so
j.im
6. M ai j^a(>
Heft ä/3
IMAGO
Zeitschrift tür Anwendung der Psychoanalyse
auf die Natur- und Geistes Wissenschaften
Sigm. Freud zum yo. Geburtstag
5 du hier (Wien): Zu r Naturphilosophie / Pfi.U?r (Zürich): Die im'indi“
llcJieti Ktniguiigsbefltrebuugeii (Von Knut zu Freud) / j Eder (London): Knnn
das Unbewußte erzogen werden? / Brun (Zürich): Zur Ökonomie mul
Dynamik de* I riehkoitllikts / Pfeifer (Budapest): Bioonalyje der organischen
Pathologie / Simonien (Berlin): Die Energie lehre iti der Physiologie /
Stegmann ( Dresden): Die PhySiogeuehe organischer Krankheiten und du?
Weltbild / Hermann (Budapest): T)nv System Bw / Bitrrow (Baltimore)'.
Die G ruppeiimctkodc in der P*yckä*Dmly*e / SitiMianger (Krette,iIngen):
Erfuhren, Verstehen und Deuten / S uru surr (Genf): I n telligenz / Schneider
(Higa)\ Identifikation / Atu!Irr (Leiden): Gefühl vtl won'hitJuf / S(<i rcite
(Jen DolJer): Uker I'anien, Sdilagen, Kdiiftl Iijw. / Rillt rin 1 ( B 11 da pest);
Völkerpaydiologie u, Psychologie der Volk er / li tili nt (Bit dapestj : F n 1 n il Ich -
vnter / Chri&tajffel (Base!): FnrheiihymhohL / Kovdcat (Budapest) Dm Erbe
des FürtumatUJ / JelteL (Wen): Psychologie der Komödie / Hitschmann
(Wien): Ein Cupemt aus der Kindheit Mnmsiiiiär / Fried jung (Xtden)i Psycho¬
analyse und Kinderheilkunde / Klein (Berlin) i Ftühnnalyse / Schmidt
(Adoeiau): Brustsuugeji 11, l mgerluticheil / Pöfz/ (Prag): Metapaychcdogie des
dejä vu / Lein Bianchim (Teramo): Atystizhsmus ti. HidLiditigkeit bei einem
Kinde / Deutsch (Wien)- Okkulte Vorgänge wahrend der Analyse /
(Wien): Psychoanalyse des Spuks / Rah ( Wien): Psyck on im ly t i& ch e N oti
tizeu
-
r - - . v
• — vr'i
r-w» - "*■ «r*
igm
G esammelte iScnriften
( 1 1 Bände in Lexikonformat)
er sonstige
* V ‘ Jw •* '
' " ; * ■ ■ - . U-
- , • ,
e r
psychoanalyti.
Literatur
versendet air
Langen
Internationaler
Psy cli oa na ly tiscker A'erlag
"'Wien VII, Andreasgasse 5
- %
-$
IMAGO
ZEITSCHRIFT FÜR ANWENDUNG DER PSYCHOANALYSE
AUF DIE NATUR- UND GEISTESWISSENSCHAFTEN
XII. Band
ö. Mai 192Ö
Hefl 2/3
SIGM. FREUD
ZUM SIEBZIGSTEN
GEB U KT STAG
H
Imago XII
INTERNATIONAL
PSYCHOANALYTIC
UNIVERSITY
DIE PSYCHOANALYTISCHE HOCHSCHULE IN BERLIN
Zum 70. Geburtstage Sigm. Freuds
Über Freud als Forscher und Schöpfer, über seine Bedeutung für die
Erkenntnis des Seelenlebens* über seinen Einfluß auf das wissenschaftliche
Denken überhaupt — über diese Dinge hier zu schreiben, verbieten der
Anlaß und der Ort, Der Anlaß — weil man einen weltbewegenden
Menschen nicht feiert, wie einen pflichttreuen Beamten oder Angestellten,
in dessen Leben nur die Kalenderzahlen wesentliche Marksteine sind,
während Freud uns durch seine noch im Flusse befindliche, ja fast
gesteigerte Produktivität bewiesen hat, daß wir uns an keiner Grenzscheide
seines Wirkens befinden. Der Ort, weil in diesen Blättern jede Zeile von
der Größe seines Werkes spricht, so daß eine besondere Hervorhebung
eher eine Abschwächung als eine Erhöhung bedeuten würde.
Statt dessen sei mir vergönnt, dem Gefühl nachzugeben, daß die Per¬
sönlichkeit Freuds für mich mit dem wesentlichen, ja fast dem einzig
bedeutsamen Teil meiner eigenen Entwicklung unlösbar verknüpft ist.
Ich glaube davon im Namen seiner ersten, ihm am nächsten stehenden
Schüler ohne ungebührliche Betonung des Persönlichen sprechen zu dürfen,
denn viele, und gewiß nicht die schlechtesten unserer Zeitgenossen, haben
den Abglanz eines solchen Erlebnisses aus den Werken Freuds geschöpft,
das uns ein seltenes Glück in den Schoß warf.
Freilich weiß ich kaum, wo ich beginnen soll. Soll ich von der
Arbeitskraft und Unermüdlichkeit erzählen, die ganz abgesehen von dem
Werte, auch der Menge nach durch Jahrzehnte hindurch die Arbeit dreier
Menschen — des Analytikers, des wissenschaftlichen Schöpfers und des
Organisators — vereinigte? Oder von den vielseitigen Interessen, die neben
seinem eigenen riesigen Arbeitsgebiet noch Archäologie, Kulturgeschichte,
Naturwissenschaften, bildende Kunst und Literatur umfaßten? Oder von
der Urbanität und dem Takt, mit dem er dem Geringsten freundlich ent¬
gegenkam und die Überheblichkeit des Mächtigsten ruhig, aber schonungs¬
los unterdrückte? Von dein unvergleichlich feinen Humor seiner Unter-
8 *
116
Zum 70, Geburtstage Sigm, Freuds
haltung oder dem im wahrsten Sinne vornehmen Ion, der in seiner Um¬
gebung herrschte?
Ich glaube, das alles sind Eigenschaften, die auch anderen bedeutenden
Menschen zukommen, und ich möchte doch gern eine Andeutung der
Eigenart geben, die mir so deutlich vor Augen sieht. Was mir zuerst an
ihm auffiel, war, daß er, der doch sicherlich fühlt, daß er „not in ihe
roll of common men u gehört, eine durchaus ungezwungene Bescheidenheit
f zeigt. Alles, was um ihn herum von seinen Schülern geleistet wurde,
fördernd und freudig anerkennend, war er immer bemüht, sein Werk als
etwas hinzustellen, was gewissermaßen nur zufällig mit seinen persönlichen
Eigenschaften verknüpft sei. Dieser Unempfindlichkeit gegen Schmeichelei
und persönliches Lob entsprach seine Unbeeinilußburkoit durch fremdes
Urteil, das sich auf äußere Autorität, auf Tradition, tiefühligründe oder
Pathos stützte. Seine Linie war der äußerste Bekennermut ohne die min¬
deste Bekennerpose. Aus der inneren Tapferkeit, die ihn befähigte, den
verschleierten Bildern, an denen durch Jahrtausende die Seelen forscher
scheu vorübergeschlichen waren, ins Angesicht zu sehen, kam ihm die
Ruhe, die alle Entrüstung und Zurückweisung durch die zeitgenössische
Wissenschaft als Selbstverständlichkeit, nur mit einem spöttischen Lächeln
entgegennahm. Unerbittlich gegen jene, die, durch die harte Last seiner
Wahrheit zu früh ermüdet, sich ihrer durch irgendeinen Kunstgriff wieder
zu entledigen suchten, war er sonst überall voller Nachsicht gegen fremde
Unzulänglichkeiten. Obgleich er seinem Werke zuliebe die geheimsten
Seiten seines Charakters der Öffentlichkeit preisgeben mußte, ist es ihm
doch gelungen, hinter seinem Werk zu verschwinden und persönlich seinem
Ruhm auszuweichen. Der tiefsten Leidenschaftlichkeit fähig, aber im Kleinsten
wie im Größsten beherrscht; ein .„guter Hasser 14 , wo er der Gemeinheit
und Inge gegenüberstand, aber einer, dem das „pro siunma fide summm
arnor" tief ins Herz geschrieben war so haben wir ihn erfahren* Um das
alles und vieles andere, was hier ungesagt bleiben mußte, zusammen zu-
fassen: So einzigartig, eine Weltenwende in den Geistes wissen schäften be¬
deutend sein Werk uns erscheint, wir waren stets dessen sicher, daß der
Mann nicht kleiner ist als sein Werk*
Hanns Sachs
Zur Naturphilosophie
Von
Paul Schilder
Dr* luecL et phil., Professor an der Universität Wien
I
Naturphilosophie teilt zunächst die Annahme des naiven Realismus, daß
eine Welt der Dinge wirklich sei, sie zweifelt nicht an der Existenz des
Wahrgenommenen* Aber schon der naive Realismus sieht sich genötigt,
zwischen Sein und Schein zu unterscheiden und das Vorgespiegelte von dem
Wirklichen zu trennen. Hiebei ergibt sich bald, daß die Ergebnisse des
Tastsinnes eine besondere Verläßlichkeit zu haben scheinen, während Auge
und Ohr trügerisch in die Irre führen, wobei wir den Ausdruck Tastsinn
in einem sehr weiten Sinne nehmen, der Bewegung und Bewegungs¬
wahrnehmung in sich faßt* In diesem Sinne spricht Locke von primären
und sekundären Qualitäten der Materie, Die Physik hat es in ihrer älteren
Fassung mit den primären Qualitäten der Materie zu tun, mit Druck und
Stoß, mit Masse, Kraft und Energie* Optisches, Gehörtes, Gerochenes und
Geschmecktes wird seiner besonderen Qualität beraubt und erscheint als
Bewegung von Masseteilchen, Atomen* Solcher Verricht auf eine Fülle von
Qualitäten muß jedoch einen psychologischen Sinn haben. Es ist ein Verzicht
auf die späteren Differenzierungen in der phylogenetischen Entwicklung,
Aus dem allgemeinen Oberflächen-Sinnesorgan differenzieren sich allmählich
die spezifischen Sinnesorgane* Es wäre sinnlos, ein Sinnesorgan irgendwelcher
Art anzunehmen, welches nicht irgendwie in ein Tun einmündete/ Wahr¬
nehmung und Handlung sind einander gesetzmäßig zugeordnet* Eine Wahr¬
nehmung ist stets auch eine Antwort, ist ein aktives Geschehen. Das Haut¬
sinnesorgan, Abkömmling des Ektoplasma, steht zur Handlung, zum Tun
Paul Schiliier
1 1 8
in besonders inniger Beziehung. Die Atomistik ist in diesem Sinne Hegression,
Aufhebung von Differenzierungen und Rückkehr zu einem phylogenetisch
älteren Zustand, daher das Gefühl des Rühens und der Sicherheit, wenn
wir das Weltbild auf das Mechanische, auf die Tastqualitäten reduziert
haben und damit zu primitiveren Quellen des Handelns zuriickgckehrl sind.
Vom Standpunkte des Erkennens aus haben, was Kant besonders klar
formuliert hat, die primären Qualitäten vor den sekundären Qualitäten
nichts voraus.
II
Jedes Wahrnehmen und jedes Erleben ist dreigliedrig- Es setzt voraus
ein Ich, welches sich einem Gegenstände zukehrt und einen Körper, an
welchem diese Zuwendung ihre Resonanz findet, die Empfindung. Wir haben
also in der Wahrnehmung zu unterscheiden, das wahrgenommene Objekt,
das Ich und die Empfindung (den Körper)- Wir haben sinngemäß hinzu“
zufügen, daß auf jede Wahrnehmung sofort eine Reaktion erfolgt, Wahr¬
genommen werden aber immer nur Situationen, und Reaktionen sind immer
nur Handlungen, welche auf eine bestimmte Situation zielen; ja sogar in
Vorstellungen und in Gedanken beziehen wir uns immer nur au! wirkliche
und mögliche Situationen und wirkliche und mögliche Handlungen. Die
Empfindung und auch das Gefühl sind die körperliche Seite dieser Ich-
Gegenstandsbeziehung, Daraus folgt, daß die Welt nicht Resultat einer Pro¬
jektion von Empfindungen sein kann, vielmehr ist die hier gegebene Gliederung
Voraussetzung einer jeden Projektion. Die Projektion kann demnach den
Besitzstand von Körper und Welt entscheidend abändern, sie schafft aber
nicht die Unterscheidung zwischen Körper und Welt. Wenn ich also im
vorangehenden darauf hingewiesen habe, daß das atomistische Weltbild ein
auf den Tastsinn reduziertes Weltbild sei, so soll das nicht bedeuten, daß
dieses Weltbild durch Projektion von Tastempfindungen entstanden sei. sondern
es soll nur jener Anteil des Körperlichen bezeichnet werden, welcher bei
einem solchen Weltbild empfindtingsmäßig mitechwingt-
m
Im Zentrum des atomistischen Weltbildes stehen die Begriffe Masse, Kraft,
Energie. Der Begriff der Masse wird aus sehr alltäglichen Erfahrungen ge¬
wonnen. Um Gegenstände gleichen Aussehens zu bewegen, ist bald eine größere,
bald eine geringere Kraft notwendig. Die Kraftanstrengung erkennen wir
Zur Naturphilosophie i 1 9
aber durch den Kraftsinn. Wird der Gegenstand geteilt, so setzt jedes der
Teil stücke einen geringeren Widerstand entgegen als das Ganze, Diesen
Widerstand bezeichnen wir als Trägheit. Wenn wir einen Körper bewegen,
so heißt das, daß wir ihm eine Beschleunigung erteilen. Wir können aber
die Masse eines Körpers auch dadurch bestimmen, daß wir den Körper der
Schwere entgegen heben. Letzten Endes beruht also der Begriff der Masse
auf Sinneseindrücken.
F r ri ed 1 änder 1 hat gezeigt, daß die Objektivierung von Druck j und Kraft-
empfindungen begründet ist in der Richtung der Aufmerksamkeit auf den
visuell wahr genommenen oder vorgestellten Gegenstand, und in der Tatsache,
daß bereits eine gehäufte Zahl gleichartiger Wahrnehmungen vorhergegangen
ist* Beide Bedingungen besagen aber nichts anderes, als daß der Eindruck
der Masse dann entstehen kann, wenn wir eine Handlung an einem Körpei
vorgenommen haben oder vorzunehmen beabsichtigen.
Es ist aber eine der grundlegenden, wenn auch selten formulierten Er¬
kenntnisse der Psychoanalyse, daß das Individuum nicht handle, weil es
diese oder jene Empfindung habe, sondern daß es sich plan" und sinn
gemäß auf eine Situation einstellt, — um in der Sprache der Phänomendogen
zu reden, — auf einen Gegenstand zielt. Die lebendige Situation des Ödipus
Komplexes ist 2. B. eine solche Handlung gebietende Situation.
Der Begriff der Masse hat nach diesen Ausführungen nur Sinn im engen
'Zusammenhang mit einem triebhaften, willensmäßigen Interesse an Gegen
ständen.
Nach Newton ist der Bewegungszustand einer Masse m durch die Größen
m und v (letztere ist die Geschwindigkeit) vollständig bestimmt. Jede Vei
anderung von v weist auf das Vorhandensein einer äußeren Kraft hin,
und wir können die Größe dieser Veränderung zum Maßstab der Kraft¬
intensität benützen. Jene Kraft gilt als die größere, welche der gleichen
Masse die größere Beschleunigung oder der größeren Masse die gleiche Be¬
schleunigung erteilt. Aus diesen wenigen Bemerkungen geht bereits hervor,
daß der Kraftbegriff auf den gleichen Sinnesdaten basiert, wie der Begriff
der Masse: Kraftsinn und Druckempfindung. Man wird jedoch nicht fehl-
geheu, wenn man sich zu der Annahme entschließt, daß neben der Wahr¬
nehmung und Empfindung auch das Erlebnis des „Ich will“ von Bedeutung
sei oder mit anderen Worten, daß der Kraftbegriff psychologisch die Tat
zur Voraussetzung habe.
1) Die Wahrnehmung der Schwere,
Zeitschrift für Psychologie, Band 85, 1920.
1 20
Paul Schilder
ln den physikalischen Erörterungen spielt der Begriff der Energie eine
außerordentlich große Bolle, er bedeutet das Äquivalent der von einer Kraft in
einer bestimmten Zeit geleisteten Arbeit, bestelle diese in einer raum liehen
Verschiebung der Massen oder in einer Veränderung des Aggregfttzustandes.
Sie kann z. B. als mechanische Arbeit gemessen, durch das Produkt A . s
(Kraft mal Weg), zum Teil als lebendige Kraft ~ in Erscheinung treten.
Bekanntlich kann kinetische Energie in potentielle umgewandelt werden
und mechanische in Wärmeenergie oder in elektrische Energie, die wir uns
wiederum durch den Ablauf gewisser chemischer Reaktionen verschaffen
können. Die Physik nimmt eine* Wesenseinheit der Energieformen an,
Man sieht, auch die Begriffe der Kraft und Energie verweisen lediglich
auf Sinneseindrücke, welche dem taktilen und Unästhetischen Gebiete an*
gehören, und ein physikalisches Weltbild, welches sich auf die Begriffe Kraft,
Masse und Energie stützt, verzichtet auf viele Differenzierungen, halt aber
grundsätzlich an dem Grundschema fest, daß es Handlungen gebe, welche
an Gegenständen durchgeführl werden* Man hat wiederholt gesagt, der Kraft“
begriff entstünde aus der Projektion eigener Wiüensergebnisse in die un¬
belebte Natur. Aber könnte nicht das Wülenserlebnis in uns der Krafterfassung
außer uns ebenso zugeordnet sein, wie die Empfindung der Wahrnehmung
zugeordnet ist? Oder mit anderen Worten, wir haben nicht das Hecht, die
Möglichkeit abzulehnen, daß es ein unmittelbares Wahrnehnten eines I jebendig-
Bewegten außer uns gebe.
Während das mechanisch “physikalische Weltbild einen Best von Diffe¬
renzierungen im sinnlichen Material, mit dem es schallet, festhält, wird
dieser Rest in der neueren Entwicklung der Physik noch weiter eingeschränkt.
Die Elektrizität gewinnt in ihr eine immer größere Bedeutung. Es ist schwer,
die sinnliche Basis anzugeben, auf welche sich die Lehre von der Elektrizität
stützt. Bemerkenswert, daß sehr Wesentliches an der Bewegung des I rusch*
Schenkels entdeckt wurde. Man wird nicht fehlgehen, wenn man vage, primitive
allgemeine Empfindungen als die bedeutsame sinnliche Grundlage der tlektn*
zi tat sieh re ansieht* Man wird nicht fehlgehen, wenn man vom psychologischen
Gesichtspunkt aus ein Weltbild, welches die Elektronen in sein Zentrum stellt,
als besonders primitiv ansieht.
IV
Hier setzt auch eine für den Naturphilosophen besonders bemerkenswerte
Bewegung in der Physik ein. Sic ist nämlich daran, die Masse auf Energie
zu reduzieren; alle Masse sei im Grunde nur scheinbare Masse. So zeigen
Zur Naturphilosophie
121
z. B. die Kathodenstrahlen, welche aus negativ geladenen Elektronen be¬
stehen, eine Änderung der Masse je nach ihrer Geschwindigkeit. Beim Zer¬
fall radioaktiver Substanzen erscheinen negative Elektronen, bestimmte Mengen
elektrischer Energie. Einsteinsche Rechnungen führen zu der Annahme,
daß die träge Masse eines Körpersystems geradezu als Maß für seine Energie
angesehen werden kann. Hier verschwimmt also Kraft und Masse zugunsten
eines vagen Wirkenden. Fügen wir hinzu, daß in dem Verschwimmen des
Subjekts und Objekts, wie wir es bei narzißtischen Zuständen zu sehen
gewohnt sind, eine ähnliche Haltung zutage tritt. Wir können ihr keine
bindende erkenntnistheoretische Bedeutung zuschreiben, denn wir haben
gezeigt, daß in jedem Erleben die Dreigliederung Welt, Körper, Subjekt,
wenigstens in allgemeinen Umrissen, gegeben ist. Ein Wille ohne einen
Gegenstand, auf den er sich richtet, eine Handlung ohne Objekt, auf welches
sie zielt und an welchem sie die Handlung vornimmt, sind schlechthin sinn-
los. Ein solches Weltbild, welches die Masse eliminiert und an Stelle dieser
die Energie setzt, mag vielleicht narzißtisch befriedigen, kann aber eben
deswegen nicht auf volle Gültigkeit Anspruch erheben. Vermerken wir, daß
nach Preuß die Irokesen mit dem Ausdruck „orenda * die dem Dinge inne¬
wohnende Zauberkraft kennzeichnen; diese Zauberkraft kann aber auch zu
einer Verwandlung der Objekte führen. Ein Mensch als ganzer Körper kann
sich z» B. leibhaftig in einen Werwolf verwandeln, während seine zentrale
zauberische Substanz nicht zu bestehen aufhört oder auch nur geschmälert
wird. Wir könnten in abgekürzter Weise die Energie der Physik und die
zauberische Substanz und die Zauberkraft der Primitiven einander gleich¬
setzen. Damit soll zunächst nur die Befriedigung erklärt werden, welche
uns ein derartiges Weltbild, das so trostlos zu sein scheint, zu geben im¬
stande ist. Wir werden aber auch zu den Gedanken getrieben, daß sich die
Triebbedürfhisse des Menschen in seinen Weltanschauungen immer wieder
durchsetzen. Freilich, welche ungeheuere Bereicherung bringt die Physik
gegenüber den Anschauungen Primitiver! Aber sollte nicht der dunkle Drang
doch irgendwie auch Erkenntnisse vermitteln können? Haben wir das Recht,
an zun eh men, daß ein so mächtiger Teil der Triebhaftigkeit, wie er uns im
Narzißmus entgegentritl, erkenntnistheoretisch lediglich Belangloses liefere?
Sollte es nicht doch Zauberkräfte, d. h. ein Wollen in der Natur geben?
Und sieht hier der Primitive nicht richtiger als der in der physikalischen
Weltanschauung Befangene, welcher entgegen den psychologischen Quellen
seiner Begriffe in der Energie etwas nicht Willensmäßiges sieht?
1 22
Paul Schilder
V
Hier muß zunächst zwischen der auf physikalischen Ergebnissen beruhen¬
den Weltanschauung und der Physik als Wissenschaft unterschieden werden.
Der Physiker ist natürlich nicht gehalten, aus den Formulierungen, welche
er in seiner wissenschaftlichen oder praktischen Fälligkeit anwendet, eine
Weltanschauung zu machen. Bekanntlich hat Newton aus seinen physikali¬
schen Ergebnissen keine weltanschaulichen Folgerungen gezogen; für viele
Physiker ist die Physik lediglich eine Sammlung von Formeln, von (lleichun-
gen, welche der Beherrschung der Wirklichkeit und der Lenkung der Tätig¬
keit dienen. Die Gleichungen der Physik hätten dann über die Feststellung
von Handlungsmöglichkeiten hinaus keine weitere Bedeutung. Naturwissen¬
schaftliches Denken wäre so Instrument des Handelns und nicht Instrument
des Erkennens. Für eine derartige Physik werden die Begriffe Kraft und
Masse ebenso bedeutungslos, wie etwa das Zeit- und Raumerlebnis in den
Ei n st ei n sehen Formeln nicht mehr zu finden ist. Die Physik ist zum
härtesten Tatsachensinn zurückgekehrt, sie hat jeglichen Anschauungswert
verloren. Ihre Atommodelle sind, wie jüngst nocli Bohr betont hat, nicht
mehr mit den gewöhnlichen Mitteln der Anschaulichkeit zu fassen, Be
merkenswert, daß auch in dieser Entwicklung die Rückkehr zu primitiven
Erlebnisformen die Vorbedingung für das hochdifferenzierte Handeln zu sein
scheint.
Aber wird denn wirklich unser Handeln auch nur in wesentlichen Punkten
durch die physikalische Erkenntnis bestimmt? Ist es nicht die hülle der
Qualitäten, die wir wahrnehmen, die unser Tun, unser Handeln erwecken?
Das Farbig-lebendige der Welt, all das, was reizt und lockt, das Sexual¬
objekt, wirkt nicht als physikalisch faßbarer Körper, sondern als qualitäten¬
reiches Objekt des Triebes. Man muß sich darüber klar sein, daß das in
physikalischen Formeln Faßbare den unwesentlichen technisch-maschinellen
Teil unseres Handelns darstellt, nicht aber zu den Problemen des leben¬
digen Strebens hinführt, welche durch die von Freud geschaffene Psycho¬
analyse durchleuchtet werden. Wir veranschlagen den Erkenntniswert der
Physik also gering, ohne uns darüber zu täuschen, welche narzißtische Be
friedigung physikalische Weltanschauungen geben können. Die Psychoanalyse
erscheint also hier als ein Mittel, die Psychologie der Physik besser zu ver¬
stehen.
12 3
Zur Naturphilosophie
VI
Fügen wir zur Begründung unserer Annahme von dem geringen Erkenntnis-
wert der Physik noch folgende Erwägung hinzu: wäre das gesamte Welt¬
geschehen in mathematisch-physikalische Gleichungen eingefangen, wäre im
Sinne der Laplaceschen Intelligenz alles vorausherechenbar geworden, nie¬
mals könnte ein solches Wissen von der physikalischen Seite her das Belebte
vom Unbelebten unterscheiden, niemals würde das Zeiterleben auftauchen,
niemals die Farbe, ja so paradox es klingt, niemals das Erlebnis des Xastens,
niemals, um es mit einem Worte zu sagen, das Psychische, niemals das
fließende Zeiterleben; niemals das Ding in seinen Qualitäten; physikalische
Betrachtungsweisen sind der Welt und ihren Qualitäten nicht gewachsen.
Immer wieder kommen wir zu jener jenseits aller Physik stehenden Grund-
formel zurück, daß sich ein Ich der Welt im Denken, Handeln und Fühlen
zu wendet, einer Welt, welche sich in Objekten und Situationen entfaltet.
Hier befindet sich die Analyse im Einklang mit der phänomenologischen
Betrachtungsweise, welche ja gleichfalls die Beziehung Ich-Akt-Gegenstand
in das Zentrum stellt. Sehr im Gegensatz zu jenen assoziationspsychologi¬
schen Anschauungen, welche das Handeln von Empfindungen abhängig
machen.
VII
Die Physik kennt im Grunde keine Objekte. Sie verzichtet in ihrer
heutigen Form auf die Annahme einer actio in distans. Sie kennt keine
Fernwirkungen, sie kennt nur Feld Wirkungen. Aber darüber hinaus; weder
Atome noch Elektrone können jemals Objekte des Handelns werden. Der
Objektbegriff ist sinnlos ohne die Gegenüberstellung eines Subjektes oder
von Subjekten, welche die Physik nicht kennen kann. Aber wir können
auf die Gliederung der Welt nicht verzichten. Ich und Gegenstand stehen
einander gegenüber. Wir können die Struktur des Gegenstandes nur be¬
greifen, wenn wir das Ich zu begreifen suchen, welches in den viel¬
fältigen Erlebnissen doch eine Persönlichkeit bleibt. Auch das Objekt ist
nur sinnvoll, wenn es in der Fülle der Abschattungen immer wieder das
eine bleibt. Wir könnten nicht handeln, wäre das Objekt sich nicht selber
gleich, gälte nicht der logische Satz a = a. Wir wissen, daß der logische
Satz a— a. niemals voll realisiert sein kann. Es gibt keinen Gegenstand,
der sich im wirklichen Sinne selbst gleich wäre. Aber wir brauchen Ein-
124 Paul Schilder
beiten des Handelns, Wir könnten weder denken noch handeln, gingen
wir nicht von der Voraussetzung der Einheit der Objekte aus, ihrer Selbst'
gleichheit. Auch hier ist die Struktur des Ich und die der Objekte parallel*
laufend, der Einheit in der Vielfältigkeit beim Subjekt entspricht die
Einheit in der Vielfältigkeit beim Objekt, welche ihren strengen Ausdruck
in dem Identitätssatze der Logik findet. Nur scheinbar ist die Geltung des
Identitätssatzes in jenen Fällen archaischen Denkens Schizophrener und
Primitiver gemindert, in denen etwa ein Mann nicht nur als er seihst,
sondern auch als sein Vater und auch als Tier angesprochen wird. Gerade
in derartigen Fällen wird eine einheitliche „Substanz* 1 gemeint, welche
in verschiedenen Formen erscheint. Es handelt sich um Teilaniichten des-
selben Gegenstandes. Freilich kann auch der lür den Beobachter gleiche
Gegenstand bald als er selbst, bald als ein anderer erscheinen, doch handelt
es sich dann für den Erlebenden um zwei Gegenstände, welche wiederum
jeder sieh selber gleich sind. Das Objekt ist also spiegelbildlich die gleiche
Einheit, wie das Subjekt, und die Psychoanalyse tut recht daran, wenn sie
unter Objekten zunächst Liebesobjekte, beseelte Menschen meint. Auch hier
reicht sie viel über die Enge physikalischer Betrachtungsweisen hinaus.
Handeln wir denn nicht immer gegen beseelte Wesen? Ist es belanglos, daß
das Kind und der Primitive in der Welt nur immer wieder wollende und
handelnde Potenzen sieht? So scheint die Psychoanalyse imstande zai sein,
zwar nicht — wie gelegentlich gemeint wurde — logische Sätze umzu*
stoßen, wohl aber ihren psychologischen Gehalt erkennen zu lassen,
VIII
Der Psychoanalytiker wird sich immer wieder die Frage vorlegen, in¬
wieweit philosophisches Denken und ein Versuch der Klärung zentraler
Fragen nicht narzißtische Selbstüberschätzung sei. Er wird auf diese Frage
verwiesen vor allem durch die Tatsache, daß die weltumspannenden Theorien
in der Schizophrenie so häufig, ja man wäre fast versucht zu sagen in der
Regel, das Krankheitsbild beherrschen. Jede Zuwendung zu den großen
Problemen entfernt uns und entfremdet uns von der Wirklichkeit des Tages.
So fiele der Vorwurf der Abkehr vor der wahren Realität, von der Physik
auf den physikalischen Laien -zurück, der diese Zeilen geschrieben bat.
Man hüte sich jedoch zu meinen, daß ein Erkennen, dessen psychologische
Triebfedern erkennbar werden, auf Geltungswert keinen Anspruch habe.
Jede Erkenntnis muß uns auf psychologischem Wege zufließen. Wir können
*
»
Zur Naturphilosophie 125
nur triebhaft strebend erkennen. Und sollte denn die so mächtige Fülle
der Regungen, welche wir unter dem Namen des Narzißmus zusammen¬
fassen, nicht berechtigt sein, ihren Platz im Ganzen des Denkens und
Anerkennung ihrer Teilhedeutung zu verlangen? Aber sollte es nicht für das
Erkennen wesentlich sein, daß es neben der qualitätslosen Einheit auch
die Objekte in ihrer reicheren Entfaltung berücksichtigt? Eine mit Farben,
Düften, Gerüchen, Tönen geschmückte Welt anzuerkennen, ist Anerkennung
einer höheren Stufe der Triebentwicklung. Warum sollten wir in der Welt¬
anschauung auf das verzichten, was die Werte des Lebens ausmacht? Nur
jene Weltanschauung kann Anspruch auf Geltung erheben, welche auf der
Gesamtheit der architektonisch gegliederten Triebhaftigkeit beruht.
Die menschlichen Einigungsbestrebungen
im Lichte der Psychoanalyse
(Von Kant zu Freud)
Von
Oskar Pfister
Dr. phil., Pfarrer in Zürich
I
Der zeitgeschichtliche Ausgangspunkt
Noch niemals in der Weltgeschichte kam der Wille zur Einigung in der
politisch, sozial und religiös jämmerlich zerrissenen Menschheit so wuchtig
zum Ausdruck, wie in der Gegenwart. Die durch den Weltkrieg miß*
handelten Völker wollen sich nicht einfach sammeln, wie eine zersprengte
Herde oder Flotte, sondern suchen neue Bande ersprießlicher Gemeinschaft,
neue Grundlagen des Völkerrechtes und vor allem der Volkergerechtigkeit*
Die historisch gewordenen organischen Zusammenhänge sollen von ihren
Widersprüchen und Rückständigkeiten gereinigt und durch eine planmäßige
Organisation des Menschheitslebens ausgebaut werden. Voran gingen (noch
vor dem Weltkrieg) die protestantischen Kirchen, die mit der katholischen
Christenheit zusammen eine religiös-ethische Grundlage dieser Menschheit!'
einigung schaffen wollten. Die große Kirchenkonferenz von Stockholm im
Sommer 1925 vertrat, da Rom seine Beteiligung ablehnte, mit den Ab¬
geordneten von über dreihundert Millionen Griechisch-Orthodoxen und
Protestanten den weitaus größeren Teil der Christenheit. Die politischen
Einigungsbestrebungen kristallisierten sich im Völkerbund und im Ständigen
Internationalen Gerichtshof.
Das Ideal einer höheren menschlichen Gemeinschaft leuchtet seit Jahr^
tausenden über unserem Geschlcchte, aber nur als lieblicher Sternenglanz.
Die menschlichen Einxgungsbestrebungen im Lichte der Psychoanalyse 127
Es strahlte aus der großen Seele Echnatons, es erfüllte die Prophetie eines
Jesaja, es fand seinen tiefsten und erhabensten Ausdruck in Jesu Reich¬
gotteshoffnung. Augustinus in seiner „Civitas Dei“, Herder in seinen philo¬
sophischen Ideen zur Geschichte der Menschheit, Schleiermacher mit seinem
Gedanken der „Annäherung an einen allgemeinen Staatenbund, der die
gegenseitigen Verhältnisse der einzelnen Staaten ordnen sollte", 1 beschenken
uns mit individuellen Ausgestaltungen jener Gemeinschaftsidee, die sich
wie ein lebensstarkes Rhizom durch die Geschichte der Jahrhunderte zieht.
Die ungeheuere Lebensnot der jüngsten Vergangenheit hat dem Wunsch'
träum Wirklichkeit zu verleihen begonnen. Allein, werden die zarten
Pflanzen, die in frostigen Früh] ahrstagen dein Erdreich anvertraut wurden,
dem Eishauch des alten, bösen Geistes des Völkeregoismus widerstehen
können ? Werden der Völkerbund und sein geistiges Gegenstück, die ethisch-
religiösen Einheitsbestrebungen, die Kinderkrankheiten überwinden und zu
jener titanischen Kraft heranwachsen, die der Machtgier und dem Grimm
der Großmächte Ketten anlegt und die wilden Bestien gezähmt vor den
Wagen des friedlich siegenden Rechtes spannt?
Wir verzichten auf den Mantel des Propheten und nehmen uns nicht
heraus, auf dem gefährlichen Luftschiff des Wunschdenkens in weite Zukunft
vorauszufliegen. Dagegen halten wir es für angemessen, auf die Bedingungen
hinzu weisen, die erfüllt sein müssen, damit dem Ideal der menschlichen
Gemeinschaft im universellen Sinne die Verwirklichung erblühen könne.
Und diese Überlegungen führen uns auf Sigmund breud. Vorerst aber
wenden wir uns einem anderen Großen zu.
II
Immanuel Kant
V on den großen Philosophen hat keiner so inbrünstig den Jakobskampf um
die Einigung der Menschheit geführt, wie Kant, Deshalb stellen wir seine
Gedankengänge voraus. In seinem kurzen Aufsatz „Idee zur allgemeinen
Geschichte in weltbürgerlicher Absicht“ breitet er folgende Gedanken aus:
Alle Naturanlagen eines Geschöpfes sind bestimmt, sich einmal vollständig
und zweckmäßig auszuwickeln. Am Menschen sollten sich diejenigen Natur¬
anlagen, die auf den Gebrauch seiner Vernunft abgezielt sind, nur in der
1 ) Schleiermacher: Ausgewählte Werke, Herausgegeben von Braxm und Bauer,
Bd. in, 565 f.
28
Oskar Pfister
Gattung, nicht aber im Individuum vollständig entwickeln. Dies geschieht
lediglich durch menschliche Vernunft, die stell vom Instinkt frei halt, mit
Hilfe des Antagonismus zwischen seinem Mang zur Geselligkeit und dem
entgegengesetzten, sich zu vereinzelnen. Letzterer äußert sich darin, daß er
alle bloß nach seinem Sinne richten will und daher Widerstand von ihnen
erwartet; hieraus entspringen Ehrsucht, Herrschsucht und Habsucht. Die
Kultur besteht eigentlich in dem gesellschaftlichen Wert des Menschen..
„Da werden alle Talente nach und nach entwickelt, der Geschmack ge¬
bildet und selbst durch fortgesetzte Aufklärung der Anfang zur Gründung
einer Denkart gemacht, welche die grobe Naturunlage zur sitllichen Unter¬
scheidung mit der Zeit in bestimmte praktische Prinzipien und so eine
pathologisch-abgedrungene Zusammen Stimmung zu einer Gesellschaft
endlich in ein moralisches Ganze verwandeln kann.“ Und ein solches ist
deshalb nötig, weil nur in ihm jener fruchtbare Streit zwischen geselligem
und ungeselligem Streben allen Einzelnen bestmöglich gewahrt wird. Die
Freiheit des Einzelnen muß dabei äußeren Gesetzen unterstellt werden, die
eine vollkommen gerechte bürgerliche Verfassung zum Ausdruck bringen,
„ln diesen Zustand des Zwanges einzutreten, zwingt den sonst für unge¬
bundene Freiheit so sehr eingenommenen Menschen die Not.“ Wilde Frei¬
heit wäre unerträglich. Wie die Bäume im Wald eben dadurch, daß sie
einander Luft und Sonne zu nehmen suchen, 'einander nötigen, beides
über sich zu suchen und dadurch einen schönen geraden W'uclts bekommen,
so drängen die Menschen einander zu Kultur, Kunst und schönster gesell¬
schaftlicher Ordnung.
Die Errichtung einer vollkommenen bürgerlichen Verhissung ist aber
nur möglich bei einem gesetzmäßigen äußeren Staaten Verhältnis. Die Natur
treibt durch die Kriege, ihre Vorbereitung durch Rüstungen und ihre quälen¬
den Folgen die Völker an, „aus dem gesetzlosen Zustand der Wilden hinaus¬
zugehen und in einen Völkerbund zu treten, wo jeder, aucli der kleinste
Staat seine Sicherheit und Rechte nicht von eigener Macht, oder eigener
rechtlicher Beurteilung, sondern allein von diesem großen Völkerbunde
(Foedus Amphictyonum), von einer vereinigten Macht und von der Ent¬
scheidung nach Gesetzen der vereinigten Willen erwarten könnte .
Ob man diese höhere Ordnung vom Zufall, vom spontanen Gang der
Natur oder überhaupt nicht erwarte, hängt davon ab, ob es vernünftig sei,
Zweckmäßigkeit der Natur in ihren Teilen, aber Zwecklosigkeit in ihrem
Ganzen anzunehmen. So lange die Staaten alle ihre Kräfte auf ihre eiteln
und gewaltsamen Erweiterungsabsichten verwunden und so die langsame
Die menschlichen Eimgungsbestrebungen im Lichte der Psychoanalyse 12g
Bemühung der inneren Bildung und Denkungsart ihrer Bürger unaufhör¬
lich hemmen, kommen wir nur zur Zivilisation* nicht aber zur Kultur;
denn diese schließt Moralität ein.
Die Geschichte der Menschengaltung kann als die Vollziehung eines
verborgenen Planes der Natur angesehen werden* eine innerlich, daher
auch äußerlich vollkommene Staatsverfassung zu erhalten, da sie nur In
ihr alle Anlagen der Menschheit entwickeln kann. Diese Auffassung ist
kein schwärmerischer Chiliasmus; sie wird durch sehr nüchterne Über¬
legungen gestützt. „Der Krieg wird selbst allmählich nicht allein ein im
Ausgang von beiden Seiten so unsicheres, sondern auch durch die Nach¬
wehen* die der Staat in einer immer anwachsenden Schuldenlast (einer
neuen Erfindung) fühlt* deren Tilgung unabsehbar wird, ein so bedenk¬
liches Unternehmen* dabei der Einfluß, den jede Staatserschütterung in
unserem durch sein Gewerbe so sehr verketteten Weltteil auf alle Staaten
tut, so merklich, daß sich diese, durch ihre eigene Gefahr gedrungen, ob¬
gleich ohne gesetzliches Ansehen* zu Schiedsrichtern anbieten und so alles
von weitem zu einem künftigen großen Staatskörper anschicken, wovon die
Vorwelt kein Beispiel aufzuzeigen hat . . .* und dieses gibt Hoffnung, daß
nach manchen Revolutionen der Umbildung endlich das* was die Natur
zur höchsten Absicht hat* ein allgemeiner weltbürgerlicher Zustand
als der Schoß, worin alle ursprünglichen Anlagen der Menschengatt urig
entwickelt werden, dereinst einmal zustande kommen werde.“
Am Schlüsse des geistvollen Aufsatzes betont Kant, daß er mit seiner
Idee einer Weltgeschichte nicht etwa eine empirisch abgefaßte Historie ver¬
drängen wolle. Der Macht der Erfahrungstatsachen huldigt der Philosoph
schon durch den wuchtigen Satz, der als geharnischter Flügelmann in der
Front des Essays schreitet: „Was man sich auch in metaphysischer Absicht
für einen Begriff von der Freiheit des Willens machen mag: so sind doch
die Erscheinungen desselben, die menschlichen Handlungen, ebensowohl
als jede andere Naturbegebenheit nach allgemeinen Naturgesetzen bestimmt.“
Dieser Satz möge den Ausgangspunkt unserer Kritik bilden. Wir ver¬
neigen uns vor dem Seherblick des großen Königsbergers. Ohne Zweifel
ist er seinem Jahrhundert weit vorausgeeilt. Er verbindet philosophische
und er fall rungswissenschaftliche Einsichten, Metaphysik und Ethik reichen
einander die Hände zur Konzeption einer umfassenden Teleologie, Beiden
zugleich entstammen die Sätze, daß alle Naturanlagen eines Geschöpfes
sich zweckmäßig auswickeln sollen, und daß die Geschichte auf eine
auch äußerlich vollkommene Staats Verfassung abgezweckt sei. Psychologie,
Ima^oXlI.
9
! 3 o
Oskar Pfister
also eine erfahrungswissemr.haftliche Betrachtung, enthält die erwähnten
Thesen: Die Natur will, daß der Mensch alles, was über die mechanische
Anordnung seines tierischen Daseins geht, durch instinktfreie Vernunft selbst
hervorbringe; dabei waltet der Antagonismus zwischen Extra- und Introversion
(viele Analytiker wissen nicht, daß diese Unterscheidung schon in Kants Psycho-
logie vorherrscht); durch fortgesetzte Aufklärung wird die Grundlage zu einer
Erhebung des präkulturellen Denkens geschaffen; bevor wir zu einer morali¬
schen Struktur der Menschheit gelangt sind, leben wir in einem pathologi¬
schen Zustand. Das schöne Gleichnis von den Bäumen, die durch gegenseitige
Hemmung das Aufwärtsstreben bewirken, schildert die Sublimierung. Erweite¬
rungspolitik ermöglicht nur Zivilisation, nicht aber Kultur. Auf Psychologie
gestützt ist endlich auch das prophetische Urteil, die Völker werden durch
die schlimmen Wirkungen des Krieges 2ur Bildung von Schiedsgerichten über¬
zugehen bewogen werden und einen Völkerbund schaffen.
Die Kritik wird sich vor allem den psychologischen Ansichten Kants in
den Weg stellen. Ist der Dualismus zwischen Instinkt und Vernunft haltbar,
oder liegen in den Instinkten Säkularerinnerungen, die selbst Vernunft¬
tätigkeit einschließen? Kann Aufklärung im Sinne Kants, als Darbietung
theoretischer Kenntnisse, jenen „pathologischen“ Zustand überwinden, der
in der Völkerzerklüftung vorliegt? Waren nicht schon längst die Wirkungen
des Krieges häufig so verheerend, daß die Vernunft zu Schiedsgerichten
übergegangen wäre, wenn sie auf diesem Lebensgebiet den Ausschlag gäbe?
Die schönsten Verträge, die großartigsten rechtlichen Einrichtungen, die
herrlichsten Menschheitsideale werden erfahrungsgemäß in die Luft ge¬
wirbelt, wenn Fortuna nach einer anderen Bichtung lockt, oder wenn der
Sturm der Völkerleidenschaft ausbricht, 1
Kant läßt uns den Parnassus schauen; aber der von ihm zur Besteigung
angegebene Pfad verliert sich in trügerische Schrofen und grifflose bels
mauern, die nimmermehr zum Ziele fuhren,
i) Spinoza sagt in seiner „Theologisch-politischen Abhandlung* - „Niemand
schließt einen Vertrag und braucht denselben su halten, als in Hoffnung eines Gutes
oder in Sorge eines Übels, Fällt diese Grundlage Fort, so fällt auch der V ertrag fort,
wie die Erfahrung lehrt. Denn wenn auch mehrere Staaten Übereinkommen, einan er
nicht zu verletzen, so suchen sie doch nach Möglichkeit das Anwachsen der Mut hl
des anderen zu hindern und trauen den Worten nicht, wenn der Zweck und Nutzen
des Vertrages für beide nicht klar ersichtlich äst . , * Nimmt man dabei auf brummig*
keit und Religion Rücksicht, so sieht man iiberdem, daß kein Inhaber der Staats¬
gewalt zum Schaden des Staates das Versprechen halten darf, ohne ein Verbrechen
zu begehen“ (Spinoza, Werke, II, a 17 [Kirchmann]),
Die menschlichen Einigungsbestrebungen im Lichte der Psychoanalyse 151
III
Freuds Beiträge zur Psychologie der Zerklüftung
Freud ist weder Metaphysiker, noch Ethiker, noch Prophet. Sein Reich
sind die gegebenen Tatsachen und ihre wissenschaftliche Bearbeitung, so¬
weit sie zur Erfüllung seiner ärztlichen Aufgabe und zur Abklärung seiner
empirischen Begriffswelt erforderlich ist. Mehr als Positivist will er als
Psychoanalytiker und Gelehrter nicht sein. Wer ihm menschlich näher¬
treten durfte, weiß, daß ihm Kants Einigungsbestrebungen aus der Seele
gesprochen sind. Daß er während des ganzen Weltkrieges in der von ihm
herausgegebenen „Internationalen Zeitschrift für Psychoanalyse*' Angehörige
der Zentralmächte und ihrer politischen Feinde als Redakteure und ständige
Mitarbeiter zeichnen ließ, läßt tief in seine Denkweise schauen. Die von
ihm vertretene wissenschaftliche Richtung bewahrte dank seiner Führung
jene über allen Chauvinismus hoch erhabene Haltung, die allein dem
Wesen wahrer Wissenschaft entspricht, und braucht sich nicht zu schämen,
daß ihr wissenschaftliches Organ in dieser Hinsicht eine Ausnahmestellung
innerhalb der Weltliteratur einnahm. Ganz im Geiste Kants klagt Freud über
den Krieg: „Es will uns scheinen, als hätte noch niemals ein Ereignis
soviel kostbares Gemeingut der Menschheit zerstört, so viele der klarsten
Intelligenzen verwirrt, so gründlich das Hohe erniedrigt.“ 1 Der Sehnsucht
nach Aufhören des Krieges gibt er beredten Ausdruck. Er erinnert daran,
daß in jeder führenden Nation „hohe sittliche Normen für den Ein¬
zelnen aufgestellt worden waren, nach denen er seine Lebensführung ein¬
zurichten habe, wenn er an der Kulturgemeinschaft teilnehmen wollte“,
daß aber die Kultur Staaten untereinander diese Normen nicht respektierten.
Er bespricht die Enttäuschung über die Mißachtung des Völkerrechtes
im großen Kriege, über die gesteigerte Verlogenheit und Machtgier, „die
Lockerung aller sittlichen Beziehungen zwischen den Großindividuen der
Menschheit“.
Allein nun tritt Freud durchaus nur als Psychologe an das Problem
des Krieges heran. Genauer könnte man sagen: Er legt das Fundament
zu einer Psychopathologie der Sozietät. Ihm ist der Krieg Atavismus
und Regression (Rückbildung). Dem unzulänglichen Rationalismus Kants, der
alles Heil von der Aufklärung erwartet, stellt er den Voluntarismus entgegen,
1) Freud: Zeitgemäßes über Krieg und Tod. Imago IV (1915), S. 1. (Gesammelte
Schriften, Bd, X*)
9 *
1 3 2
Oskar Pfister
der den Intellekt nur als Instrument des Willens gelten läßt, so daß
auch der Scharfsinnigste sich plötzlich einsichtslos wie ein Schwachsinniger
benimmt, sobald die verlangte Einsicht hei ihm auf einen Gefuhlswider- ,
stand stößt. Die Großindividuen (Staaten und Völker) schieben Inter¬
essen vor, indem sie Krieg erklären; in Wirklichkeit gehen sie darauf aus,
ihre Leidenschaften auszuwirken, ln jedem Einzelnen steckt ebenso wie
im Menschen der Urzeit ein Stück Feindseligkeit oder sogar Mordlust, .las
selbst in den innigsten Liebesbeziehungen nachwirkt. J
Diese knappen Andeutungen enthalten Ideen, deren 1 ragweite noch
nicht abzusehen ist. Die Psychoanalyse dringt in den Bereich des Groß-
individuums ein. Erst damit wird eine biologische Psychologie der ver¬
schiedenen menschlichen Gemeinschaften (Völker, Klassen, Kirchen, wissen¬
schaftlichen Schulen usw.) möglich.
IV
Freud als Hygieniker der menschlichen Einigung s~
bestrebungen
Die verdientesten Förderer der Menschheit wollen niemals Ziel sein.
Sie führen über sich selbst hinaus. Sie entdecken wie Mose* ein gelobtes
Land und blicken leuchtenden Auges hinein; aber wenn sie es auch nicht
selbst betreten, so rechnen sie zu den preis würdigsten Entschädigungen für
ausgestandene Mühsal die Gewißheit, daß andere jenes Kanaan einnehmen
werden. •
Auch für das erhabene Problem der Menschheitseinigung will Freud
nur einen Anfang psychoanalytischer Untersuchung darstellen. Er steckt
ein paar Wegpfähle auf; seinen Nachfolgern überläßt er es, den von ihm
begonnenen Weg auszubauen. Dem Einzelnen ist kaum vergönnt, mehr als
ein Stück dieser Völkerstraße zu verwirklichen. Vollends in der vorliegen¬
den Skizze sind nur ein paar dürftige Andeutungen möglich.
Die Psychoanalyse, auf die Großindividuen angewandt, vermittelt uns
in erster Linie eine tiefere Wesensschau in die [ atsai.hen menschlicher
Zerklüftung und Gemeinschaft. Wir haben eine Soziologie, die sich mehr
mit den materiellen Erscheinungen befaßt, aber allerdings auch die psycho¬
logischen Determinanten mitberücksichligt.' Was wir aber mindestens ebenso
1) Siehe meine Schrift n I)er
des Geldgeistes. w Bircher, Bern.
seelische Aufbau des klassischen Kapitalismus und
Die menschlichen Einigungsbestrebungen im Lichte der Psychoanalyse 155
notwendig hätten, wäre eine Biologie des Zusammenlebens, eine Sozial¬
biologie und Kulturbiologie, wobei der Nachdruck auf die geistigen Ursäch¬
lichkeiten zu liegen kommen müßte. Ohne Tiefenpsychologie war ein
solches Unternehmen undurchführbar. Freud hat freie Bahn gebrochen.
Die Analyse verschafft uns den erforderlichen Einblick in die Struktur
der menschlichen Zerwürfnisse und Spaltungen. Sie lehrt uns im
Gegensatz zur Oberflächenpsychologie das Irrationale und Alogische
dieser Prozesse verstehen und überwindet damit den seichten Rationalismus,
an dem die bisherigen Versuche zerschellen mußten. Aber diese irrationalen
und alogischen Machtfaktoren stellen sich nicht als etwas Magisches und
Mirakulöses heraus, wie es naive theologische Supranaturalisten so gerne
haben möchten, um ihren Wünschen ein wohlgehegtes Feld zu erschließen:
vielmehr erkennt die Analyse, um es möglichst scharf zu formulieren, das
Rationale im angeblich rein Irrationalen, das Irrationale im vermeintlich
rein Rationalen. Die Verdrangungs- und Manifestationstheorie löst das Rätsel
in einer wundervoll klaren und durchsichtigen Weise.
Ebenso gewährt Freuds Forschung Einblicke in den Zwangscharakter
so vieler menschlicher Spannungen, die sich der Einigung widersetzen.
Das Wort „Zwang“ gilt dabei nicht im üblichen Sinne, nach welchem dem
Subjekte eine unwidersteh liehe innere Macht gegenübersteht. Von solchen
„Obsessionen“ unterscheide ich die „Insessionen“, die nach genau denselben
Gesetzen zustande kommen, nur daß der Widerstand des Subjektes gänzlich
überwunden ist, so daß der Schein der freien Willensentscheidung entsteht.
Solche Insessionen, die die Menschen auseinanderreißen, wirken oft nach
Art einer posthypnotischen Suggestion, in welcher der Fremdursprung der
abgenötigten Handlung vergessen ist.
Damit ist bereits der unterschwellige Re gierungsbezirk angedeutet,
als dessen Vollzug die menschlichen Absperrungen und Feindseligkeiten sich
für die tiefenbiologische Betrachtung ergeben. Um ihn wissenschaftlich
erfassen zu können, muß eine kausale Untersuchung einsetzen, die wieder¬
um erst seit Freud möglich ist.
Bei dieser entwicklungsgeschichtlichen Arbeit erkundigt sich der
Analytiker nach den Wurzeln der menschlichen Zersplitterung und gelangt
dabei zu einem ungeheuer verwickelten Netz. Als besonders wichtig findet
er immer und immer wieder die Ödipus-Bindung, den Narzißmus, Sadis¬
mus und Masochismus, ferner eine Unmasse von sekundären Determinanten,
wie Kastrationsdrohung und andere sexuelle Traumen, lieblose Behandlung,
Kränkungen des Selbstgefühls hinsichtlich des körperlichen, geistigen oder
1 54
Oskar Pfister
sozialen Wertes, Beeinträchtigungen des Strebens nach freien Ent w ick
lungen usw.
Eine analytisch belehrte Biologie der Groß Individuen hätte sodann die
genetischen Prozesse mit ihren Kausalverhältnissen ausfindig zu
machen. Sie müßte zu diesem Zwecke gleichzeitig geistes- und naturwissen¬
schaftlich orientiert sein. Sie hätte die Entwicklung der menschlichen
Sozietätsformen aufzudecken, und da ihr an der Feststellung der Ursächlich¬
keiten besonders viel liegt, müßte sie den Gesetzen des menschlichen Zu¬
sammen- und Auseinandergehens sorgfältigste Aufmerksamkeit schenken.
Außer den spezifischen allgemeinen Formen, die bei diesen Prozessen her¬
vortreten, müßte sie den im gesamten übrigen Geistesleben zutage treten¬
den Gesetzen nachgehen, der Verdrängung, Fixation, Introversion, lL-gression
(der ontogenetischen und phylogenetischen) usw. Sie hätte sich zu befassen
mit den Gesetzen der Symbolisation, der Affektverpflanzung, der Reaktions-
bildung u. dgl. Sie hätte Umschau zu halten nach dem latenten Sinn der
Zerklüftung, nach der Bekämpfung des Vaters und der Gleichsctzung mit
ihm und unzähligen anderen konstanten Formen, in denen die mensch¬
liche Dissoziation sich vollzieht.
Auf Grund dieser Wesensschau wird es erst möglich, die Heilung von
Haß, Feindseligkeit, kalter Ablehnung, verständnisloser Einstellung unter
den verschiedensten politischen, sozialen, religiösen und anderen Groß
individuen planmäßig ins Auge zu fassen. Eine Sozialhygiene betritt den
Plan. Es ist im höchsten Maße bemerkenswert, wie dilettantisch und naiv
bis auf den heutigen Tag die Volkerbeziehungen behandelt wurden. Mit
unvernünftigen, ja beinahe verbrecherischen Methoden betrieb man die
Völkerlenkung, schleppte die Blüte der Männerwelt vor die Schlachtbank,
vernichtete die kräftigsten Stützen des Volkswohles, unterband die wichtigsten
Blutadern eines gesunden Menschheitslehens, also auch Gemeinschaftslebens
und beging Verrat an den zentralen Interessen, indem man mit jämmer¬
lichem Krämergeist die oberflächlichen Kleinin toressen förderte. Iin lxben
der Einzelnen gewährt man dem Arzt ein gewichtiges Wort: Der Sports¬
mann, der Fabrikdirektor, der Lohnarbeiter lassen sich von ihm beraten,
wenn das Leben auf dem Spiele steht. Für die Beurteilung der großindivi¬
duellen Lebensinteressen aber fehlte der Arzt. Jeder Staats mann ließ sicli
von seinen Kalkulationen leiten, und die völkerhygienischen Rücksichten
blieben außer acht. Angesichts solchen Wahnsinns darf man sich über die
Greuel des Weltkrieges und die Torheiten des sogenannten V\ eltfriedens
nicht wundern.
Die menschlichen Einigungsbestrebungen im Lichte der Psychoanalyse 155
Freud zeigt uns die hygienischen Grundsätze der Völkergemeinschaft.
Er lehrt uns die allein wirksame Behandlung jener dissoziativen Störungen
des menschlichen Gemeinschaftslebens, die schon Kant als krankhaft er¬
kannte. Er lehrt uns, daß wir allen Ernstes auch die groß individuellen
Neurosen, als welche wir Krieg, fanatischen Haß, Unterdrückung u. dgl.
sehr oft (nicht immer) betrachten müssen, nach psychoanalytischen Prin¬
zipien behandeln müssen. Er hilft so zur Überwindung der pathogenen
Tiefenmächte und zur Reintegration der Liebe. Was Aufklärung und über¬
lieferte Diplomatenkunst aus leicht verständlichen Gründen nicht erzielen
konnten, das rückt nun dank der analytisch vertieften Sozialhygiene im
weitesten Sinne in den Bereich des Ausführbaren.
Und so entfacht Freud die zündende Fackel, die den erhabenen Geistern
des Friedens und der Liehe ihren segensreichen Einzug in die Großindivi¬
duen der Menschheit erleichtern wird.
Kann das Unbewußte erzogen werden?
Vortrag, gehalten in der „Montessori Society' in London am ) I. Dezember I9-S
Von
M. D. Eder
London
An euch, ihr Lehrer, ergeht der Ruf, die Menschheit zu retten. Der ge¬
gliederte Teil der Menschen fühlt sielt gerade in der heutigen Zeit besonders
elend und traurig und wendet sich, nachdem er sein Heil auf verschiedene
Weise gesucht hat, an euch, in der Hoffnung, daß ihr einen Weg aus dem
Sumpf finden werdet. Das erscheint auf den ersten Mick als eine vernünftige
Hoffnung, denn selbst wenn ihr mit Le Play darin übereinstinnnt, daß mit
jeder neuen Generation eine Horde von kleinen Wilden in die Welt einbricht,
fallt ja euch Lehrern die Aufgabe zu, diese Wilden zu zivilisieren ; und da
der Ruf nach mehr und immer mehr Erziehung allgemein ist, muß man
wohl annehmen, daß wir recht zufrieden mit der Art sind, wie ihr eure
Aufgabe erfüllt — nur würden wir wünschen, daß ihr eine noch höhere
Stufe erreicht.
„Was taugt ein Mensch ohne Unterweisung?“ fragt Mr. Hiob Hufi in «The
Undying Fire“ von H. G. Wells. „Er wird geboren wie das Vieh, unersättliche
Selbstsucht, Gier, die nicht locker läßt, ein Etwas, bestehend aus Gelüst und
Angst. Er sieht alles nur in Beziehung zu sich selbst. Sogar seine Liebe ist
ein Geschäft; und seine äußerste Anstrengung ist nichtig, denn er muß ja
doch sterben. Und wir Lehrer allein sind es, die ihn aus dieser Selbst¬
befangenheit emporheben können — wir Lehrer. Und so entgeht er durch
uns und nur durch uns dem Tode und der Nichtigkeit. Ein ungelehrtet
Mensch ist ein vereinsamtes Wesen, so verlassen in seinem Zielen und seinem
Schicksal wie nur irgendein Tier. Der unterrichtete Mensch aber ist dem engen
Gefängnis seines Selbst entronnen zur Teilnahme an einem nichtsterblichen
Kann das Unbewußte erzogen werden?
157
Leben, das begann, wir wissen nicht wann, und das sich ausbreitet bis über
die Weite der Gestirne/'
Aber da Erziehung doch nicht ausschließlich eine Errungenschaft des
zwanzigsten Jahrhunderts ist, mag wohl die Frage am Platze sein; Gibt
es eine Rechtfertigung und welche dafür, daß wir die Erfüllung so aus¬
schweifender Hoffnungen von der Erziehung erwarten. Dabei wollen wir
für einen Augenblick annehmen, daß das vollendeteste System, das man sich
nur wünschen kann, sagen wir das der Montessori, allgemeine Anwendung
fände.
Wenn der unterrichtete Mensch sich wirklich so unendlich hoch über
das ausschließliche Interesse am eigenen Selbst empor heben würde, wenn
er wirklich ein um so viel edleres, so viel lebendigeres Leben führt, dann
brauchte ich keine Fragen zu stellen, keiner Angst für die Zukunft Ausdruck
zu geben. Denn sicherlich besitzt auch die dümmste und unwissendste Person
in diesem Raum, ich selbst, mehr Wissen, als der Wissendste des Altertums
hatte, ebenso wie unsere Urenkel einen größeren Vorrat an Wissen haben
werden, als irgendeiner von uns hier beanspruchen kann. Aber so angenehm
und erfreulich es auch sein mag, über die wachsenden Quellen des Wissens
nachzudenken, die heute überall sprudeln, obgleich ich mich rühmen kann,
mehr zu wissen, als Platon wußte, so lehrten uns doch die Weltgeschichte
und Weltliteratur, daß größeres Wissen nicht gleichbedeutend ist mit größerer
Weisheit. Wir bleiben noch immer, wie Shaw sagt, die kecken, launenhaften
Affen, die wir in der Dämmerzeit der Geschichte waren; betroffen sehen wir,
wie bei den Helden und in den Heldenzeiten der Vergangenheit ebenso wie
heute, Kämpfe, Zweifel, Streben nach einem besseren Zustand auf dieser Erde,
nach Frieden unter den Menschen, nach dem Ende des Hasses und der Er-
bittertheit ebenso zwischen den Individuen wie zwischen den Völkern hart
neben Unterdrückung, Gier und Grausamkeit erscheinen, und zwar nicht
nur in ein und derselben Geschichtsepoche, nicht nur in verschiedenen
Lebensperioden desselben Individuums, sondern fast in ein und demselben
Augenblick. Ja noch mehr, jene Anthropologen, die sich in den letzten Jahren
der Erforschung der Psyche solcher Völker widmeten, die eine Kultur haben,
aber eine von deT unsern verschiedene, eine Erziehung, aber kein solches
System des Unterrichts, wie Hiob Huß es erträumt, finden die genauesten
Parallelen zwischen den grundlegenden Ideen und Affekten der Wilden und
unseren eigenen. Das Unbewußte ist überall gleich und ich glaube, wir
können die Hypothese aufstellen, daß es gleich geblieben ist, seitdem die
Menschen Menschen sind.
M. D. Eder
158
Nur als Stütze unseres Gedächtnisses will ich im Umriß Freuds Ansicht
über die Eigenart des Unbewußten wiedergeben: Das Unbewußte besteht
aus Triebvertretungen, die Wunschimpulse sind. Im Unbewußten gibt es
kein Nein, keine Unsicherheit; entgegengesetzte Wünsche existieren neben¬
einander, ohne einander auszulüschen; es herrscht die äußerste Beweglich¬
keit, so daß durch Verschiebung und Verdichtung eine Vorstellung voll¬
kommen verdeckt werden kann; das Unbewußte ist zeitlos, d. h. seine
Prozesse unterliegen keinerlei Veränderungen durch 'die Zeit; die Prozesse
des Unbewußten haben nichts mit der Wirklichkeit zu tun, sie sind dem
Lustprinzip unterworfen, d. h. sie ersetzen äußere Wirklichkeit durch
psychische.
Ich habe bei meinem heutigen Vortrag diese Auffassung als gebilligt
angenommen, da ich weiß, daß Ihre Vereinigung schon andere Vorträge
über das Unbewußte angehört hat; es wäre zu lästig, wenn wir bei jeder
Auseinandersetzung erst einen gemeinsamen Ausgangspunkt suchen müßten.
Ich bemühe mich, von einem streng wissenschaftlichen Standpunkt aus zu
sprechen, d. h. in die Kette von Geschehnissen kein äußeres Moment sich
einschieben zu lassen. Es ist der Standpunkt, den der gewöhnliche Mensch
im täglichen Leben einnimmt. Wenn Sie den Wasserhahn drehen und kein
Wasser herauskommt, so werden Sie nach dem Installateur senden; Sie
werden nicht bei Sekten Hilfe suchen und nicht so handeln, als glaubten
Sie an die Einwirkung eines bösen Geistes.
Nehmen wir als bewiesen an, daß das Unbewußte durch die ganze
Menschheitsgeschichte unverändert blieb, wie können wir dann die Ver
änderungen in den menschlichen Verhältnissen erklären, Veränderungen,
die ich gerne als Fortschritt anschen will. Wir müssen auch daran denken,
daß die meisten dieser bedeutsamen Wandlungen relativ jung sind; ist
doch die wunderbarste aller Kulturänderungen, der Ackerbau, keine sieben¬
tausend Jahre, zählt also vielleicht weniger Generationen als dieser Raum
Menschen.
Vor allem ist die Annahme unrichtig, daß eine Moral — ich spreche
vom menschlichen Standpunkt aus den 1 ieren unbekannt ist. Sonderbarer
erscheint es, daß gewisse menschliche Charakterzüge, z. 11. Grausamkeit
ohne Nutzen als Zweck, nicht zum Wesen der anderen Ii«it gt hören,
während das, was uns als ein Beispiel von Liebe und Güte erscheint, sich
durch das ganze Tierreich findet. Auf den großen Steppen von Südamerika
war ich oft Zeuge folgender Szene: Dutzende von Geiern schweben über
einem sterbenden Kalb, das die Mutter, bereit zu einem Verteidigungskampf,
Kann das Unbewußte erzogen werden?
159
bewachte; sie verscheucht jeden Vogel, der scheinbar herankommen will;
keiner wagt es, ihrem sterbenden Jungen zu nahe zu kommen. Damit Sie
Ihre Sympathie bei diesem Beispiel von Elterninstinkt nicht iibermannt,
will ich hinzufügen, daß sich die Geier in dem Moment, in dem das
Kalb tot ist, auf die Leiche stürzen, während die Mutter ruhig wieder zu
grasen beginnt. In Wahrheit ist das Verhalten der Kuh so vernünftig, wie
es das einer menschlichen Mutter unter ähnlichen Umständen wäre; für
die Betätigung des Mutterinstinktes besteht hier kein Anlaß, da die Geier
nichts Lebendes anrühren; sie fressen nur Aas und tüten ihre Beute nicht.
Die Kuh zeigt sich hier ebenso unvernünftig wie die Mutter aus Steier¬
mark, die ihr Kind vor den Gefahren des Zahnens dadurch schützt, daß
sie einer lebendigen Maus den Kopf abbeißt und ihn an einem Seidenfaden
um den Hals des Kindes hängt.
Wenn wir nun die Antwort auf die Frage finden können, warum die
Mütter in London diesen Brauch nicht üben, dann dürften wir auf dem
Wege sein, auch die Frage zu beantworten, die den Titel dieses Vortrages
bildet.
Wir können ruhig annehmen, daß die steirischen Mütter mit ihren
Schutzmitteln dieselben Resultate erzielt haben, wie andere ohne diese.
Zweifellos hat sich das Zahnen des Kindes unter Begleitung des Maus-
kopfes recht häufig ohne jede Schwierigkeit vollzogen, während das Kind
in anderen Fällen, ungeachtet der Opferung der armen Maus, ziemlich
viel zu leiden hatte. Ich erinnere mich noch aus der Zeit des Beginnes
meiner medizinischen Laufbahn, daß der Arzt damals oft Einschnitte in
das Zahnfleisch des Kindes machte. In Südamerika wieder wurde, wie ich
erfuhr, das Zahnfleisch mit dem Manna eingerieben. Heute wissen alle,
die beruflich mit zahnenden Kindern zu tun haben, daß keine große Gefahr
damit verbunden ist und daß weder eine Maus noch das Zahnfleisch des
Kindes dabei geopfert werden muß.
Der lächerliche und vielleicht auch abstoßende Brauch in Steiermark
hat aber doch eine Bedeutung. Eine vollständige Erklärung kann ich Ihnen
nicht gehen, weil ich keine weiß; ich kenne die Geschichte dieses Ritus
nicht und auf alle Fälle würde uns das zu weit von unserem Thema abführen.
Aber zugrunde liegt, wie bei vielen ähnlichen Zeremonien, eine gewisse
feindliche Einstellung gegen das Kind. Die steirische Mutter empfindet wie
andere Mütter große Freude und großen Stolz darüber, ein Kind zu haben,
es ist der Gegenstand unendlicher Liebe, Hingebung, Sorgfalt. Aber es ist
auch eine Hemmung für die Befriedigung der egoistischen mütterlichen
M. IL Eder
|
Neigungen; das Kind stört die Nachtruhe u. s. w. In anderen Gemeinschaften
fanden solche feindliche Gefühle ihren Ausdruck in der Tötung des Kindes; in
Steiermark in der Opferung einer Maus und in unserem duldsamen London
vielleicht einfach in dem Ausruf der Hon ne: „Ho ! 1 der kuckuck das Kind!
Wir entdecken also, daß das unbewußte Feindschaftsgefiihl gegen das
Kind geblieben ist; nur seine Äußerungen sind einer unaufhörlichen Wandlung
unterworfen — von der Tötung des Kindes bis zu einem Ausruf der Un¬
geduld;— alles vollzieht sich in den meisten Fällen unbewußt und findet
unter Umständen keinen direkteren Ausdruck als den der Unzufriedenheit
der Mutter mit der Art, wie die Bonne dem Kind das Häubchen aufgesetzt
hat — also in einer Verschiebung des ursprünglichen Affektes.
Man könnte die Frage aufwerfen, ob der Aß'ekt in unserem zivilisierten
Gemeinschaftsleben eben so stark ist wie unter Wilden oder wie er bei
den Menschen der Urzeit war. Ich bin außerstande, diese Frage zu beant¬
worten, denn wir haben unglücklicherweise keinen verläßlichen Maßstab
für Gefühle. Aber meine Beobachtungen legen mir die Vermutung nahe,
daß im ganzen die mütterlichen Gefühle, zärtliche wie feindliche, unter
den Wilden ebenso ausgeprägt sind wie unter hochkultivierten Völkern.
Tn einem Kannibalenstamm in Südamerika, bei dem ich mich eine Zeit¬
lang auf hielt, entsprach die liebevolle Hingabe dieser men sehen fressen den
Mütter und Väter für ihre Kinder durchaus den Forderungen irgendeines
englischen belehrenden Buches über Mutterschaft.
Im übrigen können wir von der Frage der Stärke, die allerdings für das ein¬
zelne Individuum wie für jede besondere Rasse ungeheure Wichtigkeit besitzt,
die nach der Art dieses Gefühls trennen, Nachdem ich die ursprüngliche
Einheit dieser primitiven Impulse durch die ganze Geschichte vertreten
habe, muß ich zunächst ihr weiteres Schicksal skizzieren, soweit mit den
VVandlungen, denen sie unterworfen waren, die Erziehung etwas zu tun hat.
Unter normalen Umständen bestellt der erzieherisch wichtigste Prozeß in
dem Ersatz des ursprünglichen Objekts durch ein anderes, das dem sozialen
Leben des Individuums besser angepaßt ist, ln vielen Millen ist die Umwand
lung des Objekts begleitet von einer Einschränkung oder Aufhebung des
ursprünglichen Zieles. Ist die Umwandlung in zufriedenstellender Weise
durchgeführt, dann muß das ursprüngliche Ziel die Mihigkeit verlieren,
den Impuls in Tätigkeit zu setzen. Auf solchen erfolgreichen Umwand¬
lungen beruht die Zivilisation; die Erziehung kann unmittelbar verhältnis¬
mäßig wenig dazu tun, die Wandlungen selbst hervorzubringen, aber sie
kann sie auf verschiedenste Art beeinflussen.
Kann das Unbewußte erzogen werden?
141
Die erste ist zwar negativ, aber von grundlegender Bedeutung für das
Wachstum des Individuums. Sie hat zur Voraussetzung die Erkenntnis, daß
die Erziehung zur Kultur bei der Geburt beginnt und daß die ersten sechs
Lebensjahre ausschlaggebend sind; sie wird daher alle psychologischen
Hemmungen für die geistige Entwicklung beseitigen und Bedingungen für
die freie Entwicklung des Kindes zu sichern trachten. Solche Bedingungen
anerkennt ja auch die Montessori-Gesellschaft als wünschenswert, wenn auch
erst in einem späteren Stadium.
Neue Erkenntnisse in der Psychologie des Unbewußten ermöglichen uns
ein besseres Verständnis der Rolle, die der Lehrer bei diesem Prozeß spielen
kann. Neben dem Ich, das aus triebhaften Wünschen besteht, wächst im
Kinde ein anderes Ich, das sich zunächst nach jenen Menschen formt, die in
unmittelbare gefühlsbetonte Berührung mit dem Kind kommen, im Normal-
fall also nach den Eltern, ln diesem Identifizierungsprozeß nimmt das Kind
die Eigenheiten des einen oder anderen Elternteiles an; unter gewöhnlichen
Verhältnissen identifiziert sich der Knabe mit dem Vater, das Mädchen mit der
Mutter. Es handelt sich dabei nicht, daran müssen wir festhalten, um eine
bewußte Nachahmung, sondern um ein Streben, die erwachsene Person zu
sein, ein Streben, von dem das Kind selbst nichts weiß. Diesem zweiten
Ich, diesem Über-Ich, wie Freud es genannt hat, verdanken wir das
Erwachen des Gewissens. Nun kann aber, wie ich schon gesagt habe, das
Objekt eines instinktiven Impulses wechseln. Wenn das Kind in das schuh
pflichtige Alter kommt, wird statt der Eltern der Lehrer zum Objekt der
Identifizierungsbestrebungen. Solch eine Identifizierung kann vollständig oder
nur teilweise stattfinden, aber von diesem Prozeß hauptsächlich wird der
Erfolg des Lehrers abliängen, d. h. ob er seine Schüler instand setzen kann,
ihre primitiven Impulse in Einklang mit der Kultur ihrer Generation zu
bringen.
Wenn meine Skizzierung der Methoden zur Zähmung der unbewußten Im¬
pulse richtig ist, so werden Sie wohl zu der Ansicht kommen, daß die Er¬
ziehung zwar die ganze schwere Aufgabe auf sich nehmen muß, jede Generation
aus kleinen Wilden“ — vom Standpunkt des Erwachsenen aus, denn von
psychologischen aus muß man sagen, daß das Kind amoralisch ist und nur
zu bald ein Gewissen und sogar eine Supermoralitat entwickelt — zu
Menschen mit den hohen ethischen Forderungen meiner Zuhörer zu machen,
daß aber ihre Aussichten recht ungünstig sind. Tatsächlich gibt ein öster¬
reichischer Pädagog (Dr. Berufe!d) seinem letzten Buch über Erziehung den
Titel „Sisyphos“, weil der Erziehungsprozeß für jede Generation von Anfang
1 42
M. D, Eder
an wiederholt werden muß. Nun gut, wenn das der Pall ist, brauchen wir
darüber nicht mehr Tränen zu vergießen als über die 1 atsache, daß jedes
Individuum sein Leben als Parasit beginnt, daß es erst nach einer Reihe von
mißglückten Versuchen aufrecht stehen lernt, daß es seine Milchziihne nur
bekommt, um sie wieder zu verlieren, wenn die zweiten durchbrechen. Ohne
den Satz vom Sünden fall zu unterschreiben, kann man doch an der Voraus-
Setzung festhalten, daß vom Standpunkte der Erwachsenen aus die Nalur
des Menschen böse ist oder doch ihre engen Grenzen hat und daß er seine
bemerkenswerten Leistungen nur kraft heroischer Zucht vollbringen konnte;
und jede Erziehung trägt diesen Charakter,
Bevor ich mich mit anderen Möglichkeiten befasse, muß ich kurz die
Verhältnisse ins Auge fassen, die die Möglichkeit einer Erziehung in mensch¬
lichen Angelegenheiten gebracht haben mögen. Die Instrumente, durch welche
der Mensch instand gesetzt wurde, sein Wissen von Generation zu Gene¬
ration zu erweitern, sind die Sprache und ihre Tochter, die Schrift, Prof.
Elliot Smith bemerkt : ? ,Im Augenblick, wo inan es mit menschlichen Wesen
zu tun hatte, die dank der Erwerbung der Sprache einander Mitteilungen zu-
kommen lassen und die Früchte ihrer Erkenntnis kommenden Generationen
übermitteln können, hat sich ein neuer Zustand der Dinge herausgebildet,
für den wir nirgends anders eine genaue Parallele finden/" Die in münd¬
licher und schriftlicher Tradition übermittelten Früchte der Erfahrung sind,
wie Sie aus der Natur der Sachlage erkennen, nur von einem gewissen
Alter an für das Kind verwertbar. Sie können keineswegs die Neigungen
ändern, die es bei der Geburt auf die Weh mitbringt.
Nun, da wir das Instrument kennen, gibt es irgendeine wissenschaftliche
Erklärung dafür, wie es zur Kulturentwiekluiig kam? Soweit ich die Dinge
überblicke, läßt es sich nicht bestreiten, daß die Menschheit insgesamt eine
Tendenz zur Änderung zeigt (nennen wir es Fortschritt); dieselbe Erscheinung
sehen wir auch täglich rings um uns im organischen Leben und die Physiker
haben uns gelehrt, sie auch in der anorganischen Welt zu linden.
Soweit es uns Menschen betrifft, können wir uns wohl vorstcllert, daß
unter dem Druck des Daseinskampfes das Gebäude der Zivilisation durch
Opfer in bezug auf die Art der Befriedigung primitiver Impulse errichtet
wurde und daß er immer von neuem geschallen werden muß, denn der
Reihe nach wird jedes einzelne Individuum, wenn es am Gemeinschahs¬
leben Anteil gewinnt, gezwungen, um des Gemeinwohles willen das Opfer
seiner instinktiven Wünsche zu wiederholen. Diese Auffassung macht die
Annahme von ererbten Dispositionen, und von der Übermittlung von er-
Kann das Unbewußte erzogen werden?
*43
worben en Eigenschaften überflüssig* Das In ein an der wirken von Geistigem
und Physischem, das hiehergehoren würde, ist ein zu weitläufiges Thema,
um es hier zu berühren* Ich will nur betonen, daß „geistig w und „physisch“
nicht als Ausdrücke für verschiedene Wirkungskreise gebraucht werden
dürfen. Es sind nur zwei verschiedene Arten, die „an sich“ nicht bekannten
Vorgänge zu erfassen.
Meine bisherige Antwort auf die Frage, ob irgendein Erziehungsprozeß
eine Wandlung des innersten Wesens hervorbringen kann, war also so weit
negativ, wurde aber modifiziert durch meinen Versuch zu zeigen, daß
Änderungen in den Objekten und Zielen unserer primitiven Impulse erreicht
werden können, um sie mit den Erfordernissen unserer Kultur besser in Ein¬
klang zu bringen* Das ist keine wirkliche Änderung, zeigt aber die äußeren
Merkmale einer solchen* Der Unterschied ist nur, daß wir immer wachsam
sein müssen. Es besteht für uns immer die Möglichkeit des Zurückgleitens
— manche werden es wünschenswert nennen — in eine leichtere und
weniger anstrengende Art von Gemeinschaftsleben,
Gibt es irgendwelche Verhältnisse, die die Erziehungsaufgabe weniger
schwierig machen könnten? Ein Resultat der Psychoanalyse, das man wohl
nicht voraussehen konnte, ist der Nachweis, daß Neigungen, Charakterzüge,
die bisher der Erbanlage zugeschrieben wurden, in W irklielikeit auf die
Einwirkungen des Milieus zurückzuführen sind; genauer gesagt, daß die
ersten Lebensjahre den Charakter und das Schicksal des Individuums be^
stimmen können; daß viele Züge, die man als ererbt ansah, in Wirklichkeit
durch den psychologischen Prozeß der Identifikation erworben wurden.
Damit soll natürlich die Erblichkeit nicht bestritten werden, aber wir sehen,
daß die Bedeutung der Milieus stark unterschätzt wurde, sowohl von den
Sozialreformern, die alles Gewicht auf die Naturanlage legten, als auch von
denen, die die Ernährungsfunktionen als das einzig Wichtige erklärten.
Im ganzen und großen können wir sagen, daß jedes Kind in Europa
erzogen wird, um dem herrschenden religiösen, sozialen und ökonomischen
Regime angepaßt zu werden* Es macht sehr wenig aus, ob man es mit
den Kindern der Armen oder der Reichen zu tun hat, ob mit dem Sohn
der Rebellen oder der Konservativen, des Prinzen, Aristokraten oder Bauern,
Es ist ein Freihandelssystem, wo man auf dem Markt für den letzten Preis
alle seine Güter verkaufen kann; Muskelkraft oder Frechheit, Bier oder
Gehirn. Ich will nicht andere Systeme in Betracht ziehen, ich will nur ver¬
sichern, daß sie möglich wären und daß die Wirkung einer solchen Ver¬
änderung der Umwelt auf das Kind unermeßlich wäre, Einige unserer
144
M. I). Eder
Schriftsteller, z. B. Morris in „News from Nowhere“ und Hudson in „The
Crystal Age“ haben es gewagt, die möglichen Veränderungen auszumalen.
Keine dieser Utopien braucht wahr zu sein; wahr aber ist, daß die psycho-
logische Veränderung ungeheuer und die Sisyphusarbeit des Lebens vielleicht
wesentlich leichter wäre.
Wandlungen dieser Art hängen mit größeren und geringeren Verände¬
rungen in der Umgebung des Individuums zusammen. Vom sozialen
Standpunkt aus beruht jede Verbesserung für Individuum und Gesellschaft
auf der Erziehung, selbst wenn wir, als Hypothese, annehmen wollten, daß
mit dem Verschwinden der Hindernisse, Verbote und Hemmungen, Wachs¬
tum und Anpassung leichter vor sich gingen. Letztere ergibt sicli im all¬
gemeinen aus der Möglichkeit, das Über-Ich und das Ich in besseren
Einklang miteinander zu bringen und so die intra-psychischen Konflikte
zu verringern.
Wir müssen nun noch die Möglichkeit in Betracht ziehen, daß das Un¬
bewußte selbst sich ändert. lJie Grenzen meines Themas verbieten es mir
glücklicherweise, mich lange bei Methoden aufzuhalten, die heute gleichsam
in der Luft liegen, wie Zuchtwahl oder angewandte Eugenik. Ich will
mich auf das psychologische Gebiet beschränken und untersuchen, ob die
Änderungen, die sich unter dem Druck der äußeren Verhältnisse vollziehen,
jemals eine so untrennbare Verbindung mit unserem geistigen Wesen ein
gehen, daß sie zu einem festen Bestandteil unserer Psyche werden; und ob
die Schwierigkeiten der Anpassung an einen vorgeschrittenen sozialen Zu¬
stand von innen überwunden werden, so wie der Säugling die Abhängigkeit
von der Mutter dadurch überwindet, daß er Zähne bekommt, oder wie
Hand, Auge und Mund des Kindes sich zu gegenseitiger Übereinstimmung
entwickeln.
Wenn wir einen Rückblick auf die wirre Menschheitsgeschichte werfen,
so müssen wir, da uns nur dürftige Reste erhalten sind, einen großen
Teil der frühen Geschichte uns von unserer Phantasie ausmalen lassen.
Wir begreifen, daß gewisse Entdeckungen — und über die größten
haben wir keine Nachrichten — den Gesichtskreis des Menschen von
Grund aus verändert haben müssen. Zu den wichtigsten dieser Errungen
schäften müssen wir den Ackerbau und die Zähmung der Tiere rechnen.
Die Sprache, aus der ich die ganze Ileziehuugsmügliclikcit als etwas dem
Menschen Eigentümliches herzuleiten wagte, stellt ein wesentliches Charak¬
teristikum dar und eine Gattung von Lebewesen, die diese Möglichkeit,
sich untereinander zu verständigen, nicht besitzt, wäre, auch wenn sie in
Kann das Unbewußte erzogen werden?
145
jeder anderen Hinsicht den Menschen gliche, ihnen nicht zuzurechnen.
Ackerbau bedeutet, daß der Mensch, um sein Leben zu fristen, nicht länger
auf das Sammeln der zufällig wachsenden Früchte oder Beeren angewiesen
ist, sondern die Zauberkraft besitzt, aus einem vieles zu machen; es kann
also von nun ab mit ein paar Samen, die den Hunger eines Menschen für
ein paar Tage stillen würden, der Unterhalt eines ganzen Stammes be¬
schafft werden. Diese Tiere, die der Mensch in einer Zeit zähmte, aus der
keine Nachrichten stammen, sind die einzigen, deren Zähmung ihm je
gelungen ist.
Diese grundlegenden Errungenschaften müssen, sollte man glauben, die
aggressiven Impulse des Ich verändert und die ersten erfolgreichen Ver¬
suche zu einer höheren Organisation als der der Horde begründet haben.
Wenn Sie mir nun gestatten wollen, meine Phantasie spielen zu lassen,
so möchte ich nur für einen Moment die Möglichkeiten ausmalen, die sich
infolge der Entdeckung des Unbewußten eröffnen. Ich beschäftige mich
hier nicht mit den metaphysischen Spekulationen so vieler großer Philo¬
sophen von Spinoza bis E. v. Hartmann, sondern mit der genauen Kenntnis
der Wirkung des Unbewußten in uns allen, die wir der Psychoanalyse
verdanken. Ihr Resultat wird ganz verschieden sein von dem Wissen, welches
über die äußere Welt gesammelt wird, gleichgültig ob von der Physik oder
von der Physiologie, Wissenschaften die sich täglich leicht beherrschbare
Vorstellungskreise unterwerfen. Diese Art der Psychologie handelt von den
treibenden Kräften unseres geistigen Seins; sie entdeckt die geheimen
Quellen unseres Strebens, unseres Tuns und unseres Versagens. Sie erforscht
ein Geheimnis, dessen Enthüllung der Mensch tatsächlich mit all seinen
Kräften zu verhüten trachtete. Wir finden, nicht daß wir alle Sünder sind,
aber ganz genau, in welcher Art wir sündigen; wir finden, daß wir Zeit¬
genossen der nackten Wilden vergangener Jahrtausende sind. Wie bei so
vielen schlimmen Nachrichten, die wir uns mitzuteilen fürchten, finden
wir, daß wir diese Eröffnungen leichter ertragen können als wir dachten.
Nun ist es, denke ich, offenbar, daß nur wenige Menschen — wenige der
geistig kranken — die Psychoanalyse brauchen werden, um ganz zu gesunden;
daß vielleicht nur wenige, die Wißbegierde und Mut in hohem Grad be¬
sitzen, sich entschließen werden, diese Wissenschaft gründlich zu studieren,
auf die einzige Art, in der heute Wissenschaften studiert werden müssen, nicht
aus Büchern, sondern im Laboratorium. Trotzdem bin ich so kühn zu glauben,
daß das Verständnis des Unbewußten sich verbreiten und einen Teil des
geistigen Rüstzeugs der Menschen überhaupt bilden wird. Das Unbewußte
Imago XII.
10
Eder: Kann das Unbewußte erzogen werden?
146
ist zeitlos und ich will ihm folgen, indem ich für meine Prophezeiung
keine zeitliche Grenze angebe. Wenn einmal einige der dynamischen hak-
toren des Unbewußten, die der Hbidmösen Strömungen, des unbewußten
Egoismus, des unbewußten Schuldgefühls — denn der Mensch verbirgt
sonderbarerweise auch vieles von seiner Moral vor sich selbst nicht
mehr eine Sache des erlernten Wissens, sondern des Wirklichkeitserfassens
sind, dann wird, denke ich, das Unbewußte über die Erzichbarkeit hinaus¬
gewachsen sein, wenigstens teilweise, aber es wird dann von selbst in die
Kanäle strömen, die die Männer und Frauen der Zukunft für die wünschens¬
wertesten halten. Durch Wissenschaft Meister der Außenwelt, Meister ihrer
selbst, wenn in ihnen für die mächtigen Kräfte der Liebe das Verständnis
erwacht ist, gewachsen dem Hasse auf seinen uns verkrüppelnden Wegen
und seiner Schwester, der Angst, die bisher verkleidet sich einschleicht,
dann wird des Sehers Gesicht sich erfüllen, wir werden unsere Schwerter
in Pflugscharen verwandeln, ohne solch ein künstliches Gebilde wie es
z. B. der Völkerbund ist, aber nie, ohne die Hilfe eines Werkes, wie es
das Montessorische ist.
Experimentelle Beiträge zur Dynamik und
* *
Ökonomie des Triebkonflikts
(Biologische Parallelen zu Freuds Trieblehre)
Von
R. Brun
Privatdozent an der Universität Zürich
I
Wenn wir versuchen wollten, das imposante Lebenswerk Sigm. Freuds
vom Standpunkte des Biologen mit zwei Worten zu charakterisieren, so
könnten wir wohl kaum eine zutreffendere Aussage darüber machen, als
die, daß es von Anfang an von einer eminent biologischen Einstel¬
lung des Forschers getragen und befruchtet war. Zu einer Zeit, da die
alte „Schulpsychologie“ die Psyche fast gänzlich in eine seelenlose Mechanik
von Sinnes-„Erlebnissen“ aufgelöst hatte (indem sie fortgesetzt das Instru¬
ment der Seele — den cerebrospinalen Wabrnehmungs- und Reaktions¬
apparat — mit dieser selbst verwechselte), entdeckte Freud die primäre
Triebbedingtheit alles seelischen Geschehens und schuf so die erste auch
praktisch — am Krankenbett — brauchbare, weil von biologischen Gesichts¬
punkten getragene Psychologie. Trotzdem — oder besser, gerade weil diese
neue Psychologie zunächst rein praktischen Zwecken — der Heilung seelen-
kranker Menschen diente und daher fern von voreiliger Spekulation auf
jahrzehntelanger mühevoller und streng induktiver Detailforschung auf¬
gebaut war, konnte Freud auf diesem sicheren Fundament schließlich
jenes stolze, in sich geschlossene und, fast möchte man sagen, weltum¬
fassende wissenschaftliche Lehrgebäude errichten, das die Psychoanalyse in
ihrer heutigen Gestalt dar stellt.
Ein wesentliches Merkmal der psychoanalytischen Lehre wurde von
jeher darin erblickt, daß sie, im Gegensatz zur alten Bewußtseinspsycho-
IO*
14^
R. Brun
logie, in erster Linie eine Triebpsychologie sei. In der Tat kennzeichnet
nichts so sehr die biologische Giundeinstellung Freuds, als die Tatsache,
daß dieser tiefe Denker von seiner allgemeinen Neurosenlehre, die
ja zunächst auf einer Unsumme rein klinischer Einzel eigcbnisse auf
gebaut war, schließlich mit einer Folgerichtigkeit ohnegleichen zu einer
allgemeinen Trieblehre gelangte. Damit war zum erstenmal der An¬
schluß der Psychologie an die allgemeine Biologie gewonnen und die
Grundlage einer biologischen Psychologie geschaffen,
Ihren Ausgangspunkt nahmen diese nietapsychologisehen (sive psycho-
biologischen) Studien Freuds bekanntlich von der Einsicht, daß die Neurose
letzten Endes auf einem Triebkonflikt beruhe, nämlich aul einer
Kollision zwischen phylo- und ontogenetisch alten Urtrieben — wir wollen
sie im folgenden biologisch unpräjudizierlich als „Primordialtriebe
bezeichnen — und phylo- beziehungsweise ontogenetisch jüngeren, ent¬
fernten Abkömmlingen jener — die wir daher füglich als „Sekundär-
triebe“ bezeichnen können. Die Symptome der Neurose erkannte
Freud als die Äußerungen, Manifestationen dieses Triebkonflikts, und
zwar letzten Endes als das Ergebnis eines mißlungenen Kompromisses
zwischen den beiden miteinander in Konflikt geratenen, unvereinbaren
(„inkompatiblen“) Triebansprüchen,
Zu den Primordialtrieben rechne ich die primitiven Stufen des Selbst¬
erhaltungstriebes („Ich-Triebes“ von Freud) und die Sexualtriebe. Sie ver¬
treten die Augenblicks! nt er essen des Individuums, d* h sie sind im Prinzip
stets auf sofortige Befriedigung in der Gegenwart gerichtet. (Bezüglich der
Sexualtriebe mag diese Aussage auf den ersten Blick befremden, da doch der
Sexualtrieb in engsten Zusammenhang mit der Fortpflanzung, also mit
einer überindividuellen Funktion, nämlich mit der Erhaltung der Art bis in
die fernste Zukunft, gebracht wird* Allein die wissenschaftliche Biologie kennt
keine „ Zwecke“, — der Zweck begriff ist vielmehr eine reine Fiktion des
menschlichen Denkens, und in der Tat lehrt schon eine flüchtige Untersuchung
der verschiedenen sexuellen Partialtriebe, daß die Mehrzahl derselben keines¬
wegs die Fortpflanzung zum Ziel hat: Ihr unmittelbares Ziel ist vielmehr,
wie Freud zuerst nachdrücklich hervorgehoben hat, kein anderes als die
Lustbefriedigung an einer erogenen Zone). — Im Gegensatz zu den Primordial¬
trieben vertreten die Sekundär triebe die Zukunftsinteressen des Ich
und der sozialen Gemeinschaft: Es handelt sich da um hochkomplexe
Synthesen (Trieb Verschränkungen) zwischen Abkömmlingen der Ich- und der
Sexualtriebe (unter mannigfachen sekundären Affekt- und Objektverschiebungen),
die, phylo- und ontogenetisch jungen Datums, nur bei sozial organisierten
Lebewesen Vorkommen und daher auch als „Sozialtriebe“ bezeichnet worden
sind, Ihre Objektrepräsentanzen sind (beim Menschen) vorwiegend mnemische,
Experimentelle Beiträge zur Dynamik und Ökonomie des Triebkonflikts
149
d* h. nicht —- oder nicht mehr — notwendig als sinnliche Erregungskomplexe
gegeben: die kulturellen, sozialen, ethischen und religiösen Anforderungen des
„Ich-Ideals“ von Freud. Ihre Gefühlsrepräsentanz im Kollisionsfalle mit den
Primordialtrieben ist das Gewissen, daher v. Monakow (17) 1 das Gewissen
meines Erachtens biologisch zutreffend, wenn auch wohl noch nicht erschöpfend
definiert als eben die Instanz, die im KoUisionsfalle „die Interessen der Zu¬
kunft des Individuums und der Rasse“, also die Interessen der Sekundärtriebe
vertrete. (Erschöpfend ist diese Definition meines Erachtens deshalb nicht, weil
sie die Pathologie des Gewissens, wie wir sie beispielsweise bei der Zwangs¬
neurose beobachten, nicht berücksichtigt.)
Für den der Neu ros e zugrunde Hegenden Triebkonflikt kommen seitens der
Primordial tri ehe fast ausschließlich sexuelle Strebungen, vor allem solche, die
der sogenannten prägenitalen Sexual Organisation von Freud angehören, in
Betracht. Der Grund dieses Verhaltens, an dem bekanntlich die Gegner der
Psychoanalyse immer wieder Anstoß nehmen, ist unschwer zu verstehen: Zu
neurotischen Symptombil düngen kann es bekanntlich nur dann kommen, wenn
die Repräsentanz der einen der beiden in Kollision geratenen Triebregungen
verdrängt wurde. Der dem verdrängten Trieb zugehörige Energiebetrag muß
dann entweder in anderer, inadäquater Form, z. B. in Form von Angst, seine
Abfuhr erzwingen, oder sich an eine ihm ursprünglich fremde Objektreprä-
sentanz heften {Verschiebungsersatz, respektive Konversion; — letzterer Fall
tritt dann ein, wenn ein Kompromiß mit der verdrängenden Trieb in stanz
zustande kam). Die Ansprüche der primitiven Selbsterhaltungstriebe verhalten
sich nun aber gegen die Verdrängung schon wegen ihrer Dringlichkeit
meist refraktär: sie sind lebensnotwendig und müssen daher stets in ab¬
sehbarer Zeit befriedigt werden. Aus dem gleichen Grunde sind sie aber auch
einer Affektverschiebung oder einer Konversion auf die Dauer nicht zugängHch:
man kann z. B. den Hunger mit dem besten Willen nicht symbolisch befrie¬
digen oder, wenn man in Lebensgefahr schwebt, sich hinsetzen und etwa als
Ersatz für die unmögliche Rettung zu Mittag speisen!
Es ist vielleicht nicht überflüssig, hier auch die biologischen Grund¬
lagen oder besser: Voraussetzungen des neurotischen Triebkonflikts
noch ganz kurz zu erörtern. Ich bediene mich dabei der neutralen biologi¬
schen Terminologie von Semon (18) und verweise im übrigen auf eine meiner
früheren Arbeiten (6), in welcher ich die betreffenden Verhältnisse ausführ¬
licher dargelegt habe.
Der Laie denkt sich gewöhnlich, der Neugeborene sei gewissermaßen ein
unbeschriebenes Blatt und stellt sich vor, daß dieses leere Blatt erst durch
die nach und nach herbeiströmenden individuellen Erlebnisse allmählich be¬
schrieben werde. In Wirklichkeit sind jedoch irn Zentralnervensystem jedes
Geschöpfes auch die Erfahrungen seiner Ahnen in Gestalt primärer Instinkt¬
oder Trieb disposltionen als fester, angeborener Erbbesitz medergelegt. Diese
1) Die eingeklammerten Zahlen hinter den Autornamen beziehen sich auf die
Nummern des Literaturverzeichnisses am Schlüsse dieser Arbeit*
R, Brun
150
hereditären Engrammkomplexe der Urinstinkte, wie Hunger, Durst, Schutz,
Verteidigung, Sexualerregung usw* kommen v o r g ä 11 gi g jeder spezifischen
Sinneserfahrung durch allgemeine Veränderungen der inneren energetischen
Situation, in erster Linie durch innersekretorische (Hormon-) Reize zur Aus¬
lösung (Ekphorie). Die dergestalt aktivierte hereditär-mnemische (Instinkt-)
Erregung bezeichnen wir als Trieb, sein subjektives Korrelat nach v. Monakow
als UrgefühL Der Trieb ist also zunächst objektlos; doch setzt die
betreffende hereditär-mnemische Erregung nun ihrerseits sofort den eerebro¬
spinal en Orientierungsapparat in Betrieb, cL h. der im Zustande der Trieb¬
erregung befindliche Organismus sucht nun erst in der Außenwelt Reiz¬
komplexe (Objektrepräsentanzen Freud) auf, die geeignet sind, den Trieb zu befrie¬
digen — ein Vorgang, den ich als „primäre Reizsuche w bezeichnet habe* Bei
niederen Tieren, wie beispielsweise noch bei den meisten Insekten, ist in der
Regel auch die Objektrepräsentanz des Triebes, das sogenannte Triebobjekt,
noch im Erbgedächtnis als hereditärer Engrammkomplex vertreten — daher die
Starrheit der meisten Instinkte dieser Organismen, ihre festgefügte Reaktions-
Struktur. Indessen hat die neuere Forschung gezeigt, daß selbst schon bei den
Insekten die Verknüpfung zwischen Trieb und Objekt keineswegs eine so feste
ist, wie man sich dies früher vorstellte, und vollends trifft dies, wie Freud
richtig betonte, für die höheren Tiere und gar für den Menschen zu, indem
hier je nach Umständen die mannigfachsten AffektverSchiebungen be¬
ziehungsweise Übertragungen auf biologisch inadäquate Objekte experi¬
mentell erzielbar sind (cf, auch Hattingberg (1 6),
War nun die Reizsuche erfolgreich, entspricht die in der Außenwelt
angetroffene (äußere) energetische Situation der in der Erbmneme niedergelegten
hereditär-mnemischen Situation (oder anders gesagt: entspricht der durch das
Realobjekt erzeugte aktuelle Erregungskomplex dem hereditären Engramm-
komplex der Urrepräsentanz des Triebes), so werden die betreffenden Sinnes-
objekte sofort mit einer positiven, lustbetonten Gefühlsqualität ausgestattet;
es entsteht ein heftiges, hinneigendes Begehren nach diesen für den Instinkt
wertvollen Objekten* („Klisis“, v. Monakow); — im anderen Falle wird das
Objekt von Anbeginn mit einem negativen Gefühlston qualifiziert, die
Situation wird unlustbetont („Ekklisis“, v. Monakow)* Mit anderen Worten, die
positive oder negative Gefühlszensur, die wir allen Objekten unserer Erfahrungs¬
welt beilegen, stammt ursprünglich nicht von außen, sondern liegt in unseren
primären, hereditären Triebdispositionen begründet; sie hängt davon ab, ob die
jeweilige äußere energetische Situation mit der jeweiligen hereditär-mnemischen
Instinkterregung „homophon“ zusammenklingt odernicht, also vom Erregungs¬
differential zwischen der hereditär-mnemischen und der aktuellen
(Sinnes-) Erregung*
Alle dergestalt bereits in statu nascendi , d. h* schon bei der Engraphie
(Reizaufnahme) mit bestimmten Gefühlswerten beladenen Erlebnis komplexe
treten nun bei jeder Wiederkehr einer der früheren ähnlichen Situation ihrer¬
seits wieder in Homophonie, beziehungsweise Dysphonie mit der aktuellen
energetischen Situation einerseits, der diesmal gerade vorherrschenden „Trieb-
Experimentelle Beiträge zur Dynamik und Ökonomie des Trieb Konflikts 151
läge“ (also der aktuellen inneren energetischen Situation) anderseits* und
erzeugen so sekundäre, psychische, d. h. bereits mit einer Erfahrungs-
komponente ausgestattete Gefühle* die ich — im Gegensatz zu den Urgefühlen —
als Affekte bezeichne. Affekte sind somit Gefühle* die schon an eine
Objektrepräsentanz gebunden sind. Wird ein Affekt nicht durch eine
originäre Sinneserregung* sondern als rein mnemische Erregung ausgelöst, so
bezeichne ich ihn als Emotion.
Auf diese Weise wird allmählich der gesamte Erfahrungsschatz in Form
von immer höheren Gefühlsintegrationen affektiv gegliedert und nach den
Interessen der angeborenen Trieb dispositionen gesichtet. Und zwar ergibt sich
aus dem oben Gesagten, daß diese affektive Gliederung unseres Erlebens keines¬
wegs eine zufällige ist, sondern in einer durch das Erbgedächtnis weit¬
gehend vorher bestimmten Richtung erfolgt, indem, wie wir sahen, die
Art, wie wir primär von den Dingen affiziert werden, letzten Endes von den
Triebdispositionen, die wir als Erbgut mit auf die Welt bringen, also von
unserer angeborenen Triebkonstitution ab hängt. So bleibt beispielsweise
der Frosch von einem Flintenschuß vollkommen unbewegt, da dieses Ereignis
nicht in „seinen biologischen Bereich“ Fällt, in seiner Triebkonstitution nicht
vorgesehen ist, während er auf das leise Quaken des Weibchens sofort sehr
lebhaft reagiert, sofern er dasselbe während der Brunstzeit wahrnimmt. Dieses
Geräusch bedeutet eben für seine Instinkte einen biologisch sehr wichtigen Reizl
Wir sehen also, daß die Instinkte fortgesetzt eine weitgehende elektive
Wirkung auf die Welt der Erfahrung — und letzten Endes sogar auf
die Erkenntnis — ausüben: diejenigen Erlebnisse, die in der Richtung unserer
angeborenen Trieb dispositionell liegen, deren Verwirklichung ermöglichen, werden
von der Reizsuche gegenüber den negativen oder indifferenten nach, dem
Lustprinzip (Freud) bevorzugt und, indem sich die Orientierung mehr oder
weniger einseitig ihnen zu wendet, immer wieder von neuem aufgesucht und
weiter ausgebaut-
Nach dem Gesagten läßt sich nun leicht ermessen, daß und warum wesentliche
Anomalien der angeborenen Triebkonstitution (die den Kern dessen
bilden, was wir als „erbliche Dispositionen zur Neurose bezeichnen), für das
spätere Schicksal der damit Behafteten unter Umständen von weittragender
Bedeutung werden können. Solche Anomalien können beispielsweise darin
bestehen, daß einzelne Komponenten der Triebkonstitution, einzelne Partial¬
triebe, wie wir mit Freud sagen, primär in abnormer Stärke angelegt sind.
Und zwar wird diese konstitutionelle Verstärkung, nach einem für die Ver¬
erbung derartiger Konstitutions an o in allen allgemein gültigen Gesetz, in erster Linie
die onto- und phylogenetisch alten, atavistischen, d, h. einer früheren Periode
der Menschheitsentwicklung angehörigen Urtriebe betreffen — also vor allem
die frühinfantilen Parti altriebe. Physiologisch wird sich die konstitutionelle
Verstärkung eines solchen Partialtriebes als gesteigerte Erregbarkeit der
betreffenden erogencn Zone äußern. Die nächste Folge einer solchen
primär gesteigerten Erregbarkeit einer bestimmten erogenen Zone wird dann
die sein, daß das Kind die von dieser Zone ausgehenden Lustreize bei der
1 5 2
R, Brun
Reizsuche vor allen anderen bevorzugen* sie von vornherein mit einer beson¬
ders starken Gefühlsvalenz ausstatten wird. Infolge dieser primären Über¬
wertung werden sich dann entsprechend intensive* abnorm fest in urtüm¬
lichen Gefühlen des Kindes verankerte psychische Fixierungen an den betreffenden
Partialtrieb ausbilden -— Affekt fixierungen, von denen dann das Kind
später nur sehr schwer wieder loskommen kann* an denen es, auf Kosten des
späteren kulturellen Neuerwerbes der Sekundär tri ehe, mit zäher Energie fest-
halten wird, weit über die Entwicklungsphase hinaus, in der die betreffenden
Partialtriebe ihre „berechtigte“ und natürliche (physiologische) Rolle zu spielen
berufen sind. Infolge dieser Fixierungen wird es dann auch bei jeder späteren
Versagung, sei sie äußerer oder innerer Natur (d. h. durch Objektverlust
oder durch Gegenstrebungen der Sekundärtriebe bedingt) die Neigung haben,
wieder zu den betreffenden Fixierungspunkten zurückzukehren (Regression).
Damit es aber zu solchen dauernden Fixierungen der Libido an früh-
infantile Triebregungen kommen kann, sind in der Regel noch entsprechende
individuelle Erlebnisse notwendig, welche die schlummernde Disposition
wecken, dieselbe gleichsam mit einem positiven Inhalt, d. h. mit entsprechenden
Objektrepräsentanzen erfüllen, und so die Libido des Kindes immer mehr in
die betreffende Richtung hineindrängen. Je intensiver aber die angeborene Ver¬
stärkung der Triebkonstitution ist, um so geringfügiger und seltener brauchen
die betreffenden Erlebnisse zu sein, um entsprechende Fixierungen zu erzeugen,
und umgekehrt. Denn die traumatische Wirkung eines Erlebnisses ist ja, wie
wir gesehen haben, nur ein Spezialfall der affektiven Elektion, welche die
angeborene Triebkonstitution fortgesetzt auf die Welt der Erfahrungen ausübt.
Mit anderen Worten: Die angeborene und die erworbene Disposition zur
Neurose bilden, wie Freud treffend sagt, eine sogenannte „Ergänzungs-
reihe' : Denjenigen Individuen, welche die betreffenden „Traumen“, die ja
jedes Kind irgend einmal erlebt, schadlos ertrugen, fehlte eben das primäre
Entgegenkommen der angeborenen Trieb konstitution. So erleben wir im Grunde
nur das wirklich, was unsere Triebkonstitution erleben will.
Im Verlaufe seiner Untersuchungen über das Wesen, die Entstehungs-
bedingungen, den Ablauf und die entfernten Folgen des neurotischen Trieb¬
konfliktes führte nun Freud (11—14) zwei weitere biologische Gesichts¬
punkte in die Betrachtung psychischer Vorgänge ein, die sich in der Folge
als äußerst fruchtbar und für den weiteren Ausbau einer biologisch begründeten
Trieblehre von der größten prinzipiellen Bedeutung erwiesen: den dyna¬
mischen und ökonomischen Gesichtspunkt. (Ein dritter Gesichtspunkt,
der topische, fällt für die Biologie außer Betracht, weil er speziell die
Frage der menschlichen introspektiven Psychologie betrifft, innerhalb
welcher psychischen Systeme: Uhw, Vbw y Bw ein Vorgang sich abspielt.)
Der dynamische Gesichtspunkt läuft im Grunde auf nichts geringeres
als auf ein psychisches Energiegesetz hinaus: er besagt nämlich im
Experimentelle Beiträge zur Dynamik und Ökonomie des Triebkonflikts 153
wesentlichen, daß, wenn eine bestimmte Triebregung infolge ihrer Unver¬
einbarkeit mit den Anforderungen der Sekundärtriebe eine Verdrängung
ihrer Repräsentanz erleidet, der ihr zukommende Energie- (Libido-)
betrag in unvermindertem Umfang erhalten bleibt, daß, mit anderen
Worten, die einer Triebregung zugehörige Erregungsgröße durch die
äußeren Schicksale ihrer Repräsentanz nicht berührt wird, sondern unter
allen Umständen konstant bleibt: Sie wird, da ihr der Weg zur ursprüng¬
lichen Repräsentanz gesperrt ist, sich entweder momentan in ein qualitativ
anders beschaffenes Urgefühl — am häufigsten in Angst — umsetzen müssen
und dann in dieser Form zur direkten Abfuhr gelangen (in diesem Falle
ist die Angst objektlos oder „frei flottierend“), oder sie wird sich, falls ihr
Anspruch weniger dringlich ist, an ein anderes Objekt binden können,
das nunmehr zu ihrer sekundären Repräsentanz wird (Verschiebungsersatz):
immer aber wird ihre absolute Erregungsgröße quantitativ voll erhalten
bleiben. (Eine quantitative Änderung der Libido kann nur auf physio-
logischem, hormonalem Weg erfolgen), *— Demgegenüber verfolgt der öko¬
nomische Gesichtspunkt „die speziellen Schicksale der Erregungs¬
größen der verdrängten Triebregungen“, oder, kurz gesagt: die „Trieb¬
schi cksale tk in der Verdrängung,
II
Falls nun die soeben in gedrängter Kürze skizzierten Anschauungen Freuds
über Wesen, Dynamik und Ökonomie des neurotischen Triebkonfliktes
richtig sind, d, h, wenn sie mehr als geistreiche „metapsychologisch
Spekulationen bedeuten, so müßten sie sich, theoretisch gesprochen, auch
in allen sonstigen Fällen, wo immer wir in der Biologie einen Triebkonflikt
beobachten, bestätigen — gleichgültig, ob es sich nun um menschliche Wesen
oder um Tiere handle, selbst um solche Tiere, deren physische und psy¬
chische Organisation von der unsrigen in so hohem Maße abweicht, wie
dies beispielsweise bei den Insekten der Fall ist. Denn diese Gesichtspunkte,
wenn auch Freud sie zunächst nur auf die Verhältnisse hei der Neurose
angewandt hat, betreffen so allgemeine und grundlegende Probleme des
Trieblebens überhaupt, daß sie nicht wohl nur für die menschliche Trieb-
Psychologie Geltung haben könnten, sondern im Falle ihrer Richtigkeit
Anspruch auf biologische Allgemeingültigkeit erheben dürften.
Es wäre daher ungemein reizvoll, wenn wir in der Lage wären, diese
Gesichtspunkte an einem biologischen Material im engeren Sinne, d. h,
in der Tierpsychologie — und womöglich experimentell! — nachzu-
^54
R. Brun
prüfen. Einer solchen Möglichkeit scheint aber zunächst der Umstand im
Wege zu stehen, daß Neurosen, an welchen ja die Gesetze des Triebkon¬
fliktes bisher fast ausschließlich studiert wurden, bei Tieren nicht Vor¬
kommen, oder, wo etwas Ähnliches vorzuliegen scheint, die betreffenden
Manifestationen derart undurchsichtig sind, daß die bloße objektive Beob¬
achtung des Verhaltens hier zu nichts führen kann. Der Grund liegt
offenbar darin, daß die Verdrängung, die ja die notwendige Voraussetzung
der neurotischen Symptombildung ist, beim Tier nicht nachweisbar ist. Allein
bei näherer Überlegung fällt diese Schwierigkeit einer biologischen Nach¬
prüfung der psychoanalytischen Trieblehre so ziemlich, wenn auch nicht
restlos, dahin, indem wir uns nämlich sagen dürfen, daß ja die Neurose
nur ein (pathologischer) Spezialfall der verschiedenen möglichen Ausgänge
eines Triebkonfliktes ist; die triebbiologischen Gesichtspunkte Freuds sind
aber so allgemeiner Natur, daß sie, wie eben betont wurde, nicht nur den
neurotischen Triebkonflikt umfassen, sondern jeden möglichen Trieb'
konflikt überhaupt. Wenn schon wir somit bei Tieren allerdings keine
Neurosen sehen, so können wir doch auch bei ihnen gelegentlich schon
spontane Triebkonflikte beobachten; ja, gerade bei verhältnismäßig niederen
Tieren, wie Insekten, haben wir es sogar jederzeit in der Hand, Trieb¬
konflikte direkt experimentell herbeizuführen und ihre Folgen
auf Grund der beobachteten Änderungen des Verhaltens ( n Behavior u ) aufs
genaueste zu analysieren. Ich selbst habe mich seit Jahren insbesondere
mit der experimentellen Erforschung der Psychoblologie der Ameisen
befaßt, deren Methodik ja in der Hauptsache geradezu darauf beruht, die
normalen Instinkte der Tiere in Konfliktsituationen zu bringen, um so das
Maximum an Plastizität (Anpassungsfähigkeit), deren sie allenfalls fähig
sind, aus ihnen herauszuholen. Es braucht auch kaum gesagt zu werden, daß
die Ameisen für unsere Zwecke besonders günstige Versuchs- beziehungs¬
weise Vergleichsobjekte sind, weil sie als soziale Tiere besonders mannig¬
faltige und hochentwickelte Instinkte besitzen, Instinkte, die zudem zahl¬
reiche Analogien mit den Verhältnissen des menschlichen Trieblebens
erkennen lassen* Insbesondere ist es hier ein leichtes, auf experimentellem
Wege Kollisionen zwischen den Selbsterhaltungs- und den Sozialtrieben,
sowie zwischen verschiedenen phylogenetischen Stufen der letzteren unter
sich, zu erzeugen. Die Beweiskraft der Beobachtungen, die ich im folgen¬
den — neben anderen biologischen uns physiologischen Parallelen - in
erster Linie heranzielien werde, wird jedenfalls dadurch nicht gemindert,
da ich zur Zeit ihrer Ausführung (1907—1915) ihre Tragweite für die Auf-
Experimentelle Beiträge zur Dynamik und Ökonomie des Triebkonflikts 155
klärung allgemeiner biologischer Gesetzmäßigkeiten des Trieblebens noch
nicht erkannte, dieselben vielmehr lediglich zum Zwecke der Erforschung
gewisser spezieller Verhältnisse der Ameisenbiologie vorn ahm, und daß mir
damals die Psychoanalyse noch so gut wie unbekannt war.
*
Doch lassen wir nun die Tatsachen sprechen und fragen wir uns zu¬
nächst :
d) Welche Triebe bleiben im Kollisionsfalle im allgemeinen
manifest, siegreich; nnd welche werden rezessiv, „verdrängt“? —
Darüber geben folgende Beispiele Auskunft:
1) Kollision zwischen Freßtrieb und sozialem Kampftrieb (also
zwischen einer primitiven Stufe des Selbsterhaltungstriebes und einer primitiven
Stufe der sozialen Triebreihe): Forel (9) versuchte einmal, eine spontan zwischen
zwei Staaten der Waldameise (Farmica, rufa) entbrannte Schlacht dadurch zu
unterbrechen, daß er den vom West auf den Kampfplatz eilenden Hilfstr uppen
der einen Partei große Tropfen Honig auf ihren Weg träufelte. Die Ameisen sind
bekanntlich ungemein auf Honig erpicht. In diesem Falle aber hielten sich die
meisten Ameisen, die unterwegs auf die Süßigkeit stießen, überhaupt nicht,
oder kaum einige Sekunden beim Honig auf, indem sie höchstens flüchtig daran
nippten, um dann sogleich weiter zu eilen und sich in das Kampfgetümmel
zu stürzen! — Der Nahrungstrieb der Tierchen wurde somit durch den für
die Zukunft des Gemeinwesens momentan wichtigeren sozialen
Trieb fast vollständig unterdrückt.
2) Kollision zwischen Kampftrieb und Brutpflegetrieb, also zwischen
einer primitiveren, phylogenetisch älteren und einer phylogenetisch jüngeren
Äußerungsform der sozialen Instinkte: Ich (2—5) und mein Bruder Edgar Brun (1)
konnten in zahlreichen Experimenten immer wieder übereinstimmend folgendes
feststellen: Wenn man neben einem Nest von j Formica rufa einen Sack voll
Ameisen der gleichen Art, aber fremder Staatsangehörigkeit, ausleert, so ent¬
brennt sofort ein erbitterter Kampf, der in der Regel mit der völligen Ver¬
nichtung der einen Partei endet. Gibt man aber den Neuankömmlingen eine
reichliche „Mitgift“ an Brut (Larven oder Puppen) mit, so ist der Kampf
von vornherein schwächer und endet schließlich in der Mehrzahl der Fälle —
oft schon nach fünfzehn bis dreißig Minuten — mit einer Allianz zwischen
den beiden Parteien, da die meisten Ameisen, anstatt zu kämpfen, sich eifrig
damit beschäftigen, die Brut in Sicherheit zu bringen. Ausnahmslos wird
dieser günstige Ausgang dann beobachtet, wenn beide Parteien in Säcken an
einen dritten Ort transportiert und daselbst nebeneinander ausgeleert werden, —
ja, wenn die beiden Stämme zusammen in den gleichen Sack gesteckt wurden,
so kann man (unter den obigen Bedingungen, d. h, bei Anwesenheit zahlreicher
Brut) sogar ohne weiteres Allianzen zwischen verschiedenen Arten erzeugen,
die sich sonst in der Natur stets mit tödlichem Haß bekämpfen!
156
R. Brun
Wir ersehen aus diesen Beispielen, die sich beliebig vermehren ließen,
daß in solchen Kollisionsfällen zunächst nichts von einem Kompromiß
zwischen den beiden inkompatiblen Trieben zu bemerken ist, daß viel¬
mehr der eine der beiden miteinander in Konflikt geratenen
Triebe den anderen restlos zu unterdrücken (zu hemmen) scheint,
und zwar scheint in der Regel der phylo- und onlogenetisch ältere
(Primordial-) Trieb gegenüber dem phylogenetisch jüngeren,
die Zukunftsinteressen der Art, beziehungsweise der sozialen
Gemeinschaft vertretenden Sekundärtrieb zu unterliegen. Wir
können diese Regel geradezu als das „Gesetz des Primats der phylo¬
genetisch jüngeren Triebe“ bezeichnen, da sie sich ganz allgemein,
d* h. durchwegs in der Biologie, zu bestätigen scheint:
So berichtet Greppin (15), daß hei den sonst so scheuen Vögeln der
Sicherungs trieb, also eine Funktion des primitiven Selbsterhaltungstriebes,
während der Brunst und ganz besonders während der Bebrütungszeit regelmäßig
eine beträchtliche Abschwächung erleidet. Genau das nämliche beobachten wir
auch bei den Säugetieren, bis zum Menschen hinauf, wo ja ebenfalls häufig
genug um die Befriedigung des mächtig drängenden Sexualtriebes oder um
die Rettung der Jungen vor Gefahren, oder — beim Menschen -— um ein soziales
Ideal bis zur Selbstaufopferung gekämpft wird.
Die Ergebnisse der Biologie stehen somit in bestem Einklang mit
der allgemeinen Erfahrung der Psychoanalyse, nach welcher auch
beim neurotischen Triebkonflikt es regelmäßig die primordialen
sexuellen Trieb reg ungen sind, welche gegenüber den Anforderungen
der kulturellen Sekundärtriebe zunächst unterliegen und der Verdrängung
verfallen.
Die Ursache dieses Verhaltens ist uns vorläufig noch gänzlich dunkel, —
ja, dasselbe könnte biologisch auf den ersten Blick geradezu paradox erscheinen,
indem ja die phylogenetisch alten Urtriebe im Erbgedächtnis viel fester ein¬
geschliffen sind und daher a priori eher zu erwarten wäre, daß sie im
Kollisionsfalle den Sieg über die labileren sekundären Triebdispositionen davon¬
tragen würden. Der Hinweis auf die höhere biologische Zweckmäßigkeit der
Sekundärtriebe im Interesse der Erhaltung von Rasse und Gemeinschaft muß
jedenfalls als biologisches Erklärungsprinzip ausscheiden, da die Setzung von
Zwecken niemals eine kausale Erklärung, sondern lediglich eine petiiio principii
ist. Wenn ich hier eine vage Vermutung äußern darf, so wäre es die, daß
die phylo- und ontogenetisch jüngeren Triebe im Kollisionsfalle mit Primordial¬
trieben in der Regel deshalb obsiegen, weil sie infolge ihrer reichlicheren
Verknüpfung mit rezenten, d, h. embiontiseh erworbenen Engrammen eine
gesteigerte Vividität bei der Ekphorie erlangt haben.
Experimentelle Beiträge zur Dynamik und Ökonomie des Triebkonflikts 157
Ein ähnliches Verhalten sehen wir übrigens schon bei der Kollision
inkompatibler Reflexe: So wird bekanntlich der phylo- und ontogenetisch
alte spinale Babinski-Reflex normalerweise, d. h. bei intaktem Großhirn,
regelmäßig durch den kortikalen Plantarreflex gehemmt.
Sherrington (ig), der geniale englische Physiologe, hat die Vorgänge bei
der Kollision unvereinbarer (inkompatibler) Reflexe in erschöpfender Weise
experimentell studiert. Die Ergebnisse seiner Untersuchungen sind meines Er-
achtens auch für das Verständnis der entsprechenden Vorgänge im Trieblehen
von der größten Wichtigkeit, — finden wir doch hei niederen Tieren noch
alle Übergänge von den komplizierten Serienreflexen des Rückenmarks bis zu
den Instinkthandlungen, die ja, soweit es sich dabei um bis ins einzelne im
Erbgedächtnis fixierte Realisationsmechaiiismen handelt, zwanglos als eine Serie
von ineinander greifenden Ketten re Hexen aufgefaßt werden können, Die Ver¬
suche Sherringtons beziehen sich auf die Verhältnisse beim sogenannten
„Rückenmarkstier“, d. h. bei einem Tier (Hund oder Katze), dem das
obere Dorsalmark durchtrennt worden ist. Dann zeigen die kaudal von der
Verletzungsstelle gelegenen Körperabschnitte lediglich noch die Eigenreflexe
des Rückenmarks, das, vom Großhimeinfluß befreit, nunmehr autonom geworden
ist (spinale Automatie). Sh errington fand nun, daß von den zahlreichen,
oft sehr komplizierten Reflexautomatisinen, die ein derart autonomes Rücken¬
mark zeigt, die einen sich bei gleichzeitiger Auslösung (durch entsprechende
Reizung der bezüglichen reflexogenen Zonen) gegenseitig nicht stören, sondern
im Gegenteil sich summieren oder miteinander alliieren; andere dagegen sind
miteinander unvereinbar und schließen sich gegenseitig aus. Und zwar ist das
letztere immer dann der Fall, wenn die beiden Reflexe bei ihrer Realisation
auf die gleiche motorische Endbahn angewiesen sind. Es kommt dann zwischen
den beiden inkompatiblen Reflexen zu einem Wettstreit („compeiition“) um
die Benutzung der gemeinsamen Bahn, und zwar siegt in diesem Wettstreit
in der Regel (d. h, bei mittlerer Reizstärke) der Reflex, der die Gesamt¬
interessen des Organismus vertritt, also eine höhere Integrations¬
stufe repräsentiert, und daher (bei intakter Verbindung zwischen Hirn und
Rückenmark) stärker affektbetont erscheint, über denjenigen Reflex, der
einer niedrigeren Integrationsstufe entspricht, indem er etwa lediglich nur der
lokalen Befriedigung einer reflexogenen Zone dient und demgemäß vom Stand¬
punkte des Gesamtorganismus betrachtet, einer geringeren Affekts pannung ent¬
sprechen würde. Es sind daher vor allem die nociceptiven f d. h, der Flucht
vor einem Schmerz, vor einer Schädigung des Gesamt Organismus dienenden
Reflexe, die sich hei Kollision mit relativ „harmloseren 1, Reflexen als „präpotent“
erweisen und die letzteren hemmen. Ein Beispiel: Beim „Rückenmark sh und“
läßt sich durch Krauen oder Kitzeln einer sattelförmigen Zone des Rumpfes
mühelos der sogenannte Kratzreflex von Goltz auslösen, d. h. es erfolgen
die bekannten raschen rhythmischen klonischen Flexionszuckungen des gleich¬
seitigen Hinterbeines zur Beseitigung des Juckreizes. Lädiert man nun, während
der Kratzreflex im vollen Gange ist, die betreffende Hinterpfote durch einen
158
R. Brun
kräftigen Nadelstich, so erfolgt alsbald eine Hemmung des Kratzreflexes und
es tritt an seiner Stelle der Fluchtreflex des Beines in Erscheinung, d. h-
eine maximale tonische Flexion des Hinterbeines. Dieser „noeiceptive“ Flexions¬
reflex erweist sich somit im Rollisionsfalle gegenüber dem weniger dringlichen
Kratzreflex (der der libidinösen Befriedigung einer erogenen Zone vergleichbar
wäre) in der Regel als präpotent. Ebenso wird der Kratzreflex sofort gehemmt,
wenn am anderen Bein der Streckreflex ausgelöst wird (weil derselbe, infolge
spinaler Induktion, im kratzenden Bein automatisch den antagonistischen, tonischen
Flexionsreflex bedingt).
Erreicht dagegen der an sich weniger dringliche Kratzreflex durch Applikation
maximaler Reize eine besonders starke Erregungsintensität, so kann er imv
gekehrt den vorgängig zur Auslösung gebrachten kontralateralen Streckreflex
und selbst den hochnociceptiven Flexionsreflex hemmen, d. h. die Erregung
der betreffenden reflexogenen Zone erreicht in diesem Falle eine derartige
Dringlichkeit, daß sie sich auch durch Reflexe höherer Integrations¬
stufe nicht mehr unterdrücken laßt, sondern siegreich durchdringt.
Besonders deutlich wird dies beim sexuellen Umklammerungsreflex des
durch Sexualhormone erotisierten Rückenmarks des männlichen Frosches (während
der Brunstzeit), der eine so hohe „spinale Potenz w besitzt, daß er sich selbst
durch sehr schädliche interkurrente Reize nicht hemmen laßt. Wir können hier
bereits zwanglos von einem Rückenmarksinstinkt sprechen.
Wir ersehen hieraus, daß die phylo- und ontogenetiseh jüngeren Reflex*
und TriebFormen ihr Primat über die primordialen Triebe (respektive Re¬
flexe) mit Zuverlässigkeit nur solange aufrecht zu erhalten vermögen, als
die letzteren nicht besonders dringlich zur Auslösung gelangen; ist
nämlich letzteres der Fall, befindet sich der Organismus beispielsweise in
unmittelbarer Lebensgefahr, so unterliegen auch beim Menschen die Sekundär¬
triebe nicht selten, kommen jedenfalls unvergleichlich schwerer gegen den
mächtig drängenden Anspruch des bedrohten Primordialtriebes auf. Ein
typisches Beispiel dieses Verhaltens aus der menschlichen Psychologie ist
die Massenpanik bei einem Theaterbrand oder einer anderen Katastrophe,
wobei es ja ebenfalls zu einem vollständigen Abbau der Gesittung kommt.
