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Full text of "Imago. Zeitschrift für Anwendung der Psychoanalyse auf die Geisteswissenschaften XII 1926 Heft 2/3 Sigm. Freud zum 70. Geburtstag"

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Heft ä/3 


IMAGO 

Zeitschrift tür Anwendung der Psychoanalyse 
auf die Natur- und Geistes Wissenschaften 


Sigm. Freud zum yo. Geburtstag 

5 du hier (Wien): Zu r Naturphilosophie / Pfi.U?r (Zürich): Die im'indi“ 
llcJieti Ktniguiigsbefltrebuugeii (Von Knut zu Freud) / j Eder (London): Knnn 
das Unbewußte erzogen werden? / Brun (Zürich): Zur Ökonomie mul 
Dynamik de* I riehkoitllikts / Pfeifer (Budapest): Bioonalyje der organischen 
Pathologie / Simonien (Berlin): Die Energie lehre iti der Physiologie / 
Stegmann ( Dresden): Die PhySiogeuehe organischer Krankheiten und du? 
Weltbild / Hermann (Budapest): T)nv System Bw / Bitrrow (Baltimore)'. 
Die G ruppeiimctkodc in der P*yckä*Dmly*e / SitiMianger (Krette,iIngen): 
Erfuhren, Verstehen und Deuten / S uru surr (Genf): I n telligenz / Schneider 
(Higa)\ Identifikation / Atu!Irr (Leiden): Gefühl vtl won'hitJuf / S(<i rcite 
(Jen DolJer): Uker I'anien, Sdilagen, Kdiiftl Iijw. / Rillt rin 1 ( B 11 da pest); 
Völkerpaydiologie u, Psychologie der Volk er / li tili nt (Bit dapestj : F n 1 n il Ich - 
vnter / Chri&tajffel (Base!): FnrheiihymhohL / Kovdcat (Budapest) Dm Erbe 
des FürtumatUJ / JelteL (Wen): Psychologie der Komödie / Hitschmann 
(Wien): Ein Cupemt aus der Kindheit Mnmsiiiiär / Fried jung (Xtden)i Psycho¬ 
analyse und Kinderheilkunde / Klein (Berlin) i Ftühnnalyse / Schmidt 
(Adoeiau): Brustsuugeji 11, l mgerluticheil / Pöfz/ (Prag): Metapaychcdogie des 
dejä vu / Lein Bianchim (Teramo): Atystizhsmus ti. HidLiditigkeit bei einem 
Kinde / Deutsch (Wien)- Okkulte Vorgänge wahrend der Analyse / 

(Wien): Psychoanalyse des Spuks / Rah ( Wien): Psyck on im ly t i& ch e N oti 


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"'Wien VII, Andreasgasse 5 






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IMAGO 

ZEITSCHRIFT FÜR ANWENDUNG DER PSYCHOANALYSE 
AUF DIE NATUR- UND GEISTESWISSENSCHAFTEN 


XII. Band 


ö. Mai 192Ö 


Hefl 2/3 


SIGM. FREUD 

ZUM SIEBZIGSTEN 
GEB U KT STAG 


H 


Imago XII 






INTERNATIONAL 

PSYCHOANALYTIC 

UNIVERSITY 



DIE PSYCHOANALYTISCHE HOCHSCHULE IN BERLIN 










Zum 70. Geburtstage Sigm. Freuds 


Über Freud als Forscher und Schöpfer, über seine Bedeutung für die 
Erkenntnis des Seelenlebens* über seinen Einfluß auf das wissenschaftliche 
Denken überhaupt — über diese Dinge hier zu schreiben, verbieten der 
Anlaß und der Ort, Der Anlaß — weil man einen weltbewegenden 
Menschen nicht feiert, wie einen pflichttreuen Beamten oder Angestellten, 
in dessen Leben nur die Kalenderzahlen wesentliche Marksteine sind, 
während Freud uns durch seine noch im Flusse befindliche, ja fast 
gesteigerte Produktivität bewiesen hat, daß wir uns an keiner Grenzscheide 
seines Wirkens befinden. Der Ort, weil in diesen Blättern jede Zeile von 
der Größe seines Werkes spricht, so daß eine besondere Hervorhebung 
eher eine Abschwächung als eine Erhöhung bedeuten würde. 

Statt dessen sei mir vergönnt, dem Gefühl nachzugeben, daß die Per¬ 
sönlichkeit Freuds für mich mit dem wesentlichen, ja fast dem einzig 
bedeutsamen Teil meiner eigenen Entwicklung unlösbar verknüpft ist. 
Ich glaube davon im Namen seiner ersten, ihm am nächsten stehenden 
Schüler ohne ungebührliche Betonung des Persönlichen sprechen zu dürfen, 
denn viele, und gewiß nicht die schlechtesten unserer Zeitgenossen, haben 
den Abglanz eines solchen Erlebnisses aus den Werken Freuds geschöpft, 
das uns ein seltenes Glück in den Schoß warf. 

Freilich weiß ich kaum, wo ich beginnen soll. Soll ich von der 
Arbeitskraft und Unermüdlichkeit erzählen, die ganz abgesehen von dem 
Werte, auch der Menge nach durch Jahrzehnte hindurch die Arbeit dreier 
Menschen — des Analytikers, des wissenschaftlichen Schöpfers und des 
Organisators — vereinigte? Oder von den vielseitigen Interessen, die neben 
seinem eigenen riesigen Arbeitsgebiet noch Archäologie, Kulturgeschichte, 
Naturwissenschaften, bildende Kunst und Literatur umfaßten? Oder von 
der Urbanität und dem Takt, mit dem er dem Geringsten freundlich ent¬ 
gegenkam und die Überheblichkeit des Mächtigsten ruhig, aber schonungs¬ 
los unterdrückte? Von dein unvergleichlich feinen Humor seiner Unter- 


8 * 







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Zum 70, Geburtstage Sigm, Freuds 


haltung oder dem im wahrsten Sinne vornehmen Ion, der in seiner Um¬ 
gebung herrschte? 

Ich glaube, das alles sind Eigenschaften, die auch anderen bedeutenden 
Menschen zukommen, und ich möchte doch gern eine Andeutung der 
Eigenart geben, die mir so deutlich vor Augen sieht. Was mir zuerst an 
ihm auffiel, war, daß er, der doch sicherlich fühlt, daß er „not in ihe 
roll of common men u gehört, eine durchaus ungezwungene Bescheidenheit 
f zeigt. Alles, was um ihn herum von seinen Schülern geleistet wurde, 
fördernd und freudig anerkennend, war er immer bemüht, sein Werk als 
etwas hinzustellen, was gewissermaßen nur zufällig mit seinen persönlichen 
Eigenschaften verknüpft sei. Dieser Unempfindlichkeit gegen Schmeichelei 
und persönliches Lob entsprach seine Unbeeinilußburkoit durch fremdes 
Urteil, das sich auf äußere Autorität, auf Tradition, tiefühligründe oder 
Pathos stützte. Seine Linie war der äußerste Bekennermut ohne die min¬ 
deste Bekennerpose. Aus der inneren Tapferkeit, die ihn befähigte, den 
verschleierten Bildern, an denen durch Jahrtausende die Seelen forscher 
scheu vorübergeschlichen waren, ins Angesicht zu sehen, kam ihm die 
Ruhe, die alle Entrüstung und Zurückweisung durch die zeitgenössische 
Wissenschaft als Selbstverständlichkeit, nur mit einem spöttischen Lächeln 
entgegennahm. Unerbittlich gegen jene, die, durch die harte Last seiner 
Wahrheit zu früh ermüdet, sich ihrer durch irgendeinen Kunstgriff wieder 
zu entledigen suchten, war er sonst überall voller Nachsicht gegen fremde 
Unzulänglichkeiten. Obgleich er seinem Werke zuliebe die geheimsten 
Seiten seines Charakters der Öffentlichkeit preisgeben mußte, ist es ihm 
doch gelungen, hinter seinem Werk zu verschwinden und persönlich seinem 
Ruhm auszuweichen. Der tiefsten Leidenschaftlichkeit fähig, aber im Kleinsten 
wie im Größsten beherrscht; ein .„guter Hasser 14 , wo er der Gemeinheit 
und Inge gegenüberstand, aber einer, dem das „pro siunma fide summm 
arnor" tief ins Herz geschrieben war so haben wir ihn erfahren* Um das 
alles und vieles andere, was hier ungesagt bleiben mußte, zusammen zu- 
fassen: So einzigartig, eine Weltenwende in den Geistes wissen schäften be¬ 
deutend sein Werk uns erscheint, wir waren stets dessen sicher, daß der 
Mann nicht kleiner ist als sein Werk* 


Hanns Sachs 













Zur Naturphilosophie 


Von 

Paul Schilder 

Dr* luecL et phil., Professor an der Universität Wien 


I 

Naturphilosophie teilt zunächst die Annahme des naiven Realismus, daß 
eine Welt der Dinge wirklich sei, sie zweifelt nicht an der Existenz des 
Wahrgenommenen* Aber schon der naive Realismus sieht sich genötigt, 
zwischen Sein und Schein zu unterscheiden und das Vorgespiegelte von dem 
Wirklichen zu trennen. Hiebei ergibt sich bald, daß die Ergebnisse des 
Tastsinnes eine besondere Verläßlichkeit zu haben scheinen, während Auge 
und Ohr trügerisch in die Irre führen, wobei wir den Ausdruck Tastsinn 
in einem sehr weiten Sinne nehmen, der Bewegung und Bewegungs¬ 
wahrnehmung in sich faßt* In diesem Sinne spricht Locke von primären 
und sekundären Qualitäten der Materie, Die Physik hat es in ihrer älteren 
Fassung mit den primären Qualitäten der Materie zu tun, mit Druck und 
Stoß, mit Masse, Kraft und Energie* Optisches, Gehörtes, Gerochenes und 
Geschmecktes wird seiner besonderen Qualität beraubt und erscheint als 
Bewegung von Masseteilchen, Atomen* Solcher Verricht auf eine Fülle von 
Qualitäten muß jedoch einen psychologischen Sinn haben. Es ist ein Verzicht 
auf die späteren Differenzierungen in der phylogenetischen Entwicklung, 
Aus dem allgemeinen Oberflächen-Sinnesorgan differenzieren sich allmählich 
die spezifischen Sinnesorgane* Es wäre sinnlos, ein Sinnesorgan irgendwelcher 
Art anzunehmen, welches nicht irgendwie in ein Tun einmündete/ Wahr¬ 
nehmung und Handlung sind einander gesetzmäßig zugeordnet* Eine Wahr¬ 
nehmung ist stets auch eine Antwort, ist ein aktives Geschehen. Das Haut¬ 
sinnesorgan, Abkömmling des Ektoplasma, steht zur Handlung, zum Tun 




Paul Schiliier 


1 1 8 


in besonders inniger Beziehung. Die Atomistik ist in diesem Sinne Hegression, 
Aufhebung von Differenzierungen und Rückkehr zu einem phylogenetisch 
älteren Zustand, daher das Gefühl des Rühens und der Sicherheit, wenn 
wir das Weltbild auf das Mechanische, auf die Tastqualitäten reduziert 
haben und damit zu primitiveren Quellen des Handelns zuriickgckehrl sind. 
Vom Standpunkte des Erkennens aus haben, was Kant besonders klar 
formuliert hat, die primären Qualitäten vor den sekundären Qualitäten 
nichts voraus. 


II 

Jedes Wahrnehmen und jedes Erleben ist dreigliedrig- Es setzt voraus 
ein Ich, welches sich einem Gegenstände zukehrt und einen Körper, an 
welchem diese Zuwendung ihre Resonanz findet, die Empfindung. Wir haben 
also in der Wahrnehmung zu unterscheiden, das wahrgenommene Objekt, 
das Ich und die Empfindung (den Körper)- Wir haben sinngemäß hinzu“ 
zufügen, daß auf jede Wahrnehmung sofort eine Reaktion erfolgt, Wahr¬ 
genommen werden aber immer nur Situationen, und Reaktionen sind immer 
nur Handlungen, welche auf eine bestimmte Situation zielen; ja sogar in 
Vorstellungen und in Gedanken beziehen wir uns immer nur au! wirkliche 
und mögliche Situationen und wirkliche und mögliche Handlungen. Die 
Empfindung und auch das Gefühl sind die körperliche Seite dieser Ich- 
Gegenstandsbeziehung, Daraus folgt, daß die Welt nicht Resultat einer Pro¬ 
jektion von Empfindungen sein kann, vielmehr ist die hier gegebene Gliederung 
Voraussetzung einer jeden Projektion. Die Projektion kann demnach den 
Besitzstand von Körper und Welt entscheidend abändern, sie schafft aber 
nicht die Unterscheidung zwischen Körper und Welt. Wenn ich also im 
vorangehenden darauf hingewiesen habe, daß das atomistische Weltbild ein 
auf den Tastsinn reduziertes Weltbild sei, so soll das nicht bedeuten, daß 
dieses Weltbild durch Projektion von Tastempfindungen entstanden sei. sondern 
es soll nur jener Anteil des Körperlichen bezeichnet werden, welcher bei 
einem solchen Weltbild empfindtingsmäßig mitechwingt- 





m 

Im Zentrum des atomistischen Weltbildes stehen die Begriffe Masse, Kraft, 
Energie. Der Begriff der Masse wird aus sehr alltäglichen Erfahrungen ge¬ 
wonnen. Um Gegenstände gleichen Aussehens zu bewegen, ist bald eine größere, 
bald eine geringere Kraft notwendig. Die Kraftanstrengung erkennen wir 











Zur Naturphilosophie i 1 9 


aber durch den Kraftsinn. Wird der Gegenstand geteilt, so setzt jedes der 
Teil stücke einen geringeren Widerstand entgegen als das Ganze, Diesen 
Widerstand bezeichnen wir als Trägheit. Wenn wir einen Körper bewegen, 
so heißt das, daß wir ihm eine Beschleunigung erteilen. Wir können aber 
die Masse eines Körpers auch dadurch bestimmen, daß wir den Körper der 
Schwere entgegen heben. Letzten Endes beruht also der Begriff der Masse 
auf Sinneseindrücken. 

F r ri ed 1 änder 1 hat gezeigt, daß die Objektivierung von Druck j und Kraft- 
empfindungen begründet ist in der Richtung der Aufmerksamkeit auf den 
visuell wahr genommenen oder vorgestellten Gegenstand, und in der Tatsache, 
daß bereits eine gehäufte Zahl gleichartiger Wahrnehmungen vorhergegangen 
ist* Beide Bedingungen besagen aber nichts anderes, als daß der Eindruck 
der Masse dann entstehen kann, wenn wir eine Handlung an einem Körpei 
vorgenommen haben oder vorzunehmen beabsichtigen. 

Es ist aber eine der grundlegenden, wenn auch selten formulierten Er¬ 
kenntnisse der Psychoanalyse, daß das Individuum nicht handle, weil es 
diese oder jene Empfindung habe, sondern daß es sich plan" und sinn 
gemäß auf eine Situation einstellt, — um in der Sprache der Phänomendogen 
zu reden, — auf einen Gegenstand zielt. Die lebendige Situation des Ödipus 
Komplexes ist 2. B. eine solche Handlung gebietende Situation. 

Der Begriff der Masse hat nach diesen Ausführungen nur Sinn im engen 
'Zusammenhang mit einem triebhaften, willensmäßigen Interesse an Gegen 
ständen. 

Nach Newton ist der Bewegungszustand einer Masse m durch die Größen 
m und v (letztere ist die Geschwindigkeit) vollständig bestimmt. Jede Vei 
anderung von v weist auf das Vorhandensein einer äußeren Kraft hin, 
und wir können die Größe dieser Veränderung zum Maßstab der Kraft¬ 
intensität benützen. Jene Kraft gilt als die größere, welche der gleichen 
Masse die größere Beschleunigung oder der größeren Masse die gleiche Be¬ 
schleunigung erteilt. Aus diesen wenigen Bemerkungen geht bereits hervor, 
daß der Kraftbegriff auf den gleichen Sinnesdaten basiert, wie der Begriff 
der Masse: Kraftsinn und Druckempfindung. Man wird jedoch nicht fehl- 
geheu, wenn man sich zu der Annahme entschließt, daß neben der Wahr¬ 
nehmung und Empfindung auch das Erlebnis des „Ich will“ von Bedeutung 
sei oder mit anderen Worten, daß der Kraftbegriff psychologisch die Tat 
zur Voraussetzung habe. 


1) Die Wahrnehmung der Schwere, 


Zeitschrift für Psychologie, Band 85, 1920. 









1 20 


Paul Schilder 


ln den physikalischen Erörterungen spielt der Begriff der Energie eine 
außerordentlich große Bolle, er bedeutet das Äquivalent der von einer Kraft in 
einer bestimmten Zeit geleisteten Arbeit, bestelle diese in einer raum liehen 
Verschiebung der Massen oder in einer Veränderung des Aggregfttzustandes. 
Sie kann z. B. als mechanische Arbeit gemessen, durch das Produkt A . s 
(Kraft mal Weg), zum Teil als lebendige Kraft ~ in Erscheinung treten. 
Bekanntlich kann kinetische Energie in potentielle umgewandelt werden 
und mechanische in Wärmeenergie oder in elektrische Energie, die wir uns 
wiederum durch den Ablauf gewisser chemischer Reaktionen verschaffen 
können. Die Physik nimmt eine* Wesenseinheit der Energieformen an, 

Man sieht, auch die Begriffe der Kraft und Energie verweisen lediglich 
auf Sinneseindrücke, welche dem taktilen und Unästhetischen Gebiete an* 
gehören, und ein physikalisches Weltbild, welches sich auf die Begriffe Kraft, 
Masse und Energie stützt, verzichtet auf viele Differenzierungen, halt aber 
grundsätzlich an dem Grundschema fest, daß es Handlungen gebe, welche 
an Gegenständen durchgeführl werden* Man hat wiederholt gesagt, der Kraft“ 
begriff entstünde aus der Projektion eigener Wiüensergebnisse in die un¬ 
belebte Natur. Aber könnte nicht das Wülenserlebnis in uns der Krafterfassung 
außer uns ebenso zugeordnet sein, wie die Empfindung der Wahrnehmung 
zugeordnet ist? Oder mit anderen Worten, wir haben nicht das Hecht, die 
Möglichkeit abzulehnen, daß es ein unmittelbares Wahrnehnten eines I jebendig- 
Bewegten außer uns gebe. 

Während das mechanisch “physikalische Weltbild einen Best von Diffe¬ 
renzierungen im sinnlichen Material, mit dem es schallet, festhält, wird 
dieser Rest in der neueren Entwicklung der Physik noch weiter eingeschränkt. 
Die Elektrizität gewinnt in ihr eine immer größere Bedeutung. Es ist schwer, 
die sinnliche Basis anzugeben, auf welche sich die Lehre von der Elektrizität 
stützt. Bemerkenswert, daß sehr Wesentliches an der Bewegung des I rusch* 
Schenkels entdeckt wurde. Man wird nicht fehlgehen, wenn man vage, primitive 
allgemeine Empfindungen als die bedeutsame sinnliche Grundlage der tlektn* 
zi tat sieh re ansieht* Man wird nicht fehlgehen, wenn man vom psychologischen 
Gesichtspunkt aus ein Weltbild, welches die Elektronen in sein Zentrum stellt, 
als besonders primitiv ansieht. 


IV 

Hier setzt auch eine für den Naturphilosophen besonders bemerkenswerte 
Bewegung in der Physik ein. Sic ist nämlich daran, die Masse auf Energie 
zu reduzieren; alle Masse sei im Grunde nur scheinbare Masse. So zeigen 









Zur Naturphilosophie 


121 


z. B. die Kathodenstrahlen, welche aus negativ geladenen Elektronen be¬ 
stehen, eine Änderung der Masse je nach ihrer Geschwindigkeit. Beim Zer¬ 
fall radioaktiver Substanzen erscheinen negative Elektronen, bestimmte Mengen 
elektrischer Energie. Einsteinsche Rechnungen führen zu der Annahme, 
daß die träge Masse eines Körpersystems geradezu als Maß für seine Energie 
angesehen werden kann. Hier verschwimmt also Kraft und Masse zugunsten 
eines vagen Wirkenden. Fügen wir hinzu, daß in dem Verschwimmen des 
Subjekts und Objekts, wie wir es bei narzißtischen Zuständen zu sehen 
gewohnt sind, eine ähnliche Haltung zutage tritt. Wir können ihr keine 
bindende erkenntnistheoretische Bedeutung zuschreiben, denn wir haben 
gezeigt, daß in jedem Erleben die Dreigliederung Welt, Körper, Subjekt, 
wenigstens in allgemeinen Umrissen, gegeben ist. Ein Wille ohne einen 
Gegenstand, auf den er sich richtet, eine Handlung ohne Objekt, auf welches 
sie zielt und an welchem sie die Handlung vornimmt, sind schlechthin sinn- 
los. Ein solches Weltbild, welches die Masse eliminiert und an Stelle dieser 
die Energie setzt, mag vielleicht narzißtisch befriedigen, kann aber eben 
deswegen nicht auf volle Gültigkeit Anspruch erheben. Vermerken wir, daß 
nach Preuß die Irokesen mit dem Ausdruck „orenda * die dem Dinge inne¬ 
wohnende Zauberkraft kennzeichnen; diese Zauberkraft kann aber auch zu 
einer Verwandlung der Objekte führen. Ein Mensch als ganzer Körper kann 
sich z» B. leibhaftig in einen Werwolf verwandeln, während seine zentrale 
zauberische Substanz nicht zu bestehen aufhört oder auch nur geschmälert 
wird. Wir könnten in abgekürzter Weise die Energie der Physik und die 
zauberische Substanz und die Zauberkraft der Primitiven einander gleich¬ 
setzen. Damit soll zunächst nur die Befriedigung erklärt werden, welche 
uns ein derartiges Weltbild, das so trostlos zu sein scheint, zu geben im¬ 
stande ist. Wir werden aber auch zu den Gedanken getrieben, daß sich die 
Triebbedürfhisse des Menschen in seinen Weltanschauungen immer wieder 
durchsetzen. Freilich, welche ungeheuere Bereicherung bringt die Physik 
gegenüber den Anschauungen Primitiver! Aber sollte nicht der dunkle Drang 
doch irgendwie auch Erkenntnisse vermitteln können? Haben wir das Recht, 
an zun eh men, daß ein so mächtiger Teil der Triebhaftigkeit, wie er uns im 
Narzißmus entgegentritl, erkenntnistheoretisch lediglich Belangloses liefere? 
Sollte es nicht doch Zauberkräfte, d. h. ein Wollen in der Natur geben? 
Und sieht hier der Primitive nicht richtiger als der in der physikalischen 
Weltanschauung Befangene, welcher entgegen den psychologischen Quellen 
seiner Begriffe in der Energie etwas nicht Willensmäßiges sieht? 









1 22 


Paul Schilder 


V 

Hier muß zunächst zwischen der auf physikalischen Ergebnissen beruhen¬ 
den Weltanschauung und der Physik als Wissenschaft unterschieden werden. 
Der Physiker ist natürlich nicht gehalten, aus den Formulierungen, welche 
er in seiner wissenschaftlichen oder praktischen Fälligkeit anwendet, eine 
Weltanschauung zu machen. Bekanntlich hat Newton aus seinen physikali¬ 
schen Ergebnissen keine weltanschaulichen Folgerungen gezogen; für viele 
Physiker ist die Physik lediglich eine Sammlung von Formeln, von (lleichun- 
gen, welche der Beherrschung der Wirklichkeit und der Lenkung der Tätig¬ 
keit dienen. Die Gleichungen der Physik hätten dann über die Feststellung 
von Handlungsmöglichkeiten hinaus keine weitere Bedeutung. Naturwissen¬ 
schaftliches Denken wäre so Instrument des Handelns und nicht Instrument 
des Erkennens. Für eine derartige Physik werden die Begriffe Kraft und 
Masse ebenso bedeutungslos, wie etwa das Zeit- und Raumerlebnis in den 
Ei n st ei n sehen Formeln nicht mehr zu finden ist. Die Physik ist zum 
härtesten Tatsachensinn zurückgekehrt, sie hat jeglichen Anschauungswert 
verloren. Ihre Atommodelle sind, wie jüngst nocli Bohr betont hat, nicht 
mehr mit den gewöhnlichen Mitteln der Anschaulichkeit zu fassen, Be 
merkenswert, daß auch in dieser Entwicklung die Rückkehr zu primitiven 
Erlebnisformen die Vorbedingung für das hochdifferenzierte Handeln zu sein 
scheint. 

Aber wird denn wirklich unser Handeln auch nur in wesentlichen Punkten 
durch die physikalische Erkenntnis bestimmt? Ist es nicht die hülle der 
Qualitäten, die wir wahrnehmen, die unser Tun, unser Handeln erwecken? 
Das Farbig-lebendige der Welt, all das, was reizt und lockt, das Sexual¬ 
objekt, wirkt nicht als physikalisch faßbarer Körper, sondern als qualitäten¬ 
reiches Objekt des Triebes. Man muß sich darüber klar sein, daß das in 
physikalischen Formeln Faßbare den unwesentlichen technisch-maschinellen 
Teil unseres Handelns darstellt, nicht aber zu den Problemen des leben¬ 
digen Strebens hinführt, welche durch die von Freud geschaffene Psycho¬ 
analyse durchleuchtet werden. Wir veranschlagen den Erkenntniswert der 
Physik also gering, ohne uns darüber zu täuschen, welche narzißtische Be 
friedigung physikalische Weltanschauungen geben können. Die Psychoanalyse 
erscheint also hier als ein Mittel, die Psychologie der Physik besser zu ver¬ 
stehen. 











12 3 


Zur Naturphilosophie 


VI 

Fügen wir zur Begründung unserer Annahme von dem geringen Erkenntnis- 
wert der Physik noch folgende Erwägung hinzu: wäre das gesamte Welt¬ 
geschehen in mathematisch-physikalische Gleichungen eingefangen, wäre im 
Sinne der Laplaceschen Intelligenz alles vorausherechenbar geworden, nie¬ 
mals könnte ein solches Wissen von der physikalischen Seite her das Belebte 
vom Unbelebten unterscheiden, niemals würde das Zeiterleben auftauchen, 
niemals die Farbe, ja so paradox es klingt, niemals das Erlebnis des Xastens, 
niemals, um es mit einem Worte zu sagen, das Psychische, niemals das 
fließende Zeiterleben; niemals das Ding in seinen Qualitäten; physikalische 
Betrachtungsweisen sind der Welt und ihren Qualitäten nicht gewachsen. 
Immer wieder kommen wir zu jener jenseits aller Physik stehenden Grund- 
formel zurück, daß sich ein Ich der Welt im Denken, Handeln und Fühlen 
zu wendet, einer Welt, welche sich in Objekten und Situationen entfaltet. 
Hier befindet sich die Analyse im Einklang mit der phänomenologischen 
Betrachtungsweise, welche ja gleichfalls die Beziehung Ich-Akt-Gegenstand 
in das Zentrum stellt. Sehr im Gegensatz zu jenen assoziationspsychologi¬ 
schen Anschauungen, welche das Handeln von Empfindungen abhängig 
machen. 


VII 

Die Physik kennt im Grunde keine Objekte. Sie verzichtet in ihrer 
heutigen Form auf die Annahme einer actio in distans. Sie kennt keine 
Fernwirkungen, sie kennt nur Feld Wirkungen. Aber darüber hinaus; weder 
Atome noch Elektrone können jemals Objekte des Handelns werden. Der 
Objektbegriff ist sinnlos ohne die Gegenüberstellung eines Subjektes oder 
von Subjekten, welche die Physik nicht kennen kann. Aber wir können 
auf die Gliederung der Welt nicht verzichten. Ich und Gegenstand stehen 
einander gegenüber. Wir können die Struktur des Gegenstandes nur be¬ 
greifen, wenn wir das Ich zu begreifen suchen, welches in den viel¬ 
fältigen Erlebnissen doch eine Persönlichkeit bleibt. Auch das Objekt ist 
nur sinnvoll, wenn es in der Fülle der Abschattungen immer wieder das 
eine bleibt. Wir könnten nicht handeln, wäre das Objekt sich nicht selber 
gleich, gälte nicht der logische Satz a = a. Wir wissen, daß der logische 
Satz a— a. niemals voll realisiert sein kann. Es gibt keinen Gegenstand, 
der sich im wirklichen Sinne selbst gleich wäre. Aber wir brauchen Ein- 










124 Paul Schilder 


beiten des Handelns, Wir könnten weder denken noch handeln, gingen 
wir nicht von der Voraussetzung der Einheit der Objekte aus, ihrer Selbst' 
gleichheit. Auch hier ist die Struktur des Ich und die der Objekte parallel* 
laufend, der Einheit in der Vielfältigkeit beim Subjekt entspricht die 
Einheit in der Vielfältigkeit beim Objekt, welche ihren strengen Ausdruck 
in dem Identitätssatze der Logik findet. Nur scheinbar ist die Geltung des 
Identitätssatzes in jenen Fällen archaischen Denkens Schizophrener und 
Primitiver gemindert, in denen etwa ein Mann nicht nur als er seihst, 
sondern auch als sein Vater und auch als Tier angesprochen wird. Gerade 
in derartigen Fällen wird eine einheitliche „Substanz* 1 gemeint, welche 
in verschiedenen Formen erscheint. Es handelt sich um Teilaniichten des- 
selben Gegenstandes. Freilich kann auch der lür den Beobachter gleiche 
Gegenstand bald als er selbst, bald als ein anderer erscheinen, doch handelt 
es sich dann für den Erlebenden um zwei Gegenstände, welche wiederum 
jeder sieh selber gleich sind. Das Objekt ist also spiegelbildlich die gleiche 
Einheit, wie das Subjekt, und die Psychoanalyse tut recht daran, wenn sie 
unter Objekten zunächst Liebesobjekte, beseelte Menschen meint. Auch hier 
reicht sie viel über die Enge physikalischer Betrachtungsweisen hinaus. 
Handeln wir denn nicht immer gegen beseelte Wesen? Ist es belanglos, daß 
das Kind und der Primitive in der Welt nur immer wieder wollende und 
handelnde Potenzen sieht? So scheint die Psychoanalyse imstande zai sein, 
zwar nicht — wie gelegentlich gemeint wurde — logische Sätze umzu* 
stoßen, wohl aber ihren psychologischen Gehalt erkennen zu lassen, 

VIII 

Der Psychoanalytiker wird sich immer wieder die Frage vorlegen, in¬ 
wieweit philosophisches Denken und ein Versuch der Klärung zentraler 
Fragen nicht narzißtische Selbstüberschätzung sei. Er wird auf diese Frage 
verwiesen vor allem durch die Tatsache, daß die weltumspannenden Theorien 
in der Schizophrenie so häufig, ja man wäre fast versucht zu sagen in der 
Regel, das Krankheitsbild beherrschen. Jede Zuwendung zu den großen 
Problemen entfernt uns und entfremdet uns von der Wirklichkeit des Tages. 
So fiele der Vorwurf der Abkehr vor der wahren Realität, von der Physik 
auf den physikalischen Laien -zurück, der diese Zeilen geschrieben bat. 
Man hüte sich jedoch zu meinen, daß ein Erkennen, dessen psychologische 
Triebfedern erkennbar werden, auf Geltungswert keinen Anspruch habe. 
Jede Erkenntnis muß uns auf psychologischem Wege zufließen. Wir können 








* 











» 







Zur Naturphilosophie 125 


nur triebhaft strebend erkennen. Und sollte denn die so mächtige Fülle 
der Regungen, welche wir unter dem Namen des Narzißmus zusammen¬ 
fassen, nicht berechtigt sein, ihren Platz im Ganzen des Denkens und 
Anerkennung ihrer Teilhedeutung zu verlangen? Aber sollte es nicht für das 
Erkennen wesentlich sein, daß es neben der qualitätslosen Einheit auch 
die Objekte in ihrer reicheren Entfaltung berücksichtigt? Eine mit Farben, 
Düften, Gerüchen, Tönen geschmückte Welt anzuerkennen, ist Anerkennung 
einer höheren Stufe der Triebentwicklung. Warum sollten wir in der Welt¬ 
anschauung auf das verzichten, was die Werte des Lebens ausmacht? Nur 
jene Weltanschauung kann Anspruch auf Geltung erheben, welche auf der 
Gesamtheit der architektonisch gegliederten Triebhaftigkeit beruht. 









Die menschlichen Einigungsbestrebungen 
im Lichte der Psychoanalyse 

(Von Kant zu Freud) 

Von 

Oskar Pfister 

Dr. phil., Pfarrer in Zürich 

I 

Der zeitgeschichtliche Ausgangspunkt 

Noch niemals in der Weltgeschichte kam der Wille zur Einigung in der 
politisch, sozial und religiös jämmerlich zerrissenen Menschheit so wuchtig 
zum Ausdruck, wie in der Gegenwart. Die durch den Weltkrieg miß* 
handelten Völker wollen sich nicht einfach sammeln, wie eine zersprengte 
Herde oder Flotte, sondern suchen neue Bande ersprießlicher Gemeinschaft, 
neue Grundlagen des Völkerrechtes und vor allem der Volkergerechtigkeit* 
Die historisch gewordenen organischen Zusammenhänge sollen von ihren 
Widersprüchen und Rückständigkeiten gereinigt und durch eine planmäßige 
Organisation des Menschheitslebens ausgebaut werden. Voran gingen (noch 
vor dem Weltkrieg) die protestantischen Kirchen, die mit der katholischen 
Christenheit zusammen eine religiös-ethische Grundlage dieser Menschheit!' 
einigung schaffen wollten. Die große Kirchenkonferenz von Stockholm im 
Sommer 1925 vertrat, da Rom seine Beteiligung ablehnte, mit den Ab¬ 
geordneten von über dreihundert Millionen Griechisch-Orthodoxen und 
Protestanten den weitaus größeren Teil der Christenheit. Die politischen 
Einigungsbestrebungen kristallisierten sich im Völkerbund und im Ständigen 
Internationalen Gerichtshof. 

Das Ideal einer höheren menschlichen Gemeinschaft leuchtet seit Jahr^ 
tausenden über unserem Geschlcchte, aber nur als lieblicher Sternenglanz. 









Die menschlichen Einxgungsbestrebungen im Lichte der Psychoanalyse 127 


Es strahlte aus der großen Seele Echnatons, es erfüllte die Prophetie eines 
Jesaja, es fand seinen tiefsten und erhabensten Ausdruck in Jesu Reich¬ 
gotteshoffnung. Augustinus in seiner „Civitas Dei“, Herder in seinen philo¬ 
sophischen Ideen zur Geschichte der Menschheit, Schleiermacher mit seinem 
Gedanken der „Annäherung an einen allgemeinen Staatenbund, der die 
gegenseitigen Verhältnisse der einzelnen Staaten ordnen sollte", 1 beschenken 
uns mit individuellen Ausgestaltungen jener Gemeinschaftsidee, die sich 
wie ein lebensstarkes Rhizom durch die Geschichte der Jahrhunderte zieht. 

Die ungeheuere Lebensnot der jüngsten Vergangenheit hat dem Wunsch' 
träum Wirklichkeit zu verleihen begonnen. Allein, werden die zarten 
Pflanzen, die in frostigen Früh] ahrstagen dein Erdreich anvertraut wurden, 
dem Eishauch des alten, bösen Geistes des Völkeregoismus widerstehen 
können ? Werden der Völkerbund und sein geistiges Gegenstück, die ethisch- 
religiösen Einheitsbestrebungen, die Kinderkrankheiten überwinden und zu 
jener titanischen Kraft heranwachsen, die der Machtgier und dem Grimm 
der Großmächte Ketten anlegt und die wilden Bestien gezähmt vor den 
Wagen des friedlich siegenden Rechtes spannt? 

Wir verzichten auf den Mantel des Propheten und nehmen uns nicht 
heraus, auf dem gefährlichen Luftschiff des Wunschdenkens in weite Zukunft 
vorauszufliegen. Dagegen halten wir es für angemessen, auf die Bedingungen 
hinzu weisen, die erfüllt sein müssen, damit dem Ideal der menschlichen 
Gemeinschaft im universellen Sinne die Verwirklichung erblühen könne. 
Und diese Überlegungen führen uns auf Sigmund breud. Vorerst aber 
wenden wir uns einem anderen Großen zu. 

II 

Immanuel Kant 

V on den großen Philosophen hat keiner so inbrünstig den Jakobskampf um 
die Einigung der Menschheit geführt, wie Kant, Deshalb stellen wir seine 
Gedankengänge voraus. In seinem kurzen Aufsatz „Idee zur allgemeinen 
Geschichte in weltbürgerlicher Absicht“ breitet er folgende Gedanken aus: 
Alle Naturanlagen eines Geschöpfes sind bestimmt, sich einmal vollständig 
und zweckmäßig auszuwickeln. Am Menschen sollten sich diejenigen Natur¬ 
anlagen, die auf den Gebrauch seiner Vernunft abgezielt sind, nur in der 

1 ) Schleiermacher: Ausgewählte Werke, Herausgegeben von Braxm und Bauer, 

Bd. in, 565 f. 









28 


Oskar Pfister 


Gattung, nicht aber im Individuum vollständig entwickeln. Dies geschieht 
lediglich durch menschliche Vernunft, die stell vom Instinkt frei halt, mit 
Hilfe des Antagonismus zwischen seinem Mang zur Geselligkeit und dem 
entgegengesetzten, sich zu vereinzelnen. Letzterer äußert sich darin, daß er 
alle bloß nach seinem Sinne richten will und daher Widerstand von ihnen 
erwartet; hieraus entspringen Ehrsucht, Herrschsucht und Habsucht. Die 
Kultur besteht eigentlich in dem gesellschaftlichen Wert des Menschen.. 
„Da werden alle Talente nach und nach entwickelt, der Geschmack ge¬ 
bildet und selbst durch fortgesetzte Aufklärung der Anfang zur Gründung 
einer Denkart gemacht, welche die grobe Naturunlage zur sitllichen Unter¬ 
scheidung mit der Zeit in bestimmte praktische Prinzipien und so eine 
pathologisch-abgedrungene Zusammen Stimmung zu einer Gesellschaft 
endlich in ein moralisches Ganze verwandeln kann.“ Und ein solches ist 
deshalb nötig, weil nur in ihm jener fruchtbare Streit zwischen geselligem 
und ungeselligem Streben allen Einzelnen bestmöglich gewahrt wird. Die 
Freiheit des Einzelnen muß dabei äußeren Gesetzen unterstellt werden, die 
eine vollkommen gerechte bürgerliche Verfassung zum Ausdruck bringen, 
„ln diesen Zustand des Zwanges einzutreten, zwingt den sonst für unge¬ 
bundene Freiheit so sehr eingenommenen Menschen die Not.“ Wilde Frei¬ 
heit wäre unerträglich. Wie die Bäume im Wald eben dadurch, daß sie 
einander Luft und Sonne zu nehmen suchen, 'einander nötigen, beides 
über sich zu suchen und dadurch einen schönen geraden W'uclts bekommen, 
so drängen die Menschen einander zu Kultur, Kunst und schönster gesell¬ 
schaftlicher Ordnung. 

Die Errichtung einer vollkommenen bürgerlichen Verhissung ist aber 
nur möglich bei einem gesetzmäßigen äußeren Staaten Verhältnis. Die Natur 
treibt durch die Kriege, ihre Vorbereitung durch Rüstungen und ihre quälen¬ 
den Folgen die Völker an, „aus dem gesetzlosen Zustand der Wilden hinaus¬ 
zugehen und in einen Völkerbund zu treten, wo jeder, aucli der kleinste 
Staat seine Sicherheit und Rechte nicht von eigener Macht, oder eigener 
rechtlicher Beurteilung, sondern allein von diesem großen Völkerbunde 
(Foedus Amphictyonum), von einer vereinigten Macht und von der Ent¬ 
scheidung nach Gesetzen der vereinigten Willen erwarten könnte . 

Ob man diese höhere Ordnung vom Zufall, vom spontanen Gang der 
Natur oder überhaupt nicht erwarte, hängt davon ab, ob es vernünftig sei, 
Zweckmäßigkeit der Natur in ihren Teilen, aber Zwecklosigkeit in ihrem 
Ganzen anzunehmen. So lange die Staaten alle ihre Kräfte auf ihre eiteln 
und gewaltsamen Erweiterungsabsichten verwunden und so die langsame 










Die menschlichen Eimgungsbestrebungen im Lichte der Psychoanalyse 12g 


Bemühung der inneren Bildung und Denkungsart ihrer Bürger unaufhör¬ 
lich hemmen, kommen wir nur zur Zivilisation* nicht aber zur Kultur; 
denn diese schließt Moralität ein. 

Die Geschichte der Menschengaltung kann als die Vollziehung eines 
verborgenen Planes der Natur angesehen werden* eine innerlich, daher 
auch äußerlich vollkommene Staatsverfassung zu erhalten, da sie nur In 
ihr alle Anlagen der Menschheit entwickeln kann. Diese Auffassung ist 
kein schwärmerischer Chiliasmus; sie wird durch sehr nüchterne Über¬ 
legungen gestützt. „Der Krieg wird selbst allmählich nicht allein ein im 
Ausgang von beiden Seiten so unsicheres, sondern auch durch die Nach¬ 
wehen* die der Staat in einer immer anwachsenden Schuldenlast (einer 
neuen Erfindung) fühlt* deren Tilgung unabsehbar wird, ein so bedenk¬ 
liches Unternehmen* dabei der Einfluß, den jede Staatserschütterung in 
unserem durch sein Gewerbe so sehr verketteten Weltteil auf alle Staaten 
tut, so merklich, daß sich diese, durch ihre eigene Gefahr gedrungen, ob¬ 
gleich ohne gesetzliches Ansehen* zu Schiedsrichtern anbieten und so alles 
von weitem zu einem künftigen großen Staatskörper anschicken, wovon die 
Vorwelt kein Beispiel aufzuzeigen hat . . .* und dieses gibt Hoffnung, daß 
nach manchen Revolutionen der Umbildung endlich das* was die Natur 
zur höchsten Absicht hat* ein allgemeiner weltbürgerlicher Zustand 
als der Schoß, worin alle ursprünglichen Anlagen der Menschengatt urig 
entwickelt werden, dereinst einmal zustande kommen werde.“ 

Am Schlüsse des geistvollen Aufsatzes betont Kant, daß er mit seiner 
Idee einer Weltgeschichte nicht etwa eine empirisch abgefaßte Historie ver¬ 
drängen wolle. Der Macht der Erfahrungstatsachen huldigt der Philosoph 
schon durch den wuchtigen Satz, der als geharnischter Flügelmann in der 
Front des Essays schreitet: „Was man sich auch in metaphysischer Absicht 
für einen Begriff von der Freiheit des Willens machen mag: so sind doch 
die Erscheinungen desselben, die menschlichen Handlungen, ebensowohl 
als jede andere Naturbegebenheit nach allgemeinen Naturgesetzen bestimmt.“ 

Dieser Satz möge den Ausgangspunkt unserer Kritik bilden. Wir ver¬ 
neigen uns vor dem Seherblick des großen Königsbergers. Ohne Zweifel 
ist er seinem Jahrhundert weit vorausgeeilt. Er verbindet philosophische 
und er fall rungswissenschaftliche Einsichten, Metaphysik und Ethik reichen 
einander die Hände zur Konzeption einer umfassenden Teleologie, Beiden 
zugleich entstammen die Sätze, daß alle Naturanlagen eines Geschöpfes 
sich zweckmäßig auswickeln sollen, und daß die Geschichte auf eine 
auch äußerlich vollkommene Staats Verfassung abgezweckt sei. Psychologie, 


Ima^oXlI. 


9 





! 3 o 


Oskar Pfister 


also eine erfahrungswissemr.haftliche Betrachtung, enthält die erwähnten 
Thesen: Die Natur will, daß der Mensch alles, was über die mechanische 
Anordnung seines tierischen Daseins geht, durch instinktfreie Vernunft selbst 
hervorbringe; dabei waltet der Antagonismus zwischen Extra- und Introversion 
(viele Analytiker wissen nicht, daß diese Unterscheidung schon in Kants Psycho- 
logie vorherrscht); durch fortgesetzte Aufklärung wird die Grundlage zu einer 
Erhebung des präkulturellen Denkens geschaffen; bevor wir zu einer morali¬ 
schen Struktur der Menschheit gelangt sind, leben wir in einem pathologi¬ 
schen Zustand. Das schöne Gleichnis von den Bäumen, die durch gegenseitige 
Hemmung das Aufwärtsstreben bewirken, schildert die Sublimierung. Erweite¬ 
rungspolitik ermöglicht nur Zivilisation, nicht aber Kultur. Auf Psychologie 
gestützt ist endlich auch das prophetische Urteil, die Völker werden durch 
die schlimmen Wirkungen des Krieges 2ur Bildung von Schiedsgerichten über¬ 
zugehen bewogen werden und einen Völkerbund schaffen. 

Die Kritik wird sich vor allem den psychologischen Ansichten Kants in 
den Weg stellen. Ist der Dualismus zwischen Instinkt und Vernunft haltbar, 
oder liegen in den Instinkten Säkularerinnerungen, die selbst Vernunft¬ 
tätigkeit einschließen? Kann Aufklärung im Sinne Kants, als Darbietung 
theoretischer Kenntnisse, jenen „pathologischen“ Zustand überwinden, der 
in der Völkerzerklüftung vorliegt? Waren nicht schon längst die Wirkungen 
des Krieges häufig so verheerend, daß die Vernunft zu Schiedsgerichten 
übergegangen wäre, wenn sie auf diesem Lebensgebiet den Ausschlag gäbe? 
Die schönsten Verträge, die großartigsten rechtlichen Einrichtungen, die 
herrlichsten Menschheitsideale werden erfahrungsgemäß in die Luft ge¬ 
wirbelt, wenn Fortuna nach einer anderen Bichtung lockt, oder wenn der 
Sturm der Völkerleidenschaft ausbricht, 1 

Kant läßt uns den Parnassus schauen; aber der von ihm zur Besteigung 
angegebene Pfad verliert sich in trügerische Schrofen und grifflose bels 
mauern, die nimmermehr zum Ziele fuhren, 

i) Spinoza sagt in seiner „Theologisch-politischen Abhandlung* - „Niemand 
schließt einen Vertrag und braucht denselben su halten, als in Hoffnung eines Gutes 
oder in Sorge eines Übels, Fällt diese Grundlage Fort, so fällt auch der V ertrag fort, 
wie die Erfahrung lehrt. Denn wenn auch mehrere Staaten Übereinkommen, einan er 
nicht zu verletzen, so suchen sie doch nach Möglichkeit das Anwachsen der Mut hl 
des anderen zu hindern und trauen den Worten nicht, wenn der Zweck und Nutzen 
des Vertrages für beide nicht klar ersichtlich äst . , * Nimmt man dabei auf brummig* 
keit und Religion Rücksicht, so sieht man iiberdem, daß kein Inhaber der Staats¬ 
gewalt zum Schaden des Staates das Versprechen halten darf, ohne ein Verbrechen 
zu begehen“ (Spinoza, Werke, II, a 17 [Kirchmann]), 












Die menschlichen Einigungsbestrebungen im Lichte der Psychoanalyse 151 

III 

Freuds Beiträge zur Psychologie der Zerklüftung 

Freud ist weder Metaphysiker, noch Ethiker, noch Prophet. Sein Reich 
sind die gegebenen Tatsachen und ihre wissenschaftliche Bearbeitung, so¬ 
weit sie zur Erfüllung seiner ärztlichen Aufgabe und zur Abklärung seiner 
empirischen Begriffswelt erforderlich ist. Mehr als Positivist will er als 
Psychoanalytiker und Gelehrter nicht sein. Wer ihm menschlich näher¬ 
treten durfte, weiß, daß ihm Kants Einigungsbestrebungen aus der Seele 
gesprochen sind. Daß er während des ganzen Weltkrieges in der von ihm 
herausgegebenen „Internationalen Zeitschrift für Psychoanalyse*' Angehörige 
der Zentralmächte und ihrer politischen Feinde als Redakteure und ständige 
Mitarbeiter zeichnen ließ, läßt tief in seine Denkweise schauen. Die von 
ihm vertretene wissenschaftliche Richtung bewahrte dank seiner Führung 
jene über allen Chauvinismus hoch erhabene Haltung, die allein dem 
Wesen wahrer Wissenschaft entspricht, und braucht sich nicht zu schämen, 
daß ihr wissenschaftliches Organ in dieser Hinsicht eine Ausnahmestellung 
innerhalb der Weltliteratur einnahm. Ganz im Geiste Kants klagt Freud über 
den Krieg: „Es will uns scheinen, als hätte noch niemals ein Ereignis 
soviel kostbares Gemeingut der Menschheit zerstört, so viele der klarsten 
Intelligenzen verwirrt, so gründlich das Hohe erniedrigt.“ 1 Der Sehnsucht 
nach Aufhören des Krieges gibt er beredten Ausdruck. Er erinnert daran, 
daß in jeder führenden Nation „hohe sittliche Normen für den Ein¬ 
zelnen aufgestellt worden waren, nach denen er seine Lebensführung ein¬ 
zurichten habe, wenn er an der Kulturgemeinschaft teilnehmen wollte“, 
daß aber die Kultur Staaten untereinander diese Normen nicht respektierten. 
Er bespricht die Enttäuschung über die Mißachtung des Völkerrechtes 
im großen Kriege, über die gesteigerte Verlogenheit und Machtgier, „die 
Lockerung aller sittlichen Beziehungen zwischen den Großindividuen der 
Menschheit“. 

Allein nun tritt Freud durchaus nur als Psychologe an das Problem 
des Krieges heran. Genauer könnte man sagen: Er legt das Fundament 
zu einer Psychopathologie der Sozietät. Ihm ist der Krieg Atavismus 
und Regression (Rückbildung). Dem unzulänglichen Rationalismus Kants, der 
alles Heil von der Aufklärung erwartet, stellt er den Voluntarismus entgegen, 


1) Freud: Zeitgemäßes über Krieg und Tod. Imago IV (1915), S. 1. (Gesammelte 
Schriften, Bd, X*) 


9 * 












1 3 2 


Oskar Pfister 


der den Intellekt nur als Instrument des Willens gelten läßt, so daß 
auch der Scharfsinnigste sich plötzlich einsichtslos wie ein Schwachsinniger 
benimmt, sobald die verlangte Einsicht hei ihm auf einen Gefuhlswider- , 
stand stößt. Die Großindividuen (Staaten und Völker) schieben Inter¬ 
essen vor, indem sie Krieg erklären; in Wirklichkeit gehen sie darauf aus, 
ihre Leidenschaften auszuwirken, ln jedem Einzelnen steckt ebenso wie 
im Menschen der Urzeit ein Stück Feindseligkeit oder sogar Mordlust, .las 
selbst in den innigsten Liebesbeziehungen nachwirkt. J 

Diese knappen Andeutungen enthalten Ideen, deren 1 ragweite noch 
nicht abzusehen ist. Die Psychoanalyse dringt in den Bereich des Groß- 
individuums ein. Erst damit wird eine biologische Psychologie der ver¬ 
schiedenen menschlichen Gemeinschaften (Völker, Klassen, Kirchen, wissen¬ 
schaftlichen Schulen usw.) möglich. 

IV 

Freud als Hygieniker der menschlichen Einigung s~ 

bestrebungen 

Die verdientesten Förderer der Menschheit wollen niemals Ziel sein. 
Sie führen über sich selbst hinaus. Sie entdecken wie Mose* ein gelobtes 
Land und blicken leuchtenden Auges hinein; aber wenn sie es auch nicht 
selbst betreten, so rechnen sie zu den preis würdigsten Entschädigungen für 
ausgestandene Mühsal die Gewißheit, daß andere jenes Kanaan einnehmen 

werden. • 

Auch für das erhabene Problem der Menschheitseinigung will Freud 

nur einen Anfang psychoanalytischer Untersuchung darstellen. Er steckt 
ein paar Wegpfähle auf; seinen Nachfolgern überläßt er es, den von ihm 
begonnenen Weg auszubauen. Dem Einzelnen ist kaum vergönnt, mehr als 
ein Stück dieser Völkerstraße zu verwirklichen. Vollends in der vorliegen¬ 
den Skizze sind nur ein paar dürftige Andeutungen möglich. 

Die Psychoanalyse, auf die Großindividuen angewandt, vermittelt uns 
in erster Linie eine tiefere Wesensschau in die [ atsai.hen menschlicher 
Zerklüftung und Gemeinschaft. Wir haben eine Soziologie, die sich mehr 
mit den materiellen Erscheinungen befaßt, aber allerdings auch die psycho¬ 
logischen Determinanten mitberücksichligt.' Was wir aber mindestens ebenso 


1) Siehe meine Schrift n I)er 
des Geldgeistes. w Bircher, Bern. 


seelische Aufbau des klassischen Kapitalismus und 














Die menschlichen Einigungsbestrebungen im Lichte der Psychoanalyse 155 


notwendig hätten, wäre eine Biologie des Zusammenlebens, eine Sozial¬ 
biologie und Kulturbiologie, wobei der Nachdruck auf die geistigen Ursäch¬ 
lichkeiten zu liegen kommen müßte. Ohne Tiefenpsychologie war ein 
solches Unternehmen undurchführbar. Freud hat freie Bahn gebrochen. 

Die Analyse verschafft uns den erforderlichen Einblick in die Struktur 
der menschlichen Zerwürfnisse und Spaltungen. Sie lehrt uns im 
Gegensatz zur Oberflächenpsychologie das Irrationale und Alogische 
dieser Prozesse verstehen und überwindet damit den seichten Rationalismus, 
an dem die bisherigen Versuche zerschellen mußten. Aber diese irrationalen 
und alogischen Machtfaktoren stellen sich nicht als etwas Magisches und 
Mirakulöses heraus, wie es naive theologische Supranaturalisten so gerne 
haben möchten, um ihren Wünschen ein wohlgehegtes Feld zu erschließen: 
vielmehr erkennt die Analyse, um es möglichst scharf zu formulieren, das 
Rationale im angeblich rein Irrationalen, das Irrationale im vermeintlich 
rein Rationalen. Die Verdrangungs- und Manifestationstheorie löst das Rätsel 
in einer wundervoll klaren und durchsichtigen Weise. 

Ebenso gewährt Freuds Forschung Einblicke in den Zwangscharakter 
so vieler menschlicher Spannungen, die sich der Einigung widersetzen. 
Das Wort „Zwang“ gilt dabei nicht im üblichen Sinne, nach welchem dem 
Subjekte eine unwidersteh liehe innere Macht gegenübersteht. Von solchen 
„Obsessionen“ unterscheide ich die „Insessionen“, die nach genau denselben 
Gesetzen zustande kommen, nur daß der Widerstand des Subjektes gänzlich 
überwunden ist, so daß der Schein der freien Willensentscheidung entsteht. 
Solche Insessionen, die die Menschen auseinanderreißen, wirken oft nach 
Art einer posthypnotischen Suggestion, in welcher der Fremdursprung der 
abgenötigten Handlung vergessen ist. 

Damit ist bereits der unterschwellige Re gierungsbezirk angedeutet, 
als dessen Vollzug die menschlichen Absperrungen und Feindseligkeiten sich 
für die tiefenbiologische Betrachtung ergeben. Um ihn wissenschaftlich 
erfassen zu können, muß eine kausale Untersuchung einsetzen, die wieder¬ 
um erst seit Freud möglich ist. 

Bei dieser entwicklungsgeschichtlichen Arbeit erkundigt sich der 
Analytiker nach den Wurzeln der menschlichen Zersplitterung und gelangt 
dabei zu einem ungeheuer verwickelten Netz. Als besonders wichtig findet 
er immer und immer wieder die Ödipus-Bindung, den Narzißmus, Sadis¬ 
mus und Masochismus, ferner eine Unmasse von sekundären Determinanten, 
wie Kastrationsdrohung und andere sexuelle Traumen, lieblose Behandlung, 
Kränkungen des Selbstgefühls hinsichtlich des körperlichen, geistigen oder 







1 54 


Oskar Pfister 


sozialen Wertes, Beeinträchtigungen des Strebens nach freien Ent w ick 
lungen usw. 

Eine analytisch belehrte Biologie der Groß Individuen hätte sodann die 
genetischen Prozesse mit ihren Kausalverhältnissen ausfindig zu 
machen. Sie müßte zu diesem Zwecke gleichzeitig geistes- und naturwissen¬ 
schaftlich orientiert sein. Sie hätte die Entwicklung der menschlichen 
Sozietätsformen aufzudecken, und da ihr an der Feststellung der Ursächlich¬ 
keiten besonders viel liegt, müßte sie den Gesetzen des menschlichen Zu¬ 
sammen- und Auseinandergehens sorgfältigste Aufmerksamkeit schenken. 
Außer den spezifischen allgemeinen Formen, die bei diesen Prozessen her¬ 
vortreten, müßte sie den im gesamten übrigen Geistesleben zutage treten¬ 
den Gesetzen nachgehen, der Verdrängung, Fixation, Introversion, lL-gression 
(der ontogenetischen und phylogenetischen) usw. Sie hätte sich zu befassen 
mit den Gesetzen der Symbolisation, der Affektverpflanzung, der Reaktions- 
bildung u. dgl. Sie hätte Umschau zu halten nach dem latenten Sinn der 
Zerklüftung, nach der Bekämpfung des Vaters und der Gleichsctzung mit 
ihm und unzähligen anderen konstanten Formen, in denen die mensch¬ 
liche Dissoziation sich vollzieht. 

Auf Grund dieser Wesensschau wird es erst möglich, die Heilung von 
Haß, Feindseligkeit, kalter Ablehnung, verständnisloser Einstellung unter 
den verschiedensten politischen, sozialen, religiösen und anderen Groß 
individuen planmäßig ins Auge zu fassen. Eine Sozialhygiene betritt den 
Plan. Es ist im höchsten Maße bemerkenswert, wie dilettantisch und naiv 
bis auf den heutigen Tag die Volkerbeziehungen behandelt wurden. Mit 
unvernünftigen, ja beinahe verbrecherischen Methoden betrieb man die 
Völkerlenkung, schleppte die Blüte der Männerwelt vor die Schlachtbank, 
vernichtete die kräftigsten Stützen des Volkswohles, unterband die wichtigsten 
Blutadern eines gesunden Menschheitslehens, also auch Gemeinschaftslebens 
und beging Verrat an den zentralen Interessen, indem man mit jämmer¬ 
lichem Krämergeist die oberflächlichen Kleinin toressen förderte. Iin lxben 
der Einzelnen gewährt man dem Arzt ein gewichtiges Wort: Der Sports¬ 
mann, der Fabrikdirektor, der Lohnarbeiter lassen sich von ihm beraten, 
wenn das Leben auf dem Spiele steht. Für die Beurteilung der großindivi¬ 
duellen Lebensinteressen aber fehlte der Arzt. Jeder Staats mann ließ sicli 
von seinen Kalkulationen leiten, und die völkerhygienischen Rücksichten 
blieben außer acht. Angesichts solchen Wahnsinns darf man sich über die 
Greuel des Weltkrieges und die Torheiten des sogenannten V\ eltfriedens 
nicht wundern. 













Die menschlichen Einigungsbestrebungen im Lichte der Psychoanalyse 155 


Freud zeigt uns die hygienischen Grundsätze der Völkergemeinschaft. 
Er lehrt uns die allein wirksame Behandlung jener dissoziativen Störungen 
des menschlichen Gemeinschaftslebens, die schon Kant als krankhaft er¬ 
kannte. Er lehrt uns, daß wir allen Ernstes auch die groß individuellen 
Neurosen, als welche wir Krieg, fanatischen Haß, Unterdrückung u. dgl. 
sehr oft (nicht immer) betrachten müssen, nach psychoanalytischen Prin¬ 
zipien behandeln müssen. Er hilft so zur Überwindung der pathogenen 
Tiefenmächte und zur Reintegration der Liebe. Was Aufklärung und über¬ 
lieferte Diplomatenkunst aus leicht verständlichen Gründen nicht erzielen 
konnten, das rückt nun dank der analytisch vertieften Sozialhygiene im 
weitesten Sinne in den Bereich des Ausführbaren. 

Und so entfacht Freud die zündende Fackel, die den erhabenen Geistern 
des Friedens und der Liehe ihren segensreichen Einzug in die Großindivi¬ 
duen der Menschheit erleichtern wird. 







Kann das Unbewußte erzogen werden? 

Vortrag, gehalten in der „Montessori Society' in London am ) I. Dezember I9-S 

Von 

M. D. Eder 

London 

An euch, ihr Lehrer, ergeht der Ruf, die Menschheit zu retten. Der ge¬ 
gliederte Teil der Menschen fühlt sielt gerade in der heutigen Zeit besonders 
elend und traurig und wendet sich, nachdem er sein Heil auf verschiedene 
Weise gesucht hat, an euch, in der Hoffnung, daß ihr einen Weg aus dem 
Sumpf finden werdet. Das erscheint auf den ersten Mick als eine vernünftige 
Hoffnung, denn selbst wenn ihr mit Le Play darin übereinstinnnt, daß mit 
jeder neuen Generation eine Horde von kleinen Wilden in die Welt einbricht, 
fallt ja euch Lehrern die Aufgabe zu, diese Wilden zu zivilisieren ; und da 
der Ruf nach mehr und immer mehr Erziehung allgemein ist, muß man 
wohl annehmen, daß wir recht zufrieden mit der Art sind, wie ihr eure 
Aufgabe erfüllt — nur würden wir wünschen, daß ihr eine noch höhere 
Stufe erreicht. 

„Was taugt ein Mensch ohne Unterweisung?“ fragt Mr. Hiob Hufi in «The 
Undying Fire“ von H. G. Wells. „Er wird geboren wie das Vieh, unersättliche 
Selbstsucht, Gier, die nicht locker läßt, ein Etwas, bestehend aus Gelüst und 
Angst. Er sieht alles nur in Beziehung zu sich selbst. Sogar seine Liebe ist 
ein Geschäft; und seine äußerste Anstrengung ist nichtig, denn er muß ja 
doch sterben. Und wir Lehrer allein sind es, die ihn aus dieser Selbst¬ 
befangenheit emporheben können — wir Lehrer. Und so entgeht er durch 
uns und nur durch uns dem Tode und der Nichtigkeit. Ein ungelehrtet 
Mensch ist ein vereinsamtes Wesen, so verlassen in seinem Zielen und seinem 
Schicksal wie nur irgendein Tier. Der unterrichtete Mensch aber ist dem engen 
Gefängnis seines Selbst entronnen zur Teilnahme an einem nichtsterblichen 










Kann das Unbewußte erzogen werden? 


157 


Leben, das begann, wir wissen nicht wann, und das sich ausbreitet bis über 
die Weite der Gestirne/' 

Aber da Erziehung doch nicht ausschließlich eine Errungenschaft des 
zwanzigsten Jahrhunderts ist, mag wohl die Frage am Platze sein; Gibt 
es eine Rechtfertigung und welche dafür, daß wir die Erfüllung so aus¬ 
schweifender Hoffnungen von der Erziehung erwarten. Dabei wollen wir 
für einen Augenblick annehmen, daß das vollendeteste System, das man sich 
nur wünschen kann, sagen wir das der Montessori, allgemeine Anwendung 
fände. 

Wenn der unterrichtete Mensch sich wirklich so unendlich hoch über 
das ausschließliche Interesse am eigenen Selbst empor heben würde, wenn 
er wirklich ein um so viel edleres, so viel lebendigeres Leben führt, dann 
brauchte ich keine Fragen zu stellen, keiner Angst für die Zukunft Ausdruck 
zu geben. Denn sicherlich besitzt auch die dümmste und unwissendste Person 
in diesem Raum, ich selbst, mehr Wissen, als der Wissendste des Altertums 
hatte, ebenso wie unsere Urenkel einen größeren Vorrat an Wissen haben 
werden, als irgendeiner von uns hier beanspruchen kann. Aber so angenehm 
und erfreulich es auch sein mag, über die wachsenden Quellen des Wissens 
nachzudenken, die heute überall sprudeln, obgleich ich mich rühmen kann, 
mehr zu wissen, als Platon wußte, so lehrten uns doch die Weltgeschichte 
und Weltliteratur, daß größeres Wissen nicht gleichbedeutend ist mit größerer 
Weisheit. Wir bleiben noch immer, wie Shaw sagt, die kecken, launenhaften 
Affen, die wir in der Dämmerzeit der Geschichte waren; betroffen sehen wir, 
wie bei den Helden und in den Heldenzeiten der Vergangenheit ebenso wie 
heute, Kämpfe, Zweifel, Streben nach einem besseren Zustand auf dieser Erde, 
nach Frieden unter den Menschen, nach dem Ende des Hasses und der Er- 
bittertheit ebenso zwischen den Individuen wie zwischen den Völkern hart 
neben Unterdrückung, Gier und Grausamkeit erscheinen, und zwar nicht 
nur in ein und derselben Geschichtsepoche, nicht nur in verschiedenen 
Lebensperioden desselben Individuums, sondern fast in ein und demselben 
Augenblick. Ja noch mehr, jene Anthropologen, die sich in den letzten Jahren 
der Erforschung der Psyche solcher Völker widmeten, die eine Kultur haben, 
aber eine von deT unsern verschiedene, eine Erziehung, aber kein solches 
System des Unterrichts, wie Hiob Huß es erträumt, finden die genauesten 
Parallelen zwischen den grundlegenden Ideen und Affekten der Wilden und 
unseren eigenen. Das Unbewußte ist überall gleich und ich glaube, wir 
können die Hypothese aufstellen, daß es gleich geblieben ist, seitdem die 
Menschen Menschen sind. 





M. D. Eder 


158 


Nur als Stütze unseres Gedächtnisses will ich im Umriß Freuds Ansicht 
über die Eigenart des Unbewußten wiedergeben: Das Unbewußte besteht 
aus Triebvertretungen, die Wunschimpulse sind. Im Unbewußten gibt es 
kein Nein, keine Unsicherheit; entgegengesetzte Wünsche existieren neben¬ 
einander, ohne einander auszulüschen; es herrscht die äußerste Beweglich¬ 
keit, so daß durch Verschiebung und Verdichtung eine Vorstellung voll¬ 
kommen verdeckt werden kann; das Unbewußte ist zeitlos, d. h. seine 
Prozesse unterliegen keinerlei Veränderungen durch 'die Zeit; die Prozesse 
des Unbewußten haben nichts mit der Wirklichkeit zu tun, sie sind dem 
Lustprinzip unterworfen, d. h. sie ersetzen äußere Wirklichkeit durch 

psychische. 

Ich habe bei meinem heutigen Vortrag diese Auffassung als gebilligt 
angenommen, da ich weiß, daß Ihre Vereinigung schon andere Vorträge 
über das Unbewußte angehört hat; es wäre zu lästig, wenn wir bei jeder 
Auseinandersetzung erst einen gemeinsamen Ausgangspunkt suchen müßten. 
Ich bemühe mich, von einem streng wissenschaftlichen Standpunkt aus zu 
sprechen, d. h. in die Kette von Geschehnissen kein äußeres Moment sich 
einschieben zu lassen. Es ist der Standpunkt, den der gewöhnliche Mensch 
im täglichen Leben einnimmt. Wenn Sie den Wasserhahn drehen und kein 
Wasser herauskommt, so werden Sie nach dem Installateur senden; Sie 
werden nicht bei Sekten Hilfe suchen und nicht so handeln, als glaubten 
Sie an die Einwirkung eines bösen Geistes. 

Nehmen wir als bewiesen an, daß das Unbewußte durch die ganze 
Menschheitsgeschichte unverändert blieb, wie können wir dann die Ver 
änderungen in den menschlichen Verhältnissen erklären, Veränderungen, 
die ich gerne als Fortschritt anschen will. Wir müssen auch daran denken, 
daß die meisten dieser bedeutsamen Wandlungen relativ jung sind; ist 
doch die wunderbarste aller Kulturänderungen, der Ackerbau, keine sieben¬ 
tausend Jahre, zählt also vielleicht weniger Generationen als dieser Raum 
Menschen. 

Vor allem ist die Annahme unrichtig, daß eine Moral — ich spreche 
vom menschlichen Standpunkt aus den 1 ieren unbekannt ist. Sonderbarer 
erscheint es, daß gewisse menschliche Charakterzüge, z. 11. Grausamkeit 
ohne Nutzen als Zweck, nicht zum Wesen der anderen Ii«it gt hören, 
während das, was uns als ein Beispiel von Liebe und Güte erscheint, sich 
durch das ganze Tierreich findet. Auf den großen Steppen von Südamerika 
war ich oft Zeuge folgender Szene: Dutzende von Geiern schweben über 
einem sterbenden Kalb, das die Mutter, bereit zu einem Verteidigungskampf, 













Kann das Unbewußte erzogen werden? 


159 


bewachte; sie verscheucht jeden Vogel, der scheinbar herankommen will; 
keiner wagt es, ihrem sterbenden Jungen zu nahe zu kommen. Damit Sie 
Ihre Sympathie bei diesem Beispiel von Elterninstinkt nicht iibermannt, 
will ich hinzufügen, daß sich die Geier in dem Moment, in dem das 
Kalb tot ist, auf die Leiche stürzen, während die Mutter ruhig wieder zu 
grasen beginnt. In Wahrheit ist das Verhalten der Kuh so vernünftig, wie 
es das einer menschlichen Mutter unter ähnlichen Umständen wäre; für 
die Betätigung des Mutterinstinktes besteht hier kein Anlaß, da die Geier 
nichts Lebendes anrühren; sie fressen nur Aas und tüten ihre Beute nicht. 

Die Kuh zeigt sich hier ebenso unvernünftig wie die Mutter aus Steier¬ 
mark, die ihr Kind vor den Gefahren des Zahnens dadurch schützt, daß 
sie einer lebendigen Maus den Kopf abbeißt und ihn an einem Seidenfaden 
um den Hals des Kindes hängt. 

Wenn wir nun die Antwort auf die Frage finden können, warum die 
Mütter in London diesen Brauch nicht üben, dann dürften wir auf dem 
Wege sein, auch die Frage zu beantworten, die den Titel dieses Vortrages 
bildet. 

Wir können ruhig annehmen, daß die steirischen Mütter mit ihren 
Schutzmitteln dieselben Resultate erzielt haben, wie andere ohne diese. 
Zweifellos hat sich das Zahnen des Kindes unter Begleitung des Maus- 
kopfes recht häufig ohne jede Schwierigkeit vollzogen, während das Kind 
in anderen Fällen, ungeachtet der Opferung der armen Maus, ziemlich 
viel zu leiden hatte. Ich erinnere mich noch aus der Zeit des Beginnes 
meiner medizinischen Laufbahn, daß der Arzt damals oft Einschnitte in 
das Zahnfleisch des Kindes machte. In Südamerika wieder wurde, wie ich 
erfuhr, das Zahnfleisch mit dem Manna eingerieben. Heute wissen alle, 
die beruflich mit zahnenden Kindern zu tun haben, daß keine große Gefahr 
damit verbunden ist und daß weder eine Maus noch das Zahnfleisch des 
Kindes dabei geopfert werden muß. 

Der lächerliche und vielleicht auch abstoßende Brauch in Steiermark 
hat aber doch eine Bedeutung. Eine vollständige Erklärung kann ich Ihnen 
nicht gehen, weil ich keine weiß; ich kenne die Geschichte dieses Ritus 
nicht und auf alle Fälle würde uns das zu weit von unserem Thema abführen. 
Aber zugrunde liegt, wie bei vielen ähnlichen Zeremonien, eine gewisse 
feindliche Einstellung gegen das Kind. Die steirische Mutter empfindet wie 
andere Mütter große Freude und großen Stolz darüber, ein Kind zu haben, 
es ist der Gegenstand unendlicher Liebe, Hingebung, Sorgfalt. Aber es ist 
auch eine Hemmung für die Befriedigung der egoistischen mütterlichen 





M. IL Eder 


| 


Neigungen; das Kind stört die Nachtruhe u. s. w. In anderen Gemeinschaften 
fanden solche feindliche Gefühle ihren Ausdruck in der Tötung des Kindes; in 
Steiermark in der Opferung einer Maus und in unserem duldsamen London 
vielleicht einfach in dem Ausruf der Hon ne: „Ho ! 1 der kuckuck das Kind! 

Wir entdecken also, daß das unbewußte Feindschaftsgefiihl gegen das 
Kind geblieben ist; nur seine Äußerungen sind einer unaufhörlichen Wandlung 
unterworfen — von der Tötung des Kindes bis zu einem Ausruf der Un¬ 
geduld;— alles vollzieht sich in den meisten Fällen unbewußt und findet 
unter Umständen keinen direkteren Ausdruck als den der Unzufriedenheit 
der Mutter mit der Art, wie die Bonne dem Kind das Häubchen aufgesetzt 
hat — also in einer Verschiebung des ursprünglichen Affektes. 

Man könnte die Frage aufwerfen, ob der Aß'ekt in unserem zivilisierten 
Gemeinschaftsleben eben so stark ist wie unter Wilden oder wie er bei 
den Menschen der Urzeit war. Ich bin außerstande, diese Frage zu beant¬ 
worten, denn wir haben unglücklicherweise keinen verläßlichen Maßstab 
für Gefühle. Aber meine Beobachtungen legen mir die Vermutung nahe, 
daß im ganzen die mütterlichen Gefühle, zärtliche wie feindliche, unter 
den Wilden ebenso ausgeprägt sind wie unter hochkultivierten Völkern. 
Tn einem Kannibalenstamm in Südamerika, bei dem ich mich eine Zeit¬ 
lang auf hielt, entsprach die liebevolle Hingabe dieser men sehen fressen den 
Mütter und Väter für ihre Kinder durchaus den Forderungen irgendeines 
englischen belehrenden Buches über Mutterschaft. 

Im übrigen können wir von der Frage der Stärke, die allerdings für das ein¬ 
zelne Individuum wie für jede besondere Rasse ungeheure Wichtigkeit besitzt, 
die nach der Art dieses Gefühls trennen, Nachdem ich die ursprüngliche 
Einheit dieser primitiven Impulse durch die ganze Geschichte vertreten 
habe, muß ich zunächst ihr weiteres Schicksal skizzieren, soweit mit den 
VVandlungen, denen sie unterworfen waren, die Erziehung etwas zu tun hat. 
Unter normalen Umständen bestellt der erzieherisch wichtigste Prozeß in 
dem Ersatz des ursprünglichen Objekts durch ein anderes, das dem sozialen 
Leben des Individuums besser angepaßt ist, ln vielen Millen ist die Umwand 
lung des Objekts begleitet von einer Einschränkung oder Aufhebung des 
ursprünglichen Zieles. Ist die Umwandlung in zufriedenstellender Weise 
durchgeführt, dann muß das ursprüngliche Ziel die Mihigkeit verlieren, 
den Impuls in Tätigkeit zu setzen. Auf solchen erfolgreichen Umwand¬ 
lungen beruht die Zivilisation; die Erziehung kann unmittelbar verhältnis¬ 
mäßig wenig dazu tun, die Wandlungen selbst hervorzubringen, aber sie 
kann sie auf verschiedenste Art beeinflussen. 











Kann das Unbewußte erzogen werden? 


141 


Die erste ist zwar negativ, aber von grundlegender Bedeutung für das 
Wachstum des Individuums. Sie hat zur Voraussetzung die Erkenntnis, daß 
die Erziehung zur Kultur bei der Geburt beginnt und daß die ersten sechs 
Lebensjahre ausschlaggebend sind; sie wird daher alle psychologischen 
Hemmungen für die geistige Entwicklung beseitigen und Bedingungen für 
die freie Entwicklung des Kindes zu sichern trachten. Solche Bedingungen 
anerkennt ja auch die Montessori-Gesellschaft als wünschenswert, wenn auch 
erst in einem späteren Stadium. 

Neue Erkenntnisse in der Psychologie des Unbewußten ermöglichen uns 
ein besseres Verständnis der Rolle, die der Lehrer bei diesem Prozeß spielen 
kann. Neben dem Ich, das aus triebhaften Wünschen besteht, wächst im 
Kinde ein anderes Ich, das sich zunächst nach jenen Menschen formt, die in 
unmittelbare gefühlsbetonte Berührung mit dem Kind kommen, im Normal- 
fall also nach den Eltern, ln diesem Identifizierungsprozeß nimmt das Kind 
die Eigenheiten des einen oder anderen Elternteiles an; unter gewöhnlichen 
Verhältnissen identifiziert sich der Knabe mit dem Vater, das Mädchen mit der 
Mutter. Es handelt sich dabei nicht, daran müssen wir festhalten, um eine 
bewußte Nachahmung, sondern um ein Streben, die erwachsene Person zu 
sein, ein Streben, von dem das Kind selbst nichts weiß. Diesem zweiten 
Ich, diesem Über-Ich, wie Freud es genannt hat, verdanken wir das 
Erwachen des Gewissens. Nun kann aber, wie ich schon gesagt habe, das 
Objekt eines instinktiven Impulses wechseln. Wenn das Kind in das schuh 
pflichtige Alter kommt, wird statt der Eltern der Lehrer zum Objekt der 
Identifizierungsbestrebungen. Solch eine Identifizierung kann vollständig oder 
nur teilweise stattfinden, aber von diesem Prozeß hauptsächlich wird der 
Erfolg des Lehrers abliängen, d. h. ob er seine Schüler instand setzen kann, 
ihre primitiven Impulse in Einklang mit der Kultur ihrer Generation zu 
bringen. 

Wenn meine Skizzierung der Methoden zur Zähmung der unbewußten Im¬ 
pulse richtig ist, so werden Sie wohl zu der Ansicht kommen, daß die Er¬ 
ziehung zwar die ganze schwere Aufgabe auf sich nehmen muß, jede Generation 
aus kleinen Wilden“ — vom Standpunkt des Erwachsenen aus, denn von 
psychologischen aus muß man sagen, daß das Kind amoralisch ist und nur 
zu bald ein Gewissen und sogar eine Supermoralitat entwickelt — zu 
Menschen mit den hohen ethischen Forderungen meiner Zuhörer zu machen, 
daß aber ihre Aussichten recht ungünstig sind. Tatsächlich gibt ein öster¬ 
reichischer Pädagog (Dr. Berufe!d) seinem letzten Buch über Erziehung den 
Titel „Sisyphos“, weil der Erziehungsprozeß für jede Generation von Anfang 










1 42 


M. D, Eder 


an wiederholt werden muß. Nun gut, wenn das der Pall ist, brauchen wir 
darüber nicht mehr Tränen zu vergießen als über die 1 atsache, daß jedes 
Individuum sein Leben als Parasit beginnt, daß es erst nach einer Reihe von 
mißglückten Versuchen aufrecht stehen lernt, daß es seine Milchziihne nur 
bekommt, um sie wieder zu verlieren, wenn die zweiten durchbrechen. Ohne 
den Satz vom Sünden fall zu unterschreiben, kann man doch an der Voraus- 
Setzung festhalten, daß vom Standpunkte der Erwachsenen aus die Nalur 
des Menschen böse ist oder doch ihre engen Grenzen hat und daß er seine 
bemerkenswerten Leistungen nur kraft heroischer Zucht vollbringen konnte; 
und jede Erziehung trägt diesen Charakter, 

Bevor ich mich mit anderen Möglichkeiten befasse, muß ich kurz die 
Verhältnisse ins Auge fassen, die die Möglichkeit einer Erziehung in mensch¬ 
lichen Angelegenheiten gebracht haben mögen. Die Instrumente, durch welche 
der Mensch instand gesetzt wurde, sein Wissen von Generation zu Gene¬ 
ration zu erweitern, sind die Sprache und ihre Tochter, die Schrift, Prof. 
Elliot Smith bemerkt : ? ,Im Augenblick, wo inan es mit menschlichen Wesen 
zu tun hatte, die dank der Erwerbung der Sprache einander Mitteilungen zu- 
kommen lassen und die Früchte ihrer Erkenntnis kommenden Generationen 
übermitteln können, hat sich ein neuer Zustand der Dinge herausgebildet, 
für den wir nirgends anders eine genaue Parallele finden/" Die in münd¬ 
licher und schriftlicher Tradition übermittelten Früchte der Erfahrung sind, 
wie Sie aus der Natur der Sachlage erkennen, nur von einem gewissen 
Alter an für das Kind verwertbar. Sie können keineswegs die Neigungen 
ändern, die es bei der Geburt auf die Weh mitbringt. 

Nun, da wir das Instrument kennen, gibt es irgendeine wissenschaftliche 
Erklärung dafür, wie es zur Kulturentwiekluiig kam? Soweit ich die Dinge 
überblicke, läßt es sich nicht bestreiten, daß die Menschheit insgesamt eine 
Tendenz zur Änderung zeigt (nennen wir es Fortschritt); dieselbe Erscheinung 
sehen wir auch täglich rings um uns im organischen Leben und die Physiker 
haben uns gelehrt, sie auch in der anorganischen Welt zu linden. 

Soweit es uns Menschen betrifft, können wir uns wohl vorstcllert, daß 
unter dem Druck des Daseinskampfes das Gebäude der Zivilisation durch 
Opfer in bezug auf die Art der Befriedigung primitiver Impulse errichtet 
wurde und daß er immer von neuem geschallen werden muß, denn der 
Reihe nach wird jedes einzelne Individuum, wenn es am Gemeinschahs¬ 
leben Anteil gewinnt, gezwungen, um des Gemeinwohles willen das Opfer 
seiner instinktiven Wünsche zu wiederholen. Diese Auffassung macht die 
Annahme von ererbten Dispositionen, und von der Übermittlung von er- 






Kann das Unbewußte erzogen werden? 


*43 


worben en Eigenschaften überflüssig* Das In ein an der wirken von Geistigem 
und Physischem, das hiehergehoren würde, ist ein zu weitläufiges Thema, 
um es hier zu berühren* Ich will nur betonen, daß „geistig w und „physisch“ 
nicht als Ausdrücke für verschiedene Wirkungskreise gebraucht werden 
dürfen. Es sind nur zwei verschiedene Arten, die „an sich“ nicht bekannten 
Vorgänge zu erfassen. 

Meine bisherige Antwort auf die Frage, ob irgendein Erziehungsprozeß 
eine Wandlung des innersten Wesens hervorbringen kann, war also so weit 
negativ, wurde aber modifiziert durch meinen Versuch zu zeigen, daß 
Änderungen in den Objekten und Zielen unserer primitiven Impulse erreicht 
werden können, um sie mit den Erfordernissen unserer Kultur besser in Ein¬ 
klang zu bringen* Das ist keine wirkliche Änderung, zeigt aber die äußeren 
Merkmale einer solchen* Der Unterschied ist nur, daß wir immer wachsam 
sein müssen. Es besteht für uns immer die Möglichkeit des Zurückgleitens 
— manche werden es wünschenswert nennen — in eine leichtere und 
weniger anstrengende Art von Gemeinschaftsleben, 

Gibt es irgendwelche Verhältnisse, die die Erziehungsaufgabe weniger 
schwierig machen könnten? Ein Resultat der Psychoanalyse, das man wohl 
nicht voraussehen konnte, ist der Nachweis, daß Neigungen, Charakterzüge, 
die bisher der Erbanlage zugeschrieben wurden, in W irklielikeit auf die 
Einwirkungen des Milieus zurückzuführen sind; genauer gesagt, daß die 
ersten Lebensjahre den Charakter und das Schicksal des Individuums be^ 
stimmen können; daß viele Züge, die man als ererbt ansah, in Wirklichkeit 
durch den psychologischen Prozeß der Identifikation erworben wurden. 
Damit soll natürlich die Erblichkeit nicht bestritten werden, aber wir sehen, 
daß die Bedeutung der Milieus stark unterschätzt wurde, sowohl von den 
Sozialreformern, die alles Gewicht auf die Naturanlage legten, als auch von 
denen, die die Ernährungsfunktionen als das einzig Wichtige erklärten. 

Im ganzen und großen können wir sagen, daß jedes Kind in Europa 
erzogen wird, um dem herrschenden religiösen, sozialen und ökonomischen 
Regime angepaßt zu werden* Es macht sehr wenig aus, ob man es mit 
den Kindern der Armen oder der Reichen zu tun hat, ob mit dem Sohn 
der Rebellen oder der Konservativen, des Prinzen, Aristokraten oder Bauern, 
Es ist ein Freihandelssystem, wo man auf dem Markt für den letzten Preis 
alle seine Güter verkaufen kann; Muskelkraft oder Frechheit, Bier oder 
Gehirn. Ich will nicht andere Systeme in Betracht ziehen, ich will nur ver¬ 
sichern, daß sie möglich wären und daß die Wirkung einer solchen Ver¬ 
änderung der Umwelt auf das Kind unermeßlich wäre, Einige unserer 








144 


M. I). Eder 


Schriftsteller, z. B. Morris in „News from Nowhere“ und Hudson in „The 
Crystal Age“ haben es gewagt, die möglichen Veränderungen auszumalen. 
Keine dieser Utopien braucht wahr zu sein; wahr aber ist, daß die psycho- 
logische Veränderung ungeheuer und die Sisyphusarbeit des Lebens vielleicht 
wesentlich leichter wäre. 

Wandlungen dieser Art hängen mit größeren und geringeren Verände¬ 
rungen in der Umgebung des Individuums zusammen. Vom sozialen 
Standpunkt aus beruht jede Verbesserung für Individuum und Gesellschaft 
auf der Erziehung, selbst wenn wir, als Hypothese, annehmen wollten, daß 
mit dem Verschwinden der Hindernisse, Verbote und Hemmungen, Wachs¬ 
tum und Anpassung leichter vor sich gingen. Letztere ergibt sicli im all¬ 
gemeinen aus der Möglichkeit, das Über-Ich und das Ich in besseren 
Einklang miteinander zu bringen und so die intra-psychischen Konflikte 
zu verringern. 

Wir müssen nun noch die Möglichkeit in Betracht ziehen, daß das Un¬ 
bewußte selbst sich ändert. lJie Grenzen meines Themas verbieten es mir 
glücklicherweise, mich lange bei Methoden aufzuhalten, die heute gleichsam 
in der Luft liegen, wie Zuchtwahl oder angewandte Eugenik. Ich will 
mich auf das psychologische Gebiet beschränken und untersuchen, ob die 
Änderungen, die sich unter dem Druck der äußeren Verhältnisse vollziehen, 
jemals eine so untrennbare Verbindung mit unserem geistigen Wesen ein 
gehen, daß sie zu einem festen Bestandteil unserer Psyche werden; und ob 
die Schwierigkeiten der Anpassung an einen vorgeschrittenen sozialen Zu¬ 
stand von innen überwunden werden, so wie der Säugling die Abhängigkeit 
von der Mutter dadurch überwindet, daß er Zähne bekommt, oder wie 
Hand, Auge und Mund des Kindes sich zu gegenseitiger Übereinstimmung 
entwickeln. 

Wenn wir einen Rückblick auf die wirre Menschheitsgeschichte werfen, 
so müssen wir, da uns nur dürftige Reste erhalten sind, einen großen 
Teil der frühen Geschichte uns von unserer Phantasie ausmalen lassen. 
Wir begreifen, daß gewisse Entdeckungen — und über die größten 
haben wir keine Nachrichten — den Gesichtskreis des Menschen von 
Grund aus verändert haben müssen. Zu den wichtigsten dieser Errungen 
schäften müssen wir den Ackerbau und die Zähmung der Tiere rechnen. 
Die Sprache, aus der ich die ganze Ileziehuugsmügliclikcit als etwas dem 
Menschen Eigentümliches herzuleiten wagte, stellt ein wesentliches Charak¬ 
teristikum dar und eine Gattung von Lebewesen, die diese Möglichkeit, 
sich untereinander zu verständigen, nicht besitzt, wäre, auch wenn sie in 















Kann das Unbewußte erzogen werden? 


145 


jeder anderen Hinsicht den Menschen gliche, ihnen nicht zuzurechnen. 
Ackerbau bedeutet, daß der Mensch, um sein Leben zu fristen, nicht länger 
auf das Sammeln der zufällig wachsenden Früchte oder Beeren angewiesen 
ist, sondern die Zauberkraft besitzt, aus einem vieles zu machen; es kann 
also von nun ab mit ein paar Samen, die den Hunger eines Menschen für 
ein paar Tage stillen würden, der Unterhalt eines ganzen Stammes be¬ 
schafft werden. Diese Tiere, die der Mensch in einer Zeit zähmte, aus der 
keine Nachrichten stammen, sind die einzigen, deren Zähmung ihm je 
gelungen ist. 

Diese grundlegenden Errungenschaften müssen, sollte man glauben, die 
aggressiven Impulse des Ich verändert und die ersten erfolgreichen Ver¬ 
suche zu einer höheren Organisation als der der Horde begründet haben. 

Wenn Sie mir nun gestatten wollen, meine Phantasie spielen zu lassen, 
so möchte ich nur für einen Moment die Möglichkeiten ausmalen, die sich 
infolge der Entdeckung des Unbewußten eröffnen. Ich beschäftige mich 
hier nicht mit den metaphysischen Spekulationen so vieler großer Philo¬ 
sophen von Spinoza bis E. v. Hartmann, sondern mit der genauen Kenntnis 
der Wirkung des Unbewußten in uns allen, die wir der Psychoanalyse 
verdanken. Ihr Resultat wird ganz verschieden sein von dem Wissen, welches 
über die äußere Welt gesammelt wird, gleichgültig ob von der Physik oder 
von der Physiologie, Wissenschaften die sich täglich leicht beherrschbare 
Vorstellungskreise unterwerfen. Diese Art der Psychologie handelt von den 
treibenden Kräften unseres geistigen Seins; sie entdeckt die geheimen 
Quellen unseres Strebens, unseres Tuns und unseres Versagens. Sie erforscht 
ein Geheimnis, dessen Enthüllung der Mensch tatsächlich mit all seinen 
Kräften zu verhüten trachtete. Wir finden, nicht daß wir alle Sünder sind, 
aber ganz genau, in welcher Art wir sündigen; wir finden, daß wir Zeit¬ 
genossen der nackten Wilden vergangener Jahrtausende sind. Wie bei so 
vielen schlimmen Nachrichten, die wir uns mitzuteilen fürchten, finden 
wir, daß wir diese Eröffnungen leichter ertragen können als wir dachten. 
Nun ist es, denke ich, offenbar, daß nur wenige Menschen — wenige der 
geistig kranken — die Psychoanalyse brauchen werden, um ganz zu gesunden; 
daß vielleicht nur wenige, die Wißbegierde und Mut in hohem Grad be¬ 
sitzen, sich entschließen werden, diese Wissenschaft gründlich zu studieren, 
auf die einzige Art, in der heute Wissenschaften studiert werden müssen, nicht 
aus Büchern, sondern im Laboratorium. Trotzdem bin ich so kühn zu glauben, 
daß das Verständnis des Unbewußten sich verbreiten und einen Teil des 
geistigen Rüstzeugs der Menschen überhaupt bilden wird. Das Unbewußte 


Imago XII. 


10 







Eder: Kann das Unbewußte erzogen werden? 


146 


ist zeitlos und ich will ihm folgen, indem ich für meine Prophezeiung 
keine zeitliche Grenze angebe. Wenn einmal einige der dynamischen hak- 
toren des Unbewußten, die der Hbidmösen Strömungen, des unbewußten 
Egoismus, des unbewußten Schuldgefühls — denn der Mensch verbirgt 
sonderbarerweise auch vieles von seiner Moral vor sich selbst nicht 

mehr eine Sache des erlernten Wissens, sondern des Wirklichkeitserfassens 
sind, dann wird, denke ich, das Unbewußte über die Erzichbarkeit hinaus¬ 
gewachsen sein, wenigstens teilweise, aber es wird dann von selbst in die 
Kanäle strömen, die die Männer und Frauen der Zukunft für die wünschens¬ 
wertesten halten. Durch Wissenschaft Meister der Außenwelt, Meister ihrer 
selbst, wenn in ihnen für die mächtigen Kräfte der Liebe das Verständnis 
erwacht ist, gewachsen dem Hasse auf seinen uns verkrüppelnden Wegen 
und seiner Schwester, der Angst, die bisher verkleidet sich einschleicht, 
dann wird des Sehers Gesicht sich erfüllen, wir werden unsere Schwerter 
in Pflugscharen verwandeln, ohne solch ein künstliches Gebilde wie es 
z. B. der Völkerbund ist, aber nie, ohne die Hilfe eines Werkes, wie es 
das Montessorische ist. 












Experimentelle Beiträge zur Dynamik und 

* * 

Ökonomie des Triebkonflikts 

(Biologische Parallelen zu Freuds Trieblehre) 

Von 

R. Brun 

Privatdozent an der Universität Zürich 

I 

Wenn wir versuchen wollten, das imposante Lebenswerk Sigm. Freuds 
vom Standpunkte des Biologen mit zwei Worten zu charakterisieren, so 
könnten wir wohl kaum eine zutreffendere Aussage darüber machen, als 
die, daß es von Anfang an von einer eminent biologischen Einstel¬ 
lung des Forschers getragen und befruchtet war. Zu einer Zeit, da die 
alte „Schulpsychologie“ die Psyche fast gänzlich in eine seelenlose Mechanik 
von Sinnes-„Erlebnissen“ aufgelöst hatte (indem sie fortgesetzt das Instru¬ 
ment der Seele — den cerebrospinalen Wabrnehmungs- und Reaktions¬ 
apparat — mit dieser selbst verwechselte), entdeckte Freud die primäre 
Triebbedingtheit alles seelischen Geschehens und schuf so die erste auch 
praktisch — am Krankenbett — brauchbare, weil von biologischen Gesichts¬ 
punkten getragene Psychologie. Trotzdem — oder besser, gerade weil diese 
neue Psychologie zunächst rein praktischen Zwecken — der Heilung seelen- 
kranker Menschen diente und daher fern von voreiliger Spekulation auf 
jahrzehntelanger mühevoller und streng induktiver Detailforschung auf¬ 
gebaut war, konnte Freud auf diesem sicheren Fundament schließlich 
jenes stolze, in sich geschlossene und, fast möchte man sagen, weltum¬ 
fassende wissenschaftliche Lehrgebäude errichten, das die Psychoanalyse in 
ihrer heutigen Gestalt dar stellt. 

Ein wesentliches Merkmal der psychoanalytischen Lehre wurde von 
jeher darin erblickt, daß sie, im Gegensatz zur alten Bewußtseinspsycho- 


IO* 






14^ 


R. Brun 


logie, in erster Linie eine Triebpsychologie sei. In der Tat kennzeichnet 
nichts so sehr die biologische Giundeinstellung Freuds, als die Tatsache, 
daß dieser tiefe Denker von seiner allgemeinen Neurosenlehre, die 
ja zunächst auf einer Unsumme rein klinischer Einzel eigcbnisse auf 
gebaut war, schließlich mit einer Folgerichtigkeit ohnegleichen zu einer 
allgemeinen Trieblehre gelangte. Damit war zum erstenmal der An¬ 
schluß der Psychologie an die allgemeine Biologie gewonnen und die 
Grundlage einer biologischen Psychologie geschaffen, 

Ihren Ausgangspunkt nahmen diese nietapsychologisehen (sive psycho- 
biologischen) Studien Freuds bekanntlich von der Einsicht, daß die Neurose 
letzten Endes auf einem Triebkonflikt beruhe, nämlich aul einer 
Kollision zwischen phylo- und ontogenetisch alten Urtrieben — wir wollen 
sie im folgenden biologisch unpräjudizierlich als „Primordialtriebe 
bezeichnen — und phylo- beziehungsweise ontogenetisch jüngeren, ent¬ 
fernten Abkömmlingen jener — die wir daher füglich als „Sekundär- 
triebe“ bezeichnen können. Die Symptome der Neurose erkannte 
Freud als die Äußerungen, Manifestationen dieses Triebkonflikts, und 
zwar letzten Endes als das Ergebnis eines mißlungenen Kompromisses 
zwischen den beiden miteinander in Konflikt geratenen, unvereinbaren 
(„inkompatiblen“) Triebansprüchen, 

Zu den Primordialtrieben rechne ich die primitiven Stufen des Selbst¬ 
erhaltungstriebes („Ich-Triebes“ von Freud) und die Sexualtriebe. Sie ver¬ 
treten die Augenblicks! nt er essen des Individuums, d* h sie sind im Prinzip 
stets auf sofortige Befriedigung in der Gegenwart gerichtet. (Bezüglich der 
Sexualtriebe mag diese Aussage auf den ersten Blick befremden, da doch der 
Sexualtrieb in engsten Zusammenhang mit der Fortpflanzung, also mit 
einer überindividuellen Funktion, nämlich mit der Erhaltung der Art bis in 
die fernste Zukunft, gebracht wird* Allein die wissenschaftliche Biologie kennt 
keine „ Zwecke“, — der Zweck begriff ist vielmehr eine reine Fiktion des 
menschlichen Denkens, und in der Tat lehrt schon eine flüchtige Untersuchung 
der verschiedenen sexuellen Partialtriebe, daß die Mehrzahl derselben keines¬ 
wegs die Fortpflanzung zum Ziel hat: Ihr unmittelbares Ziel ist vielmehr, 
wie Freud zuerst nachdrücklich hervorgehoben hat, kein anderes als die 
Lustbefriedigung an einer erogenen Zone). — Im Gegensatz zu den Primordial¬ 
trieben vertreten die Sekundär triebe die Zukunftsinteressen des Ich 
und der sozialen Gemeinschaft: Es handelt sich da um hochkomplexe 
Synthesen (Trieb Verschränkungen) zwischen Abkömmlingen der Ich- und der 
Sexualtriebe (unter mannigfachen sekundären Affekt- und Objektverschiebungen), 
die, phylo- und ontogenetisch jungen Datums, nur bei sozial organisierten 
Lebewesen Vorkommen und daher auch als „Sozialtriebe“ bezeichnet worden 
sind, Ihre Objektrepräsentanzen sind (beim Menschen) vorwiegend mnemische, 












Experimentelle Beiträge zur Dynamik und Ökonomie des Triebkonflikts 


149 


d* h. nicht —- oder nicht mehr — notwendig als sinnliche Erregungskomplexe 
gegeben: die kulturellen, sozialen, ethischen und religiösen Anforderungen des 
„Ich-Ideals“ von Freud. Ihre Gefühlsrepräsentanz im Kollisionsfalle mit den 
Primordialtrieben ist das Gewissen, daher v. Monakow (17) 1 das Gewissen 
meines Erachtens biologisch zutreffend, wenn auch wohl noch nicht erschöpfend 
definiert als eben die Instanz, die im KoUisionsfalle „die Interessen der Zu¬ 
kunft des Individuums und der Rasse“, also die Interessen der Sekundärtriebe 
vertrete. (Erschöpfend ist diese Definition meines Erachtens deshalb nicht, weil 
sie die Pathologie des Gewissens, wie wir sie beispielsweise bei der Zwangs¬ 
neurose beobachten, nicht berücksichtigt.) 

Für den der Neu ros e zugrunde Hegenden Triebkonflikt kommen seitens der 
Primordial tri ehe fast ausschließlich sexuelle Strebungen, vor allem solche, die 
der sogenannten prägenitalen Sexual Organisation von Freud angehören, in 
Betracht. Der Grund dieses Verhaltens, an dem bekanntlich die Gegner der 
Psychoanalyse immer wieder Anstoß nehmen, ist unschwer zu verstehen: Zu 
neurotischen Symptombil düngen kann es bekanntlich nur dann kommen, wenn 
die Repräsentanz der einen der beiden in Kollision geratenen Triebregungen 
verdrängt wurde. Der dem verdrängten Trieb zugehörige Energiebetrag muß 
dann entweder in anderer, inadäquater Form, z. B. in Form von Angst, seine 
Abfuhr erzwingen, oder sich an eine ihm ursprünglich fremde Objektreprä- 
sentanz heften {Verschiebungsersatz, respektive Konversion; — letzterer Fall 
tritt dann ein, wenn ein Kompromiß mit der verdrängenden Trieb in stanz 
zustande kam). Die Ansprüche der primitiven Selbsterhaltungstriebe verhalten 
sich nun aber gegen die Verdrängung schon wegen ihrer Dringlichkeit 
meist refraktär: sie sind lebensnotwendig und müssen daher stets in ab¬ 
sehbarer Zeit befriedigt werden. Aus dem gleichen Grunde sind sie aber auch 
einer Affektverschiebung oder einer Konversion auf die Dauer nicht zugängHch: 
man kann z. B. den Hunger mit dem besten Willen nicht symbolisch befrie¬ 
digen oder, wenn man in Lebensgefahr schwebt, sich hinsetzen und etwa als 
Ersatz für die unmögliche Rettung zu Mittag speisen! 

Es ist vielleicht nicht überflüssig, hier auch die biologischen Grund¬ 
lagen oder besser: Voraussetzungen des neurotischen Triebkonflikts 
noch ganz kurz zu erörtern. Ich bediene mich dabei der neutralen biologi¬ 
schen Terminologie von Semon (18) und verweise im übrigen auf eine meiner 
früheren Arbeiten (6), in welcher ich die betreffenden Verhältnisse ausführ¬ 
licher dargelegt habe. 

Der Laie denkt sich gewöhnlich, der Neugeborene sei gewissermaßen ein 
unbeschriebenes Blatt und stellt sich vor, daß dieses leere Blatt erst durch 
die nach und nach herbeiströmenden individuellen Erlebnisse allmählich be¬ 
schrieben werde. In Wirklichkeit sind jedoch irn Zentralnervensystem jedes 
Geschöpfes auch die Erfahrungen seiner Ahnen in Gestalt primärer Instinkt¬ 
oder Trieb disposltionen als fester, angeborener Erbbesitz medergelegt. Diese 


1) Die eingeklammerten Zahlen hinter den Autornamen beziehen sich auf die 
Nummern des Literaturverzeichnisses am Schlüsse dieser Arbeit* 


















R, Brun 


150 


hereditären Engrammkomplexe der Urinstinkte, wie Hunger, Durst, Schutz, 
Verteidigung, Sexualerregung usw* kommen v o r g ä 11 gi g jeder spezifischen 
Sinneserfahrung durch allgemeine Veränderungen der inneren energetischen 
Situation, in erster Linie durch innersekretorische (Hormon-) Reize zur Aus¬ 
lösung (Ekphorie). Die dergestalt aktivierte hereditär-mnemische (Instinkt-) 
Erregung bezeichnen wir als Trieb, sein subjektives Korrelat nach v. Monakow 
als UrgefühL Der Trieb ist also zunächst objektlos; doch setzt die 
betreffende hereditär-mnemische Erregung nun ihrerseits sofort den eerebro¬ 
spinal en Orientierungsapparat in Betrieb, cL h. der im Zustande der Trieb¬ 
erregung befindliche Organismus sucht nun erst in der Außenwelt Reiz¬ 
komplexe (Objektrepräsentanzen Freud) auf, die geeignet sind, den Trieb zu befrie¬ 
digen — ein Vorgang, den ich als „primäre Reizsuche w bezeichnet habe* Bei 
niederen Tieren, wie beispielsweise noch bei den meisten Insekten, ist in der 
Regel auch die Objektrepräsentanz des Triebes, das sogenannte Triebobjekt, 
noch im Erbgedächtnis als hereditärer Engrammkomplex vertreten — daher die 
Starrheit der meisten Instinkte dieser Organismen, ihre festgefügte Reaktions- 
Struktur. Indessen hat die neuere Forschung gezeigt, daß selbst schon bei den 
Insekten die Verknüpfung zwischen Trieb und Objekt keineswegs eine so feste 
ist, wie man sich dies früher vorstellte, und vollends trifft dies, wie Freud 
richtig betonte, für die höheren Tiere und gar für den Menschen zu, indem 
hier je nach Umständen die mannigfachsten AffektverSchiebungen be¬ 
ziehungsweise Übertragungen auf biologisch inadäquate Objekte experi¬ 
mentell erzielbar sind (cf, auch Hattingberg (1 6), 

War nun die Reizsuche erfolgreich, entspricht die in der Außenwelt 
angetroffene (äußere) energetische Situation der in der Erbmneme niedergelegten 
hereditär-mnemischen Situation (oder anders gesagt: entspricht der durch das 
Realobjekt erzeugte aktuelle Erregungskomplex dem hereditären Engramm- 
komplex der Urrepräsentanz des Triebes), so werden die betreffenden Sinnes- 
objekte sofort mit einer positiven, lustbetonten Gefühlsqualität ausgestattet; 
es entsteht ein heftiges, hinneigendes Begehren nach diesen für den Instinkt 
wertvollen Objekten* („Klisis“, v. Monakow); — im anderen Falle wird das 
Objekt von Anbeginn mit einem negativen Gefühlston qualifiziert, die 
Situation wird unlustbetont („Ekklisis“, v. Monakow)* Mit anderen Worten, die 
positive oder negative Gefühlszensur, die wir allen Objekten unserer Erfahrungs¬ 
welt beilegen, stammt ursprünglich nicht von außen, sondern liegt in unseren 
primären, hereditären Triebdispositionen begründet; sie hängt davon ab, ob die 
jeweilige äußere energetische Situation mit der jeweiligen hereditär-mnemischen 
Instinkterregung „homophon“ zusammenklingt odernicht, also vom Erregungs¬ 
differential zwischen der hereditär-mnemischen und der aktuellen 
(Sinnes-) Erregung* 

Alle dergestalt bereits in statu nascendi , d. h* schon bei der Engraphie 
(Reizaufnahme) mit bestimmten Gefühlswerten beladenen Erlebnis komplexe 
treten nun bei jeder Wiederkehr einer der früheren ähnlichen Situation ihrer¬ 
seits wieder in Homophonie, beziehungsweise Dysphonie mit der aktuellen 
energetischen Situation einerseits, der diesmal gerade vorherrschenden „Trieb- 










































Experimentelle Beiträge zur Dynamik und Ökonomie des Trieb Konflikts 151 


läge“ (also der aktuellen inneren energetischen Situation) anderseits* und 
erzeugen so sekundäre, psychische, d. h. bereits mit einer Erfahrungs- 
komponente ausgestattete Gefühle* die ich — im Gegensatz zu den Urgefühlen — 
als Affekte bezeichne. Affekte sind somit Gefühle* die schon an eine 
Objektrepräsentanz gebunden sind. Wird ein Affekt nicht durch eine 
originäre Sinneserregung* sondern als rein mnemische Erregung ausgelöst, so 
bezeichne ich ihn als Emotion. 

Auf diese Weise wird allmählich der gesamte Erfahrungsschatz in Form 
von immer höheren Gefühlsintegrationen affektiv gegliedert und nach den 
Interessen der angeborenen Trieb dispositionen gesichtet. Und zwar ergibt sich 
aus dem oben Gesagten, daß diese affektive Gliederung unseres Erlebens keines¬ 
wegs eine zufällige ist, sondern in einer durch das Erbgedächtnis weit¬ 
gehend vorher bestimmten Richtung erfolgt, indem, wie wir sahen, die 
Art, wie wir primär von den Dingen affiziert werden, letzten Endes von den 
Triebdispositionen, die wir als Erbgut mit auf die Welt bringen, also von 
unserer angeborenen Triebkonstitution ab hängt. So bleibt beispielsweise 
der Frosch von einem Flintenschuß vollkommen unbewegt, da dieses Ereignis 
nicht in „seinen biologischen Bereich“ Fällt, in seiner Triebkonstitution nicht 
vorgesehen ist, während er auf das leise Quaken des Weibchens sofort sehr 
lebhaft reagiert, sofern er dasselbe während der Brunstzeit wahrnimmt. Dieses 
Geräusch bedeutet eben für seine Instinkte einen biologisch sehr wichtigen Reizl 

Wir sehen also, daß die Instinkte fortgesetzt eine weitgehende elektive 
Wirkung auf die Welt der Erfahrung — und letzten Endes sogar auf 
die Erkenntnis — ausüben: diejenigen Erlebnisse, die in der Richtung unserer 
angeborenen Trieb dispositionell liegen, deren Verwirklichung ermöglichen, werden 
von der Reizsuche gegenüber den negativen oder indifferenten nach, dem 
Lustprinzip (Freud) bevorzugt und, indem sich die Orientierung mehr oder 
weniger einseitig ihnen zu wendet, immer wieder von neuem aufgesucht und 
weiter ausgebaut- 

Nach dem Gesagten läßt sich nun leicht ermessen, daß und warum wesentliche 
Anomalien der angeborenen Triebkonstitution (die den Kern dessen 
bilden, was wir als „erbliche Dispositionen zur Neurose bezeichnen), für das 
spätere Schicksal der damit Behafteten unter Umständen von weittragender 
Bedeutung werden können. Solche Anomalien können beispielsweise darin 
bestehen, daß einzelne Komponenten der Triebkonstitution, einzelne Partial¬ 
triebe, wie wir mit Freud sagen, primär in abnormer Stärke angelegt sind. 
Und zwar wird diese konstitutionelle Verstärkung, nach einem für die Ver¬ 
erbung derartiger Konstitutions an o in allen allgemein gültigen Gesetz, in erster Linie 
die onto- und phylogenetisch alten, atavistischen, d, h. einer früheren Periode 
der Menschheitsentwicklung angehörigen Urtriebe betreffen — also vor allem 
die frühinfantilen Parti altriebe. Physiologisch wird sich die konstitutionelle 
Verstärkung eines solchen Partialtriebes als gesteigerte Erregbarkeit der 
betreffenden erogencn Zone äußern. Die nächste Folge einer solchen 
primär gesteigerten Erregbarkeit einer bestimmten erogenen Zone wird dann 
die sein, daß das Kind die von dieser Zone ausgehenden Lustreize bei der 









1 5 2 


R, Brun 


Reizsuche vor allen anderen bevorzugen* sie von vornherein mit einer beson¬ 
ders starken Gefühlsvalenz ausstatten wird. Infolge dieser primären Über¬ 
wertung werden sich dann entsprechend intensive* abnorm fest in urtüm¬ 
lichen Gefühlen des Kindes verankerte psychische Fixierungen an den betreffenden 
Partialtrieb ausbilden -— Affekt fixierungen, von denen dann das Kind 
später nur sehr schwer wieder loskommen kann* an denen es, auf Kosten des 
späteren kulturellen Neuerwerbes der Sekundär tri ehe, mit zäher Energie fest- 
halten wird, weit über die Entwicklungsphase hinaus, in der die betreffenden 
Partialtriebe ihre „berechtigte“ und natürliche (physiologische) Rolle zu spielen 
berufen sind. Infolge dieser Fixierungen wird es dann auch bei jeder späteren 
Versagung, sei sie äußerer oder innerer Natur (d. h. durch Objektverlust 
oder durch Gegenstrebungen der Sekundärtriebe bedingt) die Neigung haben, 
wieder zu den betreffenden Fixierungspunkten zurückzukehren (Regression). 

Damit es aber zu solchen dauernden Fixierungen der Libido an früh- 
infantile Triebregungen kommen kann, sind in der Regel noch entsprechende 
individuelle Erlebnisse notwendig, welche die schlummernde Disposition 
wecken, dieselbe gleichsam mit einem positiven Inhalt, d. h. mit entsprechenden 
Objektrepräsentanzen erfüllen, und so die Libido des Kindes immer mehr in 
die betreffende Richtung hineindrängen. Je intensiver aber die angeborene Ver¬ 
stärkung der Triebkonstitution ist, um so geringfügiger und seltener brauchen 
die betreffenden Erlebnisse zu sein, um entsprechende Fixierungen zu erzeugen, 
und umgekehrt. Denn die traumatische Wirkung eines Erlebnisses ist ja, wie 
wir gesehen haben, nur ein Spezialfall der affektiven Elektion, welche die 
angeborene Triebkonstitution fortgesetzt auf die Welt der Erfahrungen ausübt. 
Mit anderen Worten: Die angeborene und die erworbene Disposition zur 
Neurose bilden, wie Freud treffend sagt, eine sogenannte „Ergänzungs- 
reihe' : Denjenigen Individuen, welche die betreffenden „Traumen“, die ja 
jedes Kind irgend einmal erlebt, schadlos ertrugen, fehlte eben das primäre 
Entgegenkommen der angeborenen Trieb konstitution. So erleben wir im Grunde 
nur das wirklich, was unsere Triebkonstitution erleben will. 

Im Verlaufe seiner Untersuchungen über das Wesen, die Entstehungs- 
bedingungen, den Ablauf und die entfernten Folgen des neurotischen Trieb¬ 
konfliktes führte nun Freud (11—14) zwei weitere biologische Gesichts¬ 
punkte in die Betrachtung psychischer Vorgänge ein, die sich in der Folge 
als äußerst fruchtbar und für den weiteren Ausbau einer biologisch begründeten 
Trieblehre von der größten prinzipiellen Bedeutung erwiesen: den dyna¬ 
mischen und ökonomischen Gesichtspunkt. (Ein dritter Gesichtspunkt, 
der topische, fällt für die Biologie außer Betracht, weil er speziell die 
Frage der menschlichen introspektiven Psychologie betrifft, innerhalb 
welcher psychischen Systeme: Uhw, Vbw y Bw ein Vorgang sich abspielt.) 
Der dynamische Gesichtspunkt läuft im Grunde auf nichts geringeres 
als auf ein psychisches Energiegesetz hinaus: er besagt nämlich im 














Experimentelle Beiträge zur Dynamik und Ökonomie des Triebkonflikts 153 


wesentlichen, daß, wenn eine bestimmte Triebregung infolge ihrer Unver¬ 
einbarkeit mit den Anforderungen der Sekundärtriebe eine Verdrängung 
ihrer Repräsentanz erleidet, der ihr zukommende Energie- (Libido-) 
betrag in unvermindertem Umfang erhalten bleibt, daß, mit anderen 
Worten, die einer Triebregung zugehörige Erregungsgröße durch die 
äußeren Schicksale ihrer Repräsentanz nicht berührt wird, sondern unter 
allen Umständen konstant bleibt: Sie wird, da ihr der Weg zur ursprüng¬ 
lichen Repräsentanz gesperrt ist, sich entweder momentan in ein qualitativ 
anders beschaffenes Urgefühl — am häufigsten in Angst — umsetzen müssen 
und dann in dieser Form zur direkten Abfuhr gelangen (in diesem Falle 
ist die Angst objektlos oder „frei flottierend“), oder sie wird sich, falls ihr 
Anspruch weniger dringlich ist, an ein anderes Objekt binden können, 
das nunmehr zu ihrer sekundären Repräsentanz wird (Verschiebungsersatz): 
immer aber wird ihre absolute Erregungsgröße quantitativ voll erhalten 
bleiben. (Eine quantitative Änderung der Libido kann nur auf physio- 
logischem, hormonalem Weg erfolgen), *— Demgegenüber verfolgt der öko¬ 
nomische Gesichtspunkt „die speziellen Schicksale der Erregungs¬ 
größen der verdrängten Triebregungen“, oder, kurz gesagt: die „Trieb¬ 
schi cksale tk in der Verdrängung, 

II 

Falls nun die soeben in gedrängter Kürze skizzierten Anschauungen Freuds 
über Wesen, Dynamik und Ökonomie des neurotischen Triebkonfliktes 
richtig sind, d, h, wenn sie mehr als geistreiche „metapsychologisch 
Spekulationen bedeuten, so müßten sie sich, theoretisch gesprochen, auch 
in allen sonstigen Fällen, wo immer wir in der Biologie einen Triebkonflikt 
beobachten, bestätigen — gleichgültig, ob es sich nun um menschliche Wesen 
oder um Tiere handle, selbst um solche Tiere, deren physische und psy¬ 
chische Organisation von der unsrigen in so hohem Maße abweicht, wie 
dies beispielsweise bei den Insekten der Fall ist. Denn diese Gesichtspunkte, 
wenn auch Freud sie zunächst nur auf die Verhältnisse hei der Neurose 
angewandt hat, betreffen so allgemeine und grundlegende Probleme des 
Trieblebens überhaupt, daß sie nicht wohl nur für die menschliche Trieb- 
Psychologie Geltung haben könnten, sondern im Falle ihrer Richtigkeit 
Anspruch auf biologische Allgemeingültigkeit erheben dürften. 
Es wäre daher ungemein reizvoll, wenn wir in der Lage wären, diese 
Gesichtspunkte an einem biologischen Material im engeren Sinne, d. h, 
in der Tierpsychologie — und womöglich experimentell! — nachzu- 















^54 


R. Brun 


prüfen. Einer solchen Möglichkeit scheint aber zunächst der Umstand im 
Wege zu stehen, daß Neurosen, an welchen ja die Gesetze des Triebkon¬ 
fliktes bisher fast ausschließlich studiert wurden, bei Tieren nicht Vor¬ 
kommen, oder, wo etwas Ähnliches vorzuliegen scheint, die betreffenden 
Manifestationen derart undurchsichtig sind, daß die bloße objektive Beob¬ 
achtung des Verhaltens hier zu nichts führen kann. Der Grund liegt 
offenbar darin, daß die Verdrängung, die ja die notwendige Voraussetzung 
der neurotischen Symptombildung ist, beim Tier nicht nachweisbar ist. Allein 
bei näherer Überlegung fällt diese Schwierigkeit einer biologischen Nach¬ 
prüfung der psychoanalytischen Trieblehre so ziemlich, wenn auch nicht 
restlos, dahin, indem wir uns nämlich sagen dürfen, daß ja die Neurose 
nur ein (pathologischer) Spezialfall der verschiedenen möglichen Ausgänge 
eines Triebkonfliktes ist; die triebbiologischen Gesichtspunkte Freuds sind 
aber so allgemeiner Natur, daß sie, wie eben betont wurde, nicht nur den 
neurotischen Triebkonflikt umfassen, sondern jeden möglichen Trieb' 
konflikt überhaupt. Wenn schon wir somit bei Tieren allerdings keine 
Neurosen sehen, so können wir doch auch bei ihnen gelegentlich schon 
spontane Triebkonflikte beobachten; ja, gerade bei verhältnismäßig niederen 
Tieren, wie Insekten, haben wir es sogar jederzeit in der Hand, Trieb¬ 
konflikte direkt experimentell herbeizuführen und ihre Folgen 
auf Grund der beobachteten Änderungen des Verhaltens ( n Behavior u ) aufs 
genaueste zu analysieren. Ich selbst habe mich seit Jahren insbesondere 
mit der experimentellen Erforschung der Psychoblologie der Ameisen 
befaßt, deren Methodik ja in der Hauptsache geradezu darauf beruht, die 
normalen Instinkte der Tiere in Konfliktsituationen zu bringen, um so das 
Maximum an Plastizität (Anpassungsfähigkeit), deren sie allenfalls fähig 
sind, aus ihnen herauszuholen. Es braucht auch kaum gesagt zu werden, daß 
die Ameisen für unsere Zwecke besonders günstige Versuchs- beziehungs¬ 
weise Vergleichsobjekte sind, weil sie als soziale Tiere besonders mannig¬ 
faltige und hochentwickelte Instinkte besitzen, Instinkte, die zudem zahl¬ 
reiche Analogien mit den Verhältnissen des menschlichen Trieblebens 
erkennen lassen* Insbesondere ist es hier ein leichtes, auf experimentellem 
Wege Kollisionen zwischen den Selbsterhaltungs- und den Sozialtrieben, 
sowie zwischen verschiedenen phylogenetischen Stufen der letzteren unter 
sich, zu erzeugen. Die Beweiskraft der Beobachtungen, die ich im folgen¬ 
den — neben anderen biologischen uns physiologischen Parallelen - in 
erster Linie heranzielien werde, wird jedenfalls dadurch nicht gemindert, 
da ich zur Zeit ihrer Ausführung (1907—1915) ihre Tragweite für die Auf- 









































Experimentelle Beiträge zur Dynamik und Ökonomie des Triebkonflikts 155 


klärung allgemeiner biologischer Gesetzmäßigkeiten des Trieblebens noch 
nicht erkannte, dieselben vielmehr lediglich zum Zwecke der Erforschung 
gewisser spezieller Verhältnisse der Ameisenbiologie vorn ahm, und daß mir 
damals die Psychoanalyse noch so gut wie unbekannt war. 

* 

Doch lassen wir nun die Tatsachen sprechen und fragen wir uns zu¬ 
nächst : 

d) Welche Triebe bleiben im Kollisionsfalle im allgemeinen 
manifest, siegreich; nnd welche werden rezessiv, „verdrängt“? — 
Darüber geben folgende Beispiele Auskunft: 

1) Kollision zwischen Freßtrieb und sozialem Kampftrieb (also 
zwischen einer primitiven Stufe des Selbsterhaltungstriebes und einer primitiven 
Stufe der sozialen Triebreihe): Forel (9) versuchte einmal, eine spontan zwischen 
zwei Staaten der Waldameise (Farmica, rufa) entbrannte Schlacht dadurch zu 
unterbrechen, daß er den vom West auf den Kampfplatz eilenden Hilfstr uppen 
der einen Partei große Tropfen Honig auf ihren Weg träufelte. Die Ameisen sind 
bekanntlich ungemein auf Honig erpicht. In diesem Falle aber hielten sich die 
meisten Ameisen, die unterwegs auf die Süßigkeit stießen, überhaupt nicht, 
oder kaum einige Sekunden beim Honig auf, indem sie höchstens flüchtig daran 
nippten, um dann sogleich weiter zu eilen und sich in das Kampfgetümmel 
zu stürzen! — Der Nahrungstrieb der Tierchen wurde somit durch den für 
die Zukunft des Gemeinwesens momentan wichtigeren sozialen 
Trieb fast vollständig unterdrückt. 

2) Kollision zwischen Kampftrieb und Brutpflegetrieb, also zwischen 
einer primitiveren, phylogenetisch älteren und einer phylogenetisch jüngeren 
Äußerungsform der sozialen Instinkte: Ich (2—5) und mein Bruder Edgar Brun (1) 
konnten in zahlreichen Experimenten immer wieder übereinstimmend folgendes 
feststellen: Wenn man neben einem Nest von j Formica rufa einen Sack voll 
Ameisen der gleichen Art, aber fremder Staatsangehörigkeit, ausleert, so ent¬ 
brennt sofort ein erbitterter Kampf, der in der Regel mit der völligen Ver¬ 
nichtung der einen Partei endet. Gibt man aber den Neuankömmlingen eine 
reichliche „Mitgift“ an Brut (Larven oder Puppen) mit, so ist der Kampf 
von vornherein schwächer und endet schließlich in der Mehrzahl der Fälle — 
oft schon nach fünfzehn bis dreißig Minuten — mit einer Allianz zwischen 
den beiden Parteien, da die meisten Ameisen, anstatt zu kämpfen, sich eifrig 
damit beschäftigen, die Brut in Sicherheit zu bringen. Ausnahmslos wird 
dieser günstige Ausgang dann beobachtet, wenn beide Parteien in Säcken an 
einen dritten Ort transportiert und daselbst nebeneinander ausgeleert werden, — 
ja, wenn die beiden Stämme zusammen in den gleichen Sack gesteckt wurden, 
so kann man (unter den obigen Bedingungen, d. h, bei Anwesenheit zahlreicher 
Brut) sogar ohne weiteres Allianzen zwischen verschiedenen Arten erzeugen, 
die sich sonst in der Natur stets mit tödlichem Haß bekämpfen! 














156 


R. Brun 


Wir ersehen aus diesen Beispielen, die sich beliebig vermehren ließen, 
daß in solchen Kollisionsfällen zunächst nichts von einem Kompromiß 
zwischen den beiden inkompatiblen Trieben zu bemerken ist, daß viel¬ 
mehr der eine der beiden miteinander in Konflikt geratenen 
Triebe den anderen restlos zu unterdrücken (zu hemmen) scheint, 
und zwar scheint in der Regel der phylo- und onlogenetisch ältere 
(Primordial-) Trieb gegenüber dem phylogenetisch jüngeren, 
die Zukunftsinteressen der Art, beziehungsweise der sozialen 
Gemeinschaft vertretenden Sekundärtrieb zu unterliegen. Wir 
können diese Regel geradezu als das „Gesetz des Primats der phylo¬ 
genetisch jüngeren Triebe“ bezeichnen, da sie sich ganz allgemein, 
d* h. durchwegs in der Biologie, zu bestätigen scheint: 

So berichtet Greppin (15), daß hei den sonst so scheuen Vögeln der 
Sicherungs trieb, also eine Funktion des primitiven Selbsterhaltungstriebes, 
während der Brunst und ganz besonders während der Bebrütungszeit regelmäßig 
eine beträchtliche Abschwächung erleidet. Genau das nämliche beobachten wir 
auch bei den Säugetieren, bis zum Menschen hinauf, wo ja ebenfalls häufig 
genug um die Befriedigung des mächtig drängenden Sexualtriebes oder um 
die Rettung der Jungen vor Gefahren, oder — beim Menschen -— um ein soziales 
Ideal bis zur Selbstaufopferung gekämpft wird. 

Die Ergebnisse der Biologie stehen somit in bestem Einklang mit 
der allgemeinen Erfahrung der Psychoanalyse, nach welcher auch 
beim neurotischen Triebkonflikt es regelmäßig die primordialen 
sexuellen Trieb reg ungen sind, welche gegenüber den Anforderungen 
der kulturellen Sekundärtriebe zunächst unterliegen und der Verdrängung 
verfallen. 

Die Ursache dieses Verhaltens ist uns vorläufig noch gänzlich dunkel, — 
ja, dasselbe könnte biologisch auf den ersten Blick geradezu paradox erscheinen, 
indem ja die phylogenetisch alten Urtriebe im Erbgedächtnis viel fester ein¬ 
geschliffen sind und daher a priori eher zu erwarten wäre, daß sie im 
Kollisionsfalle den Sieg über die labileren sekundären Triebdispositionen davon¬ 
tragen würden. Der Hinweis auf die höhere biologische Zweckmäßigkeit der 
Sekundärtriebe im Interesse der Erhaltung von Rasse und Gemeinschaft muß 
jedenfalls als biologisches Erklärungsprinzip ausscheiden, da die Setzung von 
Zwecken niemals eine kausale Erklärung, sondern lediglich eine petiiio principii 
ist. Wenn ich hier eine vage Vermutung äußern darf, so wäre es die, daß 
die phylo- und ontogenetisch jüngeren Triebe im Kollisionsfalle mit Primordial¬ 
trieben in der Regel deshalb obsiegen, weil sie infolge ihrer reichlicheren 
Verknüpfung mit rezenten, d, h. embiontiseh erworbenen Engrammen eine 
gesteigerte Vividität bei der Ekphorie erlangt haben. 



































Experimentelle Beiträge zur Dynamik und Ökonomie des Triebkonflikts 157 


Ein ähnliches Verhalten sehen wir übrigens schon bei der Kollision 
inkompatibler Reflexe: So wird bekanntlich der phylo- und ontogenetisch 
alte spinale Babinski-Reflex normalerweise, d. h. bei intaktem Großhirn, 
regelmäßig durch den kortikalen Plantarreflex gehemmt. 

Sherrington (ig), der geniale englische Physiologe, hat die Vorgänge bei 
der Kollision unvereinbarer (inkompatibler) Reflexe in erschöpfender Weise 
experimentell studiert. Die Ergebnisse seiner Untersuchungen sind meines Er- 
achtens auch für das Verständnis der entsprechenden Vorgänge im Trieblehen 
von der größten Wichtigkeit, — finden wir doch hei niederen Tieren noch 
alle Übergänge von den komplizierten Serienreflexen des Rückenmarks bis zu 
den Instinkthandlungen, die ja, soweit es sich dabei um bis ins einzelne im 
Erbgedächtnis fixierte Realisationsmechaiiismen handelt, zwanglos als eine Serie 
von ineinander greifenden Ketten re Hexen aufgefaßt werden können, Die Ver¬ 
suche Sherringtons beziehen sich auf die Verhältnisse beim sogenannten 
„Rückenmarkstier“, d. h. bei einem Tier (Hund oder Katze), dem das 
obere Dorsalmark durchtrennt worden ist. Dann zeigen die kaudal von der 
Verletzungsstelle gelegenen Körperabschnitte lediglich noch die Eigenreflexe 
des Rückenmarks, das, vom Großhimeinfluß befreit, nunmehr autonom geworden 
ist (spinale Automatie). Sh errington fand nun, daß von den zahlreichen, 
oft sehr komplizierten Reflexautomatisinen, die ein derart autonomes Rücken¬ 
mark zeigt, die einen sich bei gleichzeitiger Auslösung (durch entsprechende 
Reizung der bezüglichen reflexogenen Zonen) gegenseitig nicht stören, sondern 
im Gegenteil sich summieren oder miteinander alliieren; andere dagegen sind 
miteinander unvereinbar und schließen sich gegenseitig aus. Und zwar ist das 
letztere immer dann der Fall, wenn die beiden Reflexe bei ihrer Realisation 
auf die gleiche motorische Endbahn angewiesen sind. Es kommt dann zwischen 
den beiden inkompatiblen Reflexen zu einem Wettstreit („compeiition“) um 
die Benutzung der gemeinsamen Bahn, und zwar siegt in diesem Wettstreit 
in der Regel (d. h, bei mittlerer Reizstärke) der Reflex, der die Gesamt¬ 
interessen des Organismus vertritt, also eine höhere Integrations¬ 
stufe repräsentiert, und daher (bei intakter Verbindung zwischen Hirn und 
Rückenmark) stärker affektbetont erscheint, über denjenigen Reflex, der 
einer niedrigeren Integrationsstufe entspricht, indem er etwa lediglich nur der 
lokalen Befriedigung einer reflexogenen Zone dient und demgemäß vom Stand¬ 
punkte des Gesamtorganismus betrachtet, einer geringeren Affekts pannung ent¬ 
sprechen würde. Es sind daher vor allem die nociceptiven f d. h, der Flucht 
vor einem Schmerz, vor einer Schädigung des Gesamt Organismus dienenden 
Reflexe, die sich hei Kollision mit relativ „harmloseren 1, Reflexen als „präpotent“ 
erweisen und die letzteren hemmen. Ein Beispiel: Beim „Rückenmark sh und“ 
läßt sich durch Krauen oder Kitzeln einer sattelförmigen Zone des Rumpfes 
mühelos der sogenannte Kratzreflex von Goltz auslösen, d. h. es erfolgen 
die bekannten raschen rhythmischen klonischen Flexionszuckungen des gleich¬ 
seitigen Hinterbeines zur Beseitigung des Juckreizes. Lädiert man nun, während 
der Kratzreflex im vollen Gange ist, die betreffende Hinterpfote durch einen 










158 


R. Brun 


kräftigen Nadelstich, so erfolgt alsbald eine Hemmung des Kratzreflexes und 
es tritt an seiner Stelle der Fluchtreflex des Beines in Erscheinung, d. h- 
eine maximale tonische Flexion des Hinterbeines. Dieser „noeiceptive“ Flexions¬ 
reflex erweist sich somit im Rollisionsfalle gegenüber dem weniger dringlichen 
Kratzreflex (der der libidinösen Befriedigung einer erogenen Zone vergleichbar 
wäre) in der Regel als präpotent. Ebenso wird der Kratzreflex sofort gehemmt, 
wenn am anderen Bein der Streckreflex ausgelöst wird (weil derselbe, infolge 
spinaler Induktion, im kratzenden Bein automatisch den antagonistischen, tonischen 
Flexionsreflex bedingt). 

Erreicht dagegen der an sich weniger dringliche Kratzreflex durch Applikation 
maximaler Reize eine besonders starke Erregungsintensität, so kann er imv 
gekehrt den vorgängig zur Auslösung gebrachten kontralateralen Streckreflex 
und selbst den hochnociceptiven Flexionsreflex hemmen, d. h. die Erregung 
der betreffenden reflexogenen Zone erreicht in diesem Falle eine derartige 
Dringlichkeit, daß sie sich auch durch Reflexe höherer Integrations¬ 
stufe nicht mehr unterdrücken laßt, sondern siegreich durchdringt. 
Besonders deutlich wird dies beim sexuellen Umklammerungsreflex des 
durch Sexualhormone erotisierten Rückenmarks des männlichen Frosches (während 
der Brunstzeit), der eine so hohe „spinale Potenz w besitzt, daß er sich selbst 
durch sehr schädliche interkurrente Reize nicht hemmen laßt. Wir können hier 
bereits zwanglos von einem Rückenmarksinstinkt sprechen. 

