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Full text of "Internationale Zeitschrift für Psychoanalyse IX 1923 Heft 4"

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Internationale Zeitschrift 
für Psychoanalyse 

Offizielles Organ 

der ' 

Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung 

Herausgegeben von 

Prof. Dr. Sigm. Freud 

I 

Unter Mitwirkung- von Dr. Karl Abraham (Berlin), Dr. G. Bose (Calcutta), 
Dr. Jan van Emden (Haag), Dr. S. Ferenczi (Budapest), Dr. H. W. Frink 
(New York), Dr. Ernest Jones (London) und Dr. Emil Oberholzer (Züridi), 

redigiert von 

Dr. Otto Rank 

Wien . 


IX. Jahrgang 1923 


Internationaler Psychoanalytischer Verlag 

Leipzig—Wien—Züridi 


Heft 4 



Alle für die Redaktion der „Internationalen Zeitschrift für Psychoanalyse“ bestimmten 
Zuschriften und Sendungen sind zu richten an 
Dr. OTTO RANK, Wien, L, Grünangergasse 3—5. 

Alle /Zuschriften und Sendungen in Referat-Angelegenheiten an die „Zentralstelle für 
psychoanalytische Literatur" (Dr. Th. REIK), Wien, IX., Lackierergasse 1 A. 
Manuskripte sind vollkommen druckfertig einzusenden. 

Die Autoren der Originalarbeiten erhalten außer dem Honorar zehn Freiexemplare 
des betreffenden Zeitschriftheftes. (Separatabzüge werden nicht angefertigt). 


Gleichzeitig erscheint IMAGO IX. Jahrgang, Heft 3 
als philosophisches Heft 
mit folgendem Inhalt: 

Egenolf Roeder: Das Ding an sich (Analytische Versuche an Aristoteles’ Analytik). 
— Dr. S. Spielrein: Die Zeit im unterschwelligen Seelenleben. — Dr. Otto 
F e n i c h e 1: Psychoanalyse und Metaphysik. — G. Berger: Zur Theorie der mensch¬ 
lichen Feindseligkeit. — Dr. Eduard Hitschmann: Telepathie und Psychoanalyse. — 
Dr. I. Hermann: Wie die Evidenz wissenschaftlicher Thesen entsteht. —Bücher-Referate. 


Demnächst erscheint IMAGO IX. Jahrgang, Heft 4 
als kunstpsychologisch-ästhetisches Heft 
mit folgendem Inhalt: 

Alice B ä 1 i n t: Die mexikanische Kriegshieroglyphe Atl-Tlachinolli. — P. D. van der 
Wolk (Batavia): Der Tanz des Qiwa. — A. van der Chijs: Infantilismus in der 
Malerei. — Dr. Sigm. Pfeifer: Musikpsychologische Probleme. — Aurel Kolnai: 
Gontscharows „Oblomow." — N. Ossipow: Uber Leo Tolstois Seelenleiden. — 
Gustav Hans Gräber: Uber Regression und Dreizahl. — Dr. Eduard Hitsdimann: 
Zum Tagträumen der Dichter. — Bücher-Referate. 


Nachdruck sämtlicher Beiträge verboten. 

Übersetzungsrecht in alle Sprachen Vorbehalten. 

Copyright 1923 by „Internationaler Psychoanalytischer Verlag, Ges. m. b. H.“ Wien. 











1 


Zum Verständnis der Libidoentwickiung im Heiiungsvorgang 


Von Dr. Otto Rank 


L 

Die psychische Potenz 


Die psychoanalytische Behandlung jeder Neurose bringt ein 
Stück Befreiung verdrängter, bezw. infantil fixierter Libido mit 
sich, die teilweise dazu dient, das verkümmerte Sexualleben des 
Patienten auf die Stufe des realen erwachsenen Genitalprimats zu 
heben; andernteils soll die befreite Libido auf dem Wege der 
Sublimierung in unschädiicher, womöglich sozialer Welse verarbeitet 
und so neuerdings besser gebunden werden. 

Der erste Vorgang wird sich gewiß bei der psychischen 
oder wie man besser sagen sollte neurotischen Impotenz 
am deutlichsten, sozusagen handgreiflich verfolgen lassen, da ja 
hier mit der ersten Aufgabe, der Libidobefreiung, zugleich das 
therapeutische Ziel der Analyse erreicht ist. Aber es bedarf 
gerade nicht dieser gewissermaßen aktuellen Psychoneurose, deren 
Symptombildung sich auf das eigentliche Exekutiv-und Befriedigungs¬ 
organ der Libido, das Genitale, beschränkt, um den Prozeß der 
Libidobefreiung und -Verarbeitung, der das Wesen jeder Analyse 
ausmacht, zu studieren. In jeder Psychoneimose handelt es sich ja 

1 Erweiterung einer kurzen Mitteilung in der Wiener Psychoanalytischen 
Vereinigung (16. März 1921). 

Bei der Korrektur; Obwohl ich heute Verschiedenes, namentlich in 
diesem I. Abschnitt, anders aufgefaßt und formuliert hätte, glaube ich doch, 
daß auch die Ausführungen, so wie sie vor zirka ly^ Jahren niedergeschrieben’ 
wurden, im Ganzen ihren Wert behalten, namentlich wenn man die er¬ 
gänzenden Gesichtspunkte des später hinzugefügten II. Abschnittes sowie die 
inzwischen im „Trauma der Geburt“ (s. bes. S. 7) dargelegten Grundanschauungen 
hinzunimmt. (Der Verfasser) 


Internat. Zeitschr. f, Psychoanalyse, IX/4. 


29 



wsm INTERNATIONAL 

DQVrunAM Al VTI 


PSYCHOANALYTIC 

UNIVERSITY 




DIE PSYCHOANALYTISCHE HOCHSCHULE IN BERLIN 












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Dr. Otto Rank 


in gewissem Sinne um eine „psychische“ Impotenz, d. h, um ein 
Verweilen der Libido auf infantiler Entwicklungsstufe, ob sich dies 
nun im Regredieren zu einem Konversionssymptom, im Überbau von 
zwanghaften Hemmungen oder in der Verschiebung auf perverse 
Handlungen und Phantasien — einschließlich der Masturbation — 
äußern mag. 

Wenn ich also von einer psychischen Potenz spreche, so 
meine ich damit weniger den Gegensatz zur sogenannten psychischen 
Impotenz, was ja die Potenz schlechthin bedeutete, sondern möchte 
versuchen, damit einen abgrenzbaren Tatbestand der Libido¬ 
entwicklung zu umschreiben, der uns nicht nur im Heilungsvorgang 
jeder Psychoanalyse entgegentritt, sondern auch im normalen 
Liebesieben eine entscheidende Rolle spielt. Unter diesem Gesichts¬ 
punkt betrachtet, scheint mir der Begriff der „psychischen Potenz“ 
für das Verständnis gewisser Züge des normalen Liebeslebens 
ebenso brauchbar wie zur teilweisen Erhellung der vielfach noch 
dunkeln Vorgänge beim Abschluß einer Psychoanalyse. 

Ich möchte diese Auffassung an einzelnen ausgewählten 
Beispielen verdeutlichen, wobei ich mich zunächst auf Material von 
Männern beschränke und die entsprechenden Libidovorgänge beim 
Weibe weiteren Untersuchungen Vorbehalte (siehe z. T. Abschnitt II 
über Idealbildung und Objektwahl). 

1 . 

Aus der Analyse einer in dreieinhalb Monaten geheilten 
Impotenz eines Mannes, bei dem die organische Therapie 
versagt hatte. Als junger Mann hatte er, gegen den Willen 
der Eltern, ein Mädchen von gutem Hause aus Liebe geheiratet; 
dieser Ehe entstammte ein Kind. Bei dem unter tragischen 
Umständen erfolgten Tod eines seiner besten Freunde erfährt 
er, daß seine Frau ein Liebesverhältnis mit diesem . unter¬ 
halten hatte und läßt sich sofort scheiden. Es zeigt sich, daß er 
an dem unglücklichen Ausgang dieser Ehe nicht so unschuldig 
war, wie er selbst glauben mochte. Er hatte selbst, wie dies so 
häufig vorkommt, den Freund in sein Eheleben hineingezogen und 
das Verhältnis unbewußt begünstigt, um so ein Stück seiner 
Libido „homosexuell“ zu befriedigen. In einer tieferen Schichte 
der Identifizierung mit dem Freund und Verführer befriedigte 
er aber eigentlich die seiner neurotischen Einstellung zugrunde 





















Zum Verständnis der Libidoentwicklung im Heilungsvorgang 437 


r 

I liegende verdrängte Odipusphantasie, indem er im Freund die 

I infantile Wunschsituation des Eindringens in eine Ehe miterlebt, 

I wobei der Umstand, daß dies seine eigene Ehe war, ihm endlich 

i noch ermöglicht, in seiner Person auch die Vaterrolle des 

„geschädigten Dritten“ (Freud) zu verkörpern. Patient repräsentiert 
so einen der typischen Fälle, wo sich die npurotische Konstellation 
(zwangsneurotischer Typus) unter Vermeidung von Symptomen 
in einem unglücklichen Eheleben durchsetzt. Er weiß das infantile 
Betrogensein vom Weibe (Mutterenttäuschung) in der Ehe zu 
wiederholen, findet aber zunächst noch den normalen Ausweg, 
seine (feminine) Libido vom Manne abzuziehen und in Nachahmung 
der untreuen Frau (Mutter) nun seinerseits sein Liebesieben 
nach dem Don Juan-Typus einzustellen. In den Jahren nach 

Lösung seiner Ehe war sein Liebesieben der Herabsetzung und 

Entwertung des Weibes gewidmet; er ließ die Frauen nur als 
Sexualobjekte gelten, mit der Rationalisierung, daß sie doch 
ohnehin alle untreu seien. So wurde er zum sexuellen Zyniker. 
Dann lernt er ein Mädchen aus gut bürgerlicher Familie kennen, 
die sich in ihn verliebt und die er auf Anraten seines intimen 
Jugendfreundes, mit dem er seit frühester Kindheit untrennbar 
zusammenlebt, wie er sagt „aus Sympathie“ heiratet.^ Aber nicht, 
ohne sie vorher zu warnen, daß er „gefährlich“ sei; sie werde es 
vielleicht bereuen. 

Schon daraus ist ersichtlich, daß seine zweite Heirat der 
neurotischen Rache am Weibe dienen soll, die er an der ersten 
Frau nicht befriedigt hatte, und tatsächlich ist seine zweite Ehe 
von Anfang an eigentlich unglücklich, besonders für die Frau, die 
er auf jede Weise vernachlässigt, quält und entwertet. Er übt 
coitus interruptus und versagt der Frau das gewünschte Kind. 
Während auf diese Weise seine Rachetendenzen zum Teil befriedigt 
werden, leidet die Frau offensichtlich darunter und macht auch 
bald kein Hehl daraus. Dadurch wird sein Schuldgefühl geweckt 
und verstärkt, das er nun immer deutlicher auf die Frau zu 
projizieren versucht. Um sie so schuldig zu machen wie es die 
erste und deren Urbild, die Mutter, war, ist er genötigt, 
. unbewußterweise seine infantile Einstellung („Komplexe“) zu 


^ Eigentlich heiratet er sie, wie sich herausstellt, eher als Ersatz für den 
Freund, der ihn bis dahin „mütterlich“ betreut hatte, ihn aber nun verlassen will. 


29» 










438 


Dr. Otto Rank 


mobilisieren, wobei wie gewöhnlich die Kastrationsangst im Vorder¬ 
gründe steht, die durch ein Kindheitserlebnis fixiert scheint.^ 

Das Weib ist böse, will ihn psychisch (Junggesellenwünsch) 
und physisch binden, das heißt, versucht seinen Penis festzuhalten, 
für sich zu behalten, ihn zu kastrieren (Vagina dentata). Daher 
seine Angst vor dem vollen Sexualakt, die Übung des coitus 
interruptus, das rasche Zurückziehen und seine komplexbetonte 
Ablehnung des Kindes, das im Unbewußten mit dem in der Frau 
zurückgehaltenen Penis identifiziert wird. Diese Angst vor dem 
Weibe^ kompensiert er nun durch seine feminine Einstellung zum 
Manne (Mutteridentifizierung), andererseits befriedigt er in der 
sexuellen Enttäuschung der Frau seine Rachegelüste, straft sich 
aber endlich in dem unvermeidlichen Ausgang dieses immer mehr 
gesteigerten Konfliktes, in der Impotenz, mit dem Verlust der 
eigenen sexuellen Genußfähigkeit (dem Penis). 

Aus dem ganzen Ensemble dieses komplizierten unbewußten 
Konfliktes möchte ich zur weiteren Orientierung einen Zug heraus- 

1 Diese Fixierung wird durch ein Kastrationstrauma erleichtert. 
Patient war, obwohl jüdischer Abstammung, nicht beschnitten worden, weil 
sein älterer Bruder bei der Zirkumzision zu viel Blut verloren halte. Als die 
Erinnerung daran in der Analyse auftaucht, will Patient seinen ganzen Kastrations¬ 
komplex auf die ständige infantile Angst zurückführen, daß er doch noch später 
so wie der Bruder beschnitten werden könnte. Es ergibt sich aber, daß der 
Zusammenhang nicht so einfach gewesen sein kann. Sein späteres Verhältnis 
zum Bruder sowie andere infantile Erinnerungen weisen deutlich darauf hin, 
daß er die Beschneidung (des Vaters und Bruders) als Vorzug der Älteren, 
Erwachsenen betrachtete, von dem er ausgeschlossen war, und daß er infolge¬ 
dessen die Beschneidung gewünscht haben mußte. 

Aus seinem dritten Lebensjahre pflegte seine Mutter eine Szene zu 
erzählen, wo der kleine Knabe ausgelassen im Bett herumgesprungen war und 
gelacht hatte. Auf die Frage des Vaters, warum er so lustig sei, habe er 
geantwortet: „Ich freue mich, weil ich ein Jud binl“ Er erklärt das: „Ich 
hatte gehört, der Vater sei ein Jude und dachte, daß muß was Besonderes sein!“ 

Bei Gelegenheit dieser Erzählungen aus seiner Kindheit fällt ihm plötzlich 
ungeheuer plastisch eine Szene aus etwa dem sechsten Lebensjahr ein, wo ihm 
das Glied des Vaters beim Bade (im Wasser!) zu klein erschienen war. 

Die Tatsache, daß er unbeschnitten war, hinderte somit seine Identifi¬ 
zierung mit dem Vater und verstärkte sozusagen psychisch seine feminine 
Einstellung, da dies körperlich unterblieben war. Andererseits fürchtet er 
durch den Koitus (Vateridentifizierung) auch in puncto Kastration dem Vater 
gleich zu werden (Strafe). 

2 Siehe jetzt dazu des Verfassers: Das Trauma der Geburt, 1924. 











Zum Verständnis der Libidöentwicklung im HeilungsVorgang 439 


heben, den man vielleicht am besten als die männliche Parallele 
zu dem von Freud beschriebenen „Tabu der Virginität“^ 
bezeichnen könnte. Die Frau, die den Penis in sich aufnimmt, ihn 
also scheinbar desselben berauben will, muß bestraft werden. Dabei 
zeigt Patient die von Freud erwähnte „Erstlingsangst“ deutlich 
in der Form ausgeprägt, daß er, der eigentlich dem Typus des 
Don Juan entsprach, schon lange vor seiner eigentlichen Impotenz, 
meist den ersten Koitus mit einem neuen Liebesobjekt nicht aus* 
führen konnte. Er kannte, wie er sich in der Analyse ausdrückte, 
die neue Vagina — und wie zu ergänzen, ihre Gefahren — noch 
nicht. Aus dieser Angst erklärt sich auch die Ausübung perverser 
Akte, besonders des Cunnilingus, wobei er sich als den Beißenden 
(nicht Gebissenen) fühlen konnte, was letzten Endes auf die orale 
Befriedigung an der Mutter zurückgeht. 

Der Ausbruch seiner eigentlichen Impotenz erfolgte nach 
etwa zweijähriger Dauer der zweiten Ehe, in Nachwirkung von 
Konflikten mit der Frau, die ihm schließlich offen erklärte, sie 
fühle, daß er sie nicht möge und deshalb schlecht behandle. Er 
mußte das zugeben, aber dieses Stückchen analytische Aufklärung 
brachte sein Gebäude von Rationalisierungen ins Wanken und 
von da an entwickelte sich, wie er selbst sagte, allmählich die 
Impotenz; wie die Analyse bald zeigen konnte, als letztes, wirk¬ 
samstes Mittel der Rache, das einerseits die Frau vollständig 
entwertet (selbst als Sexualobjekt), andererseits seinem mächtigen 
Schuldgefühl in der Selbstbestrafung Ausdruck gibt. Jetzt ist er 
selbst kastriert, Weib, und straft in sich selbst zugleich die schuldige 
(erste) Frau (Mutter). Mit der Impotenz gibt er natürlich unbewußt 
zu, daß er schuldig ist. an der schlechten Ehe und beginnt 
infolgedessen in typischer Weise der Frau gegenüber rücksichtsvoll 
und zärtlich zu werden. Er quält sie jetzt nur noch (unbewußt) durch 
die Impotenz, durch die sie sich aber nicht gequält fühlt, offenbar, 
weil sie sie mit richtigem Instinkt als das auffaßt, was sie ist; als 
ein — wenn auch mißglückter —Versuch der inneren Lösung 
des Angst-Schuldproblems. Die Analyse setzte dann diesen neuroti¬ 
schen Heilungsversuch konsequent und mit besserem Erfolg fort. 

Aus der Endphase der Analyse ist der nachstehende Heilungs¬ 
vorgang zu rekonstruieren. Während Patient im Anfang der Analyse 


1 Sammlung kleiner Schriften zur Neurosenlehre, IV. Folge, 1918, S. 229 ff. 








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Dr. Otto Rank 


die typischen Versagungsträume auf Grund der störenden Männer 
(Vater-Übertragung) hatte („Störungsträume“), ist er jetzt im 
Traum mit der Darstellung und Abwehr seiner feminin-passiven 
Einstellung zum Analytiker (Vater) beschäftigt. 

Nachdem er mich eines abends angerufen hatte, ob er nicht 
sein Notizbuch bei mir vergessen habe (Selbstkastration, Geheimnis, 
Libido, Geschenk, Kind), erzählt er am Morgen in der Stunde 
von einer schlechten Nacht, in der er wieder einen seiner Magen- 
Darmanfälle hatte, aber so intensiv wie noch nie. Die 
genaue Schilderung dieses Anfalles erkennt er selbst schon während 
seiner Erzählung als unzweideutige (anale) Entbindungsphantasie, 
mit der er die feminin-passive Rolle im libidinösen Sinne zu 
akzeptieren sucht (Kindschenken). Nach dem Anfall, in dem er 
fortwährend auf den „erlösenden Flatus“ gewartet hatte, schläft 
er ein und träumt, daß er mit jemand kämpft; sie 
halten einander mit der rechten Hand fest und 
suchen sich mit Dschiu-Dschidsu-Griffen unterzu¬ 
kriegen. Schließlich siegt er, zum erstenmal seit 
er sich erinnern kann (wie er hinzufügt), während 
er früher immer unterlegen war („Lähmung im 
Traume“ gehabt hatte). Unmittelbar nach dem Traume 
erwacht er mit.einer mächtigen Erektion, „so stark wie 
noch nie“ und so plötzlich wie selten, die auch beim Gedanken 
an den Sexualakt mit seiner Frau blieb. Dieser Traum zeigt also 
den Weg zur Potenz, und zwar deutlich durch Einarbeitung 
verdrängt gewesener femininer (Übertragungs-) Libido in die 
heterosexuelle Abfuhrsphäre. In der Entbindungsphantasie ist er 
das Weib (Mutter), das dem Vater ein Kind schenkt; im 
Traum protestiert er gegen diese Einstellung und ist selbst der 
starke Mann (Vater), der Potente (der das Kind zeugt).^ 

Vorläufig allerdings nur im Traume. In Wirklichkeit versucht 
er den Koitus gar nicht, will ihn nicht versuchen, bis er nicht 
ganz „gesund“ ist. Die Potenz, könnte man sagen, ist zu „psychisch“, 
ist noch zu unmittelbar in der Übertragungs- und Widerstands- 
Situation verankert. Mit der fortschreitenden Lösung der Über¬ 
tragung werden seine Erektionen (auch nachts) immer zahlreicher 
und intensiver und halten auch stets dem Gedanken an den ehe- 


1 Das weitere, analytische Verständnis des Traumes ergab sich erst aus 
einem zweiten ähnlichen Traum, dessen Deutung weiter unten folgt (S. 442). 











Zum Verständnis der Libidoentwicklung im Heilungsvorgang 


liehen Sexualverkehr besser stand. Seine wirkliche Potenz erlangt er 
endlich unter den gleichen psychischen Bedingungen, die wir vor¬ 
hin als den „Weg zur Potenz“ beschrieben haben. Für einen 
bestimmten Abend, nach etwa dreimonatiger Analyse, nimmt er 
sich Koitus vor, ist aber natürlich impotent, da dies ja eine Probe 
für den Erfolg der Analyse darstellen sollte. Nachts hatte er wieder 
den „femininen“ Anfall, einen „Wirbel von 60 Träumen“, wie er 
sagt, und erwacht am Morgen mit einer Erektion. Ruft seine 
Frau, die er auf sich legen läßt, mit der Motivierung, „die Erektion 
durch den Transport nicht zu verlieren“, und ist glücklich, als es 
geht. Nachher sagt er: „Na! kann der Doktor etwas!“ 

Hier zeigt sich vollkommen klar, was wir unter der 
„psychischen“ Natur der Potenz verstehen. Denn körperlich war 
er abends bereits ebenso potent wie am Morgen,^ er mußte sich 
aber sozusagen erst potentia aus dem femininen Libido-Reservoir 
schöpfen und in der Identifizierung mit dem Analytiker vermänn¬ 
lichen. Die Erledigung der Übertragung und damit zugleich die 
Wandlung von der femininen in die maskuline Einstellung erfolgt 
also durch Identifizierung mit dem Analytiker 
(Vater), durch das psychische Vater werden, das ihn ein Kind 
zeugen anstatt gebären läßt, wobei er im Sinne der sublimierten 
Wiedergeburtsphantasie selbst das (vom Analytiker) gezeugte 
(geistige) Kind ist. Den Koitus hat eigentlich der Analytiker 
vollzogen, was auch erklärt, daß Patient erst am Morgen, bevor 
er in die Analyse geht, und in der analytischen Stellung (feminine 
Rückenlage) potent ist. 

Nächsten Tag hatte er bereits in normaler Stellung, und 
zwar abends, verkehrt. In der Nacht darauf wieder Anfall, aber 
bedeutend leichter. Wird dann allmählich, wie er sagt, „herrisch“ 
(in der Sexualität) wie nie zuvor, rationalisiert seine Vorsichten 
nicht mehr damit, der Frau beim Sexualakt weh zu tun, sondern 
macht sich nichts daraus, was andererseits einem Rest seiner Rache 
entspricht. 

Mit Erlangung seiner vollen Potenz beginnt er die Über¬ 
tragung und im weiteren Verlauf die Analyse zu entwerten und 
schließlich seine eigene Geschichte zu bagatellisieren, indem er sie 

1 Den naheliegenden Gedanken an die morgendliche Wassersteife hat der 
Patient später als Widerstand gebracht, der dartun sollte, daß die Erektionen 
kein Erfolg der Analyse seien, da sie nicht kämen, wann er sie wollte. 










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Dr. Otto Rank 


ohne Scheu weiter erzählt. Etwa vierzehn Tage vor Abschluß der 
Analyse hat er nach normalem Abendkoitus einen Traum, daß 
sein verstorbener Freund, der ihn betrogen hatte, 
im Duell oder durch einen Dritten oder im Felde 
verletzt worden sei. Nur der Schlußakt dieses 
Dramas sei ihm in Erinnerung: Ich komme in eine 
Hütte, er lag in den letzten Zügen und ich stand 
hoch aufgerichtet vor seinem Bett. Der Kontrast 
zwischen ihm, dem Verwundeten, und mir, dem 
Gesunden, ist mir besonders auf gefallen.“ Dieser Traum 
stellt, wie der frühere (S. 440), wieder den Sieg über einen männ¬ 
lichen Partner dar und weist auf die Überwindung des trauma¬ 
tischen Anlasses hin, dessen Verdrängung letztlich den Anstoß 
zur Impotenz gegeben hatte. Er befriedigt die Rache 
und den Triumph über den Gegner an entsprechenderer 
Stelle, nämlich am männlichen Konkurrenten (Ödipus¬ 
situation) anstatt an der Frau, indem er zugleich damit die 
Übertragung erledigt (der Freund, der ihn wieder betrogen) und 
sich gesund erklärt. „Ich stand hoch aufgerichtet“ heißt im 
libidinösen Sinne: Ich bin potent, bin sozusagen ganz Penis, ganz 
Libido, auf deren femininen Anteil der verwundete (kastrierte) 
Mann im Bett hinweist, mit dem sich Patient auch als Unter¬ 
legener in der Analyse im Sinne der infantilen Wunscherfüllung 
identifizieren kann. 

Die gleichen „Komplexe“, die seine Impotenz verursacht 
hatten, werden jetzt also psychisch in den Dienst der Potenz 
gestellt. So macht der Patient erst eine Hyperpotenz durch, ehe 
er zur normalen psychisphen Potenz gelangen kann.^ Diese wohl 
noch „neurotisch“ zu wertende Hyperpotenz (siehe Fali 2) wird 
im analytischen Heilungsmechanismus zunächst als Symptom 
sozusagen neu produziert. 

Der Heilungsmechanismus selbst beruht auf der Iden¬ 
tifizierung mit demAnalytiker, die dem Patienten durch 
Befreiung vom (neurotischen) Schuldgefühl, das 
heißt durch Auflösung der auf die Mutter bezüglichen Angst, 
ermöglicht wird. Diese Verwandlung von Angst in Libido — 


1 Patient ist seit der Analyse in der Ehe potent geblieben und hat 
bereits Kinder von der zweiten Frau. 








Zum Verständnis der Libidoentwicklung im HeilungsVorgang 443 


r 

I die auch die Symptome zum Verschwinden bringt — wird durch 

I Abfuhr der fälschlich gegen das Weib gerichteten Rache am Manne 

I (Übertragung) herbeigeführt. Diese Affektbefriedigung am unrich¬ 

tigen Objekt (zitiert von Freud: Das Ich und das Es, S. 56) ist für 
die Verdrängungsarbeit im Dienste der Ichtendenzen charakteri¬ 
stisch; sie ist aber ein Resultat der Verschiebung, darf als solches 
‘ nur als Symptom genommen werden und nicht als Movens, wie dies 

Adler auf Grund seiner Leugnung der Libido als einer entscheidenden 
Triebkraft getan hat. Denn, wie man sieht, handelt es sich im 
Heilungsmechanismus darum, die sekundäre Ichrache (am Weibe) 
auf die primäre Libidorache (am Manne) zurückzuführen. Die 
primäre Rache heißen wir eine Libidorache, weil sie aus dem 
Ödipuskomplex stammt, von dort her vollverständlich wird und 
beide Seiten desselben (auch die feminine Einstellung zum Vater, 
j nicht nur die Abwehr dagegen) umfaßt. Es fällt hier von der 

Libidotheorie ein aufschlußreiches Licht auf den sogenannten 
„Kampf der Geschlechter“, der sich als Erklärungsprinzip völlig 
' unzureichend erweist, während er ein interessantes Symptom für 

tiefreichende, vielleicht sogar biologisch zu begründende Ver¬ 
drängungsvorgänge darstellt. Die primäre Rache am Mann, die 
' der Neurotiker regelmäßig an sich selbst statt am Vater vollzieht 

(Straftendenz der Symptome), wird ihm in der Übertragungs¬ 
situation ermöglicht, somit das Schuldgefühl genommen, die 
davon belastete (verdrängte) Libido frei, die sich nunmehr in 
Identifizierung mit dem Vater als psychische Potenz, die an 
Stelle der Symptome getreten ist, manifestiert. Unter der aus der 
analytischen Übertragungslösung folgenden normalen Potenz ver¬ 
stehen wir dann die volle Libidobefriedigungsmöglichkeit ohne 
Schuldgefühl und Angstentbindung auf Grund einer weder ver¬ 
drängten noch zu weitgehenden Identifizierung mit dem Vater. 

2 . 

Eine solche Hyperpotenz ist aber auch als wirkliches, nicht 
bloß „passagöres“ Symptom möglich, wenn das Schuldgefühl des 
Patienten anderwärts neurotisch verankert ist, wie z. B. bei einem 
jungen Mann in den Zwanzigerjahren, der an schwerer Zwangs¬ 
neurose leidet und in Zusammenhang damit an einer neurotischen 
Potenzsteigerung, (las heißt einer unbefriedigbaren Libido, die sich 
in ständigem Verkehr mit Prostituierten und außerdem in 










444 


Dr. Otto Rank 


gehäufter Masturbation äußert. Das Zwangsmäßige seiner Libido¬ 
ansprüche, unter denen er leidet, wird am besten durch einen Aus¬ 
spruch in der Analyse charakterisiert: „Es sollte so sein: den 
ganzen Tag koitieren, bis zur Analyse und dann nachher wieder 
den ganzen Tag!“ Analytisch äußert sich in dem Ausspruch seine 
ungeheure Übertragungslibido und die heterosexuelle Abwehr 
dagegen, dynamisch die „homosexuelle“ Motivierung der Unbefriedig- 
barkeit, die in seinem Sexualleben darin zum Ausdruck kommt, 
daß er mehrmals in der Woche Prostituierte aufsuchen muß, den 
Sexualakt meist öfters wiederholt, und dann noch manchmal vor 
dem Einschlafen, oft am Morgen danach, masturbieren muß.^ 

Der Koitus am entwerteten heterosexuellen Objekt fordert 
bei ihm eine libidinöse Ergänzung in der Befriedigung am über¬ 
schätzten Objekt, dem narzißtisch betonten Ich, an dem er seine 
bisexuelle Ödipuseinstellung gleichzeitig befriedigt.^ 

In seiner Analyse handelt es sich, im Gegensatz zum vorigen 
Fall, darum, seine aus infantilen („perversen“) Quellen übermäßig 
gespeiste und an das entwertete Mutterobjekt fixierte Libido 
auf das Normalmaß zu reduzieren und den Überschuß auf dem 
Wege der Sublimierung seinem gestörten Berufsleben zuzuführen. 
Während Fall 1 den Weg zur Potenz aus der Erledigung der 
Rache am Mann (statt am Weib) findet, versucht dieser Patient 
das im aktuellen Sexualleben, indem er gegen seine unbewußte 
feminine Einstellung mit Hyperpotenz reagiert. Charakteristisch 
für das neurotische Mißlingen dieser Absicht ist folgendes Erlebnis 
des Patienten. Einer Prostituierten, die den Wunsch hatte, oben 
zu liegen, gibt er nach heftigem Sträuben nach. Beim Beginn des 
Aktes hatte er einen Moment lang den „unsinnigen“ Gedanken: 
Wie ist es möglich, daß ich sie per anum koitiere, da müßte sie 
ja unten liegen! Obwohl der Koitus dann doch befriedigend war, 
erwacht Patient nachts mit einer heftigen Erektion, die man 


^ Die Masturbation als Symptom der „psychischen Potenz“, das 
heißt einer unbefriedigbaren neurotischen Libidosteigerung, ist das für die 
Frau typische Abfuhrzeichen für die teilweise Befreiung der an die Mutter 
fixierten Libido in der Analyse. 

2 Er liebt es, bei der Masturbation, die öfters auch auf dem Klosett 
stattfindet (feminin-anal), seine „weiche, pofsterige Haut zu streicheln“, was 
auf infantile Eindrücke an der Mutterbrust zurüekgeht, die bei Patienten eine 
ganz besondere Bedeutung hatte, da er übermäßig lange gestillt worden war. 