Ebenso bleibt, um wieder auf die Reflexologie zurückzukommen, der Sexual-
Instinkt des Froschrückenmarkes gegenüber den Schmerzinstinkten (die in
diesem Falle die Gesamt in ter essen des Rückenmarkes und nicht nur
diejenigen eines einzelnen Segmentes desselben, vertreten) siegreich. Wir
finden dieses Verhalten wiederum in völliger Übereinstimmung mit den
Ergebnissen der psychoanalytischen Trieblehre, welche zeigt, daß ein sexueller
Triebanspruch, wenn er besonders dringlich und seine Erregung daher
übermächtig angewachsen ist, sich gleichfalls durch die kulturellen Sekundär¬
triebe nicht mehr ohne weiteres abweisen läßt, ja, unter diesen Umständen
Experimentelle Beiträge zur Dynamik und Ökonomie des Triebkonflikts 159
sich selbst gegen nociceptive Erregungen der Ich-Triebe siegreich erweist.
Seine Befriedigung wird dann, in Mißachtung jeder Gefahr, unter allen
Umständen erstrebt, oder, falls dies — beispielsweise infolge Krankheit oder
körperlicher Schwäche — nicht möglich ist, tritt Konversion der Erregung
in Angst ein. Daher die so häufige Auslösung der Angstneurose in der
Rekonvaleszenz nach schwerer Krankheit (Freud, 10), Ebenso weigert sich
die Libido hei besonderer Dringlichkeit, unter dein Einflüsse der Verdrängung
sich einer anderen Repräsentanz, einem Verschiebungsersatz zuzuwenden,
sondern setzt sich in solchen Fällen gleichfalls unmittelbar in freie (objekt-
lose) Angst um.
Zur Regel wird dagegen das „Primat der Primordialtriebe“ wohl
nur bei schwerem, pathologischem Abbau der „Hierarchie“ des Trieb¬
lebens, wie z. B. bei der progressiven Paralyse oder bei der Katatonie, wo
bekanntlich nicht selten direkte, d, h, unverhüllte und komplette Regressionen
der gesamten Persönlichkeit bis in die Säuglingszeit stattfinden,
B) Gehen wir nun zur Dynamik und Ökonomie des Triebkonfliktes
über, wie sie sich am biologischen und physiologischen Material (in der
Reflexologie) äußert, und stellen wir zunächst die dynamische Frage:
Wo bleibt die Energie (Erregungsmenge) des gehemmten, unter¬
drückten (verdrängten) Reflexes oder Triebes? Verschwindet sie, oder
läßt sich der Nachweis erbringen, daß sie trotz der Hemmung ihrer Abfuhr
persistiert? Auch auf diese Frage geben schon die eben erwähnten Experimente
Sherringtons über das Verhalten inkompatibler Reflexe eindeutige Auskunft:
Wir haben gesehen, daß beim Rückenmarkshund der Kratzreflex in der
Regel durch den einige Sekunden später ausgelösten, biologisch hoch¬
wertigeren Fluchtreflex gehemmt wird* Diese Hemmung dauert an, bis
der Fluchtreflex abgelaufen ist; dann aber erscheint der Kratzreflex
spontan wieder in Gestalt einer Nachentladung {„After-Discharge“),
in welcher die gehemmte Erregung, so weit sie noch nicht er¬
ledigt wurde, hinsichtlich Dauer und Amplitude quantitativ
restlos wieder erscheint und zur Abfuhr gelangt. 1 Die Erregung
des gehemmten Reflexes erlischt somit nicht, sondern bleibt in unvermin¬
derter Stärke erhalten, d, h, sie überdauert die Hemmung und wirkt
sich einfach später aus. In Analogie zum Geschehen bei der Kollision
inkompatibler Triebregungen würden wir dieses dynamische Gesetz etwa
i) Neuerdings hat Minkowski (20) dieses Experiment bei einer Katse mit dem
gleichen Ergebnisse wiederholt.
i6o
R> Brun
so umschreiben können, daß wir sagen, der vorübergehend gehemmte 1 rieb
habe keineswegs auf seine Befriedigung verzichtet, sondern sie lediglich
— unter dem Drucke der Not — auf eine gelegenere Zeit vertagt und
hole sie nach, sobald die Umstande dies erlauben. Diese Losung dürfte
unter primitiven Lebensbedingungen, beispielsweise bei niederen Tieren,
die normale Erledigung jeder spontan in Erscheinung tretenden Trieb¬
kollision sein.
Diese Lösung ist gewissermaßen physiologisch vorgehildet durch den nor¬
malen zyklischen Rhythmus des Auftretens und des Ablaufes der verschiedenen
Instinkterregungen: Bei Organismen mit primitiverem „biologischen Bereich
werden ja die verschiedenen Instinktformen in einer durch die „Gesamthorme
der Art (v, Monakow, 17), durch das erblich fixierte latente „Lehensprogramm
genau vorgezeichneten Reihenfolge, also sukzessiv ekplioriert, so daß sie sich
unter normalen Bedingungen bei der Realisation gegenseitig nicht stören. Der
ganze Lebenslauf solcher Geschöpfe erscheint mehr oder weniger als eine fort¬
laufende Kette aneinandergekoppelter komplizierter Serienrellexe (Instinkthand¬
lungen), also streng erblich determiniert. Dabei treten manche Instinkte nur
einmal im Leben des Individuums auf, um nach ihrer Abwicklung wieder für
immer in die Latenz der Erbmneme unterzutauchen \ andere wieder, wie der
Nahrungstrieb, wiederholen sich periodisch-zyklisch, eventuell mit anderen
periodisch auftretenden Instinkterregungen in mehr oder weniger regelmäßiger
Folge alternierend. Noch andere endlich, wie der Selbsterhaltungstrieb in seiner
primitivsten Form, begleiten das Individuum als mehr oder minder stabile
latente Dauererregung sein ganzes Leben lang oder erscheinen wenigstens immer
in Bereitschaft, gleichsam auf Pikett gestellt.
Erst auf höherer Organisationsstufe und namentlich mit zunehmender Er¬
weiterung des biologischen Bereiches, wie sie insbesondere durch das Ein¬
greifen des Individualgedächtnisses (der embiontischen, erworbenen Mneme)
ermöglicht wird, kann es sich dann immer häufiger ereignen, daß gelegentlich
zwei miteinander unvereinbare Triebregungen gleichzeitig zur Auslösung ge¬
langen (infolge simultaner Ekphorie ihrer durch die Imlividualmneme gewonnenen
sekundären Ob jektrepräse ixtanzen) und somit in eine Interessenkollision geraten*
Ebenso wird dieser Fall eintreten, wenn zur Zeit, wo eine Instinkt- oder
Trieb erregung B einsetzt, die hereditär-mnemische (hormonale) oder indmdueU-
mnemische (dem Erinnerungsbild des durch die Reizsuche gewonnenen l rieb-
objektes entsprechende) Erregung des Triebreizes A noch nicht abgeklungen
ist. Dann wird derjenige Trieb, welcher nach der Ausdrucks weise S herring-
tons „minderpotent“ ist, genötigt sein, auf kürzere oder längere Frist im
Hemmungszustande zu verharren.
C) Stellen wir nun, nach dem Vorgehen Freuds, auch vom Stand¬
punkte des Biologen und Physiologen die zweite, ökonomische I 1 rage,
die Frage nämlich nach den Schicksalen solcher dauernd gehemmter
(rezessiver) Trieb regungen. Auch liier wollen wir zunächst von den
Experimentelle Beiträge zur Dynamik und Ökonomie des Triebkonflikts 161
einfachsten Verhältnissen, nämlich wiederum vom Falle der Kollision in¬
kompatibler Reflexe, ausgehen. Durchgeht man nun die zahlreichen, sorg¬
fältigen Versuchsprotokolle Sherringtons mit Rücksicht auf diese Frage,
so kann man ohne weiteres fest stellen, daß auch das Gesetz der Öko¬
nomie, wie es Freud von den äußerst verwickelten Verhältnissen beim
neurotischen Triebkonflikt abgeleitet hat, schon durch die experimentelle
Physiologie in vollem Umfange bestätigt wird.
Bei dem eingangs geschilderten Experiment hatte Sh erring ton den Kitzeh
reiz des Kratzreflexes bald nach dem Einsetzen des interferierenden nocicep-
tiven Reizes, welcher den hemmenden Flexions- oder kontralateralen Extensions-
refiex auslöste* ausfallen lassen. Die Folge war, wie wir sahen, die nach¬
trägliche Entladung (After-Discharge) desjenigen Erregungsquantuins des Kratz-
reflexes, das im Momente der Hemmung noch nicht zur Abfuhr gelangt war.
Bei den meisten übrigen Experimenten ließ Sh errington jedoch den adäquaten
Reiz des Kratzreflexes auch während und nach der Zeit seiner Hemmung
durch den nociceptiven Reflex fortwirken- Bei dieser Versuchsanordnung, die
also durchaus den dynamischen Verhältnissen beim neurotischen Triebkonflikt
entspricht, wäre somit zu erwarten, daß es zu einer Stauung der fortgesetzt
weiter erzeugten Erregung des gehemmten Reflexes komme, einer Stauung,
die sich entweder schon während der Hemmung oder nach ihrem Auf hören
irgendwie manifestieren müßte. Das ist auch tatsächlich der Fall! Ich
zitiere aus den betreffenden Versuchsprotokollen Sherringtons wörtlich:
Versuch 55 A, S. 191. «Kratzreflex durch einen kurzdauernden Flexions¬
reflex unterbrochen. Der Kratzreflex kehrt nach der Unterbrechung mit ver¬
mehrter Intensität wieder. 1 *
Versuch 52, S. 189, „Die Verdrängung des Streckreflexes durch den Kratz¬
reflex, Der Kratzreflex, nach einer beträchtlichen Latenzzeit, verdrängt (displaces)
den Streckreflex. Der gekreuzte Streck refiex erscheint nachher nur
in modifizierter und unvollkommener Form wieder (von mit gesperrt),
obwohl sein Stimulus unverändert während annähernd sieben Sekunden nach
dem Auf hören des Reizes für den Kratzreflex fortgesetzt wurde.
Hier haben wir somit den bemerkenswerten Fall, daß die verdrängende
Instanz die vorübergehend verdrängte auch qualitativ verändert
hat — eine merkwürdige physiologische Parallele für das, was wir hei der Ver¬
drängung menschlicher Triebregungen beobachten; Wiederkehr des Ver¬
drängten nur in modifizierter, z, B. symbolischer Form.
Versuch 59, S. 210. „Taktschlagreflex, gehemmt durch Reizung des Schwanzes,
Die Hemmung ist, nach Aufhören des hemmenden Reizes, von einer ver¬
mehrten Amplitude und deutlicher Beschleunigung der pendelnden
Beinbewegung gefolgt.“
Versuch 60, S. 211. (Kontroll versuch): „Unterbrechung des Taktschlag¬
reflexes lediglich durch Aufhebung des auslösenden Reizes (also nicht, wie
im Versuch 59, durch einen zweiten interferierenden, inkompatiblen Reflex);
Imago XII.
u
1 6 2
R, Brun
Sobald das Bein wieder hängen gelassen wird, beginnt der Reflex aufs neue,
diesmal keine Energiestauung stattgefunden hatte.)
Sherrington beschreibt ferner auch „kompensatorische Reflexe“; die¬
selben treten dann ein, „wenn der Reflex eine Rückkehr zu einem Zustande
von Reflexgleichgewicht ist, welches durch einen interkurrenten Reflex gestört
worden war; der Kompensationsreflex stellt den Antagonisten dieses interkurrenten
Reflexes dar"\
Beispiel: Wenn bei bestehender Mitteihirn- (Streck-) Starre der Extremitäten
an einem Bein durch intensive Reizung der Flexionsreflex ausgelöst wurde, so
erfolgt nachher eine „aktive Rückkehr zu der früheren Stellung, indem nun
die Streckstellung des betreffenden Beines ausgesprochener ist, als sie es vor
dem interkurrenten Flexionsreflex war. Der störende Reiz rief somit
nicht nur den Flexionsreflex hervor, sondern außerdem auch noch
einen sekundären, antagonistischen Reflex“ (von mir gesperrt).
Ich meine, wir dürfen in dieser Kompensation bereits die einfachste physio¬
logische Grundlage dessen erblicken, was uns auf höchster Stufe, bei der
Neurose, als sogenannte Reaktionsbildung entgegentritt: Ebenso, wie der
störende Flexionsreflex einen antagonistischen Koinpensationsreflex zur Folge
hat, so sehen wir auch bei der Neurose, insbesondere bei der Zwangsneurose,
das Auftauchen einer störenden, peinlichen sexuellen Regung alsbald von einer
reaktiven Überbetonung der entgegengesetzten moralischen Regung auf dem
besonders bei Insekten, über. Das einfachste Mittel, um bei einem Tier
eine bereits zur Ekphorie gelangte und in der Realisation begriffene Instinkt**
handlung künstlich (experimentell) /ai hemmen, besteht darin, daß man
ihm denjenigen sinnlichen Reizkomplex (die Objektrepräsentanz des I riebes).
an welchem sich die entsprechende Instinkthandlung betätigte, oder kurz
gesagt, das betreffende Instinkt oh j ekt plötzlich entzieht. Es entsteht
dann eine Situation, welche derjenigen der Versagung (genauer: der
äußeren Versagung) vollkommen homolog ist. Nehmen wir beispiels¬
weise einer in der Koloniegründung begriffenen jungen Ameisenkönigin
ihre soeben gelegten Eier weg, so beobachten wir regelmäßig, daß das
Tier in eine hochgradige ängstliche Unruhe gerät: Es lauft rastlos
im Brutkessel umher und sucht ganz offensichtlich das verloren gegangene
Triebobjekt. Ich habe dieses Phänomen (im Gegensatz zu der primären Reiz'
suche, die nach der primären, zunächst noch objektlosen Ekphorie eines
Instinktes durch Hormonreize entsteht), als „sekundäre Reizsuch e 4 *
bezeichnet.
Experimentelle Beiträge zur Dynamik und Ökonomie des Triebkonflikts 16 3
Typische Beispiele einer solchen sekundären Reizsuche sind auch die jedem
Imker bekannte „Weiselunruhe" der Bienen, die regelmäßig dann auftritt,
wenn der Stock der Königin verlustig gegangen ist, und die hochgradige
Unruhe, in welche eine Arbeiterameise gerät, wenn wir sie längere Zeit in
einem Behälter völlig von ihren Kameraden isolieren.
Diese typische* in allen ähnlichen Fällen auftretende ängstliche Unruhe
nach Objcktverlust während der Realisationsphase des Triebes stellt meines
Erachtens ein vollkommenes Analogon des nervösen Angstanfalles
dar, nur daß die neurotische Angst hauptsächlich durch innere Versagung
ausgelöst wird.
Eine ganz ähnliche Angstentladung findet ja übrigens auch in Gestalt der
sogenannten Realangst statt, wenn die Befriedigung der Selbsterhaltungs¬
triebe — bei plötzlicher Lebensgefahr — in Frage gestellt ist. Der ganze,
ungeheure latente Libidobetrag, welcher an das Ich gebunden ist, findet dann
plötzlich keine Abfuhr mehr und entlädt sich ebenfalls in der inadäquaten
Form eines akuten Angstanfalles, Und das nämliche sehen wir auch auf dem
Gebiete der Sozialtriebe; So äußert sich ja auch die plötzliche Hemmung
dringlicher sozialer und ethischer Triebansprüche (bei temporärem Durchbruch
primitiver Instinkte) regelmäßig in Form einer eigentümlichen ängstlichen Er¬
regung, die wir als Gewissensangst bezeichnen und die sich bezüglich ihrer
seelischen (subjektiven) und körperlichen (objektiven) Symptome in nichts von
der Real- und der Sexualangst unterscheidet. Es scheint somit, daß Angst als
allgemeines Symptom jedesmal dann eintritt, wenn eine bereits in Realisation
begriffene (also nicht mehr aufschiebbare) Trieberregung plötzlich in ihrem
Ablauf abgebremst wird, indem sich dann die betreffende Triebenergie jedes¬
mal in Angst umsetzt.
Die Ursache dieser allgemeinen Unruhe nach Objektverlust liegt auf
der Hand: Der Objektentzug traf eben nur die äußeren Erregungsquellen
des ekphorierten Instinktkomplexes; seine inneren Erregungsquellen
aber, die Hormon reize und die mnemi sehen Erregungen (die here-
ditären sowohl als auch die individuellen Engramme, die während der im
Gange gewesenen Realisation des Triebes bereits gewonnen wurden) wirken
ja in unverminderter Stärke fort! So erklärt sich der allen Geschöpfen
innewohnende unwiderstehliche, blinde Drang, eine einmal begonnene
Instinkt-, beziehungsweise Triebhandlung unter allen Umständen bis zur
Endlust der Befriedigung zu fuhren. Einmal zur Ekphorie gelangt, erheischt
jeder Instinkt unbedingt Befriedigung,
Fehlt das adäquate Objekt eines zur Ekphorie gelangten Instinktes nun
dauernd, so kann daher auch dann auf die Befriedigung desselben nicht
ohneweiters verzichtet werden: Der Instinkt sucht sich trotz allen Kinder-
164
R. Brun
nissen unter allen Umständen durchzusetzen; doch gestaltet sich sein
weiterer Ablauf nun mehr oder weniger abnorm, d. h, derTrieb
wird in abnorme Bahnen abgelenkt. Von solchen Anomalien des
Instinkt ablaufes nach dauerndem Entzug des normalen (adäquaten) Objektes
können bei Insekten im wesentlichen folgende typische Formen beob¬
achtet werden:
1) Im einfachsten Falle wird der auf Hindernisse gestoßene Ablauf einfach
wieder von vorn angefangen, repetiert — ein Vorgang, den wir als
„retrograden Instinktanachronismus“ oder als Regression, d. b,
als ein Zurück greifen, einen Rückfall des Instinktes in eine bereits
früher einmal durchlaufene Phase, beschreiben können* Und zwar scheint
dieser Fall namentlich dann einzutreten, wenn das entzogene Jnslinktobjekt
nicht primär in der Umwelt des Tieres gegeben war, sondern erst im
Verlaufe der Realisation seiner verschiedenen sukzessiven Phasen, also
durch die Betätigung des Instinktes selbst erzeugt worden war und daher
durch die Wiederholung der gesamten Kette von Handlungen, die zu
seiner Erwerbung führten, auch wiedergewonnen werden kann*
Beispiele: Eine Raupe, die aus ihrem Kokon lierausgenommen wird, ist
ohneweiters imstande, sich wieder ein neues Kokon z.u spinnen, indem sie die
ganze Kette der dazu erforderlichen komplizierten Reflexbewegungen in der
nämlichen Reihenfolge repetiert. Ebenso ist eine Ameisenkönigin (Stammutter
einer Kolonie), der inan sämtliche Arbeiterinnen und die gesamte Brut weg-
genommen hat, nach Janet (7) unter Umstanden imstande, den Staat aus
eigener Kraft zu regenerieren, indem sie die bei der Koloniegründung einst
aktiv ausgeübten Mutterinstinkte sukzessive in der damaligen Reihenfolge wieder
ekphoriert. Sie wird also an ihren frisch gelegten Eiern die Brutpflege, die
sie seit mehreren Jahren ihren Arbeiterinnen überlassen hatte, nun wieder
selbst ausüben und sich so neue Arbeiterinnen heranziehen*
Die Versagung hat also in diesen Fällen einen Rückfall; eine Regression
der Libido auf eine ontogenetisch frühere, bereits aufgegebene Phase
der Instinktbetätigung bewirkt.
Rin weiterer Spezialfall der Instinktregression nach Objektentzug, der
indessen im allgemeinen wohl nur bei verhältnismäßig niederen Tieren
beobachtet wird, ist der Rückschlag in eine phylogenetisch ältere, obsolet
gewordene Bahn; wir sprechen dann von einem Instinktatavismus*
So beginnen im Bienenstöcke nach dem Ableben der Königin zahlreiche
Bienen nach Ablauf der Weiselunruhe Drohnenzellen zu bauen und mit
parthenogenetischen Eifern zu belegen: Sie werden, wie der Imker sagt,
„drohnenblütig** Die Arbeitsbienen benehmen sich also in diesem Falle wie
Experimentelle Beiträge zur Dynamik und Ökonomie des Triebkonflikts 165
ihre vorsozialen Ahnen, bei denen noch keine Differenzierung in Königin- und
Arbeiterkaste stattgefunden hat, wo vielmehr noch jede weibliche Biene ein
vollwertiges, geschlechtstüchtiges Weibchen war, — Andere Bienen des weisellos
gewordenen Staates regredieren in ihren Instinkten auf eine noch primitivere
vorsoziale Stufe, indem sie sich, wie ihre Urahnen, leidenschaftlich einer zügel¬
losen Räuberei ergeben, cLh. anstatt Honig einzutragen und die noch vorhandene
Brut zu pflegen, die Honigvorräte des eigenen oder fremder Stocke plündern.
Es findet hier somit eine komplette Regression des Instinktlebens auf eine
asoziale Stufe statt, wobei die nunmehr betätigten Triebregungen überhaupt
nicht mehr dein nämlichen Instinktkreis angehören, — Ähnliche Instinkt-
atavismen nach Objektverlust sind uns auch vom Ameisenstaat bekannt.
Das Gemeinsame an diesen Fällen liegt darin, daß an Stelle des verun¬
möglichten Fortganges der aktuellen, normalen Instinktbetätigung ein
Komplex ganz andersartiger Instinkthandlungen ekphoriert wird, der sich
bei näherer Untersuchung als einem früheren Zeitalter der Stammesgeschichte
des Tieres angehörig erweist. Mit anderen Worten: Die durch den Verlust
des adäquaten Instinktobjektes in Frage gestellte normale Instinktbetätigung
wird in diesen Fallen tatsächlich au f gegeben ; doch geht der ihr zukommende
Energiebetrag, die bezügliche mnemische Erregung auch hier keineswegs
verloren, sondern wird auf einen anderen (dem nämlichen oder einem
anderen Instinktkreis angehörenden) Komplex von Instinkthandlungen über¬
tragen. In beiden Fällen — sowohl im einfacheren Falle der Regression
auf eine ontogenetisch frühere Phase des Trieblebens als beim Instinkt¬
atavismus — haben wir es mit einer Ersatzleistung zu tun. Wir können
somit ganz allgemein sagen: Eine in ihrem Ablauf durch Objekt¬
entzug (äußere Versagung) gehemmte Instinkterregung kann sich
in Form ein er Ersatzleist ung durchsetzen (manifestieren), indem
sie auf eine onto- oder phylogenetisch alte Bahn regrediert.
2) Ein seltenes Gegenstück zur Instinktregression ist der ^anterograde
oder antizipierende Instinktanachronismus“, wie ich die betreffenden
Phänomene genannt habe. Von einem solchen dürfen wir in den selten beob¬
achteten Fällen sprechen, wo nach Entzug des adäquaten Instinktobjektes die
nicht realisierbare Phase des Instinktes einfach übersprungen und ohne
Rücksicht auf das Endergebnis einfach die nächstfolgende Phase von Instinkt-
handlungen ekphoriert wird. Die Folge eines solchen Überspringens wird
dann allerdings meist eine mehr oder minder hochgradige Verstümmelung des
Instinktwerkes sein. Ein dahin gehörendes Beispiel beobachtete Fahre (8)
bei der Mörtelbiene (Ckalicodama). Diese nicht soziale Biene baut zierliche
Einzelzellen, die sie nach erfolgter Füllung mit Nahrungsbrei mit einem Ei
versieht, und sodann sorgfältig mit einem unmittelbar vor der Eiablage her¬
gestellten Deckel verschließt. Fahre spielte nun einer solchen Mörtelbiene einmal
i66
R, Rrun
einen bösen Streich, indem er den unteren Teil einer soeben fertiggestellten
und nur noch der Eiablage und der Bedeckelung harrenden Zelle zerstörte,
so daß durch die breite Bresche aller Honigbrei auslieh Die mit dein fertigen
Deckel ankommende Chalicodoma bemerkt den Schaden sofort und gerät in
große Aufregung. Fahre erwartete nichts anderes, als daß die Biene den
Schaden reparieren würde. Es geschah aber nichts dergleichen, vielmehr be¬
ruhigt sich das Tier endlich, klettert auf den oberen Rand der demolierten
Zelle, senkt den Hinterleib in dieselbe ein, legt ihr Ei, das in die untergehaltene
Hand Fahr es fällt, und krönt sodann ihr, nun natürlich gänzlich nutzlos
gewordenes Werk mit dem Deckel! -— Aus der Psychopathologie des mensch¬
lichen Trieblebens ist ein ähnliches Beispiel nicht bekannt j solche anterograden
Instinktanachronismen sind natürlich nur bei niederen Tieren mit gänzlich
erstarrten Instinktautomatismen und Fehlen jeder Plastizität möglich,
5) Viel häufiger ist demgegenüber auch bei Insekten der Mechanismus,
daß an die Stelle des fehlenden homophonen oder adäquaten Reizkom-
plexes (Instinktobjektes} ein mehr oder minder ähnliches Krsalzobjekt
als Surrogat tritt. Wir sprechen dann von einer Ersatzbefriedigung.
Im Gegensatz zu dem sub 1) erörterten Mechanismus der Ersatzleistung
bleibt hier die Art und Weise der Triebbetätigung dieselbe; es findet
lediglich eine Übertragung der Triebenergie auf ein anderes Objekt,
ein Verschiebungsersatz, statt.
Beispiele: So adoptieren beispielsweise Ameisen nach dem Tode ihrer
Stammutter nicht selten eine artfremde Königin als Ersatz, Es wurden ferner
von mir und anderen wiederholt Fälle beschrieben, wo eine sklavenhaltende
Ameisenart in Ermanglung ihrer normalen Sklaven Raubzüge gegen Nester
einer ganz anderen Art unternahm* Ein sehr hübscher, von mir (5) beob¬
achteter Fall eines solchen Verschiebungsersatzes ist ferner folgender: Ich hielt
eine Königin der Ameisenart Camponotus ligniperdus, die im Begriffe war,
eine neue Kolonie zu gründen, in einem künstlichen Brutkessel. Nach einigen
Tagen nahm ich ihr ihre frisch gelegten Eier weg und beobachtete darauf
jene hochgradige ängstliche Unruhe, die ich oben als „Reizsuche beschrieben
habe- Nach einigen Tagen gab ich dein Tier Puppen von Lasius fuliginosus>
also einer ganz anderen, viel kleineren Art. Das Tier beruhigte sich sofort
und pflegte mm diese heterogenen Wesen mehrere Tage laug, als ob es ihre
eigenen Kinder wären, bis dieselben schließlich zugrunde gingen. — Neuer¬
dings hat Wheeler (21) gezeigt, daß sich auch die phylogenetische Ent¬
wicklung gewisser komplizierter Instinkte bei manchen Insektengattungen
zwanglos in eine Reihe von Phasen zerlegen laßt, die durch je eine Art der
betreffenden Gattung vertreten sind, und die je weilen dadurch charakterisiert
sind, daß das ursprüngliche Instinktobjekt, von welchem die Entwicklung ihren
Ausgang nahm, immer wieder durch ein neues Surrogat ersetzt
wurde. Die Endphase der Entwicklung des betreffenden Gattungsinstinktes
ist dann schließlich durch ein Objekt vertreten, das sich zum ursprünglichen
Experimentelle Beitrage zur Dynamik und Ökonomie des Triebkonflikts 167
Instinktobjekt der Gattungsahnen ungefähr so verhält, wie die Urrepräsentanz
einer menschlichen Sexualstrebung zu deren Symbol, an welchem der
Neurotiker die betreffende Triebregung „befriedigt“. Wir können hier somit
geradezu von einem phylogenetischen Verschiebungsersatz sprechen.
Diese Fälle unterscheiden sich, ökonomisch gesprochen, in nichts von
den bekannten Beispielen von Ersatzbefriedigung im menschlichen Trieb¬
leben, wo z. B. die alte Jungfer an Stelle der ihr versagt gebliebenen Kinder
Katzen oder Schoßhündchen mit mütterlicher Liebe betreut. Besonders
interessant ist dieser Mechanismus des Verschiebungsersatzes vom biologi¬
schen Standpunkte deshalb, weil er wie nichts anderes das gänzlich dys-
teleologische Walten der Natur beweist, denn es braucht kaum gesagt
zu werden, daß die Objektverschiebung im Grunde gänzlich zwecklos ist,
da sie ja nur eine Scheinhefriedigung des Instinktes ermöglicht, der
sein normales biologisches Ziel nicht erreicht,
4) Ein weiterer Spezialfall aus der Ökonomie des menschlichen Trieb¬
lebens, nämlich die direkte Abfuhr der gebremsten Libido in Form von
Angst, läßt sich natürlich am biologischen Material nicht nachweisen,
da wir ja die Tiere nicht fragen können, was in ihnen vorgeht. Doch
habe ich oben bereits hervorgehoben, daß die eigentümliche ängstliche Un¬
ruhe der „sekundären Reizsuche“, wie sie auch bei Insekten regel¬
mäßig unmittelbar nach erfolgtem Objekt Verlust, also in der akuten
Situation der äußeren Versagung auftritt, dynamisch gesprochen eine un¬
verkennbare Ähnlichkeit mit dem nervösen Angstanfall aufweist.
5) Bekanntlich kommt aber beim Menschen noch eine andere wesentlich
zweckmäßigere Form von Übertragung der freien Energie dauernd gehemmter
Triebregungen vor: Ist nämlich die Befriedigung des verdrängten Trieb¬
anspruches weniger dringlich, so kann die mnemxsche Erregung desselben
sich nicht allein von ihrer ursprünglichen Objektbesetzung, sondern auch
von ihrem spezifischen Ziele loslösen, ihren frei gewordenen Energiebetrag
teilweise oder ganz an den unterdrückenden Trieb abgeben und so zur
Verstärkung des letzteren beitragen. Es findet dann mit der Affektverschie
bung zugleich auch ein Wechsel des Vorzeichens, also eine Affektkon¬
version statt.
Bekannte Beispiele dieses Vorganges sind die Triebumsetzungen der ver¬
drängten Analerotik. Auch aus der Insektenbiologie ist ein ähnlicher Mecha¬
nismus bekannt: So kämpften jene Ameisen Forels, deren Nahrungstrieb
durch den sozialen Kampftrieb eine völlige Hemmung erfahren hatte* mit
verdoppelter Wut: Der Energiebetrag des gehemmten Nahrungstriebes hatte
sich auf den Kampftrieb verschoben und zur Verstärkung desselben beige-
i68
R. Brun
tragen. Eine Parallele dieses Vorganges haben wir ja sogar in der Reflexologie
in Gestalt des Kompensationsrefiexes von Sherrington (ig) kennen gelernt;
dieser Fall wäre etwa mit der unter dem Einfluß der verdrängenden Gegen¬
triebe erfolgten Konversion ins Gegenteil zu vergleichen, welche die
Libido der prägenitalen Partialtriebe regelmäßig erleidet. (Konversion der
Libido in Scham, Ekel, Empörung u. dgl.)
Auf höchster kultureller Stufe findet zAidein oft noch eine Koinpromiß-
bildung mit der verdrängenden Instanz statt, die es dem verdrängten
Triebe ermöglicht, im Rahmen des verdrängten Gegentriebes seine auf
diesen über gegangene Energie (Libido) in einer der ursprünglichen Befrie¬
digungsart irgendwie symbolisch verwandten Form zu betätigen.
Wir sprechen in diesem günstigsten und biologisch wertvollsten Falle von
Sublimierung im engeren Sinne. Als biologische Parallele dieses Vor¬
ganges wäre etwa die Entstehung der Arbeiterkaste bei den sozialen Insekten
zu erwähnen, die wir als das großartigste bis jetzt bekannte Beispiel einer
phylogenetischen Triebsublimierung auffassen können, insofern als
ja die Arbeiter käste dauernd und vollständig auf jede direkte Sexual befrie-
digung verzichtet und die dadurch frei gewordenen ungeheuren Libido¬
beträge restlos in den Dienst sozialer Sekundär triebe gestellt hat.
*
Fassen wir zum Schlüsse die Ergebnisse der vorstehenden Untersuchung
mit wenigen Worten zusammen, so können wir sagen, daß die von Freud
aus der Neurosenpsychologie gewonnenen rnetapsychologi sehen
Gesichtspunkte von der Biologie auf der ganzen Linie bestätigt
werden. Insbesondere kommt den von Freud in die Triebpsychologie ein¬
geführten dynamischen und ökonomischen Prinzipien die Dignität
allgemeinster biologischer Gesetze zu, die dem Triebkonflikt, wo immer
und in welcher Form immer er beobachtet wird, eignen. Aber noch mehr:
Die Analyse experimentell erzeugter Triebkonflikte beziehungsweise Trieb¬
hemmungen bei Tieren (— selbst bei Organismen, welche unserer physischen
und psychischen Organisation so fern stehen wie die Insekten —■), ja selbst
die Untersuchung der Vorgänge bei der Kollision inkompatibler Reflexe,
ergibt die überraschende Tatsache, daß auch die spezifischen, ökonomi¬
schen Triebschicksale, welche gehemmte respektive verdrängte
Triebe nach Freud erfahren, sich am biologischen Materiale
(mit alleiniger Ausnahme der Konversion) ebenfalls restlos nach weisen
lassen: Konnten wir doch unter diesen Umständen selbst bei Insekten ohne-
weiters alle spezifischen Mechanismen der direkten Abfuhr gestauter Libido
Experimentelle Beiträge zur Dynamik und Ökonomie des Triebkonflikts 169
(in Gestalt der ängstlichen Unruhe der Reizsuche), die Regression (als
ontogenetische und phylogenetische Regression sive Atavismus), den Ver¬
schiebungsersatz (Ersatzbefriedigung), die Reaktionsbildung, ja selbst die
Sublimierung wiederfinden.
Die metapsychologische Trieblehre von Freud verdient somit
in vollem Umfange die Bezeichnung einer biologischen Psycho¬
logie par excellence , indem ihre Gesichtspunkte sich nicht nur
für die menschliehe Triebps3 r chologie, sondern für den feineren
Ausbau der Biologie des Trieblebens überhaupt als äußerst frucht¬
bar, ja grundlegend erweisen. Es ist denn auch kein Zufall, sondern ein
Zeichen der Zeit, daß neuerdings ein Biologe von Range W, M. Wheelers (21),
einer der führenden Insektenforscher der Gegenwart, von sich aus zu dem
nämlichen Ergebnis gekommen ist und der Psychoanalyse kürzlich dieses
hohe Lob gesprochen hat.
Benützte Literatur
1) Brun, E.: Beobachtungen im Kemptaler Ameisengebiete, Biolog. Zentralbl.
1915* 55 *
2) Brun, R.: Zur Biologie und Psychologie von Formica rufa. Eiolog. Zentralbl.
1910, 30.
3) — Zur Koloniegründimg der Ameisen. Biolog. Zentralbl, 1912, 52.
4) — Zur Psychologie der künstlichen Allianzkolonien bei den Ameisen. Ebenda,
5) —- Über die Ursachen der künstlichen Allianzen bei den Ameisen. Jourru für
Fsychol. und Neurol, 1913. 20,
6) Das Instinktproblem im Lichte der modernen Biologie. Schw, Arch. f. Neurol.
1920* 6.
f) Janet, G*: Fondation däme colonie par une fern eile isolee. Bull. Soc. Zool.
France 1895.
8) Fahre, H.: Souvenirs enthomologiques, 18S6, 2.
9) Forel, A.: Fourmis de La Suisse. Zürich 18^4,
10) Freud, S,: Über die Berechtigung von der Neurasthenie einen bestimmten
Symptomenkomplex als Angstneurose abzu trennen. Sammlung Kleiner Schriften
zur Neurosenlehre I, 1911* (Ges. Schriften, Bd, I.)
_ Triebe und Triebschicksale. Sammlung Kleiner Schriften zur Neuros entehre IV,
1918. (Ges, Schriften, Bd. V.)
12) — Die Verdrängung. Ebenda.
— Das Unbewußte« Ebenda.
_ Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse. 2. Aufl. 1918, (Ges.
Schriften, Bd. VII.)
i>j) Greppin, L,: Zur Kenntnis der geistigen Fähigkeiten unserer Vögel. Mitt
natnrf. Ges. Solothurn III, 1906.
170 Brun; Experimentelle Beiträge zur Dynamik und Ökonomie des Trieb konflikts
16) Hattingberg: Übertragung und Objektwahl. Internationale Zeitschrift für
Psychoanalyse VII, 1921.
17) v. Monakow, C.: Biologie und Psychiatrie. Schw. Arch, £ NenroL IV, 1918
und 1919*
18) Semon, K.: Die Mneme. München 1904.
io) Sh erringt o 11, Ch,: The integrative Action of the nervous System. London 1911.
20) Minkowski, M.: Beitrag zur Physiologie des Rückenmarkes. Schw. Arch. £
Neurol. V, 1919*
21} Wheeler, W. M.: On instincts. The Journal of abnormal Fsychol, 1920/21, XV.
Umrisse einer Bioanalyse der
organischen Pathologie
Von
S. Pfeifer
Budapest
Das Wenige, was hier gegeben wird, ist nicht mehr als eine Arbeits¬
hypothese oder vielmehr ein Arbeitsprogramm. Diese Umgrenzung soll
gleichzeitig eine Entschuldigung sein für die vielen Mängel, die bei einer
solchen ersten Annäherung auch bei besserer Ausrüstung als der mir zur
Verfügung stehenden Kenntnis der Biologie unvermeidlich sind.
Der Wegweiser war auch hier Freud. Nicht nur in seinem ganzen
Lebenswerk, das uns ein vorher ungeahntes Eindringen in das Wesen der
seelischen Erkrankungen gestattete und den Wunsch nach einem ähnlichen
Einblick in das Rätsel der organischen Erkrankungen noch intensiver
empfinden ließ. Gleichzeitig wurde — hei aller Tendenz Freuds, die
psychoanalytischen Ergebnisse behutsam auf das Gebiet der Psychoneurosen
zu beschränken — die Hoffnung rege, daß die gewonnenen Einsichten
einmal auch zum Verständnis der organischen Krankheiten beitragen
werden, eine Erwartung, die in den Arbeiten von Ferenczi 1 neuerdings
Unterstützung fand. Eine Bemerkung Freuds über die Regression in den
Psychoneurosen rechnet schon andeutungsweise mit der IVlöglichkeit, daß
die Regression, die er von jeher auch als etwas Physiologisches erfaßte, 2
auch für die Entstehung organischer Krankheiten von Bedeutung sein
könnte.
Es würde verfehlt sein, mit der Erwartung an das Problem, heranzu¬
treten, daß wir das psychische Schema der Neurosenentstehung auf die
1) Versuch einer Genitaliheorie (Internat* Psychoanalytische Bibliothek XV) 1924.
2) Freud: Vorlesungen (Ges* Schriften, Bd. VII, S. 555)*
1 7 2
S. Pfeifer
organischen Erkrankungen geradewegs anwenden können. Im Gegenteil,
wir werden es freundlich begrüßen, wenn wir an der Hand bestehender
Analogien Stützpunkte für die weitere Forschung und Leitfaden zu einer
bioanalj'tischen Orientierung gewinnen.
Ob eine Ähnlichkeit zwischen den Verursachungen der neurotischen und
organischen Erkrankungen besteht, sei an einem Beispiele der letzteren
gezeigt. Wir finden z, R. bei den Entzündungen, entsprechend der „Ver¬
sagung“ bei den Neurosen, eine Schädigung des Soma, verursacht durch
Agentia, welche eine kontinuierliche Reihe bilden von der traumatischen
Einwirkung bis zu den gewöhnlichen Reizen des alltäglichen Lebens, die
unter Umständen ebenfalls traumatisch wirken.
Was dann folgt, ist als ein Kampf beschrieben worden, eine Beschrei¬
bung, die vieles für sich hat, ohne den Vorgang vollends zu erklären. Auch
beim neurotischen Symptome wird vom Vcrdrängungskainpf gesprochen,
der in einfachen Fällen gegen die traumatische Einwirkung, meistens aber
gegen die in Bewegung gesetzte fremdartige Libido losbricht, M et sehn i-
koff ist ein charakteristischer Zug, meines Erachtens der am meisten
charakteristische, dieses Kampfes bei der Entzündung nicht entgangen (wie
z. B, Virchow, der in der Entzündung kaum mehr als eine Ernährungs¬
störung erblicken wollte), nämlich, daß dieser Kampf in seinen Hauptzügen
ein archaischer ist. So finden wir in der organischen Erkrankung einen von
der ISieurosenbildung aus bekannten Zug wieder, den der Regression. Freud
hat in einer Bemerkung in seinen „Vorlesungen“ diese Bedeutung der
Regression für die organische Pathologie vorausgeahnt und Ferenczi sie
neuerdings („Versuch einer Genitaltheorie“) in den Vordergrund gestellt.
Wählen wir in den folgenden Erörterungen diesen Zug zum Leitfaden, um
die organische Pathologie zu durchstreifen.
Die Tatsache des archaischen Rückschlages war den Pathologen auch
unabhängig von der Psychoanalyse bei gewissen krankhaften Prozessen
nicht entgangen. Bei den Tumoren behauptete die Theorie Colin¬
heims, daß die Geschwulstzellen aus embryonalen Zellen hervorgehen
und den embryonalen Charakter auch in ihrem Wachstum und in ihrem
Verhältnis zu den Korperge weben behalten. Wir könnten Cohnheixns
Theorie damit ergänzen, daß wahrscheinlich keine verstreuten und embryonal
gebliebenen Keime als Grundlagen der Blastombildung dienen, sondern
daß eine Regression an der über den embryonalen Organisationsgrad
entwickelten Zelle zufolge traumatisch wirkender äußerer Reize den Aus¬
gangspunkt zu dem pathologischen Wachstum liefert. Dieses kann auch
Umrisse einer Bioanalyse der organischen Pathologie 175
auf einen Ein wand gegen die Cohn heim sehe Theorie entgegnet werden,
daß nämlich Geschwulstbildungen oft aus der ununterbrochenen Reihen¬
folge gleichmäßig organisierter Gewebszellen sich entwickeln. Die Fähigkeit,
zur Regression —■ allerdings in wechselndem Maße und unter entsprechenden
Bedingungen — müssen wir allem Lebenden, somit auch der einzelnen
*
Zelle zuschreiben, welche infolge ihrer Entwicklung und einer wachsen¬
den Organisation entstanden ist. Unserer Auffassung scheint noch die
Annahme E, Albrechts am nächsten zu stehen, daß in den Blastomzellen
embryonale Eigenschaften erhalten geblieben sind. Direkt von einer
Regression ist die Rede bei dem Biologen R. Hertwig, der von einer
Rückkehr der'Zellen vom organotypisehen zum zytotypischen Wachstums
modus spricht. 1 2 Diese Auffassung braucht auch durch die Entdeckung an¬
geblich organisierter Krebserreger durch Gye und Barnard nicht geändert
zu werden,
Erscheinungen des pathologischen Wachstums mit Regressionserscheinungen
sind auch bei der Regeneration, Wundheilung, Metaplasie usw, aufzufinden
und für die Pathologen längst bekannt. Bei einer Gruppe der Konstitu¬
tionskrankheiten, der Blutkrankheiten, haben P* Ehrlich und andere auf
Grund morphologischer Untersuchungen behauptet, daß dabei Zellverande-
rungen in regressivem Sinne vorhanden sind. Für die Blutkrankheiten
haben Ehrlich und Naegeli angenommen, daß die pathologischen Blut¬
zellen die embryonalen Formen derselben sind, was meines Erachtens eine
Regression in den blutbildenden Organen voraussetzen läßt* Zum Beispiel bei
der myeloiden Leukämie treten derartige pathologischen Veränderungen auch
in der Leber und der Milz auf, von denen die ersterc nur im embryonalen
Leben Blutzellen hervorbringt, Strümpell hält sie für eine Erkrankung,
welche auf embryonale Abweichungen zurückzuführen ist, wir würden sie
eine Regression blutbildender Organe in dem embryonalen Zustand nennen.
Ebenso werden Anzeichen einer Regression zum embryonalen Zustand
bei den anderen Blutkrankheiten gefunden. So schreiben z* B, Erich
Mayer und A, Heine ke von der Anaemia perniciosa: „Sehr interessant
ist, daß sich oft auch in anderen Organen (Leber, Milz, Lymphdrüsen)
Zeichen einer erneuten blutbildenden Tätigkeit finden, also wiederum
eine Rückkehr in embryonale Verhältnisse,' 4 2 Sie finden auch bemerkens¬
wert, daß die Blutkörperchen selbst in den Organen zugrunde gehen, wo
1) L. Aschoff; Pathologische Anatomie. I, S, 510; M- Borst: Echte Geschwülste.
2) Zitiert nach A, Strümpell: Lehrbuch der speziellen Pathologie und Therapie
der inneren Krankheiten. 1917-
I
174
S. Pfeifer
sie gebildet werden* Dieser Umstand ist für uns um so mehr von Bedeu¬
tung, da er zeigt, daß der Organismus unter Umstanden seine eigenen
regredierten Zellen so wie sonst artfremde Eindringlinge behandelt, oder
aber, was eigentlich dasselbe bedeutet, die Blutzellen kehren zu einer
anderen, weniger spezifisch gefestigten Organisation zurück* Es ist anzu-
nehmen, daß die Regression bei der Perniciosa auf dieses Stadium erfolgt.
Dieser Umstand erlaubt uns zwei weitere wichtige Annahmen. Die eine
ist eine historische und hat große Wahrscheinlichkeit für uns, daß näm¬
lich am entwicklungsgeschichtlichen Anfänge der Blutgewcbsbildung die
vom übrigen Körper abgetrennten und in die Saftkaiiule geschwemmten
Zellen in großer Zahl und systematisch vernichtet wurden oder zugrunde
gegangen sind, bevor der heutige Symbiosenzustand sich festigte* Die andere
ist eine theoretische Verallgemeinerung, daß, wenn die partielle Regression
eine gewisse Tiefe überschritten hat, die regredierten Elemente von den
nicht regredierten als feindliche Elemente, so wie artfremde bekämpft
werden, aber auch umgekehrt, wie bei den bösartigen Geschwülsten gerade
die regredierten Elemente die übrigen angreifen und vernichten. Eine
gewisse Ähnlichkeit, wenn nicht Wesensgleichheit dieses Vorganges —
Vernichtung der regredierten Formen und Kampf gegen die Regressions¬
tendenzen — mit der „Verdrängung“ Freuds ist unverkennbar. 1
Ein dritter Gedankengang findet hier auch Anknüpfung. Wenn wir
den Begriff der „Regression“ in ihrem eigenen Sinn nehmen, so bedeutet
es immer einen Zug zur Wiederherstellung älterer, durchgelaufener, aber
verlassener oder überwundener Entwicklungsstadien. Das Ziel der erfolgten
Regression ist also immer die Herstellung einmal wirklich dagewesener,
existenzfähiger Lebensformen, welche aber heute im Gefüge eines weiter¬
entwickelten und angepaßten Organismus, wie oben erwähnt wurde, zu
lebensbedrohendem oder vernichtendem Konflikt führen*
i) Zur Illustrierung solcher Verdrängung, aber auch der Wendung des (Aggres-
sions-, Todes-) Triebes gegen einen Teil des eigenen Ich könnte das Beispiel der
Haemoglobinuria paroxysmalis dienen. Morphologische und chemische Kennzeichen
für eine Regressio ns Spannung zwischen Körper und roten Blutkörperchen stehen noch
aus, werden sich aber meines Erachtens einmal vielleicht finden lassen, Vergleiche
die oben vermutete Feindlichkeit zwischen Körper und unfertigen, embryonalen Blut¬
zellen bei der Perniziosa. Ähnliches siehe auch hei Verbrennungen.
Die Erfahrung lehrt uns, daß die oben erwähnten Bliiterkrankmigen mit Vorliebe
bei Wende- (und damit Fixierungs-) Punkten der individuellen Entwicklung auftreten,
so z, B. in der Pubertät, während der Schwangerschaft, ein Beweis mehr für ihren
Regressionscharakter. (Allerdings auch dafür, daß die großen Belastungen, eventuell
Versagungen der Libido sie auslosen können.)
Umrisse einer Rioanalyse der organischen Pathologie 175
Nach alledem steht die Forderung im Vordergrund, daß zum Verständ¬
nis des „Sinnes“ einer organischen Erkrankung außer dem Einblick in
die auslösenden Momente 1 noch die Kenntnis des Regressionsgrades un¬
erläßlich ist, bis zu welchem der Organismus in Gänze oder teilweise vor
einem traumatisch wirkenden Agens aus weicht. Dieses regressive Ausweichen
kann aber auch nach dem bisher Gesagten auf zwei Iinien aufgefunden
werden, auf der ontogenetischen und der phylogenetischen, die sich in
einem Punkte treffen müssen. Allerdings werden wir uns besonders im
Anfänge begnügen, die eine oder die andere Art der Regression bestimmen
zu können, in der Erwartung, daß die Vermehrung unseres biologischen
und entwicklungsgeschichtlichen Wissens diese Ergänzung ermöglichen
wird, und daß die Bestimmung des Fixierungspunktes uns auch den Sinn
und die Tendenzen der Erkrankung unserem Verständnis naherbringen wird.
Die beiden Arten der Regression scheinen für die organischen Krank¬
heiten nicht gleichwertig zu sein. Während bei den Neurosen zunächst
die ontogenetischen Regressionen in die psychoanalytische Forschung eirr
bezogen wurden, scheinen bei den organischen Krankheiten die phylo¬
genetischen Regressionen in den Vordergrund zu treten, Ontogenetische
Fixierungen scheinen zu dominieren in der Teratologie (unter den Mi߬
bildungen); diese sind aber offensichtlich klare Entwicklungshemmungen,
aber keine Folgen einer Regression. Darauf ist es zurückzuführen, daß
diese auf uns nicht den Eindruck der Krankheit, sondern eben den einer
Mißbildung machen. In den Begriff der Krankheit scheint eben die Re¬
gression hineinzugehören und für ihn ausschlaggebend zu sein.
Was ist aber der Sinn der organischen Regression? Nach unserer finalen
Auffassung kann es nichts anderes sein, als ein Sich-Ztirückziehen vor einem
Trauma aus äußeren oder auch vielleicht aus inneren Ursachen auf eine Stufe
der Organisation, auf welcher die Vorfahren des betreffenden Individuums
noch unter ähnlichen traumatischen Einwirkungen sich behaupten konnten,
die Pathologie von heute war einmal wirklich Physiologie — oder aus welcher
sie eben durch die heute pathogenen ähnlichen Traumata hinausgeschleudert
wurden. 2
So wenig aber die Entwicklungshemmung allein eine Krankheit ergibt,
ebensowenig macht die Regression das Wesen der Krankheit aus. Krankheit
entwickelt sich erst, wenn gegenüber den der Regression unterworfenen Teilen
1) Welche nach der Behauptung einiger auch von der psychischen Seite ausgehen
und auch, von dort aus betrachtet, sinnvoll sein können*
2) Auch der biologische Sinn der Libidoregression kann kein anderer sein*
T
176 S. Pfeifer
oder Systemen des Organismus von den höher organisierten, unveränderten
Teilen her der Verdrängungskampf losbricht, welchen ich mir in erster
Linie in Analogie mit den aus der Immunologie bekannten Abwehrreaktionen
gegenüber parenteral ein geführten artfremden Körpern vorstelle. 1
So sind wir wieder zum pathogenen Kampf und dessen Prototyp, zur
Entzündung, zurückgekehrt* Eine gute Gelegenheit, um zu demonstrieren,
mit welcher IJberdeterminiertheit der Probleme bei einer Anwendung der
Gesichtspunkte der biologischen Tendenzen auf die Pathologie zu rechnen
sei. Ob hier nicht die Analogien mit den Neurosen weiterzuführen sind?
Wie die Rolle der Regression bei den Entzündungen bestimmt werden kann,
worin sie besteht, wie weit sie führt, was entspricht dabei der Scheidung
von Ich und Libido, was ist die Rolle der Gewebsschädigung, eventuell der
Bakterien, der Entzündungszellen usw.? Um auf sie, wenn auch nur teil-
weise, antworten zu können, müssen wir für die Darstellung einen etwas
weiteren Rahmen wählen*
Von dem dualen Gesichtspunkte der Lebens“ und der Todes triebe aus be¬
trachtet, zeigt die akute Entzündung einen typischen Ablauf und einen Spezial-
fall der Triebemmischung. Die typische Folge der Gewebsalteration (Nekrose),
die dadurch hervorgerufenen produktiven, d. i. exsudativ-proliferativen Ver¬
änderungen auf der Hohe der Entzündungserscheinungen, wieder gefolgt durch
Rückbildungs- und Regenerationserscheinungen {Narbenbildung) sind die
Grunderscheinungen der Entzündung, welche, wenigstens in Spuren, überall
aufzufinden sind. Der Prozeß beginnt also mit der Wirkung des Todestriebes,
worauf eine mächtige Fluxion von Vermehrungstendenzen folgt, deren libidi-
nöser Charakter unschwer zu erkennen ist. Wenn man z* B, die Celsus-
schen Kardinalsymptome der Entzündung, den Ruhor, Calor, Dolor und
Tumor betrachtet, findet man sie wieder bei der Erektion und bei jeder
Genitalisierung findet man auch die Functio laesa « Allerdings ist bei der
Erektion der Schmerz durch die erotische Spannung vertreten, welche aber
bei großer Intensität ebenfalls schmerzhaft wirken kann* Gestützt auf einige
interessante psychoanalytische Funde habe ich Grund anzunehmen, daß die
Entzündung nicht nur einer „PhaJlisation w , sondern auch einer Hysterisation
1) Selbstverständlich können auch andere Abwehrreaktionen zu Worte kommen.
Entstehung von organischen KrankheitsSymptomen durch Renktionsbildung ist auch
wohl denkbar etwa nach der Auffassung A. Adlers, der einseitig und deshalb auch
falsch in der Überkompensierung der durch Entwicklungshemmungen gesetzten
Minderwertigkeit der Organe den Grund sowohl der psychischen, wie der organischen
Erkrankungen erblickt.
1
Umrisse einer Bioanalyse der organischen Pathologie
l 77
des Gewebes gleichkommt. Diese Phase der Entzündung ist das somatische
Ebenbild der uns wohlbekannten Libidoanhäufungen (Erektion und Genitali-
sierung), Darauf folgt wieder eine Vermischungsphase beider Triebarten in
der Regeneration zum normalen Leben oder eine Verdrängungsphase: Heilung
mit Narbenbildung (partieller Gewebstod). 1 Auch andere Zeichen sprechen
dafür» welche von Ferenczi früher schon betont wurden» 2 3 * wie z. B., daß
die Tiere ihre Wunden lecken, und wir haben auch in dem Verhalten der
Mütter, die in starker Identifikation mit ihren Kindern die schmerzenden
Stellen derselben mit Zärtlichkeiten und Küssen überhäufen, sowie in dem
angenehmen Jucken der abheilenden Entzündungen eine gute Stütze für
diese Auffassung.
Auf die Frage, welche Art der Libido in der entzündlichen Fluxion
tätig ist, können wir vermuten» daß sie anfangs wohl eine narzißtische sein
dürfte, ausgedrückt in den Erscheinungen der lokalen Turgeszenz, und erst
spater genitalen Charakter annähme, gekennzeichnet durch die Autotomie"
tendenzen (Abstoßung, Jucken), eventuell durch die sadistischen Tendenzen
vermittelt (Phagozytose).
Die Rolle der Regression in diesen Vorgängen ist schwer zu umgrenzen,
doch sehr augenfällig. Wir begegneten ihr schon in der Metschnikoffschen
Auffassung der Entzündung als eine Art Phagozytose. Sie zeigt allerdings
die Regressionstendenzen der grundlegenden Veränderungen an, welchen die
Ent zun dungszellen, nicht nur die amöboiden weißen Blutkörperchen, sondern
auch die fixen Gewebszellen, unterworfen sind 5 und deren embryonaler Cha¬
rakter von den Pathologen allgemein anerkannt wird. Ob die Leukozyten
einen Regressionsprozeß erleiden, ist fraglich, da sie schon an und für sich
regressive Elemente des Organismus darstellen und durch ihre Einwanderung
gleichsam die Zusammensetzung der entzündlichen Gewebe in der Regressions¬
richtung verändern. Sie vertreten jenes Stadium der Artentwicklung, in
welchem dem pathologischen Entzündungsprozeß ähnliche Vorgänge, z. B.
Aufnahme von Bakterien, Vernichtung derselben oder Teilung der Zelle
1) Eine Revue der instruktiveren und mit den neurotischen Symptomen mehr ver¬
gleichbaren ehr onis dien Entzündungen muß für eine eingehendere Untersuchung auf¬
gespart bleiben.
2) Ferenczi: Hysterie und Pathoneurosen, 5 . 15, 1919* „Über Pathoneurosen,“
Hysterische Materialisationsphänomene,
3) Letztere können wieder Beweglichkeit und eine große Vermehrungsfähigkeit
erreichen. Man vergleiche noch die Loehschen Versuche mit den Seeigeleiem über
die Kausalfolge : Schädigimg — Vermehrung.
hi] ago Xlh
12
l f 8 S, Pfeifer
unter Einwirkung äußerer Reize, auch normalerweise Vorkommen, also den
Anfang des organischen Lebens (Protozoen stad nun).
Eine andere Veränderung bei der Entzündung, welche als Systemregression
gedeutet werden kann, ist die der Blutzirkulation. Die Blutgefäße geben
ihre physiologische Rolle auf, die Blut Zirkulation zu kanalisieren, werden
gelähmt, oder jedenfalls maximal gefüllt, ihre Wandungen außerordentlich
durchlässig, und so entsteht im entzündlichen Gewebe ein ödem. All dies
entspricht gleichfalls dem Zustand, bevor die Blutzirkulation sich ausbildete,
also dem freien Safterguß in die Ge websspalten- Daß hierin eine Regression
vorliegt zu blutgefaßlosen Organisationsformen, dafür scheint die Behauptung
Metschnikoffs zu sprechen, 1 daß die seröse Entzündung späteren Ursprunges
sei, als die rein zelluläre (leukozytärc) der niedrigeren Organismen* Bei
den Avertebraten (meistens Wassertiere) zeige sich keine Spur eines serösen
Exsudats, nicht einmal bei den Amphibien, erst ausnahmsweise bei deren
Larven, Diese Erscheinung dürfte einem „thalassalen Regressionszug nach
Ferenczi entsprechen, zu dem Zwecke, den regredierten, zeitigen Elementen
ein entsprechendes Milieu zu verschaffen. (Vgl. die vorhin erwähnte Hysteri-
sation des entzündeten Gewebes.)
Auch die Heilungs- und Begenerationsvorgänge bei der Entzündung ent¬
halten, wie nach der vorausgegangenen Regression zu erwarten, viele Teil*
Stadien der Embryogenese, welche auch in den pathologischen Lehrbüchern
nachzuschlagen sind,
Entzündungserreger, Im Gegensatz zu der chemisch-physikalischen
Forschung erhoffen wir tiefere Aufschlüsse über ihre Rolle in der Ent¬
zündung zu gewinnen, wenn wir das Verhalten lebender Organismen ana¬
lysieren. — In der Hervorrufung der Entzündung fällt den Mikroorganismen
eine charakteristische Rolle zu. Wenn wir davon den feinsten Resonator
aller Lebenserscheinungen, das Unbewußte befragen, z* II- wenn wir die
Gelegenheit haben, Leute mit entzündlichen lokalen, oder allgemeinen Er¬
krankungen in der Psychoanalyse zu haben, so können wir darauf gefaßt
sein, daß fast regelmäßig Schwangerschaftsphantasien den Ablauf des ent¬
zündlichen Prozesses bei dem Kranken begleiten. Wenn wir diese Aufklä*
rung vom Unbewußten annehmen, so können wir nicht umhin, in der
Infektion eine Art — sozusagen mißlungener Befruchtung zu erblicken,
wie auch die Infektion selbst ein typisches Symbol für Befruchtung ist.
Wir werden diese Spur hier nicht lange verfolgen, nur bemerken, daß die
i) Metschnikoff: „L’inHammaticm“, S. 215*
Umrisse einer Bioanalyse der organischen Pathologie
*79
auffallende Zellvermehrung 1 im Beginne und auch beim weiteren Verlauf
einer Infektion für die obige Behauptung spricht.
Dein widerspricht auch nicht, daß auch aseptische Gewebsschädigungen
ähnliche Erscheinungen hervorrafen können. Man vergleiche z. ß, die Jacques
Loebschen Ziichtungsv ersuche mit unbefruchteten Seeigel eiern, welche
durch irgendeine mäßige Schädigung zur Weiterentwicklung gebracht werden
konnten. Das führt zu tiefgreifenden Problemen, auf welche vielleicht einmal
gründlichere Untersuchungen über dieEntmischungen der Todes- (Aggressions-)
und Lebens- (Sexual-) Triebe größeres Licht werfen werden.
Hier müssen wir dieses Kapitel abbrechen und viele Fragen und Probleme
auf spätere Behandlung verschieben. So die infektive Rolle der Bakterien,
ihre morphologische Analyse, ihr Verhältnis zu den Lebens- und Todes¬
trieben, ihre pathologischen Symbiosen bei den Infektionskrankheiten, die
durch sie vertretenen Tendenzen, die historische Bedeutung dieser Symbiosen,
den vermutlichen entwicklungs- oder artgeschichtlichen Zeitpunkt, wann sie
lür die einzelnen Gattungen pathogen wurden, und andere Probleme mehr,
von welchen die meisten heute noch im Stadium der aufgeworfenen Fragen
auf ihre Lösung warten. Diese führen schon in ein anderes Kapitel hinüber,
in die Bioanalyse der speziellen Pathologie, die, aus Mangel an Raum,
ein anderes Mal behandelt werden so 11 , Die bisherigen, mehr aphoristischen
Bemerkungen wollen nur die Möglichkeit der bioanalytischen Behandlung
der allgemeinen Pathologie demonstrieren.
*
Um die Vielfältigkeit der möglichen Wege bei der bioanalytischen Be¬
handlung der speziellen Pathologie und besonders bei der Verfolgung des
Regressionsmomentes als vielleicht des bedeutsamsten Teilproblems derselben
zu zeigen, möchte ich noch auf eine morphologische Deutungsmöglichkeit
hin weisen, welche im Falle der Brauchbarkeit für die organische Patho¬
logie von eminenter Bedeutung werden kann. Das ist eben die rein morpho¬
logische Betrachtung der Organe als Wiederholungen von bestimmten Ge¬
staltungstendenzen, welche vor Zeiten zur Entwicklung bestimmter Organi¬
sationen des Tierkörpers geführt haben. Anders ausgedrückt, wenn wir eine
Anschauungsweise anwenden, welche zunächst von den Daten der Histologie
und Embryogenie absieht und sich nur an die äußeren Formen der ein-
1) Es fehlt nicht an Beobachtungen, nach welchen Paramac eien, welche zu viele
Bakterien verschlungen haben, sich zu teilen beginnen, um nach der Ansicht Metschni-
koffs sich dadurch ihrer Beizwirkung 111 entziehen.
l So S. Pfeifer
zelnen Organe hält, so werden wir in diesen bekannte Formen primitiver
Tierarten erkennen. Darin wurde ich bestätigt durch die Behauptung
Abrahams, der im vorderen Abschnitt der Verdauungsrohre (bis ein*
schließlich des Magens) die Organisationsformen und auch die Funktions¬
weise der Coelenteraten erblickte, 1 2
Das ergänzt wohl die Annahme, daß im anderen Teil des Darmtraktes
unverkennbar die Organisationsformen der Würmer erscheinen, gekenn¬
zeichnet in erster Linie durch die segmentarische Ordnung der Bewegungs¬
elemente, durch die typische Bewegung und nicht zuletzt durch die Form
des Organs, (Die Reste des spezifischen Nervensystems wurden abgetrennt und
mit dem späteren Rückenmark in Beziehung gebracht und sind in der Gan¬
glienkette des Sympathikus anzutreffen,) Es wird uns nach dem Gesagten
nicht wundern, wenn wir in den Funktionselementen des Darmes, in den
Lieberkühnschen Krypten noch primitivere Organisationsforman, die der
einfachsten Hohltiere, der Hydroidpolypen, erblicken wollen, mit der sack¬
artigen Einhöhlung eines einschichtigen Endothels und den tentakelartigen
Papillen, Allerdings ist aus der intrazellulären Verdauung der Hydroidpolypen
eine extrazellulare geworden, indem einige Zellen (Becherzellen) ihren Inhalt
in Schleim verwandeln und in den Darm ergießen, 3 Bei pathologischen
Prozessen {Darmkatarrh) tritt dieser Zug verstärkt in den Vordergrund und
wird für die Krankheit geradezu charakteristisch.
Die Wurmorganisation des Darmes spielt in den verschiedensten patho¬
logischen Fällen die regressive Basis des Prozesses* Aus der Fülle der Er¬
scheinungen wollen wir nur zwei Krankheitsgruppen herausgreifen, eine
aus der inneren Medizin, eine aus der Chirurgie*
Durch eine Gleichheit der Tendenzen und der Organisation wird es
verständlich, daß der Darm der Lieblingsort des überwiegend größeren
Teiles der unzähligen schmarotzenden Würmer geworden ist, unter welchen
manche eine erstaunliche Anpassung zu dieser eigentümlichen Symbiose
zeigen. Die Gleichheit der Tendenzen bei Wurm und Darin wird uns noch
beschäftigen, z, B, die entwicklungsgeschichtlich neue Art der Vorwärts*
1) Abraham' „Versuch einer Entwicklungsgeschichte der Libido/ * Di, F edern
macht mich auf eine Stelle bei Driesch: „Philosophie des Organischen“, S. 284,
aufmerksam, wo bereits diese Behauptung ausgedrückt wurde: „Die Ontogenic liefert
uns ein Endding mit Organen, Können wir im Rahmen der Phylogenie etwas mit
Organen vergleichen? Jede Speiies ist ein Organ, würde man sagen. Dann würde
jedes Organ aus seinesgleichen im Wege der Phylogenie entstehen,“
2) Die Verdauung außer dem Körper ist bei den Wirbellosen ein häufiger und
noch bei den Cephalopoden ein typischer Vorgang.
Umrisse einer Bioanalyse der organischen Pathologie
i8i
Bewegung, die damit verbundenen aggressiven Tendenzen, die Neigung in
Spalten, in Höhlen hineinzudringen usw, (Daher auch die große Invasions¬
neigung der vielen anderen schmarotzenden Würmer.) Letztere spielt eine
große Holle bei manchen chirurgischen Erkrankungen, wie z, B, bei den
verschiedenen Hernien, welche gar nicht so einfach mechanisch entstehen,
wie die chirurgischen Lehrbücher es verführen, also durch Änderungen in
der Widerstandsfähigkeit der Bauchwand und durch den erhöhten Druck
der ßauchpresse, sondern die Gedärme tragen durch die eigene Bewegung
auch aktiv dazu bei, um in die präformierten Höhlen hineinzugelangen,
sogar in die Brusthöhle, wie sie durch diese Bewegungen auch imstande
sind, das Netz auf eine entzündete Stelle zu bringen. Die ähnliche Tendenz
der Gedärme mag wohl bei den Darmprolapsen (bei Kindern häufig) und
bei den Intussuszeptionen und Invaginationen eine Rolle spielen, wo der
Darm gleichsam in sich selbst hineinkriechen kann.
Um auf das vorhin erwähnte Prinzip zurückzukommen, lassen wir auch
einige der übrigen Organe eine Revue passieren, soweit sie sich dieser
Betrachtungsweise unterwerfen, und auch dann, wenn sich die Folgen für
die Pathologie vorläufig nicht überall klar zeichnen. Die einfachen Darm¬
drüsen haben wir nach ihrer Gestalt mit den Hohltieren in Beziehung
gebracht (Hydroidpolypen), und die Wachstums- und FormverhäJtnisse auch
der anderen Röhrendrüsen scheinen den Vermehrungsmodus dieser Tiere
— die Vermehrung durch Knospen Bildung — nachzuahmen* (Pathologische
Auswirkung vielleicht bei der Bildung gewisser Papillomen,) Aus dem Ur¬
sprung dieser Drüsen aus röhren artigen Bildungen folgt, daß sie ihre Ent¬
stehung einer teihveisen Regression von der Wurmgestalt zu der der Hydroid¬
polypen, mit Beibehaltung einiger Eigenschaften der ersteren, verdanken. So
könnte man zwischen der Form des Herzens mit den Anfangsteilen der großen
Arterien Beziehungen zu einer relativ hoch entwickelten lierform, zu den
Cephalopoden, entdecken, gestützt nicht nur auf die auffallende Ähnlichkeit
der Gestalt (Beutelform, kopfarmartige Anordnung der großen Ader, Reiz¬
leitungssystem), sondern auch auf die rückstoßartige Bewegung, bei den
Tieren des Körpers, beim Herzen der Flüssigkeit. Zu diesem letzteren Organi¬
sationstyp könnte man noch das Auge rechnen.
In den Aufbau der Adern spielt dann wieder die wurmartige Organisation
hinein bis zu den Kapillaren, die wieder nach dem Sprossensystem gebaut
sind (vgl, die Gefäß knospen bei der Wundheilung und in chronischen, ent¬
zündlichen Wucherungen), Bei gewissen Erkrankungen werden sie für das
Blutserum durchlässig, dann stehen wir vor einer Regression vom System
18s
S. Pfeifer
der geschlossenen zu dem mit offener Saftzirkulation* (Der Schritt z. B. von
den Weichtieren oder tieferen Würmern — Plattwürmern — zu den höheren
Würmern.) Überhaupt ist das Blutgefäßsystem der hauptsächliche, oder viel“
leicht (ausgenommen solche durch Wachstum) der einzige Träger aller Ten¬
denzen zur Turgeszenz geworden, solange diese nicht im Regress ionsfalle,
wie bei den Ödemen wieder auf die Gesamtheit des Körpers zurückgehen.
Übrigens ist es von großer pathologischer Bedeutung, daß die „Genitali-
sierung“ wahrscheinlich immer von vasomotorischen Veränderungen begleitet,
eventuell durch sie besorgt wird, und was ebenfalls vielfach behauptet wurde
und wohl als erwiesen betrachtet werden kann, daß Entzündungen auf
gemit allste rten Körperteilen viel leichter und fast regelmäßig entstehen. Man
denke z* B. an den Fluor Albus der Onanisten, der keineswegs nur auf die
mechanische Reizung zurückzuführen sei, an viele Ekzeme usw*
Ich wäre geneigt, in den eigentümlichen, sinusartigen Erweiterungen
der Kapillarvenen der Milz ebenfalls eine Annäherung zu der Weichtier¬
organisation mit ihrer freien Saftzirkulation zu erblicken* Ob dabei die
große äußere Ähnlichkeit der Milz mit manchen Muscheltieren ein reiner
Zufall ist, das können wir vorläufig dahingestellt lassen. Übrigens kommen
milzartige Gebilde erst von den Mollusken angefangen im Tierreich vor.
Hier ist es Zeit einem Vorwurf zu begegnen, der diesen Aufstellungen
schon lange gedroht hat* Wir sprachen oben von Gestaltsaiialogien der
Organe mit tierischen Organismen, welche nicht alle im Wege der Ent¬
wicklung unseres Körpers liegen, wie z* B. von der Cephalopodenähnlichkeit
beim Herzen, um nur die schreiendste zu erwähnen. Die wird noch unter¬
strichen, wenn wir wissen, daß das Vertebraten herz während der Embryogenie
durch Zusammenlegen und Verschmelzen einer rohr förmigen Ader gebildet
wird. Wir müssen dann annehmen, daß unausgenützte Entwicklungsmöglich¬
keiten ein langes Stück des Entwicklungsweges mitgebracht werden können,
bis im Körper selbst solche Änderungen und Notwendigkeiten eintreten,
welche diese Entwicklungstendenzen sich aus wirken lassen. Vielleicht werden
durch diese Möglichkeiten einmal viele Überdeckungen der Embryogenie
verständlich. (Man denke z* B* an die Erscheinungen der Heterogonie*)
Übrigens haben die Cephalopoden in bestimmten Hohltieren, in den Anthozoen
ein einfacheres Organisationsvorbild, ebenfalls mit starker Kontraktilität,
mit Vormagen und Magen, mit ein- und ausströmendem Wasser, 1 entakeln,
welche Tiere aber den Coelenteraten angehören, also einer näher stehenden
Tiergattung. Dies würde dann den Widerspruch auflieben* Selbstverständlich
darf man den Körper nicht als ein Aquarium oder eine entwicklungs-
Umrisse einer Bioanalyse der organischen Pathologie
geschichtliche Sammlung von nebeneinandergefügten Tierformen betrachten.
Allerdings gibt es Tiergattungen, bei welchen die einzelnen Organe durch
besondere Individuen vertreten sind, wie z. B. bei gewissen Tierstaaten
(Syphonophoren usw.)* Auch manche Symbiosen dürften unter diesem Ge
sichtspunkt erwähnt werden.
Wieder ein Punkt, um abzubrechen, bevor die Bedeutung dieser Betrach¬
tungsweise der rückgreifenden Entwicklung — Entwicklung über mor¬
phologische Regressionen hindurch — für die Biologie und die biologische
Analyse der Pathologie an den Beispielen auch der übrigen Organe demon¬
striert werden konnte. Auch sind wir etwas weit in ferne und man wird
mir mit Recht vor werfen: phantastische — Gebiete der Phylogenie verirrt.
Aber es ist mir diesmal hauptsächlich nur daran gelegen, neben den fester
fundierten Bauten auf dem Gebiete der Bioanalyse auch einige der von
diesen ausgehenden Wege zu zeigen, welche vielleicht vorläufig in dem
Urwald der biologischen Vorgeschichte des Menschen leicht irreführen.
Doch muß solches noch* so gewagtes Vordringen, ermöglicht durch die
immense Erweiterung des wissenschaftlichen Blickfeldes durch die Anwen¬
dung der psychoanalytischen Ergebnisse auf andere Wissensgebiete, früher
oder spater mit der Erforschung und Urbarmachung auch dieses Neulandes
der Bioanalyse enden.
Über die Anwendbarkeit der Energielehre
in der Psychologie
Von
Emil Simonson
Berlin-Halensee
Die Schwierigkeit beginnt bereits bei der Begriffsbestimmung. Ist Energie
etwas Reales? Philosophen und philosophisch sich betätigende Biologen haben
es bestritten, Iritz Mauthner(i) 1 setzt die Energie dem Kausalitätsbegriff
Kants gleich, der im Gegensatz zu dem von Hume nicht bloß die Ursache,
sondern die beiden korrelativen Begriffe Ursache und Wirkung umfaßt. Das
ist im Grunde dasselbe, worüber vor zwanzig Jahren der russische Physiker
Chwolson in seiner Schrift „Hegel, Ilaeckel, Kossutb und das zwölfte
Gebot (2) so scharf geurteilt hat, wenn nämlich der Philosoph Kossuth sagt:
„Das Gesetz von der Erhaltung der Energie ist nichts weiter, als der Satz:
,Die Ursache ist gleich der Wirkung.“ 1 Ähnlich deduziert Spengler (3).
Verwom (4,) stellt die Realität vom Standpunkt seines Psychomonismus in
Abrede, Dagegen gelangt der holländische Philosoph Heymans (g) in
Groningen, auf dessen Versuch über die Anwendbarkeit des Energiebegriffes
m der Psychologie wir später noch eingehen müssen, als Vertreter des
psychischen Monismus zu einem nicht so eindeutigen Ergebnis. Für Eduard
von Hartmann (6) ist die Energie in genau demselben Sinne wie die Materie
eine objektiv-reale Erscheinung. Eudwig Stein (y) endlich vertritt einen
unvermeidbaren Agnostizismus: „Der psychologische Zirkel ist unentrinnbar.
Der Prozeß menschlicher Verdoppelung ist unaufhebbar. Wir müssen unsere
Eigenschaften in das All hineindeuten. Ein gröberer oder feinerer Anthropo¬
morphismus ist das seelische Fatum des Menschengeschlechtes. Dabei kommt
‘ 94 -
1) Ziffern in Klammern, siehe Literatur auf S.
Energielehre in der Psychologie
185
wenig darauf an, ob man dieses Hineindeuten menschlicher Merkmale oder
Stammeseigenschaften in den geforderten Einheitsträger des Weltganzen mit
den Griechen ,Anthropomorphismus 1 , mit Franz Bacon ,idola tribus‘, mit
Avenarius ,introjizieren‘, mit Petzold ,einlegen‘, oder endlich mit Lipps
,einfühlen 1 nennt. Ob wir das oberste Einheits- oder Ordnungszentrum ,Natur 1
oder jGott 1 betiteln: es ist imd bleibt doch nur eine hinausprojizierte Ver¬
doppelung unserer eigenen Ich-Einheit. Wird der Leib verdoppelnd hinaus¬
projiziert, so entsteht der Materialismus; wird die Seele in das Weltbild
introjiziert, so entsteht Idealismus; werden einzelne Empfindungen oder Er¬
lebnisse ,eingelegt 1 , so bildet sich der Phänomenalismus heraus; wird endlich
die Muskeltätigkeit, die Kraft oder der Wille in das Weltganze ,eingeführt 1 ,
so entsteht das Weltbild, das Wundt mit Schopenhauer Voluntarismus, Ostwald
mit Robert Mayer und Leibniz Energetik nennen.“
Immerhin ist dieser Standpunkt nicht mit dem schrankenlosen Psycho-
monismus identisch, für den überhaupt ein „Ding an sich“ nicht vorhanden
ist. Planck (8) gibt auf die Frage, ob der rein kausalen Denkweise an irgend¬
einem Punkte eine feste Grenze gesetzt sein könnte, die sie nicht über¬
schreiten kann, eine sehr interessante Antwort; „In der Tat: es gibt einen
Punkt, einen einzigen Punkt in der weiten, unermeßlichen Natur- und
Geisteswelt, welcher jeder Wissenschaft und daher auch jeder kausalen Be¬
trachtung nicht nur praktisch, sondern auch logisch genommen unzugänglich
ist und für immer unzugänglich bleiben wird: dieser Punkt ist das eigene
Ich. — Ein winziger Punkt, wie ich sagte, im Weltenbereich, und doch
wiederum eine ganze Welt, die Welt, die unser gesamtes Fühlen, Wollen
und Denken umfaßt, die Welt, die neben dem tiefsten Leid die höchste
Glückseligkeit in sich birgt, das einzige Besitztum, das uns keine Schicksals¬
macht entreißen kann, und das wir nur mit unserem Leben selber dereinst
preisgeben. Nicht als ob die eigene Innenwelt der kausalen Betrachtung
überhaupt entzogen wäre. Grundsätzlich steht durchaus nichts im Wege,
daß wir auch jedwedes eigene Erlebnis restlos in seiner streng kausalen
Notwendigkeit begreifen. Aber dazu ist eine schwerwiegende Bedingung un¬
erläßlich: wir müssen seit jenem Erlebnis ungeheuer viel klüger geworden
sein; so klug, daß wir gegenüber unserem damaligen Zustande uns als
mikroskopischer Beobachter, als ein Laplacescher Geist fühlen können. Denn
nur dann ist jener Abstand, jenes Mindestmaß von Distanz zwischen dem
erkennenden Subjekt und dem zu erforschenden Objekt gewahrt, das wir
als unumgängliche Voraussetzung für die Durchführbarkeit der kausalen
Betrachtung oben ausdrücklich festgestellt haben.“ (Nebenbei: eine schöne
i86
Emil Sitnonson
Rechtfertigung der Forderung, daß der Psychoanalytiker selbst analysiert
sein muß.) Was hier vom Einzel Individuum ausgesagt wird, müßte sinn-
gemäß auch auf den menschlichen Verstand im allgemeinen da angewendet
werden können, wo es sich um die großen, uralten, nie gelosten, erkenntnis¬
kritischen Fragen des Kausalitätsbedürfnisses der Menschheit handelt. Auch
die Menschheit steht ja diesen Fragen gegenüber wie ein Münchhausen,
der sich an seinem eigenen Schopf aus dem Sumpf ziehen soll. — Ostwald (9)
hat schon vor längerer Zeit die Vermutung ausgesprochen, die Materie sei
nichts als verdichtete Energie. Dieser intuitive Gedanke hat durch Einsteins
Entdeckung, daß jeder Körper, der Energie aussendet, gleichzeitig an Masse
verliert, eine exakte Fundierung erhallen, denn dadurch lag es nahe, das
Wesen der Materie überhaupt in Energieanhäufung zu sehen. — Nernst (10)
hat die Hypothese aufgestellt und begründet, daß auch beim absoluten Null'
punkt die Bewegung nicht aufhört, daß der Äther vielmehr von ungeheuren
Mengen von „Nullpunktsenergie“ erfüllt ist. Wenn Planck (1 i) im Gegen'
satz hiezu annimmt, daß die Energie des elektromagnetisch-neutralen Feldes
gleich Null ist, so hat er doch auf dem abweichenden Wege dasselbe Ziel
im Auge, die Auffassung der Energie als etwas Absolutes zu begründen.
Ebenso hat die Energie eines ruhenden Körpers, wie sich aus der speziellen
Relativitätstheorie ergibt, einen bestimmten Absolutwert, der gleich ist dem
Produkt seiner Masse und dem Quadrat der Lichtgeschwindigkeit. Planck
bemerkt dazu: „Es muß ein merkwürdiges Zusammentreffen genannt werden,
daß gerade eine Theorie der Relativität zur Bestimmung des Absolutwertes
der Energie eines physikalischen Gebildes geführt hat“, und er führt das
an späterer Stelle weiter aus: „So ist auch in der vielfach mißverstandenen
Relativitätstheorie das Absolute nicht aufgehoben, sondern es ist im Gegen¬
teil durch sic nur noch schärfer zum Ausdruck gekommen, daß und in¬
wiefern sich die Physik allenthalben auf ein m der Außenwelt liegendes
Absolutes gründet. Denn wenn das Absolute, wie manche Erkenntnistheoretiker
annehmen, nur im eigenen Erleben zu finden wäre, so müßte es grundsätzlich
ebenso viele Arten von Physik geben, wie es Physiker gibt, und wir wurden
der Tatsache völlig verständnislos gegen überstehen, daß es wenigstens bis
zum heutigen Tage möglich ist, eine physikalische Wissenschaft aufzubauen
und zu pflegen, deren Inhalt für alle forschenden Intelligenzen, bei aller
Verschiedenheit ihrer Einzelerlebnisse, sich als der nämliche erweist. Daß
nicht wir uns aus Zweck mäßigkeitsgrün den die Außenwelt schaffen, sondern
daß umgekehrt sich uns die Außenwelt mit elementarer Gewalt aufzwingt,
ist ein Punkt, welcher in unserer stark von positivistischen Strömungen
Energielehre in der Psychologie
187
durchsetzten Zeit nicht als selbstverständlich unausgesprochen bleiben darf.“
So wird denn der dem Realen zugewandte Naturwissenschaftler
nicht umhin können, gerade in der Energie das einzig Reale zu
sehen. Wenn somit überall, wo etwas geschieht, Energie im Spiele ist,
dann muß das auch bei allem seelischen Geschehen der Fall sein.
Freud, der schon sehr früh die Notwendigkeit erkannt hat, alle seelischen
und geistigen Vorgänge dynamisch aufzufassen, konnte es natürlich nicht
entgehen, daß man in gerader Folge auf die energetische Auffassung kommen
muß, weil ja die Energetik als Dynamik der Elektronen oder sonstigen kleinsten
Elemente angesehen werden muß. Allerdings hat er die derzeitige Schwierig¬
keit, vielleicht Unmöglichkeit, sehr bald erkannt, heute schon vom dynamischen
zum energetischen Schema überzugehen, ln „Das Ich und das Es” (12) zürn
Beispiel fragt er: „Wie aber ist es mit jenen inneren Vorgängen, die wir
etwa — roh und ungenau — als Denk Vorgänge zusammen fassen können ?
Kommen sie, die sich irgendwo im Innern des Apparates als Verschiebungen
seelischer Energie auf dem Wege zur Handlung vollziehen, an die Ober¬
fläche, die das Bewußtsein entstehen läßt, heran? Oder kommt das Bewußt¬
sein zu ihnen? Wir merken, das ist eine von den Schwierigkeiten, die sich
ergeben, wenn man mit der räumlichen, topischen Vorstellung des seelischen
Geschehens ernst machen will.“ Wir werden im folgenden sehen, wie weit
Heymans mit seinem Versuch einer energetischen Dynamik der psychischen
Lebensvorgänge kommt, können aber schon im voraus die Notwendigkeit
betonen, daß noch jahrzehntelange Vorarbeiten nötig sein werden. Der Physiker
Felix Auerbach (13) sagt am Schlüsse seiner Besprechung meines Buches
„Der Organismus als kalorische Maschine und der zweite Hauptsatz : „Muß
nicht zuerst die Frage der Gültigkeit des Entropiesatzes für den lebenden
Organismus ernsthaft in Angriff genommen, d, h. bis auf die elementaren
Prozesse in der Zelle zurück verfolgt werden, bis auf Prozesse, die sich dem
Grenzfalle umkehrbarer Prozesse, für die allein doch die Entropie eine
quantitativ bestimmte Größe ist, am meisten nähern? Und zugleich auch
Prozesse, die von jener Feinheit der zugrunde liegenden Konfiguration und
ihrer Änderungen sind, daß, wie schon Ilelmholtz vermutete, der Satz
von der Unmöglichkeit, Wärme zu Arbeit zu steigern, ungeordnete Bewegung
in geordnete überzuführen, hinfällig wird?“ — Ostwald nimmt als eine
der Erscheinungsformen der Energie eine besondere psychische Energie an,
Verworn wendet dagegen ein, daß dadurch nichts gewonnen sei; denn sie
bleibe immer eine Energieform sui generis, die mit den anderen Energie¬
formen nichts Wesentliches gemein habe. Alle anderen Energieformen seien
188
Emil Simonson
nur objektiv, d, h. sinnlich wahrnehmbar* Subjektiv, d. h, ohne Vermittlung
unserer Sinnesorgane, waren sie uns völlig unbekannt* Dagegen sei umgekehrt
die psychische Energie Ostwalds objektiv nirgends nachweisbar und uns
nur durch subjektive Erfahrung bekannt* Diese Energieform sei demnach
in ihren Grundeigenschaften gänzlich von der Gesamtheit der uns bekannten
Arbeitsleistungen in der Natur verschieden* Diese Verschiedenheit sei aber
nichts anderes als die alte Kluft, welche die energetische Anschauung gerade
überbrücken wollte, die Kluft, die eben zwischen der Reihe der psychischen
und der Reihe der körperlichen Vorgänge bestehe*
Wir werden vorläufig rnit einem bescheideneren Ziele als dem von
Auerbach gesteckten, zufrieden sein müssen, nämlich zunächst mit dem
Streben nach Feststellung, ob der Ablauf psychischer Vorgänge von Energie*
Umsetzungen entsprechend den beiden Hauptsätzen begleitet sind. Ein Weg,
diesem Ziele näherzukommen, ist die Untersuchung der „finitiven“, d* h.
jeder für sich zu einem Abschluß führenden Vorgänge, wie sie besonders
H- Zwaardemaker (i 4) in Utrecht vielfach durchgeführt hat. Von finitiven
Prozessen darf man selbstverständlich nur in Annäherung sprechen. Stäreke
hat mir in einem Foyer-Gespräch beim Berliner Psychoanalytischen Kongreß
gegen die Anwendbarkeit des Entropiesatzes den Einwand gemacht, das wäre
nur in einem geschlossenen System möglich. Der Entwand ist theoretisch
richtig, aber bei konsequenter Durchführung würde kein Wärmetheoretiker
die Energiewandlungen und Umsetzungen in einer Dampfmaschine berechnen
können. Auch Zwaardemaker hebt gleich im Beginn seiner Darlegungen
hervor, daß die Systeme keinesfalls im strengen Sinne des Wortes als ge-
schlossen gelten könnten. Finitive Vorgänge seien Kreisprozesse, d. h. Vor¬
gänge, bei denen Anfangs- und Endzustand gleich sind. Die finitiven Prozesse
in einzelnen Organen könnten demnach als Kreisprozesse geschildert werden,
obgleich sie sich im offenen System abspieltcn, wenigstens während des
Schlafes und im wachen Zustande, falls ausschließlich ganz kurze Zeiträume
ins Auge gefaßt werden. Er erkennt auch, daß die im Körper vorkommen¬
den Kreisprozesse bei isotherm sich vollziehendem Chemismus einem Carnot-
sehen Kreisprozeß nur entfernt ähnlich sein werden* ln diesem Sinne seien
zwei gleiche, in entgegengesetzter Richtung geführte Reaktionen ein Kreis¬
prozeß. — Diese in der Physiologie oft vorkommende Auffassung ist nur
ziemlich äußerlich richtig. Man könnte eher das isotherme Resultat mit
einem Inter ferenzvorgange vergleichen. Auch sonst isi hier Vorsicht geboten*
Ich habe aus einzelnen Vorgängen die Erfahrung geschöpft, daß in der
Physiologie anscheinend gar nicht sehen eine Verwechslung von Umkehr-
Energielehre in der Psychologie 189
baren und adiabatischen Prozessen stattfindet, die beide nur den isothermen
Ablauf gemeinsam haben. Umkehrbar sind aber adiabatische Prozesse nicht.
Unter diesen Vorbehalten können wir uns jetzt den bisherigen Ergebnissen
zuwenden. Für die Energetik am günstigsten liegen nach Zwaardemaker
die Verhältnisse im peripheren Teile des Nervensystems, weil die „umkehr¬
baren“ Kreisprozesse hier besonders in den Vordergrund treten, ja, in den
peripheren Nerven nahezu alles Bekannte umfassen. „Irreversible Prozesse
sind in den peripheren Nerven, in welchen gar kein Stoffwechsel wahr¬
nehmbar ist, und es überdies nicht zu einer Wärmeproduktion kommt,
kaum angedeutet. Hingegen finden sich die deutlichen Kennzeichen umkehr¬
barer Vorgänge vor.“ Diese reversiblen Vorgänge sollen sich überdies in einem
geschlossenen materiellen System abspielen, da in intaktem Zustande weder
stoffliche Änderungen, noch ein Zu- und Abfluß der Energie wahrnehmbar
seien. Ähnliche Betrachtungen wie für die peripheren Nerven könne man
auch für das Zentralnervensystem anstellen, doch mache sich hiebei ein viel
bedeutenderer nichtkompensierter Anteil geltend.
Als objektiv nachweisbare Kennzeichen der sich abspielenden Erregungs¬
vorgänge hat man die Wärmeproduktion und die elektrische Energieentwick¬
lung als maßgebend benützt. Im Rahmen dieser Arbeit kann nur auf einige *
Ergebnisse hingewiesen werden, zumal es hier nur darauf ankommt, von
den Forschungswegen und -21 eien einen Begriff zu geben. Hans Berger
(zitiert nach Zwaardemaker) hat gezeigt: Eine Temperaturerhöhung der
Rinde um 002 Grad, welche innerhalb einer halben Minute nach der kräf¬
tigen Einwirkung eines Schalls auf das Ohr beobachtet wurde, wird mit
der Intensität des Reizes verglichen, mit dem Ergebnis, daß das Verhältnis
zwischen Sinnesreiz und kalorischem Effekt sich wie 1:700 verhält. Die
Energieproduktion, welche im Exzitationsstadium extra stattfindet, schätzt
er auf drei Kilogrammeter per Minute. — Zwaardemaker hat berechnet,
daß bei drei Millimeter Pupillenweite und einer Lichtstärke von 1000 Meter¬
kerzen die ins Auge ein tretende Lichtmenge 600 Erg. per Sekunde beträgt.
An einem tropischen Tag von zwölf Stunden beziffert sich das alles zu¬
sammen auf o'5 Grammkalorien. Der von uns unter gewöhnlichen Umständen
unbeachtete Teil des Tageslärms beträgt ungefähr 7 X io ”3 Erg. per Sekunde,
in 24 Stunden sind das zirka 400 Erg. — Bei der Stimme eines anderen
kommen 6'6 Erg. per Sekunde auf beide Trommelfelle, bei der eigenen
Stimme o'oooi4 Erg. per Sekunde. Die in den genannten Beispielen berück¬
sichtigten Energiemengen beziehen sich auf die den Sinnesflächen mitge¬
teilten Quantitäten. Was hiervon den sich anschließenden Teilen des Nerven-
Emil Simünson
19°
Systems übertragen wird, ist noch sehr unsicher. Am leichtesten lassen sich
die Verhältnisse beim Lichtsinn übersehen, ungefähr zwei Prozent des auf-
genommenen Lichtes wird von den spezifischen Sinneselementen absorbiert.
Zwaardemaker bemerkt ?,u diesen Ergebnissen, ungeachtet der Kleinheit
der in Form von Sinnesreizen auf unseren Körper übergehenden Energie
bekomme sie doch eine außerordentlich wichtige Bedeutung im Haushalt
des Organismus, weil sie fast im ganzen Nervensystem und infolgedessen
sekundär in damit zusammenhängenden Systemen eine ziemlich lebhafte
und nahezu kontinuierliche Erregung unterhält.
Diese Beispiele mögen für die Kennzeichnung der noch in den Anfängen
befindlichen Forschungen genügen. — Aber das kausale Bedürfnis läßt sich
nicht hindern, durch logische Überlegungen dem Schneckentempo der ex¬
perimentellen Forschung vorauszueilen und versuchsweise die Energiesätze
im allgemeinen Sinne auf allerlei Probleme anzuwenden. Es folgt damit
den Wegen der modernen Physik. So drängt sich z, B. die Anwendung des
zweiten Hauptsatzes auf die Probleme der Zeugung, der Entwicklungs¬
mechanik, des Sterbens auf und kann zu fördernden Arbeitshypothesen führen.
Franz Alexander (15) hat den Entropiesatz mit dem von Freud erkannten
lodestrieb in Beziehung gesetzt und der Beziehung folgende Formulierung
gegeben: ^Der von Freud erkannte Todestrieb ist also der sich in der Psyche
widerspiegelnde Ausdruck dieses allgemeinsten Naturgesetzes, des Entropie-
gesetzes, indem er von dem labileren Zustand zu dein stabileren des Todes
drängt. Diese Anwendung ist logisch und wird nicht nur für das Sterben,
sondern auch für das Leben Bedeutung behalten, worauf hier nicht ein-
gegangen werden kann. Aber bisher mußte nach der Schlußfolgerung Lord
Kelvins aus dem Entropiesatz auch für den Gesamt kos mos gewissermaßen
ein Todestrieb angenommen werden. Seit Helmholtz haben viele Physiker
diesen ^Wärmetod^ als unvermeidbar angesehen. Andere haben sich ver¬
gebens bemüht, einen Ausweg zu finden. Erst durch Einsteins Berechnung,
daß der Kosmos unbegrenzt, aber nicht unendlich ist, und infolge der An¬
nahme von Nernst, daß der Äther von „Nullpunktsenergie 4 * erfüllt ist,
konnte dieser Forscher uns wirksam die Schlußfolgerung Lord Kelvins als
intermediäre Erkenntnis zeigen. Der Todestrieb hat also nicht unbe¬
dingt die Alleinherrschaft, sondern der Kosmos als Ganzes ist
ein idealer Kreisprozeß, ein Mobile perpetuum zweiter Art und
ein in aller Vergangen heit und Zukunft stationäres Gebil de, Welt-
korper gehen, neue kommen, hier überwindet der Todestrieb nicht
den Zeugungstrieb, Das hat scheinbar mit unserem Thema nichts zu tun.
Energielehre in der Psychologie
191
aber die uns durch Nernsts Versuch übermittelte Einsicht muß
auf das Seelenleben des Einzelnen und der Gesamtheit einen nach¬
haltigen und gestaltenden Einfluß üben. Kein drohender Wärme-
tod läßt die Welt zwecklos erscheinen, die Aussicht unabsehbarer
Entwicklung überwindet den Pessimismus der Weltanschauungen.
Auch im Organischen und Psychischen ist der Tod nicht end¬
gültig der „wahrscheinlichere“, oder, wie es Alexander ausdrückt,
der „stabilere“ Zustand, der Zeugungstrieb behält in dem ant¬
agonistischen Spiel zwischen ihm und dem Todestrieb in alle
Ewigkeit seinen Platz.
Ein systematisches und umfassendes energetisches Schema des psychischen
Geschehens einschließlich des Unbewußten versucht auf demselben Wege
Heymans in seiner bereits genannten Schrift. Die Arbeit umfaßt mehr
als das Thema aussagt, nämlich nicht nur die Anwendbarkeit des Energie¬
begriffes, sondern auch der beiden energetischen Hauptsätze, soweit man
sehen kann, in enger Anlehnung an die Auffassung Ostwalds. Sie bedeutet
jedenfalls einen zu begrüßenden und berechtigten Versuch auch dann, wenn
■wir ihn, sei es in einzelnen Teilen oder im ganzen, nicht als geglückt
sollten ansehen müssen. — Heymans beginnt mit einer Grenzziehung
zwischen seinem Unternehmen und den bisherigen Arbeiten über psychische
Energie, psychische Arbeit usw. Ein Teil dieser Untersuchungen fasse nur
die physische Gehirnenergie ins Auge und frage nicht, welche psychischen
Energieverhältnisse, sondern nnr, welche psychischen Erscheinungen den
Energieverhältnissen im Gehirn entsprechen, und also als Zeichen für die¬
selben aufgefaßt werden können. Ein anderer Teil richte die Untersuchungen
zwar auf die Frage, wo und ob innerhalb des Psychischen etwas vorkommt,
was wir als Energie, Arbeit usw. bezeichnen können; es werde aber statt
der Wirkungsfähigkeit und Wirksamkeit der einzelnen Bewußtseinsinhalte
nur oder vorwiegend die der gesamten Psyche ins Auge gefaßt, was
die Parallelsetzung mit den physikalischen Begriffen von vornherein aus¬
schließe. — Eine dritte Gruppe endlich wende die Aufmerksamkeit zwar den
einzelnen Inhalten zu, suche aber für die Beantwortung der Frage, ob diese
Energie besitzen oder nicht, das Kriterium mehr oder weniger klar bewußt
in den Gefühlen der Anstrengung oder der Ermüdung, welche sich
bei, beziehungsweise nach gewissen psychischen Vorgängen im Bewußtsein
bemerklich machen. Im Gegensatz zu allen diesen Fragestellungen richtet sich
Heymans’ Untersuchung ausschließlich auf die psychische Kausalität,
sie faßt die einzelnen Bewußtseinsinhalte ins Auge und fragt nach der
192
Emil Simonson
Wirkungsfahigkeit, welche denselben anderen Bewußtseinsinhalten gegenüber
zukommt, also nach ihrer Fähigkeit, diese anderen Inhalte hervorzurufen
oder zurückzudrängen, zu verstärken oder abzuschwachen, kurz, irgend¬
welche Veränderungen im Bewußtsein zustande zu bringen. Und
in bezug auf diese Wirkungsfahigkeit fragt sie weiter, ob Gründe vorliegen
zur Annahme, daß sie sich erhält, sich überträgt und sich zerstreut, nach
gleichen Gesetzen wie die, welche für die physische Energie festgesetzt
worden sind.
In der Tat, ein treffliches und umfassendes Programm, in seiner Formu¬
lierung selbst schon ein Verdienst, auch wenn das Ziel noch nicht erreicht
wird. Sein Gelingen würde, wie schon oben gesagt, nichts weniger bedeuten,
als die Ersetzung des F reudschen dynamischen Schemas durch ein Schema
der konsequenten energetischen Dynamik der psychischen Vorgänge, zumal
er annimmt, daß auch die unterhalb der Bewußtseinsschwelle gelegenen
Bewußtseinsinhalte nach den Gesetzen des bewußten Seelenlebens entstehen
und vergehen, sich verstärken und abschwächen, wirken und Wirkungen
erleiden, mit einem Worte, daß die psychische Kausalität sich auch
auf die Gebiete unterhalb der Schwelle des Bewußtseins erstreckt.
Daher müßten bei Untersuchungen über psychische Energie die psychischen
Inhalte von allen möglichen Bewußtseinsgraden, von der klar bewußten
Wahrnehmung oder dem intensiven Gefühl an bis zur völlig unbewußten,
vielleicht überhaupt nicht mehr reproduzierbaren Erinnerungsvorstellung
sämtlich in Betracht gezogen werden. — im Rahmen des zur Verfügung
stehenden Raumes kann hier nur die von Hey man® selbst formulierte
Zusammenfassung seiner Ergebnisse wiedergegeben werden:
1) Jedem psychischen Inhalt kommt eine größere oder geringere Kraft
zu, welche denselben befähigt, sich auf das Zentrum der Aufmerksamkeit
hin zu bewegen (seinen Bewußtseinsgrad zu erhöhen), Das Produkt aus dieser
Kraft und dem noch zu durchlaufenden Weg bildet seine Distanzenergie.
2 ) Wenn ein Inhalt sich dem Zentrum annähert und also seine Distanz¬
energie ganz oder zum Teil verliert, werden andere Inhalte vom Zentrum
zurückgedrängt, und wird also die Distanzenergie derselben erhöht. Zugleich
gewinnt der sich dem Zentrum annähernde Inhalt mehr oder weniger
Niveauenergie, welche die in ihm bereit liegenden potentiellen Assozi-
ations-, Denk-, Gefühls- und Willensenergien zur Auslösung zu
bringen vermag.
}) Die ausgelösten Assoziations- f Denk-, Gefühls- und Willensenergien
veranlassen zum Teil körperliche Erscheinungen, rufen zu einem anderen
Energielehre in der Psychologie
l 95
Teil sonstige psychische Inhalte hervor, und fließen zum dritten Teil auf
gleichartige oder gleichzeitige Inhalte ab.
4) Vielleicht tritt beim Übergang der Distanzenergie in Niveauenergie
noch eine weitere, als psychische Bewegungsenergie zu bezeichnende
Energieform auf.
j) Die Sätze i'—4 berechtigen uns, unter dem Vorbehalte quantitativer
Prüfung, die Hypothese von der Erhaltung der psychischen Energie
uufzustellen.
6) Alle psychische Energie zeigt die Tendenz, sich in psychische Distanz¬
energie umzusetzen; während diese Distanzenergie in größeren und kleineren,
mehr oder weniger abgeschlossenen psychischen Systemen die Tendenz be¬
kundet sich auszugleichen.
y) Bei Veränderungen in psychischen Komplexen, welche dieser Aus¬
gleichstendenz zuwiderlaufen, läßt sich stets eine von außen geleistete Arbeit
feststellen, welche entweder von der als körperlich erscheinenden Außenwelt,
oder von anderen Bewußtseinskomplexen, oder von latenten Energien inner¬
halb des betreffenden Bewußtseinskomplexes selbst herrühren kann.
8J Nach den Sätzen 6 und 7 haben wir Grund, auch dein Entropie¬
gesetz Gültigkeit für die psychische Welt zuzuschreiben,
Hey maus schränkt die Aufgabe seiner Schrift selbst dahin ein, daß sie
nur eine erste Anleitung für kommende empirische Untersuchungen sein
wolle» „Wir dürfen nicht fragen, ob in der Welt, sondern nur, ob in den
individuellen Bewußtseinen, nicht in abgeschlossenen psychischen Systemen,
sondern nur, ob in solchen, wo sich Aufnahme und Abgabe von Energie
ungefähr die Wage halten, nicht endlich, ob nach genauen Messungen,
sondern nur, ob nach gewissenhaften, aber rohen Schätzungen im Bewußt-
seinsleben Verhältnisse vorliegen, welche sich als die psychische Kehrseite
(oder sogar als den eigentlichen Gegenstand) der einschlägigen physikalischen
Bestimmungen betrachten lassen. — Wenn wir aber diese bescheideneren
Fragen beantworten können, dürfen wir hoffen, damit späteren exakten Unter¬
suchungen den Weg zu zeigen, und somit besser fundierte Antworten wenig¬
stens vorzubereiten.“
Die Terminologie schließt sich, wie schon aus der oben wieder gegebenen
Zusammenfassung ersichtlich, eng an Ostwalds Auffassung und Termino¬
logie an. Eine solche Übertragung schließt immer die Gefahr eines allzu
summarischen Schematismus ein. So wird man noch zweifeln dürfen, ob
die „psychische Distanzenergie“ geeignet ist, nach allen Richtungen die
Rolle der Wärme unter den Verhältnissen des Entropiesatzes zu übernehmen.
Imago XXL
*5
* 9 *
Emil Smionson
Die hier durchgeführte Analogie hat doch etwas stark Äußerliches. Vollends
wird man nicht gezwungen sein, dem Autor darin zu folgen, wie er als ein
Ergebnis seiner Betrachtungen das Problem des Warmetodes der Welt mit
einer wahren Eisenbartkur im Sinne seines Paychomonismus Ibsen will.
Wenn die stoffliche Welt keine selbständige Wirklichkeit besitzt, dann kann
sie natürlich auch nicht zum Stillstand kommen. Unzulänglich ist auch sein
Beweisgrund, daß, weil der Gesamtbetrag der Wellenergie ein endlicher ist,
die von ihm zu leistende Arbeit in endlicher Zeit er sc hopf bar sein müsse.
Nicht nur die Weltenergie ist endlich groß, sondern auch die Welt selbst,
wie Einstein rechnerisch unausweichbar bewiesen hat. In einem endlichen
Kosmos kann aber keine Energie unendlicher Dissipation unterliegen. Wie
oben bei der kurzen Erwähnung der Nernstschen Lehre von der Möglich¬
keit einer kosmischen Umkehrung der Entropie schon gesagt ist, kann der
Kosmos als ein idealer Kreisprozeß und ein stationäres Gebilde angesehen
werden. Wie bereits gesagt, ist der Versuch Hey man s’ ein verdienst¬
liches Unternehmen, schon allein als eine programmatische Zusammenfassung
für künftige Einzel forsch ungen. Aber den Sperling in der Hand, den Freuds
dynamisches Schema für uns bedeutet, werden wir in den nächsten Gene¬
rationen vorsichtigerweise noch nicht fliegen Lassen.
Ungeachtet der bisherigen spärlichen Ergebnisse können wir schon heute
behaupten; Auch alles psychische Geschehen wird vom EnergiebegrifT und
den Energiesätzen beherrscht, und dazu mag es mir gestattet sein, mit einer
rein deduktiven Überlegung zu schließen; die Geltung der energetischen
Hauptsätze bei irgendwelchen Vorgängen oder Erscheinungen
leugnen, heißt die Notwendigkeit des wissenschaftlichen Deter¬
minismus in Abrede stellen. Vielleicht gibt es in irgendeiner
Wissenschaft noch Vertreter, die den Determinismus verwerfen,
aber daß ein Freud-Schüler derartig den Ast absägen könnte,
auf dern er sitzt, läßt sich schwer varstellen.
LITERATUR
1) Fritz Mauthner: Wörterbuch der Philosophie* Leipzig 1910*
2) (X IX Chwolson: Kegel, Haeckel, Koiaulh und das zwölfte Gebot. Braun*
schweig 190h, *
5) Spengler: Der Untergang des Abendlandes. Bd. 1.
4) Max Verworn: Naturwissenschaft und Weltanschauung. Neue Rundschau, 1904,
Heft VI.
5) G, Heym ans: Ober die Anwendbarkeit des Energie begriffen in der Psycho*
logie. Leipzig 1921.
Energielehre in der Psychologie
^95
6) E. v. Hart mann: Die Weltanschauung der modernen Physik. Bad Sachsa 1909.
7) Ludwig Stein: Die Weltanschauung der Energetiker, Die Zukunft 1908, Heft 48.
8) Max Planck: Kausalgesetz, und Willensfreiheit, Berlin 1925*
9) W. Ostwald: Die Energie. Leipzig 1908.
10) W. Nernst: Das Weltgebände im Lichte der neueren Forschung. Berlin 1921.
11) M. Planck: Vom Relativen zum Absoluten. Leipzig 1925»
12) Sigmund Freud: Das Ich und das Es. Wien 1925.
15) Felix Auerbach: Die Naturwissenschaften. Berlin 1913, Heft IX.
14) H. Z waar dem aker: Die Energetik der finitiven Prozesse. Wiesbaden 1912, als
Sonderabdruck aus „Ergebnisse der Physiologie", Jahrgang 12.
15) Franz Alexander: Metapsychologische Betrachtungen. Internationale Zeitschrift
für Psychoanalyse, 1922, Bd. VII, Heft 5.
*S
Die Psychogenese organischer Krankheiten
und das Weltbild
Von
Margarete Stegmann
Dresden
Die Möglichkeit, seelische Vorgänge, seelische Energie Verschiebungen in
körperliche S3 f mptome zu konvertieren und zu verschieben, ist durch Freud
grundsätzlich und durch ihn und seine Schule in zahlreichen Einzel (allen
auch praktisch dargetan* BHir funktionelle Körpersymptome zunächst. Wie
verschiedenen Weltanschauungen auch die Psychoanalytiker angehören mögen,
diese Auswirkung des geistigen Prinzips im Gebiete des Körperlichen ist für
sie alle Axiom.
Groddeck unternahm den Vorstoß, die organischen Krankheiten ihrer
Sonderstellung zu entreißen, und auch für sie eine psychische Beeinflu߬
barkeit, wo nicht eine gänzlich seelische Genese zu postulieren. Sämtliche
Psychoanalytiker werden damals den Groddecksehen Vorstoß als sehr kühn
empfunden haben; die Nichtanalytiker hielten Ilm zweifellos für verrückt*
Heute sind wir so weit, daß viele Chirurgen und Kliniker zugeben, daß
die organischen Krankheiten und ihr Verlauf in einer großen Anzahl von
Fallen vom Seelischen abhängen* Der Chefarzt einer großen Volksheilstätte
sprach von fünfzig Prozent Anteil der Psyche in den meisten seiner Fälle.
Aber es ist ein Entweder-Oder* Entweder ist der Geilt das Primäre und
baut den Körper; dann muß man in allen körperlichen Erscheinungen ihn
als das Agens suchen und anerkennen, Oder der Stoff ist das Seiende und
Geist nur seine Funktion; dann handelt es sich hei Krankheiten nur darum,
die Gesetze des Körpers zu kennen* Oder es gibt die dritte Möglichkeit,
daß von vornherein der Dualismus: Geist und Materie (Körper) existiert,
auch wenn das Rätsel, wie sie aufeinander wirken können, ungelöst bleibt*
Die Psychogenese organischer Krankheiten und das Weltbild
*97
Die Psychoanalyse hat die Determiniertheit aller Erscheinungen des
Geisteslebens durch das Unbewußte dargetan. Philosophische Systeme,
die „Evidenz wissenschaftlicher Thesen 4 *, religiöse Dogmen, Kunstwerke,
politische Ereignisse, viele Erscheinungen also, die das Öffentliche Leben
nicht nur der Einzelnen, sondern der Völker, der Menschheit durchaus be¬
stimmten, manche, die den letzten Grad von materieller Wirklichkeit und Tat¬
sächlichkeit erreichten, waren erwiesen als sozusagen „Kategorien" des Unbe¬
wußten ihrer Urheber, Notwendigkeiten, entspringend aus einer seelischen Ver¬
anlagung, aus Komplexen.
Die Frage, ob die metaphysische Realität Kants und die unbewußte
Realität Freuds identisch seien, steht hier nicht zur Diskussion, doch bekenne
ich mich durchaus zu der Auffassung, dieFenichel in seiner sehr schönen
Untersuchung über „Psychoanalyse und Metaphysik' 4 (Imago IX, 5) aus¬
gesprochen hat. Auch für mich steht es außer Zweifel, daß das Unbewußte
der Empirie angehört. Auch das mag hier ununtersucht bleiben, ob in diesem
empirischen Unbewußten sich, wie Freud einmal bemerkte, eine Stelle
befindet, von der aus jedes Individuum mit einer Nabelschnur dem Reich
des Wesenhaften, des An-sich-Seienden, verbunden ist*
Es sei nur festgestellt, daß die Psychoanalyse das Unbewußte als die
alles beherrschende Instanz ansieht* Wenigstens in dem, was als Handlung
irgendwelcher Art, geistige Tat oder andere, nach außen tritt als normale
oder neurotische Funktion* Und dann sei die Frage erhoben, ob hier die
letzte Konsequenz gezogen ist? Ist anzunehmen, daß die Realisierbarkeit
in der Materie außer uns etwas grundsätzlich anderes und leichter ist, als
die Realisierbarkeit hinein in die Materie in uns, in unseren Körper? Ist
der Weltkrieg, rein materiell gesehen, von allen geistigen Komplexen, die
dazu gehören, abstrahiert, weniger ein materielles Phänomen am Weitmassen-
korper, als etwa eine Körpergeschwulst, eine Eiterbeule am Einzelkörper?
Verlangt eine hysterische Brandblase, oder eine hysterische Gravidität
weniger körperliche Reaktion als ein Carcinom?
Mit anderen Worten? es liegt in der Konsequenz der Psychoanalyse, Seele
(Geist) als primär anzusehen 5 das ist ein Weltbild* Und in der Konsequenz
dieses Weltbildes liegt es, mit Klages Zusagen: die Seele ist der Sinn des
Körpers; der Körper ist der Ausdruck der Seele*
Das bedeutet auch die seelische Bestimmtheit der organischen Krank¬
heiten* Sie gehören zum „Ausdruck der Seele“, sie spiegeln die kranke
Seele. Wir haben nicht nötig, manifesten und latenten Sinn, Unbewußtes
und Bewußtes ausein an derzu halten bei dieser grundsätzlichen Feststellung;
Margarete Stegmann
igS
Seele im Sinne von Klages ist die Zusammenfassung von Ubw und Bw>
Aber der Unterschied zwischen funktionellem und organischem Symptom ist
sehr groß, wenn auch nur graduell. Vermag die Hysterie keine organischen
Krankheilen zu machen, so schafft sie vielleicht Anfänge, Vorbedingungen
dafür. Vermag jemand mit absoluter Sicherheit zai behaupten, daß eine Herz¬
neurose bei Fortwirken der Ursachen nicht zu einer I ienunuskelschwaehe,
oder zu einer organischen Störung im Überleitungsbündel führen kann?
Wenn jemand in einer unleidlichen Situation daran denkt, daß er sicher
eine Ohnmacht bekommen werde, so spürt er zunächst mir ein körper¬
liches Unbehagen und von da an durchläuft er alle Stadien des Übelseins
bis zu einer wirklichen Ohnmacht.
In einer Traumanalyse „Darstellung epileptischer Anfälle im Traum“
habe ich vor Jahren die Vermutung ausgesprochen, daß die Epilepsie sich
aus ursprünglich nur hysterischen Anfällen entwickeln könne; an einer
Stelle entgleitet dem Ubw der Zügel des Geschehens; der Körper folgt von
da an der eigenen Sachlogik; er hält die vom Ubw geschaffene funktionelle
Änderung fest und übersetzt sie ins Organische, Ob der Einfluß des ubw
Willens dann ganz verloren geht, oder ob er nur von einer tieferen, schwerer
erreichbaren Schicht des Uhw weiter zu wirken vermag, wäre zu untersuchen.
Die klinische Erfahrung spricht für die letztere Annahme.
Die Hysterie ist aber bekannt dafür, daß sie ihre Symptome so zu wählen
versteht, daß ihr etwas ganz Ernsthaftes, ganz Gefährliches nicht wohl ge¬
schehen kann. Es wäre demnach ein Ernsternehmen der Vernichtung«" oder
Bestrafungstendenz, die den aus seelischen Ursachen organisch Erkrankten
vom Übertragungs- und vom narzißtischen Neurotiker unterscheidet, Er muß
ein Mensch sein, bei dem das Realitätsprinzip das Lustprinzip schon über¬
wiegt. Doch unterscheiden wir vom Neurotiker, der durch seine Symptome
in irgendeinem Ausmaß seine Lebenstüchtigkeit, seine Kealisierungifahigkeit
beschränkt, den neurotischen Charakter, Bei ihm ist das Umgekehrte der
Fall; indem er versucht, seine psychische Realität als objektive Realität
zur Geltung zu bringen, wird er durch seine Komplexwünsche häufig zu
erhöhter Wirksamkeit gesteigert, (Verbrecher, Abenteurer, Hochstapler, auf¬
regende Menschen.) Solche Typen können die Gesellschaft verblüffen und
zeitweise große Erfolge haben, weil die nach Heroen begierige Menschheit
sie für Heroen nimmt. In der Tat haben sie einige Verwandtschaft mit
ihnen; die, daß sie mit oft unerhörtem Willen eine Gedankenreelität,
um nicht den Ausdruck „eine Idee“ zu mißbrauchen, verwirklichen wollen.
Von einem wirklich Großen, einem wahren Heros sind sie in dem Maße
Die Psychogenese, organischer Krankheiten und das Weltbild igg
unterschieden, wie das von ihnen Erstrebte weniger wesenhaft ist, weniger
überzeitliche und überpersönliche Allgemeingültigkeit hat. Diese Typen
gehören zu den extravertierten; der Stoff, in den sie realisieren wollen,
liegt außerhalb von ihnen. Von den „Normalen" und ihrem Realisieren
sind sie unterschieden durch eine Maßlosigkeit, eine Irrationalität, die ihre
Ursache in der Komplexhaftigkeit ihrer Motive hat.
Die psychogenetisch organisch Kranken nun wären im Gegensatz zu
diesen introvertiert; der Stoff ihrer Realisierung liegt in ihnen, ist ihr
eigener Körper, Daß so viele „normale^ Menschen, die Übertragungs- und
Realisierungsfähigkeil bewiesen haben, aus seelischen Ursachen organisch
erkranken, ist kein Widerspruch. Außere und innere Ursachen können
Übertragungs- und Realisierungsfähigkeit gebrochen haben. Die von den
äußeren Objekten, der Arbeit, dem Ziel zurückgezogene Libido schlägt nun
nach innen und wirkt, unter Führung einer Organminderwertigkeits-
bereitschaft, zerstörend. Ja, es kann selbstverständlich neben jedem Maß von
Wirksamkeit eines Individuums nach außen, ein Libidobetrag stets introvertiert
sein und etwa ein anderer im labilen Gleichgewicht existieren, also stets
bereit, nach innen zu schlagen. Sicher eignet auch jedem Menschen ein indivi¬
duelles Maß an Möglichkeit, mit introvertierter Libido „fertig 4 ' zu werden ;
solange dies Maß nicht überschritten wird, bleibt er gesund oder, genauer
gesagt, was man so nennt» Ganz gesund kann eigentlich nur der öku¬
menische, der vollkommene Mensch sein, bei dem Außen und Innen
eine Harmonie bilden.
Nach dem Kl agesschen Satz: „Der Körper Ausdruck der Seele“ müßte man
also in einem Krankheitsbild des Körpers wie in einem Spiegel den Krank¬
heitszustand der Seele erkennen, ganz im allgemeinen, ohne Auflösung in
Komplexe, die der Spezialbehandlung angehört. Nehmen wir die Erscheinung
des Carcinoms. Körperlich ist es eine Lebensäußerung, mit dem Ziel, das
Leben zu vernichten. Es ist eine Wucherung, die von einem Organ ausgeht,
organische Bildung wiederholt, aber atypisch, durchsetzt und vermischt mit
allen möglichen Elementen aus anderen Organbestandteilen, wahllos, chaotisch,
vom Organ aus gesehen zwecklos. Eine Verdrehung des Gesunden ins Kranke,
Giftige. Seelisch dürfen wir bei einem Krebskranken einen Todeswunsch
voraus setzen, dem der Lebenswille wirkungs- und wahllos alles entgegen¬
wirft, was er erraffen kann. Wahrscheinlich ist nicht die Lebensenergie ver¬
braucht, dem widerspricht die Wucherung; aber der Sinn des Lebens ist
verloren gegangen. Tätigkeit ohne Sinn muß sich selbst zerstören. Der Sinn
steckt in der zurückgeschlagenen Libido. Konnte diese entfaltet werden, so
2 00
Margarete Stegmann
blieb gesund, was jetzt in sinnloser Nachahmung des Gesunden giftig wird*
Die Mischung der Wucherung aus vielen Zellarten kann zwanglos als Dar¬
stellung dafür angesehen werden, daß der Kranke nicht mehr gradlinig von
sich aus nur die eigenen Gedanken denkt, sondern auch die anderer; daß
er in einem Netz von Identifizierungen gefangen ist.
Gewiß ist es kein Zufall, daß Carcinom eine Krankheit des Alters ist, in
dem die hoffnungsvollen Phasen der vielen Möglichkeiten abgeschlossen sind,
wo entweder wirkliches Altem eintritt oder ein kindlich neuer Mensch
aus dem alten geboren werden muß, wie der Schmetterling aus der Puppe.
Es liegt nahe, anzunehmen, daß Carcinom kranke besonders große Anforde¬
rungen an sich und an das Leben stellten, und daß bei ihnen ein starkes
Streben nach Realisierung der seelischen Realitäten mit einem ebenso
starken Wirklichkeitssinn im Kampfe lag. Je edler der Realisierimgswille,
um so größer und unvermeidlicher die Enttäuschungen, die fortlaufend zu
verarbeiten sind, bis zu der einen, die das Maß voll macht,
Napoleon, gewiß einer der gewaltigsten Tatmenscheil, bekam Krebs,
als er auf seinem einsamen Eiland jeder Möglichkeit, dem Maße seiner
Libido entsprechende Auswirkung wiederzufinden, verlustig ging*
Wir vergessen nicht die Rolle der ererbten Disposition bei den
organischen Krankheiten; wir haben sie ja bei den Neurosen ebenfalls in
Rechnung zu stellen. Sie spricht nicht gegen eine Psychogenese; umgekehrt
werden wir auch für sie eine Psychogenese annehmen, aber eine, die vor
dem individuellen Leben, irgendwo in der Aszendenz wirksam war*
Die Organwahl wird von bestimmten Komplexen abhüngen; bekommt
eine kinderlose, sehr mütterlich veranlagte Krau Mammacarcinom, so darf
man es ansprechen als eine anschauliche Darstellung ihres Vorwurfes au
die „Welt“, daß sie ihr „die Milch der frommen Denkungsart in gärend
Drachengift verwandelt“. Das auslösende seelische Trauma wird in vielen
Fällen ein Erlebnis sein, das sie an der Sublimierung ihrer natürlichen
Mütterlichkeit in geistige Mutterschaft hindert, oder diese besonders bitter
macht. Es ist eine Entscheidung im Kampf zwischen „Weiblichkeit'" (Natur)
und „Männlichkeit“ (Geist), die sich in der Organwahl ausspricht. Zur Rettung
des Lebens wird die Mamma, das Attribut der Weiblichkeit, geopfert.
Erkrankt ein junger Mann an Spondylitis, so dürfen wir im seelischen
Spiegelbild einen Zweifel in die Grundlage aller Dinge vermuten, eine
Skepsis, deren philosophischer Ausdruck eine weltanschauliche Haltlosigkeit
ist. Was fest sein sollte, ist unzuverlässig; er kann nicht stehen, muß wie
ein hilfloses Kind im Bett liegen bleiben. (Man denkt an Sibel in Gounods
Die Psychogenese organischer Krankheiten und das Weltbild
2 01
Faust, dem jede Blume, die er zum Strauße pflücken will, welk in die
Hand fällt. Grundlage aller Dinge im Leben des Individuums sind in einem
Sinn die Eltern; wir dürfen als Ursprung der Krankheitsexscheinungen daher
einen schwer löslichen Elternkomplex vermuten. Der Zusammenhang mit
einem Kastrationswunsch ist augenscheinlich.)
Die Psychogenese organischer Krankheiten zugegeben, erhebt sich die
wichtige Frage, was die Psychotherapie, vor allem die Psychoanalyse gegen
diese Krankheiten vermag. Hier wird die Erfahrung zu Worte kommen müssen;
aber es ist selbstverständlich, daß kein Arzt versäumen wird, das zu tun,
was nach der eigenen Sachlogik des kranken Organs geschehen muß. Bei
Carcinom z. B. wird noch immer der Chirurg an erster Stelle zu stehen haben,
denn für die Reversierbarkeit des seelisch-organischen Prozesses haben wir
einstweilen keine Beweise. Allerdings fehlen psychische Anamnesen und
jede Untersuchung des seelischen Tatbestandes, Hat aber der Chirurg,
beziehungsweise der Organarzt getan, was er konnte, so wird er stets nur
das Symptom beseitigt haben. Zur Heilung der seelischen Krankheits¬
ursachen sind nur seelisch*geistige Mittel fähig.
Die Anhänger der Lehre: Krankheit ist Sünde (Christian Science , Anthro-
posophen und andere Sekten) behaupten immer wieder, organische Krank¬
heiten mit ihren seelischen Mitteln, Gebet usw. geheilt zu haben. Trotz
der Evidenz, daß viele organische Kranke unter ihrer Behandlung zugrunde
gegangen sind, wird man doch die Möglichkeit zugeben müssen, daß solche
Heilungen stattfinden konnten. Erfordernis ist die Extra vertierung der
intravertierten Libido, Wiederherstellung des Sinnes des Lebens. Es ist
ersichtlich, daß Realitäten des Lebens hiezu manchmal besser geeignet sind,
als der Arzt.
Der „Sinn des Lebens“ ist für jedes Individuum ein subjektiver Begriff,
Sein Sinn ist da oder ist verloren. Daß Napoleon auf Sankt Helena sein
Memoirenwerk schrieb, war für die Menschheit genügend sinnvoll, nicht
aber für ihn, für seine Realisierungsnotwendigkeiten,
In allen sehr schwierigen, sehr chaotischen Zeiten der Menschheits¬
geschichte gab es Menschen, die als Heiland aufraten; ihnen allen werden
Krankenheilungen nachgerühmt. Gewiß nicht ohne Grund. Sofern es Menschen
sind, die eine Ganzheit des Daseins lebendig umfassen und geistig durch-
dringen und beherrschen, die einen Sinn des Lebens, wie ihn die meisten
Menschen instinktiv suchen, objektiv dar stellen oder darzustellen scheinen.
Dann fliegt ihnen die Libido zu, die Menschen fühlen sich durch sie „erlöst“.
Sie sind erlöst vom Druck der intravertierten Libido,
202 Stegmann: Die Psychogenes® organischer Krankheiten und das Weltbild
ln Deutschland gibt es, entsprechend den zurückliegenden und noch
herrschenden schweren Zeiten eine Anzahl „Heilande 41 * Ich darf erwähnen,
daß einer von ihnen einen jungen Mann, der von einer Anzahl namhafter
Psychiater als Dementia praecox erklärt worden war, gesund, d. h* iiber-
tragungsfähig gemacht hat. Es mag eine direkte Wirkung seiner eigenen,
gänzlich extravertierten Persönlichkeit sein, die bei dem Jüngling so tief
zu dringen vermochte, daß die unfruchtbaren Libidofixierungen vom Ich
sich lösten und öffneten, und sich nun zunächst auf die für den Kranken
wunderbare Erscheinung des „Heilandes“ übertrugen, der ihm eine glaub¬
hafte Garantie für eine schöne, liebenswerte Wirklichkeit außerhalb der
eigenen wurde. Die Inanspruchnahme der Erklärungen aus dem Vater- und
Mutter-Komplex genügt in diesem Falle nicht, wenn sie natürlich auch
die Voraussetzung einer Erklärung ist. (Selbstverständlich handelt es sich
um einen Fall, wo noch kein tiefgreifender Persönlichkeitszerfall vorhanden
war.)
i-reud spricht an einer Stelle historisch von zur Gesundheit gewordener
Hysterie. Vielleicht gibt es in unserer umgeackerten Zeit solche Typen,
die Hysterie zur Gesundheit machen. Ule Möglichkeit eines solchen Ge¬
schehens muß jedenfalls zugegeben werden; iin Leben entscheidet ja nicht
die ärztliche Diagnose, sondern die Vitalität.