Wir ersehen hieraus, daß die phylo- und ontogenetiseh jüngeren Reflex* 
und TriebFormen ihr Primat über die primordialen Triebe (respektive Re¬ 
flexe) mit Zuverlässigkeit nur solange aufrecht zu erhalten vermögen, als 
die letzteren nicht besonders dringlich zur Auslösung gelangen; ist 
nämlich letzteres der Fall, befindet sich der Organismus beispielsweise in 
unmittelbarer Lebensgefahr, so unterliegen auch beim Menschen die Sekundär¬ 
triebe nicht selten, kommen jedenfalls unvergleichlich schwerer gegen den 
mächtig drängenden Anspruch des bedrohten Primordialtriebes auf. Ein 
typisches Beispiel dieses Verhaltens aus der menschlichen Psychologie ist 
die Massenpanik bei einem Theaterbrand oder einer anderen Katastrophe, 
wobei es ja ebenfalls zu einem vollständigen Abbau der Gesittung kommt. 
Ebenso bleibt, um wieder auf die Reflexologie zurückzukommen, der Sexual- 
Instinkt des Froschrückenmarkes gegenüber den Schmerzinstinkten (die in 
diesem Falle die Gesamt in ter essen des Rückenmarkes und nicht nur 
diejenigen eines einzelnen Segmentes desselben, vertreten) siegreich. Wir 
finden dieses Verhalten wiederum in völliger Übereinstimmung mit den 
Ergebnissen der psychoanalytischen Trieblehre, welche zeigt, daß ein sexueller 
Triebanspruch, wenn er besonders dringlich und seine Erregung daher 
übermächtig angewachsen ist, sich gleichfalls durch die kulturellen Sekundär¬ 
triebe nicht mehr ohne weiteres abweisen läßt, ja, unter diesen Umständen 








































Experimentelle Beiträge zur Dynamik und Ökonomie des Triebkonflikts 159 


sich selbst gegen nociceptive Erregungen der Ich-Triebe siegreich erweist. 
Seine Befriedigung wird dann, in Mißachtung jeder Gefahr, unter allen 
Umständen erstrebt, oder, falls dies — beispielsweise infolge Krankheit oder 
körperlicher Schwäche — nicht möglich ist, tritt Konversion der Erregung 
in Angst ein. Daher die so häufige Auslösung der Angstneurose in der 
Rekonvaleszenz nach schwerer Krankheit (Freud, 10), Ebenso weigert sich 
die Libido hei besonderer Dringlichkeit, unter dein Einflüsse der Verdrängung 
sich einer anderen Repräsentanz, einem Verschiebungsersatz zuzuwenden, 
sondern setzt sich in solchen Fällen gleichfalls unmittelbar in freie (objekt- 
lose) Angst um. 

Zur Regel wird dagegen das „Primat der Primordialtriebe“ wohl 
nur bei schwerem, pathologischem Abbau der „Hierarchie“ des Trieb¬ 
lebens, wie z. B. bei der progressiven Paralyse oder bei der Katatonie, wo 
bekanntlich nicht selten direkte, d, h, unverhüllte und komplette Regressionen 
der gesamten Persönlichkeit bis in die Säuglingszeit stattfinden, 

B) Gehen wir nun zur Dynamik und Ökonomie des Triebkonfliktes 
über, wie sie sich am biologischen und physiologischen Material (in der 
Reflexologie) äußert, und stellen wir zunächst die dynamische Frage: 
Wo bleibt die Energie (Erregungsmenge) des gehemmten, unter¬ 
drückten (verdrängten) Reflexes oder Triebes? Verschwindet sie, oder 
läßt sich der Nachweis erbringen, daß sie trotz der Hemmung ihrer Abfuhr 
persistiert? Auch auf diese Frage geben schon die eben erwähnten Experimente 
Sherringtons über das Verhalten inkompatibler Reflexe eindeutige Auskunft: 

Wir haben gesehen, daß beim Rückenmarkshund der Kratzreflex in der 
Regel durch den einige Sekunden später ausgelösten, biologisch hoch¬ 
wertigeren Fluchtreflex gehemmt wird* Diese Hemmung dauert an, bis 
der Fluchtreflex abgelaufen ist; dann aber erscheint der Kratzreflex 
spontan wieder in Gestalt einer Nachentladung {„After-Discharge“), 
in welcher die gehemmte Erregung, so weit sie noch nicht er¬ 
ledigt wurde, hinsichtlich Dauer und Amplitude quantitativ 
restlos wieder erscheint und zur Abfuhr gelangt. 1 Die Erregung 
des gehemmten Reflexes erlischt somit nicht, sondern bleibt in unvermin¬ 
derter Stärke erhalten, d, h, sie überdauert die Hemmung und wirkt 
sich einfach später aus. In Analogie zum Geschehen bei der Kollision 
inkompatibler Triebregungen würden wir dieses dynamische Gesetz etwa 


i) Neuerdings hat Minkowski (20) dieses Experiment bei einer Katse mit dem 
gleichen Ergebnisse wiederholt. 








i6o 


R> Brun 


so umschreiben können, daß wir sagen, der vorübergehend gehemmte 1 rieb 
habe keineswegs auf seine Befriedigung verzichtet, sondern sie lediglich 
— unter dem Drucke der Not — auf eine gelegenere Zeit vertagt und 
hole sie nach, sobald die Umstande dies erlauben. Diese Losung dürfte 
unter primitiven Lebensbedingungen, beispielsweise bei niederen Tieren, 
die normale Erledigung jeder spontan in Erscheinung tretenden Trieb¬ 
kollision sein. 

Diese Lösung ist gewissermaßen physiologisch vorgehildet durch den nor¬ 
malen zyklischen Rhythmus des Auftretens und des Ablaufes der verschiedenen 
Instinkterregungen: Bei Organismen mit primitiverem „biologischen Bereich 
werden ja die verschiedenen Instinktformen in einer durch die „Gesamthorme 
der Art (v, Monakow, 17), durch das erblich fixierte latente „Lehensprogramm 
genau vorgezeichneten Reihenfolge, also sukzessiv ekplioriert, so daß sie sich 
unter normalen Bedingungen bei der Realisation gegenseitig nicht stören. Der 
ganze Lebenslauf solcher Geschöpfe erscheint mehr oder weniger als eine fort¬ 
laufende Kette aneinandergekoppelter komplizierter Serienrellexe (Instinkthand¬ 
lungen), also streng erblich determiniert. Dabei treten manche Instinkte nur 
einmal im Leben des Individuums auf, um nach ihrer Abwicklung wieder für 
immer in die Latenz der Erbmneme unterzutauchen \ andere wieder, wie der 
Nahrungstrieb, wiederholen sich periodisch-zyklisch, eventuell mit anderen 
periodisch auftretenden Instinkterregungen in mehr oder weniger regelmäßiger 
Folge alternierend. Noch andere endlich, wie der Selbsterhaltungstrieb in seiner 
primitivsten Form, begleiten das Individuum als mehr oder minder stabile 
latente Dauererregung sein ganzes Leben lang oder erscheinen wenigstens immer 
in Bereitschaft, gleichsam auf Pikett gestellt. 

Erst auf höherer Organisationsstufe und namentlich mit zunehmender Er¬ 
weiterung des biologischen Bereiches, wie sie insbesondere durch das Ein¬ 
greifen des Individualgedächtnisses (der embiontischen, erworbenen Mneme) 
ermöglicht wird, kann es sich dann immer häufiger ereignen, daß gelegentlich 
zwei miteinander unvereinbare Triebregungen gleichzeitig zur Auslösung ge¬ 
langen (infolge simultaner Ekphorie ihrer durch die Imlividualmneme gewonnenen 
sekundären Ob jektrepräse ixtanzen) und somit in eine Interessenkollision geraten* 
Ebenso wird dieser Fall eintreten, wenn zur Zeit, wo eine Instinkt- oder 
Trieb erregung B einsetzt, die hereditär-mnemische (hormonale) oder indmdueU- 
mnemische (dem Erinnerungsbild des durch die Reizsuche gewonnenen l rieb- 
objektes entsprechende) Erregung des Triebreizes A noch nicht abgeklungen 
ist. Dann wird derjenige Trieb, welcher nach der Ausdrucks weise S herring- 
tons „minderpotent“ ist, genötigt sein, auf kürzere oder längere Frist im 
Hemmungszustande zu verharren. 

C) Stellen wir nun, nach dem Vorgehen Freuds, auch vom Stand¬ 
punkte des Biologen und Physiologen die zweite, ökonomische I 1 rage, 
die Frage nämlich nach den Schicksalen solcher dauernd gehemmter 
(rezessiver) Trieb regungen. Auch liier wollen wir zunächst von den 























Experimentelle Beiträge zur Dynamik und Ökonomie des Triebkonflikts 161 


einfachsten Verhältnissen, nämlich wiederum vom Falle der Kollision in¬ 
kompatibler Reflexe, ausgehen. Durchgeht man nun die zahlreichen, sorg¬ 
fältigen Versuchsprotokolle Sherringtons mit Rücksicht auf diese Frage, 
so kann man ohne weiteres fest stellen, daß auch das Gesetz der Öko¬ 
nomie, wie es Freud von den äußerst verwickelten Verhältnissen beim 
neurotischen Triebkonflikt abgeleitet hat, schon durch die experimentelle 
Physiologie in vollem Umfange bestätigt wird. 

Bei dem eingangs geschilderten Experiment hatte Sh erring ton den Kitzeh 
reiz des Kratzreflexes bald nach dem Einsetzen des interferierenden nocicep- 
tiven Reizes, welcher den hemmenden Flexions- oder kontralateralen Extensions- 
refiex auslöste* ausfallen lassen. Die Folge war, wie wir sahen, die nach¬ 
trägliche Entladung (After-Discharge) desjenigen Erregungsquantuins des Kratz- 
reflexes, das im Momente der Hemmung noch nicht zur Abfuhr gelangt war. 
Bei den meisten übrigen Experimenten ließ Sh errington jedoch den adäquaten 
Reiz des Kratzreflexes auch während und nach der Zeit seiner Hemmung 
durch den nociceptiven Reflex fortwirken- Bei dieser Versuchsanordnung, die 
also durchaus den dynamischen Verhältnissen beim neurotischen Triebkonflikt 
entspricht, wäre somit zu erwarten, daß es zu einer Stauung der fortgesetzt 
weiter erzeugten Erregung des gehemmten Reflexes komme, einer Stauung, 
die sich entweder schon während der Hemmung oder nach ihrem Auf hören 
irgendwie manifestieren müßte. Das ist auch tatsächlich der Fall! Ich 
zitiere aus den betreffenden Versuchsprotokollen Sherringtons wörtlich: 

Versuch 55 A, S. 191. «Kratzreflex durch einen kurzdauernden Flexions¬ 
reflex unterbrochen. Der Kratzreflex kehrt nach der Unterbrechung mit ver¬ 
mehrter Intensität wieder. 1 * 

Versuch 52, S. 189, „Die Verdrängung des Streckreflexes durch den Kratz¬ 
reflex, Der Kratzreflex, nach einer beträchtlichen Latenzzeit, verdrängt (displaces) 
den Streckreflex. Der gekreuzte Streck refiex erscheint nachher nur 
in modifizierter und unvollkommener Form wieder (von mit gesperrt), 
obwohl sein Stimulus unverändert während annähernd sieben Sekunden nach 
dem Auf hören des Reizes für den Kratzreflex fortgesetzt wurde. 

Hier haben wir somit den bemerkenswerten Fall, daß die verdrängende 
Instanz die vorübergehend verdrängte auch qualitativ verändert 
hat — eine merkwürdige physiologische Parallele für das, was wir hei der Ver¬ 
drängung menschlicher Triebregungen beobachten; Wiederkehr des Ver¬ 
drängten nur in modifizierter, z, B. symbolischer Form. 

Versuch 59, S. 210. „Taktschlagreflex, gehemmt durch Reizung des Schwanzes, 
Die Hemmung ist, nach Aufhören des hemmenden Reizes, von einer ver¬ 
mehrten Amplitude und deutlicher Beschleunigung der pendelnden 
Beinbewegung gefolgt.“ 

Versuch 60, S. 211. (Kontroll versuch): „Unterbrechung des Taktschlag¬ 
reflexes lediglich durch Aufhebung des auslösenden Reizes (also nicht, wie 
im Versuch 59, durch einen zweiten interferierenden, inkompatiblen Reflex); 


Imago XII. 


u 





1 6 2 


R, Brun 


Sobald das Bein wieder hängen gelassen wird, beginnt der Reflex aufs neue, 


diesmal keine Energiestauung stattgefunden hatte.) 

Sherrington beschreibt ferner auch „kompensatorische Reflexe“; die¬ 
selben treten dann ein, „wenn der Reflex eine Rückkehr zu einem Zustande 
von Reflexgleichgewicht ist, welches durch einen interkurrenten Reflex gestört 
worden war; der Kompensationsreflex stellt den Antagonisten dieses interkurrenten 
Reflexes dar"\ 

Beispiel: Wenn bei bestehender Mitteihirn- (Streck-) Starre der Extremitäten 
an einem Bein durch intensive Reizung der Flexionsreflex ausgelöst wurde, so 
erfolgt nachher eine „aktive Rückkehr zu der früheren Stellung, indem nun 
die Streckstellung des betreffenden Beines ausgesprochener ist, als sie es vor 
dem interkurrenten Flexionsreflex war. Der störende Reiz rief somit 
nicht nur den Flexionsreflex hervor, sondern außerdem auch noch 
einen sekundären, antagonistischen Reflex“ (von mir gesperrt). 

Ich meine, wir dürfen in dieser Kompensation bereits die einfachste physio¬ 
logische Grundlage dessen erblicken, was uns auf höchster Stufe, bei der 
Neurose, als sogenannte Reaktionsbildung entgegentritt: Ebenso, wie der 
störende Flexionsreflex einen antagonistischen Koinpensationsreflex zur Folge 
hat, so sehen wir auch bei der Neurose, insbesondere bei der Zwangsneurose, 
das Auftauchen einer störenden, peinlichen sexuellen Regung alsbald von einer 


reaktiven Überbetonung der entgegengesetzten moralischen Regung auf dem 



besonders bei Insekten, über. Das einfachste Mittel, um bei einem Tier 
eine bereits zur Ekphorie gelangte und in der Realisation begriffene Instinkt** 
handlung künstlich (experimentell) /ai hemmen, besteht darin, daß man 
ihm denjenigen sinnlichen Reizkomplex (die Objektrepräsentanz des I riebes). 


an welchem sich die entsprechende Instinkthandlung betätigte, oder kurz 
gesagt, das betreffende Instinkt oh j ekt plötzlich entzieht. Es entsteht 


dann eine Situation, welche derjenigen der Versagung (genauer: der 


äußeren Versagung) vollkommen homolog ist. Nehmen wir beispiels¬ 


weise einer in der Koloniegründung begriffenen jungen Ameisenkönigin 


ihre soeben gelegten Eier weg, so beobachten wir regelmäßig, daß das 
Tier in eine hochgradige ängstliche Unruhe gerät: Es lauft rastlos 
im Brutkessel umher und sucht ganz offensichtlich das verloren gegangene 


Triebobjekt. Ich habe dieses Phänomen (im Gegensatz zu der primären Reiz' 


suche, die nach der primären, zunächst noch objektlosen Ekphorie eines 


Instinktes durch Hormonreize entsteht), als „sekundäre Reizsuch e 4 * 
bezeichnet. 





















Experimentelle Beiträge zur Dynamik und Ökonomie des Triebkonflikts 16 3 


Typische Beispiele einer solchen sekundären Reizsuche sind auch die jedem 
Imker bekannte „Weiselunruhe" der Bienen, die regelmäßig dann auftritt, 
wenn der Stock der Königin verlustig gegangen ist, und die hochgradige 
Unruhe, in welche eine Arbeiterameise gerät, wenn wir sie längere Zeit in 
einem Behälter völlig von ihren Kameraden isolieren. 

Diese typische* in allen ähnlichen Fällen auftretende ängstliche Unruhe 
nach Objcktverlust während der Realisationsphase des Triebes stellt meines 
Erachtens ein vollkommenes Analogon des nervösen Angstanfalles 
dar, nur daß die neurotische Angst hauptsächlich durch innere Versagung 
ausgelöst wird. 

Eine ganz ähnliche Angstentladung findet ja übrigens auch in Gestalt der 
sogenannten Realangst statt, wenn die Befriedigung der Selbsterhaltungs¬ 
triebe — bei plötzlicher Lebensgefahr — in Frage gestellt ist. Der ganze, 
ungeheure latente Libidobetrag, welcher an das Ich gebunden ist, findet dann 
plötzlich keine Abfuhr mehr und entlädt sich ebenfalls in der inadäquaten 
Form eines akuten Angstanfalles, Und das nämliche sehen wir auch auf dem 
Gebiete der Sozialtriebe; So äußert sich ja auch die plötzliche Hemmung 
dringlicher sozialer und ethischer Triebansprüche (bei temporärem Durchbruch 
primitiver Instinkte) regelmäßig in Form einer eigentümlichen ängstlichen Er¬ 
regung, die wir als Gewissensangst bezeichnen und die sich bezüglich ihrer 
seelischen (subjektiven) und körperlichen (objektiven) Symptome in nichts von 
der Real- und der Sexualangst unterscheidet. Es scheint somit, daß Angst als 
allgemeines Symptom jedesmal dann eintritt, wenn eine bereits in Realisation 
begriffene (also nicht mehr aufschiebbare) Trieberregung plötzlich in ihrem 
Ablauf abgebremst wird, indem sich dann die betreffende Triebenergie jedes¬ 
mal in Angst umsetzt. 

Die Ursache dieser allgemeinen Unruhe nach Objektverlust liegt auf 
der Hand: Der Objektentzug traf eben nur die äußeren Erregungsquellen 
des ekphorierten Instinktkomplexes; seine inneren Erregungsquellen 
aber, die Hormon reize und die mnemi sehen Erregungen (die here- 
ditären sowohl als auch die individuellen Engramme, die während der im 
Gange gewesenen Realisation des Triebes bereits gewonnen wurden) wirken 
ja in unverminderter Stärke fort! So erklärt sich der allen Geschöpfen 
innewohnende unwiderstehliche, blinde Drang, eine einmal begonnene 
Instinkt-, beziehungsweise Triebhandlung unter allen Umständen bis zur 
Endlust der Befriedigung zu fuhren. Einmal zur Ekphorie gelangt, erheischt 
jeder Instinkt unbedingt Befriedigung, 

Fehlt das adäquate Objekt eines zur Ekphorie gelangten Instinktes nun 
dauernd, so kann daher auch dann auf die Befriedigung desselben nicht 
ohneweiters verzichtet werden: Der Instinkt sucht sich trotz allen Kinder- 











164 


R. Brun 


nissen unter allen Umständen durchzusetzen; doch gestaltet sich sein 
weiterer Ablauf nun mehr oder weniger abnorm, d. h, derTrieb 
wird in abnorme Bahnen abgelenkt. Von solchen Anomalien des 
Instinkt ablaufes nach dauerndem Entzug des normalen (adäquaten) Objektes 
können bei Insekten im wesentlichen folgende typische Formen beob¬ 
achtet werden: 

1) Im einfachsten Falle wird der auf Hindernisse gestoßene Ablauf einfach 
wieder von vorn angefangen, repetiert — ein Vorgang, den wir als 
„retrograden Instinktanachronismus“ oder als Regression, d. b, 
als ein Zurück greifen, einen Rückfall des Instinktes in eine bereits 
früher einmal durchlaufene Phase, beschreiben können* Und zwar scheint 
dieser Fall namentlich dann einzutreten, wenn das entzogene Jnslinktobjekt 
nicht primär in der Umwelt des Tieres gegeben war, sondern erst im 
Verlaufe der Realisation seiner verschiedenen sukzessiven Phasen, also 
durch die Betätigung des Instinktes selbst erzeugt worden war und daher 
durch die Wiederholung der gesamten Kette von Handlungen, die zu 
seiner Erwerbung führten, auch wiedergewonnen werden kann* 

Beispiele: Eine Raupe, die aus ihrem Kokon lierausgenommen wird, ist 
ohneweiters imstande, sich wieder ein neues Kokon z.u spinnen, indem sie die 
ganze Kette der dazu erforderlichen komplizierten Reflexbewegungen in der 
nämlichen Reihenfolge repetiert. Ebenso ist eine Ameisenkönigin (Stammutter 
einer Kolonie), der inan sämtliche Arbeiterinnen und die gesamte Brut weg- 
genommen hat, nach Janet (7) unter Umstanden imstande, den Staat aus 
eigener Kraft zu regenerieren, indem sie die bei der Koloniegründung einst 
aktiv ausgeübten Mutterinstinkte sukzessive in der damaligen Reihenfolge wieder 
ekphoriert. Sie wird also an ihren frisch gelegten Eiern die Brutpflege, die 
sie seit mehreren Jahren ihren Arbeiterinnen überlassen hatte, nun wieder 
selbst ausüben und sich so neue Arbeiterinnen heranziehen* 

Die Versagung hat also in diesen Fällen einen Rückfall; eine Regression 
der Libido auf eine ontogenetisch frühere, bereits aufgegebene Phase 
der Instinktbetätigung bewirkt. 

Rin weiterer Spezialfall der Instinktregression nach Objektentzug, der 
indessen im allgemeinen wohl nur bei verhältnismäßig niederen Tieren 
beobachtet wird, ist der Rückschlag in eine phylogenetisch ältere, obsolet 
gewordene Bahn; wir sprechen dann von einem Instinktatavismus* 


So beginnen im Bienenstöcke nach dem Ableben der Königin zahlreiche 
Bienen nach Ablauf der Weiselunruhe Drohnenzellen zu bauen und mit 
parthenogenetischen Eifern zu belegen: Sie werden, wie der Imker sagt, 
„drohnenblütig** Die Arbeitsbienen benehmen sich also in diesem Falle wie 


























Experimentelle Beiträge zur Dynamik und Ökonomie des Triebkonflikts 165 


ihre vorsozialen Ahnen, bei denen noch keine Differenzierung in Königin- und 
Arbeiterkaste stattgefunden hat, wo vielmehr noch jede weibliche Biene ein 
vollwertiges, geschlechtstüchtiges Weibchen war, — Andere Bienen des weisellos 
gewordenen Staates regredieren in ihren Instinkten auf eine noch primitivere 
vorsoziale Stufe, indem sie sich, wie ihre Urahnen, leidenschaftlich einer zügel¬ 
losen Räuberei ergeben, cLh. anstatt Honig einzutragen und die noch vorhandene 
Brut zu pflegen, die Honigvorräte des eigenen oder fremder Stocke plündern. 
Es findet hier somit eine komplette Regression des Instinktlebens auf eine 
asoziale Stufe statt, wobei die nunmehr betätigten Triebregungen überhaupt 
nicht mehr dein nämlichen Instinktkreis angehören, — Ähnliche Instinkt- 
atavismen nach Objektverlust sind uns auch vom Ameisenstaat bekannt. 

Das Gemeinsame an diesen Fällen liegt darin, daß an Stelle des verun¬ 
möglichten Fortganges der aktuellen, normalen Instinktbetätigung ein 
Komplex ganz andersartiger Instinkthandlungen ekphoriert wird, der sich 
bei näherer Untersuchung als einem früheren Zeitalter der Stammesgeschichte 
des Tieres angehörig erweist. Mit anderen Worten: Die durch den Verlust 
des adäquaten Instinktobjektes in Frage gestellte normale Instinktbetätigung 
wird in diesen Fallen tatsächlich au f gegeben ; doch geht der ihr zukommende 
Energiebetrag, die bezügliche mnemische Erregung auch hier keineswegs 
verloren, sondern wird auf einen anderen (dem nämlichen oder einem 
anderen Instinktkreis angehörenden) Komplex von Instinkthandlungen über¬ 
tragen. In beiden Fällen — sowohl im einfacheren Falle der Regression 
auf eine ontogenetisch frühere Phase des Trieblebens als beim Instinkt¬ 
atavismus — haben wir es mit einer Ersatzleistung zu tun. Wir können 
somit ganz allgemein sagen: Eine in ihrem Ablauf durch Objekt¬ 
entzug (äußere Versagung) gehemmte Instinkterregung kann sich 
in Form ein er Ersatzleist ung durchsetzen (manifestieren), indem 
sie auf eine onto- oder phylogenetisch alte Bahn regrediert. 

2) Ein seltenes Gegenstück zur Instinktregression ist der ^anterograde 
oder antizipierende Instinktanachronismus“, wie ich die betreffenden 
Phänomene genannt habe. Von einem solchen dürfen wir in den selten beob¬ 
achteten Fällen sprechen, wo nach Entzug des adäquaten Instinktobjektes die 
nicht realisierbare Phase des Instinktes einfach übersprungen und ohne 
Rücksicht auf das Endergebnis einfach die nächstfolgende Phase von Instinkt- 
handlungen ekphoriert wird. Die Folge eines solchen Überspringens wird 
dann allerdings meist eine mehr oder minder hochgradige Verstümmelung des 
Instinktwerkes sein. Ein dahin gehörendes Beispiel beobachtete Fahre (8) 
bei der Mörtelbiene (Ckalicodama). Diese nicht soziale Biene baut zierliche 
Einzelzellen, die sie nach erfolgter Füllung mit Nahrungsbrei mit einem Ei 
versieht, und sodann sorgfältig mit einem unmittelbar vor der Eiablage her¬ 
gestellten Deckel verschließt. Fahre spielte nun einer solchen Mörtelbiene einmal 







i66 


R, Rrun 


einen bösen Streich, indem er den unteren Teil einer soeben fertiggestellten 
und nur noch der Eiablage und der Bedeckelung harrenden Zelle zerstörte, 
so daß durch die breite Bresche aller Honigbrei auslieh Die mit dein fertigen 
Deckel ankommende Chalicodoma bemerkt den Schaden sofort und gerät in 
große Aufregung. Fahre erwartete nichts anderes, als daß die Biene den 
Schaden reparieren würde. Es geschah aber nichts dergleichen, vielmehr be¬ 
ruhigt sich das Tier endlich, klettert auf den oberen Rand der demolierten 
Zelle, senkt den Hinterleib in dieselbe ein, legt ihr Ei, das in die untergehaltene 
Hand Fahr es fällt, und krönt sodann ihr, nun natürlich gänzlich nutzlos 
gewordenes Werk mit dem Deckel! -— Aus der Psychopathologie des mensch¬ 
lichen Trieblebens ist ein ähnliches Beispiel nicht bekannt j solche anterograden 
Instinktanachronismen sind natürlich nur bei niederen Tieren mit gänzlich 
erstarrten Instinktautomatismen und Fehlen jeder Plastizität möglich, 

5) Viel häufiger ist demgegenüber auch bei Insekten der Mechanismus, 
daß an die Stelle des fehlenden homophonen oder adäquaten Reizkom- 
plexes (Instinktobjektes} ein mehr oder minder ähnliches Krsalzobjekt 
als Surrogat tritt. Wir sprechen dann von einer Ersatzbefriedigung. 
Im Gegensatz zu dem sub 1) erörterten Mechanismus der Ersatzleistung 
bleibt hier die Art und Weise der Triebbetätigung dieselbe; es findet 
lediglich eine Übertragung der Triebenergie auf ein anderes Objekt, 
ein Verschiebungsersatz, statt. 

Beispiele: So adoptieren beispielsweise Ameisen nach dem Tode ihrer 
Stammutter nicht selten eine artfremde Königin als Ersatz, Es wurden ferner 
von mir und anderen wiederholt Fälle beschrieben, wo eine sklavenhaltende 
Ameisenart in Ermanglung ihrer normalen Sklaven Raubzüge gegen Nester 
einer ganz anderen Art unternahm* Ein sehr hübscher, von mir (5) beob¬ 
achteter Fall eines solchen Verschiebungsersatzes ist ferner folgender: Ich hielt 
eine Königin der Ameisenart Camponotus ligniperdus, die im Begriffe war, 
eine neue Kolonie zu gründen, in einem künstlichen Brutkessel. Nach einigen 
Tagen nahm ich ihr ihre frisch gelegten Eier weg und beobachtete darauf 
jene hochgradige ängstliche Unruhe, die ich oben als „Reizsuche beschrieben 
habe- Nach einigen Tagen gab ich dein Tier Puppen von Lasius fuliginosus> 
also einer ganz anderen, viel kleineren Art. Das Tier beruhigte sich sofort 
und pflegte mm diese heterogenen Wesen mehrere Tage laug, als ob es ihre 
eigenen Kinder wären, bis dieselben schließlich zugrunde gingen. — Neuer¬ 
dings hat Wheeler (21) gezeigt, daß sich auch die phylogenetische Ent¬ 
wicklung gewisser komplizierter Instinkte bei manchen Insektengattungen 
zwanglos in eine Reihe von Phasen zerlegen laßt, die durch je eine Art der 
betreffenden Gattung vertreten sind, und die je weilen dadurch charakterisiert 
sind, daß das ursprüngliche Instinktobjekt, von welchem die Entwicklung ihren 
Ausgang nahm, immer wieder durch ein neues Surrogat ersetzt 
wurde. Die Endphase der Entwicklung des betreffenden Gattungsinstinktes 
ist dann schließlich durch ein Objekt vertreten, das sich zum ursprünglichen 









Experimentelle Beitrage zur Dynamik und Ökonomie des Triebkonflikts 167 


Instinktobjekt der Gattungsahnen ungefähr so verhält, wie die Urrepräsentanz 
einer menschlichen Sexualstrebung zu deren Symbol, an welchem der 
Neurotiker die betreffende Triebregung „befriedigt“. Wir können hier somit 
geradezu von einem phylogenetischen Verschiebungsersatz sprechen. 

Diese Fälle unterscheiden sich, ökonomisch gesprochen, in nichts von 
den bekannten Beispielen von Ersatzbefriedigung im menschlichen Trieb¬ 
leben, wo z. B. die alte Jungfer an Stelle der ihr versagt gebliebenen Kinder 
Katzen oder Schoßhündchen mit mütterlicher Liebe betreut. Besonders 
interessant ist dieser Mechanismus des Verschiebungsersatzes vom biologi¬ 
schen Standpunkte deshalb, weil er wie nichts anderes das gänzlich dys- 
teleologische Walten der Natur beweist, denn es braucht kaum gesagt 
zu werden, daß die Objektverschiebung im Grunde gänzlich zwecklos ist, 
da sie ja nur eine Scheinhefriedigung des Instinktes ermöglicht, der 
sein normales biologisches Ziel nicht erreicht, 

4) Ein weiterer Spezialfall aus der Ökonomie des menschlichen Trieb¬ 
lebens, nämlich die direkte Abfuhr der gebremsten Libido in Form von 
Angst, läßt sich natürlich am biologischen Material nicht nachweisen, 
da wir ja die Tiere nicht fragen können, was in ihnen vorgeht. Doch 
habe ich oben bereits hervorgehoben, daß die eigentümliche ängstliche Un¬ 
ruhe der „sekundären Reizsuche“, wie sie auch bei Insekten regel¬ 
mäßig unmittelbar nach erfolgtem Objekt Verlust, also in der akuten 
Situation der äußeren Versagung auftritt, dynamisch gesprochen eine un¬ 
verkennbare Ähnlichkeit mit dem nervösen Angstanfall aufweist. 

5) Bekanntlich kommt aber beim Menschen noch eine andere wesentlich 
zweckmäßigere Form von Übertragung der freien Energie dauernd gehemmter 
Triebregungen vor: Ist nämlich die Befriedigung des verdrängten Trieb¬ 
anspruches weniger dringlich, so kann die mnemxsche Erregung desselben 
sich nicht allein von ihrer ursprünglichen Objektbesetzung, sondern auch 
von ihrem spezifischen Ziele loslösen, ihren frei gewordenen Energiebetrag 
teilweise oder ganz an den unterdrückenden Trieb abgeben und so zur 
Verstärkung des letzteren beitragen. Es findet dann mit der Affektverschie 
bung zugleich auch ein Wechsel des Vorzeichens, also eine Affektkon¬ 
version statt. 

Bekannte Beispiele dieses Vorganges sind die Triebumsetzungen der ver¬ 
drängten Analerotik. Auch aus der Insektenbiologie ist ein ähnlicher Mecha¬ 
nismus bekannt: So kämpften jene Ameisen Forels, deren Nahrungstrieb 
durch den sozialen Kampftrieb eine völlige Hemmung erfahren hatte* mit 
verdoppelter Wut: Der Energiebetrag des gehemmten Nahrungstriebes hatte 
sich auf den Kampftrieb verschoben und zur Verstärkung desselben beige- 








i68 


R. Brun 


tragen. Eine Parallele dieses Vorganges haben wir ja sogar in der Reflexologie 
in Gestalt des Kompensationsrefiexes von Sherrington (ig) kennen gelernt; 
dieser Fall wäre etwa mit der unter dem Einfluß der verdrängenden Gegen¬ 
triebe erfolgten Konversion ins Gegenteil zu vergleichen, welche die 
Libido der prägenitalen Partialtriebe regelmäßig erleidet. (Konversion der 
Libido in Scham, Ekel, Empörung u. dgl.) 

Auf höchster kultureller Stufe findet zAidein oft noch eine Koinpromiß- 
bildung mit der verdrängenden Instanz statt, die es dem verdrängten 
Triebe ermöglicht, im Rahmen des verdrängten Gegentriebes seine auf 
diesen über gegangene Energie (Libido) in einer der ursprünglichen Befrie¬ 
digungsart irgendwie symbolisch verwandten Form zu betätigen. 
Wir sprechen in diesem günstigsten und biologisch wertvollsten Falle von 
Sublimierung im engeren Sinne. Als biologische Parallele dieses Vor¬ 
ganges wäre etwa die Entstehung der Arbeiterkaste bei den sozialen Insekten 
zu erwähnen, die wir als das großartigste bis jetzt bekannte Beispiel einer 
phylogenetischen Triebsublimierung auffassen können, insofern als 
ja die Arbeiter käste dauernd und vollständig auf jede direkte Sexual befrie- 
digung verzichtet und die dadurch frei gewordenen ungeheuren Libido¬ 
beträge restlos in den Dienst sozialer Sekundär triebe gestellt hat. 

* 

Fassen wir zum Schlüsse die Ergebnisse der vorstehenden Untersuchung 
mit wenigen Worten zusammen, so können wir sagen, daß die von Freud 
aus der Neurosenpsychologie gewonnenen rnetapsychologi sehen 
Gesichtspunkte von der Biologie auf der ganzen Linie bestätigt 
werden. Insbesondere kommt den von Freud in die Triebpsychologie ein¬ 
geführten dynamischen und ökonomischen Prinzipien die Dignität 
allgemeinster biologischer Gesetze zu, die dem Triebkonflikt, wo immer 
und in welcher Form immer er beobachtet wird, eignen. Aber noch mehr: 
Die Analyse experimentell erzeugter Triebkonflikte beziehungsweise Trieb¬ 
hemmungen bei Tieren (— selbst bei Organismen, welche unserer physischen 
und psychischen Organisation so fern stehen wie die Insekten —■), ja selbst 
die Untersuchung der Vorgänge bei der Kollision inkompatibler Reflexe, 
ergibt die überraschende Tatsache, daß auch die spezifischen, ökonomi¬ 
schen Triebschicksale, welche gehemmte respektive verdrängte 
Triebe nach Freud erfahren, sich am biologischen Materiale 
(mit alleiniger Ausnahme der Konversion) ebenfalls restlos nach weisen 
lassen: Konnten wir doch unter diesen Umständen selbst bei Insekten ohne- 
weiters alle spezifischen Mechanismen der direkten Abfuhr gestauter Libido 











Experimentelle Beiträge zur Dynamik und Ökonomie des Triebkonflikts 169 


(in Gestalt der ängstlichen Unruhe der Reizsuche), die Regression (als 
ontogenetische und phylogenetische Regression sive Atavismus), den Ver¬ 
schiebungsersatz (Ersatzbefriedigung), die Reaktionsbildung, ja selbst die 
Sublimierung wiederfinden. 

Die metapsychologische Trieblehre von Freud verdient somit 
in vollem Umfange die Bezeichnung einer biologischen Psycho¬ 
logie par excellence , indem ihre Gesichtspunkte sich nicht nur 
für die menschliehe Triebps3 r chologie, sondern für den feineren 
Ausbau der Biologie des Trieblebens überhaupt als äußerst frucht¬ 
bar, ja grundlegend erweisen. Es ist denn auch kein Zufall, sondern ein 
Zeichen der Zeit, daß neuerdings ein Biologe von Range W, M. Wheelers (21), 
einer der führenden Insektenforscher der Gegenwart, von sich aus zu dem 
nämlichen Ergebnis gekommen ist und der Psychoanalyse kürzlich dieses 
hohe Lob gesprochen hat. 


Benützte Literatur 

1) Brun, E.: Beobachtungen im Kemptaler Ameisengebiete, Biolog. Zentralbl. 
1915* 55 * 

2) Brun, R.: Zur Biologie und Psychologie von Formica rufa. Eiolog. Zentralbl. 
1910, 30. 

3) — Zur Koloniegründimg der Ameisen. Biolog. Zentralbl, 1912, 52. 

4) — Zur Psychologie der künstlichen Allianzkolonien bei den Ameisen. Ebenda, 

5) —- Über die Ursachen der künstlichen Allianzen bei den Ameisen. Jourru für 
Fsychol. und Neurol, 1913. 20, 

6) Das Instinktproblem im Lichte der modernen Biologie. Schw, Arch. f. Neurol. 
1920* 6. 

f) Janet, G*: Fondation däme colonie par une fern eile isolee. Bull. Soc. Zool. 
France 1895. 

8) Fahre, H.: Souvenirs enthomologiques, 18S6, 2. 

9) Forel, A.: Fourmis de La Suisse. Zürich 18^4, 

10) Freud, S,: Über die Berechtigung von der Neurasthenie einen bestimmten 
Symptomenkomplex als Angstneurose abzu trennen. Sammlung Kleiner Schriften 
zur Neurosenlehre I, 1911* (Ges. Schriften, Bd, I.) 

_ Triebe und Triebschicksale. Sammlung Kleiner Schriften zur Neuros entehre IV, 

1918. (Ges, Schriften, Bd. V.) 

12) — Die Verdrängung. Ebenda. 

— Das Unbewußte« Ebenda. 

_ Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse. 2. Aufl. 1918, (Ges. 

Schriften, Bd. VII.) 

i>j) Greppin, L,: Zur Kenntnis der geistigen Fähigkeiten unserer Vögel. Mitt 
natnrf. Ges. Solothurn III, 1906. 








170 Brun; Experimentelle Beiträge zur Dynamik und Ökonomie des Trieb konflikts 


16) Hattingberg: Übertragung und Objektwahl. Internationale Zeitschrift für 
Psychoanalyse VII, 1921. 

17) v. Monakow, C.: Biologie und Psychiatrie. Schw. Arch, £ NenroL IV, 1918 
und 1919* 

18) Semon, K.: Die Mneme. München 1904. 

io) Sh erringt o 11, Ch,: The integrative Action of the nervous System. London 1911. 
20) Minkowski, M.: Beitrag zur Physiologie des Rückenmarkes. Schw. Arch. £ 
Neurol. V, 1919* 

21} Wheeler, W. M.: On instincts. The Journal of abnormal Fsychol, 1920/21, XV. 













Umrisse einer Bioanalyse der 
organischen Pathologie 

Von 

S. Pfeifer 

Budapest 


Das Wenige, was hier gegeben wird, ist nicht mehr als eine Arbeits¬ 
hypothese oder vielmehr ein Arbeitsprogramm. Diese Umgrenzung soll 
gleichzeitig eine Entschuldigung sein für die vielen Mängel, die bei einer 
solchen ersten Annäherung auch bei besserer Ausrüstung als der mir zur 
Verfügung stehenden Kenntnis der Biologie unvermeidlich sind. 

Der Wegweiser war auch hier Freud. Nicht nur in seinem ganzen 
Lebenswerk, das uns ein vorher ungeahntes Eindringen in das Wesen der 
seelischen Erkrankungen gestattete und den Wunsch nach einem ähnlichen 
Einblick in das Rätsel der organischen Erkrankungen noch intensiver 
empfinden ließ. Gleichzeitig wurde — hei aller Tendenz Freuds, die 
psychoanalytischen Ergebnisse behutsam auf das Gebiet der Psychoneurosen 
zu beschränken — die Hoffnung rege, daß die gewonnenen Einsichten 
einmal auch zum Verständnis der organischen Krankheiten beitragen 
werden, eine Erwartung, die in den Arbeiten von Ferenczi 1 neuerdings 
Unterstützung fand. Eine Bemerkung Freuds über die Regression in den 
Psychoneurosen rechnet schon andeutungsweise mit der IVlöglichkeit, daß 
die Regression, die er von jeher auch als etwas Physiologisches erfaßte, 2 
auch für die Entstehung organischer Krankheiten von Bedeutung sein 

könnte. 

Es würde verfehlt sein, mit der Erwartung an das Problem, heranzu¬ 
treten, daß wir das psychische Schema der Neurosenentstehung auf die 


1) Versuch einer Genitaliheorie (Internat* Psychoanalytische Bibliothek XV) 1924. 

2) Freud: Vorlesungen (Ges* Schriften, Bd. VII, S. 555)* 









1 7 2 


S. Pfeifer 


organischen Erkrankungen geradewegs anwenden können. Im Gegenteil, 
wir werden es freundlich begrüßen, wenn wir an der Hand bestehender 
Analogien Stützpunkte für die weitere Forschung und Leitfaden zu einer 
bioanalj'tischen Orientierung gewinnen. 

Ob eine Ähnlichkeit zwischen den Verursachungen der neurotischen und 
organischen Erkrankungen besteht, sei an einem Beispiele der letzteren 
gezeigt. Wir finden z, R. bei den Entzündungen, entsprechend der „Ver¬ 
sagung“ bei den Neurosen, eine Schädigung des Soma, verursacht durch 
Agentia, welche eine kontinuierliche Reihe bilden von der traumatischen 
Einwirkung bis zu den gewöhnlichen Reizen des alltäglichen Lebens, die 
unter Umständen ebenfalls traumatisch wirken. 

Was dann folgt, ist als ein Kampf beschrieben worden, eine Beschrei¬ 
bung, die vieles für sich hat, ohne den Vorgang vollends zu erklären. Auch 
beim neurotischen Symptome wird vom Vcrdrängungskainpf gesprochen, 
der in einfachen Fällen gegen die traumatische Einwirkung, meistens aber 
gegen die in Bewegung gesetzte fremdartige Libido losbricht, M et sehn i- 
koff ist ein charakteristischer Zug, meines Erachtens der am meisten 
charakteristische, dieses Kampfes bei der Entzündung nicht entgangen (wie 
z. B, Virchow, der in der Entzündung kaum mehr als eine Ernährungs¬ 
störung erblicken wollte), nämlich, daß dieser Kampf in seinen Hauptzügen 
ein archaischer ist. So finden wir in der organischen Erkrankung einen von 
der ISieurosenbildung aus bekannten Zug wieder, den der Regression. Freud 
hat in einer Bemerkung in seinen „Vorlesungen“ diese Bedeutung der 
Regression für die organische Pathologie vorausgeahnt und Ferenczi sie 
neuerdings („Versuch einer Genitaltheorie“) in den Vordergrund gestellt. 
Wählen wir in den folgenden Erörterungen diesen Zug zum Leitfaden, um 
die organische Pathologie zu durchstreifen. 

Die Tatsache des archaischen Rückschlages war den Pathologen auch 
unabhängig von der Psychoanalyse bei gewissen krankhaften Prozessen 
nicht entgangen. Bei den Tumoren behauptete die Theorie Colin¬ 
heims, daß die Geschwulstzellen aus embryonalen Zellen hervorgehen 
und den embryonalen Charakter auch in ihrem Wachstum und in ihrem 
Verhältnis zu den Korperge weben behalten. Wir könnten Cohnheixns 
Theorie damit ergänzen, daß wahrscheinlich keine verstreuten und embryonal 
gebliebenen Keime als Grundlagen der Blastombildung dienen, sondern 
daß eine Regression an der über den embryonalen Organisationsgrad 
entwickelten Zelle zufolge traumatisch wirkender äußerer Reize den Aus¬ 
gangspunkt zu dem pathologischen Wachstum liefert. Dieses kann auch 



















Umrisse einer Bioanalyse der organischen Pathologie 175 


auf einen Ein wand gegen die Cohn heim sehe Theorie entgegnet werden, 
daß nämlich Geschwulstbildungen oft aus der ununterbrochenen Reihen¬ 
folge gleichmäßig organisierter Gewebszellen sich entwickeln. Die Fähigkeit, 
zur Regression —■ allerdings in wechselndem Maße und unter entsprechenden 

Bedingungen — müssen wir allem Lebenden, somit auch der einzelnen 

* 

Zelle zuschreiben, welche infolge ihrer Entwicklung und einer wachsen¬ 
den Organisation entstanden ist. Unserer Auffassung scheint noch die 
Annahme E, Albrechts am nächsten zu stehen, daß in den Blastomzellen 
embryonale Eigenschaften erhalten geblieben sind. Direkt von einer 
Regression ist die Rede bei dem Biologen R. Hertwig, der von einer 
Rückkehr der'Zellen vom organotypisehen zum zytotypischen Wachstums 
modus spricht. 1 2 Diese Auffassung braucht auch durch die Entdeckung an¬ 
geblich organisierter Krebserreger durch Gye und Barnard nicht geändert 
zu werden, 

Erscheinungen des pathologischen Wachstums mit Regressionserscheinungen 
sind auch bei der Regeneration, Wundheilung, Metaplasie usw, aufzufinden 
und für die Pathologen längst bekannt. Bei einer Gruppe der Konstitu¬ 
tionskrankheiten, der Blutkrankheiten, haben P* Ehrlich und andere auf 
Grund morphologischer Untersuchungen behauptet, daß dabei Zellverande- 
rungen in regressivem Sinne vorhanden sind. Für die Blutkrankheiten 
haben Ehrlich und Naegeli angenommen, daß die pathologischen Blut¬ 
zellen die embryonalen Formen derselben sind, was meines Erachtens eine 
Regression in den blutbildenden Organen voraussetzen läßt* Zum Beispiel bei 
der myeloiden Leukämie treten derartige pathologischen Veränderungen auch 
in der Leber und der Milz auf, von denen die ersterc nur im embryonalen 
Leben Blutzellen hervorbringt, Strümpell hält sie für eine Erkrankung, 
welche auf embryonale Abweichungen zurückzuführen ist, wir würden sie 
eine Regression blutbildender Organe in dem embryonalen Zustand nennen. 

Ebenso werden Anzeichen einer Regression zum embryonalen Zustand 
bei den anderen Blutkrankheiten gefunden. So schreiben z* B, Erich 
Mayer und A, Heine ke von der Anaemia perniciosa: „Sehr interessant 
ist, daß sich oft auch in anderen Organen (Leber, Milz, Lymphdrüsen) 
Zeichen einer erneuten blutbildenden Tätigkeit finden, also wiederum 
eine Rückkehr in embryonale Verhältnisse,' 4 2 Sie finden auch bemerkens¬ 
wert, daß die Blutkörperchen selbst in den Organen zugrunde gehen, wo 

1) L. Aschoff; Pathologische Anatomie. I, S, 510; M- Borst: Echte Geschwülste. 

2) Zitiert nach A, Strümpell: Lehrbuch der speziellen Pathologie und Therapie 
der inneren Krankheiten. 1917- 








I 


174 


S. Pfeifer 


sie gebildet werden* Dieser Umstand ist für uns um so mehr von Bedeu¬ 
tung, da er zeigt, daß der Organismus unter Umstanden seine eigenen 
regredierten Zellen so wie sonst artfremde Eindringlinge behandelt, oder 
aber, was eigentlich dasselbe bedeutet, die Blutzellen kehren zu einer 
anderen, weniger spezifisch gefestigten Organisation zurück* Es ist anzu- 
nehmen, daß die Regression bei der Perniciosa auf dieses Stadium erfolgt. 
Dieser Umstand erlaubt uns zwei weitere wichtige Annahmen. Die eine 
ist eine historische und hat große Wahrscheinlichkeit für uns, daß näm¬ 
lich am entwicklungsgeschichtlichen Anfänge der Blutgewcbsbildung die 
vom übrigen Körper abgetrennten und in die Saftkaiiule geschwemmten 
Zellen in großer Zahl und systematisch vernichtet wurden oder zugrunde 
gegangen sind, bevor der heutige Symbiosenzustand sich festigte* Die andere 
ist eine theoretische Verallgemeinerung, daß, wenn die partielle Regression 
eine gewisse Tiefe überschritten hat, die regredierten Elemente von den 
nicht regredierten als feindliche Elemente, so wie artfremde bekämpft 
werden, aber auch umgekehrt, wie bei den bösartigen Geschwülsten gerade 
die regredierten Elemente die übrigen angreifen und vernichten. Eine 
gewisse Ähnlichkeit, wenn nicht Wesensgleichheit dieses Vorganges — 
Vernichtung der regredierten Formen und Kampf gegen die Regressions¬ 
tendenzen — mit der „Verdrängung“ Freuds ist unverkennbar. 1 

Ein dritter Gedankengang findet hier auch Anknüpfung. Wenn wir 
den Begriff der „Regression“ in ihrem eigenen Sinn nehmen, so bedeutet 
es immer einen Zug zur Wiederherstellung älterer, durchgelaufener, aber 
verlassener oder überwundener Entwicklungsstadien. Das Ziel der erfolgten 
Regression ist also immer die Herstellung einmal wirklich dagewesener, 
existenzfähiger Lebensformen, welche aber heute im Gefüge eines weiter¬ 
entwickelten und angepaßten Organismus, wie oben erwähnt wurde, zu 
lebensbedrohendem oder vernichtendem Konflikt führen* 

i) Zur Illustrierung solcher Verdrängung, aber auch der Wendung des (Aggres- 
sions-, Todes-) Triebes gegen einen Teil des eigenen Ich könnte das Beispiel der 
Haemoglobinuria paroxysmalis dienen. Morphologische und chemische Kennzeichen 
für eine Regressio ns Spannung zwischen Körper und roten Blutkörperchen stehen noch 
aus, werden sich aber meines Erachtens einmal vielleicht finden lassen, Vergleiche 
die oben vermutete Feindlichkeit zwischen Körper und unfertigen, embryonalen Blut¬ 
zellen bei der Perniziosa. Ähnliches siehe auch hei Verbrennungen. 

Die Erfahrung lehrt uns, daß die oben erwähnten Bliiterkrankmigen mit Vorliebe 
bei Wende- (und damit Fixierungs-) Punkten der individuellen Entwicklung auftreten, 
so z, B. in der Pubertät, während der Schwangerschaft, ein Beweis mehr für ihren 
Regressionscharakter. (Allerdings auch dafür, daß die großen Belastungen, eventuell 
Versagungen der Libido sie auslosen können.) 








Umrisse einer Rioanalyse der organischen Pathologie 175 


Nach alledem steht die Forderung im Vordergrund, daß zum Verständ¬ 
nis des „Sinnes“ einer organischen Erkrankung außer dem Einblick in 
die auslösenden Momente 1 noch die Kenntnis des Regressionsgrades un¬ 
erläßlich ist, bis zu welchem der Organismus in Gänze oder teilweise vor 
einem traumatisch wirkenden Agens aus weicht. Dieses regressive Ausweichen 
kann aber auch nach dem bisher Gesagten auf zwei Iinien aufgefunden 
werden, auf der ontogenetischen und der phylogenetischen, die sich in 
einem Punkte treffen müssen. Allerdings werden wir uns besonders im 
Anfänge begnügen, die eine oder die andere Art der Regression bestimmen 
zu können, in der Erwartung, daß die Vermehrung unseres biologischen 
und entwicklungsgeschichtlichen Wissens diese Ergänzung ermöglichen 
wird, und daß die Bestimmung des Fixierungspunktes uns auch den Sinn 
und die Tendenzen der Erkrankung unserem Verständnis naherbringen wird. 

Die beiden Arten der Regression scheinen für die organischen Krank¬ 
heiten nicht gleichwertig zu sein. Während bei den Neurosen zunächst 
die ontogenetischen Regressionen in die psychoanalytische Forschung eirr 
bezogen wurden, scheinen bei den organischen Krankheiten die phylo¬ 
genetischen Regressionen in den Vordergrund zu treten, Ontogenetische 
Fixierungen scheinen zu dominieren in der Teratologie (unter den Mi߬ 
bildungen); diese sind aber offensichtlich klare Entwicklungshemmungen, 
aber keine Folgen einer Regression. Darauf ist es zurückzuführen, daß 
diese auf uns nicht den Eindruck der Krankheit, sondern eben den einer 
Mißbildung machen. In den Begriff der Krankheit scheint eben die Re¬ 
gression hineinzugehören und für ihn ausschlaggebend zu sein. 

Was ist aber der Sinn der organischen Regression? Nach unserer finalen 
Auffassung kann es nichts anderes sein, als ein Sich-Ztirückziehen vor einem 
Trauma aus äußeren oder auch vielleicht aus inneren Ursachen auf eine Stufe 
der Organisation, auf welcher die Vorfahren des betreffenden Individuums 
noch unter ähnlichen traumatischen Einwirkungen sich behaupten konnten, 
die Pathologie von heute war einmal wirklich Physiologie — oder aus welcher 
sie eben durch die heute pathogenen ähnlichen Traumata hinausgeschleudert 
wurden. 2 

So wenig aber die Entwicklungshemmung allein eine Krankheit ergibt, 
ebensowenig macht die Regression das Wesen der Krankheit aus. Krankheit 
entwickelt sich erst, wenn gegenüber den der Regression unterworfenen Teilen 

1) Welche nach der Behauptung einiger auch von der psychischen Seite ausgehen 
und auch, von dort aus betrachtet, sinnvoll sein können* 

2) Auch der biologische Sinn der Libidoregression kann kein anderer sein* 









T 


176 S. Pfeifer 


oder Systemen des Organismus von den höher organisierten, unveränderten 
Teilen her der Verdrängungskampf losbricht, welchen ich mir in erster 
Linie in Analogie mit den aus der Immunologie bekannten Abwehrreaktionen 
gegenüber parenteral ein geführten artfremden Körpern vorstelle. 1 

So sind wir wieder zum pathogenen Kampf und dessen Prototyp, zur 
Entzündung, zurückgekehrt* Eine gute Gelegenheit, um zu demonstrieren, 
mit welcher IJberdeterminiertheit der Probleme bei einer Anwendung der 
Gesichtspunkte der biologischen Tendenzen auf die Pathologie zu rechnen 
sei. Ob hier nicht die Analogien mit den Neurosen weiterzuführen sind? 
Wie die Rolle der Regression bei den Entzündungen bestimmt werden kann, 
worin sie besteht, wie weit sie führt, was entspricht dabei der Scheidung 
von Ich und Libido, was ist die Rolle der Gewebsschädigung, eventuell der 
Bakterien, der Entzündungszellen usw.? Um auf sie, wenn auch nur teil- 
weise, antworten zu können, müssen wir für die Darstellung einen etwas 
weiteren Rahmen wählen* 

Von dem dualen Gesichtspunkte der Lebens“ und der Todes triebe aus be¬ 
trachtet, zeigt die akute Entzündung einen typischen Ablauf und einen Spezial- 
fall der Triebemmischung. Die typische Folge der Gewebsalteration (Nekrose), 
die dadurch hervorgerufenen produktiven, d. i. exsudativ-proliferativen Ver¬ 
änderungen auf der Hohe der Entzündungserscheinungen, wieder gefolgt durch 
Rückbildungs- und Regenerationserscheinungen {Narbenbildung) sind die 
Grunderscheinungen der Entzündung, welche, wenigstens in Spuren, überall 
aufzufinden sind. Der Prozeß beginnt also mit der Wirkung des Todestriebes, 
worauf eine mächtige Fluxion von Vermehrungstendenzen folgt, deren libidi- 
nöser Charakter unschwer zu erkennen ist. Wenn man z* B, die Celsus- 
schen Kardinalsymptome der Entzündung, den Ruhor, Calor, Dolor und 
Tumor betrachtet, findet man sie wieder bei der Erektion und bei jeder 
Genitalisierung findet man auch die Functio laesa « Allerdings ist bei der 
Erektion der Schmerz durch die erotische Spannung vertreten, welche aber 
bei großer Intensität ebenfalls schmerzhaft wirken kann* Gestützt auf einige 
interessante psychoanalytische Funde habe ich Grund anzunehmen, daß die 
Entzündung nicht nur einer „PhaJlisation w , sondern auch einer Hysterisation 


1) Selbstverständlich können auch andere Abwehrreaktionen zu Worte kommen. 
Entstehung von organischen KrankheitsSymptomen durch Renktionsbildung ist auch 
wohl denkbar etwa nach der Auffassung A. Adlers, der einseitig und deshalb auch 
falsch in der Überkompensierung der durch Entwicklungshemmungen gesetzten 
Minderwertigkeit der Organe den Grund sowohl der psychischen, wie der organischen 
Erkrankungen erblickt. 








1 


Umrisse einer Bioanalyse der organischen Pathologie 


l 77 


des Gewebes gleichkommt. Diese Phase der Entzündung ist das somatische 
Ebenbild der uns wohlbekannten Libidoanhäufungen (Erektion und Genitali- 
sierung), Darauf folgt wieder eine Vermischungsphase beider Triebarten in 
der Regeneration zum normalen Leben oder eine Verdrängungsphase: Heilung 
mit Narbenbildung (partieller Gewebstod). 1 Auch andere Zeichen sprechen 
dafür» welche von Ferenczi früher schon betont wurden» 2 3 * wie z. B., daß 
die Tiere ihre Wunden lecken, und wir haben auch in dem Verhalten der 
Mütter, die in starker Identifikation mit ihren Kindern die schmerzenden 
Stellen derselben mit Zärtlichkeiten und Küssen überhäufen, sowie in dem 
angenehmen Jucken der abheilenden Entzündungen eine gute Stütze für 
diese Auffassung. 

Auf die Frage, welche Art der Libido in der entzündlichen Fluxion 
tätig ist, können wir vermuten» daß sie anfangs wohl eine narzißtische sein 
dürfte, ausgedrückt in den Erscheinungen der lokalen Turgeszenz, und erst 
spater genitalen Charakter annähme, gekennzeichnet durch die Autotomie" 
tendenzen (Abstoßung, Jucken), eventuell durch die sadistischen Tendenzen 
vermittelt (Phagozytose). 

Die Rolle der Regression in diesen Vorgängen ist schwer zu umgrenzen, 
doch sehr augenfällig. Wir begegneten ihr schon in der Metschnikoffschen 
Auffassung der Entzündung als eine Art Phagozytose. Sie zeigt allerdings 
die Regressionstendenzen der grundlegenden Veränderungen an, welchen die 
Ent zun dungszellen, nicht nur die amöboiden weißen Blutkörperchen, sondern 
auch die fixen Gewebszellen, unterworfen sind 5 und deren embryonaler Cha¬ 
rakter von den Pathologen allgemein anerkannt wird. Ob die Leukozyten 
einen Regressionsprozeß erleiden, ist fraglich, da sie schon an und für sich 
regressive Elemente des Organismus darstellen und durch ihre Einwanderung 
gleichsam die Zusammensetzung der entzündlichen Gewebe in der Regressions¬ 
richtung verändern. Sie vertreten jenes Stadium der Artentwicklung, in 
welchem dem pathologischen Entzündungsprozeß ähnliche Vorgänge, z. B. 
Aufnahme von Bakterien, Vernichtung derselben oder Teilung der Zelle 


1) Eine Revue der instruktiveren und mit den neurotischen Symptomen mehr ver¬ 
gleichbaren ehr onis dien Entzündungen muß für eine eingehendere Untersuchung auf¬ 
gespart bleiben. 

2) Ferenczi: Hysterie und Pathoneurosen, 5 . 15, 1919* „Über Pathoneurosen,“ 
Hysterische Materialisationsphänomene, 

3) Letztere können wieder Beweglichkeit und eine große Vermehrungsfähigkeit 

erreichen. Man vergleiche noch die Loehschen Versuche mit den Seeigeleiem über 
die Kausalfolge : Schädigimg — Vermehrung. 


hi] ago Xlh 


12 







l f 8 S, Pfeifer 

unter Einwirkung äußerer Reize, auch normalerweise Vorkommen, also den 
Anfang des organischen Lebens (Protozoen stad nun). 

Eine andere Veränderung bei der Entzündung, welche als Systemregression 
gedeutet werden kann, ist die der Blutzirkulation. Die Blutgefäße geben 
ihre physiologische Rolle auf, die Blut Zirkulation zu kanalisieren, werden 
gelähmt, oder jedenfalls maximal gefüllt, ihre Wandungen außerordentlich 
durchlässig, und so entsteht im entzündlichen Gewebe ein ödem. All dies 
entspricht gleichfalls dem Zustand, bevor die Blutzirkulation sich ausbildete, 
also dem freien Safterguß in die Ge websspalten- Daß hierin eine Regression 
vorliegt zu blutgefaßlosen Organisationsformen, dafür scheint die Behauptung 
Metschnikoffs zu sprechen, 1 daß die seröse Entzündung späteren Ursprunges 
sei, als die rein zelluläre (leukozytärc) der niedrigeren Organismen* Bei 
den Avertebraten (meistens Wassertiere) zeige sich keine Spur eines serösen 
Exsudats, nicht einmal bei den Amphibien, erst ausnahmsweise bei deren 
Larven, Diese Erscheinung dürfte einem „thalassalen Regressionszug nach 
Ferenczi entsprechen, zu dem Zwecke, den regredierten, zeitigen Elementen 
ein entsprechendes Milieu zu verschaffen. (Vgl. die vorhin erwähnte Hysteri- 
sation des entzündeten Gewebes.) 

Auch die Heilungs- und Begenerationsvorgänge bei der Entzündung ent¬ 
halten, wie nach der vorausgegangenen Regression zu erwarten, viele Teil* 
Stadien der Embryogenese, welche auch in den pathologischen Lehrbüchern 
nachzuschlagen sind, 

Entzündungserreger, Im Gegensatz zu der chemisch-physikalischen 
Forschung erhoffen wir tiefere Aufschlüsse über ihre Rolle in der Ent¬ 
zündung zu gewinnen, wenn wir das Verhalten lebender Organismen ana¬ 
lysieren. — In der Hervorrufung der Entzündung fällt den Mikroorganismen 
eine charakteristische Rolle zu. Wenn wir davon den feinsten Resonator 
aller Lebenserscheinungen, das Unbewußte befragen, z* II- wenn wir die 
Gelegenheit haben, Leute mit entzündlichen lokalen, oder allgemeinen Er¬ 
krankungen in der Psychoanalyse zu haben, so können wir darauf gefaßt 
sein, daß fast regelmäßig Schwangerschaftsphantasien den Ablauf des ent¬ 
zündlichen Prozesses bei dem Kranken begleiten. Wenn wir diese Aufklä* 
rung vom Unbewußten annehmen, so können wir nicht umhin, in der 
Infektion eine Art — sozusagen mißlungener Befruchtung zu erblicken, 
wie auch die Infektion selbst ein typisches Symbol für Befruchtung ist. 
Wir werden diese Spur hier nicht lange verfolgen, nur bemerken, daß die 


i) Metschnikoff: „L’inHammaticm“, S. 215* 












Umrisse einer Bioanalyse der organischen Pathologie 


*79 


auffallende Zellvermehrung 1 im Beginne und auch beim weiteren Verlauf 
einer Infektion für die obige Behauptung spricht. 

Dein widerspricht auch nicht, daß auch aseptische Gewebsschädigungen 
ähnliche Erscheinungen hervorrafen können. Man vergleiche z. ß, die Jacques 
Loebschen Ziichtungsv ersuche mit unbefruchteten Seeigel eiern, welche 
durch irgendeine mäßige Schädigung zur Weiterentwicklung gebracht werden 
konnten. Das führt zu tiefgreifenden Problemen, auf welche vielleicht einmal 
gründlichere Untersuchungen über dieEntmischungen der Todes- (Aggressions-) 
und Lebens- (Sexual-) Triebe größeres Licht werfen werden. 

Hier müssen wir dieses Kapitel abbrechen und viele Fragen und Probleme 
auf spätere Behandlung verschieben. So die infektive Rolle der Bakterien, 
ihre morphologische Analyse, ihr Verhältnis zu den Lebens- und Todes¬ 
trieben, ihre pathologischen Symbiosen bei den Infektionskrankheiten, die 
durch sie vertretenen Tendenzen, die historische Bedeutung dieser Symbiosen, 
den vermutlichen entwicklungs- oder artgeschichtlichen Zeitpunkt, wann sie 
lür die einzelnen Gattungen pathogen wurden, und andere Probleme mehr, 
von welchen die meisten heute noch im Stadium der aufgeworfenen Fragen 
auf ihre Lösung warten. Diese führen schon in ein anderes Kapitel hinüber, 
in die Bioanalyse der speziellen Pathologie, die, aus Mangel an Raum, 
ein anderes Mal behandelt werden so 11 , Die bisherigen, mehr aphoristischen 
Bemerkungen wollen nur die Möglichkeit der bioanalytischen Behandlung 
der allgemeinen Pathologie demonstrieren. 

* 

Um die Vielfältigkeit der möglichen Wege bei der bioanalytischen Be¬ 
handlung der speziellen Pathologie und besonders bei der Verfolgung des 
Regressionsmomentes als vielleicht des bedeutsamsten Teilproblems derselben 
zu zeigen, möchte ich noch auf eine morphologische Deutungsmöglichkeit 
hin weisen, welche im Falle der Brauchbarkeit für die organische Patho¬ 
logie von eminenter Bedeutung werden kann. Das ist eben die rein morpho¬ 
logische Betrachtung der Organe als Wiederholungen von bestimmten Ge¬ 
staltungstendenzen, welche vor Zeiten zur Entwicklung bestimmter Organi¬ 
sationen des Tierkörpers geführt haben. Anders ausgedrückt, wenn wir eine 
Anschauungsweise anwenden, welche zunächst von den Daten der Histologie 
und Embryogenie absieht und sich nur an die äußeren Formen der ein- 

1) Es fehlt nicht an Beobachtungen, nach welchen Paramac eien, welche zu viele 
Bakterien verschlungen haben, sich zu teilen beginnen, um nach der Ansicht Metschni- 
koffs sich dadurch ihrer Beizwirkung 111 entziehen. 







l So S. Pfeifer 


zelnen Organe hält, so werden wir in diesen bekannte Formen primitiver 
Tierarten erkennen. Darin wurde ich bestätigt durch die Behauptung 
Abrahams, der im vorderen Abschnitt der Verdauungsrohre (bis ein* 
schließlich des Magens) die Organisationsformen und auch die Funktions¬ 
weise der Coelenteraten erblickte, 1 2 

Das ergänzt wohl die Annahme, daß im anderen Teil des Darmtraktes 
unverkennbar die Organisationsformen der Würmer erscheinen, gekenn¬ 
zeichnet in erster Linie durch die segmentarische Ordnung der Bewegungs¬ 
elemente, durch die typische Bewegung und nicht zuletzt durch die Form 
des Organs, (Die Reste des spezifischen Nervensystems wurden abgetrennt und 
mit dem späteren Rückenmark in Beziehung gebracht und sind in der Gan¬ 
glienkette des Sympathikus anzutreffen,) Es wird uns nach dem Gesagten 
nicht wundern, wenn wir in den Funktionselementen des Darmes, in den 
Lieberkühnschen Krypten noch primitivere Organisationsforman, die der 
einfachsten Hohltiere, der Hydroidpolypen, erblicken wollen, mit der sack¬ 
artigen Einhöhlung eines einschichtigen Endothels und den tentakelartigen 
Papillen, Allerdings ist aus der intrazellulären Verdauung der Hydroidpolypen 
eine extrazellulare geworden, indem einige Zellen (Becherzellen) ihren Inhalt 
in Schleim verwandeln und in den Darm ergießen, 3 Bei pathologischen 
Prozessen {Darmkatarrh) tritt dieser Zug verstärkt in den Vordergrund und 
wird für die Krankheit geradezu charakteristisch. 

Die Wurmorganisation des Darmes spielt in den verschiedensten patho¬ 
logischen Fällen die regressive Basis des Prozesses* Aus der Fülle der Er¬ 
scheinungen wollen wir nur zwei Krankheitsgruppen herausgreifen, eine 
aus der inneren Medizin, eine aus der Chirurgie* 

Durch eine Gleichheit der Tendenzen und der Organisation wird es 
verständlich, daß der Darm der Lieblingsort des überwiegend größeren 
Teiles der unzähligen schmarotzenden Würmer geworden ist, unter welchen 
manche eine erstaunliche Anpassung zu dieser eigentümlichen Symbiose 
zeigen. Die Gleichheit der Tendenzen bei Wurm und Darin wird uns noch 
beschäftigen, z, B, die entwicklungsgeschichtlich neue Art der Vorwärts* 

1) Abraham' „Versuch einer Entwicklungsgeschichte der Libido/ * Di, F edern 
macht mich auf eine Stelle bei Driesch: „Philosophie des Organischen“, S. 284, 
aufmerksam, wo bereits diese Behauptung ausgedrückt wurde: „Die Ontogenic liefert 
uns ein Endding mit Organen, Können wir im Rahmen der Phylogenie etwas mit 
Organen vergleichen? Jede Speiies ist ein Organ, würde man sagen. Dann würde 
jedes Organ aus seinesgleichen im Wege der Phylogenie entstehen,“ 

2) Die Verdauung außer dem Körper ist bei den Wirbellosen ein häufiger und 

noch bei den Cephalopoden ein typischer Vorgang. 















Umrisse einer Bioanalyse der organischen Pathologie 


i8i 


Bewegung, die damit verbundenen aggressiven Tendenzen, die Neigung in 
Spalten, in Höhlen hineinzudringen usw, (Daher auch die große Invasions¬ 
neigung der vielen anderen schmarotzenden Würmer.) Letztere spielt eine 
große Holle bei manchen chirurgischen Erkrankungen, wie z, B, bei den 
verschiedenen Hernien, welche gar nicht so einfach mechanisch entstehen, 
wie die chirurgischen Lehrbücher es verführen, also durch Änderungen in 
der Widerstandsfähigkeit der Bauchwand und durch den erhöhten Druck 
der ßauchpresse, sondern die Gedärme tragen durch die eigene Bewegung 
auch aktiv dazu bei, um in die präformierten Höhlen hineinzugelangen, 
sogar in die Brusthöhle, wie sie durch diese Bewegungen auch imstande 
sind, das Netz auf eine entzündete Stelle zu bringen. Die ähnliche Tendenz 
der Gedärme mag wohl bei den Darmprolapsen (bei Kindern häufig) und 
bei den Intussuszeptionen und Invaginationen eine Rolle spielen, wo der 
Darm gleichsam in sich selbst hineinkriechen kann. 

Um auf das vorhin erwähnte Prinzip zurückzukommen, lassen wir auch 
einige der übrigen Organe eine Revue passieren, soweit sie sich dieser 
Betrachtungsweise unterwerfen, und auch dann, wenn sich die Folgen für 
die Pathologie vorläufig nicht überall klar zeichnen. Die einfachen Darm¬ 
drüsen haben wir nach ihrer Gestalt mit den Hohltieren in Beziehung 
gebracht (Hydroidpolypen), und die Wachstums- und FormverhäJtnisse auch 
der anderen Röhrendrüsen scheinen den Vermehrungsmodus dieser Tiere 
— die Vermehrung durch Knospen Bildung — nachzuahmen* (Pathologische 
Auswirkung vielleicht bei der Bildung gewisser Papillomen,) Aus dem Ur¬ 
sprung dieser Drüsen aus röhren artigen Bildungen folgt, daß sie ihre Ent¬ 
stehung einer teihveisen Regression von der Wurmgestalt zu der der Hydroid¬ 
polypen, mit Beibehaltung einiger Eigenschaften der ersteren, verdanken. So 
könnte man zwischen der Form des Herzens mit den Anfangsteilen der großen 
Arterien Beziehungen zu einer relativ hoch entwickelten lierform, zu den 
Cephalopoden, entdecken, gestützt nicht nur auf die auffallende Ähnlichkeit 
der Gestalt (Beutelform, kopfarmartige Anordnung der großen Ader, Reiz¬ 
leitungssystem), sondern auch auf die rückstoßartige Bewegung, bei den 
Tieren des Körpers, beim Herzen der Flüssigkeit. Zu diesem letzteren Organi¬ 
sationstyp könnte man noch das Auge rechnen. 

In den Aufbau der Adern spielt dann wieder die wurmartige Organisation 
hinein bis zu den Kapillaren, die wieder nach dem Sprossensystem gebaut 
sind (vgl, die Gefäß knospen bei der Wundheilung und in chronischen, ent¬ 
zündlichen Wucherungen), Bei gewissen Erkrankungen werden sie für das 
Blutserum durchlässig, dann stehen wir vor einer Regression vom System 






18s 


S. Pfeifer 


der geschlossenen zu dem mit offener Saftzirkulation* (Der Schritt z. B. von 
den Weichtieren oder tieferen Würmern — Plattwürmern — zu den höheren 
Würmern.) Überhaupt ist das Blutgefäßsystem der hauptsächliche, oder viel“ 
leicht (ausgenommen solche durch Wachstum) der einzige Träger aller Ten¬ 
denzen zur Turgeszenz geworden, solange diese nicht im Regress ionsfalle, 
wie bei den Ödemen wieder auf die Gesamtheit des Körpers zurückgehen. 
Übrigens ist es von großer pathologischer Bedeutung, daß die „Genitali- 
sierung“ wahrscheinlich immer von vasomotorischen Veränderungen begleitet, 
eventuell durch sie besorgt wird, und was ebenfalls vielfach behauptet wurde 
und wohl als erwiesen betrachtet werden kann, daß Entzündungen auf 
gemit allste rten Körperteilen viel leichter und fast regelmäßig entstehen. Man 
denke z* B. an den Fluor Albus der Onanisten, der keineswegs nur auf die 
mechanische Reizung zurückzuführen sei, an viele Ekzeme usw* 

Ich wäre geneigt, in den eigentümlichen, sinusartigen Erweiterungen 
der Kapillarvenen der Milz ebenfalls eine Annäherung zu der Weichtier¬ 
organisation mit ihrer freien Saftzirkulation zu erblicken* Ob dabei die 
große äußere Ähnlichkeit der Milz mit manchen Muscheltieren ein reiner 
Zufall ist, das können wir vorläufig dahingestellt lassen. Übrigens kommen 
milzartige Gebilde erst von den Mollusken angefangen im Tierreich vor. 

Hier ist es Zeit einem Vorwurf zu begegnen, der diesen Aufstellungen 
schon lange gedroht hat* Wir sprachen oben von Gestaltsaiialogien der 
Organe mit tierischen Organismen, welche nicht alle im Wege der Ent¬ 
wicklung unseres Körpers liegen, wie z* B. von der Cephalopodenähnlichkeit 
beim Herzen, um nur die schreiendste zu erwähnen. Die wird noch unter¬ 
strichen, wenn wir wissen, daß das Vertebraten herz während der Embryogenie 
durch Zusammenlegen und Verschmelzen einer rohr förmigen Ader gebildet 
wird. Wir müssen dann annehmen, daß unausgenützte Entwicklungsmöglich¬ 
keiten ein langes Stück des Entwicklungsweges mitgebracht werden können, 
bis im Körper selbst solche Änderungen und Notwendigkeiten eintreten, 
welche diese Entwicklungstendenzen sich aus wirken lassen. Vielleicht werden 
durch diese Möglichkeiten einmal viele Überdeckungen der Embryogenie 
verständlich. (Man denke z* B* an die Erscheinungen der Heterogonie*) 
Übrigens haben die Cephalopoden in bestimmten Hohltieren, in den Anthozoen 
ein einfacheres Organisationsvorbild, ebenfalls mit starker Kontraktilität, 
mit Vormagen und Magen, mit ein- und ausströmendem Wasser, 1 entakeln, 
welche Tiere aber den Coelenteraten angehören, also einer näher stehenden 
Tiergattung. Dies würde dann den Widerspruch auflieben* Selbstverständlich 
darf man den Körper nicht als ein Aquarium oder eine entwicklungs- 











Umrisse einer Bioanalyse der organischen Pathologie 




geschichtliche Sammlung von nebeneinandergefügten Tierformen betrachten. 
Allerdings gibt es Tiergattungen, bei welchen die einzelnen Organe durch 
besondere Individuen vertreten sind, wie z. B. bei gewissen Tierstaaten 
(Syphonophoren usw.)* Auch manche Symbiosen dürften unter diesem Ge 
sichtspunkt erwähnt werden. 

Wieder ein Punkt, um abzubrechen, bevor die Bedeutung dieser Betrach¬ 
tungsweise der rückgreifenden Entwicklung — Entwicklung über mor¬ 
phologische Regressionen hindurch — für die Biologie und die biologische 
Analyse der Pathologie an den Beispielen auch der übrigen Organe demon¬ 
striert werden konnte. Auch sind wir etwas weit in ferne und man wird 
mir mit Recht vor werfen: phantastische — Gebiete der Phylogenie verirrt. 
Aber es ist mir diesmal hauptsächlich nur daran gelegen, neben den fester 
fundierten Bauten auf dem Gebiete der Bioanalyse auch einige der von 
diesen ausgehenden Wege zu zeigen, welche vielleicht vorläufig in dem 
Urwald der biologischen Vorgeschichte des Menschen leicht irreführen. 
Doch muß solches noch* so gewagtes Vordringen, ermöglicht durch die 
immense Erweiterung des wissenschaftlichen Blickfeldes durch die Anwen¬ 
dung der psychoanalytischen Ergebnisse auf andere Wissensgebiete, früher 
oder spater mit der Erforschung und Urbarmachung auch dieses Neulandes 
der Bioanalyse enden. 










Über die Anwendbarkeit der Energielehre 

in der Psychologie 

Von 

Emil Simonson 

Berlin-Halensee 

Die Schwierigkeit beginnt bereits bei der Begriffsbestimmung. Ist Energie 
etwas Reales? Philosophen und philosophisch sich betätigende Biologen haben 
es bestritten, Iritz Mauthner(i) 1 setzt die Energie dem Kausalitätsbegriff 
Kants gleich, der im Gegensatz zu dem von Hume nicht bloß die Ursache, 
sondern die beiden korrelativen Begriffe Ursache und Wirkung umfaßt. Das 
ist im Grunde dasselbe, worüber vor zwanzig Jahren der russische Physiker 
Chwolson in seiner Schrift „Hegel, Ilaeckel, Kossutb und das zwölfte 
Gebot (2) so scharf geurteilt hat, wenn nämlich der Philosoph Kossuth sagt: 
„Das Gesetz von der Erhaltung der Energie ist nichts weiter, als der Satz: 
,Die Ursache ist gleich der Wirkung.“ 1 Ähnlich deduziert Spengler (3). 
Verwom (4,) stellt die Realität vom Standpunkt seines Psychomonismus in 
Abrede, Dagegen gelangt der holländische Philosoph Heymans (g) in 
Groningen, auf dessen Versuch über die Anwendbarkeit des Energiebegriffes 
m der Psychologie wir später noch eingehen müssen, als Vertreter des 
psychischen Monismus zu einem nicht so eindeutigen Ergebnis. Für Eduard 
von Hartmann (6) ist die Energie in genau demselben Sinne wie die Materie 
eine objektiv-reale Erscheinung. Eudwig Stein (y) endlich vertritt einen 
unvermeidbaren Agnostizismus: „Der psychologische Zirkel ist unentrinnbar. 
Der Prozeß menschlicher Verdoppelung ist unaufhebbar. Wir müssen unsere 
Eigenschaften in das All hineindeuten. Ein gröberer oder feinerer Anthropo¬ 
morphismus ist das seelische Fatum des Menschengeschlechtes. Dabei kommt 


‘ 94 - 


1) Ziffern in Klammern, siehe Literatur auf S. 














Energielehre in der Psychologie 


185 


wenig darauf an, ob man dieses Hineindeuten menschlicher Merkmale oder 
Stammeseigenschaften in den geforderten Einheitsträger des Weltganzen mit 
den Griechen ,Anthropomorphismus 1 , mit Franz Bacon ,idola tribus‘, mit 
Avenarius ,introjizieren‘, mit Petzold ,einlegen‘, oder endlich mit Lipps 
,einfühlen 1 nennt. Ob wir das oberste Einheits- oder Ordnungszentrum ,Natur 1 
oder jGott 1 betiteln: es ist imd bleibt doch nur eine hinausprojizierte Ver¬ 
doppelung unserer eigenen Ich-Einheit. Wird der Leib verdoppelnd hinaus¬ 
projiziert, so entsteht der Materialismus; wird die Seele in das Weltbild 
introjiziert, so entsteht Idealismus; werden einzelne Empfindungen oder Er¬ 
lebnisse ,eingelegt 1 , so bildet sich der Phänomenalismus heraus; wird endlich 
die Muskeltätigkeit, die Kraft oder der Wille in das Weltganze ,eingeführt 1 , 
so entsteht das Weltbild, das Wundt mit Schopenhauer Voluntarismus, Ostwald 
mit Robert Mayer und Leibniz Energetik nennen.“ 

Immerhin ist dieser Standpunkt nicht mit dem schrankenlosen Psycho- 
monismus identisch, für den überhaupt ein „Ding an sich“ nicht vorhanden 
ist. Planck (8) gibt auf die Frage, ob der rein kausalen Denkweise an irgend¬ 
einem Punkte eine feste Grenze gesetzt sein könnte, die sie nicht über¬ 
schreiten kann, eine sehr interessante Antwort; „In der Tat: es gibt einen 
Punkt, einen einzigen Punkt in der weiten, unermeßlichen Natur- und 
Geisteswelt, welcher jeder Wissenschaft und daher auch jeder kausalen Be¬ 
trachtung nicht nur praktisch, sondern auch logisch genommen unzugänglich 
ist und für immer unzugänglich bleiben wird: dieser Punkt ist das eigene 
Ich. — Ein winziger Punkt, wie ich sagte, im Weltenbereich, und doch 
wiederum eine ganze Welt, die Welt, die unser gesamtes Fühlen, Wollen 
und Denken umfaßt, die Welt, die neben dem tiefsten Leid die höchste 
Glückseligkeit in sich birgt, das einzige Besitztum, das uns keine Schicksals¬ 
macht entreißen kann, und das wir nur mit unserem Leben selber dereinst 
preisgeben. Nicht als ob die eigene Innenwelt der kausalen Betrachtung 
überhaupt entzogen wäre. Grundsätzlich steht durchaus nichts im Wege, 
daß wir auch jedwedes eigene Erlebnis restlos in seiner streng kausalen 
Notwendigkeit begreifen. Aber dazu ist eine schwerwiegende Bedingung un¬ 
erläßlich: wir müssen seit jenem Erlebnis ungeheuer viel klüger geworden 
sein; so klug, daß wir gegenüber unserem damaligen Zustande uns als 
mikroskopischer Beobachter, als ein Laplacescher Geist fühlen können. Denn 
nur dann ist jener Abstand, jenes Mindestmaß von Distanz zwischen dem 
erkennenden Subjekt und dem zu erforschenden Objekt gewahrt, das wir 
als unumgängliche Voraussetzung für die Durchführbarkeit der kausalen 
Betrachtung oben ausdrücklich festgestellt haben.“ (Nebenbei: eine schöne 





i86 


Emil Sitnonson 


Rechtfertigung der Forderung, daß der Psychoanalytiker selbst analysiert 
sein muß.) Was hier vom Einzel Individuum ausgesagt wird, müßte sinn- 
gemäß auch auf den menschlichen Verstand im allgemeinen da angewendet 
werden können, wo es sich um die großen, uralten, nie gelosten, erkenntnis¬ 
kritischen Fragen des Kausalitätsbedürfnisses der Menschheit handelt. Auch 
die Menschheit steht ja diesen Fragen gegenüber wie ein Münchhausen, 
der sich an seinem eigenen Schopf aus dem Sumpf ziehen soll. — Ostwald (9) 
hat schon vor längerer Zeit die Vermutung ausgesprochen, die Materie sei 
nichts als verdichtete Energie. Dieser intuitive Gedanke hat durch Einsteins 
Entdeckung, daß jeder Körper, der Energie aussendet, gleichzeitig an Masse 
verliert, eine exakte Fundierung erhallen, denn dadurch lag es nahe, das 
Wesen der Materie überhaupt in Energieanhäufung zu sehen. — Nernst (10) 
hat die Hypothese aufgestellt und begründet, daß auch beim absoluten Null' 
punkt die Bewegung nicht aufhört, daß der Äther vielmehr von ungeheuren 
Mengen von „Nullpunktsenergie“ erfüllt ist. Wenn Planck (1 i) im Gegen' 
satz hiezu annimmt, daß die Energie des elektromagnetisch-neutralen Feldes 
gleich Null ist, so hat er doch auf dem abweichenden Wege dasselbe Ziel 
im Auge, die Auffassung der Energie als etwas Absolutes zu begründen. 
Ebenso hat die Energie eines ruhenden Körpers, wie sich aus der speziellen 
Relativitätstheorie ergibt, einen bestimmten Absolutwert, der gleich ist dem 
Produkt seiner Masse und dem Quadrat der Lichtgeschwindigkeit. Planck 
bemerkt dazu: „Es muß ein merkwürdiges Zusammentreffen genannt werden, 
daß gerade eine Theorie der Relativität zur Bestimmung des Absolutwertes 
der Energie eines physikalischen Gebildes geführt hat“, und er führt das 
an späterer Stelle weiter aus: „So ist auch in der vielfach mißverstandenen 
Relativitätstheorie das Absolute nicht aufgehoben, sondern es ist im Gegen¬ 
teil durch sic nur noch schärfer zum Ausdruck gekommen, daß und in¬ 
wiefern sich die Physik allenthalben auf ein m der Außenwelt liegendes 
Absolutes gründet. Denn wenn das Absolute, wie manche Erkenntnistheoretiker 
annehmen, nur im eigenen Erleben zu finden wäre, so müßte es grundsätzlich 
ebenso viele Arten von Physik geben, wie es Physiker gibt, und wir wurden 
der Tatsache völlig verständnislos gegen überstehen, daß es wenigstens bis 
zum heutigen Tage möglich ist, eine physikalische Wissenschaft aufzubauen 
und zu pflegen, deren Inhalt für alle forschenden Intelligenzen, bei aller 
Verschiedenheit ihrer Einzelerlebnisse, sich als der nämliche erweist. Daß 
nicht wir uns aus Zweck mäßigkeitsgrün den die Außenwelt schaffen, sondern 
daß umgekehrt sich uns die Außenwelt mit elementarer Gewalt aufzwingt, 
ist ein Punkt, welcher in unserer stark von positivistischen Strömungen 









Energielehre in der Psychologie 


187 


durchsetzten Zeit nicht als selbstverständlich unausgesprochen bleiben darf.“ 

So wird denn der dem Realen zugewandte Naturwissenschaftler 
nicht umhin können, gerade in der Energie das einzig Reale zu 
sehen. Wenn somit überall, wo etwas geschieht, Energie im Spiele ist, 
dann muß das auch bei allem seelischen Geschehen der Fall sein. 

Freud, der schon sehr früh die Notwendigkeit erkannt hat, alle seelischen 
und geistigen Vorgänge dynamisch aufzufassen, konnte es natürlich nicht 
entgehen, daß man in gerader Folge auf die energetische Auffassung kommen 
muß, weil ja die Energetik als Dynamik der Elektronen oder sonstigen kleinsten 
Elemente angesehen werden muß. Allerdings hat er die derzeitige Schwierig¬ 
keit, vielleicht Unmöglichkeit, sehr bald erkannt, heute schon vom dynamischen 
zum energetischen Schema überzugehen, ln „Das Ich und das Es” (12) zürn 
Beispiel fragt er: „Wie aber ist es mit jenen inneren Vorgängen, die wir 
etwa — roh und ungenau — als Denk Vorgänge zusammen fassen können ? 
Kommen sie, die sich irgendwo im Innern des Apparates als Verschiebungen 
seelischer Energie auf dem Wege zur Handlung vollziehen, an die Ober¬ 
fläche, die das Bewußtsein entstehen läßt, heran? Oder kommt das Bewußt¬ 
sein zu ihnen? Wir merken, das ist eine von den Schwierigkeiten, die sich 
ergeben, wenn man mit der räumlichen, topischen Vorstellung des seelischen 
Geschehens ernst machen will.“ Wir werden im folgenden sehen, wie weit 
Heymans mit seinem Versuch einer energetischen Dynamik der psychischen 
Lebensvorgänge kommt, können aber schon im voraus die Notwendigkeit 
betonen, daß noch jahrzehntelange Vorarbeiten nötig sein werden. Der Physiker 
Felix Auerbach (13) sagt am Schlüsse seiner Besprechung meines Buches 
„Der Organismus als kalorische Maschine und der zweite Hauptsatz : „Muß 
nicht zuerst die Frage der Gültigkeit des Entropiesatzes für den lebenden 
Organismus ernsthaft in Angriff genommen, d, h. bis auf die elementaren 
Prozesse in der Zelle zurück verfolgt werden, bis auf Prozesse, die sich dem 
Grenzfalle umkehrbarer Prozesse, für die allein doch die Entropie eine 
quantitativ bestimmte Größe ist, am meisten nähern? Und zugleich auch 
Prozesse, die von jener Feinheit der zugrunde liegenden Konfiguration und 
ihrer Änderungen sind, daß, wie schon Ilelmholtz vermutete, der Satz 
von der Unmöglichkeit, Wärme zu Arbeit zu steigern, ungeordnete Bewegung 
in geordnete überzuführen, hinfällig wird?“ — Ostwald nimmt als eine 
der Erscheinungsformen der Energie eine besondere psychische Energie an, 
Verworn wendet dagegen ein, daß dadurch nichts gewonnen sei; denn sie 
bleibe immer eine Energieform sui generis, die mit den anderen Energie¬ 
formen nichts Wesentliches gemein habe. Alle anderen Energieformen seien 






188 


Emil Simonson 


nur objektiv, d, h. sinnlich wahrnehmbar* Subjektiv, d. h, ohne Vermittlung 
unserer Sinnesorgane, waren sie uns völlig unbekannt* Dagegen sei umgekehrt 
die psychische Energie Ostwalds objektiv nirgends nachweisbar und uns 
nur durch subjektive Erfahrung bekannt* Diese Energieform sei demnach 
in ihren Grundeigenschaften gänzlich von der Gesamtheit der uns bekannten 
Arbeitsleistungen in der Natur verschieden* Diese Verschiedenheit sei aber 
nichts anderes als die alte Kluft, welche die energetische Anschauung gerade 
überbrücken wollte, die Kluft, die eben zwischen der Reihe der psychischen 
und der Reihe der körperlichen Vorgänge bestehe* 

Wir werden vorläufig rnit einem bescheideneren Ziele als dem von 
Auerbach gesteckten, zufrieden sein müssen, nämlich zunächst mit dem 
Streben nach Feststellung, ob der Ablauf psychischer Vorgänge von Energie* 
Umsetzungen entsprechend den beiden Hauptsätzen begleitet sind. Ein Weg, 
diesem Ziele näherzukommen, ist die Untersuchung der „finitiven“, d* h. 
jeder für sich zu einem Abschluß führenden Vorgänge, wie sie besonders 
H- Zwaardemaker (i 4) in Utrecht vielfach durchgeführt hat. Von finitiven 
Prozessen darf man selbstverständlich nur in Annäherung sprechen. Stäreke 
hat mir in einem Foyer-Gespräch beim Berliner Psychoanalytischen Kongreß 
gegen die Anwendbarkeit des Entropiesatzes den Einwand gemacht, das wäre 
nur in einem geschlossenen System möglich. Der Entwand ist theoretisch 
richtig, aber bei konsequenter Durchführung würde kein Wärmetheoretiker 
die Energiewandlungen und Umsetzungen in einer Dampfmaschine berechnen 
können. Auch Zwaardemaker hebt gleich im Beginn seiner Darlegungen 
hervor, daß die Systeme keinesfalls im strengen Sinne des Wortes als ge- 
schlossen gelten könnten. Finitive Vorgänge seien Kreisprozesse, d. h. Vor¬ 
gänge, bei denen Anfangs- und Endzustand gleich sind. Die finitiven Prozesse 
in einzelnen Organen könnten demnach als Kreisprozesse geschildert werden, 
obgleich sie sich im offenen System abspieltcn, wenigstens während des 
Schlafes und im wachen Zustande, falls ausschließlich ganz kurze Zeiträume 
ins Auge gefaßt werden. Er erkennt auch, daß die im Körper vorkommen¬ 
den Kreisprozesse bei isotherm sich vollziehendem Chemismus einem Carnot- 
sehen Kreisprozeß nur entfernt ähnlich sein werden* ln diesem Sinne seien 
zwei gleiche, in entgegengesetzter Richtung geführte Reaktionen ein Kreis¬ 
prozeß. — Diese in der Physiologie oft vorkommende Auffassung ist nur 
ziemlich äußerlich richtig. Man könnte eher das isotherme Resultat mit 
einem Inter ferenzvorgange vergleichen. Auch sonst isi hier Vorsicht geboten* 
Ich habe aus einzelnen Vorgängen die Erfahrung geschöpft, daß in der 
Physiologie anscheinend gar nicht sehen eine Verwechslung von Umkehr- 




















Energielehre in der Psychologie 189 


baren und adiabatischen Prozessen stattfindet, die beide nur den isothermen 
Ablauf gemeinsam haben. Umkehrbar sind aber adiabatische Prozesse nicht. 

Unter diesen Vorbehalten können wir uns jetzt den bisherigen Ergebnissen 
zuwenden. Für die Energetik am günstigsten liegen nach Zwaardemaker 
die Verhältnisse im peripheren Teile des Nervensystems, weil die „umkehr¬ 
baren“ Kreisprozesse hier besonders in den Vordergrund treten, ja, in den 
peripheren Nerven nahezu alles Bekannte umfassen. „Irreversible Prozesse 
sind in den peripheren Nerven, in welchen gar kein Stoffwechsel wahr¬ 
nehmbar ist, und es überdies nicht zu einer Wärmeproduktion kommt, 
kaum angedeutet. Hingegen finden sich die deutlichen Kennzeichen umkehr¬ 
barer Vorgänge vor.“ Diese reversiblen Vorgänge sollen sich überdies in einem 
geschlossenen materiellen System abspielen, da in intaktem Zustande weder 
stoffliche Änderungen, noch ein Zu- und Abfluß der Energie wahrnehmbar 
seien. Ähnliche Betrachtungen wie für die peripheren Nerven könne man 
auch für das Zentralnervensystem anstellen, doch mache sich hiebei ein viel 
bedeutenderer nichtkompensierter Anteil geltend. 

Als objektiv nachweisbare Kennzeichen der sich abspielenden Erregungs¬ 
vorgänge hat man die Wärmeproduktion und die elektrische Energieentwick¬ 
lung als maßgebend benützt. Im Rahmen dieser Arbeit kann nur auf einige * 
Ergebnisse hingewiesen werden, zumal es hier nur darauf ankommt, von 
den Forschungswegen und -21 eien einen Begriff zu geben. Hans Berger 
(zitiert nach Zwaardemaker) hat gezeigt: Eine Temperaturerhöhung der 
Rinde um 002 Grad, welche innerhalb einer halben Minute nach der kräf¬ 
tigen Einwirkung eines Schalls auf das Ohr beobachtet wurde, wird mit 
der Intensität des Reizes verglichen, mit dem Ergebnis, daß das Verhältnis 
zwischen Sinnesreiz und kalorischem Effekt sich wie 1:700 verhält. Die 
Energieproduktion, welche im Exzitationsstadium extra stattfindet, schätzt 
er auf drei Kilogrammeter per Minute. — Zwaardemaker hat berechnet, 
daß bei drei Millimeter Pupillenweite und einer Lichtstärke von 1000 Meter¬ 
kerzen die ins Auge ein tretende Lichtmenge 600 Erg. per Sekunde beträgt. 
An einem tropischen Tag von zwölf Stunden beziffert sich das alles zu¬ 
sammen auf o'5 Grammkalorien. Der von uns unter gewöhnlichen Umständen 
unbeachtete Teil des Tageslärms beträgt ungefähr 7 X io ”3 Erg. per Sekunde, 
in 24 Stunden sind das zirka 400 Erg. — Bei der Stimme eines anderen 
kommen 6'6 Erg. per Sekunde auf beide Trommelfelle, bei der eigenen 
Stimme o'oooi4 Erg. per Sekunde. Die in den genannten Beispielen berück¬ 
sichtigten Energiemengen beziehen sich auf die den Sinnesflächen mitge¬ 
teilten Quantitäten. Was hiervon den sich anschließenden Teilen des Nerven- 










Emil Simünson 


19° 


Systems übertragen wird, ist noch sehr unsicher. Am leichtesten lassen sich 
die Verhältnisse beim Lichtsinn übersehen, ungefähr zwei Prozent des auf- 
genommenen Lichtes wird von den spezifischen Sinneselementen absorbiert. 
Zwaardemaker bemerkt ?,u diesen Ergebnissen, ungeachtet der Kleinheit 
der in Form von Sinnesreizen auf unseren Körper übergehenden Energie 
bekomme sie doch eine außerordentlich wichtige Bedeutung im Haushalt 
des Organismus, weil sie fast im ganzen Nervensystem und infolgedessen 
sekundär in damit zusammenhängenden Systemen eine ziemlich lebhafte 
und nahezu kontinuierliche Erregung unterhält. 

Diese Beispiele mögen für die Kennzeichnung der noch in den Anfängen 
befindlichen Forschungen genügen. — Aber das kausale Bedürfnis läßt sich 
nicht hindern, durch logische Überlegungen dem Schneckentempo der ex¬ 
perimentellen Forschung vorauszueilen und versuchsweise die Energiesätze 
im allgemeinen Sinne auf allerlei Probleme anzuwenden. Es folgt damit 
den Wegen der modernen Physik. So drängt sich z, B. die Anwendung des 
zweiten Hauptsatzes auf die Probleme der Zeugung, der Entwicklungs¬ 
mechanik, des Sterbens auf und kann zu fördernden Arbeitshypothesen führen. 
Franz Alexander (15) hat den Entropiesatz mit dem von Freud erkannten 
lodestrieb in Beziehung gesetzt und der Beziehung folgende Formulierung 
gegeben: ^Der von Freud erkannte Todestrieb ist also der sich in der Psyche 
widerspiegelnde Ausdruck dieses allgemeinsten Naturgesetzes, des Entropie- 
gesetzes, indem er von dem labileren Zustand zu dein stabileren des Todes 
drängt. Diese Anwendung ist logisch und wird nicht nur für das Sterben, 
sondern auch für das Leben Bedeutung behalten, worauf hier nicht ein- 
gegangen werden kann. Aber bisher mußte nach der Schlußfolgerung Lord 
Kelvins aus dem Entropiesatz auch für den Gesamt kos mos gewissermaßen 
ein Todestrieb angenommen werden. Seit Helmholtz haben viele Physiker 
diesen ^Wärmetod^ als unvermeidbar angesehen. Andere haben sich ver¬ 
gebens bemüht, einen Ausweg zu finden. Erst durch Einsteins Berechnung, 
daß der Kosmos unbegrenzt, aber nicht unendlich ist, und infolge der An¬ 
nahme von Nernst, daß der Äther von „Nullpunktsenergie 4 * erfüllt ist, 
konnte dieser Forscher uns wirksam die Schlußfolgerung Lord Kelvins als 
intermediäre Erkenntnis zeigen. Der Todestrieb hat also nicht unbe¬ 
dingt die Alleinherrschaft, sondern der Kosmos als Ganzes ist 
ein idealer Kreisprozeß, ein Mobile perpetuum zweiter Art und 
ein in aller Vergangen heit und Zukunft stationäres Gebil de, Welt- 
korper gehen, neue kommen, hier überwindet der Todestrieb nicht 
den Zeugungstrieb, Das hat scheinbar mit unserem Thema nichts zu tun. 

















Energielehre in der Psychologie 


191 


aber die uns durch Nernsts Versuch übermittelte Einsicht muß 
auf das Seelenleben des Einzelnen und der Gesamtheit einen nach¬ 
haltigen und gestaltenden Einfluß üben. Kein drohender Wärme- 
tod läßt die Welt zwecklos erscheinen, die Aussicht unabsehbarer 
Entwicklung überwindet den Pessimismus der Weltanschauungen. 
Auch im Organischen und Psychischen ist der Tod nicht end¬ 
gültig der „wahrscheinlichere“, oder, wie es Alexander ausdrückt, 
der „stabilere“ Zustand, der Zeugungstrieb behält in dem ant¬ 
agonistischen Spiel zwischen ihm und dem Todestrieb in alle 
Ewigkeit seinen Platz. 

Ein systematisches und umfassendes energetisches Schema des psychischen 
Geschehens einschließlich des Unbewußten versucht auf demselben Wege 
Heymans in seiner bereits genannten Schrift. Die Arbeit umfaßt mehr 
als das Thema aussagt, nämlich nicht nur die Anwendbarkeit des Energie¬ 
begriffes, sondern auch der beiden energetischen Hauptsätze, soweit man 
sehen kann, in enger Anlehnung an die Auffassung Ostwalds. Sie bedeutet 
jedenfalls einen zu begrüßenden und berechtigten Versuch auch dann, wenn 
■wir ihn, sei es in einzelnen Teilen oder im ganzen, nicht als geglückt 
sollten ansehen müssen. — Heymans beginnt mit einer Grenzziehung 
zwischen seinem Unternehmen und den bisherigen Arbeiten über psychische 
Energie, psychische Arbeit usw. Ein Teil dieser Untersuchungen fasse nur 
die physische Gehirnenergie ins Auge und frage nicht, welche psychischen 
Energieverhältnisse, sondern nnr, welche psychischen Erscheinungen den 
Energieverhältnissen im Gehirn entsprechen, und also als Zeichen für die¬ 
selben aufgefaßt werden können. Ein anderer Teil richte die Untersuchungen 
zwar auf die Frage, wo und ob innerhalb des Psychischen etwas vorkommt, 
was wir als Energie, Arbeit usw. bezeichnen können; es werde aber statt 
der Wirkungsfähigkeit und Wirksamkeit der einzelnen Bewußtseinsinhalte 
nur oder vorwiegend die der gesamten Psyche ins Auge gefaßt, was 
die Parallelsetzung mit den physikalischen Begriffen von vornherein aus¬ 
schließe. — Eine dritte Gruppe endlich wende die Aufmerksamkeit zwar den 
einzelnen Inhalten zu, suche aber für die Beantwortung der Frage, ob diese 
Energie besitzen oder nicht, das Kriterium mehr oder weniger klar bewußt 
in den Gefühlen der Anstrengung oder der Ermüdung, welche sich 
bei, beziehungsweise nach gewissen psychischen Vorgängen im Bewußtsein 
bemerklich machen. Im Gegensatz zu allen diesen Fragestellungen richtet sich 
Heymans’ Untersuchung ausschließlich auf die psychische Kausalität, 
sie faßt die einzelnen Bewußtseinsinhalte ins Auge und fragt nach der 






192 


Emil Simonson 


Wirkungsfahigkeit, welche denselben anderen Bewußtseinsinhalten gegenüber 
zukommt, also nach ihrer Fähigkeit, diese anderen Inhalte hervorzurufen 
oder zurückzudrängen, zu verstärken oder abzuschwachen, kurz, irgend¬ 
welche Veränderungen im Bewußtsein zustande zu bringen. Und 
in bezug auf diese Wirkungsfahigkeit fragt sie weiter, ob Gründe vorliegen 
zur Annahme, daß sie sich erhält, sich überträgt und sich zerstreut, nach 
gleichen Gesetzen wie die, welche für die physische Energie festgesetzt 
worden sind. 

In der Tat, ein treffliches und umfassendes Programm, in seiner Formu¬ 
lierung selbst schon ein Verdienst, auch wenn das Ziel noch nicht erreicht 
wird. Sein Gelingen würde, wie schon oben gesagt, nichts weniger bedeuten, 
als die Ersetzung des F reudschen dynamischen Schemas durch ein Schema 
der konsequenten energetischen Dynamik der psychischen Vorgänge, zumal 
er annimmt, daß auch die unterhalb der Bewußtseinsschwelle gelegenen 
Bewußtseinsinhalte nach den Gesetzen des bewußten Seelenlebens entstehen 
und vergehen, sich verstärken und abschwächen, wirken und Wirkungen 
erleiden, mit einem Worte, daß die psychische Kausalität sich auch 
auf die Gebiete unterhalb der Schwelle des Bewußtseins erstreckt. 
Daher müßten bei Untersuchungen über psychische Energie die psychischen 
Inhalte von allen möglichen Bewußtseinsgraden, von der klar bewußten 
Wahrnehmung oder dem intensiven Gefühl an bis zur völlig unbewußten, 
vielleicht überhaupt nicht mehr reproduzierbaren Erinnerungsvorstellung 
sämtlich in Betracht gezogen werden. — im Rahmen des zur Verfügung 
stehenden Raumes kann hier nur die von Hey man® selbst formulierte 
Zusammenfassung seiner Ergebnisse wiedergegeben werden: 

1) Jedem psychischen Inhalt kommt eine größere oder geringere Kraft 
zu, welche denselben befähigt, sich auf das Zentrum der Aufmerksamkeit 
hin zu bewegen (seinen Bewußtseinsgrad zu erhöhen), Das Produkt aus dieser 
Kraft und dem noch zu durchlaufenden Weg bildet seine Distanzenergie. 

2 ) Wenn ein Inhalt sich dem Zentrum annähert und also seine Distanz¬ 
energie ganz oder zum Teil verliert, werden andere Inhalte vom Zentrum 
zurückgedrängt, und wird also die Distanzenergie derselben erhöht. Zugleich 
gewinnt der sich dem Zentrum annähernde Inhalt mehr oder weniger 
Niveauenergie, welche die in ihm bereit liegenden potentiellen Assozi- 
ations-, Denk-, Gefühls- und Willensenergien zur Auslösung zu 
bringen vermag. 

}) Die ausgelösten Assoziations- f Denk-, Gefühls- und Willensenergien 
veranlassen zum Teil körperliche Erscheinungen, rufen zu einem anderen 










Energielehre in der Psychologie 


l 95 


Teil sonstige psychische Inhalte hervor, und fließen zum dritten Teil auf 
gleichartige oder gleichzeitige Inhalte ab. 

4) Vielleicht tritt beim Übergang der Distanzenergie in Niveauenergie 
noch eine weitere, als psychische Bewegungsenergie zu bezeichnende 
Energieform auf. 

j) Die Sätze i'—4 berechtigen uns, unter dem Vorbehalte quantitativer 
Prüfung, die Hypothese von der Erhaltung der psychischen Energie 
uufzustellen. 

6) Alle psychische Energie zeigt die Tendenz, sich in psychische Distanz¬ 
energie umzusetzen; während diese Distanzenergie in größeren und kleineren, 
mehr oder weniger abgeschlossenen psychischen Systemen die Tendenz be¬ 
kundet sich auszugleichen. 

y) Bei Veränderungen in psychischen Komplexen, welche dieser Aus¬ 
gleichstendenz zuwiderlaufen, läßt sich stets eine von außen geleistete Arbeit 
feststellen, welche entweder von der als körperlich erscheinenden Außenwelt, 
oder von anderen Bewußtseinskomplexen, oder von latenten Energien inner¬ 
halb des betreffenden Bewußtseinskomplexes selbst herrühren kann. 

8J Nach den Sätzen 6 und 7 haben wir Grund, auch dein Entropie¬ 
gesetz Gültigkeit für die psychische Welt zuzuschreiben, 

Hey maus schränkt die Aufgabe seiner Schrift selbst dahin ein, daß sie 
nur eine erste Anleitung für kommende empirische Untersuchungen sein 
wolle» „Wir dürfen nicht fragen, ob in der Welt, sondern nur, ob in den 
individuellen Bewußtseinen, nicht in abgeschlossenen psychischen Systemen, 
sondern nur, ob in solchen, wo sich Aufnahme und Abgabe von Energie 
ungefähr die Wage halten, nicht endlich, ob nach genauen Messungen, 
sondern nur, ob nach gewissenhaften, aber rohen Schätzungen im Bewußt- 
seinsleben Verhältnisse vorliegen, welche sich als die psychische Kehrseite 
(oder sogar als den eigentlichen Gegenstand) der einschlägigen physikalischen 
Bestimmungen betrachten lassen. — Wenn wir aber diese bescheideneren 
Fragen beantworten können, dürfen wir hoffen, damit späteren exakten Unter¬ 
suchungen den Weg zu zeigen, und somit besser fundierte Antworten wenig¬ 
stens vorzubereiten.“ 

Die Terminologie schließt sich, wie schon aus der oben wieder gegebenen 
Zusammenfassung ersichtlich, eng an Ostwalds Auffassung und Termino¬ 
logie an. Eine solche Übertragung schließt immer die Gefahr eines allzu 
summarischen Schematismus ein. So wird man noch zweifeln dürfen, ob 
die „psychische Distanzenergie“ geeignet ist, nach allen Richtungen die 
Rolle der Wärme unter den Verhältnissen des Entropiesatzes zu übernehmen. 


Imago XXL 


*5 










* 9 * 


Emil Smionson 


Die hier durchgeführte Analogie hat doch etwas stark Äußerliches. Vollends 
wird man nicht gezwungen sein, dem Autor darin zu folgen, wie er als ein 
Ergebnis seiner Betrachtungen das Problem des Warmetodes der Welt mit 
einer wahren Eisenbartkur im Sinne seines Paychomonismus Ibsen will. 
Wenn die stoffliche Welt keine selbständige Wirklichkeit besitzt, dann kann 
sie natürlich auch nicht zum Stillstand kommen. Unzulänglich ist auch sein 
Beweisgrund, daß, weil der Gesamtbetrag der Wellenergie ein endlicher ist, 
die von ihm zu leistende Arbeit in endlicher Zeit er sc hopf bar sein müsse. 
Nicht nur die Weltenergie ist endlich groß, sondern auch die Welt selbst, 
wie Einstein rechnerisch unausweichbar bewiesen hat. In einem endlichen 
Kosmos kann aber keine Energie unendlicher Dissipation unterliegen. Wie 
oben bei der kurzen Erwähnung der Nernstschen Lehre von der Möglich¬ 
keit einer kosmischen Umkehrung der Entropie schon gesagt ist, kann der 
Kosmos als ein idealer Kreisprozeß und ein stationäres Gebilde angesehen 
werden. Wie bereits gesagt, ist der Versuch Hey man s’ ein verdienst¬ 
liches Unternehmen, schon allein als eine programmatische Zusammenfassung 
für künftige Einzel forsch ungen. Aber den Sperling in der Hand, den Freuds 
dynamisches Schema für uns bedeutet, werden wir in den nächsten Gene¬ 
rationen vorsichtigerweise noch nicht fliegen Lassen. 

Ungeachtet der bisherigen spärlichen Ergebnisse können wir schon heute 
behaupten; Auch alles psychische Geschehen wird vom EnergiebegrifT und 
den Energiesätzen beherrscht, und dazu mag es mir gestattet sein, mit einer 
rein deduktiven Überlegung zu schließen; die Geltung der energetischen 
Hauptsätze bei irgendwelchen Vorgängen oder Erscheinungen 
leugnen, heißt die Notwendigkeit des wissenschaftlichen Deter¬ 
minismus in Abrede stellen. Vielleicht gibt es in irgendeiner 
Wissenschaft noch Vertreter, die den Determinismus verwerfen, 
aber daß ein Freud-Schüler derartig den Ast absägen könnte, 
auf dern er sitzt, läßt sich schwer varstellen. 

LITERATUR 

1) Fritz Mauthner: Wörterbuch der Philosophie* Leipzig 1910* 

2) (X IX Chwolson: Kegel, Haeckel, Koiaulh und das zwölfte Gebot. Braun* 

schweig 190h, * 

5) Spengler: Der Untergang des Abendlandes. Bd. 1. 

4) Max Verworn: Naturwissenschaft und Weltanschauung. Neue Rundschau, 1904, 
Heft VI. 

5) G, Heym ans: Ober die Anwendbarkeit des Energie begriffen in der Psycho* 
logie. Leipzig 1921. 
















Energielehre in der Psychologie 


^95 


6) E. v. Hart mann: Die Weltanschauung der modernen Physik. Bad Sachsa 1909. 

7) Ludwig Stein: Die Weltanschauung der Energetiker, Die Zukunft 1908, Heft 48. 

8) Max Planck: Kausalgesetz, und Willensfreiheit, Berlin 1925* 

9) W. Ostwald: Die Energie. Leipzig 1908. 

10) W. Nernst: Das Weltgebände im Lichte der neueren Forschung. Berlin 1921. 

11) M. Planck: Vom Relativen zum Absoluten. Leipzig 1925» 

12) Sigmund Freud: Das Ich und das Es. Wien 1925. 

15) Felix Auerbach: Die Naturwissenschaften. Berlin 1913, Heft IX. 

14) H. Z waar dem aker: Die Energetik der finitiven Prozesse. Wiesbaden 1912, als 
Sonderabdruck aus „Ergebnisse der Physiologie", Jahrgang 12. 

15) Franz Alexander: Metapsychologische Betrachtungen. Internationale Zeitschrift 
für Psychoanalyse, 1922, Bd. VII, Heft 5. 


*S 












Die Psychogenese organischer Krankheiten 

und das Weltbild 

Von 

Margarete Stegmann 

Dresden 

Die Möglichkeit, seelische Vorgänge, seelische Energie Verschiebungen in 
körperliche S3 f mptome zu konvertieren und zu verschieben, ist durch Freud 
grundsätzlich und durch ihn und seine Schule in zahlreichen Einzel (allen 
auch praktisch dargetan* BHir funktionelle Körpersymptome zunächst. Wie 
verschiedenen Weltanschauungen auch die Psychoanalytiker angehören mögen, 
diese Auswirkung des geistigen Prinzips im Gebiete des Körperlichen ist für 
sie alle Axiom. 

Groddeck unternahm den Vorstoß, die organischen Krankheiten ihrer 
Sonderstellung zu entreißen, und auch für sie eine psychische Beeinflu߬ 
barkeit, wo nicht eine gänzlich seelische Genese zu postulieren. Sämtliche 
Psychoanalytiker werden damals den Groddecksehen Vorstoß als sehr kühn 
empfunden haben; die Nichtanalytiker hielten Ilm zweifellos für verrückt* 

Heute sind wir so weit, daß viele Chirurgen und Kliniker zugeben, daß 
die organischen Krankheiten und ihr Verlauf in einer großen Anzahl von 
Fallen vom Seelischen abhängen* Der Chefarzt einer großen Volksheilstätte 
sprach von fünfzig Prozent Anteil der Psyche in den meisten seiner Fälle. 

Aber es ist ein Entweder-Oder* Entweder ist der Geilt das Primäre und 
baut den Körper; dann muß man in allen körperlichen Erscheinungen ihn 
als das Agens suchen und anerkennen, Oder der Stoff ist das Seiende und 
Geist nur seine Funktion; dann handelt es sich hei Krankheiten nur darum, 
die Gesetze des Körpers zu kennen* Oder es gibt die dritte Möglichkeit, 
daß von vornherein der Dualismus: Geist und Materie (Körper) existiert, 
auch wenn das Rätsel, wie sie aufeinander wirken können, ungelöst bleibt* 










Die Psychogenese organischer Krankheiten und das Weltbild 


*97 


Die Psychoanalyse hat die Determiniertheit aller Erscheinungen des 
Geisteslebens durch das Unbewußte dargetan. Philosophische Systeme, 
die „Evidenz wissenschaftlicher Thesen 4 *, religiöse Dogmen, Kunstwerke, 
politische Ereignisse, viele Erscheinungen also, die das Öffentliche Leben 
nicht nur der Einzelnen, sondern der Völker, der Menschheit durchaus be¬ 
stimmten, manche, die den letzten Grad von materieller Wirklichkeit und Tat¬ 
sächlichkeit erreichten, waren erwiesen als sozusagen „Kategorien" des Unbe¬ 
wußten ihrer Urheber, Notwendigkeiten, entspringend aus einer seelischen Ver¬ 
anlagung, aus Komplexen. 

Die Frage, ob die metaphysische Realität Kants und die unbewußte 
Realität Freuds identisch seien, steht hier nicht zur Diskussion, doch bekenne 
ich mich durchaus zu der Auffassung, dieFenichel in seiner sehr schönen 
Untersuchung über „Psychoanalyse und Metaphysik' 4 (Imago IX, 5) aus¬ 
gesprochen hat. Auch für mich steht es außer Zweifel, daß das Unbewußte 
der Empirie angehört. Auch das mag hier ununtersucht bleiben, ob in diesem 
empirischen Unbewußten sich, wie Freud einmal bemerkte, eine Stelle 
befindet, von der aus jedes Individuum mit einer Nabelschnur dem Reich 
des Wesenhaften, des An-sich-Seienden, verbunden ist* 

Es sei nur festgestellt, daß die Psychoanalyse das Unbewußte als die 
alles beherrschende Instanz ansieht* Wenigstens in dem, was als Handlung 
irgendwelcher Art, geistige Tat oder andere, nach außen tritt als normale 
oder neurotische Funktion* Und dann sei die Frage erhoben, ob hier die 
letzte Konsequenz gezogen ist? Ist anzunehmen, daß die Realisierbarkeit 
in der Materie außer uns etwas grundsätzlich anderes und leichter ist, als 
die Realisierbarkeit hinein in die Materie in uns, in unseren Körper? Ist 
der Weltkrieg, rein materiell gesehen, von allen geistigen Komplexen, die 
dazu gehören, abstrahiert, weniger ein materielles Phänomen am Weitmassen- 
korper, als etwa eine Körpergeschwulst, eine Eiterbeule am Einzelkörper? 
Verlangt eine hysterische Brandblase, oder eine hysterische Gravidität 
weniger körperliche Reaktion als ein Carcinom? 

Mit anderen Worten? es liegt in der Konsequenz der Psychoanalyse, Seele 
(Geist) als primär anzusehen 5 das ist ein Weltbild* Und in der Konsequenz 
dieses Weltbildes liegt es, mit Klages Zusagen: die Seele ist der Sinn des 
Körpers; der Körper ist der Ausdruck der Seele* 

Das bedeutet auch die seelische Bestimmtheit der organischen Krank¬ 
heiten* Sie gehören zum „Ausdruck der Seele“, sie spiegeln die kranke 
Seele. Wir haben nicht nötig, manifesten und latenten Sinn, Unbewußtes 
und Bewußtes ausein an derzu halten bei dieser grundsätzlichen Feststellung; 






Margarete Stegmann 


igS 


Seele im Sinne von Klages ist die Zusammenfassung von Ubw und Bw> 
Aber der Unterschied zwischen funktionellem und organischem Symptom ist 
sehr groß, wenn auch nur graduell. Vermag die Hysterie keine organischen 
Krankheilen zu machen, so schafft sie vielleicht Anfänge, Vorbedingungen 
dafür. Vermag jemand mit absoluter Sicherheit zai behaupten, daß eine Herz¬ 
neurose bei Fortwirken der Ursachen nicht zu einer I ienunuskelschwaehe, 
oder zu einer organischen Störung im Überleitungsbündel führen kann? 
Wenn jemand in einer unleidlichen Situation daran denkt, daß er sicher 
eine Ohnmacht bekommen werde, so spürt er zunächst mir ein körper¬ 
liches Unbehagen und von da an durchläuft er alle Stadien des Übelseins 
bis zu einer wirklichen Ohnmacht. 

In einer Traumanalyse „Darstellung epileptischer Anfälle im Traum“ 
habe ich vor Jahren die Vermutung ausgesprochen, daß die Epilepsie sich 
aus ursprünglich nur hysterischen Anfällen entwickeln könne; an einer 
Stelle entgleitet dem Ubw der Zügel des Geschehens; der Körper folgt von 
da an der eigenen Sachlogik; er hält die vom Ubw geschaffene funktionelle 
Änderung fest und übersetzt sie ins Organische, Ob der Einfluß des ubw 
Willens dann ganz verloren geht, oder ob er nur von einer tieferen, schwerer 
erreichbaren Schicht des Uhw weiter zu wirken vermag, wäre zu untersuchen. 
Die klinische Erfahrung spricht für die letztere Annahme. 

Die Hysterie ist aber bekannt dafür, daß sie ihre Symptome so zu wählen 
versteht, daß ihr etwas ganz Ernsthaftes, ganz Gefährliches nicht wohl ge¬ 
schehen kann. Es wäre demnach ein Ernsternehmen der Vernichtung«" oder 
Bestrafungstendenz, die den aus seelischen Ursachen organisch Erkrankten 
vom Übertragungs- und vom narzißtischen Neurotiker unterscheidet, Er muß 
ein Mensch sein, bei dem das Realitätsprinzip das Lustprinzip schon über¬ 
wiegt. Doch unterscheiden wir vom Neurotiker, der durch seine Symptome 
in irgendeinem Ausmaß seine Lebenstüchtigkeit, seine Kealisierungifahigkeit 
beschränkt, den neurotischen Charakter, Bei ihm ist das Umgekehrte der 
Fall; indem er versucht, seine psychische Realität als objektive Realität 
zur Geltung zu bringen, wird er durch seine Komplexwünsche häufig zu 
erhöhter Wirksamkeit gesteigert, (Verbrecher, Abenteurer, Hochstapler, auf¬ 
regende Menschen.) Solche Typen können die Gesellschaft verblüffen und 
zeitweise große Erfolge haben, weil die nach Heroen begierige Menschheit 
sie für Heroen nimmt. In der Tat haben sie einige Verwandtschaft mit 
ihnen; die, daß sie mit oft unerhörtem Willen eine Gedankenreelität, 
um nicht den Ausdruck „eine Idee“ zu mißbrauchen, verwirklichen wollen. 
Von einem wirklich Großen, einem wahren Heros sind sie in dem Maße 












Die Psychogenese, organischer Krankheiten und das Weltbild igg 


unterschieden, wie das von ihnen Erstrebte weniger wesenhaft ist, weniger 
überzeitliche und überpersönliche Allgemeingültigkeit hat. Diese Typen 
gehören zu den extravertierten; der Stoff, in den sie realisieren wollen, 
liegt außerhalb von ihnen. Von den „Normalen" und ihrem Realisieren 
sind sie unterschieden durch eine Maßlosigkeit, eine Irrationalität, die ihre 
Ursache in der Komplexhaftigkeit ihrer Motive hat. 

Die psychogenetisch organisch Kranken nun wären im Gegensatz zu 
diesen introvertiert; der Stoff ihrer Realisierung liegt in ihnen, ist ihr 
eigener Körper, Daß so viele „normale^ Menschen, die Übertragungs- und 
Realisierungsfähigkeil bewiesen haben, aus seelischen Ursachen organisch 
erkranken, ist kein Widerspruch. Außere und innere Ursachen können 
Übertragungs- und Realisierungsfähigkeit gebrochen haben. Die von den 
äußeren Objekten, der Arbeit, dem Ziel zurückgezogene Libido schlägt nun 
nach innen und wirkt, unter Führung einer Organminderwertigkeits- 
bereitschaft, zerstörend. Ja, es kann selbstverständlich neben jedem Maß von 
Wirksamkeit eines Individuums nach außen, ein Libidobetrag stets introvertiert 
sein und etwa ein anderer im labilen Gleichgewicht existieren, also stets 
bereit, nach innen zu schlagen. Sicher eignet auch jedem Menschen ein indivi¬ 
duelles Maß an Möglichkeit, mit introvertierter Libido „fertig 4 ' zu werden ; 
solange dies Maß nicht überschritten wird, bleibt er gesund oder, genauer 
gesagt, was man so nennt» Ganz gesund kann eigentlich nur der öku¬ 
menische, der vollkommene Mensch sein, bei dem Außen und Innen 
eine Harmonie bilden. 

Nach dem Kl agesschen Satz: „Der Körper Ausdruck der Seele“ müßte man 
also in einem Krankheitsbild des Körpers wie in einem Spiegel den Krank¬ 
heitszustand der Seele erkennen, ganz im allgemeinen, ohne Auflösung in 
Komplexe, die der Spezialbehandlung angehört. Nehmen wir die Erscheinung 
des Carcinoms. Körperlich ist es eine Lebensäußerung, mit dem Ziel, das 
Leben zu vernichten. Es ist eine Wucherung, die von einem Organ ausgeht, 
organische Bildung wiederholt, aber atypisch, durchsetzt und vermischt mit 
allen möglichen Elementen aus anderen Organbestandteilen, wahllos, chaotisch, 
vom Organ aus gesehen zwecklos. Eine Verdrehung des Gesunden ins Kranke, 
Giftige. Seelisch dürfen wir bei einem Krebskranken einen Todeswunsch 
voraus setzen, dem der Lebenswille wirkungs- und wahllos alles entgegen¬ 
wirft, was er erraffen kann. Wahrscheinlich ist nicht die Lebensenergie ver¬ 
braucht, dem widerspricht die Wucherung; aber der Sinn des Lebens ist 
verloren gegangen. Tätigkeit ohne Sinn muß sich selbst zerstören. Der Sinn 
steckt in der zurückgeschlagenen Libido. Konnte diese entfaltet werden, so 
















2 00 


Margarete Stegmann 


blieb gesund, was jetzt in sinnloser Nachahmung des Gesunden giftig wird* 
Die Mischung der Wucherung aus vielen Zellarten kann zwanglos als Dar¬ 
stellung dafür angesehen werden, daß der Kranke nicht mehr gradlinig von 
sich aus nur die eigenen Gedanken denkt, sondern auch die anderer; daß 
er in einem Netz von Identifizierungen gefangen ist. 

Gewiß ist es kein Zufall, daß Carcinom eine Krankheit des Alters ist, in 
dem die hoffnungsvollen Phasen der vielen Möglichkeiten abgeschlossen sind, 
wo entweder wirkliches Altem eintritt oder ein kindlich neuer Mensch 
aus dem alten geboren werden muß, wie der Schmetterling aus der Puppe. 

Es liegt nahe, anzunehmen, daß Carcinom kranke besonders große Anforde¬ 
rungen an sich und an das Leben stellten, und daß bei ihnen ein starkes 
Streben nach Realisierung der seelischen Realitäten mit einem ebenso 
starken Wirklichkeitssinn im Kampfe lag. Je edler der Realisierimgswille, 
um so größer und unvermeidlicher die Enttäuschungen, die fortlaufend zu 
verarbeiten sind, bis zu der einen, die das Maß voll macht, 

Napoleon, gewiß einer der gewaltigsten Tatmenscheil, bekam Krebs, 
als er auf seinem einsamen Eiland jeder Möglichkeit, dem Maße seiner 
Libido entsprechende Auswirkung wiederzufinden, verlustig ging* 

Wir vergessen nicht die Rolle der ererbten Disposition bei den 
organischen Krankheiten; wir haben sie ja bei den Neurosen ebenfalls in 
Rechnung zu stellen. Sie spricht nicht gegen eine Psychogenese; umgekehrt 
werden wir auch für sie eine Psychogenese annehmen, aber eine, die vor 
dem individuellen Leben, irgendwo in der Aszendenz wirksam war* 

Die Organwahl wird von bestimmten Komplexen abhüngen; bekommt 
eine kinderlose, sehr mütterlich veranlagte Krau Mammacarcinom, so darf 
man es ansprechen als eine anschauliche Darstellung ihres Vorwurfes au 
die „Welt“, daß sie ihr „die Milch der frommen Denkungsart in gärend 
Drachengift verwandelt“. Das auslösende seelische Trauma wird in vielen 
Fällen ein Erlebnis sein, das sie an der Sublimierung ihrer natürlichen 
Mütterlichkeit in geistige Mutterschaft hindert, oder diese besonders bitter 
macht. Es ist eine Entscheidung im Kampf zwischen „Weiblichkeit'" (Natur) 
und „Männlichkeit“ (Geist), die sich in der Organwahl ausspricht. Zur Rettung 
des Lebens wird die Mamma, das Attribut der Weiblichkeit, geopfert. 
Erkrankt ein junger Mann an Spondylitis, so dürfen wir im seelischen 
Spiegelbild einen Zweifel in die Grundlage aller Dinge vermuten, eine 
Skepsis, deren philosophischer Ausdruck eine weltanschauliche Haltlosigkeit 
ist. Was fest sein sollte, ist unzuverlässig; er kann nicht stehen, muß wie 
ein hilfloses Kind im Bett liegen bleiben. (Man denkt an Sibel in Gounods 













Die Psychogenese organischer Krankheiten und das Weltbild 


2 01 


Faust, dem jede Blume, die er zum Strauße pflücken will, welk in die 
Hand fällt. Grundlage aller Dinge im Leben des Individuums sind in einem 
Sinn die Eltern; wir dürfen als Ursprung der Krankheitsexscheinungen daher 
einen schwer löslichen Elternkomplex vermuten. Der Zusammenhang mit 
einem Kastrationswunsch ist augenscheinlich.) 

Die Psychogenese organischer Krankheiten zugegeben, erhebt sich die 
wichtige Frage, was die Psychotherapie, vor allem die Psychoanalyse gegen 
diese Krankheiten vermag. Hier wird die Erfahrung zu Worte kommen müssen; 
aber es ist selbstverständlich, daß kein Arzt versäumen wird, das zu tun, 
was nach der eigenen Sachlogik des kranken Organs geschehen muß. Bei 
Carcinom z. B. wird noch immer der Chirurg an erster Stelle zu stehen haben, 
denn für die Reversierbarkeit des seelisch-organischen Prozesses haben wir 
einstweilen keine Beweise. Allerdings fehlen psychische Anamnesen und 
jede Untersuchung des seelischen Tatbestandes, Hat aber der Chirurg, 
beziehungsweise der Organarzt getan, was er konnte, so wird er stets nur 
das Symptom beseitigt haben. Zur Heilung der seelischen Krankheits¬ 
ursachen sind nur seelisch*geistige Mittel fähig. 

Die Anhänger der Lehre: Krankheit ist Sünde (Christian Science , Anthro- 
posophen und andere Sekten) behaupten immer wieder, organische Krank¬ 
heiten mit ihren seelischen Mitteln, Gebet usw. geheilt zu haben. Trotz 
der Evidenz, daß viele organische Kranke unter ihrer Behandlung zugrunde 
gegangen sind, wird man doch die Möglichkeit zugeben müssen, daß solche 
Heilungen stattfinden konnten. Erfordernis ist die Extra vertierung der 
intravertierten Libido, Wiederherstellung des Sinnes des Lebens. Es ist 
ersichtlich, daß Realitäten des Lebens hiezu manchmal besser geeignet sind, 
als der Arzt. 

Der „Sinn des Lebens“ ist für jedes Individuum ein subjektiver Begriff, 
Sein Sinn ist da oder ist verloren. Daß Napoleon auf Sankt Helena sein 
Memoirenwerk schrieb, war für die Menschheit genügend sinnvoll, nicht 
aber für ihn, für seine Realisierungsnotwendigkeiten, 

In allen sehr schwierigen, sehr chaotischen Zeiten der Menschheits¬ 
geschichte gab es Menschen, die als Heiland aufraten; ihnen allen werden 
Krankenheilungen nachgerühmt. Gewiß nicht ohne Grund. Sofern es Menschen 
sind, die eine Ganzheit des Daseins lebendig umfassen und geistig durch- 
dringen und beherrschen, die einen Sinn des Lebens, wie ihn die meisten 
Menschen instinktiv suchen, objektiv dar stellen oder darzustellen scheinen. 
Dann fliegt ihnen die Libido zu, die Menschen fühlen sich durch sie „erlöst“. 
Sie sind erlöst vom Druck der intravertierten Libido, 







202 Stegmann: Die Psychogenes® organischer Krankheiten und das Weltbild 


ln Deutschland gibt es, entsprechend den zurückliegenden und noch 
herrschenden schweren Zeiten eine Anzahl „Heilande 41 * Ich darf erwähnen, 
daß einer von ihnen einen jungen Mann, der von einer Anzahl namhafter 
Psychiater als Dementia praecox erklärt worden war, gesund, d. h* iiber- 
tragungsfähig gemacht hat. Es mag eine direkte Wirkung seiner eigenen, 
gänzlich extravertierten Persönlichkeit sein, die bei dem Jüngling so tief 
zu dringen vermochte, daß die unfruchtbaren Libidofixierungen vom Ich 
sich lösten und öffneten, und sich nun zunächst auf die für den Kranken 
wunderbare Erscheinung des „Heilandes“ übertrugen, der ihm eine glaub¬ 
hafte Garantie für eine schöne, liebenswerte Wirklichkeit außerhalb der 
eigenen wurde. Die Inanspruchnahme der Erklärungen aus dem Vater- und 
Mutter-Komplex genügt in diesem Falle nicht, wenn sie natürlich auch 
die Voraussetzung einer Erklärung ist. (Selbstverständlich handelt es sich 
um einen Fall, wo noch kein tiefgreifender Persönlichkeitszerfall vorhanden 
war.) 

i-reud spricht an einer Stelle historisch von zur Gesundheit gewordener 
Hysterie. Vielleicht gibt es in unserer umgeackerten Zeit solche Typen, 
die Hysterie zur Gesundheit machen. Ule Möglichkeit eines solchen Ge¬ 
schehens muß jedenfalls zugegeben werden; iin Leben entscheidet ja nicht 
die ärztliche Diagnose, sondern die Vitalität. 