Zum Verständnis der Libidoentwicklung im Heilungsvorgang 


als Auflehnung gegen die weibliche Rolle betrachten könnte. 
Dann mußte er masturbieren, und zwar vor einem weiblichen 
Bild mit der Vorstellung, recht männlich zu sein. Hinter diesem 
manifesten „männlichen Protest^^ im Sinne Adlers steckt aber, 
genau wie im vorigen Fall, ein gutes Stück femininer Libido¬ 
befriedigung, da er ja in der Masturbation auch das Weib 
repräsentiert (das Anschauen des weiblichen Bildes unterstützt 
seine Identifizierung mit dem Weib). Es zeigt sich übrigens auch 
hier, wie bei der Analyse der Homosexualität, daß auch im 
Masturbationsakt unbewußterweise nicht Mann und Weib, sondern 
Mutter und Kind dargestellt wird. 

Beweisend für diese Natur seines Libidokonfiiktes ist das 
folgende Traumstück: ...Ich bin mit m einem Freunde 
P. wie zu einem Bureau gegangen. Dort stand eine 
hohe, große’Frau (ein Weib) wie eine allegorische 
Figur, eine Göttin, die plötzlich einen Schnurr¬ 
bart bekam und aussah wie ein General. Dann habe 
ich P. koitiert — er hatte eine Vagina — und zwar 
zwei- bis dreimal, hatte aber keine Pollution (ich 
weiß nicht ob deshalb, weil ich steril geworden 
bin).^ Aus der Deutung sei nur hervorgehoben, daß es sich um 
seinen bisexuellen Ödipuskomplex handelt (Göttin — mit Schnurr¬ 
bart — und General). Patient ist zugleich in der Vateridentifizierung 
aktiv-männlich (koitiert), aber auch in der Identifizierung mit dem 
kastrierten Freund passiv-feminin, dem Vater gegenüber. P. ist 
eigentlich der Freund seines älteren Bruders, auf den Patient 
seine Vaterrivalität transponiert hat (was übrigens der Traum 
deutlich zeigt). Den Abend vor dem Traum hatte er mit P. ver¬ 
bracht und besuchte dann (wie er selbst bemerkt, als Reaktion 
auf die homosexuelle Libido) eine Prostituierte, mit der er den 
Sexualakt zweimal ausführte; ein drittesmal weigerte sie sich. Bei 
der Traumerzählung bemerkt er: „Ich weiß nicht, ob ich noch ein 
drittesmal wollte.^* Am Morgen nach dem Traume hat er jedenfalls 
masturbiert, weil er, wie er sagte, abends vorher nur zweimal 

1 Dieser Gedanke hängt bewußt mit seinem sexuellen Leichtsinn zusammen; 
da er sich so bedenkenlos den Infektionsmöglichkeiten aussetzt, kann man an 
der zugrundeliegenden Selbstbestrafungstendenz kaum zweifeln; unbewußt 
entspricht die^ Sterilitätsphantasie einer Ablehnung der Vateridentifizierung 
(aus Schuldgefühl). 












446 


Dr. Otto Rank 


koitieren konnte. Er mußte es tun, denn — wie er hinzufügt — 
„drei ist die Zahl meines älteren Bruders'V mit dem er sich also 
(an Vaters Stelle) identifiziert. Und zwar deswegen, weil der Bruder 
im Leben und in der Liebe erfolgreich ist, also für den Patienten 
die Überwindung seiner infantilen Fixierungen, das „Ideal“ bedeutet. 
Die zwei- bis dreimalige Wiederholung des Sexualaktes im Traume 
entspricht also seiner Identifizierungstendenz mit dem Bruder 
(Vater). Noch deutlicher wird die psychische Grundlage seiner 
Potenz in der Identifizierung durch die weitere Bemerkung: „Wenn 
ich mich zum erstenmal in ein Mädchen verlieben werde und sie 
in mich, dann werde ich sie sechs mal koitieren!“ Diese Zahl 
stammt daher, daß sein Bruder ihm vor längerer Zeit mitgeteilt 
hatte, er habe sich in ein Mädchen verliebt und habe in der ersten 
Nacht den Geschlechtsakt sechsmal ausgeführt. Die reale 
Schwierigkeit dieser Identifizierung umgeht Patient, indem er 
statt des Sexualaktes die Sexualobjekte (Prostituierte) verviel¬ 
facht, also die bestimmte Zahl der Sexualakte in eine unendliche 
Reihe von Sexualobjekten auflöst. 

Die zwangsmäßige (neurotische) Potenz des Patienten stammt 
also aus dem zu kram.pfhaften Festhalten an der unbewußten 
Identifizierung mit der Vaterfigur (Bruder), während Fall 1 an 
der Hemmung der Vateridentifizierung aus dem Schuldgefühl 
impotent geworden war. Ein einziges Mal im Verlaufe der Analyse 
erwies sich dieser — allerdings an falscher Stelle — überpotente 
junge Mann auch als impotent. Er war nach der analytischen 
Aufklärung des Widerstandes gegen die (feminine) Akzeptierung 
der Analyse zu seinem Freunde und von dort ins Bordell gegangen. 
Vor dem Tore war er mit einem jungen Manne zusammengetroffen, 
der gemeinsam mit ihm hinaufging, so daß die Mädchen den 
Eindruck hatten, sie seien Freunde. Patient hatte bald ein Mädchen 
gefunden, die ihm sagte, sein „Freund“ könne sich mit ihrer 
Freundin unterhalten, was Patient dem anderen sogleich mitteilte, 
wobei er sich in der stolzen Rolle eines Kupplers fühlte. Jedoch 


^ Seit früher Kindheit hatte Patient als mittlerer von drei Brüdern die 
Gewohnheit, seine Brüder mit Ziffern zu bezeichnen: als Nr. 2 und Nr. 3 
(Patient selbst war Nr. 4), was mit abergläubischen Beseitigungs- und Geburts¬ 
wünschen zusammenhängt. (Man vergleiche dazu die Vorstellung bei den 
Australiern, wo man die Zahl seiner Kinder nicht nennen darf, weil sie sonst 
sterben. Nach Röheim: Das Selbst. Imago, 1921.) , 










Zum Verständnis der Libidoentwicklung im Heilungsvorgang 447 

der andere erwiderte, er sei eigentlich auch nicht wegen der 
Mädchen gekommen, sondern nur, um sich mal den „Betrieb“ 
anzusehen. Patient entgegnete, er sei ehrlich genug zu sagen, er 
sei wegen der Mädchen gekommen, die er brauche. Zugleich 
dachte er aber, in Erinnerung an einen Witz: Wenn er nicht 
wegen der Mädchen gekommen ist, dann ist er wegen des 
Mannes gekommen. Der Sexualakt verläuft genußlos, mit 
ejaculatio praecox und bei allen weiteren Versuchen bleibt Patient 
vollständig impotent. Er erzählt am nächsten Tage, er habe es 
vergeblich mit allen (perversen) Reizungen versucht, nur an den 
Coitus per anum habe er nicht gedacht (er gebraucht dabei ein 
vulgäres Wort, das auch Homosexualität bedeutet). Patient spielte 
also dem anderen Manne gegenüber die feminine Rolle, anderer¬ 
seits bestätigt er unbewußterweise in seinem Symptom, daß 
auch er nicht wegen der Mädchen, sondern zur Befriedigung 
der homosexuellen Libido gekommen sei, indem er sich mit 
dem jungen Manne identifiziert.^ Die passiv-feminine Ein¬ 
stellung zur Vater- (beziehungsweise Bruder-) Imago bewirkt 
aber hier ebenso seine psychische Impotenz wie die aktive 
Identifizierung mit der Vaterimago (Bruder) sonst seine enorme 
psychische Potenz bedingt. 

Die Darstellung und Erledigung seiner femininen Einstellung 
zeigt der vorletzte Traum seiner sich über viele Monate erstreckenden 
Analyse: „Ich war nackt im Wasser und bin unter¬ 
getaucht, weil ich meine Hose nicht finden konnte. 
Dann war ich als dicker Falstaff draußen und 
jemand klagte mich an, daß ich meiner Schwester 
etwas getan habe. Er drohte mit der Polizei und 
ich flüchte in eine Art Zirkus oder Gefängnis, wo 
ich dann als ich selbst bin und mir sage: Was wollen 
die Leute von mir, ich habe ja gar nichts getan. 
Trotzdem werde ich verhaftet und vor den Polizei¬ 
chef gebracht, den ich frage, was man denn von mir 
will! Er sagt, er wird es schon machen (und mir 
helfen). Dann sagt er, ich soll warten (und das war 
an einem Teich mit Goldfischen).“ 


* Vergleiche dazu die Ausführungen von B o e h m über die homosexuelle 
Komponente des Bordellbesuches. Zeitschrift, VII, 1921, S. 79 ff. 






448 


Dr. Otto Rank 


Ohne im einzelnen auf die Deutung einzugehen, sei nur bemerkt, 
daß es sich wieder um den typischen Geburtstraum in der analytischen 
Endphase handelt, in dem Patient einerseits als Weib dem Vater 
ein Kind, andererseits sich selbst als neuen (gesunden) Menschen 
(wieder-) gebiert. Falstaff, der bramarbasierende Mann mit dem 
dicken Bauch, ist Symbol für beide Strömungen. Im zweiten Teil 
des Traumes hat Patient den Bauch schon verloren und ist 
wieder er selbst (Geburt). Schwester hat er nie gehabt; doch ist 
er selbst (von drei Geschwistern) „die Schwester“, der Feminine, 
der als Weib aus dem Wasser kommt (geboren wird); andererseits 
hat er mit der phantasierten Schwester (Mutterersatz, was ja 
alle seine Frauen letzten Endes sind) das Kind gezeugt (ihr etwas 
getan), was sein Schuldbewußtsein bedingt (Polizei-Analyse), 
das er dem Vater (Analytiker) gegenüber hat und mit der Libido 
beschwichtigen will („er wird mir helfen“). 


3. 

Während es sich im ersten Falle lediglich um eine psychische 
Impotenz, im zweiten dagegen um eine ausgesprochene Zwangs¬ 
neurose mit neurotischer Überpotenz handelte, wähle ich als drittes 
Beispiel wieder einen beruflich voll leistungsfähigen Mann von nor¬ 
maler, d. h. eher unterwertiger, aber doch subjektiv befriedigender 
Potenz, den hartnäckige Schlaflosigkeit und Depressionszustände 
in die Analyse geführt hatten. Aus dem sehr interessanten Verlauf 
der kurzen, aber erfolgreichen Analyse hebe ich nur die unser 
Thema betreffenden Einsichten hervor. Patient, der das gewöhn¬ 
liche heterosexuelle Liebesieben des unverheirateten jungen Mannes 
führte, kompliziert durch einige homosexuelle Attentate von seiten 
Erwachsener, die er in der Jugend über sich hatte ergehen lassen, 
gibt während der Analyse von selbst den Sexualverkehr auf, 
obwohl er dazu reichlich Gelegenheit hätte: offenbar im Zusammen- 
halig mit seiner in der Übertragung mobilisierten femininen 
Libido, die, seinem Ödipuskomplex vorgelagert, ihm teilweise als 
„homosexuelle“ (bisexuelle) Gefühlsrichtung bewußt ist. 

Nach mehr als zweimonatiger Analyse, in der hinter dem 
Symptom der Homosexualität die infantiie Einstellung aus dem 
Ödipuskomplex bloßgelegt worden war, beginnt Patient von 
Morgenerektionen (mit Harndrang) zu erzählen, die ihn wecken. 
Das erstemal im Zusammenhang mit einem Traum am Morgen, 













Zum Verständnis der Libidoentwicklung im Heilungsvorgang 449 

nachdem er uriniert hatte und nochmais eingeschlafen war. „Ich 
gehe aufs Klosett. Ein alter Mann kommt hinein 
und greift nach meinem Penis.“ Patient deutet den Traum 
selbst auf (homosexuelle) Übertragung (Vaterimago). Bei weiterer 
Analyse taucht Schuldgefühl auf, das auf den Ödipuskomplex 
zurückgeht und sich in Kastrationsangst äußert. Das Greifen 
nach dem Penis hat dann den Sinn der Versicherung seines 
Vorhandenseins: Der Vater (Analytiker) gestattet ihm die Sexualität.^ 
Daß dieser Traum die Beruhigung seiner Kastrationsangst enthält, 
zeigt sich nun darin, daß Patient nach dieser Aufklärung erzählt, 
sein Vater, der oft lange Reisen unternommen batte, sei bei seiner 
Beschneidung nicht zugegen gewesen.^ In der Analyse des Patienten 
hat daher ein anderes Kastrationstrauma — man möchte im Hinblick 
auf die beiden ersten Fälle sagen, als kompensatorische Deck¬ 
erinnerung — eine große Rolle gespielt. Im Alter von etwa drei 
bis vier Jahren war er Zeuge der Beschneidung eines Knaben aus 
der Verwandtschaft gewesen; der Mann, das Messer, das Blut waren 
ihm als unauslöschliche Eindrücke geblieben. Als er später einmal im 
Gymnasium das Glied eines unbeschnittenen Knaben sah, dachte er, 
es sei so klein, weil es nicht beschnitten sei. Ein unlogischer 
Gedanke, wie er jetzt sagt, der nur aus dem unbewußten Kastrations¬ 
wunsch der femininen Einstellung zum Vater verständlich wird und 
zugleich die Kompensationsphantasie enthält (durch Beschneiden 
wird der Penis größer). 

Aus der Traumanalyse ergab sich, daß er auf die Morgen¬ 
erektion mit Schuldgefühi reagiert hatte, das aus dem Kastrations¬ 
komplex stammt, das heißt, daß die Erektion hier der 
Verleugnung der Kastration dient, während in Fall 1 
die Kastrationsangst die Erektion verhinderte. Beim Beginn 
der Übertragungslösung träumt Patient von einer riesenhaften 
Brücke, die sich wie ein Messer in der Mitte öffnet (Kastration 
— Geburt) und erwacht auch aus diesem Traum mit Erektion. 


^ Dies ist übrigens auch der unbewußte Sinn des Erduldens seiner 
homosexuellen Attentate von seiten älterer Männer: der Vater gestattet, ja 
fordert die (von ihm sonst verbotene) Libidobefriedigung. 

2 Diese Zeit ohne den Vater ist auch die selige Urzeit seiner Ödipus¬ 
phantasie geblieben. Ihre Vorzeitigkeit (Rückprojektion) im Zusammenhang mit 
der Abwesenheit des Vaters hat wohl die Intensität seiner Fixierung an die 
Mutter verstärkt, sicher aber deren spätere neurotische Verdrängung bewirkt. 











450 


Dr. Otto Rank 


Gegen Ende der Analyse, die im ganzen dreiundeinhalb Monate 
gedauert hatte, stellen sich die Erektionen auch bei Tage ein. So 
habe er, als ihn nachmittags im Badezimmer das Dienstmädchen 
zufäiiig mit der Hand am Rücken berührte, sofort eine mächtige 
Erektion bekommen, was früher nie so leicht vorgekommen sei. 
Im Anschluß daran sei der Wunsch zu masturbieren aufgetaucht, 
um die quälende Erektion wegzuschaffen. Dabei ist neben der Ver¬ 
knüpfung von Masturbation — Herunterreißen — und Kastration 
wieder die Mutterlibido im Spiel. Als ihn am selben Abend in 
Gesellschaft eine bekannte Dame scherzhaft am Ohr zupft, erregt 
ihn dies wieder in ungewohnter Weise; er dachte dabei, die 
benimmt sich wie ein Dienstmädchen. Das Verständnis eröffnen 
uns früher erzählte Erinnerungen von den Liebkosungen der 
Mutter, die bis ins erwachsene Alter hinein in Streicheln am 
Rücken, am Ohr und über die Haare fortbestanden und der 
Schlaflosigkeit eine infantile Dauerfixierung verliehen hatten, 
indem Patient so jede Nacht die Mutter an sein Bett rufen und 
ihn liebkosen (einschiäfern) lassen konnte. Wir erkennen also in 
den Erektionen dieÄußerung der befreiten Mutter¬ 
libido am erniedrigten Sexualobj ekt^ Paraliel mit 
dieser „regressiven“ Libidoentwicklung produziert Patient von seiner 
starken Ideaibildung aus Koitusphantasien mit ichgerechten Ersatz- 
(Mutter-)Objekten (verheirateten Frauen seines Bekanntenkreises 
usw.), die schiießlich in einen bewußten Heiratswunsch auslaufen. 

In den Phantasien identifiziert er sich einerseits mit dem 
Anaiytiker (wie Fall 1), andererseits phantasiert er das weibliche 
Sexualobjekt an seine Stelle, und zwar zuerst in meinem Behandlungs¬ 
zimmer auf meinem Sofa in flacher Rückenlage (siehe Fall 1) f 

1 Dieser Zusammenhang ergibt sich auch aus einem (Impotenz-) Traum 
(-Bruchstück), wo er in Begleitung der Schwester durch ein berüchtigtes 
Stadtviertel geht, in dem zwei Männer daher kommen, in der Absicht, ihn zu 
necken. Er dachte, sie hätten es auf die Schwester abgesehen, aber der eine 
von ihnen macht des Patienten Hose auf, nimmt den Penis in die Hand 
und steckt ihn in den Mund. „Et,sagte dabei zu mir, ich hätte keine 
Erektion. — Ich sagte: Oh ja, ich habe eine! Ich hatte aber doch keine!“ 
(Orale Befriedigung: zwei Männer-Testikel-Brüste). 

^ Früher hatte er, von seinem ersten Sexualakt her, den er in Identi¬ 
fizierung mit dem Bruder am gleichen Objekt ausübte, eine andere Stellung 
der Frau bevorzugt und diese auch in seinen späteren Masturbationsphantasien 
festgehalten. 























Zum Verständnis der Libidoentwicklung im Heilungsvorgang 451 

später verlegt er dann diese phantasierten Szenen in sein eigenes 
Zimmer. Im Zusammenhang damit verwandelten sich seine 
(homosexuellen) Störungsträume in heterosexuelle, das heißt er 
verweist jetzt den eintretenden Männern, ihn beim Sexualakt zu 
stören, während er sie früher sozusagen herbeigerufen hatte (wie 
Fall 1; in beiden Fällen geschah dies auch in Wirklichkeit). Auch 
wird bald in den Phantasien der Sexualakt wiederholt ausgeführt, 
was früher nie der Fall war und deutlich auf die Potenzsteigerung 
hinweist, welche sowohl durch Befreiung der Mutterlibido als 
auch durch Überleitung der sie neurotisch ersetzenden femininen 
Libido („Homosexualität“) bewirkt wird. Bald danach träumt Patient, 
der am Anfang der Analyse nur scheinbar homosexuelle Angst¬ 
träume hatte, daß er das Dienstmädchen koitiere: „mit Lustgefühl, 
aber ohne Erektion“, wie ihm scheint. Abends vorher hatte 
er ihr wirklich eine sexuelle Andeutung gemacht. Der Traum 
bringt neben dieser libidinösen Bewertung des erniedrigten 
Objektes in einer vorhergehenden Szene die Entwertung der 
Mutter, die er alt und krank sieht. Nächsten Tag hat er wieder 
(feminine) Kastrationsträume, aus denen er wieder mit Erektion 
erwacht. Dem eben wirklich eintretenden Mädchen gegenüber 
macht er einen sexuellen Annäherungsversuch, sie wehrt ihn aber 
mit dem Hinweis auf ihre Menstruation ab. Er ist entsetzt, sofort 
fällt ihm „Kastration“ ein und — seine Erektion wird stärker. 
Hier wird deren Charakter als Verleugnung der Kastration (aus 
der Identifizierung mit dem Weib) wieder deutlich. 

Eine Woche endlich vor dem festgesetzten Ende der Analyse 
versucht er am Nachmittag das Mädchen in seinem Zimmer zu 
koitieren, ist aber nicht recht erfolgreich. Wie er sagt, einerseits 
weil sie zu eng sei, andererseits weil sie fürchten mußten, 
überrascht zu werden (Schuldgefühl-Situation). Abends im Bade¬ 
zimmer wurde der Versuch wiederholt, aber wieder nicht mit 
Erfolg. In der Nacht schließlich, als das Mädchen zu ihm ins 
Bett kam (siehe die analoge Muttersituation in Fall 1), ging es 
ohneweiters. Nach dem Koitus konnte er lange nicht einschlafen 
— seine „nervöse“ Schlaflosigkeit war bereits geschwunden, er 
konnte jetzt nur gelegentlich nicht schlafen, und zwar aus 
unverdrängter, unbefriedigter Libido. Er dachte an Homosexualität 
und Perversionen und wunderte sich, daß es so etwas überhaupt 
gebe. Obwohl dieser Akt nicht voll befriedigend sein konnte, war 

Internat. Zeitscbr. f. Psychoanalyse, IX/4. 


SO 













452 


Dr. Otto Rank 


er sozusagen doch eigentlich der erste vollwertige Sexualakt des 
bereits durch mehrere „Verhältnisse“ hindurchgegangenen Patienten. 
Die Unbefriedigung aus der Hyperpotenz äußerte sich noch darin, 
daß Patient nach dem Koitus noch Erektion hatte und auch am 
Morgen — nach einem unbefriedigenden symbolischen Deflorations¬ 
traum, der sich auf die Mutter bezog (Geburtstraum) — wieder mit 
Erektion erwachte. Aus dem manifesten Kastrationstraum der 
nächsten Nacht — in dem er die infantile Beschneidungsszene 
reproduziert — ergibt sich, daß er die Defloration mit der 
Kastration, sich also mit dem Mädchen identifiziert (was schon 
bei der Menstruation klar war). Auch aus diesem Traum erwacht 
er wieder mit Erektion. Nach dem diesem Traum vorangegangenen 
Koitus, der ihm jetzt zum Bedürfnis geworden ist, war die Erek¬ 
tion bereits schwach und verschwand bald post/coitum, während 
sie ante kräftig blieb. 

Nachstehend gebe ich den eben erwähnten Traum aus einer 
der letzten Stunden wieder, weil er seine ganze Libido-Entwicklung 
und -Situation deutlich zeigt: „Ich habe an einem Kinde 
eine Operation am Unterleib vorgenommen. Beim 
Vernähen der Wunde benahm sich mein Assistent 
ungeschickt, ich schickte ihn weg, um es allein zu 
machen. In einem unbemerkten Moment erhob sich 
aber das Kind vom Tisch und stand auf, so daß die 
ganze offene Wunde wieder klaffte. Ich legte es 
mitMühe wieder nieder, um dieWunde zuvernähen. 
Dann fragte ich, ob es sich an etwas (aus der 
Narkose) erinnern könnte und sagte etwas vom 
Wied er bewußtmachenkönnen.“ 

Aus den Assoziationen ergibt sich zunächst die aktuelle 
Bedeutung der Defloration des Mädchens, mit dem er sich auf 
Grund der femininen Einstellung identifiziert, und seiner Gedanken 
an eventuelle Folgen (Vernähen, Kind). Der im Traum wiederholten 
infantilen Kastrationssituation entspricht seine alte feminine 
Wunschpbantasie, dem Vater ein Kind zu schenken (Geburts¬ 
darstellung). Analytisch stellt er in infantiler Symbolik seine 
Identifizierung mit dem Vater (Analytiker, Operateur) dar: er 
bekommt nicht mehr das Kind, er will es selbst machen; er ist 
auch nicht mehr das neugeborene (operierte) Kind, sondern der 
Vater (Arzt, Operateur). 







Zum Verständnis der Libidoentwicklung im Heilungsvorgang 453 

Auch hier also die gleiche libidinöse Endsituation, wobei 
infolge der stärker narzißtischen Reaktion des Patienten allerdings 
deutlicher wh’d, in welcher Weise die Identifizierungs¬ 
tendenz in den Dienst der Ichidealbildung gestellt 
wird.^ Die Übertragung wird ersetzt durch eine den Analytiker 
(Vater) introjizierende Phantasiebildung, wobei die Identifizierung 
nur so weit zugelassen wird, als zur Ablösung bei gleichzeitiger 
Neubildung des Ichideals notwendig ist. Eine weitergehende 
Identifizierung, die ja wieder neurotisch wäre, verhindert der 
Narzißmus als Grenzwächter des Individuellen, das nichts Fremdes 
annehmen will, und als Differenzierungsfaktor (im Sinne Freuds). 


Ehe wir zum Abschluß noch einen flüchtigen Blick auf die 
Äußerungen der „psychischen Potenz“ im normalen Liebesieben 
werfen, wollen wir das Gemeinsame dieser Fälle zusammenfassen, 
von denen jeder eine besondere Seite des zu umschreibenden Tat¬ 
bestandes beleuchtet. Es handelt sich dabei um eine im Ödipus¬ 
komplex manifestierte Entwicklung der infantilen Libido, die statt 
des geforderten Endausganges im normalen heterosexuellen Ehe¬ 
leben zu individuell und sozial verschiedenwertigen Störungen führt, 
welche von ausgesprochen neurotischer bis zu sozialer Symptom¬ 
bildung (Perversion, Homosexualität, Dissozialität) schwanken. In 
der Analyse erfolgt die Korrektur dieser Abweichungen durch 
die bekannte Wiederaufrollung des in erster Instanz verlorenen 
Entwicklungsprozesses, wobei die neurotische Identität von 
Kläger imd Angeklagten durch ökonomischere Rollenverteilung 
auf die zwei ursprünglichen Partner bewußterweise aufgelöst und 
damit an Stelle der mißglückten Verdrängung aus Schuldgefühl 
(Angst) die Verurteilung im Sinne Freuds gesetzt werden kann. 
Zur weiteren Freisprechung vom Schuldbewußtsein folgt dann 
die Entwertung des ganzen Verfahrens selbst, die mit einer ent¬ 
sprechenden Bewertung des eigenen Ich abschließt. 

Die seelischen Kosten dieser Revision trägt die Libido des 
Patienten, in dem Sinne, daß er auf einen Teil ihrer Befriedigung 
in der alten Form verzichten lernen muß. Der Patient holt die in 

^ Über die IdealbildungsVorgänge im Heilungsprozeß siehe die folgenden 
Ausführungen (11). 


30* 








454 


Dr. Otto Rank 


der Kindheit versäumte Einordnung seiner im sozialen Leben 
unbrauchbaren Triebkomponenten nach, indem er seine (feminine) 
Einstellung zum Vater (Homosexualität, Kastrationskomplex, 
Geburtsphantasie) im normalen Sinne erledigt und aus der 
analytischen Situation (Übertragung) die Fähigkeit zur vollen 
Vateridentifizierung gewinnt, die zur Ausfüllung seiner männlichen 
Rolle notwendig ist. Bei der ähnlich entwicklungsgehemmten Frau 
(Neurose, Perversion) handelt es sich in der gleichen Libidoschichto 
um einen ihrer Pubertätsentwicklung analogen Verzicht auf ein 
Stück Männlichkeit, also psychologisch um die volle Identifizierung 
mit der Mutter (auch als Geschlechtswesen), der die volle 
Akzeptierung der „Kastration“ parallel gehen muß. Es ist dann in 
der Analyse das Stück versäumte Entwicklung nachzuholen, das 
Freud als infantile Wendung des kleinen Mädchens vom 
Penis wünsch zum Kinderwunsch beschrieben hat.^ Wünscht sich 
da das Mädchen statt des Penis das Kind, so besteht der entsprechende 
Entwicklungsschub beim Manne darin, daß er statt des Kindes 
den Penis wünscht (bejaht). Darin ist, wie unsere Fälle zeigen 
sollten, auch das beschlossen, was mit dem Begriff der „psychischen 
Potenz“ umschrieben worden ist. 

Eine Frage von allgemeinerem Interesse wäre dann die 
Aufarbeitung dieser in Neurose und Perversion mißglückten 
Entwicklungsaufgaben im normalen Liebes- und Sexualleben. Nach 
den analytischen Erfahrungen ist zu erwarten, daß dies auch dort 
auf dem Wege der Identifizierung erfolgen wird, und zwar der 
gegenseitigen Identifizierung, als welche wir ja den Zustand der 
Verliebtheit nach Freud auffassen müssen.^ Die Frau befriedigt 
so ihren infantilen Wunsch nach dem Penis im Koitus, ebenso der 
Mann seinen Wunsch nach dem Kind, und in dieser gegenseitigen 

^ »Das Tabu der Virginität“. Sammlung kleiner Schriften zur Neurosen¬ 
lehre, IV. Folge, 1918, S. 246. Dortselbst findet sich auch der Hinweis auf die 
tiefere theoretische Fundierung dieser Auffassung im Triebleben sowie ihrer 
Abgrenzung gegen den „männlichen Protest“ Adlers, der hier — wie leicht 
ersichtlich — nicht als Erklärungsprinzip, sondern als Symptom der verdrängten 
Infantillibido betrachtet und demgemäß als „neurotische Rachetendenz“ oder 
als „Männlichkeitskomplex“ des Mannes analysiert wird. Der Unterschied läßt 
sich am kürzesten so formulieren, daß fürs Unbewußte, mit dem sich die 
Analyse beschäftigt, Femininität—Mutteridentifizierung und Männ¬ 
lichkeit-Vateridentifizierung heißt. 

2 Siehe: Massenpsychologie und Ichanalyse, 1921, 









Zum Verständnis der Libidoentwicklung im Heilungsvorgang 455 


Identifizierung allein ist die volle gegenseitige Libidobefriedigung 
gewährleistet, die über die bloß körperliche Sexualbefriedigung 
hinausgeht, in der übrigens auch das Zusammentreffen des 
Orgasmus im Sinne der gegenseitigen Identifizierung bedeutsam ist. 

Zugleich erkennen wir aber auch, wie in den abstrus scheinenden 
unbewußten Motiven der neurotischen Symptombildung ein guter 
Sinn steckt, der nur aus einer sozusagen irregeleiteten oder 
besser gesagt zu weit getriebenen Identifizierung 
verkannt wird. Die die Impotenz begründende Angst unseres 
ersten Patienten vor dem Weib entspricht einem ähnlich intuitiven 
Erraten eines richtigen psychischen Sachverhalts, wie dies Freud 
für das Tabu der Virginität dargelegt hat. Auf Grund der zu 
weit getriebenen Identifizierung mit der Mutter nimmt Patient 
diesen normalen Wunsch der Frau, den Penis als Kind in sich 
einzubeziehen, gleichsam unbewußt wahr; was wir ihm in seinem 
Symptom, der Impotenz, analytisch zeigen, ist die Tatsache, 
daß dies durch Projektion seiner eigenen femininen Libido¬ 
einstellung erfolgt.^ Die neurotische Frau gelangt auf demselben 
Weg der zu weitgehenden Identifizierung mit dem Mann^ entweder 
schon im Verlaufe der infantilen Entwicklung zu hysterischen 
Symptomen, welche die libidinöse Funktion der Genitalien verleugnen 
und auf andere — sozusagen bisexuelle — Organe verschieben; 
oder sie produziert später auf der Stufe des erwachsenen Sexual¬ 
lebens bei sozial geforderter Genitalfunktion (Heirat usw.) Anästhesie, 
Vaginismus und ähnliche als aktualneurotisch zu wertende 
Symptome, die der Rache am Manne zu entsprechen scheinen, wie 
die psychische Impotenz der Rache am Weibe (Fall 1). Diese Rache 
erweist sich aber auch bei der Frau als eine verschobene, sie gilt 
iffsprünglich auch dem gleichgeschlechtlichen Konkurrenten aus 
der Ödipussituation, der Mutter, wie der Verlauf der Psychoanalyse 
solcher Fälle unzweideutig lehrt. Fall 1 beschließt seine Erledigung 
der Analyse mit der Rache am Manne, während sein Symptom der 
unzweckmäßigen Rache am Weibe dienen sollte, aber die neurotische 
Rache an sich selbst bewirkte; Fall 2 führt konstant im Leben 

^ Im Falle 1 ist es besonders deutlich zu beobachten gewesen, wie auch 
die Frau seine unbewußte Einstellung ihr gegenüber intuitiv erraten und ihm 
teilweise direkt bewußt gemacht hatte. Darauf hatte er ja mit der Impotenz 
reagiert (siehe S. 439.) 

2 Über das Motiv vergleiche jetzt; Das Trauma der Geburt (Sexualität). 









456 


Dr. Otto Rank 


einen neurotischen Kampf gegen Vater und Bruder, entwertet 
aber das Weib statt des gehaßten Mannes, an den er libidinös 
fixiert bleibt; Fall 3 endlich, dessen jahrelange Angstträume vom 
Tode der Mutter sich im Laufe der Analyse in solche vom Tode 
des Vaters verwandelten, ist ein treffendes Beispiel für diesen 
umgewerteten Ödipuskomplex und die Triebfeder dafür: das 
verdrängte mütterliche Angst- und Schuldgefühl,^ 

4. 