Das System Bw
Von
Imre Hermann
Budapest
Mit der Aufteilung der seelischen Vorgänge auf Systeme, d, h. durch
die Einführung des topischen Gesichtspunktes, war es notwendig ge¬
worden, auch dein Symptom „Bewußt* 4 einen Platz zu sichern. Freud
erkennt diese Aufgabe bereits in der „Traumdeutung“ und umschreibt ein
System Rw, welches „in seinen mechanischen Charakteren ähnlich wie die
Wahrnehmungssysteme also erregbar durch Qualitäten, und unfähig,
die Spur von Änderungen zu bewahren, also ohne Gedächtnis zu denken
sei. Es wird somit eine Analogie zwischen dem Bw - und den ^-Systemen
gedacht; überhaupt soll dem Bw-System die Rolle ehies Sinnesorgans zur
Wahrnehmung psychischer Qualitäten zukommen. Dieser Auffassung nach
wäre das System Bw ein Überbau, den /^F-Systemen überordnet, aber auch
dem Binnenseelischen (System Vbw ), so daß es von zwei Quellen aus Ma¬
terial erhält, von den ^-Systemen, deren „durch Qualitäten bedingte
Erregung wahrscheinlich eine neue Verarbeitung durchmacht, bis sie zur
bewußten Empfindung wird, und aus dem Innern des Apparates selbst,
dessen quantitative Vorgänge als Qualitätenreihe der Lust-Unlust empfunden
werden, wenn sie bei gewissen Veränderungen angelangt sind“. Eine be¬
sondere Rolle käme den Wortresten zu, welche die an sich qualitätslosen
Denkvorgänge außer der begleitenden Lust-Unlust-Reihe mit Bewußtseins¬
qualitäten versehen. 1
In den metapsychologischen Aufsätzen Freuds wird dann diese System -
Zuweisung noch näher umschrieben. Zu allererst wird das strenge Ver¬
hältnis von Symptom „bewußt“ und dem System Bw gelöst. Auch das
ohne besonderen Widerstand Bewußtseinsfähige, das Vorbewußte könne dem
i) Freud: Gesammelte Schriften, Bd. IF (Die Traumdeutung), $. 532 — 554 *
204 Im re Hermann
System Bw zugerechnet werden. „Sollte es sich herausstellen, daß auch das
Bewußtwerden des Vorbewußten durch eine gewisse Zensur mitbestimmt
wird, so werden wir die Systeme Vbw und Btu strenger voneinander son¬
dern. Vorläufig genüge es festzuhalten, daß das System Vbw die Eigen¬
schaften des Systems Bw teilt, und daß die strenge Zensur am Übergang
vom Vbw zum Vbw (oder Bw) ihres Amtes waltet.“ 1 2 Weiter« werden in der¬
selben Studie dann doch Gründe gefunden, um anzunehmen, es herrsche
auch zwischen den Systemen Bw und Vbu< eine Zensur, daß wir also hier
mit zwei gewissermaßen isolierten Systemen rechnen müssen. Das Bewußt¬
sein habe weder zu den Systemen, noch zur Verdrängung ein einfaches
Verhältnis. Die Existenz einer Zensur zwischen Vbw und Bw mahnt uns
auch, „das Bewußtwerden sei kein bloßer Wahrnehmungsakt, sondern
wahrscheinlich auch eine l berbesetzung, ein weiterer Fortschritt der
psychischen Organisation“. 3 Es sei nebenbei auch daran erinnert, daß in
derselben Studie die Arbeitsweise des Systems Vbw darin erblickt wird,
daß die Sachvorstellungen durch die Verknüpfung mit den ihnen ent¬
sprechenden Wortvorstellungen überbesetzt werden. Das Denken gehe
also wahrscheinlich „in Systemen vor sich, die von den ursprünglichen
Wahrnehmungsresten so weit entfernt sind, daß sie von deren Qualität
nichts mehr erhalten haben und zum Bewußtwerden einer Verstärkung
durch neue Qualitäten bedürfen“. 3
Dadurch ist aber wieder die Frage der Wahrnehmungen und ihr Zu¬
sammenhang mit dem System Bw aufgeworfen, ln einer nächsten Studie
wird es dann auch, ausgehend von der Tatsache der halluzinatorischen
Wunschbefriedigung im Traume, in der akuten halluzinatorischen Ver¬
worrenheit (Amentia nach Meynert) und in der halluzinatorischen
Phase der Schizophrenie, erklärt, die Systeme IV und Bw seien nicht ein¬
fach analog, sie decken sich. 4 5 Im Schlafzustande werde das System Bw
und auch die übrigen Systeme gleichmäßig unbesetzt gelassen, bei der
Amentia besonders die Besetzung des Systems Bw zurückgezogen. 3
Dieses Bild der psychischen Systeme IV, Bw, Vbw ist schon dasjenige,
welches im „Jenseits des Lustprinzips“ und im Buche „Das Ich und das
1) Freud: Gesammelte Schriften, Bd. V (Das Unbewußte), S. +88.
2) Daselbst, S. 506—-508,
5) Daselbst, S. 516, 517.
4) Freud; Gesammelte Schriften. Bd, V (1V1 e tu nty cholerische Kriruhruiifi zur
Traumlehre), S. 528-551,
5) Daselbst, S, 554.
Das System Bw
205
Es“ zur Grundlage des weiteren dient, und vielleicht nur durch die starke
Betonung der Ich-Zugebörigkeit ergänzt wird. Die Wahrnehmungen sollen
dabei eine ebensolche Rolle im Ich spielen, wie die Triebe im Es. Als
Kern des Ich soll das System W-Bw anzuerkennen sein, 1
Wirkt diese Platzzuweisung des Systems Bw im seelischen Apparat noch
so aufklärend, eine Schwierigkeit kann nicht übersehen werden* Diese
Schwierigkeit ergibt sich daraus, daß im Topischen Schema nur das
Anschaulich-Bewußte einbezogen wird, das linanschaulich-Bewußte
jedoch unberücksichtigt bleibt. Wenn Freud den Denkvorgängen ihre
Bewußtheits-Qualität durch die Wortreste zukommen läßt, und demzufolge
der Satz: „von vornherein bw sind alle Wahrnehmungen, die von außen
lierankommen (Sinneswahrnehmungen), und von innen her, was wir Emp¬
findung und Gefühle heißen“, 2 * nicht erweitert wird, so sind — wenig¬
stens dem ersten Anscheine nach — die un anschaulichen Denk¬
prozesse zu kurz gekommen.
Es gehört zur Lehre der heutigen Wahrnehmungs- und Denk¬
psychologie, daß in beiden Gebieten auch Unanschaulich-Bewußtes (z. B.
Verhältniswabrnehmung, Bezogensein auf einen Gegenstand, „Intention“)
mitenthalten ist, Gedanken werden also nicht einzig durch das anschau¬
liche Material bewußt, sondern auch durch die gleichzeitig anwesenden
Bewußtseinslagen (z. B. des Zweifelns, des Zögerns, der Sicherheit, der
Zustimmung, der Erwartung — Marbe), durch die Bewußtheiten
(„Gegenwärtigsein eines unanschaulich gegebenen Wissens“ — Ach), durch
Relationsbewußtsein („der Beziehungsgedanke * , , ist ein wahrer Be¬
wußtseinsinhalt“ — Lindworsky), 5 oder wie sonst diese Gruppe seelischer
Erscheinungen heißen soll.
Auch die „Orientierungen“ des Ichs, diese Einsteliungs und Rich-
tun gsfuuktion en 4 gehen sehr oft bewußt vor sich. Jede Orientierung
enthält aber einen wesentlichen Bestandteil, der unanschaulich und doch
1} Freud: Gesammelte Schriften, Bd< VI (Das Ich und das Es), S, 568, 569, 372.
2) Daselbst, S. 56a,
j) Vgl. S. J, Fröbes: Lehrbuch der experimentellen Psychologie, Bd, I (i. Aufl,,
S. 404; J- Lindworsky, Experimentelle Psychologie, Bd. V der Philosophi¬
schen Handbibliothek, 1921, S* 117,
4} Die Orientierungen bildeten den Gegenstand meines Kongreßvortrages Zu
Homburg, 1925. — Die Ursprünglichkeit der Rieh tun gs Orientierung siehe bei Fr, Hart¬
mann: Die Orientierung, 1902. Er meint unter Orientierung im allgemein-biologischen
Sinne die Stellungnahme des Organismus zu den auf denselben einwirk enden Reizen
(S, 16).
206
lmre IIrrmarin
bewußt sein kann, ein Bezogensein, ein Richtuiigtbewußtsein« Gerade im
Anschluß an die Erörterungen über das //ms-S yst cm linden wir darüber
auch bei Freud einige Hinweise, Er meint, „außen“ und „innen“ unter¬
scheidet der noch hilflose Organismus nach der Beziehung zur Muskcl-
aktion mittels seinen Wahrnehmungen. „Diese Leistung der Orientierung
in der Welt durch Unterscheidung von innen und außen müssen wir nun
nach einer eingehenden Zergliederung des seelischen Apparates dem System
Rw (IV) allein zuschreiben.“ 1 2
Es soll bemerkt werden, daß diese relative Vernachlässigung der unan-
schaulich-bewußten Prozesse, welche aber, wie aus dem obigen Beispiel ersicht¬
lich, auch die Aufmerksamkeit Freuds auf sich zogen, die Möglichkeit
ergab, die Annahme unbewußter Prozesse damit abzmcli lagen, daß mit ihnen
eigentlich die bewußt-unanschaulichen gemeint wären (Bumke).* Diese
Kritik berücksichtigt die dynamischen Verhältnisse der Zensur und der
Verdrängung, die topischen Funktionsunterschiede der verschiedenen Systeme
nicht, muß in ihrer Erklärung somit fehlschlagen. Berechtigt ist aber die
Kritik insofern, als in den Systemen RurVhw den unanschaulichen Pro¬
zessen ein breiterer Raum gesichert werden sollte.
Ich schlage nun vor, ein Teilsystem Rw zu statuieren, welches sich —
in der ersten Annäherung —■ mit keinem der IV 'Systeme deckt, ein bw
Bezugs-System. Dieses System soll, der Annahme nach, die zu Orien¬
tierungen, zur Wahrnehmung und zum Denken gehörigen unanschaulich-
bewußten Denkbestandteile enthalten, respektive zu Bewußtsein erheben.
Die Feststellung der „Traumdeutung , dem manifest bewußten Traume
fehle die Urteilsleistung des Denkens und die Denkrclationen wären in
ihm nur anschaulich (durch Darstellung) enthalten, zeigt, daß dieses Bezugs-
System seine Besetzung isoliert entbehren kann und ihm seine Besetzung
noch ermangelt, wenn die //-Systeme von innen gut gangbar sind. Die
Existenz eines Beziehungswahnes, noch eher die stark formale Natur des
schizophrenen Denkens, gibt einen Fingerzeig in der Richtung, es sei auch
eine Überbesetzung dieses Systems von innen her möglich, ebenso, wie der
halluzinatorische Zustand auf eine innere Besetzung der //-Systeme oder
die sprachlichen Eigentümlichkeiten der Schizophrenie auf eine — sekun¬
däre — Überbesetzung des Vbw- Systems hindeuten. Und vielleicht noch
1) Freud: Gesammelte Schriften, Bd> V (Metapiychologiiche hrgüuzung zur
Traumlehre), S. 551,
2) O. ßumke; In mehreren Aufsätzen, x. B. Neuere Methoden in der Psychologie.
(In: Die Psychologie und ihre Bedeutung für die ärztliche Praxis, 1931,8. 125—155.)
Das System Bw
v 207
weiter. Die Verwirrtheit der halluzinatorischen Amentia wäre gerade durch
fluktuierende Besetzungsentziehung nicht nur der W- Systeme, sondern
auch des Bezugs-Systems begründet, mit Überflutungsversuchen von innen
her. Auch bei gewissen Begabungsarten wäre daran zu denken, es handle
sich um eine stärkere Besetzung und weitere Ausbildung (höhere Organi¬
sation) des Bezugs-Systems (logische, mathematische Begabung). Dem ent¬
spräche die Erfahrung von Wälder, nach welcher bei einem Schizoiden
in der narzißtischen Interessebesetzung der Mathematik ein Restitutions¬
mechanismus wirksam war. 1 * *
Es drängt sicli uns aber noch eine zweite Annahme auf. Wir sagen,
im Schlafe wird die Besetzung des in Frage stehenden Bezugs-Systems
entschiedener als diejenige der übrigen Systeme zurückgezogen; begonnen
wird aber die Durchführung des Schlafwunsches — seltene Fälle aus¬
genommen —- mit einer Lagerungs-Sicherung (mindestens des Kopfes), um
keine Lagerungs-Kontrolle ausüben zu müssen. Die adäquaten Reize der
Lagerung, besonders des Kopfes, gehen aber durch den Vestibülarapparat
Wir sollen also vielleicht unsere Aufmerksamkeit den Verrichtungen dieses
Apparates zuwenden. Nun weiter: Das schizophrene, logische, mathematische
Denken ist ein formales, Relationen in den Vordergrund stellendes
„funktionales* 4 Denken, und der Vestibularapparat ergibt eben Daten der
relativen Lagerung, formale, „funktionale“ (Richtungs- und Eins teil ungs-)
Weisungen (ein Unterschied, den man den übrigen Sinnesapparaten
gegenüber statuieren kann). Die Verwirrtheit stört die Orientierung in
analoger Weise, wie es die gestörte Funktion des Vestibularapparates
int (subjektiv in der Schwindelempfindung sich kundgebend). Diese
Verhältnisse führen uns zur Annahme, das Bezugs-S3 r stem, dieses Teil¬
system des Bw , wäre vestibulären Ursprungs, oder anders ausgedrückt,
die Bewußtheit verdanke es den Daten des Vestibularapparates, womit
unsere Ableitung wieder bei der Freudschen Konstruktion, die Systeme W
decken sich mit dem System Bw -— wenigstens dem Sinne nach — gemündet
hat. Bei der Schizophrenie war bisher von einer Restitutions-Uberbesetzung
des Fbw akustischen Ursprungs die Rede; dem Obigen zufolge soll aber
auch mit einer Restitutions-Überbesetzung des Bezugs-Systems vestibulären
1 ) R. Wälder: Über Mechanismen und Beeinflussungsmöglichkeiten der Psychose.
Internationale Zeitschrift für Psychoanalyse, Bd. X, H. 4, 1924. — Die Lösungen von
Orten tierungstests sollen überhaupt besonders kennzeichnend für eine allgemeine
Intelligenz sein. (O, Lewis, H. Gordon — nach Ballard: Group tests of intelli-
gence, 1925, S. 113.)
Lrnre Hermann
208
Ursprungs gerechnet werden. Das zeige auf eine Korrelation dieser
beiden Systeme, ebenso wurde aber schon bisher die akustisch-musikalische
oder auch sprachliche Begabung in Korrelation mit der mathematischen
gebracht, 1 2 3
Der Vestibularapparat zeigt einige psychologische Besonderheiten. Er
arbeitet — gegenüber den übrigen Si nnwapparaten — größtenteils stumm,
nicht „lebendig“, nicht „leuchtend“. Seine Stummheit löst sich nur bei
zwei Gelegenheiten, Einmal wenn eine überstarke Reizung oder eine Furcht
vor Desorientiertheit, also eine Störung des normalen Arbeitsganges ein-
tritt. Dann erscheint die (quasi leuchtend-anschauliche) lebendige Schwindel-
empfindung.* Zweitens wird der Apparat „lebendig“, wenn er in eine
gewisse Dauerreizung kommt, wie man es in Kinderspielen angedeutet, im
Tanze offener sehen kann; es kommt ein rausch artiger Zustand, ein
Delirium zustande, eine „Trunkenheit aus Vergnügen“; 5 aber in diesem
zweiten Falle ist nur die „Lebendigkeit“ in Erscheinung getreten, nicht
aber die „leuchtende 4 ^ Sinnesqualität.
Der Apparat kann also Symptome der „Lebendigkeit“ und des „Leuch¬
tern” annehmen, was hindert ihn dann daran, es ständig zu tun? Da
möchten wir uns auf die Ansichten von Johannes Müller berufen,
welche in der neuesten Zeit unter dem Schlagwort „Eidetik“ (E, R. Jaensch)
1) Das wäre also eigentlich eine zentrale Korrelation auf Grund peripheren
Nebeneinanders. Wenn Cyon die Zahl vorn Gortisehrn Organ abstammen läßt, so
meint er damit sicherlich nicht die funktionale Denkweise der Mathematik* Es ist
ja gerade Cyon, der „die Orientierung unseres Geistes bei den bewußten Denk-
Operationen“ mit den Leistungen der Bogengänge in Parallele gestellt hat* (E. von
Cyon: Das Ohrlabyrinlh als Organ der mathematischen Sinne für Raum und Zeit,
S* 411, 416.)
2) Leichtere plötzliche Reizungen ergeben eine Empfindung „Schwimmen“* Es
unterliegt „keinem Zweifel, daß die Empfindung im Kopfe, wenn wir ihn schnell
nach einer Seite wenden oder mit der Drehung beginnen, von Anfang an dem
Schwimmen ähnlich und schwach schwindlig ist, so daß der Schwindel als ihre
natürliche Qualität bei hoher Intensität erscheint“. (Titche n e r-K lein m: Lehrbuch
der Psychologie, 1926, 2, Au fl», S. 144) Nach Ebbinghau ■-BÜhl er ist aber der
Schwindel keine Empfindung besonderer Qualität; als solche ist nur die „im Kopf
lokalisierte l)rehempfindung“ zu betrachten. (Grundlüge der Psychologie, I*Bd.,
1919, 4. Aufl., S. 429, 430.) — Dem Schwindel begegnet mau als passugärem Symptom
auch im Laufe der Analysen; er bietet sich dar, wie es Ferencxi beschreibt, um
verborgene Gedanken in symbolischer Art zu Bewußtsein tu erheben, aber auch um
der Desorientiertheit des Kranken, der zwischen der Übertrngungiliebe um! den An¬
forderungen des realen Lehens schwankt und sich plötzlich nicht auskennt, Ausdruck
zu verleihen* (S* Ferencxi: Sch windet empfind ungen tum Schlüsse der Analy genstunde.
Internationale Zeitschrift für Psychoanalyse, Hd. IJ, 1914.)
3) Vgl* K. Groos: Die Spiele der Tiere, 1907, 2. AnfL. S* 121*
Das System Bw 209
ihr Auferstehen feiern, Johannes Müller fand, daß durch die Zurück¬
ziehung der Ich-Beselzung vom Muskel- und Wahrnehmungssystem bei
sonst behaltenem Bewußtsein die Phantasmen von innen her ^leuchtend“,
lebendig werden. Das möchten wir so auslegen, daß die Ich-Besetzungen
der anschaulichen Ausprägung (des Leuch tens) der Sinnes quäl itäten hemmend
entgegenwirken. Daraus ergebe sich, daß die Ich-Besetzung des Bezugs-
Systems (vestibulären Ursprungs) so stark sei, daß sie die genetisch even¬
tuell zugehörige anschauliche Sinnesqualität und auch die Lebendigkeit
vollständig in den Hintergrund gestellt, quasi auf deren Kosten sich
eingenistet hat. Nur durch die Aufgabe der starken Ich-Position im Bezugs-
System, bei Behalten des Bewußtseins, wären anschauliche Qualitäten und
Lebendigkeit des Vestibulär-Apparates wieder erreichbar.
Wir möchten auch den Umstand namhaft machen, daß der Vestibular-
apparat eine starke Ich-Zugehörigkeit zeigt, indem er über das Gleich¬
gewicht des Körpers wacht. Er ist auch gewissermaßen den übrigen Sinnen,
ja sogar dem Muskelsystem, tatsächlich übergeordnet, diese erhalten einen
mächtigen Zuschuß ihrer Richtungsdaten vom Vestibularapparat her; parallel
damit kann tatsächlich von einer Überordnung des Bezugs-Systems über die
übrigen BurSysteme gesprochen werden (wie in der ältesten Konzeption von
Freud das System Bw tatsächlich den Charakter der Übergeordnetheit er¬
hielt). 1
Man bedenke aber auch den Umstand, daß ein „Gerichtetsein“, ein Objekt¬
bezogensein eigentlich den Trieben als wichtiges Charaktermerkmal, daß
dem Es eine Orientierungstätigkeit zukommt und auch das Es mit Ein¬
stellungen arbeiten muß. Es wäre verlockend dem Gedanken nachzugehen,
der Vestibularapparat isoliere und systematisiere nur diesen trieb¬
haften Teilprozeß und so gebe er dem Bewußtsein nur weiter, was er
den Trieben (dem Es, dem Ubiv ) entnommen hat. Ist dem so oder nicht,
jedenfalls ergeben sich die entwicklungspsychologisch höher stehen¬
den, höher organisierten Beziehungsfunktionen des Bewußtseins,
Das Bezugs-System habe auch eine Fortsetzung in das Vbw und müsse mit
den Wortdaten innig Zusammenarbeiten. Dem wäre auch die Bemerkung
anzuschließen, daß die Wirkung des ÜberTchs auf das Ich sich auch in
teilweise bewußten, teilweise unbewußten Einstellungs- und Richtungs-
1) Man spricht in der Psychologie vom „sozialen Kaum“ (O. Albrecht: Der
ancthisehe Symptomenkomplex, 1921), vom „psychologischen Raum“ überhaupt (Paul
Plaut: Der psychologische Raum, ein Beitrag zur Beziehungslehre, 1924).
Imago XII-
14
210 Hermann: Das System Bw
angaben auslebt. Das Bezugs-System muß also nahe Beziehungen zum Über¬
leb entwickeln, es ist vielleicht das (eine) Sprachorgan des ÜberTchs.
Die topische Annahme eines Bezugs-Systems kann durch eine ökonomisch-
dynamische ergänzt werden. Wir finden einerseits die Bewußtseinsdaten
des Bezugs-Systems am wenigsten leuchtend, am wenigsten lebendig im
ganzen Bw-fV- System; anderseits ist die Angabe der Einstellung, Beziehung
selbst schon etwas Formal-Unlebendiges, eine Formangabe, weniger eine
Inhaltsangabe (soll sie eventuell noch so anschaulich vonetatten gehen). Stellen
wir nun noch neben diese Feststellungen die bereits früher geäußerte Ansicht,
das Hervortreten des Formalen im Denken gehe dynamisch auf ein stärkeres
Auftreten des Todestriebes (unter Mitarbeiter schuft der erotisch-sadistischen
Hand) zurück 1 , dann ergibt sich der Schluß, es linde im Bw-Sywtem eine
Triebentmischung statt; die W- Systeme, wohin also kein vestibuläres System
mehr gehört, arbeiten mit größerem Einsetzen der Lebenstriebe, dadurch
ihre „Lebendigkeit**; das Bezugs-System, wohin das ursprüngliche vestibuläre
TF-System einfließt, arbeitet mit größerem Einsätzen des Todestriebes, daher
seine „Geistigkeit**, 2 Je stärker die Vorherrschaft des Todestriebes im Bezugs-
System (und im Über-Ich?), desto schärfer kommen die formalen Schritte
überhaupt und die spezifischen Richtungsschritte des Todestriebes: die Ver¬
neinung, die Vergleichung und der Senkungsschritt im besonderen
zum Vorschein 3 und auch die stellungnehmende Funktion des Ichs ist desto
versteinerter, anpassungsunfälliger.
1) In der Studie über Gustav Theodor Feehnrr, Imago, Bd. XI, 1935*
2) Die Unterscheidung Lebendigkeit—Geistigkeit macht M. PalAgyi, Nttturphilo-
sophische Vorlesungen, 2, Au fl., 1924,.
3) Psychoanalyse und Logik, Imago-Bücher VJI, 1924, S* H6—89, 97, 98. Weiteres
über die Verneinung siehe Freud: Die Verneinung, Imago, Bd. XL 1925.
Die Gruppenmethode in der Psychoanalyse
Von
Trigant Burrow
Dr. med. et phih, Baltimore
(Jus dem englischen Manuskript übersetzt von Dr\ H. C, Syz)
Eine Arbeit, die mit einem paradoxen Titel beginnt, kann kaum er¬
warten, Zutrauen zu erwecken, es sei denn, daß es gelänge, mit dem
anfänglichen Widerspruch ins Reine zu kommen. Die Vorbedingung jeder
Analyse scheint selbstverständlich die Isolierung eines Teiles oder Elementes
zu sein 1 das dabei die Struktur eines Systems, einer Kombination oder einer
Gruppe repräsentieren mag. Eine Gruppe stellt biologisch etwas Zusammen¬
hängendes dar, das nicht als Ganzes einer Analyse zugänglich ist. Eine
Gruppenmethode in der Analyse steht daher ihrer Natur nach in Wider¬
spruch mit sich selbst. Man könnte mit ebenso gutem Recht von einer
synthetischen wie von einer Gruppenmethode der Analyse sprechen. Dem
noch ist aber tatsächlich das Gruppenmaterial vorhanden, das zur Untersuchung
herausfordert und dem, soviel ich sehe, nur die analytische Methode gerecht
werden kann. Um daher Begriffe, die zueinander so deutlich in Wider¬
spruch stehen, wie Gruppe oder Synthese und Individuum oder Analyse,
miteinander auszusöhnen, ist eine angemessene Erklärung nötig.
Ich glaube, wir vergegenwärtigen uns kaum, in welchem Maße wir
den Ausdruck „Gruppe“ oder Gesellschaft (Kombination) in einem künst¬
lichen und konventionellen Sinne an wen den. Der Landschaftsgärtner
arrangiert eine Gruppe von Bäumen, der Historiker eine Gruppe histo¬
rischer Begebenheiten. Der Erzieher bildet eine Gruppe von Schülern,
der Soziologe eine Gruppe von Fürsorgern; wir sprechen von Gruppen
von Wissenschaftlern, Eisenarbeitern oder Künstlern. Solche Gruppierungen
richten sich aber nach ganz äußerlichen und willkürlichen Merkmalen;
keine organisch innewohnenden Qualitäten vereinigen die verschiedenen.
* 4 *
Trigunt Burrow
die Gruppe zusammensetzenden Elemente. Im Gegenteil» wo Elemente in dieser
Art versammelt sind, da ist wirklich nur eine Kollektion oder Zusammen* 1
Stellung von Elementen vorhanden. Wenn wir aber von einer Gruppenbildung
sprechen, wie sie z, B. in einer Ameisenkolonie gegeben ist oder in einer
Büffelherde oder in einem primitiven Volksetamm, so haben wir eine Ver¬
bindung von Elementen vor uns, in der die verschiedenen Teile vermöge
eines ihnen gemeinsam innewohnenden, organischen Bandes zu einem zu¬
sammengehörigen Ganzen zusammen geschlossen werden. In dieser Art organi¬
scher Gruppenformation, wie sie die Elemente einer Gattung vereinigt, ist
das Bindeglied zwischen den einzelnen Teilen von durchaus wesentlicher und
instinktiver Natur. Es ist nicht so beschaffen, daß es durch willkürliche Vor*
kehrungen oder äußerliche Anordnungen aufgelöst werden könnte.
Das Leben des heutigen Menschen enthält mitten in seiner komplexen
Zivilisation die organischen Bande einer instinktiven Einheit der Basse.
Das Wesentliche in der Biologie der Basse hat sich seit den Zeiten primi¬
tiver Menschenverbände nicht im geringsten verändert; organische Prin¬
zipien wechseln nicht mit dem Wechsel äußerer Verhältnisse; Rassen¬
instinkte nutzen sich im Laufe der Zeit nicht ab. Es hat sieh allerdings
unbewußterweise etwas Fremdartiges in das Gruppenleben des Menschen
eingeschlichen. Unähnlich dem Leben der Gruppen oder Kolonien niedri¬
gerer Ordnungen ist das instinktiv vereinte, sozietale Leben 1 durch diesen
unbewußten Faktor gewaltmäßig gestört worden; es wurde dem Menschen
unmöglich gemacht, sich den natürlichen Forderungen seiner primären
Gemeinschaftsinstinkte entsprechend in Gruppen und Kolonien zusammen¬
zufinden. Die Menschen haben sich vielmehr in verschiedenartigen Grup¬
pierungen und Gliederungen —- sozialen, politischen, ökonomischen» reli¬
giösen — angesammelt und verteilt, in Gruppenbildungen, die ganz ober¬
flächlich und ihrem Wesen nach einem instinktiven Gruppen leben äußerst
fremd sind. Man muß daher die vereinigende (synthetische) und instinktive
Gruppengestaltung des primitiven Menschen sehr bestimmt von dem bloßen
Nebeneinander der kollektiven oder Pseudogruppen‘Formationen unter¬
scheiden, in die der Mensch —^ unter dem Bann sozialer 1 radition und
konventioneller Autorität — ein getreten ist.
In einer Gruppe, die in einer willkürlichen Ansammlung von Individuen
besteht, kann natürlich das einzelne Element ohne Beeinträchtigung des
i) Das englische societal wird hier im Gegensatz zu social verwendet: erst eres für
primitive, organisch bedingte, letzteres für kulturell entstandene Verbände; den gleichen
Gegensatz drucken „Gruppe“ und „Pseudogruppe“ aus. (DU Redaktion.}
Die Gruppenmethode in der Psychoanalyse 215
organischen Instinktes abgesondert und einem Prozeß der Isolierung
und Untersuchung unterzogen werden — einem Prozeß, den wir als
Analyse kennen. Die Abtrennung eines Individuums oder eines Gliedes
einer solchen konventionellen Ansammlung von Elementen bedeutet keinen
organischen Bruch — nicht mehr als dies bei der Störung eines künst¬
lichen Baumarrangements durch den Gärtner oder bei der Verteilung der
Schüler durch den Lehrer der Fall wäre, • Die Blätter einer Blume vom
Stengel zu trennen, um sie zu analysieren, ist aber notwendigerweise ein
Vorgang, der für den untersuchten Teil die funktionelle Kontinuität mit
dem zugehörigen organischen Ganzen unterbricht. Die Kontinuität des
Organismus als eines Ganzen wird sofort zerstört. Das gilt für Ameisen,
die von ihrer Kolonie entfernt werden, oder für den Büffel, der von seiner
Herde getrennt wird. Die Bedeutung der Gesetze organischer Gruppenbildung
im Leben der Herdentiere ist nicht nur von biologischen Forschern beob¬
achtet worden; sie werden vielmehr praktisch von jedermann berücksich¬
tigt, der mit wilden Tieren zu tun hat, Hagenbeck war mit diesem orga¬
nischen Prinzip, das die einzelnen Glieder einer Gattung zusammenbindet,
nicht weniger vertraut als Darwin oder Kropotkin, 1 Während wir aber
alle stillschweigend an nehmen, daß sich ein solcher Stammes- oder Rassen¬
instinkt über alle Elemente einer Gattung erstreckt und die Einzelindividuen
vereinigt, steht die Aufgabe noch vor uns, diese Tatsache in uns selbst als
ein organisches Prinzip des Bewußtseins anzuerkennen. Wir müssen
erkennen, daß dieses instinktive sozietale Prinzip, das im Hordenleben
und in den spontanen Menschenverbänden der Primitiven beobachtet werden
kann, heutzutage im Leben der zivilisierten Gemeinschaften von gleich
weittragender instinktiver und biologischer Bedeutung ist.
Von solchen Überlegungen ausgehend, hat sich mein Ausblick in der
analytischen Arbeit geändert. Ich bin zu der Auffassung gekommen, daß
eine Analyse, die das Einzel in di viduum isoliert und getrennt von seinen
Rassenzugehörigen untersucht, den weiteren sozietalen Organismus, von
dem die Einzelglieder Teile sind und ohne den sie in ihrem Gemeinschafts¬
leben nicht fort existieren können, außer Betracht läßt. Ein solch isolierter
Prozeß der Analyse, auf das Einzelindividuum der Gattung Mensch ange¬
wandt, zerstört die organische Integrität des Gruppen- oder Rassenorganismus
geradeso, wie wir die Integrität des Organismus einer Blume zerstören,
wenn wir deren Blätter abtrennen, um sie, losgelöst von der strukturellen
*) P. Kropotkin: „Gegenseitige Hilfe«
2 1 4
Trigant Burrow
Kontinuität mit dem Ganzen, zu untersuchen* Das organische Prinzip, das
eine Gruppe oder ein sozietales Gemeinwesen verbindet, bedeutet funk-
tionelle Solidarität; das Element in seiner Isoliertheit bedeutet deren Zer¬
spaltung. Die Analyse des einzelnen Elementes ist also der Erhaltung des
Ganzen entgegengesetzt; die Kontinuität der (truppe und die Isolierung
des Individuums sind ihrem Wesen nach sich gegenseitig ausschließende
Prozesse.
Um diesen unerbittlichen Zwiespalt, der dem System unserer psycho¬
analytischen Methode innewohnt, aumtgleichen, habe ich, zusammen mit
einer Gruppe von Mitarbeiteru und Schülern, in den letzten Jahren durch
langsam fortschreitendes und mühevolles Experimentieren eine Methode
der Analyse ausgebildet, die auch den Reaktionen Rechnung trägt, welche
der Gattung als Ganzes an gehören. Diese weiter ausgreifende Form der
Analyse hat den Vorteil, das Material, welches dem sozietalon und instink*
tiven Gruppenleben angehört, intakt zu lassen und zu gleicher Zeit, von
dieser Grundlage aus, die sozialen wie auch die persönlichen Ersalzbildungen
und Verdrängungen psychoanalytisch zu untersuchen, welche individuell
oder als Ausdruck der kollektiven, bloß willkürlich gebildeten Pseudo¬
gruppe in ein und demselben sozletalen Organismus vorhanden sind.
Um der analytischen Grundlage dieser Gruppenlech nik mit wissenschaft¬
licher Sympathie zu begegnen, ist es erforderlich, daß wir als Analytiker
wenigstens versuchsweise gewisse persönliche und Pseudogruppen -Überzeu*
gungen aufgeben — Überzeugungen, die eher auf einer Art künstlich ent¬
standenen Übereinkommens zwischen Einzel individuell als bloße Äußerung
ihrer nur kollektiven Vereinigung beruhen, als auf den organischen Ban¬
den, welche dem biologisch Wesentlichen einer naturgemäßen Gruppe
entspringen. Wir haben uns von der Meinung loszulösen, daß der Neurotiker
krank ist, während wir gesund sind. Wir müssen zu einem freieren, so-
zietalen Standpunkt kommen, der es uns ermöglicht* ohne Protest anzu-
nehmen, daß das neurotische Individuum an keiner schwereren Krankheit
leidet, als wir selbst. Gewöhnlich verlieren wir nämlich den Umstand ganz
aus dem Auge, daß es der Neurotiker in seinen privaten Eriatzbildüngen
und Verschiebungen unterlassen hat, sich in die kollektive Konföderation
von Verschiebungen und Ersatzleistungen hineinzufinden, die wir der
Leser sowohl als ich — zum Zwecke des Selbstschutzes geschickt genug
waren, zu unterschreiben — rationalisiert durch die Symptome der will¬
kürlich entstandenen Pseudogruppen, welchen wir angehören. Es wird mir
immer klarer, daß wir nur von solcher, uns selbst in die Beobachtung
Die Gruppenmethode in der Psychoanalyse 215
einschließender Anschauung aus fähig sein werden, gewissen Faktoren Rech¬
nung zu tragen, die uns sonst als sozial eingestellten und stets an ihren
sozialen Selbstschutz denkenden Individuen verschlossen bleiben müssen.
Wenn wir unparteiisch unsere psychoanalytische Arbeit auf Grund der
gegenwärtigen Technik des persönlichen Anvertrauens überblicken, — einer
Technik, die sich nur mit dem isolierten Element oder Individuum be¬
schäftigt, — so ergibt sich, glaube ich, daß, wissenschaftlich betrachtet, unser
Vorgehen recht rückständig sei. Die esoterische Methode, einen Patienten in
einem privaten Konsultationszimmer einzuschließen, um eine Geschichte
der Unzulänglichkeiten, Mängel und Fehlanpassungen anzuhören, welche
verursacht sind von Störungen, die der ganzen Rasse, also auch uns selbst,
innewohnen — diese Praxis hat, soviel ich sehe, auf keinem Gebiete wissen¬
schaftlicher Untersuchung ihresgleichen. Wir machen kein Geheimnis aus den
verschiedenen körperlichen Anomalien, denen der Mensch unterworfen ist.
Herz- und Darmkrankheiten werden willig einer medizinischen Untersuchung
unterworfen; ebenso empfangen wir pathologische Zustände infolge von Mi߬
brauch unseres Organismus, wie z. B. Überessen, alkoholische Exzesse oder
auch Geschlechtskrankheiten, ganz offen in Klinik und Laboratorium. Der
Grund hiefür ist naheliegend: das Individuum hält sich für diese Zustände
nicht mehr moralisch verantwortlich; wir sehen heutzutage darin keine von
der Vorsehung geschickte Heimsuchungen mehr; die persönliche Integrität
wird durch solche Krankheitszustände in keiner Weise gefährdet. Und trotz
alledem behandeln wir die ebenso tatsächlichen Störungen, wie sie in affektiven
und sexuellen Unzulänglichkeiten und Krankheitserscheinungen zutage treten,
in einer halb-religiösen und ganz von Moral diktierten Art. Einer solch rück¬
ständigen Stellungnahme entsprechend, laden wir unsere Patienten zu geheimen
Konferenzen, die doch gar nicht der medizinischen und wissenschaftlichen
Bedeutung der Situation entsprechen.
Hätten wir Tatsachen zu beobachten, wie sie sich im chemischen oder
biologischen Laboratorium darbieten, so würde sicherlich niemand daran
denken, solche Prozesse anders als durch eine gemeinsam beobachtende
(konsensuelle) wissenschaftliche Methodik in Angriff zu nehmen. 1 Konsen-
suelle Beobachtung ist gleichbedeutend mit wissenschaftlicher Genauigkeit
der Methode. Die Feststellung unmittelbarer Tatsachen unter Beobachtungs-
1) „Psychiatry as an Objective Science“, veröffentlicht in British Journal of
Psychology, VoL V, part. 4, und „Psychoanalytic Improvisation and tlie Personal
Equation“, 15. Jahresversammlung der American Psychoanalytic Association, Rich-
mond, Va, 12. Mai 1925-
Trigant liurrow
216
Verhältnissen, die eine Übereinstimmung der verschiedenen Beobachter er-
möglichen, sind die anerkannten Vorbedingungen des Laboratonumsver-
fahrens.
In der Gruppenmethode kommen sexuelle Phantasien, Familienkonflikte,
Unstimmigkeiten und Selbsttäuschungen, welche für viele unserer sozialen
oder PseudogTuppenbeziehungen charakteristisch sind, zur Beobachtung und
Analyse* Abgeschmacktheiten und Unzulänglichkeiten, über die sich im all¬
gemeinen nicht nur der Moralist und Prediger, sondern auch der Laie er¬
haben fühlt und die sich der Psychoanalytiker nur hinter verschlossenen
Türen berichten läßt, werden von uns offen vorgelegt und in Versammlungen
von bis zwanzig Personen beobachtet, Der Hauptpunkt schließlich, den wir
Psychoanalytiker übersehen haben, weil wir unbewußt vorziehen, ihn zu über¬
sehen, ist nicht der Umstand, daß ein Individuum von sexuellen Konflikten
heimgesucht wird, sondern daß unter unserem gegenwärtigen sozialen System
von Verdrängung alle Individuen gleicherweise sexuellen Konflikten unter¬
worfen sind. Der Grund, warum der Nervenkranke ein so tiefes Geheimnis
aus den Störungen seines Geschlechtslebens zu machen wünscht, hegt nicht
in der Annahme, daß diese Unzulänglichkeiten wirklich seine persönliche
Angelegenheit sind, sondern darin, daß die Gesellschaft zu ihm sagt: „Hüte
dich, dir einzubilden, daß diese Dinge nicht deine persönliche Angelegenheit
sind,^ Und wir Psychoanalytiker nehmen unbewußt an dieser in unserer
Gesellschaft herrschenden Haltung teil, welche den sogenannten Neurotiker
blindlings in eine unangreifbare Stellung von Geheimtuerei und Isolierung
hineintreibt. Wir fordern ihn zu einer solch absurden I laltung von Furcht¬
samkeit und Isolierung dem sozialen System gegenüber auf, weil unsere eigene
soziale Haltung geradeso ängstlich und isoliert ist.
Der Leser wird leicht verstehen, wie viel gründlicher und wirksamer die
Resultate einer Analyse sein müssen, die nicht nur die persönliche Stellung¬
nahme des Patienten von Grund auf aufrührt, sondern auch alle Pseudo¬
gruppenbeziehungen, an denen er teilnimmt, also nicht nur die Komplexe
der individuellen Neurosen aufdeckt, sondern auch die Komplexe, die in
sozialer Form unter dem Deckmantel heimlicher Familien bind ungen aufrecht
erhalten werden. Immer wieder wurde die Krfahrung gemacht, daß auf diese
Weise der in intrauteriner Lethargie verharrende Schizoide viel leichter aus
seiner tatenlosen Traumwelt aufgestört wird und in die objektive Unmittel¬
barkeit der ihn umgebenden Wirklichkeit ei nt ritt; der Hysteriker energischer
aus seinen egozentrischen Phantasien aufgeweckt wird und sich rascher den
konstruktiven Anforderungen des Tages widmet, und daß der Cyclothyme
Die Grupp enmethode in der Psychoanalyse
2 1 7
eher dazu gebracht wird, seinen Stimmungswechsel zugunsten einer aus¬
geglichenen, einheitlichen Anstrengung aufzugehen. Das Ergebnis dieses
weiter ausgreifenden Programm es war ein rasches Heilungsverfahren für
unsere neurotischen Patienten und ihr Freiwerden nicht nur von ihren
individuellen, sondern auch von den Massenreaktionen, die als solche der
Familie oder anderer unbewußter Verbände zutage treten;
Die wichtigsten Resultate unserer Gruppenmethode sind, kurz gefaßt,
folgende:
1) Die unmittelbare Aufdeckung der unbewußten Suggestion als ge¬
meinsamer (sozialer) Vorgang, Ihr individueller Ausdruck wurde wissen¬
schaftlich zuerst von Freud als „Übertragung“ erkannt,
2) Daß phylogenetisch die Mutter-Kind-Reziehung als polares Prinzip
der sozialen Hypnose, die in jedem Individuum zutage tritt, zugrunde liegt.
5) Daß es bestimmte, unbewußte, soziale Reaktionen sind, welche im
Einzelindividuum von den individuellen Sublimierungen vertreten werden.
Außerdem wurden die folgenden Mechanismen in ihrem sozialen Milieu
von uns erkannt und untersucht:
1) Die Doppelrolle der Mutter-KindTmago, die in der Persönlichkeit
jedes Individuums in beiden Richtungen in Sackgassen (Impasse) führt.
2) Die Ausdehnung dieser universellen Imagines auf die Gesellschaft,
in der sie unbewußt zur Substituierung des Realen durch soziale Ima¬
gines führt — „Gott“, „Liebe“, „Tugend", zusammen mit „Ehe“,
„Familie“, auf ge faßt als soziale Institutionen,
5) Der soziale Mechanismus der Projektion als Allgemeinerscheinung,
welche Schritt für Schritt bis in ihre ontogenetische Wurzel verfolgt
werden konnte.
4) Die ambivalente Unvereinbarkeit der Affektreaktionen im „nor¬
malen“ wie auch im neurotischen Individuum mit ihren zwanghaft alter“
nierenden Phasen von Gut und Böse, Liebe und Haß, Lob und Tadel
und die Wechselwirkung dieser Affektphasen im sozialen Milieu.
5) Die psychologische Identität der pseudo-sexuellen Imagines, die
gegenwärtig allgemein in homo- und heterosexuelle getrennt werden,
und die vollständige Entfernung dieser beiden Komponenten im Gesell¬
schaftsleben von dem sozietalen, organischen Geschlechtsinstinkt.
6) Die sozialen Formen der krankhaften Zustände, wie Paranoia, Homo¬
sexualität, Hysterie und andere Zustände, die bisher gewöhnlich nur,
klinisch isoliert, als dem neurotischen Individuum eigentümliche Krank¬
heitseinheiten betrachtet worden sind.
2 1 8 Trigant Burrow
7) Der experimentelle Beweis für die Theorie der primären Identi¬
fikation des Individuums mit der Mutter und der Nachweis einer phylo¬
genetisch und sozietal bedeutsamen unbewußten Phase, welche mit der
primären, subjektiven Phase der kindlichen Psyche, wie sie bisher als
ontogeneüsche Basis postuliert worden ist, in Parallele zu setzen ist, 1
Die Analyse beginnt mit persönlichen Besprechungen und es steht jedem
Patienten frei, zu diesen zurückzukehren, wenn es die Umstande verlangen.
Das Charakteristische solcher Besprechungen ist es aber allerdings, daß sie
nicht die Anschauungen einer willkürlich gebildeten Pseudogruppe zur
Grundlage haben, welche die Neurose ausschließlich im Patienten voraussetzen,
während der Arzt bloß als Zuschauer danebensteht. Vom Patienten wird
von Anfang an erwartet, daß er seinen eigenen krankhaften Zustand zugleich
auch als einen Teil einer Neurose auffaßt, die ganz allgemein von einem
sozialen Gemeinwesen getragen wird, von welchem der Arzt und er gleicherweise
wesentliche Bestandteile sind. Von dieser organischen Gruppenbasis aus, die zu¬
erst nur aus zwei Personen besieht, kommt der Patient später zu Besprechungen
mit drei oder vier Individuen und nach und nach in größere Gruppen¬
konferenzen von etwa acht bis zwölf Personen. Eine wichtige Seite dieser
Gruppensitzungen ist, daß der Patient von Anfang an sowohl Beobachter
als auch Beobachteter ist; er wird dadurch zum verantwortungsvollen
Untersucher gemeinsamer menschlicher Probleme, persönlicher wie auch
sozialer. Weitere Vorteile unserer Methode bestellen darin, daß dem Patienten
in der Verbindung mit einer Gruppe — gleichviel, ob mit Kinzelindividuen
oder deren Gesamtheit — ganz abgesehen von den analytischen Sitzungen
Gelegenheit geboten wird, Glied eines sozialen Verbandes zu werden mit
Leuten, die mit ihm ein gemeinsames Interesse verfolgen. Es wird ihm
möglich, eine solche biologische Verschmelzung beibehaltend, in soziale Be¬
ziehung mit reiferen, erfahreneren Teilnehmern zu treten, so daß ohne Unter-
brechung im täglichen Leben das beiderseitige analytische Ziel vorhält. So
kommt es, daß hysterische und paranoide Typen Gelegenheit haben, soziale
Beziehungen einzugehen, ohne in die unrichtigen, nur zum Schein sozialen
Anpassungsformen sozial isolierter Pseudogruppen hineingezwungen zu werden;
psychasthenische und schizoide Persönlichkeiten gelangen in (Jruppenbezie-
hungen, welche ihnen, ohne alle Kritik ihrer introvertierten Anpassungs¬
gewohnheiten, dennoch nicht erlauben, in die Abgeschlossenheit ihrer Intro¬
version zurückzu fallen.
1 ) J? Genesis and Meaning of Homosexuality,“ Psychoanalyse Review, IV, 5, July 1917.
Die Gruppenmethode in der Psychoanalyse
219
In der persönlichen Analyse beruht das Verfahren von Anfang an auf
der Übertragung, Keine Übertragung, keine Psychoanalyse. Sie muß
zustande gebracht werden und bis zu ihrer Ablösung erhalten bleiben. Bei
unserer Gruppenmethode wird diesem Zustand der Abhängigkeit des Patienten
vom Arzt von Anfang an entgegengearbeitet. Wir wissen sehr wohl, daß das
Wesentliche der Neurose in derMutter-Kind-Beziehung liegt, daß hier gleichsam
die „Sackgasse“ im Unbewußten des Neurotikers liegt, daß ihn immer nach
neuer Unterbringung derselben verlangt. In der Gruppe aber wird die Mutter-
Kind-Beziehung sofort konsensueller Beobachtung und Erforschung unter¬
worfen und keinem Surrogat dieser Beziehung wird es gestattet, wie es
bei der üblichen analytischen Technik der Fall Ist, — sich unbewußt ein-
zuschleieben und so die eigentliche Absicht der Psychoanalyse zu vereiteln.
Ich meine auch nicht einen Augenblick, daß nicht in jedem Patienten die
Tendenz zu solch einer Fixierung und Übertragung auch in der Gruppen-
Situation vorhanden istj wir finden sie immer. Unter den Bedingungen der
Gmppenmethodik ist aber die Gelegenheit für ihre heimliche Verschanzung
und Verstärkung naturgemäß weniger günstig als in der Einzelanalyse, wo
der Kontakt monatelang auf einen einzelnen Analytiker beschränkt bleibt.
Was in der individuellen Analyse als persönliche Übertragung erscheint,
wird durch die Teilnahme mehrerer Individuen in ihrer gemeinsamen Analyse
neutralisiert.
Es liegt ferner im Wesen der Gruppenanalyse, daß jedem Teilnehmer
die Gelegenheit gegeben ist, als Unparteiischer die Elemente seiner eigenen
Neurose in der Neurose eines anderen gespiegelt zu sehen. Bei einem
solchen Verfahren wird es immer wieder dar ge tan, daß die seelischen
Reaktionen in anderen Individuen identisch mit den eigenen sind. Dieser
Umstand ist von größter Bedeutung durch seinen Einfluß auf den zentralen
Faktor des Widerstandes. Ich erinnere mich gut an Worte, die Freud am
Zweiten Internationalen Psychoanalytischen Kongreß 1911 in Nürnberg
äußerte. In Antwort auf eine Bemerkung Jungs sagte er f die Aufgabe der
Psychoanalyse liege nicht in dem Auffinden von Komplexen, sondern in
der Auflösung von Widerständen. Gerade hier scheint mir die Gruppen-
technik von besonderem Vorteil zu sein. Denn ein Wesentliches am Wider-
stand ist doch sicherlich das Gefühl, in den eigenen Konflikten isoliert
dazustehen. Wo es die Umstände dem Individuum erlauben, die soziale
Natur seiner eigenen Konflikte zu empfinden, da wird natürlich das Gefühl
der Isolierung allmählich aufgelöst und damit schwinden auch die Wider¬
stände, die das Rückgrat seiner Neurose bilden.
220
Trigant Burrow
Ich erinnere, daß unsere Gruppenarbeit noch in ihren enteil Anfängen
steht. Im ganzen können wir auf nicht mehr als vier Jahre eigentlicher
Gruppenanalyse zurückblicken. Zwei vorangehende Jahre waren Versuchen
der Abänderung der ursprünglichen analytischen Arbeit und der probeweisen
Anwendung gewidmet. Unsere Arbeit konzentrierte sich anfangs mit be¬
sonderem Interesse darauf, die gewöhnlich vernachlässigten, instinktiven
Grundlagen der sozietalen oder wesensgemäßen Gruppenbildung zu er¬
forschen und zugleich die allgemein anerkannten Pseudogruppenbeziehungen
in Frage zu stellen. Ein sorgfältiges analytisches Studium der manifesten
Inhalte unseres sogenannten sozialen Uewußtsciiis hat dahinter das Vorhanden¬
sein latenter Elemente erwiesen, die ihnen ebensosehr widersprechen, wie
das zuerst von Freud durchleuchtete Traumleben des Einzelpatienten seiner
aktuellen Anpassung an das wache Leben widerspricht*
Ich möchte nicht so verstanden werden, als ob ich unsere konventionellen
Formen sozialer Beziehungen verwerfen wollte. Es haben diese unzweifelhaft
in dem Entwicklungsprozeß des menschlichen Bewußtseins ihren Platz,
geradeso wie die primitiven Menschen verbände ihren Platz in der Struktur
unserer Entwicklung hatten. Ich möchte nur die Ersatzbildungen zurück-
weisen, welche oberflächliche soziale Gruppierungen an Stelle der organischen
Gefühle und Instinkte setzten, welche die Menschen zu einer einheitlichen
Kolonie, Gattung und Kasse zusammenbinden*
Manche, die mit unserer Gruppenanalyse bekann(geworden sind, wollen
in ihr eine Neuerung auf psychoanalytischem Gebiet sehen. Es scheint
ihnen, daß meine Methode eine Abweichung von den ursprünglichen
Freudschen Prinzipien bedeutet* Das hieße aber, Freud von ganz ober¬
flächlichen und zufälligen Gesichtspunkten aus beurteilen und die tiefere
Bedeutung seiner ursprünglichen Forschungsrichtung aus dem Auge ver¬
lieren, Nach meiner Auffassung ist die Gruppenmethode nur eine Aus¬
dehnung der von Freud zuerst auf ontogenetischem Gebiete angewandten
persönlichen Analyse auf das phylogenetische Gebiet, 1 In gerechter Würdigung
von Freuds Werk darf man es nicht unterlassen, anzuerkennen, daß das
von ihm eingeführte Verfahren im wesentlichen die Anwendung einer
exakten Laboratoriumsmethode auf die Erforschung der psychischen Er¬
scheinungen war. Von Anfang an ersetzte Freud das persönliche Vorurteil
durch die wissenschaftliche Beobachtung, Er studierte, was er im menschlichen
1) „The Laboratory Method in Psychoannlyiis.“ Vortrag* gehalten nm 9, Kongreß
der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung, Bad Homburg, September 19S5.
Die Gruppenmethode in der Psychoanalyse
22 l
Bewußtsein sah, nicht nur in dem seiner Patienten * sondern auch in seinem
eigenen, und er hat gewissenhaft mitgeteilt, was er fand. So wurde auf
dem Gebiet der Bewußtseinsprozesse eine ebenso exakte Laboratoriumstechnik
ermöglicht, wie sie bisher für die wissenschaftliche Beobachtung in den übrigen
Gebieten der Biologie typisch gewesen war. Kurz gesagt, Freud hob die
Erforschung der Bewußtseinsprozesse in die Reihe der biologischen Wissen¬
schaft. Damit war allerdings eine Verletzung sozialer Empfindlichkeiten
verbunden. Das soziale Bewußtsein wehrte sich mit dem vollen Gewicht
unbewußter sozialer Überlieferung so entschieden gegen die Freudsche
Laboratoriumsmethode, daß ihre Erweiterung und Ausdehnung auf den
sozialen Organismus prompt unterbunden wurde.
Anstatt sich der Unterstützung einer konsensuellen Gruppe von Mit¬
arbeitern zu erfreuen, wurde Freud mit einem unbewußten Widerstand,
der sozialer Natur und seinem Wesen nach den Psendogruppenreaktionen
zugehörig war, empfangen. Freud war in seiner Stellung allein und daher
außerstande, dieser Gegenrcaktion in ihrer unkoordinierten sozialen iorm
direkt entgegenzutreten. Diese Situation war unvermeidlich; mangels einer
konsensuellen sozietalen Gruppe von Mitarbeitern konnte Freuds Forschung
unmöglich die Tatsachen des generischen, sozialen Unbewußten mitein-
begreifen. Obschon es recht eigentlich in der Natur der Freudschen Ent-
deckung lag, daß eine exakte Untersuchung von ßewußtseinsphänomenen
nur durch das Prinzip konsensueller Laboratoriumsbeobachtung ermöglicht
wird, ist doch der soziale Widerstand, der Freud von Anfang an gegenüber^
trat, in unseren psychoanalytischen Reihen unerkannt und ungelöst ge¬
blieben. Von unserem Gruppenstandpunkt aus vertreten wir die Ansicht,
daß die Vorurteile der Pseudogruppen, welche die unbewußte Basis unseres
sozialen Widerstandes bilden, nicht aufgelöst werden können, bevor wir
erkannt haben, daß sie ebenso unbewußte Manifestationen von seiten der
sozialen Psyche sind wie die persönlichen Widerstände, denen man in der
Einzelanalyse begegnet. Auf Grund unserer Gruppenbeobachtungen möchten
wir den Umstand besonders betonen, daß diese Widerstände in der sozialen
Psyche ohne soziale Analyse geradeso wenig aufgelöst werden können,
wie es möglich wäre, ohne Analyse die persönlichen Widerstände des
einzelnen Patienten aufzuheben, 1 Wenn wir einen anderen Weg ein schlagen,
i) Geradeso wie niemand die Bedeutung der individuellen Analyse wirklich je
verstanden hat, ohne an einer Analyse selbst teilgenommen m haben, wird man
auch das Verfahren der Gruppenanalyse nur auf Grund eigener Erfahrung, d. h.
persönlicher Teilnahme verstehen können. Preiid betonte von Anfang an die Nutz-
Burrow: Die Gruppenmethode in der Psychoanalyse
können wir zu Nachfolgern Freuds werden nur im Sinne von Gliedern einer
kollektiven Pseudogruppe, und der Geist des Entdeckers und seiner Labora*
toriumsrnethode versinkt unter dem Massengewicht eines bloß nachtihmenden,
mit in Konkurrenz tretenden, sozialen Unbewußten.
Wir fassen unsere Befunde zusammen: Für den Psychopathologen ist der
Mensch nicht Individuum, sondern ein Teil eines sozietalen Organismus.
Unsere Analysen einer Person, basierend auf Unterscheidungen, die uns und
anderen Beobachtern wissenschaftlich vollberechtigt schienen, beruhen in
Wirklichkeit auf recht vorübergehenden sozialen Artefakten; sie stützen
sich nicht auf eine wirklich biologische Basis. Die Analyse des Menschen
als Element bedeutet seine Isolierung als Element. Und diese Isolierung
ist ein wesentlicher Verstoß gegen ein vorhandenes organisches Gruppen-
prinzip im Bewußtsein
losigkeit eines Wissens über oder in Beziehung auf Psychoanalyse. Die Kenntnis
der Psychoanalyse ist nicht nur von intellektuellen Funktionen abhängig; die Wider¬
stände, die eine Barriere gegen das Verstehen der Psychoanalyse bilden, hegen nicht
im Intellekt. Nur in dem Maße, als wir das eigene — persönliche wie soziale
Gefühl dem Prozeß der Analyse unterwerfen, können wir tu einem \ erstand» is der
Psychoanalyse im wirklichen Sinne de® Wortes „Verstehen 11 kommen nämlich zu
einer innern Annahme der Bedeutung von Freuds Werk,
Erfahren, Verstehen, Deuten
in der Psychoanalyse
Von
Ludwig Binswanger
Kreuzlingen
Goethe spricht einmal aus, daß dem Einzelnen zwar die Freiheit bleiben
solle, sich mit dem zu beschäftigen, was ihn anzieht, was ihm Freude macht,
was ihm nützlich deucht, daß aber das eigentliche Studium der Menschheit
der Mensch sei. Suchen wir nach einer näheren Bestimmung dieses Studiums,
so bietet sich uns dafür ein Ausdruck, dar, der gerade seit Goethe, wenn
auch nicht durch ihn, in der deutschen Geistesgeschichte heimisch geworden
ist. Philosophen wie Schleiermacher, Dilthey, Simmel, Rickert,
Philologen wie Böckh, Historiker wieDroysen, Soziologen wie Max Weher
haben das mit diesem Ausdruck Gemeinte von den verschiedensten Seiten,
zu den verschiedensten Zwecken und mit den verschiedensten Methoden
untersucht. Sie alle sprechen vom „Verstehen“ als einem Grundproblem
des Studiums des Menschen und seiner Werke. Erst spät ist dieser Aus¬
druck und sein Problemgehalt in diejenige Wissenschaft eingedrungen, die,
so sollte man meinen, sich seiner zuerst hätte bemächtigen müssen, in die
Psychologie. Auch heute noch untersuchen die Wenigsten das Verstehen
rein im Hinblick auf die empirische Psychologie; jedoch haben nach dem
ersten epochemachenden Anstoß von Dilthey Forscher wie Spränger,
Jaspers, Scheler, Edith Stein, Haberlin und ich selbst sich darum
bemüht, die Rolle des Verstehens in der Psychologie näher zu bestimmen,
ohne jedoch zu übereinstimmenden Meinungen und Resultaten zu gelangen.
Es ist nicht nur das „Medium“ der Wissenschaft, in welchem „der
Mensch“ verstanden werden kann, ja es ist noch eine offene Frage, ob
sich auf dem Verstehen Wissenschaft, 2umal Erfahrungswissenschaft, über-
2 24
Ludwig Binswnnger
haupt aufbauen kann oder ob das Verstehen letztlich immer nur Sache
des Einzelnen bleibt, der es jeweils vollzieht. Empirische Wissenschaft
wenigstens hätte dann nur das „Material herbeizuschaffen und zu bearbeiten
(Heuristik, Droysen), das die psychologischen (wir reden nur noch von
diesen) Grundlagen des Verstehens zu erweitern, vertiefen und systematisch
zu ordnen erlaubt. Psychologie als Erfahrungswissenschaft hiitte es dann
nur mit den realen Bedingungen des Verstehen» zu tun. Jedenfalls war
es bisher nicht die wissenschaftliche Geisteshai Hing, auf deren Boden das
psychologische Verstehen Triumphe gefeiert hat, sondern eine Hei he ganz
anderer geistiger „Medien“: Ich erinnere nur an Augustins und Kierke¬
gaards leidenschaftlich-religiöses Pathos, an Shakespeares geniale „dichte¬
rische Einbildungskraft“, an Nietzsches philosophisches Prophetentum, aber
auch an die skeptische, nüchtern beobachtende und erzählende „Seelenstim-
mung“ eines Montaigne, vieler seiner antiken Vorbilder und seiner Nach¬
folger. Kein Zweifel: religiöses Hingen mit Gott, philosophische Wertung und
Umwertung, künstlerischer Gestaltungswille und einfache Beobachter- und Er¬
zählerfreude hatten die Menschheit in ihrem „eigentlichen Studium bis vor
kurzem mehr gefördert als die Wissenschaft. Aber als vor- und außerwissen¬
schaftlichen Geisteshaltungen fehlte ihnen doch noch gerade das, was W issen-
schaft allein zu leisten vermag: die Ausarbeitung, Vermittlung und Ver¬
breitung der wissenschaftlichen Methode, die Gliederung und Ordnung der
gewonnenen Erkenntnisse in einem theoretischen Bedeutungszusammen-
hang und, damit verbunden, die Reflexion auf das Erkenntnisverfahren.
Bestimmte soziale, individuelle und geiltesgeschichtliche Faktoren mußten
Zusammenwirken, um das Studium des Menschen im Sinne des Verstehens
in die Bahn der empirischen Wissenschaft zu leiten. Zu den ersten gehört
das soziale Verhältnis zwischen Arzt und Patient, wie es sich mit der Ent¬
stehung der medizinischen Psychotherapie überhaupt herausgebildet hat, zu
den zweiten die Person lichkeit Freuds, zu den dritten der nach hegeliani¬
sche Naturalismus, Evolutionismus und Positivismus. Allen drei so ver¬
schiedenartigen Faktoren zusammen ist es zu verdanken, daß jenes Studium
des Menschen auf den Boden der wissenschaftlichen Erfahrung gestellt
werden konnte. Demgemäß haften ihm jetzt auch ganz spezifische soziale,
individuelle und geistcsgesehichtlichc Einschränkungen und Eigenarten an,
die in einer „allgemeinen“ Lehre vom „Studium des Menschen xioch zu
überwinden wären; aber das ändert nichts an dem historischen Faktum,
daß die Psychoanalyse Freuds das „eigentliche Studium der Menschheit
erstmals systematisch auf Erfahrung gegründet hat.
Erfahren, Verstehen, Deuten in der Psychoanalyse
225
Diese Tatsache wird auch von ernsten „Kritikern 1 ’ der Psychologie Freuds
in der Regel übersehen oder nicht ins richtige Licht gestellt. Entsprechend
der Neuheit seines Verfahrens innerhalb der medizinischen Wissenschaft
blickte man vor allem auf das, was Freud Deuten nannte, nicht ahnend oder
vergessend, daß sich dieses Deuten, eben als „Deuten“, schon in den ver¬
schiedensten Wissenschaften einen Namen verschafft und ein Heimatsrecht
erworben hatte. Unter dem Namen der Hermeneutik oder des hermeneuti¬
schen Verfahrens im Sinne einer „Kunst der Auslegung 1 ' und der Aufweisung
der Regeln dieser Kunst finden wir das Deuten in der Rhetorik und Philologie
von den Griechen bis auf die neueste Zeit, in der Theologie der Kirchen¬
väter (Augustin, Orig in es) und der Nachreformation (Ilaccius), in der
ganzen neueren Geschichte, zum mindesten seit Schleiermacher aber
auch im Hinblick auf die Psychologie naher untersucht und zum wissen¬
schaftlichen Bewußtsein gebracht. Insofern als der spezielle Inhalt und der
spezielle Zweck eines wissenschaftlichen Verfahrens nichts mit diesem Ver¬
fahren als solchem zu tun haben, gelänge es leicht, Freuds Deutungs¬
verfahren als einen Spezialfall der Hermeneutik der Geisteswissenschaften
(Philologie, Theologie, Geschichte in allen ihren Zweigen) aufzuweisen,
und zwar im Sinne einer speziellen empirischen Ausgestaltung und Ver¬
tiefung derselben nach ihrer psychologischen oder individuellen (Böckh)
Seite hin. Und so gilt auch hier wie beim Verstehen der Satz, daß Freud
die Hermeneutik erstmals auf Erfahrung (im Sinne der ErfahrungsWissen¬
schaft) gegründet hat.
So drängt denn alles darauf hin, näher zu bestimmen, in welchem Ver¬
hältnis bei Freud gerade die Erfahrung zum Verstehen sowohl als zum
Deuten steht.
Es handelt sich hier also um ein Stück „Reflexion auf das Erkenntnis¬
verfahren“ der Psychoanalyse, das auf dem zu Gebote stehenden Baum aber
nur äußerst skizzenhaft Umrissen werden kann, da seine gründliche, viele
Beispiele erfordernde Behandlung ein ganzes Buch beanspruchen würde. Da
ferner die in Betracht kommenden Termini mit vielfachen und sehr ge¬
fährlichen Äquivokationen behaftet sind, die nur höchst unvollständig zur
Sprache gebracht werden können, mögen die folgenden Ausführungen mehr
als ein Programm, denn als eine Abhandlung betrachtet werden.
I
Wie auf naturwissenschaftlichem Gebiet, so baut sich auch auf psycho¬
logischem die Erfahrung zunächst auf auf Akten der Wahrnehmun g. Infolge
Imago XII.
l 5
2 26 Ludwig Binswanger
einer verhängnisvollen theoretischen Überbelastung des Problems der l 1 remd“
Wahrnehmung (Analogieschluß-, Emfühlungitheorie) herrschte hier aber
lange Zeit eine allzu prinzipiell einschneidende Trennung zwischen Akten
der Selbst- und Fremd Wahrnehmung. Dank genauer phänomenologischer
Untersuchungen (Seheler u. a.) wissen wir heule, daß es zum mindesten
eine der psychologischen Selbst“ und Fremd Wahrnehmung gemeinsame Akt¬
richtung gibt, die sich wesensmußig von den Akten äußerer Wahrnehmung
unterscheidet und in der wir nicht nur eigenes, sondern auch fremdes
Seelenleben (d. h. nicht auf dem Umweg über die körperliche Wahrnehmung
als solche) erfassen, 1 Und zwar erfassen wir das letztere am „Du“, an der
anschaulichen psychophysisch-neutralen Einheit der fremden Person, an
ihrem gesamten Verhalten oder Benehmen, sofern es sich uns als ihre
Ausdruckssphäre darbietet, an ihrer Gestalt und Mimik, an ihren Gesten
und Gebärden und an ihren sprachlichen H AusdruckenDie letzteren führen
nun aber zu einer zweiten Art psychologischer Erfahrung hinüber. Zwar
können wir auch auf Grund des sprachlichen Gesamtausdrucks Seelisches
unmittelbar wahrnehmen (so z, 11. auf Grund des "Fonfalls und Tempos
des Sprechens die Trauer oder Angst), aber außerdem erfahren wir auf
Grund des sprachlichen Ausdrucks auch indirekt etwas vom Seelenleben
der fremden Person, nämlich auf dem Umweg über die (rationalen) Wort-
und Satzbedeutungen, d H h, über das, was die Person uns in ihren spraclr
liehen Äußerungen über sich kundgibt. Auch liier sprechen wir von einem
Verstehen, aber das Verstehen der sprachlichen Ausdrücke als solches hat
mit dem psychologischen Verstehen noch nichts zu tun, da wir hier zunächst
nur verstehen, was gesprochen wird, aber keineswegs auch den Sprecher als
Person ins Auge fassen müssen, worauf schon Simmel aufmerksam gemacht
hat. Auf dem Umweg über das Gesprochene können wir dann zwar auch
sehr viel von der Person erfahren, aber keineswegs handelt cs sich hier
noch um wahrnehmende, präsentierende oder unmittelbar erfassende Akte,
vielmehr um ein aus der Kundnahme erwachsendes rationales Wissen,
Dieses Wissen steht hinter dem Wahrnehmen insofern ZAiriiek, als es niemals
ein direktes Erfassen von fremden Erlebnissen darstrllt, indem es entweder
ein bloßes unanschauliches Wissen von ihrem Vorhandensein bleibt oder
sich zwar sekundär in Anschauung umsetzt, dabei aber nur repräsentierende,
i) Ob man von Stufen der Fremd Wahrnehmung reden kann, von denen die eine
einer Art „Einfühlung“ gleichkommt, wie Edith Stein es will, und inwiefern es sich
hier um „originär gebende“ Akte im Sinne Husscrls handeln kann (vgl. auch Biiiten*
dijk und PI es sn er), bleibe hier offen.
y* lX*^ \y^ y ^UZ> t 94 {/k4A.*jy+*> y M *
Erfahren, Verstehen, Deuten in der Psychoanalyse
227
vergegenwärtigende oder imaginierende Akte ermöglicht. Hingegen ragt
dieses Wissen über die direkte Wahrnehmung insofern wiederum hinaus,
als es uns nicht nur von dem Vorhandensein von Erlebnissen, ihrem Hier
und Jetzt und eventuell der Art ihres Erlebtwerdens Kunde gibt, sondern
auch von ihrem Sinn oder Gehalt, der prinzipiell nicht wahrnehmbar,
sondern nur sprachlich ausdrückbar oder sonstwie bekundbar ist, Daß beide
Erfahrungsarten verschieden sind, geht auch daraus hervor, daß auf dem
Gebiet der psychologischen Wahrnehmung, sowohl der Selbst- als der Fremd¬
wahrnehmung, eigentliche Täuschungen Vorkommen, können, auf dem der
Feststellung vermittels der Kundgabe oder Mitteilung aber Irrtümer*
Während nun sonst die wissenschaftliche Psychologie, insbesondere aber
die experimentelle, sich auf die zweite Art der psychologischen Erfahrung
stützt, abzielend auf eine möglichst genaue und eindeutige sprachliche
Fixierung des Erlebten und seines Gehalts von seiten der Versuchsperson *
zeigt die psychoanalytische VerFahrungsweise schon hier sehr deutlich ihre
Eigenart insofern, als sie entschieden die erstere Art bevorzugt. Nicht als
ob sie die sprachliche Verständigung gering achtete, — man denke nur
an die sprachliche Wiedergabe der Träume und der Lebensgeschichte, —
jedoch nimmt die direkte Wahrnehmung in der Rangordnung beider Er¬
fahrungsarten insofern den ersten Platz ein, als sie die sprachlich-rationale
Verständigung stets begleitet und, was das wichtigste ist, bei einer In¬
kongruenz der beiderseitigen Erfahrungsresultate den Ausschlag gibt.
Auch bei der Kenntnisnahme vom Inhalt eines Traumes oder eines
Stückes Lebensgeschichte achten wir in der Psychoanalyse ja nicht nur
auf den rationalen Bedeutungsgehalt des Gesprochenen, sondern immer auch
auf den psychologischen Ausdrucksgehalt des Sprechenden* Und wenn wir
dann Traum- und Leidensgeschichte hermeneu tisch auslegen, leitet uns
das, was wir an der Person während des Berichtes direkt wahrnehmen, in
erster und letzter Linie; denn nur die direkte Wahrnehmung ermöglicht
uns zu erkennen, welche von den hermcneutisch möglichen Auslegungen
im vorliegenden Falle wirklich zutreffen* Schon insofern können wir von
einer, weiter unten naher auszuführenden, hermeneu tischen Erfahrung
sprechen* Traumdeutung lediglich auf Grund eines Traumprotokolles oder
seines rein rationalen Bedeutungsgehaltes bleibt immer nur Mutmaßung, so
Virtuosenhaft sie auch geübt sein mag* Erst die Auslegung am lebendigen
Objekt stützt sich auf Erfahrung, im Gegensatz zur Auslegung in den
Gei stes wissen schäften, die zwar ein ungeheures Wissen voraussetzt, aber
nicht im empirischen Sinne sich betätigen und bekräftigen kann. — Unter
* 5 *
228
Ludwig Bi ns wütiger
den Arbeiten Freuds gibt es eine, an der die Bedeutung der direkten
Wahrnehmung direkt demonstriert werden kann, da es sich hier um die
Auslegung eines jedermann zugänglichen Kunstwerkes handelt, nämlich die
Arbeit über den Moses des Michelangelo.
Die direkte Wahrnehmung seelischen Erlebens bleibt nun aber nicht
auf den gleichsam ruhenden Erlebnisbestand beschränkt, vielmehr nehmen
wir auch das Hinübergehen eines Erlebnisses in das andere auf Grund
vielfacher Nuancen der Ausdrucksgestalten wahr. Und indem Freud die
Wahrnehmung der Erlebnisse über weite Strecken hinaus methodisch geübt,
in stundenlang anhaltendem optischem oder akustischem „Hinitarren 4 auf
die Nuancierung, den Ablauf und die Verflechtung der Ausdrucksgestalten
der Person, hat er die Erfahrun gsgrun d hi ge geschaffen für ein System
theoretischer Überzeugungen, das, mag es noch so sehr über Erfahrung
hinausgehen, niemals sein Herauswachsen aus jener Erfuhrungsgrundlage
verleugnet. Wenn es auch ein weiter Weg ist, etwa von der Ausdrucks-
gestalt des „Stockens der Rede 4 bis zur Theorie des Widerstandes, so liegt
doch dieser Weg offen vor uns, für jeden gangbar und prüfbar*
Auf Grund der „Ausdrucksgrammatik 4 (Seheler) gewinnen wir so einen
tiefen Einblick in das Seelenleben der fremden Person, in die allgemeine
Art, das Tempo, den Rhythmus, die Intensität ihres Erlebens, in ihre Beherrscht¬
heit oder Unbeherrschtheit, ihre mehr zentral-geistige oder exzentrisch-trieb¬
hafte Stellung im und Einstellung zum Leben (Häberlin), in ihre mehr
naive oder mehr „bewußte“, in ihre echte oder unechte Erlebnisweise, dann
aber auch in ihre Gesinnungen, Gefühle, Leidenschaften usw. Man hat auch
diese Wahrnehmung von Seelischem Verstehen genannt, verstehendes Wahr¬
nehmen (Häberlin), einfühlendes oder nacherlebendes Verstehen (Dilthey,
Jaspers u. v, a,). Ausdrucksverstehen u, a M jedoch darf man nicht deswegen,
weil Wahrnehmung und Nacherleben von Seelischem und Verstehen sehr
häufig zusammen Vorkommen, beide Akte miteinander verquicken oder gar
verwechseln.
II
Man kann nämlich sehr viel an einer Person wahrgenommen und auf
Grund sprachlicher Kundgabe „nacherlebend 4 oder „vergegenwärtigend
über sie festgestellt haben, man kann also mit anderen Worten ein großes
Erfahrungsmaterial von ihr besitzen und braucht prinzipiell doch noch
nichts an ihr psychologisch verstanden zu haben* Umgekehrt bereichert
unser psychologisches Verständnis keineswegs unsere Erfahrung von der
Person, sie läßt uns vielmehr das Erfahrungsmaterial in einem besonderen
Erfahren, Verstehen, Deuten in der Psychoanalyse 229
Licht erscheinen, hebt es in eine besondere Sphäre, nämlich in die geistige
Sphäre der „psychologischen u Verständlichkeit. Oder anders ausgedrückt:
Der Akt des (psychologischen) Verstehens hat zum Gegenstand nicht ein
reales Sein, wenn er auch auf Erfassensakte von solchem fundiert sein
kann (und, soweit empirische Psychologie in Frage kommt, fundiert sein
muß), sondern sein Korrelat ist ein Sinn oder ätnnzusammenhang, und
zwar in Gestalt eines „verständlichen“ Motivationszusammenhanges.
Denn nicht jeder Motivationszusammenhang ist, wenn auch prinzipiell
verstehbar, so tatsächlich mit seiner Erfassung oder Feststellung zugleich
auch verstanden. Verstanden ist er erst dann, wenn mir seine Ver¬
stau dnisqualität“ aufblitzt, seine a priori einsichtige Evidenz oder Bündigkeit.
Eine solche apriorische Evidenz gibt es natürlich innerhalb der Erfahrung
nicht, sie kann daher auch nicht induktiv gewonnen werden; sie gibt es
nur auf dem Boden einer gewissen Sinn- oder \ ernunftgesetzliehkeib Auch
die Motivationszusammenhänge sind von einer solchen Sinngesetzlichkeit
„beherrscht“, insofern, als der Gehalt der Erlebnisse von sich aus apriori-
gültige oder evidente Anweisung gibt auf ihr Verbundensein mit anderen
Erlebnisgehalten (Simmel). Man sieht also, daß es sich hier nicht um
einen realen Zusammenhang seelisch-realer Erlebnisse, also überhaupt nicht
um das Erlebt werden oder die Verwirklichung von Erlebnissen handelt,
sondern nur um den Sinnzusammenhang, in welchem die (intentionalen)
Erlebnisse auf Grund ihres (intentionalen) Gehaltes stehen. Auf dieser Trennung
baut sich die ganze moderne Personpsychologie auf und sie ist auch grund¬
legend für die Darstellung und das wissenschaftliche Verständnis des Erkenntnis-
verfahrens in der Psychoanalyse. Jedoch darf man, wie aus dem Gesagten her¬
vorgeht, auf Grund der großen aktmäßigen und intentionalen Verschiedenheit,
welche zwischen den kategorial-anschaulichen Akten des Verstehens und
den „sinnlich“-anschaulichen des unmittelbaren Erfassens oder Vergegen-
wärtigens seelischer Erlebnisse besteht, nicht schließen, daß das psycho¬
logische Verstehen nun nicht an die Erfahrung heranreiche, nur Typen
(Sprang er), Ideal typen (Jaspers) zum Gegenstand haben könne, und daß
infolgedessen alles Verstehen wirklicher Vorgänge ein mehr oder weniger
unvollständiges Deuten bleibe (Jaspers). Ohne natürlich die Möglichkeit
des Verstehens von Typen und dessen große theoretische und praktische
Bolle zu bestreiten, muß doch entschieden betont werden, daß es ein Ver¬
stehen gibt, das sich gerade an wirklichen Erlebnissen wirklicher,
individueller Personen vollzieht, und dies ohne auf einem Typen'
verstehen zu beruhen und ohne ein solches zum Kriterium seiner Ver-
2 3 0
Ludwig liinswangpr
ständlichkeit zu machen. (Ich beziehe mich hier auf eine demnächst im
Druck, erscheinende, bedeutsame Arbeit über das Verstellen von Heinz
Graumann, dem ich auch für sonstige mündliche und schriftliche An¬
regungen zu Dank verpflichtet bin.)
Hieraus gebt schon Hervor, was über das Verhältnis von Verstehen und
Erfahren in der Psychoanalyse zu sagen ist. Prinzipiell ist es natürlich
dasselbe wie im Alltagsleben und in der Psychologie; denn es handelt sich
hier ja um wesensmäßige Beziehungen, die, wo immer Verstehen und
Erfahrung zueinander treten oder wo das ersten; sieli auf das letztere „auf¬
baut“, in Erscheinung treten müssen. Wenn wir daher die Überzeugung
hegen, daß Freud das „eigentliche Studium der Menschheit“ im Sinne
des Verstehens des Menschen gewaltig gefordert hat, so heißt das nicht,
daß er „eine neue Art des Verstehens“ oder irgend etwas Neues am Ver¬
stehen selbst eingeführt hätte, denn dieses bleibt immer dasselbe, ob ein
Shakespeare oder Montaigne oder Freud verstellt. Achten wir aber
darauf, daß wir dort von einem „genialen“, „intuitiven“ oder „divinatori-
schen“ (Schleiermacher), und von einem unsystematischen oder zufälligen
Verstehen zu sprechen gewohnt sind, dem wir Freuds wissenschaftlich¬
systematisches oder -empirisches Verstehen gegenüberstellen, so brauchen
wir nur die Lässigkeit des Sprachgebrauches zu durchschauen, um zu
wissen, daß nicht das Verstehen als solches mehr oder weniger genial oder
intuitiv oder divinatorisch ist — geniale Versteher sind alle die Genannten,
und was das heißt, das wäre noch besonders zu untersuchen, — sondern
daß die erfahrungsmäßigen Grundlagen des Verstehens mehr oder weniger
systematisch oder wissenschaftlich angelegt sind. Das kann also niemals
heißen, daß Freud das Verstehen auf Erfahrung „zurückgeführt“ hätte,
was, wie wir sahen, unmöglich ist, da aus purer, noch so sehr gehäufter
Erfahrung nicht ein Verstehen wird; es kann nur heißen, daß Freud die
Erfahrungsgrundlagen des Verstehens statt durch sporadische durch
systematische Beobachtung in ungeahnter Weise erweitert und geordnet
hat, so daß uns heute ein Verstehen des Menschen noch möglich ist „in
Tiefen“, in die früher keine Erfahrung, zum mindesten keine wissenschaft¬
liche Erfahrung, geleuchtet hat.
Inwieweit diese Erfahrung wieder gefördert worden ist durch seine
theoretischen Überzeugungen, die ihm gestuttet haben, das Erfahrungs¬
material zu ordnen, zu ergänzen und einein theoretischen Bedeutungs¬
zusammenhang unterzuordnen, steht hier, wo es sich nicht um die Sphäre
des wissenschaftlich-theoretischen Erklären! handelt, nicht zur Diskussion.
Erfahren, Verstehen, Deuten in der Psychoanalyse
251
Infolge der innigen Beziehungen jedoch, die zwischen der sinnhaften Gegen¬
standswelt des psychologischen Verstehens und der realen des psychologi¬
schen Erklärens herrschen, hat Freud aber auch durch seine Theorien¬
welt indirekt das Verstehen gefördert. Denn da seine Psychologie keinen
zufälligen Zusammenhang „geistreicher Apergus“, keine zufällige Häufung
besonders interessanter oder abnormer Einzelheiten darstellt, sondern einen
theoretischen Bedeutungszusammenhang, der die "Totalität der Person in
Vergangenheit und Gegenwart zu umfassen beansprucht, ist hier auch das
Erfahrungsmaterial schon so geformt und geordnet, daß das Verstehen
nun bereits ein System von Stützpunkten vorfindet, wie es vordem nicht
bestand. — Wir kommen darauf zurück.
III
Was man von Buffon sagt, daß er nämlich aus den zerstreuten Elementen
einer bisher esoterischen Wissenschaft ein System der Erde, eine Theorie
der Natur, ein Kunstwerk der Epoche zu gestalten vermochte, daß er den
Wert und die Überlegenheit des schöpferischen Genies auch in den Wissen
schäften bewies, seine große Beredsamkeit auf einen Gegenstand übertrug,
dem sie bisher ganz fremd geblieben war, das Talent besaß, anderen seinen
Enthusiasmus einzuflößen, und daß er die Naturgeschichte zur populärsten
Wissenschaft von ganz Europa machte (Cuvier, Condorcet, Justi), das
kann man mutatis mutandis auch von Freud und seiner Lehre sagen. Das
Instrument aber, mit dem er diese Lehre schuf, und das er selbst erst
erschaffen mußte, ist sein Deutungsverfahren, dem wir uns nun zum
Schlüsse zu wen den.
Während die Geschichtswissenschaft schon längst eine besondere Methodik
des historischen Forschens besitzt, die man etwa mit Droysen in Heuristik,
Kritik und Interpretation (Auslegung) einteilen kann, und ebenso die Philo¬
logie ihre Methodik des philologischen Forschens (vgl. etwa Böckhs Theorie
der Hermeneutik in seiner Enzyklopädie und Methodologie), so wartet die
Personps3 r chologie noch auf eine derartige Besinnung auf ihre Methode, ja
noch auf deren Ausarbeitung im einzelnen. Was wir davon besitzen, ver¬
danken wir größtenteils Freud. Und zwar ist es die psychologische Heuristik
und Interpretation oder Hermeneutik im engeren Sinne, die er, gerade
mit seinem Deutungsverfahren, am meisten gefördert hat, jedoch besitzen
wir von ihm auch Ansätze zur Kritik. Die Heuristik schafft die Materialien
herbei, sie ist die „Arbeit unter der Erde“ (Niebuhr), die „Bergmanns¬
kunst, zu finden und ans Licht zu holen“ (Droysen), die Herbeischaffung
* 5 2
Ludwig Binswanger
des um Traum oder Krank heitssymploin gruppierten Erlebnismaterials (1 ages-
reste, Lebensgeschichte, Phantasien, Traumen, Freud)* Die Interpretation
oder hermeneutische Auslegung ist auch in der Psychologie nicht lediglich
eine psychologische Auslegung, ein Deuten der „Motive und Absichten ,
vielmehr gibt es auch hier eine sachliche und pragmatische (Droysen),
grammatische und generische (Böckh) Seite der Hermeneutik \ man denke
nur etwa an das Studium der Traumsprache als solcher, an das Aufzeigen
der physiologischen und psychologisch-kausalen normalen und pathologischen
Bedingungen und Grundlagen des Erlebens, an die Untersuchung der geistigen
Strömungen der Nation und Familie, in der die Person stellt, um zu er¬
kennen, wieviel Nichtpersonpsychologisches auch liier zu berücksichtigen ist,
wenn die Deutung wissenschaftlichen Ansprüchen genügen soll*
Was Freud nun Deuten nennt, enthält Bestandteile sowohl aus Er¬
fahrungsakten, als aus Akten rationalen Schließens, als auch
endlich aus eigentlichen Akten des psychologischen Verstehens*
Zu den ersteren gehört alles, was wir durch Erfahrung im bisher geschil¬
derten Sinn, also durch direkte Wahrnehmung und sprachliche Knndnahme
und deren Kritik über das Erleben der Person feit stellen oder w issen.
Hieran schließt sich nun aber eine bisher noch nicht erwähnte Art der
Erfahrung an, die man als die psychoanalytische Heuristik bezeichnen kann,
und die zwar auch auf sprachlicher Kundgabe und Knndnahme beruht,
sich jedoch wesentlich von der sonstigen psychologischen Erfahrung unter¬
scheidet* Es handelt sich jetzt um die „Einfälle“ der Person, in denen
dieselbe wohl etwas ausdrückt, nämlich den (rationalen) Sinn oder die
Bedeutung von Worten oder auch Sätzen, mit deren Bedeutung sie aber
nichts über sich selbst, über ihr eigenes Erleben, kundgibt oder, wenn ja,
so doch außer sinnvollem Zusammenhang mit dem Ausgangserlebnis, im
Anschluß an welches der Einfall erfolgt iit Wir meinen die sogenannten
„freien Assozia tionen“, von deren praktischer Bedeutung jedoch der Nich t-
analytiker sich in der Regel eine übertriebene Vorstellung m acht, da sie
fast immer von eigentlichen sprachlichen Kundgaben durchbrochen und
abgelöst werden*
So gehen also bei der psychoanalytischen Heuristik im weiteren Sinn
„gewöhnliche“ psychologische Erfahrungsakte mit solchen der spezifischen
psychoanalytischen Heuristik Hand in Hand. Alle zusammen ober liefern
uns das noch „gleichsam unparteiische“ (Freud) Material, das zwar schon
Hinweise für die Deutung enthält, und in das sich schon Akte des
Deutern eingeschlichen haben mögen (weswegen es noch einer besonderen
Erfahren, Verstehen, Deuten in der Psychoanalyse
2 55
Kritik zu unterwerfen ist), das aber doch erst die Grundlage für die
psychologisch-hermeneutische Deutung, Auslegung oder Interpretation
ah gibt.
Selbstverständlich bauen sich nun auch bei dem psychoanalytischen Vor¬
gehen schon auf den gewöhnlichen Erfahrungsakten Akte des psychologi¬
schen Verstehens auf, und wird unter Umständen auch auf Grund der
spezifisch-psychoanalytischen Erfahrung und im Zusammenhang mit der
gewöhnlichen einmal ein neues V erstehen aufblitzen, die Regel aber ist,
daß jenes gesamte Erfahrungsmaterial erst gedeutet werden muß, um
verstanden werden zu können.
Damit gelangen wir zu den zweiten Bestandteilen (vgl. oben S. 232) des
Freudschen Deutungsverfahrens, nämlich zu den „rationalen oder „theo¬
retischen“ Akten des Deutens oder Auslegens.
Das Deuten oder Auslegen beginnt bereits mit der wissenschaftlich¬
systematischen Ordnung und Gruppierung des Erfahrungsmaterials nach
rationalen Themen oder Sinnzusammenhängen (nach Traumthemen, Symptom¬
gehalten, objektiven Bedeutungsgehalten einer Handlung usw.), einer Ord¬
nung, welche die Person zum Teil schon selbst begonnen hat, zum Teil
aber dem Ausleger überlassen muß; das letztere gilt insbesondere hinsicht¬
lich des spezifisch-psychoanalytisch-heuristischen Materials, nämlich den
Einfällen. Diese Vorstufe der Deutung ist noch keine eigentlich psycho¬
logische Betätigung oder muß wenigstens keine sein, da sie (vorwiegend)
mit rationalen Sinn- oder Bedeutungszusammenhängen zu tun hat. Die
psychologische Auslegung beginnt erst da, wo wir in das so geordnete
Material (seelisches) Leben hineinbringen, es nach seelischen (d. h.
hier so viel wie nacherlebbaren) Möglichkeiten gruppieren. Zu dieser
Gruppierung genügt aber das Erfahrungsmaterial allein nicht, wir bedürfen
jetzt einer „Ergänzung der Erfahrung“ (aber immer unter weiterer
Fortsetzung der Erfahrung mittels direkter Beobachtung der Person) durch
Schlüsse, auf Grund von Analogien, Vergleichen, hypo thetischen Ver¬
mutungen und eigentlichen Theorien, auf Grund also eines durch andere
Erfahrungen gewonnenen Wissens und von Theorien über dieses Wissen.
So entsteht der Freud zu Unrecht vorgeworfene, weil jeder Auslegung
als solcher innewohnende „hermeneutische Zirkel“, d. h. vyir deuten,
ganz allgemein gesprochen, das einzelne auf Grund eines schon voraus¬
gesetzten Ganzen, welch letzteres wir wieder aus einzelnem erst gewinnen.
(Daher die Wechselbeziehungen zwischen Analyse und Synthese und zwischen
Induktion und Deduktion bei jeder Deutung oder Auslegung.) Doch hievon
254
Ludwig Binswanger
sei jetzt nicht die Hede, Auf Grund des vorliegenden Erfahrungsmaterials
und all jenes Wissens vermuten oder schließen wir nun, was etwa „zwischen“
oder „hinter“ jenem Erfahrungsmaterial vorgegangen sein mag, wie es
„zustande kam“, was alles noch einer näheren Darlegung bedurfte. Wir
befinden uns hier in der Phase des „sekundären Deuten*“ im Sinne Haber-
lins, d. h. der sekundären wissenschaftlichen Bearbeitung psychologischen
Forschungsmaterials, 1 An das festgestellte nacherlebbare und zum Teil auch
schon verstandene Erfahrungsmaterial reihen wir so schließend oder deutend
neues Wissensmaterial, das wir in Akten imagiliierender oder phantasieren¬
der Vergegenwärtigung wiederum in „konkretes" seelisches Erleben einer
konkreten Person „umsetzen“. So tritt z, R, ein Stück des manifesten
Trauminhaltes in Relation zu Themen des wachen Erlebens, der Gehalt
einer Symptomgruppe zu Inhalten der Lebentgeschichte, und zwischen
beide Pole der Relation wird so ein Drittes eingeschoben, ein möglicher
„unbewußter" Gedankengang, So erschließen oder deuten wir zwischen
dem manifesten Inhalt von Freuds Traum von Irmas Injektion einerseits,
dem darum gruppierten Material der Tageireste anderseits einen „unbe¬
wußten Gedankengang“, etwa im Sinne eines „ Plädoyer*“, erschließen
oder deuten wir zwischen den Personen ries Traums, ihren Reden und
Situationen und denjenigen der sachlich „zugehörigen“ Tagesreste seelische
Regungen im Sinne von Racheimpulsen, Selbstverteidigungen, Sorgen und
Wünschen, erschließen oder deuten wir zwischen der Angst meiner Patientin
Gerda (Jahrbuch III) vor dem Abreißen des Absatzes einerseits und den
zeitlich und sachlich damit zusammenhängenden Stücken ihrer Lebens¬
geschichte anderseits auf das Fortbestehen einer (unbewußten) Angst, von
der Mutter losgerissen zu werden, auf eine Angst vor dem Geboren werden,
Gebären usw. Nun mögen auch hier schon Akte des Verliehen« mitgespielt
haben — es handelt sich für uns ja nicht um Fragen des psychologi¬
schen Prius oder Posterius realer Erlebnisse des Auslegers, sondern um
Fragen des phänomenologischen Wesennusam menhange* intentionaler
Akte, — das eigentliche psychologische Verständnis aber, das dem ganzen
hermeneutischen Verfahren oder der hermeneutitchen Operation (Schleier-
i) Den (früheren) Sprachgebrauch H ä b e r 1 i n i von einer primären Deutung (im
Sinne der psychologischen Erfahrung) und desgleichen den Sprachgebrauch von
Elsenhans und Spranger (Erkennung und Wiedergabe eines Geistigen aus sinnlich
gegebenen Zeichen), welche dabei an Dilthey 1111 knüpf an (Erkennung eines Inneren
aus Zeichen, die von außen gegeben sind), diesen ganzen Sprachgebrauch leimen wir
us sachlichen und terminologischen Gründen ab.
Erfahren, Verstehen, Deuten in der Psychoanalyse
2 55
mach er) die Krone aufsetzt, und um dessentwillen der ganze Apparat in
Bewegung gesetzt worden ist, tritt erst da auf, wo ein „sinnvoller 1 Moti¬
vation szus am men hang“ hergestellt ist, wo das eine Glied der Relation,
der Gehalt des Traumstückes oder Symptoms nach einer apriorischen
Vernunftgesetzlichkeit, d. h, eben sinnvoll, als hervorgehend aus
dem Gehalt des anderen Gliedes, also etwa eines Racheimpulses, Wunsches,
angstvollen Erlebens o, dgL erfaßt wird. Dabei dürfen wir aber nie ver¬
gessen, daß es sich hier keineswegs um gleichsam isolierte oder für sich
bestehende „verständliche Zusammenhänge“ im Sinne von Jaspers handelt,
die ja nur Hilfskonstruktionen darstellen, sondern wesensmäßig immer auch
um die Intention auf ein Ich, das, um mit Pfänder zu reden, die von
dem motivierenden Erlebnisgehalt ausgehende „Forderung“ vernimmt oder
„sich einverleibt“, sich auf diese Forderung stützt und den geforderten
Akt in Übereinstimmung mit der ideellen Forderung tatsächlich vollzieht.
Wir sehen, das Verstehen als Verstehen ist durchaus kein anderes, ob es
sich nur auf reine Erfahrungsakte oder auf ein „Gemisch“ von Erfahrungs¬
und Deutungsakten oder eventuell auch auf reine Deutungsakte (was
praktisch aber kaum vorkommt) auf baut oder von ihnen fundiert ist. Grau¬
mann, der einzige, der das Verstehen phänomenologisch genau untersucht
hat, hat meines Erachtens einwandfrei nach gewiesen, was ja auch bei
streng phänomenologischer Einstellung a priori einsichtig ist, daß sich am
Akt des Verstehens nichts ändert, von welchen Akten es auch immer
fundiert sein mag. Das psychologische Verstehen kann sich also, muß sich
aber nicht an tatsächlich erfahrenem, „realem“, seelischem Material voll¬
ziehen, es sagt aber auch dann nichts aus über die Wirklichkeit seelischen
Geschehens oder Erlebens, sondern, wie wir sahen, über den ideellen Sinn,
in welchem die Gehalte der von einer Person vollzogenen seelischen Er¬
lebnisse zueinander stehen. Ist das Material, auf dem sich das Verstehen
auf baut, nicht erfahren, sondern nur gedeutet, ja auch nur phantasiert, so
'
}
i) Was Freud sinnvoll („Siam", „Bedeutung“) nennt, bezieht sich zunächst nur
auf nach erlebbare Motivationszusammenhänge. Ein psychisches Erlebnis ist für ihn
co ipS 0 7 d, h. ex definitione, sinnvoll; sein Sinn ist erfaßt, wenn sein Motivations¬
zusammenhang nach erlebbar erfahren oder gedeutet ist. Den Unterschied zwischen
Nacherleben und Verstehen und den damit zusammenhängenden zwischen realem
Erlebniszusammenhang und ideellem Siimzusammenhang kennt Freud nicht Was
wir hier Sinn nennen, muß streng geschieden werden von jedem teleologischen
oder finalen Sinn, d, h. von jedem, sei es von der Person seihst, sei es von dem
Ausleger „eingelegten“ Zweck, und somit von jeder „prospektiven Tendenz“, „Leit¬
linie“ 11SW. I
*
2 5 6
Ludwig Bim Würger
bleibt auch hier das Verstehen immer ein Verstellen in dein eben er¬
wähnten streng präzisierten Sinne.
Damit ist das Verhältnis zwischen Erfahren, Deuten und Verstehen in
der Psychoanalyse klargeworden. Es zeigt sich dabei, daß es, streng ge¬
nommen, nicht richtig ist, das ganze hermeneutische Verfahren als Deutung
zu bezeichnen, da es Akte des Erfahrens T Deutern und Verstehens enthalt;
aber noch weniger richtig scheint es uns zu sein, das hermeneutische Ver¬
fahren als solches ein Verstehen zu nennen, wie es Schleiermacher,
Bockh, Dilthey getan haben (die hier aber auch oft von einem Deuten
sprechen), und wie es heute noch Spranger tut, dessen n Verstehen“ ein¬
zelne Denkakte und Schlüsse „enthält **! 1 Wir sehen ferner, daß es nach
unserer Auffassung nicht richtig ist, das Deuten als ein unvollständiges
Verstehen zu bezeichnen (Jaspers) und verstehen vollends nicht, wenn
wir neuerdings hören. Deuten heiße, „die im Akte des Verstehens erfaßten
Zusammenhänge in die Sprache des Begriffes kleiden“ (AIlers). Gerade
dieses Beispiel zeigt, wie wichtig, ja unerläßlich, es heute ist, bei solchen
Untersuchungen stets den phänomenologischen Tatbestand im Auge zu
behalten , 2 *
Zum Schlüsse müssen wir uns nur noch einige Beziehungen klarmachen,
wie sie zwischen den Gegenstands weiten des Erfahren», Drittens und Ver¬
stehens bestehen, Die Krönung des ganzen Verfahren» ist, so sahen wir,
das Auftreten des psychologischen Verstehens, also die Erfassung der ideellen
Sinnbeziehungen zwischen den Gehalten realer psychischer Erlebnisse einer
diese Erlebnisse vollziehenden realen Person. Dieses Versieben kann, ebenso
wenig wie durch Erfahrung begründet, in Erfahrung umgesetzt werden
oder sich durch Erfahrung bestätigen; denn ideelle Sinn zusammen hange
„existieren * 4 im Reiche des Geistes und sonst nirgends. Hingegen kann das
Resultat der Deutung in Erfahrung umgesetzt werden und wird es in
jeder praktischen psychoanalytischen Operation mehr oder weniger um¬
gesetzt (vgl. auch jenes „Das habe ich immer gewußt“ unserer Kranken).
Jedoch existieren auch hier Grenzen, Wahrend aber zwischen der Welt
1) Nur bei Droysen finde ich die Trennung zwilchen einem Verstehen als
„logischem Mechanismus“, womit er die liermeneutitche Operation als Games meint,
und einem Verstehen als Verständnisakt: „Dieser erfolgt unter den dargelcgten Be¬
dingungen als unmittelbare Intuition, als tauche sich Seele in Seele, schöpferisch
wie das Empfängnis in der Begattung,“ (Historik, Paragraph 11.)
2 ) Es ist aber zugegeben, daß dieser Tatbestand, gerade so weit er den Akt des
Deutens überhaupt und des Deutens der Perionpiychologie im Speziellen betrifft,
noch wenig aufgehellt ist. Die besten Hinweise finden sich wiederum bei Gniumunn.
Erfahren, Verstehen, Deuten in der Psychoanalyse
2 37
des Verstehens und derjenigen der Erfahrung (im Sinne der Erfahrungs^
Wissenschaft) prinzipielle, im Wesen der betreffenden Akte gründende
Grenzen herrschen, sind die Grenzen zwischen den Gegenständen der
Deutung und denjenigen der Erfahrung verschieblich. Das „psychologische“
Deuten, im Gegensatz zum naturmythologischen, religiösen usw., meint ja
einen faktisch möglichen Erfahrungsinhalt, richtet sich ja auf etwas als
Inhalt einer möglichen Erfahrung, es hat also eine positive Beziehung zum
möglichen Erfahren, Die Grenzen Hegen hier nicht im apriorischen Gebiete
der Aktgesetze, sondern in dem empirischen der realen Sachwelt, die in den
Akten aufgefaßt werden soll. Der reale psychologische Sachverhalt, „xeale
psychologische Gesetzmäßigkeiten sind es, die hier Schranken setzen. Diese
Schranken sind vom Deuten zum Erfahren hin verschieblich und es hangt
von der jeweiligen wissenschaftlichen Persönlichkeit des Forschers ab, wie weit
er die Grenzen der Deutung über die mögliche Erfahrung hinaus verschieben
will „Aber gerade auf diesem Gebiete gilt“, um mit Schleiermacher zu
reden, „das sonst ziemlich paradoxe Wort . . daß Behaupten weit mehr
ist als Beweisen“, womit gesagt sein soll, daß das „divinatorische Verfahren
hier nicht zu sehr zugunsten des „demonstrativen eingeschränkt werden
darf. Jedenfalls begreifen wir jetzt sehr gut, wie man das Deuten in der
Psychoanalyse als ein „Als-ob-Erfahren“ (Graumann) bezeichnen kann,
vielleicht auch als ein „Noch-zu^Erfahren“, wir sehen aber deutlich, daß
mau es auf Grund unserer Auffassung nicht bezeichnen kann als ein
Als-ob-Verstehen“ (Jaspers).
*
Bedenken wir, daß Erfahren, Deuten, Verstehen nur die personpsycho¬
logische Seite der Forschungen Freuds betreffen, also nur dasjenige Studium
des Menschen, dessen Endziel es ist, ihn zu verstehen, und dessen Methode,
die Wege zu diesem Verstehen aufzuweisen, und bedenken wir, daß wir
alles ausgeschlossen haben, was sich auf das naturwissenschaftliche, also
dynamische, psychologisch-genetische, physiologische, biologische und ent¬
wicklungsgeschichtliche Erklären in seinem Lebenswerk bezieht, so be¬
wundern wir den Mut, der so Großes gewollt, den Geist, der es gedacht,
die Kraft des Willens, die es ausgeführt.
Zur psychoanalytischen Auffassung
der Intelligenz
Von
Raymond de Saussure
Genf
Wir haben nicht die Absicht, in dem engen Bahnten dieses Artikels
eme Iheorie der Intelligent, zn geben und sie durch alle dazu notwendigen
rgumente zu stutzen. Wir möchten nur Über den Beitrag Rechenschaft
geben, den die Psychoanalyse zu dem so schwierigen Problem der Intelligenz
geliefert hat, und möchten zeigen, welches neue Licht sic noch auf dieses
dunkle Gebiet werfen kann.
Von allen Verdiensten, die die Psychologen des zwanzigsten Jahrhunderts
reud zuerkennen werden müssen, wird eines der größten gewiß jenes
sein, daß er die intellektualistische Psychologie, die in den letzten zwei
Jahrhunderten Überwogen hatte, endgültig stürzte. Die Psychoanalyse hat
uns nicht nur gelehrt, daß Gefühle nicht aus dem Intellekt zu erklären sind,
sondern auch, daß man hinter jeder intellektuellen Erscheinung determinie¬
rende affektive Ursachen zu suchen hat. Ungeheuer ist der Dienst, den
freud der Wissenschaft durch diesen allgemeinen Nachweis erwiesen hat,
auch wenn er nicht dazu gelangt ist, eine speziell^Psychologie der Intelli¬
genz aufzustellen. Wenn aber auch Freud das uns hier interessierende Problem
me in seiner Gesamtheit direkt angegriffen hat, so hat er es durch sein
ewunderungswürdiges Werk für uns urbnr gemacht, indem er sein Genie
auf eine Menge der Intelligenz verwandter Erscheinungen gerichtet hatte.
Überblicken wir seine und seiner Schüler Arbeiten, um uns besser von
dem schon durchlaufenen Wege Rechenschaft abzulegen.
Ein erster Punkt, den zu betonen wir für wichtig halten, ist, daß die
Intelligenz etappenweise zum objektiven Denken schreitet. Im
Zur psychoanalytischen Auffassung der Intelligenz
239
Jahre 1900 hat Freud in seiner grandiosen „Traumdeutung“ zuerst gezeigt,
daß die Intelligenz sich durch eine Reihe von miteinander durch affektive
Kausalität verbundenen Symbolen äußern kann, im Gegensatz zu ihrer Arbeits¬
weise auf der Ebene der äußeren Realität, wo sie konkrete Erscheinungen
durch konstante und logische Beziehungen zu verbinden sucht. Diese Unter¬
scheidung zwischen einem logischen und einem afiektiven Denken mußte Freud
zu der Beobachtung führen, daß in allen hysterischen und psychasthenischen
Symptomen sowie in den Fehlleistungen und dem Witz die Affektivität
ohne Wissen des Individuums in sein Urteil einzudringen versucht. Da¬
durch hat er in einer augenscheinlichen Weise die Rolle des Gefühls in
unserem logischen Denken betont. Diese grundlegende Beobachtung hat
Bleuler und seinen Schülern ein neues Licht auf die Pathologie der Schizo¬
phrenie zu werfen und Piaget mit Hilfe von sinnreichen lests die ver¬
schiedenen Etappen der Irttelligenzentwicklung des Kindes zu studieren
erlaubt. Piaget beobachtet, daß das Kind, bevor es eine soziable und an
die Realität angepaßte Sprache besitzt, von der Außenwelt nur jene Elemente
aufnimmt, die seinem Egozentrismus und Autismus dienen. Bleuler stellt
fest, daß der von der Umwelt in seinen Gefühlen gekränkte Geisteskranke
sich von der äußeren Realität abschließt, um sich in das autistische und infantile
Denken zurückzuziehen. Freud und Abraham heben hervor, daß die Ein¬
stellung zur Außenwelt letzten Grundes mit den Erscheinungen der Sexualität
verbunden ist. Das Individuum wendet sein Interesse in dem Augenblick der
Außenwelt zu, als die Libido von der narzißtischen zur Objektstufe aufsteigt.
Verletzt die Außenwelt das Individuum, so wirft sie es in das narzißtische
Stadium und in den Autismus zurück. Das ganze Problem der Intelligenz
scheint somit durch die normale Entwicklung der Triebe, und insbesondere
des Sexualtriebes, bedingt zu sein.
Es folgt daraus, daß verschiedene Fähigkeiten des Individuums von der
Art abhängig sind, in der es seine Konflikte zu lösen gewohnt ist. Ein
von Kind auf introvertiertes Individuum wird der Außenwelt gegenüber
gleichgültig bleiben, wird sie skotomisiert haben. Der Affektive hingegen,
der seine Libido auf sich zurückgezogen hat, wird eine Fähigkeit zur In-
trojektion entwickeln können, die ihm sehr nützlich sein wird, wenn es
ihm gelingt, seinen Konflikt zu objektivieren.
Ein Individuum, das diametral entgegengesetzt reagiert hat, das seinem
Konflikt durch Beobachtung der Außenwelt zu entweichen versucht, wird
immer die Tendenz haben, sein Innenleben, seine psychologische Reaktion
zu skotomisieren. Es wird gar keine Begabungen zu introjektiven Wissen-
Raymond de Saussure
schäften aufweisen. Sein Geist wird sich mit Vorliebe konkreten Tatsachen
zuwenden, an die es sich heften kann, um vor sich selbst zu fliehen.
Man sieht aus diesen Beispielen, die man beliebig vermehren könnte,
daß das Interessenspiel und folglich auch die Richtung der Intelligenz
in konstanter Abhängigkeit von der Richtung ist, in der die Libido des
Individuums sich entwickelt hat. Das ist in sehr interessanter Weise schon
von Melanie Klein bezüglich der intellektuellen Entwicklung eines kleinen
Kindes gezeigt worden. 1 2 3
Wenn die Psychoanalyse nur die Interessensphären eines Individuums
erklärt, so erschöpft sie damit noch nicht alle Quellen seiner Intelligenz*
Man muß außerdem mit ebenso großer Aufmerksamkeit die verschiedenen
Formen des Gedachtnisses, dieses für das gute Funktionieren der Intelli¬
genz so wichtigen Instrumentes, studieren. Die Psychoanalyse lehrt uns,
daß das Gedächtnis nicht nur in hohem Grade von unserer Affektivität
abhängig ist und nur behält, was uns vom vitalen Standpunkt interessiert,
sondern auch, daß unsere Gedächtnisfähigkeit von der Einstellung abhängig ist,
die wir unseren Mitmenschen gegenüber ein nehmen. Ein vorn Minderwertig¬
keitskomplex beherrschter Gelehrter wird alle gegen seine Theorien gemachten
Ein wände behalten, im Gegensatz zu einem Forscher, der mit seiner Auf¬
fassung durchdringen will, und die Tendenz hat, die Gedanken gange seiner
Kollegen zu skotomisieren. Er wird unwillkürlich alle Einschränkungen seitens
der Kollegen gegen seine Theorie, sogar die berechtigtsten, vergessen. Aus
diesem Mangel an Objektivität unseres Gedächtnisses folgt ein ebensolcher
in unseren wissenschaftlichen Anschauungen. Man sieht daraus wieder, bis
zu welchem Grade unsere Intelligenz von unserer Affektivität abhängig ist.
Erinnern wir uns auch der Arbeiten von Radö u und Hermann,^ die
den Einfluß unserer Gefühle sogar auf die normativen und logischen Formen
unseres wissenschaftlichen Denkens aufgezeigt 1 iahen.
Ich kann diesen kurzen Überblick nicht übschließen, ohne die Gedanken¬
gänge des leider verstorbenen J. Varendonek anzuführen. Er war es sicher¬
lich, der die vollständigste psychoanalytische Untersuchung der Intelligenz
versucht hat. Man kann sich aber ihm gegenüber nicht des Vorwurfes er¬
wehren, daß er die Begriffe des Intellektualismus behalten hat, um sie an
Hand der Freud sehen Lehren zu analysieren, statt, was nützlicher gewesen
1) Melanie Klein: Eine KinderentwicklLing. Imngo, Bd. VII, S. 251 ff. 1921.
2) Rad6: Die Wege der Naturforschung im Lichte der Psychoanalyse. Imago,
Bd. VIII, S. 401 ff.
3) Hermann: Psychoanalyse und Logik. (Imago-Bücher VII.)
Zur psychoanalytischen. Auffassung der Intelligenz 241
wäre* vollkommen mit der Vergangenheit zu brechen und eine mehr um¬
fassende, durchgehende Analyse der Intelligenz zu geben, 1
Hermann, 2 einer der wenigen Psychoanalytiker, die die Gesamtheit des
Intelligenzproblems angegangen haben, bemerkt, daß das Individuum in der
Gefühlswelt in unangepaßter Weise reagieren kann (z. B. durch Introversion
infolge eines Liebeskummers), ohne dabei aufzuhören, ein intelligenter Mensch
zu sein. Er möchte aus diesem Grunde das Streben, unsere Triebe den An¬
forderungen der Außenwelt anzupassen, vom Komplex der Intelligenz trennen.
Dieses Problem würde sich hauptsächlich auf den ?? tiefen Gedanken“ be¬
ziehen und seine einzige Wirkung auf die Intelligenz wäre, unsere Interessen¬
sphären, folglich das Feld, auf dem unsere Intelligenz sich geltend macht,
zu beschränken. Dieser Standpunkt kann gewiß vertreten werden, ist aber
von der Definition abhängig, die man dieser Funktion gibt. Man kann jedoch
Hermann darauf hinweisen, daß unsere Objektivität auf dem ganzen Ge¬
biete der Psychologie und unserer praktischen Aktivität um so größer ist,
je besser wir unsere Triebe der äußeren Realität anzupassen wissen. Es
folgt aus dieser Tatsache, daß wir gar keine Schwierigkeit darin sehen,
die Sternsche Definition beizubebalten, nämlich daß *,die Intelligenz jene
allgemeine Fähigkeit des Individuums ist, seinen bewußten Gedanken auf
neue Aufgaben zu richten; sie ist jene allgemeine Fähigkeit, uns neuen
Leben sbedingungen und Problemen anzupassen“. 3 Im übrigen ist diese
Definition der von Claparede sehr ähnlich: 1) j,Die Intelligenz ist die
Fähigkeit, durch das Denken neue Probleme zu lösen“; 4 2) ^Die Intelligenz
ist ein durch mangelhafte Anpassung hervorgerufener geistiger Prozeß, der
dazu bestimmt ist, das Individuum wieder anzupassen, indem er die neue
Lage, vor der das Individuum sich befindet, löst/' 5
Man sieht, daß für Claparfede die Intelligenz nur eine vikariierende
Tendenz ist, die nur dann an der Reihe ist, wenn ein Hindernis auftritt.
Seine zweite, ganz allgemeine Definition ist vollkommen geeignet, für die
Anpassung der Triebe verwendet zu werden. Ich, für meinen Teil, würde
dieser Definition noch hinzufügen: ?3 . , , durch eine den Anforderungen
der Außenwelt adäquate Lösung.“
1) Vgl. Varendonck: I/Evolution des Facultas conscientes. Alcan, Paris 1921,
2) Hermann: Intelligenz und tiefer Gedanke. Internationale Zeitschrift für Psycho¬
analyse, Bd. VI, S. 195. 1920.
5) Stern: Die psychologischen Methoden der Intelligenzprüfung. S. 5. Leipzig 1912.
4) Clapar&de: Psychologie de V Intelligence. „Scientia“, p. 353. 1917.
5) Claparede: De diverses cat^gories de tests mentaux. Arch. Suisses de Neuro¬
logie et de Psychiatrie, p. 102. 1917.
Imago XIL
16
Raymond de Saussure
2 42
Das Problem, das dann auftaucht, ist, ob die Intelligenz eine automatisch
sich ergebende Resultierende, eine Art von Epiphänomen ist, das durch den
Antrieb unserer Triebe und die Anforderungen der äußeren Realität bedingt
ist, oder ob sie im Gegenteil eine besondere Aktivität sui generis ist, die
uns erlaubt, Probleme vorauszusehen.
Schon die Tatsache, daß wir manchmal zweifeln oder daß wir fähig
sind, uns ein Problem außerhalb jeder vilalen Notwendigkeit zu denken,
bringt uns zur Annahme, daß die Intelligenz als eine unabhängige Aktivität
erscheint, deren Natur und Betätigungsweisen wir bestimmen müssen,
Clapar&de betrachtet im ersten der oben angeführten Aufsätze die
Intelligenz als eine triebhafte Aktivität in dem Sinne, daß sie wie ein
automatischer Ausloser einer ganzen Reihe von realen und geistigen Tast¬
versuchen wirkt, die solange fortgesetzt werden, bis das Individuum sich
wieder angepaßt fühlt.
Von der Definition, die man dem Triebe gibt, hiingt es natürlich ab,
ob man das Recht hat, die Intelligenz auf eine triebhafte Aktivität zu be¬
schränken, Jeder weiß, welche furchtbare Verwirrung bezüglich dieses Be¬
griffes besteht; ich habe andernorts gesagt, 1 warum ich mich an die folgende
Definition Freuds halte: „Der Trieb ist ein periodischer innerer
Reiz, der auf eine adäquate Reaktion hin, eine spezifische Lust
erzeugt**. Ist diese Definition mit der eben beschriebenen Auffassung von
der Intelligenz zu vereinbaren? Das ist das Problem, das wir untersuchen
möchten.
Entspricht die Intelligenz einem periodischen Reiz? Halten wir uns an
die Definition Claparödes, so konstatieren wir, daß die Intelligenz jedes-
/ mal dann auftritt, wenn der Organismus oder das Denken unbefriedigt ist,
j d. h, wenn es sich unangepaßt fühlt. Ist dies also ihre Akliotisweise, so
/ muß sie durch jeden Trieb ausgelöst werden können. Die I riebe erscheinen
also als Kräfte, die das Individuum erregen und eine intellektuelle Betäti¬
gung auslösen, um eine Befriedigung zu erzielen. Wenn man näher zurieht,
bemerkt man, daß der Trieb manchmal Automatismen, manchmal die Intelli¬
genz in Bewegung setzt, Je hoher ein Individuum in der I ierreihe sieht, um
so eher wird der Trieb die höheren Fähigkeiten in Bewegung setzen.
Es ist hier der Ort, die Bemerkung einzuschalten, daß der 1 rieb nicht
immer von innen, durch die Drüsen Wirkung, geweckt wird, sondern daß
t) Siehe R. de Saussure: Evolution sur In notion d’inalinct (erscheint im II. Band
der „Evolution psychiatique“. Pnyot, Paris 1906)»
Zur psychoanalytischen Auffassung der Intelligenz
2 45
er durch einen äußeren Reiz in Bewegung gesetzt werden kann* So wird
ein Hühnchen den hingestreuten Sand aufpicken, weil es daran gewöhnt
ist, daß ihm Getreidekörner hingeschmissen werden* Der Automatismus
wird sogar durch einen inadäquaten Reiz geweckt* Der hungrige Mensch
hingegen wird nicht den ersten besten Gegenstand essen, sein Appetit wird
seine intellektuellen Kräfte in Aktion setzen, die ihn über die beste Art,
sein Bedürfnis zu stillen, belehren werden* Wir sehen also, daß es beim
Menschen wie bei vielen höheren Tieren zwischen dem Reiz und der Be¬
friedigung des Triebes eine Reihe von Schritten der Intelligenz gibt, wäh¬
rend das niedere Tier nur eine Aufeinanderfolge von Automatismen besitzt.
Der Irrtum vieler französischer und englischer Gelehrten, die in ihrer
Sprache nicht — wie im Deutschen — „Trieb“ und „Instinkt“ unter¬
scheiden, war, den Trieb als Reiz und die vom Individuum zur Befriedi¬
gung des Reizes unternommenen Schritte immer als ein einziges Problem
behandelt zu haben. Es folgte daraus eine Menge von Diskussionen über
den vererbten Automatismus und die Intelligenz, die im Grunde dem
wahren Problem des Triebes fern liegen*
Es folgt aus dem obigen, daß die Intelligenz sowohl durch Triebreize,
als auch durch äußere Wahrnehmungen ausgelöst werden kann. Im ersten
Fall hat sie die Aufgabe, in der Außenwelt eine Befriedigung zu suchen,
im zweiten, die Wahrnehmung für die Befriedigung des Organismus zu
verwenden. Sie hat also keinen spezifischen Reiz. Sie wird durch alle Reize
des Organismus oder der Außenwelt in Bewegung gesetzt. Sie bietet auch
keine spezifische Befriedigung, da sie allen Trieben dient* Ihre Rolle ist
jedoch nicht auf die einer Magd beschränkt* In gewisser Hinsicht ist sie
Herrin. An unsere Intelligenz wird jeden Augenblick von vielfachen Reizen
appelliert. Sie kann nicht gleichzeitig auf alle Rufe antworten, oder besser
gesagt, sie kann nicht diese Menge von Empfindungen beschwichtigen, indem
sie sie sofort und alle gleichzeitig in Bewegung verwandelt. Da sie nicht im
Dienste eines einzelnen, sondern der Gesamtheit unserer Triebe stellt, muß sie
die Handlung verzögern, unseren Organismus disziplinieren, um gleichzeitige
Reaktionen durch aufeinanderfolgende zu ersetzen. Sie ist eine höhere
Instanz, die unsere Empfindungen und Reaktionen organisiert, diszipliniert
und den Anforderungen der Außenwelt anpaßt* Diese komplizierte Aufgabe
ist es, die ihr ein so verschiedenes Gepräge gibt, und welche ein einheit¬
liches Bild über ihre Natur so schwierig macht.
Da die Intelligenz eine so komplizierte Funktion ist, kann sie auf eine
gewisse Anzahl elementarer Funktionen zurückgeführt werden. Diese müssen
Raymond de Saussure
nach physiologischen Funktionen des Gehirnes bestimmt werden und nicht,
wie man es tat, nach Eigenschaften, welche die intellektualistische Psycho¬
logie der vorigen Jahrhunderte aufgestellt hatte. Führen wir uns diese
Funktionen vor Augen.
I) Die Wahrnehmung
Jeder unserer Sinne wirkt wie ein Trieb, indem er eine besondere Empfin¬
dung weckt, die ihrerseits eine Neugierde bedingt und uns dazu treibt, sich
ihr anzupassen, d. h. sich Rechenschaft abzugeben, woher sie stammt, was
sie bedeutet und auf welche Weise wir ihr gegenüber zu reagieren haben.
Die Wahrnehmung unterscheidet sicli jedoch darin vom Triebe, daß der
sie erregende Reiz nicht von innen, sondern von außen kommt. Nichts¬
destoweniger bleibt bestellen, daß wir nicht umhin können zu sehen und zu
hören und daß wir nur dann befriedigt sind, wenn wir uns diesem Gesichts¬
eindruck oder diesem Ton angepaßt haben, d. h. wenn wir ihre Bedeutung
verstanden haben. Wenn wir einen Gegenstand undeutlich im Schatten
sich bewegen sehen, wird der Gesichtssinn erst in dem Augenblick wirklich
befriedigt sein, wenn wir begriffen haben werden, welcher Gegenstand es
war. Der unbestimmte Eindruck hat eine Art Neugierde geweckt, eine
Art von Wahrnehmungsbedürfnis, das seine Befriedigung mit ebensolcher
Macht verlangt, wie andere Eiernentarbediirfnisse unseres Organismus. Auch
hier löst ein physiologischer Reiz, je nach dem, einen Automatismus oder
eine intellektuelle Arbeit aus, um von dem groben Eindruck (sensation)
zur Erkennung (recognition) überzugehen. Es ist verständlich, daß ein Indi¬
viduum um so mehr seine Intelligenz entwickeln wird, je anspruchsvoller es
in seinen Wahrnehmungen sein wird.
II) Die Halluzination und das Gedächtnis
Wir behandeln diese zwei Erscheinungen im selben Kapitel, weil wir
von ihrer nahen Verwandtschaft überzeugt sind. Das Kind beginnt, wie
Freud gesagt hat, damit, seine Erinnerungen zu halluzinieren, und es
gelingt ihm erst später, einen Begriff vom affektiven Schlamm seiner per¬
sönlichen Erinnerungen abzulösen.
Buhler 1 führt die Definition eines Wagens an, die ihm ein fünfjähriges
Kind gegeben hat: „Ein Wagen ist, wo Menschen hereiniteigen, man schlagt
das Pferd mit der Peitsche, dann läuft es.“ Das Kind wiedererlebt bezüglich
l) Bühl er, Die geistige Entwicklung des Kinde», a. Aufl., S. 406. 19«!.
Zur psychoanalytischen Auffassung der Intelligenz. 245
eines jeden Bestandteiles eine Erinnerung. Aber noch andere Tatsachen
sprechen für die Verwandtschaft von Gedächtnis und Halluzination.
Varendonck 1 unterschied zwei Arten von Gedächtnis: ein synthetisches
und ein automatisches oder dublierendes. Das Gedächtnis der zweiten Art
funktioniert im allgemeinen ohne unser Wissen, es enthält die vollständige
Erinnerung unserer Gedanken und Gefühle. Es ist in dem Sinne mit einer
Halluzination zu vergleichen, als es sich durch eine Reihe von Bildern
kundtut, die für Wirklichkeit genommen werden, sobald wir zerstreut sind.
Das synthetische Gedächtnis scheint nur eine Weiterentwicklung dieses
primitiven Gedächtnisses zu sein. Diese Funktion könnte noch insofern die
der Automatisierung genannt werden, als die Intelligenz sich ihrer bedient,
um dem Gesetze des geringsten Aufwandes zu entsprechen. Statt eine neue
Anpassungsarbeit zu leisten, erzeugt sie eine alte Erinnerung. Es ist das
eine Aufwandersparnis, die oft aber auch Neuerwerbungen verhindert. V\ ir
versuchen instinktiv unsere Reaktionen zu automatisieren. Wenn ein Kind
eine neue Bewegung kennen lernt, so wiederholt es sie unaufhörlich. Ähnlich
können wir uns dabei ertappen, wie wir in einem fremdsprachigen Land
gewisse uns neue Worte unwillkürlich fortwährend wiederholen, jede innere
oder äußere Wahrnehmung weckt eine gewisse Anzahl neuer Automatismen.
Die intellektuelle Arbeit besteht darin, einerseits die unnützen zu hemmen,
anderseits diejenigen Automatismen zu wählen, welche eine normale und
nützliche Ableitung jener Empfindung darstellt. Diese tritt also immer als
eine Energie auf, der man einen Kraftaufwand entgegenbringen muß, damit
sie ihren Reizcharakter verliert.
III) Die Hemmung
Man weiß, daß ein Teil des Gehirnes der Hemmung der Rückenmarks¬
reflexe dient. Ebenso dient die Intelligenz zum Aufschieben einer Menge
von automatisch durch Empfindungen ausgelüsten Handlungen. Ihre Auf
gäbe ist, Probleme zu ordnen und diejenigen in den Hintergrund zu rücken,
denen sie eine sofortige Lösung nicht geben will. Man kennt die riesige
Rationalisierungsarbeit, die durch Verdrängung der Triebe ausgelöst wird.
Um gegen den Ansturm der Libido einen kräftigeren Damm zu errichten,
ersinnt die Intelligenz große moralische und metaphysische Systeme. Freud
nimmt an, daß die Verdrängung von unserem Über-Ich ausgeht, einem
Überrest der Phase der Identifizierung mit den Eltern. Diese Unterscheidung
1) Loe. cit.
246
Raymond de Saussure
eines Ich, eines ÜberTch und eines Es, diese philosophisch anmutende Ter¬
minologie scheint mir ersetzbar durch die psychologische Formulierung» daß
die Gefühle der Identifizierung mit den Eltern eine Beschränkung der
Triebe auslösen und die Intelligenz in der Weise anregt, daß sie die
Ilemmungsautomatismen vervielfacht, diese durch moralische, religiöse und
philosophische Lehren systematisiert, Mil anderen Worten» die Intelligenz
ist verpflichtet, um sich gegen Automatismen zu wehren, die der Druck
der Triebe auslöst, ein Netz von entgegengesetzt gerichteten Automatismen
zu schaffen, die sie vor dem Ansturm der Libido schützen, Außer der Rolle
der elterlichen Autorität muß auch der Wunsch, an das soziale Milieu an*
gepaßt zu sein, in Rechnung gezogen werden,
Uie Anpassung
Die vierte Funktion der Intelligenz scheint uns die Anpassung zu sein*
Wir verstehen darunter, einerseits einen ständigen Aufwand, um Wahr¬
nehmungen und Erinnerungen zur Befriedigung der Triebe zu verwenden,
anderseits ein ununterbrochenes Betreiben, das Drängen des Triebes den
Möglichkeiten und Anforderungen der Außenwelt entsprechend zu ordnen*
Man wird uns vielleicht vorwerfen» daß wir dem Wissensdrang nicht ge¬
nügend Rechnung tragen, wir meinen aber, daß er sich gleichzeitig durch
die Funktion der Wahrnehmung und die der Anpassung erklären läßt. Es
genügt zu bemerken, daß die Intelligenz sich von unmittelbaren Trieb¬
bedürfnissen abwenden kann, um sich einer nicht dein persönlichen Interesse
dienenden Aktivität zu widmen. Die Kompliziertheit des Intelligenzproblems
liegt unter anderem darin, daß alle vier angeführten Funktionen im Spiele
sind, sobald die Intelligenz in Aktion tritt. Will sie eine neue Aufgabe
erfüllen, so muß sie genau die Anforderungen des Problems wahrnehmen,
Erinnerungen wachrufen, die mit dein Problem verbunden sein können,
sie muß Lösungen erfinden und jene hemmen, die unvorteilhaft sind, die
den Anforderungen der Realität nicht entsprechen.
Es sei noch eine Bemerkung hinzugefügt: die Mehrzahl der Definitionen
der Intelligenz legen Nachdruck darauf, daß sie nur bei neuen Problemen
im Spiele ist. Jn allen anderen Fällen sollen Automat Ismen wirken. Die
Tatsache ist richtig, wir möchten aber hervorheben, daß die Intelligenz
manchmal bewußt, manchmal aber unbewußt wirkt. Sie besorgt die Konti¬
nuität unseres Wesens, ohne daß ihre Tätigkeit immer bewußt wird.
Die Intelligenz kann der Definition, die Freud den 'Trieben gegeben hat,
nicht subsumiert werden, sie ist eine viel kompliziertere Funktion. Jedoch, um
Zur psychoanalytischen Auffassung der Intelligenz 247
ihre genaue Stellung innerhalb der psychoanalytisen festzulegen, scheint es
uns wichtig zu sein, ihre Beziehungen zum Ich zu untersuchen.
Für Freud ist das Ich nicht, wie für die Mehrzahl der Philosophen
und Psychologen, die Gesamtheit der bewußten und unbewußten Persön¬
lichkeit. Es ist einfach das System Bewußtes und Vorbewußtes. Freud
erkennt jedoch an, daß seine Wurzeln bis in die Tiefen des unbewußten,
unpersönlichen und namenlosen Teiles unseres Wesens reichen, den er
das „Es“ nennt. Das Ich ist dem Realitätsprinzip unterworfen, im Gegen¬
satz zum Es, das nur das Lustprinzip kennt. Das Ich soll nach F reud
auch noch den Zweck haben, den Triebausspruch (das Es) der Außenwelt
anzupassen, indem es gleichzeitig den Anforderungen des Qber-Ichs Genüge
leistet. Ist das nicht die Aufgabe, welche die Psychologen der Intelligenz
zuschreiben? Sollte man daraus schließen, daß das, was F reud Ich und
das, was man Intelligenz nennt, identisch ist?
