilen. Bekanntlich pflegt ältester und neuerer Mythus
seine Helden und Religionsstifter aus „wunderbarer Empfängnis“ entstehen
zu lassen, — Der „Mythus von der wunderbaren Empfängnis“ geht nun
freilich, wie auch Rank meint, aus der schroffen und absoluten Ablehnung des
Vaters von seiten des Helden hervor (auch in unserem Zusammenhang liegt
diese Ursache vor), doch können wir nicht umhin, die Frage aufzuwerfen, ob
die „wunderbare Empfängnis" nicht auch als verdrängter Inzestwunsch der
Tochter determiniert ist? Im Märchen liegt gewöhnlich verdeckter Vater-
Tochter-Inzest vor, wenn das Motiv der wunderbaren Empfängnis verwendet
wird. (Vgl, das oben Gesagte und Anm. 2 auf S, 36.) Die Sage ist deutlicher* Man
denke nur an die verschiedenen Stammsagen, an die Sagen von der Geburt
der Stammesheroen! Dort erscheint die wunderbare Befruchtung noch als
Befruchtung durch einen Gott, Der Gott ist aber die bedeutsamste Vater-Imago,
(Vgl. Rank: „Mythus von der Geburt des Helden“,) So erscheint z. B, Mars
als Vater des Romulus usw. Eine Stufe weiter in der Verdeckung — und
die Befruchtung geschieht nicht mehr durch den (Vater-) Gott in Person, sondern
durch ein symbolisches Medium, (Zeus befruchtet Danae als goldener Regen.)
In der ausgebildeten Jesus-Mythe geschieht die wunderbare Befruchtung ebenfalls
durch den Gott-Vater, aber nicht in Person, sondern durch das Medium des
Heiligen Geistes, der in Gestalt einer Taube (Vogel — Penissymbol) erscheint.
hauen und sie dorthin bringen läßt* Sie hat eine Dienerin bei sich und einmal, als
sie zusammen in dem Turin sitzen, springt ein Wasserstrahl zum Fenster herein.
Sie beißt die Dienerin ein Gefäß hinsetzen, welches sich füllt, worauf der Strahl
aufhört* Beide trinken von dem Wasser und gebären danach zwei Söhne * ,
1) So F. 5 . Krauß: „Sagen und Märchen der Südslaven“, Nr. 34 („Stahlpascha“:
der tote Kaiser erscheint wieder als Gespenst, um sich seine Töchter zur Ehe zu
holen); Nr* 70 („Die Spinnerin und der Tote“: Der Tote stellt dem Mädchen ununter¬
brochen nach und raubt es schließlich dem Gatten; ähnlich „Der Vampir“, ebendort.)
58
Dr, Franziska Juer und Dr, Otto Marbach
„Nach einigen Monaten merkten wohl die Leute des Fräuleins gesegnete Umstände und
munkelten, der König sei der Vater des Kindes.“
Das Munkeln 1 2 * * * * * * * * * * * 14 _ will der manifeste Märchentext glauben machen, sei
böswillige Verleumdung. Der latente Sinn des Märchens, als eines Erzeugnisses
des wirkenden Volksgeistes, ‘der nicht, wie man wohl zu sagen pflegt, das
Gesamtbewußtsein, sondern vielmehr das Gesamtunbewußte darstellt, verrät
die Berechtigung dieses „Munkeins“. Vox popidi, vox dei!
Der König schämte sich nicht wenig, daß sich ein solches Gerücht unter den Leuten ver¬
breitete und ließ auf einem Schiffe am Meere ein kleines Häuschen erbauen, das auf dem
Meere schwimmen konnte, u
Diese Schilderung ist besonders interessant, weil wir Schuld!)©wußtsem und
Verdrängung förmlich an der psychischen Arbeit sehen* Der Ausdruck „Ge-
nicht “ 7 wie oben „Munkeln“, entspringt der Verdrängung. Dadurch soll die
Unschuld des Königs betont werden. Seine Handlungsweise entspringt dem
Schuldbewußtsein und bezeugt daher seine Schuld,
Das schwimmende Häuschen auf dem Meer gehört zu den bekannten
Mutterleibssymbolen, denen wir in den Aussetzungsmythen regelmäßig begegnen/
ebenso die große Flut oder das Meer als Symbol für das Geburtswasser*
Hiemit ist die Vorgeschichte beendet. Wir erkennen das Schema* Es ist die
typische Vorgeschichte von der wunderbaren Geburt eines Helden* Die typische
Aussetzung, die in der Mehrzahl der Falle erst unmittelbar nach der Geburt
vorgenommen zu werden pflegt, geschieht hier schon vor dieser* Der noch
ungeborene Held wird gemeinsam mit der Mutter, also noch im Mutterleibe,
ausgesetzt* Der manifeste Grund hier ist also: dem Gemunkel zu entgehen.
Der latente: die Furcht vor dem — noch ungeborenen — Sohn/
1) Vgl, die Arche, das Kästchen in dem Moses, das Körbchen in dem Romulm
ausgesetzt wird. Vgl* hiezu und zum Folgenden* Rank: „Mythus von der Geburt
des Helden“, a. Auf!., S. 70: „Die Aussetzung im Wasser symbolisiert die Geburt . *
bezeichnet den Geburtsvorgaug, allerdings in der Darstellung durch sein Gegenteil.**
2) Die gemeinsame Aussetzung mit der Mutter findet sich auch in der Telepho»-
Sage* Vgl* Rank: „Mythus von der Geburt des Helden“, S* 22, Anm,: „Bei Furipidrs,
von dem die Tragödien ,Auge* und /Tclophos* existieren, ließ Aleos Mutier und
Kind in einem Kasten ins Meer werfen.“ — Auch die Perseus-Sage gehört in diesen
Kreis. (Vgl* Rank: Mythus, S, 22 l) Danae, Tochter des Akriiios, gebiert den Perseus
von Zeus* Beachtenswert ist, daß Pindar und andere behaupten, Danae sei nicht von
Zeus, sondern vom Bruder ihres Vaters (!) geschwängert worden. Der König läßt
Mutter und Kind in einem Kasten ins Meer werfen* Perseus wird aber
gerettet und tötet später — zufällig — seinen (Groß-) Vater Akrisios* — Der Sym¬
bolik der Aussetzung (Entbindung eines Kindes aus dem Fruchtwasser wird mittels
der Umkehrung, als Eintritt des Kindes ins Wasser dargestellt) liegt der \Y umch
zugrunde, das —- wie in unserem und den parallelen Fällen — einem Inzest
entstammende Kind solle lieber nicht gehören werden. Zurück ins Wasser bedeutet
soviel, wie zurück in den Mutterleib* Vgl* Rank; Inzestmotiv, S. 588: „Die Aus¬
setzung erfolgt, als der unbewußt vollzogene Inzest entdeckt wird, oder die Kinder
aus dem bewußten Inzest beseitigt werden sollen. — So wird Rhoio, die
Eine südslawische Märchenparallele zum Urtypus der Roland-Sage 59
Im folgenden Text, der erzählt, wie die Tochter das Häuschen auf dem
Meer bemerkt, sogleich hineingehen will (sexuelle Neugier!), und der Vater
sie, mit den nötigen Speisen versehen, einsperrt, ist nur die Schilderung der
Gemütsverfassung der Getrennten interessant;
er ging und stand , weinte er und grämte sich um die Tochter ah , Die Tochter konnte
sich auch nicht trösten und war stets traurig
Dies ist — im Sinne des künstlerischen Aufbaues — wichtig: Am Ende der
Vorgeschichte, eine Wiederaufnahme des Liebesmotivs. Vater und Tochter
benehmen sich wie ein getrenntes Liebespaar, — Wir kommen nun zum
zweiten Abschnitt: Zur Geschichte von Mutter und Solm, Zunächst, der
wunderbaren Befruchtung entsprechend, eine wunderbare Geburt:
r Nachdem sie längere Zeit in ihrem Häuschen auf dem Meere herumgeirrt, gebar sie einen
ganz buntgefleckten Knaben , der* kaum aus dem Mutterliebe draußen^ herumzulaufen anßng. a
Wenden wir unsere Aufmerksamkeit vorerst dem eigentümlichen Attribut
zu, das dem Knaben beigelegt ist. „Bunt gefleckt/' Nicht nur an dieser Stelle,
sondern auch in Fassungen, wo etwa ein Tier gefleckt erscheint, vermutet
und sucht der Psychologe mit Recht einen tieferen Sinn. Was hat nun dieses
„bunt gefleckt" zu bedeuten? Die Frage wird sich klären, wenn wir Bei¬
spiele anführen, bei denen wir solche oder ähnliche Merkmale vor finden.
Es handelt sich hier überall um die nicht einheitliche Körperhülle. Die Volks¬
sprache würde unseren bunt gefleckten Knaben wahrscheinlich 4 sch eckig w
nennen. Sprach historische Betrachtung lehrt ferner, daß den Wörtern „gefleckt"
und „geflickt" dieselbe Bedeutung zugrunde liegt. Für den später erfolgenden
Hinweis auf die Rolands-Sage ist diese Tatsache von besonders großer Be¬
deutung, Aber auch psychologisch sind die beiden Begriffe identisch, d, h. sie
haben denselben latenten Inhalt. Bei Grimm, K, H. M, II, Nr. 165 („Der
gläserne Sarg u ), ergibt die Deutung ein inzestuöses Bruder-Schwester-Verhältnis.
Der Bruder erscheint in zweifacher Gestalt, als Hirsch und als Männchen,
„das ein von buntfarbigen Lappen zusammengesetztes Kleid ' anhat. * 1 Auch das viel¬
fältig zusammengeflickte Haarkleid Allerleirauhs (K. H. M, I, 65) gehört in diesen
Zusammenhang. „Allerleirauh“ ist bekanntlich eines von jenen Märchen, die
einer verhältnismäßig geringen „Zensur" unterlagen und daher das Inzest-
Mutter des Aino, von ihrem Vater schwanger, in einen Kasten gesteckt und ins Wasser
geworfen*“ — Um noch einen Grund zur Analyse der Aussetzung beizubringen, ver¬
weisen wir auf das Zitat eines Traumes bei Rank (Mythus, S. 96), zu dessen Deutung
gesagt wird: „Dazu kommt die gleichfalls typische Auffassung der Gravidität als
infektiöse Krankheit.“ — Schwerkranke — bei denen Ansteckungsgefahr besteht,
werden von den übrigen Menschen abgesondert, — ausgesetzt. (Vgl. die Wörter Aussatz,
Aussätziger usw.) —■ Auch dieser Grund mag in primitiven Zelten fiir die Aussetzung
einer Schwangeren ausschlaggebend gewesen sein.
1) Auch im Märchen von „Brüderchen und Schwesterchen“, Grimm, K.H.M. I, 11,
handelt es sich um Geschwisterinzest. Das Brüderchen wird dort in ein Reh ver¬
wandelt. In den zahlreichen Parallelfassungen bei B olte-P oli vka I, Nr. 11, S. 86 ff.,
wird der Bruder deutlicher in ein Sexualtier umgewandelt; Vogel, Ziegenbock,
Hirsch, Stier.
4°
Dr. Franziska Juer und Dr. Otto Marbach
Verhältnis (Vater-Tochter-Inzest) ziemlich unverdrängt zur Schau trägt. — Auch
der Mythus kennt das Motiv des „Gefleckten“, 1 Die Völsunga-Saga läßt Odin
einmal von geflecktem Mantel umwallt erscheinen, und zwar in einer
Situation, deren tiefere Deutung wieder den latenten V ater-Tochter-Inzest er¬
kennen läßt. 2 Ein Zug, der um so auffallender ist, als die Sage Odin gewöhnlich
einen einfarbig dunklen Mantel tragen läßt Warum also just hier dieses Ab-
weichen von der Tradition? Wir meinen aus den angeführten Beispielen — die
sich aus dem Gesamtmaterial der Mythen und Märchen der Weltliteratur
natürlich noch entsprechend vermehren ließen — bereits erkannt zu haben, was
das Symbol des Scheckigen, Gefleckten, Genickten usw. bedeute. Es weist
immer auf einen Inzest hin. Es ist das optisches Symbol für den Inzestwunsch
dessen, der als scheckig, gefleckt usw. erscheint, oder das Kennzeichen einer
Inzestfrucht — wie in unserem Fall. Eine Abschwächung des Motivs ist es
bereits, wenn sich die Befleckung nicht über den ganzen Körper erstreckt,
sondern nur auf einzelne Teile (gewöhnlich Genitalsymbole: Hand, Finger;
oder symbolische Gegenstände: Ei, Schlüssel usw.). Diese Befleckung wurde
bereits zur symbolischen Strafe und ist als solche mit Angstaffekten behaftet. (Blut¬
flecken, die man nicht mehr entfernen kann! Grimm, K. II. M. I, 5 jMarien-
kind], I, 46 [Fitchers Vogel], Perrault „La bar he bleue“, Lady Macbeth usw.)
Diesen Teil des Motivs hat O. Rank bereits in seinem Werk „Das Inzestrnotiv
in Dichtung und Sage“ (S. 262, Anmerkung) besprochen und als Onanieangst
gedeutet.
Da aber Onanieangst, wie Kastrationsangst aus dem Inzestkomplex abzu¬
leiten sind, können wir endgültig folgende Wurzeln für das Motiv des Gefleckt-
seins oder der Befleckung anführen: I) Inzestwunsch: 2) symbolische Mani¬
festation des vollzogenen Inzests; aj an der Frucht, bj ain eigenen Leib. In
letzterem Fall bedeutet die Befleckung (gewöhnlich mit Blut) nicht nur Mani¬
festation, sondern zugleich auch: )) Inzest strafe (Kastration).
Hier wollen wir einen sprachpsychologischen Versuch einschalten, zumal
das Auszuführende nur eine notwendige Ergänzung des angeschlagenen Themas
ist. Wir werden die Doppelbedeutung des Verbums „beflecken und der
übrigen Worte vom selben Stamm einer historisch - psychologischen Unter¬
suchung unterziehen und hoffen daraus die Aufklärung zu gewinnen, wie das-
selbe Symptom des Geflecktseins sowohl als Symbol für einen — moralisch
nicht gewerteten — Inzestwunsch, als auch als Symbol für die Inzeststrafe
stehen kann. Mit anderen Worten — wie kommen die Wörter vom Stamme
„piek*' zu ihrer übertragenen, moralischen Bedeutung? Ein Bedeutungswandel,
der nicht auf das Deutsche beschrankt ist, sondern allenthalben im Indo-
1) Der ägyptische Apis* Stier mit gefleckter Stirn, Tier-Gott der sexuellen
Erregung.
2) Vgl, „Bibliothek der ältesten deutschen Literaturdenkmäler“, Bd. 9* „Die
prosaische Edda“, lierausgegeben von E. Wilken, S. 155» Vöhiuiga-Saga, III, Kap.:
„ t maifr rinn gekk in i hollina; so maitr er momium dAtmnr at syn; sja mnär . . . heßr
heklu flekkota yfir ser * *
Eine südslawische Märchenparallele zum Urtypus der Roland-Sage 41
germanischen nachzu weisen ist. Die zugrunde liegende indogermanische Wurzel,
in ihrem Ablauts Verhältnis ist: piek — plok. — Die Grundbedeutung der zu
diesem Stamm gehörigen Wörter ist durchwegs eine sexuelle, mit starker
Betonung des sadistischen Elementes. Es ist ein Beweis für den „Gegensinn
der Urworte“, für die ursprüngliche Einheit von Liehe und Haß, wenn wir,
als zum selben Stamm gehörig, einerseits griechisch: jtXricKKö (schlagen), srkrjYirj,
lateinisch plaga (plango) ansetzen müssen, ferner eine germanische Wurzel:
Jlek (abreißen, Haut abziehen), altnordisch: fletta (entkleiden), littauisch: pleszti
(reißen, zausen), woraus man noch die sadistische Urbedeutung entnehmen kann,
zumal wenn anderseits ergänzend ein griechisches 7 iXiy\x a, izki\ (Spreizen der
Beine), Tthiyw; (interfemininum) hinzutritt. Sexuelle Bedeutung besitzt gleichfalls
der verwandte Stamm: ph, plquo (Korperhaar — ursprünglich Schamhaar),
hiezu griechisch jiuXlyycs, (lateinisch pilus), Die Grundbedeutung coire Hegt wohl
in dem germanischen plagian (sich schnell bewegen, spielen, tanzen; englisch
play) vor- Dazu faltaii (schlagen, stoßen), Falz, Balz (Begattung der Waldvögel).
Zu den Verben nl^aatw, plagian (an deren Grundbedeutung als Ausdruck für
die sadistisch-sexuelle Tätigkeit wir festhalten wollen), stellen wir zwei Reihen
von Substantiven, von denen wir annehmen, daß sie ursprünglich das mann*
liehe und weibliche Genitale bedeuteten. Denn einerseits wäre hier ein ger*
manischer Stamm: piekto (keilförmiges Stück) anzuführen, wozu plegga, plugga
(Pflock, Nagel usw.) und schließlich auch plogu (Pflug -— ursprünglich: Keil)
gehört. Zinna! in letzterem Fall ist die phallische Bedeutung (des Pfluges) bis
in späte Kulturzeiten bewahrt worden. Einem germanischen plagila entspricht
das deutsche „Flegel**, das das Grimmsche Wörterbuch in der Bedeutung von
penis zitiert, 1
Das Wort Flegel hat übrigens die ursprüngliche Doppelbedeutung behalten,
da es sowohl penis, als auch — und zwar in seiner gewöhnlicheren Bedeutung —
einen „groben Flegel * bedeutet, was noch das sadistische Element durch*
schimmern läßt. Ebenso sprechen wir von „Flegeljähren"' als den rohen
Pubertätsjahren. — Anderseits gehört zur Bedeutung von jiXVjoaeiv (breit schlagen)
das Substantiv nXu£ (das Breitgeschlagene, die Fläche), und entsprechend alt¬
nordisch: fiekhr ; althochdeutsch: flecco, fiech; mittelhochdeutsch: vlec(e); neu¬
hochdeutsch: Fleck. — Halten wir dazu altnordisch: fiaka (sich Öffnen), fiak
(Scheibe), flikja (gähnen, klaffen, sich öffnen), Jlik (Zipfel), flikkia (Speckseite),
flaiki {eigentlich: abgeschlitztes Stück, Fleischlappen, Fleisch), lettisch: plade
(Mutterkuchen, placenta ) 9 so erhellt daraus die ursprüngliche Bedeutung: weib*
lieh es Genitale. Eine Verschiebung liegt vor, wenn nun als „Fleck“ dialektisch
die Schürze der Frau bezeichnet wird. Die Bedeutung: „Fetzen, Fleisch“ ist
erhalten in „Kuttelfleck“. „Flecken" in der Bedeutung „ Aufschneiden, Prahlen“
1) J t und W. Grimm: Deutsches Wörterbuch, Artikel „Flegel“. , und kan
ich iiit treachen niit dem flegel so so! man mich besehenden vor allen frauen,“
„mein flegel sol nit in deiner Scheunen treschen“. Zu den zitierten Wortstämmen
vergleiche die entsprechenden Artikel bei A, Fick: „Vergleichendes Wörterbuch der
indogermanischen Sprachen.“
42
Dr. Franziska Juer und Dr. Otto Marbach
ist in dieser Bedeutung nur zu erklären, wenn man als Grundbedeutung coire
annimmt, mit dem Nebensinn des kraftvollen Selbstbewußtseins. Die ältere
Sprache verwendet, wie man aus dem Grimmschen Wörterbuch ersehen kann:
beflecken = flicken (etwa: einen Schuh beflecken). Wir müssen also für die
Verba flecken, beflecken, flicken, als Grundbedeutung: coire annehrnen, zumal
das Sadistische in der Redensart: „einem die Haut, das Fell, den Hintern
flicken, am Zeuge flicken“ noch durchschinmiert, während bayrisch -öster¬
reichisch: „einen flicken 4 * soviel bedeutet wie „mit einem Kameradschaft, Um¬
gang haben**. Außerdem gehört zu unserer Wurzelgruppe noch die Wurzel:
npluk u 7 die unserem „Fliegen“ zugrunde liegt (gotisch: Jliugan) f dessen sexual-
symbolische Bedeutung bekannt ist. „Flicken“ ist überdies verwandt mit
„Ficken“ (vom Stamme: fiti, dazu griechisch: nomEXo;, bunt gefleckt); ger¬
manisch: fehjan (bunt machen, beflecken). — Wir halten demnach die sexuelle
Urbedeutung von „flicken, beflecken“ (“ coire) und „ Fleck > Flick 44 (Genitale)
fiir erwiesen. Diese reale Urbedeutung unterlag der Verdrängung und ver¬
flüchtigte sich zum Symbol. Seine Herkunft verrät dieses Symbol noch in der
Geschichte von den gefleckten Schafen Jakobs (I, Mos. 50, »8 ff.). Das Geflockte
erscheint ah Zeichen besonderer Geilheit, sexueller Über kraft und schließlich
physischer Kraft überhaupt. Außerdem ist dort das Gefleckte ein Symbol
wunderbarer Befruchtung. (Die Schafe werden an geschälten [gefleckten] Stäben
brünstig. I, 50, 57—59.) Das gefleckte Tier betont also die Sexualkraft des
Tieres, die sexuelle Obergewalt gegenüber dem Menschen. Wenn man sich
die Tierzeichnungen der Primitiven ansieht, wird es auffallm, wie sehr das
Scheckige, Gefleckte betont wird. 1
Aber nicht nur die größere Sexualkraft hat das Tier vor dem Menschen
voraus — es genießt außerdem den heiß beneideten Vorzug, keine Inzest¬
schranke anerkennen zu müssen. So finden die latenten Inzestwünsche ihren
Ausweg im symbolischen Ausdruck der Identifizierung mit dem Tier. —
Allerleirauh z. B. bezeugt durch ihr tierisches Fellkleid den Wunsch, ihrem
inzestuösen Drang nachgeben zu dürfen — wie die Tiere des Waldes, denen
sie sich angleicht. 2
Wir glauben die Symbolisierung des Inzestwunsches durch das Scheckige,
Fleckige usw. bereits ausreichend erklärt zu haben und wenden uns der Auf¬
deckung jenes psychischen Mechanismus zu, der aus dem Fleck, dein Zeichen
sexueller Überkraft, also etwas Auszeichnen dem, jedenfalls nichts Herabsetzendem —
den Schandfleck machte. Auch diesen Vorgang deuten wir um besten an
1) Siebe Reinhard Piper: Das Tier in der Kunst, München 1923. Abb. 6: Rinder¬
raub — Buschmann‘Zeichnung. Von dreizehn Rindern sind nur zwei ungedeckt,
Abb. 41 : (Zwei Pferde; chinesisch.) Naturalistische Darstellung ist gewiß nicht der
einzige Grund.
2) Zu der von Rank (Inzestmotiv, S. 594) ausgesprochenen Meinung: , in
diesem Märchen wird der , , . Inzest , . , ermöglicht, indem die Tochter ihr Ge licht
entstellt, so daß sie vom Vater nicht erkannt wird * « «teilt unsere Ansicht nur
eine Überdeterminierung dar.
Eine südslawische Märchenparallele zum Urtypus der Roland-Sage
45
Hand der biblischen Erzählung vom ersten Schandfleck: dem Kainszeichen.
Daß die eigentliche Sünde Kains der Inzestwunsch ist und der Brudermord
nur dessen Folge, ist freilich aus dem manifesten Bibeltext, dem Resultat
strenger Verdrängungsarbeit., nicht mehr zu ersehen. Aber es ist kein Zufall,
daß fast jede höher zu wertende dichterische Gestaltung des Stoffes (Byron,
Wildgans) als tiefste Triebkraft in Kain die latente Inzestgier hinstellt. Auch
läßt sich die ursprüngliche Wahrheit indirekt aus der Bibel selbst rekonstru¬
ieren. Der Paradiesesmythus ist schon als dem Inzestkomplex entwachsen ge¬
deutet worden. Kain handelt nun an Adam, wie jener einst gegen Gott-Vater.
Auch daß Kain ein Ackerbauer ist (also: „die mütterliche Erde*' -—■ juyrQcpav
ÜQou(>uv [Ödip, Tyr* 1256 f.] bebaut), hat symbolische Bedeutung. Das Zeichen,
das Gott Kain aufdrückt, wird freilich rationell erklärt und soll Gottes Milde
anzeigen. (I, 4—15 „Und der Ewige setzte Kain ein Zeichen, daß ihn nicht
erschlage, wer ihn fände. ) Aber fortan ist Kain durch das Mal allen Men¬
schen gekennzeichnet. Dieses Mal — gemäß der Überlieferung: ein Fleck auf
der Stirne — fordert unsere Aufmerksamkeit. Durch den Fleck ist der inzestuöse
Kain als der Sünder gekennzeichnet, der sich wider das Gebot des sexuellen
Tabu vergeht* Der Fleck verrät den Sünder auf dem Gebiet des Sexuellen,
d. h. denjenigen, der die Ursünde begeht, sich gegen das Urverbot der Inzest¬
schranke aufzulehnen. Was das Ziel seiner frevelhaften Wünsche ist, das mütter¬
liche Genitale, was sein Begehren und \ orstellen innerlich erfüllt, wird —
zur Strafe — symbolisch nach außen projiziert. Diese schmachvolle Kenn¬
zeichnung durch den Fleck wird infolge der immer strenger werdenden Inzest¬
verbote und der immer mächtiger werdenden Verdrängung mit den moralischen
Gefühlen des Abscheus und der Verachtung belegt — und wir haben den
psyschischen Ursprung des „Schandflecks“ gefunden. Wie schon erwähnt, kennt
das Märchen dasselbe Symbol: Blutfleck, der nicht mehr abzuwaschen (rein¬
zuwaschen), gleichzeitig Verbrechen und Strafe anzeigend. Von hier geht der
Weg zum Verständnis des weitverbreiteten Motivs der Tier Verwandlung oder
des Geflecktseins, Schwarzseins (K. H. M. II, 121, 157) a ^ s Strafe und Ver¬
wünschung. Hiezu war aber bereits eine lange, zeitliche Entwicklung not¬
wendig. Eine Zeit, die schon so viel moralische Kultur entwickelt hat, das
Inzestverbot als oberstes Gesetz aufrechtzuhalten, fühlt sich durch diese Moral
über das Tier erhaben; zugleich ist ihr der Mensch schon so sehr das Maß
aller Dinge geworden, daß sie, wie moralisch nun auch ästhetisch wertend,
das (einst verehrte und beneidete) Tier im Vergleich zum Menschen häßlich
findet. Daher wird die Tierverwandlung oder auch nur die Annäherung an
eine solche — zur Strafe.
Wir weisen gleich hier auf diejenige Parallele zu unserem Märchen hin,
deren Wichtigkeit uns hauptsächlich bestimmte, dieses Märchen, in dem wir
eine Vorstufe der Parallelgestaltung erkannten, zu besprechen. In dieser kom¬
plizierteren Parallelgestaltung sind die angeborenen Flecken freilich bereits zu
Flicken der Kleidung geworden. — Wir meinen den Sagenkreis, der sich um
Roland gebildet hat, Uhland (der Forscher romanischer Sagenkreise) hat in
zwei seiner bekanntesten Balladen („Klein Roland ' u und „Roland Schildträger“)
44
Dr* Franziska .luer und Dr. Otto Marbach
den Roland-Stoff behandelt, Uhlands Quelle sind die spanischen ^ Noch es de
Jnuierno“ (Winternächte) des Antonio de Esclava (1609), die ihm in einer
deutschen Übersetzung des Mathias Drummer von Papenbach (Nürnberg 1715)
Vorlagen, Diese „Noches“ stimmen mit der literarischen Hauptquelle* die die
Roland-Sage im Zusammenhang behandelt, nämlich den „Real! de Francia“
überein. — Wir zitieren nun diejenigen Stellen der Uhlandschen Ballade
„Klein Roland“, die von den Flicken des Gewandes sprechen, Flicken — die,
wie wir behaupteten, der Verdrängungsrest angeborener Flecken (InaesUeiehen)
s * n ' V, 56 f. «Des Knaben Kleid ist wunderbar,
Vierfarb zusammengestückt * . . 41
V* 85 ff* „Wie Regenbogen anzuschaun,
Mit Farben mancherlei
„Ich hab bezwungen der Knaben acht
Von jedem Viertel der Stadt,
Die haben mir als Zins gebracht
Vierfaltig Tuch zur Wat*“
Man beachte, daß Roland hier den Spott wegen des vielfach geflickten
Gewandes zum Triumphzeichen seiner Stärke zu wenden weiß* — Wenn in
der Roland-Sage eine Parallelgestaltung zu unserem Märchen vorliegt, wäre
es interessant aufzuzeigen, daß auch Roland, wie der „Sohn der Königstochter“
einem Vater-Tochter-Inzest entstammt Man muß freilich bedenken, daß die
Sage verhältnismäßig spät entstanden ist und daher die ursprünglichen Motive
nur mehr sehr verdeckt erkennen lassen wird* Nach den „Reali de Franeia“
ist Bertha die Schwester Karls des Großen und wird von Milon von Angl ante
verführt. Der erzürnte König verurteilt Bertha zum Tode. Sie entflieht aber
mit dem Verführer nach Italien und gebiert in einer wüsten Felsschlucht bei
Siena einen Sohn — Roland. Nun erscheint aber Kurl der Große noch ein
andermal in derselben Rolle — und wir halten dieses andere Mal, da es einer
älteren Sage zugrunde liegt, für ursprünglicher* Eine schon im frühen Mittel-
alter verbreitete Sage war die von der Liebe Emmas, der Tochter Karls des
Großen, zu dessen gelehrtem Geschichtsschreiber Eginhard* (Siehe: Dahl,
„Über Eginhard und Emma.“ Darmstadt 1817.) Auch dort erscheint Karl
als der zürnende, dann aber verzeihende König — und Vater! Aber es ist
gar nicht nötig anzunehmen, daß diese Fassung auf die Bertha Milon Geschichte
erst übertragen werden mußte* Als König erscheint Karl Bertha gegenüber
ohnehin in Vaterrolle* Wir hätten also die typische Sagenfastung des Könige,
der seine Tochter eifersüchtig bewacht und keinem Bewerber gönnt, auch in
der Karl-Bertha-Sage zu sehen* Dies ist indes noch kein Inzest, und Roland
ist nach der Sage: Milons, nicht Karls Sohn* Freilich, wenn man sich der
bevorzugten Stellung erinnert, die Roland unter den Helden der Tafelrunde
König Karls einnimmt, der väterlichen Sorgfalt und Liebe, die Karl seinem
Neffen Roland angedeihen läßt — so konnte man doch wieder vermuten, daß
hier ein Vater Sohn-Verhältnis vorliegt* Wir werden im folgenden noch einige,
nicht unbedeutsame Beweise für die Richtigkeit dieser Ansicht erbringen.
Eine südslawische Märchenparallele zuin Urtypus der Roland-Sage
45
„Sie war nun wieder sehr traurig, weil sie für ihren Sohn keinen Paten hatte. Der Knabe
aber sagte zu ihr, als er sie fortwährend so niedergeschlagen sah : y Lieb Mütterchen , ich brauche
keinen Paten; ich habe genug Paten an diesen Flecken am ganzen Körpert Sprach die Mutter:
7 Äuch gut , wenn nur diPs recht ist.™
Die Trauer der Mutter hat ihren wahren Grund in der illegitimen Heim¬
lichkeit , der inzestuösen Abstammung ihres Sohnes. Der „Pate“ ist hier um¬
schreibendes Symbol für den „ Pater“. Der Vater ist nicht hier, um sein
Kind anzuerkennen! — Das ist der wahre Grund ihrer Trauen Daß „Pate* £
hier wirklich »Vater bedeutet, wird man um so eher einsehen, wenn man
sich der Bedeutung der geistigen Verwandtschaft erinnert, die die Kirche der
Patenschaft zuschrieb. Aus dieser Verwandtschaft erklären sich auch die Be¬
zeichnungen der Paten in der Kirchensprache als propaires , compatres — was
am besten als „Vaterersatz * zu übersetzen ist, womit man auch die tiefste
Bedeutung der Patenschaft aufgedeckt hat. Die Kirche selbst hat in konsequenter
Durchführung dieser Patenschaft als Vaterersatz das Paten Verhältnis zum Ehe¬
hindernis gemacht. Erst die Welle der Reformation beseitigte dieses Verbot.
Dementsprechend wird die et priori vorhandene Haß einstell ung des Knaben
gegen den fiktiven „Paten klar. Es ist die typische, radikale Vaterablehnung
des Helden. Er wurde, mit Ausschaltung des V aters — auf wunderbare Weise
gezeugt (Totenknochen) — er kommt vollkommen selbständig zur Welt, er
kann sofort herumlaufen und sprechen. — Welcher Zusammenhang besteht
aber zwischen dem „Paten" und den „Flecken am ganzen Körper“? — Rank
meint (Mythus von der Geburt des Helden, S> 144)? daß die Körperfehler
gewisser Helden (Ödipus, Hephaistos) vom Helden selbst als Schuld des Vaters
dargestellt werden, um eine Rechtfertigung für ihre feindliche Einstellung zu
haben . 1 2 — Auch in unserem Fall werden die „Flecken als Schuld des Vaters
empfunden, denn sie sind — nach den Ergebnissen unserer Analyse — die
brandmarkenden Kennzeichen der Inzestfrucht. Der Vater hat also die Schuld
an den entstellenden Körperfehlern und darum haßt der Knabe diesen Vater
von allem Anfang an. „Ich habe genug Paten an diesen Flecken“, heißt also
aus der Traum-Märchensp rache in die Sprache des Bewußtseins übertragen:
„Ich habe schon genug von dem Vater, der mich so schimpflich gefleckt =
befleckt hat. Ich brauche ihn nicht. w Wir sehen uns damit wieder bei dem
Thema von der „Reflecktheit^ angelangt und müssen noch eine letzte Ergän¬
zung dazustellen. Wir haben oben behauptet, die „Geflecktheit bedeute
sowohl Brandmarkung der Inzestfrucht, als auch Kennzeichen der Inzestlüstern¬
heit. Im Falle des Helden unserer Erzählung trifft beides zu — denn wie
gewöhnlich m jenen Erzählungen, die den Inzest mehrerer Generationen an¬
einanderreihen, ist auch hier der Inzestgezeugte selbst ein Inzestlüsterner . 3 —
1) Sehr sublimiert ist das Motiv auch in Ibsens „Klein Eyolf“ zu erkennen.