Das System Bw 

Von 

Imre Hermann 

Budapest 

Mit der Aufteilung der seelischen Vorgänge auf Systeme, d, h. durch 
die Einführung des topischen Gesichtspunktes, war es notwendig ge¬ 
worden, auch dein Symptom „Bewußt* 4 einen Platz zu sichern. Freud 
erkennt diese Aufgabe bereits in der „Traumdeutung“ und umschreibt ein 
System Rw, welches „in seinen mechanischen Charakteren ähnlich wie die 
Wahrnehmungssysteme also erregbar durch Qualitäten, und unfähig, 
die Spur von Änderungen zu bewahren, also ohne Gedächtnis zu denken 
sei. Es wird somit eine Analogie zwischen dem Bw - und den ^-Systemen 
gedacht; überhaupt soll dem Bw-System die Rolle ehies Sinnesorgans zur 
Wahrnehmung psychischer Qualitäten zukommen. Dieser Auffassung nach 
wäre das System Bw ein Überbau, den /^F-Systemen überordnet, aber auch 
dem Binnenseelischen (System Vbw ), so daß es von zwei Quellen aus Ma¬ 
terial erhält, von den ^-Systemen, deren „durch Qualitäten bedingte 
Erregung wahrscheinlich eine neue Verarbeitung durchmacht, bis sie zur 
bewußten Empfindung wird, und aus dem Innern des Apparates selbst, 
dessen quantitative Vorgänge als Qualitätenreihe der Lust-Unlust empfunden 
werden, wenn sie bei gewissen Veränderungen angelangt sind“. Eine be¬ 
sondere Rolle käme den Wortresten zu, welche die an sich qualitätslosen 
Denkvorgänge außer der begleitenden Lust-Unlust-Reihe mit Bewußtseins¬ 
qualitäten versehen. 1 

In den metapsychologischen Aufsätzen Freuds wird dann diese System - 
Zuweisung noch näher umschrieben. Zu allererst wird das strenge Ver¬ 
hältnis von Symptom „bewußt“ und dem System Bw gelöst. Auch das 
ohne besonderen Widerstand Bewußtseinsfähige, das Vorbewußte könne dem 


i) Freud: Gesammelte Schriften, Bd. IF (Die Traumdeutung), $. 532 — 554 * 












204 Im re Hermann 


System Bw zugerechnet werden. „Sollte es sich herausstellen, daß auch das 
Bewußtwerden des Vorbewußten durch eine gewisse Zensur mitbestimmt 
wird, so werden wir die Systeme Vbw und Btu strenger voneinander son¬ 
dern. Vorläufig genüge es festzuhalten, daß das System Vbw die Eigen¬ 
schaften des Systems Bw teilt, und daß die strenge Zensur am Übergang 
vom Vbw zum Vbw (oder Bw) ihres Amtes waltet.“ 1 2 Weiter« werden in der¬ 
selben Studie dann doch Gründe gefunden, um anzunehmen, es herrsche 
auch zwischen den Systemen Bw und Vbu< eine Zensur, daß wir also hier 
mit zwei gewissermaßen isolierten Systemen rechnen müssen. Das Bewußt¬ 
sein habe weder zu den Systemen, noch zur Verdrängung ein einfaches 
Verhältnis. Die Existenz einer Zensur zwischen Vbw und Bw mahnt uns 
auch, „das Bewußtwerden sei kein bloßer Wahrnehmungsakt, sondern 
wahrscheinlich auch eine l berbesetzung, ein weiterer Fortschritt der 
psychischen Organisation“. 3 Es sei nebenbei auch daran erinnert, daß in 
derselben Studie die Arbeitsweise des Systems Vbw darin erblickt wird, 
daß die Sachvorstellungen durch die Verknüpfung mit den ihnen ent¬ 
sprechenden Wortvorstellungen überbesetzt werden. Das Denken gehe 
also wahrscheinlich „in Systemen vor sich, die von den ursprünglichen 
Wahrnehmungsresten so weit entfernt sind, daß sie von deren Qualität 
nichts mehr erhalten haben und zum Bewußtwerden einer Verstärkung 
durch neue Qualitäten bedürfen“. 3 

Dadurch ist aber wieder die Frage der Wahrnehmungen und ihr Zu¬ 
sammenhang mit dem System Bw aufgeworfen, ln einer nächsten Studie 
wird es dann auch, ausgehend von der Tatsache der halluzinatorischen 
Wunschbefriedigung im Traume, in der akuten halluzinatorischen Ver¬ 
worrenheit (Amentia nach Meynert) und in der halluzinatorischen 
Phase der Schizophrenie, erklärt, die Systeme IV und Bw seien nicht ein¬ 
fach analog, sie decken sich. 4 5 Im Schlafzustande werde das System Bw 
und auch die übrigen Systeme gleichmäßig unbesetzt gelassen, bei der 
Amentia besonders die Besetzung des Systems Bw zurückgezogen. 3 

Dieses Bild der psychischen Systeme IV, Bw, Vbw ist schon dasjenige, 
welches im „Jenseits des Lustprinzips“ und im Buche „Das Ich und das 


1) Freud: Gesammelte Schriften, Bd. V (Das Unbewußte), S. +88. 

2) Daselbst, S. 506—-508, 

5) Daselbst, S. 516, 517. 

4) Freud; Gesammelte Schriften. Bd, V (1V1 e tu nty cholerische Kriruhruiifi zur 
Traumlehre), S. 528-551, 

5) Daselbst, S, 554. 











Das System Bw 


205 


Es“ zur Grundlage des weiteren dient, und vielleicht nur durch die starke 
Betonung der Ich-Zugebörigkeit ergänzt wird. Die Wahrnehmungen sollen 
dabei eine ebensolche Rolle im Ich spielen, wie die Triebe im Es. Als 
Kern des Ich soll das System W-Bw anzuerkennen sein, 1 

Wirkt diese Platzzuweisung des Systems Bw im seelischen Apparat noch 
so aufklärend, eine Schwierigkeit kann nicht übersehen werden* Diese 
Schwierigkeit ergibt sich daraus, daß im Topischen Schema nur das 
Anschaulich-Bewußte einbezogen wird, das linanschaulich-Bewußte 
jedoch unberücksichtigt bleibt. Wenn Freud den Denkvorgängen ihre 
Bewußtheits-Qualität durch die Wortreste zukommen läßt, und demzufolge 
der Satz: „von vornherein bw sind alle Wahrnehmungen, die von außen 
lierankommen (Sinneswahrnehmungen), und von innen her, was wir Emp¬ 
findung und Gefühle heißen“, 2 * nicht erweitert wird, so sind — wenig¬ 
stens dem ersten Anscheine nach — die un anschaulichen Denk¬ 
prozesse zu kurz gekommen. 

Es gehört zur Lehre der heutigen Wahrnehmungs- und Denk¬ 
psychologie, daß in beiden Gebieten auch Unanschaulich-Bewußtes (z. B. 
Verhältniswabrnehmung, Bezogensein auf einen Gegenstand, „Intention“) 
mitenthalten ist, Gedanken werden also nicht einzig durch das anschau¬ 
liche Material bewußt, sondern auch durch die gleichzeitig anwesenden 
Bewußtseinslagen (z. B. des Zweifelns, des Zögerns, der Sicherheit, der 
Zustimmung, der Erwartung — Marbe), durch die Bewußtheiten 
(„Gegenwärtigsein eines unanschaulich gegebenen Wissens“ — Ach), durch 
Relationsbewußtsein („der Beziehungsgedanke * , , ist ein wahrer Be¬ 
wußtseinsinhalt“ — Lindworsky), 5 oder wie sonst diese Gruppe seelischer 
Erscheinungen heißen soll. 

Auch die „Orientierungen“ des Ichs, diese Einsteliungs und Rich- 
tun gsfuuktion en 4 gehen sehr oft bewußt vor sich. Jede Orientierung 
enthält aber einen wesentlichen Bestandteil, der unanschaulich und doch 


1} Freud: Gesammelte Schriften, Bd< VI (Das Ich und das Es), S, 568, 569, 372. 

2) Daselbst, S. 56a, 

j) Vgl. S. J, Fröbes: Lehrbuch der experimentellen Psychologie, Bd, I (i. Aufl,, 

S. 404; J- Lindworsky, Experimentelle Psychologie, Bd. V der Philosophi¬ 
schen Handbibliothek, 1921, S* 117, 

4} Die Orientierungen bildeten den Gegenstand meines Kongreßvortrages Zu 
Homburg, 1925. — Die Ursprünglichkeit der Rieh tun gs Orientierung siehe bei Fr, Hart¬ 
mann: Die Orientierung, 1902. Er meint unter Orientierung im allgemein-biologischen 
Sinne die Stellungnahme des Organismus zu den auf denselben einwirk enden Reizen 

(S, 16). 








206 


lmre IIrrmarin 


bewußt sein kann, ein Bezogensein, ein Richtuiigtbewußtsein« Gerade im 
Anschluß an die Erörterungen über das //ms-S yst cm linden wir darüber 
auch bei Freud einige Hinweise, Er meint, „außen“ und „innen“ unter¬ 
scheidet der noch hilflose Organismus nach der Beziehung zur Muskcl- 
aktion mittels seinen Wahrnehmungen. „Diese Leistung der Orientierung 
in der Welt durch Unterscheidung von innen und außen müssen wir nun 
nach einer eingehenden Zergliederung des seelischen Apparates dem System 
Rw (IV) allein zuschreiben.“ 1 2 

Es soll bemerkt werden, daß diese relative Vernachlässigung der unan- 
schaulich-bewußten Prozesse, welche aber, wie aus dem obigen Beispiel ersicht¬ 
lich, auch die Aufmerksamkeit Freuds auf sich zogen, die Möglichkeit 
ergab, die Annahme unbewußter Prozesse damit abzmcli lagen, daß mit ihnen 
eigentlich die bewußt-unanschaulichen gemeint wären (Bumke).* Diese 
Kritik berücksichtigt die dynamischen Verhältnisse der Zensur und der 
Verdrängung, die topischen Funktionsunterschiede der verschiedenen Systeme 
nicht, muß in ihrer Erklärung somit fehlschlagen. Berechtigt ist aber die 
Kritik insofern, als in den Systemen RurVhw den unanschaulichen Pro¬ 
zessen ein breiterer Raum gesichert werden sollte. 

Ich schlage nun vor, ein Teilsystem Rw zu statuieren, welches sich — 
in der ersten Annäherung —■ mit keinem der IV 'Systeme deckt, ein bw 
Bezugs-System. Dieses System soll, der Annahme nach, die zu Orien¬ 
tierungen, zur Wahrnehmung und zum Denken gehörigen unanschaulich- 
bewußten Denkbestandteile enthalten, respektive zu Bewußtsein erheben. 
Die Feststellung der „Traumdeutung , dem manifest bewußten Traume 
fehle die Urteilsleistung des Denkens und die Denkrclationen wären in 
ihm nur anschaulich (durch Darstellung) enthalten, zeigt, daß dieses Bezugs- 
System seine Besetzung isoliert entbehren kann und ihm seine Besetzung 
noch ermangelt, wenn die //-Systeme von innen gut gangbar sind. Die 
Existenz eines Beziehungswahnes, noch eher die stark formale Natur des 
schizophrenen Denkens, gibt einen Fingerzeig in der Richtung, es sei auch 
eine Überbesetzung dieses Systems von innen her möglich, ebenso, wie der 
halluzinatorische Zustand auf eine innere Besetzung der //-Systeme oder 
die sprachlichen Eigentümlichkeiten der Schizophrenie auf eine — sekun¬ 
däre — Überbesetzung des Vbw- Systems hindeuten. Und vielleicht noch 

1) Freud: Gesammelte Schriften, Bd> V (Metapiychologiiche hrgüuzung zur 
Traumlehre), S. 551, 

2) O. ßumke; In mehreren Aufsätzen, x. B. Neuere Methoden in der Psychologie. 
(In: Die Psychologie und ihre Bedeutung für die ärztliche Praxis, 1931,8. 125—155.) 
















Das System Bw 


v 207 


weiter. Die Verwirrtheit der halluzinatorischen Amentia wäre gerade durch 
fluktuierende Besetzungsentziehung nicht nur der W- Systeme, sondern 
auch des Bezugs-Systems begründet, mit Überflutungsversuchen von innen 
her. Auch bei gewissen Begabungsarten wäre daran zu denken, es handle 
sich um eine stärkere Besetzung und weitere Ausbildung (höhere Organi¬ 
sation) des Bezugs-Systems (logische, mathematische Begabung). Dem ent¬ 
spräche die Erfahrung von Wälder, nach welcher bei einem Schizoiden 
in der narzißtischen Interessebesetzung der Mathematik ein Restitutions¬ 
mechanismus wirksam war. 1 * * 

Es drängt sicli uns aber noch eine zweite Annahme auf. Wir sagen, 
im Schlafe wird die Besetzung des in Frage stehenden Bezugs-Systems 
entschiedener als diejenige der übrigen Systeme zurückgezogen; begonnen 
wird aber die Durchführung des Schlafwunsches — seltene Fälle aus¬ 
genommen —- mit einer Lagerungs-Sicherung (mindestens des Kopfes), um 
keine Lagerungs-Kontrolle ausüben zu müssen. Die adäquaten Reize der 
Lagerung, besonders des Kopfes, gehen aber durch den Vestibülarapparat 
Wir sollen also vielleicht unsere Aufmerksamkeit den Verrichtungen dieses 
Apparates zuwenden. Nun weiter: Das schizophrene, logische, mathematische 
Denken ist ein formales, Relationen in den Vordergrund stellendes 
„funktionales* 4 Denken, und der Vestibularapparat ergibt eben Daten der 
relativen Lagerung, formale, „funktionale“ (Richtungs- und Eins teil ungs-) 
Weisungen (ein Unterschied, den man den übrigen Sinnesapparaten 
gegenüber statuieren kann). Die Verwirrtheit stört die Orientierung in 
analoger Weise, wie es die gestörte Funktion des Vestibularapparates 
int (subjektiv in der Schwindelempfindung sich kundgebend). Diese 
Verhältnisse führen uns zur Annahme, das Bezugs-S3 r stem, dieses Teil¬ 
system des Bw , wäre vestibulären Ursprungs, oder anders ausgedrückt, 
die Bewußtheit verdanke es den Daten des Vestibularapparates, womit 
unsere Ableitung wieder bei der Freudschen Konstruktion, die Systeme W 
decken sich mit dem System Bw -— wenigstens dem Sinne nach — gemündet 
hat. Bei der Schizophrenie war bisher von einer Restitutions-Uberbesetzung 
des Fbw akustischen Ursprungs die Rede; dem Obigen zufolge soll aber 
auch mit einer Restitutions-Überbesetzung des Bezugs-Systems vestibulären 


1 ) R. Wälder: Über Mechanismen und Beeinflussungsmöglichkeiten der Psychose. 

Internationale Zeitschrift für Psychoanalyse, Bd. X, H. 4, 1924. — Die Lösungen von 

Orten tierungstests sollen überhaupt besonders kennzeichnend für eine allgemeine 
Intelligenz sein. (O, Lewis, H. Gordon — nach Ballard: Group tests of intelli- 

gence, 1925, S. 113.) 






Lrnre Hermann 


208 


Ursprungs gerechnet werden. Das zeige auf eine Korrelation dieser 
beiden Systeme, ebenso wurde aber schon bisher die akustisch-musikalische 
oder auch sprachliche Begabung in Korrelation mit der mathematischen 
gebracht, 1 2 3 

Der Vestibularapparat zeigt einige psychologische Besonderheiten. Er 
arbeitet — gegenüber den übrigen Si nnwapparaten — größtenteils stumm, 
nicht „lebendig“, nicht „leuchtend“. Seine Stummheit löst sich nur bei 
zwei Gelegenheiten, Einmal wenn eine überstarke Reizung oder eine Furcht 
vor Desorientiertheit, also eine Störung des normalen Arbeitsganges ein- 
tritt. Dann erscheint die (quasi leuchtend-anschauliche) lebendige Schwindel- 
empfindung.* Zweitens wird der Apparat „lebendig“, wenn er in eine 
gewisse Dauerreizung kommt, wie man es in Kinderspielen angedeutet, im 
Tanze offener sehen kann; es kommt ein rausch artiger Zustand, ein 
Delirium zustande, eine „Trunkenheit aus Vergnügen“; 5 aber in diesem 
zweiten Falle ist nur die „Lebendigkeit“ in Erscheinung getreten, nicht 
aber die „leuchtende 4 ^ Sinnesqualität. 

Der Apparat kann also Symptome der „Lebendigkeit“ und des „Leuch¬ 
tern” annehmen, was hindert ihn dann daran, es ständig zu tun? Da 
möchten wir uns auf die Ansichten von Johannes Müller berufen, 
welche in der neuesten Zeit unter dem Schlagwort „Eidetik“ (E, R. Jaensch) 


1) Das wäre also eigentlich eine zentrale Korrelation auf Grund peripheren 
Nebeneinanders. Wenn Cyon die Zahl vorn Gortisehrn Organ abstammen läßt, so 
meint er damit sicherlich nicht die funktionale Denkweise der Mathematik* Es ist 
ja gerade Cyon, der „die Orientierung unseres Geistes bei den bewußten Denk- 
Operationen“ mit den Leistungen der Bogengänge in Parallele gestellt hat* (E. von 
Cyon: Das Ohrlabyrinlh als Organ der mathematischen Sinne für Raum und Zeit, 
S* 411, 416.) 

2) Leichtere plötzliche Reizungen ergeben eine Empfindung „Schwimmen“* Es 
unterliegt „keinem Zweifel, daß die Empfindung im Kopfe, wenn wir ihn schnell 
nach einer Seite wenden oder mit der Drehung beginnen, von Anfang an dem 
Schwimmen ähnlich und schwach schwindlig ist, so daß der Schwindel als ihre 
natürliche Qualität bei hoher Intensität erscheint“. (Titche n e r-K lein m: Lehrbuch 
der Psychologie, 1926, 2, Au fl», S. 144) Nach Ebbinghau ■-BÜhl er ist aber der 
Schwindel keine Empfindung besonderer Qualität; als solche ist nur die „im Kopf 
lokalisierte l)rehempfindung“ zu betrachten. (Grundlüge der Psychologie, I*Bd., 
1919, 4. Aufl., S. 429, 430.) — Dem Schwindel begegnet mau als passugärem Symptom 
auch im Laufe der Analysen; er bietet sich dar, wie es Ferencxi beschreibt, um 
verborgene Gedanken in symbolischer Art zu Bewußtsein tu erheben, aber auch um 
der Desorientiertheit des Kranken, der zwischen der Übertrngungiliebe um! den An¬ 
forderungen des realen Lehens schwankt und sich plötzlich nicht auskennt, Ausdruck 
zu verleihen* (S* Ferencxi: Sch windet empfind ungen tum Schlüsse der Analy genstunde. 
Internationale Zeitschrift für Psychoanalyse, Hd. IJ, 1914.) 

3) Vgl* K. Groos: Die Spiele der Tiere, 1907, 2. AnfL. S* 121* 

















Das System Bw 209 


ihr Auferstehen feiern, Johannes Müller fand, daß durch die Zurück¬ 
ziehung der Ich-Beselzung vom Muskel- und Wahrnehmungssystem bei 
sonst behaltenem Bewußtsein die Phantasmen von innen her ^leuchtend“, 
lebendig werden. Das möchten wir so auslegen, daß die Ich-Besetzungen 
der anschaulichen Ausprägung (des Leuch tens) der Sinnes quäl itäten hemmend 
entgegenwirken. Daraus ergebe sich, daß die Ich-Besetzung des Bezugs- 
Systems (vestibulären Ursprungs) so stark sei, daß sie die genetisch even¬ 
tuell zugehörige anschauliche Sinnesqualität und auch die Lebendigkeit 
vollständig in den Hintergrund gestellt, quasi auf deren Kosten sich 
eingenistet hat. Nur durch die Aufgabe der starken Ich-Position im Bezugs- 
System, bei Behalten des Bewußtseins, wären anschauliche Qualitäten und 
Lebendigkeit des Vestibulär-Apparates wieder erreichbar. 

Wir möchten auch den Umstand namhaft machen, daß der Vestibular- 
apparat eine starke Ich-Zugehörigkeit zeigt, indem er über das Gleich¬ 
gewicht des Körpers wacht. Er ist auch gewissermaßen den übrigen Sinnen, 
ja sogar dem Muskelsystem, tatsächlich übergeordnet, diese erhalten einen 
mächtigen Zuschuß ihrer Richtungsdaten vom Vestibularapparat her; parallel 
damit kann tatsächlich von einer Überordnung des Bezugs-Systems über die 
übrigen BurSysteme gesprochen werden (wie in der ältesten Konzeption von 
Freud das System Bw tatsächlich den Charakter der Übergeordnetheit er¬ 
hielt). 1 

Man bedenke aber auch den Umstand, daß ein „Gerichtetsein“, ein Objekt¬ 
bezogensein eigentlich den Trieben als wichtiges Charaktermerkmal, daß 
dem Es eine Orientierungstätigkeit zukommt und auch das Es mit Ein¬ 
stellungen arbeiten muß. Es wäre verlockend dem Gedanken nachzugehen, 
der Vestibularapparat isoliere und systematisiere nur diesen trieb¬ 
haften Teilprozeß und so gebe er dem Bewußtsein nur weiter, was er 
den Trieben (dem Es, dem Ubiv ) entnommen hat. Ist dem so oder nicht, 
jedenfalls ergeben sich die entwicklungspsychologisch höher stehen¬ 
den, höher organisierten Beziehungsfunktionen des Bewußtseins, 
Das Bezugs-System habe auch eine Fortsetzung in das Vbw und müsse mit 
den Wortdaten innig Zusammenarbeiten. Dem wäre auch die Bemerkung 
anzuschließen, daß die Wirkung des ÜberTchs auf das Ich sich auch in 
teilweise bewußten, teilweise unbewußten Einstellungs- und Richtungs- 


1) Man spricht in der Psychologie vom „sozialen Kaum“ (O. Albrecht: Der 
ancthisehe Symptomenkomplex, 1921), vom „psychologischen Raum“ überhaupt (Paul 
Plaut: Der psychologische Raum, ein Beitrag zur Beziehungslehre, 1924). 


Imago XII- 


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210 Hermann: Das System Bw 


angaben auslebt. Das Bezugs-System muß also nahe Beziehungen zum Über¬ 
leb entwickeln, es ist vielleicht das (eine) Sprachorgan des ÜberTchs. 

Die topische Annahme eines Bezugs-Systems kann durch eine ökonomisch- 
dynamische ergänzt werden. Wir finden einerseits die Bewußtseinsdaten 
des Bezugs-Systems am wenigsten leuchtend, am wenigsten lebendig im 
ganzen Bw-fV- System; anderseits ist die Angabe der Einstellung, Beziehung 
selbst schon etwas Formal-Unlebendiges, eine Formangabe, weniger eine 
Inhaltsangabe (soll sie eventuell noch so anschaulich vonetatten gehen). Stellen 
wir nun noch neben diese Feststellungen die bereits früher geäußerte Ansicht, 
das Hervortreten des Formalen im Denken gehe dynamisch auf ein stärkeres 
Auftreten des Todestriebes (unter Mitarbeiter schuft der erotisch-sadistischen 
Hand) zurück 1 , dann ergibt sich der Schluß, es linde im Bw-Sywtem eine 
Triebentmischung statt; die W- Systeme, wohin also kein vestibuläres System 
mehr gehört, arbeiten mit größerem Einsetzen der Lebenstriebe, dadurch 
ihre „Lebendigkeit**; das Bezugs-System, wohin das ursprüngliche vestibuläre 
TF-System einfließt, arbeitet mit größerem Einsätzen des Todestriebes, daher 
seine „Geistigkeit**, 2 Je stärker die Vorherrschaft des Todestriebes im Bezugs- 
System (und im Über-Ich?), desto schärfer kommen die formalen Schritte 
überhaupt und die spezifischen Richtungsschritte des Todestriebes: die Ver¬ 
neinung, die Vergleichung und der Senkungsschritt im besonderen 
zum Vorschein 3 und auch die stellungnehmende Funktion des Ichs ist desto 
versteinerter, anpassungsunfälliger. 


1) In der Studie über Gustav Theodor Feehnrr, Imago, Bd. XI, 1935* 

2) Die Unterscheidung Lebendigkeit—Geistigkeit macht M. PalAgyi, Nttturphilo- 
sophische Vorlesungen, 2, Au fl., 1924,. 

3) Psychoanalyse und Logik, Imago-Bücher VJI, 1924, S* H6—89, 97, 98. Weiteres 
über die Verneinung siehe Freud: Die Verneinung, Imago, Bd. XL 1925. 

















Die Gruppenmethode in der Psychoanalyse 

Von 

Trigant Burrow 

Dr. med. et phih, Baltimore 
(Jus dem englischen Manuskript übersetzt von Dr\ H. C, Syz) 


Eine Arbeit, die mit einem paradoxen Titel beginnt, kann kaum er¬ 
warten, Zutrauen zu erwecken, es sei denn, daß es gelänge, mit dem 
anfänglichen Widerspruch ins Reine zu kommen. Die Vorbedingung jeder 
Analyse scheint selbstverständlich die Isolierung eines Teiles oder Elementes 
zu sein 1 das dabei die Struktur eines Systems, einer Kombination oder einer 
Gruppe repräsentieren mag. Eine Gruppe stellt biologisch etwas Zusammen¬ 
hängendes dar, das nicht als Ganzes einer Analyse zugänglich ist. Eine 
Gruppenmethode in der Analyse steht daher ihrer Natur nach in Wider¬ 
spruch mit sich selbst. Man könnte mit ebenso gutem Recht von einer 
synthetischen wie von einer Gruppenmethode der Analyse sprechen. Dem 
noch ist aber tatsächlich das Gruppenmaterial vorhanden, das zur Untersuchung 
herausfordert und dem, soviel ich sehe, nur die analytische Methode gerecht 
werden kann. Um daher Begriffe, die zueinander so deutlich in Wider¬ 
spruch stehen, wie Gruppe oder Synthese und Individuum oder Analyse, 
miteinander auszusöhnen, ist eine angemessene Erklärung nötig. 

Ich glaube, wir vergegenwärtigen uns kaum, in welchem Maße wir 
den Ausdruck „Gruppe“ oder Gesellschaft (Kombination) in einem künst¬ 
lichen und konventionellen Sinne an wen den. Der Landschaftsgärtner 
arrangiert eine Gruppe von Bäumen, der Historiker eine Gruppe histo¬ 
rischer Begebenheiten. Der Erzieher bildet eine Gruppe von Schülern, 
der Soziologe eine Gruppe von Fürsorgern; wir sprechen von Gruppen 
von Wissenschaftlern, Eisenarbeitern oder Künstlern. Solche Gruppierungen 
richten sich aber nach ganz äußerlichen und willkürlichen Merkmalen; 
keine organisch innewohnenden Qualitäten vereinigen die verschiedenen. 


* 4 * 



Trigunt Burrow 


die Gruppe zusammensetzenden Elemente. Im Gegenteil» wo Elemente in dieser 
Art versammelt sind, da ist wirklich nur eine Kollektion oder Zusammen* 1 
Stellung von Elementen vorhanden. Wenn wir aber von einer Gruppenbildung 
sprechen, wie sie z, B. in einer Ameisenkolonie gegeben ist oder in einer 
Büffelherde oder in einem primitiven Volksetamm, so haben wir eine Ver¬ 
bindung von Elementen vor uns, in der die verschiedenen Teile vermöge 
eines ihnen gemeinsam innewohnenden, organischen Bandes zu einem zu¬ 
sammengehörigen Ganzen zusammen geschlossen werden. In dieser Art organi¬ 
scher Gruppenformation, wie sie die Elemente einer Gattung vereinigt, ist 
das Bindeglied zwischen den einzelnen Teilen von durchaus wesentlicher und 
instinktiver Natur. Es ist nicht so beschaffen, daß es durch willkürliche Vor* 
kehrungen oder äußerliche Anordnungen aufgelöst werden könnte. 

Das Leben des heutigen Menschen enthält mitten in seiner komplexen 
Zivilisation die organischen Bande einer instinktiven Einheit der Basse. 
Das Wesentliche in der Biologie der Basse hat sich seit den Zeiten primi¬ 
tiver Menschenverbände nicht im geringsten verändert; organische Prin¬ 
zipien wechseln nicht mit dem Wechsel äußerer Verhältnisse; Rassen¬ 
instinkte nutzen sich im Laufe der Zeit nicht ab. Es hat sieh allerdings 
unbewußterweise etwas Fremdartiges in das Gruppenleben des Menschen 
eingeschlichen. Unähnlich dem Leben der Gruppen oder Kolonien niedri¬ 
gerer Ordnungen ist das instinktiv vereinte, sozietale Leben 1 durch diesen 
unbewußten Faktor gewaltmäßig gestört worden; es wurde dem Menschen 
unmöglich gemacht, sich den natürlichen Forderungen seiner primären 
Gemeinschaftsinstinkte entsprechend in Gruppen und Kolonien zusammen¬ 
zufinden. Die Menschen haben sich vielmehr in verschiedenartigen Grup¬ 
pierungen und Gliederungen —- sozialen, politischen, ökonomischen» reli¬ 
giösen — angesammelt und verteilt, in Gruppenbildungen, die ganz ober¬ 
flächlich und ihrem Wesen nach einem instinktiven Gruppen leben äußerst 
fremd sind. Man muß daher die vereinigende (synthetische) und instinktive 
Gruppengestaltung des primitiven Menschen sehr bestimmt von dem bloßen 
Nebeneinander der kollektiven oder Pseudogruppen‘Formationen unter¬ 
scheiden, in die der Mensch —^ unter dem Bann sozialer 1 radition und 
konventioneller Autorität — ein getreten ist. 

In einer Gruppe, die in einer willkürlichen Ansammlung von Individuen 
besteht, kann natürlich das einzelne Element ohne Beeinträchtigung des 

i) Das englische societal wird hier im Gegensatz zu social verwendet: erst eres für 
primitive, organisch bedingte, letzteres für kulturell entstandene Verbände; den gleichen 
Gegensatz drucken „Gruppe“ und „Pseudogruppe“ aus. (DU Redaktion.} 









Die Gruppenmethode in der Psychoanalyse 215 


organischen Instinktes abgesondert und einem Prozeß der Isolierung 
und Untersuchung unterzogen werden — einem Prozeß, den wir als 
Analyse kennen. Die Abtrennung eines Individuums oder eines Gliedes 
einer solchen konventionellen Ansammlung von Elementen bedeutet keinen 
organischen Bruch — nicht mehr als dies bei der Störung eines künst¬ 
lichen Baumarrangements durch den Gärtner oder bei der Verteilung der 
Schüler durch den Lehrer der Fall wäre, • Die Blätter einer Blume vom 
Stengel zu trennen, um sie zu analysieren, ist aber notwendigerweise ein 
Vorgang, der für den untersuchten Teil die funktionelle Kontinuität mit 
dem zugehörigen organischen Ganzen unterbricht. Die Kontinuität des 
Organismus als eines Ganzen wird sofort zerstört. Das gilt für Ameisen, 
die von ihrer Kolonie entfernt werden, oder für den Büffel, der von seiner 
Herde getrennt wird. Die Bedeutung der Gesetze organischer Gruppenbildung 
im Leben der Herdentiere ist nicht nur von biologischen Forschern beob¬ 
achtet worden; sie werden vielmehr praktisch von jedermann berücksich¬ 
tigt, der mit wilden Tieren zu tun hat, Hagenbeck war mit diesem orga¬ 
nischen Prinzip, das die einzelnen Glieder einer Gattung zusammenbindet, 
nicht weniger vertraut als Darwin oder Kropotkin, 1 Während wir aber 
alle stillschweigend an nehmen, daß sich ein solcher Stammes- oder Rassen¬ 
instinkt über alle Elemente einer Gattung erstreckt und die Einzelindividuen 
vereinigt, steht die Aufgabe noch vor uns, diese Tatsache in uns selbst als 
ein organisches Prinzip des Bewußtseins anzuerkennen. Wir müssen 
erkennen, daß dieses instinktive sozietale Prinzip, das im Hordenleben 
und in den spontanen Menschenverbänden der Primitiven beobachtet werden 
kann, heutzutage im Leben der zivilisierten Gemeinschaften von gleich 
weittragender instinktiver und biologischer Bedeutung ist. 

Von solchen Überlegungen ausgehend, hat sich mein Ausblick in der 
analytischen Arbeit geändert. Ich bin zu der Auffassung gekommen, daß 
eine Analyse, die das Einzel in di viduum isoliert und getrennt von seinen 
Rassenzugehörigen untersucht, den weiteren sozietalen Organismus, von 
dem die Einzelglieder Teile sind und ohne den sie in ihrem Gemeinschafts¬ 
leben nicht fort existieren können, außer Betracht läßt. Ein solch isolierter 
Prozeß der Analyse, auf das Einzelindividuum der Gattung Mensch ange¬ 
wandt, zerstört die organische Integrität des Gruppen- oder Rassenorganismus 
geradeso, wie wir die Integrität des Organismus einer Blume zerstören, 
wenn wir deren Blätter abtrennen, um sie, losgelöst von der strukturellen 


*) P. Kropotkin: „Gegenseitige Hilfe« 





2 1 4 


Trigant Burrow 


Kontinuität mit dem Ganzen, zu untersuchen* Das organische Prinzip, das 
eine Gruppe oder ein sozietales Gemeinwesen verbindet, bedeutet funk- 
tionelle Solidarität; das Element in seiner Isoliertheit bedeutet deren Zer¬ 
spaltung. Die Analyse des einzelnen Elementes ist also der Erhaltung des 
Ganzen entgegengesetzt; die Kontinuität der (truppe und die Isolierung 
des Individuums sind ihrem Wesen nach sich gegenseitig ausschließende 
Prozesse. 

Um diesen unerbittlichen Zwiespalt, der dem System unserer psycho¬ 
analytischen Methode innewohnt, aumtgleichen, habe ich, zusammen mit 
einer Gruppe von Mitarbeiteru und Schülern, in den letzten Jahren durch 
langsam fortschreitendes und mühevolles Experimentieren eine Methode 
der Analyse ausgebildet, die auch den Reaktionen Rechnung trägt, welche 
der Gattung als Ganzes an gehören. Diese weiter ausgreifende Form der 
Analyse hat den Vorteil, das Material, welches dem sozietalon und instink* 
tiven Gruppenleben angehört, intakt zu lassen und zu gleicher Zeit, von 
dieser Grundlage aus, die sozialen wie auch die persönlichen Ersalzbildungen 
und Verdrängungen psychoanalytisch zu untersuchen, welche individuell 
oder als Ausdruck der kollektiven, bloß willkürlich gebildeten Pseudo¬ 
gruppe in ein und demselben sozletalen Organismus vorhanden sind. 

Um der analytischen Grundlage dieser Gruppenlech nik mit wissenschaft¬ 
licher Sympathie zu begegnen, ist es erforderlich, daß wir als Analytiker 
wenigstens versuchsweise gewisse persönliche und Pseudogruppen -Überzeu* 
gungen aufgeben — Überzeugungen, die eher auf einer Art künstlich ent¬ 
standenen Übereinkommens zwischen Einzel individuell als bloße Äußerung 
ihrer nur kollektiven Vereinigung beruhen, als auf den organischen Ban¬ 
den, welche dem biologisch Wesentlichen einer naturgemäßen Gruppe 
entspringen. Wir haben uns von der Meinung loszulösen, daß der Neurotiker 
krank ist, während wir gesund sind. Wir müssen zu einem freieren, so- 
zietalen Standpunkt kommen, der es uns ermöglicht* ohne Protest anzu- 
nehmen, daß das neurotische Individuum an keiner schwereren Krankheit 
leidet, als wir selbst. Gewöhnlich verlieren wir nämlich den Umstand ganz 
aus dem Auge, daß es der Neurotiker in seinen privaten Eriatzbildüngen 
und Verschiebungen unterlassen hat, sich in die kollektive Konföderation 
von Verschiebungen und Ersatzleistungen hineinzufinden, die wir der 
Leser sowohl als ich — zum Zwecke des Selbstschutzes geschickt genug 
waren, zu unterschreiben — rationalisiert durch die Symptome der will¬ 
kürlich entstandenen Pseudogruppen, welchen wir angehören. Es wird mir 
immer klarer, daß wir nur von solcher, uns selbst in die Beobachtung 










Die Gruppenmethode in der Psychoanalyse 215 


einschließender Anschauung aus fähig sein werden, gewissen Faktoren Rech¬ 
nung zu tragen, die uns sonst als sozial eingestellten und stets an ihren 
sozialen Selbstschutz denkenden Individuen verschlossen bleiben müssen. 

Wenn wir unparteiisch unsere psychoanalytische Arbeit auf Grund der 
gegenwärtigen Technik des persönlichen Anvertrauens überblicken, — einer 
Technik, die sich nur mit dem isolierten Element oder Individuum be¬ 
schäftigt, — so ergibt sich, glaube ich, daß, wissenschaftlich betrachtet, unser 
Vorgehen recht rückständig sei. Die esoterische Methode, einen Patienten in 
einem privaten Konsultationszimmer einzuschließen, um eine Geschichte 
der Unzulänglichkeiten, Mängel und Fehlanpassungen anzuhören, welche 
verursacht sind von Störungen, die der ganzen Rasse, also auch uns selbst, 
innewohnen — diese Praxis hat, soviel ich sehe, auf keinem Gebiete wissen¬ 
schaftlicher Untersuchung ihresgleichen. Wir machen kein Geheimnis aus den 
verschiedenen körperlichen Anomalien, denen der Mensch unterworfen ist. 
Herz- und Darmkrankheiten werden willig einer medizinischen Untersuchung 
unterworfen; ebenso empfangen wir pathologische Zustände infolge von Mi߬ 
brauch unseres Organismus, wie z. B. Überessen, alkoholische Exzesse oder 
auch Geschlechtskrankheiten, ganz offen in Klinik und Laboratorium. Der 
Grund hiefür ist naheliegend: das Individuum hält sich für diese Zustände 
nicht mehr moralisch verantwortlich; wir sehen heutzutage darin keine von 
der Vorsehung geschickte Heimsuchungen mehr; die persönliche Integrität 
wird durch solche Krankheitszustände in keiner Weise gefährdet. Und trotz 
alledem behandeln wir die ebenso tatsächlichen Störungen, wie sie in affektiven 
und sexuellen Unzulänglichkeiten und Krankheitserscheinungen zutage treten, 
in einer halb-religiösen und ganz von Moral diktierten Art. Einer solch rück¬ 
ständigen Stellungnahme entsprechend, laden wir unsere Patienten zu geheimen 
Konferenzen, die doch gar nicht der medizinischen und wissenschaftlichen 
Bedeutung der Situation entsprechen. 

Hätten wir Tatsachen zu beobachten, wie sie sich im chemischen oder 
biologischen Laboratorium darbieten, so würde sicherlich niemand daran 
denken, solche Prozesse anders als durch eine gemeinsam beobachtende 
(konsensuelle) wissenschaftliche Methodik in Angriff zu nehmen. 1 Konsen- 
suelle Beobachtung ist gleichbedeutend mit wissenschaftlicher Genauigkeit 
der Methode. Die Feststellung unmittelbarer Tatsachen unter Beobachtungs- 

1) „Psychiatry as an Objective Science“, veröffentlicht in British Journal of 
Psychology, VoL V, part. 4, und „Psychoanalytic Improvisation and tlie Personal 
Equation“, 15. Jahresversammlung der American Psychoanalytic Association, Rich- 
mond, Va, 12. Mai 1925- 








Trigant liurrow 


216 

Verhältnissen, die eine Übereinstimmung der verschiedenen Beobachter er- 
möglichen, sind die anerkannten Vorbedingungen des Laboratonumsver- 
fahrens. 

In der Gruppenmethode kommen sexuelle Phantasien, Familienkonflikte, 
Unstimmigkeiten und Selbsttäuschungen, welche für viele unserer sozialen 
oder PseudogTuppenbeziehungen charakteristisch sind, zur Beobachtung und 
Analyse* Abgeschmacktheiten und Unzulänglichkeiten, über die sich im all¬ 
gemeinen nicht nur der Moralist und Prediger, sondern auch der Laie er¬ 
haben fühlt und die sich der Psychoanalytiker nur hinter verschlossenen 
Türen berichten läßt, werden von uns offen vorgelegt und in Versammlungen 
von bis zwanzig Personen beobachtet, Der Hauptpunkt schließlich, den wir 
Psychoanalytiker übersehen haben, weil wir unbewußt vorziehen, ihn zu über¬ 
sehen, ist nicht der Umstand, daß ein Individuum von sexuellen Konflikten 
heimgesucht wird, sondern daß unter unserem gegenwärtigen sozialen System 
von Verdrängung alle Individuen gleicherweise sexuellen Konflikten unter¬ 
worfen sind. Der Grund, warum der Nervenkranke ein so tiefes Geheimnis 
aus den Störungen seines Geschlechtslebens zu machen wünscht, hegt nicht 
in der Annahme, daß diese Unzulänglichkeiten wirklich seine persönliche 
Angelegenheit sind, sondern darin, daß die Gesellschaft zu ihm sagt: „Hüte 
dich, dir einzubilden, daß diese Dinge nicht deine persönliche Angelegenheit 
sind,^ Und wir Psychoanalytiker nehmen unbewußt an dieser in unserer 
Gesellschaft herrschenden Haltung teil, welche den sogenannten Neurotiker 
blindlings in eine unangreifbare Stellung von Geheimtuerei und Isolierung 
hineintreibt. Wir fordern ihn zu einer solch absurden I laltung von Furcht¬ 
samkeit und Isolierung dem sozialen System gegenüber auf, weil unsere eigene 
soziale Haltung geradeso ängstlich und isoliert ist. 

Der Leser wird leicht verstehen, wie viel gründlicher und wirksamer die 
Resultate einer Analyse sein müssen, die nicht nur die persönliche Stellung¬ 
nahme des Patienten von Grund auf aufrührt, sondern auch alle Pseudo¬ 
gruppenbeziehungen, an denen er teilnimmt, also nicht nur die Komplexe 
der individuellen Neurosen aufdeckt, sondern auch die Komplexe, die in 
sozialer Form unter dem Deckmantel heimlicher Familien bind ungen aufrecht 
erhalten werden. Immer wieder wurde die Krfahrung gemacht, daß auf diese 
Weise der in intrauteriner Lethargie verharrende Schizoide viel leichter aus 
seiner tatenlosen Traumwelt aufgestört wird und in die objektive Unmittel¬ 
barkeit der ihn umgebenden Wirklichkeit ei nt ritt; der Hysteriker energischer 
aus seinen egozentrischen Phantasien aufgeweckt wird und sich rascher den 
konstruktiven Anforderungen des Tages widmet, und daß der Cyclothyme 








Die Grupp enmethode in der Psychoanalyse 


2 1 7 


eher dazu gebracht wird, seinen Stimmungswechsel zugunsten einer aus¬ 
geglichenen, einheitlichen Anstrengung aufzugehen. Das Ergebnis dieses 
weiter ausgreifenden Programm es war ein rasches Heilungsverfahren für 
unsere neurotischen Patienten und ihr Freiwerden nicht nur von ihren 
individuellen, sondern auch von den Massenreaktionen, die als solche der 
Familie oder anderer unbewußter Verbände zutage treten; 

Die wichtigsten Resultate unserer Gruppenmethode sind, kurz gefaßt, 
folgende: 

1) Die unmittelbare Aufdeckung der unbewußten Suggestion als ge¬ 
meinsamer (sozialer) Vorgang, Ihr individueller Ausdruck wurde wissen¬ 
schaftlich zuerst von Freud als „Übertragung“ erkannt, 

2) Daß phylogenetisch die Mutter-Kind-Reziehung als polares Prinzip 
der sozialen Hypnose, die in jedem Individuum zutage tritt, zugrunde liegt. 

5) Daß es bestimmte, unbewußte, soziale Reaktionen sind, welche im 
Einzelindividuum von den individuellen Sublimierungen vertreten werden. 
Außerdem wurden die folgenden Mechanismen in ihrem sozialen Milieu 
von uns erkannt und untersucht: 

1) Die Doppelrolle der Mutter-KindTmago, die in der Persönlichkeit 
jedes Individuums in beiden Richtungen in Sackgassen (Impasse) führt. 

2) Die Ausdehnung dieser universellen Imagines auf die Gesellschaft, 
in der sie unbewußt zur Substituierung des Realen durch soziale Ima¬ 
gines führt — „Gott“, „Liebe“, „Tugend", zusammen mit „Ehe“, 
„Familie“, auf ge faßt als soziale Institutionen, 

5) Der soziale Mechanismus der Projektion als Allgemeinerscheinung, 
welche Schritt für Schritt bis in ihre ontogenetische Wurzel verfolgt 
werden konnte. 

4) Die ambivalente Unvereinbarkeit der Affektreaktionen im „nor¬ 
malen“ wie auch im neurotischen Individuum mit ihren zwanghaft alter“ 
nierenden Phasen von Gut und Böse, Liebe und Haß, Lob und Tadel 
und die Wechselwirkung dieser Affektphasen im sozialen Milieu. 

5) Die psychologische Identität der pseudo-sexuellen Imagines, die 
gegenwärtig allgemein in homo- und heterosexuelle getrennt werden, 
und die vollständige Entfernung dieser beiden Komponenten im Gesell¬ 
schaftsleben von dem sozietalen, organischen Geschlechtsinstinkt. 

6) Die sozialen Formen der krankhaften Zustände, wie Paranoia, Homo¬ 
sexualität, Hysterie und andere Zustände, die bisher gewöhnlich nur, 
klinisch isoliert, als dem neurotischen Individuum eigentümliche Krank¬ 
heitseinheiten betrachtet worden sind. 




2 1 8 Trigant Burrow 


7) Der experimentelle Beweis für die Theorie der primären Identi¬ 
fikation des Individuums mit der Mutter und der Nachweis einer phylo¬ 
genetisch und sozietal bedeutsamen unbewußten Phase, welche mit der 
primären, subjektiven Phase der kindlichen Psyche, wie sie bisher als 
ontogeneüsche Basis postuliert worden ist, in Parallele zu setzen ist, 1 
Die Analyse beginnt mit persönlichen Besprechungen und es steht jedem 
Patienten frei, zu diesen zurückzukehren, wenn es die Umstande verlangen. 
Das Charakteristische solcher Besprechungen ist es aber allerdings, daß sie 
nicht die Anschauungen einer willkürlich gebildeten Pseudogruppe zur 
Grundlage haben, welche die Neurose ausschließlich im Patienten voraussetzen, 
während der Arzt bloß als Zuschauer danebensteht. Vom Patienten wird 
von Anfang an erwartet, daß er seinen eigenen krankhaften Zustand zugleich 
auch als einen Teil einer Neurose auffaßt, die ganz allgemein von einem 
sozialen Gemeinwesen getragen wird, von welchem der Arzt und er gleicherweise 
wesentliche Bestandteile sind. Von dieser organischen Gruppenbasis aus, die zu¬ 
erst nur aus zwei Personen besieht, kommt der Patient später zu Besprechungen 
mit drei oder vier Individuen und nach und nach in größere Gruppen¬ 
konferenzen von etwa acht bis zwölf Personen. Eine wichtige Seite dieser 
Gruppensitzungen ist, daß der Patient von Anfang an sowohl Beobachter 
als auch Beobachteter ist; er wird dadurch zum verantwortungsvollen 
Untersucher gemeinsamer menschlicher Probleme, persönlicher wie auch 
sozialer. Weitere Vorteile unserer Methode bestellen darin, daß dem Patienten 
in der Verbindung mit einer Gruppe — gleichviel, ob mit Kinzelindividuen 
oder deren Gesamtheit — ganz abgesehen von den analytischen Sitzungen 
Gelegenheit geboten wird, Glied eines sozialen Verbandes zu werden mit 
Leuten, die mit ihm ein gemeinsames Interesse verfolgen. Es wird ihm 
möglich, eine solche biologische Verschmelzung beibehaltend, in soziale Be¬ 
ziehung mit reiferen, erfahreneren Teilnehmern zu treten, so daß ohne Unter- 
brechung im täglichen Leben das beiderseitige analytische Ziel vorhält. So 
kommt es, daß hysterische und paranoide Typen Gelegenheit haben, soziale 
Beziehungen einzugehen, ohne in die unrichtigen, nur zum Schein sozialen 
Anpassungsformen sozial isolierter Pseudogruppen hineingezwungen zu werden; 
psychasthenische und schizoide Persönlichkeiten gelangen in (Jruppenbezie- 
hungen, welche ihnen, ohne alle Kritik ihrer introvertierten Anpassungs¬ 
gewohnheiten, dennoch nicht erlauben, in die Abgeschlossenheit ihrer Intro¬ 
version zurückzu fallen. 


1 ) J? Genesis and Meaning of Homosexuality,“ Psychoanalyse Review, IV, 5, July 1917. 

















Die Gruppenmethode in der Psychoanalyse 


219 


In der persönlichen Analyse beruht das Verfahren von Anfang an auf 
der Übertragung, Keine Übertragung, keine Psychoanalyse. Sie muß 
zustande gebracht werden und bis zu ihrer Ablösung erhalten bleiben. Bei 
unserer Gruppenmethode wird diesem Zustand der Abhängigkeit des Patienten 
vom Arzt von Anfang an entgegengearbeitet. Wir wissen sehr wohl, daß das 
Wesentliche der Neurose in derMutter-Kind-Beziehung liegt, daß hier gleichsam 
die „Sackgasse“ im Unbewußten des Neurotikers liegt, daß ihn immer nach 
neuer Unterbringung derselben verlangt. In der Gruppe aber wird die Mutter- 
Kind-Beziehung sofort konsensueller Beobachtung und Erforschung unter¬ 
worfen und keinem Surrogat dieser Beziehung wird es gestattet, wie es 
bei der üblichen analytischen Technik der Fall Ist, — sich unbewußt ein- 
zuschleieben und so die eigentliche Absicht der Psychoanalyse zu vereiteln. 
Ich meine auch nicht einen Augenblick, daß nicht in jedem Patienten die 
Tendenz zu solch einer Fixierung und Übertragung auch in der Gruppen- 
Situation vorhanden istj wir finden sie immer. Unter den Bedingungen der 
Gmppenmethodik ist aber die Gelegenheit für ihre heimliche Verschanzung 
und Verstärkung naturgemäß weniger günstig als in der Einzelanalyse, wo 
der Kontakt monatelang auf einen einzelnen Analytiker beschränkt bleibt. 
Was in der individuellen Analyse als persönliche Übertragung erscheint, 
wird durch die Teilnahme mehrerer Individuen in ihrer gemeinsamen Analyse 
neutralisiert. 

Es liegt ferner im Wesen der Gruppenanalyse, daß jedem Teilnehmer 
die Gelegenheit gegeben ist, als Unparteiischer die Elemente seiner eigenen 
Neurose in der Neurose eines anderen gespiegelt zu sehen. Bei einem 
solchen Verfahren wird es immer wieder dar ge tan, daß die seelischen 
Reaktionen in anderen Individuen identisch mit den eigenen sind. Dieser 
Umstand ist von größter Bedeutung durch seinen Einfluß auf den zentralen 
Faktor des Widerstandes. Ich erinnere mich gut an Worte, die Freud am 
Zweiten Internationalen Psychoanalytischen Kongreß 1911 in Nürnberg 
äußerte. In Antwort auf eine Bemerkung Jungs sagte er f die Aufgabe der 
Psychoanalyse liege nicht in dem Auffinden von Komplexen, sondern in 
der Auflösung von Widerständen. Gerade hier scheint mir die Gruppen- 
technik von besonderem Vorteil zu sein. Denn ein Wesentliches am Wider- 
stand ist doch sicherlich das Gefühl, in den eigenen Konflikten isoliert 
dazustehen. Wo es die Umstände dem Individuum erlauben, die soziale 
Natur seiner eigenen Konflikte zu empfinden, da wird natürlich das Gefühl 
der Isolierung allmählich aufgelöst und damit schwinden auch die Wider¬ 
stände, die das Rückgrat seiner Neurose bilden. 





220 


Trigant Burrow 


Ich erinnere, daß unsere Gruppenarbeit noch in ihren enteil Anfängen 
steht. Im ganzen können wir auf nicht mehr als vier Jahre eigentlicher 
Gruppenanalyse zurückblicken. Zwei vorangehende Jahre waren Versuchen 
der Abänderung der ursprünglichen analytischen Arbeit und der probeweisen 
Anwendung gewidmet. Unsere Arbeit konzentrierte sich anfangs mit be¬ 
sonderem Interesse darauf, die gewöhnlich vernachlässigten, instinktiven 
Grundlagen der sozietalen oder wesensgemäßen Gruppenbildung zu er¬ 
forschen und zugleich die allgemein anerkannten Pseudogruppenbeziehungen 
in Frage zu stellen. Ein sorgfältiges analytisches Studium der manifesten 
Inhalte unseres sogenannten sozialen Uewußtsciiis hat dahinter das Vorhanden¬ 
sein latenter Elemente erwiesen, die ihnen ebensosehr widersprechen, wie 
das zuerst von Freud durchleuchtete Traumleben des Einzelpatienten seiner 
aktuellen Anpassung an das wache Leben widerspricht* 

Ich möchte nicht so verstanden werden, als ob ich unsere konventionellen 
Formen sozialer Beziehungen verwerfen wollte. Es haben diese unzweifelhaft 
in dem Entwicklungsprozeß des menschlichen Bewußtseins ihren Platz, 
geradeso wie die primitiven Menschen verbände ihren Platz in der Struktur 
unserer Entwicklung hatten. Ich möchte nur die Ersatzbildungen zurück- 
weisen, welche oberflächliche soziale Gruppierungen an Stelle der organischen 
Gefühle und Instinkte setzten, welche die Menschen zu einer einheitlichen 
Kolonie, Gattung und Kasse zusammenbinden* 

Manche, die mit unserer Gruppenanalyse bekann(geworden sind, wollen 
in ihr eine Neuerung auf psychoanalytischem Gebiet sehen. Es scheint 
ihnen, daß meine Methode eine Abweichung von den ursprünglichen 
Freudschen Prinzipien bedeutet* Das hieße aber, Freud von ganz ober¬ 
flächlichen und zufälligen Gesichtspunkten aus beurteilen und die tiefere 
Bedeutung seiner ursprünglichen Forschungsrichtung aus dem Auge ver¬ 
lieren, Nach meiner Auffassung ist die Gruppenmethode nur eine Aus¬ 
dehnung der von Freud zuerst auf ontogenetischem Gebiete angewandten 
persönlichen Analyse auf das phylogenetische Gebiet, 1 In gerechter Würdigung 
von Freuds Werk darf man es nicht unterlassen, anzuerkennen, daß das 
von ihm eingeführte Verfahren im wesentlichen die Anwendung einer 
exakten Laboratoriumsmethode auf die Erforschung der psychischen Er¬ 
scheinungen war. Von Anfang an ersetzte Freud das persönliche Vorurteil 
durch die wissenschaftliche Beobachtung, Er studierte, was er im menschlichen 


1) „The Laboratory Method in Psychoannlyiis.“ Vortrag* gehalten nm 9, Kongreß 
der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung, Bad Homburg, September 19S5. 








Die Gruppenmethode in der Psychoanalyse 


22 l 


Bewußtsein sah, nicht nur in dem seiner Patienten * sondern auch in seinem 
eigenen, und er hat gewissenhaft mitgeteilt, was er fand. So wurde auf 
dem Gebiet der Bewußtseinsprozesse eine ebenso exakte Laboratoriumstechnik 
ermöglicht, wie sie bisher für die wissenschaftliche Beobachtung in den übrigen 
Gebieten der Biologie typisch gewesen war. Kurz gesagt, Freud hob die 
Erforschung der Bewußtseinsprozesse in die Reihe der biologischen Wissen¬ 
schaft. Damit war allerdings eine Verletzung sozialer Empfindlichkeiten 
verbunden. Das soziale Bewußtsein wehrte sich mit dem vollen Gewicht 
unbewußter sozialer Überlieferung so entschieden gegen die Freudsche 
Laboratoriumsmethode, daß ihre Erweiterung und Ausdehnung auf den 
sozialen Organismus prompt unterbunden wurde. 

Anstatt sich der Unterstützung einer konsensuellen Gruppe von Mit¬ 
arbeitern zu erfreuen, wurde Freud mit einem unbewußten Widerstand, 
der sozialer Natur und seinem Wesen nach den Psendogruppenreaktionen 
zugehörig war, empfangen. Freud war in seiner Stellung allein und daher 
außerstande, dieser Gegenrcaktion in ihrer unkoordinierten sozialen iorm 
direkt entgegenzutreten. Diese Situation war unvermeidlich; mangels einer 
konsensuellen sozietalen Gruppe von Mitarbeitern konnte Freuds Forschung 
unmöglich die Tatsachen des generischen, sozialen Unbewußten mitein- 
begreifen. Obschon es recht eigentlich in der Natur der Freudschen Ent- 
deckung lag, daß eine exakte Untersuchung von ßewußtseinsphänomenen 
nur durch das Prinzip konsensueller Laboratoriumsbeobachtung ermöglicht 
wird, ist doch der soziale Widerstand, der Freud von Anfang an gegenüber^ 
trat, in unseren psychoanalytischen Reihen unerkannt und ungelöst ge¬ 
blieben. Von unserem Gruppenstandpunkt aus vertreten wir die Ansicht, 
daß die Vorurteile der Pseudogruppen, welche die unbewußte Basis unseres 
sozialen Widerstandes bilden, nicht aufgelöst werden können, bevor wir 
erkannt haben, daß sie ebenso unbewußte Manifestationen von seiten der 
sozialen Psyche sind wie die persönlichen Widerstände, denen man in der 
Einzelanalyse begegnet. Auf Grund unserer Gruppenbeobachtungen möchten 
wir den Umstand besonders betonen, daß diese Widerstände in der sozialen 
Psyche ohne soziale Analyse geradeso wenig aufgelöst werden können, 
wie es möglich wäre, ohne Analyse die persönlichen Widerstände des 
einzelnen Patienten aufzuheben, 1 Wenn wir einen anderen Weg ein schlagen, 

i) Geradeso wie niemand die Bedeutung der individuellen Analyse wirklich je 
verstanden hat, ohne an einer Analyse selbst teilgenommen m haben, wird man 
auch das Verfahren der Gruppenanalyse nur auf Grund eigener Erfahrung, d. h. 
persönlicher Teilnahme verstehen können. Preiid betonte von Anfang an die Nutz- 







Burrow: Die Gruppenmethode in der Psychoanalyse 


können wir zu Nachfolgern Freuds werden nur im Sinne von Gliedern einer 
kollektiven Pseudogruppe, und der Geist des Entdeckers und seiner Labora* 
toriumsrnethode versinkt unter dem Massengewicht eines bloß nachtihmenden, 
mit in Konkurrenz tretenden, sozialen Unbewußten. 

Wir fassen unsere Befunde zusammen: Für den Psychopathologen ist der 
Mensch nicht Individuum, sondern ein Teil eines sozietalen Organismus. 
Unsere Analysen einer Person, basierend auf Unterscheidungen, die uns und 
anderen Beobachtern wissenschaftlich vollberechtigt schienen, beruhen in 
Wirklichkeit auf recht vorübergehenden sozialen Artefakten; sie stützen 
sich nicht auf eine wirklich biologische Basis. Die Analyse des Menschen 
als Element bedeutet seine Isolierung als Element. Und diese Isolierung 
ist ein wesentlicher Verstoß gegen ein vorhandenes organisches Gruppen- 
prinzip im Bewußtsein 


losigkeit eines Wissens über oder in Beziehung auf Psychoanalyse. Die Kenntnis 
der Psychoanalyse ist nicht nur von intellektuellen Funktionen abhängig; die Wider¬ 
stände, die eine Barriere gegen das Verstehen der Psychoanalyse bilden, hegen nicht 
im Intellekt. Nur in dem Maße, als wir das eigene — persönliche wie soziale 
Gefühl dem Prozeß der Analyse unterwerfen, können wir tu einem \ erstand» is der 
Psychoanalyse im wirklichen Sinne de® Wortes „Verstehen 11 kommen nämlich zu 
einer innern Annahme der Bedeutung von Freuds Werk, 
















Erfahren, Verstehen, Deuten 
in der Psychoanalyse 

Von 

Ludwig Binswanger 

Kreuzlingen 

Goethe spricht einmal aus, daß dem Einzelnen zwar die Freiheit bleiben 
solle, sich mit dem zu beschäftigen, was ihn anzieht, was ihm Freude macht, 
was ihm nützlich deucht, daß aber das eigentliche Studium der Menschheit 
der Mensch sei. Suchen wir nach einer näheren Bestimmung dieses Studiums, 
so bietet sich uns dafür ein Ausdruck, dar, der gerade seit Goethe, wenn 
auch nicht durch ihn, in der deutschen Geistesgeschichte heimisch geworden 
ist. Philosophen wie Schleiermacher, Dilthey, Simmel, Rickert, 
Philologen wie Böckh, Historiker wieDroysen, Soziologen wie Max Weher 
haben das mit diesem Ausdruck Gemeinte von den verschiedensten Seiten, 
zu den verschiedensten Zwecken und mit den verschiedensten Methoden 
untersucht. Sie alle sprechen vom „Verstehen“ als einem Grundproblem 
des Studiums des Menschen und seiner Werke. Erst spät ist dieser Aus¬ 
druck und sein Problemgehalt in diejenige Wissenschaft eingedrungen, die, 
so sollte man meinen, sich seiner zuerst hätte bemächtigen müssen, in die 
Psychologie. Auch heute noch untersuchen die Wenigsten das Verstehen 
rein im Hinblick auf die empirische Psychologie; jedoch haben nach dem 
ersten epochemachenden Anstoß von Dilthey Forscher wie Spränger, 
Jaspers, Scheler, Edith Stein, Haberlin und ich selbst sich darum 
bemüht, die Rolle des Verstehens in der Psychologie näher zu bestimmen, 
ohne jedoch zu übereinstimmenden Meinungen und Resultaten zu gelangen. 

Es ist nicht nur das „Medium“ der Wissenschaft, in welchem „der 
Mensch“ verstanden werden kann, ja es ist noch eine offene Frage, ob 
sich auf dem Verstehen Wissenschaft, 2umal Erfahrungswissenschaft, über- 




2 24 


Ludwig Binswnnger 


haupt aufbauen kann oder ob das Verstehen letztlich immer nur Sache 
des Einzelnen bleibt, der es jeweils vollzieht. Empirische Wissenschaft 
wenigstens hätte dann nur das „Material herbeizuschaffen und zu bearbeiten 
(Heuristik, Droysen), das die psychologischen (wir reden nur noch von 
diesen) Grundlagen des Verstehens zu erweitern, vertiefen und systematisch 
zu ordnen erlaubt. Psychologie als Erfahrungswissenschaft hiitte es dann 
nur mit den realen Bedingungen des Verstehen» zu tun. Jedenfalls war 
es bisher nicht die wissenschaftliche Geisteshai Hing, auf deren Boden das 
psychologische Verstehen Triumphe gefeiert hat, sondern eine Hei he ganz 
anderer geistiger „Medien“: Ich erinnere nur an Augustins und Kierke¬ 
gaards leidenschaftlich-religiöses Pathos, an Shakespeares geniale „dichte¬ 
rische Einbildungskraft“, an Nietzsches philosophisches Prophetentum, aber 
auch an die skeptische, nüchtern beobachtende und erzählende „Seelenstim- 
mung“ eines Montaigne, vieler seiner antiken Vorbilder und seiner Nach¬ 
folger. Kein Zweifel: religiöses Hingen mit Gott, philosophische Wertung und 
Umwertung, künstlerischer Gestaltungswille und einfache Beobachter- und Er¬ 
zählerfreude hatten die Menschheit in ihrem „eigentlichen Studium bis vor 
kurzem mehr gefördert als die Wissenschaft. Aber als vor- und außerwissen¬ 
schaftlichen Geisteshaltungen fehlte ihnen doch noch gerade das, was W issen- 
schaft allein zu leisten vermag: die Ausarbeitung, Vermittlung und Ver¬ 
breitung der wissenschaftlichen Methode, die Gliederung und Ordnung der 
gewonnenen Erkenntnisse in einem theoretischen Bedeutungszusammen- 
hang und, damit verbunden, die Reflexion auf das Erkenntnisverfahren. 

Bestimmte soziale, individuelle und geiltesgeschichtliche Faktoren mußten 
Zusammenwirken, um das Studium des Menschen im Sinne des Verstehens 
in die Bahn der empirischen Wissenschaft zu leiten. Zu den ersten gehört 
das soziale Verhältnis zwischen Arzt und Patient, wie es sich mit der Ent¬ 
stehung der medizinischen Psychotherapie überhaupt herausgebildet hat, zu 
den zweiten die Person lichkeit Freuds, zu den dritten der nach hegeliani¬ 
sche Naturalismus, Evolutionismus und Positivismus. Allen drei so ver¬ 
schiedenartigen Faktoren zusammen ist es zu verdanken, daß jenes Studium 
des Menschen auf den Boden der wissenschaftlichen Erfahrung gestellt 
werden konnte. Demgemäß haften ihm jetzt auch ganz spezifische soziale, 
individuelle und geistcsgesehichtlichc Einschränkungen und Eigenarten an, 
die in einer „allgemeinen“ Lehre vom „Studium des Menschen xioch zu 
überwinden wären; aber das ändert nichts an dem historischen Faktum, 
daß die Psychoanalyse Freuds das „eigentliche Studium der Menschheit 
erstmals systematisch auf Erfahrung gegründet hat. 










Erfahren, Verstehen, Deuten in der Psychoanalyse 


225 


Diese Tatsache wird auch von ernsten „Kritikern 1 ’ der Psychologie Freuds 
in der Regel übersehen oder nicht ins richtige Licht gestellt. Entsprechend 
der Neuheit seines Verfahrens innerhalb der medizinischen Wissenschaft 
blickte man vor allem auf das, was Freud Deuten nannte, nicht ahnend oder 
vergessend, daß sich dieses Deuten, eben als „Deuten“, schon in den ver¬ 
schiedensten Wissenschaften einen Namen verschafft und ein Heimatsrecht 
erworben hatte. Unter dem Namen der Hermeneutik oder des hermeneuti¬ 
schen Verfahrens im Sinne einer „Kunst der Auslegung 1 ' und der Aufweisung 
der Regeln dieser Kunst finden wir das Deuten in der Rhetorik und Philologie 
von den Griechen bis auf die neueste Zeit, in der Theologie der Kirchen¬ 
väter (Augustin, Orig in es) und der Nachreformation (Ilaccius), in der 
ganzen neueren Geschichte, zum mindesten seit Schleiermacher aber 
auch im Hinblick auf die Psychologie naher untersucht und zum wissen¬ 
schaftlichen Bewußtsein gebracht. Insofern als der spezielle Inhalt und der 
spezielle Zweck eines wissenschaftlichen Verfahrens nichts mit diesem Ver¬ 
fahren als solchem zu tun haben, gelänge es leicht, Freuds Deutungs¬ 
verfahren als einen Spezialfall der Hermeneutik der Geisteswissenschaften 
(Philologie, Theologie, Geschichte in allen ihren Zweigen) aufzuweisen, 
und zwar im Sinne einer speziellen empirischen Ausgestaltung und Ver¬ 
tiefung derselben nach ihrer psychologischen oder individuellen (Böckh) 
Seite hin. Und so gilt auch hier wie beim Verstehen der Satz, daß Freud 
die Hermeneutik erstmals auf Erfahrung (im Sinne der ErfahrungsWissen¬ 
schaft) gegründet hat. 

So drängt denn alles darauf hin, näher zu bestimmen, in welchem Ver¬ 
hältnis bei Freud gerade die Erfahrung zum Verstehen sowohl als zum 
Deuten steht. 

Es handelt sich hier also um ein Stück „Reflexion auf das Erkenntnis¬ 
verfahren“ der Psychoanalyse, das auf dem zu Gebote stehenden Baum aber 
nur äußerst skizzenhaft Umrissen werden kann, da seine gründliche, viele 
Beispiele erfordernde Behandlung ein ganzes Buch beanspruchen würde. Da 
ferner die in Betracht kommenden Termini mit vielfachen und sehr ge¬ 
fährlichen Äquivokationen behaftet sind, die nur höchst unvollständig zur 
Sprache gebracht werden können, mögen die folgenden Ausführungen mehr 
als ein Programm, denn als eine Abhandlung betrachtet werden. 

I 

Wie auf naturwissenschaftlichem Gebiet, so baut sich auch auf psycho¬ 
logischem die Erfahrung zunächst auf auf Akten der Wahrnehmun g. Infolge 


Imago XII. 


l 5 







2 26 Ludwig Binswanger 


einer verhängnisvollen theoretischen Überbelastung des Problems der l 1 remd“ 
Wahrnehmung (Analogieschluß-, Emfühlungitheorie) herrschte hier aber 
lange Zeit eine allzu prinzipiell einschneidende Trennung zwischen Akten 
der Selbst- und Fremd Wahrnehmung. Dank genauer phänomenologischer 
Untersuchungen (Seheler u. a.) wissen wir heule, daß es zum mindesten 
eine der psychologischen Selbst“ und Fremd Wahrnehmung gemeinsame Akt¬ 
richtung gibt, die sich wesensmußig von den Akten äußerer Wahrnehmung 
unterscheidet und in der wir nicht nur eigenes, sondern auch fremdes 
Seelenleben (d. h. nicht auf dem Umweg über die körperliche Wahrnehmung 
als solche) erfassen, 1 Und zwar erfassen wir das letztere am „Du“, an der 
anschaulichen psychophysisch-neutralen Einheit der fremden Person, an 
ihrem gesamten Verhalten oder Benehmen, sofern es sich uns als ihre 
Ausdruckssphäre darbietet, an ihrer Gestalt und Mimik, an ihren Gesten 
und Gebärden und an ihren sprachlichen H AusdruckenDie letzteren führen 
nun aber zu einer zweiten Art psychologischer Erfahrung hinüber. Zwar 
können wir auch auf Grund des sprachlichen Gesamtausdrucks Seelisches 
unmittelbar wahrnehmen (so z, 11. auf Grund des "Fonfalls und Tempos 
des Sprechens die Trauer oder Angst), aber außerdem erfahren wir auf 
Grund des sprachlichen Ausdrucks auch indirekt etwas vom Seelenleben 
der fremden Person, nämlich auf dem Umweg über die (rationalen) Wort- 
und Satzbedeutungen, d H h, über das, was die Person uns in ihren spraclr 
liehen Äußerungen über sich kundgibt. Auch liier sprechen wir von einem 
Verstehen, aber das Verstehen der sprachlichen Ausdrücke als solches hat 
mit dem psychologischen Verstehen noch nichts zu tun, da wir hier zunächst 
nur verstehen, was gesprochen wird, aber keineswegs auch den Sprecher als 
Person ins Auge fassen müssen, worauf schon Simmel aufmerksam gemacht 
hat. Auf dem Umweg über das Gesprochene können wir dann zwar auch 
sehr viel von der Person erfahren, aber keineswegs handelt cs sich hier 
noch um wahrnehmende, präsentierende oder unmittelbar erfassende Akte, 
vielmehr um ein aus der Kundnahme erwachsendes rationales Wissen, 
Dieses Wissen steht hinter dem Wahrnehmen insofern ZAiriiek, als es niemals 
ein direktes Erfassen von fremden Erlebnissen darstrllt, indem es entweder 
ein bloßes unanschauliches Wissen von ihrem Vorhandensein bleibt oder 
sich zwar sekundär in Anschauung umsetzt, dabei aber nur repräsentierende, 

i) Ob man von Stufen der Fremd Wahrnehmung reden kann, von denen die eine 
einer Art „Einfühlung“ gleichkommt, wie Edith Stein es will, und inwiefern es sich 
hier um „originär gebende“ Akte im Sinne Husscrls handeln kann (vgl. auch Biiiten* 
dijk und PI es sn er), bleibe hier offen. 













y* lX*^ \y^ y ^UZ> t 94 {/k4A.*jy+*> y M * 


Erfahren, Verstehen, Deuten in der Psychoanalyse 


227 


vergegenwärtigende oder imaginierende Akte ermöglicht. Hingegen ragt 
dieses Wissen über die direkte Wahrnehmung insofern wiederum hinaus, 
als es uns nicht nur von dem Vorhandensein von Erlebnissen, ihrem Hier 
und Jetzt und eventuell der Art ihres Erlebtwerdens Kunde gibt, sondern 
auch von ihrem Sinn oder Gehalt, der prinzipiell nicht wahrnehmbar, 
sondern nur sprachlich ausdrückbar oder sonstwie bekundbar ist, Daß beide 
Erfahrungsarten verschieden sind, geht auch daraus hervor, daß auf dem 
Gebiet der psychologischen Wahrnehmung, sowohl der Selbst- als der Fremd¬ 
wahrnehmung, eigentliche Täuschungen Vorkommen, können, auf dem der 
Feststellung vermittels der Kundgabe oder Mitteilung aber Irrtümer* 

Während nun sonst die wissenschaftliche Psychologie, insbesondere aber 
die experimentelle, sich auf die zweite Art der psychologischen Erfahrung 
stützt, abzielend auf eine möglichst genaue und eindeutige sprachliche 
Fixierung des Erlebten und seines Gehalts von seiten der Versuchsperson * 
zeigt die psychoanalytische VerFahrungsweise schon hier sehr deutlich ihre 
Eigenart insofern, als sie entschieden die erstere Art bevorzugt. Nicht als 
ob sie die sprachliche Verständigung gering achtete, — man denke nur 
an die sprachliche Wiedergabe der Träume und der Lebensgeschichte, — 
jedoch nimmt die direkte Wahrnehmung in der Rangordnung beider Er¬ 
fahrungsarten insofern den ersten Platz ein, als sie die sprachlich-rationale 
Verständigung stets begleitet und, was das wichtigste ist, bei einer In¬ 
kongruenz der beiderseitigen Erfahrungsresultate den Ausschlag gibt. 

Auch bei der Kenntnisnahme vom Inhalt eines Traumes oder eines 
Stückes Lebensgeschichte achten wir in der Psychoanalyse ja nicht nur 
auf den rationalen Bedeutungsgehalt des Gesprochenen, sondern immer auch 
auf den psychologischen Ausdrucksgehalt des Sprechenden* Und wenn wir 
dann Traum- und Leidensgeschichte hermeneu tisch auslegen, leitet uns 
das, was wir an der Person während des Berichtes direkt wahrnehmen, in 
erster und letzter Linie; denn nur die direkte Wahrnehmung ermöglicht 
uns zu erkennen, welche von den hermcneutisch möglichen Auslegungen 
im vorliegenden Falle wirklich zutreffen* Schon insofern können wir von 
einer, weiter unten naher auszuführenden, hermeneu tischen Erfahrung 
sprechen* Traumdeutung lediglich auf Grund eines Traumprotokolles oder 
seines rein rationalen Bedeutungsgehaltes bleibt immer nur Mutmaßung, so 
Virtuosenhaft sie auch geübt sein mag* Erst die Auslegung am lebendigen 
Objekt stützt sich auf Erfahrung, im Gegensatz zur Auslegung in den 
Gei stes wissen schäften, die zwar ein ungeheures Wissen voraussetzt, aber 
nicht im empirischen Sinne sich betätigen und bekräftigen kann. — Unter 












* 5 * 









228 


Ludwig Bi ns wütiger 


den Arbeiten Freuds gibt es eine, an der die Bedeutung der direkten 
Wahrnehmung direkt demonstriert werden kann, da es sich hier um die 
Auslegung eines jedermann zugänglichen Kunstwerkes handelt, nämlich die 
Arbeit über den Moses des Michelangelo. 

Die direkte Wahrnehmung seelischen Erlebens bleibt nun aber nicht 
auf den gleichsam ruhenden Erlebnisbestand beschränkt, vielmehr nehmen 
wir auch das Hinübergehen eines Erlebnisses in das andere auf Grund 
vielfacher Nuancen der Ausdrucksgestalten wahr. Und indem Freud die 
Wahrnehmung der Erlebnisse über weite Strecken hinaus methodisch geübt, 
in stundenlang anhaltendem optischem oder akustischem „Hinitarren 4 auf 
die Nuancierung, den Ablauf und die Verflechtung der Ausdrucksgestalten 
der Person, hat er die Erfahrun gsgrun d hi ge geschaffen für ein System 
theoretischer Überzeugungen, das, mag es noch so sehr über Erfahrung 
hinausgehen, niemals sein Herauswachsen aus jener Erfuhrungsgrundlage 
verleugnet. Wenn es auch ein weiter Weg ist, etwa von der Ausdrucks- 
gestalt des „Stockens der Rede 4 bis zur Theorie des Widerstandes, so liegt 
doch dieser Weg offen vor uns, für jeden gangbar und prüfbar* 

Auf Grund der „Ausdrucksgrammatik 4 (Seheler) gewinnen wir so einen 
tiefen Einblick in das Seelenleben der fremden Person, in die allgemeine 
Art, das Tempo, den Rhythmus, die Intensität ihres Erlebens, in ihre Beherrscht¬ 
heit oder Unbeherrschtheit, ihre mehr zentral-geistige oder exzentrisch-trieb¬ 
hafte Stellung im und Einstellung zum Leben (Häberlin), in ihre mehr 
naive oder mehr „bewußte“, in ihre echte oder unechte Erlebnisweise, dann 
aber auch in ihre Gesinnungen, Gefühle, Leidenschaften usw. Man hat auch 
diese Wahrnehmung von Seelischem Verstehen genannt, verstehendes Wahr¬ 
nehmen (Häberlin), einfühlendes oder nacherlebendes Verstehen (Dilthey, 
Jaspers u. v, a,). Ausdrucksverstehen u, a M jedoch darf man nicht deswegen, 
weil Wahrnehmung und Nacherleben von Seelischem und Verstehen sehr 
häufig zusammen Vorkommen, beide Akte miteinander verquicken oder gar 
verwechseln. 

II 

Man kann nämlich sehr viel an einer Person wahrgenommen und auf 
Grund sprachlicher Kundgabe „nacherlebend 4 oder „vergegenwärtigend 
über sie festgestellt haben, man kann also mit anderen Worten ein großes 
Erfahrungsmaterial von ihr besitzen und braucht prinzipiell doch noch 
nichts an ihr psychologisch verstanden zu haben* Umgekehrt bereichert 
unser psychologisches Verständnis keineswegs unsere Erfahrung von der 
Person, sie läßt uns vielmehr das Erfahrungsmaterial in einem besonderen 











Erfahren, Verstehen, Deuten in der Psychoanalyse 229 


Licht erscheinen, hebt es in eine besondere Sphäre, nämlich in die geistige 
Sphäre der „psychologischen u Verständlichkeit. Oder anders ausgedrückt: 
Der Akt des (psychologischen) Verstehens hat zum Gegenstand nicht ein 
reales Sein, wenn er auch auf Erfassensakte von solchem fundiert sein 
kann (und, soweit empirische Psychologie in Frage kommt, fundiert sein 
muß), sondern sein Korrelat ist ein Sinn oder ätnnzusammenhang, und 
zwar in Gestalt eines „verständlichen“ Motivationszusammenhanges. 
Denn nicht jeder Motivationszusammenhang ist, wenn auch prinzipiell 
verstehbar, so tatsächlich mit seiner Erfassung oder Feststellung zugleich 
auch verstanden. Verstanden ist er erst dann, wenn mir seine Ver¬ 
stau dnisqualität“ aufblitzt, seine a priori einsichtige Evidenz oder Bündigkeit. 
Eine solche apriorische Evidenz gibt es natürlich innerhalb der Erfahrung 
nicht, sie kann daher auch nicht induktiv gewonnen werden; sie gibt es 
nur auf dem Boden einer gewissen Sinn- oder \ ernunftgesetzliehkeib Auch 
die Motivationszusammenhänge sind von einer solchen Sinngesetzlichkeit 
„beherrscht“, insofern, als der Gehalt der Erlebnisse von sich aus apriori- 
gültige oder evidente Anweisung gibt auf ihr Verbundensein mit anderen 
Erlebnisgehalten (Simmel). Man sieht also, daß es sich hier nicht um 
einen realen Zusammenhang seelisch-realer Erlebnisse, also überhaupt nicht 
um das Erlebt werden oder die Verwirklichung von Erlebnissen handelt, 
sondern nur um den Sinnzusammenhang, in welchem die (intentionalen) 
Erlebnisse auf Grund ihres (intentionalen) Gehaltes stehen. Auf dieser Trennung 
baut sich die ganze moderne Personpsychologie auf und sie ist auch grund¬ 
legend für die Darstellung und das wissenschaftliche Verständnis des Erkenntnis- 
verfahrens in der Psychoanalyse. Jedoch darf man, wie aus dem Gesagten her¬ 
vorgeht, auf Grund der großen aktmäßigen und intentionalen Verschiedenheit, 
welche zwischen den kategorial-anschaulichen Akten des Verstehens und 
den „sinnlich“-anschaulichen des unmittelbaren Erfassens oder Vergegen- 
wärtigens seelischer Erlebnisse besteht, nicht schließen, daß das psycho¬ 
logische Verstehen nun nicht an die Erfahrung heranreiche, nur Typen 
(Sprang er), Ideal typen (Jaspers) zum Gegenstand haben könne, und daß 
infolgedessen alles Verstehen wirklicher Vorgänge ein mehr oder weniger 
unvollständiges Deuten bleibe (Jaspers). Ohne natürlich die Möglichkeit 
des Verstehens von Typen und dessen große theoretische und praktische 
Bolle zu bestreiten, muß doch entschieden betont werden, daß es ein Ver¬ 
stehen gibt, das sich gerade an wirklichen Erlebnissen wirklicher, 
individueller Personen vollzieht, und dies ohne auf einem Typen' 
verstehen zu beruhen und ohne ein solches zum Kriterium seiner Ver- 










2 3 0 


Ludwig liinswangpr 


ständlichkeit zu machen. (Ich beziehe mich hier auf eine demnächst im 
Druck, erscheinende, bedeutsame Arbeit über das Verstellen von Heinz 
Graumann, dem ich auch für sonstige mündliche und schriftliche An¬ 
regungen zu Dank verpflichtet bin.) 

Hieraus gebt schon Hervor, was über das Verhältnis von Verstehen und 
Erfahren in der Psychoanalyse zu sagen ist. Prinzipiell ist es natürlich 
dasselbe wie im Alltagsleben und in der Psychologie; denn es handelt sich 
hier ja um wesensmäßige Beziehungen, die, wo immer Verstehen und 
Erfahrung zueinander treten oder wo das ersten; sieli auf das letztere „auf¬ 
baut“, in Erscheinung treten müssen. Wenn wir daher die Überzeugung 
hegen, daß Freud das „eigentliche Studium der Menschheit“ im Sinne 
des Verstehens des Menschen gewaltig gefordert hat, so heißt das nicht, 
daß er „eine neue Art des Verstehens“ oder irgend etwas Neues am Ver¬ 
stehen selbst eingeführt hätte, denn dieses bleibt immer dasselbe, ob ein 
Shakespeare oder Montaigne oder Freud verstellt. Achten wir aber 
darauf, daß wir dort von einem „genialen“, „intuitiven“ oder „divinatori- 
schen“ (Schleiermacher), und von einem unsystematischen oder zufälligen 
Verstehen zu sprechen gewohnt sind, dem wir Freuds wissenschaftlich¬ 
systematisches oder -empirisches Verstehen gegenüberstellen, so brauchen 
wir nur die Lässigkeit des Sprachgebrauches zu durchschauen, um zu 
wissen, daß nicht das Verstehen als solches mehr oder weniger genial oder 
intuitiv oder divinatorisch ist — geniale Versteher sind alle die Genannten, 
und was das heißt, das wäre noch besonders zu untersuchen, — sondern 
daß die erfahrungsmäßigen Grundlagen des Verstehens mehr oder weniger 
systematisch oder wissenschaftlich angelegt sind. Das kann also niemals 
heißen, daß Freud das Verstehen auf Erfahrung „zurückgeführt“ hätte, 
was, wie wir sahen, unmöglich ist, da aus purer, noch so sehr gehäufter 
Erfahrung nicht ein Verstehen wird; es kann nur heißen, daß Freud die 
Erfahrungsgrundlagen des Verstehens statt durch sporadische durch 
systematische Beobachtung in ungeahnter Weise erweitert und geordnet 
hat, so daß uns heute ein Verstehen des Menschen noch möglich ist „in 
Tiefen“, in die früher keine Erfahrung, zum mindesten keine wissenschaft¬ 
liche Erfahrung, geleuchtet hat. 

Inwieweit diese Erfahrung wieder gefördert worden ist durch seine 
theoretischen Überzeugungen, die ihm gestuttet haben, das Erfahrungs¬ 
material zu ordnen, zu ergänzen und einein theoretischen Bedeutungs¬ 
zusammenhang unterzuordnen, steht hier, wo es sich nicht um die Sphäre 
des wissenschaftlich-theoretischen Erklären! handelt, nicht zur Diskussion. 











Erfahren, Verstehen, Deuten in der Psychoanalyse 


251 


Infolge der innigen Beziehungen jedoch, die zwischen der sinnhaften Gegen¬ 
standswelt des psychologischen Verstehens und der realen des psychologi¬ 
schen Erklärens herrschen, hat Freud aber auch durch seine Theorien¬ 
welt indirekt das Verstehen gefördert. Denn da seine Psychologie keinen 
zufälligen Zusammenhang „geistreicher Apergus“, keine zufällige Häufung 
besonders interessanter oder abnormer Einzelheiten darstellt, sondern einen 
theoretischen Bedeutungszusammenhang, der die "Totalität der Person in 
Vergangenheit und Gegenwart zu umfassen beansprucht, ist hier auch das 
Erfahrungsmaterial schon so geformt und geordnet, daß das Verstehen 
nun bereits ein System von Stützpunkten vorfindet, wie es vordem nicht 
bestand. — Wir kommen darauf zurück. 

III 

Was man von Buffon sagt, daß er nämlich aus den zerstreuten Elementen 
einer bisher esoterischen Wissenschaft ein System der Erde, eine Theorie 
der Natur, ein Kunstwerk der Epoche zu gestalten vermochte, daß er den 
Wert und die Überlegenheit des schöpferischen Genies auch in den Wissen 
schäften bewies, seine große Beredsamkeit auf einen Gegenstand übertrug, 
dem sie bisher ganz fremd geblieben war, das Talent besaß, anderen seinen 
Enthusiasmus einzuflößen, und daß er die Naturgeschichte zur populärsten 
Wissenschaft von ganz Europa machte (Cuvier, Condorcet, Justi), das 
kann man mutatis mutandis auch von Freud und seiner Lehre sagen. Das 
Instrument aber, mit dem er diese Lehre schuf, und das er selbst erst 
erschaffen mußte, ist sein Deutungsverfahren, dem wir uns nun zum 
Schlüsse zu wen den. 

Während die Geschichtswissenschaft schon längst eine besondere Methodik 
des historischen Forschens besitzt, die man etwa mit Droysen in Heuristik, 
Kritik und Interpretation (Auslegung) einteilen kann, und ebenso die Philo¬ 
logie ihre Methodik des philologischen Forschens (vgl. etwa Böckhs Theorie 
der Hermeneutik in seiner Enzyklopädie und Methodologie), so wartet die 
Personps3 r chologie noch auf eine derartige Besinnung auf ihre Methode, ja 
noch auf deren Ausarbeitung im einzelnen. Was wir davon besitzen, ver¬ 
danken wir größtenteils Freud. Und zwar ist es die psychologische Heuristik 
und Interpretation oder Hermeneutik im engeren Sinne, die er, gerade 
mit seinem Deutungsverfahren, am meisten gefördert hat, jedoch besitzen 
wir von ihm auch Ansätze zur Kritik. Die Heuristik schafft die Materialien 
herbei, sie ist die „Arbeit unter der Erde“ (Niebuhr), die „Bergmanns¬ 
kunst, zu finden und ans Licht zu holen“ (Droysen), die Herbeischaffung 









* 5 2 


Ludwig Binswanger 


des um Traum oder Krank heitssymploin gruppierten Erlebnismaterials (1 ages- 
reste, Lebensgeschichte, Phantasien, Traumen, Freud)* Die Interpretation 
oder hermeneutische Auslegung ist auch in der Psychologie nicht lediglich 
eine psychologische Auslegung, ein Deuten der „Motive und Absichten , 
vielmehr gibt es auch hier eine sachliche und pragmatische (Droysen), 
grammatische und generische (Böckh) Seite der Hermeneutik \ man denke 
nur etwa an das Studium der Traumsprache als solcher, an das Aufzeigen 
der physiologischen und psychologisch-kausalen normalen und pathologischen 
Bedingungen und Grundlagen des Erlebens, an die Untersuchung der geistigen 
Strömungen der Nation und Familie, in der die Person stellt, um zu er¬ 
kennen, wieviel Nichtpersonpsychologisches auch liier zu berücksichtigen ist, 
wenn die Deutung wissenschaftlichen Ansprüchen genügen soll* 

Was Freud nun Deuten nennt, enthält Bestandteile sowohl aus Er¬ 
fahrungsakten, als aus Akten rationalen Schließens, als auch 
endlich aus eigentlichen Akten des psychologischen Verstehens* 
Zu den ersteren gehört alles, was wir durch Erfahrung im bisher geschil¬ 
derten Sinn, also durch direkte Wahrnehmung und sprachliche Knndnahme 
und deren Kritik über das Erleben der Person feit stellen oder w issen. 
Hieran schließt sich nun aber eine bisher noch nicht erwähnte Art der 
Erfahrung an, die man als die psychoanalytische Heuristik bezeichnen kann, 
und die zwar auch auf sprachlicher Kundgabe und Knndnahme beruht, 
sich jedoch wesentlich von der sonstigen psychologischen Erfahrung unter¬ 
scheidet* Es handelt sich jetzt um die „Einfälle“ der Person, in denen 
dieselbe wohl etwas ausdrückt, nämlich den (rationalen) Sinn oder die 
Bedeutung von Worten oder auch Sätzen, mit deren Bedeutung sie aber 
nichts über sich selbst, über ihr eigenes Erleben, kundgibt oder, wenn ja, 
so doch außer sinnvollem Zusammenhang mit dem Ausgangserlebnis, im 
Anschluß an welches der Einfall erfolgt iit Wir meinen die sogenannten 
„freien Assozia tionen“, von deren praktischer Bedeutung jedoch der Nich t- 
analytiker sich in der Regel eine übertriebene Vorstellung m acht, da sie 
fast immer von eigentlichen sprachlichen Kundgaben durchbrochen und 
abgelöst werden* 

So gehen also bei der psychoanalytischen Heuristik im weiteren Sinn 
„gewöhnliche“ psychologische Erfahrungsakte mit solchen der spezifischen 
psychoanalytischen Heuristik Hand in Hand. Alle zusammen ober liefern 
uns das noch „gleichsam unparteiische“ (Freud) Material, das zwar schon 
Hinweise für die Deutung enthält, und in das sich schon Akte des 
Deutern eingeschlichen haben mögen (weswegen es noch einer besonderen 












Erfahren, Verstehen, Deuten in der Psychoanalyse 


2 55 


Kritik zu unterwerfen ist), das aber doch erst die Grundlage für die 
psychologisch-hermeneutische Deutung, Auslegung oder Interpretation 
ah gibt. 

Selbstverständlich bauen sich nun auch bei dem psychoanalytischen Vor¬ 
gehen schon auf den gewöhnlichen Erfahrungsakten Akte des psychologi¬ 
schen Verstehens auf, und wird unter Umständen auch auf Grund der 
spezifisch-psychoanalytischen Erfahrung und im Zusammenhang mit der 
gewöhnlichen einmal ein neues V erstehen aufblitzen, die Regel aber ist, 
daß jenes gesamte Erfahrungsmaterial erst gedeutet werden muß, um 
verstanden werden zu können. 

Damit gelangen wir zu den zweiten Bestandteilen (vgl. oben S. 232) des 
Freudschen Deutungsverfahrens, nämlich zu den „rationalen oder „theo¬ 
retischen“ Akten des Deutens oder Auslegens. 

Das Deuten oder Auslegen beginnt bereits mit der wissenschaftlich¬ 
systematischen Ordnung und Gruppierung des Erfahrungsmaterials nach 
rationalen Themen oder Sinnzusammenhängen (nach Traumthemen, Symptom¬ 
gehalten, objektiven Bedeutungsgehalten einer Handlung usw.), einer Ord¬ 
nung, welche die Person zum Teil schon selbst begonnen hat, zum Teil 
aber dem Ausleger überlassen muß; das letztere gilt insbesondere hinsicht¬ 
lich des spezifisch-psychoanalytisch-heuristischen Materials, nämlich den 
Einfällen. Diese Vorstufe der Deutung ist noch keine eigentlich psycho¬ 
logische Betätigung oder muß wenigstens keine sein, da sie (vorwiegend) 
mit rationalen Sinn- oder Bedeutungszusammenhängen zu tun hat. Die 
psychologische Auslegung beginnt erst da, wo wir in das so geordnete 
Material (seelisches) Leben hineinbringen, es nach seelischen (d. h. 
hier so viel wie nacherlebbaren) Möglichkeiten gruppieren. Zu dieser 
Gruppierung genügt aber das Erfahrungsmaterial allein nicht, wir bedürfen 
jetzt einer „Ergänzung der Erfahrung“ (aber immer unter weiterer 
Fortsetzung der Erfahrung mittels direkter Beobachtung der Person) durch 
Schlüsse, auf Grund von Analogien, Vergleichen, hypo thetischen Ver¬ 
mutungen und eigentlichen Theorien, auf Grund also eines durch andere 
Erfahrungen gewonnenen Wissens und von Theorien über dieses Wissen. 
So entsteht der Freud zu Unrecht vorgeworfene, weil jeder Auslegung 
als solcher innewohnende „hermeneutische Zirkel“, d. h. vyir deuten, 
ganz allgemein gesprochen, das einzelne auf Grund eines schon voraus¬ 
gesetzten Ganzen, welch letzteres wir wieder aus einzelnem erst gewinnen. 
(Daher die Wechselbeziehungen zwischen Analyse und Synthese und zwischen 
Induktion und Deduktion bei jeder Deutung oder Auslegung.) Doch hievon 








254 


Ludwig Binswanger 


sei jetzt nicht die Hede, Auf Grund des vorliegenden Erfahrungsmaterials 
und all jenes Wissens vermuten oder schließen wir nun, was etwa „zwischen“ 
oder „hinter“ jenem Erfahrungsmaterial vorgegangen sein mag, wie es 
„zustande kam“, was alles noch einer näheren Darlegung bedurfte. Wir 
befinden uns hier in der Phase des „sekundären Deuten*“ im Sinne Haber- 
lins, d. h. der sekundären wissenschaftlichen Bearbeitung psychologischen 
Forschungsmaterials, 1 An das festgestellte nacherlebbare und zum Teil auch 
schon verstandene Erfahrungsmaterial reihen wir so schließend oder deutend 
neues Wissensmaterial, das wir in Akten imagiliierender oder phantasieren¬ 
der Vergegenwärtigung wiederum in „konkretes" seelisches Erleben einer 
konkreten Person „umsetzen“. So tritt z, R, ein Stück des manifesten 
Trauminhaltes in Relation zu Themen des wachen Erlebens, der Gehalt 
einer Symptomgruppe zu Inhalten der Lebentgeschichte, und zwischen 
beide Pole der Relation wird so ein Drittes eingeschoben, ein möglicher 
„unbewußter" Gedankengang, So erschließen oder deuten wir zwischen 
dem manifesten Inhalt von Freuds Traum von Irmas Injektion einerseits, 
dem darum gruppierten Material der Tageireste anderseits einen „unbe¬ 
wußten Gedankengang“, etwa im Sinne eines „ Plädoyer*“, erschließen 
oder deuten wir zwischen den Personen ries Traums, ihren Reden und 
Situationen und denjenigen der sachlich „zugehörigen“ Tagesreste seelische 
Regungen im Sinne von Racheimpulsen, Selbstverteidigungen, Sorgen und 
Wünschen, erschließen oder deuten wir zwischen der Angst meiner Patientin 
Gerda (Jahrbuch III) vor dem Abreißen des Absatzes einerseits und den 
zeitlich und sachlich damit zusammenhängenden Stücken ihrer Lebens¬ 
geschichte anderseits auf das Fortbestehen einer (unbewußten) Angst, von 
der Mutter losgerissen zu werden, auf eine Angst vor dem Geboren werden, 
Gebären usw. Nun mögen auch hier schon Akte des Verliehen« mitgespielt 
haben — es handelt sich für uns ja nicht um Fragen des psychologi¬ 
schen Prius oder Posterius realer Erlebnisse des Auslegers, sondern um 
Fragen des phänomenologischen Wesennusam menhange* intentionaler 
Akte, — das eigentliche psychologische Verständnis aber, das dem ganzen 
hermeneutischen Verfahren oder der hermeneutitchen Operation (Schleier- 


i) Den (früheren) Sprachgebrauch H ä b e r 1 i n i von einer primären Deutung (im 
Sinne der psychologischen Erfahrung) und desgleichen den Sprachgebrauch von 
Elsenhans und Spranger (Erkennung und Wiedergabe eines Geistigen aus sinnlich 
gegebenen Zeichen), welche dabei an Dilthey 1111 knüpf an (Erkennung eines Inneren 
aus Zeichen, die von außen gegeben sind), diesen ganzen Sprachgebrauch leimen wir 
us sachlichen und terminologischen Gründen ab. 











Erfahren, Verstehen, Deuten in der Psychoanalyse 


2 55 


mach er) die Krone aufsetzt, und um dessentwillen der ganze Apparat in 
Bewegung gesetzt worden ist, tritt erst da auf, wo ein „sinnvoller 1 Moti¬ 
vation szus am men hang“ hergestellt ist, wo das eine Glied der Relation, 
der Gehalt des Traumstückes oder Symptoms nach einer apriorischen 
Vernunftgesetzlichkeit, d. h, eben sinnvoll, als hervorgehend aus 
dem Gehalt des anderen Gliedes, also etwa eines Racheimpulses, Wunsches, 
angstvollen Erlebens o, dgL erfaßt wird. Dabei dürfen wir aber nie ver¬ 
gessen, daß es sich hier keineswegs um gleichsam isolierte oder für sich 
bestehende „verständliche Zusammenhänge“ im Sinne von Jaspers handelt, 
die ja nur Hilfskonstruktionen darstellen, sondern wesensmäßig immer auch 
um die Intention auf ein Ich, das, um mit Pfänder zu reden, die von 
dem motivierenden Erlebnisgehalt ausgehende „Forderung“ vernimmt oder 
„sich einverleibt“, sich auf diese Forderung stützt und den geforderten 
Akt in Übereinstimmung mit der ideellen Forderung tatsächlich vollzieht. 
Wir sehen, das Verstehen als Verstehen ist durchaus kein anderes, ob es 
sich nur auf reine Erfahrungsakte oder auf ein „Gemisch“ von Erfahrungs¬ 
und Deutungsakten oder eventuell auch auf reine Deutungsakte (was 
praktisch aber kaum vorkommt) auf baut oder von ihnen fundiert ist. Grau¬ 
mann, der einzige, der das Verstehen phänomenologisch genau untersucht 
hat, hat meines Erachtens einwandfrei nach gewiesen, was ja auch bei 
streng phänomenologischer Einstellung a priori einsichtig ist, daß sich am 
Akt des Verstehens nichts ändert, von welchen Akten es auch immer 
fundiert sein mag. Das psychologische Verstehen kann sich also, muß sich 
aber nicht an tatsächlich erfahrenem, „realem“, seelischem Material voll¬ 
ziehen, es sagt aber auch dann nichts aus über die Wirklichkeit seelischen 
Geschehens oder Erlebens, sondern, wie wir sahen, über den ideellen Sinn, 
in welchem die Gehalte der von einer Person vollzogenen seelischen Er¬ 
lebnisse zueinander stehen. Ist das Material, auf dem sich das Verstehen 
auf baut, nicht erfahren, sondern nur gedeutet, ja auch nur phantasiert, so 


' 


} 


i) Was Freud sinnvoll („Siam", „Bedeutung“) nennt, bezieht sich zunächst nur 
auf nach erlebbare Motivationszusammenhänge. Ein psychisches Erlebnis ist für ihn 
co ipS 0 7 d, h. ex definitione, sinnvoll; sein Sinn ist erfaßt, wenn sein Motivations¬ 
zusammenhang nach erlebbar erfahren oder gedeutet ist. Den Unterschied zwischen 
Nacherleben und Verstehen und den damit zusammenhängenden zwischen realem 
Erlebniszusammenhang und ideellem Siimzusammenhang kennt Freud nicht Was 
wir hier Sinn nennen, muß streng geschieden werden von jedem teleologischen 
oder finalen Sinn, d, h. von jedem, sei es von der Person seihst, sei es von dem 
Ausleger „eingelegten“ Zweck, und somit von jeder „prospektiven Tendenz“, „Leit¬ 
linie“ 11SW. I 


* 












2 5 6 


Ludwig Bim Würger 




bleibt auch hier das Verstehen immer ein Verstellen in dein eben er¬ 
wähnten streng präzisierten Sinne. 

Damit ist das Verhältnis zwischen Erfahren, Deuten und Verstehen in 
der Psychoanalyse klargeworden. Es zeigt sich dabei, daß es, streng ge¬ 
nommen, nicht richtig ist, das ganze hermeneutische Verfahren als Deutung 
zu bezeichnen, da es Akte des Erfahrens T Deutern und Verstehens enthalt; 
aber noch weniger richtig scheint es uns zu sein, das hermeneutische Ver¬ 
fahren als solches ein Verstehen zu nennen, wie es Schleiermacher, 
Bockh, Dilthey getan haben (die hier aber auch oft von einem Deuten 
sprechen), und wie es heute noch Spranger tut, dessen n Verstehen“ ein¬ 
zelne Denkakte und Schlüsse „enthält **! 1 Wir sehen ferner, daß es nach 
unserer Auffassung nicht richtig ist, das Deuten als ein unvollständiges 
Verstehen zu bezeichnen (Jaspers) und verstehen vollends nicht, wenn 
wir neuerdings hören. Deuten heiße, „die im Akte des Verstehens erfaßten 
Zusammenhänge in die Sprache des Begriffes kleiden“ (AIlers). Gerade 
dieses Beispiel zeigt, wie wichtig, ja unerläßlich, es heute ist, bei solchen 
Untersuchungen stets den phänomenologischen Tatbestand im Auge zu 
behalten , 2 * 

Zum Schlüsse müssen wir uns nur noch einige Beziehungen klarmachen, 
wie sie zwischen den Gegenstands weiten des Erfahren», Drittens und Ver¬ 
stehens bestehen, Die Krönung des ganzen Verfahren» ist, so sahen wir, 
das Auftreten des psychologischen Verstehens, also die Erfassung der ideellen 
Sinnbeziehungen zwischen den Gehalten realer psychischer Erlebnisse einer 
diese Erlebnisse vollziehenden realen Person. Dieses Versieben kann, ebenso 
wenig wie durch Erfahrung begründet, in Erfahrung umgesetzt werden 
oder sich durch Erfahrung bestätigen; denn ideelle Sinn zusammen hange 
„existieren * 4 im Reiche des Geistes und sonst nirgends. Hingegen kann das 
Resultat der Deutung in Erfahrung umgesetzt werden und wird es in 
jeder praktischen psychoanalytischen Operation mehr oder weniger um¬ 
gesetzt (vgl. auch jenes „Das habe ich immer gewußt“ unserer Kranken). 
Jedoch existieren auch hier Grenzen, Wahrend aber zwischen der Welt 


1) Nur bei Droysen finde ich die Trennung zwilchen einem Verstehen als 
„logischem Mechanismus“, womit er die liermeneutitche Operation als Games meint, 
und einem Verstehen als Verständnisakt: „Dieser erfolgt unter den dargelcgten Be¬ 
dingungen als unmittelbare Intuition, als tauche sich Seele in Seele, schöpferisch 
wie das Empfängnis in der Begattung,“ (Historik, Paragraph 11.) 

2 ) Es ist aber zugegeben, daß dieser Tatbestand, gerade so weit er den Akt des 

Deutens überhaupt und des Deutens der Perionpiychologie im Speziellen betrifft, 

noch wenig aufgehellt ist. Die besten Hinweise finden sich wiederum bei Gniumunn. 











Erfahren, Verstehen, Deuten in der Psychoanalyse 


2 37 


des Verstehens und derjenigen der Erfahrung (im Sinne der Erfahrungs^ 
Wissenschaft) prinzipielle, im Wesen der betreffenden Akte gründende 
Grenzen herrschen, sind die Grenzen zwischen den Gegenständen der 
Deutung und denjenigen der Erfahrung verschieblich. Das „psychologische“ 
Deuten, im Gegensatz zum naturmythologischen, religiösen usw., meint ja 
einen faktisch möglichen Erfahrungsinhalt, richtet sich ja auf etwas als 
Inhalt einer möglichen Erfahrung, es hat also eine positive Beziehung zum 
möglichen Erfahren, Die Grenzen Hegen hier nicht im apriorischen Gebiete 
der Aktgesetze, sondern in dem empirischen der realen Sachwelt, die in den 
Akten aufgefaßt werden soll. Der reale psychologische Sachverhalt, „xeale 
psychologische Gesetzmäßigkeiten sind es, die hier Schranken setzen. Diese 
Schranken sind vom Deuten zum Erfahren hin verschieblich und es hangt 
von der jeweiligen wissenschaftlichen Persönlichkeit des Forschers ab, wie weit 
er die Grenzen der Deutung über die mögliche Erfahrung hinaus verschieben 
will „Aber gerade auf diesem Gebiete gilt“, um mit Schleiermacher zu 
reden, „das sonst ziemlich paradoxe Wort . . daß Behaupten weit mehr 
ist als Beweisen“, womit gesagt sein soll, daß das „divinatorische Verfahren 
hier nicht zu sehr zugunsten des „demonstrativen eingeschränkt werden 
darf. Jedenfalls begreifen wir jetzt sehr gut, wie man das Deuten in der 
Psychoanalyse als ein „Als-ob-Erfahren“ (Graumann) bezeichnen kann, 
vielleicht auch als ein „Noch-zu^Erfahren“, wir sehen aber deutlich, daß 
mau es auf Grund unserer Auffassung nicht bezeichnen kann als ein 
Als-ob-Verstehen“ (Jaspers). 

* 

Bedenken wir, daß Erfahren, Deuten, Verstehen nur die personpsycho¬ 
logische Seite der Forschungen Freuds betreffen, also nur dasjenige Studium 
des Menschen, dessen Endziel es ist, ihn zu verstehen, und dessen Methode, 
die Wege zu diesem Verstehen aufzuweisen, und bedenken wir, daß wir 
alles ausgeschlossen haben, was sich auf das naturwissenschaftliche, also 
dynamische, psychologisch-genetische, physiologische, biologische und ent¬ 
wicklungsgeschichtliche Erklären in seinem Lebenswerk bezieht, so be¬ 
wundern wir den Mut, der so Großes gewollt, den Geist, der es gedacht, 
die Kraft des Willens, die es ausgeführt. 










Zur psychoanalytischen Auffassung 
der Intelligenz 

Von 

Raymond de Saussure 

Genf 

Wir haben nicht die Absicht, in dem engen Bahnten dieses Artikels 
eme Iheorie der Intelligent, zn geben und sie durch alle dazu notwendigen 
rgumente zu stutzen. Wir möchten nur Über den Beitrag Rechenschaft 
geben, den die Psychoanalyse zu dem so schwierigen Problem der Intelligenz 
geliefert hat, und möchten zeigen, welches neue Licht sic noch auf dieses 
dunkle Gebiet werfen kann. 

Von allen Verdiensten, die die Psychologen des zwanzigsten Jahrhunderts 
reud zuerkennen werden müssen, wird eines der größten gewiß jenes 
sein, daß er die intellektualistische Psychologie, die in den letzten zwei 
Jahrhunderten Überwogen hatte, endgültig stürzte. Die Psychoanalyse hat 
uns nicht nur gelehrt, daß Gefühle nicht aus dem Intellekt zu erklären sind, 
sondern auch, daß man hinter jeder intellektuellen Erscheinung determinie¬ 
rende affektive Ursachen zu suchen hat. Ungeheuer ist der Dienst, den 
freud der Wissenschaft durch diesen allgemeinen Nachweis erwiesen hat, 
auch wenn er nicht dazu gelangt ist, eine speziell^Psychologie der Intelli¬ 
genz aufzustellen. Wenn aber auch Freud das uns hier interessierende Problem 
me in seiner Gesamtheit direkt angegriffen hat, so hat er es durch sein 
ewunderungswürdiges Werk für uns urbnr gemacht, indem er sein Genie 
auf eine Menge der Intelligenz verwandter Erscheinungen gerichtet hatte. 
Überblicken wir seine und seiner Schüler Arbeiten, um uns besser von 
dem schon durchlaufenen Wege Rechenschaft abzulegen. 

Ein erster Punkt, den zu betonen wir für wichtig halten, ist, daß die 
Intelligenz etappenweise zum objektiven Denken schreitet. Im 





Zur psychoanalytischen Auffassung der Intelligenz 


239 


Jahre 1900 hat Freud in seiner grandiosen „Traumdeutung“ zuerst gezeigt, 
daß die Intelligenz sich durch eine Reihe von miteinander durch affektive 
Kausalität verbundenen Symbolen äußern kann, im Gegensatz zu ihrer Arbeits¬ 
weise auf der Ebene der äußeren Realität, wo sie konkrete Erscheinungen 
durch konstante und logische Beziehungen zu verbinden sucht. Diese Unter¬ 
scheidung zwischen einem logischen und einem afiektiven Denken mußte Freud 
zu der Beobachtung führen, daß in allen hysterischen und psychasthenischen 
Symptomen sowie in den Fehlleistungen und dem Witz die Affektivität 
ohne Wissen des Individuums in sein Urteil einzudringen versucht. Da¬ 
durch hat er in einer augenscheinlichen Weise die Rolle des Gefühls in 
unserem logischen Denken betont. Diese grundlegende Beobachtung hat 
Bleuler und seinen Schülern ein neues Licht auf die Pathologie der Schizo¬ 
phrenie zu werfen und Piaget mit Hilfe von sinnreichen lests die ver¬ 
schiedenen Etappen der Irttelligenzentwicklung des Kindes zu studieren 
erlaubt. Piaget beobachtet, daß das Kind, bevor es eine soziable und an 
die Realität angepaßte Sprache besitzt, von der Außenwelt nur jene Elemente 
aufnimmt, die seinem Egozentrismus und Autismus dienen. Bleuler stellt 
fest, daß der von der Umwelt in seinen Gefühlen gekränkte Geisteskranke 
sich von der äußeren Realität abschließt, um sich in das autistische und infantile 
Denken zurückzuziehen. Freud und Abraham heben hervor, daß die Ein¬ 
stellung zur Außenwelt letzten Grundes mit den Erscheinungen der Sexualität 
verbunden ist. Das Individuum wendet sein Interesse in dem Augenblick der 
Außenwelt zu, als die Libido von der narzißtischen zur Objektstufe aufsteigt. 
Verletzt die Außenwelt das Individuum, so wirft sie es in das narzißtische 
Stadium und in den Autismus zurück. Das ganze Problem der Intelligenz 
scheint somit durch die normale Entwicklung der Triebe, und insbesondere 
des Sexualtriebes, bedingt zu sein. 

Es folgt daraus, daß verschiedene Fähigkeiten des Individuums von der 
Art abhängig sind, in der es seine Konflikte zu lösen gewohnt ist. Ein 
von Kind auf introvertiertes Individuum wird der Außenwelt gegenüber 
gleichgültig bleiben, wird sie skotomisiert haben. Der Affektive hingegen, 
der seine Libido auf sich zurückgezogen hat, wird eine Fähigkeit zur In- 
trojektion entwickeln können, die ihm sehr nützlich sein wird, wenn es 
ihm gelingt, seinen Konflikt zu objektivieren. 

Ein Individuum, das diametral entgegengesetzt reagiert hat, das seinem 
Konflikt durch Beobachtung der Außenwelt zu entweichen versucht, wird 
immer die Tendenz haben, sein Innenleben, seine psychologische Reaktion 
zu skotomisieren. Es wird gar keine Begabungen zu introjektiven Wissen- 






Raymond de Saussure 


schäften aufweisen. Sein Geist wird sich mit Vorliebe konkreten Tatsachen 
zuwenden, an die es sich heften kann, um vor sich selbst zu fliehen. 

Man sieht aus diesen Beispielen, die man beliebig vermehren könnte, 
daß das Interessenspiel und folglich auch die Richtung der Intelligenz 
in konstanter Abhängigkeit von der Richtung ist, in der die Libido des 
Individuums sich entwickelt hat. Das ist in sehr interessanter Weise schon 
von Melanie Klein bezüglich der intellektuellen Entwicklung eines kleinen 
Kindes gezeigt worden. 1 2 3 

Wenn die Psychoanalyse nur die Interessensphären eines Individuums 
erklärt, so erschöpft sie damit noch nicht alle Quellen seiner Intelligenz* 
Man muß außerdem mit ebenso großer Aufmerksamkeit die verschiedenen 
Formen des Gedachtnisses, dieses für das gute Funktionieren der Intelli¬ 
genz so wichtigen Instrumentes, studieren. Die Psychoanalyse lehrt uns, 
daß das Gedächtnis nicht nur in hohem Grade von unserer Affektivität 
abhängig ist und nur behält, was uns vom vitalen Standpunkt interessiert, 
sondern auch, daß unsere Gedächtnisfähigkeit von der Einstellung abhängig ist, 
die wir unseren Mitmenschen gegenüber ein nehmen. Ein vorn Minderwertig¬ 
keitskomplex beherrschter Gelehrter wird alle gegen seine Theorien gemachten 
Ein wände behalten, im Gegensatz zu einem Forscher, der mit seiner Auf¬ 
fassung durchdringen will, und die Tendenz hat, die Gedanken gange seiner 
Kollegen zu skotomisieren. Er wird unwillkürlich alle Einschränkungen seitens 
der Kollegen gegen seine Theorie, sogar die berechtigtsten, vergessen. Aus 
diesem Mangel an Objektivität unseres Gedächtnisses folgt ein ebensolcher 
in unseren wissenschaftlichen Anschauungen. Man sieht daraus wieder, bis 
zu welchem Grade unsere Intelligenz von unserer Affektivität abhängig ist. 

Erinnern wir uns auch der Arbeiten von Radö u und Hermann,^ die 
den Einfluß unserer Gefühle sogar auf die normativen und logischen Formen 
unseres wissenschaftlichen Denkens aufgezeigt 1 iahen. 

Ich kann diesen kurzen Überblick nicht übschließen, ohne die Gedanken¬ 
gänge des leider verstorbenen J. Varendonek anzuführen. Er war es sicher¬ 
lich, der die vollständigste psychoanalytische Untersuchung der Intelligenz 
versucht hat. Man kann sich aber ihm gegenüber nicht des Vorwurfes er¬ 
wehren, daß er die Begriffe des Intellektualismus behalten hat, um sie an 
Hand der Freud sehen Lehren zu analysieren, statt, was nützlicher gewesen 

1) Melanie Klein: Eine KinderentwicklLing. Imngo, Bd. VII, S. 251 ff. 1921. 

2) Rad6: Die Wege der Naturforschung im Lichte der Psychoanalyse. Imago, 
Bd. VIII, S. 401 ff. 

3) Hermann: Psychoanalyse und Logik. (Imago-Bücher VII.) 













Zur psychoanalytischen. Auffassung der Intelligenz 241 


wäre* vollkommen mit der Vergangenheit zu brechen und eine mehr um¬ 
fassende, durchgehende Analyse der Intelligenz zu geben, 1 

Hermann, 2 einer der wenigen Psychoanalytiker, die die Gesamtheit des 
Intelligenzproblems angegangen haben, bemerkt, daß das Individuum in der 
Gefühlswelt in unangepaßter Weise reagieren kann (z. B. durch Introversion 
infolge eines Liebeskummers), ohne dabei aufzuhören, ein intelligenter Mensch 
zu sein. Er möchte aus diesem Grunde das Streben, unsere Triebe den An¬ 
forderungen der Außenwelt anzupassen, vom Komplex der Intelligenz trennen. 
Dieses Problem würde sich hauptsächlich auf den ?? tiefen Gedanken“ be¬ 
ziehen und seine einzige Wirkung auf die Intelligenz wäre, unsere Interessen¬ 
sphären, folglich das Feld, auf dem unsere Intelligenz sich geltend macht, 
zu beschränken. Dieser Standpunkt kann gewiß vertreten werden, ist aber 
von der Definition abhängig, die man dieser Funktion gibt. Man kann jedoch 
Hermann darauf hinweisen, daß unsere Objektivität auf dem ganzen Ge¬ 
biete der Psychologie und unserer praktischen Aktivität um so größer ist, 
je besser wir unsere Triebe der äußeren Realität anzupassen wissen. Es 
folgt aus dieser Tatsache, daß wir gar keine Schwierigkeit darin sehen, 
die Sternsche Definition beizubebalten, nämlich daß *,die Intelligenz jene 
allgemeine Fähigkeit des Individuums ist, seinen bewußten Gedanken auf 
neue Aufgaben zu richten; sie ist jene allgemeine Fähigkeit, uns neuen 
Leben sbedingungen und Problemen anzupassen“. 3 Im übrigen ist diese 
Definition der von Claparede sehr ähnlich: 1) j,Die Intelligenz ist die 
Fähigkeit, durch das Denken neue Probleme zu lösen“; 4 2) ^Die Intelligenz 
ist ein durch mangelhafte Anpassung hervorgerufener geistiger Prozeß, der 
dazu bestimmt ist, das Individuum wieder anzupassen, indem er die neue 
Lage, vor der das Individuum sich befindet, löst/' 5 

Man sieht, daß für Claparfede die Intelligenz nur eine vikariierende 
Tendenz ist, die nur dann an der Reihe ist, wenn ein Hindernis auftritt. 
Seine zweite, ganz allgemeine Definition ist vollkommen geeignet, für die 
Anpassung der Triebe verwendet zu werden. Ich, für meinen Teil, würde 
dieser Definition noch hinzufügen: ?3 . , , durch eine den Anforderungen 
der Außenwelt adäquate Lösung.“ 

1) Vgl. Varendonck: I/Evolution des Facultas conscientes. Alcan, Paris 1921, 

2) Hermann: Intelligenz und tiefer Gedanke. Internationale Zeitschrift für Psycho¬ 
analyse, Bd. VI, S. 195. 1920. 

5) Stern: Die psychologischen Methoden der Intelligenzprüfung. S. 5. Leipzig 1912. 

4) Clapar&de: Psychologie de V Intelligence. „Scientia“, p. 353. 1917. 

5) Claparede: De diverses cat^gories de tests mentaux. Arch. Suisses de Neuro¬ 
logie et de Psychiatrie, p. 102. 1917. 


Imago XIL 


16 









Raymond de Saussure 


2 42 


Das Problem, das dann auftaucht, ist, ob die Intelligenz eine automatisch 
sich ergebende Resultierende, eine Art von Epiphänomen ist, das durch den 
Antrieb unserer Triebe und die Anforderungen der äußeren Realität bedingt 
ist, oder ob sie im Gegenteil eine besondere Aktivität sui generis ist, die 

uns erlaubt, Probleme vorauszusehen. 

Schon die Tatsache, daß wir manchmal zweifeln oder daß wir fähig 
sind, uns ein Problem außerhalb jeder vilalen Notwendigkeit zu denken, 
bringt uns zur Annahme, daß die Intelligenz als eine unabhängige Aktivität 
erscheint, deren Natur und Betätigungsweisen wir bestimmen müssen, 

Clapar&de betrachtet im ersten der oben angeführten Aufsätze die 
Intelligenz als eine triebhafte Aktivität in dem Sinne, daß sie wie ein 
automatischer Ausloser einer ganzen Reihe von realen und geistigen Tast¬ 
versuchen wirkt, die solange fortgesetzt werden, bis das Individuum sich 
wieder angepaßt fühlt. 

Von der Definition, die man dem Triebe gibt, hiingt es natürlich ab, 
ob man das Recht hat, die Intelligenz auf eine triebhafte Aktivität zu be¬ 
schränken, Jeder weiß, welche furchtbare Verwirrung bezüglich dieses Be¬ 
griffes besteht; ich habe andernorts gesagt, 1 warum ich mich an die folgende 
Definition Freuds halte: „Der Trieb ist ein periodischer innerer 
Reiz, der auf eine adäquate Reaktion hin, eine spezifische Lust 
erzeugt**. Ist diese Definition mit der eben beschriebenen Auffassung von 
der Intelligenz zu vereinbaren? Das ist das Problem, das wir untersuchen 
möchten. 

Entspricht die Intelligenz einem periodischen Reiz? Halten wir uns an 
die Definition Claparödes, so konstatieren wir, daß die Intelligenz jedes- 
/ mal dann auftritt, wenn der Organismus oder das Denken unbefriedigt ist, 
j d. h, wenn es sich unangepaßt fühlt. Ist dies also ihre Akliotisweise, so 
/ muß sie durch jeden Trieb ausgelöst werden können. Die I riebe erscheinen 
also als Kräfte, die das Individuum erregen und eine intellektuelle Betäti¬ 
gung auslösen, um eine Befriedigung zu erzielen. Wenn man näher zurieht, 
bemerkt man, daß der Trieb manchmal Automatismen, manchmal die Intelli¬ 
genz in Bewegung setzt, Je hoher ein Individuum in der I ierreihe sieht, um 
so eher wird der Trieb die höheren Fähigkeiten in Bewegung setzen. 

Es ist hier der Ort, die Bemerkung einzuschalten, daß der 1 rieb nicht 
immer von innen, durch die Drüsen Wirkung, geweckt wird, sondern daß 


t) Siehe R. de Saussure: Evolution sur In notion d’inalinct (erscheint im II. Band 
der „Evolution psychiatique“. Pnyot, Paris 1906)» 











Zur psychoanalytischen Auffassung der Intelligenz 


2 45 


er durch einen äußeren Reiz in Bewegung gesetzt werden kann* So wird 
ein Hühnchen den hingestreuten Sand aufpicken, weil es daran gewöhnt 
ist, daß ihm Getreidekörner hingeschmissen werden* Der Automatismus 
wird sogar durch einen inadäquaten Reiz geweckt* Der hungrige Mensch 
hingegen wird nicht den ersten besten Gegenstand essen, sein Appetit wird 
seine intellektuellen Kräfte in Aktion setzen, die ihn über die beste Art, 
sein Bedürfnis zu stillen, belehren werden* Wir sehen also, daß es beim 
Menschen wie bei vielen höheren Tieren zwischen dem Reiz und der Be¬ 
friedigung des Triebes eine Reihe von Schritten der Intelligenz gibt, wäh¬ 
rend das niedere Tier nur eine Aufeinanderfolge von Automatismen besitzt. 
Der Irrtum vieler französischer und englischer Gelehrten, die in ihrer 
Sprache nicht — wie im Deutschen — „Trieb“ und „Instinkt“ unter¬ 
scheiden, war, den Trieb als Reiz und die vom Individuum zur Befriedi¬ 
gung des Reizes unternommenen Schritte immer als ein einziges Problem 
behandelt zu haben. Es folgte daraus eine Menge von Diskussionen über 
den vererbten Automatismus und die Intelligenz, die im Grunde dem 
wahren Problem des Triebes fern liegen* 

Es folgt aus dem obigen, daß die Intelligenz sowohl durch Triebreize, 
als auch durch äußere Wahrnehmungen ausgelöst werden kann. Im ersten 
Fall hat sie die Aufgabe, in der Außenwelt eine Befriedigung zu suchen, 
im zweiten, die Wahrnehmung für die Befriedigung des Organismus zu 
verwenden. Sie hat also keinen spezifischen Reiz. Sie wird durch alle Reize 
des Organismus oder der Außenwelt in Bewegung gesetzt. Sie bietet auch 
keine spezifische Befriedigung, da sie allen Trieben dient* Ihre Rolle ist 
jedoch nicht auf die einer Magd beschränkt* In gewisser Hinsicht ist sie 
Herrin. An unsere Intelligenz wird jeden Augenblick von vielfachen Reizen 
appelliert. Sie kann nicht gleichzeitig auf alle Rufe antworten, oder besser 
gesagt, sie kann nicht diese Menge von Empfindungen beschwichtigen, indem 
sie sie sofort und alle gleichzeitig in Bewegung verwandelt. Da sie nicht im 
Dienste eines einzelnen, sondern der Gesamtheit unserer Triebe stellt, muß sie 
die Handlung verzögern, unseren Organismus disziplinieren, um gleichzeitige 
Reaktionen durch aufeinanderfolgende zu ersetzen. Sie ist eine höhere 
Instanz, die unsere Empfindungen und Reaktionen organisiert, diszipliniert 
und den Anforderungen der Außenwelt anpaßt* Diese komplizierte Aufgabe 
ist es, die ihr ein so verschiedenes Gepräge gibt, und welche ein einheit¬ 
liches Bild über ihre Natur so schwierig macht. 

Da die Intelligenz eine so komplizierte Funktion ist, kann sie auf eine 
gewisse Anzahl elementarer Funktionen zurückgeführt werden. Diese müssen 







Raymond de Saussure 


nach physiologischen Funktionen des Gehirnes bestimmt werden und nicht, 
wie man es tat, nach Eigenschaften, welche die intellektualistische Psycho¬ 
logie der vorigen Jahrhunderte aufgestellt hatte. Führen wir uns diese 
Funktionen vor Augen. 

I) Die Wahrnehmung 

Jeder unserer Sinne wirkt wie ein Trieb, indem er eine besondere Empfin¬ 
dung weckt, die ihrerseits eine Neugierde bedingt und uns dazu treibt, sich 
ihr anzupassen, d. h. sich Rechenschaft abzugeben, woher sie stammt, was 
sie bedeutet und auf welche Weise wir ihr gegenüber zu reagieren haben. 

Die Wahrnehmung unterscheidet sicli jedoch darin vom Triebe, daß der 
sie erregende Reiz nicht von innen, sondern von außen kommt. Nichts¬ 
destoweniger bleibt bestellen, daß wir nicht umhin können zu sehen und zu 
hören und daß wir nur dann befriedigt sind, wenn wir uns diesem Gesichts¬ 
eindruck oder diesem Ton angepaßt haben, d. h. wenn wir ihre Bedeutung 
verstanden haben. Wenn wir einen Gegenstand undeutlich im Schatten 
sich bewegen sehen, wird der Gesichtssinn erst in dem Augenblick wirklich 
befriedigt sein, wenn wir begriffen haben werden, welcher Gegenstand es 
war. Der unbestimmte Eindruck hat eine Art Neugierde geweckt, eine 
Art von Wahrnehmungsbedürfnis, das seine Befriedigung mit ebensolcher 
Macht verlangt, wie andere Eiernentarbediirfnisse unseres Organismus. Auch 
hier löst ein physiologischer Reiz, je nach dem, einen Automatismus oder 
eine intellektuelle Arbeit aus, um von dem groben Eindruck (sensation) 
zur Erkennung (recognition) überzugehen. Es ist verständlich, daß ein Indi¬ 
viduum um so mehr seine Intelligenz entwickeln wird, je anspruchsvoller es 
in seinen Wahrnehmungen sein wird. 

II) Die Halluzination und das Gedächtnis 

Wir behandeln diese zwei Erscheinungen im selben Kapitel, weil wir 
von ihrer nahen Verwandtschaft überzeugt sind. Das Kind beginnt, wie 
Freud gesagt hat, damit, seine Erinnerungen zu halluzinieren, und es 
gelingt ihm erst später, einen Begriff vom affektiven Schlamm seiner per¬ 
sönlichen Erinnerungen abzulösen. 

Buhler 1 führt die Definition eines Wagens an, die ihm ein fünfjähriges 
Kind gegeben hat: „Ein Wagen ist, wo Menschen hereiniteigen, man schlagt 
das Pferd mit der Peitsche, dann läuft es.“ Das Kind wiedererlebt bezüglich 


l) Bühl er, Die geistige Entwicklung des Kinde», a. Aufl., S. 406. 19«!. 














Zur psychoanalytischen Auffassung der Intelligenz. 245 


eines jeden Bestandteiles eine Erinnerung. Aber noch andere Tatsachen 
sprechen für die Verwandtschaft von Gedächtnis und Halluzination. 

Varendonck 1 unterschied zwei Arten von Gedächtnis: ein synthetisches 
und ein automatisches oder dublierendes. Das Gedächtnis der zweiten Art 
funktioniert im allgemeinen ohne unser Wissen, es enthält die vollständige 
Erinnerung unserer Gedanken und Gefühle. Es ist in dem Sinne mit einer 
Halluzination zu vergleichen, als es sich durch eine Reihe von Bildern 
kundtut, die für Wirklichkeit genommen werden, sobald wir zerstreut sind. 
Das synthetische Gedächtnis scheint nur eine Weiterentwicklung dieses 
primitiven Gedächtnisses zu sein. Diese Funktion könnte noch insofern die 
der Automatisierung genannt werden, als die Intelligenz sich ihrer bedient, 
um dem Gesetze des geringsten Aufwandes zu entsprechen. Statt eine neue 
Anpassungsarbeit zu leisten, erzeugt sie eine alte Erinnerung. Es ist das 
eine Aufwandersparnis, die oft aber auch Neuerwerbungen verhindert. V\ ir 
versuchen instinktiv unsere Reaktionen zu automatisieren. Wenn ein Kind 
eine neue Bewegung kennen lernt, so wiederholt es sie unaufhörlich. Ähnlich 
können wir uns dabei ertappen, wie wir in einem fremdsprachigen Land 
gewisse uns neue Worte unwillkürlich fortwährend wiederholen, jede innere 
oder äußere Wahrnehmung weckt eine gewisse Anzahl neuer Automatismen. 
Die intellektuelle Arbeit besteht darin, einerseits die unnützen zu hemmen, 
anderseits diejenigen Automatismen zu wählen, welche eine normale und 
nützliche Ableitung jener Empfindung darstellt. Diese tritt also immer als 
eine Energie auf, der man einen Kraftaufwand entgegenbringen muß, damit 
sie ihren Reizcharakter verliert. 

III) Die Hemmung 

Man weiß, daß ein Teil des Gehirnes der Hemmung der Rückenmarks¬ 
reflexe dient. Ebenso dient die Intelligenz zum Aufschieben einer Menge 
von automatisch durch Empfindungen ausgelüsten Handlungen. Ihre Auf 
gäbe ist, Probleme zu ordnen und diejenigen in den Hintergrund zu rücken, 
denen sie eine sofortige Lösung nicht geben will. Man kennt die riesige 
Rationalisierungsarbeit, die durch Verdrängung der Triebe ausgelöst wird. 
Um gegen den Ansturm der Libido einen kräftigeren Damm zu errichten, 
ersinnt die Intelligenz große moralische und metaphysische Systeme. Freud 
nimmt an, daß die Verdrängung von unserem Über-Ich ausgeht, einem 
Überrest der Phase der Identifizierung mit den Eltern. Diese Unterscheidung 


1) Loe. cit. 











246 


Raymond de Saussure 


eines Ich, eines ÜberTch und eines Es, diese philosophisch anmutende Ter¬ 
minologie scheint mir ersetzbar durch die psychologische Formulierung» daß 
die Gefühle der Identifizierung mit den Eltern eine Beschränkung der 
Triebe auslösen und die Intelligenz in der Weise anregt, daß sie die 
Ilemmungsautomatismen vervielfacht, diese durch moralische, religiöse und 
philosophische Lehren systematisiert, Mil anderen Worten» die Intelligenz 
ist verpflichtet, um sich gegen Automatismen zu wehren, die der Druck 
der Triebe auslöst, ein Netz von entgegengesetzt gerichteten Automatismen 
zu schaffen, die sie vor dem Ansturm der Libido schützen, Außer der Rolle 
der elterlichen Autorität muß auch der Wunsch, an das soziale Milieu an* 
gepaßt zu sein, in Rechnung gezogen werden, 

Uie Anpassung 

Die vierte Funktion der Intelligenz scheint uns die Anpassung zu sein* 
Wir verstehen darunter, einerseits einen ständigen Aufwand, um Wahr¬ 
nehmungen und Erinnerungen zur Befriedigung der Triebe zu verwenden, 
anderseits ein ununterbrochenes Betreiben, das Drängen des Triebes den 
Möglichkeiten und Anforderungen der Außenwelt entsprechend zu ordnen* 
Man wird uns vielleicht vorwerfen» daß wir dem Wissensdrang nicht ge¬ 
nügend Rechnung tragen, wir meinen aber, daß er sich gleichzeitig durch 
die Funktion der Wahrnehmung und die der Anpassung erklären läßt. Es 
genügt zu bemerken, daß die Intelligenz sich von unmittelbaren Trieb¬ 
bedürfnissen abwenden kann, um sich einer nicht dein persönlichen Interesse 
dienenden Aktivität zu widmen. Die Kompliziertheit des Intelligenzproblems 
liegt unter anderem darin, daß alle vier angeführten Funktionen im Spiele 
sind, sobald die Intelligenz in Aktion tritt. Will sie eine neue Aufgabe 
erfüllen, so muß sie genau die Anforderungen des Problems wahrnehmen, 
Erinnerungen wachrufen, die mit dein Problem verbunden sein können, 
sie muß Lösungen erfinden und jene hemmen, die unvorteilhaft sind, die 
den Anforderungen der Realität nicht entsprechen. 

Es sei noch eine Bemerkung hinzugefügt: die Mehrzahl der Definitionen 
der Intelligenz legen Nachdruck darauf, daß sie nur bei neuen Problemen 
im Spiele ist. Jn allen anderen Fällen sollen Automat Ismen wirken. Die 
Tatsache ist richtig, wir möchten aber hervorheben, daß die Intelligenz 
manchmal bewußt, manchmal aber unbewußt wirkt. Sie besorgt die Konti¬ 
nuität unseres Wesens, ohne daß ihre Tätigkeit immer bewußt wird. 

Die Intelligenz kann der Definition, die Freud den 'Trieben gegeben hat, 
nicht subsumiert werden, sie ist eine viel kompliziertere Funktion. Jedoch, um 











Zur psychoanalytischen Auffassung der Intelligenz 247 


ihre genaue Stellung innerhalb der psychoanalytisen festzulegen, scheint es 
uns wichtig zu sein, ihre Beziehungen zum Ich zu untersuchen. 