Ich glaube, daß sich hier eine Unterscheidung aufdrängt: das Ich, wie
es vom Begründer der Psychoanalyse definiert wird, entspricht dem Teil
der Intelligenz, den Hermann den „tiefen Gedanken genannt hat, d. h.
es entspricht jener vorbewußten Aktivität, die automatisch und unaufhor
lieh ein Gleichgewicht zwischen dem Es, dem ÜberTch und der äußeren
Realität sucht, es entspricht aber nicht jenem leil der Intelligenz,
der bewußt ist, der überlegt und jedesmal in Bewegung gesetzt wird,
wenn ein Konflikt von Tendenzen oder ein Hindernis in der Umwelt
besteht. In diesem letzteren Falle objektiviert sich das Ich, d. h. es
wird sich selbst bewußt, streift von sich den affektiven Schlamm ab und
schneidet aus seiner kontinuierlichen Realität umgrenzte Teile aus, in
denen es wie in der äußeren Realität wirken wird. Dieses objektivierte
Ich ergreift dann für oder gegen das kontinuierliche Ich, für oder gegen
die Realität Partei, und je nach dem, ob es geneigt ist, durch die Um¬
stände geforderte Opfer zu bringen, oder ob es im Gegenteil für seine
Befriedigung die Wirklichkeit opfert, wird es sein kontinuierliches Ich
wiederanpassen oder in eine Neurose stürzen.
In den ersten Lebenssiadien objektiviert das Kind nicht sein Ich, es identi¬
fiziert dasselbe mit dem Ich der Eltern, bei denen es Schutz sucht. Laforgue
hat in seiner Schizonoiatheorie gezeigt, wie durch diese infantile Reaktion,
wenn sie fortgesetzt wird, kaptative Tendenzen gegenüber oblativen überwiegen
und das Individuum in eine vollständige Introversion gebracht wird.
Wenn Psychoanalytiker bisher das lntelligenzproblem von verschiedenen
Gesichtspunkten aus behandelt haben, dabei aber der Bezeichnung „Intelligenz“
248
Saussure: Zur psychoanalytischen Auffassung der Intelligenz
ausgewichen sind, so geschah das wohl, weil dieser Begriff zu sehr an die Ver¬
irrungen der vergangenen Jahrhunderte erinnert. Dennoch glauben wir, daß
es nützlich ist, dieses Wort — ihm nunmehr seine genaue Stellung an weisend —
in den Sprachschatz der Psychoanalyse wiedereinzuführen.
Man wird uns vielleicht vorwerfen, die Intelligenz nur im Zusammen¬
hang mit Problemen des Ich behandelt zu haben und nicht von der Rolle
gesprochen zu haben, die sie gegenüber Problemen der physikalischen
Welt spielt- Aber sie sind nicht so sehr voneinander verschieden; die
Wissenschaft, die eine objektive Definition des Lichtes, des Tones, der
Wärme, der Farben und aller Naturerscheinungen geben will, sucht eigentlich
nur unsere Empfindungen, d, h. unser Ich zu objektivieren.
Hermann hat darauf hingewiesen, daß intellektuelle Persönlichkeiten
meistens an einem affektiven Konflikt scheitern. Es ist darin nichts Ver¬
wunderliches. Bevor ein solcher Mensch die Realität skolomisiert, versucht
er sich ihr gegenüber zu objektivieren, kämpft, bevor er unterliegt, ver¬
sucht es, sein Ich von dem affektiven Schlamm zu befreien. All diese
Bemühungen haben seine Intelligenz angespornt.
Welchen Schluß sollen wir aus unserer Studie ziehen? Die Intelligenz
ist eine Funktion, die den T rieben nicht eingereihl werden kann. Sie er¬
scheint uns in zwei Formen: erstens als eine vorbewußte Funktion,
die automatisch unsere Reaktionen beherrscht und fortwährend
einen Gleichgewichtszustand zwischen dem Es, dem Über-Ich
und der Außenwelt sucht. Das ist das, was Hermann den „tiefen
Gedanken“^ nennt. Zweitens ist sie eine Funktion, durch welche unser
Ich sich zu objektivieren, sich bewußt zu werden sucht und sich
ausschließlich als ein Objekt der Realität betrachtet, indem es seine
Affektivität opfert. Diese Objektivation erlaubt dem Ich, sich anzu¬
passen, indem es dem auf ihm lastenden affektiven Zwang Trotz bietet.
'l Jeder, der sein affektives Ich auf Kosten seines objektiven Ichs entwickeln
läßt, neigt zur Neurose. Das Wesentliche der hier dargelegten Gedanken
ist schon von Freud, als er seine Gedanken über das Lust- und das
Realitätsprinzip dargestellt hatte, ausgesprochen worden, und von LafoT-
gue, der die kaptativen und oblativen Tendenzen hervorhob. Es schien
uns aber notwendig, angesichts des Mangels einer allgemeinen Theorie
der Intelligenz, dieses Problem hier zusammenhängend ins Auge zu fassen.
Über Identifikation
Von
Ernst Schneider
Professor an der Universität Riga
Als ich vor etwa fünfzehn Jahren mit der Psychoanalyse bekannt wurde,
erholte ich mich gerade von der Enttäuschung, die mir die experimentelle
Psychologie bereitet hatte. Aus den ersten mir zugänglichen psychoanalyti¬
schen Arbeiten gewann ich den Eindruck, daß hier für den Psychologen
und Pädagogen mehr zu holen sei, weil sie entgegen der median istisch-
atomistischen experimentellen Psychologie eine rein psychologische Einstellung,
eine dynamische Auffassung des Seelischen und damit eine organische Psycho¬
logie versprachen, die dem pädagogischen Denken und Handeln angepaßter
ist. Ich sah mich in der Folge nicht enttäuscht. Im Gegenteil, meine Er¬
wartungen wurden durch die seitherigen Forschungen Freuds und seiner
Schüler weit übertroffen. Die Entwicklung der Psychoanalyse in dieser Zeit
kann einem Wandern in einer Gebirgslandschaft verglichen werden, wo auf-
steigend neue und weitere Horizonte sichtbar werden. Es liegt dies ganz
im Wesen des systematischen wissenschaftlichen Arbeitens, daß versucht
wird, eine gewonnene Kenntnis in einen allgemeinen, letzthin universellen
Zusammenhang einzuordnen und in einer solchen Ordnung zu verstehen.
Im folgenden möchte ich eine solche Wanderung im kleinen unter¬
nehmen und nicht davor zurückschrecken, die Fahrt „ins altrom an tische
Land“ auszudehnen. Ich wähle hiezu den Begriff der Identifikation.
Er tritt uns in der psychoanalytischen Literatur häufig entgegen, so daß
anzunehmen ist, daß er eine bedeutungsvolle psychologische Tatsache meint.
Auf den ersten Blick scheint dieses Unterfangen hoffnungslos zu sein, denn
wir werden gewahr, daß unter Identifikation anscheinend Verschiedenes
gemeint wird. Ist es der gleiche Vorgang, wenn ich sage: „er identifiziert
sich mit seinem Vater“, oder: „er identifiziert sein Liebesobjekt mit der
Ernst Schneider
250
Mutter“, oder: „die unbewußte Identifizierung grobsexueller Funktionen
mit denen der Mundzone“? (Ferenczi.) Das theoretische Interesse an der
Begriffsbestimmung sucht hier eine Klärung, Die folgenden Überlegungen
gehen in erster Linie von Erfahrungen aus der kindlichen Spiel 7 .cil aus*
Hier kann der Vorgang der Identifikation am besten beobachtet werden.
Ein Beispiel
Eine Mutter* deren Kindererziehung ich wiederholt beraten habe, legte
mir vor, daß ihr fünfeinhalb)übriges Mädchen in letzter Zeit sich beim
Baden nicht auskleiden wollte, daß es überhaupt sehr prüde geworden sei
und sich vor Hunden, besonders vor einem bestimmten schwarzen, der
letzthin am Badestrand aufgetaucht sei, stark fürchte. Gestern entdeckte die
Kleine, daß ein Schneidezahn wacklig geworden sei* Der drohende Verlust
wurde stundenlang untröstlich beweint* Ich besprach mit der Mutter den
Kastrationskomplex und machte ihn für das Verhalten ihres Kindes ver¬
antwortlich* Ich riet ihr, bei erster sich bietender Gelegenheit, die Kleine
darüber aufzuklären, daß die beiden Geschlechter als solche zur Welt ge¬
kommen seien usw, — Eines Tages kämmte das Mädchen vor dem Spiegel
seine Haare und fragte: Manimi, hatte ich damals, als ich noch ein Junge
war, auch blonde Haare? 1 Jetzt erfolgte die Aufklärung, Am andern Tage,
kaum am See angelangt, entkleidete sich die Kleine und sprang übermütig
nackt am Strande herum und ins Wasser* Auch die übrige Prüderie war
verschwunden. Die Hundeangst war insofern gemildert, als sie nur noch
an dem genannten schwarzen Tier haften blieb. Als das Kind ungefähr
zwei Jahre alt war, zog es einen ähnlichen Hund ain Schwanz. Das I ier
kehrte sich um, warf die Kleine zu Boden und schnappte nach ihr, wobei
die Nase leicht geritzt wurde. Auffällig ist das Benehmen der Kleinen dem
Hundebesitzer gegenüber* Man merkt, sie möchte sich ihm gerne nähern,
springt aber rasch weg, wenn er sie ruft. Ähnlich, wenn auch weniger
auffallend, benimmt sie sich dem Vater gegenüber* Nocli bemerken muß
ich, daß die Mutter damals, als sie sich zum erstenmal von nur beraten
ließ, das Kind zärtlich an sich band. Sie wollte sich ihm gegenüber dankbar
erweisen, weil es ihr während der Bolschewistenzeit in Riga (191g) das Leben
gerettet hatte. Weil sie einen Säugling stillte, entging sie einer Verhaftung.
Ich machte auf die Folgen einer starken Mutterbindung aufmerksam. Die
1) Die Mutter hat blonde, der Valor dunkle Haare.
Über Identifikation
251
Mutter änderte ilir Verhalten. Es scheint, daß die besprochenen Vorfälle in
eine Zeit des Schwankens zwischen den beiden Üdipus-Situationen fielen.
Von hier aus werden die nach der Beseitigung der Prüderie gemachten
Anstrengungen des Mädchens, die Hundeangst zu überwinden, verständlich.
Hier interessiert uns diejenige, die zum Erfolge führte: Die Kleine spielte
Hund. Sie legte sich den Namen des schwarzen Köters bei, kroch auf allen
Vieren, hellte, biß usw. Das dauerte einige Tage. Nachher war jede Spur
von Hundeangst verschwunden. Wie das Verhältnis zum schwarzen Hunde,
so änderte sich auch das zu seinem Besitzer. Dessen Zärtlichkeiten wurden
gesucht.
Der Fall ist analytisch durchsichtig. Ich möchte nun die verschiedenen
Identifikationsformen hervorzuheben suchen.
Verstehen und Angleichen, Bedeuturigs- und Leistungsidentifikation
Der Begriff der Identifikation ist in erster Linie an solchen. Erscheinungen
gewonnen worden, wie wir sie beim Hundespielen beobachten konnten.
Wir sehen hier eine weitgehende Veränderung des eigenen Wesens in der
Richtung eines andern. (Veränderung = Ver-ander-ung.) Das spielende Kind
bringt solche Veränderungen allem gegenüber fertig. Es kann alle Erwachsenen
spielen, sich in Tiere, Pflanzen, Lokomotiven, rollende Fässer verwandeln,
Rotkäppchen im Bauche des Wolfes sein, wie jener dreijährige Bube, der
unbeweglich in seinem Bettchen lag und auf Beiragen erklärte, er sei Rot¬
käppchen im Bauche des Wolfes. Es hängt mit der „Verwandtschaft zu
samrnen, daß Identifikationen mit Personen besser gelingen als solche mit
Sachen. Wenn wir Identifikation als Veränderung der Person in der Richtung
„des Andern“ bestimmen, wo liegt dann die Grenze den verschiedenen Ein¬
wirkungen gegenüber, die, wie z. B. die Wahrnehmung, auch eine Ver¬
änderung der Person in der Richtung des Einwirkenden, des Andern, be¬
deuten? Ob das Kind den Hund wahrnimmt oder ihn spielt, in beiden
Fällen ist es in der Richtung Hund anders geworden. Der Unterschied ist
bloß ein quantitativer. Im Schauspielhause identifizieren sich Schauspieler
und Zuhörer mit den Personen der Dichtung. Die einen stellen dar, die
andern „nehmen seelisch und körperlich Anteil“ und verstehen, — Wenn
ein Vortragender den bekannten Kontakt mit seinen Hörern hat, dann
finden wechselseitig Identifikationsprozesse statt. Der Hörer versteht die
Gedanken des Vortragenden, und wenn er sie akzeptiert, so findet eine
weitergehende Identifikation mit ihm statt.
Ernst Schneider
252
Einer feineren Untersuchung würde es gelingen, hier eine Reihe von
Identifikationsabstufungen herauszuarbeiten vom einfachen Wahrnehmen zum
n verstehenden Einfühlen 14 , „mit den Augen verschlingen , Nachahmen,
zu der Verliebtheit und dem Verschlingen, Hier möchten wir nur zwei
Hauptgruppen hervorheben, die aus dem Gesagten ohneweiters verständlich
sind t Das Verstehen und das Angleichem Die erste Form bezeichnen
wir als Bedeutungsidentifikation, die andere als Leistungsidenti¬
fikation: Das Andere bedeutet für mich etwas, und ich mache mich
ihm gleich. Da es sich hinsichtlich des Idemifikations Vorganges um quanti¬
tative Abstufungen handelt, so ist es verständlich, wenn die Leistungsidenti-
Fikation auch eine Bedeutungsidentifikation und die Bedeutungsidentifikation
eine Leistungsidentifikation ist, denn auch die kleinste Veränderung ist
Leistung (Funktion) der Person,
Gleichsetzung
Unser Beispiel weist noch andere Formen der Identifikation auf. Die
Angst vor dem schwarzen Hund und die Prüderie wurden besonders stark,
nachdem eines Tages der Hund mit seinem Besitzer am Badestrand auf¬
getaucht war. Zur Hundeangst führen zwei Komponenten, Eine stammt
aus der Vater-, die andere aus der Mutter-Identifikation, Beide sind schon
im Hundeerlebnis mit dem zweiten Jahre vorgebildet: Das Spielen mit
dem Schwanz und das In-die-Nase-fleißcn (Kastralionskoinplex und Onanie,
die beobachtet wurde) und dann das Umwerfen und Aufspringen, Die
Mutter gibt an, daß die Kleine einmal im Schlafzimmer bei intimen Be¬
ziehungen der Eltern aufgcwacht war. In der Angst erhält der Hund
Vater-Bedeutung, Von ihm wird diese auf dessen Besitzer verschoben, so daß
eine Gleichsetzung von Vater = Hund“ Mann entsteht. Dies ist eine Be¬
deutungsidentifikation, hinter der wir einen weiteren Vorgang linden, eben
diese Gleichsetzung, die eine Identifikation des Andern, eine von der
Person zum Andern gerichtete ist. Der Hund bedeutet etwas und diese
Bedeutung ist identisch mit der von etwas anderm, Ich verstehe etwas und
verstehe darunter etwas. Die Identifikation wird ins Andere verlängert, in¬
dem die Person sich bedeutungshaft mit dem Andern verändert. Wir
wollen diese „Verlängerung 4 * als Au iw irk ungs Identifikation bezeichnen
und die früher besprochene Form ab Einwirkungsidentifikation. Im
Hundespiel kommt diese Identifikationsverläagerung als Leistungsidentifi-
kation zur Verwertung. Im Hund ist die Kleine Vater und Mann* Nach-
Über Identifikation
2 53
her erfolgt Auflösung. Der Hund wird zum Tier. Tiere liebt das Kind.
Der Vater und der Mann werden zu Personen der Übertragung. Die Kleine
beginnt lebhaft mit Puppen zu spielen. Die Mutter-Identifikation hat gesiegt.
Die seitherige Entwicklung des Kindes war eine sehr befriedigende.
Die Gleichsetzung (Bedeutungsauswirkungsidentifikation) ist unter ver¬
schiedenen Namen bekannt: Verschiebung, Personifikation, Symbolisierungusw.
Auch hier ließen sich weiter Abstufungen abgrenzen. Die Auswirkungs¬
identifikation dürfte klarer werden, wenn wir zu der Bedeutungsidentifikation
die entsprechende ■ Leistungsidentifikation gesetzt haben.
Angliederung
Ein kleiner Knabe ist ungehalten darüber, daß die Vögel, die doch be¬
deutend kleiner sind als er, fliegen können, er aber nicht. Vom Stuhl
herunter „fliegen“, das kann er, aber nicht aufs Dach oder auf die Bäume.
Was tut er? Unter seinen Spielsachen befindet sich ein Vogel. Den läßt
er überall herumfliegen, auch auf Häuser, Türme, Berge, die er mit Sand
und Bausteinen aufgebaut hat. Was ist hier psychologisch vor sich gegangen ?
Der Kleine will sich mit dem Vogel identifizieren, aber die entsprechende
Leistung gelingt nicht. Da setzt er den Spielvogel an dessen Stelle, und
gleichzeitig wird das Spielzeug der eigenen Person gleich gesetzt. Jetzt fliegt
das Kind „als“ oder „im“ oder „mit dem“ Spielvogel. Hier sei an Freuds
Analyse eines Kinderspiels erinnert. Vom Identifikationsproblem aus gesehen,
ging dort folgendes vor: Das Spielzeug bedeutet eine Gleichsetzung mit
der verschwundenen Mutter und ebenso eine solche mit dem Kinde. Kind
und Mutter werden miteinander zum Verschwinden gebracht, wodurch die
Trennung der beiden aufgehoben wird. Das Wegwerfen des Spielzeugs in
eine Zimmerecke, unter ein Bett, ins eigene Bettchen, realisiert offenbar
den Wunsch nach ungetrübtem Verbundensein mit der Mutter in Form
einer Identifikationsleistung in der Richtung auf einen früheren Zustand
(Mutterleib).
Von zwei verschiedenen Seiten stammende Bedeutungsidentifikationen
treffen sich in einem dazu geeigneten Gegenstand und schaffen ein Werkzeug
zu einer Leistungsidentifikation und erreichen so eine unbeschränkte Er¬
weiterung und Verlängerung der Person und ihrer Organe durch Angliederung
neuer Organe. Wir wollen diese Auswirkungsleistungsidentifikation
Angliederung nennen.
2 54
Ernst Schneider
Gedankenverdinglichung un d Phantasteren
Wir versuchten die Identifikationsformen nn Bereiche der , f iiußorn Hand¬
lung* aufzufinden» Noch ein Blick in die „innere Handlung*! Fritz wimmert
laut ui-ui-uL Erschrocken eilt die Mutter herbei. Der Bube hatte eine
Brücke gebaut und darüber einen Eisenbahnzug geführt. Die Brücke stürzt
ein, und man vernimmt das Wehgeschrei der verunglückten Zugsinsassen.
Fritz ist als Kollektivperson im Zuge raitgefahren. Im Schreien identifiziert
er sich mit dieser, also mit sich selber, Er hat die Vorstellung seiner
Person verdinglicht, wie es die Buben tun, wenn sie den Drachen fliegen
lassen oder auf Siebenmeilensticfeln in die Welt wandern:
Da guckt ich dem Storch in das Storchennest dort:
Guten Morgen, Frau Storchen, geht die Reise bald fort?
Ich blickt in die Hauser zum Schornstein hinein:
Papachen, Mamachen, wie seid ihr so klein!
Tief unter mir sah* ich Fluß, Hügel und Tal —
ach, wer doch das könnte, nur ein einziges Mal!
(Viktor Blütilgen.)
Durch die von außen und innen erfolgenden Bedeutuiigsidcntiiikationen
werden auch die Gedanken zu Spielzeugen. Sie erhalten Dingcharakter. Mit
ihnen wird gespielt (phantasiert) und die eigene Person ins Kinderuniversum
verlängert.
Zusammenfassung
Im ausgebildeten Kinderspiel vereinigen sich alle bisher gefundenen
Identifikationsformen. Stellen wir sie übersichtlich zusammen:
Identifikation
Bedeutung
Leistung
Innere Handlung:
Gedanken verdinglichen
Phantasieren
Außere Handlung :
Einwirkung;
Verstehen
Augleichen
Auswirkung:
Gleichsetaen
Angbed cm
Unsere Arbeit war bisher
Begründung
eine beschreibende. Wir
vervollständig)
durch eine begründende. Die Psychoanalyse ah psychologische borsclmngs*
methode hat eine begründende Psychologie möglich gemacht, nachdem in
dieser Hinsicht eine physiologische Psychologie und eine experimentell'
atomistische Bewußtseinspsychologie versagt haben.
Über Identifikation
255
Ganzheitskausalität — Ganzheitsidentifikation
Wir kehren zu unserem Ausgangsbeispiel zurück und stellen die Frage;
Warum identifiziert sich das Kind, warum mit dem Hund, warum im
Spiel? Die Beobachtung ergibt als Antwort: Es will die Angst los werden.
Das beweisen die vorausgegangenen Versuche, eine „Ursache“ zu suchen,
der als „Wirkung“ Angstlosigkeit folgt. Daß in der Identifikation diese
Ursache gefunden wurde, beweist die Wirkung, der Erfolg. Wir haben hier
also einen kausalen Zusammenhang: Angst — Identifikation — Angstlosigkeit.
Die Ursache der Angst liegt in einer „Trennung“ von Vater und Mutter,
die mit den beiden gegenseitig sich hemmenden Üdipus-Einstellungen zu¬
sammenhängt (Vater-Identifikation — Penisverlust, Mutter-Identifikation
gesperrte Vater-Übertragung). Im Hundespiel identifiziert sich das Kind mit
dem Vater und tobt den durch die Aufklärung verarbeiteten und über¬
flüssig gewordenen Peniswunsch „ein letztes Mal“ aus, verzichtet, identi¬
fiziert sich mit der Mutter und überträgt auf den Vater. Die ruhige und
sachliche Besprechung der Mutter hat offenbar auch die entsprechenden
Schuldgefühle beseitigt. Der Einzelfall bietet dem Analytiker nichts Neues.
Was wir hier anstreben, ist der Versuch, ihn von einer allgemeinen psycho¬
logischen Grundlage aus zu verstehen.
Die Identifikation ist die Wirkung der Angst und die Ursache der Angst¬
losigkeit. Die Angst bedeutet eine seelische „Spannung und die Identi
fikation bringt die „Lösung“. Der stetige Ablauf von Spannung — Lösung ist
der Lebensprozeß überhaupt. Psychologisch verstehen wir ihn als Handlungs¬
ablauf. Er baut sich aus elementaren Spannungs-Lösungsvorgängen (Ele¬
mentarhandlungen) auf und ist gegliedert in zusammengesetzte Spannungs-
Lösungsvorgänge: Reflex, Instinkt, Bewußtseinshandlung, Stufenhandlung
(Ablauf einer Entwicklungsstufe), Personal- (ontogenetische) Handlung,
phylogenetische Handlung usw. Jede Spannung — Lösung ist ’V eränderung.
Werden, das polar gerichtet ist, wie Wollen und Nichtwollen, wobei das
Wollen der einen Seite das Nichtwollen der andern ist. Die Spannung —
Lösung = Handlung hat oder ist in ihren Elemenlarformen wie in den
zusammengesetzten stets dreieinig: Richtung, Richtungsänderung und
Richtungsbedeutung („Inhalt“). Bewußt haben wir die Richtung als Gefühl
(Lust und Unlust), die Richtungsänderung als Wollen und die Richtungs¬
bedeutung als Empfindung, Wahrnehmung, Vorstellung, Gedanke usw.
Da bei der Handlung Bedeutung, Wollen und Gefühl polar gerichtet sind,
so schreiben wir sie einem Differenzierungsvorgang zu, der gleichzeitig
256
Ernst Schneider
nach einer Integration strebt. Von Differenzierung reden wir, wo sich ein
Ganzes (absolut oder relativ gedacht) teilt. Die Teile streben wieder zum
Ganzen. Allgemein gesprochen wäre so die Handlung ein universaler Difte-
renzierungs-Integrationsprozeß, wobei das Universum als das Ganze gedacht
ist, dessen Differenziertsein in der Spannung und dessen lutegrationsstreben
in der Lösung erlebt wird. Die Identifikation haben wir im Dienste der
Lösung stehend gefunden. Sie erweist sich so als Mittel der Integration.
Weil jede Lösung als Integralionsleistung eine Annäherung an die Ganzheit
bedeutet, so liegt hier eine Identifikation mit dem All, eine Ganzheits-
identifikation vor. Damit haben wir die allgemeine „Grundlage“ ge¬
schaffen, von der aus wir das Einzelne verstehen.
Wir nennen diese begründende Betrachtungsweise mit Driesch eine
ganzheits kausale. Das Universum als Ganzes ist Seins- und Werdegrund
(Ursache) für jedes psychische Sein und Werden, ln der Ganzheitskausalität
sehen wir einen Oberbegriff, geeignet, die „dynamische, topische und ökono¬
mische Betrachtungsweise“ des Seelischen auf einen gemeinsamen Nenner
zu bringen.
Identifikationen der Entwicklung
Wir treten nun der Frage, wieso eine Identifikation in der Form des
Spiels eine Integrationsleistung herbei führen konnte, näher. Das Spiel ist
einer bestimmten Entwicklungsstufe eigentümlich. Warum spielt das Kind?
Diese Frage müssen wir im Zusammenhang mit der Betrachtung der Spiel-
stufe beantworten. Diese ist wiederum eiu Teil der Jugend, jenes Handlungs¬
ablaufes, der von der befruchteten Eizelle bis zum Erwachsensein geht.
Die Zelle wollen wir das Anfangsganze und den Erwachsenen das Endganze
dieser Entwicklung nennen. Als Entwicklungsstufe bezeichnen wir einen
Prozeß, der etwas prinzipiell Neues und Fertiges im Hinblick auf das Endganze
schafft, also eine weitere Stufe der Differenzierung und der Integration er¬
reicht. Stufenmäßig gleicht sich die befruchtete Eizelle in ihrem Werden
denjenigen an, von denen die Generationszellen stammen. Wir sehen uns
berechtigt, hier von einer Identifikation der Zelle zu sprechen. Ihre Richtung
können wir oft bis ins einzelne hinein bestimmen: „Er gleicht dem Vater ,
„der Mutter“, „das hat er von . . , w Das Endganze der Jugendentwicklung
identifiziert sich dann umgekehrt in der Produktion von Generationszellen mit
dem Ausgangszustand seiner Entwicklung. Wir unterscheiden hier eine pro¬
gressive und eine regressive Identifikation. Diese beiden I endenzen
liegen dem ganzen Entwicklungsprozeß zugrunde und lassen das in Er-
Über Identifikation
257
scheinung treten, was wir das Tempo der Entwicklung bezeichnen mit den
Tendenzen zum Verharren, Vorwärts- und Rückwärtsschreiten. Wir ziehen
Erfahrungen der experimentellen Biologie, besonders die grundlegenden
Untersuchungen von Hans Driesch, dein wir auch in den Begründungen
folgen, herbei. Was wir Identifikation nennen, das bezeichnet er als pro¬
spektive Bedeutung und prospektive Potenz der Zellen. Er nennt die Zelle
ein harmonisch-äquipotentielles System, Jedes Teilchen der Zelle sei fähig,
das Ganze zu bilden. Die Potenz zum Ganzen weist über sie hinaus in der
phylogenetischen Entwicklung, sie identifiziert sich mit dem Universum,
sie ist ein Mikrokosmus. Die Progressividentifikation mit dem Ganzen er¬
hält die Zelle, wenn sie befruchtet ist. Die Befruchtung ist ein Integrations¬
prozeß, dem eine Differenzierung vorausgegangen sein muß. Wir sehen sie
In der universalen sexuellen Differenzierung. Der personale und überper¬
sonale Entwicklungsprozeß schafft Integratlonsformen zu dieser Differen¬
zierung. Sie sind auf Überwindung dieser Differenzierung, auf Ganzheit
gerichtet. (Vgl, dazu die Platonische Fabel, die hier auch ins Universale
zu deuten ist.) Wir haben hier den Eros, die libidinöse Seite des personalen
und übcrpersonalen Lebens vor uns. Die Bezeichnung Arterhaltung deckt den
Sachverhalt nicht. Alle die besprochenen Identifikationsformen ließen sich
daher unter den Begriff der erotischen Identifikation zusammenfassen.
Die nichtbefruchtete Generationszelle kann diesen Identifikationsprozeß
mit dem universalen Eros nicht mitmachen. Sie zerfällt in die Atome.
Vor der sexuellen Differenzierung muß noch eine andere universale ange¬
nommen werden, für die die Zelle ein Integrationsprodukt bedeutet. Welches
sind ihre Teile? Wir sehen sie im Soma und in der von Driesch postu¬
lierten Ganzheitstendenz, die im entwickelten Organismus als Leib und
Seele da sind. Die Organismen sprechen wir an als Teilintegrationen einer
Urdifferenzierung in Materie und Geist. Sie tragen aber die Tendenz zum
All in sich, dessen Abbilder sie sind, Mikrokosmen. Leib und Seele sind
die Polaritäten einer UniversalHandlung«
Die neue Atomforschung hat auch in den Atomen polare Strukturen
festgestellt. Es sollen Planetarien im kleinen sein. Ist etwa das Atom eine
Integrationsform erster Stufe und die Zelle eine solche zweiter Stufe (wobei
die Zelle die Atome integriert), Integrationselemente jener Urdifferenzierung
Materie-Geist? Identifiziert sich also auch das Atom mit dem Universum
in seinem Sein und Verändern?
Nun aber wieder zu weniger spekulativen Dingen! Nehmen wir die
Aufgabe wieder auf, das Spiel in die Jugendhandlung einzuordnen!
Imago XII.
>7
Ernst Schneider
258
Die Stufenidenüßkation
Nach unserem gegebenen EntwicklungsbegrifT unterscheiden wir vier
Stufen der Jugendhandlung: Embryo, Säugling, Spieler, Arbeiter. Die embryo¬
nale Entwicklung schafft fertig die Kürperform des Endganzen. Die weiteren
Stufen zeigen in dieser Hinsicht keine Entwicklung mehr, bloß V\'achstum.
Die Körperbildung weist Stadien auf, die deutlich das Zusammenarbeiten
der regressiven und progressiven personalen und überpersonalen Identifika¬
tion erkennen lassen. Das ist auch bei allen übrigen Entwicklungsstufen
der Fall. Den Identifikationsfaktor, der die Körperform dem Endganzen
angleicht, nennt Driesch Entelechie. Sie dürfte die erste Stufe des „Es sein.
Das „Trauma der Geburt“ bedeutet eine Differenzierung, die der Ent¬
wicklung eine neue Richtung gibt. Der Säuglingsstufe kommt die ent¬
sprechende Integration zu. Sie erreicht diese durch eine Identifikation der
Organtätigkeit mit denjenigen des Endganzen. Die Organe werden fertig
zu Organ werk zeugen ausgebildct; Mund {Essen), Hände (Greifen), Beine
(Gehen), Sprechwerkzeuge (Lautbildung), Sinnesorgane (Wahrnehmen). Den
Faktor, der die Organleistungsidentifikation besorgt, nennt Driesch Psychoid.
Es fand eine Differenzierung im „Es li statt. Das neue Seelenorgan rückt
in den Mittelpunkt der Integration. Die entelechial-psychoidale Seele ist
die Instinktseele, wenn wir den Instinkt als ganzheitliche hähigkeil be
zeichnen, Organe zu schaffen und organgemäß tätig zu sein. (Organwerk¬
zeuge). Auch beim Säugling beobachten wir das Zusammenwirken regressiver
und progressiver Identifikationen: Wachen—Schlafen, Lallen Schreien und
Saugen usw,
Das „Trauma des Bewußtseins“
Die Entwicklung der Organ Werkzeuge führt zuletzt einen Konflikt mit
der Außenwelt herbei. Das Kind stößt mit ihr zusammen, erleidet sie, sie
trennt sich von ihm ab. Es kommt zu einer Differenzierung vom Eigenen
und Fremden. Das Versagen der nach außen gerichteten Organwerkzeuge
schafft innen eine verstärkte Spannung mit einem entsprechenden Lösungs¬
streben, das dahin gehen muß, das Abgetrennte wieder zu gewinnen, zu
integrieren. Diese Spannung — Lösung, die außerordentlich sein muß, ist
das Bewußtsein, eine neue Handlungsform. Die Seele differenziert sich
in ein Nichtbewußtes und in ein Wissensorgan. Das Bewußtsein als Handlung
ist selbst wieder differenziert, und die Teile sind integriert. Es sind dies
Ich und Gegenstand mit dem Spannungs-Lösungserlebnis Wissen, bewußt
Über Identifikation
2 59
Haben, bewußt Sein* Die Organhaftigkeit des Bewußtseins erhellt aus der
Tatsache, daß es dreieinig ist: Ich — habe bewußt — Etwas,
Die Aufgabe der neuen Entwicklungsstufe muß darin bestehen, das „Ab¬
gefallene“, „Entfremdete“ wieder zu gewinnen, und zwar restlos* Auch das
Bewußtsein arbeitet ganzheitlich, wie das „Es“* Es setzen nun Bestrebungen
ein, die unzulänglichen Organ Werkzeuge zu ergänzen, durch solche, die
fähig sind, die Außenwelt zu integrieren* Es kommt zum „Werkzeugdenken“,
als dessen Ergebnis das Spielzeug erscheint* Wir haben es früher besprochen
und gesehen, wie dabei von Außen und von Innen Bedeutungsidentifika¬
tionen in einem geeigneten Objekt Zusammentreffen und das Spielzeug als
Angliederung entsteht. Wir verstehen jetzt auch die Verdinglichung der
Gedanken, die Gedanken als Spielzeuge* Die Sinn esein drücke werden be¬
deutungshaft, Dazu verhilft die Sprache, Diese macht die Entwicklung vom
Organwerkzeug zum Werkzeug mit* Es ist auffallend, wie stark das Be^
streben des Kindes wird, die Benennungen aller Dinge zu erfahren, die
in seinen Gesichtskreis kommen. Das verlorene „Unbekannte“ wird dadurch
„bekannt“, integriert* Wort und Sache treffen sich in der Wahrnehmung
nach dem gleichen Vorgang der Spielzeugbildung, so daß das Entstandene,
die Gedanken, ebenfalls als solche Verwendung finden können. Von hier
aus ist die „Allmacht der Gedanken“ zu verstehen. Durch die G edanken -
Verdinglichung, die, regressiv gesehen, eine Angleichung an das „Halluzinieren
sein dürfte, schafft sich das Kind im Spielzeug unbeschränkte Möglichkeiten
zur Ganzheitsidentifikation und kann auf diese Weise die durch das „Trauma
des Bewußtseins“ erlebte „Unganzheit“ wieder aufheben* Auch hier werden
wieder deutlich die Identifikationen mit früheren Zuständen (Höhlenbauen,
Sand-, Wasserspiele usw.) und die Identifikationen mit dem Endganzen, mit
den Erwachsenen, die Allmachtsbedeutung erhalten, sichtbar. Daß auch die
Spielstufe im „Werkzeugdenken" Fertiges leistet, sei an der Sprache gezeigt*
Am Ende der Spielzeit verfügt sie über den vollen grammatikalischen Be¬
stand derjenigen der Erwachsenen* Was später kommt, ist in dieser Hin¬
sicht nur Verbesserung,
Real- und Ideal-Identifikation
Jede Stufe bringt die Ursache hervor, durch die sie überwunden wird*
Ein neues „Trauma“ bereitet sich vor. Wir können sagen, die Grundlage
aller Traumen sei „Unganzheit“* Sie wird dabei intensiv erlebt. Die All¬
machtsbedeutung der Erwachsenen geht beim Kinde in die Brüche, bei
260
Emst Schneider
seinen Spielen wird es immerfort von der ganzen Umwelt (Personen und
Dinge) in seine „Schranken“ zurückgewiesen. Diese Schranken hängen mit
dem „Nur-Individuum-Sein“ zusammen. „Das Andere ‘ erzwingt sich An¬
erkennung als Reales. Die erreichte Ganzheit erweist sich als eine bloß
relative, der die Tendenz zur absoluten gegenübersieht. Den so entstandenen
Zwiespalt kann man als Trauma der Realität oder der Relativität bezeichnen.
Er eröffnet jene Stufe, die langsam ansteigend das Kind zum Endganzen
der Jugendhandlung führt. Die Integration, die Lösung jenes Zwiespaltes,
geschieht in der Weise, daß die Realität, die Relativität anerkannt, die
Ganzheitstendenz als Ideal aufgerichtet wird und die entgegenstehenden
Ganzheitsidentifikationen verdrängt werden. Es bildet sich das Unbewußte
als Verdrängungsorgan in starkem Maße aus. lin Verdrängten sehen wir
polare Spannungen, die durch entgegengesetzt gerichtete an der Auswirkung
gehemmt sind. Es sind Ganzheitstendenzen, die mit der übrigen in Wider¬
streit geraten sind. So finden wir nun zwei sich widersprechende Ganzheils¬
identifikationen vor. Die eine geht von Entelechic und Psychoid, dem „Es ,
über die spielerische Ganzheitseinstellung zum Persönlichkeitsideal. Die andere
wirkt sich als Unbewußtes aus. Da die Seele immer als Ganzes tätig ist,
so lassen sich die beiden nicht rein beobachten. Wir wollen sie immerhin
für sich zu besprechen suchen.
Wie der Spielzeugvogel oder der Drache dem Mugschirf weichen mußten,
so entwickelt sich das spielerische Werkzeugdenken zum arbeitsgerechten.
Die arbeitsgerechten Werkzeuge entstehen in gleicher Weise wie das Spiel¬
zeug. Zwei Bedeutungsidentifikationen treffen zusammen, eine vom Realen
und die andere vom Idealen, überwinden so den Zwiespalt dieser Stufe
und schaffen Möglichkeiten einer neuen Integration mit neuen Ganzheits¬
identifikationen. So entstehen Begriffe als Werkzeuge der Wissenschaft, die,
am Realen gebildet, die Forderung der ganzheitlichen Eindeutigkeit erfüllen
müssen, wenn sie dem Ideal der Wissenschaft, der ganzheitlichen Wissens¬
ordnung, entsprechen sollen. Wie Begriffe, so werden Kunstwerke, soziale
und religiöse Lebensformen zu arbeitsgercchten Werkzeugen für die Inte¬
gration mit Mitteln der Ganzheitsidentifikation, insofern sie das Reale im
Sinne des Schönheitsideals (Formganzheit), des '1 ugendideals (ganzheitliche
Lebensordnung), des religiösen Ideals (das Ganze, das Absolute, Gott) um¬
gestalten.
Bei der arbeitsgerechten Integration wiederholen sich im Prinzip die
Vorgänge bei der enlelechialen Formbildung, Die einzelnen leile der Zelle
verzichten auf ihren Ganzheitsanspruch (prospektive Potenz), um sich einem
Über Identifikation
261
höher organisierten Ganzen einzubauen, sich der „prospektiven Bedeutung“
gemäß zu integrieren. Die „Instinktseele“ schafft in den Organwerk zeugen
Gebilde zur Instinkthandlung, d, h. zu solchen, die bei ihrem ersten Auf¬
treten realativ vollkommen, also ganzheitlich sind. Mit dem Auftreten des
Bewußtseins wird die Integrationsmöglichkeit bedeutend erweitert, aber „es
irrt der Mensch, so lang er strebt“, weil er eben infolge seines Differen¬
ziertseins das Ganzheitsideal nicht erreichen kann. Oder ist der Irrtum
gegenüber den Instinkthandlungen, wo es eigentlich keinen Irrtum gibt,
bei den menschlichen Handlungen so groß, weil das Unbewußte mit seinen
anders gerichteten Tendenzen als Störenfried eingreift? Weil dieses zum
„dereierenden, autistischen Denken“ (Bleuler), zum Verfälschen der ganz¬
heitlichen Kunst-, Lebens- und religiösen Ideale führt? Jedenfalls stellen
sich die unbewußten Tendenzen in Gegensatz zu den übrigen seelischen
und erzeugen Gebilde, w T ie sie von der Psychoanalyse weitgehend studiert
worden sind bei Psychosen, Neurosen, Normalen, in Wissenschaft, Kunst,
Religion, sozialem Leben, Recht usw. Es erübrigt, darauf näher einzugehen.
Der Analytiker findet alle meine angeführten Identifikationsformen vom
Unbewußten, d. h. vom Verdrängten ausgehend, wieder, und wir stellen
diese als „neurotische“, „der eieren de“ oder „affektive“ den anderen, „sach¬
lichen“ gegenüber.
Die Polarität der Ganzheitsidentifikation
Mit der absteigenden Lebenslinie des Menschen wird die Regressiv¬
identifikation stärker als die Progressividentifikation, und zuletzt erfolgt der
Tod, Hier noch ein Wort über die universale Bedeutung der beiden Identi¬
fikationsformen. Wir sehen in der regressiven das Bestreben, den differen¬
zierten Teil dem Ganzen wieder zurückzugeben und in der progressiven
die Tendenz, dem Teil das Andere anzugliedern, ihn zum Ganzen aus¬
wach sen zu lassen. Sie gleichen zwei Punkten eines Kreises, die neben¬
einander liegen und sich in entgegengesetzter Richtung auf der Peripherie
bewegen und die auf der anderen Seite Zusammenkommen. Die Regressiv¬
tendenz will zur ewigen Ruhe zurück und die Progressiv tendenz zum
ewigen Leben vorwärts. Beide erstreben die Aufhebung des Differenziert¬
seins, also des Lebens. Das Leben ist eingespannt in den polaren
Gegensatz der beiden Tendenzen. Sie erzeugen den Lebensrhythmus und
schaffen die Lebensformen, indem sie sich in den Identifikationen durch-
dringen.
262
Schneider: Uber Identifikation
Schluß
Als Ergebnis unserer Untersuchung fassen wir zusammen: Die Identi¬
fikation bedeutet eine Veränderung (Handlung) der Person, die einer Diffe¬
renzierung im Lebensablauf folgt, um der Integration als Mittel zu dienen.
Ihre Ursache liegt in der Differenziertheit der Person, letzten Endes des
Universums, ihre Form wird bestimmt durch die jeweilige Integration,
letzten Endes durch die Integration ins Ganze (Universum). Da jedes
psychische Geschehen entsprechend dem Wesen des Seelischen ganzheitlich
bestimmt (determiniert, verursacht) wird, war es nötig, ein ganzheilskausales
Begriffssystem zu gewinnen, um das Besondere einzubauen und es aus der
Ordnung des Ganzen verstehen zu können. Das strebt eine begründende
Psychologie an. So habe ich mir auch ein Schema erstellt, um die reichen
Tatsachen, die uns die psychoanalytische Forschung geliefert hat, einordnen
zu können. Das Bekenntnis zu diesen empirischen Tatsachen möchte ich
als Geburtstagsgruß für Freud erneuern.
Gefühlstheoretisches
auf psychoanalytischer Grundlage
Von
F. P. Müller
Leiden
Die Psychoanalyse stellt den Gefühlstheoretiker vor eine schwierige
Frage, die nach dem Verhältnis zwischen Trieb und Gefühl. Sie
hat uns gelehrt, das Seelenleben auf Triebe zurückzuführen, hat uns aber
auch gezeigt, daß es unter der Herrschaft des Lustprinzips steht. Man
strebt nach etwas, weil es einem Trieb entspricht, und man strebt nach
Lust; wenn jedoch die Befriedigung eines Triebes von Lust begleitet ist,
darf man noch nicht sagen, man erstrebe diese Befriedigung, weil sie
lustvoll ist. Sonst hätte man, wenn die Befriedigung eines Triebes un¬
möglich wäre, sich einfach nach einer anderen, wohl erreichbaren Lust-
quelle umzusehen. Wer Hunger hätte, aber kein Essen bekommen könnte,
wäre vielleicht wohl im Stande, einen sexuellen Genuß zu erlangen oder
schöne Musik zu machen. Vielleicht meint man, hier sei Lust unmöglich,
weil das Unbefriedigtsein — der Hunger bleibt ja ungestillt zu unlust-
voll sei. Wir kommen auf diesen Einwurf noch zurück; wichtiger ist jedoch,
daß eine Handlung das eine Mal lustvoll ist, das andere hfal nicht, daß
die Lust vom Zustande des Organismus abhängt, davon namentlich, ob
aus diesem Zustande ein Drang zur Handlung hervorgeht oder nicht, mit
anderen Worten: ob ein Trieb erwacht ist oder nicht. Daraus könnte man
schließen, daß allerdings das Lustprinzip das psychische Geschehen be¬
herrscht, die Triebe jedoch die Lustmöglichkeiten jedesmal beschränken.
Tatsächlich gibt es zu allererst einen Streit zwischen Trieben. So lehrt es
auch die Traumtheorie: der Traum ist ein Kompromiß zwischen dem Be¬
dürfnis 2U schlafen und anderen Bedürfnissen, er ist also das Ergebnis
264
F. P. Müller
eines Kampfes zwischen Trieben. Der augenblicklich mächtigste Trieb be¬
herrscht jedesmal unsere Wahl, z. B. ob wir essen gehen oder spazieren,
und erst nachher bestimmt dann noch vielleicht die Lustbegierde, was
wir essen werden oder wohin wir spazieren werden. Im letzten Falle
handelt es sich aber nicht nur um Lust aus Befriedigung, sondern über¬
dies um Lust an angenehmen Empfindungen.
Das bewußte Suchen nach angenehmen Empfindungen ist etwas, das
neben dem Getriebenwerden durch bestimmte Neigungen, was wohl
großenteils unbewußt bleibt, beim Kulturmenschen eine bedeutende Rolle
spielt. Je mehr er durch seinen Zivilisation BZUStand in der Befriedigung
seiner Triebe beschränkt wird, um so mehr anscheinend sucht er einen
Ersatz darin, daß er sich der Einwirkung angenehmer Reize aussetzt. Die
Tiere befriedigen ihre Triebe oder sie gehen im Kampfe um die Be¬
friedigung zugrunde; sie kennen wohl weniger jenen Ersatz als ihren
Gegensatz: das Meiden unangenehmer Empfindungen. Auch der Mensel 1
sucht schon dem Schmerz zu entgehen, wenn er noch lernen muß, die Lust
an sich zu suchen; aus Furcht vor Schmerz bezwingt er schon früh seine
Neigungen.
Die Psychoanalyse hat jedoch gelehrt, daß man die Bedeutung dieser
Furcht für die Erziehung dennoch überschätzt hat; nicht nur hat sie ge¬
zeigt, wie sehr man es lieben kann, Schmerz zu empfinden, sondern sie
hat auch klargestellt, daß es tatsächlich ein Trieb ist, welcher die Er¬
ziehung ermöglicht. Ohne gewisse Formen und Mechanismen des Ge¬
schlechtstriebes, wie Übertragung, Identifikation, Ich-Ideal und Narzißnius,
mißlänge wohl jede Erziehung; es käme jedenfalls nicht weiter als zu
einer gewissen Zähmung.
Wir stoßen also auf Triebe, wo man vorher bloß ein Lustprinzip fand,
und wir sehen, wie das Lustprinzip immer wieder von Trieben abhängig
ist, Die Frage bleibt aber noch zu beantworten, in welchem Maße um¬
gekehrt die Triebe vom Lustprinzip abhängig sind. Ein erster Versuch,
einen Trieb zu befriedigen, kann nicht aus einem Streben nach Lust
entsprießen, denn es mangelt noch an der Erfahrung, daß die Befriedigung
lustvoll ist. Wenn die ersten Versuche mißlingen und nur Unlust herbei¬
führen, hören dennoch die Versuche nicht auf und dann wird es erst recht
klar, wie wenig der Trieb sich durch das Lustslreben beeinflussen läßt.
Sonst hinge es auch großenteils vom Zufall ah, ob ein Trieb wirksam
bliebe oder nicht; hätte ein erster Versuch Lust zur Folge, so käme es zu
weiteren Versuchen, wäre jedoch das Gegenteil der Fall, so würden die
Gefühls theoretisches auf psychoanalytischer Grundlage 265
Versuche eingestellt* Tatsächlich werden die Versuche nur hie und da etwas
modifiziert, um der Unlust soviel als möglich zu entgehen*
Der Einwurf* das Unbefriedigtsein zwinge zu neuen Versuchen, es käme
darauf an, eine steigende Unlust los zu werden, kann die Behauptung der
relativen Unabhängigkeit der Triebe vom Lustprinzip nicht entkräften;
vielmehr geht aus den Erscheinungen, welche das Unbefriedigtsein eines
Triebes verraten, hervor, daß hier etwas zu geschehen hat, was der augen¬
blickliche Zustand des psychophysischen Organismus gebietet, ein Über¬
gang in einen bestimmten anderen Zustand* Nicht vom Lustprinzip, sondern
von gewissen Zuständen des Organismus hängen die Triebe ab. Die Wirk¬
samkeit der Triebe liegt insofern „jenseits des Lustprinzips “ und man
könnte vielleicht von einem „Triebprinzip“ reden, welches besagt, daß man
ursprünglich seinen Trieben blindlings gehorcht; das Realitätsprinzip be¬
deutete dann, daß man seine Triebe bezähmte, um später sie desto besser
befriedigen zu können.
Die Unabhängigkeit vieler Vorgänge im Seelenleben vom Lustprinzip
fuhrt Freud 1 auf den allgemeinen Charakter der Triebe zurück, daß sie
einen früheren Zustand wiederherstellen wollen. Er kommt zu dem Er¬
gebnis, daß das Lust streben sich schon zu Anfang des seelischen Lebens
äußert und sogar weit intensiver als später; er sagt jedoch vom Lustprinzip,
daß es eine Tendenz ist, die im Dienste einer Funktion steht* der es zu¬
fallt, den seelischen Apparat überhaupt erregungslos zu machen, oder den
Betrag der Erregung in ihm konstant oder möglichst niedrig zu erhalten*
Auf anderen Wegen ist Freud also tatsächlich auch zu dem Ergebnis ge¬
kommen, daß das Lustprinzip vielmehr von den Trieben abhängig ist, als
die Triebe vom Lustprinzip. Freud hat weiter auf die Empfindung einer
eigentümlichen Spannung gewiesen, die eine lustvolle oder unlustvolle sein
kann. Nicht nur die Befriedigung ist also von Lust begleitet, sondern auch
die Spannung, welche im Zustande des Unbefriedigtsein sich entwickelt.
Damit stehen wir nun vor der Frage, ob das Lustprinzip nicht ebenso in
Dienst der Erhaltung einer Spannung treten kann, wie in den Dienst der
Befriedigung. Und ich meine, daß es tatsächlich so ist.
Hattingberg 2 nennt die Triebe Richtungen, worin von einem typischen
Anfangszustand des Organismus (Bedürfnis) ein Ablauf zu einem typischen
Endzustand vor sich geht. Nun ist während der Realisation eines Triebes,
des Überganges von einem Zustand in einen anderen, der Organismus
1) Jenseits des Lustpriuzips (Ges. Schriften, Bd. VI, S. 255!,}.
2) Zeitschrift für die gesamte Neurologie und Psychiatrie, yy. Bd., S. 605.
266
F. P. Müller
tätig, um beim Eintreten der Befriedigung in einen Ruhezustand über¬
zugehen. Es ist jedoch nur scheinbar ein Ruhezustand, denn die Befrie¬
digung wird gefolgt von neuer Tätigkeit, nur anderer Art, die nach kürzerer
oder längerer Zeit das beseitigte Bedürfnis wiederherstellt. Instabilität ist
nun einmal ein Kennzeichen des Lebens und so wechseln die Zustände
von Unbefriedigtsein und Befriedigung immer ab. Vielleicht darf man an¬
nehmen, daß immer die Gegensätze miteinander abwechseln, so daß z. B.
die Befriedigung des Sexualtriebes von einem Unbefriedigtsein des Ich-Triebes
gefolgt wird und die Befriedigung des Schlafbedürfnisses von einem Tätig¬
keitsbedürfnis. Aus dem Kreislauf, worin sich die Vorgänge im Organismus
bewegen, geht möglicherweise die Notwendigkeit hervor, daß die 1 riebe
immer in Gegensätzen auftreten.
Die Lust, welche die Befriedigung begleitet, kann sehr intensiv sein,
aber sie dauert manchmal nur ganz kurz, und bisweilen tritt ein mehr
oder weniger starkes Unlustgefühl schon bald an ihre Stelle („omne animal
post coitum tristef 1 ). Nun wird das Fortschreilen nach der Befriedigung
auch von Lustgefühlen begleitet und, was noch bedeutsamer ist, das Emp¬
finden von Hindernissen bei der Triebrealisation verstärkt manchmal diese
Gefühle statt sie zu verringern oder Unlustgefühle an ihre Stelle hervor¬
zurufen. Man findet nicht nur eine „Vorlust“, sondern auch die Spannung,
der Kampf und Derartiges sind lustvoll. Das braucht uns nicht zu befremden,
denn die Lust erscheint vielfach gebunden an intensive Lebensprozesse.
Die hier genannten Lustquellen müssen viel bedeutsamer werden, sobald
das Seelenleben unter den Einfluß des Realitätsprinzips kommt. Dann wird
manche Befriedigung aufgeschoben und das Individuum hat sich zu fügen
in Zustände von Unbefriedigtsein. Viel mehr als zuvor lernt es, daß es aus
diesen Zuständen Lust zu schöpfen vermag, wenn es nur unterläßt, sich
zuviel aufzuregen. Während beim Tier und auch noch beim Säugling das
Unbefriedigtsein schließlich auf Unlust hinausläuft, muß das beim Kultur¬
menschen nicht mehr unbedingt eintreten. Gleichwie er für die Lust aus
Befriedigung einen Ersatz findet in ein Sichübergeben an die Einwirkung
angenehmer Reize, so findet er auch einen Ersatz in angenehmen Spannungs¬
zuständen u. dgl. Solches gilt besonders vom sexuellen Gebiet, wo wohl
am meisten die Befriedigung ausbleiben muß (Ödipus-Komplex 1). Die Be
friedigung tritt somit als Lustquelle in den Hintergrund und statt ihrer
verursacht der sexuelle Aufregungszustand, in welchem das Individuum
verharrt, angenehme Gefühle, bisweilen jedoch, namentlich wenn er zu
stark wird, auch unangenehme, speziell Angstgefühle.
Gefühlstheoretisches auf psychoanalytischer Grundlage
267
Es gibt noch besondere Mechanismen, welche diese Änderung im Seelen*
leben begünstigen. Beim Lutschen, wobei das Verschlucken von Nahrung
ausbleibt, beim Halten der Kotsäule statt zu defäzieren, gleichwie im Auf¬
halten von Urin und in der Erektion ohne Ejakulation, entdeckt der
Mensch Mittel, sich eine Lust von längerer Dauer zu verschaffen. All¬
mählich kann er nun lernen, überhaupt das Eintreten der Endzustände
der Triebrealisationen zu verzögern. Es gibt Menschen, welche im allgemeinen
die Befriedigung fürchten, weil damit die Lust ihr Ende nimmt. Wenn
sie sich z. B. auch manchmal verlieben, so weichen sie doch immer der
endgültigen Eroberung des geliebten Objektes aus* Die erzählende Literatur
liefert auch viele treffende Illustrationen dafür, wie man sich den Besitz
einer fortwährenden Lustquelle sichern kann, indem die Wunscherfüllung
immer wieder aufgeschoben wird. Die Romane demonstrieren, was die
Phantasie vermag. In der Wirklichkeit läßt sich das Eintreten der Befrie¬
digung nicht immer hemmen; es gibt dort zu viele Faktoren, die man nicht
beherrscht- In der Introversion sind die Verhältnisse anders.
Abraham 1 meint, daß die Introversion im Sinne Jungs großenteils
mit dem infantilen Festhalten an der Retentionslust zusammenfällt. Das
klingt sehr plausibel. Mittels der Phantasie wird man erst recht in den
Stand gesetzt, den Ablauf der Lustform zu protrahieren. Die Wirklichkeit
zwingt manchmal zu einem Entschluß; in der Phantasie kann man das
entscheidende Moment immer ausbleiben lassen. Es gibt Leute, welche
gewöhnlich von Ereignissen träumen, die kein Ende genommen haben; sie
erzählen, gerade vor dem erwarteten Abschluß aufgewacht zu sein.
Wir müssen jetzt die merkwürdige Folgerung ziehen, daß man nicht
nur aus Unbefriedigisein in die Phantasie flüchtet, also um die
ausgebliebene Befriedigung doch noch zu finden, sondern auch umgekehrt,
damit man das Unbefriedigt sein behält. Für den einen hat also die
Introversion eine ganz andere Bedeutung als für den anderen. Besonders
die Zwangsneurotiker zeigen uns, wie die Phantasie sich dazu eignet, einen
fortwährenden Spannungszustand zu erhalten, und, insofern dieser Spannungs¬
zustand als Lustquelle gelten darf, finden wir auch hier, daß das Lust¬
prinzip in den Dienst der Erhaltung einer Spannung getreten ist.
1) Psychoanalytische Studien zur Charakterbildung (Internationale Psychoanalytische
Bibliothek Nr. XVI, 1925), 5 . 19 und 20, Fußnote.
Über Tanzen, Schlagen, Küssen usw,
(Der Anteil des Zerstörungsbedürfnisses an einigen Handlungen)
Von
A. Stärcke
den Dolder, Holland
Die Psychoanalyse ist bekanntlich zu dem Ergebnis gelangt, daß unsere
Bewegungen und Handlungen in erster Linie nicht den Zwecken dienen,
die wir ihnen zuschreiben, sondern primär nur die Entladung einer un¬
lustvollen Spannung bezwecken*
Diese Spannung wird durch Reize vermehrt; die Bewegung ist die
Reaktion auf einen Reiz und zielt darauf hin, den ursprünglichen Zustand
wieder herzustellen.
Der Vorgang wäre auch so zu beschreiben: ein Reiz, uns von einem
Sinnesorgane übermittelt, stört die ursprüngliche solipsistische Ruhe; er
verursacht die Entfremdung von Teilen des Ichs, die dann durch einen
eigentümlichen Vorgang, den der Projektion, eine Umwelt zusammen¬
setzen, Zugleich verspüren wir eine Tendenz, von dieser Umwelt wieder
Besitz zu ergreifen, das Ich zu rekonstruieren (Ich-Trieb).
In dem Vorgänge — physiologisch der Reflex — ist der sensorische
Teil, das An fühlen und in höheren Entwicklungsstufen das Wahrnehmen
einer Umwelt, gar nicht von dem motorischen 1 eile tu trennen, und wir
dürfen ruhig voraussetzen, daß das An fühlen oder Wahr nehmen der Um¬
welt die innerliche Empfindung der kleinsten Bewegungen („Phantasie ) ist,
welche schon den Zweck haben, diese Umwelt wieder aufzuheben und ins
Ich zurückzuführen. Nur verschwindend wird die Umwelt uns bewußt.
Wir haben somit in der Entwicklung der sensorischen Funktion dieselbe
Stufenreihe anzunehmen wie bei der Entwicklung der motorischen Punktion:
I) eine oder mehrere tonische Stufen, II) Tonus mit Unterbrechung;
Über Tanzen, Schlagen, Küssen usw. 269
a) epileptische, b) rhythmische, c) reaktive, d) aufgeschobene Wiederholung.
In der Tat liefert direkte Beobachtung die Beweise dafür, daß Empfindungen,
die für unser Bewußtsein einmalig zu sein scheinen, in Wirklichkeit rhyth¬
misch oder epileptisch vor sich gehen, das heißt die Form einer einfachen
oder einer gedämpften Sinusoide haben (z. B. die ta.ktilen Nachbilder).
Auch die mittels Registrierung gewonnenen Bilder eines Sehnenreflexes
zeigen die Form einer gedämpften Sinusoide. Der Sehnenreflex ist nicht
eine einfache Muskelzuckung, sondern ein lokal epileptoider Vorgang.
Über die Art der Empfindungen, welche diese Reflexe der niederen Stufen
begleiten, sind wir nur bruchstückweise orientiert; aus der Symphonie von
Empfindungen der höheren Stufen sind die Reste von den früheren nur
mühsam herauszuhören.
Die Umwelt, welche man sich mittels dieser primitiven Empfindungen
schafft, und welcher alle Sinnesqualitäten noch fehlen, ist für uns nicht
vorstellbar. Man hat dafür den Namen: „Gott“.
Jedenfalls ist aber auf den niedrigsten Stufen der Prozeß der Empfindung-
Handlung zu einem Vorgänge reduziert, welcher physiologisch eine tonische
oder epileptische Reflexbewegung, psychologisch eine tonische (vegetative)
oder epileptische Halluzination einer Umwelt ist. Dieser genügt schon
an sich, um von der Umwelt Besitz zu ergreifen, das heißt, sie zu zerstören,
denn diese beiden Begriffe sind identisch.
In dem Arbeitspläne, nach welchem die Umwelt vernichtet wird, — unser
Lebenszweck — vollzieht sich eine Evolution, welche durch zunehmendes
Aufschieben gekennzeichnet wird. Die direkt erlösende Gott-Empfindung
muß immer größere Reste hinterlassen, welche zusammen die „Realität“
darstellen, die schließlich, bei immer zunehmender Hemmung, zur mächtigen
Dauerempfindung anschwillt, die wir als Wahrnehmungswelt kennen. Die
„Realität“ entspricht der Empfindung-Bewegung auf den Stufen der reaktiven
und aufgeschobenen Wiederholung. Um von dieser „realen“ Umwelt wieder
Besitz zu ergreifen, sind die gröberen Bewegungen da; 1 es bleibt aber Spannung
vorhanden. Die „Handlung“ erlöst nie ganz. Nie ganz aufh*rende Spannung,
nie vollkommene Befriedigung charakterisiert die höheren Stufen. Die Rest¬
verarbeitung vollzieht sich dann in einem Rhythmus sekundärer Ordnung
als religiöses, sportliches oder sonstig magisches Zeremoniell und — Empfinden.
Die Tötung oder Einverleibung des Gottes ist darin oft auffallend.
i) Es ist eine Schattenseite des Realitätsprimips, daß unter seiner Herrschaft auch
die Zersörung der Umwelt immer reeller wird, während sie unter dem Lust-
prinzip fast nur magisch vor sich geht.
270
A. Stärcke
Kommt man, die Schicksale der Libido verfolgend, zum Ergebnis, das
religiöse Zeremoniell sei eine Abspiegelung der wichtigsten Ereignisse der
Urfamilie, so kommt man, dem Schicksal des Ich-Triebes (Hemmung)
folgend, auf andere Weise zur Erklärung dieses Mordes, Da „Gott“ die
Ur-Um weit ist, muß Er zur Erlösung getötet werden, denn das Ich ertragt
nichts außer sich.
Eine der ersten gröberen Tätigkeiten (also nach dem Atmen, Schreien,
Zappeln, Saugen usw.), welche die Umwelt vernichten sollen, ist der Tanz*
Beim Säugling von fünf Monaten kann man einen, z, 11. auf zwitscherndes
Pfeifen hin erfolgenden Tanz beobachten* Das Kind lacht sich Gruben in die
Wangen, bewegt den Kopf energisch ruckweise und rhythmisch drehend
nach links und rechts und hebt den Bauch ein oder mehrere Male auf.
Dieser magische Bauchtanz entspricht mit einem der Geologie entnommenen
Ausdrucke, der lumbalen Facies von der rhythmischen Stufe der sensu-
motorischen Besitzergreifung, Deren brachiale Facies ist das Schlagen,
die digitale Facies das Kratzen.
Zu einer mehr gehemmten Stufe erhoben, wird aus dem rhythmischen
Kratzen das einmalige Greifen. Ganz abgesehen von dem sekundären
„realen . Erfolge des Greifens, ist das Greifen in seinem Kerne eine ma¬
gische Besitzergreifung, vom Kratzen herstammend, zu welcher Form es
bei der Frau bisweilen wieder herabsinkt.
Der lumbale Tanz, der die Zurückeroberung der Umwelt (des „Gottes**)
bezweckte, wird in seinem einmaligen Beste zur Verbeugung, der als
magisches Zeremoniell bei Begrüßung eines Fremden auch seine magische
Vernichtung als „Fremdes**, seine Einverleibung, Zurückführung ins Ich
bezweckt.
Das Schlagen tritt als magische Besitzergreifung bei gewissen sadisti¬
schen Handlungen und bei der Bestrafung derjenigen, die durch unerlaubte
Handlungen wieder zu „Fremden“ geworden sind, rein hervor, Sein Zweck
ist nicht in erster Linie das Zufügen von Schmerz, sondern die Erlösung
des Schlagenden dadurch, daß er das (den) Geschlogene(n) wieder in sein
Ich zurückführt.
Seine Reste sind in den späteren Stufen vertreten durch die magischen
Zeremonielle:
Winken, Schwenken und Zeigen. Dem letzteren kann auch die
bestrafende Tendenz des Schlagens noch etwas anhaften.
Die glosso-labiale Facies der rhythmischen Besitzergreifung, das Saugen,
wird auf der Stufe der reaktiven Wiederholung zum Kusse*
Über Tanzen, Schlagen, Küssen usw.
271
Bei der Paarung gestaltet sich der Vorgang dadurch komplizierter, daß
das männliche Organ sich seinen Segmentalwillen reserviert. Infolgedessen
wird es im Augenblick seiner nicht supra-kaudal gewollten Bewegungen
zu etwas Ich-Fremdem, zu einem Stücke Umwelt. Die tonische Vorlust ist
die kompensierende Wiederbesitzergreifung. Es scheint aber auch die Tendenz
zu bestehen, sich dieses Stück Umwelt reell zu zerstören. Die seltsame
Neigung zur Selbstbestrafung durch Kastration, welche wir so oft als Hinter¬
grund pathologischer Neigungen und Handlungen annehmen müssen, findet
ihre Quelle wenigstens zum Teile in der dem Ieh-Triebe zuzuschreibenden
Tendenz, keine Sinnesreize fühlen zu wollen, welche sich nicht aufheben
lassen. Als ihre Ursache ist eine gestörte Vorlust anzunehmen. Längs
diesem Wege fällt auch etwas Licht auf eine andere befremdende Trieb¬
handlung, den Selbstmord. Jeder Selbstmörder ist wohl in außerordent¬
lichem Maße Narzißt. Der Narzißmus aber kennzeichnet sich dadurch, daß
nicht nur das Genitale, sondern der ganze Körper zum Objekte, zur Um¬
welt, werden kann. Weniger genau sagt man, es werde bei der Frau der
ganze Körper zum Genitale; das ist aber keine Eigenschaft ihrer Weiblich¬
keit, sondern ihres Narzißmus, und trifft für den männlichen Narzißten ebenso
gut zu. Der Selbstmörder schreitet zur realen Zerstörung seines Körpers,
als Akt der Besitzergreifung, sobald ihm dessen magische Zurückeroberung
nicht mehr gelingt. (Magische Bewegungen dieser Natur und der rhythmischen
Stufe sind z. B. die bekannten „ An gst “ be w egu ngen: Kratzen, Sichgreifen,
i. e. Händeringen, Haarraufen, Aufundabgehen, Stöhnen, dann das Sich¬
greifen bei der Gebetsstellung.)
In der Verliebtheit regrediert die Umwelt zu den ersten Stufen, das
Geliebte schluckt den Rest der Umwelt und einen Teil der Ichs auf, wird
zu „Vater“ oder „Mutter“, schließlich zu „Gott“ herabgedrückt — wie
wir entwicklungsgeschichtlich sagen müssen.
Die beiden Wörtchen schließen
Die ganze Welt mir ein.
Dieser Gott wird dann mittels der Paarung — kaudale Sensu-Motilität der
epileptischen, supra-kaudale der rhythmischen Stufe — zerstört. Zerstört, denn
er ist im Ich aufgenommen worden, das Ich ist bereichert, die Umwelt verarmt.
Darum schläft man danach: es besteht keine Umwelt mehr.
Magische Bewegungen können einander vertreten (Symbolik). Ich möchte
nun zwei Gesetze der Symbolik formulieren — von der Seite des Ich-
Triebes gesehen — zu deren Nachprüfung ich die Kollegen auffordere.
272 Stärcke: Über Tanzen, Schlagen, Küssen usw.
1 ) Magische Bewegungen desselben Ko r per Segmentes können einander
vertreten*
2 ) Magische Bewegungen derselben Entwicklungsstufe können schon
dadurch einander Symbol werden. Zum Beispiel kann jede epileptoide Be¬
wegung bei ihrer Hemmung von einer anderen epileptoiden Bewegung
vertreten werden*
Ich fasse zusammen;
Jede Bewegung ist in erster Linie magisch* Das bedeutet, daß sie an
sich, von ihrem „realen“ Nutzen abgesehen, eine Befriedigung unserer
beiden postulierten Grundtriebe, der Libido und des Jch-Triebes bezweckt.
Die Libido kennt nur eine Befriedigung: den Tod. Die Libido-Befriedigung
in der Aktion ist also in dem Stoff- und Energie verbrauche zu suchen,
der durch die Aktion der Umwelt zugeführt wird: Die Ich-Triebbefriedigung
liegt in der magischen oder realen Aufnahme der Umwelt (oder eines
Teiles davon) in das Ich* 1
1) Obenstehende all zu lapidare Andeutungen sind ein Weit er Spinnen von Gedanken-
reihen aus den für die Ich-Trieblehre so grundlegenden Arbeiten von Sandor Ferenez i:
„Introjektion und Übertragung** und „Die Entwicklungsstufen des Wirklichkeitssinnes***
Die Völkerpsychologie
und die Psychologie der Völker
Von
Geza Röheim
Budapest
1
Unter Ethnologie versteht man in Deutschland oder verstand man bis
zum Auftreten Grabners eine Wissenschaft, die den Urformen allgemein-
menschlicher Erscheinungen nachgeht und dabei auf die Abgrenzung
völkisch-bedingter Züge weniger Gewicht legt. Die Fragen der Rassen¬
verwandtschaft hingegen bilden das eigentliche Problem der Anthropologie.
In England verhält es sich gerade umgekehrt, „ethnology“ ist die Lehre von
den Rassen, von der Urheimat und Wanderung der Völker und Brauche, und
„ anthropology“ , oder genauer „social anthropology“ , vräre die Wissenschaft
des Allgemein-Menschlichen. Mit dem deutschen Worte Völkerpsychologie
sind wir in einer noch mißlicheren Lage. Bald soll die Völkerpsychologie
eine Psychologie kollektiver Erscheinungen im Sinne Wundts, etwa eine
Psychologie des Völkerlebens sein, bald aber eine Psychologie der Völker.
Der erste Typus gehört in die Kategorie der ernsten wissenschaftlichen
Literatur, bei dem zweiten ist dies nur teilweise der Fall. Es handelt sich
immer um den Versuch, möglichst einschneidende Unterschiede in der
Charakterologie der Völker festzustellen. Dabei geht es etwa nach dem
Schema der Bakairi zu. ?? Bei den Bakairi heißt kurd ,wir\ ,wir alle',
,unser* und gleichzeitig ,gute 4 ( t unsere Leute' Kurdpa = ,nicht wir 4 ,
,nicht unser 4 und gleichzeitig ^schlecht, geizig, ungesund*. Alles Übel
kommt von Fremden, nicht zum wenigsten Krankheit und Tod, die von
Zauberern draußen geschickt werden / 1 In seinem geistreichen Kongreß-
1 ) Karl von den Steinen: Unter den Naturvölkern Zentral-Brasiliens, 1897. 2S7.
Imago XII. 18
274
Gey.a Rtiheirn
vortrag 1 hat Th, Reik zwei Typen von Psychologie unterschieden, eine
Verdrängungspsychologie, die, vom Über-Ich ausgehend, nichts Eigentliches
erfassen will, und eine aus dem Gestand niszwang entstehende Aufdeckungs¬
psychologie, Als dritte Abart wäre vielleicht die eben erwähnte völker¬
psychologische Literatur zu nennen. Sie ist stets damit beschäftigt, die
Sünden anderer zu bekennen oder vielmehr das eigene \ er drängte dem
Volksfremden zuzuschreiben. Sie ist eine Projektionspsychologie.
Damit soll nun aber keineswegs behauptet werden, daß nicht gewisse,
relativ wichtige Unterschiede zwischen den einzelnen Völkerindividuen
wahrzunehmen sind. Niemand wird einen Schweden äußerlich mit einem
Bantu verwechseln, wenn wir auch wissen, daß sie einander in den wirk¬
lich grundlegenden Funktionen des Körpers ganz nahe stehen. Es liegt
kein Grund zur Annahme vor, daß die seelische Gestalt der Menschheit
nicht dieselben Variationsbreiten aufweist, die in dem Körperbau unzwei¬
deutig in Erscheinung treten,
5
Gerade von psychoanalytischer Seite liegt nun aber eine Einwendung
nahe. Wir haben Religionen, Sitten, Sagen durchforscht und überall die¬
selben Deutungen gefunden. Den Wünschen der Menschen wird von
Schottland bis Neuseeland dieselbe Allmacht zugeschriebeji und vom Harz
bis Hellas kehrt König Ödipus immer wieder. Aber auch die Untersuchung
des Einzelindividuums führt überall auf dieselben Grundtatsachen, und
doch gibt es eine Neurosenwahl, verschiedene Möglichkeiten in der Aus¬
prägung des Urstoflfes. Die Verschiedenheiten liegen hauptsächlich auf dem
Gebiete der EibidoÖkonomie und sind teilweise durch Heredität, d. h. An¬
lage, teilweise durch die individuell verschiedenen Schicksale des Einzelnen
begründet. Da aber die Anlage wiederum als Niederschlag der Erlebnisse
der Ahnen zu betrachten ist, brauchen wir uns als Völkerpsychologen vor¬
läufig um diesen individuell so wichtigen Unterschied nicht zu kümmern.
Wir werden einfach sagen; das Allgemein-Menschliche Hegt in der gemein¬
samen Urgeschichte der Menschheit, das Spezifische in den Sonderschick¬
salen einzelner Rassen oder Völker begründet. (Kreuth Rassencharakter—
Niederschlag der Rassengeschichte.)
i) „Der Ursprung der Psychologie/* (Vortrag auf dem IX. Internationalen Psycho¬
analytischen Kongreß, Bad Homburg, Sept. 1925).
Die Völkerpsychologie und die Psychologie der Völker 275
.4
Nun ist aber bei dem Feststellen solcher Unterschiede Vorsicht geboten.
Denn uns steht ja nicht die intensive Beobachtungsart des Analytikers zu
Gebote. Zwar erzählen uns auch die Völker wie die einzelnen Kranken
ihre Lebensschicksale in ihren Einrichtungen, Gewohnheiten usw., aber in
einer Schrift, die schwer lesbar ist, weil sie nur in Bruchstücken überliefert
wird. Auch wissen wir eigentlich nicht, inwieweit die Reisebeschreibungen
den Tatsachen entsprechen oder diese individuell-komplexbetont fälschen, es
wäre da eine Analyse nicht nur der Völker, sondern auch der Bericht¬
erstatter notwendig. Es gibt aber doch eine Möglichkeit, um einigermaßen
wahrscheinliche Ergebnisse zu gewinnen, ln der Analyse ist das Ko-Variieren
gewisser Charakterzüge, ihr Zusammenhang mit der Libidobesetzung ein¬
zelner erogenen Zonen, dann aber auch mit den Mechanismen der sekun¬
dären Bearbeitung nachgewiesen worden. Wenn wir solche Gruppen auf¬
fallender Einzelzüge nachweisen und auch ihre libidinösen Grundlagen
wahrscheinlich machen können, so haben wir vielleicht den ersten Schritt
zu einer differentiellen Völkerpsychologie der Zukunft getan.
5
Versuchen wir es wieder mit den Bakairi. Da erfahren wir, daß sich
bei ihnen die Vorstellung von Gut und Böse in erster Reihe auf die Gast¬
freundschaft bezieht. „Kura“ (gut) sein, hieß es beim Empfang an Beijus
und Püserego, den Fladen und den besten Kleistertrank aus Mandioka
nicht fehlen lassen. 1 „Gut ist also derjenige, der zu Essen gibt, böse aber,
wer das Essen verweigert“. Der Wichtigkeit der oralen Funktion entsprechend
finden wir bei diesen Völkern eine lebhafte Schamreaktion der Nahrungs¬
aufnahme. Karl von den Steinens Beschreibung gehört zu den vielzitierten
und bestbekannten Stellen der ethnologischen Literatur. „Als Paleko mir
den Topf mit kleinen Fischen brachte, waren wir beide allein im Flöten¬
haus, er kehrte mir den Rücken zu und sprach kein Wort während der
langen Zeit, daß ich mit den Gräten kämpfte. Ich gab Tumayaua von
unserem Bohnengericht; er nahm die Portion und ging bis zu seinem
Hause, wo er sich hin setzte, aß, und zwischendurch, aber ohne den Kopf
zu wenden, herüberrufend sich auch an unserer Unterhaltung beteiligte.“ 2
Ein Volk, dessen moralische Begriffe vorwiegend oral orientiert sind
und das bei dem Essen eine ähnliche Schamreaktion wie wir beim Ge-
1) Karl von den Steinen, 1 . c. 72,
2) Karl von den Steinen, 1 . c. 69*
18*
276 Geza Röheim
schlechtsverkehr empfindet, 1 darf füglich als klassisches Beispiel der Oral¬
erotik gelten. Mit Recht erklärt Karl von den Steinen die Sitte des Allein¬
essens damit, daß man sich dem neidischen 11 lick der Zuschauer entziehen
will, da die Regel sich auf die begehrteren Speisenarten in verschärftem
Maß bezieht. Der Neid ist uns aber aus den Untersuchungen Abrahams
als ein hervorstechender Zug des oralen Charakters bekannt. 2
6
Jener idyllische Zustand des allgemeinen Altruismus, der uns so oft in
den Reisebeschreibungen dieses oder jenes Naturvolkes begegnet, dürfte teil¬
weise als Reaktionsbildung auf den oralen Neid zu deuten sein. „Bei den
Choroti und Aschluslaydörfern herrscht kein Klassenunterschied, noch gibt
es Reiche oder Arme. Ist der Magen voll, sei ist man reich, ist der Magen
leer, so ist man arm. Wir sind alle Brüder (vgl. auf den Neid folgende Liebe
der Brüder als Konkurrenten um die Mutterbrust), dies ist der Grundgedanke
im Gesellschaftsbau dieser Menschen. Sie leben in einem beinahe voll¬
ständigen Kommunismus. Bekommt ein Indianer Brot, so teilt er es in
kleine Stücke, damit es für alle reicht. Ich vergesse niemals einen kleinen
Aschluslayknaben, dem ich Zucker gab. Kr biß ein Stückchen ab und aß
es anscheinend mit Wohlgefallen auf, dann sog er ein bißchen an dem
Rest und nahm ihn aus dem Munde, damit die Mutter und die Geschwister
auch kosten sollen.“ 3 In Südostaustralien wird die Jagdbeute nach festen
Regeln in solcher Weise an alle möglichen Verwandten verteilt, daß dem
Jäger selbst dabei nur verhältnismäßig wenig übrig bleibt. 4
7
Heiter, sorglos, optimistisch wie das Kind, welches die Mutterbrust ge¬
nossen und von derselben Quelle stets wieder Befriedigung seiner Wünsche
erhofft, erscheinen viele Naturvölker den Augen europäischer Beobachter.
So schreibt z. B. Hagen:
„Als ich den Leuten dann aber in die treuherzig blickenden Augen und
das trotz aller scheußlicher Bemalung und trotz alles barbarischen Schmuckes
gutmütige, in freundliche Falten gelegte Gesicht sah, da war mein zweiter
1) VgL E, Crawley; The Mystic Rose. 1902.
2} X. Abraham: Psychoanalytische Studien zur Charakterbildung. 1925, 40.
3) E. Nordenski old: Indianerleben. 1912. 54, 35.
4) A. W. Howitt: Native Tribes of South East Austr&lia. 19°+» 75^-
Die Völkerpsychologie und die Psychologie der Völker
2?7
ebenso intensiver Gedanke: Das sind gute Menschen,“ 1 Oder denken wir
an die „Bakairi-Idylle“ in dem oben angeführten Werke Steinens und wir
erhalten denselben Eindruck,
8
Daß dem Essen bei den Naturvölkern eine intensivere Lust und Angst¬
besetzung zukommt als bei uns, beweisen mannigfaltige Sitten und Vor¬
stellungen, Wir erwähnen nur (da andernorts schon besprochen) den Kan¬
nibalismus, die Phobie, von Zauberern aufgegessen zu werden, die magische
Bedeutung des Speichels und des Atems, die Vorstellungen von der be¬
fruchtenden Speise usw, 2 Daß es sich aber tatsächlich im Vergleich zu den
Kulturvölkern um einen stärker betonten Zug und nicht etwa um eine
gleichmäßig menschliche Erscheinung handelt, beweist die Geschichte der
Speiseverbote* Ihre Bedeutung nimmt mit dem Fortschritt der Kultur ab
und in gleichem Maße wächst die gesellschaftliche Rolle des Geldes, d. h.
der Kulturfortschritt hängt eng mit dem Verwandeln oraler in anale Libido-
quantitäten zusammen* Daß Analerotik und Zwangsneurose hervorstechende
Merkmale unserer Kultur sind, istz. B. vonStarcke energisch betont worden. 3
Allgemein pflegt man zu sagen, daß die Konservierung der Nahrungsmittel
und die Sorge für den kommenden Tag den Kulturmenschen von dem
Naturmenschen unterscheiden. Das wäre aber gerade der Übergang von der
oralen zur zweiten analen Stufe Abrahams mit den Zügen des Behalten-
wollens und des Pessimismus* Vielleicht hängt auch die Tatsache, daß der
Kulturmensch seine impulsiven Gefühlsausbrüche besser beherrscht 4 als der
Naturmensch, mit dem Erstarken der Sphinkter Funktion zusammen.
9
Die vorausgesetzte Verwandlung oraler in anale Charakterzüge bedeutet
eine ökonomische Veränderung, 5 zugleich aber einen Stufenunterschied;
1) B. Hagen: Unter den Papuas, 1899. 248.
2) Vgl. meine Arbeiten: „Das Selbst“. Imago VII. „Nack dem Tode des Urvaters“,
Imago IX. „Heiliges Geld in Melanesien“, Internationale Zeitschrift für Psychoanalyse IX,
und „Australian Totemism“, 2925.
5) A. Stärcke: Psychoanalyse und Psychiatrie, 1921, 27, 28, 52*
4) Vgl. Vierkandt: Naturvölker und Kulturvölker, 1896. Vgl, auch die Theorie
der analen Entstehung der Kochkunst (A, Bai int: Die mexikanische Kriegshieroglyphe
atl-tlachinolli. Imago IX. S. 425), als der Konservierung der Speise,
5) Es bleibt einem anderen Zusammenhang Vorbehalten, auf die Ökonomischen
Unterschiede in der Verteilung der Genital-Libido zwischen Natur- und Kulturvölkern
einzugehen.
278
Geza Röheim
das phylogenetische Vorbild eines in der Ontogenese wohlbekannten Vor¬
ganges. Solche Stufenunterschiede werden wohl noch iilter den psychi¬
schen Typus einer Völkergruppe bestimmen. Ob sie grundsätzlich von den
historisch bedingten Abweichungen zu unterscheiden sind, möge dahin¬
gestellt bleiben. Wir glauben es nicht, denn die phylogenetische Evolution ist
ja auch nur durch traumatisch oder ständig wirkende Einflüsse der Außen¬
welt aufgezwungen.
Den Wurzeln unserer eigenen Rassenentwicklung stehen die Ureinwohner
Australiens nahe. Dementsprechend finden wir auch in Zentralaustralien
eine Kultur, deren religiöse und soziale Organisation sicli um die berühmte
Frage dreht, woher kommen die Kinder? und diese ganz unseren infantilen
Sexualtheorien entsprechend beantwortet, 1 2
Wir steigen einige Stufen höher mit den Rothäuten Nordamerikas. Die
meisten von uns waren ja Indianer in ihrer Kindheit oder trachteten
wenigstens, der Jugendliteratur folgend, sich in die pathetisch-großspreche¬
rische Art eines Indianerhäuptlings einzuleben. Daß die Romane Coopers,
Karl Mays usw, für diese Spiele verantwortlich sind, ist eine oberflächliche
Erklärung, Warum hat sich keine ähnliche Romantik etwa um die Hotten¬
totten oder Ainu gesponnen? Die Antwort ist naheliegend. Weil diese
Indianerstämme des Nord Ostens in dem Zustand, in dem sie sich zur Zeit
der ersten Kämpfe mit den Weißen befanden, in typischer Weise die
Pubertät des Individuums oder das heroische Zeitalter vertreten. Die heroische
Lüge, sagt Rank, besteht darin, daß einer behauptet, die große lat allein
vollbracht zu haben, die in der Wirklichkeit nur den vereinten Kräften
der Bruderhorde gelingen konnte,* Jene Tat der Urzeit wird bekanntlich
in den Pubertätsriten aller Volker in der Umkehrungsform wiederholt. Die
Brüder, die den Vater töten wollten, werden zur Strafe von den Vätern
(symbolisch) getötet, dann aber auch wiederbelebt, Ls handelt sich uni
einen Ritus, um Handlungen, die in der Gruppe ausgeführt werden; die
einzige Ausnahme von dieser Regel bilden die Indianer Nordamerikas. Wie
der Held der Sage, geht der Jüngling eines nordamerikanischen Stammes
allein daran, die Heldentat zu vollbringen. Auch geschieht hier keine Riick-
wendung des Urereignisses; der Held erleidet keine Strafe, wird nicht ge-
tötet, sondern er tötet lege artis den Vater, beziehungsweise sein Symbol,
das Totemtier. Dieses Ereignis wird durch einen 1 raum oder eine Vision
1) Cf. Australian Tötend sm. 1925.
2) Freud: Massenpsychologie und Feh-Analyse. (Ges. Schriften \ I, S. 540,)
Die Völkerpsychologie und die Psychologie der Völker 2 79
eingeleitet und durch ihren überwiegend halluzinatorischen, der Realität
entrückten Ablauf steht es auch der Heldensage sehr nahe. 1
Denn vergessen wir nicht, der Jüngling und sein verklärtes Ebenbild,
der Held, leidet und läßt andere leiden, er ist sadomasochistisch eingestellt,
auf der prägenitalen Stufe der Sexualentwicklung. Bei den Martern, denen
die Kriegsgefangenen der Nordamerikaner unterworfen werden, trachten die
letzteren die Pfeile stets lächelnd zu empfangen und den Peinigern keine
Zeichen von Schwäche zu zeigen. 2 3 * Was es aber für eine Bewandtnis mit
dieser typischen Szene des an den Marterpfahl gebundenen und mit Pfeilen
beschossenen Gefangenen hat, zeigt uns der Umstand, daß in Mexiko der
Repräsentant des Gottes in der Kulthandlung, welche „Erschießen mit
Pfeilen“ genannt wird, in der Koitusstellung der Frau an ein Gerüst ge¬
bunden wurde. 5
io
Die Geschichte der Menschheit kann auch als ein Wechselspiel zwischen
der Verdrängung und dem Verdrängten betrachtet werden. Bei der Unter¬
suchung der australischen Urvölker hat sich ein weitgehendes Ko-Variieren
gewisser Erscheinungen herausgestellt, deren Zusammenhang auf dieser
Grundlage verständlich wird. Bei den Stämmen des Südostens finden wir
einen Totemismus, der sich hauptsächlich in Verboten erschöpft. Das Zahn-
ausschlagen, also eine im Vergleich zur Beschneidung verhülltere Milde¬
rungsform der Kastration, erscheint als Höhepunkt der Männerweiheriten,
während bei den Zentral- und Nordstämmen die Beschneidung mit einem
totemistischen Fruchtbarkeitskult mit Überlebsel der Brunstzeit und mit
der Erzeugerrolle des Totemtieres als gemeinschaftlichen IchTdeals einher¬
geht. Ferner erwähne ich noch, daß die Religion der Stämme vom Ver¬
drängungstypus von dem übermächtigen Vertreter des getöteten Urvaters
von Mungan ngaua und ähnlichen „Vätern im Himmel“ beherrscht wird,
während bei den Zentralstämmen alle Einrichtungen auf Horden wandernder
zauberkräftiger Ahnen, also auf die Brüderhorde zurückgeführt werden. Dies
alles bietet ein gutes Beispiel für die Wichtigkeit der infantilen Traumata
im Völkerleben. Bei den Stämmen des Südostens endete der Urhordenkampf
mit dem Sieg der Väter oder eigentlich mit dem Sieg einer Generation
Vgl. Röhe im: Das Seihst. Imago VII. 493.
2) Handbook of American Indians. II, 146. *
3) J. Löwenthal: Die Religion der Ostalgonkin. 1913. 198. Ed. Seler: Co mm.
Tum Codex Borgia. I. 171—174. Ed. Seler: Gesammelte Abhandlungen zur Amerika¬
nischen Sprach- und Altertumskunde. II. 1904. 1073; III. 317.
sBo Göza RcShüim
von Söhnen, bei denen die Vergeltungsfurcht eine größere Rolle spielte
als der Inzest wünsch. Sie schufen also die Grundlagen der Gesellschaft in
der Vater einst eil ung mit dem Kult des Allvaters und der Verdrängung, Bei
den Zentralstämmen siegt die Bruderhorde und von Zeit zu Zeit werden
die beiden Grundverbote des Totemismus (Inzest und Toteniessen) feierlich
durchbrochen. Und nun kommt das Merkwürdigste» Die ursprüngliche
Gesellschaftsform der Verdrängungsstämme ist ein Zweiklassensystem mit
Mutterfolge, Das heißt: wenn wir die beiden Hälften des Stammes von¬
einander als A und B unterscheiden und mit m die Männer, mit f die
Frauen bezeichnen, so sind bei einer Ehe von Am mit Bf die Kinder Bmf.
Sie gehören zur selben Heiratsklasse wie die Mutter, also darf der Sohn Bm
keinen Geschlechtsverkehr mit der Mutter und auch nicht mit seinen
Schwestern, die alle Bf sind, pflegen. Wohl aber wäre ein Inzest zwischen
dem Vater Am und seinen Töchtern Bf möglich. Die matrilineare Ein¬
richtung der Südstämme entspricht also vollkommen unseren Erwartungen,
sie ist vom Standpunkt der Väter leicht verständlich. Umgekehrt liegen
die Verhältnisse im Norden.
Wenn ich nämlich richtig erschlossen habe, daß die Helratsklassen dieser
Stämme auf einem Zweiklassensystem mit Vaterfolge beruhen, so wären
bei einer Ehe von Am mit Bf die Kinder Amf Eine Ehe des Sohnes
demnach sowohl mit der Mutter, als auch mit den Schwestern wäre ge*
stattet, während der Vater hier durch die Regel der Exogamie von der
Tochter getrennt ist. 3 Hie Urvater, hie Bruderhordel Und tatsächlich herrscht
die Vaterfolge, dem Geist der Bruderrevolution entsprungen, noch immer
bei den fortschrittlichen, die der Mutterfolge bei den rückständigen Rassen
der Menschheit, 1 2
11
Eine andere psychologische Einteilung der Völker ist auf Grundlage ihres
Verhaltens zur Außenwelt möglich und auch oft versucht worden. Man
spricht etwa von intro- und extravertierten oder, psychoanalytisch ausgedrückt,
von narzißtischen und objekt-erotischen Völkern. „Das alte, spekulative Indien
mit den mystischen Systemen der Philosophie und der Religion, die wir
1) Ich ergreife die Gelegenheit, um das kryptomneslische Versehen, welches ich
mir in meinem Buch zuschulden kommen ließ, richtigzustellen. Die Bemerkungen
Über Vater- und Mutterfolge gehen auf Freud: Totem und Tabu, 1915, Anm, 1, zu¬
rück, beziehen sich aber dort auf Totemverbände. Eigentlich handelt es sich hier
aber um die Phratrie.
a'i Vgl, Röheini; Australien Totemism. 1925. 426, 431, 432, 454.
Die Völkerpsychologie und die Psychologie der Völker
28:
Brahmanismus nennen, war zweifelsohne introvertiert“, sagt Professor Selig-
man, 1 Jedenfalls scheint das für die Heimat des Buddhismus zu stimmen,
da ja das Endziel der buddhistischen Versenkung als Regression zum
In trauterin leben nicht zu verkennen ist, 2
Bei einer näheren Untersuchung der Mythenstoffe, insbesondere der
Sage von der wilden Jagd, stellt sich aber heraus, daß diese intrauterine
Einstellung keineswegs als primär, sondern als Regressionserscheimmg zu
betrachten ist.
Die Entstehung des Buddhismus hangt ja eingestandenermaßen mit einer
Flucht vor dem ewigen Wiederholungszwang der Wiedergeburten zusammen.
In der Wiedergeburtsphantasie erkennt Freud n eine Milderung, sozusagen ein
Euphemismus für die Phantasie des inzestuösen Verkehrs mit der Mutter**, 3 und
es ist auch mit Hilfe der vergleichenden Mythen Forschung nachweisbar, daß
die indogermanische Urzeit jener ewigen Wiederholung des Kampfes um das
Inzestobjekt noch relativ angstlos, lustvoll und bejahend gegen übers t and. 4
Und tatsächlich laßt sich die Analogie zwischen der naiv lebensfrohen
Weltbejahung des vedischen und des europäischen Heldenzeitalters nicht
verkennen, 5 Beiden ist das Leben eine ewige, aber dennoch nicht ermüdende
Jagd nach den Freuden dieser Welt, Das Gegenspiel libidinöser Strebungen
(Hetero- und Homosexualität, genital und prägenital) hält die Spannung
auf gleicher Höhe und ermöglicht kulturelle Ersatzbildungen, Dann setzen
Verfallserscheinungen, die man historisch als „Mittelalter“ zu bezeichnen
pflegt, hüben wie drüben ein. Zuerst das Zw an gsneuro tische in der Scho¬
lastik und Upanishadenlehre, dann in Indien die von Alexander gekenn¬
zeichnete weitergehende Regression von der Melancholie zur Schizophrenie,
Indien hat ein Mittelalter von zwei Jahrtausenden hinter sich, 6 dement¬
sprechend hat die Flucht vor der Mutter-Natur hier tiefere Spuren hinter¬
lassen, während Europa den Pubertätsheroismus des Heldenzeitalters in dem
Geist der Aufklärung und den Naturwissenschaften wiederholt, 7
1) Seligman: Anthropology and Fsychology* Journal R, A. J, 1924, 50, Vgl, auch
Cohen-Port heim: Asien als Erzieher, 1920.
2) Alexander: Der biologische Sinn psychischer Vorgänge, Imago IX, 45,
5) Freud: Aus der Geschichte einer infantilen Neurose, Ges, Schriften, Bd, VIII,
S, 546,
4 ) Vgl. die demnächst erscheinende Arbeit „Die wilde Jagd“.
5) Vgl. L. v, Schroeder: Indiens Literatur und Kultur in historischer Ent¬
wicklung. 1887. 584.
6) Schroeder, 1 , c, 256.
7} Vgl, S> Radö: Die Wege der Naturforschung im Lichte der Psychoanalyse,
Imago VIII, 401.
2 Ö2
G^za Röheim
Die Verschiedenartigkeit der Entwicklung zu erklären scheint aber vor¬
läufig noch nicht möglich. Auch können wir zwar behaupten > daß die
Keihenbildung mit der Kulturentwicklung, das Verneinen der Lust in der
Reibe mit dem Verfall zusammenhängt; wir wären aber einigermaßen in
Verlegenheit, wenn man uns fragen würde, warum dieses Volk zur Reihern
bildung mehr neigt als das andere, und welche weiteren Faktoren noch
hinzukommen müssen, damit aus der Reihenbildung eine Kultur in unserem
Sinne entstehe,
1 2
Von der Reihenbildung ausgehend, läßt sich aber der Versuch machen,
die Einwirkung psychischer Faktoren auf die Geschichte zu untersuchen.
Bekanntlich hat die Psychoanalyse den Reisetrieb als Flucht vor der Mutter
oder vor dem Vater gedeutet, 1 2 Die der Mutter entzogene Libido wird zur
Besetzung immer neuer Gegenden verwendet, wobei dann die Inzestverdrän¬
gung die Besetzung immer wieder loslöst und eine räumliche Reihen bildung
ein verhältnismäßig rasches Nacheinander der „Erd-Mütter“ entstehen läßt.
Es scheint, daß diese Züge sich auch hei den Polynesiern, den Wikingern
der Siidsee, nachweisen lassen* Da hätten wir die Sage von der Entstehung
der fünften Ordnung der Wesen durch Taaroa und Hina. Hina (das Weib,
„hat exochen , die Mondgottin“) fragt den Taaroa (den Himmelsgott), „wie
soll der Mensch gemacht werden“. Und Taaroa antwortet: „Gehe ans Land
und suche deinen Bruder.“ „Ich war dort und fand ihn nicht.“ „Suche
ihn im Meer," Als sie weggegaugen war, verwandelte sich Taaroa in Tu
(der erste Mensch). Ilina trifft ihn und sie leben zusammen als Geschwister
und zugleich als Ehegatten, Ihr Sohn war Tai, der erste Mensch. Sie hatten
auch eine Tochter, die sich wiederum miI dem Vater vermählte und eben*
falls Hina hieß, Ihr Sohn war Taata (Mensch), mit dem sich nun wiederum
Hina, also seine Großmutter, vermählte, nachdem sie sich in eine junge
Frau verwandelt hatte. 3
In dieser Sage finden wir also eine Wanderung zu See und Land nach
dem Objekt des inzestuösen Begehrens, welche auch mit einer Reihen¬
bildung einhergeht. Denn es sind ja alle Göttinnen, die auf dem Schau¬
platz der Handlung erscheinen, nur Wiederholungen der Urmutter Hina
und alle ihre männlichen Partner Wiederholungen des Urvaters iangaroa.
Bezeichnenderweise bemerkt die Sage sowohl bei TU, wie auch bei seinem
1) Winter stein: Zur Psychoanalyse des Rrnsens. Imago 1 , S. 489 ff«
2) Domeny de Rienzi: Ozeanien. II. 1839. 461.
Die Völkerpsychologie und die Psychologie der Völker 285
Sohn Tai und dann wieder bei der nächsten Generation „dies war der
erste Mensch“, Jene Rolle gebührt aber auch dem Tane, von dem die
Sage berichtet, wie er, eigentlich seine Mutter Hina suchend, sich nach¬
einander mit der „Hina“ der Wälder, Bäche, Felsen usw. vermählt und
mit ihnen verschiedene Wesen zeugt, 1 Es ist auch lehrreich, im Wörter¬
buch eine kleine Nachlese zu halten. Da erfahren wir, daß Tane eigentlich
den Gatten bedeutet, whaka-tane — „ta becofne a man; virile \ In Samoa,
Hawaii, Tahiti und Rarotonga bedeutet Tane den Gatten, das Männliche,
und in Tonga bedeutet ein Hochzeitsfest feiern, 2 Er ist eben der
Mann, der Penis, die Libido, die ewig die Mutter suchend, auf ihrem
Wanderweg eine Reihe von Ersatzobjekten entstehen läßt* 3 Der Wander¬
held der Torresstraße heißt Sida* Er kommt von Neuguinea, fliegt in
der Gestalt* eines Fregattenvogels nach Gebar und sagt dort: „Ich wünsche
eine Frau, 4 Diese Episode wiederholt sich auf verschiedenen Inseln, überall
bekommt er ein altes Weib und schenkt der Insel dafür Kokosnüsse und andere
Nutzpflanzen* Zuletzt kommt er nach Murray Island, hier schenkt man ihm
ein junges Mädchen und eine reiche Vegetation entsteht als unmittelbare Folge
des Koitus, Sidas Wanderungsweg ist aber auch der Wanderungsweg der Ahnen
dieser Völker oder wenigstens einer tatsächlichen Einwanderung von Neu¬
guinea auf diese Inseln, 4 Somit wäre der Zusammenhang zwischen Völker¬
wanderung und erotischer Reihenbildung einwandfrei erwiesen. Als Symptom
der psychischen Bedingtheit des Wandertriebes werden wir demgemäß eine
polytheistische Mythologie erwarten, deren Götter und Göttinnen recht deutlich
als Abspaltungen eines Urtypus zu erweisen sind*
Am Anfang der Maori-Mythologie steht die Sage von Rangi (Uranos) und
Papa (Gaia), Sie hatten fünf Söhne und lange zauderten diese, bis sie sich
entschließen konnten, ihre Eltern, die, wie in der griechischen Sage, in
steter Umarmung lebten, auseinanderzureißen, beziehungsweise zu töten.
Endlich wird die Tat von Tane, d, h* dem Penis, vollbracht* 5 Einer der
1) Shortl an d; Maori Religion and Mythology. 1882. 22,
2} Tragearn: Maori Polynesian Comparative Dictionary* 460*
3) „Tane is the Fertilizer of Maori Mph . He produces trees and has a dozm namts each
of which indicates same phase of his activity« Elsdon Best: The Maori* Memoirs of
the Polynesian Society* Vol, V, 1924, 99*
4) VgL A. C- Haddon; Cambridge Expedition to Torres Straits, V, 28, VI* 29.
Über Sida in Neuguinea, W. N* Beaver: Unexplored New Guinea, 1920, 176, 502*
Siehe auch Rßheim: Australian Totemism* 1925, 314—324,
5) Die aufrechtstehenden (phallischen) Steine in Hawaii heißen pohahu a kam ,
Fornander: Collection of Hawaiian Antiquities and Folk Lore, Memoirs of the
Polynesian Society. VL 547*
284
Geza Röheim
Brüder heißt Tangaroa, der Gott des Meeres, 1 Denselben finden wir als
Himmelsvater in Samoa, wo er durch seine Tochter Turi die Erde schafft. 2 3
In Tonga scheint er zwar nur als Gott der Zimmerleute und Handwerker,
aber seine Rolle in der Schöpfungssage, sowie der ethnologisch enge Zu¬
sammenhang zwischen Tonga und Samoa legen die Vermutung nahe, daß
wir es auch hier mit einem herabgesunkenen Schöpfergott zu tun haben, 5
In Hawaii und auf den Marquesasinseln ist er der Böse, der Führer des
Aufstandes gegen die göttliche Weltordnung, der Herr des Westens und der
Unterwelt, der Tod, 4 Hier erscheint er auch als Genosse Taues, beide in
der Gestalt von Jünglingen und in der Rolle von Fruchtbarkeitsgöttern, 5
Die Ansätze zu einer Reihenbildung liegen demnach schon in den Gegen¬
satzpaaren Gut und Böse oder Vater und Sohn, die jeweilig verschieden
kombiniert werden können. Wenn er dann in Mangaia als Erstgeborener
des Urelternpaares, 6 in Melanesien als eine Brüderschar erscheint, 7 in Neu¬
seeland die Urtat in nahe anthropomorpher Form wiederholt und dann auch
erleidet, 8 9 überall aber als Gott der Meere ® und der Schiffe, d. h. der
Wanderungen der Urpolynesier auftritt, so liegt es nahe, zwischen Reihen¬
bildung im Polytheismus, Wanderung und dem Ausgang des Urhorden-
kampfes einen Zusammenhang anzunehmen. Die Analyse der polytheischen
Mythologie würde nämlich zweifelsohne das Resultat ergeben, daß alle
Götter sowie alle Göttinnen durch fortgesetzte Abspaltung je einer, bezie¬
hungsweise je zweier Urgestalten entstanden sind, je nachdem wir Vater-
Sohn, Mutter-Tochter 10 als Anfang der Reihe ansetzen. Eine solche durch
Spaltung entstandene Reihenbildung läßt sich auch in der Paranoia beob-
1) G, Grey; Polynesian Mythology. VI, 547,
2) G. Turner: Samoa a hundred years ago, 1884. 7, Stair: Old Samoa, 1897. 212,
3) Vgl. W, H, R. Rivers: The History of Melanesian Society, 1914, IX, $99; und
auch W. Mariner: An Account of the Natives of the Tonga Islands. 1827, I. 108, 113.
4) Tregear: Maori Polynesian Comparative Dictionary, 464, G.Thrum: Hawaii an
Folk Tales, 1907. i8,
5) Ad. Bastian: Heilige Sage der Polynesier. 1881. 152, 135.
6) W, W. Gill: Myths and Songs froin the South Pacific, 1876. 10.
7) R, Codrington: The Melanesians. 1891, 156,
8) Vgl. History and Tradition« of Rarotonga. Journal of the Polynesian Society,
VIII. 67. White: Ancient History of the Maori. I. aa, 23. Maui ebenfalls ein Wan der-
beld, Sohn und Abspaltung Tangaroas, hebt mit seinem Vater Ru den Himmel empor,
wonach er dann den Vater tötet. Wester weit: Legend« of Mn-ui. 1910. 37, 38.
9) Selbst im m el an esi sehen Randgebiet ist Tangaroa Urheber des Meeres. Codring¬
ton, h e, 370,
10) Eine Reihe von Hina*Gestalten! Siehe Percy Smith: Nive and its People.
J. P. S. XII. 92.
Die Völkerpsychologie und die Psychologie der Völker 285
achten, sie ist nach psychoanalytischer Annahme durch die übergroße
Intensität der Vater-Imago bedingt und stellt einen Versuch zur Bewältigung
dieser Spannung dar* Anderseits bedeuten aber die vielen Verfolger, die an
Stelle des Einen, Großen treten, wiederum die Bruderhorde* Vielleicht läßt
sich diese funktionelle und historische Bedeutung der Reihenbildung in
der Annahme vereinigen, der Einzelne in der LJrmasse hätte sich den
Brüdern zugewendet, nachdem er mit dem Vater nicht fertig werden konnte,
d, h, es waren die von der Herde abgetriebenen Männchen, die sich gegem
seitig zum Objekt nahmen und somit zu einer Reihe von flüchtigen Libido¬
besetzungen gelangten* 1 Die Brüder waren aber nur unvollkommene Ersatz¬
bildungen der Mutter, daher die Bedeutung der Homosexualität in der
erotischen Reihenbildung (Don Juan) und darum ist der Sohnesgott Tammuz
mit der Mutter identisch, 2 * * In jener Periode des Abgetrieben werdens dürfte
auch die Wiederholung der vermutlich zuerst nach der Geburt erfolgten
Besetzung der Umgebung (Erde) mit mütterlichen Libidoquantitäten erfolgt
sein, da die Symbolbildung erst jetzt in der Abwesenheit der begehrten
Mutter zur wirklichen Notwendigkeit wurde*
Bedenken wir aber, daß sowohl nach den Theorien der Ethnologen wie
nach den Sagen selbst als Helden der Urwanderungen stets eine Gruppe
von Männern ohne Frauen auftreten, 5 dann liegt die Annahme nahe, daß
der Mangel an Weibern eben die Ursache der Wanderung ist. Denn nicht
immer mag der Urhordenkampf den gleichen Ausgang genommen haben.
Vielleicht kam es auch nach etlichen Generationen gelungener Revolutionen
zu einer endgültigen Niederlage, zum Vertreiben der jungen Männchen von
der Herde* Diese Horde der vertriebenen Brüder auf der Suche nach dem
Weibe führt dann zur Entstehung der Exogamie, während ihre Flucht
aus der Urhorde die richtige „fluchtartige Entziehung der Besetzungen^
und somit eine Urform der Verdrängung bilden würde. Solche Völker
würden dann dazu neigen, die Urflucht stets wiederholend und stets nach
neuen Ersatzobjekten der Mutter sowohl in anderen Frauen wie in der
1) Vgl, Freud: Massenpsychologie (Ges, Schriften VI, S. 327). Über Paranoia
und Bruderhorde vgl* Röheim: Das Völkerpsychologische in Freuds Massenpsycho¬
logie* Int, Zs ehr* f. PsA. VIII, 1922, 209*
2) S, Langdonr Tantmuz and Islitar, 1914* iS*
5) „/£ is probably a mry general charaeter of human migrations differentiating them from
those of other animals, that women are absent or but few in numher a$ compared with the
men W. H* R. Rivers: The History ot Melanesien Society. 1914* II* 295* VgL die
„Transformer“, Wanderhelden der Nord wes tamerikaner, F, Boas: Indianische Sagen
der Nordpazifischen Küste Amerikas, 1S95*
286 Göza Rdheim
Natur suchend, zu Wandervölkern zu werden und in ihrer Götterwelt die
Spaltung und Reihenbildung zu wiederholen* Hie Hellas , 1 2 hie Mangaia!
Odysseus, der Wanderer, sucht die Kalypso-Penelope, Maui* die Hine-nui-
te-po und in Griechenland und Polynesien ist die „hohe Mythologie“ zu
Hause, Dem wäre noch hinzu zu fügen, daß jene Niederlage der Brüder mit
dem darauf folgenden Sieg gegen einen fremden „Urvater eine gewisse
Tendenz seitens der Brüder einen auf Inzest (lucht beruhenden unvoll¬
kommenen Siegeswunsch voraussetzt, der wiederum dem nichterreichten
Genitalprimat der genitofugalen Libidoströmung entsprechen würde.
Die Libido genitofugal, das Volk zentrifugal* Genitofugal, d* h* auf
dem Rückweg von dem Genitalorgan den eigenen Körper oder andere
Objekte genitalisierend, sind aber Hysterie und Kunst * * man denke an
griechische Kunst, aber auch an die polynesische!
15
Haben wir im letzten Abschnitt die Einwirkung psychischer Faktoren
auf die Geschichte der Völker untersucht, so blieb doch unser Ausgangs¬
punkt die Annahme, daß diese psychischen Faktoren wiederum historisch,
nämlich aus der Urgeschichte der Menschheit zu deuten sind. Wie sich
Urgeschichte in Geschichte fortsetzt, wie die Urereignisse, eine ununter¬
brochene Kette bildend, in unsere Tage hineinreichen, soll jetzt untersucht
werden* Die moderne Ethnologie legt großes Gewicht auf Wanderung und
Entlehnung, auf die Einwirkungen der Nachbarvölker aufeinander* Nicht
mit Unrecht, denn mit dem Auftreten des anderen Stammes hört die Vor¬
geschichte, die Kinderstube auf, und die Geschichte einer Menschengruppe
nimmt ihren Anfang* In früheren Arbeiten versuchte ich insbesondere
Krieg und Kopfjagd als Wiederholungsformen des Urkampfes, den Feind
oder Stammes fremden somit als „unheimlichen “ Wiedergänger des getöteten
Urvaters zu erweisen* Nun wollen wir überlegen, inwiefern jene Deutung
zur Erklärung der Entlehnungen, eventuell sogar zur Erklärung der An¬
nahme einer fremden Kultur, eines fremden Volkscharakters zu verwerten
ist* Es ist bekannt, daß viele kleinere afrikanische Stämme die kriegs¬
berühmten Massai in Tracht und Art nachahmen ( „Massaiaffen u ), um den
1) Vgl. die Bemerkung von Freud: Imago* I, 491* Dritte Fußnote* — Über
Wanderungssagen und Abspaltung beziehungsweise Doppelung in Griechenland vgl,:
Eitrem: Beiträge zur griechischen Religionsgeschichte* III* Kap* 7* 1920*
2) Zur Bedeutung des Maui, Mou — lift 9 alive 7 to live * Mauri 7 mouri = lifo tife prin-
ciple . Elsdon Best: The Maori* Memoirs of the Polyneiian Society* V. 1924* 140.
Die Völkerpsychologie und die Psychologie der Völker
anderen als echte Massai zu imponieren . 1 T heophylactus Simoeat ta erzählt,
wie ein „Var Chuni“ genannter Stamm sich so gebärdete, als ob sie die
berühmten, mächtigen Awaren wären. Die kleinen Stämme der Umgebung
wurden getäuscht, sie glaubten, das seien die Awaren selbst und unterwarfen
sich den Ankömmlingen. Sie sehen nun, daß ihre List geglückt ist und
nannten sich jetzt wirklich Awaren, obwohl sie nur Pseudoawaren waren . 2
Wenn das fremde Volk, besonders aber ein irgendwie, sei es kriegerisch
oder kulturell, überlegenes als Wiedergänger der toten Väter erscheint, wird
auch der bisher psychologisch unaufgeklärte Vorgang der Übernahme fremder
Sitten und Kulturen verständlich, „Der kleine Knabe legt ein besonderes
Interesse für seinen Vater an den Tag, er möchte so werden und so sein
wie er, in allen Stücken an seine Stelle treten. Sagen wir ruhig: er nimmt
den Vater zu seinem Ideal .“ 3 4 Als Schulbeispiel des vorausgesetzten Vor¬
ganges seien aber die Ansichten der Australier über die weißen Eroberer
angeführt. Die Eingeborenen der Koburg-Halbinsel sehen in jedem Fremden,
sowohl in den Europäern wie in den Farbigen, einen ihrer auferstandenen
Toten> Die Kamilaroi glaubten, daß sich ihre Seelen nach dem Tode in
Weiße verwandeln . 5 Als die Weißen auf ihren Schiffen an die Westküste
Australiens kamen, glaubten die Whajook in ihnen die Ahnen des Stammes
zu erkennen , 6 Wenn wir demnach voraussetzen, daß ein Volk dem anderen
als Neubelebung des Vaterideals zum Lehrmeister in der Kultur werden
kann, gewinnt auch jene Deutung der Ethnologen einen gewissen Sinn,
die in den Sagen von himmlischen Kulturheroen die Spuren kultureller
Beeinflussung seitens höherstehender Völker erblicken wollen , 7 Diese Sagen¬
gestalten sind nämlich anderseits vom psychoanalytischen Standpunkt Ver¬
treter der Vater-Imago, Ahnen; sie können aber beides sein, indem der
Vater für das Kind der eigentliche Kulturträger ist, und der Fremde nur
als Vater zum Kulturträger werden konnte.
So können im Laufe der Geschichte verschiedene mehr minder ich-
fremde Idealbildungen einem Volke aufgepropft werden. Ja, auch die
1) Buschau: Illustrierte Völkerkunde L 1922. 566*,
2) Th eophy lac tu s, VII. 8,
5) Freud: Massenpsychologie und Ich-Analyse. (Ges. Sehr, VI, 505)*
4) G, Windsor Earl: O11 the Aboriginal Triebes of the Northern Coast of
Australia- Joura. Geogr, Soc. XVI. 1896, 240.
5) W* Ridley: Australian Languages and Traditions, Joum. of the Royal Anthr,
Inst. VIL 242,
6) E* M. Gurr: The Australian Race. 1886. I. 559.
j) W. L Perry: The Chlldren of the Sun. 1923.
288
Geza fVöheim
Wanderung einzelner Gebräuche kann modifizierend auf die unbewußte
Einstellung eines Volkes einwirken. Ich denke an jene Mitteilungen über
gewisse Formen der aktiven Therapie, die unlängst von Dr. Ferenczi in
einer Sitzung der Ungarischen Psychoanalytischen Vereinigung gemacht
wurden. Er hat nämlich bei gewissen Patienten eine angstfreiere Einstellung,
eine Annäherung zur erotischen und zur sonstigen Realität erzielt, indem
er sie aufforderte, die Vorhaut zurückzustülpen und damit die Dauer-
invaginierung der Eichel aufzugeben. Dasselbe erreichen aber die Primitiven
in der Männerweihe durch die Beschneidung. Wenn man nun bei diesen
Riten nicht nur den unbewußten Sinn, sondern auch die Verbreitung be¬
rücksichtigt, muß man annehmen, daß die Sitte nicht überall, wo sie heute
existiert, autochthon entstanden ist, sondern sich aus einigen Verbreitungs¬
zentren von Volk zu Volk fortpflanzte. F.S wäre anzunehmen, daß eine
solche Übernahme der Beschneidung nicht ohne Wirkung auf den Gesamt¬
habitus eines Volkes bleiben kann, In Australien scheint sich die Sache
nun ethnologisch so zu verhalten, daß die Stämme mit Zahnausschlagen
als Initiationsritus von den Stämmen, welche die Beschneidung ausüben,
abgedrängt worden sind, und jene spätere Völkerwelle betrachtet sich, wie
auch sonst Beschnittene den Unbeschnittenen gegenüber, als die über¬
legene, 1
14
Das Ergebnis dieser Untersuchungen w r äre demnach, daß die psychischen
Variationen des ewig Menschlichen sich auch unter den Völkerindividuen
feststellen und psychoanalytisch deuten lassen. Diese Unterschiede sind auch
verschieden bedingt. Vor allem haben wir die Unterschiede der Libido-
Ökonomie der Verteilung einer als konstant aufzufassenden 1/ibidoquantität.
Am auffallendsten tritt dies beim Übergang von den Natur- zu den Kultur^
Völkern zutage. Erst durch die Entstehung der psychischen Sphinkter¬
funktion durch den Übergang vom Oralen zum Anal Charakter wird auch
die Entstehung unserer Kultur erklärlich. Nicht nur, daß die Sorge um
die Zukunft die Anhäufung der Nahrung erst durch eine rückläufige Ver¬
schiebung der Sphinkterfunktion vom Analen auf das Orale ermöglicht
wird. Es stellen sicli auch andere Überlegungen ein; namentlich der Zu-
sammenhang mit der Entstehung des sozialen Genitalprimates, In einer
1 ) „ The Bidas hok upon themstlves ns bring Superior in race to the BanapasS 1 Howitt:
Native Tribes of South East Auitralia. 1904. Ö44. Bidas, die sowohl beschnitten wie
subinzidiert sind, Banapas, Randvülker zwischen diesen und der älteren Schichte.
Die Völkerpsychologie und die Psychologie der Völker
289
Untersuchung, deren Ergebnisse in Buchform veröffentlicht werden, glaube
ich bewiesen zu haben, daß der Gott-König der altorientalischen Kultur den
Phallos der Gesellschaft darstellt. Es ist anzunehmen, daß die durch die
Sphinkterbeherrschung bedingte Spannungserhöhung wesentlich zur Errei¬
chung dieses Genitalprimates beigetragen haben mag (Ferenczi).
Als Bestätigung dieser Auffassung will ich noch erwähnen, daß das
Orale bei den Primitiven eine viel geringere Rolle im Liebesieben (Küssen,
beinahe unbekannt), dafür aber eine entsprechend größere in sozialen Bil¬
dungen spielt. Mit dem Abbau des oralen und Aufbau des analen Charakters
scheinen auch gewisse früher im Ich verarbeitete orale Libidoquantitäten
wieder freigeworden und an ihre ursprüngliche Stelle zurückgeströmt zu
sein. Da wir ferner wissen, daß der Coitus a tergo bei den Primitiven mehr
verbreitet ist wie bei den Kulturvölkern, dürfen wir vielleicht auch hier
annehmen, daß sich anallihidinose Strebungen in Züge des Anal Charakters
verwandelt haben. Auch jene Unterschiede, die wir auf die relative Stärke
der Verdrängung und auf die Wiederkehr des Verdrängten zurückgeführt
haben, lassen sich als Unterschiede der Libidoökonomie auffassen, indem
die Verdrängung durch die Entziehung der Libido von der Mutter und
durch die Besetzung der väterlichen Leiche mit dieser Libido (Ausgangs¬
punkt des Über-Ich) aufrechterhalten wird, und drittens handelt es sich
beim Oszillieren zwischen Objektliebe und Narzißmus ebenfalls um eine
Frage der Libidoökonomie. Von einem historischen Standpunkt ausgehend
und die ontogenetische Parallele heranziehend, kann man diese Unter¬
schiede der Libidoökonomie auch als Stufen unterschiede deuten, während
diese Stufen selbst wohl als Reaktionserscheinungen auf noch unbekannte
Traumata der Urzeit entstanden sind. In dem wechselnden Verhältnis
des Verdrängten zur Verdrängung spiegelt sich aber auch eine nähere
urmenschliche Vergangenheit. Wie die Schicksale der Einzelnen ihre indi¬
viduelle Urzeit wiederholen, so wird es auch bei den Völkerindividuen
zugegangen sein. Wir vermuten hier gewisse Unterschiede im Ausgang des
Urhordenkampfes. Bei einer großen Völkergruppe wird die Stabilisierung
im Sinne der Väter zustande gekommen sein. Sie entwickelten ein Zwei¬
klassensystem mit Mutterfolge mit dem obersten Gebot: kein Geschlechts¬
verkehr zwischen Mutter und Sohn, Diese Völker sind von der Vater-
Imago beherrscht, konservativ, rückständig geblieben. Eine zweite große
Gruppe hat die Stabilisierung wohl etwas später vorgenommen und eine
Gesellschaftsform hervor gebracht, die einer Legalisierung der Sohnesrevo¬
lution gleich kommt. Ein Zweiklassensystem mit Vaterfolge; die Söhne
Imago XII*
19
2 9°
Göza Rdheim
dürfen die Mutter, nicht aber die Väter ihre Töchter heiraten. Trotzdem
nun eine solche Gesellschaftsform sich nicht halten ließ und durch das Ver¬
schwinden des Zweiklassen Systems später in dem einfachen patrilinearen
System die Vateridee wieder stärker hervortrat, blieb diesen Menschengruppen
von der Urzeit die fortschrittliche, revolutionäre Einstellung, und sie bilden
heute die führenden Mitglieder der Völkergesellschaft, Eine dritte Lösung
der Urh Orden Situation bestand in einem Sieg der Vater, aber ohne Unter¬
werfung der Söhne,
Es kam zu den Wanderungen der abgetriebenen Männchen, deren Lebens¬
schicksale sich in der psychischen Einstellung (Reihenbildung, Polytheismus)
gewisser Völker spiegeln. Um aber zu erklären, warum die Lösung der Ur-
hordensituation in dieser oder jener Weise erfolgte, müssen wir wieder zu
der Annahme gewisser Tendenzen, zu dem genitofugalen Zug der Libido
greifen. Hier haben wir es wahrscheinlich mit den Urtatsachen des Lebens
zu tun. Wahrscheinlich sind sowohl Regression (Inzest) wie Exogamie als die
durch die Spaltung hervorgerufene Flucht vor dem Urobjekt schon lange
vorgebildet, ehe sie sich in der Urhorde eine Gesellschaftsform schaffen.
Alle diese Unterschiede, mögen sie nun geschichtlich bedingt sein, in der
Verteilung der Libidoquantitäten, in der topischen Lagerung der Urtendenzen
oder in den Mechanismen der sekundären Bearbeitung liegen, können in
Verbindung mit verschiedenen Stufen in der Ich-Entwicklung der Völker
auftreten. Eine Idealbildung überlagert die andere, Kulturen werden nach¬
geahmt und den Urtendenzen entsprechend bearbeitet. Nachdem wir somit
die Grenzen einer zukünftigen Wissenschaft angedeutet haben, merken wir
erst recht, wie weit die Völkerpsychologie hinter der individuellen Analyse
zurückgeblieben ist. Denn die bisherige analytische Ethnologie kann doch
nur beanspruchen, eine Symptomanalyse zu sein, während die klinische
Analyse schon längst zu einer Analyse der Gesamtpersönlichkeit geworden
ist. Doch ich zweifle nicht daran, daß eine Zeit kommen wird, in der,
wie Rivers es wünschte, die Einheit der Ethnologie hergestellt sein
wird. 1 In dieser Synthese der verschiedenen Wissenszweige (Archäologie,
Anthropologie, Sprachforschung, Ethnographie, Soziologie, Religionswissen¬
schaft) wird aber der Psychoanalyse die zentrale Rolle zukommen. Ohne
sie fehlte „das geistige Band“ und die noch so sauber herauspräparierten
Bestandteile ließen sich nie zu einer lebendigen Einheit zusammen fassen.
i) W. H. R. Rivers: The Unity of Anthropology. Journal of thc Royal Anthr
Inst. 1922. LII.
Die Völkerpsychologie und die Psychologie der Völker
291
Die Zukunft wird die Fragen lösen, jedem Volk seine besondere Alters¬
stufe oder spezifische Neurosen form zu weisen und die Wissenschaft der
Völkerpsychologie von der prägenitalen Haß- und Projektionsstufe auf die
Stufe einer objektsangepaßten und objektiven Psychologie der Völker empor¬
heben.
Der Familienvater
Von
Alice Ba 1 i n t
Budapest
Erwachsensein, d. h. die Erledigung des Ödipus-Komplexes und die volle
Entwicklung des Realitätssinnes sowohl auf der Ich-Seite wie auf der libidinösen
Seite (erotischer Realitätssinn)/ ist eine Aufgabe, an der wir unser Leben
lang arbeiten* Im Leben der Völker spielt dieses Problem eine ebenso
große Rolle, wie im Leben des Einzelnen* Es gibt infantile Völker genau
sowie infantile Menschen und in den sozialen Ein richtungen der verschiedenen
Nationen spiegeln sich alle Entwicklungsstufen und Regressionsmöglichkeitexi,
die wir im Seelenleben des Individuums auffinden können. Innerhalb des
infantilsten Volkes gibt es natürlich erwachsene Menschen, doch die Ein¬
stellung der anderen zu diesen und der Platz der ihnen zu gewiesen wird,
sind charakteristisch für die Entwicklungsstufe, die die Kultur eines Volkes
im allgemeinen erreicht hat. Besonders aufschlußreich ist in dieser Beziehung
das Studium des Häuptlingswesens und der politischen Organisation, da
unter primitiven Verhältnissen eben die Häuptlinge und führenden Männer
die „erwachsenen“ Mitglieder des Stammes sind* Die analytische Erfahrung
hat uns gelehrt, daß jede Autorität ein Abkömmling der elterlichen Autorität
ist. Die Einstellung zur Autorität im allgemeinen zeigt uns daher am besten,
auf welche Weise und bis zu welchem Grade die Erledigung des Ödipus-
Konfliktes gelungen ist*
Das Studium der Prärie-Indianer Nordamerikas bot mir Gelegen¬
heit, eine besondere Form des Häuptlings Ideals und den entsprechenden
Losungsversuch des Ödipus-Komplexes zu analysieren* Ich nannte dieses Häupt¬
lingsideal den „Familien vater w , da sein Charakter dem, was wir heute
i) Ferenczi: Versuch einer GcnitaUheoric* (Internationale Psychoanalytische
Bibliothek, Ed. XV.)
Der Familienvater
295
einen Familienvater nennen, in wesentlichen Punkten gleicht. Bei dem
Indianerhäuptling finden wir diese Züge in einer Vergrößerung und Sche¬
matisierung, die uns zum besseren Verständnis der kulturhistorischen
Bedeutung der Entwicklung der Vaterfigur, vom Urvater zum
Familienvater, verhilft.
Der ideale Indianerhäuptling ist ein wohlwollender, weiser und
friedliebender Mann, der seine Stellung in erster Reihe seiner außer¬
ordentlichen Freigebigkeit verdankt. Diese Freigebigkeit äußert sich
im besonderen in der Veranstaltung großer Schmausereien, bei denen groß
und klein geladen ist. Dabei hat der Häuptling als solcher keine besonderen
Einnahmen, noch wird er etwa bei der Verteilung der Jagdbeute irgendwie
bevorzugt. 1 Daher kann sich nur ein reicher Mann um die Häuptlings¬
würde bewerben, der außerdem noch über den Beistand einer ausgedehnten
Verwandtschaft verfügt. Und wenn eT sein Ziel erreicht hat, ist er oft der
ärmste Mann des Stammes, da er alle seine Habe verschenkt hat. 2
Bei der unbestreitbar älteren Form des erblichen Häuptlingstums tritt
die tiefere Bedeutung der im Vordergrund stehenden Forderung der Frei¬
gebigkeit weit klarer zutage, da bei dem Wahlhäuptlingstum die Verdeckung
der eigentlichen Motive durch Rationalisierung (auch von seiten der Forschungs¬
reisenden) viel leichter gelingt. Bei den Sioux-Stämmen der Dheghiha-
Gruppe und den Iowa, war die Häuptlings würde in jenen Gentes bzw.
Subgentes erblich, deren Totem die Hauptnahrung des Stammes bildete,
oder die die Riten zur Vermehrung und Erhaltung dieser wichtigsten Lebens¬
mittel besaßen. 3 4 Die Beziehung des Häuptlingstums zu der Hauptnahrung
des Stammes ist so fest, daß nach dem Übergang der meisten Sioux-Stämme
vom Ackerbau zur Büffeljagd, die Büffelgentes die führende Rolle an Stelle
der Maisgentes übernahmen, oder, daß letztere neben den alten Ackerbau¬
riten auch Jagdriten entwickelten und so allmählich zu Büffelgentes wurden. 4.