Deutlicher in den „Gespenstern«. — Das Motiv vom vielfarb geflickten Kleid, als
brandmarkende Schmach, liegt dem bunten Karrenkleid zugrunde. (VgL auch den
„Judetifleck“.)
2) Rank: Inzestmotiv, 557 . . Die Sucht nach Verstärkung der sündhaften
Greuel läßt den ersten Inzest zwischen Vater und Tochter geschehen, so daß die
46
Dr. Franziska Juer und Dr. Otto Marbach
Wir haben die Ansicht Hanks, derzufolge die Berußung (Aschenbrödel), Ent¬
stellung (Grimms Deutsche Sagen, Nr. i«i, Sage vom lliilfenberg nsw.), 1 2
Tierbehaarung (Allerleirauh) die geeignete Verstellung sei, um mit Umgehung
der Inzestscheu den abgelehnten Inzest dennoch durchzusetzen, nur dahin zu
erweitern, daß diese Motive — besonders das Motiv der Befleckung zugleich
auch die Selbstbestrafung anzeigen, da sie als Brandmarkung aufzufassen sind.
Diese Entstellungen dienen dem — oder meist der — Inzestlüsternen angeblich:
um dem Inzest zu entgehen — wirklich: um ihn durchzusetzen — aber zugleich
auch als Kennzeichnung dev begangenen Sünde. Die Kennzeichnung kann —
wie in unserem Fall — auf die Inzestfrucht übertragen werden. 3
Nachdem sie lange Zeit auf dem Meere geschifft, bekamen sie Land in Sicht, Der Knabe
sah zum Fenster hinaus und erblickte jemand , der in weiter Ferm in einer Kutsche fuhr .
Mütterchen? rief er aus, schau mal ? es führen Leute auf einem Wagen einen Iliihnerschlagr
Das ist ja kein Hühner schlag* erwiderte die Mutter, ,sondern eine Kutsche, in welcher der
König den Mähern das Essen bringt * . *. Der Knabe beschließt, durchs Fenster hinauszuschlUpfen
und dem König die Speiseti wegzunehmen — obwohl sie sich auf dem Meer befinden, hr springt
ans Ufer, läuft der Kutsche nach , ,raffte alles Eßwtrk zusammen und kehrte zum Schiff ans
Gestade zurück *•“
Dieses Verwechseln der Klitsche mit einem Hühnerschlag sieht aus wie eine
lächerliche Dummheit, Im Grunde ist es aber eine gehässige Degradierung,
eine Beschimpfung des Vaters — unter der Maske naiver Dummheit. Wir
berühren damit das große Gebiet des Dummstellens der Märchen- und
Sagenhelden (Brutus, Hamlet, Parzifal). Rank hat bereits (inzestmotiv, sfii)
das Dummstellen, erwachsen aus dein Forschungßverhot gegen die kindliche
Sexualneugierde dargestellt: . . das spezifische Merkmal dieser Dummheit,
Mutier zugleich die Schwester ist, also ein doppelter Inzest mit ein und derselben
Person verübt wird,“ (Zum Beispiel Historia Albani marlyris, Hniiptmonatsbericht
der Akademie zu Berlin 1860* S* 141 ff*, und Legende von Sanctus J ulmnus Hospitator
in „Gesta Romano rum“ [häufiges Motiv der Dichtung: Lope de \ ega, l'laubcrt].)
1} Eine ganz ähnliche Legende findet sich auf einem der vielen alten Votivbilder
der Wiltener Pfarrkirche (bei Innsbruck), Ein König will seine Tochter zur Heirat
zwingen. Sie aber hat sich dem Heiland gelobt In ihrer Bedrängnis ruft sie zu Gott
und der Heiland verändert ihr schönes Gesicht, indem er ihre Züge vollkommen
seinen eigenen angleicht, wahrend doch der iihrigo Körper mädchenhaft bleibt, (Das
Bild stellt ein Mädchen mit Christusgesicht dar,) Der erzürnte Vater läßt die un¬
gehorsame Tochter, wie Christus, kreuzigen.
2) Das „mißgestaltete Kind“ ist ein eigenes Kapitel der Märchen Lorsch ung.
(Vgl. Grimm, K* H, M *, Nr. 108, „Hans, mein Igel“*) Häufig erscheint das Neugeborene
in Träumen weiblicher Personen als Tier dargestellt* (Siche Rank: „Mythus von
der Geburt des Helden“, Ilf, S, goff*, Zitat nach Abraham (Traum und Mythus,
S. 22 ff,, „Ich hebe also eine Klappe im Fußboden auf, sogleich erscheint ein in einem
bräunlichen Pelz gekleidetes Geschöpf * * * Es wirft den Pelz ab und entpuppt sich
als mein Bruder . , «) Die Häßlichkeit des unmittelbar Neugeborenen hat wohl diese
Tierassoziation hervorgerufen. — Übrigens wäre im vorliegenden Fall auch die Mög¬
lichkeit unbewußter Inzestwünsche zu erwägen: „Bruder ♦ , -* dem die 1 räumerin
mütterliche Gefühle entgegenbrachte , .
Eine südslawische Marchenparallele zum Urtypus der Roland-Sage
+7
die sexuelle Unwissenheit des Kindes „ . . wozu auch die Verstellung am besten
paßt; denn das Kind stellt sich eigentlich immer dumm, es weiß viel mehr,
als man ihm gewöhnlich zutraut/ 4 Zugleich ist der besprochene Fall ein Bei¬
spiel, wie die Dummheit als notwendige Larve dient, unter deren Schutz die
Auflehnung gegen den Vater, die durch das For sch ungs verbot nur immer neue
Nahrung erhalt, in Beschimpfungen des Vaters entladen werden kann. (Künst¬
lerische Verwertung dieses Motivs im Shakespeareschen Hamlet)
Das Motiv vom w egge nommenen Essen gehört nun wieder in den Kreis
der Roland-Sage. Wir werden sehen, wie sich das Motiv bis zur Wegnahme
der Speisen von des Königs Tisch steigert. Die gewöhnliche Märchenfassung,
wo es sich um „Hungernlassen handelt, ist die, daß der Vater oder Vater-
Imago (etwa Wirt) dem Helden keine Speise vergönnt. Die hier vorliegende
Komposition erklärt sich aus der Vergeltungslust, denn hier nimmt eben der
Sohn dem Vater das „Essen“ weg. Zugleich vollfuhrt er diese Heldentat für
die Mutter — und gegen den \ ater. Er ist also Rächer der Mutter am treu¬
losen Vater, und zugleich maßt er sich als Ernährer, Erhalter der Mutter,
selbst die Vaterrolle an. — Vergleichen wir die Situation mit der Roland-
Sage: Dort wird erzählt, daß Milan, der zunächst die Seinen von seiner Hände
Arbeit ernährt, eines Tages in einem Bach versinkt, worauf der vierjährige
Roland fortab Ernährer und Erhalter seiner Mutter wird.
„Nachdem sie wieder eine Weih auf dem Meere gefähren y erblickte der Knahe ein großes
Schloß und sprach zur Mutter : fichau, Mutter , dort die ungeheuer große Hühner steiget —
,Das ist , mein Kind , keine HühnerSteigef antwortete sie , ^sondern ein verwunschenes Schloß
mit zwölf Zimmern und in jedem Zimmer ist ein Teufet***
Man beachte, daß der Märchenheld, obwohl er bereits an Land gegangen
war, doch wieder auf das Meer zurück kehrt. Auch die Mutter — obwohl das
Schiff schon am Gestade log — betritt das Ufer nicht. Es liegt hier eben
wieder der Wunsch zugrunde, die Zeit des „Schwimmens auf dem Meer“,
des Vereintseins mit der Mutter — die Zeit des Fötalzustandes möge nicht zu
rasch beendet sein. — Die Verwechslung von Schloß und Hühnersteige ge¬
schieht wieder der Tendenz des Dummheitsmotivs zulieb. — Zur Deutung
des Motivs vom verwunschenen Schloß nur soviel: Schloß (wie Haus) ist
Weib-, Muttersymbol, Das „verwunschene Schloß“ befindet sich in der Macht
eines Unholdes (Vater-Imago; meist Doublierung). Der Held besiegt, vertreibt
den Unhold und erlöst das Schloß, wobei überdies als zweite Mutter-Imago
meist die zugleich mit dem Schloß erlöste, verwunschene Prinzessin erscheint —
die er in Erfüllung seines Inzestwunsches — heiratet. Hier ist der Sohn
ohnehin mit der Mutter vereint — also fehlt das Motiv der verwunschenen
Prinzessin. — Der Wunsch des Helden geht nach Unabhängigkeit; er wünscht
den Vater aus dem Haus zu treiben und allein mit der Mutter zu wohnen.
„Sprach der Knahe: ^Mütterchen, weißt du was? Ich gehe hin , vertreibe die Teufel und
wir bewohnen dann das Schloß selbst.* Erwiderte die Mutter: JVas fällt dir nicht ein? Wie
willst du die Teufel allein vertreiben, das könnte ja nicht einmal ein ganzes Regiment Soldaten,*
Aber der Knabe springt doch ans Ufer , zieht das Schiff ans Land und findet einen zehn
Zentner schweren Knüttel aus Blei (PhallusSymbol, wie alle berühmten Götter- und Helden-
4 8
I)r. Franziska Juer und Dr. Otto Marbach
waffen). > Er geht im Schloß , pocht an die erste Tur, der leufel fragt: ,Her da Der
Knab/erzählte ihn, wer er sei , doch der Teufel wollte ihn keinen hmhß gehren. Da er¬
grimmte der Knabe, schlug mit seinem Bleiknüttel auf du Tür los, dqß s,e nt Stucke zerfiel
und fand den Teufel damit beschäftigt, das Zimmer auszukehren.™
Wir erkennen das Motiv von der verbotenen Tür, das Hank (Inzestmotiv,
261) auf das Verbot nachzuforschen, d. h. nach dem sexuellen Geheimnis zu
fragen, zurückführt. (Vgl. auch Freud: „Traumdeutung“, VI, S. 241.) Die oben
zitierte Stelle ist diesbezüglich äußerst instruktiv: Der Teufel (Vater-Imago)
fra^t wer draußen sei. Die Antwort, aller Symbolik und Verdrängung der
Märchenarbeit entkleidet, müßte lauten: dein Sohn! — Natürlich wird er nicht
eingelassen und empfindet dieses Verbot, seine sexuelle Neugier zu befriedigen,
als grausame Tyrannei, gegen die er sich mit Gewalt auflehnt. Wir müssen
daran wieder erkennen, wie konsequent das Märchen in der Komposition
seiner Motive ist. Dein Motiv der Sexualneugier entsprach bereits das Dumm¬
stellen und nun — gleichsam als Beweis — das „Zertrümmern der verbotenen
T^r“, das „Eindringen in das verbotene Zimmer. — Und was geschieht
hinter der verschlossenen Tür? Der Teufel fegt das Zimmer aus. Dies wäre
wörtlich genommen, lächerlich in seinem grotesken Unverhältnis zwischen
gespanntester Erwartung und banalster Tatsache. Doch dieses „Zimmer-Ausfegen
wird uns zuin Beweis, wenn wir uns der obszön-symbolischen Bedeutung der
Redensart entsinnen. „Fegen“, „Kehren“, „Auskehren sind ebenso Symbole
für „coire“, als der „Besen“ Penissymbol ist. (Die Hexen reiten auf Böcken
und Besen. Beides Phallussymbole. — Der Aberglaube schreibt dem Kamin¬
feger [bayrisch-österreichisch: „Rauchfangkehrer“] glückbringende Macht zu ■
daher gleichfalls Phallussymbol.) Der Märchenheld findet sich also in seiner
Erwartung nicht getäuscht — hn Gegenteil: sein Verdacht wird bestätigt, seine
Neugier befriedigt. Aber die Lust der befriedigten Neugier wird aufgewogen von
der Unlust der Erkenntnis, daß die Eifersucht auf den Vater nur allzu
begründet sei - von der Unlust der geschauten Wahrheit. Dies das
Motiv, das dem „Verschleierten Bild zu Sais“ zugrunde liegt.) — Und dein-
entsprechend sein Verhalten:
1) Hieher gehören z. B. Jupiters Donnerkeile, Donors Hammer, Odins bpeer,
Herakles’ Keule, Simsons Eselskinnbacken, Siegfrieds Schwert. In der nor isch-
germanischen Mythologie haben diese besonderen Waffen und Uernte eigene Hamen,
sowie besondere* eigene Entstehungsgeschichten. /um Beispiel Httlmiin^, ***** *
Schwert, — Weisung, Dielleibs Schwert (im mittelhoch deutschen epischen Gedicht
„Biterolf“), — Hildegrin, Dietrichs Helm usw. Die Waffe ward wie cm Glied dee
eigenen Körpers behandelt und mit Liebe umgeben, — wie eben nur — das Olied,
auf primitiv auto-erotischem Standpunkt* (Kinderonanio, zärtliche Namen ur in
Penis*) In der Waffe — wie im Glied — liegt des Helden Kraft. Nicht zu un-
bedeutende Rudimente dieser psychischen Einstellung begegnen wir auch noch m
modernster Zeit — auch heute. Eine Art übertriebener Kult gewisser Personen,
meist Virtuosen oder Sportsleute, mit „ihrer“ Geige — „ihrem“ Racket usw. . . .
Das Gemeinsame zwischen Symbol und Symbolisiertem ist das, worin oder u onut
man stark, unübertroffen ist — oder sein will.
Eine südslawische Märchenparallele zum Urtypus der Roland-Sage
49
züchtigte ihn und schickte ihn ans Gestade zur Mutter ^ nachdem er ihm eingeschürft ,
sich beileihe nicht an ihr zu vergreifend (!)
So rächt sieh der Held an dem Vater-Nebenbuhler* Er züchtigt ihn, weil
er ihn „in flagranti " darüber ertappte, wie er sich an der Mutter „vergriff“
(sadistische Auffassung des Koitus) und verbietet es für die Zukunft. Zugleich —
um mit seiner Kraft zu prahlen — schickt er den überwundenen und ge-
demütigten „Teufel zur Mutter. D. h. er zeigt ihr an, daß er stärker sei als
der Vater, daß er diesen Tyrannen, der ihn quäle und sich an ihr „vergreife a ,
zum gehorsamen Sklaven gemacht habe.
„Ebenso machte cr's auch vor den anderen zehn Türen. Als er an der zwölften an klopfte,
meldete sich von drinnen der Teufel: fVer da? Antwortete der Knabe t Jch hin der und der}
Doch der Teufel entgegnetc: fch kann dir nicht öffnen; denn ich bin mit einer Kette fest-
geschmiedet} — Da schlug der Knabe mit seiner Keule die Tür durch, daß das ganze Schloß
erdröhnte und der Teufel voll Entsetzen mit dem äußersten Aufgebot seiner Kräfte die Fesseln
sprengte , mit welchen er fest ge schmiedet war . Nun schickte er auch diesen zwölften Teufel
zur Mutter?
Wir begegnen hier dem — in slawischen und orientalischen Märchen be¬
sonders häufigen Motiv vom „gefesselten Unhold", (VgL etwa „Der Geist in
der Flasche" aus 1001 Nacht und das Märchen vom „Stahlpascha“ bei F, S*
Krauß; „Sagen und Märchen der Südslawen“, I, Nr* 54.) 1 — Zur Deutung
dieses Motivs erinnern wir uns der Unabhängigkeitssucht des Sohnes. Er will
dem Vater nichts zu danken haben . . . „und muß es doch immer wieder
empfinden, daß er ihm eigentlich alles zu verdanken habe, da er ihm das
Leben verdankt* Diese Schuld ist nur abzutragen, wenn der Sohn dem Vater
Gleiches mit Gleichem vergilt, wenn er ihm das Leben rettet, als Gegen¬
geschenk für seine eigene Gehurt*" (Rank: Inzestmotiv, 104^) Den symboli-
1) Inhalt des Stahlpascha ist, in aller Kürze, folgender: Ein Kaiser hat drei
Sohne und drei Tochter* Als er stirbt, befiehlt er seinen Söhnen, sie mochten die
Schwestern dem ersten, der da kommt, verheiraten(I) Der Kaiser stirbt und bald
darauf erscheinen dreimal hintereinander mächtige Flammen geslallen, die jedesmal
nach einer der Schwestern verlangen* Die beiden älteren Brüder wollen sie ver¬
weigern, der jüngste gibt die Schwestern an die unbekannten Gewalten* Schließlich
bedrücken die Brüder Zweifel wegen des Schicksals der Schwestern und sie be¬
schließen, sie aufzusu dien. Auf der Wanderschaft erlegt jeder der drei einen Drachen,
der sich nachts aus dem See, an dem sie immer rasten, erhebt* Jeder schneidet dem
Untier die Ohren uh (Vater-Kastration), Außerdem besteht der Jüngste, während die
Brüder schlafen, ein Abenteuer, indem er eine Menge menschenfressender Hünen
tötet und so eine von den Unholden schon fast ganz entvölkerte Stadt erlöst. Als er
die Stadt durchwandert, gelangt er in einen Turm, wo eine schöne Prinzessin
schlummert. Gerade will eine Schlange sic beißen (!), er aber durchbohrt das Tier
mit seinem Schwert, heftet es an die Wand und wünscht, daß niemand außer ihm,
das Schwert wieder herausziehen könne. Der Kaiser der Stadt freut sich über die
Erlösung und verspricht dem Helden großen Lohn. Um den unbekannten Befreier
zu finden, läßt er in allen Wirtshäusern nachforschen* Die Brüder kehren in einem
Wirtshaus ein, der Wirt erfährt, daß der Held unter ihnen sei und meldet es dem
Imago XII
4
Dr* Franziska Juer und Dr* Otto Marbach
sehen Ausdruck dieses Gedankens gibt z. B. das Märchen vorn „Stahlpascha 44 .
(Siehe die Anmerkung ) Dort haben wir es mit einer der in Traum und
Märchen so beliebten „Umkehrungen* 4 zu tun. Die schreckliche Lage der ge¬
fesselten Vater-Imago ist die— Fötalsituation. (Vgl* Rank: „Das Trauma der
Geburt.“) Der Sohn schenkt dein Vater-Imago-Fötus das Leben, indem er ihn
mit Lebenswasser beschüttet. Drei Leben schenkt ihm die Vater-Imago (Häu¬
fung) die er sofort durch drei Belebungen vergilt. Wie der Vater dem
Sohn — so schenkt der Sohn dem Vater: Leben — und schuldet ihm fortan
nichts mehr. Aber der Vater raubt das Weib. Der Vater steht daher in Schuld —
er tut dem Sohn, der ihm nichts mehr schuldet -— Unrecht an. — Dies der
Sinn des Motivs vom „gefesselten Unhold £ \ In unserem Märchen ist das Motiv
freilich abgeblaßt und mehr angedeutet als konsequent durchgeführt.
Hierauf begab er sich selbst dorthin und sagte: ,Jetzt schwört mir, daß ihr nimmermehr
in dieses Schloß wiederkommen wollt!* — Alle 7 Imfel sein vor en^ y nur einer nahm Reißaus und
suchte zu entfliehen 1 . Er schleudert ihm die Keule nach, der Teufel verendet und wird ins
Meer geworfen. Die anderen Teufel entfernen sich für immer. Der Knabe wohnt fortan mit
seiner Mutter im Schloßt
Der „eine 44 Teufel ist natürlich (in Anwendung des über das Motiv vom
„gefesselten Unhold“ Ausgeführten) der zwölfte Teufel, also Vater-Imago. Der
unbestimmte „eine Teufel“ entspringt der Verdrängung, denn hier liegt sym¬
bolisch das Motiv der Vatertötung vor. Man beachte, wie der Held in vier¬
stufigem Aufbau von bloßer Vaterablehnung zum Vatermord gelangt,
1) Ablehnung („Brauche keinen Paten!“) und Beschimpfung („Hühnersteige“)*
2) Wegnahme des Essens,
)) Überwindung der Teufel (Vater-Doubletten).
4) Tötung des zwölften Teufels (Vater-Imago).
Kaiser. Der Jüngste bekommt tatsächlich die Tochter des Kaisers, die beiden älteren
Brüder kehren heim. Obwohl verheiratet, „vermehrt sich der Jüngste in Sehnsucht
nach seinen Schwestern“ (!) Einst läßt der Kaiser seinen Eidam allein und übergibt
ihm neun Schlüssel. Acht Türen dürfe er öffnen — die nennte nicht * . * „sonst
würde es ihm schlimm ergehen“. — In der verbotenen Kummer „befindet sich ein
Mensch, die Füße bis zu den Knien, die Arme bis m den Ellenbogen in Eisen
festgeschmiedet, dünn stunden auf vier Seiten vier Pflücke fest eingerammt, an
welchen schwere, eiserne Ketten befestigt waren, deren Ende jenem Manne um den
Hals sich wanden und ihn so stark schraubten, daß er nicht die geringste Bewegung
machen konnte“. Er fleht den Prinzen um Wasser. Der gibt ihm zwei Krüge zu
trinken und erhält dafür zwei Leben geschenkt. Einen dritten Krug schüttet er,
auf inständiges Bitten des Gefesselten, ihm über das Haupt; sogleich fallen die
Fesseln ab, Stablpaschn breitet seine Fittiche aus. raubt die Kamerftochtcr, das Weib
seines Erlösers, und entflieht mit ihr* Der Kaiser kehrt heim, macht dem Un¬
gehorsamen Vorwürfe, sucht ihn aber von seinem Vorhaben, die Verlorene wieder
zu suchen, abzubr fugen (!) Auf seiner Reise findet der Prinz zunächst die drei
Schwestern als Gemahlinnen des Dradicnkaisers, des Fulkeukaisers, des Adlerkaisers.
Alle drei Schwäger versprechen Hilfe und schenken eine Feder* Nach drei mißglückten
Versuchen gewinnt er auch mit ihrer Hilfe sein Weib wieder.
Eine südslawische Märchenparallele zum Urtypus der Roland-Sage
Hiemit wäre der erste Teil des Märchens beendet. Die Wiederholung des
Motivs vom geraubten Essen bildet den Übergang. Der zweite Teil baut sich
in derselben Stufenleiter aus denselben Motiven auf. Übergangsmotiv: Wieder¬
holung: Speisenraub an den Marktleuten. Schema des Aufbaus im zweiten Teil:
Ij Beschimpfung des Königs („Wildschwein“).
2) Wegnahme des Essens von der königlichen Tafel.
}) Überwindung der Soldaten (Vater-Doubletten).
4) Motiv vom Kopfabschlagen (Selbstbestrafung).
Wie in den Träumen, so herrscht auch hier, je weiter das Märchen fort¬
schreitet, größere Deutlichkeit.
„<Jetzt gu?g der Knabe mit seiner Mutter ms Schloßt um dort zu wohnen. Sie fanden dort
Geld und Schätze im Überßuß, nur nichts zu essen . Da sie Hunger bekamen , sagte die Mutter
zum Salme: ,Geh auf den Marktplatz und bring Lebensmittel nach Id aus P Der Knabe begab
sich mit einem großen Tuche und seiner Bleikeule auf den Markt und sagte dort zu den
Weibern: ,Füllt mir das Tuch mit Brot und bindet mir's zuP — Die Weiber füllten sogleich
das Tuch mit Brot und banden es zu, der Knabe warf es aber auf die Schulter und ging
weiter. Verblüfft sahen ihm im ersten Augenblick die Hökerinnen nach , dann erhoben sie aber
ein furchtbares Geschrei: ^Willst du uns denn nicht zahlenP 6 7 So kommt her* rief er ihnen
zurück , yich zahle euch mit diesem Bleikolben heim!'
* . * Ebenso macht er es mit einem Fleischhauer 7 dem er einen Ochsen wegnimmt } ohne zu
zahlen* Das Brot über der einen Schulter , den Ochsen über der andern , kehrt er heim . . *
Da sprach die Mutter: 7 Du bringst ja das ganze Geld zurück , warum hast du nicht gleich
bezahlt ? i Antwortete der Knabe ; ,Du hast mir nur gesagt 7 ick solle Brot und Fleisch nach
Haus bringen , vom Zahlen hast du mir nicht gesprochen / Nachdem sie den ganzen Formt
verzehrt 7 schichte ihn die Mutter wieder in die Stadt und er machte es wieder, wie das erstemal.
Er wird also auf diese Weise wieder der Ernährer und Erhalter der Mutter.
Der seltsame „Einkauf“ ist eine ausgesprochene Eulenspiegelei. 1 Er hat auch
das Charakteristische der Eulenspiegeleien — nämlich die allzu wörtliche Er¬
füllung eines Gebotes. Hier verdeckt ein förmlich sklavischer Gehorsam gegen
die Mutter (sie hat nichts vom Bezahlen gesagt, daher bezahlt er nicht) nur
den Trieb, das allgemein gültige Gesetz über den Haufen zu stoßen. Das Gesetz,
das er verletzt, ist die Macht des Königs, — da der König die reale Verkörperung
des Gesetzes ist. Der Sohn, der sich gegen den Vater-König und sein Eigentums“
gesetz (Bezahlen!) vergeht, ist eben der Revolutionär.
n Die Leute waren über diese Raubzüge sehr erbittert und gingen zum König* ihn zu verklagen.
Der König ließ nun ein großes Gerüst erbauen, um von dort aus den Knaben zu beobachten , ,
Der König hätte also die Verpflichtung, die Übertretung seines Gesetzes an
dem aufrührerischen Sohn-Hel den zu rächen. Aber er beobachtet ihn von einem
Gerüst aus. Er ist also — ganz wörtlich — über ihn erhaben. So wie die
Vorstellung von einem allwissenden Gott, der vom Himmel aus alles sieht und
beobachtet. Außerdem ist der König durch die Höhe des Gerüstes vor etwaigen
Gewalttaten des Aufrührers geschützt — wie der erwachsene „große Vater“
vor der ohnmächtigen Wut des unerwachsenen, kleinen Sohnes.
j) Vgh Volksbuch vom Till Eulenspiegel, VI, Historie.
4’
52
Dr. Franziska Juer und Dr. Ollo Marbach
„Ein drummal raubt er wieder alles auf dem Markt, muß aber beim Heimweg am Gerüst
des Königs vorbei ...Der König rief ihn zu sich, klopfte ihn auf die Schulter und sprach:
,Komm morgen zu mir zum Essen . 1 — ,Gut, ich komme % antwortete der Knabe, /.u Hause
erzählte er seiner Mutter: ,Ein Wildschwein hat mich zwn Essen eingeladen — Antwortete
die Mutter: ,0 weh , warum hast du zu kommen zugesagt; sie werden dich ja umbringen
lassen? — ,0 Mutterberuhigte er sie, fürchte dich nicht um mich, ich bewältige sie alle.
Man beachte die Art der Einladung! Das „Auf-die-Schulter-Klopfen“ sieht
freundlich aus, dennoch plant der König-Vater natürlich — wie auch der weitere
Verlauf des Märchens beweist — die Vernichtung des Sohnes. Der Held konnte —
will das Märchen mit den Gedanken des Königs sogen — nur durch List unschädlich
gemacht werden — denn an Stärke ist er dem König überlegen. Aber eben auch
an List!_Unter der Larve der Dummheit ermöglicht er sich die Beschimpfung der
Vater-Imago. (»Wildschwein!“) Übrigens übersehe man nicht die Gleichsetzung des
Vaters mit einem phallischen Tier! (Totem.) Beweis, daß liier eine Beschimpfung
vorliegt — eine Beschimpfung des Vaters, der den Sohn tatsächlich umzubringen
gedenkt, ist der Ausspruch der Mutter, die die Situation in jeder Hinsicht durch¬
schaut. Sie weiß, wer mit dem Wildschwein gemeint ist, sie weiß auch, daß »sie ,
d. h. die Gewalt des Vaters, den Sohn „umbringen“ wollen.
„Am nächsten Tage nahm er einen großen Korb und begab steh in die königliche Burg.
Dort stellte er den Korb vor dis Tür und schärfte den Leuten ein , denselben um keinen Preis
anzurühren. Die Herrschaften insgesamt standen bei seinem Eintritt auf. Da wurde die Suppe
aufgetragen und der Knabe forderte die Herren auf, sie mögen jeder einen Löffel voll Suppe
aus seinem Teller nehmen. Sie taten''s, worauf er allen die Suppe auStrank , sich über alle auj-
getragtnen Speisen machte und alles rein wegputzte. Ebenso trank er allein den ganzen ff ein aus . 1
Also wieder das Motiv vom geraubten Essen. Wir sehen die dreistufige
Steigerung dieses Motivs, l) Diebstahl des Essens aus der Kutsche des Königs.
2) (In die Mitte des Märchens gestelltes Überleitungsmotiv.) Kaub der Speisen
auf dem Markt. 5) Raub der Speisen von der Tafel des Königs. Die Betonung
dieses höchst markanten Motivs erinnert uns wieder an die Roland-Sage. —
Uhlands Quelle berichtet die entsprechende Geschichte folgendermaßen: Als
Karl der Große von seiner Romfahrt heimkehrt, verteilt er in Siena an alle
Armen Almosen. Dies geschieht mehrere Tage hindurch und der kleine Roland
ist immer unter den Beteilten. Einmal aber kommt er zu spät. Er geht nun
unbedenklich in das kaiserliche Gemach und nimmt von der Tafel eine silberne
Spelseschüssely die er sogleich zu seiner Mutter trägt* Ebenso Bin nächsten .
einen goldenen Becher. Der Kaiser schreit ihn wütend an, er aber erschrickt
nicht, sondern faßt Karl am Bart und sagt: „Eines Kaisers Stimme ist nicht
stark genug, um mich zu erschrecken. M Und in Uhlands Ballade:
„Herein zum Saal klein Roland tritt
Als war’s sein eigen Haus*
Er liebt eine Schüssel von 1 iselies IVIilt
Und trägt sie stumm hinaus*
Der König denkt: ,Was muß ich sehn?
Das ist ein sondrer Brauch. 1
Doch weil er’s ruhig läßt geschelni.
So lassend die andern auch*
Eine südslawische Märchenparallele zum Urtypus der Roland-Sage
Es stund nur an eine kleine Weil 7 ,
Klein Roland kehrt in den SaaL
Er tritt zum König hin mit Eil*
Und faßt seinen GoldpokaL
,Heida! halt an, du kecker Wicht! 4
Der König ruft es laut.
Klein Roland läßt den Becher nicht.
Zum König auf er schaut,“ , , , (usw,)
Wir erkennen zunächst eindeutig, daß es sich hei unserem Märchen und
der Roland-Sage psychisch um dieselbe Geschichte handelt. Das Motiv ist das
vom armen Kind, dem Bettler jungen, der eigentlich der Sohn des Kaisers ist und
sich daher auch, als er eines Tages in des Kaisers Saal erscheint, mit Fug und
Recht benimmt „wie zu Hause"'*- (Familienroman,) Um das Problem ganz zu
erfassen, zitieren wir zunächst den folgenden Text unseres Märchens:
„Im ersten Augenblick war man darüber vor Erstaunen ganz verblüfft. Dann aber ließen
die Herren an allen Türen Wächter auf stellen und ein ganzes Regiment Soldaten in die Burg
kommen - Nachdem sich der Knabe satt gegessen, ging er hinaus , holte seinen Korb und füllte
ihn mit dem Rest der Speisen an, um sie seiner Mutter nach Haus zu bringen* Wie er aber
hinaustrat, fingen die Soldaten an, auf ihn zu schießen“
Hier tritt also die tückische Mordabsicht des Vaters klar zutage. Obzwar
es unausgesprochen bleibt (beginnende Verdrängung!), weiß der „König^ natürlich,
daß er den „Sohn“, den Aufrührer und Gegner vor sich hat und will ihn —
weil er dies weiß — töten, — In der Sage und in der Dichtung Uhlands
ist die Verdrängung soweit vorgeschritten, daß die Beschimpfung, die der König
dort Roland und dessen Mutter zufügt, nur aus Unkenntnis der Verwandtschaft
erklärt wird. j} er König ruft mit ein einmal:
,Hilf Himmel! seh ich recht?
Ich hab- verspottet im offnen Saal
Mein eigenes Geschlecht. 4
Wie zumeist in der Kunstdichtung ist eben auch hier ethische Umgestaltung
eines alten Motivs eingetreten.
„Die Kugeln prallten von ihm ab und er rief aus: y Hört doch auf mich anzuspucken, denn ,
fang"* ich zu spucken an, tst's um euch gar bald getan.' Doch die Soldaten stellten das Geknatter
nicht ein , darüber wurde er bbse y las die Kugeln auf und erschlug mit ihnen alle Soldaten.
Zum Schluß hohe er mit seinem Bleikolben aus und schlug mit einem Schlag die halbe Burg
in Trümmer.“
Der Held ist also — wie die meisten Helden von wunderbarer Geburt —
unverwundbar. Der Ausdruck „anspucken“ für „anschießen“ entspricht wieder
jener herabsetzenden Ironie, die er in der Bezeichnung „Hühnersteige“ für
„Königsschloß", „Wildschwein“ für „König“ schon früher — unter der Maske
der Dummheit — hatte spielen lassen. Es ist dies eigentlich die Ironie des
Übermächtigen, mit der er auf die ohnmächtige Kraftanstrengung des Schwächeren
herabsieht. Psychische W urzel ist wohl die dem Kind übermächtig erscheinende
Kraft des Vaters. Man entsinne sich nur gewisser Scherzspiele, bei denen der
Vater sich von dem kleinen Söhnchen „schlagen“ oder sonstiges „Leid“ zu-
V
54
Dr. Franziska Juer und Dr. Otto Marbach
fügen läßt, jedoch für dessen äußerste Kraftanstrengung nur ein spottendes
Lachen übrig hat. Wer je beobachtete, mit welchem Ingrimm die kleinen
Fäustchen dann immer wütender zustoßen oder die große Hand des V aters
oder dessen Finger „umzudrehen" versuchen, oder an Haaren, Ohren und Nase
zupfen, wird verstehen, daß der Vater, der über all diese Bemühungen nur
lacht, der kindlichen Psyche als unverwundbar und übermächtig erscheinen
muß. (Man beachte — als Beweis dessen — das fröhliche Triumphgjekrätl, wenn
der Vater oder überhaupt die erwachsene Person, die sich zu diesem Spiel hergibt,
Schmerzempfindung fingiert!) In Märchen und Mythus entspringt dieser psychischen
Wurzel das Motiv vom Riesen, dem in keiner Weise beizukoniincn ist (I Hoher
gehört z. R. der nordische Mythus von Thors Fahrt zu Utgardaloki.) 1 * * Durch den
Mechanismus der Umkehrung — die dem Wunsch der kindlichen Psyche ent¬
spricht — ergibt sich der häufige Märchentypus vorn kleinen Menschlein, der den
dummen Riesen durch seine angeblichen Kraftleutungen ungemein imponiert. (Zum
Beispiel Grimm, K. H ,M., Nr. 20: „Das tapfere Schneidurlein"* Mit zahlreichen
Parallelen bei Bolte-Polivka,) Hier ist die Märchengestaltung soweit Wunsch'
erfüllung, daß die sonst nur angemaßte Überkruft dos Kleinen tatsächlich besteht.