Für Freud ist das Ich nicht, wie für die Mehrzahl der Philosophen 
und Psychologen, die Gesamtheit der bewußten und unbewußten Persön¬ 
lichkeit. Es ist einfach das System Bewußtes und Vorbewußtes. Freud 
erkennt jedoch an, daß seine Wurzeln bis in die Tiefen des unbewußten, 
unpersönlichen und namenlosen Teiles unseres Wesens reichen, den er 
das „Es“ nennt. Das Ich ist dem Realitätsprinzip unterworfen, im Gegen¬ 
satz zum Es, das nur das Lustprinzip kennt. Das Ich soll nach F reud 
auch noch den Zweck haben, den Triebausspruch (das Es) der Außenwelt 
anzupassen, indem es gleichzeitig den Anforderungen des Qber-Ichs Genüge 
leistet. Ist das nicht die Aufgabe, welche die Psychologen der Intelligenz 
zuschreiben? Sollte man daraus schließen, daß das, was F reud Ich und 
das, was man Intelligenz nennt, identisch ist? 

Ich glaube, daß sich hier eine Unterscheidung aufdrängt: das Ich, wie 
es vom Begründer der Psychoanalyse definiert wird, entspricht dem Teil 
der Intelligenz, den Hermann den „tiefen Gedanken genannt hat, d. h. 
es entspricht jener vorbewußten Aktivität, die automatisch und unaufhor 
lieh ein Gleichgewicht zwischen dem Es, dem ÜberTch und der äußeren 
Realität sucht, es entspricht aber nicht jenem leil der Intelligenz, 
der bewußt ist, der überlegt und jedesmal in Bewegung gesetzt wird, 
wenn ein Konflikt von Tendenzen oder ein Hindernis in der Umwelt 
besteht. In diesem letzteren Falle objektiviert sich das Ich, d. h. es 
wird sich selbst bewußt, streift von sich den affektiven Schlamm ab und 
schneidet aus seiner kontinuierlichen Realität umgrenzte Teile aus, in 
denen es wie in der äußeren Realität wirken wird. Dieses objektivierte 
Ich ergreift dann für oder gegen das kontinuierliche Ich, für oder gegen 
die Realität Partei, und je nach dem, ob es geneigt ist, durch die Um¬ 
stände geforderte Opfer zu bringen, oder ob es im Gegenteil für seine 
Befriedigung die Wirklichkeit opfert, wird es sein kontinuierliches Ich 
wiederanpassen oder in eine Neurose stürzen. 

In den ersten Lebenssiadien objektiviert das Kind nicht sein Ich, es identi¬ 
fiziert dasselbe mit dem Ich der Eltern, bei denen es Schutz sucht. Laforgue 
hat in seiner Schizonoiatheorie gezeigt, wie durch diese infantile Reaktion, 
wenn sie fortgesetzt wird, kaptative Tendenzen gegenüber oblativen überwiegen 
und das Individuum in eine vollständige Introversion gebracht wird. 

Wenn Psychoanalytiker bisher das lntelligenzproblem von verschiedenen 
Gesichtspunkten aus behandelt haben, dabei aber der Bezeichnung „Intelligenz“ 











248 


Saussure: Zur psychoanalytischen Auffassung der Intelligenz 


ausgewichen sind, so geschah das wohl, weil dieser Begriff zu sehr an die Ver¬ 
irrungen der vergangenen Jahrhunderte erinnert. Dennoch glauben wir, daß 
es nützlich ist, dieses Wort — ihm nunmehr seine genaue Stellung an weisend — 
in den Sprachschatz der Psychoanalyse wiedereinzuführen. 

Man wird uns vielleicht vorwerfen, die Intelligenz nur im Zusammen¬ 
hang mit Problemen des Ich behandelt zu haben und nicht von der Rolle 
gesprochen zu haben, die sie gegenüber Problemen der physikalischen 
Welt spielt- Aber sie sind nicht so sehr voneinander verschieden; die 
Wissenschaft, die eine objektive Definition des Lichtes, des Tones, der 
Wärme, der Farben und aller Naturerscheinungen geben will, sucht eigentlich 
nur unsere Empfindungen, d, h. unser Ich zu objektivieren. 

Hermann hat darauf hingewiesen, daß intellektuelle Persönlichkeiten 
meistens an einem affektiven Konflikt scheitern. Es ist darin nichts Ver¬ 
wunderliches. Bevor ein solcher Mensch die Realität skolomisiert, versucht 
er sich ihr gegenüber zu objektivieren, kämpft, bevor er unterliegt, ver¬ 
sucht es, sein Ich von dem affektiven Schlamm zu befreien. All diese 
Bemühungen haben seine Intelligenz angespornt. 

Welchen Schluß sollen wir aus unserer Studie ziehen? Die Intelligenz 
ist eine Funktion, die den T rieben nicht eingereihl werden kann. Sie er¬ 
scheint uns in zwei Formen: erstens als eine vorbewußte Funktion, 
die automatisch unsere Reaktionen beherrscht und fortwährend 
einen Gleichgewichtszustand zwischen dem Es, dem Über-Ich 
und der Außenwelt sucht. Das ist das, was Hermann den „tiefen 
Gedanken“^ nennt. Zweitens ist sie eine Funktion, durch welche unser 
Ich sich zu objektivieren, sich bewußt zu werden sucht und sich 
ausschließlich als ein Objekt der Realität betrachtet, indem es seine 
Affektivität opfert. Diese Objektivation erlaubt dem Ich, sich anzu¬ 
passen, indem es dem auf ihm lastenden affektiven Zwang Trotz bietet. 

'l Jeder, der sein affektives Ich auf Kosten seines objektiven Ichs entwickeln 

läßt, neigt zur Neurose. Das Wesentliche der hier dargelegten Gedanken 
ist schon von Freud, als er seine Gedanken über das Lust- und das 
Realitätsprinzip dargestellt hatte, ausgesprochen worden, und von LafoT- 
gue, der die kaptativen und oblativen Tendenzen hervorhob. Es schien 
uns aber notwendig, angesichts des Mangels einer allgemeinen Theorie 
der Intelligenz, dieses Problem hier zusammenhängend ins Auge zu fassen. 









Über Identifikation 

Von 

Ernst Schneider 

Professor an der Universität Riga 

Als ich vor etwa fünfzehn Jahren mit der Psychoanalyse bekannt wurde, 
erholte ich mich gerade von der Enttäuschung, die mir die experimentelle 
Psychologie bereitet hatte. Aus den ersten mir zugänglichen psychoanalyti¬ 
schen Arbeiten gewann ich den Eindruck, daß hier für den Psychologen 
und Pädagogen mehr zu holen sei, weil sie entgegen der median istisch- 
atomistischen experimentellen Psychologie eine rein psychologische Einstellung, 
eine dynamische Auffassung des Seelischen und damit eine organische Psycho¬ 
logie versprachen, die dem pädagogischen Denken und Handeln angepaßter 
ist. Ich sah mich in der Folge nicht enttäuscht. Im Gegenteil, meine Er¬ 
wartungen wurden durch die seitherigen Forschungen Freuds und seiner 
Schüler weit übertroffen. Die Entwicklung der Psychoanalyse in dieser Zeit 
kann einem Wandern in einer Gebirgslandschaft verglichen werden, wo auf- 
steigend neue und weitere Horizonte sichtbar werden. Es liegt dies ganz 
im Wesen des systematischen wissenschaftlichen Arbeitens, daß versucht 
wird, eine gewonnene Kenntnis in einen allgemeinen, letzthin universellen 
Zusammenhang einzuordnen und in einer solchen Ordnung zu verstehen. 

Im folgenden möchte ich eine solche Wanderung im kleinen unter¬ 
nehmen und nicht davor zurückschrecken, die Fahrt „ins altrom an tische 
Land“ auszudehnen. Ich wähle hiezu den Begriff der Identifikation. 
Er tritt uns in der psychoanalytischen Literatur häufig entgegen, so daß 
anzunehmen ist, daß er eine bedeutungsvolle psychologische Tatsache meint. 
Auf den ersten Blick scheint dieses Unterfangen hoffnungslos zu sein, denn 
wir werden gewahr, daß unter Identifikation anscheinend Verschiedenes 
gemeint wird. Ist es der gleiche Vorgang, wenn ich sage: „er identifiziert 
sich mit seinem Vater“, oder: „er identifiziert sein Liebesobjekt mit der 







Ernst Schneider 


250 


Mutter“, oder: „die unbewußte Identifizierung grobsexueller Funktionen 
mit denen der Mundzone“? (Ferenczi.) Das theoretische Interesse an der 
Begriffsbestimmung sucht hier eine Klärung, Die folgenden Überlegungen 
gehen in erster Linie von Erfahrungen aus der kindlichen Spiel 7 .cil aus* 
Hier kann der Vorgang der Identifikation am besten beobachtet werden. 


Ein Beispiel 

Eine Mutter* deren Kindererziehung ich wiederholt beraten habe, legte 
mir vor, daß ihr fünfeinhalb)übriges Mädchen in letzter Zeit sich beim 
Baden nicht auskleiden wollte, daß es überhaupt sehr prüde geworden sei 
und sich vor Hunden, besonders vor einem bestimmten schwarzen, der 
letzthin am Badestrand aufgetaucht sei, stark fürchte. Gestern entdeckte die 
Kleine, daß ein Schneidezahn wacklig geworden sei* Der drohende Verlust 
wurde stundenlang untröstlich beweint* Ich besprach mit der Mutter den 
Kastrationskomplex und machte ihn für das Verhalten ihres Kindes ver¬ 
antwortlich* Ich riet ihr, bei erster sich bietender Gelegenheit, die Kleine 
darüber aufzuklären, daß die beiden Geschlechter als solche zur Welt ge¬ 
kommen seien usw, — Eines Tages kämmte das Mädchen vor dem Spiegel 
seine Haare und fragte: Manimi, hatte ich damals, als ich noch ein Junge 
war, auch blonde Haare? 1 Jetzt erfolgte die Aufklärung, Am andern Tage, 
kaum am See angelangt, entkleidete sich die Kleine und sprang übermütig 
nackt am Strande herum und ins Wasser* Auch die übrige Prüderie war 
verschwunden. Die Hundeangst war insofern gemildert, als sie nur noch 
an dem genannten schwarzen Tier haften blieb. Als das Kind ungefähr 
zwei Jahre alt war, zog es einen ähnlichen Hund ain Schwanz. Das I ier 
kehrte sich um, warf die Kleine zu Boden und schnappte nach ihr, wobei 
die Nase leicht geritzt wurde. Auffällig ist das Benehmen der Kleinen dem 
Hundebesitzer gegenüber* Man merkt, sie möchte sich ihm gerne nähern, 
springt aber rasch weg, wenn er sie ruft. Ähnlich, wenn auch weniger 
auffallend, benimmt sie sich dem Vater gegenüber* Nocli bemerken muß 
ich, daß die Mutter damals, als sie sich zum erstenmal von nur beraten 
ließ, das Kind zärtlich an sich band. Sie wollte sich ihm gegenüber dankbar 
erweisen, weil es ihr während der Bolschewistenzeit in Riga (191g) das Leben 
gerettet hatte. Weil sie einen Säugling stillte, entging sie einer Verhaftung. 
Ich machte auf die Folgen einer starken Mutterbindung aufmerksam. Die 


1) Die Mutter hat blonde, der Valor dunkle Haare. 












Über Identifikation 


251 


Mutter änderte ilir Verhalten. Es scheint, daß die besprochenen Vorfälle in 
eine Zeit des Schwankens zwischen den beiden Üdipus-Situationen fielen. 
Von hier aus werden die nach der Beseitigung der Prüderie gemachten 
Anstrengungen des Mädchens, die Hundeangst zu überwinden, verständlich. 
Hier interessiert uns diejenige, die zum Erfolge führte: Die Kleine spielte 
Hund. Sie legte sich den Namen des schwarzen Köters bei, kroch auf allen 
Vieren, hellte, biß usw. Das dauerte einige Tage. Nachher war jede Spur 
von Hundeangst verschwunden. Wie das Verhältnis zum schwarzen Hunde, 
so änderte sich auch das zu seinem Besitzer. Dessen Zärtlichkeiten wurden 
gesucht. 

Der Fall ist analytisch durchsichtig. Ich möchte nun die verschiedenen 
Identifikationsformen hervorzuheben suchen. 

Verstehen und Angleichen, Bedeuturigs- und Leistungsidentifikation 

Der Begriff der Identifikation ist in erster Linie an solchen. Erscheinungen 
gewonnen worden, wie wir sie beim Hundespielen beobachten konnten. 
Wir sehen hier eine weitgehende Veränderung des eigenen Wesens in der 
Richtung eines andern. (Veränderung = Ver-ander-ung.) Das spielende Kind 
bringt solche Veränderungen allem gegenüber fertig. Es kann alle Erwachsenen 
spielen, sich in Tiere, Pflanzen, Lokomotiven, rollende Fässer verwandeln, 
Rotkäppchen im Bauche des Wolfes sein, wie jener dreijährige Bube, der 
unbeweglich in seinem Bettchen lag und auf Beiragen erklärte, er sei Rot¬ 
käppchen im Bauche des Wolfes. Es hängt mit der „Verwandtschaft zu 
samrnen, daß Identifikationen mit Personen besser gelingen als solche mit 
Sachen. Wenn wir Identifikation als Veränderung der Person in der Richtung 
„des Andern“ bestimmen, wo liegt dann die Grenze den verschiedenen Ein¬ 
wirkungen gegenüber, die, wie z. B. die Wahrnehmung, auch eine Ver¬ 
änderung der Person in der Richtung des Einwirkenden, des Andern, be¬ 
deuten? Ob das Kind den Hund wahrnimmt oder ihn spielt, in beiden 
Fällen ist es in der Richtung Hund anders geworden. Der Unterschied ist 
bloß ein quantitativer. Im Schauspielhause identifizieren sich Schauspieler 
und Zuhörer mit den Personen der Dichtung. Die einen stellen dar, die 
andern „nehmen seelisch und körperlich Anteil“ und verstehen, — Wenn 
ein Vortragender den bekannten Kontakt mit seinen Hörern hat, dann 
finden wechselseitig Identifikationsprozesse statt. Der Hörer versteht die 
Gedanken des Vortragenden, und wenn er sie akzeptiert, so findet eine 
weitergehende Identifikation mit ihm statt. 













Ernst Schneider 


252 


Einer feineren Untersuchung würde es gelingen, hier eine Reihe von 
Identifikationsabstufungen herauszuarbeiten vom einfachen Wahrnehmen zum 
n verstehenden Einfühlen 14 , „mit den Augen verschlingen , Nachahmen, 
zu der Verliebtheit und dem Verschlingen, Hier möchten wir nur zwei 
Hauptgruppen hervorheben, die aus dem Gesagten ohneweiters verständlich 
sind t Das Verstehen und das Angleichem Die erste Form bezeichnen 
wir als Bedeutungsidentifikation, die andere als Leistungsidenti¬ 
fikation: Das Andere bedeutet für mich etwas, und ich mache mich 
ihm gleich. Da es sich hinsichtlich des Idemifikations Vorganges um quanti¬ 
tative Abstufungen handelt, so ist es verständlich, wenn die Leistungsidenti- 
Fikation auch eine Bedeutungsidentifikation und die Bedeutungsidentifikation 
eine Leistungsidentifikation ist, denn auch die kleinste Veränderung ist 
Leistung (Funktion) der Person, 


Gleichsetzung 

Unser Beispiel weist noch andere Formen der Identifikation auf. Die 
Angst vor dem schwarzen Hund und die Prüderie wurden besonders stark, 
nachdem eines Tages der Hund mit seinem Besitzer am Badestrand auf¬ 
getaucht war. Zur Hundeangst führen zwei Komponenten, Eine stammt 
aus der Vater-, die andere aus der Mutter-Identifikation, Beide sind schon 
im Hundeerlebnis mit dem zweiten Jahre vorgebildet: Das Spielen mit 
dem Schwanz und das In-die-Nase-fleißcn (Kastralionskoinplex und Onanie, 
die beobachtet wurde) und dann das Umwerfen und Aufspringen, Die 
Mutter gibt an, daß die Kleine einmal im Schlafzimmer bei intimen Be¬ 
ziehungen der Eltern aufgcwacht war. In der Angst erhält der Hund 
Vater-Bedeutung, Von ihm wird diese auf dessen Besitzer verschoben, so daß 
eine Gleichsetzung von Vater = Hund“ Mann entsteht. Dies ist eine Be¬ 
deutungsidentifikation, hinter der wir einen weiteren Vorgang linden, eben 
diese Gleichsetzung, die eine Identifikation des Andern, eine von der 
Person zum Andern gerichtete ist. Der Hund bedeutet etwas und diese 
Bedeutung ist identisch mit der von etwas anderm, Ich verstehe etwas und 
verstehe darunter etwas. Die Identifikation wird ins Andere verlängert, in¬ 
dem die Person sich bedeutungshaft mit dem Andern verändert. Wir 
wollen diese „Verlängerung 4 * als Au iw irk ungs Identifikation bezeichnen 
und die früher besprochene Form ab Einwirkungsidentifikation. Im 
Hundespiel kommt diese Identifikationsverläagerung als Leistungsidentifi- 
kation zur Verwertung. Im Hund ist die Kleine Vater und Mann* Nach- 









Über Identifikation 


2 53 


her erfolgt Auflösung. Der Hund wird zum Tier. Tiere liebt das Kind. 
Der Vater und der Mann werden zu Personen der Übertragung. Die Kleine 
beginnt lebhaft mit Puppen zu spielen. Die Mutter-Identifikation hat gesiegt. 
Die seitherige Entwicklung des Kindes war eine sehr befriedigende. 

Die Gleichsetzung (Bedeutungsauswirkungsidentifikation) ist unter ver¬ 
schiedenen Namen bekannt: Verschiebung, Personifikation, Symbolisierungusw. 
Auch hier ließen sich weiter Abstufungen abgrenzen. Die Auswirkungs¬ 
identifikation dürfte klarer werden, wenn wir zu der Bedeutungsidentifikation 
die entsprechende ■ Leistungsidentifikation gesetzt haben. 

Angliederung 

Ein kleiner Knabe ist ungehalten darüber, daß die Vögel, die doch be¬ 
deutend kleiner sind als er, fliegen können, er aber nicht. Vom Stuhl 
herunter „fliegen“, das kann er, aber nicht aufs Dach oder auf die Bäume. 
Was tut er? Unter seinen Spielsachen befindet sich ein Vogel. Den läßt 
er überall herumfliegen, auch auf Häuser, Türme, Berge, die er mit Sand 
und Bausteinen aufgebaut hat. Was ist hier psychologisch vor sich gegangen ? 
Der Kleine will sich mit dem Vogel identifizieren, aber die entsprechende 
Leistung gelingt nicht. Da setzt er den Spielvogel an dessen Stelle, und 
gleichzeitig wird das Spielzeug der eigenen Person gleich gesetzt. Jetzt fliegt 
das Kind „als“ oder „im“ oder „mit dem“ Spielvogel. Hier sei an Freuds 
Analyse eines Kinderspiels erinnert. Vom Identifikationsproblem aus gesehen, 
ging dort folgendes vor: Das Spielzeug bedeutet eine Gleichsetzung mit 
der verschwundenen Mutter und ebenso eine solche mit dem Kinde. Kind 
und Mutter werden miteinander zum Verschwinden gebracht, wodurch die 
Trennung der beiden aufgehoben wird. Das Wegwerfen des Spielzeugs in 
eine Zimmerecke, unter ein Bett, ins eigene Bettchen, realisiert offenbar 
den Wunsch nach ungetrübtem Verbundensein mit der Mutter in Form 
einer Identifikationsleistung in der Richtung auf einen früheren Zustand 
(Mutterleib). 

Von zwei verschiedenen Seiten stammende Bedeutungsidentifikationen 
treffen sich in einem dazu geeigneten Gegenstand und schaffen ein Werkzeug 
zu einer Leistungsidentifikation und erreichen so eine unbeschränkte Er¬ 
weiterung und Verlängerung der Person und ihrer Organe durch Angliederung 
neuer Organe. Wir wollen diese Auswirkungsleistungsidentifikation 
Angliederung nennen. 








2 54 


Ernst Schneider 


Gedankenverdinglichung un d Phantasteren 

Wir versuchten die Identifikationsformen nn Bereiche der , f iiußorn Hand¬ 
lung* aufzufinden» Noch ein Blick in die „innere Handlung*! Fritz wimmert 
laut ui-ui-uL Erschrocken eilt die Mutter herbei. Der Bube hatte eine 
Brücke gebaut und darüber einen Eisenbahnzug geführt. Die Brücke stürzt 
ein, und man vernimmt das Wehgeschrei der verunglückten Zugsinsassen. 
Fritz ist als Kollektivperson im Zuge raitgefahren. Im Schreien identifiziert 
er sich mit dieser, also mit sich selber, Er hat die Vorstellung seiner 
Person verdinglicht, wie es die Buben tun, wenn sie den Drachen fliegen 
lassen oder auf Siebenmeilensticfeln in die Welt wandern: 

Da guckt ich dem Storch in das Storchennest dort: 

Guten Morgen, Frau Storchen, geht die Reise bald fort? 

Ich blickt in die Hauser zum Schornstein hinein: 

Papachen, Mamachen, wie seid ihr so klein! 

Tief unter mir sah* ich Fluß, Hügel und Tal — 

ach, wer doch das könnte, nur ein einziges Mal! 

(Viktor Blütilgen.) 

Durch die von außen und innen erfolgenden Bedeutuiigsidcntiiikationen 
werden auch die Gedanken zu Spielzeugen. Sie erhalten Dingcharakter. Mit 
ihnen wird gespielt (phantasiert) und die eigene Person ins Kinderuniversum 
verlängert. 

Zusammenfassung 

Im ausgebildeten Kinderspiel vereinigen sich alle bisher gefundenen 
Identifikationsformen. Stellen wir sie übersichtlich zusammen: 



Identifikation 


Bedeutung 

Leistung 

Innere Handlung: 

Gedanken verdinglichen 

Phantasieren 

Außere Handlung : 
Einwirkung; 

Verstehen 

Augleichen 

Auswirkung: 

Gleichsetaen 

Angbed cm 

Unsere Arbeit war bisher 

Begründung 

eine beschreibende. Wir 

vervollständig) 


durch eine begründende. Die Psychoanalyse ah psychologische borsclmngs* 
methode hat eine begründende Psychologie möglich gemacht, nachdem in 
dieser Hinsicht eine physiologische Psychologie und eine experimentell' 
atomistische Bewußtseinspsychologie versagt haben. 











Über Identifikation 


255 


Ganzheitskausalität — Ganzheitsidentifikation 

Wir kehren zu unserem Ausgangsbeispiel zurück und stellen die Frage; 
Warum identifiziert sich das Kind, warum mit dem Hund, warum im 
Spiel? Die Beobachtung ergibt als Antwort: Es will die Angst los werden. 
Das beweisen die vorausgegangenen Versuche, eine „Ursache“ zu suchen, 
der als „Wirkung“ Angstlosigkeit folgt. Daß in der Identifikation diese 
Ursache gefunden wurde, beweist die Wirkung, der Erfolg. Wir haben hier 
also einen kausalen Zusammenhang: Angst — Identifikation — Angstlosigkeit. 
Die Ursache der Angst liegt in einer „Trennung“ von Vater und Mutter, 
die mit den beiden gegenseitig sich hemmenden Üdipus-Einstellungen zu¬ 
sammenhängt (Vater-Identifikation — Penisverlust, Mutter-Identifikation 
gesperrte Vater-Übertragung). Im Hundespiel identifiziert sich das Kind mit 
dem Vater und tobt den durch die Aufklärung verarbeiteten und über¬ 
flüssig gewordenen Peniswunsch „ein letztes Mal“ aus, verzichtet, identi¬ 
fiziert sich mit der Mutter und überträgt auf den Vater. Die ruhige und 
sachliche Besprechung der Mutter hat offenbar auch die entsprechenden 
Schuldgefühle beseitigt. Der Einzelfall bietet dem Analytiker nichts Neues. 
Was wir hier anstreben, ist der Versuch, ihn von einer allgemeinen psycho¬ 
logischen Grundlage aus zu verstehen. 

Die Identifikation ist die Wirkung der Angst und die Ursache der Angst¬ 
losigkeit. Die Angst bedeutet eine seelische „Spannung und die Identi 
fikation bringt die „Lösung“. Der stetige Ablauf von Spannung — Lösung ist 
der Lebensprozeß überhaupt. Psychologisch verstehen wir ihn als Handlungs¬ 
ablauf. Er baut sich aus elementaren Spannungs-Lösungsvorgängen (Ele¬ 
mentarhandlungen) auf und ist gegliedert in zusammengesetzte Spannungs- 
Lösungsvorgänge: Reflex, Instinkt, Bewußtseinshandlung, Stufenhandlung 
(Ablauf einer Entwicklungsstufe), Personal- (ontogenetische) Handlung, 
phylogenetische Handlung usw. Jede Spannung — Lösung ist ’V eränderung. 
Werden, das polar gerichtet ist, wie Wollen und Nichtwollen, wobei das 
Wollen der einen Seite das Nichtwollen der andern ist. Die Spannung — 
Lösung = Handlung hat oder ist in ihren Elemenlarformen wie in den 
zusammengesetzten stets dreieinig: Richtung, Richtungsänderung und 
Richtungsbedeutung („Inhalt“). Bewußt haben wir die Richtung als Gefühl 
(Lust und Unlust), die Richtungsänderung als Wollen und die Richtungs¬ 
bedeutung als Empfindung, Wahrnehmung, Vorstellung, Gedanke usw. 
Da bei der Handlung Bedeutung, Wollen und Gefühl polar gerichtet sind, 
so schreiben wir sie einem Differenzierungsvorgang zu, der gleichzeitig 







256 


Ernst Schneider 


nach einer Integration strebt. Von Differenzierung reden wir, wo sich ein 
Ganzes (absolut oder relativ gedacht) teilt. Die Teile streben wieder zum 
Ganzen. Allgemein gesprochen wäre so die Handlung ein universaler Difte- 
renzierungs-Integrationsprozeß, wobei das Universum als das Ganze gedacht 
ist, dessen Differenziertsein in der Spannung und dessen lutegrationsstreben 
in der Lösung erlebt wird. Die Identifikation haben wir im Dienste der 
Lösung stehend gefunden. Sie erweist sich so als Mittel der Integration. 
Weil jede Lösung als Integralionsleistung eine Annäherung an die Ganzheit 
bedeutet, so liegt hier eine Identifikation mit dem All, eine Ganzheits- 
identifikation vor. Damit haben wir die allgemeine „Grundlage“ ge¬ 
schaffen, von der aus wir das Einzelne verstehen. 

Wir nennen diese begründende Betrachtungsweise mit Driesch eine 
ganzheits kausale. Das Universum als Ganzes ist Seins- und Werdegrund 
(Ursache) für jedes psychische Sein und Werden, ln der Ganzheitskausalität 
sehen wir einen Oberbegriff, geeignet, die „dynamische, topische und ökono¬ 
mische Betrachtungsweise“ des Seelischen auf einen gemeinsamen Nenner 
zu bringen. 

Identifikationen der Entwicklung 

Wir treten nun der Frage, wieso eine Identifikation in der Form des 
Spiels eine Integrationsleistung herbei führen konnte, näher. Das Spiel ist 
einer bestimmten Entwicklungsstufe eigentümlich. Warum spielt das Kind? 
Diese Frage müssen wir im Zusammenhang mit der Betrachtung der Spiel- 
stufe beantworten. Diese ist wiederum eiu Teil der Jugend, jenes Handlungs¬ 
ablaufes, der von der befruchteten Eizelle bis zum Erwachsensein geht. 
Die Zelle wollen wir das Anfangsganze und den Erwachsenen das Endganze 
dieser Entwicklung nennen. Als Entwicklungsstufe bezeichnen wir einen 
Prozeß, der etwas prinzipiell Neues und Fertiges im Hinblick auf das Endganze 
schafft, also eine weitere Stufe der Differenzierung und der Integration er¬ 
reicht. Stufenmäßig gleicht sich die befruchtete Eizelle in ihrem Werden 
denjenigen an, von denen die Generationszellen stammen. Wir sehen uns 
berechtigt, hier von einer Identifikation der Zelle zu sprechen. Ihre Richtung 
können wir oft bis ins einzelne hinein bestimmen: „Er gleicht dem Vater , 
„der Mutter“, „das hat er von . . , w Das Endganze der Jugendentwicklung 
identifiziert sich dann umgekehrt in der Produktion von Generationszellen mit 
dem Ausgangszustand seiner Entwicklung. Wir unterscheiden hier eine pro¬ 
gressive und eine regressive Identifikation. Diese beiden I endenzen 
liegen dem ganzen Entwicklungsprozeß zugrunde und lassen das in Er- 








Über Identifikation 


257 


scheinung treten, was wir das Tempo der Entwicklung bezeichnen mit den 
Tendenzen zum Verharren, Vorwärts- und Rückwärtsschreiten. Wir ziehen 
Erfahrungen der experimentellen Biologie, besonders die grundlegenden 
Untersuchungen von Hans Driesch, dein wir auch in den Begründungen 
folgen, herbei. Was wir Identifikation nennen, das bezeichnet er als pro¬ 
spektive Bedeutung und prospektive Potenz der Zellen. Er nennt die Zelle 
ein harmonisch-äquipotentielles System, Jedes Teilchen der Zelle sei fähig, 
das Ganze zu bilden. Die Potenz zum Ganzen weist über sie hinaus in der 
phylogenetischen Entwicklung, sie identifiziert sich mit dem Universum, 
sie ist ein Mikrokosmus. Die Progressividentifikation mit dem Ganzen er¬ 
hält die Zelle, wenn sie befruchtet ist. Die Befruchtung ist ein Integrations¬ 
prozeß, dem eine Differenzierung vorausgegangen sein muß. Wir sehen sie 
In der universalen sexuellen Differenzierung. Der personale und überper¬ 
sonale Entwicklungsprozeß schafft Integratlonsformen zu dieser Differen¬ 
zierung. Sie sind auf Überwindung dieser Differenzierung, auf Ganzheit 
gerichtet. (Vgl, dazu die Platonische Fabel, die hier auch ins Universale 
zu deuten ist.) Wir haben hier den Eros, die libidinöse Seite des personalen 
und übcrpersonalen Lebens vor uns. Die Bezeichnung Arterhaltung deckt den 
Sachverhalt nicht. Alle die besprochenen Identifikationsformen ließen sich 
daher unter den Begriff der erotischen Identifikation zusammenfassen. 

Die nichtbefruchtete Generationszelle kann diesen Identifikationsprozeß 
mit dem universalen Eros nicht mitmachen. Sie zerfällt in die Atome. 
Vor der sexuellen Differenzierung muß noch eine andere universale ange¬ 
nommen werden, für die die Zelle ein Integrationsprodukt bedeutet. Welches 
sind ihre Teile? Wir sehen sie im Soma und in der von Driesch postu¬ 
lierten Ganzheitstendenz, die im entwickelten Organismus als Leib und 
Seele da sind. Die Organismen sprechen wir an als Teilintegrationen einer 
Urdifferenzierung in Materie und Geist. Sie tragen aber die Tendenz zum 
All in sich, dessen Abbilder sie sind, Mikrokosmen. Leib und Seele sind 
die Polaritäten einer UniversalHandlung« 

Die neue Atomforschung hat auch in den Atomen polare Strukturen 
festgestellt. Es sollen Planetarien im kleinen sein. Ist etwa das Atom eine 
Integrationsform erster Stufe und die Zelle eine solche zweiter Stufe (wobei 
die Zelle die Atome integriert), Integrationselemente jener Urdifferenzierung 
Materie-Geist? Identifiziert sich also auch das Atom mit dem Universum 
in seinem Sein und Verändern? 

Nun aber wieder zu weniger spekulativen Dingen! Nehmen wir die 
Aufgabe wieder auf, das Spiel in die Jugendhandlung einzuordnen! 


Imago XII. 


>7 










Ernst Schneider 


258 


Die Stufenidenüßkation 

Nach unserem gegebenen EntwicklungsbegrifT unterscheiden wir vier 
Stufen der Jugendhandlung: Embryo, Säugling, Spieler, Arbeiter. Die embryo¬ 
nale Entwicklung schafft fertig die Kürperform des Endganzen. Die weiteren 
Stufen zeigen in dieser Hinsicht keine Entwicklung mehr, bloß V\'achstum. 
Die Körperbildung weist Stadien auf, die deutlich das Zusammenarbeiten 
der regressiven und progressiven personalen und überpersonalen Identifika¬ 
tion erkennen lassen. Das ist auch bei allen übrigen Entwicklungsstufen 
der Fall. Den Identifikationsfaktor, der die Körperform dem Endganzen 
angleicht, nennt Driesch Entelechie. Sie dürfte die erste Stufe des „Es sein. 

Das „Trauma der Geburt“ bedeutet eine Differenzierung, die der Ent¬ 
wicklung eine neue Richtung gibt. Der Säuglingsstufe kommt die ent¬ 
sprechende Integration zu. Sie erreicht diese durch eine Identifikation der 
Organtätigkeit mit denjenigen des Endganzen. Die Organe werden fertig 
zu Organ werk zeugen ausgebildct; Mund {Essen), Hände (Greifen), Beine 
(Gehen), Sprechwerkzeuge (Lautbildung), Sinnesorgane (Wahrnehmen). Den 
Faktor, der die Organleistungsidentifikation besorgt, nennt Driesch Psychoid. 
Es fand eine Differenzierung im „Es li statt. Das neue Seelenorgan rückt 
in den Mittelpunkt der Integration. Die entelechial-psychoidale Seele ist 
die Instinktseele, wenn wir den Instinkt als ganzheitliche hähigkeil be 
zeichnen, Organe zu schaffen und organgemäß tätig zu sein. (Organwerk¬ 
zeuge). Auch beim Säugling beobachten wir das Zusammenwirken regressiver 
und progressiver Identifikationen: Wachen—Schlafen, Lallen Schreien und 
Saugen usw, 

Das „Trauma des Bewußtseins“ 

Die Entwicklung der Organ Werkzeuge führt zuletzt einen Konflikt mit 
der Außenwelt herbei. Das Kind stößt mit ihr zusammen, erleidet sie, sie 
trennt sich von ihm ab. Es kommt zu einer Differenzierung vom Eigenen 
und Fremden. Das Versagen der nach außen gerichteten Organwerkzeuge 
schafft innen eine verstärkte Spannung mit einem entsprechenden Lösungs¬ 
streben, das dahin gehen muß, das Abgetrennte wieder zu gewinnen, zu 
integrieren. Diese Spannung — Lösung, die außerordentlich sein muß, ist 
das Bewußtsein, eine neue Handlungsform. Die Seele differenziert sich 
in ein Nichtbewußtes und in ein Wissensorgan. Das Bewußtsein als Handlung 
ist selbst wieder differenziert, und die Teile sind integriert. Es sind dies 
Ich und Gegenstand mit dem Spannungs-Lösungserlebnis Wissen, bewußt 











Über Identifikation 


2 59 


Haben, bewußt Sein* Die Organhaftigkeit des Bewußtseins erhellt aus der 
Tatsache, daß es dreieinig ist: Ich — habe bewußt — Etwas, 

Die Aufgabe der neuen Entwicklungsstufe muß darin bestehen, das „Ab¬ 
gefallene“, „Entfremdete“ wieder zu gewinnen, und zwar restlos* Auch das 
Bewußtsein arbeitet ganzheitlich, wie das „Es“* Es setzen nun Bestrebungen 
ein, die unzulänglichen Organ Werkzeuge zu ergänzen, durch solche, die 
fähig sind, die Außenwelt zu integrieren* Es kommt zum „Werkzeugdenken“, 
als dessen Ergebnis das Spielzeug erscheint* Wir haben es früher besprochen 
und gesehen, wie dabei von Außen und von Innen Bedeutungsidentifika¬ 
tionen in einem geeigneten Objekt Zusammentreffen und das Spielzeug als 
Angliederung entsteht. Wir verstehen jetzt auch die Verdinglichung der 
Gedanken, die Gedanken als Spielzeuge* Die Sinn esein drücke werden be¬ 
deutungshaft, Dazu verhilft die Sprache, Diese macht die Entwicklung vom 
Organwerkzeug zum Werkzeug mit* Es ist auffallend, wie stark das Be^ 
streben des Kindes wird, die Benennungen aller Dinge zu erfahren, die 
in seinen Gesichtskreis kommen. Das verlorene „Unbekannte“ wird dadurch 
„bekannt“, integriert* Wort und Sache treffen sich in der Wahrnehmung 
nach dem gleichen Vorgang der Spielzeugbildung, so daß das Entstandene, 
die Gedanken, ebenfalls als solche Verwendung finden können. Von hier 
aus ist die „Allmacht der Gedanken“ zu verstehen. Durch die G edanken - 
Verdinglichung, die, regressiv gesehen, eine Angleichung an das „Halluzinieren 
sein dürfte, schafft sich das Kind im Spielzeug unbeschränkte Möglichkeiten 
zur Ganzheitsidentifikation und kann auf diese Weise die durch das „Trauma 
des Bewußtseins“ erlebte „Unganzheit“ wieder aufheben* Auch hier werden 
wieder deutlich die Identifikationen mit früheren Zuständen (Höhlenbauen, 
Sand-, Wasserspiele usw.) und die Identifikationen mit dem Endganzen, mit 
den Erwachsenen, die Allmachtsbedeutung erhalten, sichtbar. Daß auch die 
Spielstufe im „Werkzeugdenken" Fertiges leistet, sei an der Sprache gezeigt* 
Am Ende der Spielzeit verfügt sie über den vollen grammatikalischen Be¬ 
stand derjenigen der Erwachsenen* Was später kommt, ist in dieser Hin¬ 
sicht nur Verbesserung, 

Real- und Ideal-Identifikation 

Jede Stufe bringt die Ursache hervor, durch die sie überwunden wird* 
Ein neues „Trauma“ bereitet sich vor. Wir können sagen, die Grundlage 
aller Traumen sei „Unganzheit“* Sie wird dabei intensiv erlebt. Die All¬ 
machtsbedeutung der Erwachsenen geht beim Kinde in die Brüche, bei 







260 


Emst Schneider 


seinen Spielen wird es immerfort von der ganzen Umwelt (Personen und 
Dinge) in seine „Schranken“ zurückgewiesen. Diese Schranken hängen mit 
dem „Nur-Individuum-Sein“ zusammen. „Das Andere ‘ erzwingt sich An¬ 
erkennung als Reales. Die erreichte Ganzheit erweist sich als eine bloß 
relative, der die Tendenz zur absoluten gegenübersieht. Den so entstandenen 
Zwiespalt kann man als Trauma der Realität oder der Relativität bezeichnen. 
Er eröffnet jene Stufe, die langsam ansteigend das Kind zum Endganzen 
der Jugendhandlung führt. Die Integration, die Lösung jenes Zwiespaltes, 
geschieht in der Weise, daß die Realität, die Relativität anerkannt, die 
Ganzheitstendenz als Ideal aufgerichtet wird und die entgegenstehenden 
Ganzheitsidentifikationen verdrängt werden. Es bildet sich das Unbewußte 
als Verdrängungsorgan in starkem Maße aus. lin Verdrängten sehen wir 
polare Spannungen, die durch entgegengesetzt gerichtete an der Auswirkung 
gehemmt sind. Es sind Ganzheitstendenzen, die mit der übrigen in Wider¬ 
streit geraten sind. So finden wir nun zwei sich widersprechende Ganzheils¬ 
identifikationen vor. Die eine geht von Entelechic und Psychoid, dem „Es , 
über die spielerische Ganzheitseinstellung zum Persönlichkeitsideal. Die andere 
wirkt sich als Unbewußtes aus. Da die Seele immer als Ganzes tätig ist, 
so lassen sich die beiden nicht rein beobachten. Wir wollen sie immerhin 
für sich zu besprechen suchen. 

Wie der Spielzeugvogel oder der Drache dem Mugschirf weichen mußten, 
so entwickelt sich das spielerische Werkzeugdenken zum arbeitsgerechten. 
Die arbeitsgerechten Werkzeuge entstehen in gleicher Weise wie das Spiel¬ 
zeug. Zwei Bedeutungsidentifikationen treffen zusammen, eine vom Realen 
und die andere vom Idealen, überwinden so den Zwiespalt dieser Stufe 
und schaffen Möglichkeiten einer neuen Integration mit neuen Ganzheits¬ 
identifikationen. So entstehen Begriffe als Werkzeuge der Wissenschaft, die, 
am Realen gebildet, die Forderung der ganzheitlichen Eindeutigkeit erfüllen 
müssen, wenn sie dem Ideal der Wissenschaft, der ganzheitlichen Wissens¬ 
ordnung, entsprechen sollen. Wie Begriffe, so werden Kunstwerke, soziale 
und religiöse Lebensformen zu arbeitsgercchten Werkzeugen für die Inte¬ 
gration mit Mitteln der Ganzheitsidentifikation, insofern sie das Reale im 
Sinne des Schönheitsideals (Formganzheit), des '1 ugendideals (ganzheitliche 
Lebensordnung), des religiösen Ideals (das Ganze, das Absolute, Gott) um¬ 
gestalten. 

Bei der arbeitsgerechten Integration wiederholen sich im Prinzip die 
Vorgänge bei der enlelechialen Formbildung, Die einzelnen leile der Zelle 
verzichten auf ihren Ganzheitsanspruch (prospektive Potenz), um sich einem 










Über Identifikation 


261 


höher organisierten Ganzen einzubauen, sich der „prospektiven Bedeutung“ 
gemäß zu integrieren. Die „Instinktseele“ schafft in den Organwerk zeugen 
Gebilde zur Instinkthandlung, d, h. zu solchen, die bei ihrem ersten Auf¬ 
treten realativ vollkommen, also ganzheitlich sind. Mit dem Auftreten des 
Bewußtseins wird die Integrationsmöglichkeit bedeutend erweitert, aber „es 
irrt der Mensch, so lang er strebt“, weil er eben infolge seines Differen¬ 
ziertseins das Ganzheitsideal nicht erreichen kann. Oder ist der Irrtum 
gegenüber den Instinkthandlungen, wo es eigentlich keinen Irrtum gibt, 
bei den menschlichen Handlungen so groß, weil das Unbewußte mit seinen 
anders gerichteten Tendenzen als Störenfried eingreift? Weil dieses zum 
„dereierenden, autistischen Denken“ (Bleuler), zum Verfälschen der ganz¬ 
heitlichen Kunst-, Lebens- und religiösen Ideale führt? Jedenfalls stellen 
sich die unbewußten Tendenzen in Gegensatz zu den übrigen seelischen 
und erzeugen Gebilde, w T ie sie von der Psychoanalyse weitgehend studiert 
worden sind bei Psychosen, Neurosen, Normalen, in Wissenschaft, Kunst, 
Religion, sozialem Leben, Recht usw. Es erübrigt, darauf näher einzugehen. 
Der Analytiker findet alle meine angeführten Identifikationsformen vom 
Unbewußten, d. h. vom Verdrängten ausgehend, wieder, und wir stellen 
diese als „neurotische“, „der eieren de“ oder „affektive“ den anderen, „sach¬ 
lichen“ gegenüber. 

Die Polarität der Ganzheitsidentifikation 

Mit der absteigenden Lebenslinie des Menschen wird die Regressiv¬ 
identifikation stärker als die Progressividentifikation, und zuletzt erfolgt der 
Tod, Hier noch ein Wort über die universale Bedeutung der beiden Identi¬ 
fikationsformen. Wir sehen in der regressiven das Bestreben, den differen¬ 
zierten Teil dem Ganzen wieder zurückzugeben und in der progressiven 
die Tendenz, dem Teil das Andere anzugliedern, ihn zum Ganzen aus¬ 
wach sen zu lassen. Sie gleichen zwei Punkten eines Kreises, die neben¬ 
einander liegen und sich in entgegengesetzter Richtung auf der Peripherie 
bewegen und die auf der anderen Seite Zusammenkommen. Die Regressiv¬ 
tendenz will zur ewigen Ruhe zurück und die Progressiv tendenz zum 
ewigen Leben vorwärts. Beide erstreben die Aufhebung des Differenziert¬ 
seins, also des Lebens. Das Leben ist eingespannt in den polaren 
Gegensatz der beiden Tendenzen. Sie erzeugen den Lebensrhythmus und 
schaffen die Lebensformen, indem sie sich in den Identifikationen durch- 
dringen. 






262 


Schneider: Uber Identifikation 


Schluß 

Als Ergebnis unserer Untersuchung fassen wir zusammen: Die Identi¬ 
fikation bedeutet eine Veränderung (Handlung) der Person, die einer Diffe¬ 
renzierung im Lebensablauf folgt, um der Integration als Mittel zu dienen. 
Ihre Ursache liegt in der Differenziertheit der Person, letzten Endes des 
Universums, ihre Form wird bestimmt durch die jeweilige Integration, 
letzten Endes durch die Integration ins Ganze (Universum). Da jedes 
psychische Geschehen entsprechend dem Wesen des Seelischen ganzheitlich 
bestimmt (determiniert, verursacht) wird, war es nötig, ein ganzheilskausales 
Begriffssystem zu gewinnen, um das Besondere einzubauen und es aus der 
Ordnung des Ganzen verstehen zu können. Das strebt eine begründende 
Psychologie an. So habe ich mir auch ein Schema erstellt, um die reichen 
Tatsachen, die uns die psychoanalytische Forschung geliefert hat, einordnen 
zu können. Das Bekenntnis zu diesen empirischen Tatsachen möchte ich 
als Geburtstagsgruß für Freud erneuern. 









Gefühlstheoretisches 
auf psychoanalytischer Grundlage 

Von 

F. P. Müller 

Leiden 

Die Psychoanalyse stellt den Gefühlstheoretiker vor eine schwierige 
Frage, die nach dem Verhältnis zwischen Trieb und Gefühl. Sie 
hat uns gelehrt, das Seelenleben auf Triebe zurückzuführen, hat uns aber 
auch gezeigt, daß es unter der Herrschaft des Lustprinzips steht. Man 
strebt nach etwas, weil es einem Trieb entspricht, und man strebt nach 
Lust; wenn jedoch die Befriedigung eines Triebes von Lust begleitet ist, 
darf man noch nicht sagen, man erstrebe diese Befriedigung, weil sie 
lustvoll ist. Sonst hätte man, wenn die Befriedigung eines Triebes un¬ 
möglich wäre, sich einfach nach einer anderen, wohl erreichbaren Lust- 
quelle umzusehen. Wer Hunger hätte, aber kein Essen bekommen könnte, 
wäre vielleicht wohl im Stande, einen sexuellen Genuß zu erlangen oder 
schöne Musik zu machen. Vielleicht meint man, hier sei Lust unmöglich, 
weil das Unbefriedigtsein — der Hunger bleibt ja ungestillt zu unlust- 
voll sei. Wir kommen auf diesen Einwurf noch zurück; wichtiger ist jedoch, 
daß eine Handlung das eine Mal lustvoll ist, das andere hfal nicht, daß 
die Lust vom Zustande des Organismus abhängt, davon namentlich, ob 
aus diesem Zustande ein Drang zur Handlung hervorgeht oder nicht, mit 
anderen Worten: ob ein Trieb erwacht ist oder nicht. Daraus könnte man 
schließen, daß allerdings das Lustprinzip das psychische Geschehen be¬ 
herrscht, die Triebe jedoch die Lustmöglichkeiten jedesmal beschränken. 

Tatsächlich gibt es zu allererst einen Streit zwischen Trieben. So lehrt es 
auch die Traumtheorie: der Traum ist ein Kompromiß zwischen dem Be¬ 
dürfnis 2U schlafen und anderen Bedürfnissen, er ist also das Ergebnis 











264 


F. P. Müller 


eines Kampfes zwischen Trieben. Der augenblicklich mächtigste Trieb be¬ 
herrscht jedesmal unsere Wahl, z. B. ob wir essen gehen oder spazieren, 
und erst nachher bestimmt dann noch vielleicht die Lustbegierde, was 
wir essen werden oder wohin wir spazieren werden. Im letzten Falle 
handelt es sich aber nicht nur um Lust aus Befriedigung, sondern über¬ 
dies um Lust an angenehmen Empfindungen. 

Das bewußte Suchen nach angenehmen Empfindungen ist etwas, das 
neben dem Getriebenwerden durch bestimmte Neigungen, was wohl 
großenteils unbewußt bleibt, beim Kulturmenschen eine bedeutende Rolle 
spielt. Je mehr er durch seinen Zivilisation BZUStand in der Befriedigung 
seiner Triebe beschränkt wird, um so mehr anscheinend sucht er einen 
Ersatz darin, daß er sich der Einwirkung angenehmer Reize aussetzt. Die 
Tiere befriedigen ihre Triebe oder sie gehen im Kampfe um die Be¬ 
friedigung zugrunde; sie kennen wohl weniger jenen Ersatz als ihren 
Gegensatz: das Meiden unangenehmer Empfindungen. Auch der Mensel 1 
sucht schon dem Schmerz zu entgehen, wenn er noch lernen muß, die Lust 
an sich zu suchen; aus Furcht vor Schmerz bezwingt er schon früh seine 
Neigungen. 

Die Psychoanalyse hat jedoch gelehrt, daß man die Bedeutung dieser 
Furcht für die Erziehung dennoch überschätzt hat; nicht nur hat sie ge¬ 
zeigt, wie sehr man es lieben kann, Schmerz zu empfinden, sondern sie 
hat auch klargestellt, daß es tatsächlich ein Trieb ist, welcher die Er¬ 
ziehung ermöglicht. Ohne gewisse Formen und Mechanismen des Ge¬ 
schlechtstriebes, wie Übertragung, Identifikation, Ich-Ideal und Narzißnius, 
mißlänge wohl jede Erziehung; es käme jedenfalls nicht weiter als zu 
einer gewissen Zähmung. 

Wir stoßen also auf Triebe, wo man vorher bloß ein Lustprinzip fand, 
und wir sehen, wie das Lustprinzip immer wieder von Trieben abhängig 
ist, Die Frage bleibt aber noch zu beantworten, in welchem Maße um¬ 
gekehrt die Triebe vom Lustprinzip abhängig sind. Ein erster Versuch, 
einen Trieb zu befriedigen, kann nicht aus einem Streben nach Lust 
entsprießen, denn es mangelt noch an der Erfahrung, daß die Befriedigung 
lustvoll ist. Wenn die ersten Versuche mißlingen und nur Unlust herbei¬ 
führen, hören dennoch die Versuche nicht auf und dann wird es erst recht 
klar, wie wenig der Trieb sich durch das Lustslreben beeinflussen läßt. 
Sonst hinge es auch großenteils vom Zufall ah, ob ein Trieb wirksam 
bliebe oder nicht; hätte ein erster Versuch Lust zur Folge, so käme es zu 
weiteren Versuchen, wäre jedoch das Gegenteil der Fall, so würden die 









Gefühls theoretisches auf psychoanalytischer Grundlage 265 


Versuche eingestellt* Tatsächlich werden die Versuche nur hie und da etwas 
modifiziert, um der Unlust soviel als möglich zu entgehen* 

Der Einwurf* das Unbefriedigtsein zwinge zu neuen Versuchen, es käme 
darauf an, eine steigende Unlust los zu werden, kann die Behauptung der 
relativen Unabhängigkeit der Triebe vom Lustprinzip nicht entkräften; 
vielmehr geht aus den Erscheinungen, welche das Unbefriedigtsein eines 
Triebes verraten, hervor, daß hier etwas zu geschehen hat, was der augen¬ 
blickliche Zustand des psychophysischen Organismus gebietet, ein Über¬ 
gang in einen bestimmten anderen Zustand* Nicht vom Lustprinzip, sondern 
von gewissen Zuständen des Organismus hängen die Triebe ab. Die Wirk¬ 
samkeit der Triebe liegt insofern „jenseits des Lustprinzips “ und man 
könnte vielleicht von einem „Triebprinzip“ reden, welches besagt, daß man 
ursprünglich seinen Trieben blindlings gehorcht; das Realitätsprinzip be¬ 
deutete dann, daß man seine Triebe bezähmte, um später sie desto besser 
befriedigen zu können. 

Die Unabhängigkeit vieler Vorgänge im Seelenleben vom Lustprinzip 
fuhrt Freud 1 auf den allgemeinen Charakter der Triebe zurück, daß sie 
einen früheren Zustand wiederherstellen wollen. Er kommt zu dem Er¬ 
gebnis, daß das Lust streben sich schon zu Anfang des seelischen Lebens 
äußert und sogar weit intensiver als später; er sagt jedoch vom Lustprinzip, 
daß es eine Tendenz ist, die im Dienste einer Funktion steht* der es zu¬ 
fallt, den seelischen Apparat überhaupt erregungslos zu machen, oder den 
Betrag der Erregung in ihm konstant oder möglichst niedrig zu erhalten* 
Auf anderen Wegen ist Freud also tatsächlich auch zu dem Ergebnis ge¬ 
kommen, daß das Lustprinzip vielmehr von den Trieben abhängig ist, als 
die Triebe vom Lustprinzip. Freud hat weiter auf die Empfindung einer 
eigentümlichen Spannung gewiesen, die eine lustvolle oder unlustvolle sein 
kann. Nicht nur die Befriedigung ist also von Lust begleitet, sondern auch 
die Spannung, welche im Zustande des Unbefriedigtsein sich entwickelt. 
Damit stehen wir nun vor der Frage, ob das Lustprinzip nicht ebenso in 
Dienst der Erhaltung einer Spannung treten kann, wie in den Dienst der 
Befriedigung. Und ich meine, daß es tatsächlich so ist. 

Hattingberg 2 nennt die Triebe Richtungen, worin von einem typischen 
Anfangszustand des Organismus (Bedürfnis) ein Ablauf zu einem typischen 
Endzustand vor sich geht. Nun ist während der Realisation eines Triebes, 
des Überganges von einem Zustand in einen anderen, der Organismus 

1) Jenseits des Lustpriuzips (Ges. Schriften, Bd. VI, S. 255!,}. 

2) Zeitschrift für die gesamte Neurologie und Psychiatrie, yy. Bd., S. 605. 











266 


F. P. Müller 


tätig, um beim Eintreten der Befriedigung in einen Ruhezustand über¬ 
zugehen. Es ist jedoch nur scheinbar ein Ruhezustand, denn die Befrie¬ 
digung wird gefolgt von neuer Tätigkeit, nur anderer Art, die nach kürzerer 
oder längerer Zeit das beseitigte Bedürfnis wiederherstellt. Instabilität ist 
nun einmal ein Kennzeichen des Lebens und so wechseln die Zustände 
von Unbefriedigtsein und Befriedigung immer ab. Vielleicht darf man an¬ 
nehmen, daß immer die Gegensätze miteinander abwechseln, so daß z. B. 
die Befriedigung des Sexualtriebes von einem Unbefriedigtsein des Ich-Triebes 
gefolgt wird und die Befriedigung des Schlafbedürfnisses von einem Tätig¬ 
keitsbedürfnis. Aus dem Kreislauf, worin sich die Vorgänge im Organismus 
bewegen, geht möglicherweise die Notwendigkeit hervor, daß die 1 riebe 
immer in Gegensätzen auftreten. 

Die Lust, welche die Befriedigung begleitet, kann sehr intensiv sein, 
aber sie dauert manchmal nur ganz kurz, und bisweilen tritt ein mehr 
oder weniger starkes Unlustgefühl schon bald an ihre Stelle („omne animal 
post coitum tristef 1 ). Nun wird das Fortschreilen nach der Befriedigung 
auch von Lustgefühlen begleitet und, was noch bedeutsamer ist, das Emp¬ 
finden von Hindernissen bei der Triebrealisation verstärkt manchmal diese 
Gefühle statt sie zu verringern oder Unlustgefühle an ihre Stelle hervor¬ 
zurufen. Man findet nicht nur eine „Vorlust“, sondern auch die Spannung, 
der Kampf und Derartiges sind lustvoll. Das braucht uns nicht zu befremden, 
denn die Lust erscheint vielfach gebunden an intensive Lebensprozesse. 

Die hier genannten Lustquellen müssen viel bedeutsamer werden, sobald 
das Seelenleben unter den Einfluß des Realitätsprinzips kommt. Dann wird 
manche Befriedigung aufgeschoben und das Individuum hat sich zu fügen 
in Zustände von Unbefriedigtsein. Viel mehr als zuvor lernt es, daß es aus 
diesen Zuständen Lust zu schöpfen vermag, wenn es nur unterläßt, sich 
zuviel aufzuregen. Während beim Tier und auch noch beim Säugling das 
Unbefriedigtsein schließlich auf Unlust hinausläuft, muß das beim Kultur¬ 
menschen nicht mehr unbedingt eintreten. Gleichwie er für die Lust aus 
Befriedigung einen Ersatz findet in ein Sichübergeben an die Einwirkung 
angenehmer Reize, so findet er auch einen Ersatz in angenehmen Spannungs¬ 
zuständen u. dgl. Solches gilt besonders vom sexuellen Gebiet, wo wohl 
am meisten die Befriedigung ausbleiben muß (Ödipus-Komplex 1). Die Be 
friedigung tritt somit als Lustquelle in den Hintergrund und statt ihrer 
verursacht der sexuelle Aufregungszustand, in welchem das Individuum 
verharrt, angenehme Gefühle, bisweilen jedoch, namentlich wenn er zu 
stark wird, auch unangenehme, speziell Angstgefühle. 











Gefühlstheoretisches auf psychoanalytischer Grundlage 


267 


Es gibt noch besondere Mechanismen, welche diese Änderung im Seelen* 
leben begünstigen. Beim Lutschen, wobei das Verschlucken von Nahrung 
ausbleibt, beim Halten der Kotsäule statt zu defäzieren, gleichwie im Auf¬ 
halten von Urin und in der Erektion ohne Ejakulation, entdeckt der 
Mensch Mittel, sich eine Lust von längerer Dauer zu verschaffen. All¬ 
mählich kann er nun lernen, überhaupt das Eintreten der Endzustände 
der Triebrealisationen zu verzögern. Es gibt Menschen, welche im allgemeinen 
die Befriedigung fürchten, weil damit die Lust ihr Ende nimmt. Wenn 
sie sich z. B. auch manchmal verlieben, so weichen sie doch immer der 
endgültigen Eroberung des geliebten Objektes aus* Die erzählende Literatur 
liefert auch viele treffende Illustrationen dafür, wie man sich den Besitz 
einer fortwährenden Lustquelle sichern kann, indem die Wunscherfüllung 
immer wieder aufgeschoben wird. Die Romane demonstrieren, was die 
Phantasie vermag. In der Wirklichkeit läßt sich das Eintreten der Befrie¬ 
digung nicht immer hemmen; es gibt dort zu viele Faktoren, die man nicht 
beherrscht- In der Introversion sind die Verhältnisse anders. 

Abraham 1 meint, daß die Introversion im Sinne Jungs großenteils 
mit dem infantilen Festhalten an der Retentionslust zusammenfällt. Das 
klingt sehr plausibel. Mittels der Phantasie wird man erst recht in den 
Stand gesetzt, den Ablauf der Lustform zu protrahieren. Die Wirklichkeit 
zwingt manchmal zu einem Entschluß; in der Phantasie kann man das 
entscheidende Moment immer ausbleiben lassen. Es gibt Leute, welche 
gewöhnlich von Ereignissen träumen, die kein Ende genommen haben; sie 
erzählen, gerade vor dem erwarteten Abschluß aufgewacht zu sein. 

Wir müssen jetzt die merkwürdige Folgerung ziehen, daß man nicht 
nur aus Unbefriedigisein in die Phantasie flüchtet, also um die 
ausgebliebene Befriedigung doch noch zu finden, sondern auch umgekehrt, 
damit man das Unbefriedigt sein behält. Für den einen hat also die 
Introversion eine ganz andere Bedeutung als für den anderen. Besonders 
die Zwangsneurotiker zeigen uns, wie die Phantasie sich dazu eignet, einen 
fortwährenden Spannungszustand zu erhalten, und, insofern dieser Spannungs¬ 
zustand als Lustquelle gelten darf, finden wir auch hier, daß das Lust¬ 
prinzip in den Dienst der Erhaltung einer Spannung getreten ist. 


1) Psychoanalytische Studien zur Charakterbildung (Internationale Psychoanalytische 
Bibliothek Nr. XVI, 1925), 5 . 19 und 20, Fußnote. 








Über Tanzen, Schlagen, Küssen usw, 

(Der Anteil des Zerstörungsbedürfnisses an einigen Handlungen) 

Von 

A. Stärcke 

den Dolder, Holland 

Die Psychoanalyse ist bekanntlich zu dem Ergebnis gelangt, daß unsere 
Bewegungen und Handlungen in erster Linie nicht den Zwecken dienen, 
die wir ihnen zuschreiben, sondern primär nur die Entladung einer un¬ 
lustvollen Spannung bezwecken* 

Diese Spannung wird durch Reize vermehrt; die Bewegung ist die 
Reaktion auf einen Reiz und zielt darauf hin, den ursprünglichen Zustand 
wieder herzustellen. 

Der Vorgang wäre auch so zu beschreiben: ein Reiz, uns von einem 
Sinnesorgane übermittelt, stört die ursprüngliche solipsistische Ruhe; er 
verursacht die Entfremdung von Teilen des Ichs, die dann durch einen 
eigentümlichen Vorgang, den der Projektion, eine Umwelt zusammen¬ 
setzen, Zugleich verspüren wir eine Tendenz, von dieser Umwelt wieder 
Besitz zu ergreifen, das Ich zu rekonstruieren (Ich-Trieb). 

In dem Vorgänge — physiologisch der Reflex — ist der sensorische 
Teil, das An fühlen und in höheren Entwicklungsstufen das Wahrnehmen 
einer Umwelt, gar nicht von dem motorischen 1 eile tu trennen, und wir 
dürfen ruhig voraussetzen, daß das An fühlen oder Wahr nehmen der Um¬ 
welt die innerliche Empfindung der kleinsten Bewegungen („Phantasie ) ist, 
welche schon den Zweck haben, diese Umwelt wieder aufzuheben und ins 
Ich zurückzuführen. Nur verschwindend wird die Umwelt uns bewußt. 

Wir haben somit in der Entwicklung der sensorischen Funktion dieselbe 
Stufenreihe anzunehmen wie bei der Entwicklung der motorischen Punktion: 
I) eine oder mehrere tonische Stufen, II) Tonus mit Unterbrechung; 







Über Tanzen, Schlagen, Küssen usw. 269 


a) epileptische, b) rhythmische, c) reaktive, d) aufgeschobene Wiederholung. 
In der Tat liefert direkte Beobachtung die Beweise dafür, daß Empfindungen, 
die für unser Bewußtsein einmalig zu sein scheinen, in Wirklichkeit rhyth¬ 
misch oder epileptisch vor sich gehen, das heißt die Form einer einfachen 
oder einer gedämpften Sinusoide haben (z. B. die ta.ktilen Nachbilder). 
Auch die mittels Registrierung gewonnenen Bilder eines Sehnenreflexes 
zeigen die Form einer gedämpften Sinusoide. Der Sehnenreflex ist nicht 
eine einfache Muskelzuckung, sondern ein lokal epileptoider Vorgang. 
Über die Art der Empfindungen, welche diese Reflexe der niederen Stufen 
begleiten, sind wir nur bruchstückweise orientiert; aus der Symphonie von 
Empfindungen der höheren Stufen sind die Reste von den früheren nur 
mühsam herauszuhören. 

Die Umwelt, welche man sich mittels dieser primitiven Empfindungen 
schafft, und welcher alle Sinnesqualitäten noch fehlen, ist für uns nicht 
vorstellbar. Man hat dafür den Namen: „Gott“. 

Jedenfalls ist aber auf den niedrigsten Stufen der Prozeß der Empfindung- 
Handlung zu einem Vorgänge reduziert, welcher physiologisch eine tonische 
oder epileptische Reflexbewegung, psychologisch eine tonische (vegetative) 
oder epileptische Halluzination einer Umwelt ist. Dieser genügt schon 
an sich, um von der Umwelt Besitz zu ergreifen, das heißt, sie zu zerstören, 
denn diese beiden Begriffe sind identisch. 

In dem Arbeitspläne, nach welchem die Umwelt vernichtet wird, — unser 
Lebenszweck — vollzieht sich eine Evolution, welche durch zunehmendes 
Aufschieben gekennzeichnet wird. Die direkt erlösende Gott-Empfindung 
muß immer größere Reste hinterlassen, welche zusammen die „Realität“ 
darstellen, die schließlich, bei immer zunehmender Hemmung, zur mächtigen 
Dauerempfindung anschwillt, die wir als Wahrnehmungswelt kennen. Die 
„Realität“ entspricht der Empfindung-Bewegung auf den Stufen der reaktiven 
und aufgeschobenen Wiederholung. Um von dieser „realen“ Umwelt wieder 
Besitz zu ergreifen, sind die gröberen Bewegungen da; 1 es bleibt aber Spannung 
vorhanden. Die „Handlung“ erlöst nie ganz. Nie ganz aufh*rende Spannung, 
nie vollkommene Befriedigung charakterisiert die höheren Stufen. Die Rest¬ 
verarbeitung vollzieht sich dann in einem Rhythmus sekundärer Ordnung 
als religiöses, sportliches oder sonstig magisches Zeremoniell und — Empfinden. 

Die Tötung oder Einverleibung des Gottes ist darin oft auffallend. 

i) Es ist eine Schattenseite des Realitätsprimips, daß unter seiner Herrschaft auch 
die Zersörung der Umwelt immer reeller wird, während sie unter dem Lust- 
prinzip fast nur magisch vor sich geht. 









270 


A. Stärcke 


Kommt man, die Schicksale der Libido verfolgend, zum Ergebnis, das 
religiöse Zeremoniell sei eine Abspiegelung der wichtigsten Ereignisse der 
Urfamilie, so kommt man, dem Schicksal des Ich-Triebes (Hemmung) 
folgend, auf andere Weise zur Erklärung dieses Mordes, Da „Gott“ die 
Ur-Um weit ist, muß Er zur Erlösung getötet werden, denn das Ich ertragt 
nichts außer sich. 

Eine der ersten gröberen Tätigkeiten (also nach dem Atmen, Schreien, 
Zappeln, Saugen usw.), welche die Umwelt vernichten sollen, ist der Tanz* 
Beim Säugling von fünf Monaten kann man einen, z, 11. auf zwitscherndes 
Pfeifen hin erfolgenden Tanz beobachten* Das Kind lacht sich Gruben in die 
Wangen, bewegt den Kopf energisch ruckweise und rhythmisch drehend 
nach links und rechts und hebt den Bauch ein oder mehrere Male auf. 
Dieser magische Bauchtanz entspricht mit einem der Geologie entnommenen 
Ausdrucke, der lumbalen Facies von der rhythmischen Stufe der sensu- 
motorischen Besitzergreifung, Deren brachiale Facies ist das Schlagen, 
die digitale Facies das Kratzen. 

Zu einer mehr gehemmten Stufe erhoben, wird aus dem rhythmischen 
Kratzen das einmalige Greifen. Ganz abgesehen von dem sekundären 
„realen . Erfolge des Greifens, ist das Greifen in seinem Kerne eine ma¬ 
gische Besitzergreifung, vom Kratzen herstammend, zu welcher Form es 
bei der Frau bisweilen wieder herabsinkt. 

Der lumbale Tanz, der die Zurückeroberung der Umwelt (des „Gottes**) 
bezweckte, wird in seinem einmaligen Beste zur Verbeugung, der als 
magisches Zeremoniell bei Begrüßung eines Fremden auch seine magische 
Vernichtung als „Fremdes**, seine Einverleibung, Zurückführung ins Ich 
bezweckt. 

Das Schlagen tritt als magische Besitzergreifung bei gewissen sadisti¬ 
schen Handlungen und bei der Bestrafung derjenigen, die durch unerlaubte 
Handlungen wieder zu „Fremden“ geworden sind, rein hervor, Sein Zweck 
ist nicht in erster Linie das Zufügen von Schmerz, sondern die Erlösung 
des Schlagenden dadurch, daß er das (den) Geschlogene(n) wieder in sein 
Ich zurückführt. 

Seine Reste sind in den späteren Stufen vertreten durch die magischen 
Zeremonielle: 

Winken, Schwenken und Zeigen. Dem letzteren kann auch die 
bestrafende Tendenz des Schlagens noch etwas anhaften. 

Die glosso-labiale Facies der rhythmischen Besitzergreifung, das Saugen, 
wird auf der Stufe der reaktiven Wiederholung zum Kusse* 









Über Tanzen, Schlagen, Küssen usw. 


271 


Bei der Paarung gestaltet sich der Vorgang dadurch komplizierter, daß 
das männliche Organ sich seinen Segmentalwillen reserviert. Infolgedessen 
wird es im Augenblick seiner nicht supra-kaudal gewollten Bewegungen 
zu etwas Ich-Fremdem, zu einem Stücke Umwelt. Die tonische Vorlust ist 
die kompensierende Wiederbesitzergreifung. Es scheint aber auch die Tendenz 
zu bestehen, sich dieses Stück Umwelt reell zu zerstören. Die seltsame 
Neigung zur Selbstbestrafung durch Kastration, welche wir so oft als Hinter¬ 
grund pathologischer Neigungen und Handlungen annehmen müssen, findet 
ihre Quelle wenigstens zum Teile in der dem Ieh-Triebe zuzuschreibenden 
Tendenz, keine Sinnesreize fühlen zu wollen, welche sich nicht aufheben 
lassen. Als ihre Ursache ist eine gestörte Vorlust anzunehmen. Längs 
diesem Wege fällt auch etwas Licht auf eine andere befremdende Trieb¬ 
handlung, den Selbstmord. Jeder Selbstmörder ist wohl in außerordent¬ 
lichem Maße Narzißt. Der Narzißmus aber kennzeichnet sich dadurch, daß 
nicht nur das Genitale, sondern der ganze Körper zum Objekte, zur Um¬ 
welt, werden kann. Weniger genau sagt man, es werde bei der Frau der 
ganze Körper zum Genitale; das ist aber keine Eigenschaft ihrer Weiblich¬ 
keit, sondern ihres Narzißmus, und trifft für den männlichen Narzißten ebenso 
gut zu. Der Selbstmörder schreitet zur realen Zerstörung seines Körpers, 
als Akt der Besitzergreifung, sobald ihm dessen magische Zurückeroberung 
nicht mehr gelingt. (Magische Bewegungen dieser Natur und der rhythmischen 
Stufe sind z. B. die bekannten „ An gst “ be w egu ngen: Kratzen, Sichgreifen, 
i. e. Händeringen, Haarraufen, Aufundabgehen, Stöhnen, dann das Sich¬ 
greifen bei der Gebetsstellung.) 

In der Verliebtheit regrediert die Umwelt zu den ersten Stufen, das 
Geliebte schluckt den Rest der Umwelt und einen Teil der Ichs auf, wird 
zu „Vater“ oder „Mutter“, schließlich zu „Gott“ herabgedrückt — wie 
wir entwicklungsgeschichtlich sagen müssen. 

Die beiden Wörtchen schließen 
Die ganze Welt mir ein. 

Dieser Gott wird dann mittels der Paarung — kaudale Sensu-Motilität der 
epileptischen, supra-kaudale der rhythmischen Stufe — zerstört. Zerstört, denn 
er ist im Ich aufgenommen worden, das Ich ist bereichert, die Umwelt verarmt. 

Darum schläft man danach: es besteht keine Umwelt mehr. 

Magische Bewegungen können einander vertreten (Symbolik). Ich möchte 
nun zwei Gesetze der Symbolik formulieren — von der Seite des Ich- 
Triebes gesehen — zu deren Nachprüfung ich die Kollegen auffordere. 






272 Stärcke: Über Tanzen, Schlagen, Küssen usw. 

1 ) Magische Bewegungen desselben Ko r per Segmentes können einander 
vertreten* 

2 ) Magische Bewegungen derselben Entwicklungsstufe können schon 
dadurch einander Symbol werden. Zum Beispiel kann jede epileptoide Be¬ 
wegung bei ihrer Hemmung von einer anderen epileptoiden Bewegung 
vertreten werden* 

Ich fasse zusammen; 

Jede Bewegung ist in erster Linie magisch* Das bedeutet, daß sie an 
sich, von ihrem „realen“ Nutzen abgesehen, eine Befriedigung unserer 
beiden postulierten Grundtriebe, der Libido und des Jch-Triebes bezweckt. 
Die Libido kennt nur eine Befriedigung: den Tod. Die Libido-Befriedigung 
in der Aktion ist also in dem Stoff- und Energie verbrauche zu suchen, 
der durch die Aktion der Umwelt zugeführt wird: Die Ich-Triebbefriedigung 
liegt in der magischen oder realen Aufnahme der Umwelt (oder eines 
Teiles davon) in das Ich* 1 


1) Obenstehende all zu lapidare Andeutungen sind ein Weit er Spinnen von Gedanken- 
reihen aus den für die Ich-Trieblehre so grundlegenden Arbeiten von Sandor Ferenez i: 
„Introjektion und Übertragung** und „Die Entwicklungsstufen des Wirklichkeitssinnes*** 









Die Völkerpsychologie 
und die Psychologie der Völker 

Von 

Geza Röheim 

Budapest 

1 

Unter Ethnologie versteht man in Deutschland oder verstand man bis 
zum Auftreten Grabners eine Wissenschaft, die den Urformen allgemein- 
menschlicher Erscheinungen nachgeht und dabei auf die Abgrenzung 
völkisch-bedingter Züge weniger Gewicht legt. Die Fragen der Rassen¬ 
verwandtschaft hingegen bilden das eigentliche Problem der Anthropologie. 
In England verhält es sich gerade umgekehrt, „ethnology“ ist die Lehre von 
den Rassen, von der Urheimat und Wanderung der Völker und Brauche, und 
„ anthropology“ , oder genauer „social anthropology“ , vräre die Wissenschaft 
des Allgemein-Menschlichen. Mit dem deutschen Worte Völkerpsychologie 
sind wir in einer noch mißlicheren Lage. Bald soll die Völkerpsychologie 
eine Psychologie kollektiver Erscheinungen im Sinne Wundts, etwa eine 
Psychologie des Völkerlebens sein, bald aber eine Psychologie der Völker. 
Der erste Typus gehört in die Kategorie der ernsten wissenschaftlichen 
Literatur, bei dem zweiten ist dies nur teilweise der Fall. Es handelt sich 
immer um den Versuch, möglichst einschneidende Unterschiede in der 
Charakterologie der Völker festzustellen. Dabei geht es etwa nach dem 
Schema der Bakairi zu. ?? Bei den Bakairi heißt kurd ,wir\ ,wir alle', 
,unser* und gleichzeitig ,gute 4 ( t unsere Leute' Kurdpa = ,nicht wir 4 , 
,nicht unser 4 und gleichzeitig ^schlecht, geizig, ungesund*. Alles Übel 
kommt von Fremden, nicht zum wenigsten Krankheit und Tod, die von 
Zauberern draußen geschickt werden / 1 In seinem geistreichen Kongreß- 

1 ) Karl von den Steinen: Unter den Naturvölkern Zentral-Brasiliens, 1897. 2S7. 

Imago XII. 18 






274 


Gey.a Rtiheirn 


vortrag 1 hat Th, Reik zwei Typen von Psychologie unterschieden, eine 
Verdrängungspsychologie, die, vom Über-Ich ausgehend, nichts Eigentliches 
erfassen will, und eine aus dem Gestand niszwang entstehende Aufdeckungs¬ 
psychologie, Als dritte Abart wäre vielleicht die eben erwähnte völker¬ 
psychologische Literatur zu nennen. Sie ist stets damit beschäftigt, die 
Sünden anderer zu bekennen oder vielmehr das eigene \ er drängte dem 
Volksfremden zuzuschreiben. Sie ist eine Projektionspsychologie. 

Damit soll nun aber keineswegs behauptet werden, daß nicht gewisse, 
relativ wichtige Unterschiede zwischen den einzelnen Völkerindividuen 
wahrzunehmen sind. Niemand wird einen Schweden äußerlich mit einem 
Bantu verwechseln, wenn wir auch wissen, daß sie einander in den wirk¬ 
lich grundlegenden Funktionen des Körpers ganz nahe stehen. Es liegt 
kein Grund zur Annahme vor, daß die seelische Gestalt der Menschheit 
nicht dieselben Variationsbreiten aufweist, die in dem Körperbau unzwei¬ 
deutig in Erscheinung treten, 

5 

Gerade von psychoanalytischer Seite liegt nun aber eine Einwendung 
nahe. Wir haben Religionen, Sitten, Sagen durchforscht und überall die¬ 
selben Deutungen gefunden. Den Wünschen der Menschen wird von 
Schottland bis Neuseeland dieselbe Allmacht zugeschriebeji und vom Harz 
bis Hellas kehrt König Ödipus immer wieder. Aber auch die Untersuchung 
des Einzelindividuums führt überall auf dieselben Grundtatsachen, und 
doch gibt es eine Neurosenwahl, verschiedene Möglichkeiten in der Aus¬ 
prägung des Urstoflfes. Die Verschiedenheiten liegen hauptsächlich auf dem 
Gebiete der EibidoÖkonomie und sind teilweise durch Heredität, d. h. An¬ 
lage, teilweise durch die individuell verschiedenen Schicksale des Einzelnen 
begründet. Da aber die Anlage wiederum als Niederschlag der Erlebnisse 
der Ahnen zu betrachten ist, brauchen wir uns als Völkerpsychologen vor¬ 
läufig um diesen individuell so wichtigen Unterschied nicht zu kümmern. 
Wir werden einfach sagen; das Allgemein-Menschliche Hegt in der gemein¬ 
samen Urgeschichte der Menschheit, das Spezifische in den Sonderschick¬ 
salen einzelner Rassen oder Völker begründet. (Kreuth Rassencharakter— 
Niederschlag der Rassengeschichte.) 

i) „Der Ursprung der Psychologie/* (Vortrag auf dem IX. Internationalen Psycho¬ 
analytischen Kongreß, Bad Homburg, Sept. 1925). 













Die Völkerpsychologie und die Psychologie der Völker 275 


.4 

Nun ist aber bei dem Feststellen solcher Unterschiede Vorsicht geboten. 
Denn uns steht ja nicht die intensive Beobachtungsart des Analytikers zu 
Gebote. Zwar erzählen uns auch die Völker wie die einzelnen Kranken 
ihre Lebensschicksale in ihren Einrichtungen, Gewohnheiten usw., aber in 
einer Schrift, die schwer lesbar ist, weil sie nur in Bruchstücken überliefert 
wird. Auch wissen wir eigentlich nicht, inwieweit die Reisebeschreibungen 
den Tatsachen entsprechen oder diese individuell-komplexbetont fälschen, es 
wäre da eine Analyse nicht nur der Völker, sondern auch der Bericht¬ 
erstatter notwendig. Es gibt aber doch eine Möglichkeit, um einigermaßen 
wahrscheinliche Ergebnisse zu gewinnen, ln der Analyse ist das Ko-Variieren 
gewisser Charakterzüge, ihr Zusammenhang mit der Libidobesetzung ein¬ 
zelner erogenen Zonen, dann aber auch mit den Mechanismen der sekun¬ 
dären Bearbeitung nachgewiesen worden. Wenn wir solche Gruppen auf¬ 
fallender Einzelzüge nachweisen und auch ihre libidinösen Grundlagen 
wahrscheinlich machen können, so haben wir vielleicht den ersten Schritt 
zu einer differentiellen Völkerpsychologie der Zukunft getan. 

5 

Versuchen wir es wieder mit den Bakairi. Da erfahren wir, daß sich 
bei ihnen die Vorstellung von Gut und Böse in erster Reihe auf die Gast¬ 
freundschaft bezieht. „Kura“ (gut) sein, hieß es beim Empfang an Beijus 
und Püserego, den Fladen und den besten Kleistertrank aus Mandioka 
nicht fehlen lassen. 1 „Gut ist also derjenige, der zu Essen gibt, böse aber, 
wer das Essen verweigert“. Der Wichtigkeit der oralen Funktion entsprechend 
finden wir bei diesen Völkern eine lebhafte Schamreaktion der Nahrungs¬ 
aufnahme. Karl von den Steinens Beschreibung gehört zu den vielzitierten 
und bestbekannten Stellen der ethnologischen Literatur. „Als Paleko mir 
den Topf mit kleinen Fischen brachte, waren wir beide allein im Flöten¬ 
haus, er kehrte mir den Rücken zu und sprach kein Wort während der 
langen Zeit, daß ich mit den Gräten kämpfte. Ich gab Tumayaua von 
unserem Bohnengericht; er nahm die Portion und ging bis zu seinem 
Hause, wo er sich hin setzte, aß, und zwischendurch, aber ohne den Kopf 
zu wenden, herüberrufend sich auch an unserer Unterhaltung beteiligte.“ 2 

Ein Volk, dessen moralische Begriffe vorwiegend oral orientiert sind 
und das bei dem Essen eine ähnliche Schamreaktion wie wir beim Ge- 

1) Karl von den Steinen, 1 . c. 72, 

2) Karl von den Steinen, 1 . c. 69* 

18* 






276 Geza Röheim 


schlechtsverkehr empfindet, 1 darf füglich als klassisches Beispiel der Oral¬ 
erotik gelten. Mit Recht erklärt Karl von den Steinen die Sitte des Allein¬ 
essens damit, daß man sich dem neidischen 11 lick der Zuschauer entziehen 
will, da die Regel sich auf die begehrteren Speisenarten in verschärftem 
Maß bezieht. Der Neid ist uns aber aus den Untersuchungen Abrahams 
als ein hervorstechender Zug des oralen Charakters bekannt. 2 

6 

Jener idyllische Zustand des allgemeinen Altruismus, der uns so oft in 
den Reisebeschreibungen dieses oder jenes Naturvolkes begegnet, dürfte teil¬ 
weise als Reaktionsbildung auf den oralen Neid zu deuten sein. „Bei den 
Choroti und Aschluslaydörfern herrscht kein Klassenunterschied, noch gibt 
es Reiche oder Arme. Ist der Magen voll, sei ist man reich, ist der Magen 
leer, so ist man arm. Wir sind alle Brüder (vgl. auf den Neid folgende Liebe 
der Brüder als Konkurrenten um die Mutterbrust), dies ist der Grundgedanke 
im Gesellschaftsbau dieser Menschen. Sie leben in einem beinahe voll¬ 
ständigen Kommunismus. Bekommt ein Indianer Brot, so teilt er es in 
kleine Stücke, damit es für alle reicht. Ich vergesse niemals einen kleinen 
Aschluslayknaben, dem ich Zucker gab. Kr biß ein Stückchen ab und aß 
es anscheinend mit Wohlgefallen auf, dann sog er ein bißchen an dem 
Rest und nahm ihn aus dem Munde, damit die Mutter und die Geschwister 
auch kosten sollen.“ 3 In Südostaustralien wird die Jagdbeute nach festen 
Regeln in solcher Weise an alle möglichen Verwandten verteilt, daß dem 
Jäger selbst dabei nur verhältnismäßig wenig übrig bleibt. 4 

7 

Heiter, sorglos, optimistisch wie das Kind, welches die Mutterbrust ge¬ 
nossen und von derselben Quelle stets wieder Befriedigung seiner Wünsche 
erhofft, erscheinen viele Naturvölker den Augen europäischer Beobachter. 
So schreibt z. B. Hagen: 

„Als ich den Leuten dann aber in die treuherzig blickenden Augen und 
das trotz aller scheußlicher Bemalung und trotz alles barbarischen Schmuckes 
gutmütige, in freundliche Falten gelegte Gesicht sah, da war mein zweiter 


1) VgL E, Crawley; The Mystic Rose. 1902. 

2} X. Abraham: Psychoanalytische Studien zur Charakterbildung. 1925, 40. 

3) E. Nordenski old: Indianerleben. 1912. 54, 35. 

4) A. W. Howitt: Native Tribes of South East Austr&lia. 19°+» 75^- 










Die Völkerpsychologie und die Psychologie der Völker 


2?7 


ebenso intensiver Gedanke: Das sind gute Menschen,“ 1 Oder denken wir 
an die „Bakairi-Idylle“ in dem oben angeführten Werke Steinens und wir 
erhalten denselben Eindruck, 

8 

Daß dem Essen bei den Naturvölkern eine intensivere Lust und Angst¬ 
besetzung zukommt als bei uns, beweisen mannigfaltige Sitten und Vor¬ 
stellungen, Wir erwähnen nur (da andernorts schon besprochen) den Kan¬ 
nibalismus, die Phobie, von Zauberern aufgegessen zu werden, die magische 
Bedeutung des Speichels und des Atems, die Vorstellungen von der be¬ 
fruchtenden Speise usw, 2 Daß es sich aber tatsächlich im Vergleich zu den 
Kulturvölkern um einen stärker betonten Zug und nicht etwa um eine 
gleichmäßig menschliche Erscheinung handelt, beweist die Geschichte der 
Speiseverbote* Ihre Bedeutung nimmt mit dem Fortschritt der Kultur ab 
und in gleichem Maße wächst die gesellschaftliche Rolle des Geldes, d. h. 
der Kulturfortschritt hängt eng mit dem Verwandeln oraler in anale Libido- 
quantitäten zusammen* Daß Analerotik und Zwangsneurose hervorstechende 
Merkmale unserer Kultur sind, istz. B. vonStarcke energisch betont worden. 3 
Allgemein pflegt man zu sagen, daß die Konservierung der Nahrungsmittel 
und die Sorge für den kommenden Tag den Kulturmenschen von dem 
Naturmenschen unterscheiden. Das wäre aber gerade der Übergang von der 
oralen zur zweiten analen Stufe Abrahams mit den Zügen des Behalten- 
wollens und des Pessimismus* Vielleicht hängt auch die Tatsache, daß der 
Kulturmensch seine impulsiven Gefühlsausbrüche besser beherrscht 4 als der 
Naturmensch, mit dem Erstarken der Sphinkter Funktion zusammen. 

9 

Die vorausgesetzte Verwandlung oraler in anale Charakterzüge bedeutet 
eine ökonomische Veränderung, 5 zugleich aber einen Stufenunterschied; 


1) B. Hagen: Unter den Papuas, 1899. 248. 

2) Vgl. meine Arbeiten: „Das Selbst“. Imago VII. „Nack dem Tode des Urvaters“, 
Imago IX. „Heiliges Geld in Melanesien“, Internationale Zeitschrift für Psychoanalyse IX, 
und „Australian Totemism“, 2925. 

5) A. Stärcke: Psychoanalyse und Psychiatrie, 1921, 27, 28, 52* 

4) Vgl. Vierkandt: Naturvölker und Kulturvölker, 1896. Vgl, auch die Theorie 
der analen Entstehung der Kochkunst (A, Bai int: Die mexikanische Kriegshieroglyphe 
atl-tlachinolli. Imago IX. S. 425), als der Konservierung der Speise, 

5) Es bleibt einem anderen Zusammenhang Vorbehalten, auf die Ökonomischen 
Unterschiede in der Verteilung der Genital-Libido zwischen Natur- und Kulturvölkern 
einzugehen. 






278 


Geza Röheim 


das phylogenetische Vorbild eines in der Ontogenese wohlbekannten Vor¬ 
ganges. Solche Stufenunterschiede werden wohl noch iilter den psychi¬ 
schen Typus einer Völkergruppe bestimmen. Ob sie grundsätzlich von den 
historisch bedingten Abweichungen zu unterscheiden sind, möge dahin¬ 
gestellt bleiben. Wir glauben es nicht, denn die phylogenetische Evolution ist 
ja auch nur durch traumatisch oder ständig wirkende Einflüsse der Außen¬ 
welt aufgezwungen. 

Den Wurzeln unserer eigenen Rassenentwicklung stehen die Ureinwohner 
Australiens nahe. Dementsprechend finden wir auch in Zentralaustralien 
eine Kultur, deren religiöse und soziale Organisation sicli um die berühmte 
Frage dreht, woher kommen die Kinder? und diese ganz unseren infantilen 
Sexualtheorien entsprechend beantwortet, 1 2 

Wir steigen einige Stufen höher mit den Rothäuten Nordamerikas. Die 
meisten von uns waren ja Indianer in ihrer Kindheit oder trachteten 
wenigstens, der Jugendliteratur folgend, sich in die pathetisch-großspreche¬ 
rische Art eines Indianerhäuptlings einzuleben. Daß die Romane Coopers, 
Karl Mays usw, für diese Spiele verantwortlich sind, ist eine oberflächliche 
Erklärung, Warum hat sich keine ähnliche Romantik etwa um die Hotten¬ 
totten oder Ainu gesponnen? Die Antwort ist naheliegend. Weil diese 
Indianerstämme des Nord Ostens in dem Zustand, in dem sie sich zur Zeit 
der ersten Kämpfe mit den Weißen befanden, in typischer Weise die 
Pubertät des Individuums oder das heroische Zeitalter vertreten. Die heroische 
Lüge, sagt Rank, besteht darin, daß einer behauptet, die große lat allein 
vollbracht zu haben, die in der Wirklichkeit nur den vereinten Kräften 
der Bruderhorde gelingen konnte,* Jene Tat der Urzeit wird bekanntlich 
in den Pubertätsriten aller Volker in der Umkehrungsform wiederholt. Die 
Brüder, die den Vater töten wollten, werden zur Strafe von den Vätern 
(symbolisch) getötet, dann aber auch wiederbelebt, Ls handelt sich uni 
einen Ritus, um Handlungen, die in der Gruppe ausgeführt werden; die 
einzige Ausnahme von dieser Regel bilden die Indianer Nordamerikas. Wie 
der Held der Sage, geht der Jüngling eines nordamerikanischen Stammes 
allein daran, die Heldentat zu vollbringen. Auch geschieht hier keine Riick- 
wendung des Urereignisses; der Held erleidet keine Strafe, wird nicht ge- 
tötet, sondern er tötet lege artis den Vater, beziehungsweise sein Symbol, 
das Totemtier. Dieses Ereignis wird durch einen 1 raum oder eine Vision 


1) Cf. Australian Tötend sm. 1925. 

2) Freud: Massenpsychologie und Feh-Analyse. (Ges. Schriften \ I, S. 540,) 













Die Völkerpsychologie und die Psychologie der Völker 2 79 


eingeleitet und durch ihren überwiegend halluzinatorischen, der Realität 
entrückten Ablauf steht es auch der Heldensage sehr nahe. 1 

Denn vergessen wir nicht, der Jüngling und sein verklärtes Ebenbild, 
der Held, leidet und läßt andere leiden, er ist sadomasochistisch eingestellt, 
auf der prägenitalen Stufe der Sexualentwicklung. Bei den Martern, denen 
die Kriegsgefangenen der Nordamerikaner unterworfen werden, trachten die 
letzteren die Pfeile stets lächelnd zu empfangen und den Peinigern keine 
Zeichen von Schwäche zu zeigen. 2 3 * Was es aber für eine Bewandtnis mit 
dieser typischen Szene des an den Marterpfahl gebundenen und mit Pfeilen 
beschossenen Gefangenen hat, zeigt uns der Umstand, daß in Mexiko der 
Repräsentant des Gottes in der Kulthandlung, welche „Erschießen mit 
Pfeilen“ genannt wird, in der Koitusstellung der Frau an ein Gerüst ge¬ 
bunden wurde. 5 

io 

Die Geschichte der Menschheit kann auch als ein Wechselspiel zwischen 
der Verdrängung und dem Verdrängten betrachtet werden. Bei der Unter¬ 
suchung der australischen Urvölker hat sich ein weitgehendes Ko-Variieren 
gewisser Erscheinungen herausgestellt, deren Zusammenhang auf dieser 
Grundlage verständlich wird. Bei den Stämmen des Südostens finden wir 
einen Totemismus, der sich hauptsächlich in Verboten erschöpft. Das Zahn- 
ausschlagen, also eine im Vergleich zur Beschneidung verhülltere Milde¬ 
rungsform der Kastration, erscheint als Höhepunkt der Männerweiheriten, 
während bei den Zentral- und Nordstämmen die Beschneidung mit einem 
totemistischen Fruchtbarkeitskult mit Überlebsel der Brunstzeit und mit 
der Erzeugerrolle des Totemtieres als gemeinschaftlichen IchTdeals einher¬ 
geht. Ferner erwähne ich noch, daß die Religion der Stämme vom Ver¬ 
drängungstypus von dem übermächtigen Vertreter des getöteten Urvaters 
von Mungan ngaua und ähnlichen „Vätern im Himmel“ beherrscht wird, 
während bei den Zentralstämmen alle Einrichtungen auf Horden wandernder 
zauberkräftiger Ahnen, also auf die Brüderhorde zurückgeführt werden. Dies 
alles bietet ein gutes Beispiel für die Wichtigkeit der infantilen Traumata 
im Völkerleben. Bei den Stämmen des Südostens endete der Urhordenkampf 
mit dem Sieg der Väter oder eigentlich mit dem Sieg einer Generation 


Vgl. Röhe im: Das Seihst. Imago VII. 493. 

2) Handbook of American Indians. II, 146. * 

3) J. Löwenthal: Die Religion der Ostalgonkin. 1913. 198. Ed. Seler: Co mm. 

Tum Codex Borgia. I. 171—174. Ed. Seler: Gesammelte Abhandlungen zur Amerika¬ 

nischen Sprach- und Altertumskunde. II. 1904. 1073; III. 317. 







sBo Göza RcShüim 


von Söhnen, bei denen die Vergeltungsfurcht eine größere Rolle spielte 
als der Inzest wünsch. Sie schufen also die Grundlagen der Gesellschaft in 
der Vater einst eil ung mit dem Kult des Allvaters und der Verdrängung, Bei 
den Zentralstämmen siegt die Bruderhorde und von Zeit zu Zeit werden 
die beiden Grundverbote des Totemismus (Inzest und Toteniessen) feierlich 
durchbrochen. Und nun kommt das Merkwürdigste» Die ursprüngliche 
Gesellschaftsform der Verdrängungsstämme ist ein Zweiklassensystem mit 
Mutterfolge, Das heißt: wenn wir die beiden Hälften des Stammes von¬ 
einander als A und B unterscheiden und mit m die Männer, mit f die 
Frauen bezeichnen, so sind bei einer Ehe von Am mit Bf die Kinder Bmf. 
Sie gehören zur selben Heiratsklasse wie die Mutter, also darf der Sohn Bm 
keinen Geschlechtsverkehr mit der Mutter und auch nicht mit seinen 
Schwestern, die alle Bf sind, pflegen. Wohl aber wäre ein Inzest zwischen 
dem Vater Am und seinen Töchtern Bf möglich. Die matrilineare Ein¬ 
richtung der Südstämme entspricht also vollkommen unseren Erwartungen, 
sie ist vom Standpunkt der Väter leicht verständlich. Umgekehrt liegen 
die Verhältnisse im Norden. 

Wenn ich nämlich richtig erschlossen habe, daß die Helratsklassen dieser 
Stämme auf einem Zweiklassensystem mit Vaterfolge beruhen, so wären 
bei einer Ehe von Am mit Bf die Kinder Amf Eine Ehe des Sohnes 
demnach sowohl mit der Mutter, als auch mit den Schwestern wäre ge* 
stattet, während der Vater hier durch die Regel der Exogamie von der 
Tochter getrennt ist. 3 Hie Urvater, hie Bruderhordel Und tatsächlich herrscht 
die Vaterfolge, dem Geist der Bruderrevolution entsprungen, noch immer 
bei den fortschrittlichen, die der Mutterfolge bei den rückständigen Rassen 
der Menschheit, 1 2 

11 

Eine andere psychologische Einteilung der Völker ist auf Grundlage ihres 
Verhaltens zur Außenwelt möglich und auch oft versucht worden. Man 
spricht etwa von intro- und extravertierten oder, psychoanalytisch ausgedrückt, 
von narzißtischen und objekt-erotischen Völkern. „Das alte, spekulative Indien 
mit den mystischen Systemen der Philosophie und der Religion, die wir 

1) Ich ergreife die Gelegenheit, um das kryptomneslische Versehen, welches ich 
mir in meinem Buch zuschulden kommen ließ, richtigzustellen. Die Bemerkungen 

Über Vater- und Mutterfolge gehen auf Freud: Totem und Tabu, 1915, Anm, 1, zu¬ 
rück, beziehen sich aber dort auf Totemverbände. Eigentlich handelt es sich hier 
aber um die Phratrie. 

a'i Vgl, Röheini; Australien Totemism. 1925. 426, 431, 432, 454. 









Die Völkerpsychologie und die Psychologie der Völker 


28: 


Brahmanismus nennen, war zweifelsohne introvertiert“, sagt Professor Selig- 
man, 1 Jedenfalls scheint das für die Heimat des Buddhismus zu stimmen, 
da ja das Endziel der buddhistischen Versenkung als Regression zum 
In trauterin leben nicht zu verkennen ist, 2 

Bei einer näheren Untersuchung der Mythenstoffe, insbesondere der 
Sage von der wilden Jagd, stellt sich aber heraus, daß diese intrauterine 
Einstellung keineswegs als primär, sondern als Regressionserscheimmg zu 
betrachten ist. 

Die Entstehung des Buddhismus hangt ja eingestandenermaßen mit einer 
Flucht vor dem ewigen Wiederholungszwang der Wiedergeburten zusammen. 
In der Wiedergeburtsphantasie erkennt Freud n eine Milderung, sozusagen ein 
Euphemismus für die Phantasie des inzestuösen Verkehrs mit der Mutter**, 3 und 
es ist auch mit Hilfe der vergleichenden Mythen Forschung nachweisbar, daß 
die indogermanische Urzeit jener ewigen Wiederholung des Kampfes um das 
Inzestobjekt noch relativ angstlos, lustvoll und bejahend gegen übers t and. 4 

Und tatsächlich laßt sich die Analogie zwischen der naiv lebensfrohen 
Weltbejahung des vedischen und des europäischen Heldenzeitalters nicht 
verkennen, 5 Beiden ist das Leben eine ewige, aber dennoch nicht ermüdende 
Jagd nach den Freuden dieser Welt, Das Gegenspiel libidinöser Strebungen 
(Hetero- und Homosexualität, genital und prägenital) hält die Spannung 
auf gleicher Höhe und ermöglicht kulturelle Ersatzbildungen, Dann setzen 
Verfallserscheinungen, die man historisch als „Mittelalter“ zu bezeichnen 
pflegt, hüben wie drüben ein. Zuerst das Zw an gsneuro tische in der Scho¬ 
lastik und Upanishadenlehre, dann in Indien die von Alexander gekenn¬ 
zeichnete weitergehende Regression von der Melancholie zur Schizophrenie, 
Indien hat ein Mittelalter von zwei Jahrtausenden hinter sich, 6 dement¬ 
sprechend hat die Flucht vor der Mutter-Natur hier tiefere Spuren hinter¬ 
lassen, während Europa den Pubertätsheroismus des Heldenzeitalters in dem 
Geist der Aufklärung und den Naturwissenschaften wiederholt, 7 

1) Seligman: Anthropology and Fsychology* Journal R, A. J, 1924, 50, Vgl, auch 
Cohen-Port heim: Asien als Erzieher, 1920. 

2) Alexander: Der biologische Sinn psychischer Vorgänge, Imago IX, 45, 

5) Freud: Aus der Geschichte einer infantilen Neurose, Ges, Schriften, Bd, VIII, 
S, 546, 

4 ) Vgl. die demnächst erscheinende Arbeit „Die wilde Jagd“. 

5) Vgl. L. v, Schroeder: Indiens Literatur und Kultur in historischer Ent¬ 
wicklung. 1887. 584. 

6) Schroeder, 1 , c, 256. 

7} Vgl, S> Radö: Die Wege der Naturforschung im Lichte der Psychoanalyse, 
Imago VIII, 401. 





2 Ö2 


G^za Röheim 


Die Verschiedenartigkeit der Entwicklung zu erklären scheint aber vor¬ 
läufig noch nicht möglich. Auch können wir zwar behaupten > daß die 
Keihenbildung mit der Kulturentwicklung, das Verneinen der Lust in der 
Reibe mit dem Verfall zusammenhängt; wir wären aber einigermaßen in 
Verlegenheit, wenn man uns fragen würde, warum dieses Volk zur Reihern 
bildung mehr neigt als das andere, und welche weiteren Faktoren noch 
hinzukommen müssen, damit aus der Reihenbildung eine Kultur in unserem 
Sinne entstehe, 

1 2 

Von der Reihenbildung ausgehend, läßt sich aber der Versuch machen, 
die Einwirkung psychischer Faktoren auf die Geschichte zu untersuchen. 
Bekanntlich hat die Psychoanalyse den Reisetrieb als Flucht vor der Mutter 
oder vor dem Vater gedeutet, 1 2 Die der Mutter entzogene Libido wird zur 
Besetzung immer neuer Gegenden verwendet, wobei dann die Inzestverdrän¬ 
gung die Besetzung immer wieder loslöst und eine räumliche Reihen bildung 
ein verhältnismäßig rasches Nacheinander der „Erd-Mütter“ entstehen läßt. 

Es scheint, daß diese Züge sich auch hei den Polynesiern, den Wikingern 
der Siidsee, nachweisen lassen* Da hätten wir die Sage von der Entstehung 
der fünften Ordnung der Wesen durch Taaroa und Hina. Hina (das Weib, 
„hat exochen , die Mondgottin“) fragt den Taaroa (den Himmelsgott), „wie 
soll der Mensch gemacht werden“. Und Taaroa antwortet: „Gehe ans Land 
und suche deinen Bruder.“ „Ich war dort und fand ihn nicht.“ „Suche 
ihn im Meer," Als sie weggegaugen war, verwandelte sich Taaroa in Tu 
(der erste Mensch). Ilina trifft ihn und sie leben zusammen als Geschwister 
und zugleich als Ehegatten, Ihr Sohn war Tai, der erste Mensch. Sie hatten 
auch eine Tochter, die sich wiederum miI dem Vater vermählte und eben* 
falls Hina hieß, Ihr Sohn war Taata (Mensch), mit dem sich nun wiederum 
Hina, also seine Großmutter, vermählte, nachdem sie sich in eine junge 
Frau verwandelt hatte. 3 

In dieser Sage finden wir also eine Wanderung zu See und Land nach 
dem Objekt des inzestuösen Begehrens, welche auch mit einer Reihen¬ 
bildung einhergeht. Denn es sind ja alle Göttinnen, die auf dem Schau¬ 
platz der Handlung erscheinen, nur Wiederholungen der Urmutter Hina 
und alle ihre männlichen Partner Wiederholungen des Urvaters iangaroa. 
Bezeichnenderweise bemerkt die Sage sowohl bei TU, wie auch bei seinem 


1) Winter stein: Zur Psychoanalyse des Rrnsens. Imago 1 , S. 489 ff« 

2) Domeny de Rienzi: Ozeanien. II. 1839. 461. 









Die Völkerpsychologie und die Psychologie der Völker 285 


Sohn Tai und dann wieder bei der nächsten Generation „dies war der 
erste Mensch“, Jene Rolle gebührt aber auch dem Tane, von dem die 
Sage berichtet, wie er, eigentlich seine Mutter Hina suchend, sich nach¬ 
einander mit der „Hina“ der Wälder, Bäche, Felsen usw. vermählt und 
mit ihnen verschiedene Wesen zeugt, 1 Es ist auch lehrreich, im Wörter¬ 
buch eine kleine Nachlese zu halten. Da erfahren wir, daß Tane eigentlich 
den Gatten bedeutet, whaka-tane — „ta becofne a man; virile \ In Samoa, 
Hawaii, Tahiti und Rarotonga bedeutet Tane den Gatten, das Männliche, 
und in Tonga bedeutet ein Hochzeitsfest feiern, 2 Er ist eben der 

Mann, der Penis, die Libido, die ewig die Mutter suchend, auf ihrem 
Wanderweg eine Reihe von Ersatzobjekten entstehen läßt* 3 Der Wander¬ 
held der Torresstraße heißt Sida* Er kommt von Neuguinea, fliegt in 
der Gestalt* eines Fregattenvogels nach Gebar und sagt dort: „Ich wünsche 
eine Frau, 4 Diese Episode wiederholt sich auf verschiedenen Inseln, überall 
bekommt er ein altes Weib und schenkt der Insel dafür Kokosnüsse und andere 
Nutzpflanzen* Zuletzt kommt er nach Murray Island, hier schenkt man ihm 
ein junges Mädchen und eine reiche Vegetation entsteht als unmittelbare Folge 
des Koitus, Sidas Wanderungsweg ist aber auch der Wanderungsweg der Ahnen 
dieser Völker oder wenigstens einer tatsächlichen Einwanderung von Neu¬ 
guinea auf diese Inseln, 4 Somit wäre der Zusammenhang zwischen Völker¬ 
wanderung und erotischer Reihenbildung einwandfrei erwiesen. Als Symptom 
der psychischen Bedingtheit des Wandertriebes werden wir demgemäß eine 
polytheistische Mythologie erwarten, deren Götter und Göttinnen recht deutlich 
als Abspaltungen eines Urtypus zu erweisen sind* 

Am Anfang der Maori-Mythologie steht die Sage von Rangi (Uranos) und 
Papa (Gaia), Sie hatten fünf Söhne und lange zauderten diese, bis sie sich 
entschließen konnten, ihre Eltern, die, wie in der griechischen Sage, in 
steter Umarmung lebten, auseinanderzureißen, beziehungsweise zu töten. 
Endlich wird die Tat von Tane, d, h* dem Penis, vollbracht* 5 Einer der 

1) Shortl an d; Maori Religion and Mythology. 1882. 22, 

2} Tragearn: Maori Polynesian Comparative Dictionary* 460* 

3) „Tane is the Fertilizer of Maori Mph . He produces trees and has a dozm namts each 
of which indicates same phase of his activity« Elsdon Best: The Maori* Memoirs of 
the Polynesian Society* Vol, V, 1924, 99* 

4) VgL A. C- Haddon; Cambridge Expedition to Torres Straits, V, 28, VI* 29. 
Über Sida in Neuguinea, W. N* Beaver: Unexplored New Guinea, 1920, 176, 502* 
Siehe auch Rßheim: Australian Totemism* 1925, 314—324, 

5) Die aufrechtstehenden (phallischen) Steine in Hawaii heißen pohahu a kam , 
Fornander: Collection of Hawaiian Antiquities and Folk Lore, Memoirs of the 
Polynesian Society. VL 547* 











284 


Geza Röheim 


Brüder heißt Tangaroa, der Gott des Meeres, 1 Denselben finden wir als 
Himmelsvater in Samoa, wo er durch seine Tochter Turi die Erde schafft. 2 3 
In Tonga scheint er zwar nur als Gott der Zimmerleute und Handwerker, 
aber seine Rolle in der Schöpfungssage, sowie der ethnologisch enge Zu¬ 
sammenhang zwischen Tonga und Samoa legen die Vermutung nahe, daß 
wir es auch hier mit einem herabgesunkenen Schöpfergott zu tun haben, 5 
In Hawaii und auf den Marquesasinseln ist er der Böse, der Führer des 
Aufstandes gegen die göttliche Weltordnung, der Herr des Westens und der 
Unterwelt, der Tod, 4 Hier erscheint er auch als Genosse Taues, beide in 
der Gestalt von Jünglingen und in der Rolle von Fruchtbarkeitsgöttern, 5 
Die Ansätze zu einer Reihenbildung liegen demnach schon in den Gegen¬ 
satzpaaren Gut und Böse oder Vater und Sohn, die jeweilig verschieden 
kombiniert werden können. Wenn er dann in Mangaia als Erstgeborener 
des Urelternpaares, 6 in Melanesien als eine Brüderschar erscheint, 7 in Neu¬ 
seeland die Urtat in nahe anthropomorpher Form wiederholt und dann auch 
erleidet, 8 9 überall aber als Gott der Meere ® und der Schiffe, d. h. der 
Wanderungen der Urpolynesier auftritt, so liegt es nahe, zwischen Reihen¬ 
bildung im Polytheismus, Wanderung und dem Ausgang des Urhorden- 
kampfes einen Zusammenhang anzunehmen. Die Analyse der polytheischen 
Mythologie würde nämlich zweifelsohne das Resultat ergeben, daß alle 
Götter sowie alle Göttinnen durch fortgesetzte Abspaltung je einer, bezie¬ 
hungsweise je zweier Urgestalten entstanden sind, je nachdem wir Vater- 
Sohn, Mutter-Tochter 10 als Anfang der Reihe ansetzen. Eine solche durch 
Spaltung entstandene Reihenbildung läßt sich auch in der Paranoia beob- 


1) G, Grey; Polynesian Mythology. VI, 547, 

2) G. Turner: Samoa a hundred years ago, 1884. 7, Stair: Old Samoa, 1897. 212, 

3) Vgl. W, H, R. Rivers: The History of Melanesian Society, 1914, IX, $99; und 
auch W. Mariner: An Account of the Natives of the Tonga Islands. 1827, I. 108, 113. 

4) Tregear: Maori Polynesian Comparative Dictionary, 464, G.Thrum: Hawaii an 
Folk Tales, 1907. i8, 

5) Ad. Bastian: Heilige Sage der Polynesier. 1881. 152, 135. 

6) W, W. Gill: Myths and Songs froin the South Pacific, 1876. 10. 

7) R, Codrington: The Melanesians. 1891, 156, 

8) Vgl. History and Tradition« of Rarotonga. Journal of the Polynesian Society, 
VIII. 67. White: Ancient History of the Maori. I. aa, 23. Maui ebenfalls ein Wan der- 
beld, Sohn und Abspaltung Tangaroas, hebt mit seinem Vater Ru den Himmel empor, 
wonach er dann den Vater tötet. Wester weit: Legend« of Mn-ui. 1910. 37, 38. 

9) Selbst im m el an esi sehen Randgebiet ist Tangaroa Urheber des Meeres. Codring¬ 
ton, h e, 370, 

10) Eine Reihe von Hina*Gestalten! Siehe Percy Smith: Nive and its People. 
J. P. S. XII. 92. 









Die Völkerpsychologie und die Psychologie der Völker 285 


achten, sie ist nach psychoanalytischer Annahme durch die übergroße 
Intensität der Vater-Imago bedingt und stellt einen Versuch zur Bewältigung 
dieser Spannung dar* Anderseits bedeuten aber die vielen Verfolger, die an 
Stelle des Einen, Großen treten, wiederum die Bruderhorde* Vielleicht läßt 
sich diese funktionelle und historische Bedeutung der Reihenbildung in 
der Annahme vereinigen, der Einzelne in der LJrmasse hätte sich den 
Brüdern zugewendet, nachdem er mit dem Vater nicht fertig werden konnte, 
d, h, es waren die von der Herde abgetriebenen Männchen, die sich gegem 
seitig zum Objekt nahmen und somit zu einer Reihe von flüchtigen Libido¬ 
besetzungen gelangten* 1 Die Brüder waren aber nur unvollkommene Ersatz¬ 
bildungen der Mutter, daher die Bedeutung der Homosexualität in der 
erotischen Reihenbildung (Don Juan) und darum ist der Sohnesgott Tammuz 
mit der Mutter identisch, 2 * * In jener Periode des Abgetrieben werdens dürfte 
auch die Wiederholung der vermutlich zuerst nach der Geburt erfolgten 
Besetzung der Umgebung (Erde) mit mütterlichen Libidoquantitäten erfolgt 
sein, da die Symbolbildung erst jetzt in der Abwesenheit der begehrten 
Mutter zur wirklichen Notwendigkeit wurde* 

Bedenken wir aber, daß sowohl nach den Theorien der Ethnologen wie 
nach den Sagen selbst als Helden der Urwanderungen stets eine Gruppe 
von Männern ohne Frauen auftreten, 5 dann liegt die Annahme nahe, daß 
der Mangel an Weibern eben die Ursache der Wanderung ist. Denn nicht 
immer mag der Urhordenkampf den gleichen Ausgang genommen haben. 
Vielleicht kam es auch nach etlichen Generationen gelungener Revolutionen 
zu einer endgültigen Niederlage, zum Vertreiben der jungen Männchen von 
der Herde* Diese Horde der vertriebenen Brüder auf der Suche nach dem 
Weibe führt dann zur Entstehung der Exogamie, während ihre Flucht 
aus der Urhorde die richtige „fluchtartige Entziehung der Besetzungen^ 
und somit eine Urform der Verdrängung bilden würde. Solche Völker 
würden dann dazu neigen, die Urflucht stets wiederholend und stets nach 
neuen Ersatzobjekten der Mutter sowohl in anderen Frauen wie in der 

1) Vgl, Freud: Massenpsychologie (Ges, Schriften VI, S. 327). Über Paranoia 
und Bruderhorde vgl* Röheim: Das Völkerpsychologische in Freuds Massenpsycho¬ 
logie* Int, Zs ehr* f. PsA. VIII, 1922, 209* 

2) S, Langdonr Tantmuz and Islitar, 1914* iS* 

5) „/£ is probably a mry general charaeter of human migrations differentiating them from 
those of other animals, that women are absent or but few in numher a$ compared with the 

men W. H* R. Rivers: The History ot Melanesien Society. 1914* II* 295* VgL die 

„Transformer“, Wanderhelden der Nord wes tamerikaner, F, Boas: Indianische Sagen 
der Nordpazifischen Küste Amerikas, 1S95* 





286 Göza Rdheim 


Natur suchend, zu Wandervölkern zu werden und in ihrer Götterwelt die 
Spaltung und Reihenbildung zu wiederholen* Hie Hellas , 1 2 hie Mangaia! 
Odysseus, der Wanderer, sucht die Kalypso-Penelope, Maui* die Hine-nui- 
te-po und in Griechenland und Polynesien ist die „hohe Mythologie“ zu 
Hause, Dem wäre noch hinzu zu fügen, daß jene Niederlage der Brüder mit 
dem darauf folgenden Sieg gegen einen fremden „Urvater eine gewisse 
Tendenz seitens der Brüder einen auf Inzest (lucht beruhenden unvoll¬ 
kommenen Siegeswunsch voraussetzt, der wiederum dem nichterreichten 
Genitalprimat der genitofugalen Libidoströmung entsprechen würde. 
Die Libido genitofugal, das Volk zentrifugal* Genitofugal, d* h* auf 
dem Rückweg von dem Genitalorgan den eigenen Körper oder andere 
Objekte genitalisierend, sind aber Hysterie und Kunst * * man denke an 
griechische Kunst, aber auch an die polynesische! 

15 

Haben wir im letzten Abschnitt die Einwirkung psychischer Faktoren 
auf die Geschichte der Völker untersucht, so blieb doch unser Ausgangs¬ 
punkt die Annahme, daß diese psychischen Faktoren wiederum historisch, 
nämlich aus der Urgeschichte der Menschheit zu deuten sind. Wie sich 
Urgeschichte in Geschichte fortsetzt, wie die Urereignisse, eine ununter¬ 
brochene Kette bildend, in unsere Tage hineinreichen, soll jetzt untersucht 
werden* Die moderne Ethnologie legt großes Gewicht auf Wanderung und 
Entlehnung, auf die Einwirkungen der Nachbarvölker aufeinander* Nicht 
mit Unrecht, denn mit dem Auftreten des anderen Stammes hört die Vor¬ 
geschichte, die Kinderstube auf, und die Geschichte einer Menschengruppe 
nimmt ihren Anfang* In früheren Arbeiten versuchte ich insbesondere 
Krieg und Kopfjagd als Wiederholungsformen des Urkampfes, den Feind 
oder Stammes fremden somit als „unheimlichen “ Wiedergänger des getöteten 
Urvaters zu erweisen* Nun wollen wir überlegen, inwiefern jene Deutung 
zur Erklärung der Entlehnungen, eventuell sogar zur Erklärung der An¬ 
nahme einer fremden Kultur, eines fremden Volkscharakters zu verwerten 
ist* Es ist bekannt, daß viele kleinere afrikanische Stämme die kriegs¬ 
berühmten Massai in Tracht und Art nachahmen ( „Massaiaffen u ), um den 

1) Vgl. die Bemerkung von Freud: Imago* I, 491* Dritte Fußnote* — Über 
Wanderungssagen und Abspaltung beziehungsweise Doppelung in Griechenland vgl,: 
Eitrem: Beiträge zur griechischen Religionsgeschichte* III* Kap* 7* 1920* 

2) Zur Bedeutung des Maui, Mou — lift 9 alive 7 to live * Mauri 7 mouri = lifo tife prin- 
ciple . Elsdon Best: The Maori* Memoirs of the Polyneiian Society* V. 1924* 140. 










Die Völkerpsychologie und die Psychologie der Völker 


anderen als echte Massai zu imponieren . 1 T heophylactus Simoeat ta erzählt, 
wie ein „Var Chuni“ genannter Stamm sich so gebärdete, als ob sie die 
berühmten, mächtigen Awaren wären. Die kleinen Stämme der Umgebung 
wurden getäuscht, sie glaubten, das seien die Awaren selbst und unterwarfen 
sich den Ankömmlingen. Sie sehen nun, daß ihre List geglückt ist und 
nannten sich jetzt wirklich Awaren, obwohl sie nur Pseudoawaren waren . 2 

Wenn das fremde Volk, besonders aber ein irgendwie, sei es kriegerisch 
oder kulturell, überlegenes als Wiedergänger der toten Väter erscheint, wird 
auch der bisher psychologisch unaufgeklärte Vorgang der Übernahme fremder 
Sitten und Kulturen verständlich, „Der kleine Knabe legt ein besonderes 
Interesse für seinen Vater an den Tag, er möchte so werden und so sein 
wie er, in allen Stücken an seine Stelle treten. Sagen wir ruhig: er nimmt 
den Vater zu seinem Ideal .“ 3 4 Als Schulbeispiel des vorausgesetzten Vor¬ 
ganges seien aber die Ansichten der Australier über die weißen Eroberer 
angeführt. Die Eingeborenen der Koburg-Halbinsel sehen in jedem Fremden, 
sowohl in den Europäern wie in den Farbigen, einen ihrer auferstandenen 
Toten> Die Kamilaroi glaubten, daß sich ihre Seelen nach dem Tode in 
Weiße verwandeln . 5 Als die Weißen auf ihren Schiffen an die Westküste 
Australiens kamen, glaubten die Whajook in ihnen die Ahnen des Stammes 
zu erkennen , 6 Wenn wir demnach voraussetzen, daß ein Volk dem anderen 
als Neubelebung des Vaterideals zum Lehrmeister in der Kultur werden 
kann, gewinnt auch jene Deutung der Ethnologen einen gewissen Sinn, 
die in den Sagen von himmlischen Kulturheroen die Spuren kultureller 
Beeinflussung seitens höherstehender Völker erblicken wollen , 7 Diese Sagen¬ 
gestalten sind nämlich anderseits vom psychoanalytischen Standpunkt Ver¬ 
treter der Vater-Imago, Ahnen; sie können aber beides sein, indem der 
Vater für das Kind der eigentliche Kulturträger ist, und der Fremde nur 
als Vater zum Kulturträger werden konnte. 

So können im Laufe der Geschichte verschiedene mehr minder ich- 
fremde Idealbildungen einem Volke aufgepropft werden. Ja, auch die 


1) Buschau: Illustrierte Völkerkunde L 1922. 566*, 

2) Th eophy lac tu s, VII. 8, 

5) Freud: Massenpsychologie und Ich-Analyse. (Ges. Sehr, VI, 505)* 

4) G, Windsor Earl: O11 the Aboriginal Triebes of the Northern Coast of 
Australia- Joura. Geogr, Soc. XVI. 1896, 240. 

5) W* Ridley: Australian Languages and Traditions, Joum. of the Royal Anthr, 
Inst. VIL 242, 

6) E* M. Gurr: The Australian Race. 1886. I. 559. 

j) W. L Perry: The Chlldren of the Sun. 1923. 







288 


Geza fVöheim 


Wanderung einzelner Gebräuche kann modifizierend auf die unbewußte 
Einstellung eines Volkes einwirken. Ich denke an jene Mitteilungen über 
gewisse Formen der aktiven Therapie, die unlängst von Dr. Ferenczi in 
einer Sitzung der Ungarischen Psychoanalytischen Vereinigung gemacht 
wurden. Er hat nämlich bei gewissen Patienten eine angstfreiere Einstellung, 
eine Annäherung zur erotischen und zur sonstigen Realität erzielt, indem 
er sie aufforderte, die Vorhaut zurückzustülpen und damit die Dauer- 
invaginierung der Eichel aufzugeben. Dasselbe erreichen aber die Primitiven 
in der Männerweihe durch die Beschneidung. Wenn man nun bei diesen 
Riten nicht nur den unbewußten Sinn, sondern auch die Verbreitung be¬ 
rücksichtigt, muß man annehmen, daß die Sitte nicht überall, wo sie heute 
existiert, autochthon entstanden ist, sondern sich aus einigen Verbreitungs¬ 
zentren von Volk zu Volk fortpflanzte. F.S wäre anzunehmen, daß eine 
solche Übernahme der Beschneidung nicht ohne Wirkung auf den Gesamt¬ 
habitus eines Volkes bleiben kann, In Australien scheint sich die Sache 
nun ethnologisch so zu verhalten, daß die Stämme mit Zahnausschlagen 
als Initiationsritus von den Stämmen, welche die Beschneidung ausüben, 
abgedrängt worden sind, und jene spätere Völkerwelle betrachtet sich, wie 
auch sonst Beschnittene den Unbeschnittenen gegenüber, als die über¬ 
legene, 1 

14 

Das Ergebnis dieser Untersuchungen w r äre demnach, daß die psychischen 
Variationen des ewig Menschlichen sich auch unter den Völkerindividuen 
feststellen und psychoanalytisch deuten lassen. Diese Unterschiede sind auch 
verschieden bedingt. Vor allem haben wir die Unterschiede der Libido- 
Ökonomie der Verteilung einer als konstant aufzufassenden 1/ibidoquantität. 
Am auffallendsten tritt dies beim Übergang von den Natur- zu den Kultur^ 
Völkern zutage. Erst durch die Entstehung der psychischen Sphinkter¬ 
funktion durch den Übergang vom Oralen zum Anal Charakter wird auch 
die Entstehung unserer Kultur erklärlich. Nicht nur, daß die Sorge um 
die Zukunft die Anhäufung der Nahrung erst durch eine rückläufige Ver¬ 
schiebung der Sphinkterfunktion vom Analen auf das Orale ermöglicht 
wird. Es stellen sicli auch andere Überlegungen ein; namentlich der Zu- 
sammenhang mit der Entstehung des sozialen Genitalprimates, In einer 


1 ) „ The Bidas hok upon themstlves ns bring Superior in race to the BanapasS 1 Howitt: 
Native Tribes of South East Auitralia. 1904. Ö44. Bidas, die sowohl beschnitten wie 
subinzidiert sind, Banapas, Randvülker zwischen diesen und der älteren Schichte. 








Die Völkerpsychologie und die Psychologie der Völker 


289 


Untersuchung, deren Ergebnisse in Buchform veröffentlicht werden, glaube 
ich bewiesen zu haben, daß der Gott-König der altorientalischen Kultur den 
Phallos der Gesellschaft darstellt. Es ist anzunehmen, daß die durch die 
Sphinkterbeherrschung bedingte Spannungserhöhung wesentlich zur Errei¬ 
chung dieses Genitalprimates beigetragen haben mag (Ferenczi). 

Als Bestätigung dieser Auffassung will ich noch erwähnen, daß das 
Orale bei den Primitiven eine viel geringere Rolle im Liebesieben (Küssen, 
beinahe unbekannt), dafür aber eine entsprechend größere in sozialen Bil¬ 
dungen spielt. Mit dem Abbau des oralen und Aufbau des analen Charakters 
scheinen auch gewisse früher im Ich verarbeitete orale Libidoquantitäten 
wieder freigeworden und an ihre ursprüngliche Stelle zurückgeströmt zu 
sein. Da wir ferner wissen, daß der Coitus a tergo bei den Primitiven mehr 
verbreitet ist wie bei den Kulturvölkern, dürfen wir vielleicht auch hier 
annehmen, daß sich anallihidinose Strebungen in Züge des Anal Charakters 
verwandelt haben. Auch jene Unterschiede, die wir auf die relative Stärke 
der Verdrängung und auf die Wiederkehr des Verdrängten zurückgeführt 
haben, lassen sich als Unterschiede der Libidoökonomie auffassen, indem 
die Verdrängung durch die Entziehung der Libido von der Mutter und 
durch die Besetzung der väterlichen Leiche mit dieser Libido (Ausgangs¬ 
punkt des Über-Ich) aufrechterhalten wird, und drittens handelt es sich 
beim Oszillieren zwischen Objektliebe und Narzißmus ebenfalls um eine 
Frage der Libidoökonomie. Von einem historischen Standpunkt ausgehend 
und die ontogenetische Parallele heranziehend, kann man diese Unter¬ 
schiede der Libidoökonomie auch als Stufen unterschiede deuten, während 
diese Stufen selbst wohl als Reaktionserscheinungen auf noch unbekannte 
Traumata der Urzeit entstanden sind. In dem wechselnden Verhältnis 
des Verdrängten zur Verdrängung spiegelt sich aber auch eine nähere 
urmenschliche Vergangenheit. Wie die Schicksale der Einzelnen ihre indi¬ 
viduelle Urzeit wiederholen, so wird es auch bei den Völkerindividuen 
zugegangen sein. Wir vermuten hier gewisse Unterschiede im Ausgang des 
Urhordenkampfes. Bei einer großen Völkergruppe wird die Stabilisierung 
im Sinne der Väter zustande gekommen sein. Sie entwickelten ein Zwei¬ 
klassensystem mit Mutterfolge mit dem obersten Gebot: kein Geschlechts¬ 
verkehr zwischen Mutter und Sohn, Diese Völker sind von der Vater- 
Imago beherrscht, konservativ, rückständig geblieben. Eine zweite große 
Gruppe hat die Stabilisierung wohl etwas später vorgenommen und eine 
Gesellschaftsform hervor gebracht, die einer Legalisierung der Sohnesrevo¬ 
lution gleich kommt. Ein Zweiklassensystem mit Vaterfolge; die Söhne 


Imago XII* 


19 







2 9° 


Göza Rdheim 


dürfen die Mutter, nicht aber die Väter ihre Töchter heiraten. Trotzdem 
nun eine solche Gesellschaftsform sich nicht halten ließ und durch das Ver¬ 
schwinden des Zweiklassen Systems später in dem einfachen patrilinearen 
System die Vateridee wieder stärker hervortrat, blieb diesen Menschengruppen 
von der Urzeit die fortschrittliche, revolutionäre Einstellung, und sie bilden 
heute die führenden Mitglieder der Völkergesellschaft, Eine dritte Lösung 
der Urh Orden Situation bestand in einem Sieg der Vater, aber ohne Unter¬ 
werfung der Söhne, 

Es kam zu den Wanderungen der abgetriebenen Männchen, deren Lebens¬ 
schicksale sich in der psychischen Einstellung (Reihenbildung, Polytheismus) 
gewisser Völker spiegeln. Um aber zu erklären, warum die Lösung der Ur- 
hordensituation in dieser oder jener Weise erfolgte, müssen wir wieder zu 
der Annahme gewisser Tendenzen, zu dem genitofugalen Zug der Libido 
greifen. Hier haben wir es wahrscheinlich mit den Urtatsachen des Lebens 
zu tun. Wahrscheinlich sind sowohl Regression (Inzest) wie Exogamie als die 
durch die Spaltung hervorgerufene Flucht vor dem Urobjekt schon lange 
vorgebildet, ehe sie sich in der Urhorde eine Gesellschaftsform schaffen. 
Alle diese Unterschiede, mögen sie nun geschichtlich bedingt sein, in der 
Verteilung der Libidoquantitäten, in der topischen Lagerung der Urtendenzen 
oder in den Mechanismen der sekundären Bearbeitung liegen, können in 
Verbindung mit verschiedenen Stufen in der Ich-Entwicklung der Völker 
auftreten. Eine Idealbildung überlagert die andere, Kulturen werden nach¬ 
geahmt und den Urtendenzen entsprechend bearbeitet. Nachdem wir somit 
die Grenzen einer zukünftigen Wissenschaft angedeutet haben, merken wir 
erst recht, wie weit die Völkerpsychologie hinter der individuellen Analyse 
zurückgeblieben ist. Denn die bisherige analytische Ethnologie kann doch 
nur beanspruchen, eine Symptomanalyse zu sein, während die klinische 
Analyse schon längst zu einer Analyse der Gesamtpersönlichkeit geworden 
ist. Doch ich zweifle nicht daran, daß eine Zeit kommen wird, in der, 
wie Rivers es wünschte, die Einheit der Ethnologie hergestellt sein 
wird. 1 In dieser Synthese der verschiedenen Wissenszweige (Archäologie, 
Anthropologie, Sprachforschung, Ethnographie, Soziologie, Religionswissen¬ 
schaft) wird aber der Psychoanalyse die zentrale Rolle zukommen. Ohne 
sie fehlte „das geistige Band“ und die noch so sauber herauspräparierten 
Bestandteile ließen sich nie zu einer lebendigen Einheit zusammen fassen. 


i) W. H. R. Rivers: The Unity of Anthropology. Journal of thc Royal Anthr 
Inst. 1922. LII. 











Die Völkerpsychologie und die Psychologie der Völker 


291 


Die Zukunft wird die Fragen lösen, jedem Volk seine besondere Alters¬ 
stufe oder spezifische Neurosen form zu weisen und die Wissenschaft der 
Völkerpsychologie von der prägenitalen Haß- und Projektionsstufe auf die 
Stufe einer objektsangepaßten und objektiven Psychologie der Völker empor¬ 
heben. 











Der Familienvater 

Von 

Alice Ba 1 i n t 

Budapest 

Erwachsensein, d. h. die Erledigung des Ödipus-Komplexes und die volle 
Entwicklung des Realitätssinnes sowohl auf der Ich-Seite wie auf der libidinösen 
Seite (erotischer Realitätssinn)/ ist eine Aufgabe, an der wir unser Leben 
lang arbeiten* Im Leben der Völker spielt dieses Problem eine ebenso 
große Rolle, wie im Leben des Einzelnen* Es gibt infantile Völker genau 
sowie infantile Menschen und in den sozialen Ein richtungen der verschiedenen 
Nationen spiegeln sich alle Entwicklungsstufen und Regressionsmöglichkeitexi, 
die wir im Seelenleben des Individuums auffinden können. Innerhalb des 
infantilsten Volkes gibt es natürlich erwachsene Menschen, doch die Ein¬ 
stellung der anderen zu diesen und der Platz der ihnen zu gewiesen wird, 
sind charakteristisch für die Entwicklungsstufe, die die Kultur eines Volkes 
im allgemeinen erreicht hat. Besonders aufschlußreich ist in dieser Beziehung 
das Studium des Häuptlingswesens und der politischen Organisation, da 
unter primitiven Verhältnissen eben die Häuptlinge und führenden Männer 
die „erwachsenen“ Mitglieder des Stammes sind* Die analytische Erfahrung 
hat uns gelehrt, daß jede Autorität ein Abkömmling der elterlichen Autorität 
ist. Die Einstellung zur Autorität im allgemeinen zeigt uns daher am besten, 
auf welche Weise und bis zu welchem Grade die Erledigung des Ödipus- 
Konfliktes gelungen ist* 

Das Studium der Prärie-Indianer Nordamerikas bot mir Gelegen¬ 
heit, eine besondere Form des Häuptlings Ideals und den entsprechenden 
Losungsversuch des Ödipus-Komplexes zu analysieren* Ich nannte dieses Häupt¬ 
lingsideal den „Familien vater w , da sein Charakter dem, was wir heute 

i) Ferenczi: Versuch einer GcnitaUheoric* (Internationale Psychoanalytische 
Bibliothek, Ed. XV.) 








Der Familienvater 


295 


einen Familienvater nennen, in wesentlichen Punkten gleicht. Bei dem 
Indianerhäuptling finden wir diese Züge in einer Vergrößerung und Sche¬ 
matisierung, die uns zum besseren Verständnis der kulturhistorischen 
Bedeutung der Entwicklung der Vaterfigur, vom Urvater zum 
Familienvater, verhilft. 

Der ideale Indianerhäuptling ist ein wohlwollender, weiser und 
friedliebender Mann, der seine Stellung in erster Reihe seiner außer¬ 
ordentlichen Freigebigkeit verdankt. Diese Freigebigkeit äußert sich 
im besonderen in der Veranstaltung großer Schmausereien, bei denen groß 
und klein geladen ist. Dabei hat der Häuptling als solcher keine besonderen 
Einnahmen, noch wird er etwa bei der Verteilung der Jagdbeute irgendwie 
bevorzugt. 1 Daher kann sich nur ein reicher Mann um die Häuptlings¬ 
würde bewerben, der außerdem noch über den Beistand einer ausgedehnten 
Verwandtschaft verfügt. Und wenn eT sein Ziel erreicht hat, ist er oft der 
ärmste Mann des Stammes, da er alle seine Habe verschenkt hat. 2 

Bei der unbestreitbar älteren Form des erblichen Häuptlingstums tritt 
die tiefere Bedeutung der im Vordergrund stehenden Forderung der Frei¬ 
gebigkeit weit klarer zutage, da bei dem Wahlhäuptlingstum die Verdeckung 
der eigentlichen Motive durch Rationalisierung (auch von seiten der Forschungs¬ 
reisenden) viel leichter gelingt. Bei den Sioux-Stämmen der Dheghiha- 
Gruppe und den Iowa, war die Häuptlings würde in jenen Gentes bzw. 
Subgentes erblich, deren Totem die Hauptnahrung des Stammes bildete, 
oder die die Riten zur Vermehrung und Erhaltung dieser wichtigsten Lebens¬ 
mittel besaßen. 3 4 Die Beziehung des Häuptlingstums zu der Hauptnahrung 
des Stammes ist so fest, daß nach dem Übergang der meisten Sioux-Stämme 
vom Ackerbau zur Büffeljagd, die Büffelgentes die führende Rolle an Stelle 
der Maisgentes übernahmen, oder, daß letztere neben den alten Ackerbau¬ 
riten auch Jagdriten entwickelten und so allmählich zu Büffelgentes wurden. 4. 