In dem Schema der Stammesorganisation, in der jeder Gens eine be¬
stimmte Funktion zugeteilt ist, vertritt die Gens, deren Riten für die Nahrung
1) P.Radin:TheWiimebago Ind. 37* A. Nep. Bur. Am. Ethn., p. 290. — C. Wissler:
Soc. Life of the Blackfoot Ind. A. Pap. Am. Mus. Nat. Hist. v.VII., p. 23. — A. Sk inner:
Pol. Org. Cults a. Cerem. of the Plains-Ojibway a. Plains-Cree. v. XI, p. 482. —
Fletcher-La Flösche: The Omaha Tribe. 27Ü 1 A. Rep. Bur. Am. Ethn., p. 212.
2) Wissler, a. a. O. Skinner, a. a. 0 *
3) Fletcher-La Flesclie, a. a. O. p. 147. — Skinner: Iowa Societies A. Pap. Am.
Mus. Nat. Hist. v. XI, p. 685—886.
4) Skinner: Iowa. Vgl. auch die Inkecabe Gens der Omaha. — Fletcher-
La Flesche, a. a, 0 . p. 147.
294
Alice Bälint
sorgen, den Häuptling, Der Platz, den diese Gens im Lager einnimmt» ent¬
spricht dem Platz des Vaters im Zelt der einzelnen Familie* Und zwar
gilt dies nicht nur im ideellen Sinne, sondern auch rein formal, da das
Lager selbst ein großes Zelt darstcllt, in dem der Stamm wie eine Familie
haust, 1 Jene Gens, die bei den Omaha diesen Platz einnimmt, heißt Honga ,
d* i. „Führer“, „Erster“ oder „Urahn“. Das Verhältnis dieser Gens zu
den übrigen ist das des Vaters zu seinen Kindern, Diese Gens besitzt die
wichtigsten Riten in Verbindung mit dem Nahrungserwerb. 12 *
Eine ganze Reihe von Einzelheiten bestärkt noch den Eindruck von
der engen Beziehung, die zwischen der Nahrung und dem Häuptling besteht.
Es sei hier einiges erwähnt: Das allgemein verbreitete „Ring- und Speer*-
spiel, dessen Koitussymbolik auch den Indianern bekannt ist, wurde in alter
Zeit nur von den Häuptlingen gespielt und diente als ein magisches Mittel
zur Vermehrung der Büffelherden. 5
Die Omaha geben eine interessante Erklärung der Tracht, die im ganzen
Präriegebiet von den Häuptlingen und Priestern getragen wurde* Diese
Tracht bestand aus einer vollständigen Büffelhaut, welche mit den Haaren
nach außen um den Leib gewickelt wurde* „Die I läuptlinge, die in dieses
Fell gewickelt saßen, zeigten einige Ähnlichkeit mit einer Gruppe von Büffeln*“
Dieser Brauch wurde von den Indianern erklärt „...als eine Form der An¬
erkennung der Tatsache, daß durch den Büffel das Leben auf den Menschen
übertragen werde, damit dieser lebe.“ 4
Unter den Männergesellschaften dieser Stämme ist die Rüffelgesellschaft
oft zugleich die Gesellschaft der Häuptlinge, oder doch der alten und an¬
gesehenen Männer, was ebenfalls auf einen Zusammenhang zwischen dem
Nahrungstier und den Häuptlingen hin weist
Der Häuptling ist also in erster Reihe der Ernährer* Diese Ernährer¬
rolle erscheint als das Wichtigste an ihm* Man konnte fast behaupten, daß
der Häuptling in einigen besonders ausgeprägten Fällen geradezu mit der
Nahrung i dentifiziert wird* Der Häuptling gehurt ja bei einigen Stämmen
zu der Gens, deren Totem die Nahrung des Stammes bildet, ist selbst ein
1) Fletcher-La Flcsche, a. n* O. p* 158, 140, J41,
2) Fletcher-La Flasche, a. a. O* p. 155» 154*
5) Fletcher-La FL&sche, a. a* O* p* 148*
4) Fletcher-La Flhchc, a* a. O. p. 258. l>as „Leben 4 * bedeutet hier die
Nahrung.
5) Vgl, die Angaben in R. H. Lo wie: Plains Ind* Age Societies, Historical a, Com-
parative S ummary. A* Pap* Am Mus. Nat* Hist* v. XI., pt XIII*
Der Familienvater 295
Maismann oder Büffelmann, für den die Nahrung, die er durch die Riten
seiner Gens den übrigen verschafft, Tabu ist , 1
Die für die Massenbildung so wesentliche Fiktion, daß alle Mitglieder
der Masse vom Führer in gleicher Weise geliebt werden (Freud, Massen¬
psychologie) treffen wir auch in unserem Falle am Werk. Ist doch der
Häuptling bei all diesen Stämmen der Vater, der nach der Aussage eines
Winnebago-Indianers alle Stammesgenossen, die Alten wie die ganz Jungen,
wie seine Kinder liebt. Auffallend ist jedoch bei den indianischen Massen¬
bildungen ihr demokratischer Charakter. Hier gibt es keine Tabus und
Zeremonien, durch die der Häuptling von den übrigen Stammesmil gliedern
abgesondert und ferngehalten wird. In der Sprache des Ödipus-Komplexes
ausgedrückt, scheint vollkommener Friede zwischen dem Vater und der
Sohnesschar zu herrschen. Dem Häuptling fehlt überhaupt jeder aggressive
Zug. Er ist der allgemeine Friedensstifter des Stammes und das Zeichen
seiner Würde, die Pfeife ist immer eine Friedenspfeife. Mit Hilfe dieser
Pfeife vermittelt er den Frieden unter seinen Stammesgenossen . 2 Jene Gens
der Osage, aus denen die Häuptlinge gewählt werden, tragen den Beinamen
„1 vashtage“, d. h. Friedensstifter. Das Zelt des Häuptlings ist ein Asyl für
alle Fliehenden, selbst für den zu opfernden Hund. Bei den Osage wurden
die Kriegsgefangenen in der Regel von dem Tsizhuhäuptling adoptiert,
deshalb trägt diese Gens den Beinamen „Lebensspender “. 3
Mit Kriegsangelegenheiten hat ein Häuptling überhaupt nichts zu
tun, nur wenn die Existenz des Stammes von außen bedroht wird, wenn
es sich also um die Verteidigung des Heims und der Familie handelt,
nimmt der Häuptling teil an dem Gefecht und kann eventuell selbst An¬
führer des Verteidigungskampfes sein . 4
Im allgemeinen ist der Krieg bei allen Indianerstämmen eine Privat¬
angelegenheit der jungen Männer, die durch Kriegstaten zu Ruhm und
Ansehen gelangen wollen. Einen Kriegshäuptling gibt es nicht, doch finden
wir Kriegsriten und Zeremonien, deren Priester einigen Einfluß auf das
1) Fletcher-La Flesche, a. a. O. p. 147. — Skinner: Iowa. Die Ähnlichkeit mit
den australischen Inticliiumariten springt in die Augen. Vermutlich ist diese Form
des indianischen Häuptlingswesens eine Fortbildung ähnlicher Zeremonien.
2) J. O, Dorsey: Omaha Sociology. 15^ A. Nep. Bur. Am. Ethn.,p. 218. — Fl etcher-
La Fldsche, a. a. 0 . p. 205, 206, 215, 187.
5) La Fldsche: The Osage Tribe. gßth A. Nep. Bur. Am. Ethn., p. 67—71.
4) J. O. Dorsey: Siouan Sociology g d A. Nep. Bur. Am. Ethn., p. 222—224 (Assi-
niboin). — Fletcher-La Flasche, a. a. 0 - p- 211.
296 Alice IMlint
Kriegswesen ausüben . 1 Bei den Omaha, wo die Zentralisation der Kriegs*
macht etwas weiter fortgeschritten ist, müssen die Krieger, bevor sie etwas
unternehmen, die Zustimmung der Priester des heiligen Kriegszeltes er¬
halten. Die Gens, die das Kriegsheiligluin besitzt, heißt Whezhimhte $ d, i.
„durch die der Stamm zornig wird“* Aus dieser Gens werden gerade, weil
sie eine kriegerische Gens ist, keine Häuptlinge gewählt . 3
Der Krieg erscheint also bei diesen Indianern nur in ganz geringem
Grade als ein politisches Mittel und ist fast ausschließlich eine Form der
Abreagierung der sadistischen und feindseligen Gelüste, die der
Jungmannschaft des Stammes erlaubt, ja sogar geboten ist. Den Häupt¬
lingen jedoch wird das Ausleben dieser Gelüste geradezu verboten. Berühmte
Krieger, die ihre Lust zur Gewalttätigkeit auf dem Kriegspfade bekundet
haben, werden zwar als Helden verehrt, doch, besonders in älterer Zeit,
niemals zu Häuptlingen gewählt , 5
Zur Vervollständigung des Bildes, das wir somit von dem indianischen
Häuptling erhalten, sei noch erwähnt, daß dem Häuptling auch die Macht
und das Recht zu strafen fehlt. Im Gegenteil ist er es, der selbst das Leben
des Mörders beschützt und mit der Kraft seiner Friedenspfeife die Blutrache
von ihm abzuwenden sucht , 4
Zur Zeit der allsommerlichen gemeinsamen Büffeljagd, wo ein strenges
Regiment von lebenswichtiger Bedeutung ist, wird in der Regel ein be¬
sonderer Jagdführer gewählt, dem auch die Häuptlinge Gehorsam schulden.
Die Ablehnung jeder machtvollen Autorität ist jedoch so stark, daß in
einigen Fällen selbst der Jagdführer seine Stellung nicht für die ganze
Dauer der Jagd behält, sondern täglich von einem anderen ersetzt wird . 5
Dieser letzte Umstand macht uns bereits darauf aufmerksam, daß der
Friede zwischen dem Häuptling-Vater und der Sohnesschar nur ein schein¬
barer ist. Die Wichtigkeit des Vaters für das Wohlsein der Kinder wird
zwar voll anerkannt, doch alle Macht wird ihm genommen. Daß wir es
hier mit einem Verdrängungsprodukt zu tun haben, zeigt sich besonders
1) Fletcher-La F 16 sche, a. a, Ü. p. 405—408. — Skinncr: Kansa Organisations. .
A. Pap. Am. Mus, Nat* Hist, v, XJ. p* 747 1 748.
2) Fletcher-La Fldsche, a> a. O. p. 201.
3) G, A. Dorseyr Soc. Organis. of the Skidi Pawnee. Proc. Congr. Am. v. XV, —
L O, Dorsey: Omaha, p, 218, — Sk inner: Kama, p. 746.
4) Fletch er - L a Fl 6s che, a. a. O. p. 205—206. — Ln Fl 6 sch e, 11, a. O, p, 67—71. —
P. Radin: Winnebago.
5) Sk inner: Iowa, p. 685, Hdb, of Am. Ind. Art, „Telou“. — La Flasche: Osage,
p. 67, 68,
Der Familienvater
3 97
darin, daß die Macht schlechthin das Bose, besser gesagt, die Macht zum
Bosen bedeutet. Deshalb dürfen Krieger keine Häuptlinge werden* Besonders
deutlich kommt dieser Gedanke in der Hako- oder Pfeifentanz-Zeremome
zum Ausdruck. In dieser Zeremonie spielen zwei Pfeifenrohre die Haupt¬
rolle, die einen weiblichen und männlichen Adler darstellen* Der weibliche
Adler ist der Häuptling oder Führer (als Führer tritt in dieser Zeremonie
auch die Mais-Mutter auf). Der männliche Adler ist der Vater und Soldat,
Das weibliche Rohr wird immer in der Mitte der Prozession getragen, denn
es symbolisiert die Mutter, deren Platz unter den Kindern ist, die sie füttert
und hegt. Das männliche Rohr hingegen trägt man stets etwas abseits, damit
die in ihm verkörperte Kriegswut sich gegen die Fremden und Feinde, und
nicht etwa gegen die eigenen Kinder richte . 1
Wir erkennen in den zwei Adlern unschwer den Häuptling und die
Krieger des Stammes. Der gute Vater (Häuptling) also, der jeglicher Aggression
entkleidet ist, der alles seinen Kindern schenkt (Freigebigkeit), sie füttert
und für ihr Gedeihen sorgt, wird eigentlich als eine Mutter betrachtet.
Die W inn ebagoTn d i an er sagen selbst von ihrem Häuptling, daß er am
„Fest des Häuptlings" den Stamm füttert „wie eine Vogelmutter ihre Jungen “* 2
Wie ist nun dieses mütterliche Häuptlingsideal entstanden? Wir
vermuten, daß der Vermütterlichung des Häuptlings die Spaltung der ur¬
sprünglichen Vater-Imago in einen guten und einen bösen Vater voranging*
Hinweise darauf finden sich bei mehreren der in Betracht kommenden
Stämme.
Als charakteristisches Beispiel nenne ich die zwei heiligen Pfähle
der Omaha* Das ältere Stammes Heiligtum war der dem Donnergott ge¬
weihte Zedernpfahl, der im heiligen Kriegszelte der Whezhinshte Gens
gehütet wurde* Der andere „heilige Pfahl" wurde nach der Sage später
von den alten und weisen Männern des Stammes eingeführt, „um die
Einheit des Stammes zu sichern“* Dieser Pfahl wird in der Honga Gens
gehütet, die auch die Mais- und Jagdriten besitzt.
Durch den Zedernpfahl des Kriegsgottes wurden die Ehren abzei eben an
die Krieger ausgeteilt* Durch den „heiligen Pfahl“ der Honga Gens hingegen
werden diejenigen Männer ausgezeichnet, die sich durch Taten des Friedens
Verdienste erworben haben* Als solche Taten kamen in erster Reihe Geschenke
an die Gesamtheit in Betracht, also eben jene Leistungen, durch die man
1) Fletcher: The Hako: A Pawnee Geremony, 22& A. Rep. Bur* Am* Ethn. pt* 2*
p* 42, 21, 59, 192, 288, 680 ff. — Hdb* of Amer. Ind* Art* „Calumet“*
2) P* Radin: Wixmebago, p. 290.
Alice Bälint
Häuptling werden konnte . 1 Dieser Pfahl spielt die zentrale Rolle in der
Danksagungszeremonie am Ende der großen gemeinsamen Büffeljagd. Bei
dieser Gelegenheit wird vor dem Pfahl eine Figur in den Sand gezeichnet,
die „das Verlangen“ des Kindes symbolisiert, das alles Gute von seinen Eltern
erwartet , 2
Der Zedernpfahl repräsentiert den aggressiven, bösen Vater.
Der heilige Pfahl der Danksagungszeremonie, den lebenspendenden, guten
Vater . 3
Ein anderes Beispiel bietet die Spaltung der Winnebago Donnergens in
die „guten“ oder „großen“ Donner und die „bösenDonner oder Krieger.
Der Häuptling mußte aus einer „guten“ Donnergens gewählt werden . 4
Die führende Rolle der Donnerleute zieht sich wie ein roter Faden durch
die Geschichte all dieser Stämme, Auch die beiden heiligen Pfähle der
Omaha sind dem Donner geweiht . 5 Der Donnergott selbst kann uns als
der Prototyp der Vater-Imago vor der Spaltung in einen guten und bösen
Vater dienen. Dieser Gott ist nämlich gleichzeitig der furchtbare Gott der
Stürme und Kriege und der wohlwollende Gott der Fruchtbarkeit. Zur
Zeit, als der alte Zedernpfahl das alleinige Stammesheiligtum der Omaha
war, wurden vermutlich sowohl die Kriegsriten wie die Fruchtbarkeit«* und
Danksagungszeremonien ihm zu Ehren gefeiert , 6
Die Spaltung der Vater-Imago setzt also die volle Anerkennung der Rolle
des Vaters bei der Zeugung voraus. Der „gute“ Vater ist eben der Leben¬
spender. Es liegt jedoch im Wesen des Ödipus-Komplexes, daß der Penis
des Vaters unbedingt die Ambivalenz des Kindes herausfordert. Die Spaltung
allein genügt also nicht zur Festigung des Friedens, und so wird das Bild
des „guten“ Vaters immer mehr dem Bilde der Mutter an genähert, d. h.
die Rolle des Erzeugers wird durch die Rolle der stillenden Mutter ersetzt.
Der gute Penis, der das Leben gibt, wird zur Mutterbrust, Besonders klar
kommt dies in der doppelten Symbolik der Pfeife zum Ausdruck. Die 1 feife
ist einerseits Symbol des Schöpfers, also ein Peniisymbol, Als Friedenspfeife
1) A. Fl et eher: Emblematic use of iheTree in the Dakota Group. Science, v, IV.
Fletcher-La Flasche, a. a. O. p, 22 9> 457 "’ 219— -921*
2) Fletcher-La Flasche, a. a. O. p. 254, 241.
5) Beide Pfähle stellen übrigens einen alten Mann dar.
4) P. Radin: Winnebago. Cf
5) Fiat eher: Emblem, use of the Trcc , . , p, 481, — Fl nl eher -La Fl e® che,
a. a. O. p* 229,
6) Fletcher-La Flasche, a, a* O. p. 217, 45 ®*
Der Familienvater
299
und Abzeichen des Häuptlings ist es anderseits ein Symbol der Mutterbrust.
(Verbrüderung durch gemeinsames Rauchen .) 1
Nun dürfen wir aber nicht übersehen, daß im Falle unserer Indianer
die Spaltung der Vater-Imago zugleich Kastrierung des Vaters bedeutet. Der
gute Vater, der Häuptling besitzt keine Macht. Er darf wohl geben, aber
nichts versagen, er wird zur Mutter gemacht. Der böse, aggressive Vater,
der durch die Gesamtheit der Krieger des Stammes repräsentiert wird, ist
ebenfalls kastriert. Denn die Krieger können nicht Häuptlinge, d. i. gute
Väter, Lebenspender, werden.
Die bedeutsamste Folge dieser Art der Beseitigung des Vaters ist
die Regression von der genitalen Stufe auf die orale. Der Vater-
Häuptling, der für das Gedeihen des Stammes sorgt, ihm zu essen gibt,
wird der stillenden Mutter gleichgestellt. Die Söhne, die wohl den Penis
an sich rissen, doch die Macht, die er verkörpert, keinem unter sich un¬
geteilt überlassen, erwerben nicht die Mutter, sondern bloß die Mutter¬
brust.
Diese Erledigungsform des Ödipus-Komplexes bedeutet also letzten Endes
die Umgehung des Kampfes mit dem Vater. Die „böse“ Seite des
Vaters, die die Versagung der Mutter und die Anforderungen der Realität
verkörpert, wird verdrängt und es erfolgt die Regression auf jene Stufe,
wo eine erotische Beziehung zu der Mutter von dem Vater gestattet war,
dies ist eben die Zeit des Gesäugtwerdens. Der Preis dieses Friedens ist
also ein ewiges Kindbleiben.
Die Infantilität und Realitätsfremdheit, man könnte auch sagen Un¬
fruchtbarkeit des indianischen Kriegertums, ist die direkte Folge
dieser Tatsache, daher kann es uns zur Illustrierung des bisher Gesagten
dienen.
Das eigentliche Hauptmotiv, das den Indianer in den Krieg führt, ist
die Erreichung persönlichen Ruhmes durch Vollbringung eines Bravour¬
stücks . 2 Das Bravourstück, der „Coup“, wie es allgemein genannt wird.
1) In der Kriegspfeife ist beides enthalten. Es verbrüdert die Krieger durch ge¬
meinsames Rauchen und repräsentiert den aggressiven Penis gegenüber den Feinden.
Hdb. of Amer. Ind Art. „Smoking“. — Skinner: Iowa. p. 728 (Origin. Myth). —
Kroeher: Gros Ventre. Myths a. Tales. A. Pap. Mus. Nat. Hist. v. I. — G. A. Dorsey-
Kroeber: Trad. of the Arapaho. Publ. Field Col. Mus. v. V. — J. Mooney: The
Ghost Dance Religion. 14‘b A. Rep. Bur. Am. Ethn. p. 95g, g6o (Arapaho).
2) Daß die Rüstung eines Kriegszuges ein privates Unternehmen ist, wurde bereits
erwähnt.
5 oo
Alice Halint
charakterisiert die Männlichkeit der indianischen Krieger. Die Frucht ihrer
Tat ernten sie zu Hause im Lager, wo sic im Kreise ihrer Genossen, vor
den Häuptlingen und angesehenen Männern, und nicht zuletzt vor den
anwesenden Frauen ihre „Coups“ aufzählen, indem sie jedesmal mit einem
Stock auf einen aufgerichteten Pfahl schlagen (Counting Coup ). 1
Diese Krieger sind keine Eroberer und Ländergründer, sondern Kinder,
die sich mit ihrer Männlichkeit brüsten. Wohl ist die Bravour und der
Exhibitionismus für jedes Soldatentum charakteristisch, doch die Ausschlie߬
lichkeit, mit der es hier auflritt und das gänzliche Zurücktreten aller
anderen Motive ist immerhin bemerkenswert. Das Ziel des Kampfes ist
rein narzißtisch, und zwar individuell narzißtisch. Während z. B. im Falle
eines Eroberungszuges oder der Einnahme einer Stadt bereits die objekt-
libidinöse Stufe erreicht wird und das Unternehmen für das Unbewußte
die Bedeutung eines Koitus (der Eroberung der Mutter) erhält . 2
Die Kriegführung der Indianer verhält sich etwa zu den Kriegen eines
Eroberervolkes, wie die Pubertätsonanie zu dem Koitus des Erwachsenen.
Die Kriege dieser Indianer sind unfruchtbar, haben keine eigentlichen
„Folgen 14 . {Ländererwerb, Tribut usw.) Sie gelangen wohl dazu, sich mit dem
Vater-Feind zu messen, doch sie sind unfähig, einen Gewinn daraus zu
ziehen. Darin erkennen wir die Wirkung der Angst vor dem Vater und
des aus dem Ödipus-Komplex stammenden Schuldgefühls. Unter dem Druck
dieser psychischen Einstellung bleiben diese Völker trotz ihrer ewigen
Kriege und ihrer heldenhaften Tapferkeit immer dasselbe: heimatlose,
unstete Jägernomaden . 3
Wenn wir die Entwicklungshöhe unserer Indianer durch eine bestimmte
Periode des individuellen Lebens veranschaulichen wollten, so ließe sich
am besten die Pubertätszeit, und zwar der Anfang dieser Periode, zum
Vergleich heranziehen. Die Auflehnung gegen die Autorität, die paradierende
Männlichkeit und dabei das Fehlen der inneren Selbständigkeit (was sich
1) Hdb, of Amen Ind. Art. „Warflire“, „Coup“. — Zahlreiche Angaben sind in
allen Beschreibungen dieser Stämme zu finden. — Der wertvollste Coup besteht darin,
daß man mit der bloßen Hand auf den lebenden Feind schlägt. Diese tollkühne, doch
vollkommen zwecklose Handlung, wird mit der erstklassigen Auszeichnung belohnt.
Das Toten des Feindes kommt erst an dritter oder vierter Stelle* Dies zeigt gleich¬
falls die Realitätsfremdheit der indianischen Kriegsgebräuche.
2) Rank: Um Städte werben. Internat. Ztßchr. f. PiA I, S. 50—58*
5) Als Äußerungen des Schuldbrwußtsems können wir auch die weit verbreiteten,
geradezu selbstmörderischen Kriegsgebräuche der Kriegerverbände betrachten* Siehe
die zahlreichen Angaben in Anthr. Pap* of the Amor. Mus. of Nat. Hist. v. XI.
Der Familienvater
3 01
hier in der geringen Entwicklung der politischen Einsicht und dem Fehlen
echt politischer Ziele kundgibt), sind alles Merkmale dieser Entwieklungs-
periode . 1
Wollen wir diese Betrachtungsweise auch auf die Beziehung des Stammes
zu den Häuptlingen anwenden, so kann der Stamm mit jenen sexuell reifen,
doch wirtschaftlich unselbständigen Jünglingen verglichen werden, die das
Geld (hier Nahrung) von ihren Vätern erhalten. Das Geld, mit dem man
alles erwerben kann, bedeutet die Potenz des Vaters, die dieser „gute“
Vater sozusagen den Söhnen schenkt. Doch die Minderwertigkeit dieser
geschenkten Potenz erhellt daraus, daß diese Söhne keine (Familien-) Väter
werden’ können. In dem individuellen Falle sind sicher dieselben Regressions¬
mechanismen am Werk, die wir Im Falle unserer Indianer angenommen
haben.
Die Frage, wodurch jene Entwicklung in Gang gesetzt wurde, die zu
der Spaltung der Vater-Imago und der Vermütterlichung des
Häuptlingsideals geführt hat, ist, da uns die Überlieferungen fehlen,
schwer zu beantworten. Wir vermuten aber, daß der Übergang vom Acker¬
bau zum Jagdleben und die damit verbundene Wanderung aus der alten
waldigen Heimat in die offene Prärie dabei eine große Rolle gespielt haben
mag; Wir wissen, daß die Bodenbewirtschaftung bei all diesen Völkern
auf der Stufe des Hackbaues steht und von den Frauen betrieben wird*
Wo also die wirtschaftliche Bedeutung des Hackbaues an erster Stelle steht,
sind wirklich die Frauen die nährenden Mütter des Stammes. Ihr Sinn¬
bild ist die Mutter Erde, aus der die Nahrung gewonnen wurde und in
deren Schoß sie ihre Dörfer gebaut hatten. Mit dem mehr oder minder
vollständigen Übergang zum Nomadenleben haben diese Völker in gewissem
Sinne die Mutter verloren . 2 Etwas anderes trat jedoch an ihre Stelle: das
war der Vater, der seine Kinder ernährt. Bis dahin war die wirtschaftliche
Rolle des Mannes gering neben der der Frau. Nun wurde aber seine Be-
1) Auch sonstige Anzeichen lassen sich finden, so die homosexuelle Einstellung
der Männer (M äimerg e s c 1 1 schaften, zu denen von den Knaben bis zu den Greisen
alle Männer des Stammes gehören) und die geringe Gefühlsbildung an die Frau (Ver¬
schenken, Verspielen der Ehefrau; sportmäßig betriebener gegenseitiger Weiherraub,
wobei dem geraubten Weibe nicht nachgetrauert werden darf und der Räuber selbst
die Frau nicht für sich behalt, sondern sie ihren Eltern zurückgibt). Siehe ebenfalls
A. Pap. Am. Mus. Nat. Hist. v. XL
2) Das hier Gesagte gilt streng genommen nur für die Stämme des Ostens und
Südens. Dies sind aber zugleich auch jene Stämme, die das hier besprochene Häupt¬
lingsideal am reinsten entwickelt haben.
502 Alice Bälint
deutung in ungeheurem Maße erhöht , 1 Dadurch wurde der \ ater dazu
gedrängt, in gewisser Beziehung auch Mutter seiner Kinder zu sein, denn
sie ernähren, hieß ihnen gegenüber mütterlich fühlen. Durch die Umstände
selbst wurde also der Weg zur Entwicklung der mütterlichen Vater-Imago
vorgezeichnet. Diese Wandlung im Inneren mitzumachen mochte der Mehr¬
zahl Schwierigkeiten bereitet haben, was die Spaltung der Vater-Imago zur
Folge hatte. Die psychische Ursache dieser Spaltung ist also die Unfähig¬
keit zur Identifizierung mit dem neuen Vater-Ideal . 2 3
Diese Schwierigkeit kommt sehr schon in dem bekannten Cherokee¬
märchen von Kanati und Selu zum Ausdruck. In dieser Erzählung bringt
der Vater-Jäger jeden Tag ein erlegtes Wild nach Hause. Eines Tages wird
er von den Kindern bei der Jagd belauscht und diese sehen, wie er das
Wild aus einem Berge herausholt. Die Kinder machen ihm das Kunststück
nach und lassen dabei alle Tiere aus dem Berge heraus, die sich sogleich
im Walde zerstreuen. Seither ist es nicht mehr so leicht, für jeden Tag
das nötige Wild herbeizuschaffen. s
Das Freilassen der Tiere bedeutet, daß die Möglichkeit des Koitierens
nunmehr allen offen steht (Röheim), Das nachträgliche Bedauern deutet
jedoch auf die Schwierigkeit, mit dem Kontieren auch die psychische Rolle
des Ernährers m übernehmen. Denn derjenige, der diese Rolle zu über-
nehmen vermag, ist selbst nicht mehr an die Mutterbrust fixiert, hat die
infantile, orale Bindung an die Mutter gelüst, und die Furcht vor dem
Vater überwunden, die ihn in dieser Bindung beharren ließ.
Im Bedauern ist also bereits die Spaltung der Vater-Imago enthalten.
Die Spaltung selbst bedeutet aber letzten Endes die Flucht vor der neuen
Aufgabe und die Regression zu der Mutter, also das Kind bl eiben.
Versuchen wir nun zum Abschluß an Hand der Ergebnisse, die wir
durch die Analyse des HänptHngsvvcsens dieser Indianer erhalten haben,
die Entstehungsgeschichte des Typus „Familienvater^ zu rekonstruieren.
Aus dem bisher Gesagten ist es bereits klar, daß der Familienvater
aus dem rein narzißtischen Urvater, auf dem Wege der Identi¬
fizierung mit der Mutter entstanden ist. Die erste Phase dieser Ent-
i) Den Präriestämmen sind in dieser Beziehung nur die Eskimo an die Seite zu
stellen,
2} Es ist klar, daß den führenden Männern der Maisgentcs diese Identifizierung
leichter fallen mußte. Diese Männer genossen ja eine Vorerzichung durch die Riten
ihrer Gens, durch die sie ihren eigenen Totem den übrigen zur Nahrung schenkten.
So wurden sie die ersten Vertreter des neuen Häuptlings]deals.
3) Mooney: Myths of ihc Cher, I9 th A» Rep. Bur. Am. Etlm.
Der Familienvater
5°5
Wicklung wurde zuerst von Röheim in seinem Berliner Kongreß vortrag
(1922) 1 2 beschrieben, wo er darauf hinwies, daß die Leiche des getöteten
Urvaters dadurch, daß er verspeist wird, mütterliche Qualitäten erhält.
Als Leiche speiste nämlich der Vater zuerst seine Kinder, wie es bis dahin
nur die Mutter tat* 3 * Dieser Vater, den man nicht mehr bloß bewundern,
sondern bereits lieben konnte, wurde zu dem neuen Vater-Ideal. Wie das
Streben nach diesem weniger lustvollen Ideal aufrecht erhalten wurde, kann
ich nicht sagen. Das Schuldbewußtsein gegenüber dem getöteten Vater und
die Vergeltungsangst, die sich im Wunsch nach Liebe und Versöhnung mit
den Kindern äußerte, hat dabei sicher die Hauptrolle gespielt. (Freud, Totem
und Tabu.) Zuerst erhielt wohl die altruistische Komponente des Koitus
eine Verstärkung. Während der Beischlaf bis dahin bloß die Reizabfuhr
bedeutete, wurde er nun mehr ein „Geben 1 *; Kinderschenken an die Frau,
Lebenschenken an die Kinder. Diese neue Bedeutung des Koitus wird dann
auf die männlichen Arten der Nahrungsgewinnung (Jagd, Fischfang), die
alle Koitusbedeutung haben, übertragen. 5
Die Folge dieses Bedeutungswandels war, daß die Männer, die früher
ihre Jagdbeute allein verzehrten oder unter sich verteilten, einen Teil des
erlegten Wildes nunmehr nach Hause brachten.
Der geregelte Nahrungserwerb der Männer hat sich übrigens wahrscheinlich
viel später entwickelt, als der der Frau. Die Jagd gewann ihre wirtschaft¬
liche Bedeutung wohl erst für die vertriebenen Söhne, für die auch die
Koitussymbolik des Jagens eine erhöhte Wichtigkeit besaß. Der Vater der
Horde mußte sich nicht selbst versorgen, denn er wurde (wie auch die
kleinen Kinder) von den pflanzen- und würmersammelnden Frauen ernährt.
Zu der Nahrung, die der Urvater von den Frauen erhielt, gehörten, wie
mehrfach angenommen wurde, auch die Kinder, die seine Frauen geboren
hatten. (Er gab ihnen also nicht einmal das Lehen.) Der Vater hatte also
in der Urzeit deshalb zu essen, weil er sich die Frauen, die zu essen
gaben, erwarb. Die Söhne hingegen, für die keine Frau sorgte, introjF
zierten sich die Mutter, sie wurden ihre eigenen Mütter und ernährten
1) Nach dem Tode des Urvaters. Imago IX (1925)* Rank betrachtet als Grund¬
lage der Identifizierung des Vaters mit der Mutter, die Angst vor der Mutter, die
sekundär auf den Vater übertragen wird. S. „Trauma der Geburt“, p. S 6 % 87, 89.
2) Vgl. damit die Indianerhäuptlinge, die sich mit den Büffeln, also dem Nahrungs¬
tier identifizieren.
3) Auf diese Weise erhielten wohl auch die Intichiumariten, deren Kot Ur¬
bedeutung von Röheim (Australian Totemism) festgestellt wurde, sekundär die Be¬
deutung eines Geschenkes an die Stammesgenossen,
Iliilint; Der Familienvater
5°4
sich selbst. Das war der erste Schritt zur Ixisung der oralen Fixierung an
die Mutter, Nach der Festigung des neuen Vater-Ideals identifizierte sich
der zum Vater gewordene Sohn mit der Mutter und wurde selbst zu einem
Gebenden, Sein erstes Geschenk an die Kinder, nachdem er erlaubte* daß
sie am Leben blieben, war, daß er sie saugen ließ: er schenkte ihnen die
Mutterbrust.
Alles, was der Vater sonst dem Sohne gibt, ist symbolisch gleich der
Mutterbrust. Das Versorgtwerden durch den Vater ist gleich dem Gesaugt'
werden durch die Mutter. Die Brust ist derjenige Teil der Mutter, der allein
vom Vater dem Sohne geschenkt wird. Wenn dieser jedoch mehr verlangt
und nach dem Genitale der Mutter trachtet, so ist der, durch die Über'
lassung der Brust geschlossene Friede zwischen Vater und Sohn wieder
gebrochen.
Die kulturelle Bedeutung des „Familienvaters* liegt also
darin, daß mit Hilfe dieser Umwandlung des Vater-Ideals der
Frieden zwischen Vater und Sohn ermöglicht wurde. Liebe und
Haß halten sich nunmehr die Wage und mit Hilfe der Verdrängung
kommt sogar nur mehr die Liebe zur Geltung. Welche Gefahr
diese Lösung selbst für ganze Völker in sich birgt, haben wir im Falle
einiger Indianerstämme gezeigt. Die Psychoanalyse weist uns einen neuen
Weg, den der gegenseitigen Verständigung durch Bewußt mach ung der
Schwierigkeiten. Dieser Weg konnte aber nur betreten werden, nachdem
die Menschheit bereits den anderen gegangen war, denn jene Entwicklung
vom ursprünglichen Narzißmus zur Ob jektliebe,die der Umgestaltung
der Vater-Imago zugrunde liegt, ist sicher eine notwendige Grundlage
jeder psychologischen Forschung.
F arbensymbolik
Von
Hans Christoffel
Basel
Die Psychoanalyse hat den Sinn mancher Symbole verstehen gelehrt; sie hat
uns vor allem die sexuelle Symbolbedeutnng erschlossen, wobei es vorläufig eine
offene Frage bleibt, ob es überhaupt eine nichtsexuelle Symbolik gibt.
Symbolik ist eine Teilerscheinung anthropomorpher, anthropozentrischer
Betrachtungsweise. Man könnte deshalb von Erlebnis statt bloß von Be¬
trachtungsweise sprechen, weil Subjekt und Objekt sich im Symbol
verschmelzen, Subjekt im Objekt sich weniger betrachtet, spiegelt, als sich
erlebt. Symbol heißt Sinnbild. Es ist klar, daß die Verbildlichung unser
selbst nur dann einen Zweck erfüllt, wenn der direkten Selbstwahrnahme
Widerstände entgegen stehen. Das Symbol setzt also die Projektion von
Verdrängtem voraus, eine unbewußte Identität zwischen Subjekt und Ob¬
jekt, eine komplexhafte Verbundenheit zwischen Eigentlichem und Ge¬
meintem. Je weniger diese Voraussetzungen erfüllt sind, desto mehr wird
das Symbol zur Allegorie, das Sinnbild zur Anspielung.
Da in der Symbolik das Objekt nicht zu seinem vollen Rechte kommt,
sondern bloß bildhaften Wert hat, seine Bedeutung sich in der Darstellung
des Subjekts und in der Verbindung dieses mit dem Objekte erschöpft,
muß alle Symbolik triebhaft fundiert sein. Es darf angenommen werden,
daß, wenn, wie die Psychoanalyse sicher erwiesen hat, die Sexualtriebe
im Symbol ihren Ausdruck finden, die Todestriebe darin ebenfalls
Geltung haben, Eros und Thanatos sich im Symbole finden. Auf diese
mögliche und sogar wahrscheinliche Verbindung, auf eine eventuelle
Triebundifferenziertheit und Triebamalgamierung kann hier nicht näher
eingegangen werden, sondern es soll ein Stück Symbolik vor allem nach
seiner sexuellen Seite untersucht werden.
I
Imago XII
20
3°6
Hans Chrbtoffcl
Neben Bewegung, Zahl und Form spielt in der psychoanalytischen
Symbolik eine außerordentlich geringe und bisher kaum gewürdigte Rolle
die Farbe. Und doch gibt es ohne Zweifel auch eine Farbensymbolik.
Ihr Alter zählt wohl nach Jahrtausenden. Sie hat sich in der Psyche der
Gesamtheit bald mehr, bald weniger erhalten, in Bildnerei und Dichtung
Form gefunden und in Wissenschaft Ausdruck und Enträtselung gesucht.
„Man hat ein Mehr und Weniger, ein Wirken ein Widerstreben, ein
Tun ein Leiden, ein Vordringendes ein Zurückhaltendes, ein Heftiges ein
Mäßiges, ein Abstoßen und Anziehen, ein Männliches ein Weibliches*
überall bemerkt und genannt; und so entsteht eine Sprache, eine Sym¬
bolik,* die man auf ähnliche Fälle als Gleichnis, als nahverwandten
Ausdruck, als unmittelbar passendes Wort anwenden und benutzen mag.“ 2 3 4
Wenn nun auch der Farbensymbolik ln den Arbeiten der psychoana¬
lytischen Schule wenig Beachtung geschenkt worden ist, so findet sich
doch in dem von Freud und seinen Schülern beigebrachten und untere
suchten Materiale manches vermerkt, was bloß bemerkt werden muß,
um in seiner Bedeutung erkannt zu werden.
Vor drei Jahren habe ich in einer kleinen Arbeit unter anderem auf
die merkwürdig konstanten Beziehungen zwischen Schwarz und
Männlich, und Weiß und Weiblich hingewiesen, und an dem Mate¬
rial, das mir aus meinen Analysen zur Verfügung stand, kurz erläutert.-
Herr Henry Flournoy stellte mir daraufhin eine mir vorher unbekannte
Arbeit zu, die von völkerpsychologischer Seite das von mir bei ärztlicher
Tätigkeit Gefundene einleuchtender, schlagender bestätigte, als ich es
selber vorerst hatte erweisen können,* wie ja auch Freud darauf auf¬
merksam macht, daß uns die Symbolik im unbewußten Vorstellen des
Volkes deutlicher entgegentritt, als vorerst im Traume. 5 Flournoy hatte
auf einer Ostasienreise verschiedenen Götterdarstellungen sein psycholo¬
gisches Interesse geschenkt und berichtet nun unter anderem vom soge¬
nannten Linga (Phallus, der sich immer zugleich mit seiner weiblichen
Ergänzung, dem Yoni dargestellt findet). Linga und Yoni zusammen re¬
präsentieren die Zeugungskraft des Gottes Qiwa. Der männliche Anteil
1) Hervorhebungen vom Verfasser.
2) Goeth e über seine Farbenlehre, zit. nach Wessely: „Goethes und Schopenhauers
Stellung in der Geschichte der Lehre von den Gesichtsempfindungen.* 1 Berlin 192a.
3) Christof fel: „Affektivität und Farben, speziell Angst und Ilelldunkelerscheinun-
gen.“ Zeitschrift für die gesamte Neurologie und Psychiatrie. Bd. 82, S. 46. 1925.
4) Flournoy: „Qiva Androgyne.“ Archives de Psychologie. Bd. 18, p. 255. 1922.
5) Freud: „Die Traumdeutung.“ Ges. Schriften. Bd. III, S, 67.
Farbensymbolik
5° 7
des Symbols pflegt schwarz, der weib¬
liche weiß dargestellt zu werden. ^Oest
bien le noir qui rep rezente Velement masculin,
et le blanc le feminin “ (Schriftliche Mitteilung
Floumoys vom 17. Juni ig&g.) Abbildung 1
seiner Arbeit bekräftigt diese Farbenverteilung,
Ich zitiere die betreffende Stelle in Übersetzung;
„Es gibt Lingas von allen Großen; sie sind dreißig und mehr Zentimeter hoch;
meistens bestehen sie aus schwarzem oder weißem Marmor . u Über (Jiwa selbst be¬
merkt Flournoy, daß er sowohl Gott der zerstörenden wie der Zeugungskräfte sei*
Bei Beschreibung des göttlichen Symbols dagegen findet in Fl0urnoy s Beschreibung
das zerstörende Moment keinen Ausdruck. „Was das Linga anbetrifft, so stellt es
nichts anderes dar als den göttlichen Phallus* Das Emblem setzt sich zusammen aus
dem eigentlichen Linga, einer zylindrischen, konischen oder ovoiden Säule, welche
senkrecht in der Mitte einer Steinschüssel von der Form eines Tennisschlägers
(raquttte) steht. Diese letztere, Yoni genannt, liegt horizontal und trägt in ihrer Mitte
eine Öffnung zur Aufnahme des Linga. Peripher laufen am Yoni ringsherum Rinnen
und vereinigen sich an dessen Auslauf, gewissermaßen dem Stiel des Rackets. Das
Yoni stellt die weiblichen Organe dar, den Uterus und die Vulva. Das vollständige
Linga ist also ein bisexuelles Symbol“
Nach O. Eckstein 1 spielt in den Anschauungen der altchinesischen
Medizin ein helles weibliches und ein dunkles männliches Prinzip
eine wesentliche Rolle: „Alles Leben beruht auf der Gegenwirkung eines
weiblichen und eines männlichen Prinzips. Diese Prinzipien des Yang
und Yin, des Hellen und Dunkeln-—, die ja in aller chinesischen
Philosophie, Literatur und Kunst wiederkehren, sind gleich stark, und
Gesundheit des Körpers hängt von ihrem genauen Gleichgewicht ab.“
Daß solche symbolische Auffassungen intuitiv richtig sein können und sich teil¬
weise mit dem Experiment erhärten lassen, möge folgendes zeigen. (Münchner Medi¬
zinische Wochenschrift. Nr. 51, S. 2219, 1925, M. Hartmann: „Über relative Sexualität
und ihre Bedeutung für das Befruchtungssystem,“ Sitzung der Berliner Medizinischen
Gesellschaft vom 9, Dezember 1925.)
„Am bedeutungsvollsten ist die ältere Befruchtungshypothese von Büts chli, welche
gewissermaßen erst wieder von neuem entdeckt werden mußte, die Sexualitätshypothese.
Der Neuentdecker war 1905 Schau dinn, der, von ganz anderen Gesichtspunkten aus¬
gehend, wieder auf sie kam. Nach dieser Hypothese ist jede Geschlechtszelle, aber
nicht nur diese, sondern überhaupt jede Zelle des Organismus doppelt geschlechtlich
(bisexuell)* Es prävaiieren die Potenzen eines Geschlechts, indem die des andern ge¬
hemmt werden, und die vorhandenen Spannungen zwischen den Zellen führen durch
1) Über altchinesische Medizin. Schweiz, Med. Wochensdir* S. 522. 1925,
20*
3°8.
Hans Christoffel
Befruchtung- zum Ausgleich ... Die Beweise für diese Hypothese können natürlich
nur durch experimentelle Arbeiten beigebracht werden, und Hart mann bringt ein
außerordentlich umfangreiches und überzeugendes Material bei. Er weist z. B. nach,
daß bei Protozoen aus einer einzigen Zelle sich männliche und weibliche Gameten
entwickeln können und daß beide dann wieder aufs neue männliche und weibliche
Gameten erzeugen können*
Außenbedingungen sind es, oder bei den höheren Tieren VererbungsVorgänge,
wenn die mit innewolmenden Anlagen des andern Geschlechts nicht zur Entwicklung
kommen.
Weiter zeigt der Vortragende, wie bei einzelnen Pilzen zwei weibliche Zellen
miteinander verschmelzen, also kopulieren können, und erweist hieraus, daß bei
niederen Formen von Lebewesen die Sexualität der Zellen nicht zweipolig, also
absolut entgegengesetzt, sondern relativ ist. Bei einer Algenform (Spirogyra) konnte
er beobachten, wie die gleichgeschlechtlichen Zellen einer Zellschicht einmal männ¬
lich, einmal weiblich kopulierten. Gegen diesen Befund sind noch Einwendungen
möglich, darr™ sind die umfangreichen Versuche an Braunalgen und Grünalgen, die
im Meere verkommen, von grundlegender Bedeutung, Jedes Individuum erzeugt nur
Zellen eines Geschlechts, und obwohl sie morphologisch sich vollkommen gleichen,
geht aus ihrem Verhalten beim Befruchtungs Vorgang doch hervor, daß es sich um
Zellen von aiisgespro ebenem Sexual Charakter handelt, und hier kann man mm fest¬
stellen, daß die einzelnen Zellen sich in ihrer Xopulationsenergie verschieden ver¬
halten und daß es Zellen mit stark-männlichen und schwach-männlichen Eigenschaften
gibt, und ebenso verhalt es sich bei den weiblichen Geschlechtszellen. Und nun kommt
das Erstaunlichste: es zeigt sich, daß die Zellen mit schwach-männlichen Eigenschaften
sich beim Zusammenbringen mit Zellen mit stark-männlichen Eigenschaften wie weib¬
liche verhalten, daß also die stark-männlichen Zellen mit den schwach-männlichen
Zellen durch Kopulation zusammen treten. Hiemit ist der Beweis erbracht, daß es in
Geschlechtszellen eine relative Sexualität gibt.
Die an Braunalgen erhaltenen Resultate sind von Jollos in Neapel an Grünalgen
völlig bestätigt worden. Ja, darüber hinaus fand Jollos, daß Behandlung mit Extrakten
die Eigenschaften der Zellen verändern kann, daß man also durch Extrakte schwach-
weibliche Zellen zu solchen mit stark-weiblichen Potenzen machen kann. Es gibt
also außer der Konstitution noch andere sexuelle Affinitäten und die hiedurch sich
eröffnenden Perspektiven sind einfach unbegrenzt.^
Nach diesem Exkurs sei wiederum auf die Schwarzweißsymbolik
zurückgegriffen. Ein vierzigjähriger Mann mit beginnender paranoider
Schizophrenie hatte schweren Verdacht, daß nachts Unbekannte in sein
Haus eimtiegen, ihn bedrohten und bei der Frau schliefen; insofern er
überhaupt noch schlafen konnte, schrak er oft auf, glaubte im ersten
Moment Licht im Hause, das dann im Moment seines Erwachens ver-
löschte, einen schwarzen Verfolger neben seinem Bett, der im Moment,
wo Patient mit dem Messer auf ihn einstach, mit einem leisen Zischen
zu Nichts wurde. Daß der Teufel eine Vater-Imago ist, braucht hier
F ar b en symb olik
nicht mehr erwiesen zu werden; die Gleichsetzrmg von „der Teufel“
und „der Schwarze“, seine Ankündigung oder Begleitung durch einen
schwarzen Hund, seine Verehrung in sogenannten schwarzen Messen, 1 bei
denen unter anderem ein schwarzer Kater verküßt wurde, das alles sind
ganz bekannte Dinge. Desgleichen ist, wie ich mich in meiner früheren
Arbeit ausdrückte, der schwarze Mann, der die Hysterika verfolgt, ein
alter Bekannter jedes Psychiaters, während wir bei einer Paraphrenen eher
helle, weibliche Feinde als Halluzination erwarten werden. Daß eine stark
mutteridentifizierte Angsthysterika einen Vater und Sohn zu kleinen Tieren,
welche bekanntlich Kinder bedeuten, macht, sie gewissermaßen beide ver-
kindlicht und als schwarze Käfer träumt, wird nicht verwundern. Bei
Gräber 2 * * finden wir in Hugos Phantasien den Vater als Verfolger und
Verfolgten, Todbringenden und Totgewünschten durch ein kon¬
stantes Schwarz ausgedrückt.
Wie wir in der Symbolbedeutung von Schwarz als männlich oft feind¬
liche Züge treffen und vielleicht deshalb Schwarz vielfach als männlich¬
sadistisch deuten dürfen, so gilt diese Verquickung von Liebe und Tod
anscheinend auch für die Weiblichkeitsbedeutung von Weiß. 5
1) Löwenstein, K.: „Zur Psychoanalyse der schwarzen Messen.“ Imago, BdL IX t
S, 75. 1923-
2) „Ambivalenz des Kindes.“ Imago-Büch er VI, S. 66. 1924.
5) Kaum ausgeprägt ist das Tod es el erneut in der Phantasie von Kuhnen („Psycho¬
analyse und Baukunst“, Imago, Bd. X, S. 575. 1924)* wo er seine Mutter-Imago als
im Tale liegende, von silbrigem abendlichen Hauche üb er schieierte Stadt erschaut,
in welche eine Brücke — auf deren pliallisehe Bedeutung nicht hingewiesen zu werden
braucht — hmemführt — Dagegen sagt Zulliger von einem durch zwei Mädchen
nächtlich halluzinierten weißen Dämon, einem „Toggeli“, daß er die „personifizierte
Strafe für die Todes wünsche der Tochter gegen die Mutter“ bedeuten konnte. (Zulliger:
„Zur Psychologie der Trauer- und B es tattun gs gebrauche.“ Imago, Bd. X, S. 19g und 194.
1924.) Folgender Traum ist, auch aus dem Zusammenhänge der Dichtung gelost be¬
trachtet, leicht verständlich. (Romain RoLland: „L*Ame enchant£e.“ Ollendorff, Paris*
p. 280 et 281.)
Annette wendet sich enttäuscht von ihrem Geliebten ab; wohl ist ihre Sinnlichkeit
durch ihn gereizt worden; sonst aber fühlt sie sich durch ihn auf sich selber zurück¬
geworfen. In der Erregung und Verwirrung des Abschieds gibt sie sich ihm körper¬
lich hin. (
Im folgenden Traiim nun ist das Finden ihrer selbst in ähnliche Situation ver¬
woben, in denen sie ihrem Geliebten den Abschied gegeben. Der Traum lautet in
Übersetzung:
„Eines Nachts im Traum sah sich Annette im knospenden Wald. Einsam eilte sie durch
das Dickicht * Baumaste verfingen sich in ihr Gew and 7 feuchtes Gehusch streifte sie. Sie wand
sich ? r iß sich los. Nun sah sie sich fast entblößt und bückte sich 7 voller Scham, um mit den
Fetzen ihres Gewandes sich zu bedecken. Da erblickte sie unmittelbar vor sich auf dem Boden
einen ovalen Korb f einen Haufen sonnenbeschienener Blatter — nicht gelb und goldiger —
510
Hans Christoffel
Betrachten wir in diesem Zusammenhänge den Traum von den
weißen Wölfen in Freuds „Geschichte einer infantilen Neurose“, 1 $o
erweist sich das Weiß, das Freud aus individuellen Erlebnissen des
sondern silberweißer Blätter, weiß wie leuchtende Birkenrinde , weiß wie feinstes
Linnen. Bewegt schaut sie, kauert nieder; und das Linnen beginnt sich zu regen. Pochenden
Herzens, ihre Hand hinstreckend, erwacht sie , * - Ihre Rührung hielt an , * . Sie begriff noch
nichts * . * Doch es kam ein lag — und sie hegrijf , - * Sie war nicht mehr allein . * . ln ihr
wuchs Lebenj ein neues Leben ... Und die Wochen vergingen, während sie ihr verborgenes All
zur Entwicklung kommen ließ * * * <(
Es mag noch ein Hinweis erlaubt sein auf den Narzißmus der Träumerin, um es
verständlicher zu machen, daß sie in ihrem Kind ihr Ebenbild, sich selbst liebt*
Folgendes Zwiegespräch führt sie mit dem Kind im Leibe: „Liebe, bist du es wirk¬
lich? Liebe, die du mich flohst, wann immer ich dich zu erfassen glaubte, bist du
in mich gedrungen? Ich halte dich, halte dich fest; nimmer wirst du mir entfliehen,
kleiner Gefangener, festgebannt in meinem Leib! Räche dich! Friß mich! Nag* ihn
durch, meinen Leib, kleiner Nager! Trink mein Blut! Du bist ich! Du bist mein
Traum! Da ich dich in der Welt nicht finden konnte, hab* ich dich aus meinem
Fleisch geschaffen . * * Und nun Liebe, habe ich dich! Ich bin die, welche ich
liebe! Je suis edui que faime. u
Der folgende Traum aus J, Wassermanns Roman: „Faber oder die verlorenen
Jahre“ (Fischer, Berlin 1925) enthalt eine Kastratio 11sverw alirung gegenüber
der Frau durch das Symbol der silberweißen Eidechse gewissermaßen
doppelt ausgedrückt. (Über die symbolische Bedeutung der Eidechse siehe Freuds
Traumdeutung. Ges. Schriften, Bd, III, S. 74.)
Faber hat in jahrelanger, durch den Krieg erzwungener Abwesenheit von seiner
Gattin dieser trotz sexueller Entbehrungen die Treue gehalten. Zurückgekehrt, findet
er sie herzlich, aber frigid, ganz in sozialem Dienste unter einer mütterlichen Frau
aufgehend. Er träumt vor dem Koitus, der ihm die Frigidität bestätigt, folgendes
(S. % und 86);
,,JcA saß in einer Matrosenkneipe in einer Hafenstadt. Um mich herum lauter verkommene ,
verluderte Subjekte, Männer und Weiber* Niemand kümmerte sich uni mich, aber ich wußte,
lüenn ich die geringste Bewegung mache oder nur eine Silbe rede , fallen sie alle über mich her .
Weshalb aber war ich da in dieser Kneipe, in der alles so verrucht und traurig war ? Weil ich
herunter gesunken war , wie in tiefes Wasser, und ich hatte bloß den einen Gedanken : me mehr
wirst du an die Oberfläche kommen , alles Süße hast du verloren . Komischerweise war es be¬
sonders dieses Wort: das Süße; das Siiße hast du verloren , schrie es in mir ; du kannst es dir
nicht vorstellen, mit welcher Gewalt. Nie habe ich so einen Ausdruck gedacht; außer in diesem
Traum ist mir nie so etwas eingefallen. Und das Süße war etwas ganz Bestimmtes , mußt du
wissen, es schwebte mir vor als eine silberweiße Eidechs e, Ich war so erfüllt von dem
Verlangen danach, daß ich mich platt auf den Boden warf , das Gesicht auf die schmutzigen
Dielen preßte, und unter dem tobenden Gelächter des ganzen unflätigen Haufens blieb ich liegen,
während ich die Fingernagel ins Holz grub und die Lippen blutig schürfte. Da näherte sich
mir eines von den Frauenzimmern, das scheußlichste und lasterhafteste von allen; höhnisch
entblößte sie ihren Busen 7 und da , zwischen den Brüsten glitzerte die silberne Eidechse,
genau, wie ich sie in meinem schrecklichen Verlangen gesehen hatte. Wie ich nun auf springen
will, ergreift sie das Eidechschen und hält es mit den Armen in die Hohe. Ich knie vor ihr f
da grinst sie mich hexenhaft an und schreitet mit dem erhobenen Tier nach rückwärts; und ich,
* in der Angst und Verzweiflung, ich konnte das silberweiße Gebild nicht erreichen und bis
an die Haut bedrängt von all den Menschen in dem engen Raum , krieche ihr auf allen Vieren
nach, selber wie ein Tier, und das Johlen und Grohlm wird immer ärger und reißt mich endlich
cuj dem Schlaf a
1) Ges. Schriften, Bd. VIII, S. 457 ff.
Farbensymbolik 511
Träumers erklärt, als überindividuell, typisch, symbolhaft. Mit vollkom¬
menster Subtilität zeigt Freud die männlich-kastrierende Bedeutung des
Traumbildes; aber obschon er die Bedrohung des kleinen Träumers von
weiblicher Seite mit gleicher Peinlichkeit völlig klarstellt, scheint er doch
nicht geneigt, im weißen Wolfe das zu sehen, was er meiner Überzeugung
nach ist, ein bisexuelles, weib-männliches Symbol mit kastrierender
Bedeutung. Merkwürdig ist es ja auch, wie im Grimmschen Märchen
vom Wolf und den sieben jungen Geißlein der Wolf an Stelle der Mutter
tritt und ihre Angleichung an sie durch Weiß, d. h, durch Kreide, die
er verschluckt, und durch Mehl, das er sich an seine Pfoten kleben läßt,
vollzieht. Es wäre eine Arbeit für sich, diese hier bloß angedeuteten Dinge
herauszuarbeiten und in Vergleich zu setzen zur bisexuellen, mann¬
weiblichen Symbolhaftigkeit der „schwarzen Spinne“. 1 „Obschon
. . . auch die Spinne als männliches Sexualsymbol bekannt ist, so ist sie
doch von jeher fast ausschließlich als ein Symbol des Weibes dargestellt
worden, und zwar des teuflischen Mannweibes, das auf Vernichtung der
Männer sinnt, um deren Stelle einnehmen zu können.“ 2 3 4
Nur in Kürze sei hier darauf hingewiesen, daß Weiß und Schwarz
keineswegs die einzigen Farbensymbolisierungen von Weiblich und Männ¬
lich sind. Vielmehr kann Weiblich auch in Blau und Gelb, Männlich
in Rot und vielleicht Grün seinen Ausdruck finden. Dabei ist es so, daß
in Blau und Grün Passivität, in Gelb und Rot Aktivität vorherrschen,
mithin als ausgesprochen männliche Farbe Rot, als weibliche Blau
zu gelten hat.
Beispielsweise sei auf Flournoys 5 Darstellung des ostasiatischen, Taikih
genannten, kreisförmigen, durch liegende S Linie geteilten Symbols ver¬
wiesen; „Die beiden Scheibenhälften repräsentieren, eng aneinander-
gefügt. das männliche und das weibliche Element; das obere ist rot (der
purpurne Himmel), das andere blau (das Meer).“ Das Taikih wird auch
Yn-Yang benannt.“ Es stellt also die Vereinigung der beiden oben er¬
wähnten Prinzipien dar, des dunkeln, männlichen Yn und des hellen,
weiblichen Yan. Das Beispiel zeigt somit, wie Männlich sowohl
x) Vgl. K. Abraham: „Die Spinne als Traumsymbol.“ Internationale Zeitschrift
für Psychoanalyse, VIII, S. 470. 1922, und insbesondere G. H. Gräber: „Die schwarze
Spinne.“ Imago, Bd. XI, Heft 3. 1925.
2) Gräber, a. a. 0 , S. 296.
3) A. a. O. S. 253.
4) Regnault: „MMecine et pharmacie chez les Chinois et chez les Annamites.“
Paris 19024 p* 28 et 29*
Hans Christoffel
512
durch Schwarz als Rot, 1 Weiblich sowohl durch Weiß als Blau
symbolisiert werden kann.
Wir kennen Mantel und Hut als typisch männliche Symbole; sie sind
als Attribute des als ehrsamen Bürgersmannes erscheinenden Teufels rot
(der Mantel) und schwarz (der Hut) in der von Freud geschilderten
Teufelsneurose aus dem siebzehnten Jahrhundert, 2 Ganz besonders frappant
aber tritt die Gleichbedeutung von Schwarz und Rot als männlicher
Farben aus den Teufelsbeschreibungen von Jeremias Gotthelf hervor. 3 4
Ein Masochist träumt, ein Kamerad sei ins Zimmer gekommen und habe
ihn masturbiert. Daraufhin habe er diesen verklagt, daß er ihn schwarz mastur¬
biert habe. Der Träumer assoziiert „Schwarz onanieren — Blut onanieren
— bei der , ersten* Pollution mit sechzehn bis zwanzig Jahren hatte ich
nächtlicherweise die Idee, Blut zu verlierenEin Zwangsneurotiker mit
schwerem Kastrationskomplex chargierte während Jahren seine Männlich¬
keit, trug Tag für Tag einen schwarzen Cutaway und ließ seine
Zimmer ausschließlich rot tapezieren. Zur Zeit der Lösung der anal-
sadistischen Fixierung, jedoch als diese Entwicklung noch in statu nascendi
und noch nicht vollendete Tatsache war, begann er die übliche Herren¬
kleidung zu tragen, und schlug seine Vorliebe für Rot in eine solche für
Gelb und Blau um. Verschiedene Fehlhandlungen passierten ihm damals.
Beispielsweise versah er das Rot von sogenannten Judenkirschen in Gelb,
und wandelte sich in seiner Erinnerung der rote Mantel der Kalypso auf
dem bekannten Gemälde von Arnold Bocklin in Blau. Es braucht kaum
erwähnt 211 werden, daß in diesem Stadium der Analyse, wo die weib¬
lichen Farben an Stelle der männlichen bevorzugt wurden, auch ein Um¬
schwung von einer homo- zur heterosexuellen Objektbesetzung sich zeigte, 41
1) Daß Schwan und Rot phänomenologisch ausammengehöxen, scheinen auch die
Halluzinationen des Epileptikers zu zeigen. Die Einleitung eines epileptischen Angst-
zustandes „bildet vielfach eine ganz bestimmte, sich regelmäßig wiederholende Sinnes-
täuscliung; namentlich bemerkenswert ist der schwarze Mann und das Sehen
von roten Gegenständen,“ (Kräpelin: „Psychiatrie.“ III, Rd., S. 1061. 1915.)
2 ) Ges, Schriften, Bd. X, S. 409.
Vgl. Gräber: „Schwarze Spinne“, a. a, O* S. 287: Die spätere Höllen di enerin
Christine bleibt vor dem Bösen „stehen wie gebannt, mußte schauen die rote Feder am
Barett, und wie das rote Bärtchen lustig auf- und iiiederging im schwarzen Gesicht,“
4) Zwei kurze Beispiele aus Gräber (a. a. O.) mögen nochmals die weibliche
Bedeutung von Weiß und Blau illustrieren; eines Kommentars bedürfen sie sonst
nicht (S. 285); „In Hirschhorn (Hessen ^ wurde ein junger Mann jede Nacht vom
Alp getfuält Schließlich fing die Mutter letzteren in ein Tuch, sperrte ihn in eine
Kommode und ließ den Schlüssel stecken. Der Sohn war erlöst. In Erlenbach aber
starb zur selben Stunde ein Mädchen, Als man es eben begraben wollte, zog der
Farbensymbolik
3*3
Anna Martin hat 1921 Untersuchungen über „Die Gefühlsbetonung
von Farben und Farbenkombinationen bei Kindern“ im Alter von vier bis
sechzehn Jahren angestellt * 1 und gefunden, daß Rot „das größte assoziative
Moment für beide Geschlechter“ hat. Sie konstatierte ferner: „Die Mäd¬
chen ziehen im allgemeinen das Rot dem Blau, die Knaben das Blau dem
Rot vor. Gelb neigt anscheinend zu einer starken, aber schwankenden
Gefühlsbetonung“ (S. 43); Grün wird weder positiv noch negativ stark
gefühlsbetont. Es ist unmöglich, aus dieser Arbeit Genaueres zu unserem
Thema zu entnehmen, da sie im wesentlichen statistisch ist, und keine
genaueren Versuchsprotokolle vorliegen. Interessant mag immerhin er¬
scheinen, daß in der Bewertung der Farben eine Geschlechts¬
differenz besteht und bei dieser das von uns als männliches Symbol
angenommene Rot von den Mädchen bevorzugt wird, während die Knaben
das weibliche Blau höher schätzen.
Zum Grün als atypisch-männlicher, als passiver Farbe führt
uns „der Traum vom doppelten Ich und der Traum vom Weinen“ aus
dem Roman „Oberlins drei Stufen“ von Jakob Wassermann (Fischer,
Berlin 1922). Offenbar haben wir in der Symbolbedeutung des Grün eine
nahe Beziehung zum weiblichen Blau; ohne daß wir das hier des Nähern
ausführen könnten, ist Grün die Farbe des noch in der Mutteridentifikation
befindlichen Sohnes, des weibischen Mannes.
Diese „Stufe“ und den Übergang 1 zum reifen. Manne schildert Wassermann hei
seinem Helden zur Zeit, als folgender Traum sich ein stellte. Oberlin bekommt in
Erwartung seiner Geliebten Hanna eine Herzneurose; er mißtraut ihr, ohne daß er
weiß, daß sie die Mörderin seiner eigentlichen Geliebten, ihrer Zwillingssehwester
ist; er liebt diese in ihr; die körperliche Vereinigung- mit Hanna und die Liehe einer
einzigen Nacht bringt Klarheit; Hanna sühnt ihr Verbrechen mit dem freiwilligen
Tode. Er selber sucht im Schmerze seinen früheren Lehrer und Führer und merkt,
daß er ihm entwachsen, daß er frei und für die Welt offen ist. Dieser Entwicklung
gibt nun der Traum Ausdruck; noch mehr aber dem Sträuben vor den drohenden
Auseinandersetzungen, der Lähmung des noch in der Ödipus-Bindung befindlichen
Muttersohnes*
jjEr ging durch ein vierhogiges Rundtor , das aus sah wie eine Riesenhand^ die mit den
Fingerspitzen gegen die Erde gesetzt ist . Keine Stimme redete^ aber er wußte , daß es entscheidend
junge Mann in Hirschhorn den Schlüssel der Kommode weg, ein weißes Mäuschen
schlüpft heraus und Fährt bald darauf in den Mund der Toten, die wieder er wacht. <c
(S. 28a.) „Eine andere Sage berichtet von einem Jüngling, der mit Hilfe der wunder¬
tätigen Kraft einer blauen Blume schließlich den Drachen (Vater) erlegt und die
dadurch erlöste Jungfrau heiratet. Die blaue Blume aber fliegt fort und ruft: „Ich
bin die Seele deiner verstorbenen Mutter.**
1) Pädagogisches Magazin, Heft 831* Beyer, Langensalza.
Hans Christoffel
5 1 4
für ihn sein würde , u/e/c/rfn der vier 1 Bogen er ging* Das Tor war ganz aus grünem
Stein ■ Ohne sich lange zu besinnen ? ging geradeaus ; und mit dem Augenblick, liJO er den
Bogen durchschritten hatte 7 kam eine herzzerreißende Furcht über ihn; denn ihm dünkte , er sei
auf einmal außerhalb der Welt. Die Landschaft , die sich vor ihm dehnte , war so grün wie
jenes Tor; es war nicht das Grün, wie es die Blätter haben , nicht das Grün des Mooses , nicht
das Grün von alten Kupfergefäßen; es war ein Grün r das er noch nie gesehen 7 ein finsteres 7 böses ,
totenhaftes Grün. Darüber wölbte sich etwas wie ein Himmel; aber es war kein Himmel) es
eine weißliche Blase y aus deren unteren Rändern weißliches Licht strömte ■ Weh und breit
keine Seele , die vollkommenste Verlassenheit. Von Furcht bis in die Knochen geschüttelt , dachte er;
jetzt werde ich endlich wissen , woran ich bin. Zu rasten war ihm nicht erlaubt , er mußte gehen 7
beständig vorwärts gehen* Fr wollte sich beschweren , daß er tnüde &ei 7 aber das JJort müde
fiel ihm nicht ein f er dachte statt dessen bloß grün«
Fs folgt der Kampf mit einem schw arzen Ribera, der aus dem Grünen wächst * Ob erlitt
erwacht, nachdem er vergeblich einen Stein gegen das Ungetüm geschleudert, der
Stein gegen ihn selber abgeprallt ist- Aber nun schläft er wieder ein und beginnt nun in
den Bimmel zu fliegen^ der sich aus der v weißlichen Blase “ in „azurne Höhe« gewandelt
hat 7 findet Gottvater , auf einer Scharlach wolke sitzend , sucht und findet endlich seinen B lick
und sinkt nun selig befreit^ weinend zur Erde nieder.
Vergleicht man diese Farbensymbolik mit derjenigen des Taikih, so fällt vielleicht
auf, wie der Traum anfänglich die Geschlechter verkehrt, das Weibliche oben, das
Männliche unten ist, jenes fahl weiß, dieses totengrün und schwarz; und wie dann
aber, ganz wie im Taikih das Männliche, Gottvater auf der Scharlachwolke, im
Weiblichen, das nimm ehr zur azurblauen Hohe geworden ist, thront* — Daß Blau
übrigens heim freien Assoziieren als Farbe des Madonnenkults, als das lockende, ver¬
söhnende und tröstende Moment des Katholizismus ungemein häufig bewertet wird,
verdient hier auch noch Erwähnung*
#
Noch ein kurzer Rückblick auf Gräbers schon mehrfach erwähnte
Arbeit, 1 Wie der Teufel erstmals in der Gotth elf schon Erzählung er¬
scheint, kommt Gräber aus analytischen Erwägungen, die Farbensymbo¬
lisches außer Spiel lassen, dazu, ihn als Repräsentanten des „weiblichen
und mütterlichen Prinzips u zu nehmen und in Zusammenhang zu bringen
mit der „Fiktion der hoch gesteigerten Identifikation mit der Mutter*
Dementsprechend ist der Teufel nicht, wie später, wo er als
Vater-Imago erscheint, schwarz und rot, sondern als sit venia
verbo — Zwitter zwischen Mutter- und Vater-Imago grün, ein
„grüner Jägersmann w * 2
1) „Schwarze Spinne", a* a. O- S* 277 f.
2) Von Gelb sagt F. Kluge in seinem etymologischen Wörterbuch der deutschen
Sprache, daß es als Wort verwandt sei mit dem lateinischen helvus — graugelb, dem
griechischen chloros = grün, gelb, chtai = grün, sowie den Wörtern Galle, Gold und
glühen* Das lateinische flavus = blond, gelb, sei mit dem deutschen blau eines
Stammes* — Solche Bedeutungsandemmg stammgleicher Worte sei häufig* Combai
(„Dans les Temples ämp&riaux de la Chine“, Bruxelles 1912) bestätigt das mit Bei¬
spielen von verschiedenen Völkerstämmen Asiens und Amerikas. So werde z. B* Blau
und Grün „verwechselt" oder mit einem einzigen Wort bezeichnet; desgleichen Blau
und Schwarz* Das lateinische coeruleus bedeute je nachdem schwarz, grün, himmel-
F arbensymbülik
515
Bei Untersuchung der Symholbedeutting von Gelb wird mehr als bei
den andern Farben auf die Nuancen zu achten sein. Insbesondere wird sowohl
das, was kurz als Golden bezeichnet wird, wie auch ein Gelb mit mehr
oder weniger schwärzlicher Beimischung, also das Braun, in den Kreis
unserer Betrachtung zu ziehen sein,
„Eine Sängerin trat auf in Gold und Braun*^ träumt eine Analysandin
von ihrer Freundin, die sich gegen den Willen des Vaters ihrer Kunst
zugewandt und sich trotzig durchgesetzt hat, fortan in Fehde mit dem
Vater, Die gleiche Analysandin steht in unbewußt stärkster Ablehnung
ihrem Gatten gegenüber; stark libidinös wehrt sie doch jeden Koitusversuch
durch Scheidenkrampf ab; ihre genitale Erregung beschränkt sich auf die
Klitoris; vor allem aber sind die Brüste erogene Zonen, und, verdrängt, der
Mund; sie kann die Zunge niemals herausstrecken, sondern verschließt
krampfhaft den Mund; auch litt sie an derartiger Anorexie und Magen¬
krämpfen, daß sie eine Probelaparatomie provozierte, wie sie überhaupt
während Jahren von einem furor operativus befallen war und operativ
sowohl defloriert wie vaginal dilatiert und halbseitig kastriert worden ist*
oder meerblau* — So begegnen wir auch beim früher erwähnten Symbol des Taikih
einem Grün an Stelle des Blau sowie gelegentlich einer völligen Vertauschung der
Sy mbolcjuali täten, so daß alles, was sonst dem Yan zugesckrieben wird, dem Yn
zukommt*
Zur Symbolbedeutung des Gelb mag folgendes aus Goethes „Entwurf ein er
Farbenlehre“ (6* Abteilung, sinnlich-sittliche Wirkung der Farbe) zitiert werden: „Gelb
besitzt eine heitere, muntere, sanft reizende Eigenschaft . - * Wenn nun diese Farbe,
in ihrer Reinheit und hellem Zustande angenehm und erfreulich, in ihrer ganzen
Kraft aber etwas Heiteres und Edles hat, 90 ist sie dagegen äußerst empfindlich und
macht eine sehr unangenehme Wirkling, wenn sie beschmutzt oder einigermaßen ins
Minus gezogen wird* So hat die Farbe des Schwefels, die ins Grüne fällt, etwas Un¬
angenehmes* Wenn die gelbe Farbe unreinen und unedlen Oberflächen mitgeteilt
wird, wie dem gemeinen Tuch, dem Filz und dergleichen, worauf sie nicht mit ganzer
Energie erscheint, entsteht eine solche unangenehme Wirkung- Durch eine geringe
und. unmerkliche Bewegung wird der schöne Eindruck des Feuers und Goldes in die
EmpEndung des Kotigen verwandelt und die Farbe der Ehre und Wonne zur Farbe
der Schande, des Abscheus und Mißbehagens umgekehrt. Daher mögen die gelben
Hüte der Bankerottierer, die gelben Ringe auf den Mänteln der Juden entstanden sein;
ja die sogenannte Hahnreifarbe ist eigentlich nur ein schmutziges Gelb*“ Goethes
Äußerungen entsprechen der von Martin experimentell bei Kindern gefundenen,
bereits erwähnten, starken, aber labilen Gefuhlsbetonung, welche Gelb gegenüber
besteht* „Gelb ist die typisch irdische Farbe“, sagt Kandinsky („Über das Geistige
in der Kunst“* 5. AufL, $* 64* München 1912). „Gelb kann nicht weit in die Tiefe
getrieben werden* Bei Abkühlung durch Blau bekommt es * * * einen kränklichen Ton.
Verglichen mit dem Gemütszustand des Menschen konnte es als farbige Darstellung
des Wahnsinns wirken, aber nicht der Melancholie, Hypochondrie, sondern eines
Wutanfalles, der blinden Tollheit, Tobsucht* Der Kranke überfällt die Menschen,
516
Hans Christüffel
Ihrem Manne wirft sie mangelnde Aggressivität vor, mangelnde Potenz,
so daß ihre eigene Erregung immer wieder nach ebenso heftigem wie kurzem
Aufflackern verfliege. Im Traume gibt sie dem so Ausdruck, daß sie gelbe
Blumen pflückt; aber der Mann läuft ihr davon und sie bleibt weinend
zurück. Sie symbolisiert ihr Genitale als eine Reihe ge 1 ber Messingpfannen
mit Metallstielen; Reitknecht und Zahnarzt kommen in diesem Traume
und den Einfällen dazu als männliche Partner. Sie projiziert sich selbst in
den Mann, zeichnet ihm eine gelbe Mütze in Form einer Glans und
blaue Hosen usw. Eine andere Analysandin ist durch „Gold“ von ihrem
Gatten getrennt und findet sich erst mit ihm vereint, wie sie sich selber
mit ihrer ganzen Umgebung in goldiges Licht getaucht sieht. Ihrem Ab¬
scheu vor dem Gliede des Mannes gibt sie so Ausdruck, daß sie ihn mit
goldenen Zähnen träumt; sie versucht vergeblich dieses scheußliche Gold
wegzuküssen. Erst wie sie sich überwunden hat und sich ihm gibt, ist die
ekelhafte Vergoldung weg. „Dann wache ich halb auf in seinen Armen.“
Den Analytiker träumt sie in einem kurzen Stadium des Widerstandes
als Mann im weißen Mantel und mit goldenen Zähnen, ihre ungeborenen
schlagt alles zugrunde und schleudert seine physischen Kräfte nach allen Seiten,
verbraucht sie plan* und grenzenlos, bis er sie vollständig verzehrt hat, Es ist auch
wie die tolle Verschwendung der letzten Sommerkräfte im grellen Herbstlaub , , —•
Man vergleiche zu diesen Ausführungen „Die psychologische Entwicklung Vincent
van Goghs“ von Westerinan Holstijn (Imago, Bd. X, 1924)« Der Autor deutet
das alles beherrschende Gelb bei van Goghs Bildern als „symbolisierte Libido“, „die
Allmacht der Liehe“. „Gelb und Blauviolett komplementierten einander, wie das
männliche und das weibliche Prinzip einander komplementieren,“ An dieser Deutung
darf stutzig machen, daß das von W. H. als weiblich gedeutete Blau ein männliches
Kot beigemischt bat, violett ist. Und da es sich bei diesem Gelb und Blauviolett um
ein ^manage des compUmentaires u ^ ein „omour de deux amoureux“ handelt, so müssen wir
annehmen, daß das dem weiblichen Prinzip zugemischte männliche Element dem
Gelb abgeht, somit dieses nicht rein männlich ist. Eine Färb enges chlechts-Symbolik,
wie sie hei van Gogh vorliegt, läßt an eine nicht aus differenzierte Sexualität denken*
wozu uns ja auch sonstige Anhaltspunkte zur Verfügung stehen, Lehrreich in dieser
Beziehung ist Alice Bälints Arbeit: „Die mexikanische Kriegshieroglyphe atl-
tlachinolli“ (Imago 1923, Heft 4). Daß das Farbenpaar Blau und Gelb symbolisch
weniger in die Richtung einer voll ent wi ekelten Genitalität weist, sondern vielmehr
auf Urethral- und Analerotik deutet, geht aus BAlints Untersuchungen mit Wahr¬
scheinlichkeit hervor; Wasser, Urin wird blau verbildlicht, Feuer und Kot gelb oder
braun. — Wir haben oben Goethe zitiert, der ein schmutziges Gelb als wohl mittel¬
alterliche Kennzeichnung der zu Geldmanipulationen Gezwungenen und deswegen
wieder Verachteten, d, h. der Juden und Wucherer erwähnte. Somit wieder ein Hin¬
weis auf Anales* Gelb sei aber auch die Farbe der Hahnreie, sagt Goethe, wozu
bei gefügt werden mag, daß Hahnrei Kapaun bedeutet und sich zum Sinne sowohl
des betrogenen und deswegen verhöhnten Ehemannes wie auch des Ehebrechers aus¬
gewachsen hat. (Kluge, a. a. O.J
F arb en s y m b ollk
517
Kinder als „kleine, leuchtende Punkte“, „wie Leuchtkäferchen“. Bei
einer Dame, in deren ersten Analysenträumen der Mann ohne Kopf eine
Rolle spielte (Salome-Motiv, Johannes, Hans = Vorname des Analytikers),
äußerte sich die Übertragung einesteils so, daß sie ihm „goldene Kin¬
deraugen“ an dichtete, an dem teils so, daß sie ihn wegen seiner Gold¬
zahnkronen haßte. Urethralerotik spielte noch in den ersten Schul¬
jahren eine starke Rolle: wiederholte Bemühungen, stehend, wie ein Junge,
zu urinieren, kam während der Analyse in einem Konversionssymptom,
vor allem aber als Ehrgeiz und in dem öfteren. Vor würfe der Unverschämt¬
heit des Analytikers zum Ausdruck.
Auf weiteres kann ich hier nicht hin weisen. Ich Hebe bloß einige für die Gelb¬
symbolik wesentliche Stellen aus einem Briefe der An aly sandin an den Analytiker
hervor. Es ist erst von Dingen die Rede, die nicht für die Augen des Analytikers
bestimmt seien. n A propos Ihre Augen, — bilden Sie sich ja nicht ein, daß diese
noch goldig für mich sind* Seit Wochen haben Sie für mich ganz undefinierbare
Augen — schwärzlich oder grau oder braun, oder ich weiß nicht was. Ich wollte,
ich konnte die t Goldigen* wieder einmal sehen! Aber da sind nur die goldigen
Zähne.“ — „Einmal bin ich mit einem Schrei aufgewacht, bin im Bett aufgefahren,
ich sah eine rosarote Helle vor mir, ich starrte immerfort draufhin. So nach und nach
merkte ich, daß es nur das Fenster war und daß dahinter der Morgen dämmerte.
Ich legte mich wieder hin, da verspürte ich furchtbare Zahnschmerzen, und zwar in
allen Zähnen oben und unten. Ich befühlte sie, einige Zähne waren so empfindlich,
daß ich sie kaum berühren konnte. Es dauerte ziemlich lange, bis die Schmerzen
nachließen und ich wieder einschlafen könnte* Heute Morgen sind meine Zähne wieder
ganz gesund und ich spüre nicht mehr das Leiseste. Aber es ist mir sonst nicht gerade
wohl — ich merke, daß die Periode bald kommt*“ » , , Analysandin leugnet dann
homosexuelle Bindungen, die sich kürzlich der Bearbeitung immer stärker zugänglich
erwiesen hatten, und fährt fort, das sei eine unerhörte Frechheit von seiten des Analytikers;
)f er wolle sie homosexuell machen“, um sie los zu werden. Das sei ein raffinierter Betrug,
„Natürlich haben Sie es auf eine Weise getan, daß Sie sich jederzeit herausbeißen
könnten — mit Ihren goldigen Zahnen.“ Sie kauft sich Romain Rollands Roman:
„Anette etSylvie!“ Legt ihn erst mißvergnügt wieder weg und Endet ihn dann herrlich.
Zwischenhinein erzählt sie folgende Episode von ihrem Zweitältesten Töchterchen.
„Was ich jetzt schreibe, ist schrecklich — unglaublich. Es ist wegen X. Das Kind
ist mir furchtbar — ich kann kaum an mich halten — und dabei ist es rein ver¬
sessen auf mich, lehnt sich an mich, küßt mich unzählige Male. Schickt man sie ins
Bett, so ist sie kaum fortzubringen. Heute hat sie mich wieder mit ihrer ewigen Bitte,
einmal in Abwesenheit von Papa bei mir, in meines Mannes Bett, schlafen zu dürfen,
gequält. Dabei liebe ich diese einsamen Nächte so sehr, wo ich mit meinen Selbst¬
gesprächen lebe. Nein, das andere Bett bleibt leer, das lasse ich mir nicht nehmen.“
Nun liest sie Rollands Roman von den zwei Freundinnen, „verschlingt“ ihn, ist ent¬
zückt. „Ich hatte keine sehr ruhige Nacht, hatte wieder dieses komische Zahnweh,
nur viel schwächer als letzte Nacht. Ich träumte von zwei Vögeln , die miteinander zankten
518 Hans Christoffel
und sich fast zu Tode pickten; sie waren beide in einem goldenen Käfig ringe schlossen. Es tat
mir furchtbar weh , diesem Kampfe zuzuschauen — ich spürte förmlich selbst die Schnabelhiebe*
Ich lag darauf lange wach und zerbrach mir den Kopf, wie man wohl eine Seele
fassen könne? Wie man sie spüren könne? Ob sie wohl bei den einen groß, hei den
andern klein sei? Ob man sie auch ganz vernichten könne? Ach, es war ein schmerz-
liches Sinnen und ich wurde nicht froh davon , * J*
Zu Braun bloß eine Reihe freier Assoziationen einer jungen Frau:
„Holz — unser sogenannter Herzlikasten — ,Holz vor dem Haus 1 — von Soldaten
als Zeppelin bezeichneter erigierter Pferdepenis —* gestern oder vorgestern in den
See abgestürzter Flieger — gestrige Lokomotiventgleisung an Strecke, die wir selber
ohne Unfall durchfahren haben — braun = fruchtbar — Kinderausspruch: Papa hat
braune Haare und weiße sogar —- braun hat etwas Warmes — ich hatte einen ein¬
zigen Fliegertraum, wobei ich nicht einmal selber flog, sondern einen Flieger in
seinem Apparat herrlich kreisen sah — eitler Schmetterling mit prachtvoller Unter-
flache, die er immer im See spiegelt; sie verlieren dann diese schone Unterfläche —
gezwungene Deutungen solcher Dinge — Neid auf Frauen mit richtigen Flug träumen.“
Es sei nochmals auf Freuds „Geschichte einer infantilen Neurose**
zurück gegriffen und darauf hingewiesen, wie an den Angsttraum des
Vierjährigen von den weißen Wölfen sich unmittelbar eine Phobie vor
gelbgestreiftem Schmetterling anschließt. Freud bringt diese Phobie
und die Schreckwirkung des Gelb in ätiologisch unzweideutigen Zusammen¬
hang mit Kastrationsbedrohung des Jungen, welche er von seiten
einer Frau anläßlich urethral erotischer Betätigung erfahren. 1
Daß Gelb und Weiß sich hier gegenseitig vertreten, scheint mir un¬
zweifelhaft. Auch widerspricht es individueller Motivierung dieser Farben
keineswegs, daß sie auch überindividuell sein könnten, zieht doch auch
i) Die Analogie zwischen Angsttraiim und Phobie ist Sehr weitgehend. Traum:
77- - * ich sehe mit großem Schrecken^ daß auf dem großen Nußbaum vor dem Fenster ein paar
weiße Wölfe sitzen“ Auf einer Blume sitzt der gelbe Schmetterling, vor dem den Jungen,
welcher ihn vorher gejagt, plötzlich Angst ergreift. Dazu kommt noch, daß der gezeichnete
kahle Baum mit seinen spitzen Ästen durchaus SchmetterJingsform hat („große Flügel in
spitze Fortsätze auslaufend“). Fügen wir dem noch folgenden Passus bei: »Die Beziehung
der Gruschaszene zur Kastrationsdrohung bestätigte er durch einen besonders sinn¬
reichen Traum, den er auch selbst zu übersetzen verstand. Er sagte: Ich habe geträumt,
ein Mann reißt einer Espe die Flügel aus * “ Espe? mußte ich fragen, was meinen Sie
damit? — Nun, das Insekt mit den gelben Streifen am Leib, das stechen kann. Es
muß eine Anspielung an die Gruseha, die gelbgestreifte Birne sein. —* Wespe, meinen
Sie also, konnte ich korrigieren, — Heißt es Wespe? Ich habe wirklich geglaubt, es
heißt Espe. (Er bediente sich wie so viele seiner Fremdepr aehigkeit zur Deckung von
Symptomhandlungen.) Aber Espe, das bin ja ich, S. P. (die Initialen seines Namens).
Die Espe ist natürlich eine verstümmelte Wespe, Der Traum sagt klar, er räche sich
an der Gruseha für ihre Kastrationsdrohung.“
Farbensymbolik 51g
Freud selber 1 eine Analogie zwischen unbewußtem Wissen seines kind¬
lichen Neurotikers und dem Instinkt: „Dieses Instinktive wäre der Kern
des Unbewußten . . .* Glaube ich also in Weiß und Gelb weibliche
Schreckfarben vermuten zu müssen, so gibt mir hiezu noch besonderen
Anlaß der deutliche Gegensatz des erwähnten Traumes und der Phobie
zu der Traumbedrohung, wie sie der Kleine von männlicher Seite durch
einen aufrechten Wolf, einen aufrechten Löwen erfährt. Während wir
aber hier immer noch, wenn auch vorwiegend männliche, so doch einiger¬
maßen bisexuelle Symbole vermuten können, so findet in einem dritten
Traum die Zerlegung in Männlich und Weiblich statt und es tritt nun
hier als unzweideutig männliche Farbe das Schwarz auf: „In
diesem früheren Traum sah er den Teufel im schwarzen Gewand und in
der aufrechten Stellung, die ihn seinerzeit am Wolf und am Löwen so
erschreckt hatte. Mit dem ausgestreckten Finger wies er auf eine riesige
Schnecke hin. Er hatte bald erraten, daß dieser Teufel der Dämon aus
einer bekannten Dichtung, der Traum selbst die Umarbeitung eines sehr
verbreiteten Bildes sei, das den Dämon in einer Liebesszene mit einem
Mädchen darstellte. Die Schnecke war an der Stelle des Weibes als exquisit
weibliches Sexualsymbol.“ 2
*
Einleitend habe ich an gedeutet, daß Symbol und Begriff sich gegensätzlich
verhalten. Während dieser abgegrenzt ist und selber trennt, verbindet jenes
und schillert in seiner Bedeutung. Aber Symbol und Begriff sind doch nicht
durchaus getrennte psychische Wesenheiten; es vermag ein Symbol mit
zunehmender Bewußtheit ebensowohl begrifflich zu werden, wie ein Begriff
seine Schärfe verlieren und zum Symbol sich wandeln kann.
Wie allem Unbewußten steht auch der Symboldeutung ein mehr oder
weniger starker Widerstand entgegen. Was speziell die Farben anbetrifft,
so lautet ein Spruch: „de gustibus et coloribus non est disputandum“. „Es
hatte von jeher etwas Gefährliches, von der Farbe zu handeln“ — sagt
Goethe (Entwurf einer Farbenlehre. Cottasche Jubiläumsausgabe, Bd. 40,
S. 72) — „dergestalt, daß einer unserer Vorgänger gelegentlich gaT zu
äußern wagt: Hält man dem Stier ein rotes Tuch vor, so wird er wütend;
aber der Philosoph, wenn man nur überhaupt von Farbe spricht, fängt
an, zu rasen.“
1) Ges, Schriften, Bd* VIII, S. 566.
2) Freud, a. a. O. VIII, S. 511*
5 2 o Christoffel: Farbensymbolik
Das Symbol gilt als mehr oder weniger „stummes u Traumelement, 1 2
d* li. als Traum teil, zu dessen Auflösung die Einfälle des Träumers nicht
genügen, sondern dessen Deutung nur oder vorwiegend mit Hilfe des
Folklore möglich ist.^ Symbolische, d* h. typische und individuelle
Motivierung solcher Traumelemente schließen sich aber, wie
wiederholt betont, keineswegs aus. „Somit nötigen uns die im
Trauminhalt vorhandenen, symbolisch aufzufassenden Elemente zu einer
kombinierten Technik, welche sich einerseits auf die Assoziationen des
Träumers stützt, anderseits das Fehlende aus dem Symbol Verständnis des
Deuters einsetzt*“ 3 Symbolkenntnis ist für den Deuter unerläßlich. Dem
Analysanden gegenüber aber empfiehlt sich sparsamster Gebrauch bloßer
Symbol den tun gen. Sie haben in der Hauptsache bloß vorläufigen Wert
in der analytischen Therapie; werden sie nicht durch individuelle Lö¬
sungen ergänzt und ersetzt, so ist die Arbeit bloß zum Teil geleistet.
C. G* Garns 4 schrieb einst: „daß, obwohl Bewußtes und Unbewußtes
in Wahrheit nur die beiden Pole eines und desselben Wesens sind, doch
zwischen beiden eine ewige Grenze gezogen ist, ja, daß sie sich in dieser
Beziehung gewissermaßen verhalten wie Quadrat und Zirkel, wo zwar der
Kreis von dem geradlinigen Maße bis auf einen gewissen Punkt allerdings
gemessen werden kann, niemals jedoch in demselben ganz aufgeht*“ So
ist Symboldeutung bloße Quadratur des Zirkels* Und wenn auch das Un¬
bewußte des einzelnen starken Anteil hat am Unbewußten der gleich¬
zeitigen und phylogenetischen Kollektivität, so können doch seine Produkte
zwar mit Hilfe der Symbolik annähernd erfaßt werden, ihre restlose
Deutung aber nur aus dem Individuum selbst erfahren.
1) Freud, Vorlesungen. Ges* Schriften, Bd* VII, S. 151.
2) Freud, a« a. Cb S* 160*
5) Freud, Traumdeutung. Ges* Schriften, Bd. III, S. 69*
4) „Über Lebensmagnetismus und über die magischen Wirkungen überhaupt*“ 1857,
Das Erbe des Fortunatus
Von
Vilma Kovacs
Budapest
Das Problem der vollwertigen Männlichkeit ist ein Hauptproblem der
Neurose und wurde bereits in der psychoanalytischen Literatur von den
verschiedensten Seiten beleuchtet, 1 2 In einer ganzen Reihe von Fällen hatte
ich Gelegenheit, eine bisher weniger beachtete Seite dieser Frage zu unter¬
suchen, und zwar die psychologische Rolle des Skrotum bei der Entwicklung
zur Genitalität * Diese Fälle gaben mir Gelegenheit, die mit dem Skrotum
verbundenen unbewußten Phantasien aufzudecken, die wahrscheinlich auch
im normalen Seelenleben eine Rolle spielen* Auf diese letztere Vermutung
brachte mich das uralte Volksmärchen von Fortunatus und seinem Säckel,
in welchem der ganze Skrotumkomplex in geradezu vollkommener Weise
aufgearb eitet ist* 3 * 5
Fortunatus erhält von seinem Vater folgendes zum Erbe: einen Hut, mit
dem man dort ist, wo man sein will, und einen Säckel* der nie ver¬
siegt. Er mahnt ihn, die zwei Dinge nicht voneinander zu trennen, da
dies Unglück über ihn bringt* Fortunatus nimmt sein Erbe, geht zu Hofe,
wo er mit großem Reichtum auffallen will, um damit die Prinzessin zu
erobern. Die Prinzessin ist vom Glanze betört, doch liebt sie ihn nicht und
will nur sein Geld* Sie belauscht ihn, woher sein Reichtum stammt, und
schneidet ihm im Schlaf den Säckel ab. Fortunatus sieht sich in Armut,
fliegt mit dem Hut auf eine Insel, wo Zauberfrüchte wachsen* Er nimmt
1) Ferenczi, Rank, Reich*
2) Ich muß hier bemerken, daß ich Skrotum promiscue auch auf den wertvolleren
Teil, den Inhalt des Säckchens anwende, so wie es in den Traumen und Phantasien
der Neurotiker zum Ausdruck kommt.
5) Vgl. Antti Aarne: Märchenforschung* Die hier veröffentlichten zahlreichen
Varianten enthalten alle wesentlichen Merkmale, die bei der Deutung eine Rolle spielen.
Imago XII
21
522
Vilma Koväcs
von zwei Bäumen Äpfel, und kehrt zum Hofe zurück. Verkleidet, verkauft er
der Prinzessin von den Früchten, die davon ißt und Hörner auf der Stirne
bekommt. Nun große Verzweiflung im Lande, die Krankheit der Prinzessin
will nicht weichen. Fortunatus erbarmt sich ihrer, will ihr helfen, wenn
sie ihm den Säckel zurückgibt. Als sie dies tut, gibt er ihr von den guten
Früchten, die Hörner fallen ab, sie ist geheilt. Nun heiratet Fortunatus
die Prinzessin und sie leben zusammen in Glück und Freuden.
Für den Psychoanalytiker ist es nicht schwer, die Sprache des Unbewußten
in dieser Märchensymbolik zu erkennen.
Der Hut, mit dem man dort sein kann, wo man sein mochte, und der
nie versiegende Säckel, die beiden Dinge, die nicht voneinander zu trennen
sind, können wir als Symbole für Penis und Skrotum mit seinen Einschlüssen
erkennen. Beide zusammen machen die vollwertige Männlichkeit aus.
Wenn Fortunatus die Prinzessin mit seinem Reichtum erobern will, so
begeht er das Unrecht, Penis und Skrotum voneinander zu trennen. Dies
bedeutet die libidinöse Betonung der analen Sexualität, die ihn hindert,
auf die wahre Objektliebe überzugehen. Er wagt nicht die männliche
Das Erbe des Fortunatus
5 2 5
Erobererrolle, sondern entsagt dem Penis und versucht nur mit analen
Fähigkeiten zu imponieren. Diese infantile Einstellung des Mannes drängt
auch das Weib auf die anal-sadistische Stufe zurück. Sie erblickt ebenfalls
im Geldverdienst die Männlichkeit (Verschiebung der Libido von Penis
auf Skrotum) und glaubt durch Reichtum ohne Mann fertig zu werden.
Zu diesem Zwecke nimmt sie vom Manne die unversiegbare Quelle seines
Reichtums, das Skrotum samt Hoden fort, d. h. sie kastriert ihn, 1 und
umgürtet sich selbst mit dem Säckel. Wir sehen hier also die Anfänge
der Neurose der Frau, ihre Identifizierung mit dem Manne, die aber in
%
der Realität nur durch Geld verdienst gelingen kann (Fe minist in), denn
sie kastriert, um selbst Mann sein zu können (Angst vor dem Penis). Nun
wird dem Mann seine Impotenz bewußt, er ist genötigt, seine Zuflucht zum
Penis zu nehmen, um die Prinzessin zu bezwingen; er versucht die anale
1) Gegenüber der bisher in der analytischen Literatur diskutierten Penis abschnei düng
ist diese Operation die eigentliche biologische Kastration. Die Wegnahme des Penis
bedeutet den Verlust des wichtigsten Lustorganes, der Verlust der Hoden dagegen
Sterilität, also Versiegen des Reichtums.
ai
r
T
324 Vilma Kovacs
Fixierung zu lösen, um den Übergang zur Genialität zu ermöglichen
(Heilungsversuch). Es erfolgt ein mißlungener Koitusversuch (schlechte
Früchte), wodurch die Neurose der Prinzessin vollständig ausbricht. Die
Hörner, die der Prinzessin wachsen, diese Überkompensienmg des fehlenden
Penis, 1 erklären deutlich den Zusammenhang der Neurose der Prinzessin
mit der Impotenz des Fortunatus. Die Impotenz des Mannes verursacht die
virile Einstellung der Frau und ihre Regression zum Analen. Nur die Liebe
kann sie heilen, die Objektliebe, zu der Fortunatus durch Mitleid mit der
kranken Prinzessin gelangt, die ihn fähig macht, ihr die guten Früchte
zu geben, durch deren Genuß die Hörner, ihre Männlichkeit, ab fallen.
Beide werden gesund, Fortunatus erlangt durch diese Vereinigung „der
zärtlichen und sinnlichen Strömung“ (Freud) die vollwertige Männlichkeit;
bei der Prinzessin geht der Wunsch nach dem Skrotum (Penis) in den Wunsch
nach dem Kinde über (gute Früchte — Schwangerschaft). Nun kann sie auch
Ernährerin sein, das Kind säugen.
D as Märchen mutet uns an wie ein Lehrgedicht* in dem die jungen
Männer vor der Gefahr gewarnt werden, die aus der Trennung von Skrotum
und Penis entspringt* Diese Gefahr besteht, wie uns das Märchen lehrt, in
der Regression auf die anale Stufe. Aber auch die Frauen werden durch
das Märchen gemahnt, den Penisneid aufzugeben, da die mißlungene Identi¬
fizierung mit dem Mann (in diesem Fall mit Hilfe der Gleichung Skrotum =
Säckel = Vagina) auch sie auf die anale Stufe zurück drängt. 2 Die Analyse
von Neurotikern brachte ähnliche Phantasien, die nicht nur obige Deutung
des Märchens bestätigten, sondern auch tiefere Determinierungen zutage
forderten* Als Hauptursache der Trennung von Penis und Skrotum wurde
der Kastrationskomplex erkannt, der bei Vorhandensein einer starken analen
Fixierung diese Fehlentwicklung zustande brachte*
Die größte Schwierigkeit bietet für den heranreifenden Jüngling, die
bei der ersten Pollution mit großem Schreck gemachte Erfahrung, daß die
bisher ohne Folgen betriebene Onanie mit etwas von seinem Ich bezahlt
werden muß. Der Penis, das Lustorgan, brachte bis dahin kostenlose Lust,
jetzt muß schon das Skrotum (Testikel) die llechnung dafür bezahlen. Die
Abneigung gegen diese Bezahlung der Lust hat zwar verschiedene Quellen,
doch will ich hier vorerst auf eine, die wichtigste, aufmerksam machen*
1) Nach einer mündlichen Mitteilung von Dr* Foren cai.
2) Eine Patientin phantasiert, daß sie die Gebärmutter aus der Vagina heraus-
hängend hat, wie ein Säckchen.
Das Erbe des Fortunatu s
Zum H ergeben des Sperma, welches für das Unbewußte Lebenskraft be¬
deutet, wird ein großer Aufwand von Objektliehe benötigt, eine Hingabe,
die das Ertragen des Verlustes möglich machen solL Diese vollwertige Objekt¬
liebe ist weder bei der bewußten noch bei der unbewußten Onanie vor¬
handen. Auch bei der psychischen Impotenz können wir beobachten, daß
eben diese Hingabe, das Hinzutreten von Unlust zur Lust, und das Ertragen
derselben unmöglich ist, wie es überhaupt die allerschwerste Aufgabe der
Analyse ist, die Liebesfahigkeit des Patienten so zu heben, daß er imstande
ist, sich einer Liebe hinzugeben, die für ihn auch die Qualen des Entsagen-
müssens bereitet. Das ist die Übertragungsliebe, Die bewußte Annahme
dessen, daß Lieben nicht nur nehmen, sondern auch geben bedeutet, daß
ein großer Unterschied zwischen „sich lieben lassen“ und „selbst lieben“
besteht, macht die vollwertige Liebesfahigkeit aus. Im Körperlichen bedeutet
dies die willige Hergabe des Sperma bei dem Manne und das Gebären wollen
beim Weibe. Hier fängt das Rechnen mit der Realität, den Folgen an.
Mit dem Zaubermittel der Onanie kann man fliegen, wohin man will; der
Eintritt der Ejakulation bringt Angst, Selbst vor würfe, Schwächegefühl mit
sich, mit einem Worte ein schlimmes Erwachen zur Wirklichkeit* 1
In einigen Fällen wird als Verursacher all dieser unangenehmen Erfahrung
das Skrotum erkannt und es besteht die Tendenz, den Zusammenhang zwischen
Penis und Skrotum zu verleugnen. In einigen von mir behandelten Fällen
konnte ich erfahren, daß die Onanie beim Eintritt der ersten Ejakulation
aufgegeben wurde. Die Spaltung des Genitale in Penis und Skrotum könnte
mit Hilfe analerotischer Triebregungen vor sich gehen* Eine tiefer liegende
Ursache dieser Spaltung wäre die Angst vor dem Penis, die in der Abziehung
der Libido vom Penis und der stärkeren Besetzung des Skrotum zum Ausdruck
kommt (Abraham). Das Skrotum, welches auch psychisch eine Brücke
zwischen anal und genital zu sein scheint, ist sehr geeignet, eine Regression
zum Analen zu ermöglichen. 2
In vielen Fällen konnte ich beobachten, daß die Kastrationsangst vom
Penis auf die Hoden verlegt wurde; der Verlust des Skrotum ist schon
i) Ferencii: Erotischer Realitätssinn (Versuch einer Genitaltheorie).
s) Ein Patient, der sich materiell geschädigt fühlte, — er verlor eine kleine
Summe, — bekommt ein unangenehmes Jucken am Skrotum, Er wirft sich in der
Analysen stunde auf dem Diwan herum, greift endlich wütend in die Tasche — und
reißt mit dem Ausruf „ich weiß wirklich nicht mehr, wie ich das Skrotum placieren
soll, damit es mich nicht stört“ — sein Portemonnaie heraus und wirft es auf den
Diwan. Er öffnet dann das altmodische Ledertäschchen und zeigt mir, daß es ganz
leer ist.
Vilma Kovacs
526
durch die anale Bewertung weniger unlustvoll. Auch Sexualtheorien, die
eine Wesensgleichheit von Vagina und Skrotum zum Inhalt haben, sind
nicht selten. (Aufgeschnittenes Skrotum, zusammen genähte Vagina.) Diese
Theorien beruhen möglicherweise auf einem unbewußten Wissen von der
enlwicklungsgeschichtlichen Gleichwertigkeit dieser äußeren Gebilde.
Die psychische Einstellung zum männlichen Genitale würde nach meinen
Erfahrungen das folgende Bild ergeben:
Skrotum (Testikel) Penis
I I
anal-mütterlich urethral-männlich
Geld verdienen Ambition
Erhalten Schöpferkraft
~~ V ■ -- * - * - ■
V oll w ertige M an ul ich k eit
Auch das neurotische Weih sieht im Manne nur den Ernährer (Skrotum¬
besitzer — Mutter). Die Angst vor dem Penis, dem Sexualakt und dem Ge¬
bären halten sie in dieser infantilen Einstellung zurück. Nur durch die
Identifizierung mit der Mutter, indem sie den Penis und die Schmerzen,
die er mit sich bringt, zu ertragen und zu lieben bereit ist, wird sie zum
reifen und gesunden Weibe.
Wir sehen also, daß das Skrotum seine gesonderte Bedeutung durch die
enge Verknüpfung mit anal erotischen Phantasien erhält. Daß das Skrotum¬
problem bisher theoretisch weniger Beachtung fand, könnten wir damit
erklären, daß mit der Analyse des analen Charakters auch dieses spezielle
Problem in der Regel unbemerkt mitgelöst wurde.
Eine wichtige Beziehung besteht auch zwischen Skrotalphantasien und
Oralerotik durch die Ähnlichkeit mit der Mutterbrust, nach welcher die
Sehnsucht ewig besteht und deren Verlust als höchst unlustvoll verdrängt
wird. 1 Dies wäre auch eine Bestätigung der Auffassung, daß das Skrotum
den weiblichen, nährenden Teil des Mannes bedeutet und eben deshalb für
die Frau die Identifizierung mit dem Manne erleichtert. Deshalb wird
in so vielen Fällen von Neurose das Interesse vom Penis auf das Skrotum
verschoben, um so das Gefühl der Unzulänglichkeit in bezug auf das Zeugen
1) Eine Patientin meint, daß beim Koitus das ganze Genitale in die Vagina ein¬
geht oder daß das Skrotum gerade den Platz an der Vagina einnimmt. Dies gibt ein
Gefühl der Vollkommenheit, „dann fehlt gar nichts“* Skrotum und Penis bedeuten
für sie Mamma und Mamilla.
Das Erbe des Fortunatas
5 2 7
(Schöpfer), auf das Geld verdienen überzuleiten. So wie die Anal- und Urethral -
Erotik in sublimierter Form im Charakter aufgearbeitet werden, drückt sich
auch das Interesse für das Skrotum und seine Einschlüsse im Charakter
des Individuums aus. Es macht den Mann fähig, mütterlich zu fühlen (im
Ausstößen des Sperma zu gebären) und erleichtert dem Weibe die Identi¬
fizierung mit dem Sexualpartner.
Zur Psychologie der Komödie
Von
Ludwig Jekels
Wien
W ir verdanken der Psychoanalyse reiche Einsichten in die Psychologie
der Tragödie*
Nicht allein, daß wir durch sie erfahren haben, daß die von der Ästhetik
postulierte „tragische Schuld“ des Helden eigentlich von den verdrängten
Ödipus-Wünschen des Dichters abzuleiten sei, hat sie uns überdies auf
die seelische Wechselbeziehung zwischen Dichter und Zuhörer, d. h. auf die
Gemeinsamkeit der Schuld als auf das entscheidende psychologische Moment
aufmerksam gemacht, welches es dem Dichter überhaupt erst ermöglicht,
sein Werk zu schaffen und anderseits dem Zuhörer die Aristotelische „Reini¬
gung der Leidenschaften“ bringt. Vor allem hat ja Freud 1 in der antiken
Tragödie die psychologischen Anklänge an das Urverbrechen festgestellt; an
dieser Spur festhaltend, hat Winterstein 2 vor kurzem die Anfänge der
Tragödie zum Gegenstand eingehenden Studiums gemacht und dieselben
gründlichst durchleuchtet*
Und all dem gegenüber, wie wenig hat sich die Psychoanalyse um die Kö-
modie gekümmert I Ein Aschenbrödel neben ihrer so pompös ein herschreit enden
Schwester war sie bis nun kaum Gegenstand eines nennenswerteren Inter¬
esses und wurde höchstens in das Souterrain der Forschung, in die „Fu߬
noten verwiesen, und dort mit wenigen Worten abgetan.
Und dennoch erscheint mir das komische Drama durchaus einer ernsten
und eingehenderen Untersuchung würdig. Nicht etwa allein deshalb, weil
darin auch das Problem des Komischen gelegen ist, bekanntlich eines der
1) I reud: Totem und Tabu* (Ges* Schriften, Bd* X*}
2) Alfred Winterstein: Der Ursprung der Tragödie. Imago-Bücher VIII,
Zur Psychologie der Komödie
3 2 9
schwierigsten und vervvickeltsten der Psychologie, an das sogar ein Freud 1
„nicht ohne Bangen“ herangetreten ist, allerdings um dann dasselbe weitest¬
gehend zu beleuchten. Denn auch sonst ergibt, wie die vorliegende flüchtige
Skizze erweisen mag, die psychoanalytische Untersuchung der Komödie
mancherlei, was unser volles Interesse beanspruchen darf.
Die von mir vorgenommene Analyse einiger sogenannter höheren Komödien
ergab nämlich das überraschende Resultat, daß in denselben ein Mechanis¬
mus der Umkehrung vorwaltet; d. h. das in der Tragödie auf dem
Sohn lastende Schuldgefühl erscheint in dem komischen Drama
auf den Vater verschoben, der Vater ist schuldig.
Dieser Sachverhalt dürfte ja schon Diderot aufgefallen sein, zugleich
aber, wie es den Anschein hat, auch seinen affektiven Widerspruch erweckt
haben, denn er meint in seinem „Discours sur la poösie dramatique“ : 2
„Terenz scheint mir einmal in diesen Fehler gefallen zu sein. Sein Heauton -
timorumenos (der Selbstquäler) ist ein Vater, der sich über den gewaltsamen
Entschluß grämt, zu dem er seinen Sohn durch übermäßige Strenge gebracht
hat und der sich deswegen nun selbst bestraft, indem er sich in Kleidung
und Speise kümmerlich hält, allen Umgang flieht, sein Gesinde abschafft
und das Feld mit eigenen Händen baut. Man kann gar wohl sagen, daß
es so einen Vater nicht gibt. Die größte Stadt würde bum in einem
Jahrhundert ein Beispiel einer so seltsamen Betrübnis aufzuweisen haben.“
Nun wollen wir es versuchen, die Richtigkeit unserer These an anderen
Beispielen, wenn auch nur skizzenhaft, nachzuweisen; die bunte Durch¬
einandermischung von Werken ganz verschiedener Kulturkreise und oft Jahr¬
tausende auseinanderliegender Epochen mag darin ihre Erklärung finden,
daß wir, bloß von dem einen Gesichtspunkt geleitet und um seinen Erweis
bekümmert, alle anderen geflissentlich zurückstellen.
Der „Kaufmann von Venedig“ galt der Shakespeare-Forschung vor noch
nicht langer Zeit wohl als eines der umstrittensten Werke des Dichters,
nicht allein betreffs der Grundidee, sondern auch in bezug auf seine Zu¬
gehörigkeit zu einer bestimmten Dramengattung. Auf Grund unserer Auf¬
fassung, daß in der Komödie die Vatergeslalt als schuldbeladen zur Dar¬
stellung gelangt, müssen auch wir indessen diese Schöpfung für ein komi¬
sches Drama erklären, wo doch hier nahezu expressis verbis auf die Schuld
1) Freud: Der Witz und seine Beziehung zum Unbewußten. (Ges. Schriften,
Bd. IX.)
2) Zitiert nach Leasings „Hamburgische Dramaturgie“. 87. Stück.
550 Ludwig Jekels
des Vaters hingewiesen wird. Denn der von Shylock so arg bedrohte Antonio
ist zweifellos eine Vatergestalt; diese psychoanalytische Annahme ist gut fun¬
diert durch den Umstand, daß er ja aus dem Messer Ansaldo der Vorlage
(Fiorentinos Pecorone) geformt wurde, welcher in dieser Novelle als „väter¬
licher Freund“, voll Liebe, unerschöpflicher Geduld und Opfer Willigkeit
für den angenommenen Sohn, figuriert. Antonio läßt aber der Dichter schon
in der ersten Szene schuldig werden:
„Geh, sieh zu,
Was in Venedig mein Kredit vermag:
Den spann ich an bis auf das Äußerste y
und alsbald dem Shylock die Schuldverschreibung geben.
Es dürfte wohl kaum Befremden erregen, daß wir hiebei die Geldschuld
als eine bloße Substitution der moralischen Schuld auffassen. Die überaus
enge Beziehung beider Begriffe, auf die meines Wissens unter den Ana¬
lytikern Müller-Braun schweig 1 bereits hingewiesen hat, hat schon
Nietzsche in seiner „Genealogie der Moral“ 2 hervorgehoben. Die enge Zu¬
sammengehörigkeit dieser beiden Vorstellungskreise, sowie ihr Ersatzverhältnis,
steht ja ganz außer Zweifel, Die uralte Institution der Geldbuße im Straf-
recht ist hiefür ein ebenso beredter Beleg, wie der Umstand, daß nicht allein
die deutsche, sondern auch viele andere Sprachen (z, B. französisch, pol¬
nisch usw.) sich des nämlichen Ausdruckes für die materielle wie für die
moralische Schuld bedienen. Und zuletzt, wenn auch nicht an letzter Stelle:
Für den Analytiker, der dies Ersatzverhältnis sowohl in den Träumen der
Patienten als auch im Widerstand recht häufig zu beobachten Gelegenheit
hat, birgt dies Eintreten der Geldschuldvorstellung für die der moralischen
kaum etwas Überraschendes in sich.
Dasselbe Ausdrucksmittel für das nämliche Motiv findet sich aber auch
im feinsten deutschen Lustspiel, Leasings „Minna von Barn heim in
Anwendung gebracht.
Der Ausgangspunkt der Verwicklungen des Stückes liegt ja, wie erinnerlich,
in seiner Vorgeschichte, Major von Teilheim, mit Eintreibung der Kon¬
tribution bei den feindlichen Ständen betraut, hat, um äußerste Strenge
zu vermeiden, den Betrag gegen einen Wechsel der Stände dem. König aus
1) Dr. Karl Müller-Brauuschweig: Psychoanalytische Gesichtspunkte zur
Psychogenes© der Moral, insbesondere des moralischen Aktes, Imago VII, 1921,
ö) Kap. Daß jener moralische Hauptbegriff „Schuld 1 * seine Herkunft aus dem
sehr materiellen „Schulden“ genommen hat?“
Zur Psychologie der Komödie so 1
eigenem vorgeschossen. Seine nach Friedensschluß erhobene Forderung nach
Begleichung der ihm zukommenden Summe wird abgelehnt, er überdies
unter dem Verdachte, vom Feinde ein Geldgeschenk empfangen zu haben,
in Untersuchung gezogen. Dies empfindet er nicht bloß als eine schwere
Ehrenkränkung, sondern auch als unüberwindliches Hindernis für seine
Ehe mit der ihn liebenden und von ihm geliebten Minna.
Wir können kaum anders, als diesen mit so logischer und reicher Fassade
geschmückten Sachverhalt doch bloß wieder auf die dürftige Formel: der
Vater (König) ist schuld, zu reduzieren. Und dafür spricht nicht nur, daß
die Verwicklung durch ein Eingreifen des Königs selbst und Tilgung seiner
Schuld gelöst wird, auch in seinen episodischen Szenen, wie z. B. mit dem
Diener Just und mit Werner, ist ja das Lustspiel förmlich durchzogen von
der Weigerung Teil heims: „Ich will dein Schuldner nicht sein.“ Bei all
der vortrefflichen Rationalisierung hören wir in dieser beständigen Weigerung
doch kaum anderes heraus, als daß der Sohn hier die Schuld völlig ablehnt,
um sie um so nachdrücklicher und ausschließlicher beim Vater zu betonen.
Wir sind aber bei der Deutung auch unvermittelt auf den Inhalt der
dem Vater vorgehaltenen Schuld gestoßen: Der König hindert ja die Liebe
und Ehe Teilheims 1
Daß dies tatsächlich die latente Grundtendenz des Stückes ist, erhellt
aus nachstehendem Umstand: Ich habe bereits in meiner Macbeth“Studie 1
her vor gehoben, daß in den dramatischen Schöpfungen das Grundmotiv der¬
selben in einer doppelten Darstellung, nämlich sowohl in einer dem
Bewußtsein näheren als auch ferneren, sohin in einer direkteren als auch
verhüllten Form zum Ausdruck gebracht erscheint. Und zwar ist dies Phä¬
nomen so regelmäßig festzustellen, daß auch die umgekehrte Fassung: alles,
was in einem Drama doppelt dargestellt erscheint, ist sein Grundmotiv,
mir heute, nach reichlicher Nachprüfung, ganz verläßlich erscheint.
Nun ist aber in „Minna von Barnhelm“ solch ein zweiter, ungleich
weniger verhüllter Hinweis auf den Vater als Hindernis der Liebe tatsäch¬
lich vorhanden. Es ist dies die Stelle, wo Minna dem sich ihr verweigernden
Teilheim mystifizierend mitteilt, ihr Oheim und Vormund Graf Bruchsall
verfolge sie und habe sie enterbt, weil sie keinen Mann aus seiner Hand
annehmen wolle. Kaum aber, daß der Graf (V/5) Tellheim kennen gelernt
hat, wird er schon von diesem mit „mein Vater“ an gesprochen und apo¬
strophiert Teilheim als „Sohn“. . .
1) Dr. Ludwig Jekels: „Versuch über Macbeth.“ Imago, Bd. V, 1917/19.
53 2 Ludwig Jekels
Der Vorwurf: „Vater — Störer der Liebe“ als seine Schuld statuiert —
das ist der latente Inhalt der meisten Komödien der erwähnten Gattung,
Überdeutlich, weil weder die Vater-Sohnesbeziehung noch auch die sexuelle
Rivalität beider irgendwie v er hüllend, bringt dieses MotivMoliöres „L’A v are"
zum Ausdruck — wo Harpagon zwischen seinen Sohn und dessen Braut
tritt, da er sie selbst ehelichen will.
Dasselbe Motiv aber auch im „Tartuffe“, sofern man den Schein¬
heiligen als bloße Abspaltung des Vaters Orgon auffaßt, wodurch er zum
Rivalen des Sohnes bei der Mutter wird.
Ähnlich wie hier wird aber auch im „Pharm io“ des Terenz — einem
der schönsten Lustspiele der Antike — der sich der Liebeswahl des Sohnes
widersetzende Vater durch die Entlarvung seiner sexuellen Verfehlung dem
Willen des Sohnes (Phädria) gefügig gemacht. Mit den Worten des Vaters:
^Allein wo ist der Phädria, mein Richter", schließt bezeichnenderweise
die Handlung.
Die nachfolgenden Lustspiele verraten in ihrem manifesten Inhalt zwar
nichts mehr von jenen „familiären“ Beziehungen, die in den zuletzt be¬
sprochenen so überdeutlich zutage traten; nichtsdestoweniger ist in ihnen
die psychische Grundsituation die nämliche.
So in dem mit Recht so berühmten „Miles gloriosus“ von Plautus.
Der bramarbasierende eitle Narr Pyrgopolinikes ist hier in doppelte Relation
gebracht: als Vater dem jungen Athener Pleusikles gegenüber, dessen Ge¬
liebte er entführt, und als Sohn gegenüber dem jovialen Epheser Peri-
plekomenos, dem er, der gesponnenen Intrige zufolge, die vermeintliche
Gattin abwendig machen will.
Die Reihe von Beispielen wollen wir nun mit dem Hinweis auf den
für unsere Behauptung nicht minder illustrativen „Zerbrochenen Krug"
von Kleist schließen, dessen Inhalt die Untersuchung bildet, ob der Vater
(Richter Adam) oder der Sohn (Ruprecht) die Schuld am nächtlichen
Einbruch und am „Zerbrechen des Kruges bei Eva" (f) trage.
Ganz im Sinne unserer These fällt auch hier das „schuldig“ auf das
Haupt des Vaters.
*
Die Bedeutsamkeit dieser Feststellung erhellt wohl aus den hier folgenden
Ausführungen von Bergson. 1 Seine Ansicht geht ja dahin, daß das Wesen
des Komischen in der Mechanisierung des Lebens besteht, welcher Effekt
i) Henri Bergson: „Le rire, <{ Paris 1913.
Zur Psychologie der Komödie
555
außer durch zwei andere (repetition, interference des series) auch durch
den Vorgang der Umkehrung (l f Inversion) erzielt werde* Und da meint er
nun in wörtlicher Übersetzung (Seite 96ff.): ^Denken Sie sich gewisse
Personen in einer gewissen Situation; Sie erhalten eine komische Szene,
wenn Sie es bewirken, daß sich die Situation umkehrt und die Rollen
vertauscht werden . . . Aber es ist nicht einmal notwendig, daß die beiden
symmetrischen Szenen vor unseren Augen gespielt werden; man braucht
uns bloß eine derselben vorzuführen und mag dabei sicher sein, daß wir
an die andere denken. Der Verfolger als Opfer seiner Verfolgung, der be¬
trogene Betrüger — das ist das Zutiefstliegende bei vielen Lustspielen
ebenso wie in den Schwänken aus alten Zeiten , , . Die moderne Literatur
hat noch viele Variationen des Motivs vom bestohlenen Dieb (voleur vole )■
Letzten Endes handelt es sich immer um eine Verkehrung der Rollen und
um eine Situation, die sich gegen denjenigen kehrt, der sie geschaffen
hat . , * — Es dürfte sich hier ein Gesetz bestätigen, das wir bereits Öfters
an gewendet gefunden haben. Wenn eine Szene oft reproduziert worden ist,
wird sie zur ,Kategorie* oder zum Vorbild. Sie wird unterhaltend durch
sich selbst, unabhängig von den Ursachen, die es bewirken, daß sie uns
belustigt. Und derart können neue Szenen, die an sich nicht komisch sind,
uns tatsächlich unterhalten, wenn sie jener ähnlich sind. Sie werden in
unserem Geiste mehr oder weniger undeutlich ein Bild her vorrufen, welches
wir als drollig bereits kennen. Sie werden sich in eine Gattung einordnen,
in der ein offiziell anerkannter komischer Typus figuriert. Die Szene vom
bestohlenen Dieb ist wohl von dieser Art. Das Komische, das ihr inne¬
wohnt, strahlt sie aus auf eine Menge anderer Szenen. Und dies soweit,
daß sie jedes Mißgeschick, das man sich durch eigene Schuld zugezogen
hat . . ja, was sage ich, jede Anspielung auf dieses Mißgeschick, jedes
Wort, das an dasselbe gemahnt — komisch erscheinen läßt U 4
Es erübrigt sich wohl hervorzuheben, daß wir diese zentrale Stellung der
Modellszene für das von uns hervorgehobene Element in Anspruch nehmen.
*
Mit diesen seinen Ausführungen hat ja der scharfsinnige Philosoph sich
zwar unserer Ansicht außerordentlich genähert, hat auch das Geltungs¬
gebiet des von uns aufgefundenen Elementes im Reiche der Komödie und
ihrer mannigfachen Spielarten *über das von uns angenommene Ausmaß
erweitert ; für die Klärung des Rätsels, das die Komödie darstellt, ist jedoch
dadurch kaum etwas gewonnen worden.
554 Ludwig Jekels
Denn fürwahr, recht rätselhaft muß uns das komische Drama erscheinen*
Es kann ja kaum anders sein, als daß der Komödien dichter dieselben
Schöpfungsantriche besitzt und den nämlichen psychologischen Gesetzen
unterworfen ist, wie sie uns als für den tragischen Dichter in Geltung
stehend schon längst — besonders durch die schöne Arbeit von Sachs 1 —
bekannt sind; vor allem der imperative Drang, seinen verdrängten Kom¬
plexen Abfuhr zu verschaffen, dem der Dichter gleichsam durch die Ver¬
teilung seines Schuldgefühles auf all die Vielen, Folge zu geben vermag*
Anderseits aber lassen die oben mitgeteilten, wenn auch noch so flüch¬
tigen Komödienanalysen uns kaum im Zweifel darüber, daß das hier zur
Verarbeitung gelangende Material gleichfalls ganz das nämliche wie beim
tragischen Dichter ist, d, h. hier wie dort dem Ödipus-Komplex zugehört*
An dieser Identität des Materials bei den beiden Dramengatt ungen mag
es ja gelegen sein, daß bei so zahlreichen dramatischen Dichtungen der
Charakter derselben recht weit in die Verwicklung hinein ein ganz unent¬
schiedener ist, so daß bis dahin füglich ebenso eine Komödie wie eine
Tragödie resultieren konnte, und erst eine späte und jähe Wendung über
die Zugehörigkeit entscheidet.
Wieso kommt es aber und wie mag es da zugehen, daß sich aus so iden¬
tischen psychologischen Voraussetzungen so vollends verschiedene, ja diametral
entgegengesetzte Effekte ergeben, und daß aus dem gleichen Boden wir in
dem einen Falle die tragische Schuld und die Sühne, im anderen aber
schäumenden Übermut und Triumph entsprossen sehen?
In dem unseren Analysen entnommenen Element der Schuldverschiebung
vermeinen wir den Schlüssel zu besitzen, um das Rätsel dieser Sphinx zu
lösen.
Letzten Endes ist ja diese infantile Phantasie vom Vater als Störer der Liebe
nichts anderes als eine Projektion des eigenen schuldbeladenen Wunsches des
Sohnes, die Liebe der Eltern zu stören* Durch ihre Verschiebung auf den
Vater, seine Ausstattung mit einer so spezifischen Sohnesattitüde,
wird uns kund, daß hier der Vater seiner Vaterattribute entkleidet,
somit als Vater beseitigt und zum Sohne erniedrigt wurde.
Dieser Verschiebung wohnt demnach die nämliche Psychologie inne, wie
der im Lustspiele überhaupt und auch unter unseren Beispielen so häufig
verwendeten Entlarvung (Tartuffe. Zerbrochener Krug, Phormiö); diese
Psychologie faßt Freud in die Formel; „Du bist auch nur ein Mensch
D Hanns Sachs: Gemeinsame Tagtraume* Imago-Bücher, V.
Zur Psychologie der Komödie
335
wie ich/“ Genau so wie die Entlarvung wird auch diese Phantasie in der
Komödie dazu verwendet, um den Vater herabzusetzen, und zwar herabzu-
setzen zum Sohne, auf das dem Sohne sonst zukommende Niveau. — Und
dies: Den-Vater-zum-Sohne-Machen , diese verkehrte Welt, „le monde renverse“,
wie Bergson meint, das ist der eigentlichste Kern seiner »Inversion“) die
innerste Tendenz der Schuldverschiebung,
Und nur die Tatsache, daß der Vater bloß als Sohn dimensioniert wird, macht
es uns verständlich, warum im Lustspiel (von der antiken bis zur modernen
Ehebruchskomödie) meist der Vater der im Wettkampfe unterliegende Teil
ist* Aus demselben Grunde muß, um auf unsere Beispiele zurückzukommen,
Harpagon die Partie und damit das Liebesobjekt verlieren, und der König in
„Minna von Barnhelm w nicht nur die Hindernisse wegräumen, sondern sogar
weit über das beanspruchte Maß von Genugtuung hinausgehen*
Lediglich diese Reduktion des Vaters zum Sohne laßt es uns verstehen,
daß es dem Komödiendichter möglich wird, ein so reiches Ausmaß von
Aggression (Hohn, Spott usw.) gegen den Vater zu entfesseln, und beispiels¬
weise einen Antonio im » Kaufmann“ und noch deutlicher den bei seinen
Liebes Werbungen überraschten Bramarbas in direkt ausgesprochener Ent¬
mannungsgefahr schweben zu lassen. Bloß im Sinne dieser Reduktion ver¬
stehen wir den Zuruf an den Pardonnierten: ^Wird’s wohl fertig sein mit
deiner Vaterschaft!“
*
Die Amovierung des Vaters, seine Auflösung im Sohne, die Einziehung
des Über-Ichs, sein Zusammenfließen mit dem Ich, welch volle psycho¬
logische Übereinstimmung mit der Manie,
Wie hier so auch dort das Ich, nachdem es sich vom Tyrannen befreit,
im Freiheitsrausche, in der Hemmungslosigkeit Humor, Witz und allerlei
Komik entbindend!