Ebenso — als Wunscherfüllung — sind die Kraftleistungen mancher Helden
(Herakles) von göttlicher oder wunderbarer Abstammung aufzufassen, die schon
in der Wiege Heldentaten vollführen, (Schlangen erdrosseln I)
König entsetzte sich , ließ ihn vor sich auf sein Zimmer rufen und sprach zu ihm:
y Schau , was für einen großen Schaden du mir angerichtet hast * * ? Der Knabe antwortete
ihm; fVarum? Mußten mich die Soldaten anspucken? Habe mich dafür gerächt? ß last du
eine Mutter und ist sie schön?* — Der Knabe: ^Freilich habe ich eine Müllirr, aber die t$t
noch häßlicher als ich 4 , imd der König versetzte: ,So bring sie morgen zu mir her?“
Diese Stelle ist wohl die interessanteste des ganzen Märchens, Zwischen den
Gegnern — Vater und Sohn — kommt es hier zu einem Paktieren, wie es
eben der Kompromißtendenz des Märchens überhaupt entspricht* Zwar hat
der Sohn die Soldaten getötet, die Burg zertrümmert, d. h. seine Macht be¬
wiesen, die ihn befähigen würde, auch den Vater zu töten (wie er dadurch
symbolisch andeutet), nun aber kommt es zwischen ihm und dem V ater zur
Aussprache, Daß der Vater gezwungen ist, ihn als übergeordnete Macht uimt-
erkennen, ist für ihn Teilbefriedigung seines Hasses, Die Frage des Königs:
„Hast du eine Mutter , . . usw., die, wenn man das Märchen nicht einet
analytischen Deutung unterzöge, recht unvermittelt und unzusammenhängend
erscheinen könnte, ist im Gegenteil außerordentlich logisch und richtig psycho¬
logisch an das Vorhergehende gereiht* — Hier ist die Situation die, daß der
1) (Gylfaginning, cap, 44—47,) Thor schlägt dem schlafenden Kiesen Skrynur
(der Utgardaloki ist) dreimal den Hammer auf den Kopf. Aber der Riese iragt nur:
„Ist ein Laubblatt gefallen?“ — „fiel eine Eichel?“ — „haben die Vögel auf dem
Baum etwas fallen lassen?“ — Im weiteren Verlauf vermag Thor, der Kruft gut t,
nicht einmal ein Trinkhorn leer tu trinken, nicht einmal eine graue Kette tu heben,
nicht einmal die alte Amme Utgardnlokis im Ringkampf au besiegen, (Vgh Fr. v. d,
Leyen: „Das Märchen in den Göttersagen der Edda“, Berlin 1899, p. 40 ff«)
Kine südslawische Märchen parallele zum Urtypus der K oland-Sage
55
Kampf um die Mutter sich bis zur vereitelten Mordabsicht des Vaters gesteigert
hatte, die in ihrer Darstellung zugleich dem Sohn Gelegenheit gegeben hatte,
seine Vatermordgelüste symbolisch (durch die Tötung der Soldaten, Zertrüm¬
merung der Burg) auszuleben. Der Sohn ist also dem Vater zu stark, er sucht
sich daher mit ihm zu vertragen. Er straft ihn nicht für den „angerichteten
Schaden“, (die Mordabsicht) verlangt aber dafür — als Gegendienst — die
Abtretung des Weibes, (Vgl. hiezu Rank; Inzestmotiv. „Das Motiv der Braut-
abnahme“, S. 81 f.) In all dein ist der Sohneswunsch deutlich, der Vater
möge ihn als anerkannten und mächtigen Rivalen bitten, ihm nicht mehr
im AVege zu sein, — Wieder ein wichtiger Unterschied zwischen Mythen-
und Märchenheld. Im Heldenmythus geht der Kampf um das Mutter-AA r eib
unerbittlich bis zum tragischen Ende, im Märchen realisiert sich entweder die
vollkommenste Befriedigung der Wunschphantasie oder — es kommt sogar
unter dem Einfluß der allmählich großer gewordenen Moral Verdrängung zu
einer Art Friedensschluß zwischen den beiden Urgegnem: A^ater und Sohn. —
Allerdings setzt sich der ursprüngliche Trieb trotz der Hemmungen durch, wenn
z, B, der Sohn sagt: „Sie ist noch häßlicher als idh* f ; — er will List an¬
wenden, um sie doch behalten zu können. Aber es ist kein entschiedenes
Kein und der König-Vater durchschaut diese List.
»Der Junge ging nach Haus und brachte am nächsten Tag seine Mutter vor den König* Als der
König sah, daß sie gar so schön sei, heiratete er sie auf der Stelle und ließ ein großes Fest
veranstalten . M
Wir erkennen also in unserem Märchen eine Geschichte von jenem Typus,
in dem der Sohn als AViedervereiniger der Eltern auftritt, (Vgl. Rank: Inzest-
inotiv, V, S. 169 ff. [Sage von Milun].) Diese Rolle spielt auch Roland in der
Sage, da er Bertha und Kaiser Karl wieder vereinigt. AAir folgen in der Nach¬
erzählung der Sage wieder der Darstellung von Uhlands Quelle; ... Der Kaiser
schickt vier Truchsessen dem kühnen Knaben nach und sie linden Bertha in
ihrer Höhle. Drei kehren zurück, um für sie um Gnade zu liehen. Nun schickt
Karl Frauen und Jungfrauen, die Bertha vor ihn geleiten, Abei bei ihrem
Anblick übermannt ihn derart der Zorn, daß er sie mit einem Fußtritt zur
Erde stößt (!), Roland hätte deshalb den Kaiser fast getötet (!). Nun sieht Karl
seine Übereilung ein und begnadigt die Schwester. Auch Milon, der bis
jetzt durch einen Zauber ferngehalten war, findet sich wieder ein (!)« Man
beachte besonders diesen letzten Zug der Sage, daß der verschwundene (weg¬
gewünschte) Vater im Moment der Wiedervereinigung Karls mit Bertha wieder
erscheint, da er eben nur eine Abspaltung Karls ist. Die Heirat selbst stellt
die Erfüllung des inzestuösen AA r unsches des Märchenbeginnes dar — der A^ater-
Tochter-Inzest wird offen durchgesetzt, Dabei ist zu beachten, daß — da in
den Märchen vom Sohn als Wie der v er ein er der Eltern, wie Rank nachweist
(Inzestmotiv, A r , S. 168, 171), eine Identifizierung mit dem Vater vorliegt —
der Sohn auch hier auf diese A\ r eise seine Inzestphantasie durchzusetzen vermag,
„Nach der Festlichkeit sagte der Knabe zum König, dessen Stiefsohn er nun war: ,Komm
mit mir, wir wollen uns eine Weile ergehen} Der König ging mit ihm, und als sie in einen
56
Dr. Franziska Juer und Dr, Otto Marbach
großen JVald kamen , fanden sh in einem hohlen Baum eine Menge verrosteter Säbel , Sprach
der Sohn zum Fat er; ßueh dir einen Säbel aus ! 1 — Der Fater suchte sich einen passenden
ßus und fragte: y Was soll ich denn mit diesem Säbel anfangen — Antwortete der Sohn :
^Schlag mir den Kopf ab? — Das wollte der König nicht , doch der Sohn sagte; fVenn dus
nicht gleich mir tust , tu ich's Air?**
Bevor wir auf die Deutung dieser gleichfalls buchst interessanten Stelle
eingehen, sei auf das Einschiebsel: „dessen Stiefsohn 1 * usw, hingewiesen.
Der Märchendichter fürchtet zu deutlich geworden zu sein, fürchtet seine Inzest-
phantasie verraten zu haben und will dies nun durch den Ausdruck „Stief¬
sohn" verdecken* Er will vorgeben, es handle sich um einen anderen König
aber es gelingt ihm nicht, die Täuschung durchzuführen. Gleich darauf spricht
er wieder von „Sohn" und „Vater", so daß jetzt auch die Verdeckung, die
früher den Sohn hinter dem „Knaben" und den Vater hinter dem „König“
barg, aufgedeckt wird, — Zur Deutung ist es am besten, von dem „Wenn
du’s nicht gleich mir tust, tu ich's dir!“ auszugehen, — Zugrunde liegt der Todes¬
wunsch gegen den Vater, Doch wird die Mord ab sicht verdrängt und statt seiner
selbst vereint er den Vater mit der Mutter (Ambivalenz). Nichtsdestoweniger
ist er sich wohl bewußt, gesündigt zu haben. Zur Symbolisiert!ng der Region,
in der er sündigte, erscheint der „hohle Baum" und die „Säbel“ (beides Phallus-
symbole). Er weiß, daß er die Tötung Kastration („schlag mir den Kopf ab“)
verdient, denn er sinnt das gleiche gegen den Vater („Wenn ilu’s nicht , , .
tu ich's dir), — Dem Tod es wünsch gegen den Vater entspringt also ein Schuld¬
gefühl, das nach dem primitiv-starren Gebot der Vergeltung von Gleichem mit
Gleichem, sich zum masochistischen Wunsch steigert: der Vater solle töten.
(Strafbedürfnis,) — Wir erkennen hier den psychischen Mechanismus des Ver¬
folgungswahnes, bei dem eben der so entstandene Wunsch, vom Vater getötet
zu werden, auf die verschiedensten Vater-Imagines übertragen wird und der
Wunsch, getötet zu werden, als Angst, getötet zu werden erscheint. — Das
Märchen zeigt hier also die Wurzel und den Beginn einer Neurose, die aber —
wie alle Märchenkonflikte — sofort gelöst (analysiert) wird, (Wenn du’s nicht ■ . .
tu ich's dir!) Die sofortige Lösung, ul est Analyse jedes Märchenkonflikts ist
ein wichtiger Grund für die Gesundheitskraft, die jedem Märchen innewohnt,
„Da holte der König aus und streifte mit dem Säbel den Sohn leicht über den Kopf, hn
selben Augenblick verwandelte sich der bunt gefleckte Knabe in einen wunderschönen Jüngling von
blendend weißer Karbe* Sie kehrten nun heim ..,, der Fater gewann den Sohn gar viel heb , ließ
eine große Festbarkeit veranstalten * . erzählte die ganze Geschichte. Bei diesem Gastmahl war
ich auch zugegen) trank aus rotem Becher roten FFein und horte die Geschichte mit atu u
Die ursprüngliche Kastration ist hier also bereits zutn Symbol von rituellem
Charakter abgeschwächt. (Pubertätsriten der Primitiven, Ritterschlag.) Der
Märchenschluß vom „Kopfabhauen“ erscheint noch häufig dort, wo es der
Märchenheld gewöhnlich an dem „hilfreichen Tier“ vollzieht 1 (Zum Beispiel
i) Wo es sich um das „hilfreiche Tier“ handelt kommt cs tatsächlich zum
„Kopfabschlagen“. Ursprünglich jedenfalls auch hier so gewesen. Die vorliegende
Fassung (leicht über den Kopf streifen) stellt die Verdrüngungsurbcit dar.
Eine südslawische Märchenparallele /.um Urtypus der Roland-Sage
57
Grimm, K. H. IVL, I ? 57,) In manchen Märchen schimmert die ursprüngliche
Vaterkastration noch durch das Symbol, z. B. in der von Grimm angeführten
Parallele zu I, 57 (III, 57): „Einmal wird auch erzählt, daß der Fuchs, nachdem
er den Schuß zuletzt empfangen, ganz verschwindet und nicht zu einem Menschen
wird/* -— Meist aber ist der Fall, daß das geköpfte „hilfreiche Tier** (das
immer um die Köpfung selbst bittet) dadurch erlöst erscheint, entzaubert, als
schöner Prinz usw. — Dadurch soll natürlich die Schuld verdeckt, zugleich
aber eine Identifizierung mit der Vater-Imago durchgeführt werden* Denn der
Jugendliche selbst, an dem in primitiveren Kulturkreisen jene Pubertätsriten
vorgenommen wurden, hat jene wunderbare Verwandlung erlebt* Nun ist auch
er berechtigt, ein YV eib zu besitzen und Vater (König) zu werden, — Zuvor
unbefriedigten Trieben preisgegeben und inzestlüstern (Symbolisierung durch
die Tiergestalt, Haarkleid, Geflecktheit, Buntheit), wird er durch den Schlag
(Kastrationssymbol) entsühnt, 1 — In unserem Fall hat aber die Verwandlung
noch tieferen Sinn, „Der Sohn der Königstochter" war durch seine Flecken
als Inzestfrucht gebrandmarkt, als Kind einer heimlichen, verbotenen, illegitimen
Verbindung. Dieser Inzest wird aber nun — nachträglich — legitim gemacht,
die früher verbotene Verbindung doch durchgesetzt. Daher wird nun auch der
Sohn der „Vermählten ein eheliches, „schönes Kind, es verschwinden „die
Flecken der Geburt"'. — Die heitere Schluß Wendung entspringt den Hemmungen
des Märchendichters — Erzählers. Er will nicht zugeben, daß diese Geschichte
seiner Phantasie entsprungen sei, sondern sie wurde ihm vom König erzählt.
Dadurch erreicht er dreierlei. l) Bei ganz primitiven Gemütern verstärkte Glaub¬
haftigkeit seiner Erzählung. 2) Bei ungläubigeren eine Vernichtung eventuellen
Verdachtes (denn das Ganze ist ja ohnehin nicht wahr, so wenig der allen
bekannte Märchenerzähler je Gast des Märchenkönigs war), jj Auf jeden Fall
ist er für den Inhalt unverantwortlich.
Im Verlauf der Deutung unseres Märchens haben sich häufig so auffallende
Parallelen zur Roland-Sage ergeben, daß wir vermuten, es müsse diese Sage
nach dem Grundschema unseres Märchens gebaut gewesen sein.
Obwohl sie in ihrer Gänze nicht mehr besteht, sondern sich nur einzelne
Bruchstücke dieses Sagenganzen bei verschiedenen Nationen und zu verschie¬
denen Zeiten finden, wollen wir versuchen, aus diesen Bruchstücken ein Schema
zusammenzustellen, das dem unseres Märchens entsprechen müßte.
I) Der Vater-Tochter-Inzest
Diesbezüglich verweisen wir auf die Fußnote auf S. 55. Das Motiv der „unter¬
geschobenen Braut entspringt der Inzestphantasie der Tochter. Man beachte,
daß die betrogene und mißhandelte Braut dieser Erzählung gleichfalls Bertha
heißt. Wahrscheinlich liegt hier der Typus einer Wiederholung derselben
Ereignisse innerhalb zweier aufeinanderfolgender Generationen (Pipin — Karl)
1) Man beachte dabei die taub er ab wehr ende, verwünschtmgslö sende Macht des
Säbels oder Schwertes, mit dem der Schlag geschieht (Phallussymbol), Dies besonders
beim Ritterschlag.
58 Dr. Juer und Dr. Marbach: Eine südslawische Märchenparallele usw.
vor, —
der ang
Daß Karl gegenüber Bertha in Vaterrolle auftritt, beweist seine ^ ut
etlichen Mesalliance wegen. (Typus: Vater, der die Tochter eifersüchtig
bewacht)
W
Verstoßung der schwangeren Tochter
(Verdeckung des Inzestgehei inrmses)
MUo ist eine Abspaltung Karls, — Er selbst vereint sich mit Bertha —
als MUo und wütet ebendeshalb als Hüter der öffentlichen Moral. — Verstoßung
der schwangeren Tochter, Er unterwirft sich der Moral und trennt sich von
der Verführten — daher verschwindet auch seine Abspaltung: Milo,
III) Aussetzung von Mutter und Sohn
Geburt des Heldensohnes Roland in der Einöde (Höhle(!) bei Siena), Mutter-
Sohn-Gemeinschaft, Sohneswunsch, die Mutter zu ernähren. Identifizierung mit
dem Vater.
IV) Der Sohn als Rächer der Mutter
Der Sohn will für die Mutter am Vater, der sie grausam und treulos (ver¬
lassen) verstoßen, Rache nehmen. Faßt ihn am Bart, beschimpft ihn („Eines
Kaisers Stimme ist nicht stark genug usw.), nimmt Geschirr und Speisen von der
Tafel -— ja, will ihn schließlich sogar töten. (Sogar nach der Wiedervereinigung,
Wie das „Kopfabschlagen“ in unserem Märchen [... tu kh\s dir). Beides beweist
ein Bereuen der Versöhnung und eine letzte aufflackemdc Regung von Sohnes-
trotz.)
V) Der Sohn vereint die getrennten Eltern wieder
Durch Roland versöhnt sich Karl mit Bertha. (Identifizierung mit dem Vater.) Milo
taucht wieder auf,
VI) Des Helden Tod
Die Roland Sage ist eine Heldensage — kein Märchen, Daher kann der
Kompromiß nicht aufrecht erhalten werden. Der Held muß sterben. Spal¬
tung des Vaters in eine gütige Vater-Imago (Karl) und eine böte, den „Stief¬
vater“ Ganelon. 1 — Rolands Tod im Tal zu Ronceval durch Gnnelons Verrat*
(Vernichtung des Sohnes.)
i) Dies ist der Hauptinhalt des französischen Chansons, das wahrscheinlich selbst
auf Fseudo-Turpins lateinische Chronik zurückgehend, Vorlage für das mittelhoch¬
deutsche „Ruolandes-liet“ des Pfaffen Konrud war. (Ausgabe von W. Grimm [1858],
Bartsch [1874]; — über das Verhältnis zur Quelle; Golther: „Das Roland-Lied des
Pfaffen Konrad“ [1886]); „Karl der Grolle hat fast das ganze sarazenische Spanien
unterworfen, nur Saragossa mit König Mnrsiho leistet Widerstand. Auf Rolands Rat
sciiickt Karl Ganelon (den Bertha nach Mi Ions Tod geheiratet) als Gesandten an den
Sarazenenkonig, Ganelon vermutet hinter Rolands, seines Stiefsohn es, Rat schlimme
Absicht (die psychisch ja tatsächlich vorhanden war* — Furcht vor Wiedervergeltung).
Daher beschließt er, sich zu rächen. Auf seinen Rat heucheln die Heiden Unterwerfung,
er überredet den Kaiser ahzuziehen lind Roland als Statthalter zurück zu lassen. Dies
geschieht — und Roland mit der Nachhut wird im Tal Ronceval verräterisch über¬
fallen und getötet.
Modelle zu den Ödipus- und Kastrations¬
komplexen bei Affen 1
Von Dr. Im re Hermann (Budapest)
Einem psychoanalytisch orientierten vergleichend-tierpsychologischen Auf¬
sätze muß stets eine Warnung vorangestellt werden, eine Warnung gegen
jede leichtfertige Übertragung von der Menschenpsychologie auf die
vor uns mehr verborgene Ps3Thologie der Tiere, Uie Erfahrungsdaten der
Tierpsychologie sollen aus sich selbst, für sich selbst sprechen; aus der
Psychoanalyse dürfen nur die Gesichtspunkte, nicht aber die Resultate
geschöpft werden. Es muß ganz allgemein gelten, was Freud in Hinsicht
auf die Systeme Bw, Uhw , ebenfalls als Warnungsruf, fordert: „Wir be¬
schreiben die Verhältnisse, wie sie sich beim reifen Menschen zeigen, bei
dem das System Uhw streng genommen nur als Vorstufe der höheren
Organisation funktioniert. Welchen Inhalt und welche Beziehungen dies
System während der individuellen Entwicklung hat, und welche Bedeutung
ihm beim Tiere zukommt, das soll nicht aus unserer Beschreibung ab¬
geleitet, sondern selbständig erforscht werden.“ 2
Eine andere Warnung könnte lauten: man verlasse das in der Psycho¬
analyse so sehr bewährte Kontinuitätsprinzip nicht. Wir glauben am
wenigsten ins Irre gehen zu müssen, wenn wir den Weg „von oben“,
und nicht den Weg „von unten“ einschlagend die menschenähnlichsten
Tiere, die Affen, einer psychoanalytisch orientierten Betrachtung unterziehen.
Die Affen leben ja in dauernden Verbänden von kleinerer und größerer
Mitgliederzahl, in diesen Verbänden drängt sich meistens ein Individuum
1) Vgl, des Verfassers frühere Mitteilung zur vergleichenden Psychologie der
Menschen und der Affen: „Zur Psychologie der Schimpansen: 4 * Internationale Zeit¬
schrift für Psychoanalyse IX (1925), S, So ff,
2) S, Freud: Das Unbewußte. Gesammelte Schriften, Bd. V, S. 504.
6 o
Di\ Imre Hermann
als Führer auf, so daß in sozialer Hinsicht eine gewisse Übereinstimmung
zwischen Affe und Mensch, wenigstens in der ersten Annäherung, khir
Hegt; auch ist von einer wichtigen biologischen Übereinstimmung zu
sprechen, insofern, als mehrere Affenarten die Hand als ausführenden
Apparat des Intellektes gebrauchen, ferner statt einer Brunstzeit beim
Weibchen eine regelmäßige Menstruation, beim Männchen eine von der
Jahreszeit im großen unabhängige Lust zum Geschlechtsakte vorhanden sind. 1 2
Dabei wäre jedoch nichts methodologisch unrichtiger, als die sozialen
Verbände der Affen, deren Form übrigens auch unter den verschiedenen
Arten variiert, mit derjenigen der Menschen kultureller oder unkultureller
Stufe gleichzusetzen; nichts wäre ärger, als einfach von einem „Ödipus-
Komplex“ der Affen zu sprechen aus dem Grunde, weil hei ihnen ein
Kampf zwischen älteren und jüngeren Männchen stattfinden kann. Der
(männliche) Ödipus-Komplex hat seinen guten Sinn nur unter menschlichen
Verhältnissen, zwischen Vater und Sohn, hei menschlichem Willens* und
Gefühlsleben, menschlicher Einsicht, menschlichen Trieben, ganz ebenso,
wie der Kastrationskomplex nicht eine „Verstümmelung überhaupt* , nicht
eine Leibesloslosung beliebiger Art zu bedeuten hat, sondern die Ver¬
stümmelung, welche infolge der Beschädigung der männlichen Genitalien,
in hervorragendem Maße des Phallus zustande kommt» 3
Dieser methodologischen Überlegung entsprechend werden wir in Situa¬
tionen, Szenen, Verhaltungsweisen, welche den typischen Komplex nicht
darstellen, aber gedanklich durch eine einfache psychische Denkoperation
(Verschiebung, Personenvertauschung, Symbolisierung u. s. w») in die typi¬
schen Komplexsituationen, Szenen, Verhaltungswewen überführt werden
1) „Bei den erwähnten Affen“ (Cercopitheeus, Pavian, Brilll&ife) „scheint eine
Brnnstperiade mit jährlicher Wiederkehr nicht zu existieren. Die Männchen Kind
wohl ständig, die Weibchen jedenfalls abhängig von der Menstruation s in monatlichen
Perioden?) brünstig.“ P, Deegener: Die Formen der Vergesellschaftung im 1 ier*
reiche, 1918, S, 281. — Eine Menstruation, und zwar eine regelmäßig slattfindeutle,
ist durch mehrere Beobachter für den Schimpansen fcstgestelll. „Dieser Vorgang
dürfte wohl auch hei den übrigen Formen nicht aus bl eiben»“ II ar Linanil: Die
menschenähnlichen Äffen und ihre Organisation im Vergleich zur Menschlichkeit,
1885. Internationale Wissenschaftliche Bibliothek, Bd. 60, S» 179.
2) So lehrt es Freud: „Es ist mit Recht darauf hingewiescn worden, daß das
Kind die Vorstellung einer narzißtischen Schädigung durch Körperverlust aus dem
Verlieren der Mutterbrust nach dem Saugen, aut der täglichen Abgabe der Fäzes,
ja schon aus der Trennung vom Mutterleib bei der Geburt gewinnt. Von einem
Kastration skomplex sollte man aber doch erst sprechen, wenn sich diese Vorstellung
eines Verlustes mit dem männlichen Genitale verknüpft hat.“ Die infantile Genital*
Organisation. Gesammelte Schriften, Bd. V, S, 255.
1
Modelle zu den Ödipus- und Kastrationskomplexen bei Affen 61
können, Modelle zu diesen bestimmten Komplexsituationen, Szenen, Ver¬
haltungsweisen erblicken, wobei wir nur ein 11 eschreiben, nicht ein
kausales Erklären als Ziel vor Augen halten. Wir nennen also demgemäß
2* ß* die in der Freud sehen Anmerkung beschriebenen Situationen und
Szenen Modelle zum Kastrationskomplex» 1
Gaben wir im obigen eigentlich nur Warnungen, methodologische Ein¬
schränkungen an, so sind wir auch in der Lage, eine mögliche und leicht
auftauchende Warnung aus dem Weg zu schaffen, die Warnung nämlich,
wir dürften, um der Forderung des Kontinuitätsprinzips Genüge zu tun,
uns vorerst nur mit den Menschenaffen abgeben, die übrigen Affenarten
sollten wir aber unberücksichtigt lassen» Dieser Standpunkt ist falsch, aus
mehreren Gründen; cs ist doch nicht so, der Mensch stamme vom Gorilla,
Schimpanse oder Orang ab. Diese jetzt lebenden Affenarten sind auf Ur¬
formen zurückzuführen, ebenso wie die Abstammung des Menschen auf
eine Urform zurückgeht. Wirklich nahe Beziehungen waren aber nur bei
den Urformen vorhanden* Es kann sodann auch nicht behauptet werden,
dem heutigen Menschen stünden die Menschenaffen psychisch am nächsten,
denn erstens bieten diese Affenarten auch unter sich verschiedene seelische
Strukturen dar, zweitens gibt es Charakterzüge, in welchen z. B* der Schim¬
panse dem nicht anthropoiden Pavian näher steht als dem Orang. 2 * * Auch
anatomisch-physialügisch gilt dasselbe, ganz besonders, was die Genitalien
anbelangt. Nach der Beschreibung Hartman ns sollen die männlichen
Geschlechtsteile der Anthropoiden im großen und ganzen der menschlichen
Gestalt und Anordnung folgen, doch sei es auffallend, daß „die Rute des
schwemschwämigen Pavians und anderer Hundsaffen einen noch weit
menschlicheren Eindruck als diejenige der Anthropoiden (mit Ausnahme
des Gorilla)“ hervorruft* 5 Demzufolge müssen wir lernen, das ganze Reich
der Affen vorurteilslos in Betracht zu ziehen, wenn wir auch nur in dem
i) Vgl. Psychoanalyse und Logik. Imago-Bücher VII, 19241 S,
2} „Fahriges, unstetes Gebaren, welches inan als charakteristisch fiir Affen ansieht,
ist den afrikanischen Anthropoiden nicht entfernt in dem Maße eigentümlich, wie
niederen Primaten des afrikanischen Kontinents* Hievon abgesehen, wirken manche
Paviane in einer Reihe von Eigentümlichkeiten des sozusagen alltäglichen Gebarens,
Bewegungsart {besonders im Affekt), Lautgehung u. dgl, dem Schimpansen äußerst
ähnlich. In eben solchen Dingen des fortwährenden Verhaltens besteht ein ganz
gewaltiger Unterschied, fast eine Art Unvergleichbarkeit der Typen Schimpanse und
Orang (also auch zwischen Pavian und Orang)*“ W* Köhler: Die Methoden der
psychologischen Forschung au Affen, S. 75. Ans Abderhalden: Handbuch der bio¬
logischen Arbeitsmethoden, Abt* VI, Teil D.
5) Hartmann, a. a. O* S. 179,
gg Dr, Imre Hermann
Falle befriedigt werden können, wenn eine Beobachtung als eine möglichst
allgemeine Erscheinung anthropoide und ihnen wenigstens näher stehende
Affenarten gleichmäßig betrifft.
Nach diesen allgemeineren Erörterungen wäre jetzt unsere Aufgabe, die
Psychologie der Affen einer speziellen Musterung zu unterwerfen, inwiefern
sie Modelle zu den Ödipus- beziehungsweise Rastra l ionskom¬
plexen liefert. Es wird sich auch lohnen, den kompliziert gestalteten,
durch gewisse Situationen hervorgelockten, durch gewisse Szenen in Er¬
scheinung tretenden und durch gewisse Verhaltungsweisen sich kundgeben¬
den Ödipus-Komp lex aufzuteilen und uns zu einer partiellen Betrachtung
Zutritt zu verschaffen. Dabei werden wir darauf gefaßt sein, solche Modelle
und partielle Modelle aufzufinden, welche man als symbolische Darstellung
der typischen Komplexe auch von der menschlichen Psychologie aus kennt,
da doch unser Modellbegriff einen einfachen Denkzusammenhang fordert,
was in der symbolischen Darstellungsweise der menschlichen Seele eben¬
falls oft durchführbar ist 1 (z. B. Abreisen, Aus-den-Augen-Kommen des
Vaters als Darstellung des Tötungsgedankens, vgl. mit sechstem partiellem
Modell zum Ödipus-Komplex, S. 65—67). Während aber die symbolische Dar¬
stellung die Anwesenheit des Komplexes (im Vbw\ in der Psychologie der
Affen laut der früheren Anmerkung eine gehinderte Äußerung) fordert, ist
mit der Konstatierung eines Modells keine solche (oder eine umgekehrte)
Abhängigkeit ausgesagt.
A) Partielle Modelle zum Ödipus-Komplex
1) Situationen des strengen Vaters. Modelle: Brehm beschreibt den
Leitaffen als einen äußerst strengen Herrscher. „Wer sich nicht gutwillig
unterordnen will, wird durch Bisse und Püffe gemaßregelt, bis er Vernunft
annimmt. Dem Starken gebührt die Krone: in seinen Zähnen liegt seine
Weisheit. Der Eeitaffe verlangt und genießt unbedingten Oehöisam, und
zwar in jeder Hinsicht. Ritterlich» Artigkeit gegen das schwächere Ge¬
schlecht übt er nicht: im Sturme erringt er der Minne Sold ... Im übrigen
übt der Leitaffe sein Amt mit Würde aus. Schon die Achtung, welche er
genießt, verleiht ihm Sicherheit und Selbständigkeit, welche seinen llnter-
1) Es soll hier bemerkt werden, daß in der Psychologie der Alfen der Begriff
„symbolisch“ für „gerichtete AITektäußcrungen“ bei gehinderter adäquater Handlungs¬
weise reserviert werden könnte (x. B. Werfen in der Uichtung des SrhnsuchUnhjckles .
Auf die gerichteten AfFektiiußerungen macht Köhler aufmerksam (Intelligenz-
priifungen usw., S. 64—65, Zur Psychologie des Schimpansen, S. 55).
1
Modelle zu den Ödipus- und Kastrationskomplexen bei Affen
gebenen fehlt; auch wird ihm von diesen in jeder Weise geschmeichelt.“ 1
Man werfe mir nicht vor, ich zitiere einen nicht vollständig verläßlichen,
nach Volkstümlichkeit strebenden Autor! Die übrigen, neueren, ganz ver¬
läßlichen Beschreibungen stimmen mit dieser Beschreibung überein. Nach
Köhler ist der Leitaffe Sultan ein Egoist par excellence. 2 3 4 In der Dar¬
stellung von Knottnerus-Meyer heißt es: „Alle beherrschend steht das
stärkste Männchen da wie ein Despot, nicht belastet mit konstitutionellen
Einrichtungen irgendwelcher Art/ Nach seiner Beobachtung haben sich
dem Capo, dev Vorherrschaft des Stärksten alle bedingungslos zu unterwerfen.
Er sei ein Despot orientalischer Art. „Hat er sich einmal, was oft recht
schnell geht, zur Alleinherrschaft durchgebissen, dann braucht er seinen
Launen und Begierden nicht mehr im geringsten die Zügel anzulegen, und —
er tut es wahrhaftig nicht. Die Würde seines Auftretens, die Stöße, die er
ihn nicht beachtenden, im Wege sitzenden Käfiggenossen versetzt, der ver¬
ächtliche Blick, mit dem er seine Untertanen mustert, und deren scheues
Zurückweichen zeigen, daß der Bandenchef sich seiner Würde bewußt ist
und als solcher anerkannt wird/ „So lebt denn die große Masse der Streber
und Denunzianten, die jeden Abend wieder sich freuen, wenn sie am Tage
das Fell gerettet haben, in ständiger Furcht des Herrn .“3
Sokolowsky gibt ebenfalls eigene Beobachtungen bei den Rhesusaffen
folgend wieder: Es warf sich der stärkste und älteste männliche Affe zum
Führer auf und ging bei etwaigen Anlässen rücksichtslos gegen seine Art¬
genossen vor. „Am Tage, wenn alles durcheinanderlief, führte er unbedingt das
Kommando, strafte Ruhestörer, trennte Streitende und genoß in geschlecht¬
licher Hinsicht unbedingtes Vorrecht . . . Die von ihm begehrten weiblichen
Exemplare ergaben sich ihm unbedingt zum geschlechtlichen Genuß ohne viel
Widerstreben; oft setzte es hiebei stürmische Szenen ab, indem er sich sein
Mannesrecht durch gewalttätigen Einspruch erkaufte.“ Auch von den Pavianen
und Meerkatzen erzählt er, daß in ihren, nicht selten aus sehr vielen Individuen
bestehenden Banden besonders große, starke und ältere Männchen als Führer
fungieren. Diese Leitaffen sollen häufig äußerst rabiate, unleidliche Wesen
sein, die mit den Genossen grob und rücksichtslos verfahren. +
1) Brehms Ticrieben, 2. Aufl. 1876, I. Bd., S. 48.
2) W. Köhler: Intelligenzprüfimgen usw. S. 5.
3) Tb. h n o 11 n c r 11 s - IM e y e r: Tiere im Zoo. Beobachtungen eines Tierfreundes,
1924, S. 21, 52, 35- Viele der hier niedergelegten Beobachtungen stammen aus dem
„Affen paradies“ des Tiergartens, wo die Affen ein möglichst freies Loben führten.
4) A. Sokolowsky: Affe und Mensch in ihrer biologischen Eigenart, 1911, S.6^,68.