Ich möchte hier ein viertes, allerdings nicht analysiertes Beispiel 
von ausgesprochener Hyperpotenz ohne neurotische oder soziale 
Selbstschädigung einschalten, das die Ausführungen vom Stand¬ 
punkt des sogenannten normalen Liebeslebens illustrieren soll. 
Es handelt sich um einen mir persönlich bekannt gewordenen 
typischen Don Juan, dessen abnorme Potenz sich schon bei näherem 
Zusehen als stark komplex-bedingt im Sinne unserer Ausführungen 
erwies. Von einer Analyse war bei dem im Leben und in der 
Liebe erfolgreichen Menschen keine Rede. Er war in der Wahl 
seiner Sexualobjekte zwar nicht sehr, aber immerhin so wählerisch, 
daß von einem rein organischen Bedürfnis nach täglicher — oft 
mehrmaliger — Sexualbefriedigung abgesehen werden konnte. 
Auch gehörte für ihn die Erorberung unbedingt dazu, nicht so 
der geschädigte Dritte, den er im Gegenteil nur als unvermeidlich 
hinnahm, wo er ihm nicht ausweichen konnte. Je schwerer eine 
Frau zugänglich schien, desto eher schien sie ihm auch das Fehlen 
dieses Dritten, des Konkurrenten, zu gewährleisten und ihn damit 
von dem Gefühl der „Schädigung“ zu entlasten. Prostituierte verab¬ 
scheute er daher, machte aber eigentlich jede Frau gewissermaßen 
selbst zur Dirne, 'indem er sie zum bloßen Sexualobjekt erniedrigte 
und menschlich entwertete. Dieser Entwertungsprozeß selbst 
machte, ganz im Stile des echten Don Juan, einen Teil seiner Libido¬ 
befriedigung aus. Dazu brauchte er immer, womöglich täglich, 
neue Sexualobjekte, die er nach der Verführung (in irgendeiner 
Form) bald fallen ließ und wechselte. , Sein ganzes intellektuelles 

* Ähnlich verhält es sich mit der Psychologie der am Vater fixierten 
Prostituierten, dieser weiblichen .Don Juan-Typen“, welche sich in Betrug 
und Schädigung des Mannes nicht genug tun können, sich aber dabei eigentlich 
an den Frauen rächen, denen diese Männer gehören. Letzten Endes entwerten 
sie, wie der Neurotiker, in ihrem Tun sich selbst und ihr glücklicheres Vor¬ 
bild, die Mutter. 








Zum Verständnis der Libidoentwicklnng im Heilungsvorgang 457 

Leben spielte sich sozusagen daneben in intensiven Freundschaften 
mit etwa Gleichaltrigen (Kameraden) ab, von denen er stets 
Freundschaftsbeweise forderte und die er teilweise in seine 
zahlreichen, oft tragisch endenden Liebesgeschichten einweihte. So 
kam auch ich zur näheren Kenntnis seines Sexuallebens und als 
er mein analytisches Interesse daran bemerkte, stellte er mir drei 
für ihn typische, perennierende Träume zur Verfügung, die auch 
ohne eigentliche Analyse tief in sein unterwühltes Triebleben 
hineinleuchten und zeigen, daß seine enorme Potenz und Libido¬ 
bedürftigkeit auf dem uns bekannten Boden ruhen.. 

Erster Traum: „Sehr häufig verrichte ich im Traume 
Ekelhaftes, und zwar meistens im Halbdunkel auf einer 
Bank sitzend, neben mir viele Bekannte. Unter meinem 
Sitz befindet sich ein Loch. Während der ganzen Zeit des 
Gespräches, sowohl mit den Nebensitzenden als auch, 
wie es sehr häufig vorkommt, mit Vorübergehenden, 
verrichte ich in einem fort (meine Notdurft) und habe 
folgendes Gefühl dabei: 1. Ekel, daß man es überhaupt 
tun muß (auch im Leben); 2. das Gefühl der Zufriedenheit, 
daß meine Nachbarsleute und die Vorübergehenden es 
nicht sehen, weil meine Kleider vorne so kunstvoll 
geordnet sind; 3. nicht immer, aber sehr oft das Gefühl 
der Erhabenheit über alle: keiner könnte mir das nach¬ 
tun. (Im Gegensatz zu dieser Empfindung machen es in 
einer Reihe von Träumen alle meine Nachbarn in unab¬ 
sehbarer Reihenfolge.) Immer aber bin ich derjenige, der 
durch einen äußeren Umstand gezwungen wird, sich zu 
erheben. Gewöhnlich geschieht das in der Aufforderung 
eines der Vorübergehenden, mitzukommen oder ein 
interessantes Dokument zu zeigen. Ich erhebe mich vor¬ 
wärtsgebeugt, um Papiere aus der Tasche zu nehmen 
und beginne mit großer Feierlichkeit oder Umständ¬ 
lichkeit mich mit dem Papier abzuwischen. Ich spreche 
noch einige Worte, habe aber das Gefühl, daß in diesem 
Pall fast mein Hinterteil gesehen wird, ln diesem Moment 
überkommt mich direkt eine Verzweiflung, daß meine 
ganze Freude, die Täuschung meiner Erhabenheit durch¬ 
schaut ist. Ich sehe verdutzte Gesichter, schäme mich 
riesig und erwache. Diesen Traum habe ich seit Jahren, aber 









458 


Dr. Otto Rank 


er ist jetzt quälend geworden, seit mich ein Weib dadurch vom 
Koitus abgestoßen hat (Impotenz?), daß sie vorher in meiner 
Gegenwart urinierte.“ 

In Anbetracht der Tatsache, daß der Träumer selbst in 
Gegenwart anderer nie urinieren konnte, was er besonders hervor¬ 
hebt, erhält sein exhibitionistischer Defäkationstraum besondere 
Bedeutung. Offenbar identifizierte er sich selbst mit der in Gegen¬ 
wart anderer urinierenden Frau und versagte in dieser femininen 
Einstellung (Kastration). Das Nicht-urinieren-können in Gegenwart 
anderer zeigte auch Fall 3, und zwar ganz unzweideutig mit der 
Kastrationsangst verbunden.^ (Siehe seinen Traum, wo er in Gegen¬ 
wart des Vaters urinierte.) Charakteristisch genug bemerkt unser 
Träumer, es habe ihn zur Mitteilung des Traumes die Tatsache 
veranlaßt, daß ihm zuletzt die Schwester im Traum 
zugeschaut habe und er von der Aufzeichnung die Befreiung 
der peinlichen Wiederholung des Traumes erhoffe.^ 

Aber auch der stark verdrängte Exhibitionismus hängt, wie 
oben erwähnt, innig mit dem Kastrationskomplex zusammen und 
der Träumer ist daher stolz darauf, daß seine Kleider vorne so 
kunstvoll geordnet sind, daß man nichts sehen kann, während 
zugleich hinten alles zu sehen ist, das heißt, daß nichts da ist 
(Femininität). Er selbst erklärt natürlich seine Exhibitionsscheu 
aus einem angeborenen Schamgefühl, dessen er sich schon aus 
der frühen Kinderzeit erinnere, wo er als kleiner Knabe mit dem 
Vater baden sollte.® Auf Grund dieser frühinfantilen Verdrängung, 
die er zum Charakterzug entwickelt hat, entspricht seiner 
heterosexuell-schamlosen Reihenbildung im Leben die feminin-anale 
Exhibitionsscham im Traum, die zu einer überlegenen Konkurrenz 
des eigenen Ich im Sinne der Heroenbildung (Ablehnung der 
Identifizierung) ausgewertet ist (das macht ihm keiner nach!).* 

^ Ähnlich stehen die Urethralstörungen der Frau mit dem Penisneid in 
Verbindung. 

® Das heißt, der mit der Aufdeckung dieser inzestuösen Wurzel verbundene 
Unlustcharakter ist offenbar stärker als der Lustgewinn des Traumes geworden. 
Nun kann er den Traum selbst auch „zeigen“ und ihn vielleicht so los 
werden; ob dies auch tatsächlich der Fall war, kann ich mangels späterer Nach¬ 
richten von ihm nicht sagen. 

® Auch hier wieder die gleiche „traumatische“ Deckerinnerung. 

* Siehe dazu meine Abhandlung: Die Doa Juan-Gestalt. IrUago 
VIII, 1922. 










Zum Verständnis der Libidoentwicklung im Heilungsvorgang 459 


Diese Einstellung verrät deutlich ein zweiter, gleichfalls 
perennierender, exhibitionistisch eingekleideter Flugtraum, in 
dem der Träumer deutlich mit seiner „psychischen“ Potenz protzt: 
„Oft fliege ich im Traume vor zahlreichen Zuschauern 
und bin sehr stolz darauf, daß mir das niemand nach¬ 
machen kann. Ich befinde mich dabei meist im Zimmer 
und gehe gleichsam, nur wenige Schritte über dem 
Boden, durch die Luft. Immer sind meine Freunde 
auch dabei. Einer von den Zuschauern macht dann 
gewöhnlich eine abfällige Bemerkung über meine 
Leistung, etwa: ja, ein-, zweimal im Zimmer auf und 
ab zu fliegen ist keine Kunst. Ich mache darauf eine 
verächtliche Handbewegung und sage: Lächerlich! 
Ich kann es auch sieben- bis achtmal machen und 
mache es ihnen vor. Darauf allgemeines Beifalls¬ 
klatschen und ich erwache mit Lustgefühl.“ 

Auch hier kommt der unterdrückte Exhibitionismus deutlich 
zum Durchbruch; in Wirklichkeit kann er nicht nur vor anderen 
nicht koitieren, sondern eigentlich nur im Dunkeln (siehe das Halb¬ 
dunkel des ersten Traumes), so daß ihn nicht einmal die 
Frau sieht. Beweisend für den reaktiven Charakter seiner starken 
Potenz ist deren Steigerung auf Grund der Selbstkritik (Ichideal), 
wie sie im manifesten Inhalt des Traumes direkt zum Ausdruck 
kommt. 

Einen dritten, sozusagen jüngeren typischen Traum hat er 
erst seit dem einige Jahre vor der Erzählung dieser beiden, schon 
lange wiederkehrenden Träume erfolgten Tod seines besten 
Freundes. In diesem Traumtypus, dessen Text er nicht wörtlich 
fixiert hatte, erscheint ihm regelmäßig sein (verstorbener) Freund 
wieder, um ihn zu trösten. Hinter der manifesten „Homosexualität“ 
dieser Träume steckt sein tiefes Schuldgefühl aus dem 
Ödipuskomplex (siehe den Traum von der Schwester). Erst nach 
dem Tode des Freundes nahm sein vorher schon wenig gehemmtes 
Sexualleben die geschilderten Züge des donjuanesken Zwangs- 
eharakters an. Der Tod des Freundes hatte offenbar bei ihm die 
bisher ängstlich gemiedenen Schädigungsabsichten gegen den 
Dritten (Vater—Bruder) belebt und er ließ sich im Traum regel¬ 
mäßig durch die Wiederkehr des Freundes versichern, daß er ihn 
nicht beseitigt habe (Trosttraum). 







460 


Dr. Otto Rank 


ben diese drei typischen Träume des Normalen, ja in 
manchen Punkten Übernormalen, den Grundriß seiner libidlnösen 
Struktur, aus der sein Charakter und sein Sexualleben sich nach 
den analytisch erforschten Gesetzmäßigkeiten entwickelt. 

* * 

* 

In den weitgespannten Rahmen der „normalen“ Erledigung 
der Libidoentwicklung gehört auch ein ganzer Teil der ars 
amandi, ja sogar die Übung antikonzeptioneller Praktiken erweist 
sich in solchen Fällen davon mitbestimmt, wo die rationellen 
Momente unzureichend sind, wie beispielsweise in unserem ersten 
Palle, der dies selbst einsieht. Das Präservativ wird in der unbe¬ 
wußten Phantasie zu dem zweiten geopferten (Ersatz-)Penis, der 
zwar in die Mutter eindringt, aber die Befruchtung und damit 
die Geburt verhindert; der coitus interruptus schützt vor der 
gefürchteten Rückkehr zur Mutter (Kind); die Versagung des 
gewünschten Kindes ist komplexbedingt im Sinne unserer Aus¬ 
führungen über die feminine Einstellung, die Mutteridentiflzierung 
und die Geburtsphantasie. Aber auch eine Anzahl mehr minder 
aktueller Störungen der Sexualfunktion, wie der (psychische) 
Aspermatismus, der nach Beobachtungen von Blum (Wien) oft 
mit gehäuften nächtlichen Pollutionen einhergeht, vielleicht auch 
der Priapismus sowie sonstige, analytisch bereits verständliche 
Sexualstörungen gehören hierher; ähnlich determiniert erweist 
sich aber, wie in Fall 2, die konsequent leichtsinnige Ignorierung 
aller Schutzmittel, wo sie rationell am Platze wären. 

So entsprechen die neurotischen Störungen der Genital¬ 
funktion bei beiden Geschlechtern Libidoentwicklungen, welche die 
infantile Neurosenbildung mehr oder weniger erfolgreich ver¬ 
mieden haben. Es sind Neurosen, deren Symptombildung sich nach 
der Aufrichtung des Genitalprimates an diesem erwachsenen 
Libidozentrum etabliert. Natürlich spielen in ihnen neben den 
aktuellen Einflüssen (Aktualneurosen) die infantilen Komplexe — 
wie überall — mit, und es ist nicht zu verwundern, wenn man 
als psychischen Kern der aktualneurotischen Angst infantile Angst 
findet,^ die zum mißbräuchlichen Sexualverkehr veranlaßt hatte. 
Aber bei diesen Menschen hat sich eben die infantile Angst in 
diesem Stück ihres aktuellen Sexuallebens erhalten und hätte 


> Siehe gleichfalls: Das Trauma der Geburt („Die infantile Angst“). 










Zum Verständnis der Libidoentwicklung im Heilungsvorgang 461 

ohne diesen aktuellen Mißbrauch nie zu Störungen geführt. Denn 
innerhalb der weiten Grenzen des Normalen können all die 
disparaten Strebungen, die wir in der Neurose isoliert auf Befrie¬ 
digung ausgehen sehen, unter teilweisem Verzicht auf ihre volle 
Dimchsetzung befriedigt werden. 

Nur kurz sei schließlich darauf hingewiesen, daß die zur 
normalen Erledigung der Libidokonflikte notwendige Einstellung 
zum Liebesobjekt auch jeweils ganz bestimmte Eigenschaften 
desselben voraussetzt, die Freud in einzelnen Typen von „Liebes- 
bedingungen“ scharf umschrieben hat. Unsere Fälle haben gezeigt, 
daß diese Bedingungen ebenso potent wie impotent machen können, 
je nach dem Grade der Identifizierung oder der Stärke ihrer 
Ablehnung in der Idealbildung (siehe diese). Jedenfalls aber bilden 
sie einen integrierenden Bestandteil des Sexuallebens der Kultur- 
raenschheit, das ja auf einem rein psychischen Faktor, der Liebe, 
aufgebaut ist, deren Sonderbarkeiten und Rätsel uns die Psycho¬ 
analyse als Niederschlag der vorzeitlichen Elternbindung („Ödipus¬ 
komplex“) mit all ihren seelischen Verdrängungsfolgen verstehen 
lehrte. 

II. 

Idealbildung und Objektwahl 

Um die für den Heilungsvorgang ebenso wichtigen Vor¬ 
gänge im Ich zu verstehen, gehen wir am besten von dem 
bereits aufgezeigten und verständiich gemachten Mechanismus der 
Identifizierung mit dem Analytiker aus. Von diesem Gesichts¬ 
punkte können wir den analytischen Prozeß beschreiben als 
Wiederholung der alten infantilen Objektwahl (in der Über¬ 
tragung), die infolge Versagung wieder in eine neurotische 
Identifizierung auszugehen droht, aber nunmehr durch Zuhilfenahme 
bewußter Ichstrebungen von einer neuen, zweckmäßigeren Ideäl- 
bildung und einer daraus resultierenden Objektwahl abgelöst wird. 
Dazu muß der Neurotiker auf seine mitgebrachten Idealisierungen, 
die entweder zu hochgespannt oder unzureichend sind, verzichten 
und wieder auf die ursprüngliche Ur-Objektwahl regredieren, um 
zu einer neuen, nicht bloß ichgerechten, sondern auch libidinös 
realisierbaren Befriedigungsmöglichkeit zu gelangen. Dabei kann 
man sowohl an der Auflösung der alten, wie in der Bildung der 
neuen Ichideale den Prozeß der Idealbildung, beziehungsweise 




462 


Dr. Otto Rank 


Sublimierung, in seinem wesentlichen Verhältnis zur Objektwahl 
und zur Identifizierung studieren;^ das heißt aber den Mecha¬ 
nismus der Idealbildung aus der aufgegebenen Objektwahl 
und der daraus folgenden Identifizierung verstehen. 

Das günstigste Material zum Studium dieser Verhältnisse, beson¬ 
ders der Objektwahl, scheint mir die gleichzeitige Analyse von Ehe¬ 
paaren durch denselben Analytiker, weil man da Gelegenheit hat, 
die Objektwahl auch in ihrer unmittelbaren Auswirkung zu über¬ 
blicken, während das Übertragungsverhältnis allein doch nur Ein¬ 
blick in die Mechanismen gestattet. Der glückliche Zufall hat mir 
in den letzten Jahren einige solcher Doppelanalysen ermöglicht, 
die ich übrigens in Fällen von Eheschwierigkeiten und -Konflikten 
für die einzig richtige, wenn auch nicht gerade bequemste Art 
der Behandlung halte. 

Beispiel: Herr X. heiratet seine Frau in folgender Situation : 
Er hat eine starke Neigung aus der Kindheit für eine Freundin 
seiner Schwester mitgebracht, als offenkundigen libidinösen Ersatz 
derselben. Diese Jugendliebe, die später durch das Interesse für 
andere gleichnamige junge Mädchen teilweise abgelöst wurde, 
ist von X. im Sinne der inzestuösen Abwehr „idealisiert^^ worden, 
so daß er schließlich immer die Gelegenheit zur Eroberung dieser 
„unerreichbaren^‘ Liebesobjekte versäumte und sie anderen über¬ 
lassen mußte. Dieser Verzicht ist deutlich auf einer starken Vater¬ 
angst aufgebaut, die X. durch unbewußte feminine Unterwerfung, 
also Identifizierung mit der Mutter, libidinös zu kompensieren 
suchte. Seine spätere Frau gehörte ursprünglich auch der Reihe 
idealisierter, das heißt unerreichbar gemachter Inzestobjekte an; 
nicht nur weil er sie seit vielen Jahren kannte, ohne einen deut¬ 
lichen Schritt der Annäherung gemacht zu haben, sondern auch 
weil die äußere Situation dies begünstigte, indem seine zukünftige 
Frau, seit einer Reihe von Jahren vaterlos,^ der Pflege ihrer 

^ Inzwischen sind diese Verhältnisse in Freuds: Das Ich und das Es 
(1923) theoretisch geklärt worden. Die folgenden Ausführungen, deren Material 
vorwiegend aus dem Winter 1922 stammt, wollen die Mechanismen vom 
praktischen Standpunkt des Heilungsvorganges betrachten und verständlich 
machen. Wir sehen dabei natürlich auch von der metapsychologischen 
Bedeutung des Ichideals (Über-Ich), das Freud zuletzt im Sinne eines 
psychischen Systems gebraucht, ab. 

^ Charakteristischerweise hatte die erste intimere Annäherung von seiner 
Seite auch erst nach dem Tode ihres Vaters begonnen. 













Zum Verstäadnis der Libidoentwicklung im Heilungsvorgang 463 


kranken Mutter lebte, was für ihn das „ideale“ Verhältnis im 
Elternhause — Zusammenleben mit der Mutter bei Ausschluß des 
Vaters — bedeutete. Da treten Umstände ein, welche die Situation so 
verändern, daß sie die libidinöse Objektwahl von beiden Seiten 
ermöglichen, während bis dahin sie für ihn nur eine „ideale“ 
Tochter (Schwester), er für sie das Ideal des keuschen jungen 
Mannes gewesen war, der ihren um einige Jahre älteren Lieblings¬ 
bruder vertrat, den sie selbst als ihr „Ideal“ bezeichnete, da er 
so „mütterlich“ gewesen sei. Er verfällt in eine rätselhafte 
Krankheit, die sich nachträglich in der Analyse als Versuch dar¬ 
stellte, die Sympathien und das Interesse seines strengen, ver¬ 
schlossenen Vaters zu gewinnen, was aber nicht gelang. Um dieselbe 
Zeit stirbt ihre Mutter nach jahrelangem Leiden und kurze Zeit darauf 
schreibt sie dem nach Teilnahme hungernden Mann einen freund¬ 
lich tröstenden Brief, der sie schließlich dauernd zusammenführt. 

^ Der Mechanismus dieser Objektwahl ist analytisch leicht 
verständlich; Sie wendet sich ihm als direktem Ersatz des eben 
verlorenen Mutterobjektes zu^ und pflegt ihn weiter, wie sie es 
bisher mit der Mutter getan hatte, bis er tatsächlich genesen ist 
(womit sie allerdings gleichzeitig im Sinne ihres Ideals eine alte 
Schuld am Vater gutmacht, den sie viele Jahre früher nicht hatte 
pflegen und retten können). Er ist imstande, die ideale Schwester 
(Tochter) jetzt doch zum Liebesobjekt zu nehmen, weil sie frei 
geworden ist; die Analyse seiner ganzen Libidoentwicklung zeigt 
aber, in welch merkwürdigem Sinne dies zu verstehen ist, denn 
sie läßt keinen Zweifel, daß die Frau für ihn unbewußt einen 
Vaterersatz darstellt, in ähnlich unbewußter Motivierung wie er 
für sie einen Mutterersatz. Er heiratet sie nämlich nach dem 

1 Auch in einem anderen Falie erinnerte eine Frau in der Analyse, 
daß sowohl ihr Mann, an den sie auch nach der Trennung noch stark fixiert 
geblieben war, wie auch sein Nachfolger, genau die Augen der Mutter und 
ihre Gesichtszüge hatten. Auch sie hatte also im geliebten Manne ein Mutter- 
objekt gefunden, dem sie als Kamerad („männlich“) zur Seite stand, während 
sie die Mutteridentifizierung mittels neurotischer Symptombildung heftigst 
ablehnte. — Lbrigens zeigen alle Frauen, die pathologisch an den Mann fixiert 
sind und darum die Analyse aufsuchen, ausnahmslos die starke Mutterfixierung, 
die in ihrer Verschiebung auf den Mann der im vorigen Abschnitt behandelten 
Verschiebung der Rache auf das andersgeschlechtliche Objekt entspricht. 

Die allgemeine Bedeutung dieser sonderbaren Züge des Sexuallebens ver¬ 
suchte ich in meiner Arbeit: Das Trauma der Geburt, verständlich zu machen. 








464 


Dr. Otto Rank 


Tode ihrer Mutter, was im Sinne seines verdrängten Ödipus¬ 
komplexes dem Freiwerden des Vaters entspricht. 

Diese Auffassung ergab sich unzweifelhaft aus der Analyse 
dieser sonderbaren Objektwahl und den daraus folgenden Ehe¬ 
schwierigkeiten, die dabei durch einen weitgehenden Ausgleich 
der Konflikte zwischen Objekt und Ichideal sowohl im einzelnen 
Ehepartner als auch gegeneinander beseitigt wurden. Das Kern¬ 
problem bildete wie gewöhnlich das Kind, nach dessen Geburt die 
Frau frigid wird, beim Manne die in der Pubertät hervorgetretenen 
homosexuellen Anwandlungen wieder stärker werden. Das Kind 
spielt deswegen psychisch diese bedeutsame Rolle, weil es die 
Frau, deren ganzes Leben seit dem Tod des Vaters in der Identi¬ 
fizierung mit diesem verlorenen Objekt aufgegangen war (sie 
vertrat auch äußerlich den Vater in der Führung des Hauses), zur 
realen Identifizierung mit der Mutter drängt, welche vom Schuld¬ 
bewußtsein abgelehnt wird. Für den Mann bedeutet das Kind die 
volle Vateridentifizierung, der er sich durch die feminin-passive 
Identifizierung mit der Mutter gerade entzogen hatte, und zu der 
er ebenso aus der Situation des realen Vaterseins mächtig gedrängt 
wird. Bei einer solchen unbewußt gleichgeschlechtlichen Objekt¬ 
wahl des Ehepartners, die namentlich für die Frau typisch zu 
sein scheint, muß es natürlich früher oder später, sozusagen bei 
Entdeckung des wirklichen Geschlechts (im infantilen Sinne) zu 
Schwierigkeiten oder Konflikten im Eheleben kommen. Charakte¬ 
ristisch dafür ist das bekannte fortwährende Kritisieren oder 
Erziehenwollen im Sinne eines mitgebrachten oder angestrebten 
Ideals.^ Die Frau schildert dies, indem sie in der Analyse erklärt: 
„Er nimmt mich nicht sowie ich bin; er will mich so haben wie 
er sich denkt, daß ich sein soll. Er hat eine Art Idealbild von 
seiner Frau. Sein Ideal ist aber keineswegs das seiner Mutter 
oder Schwester!“ Der Mann selbst verrät durch seine Recht¬ 
fertigung das Vorbild seines Ideals, wenn er erklärend meint, 
er kritisiere sie so, weil er gewohnt war, den Vater 
immer zu kritisieren! Diese Einstellung, die zu fortwährenden 
Konflikten führt, ist aber ohne Analyse nicht korrigierbar, 
weil dieses Kritisieren und Idealisieren für den Mann ein Stück 

* Der Hauptwiderstand in der Analyse solcher Fälle ergibt sich ans der 
getäuschten Hoffnung, der Partner werde durch die Analyse im Sinne des 
gewünschten Ideals verändert (erzogen) werden. 











Zum Verständnis der Libidoentwicklung im HeilungsVorgang 465 


infantile Wiederholung des Vaterverhältnisses und also ein 
Stück libidinöser Befriedigung bedeutet. So erwiderte er auf ihren 
gelegentlich gereizten Vorschlag, eine seinem Ideal entsprechende 
Frau zu nehmen, daß er keine andere als sie wolle. Sie selbst beklagt 
an sich, daß sie ihrem Manne die Gefühle, die sie für ihn habe, 
nie recht zeigen könne offenbar weil es einem anderen Objekt 
— der hilflosen Mutter oder dem hilflosen Baby — gilt, die Vater- 
flgur aber mit von der Mutter her verschobenem Angst-, bezw. 
sexuellem Schuldgefühl besetzt ist (Frigidität). 

Ihre Objektlibido hat sich folgendermaßen entwickelt: Als Kind 
erinnert sie den Wunsch „Doktor“ zu sein, wenn sie ein Mann wäre, 
de# sich in den Wunsch, wenigstens einen Arzt zu heiraten, ver¬ 
wandelte. Hier zeigt sich die Objektwahl vom Ichideal bestimmt, was 
uns noch beschäftigen wird; andererseits zeigt sich dieses Ichideal 
aus libidinösen Tendenzen (Sexualneugierde — Kinderproblem) 
entwickelt. Sie erzählt, daß sie, wie jedes Mädchen, ihr männliches 
Ideal hatte, dem aber ihr Gatte gar nicht entsprochen habe. Denn 
ihr Ideal sei ein sehr männlicher Typus gewesen (der raucht, 
trinkt, viel außer Haus geht etc.),^ während ihr Mann das Gegenteil 
davon war. Sie habe ihn aber geheiratet, weil sie fühlte, daß sie 
mit einem „häuslichen“ Manne glücklicher sein würde als mit 
ihrem Ideal, das sie jetzt haßt; trotzdem kann sie es auch nicht 
leiden, wenn ihr Mann seine häuslichen Tugenden allzu deutlich 
zeigt Diese Divergenz zwischen Liebesideal und tatsächlicher 
Wahl ist geradezu typisch; da sie so oft bedauert wird, wollen 
wir nicht versäumen, hervorzuheben, daß sie das Wesen der nor¬ 
malen, realisierbaren Objektwahl auszumachen scheint, die zwischen 
primitivem Objekt und Ideal die Mitte hält, das heißt ein Kom¬ 
promiß schließt, nämlich die Objektwahl. Im Falle der Neurose wird der 
Konflikt zwischen Libidoobjekt und Ichideal manifest. Der „häus¬ 
liche“ Mann, mit dem allein sie glücklich sein kann, repräsentiert 

1 Brieflich sei es möglich; offenbar weil da die Phantasie nicht von der 
Wahrnehmung des realen Objektes gestört wird. — So hatte sie ihm den 
eingangs erwähnten Trostbrief offenbar auch aus ihrer eigenen verzweifelten 
und trostbedfirftigen Stimmung nach dem Tod der Mutter geschrieben. 

* Dieser habe aber nicht ihrem Vater entsprochen, der. nie ihr „Ideal* * 
war; im Gegenteil hätte sie sich immer gewundert, wie die Mutter ihn hatte 
heiraten können. Natürlich beweist diese eifersüchtige Ödipusphantasie erst 
recht ihre Idealbildung nach dem Vater, der die Mutter nicht geheiratet bat 
(Bruder). 












466 


Dr. Otto Rank 


ihr einerseits das geliebte Mutterobjekt, erinnert sie aber 
andererseits daran, daß sich ihre eigene Ödipuslibido in der 
Identifizierung mit der „häuslichen“ Mutter, die zum „Ideal“ der 
braven Tochter führte, begnügen muß. Im frühen Ideal des robusten 
Mannes lebte die infantile Vaterimago fort, gleichzeitig aber auch 
ein Stück ihres alten Ichideals aus dem Wunsch, ein Bub zu sein. 
Gerade dieses auf der Identifizierung mit dem Knaben (Bruder) 
beruhende männliche (väterliche) Ichideal des Mädchens beeinflußt 
späterhin die Objektwahl des Weibes im Sinne der ursprünglichen 
Mutterbindung (Eindringenwollen als Mann-Bub:Vaterbindung). 

Der Frigidität liegen in diesem, wie in allen anderen Fällen, 
stark verdrängte Vergewaltigungsphantasien zugrunde, deren 
Analyse zeigt, daß dieselben den Niederschlag einer Identifizierung 
mit dem aktiv (in die Mutter) eindringenden Mann (Vater) dar- 
stollen, welche Identifizierung den manifesten Charakter dieser 
meist irgendwie „männlichen“ Frauen ausmacht. So erklärt sich 
die Divergenz zwischen dem Ideal und dem gewählten Objekt bei 
diesen Frauen aus der beinahe physiologischen Spaltung ihres 
Ich, dessen manifester, aktiver (libidinöser) Teil den schwachen 
„mütterlichen“ Mann als Objekt wählt, während ihre feminine 
Geschlechtsrolle in der Mutteridentiflzierung den starken „Vater“ 
ersehnt, mit dem sie sich teilweise libidinös identifizieren kann.^ 

Aus dem feineren Studium der Objektwahl können wir also 
versuchen, die Ausgänge in die Idealbildung zu verstehen. Die 
ursprüngliche Objektliebe gilt bei Knaben wie Mädchen dem 
ersten Objekt, das die libidinösen und Ichinteressen in gleicher 
Weise befriedigt, der Mutter. Für den Mann bleibt bekanntlich 
auch späterhin die definitive Objektwahl normalerweise an einen 
Mutterersatz gebunden, während seine Idealbildung aus gleich¬ 
geschlechtlichen Quellen gespeist wird, die letzten Endes der Vater- 
identiflzierung entstammen. Wesentlich komplizierter liegen die 
Verhältnisse bei der Frau, die das erste Objekt, die Mutter, in 
der Regel nur aufzugeben und zugunsten des Mannes zu ver¬ 
tauschen imstande ist, um den Preis einer mehr oder weniger 

^ Die Härte und Grausamkeit des Über-Ich, von der Freud spricht 
(Das Ich und das Es), wird letzten Endes aus dieser Libidoentwicklung 
verständlich, die bei der Frau besonders durchsichtig ist. In dieser engen 
Verknüpfung der höchsten Idealbildungstendenzen mit den tiefsten bio¬ 
logischen Vorgängen liegen alle Probleme der Neurosenlehre beschlossen. 