Wir widerstehen der Versuchung, die nunmehr uns so nahegelegte psycho-
logische Verwandtschaft der Tragödie mit der melancholischen Depression
zu erörtern, welchen Zusammenhang übrigens schon die Worte des Byzan¬
tiners Suidas verraten: »r\ XQT] TQayoSelv ztdvxac, rj pcAayxoXäv“, 1 und wollen
uns mit der Feststellung bescheiden, daß die Komödie ein ästhetisches
Korrelat der Manie ist*
1) Auf diesen Ausspruch wurde ich durch Winterstein aufmerksam gemacht*
Ein Gespenst aus der Kindheit Knut Hamsuns
Von
Eduard Hitschmann
(Wien)
Ex ungue leonem
Einleitung
Seit vielen Jahren lese ich mit gespanntem Interesse und ästhetischem
Genuß die Werke des bewunderungs weiten Dichters Knut Hamsun, Aber
neben dieser höchsten Bewunderung seiner Kunstmittel, seines satirischen
Humors* seiner Liebes- und Natur-Dithyramben, seiner Gesellschaftskritik
in den früheren und der epischen Größe in den späteren Werken, neben
dieser Bewunderung vertiefte sich eine Verwunderung über die stereotype
Wiederkehr bestimmter Situationen, analoger Motive* gleicher Liebesgebarden
und identischer psychologischer Grundzüge seiner Helden, Dieses Bewundern
und Verwundern drängte zur Anwendung psychoanalytischer Erfahrungen,
und als ich mich im Besitze eines wichtigen Schlüssels wußte, sah ich mich
nach Auskünften über das Leben dieses großen Dichters der Gegenwart
um, die jedoch trotz freundlicher, hier nochmals bedankter Bemühungen der
Herren John Landquist (Stockholm) und Professor Harald K, Schj elderup
(Oslo) sehr spärliche sind,
Knut Pedcrsen Hamsun ist am 4, August 1659 in Lom in Gud-
brandsdalen (Norwegen) geboren. Als der Knabe vier Jahre alt war, siedelten
die unbemittelten bäuerlichen Eltern nach Lofoten in Nordland über. Mit
siebzehn Jahren kam Hamsun in die Lehre zu einem Schuster und arbeitete
gleichzeitig in aller Stille literarisch. Mit achtzehn Jahren veröffentlichte er
neben Gedichten seine erste Erzählung „ßjürger“. 1 Der Schusterei wurde
er bald müde und führte dann durch etwa zehn Jahre ein sehr Wechsel -
1} Vgl. John Landquist: „Knut Hamsun, En Studie Över en nordisk romantisk
diktarc.“ Albert Bonniers Forlag, Stockholm 1917* — Die Erzählung war mir nicht
zugänglich.
Ein Gespenst aus der Kindheit Knut Hamsuns
557
volles Leben, Er war Kohlenarbeiter, Schullehrer, Polizeibediensteter, Stein*
hauer, Straßenarbeiter in Norwegen; ging dann nach Amerika, war Straßen*
bahnschaffner in Chikago, Fischer in Neufundland, Bodenarbeiter auf den
Prärien des Westens, hielt literarische Vorträge usw, Mit seinem ersten
Roman „Hunger“ wurde Hamsun, etwa achtundzwanzigjährig heimgekehrt,
mit einem Schlage berühmt. Vor fünfzehn Jahren kaufte er einen Bauernhof
und ist als Landwirt tätig, soweit ihm seine literarische Arbeit Zeit läßt.
Er lebt zurückgezogen mit Frau und Kindern und erhielt bekanntlich den
Nobelpreis für Literatur.
Eine Kindheitserinnerung Hamsuns
Meine Bemühungen, Ausführlicheres über das Leben Hamsuns zu er¬
fahren, blieben also erfolglos; auch in Norwegen weiß die Öffentlichkeit
nicht viel darüber, denn der Dichter ist Auskünften abhold. Hamsun hat
aber 1898 im „Norsk Familie-Journal“ eine Skizze „Ein Gespenst“ ver¬
öffentlicht, welche auch in seine übersetzten Werke aufgenommen wurde,
und die als eine bedeutsame Kindheitserinnerung zu werten ist, um so mehr,
als ausdrücklich gesagt wird: „Was ich jetzt erzähle, ist wörtlich wahr.“
Sie sei mit unwesentlichen Weglassungen hier wiedergegeben :
„Mehrere Jahre meiner Kindheit verbrachte ich bei meinem Onkel auf
dem Pfarrhof. Es war eine harte Zeit für mich, viel Arbeit, viele Prügel und
selten oder niemals eine Stunde zu Spiel und Vergnügen. Da mein Onkel mich
so streng hielt, bestand allmählich meine einzige Freude darin, mich zu ver¬
stecken und allein zu sein; hatte ich ausnahmsweise einmal eine freie Stunde,
so begab ich mich in den Wald oder ich ging auf den Kirchhof und wanderte
zwischen Kreuzen und Grabsteinen umher, träumte, dachte und unterhielt mich
laut mit mir selber 1 . . . . Ich fand oft Knochen und Haarbüschel von Leichen
auf den Gräbern, die ich dann wieder in die Erde eingrub, wie es der Toten¬
gräber mich gelehrt hatte. Ich war so hieran gewöhnt, daß ich kein Grausen
empfand, wenn ich auf diese Menschenreste stieß. Im Leichenkeller saß ich
gar manches Mal, spielte mit den Knochen und bildete aus dem zerbröckelten
Gebein Figuren auf dem Boden.
Eines Tages aber fand ich einen Zahn auf dem Kirchhof. Es war ein Vorder¬
zahn, schimmernd weiß und stark. Ohne mir weiter Rechenschaft davon ab¬
zulegen, steckte ich den Zahn zu mir. Ich wollte ihn zu etwas gebrauchen,
irgendeine Figur daraus zurecht feilen. Ich nahm den Zahn mit nach Hause . , .
1) Zum Tagträumen der (späteren) epischen Dichter vgl, Freud: „Der Dichter
und das Phantasieren^ (Ges. Schriften, Bd. X); Hitschmann: „Gottfried Keller^
(Internationale Psychoanalytische Bibliothek, Bd. VII), sowie die Arbeiten über Wasser¬
mann und Bauthendey (Imago, Bd. I, IV und IX).
22
Imago XII
33«
Eduard Hitschmann
In der Gesindestube war kein Licht und ich war ganz allein. Ich wagte
nicht ohneweiters die Lampe anzuzünden, ehe die Knechte hereinkamen; aber
mir genügte das Licht, das durch die Ofenklappe fiel, wenn ich tüchtig heuer
anmachte. Ich ging deshalb in den Schuppen hinaus, um Holz zu holen. Als
ich mich im Dunkel nach dem Holz vorwiirts tastete, fühlte ich einen leichten
Schlag wie von einem einzelnen Finger auf dein KopTe. Ich wandte mich hastig
um, sah aber niemand. Ich schlug mit den Armen um mich, fühlte aber nie¬
mand. Ich fragte, ob jemand da sei, erhielt aber keine Antwort. Ich war bar¬
häuptig, ich griff nach der berührten Stelle meines Kopfes und fühlte etwas
Eiskaltes in meiner Hand, das ich sofort wieder loslieü . . . Ich griff wieder
nach dem Haar hinauf — da war das Kalte weg. Ich dachte: Was mag das
wohl Kaltes gewesen sein, das von der Decke herunter fiel und mich auf den
Kopf traf? Ich nahm einen Arm voll Holz und ging wieder in die Gesinde-
Stube, heizte ein und wartete, bis ein Lichtschein durch die Ofenklappe fiel.
Dann holte ich den Zahn und die Feile hervor.
Da klopfte es ans Fenster. Ich sah auf. Vor dem Fenster, das Gesicht fest an die
Scheibe gedrückt, stand ein Mann. Er war mir ein Fremder, ich kannte ihn nicht,
und ich kannte doch das ganze Kirchspiel, Er hatte einen roten Vollbart, eine
rote, wollene Binde um den Hals und einen Südwester auf dem Kopfe. Ich sah
das Gesicht mit erschreckender Deutlichkeit, es war bleich, beinahe weil), und
seine Augen starrten mich gerade an. Es vergeht eine Minute, Da fängt der Mann
an zu lachen ... In der ungeheuren Mundhöhle des lachenden Gesichtes ent¬
deckte ich plötzlich ein schwarzes Loch in der Zahnreihe — es fehlte ein Zahn *, ,
Das Gesicht fing an Farbe anzunehmen, es wurde stark grün, dann wurde es
stark rot. Das Lachen aber blieb ... Da senkte der Mann den Kopf herab,
immer weiter . , als glitte er in die Erde hinein. Ich sah ihn nicht mehr.
Meine Angst war entsetzlich . . ., ich suchte auf dein Fußboden nach dem
Zahn . . . Als ich den Zahn gefunden hatte, wollte ich ihn gleich wieder nach
dem Friedhof bringen, hatte aber nicht den Mut dazu . , , Auf den Hof hinaus-
gekommen, war ich indes kühner geworden und ich beschloß, allein nach dem
Friedhof hinaufzugehen; dadurch würde ich es auch vermeiden, mich jemand
anzu vertrauen und dann später in des Onkels Klauen zu geraten. Den Zahn
trug ich in meinem Taschentuch, An der Kirchhofspforte sinke ich plötzlich
glatt auf die Knie, Ein Stück jenseits der Pforte stand mein Mann mit dem
Südwester, Er zeigte vorwärts, nach dem Kirchhof hinauf. Ich sah dies als
Befehl an, wagte aber nicht zu gehen; ich flehte ihn an und er stand unbe¬
weglich und still da. Dann erhob ich mich, trat durch die Pforte, der Mann
glitt über die Gräber hin . , . Mit zitternder Hand nahm ich den weißen Zahn
und warf ihn mit aller Macht auf den Kirchhof und stürzte nach Hause. Das
Alter des rotbärtigen Mannes kann ich nicht einmal ungefähr angeben* Er
konnte zwanzig Jahre alt sein, er konnte auch vierzig sein.
Manchen Abend und manche INI acht kam der Mann wieder . . . Meine
haarsträubende Angst vor ihm nahm ah, aber er machte mein Leben unglück¬
lich bis zum Übermaß. — Den nächsten Winter stellte er sich wieder ein,
nur einmal; dann blieb er lange Zeit fern. Als ich nach drei Jahren in das
Ein Gespenst aus der Kindheit Knut Hamsuns
359
Nordland zurückkehrte, konfirmiert und groß, wohnte ich nun nicht mehr bei
meinem Onkel auf dem Pfarrhof, sondern daheim bei Vater und Mutter.
Eines Abends zur Herbstzeit, als ich gerade schlafen gegangen war, legte
sieh eine kalte Hand auf ineine Stirn, Ich schlug die Augen auf und erblickte
den Mann vor mir. Er saß auf meinem Bett und sah mich an . . . Als ich
den kalten Druck gegen meine Stirne fühlte, schlug ich mit der Hand um
mich und sagte: Nein, geh’ weg! Meine Geschwister fragten aus ihren Betten,
mit wem ich spräche.
Als der Mann eine Wehe still gesessen hatte, fing er an, sich mit dem
Oberkörper hin und her zu wiegen. Dabei nahm er mehr und mehr an Größe
zu, schließlich stieß er beinahe an die Decke und da er offenbar nicht weiter
kommen konnte, entfernte er sich mit lautlosen Schritten von meinem Bett,
durch das Zimmer, nach dem Ofen, wo er verschwand ... Er war mir noch
nie so nahe gewesen wie diesmal; sein Blick war leer und erloschen, er sah
zu mir hin, aber gleichsam an mir voriiher, quer durch mich hindurch, weit
in eine andere Welt hinein . . . Einige Monate später, als es Winter geworden
und ich wieder von zu Hause gereist war, hielt ich mich eine Zeitlang bei
einem Kaufmann W, auf. Hier sollte ich meinem Mann zum letztenmal be¬
gegnen.
Ich gehe eines Abends auf mein Zimmer hinauf, zünde die Lampe an und
entkleide mich. Ich will wie gewöhnlich meine Schuhe hinausstellen, da steht
er auf dem Gang, dicht vor mir, der rotbärtige Mann.
Ich weiß, daß Leute im Nebenzimmer sind, daher bin ich nicht bange.
Ich murmele: Bist du nun schon wieder da. Gleich darauf öffnet der Mann
seinen großen Mund wieder und fängt an zu lachen. Dies machte keinen er¬
schreckenden Eindruck mehr auf mich; aber diesmal wurde ich aufmerksamer:
Der fehlende Zahn war wieder da!
Er war vielleicht von irgend jemand in die Erde hineingesteckt worden,
Oder er war in diesen Jahren zerbröckelt, hatte sich in Staub aufgelöst und
mit dem übrigen Staub vereint, von dem er getrennt gewesen war. Gott allein
weiß das!
Der Mann schloß seinen Mund wieder, ging die Treppe hinab, wo er tief
unten verschwand.
Seither habe ich ihn nie wieder gesehen-
Dieser Mann, dieser rotbärtige Bote aus dem Lande des Todes, hat mir
durch das unbeschreibliche Grausen, das er in mein Kinderleben gebracht,
viel Böses getan.
Ich habe seither mehr als eine Vision gehabt, mehr als einen seltsamen
Zusammenstoß mit Unerklärbarem — nichts aber hat mich so tief ergriffen
wie dies.
Und doch hat er mir vielleicht nicht ausschließlich Schaden zugefügt, dieser
Gedanke ist mir oft gekommen. Ich könnte mir vorstellen, daß er eine der
ersten Ursachen gewesen ist, durch die ich lernte, die Zahne zusammenzu-
beißen und mich hart zu machen. In meinem späteren Leben habe ich hin
und wieder Verwendung dafür gehabt.
34« Eduard Hitschmann
Psychoanalytische Deutung des Gespenstes
Diese wahrheitstreue Geschichte Hamsuns vom Gespenst seiner Jugend
liegt nun zur Deutung vor, und Abergläubische, die an die Wiederkehr
Toter glauben, mögen sich damit begnügen, daß hier die materialisierte
Seele oder der Astralleib eines Verstorbenen solange mahnend wiederkehrt,
bis die arme Seele nach Jahren, durch Wiedererlangung des seinerzeit vom
Friedhof geraubten Zahnes ihre Ruhe hat* Daß das Gespenst ans Fenster
klopft, kalt berührt, lacht und lockt, sich aufs Bett setzt und bis zur Decke
heranwächst — „Boten des Todes“ können allesI Es ist eben ein „Spuk“,
freilich nicht ganz an einen Ort gebunden und nur dem Schuldtragenden
wahrnehmbar, Hamsun selbst entscheidet sich nicht, ob er es eine Vision
oder einen Zusammenstoß mit dem Unerklärlichen nennen soll.
Ich habe schon einmal mystische Erlebnisse eines Dichters, dem sich
der herannahende und eingetretene Tod seines Vaters aus der fernen,
deutschen Vaterstadt bis nach Paris hin durch seltsame Wahrzeichen verriet,
analysieren und wissenschaftlich nüchtern deuten können. 1 Ich mußte dem
Dichter Dauthendey eine gesteigerte halluzinatorische Fähigkeit zusprechen,
und muß sie auch für Hamsun in Anspruch nehmen. Der Roman „My¬
sterien“ bringt zahlreiche Beweise dafür. Im übrigen komme ich ohne jede
Annahme mystischer Kräfte nicht nur zu einer plausiblen Deutung, sondern
indirekt in Besitz des Schlüssels, der den Zugang zum Verständnis der wich¬
tigsten Motive der Werke Hamsuns, ihrer Eigenheiten und Dunkelheiten
eröffnet, so wie zur Kenntnis der Triebgrundlagen seiner Persönlichkeit.
Obwohl der Knabe von Friedhof und Totengräber, umherliegenden
Leichenteilen, sowie dem Aufenthalt im Leichenkeller durch Gewohnheit
gar nicht mehr sonderlich berührt wurde, bewirkte das Wegnehmen jenes
großen Zahnes vom Friedhof — wie wir später sehen werden, auf bereit¬
liegende Angst- und Schuldgefühle stoßend — jene aufregende gespenstische
Erscheinung, Der tote Verlustträger erscheint wahrhaftig, lockt auf den
Friedhof hinaus, lachend seine Zahnlücke vorweisend. Jahrelang kommt das
Gespenst wieder, um eines Tages, wieder im Besitze des verlorenen Zahnes,
für immer zu verschwinden.
Erst wenn wir die ärztliche Erfahrung über gar nicht seltene Angst¬
zustände bei Knaben ähnlichen Alters heranziehen, welche namentlich
abends und nachts beängstigende Männergestalten in Halluzinationen vor-
1) „Ein Dichter und sein Vater“, Imago, IV. Bd., und „Telepathie und Psycho¬
analyse“, Imago, IX. Bd.
Ein Gespenst aus der Kindheit Knut Hamsuns
341
führen, sind wir imstande, das Gespenst des kleinen Hamsun zu entwerten.
Diese halluzinatorischen Angstzustände sind durch Freuds Forschungen
gedeutet worden: Sie sind Ausdruck von Schuld- und Angstgefühlen, welche
dem Entmannungskomplex (Kastrationskomplex) entspringen, der
hier nun mit einigen Worten charakterisiert werden soll.
Es handelt sich, wie bei dem jedem allgemein Gebildeten nunmehr ge¬
läufigen Ödipus-Komplex, auch hier um einen dem Bewußtsein fernliegenden,
daher zunächst Unglauben und Ablehnung hervorrufenden Komplex von Ge¬
danken, Gefühlen, Annahmen usw., der aus der Kindheit stammt und wohl
auch einen phylogenetischen Anteil hat. *
Der anatomische Unterschied des äußeren Geschlechtsorganes bei Knaben
und Mädchen kann den meisten Kindern nicht lange verborgen bleiben
und erregt ihre Phantasie sehr. Das Fehlen beim weiblichen Wesen —
welches „dort nichts hat“, — erscheint als Minderwertigkeit und wird
vom Kinde oft durch Verletzung, Weggeschnitten sein, Abgefaultsein u. dgl.
gedeutet, Schuldgefühle, aus dort verbotenen Selbstberührungen und feind¬
seligen Gefühlen {Ödipus-Komplex) abgeleitet, durch elterliche oder er¬
zieherische Kastrationsdrohungen gefördert, — lassen diesen Verlust als
Strafe ausgelegt werden. Und da dem Knaben direkte Ahnungen der großen
Bedeutung dieses Organs vorschweben, als wüßte er um dessen Bedeutung
für die Erhaltung der Art, tritt eine Angst um dieses Organ hervor, die
hohe Grade annehmen kann. Kastration, Verlust, Austauschbarkeit, Nach¬
wachsen des Gliedes sind im Unbewußten, in Traum und Neurose häufige
„Tatsachen“. Im Konnex mit dem Ödipus-Komplex ist es der Vater zumeist,
der das Glied zu bedrohen scheint, und die eifersüchtige Feindschaft des
Sohnes phantasiert aus Revanche die Kastrierung des bösen Vaters. Un¬
bewußt bleibende oder alsbald verdrängte grausame Phantasien, die gegen
den, natürlich auch geliebten, Vater gerichtet sind, bedrücken das Gewissen
und bringen neuerlich Angst, ebendort bestraft zu werden, hervor. Straf¬
angst und Entmannungsangst erfahren innige Verlötung, die Entmannung
ist im Unbewußten das Urbild aller Verwundung, aller Operation, jedes körper¬
lichen Defektes, jeder diminutio capitis , jeder Erkrankung, des Sterbens
sie ist auch ein Ersatz des Tötens, — des Alterns usw. Da der Schautrieb
es war, der den Geschlechtsunterschied entlarvte, ist Betasten, Beschauen,
Kastrieren — eine Reihe. Da aber die Entmannung weiblich macht, be¬
stehen innige Beziehungen zum Thema der Gleichgeschlechtlichkeit. Und in
Stimmungen und Phantasien, in denen der kleine Knabe geneigt ist, dem
Vater die Mutter zu ersetzen, ihm sich nach Auflehnung nun weiblich
“
54 2
Eduard Hitschmunn
zu fügen, finden wir den Wunsch nach Kastration, statt der Angst davor*
Eine Anzahl von Mädchen kann sich mit dem „Dort-nichts-Haben 4 * nicht
versöhnen* Sie früh vom Besitz und Wert ihres inneren, docli so wertvollen
Geschlechtsorganes zu überzeugen, ist unmöglich: ein unüberwindliches
Hindernis vollständigerer sexueller Aufklärung* Das benachteiligte kleine
Mädchen entwickelt daher oft Neid und Groll gegenüber den Knaben,
„den Männlichkeitskomplex“ des weiblichen Geschlechtes* Männlich sein
wollen, sich emanzipieren, dem Manne nacheifern, ihn bekämpfen, ent¬
täuschen, kastrieren wollen, ist in extremeren Fällen das seelische Resultat;
geschlechtliche Kälte, krampfhaft unwillkürliches Verhindern der Defloration
die pathologische Folge* Die, soviel häufiger als der Mann, frigide impotente
Frau hat es dann leicht, sich gegenüber der regelmäßig wiederkehrenden
sexuellen Forderung des Mannes zu verweigern* In der Sprache des Un¬
bewußten, in Mythos, Volkswitz, Traum und Neurose finden wir das Objekt
der Entmannung, — wie sie hier gemeint ist: Verlust des männlichen
Gliedes — verhüllt in verschiedensten Symbolen wieder: als Auge, Finger,
Zehe, Nagel, Fuß, Hand, Extremität, Nase, Ohr, oberen Schneidezalm, Kopf,
Haare u, a* Statt des Kastrationsaktes erscheint Abschneiden, blutiges Köpfen,
Verwunden, Verlieren, Ab- und Hinunterfallen, Zahnausfällen, Vermodern,
Wundsein u* v. a* Der Amputierte, Hinkende, Geköpfte, Verletzte, Erblindete
ist der Entmannte. — Wir müssen uns die Beschränkung auferlegen,
die grundlegenden psychologischen Folgen des Entmannungskomplexes für
Kränkung der Selbstliebe (Narzißmus), für Minderwertigkeitsgefühle sowie
Schuldgefühle hier wegzulassen* Die Beziehung zwischen Sohn und Vater oder
Vater-Imagines behält leicht fürs ganze Leben Empfindlichkeit und Ambivalenz.
Der die Kastration an sich Anerkennende ist feminin, fühlt sich nament¬
lich dem Weibe gegenüber minderwertig; von der Vorstellung des über¬
legenen Liebesknnkurrenten kommt er nicht los* Liebeshemmung, Eifer¬
sucht, Unsicherheit, Empfindlichkeit machen Lieben und Geliebt werden
zum selig-unseligen Problem.
Gehen wir jetzt an die Deutung des gespenstigen Erlebnisses des Knabens,
so sei vorher noch auf seine berechtigte Realangst vor dem strengen,
gewalttätigen Ziehvater hingewiesen* Unter Anwendung der Freudschen
Traumdeutungstechnik ist der gespenstige Mann als dieser Ziehvater
(offenbar zusammen geflossen mit dem eigenen Vater) zu erkennen: die
speziell hervorgehobene Fremdheit des Rothaarigen und die Verwischtheit
seines Alters lassen ihn zwingend als verhüllenden Ersatz des Allernächsten
deuten.
Ein Gespenst aus der Kindheit Knut Hamsuns 345
Die Berührungen des Kopfes sind als solche des Genitales auszulegen
(Kopf — ein Genitalsymbol). Daß die Gestalt am Bett des Knaben sit2t und
ins Übergroße wächst, zeigt das Gespenst als Mann mit Erektion dem
feminin empfindenden Knaben gegenüber. Daß der Konflikt zwischen Sohn
und Vater (Ziehvater) sich um das Wegnehmen des Zahnes schürzt, bedeutet
nichts anderes, als Angst des Sohnes vor Kastration (Sterbenmüssen), als
Strafe für den Zahnraub (= Kastration) am Vater (Ziehvater). Die Hervor¬
hebung der ungeheuren Mundhöhle, des schwarzen Loches in der Zahnreihe,
entsprechen regressiver Verschiebung des Entmannungsortes und -Objektes
auf den Mund (orale Kastration). Man beachte auch den vorletzten Satz der
Kindheitserinnerung, der vom „Zähne zusammenbeißen und sich hart machen
handelt, also noch außerhalb der Halluzinationsschilderung die Zähne und
das Beißen als Symbole der Kraft behandelt.
Die halluzinierende Angst des künftigen Dichters entspricht in voller Ana¬
logie ähnlicher Angstzustände bei Knaben — oft ist ein Tier das Angst¬
objekt — der Angst vor der Kastration durch den Vater, aus
Schuldgefühl über Haß gegen den zu liebenden, auch geliebten Vater,
entspringend aus der feindseligen Ödipus-Einstellung, entladen als Weg¬
nahme des Zahnes, d. i. eines typischen Symboles für das männliche
Organ. Genauer genommen handelt es sich um die Angst, vom Vater gefressen
zu werden, eine Vorstellung, die auch „der regressiv erniedrigte Ausdruck
für eine passive zärtliche Regung ist, die vom Vater als Objekt im Sinne
der Genitalerotik geliebt zu werden begehrt. Die genitale Regung verrät
freilich nichts mehr von ihrer zärtlichen Absicht, wenn sie in der Sprache
der überwundenen Übergangsphase von der oralen zur sadistischen Libido
Organisation ausgedrückt wird.“ 1 Außer der feindseligen Regung gegen den
Vater ist auch verdrängt die zärtlich passive Regung für den Vater,
die bereits das Niveau der genitalen (phaBischen) Libidoorganisation erreicht hat.
Die Deutung des entsetzlichen Grausens vor dem Gespenst und der
schüttelnden Todesangst des Knaben Hamsun setzt unbewußte Schuldgefühle
im Sinne des Entmannungskomplexes voraus und gerade der Zahn, als ein
typisches Symbol für das kastrierte männliche Organ, macht diese Annahme
noch zwingender. Die weiteren Beweise aber für diese gewagt erscheinende
Behauptung erbringe ich im folgenden aus den Werken Hamsuns.
Die Annahme, daß der Knabe, aus dem spater der große Dichter werden
sollte, auf den Zahnraub hin an jenen Angsthalluzinationen erkrankte, —
1) Freud: „Hemmung, Symptom und Angst“, 1926,
544
Eduard Hitschm&nn
freilich selbst seine Vorstellungen als Wahrnehmungen auslegte —
setzt voraus, daß er um jene Zeit die eigene Kastration, etwa durch den
strengen Onkel an Vater Statt fürchtete, weiters von Phantasien einer
Kastration an jenem erfüllt war. Es ist der Erwartung Raum zu geben, daß
die Werke Hamsuns das Thema der Entmannung, insbesondere aber sein
dichtendes Unbewußtes die Symbolik von Kastration und Kastrationsobjekt in
auffallendem Umfange aufwoisen; daß der Schneidezahn hier nicht fehlen
darf, ist klar. Feindselige Einstellung gegen die Vater der Dichtung, in
ihrer Form wieder auf Entmannung hindeutend, ist gleichfalls zu er¬
warten. Als Voraussetzung aber eines mächtigen Erlebthabens des Ent¬
mannungskomplexes müssen wir die Zeichen einer starken Liebesfixierung
an die Mutter erwarten, ferner Wiederkehren des eifersuchtserfüllten Ödipus-
Ureiecks u. dgl. ferner wäre eine Voraussetzung eines besonders intensiven
Entmannungskomplexes; Veranlagung zu Grausamkeit und Leidensfreudig¬
keit. Endlich erfordert unsere Annahme besonderer halluzinatorischer Fähig¬
keit des Knaben Hamsun den Nachweis, daß er dem visuellen Typus zu¬
gehört, sein Schautrieb besonders ausgebildet war.
Kastration und Kastrationssymbolik in Hamsuns
Werken
Hamsuns Roman «Die Weiber am Brunnen“ inacht einen durch
einen Unfall entmannten und zugleich hinkend gewordenen Matrosen zu
seinem Mittelpunkt. Der Roman, eine Satire auf den trotzdem kinderreichen,
also oft betrogenen Ehemann, eine meisterhafte Schilderung des Verfalls
eines Kastraten an Charakter und Energie — schließt charakteristisch genug
mit folgendem in dreifachem Bilde symbolischen Sulz: „Kleines und
Großes geschieht, ein Zahn fällt aus einem Munde, ein Mann
aus den Reihen heraus, ein Sperling auf die Erde herunter.“
In „Hunger“ verliert der leidende Held seinen Appetit beim Anblick
einer f rau, die nur einen ganz vorn sitzenden Zahn hat; „der lange, gelbe
Zahn sah aus wie ein kleiner Finger, der aus dem Kiefer ragte.“
In „Letztes Kapitel“ verletzt sich die Heldin das Kinn, einer von ihren
Zahnen ist abgebrochen. Der Frau des Magnus stehen ein Paar Schneide-
zähne schief, der eine etwas vor dem anderen.
I* 1 «Mysterien“ berichtet der psychopathische Johann Nagel von einer
dem Gespenst in Hamsuns Kindheitserinnerungen ähnlichen abendlichen
Ein Gespenst aus der Kindheit Knut Hamsuns
Männererscheinung, bleich und rotbärtig. Da die Uhr zwölf schlägt, steht
das Gespenst neuerlich wieder greifbar da und lacht: „Zwei Vorderzähne
fehlten ihm,“ 1
Zahnverlust und Zahndefekt sind bekannte Entmannungssj'mbole. 2 Bei
gewissen primitiven Völkern werden an Stelle der Beschneidung des Gliedes
die mittleren oberen Schneidezähne ausgebrochen (Pubertätsriten). Ich füge
aus Erfahrung aus Psychoanalysen Kranker als neu hinzu, daß auch die
sogenannte Hasenscharte, gleichfalls ein medianer Munddefekt, zur Kastra¬
tion ssymbolik geeignet ist. In „Segen der Erde“ spielt die Hasenscharte als
besonders beschämende Entstellung mehrfach eine große Rolle.
Überwältigend ist das Symbolikmaterial für Kastration, ausgedrückt durch
Verletzung von Finger, Hand, Fuß oder Bein (Hinken). In der Erzählung
„Zachäus" verliert die Titelfigur zwei Glieder eines Fingers durch die
Mähmaschine und konserviert sie in ÖL Der ihm gehässige Koch stiehlt
die Flasche und setzt dem Zachäus, mit Tunke zuibereitet, den eigenen
Finger als Mittagessen vor. Dieser erkennt denselben erst, nachdem er eine
Seite abgenagt hat und tötet den Koch aus Rache. In „Hunger“ beißt der
Hungernde in den eigenen Finger, bis er blutet; eine breit ausgeschmückte
Begegnung mit einem Hinkenden spielt ebenfalls hier eine Rolle, In „Pan“
schießt sich Glahn in seinen Fuß, aus Eifersucht auf einen hinkenden Be¬
werber um das gleiche Mädchen (Selbstverstümmlung). In der Novelle „Weih¬
nachtsschmaus"* stürzt der von der Bäuerin geliebte Knecht — trunken
gemacht, weil er sie verleugnet — vom Dach und bricht ein Bein. In
„Mysterien“ hinkt der arme Minute» gleichfalls nach einem Knochenbruch.
In der Skizze „Auf der Prärie“ werden einem Irländer beide Beine durch
Überfahren abgetrennt. Absichtliche und unabsichtliche Fuß-, Hand-,
Finger- und Fingernagel Verletzungen finden wir gehäuft in „Letzte Freude“
und „Letztes Kapitel“. Die verliebten Damen betrachten mit lüsterner
Freude den verletzten Finger oder geben ihm einen neuen Verband. In
i) Hier hat der Dichter sein Kindheitsgespenst wenig verändert im Roman auf-
treten lassen. Wesentlich entstellt ist das Thema der beraubten Leiche auf dem Fried¬
hof in „Herbststerne“ literarisch verwendet Knut Pedersen hat dort einen Daumen-
nagel vom Friedhof weggetragen, um ihn auf eine kunstvolle Tabakspfeife als Schmuck
in setzen, ihn übrigens wieder weggeworfen. Im Traum erscheint ihm eine Frauen¬
leiche und zeigt ihren Daumen mit fehlendem Nagel, Er erwacht voll Angst in
Schweiß gebadet und sieht die Leiche ganz langsam verschwinden. Seinen warnenden
Arbeits- und Bettgenossen verlacht FedersemHamsun wegen seines Aberglaubens:
„sein Standpunkt sei von der Wissenschaft aufgegeben worden.“
a) VgL Freud: „Traumdeutung“ (Ges. Schriften, Bd. TF u. III) und Sugdr: „Die
Rolle des Zahnreizmotivs bei Psychosen“ (Int. Ztschr, f. PsA. XII, ig26, H. i.)
34 6
Eduard Hitschmann
„Letztes Kapitel“ laboriert ein Aussätziger besonders an seinem nicht heilen
wollenden Finger, Sind Finger und Hand Symbole für das verlierbare Glied*
so werden sie anderseits auch zum Fetisch, Die Hände können eine Phy¬
siognomie tragen. „Daß der Ausdruck der Hände etwas mit dem Geschlecht
zu tun hat* daß er Keuschheit, Indifferenz oder Trieb erkennen läßt“ („Letzte
Freude“), gehört daher indirekt auch zum Entmanaungskomplex. In „Pan“
hat Rdvardas Daumen „einen keuschen Mädchenauedruck“ und wirkt zärtlich.
„Die paar Falten auf dem Gelenk waren voll Freundlichkeit,“ Tatsächlich
ergibt die Kraiikenanalyse, daß der Fußfetischmus z* B. mit dem Kastra-
tiönskomplex im engsten Zusammenhang steht („Penis der Frau“).
Wir finden in Hamsuns Werken ferner häufig als symbolischen Ersatz
der Entmannung — das Köpfen. Solcm köpft, offen grausam genießend,
die zu schlachtenden Hühner („Letzte Freude“)* und in krassester Weise
erscheint die bildliche Kastration in der Novelle „Frauensieg“. Die treu¬
lose Gattin läßt durch den bestochenen Fahrer der Straßenbahn — neben
diesem sitzend — dem Gatten, der eben, seiner verratenen Absicht ent¬
sprechend, aus einer Versenkung den Kopf heraussteckt, denselben abreißen!
Die Skizzen des zwangsneurotischen Dichters öjen („Neue Erde“) be¬
handeln mit Vorliebe das Köpfen. In „Viktoria“ heißt es: „Die Liebe ver¬
dunkelt den Verstand der Prinzessin. Sie wirft den Kopf des Königs auf
den Weg und läßt ihn dabei schamlose Worte vor sich hinflüstem und
lachen und die Zunge herausstrecken*“ In einem Traum Johannes* kommt
neben einer blutenden Orgel, blinden und toten tanzenden Greisen und einem
großen bellenden Fisch ein auf dem Wege datrinrollender Kopf vor, der
tage- und nächtelang vor ihm herrollt, in die Erde schlüpft und sich ver¬
steckt. Als letztes Symbol für Kastration wählen wir das Auge und erinnern,
daß in „Viktoria“ der eifersüchtige Bräutigam dem Jugendgeliebten ins
Auge schlägt, das sich lebhaft rötet. In einer kleinen Vorgeschichte in „Ge*
dampftes Saitenspiel“ wird dem sechzigjährigen „Herrn“, der ein Mädchen
mißbraucht hat, von dessen eifersüchtigem Liebsten ein Auge aus-, dann der
Schädel eingeschlagen*
Diese ermüdende Aufzählung von Kastrutionssyrnbolcn macht keinen An¬
spruch auf Vollständigkeit; sie muß wenigstens noch ergänzt werden durch
Hinweis auf die breit behandelte Erfindung einer primitiven Sagemaschine
in „Unter Herbststernen“, Aus Krankenbeobachtungen ergibt sich mir
nämlich, daß solches spielendes, immer verbesserndes Erfinden, namentlich
durch Unbefugte, dem Entmannungskomplex entspringt, wie ja auch in
der Traumsymbolik die Maschine das männliche Glied bedeutet. Charakte-
Ein. Gespenst aus der Kindheit Knut Hamsuns 547
ristisch schließt dieser Roman eines Alternden resigniert: „In meinem
Zimmer liegt die Maschine, ich kann sie nicht mehr aufstellen . . . Meinet¬
wegen, meine Liebe zu dieser Maschine ist abgestumpft.
Zum Schlüsse sei darauf verwiesen, wie der Dichter, wo er sich
als Fünfziger narzißtisch darstellt („Saitenspiel“, „Letzte Freude“), sein Er¬
grauen und Altern elegisch betrauert. „An mir“, heißt es, „hat die Zeit
gezehrt, ich bin dumm geworden und verblüht und gleichgültig, jetzt seid
ich eine Frau an wie Literatur. Das ist das Ende. Was dann? Alles muß
ein Ende haben. Zu Anfang dieses Zustandes hatte ich das Gefühl, als
habe ich etwas verloren, es war, als sei ich von einem Taschendieb
bestohlen worden.“ Ein unzählbar oft wiederkehrendes Motiv in Hamsuns
Werk ist das (frühe) Ergrauen, auf Leiden beruhend. Dem aus dem
früher Ausgeführten sich ergebende Motiv des Kör per defekt es wäre ferner
hinzuzufügen ein reichlich zu belegendes Motiv der defekten Kleidung.
Die Entmannung der Väter
(Altern und Verarmen)
Als Typus der Vaterfiguren 1 Hamsuns mag uns zunächst der Kauf¬
mann Mack auf SirUund Modell stehen. Wie bei vielen anderen Gestalten
wird auch sein Schicksal durch mehrere Romane verfolgt; in „Pan“, „Benoni“
und „Rosa“ ist er sozusagen der Mittelpunkt. Angesehen, reich, mächtig,
herrscht er über die anderen, lenkt ihr Schicksal. Er ist Witwer mit
einer Tochter und findet die Befriedigung seiner Geschlechtlichkeit bei seinen
Mägden u. dgl., zu denen seine heimlichen Wege führen. 2 Analog finden der
alte, getrennt lebende Iiolmengraa in „Stadt Segelfoß“, der Konsul Johnsen
in „Weiber am Brunnen“ die Abfuhr ihrer Lüsternheit. Leutnant Holmsen
in „Kinder ihrer Zeit“, mit der sich ihm verweigernden Gattin zerfallen,
spielt paschaartig mit seinen auscrwählt hübschen Hausmädchen, doch kommt
es bei diesem stolzen Mann nie so weit, daß er sich vergißt.
Grotesk sind Macks Bader, in denen er auf Daunenkissen liegend, von
der bevorzugten Magd bedient wird. Bei bestimmten Festgelegenheiten
1) Hie Pfarrergestalten kommen in Hamsuns Werken meist schlecht weg. Hat es
der Onkel Pfarrer verschuldet? Im Drama „Munken Yen dt“ erhebt sich ein früherer
Priesterkandidat gegen Gott, der Freude daran habe, in Not au bringen.
2) Bei dieser Gelegenheit mag das in Skandinavien weitverbreitete Gerücht er¬
wähnt werden, Hamsun sei der uneheliche Sohn einer Magd und eines der berühm¬
testen Dichters Norwegens. Nach eingeholter verläßlicher Auskunft erweist es sich
als haltlos.
3+ 8
Eduard 1 litschmann
läßt er es arrangieren» daß er die Mägde auf gestohlene Löffel gründlich
untersuchen kann. Daß er über diese Mädchen verfügt» sie verheiratet, um
alles zuzudecken, charakterisiert diese omnipotente, sadistische Sexualität
von Hamsuns Vatergestalten.
„Kaufmann Mack war mächtig genug, mit einem Menschen etwas
Gutes oder etwas Böses zu beginnen, ganz wie er wollte. Und seine Seele
war sowohl schwarz wie weiß . . * Er ist der glatte Aal in jeglichem
Handel und Wandel, 4 Haar und Bart sind gefärbt, ein Symbol für seine
Falschheit. Sein polygamisches Bett ist so berühmt wie sein Polsterbad, vier
silberne Engel schmücken es.
Mit derselben Bewunderung über ihre Tüchtigkeit und Schlauheit sind
der Väter Geschäfte» mit derselben belauschenden, votierenden Spürsucht
sind ihre sexuellen Abwege nachgezogen; sie lieben nicht, sondern sie be¬
nützen die Frauen. Aber daun läßt sie der Dichter, oft wie zur Strafe für
Gier und Unzucht altern und verarmen. Weniger bei Mack, der
nur die Hälfte seines Besitzes an Benoni verliert, — ist dieser vollständige
Abstieg geschildert, regelmäßig bei anderen Vätern, Der Kamm erharr in
„Viktoria verbrennt sich selbst mit dem feuerversicherten Schloß, um,
total verarmt, für seine Erben zu sorgen. Leutnant llolmsen kämpft er¬
folglos den Kampf seiner Rangierung; er verfällt nach dem Selbstmord
seiner Gattin, lebt in ärmlichst-unwürdigem Zustand, verschämt und stolz
dennoch, gräbt erst zum Schluß einen vergrabenen Schatz, seinem Sohn Reich*
tum verschaffend. Holmengraa, erst glänzend aufgestiegen, geht, gleichfalls
ergraut und verfallen, noch heimlich seine nächtlichen Seitenwege trollend,—
wie für diese Schuld bestraft, — zugrunde. Seine Arbeiter duzen ihn ver*
ächtlich. Der greise Paal („Letzte Freude“) wirtschaftet ab, trinkt und verfällt.
In der Erzählung „Kleinstadtleben 4 hat der Konsul mit der Gattin eines
Abwesenden ein Verhältnis, das Folgen hat. Er findet einen dunklen Ehren¬
mann, der ihn deckt, aber verliert durch das strafende Schicksal sein Ver¬
mögen und wird bankrott: „Der Konsul bankrott — wer stand da noch fest
auf den Füßen? Er war der vornehmste in der Stadt und ihr Grundpfeiler. 4
Der verheiratete und doch stets weiberbedürftige Konsul Johnsen wird
durch den Untergang seines Schiffes arm, er altert und erst sein Sohn
Scheldrup rettet» heimkommend, die Ehre der Firma, setzt die Familien¬
mitglieder wieder auf ihren rechten Platz, „stillt die Krämpfe der Stadt 4 ,
Des Vaters Haar war gelichtet» seine Augen ohne Glanz, seine Tage ohne
Frieden, die Nächte ohne Freude. „Die Lüste hatten ihn verlassen.“ („Weiber
am Brunnen.“)
Ein Gespenst aus der Kindheit Knut Hamsuns
Grausame Schilderung gelähmter, verfallener Greise, ihrer Matratzengruft
ist Hamsun genehmer Stoff. Der alte, sich gegen den Tod und den Sohn
auf bäumende Per wird so gezeigt, in krassester Weise aber das Pfründner¬
paar Mensa und Mons, verblödet und stinkend. Mons* Augen sehen wie
zwei Geschwüre aus; sein Tod wird daran erkannt, daß er, ein Stückchen
Brot in der Hand, es tagelang noch nicht gegessen hat. Mensa „plärrt
hündische Idiotien“. {„Rosa. )
Und wie beginnt der letzte Roman des nunmehr fünfundsechzig jährigen
Dichters? Daniels Vater ist Witwer geworden und hat in Saus und Braus
lebend, seinen Besitz verpraßt; der verarmte Erbe muß neu anfangen.
Wie der Dichter einerseits mit Vorliebe jene ursprünglich mächtigen,
stark triebhaften Väter regelmäßig ihr materielles und sexuelles Vermögen
verlieren läßt und grausam das Sterben der Greise abmalt, so führt er
anderseits die Soline herauf, die tüchtigen, und läßt sie ohne Scheu die
Väter absetzen („Stadt Segel foö“) oder doch ersetzen. Hamsun ist ein
Schätzer von Kraft und Jugend, und beklagt elegisch das eigene Altwerden. 1
So heißt es z. E. in „Letzte Freude“: „Ich war einmal ein ganz anderer
Draufgänger. Die Welle hat ihren Federbusch, den hatte ich, der Wein hat
seine Glut, die besaß ich . , . Ein einarmiger Mann kann noch gehen, ein
einbeiniger noch liegen ..." Doch weist er nicht jene zitternde Angst vor
der Jugend auf, wie etwa Ibsens Baumeister Solneß. Hamsun hielt einmal
in Oslo einen aufsehenerregenden Vortrag „Ehret den Jungen“. Und in
„Letzte Freude“ heißt es: „Das Alter soll nicht um seiner selbst willen
geehrt werden; es hemmt und hindert nur den Schritt der Menschheit;
auch die Naturvölker verachten das Alter und befreien sich ohneweiters
von ihm und seiner Hemmung/' Ähnlich spricht Kareno („An des Reiches
Pforten **).
Das Motiv der Eifersucht und
des geschädigten Dritten
Setzen wir voraus, daß Entmannungsangst und Entmannungsrache sich
über dem Ödipus-Liebesdreieck auf bauen, so wird es uns nicht wundern
wahrzunehmen, daß bei Hamsun überhaupt nur die Freundin, Braut, Frau
oder Geliebte eines andern geliebt, umworben wird. Meist tritt sie mit
i) Vgl. als charakteristisch auch die Titel: „Unter Herb st Sternen“ ; „der Wanderer
mit der Sordine“ (in der Übersetzung': „Gedämpftes Saitenspiel“); „Letzte
Freude“ und „Das letzte Kapitel“.
55^
Eduard Hitschmann
ihm auf oder sie gedenkt alsbald seiner Person. Durch diese Tatsache entsteht
das obligate eifersüchtige Kämpfen; durch die Eifersucht wird alles Lieben
zum Leiden, zur Leidenslusl: „Die Liebe ist hart/ Immer herrscht
Kriegszustand, „Daß man die nie bekommt, die man liebt und eigentlich
haben sollte/ ist ein oft variierter Schmerzensruf. Mord aus Eifersucht
ist an der Tagesordnung. (Solem in „Letzte Freude", Mack in „Pan", der
Mexikaner in „Herbststerne“.) In der Novelle „Auf der Rlaamandsinsel“
stößt der Eifersüchtige das Weib ins Meer, in „Björger" wird die Untreue
zu Tode gequält. Viktoria stirbt in eifersüchtiger Enttäuschung lungenkrank,
Glahn läßt sich erschießen. Auch die Frauen sind immer eifersüchtig,
Eifersucht entflammt die Liebe. Edvarda bringt aus Eifersucht auf llenoni
und Rosa in deren Heim — Ungeziefer. Charakteristischer weise sind diese
geliebten Mädchen oft mutterlos, leben mit dem verwitweten Vater; zum
mindesten bleibt die Mutter farblos im Hintergrund. Der Nebenbuhler ist
erhöht, sozusagen mächtiger, angesehener, väterlicher im psychoanalytischen
Sinn: Kapitän, Seeoffizier, Stadtherr, Baron, Doktor u. dgh So kommt ein
Dreieck zustande, an das Ödipus-Dreieck gemahnend. Nur in „Viktoria"
finden wir ein Vorspiel aus der Jünglingszeit, Johannes ist da vierzehn Jahre
alt; seine spätere Angebetete bringt schon zur ersten Begegnung Otto aus
der Stadt mit; ein zweitesmal trifft er sie in Gesellschaft Ditlefs.
Immer ist hier in der Liebes-Vision des Anbeters, Bewerbers — neben
der Angebetenen — schon einer mit älteren Rechten. Es handelt sich immer
um ein Lieben mit Schädigung eines Dritten, was Freud als typisch
für das Lieben des an die Mutter Fixierten erkannt hat. Alle angebeteten
weiblichen Wesen bei Hamsun sind in folgendem Sinne Mütter: Man muß
sie einem Mann wegnehmen, um sie zu besitzen. Eine zweite Eigenart
seiner Liebenden ist die, daß das weibliche Wesen oft stolz und zunächst
unnahbar ist und lange auf seine Entscheidung warten läßt. Sie demütigt
dadurch, ist sie doch auch sozial höher, Pfarrers- oder Großkaufmanns™
toehter; demütigt auch durch die Tatsache, daß sie schon liebt oder Verrat
übt. Sie wird in Liebes werten „Prinzessin“ oder „Königin ^ genannt. Meist
bekommt nun der Mann durch seine Tüchtigkeit, seine Leistung (Johannes,
Rolandsen, Benoni, Hoibro) die Oberhand, oder das Mädchen ist unterdes
ins Unglück gekommen: nun kann er der Stolze sein, sie zurückweisen,
jedenfalls aber, sich rächend, die Treulose demütigen. Häufig ist nun
Gelegenheit, die Geliebte eifersüchtig zu machen; ein schmerzhaft zwang¬
haftes, auch nur zum Schein Eifersüchtigmachen wird geübt; man liebt
und quält.
Ein Gespenst aus der Kindheit Knut Hamsuns 551
Jedes weibliche Wesen neigt zur Untreue, wird durch Dimenphantasie
herabgesetzt; unter jeder Liebe leidet der Mann,
Allgemein sagt einmal Johannes: „Man sagt von gewissen Frauen, daß
sie ein Ziel für ihr Mitleid suchen. Geht es dem Mann gut, so hassen sie
ihn und fühlen sich überflüssig; geht es ihm schlecht, muß er den Nacken
beugen, so brüsten sie sich und sagen: hier bin ich!"
Sehr lehrreich für den Kampf in der Ehe ist das Buch w Kinder ihrer
Zeit", Die Gattin hat dem Mann den Eintritt ins Schlafzimmer und den
Liebesakt verweigert, sie kokettiert mit arideren. Der stolze, eifersüchtige
Gatte rächt sich durch starre Kälte, bleibt fest gegen ihre demütigen Ver¬
söhnungsbitten, drängt sie fort und sie tötet sich. Ebenso handelt der
betrogene Kapitän Falkenberg gegen seine vom Liebhaber geschwängerte
Frau, Die beleidigte Liebe haßt tödlich,
Eifersucht ist der Anlaß zur Umivandlung der Liebe in Haß, Stammt
die Eifersucht zum Teil aus dem Triebleben, so geht der Haß zweifellos
auch auf die Quelle der Jeher haltungstriebe zurück. Über Umwandlung
von Liebe in Haß hat sich Freud mehrfach geäußert. 1 Eine künftige aus¬
führlichere Darstellung wird sich mit diesem Wandel der Neigung bei den
Liebenden Hamsuns genauer befassen.
Grausamkeit und Leidensfreudigkeit
Belauschen und Zuschauen
Wir können die Heftigkeit des obligaten Liebeskampfes der Eifersucht
in Hamsuns Werken und auch die Intensität seines Entmannungskomplexes
nur verstehen, wenn wir seinem ausgesprochenen Sadomasochismus ge¬
recht werden.
Finden wir blutige Grausamkeit schon in der früher gegebenen Schilderung
der Kastrationsmotive und der Kastrationssymbolik reich vertreten, so er¬
gänze ich aus Hamsuns Kindheit jene gräßlichen breitgeschilderten Quälereien
an einer zu tötenden Katze, das hingezogene Töten eines weiblichen Renn¬
tieres („Unter Tieren“). Und weiter heißt es dort: „Wir waren oft herzlich
grausam gegen die Hühner. So waren wir die reinen Künstler, wenn es
galt, sie mit Steinen und Holzscheiten zu treffen, so daß sie knapp mit
dem Lehen davonkamen und laut schrien.
1) Vgl. Freud: „Triebe und Triebschicksale“, Ges. Schriften, Bd. V, und „Das
Ich und das Es“ (ebendort, Bd. VI).
Kduiird Hitschmann
552
Überaus eindrucksvoll wird von blutrünstigen Fischern in der Schilderung
„Auf den Bänken von Neufundland“ wie folgt berichtet:
„Die Fischer hatten manchmal eine ganz unnatürliche Freude daran, die
Fische zu mißhandeln . . . Sie packten die großen Fische beim Kopf, drückten
die Finger in die weichen Augen hinein und hielten sie so in die Höhe,
indem sie geil in sich hi nein lachten und sie an sahen . , * Fines 1 ages biß
einer von den zwei Küssen in einen rohen Fisch hinein, grub die Zähne
tief in ihn hinein und hielt ihn so etwa zwei Minuten fest, indem er die
Augen dabei schloß/'
Hier handelt es sich, wie bei „Zachäus“ und dem In-den-Finger-Beißen
des Hungernden, um grausames Heißen, dessen früheste Äußerung beim Kinde
das Beißen in die säugende Brust ist (oraler Ursprung des Sadismus)/
Es fällt auf, daß in „Hunger“, dessen leidender Held einen ganzen
Band hindurch „nichts zu beißen“ hat, der Geliebten Brüste entblößt
werden, worauf sie den Wunsch äußert, dort geküßt zu werden. Ist „Hunger“
vielleicht das Epos „oraler Enttäuschung“ t? a
Sehr charakteristisch sind jene gewaltigen rächenden Meisterhiebe, knock
outs , die Hamsun so gern schildert („Schwärmer, Saitenspiel, Segelfoß, Letzte
Freude"'}: Ein starker Mann fällt um, wie vom Blitz getroffen. In „Benoni“
wird das Schweineabstechen, in „Letzte Freude“ das der Hühner mit sicht"
licher Lust am Grausamen beschrieben. Wer kann die rohen Scherze mit
dem armen Zeitungsjungen bei einem anderen Dichter finden!? Einmal
wird ihm („Neue Erde“) ein zu diesem Zweck glühend gemachtes Geld¬
stück zugeworfen, um seine Qualen lachend beobachten zu können. An
anderem Orte („Auf der Straße“, Tagebuchblatt) wirft Hamsun selbst größere
Münzen unter einen Eisenrost, der festgefroren ist, und mit Schadenfreude
schildert er des Knaben kränklichen dünnen Arm und, wie derselbe ihn
durchzwängt, sich blutig verwundet, an den Knöcheln die Haut abreißt,
und will ihn noch weiter quälen.
1) Vgl, Karl Abraham: „Psychoanalytische Studien zur Charakterbildung“ (Inter¬
nationale Psychoanalytische Bibliothek, Bd. XVI). Danach ist es der Prozeß der
Zahnbildung t der die Lust am Saugen 111 einem erheblichen Teil durch die Lust am
Beißen ersetzt. In die nämliche Periode der Entwicklung fällt die Herstellung ambi¬
valenter Beziehungen des Kindes zu Objekten der Außenwelt. Ambivalenz — Liehe
und Haß in einer Tasche — ist für gewisse Gestalten Hamsuns sehr charakteristisch.
Als Satiriker ist er „bissig“ genug,
2) Eine amerikanische Arbeit „A Psychopathologien! Study of Knut Ham¬
suns’ ,Hunger*“ von Gregory Stragncll weist ausführlich auf den Masochismus
des Helden hin und legt das sich In-den-Finger-Beißen als Kastration ans. (The
Psychoanaiytic Review 1922.)
Ein Gespenst aus der Kindheit Knut Hamsuns
555
Je genauer man zusieht, desto stärker wird der Eindruck, dem Dichter
ist der eifersüchtige Liebeskampf wichtiger, als das Ziel desselben* 1
Er erfüllt, mit feinster Kunst in Wechsel vollem Spiel dargestellt, die Seelen
der Liebenden in „Viktoria, Pan, Schwärmer, Berbststernen, Saitenspiel“,
auch in „Kinder ihrer Zeit, Benoni und Rosa, Redakteur Lymge“ u. a. Nur
zu leicht und zu rasch erkaltet das Herz des Liebenden, fühlt sich ent¬
täuscht oder betrogen — Haß erfüllt dann den Mann, Rasch schlägt
der größte Teil früherer Liebe zu grausamer Härte um. Die gefallene Frau
wird zu Tode gehetzt, „in Liebe getötet“, so Frau Holmscn, so Frau
Falkenberg. Mack arrangiert es, daß die treulose Schmiedin vom gesprengten
Felsblock erreicht wird; und wirklich liegt sie dann da „zermalmt, zer¬
schmettert, von einem Schlag zersprengt, an der Seite und über den Leib
herunter, bis zur Unkenntlichkeit aufgerissen“*
So wie demütiges und demütigendes Lieben einander folgen können,
wird es auch zu gleicher Zeit an verschiedenen Frauen erlebt. Nagel liebt
die stolze Dagny und die demütige Martha, Glahn Edvarda und Eva,
Johannes Viktoria und Kamilla,
Wiederholt schildert Hamsun Zwangssymptome, die bekanntlich mit
sadistischer Triebanlage in Zusammenhang stehen. Öjen („Neue Erde“)
zählt alle Fenster; kann nur noch gerade Ziffern zählen, zwei, vier, sechs;
und leidet an zwanghafter Angst, einen Gegenstand zu verlieren (Knöpfe,
Zwicker). Er wettet mit sich selbst nm gewaltige Summen: Geht er eine
unbekannte Treppe hinauf, so hat er gewonnen, wenn es sechzehn, ver¬
loren, wenn es achtzehn Stufen sind. Der „Selbstmörder“ („Letztes Kapitel“),
der immer die Ausführung verzögert, entpuppt sich als Gedankenmörder
seiner treulosen Frau und des Liebhabers. Kaum ein anderer Dichter weist
den Todes- (Destruktions-) Trieb in solchem Grade auf. Im letzten Roman
„Das letzte Kapitel“ werden die Besucher eines Sanatoriums gleichsam
zum Schießstand einer Treibjagd versammelt, satirisch abgemalt und
dann zumeist sterben gelassen, das Sanatorium verbrennt wie Sodom und
Gomorra.
Schmerzlust und Leidensfreudigkeit, der gegen sich selbst gerichtete
Sadismus, blüht bei Hamsun gleichfalls; das Material ist überfließend!
1) Es handelt sich hier vielfach weniger um die Sexualbefriedigimg, als um das
Geliebt werden als Ich-Ziel: das Vollgenommen werden als Überwindung dunklen
Minderwertigkeitsgefühls (der Kastrimheit); daher auch die übergroße Empfindlich¬
keit des Liebenden.
Imago XII.
23
Eduard Hltschmann
354
„Hvrnger“ ist eine Leidensdarstelhmg durch einen ganzen Band, 1 2 Selbst¬
mord ist häufig genug; Glahn und Solem und der Hungernde verwunden
sich selbst, Rolandsen („Schwärmer“) verleumdet und verbannt sich selbst,
Minute ist ein exquisiter Dulder, der zum Schluß sich an Martha in bösen
Instinkten vergeh t. Wenn die Geliebte als Reiterin erscheinl iktoria , „Rosa ),
wirkt sie dauernd. Der sausende Hieb der Feilsche einer Dame macht dem
Gezüchtigten einen blutroten Streif im Gesicht; „Sie haben mich geschlagen,“
sagte er, „aber das tut nichts. Wiederholen Sie es, es ist mir jedesmal eine
Freude“ („Der Eroberer“, Novelle), Am klassischsten zeigt sich Masochismus
des Mannes in der „Königin von Saba“; Unvergeßlich bleibt dem Reisenden,
der mit kläglich zerrissenen Schuhen einlangt, die Tochter aus dem Herrenhof,
die er, wie sie auf dem Bock eines unbespannten Wagens steht und mit
der Peitsche knallt, kennen lernt. Es kommt ihm der Gedanke „sich als
Pferd vorzuspannen und den Wagen zu ziehen“. Sie zerschmettert ihn mit
den Augen, Noch vier Jahre später wirkt ihr Anblick faszinierend; er
verfolgt sie zwangshaft, — eine Odyssee — bis ihm klar gemacht wird, daß
sie mit einem anderen verheiratet ist, — Der Telegraphist Baardsen („SegeL
foß“) läßt sich im Spiel von Klara den verstellbaren Dolch in die Brust
stoßen und geht später daran zugrunde, „Wenn ich sie bekäme,“ sagt ein
Liebender, „würde ich ihr unermüdlicher dienen, als irgendeiner, wenn
ihr ein fiele, das Unmögliche von mir zu verlangen, ich würde alles tun.
Ich hielte inne, legte mich auf die Knie und leckte vor Demut und Hoffnung
einige Grashalme am Wege,“ So legen sich Nagel und Benoni wirklich
auf die Erde.
In origineller Form begegnen wir der Leidensfreude, da der Dichter selbst
in armseligen Kleidern als einfacher Wanderarbeiter auf die Walz geht und
schwere, niedrige Arbeiten verrichtet, angeblich nur um Überkultur und
Stadt zu überwinden, tatsächlich um als Knecht und Kutscher demütig
dienen, bescheiden belauschen zu können. Nur Brocken von herablassender
Neigung fallen ihm von der angebeteten Herrin zu: aber eben dies ist ihm
masochistischer Genuß.* („Herbststerne**, „Saitenspiel ,)
1) „Die meisten Helden Hamsuns sind Märtyrer im Ertragen, hüben einen durch
und durch passiven Heroismus“ (Carl Marburg er „Knut Hamsun“, Xenien- Verlag,
Leipzig 1910), Man wird nicht vergessen können, dal) ein Teil seiner Schmerzlust
in den Knaben Hamsun vom Onkel hineingeprügelt wurde. . i-
2) Hamsun regred iert damit auf seine eigenen realen zehn Jugendwanderjahre, in
denen er die verschiedensten niedrigen Berufe daheim und über See ausübte, bittere
Not und gemeine Genossenschaft durch machte (Kohlen- und StraDcnurbeiler, Stmßen-
bahnschaffner, Steinhauer, Fischer uaw,).
Ein Gespenst aus der Kindheit Knut Hamsuns
555
Hier weise ich auch auf medizinische Beobachtungen hin/ nach denen
masochistisch Veranlagte sich um sexueller Erregung willen zuzeiten wie
zwangshaft als Arbeiter in elender Kleidung verdingen.
Vom dichterisch-technischen Standpunkt ist dieses Sich-zum-intimen-Beob¬
achter-Machen, indem man als Gastarbeiter oder als Hausdiener im Bunde
mit der Kammerjungfer das Leben der Herrschaft, Freud und Leid der
ehebrecherischen Hausfrau belauscht („Saitenspiel“), lehrreich; als Arbeiter
wird der erzählende Beobachter immer dorthin versetzt, wo die Heldin zu
finden ist. Der Dichter ist hier nicht selbst Held des Tagtraumes, sondern
steht als „exzentrischer“ Zuschauer und Schilderer außerhalb/ Diese Lust
am Zusehen ist gerade beim Sadomasochisten gewöhnlich, der sich oft
begnügt, zusehend sich mit dem Aktiven oder Passiven zu identifizieren,
statt selbst einzugreifen.
„Es war qualvoll und schön, aufreibend, voll Unruhe, er lauschte an
der Wand, hielt den Atem an und lauschte“, heißt es vom betrogenen
Hjoibro in „Redakteur Lynge“.
Die malerisch halluzinierende Kindheitserinnerung, die den Ausgangs¬
punkt unserer Betrachtung gab, beweist schon die visuelle Veranlagung
Hamsuns. 1 2 3
So ist er wirklich der Dichter nicht nur des Bekuscliens, sondern auch
des Voyierens. Und da ist es ihm hauptsächlich um sexuelle Szenen zu
tun. So werden, wie erwähnt, namentlich die Vater-Figuren auf ihren
sexuellen Wegen ertappt. Es wundert uns dann nicht, daß gerade dem
Sexualakt eines tierischen Lappens zugesehen wird, und wir werden er¬
innert, daß Kinder oft eine sadistische Phantasie vom belauschten Eltera-
liebesakt erwerben.
In „Pan“ grüßen Lappe und Lappin sich: „Eines Tages sah ich, wie
zwei Lappen einander begegneten . , . Anfangs benahmen sie sich, wie
Menschen tun. Boris! sagten sie zueinander und lächelten. Aber gleich
darauf fielen sie in den Schnee und blieben eine gute Weile für mich
unsichtbar. Du mußt nach ihnen sehen, dachte ich, als eine Viertelstunde
vergangen war, sie könnten im Schnee ersticken. Da standen sie auf und
gingen fort. Jedes in seiner Richtung.“ Gewaltig verläuft die Szene, wo
die einst so stolze Edvarda sich — ohne zu wissen, daß sie beobachtet
1) A. Kirschbatim; „Über zwei ungewöhnliche Fälle von Para Sexualität.“ Zeit¬
schrift für gesamte Neurologie und Psychologie, 64, Bd.
2) Vgl. Freud: „Der Dichter und das Phantasieren.“ (Ges. Schriften, Bd. X.)
3) Hamsun war in der Jugend kurzsichtig. (VgL „Im Märchenland“, Keisebilder.)
*5*
Eduard Hitschmaim
556
ist -— dem Lappen im Walde hingibt: „Er knurrt, faßt sie plötzlich an der
Kehle und überwältigt sie. Oh, nun sind sie beide wild, sic beben anein-
ander, sie verschmelzen mit Armen und Beinen, es ist unsagbar, was sie
tun** („Rosa**),
Oie Häufigkeit, mit der der Scxualakt beschrieben und belauscht wird,
kann nicht übersehen werden; in ein Gartenhaus, in eine Scheune kommen
abwechselnd die Paare. Neben jenen platonischen iiifersuchtsKampfen um
die Edle, Angebetete, Jungfräuliche, finden wir auch die Sichhingebende,
die triebhaft Sinnliche, die „Dirne“, die von selbst kommt und sich anbietet 1
(„Pan“)* Diese Spaltung der weiblichen Liebesobjekte in seelisch Geliebte und
sinnlich Gebrauchte findet sich bekanntlich am ausgebildetsten wieder bei
dem, der als Knabe intensiv an die Mutter fixiert war, die Eifersucht auf den
Vater stark erlebte und oft auch wie Hamsun den Entmannungskomplex.
Die Erscheinung der Polygamie des Mannes, die Belauschung des Liebes-
aktes durch denselben, die Motive des immer nahen Dritten und der Eifer¬
sucht legen nahe, auch das Thema der unbewußten Gleichgeschlecht¬
lichkeit hier zu bearbeiten, was aber einer ausführlicheren Arbeit Vor¬
behalten bleiben muß. Das männliche Gespenst, oder richtiger die Angst
vor jenem halluzinierten Mann, die etwa vom neunten bis zum fünfzehnten
Lebensjahre Hamsun anfallsweise erschüttert, beweisen gleichfalls feminine
Einstellung des Heranwachsenden. In „Saitenspiel“ finden wir folgende
ablehnende allgemeine Charakteristik der Frauen: „Die Frau äst * * ., wie
alle Weisen schon immer wußten: unendlich arm an Begabung, reich
aber an UnVerantwortlichkeit, an Eitelkeit, an Leichtfertigkeit. Sie hat viel
vom Kinde, aber nichts von dessen Unschuld. Auch des Dichters Pessimismus
gegenüber der Treue der Frauenliebe gemahnt an Strindberg.
IIamsims Ideale
Bedenken wir, daß biographische Einzelheiten über unseren Dichter,
einen der größten und echtesten unserer Zeit, nicht zur Verfügung stehen,
so müssen wir für jene Kmdheitserinnerung dankbar sein, die für uns der
Ausgangspunkt war, um wesentliche Aufklärungen über seine Phantasien,
eine Reihe seiner bedeutsamsten Motive und auch über sein I riebleben zu
gewinnen. Noch einmal führt uns Erinnerung genußreicher Lektüre durch
1) In der Skizze „Stimme des Lebens* 1 holt sich die junge Witwe eines nach langer
Krankheit dreiundfünfzrg jährig verstorbenen Gatten alsbald einen Mann von der Straße,
dem sie sich in der Nacht nach jenes Tod hingibt. Die Leiche liegt noch im Neben*
Zimmer.
Ein Gespenst aus der Kindheit Knut Hamsuns
357
seine vielgestaltigen Werke. Wir wenden uns zum Schlüsse der sittlichen
Persönlichkeit des Dichters zu, die hinter all den komplizierten erotischen
Verwicklungen und Herzenskämpfen, aber auch hinter den wertvollen
gesellschaftskritischen Romanen und den großen epischen Konzeptionen In
Größe und Reinheit steht. Die strenge Erziehung des Oheims Pfarrer (und
des Vaters?) hat gute Früchte getragen, 1 Hamsuns Persönlichkeit ist von
den Idealen der Ehrlichkeit und der reinen Hände, des Mitleids und der
Arbeitsamkeit erfüllt. Die Helden seiner Jugendwerke sind unpraktische
Idealisten; selbst der traurige Held in „Hunger“ kommt nur materiell
herunter, nicht moralisch. Einfache Leute, wie Falkenbergs Dienerschaft,
werden zu Kritikern der sittenlosen Herrenleute. Treibt das Phantasieleben
des Dichters die sonderbarsten Blüten von Grausamkeit und Sinnlichkeit:
diese gleichen Ausscheidungsprodukten; er selbst erscheint als der Vor¬
kämpfer edelster Liebe, verzeihender Güte, verzichtender Treue, ernsten
Leistens und Aufbauens. Wir müssen annehmen, jene Kindheitserinnerung
repräsentiere den Bruch mit ursprünglichen grausamen Regungen, die
Abwendung von verbotener Liebe, denn sie verrät das Schuldgefühl und
Strafbedürfnis des leidenschaftlich veranlagten, träumerischen Knaben, Er
nimmt die sittliche Persönlichkeit des Ziehvaters (und Vaters) sowie der
gütigen Mutter durch Identifizierung in sich auf. Aus dem frühen Sadismus
und Tierquälen ist reaktiv Güte und Mitleid geworden. Aus dem ver¬
lorenen Tagträumer wurde ein Kämpfer und Dichter, Seine narzißtischen
Ebenbilder sind der Hungernde, Nagel und Glahn, der Dichter Johannes,
der durch Leiden groß geworden ist, Musiker und Studenten und die be¬
gabten, irinkfreudigen Telegraphisten mit dem „zu großen Herzen“, In Be¬
wunderung seiner Werke müssen wir dem großen Dichter recht geben, wenn
er über sich selbst sagt: „Ich habe eine eigenartige Schreibarbeit betrieben
und eine bessere als die Mehrzahl; das weiß ich wohl. Aber das ist nicht
so sehr mein Verdienst, denn ich wurde mit den Fähigkeiten dazu
ge hören.“
Einen Mangel freilich scheint das Werk dieses modernen Romanciers
aufzuweisen, wir finden zunächst keine edle Muttergestalt darin.
Wir fänden sie nicht, lehrte uns nicht die Psychoanalyse, daß das hohe
Bild der Mutter, das Heimat und Sehnsucht ist — zur Mutter Erde, Mutter
1) Von der nachsichtigen Güte seiner Mutter zeugt übrigens ein selbstb io graphischer
Satz an versteckter Stelle („Unter Tieren“}: „Wir hatten eine sonderbare Mutter,
die oft wieder umkehrte und tat, als habe sie etwas vergessen, wenn sie uns in der
Vorratskammer ertappte,“
55 8
Eduard Hitschi naim
Natur sublimiert wird. Zu ihr 11 üchtet Hamsun aus Seelen kämpfen und
Lebenssorgen, sie gibt heilenden Frieden. Gern wohnt er als Romanheld
im Wald oder am Strand in einer warmen Erdhöhle, einsam und in
Autarkie mit einfacher, mitgenommener Nahrung, Seine Schilderung der
Natur verrat deutlich ihr Mütterliches, „Dieser Ort , heißt es in „Letzte
Freude“, „ist ja eigentlich kein Bergabhang, sondern ein Busen, ein Schoß,
so weich ist er . . ein großer Hang, so voll von Zärtlichkeit und Hilf¬
losigkeit, wie eine Mutter läßt er alles mit sich geschehen/ 4 Als Land¬
schaft, in der man schon einmal gewesen ist; als dejd vu; mit Gefühlen
der Wiedergeburt erscheint die Natur dem zu ihr Flüchtenden: „Viele
Jahre sind vergangen, seit ich solchen Frieden um mich fühlte, vielleicht
zwanzig oder dreißig Jahre, vielleicht war es in einem früheren Leben.
Und doch muß ich schon einmal diesen Frieden verspürt haben, da ich
nun hier umhergehe . . . und mich um jeden Stein und jeden Halm
kümmere, und diese wieder sich um mich zu kümmern scheinen. Wir
kennen uns ... ich ging durch den Wald, wurde zu Tränen gerührt und
war hingerissen und sagte immerfort: Gott im Himmel, daß ich wieder
hieherkommen solltet Als sei ich schon einmal früher da-
gewese n.“
Die vielgerühmten sentimentalen Naturschi hl erun gen Hamsuns ergeben
sich aus dieser seiner Sehnsucht nach der schuldlosen, vorgespenstigen,
paradiesischen Kindheit.
Mit fünfzig Jahren verläßt er die entmannende Stadt, lebt nun als Land¬
wirt in der Natur und schreibt jene große epische Vision „Segen der Erde^
von der Urbarmachung abgeschiedenen Landes nieder. An die Stelle der
kämpfenden romantischen Liebe ist längst die eheliche getreten. Hat sich
der fünfzigjährige Dichter schon in „Gedämpftes Saitenspiel u und „Letzte
Freude“ irrtümlich als kraftlos und müde dargestellt, so lebt er in Wirk¬
lichkeit erfreulicherweise in unveränderter genialer Schaffenskraft weiter.
ANHANG
Psychoanalytisches bei Knut Hamsun
Symptomhandlungen
e d er der Af a dch e n n a m e. Herr Tiedcniund, der mitansehen muß, daß
seine Frau trotz zweier Kinder sich innerlich ganz von ihm loslöst, konstatiert: „In
letzter Zeit nennt sie sich auch wieder Lange, Hanka Lange-Tiedemand, gerade als
heiße sie immer noch Lange“, und an anderer Stelle: „Sic betrachtet sich immer
Ein Gespenst aus der Kindheit Knut Hamsuns
359
noch als nicht verheiratet* sie schreibt sich auch noch mit ihrem Mädchennamen
Lange,“ („Nene Erde.“)
Auf trennen der Handarbeit . Hjoibro, der schwerfällige, aber ernst’
charaktervolle Verehrer Charlottens antwortet auf eine Frage, wie seine Braut sein
solle: „Sie soll jung und unschuldig sein,“ Charlotte* die sich dem leichtsinnigen,
gewandteren Bon des en lungegeben hat, wird darauf flammend rot, die Handarbeit
zittert in ihren Händen, und sie verrät ihre Reue, als wollte sie ihren Fall rück¬
gängig machen: „Sie trennte ihre Arbeit Stich für Stich wieder auf und hatte doch
vielleicht gar nicht falsch genaht, Gott weiß, vielleicht hatte sie sogar die ganze
Zeit richtig genäht, und trotzdem trennte sie auf,“ („Redakteur Lynge*“)
Verschieb nng des Eherings, Leutnant Hohnsen wechselt oft und oft die
Hand, an der er seinen Ring trägt. Dieser gehört eigentlich an die rechte Hand,
aber wie zwangshaft wird er anläßlich gewisser Vorkommnisse au die linke gesteckt.
„Daß er den Ring von einer Hand auf die andere setzte, sollte bedeuten, daß er viel
dachte und sich an das eine oder andere von Wichtigkeit erinnern wollte. Es geschah
jedesmal so still und unbemerkt, niemand wußte, weshalb er es tat, aber er selbst
wußte es vielleicht,“ Links trägt den Ring bekanntlich der Witwer, und es ist offen¬
bar diese Phantasie, Witwer zu werden — wird doch die Frau verstoßen! — un¬
bewußt mitbestimmend am Ortswechsel des Ringes, der etwa zehnmal im Roman
vorkommt. („Kinder ihrer Zeit.“)
Tendenziöses Mißverstehen und Vergessen
Dundas sagt: „Heule nachts Schlag eins!“ Worauf er verschwindet.
Sie meint, er würde heute nachts Schlag eins auf die Reise gehen.
Da geschah es, daß sie vergaß, ihre Tür zu verriegeln,
Schlag eins tritt er bei ihr ein! („Pan,“)
Über den Traum
£ „Man träumt nicht mehr schön, wenn man erwachsen ist.“ („Mysterien*“)
Strafbediirfn is
In der Novelle „Geheimes Weh“ wird ein seltsamer Mann geschildert, dem der
Dichter viermal begegnet ist, und der sich jedesmal halb verrückt benahm: einmal
den Dichter würgte und bedrohte, ein zweitesmal im Eisenbahnwaggon Dietriche
und Einbruch Werkzeuge offen zeigte u. dgl. Hamsim erklärt es sich damit, daß jener
Verwirrte durchaus bei der Polizei angezeigt werden wollte und vielleicht darunter
litt, daß ein Geheimnis, das ihn ins Verderben bringen konnte, niemals offenbar
wird.
Diese Erkenntnis über Strafbedürfnis kam Hamsun durch eine Dame, die ihm
von sich erzählte und sich analog erwies: Da sie nämlich wegen eines Vergehens,
das ihr eine Gefängnisstrafe von einigen Tagen eingebracht hatte, nie gefaßt wurde,
ließ sie aus Schuldgefühl und Strafbedürfhis nichts unversucht, um die Leute auf
die richtige Spur zu lenken. Aber es fiel niemand ein, sie anzuzeigen.
3 6o
Hitschmann: Ein Gespenst aus der Kindheit Knut Hamsuns
Selbstmord = Ersatz des Mordes
Eine tragikomische Gestalt ist Leonhard Magnus, der immer vorgibt Selbst¬
mord begehen zu wollen und ihn nie ausführt. Grund dazu ist, daQ seine Frau mit
einem anderen lebt und sich betrinkt: offenbar hegt er gegen beide Mordgedanken,
hat aber dazu weder Mut noch Haß genug. So wendet der „Todestricb“ sich gegen
ihn selbst, Zweifel und Unentschlossenheit zeigen seine Ambivalenz. Die Frau kehrt
zurück, er verzeiht, sperrt sie — um sie zu schonen —- im Hotelzimmer ein, wo sie
unrettbar verbrennt. („Das letzte Kapitel«)
Psychoanalyse und Kinderheilkunde
Von
.losef K. Friedjung
Dozent an der Universität Wien
Vor nun reichlich sechzehn Jahren war es mir gestattet, vor Pro¬
fessor Freud und seinen Schülern an der zu historischer Berühmtheit
gelangten ersten Stätte ihrer regelmäßigen Zusammenkünfte einen Antritts¬
vortrag zu halten. Meine Ausführungen galten der Frage: „Was kann die
Kinderheilkunde von der psychoanalytischen Forschung erwarten?“ Es war
der Niederschlag zahlreicher schmerzlicher Erfahrungen, wenn ich von der
Unzulänglichkeit des pädiatrischen Unterrichtes, von unserer Hilflosigkeit
vor vielen Kindern und ihren krankhaften Erscheinungen sprach; und es
war ein Stück starker Zuversicht, daß ich gerade von der psychoanalytischen
Forschung hier Hilfe erhoffte. Gab sie mir doch das Rüstzeug zum Ver¬
ständnis so vieler Klippen und Schwierigkeiten, zur Lösung so vieler Rätsel.
Und es ist ein berechtigter Wunsch, sich nun, nach so vielen Jahren,
Rechenschaft zu geben über das Ausmaß, in dem meine Erwartungen
eingetroffen sind. So schwer auch die Kinderärzte für die Grundlagen der
Lehren Freuds zu gewinnen sind, — es darf doch festgestellt werden, daß
das Lehrgebäude der Kinderheilkunde, wenn auch mit zögernder Zustimmung,
einen wichtigen Zubau erfahren hat, daß viele vorher unbekannte oder
dunkle Tatbestände, die erst die Psychoanalyse verständlich machte, in das
allgemeine Bewußtsein der Kinderärzte eingegangen sind.
Schon die Stellung des Kindes innerhalb der Familie und Gesellschaft
haben wir mit neuen Augen schauen gelernt: Die traditionelle Vorstellung
von der Familienidylle ist klareren Einsichten gewichen, die triebhaft
bestimmten und gefärbten Beziehungen von Eltern, Kindern, Geschwistern
und anderen Hausgenossen haben uns vieles begreifen, aber auch verhüten
gelehrt. Mit anderen Ohren hören wir jetzt die Anamnese, mit klarerem
362
Josef K. Friedjung
Verständnis achten wir auf Einzelheiten, die uns ehedem unbeträchtlicher
Zufall schienen. Und wenn wir dann zur Untersuchung des Kindes schreiten,
so ist die erforderliche Technik aus einer mehr oder weniger erfolgreichen
Routine zu bewußter — Kunst geworden, Bewegungen, Tonfall, die Worte
des Untersuchers, — alles ist bewußt und beherrscht und damit auch
gleichzeitig eine wertvolle, beispielgebende Schulung für die erwachsene
Umgebung des Kindes. All das erfließt aus einer vertieften Kenntnis des
kindlichen Wesens und ihr müssen auch alle Anordnungen des Arztes
angepaßt sein. War früher die Untersuchung kranker Kinder oft ein be¬
schämender Kampf eines verständnislosen neurotischen Erwachsenen mit
neurotisch-ängstlichen kleinen Kranken, so gestaltet sie sich jetzt zumeist
zu einem heiteren Spiele. Und ebenso muß die Behandlung aufhören, —
Brutalisierung zu sein.
Gehörte es früher zu den vornehm liehen Aufgaben des Kinderarztes, die
körperliche Entwicklung seiner Schützlinge als Prophylaktiker zu über¬
wachen, so hat er es im letzten Jahrzehnt gelernt, daß er auch ihrer
Erziehung im engeren Sinne, ihrer seelischen Entfaltung seine Aufmerksamkeit
schenken müsse. Körperliches Gedeihen hängt, wie wir nun wissen, so
eng mit psychischem Wohlbefinden zusammen, daß selbst die Klinik alten
Stils in dieser Frage ihr Verhalten ändern muß. Der moderne Kinderarzt
hat es aber nunmehr gelernt, sich für das Gesamtschicksal des Kindes in
der Zukunft mitverantwortlich zu fühlen und wird immer wieder Anlaß
haben, bei der Behandlung einer Angina etwa auch von Fragen der Er¬
ziehung zu sprechen. Schon beim Säugling setzt er damit zielbewußt ein*
Die Ordnung und Ruhe, auf der er hier bestehen rnuß, wird er oft erst
durchsetzen können, wenn er den Erwachsenen ihre unbewußten seelischen
Tendenzen klargemacht hat. Den Still willen der Mutter, der für das
Gedeihen des Neugeborenen so entscheidend ist, wird der psychoanalytisch
orientierte Kinderarzt mit klareren Augen abmessen und beeinflussen. Und
nun die für den Kundigen so bedeutsame Entfaltung des kindlichen Trieb¬
lebens, seine erzieherische Überwachung und behutsame Beeinflussung, die
Vermeidung übertriebener Zärtlichkeit und Strenge, die vorbeugende Be¬
sprechung kommender Konflikte und unausweichlicher Traumen, die, um
ein Beispiel 2u nennen, etwa bei der Geburt eines zweiten Kindes dem
ersten drohen, die Einstellung der Erwachsenen zu geschlechtlichen
Äußerungen der Kleinen, 7,um Sexualproblem überhaupt, die Schwierig¬
keiten der Schulzeit, die Konflikte der Jugendlichen, — alles das ist zu
einer Domäne des Kinderarztes geworden, früher von ihm kaum beachtet,
Psychoanalyse und Kinderheilkunde
303
wenn er nicht etwa als Vater selbst auf Schwierigkeiten auf diesen Ge¬
bieten stieß.
Besondere Bedeutsamkeit erlangte aber die Einsicht, daß gewisse typische
ungünstige Familienkonstellationen überaus häufig zu krankhafter Ent¬
wicklung oder Veränderung des Kindes Anlaß geben. So konnte der Typus
des einzigen und des Lieblingskindes, der des ungeliebten und
umkampften, des entthronten und mittleren Kindes herausgehoben
und beschrieben werden, Typen, die unter dem Namen der „Milieukinder“
sich die allgemeine Beachtung der Kinderärzte erworben haben. Das Ver¬
ständnis für ihre Entstehung weist der Prophylaxe und Therapie klare
Wege, deren Gangbarkeit freilich nicht nur vom Arzte, sondern noch mehr
von den schuldigen Erwachsenen, die selbst oft neurotisch sind, und von
äußeren Verhältnissen abhängt. Von großer Wichtigkeit ist es, daß an solchen
„Milieukindern“ nicht selten körperliche Beschwerden zur Entwicklung
kommen, die dem diagnostischen Können des Arztes früher nicht erkannte
Fallen stellten, daß ferner geläufige Krankheitsbildei an solchen Kindern
Veränderungen, meist im Sinne der Erschwerung, erfahren, deren klare
Beurteilung uns wieder erst mit dem psychoanalytisch geschärften Blicke
möglich geworden ist.
Eine häufige Frage: „Ist das Kind bloß schlimm oder ist es krank?“
die früher nur bei schweren Prozessen, wie Hirntumor, Dementia praecox
eine richtige Antwort zu finden pflegte, ist uns Kinderärzten nunmehr
viel mehr zur Gewissensfrage geworden, da wir uns auch um die Neurosen
des Kindes zu kümmern begonnen haben. Die von Freud aufgedeckten
seelischen Mechanismen werden nun endlich auch dem Kinde zugebilligt,
akute und chronische Wesensänderungen auch im jugendlichen Alter der
Analyse wert gehalten. Die Behandlung an die Stelle der von der Tradition
geheiligten Mißhandlung gesetzt zu haben, das scheint mir einer unserer
schönsten Fortschritte zu sein. Dabei liegen ähnlich dem kindlichen Traume
auch die kindlichen Neurosen und Psychoneurosen oft so einfach, ihre
Entstehung ist so durchsichtig, daß der Therapie erfreulich kurze Wege
zur Verfügung stehen.
Während bisher nur die Rede war von der Anwendung der an er¬
wachsenen Neurotikern psychoanalytisch gewonnenen Erfahrungen an dem
Kinde, die allerdings durch zahllose Beobachtungen an Kindern selbst
gerechtfertigt worden waren, erhebt sich endlich die Frage, wie weit die
psychoanalytische Behandlungsmethode im klassischen Sinne bei Kindern
ihre Berechtigung und Möglichkeiten habe. Die Erfahrung lehrt, daß wir
3 6 4
Friedjung: Psychoanalyse und Kinderheilkunde
ihrer zumeist entraten können, daß es meistens genügt, gestützt auf unsere
psychoanalytischen Einsichten* unsere Ratschlage zu erteilen. Die Erziehung
der Erzieher und der zweckmäßig gewählte Milieuwechsel spielen da die
größte Rolle, ferner die Nacherziehung des Kindes mit „psychoanalytischem
Einschlag“. Es wird aber dann immer noch eine Anzahl von Kranken übrig
bleiben, deren Erkrankung entweder so schwer oder so veraltet ist, daß
eine lege artis durchgeführte Analyse nicht umgangen werden kann, wie
etwa bei manchen Fällen von Enuresis, von Asthma bronchiale, von
Zwangsneurose.
Diese gedrängte Darstellung erweist ohne Zweifel, in welch reichem
Maße sich die großartige Leistung Freuds auch an der Kinderheilkunde
ausgewirkt hat. Sie ist nicht mehr aus ihr wegz.udenken, und unser Wirken
vor dieser Befruchtung erscheint mir heute fast stümperhaft und geistlos.
Und doch stehen wir erst am Anfänge einer vielverheißenden Entwicklung,
Die psychologischen Grundlagen
der Frühanalyse
Von
Melanie Klein
Berlin
Ich beabsichtige in den folgenden Ausführungen auf einige zwischen dem
frühkindlichen Seelenleben und dem des Erwachsenen bestehende
Unterschiede näher einzugehen. Sie machen eine der frühkindlichen Psyche
angepaßte Technik nötig und es soll versucht werden, den Nachweis zu er¬
bringen, daß eine von bestimmten hier näher zu besprechenden Gesichts¬
punkten ausgehende analytische Spieltechnik diese Aufgabe erfüllt.
Das Kind stellt, wie wir wissen, Beziehungen zur Außenwelt her, indem
es Libido, die ursprünglich ausschließlich dem eigenen Ich gilt, den lust¬
spendenden Objekten zu wendet. Sein Verhältnis zu diesen — und zwar so¬
wohl zu den lebenden wie den leblosen — ist zunächst ein rein narzi߬
tisches. Auf diesem Wege gewinnt aber auch das Kind seine Beziehungen
zur Realität. Ich will dieses frühkindliche Verhältnis zur Realität mit einem
Beispiel belegen.
Die drei ein viertel jährige Trude ging nach einer einzigen Analysenstunde
mit ihrer Mutter auf Reisen. Ein halbes Jahr später wurde die Analyse fort¬
gesetzt. Von allem inzwischen Erlebtem sprach sie erst nach längerer Zeit
einmal anläßlich eines Traumes, den sie mir berichtete. Sie war mit ihrer
Mutter wieder in Italien in dem ihr bekannten Restaurant. Die
Kellnerin gab ihr keinen Himbeersaft, weil keiner mehr da war.
Die Deutung ergab unter anderem den nicht verwundenen Schmerz des
Kindes um die Entziehung der Mutterbrust und den Neid auf die kleine
Schwester. Während mir Trude sonst allerlei anscheinend Nebensächliches
berichtete, auch wiederholt Details der ersten, ein halbes Jahr zurückliegen-
5 66
Melanie Klein
den Analysenstunde erwähnte, hatte nur die Beziehung zur erlittenen Ver¬
sagung den Anlaß gegeben, ihrer Reise zu gedenken, die sonst für sie kein
Interesse besaß.
Das Kind lernt schon in sehr frühem Alter die Realität durch die Ver¬
sagungen kennen, die sie ihm auferlegt. Es erwehrt sich der Realität, indem
es sie ablehnt. Grundlegend aber und der Prüfstein für alle fernere An¬
passungsfähigkeit an die Realität, ist die größere oder geringere Fähig¬
keit, die aus der Ödipus-Situation resultierenden Versagungen zu er¬
tragen. Auch beim kleinen Kinde ist deshalb die zu starke Ablehnung der
Realität (die häufig durch eine scheinbare Anpassung und „Folgsamkeit“
verdeckt wird) ein Kennzeichen der Neurose — nur durch ihre Äußerungs-
formen unterscheidet sie sich von der Realitätsflucht des erwachsenen Neu¬
rotikers. Damm hat auch schon in der Frühanalyse eines der Endergebnisse
die gelungene Anpassung an die Realität zu sein. Sie drückt sich beim
Kinde unter anderem im Schwinden von Erziehungsschwierigkeiten aus —-
es ist eben fähig geworden, reale Versagungen zu ertragen.
Die Beobachtung zeigt häubg bei Kindern zu Beginn des zweiten Lebens¬
jahres schon eine ausgesprochene Bevorzugung des andersgeschlechtlichen
Elternteiles und sonstige Anzeichen der einsetzenden Ödipus-Strebungen,
Wann die sich daraus ergebenden Konflikte beginnen, wann also eigentlich
das Kind unter die Herrschaft des Ödipus- Kompl exes gerät, ist weniger
deutlich, denn wir schließen ja auf sein Vorhandensein erst aus gewissen
Veränderungen, die wir beim Kinde bemerken.
Ich habe aus der Analyse eines zweidrei viertel jährigen, eines dreiein¬
vierteljährigen, sowie mehrerer ungefähr vierjähriger Kinder fest gestellt,
daß der Ödipus-Komplex bei ihnen schon im zweiten Lebensjahr inten¬
siven Einfluß ausübte . 1 Als Beispiel führe ich die Entwicklung einer kleinen
i) Mit dieser Feststellung steht eine andere, auf die ich hier nur andeutungs¬
weise e ingehen kann! in innigstem. Zusammenhang,
Es ergab sich mir in einer Reihe von Kinderaualysen, dnß die Wahl des Vaters als
Liebesobjekt seitens des Mädchens durch die Entwöhnung von der Mutierbrust eilige-
leitet wird. Durch diese Versagung, der sich die vom Kinde uh neuerlicher schwerer
Liebesentzug gewertete Reinlichkeitsgewöhmmg aiiachließt, wird die Bindung an die
Mutter gelockert und die gegengeschlechtliclte Anziehung kann (unterstützt durch die
Liebkosungen des Vaters, die nun als Verführung empfunden werden) in Wirksamkeit
treten. Der Vater als Liebesübjekt soll auch zunächst der oralen Befriedigung dienen. Ick
habe in meinem Kongreßreferat (Salzburg, April 1924) au .Beispielen nachgewiesen, daß
der Koitus vom Kinde zunächst als oraler Akt aufgefaßt und ersehnt wird.
Die Wirkung dieser Versagungen auf die Ödipus * Entwicklung des Knaben
scheint mir eine hemmende und fordernde zugleich. Die hemmende Wirkling dieser
Die psychologischen Grundlagen der Frühanalyse 567
Analysandin an. Rita bevorzugte bis zu Beginn des zweiten Lebensjahres die
Mutter, dann in auffallender Weise den Vater. So verlangte sie z, B. wieder“
holt im Alter von fünfzehn Monaten allein mit ihm im Zimmer zu bleiben
und auf seinem Schoße sitzend, mit ihm in Büchern zu blättern. Mit acht¬
zehn Monaten aber veränderte sich neuerlich die Einstellung des Kindes und
sie zog wieder die Mutter vor. Zugleich setzte Pavor nocturnus und Angst
vor Tieren ein. Es kam zu einer überstarken Fixierung an die Mutter und
zu einer sehr ausgesprochenen Vateridentifizierung. Mit Beginn des dritten
Jahres wurde die Kleine immer ambivalenter und in der Erziehung schwie¬
riger, so daß sie mit zweidrei viertel Jahren in Analyse gegeben wurde. Zu
dieser Zeit bestand in vollem Ausmaße eine Monate zurückreichende Spiel¬
hemmung, Unfähigkeit, Versagungen zu ertragen, übermäßige Wehleidigkeit,
starke Stimmungsschwankungen usw. Zu dieser Entwicklung hatten folgende
Erlebnisse beigetragen : Rita hatte bis zum Alter von nicht ganz zwei Jahren
das Schlafzimmer der Eltern geteilt und die Wirkungen der Urszene wurden
in der Analyse deutlich. Den Ausbruch der Neurose aber hatte die Geburt
des Brüderchens herbeigeführt. Bald nachher traten größere Schwierigkeiten
zutage und nahmen mehr und mehr zu. Daß ein enger Zusammenhang
zwischen so intensiven frühen Wirkungen des Ödipus-Komplexes und der
Neurose besteht, ist zweifellos. Ob es die neurotischen Kinder sind, bei denen
der Ödipus-Komplex schon so bald mit solcher Intensität wirkt oder ob solche
Kinder neurotisch werden, hei denen das so früh der Fall ist, kann ich
nicht entscheiden. Sicher aber ist, daß Erlebnisse, wie die hier besprochenen,
den Konflikt verstärken und deshalb die Neurose vergrößern, beziehungs¬
weise auslosen.
Ich greife nun aus diesem Fall heraus, was sich mir in den Analysen
von Kindern verschiedenen Alters, am direktesten in denen kleiner Kinder,
als typisch erwiesen hat. In mehreren Fällen, in denen ich Angstanfälle so
kleiner Kinder analysierte, ergaben sich diese als Wiederholung eines Pavor
nocturnus , der in der zweiten Hälfte des zweiten Lebensjahres und zu Beginn
Traumen läßt sich auch aus dem Umstande erkennen, daß sie es sind, die der Knabe
später auf jeder Flucht vor der Mutterbindung (so auch zur Verstärkung seiner in¬
vertierten ÖdipuS’Einstellung) heranzieht. Der Umstand, daß diese Traumen die
den Kastrationskomplex vorbereiten — von der Mutter ausgehen, hat sich mir auch
als Ursache erwiesen, daß bei beiden Geschlechtern in den tiefsten Schichten gerade
die Mutter als Kastratorin besonders gefürchtet ist.
Anderseits aber scheint der orale und anale Liebesentzug auf die Ödipus-Ent¬
wicklung des Knabens auch wieder fördernd zu wirken, indem er ihn nötigt, die
Libidoposition zu wechseln und die Mutter als genitales Liebesobjekt zu begehren.
Melanie Klein
des dritten eingesetzt hatte* Kr war schon eine Wirkung und neurotische
Verarbeitung des Ödipus-Komplexes* Es gibt zahlreiche solcher Verarbeitungen,
und wir können aus ihnen schon sichere Rückschlüsse auf die Wirkungen
des Ödipus-Komplexes ziehen* 1 Zu solchen Verarbeitungen, hei denen der
Zusammenhang mit der Ödipus-Situation ganz deutlich wurde, gehört auch
häufiges Fallen und Sichbeschädigen, Wehleidigkeit, Unfähigkeit Versagungen
zu ertragen, Spielhemmung, eine sehr ambivalente Einstellung zu Festen
und Geschenken und Erziehungsschwierigkeiten verschiedener Art, Erschei¬
nungen, die wir schon in einem überraschend frühen Alter oft einsetzexi
sehen. Als Ursache aber dieser so häufigen Erscheinungen erwies sich mir
ein sehr starkes Schuldgefühl, auf dessen Entwicklung ich nun näher
ein gehen will*
Wie sehr schon beim Pa vor nocturnus auch Schuldgefühle mit wirk¬
sam sind, will ich an einem Beispiel zeigen. Die vierein viertel jährige Trude
spielte wiederholt in der Analysenstunde, daß es Nacht sei* Wir sollten beide
schlafen* Dann kam sie aus der anderen, von ihr als ihr Zimmer bezeich-
neten Ecke leise auf mich zu und bedrohte mich verschiedentlich* Sie wollte
mich in die Kehle stechen, in den Hof werfen, verbrennen, zur Polizei
bringen* Sie versuchte meine Hände und Füße zu fesseln, hob die Decke
der Chaiselongue auf und erklärte, sie mache „Po-Kacki-Kucki“* Es ergab
sich, daß sie im Popo der Mutter nach den für sie Kinder darstellenden
Kackis suchen wollte* Ein andermal wollte sie mich auf den Bauch schlagen
und behauptete, sie nehme die A m As (Stuhl) heraus und mache mich arm*
Sie riß dann die (wiederholt als Kinder bezeichneten) Kissen herunter und ver¬
steckte sich mit diesen in die Sophanische, wo sie sich unter lebhaften Angst¬
äußerungen zusammenkauerte, zudeckte, lutschte und naß machte* Diese
ganze Situation folgte immer wieder den Angriffen auf mich* Sie war aber
derjenigen gleich, welche sie schon im Alter von noch nicht zwei Jahren im
Bette eingenommen hatte, als sehr starker Pavor nocturnus bei ihr einsetzte*
Auch damals lief sie in der Nacht immer wieder ins Schlafzimmer der
Eltern, ohne aber angeben zu können, was sie wollte. Sie war, als die
Schwester geboren wurde, zwei Jahre alt, und die Analyse konnte die da¬
malige Situation und auch die Ursachen der Angst, wie des Nassem und
Schmierens klarlegen und diese Symptome auch beheben* Sie hatte schon
damals der schwangeren Mutter die Kinder rauben, die Mutter töten und
i) Auf ihren innigen Zusammenhang mit der Angst habe ich in meiner Arbeit
„Zur Frühanalyse u (Imago 1923, Bd* IX) hinge wiesen, in der ich die Beziehung zwischen
Angst und Hemmung behandelt habe*
Die psychologischen Grundlagen der Frühanalyse
ihre Stelle beim Koitus mit dem Vater einnehmen wollen* Diese Haß- und
Aggressionstendenzen waren die Ursache der im Alter von zwei Jahren be¬
sonders stark werdenden Fixierung an die Mutier, und die ihrer Angst- und
Schuldgefühle. Zur Zeit, als bei Trude diese Erscheinungen in der Analyse
so deutlich hervortraten, brachte sie sich vor fast jeder Analysenstunde eine
Beschädigung bei. Es ergab sich, daß die Gegenstände, an denen sie sich
beschädigte: Tisch, Schrank, Ofen usw. der primitiven kindlichen Identi¬
fizierung entsprechend für sie die Mutter, mitunter den Vater bedeuteten,
die sie bestrafen. Im allgemeinen erwies sich mir die, besonders beim
kleineren Kinde, so häufige Wehleidigkeit, das Fallen und Siclfbeschädigen
in innigen Zusammenhang stehend mit Kastrationskomplex und Schuldgefühlen.
Besondere Aufschlüsse über das frühe Schuldgefühl gewinnen wir aus
dem Kinderspiel, Rita war schon in ihrem zweiten Lebensjahre der Um¬
gebung durch die Reue nach jedem noch so kleinen Vergehen und die
Überempfindlichkeit jedem Tadel gegenüber aufgefallen. So brach das Kind
z. B. in Tränen aus, als der Vater dem Bären im Bilderbuch scherzhaft
drohte. Dabei zeigte sich als bestimmend für ihre Identifizierung mit dem
Bären noch die Angst vor dem Tadel des realen Vaters, Auch ihre Spiel¬
hemmung ging vom Schuldgefühl aus: Schon mit zwei einviertel Jahren
erklärte sie wiederholt beim Puppenspiel, — das ihr auch wenig Freude
machte — sie sei nicht die Mutter des Puppenkindes, Die Analyse erwies,
daß sie nicht Mutter spielen durfte, weil das Puppenkind ihr unter
anderem das Brüderchen bedeutete, das sie der Mutter schon während
deren Schwangerschaft rauben wollte. Das Verbot des Kindeswünsch es ging
aber nicht mehr von der realen Mutter aus, sondern von einer intro-
jizierten, die sie mir im Rollenspiel vielfach zur Darstellung brachte, und
die strenger und grausamer in ihr wirkte, als es jemals von seiten der
realen Mutter geschehen war. Ein zwangsneurotisches Symptom, das Rita
auch vom Alter von zwei Jahren an entwickelte, war ein zeitraubendes
Schlafzereinoniell. Sein Kern bestand darin, daß sie sich in die Bettdecke
fest verpacken ließ, sonst würde „eine Maus oder ein Butzen, der durch
das Fenster käme, ihren Butzen wegbeißen V Andere Determinierungen
erwies ihr Spiel. Auch die Puppe wurde immer in gleicher Weise ver¬
packt und einmal ein Elefant neben das Puppenbett gestellt. Er sollte
i) Ritas Kastrationskomplex zeigte sich in einer Reihe von neurotischeu Symptomen
und in ihrer Charakterentwicklung. Auch ihre Spiele erwiesen deutlich ihre sehr
starke Vateridentifizierung und ihre vom Kastrationskomplex stammende Angst, in
der männlichen Rolle zu versagen.
Imago XII.
24
57 °
Melanie Klein
das Puppenkind am Aufstehen verhindern, denn sonst würde es leise in
das Schlafzimmer der Eltern gehen und diesen etwas tun oder wegnehmen.
Der Elefant (eine Vater-Imago) sollte die hindernde Rolle übernehmen, ^
die der introjizierte Vater schon in ihr spielte, seitdem sie im Alter zwi-
sehen eineinviertel und zwei Jahren die Stelle der Mutter beim Vater
einnehmen, der schwangeren Mutter das Kind rauben und die Eltern be¬
schädigen und kastrieren wollte. Die Wut- und Angstreaktionen, die im
Verlauf solcher Spiele einer Bestrafung des Kindes folgten, bewiesen auch,
daß Rita innerlich beide Rollen spielte; die der richtenden Autoritäten
und die des bestraften Kindes,
Ein grundlegender allgemeiner Mechanismus des Rollenspieles
dient dem Zwecke, die verschiedenen im Kinde wirksamen Identifizierungen,
die etwas Einheitliches werden sollen, wieder zu zerlegen: Den Vater und
die Mutter, die es in Verarbeitung des Ödipus-Komplexes in sich aufge¬
nommen hat, und die es nun in ihm durch Strenge quälen, entfernt es
durch diese Rollenverteilung wieder aus sich und empfindet dadurch eine
Erleichterung, die zum Lustgefühl durch das Spiel wesentlich beiträgt.
Wenn dieses Rollenspiel oft eindeutig aussieht und nur primäre Identifi¬
zierungen zur Darstellung zu bringen scheint, so zeigt es dabei nur seine
Fassade. Seine Durchforschung hat in der Kinderanalyse eine sehr große
Bedeutung; sie ist aber nur dann eine vollkommene und therapeutisch
wirksame, wenn man alle zugrunde liegenden Identifizierungen und Deter-
minierungen bloßgelegt und vor allem, wenn man den Weg zu dem dabei
wirksamen Schuldgefühl gefunden hat.
Die hemmende Wirkung der Schuldgefühle war in den ballen, die ich >
analysiert habe, schon in einem sehr frühen Alter deutlich. Was uns da ent¬
gegentritt, entspricht dem, was wir beim Erwachsenen als Über-Ich kennen.
Daß wir den Höhepunkt des Ödipus-Komplexes um das vierte l^ebensjahr
annehmen und die Entwicklung des Über-Ich als sein Endergebnis kennen,
scheint mir zu diesen Beobachtungen nicht in Widerspruch zu stehen. Die
gewissen typischen Erscheinungen, die wir in deutlichster Ausbildung fest¬
stellen können, wenn der Ödipus-Komplex seinen Höhepunkt erreicht hat,
und die seinem Abklingen vorangehen, sind nur der Endabschluß einer
Entwicklung, die sich auf Jahre erstreckt. Die Frühanalyse zeigt, daß mit
dem Einsetzen des Ödipus-Komplexes das Kind auch schon mit seiner
Verarbeitung und so auch mit der Ausbildung des Über-Ich beginnt.
Die Wirkungen dieses kindlichen Über-Ich auf das Kind sind analoge
wie beim Erwachsenen, belasten aber weit mehr das schwächere kindliche
Die psychologischen Grundlagen der Frühanalyse
37 1
Ich* Wir stärken dieses Ich, wie die Frühanalyse erweist, indem wir die
übermäßigen Forderungen des Über-Ich durch die Analyse herabsetzen.
Das frühkindliche Ich unterscheidet sich zweifellos von dem des reiferen
Kindes oder des Erwachsenen, Aber dieses frühkindliche Ich zeigt sich den
noch nicht so gewichtigen realen Forderungen, die an es herantreten,
durchaus gewachsen, wenn wir es von der Neurose befreit haben. 1
Entsprechend den Unterschieden der frühkindlichen Psyche von der
reiferen, sind auch die Reaktionen des Kindes auf die Psychoanalyse anders
als später* Vielfach überrascht die Leichtigkeit, mit der Deutungen zeit¬
weise aufgenommen werden; das Kind zeigt sogar mitunter ausgesprochene
Lust dabei. Für diesen von der Erwachsenenanalyse abweichenden Vorgang
ist die Erklärung darin zu finden, daß beim Kinde in gewissen Schichten
die Kommunikation zwischen Bw und Ubw noch eine viel leichtere, der
Rückweg daher viel einfacher herzustellen ist* Deshalb kann die Deutung,
die allerdings immer nur auf Grund eines genügenden Materials gegeben wird,
welches aber das Kind oft überraschend schnell und mannigfaltig produziert,
auch eine so schnelle Wirkung üben. Diese ist häufig eine überraschende,
auch wenn das Kind die Deutung mitunter gar nicht zur Kenntnis zu
nehmen scheint* Das Spiel, welches infolge des eingetretenen Widerstandes
abgebrochen worden war, wird wieder aufgenommen; das Spiel verändert
sich, breitet sich aus, bringt tiefere Schichten zur Darstellung, der ana¬
lytische Kontakt hat sich wieder befestigt* Die Lust am Spiel, die nach
einer Deutung sichtlich einsetzt, hat ihre Ursache auch darin, daß der zu
einer Verdrängung nötige Kraftaufwand durch die Deutung in Wegfall
kommen kann. Wir stoßen dann aber wieder zeitweise auf Widerstände,
für die diese Leichtigkeit keineswegs gilt, sondern wo wir mit den größten
Schwierigkeiten zu kämpfen haben. Das ist besonders dort der Fall, wo
wir auf das Schuldgefühl treffen.
Das Kind bringt durch das Spiel Phantasien, Wünsche, Erlebnisse in
symbolischer Weise zur Darstellung* Es bedient sich dabei der gleichen
Sprache, der archaischen, phylogenetisch erworbenen Ausdrucksweise, die
i) Das Kind vermag nicht — wie das beim Erwachsenen nach Beendigung der
Analyse oft der Fall ist — Veränderungen in seinen Lebensverhältnissen vorzunehnien.
Aber wir haben ihm sehr weitgehend geholfen, wenn wir ihm die Möglichkeit geben,
sich zufolge der Analyse in den bestehenden Verhältnissen wohler zu fühlen und
besser zu entwickeln. Übrigens setzt häufig die Behebung der Neurose des Kindes
auch die Schwierigkeiten des Milieus herab. Ich konnte z. B. wiederholt feststellen,
daß die Mutter viel weniger neurotisch reagierte, sobald beim analysierten Kinde
günstige Veränderungen eingetreten waren.
Melanie Klein
37 2
wir aus dem Traume kennen. Wir können sie nur voll verstehen, wenn
wir uns ihr in der Weise nähern, die uns Freud für das Erkennen des
Traumes gelehrt hat. Die Symbolik ist nur ein Teil davon; wir müssen,
wenn wir das Spiel im Zusammenhang mit dem ganzen Gehaben des
Kindes in der Analysenstunde richtig erfassen wollen, nicht nur die oft
im Spiel so deutlich hervortretende Symbolik, sondern alle Darstellungs¬
mittel und Mechanismen der Traumarbeit beachten und der Erforschung
der ganzen Zusammenhänge eingedenk bleiben.' llei Anwendung dieser
Technik finden wir bald, daß uns das Kind nicht weniger Assoziationen
zu den einzelnen Spielstücken bringt als der Erwachsene zu den Traum¬
stücken. Die Details des Spieles zeigen dem aufmerksamen Beobachter den
Weg; dazwischen erzählt das Kind noch allerlei, was voll als Assoziation
zu werten ist.
Das Kind bedient sich nicht nur dieser archaischen Darstellungsform,
sondern auch eines anderen primitiven Mechanismus* Es bringt nämlich
die Handlungen, die ja ursprünglich an Stelle der Gedanken standen —
anstatt der Worte, d* h, das Agieren spielt bei ihm eine überragende Rolle*
In der „Geschichte einer infantilen Neurose 14 sagt Freud: 1 2 „Die Analyse,
die man am neurotischen Kinde selbst vollzieht, wird von vornherein ver¬
trauenswürdiger erscheinen, aber sie kann nicht sehr inhaltsreich sein;
man muß dem Kinde zu viel Worte und Gedanken leihen und wird viel¬
leicht doch die tiefsten Schichten undurchdringlich für das Bewußtsein
finden * u
Wenn wir uns dem Kinde mit der Technik der Erwachsenenanalyse
nähern, so werden wir sicherlich nicht zu den tiefsten Schichten Vordringen
1) Wie vieldeutig z* E. die beim Puppen spiel benützte Puppe sein kann, wie sie
mitunter Penisbedeutung, die Bedeutung des der Mutter geraubten Kindes, dann
wieder des Kindes selbst usw, hat, und wie nur Eingehen auf die kleinsten Einzel¬
heiten des Spieles und deren Deutung die Zusammenhänge klarlegen kann, damit
aber erst die volle Wirksamkeit erzielt, kann ich in meinen Analysen immer wieder
feststellen. Was uns das Kind in einer Analysenstunde zeigt, wobei es vom Spielen
mit dem Spielzeug zur Darstellung durch die eigene Person übergeht, dann wieder
zum Spielen mit Wasser, zum Ausschneiden von Papier, zum Zeichnen — wie es
das tut, und warum der Wechsel einsetzt und welche Mittel es zur Darstellung
wählt, dieses bunte, oft wirr und sinnlos scheinende Durcheinander zeigt sich als
wohlgeordnet und verrat uns die ihm zugrunde liegenden Quellen und Gedanken,
wenn wir es gleich dem Traume deuten* Sehr häufig stellt: übrigens das Kind im
Spiel das gleiche dar, wie in einem vorher berichteten Traum und bringt oft
Assoziationen zu einem Traum durch das anschließende Spiel, das ja seine wichtigste
Ausdrucksweise ist.
2) Ges* Schriften, Bd* VIII, S* 440*
Die psychologischen Grundlagen der Frühanalyse
573
können. Gerade diese sind es aber, die für den Wert und für den Erfolg
einer Analyse bedeutungsvoll sind. Wenn wir aber auf die beim Kinde
im Vergleich zum Erwachsenen vorhandenen psychologischen Unterschiede
Bedacht nehmen, die Tatsache, daß wir Ubw noch neben Bw, die primi¬
tivsten Strebungen neben kompliziertesten Entwicklungen, wie wir sie im
Über-Ich kennen, wirksam finden; wenn wir also die Ausdrucksweise des
Kindes richtig verstehen, so kommen alle diese Bedenken und Nachteile
in Fortfall. Wir finden dann, daß die Forderungen, die wir an Tiefe und
Umfang der Analyse stellen dürfen, nicht hinter denen der Erwachsenen¬
analyse zurückstehen. Im Gegenteil, wir können in ihr bis zu Erlebnissen
und Fixierungen zurückgehen, die in der Erwachsenenanalyse häufig nur
rekonstruierbar sind, die uns das Kind aber unmittelbar darstellt: 1
Die vierein viertel jährige Ruth z. B., die als Säugling längere Zeit hungerte,
da die Mutter wenig Milch hatte, nennt beim Spiel am Waschbecken den
Wasserhahn einen Milchhahn. Sie erklärt, daß die Milch in die Münder
{Abflußlöcher) läuft, daß sie aber nur ganz wenig fließt. Dieses ungestillte
orale Verlangen tritt in zahlreichen Spielen und Darstellungen hervor und
zeigt sich in ihrer ganzen Einstellung. (Sie behauptete z. B. arm zu sein,
nur einen Mantel zu besitzen, wenig zu essen zu bekommen, was der
Realität keineswegs entsprach.)
Die sechsjährige zwangsneurotische Erna, für deren Neurose die Eindrücke
der Reinlichkeitsgewöhnung 2 grundlegend waren, führt mir diese bis in die
1) Ich habe in Salzburg (VJTL Intern. PsA. Kongreß, Ostern 1924) ansgeführt, daß
die jeder Spieltätigkeit zugrundeliegende als fortgesetzter Spielantrieb (Wieder-
holungszwang) wirkende Abfuhr der Masturbationsphantasien ein fundamentaler
Mechanismus des Kinderspieles und aller weiteren Sublimierungen ist — die Spiel -
imd Lernhemmung auf der übermäßigen Verdrängung dieser Phantasien (und damit
der Phantasie) beruht* Mit den Masturbationsphantasien sind die Sexualerlehnisse
verknüpft und gelangen mit diesen im Spiel zur Darstellung und Abreaktion. Unter
diesen Erlebnissen spielen die Darstellungen der Urszene eine überragende Rolle;
sie stehen auch regelmäßig in den Frühanalysen im Vordergründe. Erst nach einem
größeren Stück Analyse, das die Urszene und die genitalen Entwicklungen teilweise
klargelegt hat, gelangt man meist zu den Darstellungen der prägenitalen Erlebnisse
und Phantasien.
2) Die ReinliclikeitsgewÖhnung, die für Ernas Empfinden die schwerste Ver-
gewaltigung war, wurde in der Realität ohne jede Strenge und mit solcher
Leichtigkeit erreicht, daß das Kind im Alter von einem Jahre völlig sauber
war. Als Motor wirkte dabei der ungewöhnlich frühe Ehrgeiz Ernas, der sie aber
auch alle Erziehungsmaßnahmen von den frühesten angefangen als Gewalttat emp¬
finden ließ* Dieser frühe Ehrgeiz wurde die Grundbedingung für die Empfindlich¬
keit gegen Tadel und die überschnelle und starke Entwicklung ihrer Schuld-
Melanie Klein
374
kleinsten Einzelheiten vor. Einmal setzt sie ein Püppchen auf einen Bau¬
stein, läßt es äefäzieren und stellt rings herum Püppchen auf, die es be¬
wundern. Nach dieser Darstellung bringt Erna wieder das gleiche Material
im Rollenspiel: Ich habe ein sich beschmutzendes Wickelkind darzustellen,
sie ist die Mutter. Das Wickelkind wird verwöhnt und bewundert. Dann
folgt eine Wutreaktion bei Erna, und sie spielt eine strenge Lehrerin, die
das Kind mißhandelt. Erna hat mir so eines ihrer ersten Traumen vor¬
agiert: Die schwere Kränkung ihres Narzißmus, da sie die übergroße Liebe,
die ihr als Säugling dargebracht wurde, zu verlieren glaubte, als Erziehungs-
maßregeln einsetzten.
Die Bedeutung des Agierens und Phantasierens im Dienste des Wieder’
holungszvvanges kann überhaupt in der Kinderanalyse nicht hoch genug
eingeschätzt werden* Das kleine Kind agiert natürlich in weit größerem
Maße, aber auch das ältere greift, besonders, wenn die Analyse einen Teil
der Verdrängungen aufgehoben hat, immer wieder zu diesem primitiven
Mechanismus. Der damit für das Kind verbundene Lustgewinn, der aber
immer nur Mittel zum Zwecke bleiben darf, ist für die Fortführung der
Analyse unentbehrlich* Hierin zeigt sich eben das Überwiegen des Lust¬
prinzips über das Realitätsprinzip* Wir können im frühen Alter nicht an
den Realitätssinn des Patienten appellieren wie im späteren Alter*
Ebenso wie sich die Ausdrucksinittel des Kindes von denen des Kr wach¬
se nen unterscheiden, so trägt auch die analytische Situation in der Kinder¬
analyse ein durchaus abweichendes Gepräge. Sie ist aber doch in beiden
Fällen wesensgleich. Die konsequente Deutung, die schrittweise Auflösung
der Widerstände, das stete Zurückführen der Übertragung auf frühere
Situationen, führt auch beim Kinde zur vollen Herstellung der richtigen
analytischen Situation*
Ich habe von der in der Frühanalyse immer wieder festzustellenden
schnellen Wirkung von Deutungen berichtet* Es ist auffallend, daß wir
diese Wirkungen an zahlreichen Anzeichen feststellen können: An der Ent
wicklung des Spieles, der Befestigung der Übertragung, der Verminderung
der Angst usw*, daß trotzdem aber längere Zeit das Kind die Deutungen
nicht bewußt verarbeitet. Ich konnte fest st eilen, daß diese Verarbeitung später
doch einsetzt* Das Kind beginnt dann 2. R. zwischen der gespielten und
und der wirklichen Mutter oder dem hölzernen und dem lebenden
gefühlc. Man sieht aber im allgemeinen diese Schuldgefühle schon sehr stark bei
der Reiulichkeitsgewohnun g beteiligt und kann da die ersten Ansätze des „Über-Ieh C!
erkennen.
Die psychologischen Grundlagen der Frühanalyse
375
Brüderchen zu unterscheiden und beharrt fest darauf, dies und jenes habe
es nur dem hölzernen Brüderchen antun wollen — das wirkliche habe es
doch lieb. Nur nach Überwindung sehr starker längerer Widerstände nimmt
es dann zur Kenntnis, daß seine Aggression den wirklichen Objekten gilt.
Damit ist aber auch gewöhnlich — auch bei den ganz Kleinen — ein sehr
bedeutender Fortschritt in der Realitätsanpassung erfolgt. Ich habe den Ein¬
druck, daß die Aufnahme der Deutung zuerst nur ubw erfolgt und die Bezie¬
hung zur Realität erst nach und nach eintritt. Analog vollzieht sich auch
der Vorgang der Aufklärung. Die Analyse fördert längere Zeit nur Material
für Sexualtheorien und Geburtsphantasien zutage und deutet dieses Material.
So erfolgt die Aufklärung schrittweise mit dem Beheben der gegen sie
wirkenden ubw Widerstände.
Zuerst bessert sich also durch die Psychoanalyse das Verhältnis zu den
Eltern gefühlsmäßig, dann erst kommt die Erkenntnis nach. Sie ist schon
ein Diktat des Über-Ich, dessen durch die' Analyse gemilderte Forderungen
das nunmehr weniger bedrängte und darum stärkere Ich ertragen und be¬
folgen kann. Das Kind wird also nicht auf einmal vor die Situation gestellt,
Erkenntnisse in bezug auf sein Verhältnis zu den Eltern zu revidieren oder
überhaupt Erkenntnisse aufnehmen zu müssen, die es belasten. Ich habe
als Wirkung dieser stufenweise verarbeiteten Erkenntnisse immer nur eine
Erleichterung für das Kind festststellen können, ein wesentlich günstigeres
Verhältnis zu den Eltern und damit auch eine erhöhte soziale Anpassungs¬
fähigkeit,
Das Kind vermag dann auch sehr wohl die Verurteilung zum Teil an
Stelle der Verdrängung zu setzen. Dies tritt auch darin hervor, daß die
Kinder in einem späteren Stadium der Analyse zu einzelnen, in einem
früheren Stadium noch so wirksamen anal-sadistischen oder kannibalistischen
Begierden eine solche Distanz gewonnen haben, daß sie sie nun gelegentlich
mit Humor beurteilen. Ich höre dann, auch von ganz kleinen Kindern,
einen Scherz darüber, daß sie z. B. früher wirklich die Mutti ganz fressen
oder zerschneiden wollten. Die mit diesen Veränderungen verbundene Ver¬
minderung der Schuldgefühle ermöglicht aber zugleich auch die Subli¬
mierung der früher ganz verdrängten Wünsche. Diese äußert sich praktisch
in dem Aufhören der Spielbemmung und in dem Einsetzen von zahlreichen
Interessen und Betätigungen.
Ich fasse meine Ausführungen dahin zusammen: Die besonderen primi¬
tiven psychischen Eigentümlichkeiten des kindlichen Seelenlebens machen
eine ihnen angepaßte andersartige Technik nötig, die in der Spielanalyse
37 6
Klein: Die psychologischen Grundlagen der Frühanalyse
gegeben ist. Mit dieser Technik können wir aber zu den tiefsten verdrängten
Erlebnissen und Fixierungen gelangen und damit die Entwicklung des
Kindes von Grund aus beeinflussen.
Es handelt sich dabei nur um einen Unterschied der Technik, nicht
des Behandlungsprinzips. Denn die von Freud aufgestellten Kriterien
des psychoanalytischen Verfahrens: Das Ausgehen von den Tatsachen der
Übertragung und des Widerstandes, die Berücksichtigung der infantilen
Triebe, der Verdrängung und ihrer Wirkungen, der Amnesie, des Wieder¬
holungszwanges, ferner die in der „Geschichte einer infantilen Neurose“
erhobene Forderung des Aufdeckens der Urszene, — alle diese Kriterien
sind in der Spieltechnik im vollen Maße aufrecht erhalten. Das Spiel verfahren
führt unter Wahrung aller Prinzipien der Psychoanalyse zu den gleichen
Wirkungen wie die klassische Technik. Nur in den technischen Maßregeln
paßt es sich der kindlichen Seele an.
Die Bedeutung des Brustsaugens und
Fingerlutschens für die psychische
Entwicklung des Kindes 1
Von
Wera Schmidt
Moskau
Seit Professor Freud die infantile Sexualität und ihre Komponenten
entdeckt hat, haben Abraham und andere Psychoanalytiker die Äußerungen
der Oralerotik behandelt* Doch fehlte es an systematischen Beobachtungen
darüber bei Kindern, Es lag nicht in meiner Absicht, in diesem Artikel
die Entwicklung der Oralerotik vollständig darzustellen. Dieser Frage wird
eine besondere Arbeit gewidmet sein. Hier lag mir vor allem daran, tat'
sächliches Material zu dieser Frage zu bringen. Ich wollte nur, auf Grund
eigener Beobachtungen über die Entwicklung eines Knaben, zeigen, wie
die allmähliche Differenzierung der Gefühlserscheinungen des Hungers und
der Libido erfolgt, die zwar in ein und demselben äußeren Akt — dem
Saugen — verknüpft sind, sich aber gänzlich verschieden beim Kinde
äußern und es zu völlig verschiedenen Handlungen treiben. Ferner, hoffe
ich, wird meine Arbeit zeigen, welche große Bedeutung das Saugen für
die Verstandesentwicklung des Kindes hat und welche Möglichkeiten ihm
durch das Saugen für die Verbindung mit der Realität eröffnet werden.
Zuerst mögen die wichtigsten Mitteilungen über das Kind folgen: Die
Geburt erfolgte rechtzeitig und normal, keine Asphyxie, Gewicht 3600 Gramm*
Am dritten Tage wurde es von einem guten Kinderarzt untersucht und für
ein völlig gesundes, sehr kräftiges Kind befunden, Vater und Mutter sind
völlig gesund, in beiden Familien sind keine schweren vererbten Er¬
krankungen vorhanden. Die ersten sechs Monate erfolgte Brustnahrung
1) Dieser Aufsatz ist einem Vortrag entnommen, der am 27. November 1924 in der
Russischen Psychoanalytischen Vereinigung gehalten wurde. Die Form des Vortrages
ist beibehalten worden.
57 «
Wera Schmidt
durch die Mutter. Spater wurde allmählich mit Beinabrung begonnen.
Völlig von der Brust entwöhnt war das Kind mit einem Jahr. Die Zähne
kamen rechtzeitig, ohne irgendwelche Krankheitserscheinungen. Mit seiner
Erziehung wurde bereits am ersten Tag begonnen. Sie bestand erstens in
der Gewöhnung an ein bestimmtes Regime und zweitens in der Gewährung
voller Bewegungsfreiheit, Die Hände waren frei. Die büße leicht in VYindel
eingehüllt. Die Entwicklung verlief völlig normal, durch nichts eingeengt,
aber auch nicht forciert. Das Kind hatte kein Kindermädchen; während der
ersten eineinhalb Jahre seines Lebens oblag die ganze Wartung der Mutter.
Später kam es in das Kinderheim des Psychoanalytischen Instituts, wo es
bis zu viereinhalb Jahren lebte.
*
Aus dem Tagebuche
BRUSTSAUGEN
2/7/1, l$2ö (l. Tag)'
„Ungefähr um sechs Uhr abends legte
man AKk zum erstenmal an die Brust*
obgleich ich noch keine Milch hatte. Er
ergriff die Brustwarze sehr fest mit den
Kiefern und begann zu saugen. Er unter¬
brach sich einigemal, aber man hielt ihn
von neuem zum Saugen an. Das dauerte
ungefähr eine Viertelstunde,“
5 / 77 / ( 2 . Tag)
„Alik will essen. Öffnet immerzu den
Mund, wie ein Junges, dreht den Kopf
nach der Seite, als ob er danach sucht*
was er greifen könnte. Im Schlaf macht
er Saughewegungen mit den Lippen und
schmatzt sogar. Die Brust ergriff er heute
mit außerordentlicher Stärke. Er warf sich
auf mich und saugte sich mit den Kiefern
so fest, wie mit einer Zange, an.“
4 llll (p Tag)
„Zum Essen legt Alik den Kopf zurück
und wirft sich dann buchstäblich auf mich*
trinkt aus der Brust und hält die Brust¬
warze wie mit Zangen fest. Nachdem er
ein wenig gesaugt hat, schlummert er ein,
Ich wecke ihn. Er legt sich wiederum
zurück und stürzt sich wieder auf die
Warze,“
FIN G EH L UTSCHEN
5/Jfi (3, Tag)
„Zufällig geriet der Zeigefinger in den
Mund und er begann zu lutschen,“
4IM ( h Tag)
„Heute früh, nach dem Essen, bewegte
er sehr lange die Finger um den Mund
herum. Wenn einer von ihnen in den
Mund geriet, begann Alik ihn mit Lust 14
zu lutschen, aber oft drängten die be¬
nachbarten Finger durch ihre Bewegung
ihn aus den Mund .. * Alik äußerte seine
Unlust hierüber in zornigem Schnaufen
und Keuchen,“
1) Geboren um sieben Uhr morgens,
2) Die Bezeichnungen „Lust“ und „Unlust“ geben hier die persönlichen Eindrücke
der Mutter wieder.
Die Bedeutung des Brustsaugens und Fingerlutschens usw,
579
BRUSTSAUGEN
FING ERL UTSCHEN
SlIII (4- Tag)
Jim (4. Tag)
„Zum Saugen wirft er sieh nicht mehr
auf die Warze, sondern führt die Lippen
nach rechts und links, bis er sie packt,“
„Immer öfter und öfter gerat eines
der Finger chen (und zuweilen auch alle
zehn auf einmal) in den Mund und bleiben
dort manchmal eine geraume Zeit,“
yflll (6. Tag)
„Alik saugt jetzt wieder anders; er
packt sehr fest auf einmal die Brustwarze
und laßt sie für keine Sekunde aus. Die
ersten fünf Minuten saugt er sehr intensiv
und rhythmisch wie eine Pumpe, dann
schläft er ein. Ich wecke ihn, er beginnt
zu saugen, wobei er zuweilen anhält und
sich unterbricht, bis er wieder einschläft,“
Wir sehen, daß Alik der Mutterbrust gegenüber höchst aggressiv ist. Sein
Saugen ist eher ein Ergreifen mit den Kiefern, d. h, ein Beißen, Und
erst in der weiteren Entwicklung werden wir sehen, wie er zum richtigen
Saugen übergeht, wobei auch die damit verbundenen Lustgefühle allmählich
zum Vorschein kommen. Parallel und anfänglich vollständig zufällig machte
Alik sich mit den Gefühlen bekannt, die aus dem Lutschen der in den
Mund geratenen Finger entstehen.
In der zweiten Woche sind keine neuen Beobachtungen über das Brust-
saugen verzeichnet, das Kind hat bereits einige Erfahrung darin erlangt
und gibt sich ruhig der Sättigung hin. Die Finger geraten infolge des
Unvermögens, die Bewegung zu koordinieren, bald in den Mund, bald
wieder von dort heraus und stören so die Ruhe des Kindes. Das ruft
hei ihm eine Reaktion der Unlust hervor und wahrscheinlich ein unklares
Streben, das angenehme Gefühl, das beim Lutschen der Finger entsteht,
zu verlängern, (Wären diese Gefühle nicht vorhanden, so w-ürde das Kind
nicht zornig sein, wenn die Finger aus dem Mund herausfallen.) Soweit
gehen die Notizen hierüber von der zweiten Woche.
p/ffl (8 . Tag). „Die Hände Aliks bewegten sich längs des Mundes nach rechts
und links. Wenn die Faust die geöffneten Lippen berührte, begann Alik mit Be¬
friedigung daran zu lutschen, aber nach einigen Sekunden bewegte sich die Faust
weiter und glitt aus dem Munde heraus. Darauf reagierte Alik mit einem zornigen
Gequietsche und sein Gesicht nahm einen ganz bestimmten zornigen Ausdruck an.