6 4
Dr. Imre Hermann
2) Verhal lungs weise des strengen Vaters, der den Sohn im ge¬
schlechtlichen Verkehr mit der Mutter hindert, Modelle (statt Vater:
Bandenführer, statt Sohn: mannliehe Mitglieder der Bande, statt Mutter:
weibliche Mitglieder der Bande), Man erfahrt, daß alle älteren zeugungs¬
fähigen Weibchen, sei ihre Zahl noch so groß, ausschließlich dem Herrscher
gehören, und daß gerade die stärksten Männchen von ihm am schärfsten
überwacht werden. 1
)) Verhaltungsweise des Sohnes, der den geichlechtlichen Ver¬
kehr mit der Mutter begehrt. Modelle: Die vom Führer zurückgesetzten
Männchen bleiben trotzdem keine Junggesellen, der Führer muß stets auf
der Hut sein, um seine geschlechtlichen Rechte zu bewahren; er muß die
Konkurrenten energisch fernhalten, 2 es herrschen doch ständig Eifersüchteleien
und Nebenbuhlerschaften unter den Allen, 3
4) Szene des Kampfes zwischen Vater und Sohn mit Tötung
des Vaters. Modell: Es liegen ältere Angaben vor (Winwood Reade, an¬
geblich verläßlich; 4 Iluxleys Berichterstatter 5 ), nach welchen bei den Gorillas
in jeder Gruppe nur ein erwachsenes Männchen geduldet wird; beim
Heranwachsen der jungen Männchen beginne nämlich ein Kampf und der
stärkste soll nach Tötung oder Forttreiben der übrigen sich als Überhau pt
auftun. (Im Modell statt Töten auch Vertreiben 1 — ob Vater oder Sohn
getötet wird, ist nicht bestimmt, vertauschbar,) Auch ein Modell des Bruder-
kampfes ist hierin mitangegeben,
$) Szene der Empörung gegen den strengen Vater, Modelle: Es
ist sehr auffallend, daß der Führer, ist er auch als „orientalischer Herrscher w
beschrieben, doch nicht vollständig konstitutionslos regiert. Seine Rücksichts¬
losigkeit darf scheinbar eine gewisse Grenze nicht überschreiten. Derselbe
Leitafle, bei dem Sokolowsky die gewaltsamsten Akte zur Bewahrung
seiner Rechte sah, gestattete ab und zu auch jüngeren männlichen Allen
die Ausübung des sexuellen Verkehrs, ohne einzuschreiten, 6 Weshalb? Die
Antwort kann aus der Erfahrung von Kn0ttnerus“Meyer geholt werden.
1) Knottnerus-Meyer, a. a, O, S, 32, 33,
2) Sokolowsky, a. a, O. S, 68.
3) Kno ttnerus« Meyer, n. a. O. S. 52.
4) Brehm, a, a. O. S, 66.
5) Hartmann, a. a, Ö. S. 215,
6) Sokolowsky, a. a. O. S. 6tf, Ob das neben der früher erwähnten Erfahrung,
daß 11 am! ich gerade die stärksten Männchen vom Füll rer besonders überwacht werden,
keine Beziehung zur Latenz periöde, zur zweizeitigen Entwicklung der Sexualität
beim Menschen hat?
Modelle zu den Ödijjus- und Kastrationskomplexen bei Affen
nach welcher aus verschiedenen Anlässen Palastrevolutionen vorzukommen
pflegen. Eine solche Empörung entstand, als nach der Herrschaft eines
brutalen „Capo", der wegen seiner bösen Art von der Direktion des zoo¬
logischen Gartens zum Tode verurteilt wurde, seine Witwe die Herrschaft
auf eine Weile an sich zog. 1 2 ein anderes Mal entstand eine Empörung, als
ein neuer starker Rhesus-Affe, nach dem Tode des Hauptes, die Herrschaft
an sich riß. Er „kannte nicht die Familienbezüge seiner Untertanen, wußte
nicht, daß einige kleine Affen im Dorfe geboren waren und darum den
Schutz aller genossen. Brutal, wie er war, mißhandelte er einige von ihnen,
und als er dann auch noch die dazwischentretenden Mütter, zwei prächtige
Äffinnen ohrfeigte, kam es zum Aufstand. Alles fiel über den ,Risiko*
her, und zum Schluß warf man ihn ins Wasser. An dem Rande des Wasser¬
beckens blieben drei junge Männchen als Wache zurück und sobald der
,Risiko* Miene machte, das recht kühle Bad zu verlassen, riefen sie durch
Alarmschreie die Bande herbei". 3 Auch ein Affenführer „ Mart in o“ war sehr
brutal. Er war längere Zeit Herrscher einer größeren Hamadryasbande. Er
war äußerst eifersüchtig; fressen ließ er aber seine Bevorzugten noch
weniger als die übrigen. „Eines Tages kam es zu einer Art Hungerrevolte.
Drei jüngere Männchen gingen gegen Martino vor, er mußte flüchten,
und — sein ganzer Harem schloß sich pünktlichst den neuen Machthabern
zu , . . sein jüngerer Bruder wurde sein Nachfolger.*" 3
6 ) Szene, in welcher der Sohn nach Tötung des Vaters mit der
Mutter geschlechtlich verkehrt. Modelle: Als Fortsetzung der oben an
erster Stelle berichteten Palastrevolution wird erzählt, daß, als man den
getöteten Capo forttrug, „sah ihm seine Witwe hoch vom Baume aus nach,
solange sie ihn sehen konnte. Weniger aber aus Schmerz als aus Freude,
daß dieser brutale Gatte nicht mehr war, denn während der Wärter den
Toten forttrug, vereinigte sie sich schon in luftiger Höhe mit dem neuen
Gatten, der bisher im Trupp keine beneidenswerte Rolle gespielt hatte“. 4
Ein ganz spezielles hieher gehöriges Modell wird verständlich, wenn man
beachtet, was unser Begriff „Tod" bei den Affen bedeuten soll. „Aus den
Augen — aus dem Sinn" sollte in der Affensprache heißen: Aus den
Augen — gestorben, tot! Köhler stellt fest, daß die in der Gruppe ver¬
bliebenen Affen (Schimpansen) ein isoliertes Tier nur dann bemerken,
1) Knottnerus-Meyer, a. a. O. S. 50.
2) Daselbst» S, 51*
5) Daselbst» S* 42.
4) Daselbst, S. 30.
Jmw£o. XII
5
66
Dr. Imre Hermann
wenn letzteres Lärm schlägt; es fällt, ebenso wie ein nicht schreiender
kranker oder sterbender Affe, wenn er nicht gerade vor ihren Augen liegt,
ganz aus ihrem Interessenkreise . 1 * Die Existenzfrage scheint hei ihnen nur
durch Sinneseindrücke fundiert zu sein. Rhesus-Äffinnen sollen ihre toten.
Kleinen noch tagelang mit sich herumschleppen, ihnen das Fell durchsuchen,
und sie an sich drücken, und sollen sie erst nach langen Tagen im Stich
lassen, wenn sich nämlich die Verwesung allzustark bemerkbar macht;
dann beachten sie die Leiche aber gar nicht mehr . 3 Es ist allerdings dem¬
gegenüber auch möglich, daß ein totes Tier starke Wirkung auf den ihn
Liebenden ausübt , 5 6 doch auch in diesem Falle ist es nicht das Totsein,
sondern der Augenblick des Fortnehmens der Leiche, des Scheidens,
welcher die niederschlagende Wirkung hervorruft, in welcher dann das
allein gebliebene Tier eventuell verbleiben kann. „Ein Beispiel zärtlicher
Gattenliebe zeigte ein brauner Pavian. Als diesem sein Weibchen gestorben
war, schien er zunächst von ihrem Tode keine Notiz zu nehmen. Er hielt
es für schlafend und folgte bereitwillig, als er abgelassen werden sollte, in
dem Glauben, sein Weibchen komme nach. Als er sich aber getäuscht sah
und man das tote Tier aus dem Käfig nahm, raste er vor Wut und Schmerz,
Tagelang saß er ganz apathisch da, ohne zu fressen .“ 4
In der Umkehrung dieser Verhältnisse finden wir dann auch bei den
Affen das Sichtotstellen als zweckmäßige Handlung vor (sich Ducken
und Totstellen, bis die böse Laune des Gatten, eines Hamadryas, wich ; 5
um ihre Opfer zu täuschen). 1 ’
Von dieser foppenden Weise führt dann nur ein Schritt zum Sei bst -
foppen, in der Form des Nichtbeachtens eines Feindes. So beachtete
eine Schimpansin den im Nachbarkäfig wohnenden anderen Schimpansen
gar nicht, wahrscheinlich aus tiefer Eifersucht, da sie so sein an ihrem
Wärter hing. „Ein Zusammentreffen im gleichen Käfige würde wohl zu
einem Kampfe auf Leben und Tod geführt haben. Räumlich getrennt
beachtete man sich nicht. Ähnlich© Beobachtungen kann man ja aucli an
1) W. Köhler: Zur Psychologie des Schimpansen, S. ia.
4) Knottnerus-Meyer, a. a. O. S. 44.
5) Die Trennung von der Gruppe verursacht im isoliert verbleibenden 1 ier,
besonders bei den jüngeren, Angst.
4) Knottnerus-Meyer, a. a. O. S. 23.
5) Daselbst, S. 41.
6) Rom an es: Die geistige Entwicklung im Tierreiche, 1885, S. 545—345, durch
zwei Beobachter, unabhängig voneinander, gesehen.
Modelle zu den Ödipus- und Kastrationskomplexen bei Affen
Hunden machen, 1 Auch ihre ehemaligen Herren wollen die dem Tiergarten
übergebenen Affen nicht erkennen, „Es liegt bewußte Nichtachtung vor“,
sie wollen vom unzuverlässigen Herrn nichts mehr wissen, 2 Es könnte
heißen: ich sehe dich ja nicht, also du bist „tot“.
So wäre also das Nichtbemerken, Nichtvor denaugenhahen ein
Modell des Todeswunsches. Dann aber können wir ein sehr wichtiges
Modell der letztangegebenen Ödipus-Szene hier anreihen: das Stelldichein
der Affen und Äffinnen im Graben, in einer Grotte, nachdem sie scheinbar
ungezwungen nach dem Häuptling sich umsahen und ihn nicht aufmerksam
fanden . 3
B) Modelle zum Kastrationskomplex
1) Es wäre eigentlich schon von einem „biologischen Modell“ zu
sprechen. Die meisten Nicht-Anthropoiden besitzen einen Schwanz, den
Menschenaffen fehlt ein solcher gänzlich. 4 Aber auch ein Charakteristikum
altweltlicher Affen, die Gesäß sch wielen, fehlen (mit Ausnahme des
Gibbons, bei dem sie rudimentär nachzuweisen sind) den Anthropoiden, 5
Es ist weiterhin auffallend, was beschrieben wird: „Alte Individuen (Orang)
verlieren nicht allein sehr häufig die Nägel ihrer großen Zehen, sondern
zuweilen sogar noch die Nagelglieder derselben. Es ist dies nicht bloß ein
Effekt jener Krankheit gefangener Individuen, jenes gar nicht selten an
Meerkatzen, Hyänen usw, zu beobachtende Abfallen von Schwanz- und
Nagelgliedern, sondern es kommt auch bei freilebenden Orangaffen vor.“ 6 7
2) Modell, als Reißen, Abreißen am fremden Körper. Von ver¬
schiedenen Beobachtern ist beschrieben worden, wie die Affen langschwänzige
Affen oder andere Tiere am Schwänze ziehen, einige Schimpansen Ab¬
neigung gegen Affen mit langen Schwänzen habend ein Siamang ergriff,
sobald er nur konnte, einen seiner mitgefangenen Affen und „trieb mit
dem Schwänze wahren Unfug“. 8 Von einigen Pavianen schreibt Brehm,
1) Knottnerus-Meyer, a. a. O. S. 10.
2) Daselbst, S. 45,
3) Daselbst, S. 55. Die relative Realangepaßtheit dieser Handlungsart soll einen
nicht beirren.
4) Siehe z. R. Brehm, a. a, O. S, 55,
5) Hartmann, a* a. 0 . S. 41, Sokolowsky, a, a. 0 , S, 56, Daß Gesäß Schwielen
zum Genitalapparat gehören, zeigt ihre Schwellung und Rötung während der Men¬
struation. (Hart mann, a. a, O. S, 179,)
6) Hartnimin, daselbst, S, 58,
7) Knottnerus-Meyer, a. a. O. S. 10.
8^ Groos: Die Spiele der Tiere, 2. Auf!., 1907, S. 145.
5 *
IJr. Imre Hermann
sie hätten ihre Gesellen, einige Budengs maulachelltiert, „gaben ihnen Rippen¬
stöße, zogen sie an dem Schwänze und machten sich ein besonderes Vergnügen
daraus, ihre innige Vereinigung zu stören“. 1 Ein weiblicher Pavian ergriff
wieder beim Schlafe den Schwanz eines Hundes und erweckte den Schlafenden
durch einen plötzlichen Riß am Schwänze; nach Reuggers Beobachtung zerren
die Affen Hunde und Katzen beim Schwänze, Hühnern und Enten reißen sie
Federn aus. 2 * Über Federausrupfen am ganzen Körper des Vogels berichtet
Romanes sehr anschaulich („der Affe nahm die Krähe bedächtig zwischen
seinen Knien und fing an mit dem größten Ernste zu rupfen“ — in einem
Falle; in einem anderen wurde sogar beobachlet, wie der Affe dabei den Saft
aus dem Ende der großen Federn zu saugen pflegte 5 — man vergleiche das mit
dem Lausen 1) Nach Rothmann undTeuber sollen die Schimpansen gelegent¬
lich Eidechsen fangen und besondere Freude daran haben, diese an dem
Schwänze zu zupfen. 4 Auch über Zerren an den Haaren wird berichtet, 5 und
da wir anderseits wissen, daß Kopfhaare in der Wut emporgesträubt werden, 6 * 8
ebenso wie eine Erektion in der Wut entstehen kann, ist es fraglich, ob nicht
diese Körperveränderungen besondere Anlässe zum Reißen abgeben können,
j) Modell, als „Verletzungen hervorrufen“. Aus den Köhler-
schen Beschreibungen ist bekannt, daß es Schimpansen viele Freud0 macht,
einen spitzen Stock beim Heranschleichen mitzunehmen und dem ahnungs¬
losen Opfer damit plötzlich an die Beine, in den Leib zu rennen.
Fremdkörper herausheben und Furunkel ausdrücken am anderen Tiere*
kann eine realangepaßte Anwendung dieser beiden Modelle sein.
1) Gr00s: Die Spiele der Tiere, 2 , Aufl., S. 1 44 -
3) Daselbst, S. 144.
*) Romanes, a. a. O. S. 543— 545 - , r _
4) M.Rothmann und E. Teuber: Aus der AnthropmdenSlntmn auf I cnwiffa,
1015. — Fr. Alverdes berichtet über ganz ähnliche Beobachtungen (TieriOWClOgie,
1925, S. 92), meint aber, das wären Folgen der BeichäftigungilOBigheit In der Ge¬
fangenschaft. Es sei nun hervorgehoben, — und dies bezieht Hieb aiil das gnnu hier
vorgefuhrte Tatsachenmaterial — daß auch aus Beschnfügungsloiig t it me Mir
Erscheinung gelangen kann, was nicht seine vorgex ei ebneten Bahnen hat, «en*o, wie
die Affen nur das nathalimen, was in ihrer eigenen Natur liegt. (,Vg . u er t as
letztere besonders Köhler: Intelligenxprüfungcn uaw M S. 48, 49*}
5) Knottnerus-Meyer, a. a. O. S. 56.
6) Bei Orang und Gorilla, Hartmann, a. a. O. S. 24 und 148; in Hitgiuic ler
Erregung beim Schimpansen Sträuben aller Haare weitab vom Körper, Kühler, Zur
Psychologie des Schimpansen, S. 13.
Köhler, Intelligemprüfungeii usw. S. 35.
8) Daselbst, S. 60,
9, Köhler: Zur Psychologie des Schimpansen, S. 30.
Modelle zu den Ödipus- und Kastrationskomplexen bei Affen
4 ) Modell, welches im „Lausen“ mitgegeben ist. Es wurde das
Lausen bereits durch die Wiederherstellung des Mutter-Kind-Verhältnisses,
also als die temporäre Überwindung eines Modells zum Kastrationskomplex,
der Lostrennung von der Mutter, erklärt. 1 2 Es soll auch hervorgehoben
werden, daß „das Herumsuchen unter dem Fell, auf der Haut, am
Anus usw.“ stattfindet, Anus und Genitalien aber einer sehr engen Region
angehören und die Genitalien nach hinten verschoben sind. 3
j) Modell, welches im angstvollen Fern halten des Vaters vom
Säugling mit gegeben ist. (Vgl. die ubw Gleichung Penis-Kind.) Es
wird vielfach berichtet, daß die Mutter den Vater (auch die übrigen
Genossen) von den Jungen ängstlich fernhält. 3
il Hermann: Zur Psychologie der Schimpansen, a. a. O. S. 85, 86,
2) Köhler: Intelligenstpriifungen, S. 69.
3) Alverdes, a. a. O. S. 42; Knottnerus-Meyer, a. a. O. S. 23. — Zum even¬
tuellen Kastrat ionskomplex des Weibchens: Während heim Gorilla-Männchen der
äußere Geschlechtsapparat von einer faltigen Bauchhaut überdeckt wird, so daß er
im Zustande der Ruhe nur wenig hervortritt, zeigt sich der weibliche deutlich, mit
sehr großen Nymphen und großer Klitoris. (Hartmann, a. a. O. S. 18.)
Eine okkultistische Bestätigung der
Psychoanalyse
Von Dr. F. Lowtzky (Berlin)
Die Theorie Freuds vom unbewußten psychischen Sinn neurotischer
Symptome findet eine bemerkenswerte Bestätigung in den von E. Magnin
in Paris veröffentlichten Fällen der Frau IE, der Frau G. und der Frau M. 1
Frau H. litt an einer schweren Zwangsneurose, Sieben Jahre hindurch
hatte sie sich ohne Erfolg von den hervorragendsten Arsten behandeln lassen;
sie wurde Herrn Magnin von ihrem Nervenarzt zur psychoanalytischen Be¬
handlung empfohlen. Dieser nahm aber keine Psychoanalyse vor, da sich —
ihm selber unerwartet — die Möglichkeit bot, mit Hilfe eines Mediums in das
unbewußte Erleben der Patientin vorzudringen, ihr die eigentliche Bedeutung
der pathologischen Symptome ihrer Krankheit zu erklären und sie Im Verlauf
einer Sitzung vollständig zu heilen,
Das Vorhandensein telepathischer Fälligkeiten bei einigen Somnambulen
wird von niemand, der sich mit dieser Frage befaßt hui, bezweifelt. Darum
ist es auch nicht erstaunlich, daß es Magnins „Hellseherin gelang, in die
geheimsten, ihr selber unbekannten Tiefen der Seele der Patientin cinzu dringen.
Das Verfahren, Nervenkrankheiten durch ein Medium zu heilen, ist längst
bekannt. Bereits zu Beginn des vorigen Jahrhunderts wurde dieses Heilverfahren
von Dr. Despine, der weit über die Grenzen seiner Heimatstadt hinaus den
Ruf eines erfahrenen Arztes halte, auf das wärmste empfohlen.* Die Heilung
von Nervenerkrankungen durch mediuinistische Einflüsse ist natürlich zu un¬
sicher, als daß sie als methodisches Heilverfahren in Betracht käme, da Som¬
nambule, die über telepathische Fähigkeiten verfügen, eine Seltenheit sind,
noch seltener aber in der erforderlichen Stimmung sind, ihre seltene Begabung
auch anzuwenden. Der von Magnin beschriebene Fall ist nicht wegen des
neuen Heilverfahrens, wie er meint, bemerkenswert, sondern wegen der An-
1} Magnin: Obsession — Persecution h allun «piritoTdc, guerie pur enteilte uvee
la personnalit£ ofaseklantc. Revue Mdtapsychique, Nov. Die. lyai, N, B, p. 456—^41. —
Magnin: Devant le myst^re de la n^vrose. Paris igao, p. 54—60.
2) A. Despine: „Observation de m^cleciiie prntique“, 1838, p. 19* 2o % 174.
Eine okkultistische Bestätigung der Psychoanalyse
schau lichkeit, mit welcher der Fall der Frau H., dank diesem Verfahren, die
Richtigkeit der Grundlagen der Freud sehen Theorie bestätigt.
Frau H.s Krankheit bestand „in der Furcht zu fallen 4 *, sie war vom
Gedanken besessen, daß sie „fallen müsse"* Sie wurde ständig von diesem
Gedanken verfolgt, auch dann, wenn sie sich in voller Ruhe befand. Bei jedem
Gehversuch fiel sie. Die Fälle, daß sie hinstürzte, mehrten sich täglich —
von fünfundzwangzig- bis zu vierzigmal. Die Kranke behauptete hartnäckig,
daß sie nicht hinfiele, sondern daß sie „zu Boden geworfen würde“*
Eines Tages saß Frau H. im Wartezimmer Magnins mit einigen anderen
Damen, und wartete, bis die Reihe an sie käme. Eine der Damen hatte
mediumistische Fähigkeiten. Obwohl das Medium kein Wort mit Frau II.
gewechselt hatte, obwohl sie einander gar nicht kennen konnten, da sie in
verschiedenen Städten Frankreichs lebten, sah das Medium an der Seite von
Frau II. „ein böses* gewalttätiges, grobes, rachsüchtiges Wesen — einen sehr
bösen Geist*, was sie Magnin mitteilte. Genau mit denselben Wendungen hatte
die Patientin Magnin ihren Vater geschildert* Die Mitteilung erregte sein
Interesse. Er veranstaltete eine Begegnung der beiden Damen in seinem Arbeits¬
zimmer, verschwieg aber beiden gegenüber sorgfältig, was er vom Leben der
einen und der andern wußte.
Die „Hellseherin" verfiel gleich nach ihrer Ankunft in Trance, Ihr Gesicht
verzerrte sich und nahm einen brutalen Ausdruck an, „Meine Tochter, meine
arme Tochter, 4 sagte sie, „die Füße schmerzen mich * * . Ich wollte nichts Böses
tun . . „Wem?* fragte Magnin, „Meiner Tochter/' „Wie heißt sie?“
„.leanne,“ Das Medium fuhr fort zu klagen, stöhnte, bewegte die Arme.
Plötzlich ergriff es die Hand der Kranken und sagte: „Luise, meine arme
Luise (sie hieß in der Tat so), ich habe dir viele Qualen bereitet . . . Warum
hast du mir aber auch immer verboten auszugehen, warum hast du jeden
meiner Schritte bewacht? W eißt du noch * . * Dieser Paletot?
Hierauf erzählte der Geist ausführlich seine Lebensgeschichte, wie er viele
Jahre vor seinem Tode zu kränkeln begann; die Tochter wäre stets besorgt
um ihn gewesen, voller Liebe und Aufmerksamkeit; dieses Verhalten habe er
aber als eine Vergewaltigung seines Willens empfunden, als Zwang, dem er
sich nicht habe fügen wollen. „Sterbend hatte ich den Gedanken, daß
meine Tochter, meine Luise, mir das Leben verbittert, mich meiner Unab¬
hängigkeit beraubt, mir nicht erlaubt hatte auszugehen, mich frei zu bewegen,
und ich heftete mich an sie, damit sie ihren Felder einsehe. Sie muß mir
deswegen nicht böse sein . . * Ich habe niemandem Böses getan . . * Sie haben
mir die Augen geöffnet* ich danke Ihnen für alles, was Sie für sie tun: Sie
geben mir moralische Erleichterung, indem Sie ihr physische Erleichterung
schaffen.“
Alles, was das Medium sagte, entsprach den Tatsachen. In der Tat war
der Vater der Frau H. eine despotische, aufbrausende, unduldsame Natur;
er duldete nicht den geringsten Widerspruch. Wegen des Mantels hatte er
einmal mit seiner Tochter Streit gehabt — trotz Winterkälte und trotz seines
hohen Alters hatte er ihn nicht anziehen wollen* Die Besorgtheit der Tochter
72
Dr. F. Lowtzky
um ihn konnte ihn rasend machen. In einem solchen Wutanfall war er
gestorben.
Man kann sich leicht verstellen, was für einen erschütternden Eindruck
dieser Tod auf die Tochter machen mußte* Sie, die ihrer Natur nach „sehr
nervös und ängstlich Veranlagte*', war ihrem Vater zärtlich zugetan. Natur¬
gemäß mußte der Tod des Vaters eine furchtbare Seelenerschütterung zur
Folge haben, da er ja in einem Wutanfall gegen sie gestorben war mit dem
Gedanken, „daß sie ihm das Leben vergällt habe 44 . Es ist verständlich, daß
dieser Gedanke sich in ihr festsetzen mußte. Sie erwähnt ihn aber nicht, hat
keine Erinnerung an ihn, und hieraus folgt, daß es ihr gelungen war, ihn
zu verdrängen5 die ins Bereich des Unbewußten vertriebene Idee blieb aber
nach wie vor lebendig, „heftete" sich an sie und offenharte sich in Form
eines Krankheitssymptoms, welches die Verwirklichung ihres unbewußten
Wunsches — für ihre Schuld am Vater gestraft zu werden — symbolisch zum
Ausdruck brachte. Sie „muß fallen % und dieses Fallen erfolgte darum mit
solcher Vehemenz, — hatte es doch mitunter Verwundungen und sogar Knochen-
brüche zur Folge — weil es die Verwirklichung des Wunsches der Kranken,
bestraft zu werden, darstellte,
„Die Furcht zu fallen“, der Gedanke, daß sie „fallen müsse“, daß sie „zu
Boden geworfen werde 1 *, diese Ideen, von welchen die Krank« besessen ist,
das Fallen selbst, das Verletzungen und Knochenbrüche zur böige hatte, sind
mehrfach determiniert.
Die Kranke hat „Angst zu fallen“. Jede Angst ist die Äußerung einer
verdrängten sexuellen Regung, Das Medium, welches das Unbewußte von
Frau FL getreu widerspiegelt, behauptet, der Vater „hafte“ an der Tochter, „er
zwinge sie zum Fallen“*
Jeder Kranke hat, nach Freud, in seinen Behauptungen irgendwie recht,
wenn er es auch nicht wisse, wieso und warum. Jede Phantasie (in diesem
Falle die Behauptung der Frau HL) ist eine Wimscherfüllung, welche so wie
der Traum oft mit dem Gegenteil arbeitet. Es ist die Tochter, die an den
Vater gebunden ist, die sich von dem Vater nicht los lösen kann, sie ist es,
die an ihm „haftet" und nicht er an ihr; es ist ihre Bindung an den Vater,
die sie zum „Fallen“ bringt. Ja, sie fällt tatsächlich und dieses Fallen ist eine
symbolische Darstellung der Erfüllung ihres infantilen Wunsches {„sie wird
zu Boden geworfen“)* Ihre inzestuösen Gefühle kommen klar zum Vorschein
in ihrer ambivalenten Einstellung zum Vater. Die iiberzaetliche Liebe und
Sorge um den Vater, die ihm sein Leben unerträglich machten und ihn
schließlich zum Tode führten. Sterbend hat er den Gedanken gehabt, daß
seine Tochter ihm das Leben verbittert, ihn seiner Unabhängigkeit beraubt
hat, ihm nicht erlaubt hat auszugehen und sich frei zu bewegen. Er ist mit
der Tochter unzufrieden: in einem Wutanfalle gegen sie ist er auch gestorben.
Entgegengesetzt der zärtlichen Neigung der Tochter sind die Gefühle des
Vaters zu ihr feindselig; er fühlt eine Verbitterung gegen sie* Diese Versagung
der Liebe ist es wahrscheinlich, die die feindseligen Gefühle der Tochter ver¬
ursacht hat, es ist die unbewußt«? Rache für die unerwiderte Liebe.
Eine okkultistische Bestätigung der Psychoanalyse
75
Die Verletzungen beim „Fallen" sind die Strafe für das moralische Fallen,
für das infantile Begehren des Vaters von seiten der Tochter; sie sind aber
auch die Strafe für ihre feindseligen Regungen gegen denselben. Frau H,
weiß nicht, was sie dazu veranlaßt, immer dasselbe zu wünschen und dieselbe
Handlung zu wiederholen, weil die Ursachen, welche die Idee, von der sie
verfolgt wird, Hervorrufen und sie zu bestimmter Handlungsweise veranlassen,
unter der Schwelle ihres Bewußtseins, im Willensbereich ihres Unbewußten
liegen — und diesen Willen nun empfindet sie als eine fremde, in ihr wir¬
kende Kraft; daher „fühlt“ sie auch, daß sie nicht selber fällt, sondern daß
sie „zu Boden geworfen wird ,
Das Medium behauptet, daß Frau H. von dem Vater „zum Fallen ge¬
zwungen" werde. Außer des Hinausprojizierens der eigenen Gefühle auf den
Vater, hat diese Behauptung noch einen anderen Sinn: Es handelt sich um
eine Introjektion des Vaters, uni die Identifizierung mit ihm, um Bildung des
Über-Ichs (des Ich-Ideals), das gegen das arme verschuldete Ich wütet und es
durch Verletzungen und Knochenbrüche für seine inzestuösen und feindseligen
Gefühle gegen den Vater straft. „Ich hefte mich an sie," sagt der Vater,
„damit sie ihren Fehler einsieht . * * Sie muß mir deswegen nicht böse sein.*
Die Kranke identifiziert sich also mit ihrem Vater, von dem sie zu Boden
geworfen und auf diese Weise bestraft wird, Freud berichtet in seinen „Vor¬
lesungen zur Einführung in die Psychoanalyse" 1 einen außergewöhnlich inter¬
essanten Fall einer solchen Identifizierung,
Die Fähigkeit der Identifizierung zeigt sich auch hei Medien. Bei der
Begegnung der „Hellseherin* mit Frau II. in Magnins Arbeitszimmer verfiel
sie erst in Trance, d. h. in einen hypnotischen Zustand. Äußerungen mediumisti-
scher Ekstase müssen nach James als Folge hypnotischer Beeinflussung betrachtet
werden. Das Medium findet sich in seine Rolle, weil das von den Anwesenden
erwartet wird.
Spiritistischer Lehre zufolge können die Geister Verstorbener durch Medien
mit lebenden Menschen verkehren. Magnin selber bekennt sich als „überzeugter
Adept zu dieser Lehre". Die Somnambule teilte augenscheinlich diese Überzeugung,
sonst hätte sie jenen alten Mann, den sie in Magnins Wartezimmer gesehen hatte,
nicht einen „bösen Geist* genannt. Es liegt in der Natur der Dinge, daß ein
in Trance befindliches Medium die Rolle spielt, die die Anwesenden und die
es selber von sich erwartet. Es „verkörpert* den verstorbenen Vater der Frau H.,
d. h. es identifiziert sich mit ihm, es spielt seine Rolle.
Diese Fähigkeit zur „Verkörperung“, zur Personifizierung ist eine der grund¬
legenden Eigenschaften des Unbewußten. Wird einem im Zustande der Hypnose
befindlichen Menschen irgendeine Idee suggeriert, die er zu personifizieren
habe, so geht er diese Verkörperung ein. Man kann ihm beispielsweise suggerieren,
er wäre ein Vogel, ein Kind, ein König — und er wird sich einbilden, er wäre
es, wobei er seine Rolle häufig meisterlich, geradezu mit erstaunlicher Voll¬
endung spielt. Diese Fähigkeit der Somnambulen zu personifizieren, wird von
i) Ges. Schriften, Bd, VII, S* 26S—270,
74
Dr. F. Lowtzky
Morton Frince durch das den Menschen eigentümliche Streben erklärt, ihren
geistigen Gehalt als Person zu gestalten. Dieses Streben des «ubliminalen „Ich**
nach Personifizierung, nach dem bildlichen Ausdruck lür die von ihm durch¬
lebten Empfindungen ist recht eigentlich die ihm eigentümliche Ausdrucksart,
seine eigene Sprache, die die Stelle der artikulierten Sprache des Bewußtseins
vertritt. Die moralische Kränkung, die von der Kranken als „Schlag ins Gesicht“
empfunden wurde, wird vom Unbewußten auf symbolische Weise in Gestalt
von Gesichtsneuralgien zum Ausdruck gebracht, Auch in Träumen finden wir*
die symbolische Sprache des Unbewußten wieder. Die Personifizierung, „das
Bestreben den geistigen Gehalt als Person zu gestalten u , ist eben dieselbe Art
des Ausdrucks von inneren Erlebnissen des subliminalen „Ich“, das seinen
geistigen Gehalt zu Personen und Handlungen umprägt. Das Medium wird zur
Verkörperung des verstorbenen Vaters der Frau H., es spielt seine Bolle, d, h.
es identifiziert sich selber mit ihm, wie die junge Frau in dem oben angeführten
Freudschen Falle sich mit ihrem Manne identifizierte und dessen Holle spielte.
Der Unterschied zwischen ihnen besteht nur darin, daß die junge Frau in dein
von ihr verkörperten Bilde den Gehalt der eigenen unbewußten Vorgänge wieder-
gibt, während Magnins „ Hellseherin * wie ein Spiegel das, was sich unter der
Schwelle des Bewußtseins der Frau H« ereignete, widerspiegelte.
Die Möglichkeit einer Gedankenübertragung oh ne Beteiligung der Sinnes¬
organe wird von hervorragenden gelehrten Autoritäten anerkannt. Fr. Myers,
der die Grundlagen zur Erforschung des Subliminalen geschaffen und diesen
Untersuchungen fast seine ganze Lebensarbeit gewidmet hut, gibt zu, obwohl
er leidenschaftlicher Anhänger des Spiritismus ist, daß die vom Medium ver¬
körperten Gebilde aus dem auf telepathischem Wege übertragenen, bewußten
oder unbewußten Gedankengehalt der Anwesenden entstehen können. 1 Zum
selben Ergebnis gelangt«? aucli der bekannte Schweizer Psychologe Fh. 1 ’ lournoy,
der sich jahrelang mit mediumistischen Erscheinungen befaßt hat. Er teilt mit,
das Medium könne in Trance mit so außerordentlicher Dorste) lungikraft einen
Verstorbenen, den es nie gekannt habe, verkörpern, daß ei den Anwesenden
die unumstößliche Überzeugung von der Echtheit des „Geistes vermittelt.