Zum Verständnis der Libidoentwicklung im HeilungsVorgang 467 

weitgehenden Identifizierung mit dem Manne (Vater), die in patho¬ 
logischen Fälien die Symptome des sogenannten „Männlichkeits¬ 
komplexes“ schafft. Normalerweise wird diese Identifizierung — 
ähnlich wie beim Manne — vom Ich in Form einer Idealbildung 
aufgearbeitet, die also bei der Frau meist das andere Geschiecht 
— nicht wie beim Mann das gieiche — betrifft. Ein weiterer 
Unterschied von der Entwicklung des Mannes besteht dann darin, 
daÄ dieses andersgeschlechtliche Ichideal der Frau nicht als solches 
bestehen bleiben kann, sondern späterhin zum Zwecke der normalen 
Sexualbefriedigung, und zwar mittels Identifizierung, in libidinöse 
Objektbesetzung rückverwandelt werden muß. 

An dieser Entwicklung der weiblichen Libidoeinstellung 
wird klar, daß die spätere definitive Objektwahl schon nicht 
mehr als direkter Ersatz des ursprünglichen Libidoobjektes 
erfolgt, sondern vermittels der inzwischen eingesetzten Ideaibiidung, 
die sich in die reine Objektwahl einmengt, und eigentlich 
wahrscheinlich überhaupt erst das ermöglicht, was wir nor- 
maie Objektwahl beim Erwachsenen nennen. Es ist dies eine 
Objektwahi, welche imstande ist, sowohl auf die ursprünglichen 
Objekte selbst, wie auf den direkten (eventuell entwerteten) Ersatz 
derselben zu verzichten und die Libido auf solche vom Ich nicht 
nur gutgeheißene, sondern dasselbe auch weitgehend (narzißtisch) 
befriedigende Objekte zu verschieben. Während also die definitive 
sexuelle Objektwahl beim Manne im Einklang mit seiner frühesten 
infantilen Libidobindung erfolgt, erfährt bei der Frau diese 
Entwicklungslinie eine mehrfache Knickung und Brechung, die 
wesentlich durch das Aufgeben des ersten Libidoobjektes, der 
Mutter, und der Hinwendung zum Manne als definitivem Sexual¬ 
objekt, bedingt ist. Bei diesem Wechsel des Objektes, der, wie 
geschildert, mittels der Identifizierung und Idealbildung vor sich 
geht, bleibt dem Weib ein gutes Stück narzißtischer Libido am 
eigenen Ich haften; dies erklärt zum Teil auch ihre passive Rolle in 
der Objektwahl: denn sie sucht den Mann ^nicht so sehr (aktiv) 
als Objekt.ihrer infantilen Libido, wie sie ihn als Erfüllung ihres 
infantilen (männlichen) Ichideals akzeptiert, mit dem sie sich nun 
wieder wie in der Kindheit mit Vater und Bruder — identi¬ 
fizieren kann. Durch diese nach dem infantilen Ichideal 
erfolgende Objektwahl wird die Frau aber gleichzeitig sexuell 
auf die Mutteridentifizierung zurückgeworfen, die sie in der 

Internat. Zeitschr. f. Peychoanalyge, lX/ 4 . 81 











468 


Dr. Otto Bank 


Abwehr der Ödipuslibido auf dem Wege der Vateridentiflzierung 
verleugnet hatte. Diese Mutteridentiflzierung wird bei der Frau in 
der Regel erst durch das physiologische Mutterwerden hergestellt, 
das dann über das Kind zu einer neuen Objektwahl, Identifizierung 
(Namengebung I) und (narzißtischen) Idealbildung führt, die alle 
vom neuen Objekt, dem Kinde, ausgehen. 

Es ist klar, daß dieser komplizierte Bntwicklungs- und 
Angleichungsprozeß in den verschiedensten Stadien Störungen 
ausgesetzt ist, die je nach ihrem Grad und ihrer Lokalisierung zu 
Schwierigkeiten im Sexualleben oder zu ausgesprochen neuro¬ 
tischen Symptomen führen können. Die Analyse zeigt uns dann, 
daß es auch in der relativ geradlinigen männlichen Objektwahl 
ähnliche Schwierigkeiten wie bei der Frau geben kann. Sei es 
daß, wie bei den Sexualstörungen (Impotenz = Frigidität), die 
Objektwahl zu stark unter dem Einfluß des Ichideals erfolgt, 
sei es, wie bei der neurotischen Sexualablehnung, daß das Ich sich 
im Sinne der Idealbildung nicht genügend von der ursprüng¬ 
lichen Objektflxierung an die Mutter losgelöst hatte und so über¬ 
haupt keiner richtigen Objektwahl im Leben fähig wird. Im ersten 
Falle muß das Ich in der Analyse die allzuhoch gespannte Ideali¬ 
sierung des Urobjekts soweit entwerten lernen, um es als Sexual¬ 
objekt nehmen zu können; im zweiten Falle muß der in der 
infantilen Libidofixierung stecken gebliebene Prozeß der Ideal¬ 
bildung analytisch im Sinne der Anpassung soweit fortgeführt 
werden, daß es dem Ich möglich wird, an Stelle der alten verdrängten, 
nunmehr ichgerechte Ersatzobjekte zu wählen. 

In der Analyse wird also mittels der Übertragung bei beiden 
Geschlechtern und jeder Art von Störung die alte auf die Mutter 
gerichtete Urlibido befreit, um teilweise der Aufrichtung eines 
neuen Ichideals (aus der Übertragung) zu dienen, mittels dessen 
dann die normale Objektwahl (über das Symptom der „psychischen 
Potenz“) des anderen Geschlechtes erfolgen kann. Die Befreiung 
der Urlibido erfolgt je nach Art der Störung entweder durch 
Aufdeckung des verdrängten Schuldgefühls hinter der manifesten 
Angst, wie bei der Hysterie und den Angstneurosen oder, wie bei 
den Neurosen vom narzißtischen Typus (Zwangsneurose, Melan¬ 
cholie), durch Rückverwandlung des manifesten Schuldbewußt¬ 
seins in die verdrängte Angst und die Lösung der dadurch 
„geschützten“ Libido. 










Zum Verständnis der Libidoentwicklung im Heilungsvorgang 469 

Haben wir so als Material der Idealbildung mit Freud 
die infantilen Elternobjekte erkannt, die mit dem Ich als dem 
anderen primären Objekt zum „Ideal“ verschmolzen werden, so 
ergibt sich als Form der Idealbildung, wie wir sie in der Analyse 
studieren können, die Phantasie oder der Tagtraum. Die Analyse 
der typischen Ph»ntasiebiidungen (Familienroman, Rettungs¬ 
idee usw.) zeigt deutlich, inwieferne sie als ein Niederschlag des 
Idealbildungsprozesses aufgefaßt werden können. Die reine Wunsch¬ 
phantasie macht das ursprüngliche Libidoobjekt sogar noch in 
stark idealisierterGestalterreichbar (Kaiser, Kaiserin, Held), was in 
zahllosen Übergängen zur Heroenbildung und dichterischen Schöpfung 
führt, während die reine Idealbildung gerade von der Unerreich¬ 
barkeit des Objektes und der daraus folgenden Identifizierung 
ihren Ausgang nimmt. Die Wunschphantasie hat das Fest¬ 
halten des Objektes um jeden Preis zum Zwecke, die Idealbildung 
setzt den Verzicht darauf und die Verdrängung voraus. Die 
Wunschphantasie ermöglicht so eigentlich die reine Idealbildung, 
indem sie deren asketischen Charakter korrigiert und kompensiert: 
das unerreichbare Objekt wird doch erreichbar, sei es in der 
Erhöhung selbst oder indem das erhöhte Objekt in der Phantasie 
erniedrigt wird (Masturbationsphantasie). Die Phantasie stellt so 
die ursprüngliche Identität zwischen dem verdrängten (verworfenen) 
und idealisierten Objekt im Ich wieder her. 

Der günstige Pall, daß sich diese libidinösen Anteile an der 
definitiven Objektwahl, statt in Phantasien auszuleben, reali¬ 
sieren können, tritt normalerweise in den von Freud geschil¬ 
derten „Liebesbedingungen“ in Erscheinung. Diese betreffen je 
nachdem körperliche oder seelische Merkmale oder Eigenschaften 
des Objektes, ebenso häufig aber die Wiederherstellung alter 
Situationen (Dreieck usw.). Charakteristischerweise sind sie zunächst 
für den Mann festgestellt worden und betreffen, wie zu erwarten, 
sein Verhältnis zur Mutter als Libidoobjekt, ob es sich nun um 
die Eroberung der Unfreien, die Rettung der Gefallenen, die Hoch¬ 
schätzung (bezw. Vermeidung) der Unberührten und ähnliches 
handelt.! Die jeweilige „Bedingung“, die — wahrscheinlich in allen 
Fällen — die Liebeswahl bestimmt und ermöglicht, entspricht dem 


! Siehe Freud: Beiträge zur Psychologie des Liebeslebens. (Kleine 
Schriften IV, S. 200 ff.) 


81 * 













470 


Dr. Otto Rank 


alten libidinösen Zuschuß, ohne den die Wahl auf Grund des 
Ichideals allein unschmackhaft würde. Wie also die Idealbildung 
aus der Libidoentziehung des Objektes folgt, so wird die Objekt¬ 
wahl wieder nur durch Hinzufügung eines Teiles des ursprünglich 
entzogenen Libidobeitrages ermöglicht. 

Der eigentliche Mechanismus der Idealbildung, die vom 
Ich ausgeht, entspricht einer Partialverdrängung mit kompen¬ 
satorischer Ersatzbildung, wie Freud ihn vor vielen Jahren 
für den Fetischismus bereits festgestellt hatte. Es kann im 
Sinne seiner späteren Ausführungen („Das Ich und das Es“) 
hinzugefügt werden, daß an Stelle der verdrängten Objekt¬ 
besetzung ein entsprechendes Stück Ichbesetzung tritt, und zwar 
auf dem Wege der Identifizierung, wobei das narzißtische Ideal, 
das besonders bei der Frau eine große Rolle spielt, sich teilweise 
an Stelle des aufgegebenen Objektes setzt. Die Idealbildiing macht 
so, im Sinne Freuds, den Verzicht auf das Objekt — ebet so aber 
auch die unbefriedigende Identifizierung damit — von Seite des 
Ich möglich; die an das alte Objekt erinnernde „Llebesbedingung“ 
macht das Idealobjekt wieder libidinös akzeptabel. Die Idealbildung 
ist also eine Form der Libidoabwehr (Verzicht), bezw. der ichgerechten 
Befriedigungsanpassung, die in der normalen Objektwabl aus dem 
Ödipuskomplex eine entscheidende Rolle spielt und im Falle von 
neurotischen oder sexuellen Störungen nach der einen oder anderen 
Seite extrem entwickelt ist (hypertrophiert oder atrophiert). Die 
Analyse hat die in der Übertragung reproduzierte infantile Objekt¬ 
wahl und Identifizierung aus der Versagung mittels Bewußt- 
macbung in eine neue zweckentsprechende Idealbildung über¬ 
zuführen, welche imstande ist, die aus der Verdrängung befreite 
Libido an erreichbaren Ersatzobjekten Befriedigung finden zu lassen. 

Diese im Laufe der Analyse in der Übertragung wiederholte 
narzißtische Idealbildung muß schließlich, neben dem Urphänomen 
der Mutterlibido, in der Endphase der Kur vom Analytiker gelöst 
und für die Realübertragung verfügbar gemacht werden. So ist 
die Objektwahl auf Grund der neuen Idealbildung 
das zweite Stück Therapie, das sich an die 
Befreiung der verdrängten Urlibido anscbließen 
muß. In dem der Objektwahl vorausgehenden Prozeß der 
Idealbildung, die oft als Widerstand gegen die psychische 
Potenz auftritt, erfolgt eine teilweise Sublimierung der Libido, 










Zum Verständnis der Libidoentwicklung im Heilungsvorgang 


471 


die darin besteht, daß auf die infantilen Objekte zugunsten der 
ichgerechten und realisierbaren verzichtet wird. 

Die so häufig aufgeworfene Frage nach dem Unterschied 
zwischen „Übertragung“ und „Liebe“ läßt sich vom Standpunkt der 
Libidotheorie nur so beantworten, daß die Übertragung eigentlich 
eine reinere s. z. s. konzentrierte Form der Liebe darstellt, während 
das, was wir „Lieb8“ im gewöhnlichen Sinne des Wortes nennen, 
eine von Seiten des Ich durch die Idealbildung verdünnte Form 
der ürlibido ist, die wir rein nur in der Übertragung und der 
sogenannten „echten Liebe“ zu sehen bekommen. Daher sind diese 
lediglich auf der Mutterbindung beruhenden Äußerungsformen der 
Liebe auch monogam, während die Ansprüche des Ichideals meist 
nur auf polygamem Wege befriedigt werden können (Don Juan). 

Im alltäglichen Geschlechts- und Liebesieben findet, ent¬ 
sprechend diesen analytisch erkannten Mechanismen, eine wieder¬ 
holte und ständig fortgesetzte gegenseitige Anpassungsleistung 
statt. Dem physiologischen „Kampf der Geschlechter“ vor und 
im Sexualakt entspricht auf psychischem Gebiet — der Liebe — ein 
ständiger gegenseitiger Ausgleich der Interferenz von Libido¬ 
objekt und Ichideal, welche letzten Endes darauf zurückgeht, daß 
nicht nur in allen Formen „perverser“ Libidobefriedigung, sondern 
ebenso in der normalen Geschlechtsliebe, die Partner nur bewußt 
Mann und Frau darstellen, unbewußt aber eigentlich immer Mutter 
und Kind spielen. Die biologische Ergänzung der beiden Geschlechter 
muß ihr psychologisches Gegenstück in einem Zusampaentreffen 
der beiden Libidoideale oder in der gegenseitigen Anpassung 
an diese finden, welche der Aufgabe der Anpassung des Ich an 
die Realität in nichts an Schwierigkeit und Bedeutung nachsteht. 









Zur Genese und Dynamik des Erfinderwahns.^ 

Von Dr. A, Klelholz, Königsfelden, Schweiz. 

Im Mittelpunkt des paranoiden Systems des Görlitzer Schusters 
Jakob Böhme steht das centrum naturae oder Naturrad, aus sieben 
Quell- oder Saftgeistern sich zusammensetzend und im ganzen 
Kosmos sich auswirkend, eine Projektion des psychischen Prozesses 
des Autors in die Schöpfung mit unverkennbarer sexueller Symbolik. 
Von drei dieser Saftgeister, Mercurius, Sal und Sulphur, die der 
Mystiker aus des Paracelsus Naturphilosophie übernommen, haben 
wir seinerzeit'“^ den ersten, den Mercurius (gleich Quecksilber) als 
ein Bild der beweglichen, lebendigen Natur gedeutet, die durch 
den harten Stachel erzeugt wird, den zweiten, Sal, als die scharfe 
sexuelle Begierde und den dritten, Sulphur, als die Angst des 
Weibes vor dem Wüten und Brechen des Stachels. 

Beiden Erklärungen eines in Königsfelden versorgten paranoiden 
Erfinders, namens König, wurden wir neuerdings auf diese Bedeutung 
des Quecksilbers aufmerksam. Alle seine Konstruktionen, die er 
als selbsttätige Kraftentwicklungs- und Gewichtsregulierungs¬ 
apparate, Perpetueno mobilletes bezeichnete und die meist aus 
zwei gleichartigen, mit einander verkuppelten Teilen bestanden, 
zeichneten sich dadurch aus, daß die treibende Kraft durch kugel¬ 
förmige, paarige Gewichte geliefert wurde. Diese Gewichte enthielten 
Hohlräume oder standen mit solchen röhrenförmiger Art in Verbin¬ 
dung. Darin fand sich das leichtflüssige Blei oder Quecksilber. Die 
naheliegende Deutung, daß es sich dabei um eine symbolische 
Darstellung der Testes und des daraus fließenden Spermas, der 

* Vortrag, gehalten am VII. Internationalen psychoanalytischen Kongreß 
zu Berlin, 27. September 1922. 

^ Kielholz. Jakob Böhme. Ein pathographischer Beitrag zur 
Psychologie der Mystik. Schriften zur angewandten Seelenkunde, XVII. H., S. 23. 











Zur Genese und Dynamik des Erfinderwahns 


473 


Natur, wie er es bezeichnete, handelte, konnte aber bei diesem 
Manne nieht genügei^ um die Entstehung seiner Maschinen völlig 
zu klären. Als seine erste und wichtigste Erfindung bezeichnete 
er ein Velo, das lediglich durch das Gewicht des Fahrers ohne 
Tretapparat bewegt werde. Nun hat der Kranke von seiner 
Knabenzeit her ein durch Unfall verkürztes, atrophisches Bein. 
Seine Verkrüppelung erweckte den Wunsch, die erschwerte 
Lokomotion durch wunderbare Apparate zu kompensieren, sie 
verhinderte auch die natürliche Annäherung ans andere Geschlecht 
und verstärkte so die homosexuelle Komponente seiner Libido. 
Die Eindrücke einer Seefahrt nach Amerika, wohin er als junger 
Mensch spediert wurde und während welcher offenbar die erste 
stärkere Introversion statthatte, wahnhafte Erlebnisse in lange¬ 
dauernder Strafhaft, wo die Wärter mit einem Lichtapparat bei 
ihm Geblütsaufwallungen erzeugt haben sollten, damit ihm die 
Natur auslaufe, kamen in einzelnen Teilen seiner Erfindungen 
deutlich zum Ausdrucke. Kurz, in diesen spiegelte sich seine ganze 
Lebensgeschlchte. Er wollte Maschinen machen, die seine Krüppel¬ 
haftigkeit überwinden, in denen er sicher über Land und Wasser 
und diurch die Luft fahren konnte und durch welche seine 
verkümmerte sexuelle Potenz vertausendfacht würde und ewig in 
Tätigkeit bliebe. Bei einem zweiten Kranken, Birkler, wurden 
wir auf eine weitere wichtige Komponente des Erfinderwahns, die 
kaum jemals gänzlich fehlt, aufmerksam, die analerotische. Der 
Mann war mit achtundvierzig Jahren wegen Diebstahls von Gerüst¬ 
brettern, von denen er einen großen Haufen in seiner Stube auf¬ 
gespeichert hatte, um einen von ihm konstruierten Laufkran zu 
errichten, inhaftiert worden. Das gleiche Delikt führte Zwölf Jahre 
später zu seiner dauernden Internierung. Er erwies sich mit seinem 
Eigensinn, seiner Sammelwut, die sich auf Abfälle und Gerümpel 
konzentrierte,' und seinem Geiz, seiner pedantischen Nörgelei und 
Hypochondrie als Musterbeispiel eines Analerotikers, der infolge 
starker Belastung von beiden Eltern her und durch ungünstige 
Einflüsse während der Kindheit stark introvertiert und schließlich 
schizophren geworden war. Dem ersten Begutachter fielen an 
seinen Erfindungen vorwiegend die Züge des Schwachsinns auf, 
die ihn an infantile Produktionen erinnerten, während wir heute 
diese Betätigungen direkt als eine Regression zu solch infantilen 
Spielereien auffassen. Alle seine Apparate, die er patentieren und 










474 


Dr. A. Kielholz 


zum Wohle der Menschheit verwirklichen wollte, gewinnen einen 
organischen Zusammenhang als Symbole und Projektionen seiner 
Analerotik. So der Laufkran, mit dem er, ohne sich von seinem 
Platze zu rühren, gefüllte Säcke voll Lederabfälle mit einem Zuge 
entleeren wollte. Es wird unnötig sein, genauer auszuführen, 
warum er sein weiteres Interesse einem Briefordner mit nicht 
durchlochtem Papier weihte, an welchem Ort die Boden- und 
Wändeputzmaschine, welche die Größe eines Stuhles haben sollte 
und der Schuhputzapparat, der mit einem Hebel von Hand bedient 
werden konnte, mit großer Wahrscheinlichkeit die Stätte ihrer 
Entstehung hatten. Die Beobachtung seiner Hausleute, daß er stets 
halbe Stunden lang auf dem Abort zubrachte, sollte auch einem 
Skeptiker die Augen öffnen und ebenso ein Traum, an den er 
sich aus der Kindheit her lebhaft erinnerte und in dem ihm der 
verstorbene Vater auf dem Wege zum Klosett drohend entgegen¬ 
trat. Und schließlich fügte sich seine epochemachende Erfindung, 
ein Jahrzehnt vor dem Weltkriege entstanden, durch welche er 
das Vaterland vermittelst Bomben mit einem giftigen Gas vor 
seinen Feinden schützen wollte, trefflich in die Kette seiner 
Produktionen. 

Eine dritte Kranke, die Modistin Luise B., eröffnete den 
Reigen ihrer Erfindungen, die sie alie auf kleine, unscheinbare 
Papierfetzchen zeichnete, ebenfalls mit Modellen, die sich auf die 
Defäkation beziehen. So betraf ihre erste Erfindung, in schlaflosen 
Nächten ersonnen, einen geruchlosen Nachtstuhl mit Klappe. Dann 
konstruierte sie eine Reformhose für unreinliche Patienten mit 
einer Klappe über den Damm. Im übrigen regredierte die Kranke 
die sich bis zur Zeit der Klimax die Erfüllung realer erotischer 
Wünsche versagt gesehen hatte, in ihrer Psychose zu infantilen 
Phantasien und Spielereien, die zuerst in Träumen, dann in Form 
von scheinbar harmlosen Verbesserungen und Erfindungen von 
Gebrauchsgegenständen Gestalt annahmen und die zum Hauptobjekt 
in vielfachen Variationen das membrum virile hatten, das sehn¬ 
süchtig vermißte Glied, an welches Erinnerungen aus frühester 
Jugend mit Neid und Furcht beladen anknüpften. Ausgelöst wurde 
diese Phallussymbolik durch den Tod eines geliebten älteren 
Bruders, der während ihrer Internierung als verblödeter Katatoniker 
in derselben Anstalt starb. Sie, die fromme Katholikin, verlangte 
von den Ärzten, daß dessen Leiche exhumiert und nach besonderer 








Zur Genese und Dynamik des Erfinderwahns 


475 


Methode konserviert werde durch Anstreichen vermittelst eines 
Malerpinsels mit einer stark ätzenden Flüssigkeit, einer Art Chlor¬ 
kalk, Eisenvitriol, Salzsäure, die ein Chemiker zusammensetzen 
müßte. Diesen Prozeß, den sie Karbonisation benannte, beschrieb 
sie mit eigentümlich lüsternem Lächeln. Daneben sollte auch dem 
Leichnam mit der gleichen Flüssigkeit ein Klistier appliziert 
werden, um die Verwesung von innen zu verhindern. Einmal 
zeichnete sie einen vorn zugespitzten Sporn, der, in Mannesgröße, 
in der Mitte gewöibt, vorn zugespitzt, aus rötlich-rosa Zement in 
einem Bachbett angebracht werden sollte, um bei Hochwasser 
herunterkommende Baumstämme und ähnliche Gegenstände abzu¬ 
leiten, um eine Zerstörung des Bachbettes zu verhüten. Sie hatte 
davon geträumt, daß sie über einen solchen Sporn in gefährlicher 
unangenehm-angenehmer Weise hinuntergerutscht sei, so daß sie 
nachher zerzauste Haare hatte und sie ein Schauer überkam. Unten 
sei eine artige, einfach gekleidete Frau in einer Schürze gestanden, 
die sie mit den Worten empfing: „Wie kommen Sie da hinunter, 
das ist nicht ein praktikabler Weg.“ Wir versuchten nachträglich 
von der Kranken Assoziationen zu besserer Deutung des Traumes 
zu erhalten, die eintretenden, schizophrenen Sperrungen verhinderten 
aber jede Produktion weiteren Materials. Der im Traum dargestelite 
Vorgang dürfte wohl außer dem Inzest mit dem Vater eine 
Wiedergeburtsphantasie verhüilen, wobei die Schürzenträgerin als 
Hebamme ihre kritischen Bemerkungen macht. 

Bei einer vierten Erfinderin, Lina Maier, sind die hier nur 
vermuteten Zusammenhänge zur drastischen Wirklichkeit geworden } 
Eine erblich beiastete, in schwül-sektiererischem Milieu aufgewachsene 
Tochter war neurotisch erkrankt, als sie sich eine lange dauernde 
Liebschaft plötzlich versagt hatte. Die Regression zur Inzestliebe 
führte sie darauf zum sexuellen Verkehr mit einem Bruder, dem 
ein Kind entsproß, und zum Bau eines religiösen Wahnsystems, 
um sich im Konflikt mit der bestehenden Moral zu rechtfertigen. 
Ihre Erfindung, die sie später im Modell hatte ausführen lassen, 
bestand in einem Gestell von der Form einer Granate, aus Bambus¬ 
rohren, mit Vorhä^gen bekleidet und bestimmt, Kinderwagen, Lauf¬ 
stuhl und Wiege zu ersetzen. Durch Schnüre, die an der Spitze der 

^ Der Fall ist ausführlich dargestellt in der Publikation: Dr. A. Wedekind, 
Kasuistik der psychischen Infektionen. Journal für Psychologie und Neurologie, 
Bd. 22 und 23, 1917. 








476 


Dr. A. Kielhoiz 


Gestelle zusammenlaufen und dort durch drei Ringe angezogen 
werden können, kann die Lagerstätte des Kindes, die Sich sonst 
in der Mitte befindet, in die Höhe bewegt werden und dadurch wird 
der in der unteren Hälfta des Korbes befindliche, aus Netzwerk 
gefiochtene Laufstuhl frei, an dessen Boden ein Geläß zum Auf¬ 
fangen von Urin und Stuhl angebracht ist Der Laufstuhl soll die 
Kinder vor dem Herausfallen schützen. Die Idee zu der Erfindung 
hatte sie bekommen, als sie zur Erholung von ihrem Nervenleiden 
sich bei einer verheirateten Schwester aufhielt und deren Kinder 
überwachen mußte. Die einzelnen Teile seien ihr jeweilen im 
Traume offenbart worden, also von Gott. 

Ihre Erfindung war nun für sie vor allem der symbolische 
Ausdruck ihres religiösen Wahnsystems und man würde sich deren 
Deutung allzu einfach und zu leicht machen, wenn man das Ganze 
lediglich als Phallus betrachten wollte. Unzweifelhaft lieferte ja 
dieser mit seinen Punktionen das Grundschema. Aber wie sie bei 
ihren Erklärungen vom männlichen Glied auf den Satan, den Ver¬ 
sucher, kam, dann auf ihren Bruder Jakob, der ihr gegenüber den 
Versucher machte und damit auf ihre von den Menschen verab¬ 
scheute und doch gottgewollte Ehe, so bedeutete ibr auch ihre 
Erfindung die Arche Noah, welche die ganze Schöpfung enthält, 
oben den dritten Himmel und darunter die drei Weltreiche; sie 
bedeutet ferner die Ehe zwischen dem harten Männlichen (den 
Bambusstäben) und dem weichen Weiblichen (der Lagerstätte des 
Kindes). Die Spitze mit den drei Ringen erinnerte sie an den 
Prokuristen, der an der Spitze des Geschäftes stand, in dem sie 
früher arbeitete und der ihre Liebe zuerst hervorlockte, dann sie 
verleugnete, wie König Juda die Thamar. Und weil der Apparat 
für sie ihre Haupterlebnisse verdichtet enthielt, konzentrierte sich 
darauf so viel Affekt, daß sie glaubte, damit imstande zu sein, den 
Satan zu erlösen, so den Konflikt zwischen diesem und Gott aus 
der Welt zu schaffen und den gänzlichen Frieden zu erzeugen. 

An diesen Apparat, den die Erfinderin Kinderballon benannte, 
erinnerte mich ein scherzhaftes Geschenk, das mir von einer Patientin 
namens Bauer gemacht wurde, kurz, bevor sie unsere Anstalt 
gebessert verließ, und das sie selbst aus einer defekten Glühbirne 
angefertigt hatte. Sie wandelte dieselbe durch Strickarbeit in einen 
Ballon um, den sie mit Wimpeln und Wappen schmückte und mit 
einem zierlichen, bebarteten Männchen bemannte,, das unter jedem 









Zur Genese und Dynamik des Erfinderwabns 


477 


Arm ein Qeldsäcklein trug. Am Boden des Ballons befanden sich 
zudem mehrere Säcklein Sandballast. Über die Bedeutung ihres 
Baiiongeschenkes berichtete sie^ es sei das ihre Idee und Erfindung. 
Der Luftschiffer sollte ihren lieben Mann seiig darstelien, wie sie ihn 
seit ihrem letzten Zusammenleben in Erinnerung batte mit seinen 
schwarzen Schnurr- und Bockbärtchen, welch letzteres er ihr 
zuliebe trug, weil sie es an ihm so gern gesehen habe als Familien¬ 
vater und wie es auch ihr lieber Vater selig getragen habe. Bei 
der Luftschifferarbeit habe sie einmal den Gedanken gehabt, wenn 
es nur in Wirklichkeit ihr lieber Mann selig wäre, der sie in einem 
richtigen Ballon in ein anderes Land führen würde und nicht 
mehr zurück zu der verhaßten Schwiegermutter, in deren ver¬ 
hexte Hütte. Die beiden Geldsäcke habe sie ihm unter dem Arm 
geschoben, weil sie sich sagte, daß solche Luftschiffer wohl nicht 
ohne Geld herumfliegen, damit sie, wenn sie landen, damit ver¬ 
sehen seien. 

Sie hat also die Bedeutung ihres Geschenkes klar und hübsch 
ausgedrückt als symbolische Erfüllung des Wunsches, mit dem 
Mann der rauhen Wirklichkeit zu entfliehen und ein neues, schönes 
Leben zu beginnen. Wenn wir dabei der Bedeutung der Flugträume 
gedenken, so brauchen wir die sexuelle Symbolik des Spielzeuges 
nicht näher zu beleuchten. Die Hochzeitsreisen im Flugzeug sind 
wohl nicht ohne Grund so rasch Mode geworden! 

Groddeck hat in seiner neuesten Abhandlung über den 
Symbolisierungszwang^ die Glühbirne als Phallusgleichnis erwähnt. 
Nun denkt sie sich selbst in dem aus der Glühbirne hergestellten 
Ballon aufsteigend hinein. Die beiden Geldbeutel, die ihr lieber 
Mann selig unter den Armen trägt und mit denen sie beide in 
in einem fremden Lande doch versehen sein müßten, sind als 
symbolische Darstellung des männlichen Samens mit seinem zwei¬ 
teiligen Behälter zu deuten. Die Erinnerung an die im Turm ein¬ 
gesperrte Danaö, die vom Göttervater Zeus vermittelst eines 
Goldregens ergötzt wurde, ist naheliegend, besonders wenn man 
sich vergegenwärtigt, daß das Männchen mit seinem Bärtchen von 
seiner Schöpferin ausdrücklich als Reminiszenz 9 .n ihren Vater 
bezeichnet wird. Wir haben erfahren, daß sie von ihrem Mann die 
gleiche Barttracht forderte, die jener trug, und erkennen daraus 


J Imago, J. VII., H. 1., S. 76. 








478 


Dr. A, Kielholz 


unschwer, daß sie ein Vaterimago geheiratet hat und daß bei ihr 
eine starke Bindung an ihren Erzeuger bestanden haben muß. 
Frau Bauer hat ferner darauf hingewiesen, daß die übrigen Säcke 
im Baiion als Sandballast aufzufassen seien. Kommt darin vielleicht 
die analerotische Komponente zum Vorschein, die ja auch sonst im 
Charakter der Hausfrau nicht fehlt? Sie wurde als sehr exakt 
geschildert und ihre Psychose wurde erstmals ausgelöst durch die 
physische und moralische Unsauberkeit von betrunkenen Schorn¬ 
steinfegern, die ihre Wohnung beschmutzten. Während der Krank¬ 
heit war sie gegen den Mann, der als Lokomotivführer ebenfalls 
ein rußiges Handwerk betrieb, beständig sehr feindselig eingestellt, 
und erst unmittelbar nach seinem Tod hatte ihr Leiden sich zu 
bessern angefangen. 