In dem Schema der Stammesorganisation, in der jeder Gens eine be¬ 
stimmte Funktion zugeteilt ist, vertritt die Gens, deren Riten für die Nahrung 


1) P.Radin:TheWiimebago Ind. 37* A. Nep. Bur. Am. Ethn., p. 290. — C. Wissler: 
Soc. Life of the Blackfoot Ind. A. Pap. Am. Mus. Nat. Hist. v.VII., p. 23. — A. Sk inner: 
Pol. Org. Cults a. Cerem. of the Plains-Ojibway a. Plains-Cree. v. XI, p. 482. — 
Fletcher-La Flösche: The Omaha Tribe. 27Ü 1 A. Rep. Bur. Am. Ethn., p. 212. 

2) Wissler, a. a. O. Skinner, a. a. 0 * 

3) Fletcher-La Flesclie, a. a. O. p. 147. — Skinner: Iowa Societies A. Pap. Am. 
Mus. Nat. Hist. v. XI, p. 685—886. 

4) Skinner: Iowa. Vgl. auch die Inkecabe Gens der Omaha. — Fletcher- 
La Flesche, a. a, 0 . p. 147. 








294 


Alice Bälint 


sorgen, den Häuptling, Der Platz, den diese Gens im Lager einnimmt» ent¬ 
spricht dem Platz des Vaters im Zelt der einzelnen Familie* Und zwar 
gilt dies nicht nur im ideellen Sinne, sondern auch rein formal, da das 
Lager selbst ein großes Zelt darstcllt, in dem der Stamm wie eine Familie 
haust, 1 Jene Gens, die bei den Omaha diesen Platz einnimmt, heißt Honga , 
d* i. „Führer“, „Erster“ oder „Urahn“. Das Verhältnis dieser Gens zu 
den übrigen ist das des Vaters zu seinen Kindern, Diese Gens besitzt die 
wichtigsten Riten in Verbindung mit dem Nahrungserwerb. 12 * 

Eine ganze Reihe von Einzelheiten bestärkt noch den Eindruck von 
der engen Beziehung, die zwischen der Nahrung und dem Häuptling besteht. 
Es sei hier einiges erwähnt: Das allgemein verbreitete „Ring- und Speer*- 
spiel, dessen Koitussymbolik auch den Indianern bekannt ist, wurde in alter 
Zeit nur von den Häuptlingen gespielt und diente als ein magisches Mittel 
zur Vermehrung der Büffelherden. 5 

Die Omaha geben eine interessante Erklärung der Tracht, die im ganzen 
Präriegebiet von den Häuptlingen und Priestern getragen wurde* Diese 
Tracht bestand aus einer vollständigen Büffelhaut, welche mit den Haaren 
nach außen um den Leib gewickelt wurde* „Die I läuptlinge, die in dieses 
Fell gewickelt saßen, zeigten einige Ähnlichkeit mit einer Gruppe von Büffeln*“ 
Dieser Brauch wurde von den Indianern erklärt „...als eine Form der An¬ 
erkennung der Tatsache, daß durch den Büffel das Leben auf den Menschen 
übertragen werde, damit dieser lebe.“ 4 

Unter den Männergesellschaften dieser Stämme ist die Rüffelgesellschaft 
oft zugleich die Gesellschaft der Häuptlinge, oder doch der alten und an¬ 
gesehenen Männer, was ebenfalls auf einen Zusammenhang zwischen dem 
Nahrungstier und den Häuptlingen hin weist 

Der Häuptling ist also in erster Reihe der Ernährer* Diese Ernährer¬ 
rolle erscheint als das Wichtigste an ihm* Man konnte fast behaupten, daß 
der Häuptling in einigen besonders ausgeprägten Fällen geradezu mit der 
Nahrung i dentifiziert wird* Der Häuptling gehurt ja bei einigen Stämmen 
zu der Gens, deren Totem die Nahrung des Stammes bildet, ist selbst ein 


1) Fletcher-La Flcsche, a. n* O. p* 158, 140, J41, 

2) Fletcher-La Flasche, a. a. O* p. 155» 154* 

5) Fletcher-La FL&sche, a. a* O* p* 148* 

4) Fletcher-La Flhchc, a* a. O. p. 258. l>as „Leben 4 * bedeutet hier die 
Nahrung. 

5) Vgl, die Angaben in R. H. Lo wie: Plains Ind* Age Societies, Historical a, Com- 
parative S ummary. A* Pap* Am Mus. Nat* Hist* v. XI., pt XIII* 










Der Familienvater 295 


Maismann oder Büffelmann, für den die Nahrung, die er durch die Riten 
seiner Gens den übrigen verschafft, Tabu ist , 1 

Die für die Massenbildung so wesentliche Fiktion, daß alle Mitglieder 
der Masse vom Führer in gleicher Weise geliebt werden (Freud, Massen¬ 
psychologie) treffen wir auch in unserem Falle am Werk. Ist doch der 
Häuptling bei all diesen Stämmen der Vater, der nach der Aussage eines 
Winnebago-Indianers alle Stammesgenossen, die Alten wie die ganz Jungen, 
wie seine Kinder liebt. Auffallend ist jedoch bei den indianischen Massen¬ 
bildungen ihr demokratischer Charakter. Hier gibt es keine Tabus und 
Zeremonien, durch die der Häuptling von den übrigen Stammesmil gliedern 
abgesondert und ferngehalten wird. In der Sprache des Ödipus-Komplexes 
ausgedrückt, scheint vollkommener Friede zwischen dem Vater und der 
Sohnesschar zu herrschen. Dem Häuptling fehlt überhaupt jeder aggressive 
Zug. Er ist der allgemeine Friedensstifter des Stammes und das Zeichen 
seiner Würde, die Pfeife ist immer eine Friedenspfeife. Mit Hilfe dieser 
Pfeife vermittelt er den Frieden unter seinen Stammesgenossen . 2 Jene Gens 
der Osage, aus denen die Häuptlinge gewählt werden, tragen den Beinamen 
„1 vashtage“, d. h. Friedensstifter. Das Zelt des Häuptlings ist ein Asyl für 
alle Fliehenden, selbst für den zu opfernden Hund. Bei den Osage wurden 
die Kriegsgefangenen in der Regel von dem Tsizhuhäuptling adoptiert, 
deshalb trägt diese Gens den Beinamen „Lebensspender “. 3 

Mit Kriegsangelegenheiten hat ein Häuptling überhaupt nichts zu 
tun, nur wenn die Existenz des Stammes von außen bedroht wird, wenn 
es sich also um die Verteidigung des Heims und der Familie handelt, 
nimmt der Häuptling teil an dem Gefecht und kann eventuell selbst An¬ 
führer des Verteidigungskampfes sein . 4 

Im allgemeinen ist der Krieg bei allen Indianerstämmen eine Privat¬ 
angelegenheit der jungen Männer, die durch Kriegstaten zu Ruhm und 
Ansehen gelangen wollen. Einen Kriegshäuptling gibt es nicht, doch finden 
wir Kriegsriten und Zeremonien, deren Priester einigen Einfluß auf das 


1) Fletcher-La Flesche, a. a. O. p. 147. — Skinner: Iowa. Die Ähnlichkeit mit 
den australischen Inticliiumariten springt in die Augen. Vermutlich ist diese Form 
des indianischen Häuptlingswesens eine Fortbildung ähnlicher Zeremonien. 

2) J. O, Dorsey: Omaha Sociology. 15^ A. Nep. Bur. Am. Ethn.,p. 218. — Fl etcher- 
La Fldsche, a. a. 0 . p. 205, 206, 215, 187. 

5) La Fldsche: The Osage Tribe. gßth A. Nep. Bur. Am. Ethn., p. 67—71. 

4) J. O. Dorsey: Siouan Sociology g d A. Nep. Bur. Am. Ethn., p. 222—224 (Assi- 
niboin). — Fletcher-La Flasche, a. a. 0 - p- 211. 








296 Alice IMlint 


Kriegswesen ausüben . 1 Bei den Omaha, wo die Zentralisation der Kriegs* 
macht etwas weiter fortgeschritten ist, müssen die Krieger, bevor sie etwas 
unternehmen, die Zustimmung der Priester des heiligen Kriegszeltes er¬ 
halten. Die Gens, die das Kriegsheiligluin besitzt, heißt Whezhimhte $ d, i. 
„durch die der Stamm zornig wird“* Aus dieser Gens werden gerade, weil 
sie eine kriegerische Gens ist, keine Häuptlinge gewählt . 3 

Der Krieg erscheint also bei diesen Indianern nur in ganz geringem 
Grade als ein politisches Mittel und ist fast ausschließlich eine Form der 
Abreagierung der sadistischen und feindseligen Gelüste, die der 
Jungmannschaft des Stammes erlaubt, ja sogar geboten ist. Den Häupt¬ 
lingen jedoch wird das Ausleben dieser Gelüste geradezu verboten. Berühmte 
Krieger, die ihre Lust zur Gewalttätigkeit auf dem Kriegspfade bekundet 
haben, werden zwar als Helden verehrt, doch, besonders in älterer Zeit, 
niemals zu Häuptlingen gewählt , 5 

Zur Vervollständigung des Bildes, das wir somit von dem indianischen 
Häuptling erhalten, sei noch erwähnt, daß dem Häuptling auch die Macht 
und das Recht zu strafen fehlt. Im Gegenteil ist er es, der selbst das Leben 
des Mörders beschützt und mit der Kraft seiner Friedenspfeife die Blutrache 
von ihm abzuwenden sucht , 4 

Zur Zeit der allsommerlichen gemeinsamen Büffeljagd, wo ein strenges 
Regiment von lebenswichtiger Bedeutung ist, wird in der Regel ein be¬ 
sonderer Jagdführer gewählt, dem auch die Häuptlinge Gehorsam schulden. 
Die Ablehnung jeder machtvollen Autorität ist jedoch so stark, daß in 
einigen Fällen selbst der Jagdführer seine Stellung nicht für die ganze 
Dauer der Jagd behält, sondern täglich von einem anderen ersetzt wird . 5 

Dieser letzte Umstand macht uns bereits darauf aufmerksam, daß der 
Friede zwischen dem Häuptling-Vater und der Sohnesschar nur ein schein¬ 
barer ist. Die Wichtigkeit des Vaters für das Wohlsein der Kinder wird 
zwar voll anerkannt, doch alle Macht wird ihm genommen. Daß wir es 
hier mit einem Verdrängungsprodukt zu tun haben, zeigt sich besonders 


1) Fletcher-La F 16 sche, a. a, Ü. p. 405—408. — Skinncr: Kansa Organisations. . 
A. Pap. Am. Mus, Nat* Hist, v, XJ. p* 747 1 748. 

2) Fletcher-La Fldsche, a> a. O. p. 201. 

3) G, A. Dorseyr Soc. Organis. of the Skidi Pawnee. Proc. Congr. Am. v. XV, — 
L O, Dorsey: Omaha, p, 218, — Sk inner: Kama, p. 746. 

4) Fletch er - L a Fl 6s che, a. a. O. p. 205—206. — Ln Fl 6 sch e, 11, a. O, p, 67—71. — 
P. Radin: Winnebago. 

5) Sk inner: Iowa, p. 685, Hdb, of Am. Ind. Art, „Telou“. — La Flasche: Osage, 

p. 67, 68, 









Der Familienvater 


3 97 


darin, daß die Macht schlechthin das Bose, besser gesagt, die Macht zum 
Bosen bedeutet. Deshalb dürfen Krieger keine Häuptlinge werden* Besonders 
deutlich kommt dieser Gedanke in der Hako- oder Pfeifentanz-Zeremome 
zum Ausdruck. In dieser Zeremonie spielen zwei Pfeifenrohre die Haupt¬ 
rolle, die einen weiblichen und männlichen Adler darstellen* Der weibliche 
Adler ist der Häuptling oder Führer (als Führer tritt in dieser Zeremonie 
auch die Mais-Mutter auf). Der männliche Adler ist der Vater und Soldat, 
Das weibliche Rohr wird immer in der Mitte der Prozession getragen, denn 
es symbolisiert die Mutter, deren Platz unter den Kindern ist, die sie füttert 
und hegt. Das männliche Rohr hingegen trägt man stets etwas abseits, damit 
die in ihm verkörperte Kriegswut sich gegen die Fremden und Feinde, und 
nicht etwa gegen die eigenen Kinder richte . 1 

Wir erkennen in den zwei Adlern unschwer den Häuptling und die 
Krieger des Stammes. Der gute Vater (Häuptling) also, der jeglicher Aggression 
entkleidet ist, der alles seinen Kindern schenkt (Freigebigkeit), sie füttert 
und für ihr Gedeihen sorgt, wird eigentlich als eine Mutter betrachtet. 
Die W inn ebagoTn d i an er sagen selbst von ihrem Häuptling, daß er am 
„Fest des Häuptlings" den Stamm füttert „wie eine Vogelmutter ihre Jungen “* 2 

Wie ist nun dieses mütterliche Häuptlingsideal entstanden? Wir 
vermuten, daß der Vermütterlichung des Häuptlings die Spaltung der ur¬ 
sprünglichen Vater-Imago in einen guten und einen bösen Vater voranging* 
Hinweise darauf finden sich bei mehreren der in Betracht kommenden 
Stämme. 

Als charakteristisches Beispiel nenne ich die zwei heiligen Pfähle 
der Omaha* Das ältere Stammes Heiligtum war der dem Donnergott ge¬ 
weihte Zedernpfahl, der im heiligen Kriegszelte der Whezhinshte Gens 
gehütet wurde* Der andere „heilige Pfahl" wurde nach der Sage später 
von den alten und weisen Männern des Stammes eingeführt, „um die 
Einheit des Stammes zu sichern“* Dieser Pfahl wird in der Honga Gens 
gehütet, die auch die Mais- und Jagdriten besitzt. 

Durch den Zedernpfahl des Kriegsgottes wurden die Ehren abzei eben an 
die Krieger ausgeteilt* Durch den „heiligen Pfahl“ der Honga Gens hingegen 
werden diejenigen Männer ausgezeichnet, die sich durch Taten des Friedens 
Verdienste erworben haben* Als solche Taten kamen in erster Reihe Geschenke 
an die Gesamtheit in Betracht, also eben jene Leistungen, durch die man 

1) Fletcher: The Hako: A Pawnee Geremony, 22& A. Rep. Bur* Am* Ethn. pt* 2* 
p* 42, 21, 59, 192, 288, 680 ff. — Hdb* of Amer. Ind* Art* „Calumet“* 

2) P* Radin: Wixmebago, p. 290. 








Alice Bälint 


Häuptling werden konnte . 1 Dieser Pfahl spielt die zentrale Rolle in der 
Danksagungszeremonie am Ende der großen gemeinsamen Büffeljagd. Bei 
dieser Gelegenheit wird vor dem Pfahl eine Figur in den Sand gezeichnet, 
die „das Verlangen“ des Kindes symbolisiert, das alles Gute von seinen Eltern 
erwartet , 2 

Der Zedernpfahl repräsentiert den aggressiven, bösen Vater. 

Der heilige Pfahl der Danksagungszeremonie, den lebenspendenden, guten 
Vater . 3 

Ein anderes Beispiel bietet die Spaltung der Winnebago Donnergens in 
die „guten“ oder „großen“ Donner und die „bösenDonner oder Krieger. 
Der Häuptling mußte aus einer „guten“ Donnergens gewählt werden . 4 

Die führende Rolle der Donnerleute zieht sich wie ein roter Faden durch 
die Geschichte all dieser Stämme, Auch die beiden heiligen Pfähle der 
Omaha sind dem Donner geweiht . 5 Der Donnergott selbst kann uns als 
der Prototyp der Vater-Imago vor der Spaltung in einen guten und bösen 
Vater dienen. Dieser Gott ist nämlich gleichzeitig der furchtbare Gott der 
Stürme und Kriege und der wohlwollende Gott der Fruchtbarkeit. Zur 
Zeit, als der alte Zedernpfahl das alleinige Stammesheiligtum der Omaha 
war, wurden vermutlich sowohl die Kriegsriten wie die Fruchtbarkeit«* und 
Danksagungszeremonien ihm zu Ehren gefeiert , 6 

Die Spaltung der Vater-Imago setzt also die volle Anerkennung der Rolle 
des Vaters bei der Zeugung voraus. Der „gute“ Vater ist eben der Leben¬ 
spender. Es liegt jedoch im Wesen des Ödipus-Komplexes, daß der Penis 
des Vaters unbedingt die Ambivalenz des Kindes herausfordert. Die Spaltung 
allein genügt also nicht zur Festigung des Friedens, und so wird das Bild 
des „guten“ Vaters immer mehr dem Bilde der Mutter an genähert, d. h. 
die Rolle des Erzeugers wird durch die Rolle der stillenden Mutter ersetzt. 
Der gute Penis, der das Leben gibt, wird zur Mutterbrust, Besonders klar 
kommt dies in der doppelten Symbolik der Pfeife zum Ausdruck. Die 1 feife 
ist einerseits Symbol des Schöpfers, also ein Peniisymbol, Als Friedenspfeife 


1) A. Fl et eher: Emblematic use of iheTree in the Dakota Group. Science, v, IV. 

Fletcher-La Flasche, a. a. O. p, 22 9> 457 "’ 219— -921* 

2) Fletcher-La Flasche, a. a. O. p. 254, 241. 

5) Beide Pfähle stellen übrigens einen alten Mann dar. 

4) P. Radin: Winnebago. Cf 

5) Fiat eher: Emblem, use of the Trcc , . , p, 481, — Fl nl eher -La Fl e® che, 
a. a. O. p* 229, 

6) Fletcher-La Flasche, a, a* O. p. 217, 45 ®* 














Der Familienvater 


299 


und Abzeichen des Häuptlings ist es anderseits ein Symbol der Mutterbrust. 
(Verbrüderung durch gemeinsames Rauchen .) 1 

Nun dürfen wir aber nicht übersehen, daß im Falle unserer Indianer 
die Spaltung der Vater-Imago zugleich Kastrierung des Vaters bedeutet. Der 
gute Vater, der Häuptling besitzt keine Macht. Er darf wohl geben, aber 
nichts versagen, er wird zur Mutter gemacht. Der böse, aggressive Vater, 
der durch die Gesamtheit der Krieger des Stammes repräsentiert wird, ist 
ebenfalls kastriert. Denn die Krieger können nicht Häuptlinge, d. i. gute 
Väter, Lebenspender, werden. 

Die bedeutsamste Folge dieser Art der Beseitigung des Vaters ist 
die Regression von der genitalen Stufe auf die orale. Der Vater- 
Häuptling, der für das Gedeihen des Stammes sorgt, ihm zu essen gibt, 
wird der stillenden Mutter gleichgestellt. Die Söhne, die wohl den Penis 
an sich rissen, doch die Macht, die er verkörpert, keinem unter sich un¬ 
geteilt überlassen, erwerben nicht die Mutter, sondern bloß die Mutter¬ 
brust. 

Diese Erledigungsform des Ödipus-Komplexes bedeutet also letzten Endes 
die Umgehung des Kampfes mit dem Vater. Die „böse“ Seite des 
Vaters, die die Versagung der Mutter und die Anforderungen der Realität 
verkörpert, wird verdrängt und es erfolgt die Regression auf jene Stufe, 
wo eine erotische Beziehung zu der Mutter von dem Vater gestattet war, 
dies ist eben die Zeit des Gesäugtwerdens. Der Preis dieses Friedens ist 
also ein ewiges Kindbleiben. 

Die Infantilität und Realitätsfremdheit, man könnte auch sagen Un¬ 
fruchtbarkeit des indianischen Kriegertums, ist die direkte Folge 
dieser Tatsache, daher kann es uns zur Illustrierung des bisher Gesagten 
dienen. 

Das eigentliche Hauptmotiv, das den Indianer in den Krieg führt, ist 
die Erreichung persönlichen Ruhmes durch Vollbringung eines Bravour¬ 
stücks . 2 Das Bravourstück, der „Coup“, wie es allgemein genannt wird. 


1) In der Kriegspfeife ist beides enthalten. Es verbrüdert die Krieger durch ge¬ 
meinsames Rauchen und repräsentiert den aggressiven Penis gegenüber den Feinden. 
Hdb. of Amer. Ind Art. „Smoking“. — Skinner: Iowa. p. 728 (Origin. Myth). — 
Kroeher: Gros Ventre. Myths a. Tales. A. Pap. Mus. Nat. Hist. v. I. — G. A. Dorsey- 
Kroeber: Trad. of the Arapaho. Publ. Field Col. Mus. v. V. — J. Mooney: The 
Ghost Dance Religion. 14‘b A. Rep. Bur. Am. Ethn. p. 95g, g6o (Arapaho). 

2) Daß die Rüstung eines Kriegszuges ein privates Unternehmen ist, wurde bereits 
erwähnt. 







5 oo 


Alice Halint 


charakterisiert die Männlichkeit der indianischen Krieger. Die Frucht ihrer 
Tat ernten sie zu Hause im Lager, wo sic im Kreise ihrer Genossen, vor 
den Häuptlingen und angesehenen Männern, und nicht zuletzt vor den 
anwesenden Frauen ihre „Coups“ aufzählen, indem sie jedesmal mit einem 
Stock auf einen aufgerichteten Pfahl schlagen (Counting Coup ). 1 

Diese Krieger sind keine Eroberer und Ländergründer, sondern Kinder, 
die sich mit ihrer Männlichkeit brüsten. Wohl ist die Bravour und der 
Exhibitionismus für jedes Soldatentum charakteristisch, doch die Ausschlie߬ 
lichkeit, mit der es hier auflritt und das gänzliche Zurücktreten aller 
anderen Motive ist immerhin bemerkenswert. Das Ziel des Kampfes ist 
rein narzißtisch, und zwar individuell narzißtisch. Während z. B. im Falle 
eines Eroberungszuges oder der Einnahme einer Stadt bereits die objekt- 
libidinöse Stufe erreicht wird und das Unternehmen für das Unbewußte 
die Bedeutung eines Koitus (der Eroberung der Mutter) erhält . 2 

Die Kriegführung der Indianer verhält sich etwa zu den Kriegen eines 
Eroberervolkes, wie die Pubertätsonanie zu dem Koitus des Erwachsenen. 
Die Kriege dieser Indianer sind unfruchtbar, haben keine eigentlichen 
„Folgen 14 . {Ländererwerb, Tribut usw.) Sie gelangen wohl dazu, sich mit dem 
Vater-Feind zu messen, doch sie sind unfähig, einen Gewinn daraus zu 
ziehen. Darin erkennen wir die Wirkung der Angst vor dem Vater und 
des aus dem Ödipus-Komplex stammenden Schuldgefühls. Unter dem Druck 
dieser psychischen Einstellung bleiben diese Völker trotz ihrer ewigen 
Kriege und ihrer heldenhaften Tapferkeit immer dasselbe: heimatlose, 
unstete Jägernomaden . 3 

Wenn wir die Entwicklungshöhe unserer Indianer durch eine bestimmte 
Periode des individuellen Lebens veranschaulichen wollten, so ließe sich 
am besten die Pubertätszeit, und zwar der Anfang dieser Periode, zum 
Vergleich heranziehen. Die Auflehnung gegen die Autorität, die paradierende 
Männlichkeit und dabei das Fehlen der inneren Selbständigkeit (was sich 


1) Hdb, of Amen Ind. Art. „Warflire“, „Coup“. — Zahlreiche Angaben sind in 
allen Beschreibungen dieser Stämme zu finden. — Der wertvollste Coup besteht darin, 
daß man mit der bloßen Hand auf den lebenden Feind schlägt. Diese tollkühne, doch 
vollkommen zwecklose Handlung, wird mit der erstklassigen Auszeichnung belohnt. 
Das Toten des Feindes kommt erst an dritter oder vierter Stelle* Dies zeigt gleich¬ 
falls die Realitätsfremdheit der indianischen Kriegsgebräuche. 

2) Rank: Um Städte werben. Internat. Ztßchr. f. PiA I, S. 50—58* 

5) Als Äußerungen des Schuldbrwußtsems können wir auch die weit verbreiteten, 
geradezu selbstmörderischen Kriegsgebräuche der Kriegerverbände betrachten* Siehe 
die zahlreichen Angaben in Anthr. Pap* of the Amor. Mus. of Nat. Hist. v. XI. 










Der Familienvater 


3 01 


hier in der geringen Entwicklung der politischen Einsicht und dem Fehlen 
echt politischer Ziele kundgibt), sind alles Merkmale dieser Entwieklungs- 
periode . 1 

Wollen wir diese Betrachtungsweise auch auf die Beziehung des Stammes 
zu den Häuptlingen anwenden, so kann der Stamm mit jenen sexuell reifen, 
doch wirtschaftlich unselbständigen Jünglingen verglichen werden, die das 
Geld (hier Nahrung) von ihren Vätern erhalten. Das Geld, mit dem man 
alles erwerben kann, bedeutet die Potenz des Vaters, die dieser „gute“ 
Vater sozusagen den Söhnen schenkt. Doch die Minderwertigkeit dieser 
geschenkten Potenz erhellt daraus, daß diese Söhne keine (Familien-) Väter 
werden’ können. In dem individuellen Falle sind sicher dieselben Regressions¬ 
mechanismen am Werk, die wir Im Falle unserer Indianer angenommen 
haben. 

Die Frage, wodurch jene Entwicklung in Gang gesetzt wurde, die zu 
der Spaltung der Vater-Imago und der Vermütterlichung des 
Häuptlingsideals geführt hat, ist, da uns die Überlieferungen fehlen, 
schwer zu beantworten. Wir vermuten aber, daß der Übergang vom Acker¬ 
bau zum Jagdleben und die damit verbundene Wanderung aus der alten 
waldigen Heimat in die offene Prärie dabei eine große Rolle gespielt haben 
mag; Wir wissen, daß die Bodenbewirtschaftung bei all diesen Völkern 
auf der Stufe des Hackbaues steht und von den Frauen betrieben wird* 
Wo also die wirtschaftliche Bedeutung des Hackbaues an erster Stelle steht, 
sind wirklich die Frauen die nährenden Mütter des Stammes. Ihr Sinn¬ 
bild ist die Mutter Erde, aus der die Nahrung gewonnen wurde und in 
deren Schoß sie ihre Dörfer gebaut hatten. Mit dem mehr oder minder 
vollständigen Übergang zum Nomadenleben haben diese Völker in gewissem 
Sinne die Mutter verloren . 2 Etwas anderes trat jedoch an ihre Stelle: das 
war der Vater, der seine Kinder ernährt. Bis dahin war die wirtschaftliche 
Rolle des Mannes gering neben der der Frau. Nun wurde aber seine Be- 


1) Auch sonstige Anzeichen lassen sich finden, so die homosexuelle Einstellung 
der Männer (M äimerg e s c 1 1 schaften, zu denen von den Knaben bis zu den Greisen 
alle Männer des Stammes gehören) und die geringe Gefühlsbildung an die Frau (Ver¬ 
schenken, Verspielen der Ehefrau; sportmäßig betriebener gegenseitiger Weiherraub, 
wobei dem geraubten Weibe nicht nachgetrauert werden darf und der Räuber selbst 
die Frau nicht für sich behalt, sondern sie ihren Eltern zurückgibt). Siehe ebenfalls 
A. Pap. Am. Mus. Nat. Hist. v. XL 

2) Das hier Gesagte gilt streng genommen nur für die Stämme des Ostens und 
Südens. Dies sind aber zugleich auch jene Stämme, die das hier besprochene Häupt¬ 
lingsideal am reinsten entwickelt haben. 






502 Alice Bälint 


deutung in ungeheurem Maße erhöht , 1 Dadurch wurde der \ ater dazu 
gedrängt, in gewisser Beziehung auch Mutter seiner Kinder zu sein, denn 
sie ernähren, hieß ihnen gegenüber mütterlich fühlen. Durch die Umstände 
selbst wurde also der Weg zur Entwicklung der mütterlichen Vater-Imago 
vorgezeichnet. Diese Wandlung im Inneren mitzumachen mochte der Mehr¬ 
zahl Schwierigkeiten bereitet haben, was die Spaltung der Vater-Imago zur 
Folge hatte. Die psychische Ursache dieser Spaltung ist also die Unfähig¬ 
keit zur Identifizierung mit dem neuen Vater-Ideal . 2 3 

Diese Schwierigkeit kommt sehr schon in dem bekannten Cherokee¬ 
märchen von Kanati und Selu zum Ausdruck. In dieser Erzählung bringt 
der Vater-Jäger jeden Tag ein erlegtes Wild nach Hause. Eines Tages wird 
er von den Kindern bei der Jagd belauscht und diese sehen, wie er das 
Wild aus einem Berge herausholt. Die Kinder machen ihm das Kunststück 
nach und lassen dabei alle Tiere aus dem Berge heraus, die sich sogleich 
im Walde zerstreuen. Seither ist es nicht mehr so leicht, für jeden Tag 
das nötige Wild herbeizuschaffen. s 

Das Freilassen der Tiere bedeutet, daß die Möglichkeit des Koitierens 
nunmehr allen offen steht (Röheim), Das nachträgliche Bedauern deutet 
jedoch auf die Schwierigkeit, mit dem Kontieren auch die psychische Rolle 
des Ernährers m übernehmen. Denn derjenige, der diese Rolle zu über- 
nehmen vermag, ist selbst nicht mehr an die Mutterbrust fixiert, hat die 
infantile, orale Bindung an die Mutter gelüst, und die Furcht vor dem 
Vater überwunden, die ihn in dieser Bindung beharren ließ. 

Im Bedauern ist also bereits die Spaltung der Vater-Imago enthalten. 
Die Spaltung selbst bedeutet aber letzten Endes die Flucht vor der neuen 
Aufgabe und die Regression zu der Mutter, also das Kind bl eiben. 

Versuchen wir nun zum Abschluß an Hand der Ergebnisse, die wir 
durch die Analyse des HänptHngsvvcsens dieser Indianer erhalten haben, 
die Entstehungsgeschichte des Typus „Familienvater^ zu rekonstruieren. 

Aus dem bisher Gesagten ist es bereits klar, daß der Familienvater 
aus dem rein narzißtischen Urvater, auf dem Wege der Identi¬ 
fizierung mit der Mutter entstanden ist. Die erste Phase dieser Ent- 

i) Den Präriestämmen sind in dieser Beziehung nur die Eskimo an die Seite zu 
stellen, 

2} Es ist klar, daß den führenden Männern der Maisgentcs diese Identifizierung 
leichter fallen mußte. Diese Männer genossen ja eine Vorerzichung durch die Riten 
ihrer Gens, durch die sie ihren eigenen Totem den übrigen zur Nahrung schenkten. 
So wurden sie die ersten Vertreter des neuen Häuptlings]deals. 

3) Mooney: Myths of ihc Cher, I9 th A» Rep. Bur. Am. Etlm. 












Der Familienvater 


5°5 


Wicklung wurde zuerst von Röheim in seinem Berliner Kongreß vortrag 
(1922) 1 2 beschrieben, wo er darauf hinwies, daß die Leiche des getöteten 
Urvaters dadurch, daß er verspeist wird, mütterliche Qualitäten erhält. 
Als Leiche speiste nämlich der Vater zuerst seine Kinder, wie es bis dahin 
nur die Mutter tat* 3 * Dieser Vater, den man nicht mehr bloß bewundern, 
sondern bereits lieben konnte, wurde zu dem neuen Vater-Ideal. Wie das 
Streben nach diesem weniger lustvollen Ideal aufrecht erhalten wurde, kann 
ich nicht sagen. Das Schuldbewußtsein gegenüber dem getöteten Vater und 
die Vergeltungsangst, die sich im Wunsch nach Liebe und Versöhnung mit 
den Kindern äußerte, hat dabei sicher die Hauptrolle gespielt. (Freud, Totem 
und Tabu.) Zuerst erhielt wohl die altruistische Komponente des Koitus 
eine Verstärkung. Während der Beischlaf bis dahin bloß die Reizabfuhr 
bedeutete, wurde er nun mehr ein „Geben 1 *; Kinderschenken an die Frau, 
Lebenschenken an die Kinder. Diese neue Bedeutung des Koitus wird dann 
auf die männlichen Arten der Nahrungsgewinnung (Jagd, Fischfang), die 
alle Koitusbedeutung haben, übertragen. 5 

Die Folge dieses Bedeutungswandels war, daß die Männer, die früher 
ihre Jagdbeute allein verzehrten oder unter sich verteilten, einen Teil des 
erlegten Wildes nunmehr nach Hause brachten. 

Der geregelte Nahrungserwerb der Männer hat sich übrigens wahrscheinlich 
viel später entwickelt, als der der Frau. Die Jagd gewann ihre wirtschaft¬ 
liche Bedeutung wohl erst für die vertriebenen Söhne, für die auch die 
Koitussymbolik des Jagens eine erhöhte Wichtigkeit besaß. Der Vater der 
Horde mußte sich nicht selbst versorgen, denn er wurde (wie auch die 
kleinen Kinder) von den pflanzen- und würmersammelnden Frauen ernährt. 
Zu der Nahrung, die der Urvater von den Frauen erhielt, gehörten, wie 
mehrfach angenommen wurde, auch die Kinder, die seine Frauen geboren 
hatten. (Er gab ihnen also nicht einmal das Lehen.) Der Vater hatte also 
in der Urzeit deshalb zu essen, weil er sich die Frauen, die zu essen 
gaben, erwarb. Die Söhne hingegen, für die keine Frau sorgte, introjF 
zierten sich die Mutter, sie wurden ihre eigenen Mütter und ernährten 

1) Nach dem Tode des Urvaters. Imago IX (1925)* Rank betrachtet als Grund¬ 
lage der Identifizierung des Vaters mit der Mutter, die Angst vor der Mutter, die 
sekundär auf den Vater übertragen wird. S. „Trauma der Geburt“, p. S 6 % 87, 89. 

2) Vgl. damit die Indianerhäuptlinge, die sich mit den Büffeln, also dem Nahrungs¬ 
tier identifizieren. 

3) Auf diese Weise erhielten wohl auch die Intichiumariten, deren Kot Ur¬ 

bedeutung von Röheim (Australian Totemism) festgestellt wurde, sekundär die Be¬ 

deutung eines Geschenkes an die Stammesgenossen, 







Iliilint; Der Familienvater 


5°4 

sich selbst. Das war der erste Schritt zur Ixisung der oralen Fixierung an 
die Mutter, Nach der Festigung des neuen Vater-Ideals identifizierte sich 
der zum Vater gewordene Sohn mit der Mutter und wurde selbst zu einem 
Gebenden, Sein erstes Geschenk an die Kinder, nachdem er erlaubte* daß 
sie am Leben blieben, war, daß er sie saugen ließ: er schenkte ihnen die 
Mutterbrust. 

Alles, was der Vater sonst dem Sohne gibt, ist symbolisch gleich der 
Mutterbrust. Das Versorgtwerden durch den Vater ist gleich dem Gesaugt' 
werden durch die Mutter. Die Brust ist derjenige Teil der Mutter, der allein 
vom Vater dem Sohne geschenkt wird. Wenn dieser jedoch mehr verlangt 
und nach dem Genitale der Mutter trachtet, so ist der, durch die Über' 
lassung der Brust geschlossene Friede zwischen Vater und Sohn wieder 
gebrochen. 

Die kulturelle Bedeutung des „Familienvaters* liegt also 
darin, daß mit Hilfe dieser Umwandlung des Vater-Ideals der 
Frieden zwischen Vater und Sohn ermöglicht wurde. Liebe und 
Haß halten sich nunmehr die Wage und mit Hilfe der Verdrängung 
kommt sogar nur mehr die Liebe zur Geltung. Welche Gefahr 
diese Lösung selbst für ganze Völker in sich birgt, haben wir im Falle 
einiger Indianerstämme gezeigt. Die Psychoanalyse weist uns einen neuen 
Weg, den der gegenseitigen Verständigung durch Bewußt mach ung der 
Schwierigkeiten. Dieser Weg konnte aber nur betreten werden, nachdem 
die Menschheit bereits den anderen gegangen war, denn jene Entwicklung 
vom ursprünglichen Narzißmus zur Ob jektliebe,die der Umgestaltung 
der Vater-Imago zugrunde liegt, ist sicher eine notwendige Grundlage 
jeder psychologischen Forschung. 










F arbensymbolik 

Von 

Hans Christoffel 

Basel 

Die Psychoanalyse hat den Sinn mancher Symbole verstehen gelehrt; sie hat 
uns vor allem die sexuelle Symbolbedeutnng erschlossen, wobei es vorläufig eine 
offene Frage bleibt, ob es überhaupt eine nichtsexuelle Symbolik gibt. 

Symbolik ist eine Teilerscheinung anthropomorpher, anthropozentrischer 
Betrachtungsweise. Man könnte deshalb von Erlebnis statt bloß von Be¬ 
trachtungsweise sprechen, weil Subjekt und Objekt sich im Symbol 
verschmelzen, Subjekt im Objekt sich weniger betrachtet, spiegelt, als sich 
erlebt. Symbol heißt Sinnbild. Es ist klar, daß die Verbildlichung unser 
selbst nur dann einen Zweck erfüllt, wenn der direkten Selbstwahrnahme 
Widerstände entgegen stehen. Das Symbol setzt also die Projektion von 
Verdrängtem voraus, eine unbewußte Identität zwischen Subjekt und Ob¬ 
jekt, eine komplexhafte Verbundenheit zwischen Eigentlichem und Ge¬ 
meintem. Je weniger diese Voraussetzungen erfüllt sind, desto mehr wird 
das Symbol zur Allegorie, das Sinnbild zur Anspielung. 

Da in der Symbolik das Objekt nicht zu seinem vollen Rechte kommt, 
sondern bloß bildhaften Wert hat, seine Bedeutung sich in der Darstellung 
des Subjekts und in der Verbindung dieses mit dem Objekte erschöpft, 
muß alle Symbolik triebhaft fundiert sein. Es darf angenommen werden, 
daß, wenn, wie die Psychoanalyse sicher erwiesen hat, die Sexualtriebe 
im Symbol ihren Ausdruck finden, die Todestriebe darin ebenfalls 
Geltung haben, Eros und Thanatos sich im Symbole finden. Auf diese 
mögliche und sogar wahrscheinliche Verbindung, auf eine eventuelle 
Triebundifferenziertheit und Triebamalgamierung kann hier nicht näher 
eingegangen werden, sondern es soll ein Stück Symbolik vor allem nach 
seiner sexuellen Seite untersucht werden. 

I 


Imago XII 


20 


3°6 


Hans Chrbtoffcl 


Neben Bewegung, Zahl und Form spielt in der psychoanalytischen 
Symbolik eine außerordentlich geringe und bisher kaum gewürdigte Rolle 
die Farbe. Und doch gibt es ohne Zweifel auch eine Farbensymbolik. 
Ihr Alter zählt wohl nach Jahrtausenden. Sie hat sich in der Psyche der 
Gesamtheit bald mehr, bald weniger erhalten, in Bildnerei und Dichtung 
Form gefunden und in Wissenschaft Ausdruck und Enträtselung gesucht. 
„Man hat ein Mehr und Weniger, ein Wirken ein Widerstreben, ein 
Tun ein Leiden, ein Vordringendes ein Zurückhaltendes, ein Heftiges ein 
Mäßiges, ein Abstoßen und Anziehen, ein Männliches ein Weibliches* 
überall bemerkt und genannt; und so entsteht eine Sprache, eine Sym¬ 
bolik,* die man auf ähnliche Fälle als Gleichnis, als nahverwandten 
Ausdruck, als unmittelbar passendes Wort anwenden und benutzen mag.“ 2 3 4 

Wenn nun auch der Farbensymbolik ln den Arbeiten der psychoana¬ 
lytischen Schule wenig Beachtung geschenkt worden ist, so findet sich 
doch in dem von Freud und seinen Schülern beigebrachten und untere 
suchten Materiale manches vermerkt, was bloß bemerkt werden muß, 
um in seiner Bedeutung erkannt zu werden. 

Vor drei Jahren habe ich in einer kleinen Arbeit unter anderem auf 
die merkwürdig konstanten Beziehungen zwischen Schwarz und 
Männlich, und Weiß und Weiblich hingewiesen, und an dem Mate¬ 
rial, das mir aus meinen Analysen zur Verfügung stand, kurz erläutert.- 
Herr Henry Flournoy stellte mir daraufhin eine mir vorher unbekannte 
Arbeit zu, die von völkerpsychologischer Seite das von mir bei ärztlicher 
Tätigkeit Gefundene einleuchtender, schlagender bestätigte, als ich es 
selber vorerst hatte erweisen können,* wie ja auch Freud darauf auf¬ 
merksam macht, daß uns die Symbolik im unbewußten Vorstellen des 
Volkes deutlicher entgegentritt, als vorerst im Traume. 5 Flournoy hatte 
auf einer Ostasienreise verschiedenen Götterdarstellungen sein psycholo¬ 
gisches Interesse geschenkt und berichtet nun unter anderem vom soge¬ 
nannten Linga (Phallus, der sich immer zugleich mit seiner weiblichen 
Ergänzung, dem Yoni dargestellt findet). Linga und Yoni zusammen re¬ 
präsentieren die Zeugungskraft des Gottes Qiwa. Der männliche Anteil 

1) Hervorhebungen vom Verfasser. 

2) Goeth e über seine Farbenlehre, zit. nach Wessely: „Goethes und Schopenhauers 
Stellung in der Geschichte der Lehre von den Gesichtsempfindungen.* 1 Berlin 192a. 

3) Christof fel: „Affektivität und Farben, speziell Angst und Ilelldunkelerscheinun- 
gen.“ Zeitschrift für die gesamte Neurologie und Psychiatrie. Bd. 82, S. 46. 1925. 

4) Flournoy: „Qiva Androgyne.“ Archives de Psychologie. Bd. 18, p. 255. 1922. 

5) Freud: „Die Traumdeutung.“ Ges. Schriften. Bd. III, S, 67. 








Farbensymbolik 


5° 7 


des Symbols pflegt schwarz, der weib¬ 
liche weiß dargestellt zu werden. ^Oest 
bien le noir qui rep rezente Velement masculin, 
et le blanc le feminin “ (Schriftliche Mitteilung 
Floumoys vom 17. Juni ig&g.) Abbildung 1 
seiner Arbeit bekräftigt diese Farbenverteilung, 

Ich zitiere die betreffende Stelle in Übersetzung; 

„Es gibt Lingas von allen Großen; sie sind dreißig und mehr Zentimeter hoch; 
meistens bestehen sie aus schwarzem oder weißem Marmor . u Über (Jiwa selbst be¬ 
merkt Flournoy, daß er sowohl Gott der zerstörenden wie der Zeugungskräfte sei* 
Bei Beschreibung des göttlichen Symbols dagegen findet in Fl0urnoy s Beschreibung 
das zerstörende Moment keinen Ausdruck. „Was das Linga anbetrifft, so stellt es 
nichts anderes dar als den göttlichen Phallus* Das Emblem setzt sich zusammen aus 
dem eigentlichen Linga, einer zylindrischen, konischen oder ovoiden Säule, welche 
senkrecht in der Mitte einer Steinschüssel von der Form eines Tennisschlägers 
(raquttte) steht. Diese letztere, Yoni genannt, liegt horizontal und trägt in ihrer Mitte 
eine Öffnung zur Aufnahme des Linga. Peripher laufen am Yoni ringsherum Rinnen 
und vereinigen sich an dessen Auslauf, gewissermaßen dem Stiel des Rackets. Das 
Yoni stellt die weiblichen Organe dar, den Uterus und die Vulva. Das vollständige 
Linga ist also ein bisexuelles Symbol“ 

Nach O. Eckstein 1 spielt in den Anschauungen der altchinesischen 
Medizin ein helles weibliches und ein dunkles männliches Prinzip 
eine wesentliche Rolle: „Alles Leben beruht auf der Gegenwirkung eines 
weiblichen und eines männlichen Prinzips. Diese Prinzipien des Yang 

und Yin, des Hellen und Dunkeln-—, die ja in aller chinesischen 

Philosophie, Literatur und Kunst wiederkehren, sind gleich stark, und 
Gesundheit des Körpers hängt von ihrem genauen Gleichgewicht ab.“ 

Daß solche symbolische Auffassungen intuitiv richtig sein können und sich teil¬ 
weise mit dem Experiment erhärten lassen, möge folgendes zeigen. (Münchner Medi¬ 
zinische Wochenschrift. Nr. 51, S. 2219, 1925, M. Hartmann: „Über relative Sexualität 
und ihre Bedeutung für das Befruchtungssystem,“ Sitzung der Berliner Medizinischen 
Gesellschaft vom 9, Dezember 1925.) 

„Am bedeutungsvollsten ist die ältere Befruchtungshypothese von Büts chli, welche 
gewissermaßen erst wieder von neuem entdeckt werden mußte, die Sexualitätshypothese. 
Der Neuentdecker war 1905 Schau dinn, der, von ganz anderen Gesichtspunkten aus¬ 
gehend, wieder auf sie kam. Nach dieser Hypothese ist jede Geschlechtszelle, aber 
nicht nur diese, sondern überhaupt jede Zelle des Organismus doppelt geschlechtlich 
(bisexuell)* Es prävaiieren die Potenzen eines Geschlechts, indem die des andern ge¬ 
hemmt werden, und die vorhandenen Spannungen zwischen den Zellen führen durch 



1) Über altchinesische Medizin. Schweiz, Med. Wochensdir* S. 522. 1925, 

20* 








3°8. 


Hans Christoffel 


Befruchtung- zum Ausgleich ... Die Beweise für diese Hypothese können natürlich 
nur durch experimentelle Arbeiten beigebracht werden, und Hart mann bringt ein 
außerordentlich umfangreiches und überzeugendes Material bei. Er weist z. B. nach, 
daß bei Protozoen aus einer einzigen Zelle sich männliche und weibliche Gameten 
entwickeln können und daß beide dann wieder aufs neue männliche und weibliche 
Gameten erzeugen können* 

Außenbedingungen sind es, oder bei den höheren Tieren VererbungsVorgänge, 
wenn die mit innewolmenden Anlagen des andern Geschlechts nicht zur Entwicklung 
kommen. 

Weiter zeigt der Vortragende, wie bei einzelnen Pilzen zwei weibliche Zellen 
miteinander verschmelzen, also kopulieren können, und erweist hieraus, daß bei 
niederen Formen von Lebewesen die Sexualität der Zellen nicht zweipolig, also 
absolut entgegengesetzt, sondern relativ ist. Bei einer Algenform (Spirogyra) konnte 
er beobachten, wie die gleichgeschlechtlichen Zellen einer Zellschicht einmal männ¬ 
lich, einmal weiblich kopulierten. Gegen diesen Befund sind noch Einwendungen 
möglich, darr™ sind die umfangreichen Versuche an Braunalgen und Grünalgen, die 
im Meere verkommen, von grundlegender Bedeutung, Jedes Individuum erzeugt nur 
Zellen eines Geschlechts, und obwohl sie morphologisch sich vollkommen gleichen, 
geht aus ihrem Verhalten beim Befruchtungs Vorgang doch hervor, daß es sich um 
Zellen von aiisgespro ebenem Sexual Charakter handelt, und hier kann man mm fest¬ 
stellen, daß die einzelnen Zellen sich in ihrer Xopulationsenergie verschieden ver¬ 
halten und daß es Zellen mit stark-männlichen und schwach-männlichen Eigenschaften 
gibt, und ebenso verhalt es sich bei den weiblichen Geschlechtszellen. Und nun kommt 
das Erstaunlichste: es zeigt sich, daß die Zellen mit schwach-männlichen Eigenschaften 
sich beim Zusammenbringen mit Zellen mit stark-männlichen Eigenschaften wie weib¬ 
liche verhalten, daß also die stark-männlichen Zellen mit den schwach-männlichen 
Zellen durch Kopulation zusammen treten. Hiemit ist der Beweis erbracht, daß es in 
Geschlechtszellen eine relative Sexualität gibt. 

Die an Braunalgen erhaltenen Resultate sind von Jollos in Neapel an Grünalgen 
völlig bestätigt worden. Ja, darüber hinaus fand Jollos, daß Behandlung mit Extrakten 
die Eigenschaften der Zellen verändern kann, daß man also durch Extrakte schwach- 
weibliche Zellen zu solchen mit stark-weiblichen Potenzen machen kann. Es gibt 
also außer der Konstitution noch andere sexuelle Affinitäten und die hiedurch sich 
eröffnenden Perspektiven sind einfach unbegrenzt.^ 

Nach diesem Exkurs sei wiederum auf die Schwarzweißsymbolik 
zurückgegriffen. Ein vierzigjähriger Mann mit beginnender paranoider 
Schizophrenie hatte schweren Verdacht, daß nachts Unbekannte in sein 
Haus eimtiegen, ihn bedrohten und bei der Frau schliefen; insofern er 
überhaupt noch schlafen konnte, schrak er oft auf, glaubte im ersten 
Moment Licht im Hause, das dann im Moment seines Erwachens ver- 
löschte, einen schwarzen Verfolger neben seinem Bett, der im Moment, 
wo Patient mit dem Messer auf ihn einstach, mit einem leisen Zischen 
zu Nichts wurde. Daß der Teufel eine Vater-Imago ist, braucht hier 
















F ar b en symb olik 


nicht mehr erwiesen zu werden; die Gleichsetzrmg von „der Teufel“ 
und „der Schwarze“, seine Ankündigung oder Begleitung durch einen 
schwarzen Hund, seine Verehrung in sogenannten schwarzen Messen, 1 bei 
denen unter anderem ein schwarzer Kater verküßt wurde, das alles sind 
ganz bekannte Dinge. Desgleichen ist, wie ich mich in meiner früheren 
Arbeit ausdrückte, der schwarze Mann, der die Hysterika verfolgt, ein 
alter Bekannter jedes Psychiaters, während wir bei einer Paraphrenen eher 
helle, weibliche Feinde als Halluzination erwarten werden. Daß eine stark 
mutteridentifizierte Angsthysterika einen Vater und Sohn zu kleinen Tieren, 
welche bekanntlich Kinder bedeuten, macht, sie gewissermaßen beide ver- 
kindlicht und als schwarze Käfer träumt, wird nicht verwundern. Bei 
Gräber 2 * * finden wir in Hugos Phantasien den Vater als Verfolger und 
Verfolgten, Todbringenden und Totgewünschten durch ein kon¬ 
stantes Schwarz ausgedrückt. 

Wie wir in der Symbolbedeutung von Schwarz als männlich oft feind¬ 
liche Züge treffen und vielleicht deshalb Schwarz vielfach als männlich¬ 
sadistisch deuten dürfen, so gilt diese Verquickung von Liebe und Tod 
anscheinend auch für die Weiblichkeitsbedeutung von Weiß. 5 


1) Löwenstein, K.: „Zur Psychoanalyse der schwarzen Messen.“ Imago, BdL IX t 
S, 75. 1923- 

2) „Ambivalenz des Kindes.“ Imago-Büch er VI, S. 66. 1924. 

5) Kaum ausgeprägt ist das Tod es el erneut in der Phantasie von Kuhnen („Psycho¬ 
analyse und Baukunst“, Imago, Bd. X, S. 575. 1924)* wo er seine Mutter-Imago als 
im Tale liegende, von silbrigem abendlichen Hauche üb er schieierte Stadt erschaut, 
in welche eine Brücke — auf deren pliallisehe Bedeutung nicht hingewiesen zu werden 
braucht — hmemführt — Dagegen sagt Zulliger von einem durch zwei Mädchen 
nächtlich halluzinierten weißen Dämon, einem „Toggeli“, daß er die „personifizierte 
Strafe für die Todes wünsche der Tochter gegen die Mutter“ bedeuten konnte. (Zulliger: 
„Zur Psychologie der Trauer- und B es tattun gs gebrauche.“ Imago, Bd. X, S. 19g und 194. 
1924.) Folgender Traum ist, auch aus dem Zusammenhänge der Dichtung gelost be¬ 
trachtet, leicht verständlich. (Romain RoLland: „L*Ame enchant£e.“ Ollendorff, Paris* 
p. 280 et 281.) 

Annette wendet sich enttäuscht von ihrem Geliebten ab; wohl ist ihre Sinnlichkeit 
durch ihn gereizt worden; sonst aber fühlt sie sich durch ihn auf sich selber zurück¬ 
geworfen. In der Erregung und Verwirrung des Abschieds gibt sie sich ihm körper¬ 
lich hin. ( 

Im folgenden Traiim nun ist das Finden ihrer selbst in ähnliche Situation ver¬ 
woben, in denen sie ihrem Geliebten den Abschied gegeben. Der Traum lautet in 
Übersetzung: 

„Eines Nachts im Traum sah sich Annette im knospenden Wald. Einsam eilte sie durch 
das Dickicht * Baumaste verfingen sich in ihr Gew and 7 feuchtes Gehusch streifte sie. Sie wand 
sich ? r iß sich los. Nun sah sie sich fast entblößt und bückte sich 7 voller Scham, um mit den 
Fetzen ihres Gewandes sich zu bedecken. Da erblickte sie unmittelbar vor sich auf dem Boden 
einen ovalen Korb f einen Haufen sonnenbeschienener Blatter — nicht gelb und goldiger — 






510 


Hans Christoffel 


Betrachten wir in diesem Zusammenhänge den Traum von den 
weißen Wölfen in Freuds „Geschichte einer infantilen Neurose“, 1 $o 
erweist sich das Weiß, das Freud aus individuellen Erlebnissen des 


sondern silberweißer Blätter, weiß wie leuchtende Birkenrinde , weiß wie feinstes 
Linnen. Bewegt schaut sie, kauert nieder; und das Linnen beginnt sich zu regen. Pochenden 
Herzens, ihre Hand hinstreckend, erwacht sie , * - Ihre Rührung hielt an , * . Sie begriff noch 
nichts * . * Doch es kam ein lag — und sie hegrijf , - * Sie war nicht mehr allein . * . ln ihr 
wuchs Lebenj ein neues Leben ... Und die Wochen vergingen, während sie ihr verborgenes All 
zur Entwicklung kommen ließ * * * <( 

Es mag noch ein Hinweis erlaubt sein auf den Narzißmus der Träumerin, um es 
verständlicher zu machen, daß sie in ihrem Kind ihr Ebenbild, sich selbst liebt* 
Folgendes Zwiegespräch führt sie mit dem Kind im Leibe: „Liebe, bist du es wirk¬ 
lich? Liebe, die du mich flohst, wann immer ich dich zu erfassen glaubte, bist du 
in mich gedrungen? Ich halte dich, halte dich fest; nimmer wirst du mir entfliehen, 
kleiner Gefangener, festgebannt in meinem Leib! Räche dich! Friß mich! Nag* ihn 
durch, meinen Leib, kleiner Nager! Trink mein Blut! Du bist ich! Du bist mein 
Traum! Da ich dich in der Welt nicht finden konnte, hab* ich dich aus meinem 
Fleisch geschaffen . * * Und nun Liebe, habe ich dich! Ich bin die, welche ich 
liebe! Je suis edui que faime. u 

Der folgende Traum aus J, Wassermanns Roman: „Faber oder die verlorenen 
Jahre“ (Fischer, Berlin 1925) enthalt eine Kastratio 11sverw alirung gegenüber 
der Frau durch das Symbol der silberweißen Eidechse gewissermaßen 
doppelt ausgedrückt. (Über die symbolische Bedeutung der Eidechse siehe Freuds 
Traumdeutung. Ges. Schriften, Bd, III, S. 74.) 

Faber hat in jahrelanger, durch den Krieg erzwungener Abwesenheit von seiner 
Gattin dieser trotz sexueller Entbehrungen die Treue gehalten. Zurückgekehrt, findet 
er sie herzlich, aber frigid, ganz in sozialem Dienste unter einer mütterlichen Frau 
aufgehend. Er träumt vor dem Koitus, der ihm die Frigidität bestätigt, folgendes 
(S. % und 86); 

,,JcA saß in einer Matrosenkneipe in einer Hafenstadt. Um mich herum lauter verkommene , 
verluderte Subjekte, Männer und Weiber* Niemand kümmerte sich uni mich, aber ich wußte, 
lüenn ich die geringste Bewegung mache oder nur eine Silbe rede , fallen sie alle über mich her . 
Weshalb aber war ich da in dieser Kneipe, in der alles so verrucht und traurig war ? Weil ich 
herunter gesunken war , wie in tiefes Wasser, und ich hatte bloß den einen Gedanken : me mehr 
wirst du an die Oberfläche kommen , alles Süße hast du verloren . Komischerweise war es be¬ 
sonders dieses Wort: das Süße; das Siiße hast du verloren , schrie es in mir ; du kannst es dir 
nicht vorstellen, mit welcher Gewalt. Nie habe ich so einen Ausdruck gedacht; außer in diesem 
Traum ist mir nie so etwas eingefallen. Und das Süße war etwas ganz Bestimmtes , mußt du 
wissen, es schwebte mir vor als eine silberweiße Eidechs e, Ich war so erfüllt von dem 
Verlangen danach, daß ich mich platt auf den Boden warf , das Gesicht auf die schmutzigen 
Dielen preßte, und unter dem tobenden Gelächter des ganzen unflätigen Haufens blieb ich liegen, 
während ich die Fingernagel ins Holz grub und die Lippen blutig schürfte. Da näherte sich 
mir eines von den Frauenzimmern, das scheußlichste und lasterhafteste von allen; höhnisch 
entblößte sie ihren Busen 7 und da , zwischen den Brüsten glitzerte die silberne Eidechse, 
genau, wie ich sie in meinem schrecklichen Verlangen gesehen hatte. Wie ich nun auf springen 
will, ergreift sie das Eidechschen und hält es mit den Armen in die Hohe. Ich knie vor ihr f 
da grinst sie mich hexenhaft an und schreitet mit dem erhobenen Tier nach rückwärts; und ich, 
* in der Angst und Verzweiflung, ich konnte das silberweiße Gebild nicht erreichen und bis 
an die Haut bedrängt von all den Menschen in dem engen Raum , krieche ihr auf allen Vieren 
nach, selber wie ein Tier, und das Johlen und Grohlm wird immer ärger und reißt mich endlich 
cuj dem Schlaf a 

1) Ges. Schriften, Bd. VIII, S. 457 ff. 











Farbensymbolik 511 


Träumers erklärt, als überindividuell, typisch, symbolhaft. Mit vollkom¬ 
menster Subtilität zeigt Freud die männlich-kastrierende Bedeutung des 
Traumbildes; aber obschon er die Bedrohung des kleinen Träumers von 
weiblicher Seite mit gleicher Peinlichkeit völlig klarstellt, scheint er doch 
nicht geneigt, im weißen Wolfe das zu sehen, was er meiner Überzeugung 
nach ist, ein bisexuelles, weib-männliches Symbol mit kastrierender 
Bedeutung. Merkwürdig ist es ja auch, wie im Grimmschen Märchen 
vom Wolf und den sieben jungen Geißlein der Wolf an Stelle der Mutter 
tritt und ihre Angleichung an sie durch Weiß, d. h, durch Kreide, die 
er verschluckt, und durch Mehl, das er sich an seine Pfoten kleben läßt, 
vollzieht. Es wäre eine Arbeit für sich, diese hier bloß angedeuteten Dinge 
herauszuarbeiten und in Vergleich zu setzen zur bisexuellen, mann¬ 
weiblichen Symbolhaftigkeit der „schwarzen Spinne“. 1 „Obschon 
. . . auch die Spinne als männliches Sexualsymbol bekannt ist, so ist sie 
doch von jeher fast ausschließlich als ein Symbol des Weibes dargestellt 
worden, und zwar des teuflischen Mannweibes, das auf Vernichtung der 
Männer sinnt, um deren Stelle einnehmen zu können.“ 2 3 4 

Nur in Kürze sei hier darauf hingewiesen, daß Weiß und Schwarz 
keineswegs die einzigen Farbensymbolisierungen von Weiblich und Männ¬ 
lich sind. Vielmehr kann Weiblich auch in Blau und Gelb, Männlich 
in Rot und vielleicht Grün seinen Ausdruck finden. Dabei ist es so, daß 
in Blau und Grün Passivität, in Gelb und Rot Aktivität vorherrschen, 
mithin als ausgesprochen männliche Farbe Rot, als weibliche Blau 
zu gelten hat. 

Beispielsweise sei auf Flournoys 5 Darstellung des ostasiatischen, Taikih 
genannten, kreisförmigen, durch liegende S Linie geteilten Symbols ver¬ 
wiesen; „Die beiden Scheibenhälften repräsentieren, eng aneinander- 
gefügt. das männliche und das weibliche Element; das obere ist rot (der 
purpurne Himmel), das andere blau (das Meer).“ Das Taikih wird auch 
Yn-Yang benannt.“ Es stellt also die Vereinigung der beiden oben er¬ 
wähnten Prinzipien dar, des dunkeln, männlichen Yn und des hellen, 
weiblichen Yan. Das Beispiel zeigt somit, wie Männlich sowohl 

x) Vgl. K. Abraham: „Die Spinne als Traumsymbol.“ Internationale Zeitschrift 
für Psychoanalyse, VIII, S. 470. 1922, und insbesondere G. H. Gräber: „Die schwarze 
Spinne.“ Imago, Bd. XI, Heft 3. 1925. 

2) Gräber, a. a. 0 , S. 296. 

3) A. a. O. S. 253. 

4) Regnault: „MMecine et pharmacie chez les Chinois et chez les Annamites.“ 

Paris 19024 p* 28 et 29* 









Hans Christoffel 


512 


durch Schwarz als Rot, 1 Weiblich sowohl durch Weiß als Blau 
symbolisiert werden kann. 

Wir kennen Mantel und Hut als typisch männliche Symbole; sie sind 
als Attribute des als ehrsamen Bürgersmannes erscheinenden Teufels rot 
(der Mantel) und schwarz (der Hut) in der von Freud geschilderten 
Teufelsneurose aus dem siebzehnten Jahrhundert, 2 Ganz besonders frappant 
aber tritt die Gleichbedeutung von Schwarz und Rot als männlicher 
Farben aus den Teufelsbeschreibungen von Jeremias Gotthelf hervor. 3 4 

Ein Masochist träumt, ein Kamerad sei ins Zimmer gekommen und habe 
ihn masturbiert. Daraufhin habe er diesen verklagt, daß er ihn schwarz mastur¬ 
biert habe. Der Träumer assoziiert „Schwarz onanieren — Blut onanieren 
— bei der , ersten* Pollution mit sechzehn bis zwanzig Jahren hatte ich 
nächtlicherweise die Idee, Blut zu verlierenEin Zwangsneurotiker mit 
schwerem Kastrationskomplex chargierte während Jahren seine Männlich¬ 
keit, trug Tag für Tag einen schwarzen Cutaway und ließ seine 
Zimmer ausschließlich rot tapezieren. Zur Zeit der Lösung der anal- 
sadistischen Fixierung, jedoch als diese Entwicklung noch in statu nascendi 
und noch nicht vollendete Tatsache war, begann er die übliche Herren¬ 
kleidung zu tragen, und schlug seine Vorliebe für Rot in eine solche für 
Gelb und Blau um. Verschiedene Fehlhandlungen passierten ihm damals. 
Beispielsweise versah er das Rot von sogenannten Judenkirschen in Gelb, 
und wandelte sich in seiner Erinnerung der rote Mantel der Kalypso auf 
dem bekannten Gemälde von Arnold Bocklin in Blau. Es braucht kaum 
erwähnt 211 werden, daß in diesem Stadium der Analyse, wo die weib¬ 
lichen Farben an Stelle der männlichen bevorzugt wurden, auch ein Um¬ 
schwung von einer homo- zur heterosexuellen Objektbesetzung sich zeigte, 41 

1) Daß Schwan und Rot phänomenologisch ausammengehöxen, scheinen auch die 
Halluzinationen des Epileptikers zu zeigen. Die Einleitung eines epileptischen Angst- 
zustandes „bildet vielfach eine ganz bestimmte, sich regelmäßig wiederholende Sinnes- 
täuscliung; namentlich bemerkenswert ist der schwarze Mann und das Sehen 
von roten Gegenständen,“ (Kräpelin: „Psychiatrie.“ III, Rd., S. 1061. 1915.) 

2 ) Ges, Schriften, Bd. X, S. 409. 

Vgl. Gräber: „Schwarze Spinne“, a. a, O* S. 287: Die spätere Höllen di enerin 
Christine bleibt vor dem Bösen „stehen wie gebannt, mußte schauen die rote Feder am 
Barett, und wie das rote Bärtchen lustig auf- und iiiederging im schwarzen Gesicht,“ 

4) Zwei kurze Beispiele aus Gräber (a. a. O.) mögen nochmals die weibliche 
Bedeutung von Weiß und Blau illustrieren; eines Kommentars bedürfen sie sonst 
nicht (S. 285); „In Hirschhorn (Hessen ^ wurde ein junger Mann jede Nacht vom 
Alp getfuält Schließlich fing die Mutter letzteren in ein Tuch, sperrte ihn in eine 
Kommode und ließ den Schlüssel stecken. Der Sohn war erlöst. In Erlenbach aber 
starb zur selben Stunde ein Mädchen, Als man es eben begraben wollte, zog der 


























Farbensymbolik 


3*3 


Anna Martin hat 1921 Untersuchungen über „Die Gefühlsbetonung 
von Farben und Farbenkombinationen bei Kindern“ im Alter von vier bis 
sechzehn Jahren angestellt * 1 und gefunden, daß Rot „das größte assoziative 
Moment für beide Geschlechter“ hat. Sie konstatierte ferner: „Die Mäd¬ 
chen ziehen im allgemeinen das Rot dem Blau, die Knaben das Blau dem 
Rot vor. Gelb neigt anscheinend zu einer starken, aber schwankenden 
Gefühlsbetonung“ (S. 43); Grün wird weder positiv noch negativ stark 
gefühlsbetont. Es ist unmöglich, aus dieser Arbeit Genaueres zu unserem 
Thema zu entnehmen, da sie im wesentlichen statistisch ist, und keine 
genaueren Versuchsprotokolle vorliegen. Interessant mag immerhin er¬ 
scheinen, daß in der Bewertung der Farben eine Geschlechts¬ 
differenz besteht und bei dieser das von uns als männliches Symbol 
angenommene Rot von den Mädchen bevorzugt wird, während die Knaben 
das weibliche Blau höher schätzen. 

Zum Grün als atypisch-männlicher, als passiver Farbe führt 
uns „der Traum vom doppelten Ich und der Traum vom Weinen“ aus 
dem Roman „Oberlins drei Stufen“ von Jakob Wassermann (Fischer, 
Berlin 1922). Offenbar haben wir in der Symbolbedeutung des Grün eine 
nahe Beziehung zum weiblichen Blau; ohne daß wir das hier des Nähern 
ausführen könnten, ist Grün die Farbe des noch in der Mutteridentifikation 
befindlichen Sohnes, des weibischen Mannes. 

Diese „Stufe“ und den Übergang 1 zum reifen. Manne schildert Wassermann hei 
seinem Helden zur Zeit, als folgender Traum sich ein stellte. Oberlin bekommt in 
Erwartung seiner Geliebten Hanna eine Herzneurose; er mißtraut ihr, ohne daß er 
weiß, daß sie die Mörderin seiner eigentlichen Geliebten, ihrer Zwillingssehwester 
ist; er liebt diese in ihr; die körperliche Vereinigung- mit Hanna und die Liehe einer 
einzigen Nacht bringt Klarheit; Hanna sühnt ihr Verbrechen mit dem freiwilligen 
Tode. Er selber sucht im Schmerze seinen früheren Lehrer und Führer und merkt, 
daß er ihm entwachsen, daß er frei und für die Welt offen ist. Dieser Entwicklung 
gibt nun der Traum Ausdruck; noch mehr aber dem Sträuben vor den drohenden 
Auseinandersetzungen, der Lähmung des noch in der Ödipus-Bindung befindlichen 
Muttersohnes* 

jjEr ging durch ein vierhogiges Rundtor , das aus sah wie eine Riesenhand^ die mit den 
Fingerspitzen gegen die Erde gesetzt ist . Keine Stimme redete^ aber er wußte , daß es entscheidend 


junge Mann in Hirschhorn den Schlüssel der Kommode weg, ein weißes Mäuschen 
schlüpft heraus und Fährt bald darauf in den Mund der Toten, die wieder er wacht. <c 
(S. 28a.) „Eine andere Sage berichtet von einem Jüngling, der mit Hilfe der wunder¬ 
tätigen Kraft einer blauen Blume schließlich den Drachen (Vater) erlegt und die 
dadurch erlöste Jungfrau heiratet. Die blaue Blume aber fliegt fort und ruft: „Ich 
bin die Seele deiner verstorbenen Mutter.** 

1) Pädagogisches Magazin, Heft 831* Beyer, Langensalza. 








Hans Christoffel 


5 1 4 


für ihn sein würde , u/e/c/rfn der vier 1 Bogen er ging* Das Tor war ganz aus grünem 

Stein ■ Ohne sich lange zu besinnen ? ging geradeaus ; und mit dem Augenblick, liJO er den 
Bogen durchschritten hatte 7 kam eine herzzerreißende Furcht über ihn; denn ihm dünkte , er sei 
auf einmal außerhalb der Welt. Die Landschaft , die sich vor ihm dehnte , war so grün wie 
jenes Tor; es war nicht das Grün, wie es die Blätter haben , nicht das Grün des Mooses , nicht 
das Grün von alten Kupfergefäßen; es war ein Grün r das er noch nie gesehen 7 ein finsteres 7 böses , 
totenhaftes Grün. Darüber wölbte sich etwas wie ein Himmel; aber es war kein Himmel) es 
eine weißliche Blase y aus deren unteren Rändern weißliches Licht strömte ■ Weh und breit 
keine Seele , die vollkommenste Verlassenheit. Von Furcht bis in die Knochen geschüttelt , dachte er; 
jetzt werde ich endlich wissen , woran ich bin. Zu rasten war ihm nicht erlaubt , er mußte gehen 7 
beständig vorwärts gehen* Fr wollte sich beschweren , daß er tnüde &ei 7 aber das JJort müde 
fiel ihm nicht ein f er dachte statt dessen bloß grün« 

Fs folgt der Kampf mit einem schw arzen Ribera, der aus dem Grünen wächst * Ob erlitt 
erwacht, nachdem er vergeblich einen Stein gegen das Ungetüm geschleudert, der 
Stein gegen ihn selber abgeprallt ist- Aber nun schläft er wieder ein und beginnt nun in 
den Bimmel zu fliegen^ der sich aus der v weißlichen Blase “ in „azurne Höhe« gewandelt 
hat 7 findet Gottvater , auf einer Scharlach wolke sitzend , sucht und findet endlich seinen B lick 
und sinkt nun selig befreit^ weinend zur Erde nieder. 


Vergleicht man diese Farbensymbolik mit derjenigen des Taikih, so fällt vielleicht 
auf, wie der Traum anfänglich die Geschlechter verkehrt, das Weibliche oben, das 
Männliche unten ist, jenes fahl weiß, dieses totengrün und schwarz; und wie dann 
aber, ganz wie im Taikih das Männliche, Gottvater auf der Scharlachwolke, im 
Weiblichen, das nimm ehr zur azurblauen Hohe geworden ist, thront* — Daß Blau 
übrigens heim freien Assoziieren als Farbe des Madonnenkults, als das lockende, ver¬ 
söhnende und tröstende Moment des Katholizismus ungemein häufig bewertet wird, 
verdient hier auch noch Erwähnung* 


# 


Noch ein kurzer Rückblick auf Gräbers schon mehrfach erwähnte 
Arbeit, 1 Wie der Teufel erstmals in der Gotth elf schon Erzählung er¬ 
scheint, kommt Gräber aus analytischen Erwägungen, die Farbensymbo¬ 
lisches außer Spiel lassen, dazu, ihn als Repräsentanten des „weiblichen 
und mütterlichen Prinzips u zu nehmen und in Zusammenhang zu bringen 
mit der „Fiktion der hoch gesteigerten Identifikation mit der Mutter* 
Dementsprechend ist der Teufel nicht, wie später, wo er als 
Vater-Imago erscheint, schwarz und rot, sondern als sit venia 
verbo — Zwitter zwischen Mutter- und Vater-Imago grün, ein 
„grüner Jägersmann w * 2 


1) „Schwarze Spinne", a* a. O- S* 277 f. 

2) Von Gelb sagt F. Kluge in seinem etymologischen Wörterbuch der deutschen 
Sprache, daß es als Wort verwandt sei mit dem lateinischen helvus — graugelb, dem 
griechischen chloros = grün, gelb, chtai = grün, sowie den Wörtern Galle, Gold und 
glühen* Das lateinische flavus = blond, gelb, sei mit dem deutschen blau eines 
Stammes* — Solche Bedeutungsandemmg stammgleicher Worte sei häufig* Combai 
(„Dans les Temples ämp&riaux de la Chine“, Bruxelles 1912) bestätigt das mit Bei¬ 
spielen von verschiedenen Völkerstämmen Asiens und Amerikas. So werde z. B* Blau 
und Grün „verwechselt" oder mit einem einzigen Wort bezeichnet; desgleichen Blau 
und Schwarz* Das lateinische coeruleus bedeute je nachdem schwarz, grün, himmel- 

























F arbensymbülik 


515 


Bei Untersuchung der Symholbedeutting von Gelb wird mehr als bei 
den andern Farben auf die Nuancen zu achten sein. Insbesondere wird sowohl 
das, was kurz als Golden bezeichnet wird, wie auch ein Gelb mit mehr 
oder weniger schwärzlicher Beimischung, also das Braun, in den Kreis 
unserer Betrachtung zu ziehen sein, 

„Eine Sängerin trat auf in Gold und Braun*^ träumt eine Analysandin 
von ihrer Freundin, die sich gegen den Willen des Vaters ihrer Kunst 
zugewandt und sich trotzig durchgesetzt hat, fortan in Fehde mit dem 
Vater, Die gleiche Analysandin steht in unbewußt stärkster Ablehnung 
ihrem Gatten gegenüber; stark libidinös wehrt sie doch jeden Koitusversuch 
durch Scheidenkrampf ab; ihre genitale Erregung beschränkt sich auf die 
Klitoris; vor allem aber sind die Brüste erogene Zonen, und, verdrängt, der 
Mund; sie kann die Zunge niemals herausstrecken, sondern verschließt 
krampfhaft den Mund; auch litt sie an derartiger Anorexie und Magen¬ 
krämpfen, daß sie eine Probelaparatomie provozierte, wie sie überhaupt 
während Jahren von einem furor operativus befallen war und operativ 
sowohl defloriert wie vaginal dilatiert und halbseitig kastriert worden ist* 

oder meerblau* — So begegnen wir auch beim früher erwähnten Symbol des Taikih 
einem Grün an Stelle des Blau sowie gelegentlich einer völligen Vertauschung der 
Sy mbolcjuali täten, so daß alles, was sonst dem Yan zugesckrieben wird, dem Yn 
zukommt* 

Zur Symbolbedeutung des Gelb mag folgendes aus Goethes „Entwurf ein er 
Farbenlehre“ (6* Abteilung, sinnlich-sittliche Wirkung der Farbe) zitiert werden: „Gelb 
besitzt eine heitere, muntere, sanft reizende Eigenschaft . - * Wenn nun diese Farbe, 
in ihrer Reinheit und hellem Zustande angenehm und erfreulich, in ihrer ganzen 
Kraft aber etwas Heiteres und Edles hat, 90 ist sie dagegen äußerst empfindlich und 
macht eine sehr unangenehme Wirkling, wenn sie beschmutzt oder einigermaßen ins 
Minus gezogen wird* So hat die Farbe des Schwefels, die ins Grüne fällt, etwas Un¬ 
angenehmes* Wenn die gelbe Farbe unreinen und unedlen Oberflächen mitgeteilt 
wird, wie dem gemeinen Tuch, dem Filz und dergleichen, worauf sie nicht mit ganzer 
Energie erscheint, entsteht eine solche unangenehme Wirkung- Durch eine geringe 
und. unmerkliche Bewegung wird der schöne Eindruck des Feuers und Goldes in die 
EmpEndung des Kotigen verwandelt und die Farbe der Ehre und Wonne zur Farbe 
der Schande, des Abscheus und Mißbehagens umgekehrt. Daher mögen die gelben 
Hüte der Bankerottierer, die gelben Ringe auf den Mänteln der Juden entstanden sein; 
ja die sogenannte Hahnreifarbe ist eigentlich nur ein schmutziges Gelb*“ Goethes 
Äußerungen entsprechen der von Martin experimentell bei Kindern gefundenen, 
bereits erwähnten, starken, aber labilen Gefuhlsbetonung, welche Gelb gegenüber 
besteht* „Gelb ist die typisch irdische Farbe“, sagt Kandinsky („Über das Geistige 
in der Kunst“* 5. AufL, $* 64* München 1912). „Gelb kann nicht weit in die Tiefe 
getrieben werden* Bei Abkühlung durch Blau bekommt es * * * einen kränklichen Ton. 
Verglichen mit dem Gemütszustand des Menschen konnte es als farbige Darstellung 
des Wahnsinns wirken, aber nicht der Melancholie, Hypochondrie, sondern eines 
Wutanfalles, der blinden Tollheit, Tobsucht* Der Kranke überfällt die Menschen, 









516 


Hans Christüffel 






Ihrem Manne wirft sie mangelnde Aggressivität vor, mangelnde Potenz, 
so daß ihre eigene Erregung immer wieder nach ebenso heftigem wie kurzem 
Aufflackern verfliege. Im Traume gibt sie dem so Ausdruck, daß sie gelbe 
Blumen pflückt; aber der Mann läuft ihr davon und sie bleibt weinend 
zurück. Sie symbolisiert ihr Genitale als eine Reihe ge 1 ber Messingpfannen 
mit Metallstielen; Reitknecht und Zahnarzt kommen in diesem Traume 
und den Einfällen dazu als männliche Partner. Sie projiziert sich selbst in 
den Mann, zeichnet ihm eine gelbe Mütze in Form einer Glans und 
blaue Hosen usw. Eine andere Analysandin ist durch „Gold“ von ihrem 
Gatten getrennt und findet sich erst mit ihm vereint, wie sie sich selber 
mit ihrer ganzen Umgebung in goldiges Licht getaucht sieht. Ihrem Ab¬ 
scheu vor dem Gliede des Mannes gibt sie so Ausdruck, daß sie ihn mit 
goldenen Zähnen träumt; sie versucht vergeblich dieses scheußliche Gold 
wegzuküssen. Erst wie sie sich überwunden hat und sich ihm gibt, ist die 
ekelhafte Vergoldung weg. „Dann wache ich halb auf in seinen Armen.“ 
Den Analytiker träumt sie in einem kurzen Stadium des Widerstandes 
als Mann im weißen Mantel und mit goldenen Zähnen, ihre ungeborenen 


schlagt alles zugrunde und schleudert seine physischen Kräfte nach allen Seiten, 
verbraucht sie plan* und grenzenlos, bis er sie vollständig verzehrt hat, Es ist auch 
wie die tolle Verschwendung der letzten Sommerkräfte im grellen Herbstlaub , , —• 

Man vergleiche zu diesen Ausführungen „Die psychologische Entwicklung Vincent 
van Goghs“ von Westerinan Holstijn (Imago, Bd. X, 1924)« Der Autor deutet 
das alles beherrschende Gelb bei van Goghs Bildern als „symbolisierte Libido“, „die 
Allmacht der Liehe“. „Gelb und Blauviolett komplementierten einander, wie das 
männliche und das weibliche Prinzip einander komplementieren,“ An dieser Deutung 
darf stutzig machen, daß das von W. H. als weiblich gedeutete Blau ein männliches 
Kot beigemischt bat, violett ist. Und da es sich bei diesem Gelb und Blauviolett um 
ein ^manage des compUmentaires u ^ ein „omour de deux amoureux“ handelt, so müssen wir 
annehmen, daß das dem weiblichen Prinzip zugemischte männliche Element dem 
Gelb abgeht, somit dieses nicht rein männlich ist. Eine Färb enges chlechts-Symbolik, 
wie sie hei van Gogh vorliegt, läßt an eine nicht aus differenzierte Sexualität denken* 
wozu uns ja auch sonstige Anhaltspunkte zur Verfügung stehen, Lehrreich in dieser 
Beziehung ist Alice Bälints Arbeit: „Die mexikanische Kriegshieroglyphe atl- 
tlachinolli“ (Imago 1923, Heft 4). Daß das Farbenpaar Blau und Gelb symbolisch 
weniger in die Richtung einer voll ent wi ekelten Genitalität weist, sondern vielmehr 
auf Urethral- und Analerotik deutet, geht aus BAlints Untersuchungen mit Wahr¬ 
scheinlichkeit hervor; Wasser, Urin wird blau verbildlicht, Feuer und Kot gelb oder 
braun. — Wir haben oben Goethe zitiert, der ein schmutziges Gelb als wohl mittel¬ 
alterliche Kennzeichnung der zu Geldmanipulationen Gezwungenen und deswegen 
wieder Verachteten, d, h. der Juden und Wucherer erwähnte. Somit wieder ein Hin¬ 
weis auf Anales* Gelb sei aber auch die Farbe der Hahnreie, sagt Goethe, wozu 
bei gefügt werden mag, daß Hahnrei Kapaun bedeutet und sich zum Sinne sowohl 
des betrogenen und deswegen verhöhnten Ehemannes wie auch des Ehebrechers aus¬ 
gewachsen hat. (Kluge, a. a. O.J 


































F arb en s y m b ollk 


517 

Kinder als „kleine, leuchtende Punkte“, „wie Leuchtkäferchen“. Bei 
einer Dame, in deren ersten Analysenträumen der Mann ohne Kopf eine 
Rolle spielte (Salome-Motiv, Johannes, Hans = Vorname des Analytikers), 
äußerte sich die Übertragung einesteils so, daß sie ihm „goldene Kin¬ 
deraugen“ an dichtete, an dem teils so, daß sie ihn wegen seiner Gold¬ 
zahnkronen haßte. Urethralerotik spielte noch in den ersten Schul¬ 
jahren eine starke Rolle: wiederholte Bemühungen, stehend, wie ein Junge, 
zu urinieren, kam während der Analyse in einem Konversionssymptom, 
vor allem aber als Ehrgeiz und in dem öfteren. Vor würfe der Unverschämt¬ 
heit des Analytikers zum Ausdruck. 

Auf weiteres kann ich hier nicht hin weisen. Ich Hebe bloß einige für die Gelb¬ 
symbolik wesentliche Stellen aus einem Briefe der An aly sandin an den Analytiker 
hervor. Es ist erst von Dingen die Rede, die nicht für die Augen des Analytikers 
bestimmt seien. n A propos Ihre Augen, — bilden Sie sich ja nicht ein, daß diese 
noch goldig für mich sind* Seit Wochen haben Sie für mich ganz undefinierbare 
Augen — schwärzlich oder grau oder braun, oder ich weiß nicht was. Ich wollte, 
ich konnte die t Goldigen* wieder einmal sehen! Aber da sind nur die goldigen 
Zähne.“ — „Einmal bin ich mit einem Schrei aufgewacht, bin im Bett aufgefahren, 
ich sah eine rosarote Helle vor mir, ich starrte immerfort draufhin. So nach und nach 
merkte ich, daß es nur das Fenster war und daß dahinter der Morgen dämmerte. 
Ich legte mich wieder hin, da verspürte ich furchtbare Zahnschmerzen, und zwar in 
allen Zähnen oben und unten. Ich befühlte sie, einige Zähne waren so empfindlich, 
daß ich sie kaum berühren konnte. Es dauerte ziemlich lange, bis die Schmerzen 
nachließen und ich wieder einschlafen könnte* Heute Morgen sind meine Zähne wieder 
ganz gesund und ich spüre nicht mehr das Leiseste. Aber es ist mir sonst nicht gerade 
wohl — ich merke, daß die Periode bald kommt*“ » , , Analysandin leugnet dann 
homosexuelle Bindungen, die sich kürzlich der Bearbeitung immer stärker zugänglich 
erwiesen hatten, und fährt fort, das sei eine unerhörte Frechheit von seiten des Analytikers; 
)f er wolle sie homosexuell machen“, um sie los zu werden. Das sei ein raffinierter Betrug, 
„Natürlich haben Sie es auf eine Weise getan, daß Sie sich jederzeit herausbeißen 
könnten — mit Ihren goldigen Zahnen.“ Sie kauft sich Romain Rollands Roman: 
„Anette etSylvie!“ Legt ihn erst mißvergnügt wieder weg und Endet ihn dann herrlich. 
Zwischenhinein erzählt sie folgende Episode von ihrem Zweitältesten Töchterchen. 
„Was ich jetzt schreibe, ist schrecklich — unglaublich. Es ist wegen X. Das Kind 
ist mir furchtbar — ich kann kaum an mich halten — und dabei ist es rein ver¬ 
sessen auf mich, lehnt sich an mich, küßt mich unzählige Male. Schickt man sie ins 
Bett, so ist sie kaum fortzubringen. Heute hat sie mich wieder mit ihrer ewigen Bitte, 
einmal in Abwesenheit von Papa bei mir, in meines Mannes Bett, schlafen zu dürfen, 
gequält. Dabei liebe ich diese einsamen Nächte so sehr, wo ich mit meinen Selbst¬ 
gesprächen lebe. Nein, das andere Bett bleibt leer, das lasse ich mir nicht nehmen.“ 
Nun liest sie Rollands Roman von den zwei Freundinnen, „verschlingt“ ihn, ist ent¬ 
zückt. „Ich hatte keine sehr ruhige Nacht, hatte wieder dieses komische Zahnweh, 
nur viel schwächer als letzte Nacht. Ich träumte von zwei Vögeln , die miteinander zankten 












518 Hans Christoffel 


und sich fast zu Tode pickten; sie waren beide in einem goldenen Käfig ringe schlossen. Es tat 
mir furchtbar weh , diesem Kampfe zuzuschauen — ich spürte förmlich selbst die Schnabelhiebe* 
Ich lag darauf lange wach und zerbrach mir den Kopf, wie man wohl eine Seele 
fassen könne? Wie man sie spüren könne? Ob sie wohl bei den einen groß, hei den 
andern klein sei? Ob man sie auch ganz vernichten könne? Ach, es war ein schmerz- 
liches Sinnen und ich wurde nicht froh davon , * J* 

Zu Braun bloß eine Reihe freier Assoziationen einer jungen Frau: 


„Holz — unser sogenannter Herzlikasten — ,Holz vor dem Haus 1 — von Soldaten 
als Zeppelin bezeichneter erigierter Pferdepenis —* gestern oder vorgestern in den 
See abgestürzter Flieger — gestrige Lokomotiventgleisung an Strecke, die wir selber 
ohne Unfall durchfahren haben — braun = fruchtbar — Kinderausspruch: Papa hat 
braune Haare und weiße sogar —- braun hat etwas Warmes — ich hatte einen ein¬ 
zigen Fliegertraum, wobei ich nicht einmal selber flog, sondern einen Flieger in 
seinem Apparat herrlich kreisen sah — eitler Schmetterling mit prachtvoller Unter- 
flache, die er immer im See spiegelt; sie verlieren dann diese schone Unterfläche — 
gezwungene Deutungen solcher Dinge — Neid auf Frauen mit richtigen Flug träumen.“ 


Es sei nochmals auf Freuds „Geschichte einer infantilen Neurose** 
zurück gegriffen und darauf hingewiesen, wie an den Angsttraum des 
Vierjährigen von den weißen Wölfen sich unmittelbar eine Phobie vor 
gelbgestreiftem Schmetterling anschließt. Freud bringt diese Phobie 
und die Schreckwirkung des Gelb in ätiologisch unzweideutigen Zusammen¬ 
hang mit Kastrationsbedrohung des Jungen, welche er von seiten 
einer Frau anläßlich urethral erotischer Betätigung erfahren. 1 

Daß Gelb und Weiß sich hier gegenseitig vertreten, scheint mir un¬ 
zweifelhaft. Auch widerspricht es individueller Motivierung dieser Farben 
keineswegs, daß sie auch überindividuell sein könnten, zieht doch auch 


i) Die Analogie zwischen Angsttraiim und Phobie ist Sehr weitgehend. Traum: 
77- - * ich sehe mit großem Schrecken^ daß auf dem großen Nußbaum vor dem Fenster ein paar 
weiße Wölfe sitzen“ Auf einer Blume sitzt der gelbe Schmetterling, vor dem den Jungen, 
welcher ihn vorher gejagt, plötzlich Angst ergreift. Dazu kommt noch, daß der gezeichnete 
kahle Baum mit seinen spitzen Ästen durchaus SchmetterJingsform hat („große Flügel in 
spitze Fortsätze auslaufend“). Fügen wir dem noch folgenden Passus bei: »Die Beziehung 
der Gruschaszene zur Kastrationsdrohung bestätigte er durch einen besonders sinn¬ 
reichen Traum, den er auch selbst zu übersetzen verstand. Er sagte: Ich habe geträumt, 
ein Mann reißt einer Espe die Flügel aus * “ Espe? mußte ich fragen, was meinen Sie 
damit? — Nun, das Insekt mit den gelben Streifen am Leib, das stechen kann. Es 
muß eine Anspielung an die Gruseha, die gelbgestreifte Birne sein. —* Wespe, meinen 
Sie also, konnte ich korrigieren, — Heißt es Wespe? Ich habe wirklich geglaubt, es 
heißt Espe. (Er bediente sich wie so viele seiner Fremdepr aehigkeit zur Deckung von 
Symptomhandlungen.) Aber Espe, das bin ja ich, S. P. (die Initialen seines Namens). 
Die Espe ist natürlich eine verstümmelte Wespe, Der Traum sagt klar, er räche sich 
an der Gruseha für ihre Kastrationsdrohung.“ 



































Farbensymbolik 51g 


Freud selber 1 eine Analogie zwischen unbewußtem Wissen seines kind¬ 
lichen Neurotikers und dem Instinkt: „Dieses Instinktive wäre der Kern 
des Unbewußten . . .* Glaube ich also in Weiß und Gelb weibliche 
Schreckfarben vermuten zu müssen, so gibt mir hiezu noch besonderen 
Anlaß der deutliche Gegensatz des erwähnten Traumes und der Phobie 
zu der Traumbedrohung, wie sie der Kleine von männlicher Seite durch 
einen aufrechten Wolf, einen aufrechten Löwen erfährt. Während wir 
aber hier immer noch, wenn auch vorwiegend männliche, so doch einiger¬ 
maßen bisexuelle Symbole vermuten können, so findet in einem dritten 
Traum die Zerlegung in Männlich und Weiblich statt und es tritt nun 
hier als unzweideutig männliche Farbe das Schwarz auf: „In 
diesem früheren Traum sah er den Teufel im schwarzen Gewand und in 
der aufrechten Stellung, die ihn seinerzeit am Wolf und am Löwen so 
erschreckt hatte. Mit dem ausgestreckten Finger wies er auf eine riesige 
Schnecke hin. Er hatte bald erraten, daß dieser Teufel der Dämon aus 
einer bekannten Dichtung, der Traum selbst die Umarbeitung eines sehr 
verbreiteten Bildes sei, das den Dämon in einer Liebesszene mit einem 
Mädchen darstellte. Die Schnecke war an der Stelle des Weibes als exquisit 
weibliches Sexualsymbol.“ 2 

* 

Einleitend habe ich an gedeutet, daß Symbol und Begriff sich gegensätzlich 
verhalten. Während dieser abgegrenzt ist und selber trennt, verbindet jenes 
und schillert in seiner Bedeutung. Aber Symbol und Begriff sind doch nicht 
durchaus getrennte psychische Wesenheiten; es vermag ein Symbol mit 
zunehmender Bewußtheit ebensowohl begrifflich zu werden, wie ein Begriff 
seine Schärfe verlieren und zum Symbol sich wandeln kann. 

Wie allem Unbewußten steht auch der Symboldeutung ein mehr oder 
weniger starker Widerstand entgegen. Was speziell die Farben anbetrifft, 
so lautet ein Spruch: „de gustibus et coloribus non est disputandum“. „Es 
hatte von jeher etwas Gefährliches, von der Farbe zu handeln“ — sagt 
Goethe (Entwurf einer Farbenlehre. Cottasche Jubiläumsausgabe, Bd. 40, 
S. 72) — „dergestalt, daß einer unserer Vorgänger gelegentlich gaT zu 
äußern wagt: Hält man dem Stier ein rotes Tuch vor, so wird er wütend; 
aber der Philosoph, wenn man nur überhaupt von Farbe spricht, fängt 
an, zu rasen.“ 


1) Ges, Schriften, Bd* VIII, S. 566. 

2) Freud, a. a. O. VIII, S. 511* 






5 2 o Christoffel: Farbensymbolik 


Das Symbol gilt als mehr oder weniger „stummes u Traumelement, 1 2 
d* li. als Traum teil, zu dessen Auflösung die Einfälle des Träumers nicht 
genügen, sondern dessen Deutung nur oder vorwiegend mit Hilfe des 
Folklore möglich ist.^ Symbolische, d* h. typische und individuelle 
Motivierung solcher Traumelemente schließen sich aber, wie 
wiederholt betont, keineswegs aus. „Somit nötigen uns die im 
Trauminhalt vorhandenen, symbolisch aufzufassenden Elemente zu einer 
kombinierten Technik, welche sich einerseits auf die Assoziationen des 
Träumers stützt, anderseits das Fehlende aus dem Symbol Verständnis des 
Deuters einsetzt*“ 3 Symbolkenntnis ist für den Deuter unerläßlich. Dem 
Analysanden gegenüber aber empfiehlt sich sparsamster Gebrauch bloßer 
Symbol den tun gen. Sie haben in der Hauptsache bloß vorläufigen Wert 
in der analytischen Therapie; werden sie nicht durch individuelle Lö¬ 
sungen ergänzt und ersetzt, so ist die Arbeit bloß zum Teil geleistet. 
C. G* Garns 4 schrieb einst: „daß, obwohl Bewußtes und Unbewußtes 
in Wahrheit nur die beiden Pole eines und desselben Wesens sind, doch 
zwischen beiden eine ewige Grenze gezogen ist, ja, daß sie sich in dieser 
Beziehung gewissermaßen verhalten wie Quadrat und Zirkel, wo zwar der 
Kreis von dem geradlinigen Maße bis auf einen gewissen Punkt allerdings 
gemessen werden kann, niemals jedoch in demselben ganz aufgeht*“ So 
ist Symboldeutung bloße Quadratur des Zirkels* Und wenn auch das Un¬ 
bewußte des einzelnen starken Anteil hat am Unbewußten der gleich¬ 
zeitigen und phylogenetischen Kollektivität, so können doch seine Produkte 
zwar mit Hilfe der Symbolik annähernd erfaßt werden, ihre restlose 
Deutung aber nur aus dem Individuum selbst erfahren. 


1) Freud, Vorlesungen. Ges* Schriften, Bd* VII, S. 151. 

2) Freud, a« a. Cb S* 160* 

5) Freud, Traumdeutung. Ges* Schriften, Bd. III, S. 69* 

4) „Über Lebensmagnetismus und über die magischen Wirkungen überhaupt*“ 1857, 




























Das Erbe des Fortunatus 


Von 

Vilma Kovacs 

Budapest 

Das Problem der vollwertigen Männlichkeit ist ein Hauptproblem der 
Neurose und wurde bereits in der psychoanalytischen Literatur von den 
verschiedensten Seiten beleuchtet, 1 2 In einer ganzen Reihe von Fällen hatte 
ich Gelegenheit, eine bisher weniger beachtete Seite dieser Frage zu unter¬ 
suchen, und zwar die psychologische Rolle des Skrotum bei der Entwicklung 
zur Genitalität * Diese Fälle gaben mir Gelegenheit, die mit dem Skrotum 
verbundenen unbewußten Phantasien aufzudecken, die wahrscheinlich auch 
im normalen Seelenleben eine Rolle spielen* Auf diese letztere Vermutung 
brachte mich das uralte Volksmärchen von Fortunatus und seinem Säckel, 
in welchem der ganze Skrotumkomplex in geradezu vollkommener Weise 
aufgearb eitet ist* 3 * 5 

Fortunatus erhält von seinem Vater folgendes zum Erbe: einen Hut, mit 
dem man dort ist, wo man sein will, und einen Säckel* der nie ver¬ 
siegt. Er mahnt ihn, die zwei Dinge nicht voneinander zu trennen, da 
dies Unglück über ihn bringt* Fortunatus nimmt sein Erbe, geht zu Hofe, 
wo er mit großem Reichtum auffallen will, um damit die Prinzessin zu 
erobern. Die Prinzessin ist vom Glanze betört, doch liebt sie ihn nicht und 
will nur sein Geld* Sie belauscht ihn, woher sein Reichtum stammt, und 
schneidet ihm im Schlaf den Säckel ab. Fortunatus sieht sich in Armut, 
fliegt mit dem Hut auf eine Insel, wo Zauberfrüchte wachsen* Er nimmt 


1) Ferenczi, Rank, Reich* 

2) Ich muß hier bemerken, daß ich Skrotum promiscue auch auf den wertvolleren 

Teil, den Inhalt des Säckchens anwende, so wie es in den Traumen und Phantasien 

der Neurotiker zum Ausdruck kommt. 

5) Vgl. Antti Aarne: Märchenforschung* Die hier veröffentlichten zahlreichen 
Varianten enthalten alle wesentlichen Merkmale, die bei der Deutung eine Rolle spielen. 


Imago XII 


21 




522 


Vilma Koväcs 


von zwei Bäumen Äpfel, und kehrt zum Hofe zurück. Verkleidet, verkauft er 
der Prinzessin von den Früchten, die davon ißt und Hörner auf der Stirne 
bekommt. Nun große Verzweiflung im Lande, die Krankheit der Prinzessin 
will nicht weichen. Fortunatus erbarmt sich ihrer, will ihr helfen, wenn 
sie ihm den Säckel zurückgibt. Als sie dies tut, gibt er ihr von den guten 
Früchten, die Hörner fallen ab, sie ist geheilt. Nun heiratet Fortunatus 
die Prinzessin und sie leben zusammen in Glück und Freuden. 

Für den Psychoanalytiker ist es nicht schwer, die Sprache des Unbewußten 
in dieser Märchensymbolik zu erkennen. 



Der Hut, mit dem man dort sein kann, wo man sein mochte, und der 
nie versiegende Säckel, die beiden Dinge, die nicht voneinander zu trennen 
sind, können wir als Symbole für Penis und Skrotum mit seinen Einschlüssen 
erkennen. Beide zusammen machen die vollwertige Männlichkeit aus. 
Wenn Fortunatus die Prinzessin mit seinem Reichtum erobern will, so 
begeht er das Unrecht, Penis und Skrotum voneinander zu trennen. Dies 
bedeutet die libidinöse Betonung der analen Sexualität, die ihn hindert, 
auf die wahre Objektliebe überzugehen. Er wagt nicht die männliche 


































Das Erbe des Fortunatus 


5 2 5 


Erobererrolle, sondern entsagt dem Penis und versucht nur mit analen 
Fähigkeiten zu imponieren. Diese infantile Einstellung des Mannes drängt 
auch das Weib auf die anal-sadistische Stufe zurück. Sie erblickt ebenfalls 
im Geldverdienst die Männlichkeit (Verschiebung der Libido von Penis 
auf Skrotum) und glaubt durch Reichtum ohne Mann fertig zu werden. 
Zu diesem Zwecke nimmt sie vom Manne die unversiegbare Quelle seines 
Reichtums, das Skrotum samt Hoden fort, d. h. sie kastriert ihn, 1 und 
umgürtet sich selbst mit dem Säckel. Wir sehen hier also die Anfänge 
der Neurose der Frau, ihre Identifizierung mit dem Manne, die aber in 


% 



der Realität nur durch Geld verdienst gelingen kann (Fe minist in), denn 
sie kastriert, um selbst Mann sein zu können (Angst vor dem Penis). Nun 
wird dem Mann seine Impotenz bewußt, er ist genötigt, seine Zuflucht zum 
Penis zu nehmen, um die Prinzessin zu bezwingen; er versucht die anale 

1) Gegenüber der bisher in der analytischen Literatur diskutierten Penis abschnei düng 
ist diese Operation die eigentliche biologische Kastration. Die Wegnahme des Penis 
bedeutet den Verlust des wichtigsten Lustorganes, der Verlust der Hoden dagegen 
Sterilität, also Versiegen des Reichtums. 


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324 Vilma Kovacs 


Fixierung zu lösen, um den Übergang zur Genialität zu ermöglichen 
(Heilungsversuch). Es erfolgt ein mißlungener Koitusversuch (schlechte 
Früchte), wodurch die Neurose der Prinzessin vollständig ausbricht. Die 
Hörner, die der Prinzessin wachsen, diese Überkompensienmg des fehlenden 
Penis, 1 erklären deutlich den Zusammenhang der Neurose der Prinzessin 
mit der Impotenz des Fortunatus. Die Impotenz des Mannes verursacht die 
virile Einstellung der Frau und ihre Regression zum Analen. Nur die Liebe 
kann sie heilen, die Objektliebe, zu der Fortunatus durch Mitleid mit der 
kranken Prinzessin gelangt, die ihn fähig macht, ihr die guten Früchte 
zu geben, durch deren Genuß die Hörner, ihre Männlichkeit, ab fallen. 
Beide werden gesund, Fortunatus erlangt durch diese Vereinigung „der 
zärtlichen und sinnlichen Strömung“ (Freud) die vollwertige Männlichkeit; 
bei der Prinzessin geht der Wunsch nach dem Skrotum (Penis) in den Wunsch 
nach dem Kinde über (gute Früchte — Schwangerschaft). Nun kann sie auch 
Ernährerin sein, das Kind säugen. 

D as Märchen mutet uns an wie ein Lehrgedicht* in dem die jungen 
Männer vor der Gefahr gewarnt werden, die aus der Trennung von Skrotum 
und Penis entspringt* Diese Gefahr besteht, wie uns das Märchen lehrt, in 
der Regression auf die anale Stufe. Aber auch die Frauen werden durch 
das Märchen gemahnt, den Penisneid aufzugeben, da die mißlungene Identi¬ 
fizierung mit dem Mann (in diesem Fall mit Hilfe der Gleichung Skrotum = 
Säckel = Vagina) auch sie auf die anale Stufe zurück drängt. 2 Die Analyse 
von Neurotikern brachte ähnliche Phantasien, die nicht nur obige Deutung 
des Märchens bestätigten, sondern auch tiefere Determinierungen zutage 
forderten* Als Hauptursache der Trennung von Penis und Skrotum wurde 
der Kastrationskomplex erkannt, der bei Vorhandensein einer starken analen 
Fixierung diese Fehlentwicklung zustande brachte* 

Die größte Schwierigkeit bietet für den heranreifenden Jüngling, die 
bei der ersten Pollution mit großem Schreck gemachte Erfahrung, daß die 
bisher ohne Folgen betriebene Onanie mit etwas von seinem Ich bezahlt 
werden muß. Der Penis, das Lustorgan, brachte bis dahin kostenlose Lust, 
jetzt muß schon das Skrotum (Testikel) die llechnung dafür bezahlen. Die 
Abneigung gegen diese Bezahlung der Lust hat zwar verschiedene Quellen, 
doch will ich hier vorerst auf eine, die wichtigste, aufmerksam machen* 


1) Nach einer mündlichen Mitteilung von Dr* Foren cai. 

2) Eine Patientin phantasiert, daß sie die Gebärmutter aus der Vagina heraus- 
hängend hat, wie ein Säckchen. 




















Das Erbe des Fortunatu s 


Zum H ergeben des Sperma, welches für das Unbewußte Lebenskraft be¬ 
deutet, wird ein großer Aufwand von Objektliehe benötigt, eine Hingabe, 
die das Ertragen des Verlustes möglich machen solL Diese vollwertige Objekt¬ 
liebe ist weder bei der bewußten noch bei der unbewußten Onanie vor¬ 
handen. Auch bei der psychischen Impotenz können wir beobachten, daß 
eben diese Hingabe, das Hinzutreten von Unlust zur Lust, und das Ertragen 
derselben unmöglich ist, wie es überhaupt die allerschwerste Aufgabe der 
Analyse ist, die Liebesfahigkeit des Patienten so zu heben, daß er imstande 
ist, sich einer Liebe hinzugeben, die für ihn auch die Qualen des Entsagen- 
müssens bereitet. Das ist die Übertragungsliebe, Die bewußte Annahme 
dessen, daß Lieben nicht nur nehmen, sondern auch geben bedeutet, daß 
ein großer Unterschied zwischen „sich lieben lassen“ und „selbst lieben“ 
besteht, macht die vollwertige Liebesfahigkeit aus. Im Körperlichen bedeutet 
dies die willige Hergabe des Sperma bei dem Manne und das Gebären wollen 
beim Weibe. Hier fängt das Rechnen mit der Realität, den Folgen an. 
Mit dem Zaubermittel der Onanie kann man fliegen, wohin man will; der 
Eintritt der Ejakulation bringt Angst, Selbst vor würfe, Schwächegefühl mit 
sich, mit einem Worte ein schlimmes Erwachen zur Wirklichkeit* 1 

In einigen Fällen wird als Verursacher all dieser unangenehmen Erfahrung 
das Skrotum erkannt und es besteht die Tendenz, den Zusammenhang zwischen 
Penis und Skrotum zu verleugnen. In einigen von mir behandelten Fällen 
konnte ich erfahren, daß die Onanie beim Eintritt der ersten Ejakulation 
aufgegeben wurde. Die Spaltung des Genitale in Penis und Skrotum könnte 
mit Hilfe analerotischer Triebregungen vor sich gehen* Eine tiefer liegende 
Ursache dieser Spaltung wäre die Angst vor dem Penis, die in der Abziehung 
der Libido vom Penis und der stärkeren Besetzung des Skrotum zum Ausdruck 
kommt (Abraham). Das Skrotum, welches auch psychisch eine Brücke 
zwischen anal und genital zu sein scheint, ist sehr geeignet, eine Regression 
zum Analen zu ermöglichen. 2 

In vielen Fällen konnte ich beobachten, daß die Kastrationsangst vom 
Penis auf die Hoden verlegt wurde; der Verlust des Skrotum ist schon 

i) Ferencii: Erotischer Realitätssinn (Versuch einer Genitaltheorie). 

s) Ein Patient, der sich materiell geschädigt fühlte, — er verlor eine kleine 
Summe, — bekommt ein unangenehmes Jucken am Skrotum, Er wirft sich in der 
Analysen stunde auf dem Diwan herum, greift endlich wütend in die Tasche — und 
reißt mit dem Ausruf „ich weiß wirklich nicht mehr, wie ich das Skrotum placieren 
soll, damit es mich nicht stört“ — sein Portemonnaie heraus und wirft es auf den 
Diwan. Er öffnet dann das altmodische Ledertäschchen und zeigt mir, daß es ganz 
leer ist. 






Vilma Kovacs 


526 


durch die anale Bewertung weniger unlustvoll. Auch Sexualtheorien, die 
eine Wesensgleichheit von Vagina und Skrotum zum Inhalt haben, sind 
nicht selten. (Aufgeschnittenes Skrotum, zusammen genähte Vagina.) Diese 
Theorien beruhen möglicherweise auf einem unbewußten Wissen von der 
enlwicklungsgeschichtlichen Gleichwertigkeit dieser äußeren Gebilde. 

Die psychische Einstellung zum männlichen Genitale würde nach meinen 
Erfahrungen das folgende Bild ergeben: 

Skrotum (Testikel) Penis 

I I 

anal-mütterlich urethral-männlich 

Geld verdienen Ambition 

Erhalten Schöpferkraft 

~~ V ■ -- * - * - ■ 

V oll w ertige M an ul ich k eit 

Auch das neurotische Weih sieht im Manne nur den Ernährer (Skrotum¬ 
besitzer — Mutter). Die Angst vor dem Penis, dem Sexualakt und dem Ge¬ 
bären halten sie in dieser infantilen Einstellung zurück. Nur durch die 
Identifizierung mit der Mutter, indem sie den Penis und die Schmerzen, 
die er mit sich bringt, zu ertragen und zu lieben bereit ist, wird sie zum 
reifen und gesunden Weibe. 

Wir sehen also, daß das Skrotum seine gesonderte Bedeutung durch die 
enge Verknüpfung mit anal erotischen Phantasien erhält. Daß das Skrotum¬ 
problem bisher theoretisch weniger Beachtung fand, könnten wir damit 
erklären, daß mit der Analyse des analen Charakters auch dieses spezielle 
Problem in der Regel unbemerkt mitgelöst wurde. 

Eine wichtige Beziehung besteht auch zwischen Skrotalphantasien und 
Oralerotik durch die Ähnlichkeit mit der Mutterbrust, nach welcher die 
Sehnsucht ewig besteht und deren Verlust als höchst unlustvoll verdrängt 
wird. 1 Dies wäre auch eine Bestätigung der Auffassung, daß das Skrotum 
den weiblichen, nährenden Teil des Mannes bedeutet und eben deshalb für 
die Frau die Identifizierung mit dem Manne erleichtert. Deshalb wird 
in so vielen Fällen von Neurose das Interesse vom Penis auf das Skrotum 
verschoben, um so das Gefühl der Unzulänglichkeit in bezug auf das Zeugen 


1) Eine Patientin meint, daß beim Koitus das ganze Genitale in die Vagina ein¬ 
geht oder daß das Skrotum gerade den Platz an der Vagina einnimmt. Dies gibt ein 
Gefühl der Vollkommenheit, „dann fehlt gar nichts“* Skrotum und Penis bedeuten 
für sie Mamma und Mamilla. 















Das Erbe des Fortunatas 


5 2 7 


(Schöpfer), auf das Geld verdienen überzuleiten. So wie die Anal- und Urethral - 
Erotik in sublimierter Form im Charakter aufgearbeitet werden, drückt sich 
auch das Interesse für das Skrotum und seine Einschlüsse im Charakter 
des Individuums aus. Es macht den Mann fähig, mütterlich zu fühlen (im 
Ausstößen des Sperma zu gebären) und erleichtert dem Weibe die Identi¬ 
fizierung mit dem Sexualpartner. 








Zur Psychologie der Komödie 

Von 

Ludwig Jekels 

Wien 

W ir verdanken der Psychoanalyse reiche Einsichten in die Psychologie 
der Tragödie* 

Nicht allein, daß wir durch sie erfahren haben, daß die von der Ästhetik 
postulierte „tragische Schuld“ des Helden eigentlich von den verdrängten 
Ödipus-Wünschen des Dichters abzuleiten sei, hat sie uns überdies auf 
die seelische Wechselbeziehung zwischen Dichter und Zuhörer, d. h. auf die 
Gemeinsamkeit der Schuld als auf das entscheidende psychologische Moment 
aufmerksam gemacht, welches es dem Dichter überhaupt erst ermöglicht, 
sein Werk zu schaffen und anderseits dem Zuhörer die Aristotelische „Reini¬ 
gung der Leidenschaften“ bringt. Vor allem hat ja Freud 1 in der antiken 
Tragödie die psychologischen Anklänge an das Urverbrechen festgestellt; an 
dieser Spur festhaltend, hat Winterstein 2 vor kurzem die Anfänge der 
Tragödie zum Gegenstand eingehenden Studiums gemacht und dieselben 
gründlichst durchleuchtet* 

Und all dem gegenüber, wie wenig hat sich die Psychoanalyse um die Kö- 
modie gekümmert I Ein Aschenbrödel neben ihrer so pompös ein herschreit enden 
Schwester war sie bis nun kaum Gegenstand eines nennenswerteren Inter¬ 
esses und wurde höchstens in das Souterrain der Forschung, in die „Fu߬ 
noten verwiesen, und dort mit wenigen Worten abgetan. 

Und dennoch erscheint mir das komische Drama durchaus einer ernsten 
und eingehenderen Untersuchung würdig. Nicht etwa allein deshalb, weil 
darin auch das Problem des Komischen gelegen ist, bekanntlich eines der 


1) I reud: Totem und Tabu* (Ges* Schriften, Bd* X*} 

2) Alfred Winterstein: Der Ursprung der Tragödie. Imago-Bücher VIII, 












Zur Psychologie der Komödie 


3 2 9 


schwierigsten und vervvickeltsten der Psychologie, an das sogar ein Freud 1 
„nicht ohne Bangen“ herangetreten ist, allerdings um dann dasselbe weitest¬ 
gehend zu beleuchten. Denn auch sonst ergibt, wie die vorliegende flüchtige 
Skizze erweisen mag, die psychoanalytische Untersuchung der Komödie 
mancherlei, was unser volles Interesse beanspruchen darf. 

Die von mir vorgenommene Analyse einiger sogenannter höheren Komödien 
ergab nämlich das überraschende Resultat, daß in denselben ein Mechanis¬ 
mus der Umkehrung vorwaltet; d. h. das in der Tragödie auf dem 
Sohn lastende Schuldgefühl erscheint in dem komischen Drama 
auf den Vater verschoben, der Vater ist schuldig. 

Dieser Sachverhalt dürfte ja schon Diderot aufgefallen sein, zugleich 
aber, wie es den Anschein hat, auch seinen affektiven Widerspruch erweckt 
haben, denn er meint in seinem „Discours sur la poösie dramatique“ : 2 
„Terenz scheint mir einmal in diesen Fehler gefallen zu sein. Sein Heauton - 
timorumenos (der Selbstquäler) ist ein Vater, der sich über den gewaltsamen 
Entschluß grämt, zu dem er seinen Sohn durch übermäßige Strenge gebracht 
hat und der sich deswegen nun selbst bestraft, indem er sich in Kleidung 
und Speise kümmerlich hält, allen Umgang flieht, sein Gesinde abschafft 
und das Feld mit eigenen Händen baut. Man kann gar wohl sagen, daß 
es so einen Vater nicht gibt. Die größte Stadt würde bum in einem 
Jahrhundert ein Beispiel einer so seltsamen Betrübnis aufzuweisen haben.“ 

Nun wollen wir es versuchen, die Richtigkeit unserer These an anderen 
Beispielen, wenn auch nur skizzenhaft, nachzuweisen; die bunte Durch¬ 
einandermischung von Werken ganz verschiedener Kulturkreise und oft Jahr¬ 
tausende auseinanderliegender Epochen mag darin ihre Erklärung finden, 
daß wir, bloß von dem einen Gesichtspunkt geleitet und um seinen Erweis 
bekümmert, alle anderen geflissentlich zurückstellen. 

Der „Kaufmann von Venedig“ galt der Shakespeare-Forschung vor noch 
nicht langer Zeit wohl als eines der umstrittensten Werke des Dichters, 
nicht allein betreffs der Grundidee, sondern auch in bezug auf seine Zu¬ 
gehörigkeit zu einer bestimmten Dramengattung. Auf Grund unserer Auf¬ 
fassung, daß in der Komödie die Vatergeslalt als schuldbeladen zur Dar¬ 
stellung gelangt, müssen auch wir indessen diese Schöpfung für ein komi¬ 
sches Drama erklären, wo doch hier nahezu expressis verbis auf die Schuld 


1) Freud: Der Witz und seine Beziehung zum Unbewußten. (Ges. Schriften, 
Bd. IX.) 

2) Zitiert nach Leasings „Hamburgische Dramaturgie“. 87. Stück. 







550 Ludwig Jekels 


des Vaters hingewiesen wird. Denn der von Shylock so arg bedrohte Antonio 
ist zweifellos eine Vatergestalt; diese psychoanalytische Annahme ist gut fun¬ 
diert durch den Umstand, daß er ja aus dem Messer Ansaldo der Vorlage 
(Fiorentinos Pecorone) geformt wurde, welcher in dieser Novelle als „väter¬ 
licher Freund“, voll Liebe, unerschöpflicher Geduld und Opfer Willigkeit 
für den angenommenen Sohn, figuriert. Antonio läßt aber der Dichter schon 
in der ersten Szene schuldig werden: 

„Geh, sieh zu, 

Was in Venedig mein Kredit vermag: 

Den spann ich an bis auf das Äußerste y 

und alsbald dem Shylock die Schuldverschreibung geben. 

Es dürfte wohl kaum Befremden erregen, daß wir hiebei die Geldschuld 
als eine bloße Substitution der moralischen Schuld auffassen. Die überaus 
enge Beziehung beider Begriffe, auf die meines Wissens unter den Ana¬ 
lytikern Müller-Braun schweig 1 bereits hingewiesen hat, hat schon 
Nietzsche in seiner „Genealogie der Moral“ 2 hervorgehoben. Die enge Zu¬ 
sammengehörigkeit dieser beiden Vorstellungskreise, sowie ihr Ersatzverhältnis, 
steht ja ganz außer Zweifel, Die uralte Institution der Geldbuße im Straf- 
recht ist hiefür ein ebenso beredter Beleg, wie der Umstand, daß nicht allein 
die deutsche, sondern auch viele andere Sprachen (z, B. französisch, pol¬ 
nisch usw.) sich des nämlichen Ausdruckes für die materielle wie für die 
moralische Schuld bedienen. Und zuletzt, wenn auch nicht an letzter Stelle: 
Für den Analytiker, der dies Ersatzverhältnis sowohl in den Träumen der 
Patienten als auch im Widerstand recht häufig zu beobachten Gelegenheit 
hat, birgt dies Eintreten der Geldschuldvorstellung für die der moralischen 
kaum etwas Überraschendes in sich. 

Dasselbe Ausdrucksmittel für das nämliche Motiv findet sich aber auch 
im feinsten deutschen Lustspiel, Leasings „Minna von Barn heim in 
Anwendung gebracht. 

Der Ausgangspunkt der Verwicklungen des Stückes liegt ja, wie erinnerlich, 
in seiner Vorgeschichte, Major von Teilheim, mit Eintreibung der Kon¬ 
tribution bei den feindlichen Ständen betraut, hat, um äußerste Strenge 
zu vermeiden, den Betrag gegen einen Wechsel der Stände dem. König aus 


1) Dr. Karl Müller-Brauuschweig: Psychoanalytische Gesichtspunkte zur 
Psychogenes© der Moral, insbesondere des moralischen Aktes, Imago VII, 1921, 

ö) Kap. Daß jener moralische Hauptbegriff „Schuld 1 * seine Herkunft aus dem 
sehr materiellen „Schulden“ genommen hat?“ 











Zur Psychologie der Komödie so 1 


eigenem vorgeschossen. Seine nach Friedensschluß erhobene Forderung nach 
Begleichung der ihm zukommenden Summe wird abgelehnt, er überdies 
unter dem Verdachte, vom Feinde ein Geldgeschenk empfangen zu haben, 
in Untersuchung gezogen. Dies empfindet er nicht bloß als eine schwere 
Ehrenkränkung, sondern auch als unüberwindliches Hindernis für seine 
Ehe mit der ihn liebenden und von ihm geliebten Minna. 

Wir können kaum anders, als diesen mit so logischer und reicher Fassade 
geschmückten Sachverhalt doch bloß wieder auf die dürftige Formel: der 
Vater (König) ist schuld, zu reduzieren. Und dafür spricht nicht nur, daß 
die Verwicklung durch ein Eingreifen des Königs selbst und Tilgung seiner 
Schuld gelöst wird, auch in seinen episodischen Szenen, wie z. B. mit dem 
Diener Just und mit Werner, ist ja das Lustspiel förmlich durchzogen von 
der Weigerung Teil heims: „Ich will dein Schuldner nicht sein.“ Bei all 
der vortrefflichen Rationalisierung hören wir in dieser beständigen Weigerung 
doch kaum anderes heraus, als daß der Sohn hier die Schuld völlig ablehnt, 
um sie um so nachdrücklicher und ausschließlicher beim Vater zu betonen. 

Wir sind aber bei der Deutung auch unvermittelt auf den Inhalt der 
dem Vater vorgehaltenen Schuld gestoßen: Der König hindert ja die Liebe 
und Ehe Teilheims 1 

Daß dies tatsächlich die latente Grundtendenz des Stückes ist, erhellt 
aus nachstehendem Umstand: Ich habe bereits in meiner Macbeth“Studie 1 
her vor gehoben, daß in den dramatischen Schöpfungen das Grundmotiv der¬ 
selben in einer doppelten Darstellung, nämlich sowohl in einer dem 
Bewußtsein näheren als auch ferneren, sohin in einer direkteren als auch 
verhüllten Form zum Ausdruck gebracht erscheint. Und zwar ist dies Phä¬ 
nomen so regelmäßig festzustellen, daß auch die umgekehrte Fassung: alles, 
was in einem Drama doppelt dargestellt erscheint, ist sein Grundmotiv, 
mir heute, nach reichlicher Nachprüfung, ganz verläßlich erscheint. 

Nun ist aber in „Minna von Barnhelm“ solch ein zweiter, ungleich 
weniger verhüllter Hinweis auf den Vater als Hindernis der Liebe tatsäch¬ 
lich vorhanden. Es ist dies die Stelle, wo Minna dem sich ihr verweigernden 
Teilheim mystifizierend mitteilt, ihr Oheim und Vormund Graf Bruchsall 
verfolge sie und habe sie enterbt, weil sie keinen Mann aus seiner Hand 
annehmen wolle. Kaum aber, daß der Graf (V/5) Tellheim kennen gelernt 
hat, wird er schon von diesem mit „mein Vater“ an gesprochen und apo¬ 
strophiert Teilheim als „Sohn“. . . 


1) Dr. Ludwig Jekels: „Versuch über Macbeth.“ Imago, Bd. V, 1917/19. 







53 2 Ludwig Jekels 


Der Vorwurf: „Vater — Störer der Liebe“ als seine Schuld statuiert — 
das ist der latente Inhalt der meisten Komödien der erwähnten Gattung, 

Überdeutlich, weil weder die Vater-Sohnesbeziehung noch auch die sexuelle 
Rivalität beider irgendwie v er hüllend, bringt dieses MotivMoliöres „L’A v are" 
zum Ausdruck — wo Harpagon zwischen seinen Sohn und dessen Braut 
tritt, da er sie selbst ehelichen will. 

Dasselbe Motiv aber auch im „Tartuffe“, sofern man den Schein¬ 
heiligen als bloße Abspaltung des Vaters Orgon auffaßt, wodurch er zum 
Rivalen des Sohnes bei der Mutter wird. 

Ähnlich wie hier wird aber auch im „Pharm io“ des Terenz — einem 
der schönsten Lustspiele der Antike — der sich der Liebeswahl des Sohnes 
widersetzende Vater durch die Entlarvung seiner sexuellen Verfehlung dem 
Willen des Sohnes (Phädria) gefügig gemacht. Mit den Worten des Vaters: 
^Allein wo ist der Phädria, mein Richter", schließt bezeichnenderweise 
die Handlung. 

Die nachfolgenden Lustspiele verraten in ihrem manifesten Inhalt zwar 
nichts mehr von jenen „familiären“ Beziehungen, die in den zuletzt be¬ 
sprochenen so überdeutlich zutage traten; nichtsdestoweniger ist in ihnen 
die psychische Grundsituation die nämliche. 

So in dem mit Recht so berühmten „Miles gloriosus“ von Plautus. 
Der bramarbasierende eitle Narr Pyrgopolinikes ist hier in doppelte Relation 
gebracht: als Vater dem jungen Athener Pleusikles gegenüber, dessen Ge¬ 
liebte er entführt, und als Sohn gegenüber dem jovialen Epheser Peri- 

plekomenos, dem er, der gesponnenen Intrige zufolge, die vermeintliche 
Gattin abwendig machen will. 

Die Reihe von Beispielen wollen wir nun mit dem Hinweis auf den 
für unsere Behauptung nicht minder illustrativen „Zerbrochenen Krug" 
von Kleist schließen, dessen Inhalt die Untersuchung bildet, ob der Vater 
(Richter Adam) oder der Sohn (Ruprecht) die Schuld am nächtlichen 
Einbruch und am „Zerbrechen des Kruges bei Eva" (f) trage. 

Ganz im Sinne unserer These fällt auch hier das „schuldig“ auf das 
Haupt des Vaters. 

* 

Die Bedeutsamkeit dieser Feststellung erhellt wohl aus den hier folgenden 
Ausführungen von Bergson. 1 Seine Ansicht geht ja dahin, daß das Wesen 
des Komischen in der Mechanisierung des Lebens besteht, welcher Effekt 


i) Henri Bergson: „Le rire, <{ Paris 1913. 














Zur Psychologie der Komödie 


555 


außer durch zwei andere (repetition, interference des series) auch durch 
den Vorgang der Umkehrung (l f Inversion) erzielt werde* Und da meint er 
nun in wörtlicher Übersetzung (Seite 96ff.): ^Denken Sie sich gewisse 
Personen in einer gewissen Situation; Sie erhalten eine komische Szene, 
wenn Sie es bewirken, daß sich die Situation umkehrt und die Rollen 
vertauscht werden . . . Aber es ist nicht einmal notwendig, daß die beiden 
symmetrischen Szenen vor unseren Augen gespielt werden; man braucht 
uns bloß eine derselben vorzuführen und mag dabei sicher sein, daß wir 
an die andere denken. Der Verfolger als Opfer seiner Verfolgung, der be¬ 
trogene Betrüger — das ist das Zutiefstliegende bei vielen Lustspielen 
ebenso wie in den Schwänken aus alten Zeiten , , . Die moderne Literatur 
hat noch viele Variationen des Motivs vom bestohlenen Dieb (voleur vole )■ 
Letzten Endes handelt es sich immer um eine Verkehrung der Rollen und 
um eine Situation, die sich gegen denjenigen kehrt, der sie geschaffen 
hat . , * — Es dürfte sich hier ein Gesetz bestätigen, das wir bereits Öfters 
an gewendet gefunden haben. Wenn eine Szene oft reproduziert worden ist, 
wird sie zur ,Kategorie* oder zum Vorbild. Sie wird unterhaltend durch 
sich selbst, unabhängig von den Ursachen, die es bewirken, daß sie uns 
belustigt. Und derart können neue Szenen, die an sich nicht komisch sind, 
uns tatsächlich unterhalten, wenn sie jener ähnlich sind. Sie werden in 
unserem Geiste mehr oder weniger undeutlich ein Bild her vorrufen, welches 
wir als drollig bereits kennen. Sie werden sich in eine Gattung einordnen, 
in der ein offiziell anerkannter komischer Typus figuriert. Die Szene vom 
bestohlenen Dieb ist wohl von dieser Art. Das Komische, das ihr inne¬ 
wohnt, strahlt sie aus auf eine Menge anderer Szenen. Und dies soweit, 
daß sie jedes Mißgeschick, das man sich durch eigene Schuld zugezogen 
hat . . ja, was sage ich, jede Anspielung auf dieses Mißgeschick, jedes 
Wort, das an dasselbe gemahnt — komisch erscheinen läßt U 4 

Es erübrigt sich wohl hervorzuheben, daß wir diese zentrale Stellung der 
Modellszene für das von uns hervorgehobene Element in Anspruch nehmen. 

* 

Mit diesen seinen Ausführungen hat ja der scharfsinnige Philosoph sich 
zwar unserer Ansicht außerordentlich genähert, hat auch das Geltungs¬ 
gebiet des von uns aufgefundenen Elementes im Reiche der Komödie und 
ihrer mannigfachen Spielarten *über das von uns angenommene Ausmaß 
erweitert ; für die Klärung des Rätsels, das die Komödie darstellt, ist jedoch 
dadurch kaum etwas gewonnen worden. 




554 Ludwig Jekels 


Denn fürwahr, recht rätselhaft muß uns das komische Drama erscheinen* 
Es kann ja kaum anders sein, als daß der Komödien dichter dieselben 
Schöpfungsantriche besitzt und den nämlichen psychologischen Gesetzen 
unterworfen ist, wie sie uns als für den tragischen Dichter in Geltung 
stehend schon längst — besonders durch die schöne Arbeit von Sachs 1 — 
bekannt sind; vor allem der imperative Drang, seinen verdrängten Kom¬ 
plexen Abfuhr zu verschaffen, dem der Dichter gleichsam durch die Ver¬ 
teilung seines Schuldgefühles auf all die Vielen, Folge zu geben vermag* 
Anderseits aber lassen die oben mitgeteilten, wenn auch noch so flüch¬ 
tigen Komödienanalysen uns kaum im Zweifel darüber, daß das hier zur 
Verarbeitung gelangende Material gleichfalls ganz das nämliche wie beim 
tragischen Dichter ist, d, h. hier wie dort dem Ödipus-Komplex zugehört* 
An dieser Identität des Materials bei den beiden Dramengatt ungen mag 
es ja gelegen sein, daß bei so zahlreichen dramatischen Dichtungen der 
Charakter derselben recht weit in die Verwicklung hinein ein ganz unent¬ 
schiedener ist, so daß bis dahin füglich ebenso eine Komödie wie eine 
Tragödie resultieren konnte, und erst eine späte und jähe Wendung über 
die Zugehörigkeit entscheidet. 

Wieso kommt es aber und wie mag es da zugehen, daß sich aus so iden¬ 
tischen psychologischen Voraussetzungen so vollends verschiedene, ja diametral 
entgegengesetzte Effekte ergeben, und daß aus dem gleichen Boden wir in 
dem einen Falle die tragische Schuld und die Sühne, im anderen aber 
schäumenden Übermut und Triumph entsprossen sehen? 

In dem unseren Analysen entnommenen Element der Schuldverschiebung 
vermeinen wir den Schlüssel zu besitzen, um das Rätsel dieser Sphinx zu 
lösen. 

Letzten Endes ist ja diese infantile Phantasie vom Vater als Störer der Liebe 
nichts anderes als eine Projektion des eigenen schuldbeladenen Wunsches des 
Sohnes, die Liebe der Eltern zu stören* Durch ihre Verschiebung auf den 
Vater, seine Ausstattung mit einer so spezifischen Sohnesattitüde, 
wird uns kund, daß hier der Vater seiner Vaterattribute entkleidet, 
somit als Vater beseitigt und zum Sohne erniedrigt wurde. 

Dieser Verschiebung wohnt demnach die nämliche Psychologie inne, wie 
der im Lustspiele überhaupt und auch unter unseren Beispielen so häufig 
verwendeten Entlarvung (Tartuffe. Zerbrochener Krug, Phormiö); diese 
Psychologie faßt Freud in die Formel; „Du bist auch nur ein Mensch 


D Hanns Sachs: Gemeinsame Tagtraume* Imago-Bücher, V. 
























Zur Psychologie der Komödie 


335 


wie ich/“ Genau so wie die Entlarvung wird auch diese Phantasie in der 
Komödie dazu verwendet, um den Vater herabzusetzen, und zwar herabzu- 
setzen zum Sohne, auf das dem Sohne sonst zukommende Niveau. — Und 
dies: Den-Vater-zum-Sohne-Machen , diese verkehrte Welt, „le monde renverse“, 
wie Bergson meint, das ist der eigentlichste Kern seiner »Inversion“) die 
innerste Tendenz der Schuldverschiebung, 

Und nur die Tatsache, daß der Vater bloß als Sohn dimensioniert wird, macht 
es uns verständlich, warum im Lustspiel (von der antiken bis zur modernen 
Ehebruchskomödie) meist der Vater der im Wettkampfe unterliegende Teil 
ist* Aus demselben Grunde muß, um auf unsere Beispiele zurückzukommen, 
Harpagon die Partie und damit das Liebesobjekt verlieren, und der König in 
„Minna von Barnhelm w nicht nur die Hindernisse wegräumen, sondern sogar 
weit über das beanspruchte Maß von Genugtuung hinausgehen* 

Lediglich diese Reduktion des Vaters zum Sohne laßt es uns verstehen, 
daß es dem Komödiendichter möglich wird, ein so reiches Ausmaß von 
Aggression (Hohn, Spott usw.) gegen den Vater zu entfesseln, und beispiels¬ 
weise einen Antonio im » Kaufmann“ und noch deutlicher den bei seinen 
Liebes Werbungen überraschten Bramarbas in direkt ausgesprochener Ent¬ 
mannungsgefahr schweben zu lassen. Bloß im Sinne dieser Reduktion ver¬ 
stehen wir den Zuruf an den Pardonnierten: ^Wird’s wohl fertig sein mit 
deiner Vaterschaft!“ 

* 

Die Amovierung des Vaters, seine Auflösung im Sohne, die Einziehung 
des Über-Ichs, sein Zusammenfließen mit dem Ich, welch volle psycho¬ 
logische Übereinstimmung mit der Manie, 

Wie hier so auch dort das Ich, nachdem es sich vom Tyrannen befreit, 
im Freiheitsrausche, in der Hemmungslosigkeit Humor, Witz und allerlei 
Komik entbindend! 