Sie ahnen nicht einmal daß das Medium sich der Erinnerungen eines der
Anwesenden bedient, die in ihm das Bild des Verstorbenen erstehen lassen,
der sich dann wie in einem Spiegel im Unbewußten des Mediums wider-
spiegelt. Mit verblüffender Ähnlichkeit reproduziert das Medium den Verstorbenen
in Worten und Handlungen, aber der Verstorbene hat zu diesem Bilde nicht
die geringste Beziehung/
Das Medium verkörperte nicht nur das aufs Medium übertragene Bild des
Greises, es hat diesen auch vor sich gesehen.
Die Fähigkeit der Somnambulen, in „Bildern zu denken“ und ihre Gedanken
in Halluzinationen zu verwandeln, wird von allen Beobachtern* die sich mit
i F. W* Myers: La persrmnalit6 hununnu. 19051 p. 338,
2} Th. Flournoy: Esprits et medium*. p« 481.
Eine okkultistische Bestätigung der Psychoanalyse
75
der Erforschung dieser Frage befassen, festgestellt. „Ihr (der Somnambulen}
Denken“, sagt Janet, „ist farbig und lebendig, es ist Bild und * . . fast immer
Halluzination 1 Als P. Janet eine Somnambule fragte, wieviel Uhr es sei,
antwortete sie ihm zuerst: „Warten Sie, ich sehe es nicht “ 7 und fügte dann
hinzu: „Jetzt weiß ich es.~ Sie sah das Zifferblatt mit den Zeigern vor sich,
die die Stunden angaben, 2 Halluzinationen lassen sich bei Somnambulen durch
Suggestion künstlich Hervorrufen, Die Fähigkeit einer solchen Objektivierung
seiner Gedanken besitzt nicht nur das Bewußtsein, sondern auch das unbewußte
„Ich“, wobei der Gedankenmhalt des Unbewußten zum Gegenstand von
Halluzinationen des Bewußtseins werden kann, 3 Deshalb ist dem Menschen,
der sie im normalen Zustande erlebt, die Entstehung von Halluzinationen dieser
Art völlig unverständlich.
Das erstemal sieht die „Hellsichtige" das Bild des verstorbenen Greises
im Wartezimmer Magnins. Die von der Tochter ihrem Unbewußten tele¬
pathisch vermittelte Vorstellung von ihm wird zum Gegenstand einer Halluzina¬
tion ihres Bewußtseins, dem der Greis völlig unbekannt war, und das natürlich
sein Erscheinen als etwas Jenseitiges erklärt. Das zweitemal sieht sie ihn im
Sprechzimmer Magnins, und zwar in eben jenem Überzieher, der Ursache
des Streites zwischen ihm und seiner Tochter gewesen war, und der sich
deshalb ihrem Gedächtnis besonders deutlich hatte einprägen müssen.
Die Somnambule gab eine ungemein exakte, sehr treue und detaillierte
Beschreibung des Greises, ganz als ob sie ihn leibhaftig vor sich sähe. Diese
außerordentliche Lebendigkeit der Halluzination, die ihre Wahrnehmung
wirklichen Empfindungen ähnlich macht, wird auch von F* Janet* und
anderen hervorragenden Psychologen festgestellt. Dem bekannten französischen
Gelehrten A. Binet 5 gelang es, die Ursache einer solchen Realität der Hallu¬
zination auf experimentell ein Wege festzustellen. Die „Gedankenbilder , wie er
sie nennt, wurden von ihm auf einer Leinwand fixiert und einer genauen
Untersuchung unterzogen, welche ergab, daß die Wahrnehmung dieser Bilder
einer sonstigen Empfindung gleich ist. Bei der Fortsetzung dieser Untersuchungen
konstatierten die italienischen Gelehrten Lombroso und Ottolenghi, daß
diese Bilder den optischen Gesetzen unterliegen, als wären sie reale, außerhalb
des Subjektes befindliche Gegenstände. Ihre Beobachtungen wurden durch
experimentelle Untersuchungen bestätigt. Auf Grund ihrer zahlreichen Versuche
kamen diese Gelehrten zum Schluß, daß die Vorstellungen nach außen projiziert,
exterriorisiert werden, in den Baum hinaustreten und darauf wieder wahr-
genommen werden können, als wären sie wirkliche, außerhalb des Menschen
1) F. Janet: L'automatisme psyehologique, Paris, F, Alcan, 1905, p, 206.
2) Op. cit., p, 206.
5) Op, eit,, p, 455, 454-
4) Op. cit*, p. 147*
5) A. Binet: La vision mentale. Rev. philos, T. 27, 188g, p. 546, 347, 354, 555, 557.
6) Lombroso et Ottolenghi: L’smage psychique et Facuite i-isuelle dans
Phypnotisme, ftev. philos,, 1890, T, 29, p. 73,
7 6
Dr. F. Lowt'/.ky
existierende Bilder. Der menschliche Gedanke kann sich objektivieren, die
Form realer Wirklichkeit annehmen, weshalb die Wahrnehmung solcher
optischer Phänomene mit Empfindungen identisch ist.
*
Ein anderer, nicht weniger charakteristischer Fall einer wunderbaren Heilung
ist die Heilung der Frau G., einer jungen Frau von 28 Jahren* Die Kranke
litt jahrelang an starken nervösen Kopfschmerzen, denen sich dann zuletzt
auch ein Selbstmordzwang zugesellte. Sie hatte vielt? Ärzte konsultiert, doch
brachten ihr die Kuren nicht die geringste Erleichterung* Einer der Arzte
hatte sie an Magnin empfohlen. Organische Mangel lagen nicht vor, doch ließ
das Psychische zu wünschen übrig. Sie war leicht erregbar, eigensinnig und
launisch, und Suggestionen ungemein zugänglich* Ihre Krankheit bestand darin,
daß sie „wahnsinniges Weh u (angoisse affolante) im Nacken und eine gleichsam
physische Last auf den Schultern spürte, die so drückend war, daß sie mitunter
die kaum zu überwindende Neigung hatte, ihrem Leben ein Ende zu machen*
Auf Befragen wurde festgestellt, daß die Kranke vor ihrer Heirat einen ausländi¬
schen Offizier geliebt hatte. Er erwiderte ihre Neigung, doch weigerten stell die
Eltern, die Heirat zu gestatten. Er meldete sich als Freiwilliger bei der Fremden¬
legion und starb. Gerüchtweise verlautete, er habe sich das Leben genommen- Bald
nach seinem Tode wurde Frau G* von dem Selbstmordzwang befallen* Magnin
war es klar, daß die Krankheitsursache bei der jungen Frau in ihrer Liebe zu
jenem Offizier zu suchen wäre. Er versuchte es mit verschiedenen I Ißilv er fahren:
Analyse des Unbewußten der Patientin, Psychotherapie und Hypnose — aber
nichts wollte helfen. Der Zustand der Kranken war sehr gefährlich* Ihr
Untergang schien gewiß, so lebhaft wünschte sie, ihrem Leben ein Ende zu
machen* Magnin entschloß sielt, eine ^Hellseherin heruitzuzirhoii. Ol me \ or-
wissen der Patientin, doch mit Wissen ihres Mannes, veranstaltete er eine
Begegnung zwischen ihr und dem Medium* Das Medium kannte sie nicht,
wußte auch nichts von ihrem Leben und von ihrer Krankheit, Als du*
„Hellseherin" das Zimmer betrat, schlief die Kranke bereits* Da Magnin vom
Medium nur das erfahren wollte, was es selber 8Ah, nahm er von allen Fragen
Abstand*
Kaum befand sich das Medium in der Nahe der in tiefem Schlafe liegenden
jungen Frau, als es ein Wesen erblickte, welches sich an ihren Bücken klammet te
(agrippij. Die Beschreibung dieses Wesens, die das Medium gab* entsprach
genau dem Aussehen des Offiziers, den Frau G* vor ihrer Heirat geliebt hatte*
Mit der einen Hand drückte es ihren Nacken zusammen, mit der anderen
verdeckte es die eigene Stirn oder wies darauf hin* Dieses Bild bringt symbolisch
den Inhalt der unter der Bewußtseinsschwelle liegenden Erlebnisse der brau G,
zum Ausdruck. Ein junger Mann preßte miL seiner Hand den [\*ickeit der
Kranken zusammen, d* h*, er hat sie in seiner Gewalt, oder richtiger sie
ist mit ihrem Gefühlsleben an ihn gekettet. Darin liegt die eigentliche „Be¬
deutung" ihres Krank heitssyniptorns, nämlich eines dauernden Empfinden*
eines „unsäglichen Wehs“ im Nacken ( „angoisseajfotante“)} — die Kranke bestand
!
Eine okkultistische Bestätigung der Psychoanalyse
77
auf diesem Ausdruck, —- das Wort „affolante“ bezeichnet im Französischen aber
noch etwas anderes, „affolement^ heißt nämlich Abweichung (z. B* von der
Magnetnadel gesagt). Symbolisch kommt dieser Gedanke noch in einem anderen
Krankheitssymptom zum Ausdruck — im physischen Empfinden, eine Last auf
den Schultern zu haben. Es handelt sich hier um eine moralische Last, durch
Gewissensbisse hervorgerufen, als Folgeerscheinung des GefühlskonOikts ihrer
Neigung zum Offizier einerseits und der Pflichten ihrem Manne gegenüber
anderseits. Sie vermag diese Last nicht zu ertragen, sie treibt sie zur Ver¬
zweiflung, bringt sie um den Verstand und führt zu dem fast unüberwindbaren
Verlangen, Selbstmord zu begehen. Die Haltung des jungen Menschen, der
sich an ihren Rücken klammert (agrippej, ist bildlicher Ausdruck für die Ver¬
wirklichung des geheimen Wunsches der Kranken. Das Medium, das der Kranken
unbewußte Erlebnisse wie in einem Spiegel wiedergibt, formuliert diesen
Wunsch klar in den folgenden Worten, atemlos vor Erregung ruft es: „11
s’est suicide et il veut qu*eüe le rejoigne“ (Er hat Selbstmord begangen und
will, daß sie ihm folgt.) Sie identifiziert sich mit dem Offizier, wie Frau H.
sich mit ihrem Mann identifizierte, und das war nicht er, sondern sie, die
Selbstmord begangen hatte. Und tatsächlich war ihr Leben kein Leben mehr;
es war zu einer einzigen Qual geworden, seit sie dem einen ihre Neigung
geschenkt hatte, während sie gezwungenermaßen mit dem anderen zusammen¬
lebte. Und darum sucht sie sich wieder mit ihm zu vereinigen — „il veut
qu’elle le rejoigne“. In diesem sexuellen Trieb zum jungen Offizier, in der
gedanklichen Zugehörigkeit zu ihm einerseits und in dem Gefühl der Pflicht
ihrem Manne gegenüber anderseits, liegt das Tragische ihrer Lage beschlossen,
die Krankheitsursache, die in den Krankheitssymptomen klar zum Aus¬
druck kommt.
Mngnin glaubt ebenfalls, wie oben bereits gesagt wurde, daß die Liebe
der jungen Frau zum Offizier die eigentliche Krankheitsursache ist. Einge¬
zogenen Erkundigungen zufolge hatte er Grund zu glauben, daß diese Neigung
keine platonische gewesen war; Frau G. hatte ihm das aber niemals
ein gestanden. Zwischen den jungen Leuten sollte ein plötzlicher Bruch
herbeigeführt werden, Oie Notwendigkeit der unerwarteten Trennung einei-
seits, und das Gefühl der Pflichtverletzung ihrem Manne gegenüber anderseits,
mußte naturgemäß die Nerven der Frau G. furchtbar erschüttern und den
inneren Kampf herbeiführen, der damit endete, daß sie ihre unerlaubte
Neigung niederzwang. Wie sehr diese aber in der Tiefe ihres unbewußten
Ich « wurzelte, geht daraus hervor, daß weder umständliche Unterredungen,
noch die „sorgfältigste“ Analyse ihres Seelenzustandes Magnin die Möglichkeit
gab, sie an den Tag zu bringen. Was Magnin aber nicht gelingen wollte,
erreichte das Medium mit Leichtigkeit. Dank seiner außerordentlichen Fähig¬
keiten drang es ins Unbewußte der Frau G. ein und enthüllte die eigentliche
Bedeutung der Krankheitssymptome. Zwischen der „Hellseherin“ und dem
„Geist“ des Offiziers kommt es zu einer lebhaften Auseinandersetzung, an
welcher auch Herr Magnin aktiv teilnimmt. Das Medium diente als Ver¬
mittlerin, gab die Fragen weiter und teilte die Antworten mit. Dieses Gespräch
?8
Dr. F. Lowtzky
wurde bald sehr erregt. Magnin war bemüht* seinen unsichtbaren Gesprächs¬
partner zu veranlassen* sein Opfer freizugeben, witlireml dieser durchaus nicht
nachgeben wollte und den Streit mit all der Hartnäckigkeit und Lflidcnschaft
führte* wie sie ihm bei Lebzeiten eignete* Endlich gelang es Magnin mit
größter Mühe, ihn dazu zu bestimmen, sich seiner Forderung unterzuordnen*
Erst zwei Stunden nach Fortgang der „Hellseherin 1 * weckte Magnin die
Patientin* der er aber nichts vom Geschehenen mitteilte*
Nach dieser Sitzung wurde Frau G. wieder vollkommen gesund. Sie war
nicht wiederzuerkennen — heiter, zufrieden und vollkommen glücklich. Alle
Symptome ihrer Krankheit verschwanden, und sie empfand nie wieder —
weder „Weh irn Genick“, noch den Druck der Last auf den Schultern* noch
endlich den Wunsch, Selbstmord zu begehen. Später erfuhr Magnin* daß sie
gesunde Zwillinge zur Welt gebracht hatte.
Das Medium erlebt einerseits in sieh den jungen Offizier und gibt mit
ungemeiner Kunstfertigkeit seinen Charakter wieder* anderseits aber sah ihn
das Medium vor sich, wie im Falle der Frau H. die „Hellseherin k * deren
Vater vor sich stehen sah. Die Krankheit der Frau G. bestand in ihrem
Empfinden für den Offizier, das sie zwar unterdrückt hatte, das aber dennoch
auch weiterhin in ihrem Unbewußten wirksam war und von diesem in der
Form eines Krankheitssymptoms, nämlich des Gefühls einer „angczsje ßffdante
im Nacken, zum Ausdruck gebracht wurde. Die „Hellseherin“ bringt in ihrer
symbolischen Redeweise denselben Gedanken in Gestalt des Offiziers zum
Ausdruck* der sich an die junge Frau „geheftet habe* Die Bedeutung des
Krankheitssymptoms ist Magnin klar geworden, daher redet er dem jungen
Mann mit solcher Hartnäckigkeit zu, er möge von seinem Opfer nblassen; er
weiß, daß hievon die Genesung der Patientin ah hangt, doch muß die ilun
persönlich klar gewordene Bedeutung des Krankheitiiymptorns auch in das
Bewußtsein der Kranken eindringen* sie muß sie sich zu eigen machen und nur
dann gelangt die Psychoanalyse zu positiven Ergebnissen. 1 ud darum brauchte
Magnin auch so viel Zeit, bis seine Bemühungen vun Erfolg gekrönt waren.
Magnin teilt noch folgenden* sehr interessanten Fall einer wunderbaren
Heilung mit:
Die Kranke, Frau M., eine junge Dame von riebemmdzwanzig Jahren, ist
physisch gesund, stammt aus einer psychisch normalen hamilie und hat eine
gute „moralische und religiöse“ Erziehung genossen.
Ihre Krankheit bestand darin, daß sie kein Wort, das sich auf Religion
oder auf religiöse Handlungen bezog, ertragen konnte. Die Krankheit nahm
damit ihren Anfang* daß Frau M. beim Anblick eines ihr längst bekannten
Abbes in unbeschreibliches Entsetzen geriet. Das geschah zwei Wochen nach
ihrer Hochzeit, als sie ihr junges Glück in vollen Zügen genoß. Das Angib*
gefühl, das sich ihrer bemächtigte, wur so groß, daß sie außerstande war*
es zu bekämpfen. Von dieser Zeit an hörte sie auf, die Kirche zu besuchen
und fühlte sich unfähig, ihren religiösen Pflichten zu genügen. Sie konnte kein
Wort sprechen, überhaupt nichts tun, was, wenn auch nur indirekt* auf
Religion oder religiöse Handlungen Bezug hatte; sie selber war hiezu außer-
Eine okkultistische Bestätigung der Psychoanalyse
79
stände und verbot es auch ihrem Mann, sich mit diesen Dingen abzugeben;
das Leben der beiden wurde zu einer wahren Folter, da ihre Phantasie in
dieser Hinsicht geradezu unerschöpflich war. Die Worte Altar, Kirche, Abbe,
Priester machten sie erbleichen und brachten sie außer sich. Sie konnte keinen
Wein trinken und kein Brot essen, weil Wein und Brot sie an das Abend¬
mahl erinnerten. Sie ließ sich nur dazu bewegen, etwas Kognak zu sich zu
nehmen, aber nicht aus Flaschen, welche die Etikette Benediktiner oder
Chartreuse trugen, deren Anblick allein genügte, um sie zittern zu machen*
Sie konnte das Wort „weiß" nicht ertragen, da es sich ihr mit der Vorstellung
von der Hostie assoziierte. Ehe sie sich dazu entschließen konnte, ihre Wäsche
anzuziehen, pflegte sie sie stundenlang mit der Bürste zu reiben, damit sie
aufhörte weiß zu sein. Sie selber wusch sich unzähligeraal am Tage die Hände
und nötigte auch ihren Mann dazu. Sie konnte weder selber Pfirsiche essen,
noch duldete sie, daß ihr Mann es tat, weil sie das Wort Pfirsich (picke) an
das Wort packe — das französische Wort für Sünde — erinnerte. Wurden
ihre Wünsche nicht erfüllt, so hatte dies fürchterliche Szenen im Gefolge:
die Kranke wurde sehr aggressiv. Der Mann erfüllte alle ihre Forderungen,
er weigerte sich nur strikte, ein Medaillon abzulegen, das ihm seine Mutter
zur ersten Kommunion geschenkt hatte.
In ihrer Heimat, Pointe-ä-Petre, versuchte man es, die Kranke mit physi¬
schen Methoden zu heilen, allein ohne jeden Erfolg. Die Ärzte versuchten es,
psychisch auf sie einzuwirken, doch weder Zureden, noch freundliche Worte,
weder Forderungen, noch Drahmigen hatten die gewünschte Wirkung. Sie
mußte in einer Anstalt untergebracht werden. Da entschloß sich der Mann
dazu, mit ihr nach Europa zu reisen.
Die französischen Arzte verordneten ihr verschiedene gesundheitfördernde
Mittel, die allerdings ihr physisches Ergehen hoben, während ihr psychischer
Zustand nach wie vor unverändert blieb.
Magnin vernichte, die Kranke im Zustande des Wachens durch Suggestion
zu behandeln, erreichte aber nichts damit; da entschloß er sich dazu, dasselbe
Verfahren in Anwendung zu bringen, während sie sich in einem „passiven**
Zustande befand, d. h. in einem Zustand, welcher dem ersten Schlaf in der
Hypnose analog ist. Dieses Verfahren erwies sich als erfolgreich. Die Kranke
begann nun wieder Brot zu essen; sie trank Wein, war bereit, an Kirchen
vorbeizugehen, sprach, wenn auch mit Mühe, Worte aus, welche auf die
Religion Bezug nahmen, beispielsweise Maria, der Heilige Geist, Hostie (dieses
letztere Wort sagte sie nur einmal), sie Öffnete wieder die Türen und trug
Wäsche* Magnin glaubte schon, auf eine vollständige Heilung rechnen zu
können, als dann die mit so großer Mühe erreichten Heilerfolge durch das
inzwischen eintretende Osterfest vollkommen in Frage gestellt wurden. Wieder
begann Frau M. der Gedanke zu quälen, sie könne vielleicht, ohne es zu
bemerken, in die Nähe einer Kirche kommen, Worte hören, welche auf
Religion oder auf religiös-kultische Handlungen Bezug nehmen. Um sich dem
nicht auszusetzen, beschloß sie, nur mit der Untergrundbahn zu fahren* Auf der
Straße überkam sie Furcht; ihr schien, daß ihr Hostienkrümchen in den
8o
Dr. F, Lowtzky
Mund kämen; darum pflegte sie den Mund fest äu schließen und ihn erst zu
öffnen, wenn sie wieder zu Hause war* Zu Haute angelangt, begann sie zu
spucken und sich den Mund sorgfältig zu spülen* Dann hörte sie auf, den
Speichel herunterzuschluckexi und wurde ganz stumm«
Magnin hatte den Eindruck, die Kranke wäre von irgendeiner Kraft be¬
sessen, daher beschloß er, ihr Vorleben genauer zu erforschen. Auf Befraget*
erfuhr er von dem Mann, daß dieser kurz vor seiner Heirat Erpressung«-
versuchen einer Negerin ausgesetzt gewesen war, die als Bediente im Hause
seiner Familie angestellt war. Sie hatte ihm, als sie von der bevorstehenden
Hochzeit hörte, erklärt: „Wenn Sie heiraten, werden Sie keinen ruhigen Augen¬
blick haben* “ Er hatte die Drohung gar nicht beachtet, und auch zu keinen*
davon gesprochen* Wie schon oben bemerkt, war Frau M* zwei Wochen nach
der Hochzeit ohne jeden äußeren sichtbaren Grund gerade in der Blüte ihres
jungen Glückes plötzlich erkrankt.
Als Herr M. sah, daß die Behandlung der Ärzte seiner Frau keine Hilfe brachten*
und daß gar keine Hoffnung auf ihre Genesung vorhanden war, beschloß er*
sich an einen Wahrsager am Ort zu wenden, der im Rufe stand, ein außer¬
gewöhnlicher Heilkünstler zu sein. Weder er selber, noch seini 1 Frau kannten
ihn, hatten ihn auch nie früher gesehen, der Wahrsager dagegen kannte sie
recht wohl, wie sich später herausstellle; er hatte die beiden zusammen in
der Kirche kurz vor ihrer Trauung gesehen. Dieser Umstand fehlen Herrn M*
verdächtig zu sein: ihm kam der Gedanke, ob der Wahrsager nicht in irgend-
einem Verhältnis zur Krankheit seiner Frau stünde; er beschloß daher, ihn
aufmerksam zu beobachten,
Herr M. forderte den Wahrsager auf, bei ihm im Hause zu wohnen. Ob¬
wohl er nie allein mit Frau M. zusammen war, und auch nie ein Wort mit
ihr gewechselt hatte, vermochte er doch schon nach einigen Tagen sie pur
distance dazu zu bringen, alles zu tun, was er wünschte: sie aß oder sie hörte
auf zu essen, sie kleidete sich an oder blieb vollständig unangekleidet, sie
verließ das Zimmer nicht, sie legte sich krank 7,u Bett, sie war gesund und
ging aus* Alles hing davon ab, wieviel Geld er dafür erhielt* Nachrichten
zufolge, die Herrn M* zugegangen waren, erwies m sich, daß der Wahrsager
während seines Aufenthaltes in dem Hause in Beziehungen zu der Negerin
stand, die Herrn M, gedroht hatte, er würde keine Ruhe finden* falls er
heirate. Herr ftL setzte ihn alsbald vor die Tür*
Als Magnin dies hörte, wurde ihm klar, daß die Kranke sich unter einem
bösen Einfluß befände. Um festzustellen, was in der Kranken vorging, beschloß
Magnin, ein ihm bekanntes Medium, Fräulein IV., hinztizuziehen, die brau M,
nie zuvor gesehen, auch nichts von ihr gehört hatte* Als die Kranke zur
Sitzung kam, befand sich das Medium schon in Trance*
Magnin führt wörtlich Fräulein R.s Worte an, wie er sie niedergcsch rieben hat;
r DIe junge Dame“, sagte sie, „hat einen ganz eigentümlichen, unabhängigen,
herrischen Charakter , , ,, sie ist grenzenlos in ihren Forderungen, in ihren
Wünschen, nicht eigenbrötlerisch, über grenzenlos in Ihren Wünschen; sie ist
nicht glücklich; sie versteht es nicht, ihr Leben einzurichten, immer wird sie
Eine okkultistische Bestätigung der Psychoanalyse
81
durch irgend etwas gestört; sie vermag nicht die erforderlichen Anstrengungen
zu machen, um die Hindernisse zu beseitigen; sie faßt wohl Entschlusse* führt
sie aber niemals aus . * . Sie steht unter einem verderblichen Einfluß, von
dem sie nicht freizukommen vermag . # . Das ist eine alte Frau . . . Ich weiß
nicht, was das für eine alte Frau ist * . nein, sie ist nicht so alt * . ., gar
nicht alt . . nur das Gesicht ist alt, so ein Gesicht wie wir es haben * , , 9
graue Haut . . nicht gepudert . * ,, grau * . eine Negerin! Sie ist böse und
zänkisch, eifersüchtig und rachsüchtig, sie ist unzufrieden mit ihrem Schicksal;
sie will Dame sein, will nicht Dienstmagd sein, will zart und aufmerksam
behandelt werden wie diese kleine Dame. Wie ist sie doch böse! Sie wollte
dem Mann der kleinen Dame Böses zufugen, sie hat es nicht gekonnt, nun
rächt sie sich an der kleinen Dame - . ,, sie gibt ihr Gedanken ein, die jene
zittern machen, sie hat sich in sie hereinversetzt, sie hat sie verzaubert, und
jene vermag sich nicht vor ihr zu schützen . . . Um die kleine Dame von
ihr zu befreien, muß die kleine Dame selber und ihre ganze Umgebung an
den Kampf mit der bösen Macht denken, und dieser Kampf darf nicht auf¬
geschoben werden, weil diese Kraft wächst, je weniger man gegen sie ankämpft*
Man muß der bösen Macht befehlen, die kleine Dame zu verlassen, man muß
sie vertreiben, mit lauter, befehlender Stimme muß man ihr befehlen darf
aber nicht mit ihr wie mit einem vernünftigen Wesen reden, auch die kleine
Dame muß selber befehlen, und zwar nicht nur mit Worten, sondern auch
durch Bewegungen muß sie diese Kraft vertreiben. Sie wird fühlen, daß diese
Kraft von ihr selber ausgeht* Dies ist durchaus möglich und geht nicht über
die Grenzen des Möglichen hinaus, das ist ganz einfach eine moralische Ope¬
ration * . und die kleine Dame muß sie noch vor ihrer Abreise vollziehen , ,
sie reist sehr weit * * oh, weit, weit, weit . . lange auf dem Wasser, auf
dein Wasser * * ., oh, wie ist es heiß * * der Äquator * * ich sehe eine
Insel, Guadeloupe . * ,, eine Stadt, ein komplizierter Name * * Pointe, ich sehe
einen Bindestrich * . ich sehe nichts mehr * . *, sie wird sich viel besser fühlen
nach der Abreise von hier/'
Während Fräulein IV diese Worte sprach, verharrten die Anwesenden in
vollkommenem Schweigen, welches nur einmal von Magnin unterbrochen
wurde, der sie nach dem Namen der Stadt und der Insel fragte*
Magnin erklärt diese Worte des Mediums nicht etwa durch dessen tele¬
pathische Fähigkeiten, weil das Faktum der Gedankenübertragung von der
Wissenschaft nicht anerkannt wird, obwohl er in eben demselben Buch in
einem anderen Falle wunderbarer Heilung zu berichten weiß, die Kranke
habe seine Gedanken „gelesen", und außerdem teilt er selber mit, daß der
Wahrsager, der im Hause der Frau M. wohnte, sie auf Entfernungen hin
zwang, das zu tun, was er wollte, d. h* mit anderen Worten, daß ihr dessen
Gedanken übertragen wurden* Er zieht es vor, zur Erklärung der Worte des
Mediums sich an eine andere, von der Wissenschaft ebenso nicht aner¬
kannte, ihm aber sympathischere Hypothese zu halten: daß die Kranke nämlich
tatsächlich von einer bösen Macht besessen wäre, und daß das Medium dies
gesehen habe. Da er zu dieser Schlußfolgerung gelangte, beschloß er, sie un-
Imago XII*
6
82
Dr. F. Lowttky
bedingt von dieser Macht zu befreien, und zu diesem liweck das Heilverfahren
des englischen Arztes Forbes Win slow anzuwenden; dieses Verfahren besteht
in der Übertragung „der bösen Macht“ vom Patienten auf einen gesunden
Menschen. Ein anderes Medium, das Magnin kannte, ein Fräulein Georgette
Abel, erklärte sich liebenswürdigerweise bereit, sich ihm für diesen Versuch
zur Verfügung zu stellen. Nachdem Magnin das Medium hypnotisiert hatte,
verband er dessen Hand mit der Hand der Kranken. Alsbald nahm das Gesicht
Fräulein Abels einen sehr bekümmerten Ausdruck an, und sie begann leise zu
klagen, ln genauer Befolgung der Angaben des ersten Mediums begann Magnin
der bösen Macht“ mit lauter Stimme zu befehlen, Frau M. zu verlassen.
Von dem Wunsche beseelt, der jungen Frau zu helfen, wünschte er aus aller
Kraft, daß die „böse Macht"' sie verließe, und er legte in seine Worte zur
Erreichung seines Zieles so viel leidenschaftliches Wünschen hinein, daß es
den Anschein hatte, als risse er diese Macht aus ihr heraus, und seine Stimme
wurde immer befehlender.
Plötzlich fühlte Frau M. eine ungemeine Erleichterung, während Fräulein
Ahel gleichzeitig zu Boden stürzte, heisere Schreie ausstieß und sich wand;
dann preßte sie den Mund fest zusammen, wie dies früher der Kranken häutig
widerfahren war, und verstummte vollständig, wobei sie verschiedene unregel¬
mäßige Bewegungen vollführte. Je mehr die Erregung des Mediums sich
steigerte, desto ruhiger wurde die Kranke. Der Ausdruck ihres Gesichts war
vollkommen ruhig geworden. Sie ergriff Magnins Hand und sagte ihm, daß
sie sich befreit fühlte. Auf seine Bitte hin, sagte sie lächelnd und ganz unge¬
zwungen alle Worte, die sie früher mit solcher Angst erfüllt hatten, wie bei¬
spielsweise Kirche, Altar, Heiliger Geist, Abbü, Priester, Hostie, Segen usw»
Im Gegensatz zu Frau M, ging es Fräulein Abel immer schlechter und
schlechter. Sie wand sich auf dem Fußboden in furchtbaren Krämpfen und
schlug mit dem Kopf gegen die Wand. Die Kranke nahm aus det Hand ihres
Mannes das Medaillon, das sie früher nicht ohne Entsetzen hatte sehen können,
und betrachtete es ganz ruhig. Als Fräulein Abel dies sah, sprang sie auf und
wollte fliehen, Frau M, sprach laut ein kurzes Gebet, was sie seit dem Aus¬
bruch ihrer Krankheit nicht hatte tun können. Damit brachte sie das Medium
in völlige Verzweiflung.
Frau M. versprach, am nächstfolgenden Tage in die Kirche zu gehen, um
Gott für ihre Rettung zu danken und ihn um seinen Segen für die junge Frau
zu bitten, die sich in so rührender Weil© für sie zum Opfer dftrgehraelit hatte.
Diese Worte versetzten das Medium in unbeschreibliche ü ut.
Nachdem sich Frau M, entfernt hatte, suggerierte Magnin briiulein Abel f
alles zu vergessen, wus ihr im Verlaufe der Sitzung widerfahren war und sich
wieder gesund zu fühlen, was sie denn auch, nachdem sic wieder erwacht w ur,
genau erfüllte.
Auf diese Weise war es Magnin in zwei Sitzungen gelungen, die Kranke
zu heilen, die im Verlaufe von sieben Jahren hervorragende Neuropu t) \ ologeii
und Psychiater vergebens zu heilen versucht hatten. Naturgemäß ergibt sich
die Frage, wie diese Erscheinung zu erklären ist?
Eine okkultistische Bestätigung der Psychoanalyse
%
Wie Bereits oben bemerkt, kann das Vorhandensein der Telepathie für jeden,
der mit der Literatur über diese Frage vertraut ist, gar keinem Zweifel unter¬
liegen. Magnins Medium gibt den Inhalt der Seele der Kranken wie in einem
Spiegel wieder; das Seelenleben der Kranken ist erfüllt mit der Negerin und
mit deren Liebe zu ihrem Mann. Die Negerin will nicht mehr Dienstbote
sein; sie will Dame sein, will genau wie Frau M. von der zarten Liebe ihres
Mannes umgeben sein. Die ganze Aufmerksamkeit der Kranken ist auf diese
Frau konzentriert, die von ihr „Besitz ergriffen“, „sie bezaubert“ hat; „sie
floßt ihr Gedanken ein, die sie in Entsetzen bringen“, und ihr fehlt die Kraft,
sich ihrer zu erwehren, von ihr fortzugehen, sich von dem Gedanken an die
Untreue ihres Mannes loszureißen. Dieses Ereignis erfüllt ihre Seele ganz; sie
ist gleichsam daran geschmiedet. Es ist ihr Trauma. Obwohl nun dieses Er¬
eignis für die Kranke von so gewaltiger Bedeutung war, hatte sie nie zu Magnin
darüber gesprochen, der sie doch sechs Monate behandelt hatte; er erfuhr es
erst durch ihren Mann. Der Schluß liegt nahe, daß Frau M. die Geschichte
mit der Negerin verdrängt und vergessen hatte. Das Medium teilt gleich in
der ersten Sitzung das unbewußte Erleben der Kranken mit. Dank seiner un¬
gewöhnlichen Fähigkeiten gelingt es ihm, den Prozeß der Übertragung des
Inhaltes des Unbewußten ins Vorbewußte, wozu der Psychoanalytiker vielleicht
Monate gebraucht , haben würde, in einer Sitzung vorzunehmen.
Zieht man Frau M.s Charakter in Betracht, ihre Herrschsucht, die Ma߬
losigkeit ihrer Forderungen, ihre Liebe zur Unabhängigkeit, so konnte, vom
rein psychologischen Standpunkte aus gesehen, der Gedanke an die Untreue
ihres Mannes, oder richtiger gesagt, seiner Liebe zu einer anderen nur einen
großen Eindruck auf die junge Frau machen, eine nervöse Erschütterung hervor-
rufen; damit dieses Ereignis aber zu einem traumatischen würde, mußte bei
der jungen Frau die Bereitschaft dazu vorhanden sein. Erblich war sie nicht
belastet, folglich mußte bei ihr eine andere Veranlagung zu einer nervösen
Erkrankung eine Rolle spielen. Nach P. Janets Meinung, die er gelegentlich
einer Unterredung mit dem Verfasser dieses Aufsatzes äußerte, kann die Un¬
treue eines geliebten Menschen, selbst die des eigenen Vaters oder der Mutter,
nicht die Ursache für eine Nervenkrankheit abgeben; er hatte sehr häufig Ge¬
legenheit, solche Fälle der Untreue der Eltern zu beobachten, hatte aber keine
pathologischen Folgen feststellen können. Hätte Jan et Freuds überaus wichtige
Entdeckungen betreffs der Bereitschaft, die als eine Folge der Hemmungen in
der Entwicklung der Libido und der Fixierung derselben, anzusehen ist, be¬
rücksichtigt, so wäre er natürlich zu einer anderen Schlußfolgerung gekommen
und hätte sich ohne weiteres davon überzeugen können, daß bei Menschen
mit einer derartigen Disposition Erlebnisse, wie sie Frau M. bei der Mitteilung
über die Geschichte der Negerin mit ihrem Mann erduldet hatte, unbedingt
zu einer Neurose führen müssen.