Bei dem Erfinder Messer geht die Vorliebe für Maschinen 
auf die ersten Kinderjahre zurück, wo er sich damit vergnügte, 
das Räderwerk alter Schwarzwälderuhren auseinanderzunehmen. 
Wir wissen aus der Analyse von ähnlichen Kinderspielen, daß 
dahinter die sexuelle Neugier nach dem Bau des menschlichen 
Körpers, besonders des Mutterleibes steckt. Seine früheste 
Erinnerung ist die lustbetonte an warme Bäder, in die er von 
der Mutter gesteckt wurde, wenn er sich mit seinen Exkrementen 
beschmutzt hatte; seine erste und einzig patentierte Erfindung, 
ein hydraulischer Widder, dessen Prinzip ein im Wasser schräg 
auf und ab bewegter Trichter, durch den die Flüssigkeit im 
Strahl emporsteigt. Wahrscheinlich hat ihm seine Mutter im Bad 
zum Zeitvertreib einen solchen Trichter zugesteckt. Dazu kommt 
das Spiel mit dem eigenen, Strahlen erzeugenden Genitale. Daran 
knüpfen später Projekte von gigantischen, das Meer überbrückenden 
Schiffen und Eisenbahnen. Sicher ist auch die Pilgerfahrt übers 
Meer zum heiligen Grab, die der Mann später unternommen hat, 
von diesen Reminiszenzen mit determiniert. Seine Liebschaften, 
die meist junge Mädchen betrafen, blieben auffallend platonisch. 
Eine von ihrem Mann geschiedene Geliebte mit mehreren unehe¬ 
lichen Knaben, bei der er den früheren Gatten durch seine Potenz 
zu überbieten versprach, und an die er das sonderbare Ansinnen 
stellte, an ihren Brüsten saugen zu dürfen, wie er das bei seiner 
Mutter getan zu haben sich mit Vergnügen erinnerte, ist sicher 
als Mutterimago anzusprechen. Sie solite nach seiner Behauptung 
das einzige Weib sein, mit dem er sexuell verkehrte. Das Ver- 


) 










Zar Genese und Dynamik des Erfinderwahns 


479 


hältnis erwies sich somit als Inzest und die eigenartige Todesart, 
mit der er sich bedachte und seine Umgebung in Schrecken ver¬ 
setzte, indem er eine Dynamitpatrone in seinem Munde explodieren 
lassen wollte, könnte als Selbstbestrafung dafür, d. h. als eine 
nach oben verlegte Kastration erklärt werden. Aus dem Ödipus¬ 
komplex läßt sich auch der von ihm begangene Mordversuch an 
einem Fabriksnachtwächter, dem er den Schlüssel zum Kassen¬ 
schrank raubte, deuten. Während der zwölfjährigen Haftstrafe, 
die ihm dies Verbrechen eingetragen hatte, war sein Erflnderwahn 
ausgebrochen. Indem er sich durchs Zellenfenster in ein in der 
Nähe beobachtetes Bauernmädchen verliebte, fühlte er einen 
warmen Strom vom Herzen zum Kopfe fließen, eine himm¬ 
lische Stimme sprach ihm das weichste Herz der Welt zu, weich 
wie ein Milchfluß, und er erfand darauf Apparate mit feuerloser 
Dampfheizung, mit besonderen elektrischen Strömen, die sowohl 
Licht als Wärme spendeten, bei denen durch den elektrischen 
Strom das Quecksilber in den Röhren erwärmt und ausgedehnt 
und durch den Luftstrom eines Ventilators wieder abgekühlt 
und zum Fallen gebracht, also ein Perpetuum mobile in Gang 
gesetzt wurde. Sie sehen auch hier, wie eng die Erflndungs- 
phantasie mit dem ganzen Wahnsystem im Zusammenhang steht 
und ihre Wurzel im Sexuellen hat. Eine Sonderstellung nimmt 
bei Messer die Erfindung eines kugelförmigen Einradvelos mit 
einem darin sitzenden Knaben oder Manne, der es durch seine 
Rumpfbewegungen und sein Gewicht in Bewegung setzen kann^ 
insofern ein, als hier nicht das väterliche Genitale, sondern die 
Gebärmutter mit ihrem beweglichen Inhalt wohl den Ausgangs¬ 
punkt der Idee geliefert hat. Der Knabe, der die Herkunft seiner 
ihm zahlreich nachfolgenden Geschwister und glücklichen Kon¬ 
kurrenten an der beneideten mütterlichen Milchquelle sicher 
erriet, wünschte sich als Häftling an diesen Ort wunschlosen 
Glückes zurück. 

Der letzte Erfinder endlich, Moor, zeichnete ein Perpetuum 
mobile von Zylinderform, bestehend aus sechs zu zwei Paaren 
angeordneten Walzen, die durch Stahlfedern aneinandergepreßt 
und in Rotation gesetzt werden sollten. Für große Kraft befinde 
sich zudem an der Basis eine aus zwei kugelförmigen 
Bomben bestehende Luftpreß Vorrichtung. Aus der recht konfusen 
Beschreibung ist hervorzuheben, daß der Apparat an jedem Rad, 







480 


Dr. A. Kielholz 


auch an jedem Velo angebracht} werden könne, daß er in jeder 
Lage wirksam sei, daß der Mechanismus aus sogenannten kreis¬ 
laufend zusammenhängenden Kraftpolypen bestehe. Außer Rolle, 
Wellrad und Schraube komme bei dem System auch endloser 
Keil, Hebelarm und schiefe Ebene zur Anwendung, was man bei 
den bisher konstruierten Maschinen unterlassen habe. Bei dem 
Hebelsystem sei der Weg der Kraftübertragung eine Schlangen¬ 
linie. Jeder Kraftempfänger sei auch ein Kraftabgeber. Alle diese 
Linien verlaufen auch in entgegengesetzter Richtung, weil selbst¬ 
verständlich zwei benachbarte, ineinander wirkende Bestandteile 
wie Ruder sich drehen. Die Grundidee, den Überwindungspunkt 
für den Kreislauf zu Anden, liege in der von ihm gefundenen 
Quadratur des Kreises, welches Problem man bisher vergeblich 
zu lösen versucht habe usw. Er erklärte, er habe in Gedanken 
ein Wagenrad auf dem steif ausgestreckten Arm hängen gesehen 
und dabei die Idee bekommen, es müßte auf jeden Punkt des 
Rades ein solcher Hebel wie sein steifer Arm wirken, damit es 
dauernd im Gang bleibe. Es ist wohl kaum zweifelhaft, daß wir 
in dem steif ausgestreckten Arm, dem Grundgedanken der 
Eründung, eine Verlegung nach oben vor uns haben. 

Dem in Exzessen aller Art, nicht zum wenigsten in Venere, 
vorzeitig gealterten und impotent gewordenen Manne sollte das 
beständig kraftabgebende, aus sechs Walzen zusammengekuppelte 
zylindrische Perpetuum mobile die geschwundene Potenz ersetzen. 
Die beiden Bomben mit komprimierter Luft an der Basis des 
Apparates erinnern uns einerseits an die kraftspendenden, kugel¬ 
förmigen Gewichte des ErAnders König, andererseits an die Gift¬ 
gasbomben Birklers. Es fehlt somit auch hier der analerotische 
Zusatz nicht. Darauf, daß das Interesse für geometrische Probleme, 
wie die Quadratur des Zirkels, aus sexuellen Quellen gespeist 
wird, ist in der psychoanalytischen Literatur schon mehrfach 
hingewiesen worden. 

Wenn wir die kurz skizzierten sieben Fälle unserer ErAnder 
vergleichend zusammenstellen, so nimmt der zweite, Birkler, mit 
seinem stark ausgesprochenen analerotischen Charakter, der uns 
auch die Erklärung für seine ErAndungen liefert, eine gewisse 
Sonderstellung ein. Aber auch bei anderen fehlt ein starkes Interesse 
für die Exkremente nicht: Luise B. beginnt den Reigen ihrer 
Verbesserungsvorschläge mit einem geruchlosen Nachtstuhl und 










Zur Genese und Dynamik des Erfinderwahns 481 

einer Reformhose für unreinliche Kranke; Lina Maler erklärt das 
Gefäß zum Aufsaugen für Urin und Stuhl für eine Hauptsache 
und den wichtigsten Punkt an ihrem Kinderballon; Frau Bauer 
sondert ihre Ballastsäcke in solche mit Geld und solche mit 
Sand; Moor hat an der Basis seines Apparates Bomben mit kom¬ 
primierter Luft, 

Nur in einem Fall, beim Einradvelo Messers, führt uns die 
Deutung auf den mütterlichen Uterus als Ausgangspunkt der 
Konstruktion zurück. 

Sonst werden uns vorwiegend Maschinen vorgeführt, die in 
erster Linie als Darstellungen des männlichen Genitales äuf- 
zufassen sind. Sind es bei König hauptsächlich die Testes, die in 
den überall vertretenen Gewichten seinen Maschinen Kraft ver¬ 
leihen, so haben wir es bei dem Quecksilberröhrenperpetuum 
Messers und dem aus Walzen zusammengekuppelten Zylinder 
Moors wohl ebenso sicher mit einer symbolischen Darstellung 
des membrum virile zu tun wie bei dem Sporn im Bachbett der 
Luise B., dem übermannsgroßen Kinderballon Lina Malers und 
dem Glühbirnenballon Frau Bauers. Wenn wir aus der Größe 
dieser Bildungen den Schluß ziehen, daß er der Penis des Vaters 
,ist, der die Phantasie erregt und beschäftigt hat, so sind wir 
auch dazu durch die sicher nachgewiesenen inzestuösen Bindungen 
der betreffenden Kranken vollauf berechtigt. Halten wir ferner 
zusammen, daß sich Luise B, mit der Verbesserung von Auf¬ 
zögen beschäftigt hat, daß sich im Kinderballon der Lina Maler 
eine Art Aufzug für die Kinder befindet, daß König von einem 
elektrischen Aufzug im Hohlraum der Strafanstaltsmauer fabuliert 
und daß Frau Bauer sieh selbst zu dem Männchen in dem Ballon 
aufsteigend hineinphantasiert, so erinnert dieser gemeinsame 
Mechanismus an die sogenannten Spermatozoenträume, über 
welche Silberer^ berichtet hat, die in Parallele zu setzen seien 
mit den Vorstellungen primitiver Zeitalter von der Beschaffenheit 
des Samens, der aus kleinen Menschlein bestehen soll, die im 
erigierten Glied emporsteigen. Er schreibt diesen Vaterleibs¬ 
phantasien als Hauptbedeutung den Wunsch zu, das gegenwärtige 
Leben los zu sein, d. h. noch in jener Zeit sich befinden, wo das 
Leben in dieser Form noch nicht vorhanden war. 


1 Jahrbuch für psychoanalytische Forschungen, Bd. IV, S. 141. 










482 


Dr, A. Kielholz 


Alle Erfindertätigkeit, auch die sogenannte normale, tendiert 
nun zur sei es auch noch so partiellen Verbesserung und Erneue¬ 
rung der bestehenden Lebensverhältnisse. Die an unseren Wahn¬ 
kranken festgestellten Mechanismen haben unzweifelhaft auch für 
die erfolgreichen, nicht paranoiden Erfinder Geltung. Wir erinnern 
beispielsweise an die Form von Zeppelins starrem und Parsevals 
halbstarrem Lenkballon. Diese glücklicheren Genossen unserer 
Schizophrenen unterscheiden sich von diesen vor altem dadurch, 
daß es ihnen gelang, ihre Ideen mit rastloser Energie zu verwirklichen. 

Wie beim ausgewachsenen Fötus der Zusammenhang mit der 
Mutter nur noch durch die Nabelschnur besteht und auch dieser 
schließlich überflüssig wird, wenn die völlige Reife erreicht ist, so 
läßt sich bei diesen gelungenen Erfindungen die innige Ver¬ 
bindung mit dem übrigen Ideenkomplex ihrer Schöpfer am Ende 
nicht mehr nachweisen, während das bei den halb ausgereiften 
Früchten unserer kranken, paranoiden Gehirne noch leicht möglich 
ist. In diesen Föten spiegelt sich oft die ganze Vergangenheit mit 
ihren Haupterlebnissen deutlich wieder. 

Es ist sicher kein Zufall, daß die zwei einzigen unserer 
Erfinder, die ihre Phantasien zu verwirklichen vermochten, Lina 
Maler und Rosa Bauer, auch den vollen Anschluß an die Realität 
des Lebens wieder gewonnen haben. In anderer Weise versuchte 
ihn Messer zu erlangen, indem er resolut alle seine Erfindungen 
als „Bruch“ erklärte, d. h. zu dem reduzierte, was sie ursprünglich 
waren, zu Hirngespinnsten. 

V/ir dürfen daraus unseres Erachtens auch für gesunde und 
neurotische Projektenmacher einen therapeutischen Wink folgern, 
nämlich den, daß es auch für diese zwei Wege zweckmäßiger 
Erledigung gibt: den aktiven, stärkenden der Verwirklichung und 
den passiven, aber oft einzig möglichen des Verzichtes. Sache des 
Psychagogen wird es sein, aus Veranlagung und Kräftezustand 
die Chancen des einen oder anderen zu ermessen. 

Sie haben gehört, daß die Mehrzahl unserer Erfinder mit dem 
Strafgesetz in Konflikt gekommen ist und kürzere oder längere 
Haftstrafen erlitten hat. Bei den einen ist während dieser der 
Erfinderwahn ausgebrochen, bei den andern hat der Drang, die 
Erfindungen zu verwirklichen, zu betrügerischen oder diebischen 
Delikten und damit zur Inhaftierung geführt. Jene hat die Ein¬ 
samkeit und das Schweigegebot gezwungen, hinabzusteigen in die 











Zur Genese und Dynamik des Erfinderwahns 483 

Tiefen des eigenen Ichs und da scheinbar längst begrabene 
Jugendträume zu neuem Leben zu erwecken, bei diesen haben 
sich solchen Träumen soviele Erlebnisse von frühester Kindheit 
an assimiliert und hat sich darauf soviel Affekt konzentriert, daß 
überwertige Wahngebilde entstanden, neben denen die Realität mit 
ihren Forderungen verblaßte und vernachlässigt wurde. 

Und diese Ähnlichkeit unserer Erfinder mit anderen Verächtern 
der Wirklichkeit, mit den Mystikern, führt uns wieder zum 
Ausgangspunkt unseres Themas zurück, zum centrum naturae 
oder Naturrad Jakob Böhmes, das sich in Ewigkeit dreht im 
beständigen Inqualieren der sieben Saftgeister und so den ganzen 
Kosmos in Bewegung hält. Ist das nicht auch ein Perpetuum 
mobile, wie diejenigen unserer sieben Paranoiden auf sexueller 
Symbolik basierend? Und wenn wir einen Unterschied zwischen 
den beiden Typen statuieren wollen, so ist es der, daß der vor¬ 
wiegend aktive Erfinder das schaffen möchte, was der mehr 
passive Mystiker nur zu schauen begehrt: Die Genitalien seiner 
Erzeuger in allmächtiger Tätigkeit begriffen! 

Wi^ resümieren: 

Die Produkte der schizophrenen Erfinder erweisen sich als 
Teile ihres Wahnsystems, wie dieses auf unerledigten psycho- 
sexuellen Konflikten basierend. Sie lassen sich als Regressionen auf 
infantile Zeugungs- und Geburtstheorien analysieren, die nach 
Freud^ zu einer Zeit gebildet werden, wo das Kernproblem noch 
unverdrängt ist. (Über Psychoanalyse. Fünf Vorlesungen. 4. Auf¬ 
lage, S. 52.) Dementsprechend sind inzestuöse Bindungen oft 
ausgesprochen. Die Gestalt und Funktion des väterlichen Genitales 
sind bevorzugtes Objekt. Gewisse Einzelheiten verraten verstärkte 
analerotische Interessen. 

Die Erfindungen stehen in symbolischer Beziehung zu affekt¬ 
betonten Erlebnissen aus dem ganzen Leben des Erfinders. Daher 
rührt ihre überwertige Bedeutung für diesen und der starke 
Drang zu ihrer Verwirklichung, der selbst vor kriminellen Hand¬ 
lungen nicht zurückschreckt. 


Internat. Zeitschr. f. Psychoanalyse, IX/4. 


32 













Experimentelle Studien zur Psychoanalyse.^ 

Von Dozent Dr. Felix Deutsch (Wien). 

Meine Herren! An einer Stelle seiner Vorlesungen über 
Psychoanalyse hebt Freud hervor, die Psychoanalyse sei eine 
Wissenschaft, deren Bestimmung es ist, einst auf ihr organisches 
Fundament gestellt zu werden. Unternimmt man den Versuch, 
diese Aufgabe auf Grund der bekannten Tatsachen zu lösen, so 
stößt man auf unübersteigbare Schwierigkeiten, die nur durch 
Spekulation überwunden werden können. Man merkt bald, daß 
auf beiden Seiten der Boden noch nicht reif ist, um diese Ver¬ 
bindung herzustellen und muß sich bescheiden, erst Stück um 
Stück mühselig herbeizuschäffen, die das Fundament bilden sollen. 

Wir sehen nun drei Möglichkeiten vor uns, diesem Endziel 
experimentell näherzukommen und ihm gewissermaßen vor¬ 
zubauen. Zum ersten, indem man organische Veränderungen in 
den innersekretorischen Drüsen setzt, vor allem in den Generations¬ 
organen, und die Folgeerscheinungen auf die Gesamtpersönlichkeit 
studiert, die vorher nach analytischen Grundsätzen festgestellt 
worden war. Die ersten Ansätze und Gelegenheiten dazu haben 
sich durch die von Steinach inaugurierten Verjüngungsversuche 
und die Hodenimplantationsversuche Lichtensterns ergeben. 
Bei diesen Eingriffen in den Sexualstoffwechsel könnten die 
resultierenden Veränderungen im Libidohaushalt mit den übrigen 
veränderten Einstellungen zu den Sexualobjekten mit Recht mit 
den gesetzten organischen Veränderungen in Einklang gebracht 
werden. Dieser aussichtsreiche Weg ist, wie wir am letzten 
Kongreß gehört haben, von Dr. Federn beschritten worden. Wie 


^ Vorgetragen in der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung am 
31. Jänner 1923. 










Experimentelle Studien zur Psychoanalyse 


485 


weit dieser Weg psychoanalytischen Erkenntnissen förderlich sein 
wird, kann erst die Zukunft lehren. Die zweite Möglichkeit, 
dem zukünftigen Ziel näherzukommen, liegt in der Richtung, die 
durch die Arbeit Ferenczis und Hollös’ über die Psycho¬ 
analyse der paralytischen Geistesstörung gewiesen wurde.^ Hier 
können die bekannten Veränderungen im Zentralnervensystem 
mit den körperlichen Begleitsymptomen und die psychoanalytisch 
aufgeklärten psychischen und geistigen Störungen in einen kausalen 
Zusammenhang gebracht werden. Auch dieser Weg bringt uns 
dem früher erwähnten Ziele näher. Ein Seitenweg führt zu einem 
Arbeitsfelde, auf dem indirekt derselbe Endzweck erreicht werden 
wird. Das ist die Analyse organischer Krankheiten. Die dritte 
Möglichkeit, um experimentell das Problem zu fördern, scheint nun 
darin gelegen, nicht organische, sondern psychische Veränderungen 
zu setzen und die organischen und psychischen Folge¬ 
erscheinungen festzustellen. Wieso ich zur Ansicht komme, daß 
dieser Weg überhaupt Aussicht auf Erfolg verspricht, soll später 
ausgeführt werden. Im folgenden soll jedoch nur ein kleiner 
Ausschnitt aus den Ergebnissen derartiger Versuche mitgeteilt 
und dabei weniger Gewicht auf die Darlegung der Veränderungen 
im organischen gelegt werden. Vielmehr sollen einige bekannte 
psychische Mechanismen illustriert werden. 

Bevor ich auf diese nicht gleich verständliche Wahl der 
Methode eingehe, soll von vornherein festgestellt werden, daß die 
folgenden Ausführungen scheinbar von dem klaren, erprobten Weg 
der klassischen Psychoanalyse abweichen. Das kommt aber daher 
daß die Untersuchungen, die hier mitgeteilt werden sollen, einer 
Arbeit über psychophysische Kreislaufmechanismen® entnommen 
sind und daher ursprünglich nicht für diesen Kreis bestimmt 
waren, daß aber die Art der Ergebnisse mich verleitet hat, einen 
Teil derselben hier auf gut Glück als analytische Kunstprodukte 
vorzubringen. 

Die Rekonstruktion des psychischen Aufbaues organischer 
Störungen, gleichgültig, ob es sich um organische Krankheiten 


» Beiheft V dieser Zeitschrift. (Internat. Psychoanalytischer Verlag, 1922.) 
^Deutsch und Kauf: Psychophysische Kreislaufstudien, ü. Mit¬ 
teilung. Über die Ursachen der Kreislaufstörungen bei Herzneurosen. Zeitschrift 
für experimentelle Pathologie, 1923. 


32» 











486 


Dr. Felix Deutsch 


oder „Organneurosen“ bandelt — denn jede organische Krankheit 
ist doch schließlich eine Neurose im kleinen — zeigt immer 
wieder, daß die Entstehung der organischen Symptome wie auch 
der Sinn und die Absicht dieser Symptome denselben psychischen 
Quellen entspricht, wie die psychischen Symptome einer Neurose, 
und daß jene letzten Endes ebenso auf eine Libidostörung zurück¬ 
zuführen sind wie die letzteren. „Die Darstellung des 
Beweises für die Absicht der Symptome kann nun,“ wie von 
Freud an einer Stelle seiner Vorlesungen über Psychoanalyse 
beklagt wird, „nicht leicht erbracht werden; da müsse die eigene 
Erfahrung dafür eintreten oder der Glaube, der sich in diesem 
Punkte auf die übereinstimmenden Angaben aller Psychoanalytiker 
berufen könne.“ Dazu will sich nun die Mehrzahl der zu Belehrenden 
nicht gerne bequemen. Wie man aber immer, wenn man nach¬ 
giebig ist, vom eigenen Weg ab weichen muß, so führt der Ver¬ 
such, eine solche Belehrung anschaulich vorzunehmen, auf Abwege 
— zur Hypnose. Die eigentliche Psychoanalyse hat zwar erst mit 
dem Verzicht auf die Hilfe der Hypnose eingesetzt und dadurch 
so klare Erkenntnisse erzielt; dennoch war zu erwarten, daß auf 
diesem Wege vielleicht Neues für die Psychoanalyse sich 
ergeben wird. 

Bei dem Vorsatz nun, den Sinn der organischen Sym¬ 
ptome, „die Eindrücke und Erlebnisse, von denen sie ausgehen 
und die Absichten, denen sie dienen,“ zu veranschaulichen, erschien 
es mir am leichtesten, das „Woher“ der Symptome ad oculos zu 
demonstrieren. 

Das „Woher“ eines Symptoms läßt sich nun in Eindrücke 
auflösen, die notwendigerweise einmal bewußt waren und seither 
durch Vergessen unbewußt geworden sind. Es war also notwendig, 
Eindrücke einwirken und wieder vergessen zu lassen. Dazu gab 
es nun keine andere Methode als die Hypnose. Die Symptom¬ 
bildung konnte man dabei ruhig der Versuchsperson überlassen; 
denn bei jedem Erlebnis, das nicht bewältigt werden kann, wird 
ein Teil ins Organische konvertiert. Welches Organ sich zu Worte 
melden wird, war ja durch die vorhandene Organbereitschaft von 
selbst vorher bestimmt. 

Ich suggerierte also der Versuchsperson ein eindrucksvolles 
Erlebnis in der Hypnose, z. B. einem Mediziner, der kurz vorher 
bei der Histologieprüfung durchgefallen war, er sei wieder beim 












Experimentell^ Studien zur Psychoanalyse 


487 


Rigorosum, er solle den histologischen Bau des Haares schildern, 
er habe jedoch keine Ahnung, bitte den Prüfer um eine zweite 
Frage, die ihm dieser verweigere, worauf er unbarmherzig wieder 
durchgefallen sei. Darauf wird vollkommenes Vergessen des 
Ereignisses suggeriert, jedoch der posthypnotische Auftrag gegeben, 
auf ein bestimmtes Zeichen das zu empfinden, was das Medium, 
natürlich ohne mein Wissen, während der Prüfung in der Hypnose 
empfunden habe. Die Empfindung, die reproduziert werden sollte, 
entsprach also keiner Suggestion, sondern ist als das Resultat 
eines endopsychischen Prozesses zu werten, für den das Erlebnis 
den Anlaß bildete. Das suggerierte Erlebnis ist, anders ausge¬ 
drückt, etwa einem psychischen Implantate zu vergleichen, dessen 
Einheilung, Einwirkung auf die Umgebung, Veränderung oder 
Ausstoßung beobachtet wird. Wurde nun im Wachen das verab¬ 
redete Zeichen gegeben, z. B. die scheinbar unabsichtliche Benützung 
eines Taschentuches, so wurde der Pseudoprüfungskandidat 
unruhig, griff sich an den Kopf und klagte über heftige Kopf¬ 
schmerzen. Jedesmal, wenn das Zeichen erschien, traten die Kopf¬ 
schmerzen auf und verschwanden wieder mit der Entfernung des 
Zeichens. Dabei konnte die Versuchsperson keine Auskunft geben, 
warum er die Beschwerden empfinde. Ein anderes Medium ließ 
ich z. B. in der Hypnose erleben, wie sie sich frisch und fröhlich 
auf einem Ausflug befinde; plötzlich breche ein Gewitter aus, 
Stockfinsternis trete ein, Regen überrasche sie, Donner, Blitz 
rings um sie. Sie suche sich vergeblich zurechtzufinden und ver¬ 
irre sich im Walde. Schließlich geht natürlich alles wieder gut 
aus. Im Wachen war nun folgende Reaktion: Das Zeichen. Darauf 
greift die Patientin zum Herzen. Auf Befragen gibt sie an, 
einen Schmerz in der Herzgegend zu verspüren. Diese Empfindung 
müsse sie schon einmal gehabt haben, aber sie könne sich nicht 
erinnern bei welcher Gelegenheit. Ein solches döjä senti, wie 
man es nennen könnte, ein Ausbleiben der Erinnerung bei gleich¬ 
zeitiger Organempfindung, kann auch sonst zuweilen beobachtet 
werden. Es ist ohne Zweifel ein Analogon zum d ö j ä v u. Nur 
handelt es sich beim döjä vu eigentlich dicht um eine Empfindung, 
sondern, wie Freud bemerkt, eher um ein Urteil, und zwar ein 
Erkennungsurteil. Solche körperliche Empfindungen wecken nun 
oft ein Erinnerungsgefühl, das der eintretenden Erinnerung vor¬ 
ausgehen kann, das sogar geradezu zum Auftreten gewisser 






488 


Dr. Felix Deatsch 


Erinnerungen notwendig ist. Es gibt Menschen, bei denen, wenn 
sie sich gegen auftauchende Erinnerungen wehren, wenn sie ver¬ 
drängen, wenn sie das Bewußtwerden einer unbewußten Phantasie 
verhindern, organische Sensationen auftreten, die dann als Dauer¬ 
symptome festgehalten werden können. Ein großer Teil von 
lirankheitssymptomen ist imsprünglich dieser Natur. Aber nicht 
auf diese soll hier angespielt werden. Gewiß haben die meisten 
Erinnerungen visuellen Charakter, doch gibt es ebenso Auditifs und 
Moteurs. Ich kenne einige Menschen, deren Erinnerungen oft von 
Geruchssensationen begleitet, ja durch diese erleichtert werden. 

Bei dieser Patientin, bei der die Herzempfindung an Stelle 
der Erinnerung auftrat, war nun nicht nachzuweisen, ob sie 
wirklich während des suggerierten Erlebnisses irgendwelche 
Sensationen in der Herzgegend gehabt hatte, da sie darüber in 
der Hypnose keine Auskunft gegeben batte. Das dejä senti 
hielt jedoch nicht lange an. Aber nicht weil die Erinnerung an 
das Erlebnis auftauchte, sondern es wurden von dem Medium ver¬ 
schiedene andere Ereignisse angegeben, in denen sie solche 
Empfindungen gehabt haben will. Wie weit solchen Angaben im 
allgemeinen überhaupt Glauben beizumessen ist, wie weit es sich 
dabei um einen Verschiebungs- und Entstellungsprozeß handelt, 
wie schnell dieser Prozeß vor sich geht, darauf soll noch später 
eingegangen werden. 

Nun war an diesen Empfindungen noch etwas anderes Auf¬ 
fälliges. Sie äußerten sich wohl zeitweilig nur im Körperlichen, 
sei es in Kopfschmerzen oder Herzsensationen oder Leibschmerzen 
mit deutlichem Darmkollern. Sie waren jedoch fast immer von 
einer sichtbaren Unruhe und Erregung begleitet. Steigerten 
sich diese psychischen Sensationen bis zur Angst oder Unheim¬ 
lichkeit, so blieben dann die Angaben über körperliche Sym¬ 
ptome aus. 

Wie war es nun mit dieser Angst bestellt? Der Auftrag 
hatte z. B. gelautet: „Wenn, ich mein Taschentuch herausziehe, 
werden Sie dasselbe empfinden, wie Während des Erlebnisses, 
werden aber vom Erlebnis nichts erinnern können.“ Ich habe also 
das nachgeahmt, was im wirklichen Leben mit affektvollen Erleb¬ 
nissen vor sich geht. Die Erlebnisse, die nicht oder nicht genügend 
abreagiert werden, werden vergessen, unterliegen der Verdrängung 
und der zu ihnen gehörige Affekt wird in Angst umgewandelt. 












Experimentelle Studien zur Psychoanalyse 


489 



Wenn das Erlebnis nicht erinnern, jedoch die dabei vor¬ 

handenen Empfindungen bewußt werden ließ, so nahm ich selbst 
die Abspaltung des Affektes vor. Nun könnte man meinen, daß 
die bei dem gegebenen Zeichen auftretende Angst das Maß des 
bei dem Erlebnis gebildeten Affektes wiedergeben würde. Beob¬ 
achtete man nun das Medium während des Angsterlebnisses in 
Hypnose, wobei die Veränderungen an den Gefäßen und am Herz 
registriert wurden, so mußte man erstaunt sein, um wie viel 
größer die Angst — nicht in der Hypnose — sondern im Wachen 
bei der Exposition des Taschentuches war. Die Angst, die sich 
hier entwickelte und die sich mit der Dauer der Einwirkung des 
erblickten Taschentuches immer mehr steigerte, war nicht mehr 
die Angst, die das Individuum bei dem angstvollen Erlebnisse 
erlebt hatte, sondern diese Angst hatte die gesamte Angstbereit¬ 
schaft mobilisiert, die je nach der psychischen Konstitution sich 
manchmal bis zum Angstanfall steigerte. Über das Motiv der 
Angst konnten die Untersuchungspersonen natürlich keine Auskunft 
geben. Es war nur erstaunlich, wie selbst die schwerste Angst 
mit einem Schlag verschwand, wenn das Taschentuch wieder ein¬ 
gesteckt wurde. 

Nur nebenbei möchte ich hinzufügen, daß die Medien auch 
darüber sich keine Rechenschaft geben konnten, daß es jedesmal 
das Taschentuch war, — dem sie übrigens keine besondere Auf¬ 
merksamkeitschenkten, — das ihre Angst initiierte. Wahrscheinlicher 
ist jedoch, daß der Zusammenhang zwischen dem Anblick des 
Taschentuches und der vorhandenen Angst den Untersuchungs¬ 
personen bewußt war. Nur lehnten sie es bewußt ab, eine Ver¬ 
bindung mit einem so nebensächlichen Umstand anzunehmen. 
Genau so wie im Leben die Patienten mit nervösen Organ¬ 
störungen gewöhnlich angeben, es seien die nebensächlichsten 
Umstände, die ihre Beschwerden auslösen: ein an einem unrichtigen 
Ort liegender Gegenstand, ein hingeworfenes Wort, kurz alles, was 
an die verdrängte Erinnerung rührt, ob es nun ursprünglich im 
Zusammenhang mit dem Erlebnis war oder auch nicht. Ebenso 
erwies es sich im Experiment als irrelevant, ob ein Taschentuch, 
das später die Empfindungen ekphorierte, im Erlebnis eine Rolle 
gespielt batte. 

Im Intervall nun benahmen sich die Versuchspersonen nicht 
nur nicht ängstlich, sondern vollkommen ruhig, ich möchte sagen 









490 


Dr. Felix Deutsch 


ganz unneurotisch. Man könnte sich nur wundern, wieviel Rest¬ 
angst im scheinbar unneurotischesten Menschen vorhanden ist. 