Wir widerstehen der Versuchung, die nunmehr uns so nahegelegte psycho- 
logische Verwandtschaft der Tragödie mit der melancholischen Depression 
zu erörtern, welchen Zusammenhang übrigens schon die Worte des Byzan¬ 
tiners Suidas verraten: »r\ XQT] TQayoSelv ztdvxac, rj pcAayxoXäv“, 1 und wollen 
uns mit der Feststellung bescheiden, daß die Komödie ein ästhetisches 
Korrelat der Manie ist* 


1) Auf diesen Ausspruch wurde ich durch Winterstein aufmerksam gemacht* 






Ein Gespenst aus der Kindheit Knut Hamsuns 

Von 

Eduard Hitschmann 

(Wien) 

Ex ungue leonem 

Einleitung 

Seit vielen Jahren lese ich mit gespanntem Interesse und ästhetischem 
Genuß die Werke des bewunderungs weiten Dichters Knut Hamsun, Aber 
neben dieser höchsten Bewunderung seiner Kunstmittel, seines satirischen 
Humors* seiner Liebes- und Natur-Dithyramben, seiner Gesellschaftskritik 
in den früheren und der epischen Größe in den späteren Werken, neben 
dieser Bewunderung vertiefte sich eine Verwunderung über die stereotype 
Wiederkehr bestimmter Situationen, analoger Motive* gleicher Liebesgebarden 
und identischer psychologischer Grundzüge seiner Helden, Dieses Bewundern 
und Verwundern drängte zur Anwendung psychoanalytischer Erfahrungen, 
und als ich mich im Besitze eines wichtigen Schlüssels wußte, sah ich mich 
nach Auskünften über das Leben dieses großen Dichters der Gegenwart 
um, die jedoch trotz freundlicher, hier nochmals bedankter Bemühungen der 
Herren John Landquist (Stockholm) und Professor Harald K, Schj elderup 
(Oslo) sehr spärliche sind, 

Knut Pedcrsen Hamsun ist am 4, August 1659 in Lom in Gud- 
brandsdalen (Norwegen) geboren. Als der Knabe vier Jahre alt war, siedelten 
die unbemittelten bäuerlichen Eltern nach Lofoten in Nordland über. Mit 
siebzehn Jahren kam Hamsun in die Lehre zu einem Schuster und arbeitete 
gleichzeitig in aller Stille literarisch. Mit achtzehn Jahren veröffentlichte er 
neben Gedichten seine erste Erzählung „ßjürger“. 1 Der Schusterei wurde 
er bald müde und führte dann durch etwa zehn Jahre ein sehr Wechsel - 

1} Vgl. John Landquist: „Knut Hamsun, En Studie Över en nordisk romantisk 
diktarc.“ Albert Bonniers Forlag, Stockholm 1917* — Die Erzählung war mir nicht 
zugänglich. 











Ein Gespenst aus der Kindheit Knut Hamsuns 


557 


volles Leben, Er war Kohlenarbeiter, Schullehrer, Polizeibediensteter, Stein* 
hauer, Straßenarbeiter in Norwegen; ging dann nach Amerika, war Straßen* 
bahnschaffner in Chikago, Fischer in Neufundland, Bodenarbeiter auf den 
Prärien des Westens, hielt literarische Vorträge usw, Mit seinem ersten 
Roman „Hunger“ wurde Hamsun, etwa achtundzwanzigjährig heimgekehrt, 
mit einem Schlage berühmt. Vor fünfzehn Jahren kaufte er einen Bauernhof 
und ist als Landwirt tätig, soweit ihm seine literarische Arbeit Zeit läßt. 
Er lebt zurückgezogen mit Frau und Kindern und erhielt bekanntlich den 
Nobelpreis für Literatur. 


Eine Kindheitserinnerung Hamsuns 

Meine Bemühungen, Ausführlicheres über das Leben Hamsuns zu er¬ 
fahren, blieben also erfolglos; auch in Norwegen weiß die Öffentlichkeit 
nicht viel darüber, denn der Dichter ist Auskünften abhold. Hamsun hat 
aber 1898 im „Norsk Familie-Journal“ eine Skizze „Ein Gespenst“ ver¬ 
öffentlicht, welche auch in seine übersetzten Werke aufgenommen wurde, 
und die als eine bedeutsame Kindheitserinnerung zu werten ist, um so mehr, 
als ausdrücklich gesagt wird: „Was ich jetzt erzähle, ist wörtlich wahr.“ 
Sie sei mit unwesentlichen Weglassungen hier wiedergegeben : 

„Mehrere Jahre meiner Kindheit verbrachte ich bei meinem Onkel auf 
dem Pfarrhof. Es war eine harte Zeit für mich, viel Arbeit, viele Prügel und 
selten oder niemals eine Stunde zu Spiel und Vergnügen. Da mein Onkel mich 
so streng hielt, bestand allmählich meine einzige Freude darin, mich zu ver¬ 
stecken und allein zu sein; hatte ich ausnahmsweise einmal eine freie Stunde, 
so begab ich mich in den Wald oder ich ging auf den Kirchhof und wanderte 
zwischen Kreuzen und Grabsteinen umher, träumte, dachte und unterhielt mich 
laut mit mir selber 1 . . . . Ich fand oft Knochen und Haarbüschel von Leichen 
auf den Gräbern, die ich dann wieder in die Erde eingrub, wie es der Toten¬ 
gräber mich gelehrt hatte. Ich war so hieran gewöhnt, daß ich kein Grausen 
empfand, wenn ich auf diese Menschenreste stieß. Im Leichenkeller saß ich 
gar manches Mal, spielte mit den Knochen und bildete aus dem zerbröckelten 
Gebein Figuren auf dem Boden. 

Eines Tages aber fand ich einen Zahn auf dem Kirchhof. Es war ein Vorder¬ 
zahn, schimmernd weiß und stark. Ohne mir weiter Rechenschaft davon ab¬ 
zulegen, steckte ich den Zahn zu mir. Ich wollte ihn zu etwas gebrauchen, 
irgendeine Figur daraus zurecht feilen. Ich nahm den Zahn mit nach Hause . , . 

1) Zum Tagträumen der (späteren) epischen Dichter vgl, Freud: „Der Dichter 
und das Phantasieren^ (Ges. Schriften, Bd. X); Hitschmann: „Gottfried Keller^ 
(Internationale Psychoanalytische Bibliothek, Bd. VII), sowie die Arbeiten über Wasser¬ 
mann und Bauthendey (Imago, Bd. I, IV und IX). 

22 


Imago XII 







33« 


Eduard Hitschmann 


In der Gesindestube war kein Licht und ich war ganz allein. Ich wagte 
nicht ohneweiters die Lampe anzuzünden, ehe die Knechte hereinkamen; aber 
mir genügte das Licht, das durch die Ofenklappe fiel, wenn ich tüchtig heuer 
anmachte. Ich ging deshalb in den Schuppen hinaus, um Holz zu holen. Als 
ich mich im Dunkel nach dem Holz vorwiirts tastete, fühlte ich einen leichten 
Schlag wie von einem einzelnen Finger auf dein KopTe. Ich wandte mich hastig 
um, sah aber niemand. Ich schlug mit den Armen um mich, fühlte aber nie¬ 
mand. Ich fragte, ob jemand da sei, erhielt aber keine Antwort. Ich war bar¬ 
häuptig, ich griff nach der berührten Stelle meines Kopfes und fühlte etwas 
Eiskaltes in meiner Hand, das ich sofort wieder loslieü . . . Ich griff wieder 
nach dem Haar hinauf — da war das Kalte weg. Ich dachte: Was mag das 
wohl Kaltes gewesen sein, das von der Decke herunter fiel und mich auf den 
Kopf traf? Ich nahm einen Arm voll Holz und ging wieder in die Gesinde- 

Stube, heizte ein und wartete, bis ein Lichtschein durch die Ofenklappe fiel. 

Dann holte ich den Zahn und die Feile hervor. 

Da klopfte es ans Fenster. Ich sah auf. Vor dem Fenster, das Gesicht fest an die 
Scheibe gedrückt, stand ein Mann. Er war mir ein Fremder, ich kannte ihn nicht, 
und ich kannte doch das ganze Kirchspiel, Er hatte einen roten Vollbart, eine 
rote, wollene Binde um den Hals und einen Südwester auf dem Kopfe. Ich sah 
das Gesicht mit erschreckender Deutlichkeit, es war bleich, beinahe weil), und 
seine Augen starrten mich gerade an. Es vergeht eine Minute, Da fängt der Mann 
an zu lachen ... In der ungeheuren Mundhöhle des lachenden Gesichtes ent¬ 
deckte ich plötzlich ein schwarzes Loch in der Zahnreihe — es fehlte ein Zahn *, , 
Das Gesicht fing an Farbe anzunehmen, es wurde stark grün, dann wurde es 
stark rot. Das Lachen aber blieb ... Da senkte der Mann den Kopf herab, 
immer weiter . , als glitte er in die Erde hinein. Ich sah ihn nicht mehr. 

Meine Angst war entsetzlich . . ., ich suchte auf dein Fußboden nach dem 
Zahn . . . Als ich den Zahn gefunden hatte, wollte ich ihn gleich wieder nach 

dem Friedhof bringen, hatte aber nicht den Mut dazu . , , Auf den Hof hinaus- 

gekommen, war ich indes kühner geworden und ich beschloß, allein nach dem 
Friedhof hinaufzugehen; dadurch würde ich es auch vermeiden, mich jemand 
anzu vertrauen und dann später in des Onkels Klauen zu geraten. Den Zahn 
trug ich in meinem Taschentuch, An der Kirchhofspforte sinke ich plötzlich 
glatt auf die Knie, Ein Stück jenseits der Pforte stand mein Mann mit dem 
Südwester, Er zeigte vorwärts, nach dem Kirchhof hinauf. Ich sah dies als 
Befehl an, wagte aber nicht zu gehen; ich flehte ihn an und er stand unbe¬ 
weglich und still da. Dann erhob ich mich, trat durch die Pforte, der Mann 
glitt über die Gräber hin . , . Mit zitternder Hand nahm ich den weißen Zahn 
und warf ihn mit aller Macht auf den Kirchhof und stürzte nach Hause. Das 
Alter des rotbärtigen Mannes kann ich nicht einmal ungefähr angeben* Er 
konnte zwanzig Jahre alt sein, er konnte auch vierzig sein. 

Manchen Abend und manche INI acht kam der Mann wieder . . . Meine 
haarsträubende Angst vor ihm nahm ah, aber er machte mein Leben unglück¬ 
lich bis zum Übermaß. — Den nächsten Winter stellte er sich wieder ein, 
nur einmal; dann blieb er lange Zeit fern. Als ich nach drei Jahren in das 





















Ein Gespenst aus der Kindheit Knut Hamsuns 


359 


Nordland zurückkehrte, konfirmiert und groß, wohnte ich nun nicht mehr bei 
meinem Onkel auf dem Pfarrhof, sondern daheim bei Vater und Mutter. 

Eines Abends zur Herbstzeit, als ich gerade schlafen gegangen war, legte 
sieh eine kalte Hand auf ineine Stirn, Ich schlug die Augen auf und erblickte 
den Mann vor mir. Er saß auf meinem Bett und sah mich an . . . Als ich 
den kalten Druck gegen meine Stirne fühlte, schlug ich mit der Hand um 
mich und sagte: Nein, geh’ weg! Meine Geschwister fragten aus ihren Betten, 
mit wem ich spräche. 

Als der Mann eine Wehe still gesessen hatte, fing er an, sich mit dem 
Oberkörper hin und her zu wiegen. Dabei nahm er mehr und mehr an Größe 
zu, schließlich stieß er beinahe an die Decke und da er offenbar nicht weiter 
kommen konnte, entfernte er sich mit lautlosen Schritten von meinem Bett, 
durch das Zimmer, nach dem Ofen, wo er verschwand ... Er war mir noch 
nie so nahe gewesen wie diesmal; sein Blick war leer und erloschen, er sah 
zu mir hin, aber gleichsam an mir voriiher, quer durch mich hindurch, weit 
in eine andere Welt hinein . . . Einige Monate später, als es Winter geworden 
und ich wieder von zu Hause gereist war, hielt ich mich eine Zeitlang bei 
einem Kaufmann W, auf. Hier sollte ich meinem Mann zum letztenmal be¬ 
gegnen. 

Ich gehe eines Abends auf mein Zimmer hinauf, zünde die Lampe an und 
entkleide mich. Ich will wie gewöhnlich meine Schuhe hinausstellen, da steht 
er auf dem Gang, dicht vor mir, der rotbärtige Mann. 

Ich weiß, daß Leute im Nebenzimmer sind, daher bin ich nicht bange. 
Ich murmele: Bist du nun schon wieder da. Gleich darauf öffnet der Mann 
seinen großen Mund wieder und fängt an zu lachen. Dies machte keinen er¬ 
schreckenden Eindruck mehr auf mich; aber diesmal wurde ich aufmerksamer: 
Der fehlende Zahn war wieder da! 

Er war vielleicht von irgend jemand in die Erde hineingesteckt worden, 
Oder er war in diesen Jahren zerbröckelt, hatte sich in Staub aufgelöst und 
mit dem übrigen Staub vereint, von dem er getrennt gewesen war. Gott allein 
weiß das! 

Der Mann schloß seinen Mund wieder, ging die Treppe hinab, wo er tief 
unten verschwand. 

Seither habe ich ihn nie wieder gesehen- 

Dieser Mann, dieser rotbärtige Bote aus dem Lande des Todes, hat mir 
durch das unbeschreibliche Grausen, das er in mein Kinderleben gebracht, 
viel Böses getan. 

Ich habe seither mehr als eine Vision gehabt, mehr als einen seltsamen 
Zusammenstoß mit Unerklärbarem — nichts aber hat mich so tief ergriffen 
wie dies. 

Und doch hat er mir vielleicht nicht ausschließlich Schaden zugefügt, dieser 
Gedanke ist mir oft gekommen. Ich könnte mir vorstellen, daß er eine der 
ersten Ursachen gewesen ist, durch die ich lernte, die Zahne zusammenzu- 
beißen und mich hart zu machen. In meinem späteren Leben habe ich hin 
und wieder Verwendung dafür gehabt. 







34« Eduard Hitschmann 


Psychoanalytische Deutung des Gespenstes 

Diese wahrheitstreue Geschichte Hamsuns vom Gespenst seiner Jugend 
liegt nun zur Deutung vor, und Abergläubische, die an die Wiederkehr 
Toter glauben, mögen sich damit begnügen, daß hier die materialisierte 
Seele oder der Astralleib eines Verstorbenen solange mahnend wiederkehrt, 
bis die arme Seele nach Jahren, durch Wiedererlangung des seinerzeit vom 
Friedhof geraubten Zahnes ihre Ruhe hat* Daß das Gespenst ans Fenster 
klopft, kalt berührt, lacht und lockt, sich aufs Bett setzt und bis zur Decke 
heranwächst — „Boten des Todes“ können allesI Es ist eben ein „Spuk“, 
freilich nicht ganz an einen Ort gebunden und nur dem Schuldtragenden 
wahrnehmbar, Hamsun selbst entscheidet sich nicht, ob er es eine Vision 
oder einen Zusammenstoß mit dem Unerklärlichen nennen soll. 

Ich habe schon einmal mystische Erlebnisse eines Dichters, dem sich 
der herannahende und eingetretene Tod seines Vaters aus der fernen, 
deutschen Vaterstadt bis nach Paris hin durch seltsame Wahrzeichen verriet, 
analysieren und wissenschaftlich nüchtern deuten können. 1 Ich mußte dem 
Dichter Dauthendey eine gesteigerte halluzinatorische Fähigkeit zusprechen, 
und muß sie auch für Hamsun in Anspruch nehmen. Der Roman „My¬ 
sterien“ bringt zahlreiche Beweise dafür. Im übrigen komme ich ohne jede 
Annahme mystischer Kräfte nicht nur zu einer plausiblen Deutung, sondern 
indirekt in Besitz des Schlüssels, der den Zugang zum Verständnis der wich¬ 
tigsten Motive der Werke Hamsuns, ihrer Eigenheiten und Dunkelheiten 
eröffnet, so wie zur Kenntnis der Triebgrundlagen seiner Persönlichkeit. 

Obwohl der Knabe von Friedhof und Totengräber, umherliegenden 
Leichenteilen, sowie dem Aufenthalt im Leichenkeller durch Gewohnheit 
gar nicht mehr sonderlich berührt wurde, bewirkte das Wegnehmen jenes 
großen Zahnes vom Friedhof — wie wir später sehen werden, auf bereit¬ 
liegende Angst- und Schuldgefühle stoßend — jene aufregende gespenstische 
Erscheinung, Der tote Verlustträger erscheint wahrhaftig, lockt auf den 
Friedhof hinaus, lachend seine Zahnlücke vorweisend. Jahrelang kommt das 
Gespenst wieder, um eines Tages, wieder im Besitze des verlorenen Zahnes, 
für immer zu verschwinden. 

Erst wenn wir die ärztliche Erfahrung über gar nicht seltene Angst¬ 
zustände bei Knaben ähnlichen Alters heranziehen, welche namentlich 
abends und nachts beängstigende Männergestalten in Halluzinationen vor- 

1) „Ein Dichter und sein Vater“, Imago, IV. Bd., und „Telepathie und Psycho¬ 
analyse“, Imago, IX. Bd. 















Ein Gespenst aus der Kindheit Knut Hamsuns 


341 


führen, sind wir imstande, das Gespenst des kleinen Hamsun zu entwerten. 
Diese halluzinatorischen Angstzustände sind durch Freuds Forschungen 
gedeutet worden: Sie sind Ausdruck von Schuld- und Angstgefühlen, welche 
dem Entmannungskomplex (Kastrationskomplex) entspringen, der 
hier nun mit einigen Worten charakterisiert werden soll. 

Es handelt sich, wie bei dem jedem allgemein Gebildeten nunmehr ge¬ 
läufigen Ödipus-Komplex, auch hier um einen dem Bewußtsein fernliegenden, 
daher zunächst Unglauben und Ablehnung hervorrufenden Komplex von Ge¬ 
danken, Gefühlen, Annahmen usw., der aus der Kindheit stammt und wohl 
auch einen phylogenetischen Anteil hat. * 

Der anatomische Unterschied des äußeren Geschlechtsorganes bei Knaben 
und Mädchen kann den meisten Kindern nicht lange verborgen bleiben 
und erregt ihre Phantasie sehr. Das Fehlen beim weiblichen Wesen — 
welches „dort nichts hat“, — erscheint als Minderwertigkeit und wird 
vom Kinde oft durch Verletzung, Weggeschnitten sein, Abgefaultsein u. dgl. 
gedeutet, Schuldgefühle, aus dort verbotenen Selbstberührungen und feind¬ 
seligen Gefühlen {Ödipus-Komplex) abgeleitet, durch elterliche oder er¬ 
zieherische Kastrationsdrohungen gefördert, — lassen diesen Verlust als 
Strafe ausgelegt werden. Und da dem Knaben direkte Ahnungen der großen 
Bedeutung dieses Organs vorschweben, als wüßte er um dessen Bedeutung 
für die Erhaltung der Art, tritt eine Angst um dieses Organ hervor, die 
hohe Grade annehmen kann. Kastration, Verlust, Austauschbarkeit, Nach¬ 
wachsen des Gliedes sind im Unbewußten, in Traum und Neurose häufige 
„Tatsachen“. Im Konnex mit dem Ödipus-Komplex ist es der Vater zumeist, 
der das Glied zu bedrohen scheint, und die eifersüchtige Feindschaft des 
Sohnes phantasiert aus Revanche die Kastrierung des bösen Vaters. Un¬ 
bewußt bleibende oder alsbald verdrängte grausame Phantasien, die gegen 
den, natürlich auch geliebten, Vater gerichtet sind, bedrücken das Gewissen 
und bringen neuerlich Angst, ebendort bestraft zu werden, hervor. Straf¬ 
angst und Entmannungsangst erfahren innige Verlötung, die Entmannung 
ist im Unbewußten das Urbild aller Verwundung, aller Operation, jedes körper¬ 
lichen Defektes, jeder diminutio capitis , jeder Erkrankung, des Sterbens 
sie ist auch ein Ersatz des Tötens, — des Alterns usw. Da der Schautrieb 
es war, der den Geschlechtsunterschied entlarvte, ist Betasten, Beschauen, 
Kastrieren — eine Reihe. Da aber die Entmannung weiblich macht, be¬ 
stehen innige Beziehungen zum Thema der Gleichgeschlechtlichkeit. Und in 
Stimmungen und Phantasien, in denen der kleine Knabe geneigt ist, dem 
Vater die Mutter zu ersetzen, ihm sich nach Auflehnung nun weiblich 






“ 


54 2 


Eduard Hitschmunn 


zu fügen, finden wir den Wunsch nach Kastration, statt der Angst davor* 
Eine Anzahl von Mädchen kann sich mit dem „Dort-nichts-Haben 4 * nicht 
versöhnen* Sie früh vom Besitz und Wert ihres inneren, docli so wertvollen 
Geschlechtsorganes zu überzeugen, ist unmöglich: ein unüberwindliches 
Hindernis vollständigerer sexueller Aufklärung* Das benachteiligte kleine 
Mädchen entwickelt daher oft Neid und Groll gegenüber den Knaben, 
„den Männlichkeitskomplex“ des weiblichen Geschlechtes* Männlich sein 
wollen, sich emanzipieren, dem Manne nacheifern, ihn bekämpfen, ent¬ 
täuschen, kastrieren wollen, ist in extremeren Fällen das seelische Resultat; 
geschlechtliche Kälte, krampfhaft unwillkürliches Verhindern der Defloration 
die pathologische Folge* Die, soviel häufiger als der Mann, frigide impotente 
Frau hat es dann leicht, sich gegenüber der regelmäßig wiederkehrenden 
sexuellen Forderung des Mannes zu verweigern* In der Sprache des Un¬ 
bewußten, in Mythos, Volkswitz, Traum und Neurose finden wir das Objekt 
der Entmannung, — wie sie hier gemeint ist: Verlust des männlichen 
Gliedes — verhüllt in verschiedensten Symbolen wieder: als Auge, Finger, 
Zehe, Nagel, Fuß, Hand, Extremität, Nase, Ohr, oberen Schneidezalm, Kopf, 
Haare u, a* Statt des Kastrationsaktes erscheint Abschneiden, blutiges Köpfen, 
Verwunden, Verlieren, Ab- und Hinunterfallen, Zahnausfällen, Vermodern, 
Wundsein u* v. a* Der Amputierte, Hinkende, Geköpfte, Verletzte, Erblindete 
ist der Entmannte. — Wir müssen uns die Beschränkung auferlegen, 
die grundlegenden psychologischen Folgen des Entmannungskomplexes für 
Kränkung der Selbstliebe (Narzißmus), für Minderwertigkeitsgefühle sowie 
Schuldgefühle hier wegzulassen* Die Beziehung zwischen Sohn und Vater oder 
Vater-Imagines behält leicht fürs ganze Leben Empfindlichkeit und Ambivalenz. 
Der die Kastration an sich Anerkennende ist feminin, fühlt sich nament¬ 
lich dem Weibe gegenüber minderwertig; von der Vorstellung des über¬ 
legenen Liebesknnkurrenten kommt er nicht los* Liebeshemmung, Eifer¬ 
sucht, Unsicherheit, Empfindlichkeit machen Lieben und Geliebt werden 
zum selig-unseligen Problem. 

Gehen wir jetzt an die Deutung des gespenstigen Erlebnisses des Knabens, 
so sei vorher noch auf seine berechtigte Realangst vor dem strengen, 
gewalttätigen Ziehvater hingewiesen* Unter Anwendung der Freudschen 
Traumdeutungstechnik ist der gespenstige Mann als dieser Ziehvater 
(offenbar zusammen geflossen mit dem eigenen Vater) zu erkennen: die 
speziell hervorgehobene Fremdheit des Rothaarigen und die Verwischtheit 
seines Alters lassen ihn zwingend als verhüllenden Ersatz des Allernächsten 
deuten. 
















Ein Gespenst aus der Kindheit Knut Hamsuns 345 


Die Berührungen des Kopfes sind als solche des Genitales auszulegen 
(Kopf — ein Genitalsymbol). Daß die Gestalt am Bett des Knaben sit2t und 
ins Übergroße wächst, zeigt das Gespenst als Mann mit Erektion dem 
feminin empfindenden Knaben gegenüber. Daß der Konflikt zwischen Sohn 
und Vater (Ziehvater) sich um das Wegnehmen des Zahnes schürzt, bedeutet 
nichts anderes, als Angst des Sohnes vor Kastration (Sterbenmüssen), als 
Strafe für den Zahnraub (= Kastration) am Vater (Ziehvater). Die Hervor¬ 
hebung der ungeheuren Mundhöhle, des schwarzen Loches in der Zahnreihe, 
entsprechen regressiver Verschiebung des Entmannungsortes und -Objektes 
auf den Mund (orale Kastration). Man beachte auch den vorletzten Satz der 
Kindheitserinnerung, der vom „Zähne zusammenbeißen und sich hart machen 
handelt, also noch außerhalb der Halluzinationsschilderung die Zähne und 
das Beißen als Symbole der Kraft behandelt. 

Die halluzinierende Angst des künftigen Dichters entspricht in voller Ana¬ 
logie ähnlicher Angstzustände bei Knaben — oft ist ein Tier das Angst¬ 
objekt — der Angst vor der Kastration durch den Vater, aus 
Schuldgefühl über Haß gegen den zu liebenden, auch geliebten Vater, 
entspringend aus der feindseligen Ödipus-Einstellung, entladen als Weg¬ 
nahme des Zahnes, d. i. eines typischen Symboles für das männliche 
Organ. Genauer genommen handelt es sich um die Angst, vom Vater gefressen 
zu werden, eine Vorstellung, die auch „der regressiv erniedrigte Ausdruck 
für eine passive zärtliche Regung ist, die vom Vater als Objekt im Sinne 
der Genitalerotik geliebt zu werden begehrt. Die genitale Regung verrät 
freilich nichts mehr von ihrer zärtlichen Absicht, wenn sie in der Sprache 
der überwundenen Übergangsphase von der oralen zur sadistischen Libido 
Organisation ausgedrückt wird.“ 1 Außer der feindseligen Regung gegen den 
Vater ist auch verdrängt die zärtlich passive Regung für den Vater, 
die bereits das Niveau der genitalen (phaBischen) Libidoorganisation erreicht hat. 

Die Deutung des entsetzlichen Grausens vor dem Gespenst und der 
schüttelnden Todesangst des Knaben Hamsun setzt unbewußte Schuldgefühle 
im Sinne des Entmannungskomplexes voraus und gerade der Zahn, als ein 
typisches Symbol für das kastrierte männliche Organ, macht diese Annahme 
noch zwingender. Die weiteren Beweise aber für diese gewagt erscheinende 
Behauptung erbringe ich im folgenden aus den Werken Hamsuns. 

Die Annahme, daß der Knabe, aus dem spater der große Dichter werden 
sollte, auf den Zahnraub hin an jenen Angsthalluzinationen erkrankte, — 


1) Freud: „Hemmung, Symptom und Angst“, 1926, 











544 


Eduard Hitschm&nn 


freilich selbst seine Vorstellungen als Wahrnehmungen auslegte — 
setzt voraus, daß er um jene Zeit die eigene Kastration, etwa durch den 
strengen Onkel an Vater Statt fürchtete, weiters von Phantasien einer 
Kastration an jenem erfüllt war. Es ist der Erwartung Raum zu geben, daß 
die Werke Hamsuns das Thema der Entmannung, insbesondere aber sein 
dichtendes Unbewußtes die Symbolik von Kastration und Kastrationsobjekt in 
auffallendem Umfange aufwoisen; daß der Schneidezahn hier nicht fehlen 
darf, ist klar. Feindselige Einstellung gegen die Vater der Dichtung, in 
ihrer Form wieder auf Entmannung hindeutend, ist gleichfalls zu er¬ 
warten. Als Voraussetzung aber eines mächtigen Erlebthabens des Ent¬ 
mannungskomplexes müssen wir die Zeichen einer starken Liebesfixierung 
an die Mutter erwarten, ferner Wiederkehren des eifersuchtserfüllten Ödipus- 
Ureiecks u. dgl. ferner wäre eine Voraussetzung eines besonders intensiven 
Entmannungskomplexes; Veranlagung zu Grausamkeit und Leidensfreudig¬ 
keit. Endlich erfordert unsere Annahme besonderer halluzinatorischer Fähig¬ 
keit des Knaben Hamsun den Nachweis, daß er dem visuellen Typus zu¬ 
gehört, sein Schautrieb besonders ausgebildet war. 

Kastration und Kastrationssymbolik in Hamsuns 

Werken 

Hamsuns Roman «Die Weiber am Brunnen“ inacht einen durch 
einen Unfall entmannten und zugleich hinkend gewordenen Matrosen zu 
seinem Mittelpunkt. Der Roman, eine Satire auf den trotzdem kinderreichen, 
also oft betrogenen Ehemann, eine meisterhafte Schilderung des Verfalls 
eines Kastraten an Charakter und Energie — schließt charakteristisch genug 
mit folgendem in dreifachem Bilde symbolischen Sulz: „Kleines und 
Großes geschieht, ein Zahn fällt aus einem Munde, ein Mann 
aus den Reihen heraus, ein Sperling auf die Erde herunter.“ 

In „Hunger“ verliert der leidende Held seinen Appetit beim Anblick 
einer f rau, die nur einen ganz vorn sitzenden Zahn hat; „der lange, gelbe 
Zahn sah aus wie ein kleiner Finger, der aus dem Kiefer ragte.“ 

In „Letztes Kapitel“ verletzt sich die Heldin das Kinn, einer von ihren 
Zahnen ist abgebrochen. Der Frau des Magnus stehen ein Paar Schneide- 
zähne schief, der eine etwas vor dem anderen. 

I* 1 «Mysterien“ berichtet der psychopathische Johann Nagel von einer 
dem Gespenst in Hamsuns Kindheitserinnerungen ähnlichen abendlichen 















Ein Gespenst aus der Kindheit Knut Hamsuns 


Männererscheinung, bleich und rotbärtig. Da die Uhr zwölf schlägt, steht 
das Gespenst neuerlich wieder greifbar da und lacht: „Zwei Vorderzähne 
fehlten ihm,“ 1 

Zahnverlust und Zahndefekt sind bekannte Entmannungssj'mbole. 2 Bei 
gewissen primitiven Völkern werden an Stelle der Beschneidung des Gliedes 
die mittleren oberen Schneidezähne ausgebrochen (Pubertätsriten). Ich füge 
aus Erfahrung aus Psychoanalysen Kranker als neu hinzu, daß auch die 
sogenannte Hasenscharte, gleichfalls ein medianer Munddefekt, zur Kastra¬ 
tion ssymbolik geeignet ist. In „Segen der Erde“ spielt die Hasenscharte als 
besonders beschämende Entstellung mehrfach eine große Rolle. 

Überwältigend ist das Symbolikmaterial für Kastration, ausgedrückt durch 
Verletzung von Finger, Hand, Fuß oder Bein (Hinken). In der Erzählung 
„Zachäus" verliert die Titelfigur zwei Glieder eines Fingers durch die 
Mähmaschine und konserviert sie in ÖL Der ihm gehässige Koch stiehlt 
die Flasche und setzt dem Zachäus, mit Tunke zuibereitet, den eigenen 
Finger als Mittagessen vor. Dieser erkennt denselben erst, nachdem er eine 
Seite abgenagt hat und tötet den Koch aus Rache. In „Hunger“ beißt der 
Hungernde in den eigenen Finger, bis er blutet; eine breit ausgeschmückte 
Begegnung mit einem Hinkenden spielt ebenfalls hier eine Rolle, In „Pan“ 
schießt sich Glahn in seinen Fuß, aus Eifersucht auf einen hinkenden Be¬ 
werber um das gleiche Mädchen (Selbstverstümmlung). In der Novelle „Weih¬ 
nachtsschmaus"* stürzt der von der Bäuerin geliebte Knecht — trunken 
gemacht, weil er sie verleugnet — vom Dach und bricht ein Bein. In 
„Mysterien“ hinkt der arme Minute» gleichfalls nach einem Knochenbruch. 
In der Skizze „Auf der Prärie“ werden einem Irländer beide Beine durch 
Überfahren abgetrennt. Absichtliche und unabsichtliche Fuß-, Hand-, 
Finger- und Fingernagel Verletzungen finden wir gehäuft in „Letzte Freude“ 
und „Letztes Kapitel“. Die verliebten Damen betrachten mit lüsterner 
Freude den verletzten Finger oder geben ihm einen neuen Verband. In 

i) Hier hat der Dichter sein Kindheitsgespenst wenig verändert im Roman auf- 
treten lassen. Wesentlich entstellt ist das Thema der beraubten Leiche auf dem Fried¬ 
hof in „Herbststerne“ literarisch verwendet Knut Pedersen hat dort einen Daumen- 
nagel vom Friedhof weggetragen, um ihn auf eine kunstvolle Tabakspfeife als Schmuck 
in setzen, ihn übrigens wieder weggeworfen. Im Traum erscheint ihm eine Frauen¬ 
leiche und zeigt ihren Daumen mit fehlendem Nagel, Er erwacht voll Angst in 
Schweiß gebadet und sieht die Leiche ganz langsam verschwinden. Seinen warnenden 
Arbeits- und Bettgenossen verlacht FedersemHamsun wegen seines Aberglaubens: 
„sein Standpunkt sei von der Wissenschaft aufgegeben worden.“ 

a) VgL Freud: „Traumdeutung“ (Ges. Schriften, Bd. TF u. III) und Sugdr: „Die 
Rolle des Zahnreizmotivs bei Psychosen“ (Int. Ztschr, f. PsA. XII, ig26, H. i.) 








34 6 


Eduard Hitschmann 


„Letztes Kapitel“ laboriert ein Aussätziger besonders an seinem nicht heilen 
wollenden Finger, Sind Finger und Hand Symbole für das verlierbare Glied* 
so werden sie anderseits auch zum Fetisch, Die Hände können eine Phy¬ 
siognomie tragen. „Daß der Ausdruck der Hände etwas mit dem Geschlecht 
zu tun hat* daß er Keuschheit, Indifferenz oder Trieb erkennen läßt“ („Letzte 
Freude“), gehört daher indirekt auch zum Entmanaungskomplex. In „Pan“ 
hat Rdvardas Daumen „einen keuschen Mädchenauedruck“ und wirkt zärtlich. 
„Die paar Falten auf dem Gelenk waren voll Freundlichkeit,“ Tatsächlich 
ergibt die Kraiikenanalyse, daß der Fußfetischmus z* B. mit dem Kastra- 
tiönskomplex im engsten Zusammenhang steht („Penis der Frau“). 

Wir finden in Hamsuns Werken ferner häufig als symbolischen Ersatz 
der Entmannung — das Köpfen. Solcm köpft, offen grausam genießend, 
die zu schlachtenden Hühner („Letzte Freude“)* und in krassester Weise 
erscheint die bildliche Kastration in der Novelle „Frauensieg“. Die treu¬ 
lose Gattin läßt durch den bestochenen Fahrer der Straßenbahn — neben 
diesem sitzend — dem Gatten, der eben, seiner verratenen Absicht ent¬ 
sprechend, aus einer Versenkung den Kopf heraussteckt, denselben abreißen! 

Die Skizzen des zwangsneurotischen Dichters öjen („Neue Erde“) be¬ 
handeln mit Vorliebe das Köpfen. In „Viktoria“ heißt es: „Die Liebe ver¬ 
dunkelt den Verstand der Prinzessin. Sie wirft den Kopf des Königs auf 
den Weg und läßt ihn dabei schamlose Worte vor sich hinflüstem und 
lachen und die Zunge herausstrecken*“ In einem Traum Johannes* kommt 
neben einer blutenden Orgel, blinden und toten tanzenden Greisen und einem 
großen bellenden Fisch ein auf dem Wege datrinrollender Kopf vor, der 
tage- und nächtelang vor ihm herrollt, in die Erde schlüpft und sich ver¬ 
steckt. Als letztes Symbol für Kastration wählen wir das Auge und erinnern, 
daß in „Viktoria“ der eifersüchtige Bräutigam dem Jugendgeliebten ins 
Auge schlägt, das sich lebhaft rötet. In einer kleinen Vorgeschichte in „Ge* 
dampftes Saitenspiel“ wird dem sechzigjährigen „Herrn“, der ein Mädchen 
mißbraucht hat, von dessen eifersüchtigem Liebsten ein Auge aus-, dann der 
Schädel eingeschlagen* 

Diese ermüdende Aufzählung von Kastrutionssyrnbolcn macht keinen An¬ 
spruch auf Vollständigkeit; sie muß wenigstens noch ergänzt werden durch 
Hinweis auf die breit behandelte Erfindung einer primitiven Sagemaschine 
in „Unter Herbststernen“, Aus Krankenbeobachtungen ergibt sich mir 
nämlich, daß solches spielendes, immer verbesserndes Erfinden, namentlich 
durch Unbefugte, dem Entmannungskomplex entspringt, wie ja auch in 
der Traumsymbolik die Maschine das männliche Glied bedeutet. Charakte- 










Ein. Gespenst aus der Kindheit Knut Hamsuns 547 


ristisch schließt dieser Roman eines Alternden resigniert: „In meinem 
Zimmer liegt die Maschine, ich kann sie nicht mehr aufstellen . . . Meinet¬ 
wegen, meine Liebe zu dieser Maschine ist abgestumpft. 

Zum Schlüsse sei darauf verwiesen, wie der Dichter, wo er sich 
als Fünfziger narzißtisch darstellt („Saitenspiel“, „Letzte Freude“), sein Er¬ 
grauen und Altern elegisch betrauert. „An mir“, heißt es, „hat die Zeit 
gezehrt, ich bin dumm geworden und verblüht und gleichgültig, jetzt seid 
ich eine Frau an wie Literatur. Das ist das Ende. Was dann? Alles muß 
ein Ende haben. Zu Anfang dieses Zustandes hatte ich das Gefühl, als 
habe ich etwas verloren, es war, als sei ich von einem Taschendieb 
bestohlen worden.“ Ein unzählbar oft wiederkehrendes Motiv in Hamsuns 
Werk ist das (frühe) Ergrauen, auf Leiden beruhend. Dem aus dem 
früher Ausgeführten sich ergebende Motiv des Kör per defekt es wäre ferner 
hinzuzufügen ein reichlich zu belegendes Motiv der defekten Kleidung. 

Die Entmannung der Väter 

(Altern und Verarmen) 

Als Typus der Vaterfiguren 1 Hamsuns mag uns zunächst der Kauf¬ 
mann Mack auf SirUund Modell stehen. Wie bei vielen anderen Gestalten 
wird auch sein Schicksal durch mehrere Romane verfolgt; in „Pan“, „Benoni“ 
und „Rosa“ ist er sozusagen der Mittelpunkt. Angesehen, reich, mächtig, 
herrscht er über die anderen, lenkt ihr Schicksal. Er ist Witwer mit 
einer Tochter und findet die Befriedigung seiner Geschlechtlichkeit bei seinen 
Mägden u. dgl., zu denen seine heimlichen Wege führen. 2 Analog finden der 
alte, getrennt lebende Iiolmengraa in „Stadt Segelfoß“, der Konsul Johnsen 
in „Weiber am Brunnen“ die Abfuhr ihrer Lüsternheit. Leutnant Holmsen 
in „Kinder ihrer Zeit“, mit der sich ihm verweigernden Gattin zerfallen, 
spielt paschaartig mit seinen auscrwählt hübschen Hausmädchen, doch kommt 
es bei diesem stolzen Mann nie so weit, daß er sich vergißt. 

Grotesk sind Macks Bader, in denen er auf Daunenkissen liegend, von 
der bevorzugten Magd bedient wird. Bei bestimmten Festgelegenheiten 

1) Hie Pfarrergestalten kommen in Hamsuns Werken meist schlecht weg. Hat es 
der Onkel Pfarrer verschuldet? Im Drama „Munken Yen dt“ erhebt sich ein früherer 
Priesterkandidat gegen Gott, der Freude daran habe, in Not au bringen. 

2) Bei dieser Gelegenheit mag das in Skandinavien weitverbreitete Gerücht er¬ 
wähnt werden, Hamsun sei der uneheliche Sohn einer Magd und eines der berühm¬ 
testen Dichters Norwegens. Nach eingeholter verläßlicher Auskunft erweist es sich 
als haltlos. 







3+ 8 


Eduard 1 litschmann 


läßt er es arrangieren» daß er die Mägde auf gestohlene Löffel gründlich 
untersuchen kann. Daß er über diese Mädchen verfügt» sie verheiratet, um 
alles zuzudecken, charakterisiert diese omnipotente, sadistische Sexualität 
von Hamsuns Vatergestalten. 

„Kaufmann Mack war mächtig genug, mit einem Menschen etwas 
Gutes oder etwas Böses zu beginnen, ganz wie er wollte. Und seine Seele 
war sowohl schwarz wie weiß . . * Er ist der glatte Aal in jeglichem 
Handel und Wandel, 4 Haar und Bart sind gefärbt, ein Symbol für seine 
Falschheit. Sein polygamisches Bett ist so berühmt wie sein Polsterbad, vier 
silberne Engel schmücken es. 

Mit derselben Bewunderung über ihre Tüchtigkeit und Schlauheit sind 
der Väter Geschäfte» mit derselben belauschenden, votierenden Spürsucht 
sind ihre sexuellen Abwege nachgezogen; sie lieben nicht, sondern sie be¬ 
nützen die Frauen. Aber daun läßt sie der Dichter, oft wie zur Strafe für 
Gier und Unzucht altern und verarmen. Weniger bei Mack, der 
nur die Hälfte seines Besitzes an Benoni verliert, — ist dieser vollständige 
Abstieg geschildert, regelmäßig bei anderen Vätern, Der Kamm erharr in 
„Viktoria verbrennt sich selbst mit dem feuerversicherten Schloß, um, 
total verarmt, für seine Erben zu sorgen. Leutnant llolmsen kämpft er¬ 
folglos den Kampf seiner Rangierung; er verfällt nach dem Selbstmord 
seiner Gattin, lebt in ärmlichst-unwürdigem Zustand, verschämt und stolz 
dennoch, gräbt erst zum Schluß einen vergrabenen Schatz, seinem Sohn Reich* 
tum verschaffend. Holmengraa, erst glänzend aufgestiegen, geht, gleichfalls 
ergraut und verfallen, noch heimlich seine nächtlichen Seitenwege trollend,— 
wie für diese Schuld bestraft, — zugrunde. Seine Arbeiter duzen ihn ver* 
ächtlich. Der greise Paal („Letzte Freude“) wirtschaftet ab, trinkt und verfällt. 

In der Erzählung „Kleinstadtleben 4 hat der Konsul mit der Gattin eines 
Abwesenden ein Verhältnis, das Folgen hat. Er findet einen dunklen Ehren¬ 
mann, der ihn deckt, aber verliert durch das strafende Schicksal sein Ver¬ 
mögen und wird bankrott: „Der Konsul bankrott — wer stand da noch fest 
auf den Füßen? Er war der vornehmste in der Stadt und ihr Grundpfeiler. 4 

Der verheiratete und doch stets weiberbedürftige Konsul Johnsen wird 
durch den Untergang seines Schiffes arm, er altert und erst sein Sohn 
Scheldrup rettet» heimkommend, die Ehre der Firma, setzt die Familien¬ 
mitglieder wieder auf ihren rechten Platz, „stillt die Krämpfe der Stadt 4 , 
Des Vaters Haar war gelichtet» seine Augen ohne Glanz, seine Tage ohne 
Frieden, die Nächte ohne Freude. „Die Lüste hatten ihn verlassen.“ („Weiber 
am Brunnen.“) 










Ein Gespenst aus der Kindheit Knut Hamsuns 


Grausame Schilderung gelähmter, verfallener Greise, ihrer Matratzengruft 
ist Hamsun genehmer Stoff. Der alte, sich gegen den Tod und den Sohn 
auf bäumende Per wird so gezeigt, in krassester Weise aber das Pfründner¬ 
paar Mensa und Mons, verblödet und stinkend. Mons* Augen sehen wie 
zwei Geschwüre aus; sein Tod wird daran erkannt, daß er, ein Stückchen 
Brot in der Hand, es tagelang noch nicht gegessen hat. Mensa „plärrt 
hündische Idiotien“. {„Rosa. ) 

Und wie beginnt der letzte Roman des nunmehr fünfundsechzig jährigen 
Dichters? Daniels Vater ist Witwer geworden und hat in Saus und Braus 
lebend, seinen Besitz verpraßt; der verarmte Erbe muß neu anfangen. 

Wie der Dichter einerseits mit Vorliebe jene ursprünglich mächtigen, 
stark triebhaften Väter regelmäßig ihr materielles und sexuelles Vermögen 
verlieren läßt und grausam das Sterben der Greise abmalt, so führt er 
anderseits die Soline herauf, die tüchtigen, und läßt sie ohne Scheu die 
Väter absetzen („Stadt Segel foö“) oder doch ersetzen. Hamsun ist ein 
Schätzer von Kraft und Jugend, und beklagt elegisch das eigene Altwerden. 1 
So heißt es z. E. in „Letzte Freude“: „Ich war einmal ein ganz anderer 
Draufgänger. Die Welle hat ihren Federbusch, den hatte ich, der Wein hat 
seine Glut, die besaß ich . , . Ein einarmiger Mann kann noch gehen, ein 
einbeiniger noch liegen ..." Doch weist er nicht jene zitternde Angst vor 
der Jugend auf, wie etwa Ibsens Baumeister Solneß. Hamsun hielt einmal 
in Oslo einen aufsehenerregenden Vortrag „Ehret den Jungen“. Und in 
„Letzte Freude“ heißt es: „Das Alter soll nicht um seiner selbst willen 
geehrt werden; es hemmt und hindert nur den Schritt der Menschheit; 
auch die Naturvölker verachten das Alter und befreien sich ohneweiters 
von ihm und seiner Hemmung/' Ähnlich spricht Kareno („An des Reiches 
Pforten **). 

Das Motiv der Eifersucht und 
des geschädigten Dritten 

Setzen wir voraus, daß Entmannungsangst und Entmannungsrache sich 
über dem Ödipus-Liebesdreieck auf bauen, so wird es uns nicht wundern 
wahrzunehmen, daß bei Hamsun überhaupt nur die Freundin, Braut, Frau 
oder Geliebte eines andern geliebt, umworben wird. Meist tritt sie mit 


i) Vgl. als charakteristisch auch die Titel: „Unter Herb st Sternen“ ; „der Wanderer 
mit der Sordine“ (in der Übersetzung': „Gedämpftes Saitenspiel“); „Letzte 
Freude“ und „Das letzte Kapitel“. 







55^ 


Eduard Hitschmann 


ihm auf oder sie gedenkt alsbald seiner Person. Durch diese Tatsache entsteht 
das obligate eifersüchtige Kämpfen; durch die Eifersucht wird alles Lieben 
zum Leiden, zur Leidenslusl: „Die Liebe ist hart/ Immer herrscht 
Kriegszustand, „Daß man die nie bekommt, die man liebt und eigentlich 
haben sollte/ ist ein oft variierter Schmerzensruf. Mord aus Eifersucht 
ist an der Tagesordnung. (Solem in „Letzte Freude", Mack in „Pan", der 
Mexikaner in „Herbststerne“.) In der Novelle „Auf der Rlaamandsinsel“ 
stößt der Eifersüchtige das Weib ins Meer, in „Björger" wird die Untreue 
zu Tode gequält. Viktoria stirbt in eifersüchtiger Enttäuschung lungenkrank, 
Glahn läßt sich erschießen. Auch die Frauen sind immer eifersüchtig, 
Eifersucht entflammt die Liebe. Edvarda bringt aus Eifersucht auf llenoni 
und Rosa in deren Heim — Ungeziefer. Charakteristischer weise sind diese 
geliebten Mädchen oft mutterlos, leben mit dem verwitweten Vater; zum 
mindesten bleibt die Mutter farblos im Hintergrund. Der Nebenbuhler ist 
erhöht, sozusagen mächtiger, angesehener, väterlicher im psychoanalytischen 
Sinn: Kapitän, Seeoffizier, Stadtherr, Baron, Doktor u. dgh So kommt ein 
Dreieck zustande, an das Ödipus-Dreieck gemahnend. Nur in „Viktoria" 
finden wir ein Vorspiel aus der Jünglingszeit, Johannes ist da vierzehn Jahre 
alt; seine spätere Angebetete bringt schon zur ersten Begegnung Otto aus 
der Stadt mit; ein zweitesmal trifft er sie in Gesellschaft Ditlefs. 

Immer ist hier in der Liebes-Vision des Anbeters, Bewerbers — neben 
der Angebetenen — schon einer mit älteren Rechten. Es handelt sich immer 
um ein Lieben mit Schädigung eines Dritten, was Freud als typisch 
für das Lieben des an die Mutter Fixierten erkannt hat. Alle angebeteten 
weiblichen Wesen bei Hamsun sind in folgendem Sinne Mütter: Man muß 
sie einem Mann wegnehmen, um sie zu besitzen. Eine zweite Eigenart 
seiner Liebenden ist die, daß das weibliche Wesen oft stolz und zunächst 
unnahbar ist und lange auf seine Entscheidung warten läßt. Sie demütigt 
dadurch, ist sie doch auch sozial höher, Pfarrers- oder Großkaufmanns™ 
toehter; demütigt auch durch die Tatsache, daß sie schon liebt oder Verrat 
übt. Sie wird in Liebes werten „Prinzessin“ oder „Königin ^ genannt. Meist 
bekommt nun der Mann durch seine Tüchtigkeit, seine Leistung (Johannes, 
Rolandsen, Benoni, Hoibro) die Oberhand, oder das Mädchen ist unterdes 
ins Unglück gekommen: nun kann er der Stolze sein, sie zurückweisen, 
jedenfalls aber, sich rächend, die Treulose demütigen. Häufig ist nun 
Gelegenheit, die Geliebte eifersüchtig zu machen; ein schmerzhaft zwang¬ 
haftes, auch nur zum Schein Eifersüchtigmachen wird geübt; man liebt 
und quält. 













Ein Gespenst aus der Kindheit Knut Hamsuns 551 


Jedes weibliche Wesen neigt zur Untreue, wird durch Dimenphantasie 
herabgesetzt; unter jeder Liebe leidet der Mann, 

Allgemein sagt einmal Johannes: „Man sagt von gewissen Frauen, daß 
sie ein Ziel für ihr Mitleid suchen. Geht es dem Mann gut, so hassen sie 
ihn und fühlen sich überflüssig; geht es ihm schlecht, muß er den Nacken 
beugen, so brüsten sie sich und sagen: hier bin ich!" 

Sehr lehrreich für den Kampf in der Ehe ist das Buch w Kinder ihrer 
Zeit", Die Gattin hat dem Mann den Eintritt ins Schlafzimmer und den 
Liebesakt verweigert, sie kokettiert mit arideren. Der stolze, eifersüchtige 
Gatte rächt sich durch starre Kälte, bleibt fest gegen ihre demütigen Ver¬ 
söhnungsbitten, drängt sie fort und sie tötet sich. Ebenso handelt der 
betrogene Kapitän Falkenberg gegen seine vom Liebhaber geschwängerte 
Frau, Die beleidigte Liebe haßt tödlich, 

Eifersucht ist der Anlaß zur Umivandlung der Liebe in Haß, Stammt 
die Eifersucht zum Teil aus dem Triebleben, so geht der Haß zweifellos 
auch auf die Quelle der Jeher haltungstriebe zurück. Über Umwandlung 
von Liebe in Haß hat sich Freud mehrfach geäußert. 1 Eine künftige aus¬ 
führlichere Darstellung wird sich mit diesem Wandel der Neigung bei den 
Liebenden Hamsuns genauer befassen. 

Grausamkeit und Leidensfreudigkeit 
Belauschen und Zuschauen 

Wir können die Heftigkeit des obligaten Liebeskampfes der Eifersucht 
in Hamsuns Werken und auch die Intensität seines Entmannungskomplexes 
nur verstehen, wenn wir seinem ausgesprochenen Sadomasochismus ge¬ 
recht werden. 

Finden wir blutige Grausamkeit schon in der früher gegebenen Schilderung 
der Kastrationsmotive und der Kastrationssymbolik reich vertreten, so er¬ 
gänze ich aus Hamsuns Kindheit jene gräßlichen breitgeschilderten Quälereien 
an einer zu tötenden Katze, das hingezogene Töten eines weiblichen Renn¬ 
tieres („Unter Tieren“). Und weiter heißt es dort: „Wir waren oft herzlich 
grausam gegen die Hühner. So waren wir die reinen Künstler, wenn es 
galt, sie mit Steinen und Holzscheiten zu treffen, so daß sie knapp mit 
dem Lehen davonkamen und laut schrien. 

1) Vgl. Freud: „Triebe und Triebschicksale“, Ges. Schriften, Bd. V, und „Das 
Ich und das Es“ (ebendort, Bd. VI). 











Kduiird Hitschmann 


552 


Überaus eindrucksvoll wird von blutrünstigen Fischern in der Schilderung 
„Auf den Bänken von Neufundland“ wie folgt berichtet: 

„Die Fischer hatten manchmal eine ganz unnatürliche Freude daran, die 
Fische zu mißhandeln . . . Sie packten die großen Fische beim Kopf, drückten 
die Finger in die weichen Augen hinein und hielten sie so in die Höhe, 
indem sie geil in sich hi nein lachten und sie an sahen . , * Fines 1 ages biß 
einer von den zwei Küssen in einen rohen Fisch hinein, grub die Zähne 
tief in ihn hinein und hielt ihn so etwa zwei Minuten fest, indem er die 
Augen dabei schloß/' 

Hier handelt es sich, wie bei „Zachäus“ und dem In-den-Finger-Beißen 
des Hungernden, um grausames Heißen, dessen früheste Äußerung beim Kinde 
das Beißen in die säugende Brust ist (oraler Ursprung des Sadismus)/ 

Es fällt auf, daß in „Hunger“, dessen leidender Held einen ganzen 
Band hindurch „nichts zu beißen“ hat, der Geliebten Brüste entblößt 
werden, worauf sie den Wunsch äußert, dort geküßt zu werden. Ist „Hunger“ 
vielleicht das Epos „oraler Enttäuschung“ t? a 

Sehr charakteristisch sind jene gewaltigen rächenden Meisterhiebe, knock 
outs , die Hamsun so gern schildert („Schwärmer, Saitenspiel, Segelfoß, Letzte 
Freude"'}: Ein starker Mann fällt um, wie vom Blitz getroffen. In „Benoni“ 
wird das Schweineabstechen, in „Letzte Freude“ das der Hühner mit sicht" 
licher Lust am Grausamen beschrieben. Wer kann die rohen Scherze mit 
dem armen Zeitungsjungen bei einem anderen Dichter finden!? Einmal 
wird ihm („Neue Erde“) ein zu diesem Zweck glühend gemachtes Geld¬ 
stück zugeworfen, um seine Qualen lachend beobachten zu können. An 
anderem Orte („Auf der Straße“, Tagebuchblatt) wirft Hamsun selbst größere 
Münzen unter einen Eisenrost, der festgefroren ist, und mit Schadenfreude 
schildert er des Knaben kränklichen dünnen Arm und, wie derselbe ihn 
durchzwängt, sich blutig verwundet, an den Knöcheln die Haut abreißt, 
und will ihn noch weiter quälen. 

1) Vgl, Karl Abraham: „Psychoanalytische Studien zur Charakterbildung“ (Inter¬ 
nationale Psychoanalytische Bibliothek, Bd. XVI). Danach ist es der Prozeß der 
Zahnbildung t der die Lust am Saugen 111 einem erheblichen Teil durch die Lust am 
Beißen ersetzt. In die nämliche Periode der Entwicklung fällt die Herstellung ambi¬ 
valenter Beziehungen des Kindes zu Objekten der Außenwelt. Ambivalenz — Liehe 
und Haß in einer Tasche — ist für gewisse Gestalten Hamsuns sehr charakteristisch. 
Als Satiriker ist er „bissig“ genug, 

2) Eine amerikanische Arbeit „A Psychopathologien! Study of Knut Ham¬ 
suns’ ,Hunger*“ von Gregory Stragncll weist ausführlich auf den Masochismus 
des Helden hin und legt das sich In-den-Finger-Beißen als Kastration ans. (The 
Psychoanaiytic Review 1922.) 













Ein Gespenst aus der Kindheit Knut Hamsuns 


555 


Je genauer man zusieht, desto stärker wird der Eindruck, dem Dichter 
ist der eifersüchtige Liebeskampf wichtiger, als das Ziel desselben* 1 
Er erfüllt, mit feinster Kunst in Wechsel vollem Spiel dargestellt, die Seelen 
der Liebenden in „Viktoria, Pan, Schwärmer, Berbststernen, Saitenspiel“, 
auch in „Kinder ihrer Zeit, Benoni und Rosa, Redakteur Lymge“ u. a. Nur 
zu leicht und zu rasch erkaltet das Herz des Liebenden, fühlt sich ent¬ 
täuscht oder betrogen — Haß erfüllt dann den Mann, Rasch schlägt 
der größte Teil früherer Liebe zu grausamer Härte um. Die gefallene Frau 
wird zu Tode gehetzt, „in Liebe getötet“, so Frau Holmscn, so Frau 
Falkenberg. Mack arrangiert es, daß die treulose Schmiedin vom gesprengten 
Felsblock erreicht wird; und wirklich liegt sie dann da „zermalmt, zer¬ 
schmettert, von einem Schlag zersprengt, an der Seite und über den Leib 
herunter, bis zur Unkenntlichkeit aufgerissen“* 

So wie demütiges und demütigendes Lieben einander folgen können, 
wird es auch zu gleicher Zeit an verschiedenen Frauen erlebt. Nagel liebt 
die stolze Dagny und die demütige Martha, Glahn Edvarda und Eva, 
Johannes Viktoria und Kamilla, 

Wiederholt schildert Hamsun Zwangssymptome, die bekanntlich mit 
sadistischer Triebanlage in Zusammenhang stehen. Öjen („Neue Erde“) 
zählt alle Fenster; kann nur noch gerade Ziffern zählen, zwei, vier, sechs; 
und leidet an zwanghafter Angst, einen Gegenstand zu verlieren (Knöpfe, 
Zwicker). Er wettet mit sich selbst nm gewaltige Summen: Geht er eine 
unbekannte Treppe hinauf, so hat er gewonnen, wenn es sechzehn, ver¬ 
loren, wenn es achtzehn Stufen sind. Der „Selbstmörder“ („Letztes Kapitel“), 
der immer die Ausführung verzögert, entpuppt sich als Gedankenmörder 
seiner treulosen Frau und des Liebhabers. Kaum ein anderer Dichter weist 
den Todes- (Destruktions-) Trieb in solchem Grade auf. Im letzten Roman 
„Das letzte Kapitel“ werden die Besucher eines Sanatoriums gleichsam 
zum Schießstand einer Treibjagd versammelt, satirisch abgemalt und 
dann zumeist sterben gelassen, das Sanatorium verbrennt wie Sodom und 
Gomorra. 

Schmerzlust und Leidensfreudigkeit, der gegen sich selbst gerichtete 
Sadismus, blüht bei Hamsun gleichfalls; das Material ist überfließend! 


1) Es handelt sich hier vielfach weniger um die Sexualbefriedigimg, als um das 
Geliebt werden als Ich-Ziel: das Vollgenommen werden als Überwindung dunklen 
Minderwertigkeitsgefühls (der Kastrimheit); daher auch die übergroße Empfindlich¬ 
keit des Liebenden. 


Imago XII. 


23 







Eduard Hltschmann 


354 


„Hvrnger“ ist eine Leidensdarstelhmg durch einen ganzen Band, 1 2 Selbst¬ 
mord ist häufig genug; Glahn und Solem und der Hungernde verwunden 
sich selbst, Rolandsen („Schwärmer“) verleumdet und verbannt sich selbst, 
Minute ist ein exquisiter Dulder, der zum Schluß sich an Martha in bösen 
Instinkten vergeh t. Wenn die Geliebte als Reiterin erscheinl iktoria , „Rosa ), 

wirkt sie dauernd. Der sausende Hieb der Feilsche einer Dame macht dem 
Gezüchtigten einen blutroten Streif im Gesicht; „Sie haben mich geschlagen,“ 
sagte er, „aber das tut nichts. Wiederholen Sie es, es ist mir jedesmal eine 
Freude“ („Der Eroberer“, Novelle), Am klassischsten zeigt sich Masochismus 
des Mannes in der „Königin von Saba“; Unvergeßlich bleibt dem Reisenden, 
der mit kläglich zerrissenen Schuhen einlangt, die Tochter aus dem Herrenhof, 
die er, wie sie auf dem Bock eines unbespannten Wagens steht und mit 
der Peitsche knallt, kennen lernt. Es kommt ihm der Gedanke „sich als 
Pferd vorzuspannen und den Wagen zu ziehen“. Sie zerschmettert ihn mit 
den Augen, Noch vier Jahre später wirkt ihr Anblick faszinierend; er 
verfolgt sie zwangshaft, — eine Odyssee — bis ihm klar gemacht wird, daß 
sie mit einem anderen verheiratet ist, — Der Telegraphist Baardsen („SegeL 
foß“) läßt sich im Spiel von Klara den verstellbaren Dolch in die Brust 
stoßen und geht später daran zugrunde, „Wenn ich sie bekäme,“ sagt ein 
Liebender, „würde ich ihr unermüdlicher dienen, als irgendeiner, wenn 
ihr ein fiele, das Unmögliche von mir zu verlangen, ich würde alles tun. 
Ich hielte inne, legte mich auf die Knie und leckte vor Demut und Hoffnung 
einige Grashalme am Wege,“ So legen sich Nagel und Benoni wirklich 
auf die Erde. 

In origineller Form begegnen wir der Leidensfreude, da der Dichter selbst 
in armseligen Kleidern als einfacher Wanderarbeiter auf die Walz geht und 
schwere, niedrige Arbeiten verrichtet, angeblich nur um Überkultur und 
Stadt zu überwinden, tatsächlich um als Knecht und Kutscher demütig 
dienen, bescheiden belauschen zu können. Nur Brocken von herablassender 
Neigung fallen ihm von der angebeteten Herrin zu: aber eben dies ist ihm 
masochistischer Genuß.* („Herbststerne**, „Saitenspiel ,) 

1) „Die meisten Helden Hamsuns sind Märtyrer im Ertragen, hüben einen durch 

und durch passiven Heroismus“ (Carl Marburg er „Knut Hamsun“, Xenien- Verlag, 
Leipzig 1910), Man wird nicht vergessen können, dal) ein Teil seiner Schmerzlust 
in den Knaben Hamsun vom Onkel hineingeprügelt wurde. . i- 

2) Hamsun regred iert damit auf seine eigenen realen zehn Jugendwanderjahre, in 
denen er die verschiedensten niedrigen Berufe daheim und über See ausübte, bittere 
Not und gemeine Genossenschaft durch machte (Kohlen- und StraDcnurbeiler, Stmßen- 
bahnschaffner, Steinhauer, Fischer uaw,). 



















Ein Gespenst aus der Kindheit Knut Hamsuns 


555 


Hier weise ich auch auf medizinische Beobachtungen hin/ nach denen 
masochistisch Veranlagte sich um sexueller Erregung willen zuzeiten wie 
zwangshaft als Arbeiter in elender Kleidung verdingen. 

Vom dichterisch-technischen Standpunkt ist dieses Sich-zum-intimen-Beob¬ 
achter-Machen, indem man als Gastarbeiter oder als Hausdiener im Bunde 
mit der Kammerjungfer das Leben der Herrschaft, Freud und Leid der 
ehebrecherischen Hausfrau belauscht („Saitenspiel“), lehrreich; als Arbeiter 
wird der erzählende Beobachter immer dorthin versetzt, wo die Heldin zu 
finden ist. Der Dichter ist hier nicht selbst Held des Tagtraumes, sondern 
steht als „exzentrischer“ Zuschauer und Schilderer außerhalb/ Diese Lust 
am Zusehen ist gerade beim Sadomasochisten gewöhnlich, der sich oft 
begnügt, zusehend sich mit dem Aktiven oder Passiven zu identifizieren, 
statt selbst einzugreifen. 

„Es war qualvoll und schön, aufreibend, voll Unruhe, er lauschte an 
der Wand, hielt den Atem an und lauschte“, heißt es vom betrogenen 
Hjoibro in „Redakteur Lynge“. 

Die malerisch halluzinierende Kindheitserinnerung, die den Ausgangs¬ 
punkt unserer Betrachtung gab, beweist schon die visuelle Veranlagung 
Hamsuns. 1 2 3 

So ist er wirklich der Dichter nicht nur des Bekuscliens, sondern auch 
des Voyierens. Und da ist es ihm hauptsächlich um sexuelle Szenen zu 
tun. So werden, wie erwähnt, namentlich die Vater-Figuren auf ihren 
sexuellen Wegen ertappt. Es wundert uns dann nicht, daß gerade dem 
Sexualakt eines tierischen Lappens zugesehen wird, und wir werden er¬ 
innert, daß Kinder oft eine sadistische Phantasie vom belauschten Eltera- 
liebesakt erwerben. 

In „Pan“ grüßen Lappe und Lappin sich: „Eines Tages sah ich, wie 
zwei Lappen einander begegneten . , . Anfangs benahmen sie sich, wie 
Menschen tun. Boris! sagten sie zueinander und lächelten. Aber gleich 
darauf fielen sie in den Schnee und blieben eine gute Weile für mich 
unsichtbar. Du mußt nach ihnen sehen, dachte ich, als eine Viertelstunde 
vergangen war, sie könnten im Schnee ersticken. Da standen sie auf und 
gingen fort. Jedes in seiner Richtung.“ Gewaltig verläuft die Szene, wo 
die einst so stolze Edvarda sich — ohne zu wissen, daß sie beobachtet 

1) A. Kirschbatim; „Über zwei ungewöhnliche Fälle von Para Sexualität.“ Zeit¬ 
schrift für gesamte Neurologie und Psychologie, 64, Bd. 

2) Vgl. Freud: „Der Dichter und das Phantasieren.“ (Ges. Schriften, Bd. X.) 

3) Hamsun war in der Jugend kurzsichtig. (VgL „Im Märchenland“, Keisebilder.) 

*5* 








Eduard Hitschmaim 


556 


ist -— dem Lappen im Walde hingibt: „Er knurrt, faßt sie plötzlich an der 
Kehle und überwältigt sie. Oh, nun sind sie beide wild, sic beben anein- 
ander, sie verschmelzen mit Armen und Beinen, es ist unsagbar, was sie 
tun** („Rosa**), 

Oie Häufigkeit, mit der der Scxualakt beschrieben und belauscht wird, 
kann nicht übersehen werden; in ein Gartenhaus, in eine Scheune kommen 
abwechselnd die Paare. Neben jenen platonischen iiifersuchtsKampfen um 
die Edle, Angebetete, Jungfräuliche, finden wir auch die Sichhingebende, 
die triebhaft Sinnliche, die „Dirne“, die von selbst kommt und sich anbietet 1 
(„Pan“)* Diese Spaltung der weiblichen Liebesobjekte in seelisch Geliebte und 
sinnlich Gebrauchte findet sich bekanntlich am ausgebildetsten wieder bei 
dem, der als Knabe intensiv an die Mutter fixiert war, die Eifersucht auf den 
Vater stark erlebte und oft auch wie Hamsun den Entmannungskomplex. 
Die Erscheinung der Polygamie des Mannes, die Belauschung des Liebes- 
aktes durch denselben, die Motive des immer nahen Dritten und der Eifer¬ 
sucht legen nahe, auch das Thema der unbewußten Gleichgeschlecht¬ 
lichkeit hier zu bearbeiten, was aber einer ausführlicheren Arbeit Vor¬ 
behalten bleiben muß. Das männliche Gespenst, oder richtiger die Angst 
vor jenem halluzinierten Mann, die etwa vom neunten bis zum fünfzehnten 
Lebensjahre Hamsun anfallsweise erschüttert, beweisen gleichfalls feminine 
Einstellung des Heranwachsenden. In „Saitenspiel“ finden wir folgende 
ablehnende allgemeine Charakteristik der Frauen: „Die Frau äst * * ., wie 
alle Weisen schon immer wußten: unendlich arm an Begabung, reich 
aber an UnVerantwortlichkeit, an Eitelkeit, an Leichtfertigkeit. Sie hat viel 
vom Kinde, aber nichts von dessen Unschuld. Auch des Dichters Pessimismus 
gegenüber der Treue der Frauenliebe gemahnt an Strindberg. 

IIamsims Ideale 

Bedenken wir, daß biographische Einzelheiten über unseren Dichter, 
einen der größten und echtesten unserer Zeit, nicht zur Verfügung stehen, 
so müssen wir für jene Kmdheitserinnerung dankbar sein, die für uns der 
Ausgangspunkt war, um wesentliche Aufklärungen über seine Phantasien, 
eine Reihe seiner bedeutsamsten Motive und auch über sein I riebleben zu 
gewinnen. Noch einmal führt uns Erinnerung genußreicher Lektüre durch 

1) In der Skizze „Stimme des Lebens* 1 holt sich die junge Witwe eines nach langer 
Krankheit dreiundfünfzrg jährig verstorbenen Gatten alsbald einen Mann von der Straße, 
dem sie sich in der Nacht nach jenes Tod hingibt. Die Leiche liegt noch im Neben* 


Zimmer. 


















Ein Gespenst aus der Kindheit Knut Hamsuns 


357 


seine vielgestaltigen Werke. Wir wenden uns zum Schlüsse der sittlichen 
Persönlichkeit des Dichters zu, die hinter all den komplizierten erotischen 
Verwicklungen und Herzenskämpfen, aber auch hinter den wertvollen 
gesellschaftskritischen Romanen und den großen epischen Konzeptionen In 
Größe und Reinheit steht. Die strenge Erziehung des Oheims Pfarrer (und 
des Vaters?) hat gute Früchte getragen, 1 Hamsuns Persönlichkeit ist von 
den Idealen der Ehrlichkeit und der reinen Hände, des Mitleids und der 
Arbeitsamkeit erfüllt. Die Helden seiner Jugendwerke sind unpraktische 
Idealisten; selbst der traurige Held in „Hunger“ kommt nur materiell 
herunter, nicht moralisch. Einfache Leute, wie Falkenbergs Dienerschaft, 
werden zu Kritikern der sittenlosen Herrenleute. Treibt das Phantasieleben 
des Dichters die sonderbarsten Blüten von Grausamkeit und Sinnlichkeit: 
diese gleichen Ausscheidungsprodukten; er selbst erscheint als der Vor¬ 
kämpfer edelster Liebe, verzeihender Güte, verzichtender Treue, ernsten 
Leistens und Aufbauens. Wir müssen annehmen, jene Kindheitserinnerung 
repräsentiere den Bruch mit ursprünglichen grausamen Regungen, die 
Abwendung von verbotener Liebe, denn sie verrät das Schuldgefühl und 
Strafbedürfnis des leidenschaftlich veranlagten, träumerischen Knaben, Er 
nimmt die sittliche Persönlichkeit des Ziehvaters (und Vaters) sowie der 
gütigen Mutter durch Identifizierung in sich auf. Aus dem frühen Sadismus 
und Tierquälen ist reaktiv Güte und Mitleid geworden. Aus dem ver¬ 
lorenen Tagträumer wurde ein Kämpfer und Dichter, Seine narzißtischen 
Ebenbilder sind der Hungernde, Nagel und Glahn, der Dichter Johannes, 
der durch Leiden groß geworden ist, Musiker und Studenten und die be¬ 
gabten, irinkfreudigen Telegraphisten mit dem „zu großen Herzen“, In Be¬ 
wunderung seiner Werke müssen wir dem großen Dichter recht geben, wenn 
er über sich selbst sagt: „Ich habe eine eigenartige Schreibarbeit betrieben 
und eine bessere als die Mehrzahl; das weiß ich wohl. Aber das ist nicht 
so sehr mein Verdienst, denn ich wurde mit den Fähigkeiten dazu 
ge hören.“ 

Einen Mangel freilich scheint das Werk dieses modernen Romanciers 
aufzuweisen, wir finden zunächst keine edle Muttergestalt darin. 

Wir fänden sie nicht, lehrte uns nicht die Psychoanalyse, daß das hohe 
Bild der Mutter, das Heimat und Sehnsucht ist — zur Mutter Erde, Mutter 

1) Von der nachsichtigen Güte seiner Mutter zeugt übrigens ein selbstb io graphischer 
Satz an versteckter Stelle („Unter Tieren“}: „Wir hatten eine sonderbare Mutter, 
die oft wieder umkehrte und tat, als habe sie etwas vergessen, wenn sie uns in der 
Vorratskammer ertappte,“ 







55 8 


Eduard Hitschi naim 


Natur sublimiert wird. Zu ihr 11 üchtet Hamsun aus Seelen kämpfen und 
Lebenssorgen, sie gibt heilenden Frieden. Gern wohnt er als Romanheld 
im Wald oder am Strand in einer warmen Erdhöhle, einsam und in 
Autarkie mit einfacher, mitgenommener Nahrung, Seine Schilderung der 
Natur verrat deutlich ihr Mütterliches, „Dieser Ort , heißt es in „Letzte 
Freude“, „ist ja eigentlich kein Bergabhang, sondern ein Busen, ein Schoß, 
so weich ist er . . ein großer Hang, so voll von Zärtlichkeit und Hilf¬ 
losigkeit, wie eine Mutter läßt er alles mit sich geschehen/ 4 Als Land¬ 
schaft, in der man schon einmal gewesen ist; als dejd vu; mit Gefühlen 
der Wiedergeburt erscheint die Natur dem zu ihr Flüchtenden: „Viele 
Jahre sind vergangen, seit ich solchen Frieden um mich fühlte, vielleicht 
zwanzig oder dreißig Jahre, vielleicht war es in einem früheren Leben. 
Und doch muß ich schon einmal diesen Frieden verspürt haben, da ich 
nun hier umhergehe . . . und mich um jeden Stein und jeden Halm 
kümmere, und diese wieder sich um mich zu kümmern scheinen. Wir 
kennen uns ... ich ging durch den Wald, wurde zu Tränen gerührt und 
war hingerissen und sagte immerfort: Gott im Himmel, daß ich wieder 
hieherkommen solltet Als sei ich schon einmal früher da- 
gewese n.“ 

Die vielgerühmten sentimentalen Naturschi hl erun gen Hamsuns ergeben 
sich aus dieser seiner Sehnsucht nach der schuldlosen, vorgespenstigen, 
paradiesischen Kindheit. 

Mit fünfzig Jahren verläßt er die entmannende Stadt, lebt nun als Land¬ 
wirt in der Natur und schreibt jene große epische Vision „Segen der Erde^ 
von der Urbarmachung abgeschiedenen Landes nieder. An die Stelle der 
kämpfenden romantischen Liebe ist längst die eheliche getreten. Hat sich 
der fünfzigjährige Dichter schon in „Gedämpftes Saitenspiel u und „Letzte 
Freude“ irrtümlich als kraftlos und müde dargestellt, so lebt er in Wirk¬ 
lichkeit erfreulicherweise in unveränderter genialer Schaffenskraft weiter. 

ANHANG 

Psychoanalytisches bei Knut Hamsun 
Symptomhandlungen 

e d er der Af a dch e n n a m e. Herr Tiedcniund, der mitansehen muß, daß 
seine Frau trotz zweier Kinder sich innerlich ganz von ihm loslöst, konstatiert: „In 
letzter Zeit nennt sie sich auch wieder Lange, Hanka Lange-Tiedemand, gerade als 
heiße sie immer noch Lange“, und an anderer Stelle: „Sic betrachtet sich immer 







Ein Gespenst aus der Kindheit Knut Hamsuns 


359 


noch als nicht verheiratet* sie schreibt sich auch noch mit ihrem Mädchennamen 
Lange,“ („Nene Erde.“) 

Auf trennen der Handarbeit . Hjoibro, der schwerfällige, aber ernst’ 
charaktervolle Verehrer Charlottens antwortet auf eine Frage, wie seine Braut sein 
solle: „Sie soll jung und unschuldig sein,“ Charlotte* die sich dem leichtsinnigen, 
gewandteren Bon des en lungegeben hat, wird darauf flammend rot, die Handarbeit 
zittert in ihren Händen, und sie verrät ihre Reue, als wollte sie ihren Fall rück¬ 
gängig machen: „Sie trennte ihre Arbeit Stich für Stich wieder auf und hatte doch 
vielleicht gar nicht falsch genaht, Gott weiß, vielleicht hatte sie sogar die ganze 
Zeit richtig genäht, und trotzdem trennte sie auf,“ („Redakteur Lynge*“) 

Verschieb nng des Eherings, Leutnant Hohnsen wechselt oft und oft die 
Hand, an der er seinen Ring trägt. Dieser gehört eigentlich an die rechte Hand, 
aber wie zwangshaft wird er anläßlich gewisser Vorkommnisse au die linke gesteckt. 
„Daß er den Ring von einer Hand auf die andere setzte, sollte bedeuten, daß er viel 
dachte und sich an das eine oder andere von Wichtigkeit erinnern wollte. Es geschah 
jedesmal so still und unbemerkt, niemand wußte, weshalb er es tat, aber er selbst 
wußte es vielleicht,“ Links trägt den Ring bekanntlich der Witwer, und es ist offen¬ 
bar diese Phantasie, Witwer zu werden — wird doch die Frau verstoßen! — un¬ 
bewußt mitbestimmend am Ortswechsel des Ringes, der etwa zehnmal im Roman 
vorkommt. („Kinder ihrer Zeit.“) 


Tendenziöses Mißverstehen und Vergessen 

Dundas sagt: „Heule nachts Schlag eins!“ Worauf er verschwindet. 

Sie meint, er würde heute nachts Schlag eins auf die Reise gehen. 

Da geschah es, daß sie vergaß, ihre Tür zu verriegeln, 

Schlag eins tritt er bei ihr ein! („Pan,“) 

Über den Traum 

£ „Man träumt nicht mehr schön, wenn man erwachsen ist.“ („Mysterien*“) 

Strafbediirfn is 

In der Novelle „Geheimes Weh“ wird ein seltsamer Mann geschildert, dem der 
Dichter viermal begegnet ist, und der sich jedesmal halb verrückt benahm: einmal 
den Dichter würgte und bedrohte, ein zweitesmal im Eisenbahnwaggon Dietriche 
und Einbruch Werkzeuge offen zeigte u. dgl. Hamsim erklärt es sich damit, daß jener 
Verwirrte durchaus bei der Polizei angezeigt werden wollte und vielleicht darunter 
litt, daß ein Geheimnis, das ihn ins Verderben bringen konnte, niemals offenbar 
wird. 

Diese Erkenntnis über Strafbedürfnis kam Hamsun durch eine Dame, die ihm 
von sich erzählte und sich analog erwies: Da sie nämlich wegen eines Vergehens, 
das ihr eine Gefängnisstrafe von einigen Tagen eingebracht hatte, nie gefaßt wurde, 
ließ sie aus Schuldgefühl und Strafbedürfhis nichts unversucht, um die Leute auf 
die richtige Spur zu lenken. Aber es fiel niemand ein, sie anzuzeigen. 





3 6o 


Hitschmann: Ein Gespenst aus der Kindheit Knut Hamsuns 


Selbstmord = Ersatz des Mordes 
Eine tragikomische Gestalt ist Leonhard Magnus, der immer vorgibt Selbst¬ 
mord begehen zu wollen und ihn nie ausführt. Grund dazu ist, daQ seine Frau mit 
einem anderen lebt und sich betrinkt: offenbar hegt er gegen beide Mordgedanken, 
hat aber dazu weder Mut noch Haß genug. So wendet der „Todestricb“ sich gegen 
ihn selbst, Zweifel und Unentschlossenheit zeigen seine Ambivalenz. Die Frau kehrt 
zurück, er verzeiht, sperrt sie — um sie zu schonen —- im Hotelzimmer ein, wo sie 
unrettbar verbrennt. („Das letzte Kapitel«) 













Psychoanalyse und Kinderheilkunde 

Von 

.losef K. Friedjung 

Dozent an der Universität Wien 

Vor nun reichlich sechzehn Jahren war es mir gestattet, vor Pro¬ 
fessor Freud und seinen Schülern an der zu historischer Berühmtheit 
gelangten ersten Stätte ihrer regelmäßigen Zusammenkünfte einen Antritts¬ 
vortrag zu halten. Meine Ausführungen galten der Frage: „Was kann die 
Kinderheilkunde von der psychoanalytischen Forschung erwarten?“ Es war 
der Niederschlag zahlreicher schmerzlicher Erfahrungen, wenn ich von der 
Unzulänglichkeit des pädiatrischen Unterrichtes, von unserer Hilflosigkeit 
vor vielen Kindern und ihren krankhaften Erscheinungen sprach; und es 
war ein Stück starker Zuversicht, daß ich gerade von der psychoanalytischen 
Forschung hier Hilfe erhoffte. Gab sie mir doch das Rüstzeug zum Ver¬ 
ständnis so vieler Klippen und Schwierigkeiten, zur Lösung so vieler Rätsel. 
Und es ist ein berechtigter Wunsch, sich nun, nach so vielen Jahren, 
Rechenschaft zu geben über das Ausmaß, in dem meine Erwartungen 
eingetroffen sind. So schwer auch die Kinderärzte für die Grundlagen der 
Lehren Freuds zu gewinnen sind, — es darf doch festgestellt werden, daß 
das Lehrgebäude der Kinderheilkunde, wenn auch mit zögernder Zustimmung, 
einen wichtigen Zubau erfahren hat, daß viele vorher unbekannte oder 
dunkle Tatbestände, die erst die Psychoanalyse verständlich machte, in das 
allgemeine Bewußtsein der Kinderärzte eingegangen sind. 

Schon die Stellung des Kindes innerhalb der Familie und Gesellschaft 
haben wir mit neuen Augen schauen gelernt: Die traditionelle Vorstellung 
von der Familienidylle ist klareren Einsichten gewichen, die triebhaft 
bestimmten und gefärbten Beziehungen von Eltern, Kindern, Geschwistern 
und anderen Hausgenossen haben uns vieles begreifen, aber auch verhüten 
gelehrt. Mit anderen Ohren hören wir jetzt die Anamnese, mit klarerem 






362 


Josef K. Friedjung 


Verständnis achten wir auf Einzelheiten, die uns ehedem unbeträchtlicher 
Zufall schienen. Und wenn wir dann zur Untersuchung des Kindes schreiten, 
so ist die erforderliche Technik aus einer mehr oder weniger erfolgreichen 
Routine zu bewußter — Kunst geworden, Bewegungen, Tonfall, die Worte 
des Untersuchers, — alles ist bewußt und beherrscht und damit auch 
gleichzeitig eine wertvolle, beispielgebende Schulung für die erwachsene 
Umgebung des Kindes. All das erfließt aus einer vertieften Kenntnis des 
kindlichen Wesens und ihr müssen auch alle Anordnungen des Arztes 
angepaßt sein. War früher die Untersuchung kranker Kinder oft ein be¬ 
schämender Kampf eines verständnislosen neurotischen Erwachsenen mit 
neurotisch-ängstlichen kleinen Kranken, so gestaltet sie sich jetzt zumeist 
zu einem heiteren Spiele. Und ebenso muß die Behandlung aufhören, — 
Brutalisierung zu sein. 

Gehörte es früher zu den vornehm liehen Aufgaben des Kinderarztes, die 
körperliche Entwicklung seiner Schützlinge als Prophylaktiker zu über¬ 
wachen, so hat er es im letzten Jahrzehnt gelernt, daß er auch ihrer 
Erziehung im engeren Sinne, ihrer seelischen Entfaltung seine Aufmerksamkeit 
schenken müsse. Körperliches Gedeihen hängt, wie wir nun wissen, so 
eng mit psychischem Wohlbefinden zusammen, daß selbst die Klinik alten 
Stils in dieser Frage ihr Verhalten ändern muß. Der moderne Kinderarzt 
hat es aber nunmehr gelernt, sich für das Gesamtschicksal des Kindes in 
der Zukunft mitverantwortlich zu fühlen und wird immer wieder Anlaß 
haben, bei der Behandlung einer Angina etwa auch von Fragen der Er¬ 
ziehung zu sprechen. Schon beim Säugling setzt er damit zielbewußt ein* 
Die Ordnung und Ruhe, auf der er hier bestehen rnuß, wird er oft erst 
durchsetzen können, wenn er den Erwachsenen ihre unbewußten seelischen 
Tendenzen klargemacht hat. Den Still willen der Mutter, der für das 
Gedeihen des Neugeborenen so entscheidend ist, wird der psychoanalytisch 
orientierte Kinderarzt mit klareren Augen abmessen und beeinflussen. Und 
nun die für den Kundigen so bedeutsame Entfaltung des kindlichen Trieb¬ 
lebens, seine erzieherische Überwachung und behutsame Beeinflussung, die 
Vermeidung übertriebener Zärtlichkeit und Strenge, die vorbeugende Be¬ 
sprechung kommender Konflikte und unausweichlicher Traumen, die, um 
ein Beispiel 2u nennen, etwa bei der Geburt eines zweiten Kindes dem 
ersten drohen, die Einstellung der Erwachsenen zu geschlechtlichen 
Äußerungen der Kleinen, 7,um Sexualproblem überhaupt, die Schwierig¬ 
keiten der Schulzeit, die Konflikte der Jugendlichen, — alles das ist zu 
einer Domäne des Kinderarztes geworden, früher von ihm kaum beachtet, 









Psychoanalyse und Kinderheilkunde 


303 


wenn er nicht etwa als Vater selbst auf Schwierigkeiten auf diesen Ge¬ 
bieten stieß. 

Besondere Bedeutsamkeit erlangte aber die Einsicht, daß gewisse typische 
ungünstige Familienkonstellationen überaus häufig zu krankhafter Ent¬ 
wicklung oder Veränderung des Kindes Anlaß geben. So konnte der Typus 
des einzigen und des Lieblingskindes, der des ungeliebten und 
umkampften, des entthronten und mittleren Kindes herausgehoben 
und beschrieben werden, Typen, die unter dem Namen der „Milieukinder“ 
sich die allgemeine Beachtung der Kinderärzte erworben haben. Das Ver¬ 
ständnis für ihre Entstehung weist der Prophylaxe und Therapie klare 
Wege, deren Gangbarkeit freilich nicht nur vom Arzte, sondern noch mehr 
von den schuldigen Erwachsenen, die selbst oft neurotisch sind, und von 
äußeren Verhältnissen abhängt. Von großer Wichtigkeit ist es, daß an solchen 
„Milieukindern“ nicht selten körperliche Beschwerden zur Entwicklung 
kommen, die dem diagnostischen Können des Arztes früher nicht erkannte 
Fallen stellten, daß ferner geläufige Krankheitsbildei an solchen Kindern 
Veränderungen, meist im Sinne der Erschwerung, erfahren, deren klare 
Beurteilung uns wieder erst mit dem psychoanalytisch geschärften Blicke 
möglich geworden ist. 

Eine häufige Frage: „Ist das Kind bloß schlimm oder ist es krank?“ 
die früher nur bei schweren Prozessen, wie Hirntumor, Dementia praecox 
eine richtige Antwort zu finden pflegte, ist uns Kinderärzten nunmehr 
viel mehr zur Gewissensfrage geworden, da wir uns auch um die Neurosen 
des Kindes zu kümmern begonnen haben. Die von Freud aufgedeckten 
seelischen Mechanismen werden nun endlich auch dem Kinde zugebilligt, 
akute und chronische Wesensänderungen auch im jugendlichen Alter der 
Analyse wert gehalten. Die Behandlung an die Stelle der von der Tradition 
geheiligten Mißhandlung gesetzt zu haben, das scheint mir einer unserer 
schönsten Fortschritte zu sein. Dabei liegen ähnlich dem kindlichen Traume 
auch die kindlichen Neurosen und Psychoneurosen oft so einfach, ihre 
Entstehung ist so durchsichtig, daß der Therapie erfreulich kurze Wege 
zur Verfügung stehen. 

Während bisher nur die Rede war von der Anwendung der an er¬ 
wachsenen Neurotikern psychoanalytisch gewonnenen Erfahrungen an dem 
Kinde, die allerdings durch zahllose Beobachtungen an Kindern selbst 
gerechtfertigt worden waren, erhebt sich endlich die Frage, wie weit die 
psychoanalytische Behandlungsmethode im klassischen Sinne bei Kindern 
ihre Berechtigung und Möglichkeiten habe. Die Erfahrung lehrt, daß wir 






3 6 4 


Friedjung: Psychoanalyse und Kinderheilkunde 


ihrer zumeist entraten können, daß es meistens genügt, gestützt auf unsere 
psychoanalytischen Einsichten* unsere Ratschlage zu erteilen. Die Erziehung 
der Erzieher und der zweckmäßig gewählte Milieuwechsel spielen da die 
größte Rolle, ferner die Nacherziehung des Kindes mit „psychoanalytischem 
Einschlag“. Es wird aber dann immer noch eine Anzahl von Kranken übrig 
bleiben, deren Erkrankung entweder so schwer oder so veraltet ist, daß 
eine lege artis durchgeführte Analyse nicht umgangen werden kann, wie 
etwa bei manchen Fällen von Enuresis, von Asthma bronchiale, von 
Zwangsneurose. 

Diese gedrängte Darstellung erweist ohne Zweifel, in welch reichem 
Maße sich die großartige Leistung Freuds auch an der Kinderheilkunde 
ausgewirkt hat. Sie ist nicht mehr aus ihr wegz.udenken, und unser Wirken 
vor dieser Befruchtung erscheint mir heute fast stümperhaft und geistlos. 
Und doch stehen wir erst am Anfänge einer vielverheißenden Entwicklung, 










Die psychologischen Grundlagen 
der Frühanalyse 

Von 

Melanie Klein 

Berlin 

Ich beabsichtige in den folgenden Ausführungen auf einige zwischen dem 
frühkindlichen Seelenleben und dem des Erwachsenen bestehende 
Unterschiede näher einzugehen. Sie machen eine der frühkindlichen Psyche 
angepaßte Technik nötig und es soll versucht werden, den Nachweis zu er¬ 
bringen, daß eine von bestimmten hier näher zu besprechenden Gesichts¬ 
punkten ausgehende analytische Spieltechnik diese Aufgabe erfüllt. 

Das Kind stellt, wie wir wissen, Beziehungen zur Außenwelt her, indem 
es Libido, die ursprünglich ausschließlich dem eigenen Ich gilt, den lust¬ 
spendenden Objekten zu wendet. Sein Verhältnis zu diesen — und zwar so¬ 
wohl zu den lebenden wie den leblosen — ist zunächst ein rein narzi߬ 
tisches. Auf diesem Wege gewinnt aber auch das Kind seine Beziehungen 
zur Realität. Ich will dieses frühkindliche Verhältnis zur Realität mit einem 
Beispiel belegen. 

Die drei ein viertel jährige Trude ging nach einer einzigen Analysenstunde 
mit ihrer Mutter auf Reisen. Ein halbes Jahr später wurde die Analyse fort¬ 
gesetzt. Von allem inzwischen Erlebtem sprach sie erst nach längerer Zeit 
einmal anläßlich eines Traumes, den sie mir berichtete. Sie war mit ihrer 
Mutter wieder in Italien in dem ihr bekannten Restaurant. Die 
Kellnerin gab ihr keinen Himbeersaft, weil keiner mehr da war. 
Die Deutung ergab unter anderem den nicht verwundenen Schmerz des 
Kindes um die Entziehung der Mutterbrust und den Neid auf die kleine 
Schwester. Während mir Trude sonst allerlei anscheinend Nebensächliches 
berichtete, auch wiederholt Details der ersten, ein halbes Jahr zurückliegen- 



5 66 


Melanie Klein 


den Analysenstunde erwähnte, hatte nur die Beziehung zur erlittenen Ver¬ 
sagung den Anlaß gegeben, ihrer Reise zu gedenken, die sonst für sie kein 
Interesse besaß. 

Das Kind lernt schon in sehr frühem Alter die Realität durch die Ver¬ 
sagungen kennen, die sie ihm auferlegt. Es erwehrt sich der Realität, indem 
es sie ablehnt. Grundlegend aber und der Prüfstein für alle fernere An¬ 
passungsfähigkeit an die Realität, ist die größere oder geringere Fähig¬ 
keit, die aus der Ödipus-Situation resultierenden Versagungen zu er¬ 
tragen. Auch beim kleinen Kinde ist deshalb die zu starke Ablehnung der 
Realität (die häufig durch eine scheinbare Anpassung und „Folgsamkeit“ 
verdeckt wird) ein Kennzeichen der Neurose — nur durch ihre Äußerungs- 
formen unterscheidet sie sich von der Realitätsflucht des erwachsenen Neu¬ 
rotikers. Damm hat auch schon in der Frühanalyse eines der Endergebnisse 
die gelungene Anpassung an die Realität zu sein. Sie drückt sich beim 
Kinde unter anderem im Schwinden von Erziehungsschwierigkeiten aus —- 
es ist eben fähig geworden, reale Versagungen zu ertragen. 

Die Beobachtung zeigt häubg bei Kindern zu Beginn des zweiten Lebens¬ 
jahres schon eine ausgesprochene Bevorzugung des andersgeschlechtlichen 
Elternteiles und sonstige Anzeichen der einsetzenden Ödipus-Strebungen, 
Wann die sich daraus ergebenden Konflikte beginnen, wann also eigentlich 
das Kind unter die Herrschaft des Ödipus- Kompl exes gerät, ist weniger 
deutlich, denn wir schließen ja auf sein Vorhandensein erst aus gewissen 
Veränderungen, die wir beim Kinde bemerken. 

Ich habe aus der Analyse eines zweidrei viertel jährigen, eines dreiein¬ 
vierteljährigen, sowie mehrerer ungefähr vierjähriger Kinder fest gestellt, 
daß der Ödipus-Komplex bei ihnen schon im zweiten Lebensjahr inten¬ 
siven Einfluß ausübte . 1 Als Beispiel führe ich die Entwicklung einer kleinen 


i) Mit dieser Feststellung steht eine andere, auf die ich hier nur andeutungs¬ 
weise e ingehen kann! in innigstem. Zusammenhang, 

Es ergab sich mir in einer Reihe von Kinderaualysen, dnß die Wahl des Vaters als 
Liebesobjekt seitens des Mädchens durch die Entwöhnung von der Mutierbrust eilige- 
leitet wird. Durch diese Versagung, der sich die vom Kinde uh neuerlicher schwerer 
Liebesentzug gewertete Reinlichkeitsgewöhmmg aiiachließt, wird die Bindung an die 
Mutter gelockert und die gegengeschlechtliclte Anziehung kann (unterstützt durch die 
Liebkosungen des Vaters, die nun als Verführung empfunden werden) in Wirksamkeit 
treten. Der Vater als Liebesübjekt soll auch zunächst der oralen Befriedigung dienen. Ick 
habe in meinem Kongreßreferat (Salzburg, April 1924) au .Beispielen nachgewiesen, daß 
der Koitus vom Kinde zunächst als oraler Akt aufgefaßt und ersehnt wird. 

Die Wirkung dieser Versagungen auf die Ödipus * Entwicklung des Knaben 
scheint mir eine hemmende und fordernde zugleich. Die hemmende Wirkling dieser 







Die psychologischen Grundlagen der Frühanalyse 567 


Analysandin an. Rita bevorzugte bis zu Beginn des zweiten Lebensjahres die 
Mutter, dann in auffallender Weise den Vater. So verlangte sie z, B. wieder“ 
holt im Alter von fünfzehn Monaten allein mit ihm im Zimmer zu bleiben 
und auf seinem Schoße sitzend, mit ihm in Büchern zu blättern. Mit acht¬ 
zehn Monaten aber veränderte sich neuerlich die Einstellung des Kindes und 
sie zog wieder die Mutter vor. Zugleich setzte Pavor nocturnus und Angst 
vor Tieren ein. Es kam zu einer überstarken Fixierung an die Mutter und 
zu einer sehr ausgesprochenen Vateridentifizierung. Mit Beginn des dritten 
Jahres wurde die Kleine immer ambivalenter und in der Erziehung schwie¬ 
riger, so daß sie mit zweidrei viertel Jahren in Analyse gegeben wurde. Zu 
dieser Zeit bestand in vollem Ausmaße eine Monate zurückreichende Spiel¬ 
hemmung, Unfähigkeit, Versagungen zu ertragen, übermäßige Wehleidigkeit, 
starke Stimmungsschwankungen usw. Zu dieser Entwicklung hatten folgende 
Erlebnisse beigetragen : Rita hatte bis zum Alter von nicht ganz zwei Jahren 
das Schlafzimmer der Eltern geteilt und die Wirkungen der Urszene wurden 
in der Analyse deutlich. Den Ausbruch der Neurose aber hatte die Geburt 
des Brüderchens herbeigeführt. Bald nachher traten größere Schwierigkeiten 
zutage und nahmen mehr und mehr zu. Daß ein enger Zusammenhang 
zwischen so intensiven frühen Wirkungen des Ödipus-Komplexes und der 
Neurose besteht, ist zweifellos. Ob es die neurotischen Kinder sind, bei denen 
der Ödipus-Komplex schon so bald mit solcher Intensität wirkt oder ob solche 
Kinder neurotisch werden, hei denen das so früh der Fall ist, kann ich 
nicht entscheiden. Sicher aber ist, daß Erlebnisse, wie die hier besprochenen, 
den Konflikt verstärken und deshalb die Neurose vergrößern, beziehungs¬ 
weise auslosen. 

Ich greife nun aus diesem Fall heraus, was sich mir in den Analysen 
von Kindern verschiedenen Alters, am direktesten in denen kleiner Kinder, 
als typisch erwiesen hat. In mehreren Fällen, in denen ich Angstanfälle so 
kleiner Kinder analysierte, ergaben sich diese als Wiederholung eines Pavor 
nocturnus , der in der zweiten Hälfte des zweiten Lebensjahres und zu Beginn 


Traumen läßt sich auch aus dem Umstande erkennen, daß sie es sind, die der Knabe 
später auf jeder Flucht vor der Mutterbindung (so auch zur Verstärkung seiner in¬ 
vertierten ÖdipuS’Einstellung) heranzieht. Der Umstand, daß diese Traumen die 
den Kastrationskomplex vorbereiten — von der Mutter ausgehen, hat sich mir auch 
als Ursache erwiesen, daß bei beiden Geschlechtern in den tiefsten Schichten gerade 
die Mutter als Kastratorin besonders gefürchtet ist. 

Anderseits aber scheint der orale und anale Liebesentzug auf die Ödipus-Ent¬ 
wicklung des Knabens auch wieder fördernd zu wirken, indem er ihn nötigt, die 
Libidoposition zu wechseln und die Mutter als genitales Liebesobjekt zu begehren. 







Melanie Klein 


des dritten eingesetzt hatte* Kr war schon eine Wirkung und neurotische 
Verarbeitung des Ödipus-Komplexes* Es gibt zahlreiche solcher Verarbeitungen, 
und wir können aus ihnen schon sichere Rückschlüsse auf die Wirkungen 
des Ödipus-Komplexes ziehen* 1 Zu solchen Verarbeitungen, hei denen der 
Zusammenhang mit der Ödipus-Situation ganz deutlich wurde, gehört auch 
häufiges Fallen und Sichbeschädigen, Wehleidigkeit, Unfähigkeit Versagungen 
zu ertragen, Spielhemmung, eine sehr ambivalente Einstellung zu Festen 
und Geschenken und Erziehungsschwierigkeiten verschiedener Art, Erschei¬ 
nungen, die wir schon in einem überraschend frühen Alter oft einsetzexi 
sehen. Als Ursache aber dieser so häufigen Erscheinungen erwies sich mir 
ein sehr starkes Schuldgefühl, auf dessen Entwicklung ich nun näher 
ein gehen will* 

Wie sehr schon beim Pa vor nocturnus auch Schuldgefühle mit wirk¬ 
sam sind, will ich an einem Beispiel zeigen. Die vierein viertel jährige Trude 
spielte wiederholt in der Analysenstunde, daß es Nacht sei* Wir sollten beide 
schlafen* Dann kam sie aus der anderen, von ihr als ihr Zimmer bezeich- 
neten Ecke leise auf mich zu und bedrohte mich verschiedentlich* Sie wollte 
mich in die Kehle stechen, in den Hof werfen, verbrennen, zur Polizei 
bringen* Sie versuchte meine Hände und Füße zu fesseln, hob die Decke 
der Chaiselongue auf und erklärte, sie mache „Po-Kacki-Kucki“* Es ergab 
sich, daß sie im Popo der Mutter nach den für sie Kinder darstellenden 
Kackis suchen wollte* Ein andermal wollte sie mich auf den Bauch schlagen 
und behauptete, sie nehme die A m As (Stuhl) heraus und mache mich arm* 
Sie riß dann die (wiederholt als Kinder bezeichneten) Kissen herunter und ver¬ 
steckte sich mit diesen in die Sophanische, wo sie sich unter lebhaften Angst¬ 
äußerungen zusammenkauerte, zudeckte, lutschte und naß machte* Diese 
ganze Situation folgte immer wieder den Angriffen auf mich* Sie war aber 
derjenigen gleich, welche sie schon im Alter von noch nicht zwei Jahren im 
Bette eingenommen hatte, als sehr starker Pavor nocturnus bei ihr einsetzte* 
Auch damals lief sie in der Nacht immer wieder ins Schlafzimmer der 
Eltern, ohne aber angeben zu können, was sie wollte. Sie war, als die 
Schwester geboren wurde, zwei Jahre alt, und die Analyse konnte die da¬ 
malige Situation und auch die Ursachen der Angst, wie des Nassem und 
Schmierens klarlegen und diese Symptome auch beheben* Sie hatte schon 
damals der schwangeren Mutter die Kinder rauben, die Mutter töten und 

i) Auf ihren innigen Zusammenhang mit der Angst habe ich in meiner Arbeit 
„Zur Frühanalyse u (Imago 1923, Bd* IX) hinge wiesen, in der ich die Beziehung zwischen 
Angst und Hemmung behandelt habe* 










Die psychologischen Grundlagen der Frühanalyse 


ihre Stelle beim Koitus mit dem Vater einnehmen wollen* Diese Haß- und 
Aggressionstendenzen waren die Ursache der im Alter von zwei Jahren be¬ 
sonders stark werdenden Fixierung an die Mutier, und die ihrer Angst- und 
Schuldgefühle. Zur Zeit, als bei Trude diese Erscheinungen in der Analyse 
so deutlich hervortraten, brachte sie sich vor fast jeder Analysenstunde eine 
Beschädigung bei. Es ergab sich, daß die Gegenstände, an denen sie sich 
beschädigte: Tisch, Schrank, Ofen usw. der primitiven kindlichen Identi¬ 
fizierung entsprechend für sie die Mutter, mitunter den Vater bedeuteten, 
die sie bestrafen. Im allgemeinen erwies sich mir die, besonders beim 
kleineren Kinde, so häufige Wehleidigkeit, das Fallen und Siclfbeschädigen 
in innigen Zusammenhang stehend mit Kastrationskomplex und Schuldgefühlen. 

Besondere Aufschlüsse über das frühe Schuldgefühl gewinnen wir aus 
dem Kinderspiel, Rita war schon in ihrem zweiten Lebensjahre der Um¬ 
gebung durch die Reue nach jedem noch so kleinen Vergehen und die 
Überempfindlichkeit jedem Tadel gegenüber aufgefallen. So brach das Kind 
z. B. in Tränen aus, als der Vater dem Bären im Bilderbuch scherzhaft 
drohte. Dabei zeigte sich als bestimmend für ihre Identifizierung mit dem 
Bären noch die Angst vor dem Tadel des realen Vaters, Auch ihre Spiel¬ 
hemmung ging vom Schuldgefühl aus: Schon mit zwei einviertel Jahren 
erklärte sie wiederholt beim Puppenspiel, — das ihr auch wenig Freude 
machte — sie sei nicht die Mutter des Puppenkindes, Die Analyse erwies, 
daß sie nicht Mutter spielen durfte, weil das Puppenkind ihr unter 
anderem das Brüderchen bedeutete, das sie der Mutter schon während 
deren Schwangerschaft rauben wollte. Das Verbot des Kindeswünsch es ging 
aber nicht mehr von der realen Mutter aus, sondern von einer intro- 
jizierten, die sie mir im Rollenspiel vielfach zur Darstellung brachte, und 
die strenger und grausamer in ihr wirkte, als es jemals von seiten der 
realen Mutter geschehen war. Ein zwangsneurotisches Symptom, das Rita 
auch vom Alter von zwei Jahren an entwickelte, war ein zeitraubendes 
Schlafzereinoniell. Sein Kern bestand darin, daß sie sich in die Bettdecke 
fest verpacken ließ, sonst würde „eine Maus oder ein Butzen, der durch 
das Fenster käme, ihren Butzen wegbeißen V Andere Determinierungen 
erwies ihr Spiel. Auch die Puppe wurde immer in gleicher Weise ver¬ 
packt und einmal ein Elefant neben das Puppenbett gestellt. Er sollte 

i) Ritas Kastrationskomplex zeigte sich in einer Reihe von neurotischeu Symptomen 
und in ihrer Charakterentwicklung. Auch ihre Spiele erwiesen deutlich ihre sehr 
starke Vateridentifizierung und ihre vom Kastrationskomplex stammende Angst, in 
der männlichen Rolle zu versagen. 


Imago XII. 


24 






57 ° 


Melanie Klein 



das Puppenkind am Aufstehen verhindern, denn sonst würde es leise in 
das Schlafzimmer der Eltern gehen und diesen etwas tun oder wegnehmen. 

Der Elefant (eine Vater-Imago) sollte die hindernde Rolle übernehmen, ^ 

die der introjizierte Vater schon in ihr spielte, seitdem sie im Alter zwi- 
sehen eineinviertel und zwei Jahren die Stelle der Mutter beim Vater 
einnehmen, der schwangeren Mutter das Kind rauben und die Eltern be¬ 
schädigen und kastrieren wollte. Die Wut- und Angstreaktionen, die im 
Verlauf solcher Spiele einer Bestrafung des Kindes folgten, bewiesen auch, 
daß Rita innerlich beide Rollen spielte; die der richtenden Autoritäten 
und die des bestraften Kindes, 

Ein grundlegender allgemeiner Mechanismus des Rollenspieles 
dient dem Zwecke, die verschiedenen im Kinde wirksamen Identifizierungen, 
die etwas Einheitliches werden sollen, wieder zu zerlegen: Den Vater und 
die Mutter, die es in Verarbeitung des Ödipus-Komplexes in sich aufge¬ 
nommen hat, und die es nun in ihm durch Strenge quälen, entfernt es 
durch diese Rollenverteilung wieder aus sich und empfindet dadurch eine 
Erleichterung, die zum Lustgefühl durch das Spiel wesentlich beiträgt. 

Wenn dieses Rollenspiel oft eindeutig aussieht und nur primäre Identifi¬ 
zierungen zur Darstellung zu bringen scheint, so zeigt es dabei nur seine 
Fassade. Seine Durchforschung hat in der Kinderanalyse eine sehr große 
Bedeutung; sie ist aber nur dann eine vollkommene und therapeutisch 
wirksame, wenn man alle zugrunde liegenden Identifizierungen und Deter- 
minierungen bloßgelegt und vor allem, wenn man den Weg zu dem dabei 
wirksamen Schuldgefühl gefunden hat. 

Die hemmende Wirkung der Schuldgefühle war in den ballen, die ich > 

analysiert habe, schon in einem sehr frühen Alter deutlich. Was uns da ent¬ 
gegentritt, entspricht dem, was wir beim Erwachsenen als Über-Ich kennen. 

Daß wir den Höhepunkt des Ödipus-Komplexes um das vierte l^ebensjahr 
annehmen und die Entwicklung des Über-Ich als sein Endergebnis kennen, 
scheint mir zu diesen Beobachtungen nicht in Widerspruch zu stehen. Die 
gewissen typischen Erscheinungen, die wir in deutlichster Ausbildung fest¬ 
stellen können, wenn der Ödipus-Komplex seinen Höhepunkt erreicht hat, 
und die seinem Abklingen vorangehen, sind nur der Endabschluß einer 
Entwicklung, die sich auf Jahre erstreckt. Die Frühanalyse zeigt, daß mit 
dem Einsetzen des Ödipus-Komplexes das Kind auch schon mit seiner 
Verarbeitung und so auch mit der Ausbildung des Über-Ich beginnt. 

Die Wirkungen dieses kindlichen Über-Ich auf das Kind sind analoge 
wie beim Erwachsenen, belasten aber weit mehr das schwächere kindliche 















Die psychologischen Grundlagen der Frühanalyse 


37 1 


Ich* Wir stärken dieses Ich, wie die Frühanalyse erweist, indem wir die 
übermäßigen Forderungen des Über-Ich durch die Analyse herabsetzen. 
Das frühkindliche Ich unterscheidet sich zweifellos von dem des reiferen 
Kindes oder des Erwachsenen, Aber dieses frühkindliche Ich zeigt sich den 
noch nicht so gewichtigen realen Forderungen, die an es herantreten, 
durchaus gewachsen, wenn wir es von der Neurose befreit haben. 1 

Entsprechend den Unterschieden der frühkindlichen Psyche von der 
reiferen, sind auch die Reaktionen des Kindes auf die Psychoanalyse anders 
als später* Vielfach überrascht die Leichtigkeit, mit der Deutungen zeit¬ 
weise aufgenommen werden; das Kind zeigt sogar mitunter ausgesprochene 
Lust dabei. Für diesen von der Erwachsenenanalyse abweichenden Vorgang 
ist die Erklärung darin zu finden, daß beim Kinde in gewissen Schichten 
die Kommunikation zwischen Bw und Ubw noch eine viel leichtere, der 
Rückweg daher viel einfacher herzustellen ist* Deshalb kann die Deutung, 
die allerdings immer nur auf Grund eines genügenden Materials gegeben wird, 
welches aber das Kind oft überraschend schnell und mannigfaltig produziert, 
auch eine so schnelle Wirkung üben. Diese ist häufig eine überraschende, 
auch wenn das Kind die Deutung mitunter gar nicht zur Kenntnis zu 
nehmen scheint* Das Spiel, welches infolge des eingetretenen Widerstandes 
abgebrochen worden war, wird wieder aufgenommen; das Spiel verändert 
sich, breitet sich aus, bringt tiefere Schichten zur Darstellung, der ana¬ 
lytische Kontakt hat sich wieder befestigt* Die Lust am Spiel, die nach 
einer Deutung sichtlich einsetzt, hat ihre Ursache auch darin, daß der zu 
einer Verdrängung nötige Kraftaufwand durch die Deutung in Wegfall 
kommen kann. Wir stoßen dann aber wieder zeitweise auf Widerstände, 
für die diese Leichtigkeit keineswegs gilt, sondern wo wir mit den größten 
Schwierigkeiten zu kämpfen haben. Das ist besonders dort der Fall, wo 
wir auf das Schuldgefühl treffen. 

Das Kind bringt durch das Spiel Phantasien, Wünsche, Erlebnisse in 
symbolischer Weise zur Darstellung* Es bedient sich dabei der gleichen 
Sprache, der archaischen, phylogenetisch erworbenen Ausdrucksweise, die 

i) Das Kind vermag nicht — wie das beim Erwachsenen nach Beendigung der 
Analyse oft der Fall ist — Veränderungen in seinen Lebensverhältnissen vorzunehnien. 
Aber wir haben ihm sehr weitgehend geholfen, wenn wir ihm die Möglichkeit geben, 
sich zufolge der Analyse in den bestehenden Verhältnissen wohler zu fühlen und 
besser zu entwickeln. Übrigens setzt häufig die Behebung der Neurose des Kindes 
auch die Schwierigkeiten des Milieus herab. Ich konnte z. B. wiederholt feststellen, 
daß die Mutter viel weniger neurotisch reagierte, sobald beim analysierten Kinde 
günstige Veränderungen eingetreten waren. 






Melanie Klein 


37 2 


wir aus dem Traume kennen. Wir können sie nur voll verstehen, wenn 
wir uns ihr in der Weise nähern, die uns Freud für das Erkennen des 
Traumes gelehrt hat. Die Symbolik ist nur ein Teil davon; wir müssen, 
wenn wir das Spiel im Zusammenhang mit dem ganzen Gehaben des 
Kindes in der Analysenstunde richtig erfassen wollen, nicht nur die oft 
im Spiel so deutlich hervortretende Symbolik, sondern alle Darstellungs¬ 
mittel und Mechanismen der Traumarbeit beachten und der Erforschung 
der ganzen Zusammenhänge eingedenk bleiben.' llei Anwendung dieser 
Technik finden wir bald, daß uns das Kind nicht weniger Assoziationen 
zu den einzelnen Spielstücken bringt als der Erwachsene zu den Traum¬ 
stücken. Die Details des Spieles zeigen dem aufmerksamen Beobachter den 
Weg; dazwischen erzählt das Kind noch allerlei, was voll als Assoziation 
zu werten ist. 

Das Kind bedient sich nicht nur dieser archaischen Darstellungsform, 
sondern auch eines anderen primitiven Mechanismus* Es bringt nämlich 
die Handlungen, die ja ursprünglich an Stelle der Gedanken standen — 
anstatt der Worte, d* h, das Agieren spielt bei ihm eine überragende Rolle* 

In der „Geschichte einer infantilen Neurose 14 sagt Freud: 1 2 „Die Analyse, 
die man am neurotischen Kinde selbst vollzieht, wird von vornherein ver¬ 
trauenswürdiger erscheinen, aber sie kann nicht sehr inhaltsreich sein; 
man muß dem Kinde zu viel Worte und Gedanken leihen und wird viel¬ 
leicht doch die tiefsten Schichten undurchdringlich für das Bewußtsein 
finden * u 

Wenn wir uns dem Kinde mit der Technik der Erwachsenenanalyse 
nähern, so werden wir sicherlich nicht zu den tiefsten Schichten Vordringen 

1) Wie vieldeutig z* E. die beim Puppen spiel benützte Puppe sein kann, wie sie 
mitunter Penisbedeutung, die Bedeutung des der Mutter geraubten Kindes, dann 
wieder des Kindes selbst usw, hat, und wie nur Eingehen auf die kleinsten Einzel¬ 
heiten des Spieles und deren Deutung die Zusammenhänge klarlegen kann, damit 
aber erst die volle Wirksamkeit erzielt, kann ich in meinen Analysen immer wieder 
feststellen. Was uns das Kind in einer Analysenstunde zeigt, wobei es vom Spielen 
mit dem Spielzeug zur Darstellung durch die eigene Person übergeht, dann wieder 
zum Spielen mit Wasser, zum Ausschneiden von Papier, zum Zeichnen — wie es 
das tut, und warum der Wechsel einsetzt und welche Mittel es zur Darstellung 
wählt, dieses bunte, oft wirr und sinnlos scheinende Durcheinander zeigt sich als 
wohlgeordnet und verrat uns die ihm zugrunde liegenden Quellen und Gedanken, 
wenn wir es gleich dem Traume deuten* Sehr häufig stellt: übrigens das Kind im 
Spiel das gleiche dar, wie in einem vorher berichteten Traum und bringt oft 
Assoziationen zu einem Traum durch das anschließende Spiel, das ja seine wichtigste 
Ausdrucksweise ist. 

2) Ges* Schriften, Bd* VIII, S* 440* 













Die psychologischen Grundlagen der Frühanalyse 


573 


können. Gerade diese sind es aber, die für den Wert und für den Erfolg 
einer Analyse bedeutungsvoll sind. Wenn wir aber auf die beim Kinde 
im Vergleich zum Erwachsenen vorhandenen psychologischen Unterschiede 
Bedacht nehmen, die Tatsache, daß wir Ubw noch neben Bw, die primi¬ 
tivsten Strebungen neben kompliziertesten Entwicklungen, wie wir sie im 
Über-Ich kennen, wirksam finden; wenn wir also die Ausdrucksweise des 
Kindes richtig verstehen, so kommen alle diese Bedenken und Nachteile 
in Fortfall. Wir finden dann, daß die Forderungen, die wir an Tiefe und 
Umfang der Analyse stellen dürfen, nicht hinter denen der Erwachsenen¬ 
analyse zurückstehen. Im Gegenteil, wir können in ihr bis zu Erlebnissen 
und Fixierungen zurückgehen, die in der Erwachsenenanalyse häufig nur 
rekonstruierbar sind, die uns das Kind aber unmittelbar darstellt: 1 
Die vierein viertel jährige Ruth z. B., die als Säugling längere Zeit hungerte, 
da die Mutter wenig Milch hatte, nennt beim Spiel am Waschbecken den 
Wasserhahn einen Milchhahn. Sie erklärt, daß die Milch in die Münder 
{Abflußlöcher) läuft, daß sie aber nur ganz wenig fließt. Dieses ungestillte 
orale Verlangen tritt in zahlreichen Spielen und Darstellungen hervor und 
zeigt sich in ihrer ganzen Einstellung. (Sie behauptete z. B. arm zu sein, 
nur einen Mantel zu besitzen, wenig zu essen zu bekommen, was der 
Realität keineswegs entsprach.) 

Die sechsjährige zwangsneurotische Erna, für deren Neurose die Eindrücke 
der Reinlichkeitsgewöhnung 2 grundlegend waren, führt mir diese bis in die 


1) Ich habe in Salzburg (VJTL Intern. PsA. Kongreß, Ostern 1924) ansgeführt, daß 
die jeder Spieltätigkeit zugrundeliegende als fortgesetzter Spielantrieb (Wieder- 
holungszwang) wirkende Abfuhr der Masturbationsphantasien ein fundamentaler 
Mechanismus des Kinderspieles und aller weiteren Sublimierungen ist — die Spiel - 
imd Lernhemmung auf der übermäßigen Verdrängung dieser Phantasien (und damit 
der Phantasie) beruht* Mit den Masturbationsphantasien sind die Sexualerlehnisse 
verknüpft und gelangen mit diesen im Spiel zur Darstellung und Abreaktion. Unter 
diesen Erlebnissen spielen die Darstellungen der Urszene eine überragende Rolle; 
sie stehen auch regelmäßig in den Frühanalysen im Vordergründe. Erst nach einem 
größeren Stück Analyse, das die Urszene und die genitalen Entwicklungen teilweise 
klargelegt hat, gelangt man meist zu den Darstellungen der prägenitalen Erlebnisse 
und Phantasien. 

2) Die ReinliclikeitsgewÖhnung, die für Ernas Empfinden die schwerste Ver- 
gewaltigung war, wurde in der Realität ohne jede Strenge und mit solcher 
Leichtigkeit erreicht, daß das Kind im Alter von einem Jahre völlig sauber 
war. Als Motor wirkte dabei der ungewöhnlich frühe Ehrgeiz Ernas, der sie aber 
auch alle Erziehungsmaßnahmen von den frühesten angefangen als Gewalttat emp¬ 
finden ließ* Dieser frühe Ehrgeiz wurde die Grundbedingung für die Empfindlich¬ 
keit gegen Tadel und die überschnelle und starke Entwicklung ihrer Schuld- 







Melanie Klein 


374 


kleinsten Einzelheiten vor. Einmal setzt sie ein Püppchen auf einen Bau¬ 
stein, läßt es äefäzieren und stellt rings herum Püppchen auf, die es be¬ 
wundern. Nach dieser Darstellung bringt Erna wieder das gleiche Material 
im Rollenspiel: Ich habe ein sich beschmutzendes Wickelkind darzustellen, 
sie ist die Mutter. Das Wickelkind wird verwöhnt und bewundert. Dann 
folgt eine Wutreaktion bei Erna, und sie spielt eine strenge Lehrerin, die 
das Kind mißhandelt. Erna hat mir so eines ihrer ersten Traumen vor¬ 
agiert: Die schwere Kränkung ihres Narzißmus, da sie die übergroße Liebe, 
die ihr als Säugling dargebracht wurde, zu verlieren glaubte, als Erziehungs- 
maßregeln einsetzten. 

Die Bedeutung des Agierens und Phantasierens im Dienste des Wieder’ 
holungszvvanges kann überhaupt in der Kinderanalyse nicht hoch genug 
eingeschätzt werden* Das kleine Kind agiert natürlich in weit größerem 
Maße, aber auch das ältere greift, besonders, wenn die Analyse einen Teil 
der Verdrängungen aufgehoben hat, immer wieder zu diesem primitiven 
Mechanismus. Der damit für das Kind verbundene Lustgewinn, der aber 
immer nur Mittel zum Zwecke bleiben darf, ist für die Fortführung der 
Analyse unentbehrlich* Hierin zeigt sich eben das Überwiegen des Lust¬ 
prinzips über das Realitätsprinzip* Wir können im frühen Alter nicht an 
den Realitätssinn des Patienten appellieren wie im späteren Alter* 

Ebenso wie sich die Ausdrucksinittel des Kindes von denen des Kr wach¬ 
se nen unterscheiden, so trägt auch die analytische Situation in der Kinder¬ 
analyse ein durchaus abweichendes Gepräge. Sie ist aber doch in beiden 
Fällen wesensgleich. Die konsequente Deutung, die schrittweise Auflösung 
der Widerstände, das stete Zurückführen der Übertragung auf frühere 
Situationen, führt auch beim Kinde zur vollen Herstellung der richtigen 
analytischen Situation* 

Ich habe von der in der Frühanalyse immer wieder festzustellenden 
schnellen Wirkung von Deutungen berichtet* Es ist auffallend, daß wir 
diese Wirkungen an zahlreichen Anzeichen feststellen können: An der Ent 
wicklung des Spieles, der Befestigung der Übertragung, der Verminderung 
der Angst usw*, daß trotzdem aber längere Zeit das Kind die Deutungen 
nicht bewußt verarbeitet. Ich konnte fest st eilen, daß diese Verarbeitung später 
doch einsetzt* Das Kind beginnt dann 2. R. zwischen der gespielten und 
und der wirklichen Mutter oder dem hölzernen und dem lebenden 

gefühlc. Man sieht aber im allgemeinen diese Schuldgefühle schon sehr stark bei 
der Reiulichkeitsgewohnun g beteiligt und kann da die ersten Ansätze des „Über-Ieh C! 
erkennen. 














Die psychologischen Grundlagen der Frühanalyse 


375 


Brüderchen zu unterscheiden und beharrt fest darauf, dies und jenes habe 
es nur dem hölzernen Brüderchen antun wollen — das wirkliche habe es 
doch lieb. Nur nach Überwindung sehr starker längerer Widerstände nimmt 
es dann zur Kenntnis, daß seine Aggression den wirklichen Objekten gilt. 
Damit ist aber auch gewöhnlich — auch bei den ganz Kleinen — ein sehr 
bedeutender Fortschritt in der Realitätsanpassung erfolgt. Ich habe den Ein¬ 
druck, daß die Aufnahme der Deutung zuerst nur ubw erfolgt und die Bezie¬ 
hung zur Realität erst nach und nach eintritt. Analog vollzieht sich auch 
der Vorgang der Aufklärung. Die Analyse fördert längere Zeit nur Material 
für Sexualtheorien und Geburtsphantasien zutage und deutet dieses Material. 
So erfolgt die Aufklärung schrittweise mit dem Beheben der gegen sie 
wirkenden ubw Widerstände. 

Zuerst bessert sich also durch die Psychoanalyse das Verhältnis zu den 
Eltern gefühlsmäßig, dann erst kommt die Erkenntnis nach. Sie ist schon 
ein Diktat des Über-Ich, dessen durch die' Analyse gemilderte Forderungen 
das nunmehr weniger bedrängte und darum stärkere Ich ertragen und be¬ 
folgen kann. Das Kind wird also nicht auf einmal vor die Situation gestellt, 
Erkenntnisse in bezug auf sein Verhältnis zu den Eltern zu revidieren oder 
überhaupt Erkenntnisse aufnehmen zu müssen, die es belasten. Ich habe 
als Wirkung dieser stufenweise verarbeiteten Erkenntnisse immer nur eine 
Erleichterung für das Kind festststellen können, ein wesentlich günstigeres 
Verhältnis zu den Eltern und damit auch eine erhöhte soziale Anpassungs¬ 
fähigkeit, 

Das Kind vermag dann auch sehr wohl die Verurteilung zum Teil an 
Stelle der Verdrängung zu setzen. Dies tritt auch darin hervor, daß die 
Kinder in einem späteren Stadium der Analyse zu einzelnen, in einem 
früheren Stadium noch so wirksamen anal-sadistischen oder kannibalistischen 
Begierden eine solche Distanz gewonnen haben, daß sie sie nun gelegentlich 
mit Humor beurteilen. Ich höre dann, auch von ganz kleinen Kindern, 
einen Scherz darüber, daß sie z. B. früher wirklich die Mutti ganz fressen 
oder zerschneiden wollten. Die mit diesen Veränderungen verbundene Ver¬ 
minderung der Schuldgefühle ermöglicht aber zugleich auch die Subli¬ 
mierung der früher ganz verdrängten Wünsche. Diese äußert sich praktisch 
in dem Aufhören der Spielbemmung und in dem Einsetzen von zahlreichen 
Interessen und Betätigungen. 

Ich fasse meine Ausführungen dahin zusammen: Die besonderen primi¬ 
tiven psychischen Eigentümlichkeiten des kindlichen Seelenlebens machen 
eine ihnen angepaßte andersartige Technik nötig, die in der Spielanalyse 







37 6 


Klein: Die psychologischen Grundlagen der Frühanalyse 


gegeben ist. Mit dieser Technik können wir aber zu den tiefsten verdrängten 
Erlebnissen und Fixierungen gelangen und damit die Entwicklung des 
Kindes von Grund aus beeinflussen. 

Es handelt sich dabei nur um einen Unterschied der Technik, nicht 
des Behandlungsprinzips. Denn die von Freud aufgestellten Kriterien 
des psychoanalytischen Verfahrens: Das Ausgehen von den Tatsachen der 
Übertragung und des Widerstandes, die Berücksichtigung der infantilen 
Triebe, der Verdrängung und ihrer Wirkungen, der Amnesie, des Wieder¬ 
holungszwanges, ferner die in der „Geschichte einer infantilen Neurose“ 
erhobene Forderung des Aufdeckens der Urszene, — alle diese Kriterien 
sind in der Spieltechnik im vollen Maße aufrecht erhalten. Das Spiel verfahren 
führt unter Wahrung aller Prinzipien der Psychoanalyse zu den gleichen 
Wirkungen wie die klassische Technik. Nur in den technischen Maßregeln 
paßt es sich der kindlichen Seele an. 
















Die Bedeutung des Brustsaugens und 
Fingerlutschens für die psychische 
Entwicklung des Kindes 1 

Von 

Wera Schmidt 

Moskau 

Seit Professor Freud die infantile Sexualität und ihre Komponenten 
entdeckt hat, haben Abraham und andere Psychoanalytiker die Äußerungen 
der Oralerotik behandelt* Doch fehlte es an systematischen Beobachtungen 
darüber bei Kindern, Es lag nicht in meiner Absicht, in diesem Artikel 
die Entwicklung der Oralerotik vollständig darzustellen. Dieser Frage wird 
eine besondere Arbeit gewidmet sein. Hier lag mir vor allem daran, tat' 
sächliches Material zu dieser Frage zu bringen. Ich wollte nur, auf Grund 
eigener Beobachtungen über die Entwicklung eines Knaben, zeigen, wie 
die allmähliche Differenzierung der Gefühlserscheinungen des Hungers und 
der Libido erfolgt, die zwar in ein und demselben äußeren Akt — dem 
Saugen — verknüpft sind, sich aber gänzlich verschieden beim Kinde 
äußern und es zu völlig verschiedenen Handlungen treiben. Ferner, hoffe 
ich, wird meine Arbeit zeigen, welche große Bedeutung das Saugen für 
die Verstandesentwicklung des Kindes hat und welche Möglichkeiten ihm 
durch das Saugen für die Verbindung mit der Realität eröffnet werden. 

Zuerst mögen die wichtigsten Mitteilungen über das Kind folgen: Die 
Geburt erfolgte rechtzeitig und normal, keine Asphyxie, Gewicht 3600 Gramm* 
Am dritten Tage wurde es von einem guten Kinderarzt untersucht und für 
ein völlig gesundes, sehr kräftiges Kind befunden, Vater und Mutter sind 
völlig gesund, in beiden Familien sind keine schweren vererbten Er¬ 
krankungen vorhanden. Die ersten sechs Monate erfolgte Brustnahrung 

1) Dieser Aufsatz ist einem Vortrag entnommen, der am 27. November 1924 in der 
Russischen Psychoanalytischen Vereinigung gehalten wurde. Die Form des Vortrages 
ist beibehalten worden. 




57 « 


Wera Schmidt 


durch die Mutter. Spater wurde allmählich mit Beinabrung begonnen. 
Völlig von der Brust entwöhnt war das Kind mit einem Jahr. Die Zähne 
kamen rechtzeitig, ohne irgendwelche Krankheitserscheinungen. Mit seiner 
Erziehung wurde bereits am ersten Tag begonnen. Sie bestand erstens in 
der Gewöhnung an ein bestimmtes Regime und zweitens in der Gewährung 
voller Bewegungsfreiheit, Die Hände waren frei. Die büße leicht in VYindel 
eingehüllt. Die Entwicklung verlief völlig normal, durch nichts eingeengt, 
aber auch nicht forciert. Das Kind hatte kein Kindermädchen; während der 
ersten eineinhalb Jahre seines Lebens oblag die ganze Wartung der Mutter. 
Später kam es in das Kinderheim des Psychoanalytischen Instituts, wo es 
bis zu viereinhalb Jahren lebte. 

* 


Aus dem Tagebuche 


BRUSTSAUGEN 
2/7/1, l$2ö (l. Tag)' 

„Ungefähr um sechs Uhr abends legte 
man AKk zum erstenmal an die Brust* 
obgleich ich noch keine Milch hatte. Er 
ergriff die Brustwarze sehr fest mit den 
Kiefern und begann zu saugen. Er unter¬ 
brach sich einigemal, aber man hielt ihn 
von neuem zum Saugen an. Das dauerte 
ungefähr eine Viertelstunde,“ 

5 / 77 / ( 2 . Tag) 

„Alik will essen. Öffnet immerzu den 
Mund, wie ein Junges, dreht den Kopf 
nach der Seite, als ob er danach sucht* 
was er greifen könnte. Im Schlaf macht 
er Saughewegungen mit den Lippen und 
schmatzt sogar. Die Brust ergriff er heute 
mit außerordentlicher Stärke. Er warf sich 
auf mich und saugte sich mit den Kiefern 
so fest, wie mit einer Zange, an.“ 

4 llll (p Tag) 

„Zum Essen legt Alik den Kopf zurück 
und wirft sich dann buchstäblich auf mich* 
trinkt aus der Brust und hält die Brust¬ 
warze wie mit Zangen fest. Nachdem er 
ein wenig gesaugt hat, schlummert er ein, 
Ich wecke ihn. Er legt sich wiederum 
zurück und stürzt sich wieder auf die 
Warze,“ 


FIN G EH L UTSCHEN 


5/Jfi (3, Tag) 

„Zufällig geriet der Zeigefinger in den 
Mund und er begann zu lutschen,“ 


4IM ( h Tag) 

„Heute früh, nach dem Essen, bewegte 
er sehr lange die Finger um den Mund 
herum. Wenn einer von ihnen in den 
Mund geriet, begann Alik ihn mit Lust 14 
zu lutschen, aber oft drängten die be¬ 
nachbarten Finger durch ihre Bewegung 
ihn aus den Mund .. * Alik äußerte seine 
Unlust hierüber in zornigem Schnaufen 
und Keuchen,“ 


1) Geboren um sieben Uhr morgens, 

2) Die Bezeichnungen „Lust“ und „Unlust“ geben hier die persönlichen Eindrücke 
der Mutter wieder. 













Die Bedeutung des Brustsaugens und Fingerlutschens usw, 


579 


BRUSTSAUGEN 


FING ERL UTSCHEN 


SlIII (4- Tag) 


Jim (4. Tag) 


„Zum Saugen wirft er sieh nicht mehr 
auf die Warze, sondern führt die Lippen 
nach rechts und links, bis er sie packt,“ 


„Immer öfter und öfter gerat eines 
der Finger chen (und zuweilen auch alle 
zehn auf einmal) in den Mund und bleiben 
dort manchmal eine geraume Zeit,“ 


yflll (6. Tag) 


„Alik saugt jetzt wieder anders; er 
packt sehr fest auf einmal die Brustwarze 
und laßt sie für keine Sekunde aus. Die 
ersten fünf Minuten saugt er sehr intensiv 
und rhythmisch wie eine Pumpe, dann 
schläft er ein. Ich wecke ihn, er beginnt 
zu saugen, wobei er zuweilen anhält und 
sich unterbricht, bis er wieder einschläft,“ 

Wir sehen, daß Alik der Mutterbrust gegenüber höchst aggressiv ist. Sein 
Saugen ist eher ein Ergreifen mit den Kiefern, d. h, ein Beißen, Und 
erst in der weiteren Entwicklung werden wir sehen, wie er zum richtigen 
Saugen übergeht, wobei auch die damit verbundenen Lustgefühle allmählich 
zum Vorschein kommen. Parallel und anfänglich vollständig zufällig machte 
Alik sich mit den Gefühlen bekannt, die aus dem Lutschen der in den 
Mund geratenen Finger entstehen. 