Die Geschichte des Mannes der Frau M. mit der Negerin mußte, um zu
einer Nervenstörung zu führen, an irgendein anderes, analoges Erlebnis, das
sie in ihrer Kindheit gehabt hatte, welches mit dem Ödipuskomplex verbunden
war, an knüpfen, nämlich an das Gefühl der Zugehörigkeit zu ihrem Vater und
6 '
Dr. F. Lowtzky
84
an das Schuldgefühl für ihre inzestuöse Bindung an Ihn* l)t*r Sitzung mit dem
ersten Medium ist, wie oben bemerkt, zu entnehmen, daß alle ihre Gedanken
an die Negerin geheftet sind; sie hat sie „verzaubert", sic hat „Besitz von ihr
ergriffen“; mit ihr sind die Gedanken verbunden, die sie „in Entsetzen bringen“,
von ihnen vermag sie sich nicht zu befreien, kann sich ihrer nicht erwehren.
Offenbar identifiziert sie die Kranke mit irgendeiner anderen, „Es ist eine
alte Frau, ich weiß nicht, was das für eine alte Frau ist ,.sagt das Medium.
..Nein, sie ist nicht so alt . .sie ist gar nicht so alt, mir das Gesicht ist alt ,.
ein Gesicht, wie auch wir es haben . . ., graue Haut, nicht gepudert * , ., eine
Negerin!“ Diese alle Frau, die sich hinter der jungen Frau mit der grauen
Haut verbirgt, ist eben jene Person, mit der Frau M. die Negerin identifiziert —
es i s t ihre Mutter. Nun wird auch begreiflich, warum die (Jedanken, die ihr
die Negerin suggeriert, sie in Entsetzen bringen und eine so „verheerende“
Bedeutung für sie haben. Indem sie die Negerin mit der Mutter identifiziert,
identifiziert sie nach Analogie der Situation der Mutter zum Vater — ihren
Mann mit dem Vater. Wie in der Kindheit sah sie, daß ihr Vater eine andere
(die Mutter) liebte, einer anderen angehörte, und dasselbe erfährt sie nun auch
von ihrem Mann, nur mit dem Unterschiede, daß sie es zu einem Zeitpunkt
erfährt, da sie ihm schon angehört (zwei Wochen nach der Hochzeit), lolglich
hat sie mit dem Mann (dem Vater) eine furchtbare Sünde begangen, ein un¬
verzeihliches Verbrechen. Sie kann Pfirsiche (picke) nicht essen und erlaubt
es auch ihrem Manne nicht, sie zu essen, weil das Wort piche an das Wort
pecke erinnert, welches im Französischen Sünde bedeutet; sie wäscht nicht
nur sich selber, sondern zwingt auch ihren Mann, sich unzähligemal am Tage
die Hände zu waschen, d. h. sie bemüht sich, ihn und sieh von der Begehung
einer Sünde abzuhalten und ist bestrebt, sich selber und ihn davon zu reinigen.
Alle Symptome ihrer Krankheit stellen sich entweder als ein Bestreben zur
Befriedigung ihrer infantilen Wünsche in bezug auf den Vater und ihres Kampfes
mit diesen Wünschen dar, oder aber als Kompromiflbildung dieser beiden gegen¬
einander ankämpfenden Kräfte. Ihre Krankheit begann damit, (Ul) sie in un¬
beschreibliches Entsetzen geriet, dessen sie nicht Herr zu werden vermochte,
wenn sie den ihr seit langem bekannten Abb$ kommen sali. Der Ahbi er¬
scheint als Lehrer und Lebensfühler der Menschen, welche, wie Frau M., eine
gute „moralische und religiöse Bildung u genossen haben, als geistliche Autorität;
so ist es denn natürlich, daß die Kranke ihn mit ihrem Vater identifiziert.
Wenn sie ihn sieht, verwandelt sich das sexuelle Begehren des Vaters in Angst,
und die Kranke ergreift die Flucht. Von diesem Zeitpunkt an vermag sie nicht
inehr in die Kirche zu gehen und ihren religiösen Pflichten zu genügen. Sit*
kann die Worte Abbe, Kirche, Kommunion nicht misspreehen, sie kann kein
Brot essen, sie karin keinen Wein trinken. Den Wein genießt der Priester
während der Kommunion, das Brot — die Hostie aber legt er den IvuuiumtiU
kanten in den Mund. Der Ritus der Kommunion hat für die Kranke die Be¬
deutung eines Koitus mit ihrem Vater, darum flieht sie alles, was in irgend¬
welcher Verbindung zu diesem Ritus steht. Sie kämpft gegen ihre Gefühle an
und weigert sich, aus einer Flasche zu trinken, auf deren Etikette „Benedik-
Eine okkultistische Bestätigung der Psychoanalyse
85
tiner 4 ' oder „ Chartreuse w zu lesen steht, ist aber bereit, ein wenig Kognak zu
sich zu nehmen aus einer Flasche, welche diese Aufschriften nicht hat, d. h.
sie gibt ihren Gefühlen nach. Begreiflich ist auch, warum die Weigerung des
Mannes, das Medaillon abzunehmen, sie in Verzweiflung bringt. Dieses Medaillon
hatte er zu seiner ersten Kommunion erhalten, und es war ihm eine Erinnerung
an seine Mutter, Es mußte in ihrem Unbewußten eine Erinnerung an ihre
Mutter und an das Abendmahl wachrufen, welches für sie eine symbolische
Bedeutung hatte, d, h. ihre und ihres Mannes Sündhaftigkeit. Da sie fürchtete,
daß ihr auf der Straße Hostienkrümchen in den Mund gekommen seien, preßt
sie die Lippen zusammen und öffnet den Mund nicht, ehe sie nach Hause
kommt, sie läßt eben dieselben Hostienkrümchen nicht aus dem Munde heraus,
von denen sie so sehr fürchtete, sie könnten ihr in den Mund kommen. Zu
Hause spuckt sie, spült sich sorgfältig den Mund, schluckt dann nicht mehr den
Speichel herunter und verstummt, d. h. wiederum bewahrt sie das, wovor sie
sich so fürchtete, daß es ihr in den Mund kommen könne eben dadurch, daß
sie den Speichel nicht herunterschluckt und den Mund nicht öffnet. Sie kann
nichts Weißes tragen, weil die weiße Farbe sie an die Kommunion erinnert,
an die Hostie. Weiß symbolisiert aber auch gleichzeitig die Unschuld, und das
vermag sie nicht zu ertragen; stundenlang reibt sie ihre Wäsche, bis sie aufhört,
weiß zu sein, und erst dann ist sie bereit, sie anzuziehen, wiederum gibt sie
ihrem Inzestempfinden nach, gegen welches sie anfangs ankampfte. Sie fürchtet
sich, die Kirche zu besuchen. Die Kirche ist ein Mutterleibssymbol. Sie hat
Angst vor dieser Phantasie, vor der Verwirklichung ihrer geheimen Wünsche.
Um nicht zAifällig in die Nahe einer Kirche zu gelangen, um dieser Versuchung
aus dem Wege zu gehen, beschließt sie, in Paris nur die Untergrundbahn als
Beförderungsmittel zu benutzen, doch ist die Untergrundbahn ihrer Lage nach
und in bezug auf die Menschenmenge, endlich auch wegen ihrer rhythmischen
Bewegung dieselbe Mutterleibsphantasie, d. h. die Verwirklichung eben des¬
selben Wunsches, gegen welchen die Kranke ankämpft, wenn sie sich fürchtet,
die Kirche zu besuchen. In der ersten Sitzung überführt das Medium dank
seiner außergewöhnlichen Befähigung die unbewußten Gedanken in das Be¬
wußtsein der Kranken; es kommt dadurch zur Erinnerung der Kranken an
das Verdrängte.
Nicht nur Frau M.s, sondern auch Magnins Gedanken werden auf das Medium
übertragen. Er dachte, die junge Frau stünde unter dem Einfluß einer bösen
Macht, von der man sie befreien müsse. Die Drohungen der Negerin, noch
mehr aber die Geschichte mit dem Wahrsager bestärkten ihn in diesem Ge¬
danken* Darum redet er auch ständig von einer bösen Macht und von der
Notwendigkeit, sie zu vertreiben. Die Übertragung von Gedanken etlicher an
der Sitzung beteiligter Personen auf das Medium läßt sich häufig während der
Versuche mit Subjekten beobachten, deren telepathische Fähigkeiten festgestellt
werden sollen. O. Lodge teilt beispielsweise mit, er habe während einer Sitzung
eine Teekanne gezeichnet, auf welche einige Personen ihre Aufmerksamkeit
gerichtet hatten. Eine hinter einem Schirm befindliche Person sollte nun den
auf diese Weise gedachten Gegenstand auf Papier reproduzieren. Als man die
Dr. F. Lowtzky
Person fragte, welcher Gegenstand gedacht sei, erwiderte sie - ein \ ogel,
doch als man seine Zeichnung mit der Teekanne, die O. Lodge gezeichnet
hatte, verglich, erwies es sich, daß beide Zeichnungen völlig identisch waren.
Es stellte sich heraus, daß einer der Anwesenden, während er auf die Iee-
kanne blickte, als der Gegenstand fixiert werden sollte, gedacht hatte, daß sie
einem Vo»el gleiche, und aur diese Weise hatte sich auf die Person O. I a>dges
ursprünglicher Gedanke und dessen falsche Deutung durch die nn der Sitzung be¬
teiligte Persönlichkeit übertragen. Dasselbe ereignete sich mit dem Medium
gelegentlich der Sitzung, an der Frau M. teilnahm: deren wirkliche Gedanken
und deren falsche Deutung durch Magnin wurden auf das Medium übertragen.
Während der zweiten Sitzung gibt das Medium die Erlebnisse der Frau M.
wieder, und zwar als Handlung wieder. Es schreit, röchelt, windet sich, gerät
außer sich, schlägt mit dem Kopf an die Wand usw. Zum Erinnern gesellt
sich in dieser Sitzung das Agieren der Kranken, das Wiedererleben der
Konflikte, nur mit dem Unterschied, daß das Erleben dieser Konflikte sich
nunmehr unter der Leitung eines Arztes vollzieht, der nicht zuläßt, daß die
Kranke sie wieder in sich unterdrückt. Magnin befiehlt „der bösen Macht ,
die Kranke zu verlassen, er gibt sich sogar den Anschein, als vertriebe er sie
aus ihr; sein ganzer Willensimpuls ist darauf gerichtet, die junge brau von
ihren Konflikten zu befreien, nicht zu dulden, daß die Kranke sie unterdrückt.
Je mehr die Kranke alles, was sich früher mit ihr ereignete, aufs neue durch¬
lebt, desto freier wird sie und desto ruhiger, während das Medium umgekehrt,
die Erlebnisse der Kranken in sich sammelt, in immer größere Erregung gerät,
da es sich von diesen solange nicht zu befreien vermag, bis es hiezu von Magnin
ermächtigt worden ist, der ihm auch suggerierte, diese Erlebnisse auf sich zu
nehmen.
So hat denn Magnin dank der außergewöhnlichen Fähigkeit der Medien,
ohne es selber zu wissen, Frau M. einer Psychoanalyse unterzogen, indem er
zunächst in ihrem Bewußtsein die unterdrückten und vergessenen Erlebnisse
wieder erstehen ließ und auf diese Welse deren eigentlichen Sinn klarstellte,
dann dadurch, daß er die Führung über diese Erlebnisse übernahm und nicht
erlaubte, daß die Kranke sie aufs neue in sich unterdrückte; eben luedurch
befreite er sie und führte sie ihrer völligen Genesung entgegen.
Diese ganz außerordentlichen Fälle wunderbarer Heilung lassen sich sonnt
durch die Fähigkeit des unbewußten „Ich" - den Gehalt der Vorgänge im
Unbewußten des Kranken widerzuspiegeln und sie in Bildern und Handlungen
zu verkörpern — auf natürliche Weise erklären. Indem das Unbewußte des
Mediums den Gehalt der „jenseitigen“ psychischen Prozesse des Subjekts wieder¬
gibt, klärt das Unbewußte des Mediums die dem Subjekt selber völlig ver¬
schlossenen Ursachen für seine Erkrankung auf, nimmt sozusagen eine Analyse
seines unbewußten psychischen Tuns vor, d. h. es bringt, ohne darum zu wissen,
die Freudsche Heilmethode in Anwendung, nur mit dem Unterschiede, daß
seine außergewöhnlichen Fähigkeiten es ihm möglich machen, erst in diu Region
des Unbewußten des Kranken vorzudringen und dann die Bedeutung der Sym¬
ptome seiner Erkrankung klar zu legen, während die Psychoanalyse zunächst
i
Eine okkultistische Bestätigung der Psychoanalyse
87
darauf ausgeht, die symbolische Sprache des Unbewußten zu dechiffrieren und
dann erst in die jenseits der Schwelle liegende Region vordringt und Sinn und
Bedeutung der Symptome feststellt. Daher sind auch die angeführten Fälle der
Frau H,, Frau G. und Frau M. ein ganz augenfälliger Beweis für die Richtigkeit
der psychoanalytischen Methode.
Zur Psychologie des modernen Erziehers
Von Nelly Wolffheim
Die Stellung des modernen Erziehers zu in Rinde hat sich von Grund auf
geändert. Bei der alten Erziehung — die ja heute noch die vielfach anerkannte
ist — ist der Erzieher der Beherrscher des Kindes, Er befiehlt, es hat zu
folgen. Er führt, es soll sich führen lassen. Der Erzieher nimmt dabei das Kind
als „kleinen Erwachsenen", den man allmählich den Maßen des wirklich Er¬
wachsenen angleichen müsse. Nicht etwa das Kind gleicht sich an, ans sich heraus,
aus selbstverständlichem Werden, sondern es wird an geglichen, geformt —
erzogen.
Der moderne Erzieher setzt vor allem Zweifel vor die Krage, ob das Kind
überhaupt erziehbar, d, h, durch direkte, bewußt ausgeführte Erziehungsma߬
nahmen beeinflußbar sei. Die Achtung vor der Persönlichkeit steht neben diesem
Zweifel; sie verhindert, daß der Erzieher in. die Entwicklung des Kindes ein¬
greift und es hemmt, wo keine wesentlichen Notwendigkeiten dafür vorliegen.
Nicht Führer will der moderne Erzieher sein, sondern Schützer und Berater —
doch auch hiebei ist er zurückhaltend, und nach Möglichkeit sucht er seine
Aktivität dem Kinde gegenüber zurückzudrängen,
Aus der veränderten Einstellung des Erziehers zum Kinde ergeben sich für
ihn selbst seelische Schwierigkeiten, die nicht unbeachtet bleiben dürfen. Bei
der Berufswahl schon sollte man das Augenmerk auf sie richten.
Die Liebe zu Kindern ist es, die in den meisten Fällen zu einer Beschäfti¬
gung mit ihnen drängt. Was aber steht hinter der bewußten Liebe im Ln-
bewußten der Persönlichkeit? Sich erlich entspringt die Liebe zu Kindern immer
einer Identifizierung mit ihnen. Nur, wer sich — wenn auch unbewußt —- an
Stelle des Kindes setzt, wird ihm wirkliche Zuneigung entgegen bringen. Gedanken
an eigene Kindheit, oft an eigene Leiden, bilden die Grundlage zu einem Hel ren-
wollen; man will es als Erzieher den Kindern eben besser gestalten, als man
selbst es einst hatte. Häufig wird bei der Wahl des Erzieherberufes eine Gegner¬
schaft gegen die eigenen Eltern und Erzieher mitsprechen, obgleich in den
seltensten Fällen dieser Gedanke aus dem Unbewußten hervor ins Bewußtsein
dringt. Entspringt doch zumeist ein Re formieren wollen unbewußten Antrieben,
die im Verhältnis zu einem Elternteil ihre Wurzeln haben. Daß diese Motive
wo sie den Hintergrund zur Berufswahl bildeten — den Pädagogen zu einer
Zur Psychologie des modernen Erziehers
8 9
Aktivität führen möchten, die er bewußt nicht gutheißt, steht außer Zweifel,
und Konflikte erwachsen ihm sicherlich daher* Noch vielmehr dort, wo etwa
sozialpolitische Einstellung, der Wunsch, Ideen zu verbreiten, Richtungen anzu¬
bahnen, den Ausgangspunkt für erzieherisches Wirken bilden* Hier liegt auch
die Gefallr nahe, — und sie spielt bei der alten Erziehung sicherlich eine
Rolle — daß man das Kind als Objekt behandelt und selbst bei bewußter
Ablehnung der Autorität, unbewußt zu seinem Führer werden will.
Die Mitwirkung unbewußter Komponenten bei mancherlei Schwierig¬
keiten des Pädagogen kann nicht scharf genug in das Blickfeld gerückt werden*
Mancher Erzieher leidet unter gelegentlichen Disziplinschwierigkeiten* Das
Versagen eines Kindes, der Widerstand einer Klasse beleidigt, oft auch bei
bewußt freier Einstellung des Erziehers, seinen Narzißmus; er nimmt solche
Reaktionen als eine Folge eigener Fehler, faßt sie als Bloßstellung auf und
läßt sie dadurch als Kränkung auf sich wirken. Ehrgeizige Erwachsene ertragen
es nur schlecht, wenn sie die Kinder nicht den ihnen vorschwebenden. Weg
gehen sehen* Und hier zeigt es sich, wieviel schwerer es der moderne Er¬
zieher hat: Ein Erzieher alten Schlages will regieren, der moderne Erzieher
lehnt dieses Wollen ab, doch spielt sein Unbewußtes ihm oft einen unangenehmen
Streich, indem es seine Auswirkungen eine zu deutliche Sprache sprechen läßt*
Auch den modernen Erzieher kann gelegentlich ein vom Unbewußten ge¬
leiteter Trieb überkommen, ein Kind zu quälen* Gibt es Pädagogen, die nie
Fehlgriffe taten, nie — trotz bewußter Ablehnung derartiger Handlungen —
ihren Willen dem des Kindes aufzwingen wollten? Machtgier, Sadismus und
noch manches andere kann da mitschwingen. Vielleicht waren es gerade solche
Triebe, die den Erzieher seinen Beruf wählen ließen, unbewußt freilich und
nach außen hin durch einleuchtende und bestechende Gründe verschleiert. Man
denke daran, daß Übergüte oft Grausamkeit kompensiert, daß Weichheit, auch
in der Pädagogik, häufig sadistische Antriebe verdeckt*
Welche Rolle die — zumeist unbewußten -—■ Schuldgefühle bei der Erzieher¬
tätigkeit spielen, sei hervorgehoben. Wo der Erzieher selbst seine schwache
Stelle spürt oder auch nur dunkel ahnt, wird er unduldsam dem Kinde gegen¬
über* Er will — und wohl gerade bei einem sehr geliebten Kinde — nicht
gleiche Fehler sich entwickeln lassen* Vielleicht will er auch unbewußt an den
Kindern heimzahlen, was ihn selbst quälte oder noch quält. Die Auswirkungen
des Unbewußten sind dem bloßen Auge nicht erkennbar und nur mit Hilfe
der psycho analytischen Brille gelingt es, sie zu durchschauen,
Schwierigkeiten, die dem modern gerichteten Erzieher erwachsen, erhalten
starke Antriebe aus seiner eigenen Kindheit* Nicht nur die bewußten Erinne¬
rungen kommen hier in Betracht, sondern Bindungen, die im geheimen mit¬
sprechen* Auch oft dort, wo der Erzieher im Gegensatz zur eigenen Erziehung
steht, ihre Fehler kennt, sie zu umgehen sucht und vielleicht, wie oben erwähnt,
dadurch zu seiner Berufswahl kam, gerade dort klammert sich vielleicht sein
Unbewußtes an eigene Erziehungseindrücke, heißt sie gut, weil der geliebte
Elternteil sie vermittelte* Auch an Einflüsse seiner Ausbildung und Studien ist
der Pädagoge gebunden, und selbst wenn er mit voller Anerkennung zu neuen
Nelly Wolffheim
Prinzipien und Einsichten Überlegungen ist, wird besonders der nicht mehr
ganz junge Erzieher durch früher Aufgenom inciies und Anerkanntes gebunden,
ja, vielfach in seinem Schaffen behindert sein. Niemand vermag über seinen
Werdegang hinwegzukommen, 1
Die alte Erziehung ist weniger konflikterfüllt als die moderne: Sie stützt
sich auf den festen Glauben an ihre Allmacht Ihr steht ihre Aufgabe und ihr
Ziel und das Bewußtsein ihres Einflusses fest; moderne Erziehung — wohl
weil sie noch nichts fest Umrissenes ist — entbehrt dieses sicheren Gerüstes.
Kommen dem Pädagogen die oben erwähnten Zweifel, dann verliert er leicht
den Boden unter den Füßen und fragt sich, ob es überhaupt einen tieferen
Sinn habe, Berufserzieher zu sein, Moderne Erziehung läßt pädagogische
Wirksamkeit geringer erscheinen, soweit sie sich in Maßnahmen und Methoden
dartut, doch weiter, wenn sie sich als höheres Menschentum auswirkt Will
man aus erzieherischem Tun einen Lebensberuf machen, gilt es, sich ein Ideal
zu gestalten, eine Forme) für seine Aufgaben zu finden. Der Narzißmus des
Menschen würde es nicht vertragen, auf die Dauer nur die passive Bolle zu
spielen, die der moderne Erzieher sich zuweist Freilich, wenn sich sein Wirken
auf den Einfluß von Mensch zu Mensch — der Übertragung im psycho¬
analytischen Sinne — aufbaut, wenn es ihm gelingt, Kinder und junge Men¬
schen auch ohne bewußte Aktivität mitzuziehen, dann wird er sich nicht in
die unbefriedigende Rolle des nur gelegentlich eingreifenden Beraters versetzt
fühlen. Aber man vergesse nicht: Durchaus nicht jeder, der Kinder liebt und
für sie leben will, nicht jeder, der Erzieher sein möchte, hat die Eignung, in
einem größeren Kreise eine gute Bindung herzustellen. Und wo der Einfluß
der mit den Kindern lebenden Persönlichkeit versagt, wird auch sein W 1 irken
ohne Widerhall bleiben und ihn selbst daher unbefriedigt lasten* Die alte
Erziehung hat positive Stützen in ihren Maßnahmen, Vorschriften, Strafen*
Moderne Erziehung setzt alles auf die Persönlichkeit und das durch sie ge¬
schaffene Milieu.
Wer heute „Erzieher* werden will (bis für die umgcstaltete Wirksamkeit
ein zutreffenderes Wort gefunden wird, sei fliese Bezeichnung gewählt), muß
seine Stellung zum Kinde und zu seiner Aufgabe gut überschauen; er stillte
versuchen, sich klar zu werden, welche Vorgänge in seinem Unbewußten ihn
zum Kinde, zum Erzieherberuf führen. Es wäre daher wünschenswert, wenn
auch fürs erste praktisch noch nicht möglich — daß sich jeder angehende
1) Nach Beendigung dieser Arbeit fand ich in der Zeitschrift „The new hrn u einen
Bericht über die von Tagore in Indien begründete Schule „StuUüiiketim“* Ich möchte
in diesem Zusammenhänge eine Stelle daraus wiedergeben* Nachdem der Bericht¬
erstatter auf Schwierigkeiten hinwies, die die Durchführung de» von Tagore befür¬
worteten freiheitlichen Systems gelegentlich den Lehrern bereite!* fährt er fort:
^Practically every one of us Teachers has heen to sotne extent inoculattd with thr potson of the
old Systems * * * The 7 old Adam < is sträng in all of 115, and it ist somttinus hard for t/* not
to impose upon the children over whom we hat\e control some of the $o~calUd ydisciphne* oj the
older methods of education* u
Zur Psychologie des modernen Erziehers
9 1
Erzieher einer Psychoanalyse unterzöge* Es läge dies in seinem Interesse,
um Enttäuschungen und Fehlschläge einzuschränken, doch auch im Interesse
der Kinder, denen ein analysierter Erzieher einsichtsvoller und verständnis-
reicher gegen üb er tritt.
Eingegangen im Sommer l$2J*
Der Ödipus-Komplex im Fieberdelirium
eines neunjährigen Mädchens
Von Dozent Dr. Josef K. Friedjung (Wien)
Während man seit Jung vielfach mit Erfolg den Versuch machte, die
psychischen Produkte Geisteskranker mit den Mitteln der Psychoanalyse zu
deuten und zu verstehen, ist meines Wissens diese Methode auf die flüchtigen
Gebilde akuter Intoxikationspsychosen, irn besonderen der im Kindesalter so
häufigen Fieberdelirien, noch nicht angewendet worden, ln der letzten Morbülen-
epidemie Wiens vom Frühjahre 1925 konnte ich die folgende Beobachtung
festhalten, die auch ohne ausführliche Analyse wegen ihrer Durchsichtigkeit
die Annahme zuläßt, daß ein akutes Intoxikationsdelir den gleichen Gesetzen
folgen kann, wie die Traum bildung*
Die neunjährige N, L., das erste Kind gesunder Wiener jüdischer Eltern,
ist von blühender Gesundheit, intelligent, gutmütig, leicht erziehbar. Die vier¬
jährige Schwester zeigt neuropathische Züge. N. hat seit Jahren ihr eigenes
Schlafzimmer, doch soll es in früheren Jahren in der Ferienzeit vorgekommen
sein, daß sie das Schlafzimmer der Eltern manchmal teilte. Kürzlich gestand
sie der Mutter ohne stärkeren Affekt im Gespräche, sie habe ein Geheimnis,
Ohne viel Widerstand erzählte sie, vor etwa einem Jahre habe sie, da sie an
den Storch nicht mehr glaubte, die Mutter nach der Herkunft der Kinder
gefragt. Die Antwort sei ihr verweigert worden, aber einige Monate später
habe sie es von einem anderen Mädchen erfahren. Der Mutter aber habe sie
das verschwiegen. Während der Krankheit liegt sie in einem der Ehebetten
neben der Mutter.
Dieses Kind erkrankte an Morbiden. Beim Exanthermiubruch mißt sie
38 8° in axilla. Dabei spielen sich im Delir folgende Szenen ab; KL: „Mama,
du darfst nicht bös sein!“ — Mu, sucht sie zu beruhigen: „Du bist doch ein
braves Kind, Warum sollte ich denn böse sein?“ — KL: „Weil ich geheiratet hübe*
Ein Weilchen der Beruhigung* Dann: „Sagst du es dem Papa? — Mu.: „Was
soll ich denn dem Papa sagen? 44 — KL: „Mit ihm liab ich doch geheiratet, 44
Mu, beruhigt sie wieder; das mache doch nichts, sie soll*' jetzt nur schlafen. ~-
KL: „Ich kann doch nicht schlafen, der Papa macht doch so einen Lärm!
Dabei hat sie die Mutter schmerzhaft fest an der Hand gefallt, so daß man
noch am Morgen die Spuren ihrer Fingernagel sieht.
Der Ödipus-Komplex im Fieberdelirium eines neunjährigen Mädchens 95
Bei meinem Kommen am Vormittag finde ich sie schon ziemlich munter *
Ich frage nach dem Traume, und es entwickelt sich folgendes Gespräch:
Ki>: „Wir haben in keinem Tempel und in keiner Kirche geheiratet , u —-
Ich: „Ja, wo denn?" — KL: „Im Wald. (Nach einer Pause J Und das schönste
war, daß wir im Nachthemd waren, ich und der Papa/* — Ick: „Nun, und
was habt ihr dann gemacht?“ — KL: „Dann sind wir nach Hause gegangen
und schlafen gegangen/* — Ich: „Nun, hast du gut geschlafen?“ — KL: „Aber
ich habe nicht schlafen können; der Papa hat einen solchen Lärm gemacht. —
Auf dem Kästchen neben ihrem Bette steht ein Blumenstrauß. Ich: „Von
wem hast du denn die Blumen?“ — KL (lächelnd): „Vom Papa! Das ist das
Hochzeitsbukett.“ —- Dann erzählt sie noch {und das hat sich wirklich ab¬
gespielt): „Heute habe ich mit dem Papa telephoniert und habe ihn gefragt,
wann wir auf die Hochzeitsreise gehen. Und er hat nicht gewußt, was ich
will/ — Ich: „Hast du denn deinen Papa so lieb?“ — KL (ernst): „Ja,
sehr!“-
Die ganzen Aufzeichnungen beruhen auf einem Stenogramm, so daß ich ihre
Verläßlichkeit verbürgen kann. Einer Deutung bedarf das kleine Protokoll
wohl nicht. Wohl aber wäre es interessant, kindliche Fieberdelirien öfters zu
fixieren, um ihren Inhalt kennen zu lernen.
KRITIKEN UND REFERATE
AUGUST AICHHORN: Verwahrloste Jugend, Die Psychoanalyse in der
Fürsorgeerziehung. Zehn Vorträge zur ersten Einführung, Mit einem Geleit*
wort von Prof. Dr. Sigm. Freud. Internationaler Psychoanalytischer Verlag,
Leipzig, Wien, Zürich 1925.
Aichhorn hat lange Jahre als Leiter
staatlicher Erziehungsanstalten und als
Erzieher in Erziehungsheratungsstellen
gewirkt. Er ist ein Praktiker und sein
Buch wendet sich an die praktisch in der
Erziehung Tätigen, Er hat sich ein Teil¬
problem der Erziehung, die Fürsorge-Er¬
ziehung, zur eigentlichen Domäne gewählt.
Sein Buch ist nicht für Analytiker ge¬
schrieben. Der Analytiker kann daraus
bloß entnehmen, inwiefern es für die
Fürsorgeerziehung und für die Erziehung
im allgemeinen ein Fortschritt ist, wenn
sie sich von der Psychoanalyse Rüstzeug
holt. „Erziehungsarbeit ist etwas sui generis,
das nicht mit psychoanalytischer Beein¬
flussung verwechselt und nicht durch sie
ersetzt werden kann. Die Psychoanalyse
des Kindes kann von der Erziehung als
Hilfsmittel herangezogen werden. Aber
sie ist nicht dazu geeignet, an ihre Stelle
zu treten“, sagt Freud in seinem Geleit¬
wort,
Erziehung ist eine zielgerichtete Tätig¬
keit. Der Erzieher ist Funktionär der Ge¬
sellschaft, „Wir sind Fürsorgeerzieher“,
sagt Aichhorn, „und haben die soziolo¬
gischen Zusammenhänge zu erkennen.
Wir können uns für unsere Person zu
irgendwelcher Ordnung bekennen, haben
aber einen streng vorgczeichneten Weg
vor uns: die heutige diisoziale Jugend
zur sozialen Einordnung 741 führen. w Der
Begriff „verwahrlost“ umschließt ein sozio¬
logisches Werturteil, daraus folgt, daß er
sich mit der wechselnden Gesellschaft**
Struktur ändert und sich dem jeweils herr¬
schenden Gesellschaft*ideol anpaßt, Aich-
harn setzt die gesetzlichen Grundlagen
der Fürsorgeerziehung auseinander und
zeigt dabei, wie enge Grenzen das Gesetz
und unsere heutige Auffassung von der
elterlichen Erziekungsgewalt dem amt¬
lichen Erzieher stecken. Vorbeugende Er-
ziehungsfürsorge ist in fast allen Fällen
unmöglich, es bleibt meist nur die viel
schwerere Aufgabe, Schäden wieder gut
zu machen. Der Autor schildert seine
Tätigkeit in der Anstalt und in der offenen
Jugendfürsorge. In der offenen Fürsorge,
in der Erzielunigsbrrahing muß das Ein¬
greifen des Beraters rasch zu praktischen
Resultaten führen. Der Erzieher muß
trachten, möglichst schnell einen Über¬
blick zu bekommen, um die geeigneten
Maßnahmen Vorschlägen zu können. Die
Zeit, so oft die Helferin des Analytikers,
ist die Feindin des Erzichungsberafert.
Aichhorn, der ohne Zweifel ein un¬
gewöhnliches Maß von Intuition und
Kritiken und Referate
95
Einfühlungsgabe besitzt, kennt die psy¬
chische Situation eines Zöglings, der nach
mannigfachen Reibungen mit der Um¬
gebung nur gezwungen zu ihm kommt.
Er tragt seinem Mißtrauen Rechnung und
weiß die Übertragung herzustellen. Der
Erfassung des psychischen Sachverhaltes
dient die Exploration, die Aichhorn
unter der Bezeichnung einer Symptom-
analyse schildert. Ich halte diese Bezeich¬
nung nicht für sehr glücklich gewählt
— denn mit Analyse oder analytischer
Technik hat diese Art der Ausforschung
nichts zu tun. Selbstverständlich haben
schon vor Aichhorn alle Erziehungs-
b erat er solche Ausforschungen versucht.
Aber ihre Bemühungen mit oder ohne
wissenschaftliche Apparatur mußten alle
mehr oder weniger im rein Intellektuellen
und Formalen stecken bleiben, weil ihre
Denkriehtung und Beobachtungsscliulung
ihnen die affektive Seite des Problems zu
wenig enthüllte. Aichhorn hat hingegen
bewußt und theoretisch wohl fundiert die
Ergebnisse dynamischer psychoanalyti¬
scher Psychologie auf die Erziehung ange¬
wandt.
Er erzeugt die Affektsituationen, wie
er sie für seine Zwecke braucht, experi-
menteil. Dem Hochstapler, dessen korrekte
Glätte eine unüberwindliche Waffe ist,
entwindet er diese, indem er den Zögling
durch ein suggestives Gespräch zum Durch-
brennen veranlaßt. Der zurückgekehrte
Flüchtling bietet ihm dann die psychische
Situation, die er braucht. Der Dieb an
der Tabakskasse, dem er auf der Höhe
der Affekte das Abreagieren verwehrt, um
die Katharsis wirksam vorzubereiten, ist
ein zweites Beispiel für die Art und Durch¬
führung solcher Experimente. W eiche
große Bedeutung Aichhorn der Affekt¬
situation beimißt, beweist auch der Um¬
stand, daß er dem Erzieherpersonal durch
gemeinsame Aussprachen und Unterredun¬
gen unter vier Augen die Möglichkeit zu
Affektentladungen bot.