Einem solchen Angstdurchbruch, wie er in diesen Versuchen 
durch den Anblick des Taschentuches ermöglicht und demonstriert 
werden kann, verdanken eine Unmenge von Krankheitssymptomen 
ihre Entstehung, nur werden von den Patienten Ursache und 
Wirkung meist verwechselt. Sie^ meinen, sie hätten den angst¬ 
vollen Zustand infolge der Krankheit, inzwischen haben sie die 
Krankheit infolge der Angst, natürlich cum grano salis. Daß es 
gelingen kann, so mächtige Angstentwicklungen, die keineswegs 
dem Erlebnis äquivalent sind, im hypnotischen Experiment hervor¬ 
zurufen, dürfte dadurch erklärlich sein, daß man durch die 
infantile Einstellung zum Hypnotiseur, die ja die Voraussetzung 
des Gelingens der Hypnose ist, eher den Quellen der Angst näher 
kommt und ihre Mobilisierung erleichtert. 

Weniger analytisch wie rein medizinisch ist es nun inter¬ 
essant, daß in gewissen Fällen der posthypnotische Auftrag 
scheinbar nicht angenommen worden war. Jedoch, wie sich bald 
herausstellte, nur scheinbar. Denn in diesen Fällen stellten sich 
die Veränderungen in der Herztätigkeit genau so prompt für den 
objektiven Nachweis ein, wie während des Erlebnisses, wenn 
auch die Patienten selbst auf Befragen angaben, keine Angst zu 
empfinden. Sie wurde gewissermaßen unterdrückt, wobei auch 
scheinbar die Veränderungen am Herzen nicht empfunden wurden. 

Ich möchte mich nun einem anderen Punkte zuwenden. Es 
ist allgemein analytische Ansicht, daß, wenn ein verdrängtes und 
vergessenes Erlebnis richtig und vollkommen erinnert und ent¬ 
sprechend abreagiert werden kann, kein Anlaß zur Symptombildung 
aus dem Verdrängten im Unbewußten mehr vorhanden ist, daß 
also damit das Symptom verschwinden müßte. Daraus ergibt sich 
ja auch als therapeutische Notwendigkeit, die Erinnerung der ver¬ 
drängten Erlebnisse möglichst zu fördern. 

Bevor ich nun die Versuche einer Nachahmung eines solchen 
Erinnerungsprozesses anführe, glaube ich vorher einem Einwand 
begegnen zu müssen, der sich von selbst aufdrängt, daß nämlich 
das Erlebnis in der Hypnose eigentlich nicht wörtlich als vergessen 
gilt, da es ja jederzeit mit Erlaubnis des Hypnotiseurs erinnert 
werden kann, daß es sich also nicht im Unbewußten befinde, sondern 
daß nur die Assoziationskette, die zur Erinnerung führt, durch die 








Experimentelle Studien zur Psychoanalyse 


491 


suggerierte Vorstellung des Nichterinnernkönnens unterbrochen ist, 
daß also das Erlebnis die Bewußtseinsfäbigkeit vollkommen bei¬ 
behalten habe, es sich also höchstens im Vorbewußten befinde. 

Nun konnte schon Bern heim zeigen, daß die Erinnerung 
eines Ereignisses in der Hypnose meist nur stückweise vor sich 
geht, was darauf hinweist, daß die Anteile des suggerierten 
Erlebnisses einer Bearbeitung unterliegen, die unabhängig vom 
Einfiuß des Hypnotiseurs vor sich geht. Es läßt sich nun nach- 
weisen, daß an dem Erlebnis ebenso der Prozeß der Entstellung, 
Verdichtung und Verschiebung vor sich geht, wie im wachen 
Zustande, ja daß dieser Prozeß mit einer Schnelligkeit vor sich 
geht, den man an den Erlebnissen des Wachzustandes kaum ver¬ 
folgen kann. Ja, man kann das implantierte Erlebnis gar nicht 
rasch genug dem Vorstellungsleben des Individuums entreißen, 
ohne den Zersetzungsprozeß an den affektwirksamen Gebilden 
verhindern zu können. Man muß geradezu besondere Maßregeln 
ergreifen, um das unveränderte Substrat des Erlebnisses wieder¬ 
zugewinnen, man muß das Erlebnis förmlich mit Schutzsuggestionen 
umgeben, um es gegen die psychischen Abwehrkräfte zu schützen, 
die die nicht ichgerechten Anteile des Erlebnisses ins Unbewußte 
verschleppen wollen. Es ist also der vorerwähnte Einwand nur 
zum geringen Teile stichhältig, denn der Prozeß, der im hypno¬ 
tischen Zustande zum Vergessen führt, ist mit allen seinen Folge¬ 
erscheinungen fast identisch mit dem im wachen Zustande. 

Kehren wir nun zum Ausgangspunkt zurück. Es wurde also der 
Versuchsperson der posthypnotische Auftrag gegeben, vorerst beim 
Anblick des Taschentuches wieder nur erinnerungslose Empfindungen 
des Erlebnisses zu reproduzieren, dann aber beim Falienlassen des 
Tuches volle Erinnerungsfähigkeit für das Erlebnis zu besitzen. 

Ich hatte also z. B. folgende Suggestion gegeben: Einen 
Patienten, von dem ich wußte, daß in der Gefangenschaft an ihm 
eine Operation seiner Hämorrhoiden vorgenommen worden war, 
ließ ich in der Hypnose die ganze Operation, die ehemals ohne 
Narkose vorgenommen worden war, wieder erleben: wie er am 
Operationstisch liege, alle Vorbereitungen mit den Instrumenten 
mitansehe, wie der Operateur den, glühenden Thermokauter anlege, 
den Knoten entferne und die Nähte setze. Während des Erlebnisses 
waren deutliche, wenn auch mäßige, objektive Zeichen der angst¬ 
vollen Erregung am Herzen nachzuweisen. Nach dem Erwachen trat 













492 


Dr. Felix Deutsch 


auf das gegebene Zeichen geringe Unruhe mit Herzsymptomen auf. 
Nun wurde das Taschentuch fallen gelassen. Sofort prompte 
Erinnerung ohne besondere Angst, das heißt der Patient gibt auf 
Befragen, was er jetzt denke, an, es falle ihm die Operation in 
der Gefangenschaft ein, die er dann ruhig erzählt. Bei neuerlicher 
Exposition des Tuches bleiben richtig die psychischen und 
organischen Symptome aus. Das wäre der einfachste Fall Keines¬ 
wegs der gewöhnliche. Suggeriert man nämlich ein bereits einmal 
wirklich erlebtes, wenn auch ursprünglich mit Angst einher¬ 
gegangenes Ereignis, das aber bereits vollkommen bewußt und 
genügend abreagiert ist, so sind sowohl die posthypnotischen 
Reaktionen unausgiebig, als auch keine besondere Notwendigkeit 
einer Abwehr gegen die Erinnerung gegeben. Es erfolgt dieselbe 
auch gewöhnlich fast affektlos. 

Anders stellt sich die Sache dar, wenn einerseits das Erlebnis 
neuartig ist, andererseits an gewisse Komplexe rührt. Besondere 
Erfolge konnte man sich daher versprechen, wenn man aus 
analytischer Überlegung die Erlebnisse möglichst unheimlich 
gestaltete, also an infantile Komplexe, an den Kastrationskomplex 
rührte, wenn man eventuell im Erleben Beziehungen zum Tode, 
zur Allmacht der Gedanken anklingen ließ. 

Schon bei der Patientin, der das Walderlebnis suggeriert 
wurde, war eine Variante im Erinnern zu bemerken. Beim Fallen¬ 
lassen des Taschentuches meint sie lächelnd, sie erinnere sich an 
einen Ausflug nach Krieglach, auf dem sie sich beim Erdbeeren¬ 
pflücken verirrt hatte und infolge eines Gewitters fast nicht nach 
Hause gefunden hätte. Damals erkannte ich noch nicht die 
Erinnerungstäuschung, sondern war überzeugt, ich hätte zufällig 
ein wirkliches Erlebnis suggeriert, was ja bei der Alltäglichkeit 
des Erlebnisses nicht unmöglich gewesen wäre. Erst später erkannte 
ich, daß hier die ersten Spuren der Entstellung aufgetreten waren. 
Auch in diesem Falle erfolgte übrigens die Erinnerung spielend 
und nach der neuerlichen Exposition des Taschentuches blieben 
psychische und organische Störungen aus. 

Lehrreicher verlief schon der nächste Versuch. Von einer 
Patientin wußte ich, daß sie eine besonders zärtliche Bindung an 
die Mutter hatte, daß sie sich um sie immer ängstlich besorgt 
zeigte, andererseits auch die Mutter die schon erwachsene Tochter 
nicht aus den Augen ließ. Ich suggerierte also einen gemeinsamen 










Experimentelle Studien zur Psychoanalyse 493 

Ausflug. Sie, die Tochter sei vorausgeeilt. Plötzlich an einer Weg¬ 
kreuzung blicke sie zurück und sehe die Mutter nicht. Sie eile 
zurück, finde sich jedoch nicht zurecht; sie glaube, die Mutter 
ängstlich rufen zu hören; wieder bricht Gewitter, Finsternis, Blitz 
und Donner herein, sie stolpere, falle, suche sich zu erheben, doch 
habe sie sich am Fuß verletzt, so daß sie nur mit Mühe gehen 
könne; im Dunkel glaube sie mit einem Male einen Schatten 
neben sich zu bemerken, vor dem Sie zu entkommen trachte, 
dabei verliere sie ihre Tasche und das Taschentuch, sie eile zurück, 
um das Taschentuch zu suchen, da raschle es im Gebüsch, sie 
wende sich nach einer anderen Richtung, gerate noch mehr vom 
Wege ab, bis sie plötzlich eine Lichtung sehe, der sie zueile. 
Inzwischen läßt das Gewitter nach, sie erreicht die Lichtung und 
sieht mit Freuden auf der anderen Seite aus dem Walde die 
Mutter kommen. Nach dem Erwachen beim Herausziehen des 
Taschentuches, wie erwartet, heftigste Angstreaktion mit Herz¬ 
beklemmung — bedeutend heftiger als in der Hypnose — die 
sich mit der Dauer der Exposition beträchtlich steigert. Nun wird 
das Tuch fallen gelassen. Es tritt die Erinnerung an einen Ausflug 
mit einer Gesellschaft ein, die sie auch namentlich nennen kann. 
Weiter nichts. Das Taschentuch wird wieder fallen gelassen. Nun 
erinnert sie sich, daß damals ein Gewitter gewesen sei, daß sie ein 
Taschentuch verloren habe, auch schließlich, daß sie die Gesellschaft 
verloren, aber später wieder gefunden habe. Alles dies fällt ihr 
nur a ll mä hlich ein, stockend, zögernd, mit großer Unruhe. Mehr 
erinnert sie sich auch vorläufig nicht trotz Wiederholung des 
Zeichens. Nun trat folgende Merkwürdigkeit auf. Als nach dieser 
partiellen Erinnerung das Taschentuch — ohne Fallenlassen 
desselben — also das ursprüngliche Zeichen, gegeben wurde, trat 
heftigstes Angstgefühl, Herzklopfen und Darmunruhe auf, für die 
wieder keine Ursache angegeben werden konnte. Auch die bisherige 
Erinnerung, die ich ihr neuerlich ins Gedächtnis rief, wurde nach¬ 
träglich doch nur als ein möglicher Zusammenhang mit der Angst 
akzeptiert. Jedoch auch beim neuerlichen Versuch war wieder 
nur das unbestimmte Angstgefühl vorhanden. Erst allmählich, bei 
hartnäckiger Wiederholung des Erinnerungszeichens, belebte sich 
die Erinnerungsspur. Zuerst meinte sie, sie müsse schon nach 
Hause, die Mutter warte. Dann drückt sie ihre Verwunderung aus, 
daß sie zu erzählen vergessen habe, daß die Mutter beim Ausflug 


i 










494 


Dr. Felix Deutsch 


mit gewesen sei und schließlich bricht die ganze Erinnerung durch 
mit vielen Details, die sie dem Erlebnis hinzufügt. Der gewöhnliche 
Taschentuchversuch löste hierauf keine Reaktion mehr aus. 

Suchte ich nun dem Verdrängungsversuch bei einer anderen 
Patientin mit ähnlichem Erlebnisinhalt vorzubeugen, indem ich 
den strikten posthypnotischen Auftrag gab, es werde der Patientin 
vollkommen unmöglich sein, auf das gegebene Zeichen nicht 
zu erinnern, es werde die ganze Erinnerung, voll und ganz, sofort, 
mit einem Male auftreten, sobald das Taschentuch zu Boden falle, 
so erfolgte auch wirklich bei der ersten Anregung durch das 
Experiment die unveränderte Erinnerung, aber sie wurde hastig, 
wie automatisch, ohne Affekt, ich möchte sagen, unverdaut wieder¬ 
gegeben. Die Angstreaktionen auf den Anblick des Taschentuches 
blieben aber auch nachträglich vollkommen in gleicher Intensität 
aufrecht, als hätte sie nichts erinnert. 

Es läßt sich das nur damit vergleichen, wenn man zum 
Beispiel einer neurotischen Patientin mit starkem Ödipuskomplex 
in der ersten Stunde sagen würde, sie habe ihre Symptome, weil 
sie in den Vater verliebt sei oder der Mutter den Tod wünsche. 
Die Symptome würden sich wahrscheinlich nicht um ein Haar 
bessern. Aber auch bei einer Aktualneurose bringt die Mitteilung 
des auslösenden aktuellen Erlebnisses für den Patienten nicht 
den geringsten Vorteil, wenn die Erinnerung nicht auf geregelten 
assoziativen Wegen vor sich geht. Solange nicht das verdrängte 
Material aus dem Unbewußten mit auftaucht, solange muß die 
Erinnerung ohne Einfluß auf die Symptome bleiben. Daher kann 
man mit Gewißheit annebmen, daß wenn mit einer Erinnerung 
das mit Sicherheit zugehörige Symptom nicht mitschwindet, 
wichtige Anteile sich noch in der Verdrängung beflnden, natürlich 
abgesehen von anderen Gründen, die nicht hieher gehören, wie 
zum Beispiel das sogenannte „Leergehen“ der Symptome. 

Welcher Mittel sich oft das Unbewußte bedient um die Ver¬ 
drängung zu schützen, respektive nicht preiszugeben, kann eine 
Beobachtung beleuchten, die ich bei einem anderen Erinnerungs¬ 
versuch machen konnte, die ich ausführlicher schildern möchte. 

Eine Patientin, die ich seit vielen Jahren kenne und die 
wegen Basedow und Magenblutung auf nachgewiesen neurotischer 
Grundlage in Behandlung gestanden war, die aber später außer 
neurotischen Herzbeschwerden keine psychoneurotischen Symptome 










Experimentelle Studien zur Psychoanalyse 


495 


gezeigt hatte, wurde ebenfalls zu den Versuchen herangezogen. 
Ich wußte von der Patientin, die in prekären Wohnungsverhält¬ 
nissen lebte, daß ihre siebzig Jahre alte Mutter, die bisher in 
Jugoslawien war, bei ihr seit kurzem wohne, weil die anderen 
Kinder sie nicht behalten wollten, wodurch der Patientin noch 
mehr räumliche Schwierigkeiten erwuchsen. Darob gab es oft 
Streit mit dem Manne, mit dem sie ohnedies nicht glücklich lebte. 

Die Suggestion lautete: „Es ist Abend, Sie sind ganz allein 
zu Hause. Sie legen sich zu Bett. Es wird zehn Uhr, Sie löschen 
das Licht aus. Da klopft es an die Türe. Sie rufen zur Türe. Es 
antwortet eine unbekannte Männerstimme, er bringt eine Nach¬ 
richt von der Mutter. Sie öffnen ihm. Sie gehen zur Türe, 
öffnen einen Spalt. Da zwängt sich der Mann bei der Türe herein. 
Vor Ihnen steht ein schwarz gekleideter, schöner Mann. Er sagt: 
„Ich komme aus Jugoslawien von der Mutter, die schwer erkrankt 
ist. Sie müssen gleich mit mir fahren, sonst kommen Sie zu spät; 
die Mutter könnte bis dahin schon gestorben sein. Ziehen Sie 
sich rasch an!“ Sie ziehen sich zitternd an, fragen, was denn 
eigentlich der Mutter fehle. Der Mann antwortet aber nicht darauf, 
meint nur. Sie sollen sich beeilen. Sie nehmen noch das Täschchen, 
wollen etwas Geld einstecken. Der Mann nimmt Sie aber bei der 
Hand und zieht Sie zur Türe. Sie sagen. Sie möchten noch Ihr 
Taschentuch nehmen. Er aber läßt nicht los, zerrt Sie noch weiter 
zur Türe. Sie wehren sich; da will er Ihnen das Täschchen 
entreißen. Sie rufen; Sie raufen um das Täschchen. Da, im letzten 
Moment kommt Ihr Mann gerade zur Türe. Der fremde Mann ist 
verschwunden. Sie sind froh und glücklich, gerettet zu sein, und 
erzählen Ihrem Mann das Abenteuer.“ 

Darauf folgen dieselben posthypnotischen Suggestionen wie 
in den früheren Fällen. 

Ich brauche wohl nicht auf die Wunscherfüllungen hinzu¬ 
weisen, die teils eindeutig, teils symbolisch in dem Erlebnis ent¬ 
halten sind und die in den unbewußten Phantasien des Mediums 
wohl zu vermuten waren. Es war vorauszusehen, daß die Erinnerung 
nicht glatt vor sich gehen werde. 

Auf die Exposition des Taschentuches erfolgen Klagen über 
Schmerzen in der Herzgegend; bei Wiederholung sagt sie, es se 
ihr unheimlich, sie habe Angst, Symptome, die beim Einstecken 
des Tuches glatt verschwinden. Nun wird das Taschentuch fallen 










496 


Dr. Felix Deutsch 


gelassen. Da erfolgt plötzlich eine Art hysterischer Anfall. Heftige 
Zuckungen der Glieder und des Kopfes. Die Erinnerung aber geht 
in Form einer Halluzination vor sich. Etwa folgendermaßen: Sie 
blickt zur Türe. „Hat es nicht geklopft? Ja, komm’ schon! Bist 
schon da. Ich will nicht 1 Geh’ weg. Die Mutter?“ Da die Erregung 
heftig ist, stecke ich das Taschentuch ein. Patientin beruhigt 
sich. Darauf fragt sie, was das jetzt war, es sei ihr wie im Traum 
gewesen. Der Versuch wird dann fortgesetzt: Es tritt eine 
neuerliche Halluzination auf, aus der man entnehmen kann, daß 
sie glaubt, ihr Mann stehe neben ihr, der sie fragt, ob der andere 
schon weg sei. Im übrigen äußert sich die Abwehr gegen die 
auftauchende Erinnerung mehr in einer motorischen Entladung. 
Nach mehrmaligem Fallenlassen des Taschentuches ist dann alles 
vorüber und auch beim gewöhnlichen Reizversuch klingen rasch 
die organischen Symptome und die Angstgefühle ab. Alles erschien 
der Patientin nachher wie im Traum. An den Anfall konnte sie 
sich nicht genau erinnern. Nur, es sei ihr gewesen, als ob jepiand 
geklopft hätte und hätte ihr die Nachricht gebracht, daß die 
Mutter krank sei, Sie fragt sogar nachträglich, ob nicht gerade 
ihr Mann hier gewesen sei. Bevor dann die volle Erinnerung 
auftritt, bringt sie Deckerinnerungen an zwei Todesfälle aus der 
letzten Zeit von ihr nahestehenden Personen, über die sie sich 
seinerzeit sehr aufgeregt hätte. 

Ich glaubte diesen Fall hier ausführlicher anführen zu müssen, 
weil er eine experimentelle Illustration zur Genese des hysterischen 
Anfalles und der Halluzination liefert. 

Damit bin ich am Schlüsse angelangt. Ich möchte bemerken, 
daß es nur Illustrationen zur Psychoanalyse sind, die hier vorge¬ 
tragen wurden. Die Untersuchungen sollten ursprünglich auch 
nur dem Zwecke dienen, einer nicht vorgebildeten Hörerschaft 
die Mechanismen zu demonstrieren, die bei der Entwicklung der 
Organneurosen mitspielen und gleichzeitig den Hörern, respektive 
Lesern einen Fingerzeig geben, welche ausschlaggebende Rolle 
das Unbewußte bei der Entstehung dieser Erkrankungen bildet. 
Ob die hier mitgeteilten Experimente die Möglichkeit bieten, das 
in der Einleitung erwähnte Problem irgendwie zu fördern, muß 
dagegen dahingestellt bleiben. 









Mitteilungen. 


Bemerkungen über Transvestitismus.^ 

Von Dr. med. Felix Boehm, Berlin. 

Bei der Gründung der Poliklinik der Berliner Psychoanalytischen 
Vereinigung hegte ich lebhafte Zweifel, ob es möglich sein würde, Patienten 
durch eine psychoanalytische Behandlung zu heilen, wenn .man sie nicht 
täglich und zudem jedesmal weniger als eine Stunde sprechen würde, da 
doch Analysen unserer Patienten, welche wir täglich eine Stunde bei uns 
sehen, eine so überaus lange Zeit bis zu ihrer Beendigung brauchen. Es freut 
mich nun von einem polikliuisch behandelten Patienten berichten zu können, 
welcher nach 102 Sitzungen, welche im Durchschnitt weniger als dreiviertel 
Stunden gedauert und nur jeden zweiten Tag stattgefunden hatten, auf seinen 
Wunsch mit meinem Einverständnis geheilt entlassen worden ist. Sein Leiden 
hat der 33jährige Patient aiif meinen Wunsch in einem ausführlichen schrift¬ 
lichen Bericht geschildert, welchen ich ohne jede Abänderung bringe: 

„Schon im frühesten Kindesalter wendeten sich meine Blicke dem weib¬ 
lichen Geschlecht zu. Es reizte mich, wenn junge Damen die Röcke rafften, 
wie überhaupt jeder Griff nach der Hinterpartie. Ganz besonderen Eindruck 
machte bei mir das Züchtigen mittels eines Rohrstockes auf das Gesäß. Diese 
Züchtigungsmethode wurde in meiner Schule in ausgiebigstem Maße ange¬ 
wendet Auch ich mußte diese Strafe des öfteren erleiden. Wenn andere 
Knaben darüber anscheinend stillschweigend hinweggingen, so überkam mich 
ein Gefühl von Scham, Neid und Haß. Ich schämte mich vor dem weiblichen 
Geschlecht, ärgerte mich, daß die Mädchen nicht aufs Gesäß gezüchtigt wurden. 
Ich haßte das Lehrpersonal, insbesondere das weibliche, weil dieses auch 
uns Knaben auf das Gesäß schlug. Später dann machte ich die Wahrneh¬ 
mung, daß die Mädchen eine stärkere Hiuterpartie hatten, und es ärgerte mich 
um so mehr, daß dieselben nicht diese Züchtigungsmethode über sich ergehen 
lassen brauchten. Der Ärger hierüber fand insofern dauernde Nahrung, weil 
meine Erziehung ganz in den Händen meiner Mutter und meiner um fünf 
Jahre älteren Schwester lag. Letztere schien sich in der Rolle einer Erzieherin 


i Nach einem am 30. Juni 1921 in der Berliner Psychoanalytischen Vereinigung* 
gehaltenen Vortrag. 









498 


Mitteilungen 


sehr wohl zu fühlen. Sie übte solchen Einfluß auf mich aus, daß ich ihr 
willenlos parierte. Wenn ich nun schon in der Schule das Gefühl hatte, daß 
Mädchen den Jungens viel voraus hatten, beziehungsweise in vieler Hinsicht 
Vorteile, so bestätigte sich das nach meiner Schulentlassung. Auch hier 
wieder ärgerte es mich, daß junge Mädchen gleich nach der Konfirmation in 
einer ganz anderen Atmosphäre leben und ihnen in bezug auf Kleidung, Umgang 
eine ganz andere Behandlung zuteil wurde, als gleichaltrigen Knaben. Ich 
war dann auch zufrieden, daß meine Eltern davon Abstand nahmen, mich 
ins Bureau zu schicken. Der Gedanke, daß ich hier einige Jahre ältere 
Mädchen oder schließlich sogar Gleichaltrige bedienen müßte, machte mich 
innerlich rasend. Ich mied somit das weibliche Geschlecht, sogar später, 
da andere junge Leute schon eine Braut hatten. Obwohl ich nun einen 
ge wißen Haß auf junge Damen hatte, sah ich doch nach ihnen. Ich 
freute mich über ein hübsches Mädelgesicht, schön frisierten Kopf, gute 
Manieren, Koketterie und hätte so ein Weib an mich drücken und küssen 
mögen. Aber leider mußte ich empfinden, daß mich alles dieses nicht reizt, 
wenn nicht derartige junge Damen gute moderne Kleidung, insbesondere enge 
Röcke trugen. Es bildeten sich nun Phantasien, in denen solche junge 
Mädchen, mit einem Rohrstock bewaffnet, Knaben und Jünglinge auf das 
Gesäß schlugen. Durch diese Phantasien stellten sich zuerst Erektionen, dann 
Pollutionen ein. Später, als ich durch „Belehrung“ die Onanie kennen lernte, 
frönte ich derselben fast täglich. Ich suchte die Einsamkeit, benutzte jede 
Gelegenheit des Alleinseins. Dann bekleidete ich mich mit den Röcken meiner 
Schwester, raffte die Kleider, sah mir Modenblätter an, kasteite mich selbst 
auf das Gesäß und onanierte. Die furchtbaren seelischen Erregungen, die Angst, 
bei dieser Prozedur von meinen Angehörigen einmal überrascht zu werden, 
steigerte meine Nervosität fast bis zum Wahnsinn. So mußte ich damit brechen; 
nur ungern, jedoch ich tröstete mich in der Phantasie es billiger zu haben. 
Wenige Versuche, mich sexuell natürlich zu betätigen, scheiterten. In diesen 
Phantasien zeigte sich das Weib nur als Herrscherin. Der Krieg tat hierin 
auch sein übriges, indem die Frau an Stelle des Mannes trat und es fügte sich 
oft, daß die Frau, beziehungsweise das Mädchen, Vorgesetzte der hier¬ 
gebliebenen Männer wurde. Es brachte mich jedoch nichts mehr in Erregung, 
wie ein Zeitungsbericht vor ungefähr einem Jahrzehnt. Darin wurden die 
skandalösen Zustände in der Zwangserziehungsanstalt Mielczin geschildert. Hier 
wurden die Zöglinge bei den geringsten Vergehen von Aufsehern, ja sogar von 
den Anstaltsgeistlichen bestialisch geschlagen. Über 50 Hiebe mit einem Male, 
bis zu 200 Hieben an einem Tage. So lauteten die fettgedruckten Über¬ 
schriften der einzelnen Abschnitte. Und dies alles oft in Gegenwart 
der Anstaltsschwestern. Es herrschte am Erscheinungstage dieses Berichtes 
großes Hallo in Berlin. Ich selbst nahm mit gemischten Gefühlen hiervon 
Notiz. Einesteils weidete ich mich, andernteils empörte ich mich an diesen 
Vorgängen. Was in meinem Seelenleben vorging, daß auch dieser Artikel von 
dem weiblichen Geschlecht gelesen wurde, wie ich dies in der Straßenbahn 
wahrnahm, vermögen Worte nicht zu schildern. An diesen Begebenheiten 
fanden meine Phantasien reichliche Nahrung. Im Geiste befand ich mich in 















Mitteilungen 


499 


dieser Anstalt. Die männlichen ,Erzieher‘ sehe ich durch weibliche ersetzt. 
Sehe Klassenzimmer mit Zöglingen von 12 bis 18 Jahren, unterrichtet von 
jungen Damen im Alter von 16 bis 25 Jahren in eleganter, raffinierter, enger 
Kleidung, insbesondere der Röcke, schön frisiertem Kopf, hohen Stiefelabsätzen, 
üppigem Busen, echt weiblichen Bewegungen, kokett, ironisch, höhnisch. Diese 
Weiber üben einen nicht zu bekämpfenden Terror auf die Zöglinge aus. 
Insbesondere wenden sie die im Eingänge meiner Ausführungen erwähnten 
Züchtigungsmethode an. Während die Zöglinge mit ihrem behiebten Gesäß 
schmerzerfüllt sich auf die harte Bank niedersefzen, nehmen die Lehrerinnen 
mit ihrem wohlgenährten, gepflegten Körper auf einem Kissen Platz. Die Zöglinge 
sind unterernährt. Mitunter dürfen letztere ihren Platz nicht einnehmen, 
sondern müssen nach erlittener Strafe frei stehend mit nach vorn zusammen¬ 
gefaßten Händen die Schmerzen ertragen, um zu verhindern, daß sie durch 
Bewegung oder Reiben des betreffenden Körperteils sich Linderung verschaffen. 
Größere Vergehen, wie Desertation, Aufreizung und dergleichen werden mit 
Disziplinarstrafen geahndet — 25 Hiebe — vom Anstaltsdirektor zu genehmigen. 
Diese Strafen werden im Beisein des gesamten weiblichen Lehrpersonals in 
hierzu besonders eingerichteten Räumen vollstreckt.“ Soweit der Bericht des 
Patienten. 

In bezug auf seine Perversion habe ich hinzuzufügen, daß er die Ver¬ 
kleidung Jahre hindurch sehr häufig vorgenommen hatte; über sein Sexual¬ 
leben ist noch folgendes nachzutragen: er hatte nie den Koitus ausgeführt, 
niemals, außer beim masturbatorischen Akt, eine sexuelle Erregung in der 
Form einer Erektion verspürt, auch nicht in den Armen seiner Braut, mit 
welcher er seit fünf Jahren verlobt war und mit welcher er vor ungefähr 
zwei Jahren mehrere Nächte zusammen geschlafen hatte. Die Zahl seiner 
Damenbekannischaften war eine auffallend geringe; doch zeigte die Analyse 
daß er, ohne es zu wissen, in den letzten Jahren neben seiner Braut mehrmals 
in stattliche Frauen heftig verliebt gewesen war, ohne gewagt zu haben, sich 
ihnen zu nähern. Im allgemeinen hat er aber fast ausschließlich mit Männern 
verkehrt. Eine Zeitlang war er sogenannter „dienender Bruder“ einer Frau¬ 
maurerloge. In bezug auf seinen Körper bot er einen auffallend engen Brust¬ 
korb und ein ungewöhnlich kleines Herz, ausgesprochene Schweißhände, einen 
spärlichen Haarwuchs und eine etwas hohe Stimme, auch war er ungewöhn¬ 
lich schlecht ernährt. 

Der fast ausschließliche Verkehr mit Männern ließ an latente homo¬ 
sexuelle Empfindungen denken; in der Analyse spielte die Homosexualität 
eine große Rolle; der Patient bestürmte mich gleich in den ersten Stunden 
mit heftigen Bitten, ihm doch immer wieder zu versichern, daß er nicht 
homosexuell sei, was er immer befürchtet habe; nichts sei ihm so eklig als 
der Gedankt an Homosexualität, auch aus Büchern habe er sich mit großer 
Befriedigung darüber vergewissert, daß er nicht homosexuell sei; dabei war 
er unter anderem auch an eine Streitschrift einer Frau, einer Laiin, gegen 
die Homosexuellen geraten; in derselben waren schwer glaubliche, angebliche 
Bedenken der Wortführer der Homosexuellen gegen den Umgang mit Frauen 
aufgezählt und zu zerstreuen gesucht, z. B. daß sie aus den Achselhöhlen 

Internat. Zeitschr. f. Psychoanalyse, IX/4. 


38 








500 


Mitteilungen 


röchen, daß ihre Brüste stänken, ganz zu schweigen von dem Abscheu vor 
dem Genitale, — Bedenken, welche mein Patient sich charakteristischerweise 
ganz zu eigen gemacht hatte. Für die stark entwickelte homosexuelle Kom¬ 
ponente seines Wesens spricht es auch, daß in seinen Träumen größtenteils, 
und im Beginn der Analyse fast nur Männer eine Rolle spielten. 