Solange die Hände sich neben dem Mund bewegten, war er fortwährend halb geöffnet.
Wenn der Ärmel des Leibchens die Lippen berührte, machte Alik Bewegungen mit
den Lippen, als ob er tasten wollte, die Augen waren während dieser Zeit nach der
Decke gerichtet und unbeweglich. Kaum näherte sich die Faust den Lippen, so begann
Alik sofort zu lutschen und blinzelte vor Lust mit den Äugen,“
jjßlL (14. Tag), „Nach der Mahlzeit steckte er den Finger in den Mund und
hielt ihn dort, ohne ihn herauszunehmen über fünf Minuten, Beim Lutschen des
Fingers gibt er heute zum erstenmal undeutliche Töne JViom,mam 4 oder^fljgn 1 von sich.“
Wera Schmidt
3 8 °
Aus diesen Notizen'kann man den Schluß ziehen, daß das Kind während
dieser Woche, wenn auch noch nicht vollständig, es gelernt hat, den
Finger neben dem Mund zu halten, So drängt das Streben nach Ver¬
längerung der angenehmen Gefühle das Kind zu neuen Errungen schäften,
im gegebenen Falle — zum Anfang der Koordination der Bewegungen.
Im Laufe der dritten Woche befestigen sich nicht nur die Gewohn¬
heiten, die Hand länger in der Nähe des Mundes zu halten, sondern es
ist noch ein Schritt vorwärts gemacht worden; es ist das Streben auf¬
getreten, die Finger in den Mund zu stecken.
!2jIH (19. Tag). „Die Finger bewegen sich direkt zum Mund. Wenn cs Alik nicht
gelingt, so stößt er zornige Schreie aus und weint sogar . . . Heute hat er sehr
lange am Daumen der linken Hand gelutscht und ist sogar dabei eingeschlafen.“
Außerdem hat das Kind in dieser Woche zum erstenmal zw r ei ganz
verschiedene Prozesse vereinigt, das Saugen und die Defäkation.
„Jedesmal bei der Stuhlentlehrung lulsclit Alik die Faust sehr hartnäckig* gierig
und mit einem besonderen ^nmzen 1 ^
Aber ist das nicht ein neuer Schritt in der Entwicklung des Kindes?
Das Lutschen der Faust während des Defäkationsaktes, zeigt es uns denn
nicht, daß in dem primitiven Denken des Kindes sich diese beiden Prozesse
infolge der gleich intensiven Lust, die sie verursachen, vereinigt haben?
Mit diesem Vorrat von Gewohnheiten und primitiven Assoziationen, die
mit dem Saugen verknüpft sind, tritt das Kind in die vierte Woche seines
Lebens.
sSjlll (2J* Tag), „Gestern und heute begann Alik die Brust wiederum anders zu
saugen. Er packt nicht mehr mit den Kiefern wie früher, sondern mit den Lippen
lind der Zunge. Letztere spielt jetzt im Saugprozeß eine wichtige Bolle. 1 Nachdem
Alik fünf bis acht Minuten gesaugt liat, beginnt er einfach die Brustwarze zu kauen.
Man merkt, daß er bereits satt ist, Milch nicht mehr saugt, trotzdem diese noch
reichlich vorhanden ist, sondern sich einfach ein Vergnügen bereitet. Er schläft nicht,
liegt mit offenen Augen und macht leichte Saugbewegungen mit den Lippen.“
Im folgenden bringt das Tagebuch eine Zusammenfassung über den
Erwerb an Fähigkeiten des Kindes im ersten Monal.
„In der vierten Woche hat das Saugen an der Brust sich aus einem ausschließlichen
Sättigungsakt in einen lustsp enden de» Vorgang verwandelt, Alik saugt rasch und gierig.
1) Unter den von mir beobachteten Kindern bat keines in den ersten Lebenstagen
sich in demselben Maße aggressiv gezeigt (die kannibalischen Triebe offenbart), wie
Alik. Fm Gegenteil, ich konnte ein Mädchen in den ersten Tagen seines Lebens
beobachten, die nicht saugte, sondern, die Brust leckte und die Mutter mußte nicht
wenig Anstrengungen machen, um cs zum Saugen zu bringen. Hier entsteht ein neues
und sehr interessantes Problem darüber, wie die Mädchen und die Knaben zu saugen
beginnen und ob hier nicht Unterschiede vorhanden sind, die für jedes Geschlecht
typisch sind* Aber das gehört nicht mehr zur Aufgabe des vorliegenden Aufsatzes.
Die Bedeutung des Brustsaugens und Fingerlutsehens usw.
bis er satt ist, dann beginnt er ganz anders zu saugen, die Brustwarze mit den Lippen
allein zu drücken oder zu kauen, und dabei läßt er genau dasselbe „Grunzen“ ver¬
nehmen, wie beim Lutschen der Paust während der Defakation. Wenn man die
Brustwarze wegnimmt, bevor er satt ist, so beginnt er gierig mit den Lippen zu
suchen. Wird sie aber weggenommen, während er kaut, so liebt er ein verzweifeltes,
gekränktes Weinen an, aber er versucht nicht, sie zu suchen oder mit den Lippen
zu packend
So sehen wir in der vierten Woche, d. h. am Ende des ersten Monates,
bereits eine Differenzierung zweier Momente, der Sättigung und des Lust¬
gewinns/ Das Kind verhält sich, wie wir gesehen haben, verschieden, wenn
es ißt, und wenn es einfach sich angenehmen Gefühlen hingibt. Es reagiert
auch verschieden auf Entbehrungen.
Die Berichte der sechsten Woche zeigen deutlich, daß das Kind sich
ganz verschieden verhall, wenn es die Finger aus Hunger oder zum Ver¬
gnügen lutscht.
iiJIV ( 4 Im Tag). „Gestern und heute vor der Mahlzeit (während ich die Brust
reinigte) saugt Alik die Finger mit ungewöhnlicher Gier. Dabei läßt er undefinier¬
bare Tone so ähnlich wie ,nga, nga 4 vernehmen, wendet sich fortwährend umher, dreht
den Kopf, schreit von Zeit zu Zeit auf, läßt manchmal zornige Töne hören, dann
saugt er wiederum. Die Finger rutschen immer aus dem Munde, bald lutscht er am
Finger, bald an der Faust usw.“
jz/ir (42. Tag). „Morgens nach dem Essen lag Alik ruhig und lutschte eifrig
am Zeigefinger der linken Hand, und ließ das charakteristische ,Grunzen 4 vernehmen.
Die Augen waren weit offen und fast unbeweglich. Überhaupt waren Unbeweglichkeit
und Konzentriertheit die besonderen Züge seines heutigen Lutsehern. Es genügt zu
sagen, daß er fast eine Stunde ein und denselben Finger gelutscht hat.“
Hier tritt der Unterschied in dem Benehmen des Kindes so kraß hervor,
daß er für sich selbst spricht. Es folgt nun ein Bericht darüber, wie das
Kind sich verhält, wenn es hungrig ist, ißt und sich gesättigt hat und —-
wenn es sich nur Lust verschafft.
ijV (Aus den Ergebnissen des 2. Monats). „Der Hunger kommt bei Alik in lautem Schreien
und in einer ganzen Reihe zweckmäßiger Bewegungen zum Ausdruck, die darauf ge¬
richtet sind — die ,Beute 4 zu erfassen. Mit den Händen macht er ganz bestimmte,
greifende Bewegungen, indem er die Fäustchen zusammendrückt und aufmacht. Den
Kopf bewegt er seitwärts und sogar nach unten, wie um mit den Lippen etwas Unsicht¬
bares zu erfassen, was auf dem Polster liegt. Wenn man ihn auf den Händen halt, hebt
er den oberen Teil des Körpers und sucht mit den Lippen in der Luft. Dabei läßt er
kurze, abgerissene Töne hören und manchmal weint er laut... Der Ausdruck der Augen
ist suchend, gierig .. . Nehme ich ihn auf die Hand, um ihn zu stillen, so wird er
ganz umgewandelt. Das Schreien hört auf, auf dem Gesicht erscheint ein ganz besonderer
Ausdruck — eine Mischung von Gier und Erwartung. Er atmet angestrengt, greift aber
nicht mehr mit dem Mund, sondern schaut nur auf die Brust. Die Brustwarze packt
er nicht nur gierig, sondern mit einem noch viel stärkeren Gefühl, wofür mir kein
Ausdruck ein fällt!“
1) VgL Bernfeld, Psychologie des Säuglings, 1925, S. 63 ff.
3 82
Wera Schmidt
„ .,„ Nun hat er sich gesättigt, er liegt ruhig, langsam den Blick von einem Gegen¬
stand zum anderen lenkend, auf den Lippen — ein unbestimmtes, glückliches Lächeln,
die Händchen bewegen sich faul, selten lassen sich leichte 1 ono wie Seufzer ver¬
nehmen. Das ist die Inkarnation der Zufriedenheit und der Ruhe,
Und nun einen Bericht darüber, wie Alik die Finger zu seinem Ver-
gnügen lutscht,
i/K „Beim Fingerlutschen hat Alik ein ungewöhnlich gespanntes Aussehen, Sein
Blick ist nach innen gerichtet. Er sieht und hört nichts. Seine Stellung ist vollkommen
unbeweglich. Die ganze Zeit gibt er die charakteristischen »grunzenden 4 Töne von sich. w
Dieser ganze äußere Anblick des Kindes und seine ganze Führung zeigt
uns deutlich, daß wir in ein und demselben Akt zwei völlig voneinander
verschiedene Dinge haben: Sättigung und mit der Sättigung verbundene
Befriedigung, und eine Befriedigung völlig anderer Ordnung, die mit der
Außenwelt nicht verknüpft ist*
Beim Fingerlutschen ist das Kind in sich versunken und der Außenwelt
vollkommen entrückt.
Aber da es nicht ständig am Finger lutschen kann, — bald wird es
gewickelt, bald genährt, oder es schläft, und die Finger fallen ihm aus
dem Munde heraus, — so muß es jedesmal von neuem die Wiederherstellung
der angenehmen Empfindungen anstreben. Dies führt, worauf ich schon
oben hingewiesen habe, zu den ersten Versuchen koordinierter Bewegung
der Hand,
In der neunten Woche beherrscht das Kind dies alles schon in be^
deutendem Maße, und versteht bereits die Finger zum Munde zu führen,
wann es will*
In derselben neunten Woche trat noch ein Ereignis ein:
$IV (6 }. Tag). „Alik ergriff mit beiden Händen den Rand seines Kleides und steckte
es in den Mund."
Ein neuer Schritt in der Entwicklung des Kindes. \ on diesem Moment
an beginnt es mit der Außenwelt in Berührung zu treten und sie zunächst
durch seine bevorzugte erogene Zone kennen zu lernen*
Der Bericht der zehnten Woche sagt hierüber folgendes:
$\V f6 $. Tag). „Gestern und beute verfolgt Alik sehr aufmerksam die Bewegung
der linken Hand* Er bewegt sie nach vorn und nach hinten, uacli rechts und nach
links, die Augen folgen ununterbrochen ihren Bewegungen. Der Gesichtsausdruck ist
sehr ernst, die Lippen leicht geöffnet, die Brauen gerunzelt*"
Das Kind macht seine Beobachtungen, indem es seine Aufmerksamkeit
einem bestimmten Gegenstand zuwendet (der linken Hand). Der Bericht
fährt fort:
„Einmal versuchte er die linke Hand mit der rechten zu ergreifen, aber er machte
die Faust zu früh. Trotzdem begann er die linke Hand mit der rechten in den Mund
Die Bedeutung des Brustsaugens und Fi ngerluts chens usw.
5%
zu schieben. Der Mund öffnete sieh, so, als oh er darauf gewartet hätte, aber er
brachte die Hand nur ungefähr bis zum Kinn und begann dann von neuem mit beiden
Händen von vom auszuholen.^
11. Woche: i6j¥ (y6> Tag), „Die Beobachtung seiner Hände geht immer weiter
voran. Er wendet bereits seine Blicke von der einen Hand auf die andere, so, als ob
er sie miteinander vergliche. Dabei sind die Hände ständig zu Fäusten geballt. Gestern
und heute lutschte er abwechselnd bald an der linken, bald an der rechten Faust.
12, Woche: 24jV (84 . Tag), Bereits seit drei Tagen greift Alik mit der einen Hand
die andere. Er schaut sehr eifrig auf seine sich bewegenden Hände, dann beginnt er sie
langsam einander zu nähern. Eine ergreift die andere und führt sie zum Munde hinein. w
An demselben Tage:
„Er greift jetzt bereits verschiedene Gegenstände (Windel, das Kleidchen, das
Hemd oder das Tuch) und steckt es in den Mund . . . Heute spielte er mit dem
Finger des Vaters und steckte ihn ebenfalls in den Mund.“
So beginnt das Kind also langsam und allmählich sich mit der Außenwelt
bekannt za machen. Die Lust verknüpft sich jetzt mit neuen Momenten —
den Erkenntnisakten. Es schaut auf seine Hand und zieht sie in den Mund.
Hiebei zieht es sie mit der anderen Hand, obgleich es bereits sehr gut
die Hand zum Munde führen kann, wenn es lutschen will. Wir werden
sehen, wie das Fingerlutschen ihm nach einer gewissen Zeit ermöglicht,
zwei Empfindungen zu verknüpfen, die es gleichsam aus zwei verschiedenen
Gegenständen her erhalten hat, — dem Anblick der Hand, welche es mittels
der anderen Hand in den Mund steckt, und derselben Hand (aber unsichtbar),
wenn es den Finger lutscht. Dasselbe Fingerlutschen verhilft ihm die Hand
(vorläufig nur diese) von anderen Gegenständen, die nicht seinem Körper
angehören, zu unterscheiden. Der Beginn dieses Erkennens — seines Körpers
und der Welt — ist auch in dem eben angeführten Bericht enthalten.
Was geht nun in diesen* Monat beim Brustsaugen vor sich? In den
„Fortschritten des dritten Monats“ findet sich darüber folgender Bericht:
ijVL „Wenn Alik vor dem Essen in Windeln gelegt wird, so lächelt er fröhlich;
wenn er eingewi ekelt ist, so schallt er auf mich, während ich das Stillen vorbereite.
Darm, wenn ich ihn auf den Arm nehme, macht er immer eine und dieselbe Bewegung
mit dem Munde: Er züngelt und schmatzt mit den Lippen, wobei er mit gierigen
Augen auf die offene Brust schaut. Wenn ich irgendwie mich verzögere, beginnt er
heftig zu wreinen, Während des Saugens geht seine Hand teihveise zur Brust, teil¬
weise auf mich, und zuweilen greift er das Kleid oder nach meinem Finger* Alik
saugt gierig, aber nur so lange die Milch von selber fließt; hört sie auf, so beginnt er
sich zu ärgern und verlangt, an die andere Brust gelegt zu werden. Wenn er getrunken
hat, läßt er die Brustwarze los und das erste, was er tut ist, daß er mich anlächelt.
Dann fangt er zu sprechen an, und setzt dieses auch noch im Bett fort.. * Die Stellung
während des Saugens ist charakteristisch. Sein Rumpf ist leicht gebogen und mir zu¬
gewandt. Der Kopf liegt weit zurück, die Hand ist ebenfalls nach hinten gelegt, die
Augen halb geschlossen. Die Wangen sind gerötet. Seine Stellung und seine ganze kleine
Figur ist von einer außergewöhnlichen Wollust erfüllt.“
Wera Schmidt
5 S 4
Aus diesem Bericht geht hervor, daß die Lust, die mit dem Brustsaugen
verknüpft ist, noch immer am stärksten ist, aber nach meiner Ansicht
beginnt hier bereits noch ein anderes Moment in den Vordergrund zu
treten _ die Lust aus der Nähe der Mutter* Darauf deutet das Verhalten
seiner Hände während des Trinkens und auch sein Anschmiegen mit dem
ganzen Körper, Endlich mag noch als Beweis das Lächeln dienen, mit
dem er sich unmittelbar nach Beendigung der Mahlzeit an die Mutter wendet.
Auf diese Weise hat Alik im dritten Monat die Beziehung zur Außenwelt
hergestellt; das Saugen an der Brust nähert ihn der Mutter, das Finger-
lutschen lehrt ihn die Teile seines Körpers von fremden Gegenständen zu
unterscheiden.
Im vierten Monat ändert sich das Benehmen des Kindes vollständig.
Seine ganze Tätigkeit und sein ganzes Interesse konzentrieren sich auf die
Bewegungen der Hände, d*?r Füße und des Körpers, Er lernt Gegenstände,
und sogar sich bewegende Gegenstände (seine Beinchen) ergreifen, sich nach
allen Seiten drehen, und interessiert sich für alles, was um ihn herum vor
sich geht*
Was geschieht aber nun mit dem Fingersaugen?
rj_ Woche: ifjFI (iq$. Tag). „Alik lutscht jetzt seine Finger mir vor dem Schlaf
und im Schlaf, Das Lutschen beginnt für ihn ein Schlafmittel tu werden.“
Wenn wir uns an die früheren Berichte erinnern, w r o davon gesprochen
wird, wie das Kind andauernd bemüht ist, den Lustgewinn aus dem Lutschen
zu verlängern und stundenlang ununterbrochen die beiden Finger der linken
Hand saugen kann, so sehen wir, daß der Entwicklungsprozeß des Kindes weit
vorgeschritten ist* Das Fingerlutschen verlor seine frühere Stärke als Genuß,
es würde jetzt das Kind nur noch in seinen Bewegungs- und Forschungs¬
versuchen stören. Die Muskelerotik trat entschieden an die erste Stelle, und
dem Fingerlutschen verblieb seine Bedeutung: das Kind von der Außenwelt
zu trennen (die Versenkung des Kindes in sich selbst). Das Kind lutscht die
Finger jetzt vor dem Einschlafen und während des Schlafens. Hierin können
wir ein gutes Beispiel dafür sehen, daß das Kind, das sich normal ohne
Hemmungen entwickelt hat, seine Triebe nicht auf das Fingerlutschen fixiert;
es hat dafür sehr viele andere überaus interessante Möglichkeiten,
Gleichzeitig mit der Entwicklung der Muskeltätigkeit zeigt sich beim
Kinde auch eine mit der oralen Zone verknüpfte aggressive 1 endenz {Be¬
mächtigungstrieb), In dieser Zeit beschäftigte sich Alik sehr wenig damit,
an Gegenständen zu lutschen, sondern bemühte sich mehr, sie mit dem
Mund zu ergreifen, sie durch den Mund sich zuzueignen. 1
i) Wahrscheinlich haben wir hier ein Überbleibsel der sogenannten „kannibali¬
schen Phase der Entwicklung“ des Menschen,
Die Bedeutung des Brustsaugens und Fingerlutschens usw.
3 8 5
Hierüber folgendes;
r/, Woche: pjFI (100. Tag). „Aliks Aufmerksamkeit war heute durch meinen Plaid
angezogen. Er wandte sich auf seine Seite und langte mit den Händen, mit dem
offenen Munde danach. Seine ganze Stellung zeigte eine aggressive Absicht, aber be¬
sonders charakteristisch war sein weit geöffneter Mund*“
i/. Woche: r^/FI (tof. Tag). „Ich setzte mich an seine linke Seite und legte mir
eine farbige Stickerei auf die Brust. Sowie Alik sie sah, begann er sich auf sie zu
bewegen. In seine Augen kam ein gieriger Glanz, der Mund öffnete sich, die Lippen
wurden vorgeschoben, der Atem kam stoßweise. Er wandte sich mit dem oberen
Teil des Körpers zu mir und streckte die Arme aus. Eine Zeitlang versuchte Alik
die Stickerei zu ergreifen, aber ohne Resultat, Darauf legte er sich auf den Rücken,
sah die Stickerei gierig an, wobei er seine Faust lutschte, 48
Im vierten und fünften Monat sind fast gar keine Aufzeichnungen über
das Lutschen, Dies erklärt sich vor allen Dingen daraus, daß Alik in
dieser Zeit sehr stark von allen möglichen Bewegungen in Anspruch ge¬
nommen war. Keine Minute war er ruhig. Als einen großen Erfolg dieser
Periode können wir den Umstand betrachten, daß er in dieser Zeit allmählich
lernte, an seinen Zehen zu saugen, d. h. eine neue Bewegung, die mit dem
Lutschen verknüpft war und ein bestimmtes Ziel verfolgte, zu beherrschen
begann.
In der zwanzigsten Woche wurde mit Alik ein kleines Experiment angestellt,
um festzustellen, ob das Saugen allein oder auch die Anwesenheit der
Mutter während des Essens notwendig und wichtig ist. Die Familie Aliks
lebte damals auf dem Lande zusammen mit der Familie G, Alik kannte
Frau G, sehr gut, sah sie ständig, liebte sie sehr und hielt sie durchaus
für eine der seinigen. Die Mutter bat Frau G>, sie bei einer Mahlzeit zu
ersetzen,
syjVII (138. Tag). „Heute machten wir mit Frau G, folgenden Versuch: Als die
Essenszeit herangekommen war, nahm sie Alik, setzte sich auf meinen gewöhnlichen
Platz und legte ihn an die Brust. Auf dem Gesicht Aliks zeigte sich ein starkes
Nicht verstehen. Er ergriff nicht die Brustwarze, wie gewöhnlich, sondern blieb mit
offenem Munde und schaute ununterbrochen auf Frau G. Dann drehte er den Kopf
und begann mit den Augen im Zimmer herumzusuchen, erblickte mich und begann
mich anzulächeln. Wie sehr auch Frau G, versuchte, ihm die Brustwarze in den
Mund zu legen, so nahm er sie doch nicht. Jedoch, sowie ich ihn an die Brust legte,
lächelte er fröhlich und begann sofort zu saugen, 84
Der sechste Monat bringt wiederum viele Berichte und Beobachtungen über
die weitere Entwicklung des Saugens* Es muß bemerkt werden, daß dieser
Monat in vielen Beziehungen ein Wendepunkt im Leben Aliks war. Erstens
konnte er vollständig seinen Körper nach allen Seiten drehn, am Ende
dieses Monats (der 25* und 26, Woche), begann er selbständig zu sitzen
und sich am Rande des Wägelchens fest haltend selbständig zn stehen.
Ferner erhielt er zum Schluß des Monats zum erstenmal Mannagrütze
Imago XII.
25
5 86
Wera Schmidt
statt der reinen Brustnahrung. Und zur selben Zeit gibt er, wie wir aus
den unten angeführten Aufzeichnungen sehen werden, fast vollständig den
Lustgewinn beim Brustsaugen auf.
Beginnen wir mit den Berichten, die sich auf das Erkennen seiner
Umwelt und seines Körpers durch das Saugen beziehen.
Woche: (if$* Tag). „Alik liebte es sehr, mit dem Bauch nach unten zu
liegen, die Ellbogen auf ge stützt und ebenso die Knie. In dieser Stellung schaut er
auf seine Hände, lutscht sie und schaut dann wieder auf sie.“
2 4 . Woche: id/F/// (168. Tag). „Alik erhielt heute ein neues Spielzeug, Als ich es
ihm gab, ergriff er es mit beiden Händen, schaute es an und steckte es plötzlich in
den Mund, Er lutschte etwas daran, nahm es dann heraus, lutschte an seiner Hand
unterhalb der Handwurzel, begann dann wiederum an dem Spielzeug zu lutschen,
dann wiederum an der Hand, und dann begann er das Spielzeug anzuschauen und
ließ es schließlich fallen/ 1
26. Woche: 28Will {180 . Tag). „Beim Lutschen scheint Alik ein Wissen 11m seine
eigene Hand zu haben. Früher geschah es sehr häufig, daß er irgendeinen Gegen¬
stand ergriff, aber zufällig nicht ihn, sondern seine Hand in den Mund bekam und
daran lutschte, ohne die Täuschung zu merken. Heute aber ergriff er meinen Finger
und steckte ihn in den Mund, Ich drehte meinen Finger vorsichtig so, daß seine
Hand in den Mund kam und mein Finger unten blieb. (Ich hatte dies schon früher
mehreremal mit Erfolg getan.) Aber jetzt wandte Alik, nachdem er mit dem Munde
seine Hand ergriffen hatte, sofort den Kopf und schrie heftig, um dann von neuem
meinen Finger hineinzustecken,“
So sehen wir, daß das Kind durch das Lutschen am Finger und an
Gegenständen die Glieder seines Körpers von fremden Gegenständen zu
unterscheiden gelernt hat. Wenn dies auch noch jetzt nur durch den Mund
geschieht, so gelingt es doch bereits leichter; weil das Selten, das lasten,
der Schmerz ihm helfen das Begonnene zu vollenden. Der Mund und das
Saugen mit dem Munde stehen jedoch vorläufig noch immer im Zentrum
seiner Bemühungen, die ihn umgebenden Dinge zu erkennen. Nachdem Alik
gelernt hatte, sich auf dem Bauch herum zudrehen, begann er die Gegenstände
direkt durch den Mund, ohne Zuhilienahme der Hände, zu untersuchen.
Solche Aufzeichnungen gibt es sehr viele: er schnappt mit dem Munde und
er greift mit dem Munde, Ich werde nicht alle an führen, sondern beschränke
mich nur auf eine eng mit dem Lutschen verknüpfte Aufzeichnung.
26. Woche: 28/FIII (180 , Tag). „Alik erhielt ein großes, rotes Holzei geschenkt. Er
spielt mit ihm sehr gern, meistens legt er sich auf den Bauch, beginnt mit dem
Mund am Ei zu lutschen, wobei er es vorwärts bewegt, da das Ei sich dreht/
Nun noch ein neues Moment, das vielleicht bei der Sublimierung der
Oralerotik eine Rolle spielt: das Ansaugen an die Mutter, wahrscheinlich
die erste Form des Kusses.
23. Woche: jjVIII (j/9. Tag). „Ich nahm Alik auf den Arm, um mit ihm spazieren
zu gehen. Während wir gingen, drehte Alik seinen Kopf zu mir und plötzlich warf
Die Bedeutung des Brustsaugens und Fingerlutschens usw*
3 8 7
er sich auf midi und saugte an meiner Wange* Ich war so erstaunt, daß ich mich
nicht gleich wegbog, so daß er mit dem Mund einen Teil meiner Wange festhalten
konnte* Später wiederholte sich dies noch einmal, ebenso schnell und unerwartet,
und das drittemal saugte er an meinem Arm in der Schultergegend,“
Solche Berichte werden wir später noch mehrfach finden* Alik saugte
sich nicht nur an mich, sondern auch am Vater an. Das Ansaugen geschah,
wenn man mit ihm spielte, er in guter Stimmung war und keine An¬
zeichen von Hunger zeigte.
Wir gehen jetzt zum eigentlichen Brustsaugen über und wollen sehen,
ob hier eine Veränderung in den letzten drei Monaten erfolgt ist. Beim
letztenmal, am Ende des dritten Monats, sagten wir, wie stark noch der
Lust gewinn vom Brustsaugen war. Sehen wir nun zu, was die Berichte
der vierundzwanzigsten Woche sagen *
l6jFIII (168. Tag). „Wenn der stärkste Hunger beim Stillen schon beseitigt ist,
wird Alik von dem kleinsten Geräusch, aber auch ohne jeden äußeren Grund, vom
Essen abgelenkt* Plötzlich stoßt er mit beschäftigtem Blick die Brustwarze fort und
schaut im ganzen Zimmer herum. Gleichsam als ob er sich überzeugt hätte, daß
alles an seinem Platz ist, beginnt er wiederum geschäftig zu sa ugen. a
Hier sehen wir bereits nicht mehr das völlige Insichselbstversimkensein.
In seinem Empfinden und Leben herrscht nicht mehr jene „Wollustpose“,
von der wir oben gesprochen haben. Das Kind saugt mit „geschäftiger“
Miene*
Das heißt, daß die Sexualbefriedigung, die mit diesem Akt verbunden
ist, entweder gänzlich auf irgend etwas anderes übertragen wurde oder nur
noch in sehr kleinen Dosen vorhanden ist.
In den „Ergebnissen des sechsten Monats“ wird darüber schon ganz
bestimmt ausgesagt,
l/ZX „Das Brustsaugen ist schwächer geworden und an die zweite Stelle gerückt.
Zuerst saugt er gierig, solange er noch Hunger hat, spater beginnt er zu spielen,
dreht sich beinahe auf den Bauch, schlägt mit den Händen, lallt, halt aber die
Warze im Munde, Dies weist darauf hin, daß die sexuellen Erscheinungen fehlen,
die bisher sich in der Konzentriertheit, Unbeweglichkeit usw, geäußert haben. Was
ersetzt ihm aber diese Lust? * * . Ich wollte schon lange Sagen, daß ich anfange, für
ihn ein Objekt zu werden, das an die Stelle des Saugens tritt, und daß im gegebenen
Moment für ihn die vielleicht nur rein physische Empfindung meiner Nähe notwendig ist,“
So wird also am Ende des sechsten Monats die überaus starke und kräftige
Saugelust allmählich unbedeutender. Teilweise behält sie noch ihre Bedeu¬
tung beim Fingerlufsehen, teilweise geht sie in einen Lustgewinn, sozu¬
sagen taktilen Charakters über, der mit der physischen Nähe der Mutter
überhaupt und nicht der Mutterbrust allein verknüpft ist. Und daher
verhält sich Alik auch, als er zum erstenmal Mannagrütze statt der Brust
erhält, dieser Tatsache gegenüber völlig ruhig.
25*
g88
Wera Schmidt
26. Woche: jtjVlll (z8j. Tag). „Heute erhielt Alik mm erstenmal Grütze. Er aß
sie direkt aus dem Löffel und mit großem Appetit. (I11 den heißen Tagen des Sommers
hatte ich ihm oft mit einem Lö ff eichen zu trinken gegeben, so daß er schon daran
gewöhnt war.)“
Im siebenten und achten Monat lernt das Kind allmählich aus dem
Löffel essen. Anfänglich war es über die Unterbrechung aufgeregt und
verlangt, daß das Essen ununterbrochen in den Mund Hieße, so daß man
versuchte, es mit der Flasche zu ernähren, aber es lehnte dies ab und fand
selbst einen Ausweg aus der Lage.
32. Woche: jjX (118. Tag). „Während des Essens ergriff Alik wie immer den Löffel
mit der rechten Hand und führte ihn zum Munde, aber die beiden Finger der linken
Hand lutschte er in den Zwischenräumen, während ich die Milch nahm, und gab
erst die Finger aus dem Mund, wenn ich ihm den Löffel näherte.“
So gelang es Alik., die neue Essensmethode mit dem früheren Lust-
gewinn zu kombinieren. Als er schon an die Unterbrechung im Essen
gewöhnt war, lutschte er nur noch beim Milchnehmen an den Fingern,
bei aller anderen Nahrung dagegen nicht, sondern aß normal. Offensichtlich
wollte er den Lustgewinn beim Milch trinken noch nicht aufgeben. (Damals
erhielt er nur zwei Zusatzmahlzeiten und dreimal die Brust.)
Das Verlangen nach körperlicher Nähe der Mutter entwickelt sich eben¬
falls im Zusammenhang mit den früheren Formen der Erzielung von
Lustgewinn.
2;. Woche: 6jlX (1S9. Tag). „Wenn ich Alik auf den Arm nehme, so legt er un¬
verzüglich die Finger in den Mund und beginnt eifrig zu lutschen. ]dasselbe geschieht,
wenn er dicht bei mir ist.“
2 S. Woche: 7/IX (190. Tag). „Ich nahm Alik auf den Arm. Er lutschte sofort an
den Fingern und war still. Ich übergab ihn dem Vater. Alik begann sofort zu lachen
und mit dem Vater zu spielen. Dann nahm ich ihn wieder, sofort steckte er wieder
die Finger in den Mund und hatte dabei eine nachdenkliche Miene.“
Aus den Ergebnissen des siebenten Monats:
„In der emotionellen Sphäre tritt jetzt an die erste Stelle die Verbundenheit mit mir.
Sie äußert sich in einem unbeschränkten Bedürfnis nach meiner Nähe. Wenn der Knabe
mich sieht, wird er ganz verändert. Er streckt die Arme nach mir ans, schmiegt sein
Gesicht und seinen ganzen Körper an mich an, saugt an mir, betastet mich usw.“
Es ist jetzt klar, daß ein bedeutender Teil der Libido, welche mit dem
Saugakt verknüpft war, auf ein neues Gleis überführt ist, und nur noch
unbedeutende Überbleibsel in Form des 1*ingerlutschens vor dem Schlaf und
beim Essen übriggeblieben sind. In den Ergebnissen des achten Monats ist
sogar vermerkt, daß Alik das Brustsaugen unterbricht, um am lringer zu lutschen,
und dann von neuem die Brust nimmt. Der achte Monat ist noch dadurch
interessant, daß in ihm allmählich der Übergang von der Untersuchung
der Gegenstände mit dem Mund zur Untersuchung durch I asten. Beschauen
Die Bedeutung des Brustsaugens und Fingerlutschens usw.
5 S 9
und durch das Gehör erfolgt ist und schließlich den Charakter einer stän¬
digen Erscheinung angenommen hat. Im voran gegangenen Monat war es
nur vereinzelt, daß Alik einen Gegenstand untersuchte, ohne ihn in den
Mund zu nehmen.
i/IX. „Als Forschungsinstrurnent dient ihm jetzt öfters Auge und Hand, der Mund
ist an die zweite Stelle getreten. Wenn er jetzt irgend etwas lutscht, so häufig als
Spiel oder um den Geschmack zu erproben. {Brotkrümel, Zucker, Watte.} Gewöhnlich
schaut er den neuen Gegenstand an, betastet ihn, beklopft ihn und steckt ihn dann
zuweilen in den Mund, aber nicht auf lange.“
So verliert der Mund allmählich seine ursprünglichen zahlreichen Funk“
tionen und nähert sich im Laufe der Entwicklung des Kindes immer
mehr und mehr der Aufgabe bei dem normalen erwachsenen Menschen*
Im neunten Monat begannen die. ersten Onanieversuche. Alik unter¬
suchte sich, tastete bald hier, bald dort an seinem Körper und betastete
dabei einmal sein Glied. Zuerst wollte er es einfach nach oben ziehen,
um es zu betrachten. Er erhielt wahrscheinlich eine bestimmte Empfin¬
dung und begann zu lachen. Später erneuerte er natürlich öfter das neu-
erschlossene Lustgefühl. Im folgenden wird darüber berichtet:
39 * Woche: 2j/XI (271. Tag). „Gestern und heute griff Alik viele Male an sein
Geschlechtsorgan. Er liegt auf dem Kücken, während er mit der Hand umhertastet,
bis er danach greift* Wenn er sitzt, so neigt er den Kopf und schaut darauf und
später streckt er die Hand danach aus. Sein Verhalten ist hiebei ganz anders, als
beim Fingerlutschen. Dort war er eifrig und vertieft, und hier nur auffällig heiter.
Er lacht und spricht laut dahei.“
Sehr viel Lust zog Alik in dieser Zeit aus dem Essensakt selber. Aus
den Ergebnissen des elften Monats:
„Der Atem wird schneller, die Wangen röten sich, der Blick geht nach innen,
die Pupillen sind erweitert.“
Als Alik ein Jahr alt wurde, wurde er endgültig von der Brust entwöhnt.
Äußerlich hat er darauf gar nicht reagiert. Der Bericht hierüber sagt folgendes:
2/III 192X, „Anläßlich seines Geburtstages wurde Alik heute von der Brust ent¬
wöhnt. Er bemerkte dies überhaupt nicht, sondern trank mit Vergnügen ein Glas Milch.“
Im weiteren werden uns noch Rezidiven begegnen, von denen z. B.
folgender Bericht Zeugnis ablegt.
63. Woche: rj/r, 1921 (I Jahr 2 Monate) m „In den letzten Tagen unterbricht sich
Alik während des Essens, um an mir zu saugen. Er bevorzugt dabei eine ganz be¬
stimmte Stelle — den Teil der Brust, der von dem Halsausschnitt freigelassen ist. Er
saugt daran, um dann mit dem Essen fortzufahren, so als ob nichts geschehen wäre.“
Als Alik ein Jahr fünf Monate alt wurde, kam er in das Kinderheim,
wo ihm volle Freiheit in bezug auf das Fingerlutschen gelassen wurde. Er
fuhr auch dort mit dem Lutschen fort, jedoch nur vor dem Schlafen,
39 °
Wcra Schmidt
zuweilen auch bei Verdruß und bei Verletzung. Hiebei lutschte er nicht
die verletzte Stelle, sondern dieselben beiden Finger der linken Hand.
Spielzeug und andere Gegenstände steckte Alik nicht mehr in den Mund,
er aß normal, Süßigkeiten lutschte er nicht, sondern nagte daran. Sein
Appetit war stets, auch wenn er krank war, ausgezeichnet. Er ißt alles
und ohne Launen. Seine Lieblingsspeise war in diesem Alter neben Früchten
und Süßigkeiten Milch, Mannagrütze und Buchweizengrütze» Kartoffeln und
rote Grütze. Mit eineinhalb Jahren konnte Alik selbständig und genügend
schnell mit dem Löffel essen. Er küßt leicht, saugt sich nicht mehr an,
sondern drückt nur die Lippen auf.
Mit zwei Jahren neun Monaten erkrankte Alik an Scharlach und wurde
in die Klinik gebracht. Der Arzt empfahl, ihm das Finger lutschen abzu¬
gewöhnen, da das Lutschen Komplikationen im Munde hervorrufen könnte.
j fjXIly 1922 (2 Jahre und 9 Monate). „Wie soll man Alik voni Fingerlutschen ent¬
wöhnen? Nichts kann ich dazu aus denken. Ich würde ihn gerne bitten, es nicht zu
tun oder es ihm nicht erlauben, aber das Weinen ist in der Klinik nicht erlaubt,
und ohne Tränen geht es natürlich nicht. Ich weiß nicht, was zu tun. Vorläufig
wasche ich ihm nur die Finger vor dem Schlaf mit hei Dem Wasser,“
ijjXII) 1922 (2 Jahre und 9 Monate), „Am Abend fragt Alik mich ganz unerwartet:
,Unö der Doktor erlaubt mir nicht am Finger zu lutschen? — Jch werde
nicht mehr lutschen, 1 Und tatsächlich hörte er auf zu lutschen, dafür aber fangt er
sehr stark zu onanieren an, wurde gereizt, warf sich herum, brumm eite vor sich hin
und lachte immerzu. Schließlich beschloß ich ihm die Finger zu waschen und ihm
das Lutschen, zu erlauben. Darauf schlief er sofort ein.“
22 /XII s 1922 (2 Jahre und 9 Monate ), „Die Angelegenheit des Pingerlutschens ist
unerwartet gut geworden. Einige Tage lang wusch ich sie ihm, bis er mich von
neuem fragte: ,Mama, der Doktor erlaubt nicht, zu lutschen? 1 Ich bestätigte, ,Wird
mein Mund dann krank werden? 1 — ,Ja. 4 — ,Nun, da werde ich nicht mehr lutschen/“
Und seit dieser Zeit nimmt er nicht mehr die Finger in den Mund,
weder am Tage noch in der Nacht,
Aus diesem Bericht geht hervor, daß wir Erwachsene erstens häufig
das Bewußtsein des Kindes unterschätzen und eher bereit sind, zu den
äußersten Gewaltmaßregeln zu schreiten, statt dem Kinde selbst zu gestatten,
seiner Triebe Herr zu werden. Zweitens sehen wir, daß Alik nicht auf
einmal seine Triebe beherrschen kann. Er entsagt dem Fingerlutschen, er
ersetzt diesen Lustgewinn durch andere noch stärkere Lust. Aber seine
Aufregung bei dem Onanieren (gewöhnlich onanierte er sehr ruhig) be-
weist, daß der Fall nicht so ganz einfach ist. Nachdem er wiederum die
Möglichkeit hatte zu lutschen, kehrt Alik aus eigener Initiative zu dem
schon gestellten Thema zurück, stellt neue analoge Fragen und läßt endlich
entschieden vom Fingerlutschen ab. Während seiner Krankheit ersetzt
er diesen Lustgevvinn am meisten durch Onanie, aber ohne jede Aufregung.
Umgekehrt, als Alik zufällig beim Fallen sein Genitale verletzt hatte und
Die Bedeutung des Rrustsaugens und Fingerlutsch ens usw. 391
einige Tage nicht onanieren konnte, kehrte er von neuem für diese Zeit
zum Fingerlutschen zurück. Der folgende Bericht sagt hierüber näheres:
12jlj 192} ( 2 Jahre und 10 Monate), „Alik schläft die ganze Nacht sehr gut, die
Hände lagen die ganze Zeit auf der Brust oder in Kopfliohe. Er schlief mit dem
Finger im Munde ein und steckte, wenn er aufwachte, die Finger in den Mund.“
Nach diesem kurzen Rückfall in frühere Lustgewinnungsformen hörte
Alik vollständig auf am Finger zu lutschen. Auch das Onanieren horte
nach der Genesung auf. Meistens schlummerte er ein, während er sich
Bauch und Brust streichelte. Zwei Monate später finden wir über das Finger¬
lutschen folgenden Bericht:
iSflll, 1923 (3 Jahre), „Alik wirft sich lange hin und her, er bittet: ,Gib mir die
Hand 4 , ich gebe sie ihm. Er beginnt die Hand und die Finger zu küssen und sagt
dabei: ,Ich küsse dir die Finger, diesen und noch diesen 1 usw. Dann plötzlich ,Mama,
ich möchte den Finger lutschen 4 . — ,Nun lutsch/ — ,Wasch mir die Finger, dann
werde ich lutschen 1 (Erinnerung an die Klinik). Ich wusch ihm die Finger, wobei
er die rechte Hand gab; nicht die linke, die er früher immer genommen hatte. Er
fängt zu lutschen an, hört aber bald damit auf »Warum lutschst du nicht? 4 —
,Es gefällt mir nicht, es schmeckt mir nicht 1 .“
Dieses „Es schmeckt nicht beweist, daß Alik beim Flngerlutschen
keinen Lust gewinn mehr hat und er deshalb nicht mehr darauf zurück¬
kommt. Seine Libido bewegt sich auf einem neuen Geleise, andere Lust
hat das Saugen, diese erste und wichtigste Lust form des Kindes, ersetzt.
Und dies geschah ohne die geringste Anstrengung von seiten der Erwach¬
senen. Das Kind erhielt durch das Saugen und Lutschen alles für seine
Entwicklung Notwendige, es erhielt ein Maximum von Lust und konnte
deshalb dieses ruhig aufgeben, als es notwendig wurde. Eines der Stadien
der psycho-sexuellen Entwicklung ist offensichtlich völlig normal und natür¬
lich beendet.
*
Welche Schlüsse und Probleme ergeben sich auf Grund des eben Dar¬
gelegten?
Das Fingerlutschen ist keine „dumme AngewohnheitEs ist biolo¬
gisch normal und eine gesetzmäßige Erscheinung beim Kinde in einer
bestimmten Entwicklungsphase.
2) Das Lutschen am Finger und an Gegenständen trägt zu der Verstandes¬
entwicklung des Kindes in den ersten Monaten seines Lebens bei, es lernt so
seine Umgebung und seinen Körper kennen.
3) Damit das Saugen stets in den Grenzen des Normalen bleibe, muß
bereits von den ersten Tagen an eine richtige pädagogische Umgebung ge¬
schaffen werden, damit sich das Kind in jeder Beziehung normal und
richtig entwickeln kann.
592 Schmidt: Die Bedenlung des Brustsaugens und Finger!utschens usw.
Das pädagogische Verhalten zur Oralerotik besteht in folgenden drei
Momenten:
a) Gewährung von freier Lustbetätigung.
b) Erleichterung der Sublimierungsniöglichkeit durch Herstellung einer
pädagogisch richtigen Umgebung.
c) Pädagogische Hilfe, wenn der noch nicht sublimierte 'Feil der Libido
in der betreffenden Entwicklungsstufe zu verweilen droht.
Zur Metapsychologie des »d£jä vu « 1
Von
Otto Pötzl
Professor an der Deutschen Universität Prag
Wer die Empfindung des deja vu häufig an sich selbst erlebt hat, wird
aus eigener Erfahrung zwei Eigentümlichkeiten dieses Erlebnisses kennen,
die sehr häufig sind, wenn sie auch nicht immer gleich stark ausgeprägt
erscheinen. Übrigens sind diese beiden Eigentümlichkeiten schon längst
und vielfach beschrieben worden: Die erste ist ein eigenartiges, schwer
zu beschreibendes Gefühl einer Entrücktheit, einer Trance, die sehr eng
verwandt ist mit den inneren Erlebnissen von sogenannter Depersonali¬
sation; die zweite Besonderheit bezieht sich auf die Situation, von der
man das unmittelbare Gefühl hat, sie in der Vergangenheit schon ganz
getreu erlebt zu haben; stellt sich die Sensation z. B. in einem Augen¬
blick ein, in dem eine andere Person gerade in einer Rede begriffen ist,
so lautet die Impression des deja entendu, in Worte gefaßt, etwa so: Alles
das, was er jetzt sprechen wird, zu sprechen im Begriffe ist, hat er
damals auch schon getreu Wort für Wort gesprochen. Es ist also in solchen
Fällen eigentlich etwas der nächsten Zukunft Angehörendes, eben im Ent¬
stehen Begriffenes, das von der Empfindung erfaßt und als erlebt in die
Vergangenheit zurückgerissen wird.
Gerade diese beiden Eigentümlichkeiten sind geeignet, dem Erlebnis
des deja vu jenen traumhaften Charakter zu geben, den es vielfach hat
und der von dem Erlebenden selbst bald mehr lustbetont, bald mehr un-
lustvoll, immer aber als eine Art von Schauer empfunden wird. Wenn
von einigen Autoren im Anschluß an die Erklärung Grasset’s das deja vu
als Erinnerung an vergessenes Geträumtes betrachtet wird, so wird
i) Aus der Prager Deutschen Psychiatrischen Klinik Prof« O. Pötzl, Prag,
394
Otto Pötzl
diese Erklärung gern au [genommen werden von dem, der das dejä vu in
der hier angedeuteten Weise zu erleben gewohnt ist. Eine Selbstbeob¬
achtung scheint übrigens dem Verfasser zu zeigen, daß diese Auffassung für
einzelne Beispiele zutrifft; doch soll sie nicht hier gesetzt werden, da die
Führung eines objektiven Beweises für dieses Beispiel nicht restlos gelingen
konnte.
Jedenfalls wissen wir durch eine grundlegende Analyse Freuds, daß
das Phänomen in vielen wichtigen Beziehungen einer Deckerinnerung
analog ist und daß dort, wo es gelingt, ein früheres, der Situation des
dejä vu ähnliches Erlebnis nachzuweisen, dieses Erlebnis unter einer sehr
starken Verdrängung steht. Im ersten analytischen Beispiel Freuds war
es eine bewußtseinsunfähige Phantasie, ein Todeswunsch für den Bruder,
deren Wirkung es mit sich brachte, daß die Analogie der gegenwärtigen
und der vergangenen Situation nicht bewußt werden konnte und daß sich
„die Identität von dein Gemeinsamen der Situationen auf die Lokalität
verschob w *
An dem zitierten Beispiel Freuds ist auch auffallend, daß die zweite
erlebte Situation — also diejenige, die das dejä vu ausgelöst hat — den-
selben Inhalt in einer volleren, realeren, man konnte sagen, entwickelteren
Form enthält, der bei der ersten, durch das dSjä vu verhüllten Situation
jene bewußtseinsunfähige Phantasie gebildet hat; denn in der zweiten
Situation ist in einer Familie, die das damals zwölfjährige Kind besucht
hat, ein Bruder wirklich dem Tode verfallen; einige Monate vorher war
der eigene Bruder des Kindes in der Gefahr gewesen, zu sterben; allein
sein Schicksal hatte sich nicht erfüllt. So ist die erste Situation nicht nur
die Trägerin des Bewußtseinsunfähigen; sie verhält sich auch in einem
gewissen Sinn zur zweiten Situation w ie eine Verheißung zu einer Erfüllung.
Viel deutlicher noch ist dieses Verhältnis zwischen erster und zweiter
Situation an den Beispielen von Fausse reconnaissance > die Freud unter
dem Namen dejä raconte beschrieben hat; während einer Psychoanalyse
haue der Analysierte bereits die Absicht, eine Mitteilung zu machen; diese
Mitteilung unterblieb; sie wird später der Gegenstand für ein Irrtüm¬
liches: „Das habe ich Ihnen aber schon erzähltDas Beispiel Freuds
enthält die vorbereitende Äußerung, die der Analysierte wirklich ein oder
mehrere Male getan hatte; er ist durch den Widerstand abgehalten worden,
seine Absicht auszuführen ; so wird beim dejä raconte nach Freud die
Erinnerung an die Intention mit der Erinnerung an die Ausführung der¬
selben verwechselt.
595
Zur Metapsychologie des „dejä vu“
Verfasser selbst hat, wie jeder, der sich mit Psychoanalyse beschäftigt,
die Erscheinung des dejä raconte bei seinen Analysierten häufig beobachten
können; daß die Erscheinung ihrem Typus nach wirklich dem dejä vu,
dejä entendu, dejä eprouve, dejä senti anzugliedern ist (im Sinne von Freud),
wird wohl kaum von jemand bezweifelt werden. Wenn in den Beispielen,
die Verfasser selbst vermerkt hat, ein Unterschied in der Erscheinungsweise
bestanden hat zwischen dem spontan auftretenden dejä vu und dem dejä
raconte im Verlauf einer Analyse, so lag er darin, daß bei diesem: „Das
habe ich Ihnen aber schon erzählt'jenes Gefühl der Trance, von dem
eingangs die Rede war, nicht eingetreten zu sein schien; die zweite er¬
wähnte Eigentümlichkeit, das Erlebthaben dessen, das eben erst in der
Umwelt sich gestalten will, fällt ohnehin für die große Mehrzahl der Beispiele
eines dejä raconte weg. Verfasser glaubt übrigens nicht, daß dieser Unter¬
schied ein allgemein gültiger oder durchgreifender sei; doch scheint ihm,
daß jene Trance um so stärker sich entwickle, je mehr die zweite Sensation,
das Erlebthaben des noch nicht Erlebten, in den Vordergrund tritt. Daraus
würde sich vielleicht die Möglichkeit ergeben, daß diese beiden Momente
irgend etwas Zusammengehöriges enthalten, wenn dies auch nicht bewiesen
werden kann.
Natürlich gibt es aber auch viele Beispiele von spontanem dejä vu , bei
denen jenes „Entstehen“, jener Status nascendi des anscheinend schon Erlebten,
nicht enthalten zu sein scheint. Ein Beispiel dieser Art, das der eigenen
inneren Erfahrung des Verfassers entstammt, soll hier erwähnt werden, da
Verfasser es häufig in seinen Vorlesungen verwertet hat und dabei regel¬
mäßig die Reaktion des vollen Verständnisses und des Miterlebthabens an
einer Anzahl von Zuhörenden zu bemerken in der Lage war. Verfasser hat
im Alter von nicht ganz fünfzehn Jahren zum erstenmal Venedig gesehen
und den zu erwartenden mächtigen Eindruck davon gehabt; es ist selbst¬
verständlich, daß er vorher als Kind eine sehr große Anzahl von Bildern
aller Art aus Venedig gesehen hatte und daß sie ihm gezeigt und erläutert
worden sind; wenn er nun stundenlang bei den ersten Gondelfahrten die
unmittelbare Gewißheit empfand, alles, was ihn hier umgab, schon einmal
genau so gesehen zu haben, so verband sich bei ihm dieses Gefühl mit der ebenso
lebhaft sich aufdrängenden Gewißheit, daß alles dies ganz anders, grund¬
verschieden von dem aussehe, was er bisher an Bildern von Venedig zu
Gesicht bekommen hatte; dieses innere Erleben, das Gefühl des gänzlich Neuen
und doch schon einmal ganz genau so Gesehenen, war in eine stark traum¬
hafte, einer Depersonalisation vollkommen gleichende Stimmung getaucht.
39 6
Otto Potz!
Dieses Beispiel wiederholt ■ nur Altbekanntes, das sich oft und vielfach
in der Literatur über die Fausse reconnaissance findet. Aber eine Besonder¬
heit an ihm darf vielleicht doch beachtet werden. Sie liegt in dem sich
aufdrängenden Gefühl, daß die früher gesehenen Bilder dem Eindruck der
Wirklichkeit nicht entsprochen haben. Freud hat uns ja gelehrt und wir
sind es in der Analyse gewohnt aufzuhorchen, wenn jemand sagt: „Das
gehört nicht dazu“; es ist das ein untrügliches Zeichen in der Analyse,
daß das, was angeblich nicht dazu gehört, den wesentlichen Einfall enthält
(Freud).
So könnte es also auch mit den Bildern sein, die hier während des
dejä vu einfallen und die übrigens, wie sich Verfasser auch heute noch
deutlich zu erinnern meint, damals nicht sinnlich lebhaft vorschwebten,
sondern nur wie ein Gedanke ein fielen, keineswegs wie ein Bild. Sie konnten
also irgend etwas enthalten, das trotz der gegenteiligen Aussage — oder
vielmehr wegen ihr — mit bewußtseinsunfähigeil ersten Situationen zu-
sammenhängt, die diesem dejä vu zugrunde liegen mochten. Selbstver¬
ständlich muß dies eine bloße Vermutung bleiben.
Als Verfasser sich zwanzig Jahre später mit der experimentellen Unter¬
suchung der Tagesreste von Träumen zu befassen begann, fiel ihm auf,
daß nicht selten Anteile der visuellen Traumbilder eindeutig zurückgeführt
werden konnten auf Gemälde, Ansichtskarten usw. Insbesondere war dies
häufig mit Farben und Färbens t immun gen der Fall, die in den Traum¬
bildern vorkamen. Auch dies ist im wesentlichen schon durch Freud
gezeigt worden: in den Analysen Freuds finden sich auch Beispiele, die
zeigen, daß jene Bildelemente im Erleben des Traumes oft nicht mehr
den Größendimensionen entsprechen, die sie auf dem Bild und auf der
Ansichtskarte hatten, sondern daß sie oftmals vergrößert erschienen sind
bis zur Dimension der Wirklichkeit, Die Traumarbeit leistet also in solchen
Beispielen etwas Ähnliches, wie es Andersen in seinem bekannten Traum¬
märchen vom Oie Augenschließer dargestellt hat, da der kleine Hjalmar
sich in das Bild gehoben fühlt, das über seinem Bette hängt und das eine
Landschaft darstellt; er steigt in einen Nachen und das Schiff gleitet einen
wirklichen Fluß entlang; wirkliche Bäume rauschen am Ufer und wirk¬
liche Vögel singen dazu. Man kann diesen Teil des A n dersenschen
Märchens mit der sekundären Bearbeitung eines Traumes vergleichen, der
visuelle, aus Gemälden geholte Elemente enthält, die aber von der f l raum¬
arbeit vergrößert worden sind, ähnlich wie ein Photograph das kleine Bild
im Visitkartenformat zu einem lebensgroßen Porträt zu vergrößern versteht.
Zur Metapsychologie des „ dejä vu"
397
Die weiteren, durch lange Zeit fortgesetzten Untersuchungen, die Ver¬
fasser über die Herkunft der visuellen Elemente im Traum anstellte, zeigten
denn auch an Beispielen, daß alle möglichen Zwischenstufen vorkamen
auf dem Wege dieser, wenn man so sagen darf, angestrebten Verwand¬
lung eines gesehenen Bildes in Wirklichkeit. So hat Verfasser beispiels¬
weise bei einer männlichen Versuchsperson im tachistoskopisch provozierten
Traum das lebensgroße, aber doch flächenhaft und schwarzweiß wie eine
Zeichnung imponierende, nur bis zur Hüfte entwickelte Bild einer alt-
ägyptisehen Prinzessin vermerken können, das sich später aus einer Jugend¬
schrift, einem Lieblingsbuch aus der Kindheit der Versuchsperson, im
Original demonstrieren ließ; dieses Original verhielt sich zu dem Traum¬
bild tatsächlich so, wie eine Photographie im kleinsten Format zu ihrer
Vergrößerung. Auch dieses Beispiel ist nur ein Sonderfall jenes zuerst von
Freud an einem eigenen Traum festgestellten Mechanismus, der eine volle
Formen treue der auftauchenden Kindheitssituationen im Traume zur
Folge hat; es enthält aber außerdem die Tendenz, ein Bild in Wirklich¬
keit zu verwandeln; in diesem Fall war es eine Imago des infantilen
Liebestriebes, die in diesem Traum eines neununddreißigjährigen Mannes
zu einer den Kindenvunsch erfüllenden, aber nicht vollkommenen Belebung
gelangt, eine verspätete Galathea des Bildhauers Pygmalion.
Verfasser wäre geneigt, in solchen bildverwirklich enden Leistungen der
Traumarbeit etwas zu sehen, das sich auf Zwischenstufen eines Weges
vollzieht, der im Unbewußten von der Impression vorbewußt gesehener
Bilderanteile aus weiterwirkt und das Bild an die Wirklichkeit anzunähern
trachtet, ähnlich wie sich nach Freud die Symptome der Neurose in ihrer
weiteren zeitlichen Entwicklung einem Ziel zu nähern streben. Dann wäre
aber vielleicht das früher erwähnte dejä vu beim ersten Anblick von Venedig
eine Art von ßewußtwerden dieser sonst unbewußt bleibenden Wegstrecke
zwischen Bild und Wirklichkeit; die noch ungeschaute Wirklichkeit wäre
in den Bildern von Venedig enthalten gewesen, wie eine voller ausgereifte
Situation in ihrem ersten Keim beim Freudschen dejä raconte enthalten
ist. Ein gesehenes Bild dieser Art hätte gewirkt, wie wenn eine Intention
unterbrochen gewesen wäre, die dahin zielte, das Bild so zu erblicken, als
ob es nicht ein Bild wäre, sondern die wirkliche Stadt; die unterbrochene Ein¬
stellung erfüllt sich und die Identität verschiebt sich von dem Gemeinsamen
auf das Neuerlebte, das ein virtueller Zielpunkt jener einst unterbrochenen
Intention ist; so projiziert sie sich dabei in die Vergangenheit, auf einen
fernen verflossenen Augenblick, dessen Erlebnis sich jetzt erst vollendet.
39 8
Otto PÖtzl
Daß der Augenblick einer unterbrochenen Intention sehr häufig den
Vorkeim eines Traumes in sich enthält und die Auswahl der Tagesreste
mitbestimmt, hat Verfasser in den zitierten Versuchen zeigen können; auch
von dieser Seite her erscheint es als plausibel, daß Traum und dejä vu
sehr häufig der gleichen Quelle entstammen; vielleicht ist aber dann das
dejä vu nicht so sehr die Erinnerung an vergessenes Geträumtes» als es
zusammen mit einer Anzahl vergessener I raumbilder in denselben Komplex
gehört, in eine Gruppe von psychischen Erscheinungen, die von einem
gemeinsamen Ausgangspunkt her entstanden sind*
Verfasser war darauf vorbereitet, bei den zitierten Versuchen auch Bei¬
spiele von dejä vu zu finden und sie mit Trauminhalten in Verbindung
bringen zu können; er ist aber in dieser Beziehung von seinen damaligen
Versuchen enttäuscht worden* Eine einzige Versuchsperson» ein verwundeter
Offizier mit traumatischer Hysterie, zeigte hei der Exposition selbst eine
Sensation, die einem dejä vu mindestens nahekam; sie hat sich aber nicht
als traumbildend erwiesen* Der Versuch, der bisher unveröffentlicht geblieben
ist, kann hier nicht vollständig mitgeteilt werden; nur einige Bruchstücke
daraus sollen wiedergegeben werden, soweit sie den hier verfolgten Zu¬
sammenhang betreffen.
Exponiert (in einer Hundertstel-Sekunde) wurde ein farbiges Diapositiv,
einen Hofraum in einer orientalischen Stadt darstellend; im Hintergrund
war eine hohe Mauer; über sie hinaus ragte die Kuppel einer Moschee;
ein schimmerndes Morgenlicht erfüllt das Bild, Die Versuchsperson zeigt
im Gesicht eine gewisse Ergriffenheit und sagt: „Das Ganze ist selbst wie
ein Traum , 4 Später vergleicht Versuchsperson noch mehrmals den Eindruck
mit einer Erinnerung: „Ich habe eher die Erinnerung, als ich sagen
kann, was es wirklich ist , 4 Nach einigen Zwi sehen äußer ungen: „Es fangt
schon an, zu arbeiten; wo kann ich das gesehen haben? Wo habe ich das
früher gesehen ? 4 Noch später: „Die ganze Sache ist wie ein Traum, an
den ich mich nicht gut erinnern kann und in der Früh zerbrech’ ich
mir den Kopf, was hab* ich eigentlich geträumt? Ich bin mir natürlich
klar darüber, daß es ein Bild war; aber es lost diesen Eindruck in
mir aus , 4
Dann aber entwickelt Versuchsperson in einer Reihe von Einfällen und
in einer Zeichnung so ziemlich das ganze Bild; nur im Vordergrund nahe
der unteren Bildfläche blieb der Eindruck verschwommen. Es fällt ihr nur ein,
daß sich dort etwas bewegt hat, in der Richtung von links nach rechts;
was das aber war, was sich bewegt habe, sei „ganz ungewiß 4 .
Zur Metapsychologie des „dejä vu u
Am andern Morgen kommt die Versuchsperson sichtlich enttäuscht und be¬
richtet gleich* daß die Nacht fast traumlos verlaufen ist* Sie habe „merk¬
würdig traumlos und ruhig geschlafen“. Im Einschlafen habe sie einen
ganz kurzen Traum gehabt, dessen Erzählung nur einen Tagesrest aus dem
Milieu ihrer gewohnten Beschäftigung bringt. Dann hatte sie noch im
Erwachen einen ganz kurzen Traum.
Sie sei „in der Vorstellung erwacht, eine Herde zu sehen; das Läuten
der Ilerdenglocken zu hören; ein rasselndes Glockengeläute“, Sie sei erwacht
und der Wecker, der sie täglich weckt, habe weiter gerasselt.
Der Traum von der Herde, dessen Einzelheiten noch weiter entwickelt
werden, ergänzt das exponierte Bild in der gewöhnlichen geometrisch getreuen
Weise zur vollen Ganzheit, Trotz der Einstellung eines Erwartens, die
Versuchsperson für die folgende Nacht vom Versuch her mitgebracht hatte,
konnte vom Bild im Traum nicht mehr erscheinen als dieses Stückchen,
da alles andere schon im Wachbewußtsein entwickelt gewesen war; dejä vu
und Traumproduktion scheinen deshalb der Versuchsperson selbst in einem
gewissen Gegensatz zueinander zu stehen. Für den hier verfolgten Zusammen“
hang bringt der Versuch nur das eine, daß der Vorgang der tachistoskopisehen
Exposition hier die Intention, das Bild zu erfassen, tatsächlich unterbrochen
hat. Im vorigen ist die Vermutung geäußert worden, daß Gemälde Im¬
pressionen setzen können, die im Unbewußten wirken wie unterbrochene
Intentionen zu einer Verwirklichung des Bildes. Hier hat eine unterbrochene
Intention zum Erblicken eines Bildes tatsächlich jene Trance gebracht, die
sonst das spontane de ja vu so oft begleitet.
Der Versuch enthält aber noch etwas, das eine gewisse Verwandtschaft zu den
hier besprochenen Fragen hat. Der Traum der Versuchsperson, der das am
Vortage exponiert gewesene Bild ergänzt, ist ein Wecktraum; wenn auch sein
Inhalt dürftig ist und wie in einem Bild erlebt worden zu sein scheint, so
enthält die Erzählung der Versuchsperson doch jenes Nacheinander, wie man
es bei den komplizierter gestalteten Weckträumen viel deutlicher findet. Das
Nacheinander dieser Traumerzählung lautet: Die sichtbare Herde; das gehörte
Läuten der Herdenglocken; das rasselnde Glockengeläute; das Weiterrasseln des
Weckers nach dem Erwachen* Ein analoges Nacheinander führt in anderen
Träumen erst über eine Flut von romanhaften Begebenheiten zum Endziel des
Eindruckes, der den Wecktraum veranlaßt und schließlich wirklich erweckt;
so ist es in dem berühmten Guillotinentraum von Maury, den Freud zitiert 1 ,
i) Traumdeutung, Ges, Schriften, Bd. II, S* 29—31.
400
Otto Pötzl
sowie in den Wecktraumbeispielen von Hildebrandt, an denen Freud das
Verhältnis zwischen zugeführtem Reiz und Traummaterial erörtert. Derartige
inhaltsreiche und komplizierte W eckträume sind es- ja auch, die von alters
her das Rätsel des Zeitsinnes im Traume so sehr in den Vordergrund gerückt
haben; die geträumten Begebenheiten scheinen einen langen Zeitraum zu
füllen und sind doch wohl in der minimalen Spanne Zeit erlebt worden, in
der der Weckreiz nach seinem Einsetzen für das VY achbewußtsein unter-
schwellig geblieben war. Das Rätsel des Zeitsinnes im 1 raum soll hier nicht
herausgegri(Ten werden, sondern nur die latsache, daß die Begebenheiten des
Wecktraumes auch dann, wenn sie sehr inhaltsreich sind, aul den W eckreiz
hin ab zielen. In diesem bekannten Befund liegt etwas, das man die
Entelechie des Wecktraumes nennen kann, da es eine unverkennbare
Ähnlichkeit aufweist mit der Zielstrebigkeit in der Entwicklung eines
Organismus, die auch auf mancherlei Umwegen ein von vornherein wie
gegeben erscheinendes Ziel zu erreichen trachtet. Man kann sich in Analogie
mit einer Idee Ferenczis daran erinnern, daß das Licht der Sonne für
die Organismenwelt schon eine lange Zeit vor seiner Wahrnehmung gegeben
war, wie der Weckreiz schon eine gewisse, wenn auch noch so kurze Zeit
angedauert hat, bevor er zur wach bewußten Wahrnehmung kam; dann
wird man z* II. die Identität der Art, wie die Fische die Helligkeits¬
verteilung im Spektrum sehen, mit der Helligkeit®Verteilung für das extrem
dunkel adaptierte Menschenauge (C, Heß) und die Entwicklung des Apparates
für das Helligkeitssehen bei den Landtieren (Johannes von Kries) zusammen-
stellen dürfen mit der Stufenfolge eines manifesten I raum Inhaltes bei einem
komplizierten Wecktraum.
Diese Entelechie des Wecktraums läßt das Bewußtsein des Schlafenden
in einer ganz kurzen Spanne Zeit so vieles durchlaufen, daß damit lange
Zeiträume ausgefüllt werden können; das Durchlaufen dieser Erlebnisse,
wenn es auch vielleicht nur einem einzigen Augenblick entspricht, hat,
bezogen auf den Weckreiz, die Richtung von der Vergangenheit gegen
die Zukunft hin. Der Tatbestand, der im früheren aus den Erlebnissen
beim dejä vu herausgegriffen worden ist, gleicht der Entelechie in der
Entwicklung der Organismenwelt nicht weniger, als die Gesamt heit der
manifesten Inhalte eines Wecktraumes; es war eine erste Situation in einem
bewußtseinsunfähigen Zustand gegeben; ihr ist nach anscheinend be¬
liebig —- langen Zeiträumen eine zweite Situation gefolgt, die eine Voll'
endung unterbrochener Intentionen aus der Zeit der ersten Situation ent¬
halten hat. So gleicht die Entelechie des dejä vu der Art, wie in einer
4 oi
Zur Metapsychologie des „dejä tu"
Keimzelle oder im Laufe früherer Stadien einer embryonalen Entwicklung' die
Organe des zukünftigen gereiften Organismus enthalten sind. Im Erleben des
dejä vu kommt scheinbar nur dieses Enthaltensein der späteren Situation in der
früheren zu Bewußtsein; so kann man in einem gewissen Sinne sagen, daß sich
im Erleben des deja. vu das Bewußtsein eine Art von Sinnesorgan für diese
Entelechie auf einen kurzen Augenblick geschaffen hat.
ÜxkÜll hat in einem wundervollen Kapitel über die Amöbe gezeigt, daß die
Amöbe sich Organe bildet im Augenblick, wo sie ihrer bedarf und die Organe
wieder verschwinden läßt, wenn die Situation sie nicht mehr erfordert. Wohl
niemand, der dieses Kapitel gelesen hat, wird sich der Analogie erwehrt haben,
daß das Protoplasma hier Organe entstehen und verschwinden läßt, wie das
Unbewußte psychische Gebilde ins Feld des Bewußtseins entsendet und aus
ihm. wieder versinken läßt. So erschwert es den hier gezogenen Vergleich
nicht, wenn jenes Sinnesorgan für die Entelechie im dejä vu nur für einen
kurzen, traumhaft flüchtigen Augenblick fähig gebliehen zu sein scheint zu
bestehen. Ebensowenig stört es den Vergleich, daß es nur eine psychische
Struktur ist, die ihm entspricht, nicht aber eine faßbare, körperlich geformte.
Wir können trotzdem an dieser psychischen Struktur einiges von der Art er¬
kennen, wie dieses flüchtig bestehende Sinnesorgan des Bewußtseins in einem
kurzen Augenblick tätig zu sein vermochte.
Die Richtung der Entwicklungen im Wecktraum schien von der Vergangen¬
heit der frühen Kindheitserinnerungen bis zur unmittelbaren Gegenwart des er¬
weckenden Sinneseindruckes zu gehen; die Richtung der wahrgenommenen
Entelechie des dejä vu führt den umgekehrten Weg vom gegenwärtig gegebenen
Moment in die Vergangenheit. Es ist, wie wenn ein Projektionsapparat ein
Bild auf die Wand entworfen hätte und die Wahrnehmung die Strahlen¬
richtung entlang rückläufig gegen den Brennpunkt hin bewegt werden würde.
Im vorigen ist mit dem dejä vu eine verflossene Intention in Verbindung
gebracht worden, die dahin gestrebt hatte, ein Bild in Wirklichkeit zu ver¬
wandeln; man kann diese Intention der Leistung des Malers gegenüberstellen,
die eine Wirklichkeit in dieses Bild verwandelt hat; dann wäre jene unbewußt
weiterwirkende Intention, die das Bild zu realisieren strebte, gewissermaßen
entgegengesetzt gerichtet der Intention, die die Wirklichkeit in ein Bild ver¬
wandelt hat. Es würde sich ein ähnlicher Gegensatz ergeben, wie zwischen
der Traumarbeit und der Deutungsarbeit im Sinne von Freud, die sich gegen¬
seitig zu neutralisieren trachten.
Soweit diese Analogien eine Transformation zwischen Bild und Wirklich¬
keit enthalten, ist in ihnen leicht zu erkennen, daß der Wahrnehmungs-
26
Imago XII*
402
Pötzl: Zur Metapsycliologie des „dejä vu“
Vorgang im Bewußtsein, der mit dem dejä vu in Verbindung gebracht
werden kann, mit nichts so einfach und leicht vergleichbar ist, als mit
einer Inversion von Blickrichtungen. Vielleicht ist es also eine Inversion
von Blickrichtungen des Bewußtseins, die in jenem flüchtigen Augenblick
des dejä vu vorliegt.
Freud hat — in dieser Beziehung ähnlich wie Wundt — immer hervor¬
gehoben, wie sehr ihm die Natur des Bewußtseins der Tätigkeit eines
Sinnesorganes vergleichbar erscheint* In diese Anschauung fügt sich die
hier gegebene Betrachtung von seihst ein; sie konnte im vorigen nur
flüchtig skizziert werden ; Verfasser könnte sie aber leicht an einem größeren
Material physiologischer und pathologischer Beispiele von dejä vu weiter
ausführen. Hier soll indessen nur noch eine Kleinigkeit aus der Pathologie
flüchtig berührt werden* Bekannt ist die Häufigkeit des dejä vu in der
epileptischen Aura und in epileptischen Dämmerzuständen. Bekannt ist
auch, wie häufig Epileptiker ihre Anfälle kupieren können, wenn sie, wie
es ihnen erscheint, mit der letzten äußersten Anstrengung des Willens
intentioneil eine Bewegung ausführen, die der ersten anfänglichen Krampf¬
bewegung des beginnenden Anfalles antagonistisch ist. Intentionelle Be-
wegung und Krampfbewegung verhalten sich auch in diesem geläufigen
Beispiel zueinander wie eine Inversion; es ist nur eine Analogie zu diesem
Tatbestand, wenn man bei einer Erscheinung der psychischen Aura eine
Inversion von Blickbewegungen des Bewußtseins als Grundlage für ein
dejä vu annimmt.
Daß in den Eigenschaften des dejä vu, die hier flüchtig besprochen
worden sind, manches anklingt, das an die ursprüngliche, metaphysische
Deutung der Erscheinung als Erinnerung an eine Präexistenz gemahnt,
ergibt sich von selbst; das dejä vu erscheint als Erinnerung an jene Prä-
existenz, die in der Entelechie einer Entwicklungsreihe enthalten ist. So
erscheint die ursprüngliche, magische Deutung hier in einer Weise wieder*
die einer biologischen Auffassung des Phänomens an genähert ist* Freud
selbst zitiert nur jene metaphysische Deutung, die dem Pythagoras zu~
geschrieben wird; das Okkultistische, das sich an sic etwa anschließen
ließe, kann in der Lehre vom dejä vu ebensowenig der Gegenstand einer
analytischen Betrachtung sein, wie in der Lehre vom Traum* Die Entelechie
des dejä vu verhält sich zur Idee einer Prä existenz ähnlich, wie die Wunsch¬
erfüllung des Traumes sich nach Freud zu der Weissagung durch Traume
verhält*
Libido-Mneme, Mystizismus
und Hellsichtigkeit bei einem Kinde
Von
Prof. M. Levi Bianckini
Direktor der Irrenanstalt von Teramo (Italien)
I
Ich werde einige autobiographische Fragmente eines als psychisch normal
geltenden Menschen mitteilen, der sich in guter sozialer Stellung befindet
und ein reifes Alter erreicht hat. Ich kenne ihn seit vielen Jahren näher:
ich habe daher keinen triftigen Grund, an seiner Aufrichtigkeit zu zweifeln.
Man hat immer und allgemein den meisten Berichten in den Autobio¬
graphien bedeutender Persönlichkeiten Glauben geschenkt; ich wüßte nicht,
warum man autobiographischen Berichten anderer Menschen, nur weil sie
nicht berühmt sind, den Glauben verweigern sollte. Immerhin mag sich
der Leser nach seinen persönlichen Eindrücken richten.
Der Erzähler der infantilen autobiographischen Erinnerungen, von denen
hier die Rede sein wird, ist ein achtundvierzig jähriger, verheirateter Mann,
mit Kindern; er ist von pyknischer Konstitution und gehört psycho-physio¬
logisch ausgesprochen zum visuell auditiven Typus mit ausgeprägter Neigung
zur Musik, zur Dichtkunst und zum Mystizismus.
II
Autobiographische Fragmente
l) Alter von zwölf bis dreizehn Monaten , Stillung
„Meine Geburt hat in normaler Weise stattgefunden. Nach örtlichem Brauche
jener Zeit wurde ich auf dem Lande von einer Amme gestillt, und zwar bei
einem von unseren Bauern, dessen Frau mich durch volle zwölf Monate säugte.
2& m
Prof, M, Levi Bianchini
404
Als ich wieder meiner Mutter überleben wurde* welche einen anderen Sohn
geboren hatte, wurde ich von ihr noch wenige Tage gestillt und dann
entwöhnt.
Als ich älter wurde, besuchte ich die Elementarschule, eine von Mönchen
geleitete Anstalt, die Militärschule und wurde mit zwanzig Jahren Offizier.
Von da an durchlief ich die militärische Laufbahn, erlangte einen höheren
Rang und zog mich nach dem großen Kriege in den Ruhestand zurück.
Von meiner Stillung durch die Amme habe ich in meinem Ge¬
dächtnisse nichts behalten, während ich mich noch heute ganz
genau und lebhaft an die mütterliche Stillung, die ich nur wenige
Tage, von meinem zwölften bis zum dreizehnten Lebensmonate
genossen habe, erinnern kann.
Ich erinnere mich deutlich an das Hilf! des Famiiienhauses, des Gartens* der
Zimmer, der damaligen Hausgeräte: aber am allerdeutlichsten habe ich
das Bild meiner Mutter zu eben jener Zeit vor Augen, wie sie
sich das Mieder aufschnürte und mir die Brust zum Saugen reichte*
2) Alter von achtzehn bis vierundzwanzig Monaten. Libido-Mneme
Bereits entwöhnt, im Alter von kaum achtzehn Monaten (dieses Alter wurde
ganz genau von meinem Vater berechnet, als ich ihm zwanzig Jahre später
die Episode, über die ich jetzt berichten werde, erwähnte, an welche er sich,
wie an viele andere Vorfälle des alltäglichen Lebens, nicht mehr erinnern
konnte), wurde ich in Begleitung meiner Brüder von meinem Kinder¬
mädchen, namens R., im Arme zu einer Zirkusvorstellung getragen, dieses
Mädchen verblieb noch viele Jahre in unserem Hause, Ich erinnere mich, daß
im Laufe der Vorstellung eine Gauklerin mit stark ausgeschnittenem
Korsette auftrat, welche einen vollen, fast entblößten Busen hatte und
bei der Vorführung verschiedener Kunststücke (Spiele mit einem großen Holzfasse)
sich in recht unverschämter Art bewegte. Ich fühlte das Verlangen, mich an
ihre Brust zu heften und daran zu saugen. Ein solches Verlangen blieb
so fest in meinem psychischen und allgemein körperlichen Vorstellungsempfinden
fixiert, daß ich, seitdem ich frühzeitig, ungefähr im Alter von dreizehn Jahren,
von meinem eigenen Kindermädchen in die göttlichen Geheimnisse der Venus
eingeweiht wurde, mit Vorliebe während des Verkehrs die Brüste der Ge¬
liebten betastete, wie um einem ursprünglichen und stärkeren erotischen Reize
zu gehorchen; und ich rief mir überhaupt in meinen erotischen Schwärmereien
beständig die Zirkusepisode ins Gedächtnis 'zurück und färbte sie dabei mit
einer bestimmten sexuellen Bedeutung,
Einmal erzählte ich im Familienkreise meinem Vater und meinen erstaunten
Brüdern — ich war schon Kavallerieleutnant und vierundzwanzig Jahre alt
eine Menge Erlebnisse aus unserer ersten Kindheit, die sie bereits vergessen
hatten, aber ungezwungen als vollkommen wahr anerkannten.
Unter anderem erzählte ich, wie ich zum erstenmal zum Mittagstisch mit
meinen Brüdern zugelassen wurde; ich erinnerte mich an die Mutter, wie sie
Libido-Mneme, Mystizismus und Hellsichtigkeit bei einem Kinde 405
die Speisen austeilte, wie sie bekleidet war, an ihre Ungeduldgesten, an ihre
Verweise an die Kinder, und zwar mit erstaunlichen Details. Ich war damals
kaum zwanzig Monate alt; wenige Jahre später verlor ich die Mutter,
Als ich zwei Jahre alt war, befand ich mich eines Tages im Garten,
im Arme meines Kindermädchens, während mein Vater den Besuch eines ihm
befreundeten Generals erhielt. Das Knäblein gefiel diesem Herrn so sehr wegen
des Lichtes, das ihm in den Augen glänzte, daß er es am folgenden und noch
an den anderen folgenden Tagen zu sich ins Haus einlud, damit es mit seinem
eigenen, gleichaltrigen Töchterchen spiele. Ich erinnere mich, eine eigen¬
tümliche Gemütsbewegung empfunden zu haben, als ich mit dem
Mädchen zusammentraf: als Beweis dafür gelte die Tatsache, daß ich jedes¬
mal, wenn ich mein Haus verließ, um zu ihr zu gehen, das mächtige Be¬
dürfnis verspürte, Blumen im Garten zu pflücken und sie ihr zu
bringen. Übrigens erwachte in mir sehr frühzeitig die Liebe zu den Blumen
(amatores anrnnt ß>ores): so zwar, daß ich ganz spontan im Garten Blumen
pflückte, um sie den Dainen und Mädchen, die in unserem Hause verkehrten,
darzubieten. Diese meine Neigung zeigte sich besonders lebhaft von meinem
achten bis zum fünfzehnten Lebensjahre*
)) Alter von vier bis zehn Jahren. Mystizismus und Hellsiektigkeit. Ansätze
von präpuberaler Sexualität
Als ich mich eines Tages, im A lter von vier Jahren, in einer von Blumen
und Laub bedeckten Rotunde befand und nicht im entferntesten über die wirt¬
schaftliche Lage meiner Familie (die damals günstig war, aber sich vierzehn
Jahre später jäh verschlechterte) unterrichtet war, fühlte ich mich durch
eine innere Macht, durch eine aus der Tiefe meiner Seele kommenden
Eingehung bewogen, laut zu dem Höchsten zu beten, daß er sich
mit Güte meiner Familie annähme an dein Tage, da alle Reichtümer
verschwunden sein würden (und das tat ich auch und wurde von
den Eltern gehört, die verwundert herbeikamen)*
So auch, im Alter von kaum acht bis zehn Jahren, fühlte ich mich durch
eine intuitive Betrachtung der leiblichen und geistigen Eigenschaften meiner
Brüder, mit innerem Schmerz dazu gedrängt, mir selbst ihre Zukunft voraus¬
zusagen: indem ich jedem einzelnen jenes Schicksal prognostizierte, das sich
dann auch im wirklichen Leben einstellte. Schon in jenem Alter war ich
körperlich vorzeitig entwickelt: hochgewachsen, stark und kräftig in den Spielen
und war vergnügt wegen des Wohlstandes der Familie; dennoch fühlte ich einen
Zwiespalt zwischen meinem physischen Leibe und meiner geistigen Tätigkeit,
wodurch es in mir zu einem Zustande schmerzlicher Erwägungen und Un¬
sicherheit kam*
Im Alter von sieben Jahren, als ich in der Turnhalle Stangenklettern
übte und bis zu einer gewissen Höhe gelangt war, war ich gezwungen, herab¬
zusteigen, weil ich beim Aufstieg in einen so lebhaften Orgasmus versetzt wurde,
daß ich ihn nicht ertragen konnte* Obwohl dieser Orgasmus schmerzvoll war,
406
Prof. M. Levi Bianchini
bereitste er mir gleichzeitig eine Lustempfindung von unzweifelhaft sexueller
Natur, gegen welche sich der geistige Teil meines Wesens auflehnte. Unter¬
dessen war ich im Hause aufgewachsen und erzogen worden; damals wurde
ich in die von Mönchen geleitete Anstalt geschickt, liier (ich war gerade
acht Jahre alt geworden) lernte ich die religiösen Übungen und damit auch
die Beichte kennen. Der Beichtvater der Anstalt ist noch am Leben und ist
gesund. Erfragte mich öfters bei der Beichte: „ob ich mich berührte", auf
welche Frage ich, oft mißgelaunt, wahrheitsgemäß mit „Nein“ antwortete, um
so mehr, als ich nicht genau deren Sinn verstand. Eines Tages vertraute ich einem
älteren Kameraden — auch dieser lebt und ist gesund — die merkwürdige Frage
an. Dieser antwortete mir: „Wie, kannst du es nicht machen? und führte
mich an einen einsamen Ort, wo er mir die Missetat von Onan zeigte, die natürlich
nicht begangen wurde. In dieser ganzen Zeit und auch später entwickelte sich in
mir, wie gesagt, in stärkerem Maße die Liebe zu den Blumen und das Be¬
gehren, sie einem Weibe zu verehren; dieser Wunsch war noch
lebhafter als das verborgene und gebieterische Verlangen, das Weib
zu berühren und zu küssen, als Vorbereitung zu ihrer Eroberung.
4) Alter von dreizehn Jahren . Z eit der Geschlechtsreife und der Sublimierung
Mit zwölf Jahren, sicher vor Beendigung meines dreizehnten Lebensjahres,
war ich physisch bereits so stark entwickelt, daß mein Alter allgemein auf
sechzehn Jahre geschätzt wurde: ich war kräftig herangewachsen, herkulisch
gebaut, geschlechtsreif. Ich verspürte damals fast bewußt die Herrschaft der
Sexualität bis in meine innersten Fasern: die männliche Potenz hatte sich mir
im höchsten Grade enthüllt, ich fühlte mich zielbewußt zur Eroberung und
zum Sexualaktc* hingetrieben. In meiner Seele entwickelten sich vollkommen
jene unzähligen neuro-psychischen Allgemeingefühle des Vorspieles der Liebe,
welche bis dahin unbestimmt waren: und zwar das Erzittern und der Blut¬
andrang, die Wallungen und die Zuckungen, die Herzbeklemmung und die auf-
dämmernden Entbehrungsgefühle: wahrend in der höchsten Lust der
Sublimierung der stets reine und mystische Geist die fleischliche
Versuchung von sich wies und bei den grünen Pflanzen Erquickung,
in der symbolischen Reinheit der unschuldigen Blumen Zuflucht
suchte.
Aber die Macht der Natur triumphierte rasch über die Widerstände des
frühreifen, unschuldigen Jünglings* Eines Abends, nachdem ich in meinem
Zimmer in das große Bett, wo ich mit meinem jüngeren Bruder zu schlafen
pflegte, mich niederlegte, wartete ich, bis dieser fest eingeschlafen wäre* Da
glitt ich still und verstohlen vom Bette herunter, durchquerte zwei Zimmer,
deren Stille nur durch mein stürmisches Herzklopfen hätte unterbrochen werden
können, erreichte das Bett des schlafenden Kindermädchens, das mich schon
seit langem liebte: ich weckte es zitternd «auf und besaß es dann ganz, in
ungestümer Art, in vollkommenem Beischlafe. Seit dieser Zeit fuhr ich fort,
den mir erschlossenen göttlichen Liebesakt zu pflegen, jedesmal, wenn sich mir
dazu Gelegenheit bot, was oft der Fall war.
Libido-Mneme, Mystizismus und Hellsichtigkeit bei einem Kinde 407
Im Alter von dreizehneinhalb Jahren erkrankte ich an Bauchtyphus
mit hohem Fieber und Delirien. Unter dem Einflüsse einer Fieberakme, während
ich mich allein mit dem Kindermädchen befand, das bei mir wachte, führte
ich den Beischlaf aus — den letzten mit ihm. Ich genas vom Typhus voll¬
kommen. Mit fünfzehn Jahren trat ich in das Militärkolleg ein, mit siebzehn
Jahren in die Militär sch ule. Vom letzten Beischlafe mit dem Kinder¬
mädchen bis zu meiner Ernennung zum Unterleutnant habe ich
mich keinem Weibe genähert; als Offizier nahm ich den Sexualverkehr
feurig wieder auf; mit sechsundzwanzig Jahren verheiratete ich mich und
hatte Kinder. Nichts anderes, außer ein stets wachsender Mystizismus, kenn¬
zeichnet die fast banale Regelmäßigkeit meines übrigen individuellen und sozialen
Lebens bis zum heutigen Tage.
III
In der Literatur findet man nicht selten Fälle von morphologischer
Frühreife der Geschlechtsorgane; hingegen scheinen die Fälle von psycho-
sexueller Frühreife viel seltener zu sein: aber meines Erachtens hängt dies
damit zusammen, daß die morphologische Inspektion durch das Auge und
der Forschung viel Zugänglicher ist als die psychoanalytische Untersuchung.
Zu den augenfälligsten Fällen von frühreifer Männlichkeit muß jener
von Visöky (1) 1 gerechnet werden; es handelt sich um ein Kind, das mit
drei Jahren bereits ein Körpergewicht von 37 Kilogramm und eine Körper¬
höhe von 137 Zentimeter erreicht hatte; der Penis ( portia pendu.la.ris) war
9—10 Zentimeter lang; das Volumen seiner Testikel betrug 4 X 2 Zenti¬
meter; der mons pubis war behaart, seine Stimme hatte eine männliche
Klangfarbe. Es bestanden aber weder Ejakulation, noch Onanie, noch
sexuelle Aggressivität. Die Radiographie ergab keine sichtbaren Verände¬
rungen des Türkensattels (sella turcica). Visöky denkt an eine pluriglandu¬
läre Entstehung dieser Erscheinungen (Zirbeldrüse, Nebenniere). Dieser
Fall ist jenen Fällen von frühreifer Makrogenitosomie analog, die zuerst von
Pellizzi (2) und später von vielen anderen Autoren beschrieben wurden:
Bernhardt, Ziehen, Hudovernig und Popovich, Ongle, Oestreich
und Slowyk, Frankl-Hochwart und Gutzeit usw., welche von
Bandettini di Poggio zitiert werden (3); Zondek (4), Leroboullet (5),
Noböcourt (6), Pende (7), Sdzary (8) und jenen anderen, viel selteneren,
primär testikulären und ovarialen Ursprunges (die Fälle von Sacchi,
Riedel, Guibal, Sampson, Cushing, von Pende zitiert).
Im allgemeinen jedoch, wie stark auch hei solchen Individuen die pri¬
mären und sekundären Geschlechtscharaktere morphologisch entwickelt sein
1) Ziffern in Klammem siehe Literaturverzeichnis am Schlüsse dieses Artikels.
408
Prof, M. Levi Bianchini
mögen, und damit auch der übrige Körper, so bleibt in der Regel die
geistige Entwicklung und die psychosexueile weit hinter der somatischen
zurück. Deshalb behalten diese Individuen angesichts ihres frühreifen
physischen Alters, ihr normales, d, h. infantiles psychische Alter: welches
in vereinzelten Fällen „wenn unter gewissen Bedingungen die Libido sexualis
auftritt, groteske und ungeschickte Posen an nimmt (Zondek), Es scheint
überdies nachgewiesen zu sein, daß die frühzeitige sexuelle Erregung mehr
zu jener frühreifen Pubertät in Beziehung steht, deren Auftreten an die
Funktion der Nebennierenrinde gebunden ist und, wie es bekannt ist, das
weibliche Geschlecht bevorzugt. In anderen Fällen kann es wiederum in
einem bestimmten Alter, bei solchen Makrosomikern, zu einem Stillstände
der gesamten morphologischen (Linser, Maller. Klein, von Pende zitiert)
und psychischen Entwicklung kommen (Imbezillität, Idiotie: Fälle von
Moreau, Wood, Hofaker, von Pende zitiert). Wohlbekannt ist ebenfalls
der von Wilsung (19) berichtete Fall, von einer gewissen Anna Nummen-
thaler, in Trachselwald bei Bern im Jahre 1751 geboren, welche mit zwei
Jahren die Menstruation hatte, mit acht Jahren schwanger wurde und mit
neun Jahren, nach Ablauf des normalen Termins, ein Mädchen gebar.
Aber ohne auf die Suche nach Abarten und Sonderheiten zu gehen, kann
ich berichten, mit eigenen Augen hei primitiven, noch heute lebenden
Rassen von Zentralafrika, während meines Aufenthaltes auf dem Kassai
und dem Sankuru, im Jahre 1901, achtjährige syphilitische Mädchen und
zehnjährige Mütter gesehen zu haben: und daß im allgemeinen die Puber¬
tätsreife des Weibes in diesen peritropikalen Gegenden um drei bis fünf
Jahre und auch mehr der Pubertätsreife der Zivil Völker vorangeht.
Es scheint indes sicherer nachgewiesen zu sein, daß das „Sexualempfintlen“,
um einen Ausdruck von Havelock-Ellis (9) zu gebrauchen, unabhängig
von der Genitalreife und außer dieser bestehen kann; es kann bei fehlenden
oder verkümmerten Geschlechtsorganen (oder Teilen derselben) auftreten,
es kann vor deren Reife vorhanden sein und nach deren chirurgischer
Entfernung oder nach dem Erlöschen ihrer spezifischen physiologischen
Funktion (hereditäre Fixierung) Fortbestehen.
Die psychoanalytischen Untersuchungen von Freud (to) haben auf die
Bildung und Entwicklung der präpuberalen Psychosexualität neues Licht
geworfen und die von mir gesammelten autobiographischen Fragmente
bieten, möchte ich sagen, einen weiteren, bescheidenen, bestätigenden
Beitrag,
Libido-Mneme, Mystizismus und Hellsichtigkeit bei einem Kinde
409
IV
Das Saugen an der Brust (erogene Zone par excellence ) ist sowohl im
unmittelbaren, als auch im teleologischen Sinne „die Befriedigung eines
Triebes" und folglich eine „Verwirklichung von Lust", Ich selbst habe
wiederholt auf die Identität von „Lust" und „archaischemTriebe" hingewiesen
(Levi Bianchini, 1i, 13) und folglich auch auf die Zweckmäßigkeit* die
„Libido" auch in dem allgemeineren Sinne von Besetzungsenergie („bio¬
logische Lust", Jung, 12) aufzufassen. Wenn es einerseits unleugbar
ist, daß die „Lust" nicht nur „sexuell" ist, so ist es ebenso wahr, daß in
einer unendlichen Reihe von „Lustempfmdungen" die bewußten, aber vor
allem die unbewußten Zusammenhänge der Lust mit der Sexualität, d. h.
der „biologischen Libido" mit der „Sexuallibido", sehr alt und tiefgehend
sind. Eine der breitesten und naheliegendsten Bestätigungen dafür finden wir
in den Spielen (Gr00s, 14, 15)» d. h. in Turnieren, in Wettspielen und
Wettkämpfen (Bovet, iß), welche der primitive und moderne Mensch,
in den mannigfaltigsten Arten (in Geschicklichkeiten, Turnen, Olym¬
piaden, Sport, Fechten), aber mit eindeutigerem Ziele, in genau der¬
selben Weise wie die Tiere, vereint mit Tanz und Gesang (Havelock-
Ellis) zu sexuellen Zwecken pflegte, als Abkömmlinge der ersten „Psy-
choiden" in der Richtung der Sexualität selbst. (Ich gebrauche den Aus¬
druck von Driesch, der von Bleuler (17) in die Psychiatrie eingeführt
wurde, um die unklare psychologische Projektion der Funktionen der
organischen Systeme auf die dynamische Tätigkeit der Zerebration zu
bezeichnen.)
Vom kritischen und doktrinären Gesichtspunkte also, wie auch von dem
der psychoanalytischen Praxis, ist eine frühreife Libido-Mneme nichts Neues:
wie denn auch die „Fixierung" an die Mutterbrust, als erogene Zone,
nichts Neues ist, was beim Kinde einen sexuellen Parti alt rieb bewirkt:
ebenso deren Überdeterminierung und Überschätzung, als Element,
das im Pubertätsalter und beim Erwachsenen die sexuelle Vorlust, sei
sie vollkommen oder nicht, auslöst.
Die Libido Mneme ist das Resultat von erotischen und sexuellen Ein¬
drücken, sei es, daß sie vom somatischen (aktives oder passives: sadistische
oder masochistische Orientierung usw.) T oder vom visuellen Erleben des
Subjektes (Schauspielen, welchen er beigewohnt hat; Schaulust usw.)
herriihren* Ein von Freud (18) analysierter Patient, ein junger Neurotiker,
mit schwerer erblicher Belastung (der Vater litt an periodischer Melan¬
cholie, ein Onke! väterlicherseits an Zwangsneurose, eine Schwester beging
Prof. M. Levi Bianchini
410
Selbstmord infolge Dementia praecox?) berichtete in der psychoanalytischen
Behandlung über einen Angsttraum, den er im Alter von vier Jahren hatte
und an den er eine klare Erinnerung bewahrt hatte. Aus der Analyse ging
hervor, daß er im Alter von eineinhalb Jahren (streng nachgewiesen) Zeuge
einer vollständigen Sexualszene zwischen seinen Eltern (coitus more ferarum)
war, als er an einem Sommernachmittage im ehelichen Schlafzimmer
schlafen gelegt wurde. Diese Urszene (siehe Ges. Schriften, Bd. VIII, S. 475)
übte eine so nachhaltige Wirkung auf seine (natürlich unbewußte) Orien¬
tierung der Sexuallibido, daß er, nach Erreichung der Phase des Primates
der Genitalzone (Pubertätsreife) den Sexualakt unter einer Bedingung (dessen
Triebfeder dem Bewußtsein unbekannt war) ausüben mußte, die erst
während der psychoanalytischen Behandlung bewußt gemacht und von ihm
vollkommen angenommen wurde. Diese Bedingung war eben folgende:
Die Reproduktion der Koitusstellung, die er zum ersten Male
(Urszene) gesehen hatte. „Das Weib (sagt wörtlich Freud, S. 478)
mußte jene Stellung einnehmen, die die Mutter in der Urszene einge¬
nommen hatte. Schon vom Pubertätsalter an, bildeten große, vorspringende
Nates für ihn den stärksten Reiz zum Begehren eines Weibes: ein, in
anderer Weise als more ferarum ausgeübter Koitus, bereitete ihm fast gar
keine Lust. Wir dürfen annehmen, daß eine solche sexuelle Bevorzugung
der hinteren Teile ein allgemeiner Charakter der 2ur Zwangsneurose
disponierter Subjekte sei, und nicht nur das Derivat eines bestimmten in¬
fantilen Eindruckes: man könnte in der lat annehmen, daß diese zur
anal-erotischen Veranlagung und zu jenen archaischen Zügen, die
sie kennzeichnen, gehöre. Es wäre auch die Annahme am Platze, daß die
Stellung a posteriori, more ferarum, die phylogenetisch ältere Form des
Mechanismus der Koitusstellung gewesen sei.“
Und wenn übrigens die Vermutung logisch ist, daß in einem sehr früh¬
reifen Alter die Fähigkeit des Gedächtnisses, Erinnerungen festzuhalten,
sehr beschränkt ist (wiewohl dies nur zum Teil richtig- ist, Stern, 22),
daß das Engramm einer sexuellen Szene vom „Bewußtsein verschwinden,
daß der Sinn der Szene nicht verstanden sein kann, so ist es ebenso durch
die Technik und durch die Erfahrung der Psychoanalyse nachgewiesen,
daß die Affektbesetzung an einem Vorstellungskomplex x gebunden
ist und auch im zartesten Alter sich in das Unbewußte zurückziehen kann
(charakteristisch dafür ist eben die höchste Empfindlichkeit und die Affekt¬
erregbarkeit: Delgado, 21), daß die Affektbesetzung lebhaft und dauernd auf
die Traumarbeit, auf die Reaktivierung von affektbesetzten Situationen,
Libido-Mneme, Mystizismus und Hellsichtigkeit bei einem Kinde
411
auf die Regression, auf die Gestaltung der Entwicklungsetappen der prä-
genitalen Sexualität und auf die Endgestaltung der Pubertätssexualität Ein¬
fluß nehmen kann.
In dieser Beziehung ist die Analyse eines von Schilder (52) berichteten Falles
von Schizophrenie recht instruktiv, bei welcher im Grunde des autistischen
Denkens des Subjektes, ein infantiler, bis zum Säuglings alter regredierter
Sadismus stand, der sich in der Folge auf die Elemente der schizophren
gewordenen Zerebration verschoben hatte (Mutterbrust, Saugen und
deren phantastische Entstellungen), (Mit diesem Gegenstände haben
sich noch Starcke, Federn, Abraham befaßt.)
So wie also die an die Urszene gebundene Affektbesetzung in dem
von Freud berichteten Falle derart im Unbewußten verankert blieb, daß
sie in der Folge, durch das ganze Leben das Engramm der physischen
Situation, an die sie gebunden war, wiedererweckte und sie im Deter¬
minismus der postpuberalen psychosexuellen Mechanik aufdrängte, ebenso
a fortiori, blieb dieselbe Besetzung, die an eine analoge Urszene gebunden,
aber „psychologischer 11 war (Stillung an der Brust der Mutter und der Gauklerin),
im Unbewußten unseres Subjektes fixiert. Mit dem Unterschiede jedoch (zu
seinen Gunsten und zugunsten der Endgestaltung des Genitalprimates), daß
die Urszene einen biologischen Grundakt vorstellte, das Saugen an der Brust.
Dieser Akt ist übrigens auch beim Erwachsenen sehr allgemein fixiert: sowohl
als verschobene Reaktivierung der archaischen Libido im aktiven Sinne,
d, h. vom Standpunkte des Mannes (Verschiebung nach oben), als auch
als Sexualanspruch von seiten des Weibes, welches schon in der prägenitalen
Periode, später in der peripuberalen Periode (Entwicklung der Brüste) die
Bedeutung dieser erstklassigen erogenen Zone kennen lernt (Mechanische
Reibung in der Kindheit, Bäder, Streicheln, Kleidungsstücke, Menstrualturgor
der Brüste und Erektion der Brustwarzen mit der entsprechenden starken
Libido; halb unbewußte pseudohomosexuelle Praktiken mit gleichaltrigen
Mädchen zur Zeit der Endgestaltung der Geschlechtsorgane usw.).
In einem anderen, von Freud (26) berichteten Falle, erzählte eine
Patientin folgende infantile Erinnerungen:
Alter von sechs bis neun Monaten. Ich im Kinderwagen. Zumeiner
Rechten zwei Pferde: eines von diesen ist braunfellig, es kommt mir sehr
groß und stark vor. Es macht auf mich einen großen Eindruck und er¬
weckt in mir die Empfindung, als ob es ein Mann wäre.
Alter von einem Jahre. Papa und ich im Volksgarten. Ein Auf¬
seher reicht mir in die Hand einen kleinen Vogel. Seine Augen sind
Prof. M. Levi Bianchini
412
so süß, daß ich fast das Gefühl habe, daß er ein menschliches Wesen wie
ich sei.
Alter von vier Jahren. Wenn man ein Schwein schlachtet, so schreie
ich um Hilfe und sage, man töte einen Mann. Ich weigere mich seit
damals, Fleisch zu genießen: jedesmal, wenn ich Schweinefleisch sehe,
muß ich erbrechen.
Alter von fünf Jahren, Die Mutter gebiert und ich höre sie schreien.
Ich habe den Eindruck, als ob ein Tier und ein menschliches Wesen sich
in Todesgefahr befänden: und dieser Eindruck war der gleiche wie der,
den ich hatte, als man das Schwein schlachtete.
V
Was den Mystizismus unseres Erzählers an langt, der in einem Alter,
in dem er nicht zu erwarten wäre, auftrat, so wissen wir auch, daß er
in der Form von Pietismus, Mitleid, Religiosität, auch bei nicht mysti¬
schen, aber einfach neurotischen Individuen vorkommt. Auch der Kranke
von Freud ( 1 . c. S. 450) gerade im Alter von vier Jahren, im Alter
unseres Patienten also, „wurde eine Zeitlang sehr fromm (nachdem
er an starken Tierphobien gelitten hatte und sich bei ihm, aus seiner
ambivalenten Einstellung zum Vater heraus, deutliche zwangsneurotische
Symptome gebildet hatten). Vor dem Einschlafen mußte er lange Zeit beten
und sich unzählige Male die Brust bekreuzigen. Andere Male wiederum
nahm er einen Sessel, stieg auf diesen und ging vor allen Heiligenbildern,
die an den Wänden hingen, im Kreise herum und küßte andachtsvoll
jedes einzelne von diesen . . . Andere Male wiederum mußte er ein merk¬
würdiges Zeremoniell ausüben, wenn er Bettlern, Krüppeln und alten
Leuten, die bei ihm großes Mitleid erweckten, auf der Straße begegnete. Er
mußte dann (geräuschvoll atmen 1 , um nicht wie diese zu werden; oder,
unter anderen Umständen, mußte er mit Gewalt den Atem anhalten . . .
Noch häufiger finden wir einen frühreifen Mystizismus bei Kindern,
die in der Folge in der Tat Bigotte, Fanatiker, große Mystiker, Heilige
werden. Ein Beispiel dafür (neben vielen anderen) die heilige Katharina,
die heilige Maria Maddalena de Pazzi (31) und vor allem das Leben der
heiligen Teresa (20), deren Autobiographie eine unerschöpfliche Fund¬
grube von derartigen Beobachtungen ist (Levi Bianchini, 23). »Mit einem
gleichalterigen Bruder (erzählt die Heilige im ersten Kapitel von ,Su Vida‘,
auf ihr Alter zwischen sechs und zehn Jahren Beziehung nehmend) vertiefte
ich mich in die Lektüre des Lebens der Heiligen . . ., ich wünschte in
Libido-Mneme, Mystizismus und Hellsichtigkeit bei einem Kinde 4 X 5
derselben Weise wie diese zu sterben , . . Wir gingen auf die Suche nach
Mitteln, die uns die Erfüllung unserer Gelübde verschaffen könnten und
machten Pläne, wie wir zu den Mauren hinübergehen und aus Gefälligkeit
und um der göttlichen Barmherzigkeit willen flehen könnten, daß man uns
köpfe * . es schien mir, daß mir der Herr, trotz meines zarten Alters,
dazu den Mut geben würde * * f (y pareceme que nos daba al Senor dnimo
en tan tierna eddd . . J 1
VI
Von ihren eigenen Voraussetzungen ausgehend (Sondierung des Unbe¬
wußten), hat die Psychoanalyse versucht, auch die Erscheinungen von Hell¬
sichtigkeit sich zu erklären (Freud, 26, Hitschmann, 2/ ? Stekel, 29), und
zwar mit Hilfe viel einfacherer und mehr psychologischer Mechanismen,
als es die geistreichen, aber immer unhaltbaren Hypothesen der Metapsychik
sind. Die vorsichtigsten Forscher, wie z. B. Eichet (24) beschränken sich
in der Tat auf die Annahme, daß die Hellsichtigkeit zur ersten jener
Gruppen metapsychischen Erscheinungen gehöre (Kryptasthesie, Telckincsie,
Ektoplasmie), deren Existenz nunmehr unbestritten und deren Beweis¬
führung unbestreitbar zu sein scheint, wie sehr auch Richet selbst, dem
wir in dieser Beziehung die sicherlich unparteiischeste und strengste Arbeit
verdanken, sich weigere, eine stichhaltige Erklärung dafür zu geben oder
zu suchen. Der hervorragende Metapsychist schließt seine zwei ersten,
der Kryptasthesie gewidmeten Bücher seines Werkes mit folgendem trostlosen
Bekenntnis:
„II existe des faits averes, indiscutables, de premonition. Uexplication
viendra (ou ne viendra pas) plus tard • Les faits n f en sont pas moins lä 9
authentiqueSy irrecusables. II y a des premonitions , Sont~eUes dues ä la
force seule de V Intelligence humaine, ou ä d’autres forces intelligentes agis-
sant sur notre intelligente mime? 11 est impossible actuellement d'en decider.
Contentons nous dlahord de rapporter exactement les faits . , -
Die Psychoanalyse ist nicht so pessimistisch: sie wagt es, einen Schritt
weiter zu gehen und sucht die ideo-affektive Entstehung einiger
erfolgten Weissagungen, welche unter der eigenen Beobachtung
vorgefallen sind, in der dynamischen Tätigkeit des Unbewußten.
Sie erhebt keinerlei Anspruch auf Verallgemeinerung, aber bietet, aus den
1) Über die enge Verwandtschaft zwischen Mystizismus und Neurose haben schließlich
viele Autoren mehr oder weniger den Gegenstand betreffend geschrieben (Murisier, 25,
Leuba, 28) und ich selbst habe in der oben zitierten Arbeit über die heilige Teresa (25)
darauf hinge wiesen.
Prof. M. Levi Bianchini
414
eigenen persönlichen Deutungen der allgemeinen Erfahrung die Elemente,
wie bescheiden diese auch sein mögen, und ladet in offener Weise ein, diese
zu kontrollieren und darüber zu diskutieren.
Hitschmann {26) berichtet z. ß. über eine eigenartige Episode von
Hellsichtigkeit, welche er selber hatte, gelegentlich eines Ballonaufstieges
zweier Brüder, die einen selbstkonstruierten, lenkbaren Luftballon be¬
dienten. Es war an einem Sonntagnachmittag. Hitschmann, der den
lebhaften Wunsch hatte, dem öffentlichen, seit einigen Tagen angekündigten
Schauspiele beizuwohnen, befand sich in einem seelischen Zustande von
einer gewissen Unzufriedenheit, weil eine höhere Macht sich der Erfüllung
seines Wunsches widersetzte: diese höhere Macht bestand darin, daß sowohl
er selbst, wie auch sein Bruder sich verpflichtet sahen, zu Hause zu bleiben
und der alten Mutter Gesellschaft zu leisten — was an Feiertagen fast immer
der Fall war. Also, bei Tische sitzend, und gerade um die Zeit, als der
Aufstieg stattfand, bei welchem sich der Unglücksfall ereignete, wovon
Hitschmann bald darauf auf der Straße die Bestätigung erhielt, hatte er
den bestimmten Gedanken, „daß einer der Piloten aus dem Ballon heraus¬
geschleudert werde“: welches Ereignis tatsächlich in derselben Stunde, in
welcher Hitschmann den Gedanken gehabt hatte, vorgefallen war. Unter
Ausschluß jedweder metapsychischer Hypothese gelangte Hitschmann,
mittels der Autopsychoanalyse, zu einer Erklärung der hellseherischen
Wahrnehmung, in einer sehr überzeugenden Art. Die Analyse wies, auf
Grund des bewußten und wachen Gedankens nach, daß es sich um einen
unbewußten Identifizierungsprozeß (brüderliche Eifersucht) und um den
bewußten Wunsch, die eigene Unzufriedenheit im Schaden des Nächsten
verwirklicht zu sehen, handelte.
Hitschmann berichtet ferner über eine Ankündigung vom Tode des
Vaters, worüber der Dichter Dauthendey in seiner Autobiographie erzählt,
und findet deren unbewußte Enlstehung in einem deutlichen Ödipus-
Komplex (ambivalente Einstellung zum Vater).
Durch Freuds (26) Mitteilung über die Beziehungen zwischen Traum
und Hellsichtigkeit wird ein „psychodynamischer“ Weg (d. h. einfach psycho¬
logisch im biologischen Sinne des Wortes), welcher die Deutung der Krypt-
ästhesie (wohlgemerkt ist auch das Unbewußte kryptoplastisch, d, h. es
wirkt ohne das Wissen des Bewußtseins) eröffnet, der den sogenannten meta¬
psychischen Deutungen ohne Zögern vorgezogen werden müßte, Deutungen,
die eigentlich metaphysisch, oder, wie ich sagen möchte, ana-physisch,
d. h. vollkommen beziehungslos zu den bisher bekannten energetischen
Libido-Mneme, Mystizismus und Hellsichtigkeit bei einem Kinde
4*5
Gesetzen sind. Mit vollem Recht sagt Freud, daß wir in den Deutungs¬
versuchen der Weissagung mittels der Dynamik des Unbewußten, nur ver¬
ständliche Möglichkeiten an die Stelle des Unbekannten und Unverständ¬
lichen setzen. Und wenn auch die Telepathie nichts mit dem Wesen des
Traumes zu tun hat, noch in keiner Weise unser analytisches Verständnis
des Traumes selbst vertiefen kann, die Psychoanalyse kann dagegen einen
neuen Antrieb zur Erforschung der Telepathie geben, indem sie einige
unverständliche Elemente der telepathischen Erscheinungen, dank ihrer
Deutungen, unserem Verständnisse näher bringt.
Auch bei den Fällen von Freud (26) handelt es sich nm Weissagungen
im Traume und im Wachzustände, Ein wiederverheirateter Witwer hat
eine einzige, in Berlin verheiratete Tochter erster Ehe, welche ihrer baldigen
Niederkunft entgegensieht. Er träumt eines Nachts, daß seine zweite Frau
ihm Zwillinge gebiert. Tatsächlich, zwei Tage später, brachte ihm ein
Telegramm seiner Tochter die Nachricht, daß sie Zwillinge geboren hatte,
und zwar drei Wochen vor dem von der Familie (falsch?) berechneten
Termin. Ein anderes Mal, fünfundzwanzig Jahre früher, er befand sich im
jugendlichen Alter, wurde ihm eigenhändig vom Briefträger eine Postkarte
überreicht und, ohne auf die Handschrift des Absenders zu schauen, hatte
er ausgerufen: „Es ist die Anzeige vom Tode meines Bruders“; und das
war tatsächlich der Fall gewesen. Der psychoanalytischen Erfahrung gelingt
es nicht schwer, im ersten Falle die so allgemeine Gefühlsbindung des
Ödipus-Komplexes zwischen Vater und Tochter, und den unbewußten
Komplex: „Meine Tochter hätte meine zweite Frau werden sollen“ aufzu¬
decken; so wie in der zweiten Weissagung das Element „brüderliche Eifer¬
sucht“ des Familienromans hervortritt analog dem von der Weissagung
Hitschmanns.
Der zweite Fall von Freud betrifft eine sehr intelligente, siebenund¬
dreißig jährige, neurotische Patientin, die älteste von zwölf Geschwistern,
welche von einem Traume, der mit unbedeutenden Variationen in seinen
Einzelheiten, aber im Kerne identisch, sich öfters wiederholte, seit mehr
als zwanzig Jahren geplagt wurde (d. h* seit ihrem Pubertätsalter). Es ist
ein sehr bekannter Geburt st raum: Land, Wasser, Baumstamm, ein Mann
im Wasser, Rettung: d, h. Beischlaf, Schwangerschaft, Geburt. Auch dieser
Traum stand im engen Zusammenhänge mit dem Ödipus-Komplex
(Vaterfixierung und Identifizierung mit der Mutter). Diese Frau hatte einen
Bruder im Felde. Am 23. August des Jahres 1914t um 10 Uhr vormittags,
hört sie den Bruder „Mutter, Mutter“ rufen. Auch die Mutter, welche
Prof. M. Levi Bianchini
416
sie zwei Tage später sieht, ist stark beunruhigt, weil sie dieselben Worte im
selben Moment gehört hatte. Einige Wochen später kommt die Nachricht,
daß der Bruder, respektive der Sohn, tatsächlich in der Zeit der bewußten
Halluzinationen der Schwester und der Mutter im Felde gefallen ist.
Bei einer anderen Gelegenheit, während ihres Aufenthaltes in einem
Sanatorium, hörte sie einige Schläge am Bette einer Leidensgefährtin, welche
deren Tod ankündigten. Sie hatte im gewöhnlichen Leben eine Freundin,
welche ihr besonders lieb war, die an einen Witwer mit fünf Kindern
verheiratet war. „Jedesmal, wenn sie zu ihr ins Haus kam, um sie zu
besuchen, sah sie eine Frau im Zimmer erscheinen und wiederum ver¬
schwinden“ (die erste Frau des Witwers).
In beiden Fällen ist es leicht, die Elemente des Familienkomplexes
aufzudecken. Im ersten Falle vertritt die Patientin ihre Mutter, ist aber
gleichzeitig die Rivalin des Bruders. Im zweiten Falle identifiziert sie sich
mit der wiederverheirateten Freundin, mit dem Typ Gattin, also mit der
Mutter (Gattin des Witwers, Gattin des Vaters).
Es resultiert also, daß alle analytisch gedeuteten Weissagungen einen
engen Zusammenhang mit dem Üdipus-Komplex aufweisen, der, wie
bekannt ist, der Zentralkern der psychosexuellen Entwicklung des Kindes
bildet und der historische und archaische Orientierer der psychischen primi¬
tiven (individuellen und sozialen) Konstitution ist. (rotem und dabu in den
Clans der Stämme; Pubertäts-, Buße- und Eheriten.)
VII
Da ich die Person, die mir die autobiographischen hragmente geliefert
hat, nicht analysiert habe, kann ich natürlich keine psychoanalytisch doku¬
mentierte Erklärung ihres Mystizismus und ihrer Hellsichtigkeit geben.
Dem unvoreingenommenen Leser wird es jedoch nicht schwer fallen, aus
den Vergleichen der Fälle von Freud, Hitschm an n und des meinigen
lehrreiche Schlüsse zu ziehen.
Literaturverzeichn is
1) Visöky: Evolutio virilis praecox. Casopic Lekaruv ceskyc 1921, p- 4 ^*
2} Pellizzi: La sindrome epifisaria macrogenitosomia prccoce. Riv. ital. di neurop.
ecc. 1910, p. 193.
g) Bandettini di Poggior Rapporti fra sistema nervoso e ghiandole a secrezione
interna. Tip. Gioventfi, Genova igsi.
4 ) Zondek: Krankheiten der endokrinen Drüsen. Springer, Berlin i9 2 3*
Levi Bianchini: Libido-Mneme, Mystizismus und Hellsichtigkeit
417
5) Lereboullet ecc, Sympathique et glandes endocrines, Maloine, Paris 1921*
6) Nob^court; Les syndromes endocriniens dans Penfance et la jeimesse» Flam-
marion, Paris 1925.
7) Pen de: Endocrinologia, 2/a ed, Vallardi, Milano,
8) Sezary: Pathologie de la glande pineale in Nouveau Traite de Med, Vol. VIIL
Massen, Paris 1925.
9) Havelock-Ellis: Das Geschlechtsgefuhl, 5. Aufl. Kabitzsch, Leipzig 1922,
10) Freud: Tre contributi alla teoria sessuale. Trad, Levi Bianchini, BibL Psico-
analitiea Ital, Idelson, Napoli 1921,
11) Levi Bianchini: La dinamica dei psichismi secondo la psicoanalisi. Archivio
generale di Neurologie, Psiehiatria e Psicoanalisi 1922, p. 41,
12) Jung: Versuch einer Darstellung der psychoanalytischen Theorie, Deuticke,
Wien 1925,
15) Levi Bianchini: Gli istinti nel sistema dei psichismi umani, Jbid. 1925/24,
p. 109,
14) Groos; Die Spiele der Tiere, Jena 1896,
15) — Die Spiele des Menschen, Jena 1899,
16) Bovet: L’instinct eombatif. Delachaux et Niestlk, Nenfchäftel 1917.
17) Bleuler: Psychisches in den Körperfunktionen und in der Entwicklung der
Arten, Grell Füssli, Zürich 1924,
iS) Freud: Aus der Geschichte einer infantilen Neurose, Ges, Schriften, Bd* VIII, $. 457
19) Wilsung: Das Schicksal der Söhne der minderjährigen Mütter, Deutsche Medizini¬
sche Wochenschrift 54, 1924,
20) Santa Teresa: Ohras Escogidas, Libro de su Vida, Nelson, Londres 1912,
21) Delgado: Algtmos aspectos de la psicologia dei nino- Lima 1922,
22) Stern: Erinnerung, Aussage und Lüge in der ersten Kindheit, Barth, Leipzig
1922, Die Kind er spräche. Ebenda 1922, Die Intelligenz der Kinder und Jugend¬
lichen, Ebenda 1920,
25) Levi Bianchini: La simbolistica sessuale nel sogno mistico e profano, Archivio
generale di Neurologia, Psiehiatria e Psicoanalisi, VoL VI, 1925, p. 5*
24) Rieh et: Traite de M£tapsychique. 2 Ö Ed, Alcan, Paris 1925»
25) Muriser: Les maladies du sentiment religieux. Alcan, Paris 190g»
26) Freud: Traum und Telepathie» Imago VIII, 1922* (Ges, Schriften, Ed* III*)
27) Hitschmann: Telepatia e Psicoanalisi, Archivio generale di Neurologia,
Psiehiatria e Psicoanalisi 1925.
28) Leuba: L Erotomanie des mystiques Chretiens* Revue Philsophique, oct. 1905*
29) Stekel: Der telepathische Traum, Berlin (eit, nach F reu d, Tramn und Telepathie),
50) — Die Sprache des Traumes, Bergmann, München 1922,
51) Vaussard: Sainte Marie Madeleine de Fazzi, Lecoffre, Paris 1925,
52) Schilder: Entwurf zu einer Psychiatrie auf psychoanalytischer Grundlage, Inter¬
nationaler Psychoanalytischer Verlag, Wien 1925,
Iraag^o XII,
27
Okkulte Vorgänge
während der Psychoanalyse
Von
Hel ene Deutsch
Wien
j yWenn das telepathische Phänomen aber nur eine
Wahrnehmung des Unbewußten ist , dann Hegt ja kein
neues Problem vor* Die Anwendung der Gesetze des unbe¬
wußten Seelenlebens verstünde sich dann für die Tele -
pathie von selbst“ (Freud, Ges, Schriften, III, 304,)
Die moderne Wissenschaft bestreitet zwar nicht a priori die Tatsache
der Existenz sogenannter „okkulter“ Phänomene, aber sie begegnet denselben
mit berechtigter Skepsis und verlangt Beweise und Erklärungen.
Der Hang zum Okkulten ist eine der Erscheinungsformen jener ewigen
Sehnsucht des Menschen, die Grenze zwischen Ich und Well zu sprengen,
seine eigenen Gefühlserlebnisse in eine Einheit mit der Außenwelt zu
bringen* Dies soll auf doppeltem Wege erreicht werden: einerseits werden
die seelischen Gewalten nach außen projiziert, um in. der Außenwelt als
„überirdische* 4 Kräfte zu erscheinen, anderseits wird durch die Beherrschung
dieser überirdischen Mächte dem menschlichen Können selber ein mystisches,
göttliches Vermögen zu erkannt
So wird das Urgewaltige im Menschen, das außerhalb seines banalen
Wissens und über seinem alltäglichen seelischen Vermögen liegende geleugnet
und als etwas Überirdisch Göttliches bezeichnet. Dann wird es wiederum
als das Übermenschliche im Menschen agnosziert. Durch Anerkennung
überirdischer Kräfte in ihm selbst wird der Sterbliche auf Umwegen zu
jener Gottheit, die er nach seinem Ebenbilde geschaffen hat*
Die Psychoanalyse, welche die große Macht des Unbewußten im see¬
lischen Geschehen entdeckt hat, erforschte auch die Wege, auf denen der
Okkulte Vorgänge während der Psychoanalyse ^jg
Mensch allem, was aus seinem dunklen Innern kommt, auszuweichen ver¬
sucht. So fand sie z. B., daß er sich dort, wo das Drängen der abgewehrten
Mächte zu stark wird, ihrer durch Projektionen zu entlasten versucht. In
diesen Abwehrvorgängen schafft der Mensch den Geisterglauben, bekennt
sich zu animistisehen Anschauungen, die er dann in „spiritistischen Er¬
kenntnissen“, „okkulten Phänomenen" usw, auffrischt.
Die Psychoanalyse dagegen verlegt alle rätselhaften Geschehnisse im
Menschen in die seelische Urheimat seines Unbewußten, in jenen „mysti¬
schen ^ Ort, aus dem sie kommen. Sie verfolgt das individuelle Erlebnis in
jenen Fällen, in denen es sich durch das bewußte Wollen nicht erklären
läßt, solange, bis es ihr gelingt, im inneren Geschehen die Ursprungsstätte
und somit die Lösung des Rätselhaften zu finden.
Eine psychologische Erscheinung zu erfassen und zu deuten, bedeutet
für den Psychoanalytiker sie einer Zergliederung mittels der feinen ana¬
lytischen Technik zu unterziehen. Somit wird nur ein geringer Anteil der
„okkulten Phänomene“ der direkten analytischen Beobachtung zugänglich
sein. Besonders geeignet wird sich das „telepathische Phänomen" erweisen,
wie es Freud definiert hat: „die Aufnahme eines seelischen Vorganges
in einer Person durch eine andere auf anderem Wege als dem der Sinnes¬
wahrnehmung.“ 1 Der psychische Kontakt zwischen dem Analytiker und
dem Analysierten während der Psychoanalyse ist ein so inniger, die sich
hier abspielenden seelischen Vorgänge so mannigfaltig, daß man erwarten
müßte, hier Bedingungen vorzufinden, die das Zustandekommen solcher
Phänomene besonders begünstigen. Es könnte dann bei besonders genauer
Beobachtung gelingen, einen vor unseren Augen entstehenden psychischen
Vorgang als „telepathischen" zu erkennen und ihn mittels der analytischen
Technik in der methodologisch ihr eigenen Weise aufzuklären. Der Wert
so gewonnener Erkenntnisse wird vor allem darin zu suchen sein, daß es
sich hier nicht um zusammenhanglose Vorgänge handeln wird, sondern um
seelische Ereignisse, die in einen fortlaufenden Prozeß eingeschaltet waren
und nur im Zusammenhang mit demselben vollinhaltlich verstanden werden
können. Dieselben Ereignisse, aus der Ganzheit des Vorganges losgerissen,
würden für den Außenstehenden den typisch „okkulten“ Charakter tragen
und durch die Unmöglichkeit ihrer Deutung auch den okkulten Charakter
dieser Phänomene wahren. Erst die Möglichkeit der Einfügung in eine Konti¬
nuität beraubt, whe es scheint, das „Okkulte“ seines mystischen Charakters.
i) Die okkulte Bedeutung des Traumes. Ges. Schriften, Bd. III.
27 *
420
Helene Deutsch
Aus derartigen analytischen Erfahrungen konnte man dann weiter schließen,
daß die „Entlarvung“ okkulter Phänomene, d. h. die Zuriickführung von
Geheimnisvoll-Unverständlichem zum Einfach-Klaren auch außerhalb der
analytischen Situation in derselben Weise erreicht werden kann: in der An¬
gliederung an eine irgendwo unterbrochene Ereigniskette, in der Ausfüllung
von Lücken, die im Ablauf der seelischen Vorgänge entstanden sind*
In der schon erwähnten kleinen Studie über „Die okkulte Bedeutung
des Traumes“ sagt Freud: „Ich habe auch hei Versuchen im intimen
Kreise wiederholt den Eindruck gewonnen, daß die Übertragung von stark
affektiv betonten Erinnerungen unschwer gelingt. Getraut man sich, die
Einfälle der Person, auf welche übertragen werden soll, einer analytischen
Bearbeitung zu unterziehen, so kommen oft Übereinstimmungen zum Vor¬
schein, die sonst unkenntlich geblieben wären. Aus manchen Erfahrungen
bin ich geneigt, den Schluß zu ziehen, daß solche Übertragungen besonders
gut in dem Momente zustande kommen, da eine Vorstellung aus dem Un¬
bewußten auftaucht, theoretisch ausgedrückt, sobald sie aus dem ,Primär¬
vorgang 4 in den ,Sekundärvorgang 4 übergeht*“
Nun ist die psychoanalytische Situation mit ihrer Technik der freien
Assoziationen par excellence jene, in der die „affektiv betonten Erinnerungen“
sich stets in statu nascendi befinden, d. h. „aus dem Primärvorgang in den
Sekundärvorgang übergehen“. Die Bedingungen, unter denen die zweite
Person (auf die übertragen wird), den affektiven, aus dem Ubw hervor¬
drängenden Vorstellungskomplex in sich aufnimmt, werden von Freud
nicht weiter besprochen. Das oben Gesagte läßt vermuten, daß es sich bei
diesem Vorgang um eine Reaktion im Ubw handelt, die sich erst durch
freie Assoziationen verrät und ihren Inhalt und ihre Übereinstimmung mit
dem Vorstellungsinhalte der Person, von der die Anregung ausgeht, erst
bei der analytischen Bearbeitung kundgibt. Unter Voraussetzungen, die uns
nicht klar geworden sind, die aber aller Wahrscheinlichkeit nach mit dem
Prozeß der Übertragung — im psychoanalytischen Sinne —— Zusammenhängen,
setzt sich sichtlich der reaktive Vorgang bei der Übertragungsperson ins
Bewußtsein durch und wird zum Wahrnehmungsinhalte. Da die Sinnes¬
wahrnehmung, die sonst diesem Vorgang vorangeht, gefehlt hat, bekommt
derselbe einen „okkulten“ Charakter. Man kann leicht vermuten, daß die
Bedingung dieser Übertragung „affektivbetonter Erinnerungen“ in einer ge¬
wissen unbewußten Bereitschaft zur Aufnahme derselben liegt und daß erst
die Erfüllung dieser Bedingung die betreffende Person als „Empfangsstation“
befähigt. Diese aus dem Ubw auftauchenden affektiv besetzten Vorstellungs-
Okkulte Vorgänge während der Psychoanalyse
421
inhalte müssen im Ubw des andern analoge gleichsinnige Inhalte mobi¬
lisieren, die sich dann als innere Wahrnehmung ins Bewußtsein durchsetzen.
Nachträglich wird die Identität der Inhalte agnosziert und dadurch bekommt
die innere Wahrnehmung den Charakter einer äußeren.
Die nähere Betrachtung der Vorgänge während einer Psychoanalyse läßt
uns erkennen, daß die oben angenommenen Voraussetzungen zur Entstehung
eines okkulten Phänomens in ihr weitgehend gegeben sind. Die folgenden
Überlegungen sollen uns verständlich machen, an welcher Stelle der ana¬
lytischen Arbeit das Auftreten des okkulten Phänomens verhindert wird.