Aichhorn stellt die Übertragung in
den Mittelpunkt der Erziehung, Sie ist
ihm Ausgangspunkt, und wie es scheint,
einziges Erziehungsmittel, Was eine ge¬
schickt gehandliabte Übertragung zu leisten
imstande ist, zeigen seine Erfahrungen
an den Aggressiven. Solche Zöglinge
machen die größten Führungsschwierig¬
keiten und man zog, allzu sehr beein¬
druckt durch die praktischen Erwägungen
den Schluß, daß diese Fälle auch erzie¬
herisch die hoffnungslosesten und un¬
günstigsten sein müßten. Aichhorn gab
diesen Burschen in der Person der weib¬
lichen Erzieherinnen das Objekt, an das
sich ihre durch Nachlassen der Aggres¬
sionen frei werdende Libido am leichtesten
anhängen konnte, und erreichte dadurch
Objektbesetzung und Erziehbarkeit, Für
den Analytiker sind solche Erfahrungen
eine hübsche Bestätigung seiner theo¬
retischen xAnnahmen, für die Erziehimgs-
praktiker sind es neuartige Tatsachen auf
Grund neuartiger Überlegungen. Wie er
in der offenen Fürsorge, in der Erziehungs-
beratimg, die Übertragung handhabt,
schildert er an zahlreichen Beispielen. Er
redet mit den Burschen vom Fußball und
vom Kino; mit den Mädchen von der
Haarschleife oder vom Bubikopf.
Der Autor unterscheidet eine latente
und eine manifeste Verwahrlosung. „Unter
Verwahrlosung versteht man den Zustand,
bei dem die Mechanismen, die das soziale
Handeln bestimmen, nicht normal ablaufen.
Unter Anlaß, Auslösung der Verwahrlosung,
versteht er alles das, was man bisher als
die Ursache der Verwahrlosung ansah: die
Gesellschaft, die Lektüre, das Kino usw.
Den Verwahrlosungsäußerungen kommt
nur symptomatische und soziologische Be¬
deutung zu. Allgemeinste Ursache der
Verwahrlosung ist immer ein Zuwenig
g6
Kritiken und Referate
oder Zuviel. Ein Zuviel an geforderter
Trieb ein schränkung und Zuwenig an ge¬
währter Triebbefriedigung, oder ein Zu¬
viel an gewährter Triebbefriedigung und
ein Zuwenig an verlangter Triebeinschrän¬
kung. Diese Ergebnisse beweisen auch,
wie oberflächlich die modernen Erzie¬
hungsbestrebungen das Problem treffen,
die Erziehen mit Gewäbrenlasseu gleich¬
setzen, Sicher wurde durch allzu harte
Zucht an den Erz iehungs Objekten viel
verdorben, aber das andere Extrem ist
ebenso undurchführbar und kann zu den
gleichen Schädigungen führen. Er gibt
absichtlich keine Definition der Verwahr¬
losung und keine Theorie. Er schildert
seine praktischen Erfahrungen und greift
einige Typen heraus, die ihm rnit Hilfe
seiner psychoanalytischen Schulung durch¬
sichtiger waren, wie den Erziehern ohne
eine solche Vorbildung. Er versucht die
Aufhellung des Problems vom Einzel¬
individuum aus. Man hat bis jetzt meist
versucht, das Problem von außen anzu-
gehen, von der Gesellschaft aus, und die
Wirkungen auf die Gesellschaft waren es
vorwiegend, die die Aufmerksamkeit der
Bearbeiter auf sich zogen. Aichhorn fragt
sich, unter welchen Umständen wir ein
Kind als normal bezeichnen. Als normal
vom Standpunkte der Erziehung aus ge¬
sehen, bezeichnen wir ein Kind, das sich
den von der Umwelt geforderten Trieb¬
einschränkungen unterwirft, die Wege
und Ziele seiner Triebbefriedigung im
Sinne der kulturellen Forderungen formt.
Setzt es dem auf seine Triebbefriedigung
geübten Druck einen erfolgreichen Wider¬
stand entgegen, so muß es sich, da es
keine Vernichtung von Trieben gibt, ab¬
norm entwickeln. Er gibt einige Beispiele,
die zeigen, unter welchen Umständen
solche fehlerhafte Entwicklungen zustande
kommen. Er führt Fälle an, bei denen das
unbewältigbare psychische Trauma solche
Folgen zeitigt. Ein anderes Mal zeitigt
eine unbewußte inzestuöse Bindung das
gleiche unerwünschte PliHlergebtiis. El
wären noch viele Voraussetzungen denk¬
bar, die gleiche Wirkungen haben können.
Auch der Verbrecher uns Schuldgefühl
gehört in diesen Zusammenhang. Aich-
horn erwähnt ausd rück lieh, daß nicht
jeder Verwahrloste ein neurotisches Pro¬
blem biete. Wenn er trotzdem so viele
Beispiele gerade aus Gruppen bringt, die
alle große Ähnlichkeit«! mit Neurotikern
oder Psychotikern aufweiien, so liegt das
an der Auswahl des Materials. Diese Fälle
waren natürlich dem analytisch Geschulten
am durchsichtigsten. Gerade an diesen
Fullen kann er die Leistungsfähigkeit
seiner Betrachtungsweise am treffendsten
beweisen.
Um den Pädagogen feine theoretischen
Folgerungen klarzulegen, stellt sich Aieh-
horn absichtlich auf einen einseitigen
Standpunkt, auch um zu zeigen, wie weit
diese Betrachtungsweise führt* Zuerst
macht er das Lust- und Healitütspriniip
zum Ausgangspunkt seiner Überlegungen
und untersucht das Problem der Ver¬
wahrlosung in seiner Stellung zum Lust-
und Ilunlilütsprinzip. Er schildert das
Kind, absichtlich schematisierend und
vereinfachend, ab das primitive Lust-
Ich. Er geht weiter und zeigt, wie
die ullereinfaclisten Anforderungen des
Lebens die Alleinherrschaft des Lust¬
prinzips brechen und demRealitätsprinsip
Geltung verschaffen. Das JAealitätspriuxip
wird so weit dominierend, daß die Selbst¬
behauptung, die Befriedigung der ein¬
fachsten vitalen Interessen gewährleistet
wird. Das soziale Handeln wird dadurch
noch keineswegs garantiert — das soziale
Handeln ist das Resultat der gelungenen
Unterordnung unter die hemmenden,
tricbbeschränkenden Mächte. Diese Ein¬
stellung macht auch die Tatsache ver-
Kritiken und Referate
97
staudlicli, daß Dissoziale, die in den Äuße¬
rungen ihrer Verwahrlosung so wirklich¬
keitsfremd und triebhaft blind Vorgehen,
sich oft dem täglichen Leben und dem Beruf
glanzend anpassen. Die Äußerungen der
Sexualität sind bei den Dissozialen nicht
unter einheitliche Gesichtspunkte zu ord¬
nen, Es gibt unter ihnen solche, die sich
auf sexuellem Gebiet scheinbar völlig
normal verhalten; Früh entwickelte und
Spätentwickelte, Potente oder wenig
Potente und auch Impotente,
Tin letzten Vortrag untersucht Aich¬
horn sein Problem von strukturellen
Gesichtspunkten aus. Das soziale Handeln
setzt einen normalen Kontakt zwischen
Ich und Über-Ich voraus, und ein Ich-
Ideal, das die Gesellschaftsnormen als
bindend anerkennt und bei von diesen
Normen abweichendem Verhalten das nor¬
male, bewußte Schuldgefühl auslöst. Auch
liier zeigt Aichhorn an einigen Typen
Konstellationen, die eine solche Entwick¬
lung erschweren oder unmöglich machen,
Angehörige von Verbrecherplatten z, B.
verhalten sich innerhalb ihrer Lebens¬
gemeinschaft oft völlig sozial. Aber ihr
Tch-Ideal stellt im Gegensatz zu den all¬
gemein herrschenden Gesell sehaftsnormen,
und so muß es zu Reihungen, zu irgend¬
welchen, von der Gesellschaft als asozial
empfundenen Äußerungen kommen. Ein
uneheliches Kind, das wie ein überall
störender Gegenstand von Ecke zu Ecke
gestoßen wird und von Pflegestelle zu
Pflegestelle wandert, bat niemals Zeit und
Ruhe geinig, um dauerhafte Objektbe¬
setzungen einzugehen, es wird nie dazu
kommen, durch Introjektion einen Über-
Ich-Xern zu bilden. In einem anderen
Falle entlehnt das Kind eines SHufers dem
unbrauchbaren Vorbild unbrauchbare Züge
für eine Über-Ich-Bildung. Die Roheits-
delikte solcher Kinder lassen sich auf
dieser Basis ohne die Annahme einer
hereditären Belastung erklären. Es ist auch
anzunehmen, daß es Kinder gibt, wo bereits
durch Anlage die Faktoren, die die Mecha¬
nismen der Objektbesetzung und Intro¬
jektion auslöseii, nicht funktionieren; auch
in diesen Fällen, die freilich meist der
Psychose sehr nahe stehen werden, kann
es zu Verwahrlosung kommen. Ein eben¬
so mangelhaftes Endresultat wird sich
ergeben, wenn die Eltern unvereinbare
Gegensätze sind und dadurch die Identi¬
fizierung erschweren, wenn Identifizie¬
rung und Objektbesetzung gegeneinander
spielen.
Damit ein Dissozialer sozial wird, muß
er das fehlende Stück Entwicklung nach¬
holen, Er muß über die Mechanismen
der Objektbesetzung, Identifizierung und
Introjektion zu einem für diese Ge¬
sellschaftsordnung passenden Ich-Ideal
kommen, dessen Forderungen sich das
Ich fügt. Der Erzieher des Dis sozialen
muß die Situation kennen und wissen,
welche psychische Prozesse in seinem
Erziehungsohjekt ablaufen müssen. Ein
analysierter Erzieher, der die Übcrtra-
gungs- und Widerstandszeichen an seinen
Zöglingen bemerkt und ihnen mit bewußter
Überlegung begegnen kann, wird sichrere
und häufigere Erfolge haben, wie ein
anderer, den Unkenntnis des eigenen und
fremden Seelenlebens immer wieder um
die Früchte seines Wirkens bringen. Der
Persönlichkeit des Erziehers fällt eine
wichtige Rolle zu im Erziehungswerk.
Den Verwahrlosten muß die Übertra¬
gung das fehlende Stück Entwicklung
nachholen lassen. Der Erzieher arbeitet
im Gegensatz zuin Analytiker nur mit
der positiven Übertragung; sie ist ihm
Helferin und Wegbereiterin, Aber die
Objektbesetzung, die Übertragung ist auch
hier bloß der erste Schritt — und wenn
Aichhorn von „Ausheilung“ in der Über¬
tragung spricht, so meint er damit kein
Imago XII.
98
Kritiken und Referate
Analogon zu dem, was wir in der Ana¬
lyse einen Übertragungserfolg nennen.
Die Dynamik einer erzieherisehen Aus¬
heilung ist eine etwas andere wie die
einer analytischen Ausheilung. Ob die
Persönlichkeitsstruktur des Zöglings es
erlaubt, sich mit der Erzieherperson zu
identifizieren und sie tu introjizieren, ist
das ausschlaggebende Moment. Ein Stück
Über-Ich muß nach dem Erzieh er Vorbild
sich formen. Dafür ist natürlich die
Struktur und Genese des Über-Ichs wichtig,
weil ja, wie Freud im Ich und Es aus-
führt, „der Charakter deslchs ein Nieder¬
schlag der aufgegebenen Objektbesettim-
gen ist und die Geschichte dieser Objekt¬
wahlen enthält“. Dort, wo das vorhandene
Über-Ich den Anforderungen des Erziehers
konträr ist, wird die Erziehung ebenso
scheitern wie dort, wo ein überstarker
Narzißmus die Objekt wähl verhindert.
Die Frage der Erziehbarkeit fallt zu¬
sammen mit der Frage der Übertragungs-
frihigkeit.
Aichhorns Buch, von einem Päd¬
agogen für Pädagogen geschrieben, ent¬
hält vieles, was dem Analytiker selbst-
WILLXAM McDOUGALL: Professo
his Theory of Suggestion. British
Bd. V, p. 14.
In dieser Arbeit, die ein Beitrag zu
einer Festschrift für Morton Pr i nee
( Morton Prince Commemoration Volume)
ist, schreibt McDougall eine Kritik zur
Freudschen Auffassung der Massen-
Psychologie. Er beginnt in sarkastischem
Ton und macht Freud den Vorwurf von
Widersprüchen bei Anwendung der Worte
grausam, brutal und destruktiv in be¬
zug auf die Instinkte, Freud anerkennt
McDougalls grundlegende Theorie der
Massenpsyehologie, daß, trotz Herab¬
setzung des individuellen Niveaus in der
verständlich erscheint und vieles nicht,
was der Analytiker vom Pädagogen gerne
wissen mochte. Für das Publikum dieses
Pädagogen, mit seinem Mißtrauen gegen
die Analyse und seinem Sexual widerstand
sind die außerordentlich zurückhaltenden
Formulierungen analytischer Tatbestände
bestimmt. Für dieses Publikum ist auch
die Sprache, die alle in der Erziehung
üblichen Fach nusdrücke so verwendet,
wie es die pädagogische Literatur lut*
Für den Analytiker, der unter manifest*
latent oder Regression ganz bestimmte
in seiner Disziplin scharf umschrie¬
bene Begriffe kennt, ist dieser Um¬
stund manchmal irreführend, Aichhorns
Buch will werben und interessieren* der
Analyse neue Kreise erschließen und
Sympathien gewinnen* Er will tatsächlich«
wie der Titel sagt, eine erste Einführung
geben, und zeigen, wie alte Probleme
durch eine neue Disziplin, eben die Psycho¬
analyse, ihrer Beantwortung näher ge¬
bracht werden. Ich glaube, daß das Buch
die Aufgabe, die sich sein Autor gestellt
hat, in mustergültiger Weise erfüllt.
Hedwig Schaxel (Wien),
■ Freud’s Group Psychology and
Journal of Medical Psychology, 1925,
Masse, die Menschheit sich nur durch das
Leben in der Gemeinschaft über das Tier
erhebt. McDougall beklagt sich darüber,
daß trotz dieser Anerkennung Freud
seine Auffassung der Organisation verwirft
und bloß das Problem von neuem auf¬
stellt, ohne eine andere Lösung Voran¬
schlägen. Weiter wendet er ein, daß Freud
seine Theorie der gesteigerten Affektivität
der Masse mißversteht, indem er von ihm
(McDougall) behauptet, daß er das Phä¬
nomen „durch die um bereits bekannte
Gefühlsamteckung“ erkläre. McDougall
Kritiken und Referate
99
versichert uns, daß er gar keine Erklärung
gegeben hat und versucht ziemlich aus*
führlich zu beweisen, daß Le Bon zwar
diese Gefühls ans teckung als eine Sug-
gestionswirkting hinstellt, er aber darin
ein ganz anderes Grundphänomen erblickt.
In seinen „I ntroductiom to Social Psycho-
logy“ erklärt der Autor, daß er diese
Punkte deutlich unterscheide, und stellt
auch eine eindeu ti ge Theorie der
gestion atif, die Freud anscheinend über¬
sehen hat. Er argumentiert, daß man hei
Herdentieren einen ausgesprochenen spe¬
zifischen Unterwerfnngs trieb fin det, welch er
als wichtigster Triebfaktor bei der echten
Suggestion am Werk Ist. Freud hat nach
Behauptung des Autors keine Definition
der Ich-Triebe zu geben versucht, wäre
aber, wenn er es getan hätte, zu dem
Ergebnis gekommen, diese den Selbst-
erhaltungs- und Unterwerfungstrieben
gleichzusetzen. Mo D o n g a 11 beginnt d ann
eine Polemik gegen Freuds Aufstellung
der libidinÖsen Bindungen einerseits au
den Führer, anderseits an die anderen
Mitglieder der Masse. Er will uns nahe-
legen, daß das Vorhandensein solcher Bin¬
dungen von Freud behauptet worden sei,
um die Massenpsychologie bloß zu einem
Anhang seines psychologischen Systems
zu stempeln. Weiters untersucht der Autor
Freuds Unterscheidung zwischen der
echten Panik und der bloßen Massenangsk
wobei erstere durch den Tod des Führers
gekennzeichnet ist. Er findet, daß diese
Theorie durch Anführung authentischer
Fälle im letzten Kriege hätte unterstützt
werden müssen. Nach McDougall ist
die Panik Funktion eines in der unorgani¬
sierten Masse wirkenden Triebes und
nicht, wie Freud angibt* „eine Leistung
des igroup mind Ui . Tn einer späteren Be¬
hauptung verrät der Autor seine Unfähig¬
keit, Freuds umfassende Libidotheorie
zu verstehen; er meint, es wäre viel ein¬
facher, die Elternliebe ganz gesondert vom
Sexualtrieb an Zusehen. Seine Neigung zu
dieser Annahme eines unabhängigenEltem-
triebes unterstützt er durch den Hinweis,
daß bei den meisten Tieren die beiden
Triebe ganz unabhängig arbeiten. Gegen
die Auffassung der Masse als Wiederauf¬
leben der Urhorde w'endet er ein, daß es
weniger ausgefallene ErklärimgsmÖglich-
keiten gibt, daß dabei die führerlose
Masse nicht in Betracht gezogen ist, daß
sie nichts zum Verständnis der gegen¬
seitigen Suggestibilität unter den Mit¬
gliedern einer Masse beiträgt, schlie߬
lich stellt diese Auffassung das ganze
Gemeinschaftsleben als archaische Re¬
gression hin und sieht in Neid und sexu¬
eller Eifersucht die Wurzeln höherer Lei¬
stungen, wobei die Wurzeln selbst un¬
erklärt bleiben, McDougall schließt mit
den Worten: „unbewiesen und höchst un¬
wahrscheinlich“. Er für seine Person will
von der geheimnisvollen Macht des Ur¬
vaters unberührt bleiben,
Robert M. Rigall.
Health and Psychology of the Child. — Herausgegeben von Elizabeth
Sloan Chesser MD. Verlag W. Heinemann Ltd.
Die vielen Besprechungen, die über
das Buch bereits erschienen sind, ließen
uns erwarten, darin viel Neues für Eltern
und Lehrer zu finden. Dies ist aber nicht
der Fall. Die Tatsachen und die Art, wie
sie dargestellt sind, bewegen sich auf aus¬
gefahrenen Bahnen, und während die ver¬
schiedenen Autoren häufig von der unge¬
heueren Bedeutung der Kinderpsychologie
sprechen, müssen wir uns oft erstaunt
fragen, wie weit die tiefere Psychologie
des Kindes wirkliche Berücksichtigung
r 1
ioo
Kritiken und Referate
gefunden hat; dasselbe gilt von seinen
Strebungen und TriebäuGerungen und
deren — normalen oder pathologischen
Umbildungen im Laufe der Entwicklung,
Auf die Ursache vieler, nur allzu bekannter
Schwierigkeiten im Leben des Kindes
wird nicht näher eingegangen und immer
wieder die Mutter als geeignetste Person
zur Behebung aller Übelstände gepriesen.
Und doch weiß jeder, der dieses Thema
im Lichte der neuesten psychologischen
Funde untersucht hat, daß die innigen
Bande zwischen Eltern und Kind, die
Tatsache, daß jene in ihrem Verhalten
von der unbewußten Einstellung zu
ihren Kindern bestimmt werden, was
eigentlich bei allen Fällen die Ursache
des Übels ist, nicht dazu angetan sind,
die Eltern zum Arzt einer Krankheit zu
machen, die sie selbst verschuldet haben,
Wir sind überrascht, von Autoren, die
Einzeluntersuchungen an Kindern und
über kindliche Probleme angestellt haben,
etwa folgende Bemerkungen zu hören,
um einige besonders krasse Beispiele her¬
auszugreifen: „Wenn jedoch ein Ver¬
halten tatsächlich Schmerz oder Unbe¬
hagen zur Folge hat, werden selbst sehr
kleine Kinder es nicht wiederholen wollen
und einen anderen Weg der Reaktion
wählen* Die frühe Erwerbung guter und
die Vermeidung schlechter Gewohnheiten
ist eine der ersten Stufen der psycho¬
logischen Erziehung des kleinen Kindes,
eines der Hauptziele einer guten Mutter,
Daraus erklärt sich die Berechtigung kor¬
rektiver Strafen auch schon bei ganz
kleinen Kindern,“ Nach diesen Ausfüh¬
rungen könnte man schließen, daß Dr. Eric
Pritchard die Anwendung schmerz¬
hafter, korrektiver Strafen schon bei „ganz
kleinen Kindern“ empfiehlt. Eine der¬
artige Ansicht überrascht uns in einem
Buch, das die Psychologie des Kindes be¬
handelt, da wir mit anderen modernen
Autoren zu glauben geneigt sind, daß
solche Methoden nachgewiesenermaßen
häufig von schlimmsten Folgen begleitet
waren und den Grundstein zu Neurosen
oder störenden Chare kt erzögen im Leben
des Erwachsenen gelegt haben, weshalb
sic gewöhnlich nicht für ratsam gelten.
Es klingt — um cs milde auszudrücken —
wie Rachsucht von seilen des Erwach*
senen, daß er wünschen sollte, einem
Säugling eine schmerzhafte, korrektive
Strafe zuzufügen, An anderer Stelle schreibt
derselbe Autor: „Die Suggestion bildet
während der ersten Lebensjahre eine so
mächtige Quelle der Beeinflussung, daß
man oft Gefahr lauft, ihre Macht zu mi߬
brauchen . * * unter diesen Um ständen
kann die kleinste Gebärde, der leiseste
Wechsel im Ausdruck genügen, um unter¬
würfigen Gehorsam zu erreichen* Obwohl
für eine günstige Charakterbildung unbe¬
dingter Gehorsam zu jeder 7*eit durchaus
notwendig ist, wird trotzdem die kluge
Mutter eine solche Autorität so selten
wie möglich in Anwendung bringen und,
soweit es die Umstünde erlauben, den
Geist der Selbständigkeit und Unabhängig¬
keit im Kinde fördern* Das Kind, das
man beständig mit Ermahnungen quält,
dies zu tun, jenes zu unterlassen, wird
bald neurotisch und gehemmt. 4 Diesem
abschließenden Satz müssen wir aus
ganzem Herzen bei pflichten, über zweifel¬
los widerspricht sich der Autor im Laufe
dieses Abschnittes; ist cs doch schwer
einzuschen, wie der „jederzeit unbedingte
Gehorsam“ eines Kindes ohne die Wir¬
kung sehr starker Vcrdriingungsmaß-
nalnnen erzielt werden kann; diese werden
gleichzeitig die Entwicklung des „selb¬
ständigen, unabhängigen Geistei 44 hemmen
und unweigerlich zu „Hemmungen und
Neurose“ führen* Man muß sich wohl
für den einen oder anderen Weg ent¬
scheiden.
Kritiken und Referate
101
Dr. Cameron gibt ebenfalls über¬
raschende Ratschläge in seiner „Treat¬
ment“ überschriebenen Arbeit, wo er das
von ihm als „NahrungsVerweigerung aus
Negativismus“ (Refus al of Food caused hy
^Negativism 1 ) bezei ebnete Thema behandelt
Er meint, das Symptom sei nicht schwer
zu bekämpfen, und empfiehlt den Eltern,
systematisch ihre Handlungsweise der des
Kindes amu passen, d, h. von ihm tatsäch¬
lich das genaue Gegenteil des Gewünschten
zu verlangen, in der Hoffnung, das Kind
werde in seinem Negativismus fortfahren.
Aber Kinder sind nicht ganz so einfältig,
wie Dr. Camcron annimmt Schon sehr
kleine Kinder würden eine so durchsichtige
List bald durchschaut haben und ihre
EDITH ROWLAND: A. Pedagog
& Sons S. T. D.
Wenn wir auch nicht wissen, welche
Motive die Autorin dazu bestimmt haben,
die Erkenntnisse pädagogischer Fachleute
des sechzehnten und siebzehnten Jahrhun¬
derts aus zu wählen, um sie in einem kleinen
Band zusammen zufassen, sind wir ihr für
das Resultat zu höchstem Dank verpflichtet.
Wir haben es bisher fiir das Verdienst
unseres aufgeklärten Zeitalters gehalten,
daß wir uns mit dem wichtigen Thema
der Kleinkindererziehung beschäftigen und
unsere Aufgabe darin sehen, die Wir¬
kungen der einzelnen Methoden zu er¬
forschen, uns über die schlimmen Folgen
begangener Erziehungsfehler klar zu wer¬
den und zu versuchen, den angerichteten
Schaden wieder gut zu machen oder
wenigstens theoretisch einen Ausweg zu
finden. Alis der Lektüre dieses Buches
sehen wir, daß wir keineswegs Pioniere
der Forschung auf .diesem Gebiete waren.
Wir neigen vielfach zu der Annahme,
daß die Erziehungsmethoden früherer
Zeiten streng waren und als einziges
Mittel, größeren Fleiß im Leimen zu er-
Eltern dementsprechend beurteilen. Wenn
Eltern nach eigenem Gutdünken in dieser
Weise Vorgehen, erkennen sie früher oder
später, welch schweren Fehler sie be¬
gangen haben, wenn es entweder zu
spät oder schwer ist, ihn wieder gut zu
machen. Ist es da nicht unnötig, Eltern
noch den verderblichen Rat zu geben,
gerade das zu tun, was sie bessern wollen,
indem sie ihren Kindern ein Beispiel
von Unaufrichtigkeit mid unehrlicher Ab¬
sicht geben, und dabei von diesen zu
erwarten, daß sie zu rechtlichen Men¬
schen he ran wachsen und nicht ihre Eltern
bei jeder Gelegenheit zu hintergehen
trachten werden.
Mary Chadwick (London),
es Commonplace Book. Dent
zwingen, die Rute angewendet wurde.
\ on Roger Asch am hören wir jedoch
das Gegenteil: „Kleine Kinder“, schreibt
er, „sollte man lieber durch Freundlich¬
keit und Liebe zum Lernen verführen,
statt sie durch Schläge und Gewalt dazu
zu zwingen.“ An einer anderen Stelle
heißt es: „Wo Liebe herrscht, fehlt Arheit
selten.“ Von mehr als einem dieser wür¬
digen Männer hören wir die Ansicht ver¬
treten, daß durch Schläge das eigensinnige
Kind leicht noch trotziger wird und daß
die Schule, in der zu strenge Zucht herrscht,
aus dem Knaben einen Rebell und Aus¬
reißer macht, was , eine nur „schwer zu
behebende“ Schädigung seines Charakters
b e de utet. Erfahren e P sy cb o an a ly tik er h ab en
dasselbe Thema behandelt und teilen diese
Ansichten, wenn auch ihre Sprache im
einzelnen und in der Terminologie ab-
wei eben mag.
Hezekiah Woodward, ein Pionier
der Pädagogik im Anfang des siebzehnten
Jahrhnnderts, mit tieferem psychologischen
Verständnis für diese Probleme als manche
102
Kritiken und Referate
seiner Zeitgenossen besaßen, versichert
nicht nur, beobachtet 211 haben, daß »das
Kind unter einer strengen Hand frecher
wird“, und daß „Gewalt und Heftigkeit
das Herz verhärten, während liebevolle
und freundliche Überredung es gewinnen,
auftauen und schmelzen“, sondern meint
auch, daß Charakterlüge der Eltern sich
in den Kindern widerspiegeln. So macht
er Eltern, die in Zorn und Härte ihre
Kinder strafen, darauf aufmerksam, daß
sie ihr eigenes Bild mißhandeln: „Es ist
eine sichere Wahrheit, daß ein Vater sein
eigenes aufrührerisches und trotziges
Herz nirgends lebenswahrer wiederfindet,
als bei seinem trotzigen Kind; dort kann
er es so klar sehen, wie das Spiegelbild
im Wasser das wahre Gesicht wiedergibt;
dies ist eine schwerwiegende Wahrheit,
wenn man sie beherzigt,“ Freud ist
in seinem letzten Buch „Das Ich und das
Es“ zum Ergebnis gekommen, daß der
Knabe die männlichen Eigenschaften seines
Vaters oder einer väterlichen Ersatzperson
in die Bildung seines Ich-Ideals aufnehmen
muß. Diese Erscheinung, wenn auch
nicht die Unterscheidung von Identifi¬
kation und Nachahmung, war im sech¬
zehnten Jahrhundert bekannt, zumindest
empfiehlt Sir Thomas Elyot; »Ich
halte es für ratsam, daß ein Kind
von seinem siebenten Lebensjahre der
weiblichen Obhut entzogen wird , - ,, daß
man ihm einen Hofmeister hält - . „ wo¬
möglich einen, durch dessen Nachahmung
das Kind sich zum Besten entwickelt“,
ferner ist er der Ansicht, daß man hei
der Wahl eines Lehrers nicht bloß seine
didaktischen Fälligkeiten in Betracht
ziehen soll; es sei auch zu überlegen, ob
er „seiner Anlage nach enthaltsam und
tugendhaft sei, besonders keusch in der
Lebensführung, sehr freundlich und ge¬
duldig, auf daß durch keinerlei unreines
Vorbild die zarte Seele des Kindes ver¬
giftet würde, wovon sie nachher nur
schwer genesen könnte“,
Richard M ul caster verdanken wir
in so früher Zeit die Erkenntnis, daß das
Ziel der Pädagogik (Uhingehe, „das Kind
nicht zu einem Leben für sich, sondern
unter anderen Menschen zu erziehen“.
Den Wahrheitsgehalt dieses Gedankens
zu erkennen, hat der Psychoanalytiker
vielleicht mehr Gelegenheit als viele an¬
dere; zeigt sich ihm doch da* Versagen
von Erziehung und Beeinflussung durch
die Umgebung — in jenem zarten Alter
die Hauptfaktoren der Erziehung - selten
mit solcher Klarheit, wie in der Analyse;
dort treten ihm die Kumpfe des Neuroti¬
kers, mit anderen Menschen zusammen*
zuleben, unmittelbar vor Augen, er sieht
dessen völlige Unfähigkeit, — es sei denn
unter schwersten Schädigungen seiner
Person — dies zustande zu bringen*
Erst hei dem Kapitel über Mudehen-
erziehung merken wir einen bedeutenden
Unterschied zwischen dem pädagogischen
Standpunkt von damals und jetzt. Wollen
wir lieilte einen Widerhall oder richtiger
ein Weiterleben jener Ideen linden, müßten
wir das Unbewußte des modernen Mannes
untersuchen; denn dort finden sich seine
Anschauungen und Wünsche fast unbe¬
rührt vom Lauf der Jahrhunderte* Die
meisten, an anderer Stelle des Buches
bereits angeführten Autoren vertreten die
Ansicht, daß Mädchen auch unterrichtet
werden sollten, aber nicht zuviel* da es
für sie nicht notwendig sei. Der Beruf
der Frau geht nicht dahin, geistig zu
arbeiten, sondern dem Mann zu dienen
und Lust zu bereiten; denn „nach ihm
und für ihn ist sie geschaffen worden«*
Daher brauchen sie nicht mehr Bildung
und Kenntnisse, als für die Besorgung
seines Haushaltes, die Pflege seiner
Kinder und die Bewirtung seiner (niste
nötig ist.
Kritiken und Referate
105
Dieses Buch wird jeder mit Vorteil
lesen, der sich für das reichhaltige Thema
der Kinderpsychologie und Erziehung
interessiert; denn hier sieht man wirklich,
wie ein Zeitalter mit Eifer an die Neu¬
entdeckung von Erkenntnissen und Theo¬
rien geht, die aus früheren Bemühungen
hervorgegangen, aber inzwischen in Ver¬
gessenheit geraten waren,
Mary Chadwick (London).
MARY CHADWICK: The Inter-Relations of Education and Neurosis,
The New Era. V, No. 18. 1924,
Dieser kleine Aufsatz verdient Beach¬
tung. Weniger seiner Ergebnisse wegen,
diese sind nicht zahlreich und nicht er¬
staunlich, sondern wegen der Betrachtungs¬
weise. Er begnügt sich nicht mit der be¬
haglichen immer wieder feststellenden
Freude, daß in den letzten Jahren ein
lebhaftes psychologisches Interesse unter
den Pädagogen entstanden ist und immer
weiter um sich greift. Vielmehr wird ver¬
sucht, diesem Interesse gegenüber die Frage
nach seinen psychischen Motivationen zu
stellen, und von hier aus einige Schritte
zur Psychologie des Erziehers (und ins¬
besondere der Erzieherin) zu tun. Es ge¬
schieht das auf dem Boden der Psycho¬
analyse, Die Psychoanalyse hat sich bisher
damit begnügt, unter voller Akzeptierung
des Umrisses und der Ziele der Päd¬
agogik, ihre Erkenntnisse über die seeli¬
schen Erscheinungen beim Kinde und
Jugendlichen in den Dienst dieser Päd¬
agogik zu stellen. Als erfreuliches Symptom
dafür, daß die Möglichkeit und Notwendig¬
keit des nächsten wichtigen Schrittes in
unserem Kreise gesehen wird, darf man
diesen Aufsatz buchen. Die Pädagogik
selbst und das Verhalten der Erzieher
psychoanalytisch zu verstehen, ist die
bevorstehende Phase in der Anwendung
der Psychoanalyse auf die Pädagogik,
So ist wenigstens die Ansicht des Refe¬
renten, und, wie es scheint, auch der Autorin,
Bernfeld (Wien).
Dr. W. STROHMAYER, Professor an der Universität Jena: Die Psychopatho¬
logie des Kindesalters, Vorlesungen für Mediziner und Pädagogen. 2., neu¬
bearbeitete Auflage, J. F, Bergmann, München 1925.
Das Buch, bereits in seiner ersten
Auflage wegen seines reichen Inhalts, der
vorurteilsfreien Darstellung, leicht fließen¬
den Sprache höchsten Lobes wert, hat
in seiner neuen Fassung noch gewonnen.
Überall spricht vertiefte Erfahrung, 95
klug ausgewählte, oft sehr ausführliche
Krankengeschichten beleben und veran¬
schaulichen den Text auf das glücklichste.