Wenn wir uns den von dem Patienten selbst beschriebenen Geschlechtsakt 
betrachten, so finden wir außer der Verkleidung das masochistische und das 
autoerotische Moment stark betont; zu seinem Autoerotismus möchte ich 
bemerken, daß Patient sich stets nur selbst befriedigt hatte, weder zu Männern 
noch zu Frauen sexuelle Beziehungen gehabt hatte, auch sonst ziemlich isoliert 
dagestanden und nie eine engere Freundschaft, mit Ausnahme seiner Braut, 
gehabt hatte. Aufs engste im Zusammenhang mit dieser Erscheinung standen 
seine analerotischen Charakterzüge: er hatte es z. B. stets auf Grund bewußter 
Überlegungen und Berechnungen vorgezogen, sich für dasselbe Geld, welches 
Kollegen von ihm mit einem Mädchen im Cafe ausgaben, eine bestimmte 
Anzahl von Zigarren zu kaufen. 

Selbstverständlich hatte er auch Schundschriften gegen die Onanie 
gelesen und dauernd vergeblich einen schweren seelischen Kampf gegen die¬ 
selbe geführt, war daher ständig deprimiert; ich glaube seine Unterernährung 
mit Recht mit dieser Depression in Zusammenhang bringen zu dürfen. 

Ich komme nun auf das masochistische Moment des vom Patienten 
beschriebenen Sexualaktes zu sprechen. Aus Freuds Arbeit: „Ein Kind 
wird geschlagen“ ^ wissen wir, daß der Masochismus als Umbildung aus einem 
ursprünglichen Sadismus entsteht. 

Es nimmt uns daher nicht wunder, daß unser Patient sadistische 
Neigungen hatte; sehr bald zeigte es sich nämlich, daß er von anderen 
Phantasien nicht berichtet hatte, nämlich von den Phantasien, kokett 
angezogene Frauen mit einem Rohrstock auf das Gesäß zu schlagen, daß aber 
diese Phantasien ebenso häufig waren wie die masochistischen, natürlich auch 
in der Form, daß andere Männer Frauen schlügen, daß Mädchen in Instituten 
von Erziehern gezüchtigt würden. 

Hinter diesen Frauen, welche ihn schlugen, beziehungsweise welche er 
schlug, verbargen sich die beiden Tyranninen seines Lebens: seine Mutter 
und seine ungefähr fünf Jahre äjtere Schwester (andere Geschwister hat 
Patient nicht gehabt). 

Die Mutter war eine ausgesprochen virile Frau, welche* den nachgiebigen 
Mann vollkommen unterjocht hatte, so daß er eine Reihe von weiblichen 
Beschäftigungen ausführen mußte. Der Vater war Jahre hindurch „dienender 
Bruder“ einer Freimaurerloge gewesen. Zu ähnlichen Beschäftigungen hatte 
die Mutter den Patienten erzogen: er mußte bis jetzt am Morgen die Milch 
holen, die Fußböden waschen, was er, wie er voller Stolz berichtete, viel 
besser konnte als eine bezahlte Zugehfrau; er mußte Vorhänge anmachen. 
Staub wischen, Kaffee mahlen und kochen usf. Auf der anderen Seite 
verbot ihm die Mutter alle Spiele mit Knaben im Hof und auf der Straße; 


* Intern. Zeitschr. f. Psa., V, 8. 











Mitteilungen 


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dabei sekundierte ihr die Schwester, welcher die Mutter einen Teil der 
Erziehung übertragen hatte, so daß er geradezu aufatmete, als die Schwester 
nach ihrer Konfirmation in ein Geschäft eintrat; eine Erinnerung, auf welche 
er erst im Laufe der Behandlung kam, während er zu Beginn derselben der 
Schwester dankbar war für alle Liebe und Mühe; es hatte sich aber sehr bald 
gezeigt, in welch gespannten Beziehungen er zu seiner Schwester stand, welche 
in unverhüllter Eifersucht seine Braut überall zu schädigen versuchte. Dasselbe 
läßt sich über seine Beziehungen zu seiner Mutter sagen, welche die Braut 
auf Schritt und Tritt verfolgte; die Mutter hatte es veranlaßt, daß er seit dem 
vor wenigen Jahren erfolgten Tode des Vaters mit ihr in einem Zimmer 
schlief; auch hatte ihn die Mutter gelobt, weil er sich nicht mit Mädchen 
abgab; ihn oft vor den Folgen des außerehelichen Verkehrs gewarnt und oft 
über seine Verliebtheit geschimpft, wenn er den Versuch gemacht hatte, mit 
seiner Braut allein zu sein. Noch während der Behandlung machte ihm die 
Mutter jedesmal Vorwürfe und unterwarf ihn einem genauen Verhör, wenn er 
vom Dienst einige Minuten später nach Hause kam, als sie erwartet hatte. 

Sein frühestes bemerkenswertes Erlebnis, an welches er sich selbst 
nicht zu erinnern vermocht hatte, sondern welches ihm erzählt worden war, 
das er aber mit so viel Affekt erzählte, wie wenn er es noch ganz frisch in 
der Erinnerung hätte, war folgendes: Da er mit eineinhalb Jahren noch in die 
Hosen defäcierle, gab eine Freundin der Mutter dieser den Rat, ihn derartig 
zu verhauen, daß er diese Züchtigung sein Leben lang nicht vergessen würde, 
was dann auch mit seltener Brutalität von der Mutter vorgenommen worden 
sein soll; ein Vorfall, welcher für die Entwicklung seiner späteren Anal¬ 
erotik und seiner Schlagephantasien von Bedeutung gewesen sein kann. 

Während zu Beginn der Behandlung sein unterdrückter Haß gegen seine 
Mutter und Schwester und seine Liebe zum Vater eine große Rolle spielten 
— was wohl ein allgemeiner Zug der Homosexuellen sein dürfte — begann 
sich nach kurzer Zeit in einer großen Anzahl von Träumen, in denen verhaßte 
Vorgesetzte eine Rolle spielten, sein Haß gegen mich und seinen Vater zu 
zeigen, d. h. sein normaler Ödipuskomplex, welcher aber hauptsächlich aus seiner 
Einstellung mir und seinen Vorgesetzten gegenüber erschlossen wurde, ohne daß 
die entsprechenden frühen Kindheitserinnerungen aufgedeckt worden wären. 

Nach einiger Zeit der Behandlung veränderten sich die Phantasien des 
Patienten beim onanistischen Akt in der Richtung, daß er nicht mehr von 
ewig wechselnden Frauen gestalten auf das Gesäß geschlagen wurde, sondern 
zu seinem großen Erstaunen von seiner Braut, einem sanften, ihm ergebenen, 
jüngeren Mädchen aus im Vergleich zu ihm untergeordneten sozialen Kreisen, 
von sympathischem Äußern; dieses Mädchen hatte er allmählich zu bestimmen 
vermocht, ihr Äußeres so zu verändern, daß sie dem Typus der ihn prügelnden 
Frauen ähnlich geworden war; auch tyrannisierte und beherrschte er sie voll¬ 
kommen. Sein ganzes Verhalten ihr gegenüber war also ein direkt entgegen¬ 
gesetztes zu dem, wie es in seinen onanistischen Phantasien zum Ausdruck 
kam: also in Wirklichkeit sadistische Betätigung seiner¬ 
seits einem Mädchen gegenüber, in sexuellen Phantasien 
masochistisches Erleben durch dasselbe Mädchen. 


33* 








502 


Mitteilungen 


Ich hatte dem Patienten zu Beginn der Behandlung durchaus keine 
schnelle Heilung in Aussicht gestellt, ihm von einer baldigen Heirat abgeraten; 
trotzdem beharrte er auf seinem Plan, bald heiraten zu wollen, da er es seiner 
Braut versprochen hatte und die Bekannten und Verwandten von diesem 
Plan wußten. Trotz meines Abratens überraschte er mich nach einiger Zeit 
mit der Mitteilung, daß er nach wenigen Monaten heiraten wolle; er begann 
mit großem Eifer alle Hochzeitsvorbereitungen zu treffen, wobei er unter 
Überwindung großer Schwierigkeiten ein neues Schlafzimmer anschaffte (also 
von den Betten der Eltern absah). Ich machte ihn darauf aufmerksam, daß 
er wohl längere Zeit hindurch ohne eheliche Vereinigung würde leben 
müssen. Zu meinem Erstaunen teilte er mir mehrere Tage nach der Hochzeit 
in der 101. Sitzung freudestrahlend folgendes mit: in der Hochzeitsnacht 
bekam er zu seiner Überraschung eine starke, langandauernde Erektion, so 
daß ihm sein Glied zu groß für ein Eindringen in die Scheide vorkam; trotz¬ 
dem versuchte er in der folgenden Nacht eine Entjungferung, welche ihm 
ohne Schwierigkeiten gelang; ebenso der folgende Koitus, welcher ihm viel 
Freude machte; in der folgenden Woche verlebte er die denkbar glücklichsten 
Flittertage, wobei er die größte Freude nicht bloß im normalen Koitus ohne 
jede Perversion, sondern auch im Austausch von gegenseitigen Zärtlichkeiten 
empfand. Alle Bedenken gegen das weibliche Geschlecht, wie z. B., daß die 
Brüste stinken würden, hatten sich zu seinem großen Erstaunen als unwahr 
herausgestellt. Ebenso waren seine seelischen Relationen zu seiner Frau für 
ihn sehr beglückende; die Mutter hatte er stark in den Hintergrund gedrängt. 
Nach der zweiten Sitzung nach der Hochzeit entließ ich ihn glückstrahlend 
mit außerordentlich gehobenem Selbstgefühl; letzteres schon deshalb, weil 
er nun im Kreise der Kameraden nicht mehr zu heucheln brauchte, daß er 
den Koitus kenne. Die früheren von ihm zur Probe hervorgerufenen Phan¬ 
tasien wirkten zu seinem großen Erstaunen absolut nicht mehr erregend. 

Eine eingehende Analyse seines Charakters hatte nicht stattgefunden; 
nur einmal machte ich ihn auf seine drei analen Charakterzüge aufmerksam, 
welche er mit süßsaurer Miene zugab. Ich habe von einer eingehenden 
Analyse seines Charakters abgesehen, weil eine solche ganz sicher außer¬ 
ordentlich lange gedauert hätte und er ja auch nichts anderes verlangt hatte, 
als von seiner Perversion geheilt zu werden. Die tiefen Schichten seines 
Unbewußten, wie z. B. infantile Geburtstheorien, blieben unberührt. 

Soweit ich sehe, handelt es sich um einen Fall von latenter passiver 
Homosexualität mit ausgesprochener masochistischer Tendenz; hinter letzterer 
war ein starker, auf das schwesterliche, im Grunde genommen auf das mütter¬ 
liche Gesäß gerichteter Sadismus versteckt: weil er die Mutter und Schwester 
nicht schlagen konnte, schlug er sich selbst im Kleide der Schwester. 

Aus der Literatur über Transvestitismus ist mir nur das Werk von 
Magnus Hirschfeld: „Die Transvestiten (Eine Untersuchung über den 
erotischen Verkleidungstrieb)“ ^ bekannt. Während der von mir geschilderte 
Fall deutliche Züge von passiver Homosexualität zeigte, betont Hirschfeld, 


^ Erschienen bei Alfred Pulvermacher, Berlin, 1910. 













Mitteilungen 


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daß es sich meist um Individuen handelt, welche homosexuelle Empfindungen 
vollkommen leugnen. Zwischen dem Verkleidungstrieb und der Homosexualität 
bestünden nur , . , Beziehungen. Aber dieser Trieb sei ein Symptom einer 
selbständigen Varietät des Geschlechtslebens. Jedoch sagt St ekel in seiner 
Besprechung! des Hirschfeldschen Werkes mit Recht: „...Ich glaube 
aus dieser flüchtigen Umschau ergibt sich schon ein Material, das für Homo¬ 
sexualität spricht und zur genauen psychoanalytischen Durchforschung der 
Fälle auffordert.“ Als Beleg für diese Ansicht bringe ich einen Auszug noch 
aus einer Krankengeschichte aus Hirschfelds Buch: 

„Von Haus aus vermögend, war er nach Paris gegangen, wo er alsbald als 
jComtesse de Paradeda^ die Rolle einer sehr eleganten jungen Dame spielte. Er 
gründete sich einen vornehmen Hausstand, hielt sich Dienerschaft, Equipage, 
sah viele Gäste bei sich, ohne daß jemand sein wahres Geschlecht ahnte. 
Da ereilte ihn sein Schicksal, indem er sich leidenschaftlich in einen schlichten 
deutschen Lehrer verliebte. Dieser war von der gewinnenden, geistsprühenden 
Art, vielleicht auch von dem Reichtum und der Liebe der Komtesse angezogen und 
verlobte sich schließlich mit ihr. Als er nach seiner Heimatstadt zurückkehrte, 
folgte sie (d. h. die angebliche ,Comtesse de P.‘) ihm .. . Ihre Leidenschaft 
zu dem Lehrer nahm immer heftigere Formen an, sie ließ ihn nicht aus den 
Augen, verfolgte ihn mit grenzenloser Eifersucht und drohte, sie würde ihn 
töten, falls er das Verlöbnis lösen würde. Als er sich tatsächlich zurückzog, 
versuchte sie mit Gewalt in seine Wohnung einzudringen.“ So viel über die 
homosexuelle Triebkomponente der Transvestiten, 

Der Sexualakt meines Patienten aus der Poliklinik bestand in einer 
Verkleidung und in einem masochistischen Akt. Wenn ich die von Hirsch¬ 
feld beschriebenen siebzehn Fälle auf Masochismus hin ansehe, so findet sich 
zunächst wenig, was ja nicht verwunderlich ist, da es sich fast ausschließlich 
um oberflächliche Berichte von Patienten handelt, welche nur vom Gesichts¬ 
punkte der Verkleidungsneigung verfaßt worden sind. Immerhin findet sich 
bei sorgfältiger Lektüre eine überraschend große Menge von masochistischen 
Zügen bei den Fällen: I, II, III, IV, V, VI, XI, XII und XVII. Als Beispiel 
bringe ich einen kurzen Auszug aus der Krankengeschichte des Falles II: 

„Ich fand öfters Gelegenheit, heimlich Damenkleider anzulegen und 
versuchte, mir die Ohrläppchen zu durchstechen. In meiner Einfalt ließ ich 
aber den frischgestochenen Wundkanal immer wieder zuheilen; ich schärfte 
mir daher die Haken der Ohrringe an und stieß mir solchergestalt die Ohr¬ 
läppchen immer wieder von neuem durch, was ich wohl einige hundertmal 
getan haben muß. Weit entfernt, dies als Schmerz zu empfinden, verspürte 
ich stets ein derartiges Wohlgefühl dabei, daß ich mir einzig deswegen die 
Ohrläppchen durchstach, auch wenn ich keine Ohrringe zur Hand hatte“ . . . 
„wobei es mir schmeichelte, wenn sie, d. h. die Mädchen, meine Ohrlöcher 
bemerkten und mir manchmal ihre Ohrringe hineinhängten. Dies ist für mich 
einer der höchsten Wollustmomente.“ 


1 „Zentralblatt“, I, 1/2. Diese Besprechung S t e k e 1 s ist, soweit mir bekannt, bis 
jetzt die einzige Arbeit über diese Perrersion in der psychoanalytischen Literatur geblieben. 









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MitteiluDgen 


Diese Zahl von masochistischen Zügen der nicht auf diesen Zug hin 
befragten Patienten läßt mich zu der Annahme kommen, daß der Masochismus 
ein sehr häufiger Zug der Transvestiten ist. Dafür spricht auch die ungemein 
starke Schnürung der von Hirschfeld abgebildeten Transvestiten. 

Was bedeutet nun Masochismus im Zusammenhang mit dieser Perversion? 
Ich glaube, ich kann das am deutlichsten machen, wenn ich einige Masochisten 
aus meiner Praxis schildere, bei welchen der Verkleidungstrieb nur wenig 
oder gar nicht aüsgebildet ist: 

Ein vierundzwanzigjähriger Patient war ausgesprochener Masochist, dem 
Leben gegenüber vollkommen passiv, fühlte sich ununterbrochen durch alle 
Menschen und Zustände „vergewaltigt“. Mehrere Versuche zu koitiefen bewiesen 
ihm seina vollkommene Impotenz. Wenn er onanierte, stellte er sich vor einen 
großen Spiegel und betrachtete seine rechte Wange mit verschiedenen Phantasien, 
in denen er sich als Mädchen fühlte; von diesen gebe ich folgende an: 

„Ich bin ein hübsches junges Mädchen und werde von einem jungen 
Leutnant in Uniform mit den Knien festgehalten und mit den Armen um¬ 
schlungen, so daß ich mich nicht rühren kann und in Intervallen auf die Wange 
geküßt.“ 

Er bedurfte also des komplizierten Verkleidungsapparates’ nicht, um sich 
in die Rolle eines Mädchens, das von einem Manne vergewaltigt wird, hinein¬ 
zuträumen. Zu Beginn der Analyse war seine „früheste“ Kindheitserinnerung 
aus dem Alter von ungefähr sechs Jahren: er betritt am Morgen das Schlaf¬ 
zimmer der Eltern in der Weise, daß sein Vater zuerst seine rechte Wange 
erblicken kann; der Vater lächelt und sagte, „der Max hat heute aber 
frische Wangen!“ Patient fühlte sich furchtbar beschämt und faßte den 
Ausspruch des Vaters in der Erinnerung als „Vergewaltigung“ auf. Die Analyse 
ergab, daß er seine Wangen unbewußt mit einem weiblichen Genitale verglichen 
und das Lächeln des Vaters als begehrlich und lüstern aufgefaßt hatte; weiter¬ 
hin, daß er ursprünglich die Mutter zärtlich geliebt, den Vater stark gehaßt 
hatte. Weil er später den Kampf mit dem Vater um die Mutter nicht mehr aufrecht¬ 
erhalten konnte, hatte er sich in eine passiv-homosexuelle und zugleich feminine 
Einstellung dem Vater gegenüber zurückgezogen, in welcher Vergewaltigungs¬ 
phantasien eine große Rolle spielten. Eines Tages erzählte er mir folgendes: 
„Wenn ich ein hübsches Mädchen in Begleitung eines anderen Mannes sehe, 
begehre ich es besonders intensiv; da ich nicht imstande bin, es dem Manne 
abspenstig es zu machen, tritt in solchen Fällen bei mir der starke Wunsch 
auf, mit der Phantasie zu onanieren, daß ich dieses Mädchen bin, welches von 
dem Begleiter vergewaltigt wird.“ Es ist wahrscheinlich, daß die Phantasie, 
vom Vater vergewaltigt zu werden, auf dieselbe Weise zustande gekommen ist. 

Ein anderer, ausgesprochen passiv-homosexuell empfindender Patient 
schildert mir seine jahrelang ausgeübte masochistische Betätigung folgender¬ 
maßen: „Ich lege mich auf das Bett (gewöhnlich das Bett der Mutter), entblöße 
das Gesäß bis auf das Hemd und schlage mit der flachen Hand oder einem 
Gegenstände, z. B. einer Bürste darauf, — immer spielen neue Eindrücke eine 
Rolle, ich fühle an meinen Gesäßteilen die Gesäßteile eines polnischen Mädchens 
(die Mutter stammte aus Polen), dann hebe ich das Hemd, etwa wie einen 










Mitteilungen 


505 


* 

Frauenrock, hoch; — schlage wieder, bemühe mich, auf das Gesäß zurück¬ 
zuschauen, ob es rot ist, berühre es mit den Händen; besonders gefällt es mir 
wenn meine Haut glatt ist; zuweilen legte ich mich über einen Stuhl oder 
vor einen Spiegel, um die rote Färbung (welche ihn in späteren Einfällen an 
das weibliche Genitale erinnerte) besser zu sehen; bemühe mich, diesen Akt 
zu verlängern; schließlich schlage ich noch einigemal stärker. Ich empfinde 
Vergnügen und Schmerz zugleich; es erfolgt ein Samenausfluß.“ 

Nach einer mehrtägigen Pause in der Analyse teilte er mir mit, daß er 
sich schriftlich zu analysieren versucht hatte; aus dem mitgebrachten Schrift¬ 
stück teile ich folgende Bruchstücke mit: 

„Teufel, ich will, daß man mich peitscht, die S . . » (eine Polin; ich 
erwähnte schon, daß die Mutter aus Polen stammt) peitscht mich, sie befiehlt 
unbarmherzig; ,Lege dich hin, laß die Hosen herunterI‘ und peitscht mich; ich 
habe eine Erektion, aber ich hatte noch etwas anderes; jenes Weib schlagen? 
Die Schwarze? so daß mir das Gesäß zu schmerzen anfange und ich jeden 
Hieb so spüre, daß mein Gesäß mir schmerzte, die S . . . will ich auch 
peitschen, aber nicht so, Mutter. . . Über die S . . . will ich nicht grübeln, 
sie hatte im Traum (von der vergangenen Nacht) eine Bluse an, in tiefem 
Dekollete, mit breiter, etwas rötlicher Brust, es schien eine Mannesbrust zu 
sein, etwa die eines Matrosen (Erinnerungen an Bordelle seiner Vaterstadt 
besuchende Matrosen spielten eine große Rolle bei ihm, hier erscheint die 
Mutter als Mann); auf den Schultern eine kleine Warze, wie bei meiner 
Mutter. Der Kleidung nach zu urteilen, eine Hure: ihr Gesicht ähnelt dem 
meiner Mutter; ich will sie küssen, sie gefällt mir uiid doch will ich nicht, 
heiraten, küssen, peitschen, sie mich, ich sie, die Photographie der Mutter hat 
auch diese zerwühlten Haare. . . Sie auf die Knie legen und daß sie so stehen 
und bitten soll, daß das Vergnügen länger dauert, — ich habe eine Erektion; 
eins, ein roter Striemen, zwei, sie schreit, ich schlage, — ein roter Strich 
noch, noch, das drittemal (die Erektion steigert sich) mit der Peitsche stärker, 
das Gesäß ist rot, sie windet sich, will herunter (eine Polin), ich halte sie, 
peitsche, schlage mit den Fäusten, den Stiefeln, küsse die Schultern, peitsche 
ad Infinitum auch die Seitenpartien, sie umdrehen und koitieren, wo ist die 
Vagina? Diese Frau bin ich. Ich habe weibliche Züge.“ 

Aus diesen Phantasien geht deutlich hervor, daß der Patient neben 
seinem Masochismus sehr starke sadistische Tendenzen hatte, daß diese 
sadistischen Tendenzen sich gegen die Mutter richteten, und daß die Mutter 
dazwischen in den Phantasien männliche Züge trug. Diese Phantasie ergänzte 
er nach einiger Zeit durch folgenden Einfall: „Zuweilen taucht in mir der 
Wunsch auf, das Gesäß einer Frau mit beiden Händen fest anzupacken; da 
ich mir diesen Wunsch nicht erfüllen kann, packe ich mich mit beiden Händen 
am eigenen Gesäß.“ Die weitere Analyse zeigte, daß es ihm unmöglich gewesen 
war, an die Existenz einer Vagina zu glauben, daß er sich infolgedessen einen 
Verkehr nur als coitus per anum vorgestellt hatte, daß das Schlagen auf das 
Gesäß den Koitus in der Phantasie ersetzen mußte; weiter, daß er ursprünglich 

die Tendenz gehabt hatte, die Mutter auf das Gesäß zu schlagen;-in seiner zu 

Beginn der Analyse bewußten „frühesten“ Kindheitserinnerung steht er 






506 


Mitteilungen 


zusammen mit seiner Mutter nackt im Bade und versetzt ihr einen leichten 

Schlag auf das Gesäß,-daß dieser Wunsch sich in den Wunsch verwandelt 

hatte, sich von der Mutter oder einer Ersatzperson derselben auf das eigene 
Gesäß schlagen zu lassen und daß er, da dieser letztere Wunsch von niemandem 
wie früher von den Mägden in seiner Kindheit, ausgeführt werden konnte, 
begonnen hatte, sich selbst auf das Gesäß zu schlagen, wobei er schlagende 
und geschlagene Person vereinigte. 

Ich will versuchen, das Problem des Masochismus an einem weiblichen 
Fall zu beleuchten: eine ausgesprochen homosexuelle Frau kneift sich beim 
masturbatorischen Akt mit den Fingernägeln in die Schamlippen oder kratzt 
sich dieselben wund, und durchlebt dabei die Erinnerung an zwei Szenen, in 
denen sie als acht bis zehnjähriges Mädchen von ihrer Mutter mit einem Stock 
auf das entblößte Gesäß geschlagen worden ist. Bis zur Analyse und nach längerer 
Zeit derselben ging sie jeden Morgen in das Schlafzimmer, in dem die Mutter 
mit einem erwachsenen Bruder schlief, legte sich zur Mutter ins Bett und 
begann sie zu liebkosen. In der Analyse erkannte sie in dem Stock den im 
Unbewußten mit außerordentlicher Zähigkeit festgehaltenen Penis der Mutter, 
in der Züchtigung einen homosexuellen Akt, Hinter dem Interesse für die 
Mutter verbarg sich das Interesse für den verachteten Vater. Mit der fort¬ 
schreitenden Analyse verwandelten sich ihre Masturbationsphantasien auf dem 
Umwege über andere Phantasien allmählich in die Phantasie von mir (dem 
Vaterersatz), koitiert zu werden, d. h. ihre Phantasie zu Beginn der Analyse 
war von einer Phantasie ausgegangen, welche den inzestuösen Verkehr mit 
dem andersgeschlechtlichen Elternteil zum Inhalt gehabt hatte. 

Nach dieser Abschweifung auf das Gebiet des bei den Transvestiten eine 
große Rolle spielenden Masochismus kehre ich zu meinem Ausgangspunkt 
zurück und schildere noch einen Patienten mit ausgesprochener, jahrelang 
betätigter Verkleidungsneigung. 

Derselbe hatte im Alter von fast vierzig Jahren noch nie den Koitus aus¬ 
geübt. Er schildert mir den mit einer Erektion begleiteten, vor einem Spiegel vor¬ 
genommenen Akt seiner Verkleidung in der Weise, daß das Anlegen des Korsetts, 
das Schließen aller Haken desselben, das Anlegen der engen Strumpfbänder, 
das Schließen aller Druckknöpfe, Haken und Knöpfe ihn besonders interessierten 
und erregten. 

Zu Beginn der Analyse war seine frühere bewußte Erinnerung folgende: 
„Eines Abends, als die Eltern weggegangen waren, bat ich das Dienstmädchen, 
mir eines ihrer Kleider anzuziehen. Sie ging darauf ein und steckte mich in 
ein Kleid aus dunkelblauem bedruckten Kattun; das Kleid hatte eine lange 
Reihe Perlmutterknöpfe. Ich hatte ein wohliges Gefühl darin, wenn ich nicht irre, 
cum erectione. Dann bat ich sie, mich doch als unartiges Mädchen zu behandeln 
und in podicem mit der flachen Hand schlagen zu wollen. Auch das löste 
wollüstige Gefühle aus.“ 

Wir sehen: hier ist die erste bewußt erinnerte Verkleidung schon mit 
einem masochistischen Akt verbunden gewesen. (Seine Mutter hatte ihm später 
von sadistischen Akten gegen andere Kinder erzählt, welche sich viel früher 
als jene Verkleidungsszene abgespielt haben sollen.) Auch er hatte eine große 










Mitteilungen 


507 


Reihe von Phantasien gehabt, in denen er von Frauen schlecht behandelt, 
vergewaltigt wurde, von denen ich eine bringe: 

„Ich selbst muß dauernd als Magd verkleidet auf einem Gut niedere 
Dienste leisten, in einem schlechten Zimmer wohnen, werde von den anderen 
Mägden und insbesondere von der Gutsherrin dauernd gedemütigt und schlecht 
behandelt.“ Andererseits zeigte er ausgesprochene sadistische Züge in seinen 
Phantasien. 

Eine interessante Einzelheit aus seinem Leben ist wohl die Tatsache, 
daß er die erste gute Verkleidung in reiferem Alter mit der Erlaubnis und 
mit der Hilfe seiner Frau (also eines Mutterersatzes) vorgenommen hatte, daß 
ihm seine Frau zu den Garderobe- und Schmuckstücken hatte verhelfen müssen. 

Nach mehrmonatiger Analyse berichtete er mir von folgendem Erlebnis: 
Vor einiger Zeit war ich mit meiner Frau in einem Hutladen, wobei mir ein 
bestimmter Hut auffiel; einige Tage später sah ich auf der Straße ein junges 
Mädchen, das meines Erachtens in dem Hut gut ausgesehen hätte; dazu suchte ich 
mir eine bestimmte Handbewegung vorzustellen; nachdem ich einige Zeitlang 
versucht hatte, mir die Vereinigung von Mädchen und Hut und Geste vor¬ 
zustellen, sagte ich mir: „Diese Vereinigung findest du ja in Wirklichkeit doch 
nicht“ und empfand den Wunsch, selbst dieses Mädchen mit der Geste und 
dem Hut darzustellen. Da ihm das von ihm begehrte weibliche Wesen in der 
Realität unerreichbar zu sein schien, entstand in ihm der Wunsch, selbst dieses 
Mädchen darzustellen. Wir wissen ja aus zahlreichen Analysen, daß die eigene 
Mutter die ewig unerreichbare Frau ist. 

Aus seiner Analyse teile ich folgenden Traum mit: „Auf einer hölzernen 
Brücke, die über einen dunklen Abgrund von erheblicher Tiefe führt, sitze 
oder kauere ich. Die Kleidung besteht aus einem weiten weiblichen Gewand 
von unbestimmtem Schnitt. Die Farbe ist hell, die Bekleidung des Ober¬ 
körpers ist etwa aus einem weißen, hellvioletten gestreiften Stoff, wie er vor 
Jahren für die Hemdblusen der Damen viel verwendet wurde. Von mir 
ausgehend, strömt ein heller, ziemlich breiter durchsichtiger Strahl einer 
Flüssigkeit in die Tiefe der Schlucht hinab: ein starkes Wohlgefühl ist 
spürbar.* Dazu hatte er folgende Assoziation: „Der Stoff des Gewandes, 
namentlich des Oberteiles erinnert mich an einen Stoff, den meine Mutter 
vor einer Reihe von Jahren zu einer Bluse verwendet hatte.“ Es scheint also 
klar zu sein, daß mein Patient in diesem Traume die eigene Mutter darstellt, 
welche nach Art der Männer in einem weiten Bogen uriniert. 

Zum Schluß noch folgende Mitteilung eines latent passiv-homosexuellen 
(und impotenten) jüngeren Mannes: „Seit meinem zwölften Jahr, vielleicht 
auch schon erheblich früher, interessierte mich das Korsett meiner Mutter; 
es bereitete mir ein Vergnügen zuzusehen, wie sie sich einschnürte. Zu dieser 
Zeit nahm mich meine Mutter noch in ihr Bett. Ich beschäftigte mich, während 
ich bei ihr lag, mit ihrem Körper, den ich in der Hüftgegend drückte, wobei 
ich mich heftig erregte, während ich ihre Brüste nicht berühren durfte. 
Später, als ich zu meinem Bedauern nicht mehr von meiner Mutter in ihr 
Bett genommen wurde, machte ich das gleiche Experiment bei mir selbst, 
d. h* ich schnürte mich mit einem Gürtel ein und drückte meinen Leib 







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Mitteilungen 


möglichst mit gefüllter Blase und hatte dabei ähnliche Lustempfindungen 
wie bei der Mutter, wobei ich das Glied zwischen den Oberschenkeln preßte.“ 
— Wir sehen hier deutlich, wie infolge des Verbotes der sadistischen Betätigung 
am Körper der Mutter ein masturbatorischer Akt entstanden ist, welcher aus 
einer Mutterdarstellung (Gürtel-Korsett) und einer masochistischen Betätigung 
am eigenen Körper, bezw. sadistischen an der Mutterdarstellung besteht. — 
Auf dem Wege über die Verkleidung findet der unbewußte Wunsch nach dem 
inzestuösen Verkehr mit der Mutter seine Erfüllung. 

Wenn ich nun das ganze, etwas weitläufige Material überblicke, so 
komme ich zu folgenden Schlußfolgerungen. 