In der zweiten Woche sind keine neuen Beobachtungen über das Brust- 
saugen verzeichnet, das Kind hat bereits einige Erfahrung darin erlangt 
und gibt sich ruhig der Sättigung hin. Die Finger geraten infolge des 
Unvermögens, die Bewegung zu koordinieren, bald in den Mund, bald 
wieder von dort heraus und stören so die Ruhe des Kindes. Das ruft 
hei ihm eine Reaktion der Unlust hervor und wahrscheinlich ein unklares 
Streben, das angenehme Gefühl, das beim Lutschen der Finger entsteht, 
zu verlängern, (Wären diese Gefühle nicht vorhanden, so w-ürde das Kind 
nicht zornig sein, wenn die Finger aus dem Mund herausfallen.) Soweit 
gehen die Notizen hierüber von der zweiten Woche. 

p/ffl (8 . Tag). „Die Hände Aliks bewegten sich längs des Mundes nach rechts 
und links. Wenn die Faust die geöffneten Lippen berührte, begann Alik mit Be¬ 
friedigung daran zu lutschen, aber nach einigen Sekunden bewegte sich die Faust 
weiter und glitt aus dem Munde heraus. Darauf reagierte Alik mit einem zornigen 
Gequietsche und sein Gesicht nahm einen ganz bestimmten zornigen Ausdruck an. 
Solange die Hände sich neben dem Mund bewegten, war er fortwährend halb geöffnet. 
Wenn der Ärmel des Leibchens die Lippen berührte, machte Alik Bewegungen mit 
den Lippen, als ob er tasten wollte, die Augen waren während dieser Zeit nach der 
Decke gerichtet und unbeweglich. Kaum näherte sich die Faust den Lippen, so begann 
Alik sofort zu lutschen und blinzelte vor Lust mit den Äugen,“ 

jjßlL (14. Tag), „Nach der Mahlzeit steckte er den Finger in den Mund und 
hielt ihn dort, ohne ihn herauszunehmen über fünf Minuten, Beim Lutschen des 
Fingers gibt er heute zum erstenmal undeutliche Töne JViom,mam 4 oder^fljgn 1 von sich.“ 






Wera Schmidt 


3 8 ° 


Aus diesen Notizen'kann man den Schluß ziehen, daß das Kind während 
dieser Woche, wenn auch noch nicht vollständig, es gelernt hat, den 
Finger neben dem Mund zu halten, So drängt das Streben nach Ver¬ 
längerung der angenehmen Gefühle das Kind zu neuen Errungen schäften, 
im gegebenen Falle — zum Anfang der Koordination der Bewegungen. 

Im Laufe der dritten Woche befestigen sich nicht nur die Gewohn¬ 
heiten, die Hand länger in der Nähe des Mundes zu halten, sondern es 
ist noch ein Schritt vorwärts gemacht worden; es ist das Streben auf¬ 
getreten, die Finger in den Mund zu stecken. 

!2jIH (19. Tag). „Die Finger bewegen sich direkt zum Mund. Wenn cs Alik nicht 
gelingt, so stößt er zornige Schreie aus und weint sogar . . . Heute hat er sehr 
lange am Daumen der linken Hand gelutscht und ist sogar dabei eingeschlafen.“ 

Außerdem hat das Kind in dieser Woche zum erstenmal zw r ei ganz 
verschiedene Prozesse vereinigt, das Saugen und die Defäkation. 

„Jedesmal bei der Stuhlentlehrung lulsclit Alik die Faust sehr hartnäckig* gierig 
und mit einem besonderen ^nmzen 1 ^ 

Aber ist das nicht ein neuer Schritt in der Entwicklung des Kindes? 
Das Lutschen der Faust während des Defäkationsaktes, zeigt es uns denn 
nicht, daß in dem primitiven Denken des Kindes sich diese beiden Prozesse 
infolge der gleich intensiven Lust, die sie verursachen, vereinigt haben? 

Mit diesem Vorrat von Gewohnheiten und primitiven Assoziationen, die 
mit dem Saugen verknüpft sind, tritt das Kind in die vierte Woche seines 
Lebens. 

sSjlll (2J* Tag), „Gestern und heute begann Alik die Brust wiederum anders zu 
saugen. Er packt nicht mehr mit den Kiefern wie früher, sondern mit den Lippen 
lind der Zunge. Letztere spielt jetzt im Saugprozeß eine wichtige Bolle. 1 Nachdem 
Alik fünf bis acht Minuten gesaugt liat, beginnt er einfach die Brustwarze zu kauen. 
Man merkt, daß er bereits satt ist, Milch nicht mehr saugt, trotzdem diese noch 
reichlich vorhanden ist, sondern sich einfach ein Vergnügen bereitet. Er schläft nicht, 
liegt mit offenen Augen und macht leichte Saugbewegungen mit den Lippen.“ 

Im folgenden bringt das Tagebuch eine Zusammenfassung über den 
Erwerb an Fähigkeiten des Kindes im ersten Monal. 

„In der vierten Woche hat das Saugen an der Brust sich aus einem ausschließlichen 
Sättigungsakt in einen lustsp enden de» Vorgang verwandelt, Alik saugt rasch und gierig. 


1) Unter den von mir beobachteten Kindern bat keines in den ersten Lebenstagen 
sich in demselben Maße aggressiv gezeigt (die kannibalischen Triebe offenbart), wie 
Alik. Fm Gegenteil, ich konnte ein Mädchen in den ersten Tagen seines Lebens 
beobachten, die nicht saugte, sondern, die Brust leckte und die Mutter mußte nicht 
wenig Anstrengungen machen, um cs zum Saugen zu bringen. Hier entsteht ein neues 
und sehr interessantes Problem darüber, wie die Mädchen und die Knaben zu saugen 
beginnen und ob hier nicht Unterschiede vorhanden sind, die für jedes Geschlecht 
typisch sind* Aber das gehört nicht mehr zur Aufgabe des vorliegenden Aufsatzes. 















Die Bedeutung des Brustsaugens und Fingerlutsehens usw. 


bis er satt ist, dann beginnt er ganz anders zu saugen, die Brustwarze mit den Lippen 
allein zu drücken oder zu kauen, und dabei läßt er genau dasselbe „Grunzen“ ver¬ 
nehmen, wie beim Lutschen der Paust während der Defakation. Wenn man die 
Brustwarze wegnimmt, bevor er satt ist, so beginnt er gierig mit den Lippen zu 
suchen. Wird sie aber weggenommen, während er kaut, so liebt er ein verzweifeltes, 
gekränktes Weinen an, aber er versucht nicht, sie zu suchen oder mit den Lippen 
zu packend 

So sehen wir in der vierten Woche, d. h. am Ende des ersten Monates, 
bereits eine Differenzierung zweier Momente, der Sättigung und des Lust¬ 
gewinns/ Das Kind verhält sich, wie wir gesehen haben, verschieden, wenn 
es ißt, und wenn es einfach sich angenehmen Gefühlen hingibt. Es reagiert 
auch verschieden auf Entbehrungen. 

Die Berichte der sechsten Woche zeigen deutlich, daß das Kind sich 
ganz verschieden verhall, wenn es die Finger aus Hunger oder zum Ver¬ 
gnügen lutscht. 

iiJIV ( 4 Im Tag). „Gestern und heute vor der Mahlzeit (während ich die Brust 
reinigte) saugt Alik die Finger mit ungewöhnlicher Gier. Dabei läßt er undefinier¬ 
bare Tone so ähnlich wie ,nga, nga 4 vernehmen, wendet sich fortwährend umher, dreht 
den Kopf, schreit von Zeit zu Zeit auf, läßt manchmal zornige Töne hören, dann 
saugt er wiederum. Die Finger rutschen immer aus dem Munde, bald lutscht er am 
Finger, bald an der Faust usw.“ 

jz/ir (42. Tag). „Morgens nach dem Essen lag Alik ruhig und lutschte eifrig 
am Zeigefinger der linken Hand, und ließ das charakteristische ,Grunzen 4 vernehmen. 
Die Augen waren weit offen und fast unbeweglich. Überhaupt waren Unbeweglichkeit 
und Konzentriertheit die besonderen Züge seines heutigen Lutsehern. Es genügt zu 
sagen, daß er fast eine Stunde ein und denselben Finger gelutscht hat.“ 

Hier tritt der Unterschied in dem Benehmen des Kindes so kraß hervor, 
daß er für sich selbst spricht. Es folgt nun ein Bericht darüber, wie das 
Kind sich verhält, wenn es hungrig ist, ißt und sich gesättigt hat und —- 
wenn es sich nur Lust verschafft. 

ijV (Aus den Ergebnissen des 2. Monats). „Der Hunger kommt bei Alik in lautem Schreien 
und in einer ganzen Reihe zweckmäßiger Bewegungen zum Ausdruck, die darauf ge¬ 
richtet sind — die ,Beute 4 zu erfassen. Mit den Händen macht er ganz bestimmte, 
greifende Bewegungen, indem er die Fäustchen zusammendrückt und aufmacht. Den 
Kopf bewegt er seitwärts und sogar nach unten, wie um mit den Lippen etwas Unsicht¬ 
bares zu erfassen, was auf dem Polster liegt. Wenn man ihn auf den Händen halt, hebt 
er den oberen Teil des Körpers und sucht mit den Lippen in der Luft. Dabei läßt er 
kurze, abgerissene Töne hören und manchmal weint er laut... Der Ausdruck der Augen 
ist suchend, gierig .. . Nehme ich ihn auf die Hand, um ihn zu stillen, so wird er 
ganz umgewandelt. Das Schreien hört auf, auf dem Gesicht erscheint ein ganz besonderer 
Ausdruck — eine Mischung von Gier und Erwartung. Er atmet angestrengt, greift aber 
nicht mehr mit dem Mund, sondern schaut nur auf die Brust. Die Brustwarze packt 
er nicht nur gierig, sondern mit einem noch viel stärkeren Gefühl, wofür mir kein 
Ausdruck ein fällt!“ 


1) VgL Bernfeld, Psychologie des Säuglings, 1925, S. 63 ff. 








3 82 


Wera Schmidt 


„ .,„ Nun hat er sich gesättigt, er liegt ruhig, langsam den Blick von einem Gegen¬ 
stand zum anderen lenkend, auf den Lippen — ein unbestimmtes, glückliches Lächeln, 
die Händchen bewegen sich faul, selten lassen sich leichte 1 ono wie Seufzer ver¬ 
nehmen. Das ist die Inkarnation der Zufriedenheit und der Ruhe, 

Und nun einen Bericht darüber, wie Alik die Finger zu seinem Ver- 
gnügen lutscht, 

i/K „Beim Fingerlutschen hat Alik ein ungewöhnlich gespanntes Aussehen, Sein 
Blick ist nach innen gerichtet. Er sieht und hört nichts. Seine Stellung ist vollkommen 
unbeweglich. Die ganze Zeit gibt er die charakteristischen »grunzenden 4 Töne von sich. w 

Dieser ganze äußere Anblick des Kindes und seine ganze Führung zeigt 
uns deutlich, daß wir in ein und demselben Akt zwei völlig voneinander 
verschiedene Dinge haben: Sättigung und mit der Sättigung verbundene 
Befriedigung, und eine Befriedigung völlig anderer Ordnung, die mit der 
Außenwelt nicht verknüpft ist* 

Beim Fingerlutschen ist das Kind in sich versunken und der Außenwelt 
vollkommen entrückt. 

Aber da es nicht ständig am Finger lutschen kann, — bald wird es 
gewickelt, bald genährt, oder es schläft, und die Finger fallen ihm aus 
dem Munde heraus, — so muß es jedesmal von neuem die Wiederherstellung 
der angenehmen Empfindungen anstreben. Dies führt, worauf ich schon 
oben hingewiesen habe, zu den ersten Versuchen koordinierter Bewegung 
der Hand, 

In der neunten Woche beherrscht das Kind dies alles schon in be^ 
deutendem Maße, und versteht bereits die Finger zum Munde zu führen, 
wann es will* 

In derselben neunten Woche trat noch ein Ereignis ein: 

$IV (6 }. Tag). „Alik ergriff mit beiden Händen den Rand seines Kleides und steckte 
es in den Mund." 

Ein neuer Schritt in der Entwicklung des Kindes. \ on diesem Moment 
an beginnt es mit der Außenwelt in Berührung zu treten und sie zunächst 
durch seine bevorzugte erogene Zone kennen zu lernen* 

Der Bericht der zehnten Woche sagt hierüber folgendes: 

$\V f6 $. Tag). „Gestern und beute verfolgt Alik sehr aufmerksam die Bewegung 
der linken Hand* Er bewegt sie nach vorn und nach hinten, uacli rechts und nach 
links, die Augen folgen ununterbrochen ihren Bewegungen. Der Gesichtsausdruck ist 
sehr ernst, die Lippen leicht geöffnet, die Brauen gerunzelt*" 

Das Kind macht seine Beobachtungen, indem es seine Aufmerksamkeit 
einem bestimmten Gegenstand zuwendet (der linken Hand). Der Bericht 
fährt fort: 

„Einmal versuchte er die linke Hand mit der rechten zu ergreifen, aber er machte 
die Faust zu früh. Trotzdem begann er die linke Hand mit der rechten in den Mund 















Die Bedeutung des Brustsaugens und Fi ngerluts chens usw. 


5% 


zu schieben. Der Mund öffnete sieh, so, als oh er darauf gewartet hätte, aber er 
brachte die Hand nur ungefähr bis zum Kinn und begann dann von neuem mit beiden 
Händen von vom auszuholen.^ 

11. Woche: i6j¥ (y6> Tag), „Die Beobachtung seiner Hände geht immer weiter 
voran. Er wendet bereits seine Blicke von der einen Hand auf die andere, so, als ob 
er sie miteinander vergliche. Dabei sind die Hände ständig zu Fäusten geballt. Gestern 
und heute lutschte er abwechselnd bald an der linken, bald an der rechten Faust. 

12, Woche: 24jV (84 . Tag), Bereits seit drei Tagen greift Alik mit der einen Hand 
die andere. Er schaut sehr eifrig auf seine sich bewegenden Hände, dann beginnt er sie 
langsam einander zu nähern. Eine ergreift die andere und führt sie zum Munde hinein. w 

An demselben Tage: 

„Er greift jetzt bereits verschiedene Gegenstände (Windel, das Kleidchen, das 
Hemd oder das Tuch) und steckt es in den Mund . . . Heute spielte er mit dem 
Finger des Vaters und steckte ihn ebenfalls in den Mund.“ 

So beginnt das Kind also langsam und allmählich sich mit der Außenwelt 
bekannt za machen. Die Lust verknüpft sich jetzt mit neuen Momenten — 
den Erkenntnisakten. Es schaut auf seine Hand und zieht sie in den Mund. 
Hiebei zieht es sie mit der anderen Hand, obgleich es bereits sehr gut 
die Hand zum Munde führen kann, wenn es lutschen will. Wir werden 
sehen, wie das Fingerlutschen ihm nach einer gewissen Zeit ermöglicht, 
zwei Empfindungen zu verknüpfen, die es gleichsam aus zwei verschiedenen 
Gegenständen her erhalten hat, — dem Anblick der Hand, welche es mittels 
der anderen Hand in den Mund steckt, und derselben Hand (aber unsichtbar), 
wenn es den Finger lutscht. Dasselbe Fingerlutschen verhilft ihm die Hand 
(vorläufig nur diese) von anderen Gegenständen, die nicht seinem Körper 
angehören, zu unterscheiden. Der Beginn dieses Erkennens — seines Körpers 
und der Welt — ist auch in dem eben angeführten Bericht enthalten. 

Was geht nun in diesen* Monat beim Brustsaugen vor sich? In den 
„Fortschritten des dritten Monats“ findet sich darüber folgender Bericht: 

ijVL „Wenn Alik vor dem Essen in Windeln gelegt wird, so lächelt er fröhlich; 
wenn er eingewi ekelt ist, so schallt er auf mich, während ich das Stillen vorbereite. 
Darm, wenn ich ihn auf den Arm nehme, macht er immer eine und dieselbe Bewegung 
mit dem Munde: Er züngelt und schmatzt mit den Lippen, wobei er mit gierigen 
Augen auf die offene Brust schaut. Wenn ich irgendwie mich verzögere, beginnt er 
heftig zu wreinen, Während des Saugens geht seine Hand teihveise zur Brust, teil¬ 
weise auf mich, und zuweilen greift er das Kleid oder nach meinem Finger* Alik 
saugt gierig, aber nur so lange die Milch von selber fließt; hört sie auf, so beginnt er 
sich zu ärgern und verlangt, an die andere Brust gelegt zu werden. Wenn er getrunken 
hat, läßt er die Brustwarze los und das erste, was er tut ist, daß er mich anlächelt. 
Dann fangt er zu sprechen an, und setzt dieses auch noch im Bett fort.. * Die Stellung 
während des Saugens ist charakteristisch. Sein Rumpf ist leicht gebogen und mir zu¬ 
gewandt. Der Kopf liegt weit zurück, die Hand ist ebenfalls nach hinten gelegt, die 
Augen halb geschlossen. Die Wangen sind gerötet. Seine Stellung und seine ganze kleine 
Figur ist von einer außergewöhnlichen Wollust erfüllt.“ 




Wera Schmidt 


5 S 4 

Aus diesem Bericht geht hervor, daß die Lust, die mit dem Brustsaugen 
verknüpft ist, noch immer am stärksten ist, aber nach meiner Ansicht 
beginnt hier bereits noch ein anderes Moment in den Vordergrund zu 

treten _ die Lust aus der Nähe der Mutter* Darauf deutet das Verhalten 

seiner Hände während des Trinkens und auch sein Anschmiegen mit dem 
ganzen Körper, Endlich mag noch als Beweis das Lächeln dienen, mit 
dem er sich unmittelbar nach Beendigung der Mahlzeit an die Mutter wendet. 

Auf diese Weise hat Alik im dritten Monat die Beziehung zur Außenwelt 
hergestellt; das Saugen an der Brust nähert ihn der Mutter, das Finger- 
lutschen lehrt ihn die Teile seines Körpers von fremden Gegenständen zu 
unterscheiden. 

Im vierten Monat ändert sich das Benehmen des Kindes vollständig. 
Seine ganze Tätigkeit und sein ganzes Interesse konzentrieren sich auf die 
Bewegungen der Hände, d*?r Füße und des Körpers, Er lernt Gegenstände, 
und sogar sich bewegende Gegenstände (seine Beinchen) ergreifen, sich nach 
allen Seiten drehen, und interessiert sich für alles, was um ihn herum vor 
sich geht* 

Was geschieht aber nun mit dem Fingersaugen? 

rj_ Woche: ifjFI (iq$. Tag). „Alik lutscht jetzt seine Finger mir vor dem Schlaf 
und im Schlaf, Das Lutschen beginnt für ihn ein Schlafmittel tu werden.“ 

Wenn wir uns an die früheren Berichte erinnern, w r o davon gesprochen 
wird, wie das Kind andauernd bemüht ist, den Lustgewinn aus dem Lutschen 
zu verlängern und stundenlang ununterbrochen die beiden Finger der linken 
Hand saugen kann, so sehen wir, daß der Entwicklungsprozeß des Kindes weit 
vorgeschritten ist* Das Fingerlutschen verlor seine frühere Stärke als Genuß, 
es würde jetzt das Kind nur noch in seinen Bewegungs- und Forschungs¬ 
versuchen stören. Die Muskelerotik trat entschieden an die erste Stelle, und 
dem Fingerlutschen verblieb seine Bedeutung: das Kind von der Außenwelt 
zu trennen (die Versenkung des Kindes in sich selbst). Das Kind lutscht die 
Finger jetzt vor dem Einschlafen und während des Schlafens. Hierin können 
wir ein gutes Beispiel dafür sehen, daß das Kind, das sich normal ohne 
Hemmungen entwickelt hat, seine Triebe nicht auf das Fingerlutschen fixiert; 
es hat dafür sehr viele andere überaus interessante Möglichkeiten, 

Gleichzeitig mit der Entwicklung der Muskeltätigkeit zeigt sich beim 
Kinde auch eine mit der oralen Zone verknüpfte aggressive 1 endenz {Be¬ 
mächtigungstrieb), In dieser Zeit beschäftigte sich Alik sehr wenig damit, 
an Gegenständen zu lutschen, sondern bemühte sich mehr, sie mit dem 
Mund zu ergreifen, sie durch den Mund sich zuzueignen. 1 


i) Wahrscheinlich haben wir hier ein Überbleibsel der sogenannten „kannibali¬ 
schen Phase der Entwicklung“ des Menschen, 
















Die Bedeutung des Brustsaugens und Fingerlutschens usw. 


3 8 5 


Hierüber folgendes; 

r/, Woche: pjFI (100. Tag). „Aliks Aufmerksamkeit war heute durch meinen Plaid 
angezogen. Er wandte sich auf seine Seite und langte mit den Händen, mit dem 
offenen Munde danach. Seine ganze Stellung zeigte eine aggressive Absicht, aber be¬ 
sonders charakteristisch war sein weit geöffneter Mund*“ 

i/. Woche: r^/FI (tof. Tag). „Ich setzte mich an seine linke Seite und legte mir 
eine farbige Stickerei auf die Brust. Sowie Alik sie sah, begann er sich auf sie zu 
bewegen. In seine Augen kam ein gieriger Glanz, der Mund öffnete sich, die Lippen 
wurden vorgeschoben, der Atem kam stoßweise. Er wandte sich mit dem oberen 
Teil des Körpers zu mir und streckte die Arme aus. Eine Zeitlang versuchte Alik 
die Stickerei zu ergreifen, aber ohne Resultat, Darauf legte er sich auf den Rücken, 
sah die Stickerei gierig an, wobei er seine Faust lutschte, 48 

Im vierten und fünften Monat sind fast gar keine Aufzeichnungen über 
das Lutschen, Dies erklärt sich vor allen Dingen daraus, daß Alik in 
dieser Zeit sehr stark von allen möglichen Bewegungen in Anspruch ge¬ 
nommen war. Keine Minute war er ruhig. Als einen großen Erfolg dieser 
Periode können wir den Umstand betrachten, daß er in dieser Zeit allmählich 
lernte, an seinen Zehen zu saugen, d. h. eine neue Bewegung, die mit dem 
Lutschen verknüpft war und ein bestimmtes Ziel verfolgte, zu beherrschen 
begann. 

In der zwanzigsten Woche wurde mit Alik ein kleines Experiment angestellt, 
um festzustellen, ob das Saugen allein oder auch die Anwesenheit der 
Mutter während des Essens notwendig und wichtig ist. Die Familie Aliks 
lebte damals auf dem Lande zusammen mit der Familie G, Alik kannte 
Frau G, sehr gut, sah sie ständig, liebte sie sehr und hielt sie durchaus 
für eine der seinigen. Die Mutter bat Frau G>, sie bei einer Mahlzeit zu 
ersetzen, 

syjVII (138. Tag). „Heute machten wir mit Frau G, folgenden Versuch: Als die 
Essenszeit herangekommen war, nahm sie Alik, setzte sich auf meinen gewöhnlichen 
Platz und legte ihn an die Brust. Auf dem Gesicht Aliks zeigte sich ein starkes 
Nicht verstehen. Er ergriff nicht die Brustwarze, wie gewöhnlich, sondern blieb mit 
offenem Munde und schaute ununterbrochen auf Frau G. Dann drehte er den Kopf 
und begann mit den Augen im Zimmer herumzusuchen, erblickte mich und begann 
mich anzulächeln. Wie sehr auch Frau G, versuchte, ihm die Brustwarze in den 
Mund zu legen, so nahm er sie doch nicht. Jedoch, sowie ich ihn an die Brust legte, 
lächelte er fröhlich und begann sofort zu saugen, 84 

Der sechste Monat bringt wiederum viele Berichte und Beobachtungen über 
die weitere Entwicklung des Saugens* Es muß bemerkt werden, daß dieser 
Monat in vielen Beziehungen ein Wendepunkt im Leben Aliks war. Erstens 
konnte er vollständig seinen Körper nach allen Seiten drehn, am Ende 
dieses Monats (der 25* und 26, Woche), begann er selbständig zu sitzen 
und sich am Rande des Wägelchens fest haltend selbständig zn stehen. 
Ferner erhielt er zum Schluß des Monats zum erstenmal Mannagrütze 


Imago XII. 


25 







5 86 


Wera Schmidt 


statt der reinen Brustnahrung. Und zur selben Zeit gibt er, wie wir aus 
den unten angeführten Aufzeichnungen sehen werden, fast vollständig den 
Lustgewinn beim Brustsaugen auf. 

Beginnen wir mit den Berichten, die sich auf das Erkennen seiner 
Umwelt und seines Körpers durch das Saugen beziehen. 

Woche: (if$* Tag). „Alik liebte es sehr, mit dem Bauch nach unten zu 

liegen, die Ellbogen auf ge stützt und ebenso die Knie. In dieser Stellung schaut er 
auf seine Hände, lutscht sie und schaut dann wieder auf sie.“ 

2 4 . Woche: id/F/// (168. Tag). „Alik erhielt heute ein neues Spielzeug, Als ich es 
ihm gab, ergriff er es mit beiden Händen, schaute es an und steckte es plötzlich in 
den Mund, Er lutschte etwas daran, nahm es dann heraus, lutschte an seiner Hand 
unterhalb der Handwurzel, begann dann wiederum an dem Spielzeug zu lutschen, 
dann wiederum an der Hand, und dann begann er das Spielzeug anzuschauen und 
ließ es schließlich fallen/ 1 

26. Woche: 28Will {180 . Tag). „Beim Lutschen scheint Alik ein Wissen 11m seine 
eigene Hand zu haben. Früher geschah es sehr häufig, daß er irgendeinen Gegen¬ 
stand ergriff, aber zufällig nicht ihn, sondern seine Hand in den Mund bekam und 
daran lutschte, ohne die Täuschung zu merken. Heute aber ergriff er meinen Finger 
und steckte ihn in den Mund, Ich drehte meinen Finger vorsichtig so, daß seine 
Hand in den Mund kam und mein Finger unten blieb. (Ich hatte dies schon früher 
mehreremal mit Erfolg getan.) Aber jetzt wandte Alik, nachdem er mit dem Munde 
seine Hand ergriffen hatte, sofort den Kopf und schrie heftig, um dann von neuem 
meinen Finger hineinzustecken,“ 

So sehen wir, daß das Kind durch das Lutschen am Finger und an 
Gegenständen die Glieder seines Körpers von fremden Gegenständen zu 
unterscheiden gelernt hat. Wenn dies auch noch jetzt nur durch den Mund 
geschieht, so gelingt es doch bereits leichter; weil das Selten, das lasten, 
der Schmerz ihm helfen das Begonnene zu vollenden. Der Mund und das 
Saugen mit dem Munde stehen jedoch vorläufig noch immer im Zentrum 
seiner Bemühungen, die ihn umgebenden Dinge zu erkennen. Nachdem Alik 
gelernt hatte, sich auf dem Bauch herum zudrehen, begann er die Gegenstände 
direkt durch den Mund, ohne Zuhilienahme der Hände, zu untersuchen. 
Solche Aufzeichnungen gibt es sehr viele: er schnappt mit dem Munde und 
er greift mit dem Munde, Ich werde nicht alle an führen, sondern beschränke 
mich nur auf eine eng mit dem Lutschen verknüpfte Aufzeichnung. 

26. Woche: 28/FIII (180 , Tag). „Alik erhielt ein großes, rotes Holzei geschenkt. Er 
spielt mit ihm sehr gern, meistens legt er sich auf den Bauch, beginnt mit dem 
Mund am Ei zu lutschen, wobei er es vorwärts bewegt, da das Ei sich dreht/ 

Nun noch ein neues Moment, das vielleicht bei der Sublimierung der 
Oralerotik eine Rolle spielt: das Ansaugen an die Mutter, wahrscheinlich 
die erste Form des Kusses. 

23. Woche: jjVIII (j/9. Tag). „Ich nahm Alik auf den Arm, um mit ihm spazieren 
zu gehen. Während wir gingen, drehte Alik seinen Kopf zu mir und plötzlich warf 













Die Bedeutung des Brustsaugens und Fingerlutschens usw* 


3 8 7 


er sich auf midi und saugte an meiner Wange* Ich war so erstaunt, daß ich mich 
nicht gleich wegbog, so daß er mit dem Mund einen Teil meiner Wange festhalten 
konnte* Später wiederholte sich dies noch einmal, ebenso schnell und unerwartet, 
und das drittemal saugte er an meinem Arm in der Schultergegend,“ 

Solche Berichte werden wir später noch mehrfach finden* Alik saugte 
sich nicht nur an mich, sondern auch am Vater an. Das Ansaugen geschah, 
wenn man mit ihm spielte, er in guter Stimmung war und keine An¬ 
zeichen von Hunger zeigte. 

Wir gehen jetzt zum eigentlichen Brustsaugen über und wollen sehen, 
ob hier eine Veränderung in den letzten drei Monaten erfolgt ist. Beim 
letztenmal, am Ende des dritten Monats, sagten wir, wie stark noch der 
Lust gewinn vom Brustsaugen war. Sehen wir nun zu, was die Berichte 
der vierundzwanzigsten Woche sagen * 

l6jFIII (168. Tag). „Wenn der stärkste Hunger beim Stillen schon beseitigt ist, 
wird Alik von dem kleinsten Geräusch, aber auch ohne jeden äußeren Grund, vom 
Essen abgelenkt* Plötzlich stoßt er mit beschäftigtem Blick die Brustwarze fort und 
schaut im ganzen Zimmer herum. Gleichsam als ob er sich überzeugt hätte, daß 
alles an seinem Platz ist, beginnt er wiederum geschäftig zu sa ugen. a 

Hier sehen wir bereits nicht mehr das völlige Insichselbstversimkensein. 
In seinem Empfinden und Leben herrscht nicht mehr jene „Wollustpose“, 
von der wir oben gesprochen haben. Das Kind saugt mit „geschäftiger“ 
Miene* 

Das heißt, daß die Sexualbefriedigung, die mit diesem Akt verbunden 
ist, entweder gänzlich auf irgend etwas anderes übertragen wurde oder nur 
noch in sehr kleinen Dosen vorhanden ist. 

In den „Ergebnissen des sechsten Monats“ wird darüber schon ganz 
bestimmt ausgesagt, 

l/ZX „Das Brustsaugen ist schwächer geworden und an die zweite Stelle gerückt. 
Zuerst saugt er gierig, solange er noch Hunger hat, spater beginnt er zu spielen, 
dreht sich beinahe auf den Bauch, schlägt mit den Händen, lallt, halt aber die 
Warze im Munde, Dies weist darauf hin, daß die sexuellen Erscheinungen fehlen, 
die bisher sich in der Konzentriertheit, Unbeweglichkeit usw, geäußert haben. Was 
ersetzt ihm aber diese Lust? * * . Ich wollte schon lange Sagen, daß ich anfange, für 
ihn ein Objekt zu werden, das an die Stelle des Saugens tritt, und daß im gegebenen 
Moment für ihn die vielleicht nur rein physische Empfindung meiner Nähe notwendig ist,“ 

So wird also am Ende des sechsten Monats die überaus starke und kräftige 
Saugelust allmählich unbedeutender. Teilweise behält sie noch ihre Bedeu¬ 
tung beim Fingerlufsehen, teilweise geht sie in einen Lustgewinn, sozu¬ 
sagen taktilen Charakters über, der mit der physischen Nähe der Mutter 
überhaupt und nicht der Mutterbrust allein verknüpft ist. Und daher 
verhält sich Alik auch, als er zum erstenmal Mannagrütze statt der Brust 
erhält, dieser Tatsache gegenüber völlig ruhig. 


25* 





g88 


Wera Schmidt 


26. Woche: jtjVlll (z8j. Tag). „Heute erhielt Alik mm erstenmal Grütze. Er aß 
sie direkt aus dem Löffel und mit großem Appetit. (I11 den heißen Tagen des Sommers 
hatte ich ihm oft mit einem Lö ff eichen zu trinken gegeben, so daß er schon daran 
gewöhnt war.)“ 

Im siebenten und achten Monat lernt das Kind allmählich aus dem 
Löffel essen. Anfänglich war es über die Unterbrechung aufgeregt und 
verlangt, daß das Essen ununterbrochen in den Mund Hieße, so daß man 
versuchte, es mit der Flasche zu ernähren, aber es lehnte dies ab und fand 
selbst einen Ausweg aus der Lage. 

32. Woche: jjX (118. Tag). „Während des Essens ergriff Alik wie immer den Löffel 
mit der rechten Hand und führte ihn zum Munde, aber die beiden Finger der linken 
Hand lutschte er in den Zwischenräumen, während ich die Milch nahm, und gab 
erst die Finger aus dem Mund, wenn ich ihm den Löffel näherte.“ 

So gelang es Alik., die neue Essensmethode mit dem früheren Lust- 
gewinn zu kombinieren. Als er schon an die Unterbrechung im Essen 
gewöhnt war, lutschte er nur noch beim Milchnehmen an den Fingern, 
bei aller anderen Nahrung dagegen nicht, sondern aß normal. Offensichtlich 
wollte er den Lustgewinn beim Milch trinken noch nicht aufgeben. (Damals 
erhielt er nur zwei Zusatzmahlzeiten und dreimal die Brust.) 

Das Verlangen nach körperlicher Nähe der Mutter entwickelt sich eben¬ 
falls im Zusammenhang mit den früheren Formen der Erzielung von 
Lustgewinn. 

2;. Woche: 6jlX (1S9. Tag). „Wenn ich Alik auf den Arm nehme, so legt er un¬ 
verzüglich die Finger in den Mund und beginnt eifrig zu lutschen. ]dasselbe geschieht, 
wenn er dicht bei mir ist.“ 

2 S. Woche: 7/IX (190. Tag). „Ich nahm Alik auf den Arm. Er lutschte sofort an 
den Fingern und war still. Ich übergab ihn dem Vater. Alik begann sofort zu lachen 
und mit dem Vater zu spielen. Dann nahm ich ihn wieder, sofort steckte er wieder 
die Finger in den Mund und hatte dabei eine nachdenkliche Miene.“ 

Aus den Ergebnissen des siebenten Monats: 

„In der emotionellen Sphäre tritt jetzt an die erste Stelle die Verbundenheit mit mir. 
Sie äußert sich in einem unbeschränkten Bedürfnis nach meiner Nähe. Wenn der Knabe 
mich sieht, wird er ganz verändert. Er streckt die Arme nach mir ans, schmiegt sein 
Gesicht und seinen ganzen Körper an mich an, saugt an mir, betastet mich usw.“ 

Es ist jetzt klar, daß ein bedeutender Teil der Libido, welche mit dem 
Saugakt verknüpft war, auf ein neues Gleis überführt ist, und nur noch 
unbedeutende Überbleibsel in Form des 1*ingerlutschens vor dem Schlaf und 
beim Essen übriggeblieben sind. In den Ergebnissen des achten Monats ist 
sogar vermerkt, daß Alik das Brustsaugen unterbricht, um am lringer zu lutschen, 
und dann von neuem die Brust nimmt. Der achte Monat ist noch dadurch 
interessant, daß in ihm allmählich der Übergang von der Untersuchung 
der Gegenstände mit dem Mund zur Untersuchung durch I asten. Beschauen 







Die Bedeutung des Brustsaugens und Fingerlutschens usw. 


5 S 9 


und durch das Gehör erfolgt ist und schließlich den Charakter einer stän¬ 
digen Erscheinung angenommen hat. Im voran gegangenen Monat war es 
nur vereinzelt, daß Alik einen Gegenstand untersuchte, ohne ihn in den 
Mund zu nehmen. 

i/IX. „Als Forschungsinstrurnent dient ihm jetzt öfters Auge und Hand, der Mund 
ist an die zweite Stelle getreten. Wenn er jetzt irgend etwas lutscht, so häufig als 
Spiel oder um den Geschmack zu erproben. {Brotkrümel, Zucker, Watte.} Gewöhnlich 
schaut er den neuen Gegenstand an, betastet ihn, beklopft ihn und steckt ihn dann 
zuweilen in den Mund, aber nicht auf lange.“ 

So verliert der Mund allmählich seine ursprünglichen zahlreichen Funk“ 
tionen und nähert sich im Laufe der Entwicklung des Kindes immer 
mehr und mehr der Aufgabe bei dem normalen erwachsenen Menschen* 

Im neunten Monat begannen die. ersten Onanieversuche. Alik unter¬ 
suchte sich, tastete bald hier, bald dort an seinem Körper und betastete 
dabei einmal sein Glied. Zuerst wollte er es einfach nach oben ziehen, 
um es zu betrachten. Er erhielt wahrscheinlich eine bestimmte Empfin¬ 
dung und begann zu lachen. Später erneuerte er natürlich öfter das neu- 
erschlossene Lustgefühl. Im folgenden wird darüber berichtet: 

39 * Woche: 2j/XI (271. Tag). „Gestern und heute griff Alik viele Male an sein 
Geschlechtsorgan. Er liegt auf dem Kücken, während er mit der Hand umhertastet, 
bis er danach greift* Wenn er sitzt, so neigt er den Kopf und schaut darauf und 
später streckt er die Hand danach aus. Sein Verhalten ist hiebei ganz anders, als 
beim Fingerlutschen. Dort war er eifrig und vertieft, und hier nur auffällig heiter. 
Er lacht und spricht laut dahei.“ 

Sehr viel Lust zog Alik in dieser Zeit aus dem Essensakt selber. Aus 
den Ergebnissen des elften Monats: 

„Der Atem wird schneller, die Wangen röten sich, der Blick geht nach innen, 
die Pupillen sind erweitert.“ 

Als Alik ein Jahr alt wurde, wurde er endgültig von der Brust entwöhnt. 
Äußerlich hat er darauf gar nicht reagiert. Der Bericht hierüber sagt folgendes: 

2/III 192X, „Anläßlich seines Geburtstages wurde Alik heute von der Brust ent¬ 
wöhnt. Er bemerkte dies überhaupt nicht, sondern trank mit Vergnügen ein Glas Milch.“ 

Im weiteren werden uns noch Rezidiven begegnen, von denen z. B. 
folgender Bericht Zeugnis ablegt. 

63. Woche: rj/r, 1921 (I Jahr 2 Monate) m „In den letzten Tagen unterbricht sich 
Alik während des Essens, um an mir zu saugen. Er bevorzugt dabei eine ganz be¬ 
stimmte Stelle — den Teil der Brust, der von dem Halsausschnitt freigelassen ist. Er 
saugt daran, um dann mit dem Essen fortzufahren, so als ob nichts geschehen wäre.“ 

Als Alik ein Jahr fünf Monate alt wurde, kam er in das Kinderheim, 
wo ihm volle Freiheit in bezug auf das Fingerlutschen gelassen wurde. Er 
fuhr auch dort mit dem Lutschen fort, jedoch nur vor dem Schlafen, 





39 ° 


Wcra Schmidt 


zuweilen auch bei Verdruß und bei Verletzung. Hiebei lutschte er nicht 
die verletzte Stelle, sondern dieselben beiden Finger der linken Hand. 
Spielzeug und andere Gegenstände steckte Alik nicht mehr in den Mund, 
er aß normal, Süßigkeiten lutschte er nicht, sondern nagte daran. Sein 
Appetit war stets, auch wenn er krank war, ausgezeichnet. Er ißt alles 
und ohne Launen. Seine Lieblingsspeise war in diesem Alter neben Früchten 
und Süßigkeiten Milch, Mannagrütze und Buchweizengrütze» Kartoffeln und 
rote Grütze. Mit eineinhalb Jahren konnte Alik selbständig und genügend 
schnell mit dem Löffel essen. Er küßt leicht, saugt sich nicht mehr an, 
sondern drückt nur die Lippen auf. 

Mit zwei Jahren neun Monaten erkrankte Alik an Scharlach und wurde 
in die Klinik gebracht. Der Arzt empfahl, ihm das Finger lutschen abzu¬ 
gewöhnen, da das Lutschen Komplikationen im Munde hervorrufen könnte. 

j fjXIly 1922 (2 Jahre und 9 Monate). „Wie soll man Alik voni Fingerlutschen ent¬ 
wöhnen? Nichts kann ich dazu aus denken. Ich würde ihn gerne bitten, es nicht zu 
tun oder es ihm nicht erlauben, aber das Weinen ist in der Klinik nicht erlaubt, 
und ohne Tränen geht es natürlich nicht. Ich weiß nicht, was zu tun. Vorläufig 
wasche ich ihm nur die Finger vor dem Schlaf mit hei Dem Wasser,“ 

ijjXII) 1922 (2 Jahre und 9 Monate), „Am Abend fragt Alik mich ganz unerwartet: 
,Unö der Doktor erlaubt mir nicht am Finger zu lutschen? — Jch werde 

nicht mehr lutschen, 1 Und tatsächlich hörte er auf zu lutschen, dafür aber fangt er 
sehr stark zu onanieren an, wurde gereizt, warf sich herum, brumm eite vor sich hin 
und lachte immerzu. Schließlich beschloß ich ihm die Finger zu waschen und ihm 
das Lutschen, zu erlauben. Darauf schlief er sofort ein.“ 

22 /XII s 1922 (2 Jahre und 9 Monate ), „Die Angelegenheit des Pingerlutschens ist 
unerwartet gut geworden. Einige Tage lang wusch ich sie ihm, bis er mich von 
neuem fragte: ,Mama, der Doktor erlaubt nicht, zu lutschen? 1 Ich bestätigte, ,Wird 
mein Mund dann krank werden? 1 — ,Ja. 4 — ,Nun, da werde ich nicht mehr lutschen/“ 

Und seit dieser Zeit nimmt er nicht mehr die Finger in den Mund, 
weder am Tage noch in der Nacht, 

Aus diesem Bericht geht hervor, daß wir Erwachsene erstens häufig 
das Bewußtsein des Kindes unterschätzen und eher bereit sind, zu den 
äußersten Gewaltmaßregeln zu schreiten, statt dem Kinde selbst zu gestatten, 
seiner Triebe Herr zu werden. Zweitens sehen wir, daß Alik nicht auf 
einmal seine Triebe beherrschen kann. Er entsagt dem Fingerlutschen, er 
ersetzt diesen Lustgewinn durch andere noch stärkere Lust. Aber seine 
Aufregung bei dem Onanieren (gewöhnlich onanierte er sehr ruhig) be- 
weist, daß der Fall nicht so ganz einfach ist. Nachdem er wiederum die 
Möglichkeit hatte zu lutschen, kehrt Alik aus eigener Initiative zu dem 
schon gestellten Thema zurück, stellt neue analoge Fragen und läßt endlich 
entschieden vom Fingerlutschen ab. Während seiner Krankheit ersetzt 
er diesen Lustgevvinn am meisten durch Onanie, aber ohne jede Aufregung. 
Umgekehrt, als Alik zufällig beim Fallen sein Genitale verletzt hatte und 










Die Bedeutung des Rrustsaugens und Fingerlutsch ens usw. 391 


einige Tage nicht onanieren konnte, kehrte er von neuem für diese Zeit 
zum Fingerlutschen zurück. Der folgende Bericht sagt hierüber näheres: 

12jlj 192} ( 2 Jahre und 10 Monate), „Alik schläft die ganze Nacht sehr gut, die 
Hände lagen die ganze Zeit auf der Brust oder in Kopfliohe. Er schlief mit dem 
Finger im Munde ein und steckte, wenn er aufwachte, die Finger in den Mund.“ 

Nach diesem kurzen Rückfall in frühere Lustgewinnungsformen hörte 
Alik vollständig auf am Finger zu lutschen. Auch das Onanieren horte 
nach der Genesung auf. Meistens schlummerte er ein, während er sich 
Bauch und Brust streichelte. Zwei Monate später finden wir über das Finger¬ 
lutschen folgenden Bericht: 

iSflll, 1923 (3 Jahre), „Alik wirft sich lange hin und her, er bittet: ,Gib mir die 
Hand 4 , ich gebe sie ihm. Er beginnt die Hand und die Finger zu küssen und sagt 
dabei: ,Ich küsse dir die Finger, diesen und noch diesen 1 usw. Dann plötzlich ,Mama, 
ich möchte den Finger lutschen 4 . — ,Nun lutsch/ — ,Wasch mir die Finger, dann 
werde ich lutschen 1 (Erinnerung an die Klinik). Ich wusch ihm die Finger, wobei 
er die rechte Hand gab; nicht die linke, die er früher immer genommen hatte. Er 
fängt zu lutschen an, hört aber bald damit auf »Warum lutschst du nicht? 4 — 
,Es gefällt mir nicht, es schmeckt mir nicht 1 .“ 

Dieses „Es schmeckt nicht beweist, daß Alik beim Flngerlutschen 
keinen Lust gewinn mehr hat und er deshalb nicht mehr darauf zurück¬ 
kommt. Seine Libido bewegt sich auf einem neuen Geleise, andere Lust 
hat das Saugen, diese erste und wichtigste Lust form des Kindes, ersetzt. 
Und dies geschah ohne die geringste Anstrengung von seiten der Erwach¬ 
senen. Das Kind erhielt durch das Saugen und Lutschen alles für seine 
Entwicklung Notwendige, es erhielt ein Maximum von Lust und konnte 
deshalb dieses ruhig aufgeben, als es notwendig wurde. Eines der Stadien 
der psycho-sexuellen Entwicklung ist offensichtlich völlig normal und natür¬ 
lich beendet. 

* 

Welche Schlüsse und Probleme ergeben sich auf Grund des eben Dar¬ 
gelegten? 

Das Fingerlutschen ist keine „dumme AngewohnheitEs ist biolo¬ 
gisch normal und eine gesetzmäßige Erscheinung beim Kinde in einer 
bestimmten Entwicklungsphase. 

2) Das Lutschen am Finger und an Gegenständen trägt zu der Verstandes¬ 
entwicklung des Kindes in den ersten Monaten seines Lebens bei, es lernt so 
seine Umgebung und seinen Körper kennen. 

3) Damit das Saugen stets in den Grenzen des Normalen bleibe, muß 
bereits von den ersten Tagen an eine richtige pädagogische Umgebung ge¬ 
schaffen werden, damit sich das Kind in jeder Beziehung normal und 
richtig entwickeln kann. 




592 Schmidt: Die Bedenlung des Brustsaugens und Finger!utschens usw. 


Das pädagogische Verhalten zur Oralerotik besteht in folgenden drei 
Momenten: 

a) Gewährung von freier Lustbetätigung. 

b) Erleichterung der Sublimierungsniöglichkeit durch Herstellung einer 
pädagogisch richtigen Umgebung. 

c) Pädagogische Hilfe, wenn der noch nicht sublimierte 'Feil der Libido 
in der betreffenden Entwicklungsstufe zu verweilen droht. 
















Zur Metapsychologie des »d£jä vu « 1 

Von 

Otto Pötzl 

Professor an der Deutschen Universität Prag 

Wer die Empfindung des deja vu häufig an sich selbst erlebt hat, wird 
aus eigener Erfahrung zwei Eigentümlichkeiten dieses Erlebnisses kennen, 
die sehr häufig sind, wenn sie auch nicht immer gleich stark ausgeprägt 
erscheinen. Übrigens sind diese beiden Eigentümlichkeiten schon längst 
und vielfach beschrieben worden: Die erste ist ein eigenartiges, schwer 
zu beschreibendes Gefühl einer Entrücktheit, einer Trance, die sehr eng 
verwandt ist mit den inneren Erlebnissen von sogenannter Depersonali¬ 
sation; die zweite Besonderheit bezieht sich auf die Situation, von der 
man das unmittelbare Gefühl hat, sie in der Vergangenheit schon ganz 
getreu erlebt zu haben; stellt sich die Sensation z. B. in einem Augen¬ 
blick ein, in dem eine andere Person gerade in einer Rede begriffen ist, 
so lautet die Impression des deja entendu, in Worte gefaßt, etwa so: Alles 
das, was er jetzt sprechen wird, zu sprechen im Begriffe ist, hat er 
damals auch schon getreu Wort für Wort gesprochen. Es ist also in solchen 
Fällen eigentlich etwas der nächsten Zukunft Angehörendes, eben im Ent¬ 
stehen Begriffenes, das von der Empfindung erfaßt und als erlebt in die 
Vergangenheit zurückgerissen wird. 

Gerade diese beiden Eigentümlichkeiten sind geeignet, dem Erlebnis 
des deja vu jenen traumhaften Charakter zu geben, den es vielfach hat 
und der von dem Erlebenden selbst bald mehr lustbetont, bald mehr un- 
lustvoll, immer aber als eine Art von Schauer empfunden wird. Wenn 
von einigen Autoren im Anschluß an die Erklärung Grasset’s das deja vu 
als Erinnerung an vergessenes Geträumtes betrachtet wird, so wird 


i) Aus der Prager Deutschen Psychiatrischen Klinik Prof« O. Pötzl, Prag, 




394 


Otto Pötzl 


diese Erklärung gern au [genommen werden von dem, der das dejä vu in 
der hier angedeuteten Weise zu erleben gewohnt ist. Eine Selbstbeob¬ 
achtung scheint übrigens dem Verfasser zu zeigen, daß diese Auffassung für 
einzelne Beispiele zutrifft; doch soll sie nicht hier gesetzt werden, da die 
Führung eines objektiven Beweises für dieses Beispiel nicht restlos gelingen 
konnte. 

Jedenfalls wissen wir durch eine grundlegende Analyse Freuds, daß 
das Phänomen in vielen wichtigen Beziehungen einer Deckerinnerung 
analog ist und daß dort, wo es gelingt, ein früheres, der Situation des 
dejä vu ähnliches Erlebnis nachzuweisen, dieses Erlebnis unter einer sehr 
starken Verdrängung steht. Im ersten analytischen Beispiel Freuds war 
es eine bewußtseinsunfähige Phantasie, ein Todeswunsch für den Bruder, 
deren Wirkung es mit sich brachte, daß die Analogie der gegenwärtigen 
und der vergangenen Situation nicht bewußt werden konnte und daß sich 
„die Identität von dein Gemeinsamen der Situationen auf die Lokalität 
verschob w * 

An dem zitierten Beispiel Freuds ist auch auffallend, daß die zweite 
erlebte Situation — also diejenige, die das dejä vu ausgelöst hat — den- 
selben Inhalt in einer volleren, realeren, man konnte sagen, entwickelteren 
Form enthält, der bei der ersten, durch das dSjä vu verhüllten Situation 
jene bewußtseinsunfähige Phantasie gebildet hat; denn in der zweiten 
Situation ist in einer Familie, die das damals zwölfjährige Kind besucht 
hat, ein Bruder wirklich dem Tode verfallen; einige Monate vorher war 
der eigene Bruder des Kindes in der Gefahr gewesen, zu sterben; allein 
sein Schicksal hatte sich nicht erfüllt. So ist die erste Situation nicht nur 
die Trägerin des Bewußtseinsunfähigen; sie verhält sich auch in einem 
gewissen Sinn zur zweiten Situation w ie eine Verheißung zu einer Erfüllung. 

Viel deutlicher noch ist dieses Verhältnis zwischen erster und zweiter 
Situation an den Beispielen von Fausse reconnaissance > die Freud unter 
dem Namen dejä raconte beschrieben hat; während einer Psychoanalyse 
haue der Analysierte bereits die Absicht, eine Mitteilung zu machen; diese 
Mitteilung unterblieb; sie wird später der Gegenstand für ein Irrtüm¬ 
liches: „Das habe ich Ihnen aber schon erzähltDas Beispiel Freuds 
enthält die vorbereitende Äußerung, die der Analysierte wirklich ein oder 
mehrere Male getan hatte; er ist durch den Widerstand abgehalten worden, 
seine Absicht auszuführen ; so wird beim dejä raconte nach Freud die 
Erinnerung an die Intention mit der Erinnerung an die Ausführung der¬ 
selben verwechselt. 









595 


Zur Metapsychologie des „dejä vu“ 


Verfasser selbst hat, wie jeder, der sich mit Psychoanalyse beschäftigt, 
die Erscheinung des dejä raconte bei seinen Analysierten häufig beobachten 
können; daß die Erscheinung ihrem Typus nach wirklich dem dejä vu, 
dejä entendu, dejä eprouve, dejä senti anzugliedern ist (im Sinne von Freud), 
wird wohl kaum von jemand bezweifelt werden. Wenn in den Beispielen, 
die Verfasser selbst vermerkt hat, ein Unterschied in der Erscheinungsweise 
bestanden hat zwischen dem spontan auftretenden dejä vu und dem dejä 
raconte im Verlauf einer Analyse, so lag er darin, daß bei diesem: „Das 
habe ich Ihnen aber schon erzählt'jenes Gefühl der Trance, von dem 
eingangs die Rede war, nicht eingetreten zu sein schien; die zweite er¬ 
wähnte Eigentümlichkeit, das Erlebthaben dessen, das eben erst in der 
Umwelt sich gestalten will, fällt ohnehin für die große Mehrzahl der Beispiele 
eines dejä raconte weg. Verfasser glaubt übrigens nicht, daß dieser Unter¬ 
schied ein allgemein gültiger oder durchgreifender sei; doch scheint ihm, 
daß jene Trance um so stärker sich entwickle, je mehr die zweite Sensation, 
das Erlebthaben des noch nicht Erlebten, in den Vordergrund tritt. Daraus 
würde sich vielleicht die Möglichkeit ergeben, daß diese beiden Momente 
irgend etwas Zusammengehöriges enthalten, wenn dies auch nicht bewiesen 
werden kann. 

Natürlich gibt es aber auch viele Beispiele von spontanem dejä vu , bei 
denen jenes „Entstehen“, jener Status nascendi des anscheinend schon Erlebten, 
nicht enthalten zu sein scheint. Ein Beispiel dieser Art, das der eigenen 
inneren Erfahrung des Verfassers entstammt, soll hier erwähnt werden, da 
Verfasser es häufig in seinen Vorlesungen verwertet hat und dabei regel¬ 
mäßig die Reaktion des vollen Verständnisses und des Miterlebthabens an 
einer Anzahl von Zuhörenden zu bemerken in der Lage war. Verfasser hat 
im Alter von nicht ganz fünfzehn Jahren zum erstenmal Venedig gesehen 
und den zu erwartenden mächtigen Eindruck davon gehabt; es ist selbst¬ 
verständlich, daß er vorher als Kind eine sehr große Anzahl von Bildern 
aller Art aus Venedig gesehen hatte und daß sie ihm gezeigt und erläutert 
worden sind; wenn er nun stundenlang bei den ersten Gondelfahrten die 
unmittelbare Gewißheit empfand, alles, was ihn hier umgab, schon einmal 
genau so gesehen zu haben, so verband sich bei ihm dieses Gefühl mit der ebenso 
lebhaft sich aufdrängenden Gewißheit, daß alles dies ganz anders, grund¬ 
verschieden von dem aussehe, was er bisher an Bildern von Venedig zu 
Gesicht bekommen hatte; dieses innere Erleben, das Gefühl des gänzlich Neuen 
und doch schon einmal ganz genau so Gesehenen, war in eine stark traum¬ 
hafte, einer Depersonalisation vollkommen gleichende Stimmung getaucht. 





39 6 


Otto Potz! 


Dieses Beispiel wiederholt ■ nur Altbekanntes, das sich oft und vielfach 
in der Literatur über die Fausse reconnaissance findet. Aber eine Besonder¬ 
heit an ihm darf vielleicht doch beachtet werden. Sie liegt in dem sich 
aufdrängenden Gefühl, daß die früher gesehenen Bilder dem Eindruck der 
Wirklichkeit nicht entsprochen haben. Freud hat uns ja gelehrt und wir 
sind es in der Analyse gewohnt aufzuhorchen, wenn jemand sagt: „Das 
gehört nicht dazu“; es ist das ein untrügliches Zeichen in der Analyse, 
daß das, was angeblich nicht dazu gehört, den wesentlichen Einfall enthält 
(Freud). 

So könnte es also auch mit den Bildern sein, die hier während des 
dejä vu einfallen und die übrigens, wie sich Verfasser auch heute noch 
deutlich zu erinnern meint, damals nicht sinnlich lebhaft vorschwebten, 
sondern nur wie ein Gedanke ein fielen, keineswegs wie ein Bild. Sie konnten 
also irgend etwas enthalten, das trotz der gegenteiligen Aussage — oder 
vielmehr wegen ihr — mit bewußtseinsunfähigeil ersten Situationen zu- 
sammenhängt, die diesem dejä vu zugrunde liegen mochten. Selbstver¬ 
ständlich muß dies eine bloße Vermutung bleiben. 

Als Verfasser sich zwanzig Jahre später mit der experimentellen Unter¬ 
suchung der Tagesreste von Träumen zu befassen begann, fiel ihm auf, 
daß nicht selten Anteile der visuellen Traumbilder eindeutig zurückgeführt 
werden konnten auf Gemälde, Ansichtskarten usw. Insbesondere war dies 
häufig mit Farben und Färbens t immun gen der Fall, die in den Traum¬ 
bildern vorkamen. Auch dies ist im wesentlichen schon durch Freud 
gezeigt worden: in den Analysen Freuds finden sich auch Beispiele, die 
zeigen, daß jene Bildelemente im Erleben des Traumes oft nicht mehr 
den Größendimensionen entsprechen, die sie auf dem Bild und auf der 
Ansichtskarte hatten, sondern daß sie oftmals vergrößert erschienen sind 
bis zur Dimension der Wirklichkeit, Die Traumarbeit leistet also in solchen 
Beispielen etwas Ähnliches, wie es Andersen in seinem bekannten Traum¬ 
märchen vom Oie Augenschließer dargestellt hat, da der kleine Hjalmar 
sich in das Bild gehoben fühlt, das über seinem Bette hängt und das eine 
Landschaft darstellt; er steigt in einen Nachen und das Schiff gleitet einen 
wirklichen Fluß entlang; wirkliche Bäume rauschen am Ufer und wirk¬ 
liche Vögel singen dazu. Man kann diesen Teil des A n dersenschen 
Märchens mit der sekundären Bearbeitung eines Traumes vergleichen, der 
visuelle, aus Gemälden geholte Elemente enthält, die aber von der f l raum¬ 
arbeit vergrößert worden sind, ähnlich wie ein Photograph das kleine Bild 
im Visitkartenformat zu einem lebensgroßen Porträt zu vergrößern versteht. 






Zur Metapsychologie des „ dejä vu" 


397 


Die weiteren, durch lange Zeit fortgesetzten Untersuchungen, die Ver¬ 
fasser über die Herkunft der visuellen Elemente im Traum anstellte, zeigten 
denn auch an Beispielen, daß alle möglichen Zwischenstufen vorkamen 
auf dem Wege dieser, wenn man so sagen darf, angestrebten Verwand¬ 
lung eines gesehenen Bildes in Wirklichkeit. So hat Verfasser beispiels¬ 
weise bei einer männlichen Versuchsperson im tachistoskopisch provozierten 
Traum das lebensgroße, aber doch flächenhaft und schwarzweiß wie eine 
Zeichnung imponierende, nur bis zur Hüfte entwickelte Bild einer alt- 
ägyptisehen Prinzessin vermerken können, das sich später aus einer Jugend¬ 
schrift, einem Lieblingsbuch aus der Kindheit der Versuchsperson, im 
Original demonstrieren ließ; dieses Original verhielt sich zu dem Traum¬ 
bild tatsächlich so, wie eine Photographie im kleinsten Format zu ihrer 
Vergrößerung. Auch dieses Beispiel ist nur ein Sonderfall jenes zuerst von 
Freud an einem eigenen Traum festgestellten Mechanismus, der eine volle 
Formen treue der auftauchenden Kindheitssituationen im Traume zur 
Folge hat; es enthält aber außerdem die Tendenz, ein Bild in Wirklich¬ 
keit zu verwandeln; in diesem Fall war es eine Imago des infantilen 
Liebestriebes, die in diesem Traum eines neununddreißigjährigen Mannes 
zu einer den Kindenvunsch erfüllenden, aber nicht vollkommenen Belebung 
gelangt, eine verspätete Galathea des Bildhauers Pygmalion. 

Verfasser wäre geneigt, in solchen bildverwirklich enden Leistungen der 
Traumarbeit etwas zu sehen, das sich auf Zwischenstufen eines Weges 
vollzieht, der im Unbewußten von der Impression vorbewußt gesehener 
Bilderanteile aus weiterwirkt und das Bild an die Wirklichkeit anzunähern 
trachtet, ähnlich wie sich nach Freud die Symptome der Neurose in ihrer 
weiteren zeitlichen Entwicklung einem Ziel zu nähern streben. Dann wäre 
aber vielleicht das früher erwähnte dejä vu beim ersten Anblick von Venedig 
eine Art von ßewußtwerden dieser sonst unbewußt bleibenden Wegstrecke 
zwischen Bild und Wirklichkeit; die noch ungeschaute Wirklichkeit wäre 
in den Bildern von Venedig enthalten gewesen, wie eine voller ausgereifte 
Situation in ihrem ersten Keim beim Freudschen dejä raconte enthalten 
ist. Ein gesehenes Bild dieser Art hätte gewirkt, wie wenn eine Intention 
unterbrochen gewesen wäre, die dahin zielte, das Bild so zu erblicken, als 
ob es nicht ein Bild wäre, sondern die wirkliche Stadt; die unterbrochene Ein¬ 
stellung erfüllt sich und die Identität verschiebt sich von dem Gemeinsamen 
auf das Neuerlebte, das ein virtueller Zielpunkt jener einst unterbrochenen 
Intention ist; so projiziert sie sich dabei in die Vergangenheit, auf einen 
fernen verflossenen Augenblick, dessen Erlebnis sich jetzt erst vollendet. 





39 8 


Otto PÖtzl 


Daß der Augenblick einer unterbrochenen Intention sehr häufig den 
Vorkeim eines Traumes in sich enthält und die Auswahl der Tagesreste 
mitbestimmt, hat Verfasser in den zitierten Versuchen zeigen können; auch 
von dieser Seite her erscheint es als plausibel, daß Traum und dejä vu 
sehr häufig der gleichen Quelle entstammen; vielleicht ist aber dann das 
dejä vu nicht so sehr die Erinnerung an vergessenes Geträumtes» als es 
zusammen mit einer Anzahl vergessener I raumbilder in denselben Komplex 
gehört, in eine Gruppe von psychischen Erscheinungen, die von einem 
gemeinsamen Ausgangspunkt her entstanden sind* 

Verfasser war darauf vorbereitet, bei den zitierten Versuchen auch Bei¬ 
spiele von dejä vu zu finden und sie mit Trauminhalten in Verbindung 
bringen zu können; er ist aber in dieser Beziehung von seinen damaligen 
Versuchen enttäuscht worden* Eine einzige Versuchsperson» ein verwundeter 
Offizier mit traumatischer Hysterie, zeigte hei der Exposition selbst eine 
Sensation, die einem dejä vu mindestens nahekam; sie hat sich aber nicht 
als traumbildend erwiesen* Der Versuch, der bisher unveröffentlicht geblieben 
ist, kann hier nicht vollständig mitgeteilt werden; nur einige Bruchstücke 
daraus sollen wiedergegeben werden, soweit sie den hier verfolgten Zu¬ 
sammenhang betreffen. 

Exponiert (in einer Hundertstel-Sekunde) wurde ein farbiges Diapositiv, 
einen Hofraum in einer orientalischen Stadt darstellend; im Hintergrund 
war eine hohe Mauer; über sie hinaus ragte die Kuppel einer Moschee; 
ein schimmerndes Morgenlicht erfüllt das Bild, Die Versuchsperson zeigt 
im Gesicht eine gewisse Ergriffenheit und sagt: „Das Ganze ist selbst wie 
ein Traum , 4 Später vergleicht Versuchsperson noch mehrmals den Eindruck 
mit einer Erinnerung: „Ich habe eher die Erinnerung, als ich sagen 
kann, was es wirklich ist , 4 Nach einigen Zwi sehen äußer ungen: „Es fangt 
schon an, zu arbeiten; wo kann ich das gesehen haben? Wo habe ich das 
früher gesehen ? 4 Noch später: „Die ganze Sache ist wie ein Traum, an 
den ich mich nicht gut erinnern kann und in der Früh zerbrech’ ich 
mir den Kopf, was hab* ich eigentlich geträumt? Ich bin mir natürlich 
klar darüber, daß es ein Bild war; aber es lost diesen Eindruck in 
mir aus , 4 

Dann aber entwickelt Versuchsperson in einer Reihe von Einfällen und 
in einer Zeichnung so ziemlich das ganze Bild; nur im Vordergrund nahe 
der unteren Bildfläche blieb der Eindruck verschwommen. Es fällt ihr nur ein, 
daß sich dort etwas bewegt hat, in der Richtung von links nach rechts; 
was das aber war, was sich bewegt habe, sei „ganz ungewiß 4 . 







Zur Metapsychologie des „dejä vu u 


Am andern Morgen kommt die Versuchsperson sichtlich enttäuscht und be¬ 
richtet gleich* daß die Nacht fast traumlos verlaufen ist* Sie habe „merk¬ 
würdig traumlos und ruhig geschlafen“. Im Einschlafen habe sie einen 
ganz kurzen Traum gehabt, dessen Erzählung nur einen Tagesrest aus dem 
Milieu ihrer gewohnten Beschäftigung bringt. Dann hatte sie noch im 
Erwachen einen ganz kurzen Traum. 

Sie sei „in der Vorstellung erwacht, eine Herde zu sehen; das Läuten 
der Ilerdenglocken zu hören; ein rasselndes Glockengeläute“, Sie sei erwacht 
und der Wecker, der sie täglich weckt, habe weiter gerasselt. 

Der Traum von der Herde, dessen Einzelheiten noch weiter entwickelt 
werden, ergänzt das exponierte Bild in der gewöhnlichen geometrisch getreuen 
Weise zur vollen Ganzheit, Trotz der Einstellung eines Erwartens, die 
Versuchsperson für die folgende Nacht vom Versuch her mitgebracht hatte, 
konnte vom Bild im Traum nicht mehr erscheinen als dieses Stückchen, 
da alles andere schon im Wachbewußtsein entwickelt gewesen war; dejä vu 
und Traumproduktion scheinen deshalb der Versuchsperson selbst in einem 
gewissen Gegensatz zueinander zu stehen. Für den hier verfolgten Zusammen“ 
hang bringt der Versuch nur das eine, daß der Vorgang der tachistoskopisehen 
Exposition hier die Intention, das Bild zu erfassen, tatsächlich unterbrochen 
hat. Im vorigen ist die Vermutung geäußert worden, daß Gemälde Im¬ 
pressionen setzen können, die im Unbewußten wirken wie unterbrochene 
Intentionen zu einer Verwirklichung des Bildes. Hier hat eine unterbrochene 
Intention zum Erblicken eines Bildes tatsächlich jene Trance gebracht, die 
sonst das spontane de ja vu so oft begleitet. 

Der Versuch enthält aber noch etwas, das eine gewisse Verwandtschaft zu den 
hier besprochenen Fragen hat. Der Traum der Versuchsperson, der das am 
Vortage exponiert gewesene Bild ergänzt, ist ein Wecktraum; wenn auch sein 
Inhalt dürftig ist und wie in einem Bild erlebt worden zu sein scheint, so 
enthält die Erzählung der Versuchsperson doch jenes Nacheinander, wie man 
es bei den komplizierter gestalteten Weckträumen viel deutlicher findet. Das 
Nacheinander dieser Traumerzählung lautet: Die sichtbare Herde; das gehörte 
Läuten der Herdenglocken; das rasselnde Glockengeläute; das Weiterrasseln des 
Weckers nach dem Erwachen* Ein analoges Nacheinander führt in anderen 
Träumen erst über eine Flut von romanhaften Begebenheiten zum Endziel des 
Eindruckes, der den Wecktraum veranlaßt und schließlich wirklich erweckt; 
so ist es in dem berühmten Guillotinentraum von Maury, den Freud zitiert 1 , 


i) Traumdeutung, Ges, Schriften, Bd. II, S* 29—31. 







400 


Otto Pötzl 


sowie in den Wecktraumbeispielen von Hildebrandt, an denen Freud das 
Verhältnis zwischen zugeführtem Reiz und Traummaterial erörtert. Derartige 
inhaltsreiche und komplizierte W eckträume sind es- ja auch, die von alters 
her das Rätsel des Zeitsinnes im Traume so sehr in den Vordergrund gerückt 
haben; die geträumten Begebenheiten scheinen einen langen Zeitraum zu 
füllen und sind doch wohl in der minimalen Spanne Zeit erlebt worden, in 
der der Weckreiz nach seinem Einsetzen für das VY achbewußtsein unter- 
schwellig geblieben war. Das Rätsel des Zeitsinnes im 1 raum soll hier nicht 
herausgegri(Ten werden, sondern nur die latsache, daß die Begebenheiten des 
Wecktraumes auch dann, wenn sie sehr inhaltsreich sind, aul den W eckreiz 
hin ab zielen. In diesem bekannten Befund liegt etwas, das man die 
Entelechie des Wecktraumes nennen kann, da es eine unverkennbare 
Ähnlichkeit aufweist mit der Zielstrebigkeit in der Entwicklung eines 
Organismus, die auch auf mancherlei Umwegen ein von vornherein wie 
gegeben erscheinendes Ziel zu erreichen trachtet. Man kann sich in Analogie 
mit einer Idee Ferenczis daran erinnern, daß das Licht der Sonne für 
die Organismenwelt schon eine lange Zeit vor seiner Wahrnehmung gegeben 
war, wie der Weckreiz schon eine gewisse, wenn auch noch so kurze Zeit 
angedauert hat, bevor er zur wach bewußten Wahrnehmung kam; dann 
wird man z* II. die Identität der Art, wie die Fische die Helligkeits¬ 
verteilung im Spektrum sehen, mit der Helligkeit®Verteilung für das extrem 
dunkel adaptierte Menschenauge (C, Heß) und die Entwicklung des Apparates 
für das Helligkeitssehen bei den Landtieren (Johannes von Kries) zusammen- 
stellen dürfen mit der Stufenfolge eines manifesten I raum Inhaltes bei einem 
komplizierten Wecktraum. 

Diese Entelechie des Wecktraums läßt das Bewußtsein des Schlafenden 
in einer ganz kurzen Spanne Zeit so vieles durchlaufen, daß damit lange 
Zeiträume ausgefüllt werden können; das Durchlaufen dieser Erlebnisse, 
wenn es auch vielleicht nur einem einzigen Augenblick entspricht, hat, 
bezogen auf den Weckreiz, die Richtung von der Vergangenheit gegen 
die Zukunft hin. Der Tatbestand, der im früheren aus den Erlebnissen 
beim dejä vu herausgegriffen worden ist, gleicht der Entelechie in der 
Entwicklung der Organismenwelt nicht weniger, als die Gesamt heit der 
manifesten Inhalte eines Wecktraumes; es war eine erste Situation in einem 
bewußtseinsunfähigen Zustand gegeben; ihr ist nach anscheinend be¬ 
liebig —- langen Zeiträumen eine zweite Situation gefolgt, die eine Voll' 
endung unterbrochener Intentionen aus der Zeit der ersten Situation ent¬ 
halten hat. So gleicht die Entelechie des dejä vu der Art, wie in einer 









4 oi 


Zur Metapsychologie des „dejä tu" 


Keimzelle oder im Laufe früherer Stadien einer embryonalen Entwicklung' die 
Organe des zukünftigen gereiften Organismus enthalten sind. Im Erleben des 
dejä vu kommt scheinbar nur dieses Enthaltensein der späteren Situation in der 
früheren zu Bewußtsein; so kann man in einem gewissen Sinne sagen, daß sich 
im Erleben des deja. vu das Bewußtsein eine Art von Sinnesorgan für diese 
Entelechie auf einen kurzen Augenblick geschaffen hat. 

ÜxkÜll hat in einem wundervollen Kapitel über die Amöbe gezeigt, daß die 
Amöbe sich Organe bildet im Augenblick, wo sie ihrer bedarf und die Organe 
wieder verschwinden läßt, wenn die Situation sie nicht mehr erfordert. Wohl 
niemand, der dieses Kapitel gelesen hat, wird sich der Analogie erwehrt haben, 
daß das Protoplasma hier Organe entstehen und verschwinden läßt, wie das 
Unbewußte psychische Gebilde ins Feld des Bewußtseins entsendet und aus 
ihm. wieder versinken läßt. So erschwert es den hier gezogenen Vergleich 
nicht, wenn jenes Sinnesorgan für die Entelechie im dejä vu nur für einen 
kurzen, traumhaft flüchtigen Augenblick fähig gebliehen zu sein scheint zu 
bestehen. Ebensowenig stört es den Vergleich, daß es nur eine psychische 
Struktur ist, die ihm entspricht, nicht aber eine faßbare, körperlich geformte. 
Wir können trotzdem an dieser psychischen Struktur einiges von der Art er¬ 
kennen, wie dieses flüchtig bestehende Sinnesorgan des Bewußtseins in einem 
kurzen Augenblick tätig zu sein vermochte. 

Die Richtung der Entwicklungen im Wecktraum schien von der Vergangen¬ 
heit der frühen Kindheitserinnerungen bis zur unmittelbaren Gegenwart des er¬ 
weckenden Sinneseindruckes zu gehen; die Richtung der wahrgenommenen 
Entelechie des dejä vu führt den umgekehrten Weg vom gegenwärtig gegebenen 
Moment in die Vergangenheit. Es ist, wie wenn ein Projektionsapparat ein 
Bild auf die Wand entworfen hätte und die Wahrnehmung die Strahlen¬ 
richtung entlang rückläufig gegen den Brennpunkt hin bewegt werden würde. 
Im vorigen ist mit dem dejä vu eine verflossene Intention in Verbindung 
gebracht worden, die dahin gestrebt hatte, ein Bild in Wirklichkeit zu ver¬ 
wandeln; man kann diese Intention der Leistung des Malers gegenüberstellen, 
die eine Wirklichkeit in dieses Bild verwandelt hat; dann wäre jene unbewußt 
weiterwirkende Intention, die das Bild zu realisieren strebte, gewissermaßen 
entgegengesetzt gerichtet der Intention, die die Wirklichkeit in ein Bild ver¬ 
wandelt hat. Es würde sich ein ähnlicher Gegensatz ergeben, wie zwischen 
der Traumarbeit und der Deutungsarbeit im Sinne von Freud, die sich gegen¬ 
seitig zu neutralisieren trachten. 

Soweit diese Analogien eine Transformation zwischen Bild und Wirklich¬ 
keit enthalten, ist in ihnen leicht zu erkennen, daß der Wahrnehmungs- 

26 


Imago XII* 






402 



Pötzl: Zur Metapsycliologie des „dejä vu“ 


Vorgang im Bewußtsein, der mit dem dejä vu in Verbindung gebracht 
werden kann, mit nichts so einfach und leicht vergleichbar ist, als mit 
einer Inversion von Blickrichtungen. Vielleicht ist es also eine Inversion 
von Blickrichtungen des Bewußtseins, die in jenem flüchtigen Augenblick 
des dejä vu vorliegt. 

Freud hat — in dieser Beziehung ähnlich wie Wundt — immer hervor¬ 
gehoben, wie sehr ihm die Natur des Bewußtseins der Tätigkeit eines 
Sinnesorganes vergleichbar erscheint* In diese Anschauung fügt sich die 
hier gegebene Betrachtung von seihst ein; sie konnte im vorigen nur 
flüchtig skizziert werden ; Verfasser könnte sie aber leicht an einem größeren 
Material physiologischer und pathologischer Beispiele von dejä vu weiter 
ausführen. Hier soll indessen nur noch eine Kleinigkeit aus der Pathologie 
flüchtig berührt werden* Bekannt ist die Häufigkeit des dejä vu in der 
epileptischen Aura und in epileptischen Dämmerzuständen. Bekannt ist 
auch, wie häufig Epileptiker ihre Anfälle kupieren können, wenn sie, wie 
es ihnen erscheint, mit der letzten äußersten Anstrengung des Willens 
intentioneil eine Bewegung ausführen, die der ersten anfänglichen Krampf¬ 
bewegung des beginnenden Anfalles antagonistisch ist. Intentionelle Be- 
wegung und Krampfbewegung verhalten sich auch in diesem geläufigen 
Beispiel zueinander wie eine Inversion; es ist nur eine Analogie zu diesem 
Tatbestand, wenn man bei einer Erscheinung der psychischen Aura eine 
Inversion von Blickbewegungen des Bewußtseins als Grundlage für ein 
dejä vu annimmt. 

Daß in den Eigenschaften des dejä vu, die hier flüchtig besprochen 
worden sind, manches anklingt, das an die ursprüngliche, metaphysische 
Deutung der Erscheinung als Erinnerung an eine Präexistenz gemahnt, 
ergibt sich von selbst; das dejä vu erscheint als Erinnerung an jene Prä- 
existenz, die in der Entelechie einer Entwicklungsreihe enthalten ist. So 
erscheint die ursprüngliche, magische Deutung hier in einer Weise wieder* 
die einer biologischen Auffassung des Phänomens an genähert ist* Freud 
selbst zitiert nur jene metaphysische Deutung, die dem Pythagoras zu~ 
geschrieben wird; das Okkultistische, das sich an sic etwa anschließen 
ließe, kann in der Lehre vom dejä vu ebensowenig der Gegenstand einer 
analytischen Betrachtung sein, wie in der Lehre vom Traum* Die Entelechie 
des dejä vu verhält sich zur Idee einer Prä existenz ähnlich, wie die Wunsch¬ 
erfüllung des Traumes sich nach Freud zu der Weissagung durch Traume 
verhält* 













Libido-Mneme, Mystizismus 
und Hellsichtigkeit bei einem Kinde 

Von 

Prof. M. Levi Bianckini 

Direktor der Irrenanstalt von Teramo (Italien) 

I 

Ich werde einige autobiographische Fragmente eines als psychisch normal 
geltenden Menschen mitteilen, der sich in guter sozialer Stellung befindet 
und ein reifes Alter erreicht hat. Ich kenne ihn seit vielen Jahren näher: 
ich habe daher keinen triftigen Grund, an seiner Aufrichtigkeit zu zweifeln. 
Man hat immer und allgemein den meisten Berichten in den Autobio¬ 
graphien bedeutender Persönlichkeiten Glauben geschenkt; ich wüßte nicht, 
warum man autobiographischen Berichten anderer Menschen, nur weil sie 
nicht berühmt sind, den Glauben verweigern sollte. Immerhin mag sich 
der Leser nach seinen persönlichen Eindrücken richten. 

Der Erzähler der infantilen autobiographischen Erinnerungen, von denen 
hier die Rede sein wird, ist ein achtundvierzig jähriger, verheirateter Mann, 
mit Kindern; er ist von pyknischer Konstitution und gehört psycho-physio¬ 
logisch ausgesprochen zum visuell auditiven Typus mit ausgeprägter Neigung 
zur Musik, zur Dichtkunst und zum Mystizismus. 

II 

Autobiographische Fragmente 

l) Alter von zwölf bis dreizehn Monaten , Stillung 

„Meine Geburt hat in normaler Weise stattgefunden. Nach örtlichem Brauche 
jener Zeit wurde ich auf dem Lande von einer Amme gestillt, und zwar bei 
einem von unseren Bauern, dessen Frau mich durch volle zwölf Monate säugte. 


2& m 



Prof, M, Levi Bianchini 


404 


Als ich wieder meiner Mutter überleben wurde* welche einen anderen Sohn 
geboren hatte, wurde ich von ihr noch wenige Tage gestillt und dann 
entwöhnt. 

Als ich älter wurde, besuchte ich die Elementarschule, eine von Mönchen 
geleitete Anstalt, die Militärschule und wurde mit zwanzig Jahren Offizier. 
Von da an durchlief ich die militärische Laufbahn, erlangte einen höheren 
Rang und zog mich nach dem großen Kriege in den Ruhestand zurück. 

Von meiner Stillung durch die Amme habe ich in meinem Ge¬ 
dächtnisse nichts behalten, während ich mich noch heute ganz 
genau und lebhaft an die mütterliche Stillung, die ich nur wenige 
Tage, von meinem zwölften bis zum dreizehnten Lebensmonate 
genossen habe, erinnern kann. 

Ich erinnere mich deutlich an das Hilf! des Famiiienhauses, des Gartens* der 
Zimmer, der damaligen Hausgeräte: aber am allerdeutlichsten habe ich 
das Bild meiner Mutter zu eben jener Zeit vor Augen, wie sie 
sich das Mieder aufschnürte und mir die Brust zum Saugen reichte* 


2) Alter von achtzehn bis vierundzwanzig Monaten. Libido-Mneme 

Bereits entwöhnt, im Alter von kaum achtzehn Monaten (dieses Alter wurde 
ganz genau von meinem Vater berechnet, als ich ihm zwanzig Jahre später 
die Episode, über die ich jetzt berichten werde, erwähnte, an welche er sich, 
wie an viele andere Vorfälle des alltäglichen Lebens, nicht mehr erinnern 
konnte), wurde ich in Begleitung meiner Brüder von meinem Kinder¬ 
mädchen, namens R., im Arme zu einer Zirkusvorstellung getragen, dieses 
Mädchen verblieb noch viele Jahre in unserem Hause, Ich erinnere mich, daß 
im Laufe der Vorstellung eine Gauklerin mit stark ausgeschnittenem 
Korsette auftrat, welche einen vollen, fast entblößten Busen hatte und 
bei der Vorführung verschiedener Kunststücke (Spiele mit einem großen Holzfasse) 
sich in recht unverschämter Art bewegte. Ich fühlte das Verlangen, mich an 
ihre Brust zu heften und daran zu saugen. Ein solches Verlangen blieb 
so fest in meinem psychischen und allgemein körperlichen Vorstellungsempfinden 
fixiert, daß ich, seitdem ich frühzeitig, ungefähr im Alter von dreizehn Jahren, 
von meinem eigenen Kindermädchen in die göttlichen Geheimnisse der Venus 
eingeweiht wurde, mit Vorliebe während des Verkehrs die Brüste der Ge¬ 
liebten betastete, wie um einem ursprünglichen und stärkeren erotischen Reize 
zu gehorchen; und ich rief mir überhaupt in meinen erotischen Schwärmereien 
beständig die Zirkusepisode ins Gedächtnis 'zurück und färbte sie dabei mit 
einer bestimmten sexuellen Bedeutung, 

Einmal erzählte ich im Familienkreise meinem Vater und meinen erstaunten 
Brüdern — ich war schon Kavallerieleutnant und vierundzwanzig Jahre alt 
eine Menge Erlebnisse aus unserer ersten Kindheit, die sie bereits vergessen 
hatten, aber ungezwungen als vollkommen wahr anerkannten. 

Unter anderem erzählte ich, wie ich zum erstenmal zum Mittagstisch mit 
meinen Brüdern zugelassen wurde; ich erinnerte mich an die Mutter, wie sie 














Libido-Mneme, Mystizismus und Hellsichtigkeit bei einem Kinde 405 


die Speisen austeilte, wie sie bekleidet war, an ihre Ungeduldgesten, an ihre 
Verweise an die Kinder, und zwar mit erstaunlichen Details. Ich war damals 
kaum zwanzig Monate alt; wenige Jahre später verlor ich die Mutter, 
Als ich zwei Jahre alt war, befand ich mich eines Tages im Garten, 
im Arme meines Kindermädchens, während mein Vater den Besuch eines ihm 
befreundeten Generals erhielt. Das Knäblein gefiel diesem Herrn so sehr wegen 
des Lichtes, das ihm in den Augen glänzte, daß er es am folgenden und noch 
an den anderen folgenden Tagen zu sich ins Haus einlud, damit es mit seinem 
eigenen, gleichaltrigen Töchterchen spiele. Ich erinnere mich, eine eigen¬ 
tümliche Gemütsbewegung empfunden zu haben, als ich mit dem 
Mädchen zusammentraf: als Beweis dafür gelte die Tatsache, daß ich jedes¬ 
mal, wenn ich mein Haus verließ, um zu ihr zu gehen, das mächtige Be¬ 
dürfnis verspürte, Blumen im Garten zu pflücken und sie ihr zu 
bringen. Übrigens erwachte in mir sehr frühzeitig die Liebe zu den Blumen 
(amatores anrnnt ß>ores): so zwar, daß ich ganz spontan im Garten Blumen 
pflückte, um sie den Dainen und Mädchen, die in unserem Hause verkehrten, 
darzubieten. Diese meine Neigung zeigte sich besonders lebhaft von meinem 
achten bis zum fünfzehnten Lebensjahre* 


)) Alter von vier bis zehn Jahren. Mystizismus und Hellsiektigkeit. Ansätze 

von präpuberaler Sexualität 

Als ich mich eines Tages, im A lter von vier Jahren, in einer von Blumen 
und Laub bedeckten Rotunde befand und nicht im entferntesten über die wirt¬ 
schaftliche Lage meiner Familie (die damals günstig war, aber sich vierzehn 
Jahre später jäh verschlechterte) unterrichtet war, fühlte ich mich durch 
eine innere Macht, durch eine aus der Tiefe meiner Seele kommenden 
Eingehung bewogen, laut zu dem Höchsten zu beten, daß er sich 
mit Güte meiner Familie annähme an dein Tage, da alle Reichtümer 
verschwunden sein würden (und das tat ich auch und wurde von 
den Eltern gehört, die verwundert herbeikamen)* 

So auch, im Alter von kaum acht bis zehn Jahren, fühlte ich mich durch 
eine intuitive Betrachtung der leiblichen und geistigen Eigenschaften meiner 
Brüder, mit innerem Schmerz dazu gedrängt, mir selbst ihre Zukunft voraus¬ 
zusagen: indem ich jedem einzelnen jenes Schicksal prognostizierte, das sich 
dann auch im wirklichen Leben einstellte. Schon in jenem Alter war ich 
körperlich vorzeitig entwickelt: hochgewachsen, stark und kräftig in den Spielen 
und war vergnügt wegen des Wohlstandes der Familie; dennoch fühlte ich einen 
Zwiespalt zwischen meinem physischen Leibe und meiner geistigen Tätigkeit, 
wodurch es in mir zu einem Zustande schmerzlicher Erwägungen und Un¬ 
sicherheit kam* 

Im Alter von sieben Jahren, als ich in der Turnhalle Stangenklettern 
übte und bis zu einer gewissen Höhe gelangt war, war ich gezwungen, herab¬ 
zusteigen, weil ich beim Aufstieg in einen so lebhaften Orgasmus versetzt wurde, 
daß ich ihn nicht ertragen konnte* Obwohl dieser Orgasmus schmerzvoll war, 






406 


Prof. M. Levi Bianchini 


bereitste er mir gleichzeitig eine Lustempfindung von unzweifelhaft sexueller 
Natur, gegen welche sich der geistige Teil meines Wesens auflehnte. Unter¬ 
dessen war ich im Hause aufgewachsen und erzogen worden; damals wurde 
ich in die von Mönchen geleitete Anstalt geschickt, liier (ich war gerade 
acht Jahre alt geworden) lernte ich die religiösen Übungen und damit auch 
die Beichte kennen. Der Beichtvater der Anstalt ist noch am Leben und ist 
gesund. Erfragte mich öfters bei der Beichte: „ob ich mich berührte", auf 
welche Frage ich, oft mißgelaunt, wahrheitsgemäß mit „Nein“ antwortete, um 
so mehr, als ich nicht genau deren Sinn verstand. Eines Tages vertraute ich einem 
älteren Kameraden — auch dieser lebt und ist gesund — die merkwürdige Frage 
an. Dieser antwortete mir: „Wie, kannst du es nicht machen? und führte 
mich an einen einsamen Ort, wo er mir die Missetat von Onan zeigte, die natürlich 
nicht begangen wurde. In dieser ganzen Zeit und auch später entwickelte sich in 
mir, wie gesagt, in stärkerem Maße die Liebe zu den Blumen und das Be¬ 
gehren, sie einem Weibe zu verehren; dieser Wunsch war noch 
lebhafter als das verborgene und gebieterische Verlangen, das Weib 
zu berühren und zu küssen, als Vorbereitung zu ihrer Eroberung. 

4) Alter von dreizehn Jahren . Z eit der Geschlechtsreife und der Sublimierung 

Mit zwölf Jahren, sicher vor Beendigung meines dreizehnten Lebensjahres, 
war ich physisch bereits so stark entwickelt, daß mein Alter allgemein auf 
sechzehn Jahre geschätzt wurde: ich war kräftig herangewachsen, herkulisch 
gebaut, geschlechtsreif. Ich verspürte damals fast bewußt die Herrschaft der 
Sexualität bis in meine innersten Fasern: die männliche Potenz hatte sich mir 
im höchsten Grade enthüllt, ich fühlte mich zielbewußt zur Eroberung und 
zum Sexualaktc* hingetrieben. In meiner Seele entwickelten sich vollkommen 
jene unzähligen neuro-psychischen Allgemeingefühle des Vorspieles der Liebe, 
welche bis dahin unbestimmt waren: und zwar das Erzittern und der Blut¬ 
andrang, die Wallungen und die Zuckungen, die Herzbeklemmung und die auf- 
dämmernden Entbehrungsgefühle: wahrend in der höchsten Lust der 
Sublimierung der stets reine und mystische Geist die fleischliche 
Versuchung von sich wies und bei den grünen Pflanzen Erquickung, 
in der symbolischen Reinheit der unschuldigen Blumen Zuflucht 
suchte. 

Aber die Macht der Natur triumphierte rasch über die Widerstände des 
frühreifen, unschuldigen Jünglings* Eines Abends, nachdem ich in meinem 
Zimmer in das große Bett, wo ich mit meinem jüngeren Bruder zu schlafen 
pflegte, mich niederlegte, wartete ich, bis dieser fest eingeschlafen wäre* Da 
glitt ich still und verstohlen vom Bette herunter, durchquerte zwei Zimmer, 
deren Stille nur durch mein stürmisches Herzklopfen hätte unterbrochen werden 
können, erreichte das Bett des schlafenden Kindermädchens, das mich schon 
seit langem liebte: ich weckte es zitternd «auf und besaß es dann ganz, in 
ungestümer Art, in vollkommenem Beischlafe. Seit dieser Zeit fuhr ich fort, 
den mir erschlossenen göttlichen Liebesakt zu pflegen, jedesmal, wenn sich mir 
dazu Gelegenheit bot, was oft der Fall war. 








Libido-Mneme, Mystizismus und Hellsichtigkeit bei einem Kinde 407 


Im Alter von dreizehneinhalb Jahren erkrankte ich an Bauchtyphus 
mit hohem Fieber und Delirien. Unter dem Einflüsse einer Fieberakme, während 
ich mich allein mit dem Kindermädchen befand, das bei mir wachte, führte 
ich den Beischlaf aus — den letzten mit ihm. Ich genas vom Typhus voll¬ 
kommen. Mit fünfzehn Jahren trat ich in das Militärkolleg ein, mit siebzehn 
Jahren in die Militär sch ule. Vom letzten Beischlafe mit dem Kinder¬ 
mädchen bis zu meiner Ernennung zum Unterleutnant habe ich 
mich keinem Weibe genähert; als Offizier nahm ich den Sexualverkehr 
feurig wieder auf; mit sechsundzwanzig Jahren verheiratete ich mich und 
hatte Kinder. Nichts anderes, außer ein stets wachsender Mystizismus, kenn¬ 
zeichnet die fast banale Regelmäßigkeit meines übrigen individuellen und sozialen 
Lebens bis zum heutigen Tage. 

III 

In der Literatur findet man nicht selten Fälle von morphologischer 
Frühreife der Geschlechtsorgane; hingegen scheinen die Fälle von psycho- 
sexueller Frühreife viel seltener zu sein: aber meines Erachtens hängt dies 
damit zusammen, daß die morphologische Inspektion durch das Auge und 
der Forschung viel Zugänglicher ist als die psychoanalytische Untersuchung. 

Zu den augenfälligsten Fällen von frühreifer Männlichkeit muß jener 
von Visöky (1) 1 gerechnet werden; es handelt sich um ein Kind, das mit 
drei Jahren bereits ein Körpergewicht von 37 Kilogramm und eine Körper¬ 
höhe von 137 Zentimeter erreicht hatte; der Penis ( portia pendu.la.ris) war 
9—10 Zentimeter lang; das Volumen seiner Testikel betrug 4 X 2 Zenti¬ 
meter; der mons pubis war behaart, seine Stimme hatte eine männliche 
Klangfarbe. Es bestanden aber weder Ejakulation, noch Onanie, noch 
sexuelle Aggressivität. Die Radiographie ergab keine sichtbaren Verände¬ 
rungen des Türkensattels (sella turcica). Visöky denkt an eine pluriglandu¬ 
läre Entstehung dieser Erscheinungen (Zirbeldrüse, Nebenniere). Dieser 
Fall ist jenen Fällen von frühreifer Makrogenitosomie analog, die zuerst von 
Pellizzi (2) und später von vielen anderen Autoren beschrieben wurden: 
Bernhardt, Ziehen, Hudovernig und Popovich, Ongle, Oestreich 
und Slowyk, Frankl-Hochwart und Gutzeit usw., welche von 
Bandettini di Poggio zitiert werden (3); Zondek (4), Leroboullet (5), 
Noböcourt (6), Pende (7), Sdzary (8) und jenen anderen, viel selteneren, 
primär testikulären und ovarialen Ursprunges (die Fälle von Sacchi, 
Riedel, Guibal, Sampson, Cushing, von Pende zitiert). 

Im allgemeinen jedoch, wie stark auch hei solchen Individuen die pri¬ 
mären und sekundären Geschlechtscharaktere morphologisch entwickelt sein 


1) Ziffern in Klammem siehe Literaturverzeichnis am Schlüsse dieses Artikels. 









408 


Prof, M. Levi Bianchini 


mögen, und damit auch der übrige Körper, so bleibt in der Regel die 
geistige Entwicklung und die psychosexueile weit hinter der somatischen 
zurück. Deshalb behalten diese Individuen angesichts ihres frühreifen 
physischen Alters, ihr normales, d, h. infantiles psychische Alter: welches 
in vereinzelten Fällen „wenn unter gewissen Bedingungen die Libido sexualis 
auftritt, groteske und ungeschickte Posen an nimmt (Zondek), Es scheint 
überdies nachgewiesen zu sein, daß die frühzeitige sexuelle Erregung mehr 
zu jener frühreifen Pubertät in Beziehung steht, deren Auftreten an die 
Funktion der Nebennierenrinde gebunden ist und, wie es bekannt ist, das 
weibliche Geschlecht bevorzugt. In anderen Fällen kann es wiederum in 
einem bestimmten Alter, bei solchen Makrosomikern, zu einem Stillstände 
der gesamten morphologischen (Linser, Maller. Klein, von Pende zitiert) 
und psychischen Entwicklung kommen (Imbezillität, Idiotie: Fälle von 
Moreau, Wood, Hofaker, von Pende zitiert). Wohlbekannt ist ebenfalls 
der von Wilsung (19) berichtete Fall, von einer gewissen Anna Nummen- 
thaler, in Trachselwald bei Bern im Jahre 1751 geboren, welche mit zwei 
Jahren die Menstruation hatte, mit acht Jahren schwanger wurde und mit 
neun Jahren, nach Ablauf des normalen Termins, ein Mädchen gebar. 
Aber ohne auf die Suche nach Abarten und Sonderheiten zu gehen, kann 
ich berichten, mit eigenen Augen hei primitiven, noch heute lebenden 
Rassen von Zentralafrika, während meines Aufenthaltes auf dem Kassai 
und dem Sankuru, im Jahre 1901, achtjährige syphilitische Mädchen und 
zehnjährige Mütter gesehen zu haben: und daß im allgemeinen die Puber¬ 
tätsreife des Weibes in diesen peritropikalen Gegenden um drei bis fünf 
Jahre und auch mehr der Pubertätsreife der Zivil Völker vorangeht. 

Es scheint indes sicherer nachgewiesen zu sein, daß das „Sexualempfintlen“, 
um einen Ausdruck von Havelock-Ellis (9) zu gebrauchen, unabhängig 
von der Genitalreife und außer dieser bestehen kann; es kann bei fehlenden 
oder verkümmerten Geschlechtsorganen (oder Teilen derselben) auftreten, 
es kann vor deren Reife vorhanden sein und nach deren chirurgischer 
Entfernung oder nach dem Erlöschen ihrer spezifischen physiologischen 
Funktion (hereditäre Fixierung) Fortbestehen. 

Die psychoanalytischen Untersuchungen von Freud (to) haben auf die 
Bildung und Entwicklung der präpuberalen Psychosexualität neues Licht 
geworfen und die von mir gesammelten autobiographischen Fragmente 
bieten, möchte ich sagen, einen weiteren, bescheidenen, bestätigenden 
Beitrag, 













Libido-Mneme, Mystizismus und Hellsichtigkeit bei einem Kinde 


409 


IV 

Das Saugen an der Brust (erogene Zone par excellence ) ist sowohl im 
unmittelbaren, als auch im teleologischen Sinne „die Befriedigung eines 
Triebes" und folglich eine „Verwirklichung von Lust", Ich selbst habe 
wiederholt auf die Identität von „Lust" und „archaischemTriebe" hingewiesen 
(Levi Bianchini, 1i, 13) und folglich auch auf die Zweckmäßigkeit* die 
„Libido" auch in dem allgemeineren Sinne von Besetzungsenergie („bio¬ 
logische Lust", Jung, 12) aufzufassen. Wenn es einerseits unleugbar 
ist, daß die „Lust" nicht nur „sexuell" ist, so ist es ebenso wahr, daß in 
einer unendlichen Reihe von „Lustempfmdungen" die bewußten, aber vor 
allem die unbewußten Zusammenhänge der Lust mit der Sexualität, d. h. 
der „biologischen Libido" mit der „Sexuallibido", sehr alt und tiefgehend 
sind. Eine der breitesten und naheliegendsten Bestätigungen dafür finden wir 
in den Spielen (Gr00s, 14, 15)» d. h. in Turnieren, in Wettspielen und 
Wettkämpfen (Bovet, iß), welche der primitive und moderne Mensch, 
in den mannigfaltigsten Arten (in Geschicklichkeiten, Turnen, Olym¬ 
piaden, Sport, Fechten), aber mit eindeutigerem Ziele, in genau der¬ 
selben Weise wie die Tiere, vereint mit Tanz und Gesang (Havelock- 
Ellis) zu sexuellen Zwecken pflegte, als Abkömmlinge der ersten „Psy- 
choiden" in der Richtung der Sexualität selbst. (Ich gebrauche den Aus¬ 
druck von Driesch, der von Bleuler (17) in die Psychiatrie eingeführt 
wurde, um die unklare psychologische Projektion der Funktionen der 
organischen Systeme auf die dynamische Tätigkeit der Zerebration zu 
bezeichnen.) 

Vom kritischen und doktrinären Gesichtspunkte also, wie auch von dem 
der psychoanalytischen Praxis, ist eine frühreife Libido-Mneme nichts Neues: 
wie denn auch die „Fixierung" an die Mutterbrust, als erogene Zone, 
nichts Neues ist, was beim Kinde einen sexuellen Parti alt rieb bewirkt: 
ebenso deren Überdeterminierung und Überschätzung, als Element, 
das im Pubertätsalter und beim Erwachsenen die sexuelle Vorlust, sei 
sie vollkommen oder nicht, auslöst. 

Die Libido Mneme ist das Resultat von erotischen und sexuellen Ein¬ 
drücken, sei es, daß sie vom somatischen (aktives oder passives: sadistische 
oder masochistische Orientierung usw.) T oder vom visuellen Erleben des 
Subjektes (Schauspielen, welchen er beigewohnt hat; Schaulust usw.) 
herriihren* Ein von Freud (18) analysierter Patient, ein junger Neurotiker, 
mit schwerer erblicher Belastung (der Vater litt an periodischer Melan¬ 
cholie, ein Onke! väterlicherseits an Zwangsneurose, eine Schwester beging 





Prof. M. Levi Bianchini 


410 

Selbstmord infolge Dementia praecox?) berichtete in der psychoanalytischen 
Behandlung über einen Angsttraum, den er im Alter von vier Jahren hatte 
und an den er eine klare Erinnerung bewahrt hatte. Aus der Analyse ging 
hervor, daß er im Alter von eineinhalb Jahren (streng nachgewiesen) Zeuge 
einer vollständigen Sexualszene zwischen seinen Eltern (coitus more ferarum) 
war, als er an einem Sommernachmittage im ehelichen Schlafzimmer 
schlafen gelegt wurde. Diese Urszene (siehe Ges. Schriften, Bd. VIII, S. 475) 
übte eine so nachhaltige Wirkung auf seine (natürlich unbewußte) Orien¬ 
tierung der Sexuallibido, daß er, nach Erreichung der Phase des Primates 
der Genitalzone (Pubertätsreife) den Sexualakt unter einer Bedingung (dessen 
Triebfeder dem Bewußtsein unbekannt war) ausüben mußte, die erst 
während der psychoanalytischen Behandlung bewußt gemacht und von ihm 
vollkommen angenommen wurde. Diese Bedingung war eben folgende: 
Die Reproduktion der Koitusstellung, die er zum ersten Male 
(Urszene) gesehen hatte. „Das Weib (sagt wörtlich Freud, S. 478) 
mußte jene Stellung einnehmen, die die Mutter in der Urszene einge¬ 
nommen hatte. Schon vom Pubertätsalter an, bildeten große, vorspringende 
Nates für ihn den stärksten Reiz zum Begehren eines Weibes: ein, in 
anderer Weise als more ferarum ausgeübter Koitus, bereitete ihm fast gar 
keine Lust. Wir dürfen annehmen, daß eine solche sexuelle Bevorzugung 
der hinteren Teile ein allgemeiner Charakter der 2ur Zwangsneurose 
disponierter Subjekte sei, und nicht nur das Derivat eines bestimmten in¬ 
fantilen Eindruckes: man könnte in der lat annehmen, daß diese zur 
anal-erotischen Veranlagung und zu jenen archaischen Zügen, die 
sie kennzeichnen, gehöre. Es wäre auch die Annahme am Platze, daß die 
Stellung a posteriori, more ferarum, die phylogenetisch ältere Form des 
Mechanismus der Koitusstellung gewesen sei.“ 

Und wenn übrigens die Vermutung logisch ist, daß in einem sehr früh¬ 
reifen Alter die Fähigkeit des Gedächtnisses, Erinnerungen festzuhalten, 
sehr beschränkt ist (wiewohl dies nur zum Teil richtig- ist, Stern, 22), 
daß das Engramm einer sexuellen Szene vom „Bewußtsein verschwinden, 
daß der Sinn der Szene nicht verstanden sein kann, so ist es ebenso durch 
die Technik und durch die Erfahrung der Psychoanalyse nachgewiesen, 
daß die Affektbesetzung an einem Vorstellungskomplex x gebunden 
ist und auch im zartesten Alter sich in das Unbewußte zurückziehen kann 
(charakteristisch dafür ist eben die höchste Empfindlichkeit und die Affekt¬ 
erregbarkeit: Delgado, 21), daß die Affektbesetzung lebhaft und dauernd auf 
die Traumarbeit, auf die Reaktivierung von affektbesetzten Situationen, 










Libido-Mneme, Mystizismus und Hellsichtigkeit bei einem Kinde 


411 


auf die Regression, auf die Gestaltung der Entwicklungsetappen der prä- 
genitalen Sexualität und auf die Endgestaltung der Pubertätssexualität Ein¬ 
fluß nehmen kann. 

In dieser Beziehung ist die Analyse eines von Schilder (52) berichteten Falles 
von Schizophrenie recht instruktiv, bei welcher im Grunde des autistischen 
Denkens des Subjektes, ein infantiler, bis zum Säuglings alter regredierter 
Sadismus stand, der sich in der Folge auf die Elemente der schizophren 
gewordenen Zerebration verschoben hatte (Mutterbrust, Saugen und 
deren phantastische Entstellungen), (Mit diesem Gegenstände haben 
sich noch Starcke, Federn, Abraham befaßt.) 

So wie also die an die Urszene gebundene Affektbesetzung in dem 
von Freud berichteten Falle derart im Unbewußten verankert blieb, daß 
sie in der Folge, durch das ganze Leben das Engramm der physischen 
Situation, an die sie gebunden war, wiedererweckte und sie im Deter¬ 
minismus der postpuberalen psychosexuellen Mechanik aufdrängte, ebenso 
a fortiori, blieb dieselbe Besetzung, die an eine analoge Urszene gebunden, 
aber „psychologischer 11 war (Stillung an der Brust der Mutter und der Gauklerin), 
im Unbewußten unseres Subjektes fixiert. Mit dem Unterschiede jedoch (zu 
seinen Gunsten und zugunsten der Endgestaltung des Genitalprimates), daß 
die Urszene einen biologischen Grundakt vorstellte, das Saugen an der Brust. 
Dieser Akt ist übrigens auch beim Erwachsenen sehr allgemein fixiert: sowohl 
als verschobene Reaktivierung der archaischen Libido im aktiven Sinne, 
d, h. vom Standpunkte des Mannes (Verschiebung nach oben), als auch 
als Sexualanspruch von seiten des Weibes, welches schon in der prägenitalen 
Periode, später in der peripuberalen Periode (Entwicklung der Brüste) die 
Bedeutung dieser erstklassigen erogenen Zone kennen lernt (Mechanische 
Reibung in der Kindheit, Bäder, Streicheln, Kleidungsstücke, Menstrualturgor 
der Brüste und Erektion der Brustwarzen mit der entsprechenden starken 
Libido; halb unbewußte pseudohomosexuelle Praktiken mit gleichaltrigen 
Mädchen zur Zeit der Endgestaltung der Geschlechtsorgane usw.). 

In einem anderen, von Freud (26) berichteten Falle, erzählte eine 
Patientin folgende infantile Erinnerungen: 

Alter von sechs bis neun Monaten. Ich im Kinderwagen. Zumeiner 
Rechten zwei Pferde: eines von diesen ist braunfellig, es kommt mir sehr 
groß und stark vor. Es macht auf mich einen großen Eindruck und er¬ 
weckt in mir die Empfindung, als ob es ein Mann wäre. 

Alter von einem Jahre. Papa und ich im Volksgarten. Ein Auf¬ 
seher reicht mir in die Hand einen kleinen Vogel. Seine Augen sind 





Prof. M. Levi Bianchini 



412 


so süß, daß ich fast das Gefühl habe, daß er ein menschliches Wesen wie 


ich sei. 


Alter von vier Jahren. Wenn man ein Schwein schlachtet, so schreie 
ich um Hilfe und sage, man töte einen Mann. Ich weigere mich seit 
damals, Fleisch zu genießen: jedesmal, wenn ich Schweinefleisch sehe, 
muß ich erbrechen. 

Alter von fünf Jahren, Die Mutter gebiert und ich höre sie schreien. 
Ich habe den Eindruck, als ob ein Tier und ein menschliches Wesen sich 
in Todesgefahr befänden: und dieser Eindruck war der gleiche wie der, 
den ich hatte, als man das Schwein schlachtete. 


V 


Was den Mystizismus unseres Erzählers an langt, der in einem Alter, 
in dem er nicht zu erwarten wäre, auftrat, so wissen wir auch, daß er 
in der Form von Pietismus, Mitleid, Religiosität, auch bei nicht mysti¬ 
schen, aber einfach neurotischen Individuen vorkommt. Auch der Kranke 
von Freud ( 1 . c. S. 450) gerade im Alter von vier Jahren, im Alter 
unseres Patienten also, „wurde eine Zeitlang sehr fromm (nachdem 
er an starken Tierphobien gelitten hatte und sich bei ihm, aus seiner 
ambivalenten Einstellung zum Vater heraus, deutliche zwangsneurotische 
Symptome gebildet hatten). Vor dem Einschlafen mußte er lange Zeit beten 
und sich unzählige Male die Brust bekreuzigen. Andere Male wiederum 
nahm er einen Sessel, stieg auf diesen und ging vor allen Heiligenbildern, 
die an den Wänden hingen, im Kreise herum und küßte andachtsvoll 
jedes einzelne von diesen . . . Andere Male wiederum mußte er ein merk¬ 
würdiges Zeremoniell ausüben, wenn er Bettlern, Krüppeln und alten 
Leuten, die bei ihm großes Mitleid erweckten, auf der Straße begegnete. Er 
mußte dann (geräuschvoll atmen 1 , um nicht wie diese zu werden; oder, 
unter anderen Umständen, mußte er mit Gewalt den Atem anhalten . . . 

Noch häufiger finden wir einen frühreifen Mystizismus bei Kindern, 
die in der Folge in der Tat Bigotte, Fanatiker, große Mystiker, Heilige 
werden. Ein Beispiel dafür (neben vielen anderen) die heilige Katharina, 
die heilige Maria Maddalena de Pazzi (31) und vor allem das Leben der 
heiligen Teresa (20), deren Autobiographie eine unerschöpfliche Fund¬ 
grube von derartigen Beobachtungen ist (Levi Bianchini, 23). »Mit einem 
gleichalterigen Bruder (erzählt die Heilige im ersten Kapitel von ,Su Vida‘, 
auf ihr Alter zwischen sechs und zehn Jahren Beziehung nehmend) vertiefte 
ich mich in die Lektüre des Lebens der Heiligen . . ., ich wünschte in 














Libido-Mneme, Mystizismus und Hellsichtigkeit bei einem Kinde 4 X 5 


derselben Weise wie diese zu sterben , . . Wir gingen auf die Suche nach 
Mitteln, die uns die Erfüllung unserer Gelübde verschaffen könnten und 
machten Pläne, wie wir zu den Mauren hinübergehen und aus Gefälligkeit 
und um der göttlichen Barmherzigkeit willen flehen könnten, daß man uns 
köpfe * . es schien mir, daß mir der Herr, trotz meines zarten Alters, 
dazu den Mut geben würde * * f (y pareceme que nos daba al Senor dnimo 
en tan tierna eddd . . J 1 

VI 

Von ihren eigenen Voraussetzungen ausgehend (Sondierung des Unbe¬ 
wußten), hat die Psychoanalyse versucht, auch die Erscheinungen von Hell¬ 
sichtigkeit sich zu erklären (Freud, 26, Hitschmann, 2/ ? Stekel, 29), und 
zwar mit Hilfe viel einfacherer und mehr psychologischer Mechanismen, 
als es die geistreichen, aber immer unhaltbaren Hypothesen der Metapsychik 
sind. Die vorsichtigsten Forscher, wie z. B. Eichet (24) beschränken sich 
in der Tat auf die Annahme, daß die Hellsichtigkeit zur ersten jener 
Gruppen metapsychischen Erscheinungen gehöre (Kryptasthesie, Telckincsie, 
Ektoplasmie), deren Existenz nunmehr unbestritten und deren Beweis¬ 
führung unbestreitbar zu sein scheint, wie sehr auch Richet selbst, dem 
wir in dieser Beziehung die sicherlich unparteiischeste und strengste Arbeit 
verdanken, sich weigere, eine stichhaltige Erklärung dafür zu geben oder 
zu suchen. Der hervorragende Metapsychist schließt seine zwei ersten, 
der Kryptasthesie gewidmeten Bücher seines Werkes mit folgendem trostlosen 
Bekenntnis: 

„II existe des faits averes, indiscutables, de premonition. Uexplication 
viendra (ou ne viendra pas) plus tard • Les faits n f en sont pas moins lä 9 
authentiqueSy irrecusables. II y a des premonitions , Sont~eUes dues ä la 
force seule de V Intelligence humaine, ou ä d’autres forces intelligentes agis- 
sant sur notre intelligente mime? 11 est impossible actuellement d'en decider. 
Contentons nous dlahord de rapporter exactement les faits . , - 

Die Psychoanalyse ist nicht so pessimistisch: sie wagt es, einen Schritt 
weiter zu gehen und sucht die ideo-affektive Entstehung einiger 
erfolgten Weissagungen, welche unter der eigenen Beobachtung 
vorgefallen sind, in der dynamischen Tätigkeit des Unbewußten. 
Sie erhebt keinerlei Anspruch auf Verallgemeinerung, aber bietet, aus den 

1) Über die enge Verwandtschaft zwischen Mystizismus und Neurose haben schließlich 
viele Autoren mehr oder weniger den Gegenstand betreffend geschrieben (Murisier, 25, 
Leuba, 28) und ich selbst habe in der oben zitierten Arbeit über die heilige Teresa (25) 
darauf hinge wiesen. 







Prof. M. Levi Bianchini 


414 

eigenen persönlichen Deutungen der allgemeinen Erfahrung die Elemente, 
wie bescheiden diese auch sein mögen, und ladet in offener Weise ein, diese 
zu kontrollieren und darüber zu diskutieren. 

Hitschmann {26) berichtet z. ß. über eine eigenartige Episode von 
Hellsichtigkeit, welche er selber hatte, gelegentlich eines Ballonaufstieges 
zweier Brüder, die einen selbstkonstruierten, lenkbaren Luftballon be¬ 
dienten. Es war an einem Sonntagnachmittag. Hitschmann, der den 
lebhaften Wunsch hatte, dem öffentlichen, seit einigen Tagen angekündigten 
Schauspiele beizuwohnen, befand sich in einem seelischen Zustande von 
einer gewissen Unzufriedenheit, weil eine höhere Macht sich der Erfüllung 
seines Wunsches widersetzte: diese höhere Macht bestand darin, daß sowohl 
er selbst, wie auch sein Bruder sich verpflichtet sahen, zu Hause zu bleiben 
und der alten Mutter Gesellschaft zu leisten — was an Feiertagen fast immer 
der Fall war. Also, bei Tische sitzend, und gerade um die Zeit, als der 
Aufstieg stattfand, bei welchem sich der Unglücksfall ereignete, wovon 
Hitschmann bald darauf auf der Straße die Bestätigung erhielt, hatte er 
den bestimmten Gedanken, „daß einer der Piloten aus dem Ballon heraus¬ 
geschleudert werde“: welches Ereignis tatsächlich in derselben Stunde, in 
welcher Hitschmann den Gedanken gehabt hatte, vorgefallen war. Unter 
Ausschluß jedweder metapsychischer Hypothese gelangte Hitschmann, 
mittels der Autopsychoanalyse, zu einer Erklärung der hellseherischen 
Wahrnehmung, in einer sehr überzeugenden Art. Die Analyse wies, auf 
Grund des bewußten und wachen Gedankens nach, daß es sich um einen 
unbewußten Identifizierungsprozeß (brüderliche Eifersucht) und um den 
bewußten Wunsch, die eigene Unzufriedenheit im Schaden des Nächsten 
verwirklicht zu sehen, handelte. 

Hitschmann berichtet ferner über eine Ankündigung vom Tode des 
Vaters, worüber der Dichter Dauthendey in seiner Autobiographie erzählt, 
und findet deren unbewußte Enlstehung in einem deutlichen Ödipus- 
Komplex (ambivalente Einstellung zum Vater). 

Durch Freuds (26) Mitteilung über die Beziehungen zwischen Traum 
und Hellsichtigkeit wird ein „psychodynamischer“ Weg (d. h. einfach psycho¬ 
logisch im biologischen Sinne des Wortes), welcher die Deutung der Krypt- 
ästhesie (wohlgemerkt ist auch das Unbewußte kryptoplastisch, d, h. es 
wirkt ohne das Wissen des Bewußtseins) eröffnet, der den sogenannten meta¬ 
psychischen Deutungen ohne Zögern vorgezogen werden müßte, Deutungen, 
die eigentlich metaphysisch, oder, wie ich sagen möchte, ana-physisch, 
d. h. vollkommen beziehungslos zu den bisher bekannten energetischen 













Libido-Mneme, Mystizismus und Hellsichtigkeit bei einem Kinde 


4*5 


Gesetzen sind. Mit vollem Recht sagt Freud, daß wir in den Deutungs¬ 
versuchen der Weissagung mittels der Dynamik des Unbewußten, nur ver¬ 
ständliche Möglichkeiten an die Stelle des Unbekannten und Unverständ¬ 
lichen setzen. Und wenn auch die Telepathie nichts mit dem Wesen des 
Traumes zu tun hat, noch in keiner Weise unser analytisches Verständnis 
des Traumes selbst vertiefen kann, die Psychoanalyse kann dagegen einen 
neuen Antrieb zur Erforschung der Telepathie geben, indem sie einige 
unverständliche Elemente der telepathischen Erscheinungen, dank ihrer 
Deutungen, unserem Verständnisse näher bringt. 

Auch bei den Fällen von Freud (26) handelt es sich nm Weissagungen 
im Traume und im Wachzustände, Ein wiederverheirateter Witwer hat 
eine einzige, in Berlin verheiratete Tochter erster Ehe, welche ihrer baldigen 
Niederkunft entgegensieht. Er träumt eines Nachts, daß seine zweite Frau 
ihm Zwillinge gebiert. Tatsächlich, zwei Tage später, brachte ihm ein 
Telegramm seiner Tochter die Nachricht, daß sie Zwillinge geboren hatte, 
und zwar drei Wochen vor dem von der Familie (falsch?) berechneten 
Termin. Ein anderes Mal, fünfundzwanzig Jahre früher, er befand sich im 
jugendlichen Alter, wurde ihm eigenhändig vom Briefträger eine Postkarte 
überreicht und, ohne auf die Handschrift des Absenders zu schauen, hatte 
er ausgerufen: „Es ist die Anzeige vom Tode meines Bruders“; und das 
war tatsächlich der Fall gewesen. Der psychoanalytischen Erfahrung gelingt 
es nicht schwer, im ersten Falle die so allgemeine Gefühlsbindung des 
Ödipus-Komplexes zwischen Vater und Tochter, und den unbewußten 
Komplex: „Meine Tochter hätte meine zweite Frau werden sollen“ aufzu¬ 
decken; so wie in der zweiten Weissagung das Element „brüderliche Eifer¬ 
sucht“ des Familienromans hervortritt analog dem von der Weissagung 
Hitschmanns. 

Der zweite Fall von Freud betrifft eine sehr intelligente, siebenund¬ 
dreißig jährige, neurotische Patientin, die älteste von zwölf Geschwistern, 
welche von einem Traume, der mit unbedeutenden Variationen in seinen 
Einzelheiten, aber im Kerne identisch, sich öfters wiederholte, seit mehr 
als zwanzig Jahren geplagt wurde (d. h* seit ihrem Pubertätsalter). Es ist 
ein sehr bekannter Geburt st raum: Land, Wasser, Baumstamm, ein Mann 
im Wasser, Rettung: d, h. Beischlaf, Schwangerschaft, Geburt. Auch dieser 
Traum stand im engen Zusammenhänge mit dem Ödipus-Komplex 
(Vaterfixierung und Identifizierung mit der Mutter). Diese Frau hatte einen 
Bruder im Felde. Am 23. August des Jahres 1914t um 10 Uhr vormittags, 
hört sie den Bruder „Mutter, Mutter“ rufen. Auch die Mutter, welche 





Prof. M. Levi Bianchini 


416 

sie zwei Tage später sieht, ist stark beunruhigt, weil sie dieselben Worte im 
selben Moment gehört hatte. Einige Wochen später kommt die Nachricht, 
daß der Bruder, respektive der Sohn, tatsächlich in der Zeit der bewußten 
Halluzinationen der Schwester und der Mutter im Felde gefallen ist. 

Bei einer anderen Gelegenheit, während ihres Aufenthaltes in einem 
Sanatorium, hörte sie einige Schläge am Bette einer Leidensgefährtin, welche 
deren Tod ankündigten. Sie hatte im gewöhnlichen Leben eine Freundin, 
welche ihr besonders lieb war, die an einen Witwer mit fünf Kindern 
verheiratet war. „Jedesmal, wenn sie zu ihr ins Haus kam, um sie zu 
besuchen, sah sie eine Frau im Zimmer erscheinen und wiederum ver¬ 
schwinden“ (die erste Frau des Witwers). 

In beiden Fällen ist es leicht, die Elemente des Familienkomplexes 
aufzudecken. Im ersten Falle vertritt die Patientin ihre Mutter, ist aber 
gleichzeitig die Rivalin des Bruders. Im zweiten Falle identifiziert sie sich 
mit der wiederverheirateten Freundin, mit dem Typ Gattin, also mit der 
Mutter (Gattin des Witwers, Gattin des Vaters). 

Es resultiert also, daß alle analytisch gedeuteten Weissagungen einen 
engen Zusammenhang mit dem Üdipus-Komplex aufweisen, der, wie 
bekannt ist, der Zentralkern der psychosexuellen Entwicklung des Kindes 
bildet und der historische und archaische Orientierer der psychischen primi¬ 
tiven (individuellen und sozialen) Konstitution ist. (rotem und dabu in den 
Clans der Stämme; Pubertäts-, Buße- und Eheriten.) 


VII 

Da ich die Person, die mir die autobiographischen hragmente geliefert 
hat, nicht analysiert habe, kann ich natürlich keine psychoanalytisch doku¬ 
mentierte Erklärung ihres Mystizismus und ihrer Hellsichtigkeit geben. 
Dem unvoreingenommenen Leser wird es jedoch nicht schwer fallen, aus 
den Vergleichen der Fälle von Freud, Hitschm an n und des meinigen 
lehrreiche Schlüsse zu ziehen. 

Literaturverzeichn is 

1) Visöky: Evolutio virilis praecox. Casopic Lekaruv ceskyc 1921, p- 4 ^* 

2} Pellizzi: La sindrome epifisaria macrogenitosomia prccoce. Riv. ital. di neurop. 
ecc. 1910, p. 193. 

g) Bandettini di Poggior Rapporti fra sistema nervoso e ghiandole a secrezione 
interna. Tip. Gioventfi, Genova igsi. 

4 ) Zondek: Krankheiten der endokrinen Drüsen. Springer, Berlin i9 2 3* 














Levi Bianchini: Libido-Mneme, Mystizismus und Hellsichtigkeit 


417 


5) Lereboullet ecc, Sympathique et glandes endocrines, Maloine, Paris 1921* 

6) Nob^court; Les syndromes endocriniens dans Penfance et la jeimesse» Flam- 
marion, Paris 1925. 

7) Pen de: Endocrinologia, 2/a ed, Vallardi, Milano, 

8) Sezary: Pathologie de la glande pineale in Nouveau Traite de Med, Vol. VIIL 
Massen, Paris 1925. 

9) Havelock-Ellis: Das Geschlechtsgefuhl, 5. Aufl. Kabitzsch, Leipzig 1922, 

10) Freud: Tre contributi alla teoria sessuale. Trad, Levi Bianchini, BibL Psico- 
analitiea Ital, Idelson, Napoli 1921, 

11) Levi Bianchini: La dinamica dei psichismi secondo la psicoanalisi. Archivio 
generale di Neurologie, Psiehiatria e Psicoanalisi 1922, p. 41, 

12) Jung: Versuch einer Darstellung der psychoanalytischen Theorie, Deuticke, 
Wien 1925, 

15) Levi Bianchini: Gli istinti nel sistema dei psichismi umani, Jbid. 1925/24, 
p. 109, 

14) Groos; Die Spiele der Tiere, Jena 1896, 

15) — Die Spiele des Menschen, Jena 1899, 

16) Bovet: L’instinct eombatif. Delachaux et Niestlk, Nenfchäftel 1917. 

17) Bleuler: Psychisches in den Körperfunktionen und in der Entwicklung der 
Arten, Grell Füssli, Zürich 1924, 

iS) Freud: Aus der Geschichte einer infantilen Neurose, Ges, Schriften, Bd* VIII, $. 457 

19) Wilsung: Das Schicksal der Söhne der minderjährigen Mütter, Deutsche Medizini¬ 
sche Wochenschrift 54, 1924, 

20) Santa Teresa: Ohras Escogidas, Libro de su Vida, Nelson, Londres 1912, 

21) Delgado: Algtmos aspectos de la psicologia dei nino- Lima 1922, 

22) Stern: Erinnerung, Aussage und Lüge in der ersten Kindheit, Barth, Leipzig 
1922, Die Kind er spräche. Ebenda 1922, Die Intelligenz der Kinder und Jugend¬ 
lichen, Ebenda 1920, 

25) Levi Bianchini: La simbolistica sessuale nel sogno mistico e profano, Archivio 
generale di Neurologia, Psiehiatria e Psicoanalisi, VoL VI, 1925, p. 5* 

24) Rieh et: Traite de M£tapsychique. 2 Ö Ed, Alcan, Paris 1925» 

25) Muriser: Les maladies du sentiment religieux. Alcan, Paris 190g» 

26) Freud: Traum und Telepathie» Imago VIII, 1922* (Ges, Schriften, Ed* III*) 

27) Hitschmann: Telepatia e Psicoanalisi, Archivio generale di Neurologia, 
Psiehiatria e Psicoanalisi 1925. 

28) Leuba: L Erotomanie des mystiques Chretiens* Revue Philsophique, oct. 1905* 

29) Stekel: Der telepathische Traum, Berlin (eit, nach F reu d, Tramn und Telepathie), 

50) — Die Sprache des Traumes, Bergmann, München 1922, 

51) Vaussard: Sainte Marie Madeleine de Fazzi, Lecoffre, Paris 1925, 

52) Schilder: Entwurf zu einer Psychiatrie auf psychoanalytischer Grundlage, Inter¬ 
nationaler Psychoanalytischer Verlag, Wien 1925, 


Iraag^o XII, 


27 






Okkulte Vorgänge 
während der Psychoanalyse 

Von 

Hel ene Deutsch 

Wien 

j yWenn das telepathische Phänomen aber nur eine 
Wahrnehmung des Unbewußten ist , dann Hegt ja kein 
neues Problem vor* Die Anwendung der Gesetze des unbe¬ 
wußten Seelenlebens verstünde sich dann für die Tele - 
pathie von selbst“ (Freud, Ges, Schriften, III, 304,) 

Die moderne Wissenschaft bestreitet zwar nicht a priori die Tatsache 
der Existenz sogenannter „okkulter“ Phänomene, aber sie begegnet denselben 
mit berechtigter Skepsis und verlangt Beweise und Erklärungen. 

Der Hang zum Okkulten ist eine der Erscheinungsformen jener ewigen 
Sehnsucht des Menschen, die Grenze zwischen Ich und Well zu sprengen, 
seine eigenen Gefühlserlebnisse in eine Einheit mit der Außenwelt zu 
bringen* Dies soll auf doppeltem Wege erreicht werden: einerseits werden 
die seelischen Gewalten nach außen projiziert, um in. der Außenwelt als 
„überirdische* 4 Kräfte zu erscheinen, anderseits wird durch die Beherrschung 
dieser überirdischen Mächte dem menschlichen Können selber ein mystisches, 
göttliches Vermögen zu erkannt 

So wird das Urgewaltige im Menschen, das außerhalb seines banalen 
Wissens und über seinem alltäglichen seelischen Vermögen liegende geleugnet 
und als etwas Überirdisch Göttliches bezeichnet. Dann wird es wiederum 
als das Übermenschliche im Menschen agnosziert. Durch Anerkennung 
überirdischer Kräfte in ihm selbst wird der Sterbliche auf Umwegen zu 
jener Gottheit, die er nach seinem Ebenbilde geschaffen hat* 

Die Psychoanalyse, welche die große Macht des Unbewußten im see¬ 
lischen Geschehen entdeckt hat, erforschte auch die Wege, auf denen der 











Okkulte Vorgänge während der Psychoanalyse ^jg 


Mensch allem, was aus seinem dunklen Innern kommt, auszuweichen ver¬ 
sucht. So fand sie z. B., daß er sich dort, wo das Drängen der abgewehrten 
Mächte zu stark wird, ihrer durch Projektionen zu entlasten versucht. In 
diesen Abwehrvorgängen schafft der Mensch den Geisterglauben, bekennt 
sich zu animistisehen Anschauungen, die er dann in „spiritistischen Er¬ 
kenntnissen“, „okkulten Phänomenen" usw, auffrischt. 

Die Psychoanalyse dagegen verlegt alle rätselhaften Geschehnisse im 
Menschen in die seelische Urheimat seines Unbewußten, in jenen „mysti¬ 
schen ^ Ort, aus dem sie kommen. Sie verfolgt das individuelle Erlebnis in 
jenen Fällen, in denen es sich durch das bewußte Wollen nicht erklären 
läßt, solange, bis es ihr gelingt, im inneren Geschehen die Ursprungsstätte 
und somit die Lösung des Rätselhaften zu finden. 

Eine psychologische Erscheinung zu erfassen und zu deuten, bedeutet 
für den Psychoanalytiker sie einer Zergliederung mittels der feinen ana¬ 
lytischen Technik zu unterziehen. Somit wird nur ein geringer Anteil der 
„okkulten Phänomene“ der direkten analytischen Beobachtung zugänglich 
sein. Besonders geeignet wird sich das „telepathische Phänomen" erweisen, 
wie es Freud definiert hat: „die Aufnahme eines seelischen Vorganges 
in einer Person durch eine andere auf anderem Wege als dem der Sinnes¬ 
wahrnehmung.“ 1 Der psychische Kontakt zwischen dem Analytiker und 
dem Analysierten während der Psychoanalyse ist ein so inniger, die sich 
hier abspielenden seelischen Vorgänge so mannigfaltig, daß man erwarten 
müßte, hier Bedingungen vorzufinden, die das Zustandekommen solcher 
Phänomene besonders begünstigen. Es könnte dann bei besonders genauer 
Beobachtung gelingen, einen vor unseren Augen entstehenden psychischen 
Vorgang als „telepathischen" zu erkennen und ihn mittels der analytischen 
Technik in der methodologisch ihr eigenen Weise aufzuklären. Der Wert 
so gewonnener Erkenntnisse wird vor allem darin zu suchen sein, daß es 
sich hier nicht um zusammenhanglose Vorgänge handeln wird, sondern um 
seelische Ereignisse, die in einen fortlaufenden Prozeß eingeschaltet waren 
und nur im Zusammenhang mit demselben vollinhaltlich verstanden werden 
können. Dieselben Ereignisse, aus der Ganzheit des Vorganges losgerissen, 
würden für den Außenstehenden den typisch „okkulten“ Charakter tragen 
und durch die Unmöglichkeit ihrer Deutung auch den okkulten Charakter 
dieser Phänomene wahren. Erst die Möglichkeit der Einfügung in eine Konti¬ 
nuität beraubt, whe es scheint, das „Okkulte“ seines mystischen Charakters. 


i) Die okkulte Bedeutung des Traumes. Ges. Schriften, Bd. III. 


27 * 





420 


Helene Deutsch 


Aus derartigen analytischen Erfahrungen konnte man dann weiter schließen, 
daß die „Entlarvung“ okkulter Phänomene, d. h. die Zuriickführung von 
Geheimnisvoll-Unverständlichem zum Einfach-Klaren auch außerhalb der 
analytischen Situation in derselben Weise erreicht werden kann: in der An¬ 
gliederung an eine irgendwo unterbrochene Ereigniskette, in der Ausfüllung 
von Lücken, die im Ablauf der seelischen Vorgänge entstanden sind* 

In der schon erwähnten kleinen Studie über „Die okkulte Bedeutung 
des Traumes“ sagt Freud: „Ich habe auch hei Versuchen im intimen 
Kreise wiederholt den Eindruck gewonnen, daß die Übertragung von stark 
affektiv betonten Erinnerungen unschwer gelingt. Getraut man sich, die 
Einfälle der Person, auf welche übertragen werden soll, einer analytischen 
Bearbeitung zu unterziehen, so kommen oft Übereinstimmungen zum Vor¬ 
schein, die sonst unkenntlich geblieben wären. Aus manchen Erfahrungen 
bin ich geneigt, den Schluß zu ziehen, daß solche Übertragungen besonders 
gut in dem Momente zustande kommen, da eine Vorstellung aus dem Un¬ 
bewußten auftaucht, theoretisch ausgedrückt, sobald sie aus dem ,Primär¬ 
vorgang 4 in den ,Sekundärvorgang 4 übergeht*“ 

Nun ist die psychoanalytische Situation mit ihrer Technik der freien 
Assoziationen par excellence jene, in der die „affektiv betonten Erinnerungen“ 
sich stets in statu nascendi befinden, d. h. „aus dem Primärvorgang in den 
Sekundärvorgang übergehen“. Die Bedingungen, unter denen die zweite 
Person (auf die übertragen wird), den affektiven, aus dem Ubw hervor¬ 
drängenden Vorstellungskomplex in sich aufnimmt, werden von Freud 
nicht weiter besprochen. Das oben Gesagte läßt vermuten, daß es sich bei 
diesem Vorgang um eine Reaktion im Ubw handelt, die sich erst durch 
freie Assoziationen verrät und ihren Inhalt und ihre Übereinstimmung mit 
dem Vorstellungsinhalte der Person, von der die Anregung ausgeht, erst 
bei der analytischen Bearbeitung kundgibt. Unter Voraussetzungen, die uns 
nicht klar geworden sind, die aber aller Wahrscheinlichkeit nach mit dem 
Prozeß der Übertragung — im psychoanalytischen Sinne —— Zusammenhängen, 
setzt sich sichtlich der reaktive Vorgang bei der Übertragungsperson ins 
Bewußtsein durch und wird zum Wahrnehmungsinhalte. Da die Sinnes¬ 
wahrnehmung, die sonst diesem Vorgang vorangeht, gefehlt hat, bekommt 
derselbe einen „okkulten“ Charakter. Man kann leicht vermuten, daß die 
Bedingung dieser Übertragung „affektivbetonter Erinnerungen“ in einer ge¬ 
wissen unbewußten Bereitschaft zur Aufnahme derselben liegt und daß erst 
die Erfüllung dieser Bedingung die betreffende Person als „Empfangsstation“ 
befähigt. Diese aus dem Ubw auftauchenden affektiv besetzten Vorstellungs- 











Okkulte Vorgänge während der Psychoanalyse 


421 


inhalte müssen im Ubw des andern analoge gleichsinnige Inhalte mobi¬ 
lisieren, die sich dann als innere Wahrnehmung ins Bewußtsein durchsetzen. 
Nachträglich wird die Identität der Inhalte agnosziert und dadurch bekommt 
die innere Wahrnehmung den Charakter einer äußeren. 