Die Absicht, „ein Buch schlichter, prak¬
tischer Belehrung und nicht prunkender
Gelehrsamkeit“ zu bieten, kann als gut
gelungen bezeichnet werden. Der \ erfasser
ist bemüht, der Leistung Freuds und
seiner Schule ziemlich gerecht zu werden.
ohne ihr jedoch in der Therapie einen
Platz anzuweisen. Aber a\ich in der Pro¬
phylaxe, der ein breiterer Raum gegönnt
ist, vermissen wir ihre Verwertung an
mancher Stelle.
Die zwölf Vorlesungen behandeln das
Verhältnis der Psychiatrie zur Pädagogik,
die allgemeine Ätiologie und Prophylaxe
kindlicher Nervosität, die psychopathischen
Konstitutionen des Kindes alters, Neur¬
asthenie und Chorea beim Kinde, die Hy¬
sterie im Kindesalter, die Epilepsie, die
Ursachen, Symptomatologie und Behand¬
lung des angeborenen Schwachsinns, die
wichtigsten akuten Geisteskrankheiten des
104
Kritiken und Referate
Kindesalters. Ein reiches Literaturver¬
zeichnis erhöht den Wert des Buches,
In manchen Einzelheiten kann, in
anderen muß man dem Verfasser wider¬
sprechen* Seine grundsätzliche Anerken¬
nung der kindlichen Sexualität sollte
auch im Einzelfalle immer zur Deutung
der Erscheinungen bereitgestellt werden.
Bei seiner Kasuistik vermißt man öfters
diese Folgerichtigkeit, Daß die Mastur¬
bation bei Säuglingen selten ist, trifft
nicht zu. — Allzu oft scheint mir die
Rachitis bei der Ätiologie hervorgeh oben
zu sein. Eine Krankheit, der unsere ganze
Kinder weit mit geringen Ausnahmen ver-
KARL MOSSE: Über Suggestion
alter, Beiträge zur
1922, Hermann Beyer & Söhne.
Mittels einfacher Versuche wird an
einem kleinen Materiale ermittelt, daß
Kinder schon mit drei Jahren suggestibel
sind. Gesunde, normale Schulkinder sind
der Suggestion im hohen Maße (etwa
zugänglich, die jüngeren mehr als
die älteren. Bei Neuropathen und Hyste¬
rikern nimmt umgekehrt die Suggestibi-
lität mit dem Alter zu. Schwachsinnige
zur Kinderforschung und Heilerziehung,
Beyer & Söhne.
Der ungenannte Verfasser unterzieht
die bekannte Arbeit Neters „Das einzige
Kind und seine Erziehung“ (Zeitschr. f.
Kinderforschung, 1916, Heft 9) einer kri¬
tischen Besprechung und mißt ihre Er¬
gebnisse an dem eigenen Charakter: er
ist ein „Einziger“. Der Versuch des offen¬
bar feingebildeten Mannes ist sehr lesens¬
wert, doch kann er Neters Befunde nicht
entkräften. Denn diese sind eben an einem
Kreise von mindestens bescheidenemWohl-
stande in der Stadt gewonnen und haben
Fällt, wie die Rachitis, wird sich in der
Anamnese fast jedes Kindes, also auch
des nturopathi sehen, epileptischen, geistes¬
kranken nach weisen lassen. Den vagen
Begriff der „Skrophuloie“ alten Stils sollte
der Verfasser fallen lassen. Dagegen scheint
er in der Diagnose der hereditären Syphilis
zu vorsichtig. Nach der Schilderung scheint
mancher seiner Rachitikcr eher ein Ileredo-
syphilitiker zu sein* Die Fortschritte der
klinischen Diagnostik der ErbiyphiHi (nicht
bloß der Laboratoriumsdingnostik) in den
letzten Jahren harren noch ihrer Verwer¬
tung in dem sonst so empfehlenswerten
Buche. Friedj un g (Wien)*
Kinder sind weniger suggestibel als nor¬
male {etwa 50Im Gerichtsverfahren
muß die große Suggoitibilitiit des Kindes
wohl beachtet werden* — In der Therapie
können allerlei Mittel der Suggestion beim
Kinde Erfolg haben. Die Persönlichkeit
des Suggerierenden ist dabei von ent¬
scheidender Bedeutung. — Literatur.
Fried jung (Wien).
Beiträge
I lermann
vornehmlich für ihn Geltung, Der „Ein¬
zige“ eines ärmlichen Arbeiterpnares in
ländlichen Verhältnisse» wuchst doch
unter anderen Bedingungen auf. Immer¬
hin muß der Verfasser auch für sich
cinräumen, daß Neter in vielen Stücken
recht hat. Im übrigen kann ich mich
nicht entschließen, die freimütige Art
des Kritikers mit einer lieblosen Argu¬
mentation an der Hund seiner Selbst¬
bekenntnisse zu vergelten,
Fried jung (Wien).
und Suggestionstherapie im Kindes-
Kinderforschung und Heileraehung* Heft 184, Langensalza
Zum Seelenleben des einzigen Kindes. Von einem „Einzigen“,
Heft 175. Langensalza 1921,
Kritiken und Referate
10 5
HAINS ZULLIGER: Aus dem unbewußten Seelenleben unserer Schul¬
jugend, (IX. Heft der „Schriften zur Seelenkunde und Erziehungskunst^.}
Verlag Bircher, Bern,
Ein ganz vorzügliches Büchlein! Es
liest sich wie Dichtung, wie gute Novellen,
und d o ch stehen 1 aut er wirkliche G e-
schichten aus dem Schulleben drin. Zöl¬
liger s neues Werk gehört zu denjenigen,
von denen man gerade das Wesentliche
in einer Besprechung nicht wiedergeben
kann. Es will selber gelesen sein.
Sein Inhalt beweist am besten, wie
recht der Verfasser hat, wenn er sagt:
„Der Pädagoge, der die psychoanalytischen
Errungenschaften kennt, wird seine Zög¬
linge besser verstehen, anders beurteilen,
anders behandeln und vor allem solche
erzieherische Hilfen vermeiden, die einen
Fehler nur noch verschlimmern.“ Zulhger
betont aber, daß nur der durch einen
tüchtigen Analytiker analysierte Lehrer,
der überdies die psychoanalytische Lite¬
ratur gründlich studiert habe und der
beständig mit einem Arzt in Verbindung
bleibe, es verantworten dürfe, die Psycho¬
analyse praktisch ans zuüben. Der Lehrer
wird in der Regel bei eigenen Schülern
keine „Durch analysen“ machen. Er tut nur,
was unbedingt notwendig ist, um zu helfen
(kleinere Gelegenheitsanalysen). Der Er¬
zieher verwendet auch die suggestive
Beeinflussung, die aber gerichtet und de¬
terminiert ist von der vorhergehenden
psychoanalytischen Arbeit.
In außerordentlich feiner Weise schil¬
dert uns Zulligcr Fälle von Selbstbestra-
fungs-, Sühne- und Opferhandlungen, die er
in seiner Schule beobachtete. Die Analyse
eines „Wahrheitsfanatikers“ darf als Mei¬
sterstück bezeichnet werden. Es wird darin
gezeigt, wie eine schwere Lehenslüge, die
größtenteils unbewußt geblieben ist, den
krampfhaften Wahrheitsdrang entstehen
ließ. Es geht aber auch aus diesem Büch¬
lein hervor, daß Zulliger durch das Studium
der psychoanalytischen Literatur seine ana¬
lytische Bildung bedeutend vertieft hat und
daß er die Technik meisterlich handhabt.
Für rer (Zürich).
Dr. HANS HENNING: Psychologie
dige Wissenschaft“, Bd. II.) Mauritius
Die gut disponierte Schrift orientiert
über die modernen Strömungen in der
Psychologie, Leider wird der Verfasser
(Professor an der Universität Danzig) nicht
jeder Richtung objektiv-kritisch gerecht
Die Psychoanalyse, der er ein längeres
Kapitel widmet, lehnt er trotz Freuds
„außerordentlicher Verdienste“ in ihrem
Wesentlichsten ab, verwickelt sich aber
dabei in Widersprüche. Als Beweis gegen
die Wunscherfiillung im Traum wird an¬
der Gegenwart. (Sammlung „Leben-
- Verlag, Berlin 1925.
geführt: „Drei Viertel sämtlicher Träume
sind unangenehmer Natur“; einige Seiten
später findet sich folgender Passus: „Unter
dem Eindruck beängstigender Kriegs -
träume suggerierte ich mir 1914 in festem
Entschluß, nie wieder vom Krieg und nie
wieder unangenehm zu träumen; in den ver¬
flossenen zehn Jahren hatte ich nur ange¬
nehme Träume meist von humoristischer
Färbung: ein Vorsatz änderte also meinen
gesamten Typus.“ Gräber (Bern),
ROBERT SOMMER: Tierpsychologie. Quelle & Meyer, Leipzig 1925.
Sommers Buch scheint dem Refe- neuesten Tierpsychologien zu sein. Es
reuten das sympathischeste unter den spricht hier ein erfahrener Psychiater von
Kritiken und Referate
i 06
der Tierseele, von eigenen und fremden
Tierheobachtnngen. Physiologie, verglei¬
chende Anatomie, Psychologie und Psycho¬
pathologie werden dem ausgesprochenen
Programm gemäß miteinander verbunden,
um eine v erg! eich ende Tierpsycho¬
logie schaffen zu können. Dabei wird
auch ein Blick, obgleich nur in einer
methodologischen Bemerkung im Kapitel
über die Gewohnheiten, auf die Psycho¬
analyse geworfen.
Wir lernen hier durch Beispiele, daß
die Tierpsychologie nur nach genauem
Studium der Morphologie und der äußeren
Lebensverhältnisse zu Worte kommen
darf. Ein ganz besonderer Wert wird auf
die Motorik und Sinneserlcbnisse gelegt;
durch periphere Leistungen sollen viele
sonst unverständliche Vorkommnisse der
Tiere erklärbar werden (z* E. die Gedächt¬
nisleistungen der Pferde auf Grund der
optisch-motorischen Daten, der Hunde
auf Grund des Geruchssystems.) Der ent-
wicklungs ps ychologische Gesichts¬
punkt ist wo möglich durchgeführt und
dabei ein Prinzip der Entwicklung, die
Gleichwertigkeit (Äquivalenz) ver¬
schiedener Systeme im Laufe der Ent¬
wicklung herausgearheitet (2. B. Aufmerk-
s ainkeitse ins teil ung bei den Pferden mittels
Als erste Orientierung im Tatsachen-
gebiet der Tierpsychologie wird dies
Büchlein willkommen sein, aber nur was
die Tatsachen, nicht, was die Theorien
anbelangt. Daß z* B. im Tierreiche in
den weitaus meisten Fällen das Männchen
bald nach der Paarung zugrunde geht,
daß „die Natur zuerst bei der geschlecht¬
lichen Fortpflanzung der Bewußtseins Vor¬
gänge bedurfte“, muß jeden Psychoana-
dorOhrmuskulatur,beim MDuschen mittels
der Gesichtsmnsknlatur, besonders der
Stirn). Für die Psychologie des Raumes
und der Zei t ist e* bedeutsam, daß diese
keine koordinierte Begriffe sein sollen,
wie es die Philosophie wünscht, sondern
Begriffe mit verschiedenem Entwickln ngi-
niveau, indem die Raum Vorstellung zum
Althirn, die ZeitvoTstcllung zu dem Neu¬
hirn gehört.
Der Instinkt ist etwas stiefmütter¬
lich behandelt. Instinkte sollen auf uralten,
angeborenen Reiz - Bcwcgungl"Systemen
beruhen, sollen aber auch vorgetäuscht
werden können, da die geistigen Fähig¬
keiten vieler Tiere in vielen Beziehungen
als „genial“ dem Menschen gegenüber
bezeichnet werden können.
DieSexualpsychologic kommt kaum
zu Worte* Die SMugetutigkeit soll kein
sexual psychologisch es Moment enthalten.
Die Titel der größeren Kapitel heißen
psychologische Grundbegriffe 4 , ,Aus der
speziellen Tierpsychologie 1 , Vergleichende
Psychopathologie bei Menschen und Tie¬
ren*; in diesem letzteren wird x. B* die
Katatonie mit ursprünglich bei tiefer
stehenden Tieren vorhandenen Bewegungs-
mechanismen in Parallele gestellt.
Hermann (Budapest),
oder Die
Jena 1922,
lytiker zum weiteren Nachdenken an¬
regen* Von einem tiefen Stand der heuti¬
gen Tierpsychologie (auch G, Kafkas
neu erschienene „Tierpsychologie“ mit¬
gerechnet) zeigt aber die durchgehende
Identifizierung von Bewußtseinivorgängeii
mit psychischen Abläufen überhaupt (Ver¬
fasser findet sinnvolle Leistungen vor
und spricht von Anwesenheit bewußter
Prozesse), die Vergleichung der tierischen
Prof. Dr* FRIEDRICH DAHL: Vergleichende Psychologie
Lehre von dem Seelenleben des Menschen und der Tiere,
Gustav Fischer»
Kritiken und Referate
1
Leistlingen mit den Leistungen eines auf
der Stufe der Sekimdärvorgänge stellenden
Menschen (Kinder inbegriffen). Das vom
Verfasser verwendete Prinzip der Spar¬
samkeit kann unseres Erachtens in der
Frage des Inerscheinungtretens des Be¬
wußtseins nicht verwendet werden, da es
doch nicht von vornherein klar ist, daß das
„Bewußtsein“ nicht zum Wesen der bio¬
logischen Vorgänge gehöre; dieses Prinzip
Kat aber auch keinen Sinn im eigenen
System des Verfassers, der die Bewußt-
Seinsvorgänge als anenergetische be¬
trachten will. Hermann (Budapest).
K. von FRISCH: Methoden sinnesphysiologischer und psychologi¬
scher Untersuchungen an Bienen, — RUDOLF BRUN: Psychologische
Forschungen an Ameisen. (Bienen- und Ameisenpsychologie aus: Abder¬
haldens Handbuch der biologischen Arbeitsmethoden, Abt, VI, Teil D, Heft 2,
S* 121—252. 1922. Urban & Schwarzenberg.)
Es interessieren uns hier weniger die
sorgsam ausgearbeiteten experimentellen
Methoden, als einige Ergebnisse: So sollen
Bienen imstande sein „Erfahrungen“ zu ver¬
werten, doch verrate sich die „hohe Intelli¬
genz“ nur in den natürlichen Umständen
ähnlichen Anordnungen (2. B. Blütengestalt
gegenüber geometrischer Gestalt, wie Drei¬
eck, Viereck), — Die Grundtatsache des
Ameisenstaates, daß nämlich „alle Indi¬
viduen einer und derselben Ameisenkolonie
unter sich 'befreundet* seien, während Indi¬
viduen verschiedener Kolonien sich bei Be¬
gegnung meist zu bekämpfen pflegen, und
zwar auch dann, wenn sie der gleichen
Sp e z i e s an g chö re n s ollten“, b eru h e w e s ent¬
lieh auf psychischen Phänomenen* — Bie¬
nen und Ameisen besitzen nachgewiesener¬
maßen die Fähigkeit, einander Mitteilungen
zu machen, Hermann (Budapest),
ERNST MARCUS: Theorie einer
Kants Weltlehre, München 1924, E,
Der Ausdruck „natürliche Magie“ soll
die verborgene, doch praktisch verwertbare
Willens Wirkung des Ichs auf sich selbst
bezeichnen. Jede Willens Wirkung sei auf
den ersten Blick etwas Wunderbares,
Übernatürliches, sie werde aber verständ¬
lich, wenn man die Kontinuität zwischen
den organischen Wachstums- und Re¬
organisationsprozessen einerseits, den be¬
wußten Willeusprozessen anderseits, theo¬
retisch herstellt. Im organischen Geschehen
soll das „Ich“ sich ebenfalls nach der Weg-
weisung von Denkprozessen (durch das
organische Denken, was an die Stelle
des Unterbewußten anderer Autoren zu
stellen sei) auswirken.
Die Kontinuität der bewußten und or¬
ganischen Denkprozesse soll sodann er-
natürlichen Magie, gegründet auf
Reinhardt,
möglichen, daß vom Bewußtsein aus das
organische Geschehen beeinflußt werde,
und zwar bieten sich dazu zwei Wege
auf: 1) die intendierte Ablösung der Ge¬
fühlswirkung von der Vorstellung, durch
die Bildung einer (organischen) „Isolier¬
schichte“ und 2) die Unterdrückung der
Vorstellung, Empfindung durch das willens¬
mäßige Auf lassen der fundierten Regriffs-
bildung und infolgedessen durch das Ver¬
hindern der neuen Organisation des Ge¬
hirns. Beide Vorsätze sollen nur dann
gelingen können, wenn sie „nicht heftig,
gewaltsam, plötzlich, sondern stetig, bald
nachlassend, bald energisch nach drängend,
aber ohne Unterbrechung“ wirken. Ein
allgemeiner G es undungs wälle und ein
unbedingtes Ablegen der Todesfurcht
Kritiken und Referate
108
sollten als ideale Motive die Seele stets
erfüllen.
Ein Hinweis auf Kants Schrift „Von
der Macht des Gemüts, durch den bloßen
Vorsatz seiner krankhaften Gefühle Meister
zu sein“ erweckt das Interesse des Ana¬
lytikers für die Persönlichkeit Kants, eines
Denkers*, der über seine Schmerzen ebenso.
wie viele andere Denker, Herr werden
konnte.
Die Psychoanalyse wird, als eine even-
tu eil auch die bösen Geister des dunklen
Bewußtseinshernufbeschwörende Methode,
in zwei Fußnoten abgetan. Was geschieht
aber mit den w i 11 ensk ranken Neurotikern?
Hermann (Budapest)«
FRITZ GIESE: Theorie der Psychotechnik, Grundzüge der praktischen
Psychologie I. — „Die Wissenschaft*, Bd* 75, Braunschweig 1925. Vieweg & Sohn*
Gi es e hat hier durch methodologische
und wissenschaftsgeschfchtlIche, verglei¬
chende Auseinandersetzungen ein lehr*
reiches Bild des heutigen psychologischen
Arbeitsfeldes entworfen. Er versucht stets
der Psychoanalyse die ihr zukommendc
Rolle zu sichern und dadurch unterscheidet
sich diese Darstellung von sämtlichen
übrigen, mir bekanntgewordenen, die
Psychoanalyse höchstens hie und da er¬
wähnenden Arbeiten* Wenn auch die
psychoanalytischen Tatsachen oft schwei¬
gen, so laßt sich doch wenigstens der
psychoanalytische Geist stets erblicken,
z. B, in den zwei wichtigen Thesen, daß
das Experiment der Psychotech 11 ik nur
Scha ffung von B eo b 11 chtungagc-
Icgenheiten zu Zwecken der psycho¬
logischen Analyse sein soll und daß „letzten
Endes die Einfühlung ins Psychische das
Wesen der Fsychotccknik sein muß“,
Hermann (Budapest)«
FRIEDRICH KAINZ: Das Steigerungsphünomen als künstlerisches
Gestaltungsprinzip. Eine literarpsychologische Untersuchung* Beiheft 55 der
Zeitschr. f. angew* Psychol. Leipzig 1924. Joh. Ambr, Barth,
Das Steigerurigsphänomen sei ein
seelisches, meistens schon aus dem „Unter¬
bewußten“ triebhaft wirkendes, allge¬
meines, nicht nur in den Kunstwerken,
sondern in jeder Phantasietätigkeit, ja
sogar in der schlichten Wahrnehmung
und Erinnerung aufzeigbares formales
Urprinzip. Unter dieses Phänomen soll
„jede während eines geistigen Produktions¬
vorganges sich vollziehende Umänderung,
die bewußt oder unbewußt teleologisch
orientiert, eine Erhöhung, eine Inten¬
sivierung der erstrebten Wirkung zum
Ziele hat“, eingereiht werden. Die psy¬
chologischen Wurzeln der Steigerung
seien: Das Bedürfnis nach erhöhter Ak-
reak tionsnvöglichkeit, das Bedürfnis und
die Freude an der geistigen Produktion,
der elementare Trieb nach Expansion,
nach N e u e m, Bedeut u n g s v olle m, nach
Wunschwahrhoit, endlich das Ver¬
langen nach Wirkung, Jeder Mensch
soll diese Bedürfnisse in sich tragen und
dem Lnstkorrolate gemäß nach ihrer Be¬
friedigung streben, doch sei beim Künstler
dieses Streben in höherem Maße vor¬
handen* Fun reiches Material am der
Literaturgeschichte und Kunstgeschichte
verfolgt di eso Behauptungen ins Einzelne*
Wir vermissen jeden Hinweis auf die
analytische Literatur, obzwar ständig
analytische Behauptungen gestreift werden
(Wun scherf iil lung in der Phantasie, das
Wirken unbewußt-primitiver Mechanismen
Kritiken und Referate
109
beim Künstler, Lustprämie der Produktion,
das Unbewußte als ein vergrößerndes,
die Extreme suchendes Agens), Meiner
Auffassung nach bildet das Steigerungs¬
phänomen einen speziellen Fall der R an d-
bevoruigung, deren Wirkungsbereich
weiter reicht als derjenige der Steigerung.
Hermann (Budapest).
Dr. K, H. SCHMIDT: Die okkulten Phänomene im Lichte der Wissen-
schaft, (Sammlung Göschen 1925.)
Eine kurze klare Darstellung der ein¬
schlägigen Beobachtungen, Hypothesen
und Ein wände. Der Traum wird mit Be¬
nützung der psychoanalytischen Literatur
und in deren Sinn abgehandelt. Die Hy¬
pothese einer besonderen Lebenskraft,
eines zielstrebigen Lebenswillens, einer
Entelechie leiste für das Gebiet des Ma¬
gischen — nahezu alles. Teleplastie, Tele-
kinesie und Telästhesie erklären sich durch
die Annahme, daß die den Körper auf-
JOSEF PETER: Erscli einungen der
Pfullingen. Johannes Raum Verlag.
Angeblich sind neben legendären auch
Fälle von Erscheinungen Verstorbener be¬
kannt, welche auf einwandfrei gut beob¬
achteten Tatsachen beruhen. Die englische
Gesellschaft für psychische Forschung hat
in dem sogenannten „Gensus“ eine große
Anzahl solcher Fälle nach eingehender
Untersuchung als bewiesen festgestellt.
Einwandfreie Fälle — wo also subjektive
Halluzination auszuschließen ist — haben
folgende Bedingungen zu erfüllen: 1) Die
Erscheinung eines dem Perzipienten be¬
kannt gewesenen Toten weist Kennzeichen
auf (z. B. Narben, besondere Kleidung
usw.), welche der Erschienene ohne
Kenntnis des Perzipienten im Leben be¬
sessen bat. 2) Der Erschienene ist eine
dem Perzipienten unbekannte Person, kann
aber durch seine Beschreibung genau
identifiziert werden. 5) Die Erscheinung
gibt eine richtige Nachricht, oder be¬
richtet eine Tatsache, welche dem Per¬
zipienten unbekannt ist. 4) Das Phantom
bauende und erhaltende Kraft bei den
magisch Begabten imstande sei, auch
außerhalb der Haut zu wirken, Telepath
und Hellseher erwiesen ihre Begabung
in erweitertem psychischem Können im
Wissens- und Willenskreis. Um aber das
Hellsehen in Vergangenheit und Zukunft
zu erklären, müssen wir ein Üb erb ewußt-
sein annelmien, ein Alleswissen einer Uber¬
seele, in der die Einzelseele verwurzelt ist.
Hitsehmann (Wien).
Toten. (Die okkulte Welt. Nr* 41/42.)
wird photographiert. 5) Mehrere Zeugen
sind gleichzeitig von der Manifestation
betroffen. 6) Tiere und Menschen haben
die Erscheinung zusammen (kollektiv) ge¬
sehen.
Nach Aufzahlung einer Reihe von Fäl¬
len von solchen Erscheinungen eben oder
längere Zeit Verstorbener, von Geister¬
spuk in Gebäuden u. dgl. wird zur Er¬
klärung die Telepathie herange zogen.
Auch sind die Ansichten der auf diesem
Gebiete führenden Forscher der Neuzeit
angeführt, von F. W* H. Myers, James
Hy sin p und Oliver Lodge.
Mag sich der Psychoanalytiker gegen¬
über der Tatsächlichkeit der Telepathie
auch objektiv zu wartend verhalten, so
wird er doch in Fällen der angeblichen
Erscheinung eines Toten den Wahmehmer
analysieren, sein psychisches Verhältnis
zum Toten kennen wollen. Der Ausnahms¬
zustand, in den unbewußt tiefst Fixierte
durch den Tod des Liebesobjektes geraten;
1 1 o
Kritiken und Referate
die Whb scherfüllung im Wiedererwecken;
die Bedeutung der unbewußten Homo¬
sexualität bei Ers cli ei mm gen des gleichen
Geschlechtes (vgl, im Traum); die durch
den Tod entstandenen oder verschärften
Schuldgefühle; die psychische Einstellung
durch hellen Mondschein im Schlafxi mm er;
die Identifizierung als Ursache kollektiver
Halluzination; die Einstellung des Perzi¬
pienten zum Thema Tod und Jenseits*
sein Bedürfnis nach der Existenz mysti¬
scher Phänomene und nach der Hebung
seines Selbstgefühls durch ihm xuxuspre¬
chende übernatürliche Fähigkeiten — all
dies scheint in bisherigen Beobachtungen
unterschätzt. Mehr Skepsis, mehr Psycho¬
analyse! Qui vivrtty verra.
Hitscluivnuti (Wien),
San.-Rat Dr. GUSTAV PAGENSTECHER 1 Außersinnliche Wahrnehmung.
Experimentelle Studie über den sogenannten Trancexustand, Halle a. S. 1924,
Carl Marhold.
Wieder ein „parapsychischer“ Fall, in
Amerika seit Jahren bekannt, nun In
deutscher Sprache herieiltet. Der Arzt
wurde anläßlich einer hypnotischen Heil¬
behandlung auf hellseherische Fähigkeiten
seiner Patientin aufmerksam; aber die
Kontrolle ist selbst nach Ansicht von
Wasiliewski, der das Vorwort schrieb,
unbefriedigend. Auch Pagensiech ers
spiritistische Erklärung des Hauptfalles
(psychometrische Prüfung der Flaschen¬
post eines untergegangenen Dampfers)
ist phantastisch genug, Folgendem Vorfall
verdankte der Arzt das Interesse für
Okkultismus: Während er — wie gewöhn¬
lich — hypnotisierte, erriet die Patientin
und blieb hartnäckig dabei, daß ihre
älteste Tochter hinter der Tür stehe und
durchs Schlüsselloch sehe; sie sagte so¬
gar: „Ich sehe meine Tochter ganz deut¬
lich durch die Tür hindurch.* 4 Daß ein
solches Erraten, Fürchten, visuell Wahr-
iielirnen — dem Arzt a 1 s eino O ffc nh n ru 11 g
imponierte, zeigt von seiner Naivität und
Übersehen der erotischen Atmosphäre der
Hypnose, die der M utter Schuldgefühl und
Angst und halluzinierende Wahrnehmung
begünstigte. Referent hatte sich zunächst
die Fragen vorgelegt: 1) Wodurch ist
Patientin schlaflos? 2) Wie isl ihre Be¬
ziehung zu Gatte und Kind? Die Hörig¬
keit der Patientin ist offensichtlich:
ENeunundsiobzig Hypnosen wurden in zirka
elf Monaten tu Studie«wecken gemacht!
Wie schwer ist es gewesen, hier in Wien
untersuchte Medien zu entlarven; Ver¬
suche von „da hinten, wo der Pfeffer
wächst“ — aus Mexiko —* können uns
daher ernstes Interesse nicht leicht abge-
winnen. Hitschntann (Wien).
ProF MAX KAUFMANN: Die Bewußtseinsv orgänge bei Suggestion
und Hypnose. Halle a, S. FQ2 2, Carl Marhold,
Die wichtigsten Ergebnisse dieser mit
graphischen Darstellungen versehenen Ar¬
beit lauten, da es derzeit (1922) in Deutsch¬
land nicht Mode ist, ein Unbewußtes zuzu¬
geben oder zu nennen, folgendermaßen:
Ob man das Nichtbewußte als psy¬
chisch oder nur als latente, rein materielle
geistige Tätigkeit auffaßt — Tatsache ist,
daß sowohl Suggestion wie Hypnose sich
in einem Bewußtsein «zustande ab spielen,
der dein gewöhnlichen Wachzustand
nicht entspricht,
Außer unserem Wachbe mißt* ein ver¬
fügen wir nämlich noch über eine In ne 11-
sccle, die uns zwar nicht klar bewußt,
der Selbstbeobachtung nicht ohne weiters
t
>
Kritiken und Referate
m
zugänglich, aber trotzdem von großer
Bedeutung ist für normales und beson¬
ders für krankhaftes Denken, Fühlen und
Wollen*
Vielleicht beruht des ganze Geheimnis
der Suggestion und Hypnose auf der schon
erwähnten Tatsache, daß sie sich nicht
im hellsten Bewußtsein abspielen,
sondern in mehr oder weniger tiefen Gra¬
den der B ewußts ein$verdunkelung
oder, wie ich sagen möchte, im inneren
Bewußtsein. l)amit treten die Wach-
hemmungen zurück und das Trieb artige,
der Kurzschluß mit der Körperlichkeit,
das sinnliche Moment, herrscht vor. So
erlangen die suggerierten Vorstellungs¬
und Gefühls gruppen (Affekte) eine den
originalen Reizen gleichwertige, ja oft
überlegene geistige Energie,
(Das gesperrt Gedruckte vom Refe¬
renten hervorgelioben.)
Hitschmann (Wien *
*
mmmm
IfflSK
,
V-
IMAGO. Band XII (, 9 aC), Heft 1
(Aui£r§rbffti im Krbnitr igib)
f v toidfrt-Ermimchimfi Beitrage tue Metipijchologlt , . ... P . , . i
Dr, ,f i« der i'ktji: Uber den Uniiona in der EämpoiLtlon . . , . p P , , . aj
/> f ’±*zuhi Jusr U. Dr. Otto Mirbach* Blue iüd)aw liehe Märchen parallele mm Ur-
der Rotandiage , , * . .* . „ . ^
£> fms* Hermann; Modelle tu den ödipui* und Kai) ratienikomplnen bei Afifen * . $9
£>< F L+mtsky KJne ukkullkliiche Uritatignng der r>)ihüannlyie . * fv
-V' > Woiffhtim: Zur Psychologie de* inudiTiien Ente her» . . .
Dr, Jk>trf A. Fried jung, Der ödiptiikomple* im Flebenfflirluiti ein« neunjährigen
Made hem , * * * . , .. _ t t * . * , m t n . Qa
KRITIKEN MHD REFERATE t . ...... k 9+
Aich horu, YuwabirlOtt« Jugend (Schumi) — Me Du 11**11, Frefewor Ffcuit Grcup Ply*
»nd huTHfory ot SAggeittuii (Hifnll) ijH, — Health «mL Paycholog? ur Ihe Child, Jicrnii*jr»jt*b*n
toi. E Slo.n Chtiiflr (ChtliwicA) gg. — RgwUnd* A PtdD*fl C ii«i GoimnoupUcv B®ok fUhidividU mt.
- Chadwick, Thi' Int«r Relatiön* of Cdittaliöii and Nturwi* (lUmfild) inj. — Sl r oh m* y# j-, Di«
Piycbopatholof^t dt* *Trtdrt*h*r# fFrttdjung 105 - Mont, lb<r >ujEjg-r»l iicia und SufffnifaEuthtmple iin
k*t»driaJirr (Fwdjmf) 104. — Zmn £ee!f!it#b«rii de* rimi*rn hiiidtf. *on eirrrn "Einiif«H« (Ftirtjung)
1 I - ZuNigtr, Aem dpiu uiihi>«y£)t*n 3 **l#a|rb«ii unterer Schiiljujrejid (Ab nt?) 1115. — Kenn ing.Pty-
cholojfip d*r Gegenwart (Gtwkrr] 1«^. — Sommer* Titrpiyrhidogi* 1 fitrmmvi 1*5. — [> ahU Vergleichend«
Piychelogi« Ifa/rumn} lob. — PH ich, Methoden liimHßhjridagUthtr und ppjehaln^itcher rmermebm^rr.
an Hirnen Htrmanv 107*- Brün, Psycholog ach« Forschungcn an Arne iw n iilc rrrumvij %pf, — M arctll.
Thronr einer naliirhrb«! Magi« JlffTiMw) 107, — G 1 e »«, Theorie drr Piytlimcrhink {Jfrmmti) 10B, —
K*1 III, Dis Slei|pruii|iphlitmii«tn «I» kämtleritah*« G*it*LlUH g*j>rmdp (ßfmwnn) lofl. — Schmidt, diu
ob, kotiert PliJitipinene im Lieht« der Wiiirn^chafl {HittJhmm) mp* — Peter, EnrJi? in 1111*011 der Talen
l/fcu’W-utfi) 1 09 . l'iflfl n i I e e h • r, AiiDDriiiinlich« U" nlii-iir-larmm* 11 », Kaii Fm a. 11 n,
Di« Hewuütivuiivur^ün^c hri 5 ü^jtrit[qn und. ^IfilMAmaNn) up.
^-^pyrsin 1 »y „InTeriialiüüAlei- Pay JiimiutlyLiJierVerL^ Cea h in. fc. JL*, Wien
AfiV diesem Hefte beginnt Band XI T, lyiiy;
Abonnement iqxC (j Hefte, über Soo Seiten) Mark m-,
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PsvtUanalf? liaml XII (i 9 ,0 H*ft 1 mit folgendem Inhalt:
I reu(h Karl Abraham 7 / Eereiic^la Kontra indikalionea der aküven Technik /
RtiUn 9) L» dkouomUdfi Prliuip der Technik / Reich: Über die chronische hyps>-
chnndrm kc» Itenie / Lu rin: Die mpdonie rtissiiclie PlL>'*ioli>^ie und die Pi) 1 " 1 -
choanjhte ; J.iforgüe: VerdrlngUEi(j und Skqtomiialion / Ihehm: Homoiexualilht
und 1 >dipüjkoruplc\ t Pick worth l'arrow: Kino Kindheitleriimenni^ aui dem
h l ei rnimcuiil Fenicheh UnbpTAuflte Vcisiäudi^ung / Sy^dr: Die Rollo des
Zjhöji'iimoüv» bfi P>ychoien / IJor ti i?t a j n: SchiiophTotio Symptom« / Rrferatc
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GrinttJti bei cyn^ph HdD?r'i Söhne, Wjrfl V. ArbtitiriHiir i-?, »