Wir wissen, daß die Tätigkeit des Analytikers nach zwei Richtungen
vor sich geht. Eine seiner Aufgaben—vielleicht die' wichtigere — besteht
darin, das Material, das ihm vom Patienten in seinem dunklen Selbst¬
verrat und im Übertragungserlebnis geboten wird, passiv aufzunehmen. Die
zweite Aufgabe ist die voll bewußte Erkenntnis des Empfangenen und die
intellektuelle Verarbeitung des Materials,
In seinen technischen „Ratschlägen“ sagt Freud: „Man halte alle be¬
wußten Einwirkungen von seiner Merkfähigkeit ferne und überlasse sich
völlig seinem unbewußten Gedächtnisse.“ 1 Der Analytiker „soll dem geben¬
den Unbewußten des Kranken sein eigenes Unbewußtes als empfangendes
Organ zuwenden, sich auf den Analysierten einstellen, wie der Receiver des
Telephons zum Teller eingestellt ist. Wie der Receiver die von Schallwellen
angeregten elektrischen Schwankungen der Leitung wieder in Schallwellen
verwandelt, so ist das Unbewußte des Arztes befähigt, aus den mitgeteilten
Abkömmlingen des Unbewußten dieses Unbewußte, wenn es die Einfälle
des Kranken determiniert hat, wieder herzustellen ‘\ 2
Dieser Vorgang im Analytiker, auf den wir im weiteren etwas näher
ein gehen wollen, stellt eben zwischen ihm und dem Analysierten den
Kontakt außerhalb des Bewußtseinsapparates her, wenn auch die Anregung
des Vorganges durch motorisch-sprachliche Entladung einerseits und Aufnahme
durch das Hörorgan anderseits vor sich ging. Was aber zwischen dem ersten
Sinnesanreiz und der nachträglichen intellektuellen Verarbeitung vor sich
geht, ist ein „okkulter“, außerhalb des Bewußtseins liegender Vorgang.
Wir können von einer „unbewußten Wahrnehmung^ durch den Analytiker
sprechen, und die Fähigkeit, dieselbe zu entfalten und zu verwerten, scheint
sich mit dem Begriff der „analytischen Intuition“ zu decken. Diese „intuitive
1) Ratschläge für den Arzt bei der psychoanalytischen Behandlung, Ges. Schriften,
Bd. VI, S, 66 .
2) A, a 0 , S, 69,
Helene Deutsch
422
Einfühlung“ in den Patienten ist beim Analytiker ein Wissen, das über
das eigene Bewußtsein hinausragt und aus unbewußten Quellen strömt:
erst nachträglich bändigt das bewußte Wissen die intuitiven Kräfte und
macht sie zielhaft, verkettet das Empfangene in harmonisch gebundene
Gedanken reihen, bemeistert das „Inspirative“, indem es dasselbe in die
nüchterne Form der banalen Erkenntnis umsetzt. Durch diesen Prozeß
verliert der Vorgang seinen okkulten Charakter* Der Begriff „unbewußte
(bezw. analytische) Wahrnehmung“ bekommt hier, wie wir sehen werden,
dieselbe psychologische Bedeutung wie die „innere Wahrnehmung“* Der
affektive, aus dem Ubw kommende psychische Inhalt des Patienten wird
nämlich zum Innenerlebnis des Analytikers und wird erst in der nach*
träglichen Gedankenarbeit als dem Patienten (also der Außenwelt) zugehörig
erkannt* Die Analogie zum telepathischen Phänomen würde sich aus der
Verarbeitung einer vom Objekte kommenden Botschaft zum eigenen Innen¬
erlebnis und aus der Rückprojektion dieses Erlebnisses zur reizspendenden
Ursprungsstelle ergeben* In der analytischen Arbeit geschieht diese „Rück¬
projektion” auf dem Wege einer nachträglich bewußten, alle Lücken des
Erlebnisses ausfüllenden, intellektuellen Tätigkeit; im okkulten Phänomen
vollzieht sich die Rückprojektion unbewußt in dunklen, affektiven Vor¬
gängen,
Daß das am Patienten unbewußt Wahrgenommene, zum eigenen Erlebnis
des Analytikers geworden, dann als innere Wahrnehmung dem Bewußtsein
mitgeteilt wird, ist nicht spezifisch für die „intuitive Einstellung“ des
Analytikers in der Phase der „gleichschwebenden Aufmerksamkeit“/ sondern
scheint das Wesen der Intuition überhaupt zu sein. Das intuitive Einfühlen
ist ja die Gabe, das Objekt auf dem Wege der Identifizierung in sich selbst
zu erleben, und zwar in jenen Anteilen des eigenen Ichs, an denen der
Identifizierungsvorgang zustande gekommen ist. Diese intuitive Einstellung,
rh h. der Identifizierungsvorgang in der Analyse, ist durch die Tatsache
ermöglicht, daß die Seelenstruktur des Analytikers ein Produkt analoger
Entwicklungswege ist, wie die des Patienten, Sein Ubw enthält ja dieselben
infantilen Wunschregungen und das intuitive Aufnehmen stellt so eine Auf¬
frischung von Erinnerungsspuren dar, die jene einmal überwundenen Ten¬
denzen zurückgelassen haben. Dieser Prozeß der Wiederbelebung von Erinne¬
rungsspuren eigener seelischer Inhalte gestaltet das Erlebnis am Patienten
zur inneren Wahrnehmung des Analytikers.
1) Freud, a. 0.
Okkulte Vorgänge während der Psychoanalyse 423
Somit wäre der psychische Vorgang der intuitiven Vorarbeit in der Analyse
beim Analytiker und beim Analysierten in gewissem Sinne analog. Bei
beiden kommt es zur Wiederbelebung gleichsinniger infantiler Strebungen:
beim Analysierten durch die Übertragung, beim Analytiker durch Identi¬
fizierung. Diese unbewußte Beziehung des Analytikers zum Patienten können
wir mit Recht „Gegenübertragung“ nennen, Diese enthält jedoch nicht nur
die Identifizierung mit bestimmten Anteilen des infantil besetzten Ichs des
Patienten, sondern sie geht auch noch mit anderweitigen ubw Einstellungen
einher, die ich „Komplementäreinstellungen“ nennen möchte. Wir wissen
doch, daß der Analysierte seine unbefriedigten infantiHibidinösen Wünsche
dem Analytiker zuwendet. Als Objekt dieser Wünsche wird er mit jenen
Objekten identifiziert, auf die sich einst dieselben bezogen haben. Die Auf¬
gabe des Analytikers beruht nun auch darin, in der ubw Einstellung seine
reale Persönlichkeit aufzugeben und gleichsinnig zu den Übertragungs¬
phantasien des Patienten seine Identifizierung mit den Imagines desselben
vorzunehmen. Ich nenne diesen Vorgang „Komplementäreinstellung“ zum
Unterschied von der Identifizierung mit dem infantilen Ich des Patienten.
Beide zusammen bilden erst das Wesen der ubw „Gegenübertragung“ und
die Verwendung derselben und ihre zweckentsprechende Bewältigung gehören
zu den wichtigsten Aufgaben des Analytikers. Diese ubw Gegenübertragung
ist nicht zu verwechseln mit der grobaffektiven bewußten Beziehung zum
Patienten.
Der Unterschied zwischen dem Analytiker und dem Analysierten liegt vor
allem in der beim Analytiker geforderten Bewegungsfreiheit seiner ubw
Regungen, während dieselben beim Patienten unter Verdrängungswiderstand
stehen. Während der Patient in der Übertragung seine ubw Tendenzen zum
wunscherfüllenden Agieren bringt, schiebt sich beim Analytiker zwischen das
Wünschen und Handeln die sublimierende intellektuelle Verarbeitung ein.
Der Patient strebt in der Psychoanalyse an, für seine ubw Wünsche eine Be¬
friedigungssituation zu schaffen, — der Analytiker verzichtet zielbewußt auf
jede Befriedigungsart am Patienten mit Ausnahme jener der sublimierenden
Erkenntnis. Wir wissen, daß wenn eine ubw Strömung beim Analytiker
unter einen Verdrängungswiderstand fällt, seine intuitive Leistung (also nach
dem oben Gesagten seine ubw Identifizierung) an dieser Stelle verhindert
wird. Ebenso entsteht ein psychischer Kurzschluß im Analytiker, wenn er
kraft seiner ubw Tendenzen eine hergestellte Identifizierung nicht aufzu¬
geben vermag. Besonders häufig entstehen solche störende Einflüsse im
Analytiker durch die nicht genügende Bewältigung der Komplementär-
424
Helene Deutsch
einstellung. Entweder will er seine bereits in der Realität — vielleicht mit
einem großen Aufwand — erreichte Rolle zugunsten der Situation der Über¬
tragung, auch im Ubw nicht aufgeben, — oder die Identifizierung mit
einem bestimmten infantilen Objekte des Patienten behagt seinen ubw
Wünschen so sehr, daß er die einmal angenommene Position nicht mehr
verlassen will und dadurch die freie Beweglichkeit der Übertragungswelle
stört. 1 Wissen wir doch, wie schon eine stärkere Inanspruchnahme des
Analytikers durch eigene affektive aktuelle Erlebnisse den Fortschritt der
Analyse erschwert. Um so mehr können wir annehmen, daß die ubw Ver¬
ankerungen der freien Beweglichkeit der Libido (des Analytikers) in stören¬
den Einflüssen zum Ausdruck kommen werden.
Dieser kurze Einblick in die psychoanalytische Situation sollte die oben
vertretene Anschauung, diese Situation weise zum Teil einen okkulten Vor¬
gang auf, rechtfertigen. Jeder, der sich einer Analyse unterzogen hat, wird
sich an Momente erinnern, in denen er den Eindruck hatte, der Analytiker
sei „ein Gedankenleser“; der Analytiker selbst weiß, daß ihm innerhalb
seiner analytischen Tätigkeit keine Bewußtseinsqualität zur Verfügung stehe,
die ihm die Leistung seiner ubw Aufnahmsfähigkeit ersetzen könnte.
*
Wenn es uns gelungen ist, zwischen der analytischen Intuition und
einem telepathischen Vorgang eine Wesensverwandtschaft zu finden, so
wird es uns leicht sein anzunehmen, daß diese Leistung der Intuition an
Intensität die Grenzen, die der analytischen Verwendung gesetzt sind, zu¬
weilen übersteigen kann. Unterliegt diese Leistung nicht der kritischen
Verarbeitung des Intellektes wie in der Psychoanalyse, sondern bricht sie
eruptiv aus tieferen Schichten in die W r ahrnehmungsSphäre durch, so be¬
kommt sie dann den Charakter des „okkulten Phänomens“. Das okkultistische
Medium erlebt dann hellseherisch das, was der Analytiker in langsam vor¬
sichtiger Deutungskunst des „okkulten“ Sinnes beraubt hat.
1 J V orgänge sind mir besonders klar geworden in den KontroUstunden bei
Schülern des Lehrinstituts. Häufig hört man da von weiblichen Analytikern die Mit¬
teilung, Patient habe eine Vateriibertragung hergestellt, aus der er nicht herauskomme,
oder auch umgekehrt, der männliche Analytiker erlebt auffallend häufig und hart¬
näckig seine Mutteridentifmerung in der Übertragung seiner Patienten, Es stellt sich
dann heraus, daß der nicht vollkommen überwundene Männlichkeitskomplex auf seiten
der Analytikerm, beziehungsweise die eigene passiv-feminine Strömung auf seiten des
Analytikers die Schwierigkeit ergeben haben.
Okkulte Vorgänge während der Psychoanalyse
4 2 5
Wir haben bis jetzt die Reaktionen des Ubw des Analytikers auf die
uhw Vorgänge des Patienten besprochen. Die umgekehrten Auswirkungen
vom Analytiker auf den Patienten haben wir in gewissen störenden Ein¬
flüssen erkannt, wobei aber auch diese sich mehr im Analytiker selbst als
im Patienten geltend machen, indem sie seine intuitive Leistung paralysieren
und hemmen. Alle andern Einflüsse seines Ubw auf den Patienten entziehen
sich der direkten Beobachtung des Analytikers. Würde es sich ermitteln
lassen, daß ein Bewußtseinsinhalt des Analytikers —- also etwas, was von
ihm selbst kontrollierbar ist — im Ablauf der assoziativen Tätigkeit des
Patienten zur Auswirkung gelangt, so würde somit der Beweis einer Über¬
tragung iin telepathischen Sinne erbracht sein, unter der Voraussetzung, daß
ein Sinneseindruck des Patienten einwandfrei ausgeschlossen werden konnte.
Daß das Interesse des Analytikers für ein bestimmtes Problem plötzlich
bei seinen Patienten das gesuchte Material erscheinen läßt, oder, daß seine
innere, wie er meint, wohl verhüllte Ungeduld z. B. als Folge anderweitiger
Inanspruchnahme -— ein Stocken in der Analyse hei sämtlichen Patienten
zur Folge hat usw., kann auf die Erwartungsvorstellungen des Analytikers
im ersten Fall, auf die verschärfte Beobachtungsgabe der Patienten im
zweiten Fall zurückzuführen sein. Ähnliche Beispiele ließen sich in Fülle
aufzählen 5 man begnügt sich mit ihrer Zurückführung auf eine besondere
Einstellung des Wahrnehmungsapparates.
In zwei Fallen habe ich nun Gelegenheit gehabt, das Zustandekommen
eines Kontaktes zwischen meinem Bewußtseinsinhalte und dem Ubw des
Patienten mit Umgehung der Sinnesorgane während der Psychoanalyse zu
beobachten. Die analytische Verarbeitung des merkwürdigen psychologischen
Phänomens hat ein Ergebnis gebracht, das mir charakteristisch und somit
einer Mitteilung wert zu sein erscheint.
Während einer Psychoanalyse, die sich bereits auf mehrere Monate
erstreckte, bringt mir ein Patient in seinem Bericht über die Ereignisse
des letzten Tages die Nachricht, eine im Ausland lebende Bekannte von
ihm habe sich verlobt. Dieses für den Patienten gleichgültige Ereignis
hatte jedoch eine starke affektive Reaktion in mir selbst hervorgerufen.
Der männliche Partner dieser Verlobung spielte nämlich im Schicksal
einer mir nahestehenden Person eine wichtige Rolle. Mein Interesse hatte
sich infolgedessen — unerlaubter weise — vom Patienten auf jene An¬
gelegenheit verschoben; doch hatte ich selbstverständlich den Patienten
darüber in keiner Weise in Kenntnis gesetzt. Jedenfalls gelang es mir voll¬
kommen, einen diesbezüglichen Eindruck vom Bewußtsein des Patienten
426
Helene Deutsch
fernzuhalten. Sonderbarerweise machte aber auch der Patient jene An¬
gelegenheit meinem persönlichen Interesse entsprechend zum Zentrum
seiner Analyse. Täglich erwartete ich gespannt diesbezügliche Nachrichten,
täglich brachte mir der Patient das Gewünschte. Ich betone nochmals, daß
die Bekannte meines Patienten weder vorher noch nachher irgend eine
Rolle in seinem Leben gespielt hatte und daß der Verlobte ihm völlig
unbekannt war. Wie als Resultat einer Aufforderung von mir entstand
zwischen dem Patienten und jener Dame eine intensive Korrespondenz, in
der er sich bald zu ihrem Vertrauten machte und so Kenntnis aller Details
ihrer Liebesbeziehung erlangte. Die Analyse drohte zu scheitern; es blieb
mir zu ihrer Rettung nichts anderes übrig, als meine Neugierde zu unter¬
drücken und den durch mich provozierten Stand der Analyse in gewohnter
Weise anzugehen. Die Analyse ergab, daß der Patient jenes — ihm vorher
noch gleichgültige — Mädchen zum Objekte seiner Liebesphantasien machte,
daß er in heftiger Eifersucht den Rivalen haßte und daß sein Interesse
aus seiner Einstellung des „geschädigten Dritten“ stammte. Diese sonderbare
Entstehung einer Liebe war selbstverständlich in engster Verbindung mit
der Übertragung, wie übrigens jede während der Analyse entstehende „Ver¬
liebtheit“. Das Mädchen wurde mit mir identifiziert, somit auch ihr Ver¬
lobter in eine erotische Beziehung zu mir gebracht. Der Patient brachte
bald Erinnerungen an infantile Vorbilder dieser Situation, ln seiner Kindheit
hatte er jeden Mann, für den sich die Mutter in irgend einer Weise
interessierte, für ihren ihm verhaßten Geliebten gehalten; auch jetzt über¬
setzte er mein Interesse in ein erotisches und versuchte — wie in jener
Zeit die Mutter —- jetzt meine Stell Vertreterin (das Mädchen) für sich
zu gewinnen.
Der erste Anlaß zu diesem, das Infantile wiederholendem Agieren ist
dem Patienten vollkommen unbekannt geblieben. Für mich war es klar,
daß mein eigenes intensives Interesse sich seinem lauernden Ubw mitteilte,
dort durch eine Verknüpfung mit dem infantilen Material einer sekundären
Bearbeitung unterlag und daun in das motorische Agieren im Sinne meiner
Wünsche überging. Zwischen dem „telepathisch“ entstandenen Prozeß:
Wunsch auf meiner Seite — Erfüllung auf Seite des Patienten — war
eine mühsame endopsychische Leistung des Patienten eingeschaltet, die das
tragende Motiv des Phänomens darstellte und nur analytisch entwirrt werden
konnte. Dieses Motiv lag in der analytischen Übertragung und in der
Affinität meines bewußten Wunsches zu den ubw Erinnerungsspuren im
Seelenleben des Patienten.
Okkulte Vorgänge während der Psychoanalyse
427
Der zweite Fall gestaltete sich folgendermaßen: Am Vortage meines
achten Hochzeitstages beschäftigte mich intensiv der Gedanke an den be¬
vorstehenden Anlaß. Ich dachte daran, daß wir diesen Tag irgendwie festlich
begehen würden und stellte dabei fest, daß die ganztägige berufliche Inan¬
spruchnahme erst in dieser letzten Arbeitsstunde die Erinnerung an meine
persönliche Angelegenheit auftauchen ließ. Nach der analytischen Stunde
hatte ich den Eindruck, daß diese Gedankengänge meine analytische Auf¬
merksamkeit sehr gestört hatten und war darauf vorbereitet, daß die auf
jede derartige Benachteiligung sehr empfindliche Patientin mir am nächsten
Tage den verdienten Vorwurf der Zerstreutheit nicht ersparen würde. Ich
muß zunächst ausdrücklich betonen, daß in meinem Hause keinerlei be¬
sondere feierliche Stimmung den Gedenktag verriet, daß niemand in der
Umgebung von der Bedeutung des Tages etwas wußte, und daß außerdem
die Patientin, eine Ausländerin, keine gemeinsamen Bekannten mit mir
hatte. Am nächsten Tage beginnt die Patientin ihre Stunde mit der Wieder¬
gabe eines Traumes der letzten Nacht. Derselbe lautete: In einer Familie
wird der achte Hochzeitstag gefeiert. An einem runden Tische sitzt das
Ehepaar; „sie“ ist sehr traurig , der Mann böse und gereizt. Die Patientin
weiß im Traume, daß die Traurigkeit der Frau mit ihrer Kinderlosigkeit
zusammenhängt; die Frau sei schon acht Jahre verheiratet und habe noch
immer kein Kind, nun weiß sie, daß sie endgültig verzichten muß. Die
Analyse ergibt, daß das räumliche Milieu des Traumes einer Verdichtung
zwischen meinem Arbeitszimmer und dem Wohnzimmer der Eltern der
Patientin entsprach. Die Jubilarin des Traumes erweist sich in den Asso¬
ziationen als ein Produkt einer Identifizierungsreihe zwischen der Patientin
selbst, ihrer Mutter und mir. Patientin ist drei Jahre verheiratet und sieht
sich durch habituelles Abortieren in ihrem starken Kindes wünsch betrogen.
Auch zur Zeit der Analyse hatte sie einmal abortiert und wir wußten
bereits, daß die rein psychogen determinierte Kinderlosigkeit mit den Schick¬
salen ihres Ödipus-Komplexes zusammenhing. Sie war die Älteste von sechs
Geschwistern, die in regelmäßiger Reihenfolge geboren wurden. Tm achten
Jahre ihrer Ehe hatte die Mutter der Patientin, von reicher Kinderschar
umgeben, ihre Gebärtätigkeit beendigt. Die Kinderlosigkeit der Patientin
entstand als eine neurotische Reaktion auf jene Schwangerschaften und
Entbindungen der Mutter und die im Traum vollzogene Identifizieiung
zwischen ihr und der Mutter entsprach zwei Wunschregungen: die Mutter
sollte vom Vater keine Kinder bekommen, sie selbst aber wollte sich in
dieser Funktion an die Stelle der Mutter setzen. Daß ich in die Identifi-
4^8
Helene Deutsch
zierungsreihe einbezogen wurde, ergab sich aus der typischen Konstellation
der Übertragungssituation, Der Traum war organisch in dieselbe eingeordnet.
Ist es aber ein Zufall, daß sie ihn gerade an meinem achten Hochzeitstage
träumte? Und daß mein Bewußtseinsinhalt in der dem Traum voraus¬
gehenden analytischen Stunde sich im manifesten Trau min halt kundgab?
Ich habe den Eindruck, daß unter ähnlichen Bedingungen der analytischen
Übertragung und der Identifizierung wie im ersten Fall auch hier eine
Relation zwischen meinen bewußten Gedanken und dem Ubw der Patientin
hergestellt war. Auch hier verhielt sich das Ubw wie ein empfindsamer
Resonanzboden für jene seelische Inhalte des anderen, die in engster Be¬
ziehung zu stark affektiven ubw Regungen des Aufnehmenden standen.
Diese durch etwas Bestimmtes determinierte Bereitschaft des Seelenapparates
bedingt auch hier die Fähigkeit derselben, Eindrücke auf anderem Wege
als durch Vermittlung der bewußten Wahrnehmung zu empfangen,
*
Es scheint sich aus diesen direkt beobachteten Vorgängen zu ergeben,
daß es Erregungen gibt, die keine Sinnesempfindungen Hervorrufen und
doch im l sychischen eine solche Reaktion erzeugen, als würden sie physisch¬
körperlich gewirkt haben. Dem analytisch Erfahrenen ist es klar, daß ein
bewußt aufgenommener Eindruck in obigen zwei Fällen dieselben Aus¬
wirkungen im Ubw gehabt hatte wie hier beim Fehlen dieser Voraussetzung,
gissen wir doch, wie jede Geste des Analytikers gierig durch die ubw
Übertragungstendenzen aufgenommen wird und in charakteristischer Weise
genau wie hier — in Phantasien und Träumen verarbeitet erscheint.
In beiden Fällen war das Resultat so, als ob das System Bw durchsichtig
geworden wäre und der Vorgang in der Außenwelt, der durch den Wahr¬
nehmungsapparat nicht aufgenommen werden konnte, sich unmittelbar den
eferen Schichten mitgeteilt hätte. In beiden Fällen konnten wir in der
P 3 bischen Reaktion infantil affektive Momente nach weisen, die durch
,j tuas Aktuelles, dem Bw nicht Zugängliches mobilisiert und in einer
ganz bestimmten Weise verarbeitet wurden. Im ersten Fall handelt es sich
um die Erweckung einer infantilen Eifersucht in der Übertragung, im
zweiten um die Versagung eines infantilen Wunsches, Diese Vorgänge
s - V ° n au ^ en durch provozierende Momente, die erst in den tieferen
d 1C k* 1 ^ ^ eelenlebens zur Auswirkung gelangten, mobilisiert. Erst als
u t W ahrgenommene durch die Verknüpfung mit ubw Wunsch-
Okkulte Vorgänge wahrend der Psychoanalyse
429
regungen die entsprechende Intensität erreicht hatte, konnte es sich ins Bw
durchsetzen* Der Zusammenhang mit der Einwirkung von außen mußte
verloren gehen, weil die Voraussetzung des Sinneseindruckes fehlte.
Wir haben schon oft gesehen, wie Sinnesein t drücke nicht direkt zur bw
Wahrnehmung wurden, aber dann, in Phantasien und Träumen wieder¬
gekehrt, so ihre Wirkung bewiesen* 1 Es ist bekannt, daß wir unter der
Herrschaft der Affekte die im Bw wurzelnden Fähigkeiten verstärken oder
verlieren können* Ja, wir können aus einer affektiven Einstellung etwas
unserer Wahrnehmung voll Zugängliches negieren (negative Halluzination),
aber unser übw, beziehungsweise Vhw kann es akzeptieren und mit Um¬
gehung des Bw im geeigneten Momente verwerten* Dabei handelt es sich
jedoch immer um Eindrücke, die an sich die Fähigkeit haben, bw aufge-
nommen zu werden* In unseren zwei Fällen hatte der von mir auf die
Patienten übertragene Inhalt die Möglichkeit einer Wirkung auf die Sinnes¬
organe nicht besessen. Wenn wir annehmen, daß sich mein Bewußtseins¬
inhalt doch in irgend eine motorische Erregung umsetzte -— und diese
Annahme scheint mir berechtigt — so war die Intensität derselben so gering,
daß sie für menschliche Sinnesqualitäten als Reiz nicht ausreichen konnte.
Sicher hatte der psychische Vorgang in mir den Wert einer Aktion be¬
kommen, aber der Charakter dieser Aktion war ein derartiger, daß dieselbe
der Sinneswahrnehmung unzugänglich blieb.
Erst wenn diese von der Außenwelt kommende Botschaft in einer tieferen
Schichte des Seelenapparates auf Strebungen stößt, zu denen sie in einer
verwandtschaftlichen Beziehung im Sinne der Wunscherfüllung oder anderer
emotioneller Motive steht, kommt es zu einer assoziativen Verbindung und
Verstärkung beider Einflüsse. Sie setzen sich dann (wie im Traum und in
anderweitigen uns bekannten Vorgängen) als Bewußtseinsinhalt durch, und
der analytischen Assoziationstechnik gelingt es, das Bindeglied zwischen dem
Anlaß und der Reaktion herzustellen. Dieses Bindeglied ist wie in unseren
Fällen in einem komplizierten endops3 r ehischen Vorgang zu suchen. In
demselben kommt es zu einer Assimilation der Wahrnehmung mit eigenen
seelischen Elementen und die Empfangsfähigkeit dieser Elemente bedingt
die Möglichkeit einer „ubw Wahrnehmung“, indem etwas, was dem Wahr¬
nehmungsapparat nicht zugänglich erscheint, doch in das psychische Gefüge
aufgenommen werden kann. Die äußere Wahrnehmung konnte nicht zustande
i) Fötal: Experimentell erregte Traumbilder in ihren Beziehungen zum indirekten
Sehen, (Zeitschr. f. d. Ges. Neur, u, Psyeh. Bd, 37, 1917.)
45°
Helene Deutsch
kommen, die Einwirkung von außen hatte sich aber unter den oben be¬
schriebenen Bedingungen zu einer „inneren Wahrnehmung“ gestaltet, und
als solche dem wahrnehmenden Ich mitgeteilt. Diese Umwandlung einer
von außen kommenden Botschaft in innere Wahrnehmung erfolgt auf dem
Wege der Identität seelischer Inhalte zwischen Subjekt und Objekt, In der
Beschreibung der analytischen Situation haben wir dieselbe in den Anteilen
des Ubw beim Analytiker und des Ubw des Patienten gefunden und diese
Identität „analytische Intuition“ genannt. In den beobachteten zwei Fällen
hatte sich die Identifizierung zwischen meinem Bw und der ubw Einstellung
der Patienten hergestellt. Auch hier wird die Umwandlung in „innere
Wahrnehmung“ einem intuitiven Vorgang entsprochen haben.
Der bewußte, vom Patienten mitgeteilte Inhalt ist in beiden Fällen
bereits einer sekundären Bearbeitung unterlegen und seine ursprüngliche
Herkunft von der Außenwelt kann somit nicht mehr agnosziert werden.
Das „Telepathische“ des Vorganges konnte sich nur mir verraten*
Wir können uns vorstellen, daß unter Umständen die Herstellung der
Identitäten, beziehungsweise die Umwandlung der äußeren Botschaft in
„innere Wahrnehmung ohne weitergehende inhaltliche Veränderung vor
sich gehen kann, so daß das Bw die Nachricht zwar von tieferen Schichten
des Seelischen empfängt, ihr Inhalt aber vollkommen mit dem der reiz¬
spendenden Außenwelt gleich ist.
Wird diese Gleichheit durch den Wahrnehmungsapparat agnosziert, und
zwar dadurch, daß die von innen kommende Wahrnehmung wieder in die
Außenwelt projiziert wird, so bekommt der Vorgang den Charakter des „okkulten
Phänomens"'. Er unterscheidet sich von dein Projektions Vorgang in der Halluzi¬
nation schlechtweg dadurch, daß sein Inhalt sich mit der im Projektions¬
feld befindlichen Realität deckt. Das aufnehmende Medium weiß nichts
von den komplizierten inneren Vorgängen, die vorausgegangen sind, es glaubt
an den Realitälswert seiner Projektion wie der Psychotische an den seiner
Halluzination, Der Unterschied liegt darin, daß ihm auch die umgebende
Außenwelt diesen Wert zuerkennt. Fallen doch die Realität und der durch
sie konstellierte Inhalt des Projizierten aufeinander.
Diese letzte Vermutung müßte erst durch die analytische Erfahrung be¬
stätigt werden* Was die letztere uns jedoch bereits klar aufzudecken scheint,
ist die Tatsache, daß die „okkulten Phänomene“ den Ausdruck einer besonders
verstärkten Intuition darstellen, die ihrerseits auf einem ubw affektiven Identi-
fizierungsvorgang beruht.
Okkulte Vorgänge während der Psychoanalyse
43 1
Haben die beiden obigen Fälle uns den Weg gezeigt, auf dem ein
„Phänomen“ entstehen kann, so trägt ein anderer von mir beobachteter
Fall einen mehr imponierenden „okkulten“ Charakter.
Durch Freiwerden libidinöser Kräfte verliebt sich wahrend der analyti¬
schen Behandlung eine bis dahin gehemmte Patientin sehr intensiv in ein
sichtlich ungeeignetes Objekt. Die starke, an der Liebesunfähigkeit des
Partners scheiternde leidenschaftliche Beziehung wird durch die kontinuier¬
lichen Versagungen in einen Identifizierungsvorgang zurückgedrängt. Ich
konnte beobachten, wie Patientin ihre affektive und intellektuelle Persön¬
lichkeit immer mehr zugunsten dieser Identifizierung aufgab. Man kann
direkt behaupten, daß sie die Gedanken ihres Objektes dachte, seine Gefühle
empfand und sich so zum Teil für die mangelnde Erwiderung ihrer Gefühle
entschädigte. Im Momente des plötzlich erfolgten Abbruches der Beziehungen
— von seiten des Objektes — verstärkte sich dieser Identifizierungsvorgang
außerordentlich. Sie mobilisierte nun alle ihre seelischen Kräfte, um das
Objekt, wenn nicht real, so doch durch Identifizierung in sich zu behalten.
Das ermöglichte ihr eine Art Zusammenbleibens mit dem Verlorenen, und
sie ergänzte den Introjektionsvorgang durch eine reale Brücke, die sie
zwischen sich und jenem Manne aufbaute. Sie blieb nämlich durch ein
diskretes, aber konsequentes Aushorchen aller Ereignisse seines Lebens immer
über dieselben orientiert, sie verfolgte ihn in solcher Weise auf Schritt
und Tritt, jedoch ohne sich ihm aufzudrängen. Sie entwickelte direkt eine
Virtuosität in der Ergänzung von vernommenen Einzelheiten über das Leben
des Betreffenden zu einer kontinuierlichen Ganzheit. Daß eine bis dahin
nicht sexuelle Beziehung des Betreffenden zu einer anderen einen erotischen
Charakter anzunehmen begann, wußte sie — wie rnir scheint — früher als
er selbst. Wurde doch jede Geste von ihm in ihr selbst über sein eigenes
Empfindungsvermögen hinaus „nachgefühlt“.
Eines Abends saß sie in einem Zustande unendlicher Verzweiflung, von
der Welt abgeschlossen, von einem einzigen Gefühle gänzlich beherrscht,
zu Hause. Die letzten erspähten Spuren führten nämlich zu einer geplanten
Begegnung des Herrn X. mit seiner Bekannten. Patientin verfolgte ihn
gedanklich, ließ ihn in ihrer Phantasie unter einem Vorwände die
Mutter der betreffenden Dame vom Hause wegschicken und malte sich
aus, welche Art der Werbung seinem sexuellen Angriffe vorausgehen
werde. Zu einer bestimmten Stunde, die sie genau angeben konnte, er¬
lebte sie halluzinatorisch die Liebessituation der beiden. Der sukzessive
Aufbau der ganzen Situation bis zum Kulminationspunkt vollzog sich halb-
Helene Deutsch
452
bewußt und wurde uns erst in der nachfolgenden analytischen Stunde
ganz klar.
Durch die Angaben der Patientin fasziniert, versuchte ich der Sache
nachzugehen. Die Bekanntschaft mit der Rivalin meiner Patientin ermög¬
lichte mir die nachträgliche Bestätigung der vollen Übereinstimmung der
realen Begebenheilen mit den inneren Erlebnissen der Patientin, Die ganze
kombinierende vbw Ge danken kette stellte sich als richtig heraus* das hallu¬
zinierte Ereignis hatte tatsächlich in der von der Patientin angegebenen
Stunde vollkommen identisch stattgefunden, Patientin wußte selbst, daß die
Halluzination ihrem inneren, herausprojizierten Wissen entsprach. Dieses
„Wissen 44 war hier im Gegensatz zu sonstigen Halluzinationen kein ubw
Vorgang, sondern eine das Normale übersteigende, von libidinösen Kräften
gespeiste kombinatorische Leistung der Patientin, die ihre „übersinnliche 44
Gabe aus dem restlos auch die bewußten Denkvorgänge beherrschenden
IdentifizierungsVorgang schöpfte.
Auch was diesem „telepathischen 44 Erlebnis folgte, erweist sich für unser
Thema beachtenswert. \on diesem Tage an gab Patientin die Verfolgung
des Herrn X, auf. Hatte sie doch die telepathische Beziehung in sich ent'
deckt und meinte sich mit dem Objekte verbunden zu wissen. Sie brachte
jetzt eine ganze Reihe telepathischer Träume, die ihr die Ereignisse des
Lebens des Herrn X, mitteilten, in die Analyse. Meine Erkundigungen
konnten feststellen, daß ihr telepathisches Wissen liier versagte. Aber
die Analyse ergab, daß die auf das aktuelle Objekt bezogenen Begeben’
heiten in allen Einzelheiten ihre infantilen Erfahrungen am Bruder dar¬
stellten, daß das telepathisch im Traum Wahrgenommene wohl einer
Realität entsprach, aber einer in den Erinnerungsresten des Ubw auf¬
gehobenen und jetzt mobilisierten Realität. Die letzte Enttäuschung am
Geliebten hatte die regressiven Vorgänge hervorgerufen und ließ am
aktuellen Objekte das erleben, was sich am infantilen abgespielt hatte.
Die zeitliche Verlegung von der Vergangenheit in die Gegenwart, ebenso
wie die vom alten Objekt auf das neue gab den Träumen den telepathi¬
schen Charakter.
Wenn wir an die Kontinuität und Kausalität im psychischen Leben
glauben und dem Wiederholungszwange in uns die ihm gebührende Macht
zusprechen, so werden wir auch die seelische „Vorbestimmung 44 akzeptieren
müssen und in der konstruierenden Kraft derselben auch eine der Quellen
prophetischer Eingebungen erblicken» Ich glaube, daß auch die letzte
Patientin selbst ihre Liebesenttäuschung durch die Wahl des Objektes pro-
Okkulte Vorgänge während der Psychoanalyse
455
vozierte und so das am Bruder Erfahrene auch in ihrem „okkulten Wissen^
ubw in Verwendung brachte.
Jedenfalls scheinen die analytischen Erfahrungen zu bestätigen, daß die
„okkulten u Mächte in der Tiefe des Seelischen zu suchen sind und daß
es auch hier der Psychoanalyse bestimmt ist, Klärung zu schaffen, wie sie
es bei anderweitigen „geheimnisvollen" Vorgängen der menschlichen Seele
bereits getan hat.
Imago XIL
Zur Psychoanalyse des Spuks 1 2
Von
Alfred Winterstein
Wien
M Eben düse Unwissenheit macht auch, daß ich mich
nicht unterstehe^ so gänzlich alle Wahrheit ah dm
mancherlei Geistererzählungen abzuleugnen, doch mit
dem gewöhnlichen , obgleich wunderlichen Vorbehalt ,
eine jede einzelne derselben in Zweifel zu ziehen , allen
zusammen genommen aber einigen Glauben beizumessen m u
Kant.
Persönliche Erfahrungen und angeborene Neigung, zwischen gegen¬
sätzlichen geistigen Betätigungen regelmäßig abzuwechseln, haben mich auch
zur Beschäftigung mit dem wissenschaftlich noch kaum fundierten Okkul¬
tismus 0 geführt* Immer schwebte mir hiebei aber als letztes Ziel eine höhere,
einheitliche Auffassung vor, in die sich diese Gegensätze eines Tages
völlig auflösen würden. Mochte eine solche Zielvorstellung vielleicht auch
nur eine subjektive Wunschphantasie sein, so war sie als methodisches
Prinzip zweifellos berechtigt.
1) Was bisher von Vertretern der Psychoanalyse über #okkulte u Erscheinungen veröffentlicht
worden ist, beschränkte sich darauf \ konkrete Falle dadurch unserem heutigen wissenschaftlichen
Verständnis zugänglich zu machen, daß unbewußte Elemente auf seiten der die Erscheinung
beobachtenden und berichtenden Personen zur Deutung der Phänomene aufgedeckt wurden * Die
Frage der Wirklichkeit der Phänomene wurde dabei nicht prinzipiell behandelt y die Möglichkeit
ihrer Existenz weder bejaht noch verneint. Die folgende Abhandlung, die die Psychoanalyse zur
Motivierung einer Abart okkulter Erscheinungen heranzieht, gibt nur die wissenschaftliche Über-
zeugung des Verfassers wieder, nicht etwa ein sicheres Ergebnis der Psychoanalyse . Wir betonen
dies nur deshalb, weil in dem heute oft mit vielem Affekt geführten Streitt die Gefahr nahe -
liegt, daß die Parteien sich irrtümlich auf die Psychoanalyse berufen und sie in den Kampf
um eine Frage , mit der sie nichts zu tun hat , hineinziehen könnten* Die Redaktion.
2) Ich kenne die Einwände gegen diese Bezeichnung, die auch keinerlei historische
Berechtigung besitzt, will aber mit ihr nur auf einen geläufigen VorsteUungskomplex
hinweisen*
Zur Psychoanalyse des Spuks
435
Unter den Erscheinungen des Okkultismus hat mich in letzter Zeit
namentlich das Tatsachengebiet des Spuks 1 * * 4 gefesselt, das von der Forschung
bisher auffallend vernachlässigt wurde, obwohl sich gerade hier bedeutsame
Ausblicke ins Unbetretene eröffnen dürften. Wer vollends von der Be¬
schäftigung mit der Psychoanalyse herkam, war von gewissen Beobachtungen
überrascht, die den Gedanken nahelegten, psychoanalytische Erkenntnisse
versuchsweise auf die Phänomenologie des Spuks zu übertragen, „nur aus
wissenschaftlicher Neugierde, oder wenn man will, als advocatus diaboli,
der sich darum doch nicht dem Teufel selbst verschreibt“*^ Soll man es
Zufall nennen, daß mir kürzlich ein Buch 5 in die Hände fiel, das,
wiewohl von einem Nicht-Psychoanalytiker verfaßt, eine psychoanalytische
Entdeckung Freuds in geistreicher Weise für die Erklärung der Spuk-
kundgebungen nutzbar zu machen sucht? Diese Arbeit gab mir den Mut,
den psychoanalytischen Gedanken gang weiter zu verfolgen* Doch bevor ich
Näheres darüber mitteile, möchte ich, um dem Leser statt einer trockenen
Definition eine lebendige Anschauung des Spuks zu vermitteln, einige Spuk¬
fälle berichtend Ich schicke noch voraus, daß man einen „medialen“
(durch Medien verursachten) und einen „ortsgebimdenen“ Spuk unter¬
scheidet, Da das Vorhandensein eines Mediums (eventuell eines entfernten)
auch in Fällen von „ortsgebundenem“ Spuk nicht immer gänzlich aus¬
geschlossen werden kann, läßt sich natürlich eine strenge Scheidung zwischen
beiden Arten praktisch nicht aufrechterhalten*
i) Ich spreche im folgenden bloß von Verstorbenenspuk, obwohl Spukerscheinungen
auch bei der Telepathie zwischen Lebenden auf treten*
s) Freud: Jenseits des Lustprinzips* Ges* Schriften* Bd, VI, S* 231*
jj) Johannes Illig: Ewiges Schweigen? Union Deutsche Verlags ge Seilschaft* Stutt¬
gart 1925*
4) Beiches Material bei E, Bozzano: Les Ph^nomänes de Hantise, (Traduit de
Pilalien par C* de Vesme*) Paris 1920, Das Buch von Dr. Max Kemmerich: Ge¬
spenster und Spuk, Ludwigshafen 1921* entnimmt dem Werk von Bozzano viele
Beispiele, Bozzano unterscheidet einen Spuk im engeren Sinne vom „Poltergeist“.
Bei jenem handelt es sich um elektive und kollektive veredike Gesichts- und Gehors-
liallurinationen (immaterieller Spuk), es kommen aber auch objektive Erscheinungen
vor. Der Gespenster- und Gehörspuk dauert in der Hegel viele Jahre, ja manchmal
Jahrhunderte und ist fast stets an Örtlichkeiten gebunden. Beim „Poltergeist“ (ma¬
terieller Spuk) handelt es sich hingegen um physikalische und mediumistische Phä¬
nomene, die stets objektiv sind und in der Regel nur sehr kurz dauern* Sie unter¬
scheiden sich auch noch vom Spuk im engeren Sinne dadurch, daß oft ein Medium
vorhanden ist, Phantome fast nie erscheinen und ein Todesfall den Phänomenen nur
selten vorhergeht* Der konkrete Fall weist meistens subjektive und objektive Ele¬
mente auf.
Alfred Winterstein
436
Fall I
Der amerikanische Diplomat Robert Dale Owen erzählt in seinem Buch
„The Debatable Land“ (p. 226, zitiert nach Rozzano, p. 154 h) folgendes und
bemerkt, daß er den Fall im Winter 1869/70 von einer der beteiligten Personen
erfahren habe:
„Eine junge, gebildete Dame meiner Bekanntschaft, die einer der ältesten
Familien New Yorks angehört und die ich Miß V, . nennen werde, hatte vor
einigen Jahren vierzehn Tage bei einer Tante verbracht, die Eigentümerin
eines sehr großen und alten Hauses an den Ufern des Hudson war. Dieses
Haus stand wie viele europäische Schlosser iin Rufe, daß es dort spuke. Man
sprach davon in der Familie so wenig als möglich, das betreffende Zimmer
wurde aber nur in Ausnahmsfällen benützt. Während des Aufenthaltes der
Miß V. . kamen so viele Gäste, daß kein Fremdenzimmer mehr zur Verfügung
stand und die Tante ihre Nichte fragte, ob sie sich getraue, für zwei, drei
Tage ihr eigenes Zimmer mit dem Spukzimmer zu vertauschen, auf die Gefahr
hin, von einem Gespenst besucht zu werden* Miß V*. stimmte ohne weiteres
zu und bemerkte, daß Besuche aus dem Jenseits sie nicht sehr beunruhigten*
Miß V *. legte sich also nachts in dem Spukzimmer zu Bett und schlief
ohne die geringste Befangenheit ein. Sie erwachte um Mitternacht und erblickte
die Gestalt einer schon ältlichen Frau, die im Zimmer hin und her ging, als
Kammerzofe gekleidet, sehr sauber, aber ein wenig altmodisch* Anfangs er¬
schrak sie durchaus nicht, da sie glaubte, es sei eine Dienerin des Hauses, die
gekommen sei, etwas zu suchen; als sie jedoch nachdachte, erinnerte sie sich,
daß sie die Türe mit dern Schlüssel zugesperrt hatte. Dieser Gedanke ließ sie
zusammenschaudern, aber ihr Entsetzen wuchs noch, als sie sah, wie die Gestalt
auf das Bett zukam und sich über sie beugte, vergeblich bemüht zu sprechen.
Von Grauen gepackt, verbarg Miß V. * ihr Gesicht in den Leintüchern. Als
sie einen Augenblick später wieder hinblickte, war das Phantom verschwunden.
Nun sprang sie aus dem Bett und lief zur Türe: sie fand sie verschlossen,
der Schlüssel steckte innen, —
Einige Monate später war sie hei einer Freundin zu Besuch, die sich
spiritistischen Versuchen hingab und zahlreiche mediumistische Mitteilungen
erhielt. Miß V.*, die vom Spiritismus reden hörte, ohne je etwas gesehen zu
haben, nahm aus Neugier an den Sitzungen teil* Da manifestierte sich eines
Abends eine angebliche mediumistische Persönlichkeit mit der Behauptung, sie
sei eine gewisse Sarah Clarke, ein Name, den die zwei Damen nicht kannten*
Diese Persönlichkeit erzählte, sie sei vor Jahren Kammerfrau bei der Tante
der Miß V*. gewesen; sie habe, als Miß V* . bei der Tante zu Besuch weilte,
vergeblich versucht, mit ihr zu sprechen, in der Absicht, Diebstähle zum
Schaden der Tante zu beichten 1 und deren Verzeihung zu erbitten. Sie
fügte hinzu, daß der Wunsch, ihren Fehltritt zu gestehen, so stark in
ihr sei, daß er sie gegen ihren Willen zwinge, in dem Zimmer zu
spuken, das sie bei Lebzeiten bewohnt habe. 1 Hierauf setzte sie aus-
1) Von mir gesperrt.
Zur Psychoanalyse des Spuks
457
einander, daß sie zu ihren Lebzeiten sich hatte verleiten lassen, eine silberne
Zuckerdose und andere Gegenstände, die sie aufzählte, zu entwenden. Zuletzt
sagte sie, daß sie Miß V. . ewig dankbar wäre, wenn sie ihre Botschaft der
Tante mit dem Ausdruck ihrer tiefen Reue und der Bitte um Verzeihung
übermitteln wollte.
Bei der nächsten Gelegenheit fragte Miß V,, ihre Tante, ob sie nicht
zufällig eine gewisse Sarah Clarke gekannt habe. ,Gewiß/ antwortete sie,
,das war eine Kammerfrau, die wir vor dreißig oder vierzig Jahren hatten. 4
,Welchen Charakter hatte sie? 4 .Sie war gut, fleißig und treu/ ,Hast du,
während sie bei euch in Stellung war, niemals das Fehlen von sibernem Tafel-
gerät festgestellt? 4 Nach kurzem Nachdenken rief die alte Dame aus; ,Ja,
ich erinnere mich jetzt; damals verschwanden auf geheimnisvolle Weise eine
silberne Zuckerdose und andere Gegenstände dieser Art. Warum? 4 Jst dein
Verdacht niemals auf die Kammerfrau Sarah Clarke gefallen? 4 ,Niemals. Es
ist wahr, daß sie freien Zugang zu den verschwundenen Gegenständen hatte;
aber wir kannten sie alle als sehr anständig und über jeden Verdacht erhaben/
Jetzt entschloß sich Miß V_, ihrer Tante die mediumistische Botschaft mit¬
zuteilen, und man stellte nun fest, daß die Liste der gestohlenen Gegenstände,
wie sie von dem angeblichen Geist der Sarah Clarke mitgeteilt worden war, mit den
tatsächlich im Hause der Tante verschwundenen übereinstimmte. Als die alte Dame
dies erfuhr, beschränkte sie sich darauf zu sagen: ,Wenn Sarah Clarke wirklich
die Gegenstände gestohlen hat, so verzeihe ich ihr aus ganzem Herzen/
Der bemerkenswerteste Umstand bei dieser Geschichte ist, daß seit jenem
Tage die Kundgebungen im Spukzimmer aufhörten und Sarah Clarke
niemand mehr erschien, 1 Ich wiederhole, daß ich für die Wahrheit des
Berichtes bürge, da ich die zwei Zeuginnen persönlich kenne/ 4
Fall 2
Der folgende Fall wird in dem obenerwähnten Werke von Illig {S. 214 f.)
berichtet.
„Im Frühjahr 1912 starb ein Bauer R. in R. Er hatte die Gewohnheit,
Geld zu verstecken, um ohne Kenntnis seiner Familie über Geld zu verfügen.
Es kam darüber öfters zur Aussprache zwischen ihm und seiner Frau. Noch
auf dem Sterbebette fragte ihn seine Frau nach verstecktem Geld. Er ver¬
weigerte aber die Auskunft, Als sie ihn beim Herannahen des Todes nochmals
fragte, konnte er keine Antwort mehr geben. Nach ungefähr sechs Wochen
war die Witwe des Verstorbenen einmal bis in die Abenddämmerung hinein
im Feld. Da hörte sie einen Laut, wie wenn jemand geworfen hätte, und
gleich darauf Tritte. Sie sah aber nichts. Zur gleichen Zeit war eine Tochter
im Stall beschäftigt und hatte plötzlich die Empfindung, wie wenn etwas um
sie wäre. Sie bekam einen Schauder, sah und hörte aber nichts. Von dieser
Zeit an entstand eine lebhafte Spukerei im Haus, die über ein Jahr anhielt.
Eine auswärts wohnende Tochter schlief einmal, als sie auf Besuch nach Haus
1) Von mir gesperrt.
Alfred Winterstein
43 8
gekommen war, in dem Sterbezimmer des Vaters. Da hörte sie in der Nacht
Stundenlang Tritte im Zimmer, ganz ähnlich denen ihres Vaters. Dazwischen
hinein vernahm sie ein Stöhnen und Klagen, wie das ihres Vaters zur Zeit
seiner Krankheit. Sie fürchtete sich infolge dieser Vorgänge, daß sie nicht mehr
im elterlichen Hause zu halten war und ab reiste. Aucli die Muttei llüite oftmals
diese Tritte im Haus. Einmal wurde sie sogar gekniffen, wie es ihr Mann
bei Lebzeiten in Gewohnheit hatte. 1 Das Öffnen und Schließen von
Türen gehörte zu den Alltäglichkeiten. Eine zweite Tochter war einst an einem
Kirchweihtag auf Besuch gekommen und beteiligte sich an einer geselligen
Unterhaltung in einem Gasthaus. Als sie nach Mitternacht nach Hause kam,
wollte sie sich von dem auf dem Tisch stehenden Kuchen noch ein Stück
abschneiden. Wie sie das Messer in die Hand nahm, erfolgte von unsichtbarer
Hand ein so heftiger Schlag auf den Tisch, daß der Kuchen in die Höhe
flog. Dieser Vorgang ereignete sich bei heller Beleuchtung. Die im Neben¬
zimmer wachende Mutter horte den Schlag auch. Ein Bruder hörte sehr oft
die Türen auf- und zugehen, sowie laute Getöse, wie wenn ein voller Sack
oder ein ähnlicher schwerer Gegenstand auf den Boden gefallen wäre. Da er
keine Ursache dieses Lärmes zu entdecken vermochte, begann er oftmals zu
fluchen. Aber je mehr er fluchte, desto größer wurde der Lärm. 1
Nach Verfluß eines Jahres fand die Mutter in einem Loch in der Zimmer¬
decke einen Geldbetrag, den der Verstorbene versteckt hatte. Nach
dieser Zeit trat Ruhe ein. 1
Mehrere Jahre hernach stürzte ihr vorhin erwähnter Sohn von einer
Leiter ab und fand dabei den Tod. Bald nach dieser Zeit fing der Spuk von
neuem an, diesmal aber weit schlimmer als nach dem l od des V aters. Auch
war er insofern von dem bereits erloschenen Spuk gänzlich verschieden, als
er den verstorbenen Sohn in jeder Weise nachahmte. Es polterte,
pochte und klapperte zuweilen im Haus und namentlich in der W erkstatt, daß man
meinte, der Tote wäre noch am Leben und mitten in seiner Arbeit — er war
Zimmermann. Man glaubte zuweilen sogar die Art der einzelnen Beschäftigung zu
erkennen. Besonders auffällig war das, wenn im Spuk Bretter geworfen oder
bearbeitet wurden.“
Fall J
Enthalten in Cesare Lo mb ros os „Hypnotischen und spiritistischen For¬
schungen“ (Verlag Julius Hoffmann, Stuttgart, S. 516):
„In der Kirche S. Giovanni in Modica erschien der Geist einer Wäscherin, die im
Streit eine Bekannte tödlich verwundet hatte. Die Wäscherin starb ganz plötzlich
bei der Arbeit. Ihr Geist begibt sich jede Nacht an den Ort, wo sie starb. Dort
fängt sie zu waschen an. 1 Am Morgen verschwindet sie beim eisten Hahnen¬
schrei über dem Kirchdach.“
Fall 4
Auch bei Lombroso (S. 330), der ihn der Zeitschrift „Luce e Ombra“
(November 1905) entnimmt:
1) Von mir gesperrt»
Zur Psychoanalyse des Spuks
459
„. . * In einer Sitzung mit einem anderen Medium erklärte die Mutter {des
Berichterstatters, des Grafen Galateri), daß sie an der Türe des Spukhauses
in Annecy eine Militärperson mit einem Holzbein sähe. Dieser Soldat habe ihr
an vertraut, daß er in den Napoleonischen Schlachten Tote geplündert habe,
auf diese Weise reich geworden sei und mit dem so erworbenen Gel de dieses
Landhaus gekauft habe. Der Rest des Schatzes liege im Keller versteckt. Jetzt
bereue er seine Taten und wolle die Gräfin durch die Geräusche
veranlassen, das Geld hervorzuholen und an Arme zu verteilen. 1
Zwei Jahre danach erfuhr die Gräfin, als sie in die Nähe ihres alten Land¬
sitzes zurückkehrte, daß die neuen Besitzer wegen der andauernden Geräusche
das Haus zu jedem Preis veräußern wollten. Denn auch die Beschwörungs-
formein eines Priesters hatten nichts geholfen. Sie bat, sich nur zwei Tage
in dem Haus aufhalten zu dürfen, grub im Keller nach und fand dort ein
Gefäß mit mehreren Tausend Francs in Gold. Sie verteilte dieses Geld
unter die Armen und seit jener Zeit hörten die spiritistischen
Phänomene auf.“ 1
Fall J
Das folgende Bruchstück stammt aus einem längeren Bericht über Spuk¬
vorgänge, die seit dem Frühjahr 1916 von einem Bekannten Illigs beob¬
achtet wurden (a. a. O. S. 228):
„Heute, im Frühjahr 1924, ist in dem Hause noch keine Änderung ein¬
getreten. Die spukhaften Erscheinungen setzen zuweilen aus und zeigen sich
dann wieder um so stärker. Fast alles, was inan wahr nimmt, erinnert
an die verstorbene Frau. 1 Besonders auffällig sind die Beobachtungen an
ihrem einstigen Schreibtisch. Hier vernimmt man selbst am Tag zuweilen
Geräusche, wie wenn daran gearbeitet würde. Man hört mit Papier und
Feder hantieren, Bücher und andere Gegenstände hinwerfen, den Stuhl
rücken und was dergleichen mehr ist . . . Die zweite Frau hörte sehr häufig
in einem Schrank ein metallenes Klingen und Klappern, wie wenn drinnen
Geld gezählt würde, und es war doch gar kein Geld drinnen. Da fragte sie
ihren Mann: ,Du, sag 1 einmal, habt ihr denn früher in diesem Schrank euer
Geld aufbewahrt? fi Dieser bejahte es und fügte hinzu, daß das Aufbewahren
des Geldes zu den Obliegenheiten seiner Frau gehört habe/'
Fall 6
Belichtet in den „Blättern aus Prevorst“, Vierte Sammlung vom Jahre 1855
(bei Illig, S. 157):
„Ein epileptischer Hausknecht namens Bengt, der stolz darauf war, von
seinem Herrn niemals gescholten worden zu sein, bekam von diesem einmal
eine Ohrfeige; er ging auf die Bühne 2 und erhängte sich. Bald darauf hörte
man nachts oben poltern, wie es polterte, wenn Bengt seinen
1) Von mir gesperrt.
2) Raum unter dem Dach,
Alfred Winter stein
44°
Anfall hatte und dabei die Treppen herunterkollerte . 1 In der ersten
Zeit entsprachen die Zwischenräume zwischen dem Foltern der
Zeit zwischen seinen Anfällen.* Später wurde das Poltern seltener, und
nach ungefähr sieben 1 Jahren hörte es auL
Fall 7
Wurde Illig im Jahre 1922 von einer intelligenten Frau aus einer württem-
bergischen Landgemeinde berichtet (S. 157L
, Die Berichterstatterin hatte eine Base in N. Bei dieser im gleichen Haus
wohnte eine nahe Verwandte, eine etwa fünfzig Jahre alte Frau F. t welche
infolge eines Schlaganfalls urnfiei und die Treppe hinunterkollerte. Sie blieb
tot auf der Stelle liegen, ohne zuvor das Bewußtsein wiedererlangt zu haben.
Einige Tage darauf hörten nun die Hausbewohner ein heftiges Poltern, das
sich längere Zeit wiederholte. Daneben gewahrten sie auf der Treppe, über
welche die Frau himmterge kollert war, öfters eine Engel in der Größe einer
Billardkugel. Sie schwebte über die Treppe herunter und platzte auf
dem Boden mit einem lauten Knall , 1 worauf nichts inehr zu sehen war.
Auch Fratzengesichter und Hände zeigten sich an den Wänden. Entsprechend
ihrem Glauben ließen die Verwandten für die Verstorbene, mehrere Messen
lesen, worauf der Spuk verschwand/
Ich rate nun dem Leser, vorläufig alle Einwände gegen die Realität der
erzählten Spukfälle zurückzustellen und mit mir die charakteristischen
Züge der einzelnen Beispiele zu betrachten. Ks ist wohl überflüssig zu
bemerken, daß nur der Raummangel mir verbietet, zahlreiche Beispiele
dieser Art zu bringen, die durch ihre Häufung mit besserem Erfolg um
Glauben werben würden als die wenigen von mir berichteten Falle.
Im ersten Fall sehen wir, wie der Wunsch der verstorbenen Kammer¬
zofe, ihren Fehltritt zu gestehen, so stark in ihr war, daß er sie gegen
ihren Willen zwang, in dem Zimmer zu spuken. Die Gegenprobe für die
Triebkraft dieses Wunsches dürfen wir in der Tatsache erblicken, daß der
Spuk, nachdem die Kammerfrau den Diebstahl gebeichtet und die Verzeihung
ihrer früheren Herrin erlangt hatte, sofort aufhörtc. Vielleicht ist es auch
gestattet, darauf hinzuweisen, daß das geschäftige Hin- und Hergehen des
Phantoms im Zimmer eine Lebens gewöhn heit des verstorbenen Kammer¬
mädchens zu wiederholen scheint, ein Zug, der in anderen Beispielen noch
bedeutsamer hervortritt und auf den wir zurückkominen werden.
Fall 2 erinnert in manchem an den eben besprochenen. Auch hier
handelt es sich um ein Geheimnis, das ins Grab mitgenommen wird und
den Verstorbenen nötigt, sich so lange spukhaft zu äußern, bis das Ge^
1) Von mir gesperrt.
Zur Psychoanalyse des Spuks 4,4,1
heimnis entdeckt ist. Da die Frau wußte, daß ihr Mann Geld versteckt
hatte, wurde der Spuk nach volkstümlichem Glauben von der Familie mit
dieser Tatsache in ursäehlichen Zusammenhang gebracht. Daß die Ange¬
hörigen mit dieser Annahme nicht fehlgingen, wird durch das Aufhören
des Spuks, nachdem der Geldbetrag gefunden wurde, bestätigt. Ich glaube,
man darf also auch vom Spuk wie von einer psychogenen Erkrankung
sagen: Was sein Erfolg ist, ist seine Absicht. Man gewinnt beim
Studium des Spuks nämlich immer wieder den Eindruck, als oh er eine
Absicht mit freilich unzulänglichen Mitteln 1 verfolgte; dies würde eher
dafür sprechen, daß eine Art von Intelligenz die Kundgebungen bewirkt
und es sich nicht um bloße Automatismen handelt. Auch der im Fall 2
erwähnte Zug, daß der Spuklärm immer größer wurde, je mehr der Sohn
des Bauern fluchte, deutet in dieselbe Richtung. Ist in dem an den Tod
des Bauern anschließenden Spuk eine Nachahmung seiner Lebensgewohn¬
heiten nur schattenhaft zu erkennen, so ist es für den Spuk nach dem
gewaltsamen Tode des Sohnes geradezu charakteristisch, daß er dessen
Tätigkeit bei Lebzeiten mit allen ihren Eigentümlichkeiten nachäfft. 2 Auch
im Fall 3, der nur kurz wiedergegeben wird und an einen Zusammen¬
hang zwischen der Gewalttat der Wäscherin und dem späteren Spuk denken
läßt, wiederholt dieser die Lebensgewohnheiten der verstorbenen Person.
Fall 4 erinnert wieder an Fall 2. Der tote Soldat fühlt noch immer sein
Gewissen durch den Besitz des unrechtmäßig erworbenen Geldes bedrückt
und spukt in der ausgesprochenen Absicht, die Bewohner des Hauses zu
veranlassen, daß sie das Geld hervorholen und an die Armen verteilen.
Auch hier hört mit der Erfüllung des Wunsches des Verstorbenen der
Spuk auf. Im Fall 3 kopieren die Spukerscheinungen die Lebensgewohn¬
heiten der verstorbenen Frau (ähnlich wie Fall 2 und Fall 3); im Pall 6
wird der epileptische Anfall und im Fall 7 die Todeskatastrophe spukhaft
wiederholt. 3 * 5
1) So wird fast nie im Rahmen der Spukkundgebungen das Motiv direkt ange¬
geben. Im Fall 1 (vermutlich auch im Fall 4) erfolgt die Mitteilung bei einer
inedinmistischen Sitzung. Es tritt also offenbar hier ein Ausdrucksmittel (Medium)
hinzu, das erst eine intelligente Äußerung ermöglicht.
2) Es hat den Anschein, als ob dieser Wiederholungszwang von Triebregungen
ausginge, die die Wiederherstellung eines durch die Vernichtung des Lehens ge¬
störten Gleichgewichtszustandes anstreben. Vgl. dagegen Freud: Das Ich und das
Es. Ges. Schriften, Bd. VI, S. 385.
5) Der Sturz der Frau wird im Fall 7 nur symbolisch wiederholt (durch herab¬
schwebende und platzende Kugeln). — Oder handelt es sich um eine Vorstufe der
Materialisation (das den Okkultisten geläufige sogenannte Kugelphänomen)? Bereits
Alfred Winterstein
442
Zur Erklärung des scheinbar automatischen Wiederholens spukhafter
Darstellungen, das den Charakter des Dämonischen, Unheimlichen noch
verstärkt, hat bereits 111 ig* den neurotischen Wiederholungszwang
herangezogen, dessen Wirksamkeit Freud in seiner Schrift „Jenseits des
Lustprinzips“ nach gewiesen hat. Gewisse Spukfälle zeigen, unter diesem
Gesichtspunkte betrachtet, eine weitgehende Analogie mit dem Traum¬
leben der traumatischen Neurose, andere wieder mit der neurotischen Re¬
produktion während der Analyse, Um das Verständnis zu erleichtern, kann
man nun nicht umhin, zur Hypothese zu greifen, daß auch im Sterben
so wie beim Einschlafen oder bei der Herstellung der analytischen Situation
das verdrängte Unbewußte zur Herrschaft gelangt, nur daß dieses Unbe¬
wußte im Spuk und in den Symptomhandlungen des neurotischen Patienten
agiert, zum Unterschiede vom bloß halluzinatorischen Traumleben der
traumatischen Neurose, das den Kranken immer wieder in die Situation
seines Unfalles zurückführt, * 1 2 3 Zu der ersten Kategorie von Spukkundgebungen
gehören jene Fälle, die durch einen gewaltsamen Tod, sei es Ermordung
oder Selbstmord, 5 oder durch ein anderes Schreckerlebnis unmittelbar vor
dem Tode verursacht scheinen* Man könnte hier vielleicht auch an einen
Gedanken Freuds anknüpfen, daß jeder Organismus nur auf seine Weise
sterben will, 4 und im Spuk eine Reaktion der tiefsten biologischen Mächte
gegen dieses Trauma des Todes erblicken. Ich verweise auf Fall 5 (der
plötzliche Tod des Sohnes), Fall 6 und Fall y* wobei es zunächst unklar
bleibt, warum im Spuk einmal die Lebensgewohnheiten der verstorbenen
Person nach geahmt werden, ein anderes Mal die Todeskatastrophe selbst
mimisch wiederholt wird, 5 Bei der zweiten Gruppe von Spukfällen ist man
versucht, an eine Verursachung durch einen vom Ich bei Lebzeiten nicht
bewältigten psychischen Inhalt oder durch einen unerledigten moral ischen
Plato spricht im Symposion von der Kugelgestalt des geschlechtlich gedoppelten
Urwesens — man weiß nicht, ob aus Erfahrung oder Intuition, (Hinweis bei Illlg,
a* a. O* S. 186*)
1) Hlig, a, a. O. S, 276 f* u* passim»
2 ) Die Periodizität vieler Spukfälle läßt sich wahrscheinlich durch Fixierung an
den Moment des „Traumas“ erklären*
3) Dem Volksglauben ist der Zusammenhang des Spukes mit gewaltsamer Todesart
geläufig.
4) Freud: Jenseits des Lustprinzips» Ges, Schriften, Bd. VI, S, 217»
5) Besonders interessant ist im Falle 6 die sieben Jahre dauernde Wiederholung
des epileptischen Anfalls. Vielleicht greift das Unbewußte gerade zu dieser Äußerung,
weil sie in der Linie des geringsten Widerstandes liegt*
Zur Psychoanalyse des Spuks 445
Konflikt zu denken, 1 Der Wiederholungszwang laßt unter gewissen uns
nicht näher bekannten Bedingungen die verpönten Regungen nach dem
Tode zu spukhafter Darstellung gelangen; in ihr ist aber immer gleich¬
zeitig auch eine Wirkung des Schuldgefühls (Strafbedürfnisses) zu er¬
kennen, so daß man den Spuk wie das neurotische Symptom als ein Pro¬
dukt des Geständniszwanges 2 bezeichnen könnte. Der Spuk hört in dem
Augenblick auf, wo der Inhalt des unbewußten Geständnisses von den
Lebenden durchschaut wird, also im Fall 2, sobald die Witwe das vom
Verstorbenen seiner Familie vorenthaltene, versteckte Geld aufgefunden
hatte. In einzelnen Fällen (1 und 4) scheint der Verstorbene mit Hilfe
eines Mediums sogar imstande zu sein, ein direktes Geständnis (Verwand¬
lung der Wiederholung in Erinnerung) abzulegen; die vollständige Befrie¬
digung des Strafbedürfnisses (Verzeihung seitens der geschädigten Person,
Verteilung des Geldes unter die Armen) bringt dann den Heilungsprozeß
zum Abschluß und macht den Spukphänomenen ein Ende. Man darf also
vielleicht nach dem Gesagten mit aller gebotenen Vorsicht die Vermutung
aussprechen, daß sich in gewissen, wahrscheinlich sehr seltenen Fällen die
Tätigkeit der menschlichen Persönlichkeit noch einige Zeit nach dem Auf¬
hören der Lebenserscheinungen fortzusetzen vermag. Die Spukphänomene
mit ihrer monotonen, automatischen Wiederholung einer und derselben
Handlung erwecken aber den Eindruck, daß es sich hiebei nicht um das
Überleben der ganzen Psyche handelt, sondern nur eines autonom gewor¬
denen Vorstellungskomplexes, einer fixen Idee ,3 einer Zwangsvorstellung,
die zur fortwährenden Abfuhr und Realisierung durch die Spukerschei¬
nungen (bisweilen bloß symbolisch) drängt. Daß in so vielen Berichten
Geld eine Rolle spielt und die spukende Intelligenz sich häufig auf bos¬
hafte, quälende Weise bis zur hartnäckigen Verfolgung einer bestimmten
Person manifestiert, ließe sich auf analerotische und sadistische* Regungen
zurückführen, die ja bekanntlich die prägenitale Organisation der Zwangs¬
neurotiker und die postgenitale alternder Menschen, namentlich Frauen,
kennzeichnen. Ich getraue mich jedoch nicht zu entscheiden, oh diese
1) In sehr vielen Fällen fand ich die durch einen begangenen Mord bewirkte
seelische Erschütterung als Ursache. . , „ ,
2) Vgl. Th. Keik: Geständniszwang und Strafbedürfms. Internationale Psycho¬
analytische Bibliothek, Bd. XVIII.
O Schon du Prel spricht von posthumen Monoideismen.
4,) Über den Sadismus als verschobenen Todestrieb siehe Freud: Jenseits des
Lustprinzips. Ges. Schriften, Bd. VI, S. 227.
Alfred Winterstein
444
Regression des Sexuallebens mit der (manchmal geradezu vererblichen)
Fähigkeit zu spukhafter Äußerung nach dem 'Tode in einem tieferen
Zusammenhänge steht.
Wir glauben, in der Phänomenologie des Spuks die Auswirkung ganz
bestimmter der Psychoanalyse geläufiger seelischer Mechanismen aufgezeigt
zu haben, und wollen nun dar legen, was uns zu der Auffassung berechtigt*
daß es sich hier um psychisch bedingte, reale Vorgänge handelt, die, so
rätselhaft sie uns auch heute noch erscheinen mögen, eines Tages sicherlich
ihren Platz im Gefüge der bioanalytischen Wissenschaft 1 vom Leben finden
werden. Daß die Spukphänomene sich so abspielen, als ob ihnen psjxhische
Mechanismen zugrunde lägen, wäre an sich vorn Standpunkte der Psycho¬
analyse aus natürlich noch kein Grund, ihnen objektive Realität zuzuerkennen
(mit demselben Rechte müßte man ja dann die Phantasiegestalten der Dichter
für wirklich Lebende hallen), man würde vielmehr zunächst annehmen,
daß die Erscheinung durch neurotische Projektion unbewußter Regungen
des Beobachters entstanden ist, also eine subjektive Halluzmation darstellt.
Diese Deutung empfiehlt sich dort als die wahrscheinlichere, wo nichts
anderes als das Zeugnis einer einzelnen Person vorliegt. Werden aber der¬
artige Phänomene von verschiedenen Personen unabhängig voneinander
durch lange Zeiträume wahrgenommen oder geht das Anmelden eines
Sterbenden in länger dauernden Verstorbenenspuk unmittelbar über, 2 gelangen
durch die Spukkundgebungen Tatsachen und Ereignisse zur Kenntnis der
Beobachter, von denen diese unmöglich etwas wissen konnten (eventuell
nachträgliche Bestätigung durch Dokumente, Funde u, ä.), entsprechen die
(materiellen) Spukerscheinungen einer mit einem Toten zu dessen Lebzeiten
getroffenen Verabredung oder hören die Spukvorgänge nach Erfüllung des
Wunsches eines Toten auf und stehen sie auch noch mit mediumistischen
Experimenten in Zusammenhang: 3 in allen diesen Fällen scheint mir die
Projektionstheorie völlig zu versagen und die Auffassung des Verstorbenen'
spuks als eines äußeren, vom Beobachter unabhängigen Vorgangs unab-
weislich zu sein. Vielleicht würden wir uns gegen diese Annahme weniger
heftig sträuben, wenn wir nicht, im Banne der Todesfurcht, den Tod als
unüberschreitbare Lebensferne betrachteten* Ist aber vom wissenschaftlichen
1) Vgl. S. Ferenczi: Versuche einer Genitultlioorio. Internationale Psychoanalytische
Bibliothek, Bd* 15, S. 111 ff
2) Diese — allerdings seltenen — Falle gehören zu den überzeugendsten. Vgl. hiem
Rud. Lambert: Spuk, Gespenster- und Apportphänomene, Berlin 1923»
3) Es handelt sich hier nur um eine demonstrative, nicht taxative Aufzählung.
Zur Psychoanalyse des Spuks
Standpunkte nicht Ferenczis 1 Anschauung vorzuziehen, „daß es eine voll¬
kommene Entmischung der Lehens- und Todestriebe überhaupt nicht
gibt, daß es selbst in der sogenannten ,toten‘ Materie, also im Anorganischen,
noch Lebenskeime gibt und damit auch Regression stendenzen zu jener höheren
Komplikation, aus deren Zerfall sie entstanden sind“ ?
Nicht als Beweis für die objektive Realität des Spuks, wohl aber dafür,
daß schon vor aller Wissenschaft große Dichter intuitiv dessen psychischen
Mechanismus erkannt haben, möchte ich noch zwei Beispiele aus Shake¬
speare an führen, die den von uns erwähnten beiden Gattungen von Spuk
entsprechen. Ich brauche wohl nicht neuerlich hervorzuheben, daß mit
diesen zwei Gattungen nicht alle Arten von Spuk erschöpft sind und daß
die einzelnen Spukfälle auch nicht immer eindeutig in eine der Kategorien
eingereiht werden können. Ein Fall von Spuk nach gewaltsamem Tode liegt
im „Hamlet“ vor, wo Hamlets Vater vier Nächte hindurch auf der Terrasse
des Schlosses in Helsingör und dann noch einmal am hellichten Tag im
Zimmer der Königin (dort freilich bezeichnenderweise nur Hamlet sichtbar)
erscheint. Er laßt selbst erraten, warum er spukt:
„So ward ich schlafend und durch Bruderhand
Um Leben, Krone, Weib mit eins beraubt,
In meiner Sünden Bliitc hingerafft,
Ohne Nachtmahl, ohne Beichte, ohne Ölung;
Die Rechnung nicht geschlossen, ins Gericht
Mit aller Schuld auf meinem Haupt gesandt,“
(Akt ü Szene 5,)
Dadurch, daß der Geist die Sorge um sein Seelenheil in den Vorder¬
grund stellt, nähert sich der Fall mit anderen dieser Art der zweiten Gattung
von Spukkundgebungen, die durch einen moralischen Konflikt verursacht
zu sein scheinen. Der Spuk hört auf, nachdem der Geist mit Hamlet in
Verbindung getreten ist und die Überzeugung erlangt hat, daß dieser ihn
rächen wird.
Bei dem zweiten Beispiel, das schon Illig 2 * herangezogen hat, handelt
es sich eigentlich nicht um einen Verstorbenenspuk, 5 aber die Äußerungen
sind so identisch mit dem Bild eines Spuks, daß man an ihnen, — an de m
Gehaben der nachtwandlerischen Lady Macbeth, —gerade weil wir hi er
1) Ferenczi, a, a. O, S. 127*
2) Illigs a. a, O. S. 286 k
5} Wie bei der Erscheinung von Banquos Geist in „Macbeth“,
Alfred Winterstein
446
den seelischen Zusammenhang mit Hilfe der Kunst eines großen Dichters
durchschauen, besser als irgendwo anders den psychischen Mechanismus
des Spuks studieren können* In der ersten Szene des fünften Aufzuges be¬
obachten der Arzt und die Kammerfrau das seltsame Benehmen der Lady
Macbeth, das sich nach der Erzählung der Kammerfrau Nacht für Nacht
wiederholt: in tiefem Schlafe steht sie aus ihrem Bette auf, macht sich
an ihrem Schreibtische 1 zu schaffen, reibt sich immer wieder die Hände,
als ob sie sie wüsche, um die Blutspur zu entfernen, seufzt ob der Ergebnis¬
losigkeit ihres Bemühens* Erinnert das Verhalten der Somnambulen nicht
Zug für Zug, in seiner Zwangsläufigkeit und Monotonie, in seiner Fixierung
an die Eindrücke der einen Schreckensnacht, an die Berichte über Geister¬
erscheinungen, die jahre- und jahrzehntelang klagend und stöhnend in
verrufenen Häusern oder Schlössern umgehen und gewisse uns unverständ¬
liche oder sinnlos dünkende Handlungen in öder Gleichförmigkeit wieder¬
holen? Lady Macbeth hat sich mit Blutschuld beladen, 2 * aber die Seele
dieser ehrgeizigen Frau ist der grausen Tat doch nicht gewachsen gewesen,
ihre gewaltsam ins Unbewußte verdrängte Weiblichkeit beschwört den Konflikt
herauf und treibt sie in die psychische Erkrankung, die sich in den geschil¬
derten Zwangssymptomen äußert. Das Reiben der Hände („Alle Wohlgerüche
Arabiens machen nicht süßduftend diese kleine Hand' 4 ) ist ja schon öfters
von psychoanalytischer Seite mit dem Wasch™ und Reinlichkeitszwang der
Zwangsneurotiker verglichen worden. Der Arzt bei Shakespeare weiß genau,
daß die Kranke nur durch ein Geständnis vor sich und vor anderen geheilt
werden kann. |t ran ke Seele will ins taube Kissen
Entladen ihr Geheimnis. Sie bedarf
Des Beicht’gers mehr noch als des Arztes.“
Und als Macbeth den Arzt fragt, ob er sie nicht mit seinen Mitteln kurieren
könne, antwortet dieser kopfschüttelnd: „Da muß der Kranke selbst das
Mittel finden.“
Fassen wir Macbeth und seine Frau, dem Winke Jekels' und treuds
folgend, als eine einzige psychische Individualität auf und nehmen wir an.
1) Vgl* hiezu Fall 5.
2) Mit Recht hat Jekels in einer unveröffentlichten Studie über den „Kaufmann
von Venedig“ auf eine Eigentümlichkeit des Dramatiker» Shakespeare aufmerksam
gemacht, der häufig einen Charakter in zwei Personen zerlegt; jede von diesen ist
nur zum Teil begreiflich, solange man sie nicht mit der anderen wiederum zur Ein¬
heit zusammenseLzt* Dies gilt auch von Macbeth und der Lady. (Vgl. auch Freud;
Charaktertypen aus der psychoanalytischen Arbeit. Ges. Schriften, Bd. XA
Zur Psychoanalyse des Spuks 447
es handelte sich nicht um eine Schöpfung dichterischer Phantasie, sondern
um einen wirklichen Menschen. Dann ließe sich aus einer psychologischen
Gesetzmäßigkeit heraus wohl begreifen, wenn dieser Verbrecher nach seinem
überdies auch noch gewaltsamen 1 Tode spukte. Macbeth hat den Schlaf
gemordet, „den Tod im Leben jedes Tags“, darum darf er selbst keine
Ruhe finden.
Wollte man mich aber zum Schlüsse fragen, warum es denn nicht viel
mehr Spukfälle gebe, da ja doch die aufgezählten Voraussetzungen sehr häufig
anzutreffen seien, so müßte ich erwidern: Ich weiß es nicht, ich bilde mir
ja nicht ein, alle Ursachen zu kennen. Offenbar gehört noch etwas Weiteres
dazu, vielleicht erraten wir es, wenn wir von einer (wie 111 ig meint, bis¬
weilen vererblichen) psychischen Disposition zum Spuk reden. Über das
Wesen dieses „konstitutionellen Momentes“ werden hoffentlich spätere For¬
schungen, zu denen diese bescheidene Arbeit anregen möchte, Licht ver¬
breiten.
i) Macbeth wird von Macduff im Zweikampf getötet und von Lady Macbeth heißt
es: ... der Teufels fürs tin, die, wie man spricht, mit eigner, wilder Hand ihr Leben
nahm.“ (V. Akt, 7. Szene.)
Drei psychoanalytische Notizen
* Von
Theodor Re i k
Wien
Die drei kleinen Abschnitte* die hier folgen, dürfen — streng genommen —
keinen Raum in ausgeführter wissenschaftlicher Arbeit beanspruchen. Allein gelegent¬
lich muß man wohl auch den Mut nufbringen, anspruchslosere Skizzen statt eines
fertigen Bildes zu zeigen („das sind die Kleinen von den Meinen“) und wird doch
nicht fürchten müssen, eine allzustrenge Kritik des Beschauers herauszufordern. Der
Zeichner dieser drei Skizzen wenigstens würde sehr zufrieden sein, wenn sie, dem
freudigen Anlaß des Tages entsprechend, einem vertrauten Antlitz ein flüchtiges
Lächeln abgewinnen konnten-
X
Die GrußVerlegenheit
Es ist sicher nur eine Frage der Zeit, daß eine Person, die unserem
Kreise angehört, uns eine analytische Untersuchung über die Psychologie
des Grußes vorlegen wird. Ich bin mm besorgt, dieser künftige Forscher
könnte über dem ausgebreiteten ethnologisch und psychologisch gleich
interessanten Material eine Kleinigkeit übersehen, die doch nicht unwichtig
ist: die Gruß Verlegenheit. Freud hat bereits auf die Grußschwierigkeiten
der Zwangsneurotiker hingewiesen und dabei insbesondere jene Schwierig“
keiten hervorgehoben, die sich auf das Hutabnehmen beziehen. 1 Die Gru߬
verlegenheit ist aber eine allgemeinere Erscheinung; sie soll hier jene Ver¬
legenheit bezeichnen, die viele Personen verspüren, wenn sie eine andere
treffen und begrüßen sollen. Es handelt sich hier nicht nur um die Frage,
ob sie grüßen sollen, sondern auch um die fast schwieriger zu beantwortende,
wie dies zu geschehen hat. Bei einem Patienten wurde das Problem, wie
i) Freud: Eine Beziehung zwischen einem Symbol und einem Symptom. Ges.
Schriften. Bd. V.
Drei psychoanalytische Notizen
449
tief der Hut gezogen werden solle und wie eine Verbeugung ausfallen
solle, ohne zu vertraulich oder zu demütig zu sein, zum Gegenstand
zahlreicher Grübeleien. Eine Unsicherheit im Gruß selbst wird sich
als Zeichen der Ambivalenz insbesondere beim Zwangsneurotiker be¬
merkbar machen. Derselbe Patient, von dem berichtet wurde, konnte
lange bei dem üblichen Händedruck meine Hand nicht finden, immer
wieder griff er daneben, berührte den Ärmel meines Rockes usw t Es
ergab sich so für die beiderseitigen Hände eine eigenartige Situation:
sie konnten zusammen nicht kommen. Inhalt und Form des Grußes sind
mannigfachen, individuellen Schwierigkeiten und Unsicherheiten ausgesetzt,
auch wenn die Beziehungen zwischen den Personen — oberflächlich he- *
trachtet — durchaus geregelt und in gesicherten Bahnen zu verlaufen
scheinen. Es ist dann so, als würden sich die unbewußten Regungen gerade
auf dieses isolierte Detail des persönlichen Verkehres beschränkt haben,
wie wenn hier die Einfallspforle des Verdrängten wäre. Einer meiner
Patienten hatte die Gewohnheit, Leute, die er kannte, und denen er bewußt
keineswegs grollte, für lange Zeit unbewußt zu übersehen, um sie nachher
wieder freundlich zu grüßen. Es war, wie wenn sie einige Zeit in Ungnade
gefallen wären, um sich später wieder seiner Gunst zu erfreuen; erst die
Analyse konnte diese anscheinend so grundlosen Periodizitäten aufklären.
Derselbe Patient hatte sich auch ein zweizeitiges Grußzeremoniell zurecht¬
gemacht, das ihn zwang, erst an dem zu Grüßenden vorbeizugehen und
ihn dann, sich umdrehend, zu grüßen, als erkenne er ihn erst jetzt: eine
Analogie zu einer auch sonst gelegentlich vorkommenden Erscheinung,
Hatte er jemanden mündlich zu begrüßen, so verspürte er eine gelinde
Verlegenheit, als müsse er sich irgendwie schämen. Dieses Gefühl kam
auch im Stottern bei dieser Gelegenheit zum Ausdruck, Es war klar, daß
er den Gruß regressiv wieder sexual isiert hatte. Es kam vor, daß er einen
gleichgültigen Bekannten, den er getroffen hatte, ängstlich im Gespräche
festhielt, nicht weil er den Abschiedsschmerz, weil er die Grußschwierig¬
keiten beim Abschied fürchtete. Alles weist darauf hin, daß uns der Gruß
unbewußt doch mehr bedeuten muß, als wir wahr haben mochten. Ärgern
wir uns nicht, wenn uns jemand salopp grüßt, obwohl wir uns doch vor¬
sagen, daß uns Hekufaa dagegen eine Staatsaktion bedeutet? Verspüren wir
nicht ein brennendes Gefühl der Scham, wenn es uns gelegentlich geschieht,
daß uns eine besonders geachtete, altere Person zuerst grüßt; so, als hätten wir
ein unentschuldbares Versäumnis begangen — obwohl wir doch bereit sind,
zu beschwören, wir haben sie früher nicht bemerkt? Sehen wir nun von patho-
Imago XII
29
45°
Theodor Reik
logischen Vergrößerungen und Vergröberungen ab, so muß man doch sagen,
daß die Grußverlegenheit auch innerhalb der Breite des Normalen in gerin^
gerem Grade auftritt. Man wird um eine Erklärung nicht verlegen sein. Es
handelt sich darum, daß sexuelle und aggressive Tendenzen unbewußter Art in
dieser Verlegenheit störend in die gesellschaftlichen Konventionen eingreifen.
Die ersteren sind ohneweiters klar, wenn wir uns des Jünglings erinnern, der
errötend „ihren“ Spuren folgt, der in die Lage kommt, die scheu Geliebte
zu begrüßen, oder des Mädchens, das den Gruß des Anbeters zu erwidern
hat. Die feindlichen Impulse, die sich in der Grußverlegenheit melden,
führen zu mannigfachen Hemmungen und Abänderungen des Grußes sowie
* zu Fehlhandlungen innerhalb des Grüßens. Schließlich können sie es
zustande bringen, daß der Gruß selbst unterbleibt.
Es scheint uns auf den ersten Blick, als ob der Gruß als ein an sich
unwichtiges Detail des gesellschaftlichen Verkehres für uns unbewußt einen
Affekt wert besitze, den wir ihm bewußt nicht zuschreiben. Aber diese
Verschiebung auf ein Detail wäre unmöglich, wenn das Detail nicht einmal
wirklich eine gewisse Bedeutung gehabt hatte. Es erscheint uns dann die
Funktion des Grußes in verändertem Lichte : es ist so, als würde er sich aus
einer ursprünglich undifferenzierten, triebhaften Form der ersten Annäherung,
in der Feindseligkeit oder Liebesbereitschaft zum Ausdruck kamen, erst
langsam zu seiner jetzigen freundlicheren Bedeutung entwickelt haben. Er
hat dann allmählich die Funktion übernommen, eine Art Versicherung
dafür zu geben, daß man auf die Befriedigung feindlicher Gelüste ver¬
zichtet habe, und ist endlich zu einer konventionellen Gebärde erstarrt.
Homo hornini lupiis — das Vorstadium des Grußes, das etwa Hunde zeigen,
die sich vorsichtig einander annähern, um sich zu beschnuppern, ist zum
Teil noch im Nasengruß mancher Völker zu erkennen. Diese Herkunft
des Grußes aus der Hemmung und Verdrängung feindlicher und sexueller
Impulse laßt es verständlich erscheinen, daß er in der Regression zum
Objekt mannigfacher Unsicherheiten und Verlegenheiten werden kann, in
denen klar wird, daß jene verdrängten Gefühle und Wünsche nicht aus¬
gestorben sind. Sie kehren etwa im kühlen oder hochmütigen Gruß aus
der Mitte des Verdrängenden wieder. Nestroy läßt eine seiner Personen,
sagen: „Wie schön is das, wenn man jemand die Hand in die Hand
legen muß, dem inan’s am liebsten ins G’sicht legen möclit .
Die Rolle der unbewußten Feindseligkeit und des Mißtrauens geht noch
über den Gruß hinaus und beherrscht die anderen Initialzeremonielle des
gesellschaftlichen Verkehres, als wären diese Abwehrmaßregel, Sicherheits-
Drei psychoanalytische Notizen
45 1
maßnahmen gegen die von allen Seiten lauernden Gefahren der Feindschaft
aller gegen alle* Das Vorstellen, das sich als Form des Bekanntwerdens
in unserer Gesellschaftsschichte eingebürgert hat, ist sicherlich eine solche
Art unbewußter Garantie, die ja, wie bekannt, nicht immer ausreicht*
Auch hier werden Verlegenheiten zum Zeichen der Hemmungen und Un¬
sicherheiten, die aus derselben Quelle stammen.
Die Gesellschaft hat sich diese Abw ehrmaß regeln, die den individuellen
der Zwangsneurotiker analog und psychisch wie diese aufgebaut sind, ge¬
schaffen und bedarf ihrer, weil sie so viele Unsicherheiten beherrschen
muß. Manchmal zeigt uns ein Vorfall, daß sie noch unsicherer wird, wenn
sie der gewohnten Zeremonielle ent raten muß. Es sieht dann so aus, als
fühle sie sich, dieser Sicherungen beraubt, für kurze Zeit so angstvoll und
hilflos wie Zwangsneurotiker, die sich unter dem Drucke einer äußeren
Notwendigkeit die Einhaltung eines Zeremoniells versagen müssen. Bekannt
und oft angeführt ist die Situation, in der Li vingstone und Stanley
einander zum erstenmal trafen. Nach Überwindung vieler Schwierigkeiten
und langem LFmherirren hatte Stanley endlich den verloren geglaubten
Li vingstone mitten im Urwald Afrikas gefunden. Als die beiden Engländer
einander unter so romantischen Umständen ansichtig wurden, blieben sie
einen Augenblick lang wie festgebannt an der Stelle* Es war ein Augen¬
blick voll Unsicherheit und Verlegenheit. Sie waren einander nicht vor¬
gestellt*
II
Der latente Sinn der elliptischen Entstellung
Die Auslassungstechnik der Zwangsgedanken sowie des Witzes wurde von
Freud zum ersten Male klargelegt und in ihren Zielen verständlich gemacht.
Die Auslassung will den wirkliciien Wortlaut der Zwangsidee entstellen
und so gegen das Verständnis schützen. Als Beispiel sei die Zwangsidee eines
Patienten angeführt, der sich mit Aufwand großer psychischer Energie gegen
blasphemische Gedanken zur Wehr setzte: Wenn ich einen Schuhriemen
einschnüre, verfluche ich Gott. Da sich dieser Gedanke schließlich
auf alle Schuhriemen verschob, sah er sich genötigt, mit offenen Schuh¬
riemen auf der Straße zu gehen. Die Einsetzung der übersprungenen, in
der Analyse erschlossenen gedanklichen Zwischenglieder ist zum Verständnis
der Zwangsidee notwendig. Die Bedeutung des Einschnürens der Schuh¬
riemen in die Ösen als Sexualsymbol für den Geschlechtsverkehr sowie der
29,
Theodor Reik
Mechanismus der Verschiebung auf ein Kleines liefern die erforderliche
Aufklärung* Der ergänzte Gedankengang lautet: wenn ich einen Geschlechts¬
verkehr ausführen will, stört mich der Gedanke an den Vater, so daß ich
ihn verfluchen will und dieser Fluch könnte in Erfüllung gehen* Diese
Zwangsidee, auf Gott als den Störer der Sexualität verschoben, gibt das
Wesentliche der Lösung. 1
Wir stellen dieser Zwangsidee einen Witz zur Seite, dessen Technik eben¬
falls die der Auslassung ist* Der Wiener Athlet und Ringkämpfer Jagen¬
dorfer erzählt seinen Freunden beim abendlichen Stammtisch folgendes
Erlebnis des Tages: „Denkt’s euch, wie ich heut’ in mein Kaifeehaus komm*
und meine Billardpartie spielen will, ist mein Queue nicht da. Ich such*
überall und find* es nicht. Da seh* ich einen Herrn am anderen Billard¬
tisch spielen und seh*, daß er mit meinem Queue spielt. Ich geh* also hin
und sag* ihm: ,Herr, das ist mein Queue/ Sagt er: ,Nein, das ist meines/
Sag ich: ,Herr, geben S* das Queue her, wenn ich Ihnen schon sag, es
ist mein Queue** Er aber gibt nicht nach und sagt immer wieder, daß es
seines ist, Wie*s ihn dann mit Essig g*wasch*n haben, seh* ich erst,
daß es wirklich nicht mein Queue war“ Es ist die Frage berechtigt,
ob hier überhaupt ein Witz vorliegt* Handelt es sich nicht vielmehr um
eine komische Geschichte? Sehen wir näher zu: der erste Eindruck könnte
ein komischer sein; wir lachen über den ungeschlachten Riesen, der wegen
einer solchen Bagatelle einen — noch dazu unschuldigen — Nebenmen sehen
zu Boden schlägt» Wir würden sicher nicht so handeln; es ergibt sich hier
jener Fall des Komischen, der entsteht, wenn wir den Aufwand — in
unserem Fall den körperlichen und affektiven — anderer Personen mit
dem vergleichen, den wir in gleicher Situation zeigen würden. Es wäre
also der allzugroße Aufwand, der uns lachen macht* 2 Es ist so, wie wenn
wir uns sagen würden: was für ein TölpelI konnte er nicht sorgsamer
überprüfen, wessen Billardqueue es war? Wir merken aber bei dieser Er¬
klärung, wie wenig komisch das eigentlich ist; wir müßten eigentlich über
diesen Mangel an seelischem Gleichmaß und diese Brutalität entrüstet sein.
Versuchen wir eine andere Fassung der Erzählung etwa: „Wie ich ihm
dann einen Faustschlag versetzt habe, so daß er ohnmächtig wurde, sehe
1) Der Vater hatte zur Pubertätszeit des Sohnes die Onanie energisch und unter
starken Drohungen verboten. Gleichzeitig hatten andere Personen, die ihm nahe
standen, die Onanie als Sünde und Verbrechen gegen Gott hingestellt.
2) Freud: DerWitz und seine Beziehung zum Unbewußten. Ges. Schriften. Bd. IX,
S* 222 f*
Drei psychoanalytische Notizen
ich erst . . so bemerken wir, daß vielleicht noch immer ein Stück Komik
übrigbleibt, aber es ist nichts mehr da, was uns berechtigen würde, hier
einen Witz zu finden. Wir sehen also: einer der Fälle, in denen das Komische
dem Witz als Fassade dient. Das Witzige hängt gerade an dem Moment
der Auslassung dieses Satzes und an der Ausdrucksweise des folgenden, der
eine Anspielung auf das Ausgelassene enthält* Diese Fortsetzung zeigt ebenso
wie das Überspringen, daß das Niederschlagen dem Athleten so selbstver¬
ständlich erscheint, daß er es gar nicht erwähnen braucht; sogar das „Mit-
essigwaschen“ erwähnt er nur so nebenbei, als Zeitbestimmung. Wir erkennen
jetzt, daß es diese Technik war, die auch für das Komische entscheidend
war: gerade diese Unbekümmertheit und Selbstverständlichkeit der Aggression,
sowie ihr selbstverständlicher, in unseren Augen übertriebener Erfolg wirken
zusammen, um unsere Entrüstung über eine solche Brutalität ersparen zu
helfen und uns lachen zu machen* Daß der Athlet dann seinen Irrtum
einsieht, hat die verstärkende Wirkung, daß es uns das Übereilte und Un¬
zweckmäßige seiner Aktion zeigt; wir lachen über ihn, wie wir über die
unzweckmäßigen und übermäßigen Bewegungen von Kindern lachen. 1
Wir haben nicht vergessen, daß das Komische hier den Witz verdeckt.
Das Komische wirkt sich darin aus, daß wir über den Athleten lachen;
das Witzige in der Erzählung wird die Wirkung haben, daß wir mit ihm
lachen* Wir lachen nämlich über seinen Bericht auch, weil er, durch die
Vorlust verdeckt, tiefere, unbewußte Regungen in uns freigemacht hat* Wir
fühlen: eigentlich sind diese selben gewaltsamen und gewalttätigen Regungen
in uns allen; auch wir wären fähig, wenn uns nicht die Kulturhemmungen
hinderten und wenn wir über die Körper kraft e eines Athleten verfügten,
einen niederzuschlagen, wenn wir überzeugt sind, er wolle uns unser gutes
Recht streitig machen. Unsere aggressiven und sadistischen Impulse erfahren
eine plötzliche Aufhebung der Hemmung, wenn wir uns mit dem Athleten
identifizieren. Wir lachen also aus erspartem Hemmungsaufwand,
Doch wir wollten uns ja nicht mit der Psychogenese der Witz Wirkung,
sondern mit der speziellen Technik der Auslassung beschäftigen* Die latente
Bedeutung der Auslassung oder der elliptischen Technik scheint mir nun
zu sein, daß mit diesem technischen Mittel auch ein spezifischer Inhalt ver¬
bunden ist, der eben auf das Wegschaffen, Aus-denrWege-Räumen eines
Objektes hinzielt* Es ist also so, als ob durch die Auslassung unbewußt eine
Tendenz zum Ausdruck käme, welche die Person eliminiert, vernichtet oder
1) Freud: Der Witz usw. Ges, Schriften* Bd. IX, S. 221.
454 Theodor l\eik
tötet. Die Auslassung als technisches Element entspricht inhaltlich einer
siegreichen seelischen Strebung zur radikalen Entfernung eines gehaßten
Objektes (oder einer gehaßten Institution, die durch eine Person verkörpert
wird). Um diese Beziehung zwischen einer typischen Technik und einem
latenten Inhalt klarzumachen, müssen wir wohl weiter ausgreifen. Es ist in
der analytischen Literatur noch keineswegs gebührend hervorgehoben worden,
wie oft und wie erfolgreich die Form eines seelischen Phänomens dazu ver¬
wendet wird, seinen geheimen Inhalt darzustellen. Wie uns Freud gezeigt
hat, bedient sich der Träumer oft einer ähnlichen Technik, wenn er seinen
Traum erzählt und ein Stück von dessen latenter Bedeutung in einer Glosse,
einem Urteil, oder einer Bemerkung darüber unterbringt. Oft ist in einem
solchen beiläufig bemerkten Formelement gerade das Wesentliche des Traum*
inhaltes enthalten. In derselben Art dient die Vorstellungsmimik dazu, den
Inhalt des Vorgestellten darzustellen, wie es Freud in seinen Ausführungen
über den „Ausdruck des Vorstellungsinhaltes“ geschildert hat. 1
Wir meinen also, eine unterirdische Beziehung zwischen der elliptischen
Entstellungstechnik in den Zwangsgedanken und im Witz und dem spezi¬
fischen Inhalt des Ausgefallenen gefunden zu haben: die Auslassung stellte
sich als Ausdruck der unterdrückten Tendenz zur völligen Vernichtung,
Ausrottung des Objektes dar. („Nicht gedacht soll seiner werden. 4 ) Wir
können nicht sagen, ob diese Beziehung eine konstante oder nur in einigen
Fällen nachweisbare ist. Prüfen wir unsere Hypothese an den uns zunächst
zur Verfügung stehenden Beispielen: in der elliptischen Zwangsidee meines
Patienten ist diese Annullierungstendenz ohneweiters klar; das Ziel seiner
Wünsche ist eben, den Vater völlig auszuschalten. Ebensowenig ist die Ver-
nichtungsabsicht in der Geschichte von Jagendorfer zu verkennen. Man
könnte diesen Witz in eine Reihe stellen mit jenen komischen Übertrei¬
bungen und Renommierereien, in denen die Gassenjungen unserer angeblich
von alter Kultur erfüllten Stadt die gewaltige Wirkung ihrer Affektäußerungen
darstellen. Ich horte einmal, wie ein halbwüchsiger Fleischhauerjunge in
einem Wortstreite einem anderen zurief: „Wenn ich dich nur anrühr*,
paßt f ja in kein Sarg mehr hinein! 4 Hier ist also nicht nur eine Beschädi¬
gung von der Kraftäußerung zu erwarten, sondern eine so weitgehende
Deformation, — noch dazu durch bloße Berührung — daß kein Sarg mehr
den formlos gewordenen Leichnam des Gegners aufnehmen könnte. Auch
hier ist eine Auslassung konstatierbar, aber entsprechend dem ungehemmteren
i) Freud: Der Witz. Ges. Schriften. Bd. IX, S. 220,
Drei psychoanalytische Notizen 455
Charakter des Milieu ist der Inhalt des Ausgelassenen als gewaltsame Tötung
aus dem folgenden Satze leicht erratbar. Wir werden durch die Kontrastie-
rung dieses Beispieles mit anderen darauf aufmerksam, daß, was hier im
Nachsatz so unzweideutig hervortritt, anderswo nur angedeutet erscheint,
daß sich der Inhalt des Ausgelassenen in der folgenden Satzfügung nur als
Anspielung oder in abgeschwächter Form findet. Wirklich können wir diese
Spur in dem der Auslassung folgenden Satz unserer Beispiele verfolgen; in
der Zwangsidee des Patienten lautet dieser: muß ich Gott verfluchen. In
der Erzählung des Athleten tritt die Wirkung des Schlages, also der aggres¬
siven Tendenzen in dem Nebensatz „wie sie ihn dann mit Essig g’wasch’n
hab’n“ hervor. Es ist so, als ob sich das Ausgefallene gleich im folgenden
Satze eine abgemilderte und abgeschwächte Vertretung, einen Ersatz gesichert
hätte, der freilich den ursprünglichen krassen Inhalt des Ausgefallenen nur
ahnen läßt. Wir sind uns der Unzulänglichkeit unserer Worte bewußt, wenn
wir die psychologische Sachlage folgendermaßen beschreiben: der bewußt¬
seinsfähige (vorbewußte) Inhalt der Auslassung geht soweit, als der Vor¬
stellungsumfang der Ersatzbildung (des folgenden Satzes, der folgenden An¬
spielung) reicht; der unbewußte Inhalt wird durch das Ausmaß der Auslassung
selbst bestimmt. Die Ersatzbildung oder Anspielung dient so nur als Weg¬
weiser, nicht als zureichende Auskunft. Wir werden etwa durch den folgenden
Satz darauf aufmerksam, daß das Ausgefallene von aggressivem, feindlichem
Charakter war, daß es sich um den Ausdruck von Zorn oder Haß handelt,
aber die Intensität dieses Hasses, das Ausmaß dieser Wut bleibt unbewußt,
ebenso das Triebziel, eben die Vernichtung oder Tötung des Objektes. Gerade
die analytische Erforschung der Zwangsneurose bringt hier die beste Ana¬
logie : wir hören oft von Patienten, sie seien bei einem bestimmten Anlaß
oder gegenüber einer bestimmten Person ärgerlich oder böse geworden, aber
die Tiefe ihrer Affekte, der Charakter sinnloser Wut, der zu stärksten Todes¬
wünschen gegen gehaßte Personen führt, blieb ihrem Bewußtsein entzogen.
Auch die Unbestimmtheit des Nachsatzes der Zwangsidee (als Beispiel das
bei Freud angeführte: 1 „Wenn ich die Dame heirate, geschieht dem Vater
1) Freud: Bemerkungen über einen Fall von Zwangsneurose (Ges. Schriften.
Bd. VIII). Gerade die Analyse dieses Falles zeigt, daß der Inhalt der elliptischen Ent¬
stellung unbewußte To des wünsche gegen den Vater sind, die sich kraft der Allmacht
der Gedanken verwirklichen könnten. Der von Freud angeführte Witz „Wenn der
X. das hört, bekommt er wieder eine Ohrfeige“ scheint nicht auf solchen Inhalt des
Ausgefallenen schließen zu lassen. Die Fortsetzung der im Nachsatz angedeuteten
Aggressionstendenz ins Unbewußte würde aber dieselben Vernichtungstendenzen gegen
die verspottete Person zeigen. Freud weist übrigens selbst darauf hin, daß neben
Theodor Reik
456
ein Unglück“), die ihr Pendant manchmal in der Anspielung im Witz
findet („wie’s ihn dann mit Essig g 1 wasch’n hab’rÜ), zeugt von der Be¬
mühung, den wirklichen Inhalt der Zwangsidee, des Witzes — nämlich den
Tod — der bewußten Vorstellung fernzuhalten. Die Ersatzbildung bringt
also das Ausgelassene in außerordentlich abgeschwächtem, bewußtseinsfähigem
Ausmaße wieder* In einzelnen Beispielen greift sie, wenn kein Zweifel
mehr am Inhalt des Ausgefallenen bestehen kann, sogar zu heuchlerischen
oder ironischen Verteidigungen wie in jenem furchtbaren Worte: „Die
einzige Entschuldigung für Gott ist, daß er nicht existiert.“
Es steht also so, daß die geheime Bedeutung der elliptischen Technik
der Ausdruck heftiger Vernichtungstendenzen, unbewußter Todeswünsche
ist, die man nicht laut sagen kann, ohne auf Entrüstung und Ablehnung
seitens der Umwelt zu stoßen* In jenen Beispielen, in denen das sexuell
Anstößige ausgelassen wird, brauchen so intensive Destruktionsteildenzen
unbewußter Art keineswegs zu fehlen; die Triebstrebungen sind dort
konstitutionell durch sadistische, gegen das Objekt gerichtete Tendenzen
verstärkt, wie dies manchmal in der Zote zum Ausdruck kommt*
Wir könnten die Auslassung im Witz und im Zwangsgedanken jenen Aus¬
drucksvermeidungen gleichsetzen, die selbst zum Ausdruck des unterdrückten
Inhaltes werden. Die Abmilderungen oder Anspielungen des folgenden Satzes,
die den Charakter der Ersatzbildung haben, wären dann jenen Euphemismen
zu vergleichen, die wir manchmal an wenden („dahinscheiden“, „uns ver¬
lassen usw. für sterben). Der Vergleich geht freilich nicht über eine gewisse
Grenze hinaus, denn der Ausfall in den Zwangsideen oder im Witz drückt
wirklich einen unbewußten Todeswunsch aus. Die Auslassung ist nur eine ver~
hülltereForm eines Optativs: oh, wäre er weg, möge er sterben, verschwinden!
den formellen auch inhaltliche Übereinstimmungen zwischen der Zwangsidee und
diesem Witz bestehen.
Wie Freud zeigt, ist auch die Auslassung, die er einer Verdichtung ohne Ersatz¬
bildung vergleicht, eine Art der Anspielung. „Eigentlich wird bei jeder Anspielung
etwas ausgelassen, nämlich die zur Anspielung hinführenden Gedtiukenwege. Es kommt
nur darauf an, ob die Lücke das Augenfälligere ist oder der die Lücke teilweise
ausfallende Ersatz in dem Wortlaut der Anspielung. So kämen wir über eine Reihe
von Beispielen von der krassen Auslassung zur eigentlichen Anspielung zurück , u
(Freud, Der Witz. Ges. Schriften. Bd. IX, S. 85.)
Um hier der krassen Auslassung einen Witz mit Anspielung gegenüberzustellen,
sei auf eine Szene in einem Lustspiele von Maurice Donnay verwiesen. Dort flüchtet
eine Dame vor den Nachstellungen eines D011 Juan in die Wohnung eines Freundes
ihres Mannes, Der Herr beruhigt die Erschreckte mit den Worten: „Si vaus etez chez
vous n'avez rim a craindre — des autres.“
Drei psychoanalytische Notizen
Vielleicht darf uns das erste Beispiel, das wir gewählt haben, jene
blaspbemische Zwangsidee, den Mut geben, eine Vermutung darüber zu
äußern, wie es überhaupt zu solcher Auslassungstechnik gekommen ist. In
den Denkmälern des antiken Orients sowie im Sprachgebrauch bestimmter
semitischer Völker finden wir Ausdrücke wie: X. Y. (Name) mit dem Zusatz:
Tanit, Allah usw. vernichte ihn, möge seinen Namen zerstören 1 Es sind
also Namen, die von einem Fluch gefolgt sind* Es wäre aus dem Ver¬
drängungsfortschritt der Jahrhunderte zu verstehen, daß solche Flüche nach
Erwähnung von Personen unterdrückt worden wären, und sich an deren
Stelle eine Ersatzbildung eingestellt hätte. 1 Diese so unterdrückte, schließlich
verdrängte Regung hätte sich gerade des Ausfalles bedient, um zum Aus¬
druck zu kommen* Es wäre so, wie wenn ein Soldat der eigenen Armee
zum Feinde überliefe, um gegen die früheren Kameraden zu kämpfen.
Die Auslassung als Mittel der Unterdrückung wäre schließlich Ausdrucks¬
mittel des Unterdrückten geworden. Die Verdrängung jener gewalttätigen
Impulse, die auf Tötung und Vernichtung des gehaßten Objektes abzielen,
ist also die Vorbedingung der Auslassung, die so zu einem psychischen
Kompromißausdruck der verdrängten und der verdrängenden Regungen
würde. Sie ist aber auch dafür verantwortlich, daß es zum Kurzschluß des
Witzes und zu dem anscheinenden Widersinn der Zwangsidee kam. Wie in
der Psychologie der Traum Vorgänge wird hier die Absurdität zum Zeichen
des Spottes und Hohnes, des Protestes gegen die verdrängenden Mächte,
Wir wollen nur noch ein Beispiel elliptischer Witztechnik anführen:
der geniale Wiener Schauspieler Girardi antwortete einmal einem Kollegen,
der ihn um Geld bat, mit den anscheinend ganz unsinnigen Worten:
„Wissen S’ was, Heber Freund? Sei’n wir lieber gleich bö$\ u
Das scheint auf den ersten Blick Unsinn, auf den zweiten verrät es die
besondere Welterfahrung des Schauspielers. Das heißt doch: Wenn ich Ihnen
jetzt Geld borge, werde ich es sehr widerwillig tun und Ihnen deshalb alles
Böse wünschen. Mein Ärger wird sich noch steigern, wenn Sie mir — wie
vorauszusehen — das Geld nicht zurückgeben werden. Dieses Gefühl kann
aber unmöglich nach außenhin spurlos bleiben; es wird sich irgendwie
ein Ventil verschaffen und wir werden Feinde werden. Man könnte diese
psychologische Reihe noch nach anderer Richtung hin fortführen: auch der
Bittsteller ist durch die Demütigung, daß er um Geld Litten muß, bereits
i) Als Übergangsstadium wäre etwa an Formel wie: er, dessen Name nicht ge¬
nannt werden soll, zu denken.
8 Theodor Reik
unbewußt feindlich gegen den vorn Geschick begünsligieren Kollegen ein¬
gestellt und dieses Gefühl wird durch das reaktive Schuldgefühl, wenn er
das Geld nicht zurückgeben kann, noch vertieft werden. 1 Also auch von
seiner Seite ist der Ausgang der Beziehungen nicht zweifelhaft. Der freundliche
Rat, doch gleich böse zu sein, scheint so nicht nur die Geldausgabe, sondern
auch eine Reihe peinlicher Zwischenbegebenheiten und Zwischengefühle
ersparen zu wollen.
Hier ist freilich der unbewußte Todeswunsch nicht zum Ausdruck ge¬
kommen — nur die elliptische Form zeugt von seiner Existenz aber der
Rat des Schauspielers verrät uns, daß die Zumutung, Geld zu borgen, auf
dessen Rückzahlung er nicht rechnen konnte, in ihm starke feindselige
Gefühle gegen den Bittsteller ausgelöst hat. Die unbewußte Fortsetzung dieser
Affekte aber führt zu Todeswünschen. Und'wirklich: böse sein, das heißt
doch: für einander nicht mehr dasein. Sagen wir nicht von einem erbitterten
Feinde: „Er existiert nicht mehr für mich“ oder „Er ist für mich gestorben“?
So wird in der Technik des Witzes und in der Formulierung der Zwangs¬
ideen klar, daß wir uns noch durch die Auslassung, die es verschweigen
sollte, unbewußt zu unseren mörderischen Gedanken bekennen.
III
Den Gesprächspartner verloren
Ein Patient, dessen zahlreiche Fehlhandlungen in der Analyse eine Deu¬
tung gefunden hatten, die er seihst, obwohl manchmal widerwillig, aner¬
kennen mußte, erklärte eines Tages, gestern sei ihm etwas passiert, was
die Analyse sicherlich nicht auf klären könne. Man tut gut daran, sich
solchen „Aufforderungen zum Tanz“ gegenüber recht reserviert zu verhalten.
Manchmal dienen sie als wohlfeile Vehikel des Widerstandes dazu, den
Analytiker in die Enge zu treiben, ihn zu „corner“. Im vorliegenden Falle
aber handelt es sich um eine typische Fehlhandlung, die gewiß schon jedem
von uns in irgendeiner Form begegnet ist. Mein Patient ging mit einer
bekannten Dame, in ein Gespräch vertieft, die Straße entlang. Plötzlich
fand er sich an der Seite einer ihm völlig fremden Dame, die er nie ge¬
sehen hatte und der er eben etwas eifrig erklärte. Es war offenbar, daß er
seine Dame „verloren“ und mit der Fremden das Gespräch so fortgesetzt
1) Über die Medianistnen des unbewußten, reaktiven Schuldgefühls vergleiche mein
Buch „Geständniszwang und Strafbedürfnis“ (Internat, PsA. BibL, Bd. XVIII), 1925.
Drei psychoanalytische Notizen
459
hatte, als wäre es die Bekannte gewesen* (Man möchte sich darüber ver¬
wundern, warum dieses keineswegs seltene komische Quiproquo in der
analytischen Literatur über Fehlleistungen noch keine Erwähnung gefunden
hat*) Bereits die nächsten Assoziationen brachten die Lösung des Rätsels.
Der Herr hatte sich mit dem Mädchen, das wir Sophie nennen wollen,
während des gemeinsamen Spazierganges über bestimmte Verhältnisse in
Amerika unterhalten* Dabei war man auf eine gemeinsame Bekannte zu
sprechen gekommen — Mabel sei hier ihr Name — die, Amerikanerin
wie Sophie, seitens der Freundin einer erbitterten Kritik unterzogen wurde*
Der Patient war ungalant genug, dieser Kritik, die sich auf die »superficiality“
Mabels bezog, eifrig beizustimmen, Gerade in diesem Augenblick fügte es
sich, daß das Paar getrennt wurde. Es war ein Augenblick der Harmonie
der Seelen. Dürfen wir in Umkehrung des bekannten Spruches annehmen,
daß hier Gott getrennt hatte, was die Menschen zusammenfügen wollten?
Es ist zum Verständnis notwendig zu wissen, daß Sophie dem Patienten in
letzter Zeit schlecht verheimlichte Zeichen ihrer Zuneigung gegeben hatte,
während sich Mabel ihm gegenüber demonstrativ abweisend verhalten hatte.
Mabel ist viel jünger und hübscher als die Freundin, in Wahrheit aber viel
oberflächlicher und weit koketter als Sophie. (So erwies sich späterhin das
abweisende Verhalten dem Patienten gegenüber als äußerst geschickter, tak¬
tischer Zug im Dienste der Anziehung*) Erinnern wir uns, daß die FebT
handlung gerade in jenem Augenblicke geschah, als der Herr sich anschickte,
zusammen mit Sophie Mabel zu kritisieren, so wird ihre Analyse uns nicht
mehr sehr schwierig erscheinen. Das „Verlieren** ist zweifellos ebenso durch
eine unbewußte Absicht bestimmt wie das Weitersprechen mit einer fremden
Dame. Es war, wie wenn der Patient damit sagen wollte: „Ach was, ober¬
flächlich oder nicht, Mabel ist anziehender als Sie und ich würde jetzt
lieber mit ihr spazieren gehen und mich mit ihr unterhalten als mit Ihnen.
Die fremde Dame war in diesem Falle eine Stell Vertreterin Mabels. Hält
man an dem psychischen Determinismus fest und setzt man wie bei einer
gelösten Gleichung Mabel für die fremde Dame ein, so muß man sagen,
es sei so, wie wenn der Patient — in jener Fortsetzung des Gespräches mit
der fremden Dame — es vorgezogen hätte, seine Meinung über Mabel dieser
selbst zu sagen. Tatsächlich hatte sich der Patient einige Tage vorher über
eine Äußerung Mabels geärgert und sich vorgenommen: „to give her a piece qf
my mind“. Trotz solcher kritischen Einstellung konnte er es nicht vor sich
ableugnen, daß in letzter Zeit seine Gedanken lebhaft mit ihr beschäftigt
waren und sich dabei überraschenderweise sexuelle Phantasien mit ihr ein’
460 Theodor Reik
gestellt hatten. Die sexuelle Anziehung, die der Herr Mabel gegenüber
empfand, hatte sich gerade in dem Augenblick einen Ausdruck verschafft,
als er eben im Begriffe war, abfällig über sie zu urteilen. Anderseits hatte
sich seine Abneigung gegen Sophie gerade dann durchgesetzt, als er ihr
rückhaltlos zustimmen wollte. Das „Verlieren" heißt hier wirklich : die Person
aus den Augen verlieren, sie verschwinden machen. In mehreren ballen
dieser Art, die ich analysieren konnte, verhielt es sich so, daß eine unbe¬
wußte Regung des Ärgers oder des Unwillens, manchmal auch nur der
Langeweile in solchem Verlieren Ausdruck fand, 1 Die Komplikation des
Weiterredens mit einer fremden Person, die man für die bekannte halt,
welche man weiter an seiner Seite glaubt, läßt nur die Deutung zu; Ich
habe genug von dir, ich möchte jetzt meine Gesellschaft wechseln, selbst
eine völlig fremde Person würde ich vorziehen. In einem Falle wurde eine
Fehlhandlung dieser Art zu einer schönen, nachträglichen Bestätigung. Eine
Patientin hatte vormittags in der Analysestunde erbittert widersprochen, als
ich ihr durch die Analyse einiger ihrer Phantasien zu zeigen versuchte,
daß ihr untadeliges Leben sich sehr wohl mit unbewußten Prostitutions¬
phantasien vertrage. Am nächsten Tage erzählte sie in der Analysestunde,
sie habe gestern, als sie mit ihrem Onkel in der Stadt war, den alten Herrn
plötzlich im Menschengewühl verloren. Sie sei dessen erst gewahr geworden,
als sie sich ertappte, daß sie ein Gespräch mit einem ihr völlig fremden
Herrn zu ihrer Linken führe. Sie sei in peinlichster Verlegenheit gewesen;
was sich der fremde Herr wohl von ihr gedacht habe ?
Die beiden typischen Beispiele geben gewiß kein angemessenes Bild von
der Abänderbarkeit der Bedingungen des Vorfalles, der sich häufig ereignet*
Wir wollen nicht versäumen, darauf hinzu weisen, daß die fremde Dame,
der fremde Herr in den angeführten Beispielen eine bestimmte „Schicksals“
rolle 11 zu spielen haben. Sie, beziehungsweise er, wird wirklich „an gesprochen w .
Es ist nicht zu verkennen, daß der Zusammenhang dazu zwingt, in den
handelnden Personen unseres Beispieles auch unbewußte Gedankenzüge zu
rekonstruieren, die dem Kulturniveau ihres bewußten Lebens energisch
widersprechen und die sie als zynisch sicherlich mit Entrüstung zurück**'
1) Ein zwangsneurotischer Patient hatte den starken Eindruck, als wäre der Stulil,
auf dem eben eine mit ihm im Gespräch befindliche Person saß, plötzlich leer, die
Person verschwunden. Sein Strauben gegen diese „negative Halluzination , durch die
er sich der betreffenden Person entledigte, kam dadurch zum Ausdruck, daß er weiter
sprach, obwohl er fühlte, daß er „ins Leere redete a . In milderen Fällen sah er an
Stelle des Gesprächspartners eine „leblose Puppe <! (Kritik ! k
Drei psychoanalytische Notizen
461
weisen würden. Gegenüber der hochentwickelten Differenzierung der Objekt“
wähl, die unser bewußtes Lehen beherrscht, scheint sich in jenen Fehl“
Handlungen eine primitivere Anschauung durchzusetzen, die vom spezifischen
Liebesobjekt absieht und grob realistisch nur die Triebbefriedigung an sich,
„ohne Ansehen der Person 0 gelten läßt. 1 Es ist so, als wolle sie sagen:
„Ach was, es ist ja nicht wichtig, mit wem man —* redet; es ist die eine
wie die andere l"
1) Es ist betonenswert, daß der Herr in unserem ersten Beispiel Sophie bewußt
große Achtung entgegenbrachte und sich von Mabels Leichtfertigkeit abgestoßen fühlte;
dennoch bekam er die Übermacht der äußeren Reize Mabels zu verspüren. Ein Herr
aus dem „Simplizissimus“ weist solche Überbewertung der weiblichen Oberflachen-
eigenschaften mit heuchlerischer moralischer Entrüstung zurück: „Es kömmt bei den
Frauen nicht so sehr auf das Äußere an; auch die Dessous sind wichtig. a
INHALT DIESES HEFTES
Seite
Hanns Sacks : Zum 70. Geburtstage Sigm, Freuds , * . „ . , • ..115
Paul Schilder (Wien): Zur Naturphilosophie.. ..117
Oskar Pfister (Zürich): Die men schlichen Einigungsbestrebungen ün Lichte der
Psychoanalyse (Von Kant zu Freud) , , , t , , .. , 126
M* D. Eder (London): Kann das Unbewußte erzogen werden? . , *.156
K. Brun (Zürich): Experimentelle Beiträge zur Dynamik und Ökonomie des Trieb-
konflikts (Biologische Parallelen zu Freuds Trieblehre) ..147
S* Pfeifer (Budapest): Umrisse einer Bioanalyse der organischen Pathologie t . ,171
Emil Simonson (Berlin): Über die Anwendbarkeit der Energielehre in der Psychologie 184
Margarete Stegmann (Dresden): Die Psychogen es e organischer Krankheiten und
das Weltbild ,.*.. * ... 196
Imre Hermann (Budapest): Das System Bw . *,***,,. * • • . 205
Trigant Burrow (Baltimore): Die Gruppenmethode in der Psychoanalyse * , . . 211
Ludwig Binswanger (Kreuzlingen): Erfahren, Verstehen, Deuten in der Psychoanalyse 225
Raymond de Saussure (Genf): Zur psychoanalytischen Auffassung der Intelligenz . 238
Emst Schneider (Riga): Über Identifikation.249
E P, Müller (Leiden): Gefühlstheoretisches auf psychoanalytischer Grundlage , # 265
Störche (den Dolder): Über Tanzen, Schlagen, Küssen usw, (Der Anteil des Zer-
störungsbedürfhisses an einigen Handlungen).268
Geza Röheim (Budapest): Die Völkerpsychologie und die Psychologie der Völker # 275
Alice Bdlint (Budapest): Der Familienvater..292
Hans Christqffel (Basel): Farbensymbolik.. S°5
Vilma Kovdcs (Budapest): Das Erbe des FortunatUß.. 5 21
Ludwig Jekds (Wien): Zur Psychologie der Komödie ...528
Eduard Hitschmann (Wien): Ein Gespenst aus der Kindheit Knut Hamsuns , . . 55 ^
Josef K . Friedjung (Wien): Psychoanalyse und Kinderheilkunde . * ■ * * * * * . 56t
Melanie Klein (Berlin): Die psychologischen Grundlagen der Frühanalyse . - * . 565
Wera Schmidt (Moskau): Die Bedeutung des Brustsaugens und des Fingerlutschens
für die psychische Entwicklung des Kindes .
577
Inhalt dieses Heftes
46g
Seite
Otto Potzl (Prag): Zur Metapsychologie des n d£j&vu cc . . .
M. Levi Bianchini (Teramo): Libido-Mneme* Mystizismus und Hellsichtigkeit bei
einem Kinde..* . . 405
Helene Deutsch (Wien): Okkulte Vorgänge während der Psychoanalyse , * , „ * 418
Alfred Winter stein (Wien): Zur Psychoanalyse des Spuks. , . ( . 454
Theodor Reik (Wien): Drei psychoanalytische Notizen 448
Gleichzeitig erscheint zum JO. Geburtstag Sigm . Freuds
Internationale Zeitschrift für Psychoanalyse
Bd. XII, Heft }, mit folgendem Inhalte:
Ferenczi (Budapest): Zum 70. Geburtstag; Sigm* Freuds. — Ferenczi (Budapest): Das Problem der Unlust-
bejahung. — Jones (London): Der Ursprung und Aufbau des Über-Ichs, — Fädern (Wien): Einige
Variationen des Ichgefühls. — Odicr (Genf): Vom Über-Ich, — J. Glover (London): Der Begriff des
Ichs. — G.Jelgersmu (Leiden): Die Projektion. — Wälder (Wien): Schizophrenes und schöpferisches
Denken. — Fenichel (Berlin): Identifizierung. — E. Glover (London): Probleme der Charakterologie, —
Alexander (Berlin): Neurose und Ge samt Persönlichkeit. — Nunberg (Wien): Schuldgefühl und Straf¬
bedürfnis. — Hör nef (Berlin): Flucht aus der Weiblichkeit. — Müller-Braun schweig (Berlin): Genese
des weiblichen üb er-Ichs* — Landauer (Frankfurt): Kindliche Bewegungsunruhe. — Hoffer (Wien): Die
männliche Latenz und ihre spezifische Erkrankung. — Blum (Bern): Zur Psychologie vom Studium
und Examen. — Sadger (Wien): Zürn Verständnis des Sadomasochismus. — Beich (Wien): Quellen der
neurotischen Angst. — Coriat (Boston): Ein Typus von analerotischem Widerstand. — Wulff (Moskau):
Widerstand des Ich-Ideals und Real an passung* — Johl (Wien): Die Mobilisierung des Schuldgefühls.
Laforgue (Paris): Skotomisation in der Schizophrenie, — Clark (New York): Die Phantasiemethode bei#
der Analyse narzißtischer Neurosen. — Weiß (Triest): Der Vergiftungswahn. — Kielholz (Königsfelden):
Analyse versuch bei Delirium tremens, — F. Deutsch (Wien): Der gesunde und der kranke Körper. —
Groddeck (Baden-Baden): Traumarbeit und Symptomarbeit des Organischen. — Rickman (London): Ein
psychologischer Faktor in der Ätiologie von Descensus uteri, Dammbruch und Vaginismus. — Jelliffe
(New York): Psychoanalyse und organische Störung, Myopie als Paradigma. — Simmel (Berlin): Doktor¬
spiel, Kranksein und Arztberuf* ■— Bado (Berlin): Über Rauschgifte.
HANDWÖRTERBUCH DER
SEXUALWISSENSCHAFT
Enzyklopädie der natura u. kulturwissen'
schaftlichen Sexualkunde des Menschen
herausgegeben von
MAX MARCUSE / BERLIN
Zweite, stark vermehrte Auflage mit 140 Abbildungen. 1926. XII und 822 Seiten. 4 0 .
RM 42 '—, gebunden in lichtechtes, blaugrünes Ganzleinen RM 45*—
Sonst auch in 10 Lieferungen
bei Verpflichtung zur Gesamtabnahme erhältlich in wöchentlichen bis
monatlichen Abständen zu je
RM 4*20
*
Es sei im allgemeinen gesagt, daß jeder Sexual forscher und damit jeder Psycho¬
analytiker dem Herausgeber für das notwendige Unternehmen, das bisherige Wissen
auf dem Gebiete der Sexualwissenschaften in einem Handwörterbuch zusammenzufassen,
Dank schuldet. Biologen, Vererbungswissenschaftler, Psychiater, Psychologen, Ethnologen,
Soziologen, Philosophen, Juristen u. a. haben Beiträge über die große Zahl der sexuo-
logischen Themata geliefert, die eine Fülle von Wissen vermitteln. Für die Darstellung der
Psychoanalyse hat der Herausgeber Freuds Mitwirkung gewonnen, der wir in zwei
Abhandlungen (Libidotheorie, Psychoanalyse) einen meisterhaften Abriß unserer
Wissenschaft verdanken . . .
Internationale Zeitschrift f. Psychoanalyse, Wien.
... die Form des Wörterbuches nimmt. Es wird so am besten eine Arbeitsgemein¬
schaft der Sachkenner in den wesensverschiedenen Bezirken des Gebietes er¬
möglicht und es wird zu schneller Orientierung den wechselnden Inter¬
essenten die bequemste Handreichung geboten. Doch ist das Werk weniger als stets
bereite Auskunftei für gelegentliches Fragebedürfnis gedacht, als vornehmlich für wissen¬
schaftlichen Gebrauch . . ,
Zeitschrift für pädagogische Psychologie.
*
Verlangen Sie ausführlichen Prospekt
und lassen Sie sich das Werk von Ihrem Buchhändler vorlegen!
MARCUS & WEBER'S VERLAG / BONN
IMAGO
Zeit sch rift für A nwendung der Psychoanalyse
au f die Na tur- un d G eisteswissensckaften
HerausgegeDen von Sigm. Freud
Abonnement 1926 (Bd. XII, ^ Hefte im Gesamtumfang von. 5—(>00 «Seiten) Al ao’ —
Preis dieses Doppel lieft es Al i5'~
{Vön diesem Heft sind einige Excnipl. m Gansleder kantige künden worden u. zum Freue von M 35*“ erkaltlidi)
Alle redaktionellen und gesckäftlidien Zusdiriften erketen an:
Internationaler Psyck
oana
lytiseker Verlag
V^en VII, And reasgasse 3
Alle Redite vorkekalten, CopyngLt 19*6 ky olatcmatioaaler Fsydioanalytiidier \ r erlag, Ges. m, k, H,(j, Wien VIT
Eigentümer und Verleger: Internationaler Psychoanalytischer Verlag. Ges. m. b. H., Wien VII. Andreasgasse 3
Herausgeber: Prof. Dr. Sigm. Freud, Wien. — Verantwort!, für die Redaktion: Dr. Paul Federn, Wien I, Riemergasse 1
Gedruckt bfti Christoph Reisser f s Söhne, Wien V, Arbeitergcisse 1 —j