Die nähere Betrachtung der Vorgänge während einer Psychoanalyse läßt 
uns erkennen, daß die oben angenommenen Voraussetzungen zur Entstehung 
eines okkulten Phänomens in ihr weitgehend gegeben sind. Die folgenden 
Überlegungen sollen uns verständlich machen, an welcher Stelle der ana¬ 
lytischen Arbeit das Auftreten des okkulten Phänomens verhindert wird. 
Wir wissen, daß die Tätigkeit des Analytikers nach zwei Richtungen 
vor sich geht. Eine seiner Aufgaben—vielleicht die' wichtigere — besteht 
darin, das Material, das ihm vom Patienten in seinem dunklen Selbst¬ 
verrat und im Übertragungserlebnis geboten wird, passiv aufzunehmen. Die 
zweite Aufgabe ist die voll bewußte Erkenntnis des Empfangenen und die 
intellektuelle Verarbeitung des Materials, 

In seinen technischen „Ratschlägen“ sagt Freud: „Man halte alle be¬ 
wußten Einwirkungen von seiner Merkfähigkeit ferne und überlasse sich 
völlig seinem unbewußten Gedächtnisse.“ 1 Der Analytiker „soll dem geben¬ 
den Unbewußten des Kranken sein eigenes Unbewußtes als empfangendes 
Organ zuwenden, sich auf den Analysierten einstellen, wie der Receiver des 
Telephons zum Teller eingestellt ist. Wie der Receiver die von Schallwellen 
angeregten elektrischen Schwankungen der Leitung wieder in Schallwellen 
verwandelt, so ist das Unbewußte des Arztes befähigt, aus den mitgeteilten 
Abkömmlingen des Unbewußten dieses Unbewußte, wenn es die Einfälle 
des Kranken determiniert hat, wieder herzustellen ‘\ 2 

Dieser Vorgang im Analytiker, auf den wir im weiteren etwas näher 
ein gehen wollen, stellt eben zwischen ihm und dem Analysierten den 
Kontakt außerhalb des Bewußtseinsapparates her, wenn auch die Anregung 
des Vorganges durch motorisch-sprachliche Entladung einerseits und Aufnahme 
durch das Hörorgan anderseits vor sich ging. Was aber zwischen dem ersten 
Sinnesanreiz und der nachträglichen intellektuellen Verarbeitung vor sich 
geht, ist ein „okkulter“, außerhalb des Bewußtseins liegender Vorgang. 
Wir können von einer „unbewußten Wahrnehmung^ durch den Analytiker 
sprechen, und die Fähigkeit, dieselbe zu entfalten und zu verwerten, scheint 
sich mit dem Begriff der „analytischen Intuition“ zu decken. Diese „intuitive 

1) Ratschläge für den Arzt bei der psychoanalytischen Behandlung, Ges. Schriften, 
Bd. VI, S, 66 . 

2) A, a 0 , S, 69, 







Helene Deutsch 


422 


Einfühlung“ in den Patienten ist beim Analytiker ein Wissen, das über 
das eigene Bewußtsein hinausragt und aus unbewußten Quellen strömt: 
erst nachträglich bändigt das bewußte Wissen die intuitiven Kräfte und 
macht sie zielhaft, verkettet das Empfangene in harmonisch gebundene 
Gedanken reihen, bemeistert das „Inspirative“, indem es dasselbe in die 
nüchterne Form der banalen Erkenntnis umsetzt. Durch diesen Prozeß 
verliert der Vorgang seinen okkulten Charakter* Der Begriff „unbewußte 
(bezw. analytische) Wahrnehmung“ bekommt hier, wie wir sehen werden, 
dieselbe psychologische Bedeutung wie die „innere Wahrnehmung“* Der 
affektive, aus dem Ubw kommende psychische Inhalt des Patienten wird 
nämlich zum Innenerlebnis des Analytikers und wird erst in der nach* 
träglichen Gedankenarbeit als dem Patienten (also der Außenwelt) zugehörig 
erkannt* Die Analogie zum telepathischen Phänomen würde sich aus der 
Verarbeitung einer vom Objekte kommenden Botschaft zum eigenen Innen¬ 
erlebnis und aus der Rückprojektion dieses Erlebnisses zur reizspendenden 
Ursprungsstelle ergeben* In der analytischen Arbeit geschieht diese „Rück¬ 
projektion” auf dem Wege einer nachträglich bewußten, alle Lücken des 
Erlebnisses ausfüllenden, intellektuellen Tätigkeit; im okkulten Phänomen 
vollzieht sich die Rückprojektion unbewußt in dunklen, affektiven Vor¬ 
gängen, 

Daß das am Patienten unbewußt Wahrgenommene, zum eigenen Erlebnis 
des Analytikers geworden, dann als innere Wahrnehmung dem Bewußtsein 
mitgeteilt wird, ist nicht spezifisch für die „intuitive Einstellung“ des 
Analytikers in der Phase der „gleichschwebenden Aufmerksamkeit“/ sondern 
scheint das Wesen der Intuition überhaupt zu sein. Das intuitive Einfühlen 
ist ja die Gabe, das Objekt auf dem Wege der Identifizierung in sich selbst 
zu erleben, und zwar in jenen Anteilen des eigenen Ichs, an denen der 
Identifizierungsvorgang zustande gekommen ist. Diese intuitive Einstellung, 
rh h. der Identifizierungsvorgang in der Analyse, ist durch die Tatsache 
ermöglicht, daß die Seelenstruktur des Analytikers ein Produkt analoger 
Entwicklungswege ist, wie die des Patienten, Sein Ubw enthält ja dieselben 
infantilen Wunschregungen und das intuitive Aufnehmen stellt so eine Auf¬ 
frischung von Erinnerungsspuren dar, die jene einmal überwundenen Ten¬ 
denzen zurückgelassen haben. Dieser Prozeß der Wiederbelebung von Erinne¬ 
rungsspuren eigener seelischer Inhalte gestaltet das Erlebnis am Patienten 
zur inneren Wahrnehmung des Analytikers. 


1) Freud, a. 0. 











Okkulte Vorgänge während der Psychoanalyse 423 


Somit wäre der psychische Vorgang der intuitiven Vorarbeit in der Analyse 
beim Analytiker und beim Analysierten in gewissem Sinne analog. Bei 
beiden kommt es zur Wiederbelebung gleichsinniger infantiler Strebungen: 
beim Analysierten durch die Übertragung, beim Analytiker durch Identi¬ 
fizierung. Diese unbewußte Beziehung des Analytikers zum Patienten können 
wir mit Recht „Gegenübertragung“ nennen, Diese enthält jedoch nicht nur 
die Identifizierung mit bestimmten Anteilen des infantil besetzten Ichs des 
Patienten, sondern sie geht auch noch mit anderweitigen ubw Einstellungen 
einher, die ich „Komplementäreinstellungen“ nennen möchte. Wir wissen 
doch, daß der Analysierte seine unbefriedigten infantiHibidinösen Wünsche 
dem Analytiker zuwendet. Als Objekt dieser Wünsche wird er mit jenen 
Objekten identifiziert, auf die sich einst dieselben bezogen haben. Die Auf¬ 
gabe des Analytikers beruht nun auch darin, in der ubw Einstellung seine 
reale Persönlichkeit aufzugeben und gleichsinnig zu den Übertragungs¬ 
phantasien des Patienten seine Identifizierung mit den Imagines desselben 
vorzunehmen. Ich nenne diesen Vorgang „Komplementäreinstellung“ zum 
Unterschied von der Identifizierung mit dem infantilen Ich des Patienten. 
Beide zusammen bilden erst das Wesen der ubw „Gegenübertragung“ und 
die Verwendung derselben und ihre zweckentsprechende Bewältigung gehören 
zu den wichtigsten Aufgaben des Analytikers. Diese ubw Gegenübertragung 
ist nicht zu verwechseln mit der grobaffektiven bewußten Beziehung zum 
Patienten. 

Der Unterschied zwischen dem Analytiker und dem Analysierten liegt vor 
allem in der beim Analytiker geforderten Bewegungsfreiheit seiner ubw 
Regungen, während dieselben beim Patienten unter Verdrängungswiderstand 
stehen. Während der Patient in der Übertragung seine ubw Tendenzen zum 
wunscherfüllenden Agieren bringt, schiebt sich beim Analytiker zwischen das 
Wünschen und Handeln die sublimierende intellektuelle Verarbeitung ein. 
Der Patient strebt in der Psychoanalyse an, für seine ubw Wünsche eine Be¬ 
friedigungssituation zu schaffen, — der Analytiker verzichtet zielbewußt auf 
jede Befriedigungsart am Patienten mit Ausnahme jener der sublimierenden 
Erkenntnis. Wir wissen, daß wenn eine ubw Strömung beim Analytiker 
unter einen Verdrängungswiderstand fällt, seine intuitive Leistung (also nach 
dem oben Gesagten seine ubw Identifizierung) an dieser Stelle verhindert 
wird. Ebenso entsteht ein psychischer Kurzschluß im Analytiker, wenn er 
kraft seiner ubw Tendenzen eine hergestellte Identifizierung nicht aufzu¬ 
geben vermag. Besonders häufig entstehen solche störende Einflüsse im 
Analytiker durch die nicht genügende Bewältigung der Komplementär- 






424 


Helene Deutsch 


einstellung. Entweder will er seine bereits in der Realität — vielleicht mit 
einem großen Aufwand — erreichte Rolle zugunsten der Situation der Über¬ 
tragung, auch im Ubw nicht aufgeben, — oder die Identifizierung mit 
einem bestimmten infantilen Objekte des Patienten behagt seinen ubw 
Wünschen so sehr, daß er die einmal angenommene Position nicht mehr 
verlassen will und dadurch die freie Beweglichkeit der Übertragungswelle 
stört. 1 Wissen wir doch, wie schon eine stärkere Inanspruchnahme des 
Analytikers durch eigene affektive aktuelle Erlebnisse den Fortschritt der 
Analyse erschwert. Um so mehr können wir annehmen, daß die ubw Ver¬ 
ankerungen der freien Beweglichkeit der Libido (des Analytikers) in stören¬ 
den Einflüssen zum Ausdruck kommen werden. 

Dieser kurze Einblick in die psychoanalytische Situation sollte die oben 
vertretene Anschauung, diese Situation weise zum Teil einen okkulten Vor¬ 
gang auf, rechtfertigen. Jeder, der sich einer Analyse unterzogen hat, wird 
sich an Momente erinnern, in denen er den Eindruck hatte, der Analytiker 
sei „ein Gedankenleser“; der Analytiker selbst weiß, daß ihm innerhalb 
seiner analytischen Tätigkeit keine Bewußtseinsqualität zur Verfügung stehe, 
die ihm die Leistung seiner ubw Aufnahmsfähigkeit ersetzen könnte. 

* 

Wenn es uns gelungen ist, zwischen der analytischen Intuition und 
einem telepathischen Vorgang eine Wesensverwandtschaft zu finden, so 
wird es uns leicht sein anzunehmen, daß diese Leistung der Intuition an 
Intensität die Grenzen, die der analytischen Verwendung gesetzt sind, zu¬ 
weilen übersteigen kann. Unterliegt diese Leistung nicht der kritischen 
Verarbeitung des Intellektes wie in der Psychoanalyse, sondern bricht sie 
eruptiv aus tieferen Schichten in die W r ahrnehmungsSphäre durch, so be¬ 
kommt sie dann den Charakter des „okkulten Phänomens“. Das okkultistische 
Medium erlebt dann hellseherisch das, was der Analytiker in langsam vor¬ 
sichtiger Deutungskunst des „okkulten“ Sinnes beraubt hat. 


1 J V orgänge sind mir besonders klar geworden in den KontroUstunden bei 

Schülern des Lehrinstituts. Häufig hört man da von weiblichen Analytikern die Mit¬ 
teilung, Patient habe eine Vateriibertragung hergestellt, aus der er nicht herauskomme, 
oder auch umgekehrt, der männliche Analytiker erlebt auffallend häufig und hart¬ 
näckig seine Mutteridentifmerung in der Übertragung seiner Patienten, Es stellt sich 
dann heraus, daß der nicht vollkommen überwundene Männlichkeitskomplex auf seiten 
der Analytikerm, beziehungsweise die eigene passiv-feminine Strömung auf seiten des 
Analytikers die Schwierigkeit ergeben haben. 

















Okkulte Vorgänge während der Psychoanalyse 


4 2 5 


Wir haben bis jetzt die Reaktionen des Ubw des Analytikers auf die 
uhw Vorgänge des Patienten besprochen. Die umgekehrten Auswirkungen 
vom Analytiker auf den Patienten haben wir in gewissen störenden Ein¬ 
flüssen erkannt, wobei aber auch diese sich mehr im Analytiker selbst als 
im Patienten geltend machen, indem sie seine intuitive Leistung paralysieren 
und hemmen. Alle andern Einflüsse seines Ubw auf den Patienten entziehen 
sich der direkten Beobachtung des Analytikers. Würde es sich ermitteln 
lassen, daß ein Bewußtseinsinhalt des Analytikers —- also etwas, was von 
ihm selbst kontrollierbar ist — im Ablauf der assoziativen Tätigkeit des 
Patienten zur Auswirkung gelangt, so würde somit der Beweis einer Über¬ 
tragung iin telepathischen Sinne erbracht sein, unter der Voraussetzung, daß 
ein Sinneseindruck des Patienten einwandfrei ausgeschlossen werden konnte. 

Daß das Interesse des Analytikers für ein bestimmtes Problem plötzlich 
bei seinen Patienten das gesuchte Material erscheinen läßt, oder, daß seine 
innere, wie er meint, wohl verhüllte Ungeduld z. B. als Folge anderweitiger 
Inanspruchnahme -— ein Stocken in der Analyse hei sämtlichen Patienten 
zur Folge hat usw., kann auf die Erwartungsvorstellungen des Analytikers 
im ersten Fall, auf die verschärfte Beobachtungsgabe der Patienten im 
zweiten Fall zurückzuführen sein. Ähnliche Beispiele ließen sich in Fülle 
aufzählen 5 man begnügt sich mit ihrer Zurückführung auf eine besondere 
Einstellung des Wahrnehmungsapparates. 

In zwei Fallen habe ich nun Gelegenheit gehabt, das Zustandekommen 
eines Kontaktes zwischen meinem Bewußtseinsinhalte und dem Ubw des 
Patienten mit Umgehung der Sinnesorgane während der Psychoanalyse zu 
beobachten. Die analytische Verarbeitung des merkwürdigen psychologischen 
Phänomens hat ein Ergebnis gebracht, das mir charakteristisch und somit 
einer Mitteilung wert zu sein erscheint. 

Während einer Psychoanalyse, die sich bereits auf mehrere Monate 
erstreckte, bringt mir ein Patient in seinem Bericht über die Ereignisse 
des letzten Tages die Nachricht, eine im Ausland lebende Bekannte von 
ihm habe sich verlobt. Dieses für den Patienten gleichgültige Ereignis 
hatte jedoch eine starke affektive Reaktion in mir selbst hervorgerufen. 
Der männliche Partner dieser Verlobung spielte nämlich im Schicksal 
einer mir nahestehenden Person eine wichtige Rolle. Mein Interesse hatte 
sich infolgedessen — unerlaubter weise — vom Patienten auf jene An¬ 
gelegenheit verschoben; doch hatte ich selbstverständlich den Patienten 
darüber in keiner Weise in Kenntnis gesetzt. Jedenfalls gelang es mir voll¬ 
kommen, einen diesbezüglichen Eindruck vom Bewußtsein des Patienten 





426 


Helene Deutsch 


fernzuhalten. Sonderbarerweise machte aber auch der Patient jene An¬ 
gelegenheit meinem persönlichen Interesse entsprechend zum Zentrum 
seiner Analyse. Täglich erwartete ich gespannt diesbezügliche Nachrichten, 
täglich brachte mir der Patient das Gewünschte. Ich betone nochmals, daß 
die Bekannte meines Patienten weder vorher noch nachher irgend eine 
Rolle in seinem Leben gespielt hatte und daß der Verlobte ihm völlig 
unbekannt war. Wie als Resultat einer Aufforderung von mir entstand 
zwischen dem Patienten und jener Dame eine intensive Korrespondenz, in 
der er sich bald zu ihrem Vertrauten machte und so Kenntnis aller Details 
ihrer Liebesbeziehung erlangte. Die Analyse drohte zu scheitern; es blieb 
mir zu ihrer Rettung nichts anderes übrig, als meine Neugierde zu unter¬ 
drücken und den durch mich provozierten Stand der Analyse in gewohnter 
Weise anzugehen. Die Analyse ergab, daß der Patient jenes — ihm vorher 
noch gleichgültige — Mädchen zum Objekte seiner Liebesphantasien machte, 
daß er in heftiger Eifersucht den Rivalen haßte und daß sein Interesse 
aus seiner Einstellung des „geschädigten Dritten“ stammte. Diese sonderbare 
Entstehung einer Liebe war selbstverständlich in engster Verbindung mit 
der Übertragung, wie übrigens jede während der Analyse entstehende „Ver¬ 
liebtheit“. Das Mädchen wurde mit mir identifiziert, somit auch ihr Ver¬ 
lobter in eine erotische Beziehung zu mir gebracht. Der Patient brachte 
bald Erinnerungen an infantile Vorbilder dieser Situation, ln seiner Kindheit 
hatte er jeden Mann, für den sich die Mutter in irgend einer Weise 
interessierte, für ihren ihm verhaßten Geliebten gehalten; auch jetzt über¬ 
setzte er mein Interesse in ein erotisches und versuchte — wie in jener 
Zeit die Mutter —- jetzt meine Stell Vertreterin (das Mädchen) für sich 
zu gewinnen. 

Der erste Anlaß zu diesem, das Infantile wiederholendem Agieren ist 
dem Patienten vollkommen unbekannt geblieben. Für mich war es klar, 
daß mein eigenes intensives Interesse sich seinem lauernden Ubw mitteilte, 
dort durch eine Verknüpfung mit dem infantilen Material einer sekundären 
Bearbeitung unterlag und daun in das motorische Agieren im Sinne meiner 
Wünsche überging. Zwischen dem „telepathisch“ entstandenen Prozeß: 
Wunsch auf meiner Seite — Erfüllung auf Seite des Patienten — war 
eine mühsame endopsychische Leistung des Patienten eingeschaltet, die das 
tragende Motiv des Phänomens darstellte und nur analytisch entwirrt werden 
konnte. Dieses Motiv lag in der analytischen Übertragung und in der 
Affinität meines bewußten Wunsches zu den ubw Erinnerungsspuren im 
Seelenleben des Patienten. 












Okkulte Vorgänge während der Psychoanalyse 


427 


Der zweite Fall gestaltete sich folgendermaßen: Am Vortage meines 
achten Hochzeitstages beschäftigte mich intensiv der Gedanke an den be¬ 
vorstehenden Anlaß. Ich dachte daran, daß wir diesen Tag irgendwie festlich 
begehen würden und stellte dabei fest, daß die ganztägige berufliche Inan¬ 
spruchnahme erst in dieser letzten Arbeitsstunde die Erinnerung an meine 
persönliche Angelegenheit auftauchen ließ. Nach der analytischen Stunde 
hatte ich den Eindruck, daß diese Gedankengänge meine analytische Auf¬ 
merksamkeit sehr gestört hatten und war darauf vorbereitet, daß die auf 
jede derartige Benachteiligung sehr empfindliche Patientin mir am nächsten 
Tage den verdienten Vorwurf der Zerstreutheit nicht ersparen würde. Ich 
muß zunächst ausdrücklich betonen, daß in meinem Hause keinerlei be¬ 
sondere feierliche Stimmung den Gedenktag verriet, daß niemand in der 
Umgebung von der Bedeutung des Tages etwas wußte, und daß außerdem 
die Patientin, eine Ausländerin, keine gemeinsamen Bekannten mit mir 
hatte. Am nächsten Tage beginnt die Patientin ihre Stunde mit der Wieder¬ 
gabe eines Traumes der letzten Nacht. Derselbe lautete: In einer Familie 
wird der achte Hochzeitstag gefeiert. An einem runden Tische sitzt das 
Ehepaar; „sie“ ist sehr traurig , der Mann böse und gereizt. Die Patientin 
weiß im Traume, daß die Traurigkeit der Frau mit ihrer Kinderlosigkeit 
zusammenhängt; die Frau sei schon acht Jahre verheiratet und habe noch 
immer kein Kind, nun weiß sie, daß sie endgültig verzichten muß. Die 
Analyse ergibt, daß das räumliche Milieu des Traumes einer Verdichtung 
zwischen meinem Arbeitszimmer und dem Wohnzimmer der Eltern der 
Patientin entsprach. Die Jubilarin des Traumes erweist sich in den Asso¬ 
ziationen als ein Produkt einer Identifizierungsreihe zwischen der Patientin 
selbst, ihrer Mutter und mir. Patientin ist drei Jahre verheiratet und sieht 
sich durch habituelles Abortieren in ihrem starken Kindes wünsch betrogen. 
Auch zur Zeit der Analyse hatte sie einmal abortiert und wir wußten 
bereits, daß die rein psychogen determinierte Kinderlosigkeit mit den Schick¬ 
salen ihres Ödipus-Komplexes zusammenhing. Sie war die Älteste von sechs 
Geschwistern, die in regelmäßiger Reihenfolge geboren wurden. Tm achten 
Jahre ihrer Ehe hatte die Mutter der Patientin, von reicher Kinderschar 
umgeben, ihre Gebärtätigkeit beendigt. Die Kinderlosigkeit der Patientin 
entstand als eine neurotische Reaktion auf jene Schwangerschaften und 
Entbindungen der Mutter und die im Traum vollzogene Identifizieiung 
zwischen ihr und der Mutter entsprach zwei Wunschregungen: die Mutter 
sollte vom Vater keine Kinder bekommen, sie selbst aber wollte sich in 
dieser Funktion an die Stelle der Mutter setzen. Daß ich in die Identifi- 






4^8 


Helene Deutsch 


zierungsreihe einbezogen wurde, ergab sich aus der typischen Konstellation 
der Übertragungssituation, Der Traum war organisch in dieselbe eingeordnet. 
Ist es aber ein Zufall, daß sie ihn gerade an meinem achten Hochzeitstage 
träumte? Und daß mein Bewußtseinsinhalt in der dem Traum voraus¬ 
gehenden analytischen Stunde sich im manifesten Trau min halt kundgab? 
Ich habe den Eindruck, daß unter ähnlichen Bedingungen der analytischen 
Übertragung und der Identifizierung wie im ersten Fall auch hier eine 
Relation zwischen meinen bewußten Gedanken und dem Ubw der Patientin 
hergestellt war. Auch hier verhielt sich das Ubw wie ein empfindsamer 
Resonanzboden für jene seelische Inhalte des anderen, die in engster Be¬ 
ziehung zu stark affektiven ubw Regungen des Aufnehmenden standen. 
Diese durch etwas Bestimmtes determinierte Bereitschaft des Seelenapparates 
bedingt auch hier die Fähigkeit derselben, Eindrücke auf anderem Wege 
als durch Vermittlung der bewußten Wahrnehmung zu empfangen, 

* 

Es scheint sich aus diesen direkt beobachteten Vorgängen zu ergeben, 
daß es Erregungen gibt, die keine Sinnesempfindungen Hervorrufen und 
doch im l sychischen eine solche Reaktion erzeugen, als würden sie physisch¬ 
körperlich gewirkt haben. Dem analytisch Erfahrenen ist es klar, daß ein 
bewußt aufgenommener Eindruck in obigen zwei Fällen dieselben Aus¬ 
wirkungen im Ubw gehabt hatte wie hier beim Fehlen dieser Voraussetzung, 
gissen wir doch, wie jede Geste des Analytikers gierig durch die ubw 
Übertragungstendenzen aufgenommen wird und in charakteristischer Weise 

genau wie hier — in Phantasien und Träumen verarbeitet erscheint. 
In beiden Fällen war das Resultat so, als ob das System Bw durchsichtig 
geworden wäre und der Vorgang in der Außenwelt, der durch den Wahr¬ 
nehmungsapparat nicht aufgenommen werden konnte, sich unmittelbar den 
eferen Schichten mitgeteilt hätte. In beiden Fällen konnten wir in der 
P 3 bischen Reaktion infantil affektive Momente nach weisen, die durch 
,j tuas Aktuelles, dem Bw nicht Zugängliches mobilisiert und in einer 
ganz bestimmten Weise verarbeitet wurden. Im ersten Fall handelt es sich 
um die Erweckung einer infantilen Eifersucht in der Übertragung, im 
zweiten um die Versagung eines infantilen Wunsches, Diese Vorgänge 
s - V ° n au ^ en durch provozierende Momente, die erst in den tieferen 
d 1C k* 1 ^ ^ eelenlebens zur Auswirkung gelangten, mobilisiert. Erst als 
u t W ahrgenommene durch die Verknüpfung mit ubw Wunsch- 




















Okkulte Vorgänge wahrend der Psychoanalyse 


429 


regungen die entsprechende Intensität erreicht hatte, konnte es sich ins Bw 
durchsetzen* Der Zusammenhang mit der Einwirkung von außen mußte 
verloren gehen, weil die Voraussetzung des Sinneseindruckes fehlte. 

Wir haben schon oft gesehen, wie Sinnesein t drücke nicht direkt zur bw 
Wahrnehmung wurden, aber dann, in Phantasien und Träumen wieder¬ 
gekehrt, so ihre Wirkung bewiesen* 1 Es ist bekannt, daß wir unter der 
Herrschaft der Affekte die im Bw wurzelnden Fähigkeiten verstärken oder 
verlieren können* Ja, wir können aus einer affektiven Einstellung etwas 
unserer Wahrnehmung voll Zugängliches negieren (negative Halluzination), 
aber unser übw, beziehungsweise Vhw kann es akzeptieren und mit Um¬ 
gehung des Bw im geeigneten Momente verwerten* Dabei handelt es sich 
jedoch immer um Eindrücke, die an sich die Fähigkeit haben, bw aufge- 
nommen zu werden* In unseren zwei Fällen hatte der von mir auf die 
Patienten übertragene Inhalt die Möglichkeit einer Wirkung auf die Sinnes¬ 
organe nicht besessen. Wenn wir annehmen, daß sich mein Bewußtseins¬ 
inhalt doch in irgend eine motorische Erregung umsetzte -— und diese 
Annahme scheint mir berechtigt — so war die Intensität derselben so gering, 
daß sie für menschliche Sinnesqualitäten als Reiz nicht ausreichen konnte. 
Sicher hatte der psychische Vorgang in mir den Wert einer Aktion be¬ 
kommen, aber der Charakter dieser Aktion war ein derartiger, daß dieselbe 
der Sinneswahrnehmung unzugänglich blieb. 

Erst wenn diese von der Außenwelt kommende Botschaft in einer tieferen 
Schichte des Seelenapparates auf Strebungen stößt, zu denen sie in einer 
verwandtschaftlichen Beziehung im Sinne der Wunscherfüllung oder anderer 
emotioneller Motive steht, kommt es zu einer assoziativen Verbindung und 
Verstärkung beider Einflüsse. Sie setzen sich dann (wie im Traum und in 
anderweitigen uns bekannten Vorgängen) als Bewußtseinsinhalt durch, und 
der analytischen Assoziationstechnik gelingt es, das Bindeglied zwischen dem 
Anlaß und der Reaktion herzustellen. Dieses Bindeglied ist wie in unseren 
Fällen in einem komplizierten endops3 r ehischen Vorgang zu suchen. In 
demselben kommt es zu einer Assimilation der Wahrnehmung mit eigenen 
seelischen Elementen und die Empfangsfähigkeit dieser Elemente bedingt 
die Möglichkeit einer „ubw Wahrnehmung“, indem etwas, was dem Wahr¬ 
nehmungsapparat nicht zugänglich erscheint, doch in das psychische Gefüge 
aufgenommen werden kann. Die äußere Wahrnehmung konnte nicht zustande 


i) Fötal: Experimentell erregte Traumbilder in ihren Beziehungen zum indirekten 
Sehen, (Zeitschr. f. d. Ges. Neur, u, Psyeh. Bd, 37, 1917.) 





45° 


Helene Deutsch 


kommen, die Einwirkung von außen hatte sich aber unter den oben be¬ 
schriebenen Bedingungen zu einer „inneren Wahrnehmung“ gestaltet, und 
als solche dem wahrnehmenden Ich mitgeteilt. Diese Umwandlung einer 
von außen kommenden Botschaft in innere Wahrnehmung erfolgt auf dem 
Wege der Identität seelischer Inhalte zwischen Subjekt und Objekt, In der 
Beschreibung der analytischen Situation haben wir dieselbe in den Anteilen 
des Ubw beim Analytiker und des Ubw des Patienten gefunden und diese 
Identität „analytische Intuition“ genannt. In den beobachteten zwei Fällen 
hatte sich die Identifizierung zwischen meinem Bw und der ubw Einstellung 
der Patienten hergestellt. Auch hier wird die Umwandlung in „innere 
Wahrnehmung“ einem intuitiven Vorgang entsprochen haben. 

Der bewußte, vom Patienten mitgeteilte Inhalt ist in beiden Fällen 
bereits einer sekundären Bearbeitung unterlegen und seine ursprüngliche 
Herkunft von der Außenwelt kann somit nicht mehr agnosziert werden. 
Das „Telepathische“ des Vorganges konnte sich nur mir verraten* 

Wir können uns vorstellen, daß unter Umständen die Herstellung der 
Identitäten, beziehungsweise die Umwandlung der äußeren Botschaft in 
„innere Wahrnehmung ohne weitergehende inhaltliche Veränderung vor 
sich gehen kann, so daß das Bw die Nachricht zwar von tieferen Schichten 
des Seelischen empfängt, ihr Inhalt aber vollkommen mit dem der reiz¬ 
spendenden Außenwelt gleich ist. 

Wird diese Gleichheit durch den Wahrnehmungsapparat agnosziert, und 
zwar dadurch, daß die von innen kommende Wahrnehmung wieder in die 
Außenwelt projiziert wird, so bekommt der Vorgang den Charakter des „okkulten 
Phänomens"'. Er unterscheidet sich von dein Projektions Vorgang in der Halluzi¬ 
nation schlechtweg dadurch, daß sein Inhalt sich mit der im Projektions¬ 
feld befindlichen Realität deckt. Das aufnehmende Medium weiß nichts 
von den komplizierten inneren Vorgängen, die vorausgegangen sind, es glaubt 
an den Realitälswert seiner Projektion wie der Psychotische an den seiner 
Halluzination, Der Unterschied liegt darin, daß ihm auch die umgebende 
Außenwelt diesen Wert zuerkennt. Fallen doch die Realität und der durch 
sie konstellierte Inhalt des Projizierten aufeinander. 

Diese letzte Vermutung müßte erst durch die analytische Erfahrung be¬ 
stätigt werden* Was die letztere uns jedoch bereits klar aufzudecken scheint, 
ist die Tatsache, daß die „okkulten Phänomene“ den Ausdruck einer besonders 
verstärkten Intuition darstellen, die ihrerseits auf einem ubw affektiven Identi- 
fizierungsvorgang beruht. 












Okkulte Vorgänge während der Psychoanalyse 


43 1 


Haben die beiden obigen Fälle uns den Weg gezeigt, auf dem ein 
„Phänomen“ entstehen kann, so trägt ein anderer von mir beobachteter 
Fall einen mehr imponierenden „okkulten“ Charakter. 

Durch Freiwerden libidinöser Kräfte verliebt sich wahrend der analyti¬ 
schen Behandlung eine bis dahin gehemmte Patientin sehr intensiv in ein 
sichtlich ungeeignetes Objekt. Die starke, an der Liebesunfähigkeit des 
Partners scheiternde leidenschaftliche Beziehung wird durch die kontinuier¬ 
lichen Versagungen in einen Identifizierungsvorgang zurückgedrängt. Ich 
konnte beobachten, wie Patientin ihre affektive und intellektuelle Persön¬ 
lichkeit immer mehr zugunsten dieser Identifizierung aufgab. Man kann 
direkt behaupten, daß sie die Gedanken ihres Objektes dachte, seine Gefühle 
empfand und sich so zum Teil für die mangelnde Erwiderung ihrer Gefühle 
entschädigte. Im Momente des plötzlich erfolgten Abbruches der Beziehungen 
— von seiten des Objektes — verstärkte sich dieser Identifizierungsvorgang 
außerordentlich. Sie mobilisierte nun alle ihre seelischen Kräfte, um das 
Objekt, wenn nicht real, so doch durch Identifizierung in sich zu behalten. 
Das ermöglichte ihr eine Art Zusammenbleibens mit dem Verlorenen, und 
sie ergänzte den Introjektionsvorgang durch eine reale Brücke, die sie 
zwischen sich und jenem Manne aufbaute. Sie blieb nämlich durch ein 
diskretes, aber konsequentes Aushorchen aller Ereignisse seines Lebens immer 
über dieselben orientiert, sie verfolgte ihn in solcher Weise auf Schritt 
und Tritt, jedoch ohne sich ihm aufzudrängen. Sie entwickelte direkt eine 
Virtuosität in der Ergänzung von vernommenen Einzelheiten über das Leben 
des Betreffenden zu einer kontinuierlichen Ganzheit. Daß eine bis dahin 
nicht sexuelle Beziehung des Betreffenden zu einer anderen einen erotischen 
Charakter anzunehmen begann, wußte sie — wie rnir scheint — früher als 
er selbst. Wurde doch jede Geste von ihm in ihr selbst über sein eigenes 
Empfindungsvermögen hinaus „nachgefühlt“. 

Eines Abends saß sie in einem Zustande unendlicher Verzweiflung, von 
der Welt abgeschlossen, von einem einzigen Gefühle gänzlich beherrscht, 
zu Hause. Die letzten erspähten Spuren führten nämlich zu einer geplanten 
Begegnung des Herrn X. mit seiner Bekannten. Patientin verfolgte ihn 
gedanklich, ließ ihn in ihrer Phantasie unter einem Vorwände die 
Mutter der betreffenden Dame vom Hause wegschicken und malte sich 
aus, welche Art der Werbung seinem sexuellen Angriffe vorausgehen 
werde. Zu einer bestimmten Stunde, die sie genau angeben konnte, er¬ 
lebte sie halluzinatorisch die Liebessituation der beiden. Der sukzessive 
Aufbau der ganzen Situation bis zum Kulminationspunkt vollzog sich halb- 





Helene Deutsch 


452 

bewußt und wurde uns erst in der nachfolgenden analytischen Stunde 
ganz klar. 

Durch die Angaben der Patientin fasziniert, versuchte ich der Sache 
nachzugehen. Die Bekanntschaft mit der Rivalin meiner Patientin ermög¬ 
lichte mir die nachträgliche Bestätigung der vollen Übereinstimmung der 
realen Begebenheilen mit den inneren Erlebnissen der Patientin, Die ganze 
kombinierende vbw Ge danken kette stellte sich als richtig heraus* das hallu¬ 
zinierte Ereignis hatte tatsächlich in der von der Patientin angegebenen 
Stunde vollkommen identisch stattgefunden, Patientin wußte selbst, daß die 
Halluzination ihrem inneren, herausprojizierten Wissen entsprach. Dieses 
„Wissen 44 war hier im Gegensatz zu sonstigen Halluzinationen kein ubw 
Vorgang, sondern eine das Normale übersteigende, von libidinösen Kräften 
gespeiste kombinatorische Leistung der Patientin, die ihre „übersinnliche 44 
Gabe aus dem restlos auch die bewußten Denkvorgänge beherrschenden 
IdentifizierungsVorgang schöpfte. 

Auch was diesem „telepathischen 44 Erlebnis folgte, erweist sich für unser 
Thema beachtenswert. \on diesem Tage an gab Patientin die Verfolgung 
des Herrn X, auf. Hatte sie doch die telepathische Beziehung in sich ent' 
deckt und meinte sich mit dem Objekte verbunden zu wissen. Sie brachte 
jetzt eine ganze Reihe telepathischer Träume, die ihr die Ereignisse des 
Lebens des Herrn X, mitteilten, in die Analyse. Meine Erkundigungen 
konnten feststellen, daß ihr telepathisches Wissen liier versagte. Aber 
die Analyse ergab, daß die auf das aktuelle Objekt bezogenen Begeben’ 
heiten in allen Einzelheiten ihre infantilen Erfahrungen am Bruder dar¬ 
stellten, daß das telepathisch im Traum Wahrgenommene wohl einer 
Realität entsprach, aber einer in den Erinnerungsresten des Ubw auf¬ 
gehobenen und jetzt mobilisierten Realität. Die letzte Enttäuschung am 
Geliebten hatte die regressiven Vorgänge hervorgerufen und ließ am 
aktuellen Objekte das erleben, was sich am infantilen abgespielt hatte. 
Die zeitliche Verlegung von der Vergangenheit in die Gegenwart, ebenso 
wie die vom alten Objekt auf das neue gab den Träumen den telepathi¬ 
schen Charakter. 

Wenn wir an die Kontinuität und Kausalität im psychischen Leben 
glauben und dem Wiederholungszwange in uns die ihm gebührende Macht 
zusprechen, so werden wir auch die seelische „Vorbestimmung 44 akzeptieren 
müssen und in der konstruierenden Kraft derselben auch eine der Quellen 
prophetischer Eingebungen erblicken» Ich glaube, daß auch die letzte 
Patientin selbst ihre Liebesenttäuschung durch die Wahl des Objektes pro- 






Okkulte Vorgänge während der Psychoanalyse 


455 


vozierte und so das am Bruder Erfahrene auch in ihrem „okkulten Wissen^ 
ubw in Verwendung brachte. 

Jedenfalls scheinen die analytischen Erfahrungen zu bestätigen, daß die 
„okkulten u Mächte in der Tiefe des Seelischen zu suchen sind und daß 
es auch hier der Psychoanalyse bestimmt ist, Klärung zu schaffen, wie sie 
es bei anderweitigen „geheimnisvollen" Vorgängen der menschlichen Seele 
bereits getan hat. 


Imago XIL 









Zur Psychoanalyse des Spuks 1 2 

Von 

Alfred Winterstein 

Wien 

M Eben düse Unwissenheit macht auch, daß ich mich 
nicht unterstehe^ so gänzlich alle Wahrheit ah dm 
mancherlei Geistererzählungen abzuleugnen, doch mit 
dem gewöhnlichen , obgleich wunderlichen Vorbehalt , 
eine jede einzelne derselben in Zweifel zu ziehen , allen 
zusammen genommen aber einigen Glauben beizumessen m u 

Kant. 

Persönliche Erfahrungen und angeborene Neigung, zwischen gegen¬ 
sätzlichen geistigen Betätigungen regelmäßig abzuwechseln, haben mich auch 
zur Beschäftigung mit dem wissenschaftlich noch kaum fundierten Okkul¬ 
tismus 0 geführt* Immer schwebte mir hiebei aber als letztes Ziel eine höhere, 
einheitliche Auffassung vor, in die sich diese Gegensätze eines Tages 
völlig auflösen würden. Mochte eine solche Zielvorstellung vielleicht auch 
nur eine subjektive Wunschphantasie sein, so war sie als methodisches 
Prinzip zweifellos berechtigt. 

1) Was bisher von Vertretern der Psychoanalyse über #okkulte u Erscheinungen veröffentlicht 
worden ist, beschränkte sich darauf \ konkrete Falle dadurch unserem heutigen wissenschaftlichen 
Verständnis zugänglich zu machen, daß unbewußte Elemente auf seiten der die Erscheinung 
beobachtenden und berichtenden Personen zur Deutung der Phänomene aufgedeckt wurden * Die 
Frage der Wirklichkeit der Phänomene wurde dabei nicht prinzipiell behandelt y die Möglichkeit 
ihrer Existenz weder bejaht noch verneint. Die folgende Abhandlung, die die Psychoanalyse zur 
Motivierung einer Abart okkulter Erscheinungen heranzieht, gibt nur die wissenschaftliche Über- 
zeugung des Verfassers wieder, nicht etwa ein sicheres Ergebnis der Psychoanalyse . Wir betonen 
dies nur deshalb, weil in dem heute oft mit vielem Affekt geführten Streitt die Gefahr nahe - 
liegt, daß die Parteien sich irrtümlich auf die Psychoanalyse berufen und sie in den Kampf 
um eine Frage , mit der sie nichts zu tun hat , hineinziehen könnten* Die Redaktion. 

2) Ich kenne die Einwände gegen diese Bezeichnung, die auch keinerlei historische 
Berechtigung besitzt, will aber mit ihr nur auf einen geläufigen VorsteUungskomplex 
hinweisen* 






Zur Psychoanalyse des Spuks 


435 


Unter den Erscheinungen des Okkultismus hat mich in letzter Zeit 
namentlich das Tatsachengebiet des Spuks 1 * * 4 gefesselt, das von der Forschung 
bisher auffallend vernachlässigt wurde, obwohl sich gerade hier bedeutsame 
Ausblicke ins Unbetretene eröffnen dürften. Wer vollends von der Be¬ 
schäftigung mit der Psychoanalyse herkam, war von gewissen Beobachtungen 
überrascht, die den Gedanken nahelegten, psychoanalytische Erkenntnisse 
versuchsweise auf die Phänomenologie des Spuks zu übertragen, „nur aus 
wissenschaftlicher Neugierde, oder wenn man will, als advocatus diaboli, 
der sich darum doch nicht dem Teufel selbst verschreibt“*^ Soll man es 
Zufall nennen, daß mir kürzlich ein Buch 5 in die Hände fiel, das, 
wiewohl von einem Nicht-Psychoanalytiker verfaßt, eine psychoanalytische 
Entdeckung Freuds in geistreicher Weise für die Erklärung der Spuk- 
kundgebungen nutzbar zu machen sucht? Diese Arbeit gab mir den Mut, 
den psychoanalytischen Gedanken gang weiter zu verfolgen* Doch bevor ich 
Näheres darüber mitteile, möchte ich, um dem Leser statt einer trockenen 
Definition eine lebendige Anschauung des Spuks zu vermitteln, einige Spuk¬ 
fälle berichtend Ich schicke noch voraus, daß man einen „medialen“ 
(durch Medien verursachten) und einen „ortsgebimdenen“ Spuk unter¬ 
scheidet, Da das Vorhandensein eines Mediums (eventuell eines entfernten) 
auch in Fällen von „ortsgebundenem“ Spuk nicht immer gänzlich aus¬ 
geschlossen werden kann, läßt sich natürlich eine strenge Scheidung zwischen 
beiden Arten praktisch nicht aufrechterhalten* 


i) Ich spreche im folgenden bloß von Verstorbenenspuk, obwohl Spukerscheinungen 
auch bei der Telepathie zwischen Lebenden auf treten* 

s) Freud: Jenseits des Lustprinzips* Ges* Schriften* Bd, VI, S* 231* 

jj) Johannes Illig: Ewiges Schweigen? Union Deutsche Verlags ge Seilschaft* Stutt¬ 
gart 1925* 

4) Beiches Material bei E, Bozzano: Les Ph^nomänes de Hantise, (Traduit de 
Pilalien par C* de Vesme*) Paris 1920, Das Buch von Dr. Max Kemmerich: Ge¬ 

spenster und Spuk, Ludwigshafen 1921* entnimmt dem Werk von Bozzano viele 
Beispiele, Bozzano unterscheidet einen Spuk im engeren Sinne vom „Poltergeist“. 
Bei jenem handelt es sich um elektive und kollektive veredike Gesichts- und Gehors- 
liallurinationen (immaterieller Spuk), es kommen aber auch objektive Erscheinungen 
vor. Der Gespenster- und Gehörspuk dauert in der Hegel viele Jahre, ja manchmal 
Jahrhunderte und ist fast stets an Örtlichkeiten gebunden. Beim „Poltergeist“ (ma¬ 
terieller Spuk) handelt es sich hingegen um physikalische und mediumistische Phä¬ 
nomene, die stets objektiv sind und in der Regel nur sehr kurz dauern* Sie unter¬ 
scheiden sich auch noch vom Spuk im engeren Sinne dadurch, daß oft ein Medium 
vorhanden ist, Phantome fast nie erscheinen und ein Todesfall den Phänomenen nur 
selten vorhergeht* Der konkrete Fall weist meistens subjektive und objektive Ele¬ 
mente auf. 






Alfred Winterstein 


436 


Fall I 

Der amerikanische Diplomat Robert Dale Owen erzählt in seinem Buch 
„The Debatable Land“ (p. 226, zitiert nach Rozzano, p. 154 h) folgendes und 
bemerkt, daß er den Fall im Winter 1869/70 von einer der beteiligten Personen 
erfahren habe: 

„Eine junge, gebildete Dame meiner Bekanntschaft, die einer der ältesten 
Familien New Yorks angehört und die ich Miß V, . nennen werde, hatte vor 
einigen Jahren vierzehn Tage bei einer Tante verbracht, die Eigentümerin 
eines sehr großen und alten Hauses an den Ufern des Hudson war. Dieses 
Haus stand wie viele europäische Schlosser iin Rufe, daß es dort spuke. Man 
sprach davon in der Familie so wenig als möglich, das betreffende Zimmer 
wurde aber nur in Ausnahmsfällen benützt. Während des Aufenthaltes der 
Miß V. . kamen so viele Gäste, daß kein Fremdenzimmer mehr zur Verfügung 
stand und die Tante ihre Nichte fragte, ob sie sich getraue, für zwei, drei 
Tage ihr eigenes Zimmer mit dem Spukzimmer zu vertauschen, auf die Gefahr 
hin, von einem Gespenst besucht zu werden* Miß V*. stimmte ohne weiteres 
zu und bemerkte, daß Besuche aus dem Jenseits sie nicht sehr beunruhigten* 

Miß V *. legte sich also nachts in dem Spukzimmer zu Bett und schlief 
ohne die geringste Befangenheit ein. Sie erwachte um Mitternacht und erblickte 
die Gestalt einer schon ältlichen Frau, die im Zimmer hin und her ging, als 
Kammerzofe gekleidet, sehr sauber, aber ein wenig altmodisch* Anfangs er¬ 
schrak sie durchaus nicht, da sie glaubte, es sei eine Dienerin des Hauses, die 
gekommen sei, etwas zu suchen; als sie jedoch nachdachte, erinnerte sie sich, 
daß sie die Türe mit dern Schlüssel zugesperrt hatte. Dieser Gedanke ließ sie 
zusammenschaudern, aber ihr Entsetzen wuchs noch, als sie sah, wie die Gestalt 
auf das Bett zukam und sich über sie beugte, vergeblich bemüht zu sprechen. 
Von Grauen gepackt, verbarg Miß V. * ihr Gesicht in den Leintüchern. Als 
sie einen Augenblick später wieder hinblickte, war das Phantom verschwunden. 
Nun sprang sie aus dem Bett und lief zur Türe: sie fand sie verschlossen, 
der Schlüssel steckte innen, — 

Einige Monate später war sie hei einer Freundin zu Besuch, die sich 
spiritistischen Versuchen hingab und zahlreiche mediumistische Mitteilungen 
erhielt. Miß V.*, die vom Spiritismus reden hörte, ohne je etwas gesehen zu 
haben, nahm aus Neugier an den Sitzungen teil* Da manifestierte sich eines 
Abends eine angebliche mediumistische Persönlichkeit mit der Behauptung, sie 
sei eine gewisse Sarah Clarke, ein Name, den die zwei Damen nicht kannten* 
Diese Persönlichkeit erzählte, sie sei vor Jahren Kammerfrau bei der Tante 
der Miß V*. gewesen; sie habe, als Miß V* . bei der Tante zu Besuch weilte, 
vergeblich versucht, mit ihr zu sprechen, in der Absicht, Diebstähle zum 
Schaden der Tante zu beichten 1 und deren Verzeihung zu erbitten. Sie 
fügte hinzu, daß der Wunsch, ihren Fehltritt zu gestehen, so stark in 
ihr sei, daß er sie gegen ihren Willen zwinge, in dem Zimmer zu 
spuken, das sie bei Lebzeiten bewohnt habe. 1 Hierauf setzte sie aus- 


1) Von mir gesperrt. 











Zur Psychoanalyse des Spuks 


457 


einander, daß sie zu ihren Lebzeiten sich hatte verleiten lassen, eine silberne 
Zuckerdose und andere Gegenstände, die sie aufzählte, zu entwenden. Zuletzt 
sagte sie, daß sie Miß V. . ewig dankbar wäre, wenn sie ihre Botschaft der 
Tante mit dem Ausdruck ihrer tiefen Reue und der Bitte um Verzeihung 
übermitteln wollte. 

Bei der nächsten Gelegenheit fragte Miß V,, ihre Tante, ob sie nicht 
zufällig eine gewisse Sarah Clarke gekannt habe. ,Gewiß/ antwortete sie, 
,das war eine Kammerfrau, die wir vor dreißig oder vierzig Jahren hatten. 4 
,Welchen Charakter hatte sie? 4 .Sie war gut, fleißig und treu/ ,Hast du, 
während sie bei euch in Stellung war, niemals das Fehlen von sibernem Tafel- 
gerät festgestellt? 4 Nach kurzem Nachdenken rief die alte Dame aus; ,Ja, 
ich erinnere mich jetzt; damals verschwanden auf geheimnisvolle Weise eine 
silberne Zuckerdose und andere Gegenstände dieser Art. Warum? 4 Jst dein 
Verdacht niemals auf die Kammerfrau Sarah Clarke gefallen? 4 ,Niemals. Es 
ist wahr, daß sie freien Zugang zu den verschwundenen Gegenständen hatte; 
aber wir kannten sie alle als sehr anständig und über jeden Verdacht erhaben/ 
Jetzt entschloß sich Miß V_, ihrer Tante die mediumistische Botschaft mit¬ 
zuteilen, und man stellte nun fest, daß die Liste der gestohlenen Gegenstände, 
wie sie von dem angeblichen Geist der Sarah Clarke mitgeteilt worden war, mit den 
tatsächlich im Hause der Tante verschwundenen übereinstimmte. Als die alte Dame 
dies erfuhr, beschränkte sie sich darauf zu sagen: ,Wenn Sarah Clarke wirklich 
die Gegenstände gestohlen hat, so verzeihe ich ihr aus ganzem Herzen/ 

Der bemerkenswerteste Umstand bei dieser Geschichte ist, daß seit jenem 
Tage die Kundgebungen im Spukzimmer aufhörten und Sarah Clarke 
niemand mehr erschien, 1 Ich wiederhole, daß ich für die Wahrheit des 
Berichtes bürge, da ich die zwei Zeuginnen persönlich kenne/ 4 

Fall 2 

Der folgende Fall wird in dem obenerwähnten Werke von Illig {S. 214 f.) 
berichtet. 

„Im Frühjahr 1912 starb ein Bauer R. in R. Er hatte die Gewohnheit, 
Geld zu verstecken, um ohne Kenntnis seiner Familie über Geld zu verfügen. 
Es kam darüber öfters zur Aussprache zwischen ihm und seiner Frau. Noch 
auf dem Sterbebette fragte ihn seine Frau nach verstecktem Geld. Er ver¬ 
weigerte aber die Auskunft, Als sie ihn beim Herannahen des Todes nochmals 
fragte, konnte er keine Antwort mehr geben. Nach ungefähr sechs Wochen 
war die Witwe des Verstorbenen einmal bis in die Abenddämmerung hinein 
im Feld. Da hörte sie einen Laut, wie wenn jemand geworfen hätte, und 
gleich darauf Tritte. Sie sah aber nichts. Zur gleichen Zeit war eine Tochter 
im Stall beschäftigt und hatte plötzlich die Empfindung, wie wenn etwas um 
sie wäre. Sie bekam einen Schauder, sah und hörte aber nichts. Von dieser 
Zeit an entstand eine lebhafte Spukerei im Haus, die über ein Jahr anhielt. 
Eine auswärts wohnende Tochter schlief einmal, als sie auf Besuch nach Haus 


1) Von mir gesperrt. 







Alfred Winterstein 


43 8 


gekommen war, in dem Sterbezimmer des Vaters. Da hörte sie in der Nacht 
Stundenlang Tritte im Zimmer, ganz ähnlich denen ihres Vaters. Dazwischen 
hinein vernahm sie ein Stöhnen und Klagen, wie das ihres Vaters zur Zeit 
seiner Krankheit. Sie fürchtete sich infolge dieser Vorgänge, daß sie nicht mehr 
im elterlichen Hause zu halten war und ab reiste. Aucli die Muttei llüite oftmals 
diese Tritte im Haus. Einmal wurde sie sogar gekniffen, wie es ihr Mann 
bei Lebzeiten in Gewohnheit hatte. 1 Das Öffnen und Schließen von 
Türen gehörte zu den Alltäglichkeiten. Eine zweite Tochter war einst an einem 
Kirchweihtag auf Besuch gekommen und beteiligte sich an einer geselligen 
Unterhaltung in einem Gasthaus. Als sie nach Mitternacht nach Hause kam, 
wollte sie sich von dem auf dem Tisch stehenden Kuchen noch ein Stück 
abschneiden. Wie sie das Messer in die Hand nahm, erfolgte von unsichtbarer 
Hand ein so heftiger Schlag auf den Tisch, daß der Kuchen in die Höhe 
flog. Dieser Vorgang ereignete sich bei heller Beleuchtung. Die im Neben¬ 
zimmer wachende Mutter horte den Schlag auch. Ein Bruder hörte sehr oft 
die Türen auf- und zugehen, sowie laute Getöse, wie wenn ein voller Sack 
oder ein ähnlicher schwerer Gegenstand auf den Boden gefallen wäre. Da er 
keine Ursache dieses Lärmes zu entdecken vermochte, begann er oftmals zu 
fluchen. Aber je mehr er fluchte, desto größer wurde der Lärm. 1 
Nach Verfluß eines Jahres fand die Mutter in einem Loch in der Zimmer¬ 
decke einen Geldbetrag, den der Verstorbene versteckt hatte. Nach 
dieser Zeit trat Ruhe ein. 1 

Mehrere Jahre hernach stürzte ihr vorhin erwähnter Sohn von einer 
Leiter ab und fand dabei den Tod. Bald nach dieser Zeit fing der Spuk von 
neuem an, diesmal aber weit schlimmer als nach dem l od des V aters. Auch 
war er insofern von dem bereits erloschenen Spuk gänzlich verschieden, als 
er den verstorbenen Sohn in jeder Weise nachahmte. Es polterte, 
pochte und klapperte zuweilen im Haus und namentlich in der W erkstatt, daß man 
meinte, der Tote wäre noch am Leben und mitten in seiner Arbeit — er war 
Zimmermann. Man glaubte zuweilen sogar die Art der einzelnen Beschäftigung zu 
erkennen. Besonders auffällig war das, wenn im Spuk Bretter geworfen oder 
bearbeitet wurden.“ 

Fall J 

Enthalten in Cesare Lo mb ros os „Hypnotischen und spiritistischen For¬ 
schungen“ (Verlag Julius Hoffmann, Stuttgart, S. 516): 

„In der Kirche S. Giovanni in Modica erschien der Geist einer Wäscherin, die im 
Streit eine Bekannte tödlich verwundet hatte. Die Wäscherin starb ganz plötzlich 
bei der Arbeit. Ihr Geist begibt sich jede Nacht an den Ort, wo sie starb. Dort 
fängt sie zu waschen an. 1 Am Morgen verschwindet sie beim eisten Hahnen¬ 
schrei über dem Kirchdach.“ 

Fall 4 

Auch bei Lombroso (S. 330), der ihn der Zeitschrift „Luce e Ombra“ 
(November 1905) entnimmt: 


1) Von mir gesperrt» 











Zur Psychoanalyse des Spuks 


459 


„. . * In einer Sitzung mit einem anderen Medium erklärte die Mutter {des 
Berichterstatters, des Grafen Galateri), daß sie an der Türe des Spukhauses 
in Annecy eine Militärperson mit einem Holzbein sähe. Dieser Soldat habe ihr 
an vertraut, daß er in den Napoleonischen Schlachten Tote geplündert habe, 
auf diese Weise reich geworden sei und mit dem so erworbenen Gel de dieses 
Landhaus gekauft habe. Der Rest des Schatzes liege im Keller versteckt. Jetzt 
bereue er seine Taten und wolle die Gräfin durch die Geräusche 
veranlassen, das Geld hervorzuholen und an Arme zu verteilen. 1 

Zwei Jahre danach erfuhr die Gräfin, als sie in die Nähe ihres alten Land¬ 
sitzes zurückkehrte, daß die neuen Besitzer wegen der andauernden Geräusche 
das Haus zu jedem Preis veräußern wollten. Denn auch die Beschwörungs- 
formein eines Priesters hatten nichts geholfen. Sie bat, sich nur zwei Tage 
in dem Haus aufhalten zu dürfen, grub im Keller nach und fand dort ein 
Gefäß mit mehreren Tausend Francs in Gold. Sie verteilte dieses Geld 
unter die Armen und seit jener Zeit hörten die spiritistischen 
Phänomene auf.“ 1 

Fall J 

Das folgende Bruchstück stammt aus einem längeren Bericht über Spuk¬ 
vorgänge, die seit dem Frühjahr 1916 von einem Bekannten Illigs beob¬ 
achtet wurden (a. a. O. S. 228): 

„Heute, im Frühjahr 1924, ist in dem Hause noch keine Änderung ein¬ 
getreten. Die spukhaften Erscheinungen setzen zuweilen aus und zeigen sich 
dann wieder um so stärker. Fast alles, was inan wahr nimmt, erinnert 
an die verstorbene Frau. 1 Besonders auffällig sind die Beobachtungen an 
ihrem einstigen Schreibtisch. Hier vernimmt man selbst am Tag zuweilen 
Geräusche, wie wenn daran gearbeitet würde. Man hört mit Papier und 
Feder hantieren, Bücher und andere Gegenstände hinwerfen, den Stuhl 
rücken und was dergleichen mehr ist . . . Die zweite Frau hörte sehr häufig 
in einem Schrank ein metallenes Klingen und Klappern, wie wenn drinnen 
Geld gezählt würde, und es war doch gar kein Geld drinnen. Da fragte sie 
ihren Mann: ,Du, sag 1 einmal, habt ihr denn früher in diesem Schrank euer 
Geld aufbewahrt? fi Dieser bejahte es und fügte hinzu, daß das Aufbewahren 
des Geldes zu den Obliegenheiten seiner Frau gehört habe/' 

Fall 6 

Belichtet in den „Blättern aus Prevorst“, Vierte Sammlung vom Jahre 1855 
(bei Illig, S. 157): 

„Ein epileptischer Hausknecht namens Bengt, der stolz darauf war, von 
seinem Herrn niemals gescholten worden zu sein, bekam von diesem einmal 
eine Ohrfeige; er ging auf die Bühne 2 und erhängte sich. Bald darauf hörte 
man nachts oben poltern, wie es polterte, wenn Bengt seinen 


1) Von mir gesperrt. 

2) Raum unter dem Dach, 






Alfred Winter stein 


44° 


Anfall hatte und dabei die Treppen herunterkollerte . 1 In der ersten 
Zeit entsprachen die Zwischenräume zwischen dem Foltern der 
Zeit zwischen seinen Anfällen.* Später wurde das Poltern seltener, und 
nach ungefähr sieben 1 Jahren hörte es auL 

Fall 7 

Wurde Illig im Jahre 1922 von einer intelligenten Frau aus einer württem- 
bergischen Landgemeinde berichtet (S. 157L 

, Die Berichterstatterin hatte eine Base in N. Bei dieser im gleichen Haus 
wohnte eine nahe Verwandte, eine etwa fünfzig Jahre alte Frau F. t welche 
infolge eines Schlaganfalls urnfiei und die Treppe hinunterkollerte. Sie blieb 
tot auf der Stelle liegen, ohne zuvor das Bewußtsein wiedererlangt zu haben. 
Einige Tage darauf hörten nun die Hausbewohner ein heftiges Poltern, das 
sich längere Zeit wiederholte. Daneben gewahrten sie auf der Treppe, über 
welche die Frau himmterge kollert war, öfters eine Engel in der Größe einer 
Billardkugel. Sie schwebte über die Treppe herunter und platzte auf 
dem Boden mit einem lauten Knall , 1 worauf nichts inehr zu sehen war. 
Auch Fratzengesichter und Hände zeigten sich an den Wänden. Entsprechend 
ihrem Glauben ließen die Verwandten für die Verstorbene, mehrere Messen 
lesen, worauf der Spuk verschwand/ 

Ich rate nun dem Leser, vorläufig alle Einwände gegen die Realität der 
erzählten Spukfälle zurückzustellen und mit mir die charakteristischen 
Züge der einzelnen Beispiele zu betrachten. Ks ist wohl überflüssig zu 
bemerken, daß nur der Raummangel mir verbietet, zahlreiche Beispiele 
dieser Art zu bringen, die durch ihre Häufung mit besserem Erfolg um 
Glauben werben würden als die wenigen von mir berichteten Falle. 

Im ersten Fall sehen wir, wie der Wunsch der verstorbenen Kammer¬ 
zofe, ihren Fehltritt zu gestehen, so stark in ihr war, daß er sie gegen 
ihren Willen zwang, in dem Zimmer zu spuken. Die Gegenprobe für die 
Triebkraft dieses Wunsches dürfen wir in der Tatsache erblicken, daß der 
Spuk, nachdem die Kammerfrau den Diebstahl gebeichtet und die Verzeihung 
ihrer früheren Herrin erlangt hatte, sofort aufhörtc. Vielleicht ist es auch 
gestattet, darauf hinzuweisen, daß das geschäftige Hin- und Hergehen des 
Phantoms im Zimmer eine Lebens gewöhn heit des verstorbenen Kammer¬ 
mädchens zu wiederholen scheint, ein Zug, der in anderen Beispielen noch 
bedeutsamer hervortritt und auf den wir zurückkominen werden. 

Fall 2 erinnert in manchem an den eben besprochenen. Auch hier 
handelt es sich um ein Geheimnis, das ins Grab mitgenommen wird und 
den Verstorbenen nötigt, sich so lange spukhaft zu äußern, bis das Ge^ 


1) Von mir gesperrt. 











Zur Psychoanalyse des Spuks 4,4,1 


heimnis entdeckt ist. Da die Frau wußte, daß ihr Mann Geld versteckt 
hatte, wurde der Spuk nach volkstümlichem Glauben von der Familie mit 
dieser Tatsache in ursäehlichen Zusammenhang gebracht. Daß die Ange¬ 
hörigen mit dieser Annahme nicht fehlgingen, wird durch das Aufhören 
des Spuks, nachdem der Geldbetrag gefunden wurde, bestätigt. Ich glaube, 
man darf also auch vom Spuk wie von einer psychogenen Erkrankung 
sagen: Was sein Erfolg ist, ist seine Absicht. Man gewinnt beim 
Studium des Spuks nämlich immer wieder den Eindruck, als oh er eine 
Absicht mit freilich unzulänglichen Mitteln 1 verfolgte; dies würde eher 
dafür sprechen, daß eine Art von Intelligenz die Kundgebungen bewirkt 
und es sich nicht um bloße Automatismen handelt. Auch der im Fall 2 
erwähnte Zug, daß der Spuklärm immer größer wurde, je mehr der Sohn 
des Bauern fluchte, deutet in dieselbe Richtung. Ist in dem an den Tod 
des Bauern anschließenden Spuk eine Nachahmung seiner Lebensgewohn¬ 
heiten nur schattenhaft zu erkennen, so ist es für den Spuk nach dem 
gewaltsamen Tode des Sohnes geradezu charakteristisch, daß er dessen 
Tätigkeit bei Lebzeiten mit allen ihren Eigentümlichkeiten nachäfft. 2 Auch 
im Fall 3, der nur kurz wiedergegeben wird und an einen Zusammen¬ 
hang zwischen der Gewalttat der Wäscherin und dem späteren Spuk denken 
läßt, wiederholt dieser die Lebensgewohnheiten der verstorbenen Person. 
Fall 4 erinnert wieder an Fall 2. Der tote Soldat fühlt noch immer sein 
Gewissen durch den Besitz des unrechtmäßig erworbenen Geldes bedrückt 
und spukt in der ausgesprochenen Absicht, die Bewohner des Hauses zu 
veranlassen, daß sie das Geld hervorholen und an die Armen verteilen. 
Auch hier hört mit der Erfüllung des Wunsches des Verstorbenen der 
Spuk auf. Im Fall 3 kopieren die Spukerscheinungen die Lebensgewohn¬ 
heiten der verstorbenen Frau (ähnlich wie Fall 2 und Fall 3); im Pall 6 
wird der epileptische Anfall und im Fall 7 die Todeskatastrophe spukhaft 
wiederholt. 3 * 5 


1) So wird fast nie im Rahmen der Spukkundgebungen das Motiv direkt ange¬ 
geben. Im Fall 1 (vermutlich auch im Fall 4) erfolgt die Mitteilung bei einer 
inedinmistischen Sitzung. Es tritt also offenbar hier ein Ausdrucksmittel (Medium) 
hinzu, das erst eine intelligente Äußerung ermöglicht. 

2) Es hat den Anschein, als ob dieser Wiederholungszwang von Triebregungen 

ausginge, die die Wiederherstellung eines durch die Vernichtung des Lehens ge¬ 

störten Gleichgewichtszustandes anstreben. Vgl. dagegen Freud: Das Ich und das 
Es. Ges. Schriften, Bd. VI, S. 385. 

5) Der Sturz der Frau wird im Fall 7 nur symbolisch wiederholt (durch herab¬ 
schwebende und platzende Kugeln). — Oder handelt es sich um eine Vorstufe der 
Materialisation (das den Okkultisten geläufige sogenannte Kugelphänomen)? Bereits 







Alfred Winterstein 


442 


Zur Erklärung des scheinbar automatischen Wiederholens spukhafter 
Darstellungen, das den Charakter des Dämonischen, Unheimlichen noch 
verstärkt, hat bereits 111 ig* den neurotischen Wiederholungszwang 
herangezogen, dessen Wirksamkeit Freud in seiner Schrift „Jenseits des 
Lustprinzips“ nach gewiesen hat. Gewisse Spukfälle zeigen, unter diesem 
Gesichtspunkte betrachtet, eine weitgehende Analogie mit dem Traum¬ 
leben der traumatischen Neurose, andere wieder mit der neurotischen Re¬ 
produktion während der Analyse, Um das Verständnis zu erleichtern, kann 
man nun nicht umhin, zur Hypothese zu greifen, daß auch im Sterben 
so wie beim Einschlafen oder bei der Herstellung der analytischen Situation 
das verdrängte Unbewußte zur Herrschaft gelangt, nur daß dieses Unbe¬ 
wußte im Spuk und in den Symptomhandlungen des neurotischen Patienten 
agiert, zum Unterschiede vom bloß halluzinatorischen Traumleben der 
traumatischen Neurose, das den Kranken immer wieder in die Situation 
seines Unfalles zurückführt, * 1 2 3 Zu der ersten Kategorie von Spukkundgebungen 
gehören jene Fälle, die durch einen gewaltsamen Tod, sei es Ermordung 
oder Selbstmord, 5 oder durch ein anderes Schreckerlebnis unmittelbar vor 
dem Tode verursacht scheinen* Man könnte hier vielleicht auch an einen 
Gedanken Freuds anknüpfen, daß jeder Organismus nur auf seine Weise 
sterben will, 4 und im Spuk eine Reaktion der tiefsten biologischen Mächte 
gegen dieses Trauma des Todes erblicken. Ich verweise auf Fall 5 (der 
plötzliche Tod des Sohnes), Fall 6 und Fall y* wobei es zunächst unklar 
bleibt, warum im Spuk einmal die Lebensgewohnheiten der verstorbenen 
Person nach geahmt werden, ein anderes Mal die Todeskatastrophe selbst 
mimisch wiederholt wird, 5 Bei der zweiten Gruppe von Spukfällen ist man 
versucht, an eine Verursachung durch einen vom Ich bei Lebzeiten nicht 
bewältigten psychischen Inhalt oder durch einen unerledigten moral ischen 


Plato spricht im Symposion von der Kugelgestalt des geschlechtlich gedoppelten 
Urwesens — man weiß nicht, ob aus Erfahrung oder Intuition, (Hinweis bei Illlg, 
a* a. O* S. 186*) 

1) Hlig, a, a. O. S, 276 f* u* passim» 

2 ) Die Periodizität vieler Spukfälle läßt sich wahrscheinlich durch Fixierung an 
den Moment des „Traumas“ erklären* 

3) Dem Volksglauben ist der Zusammenhang des Spukes mit gewaltsamer Todesart 
geläufig. 

4) Freud: Jenseits des Lustprinzips» Ges, Schriften, Bd. VI, S, 217» 

5) Besonders interessant ist im Falle 6 die sieben Jahre dauernde Wiederholung 
des epileptischen Anfalls. Vielleicht greift das Unbewußte gerade zu dieser Äußerung, 
weil sie in der Linie des geringsten Widerstandes liegt* 






Zur Psychoanalyse des Spuks 445 


Konflikt zu denken, 1 Der Wiederholungszwang laßt unter gewissen uns 
nicht näher bekannten Bedingungen die verpönten Regungen nach dem 
Tode zu spukhafter Darstellung gelangen; in ihr ist aber immer gleich¬ 
zeitig auch eine Wirkung des Schuldgefühls (Strafbedürfnisses) zu er¬ 
kennen, so daß man den Spuk wie das neurotische Symptom als ein Pro¬ 
dukt des Geständniszwanges 2 bezeichnen könnte. Der Spuk hört in dem 
Augenblick auf, wo der Inhalt des unbewußten Geständnisses von den 
Lebenden durchschaut wird, also im Fall 2, sobald die Witwe das vom 
Verstorbenen seiner Familie vorenthaltene, versteckte Geld aufgefunden 
hatte. In einzelnen Fällen (1 und 4) scheint der Verstorbene mit Hilfe 
eines Mediums sogar imstande zu sein, ein direktes Geständnis (Verwand¬ 
lung der Wiederholung in Erinnerung) abzulegen; die vollständige Befrie¬ 
digung des Strafbedürfnisses (Verzeihung seitens der geschädigten Person, 
Verteilung des Geldes unter die Armen) bringt dann den Heilungsprozeß 
zum Abschluß und macht den Spukphänomenen ein Ende. Man darf also 
vielleicht nach dem Gesagten mit aller gebotenen Vorsicht die Vermutung 
aussprechen, daß sich in gewissen, wahrscheinlich sehr seltenen Fällen die 
Tätigkeit der menschlichen Persönlichkeit noch einige Zeit nach dem Auf¬ 
hören der Lebenserscheinungen fortzusetzen vermag. Die Spukphänomene 
mit ihrer monotonen, automatischen Wiederholung einer und derselben 
Handlung erwecken aber den Eindruck, daß es sich hiebei nicht um das 
Überleben der ganzen Psyche handelt, sondern nur eines autonom gewor¬ 
denen Vorstellungskomplexes, einer fixen Idee ,3 einer Zwangsvorstellung, 
die zur fortwährenden Abfuhr und Realisierung durch die Spukerschei¬ 
nungen (bisweilen bloß symbolisch) drängt. Daß in so vielen Berichten 
Geld eine Rolle spielt und die spukende Intelligenz sich häufig auf bos¬ 
hafte, quälende Weise bis zur hartnäckigen Verfolgung einer bestimmten 
Person manifestiert, ließe sich auf analerotische und sadistische* Regungen 
zurückführen, die ja bekanntlich die prägenitale Organisation der Zwangs¬ 
neurotiker und die postgenitale alternder Menschen, namentlich Frauen, 
kennzeichnen. Ich getraue mich jedoch nicht zu entscheiden, oh diese 


1) In sehr vielen Fällen fand ich die durch einen begangenen Mord bewirkte 

seelische Erschütterung als Ursache. . , „ , 

2) Vgl. Th. Keik: Geständniszwang und Strafbedürfms. Internationale Psycho¬ 
analytische Bibliothek, Bd. XVIII. 

O Schon du Prel spricht von posthumen Monoideismen. 

4,) Über den Sadismus als verschobenen Todestrieb siehe Freud: Jenseits des 
Lustprinzips. Ges. Schriften, Bd. VI, S. 227. 










Alfred Winterstein 


444 


Regression des Sexuallebens mit der (manchmal geradezu vererblichen) 
Fähigkeit zu spukhafter Äußerung nach dem 'Tode in einem tieferen 
Zusammenhänge steht. 

Wir glauben, in der Phänomenologie des Spuks die Auswirkung ganz 
bestimmter der Psychoanalyse geläufiger seelischer Mechanismen aufgezeigt 
zu haben, und wollen nun dar legen, was uns zu der Auffassung berechtigt* 
daß es sich hier um psychisch bedingte, reale Vorgänge handelt, die, so 
rätselhaft sie uns auch heute noch erscheinen mögen, eines Tages sicherlich 
ihren Platz im Gefüge der bioanalytischen Wissenschaft 1 vom Leben finden 
werden. Daß die Spukphänomene sich so abspielen, als ob ihnen psjxhische 
Mechanismen zugrunde lägen, wäre an sich vorn Standpunkte der Psycho¬ 
analyse aus natürlich noch kein Grund, ihnen objektive Realität zuzuerkennen 
(mit demselben Rechte müßte man ja dann die Phantasiegestalten der Dichter 
für wirklich Lebende hallen), man würde vielmehr zunächst annehmen, 
daß die Erscheinung durch neurotische Projektion unbewußter Regungen 
des Beobachters entstanden ist, also eine subjektive Halluzmation darstellt. 
Diese Deutung empfiehlt sich dort als die wahrscheinlichere, wo nichts 
anderes als das Zeugnis einer einzelnen Person vorliegt. Werden aber der¬ 
artige Phänomene von verschiedenen Personen unabhängig voneinander 
durch lange Zeiträume wahrgenommen oder geht das Anmelden eines 
Sterbenden in länger dauernden Verstorbenenspuk unmittelbar über, 2 gelangen 
durch die Spukkundgebungen Tatsachen und Ereignisse zur Kenntnis der 
Beobachter, von denen diese unmöglich etwas wissen konnten (eventuell 
nachträgliche Bestätigung durch Dokumente, Funde u, ä.), entsprechen die 
(materiellen) Spukerscheinungen einer mit einem Toten zu dessen Lebzeiten 
getroffenen Verabredung oder hören die Spukvorgänge nach Erfüllung des 
Wunsches eines Toten auf und stehen sie auch noch mit mediumistischen 
Experimenten in Zusammenhang: 3 in allen diesen Fällen scheint mir die 
Projektionstheorie völlig zu versagen und die Auffassung des Verstorbenen' 
spuks als eines äußeren, vom Beobachter unabhängigen Vorgangs unab- 
weislich zu sein. Vielleicht würden wir uns gegen diese Annahme weniger 
heftig sträuben, wenn wir nicht, im Banne der Todesfurcht, den Tod als 
unüberschreitbare Lebensferne betrachteten* Ist aber vom wissenschaftlichen 


1) Vgl. S. Ferenczi: Versuche einer Genitultlioorio. Internationale Psychoanalytische 
Bibliothek, Bd* 15, S. 111 ff 

2) Diese — allerdings seltenen — Falle gehören zu den überzeugendsten. Vgl. hiem 
Rud. Lambert: Spuk, Gespenster- und Apportphänomene, Berlin 1923» 

3) Es handelt sich hier nur um eine demonstrative, nicht taxative Aufzählung. 






Zur Psychoanalyse des Spuks 


Standpunkte nicht Ferenczis 1 Anschauung vorzuziehen, „daß es eine voll¬ 
kommene Entmischung der Lehens- und Todestriebe überhaupt nicht 
gibt, daß es selbst in der sogenannten ,toten‘ Materie, also im Anorganischen, 
noch Lebenskeime gibt und damit auch Regression stendenzen zu jener höheren 
Komplikation, aus deren Zerfall sie entstanden sind“ ? 

Nicht als Beweis für die objektive Realität des Spuks, wohl aber dafür, 
daß schon vor aller Wissenschaft große Dichter intuitiv dessen psychischen 
Mechanismus erkannt haben, möchte ich noch zwei Beispiele aus Shake¬ 
speare an führen, die den von uns erwähnten beiden Gattungen von Spuk 
entsprechen. Ich brauche wohl nicht neuerlich hervorzuheben, daß mit 
diesen zwei Gattungen nicht alle Arten von Spuk erschöpft sind und daß 
die einzelnen Spukfälle auch nicht immer eindeutig in eine der Kategorien 
eingereiht werden können. Ein Fall von Spuk nach gewaltsamem Tode liegt 
im „Hamlet“ vor, wo Hamlets Vater vier Nächte hindurch auf der Terrasse 
des Schlosses in Helsingör und dann noch einmal am hellichten Tag im 
Zimmer der Königin (dort freilich bezeichnenderweise nur Hamlet sichtbar) 
erscheint. Er laßt selbst erraten, warum er spukt: 

„So ward ich schlafend und durch Bruderhand 
Um Leben, Krone, Weib mit eins beraubt, 

In meiner Sünden Bliitc hingerafft, 

Ohne Nachtmahl, ohne Beichte, ohne Ölung; 

Die Rechnung nicht geschlossen, ins Gericht 
Mit aller Schuld auf meinem Haupt gesandt,“ 

(Akt ü Szene 5,) 

Dadurch, daß der Geist die Sorge um sein Seelenheil in den Vorder¬ 
grund stellt, nähert sich der Fall mit anderen dieser Art der zweiten Gattung 
von Spukkundgebungen, die durch einen moralischen Konflikt verursacht 
zu sein scheinen. Der Spuk hört auf, nachdem der Geist mit Hamlet in 
Verbindung getreten ist und die Überzeugung erlangt hat, daß dieser ihn 
rächen wird. 

Bei dem zweiten Beispiel, das schon Illig 2 * herangezogen hat, handelt 
es sich eigentlich nicht um einen Verstorbenenspuk, 5 aber die Äußerungen 
sind so identisch mit dem Bild eines Spuks, daß man an ihnen, — an de m 
Gehaben der nachtwandlerischen Lady Macbeth, —gerade weil wir hi er 


1) Ferenczi, a, a. O, S. 127* 

2) Illigs a. a, O. S. 286 k 

5} Wie bei der Erscheinung von Banquos Geist in „Macbeth“, 






Alfred Winterstein 


446 


den seelischen Zusammenhang mit Hilfe der Kunst eines großen Dichters 
durchschauen, besser als irgendwo anders den psychischen Mechanismus 
des Spuks studieren können* In der ersten Szene des fünften Aufzuges be¬ 
obachten der Arzt und die Kammerfrau das seltsame Benehmen der Lady 
Macbeth, das sich nach der Erzählung der Kammerfrau Nacht für Nacht 
wiederholt: in tiefem Schlafe steht sie aus ihrem Bette auf, macht sich 
an ihrem Schreibtische 1 zu schaffen, reibt sich immer wieder die Hände, 
als ob sie sie wüsche, um die Blutspur zu entfernen, seufzt ob der Ergebnis¬ 
losigkeit ihres Bemühens* Erinnert das Verhalten der Somnambulen nicht 
Zug für Zug, in seiner Zwangsläufigkeit und Monotonie, in seiner Fixierung 
an die Eindrücke der einen Schreckensnacht, an die Berichte über Geister¬ 
erscheinungen, die jahre- und jahrzehntelang klagend und stöhnend in 
verrufenen Häusern oder Schlössern umgehen und gewisse uns unverständ¬ 
liche oder sinnlos dünkende Handlungen in öder Gleichförmigkeit wieder¬ 
holen? Lady Macbeth hat sich mit Blutschuld beladen, 2 * aber die Seele 
dieser ehrgeizigen Frau ist der grausen Tat doch nicht gewachsen gewesen, 
ihre gewaltsam ins Unbewußte verdrängte Weiblichkeit beschwört den Konflikt 
herauf und treibt sie in die psychische Erkrankung, die sich in den geschil¬ 
derten Zwangssymptomen äußert. Das Reiben der Hände („Alle Wohlgerüche 
Arabiens machen nicht süßduftend diese kleine Hand' 4 ) ist ja schon öfters 
von psychoanalytischer Seite mit dem Wasch™ und Reinlichkeitszwang der 
Zwangsneurotiker verglichen worden. Der Arzt bei Shakespeare weiß genau, 
daß die Kranke nur durch ein Geständnis vor sich und vor anderen geheilt 

werden kann. |t ran ke Seele will ins taube Kissen 

Entladen ihr Geheimnis. Sie bedarf 
Des Beicht’gers mehr noch als des Arztes.“ 


Und als Macbeth den Arzt fragt, ob er sie nicht mit seinen Mitteln kurieren 
könne, antwortet dieser kopfschüttelnd: „Da muß der Kranke selbst das 
Mittel finden.“ 

Fassen wir Macbeth und seine Frau, dem Winke Jekels' und treuds 
folgend, als eine einzige psychische Individualität auf und nehmen wir an. 


1) Vgl* hiezu Fall 5. 

2) Mit Recht hat Jekels in einer unveröffentlichten Studie über den „Kaufmann 
von Venedig“ auf eine Eigentümlichkeit des Dramatiker» Shakespeare aufmerksam 

gemacht, der häufig einen Charakter in zwei Personen zerlegt; jede von diesen ist 
nur zum Teil begreiflich, solange man sie nicht mit der anderen wiederum zur Ein¬ 
heit zusammenseLzt* Dies gilt auch von Macbeth und der Lady. (Vgl. auch Freud; 

Charaktertypen aus der psychoanalytischen Arbeit. Ges. Schriften, Bd. XA 












Zur Psychoanalyse des Spuks 447 


es handelte sich nicht um eine Schöpfung dichterischer Phantasie, sondern 
um einen wirklichen Menschen. Dann ließe sich aus einer psychologischen 
Gesetzmäßigkeit heraus wohl begreifen, wenn dieser Verbrecher nach seinem 
überdies auch noch gewaltsamen 1 Tode spukte. Macbeth hat den Schlaf 
gemordet, „den Tod im Leben jedes Tags“, darum darf er selbst keine 
Ruhe finden. 

Wollte man mich aber zum Schlüsse fragen, warum es denn nicht viel 
mehr Spukfälle gebe, da ja doch die aufgezählten Voraussetzungen sehr häufig 
anzutreffen seien, so müßte ich erwidern: Ich weiß es nicht, ich bilde mir 
ja nicht ein, alle Ursachen zu kennen. Offenbar gehört noch etwas Weiteres 
dazu, vielleicht erraten wir es, wenn wir von einer (wie 111 ig meint, bis¬ 
weilen vererblichen) psychischen Disposition zum Spuk reden. Über das 
Wesen dieses „konstitutionellen Momentes“ werden hoffentlich spätere For¬ 
schungen, zu denen diese bescheidene Arbeit anregen möchte, Licht ver¬ 
breiten. 


i) Macbeth wird von Macduff im Zweikampf getötet und von Lady Macbeth heißt 
es: ... der Teufels fürs tin, die, wie man spricht, mit eigner, wilder Hand ihr Leben 
nahm.“ (V. Akt, 7. Szene.) 










Drei psychoanalytische Notizen 

* Von 

Theodor Re i k 

Wien 

Die drei kleinen Abschnitte* die hier folgen, dürfen — streng genommen — 
keinen Raum in ausgeführter wissenschaftlicher Arbeit beanspruchen. Allein gelegent¬ 
lich muß man wohl auch den Mut nufbringen, anspruchslosere Skizzen statt eines 
fertigen Bildes zu zeigen („das sind die Kleinen von den Meinen“) und wird doch 
nicht fürchten müssen, eine allzustrenge Kritik des Beschauers herauszufordern. Der 
Zeichner dieser drei Skizzen wenigstens würde sehr zufrieden sein, wenn sie, dem 
freudigen Anlaß des Tages entsprechend, einem vertrauten Antlitz ein flüchtiges 
Lächeln abgewinnen konnten- 

X 

Die GrußVerlegenheit 

Es ist sicher nur eine Frage der Zeit, daß eine Person, die unserem 
Kreise angehört, uns eine analytische Untersuchung über die Psychologie 
des Grußes vorlegen wird. Ich bin mm besorgt, dieser künftige Forscher 
könnte über dem ausgebreiteten ethnologisch und psychologisch gleich 
interessanten Material eine Kleinigkeit übersehen, die doch nicht unwichtig 
ist: die Gruß Verlegenheit. Freud hat bereits auf die Grußschwierigkeiten 
der Zwangsneurotiker hingewiesen und dabei insbesondere jene Schwierig“ 
keiten hervorgehoben, die sich auf das Hutabnehmen beziehen. 1 Die Gru߬ 
verlegenheit ist aber eine allgemeinere Erscheinung; sie soll hier jene Ver¬ 
legenheit bezeichnen, die viele Personen verspüren, wenn sie eine andere 
treffen und begrüßen sollen. Es handelt sich hier nicht nur um die Frage, 
ob sie grüßen sollen, sondern auch um die fast schwieriger zu beantwortende, 
wie dies zu geschehen hat. Bei einem Patienten wurde das Problem, wie 

i) Freud: Eine Beziehung zwischen einem Symbol und einem Symptom. Ges. 
Schriften. Bd. V. 







Drei psychoanalytische Notizen 


449 


tief der Hut gezogen werden solle und wie eine Verbeugung ausfallen 
solle, ohne zu vertraulich oder zu demütig zu sein, zum Gegenstand 
zahlreicher Grübeleien. Eine Unsicherheit im Gruß selbst wird sich 
als Zeichen der Ambivalenz insbesondere beim Zwangsneurotiker be¬ 
merkbar machen. Derselbe Patient, von dem berichtet wurde, konnte 
lange bei dem üblichen Händedruck meine Hand nicht finden, immer 
wieder griff er daneben, berührte den Ärmel meines Rockes usw t Es 
ergab sich so für die beiderseitigen Hände eine eigenartige Situation: 
sie konnten zusammen nicht kommen. Inhalt und Form des Grußes sind 
mannigfachen, individuellen Schwierigkeiten und Unsicherheiten ausgesetzt, 
auch wenn die Beziehungen zwischen den Personen — oberflächlich he- * 
trachtet — durchaus geregelt und in gesicherten Bahnen zu verlaufen 
scheinen. Es ist dann so, als würden sich die unbewußten Regungen gerade 
auf dieses isolierte Detail des persönlichen Verkehres beschränkt haben, 
wie wenn hier die Einfallspforle des Verdrängten wäre. Einer meiner 
Patienten hatte die Gewohnheit, Leute, die er kannte, und denen er bewußt 
keineswegs grollte, für lange Zeit unbewußt zu übersehen, um sie nachher 
wieder freundlich zu grüßen. Es war, wie wenn sie einige Zeit in Ungnade 
gefallen wären, um sich später wieder seiner Gunst zu erfreuen; erst die 
Analyse konnte diese anscheinend so grundlosen Periodizitäten aufklären. 
Derselbe Patient hatte sich auch ein zweizeitiges Grußzeremoniell zurecht¬ 
gemacht, das ihn zwang, erst an dem zu Grüßenden vorbeizugehen und 
ihn dann, sich umdrehend, zu grüßen, als erkenne er ihn erst jetzt: eine 
Analogie zu einer auch sonst gelegentlich vorkommenden Erscheinung, 
Hatte er jemanden mündlich zu begrüßen, so verspürte er eine gelinde 
Verlegenheit, als müsse er sich irgendwie schämen. Dieses Gefühl kam 
auch im Stottern bei dieser Gelegenheit zum Ausdruck, Es war klar, daß 
er den Gruß regressiv wieder sexual isiert hatte. Es kam vor, daß er einen 
gleichgültigen Bekannten, den er getroffen hatte, ängstlich im Gespräche 
festhielt, nicht weil er den Abschiedsschmerz, weil er die Grußschwierig¬ 
keiten beim Abschied fürchtete. Alles weist darauf hin, daß uns der Gruß 
unbewußt doch mehr bedeuten muß, als wir wahr haben mochten. Ärgern 
wir uns nicht, wenn uns jemand salopp grüßt, obwohl wir uns doch vor¬ 
sagen, daß uns Hekufaa dagegen eine Staatsaktion bedeutet? Verspüren wir 
nicht ein brennendes Gefühl der Scham, wenn es uns gelegentlich geschieht, 
daß uns eine besonders geachtete, altere Person zuerst grüßt; so, als hätten wir 
ein unentschuldbares Versäumnis begangen — obwohl wir doch bereit sind, 
zu beschwören, wir haben sie früher nicht bemerkt? Sehen wir nun von patho- 


Imago XII 


29 






45° 


Theodor Reik 


logischen Vergrößerungen und Vergröberungen ab, so muß man doch sagen, 
daß die Grußverlegenheit auch innerhalb der Breite des Normalen in gerin^ 
gerem Grade auftritt. Man wird um eine Erklärung nicht verlegen sein. Es 
handelt sich darum, daß sexuelle und aggressive Tendenzen unbewußter Art in 
dieser Verlegenheit störend in die gesellschaftlichen Konventionen eingreifen. 
Die ersteren sind ohneweiters klar, wenn wir uns des Jünglings erinnern, der 
errötend „ihren“ Spuren folgt, der in die Lage kommt, die scheu Geliebte 
zu begrüßen, oder des Mädchens, das den Gruß des Anbeters zu erwidern 
hat. Die feindlichen Impulse, die sich in der Grußverlegenheit melden, 
führen zu mannigfachen Hemmungen und Abänderungen des Grußes sowie 
* zu Fehlhandlungen innerhalb des Grüßens. Schließlich können sie es 
zustande bringen, daß der Gruß selbst unterbleibt. 

Es scheint uns auf den ersten Blick, als ob der Gruß als ein an sich 
unwichtiges Detail des gesellschaftlichen Verkehres für uns unbewußt einen 
Affekt wert besitze, den wir ihm bewußt nicht zuschreiben. Aber diese 
Verschiebung auf ein Detail wäre unmöglich, wenn das Detail nicht einmal 
wirklich eine gewisse Bedeutung gehabt hatte. Es erscheint uns dann die 
Funktion des Grußes in verändertem Lichte : es ist so, als würde er sich aus 
einer ursprünglich undifferenzierten, triebhaften Form der ersten Annäherung, 
in der Feindseligkeit oder Liebesbereitschaft zum Ausdruck kamen, erst 
langsam zu seiner jetzigen freundlicheren Bedeutung entwickelt haben. Er 
hat dann allmählich die Funktion übernommen, eine Art Versicherung 
dafür zu geben, daß man auf die Befriedigung feindlicher Gelüste ver¬ 
zichtet habe, und ist endlich zu einer konventionellen Gebärde erstarrt. 
Homo hornini lupiis — das Vorstadium des Grußes, das etwa Hunde zeigen, 
die sich vorsichtig einander annähern, um sich zu beschnuppern, ist zum 
Teil noch im Nasengruß mancher Völker zu erkennen. Diese Herkunft 
des Grußes aus der Hemmung und Verdrängung feindlicher und sexueller 
Impulse laßt es verständlich erscheinen, daß er in der Regression zum 
Objekt mannigfacher Unsicherheiten und Verlegenheiten werden kann, in 
denen klar wird, daß jene verdrängten Gefühle und Wünsche nicht aus¬ 
gestorben sind. Sie kehren etwa im kühlen oder hochmütigen Gruß aus 
der Mitte des Verdrängenden wieder. Nestroy läßt eine seiner Personen, 
sagen: „Wie schön is das, wenn man jemand die Hand in die Hand 
legen muß, dem inan’s am liebsten ins G’sicht legen möclit . 

Die Rolle der unbewußten Feindseligkeit und des Mißtrauens geht noch 
über den Gruß hinaus und beherrscht die anderen Initialzeremonielle des 
gesellschaftlichen Verkehres, als wären diese Abwehrmaßregel, Sicherheits- 







Drei psychoanalytische Notizen 


45 1 


maßnahmen gegen die von allen Seiten lauernden Gefahren der Feindschaft 
aller gegen alle* Das Vorstellen, das sich als Form des Bekanntwerdens 
in unserer Gesellschaftsschichte eingebürgert hat, ist sicherlich eine solche 
Art unbewußter Garantie, die ja, wie bekannt, nicht immer ausreicht* 
Auch hier werden Verlegenheiten zum Zeichen der Hemmungen und Un¬ 
sicherheiten, die aus derselben Quelle stammen. 

Die Gesellschaft hat sich diese Abw ehrmaß regeln, die den individuellen 
der Zwangsneurotiker analog und psychisch wie diese aufgebaut sind, ge¬ 
schaffen und bedarf ihrer, weil sie so viele Unsicherheiten beherrschen 
muß. Manchmal zeigt uns ein Vorfall, daß sie noch unsicherer wird, wenn 
sie der gewohnten Zeremonielle ent raten muß. Es sieht dann so aus, als 
fühle sie sich, dieser Sicherungen beraubt, für kurze Zeit so angstvoll und 
hilflos wie Zwangsneurotiker, die sich unter dem Drucke einer äußeren 
Notwendigkeit die Einhaltung eines Zeremoniells versagen müssen. Bekannt 
und oft angeführt ist die Situation, in der Li vingstone und Stanley 
einander zum erstenmal trafen. Nach Überwindung vieler Schwierigkeiten 
und langem LFmherirren hatte Stanley endlich den verloren geglaubten 
Li vingstone mitten im Urwald Afrikas gefunden. Als die beiden Engländer 
einander unter so romantischen Umständen ansichtig wurden, blieben sie 
einen Augenblick lang wie festgebannt an der Stelle* Es war ein Augen¬ 
blick voll Unsicherheit und Verlegenheit. Sie waren einander nicht vor¬ 
gestellt* 

II 

Der latente Sinn der elliptischen Entstellung 

Die Auslassungstechnik der Zwangsgedanken sowie des Witzes wurde von 
Freud zum ersten Male klargelegt und in ihren Zielen verständlich gemacht. 
Die Auslassung will den wirkliciien Wortlaut der Zwangsidee entstellen 
und so gegen das Verständnis schützen. Als Beispiel sei die Zwangsidee eines 
Patienten angeführt, der sich mit Aufwand großer psychischer Energie gegen 
blasphemische Gedanken zur Wehr setzte: Wenn ich einen Schuhriemen 
einschnüre, verfluche ich Gott. Da sich dieser Gedanke schließlich 
auf alle Schuhriemen verschob, sah er sich genötigt, mit offenen Schuh¬ 
riemen auf der Straße zu gehen. Die Einsetzung der übersprungenen, in 
der Analyse erschlossenen gedanklichen Zwischenglieder ist zum Verständnis 
der Zwangsidee notwendig. Die Bedeutung des Einschnürens der Schuh¬ 
riemen in die Ösen als Sexualsymbol für den Geschlechtsverkehr sowie der 


29, 





Theodor Reik 


Mechanismus der Verschiebung auf ein Kleines liefern die erforderliche 
Aufklärung* Der ergänzte Gedankengang lautet: wenn ich einen Geschlechts¬ 
verkehr ausführen will, stört mich der Gedanke an den Vater, so daß ich 
ihn verfluchen will und dieser Fluch könnte in Erfüllung gehen* Diese 
Zwangsidee, auf Gott als den Störer der Sexualität verschoben, gibt das 
Wesentliche der Lösung. 1 

Wir stellen dieser Zwangsidee einen Witz zur Seite, dessen Technik eben¬ 
falls die der Auslassung ist* Der Wiener Athlet und Ringkämpfer Jagen¬ 
dorfer erzählt seinen Freunden beim abendlichen Stammtisch folgendes 
Erlebnis des Tages: „Denkt’s euch, wie ich heut’ in mein Kaifeehaus komm* 
und meine Billardpartie spielen will, ist mein Queue nicht da. Ich such* 
überall und find* es nicht. Da seh* ich einen Herrn am anderen Billard¬ 
tisch spielen und seh*, daß er mit meinem Queue spielt. Ich geh* also hin 
und sag* ihm: ,Herr, das ist mein Queue/ Sagt er: ,Nein, das ist meines/ 
Sag ich: ,Herr, geben S* das Queue her, wenn ich Ihnen schon sag, es 
ist mein Queue** Er aber gibt nicht nach und sagt immer wieder, daß es 
seines ist, Wie*s ihn dann mit Essig g*wasch*n haben, seh* ich erst, 
daß es wirklich nicht mein Queue war“ Es ist die Frage berechtigt, 
ob hier überhaupt ein Witz vorliegt* Handelt es sich nicht vielmehr um 
eine komische Geschichte? Sehen wir näher zu: der erste Eindruck könnte 
ein komischer sein; wir lachen über den ungeschlachten Riesen, der wegen 
einer solchen Bagatelle einen — noch dazu unschuldigen — Nebenmen sehen 
zu Boden schlägt» Wir würden sicher nicht so handeln; es ergibt sich hier 
jener Fall des Komischen, der entsteht, wenn wir den Aufwand — in 
unserem Fall den körperlichen und affektiven — anderer Personen mit 
dem vergleichen, den wir in gleicher Situation zeigen würden. Es wäre 
also der allzugroße Aufwand, der uns lachen macht* 2 Es ist so, wie wenn 
wir uns sagen würden: was für ein TölpelI konnte er nicht sorgsamer 
überprüfen, wessen Billardqueue es war? Wir merken aber bei dieser Er¬ 
klärung, wie wenig komisch das eigentlich ist; wir müßten eigentlich über 
diesen Mangel an seelischem Gleichmaß und diese Brutalität entrüstet sein. 
Versuchen wir eine andere Fassung der Erzählung etwa: „Wie ich ihm 
dann einen Faustschlag versetzt habe, so daß er ohnmächtig wurde, sehe 

1) Der Vater hatte zur Pubertätszeit des Sohnes die Onanie energisch und unter 
starken Drohungen verboten. Gleichzeitig hatten andere Personen, die ihm nahe 
standen, die Onanie als Sünde und Verbrechen gegen Gott hingestellt. 

2) Freud: DerWitz und seine Beziehung zum Unbewußten. Ges. Schriften. Bd. IX, 

S* 222 f* 




















Drei psychoanalytische Notizen 


ich erst . . so bemerken wir, daß vielleicht noch immer ein Stück Komik 
übrigbleibt, aber es ist nichts mehr da, was uns berechtigen würde, hier 
einen Witz zu finden. Wir sehen also: einer der Fälle, in denen das Komische 
dem Witz als Fassade dient. Das Witzige hängt gerade an dem Moment 
der Auslassung dieses Satzes und an der Ausdrucksweise des folgenden, der 
eine Anspielung auf das Ausgelassene enthält* Diese Fortsetzung zeigt ebenso 
wie das Überspringen, daß das Niederschlagen dem Athleten so selbstver¬ 
ständlich erscheint, daß er es gar nicht erwähnen braucht; sogar das „Mit- 
essigwaschen“ erwähnt er nur so nebenbei, als Zeitbestimmung. Wir erkennen 
jetzt, daß es diese Technik war, die auch für das Komische entscheidend 
war: gerade diese Unbekümmertheit und Selbstverständlichkeit der Aggression, 
sowie ihr selbstverständlicher, in unseren Augen übertriebener Erfolg wirken 
zusammen, um unsere Entrüstung über eine solche Brutalität ersparen zu 
helfen und uns lachen zu machen* Daß der Athlet dann seinen Irrtum 
einsieht, hat die verstärkende Wirkung, daß es uns das Übereilte und Un¬ 
zweckmäßige seiner Aktion zeigt; wir lachen über ihn, wie wir über die 
unzweckmäßigen und übermäßigen Bewegungen von Kindern lachen. 1 

Wir haben nicht vergessen, daß das Komische hier den Witz verdeckt. 
Das Komische wirkt sich darin aus, daß wir über den Athleten lachen; 
das Witzige in der Erzählung wird die Wirkung haben, daß wir mit ihm 
lachen* Wir lachen nämlich über seinen Bericht auch, weil er, durch die 
Vorlust verdeckt, tiefere, unbewußte Regungen in uns freigemacht hat* Wir 
fühlen: eigentlich sind diese selben gewaltsamen und gewalttätigen Regungen 
in uns allen; auch wir wären fähig, wenn uns nicht die Kulturhemmungen 
hinderten und wenn wir über die Körper kraft e eines Athleten verfügten, 
einen niederzuschlagen, wenn wir überzeugt sind, er wolle uns unser gutes 
Recht streitig machen. Unsere aggressiven und sadistischen Impulse erfahren 
eine plötzliche Aufhebung der Hemmung, wenn wir uns mit dem Athleten 
identifizieren. Wir lachen also aus erspartem Hemmungsaufwand, 

Doch wir wollten uns ja nicht mit der Psychogenese der Witz Wirkung, 
sondern mit der speziellen Technik der Auslassung beschäftigen* Die latente 
Bedeutung der Auslassung oder der elliptischen Technik scheint mir nun 
zu sein, daß mit diesem technischen Mittel auch ein spezifischer Inhalt ver¬ 
bunden ist, der eben auf das Wegschaffen, Aus-denrWege-Räumen eines 
Objektes hinzielt* Es ist also so, als ob durch die Auslassung unbewußt eine 
Tendenz zum Ausdruck käme, welche die Person eliminiert, vernichtet oder 


1) Freud: Der Witz usw. Ges, Schriften* Bd. IX, S. 221. 







454 Theodor l\eik 


tötet. Die Auslassung als technisches Element entspricht inhaltlich einer 
siegreichen seelischen Strebung zur radikalen Entfernung eines gehaßten 
Objektes (oder einer gehaßten Institution, die durch eine Person verkörpert 
wird). Um diese Beziehung zwischen einer typischen Technik und einem 
latenten Inhalt klarzumachen, müssen wir wohl weiter ausgreifen. Es ist in 
der analytischen Literatur noch keineswegs gebührend hervorgehoben worden, 
wie oft und wie erfolgreich die Form eines seelischen Phänomens dazu ver¬ 
wendet wird, seinen geheimen Inhalt darzustellen. Wie uns Freud gezeigt 
hat, bedient sich der Träumer oft einer ähnlichen Technik, wenn er seinen 
Traum erzählt und ein Stück von dessen latenter Bedeutung in einer Glosse, 
einem Urteil, oder einer Bemerkung darüber unterbringt. Oft ist in einem 
solchen beiläufig bemerkten Formelement gerade das Wesentliche des Traum* 
inhaltes enthalten. In derselben Art dient die Vorstellungsmimik dazu, den 
Inhalt des Vorgestellten darzustellen, wie es Freud in seinen Ausführungen 
über den „Ausdruck des Vorstellungsinhaltes“ geschildert hat. 1 

Wir meinen also, eine unterirdische Beziehung zwischen der elliptischen 
Entstellungstechnik in den Zwangsgedanken und im Witz und dem spezi¬ 
fischen Inhalt des Ausgefallenen gefunden zu haben: die Auslassung stellte 
sich als Ausdruck der unterdrückten Tendenz zur völligen Vernichtung, 
Ausrottung des Objektes dar. („Nicht gedacht soll seiner werden. 4 ) Wir 
können nicht sagen, ob diese Beziehung eine konstante oder nur in einigen 
Fällen nachweisbare ist. Prüfen wir unsere Hypothese an den uns zunächst 
zur Verfügung stehenden Beispielen: in der elliptischen Zwangsidee meines 
Patienten ist diese Annullierungstendenz ohneweiters klar; das Ziel seiner 
Wünsche ist eben, den Vater völlig auszuschalten. Ebensowenig ist die Ver- 
nichtungsabsicht in der Geschichte von Jagendorfer zu verkennen. Man 
könnte diesen Witz in eine Reihe stellen mit jenen komischen Übertrei¬ 
bungen und Renommierereien, in denen die Gassenjungen unserer angeblich 
von alter Kultur erfüllten Stadt die gewaltige Wirkung ihrer Affektäußerungen 
darstellen. Ich horte einmal, wie ein halbwüchsiger Fleischhauerjunge in 
einem Wortstreite einem anderen zurief: „Wenn ich dich nur anrühr*, 
paßt f ja in kein Sarg mehr hinein! 4 Hier ist also nicht nur eine Beschädi¬ 
gung von der Kraftäußerung zu erwarten, sondern eine so weitgehende 
Deformation, — noch dazu durch bloße Berührung — daß kein Sarg mehr 
den formlos gewordenen Leichnam des Gegners aufnehmen könnte. Auch 
hier ist eine Auslassung konstatierbar, aber entsprechend dem ungehemmteren 


i) Freud: Der Witz. Ges. Schriften. Bd. IX, S. 220, 










Drei psychoanalytische Notizen 455 


Charakter des Milieu ist der Inhalt des Ausgelassenen als gewaltsame Tötung 
aus dem folgenden Satze leicht erratbar. Wir werden durch die Kontrastie- 
rung dieses Beispieles mit anderen darauf aufmerksam, daß, was hier im 
Nachsatz so unzweideutig hervortritt, anderswo nur angedeutet erscheint, 
daß sich der Inhalt des Ausgelassenen in der folgenden Satzfügung nur als 
Anspielung oder in abgeschwächter Form findet. Wirklich können wir diese 
Spur in dem der Auslassung folgenden Satz unserer Beispiele verfolgen; in 
der Zwangsidee des Patienten lautet dieser: muß ich Gott verfluchen. In 
der Erzählung des Athleten tritt die Wirkung des Schlages, also der aggres¬ 
siven Tendenzen in dem Nebensatz „wie sie ihn dann mit Essig g’wasch’n 
hab’n“ hervor. Es ist so, als ob sich das Ausgefallene gleich im folgenden 
Satze eine abgemilderte und abgeschwächte Vertretung, einen Ersatz gesichert 
hätte, der freilich den ursprünglichen krassen Inhalt des Ausgefallenen nur 
ahnen läßt. Wir sind uns der Unzulänglichkeit unserer Worte bewußt, wenn 
wir die psychologische Sachlage folgendermaßen beschreiben: der bewußt¬ 
seinsfähige (vorbewußte) Inhalt der Auslassung geht soweit, als der Vor¬ 
stellungsumfang der Ersatzbildung (des folgenden Satzes, der folgenden An¬ 
spielung) reicht; der unbewußte Inhalt wird durch das Ausmaß der Auslassung 
selbst bestimmt. Die Ersatzbildung oder Anspielung dient so nur als Weg¬ 
weiser, nicht als zureichende Auskunft. Wir werden etwa durch den folgenden 
Satz darauf aufmerksam, daß das Ausgefallene von aggressivem, feindlichem 
Charakter war, daß es sich um den Ausdruck von Zorn oder Haß handelt, 
aber die Intensität dieses Hasses, das Ausmaß dieser Wut bleibt unbewußt, 
ebenso das Triebziel, eben die Vernichtung oder Tötung des Objektes. Gerade 
die analytische Erforschung der Zwangsneurose bringt hier die beste Ana¬ 
logie : wir hören oft von Patienten, sie seien bei einem bestimmten Anlaß 
oder gegenüber einer bestimmten Person ärgerlich oder böse geworden, aber 
die Tiefe ihrer Affekte, der Charakter sinnloser Wut, der zu stärksten Todes¬ 
wünschen gegen gehaßte Personen führt, blieb ihrem Bewußtsein entzogen. 
Auch die Unbestimmtheit des Nachsatzes der Zwangsidee (als Beispiel das 
bei Freud angeführte: 1 „Wenn ich die Dame heirate, geschieht dem Vater 

1) Freud: Bemerkungen über einen Fall von Zwangsneurose (Ges. Schriften. 
Bd. VIII). Gerade die Analyse dieses Falles zeigt, daß der Inhalt der elliptischen Ent¬ 
stellung unbewußte To des wünsche gegen den Vater sind, die sich kraft der Allmacht 
der Gedanken verwirklichen könnten. Der von Freud angeführte Witz „Wenn der 
X. das hört, bekommt er wieder eine Ohrfeige“ scheint nicht auf solchen Inhalt des 
Ausgefallenen schließen zu lassen. Die Fortsetzung der im Nachsatz angedeuteten 
Aggressionstendenz ins Unbewußte würde aber dieselben Vernichtungstendenzen gegen 
die verspottete Person zeigen. Freud weist übrigens selbst darauf hin, daß neben 






Theodor Reik 


456 


ein Unglück“), die ihr Pendant manchmal in der Anspielung im Witz 
findet („wie’s ihn dann mit Essig g 1 wasch’n hab’rÜ), zeugt von der Be¬ 
mühung, den wirklichen Inhalt der Zwangsidee, des Witzes — nämlich den 
Tod — der bewußten Vorstellung fernzuhalten. Die Ersatzbildung bringt 
also das Ausgelassene in außerordentlich abgeschwächtem, bewußtseinsfähigem 
Ausmaße wieder* In einzelnen Beispielen greift sie, wenn kein Zweifel 
mehr am Inhalt des Ausgefallenen bestehen kann, sogar zu heuchlerischen 
oder ironischen Verteidigungen wie in jenem furchtbaren Worte: „Die 
einzige Entschuldigung für Gott ist, daß er nicht existiert.“ 

Es steht also so, daß die geheime Bedeutung der elliptischen Technik 
der Ausdruck heftiger Vernichtungstendenzen, unbewußter Todeswünsche 
ist, die man nicht laut sagen kann, ohne auf Entrüstung und Ablehnung 
seitens der Umwelt zu stoßen* In jenen Beispielen, in denen das sexuell 
Anstößige ausgelassen wird, brauchen so intensive Destruktionsteildenzen 
unbewußter Art keineswegs zu fehlen; die Triebstrebungen sind dort 
konstitutionell durch sadistische, gegen das Objekt gerichtete Tendenzen 
verstärkt, wie dies manchmal in der Zote zum Ausdruck kommt* 

Wir könnten die Auslassung im Witz und im Zwangsgedanken jenen Aus¬ 
drucksvermeidungen gleichsetzen, die selbst zum Ausdruck des unterdrückten 
Inhaltes werden. Die Abmilderungen oder Anspielungen des folgenden Satzes, 
die den Charakter der Ersatzbildung haben, wären dann jenen Euphemismen 
zu vergleichen, die wir manchmal an wenden („dahinscheiden“, „uns ver¬ 
lassen usw. für sterben). Der Vergleich geht freilich nicht über eine gewisse 
Grenze hinaus, denn der Ausfall in den Zwangsideen oder im Witz drückt 
wirklich einen unbewußten Todeswunsch aus. Die Auslassung ist nur eine ver~ 
hülltereForm eines Optativs: oh, wäre er weg, möge er sterben, verschwinden! 


den formellen auch inhaltliche Übereinstimmungen zwischen der Zwangsidee und 
diesem Witz bestehen. 

Wie Freud zeigt, ist auch die Auslassung, die er einer Verdichtung ohne Ersatz¬ 
bildung vergleicht, eine Art der Anspielung. „Eigentlich wird bei jeder Anspielung 
etwas ausgelassen, nämlich die zur Anspielung hinführenden Gedtiukenwege. Es kommt 
nur darauf an, ob die Lücke das Augenfälligere ist oder der die Lücke teilweise 
ausfallende Ersatz in dem Wortlaut der Anspielung. So kämen wir über eine Reihe 
von Beispielen von der krassen Auslassung zur eigentlichen Anspielung zurück , u 
(Freud, Der Witz. Ges. Schriften. Bd. IX, S. 85.) 

Um hier der krassen Auslassung einen Witz mit Anspielung gegenüberzustellen, 
sei auf eine Szene in einem Lustspiele von Maurice Donnay verwiesen. Dort flüchtet 
eine Dame vor den Nachstellungen eines D011 Juan in die Wohnung eines Freundes 
ihres Mannes, Der Herr beruhigt die Erschreckte mit den Worten: „Si vaus etez chez 
vous n'avez rim a craindre — des autres.“ 

















Drei psychoanalytische Notizen 


Vielleicht darf uns das erste Beispiel, das wir gewählt haben, jene 
blaspbemische Zwangsidee, den Mut geben, eine Vermutung darüber zu 
äußern, wie es überhaupt zu solcher Auslassungstechnik gekommen ist. In 
den Denkmälern des antiken Orients sowie im Sprachgebrauch bestimmter 
semitischer Völker finden wir Ausdrücke wie: X. Y. (Name) mit dem Zusatz: 
Tanit, Allah usw. vernichte ihn, möge seinen Namen zerstören 1 Es sind 
also Namen, die von einem Fluch gefolgt sind* Es wäre aus dem Ver¬ 
drängungsfortschritt der Jahrhunderte zu verstehen, daß solche Flüche nach 
Erwähnung von Personen unterdrückt worden wären, und sich an deren 
Stelle eine Ersatzbildung eingestellt hätte. 1 Diese so unterdrückte, schließlich 
verdrängte Regung hätte sich gerade des Ausfalles bedient, um zum Aus¬ 
druck zu kommen* Es wäre so, wie wenn ein Soldat der eigenen Armee 
zum Feinde überliefe, um gegen die früheren Kameraden zu kämpfen. 
Die Auslassung als Mittel der Unterdrückung wäre schließlich Ausdrucks¬ 
mittel des Unterdrückten geworden. Die Verdrängung jener gewalttätigen 
Impulse, die auf Tötung und Vernichtung des gehaßten Objektes abzielen, 
ist also die Vorbedingung der Auslassung, die so zu einem psychischen 
Kompromißausdruck der verdrängten und der verdrängenden Regungen 
würde. Sie ist aber auch dafür verantwortlich, daß es zum Kurzschluß des 
Witzes und zu dem anscheinenden Widersinn der Zwangsidee kam. Wie in 
der Psychologie der Traum Vorgänge wird hier die Absurdität zum Zeichen 
des Spottes und Hohnes, des Protestes gegen die verdrängenden Mächte, 
Wir wollen nur noch ein Beispiel elliptischer Witztechnik anführen: 
der geniale Wiener Schauspieler Girardi antwortete einmal einem Kollegen, 
der ihn um Geld bat, mit den anscheinend ganz unsinnigen Worten: 
„Wissen S’ was, Heber Freund? Sei’n wir lieber gleich bö$\ u 
Das scheint auf den ersten Blick Unsinn, auf den zweiten verrät es die 
besondere Welterfahrung des Schauspielers. Das heißt doch: Wenn ich Ihnen 
jetzt Geld borge, werde ich es sehr widerwillig tun und Ihnen deshalb alles 
Böse wünschen. Mein Ärger wird sich noch steigern, wenn Sie mir — wie 
vorauszusehen — das Geld nicht zurückgeben werden. Dieses Gefühl kann 
aber unmöglich nach außenhin spurlos bleiben; es wird sich irgendwie 
ein Ventil verschaffen und wir werden Feinde werden. Man könnte diese 
psychologische Reihe noch nach anderer Richtung hin fortführen: auch der 
Bittsteller ist durch die Demütigung, daß er um Geld Litten muß, bereits 


i) Als Übergangsstadium wäre etwa an Formel wie: er, dessen Name nicht ge¬ 
nannt werden soll, zu denken. 






8 Theodor Reik 


unbewußt feindlich gegen den vorn Geschick begünsligieren Kollegen ein¬ 
gestellt und dieses Gefühl wird durch das reaktive Schuldgefühl, wenn er 
das Geld nicht zurückgeben kann, noch vertieft werden. 1 Also auch von 
seiner Seite ist der Ausgang der Beziehungen nicht zweifelhaft. Der freundliche 
Rat, doch gleich böse zu sein, scheint so nicht nur die Geldausgabe, sondern 
auch eine Reihe peinlicher Zwischenbegebenheiten und Zwischengefühle 
ersparen zu wollen. 

Hier ist freilich der unbewußte Todeswunsch nicht zum Ausdruck ge¬ 
kommen — nur die elliptische Form zeugt von seiner Existenz aber der 
Rat des Schauspielers verrät uns, daß die Zumutung, Geld zu borgen, auf 
dessen Rückzahlung er nicht rechnen konnte, in ihm starke feindselige 
Gefühle gegen den Bittsteller ausgelöst hat. Die unbewußte Fortsetzung dieser 
Affekte aber führt zu Todeswünschen. Und'wirklich: böse sein, das heißt 
doch: für einander nicht mehr dasein. Sagen wir nicht von einem erbitterten 
Feinde: „Er existiert nicht mehr für mich“ oder „Er ist für mich gestorben“? 

So wird in der Technik des Witzes und in der Formulierung der Zwangs¬ 
ideen klar, daß wir uns noch durch die Auslassung, die es verschweigen 
sollte, unbewußt zu unseren mörderischen Gedanken bekennen. 

III 

Den Gesprächspartner verloren 

Ein Patient, dessen zahlreiche Fehlhandlungen in der Analyse eine Deu¬ 
tung gefunden hatten, die er seihst, obwohl manchmal widerwillig, aner¬ 
kennen mußte, erklärte eines Tages, gestern sei ihm etwas passiert, was 
die Analyse sicherlich nicht auf klären könne. Man tut gut daran, sich 
solchen „Aufforderungen zum Tanz“ gegenüber recht reserviert zu verhalten. 
Manchmal dienen sie als wohlfeile Vehikel des Widerstandes dazu, den 
Analytiker in die Enge zu treiben, ihn zu „corner“. Im vorliegenden Falle 
aber handelt es sich um eine typische Fehlhandlung, die gewiß schon jedem 
von uns in irgendeiner Form begegnet ist. Mein Patient ging mit einer 
bekannten Dame, in ein Gespräch vertieft, die Straße entlang. Plötzlich 
fand er sich an der Seite einer ihm völlig fremden Dame, die er nie ge¬ 
sehen hatte und der er eben etwas eifrig erklärte. Es war offenbar, daß er 
seine Dame „verloren“ und mit der Fremden das Gespräch so fortgesetzt 


1) Über die Medianistnen des unbewußten, reaktiven Schuldgefühls vergleiche mein 
Buch „Geständniszwang und Strafbedürfnis“ (Internat, PsA. BibL, Bd. XVIII), 1925. 











Drei psychoanalytische Notizen 


459 


hatte, als wäre es die Bekannte gewesen* (Man möchte sich darüber ver¬ 
wundern, warum dieses keineswegs seltene komische Quiproquo in der 
analytischen Literatur über Fehlleistungen noch keine Erwähnung gefunden 
hat*) Bereits die nächsten Assoziationen brachten die Lösung des Rätsels. 
Der Herr hatte sich mit dem Mädchen, das wir Sophie nennen wollen, 
während des gemeinsamen Spazierganges über bestimmte Verhältnisse in 
Amerika unterhalten* Dabei war man auf eine gemeinsame Bekannte zu 
sprechen gekommen — Mabel sei hier ihr Name — die, Amerikanerin 
wie Sophie, seitens der Freundin einer erbitterten Kritik unterzogen wurde* 
Der Patient war ungalant genug, dieser Kritik, die sich auf die »superficiality“ 
Mabels bezog, eifrig beizustimmen, Gerade in diesem Augenblick fügte es 
sich, daß das Paar getrennt wurde. Es war ein Augenblick der Harmonie 
der Seelen. Dürfen wir in Umkehrung des bekannten Spruches annehmen, 
daß hier Gott getrennt hatte, was die Menschen zusammenfügen wollten? 

Es ist zum Verständnis notwendig zu wissen, daß Sophie dem Patienten in 
letzter Zeit schlecht verheimlichte Zeichen ihrer Zuneigung gegeben hatte, 
während sich Mabel ihm gegenüber demonstrativ abweisend verhalten hatte. 
Mabel ist viel jünger und hübscher als die Freundin, in Wahrheit aber viel 
oberflächlicher und weit koketter als Sophie. (So erwies sich späterhin das 
abweisende Verhalten dem Patienten gegenüber als äußerst geschickter, tak¬ 
tischer Zug im Dienste der Anziehung*) Erinnern wir uns, daß die FebT 
handlung gerade in jenem Augenblicke geschah, als der Herr sich anschickte, 
zusammen mit Sophie Mabel zu kritisieren, so wird ihre Analyse uns nicht 
mehr sehr schwierig erscheinen. Das „Verlieren** ist zweifellos ebenso durch 
eine unbewußte Absicht bestimmt wie das Weitersprechen mit einer fremden 
Dame. Es war, wie wenn der Patient damit sagen wollte: „Ach was, ober¬ 
flächlich oder nicht, Mabel ist anziehender als Sie und ich würde jetzt 
lieber mit ihr spazieren gehen und mich mit ihr unterhalten als mit Ihnen. 
Die fremde Dame war in diesem Falle eine Stell Vertreterin Mabels. Hält 
man an dem psychischen Determinismus fest und setzt man wie bei einer 
gelösten Gleichung Mabel für die fremde Dame ein, so muß man sagen, 
es sei so, wie wenn der Patient — in jener Fortsetzung des Gespräches mit 
der fremden Dame — es vorgezogen hätte, seine Meinung über Mabel dieser 
selbst zu sagen. Tatsächlich hatte sich der Patient einige Tage vorher über 
eine Äußerung Mabels geärgert und sich vorgenommen: „to give her a piece qf 
my mind“. Trotz solcher kritischen Einstellung konnte er es nicht vor sich 
ableugnen, daß in letzter Zeit seine Gedanken lebhaft mit ihr beschäftigt 
waren und sich dabei überraschenderweise sexuelle Phantasien mit ihr ein’ 




460 Theodor Reik 


gestellt hatten. Die sexuelle Anziehung, die der Herr Mabel gegenüber 
empfand, hatte sich gerade in dem Augenblick einen Ausdruck verschafft, 
als er eben im Begriffe war, abfällig über sie zu urteilen. Anderseits hatte 
sich seine Abneigung gegen Sophie gerade dann durchgesetzt, als er ihr 
rückhaltlos zustimmen wollte. Das „Verlieren" heißt hier wirklich : die Person 
aus den Augen verlieren, sie verschwinden machen. In mehreren ballen 
dieser Art, die ich analysieren konnte, verhielt es sich so, daß eine unbe¬ 
wußte Regung des Ärgers oder des Unwillens, manchmal auch nur der 
Langeweile in solchem Verlieren Ausdruck fand, 1 Die Komplikation des 
Weiterredens mit einer fremden Person, die man für die bekannte halt, 
welche man weiter an seiner Seite glaubt, läßt nur die Deutung zu; Ich 
habe genug von dir, ich möchte jetzt meine Gesellschaft wechseln, selbst 
eine völlig fremde Person würde ich vorziehen. In einem Falle wurde eine 
Fehlhandlung dieser Art zu einer schönen, nachträglichen Bestätigung. Eine 
Patientin hatte vormittags in der Analysestunde erbittert widersprochen, als 
ich ihr durch die Analyse einiger ihrer Phantasien zu zeigen versuchte, 
daß ihr untadeliges Leben sich sehr wohl mit unbewußten Prostitutions¬ 
phantasien vertrage. Am nächsten Tage erzählte sie in der Analysestunde, 
sie habe gestern, als sie mit ihrem Onkel in der Stadt war, den alten Herrn 
plötzlich im Menschengewühl verloren. Sie sei dessen erst gewahr geworden, 
als sie sich ertappte, daß sie ein Gespräch mit einem ihr völlig fremden 
Herrn zu ihrer Linken führe. Sie sei in peinlichster Verlegenheit gewesen; 
was sich der fremde Herr wohl von ihr gedacht habe ? 

Die beiden typischen Beispiele geben gewiß kein angemessenes Bild von 
der Abänderbarkeit der Bedingungen des Vorfalles, der sich häufig ereignet* 
Wir wollen nicht versäumen, darauf hinzu weisen, daß die fremde Dame, 
der fremde Herr in den angeführten Beispielen eine bestimmte „Schicksals“ 
rolle 11 zu spielen haben. Sie, beziehungsweise er, wird wirklich „an gesprochen w . 
Es ist nicht zu verkennen, daß der Zusammenhang dazu zwingt, in den 
handelnden Personen unseres Beispieles auch unbewußte Gedankenzüge zu 
rekonstruieren, die dem Kulturniveau ihres bewußten Lebens energisch 
widersprechen und die sie als zynisch sicherlich mit Entrüstung zurück**' 


1) Ein zwangsneurotischer Patient hatte den starken Eindruck, als wäre der Stulil, 

auf dem eben eine mit ihm im Gespräch befindliche Person saß, plötzlich leer, die 
Person verschwunden. Sein Strauben gegen diese „negative Halluzination , durch die 
er sich der betreffenden Person entledigte, kam dadurch zum Ausdruck, daß er weiter 
sprach, obwohl er fühlte, daß er „ins Leere redete a . In milderen Fällen sah er an 
Stelle des Gesprächspartners eine „leblose Puppe <! (Kritik ! k 

















Drei psychoanalytische Notizen 


461 


weisen würden. Gegenüber der hochentwickelten Differenzierung der Objekt“ 
wähl, die unser bewußtes Lehen beherrscht, scheint sich in jenen Fehl“ 
Handlungen eine primitivere Anschauung durchzusetzen, die vom spezifischen 
Liebesobjekt absieht und grob realistisch nur die Triebbefriedigung an sich, 
„ohne Ansehen der Person 0 gelten läßt. 1 Es ist so, als wolle sie sagen: 
„Ach was, es ist ja nicht wichtig, mit wem man —* redet; es ist die eine 
wie die andere l" 


1) Es ist betonenswert, daß der Herr in unserem ersten Beispiel Sophie bewußt 
große Achtung entgegenbrachte und sich von Mabels Leichtfertigkeit abgestoßen fühlte; 
dennoch bekam er die Übermacht der äußeren Reize Mabels zu verspüren. Ein Herr 
aus dem „Simplizissimus“ weist solche Überbewertung der weiblichen Oberflachen- 
eigenschaften mit heuchlerischer moralischer Entrüstung zurück: „Es kömmt bei den 
Frauen nicht so sehr auf das Äußere an; auch die Dessous sind wichtig. a 






INHALT DIESES HEFTES 


Seite 


Hanns Sacks : Zum 70. Geburtstage Sigm, Freuds , * . „ . , • ..115 

Paul Schilder (Wien): Zur Naturphilosophie.. ..117 

Oskar Pfister (Zürich): Die men schlichen Einigungsbestrebungen ün Lichte der 

Psychoanalyse (Von Kant zu Freud) , , , t , , .. , 126 

M* D. Eder (London): Kann das Unbewußte erzogen werden? . , *.156 

K. Brun (Zürich): Experimentelle Beiträge zur Dynamik und Ökonomie des Trieb- 

konflikts (Biologische Parallelen zu Freuds Trieblehre) ..147 


S* Pfeifer (Budapest): Umrisse einer Bioanalyse der organischen Pathologie t . ,171 
Emil Simonson (Berlin): Über die Anwendbarkeit der Energielehre in der Psychologie 184 
Margarete Stegmann (Dresden): Die Psychogen es e organischer Krankheiten und 


das Weltbild ,.*.. * ... 196 

Imre Hermann (Budapest): Das System Bw . *,***,,. * • • . 205 


Trigant Burrow (Baltimore): Die Gruppenmethode in der Psychoanalyse * , . . 211 
Ludwig Binswanger (Kreuzlingen): Erfahren, Verstehen, Deuten in der Psychoanalyse 225 
Raymond de Saussure (Genf): Zur psychoanalytischen Auffassung der Intelligenz . 238 

Emst Schneider (Riga): Über Identifikation.249 

E P, Müller (Leiden): Gefühlstheoretisches auf psychoanalytischer Grundlage , # 265 
Störche (den Dolder): Über Tanzen, Schlagen, Küssen usw, (Der Anteil des Zer- 

störungsbedürfhisses an einigen Handlungen).268 

Geza Röheim (Budapest): Die Völkerpsychologie und die Psychologie der Völker # 275 

Alice Bdlint (Budapest): Der Familienvater..292 

Hans Christqffel (Basel): Farbensymbolik.. S°5 

Vilma Kovdcs (Budapest): Das Erbe des FortunatUß.. 5 21 

Ludwig Jekds (Wien): Zur Psychologie der Komödie ...528 

Eduard Hitschmann (Wien): Ein Gespenst aus der Kindheit Knut Hamsuns , . . 55 ^ 
Josef K . Friedjung (Wien): Psychoanalyse und Kinderheilkunde . * ■ * * * * * . 56t 
Melanie Klein (Berlin): Die psychologischen Grundlagen der Frühanalyse . - * . 565 
Wera Schmidt (Moskau): Die Bedeutung des Brustsaugens und des Fingerlutschens 
für die psychische Entwicklung des Kindes . 


577 

























Inhalt dieses Heftes 


46g 


Seite 

Otto Potzl (Prag): Zur Metapsychologie des n d£j&vu cc . . . 

M. Levi Bianchini (Teramo): Libido-Mneme* Mystizismus und Hellsichtigkeit bei 


einem Kinde..* . . 405 

Helene Deutsch (Wien): Okkulte Vorgänge während der Psychoanalyse , * , „ * 418 

Alfred Winter stein (Wien): Zur Psychoanalyse des Spuks. , . ( . 454 

Theodor Reik (Wien): Drei psychoanalytische Notizen 448 


Gleichzeitig erscheint zum JO. Geburtstag Sigm . Freuds 

Internationale Zeitschrift für Psychoanalyse 

Bd. XII, Heft }, mit folgendem Inhalte: 

Ferenczi (Budapest): Zum 70. Geburtstag; Sigm* Freuds. — Ferenczi (Budapest): Das Problem der Unlust- 
bejahung. — Jones (London): Der Ursprung und Aufbau des Über-Ichs, — Fädern (Wien): Einige 
Variationen des Ichgefühls. — Odicr (Genf): Vom Über-Ich, — J. Glover (London): Der Begriff des 
Ichs. — G.Jelgersmu (Leiden): Die Projektion. — Wälder (Wien): Schizophrenes und schöpferisches 
Denken. — Fenichel (Berlin): Identifizierung. — E. Glover (London): Probleme der Charakterologie, — 
Alexander (Berlin): Neurose und Ge samt Persönlichkeit. — Nunberg (Wien): Schuldgefühl und Straf¬ 
bedürfnis. — Hör nef (Berlin): Flucht aus der Weiblichkeit. — Müller-Braun schweig (Berlin): Genese 
des weiblichen üb er-Ichs* — Landauer (Frankfurt): Kindliche Bewegungsunruhe. — Hoffer (Wien): Die 
männliche Latenz und ihre spezifische Erkrankung. — Blum (Bern): Zur Psychologie vom Studium 
und Examen. — Sadger (Wien): Zürn Verständnis des Sadomasochismus. — Beich (Wien): Quellen der 
neurotischen Angst. — Coriat (Boston): Ein Typus von analerotischem Widerstand. — Wulff (Moskau): 
Widerstand des Ich-Ideals und Real an passung* — Johl (Wien): Die Mobilisierung des Schuldgefühls. 
Laforgue (Paris): Skotomisation in der Schizophrenie, — Clark (New York): Die Phantasiemethode bei# 
der Analyse narzißtischer Neurosen. — Weiß (Triest): Der Vergiftungswahn. — Kielholz (Königsfelden): 
Analyse versuch bei Delirium tremens, — F. Deutsch (Wien): Der gesunde und der kranke Körper. — 
Groddeck (Baden-Baden): Traumarbeit und Symptomarbeit des Organischen. — Rickman (London): Ein 
psychologischer Faktor in der Ätiologie von Descensus uteri, Dammbruch und Vaginismus. — Jelliffe 
(New York): Psychoanalyse und organische Störung, Myopie als Paradigma. — Simmel (Berlin): Doktor¬ 
spiel, Kranksein und Arztberuf* ■— Bado (Berlin): Über Rauschgifte. 









































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Es sei im allgemeinen gesagt, daß jeder Sexual forscher und damit jeder Psycho¬ 
analytiker dem Herausgeber für das notwendige Unternehmen, das bisherige Wissen 
auf dem Gebiete der Sexualwissenschaften in einem Handwörterbuch zusammenzufassen, 
Dank schuldet. Biologen, Vererbungswissenschaftler, Psychiater, Psychologen, Ethnologen, 
Soziologen, Philosophen, Juristen u. a. haben Beiträge über die große Zahl der sexuo- 
logischen Themata geliefert, die eine Fülle von Wissen vermitteln. Für die Darstellung der 
Psychoanalyse hat der Herausgeber Freuds Mitwirkung gewonnen, der wir in zwei 
Abhandlungen (Libidotheorie, Psychoanalyse) einen meisterhaften Abriß unserer 
Wissenschaft verdanken . . . 

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... die Form des Wörterbuches nimmt. Es wird so am besten eine Arbeitsgemein¬ 
schaft der Sachkenner in den wesensverschiedenen Bezirken des Gebietes er¬ 
möglicht und es wird zu schneller Orientierung den wechselnden Inter¬ 
essenten die bequemste Handreichung geboten. Doch ist das Werk weniger als stets 
bereite Auskunftei für gelegentliches Fragebedürfnis gedacht, als vornehmlich für wissen¬ 
schaftlichen Gebrauch . . , 

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Eigentümer und Verleger: Internationaler Psychoanalytischer Verlag. Ges. m. b. H., Wien VII. Andreasgasse 3 
Herausgeber: Prof. Dr. Sigm. Freud, Wien. — Verantwort!, für die Redaktion: Dr. Paul Federn, Wien I, Riemergasse 1 

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