Es handelt sich bei den Transvestiten, soweit ich diese Erscheinung bei 
Männern studieren konnte, vorzugsweise um passiv-homosexuelB empfindende 
Männer mit starkem masochistischen Einschlag. Sie identifizieren sich bei den 
Verkleidungen mit den Frauen, bezw. der Frau, auf welche sich in ihrem 
Leben die ersten Wünsche gerichtet haben, d. h. mit der Mutter; in ihrem 
Leben hat die analsadistische Entwicklungsstufe eine große Rolle gespielt; 
ihre Wünsche in bezug auf die Mutter scheinen sich in sadistischer Weise auf 
das Gesäß derselben gerichtet zu haben; eine genitale Organisationsstufe 
haben sie fast gar nicht oder nur in geringem Maße erreicht; in ihren 
sexuellen, auf die Mutter gerichteten Forschungen, haben sie in bezug auf 
den Bau des Genitales derselben keine Klarheit erreicht, bezw. sind über die 
kindliche Annahme, daß die Mutter auch einen Penis habe, nicht hinaus¬ 
gekommen; infolgedessen stellen sie in ihren Verkleidungen die Mutter mit 
einem Penis versehen dar. Da sie die sadistischen, auf die Mutter gerichteten 
Triebe nicht haben ausleben können, ist bei ihnen der Wunsch entstanden, 
von Seite der Mutter, natürlich von Seite der Mutter mit einem Penis 
oder von einem Ersatz derselben, ausgehende Quälereien über sich ergehen 
zu lassen. Es scheint, wie wenn es dem Transvestiten erst in seiner Verkleidung 
möglich wäre, den masochistischen Akt über sich ergehen zu lassen. 
Bestimmend für diese Erscheinung könnte die Tatsache sein, daß der Knabe 
die ersten Züchtigungen der Mutter in einem Mädchenkleide erhält. Aber 
wesentlicher scheint mir folgender Vorgang zu sein. 

Die erste Lust- und schmerzvolle Züchtigung erhält das Kind in frühestem 
Alter anläßlich seiner Erziehung zur Sauberkeit bei seiner analen Betätigung; 
in diesem frühen Alter überwiegt das anale Empfindungsleben. Die Züchtigung 
auf das Gesäß, meist durch die Mutter oder einen Mutterersatz, ist somit das 
erste sexuelle Erlebnis mit der Mutter. Die Fixierung an dieses erste Sexual¬ 
erlebnis begünstigt später eine Umkehrung vom Erdulden sadistischer 
Züchtigung von Seite der Mutter in masochistisches Selbstzüchtigen in 
Mutterverkleidung. Der erste bewußte Wunsch, die Mutter auch züchtigen zu 
dürfen (Züchtigung-Sexualakt), ist dem Transvestiten in Erfüllung gegangen; 
in seiner Verkleidung ist er Mutter und Ich zugleich; schlägt die Mutter und 
wird zugleich von der Mutter geschlagen; folglich durchbricht er 


1 Ich spreche hier von latenter Homosexualität; wie sich das Problem bei bewußter 
Homosexualität darstellt, will ich in diesem Aufsatz nicht untersuchen. 














Mitteilungen 


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immer wieder die Inzestschranke, indem er durch das Züchtigen 
der Mutter das erste sexuelle Erlebnis der Kindheit wiederholt. 

Daß bei dem Verweilen auf der anal-sadistischen Stufe der Ödipus¬ 
komplex und der Kastrationskomplex eine große Rolle spielen, ist selbst¬ 
verständlich; von einer Darstellung dieser Zusammenhänge habe ich absichtlich 
abgesehen; auch habe ich andere Erscheinungen, welche selbstverständlich 
bei den Transvestiten eine große Bedeutung haben, wie Narzißmus, aktiver 
und passiver Schautrieb und Fetischismus, absichtlich vollkommen vernach¬ 
lässigt um das, was ich sagen wollte, nicht zu komplizieren und um eine 
Teilerscheinung des Transvestitismus dafür um so deutlicher herausarbeiten 
zu können. 


Zur Lehre vom PersBnlichkeitsbewußtsein. 

Von Paul Schilder. 

Der etwa 24jährige Patient steht wegen Schlaflosigkeit und wegen der 
Unfähigkeit zu regelrechter Tätigkeit in psychoanalytischer Behandlung. Er 
berichtet, daß er zur Zeit, als er die ersten Volksschulklassen besuchte, zwischen 
den nebeneinanderstehenden Betten der Eltern schlief. Der Vater kam zur Mutter 
und küßte sie. Der Patient hat auch den Geschlechtsverkehr der Eltern, von dem 
er allerdings keinen klaren Begriff hatte, beobachtet. Er kam sich hiebei wie 
unwirklich vor, als wenn er gar nicht er selbst wäre. Vater und Mutter erschienen 
ihm in einem anderen Lichte. Auch später hat er das „Ichbewußtsein“^ zeit¬ 
weise verloren. Er erinnert sich, daß er noch in der Volksschule die Vorstellung 
entwickelte, alle Menschen bildeten einen Körper. Dies drängte sich ihm auf 
wenn er sein „Ichbewußtsein“ verlor. Gleichzeitig kam aber der Gedanke, es 
mache gar nichts, wenn er auf den Kopf geschlagen werde, da er ja gar nicht 
er selbst sei. 

Dieser Bericht des Patienten erfolgt an einem Tage, an dem er sich heftig 
über den Vater beklagte und Angst vor einer Kopfverletzung äußerte, welche 
ihn geisteskrank machen könne. Gleichzeitig waren Gedanken aufgestiegen, der 
Analytiker sei gegen ihn zu ablehnend. Er möchte dessen Frau verführen und 
der Analytiker könne ihn (Götz von Berlichingen). 

Man muß annehmen, daß der Patient die Störung des Persönlichkeits¬ 
bewußtseins deshalb erlitt, weil er lebhaft gegen die Zuschauerrolle, welche ihm 
die Eltern aufnötigten, protestierte. Bemerkenswert ist aber, daß er, das »Ich¬ 
bewußtsein“ verlierend, an dem Erleben der Eltern teilhat. Alle Menschen bilden 
ja einen Körper. Er identifiziert sich mit dem Vater — die Identifizierungstendenz 
mit dem Vater trat im Laufe der Behandlung eindringlich hervor — und wir 
dürfen den Gedanken, er wolle die Frau des Analytikers verführen, als unmittel¬ 
baren Abkömmling dieser Tendenz betrachten. Durch diese Identifizierung 
entgeht er gleichzeitig der Kastrationsgefahr. Denn hinter der Furcht, durch 
einen Schlag auf den Kopf den Verstand zu verlieren, war leicht Furcht vor 
der Kastration nachzuweisen, welche sich übrigens ganz unverhohlen in einer 


1 So der Ausdruck des Patienten. 









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Mitteilungen 


Reihe von Träumen äußerte und sich auch in einer durch nichts begründeten 
Angst vor dem Erblinden darstellte. 

Wahrscheinlich ist aber in jenem Momente eine passiv feminine Ein¬ 
stellung wach gewesen, welche sich ja gut verträgt mit der Kastrationsangst. 

Der Patient beklagte sich ja auch, der Analytiker sei ihm gegenüber zu 
ablehnend. Er benahm sich diesem gegenüber wie eine verschämte Frau und 
zeigte auch sonst Anzeichen einer Identifizierung mit der Mutter. So gewinnt 
der Patient durch den Verlust seines Persönlichkeitsbewußtseins die Möglichkeit, 
sich mit Vater und Mutter zu identifizieren und der Kastration zu entgehen. 
So findet die sexuelle Erregung eine Ersatzbefriedigung, die sexuelle Erregung, 
die der Gesamtpersönlichkeit widerstreitet und ein volles Persönlichkeitserleben 
unmöglich macht. 

Der Patient war ständig mit sich unzufrieden, er beobachtet sich fort¬ 
während, ob er auch etwas leiste. Er schwankte zwischen herber Selbstkritik 
und maßloser Selbstüberschätzung. Er verlangte vom Analytiker immer wieder 
Urteile über seine Fähigkeiten. Er führte seine Krankheit zum Teil darauf 
zurück, daß sein Vater von ihm wenig gehalten hätte. Er habe ihm seine 
Überlegenheit ständig zu fühlen gegeben. Er vergleicht sich ständig mit seinem 
Vater und mißt sich an ihm und am Analytiker. Wenn der Patient schläft, hat 
er nun ständig das Gefühl, daß er sich selber anstarre und sein Gesicht vor 
sich habe. Dieses Gefühl hat er manchmal auch tagsüber, er sieht dann geradezu 
sein verzerrtes Gesicht vor sich. Er lokalisiert hiebei sein Ich bald in das 
anstarrende, bald in das angestarrte Gesicht. Von diesem Erlebnis hat er 
im Anschluß an einem Traum berichtet, der den Kampf zweier Könige zum 
Inhalt hatte. Er selbst war im Gefolge des einen. 

Die scheinbare Ichverdoppelung im Schlafe beruht also auf der Selbst¬ 
beobachtung eines Menschen, welcher von sich selbst nicht befriedigt ist. Daß 
die selbstbeobachtende Instanz Abbild des Vaters ist, ist in diesem Falle ebenso 
unmittelbar feststellbar, wie daß sie Abbild des Analytikers ist. Der Kampf der 
zwei Könige ist sein Kampf gegen den Vater und gegen den Analytiker, mit 
denen er sich ständig mißt, mit denen er sich andernteils identifiziert. Die 
Schlaflosigkeit, die ihn, wie er glaubt, verdummt, unfähig macht, erscheint 
wiederum als das Resultat des Kampfes zwischen ihm und dem Vater, sie 
hängt andernteils auf das engste zusammen mit einer sexuellen Abstinenz, 
welche sich der Patient zum Teil deswegen auferlegt, weil er sein Genitale 
für zu klein hält. 

Hier steht jene häufige Erscheinung, man beobachte sich selber im Halb¬ 
schlafe und stehe vor sich im Zusammenhänge mit einer Selbstbeobachtungs¬ 
tendenz, welche sich auf das Verhältnis zum Vater zurückführen läßt und letzten 
Endes das Ichideal, des Überich vertritt. 

Vermerken wir, daß der Patient darüber klagt, seine Vorstellungen hätten 
an Farbigkeit und sinnlicher Lebhaftigkeit verloren; hierin ist er den Depersonali- 
sierten ähnlich. Auch in diesem Symptom verneinte er sein Erleben und es ist 
erwähnenswert, daß er selbst der Onanie und der Schlaflosigkeit an dieser 
Veränderung schuld gibt. Wir erkennen, daß die Ersatzbefriedigung im 
Kastrationskomplex ihm die volle Zuwendung zu der Außenwelt verwehrt. 










Mitteilungen 


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Experimentelle Wiederholung der infantilen Schlafsituation zur 
Förderung analytischer Traumdeutung. 

Beitrag zur aktiven Therapie. 

Von Dr. E. Hitschmann. 

Vor vielen Jahren fiel mir an einem eigenen Traume auf, daß derselbe 
auf infantiles Material, den Bruder betreffend, regredierte, als wir, aufs Land 
gezogen, seit langen Jahren wieder zum erstenmal in einem Zimmer schliefen. 
Analoges konstatierte ich bei einer verheirateten Hysterika, die mit ihrer 
Mutter in einem Erholungsheim wieder wie einst das Schlaf¬ 
zimmer teilend, zum erstenmal in der Kur einen Traum träumte, der 
infantiles Material — orale Erotik im Zusammenhang mit der Mutter — bestätigte. 
Die Kranke litt an hysterischen Übelkeiten und Angst vor Erbrechen, wenn sie 
mit geliebten Männern zusammenkam. Als Mädchen hatte sie erfahren, daß der 
frühere Liebhaber der Mutter sich von seiner neuen Geliebten Fellatio machen 
lasse. Aus ihrer eigenen Kleinkinderzeit wurde erzählt, sie hätte einmal ihre 
Mutter so leidenschaftlich und andauernd auf den Mund geküßt, daß man sie 
gewaltsam abwehren mußte. 

Der Traum lautet: „Ich liege zu Bett, die Mutter leckt mein Hemd innen 
unten ab. Ich bin verwundert und frage mich befremdet, wieso man so etwas 
tue. Die Mutter erklärt, so etwas könne schon Vorkommen, ich sei nur eine 
schwache Frau. Ich sah dann einen bekannten jungen Mann, der dem seiner- 
zeitigen Freund der Mutter ähnlich ist und der zugesehen hatte, schmatzend 
ein Butterbrot essen; ich wußte auch, daß die Mutter mit Appetit mitesse 
und war erstaunt, daß die beiden nach ,so etwas‘ mit solchem Appetit essen 
konnten.“ 

In einem weiteren Falle, bei einem impotenten Manne, erschien die 
homosexuelle (in der Kindheit wenigstens mit einem Kollegen effektive) 
Beziehung zum jüngeren Bruder, in Träumen, die geträumt wurden, als die 
beiden Brüder — durch geänderte Wohnungseinteilung nach dem Tode der 
Großmutter durch kurze Zeit ausnahmsweise wieder in einem 
Zimmer schliefen. Ein besonders charakteristischer, die Homosexualität durch 
„Umkehrung“ anzeigender Traum lautet: ' 

„Ich lag mit meinem 25 jährigen Bruder, der aber im Traum als kleiner 
Knabe erschien, Bett an Bett. Auf einmal war sein Bett fort, er hing kopf- 
abwärts an meinem. Ich fuhr auf dem Boden knieend, mit meinem Gliede an 
seinem Mund hin und her. Er verwies mich, ich würde ihn aufkratzen.“ 

Sollten sich ähnliche Beobachtungen mehren, so könnte die Technik 
der psychoanalytischen Therapie das experimentelle Zusammen¬ 
schlafenlassen als aktiven Eingriff aufnehmen, der ein erleichtertes 
Regredieren auf Infantiles bedingen soll. 

Daß ein im selben Zimmer oder Bett an Bett Schlafen zu sexuellen 
Betätigungen, Versuchungen oder doch Phantasien Anlaß gibt, ist genugsam 
bekannt. Es handelt sich also hier um „Träume von oben“ (Freud), in denen 
es durch Reminiszenzen verdichteten Tageseindrücken gelingt, Verdrängtes 
aus der gleichen Vorzeit zu mobilisieren. ' 







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Mitteilungen 


Bemerkungen zu Hermann Rorschachs „Psychodiagnostik“. 

Von Ludwig Binswanger. 

Mit dem im vergangenen Jahr allzufrüh verstorbenen Hermann R o rschach 
hat die jüngere Schweizer Psychiatergeneration ihren schöpferischsten 
Kopf verloren. Nach mehrfachen Versuchen auf psychoanalytischem Gebiet 
(vgl. Zentralblatt f. Psa. II—IV) und ausgezeichneten Untersuchungen über 
die Psychologie, Ethnographie und Geschichte der religiösen Sektenbildung in 
der Schweiz (vgl. Schweiz. Archiv f. Neurol. und Psych. und 56. Protokoll 
des Vereines Schweiz. Irrenärzte) hat er in seinem zu einer selbständigen 
Psychodiagnostik ausgebildeten „Formdeutversuch“ (1921) das eigentliche Feld 
gefunden, auf welchem er seine ausgesprochene naturwissenschaftliche 
Experimentierkunst, sein geniales Menschenverständnis, seine glänzende psycho¬ 
logische Dialektik und seinen scharfen logischen Verstand gleichermaßen 
betätigen konnte. Obwohl in dieser Zeitschrift bereits ein kurzes Referat über 
seine „Psychodiagnostik“ erschienen ist (VIII, 1922, S. 362), erscheint es der 
Bedeutung dieser Arbeit angemessen, noch einmal auf sie und ihren Autor 
zurückzukommen. Zugleich sei auf zwei weitere Arbeiten zum selben Thema 
hingewiesen, nämlich auf die unter Rorschachs Leitung entstandene 
Dissertation von Behn-Eschenburg (Psychische Schüler Untersuchungen 
mit dem Formdeutversuch, Zürich, 1921), worin die früheren Ergebnisse 
glänzend bestätigt und erweitert werden, und auf das kürzlich von Ober¬ 
holzer in der Bleuler-Festschrift (Zeitschr. f. d. ges. Neurol. u.Psychiatr., 82, 
S. 240) veröffentlichte Manuskript eines Vortrages, welchen Rorschach 
wenige Wochen vor seinem Tode in der Schweizerischen Gesellschaft für 
Psychoanalyse gehalten hat. Der Vortrag, betitelt „zur Auswertung des Form¬ 
deutversuches für die Psychoanalyse“, enthält die eingehenden Protokolle und 
deren Auswertung in einem von Oberholzer analysierten, Rorschach 
selbst völlig unbekannten Fall von schwerer Neurose. Die von Rorschach 
auf Grund des Psychogrammes gestellte „Blinddiagnose“ hat die Persönlichkeit 
des Patienten nach Oberholzers eigenem Eingeständnis so treffend 
charakterisiert, wie es dem Analysator nach mehrmonatiger Analyse nicht 
besser hätte gelingen können \ Dieser Vortrag bildet eine sehr wichtige 
praktische Ergänzung und Illustrierung der „Psychodiagnostik“ und läßt 
Rorschachs Kunst, aus dem zahlenmäßigen Verhältnis der mannigfachen 
Faktoren des Versuches ein bis ins kleinste Detail ausgefülltes Bild der 
Versuchsperson zu gestalten, im hellsten Licht erscheinen. 

Es ist ein hoher wissenschaftlicher Genuß, an Hand der „Psycho¬ 
diagnostik“ und des erwähnten Vortrages Schritt für Schritt zu verfolgen, wie 
sich unter dem geistigen Auge Rorschachs ein zunächst rein spielerisch 
anmutendes Experiment — das Deutenlassen von zufällig entstandenen, 
symmetrischen, teils mehrfarbigen Tintenklecksfiguren — zu einem äußerst 
subtilen wissenschaftlichen Instrument herausbildet, das die geheimsten Seiten 
der menschlichen Persönlichkeit ans Licht zu fördern und Problem über 
Problem aufzuwerfen und näher zu beleuchten vermag. Die experimentelle 
Psychologie, insbesondere die Psychologie der Gestaltwahrnehmung, die psycho- 









Mitteilungen 


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logische Typenforschung und Konstitutionspsychologie, die Psychoanalyse und 
Psychiatrie, die allgemeine Psychologie und Methodologie, vor allem auch die 
„Psychologie der Person“, sie alle sind irgendwie an diesem Experiment 
interessiert. 

Nichts verr«ät die schöpferische Natur eines Forschers mehr, als Wenn 
es ihm gelingt, mit einfachen Mitteln komplizierte Zusammenhänge auf¬ 
zudecken und neue Probleme zu erschließen. Rorschach war eine solche 
Natur. Nicht nur einfach, geradezu primitiv ist das Rüstzeug, mit dem er 
experimentiert und mit dem er die Resultate denkend verarbeitet. Ein paar 
grobe assoziationspsychologische und mechanistisch-materialistische Begriffe 
und Schemata dienen ihm zur Grundlage für sein ganzes Gebäude. Keine 
Anregung und Anleitung von außen, keine Literaturkenntnis steht ihm zur 
Verfügung. Dafür ist aber sein ganzes Werk gekennzeichnet durch eine eiserne 
Konsequenz im Festhalten und Weiter verarbeiten des einmal Erreichten und 
durch eine dauernde strenge Rückbeziehung desselben auf die durch das 
Experiment sowohl als durch das Leben gewonnene Erfahrung. Rorschach 
verliert sich nie in den Wolken, er bleibt der anschaulichen Wirklichkeit 
immer auf den Fersen. Diese Wirklichkeit aber, das ist die menschliche 
Person, deren Kenntnis ihm wie wenigen zur Verfügung stand, und in 
deren Wesen sich einfühlen zu können, ihm wie wenigen vergönnt war. 
Wo andere nur Zahlen und „Symptome“ sehen, da standen ihm sofort 
innere seelische Beziehungen und Zusammenhänge vor Augen. Schopen¬ 
hauer hat einmal gesagt, „wo das Rechnen anfängt, hört das Verstehen 
auf; Rorschach hat immer noch verstanden, wo andere nur zu rechnen 
vermögen. 

Rorschach hat uns sein Experiment hinsichtlich seiner wissen¬ 
schaftlichen Darstellung und Durcharbeitung in einer Form hinterlassen, die 
nicht zum wenigsten er selbst als unbefriedigend empfunden hat. Er gab die 
Unvollkommenheiten und Einseitigkeiten insbesondere seiner theoretischen 
Auffassungen gerne zu; denn auch das nötige Maß von Selbstkritik, das den 
echten Forscher auszeichnet, besaß er in hohem Grade. Nicht einmal darüber 
besteht Klarheit: o b es sich bei dem Versuch tatsächlich um 
ein „wahrnehmungsdiagnostisches“ Experiment handelt, 
wie Rorschach glaubt, insbesondere dann, wenn man seinen eigenen 
Wahrnehmungsbegriff („Angleichung vorhandener Engramme an rezente 
Empfindungskomplexe“) zugrunde legt. Ganz abgesehen davon, daß es sich 
hier vielmehr um eine (materialistische) Theorie der Wahrnehmung, statt 
um ihren Begriff handelt, weist schon die zur Versuchsanordnung 
gehörende Frage: Was könnte das sein? darauf hin, daß es sich vielmehr 
um die Prüfung der (optischen und kinästhetischen) Phantasie oder Imagination 
handelt, als um diejenige der Wahrnehmung. Und hier müßte wieder unter¬ 
schieden werden, was Rorschach, der sich mit der modernen Psychologie 
zu seinem Leidwesen noch nicht hatte vertraut machen können, nicht tat, 
zwischen der Prüfung der sinnlichen (das heißt der Empfindungs-und 
Vorstellungs-) Inhalte oder Bilder einerseits, und der Prüfung der (wahr¬ 
nehmenden, auffassenden, apperizipierenden und vergleichenden) seelischen 








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Mitteilungen 


Akte andererseits. Indem er von Anfang an auch die Deutung der Klecks¬ 
figuren mit in Betracht zieht, hatRorschach zwar anerkannt, daß hier auch 
ein über die schlichte Wahrnehmung hinausweisendes Moment vorkommt; 
aber auf Grund einer kaum haltbaren Definition, welche zugleich phänomeno¬ 
logische, psychogenetische und hirnphysiologische Merkmale enthält, stellt er 
Deutung und Wahrnehmung völlig auf eine Stufe (Deutung der Zufalls¬ 
figuren = Wahrnehmung, bei der die Angleichungsarbeit zwischen Empfindungs¬ 
komplex und Engramm so groß ist, daß sie intrapsychisch eben als 
Angleichungsarbeit wahrgenommen wird). Dadurch wird sowohl der Unter¬ 
schied zwischen wirklich gesehenen und bloß vorgestellten Inhalten 
einerseits und zwischen wahrnehmenden und imaginativen Akten andererseits 
verwischt. Desgleichen werden in dem Begriff der „Angleichungsarbeit** 
sowohl die Weisen des Beziehens und Vergleichens, also einer Gattung 
seelischer Akte, als auch die durch den Vollzug dieser Akte aufgewendete 
psychische Energie, als auch die durch diesen Energie Verlust empfundene 
Anstrengung miteinander vermengt. Eine dem heutigen Stand der Psychologie 
entsprechende wissenschaftliche Darstellung des Experiments müßte alle 
diese Unterscheidungen und Äquivokationen berücksichtigen. Erst dann könnte 
die „Theorie des Versuches“, wie Rorschach sich ausdrückt, in Angriff 
genommen werden. Es muß jedoch schon hier betont werden, daß die 
praktisch-diagnostischen Resultate Rorschachs von den 
bisherigen Aussetzungen nicht betroffen werden. Daß die meisten Organischen, 
Manischen usw. die Bilder einfach „bestimmen“, d. h., daß sie das, was sie 
in der Wahrnehmung meinen, auch wirklich sehen, während die Depressiven 
unter anderen sich bewußt sind, daß sie sie nur deuten, nur im Als-ob-Sinne 
meinen, diese und viele andere praktische Resultate werden davon nicht 
berührt. Wir haben hier dieselben Verhältnisse vor uns, wie beim Jung- 
R i k 1 i n sehen Assoziationsexperiment, dessen praktisch-diagnostische Ergebnisse 
nicht davon berührt werden, ob man es assoziationspsychologisch oder akt¬ 
psychologisch darzustellen vorzieht, ob man es mit der Konstellations¬ 
oder Komplextheorie (im Sinne Jungs) zu „erklären“ 'unternimmt usw, 
Rorschach war nun aber nicht nur Praktiker und Techniker, sondern auch 
Wissenschaftler, und der theoretisch-wissenschaftliche Ausbau seines Versuches 
hätte sein Denken ebenso beschäftigt wie der praktische. So war er von 
Henning -Danzig noch (brieflich) darauf aufmerksam gemacht worden, daß 
das Gebiet der sogenannten eidetischen An s c h a u u n g s b i 1 d e r 
(vgl. Zeitschr. f. Psychol. von Bd. 85 an) sehr wahrscheinlich bei dem Versuch 
eine große Rolle spielt. Diese Frage kann aber nur entschieden werden, wenn 
nicht nur zwischen auffassenden Akten und Empfindungs- und Vorstellungs- 
inhalten scharf unterschieden wird, sondern wenn auch noch innerhalb 
der Sinnesinhalte, d. h. zwischen Empfindungsdaten und Vorstellungs¬ 
bildern eine besondere Gruppe von „Bildern“ anerkannt wird, was dann, wie 
die bisherige Literatur zeigt, immerhin auch zu sehr wichtigen praktischen 
Konsequenzen auf dem Gebiete der „Psychologie der Typen“ führt, sowohl 
hinsichtlich der Typen der sinnlichen Wahrnehmung, als der Intelligenz, als 
der künstlerischen Veranlagung u. a. m. Die Lehre von den eidetischen Bildern 







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und ihre praktische Auswertung zeigt die engsten Beziehungen zuRorschachs 
Versuchsergebnissen. Eine wissenschaftliche Darstellung und Vertiefung seines 
Versuches müßte diese Beziehungen aufdecken und verwerten. 

Die einzelnen „Faktoren des Versuches“. 

Ähnlich wie mit der Frage der Wahrnehmung überhaupt steht es mit 
der Beteiligung der einzelnen „Empfindungszuflüsse“ zur Wahrnehmung, also 
dem, was Rorscha ch als das Verhalten der „Form-, kinästhetischen und 
Farbmomente beim Wahrnehmungsvorgang“ beschreibt. Hier stößt man zunächst 
auf Faktoren, welche wieder mit der eigentlichen Wahrnehmung unmittelbar 
nichts zu tun haben, vielmehr Empfindungsdaten betreffen, welche also die 
die Wahrnehmung erst ermöglichenden stofflichen Anhalts- oder Ansatz¬ 
punkte darstellen. Man müßte hier von einem „empfindungsdiagnostischen“ 
Versuch sprechen. Hiezu kommt aber noch, daß es sich bei den „Form¬ 
zuflüssen“ sicherlich nicht um Empfindungsdaten handelt, sondern um den 
Empfindungen gegenüber ganz selbständige neue Faktoren, die man in der 
empirischen Psychologie unter dem Problem der „Gestaltqualitäten“ und ihrer 
Auffassung zusammenfaßt. Auch dieses Problem hatte Henning noch 
berührt, indem er den Autor darauf hinwies, daß die Form Wahrnehmung 
eigentlich keine Wahrnehmung, sondern eine Gestaltauffassung sei. Diese 
Frage betrifft wieder gleicherweise die allgemeine wie die experimentelle 
Psychologie. Um zu ihr Stellung nehmen zu können, müßten neue Bearbeiter 
des Versuches auf die Lehre von der Raumanschauung (Ebbinghaus), von 
den Komplexionen, Relationen, Gestaltqualitäten im Sinne Meinungs, 
Witaseks, v. Ehrenfels* und vieler anderer näher eingehen. Auch sei 
im Vorbeigehen noch darauf hingewiesen, daß die eigentliche „Formvisualität“ 
(vgl. z. B. Blumenfeld, Zeitschr. f. Psychol. 91) etwas ganz anderes ist 
als die Gestaltauffassung, und daß daher auch die Prüfung beider Fähigkeiten 
zu ganz verschiedenen Resultaten führen kann. Was Rorschach Form¬ 
zuflüsse, Formantworten usw. nennt, betrifft sicherlich nicht das, was man in 
der Psychologie unter „Form“ versteht, sondern einen Teil dessen, was man 
unter dem Ausdruck „Gestalten“ zusammenfaßt. 

Auch hinsichtlich der Bewegungszuflüsse bestehen noch große Unklar¬ 
heiten. Bekanntlich ist das Gebiet der kinästhetischen Empfindungen und 
Vorstellungen trotz mancher sehr guter Untersuchungen auch heute noch eines 
der umstrittensten der experimentellen Psychologie, sowohl hinsichtlich seines 
Umfanges als seiner Bedeutung. Jedenfalls haben wir von den Bewegungen 
einmal auf optischem Wege, sodann durch den Tastsinn Kenntnis; daneben 
spricht man aber in der Regel noch von eigentlichen Bewegungsempfindungen, 
denen sich die Empfindungen der Lage, Spannung, Schwere und Kraft anreihen 
und die man alle mit dem Namen der kinästhetischen Empfindungen belegt. 
Worum handelt es sich nun beiRorschachs Kinästhesien? „Kinästhetische 
Engramme“ spielen da eine Rolle, wo „das gesehene Objekt als in Bewegung 
begriffen vorgestellt wird“. Die Bewegung darf nicht nachgemacht werden, 
sie muß, wie Rorschach ausdrücklich erklärt, erfühlt (oder kinästhetisch 

Internat. Zeitschr. f, Psychoanalyse, IX/4. 


34 










516 


Mitteilungen 


nachgefühlt) werden. Es handelt sich also bei der obigen Definition nicht um 
ein reproduktives Vorstellen, um motorische Reproduktionen, sondern um ein 
primäres „anschauliches“ Erleben der Bewegung, wenn man will um ein 
Aufgehen in unmittelbaren Bewegungserlebnissen. Rorschach sagt nun 
aber nirgends ausdrücklich, welcher Art diese Erlebnisse sind. Um Spannungs-, 
Schwere-, Lageempfindungen usw. handelt es sich in der Regel nicht; denn 
das gesehene Objekt kann ja auch ohne sie (nämlich nur durch optische 
Eindrücke) „als in Bewegung begriffen vorgestellt“ werden. Andererseits scheinen 
Rorschachs Hinweise auf den Traum und das Erwachen aus demselben 
(Psychiadiagnostik, S. 63) auch auf jene Empfindungen hinzudeuten. Fernerhin 
scheinen gerade hier — und hierin gehe ich wieder mit Henning einig 
eidetische Zustände mit im Spiele zu sein.^ Aber auch die Einfühlung 
(Lipps), sowohl im Sinne der ästhetischen Einfühlung als der Selbst- 
objektivation, spielt hier eine große Rolle. Es sei nur auf die von 
Rorschach mehrfach erwähnten Deutungen der Tafel V der Testfiguren 
(Schmalkante) hingewiesen: „Eine Tänzerin, die sich in leidenschaftlicher 
Bewegung hochreckt“ und „ein gebücktes altes Weib, das zwei Regenschirme 
unter dem Arm trägt.“ Wenn Rorschach hier einfach von Streck- und 
Beugerkinästhesien spricht, so deutet er den Sachverhalt offenbar in viel zu 
primitiver Weise. Das führt dann auch zu angreifbaren Resultaten und falschen 
Problemstellungen. Es wäre doch sehr merkwürdig, wenn die Bewegungs- 
kinästhesien „dem tiefsten Unbewußten angehören“ sollten(Zur Auswertung usw., 
S. 266). Man fragt sich, was denn diese isolierte spezifische Empfindungsgruppe 
gerade mit „dem Unbewußten“ zu tun haben kann und sieht sich vor eine ganz 
neue unerklärliche psychologische „Gesetzmäßigkeit“ gestellt. Wenn wir aber 
bedenken, daß es sich hier gar nicht um eine einzelne Empfindungsgruppe, 
sondern um individuelle, spezifisch-gefärbte Einfühlungen oder Objektivationen 
des ganzen Selbst handelt, so wundern wir uns nicht mehr, daß daraus 
weitgehende Schlüsse auf die innerste Natur der Versuchsperson gezogen werden 
können, also z. B. aus dem Überwiegen der Beugerkinästhesien Schlüsse auf die 
vorwiegend passive Natur der Versuchsperson, und im Verein mit anderen 
Versuchsergebnissen auf ihre Insuffizienzgefühle, ihr Mißtrauen gegen die eigene 
produktive Leistungsfähigkeit usw. Man sieht also auch hier wieder, daß die 
praktische Deutung der Versuchsergebnisse durch Rorschach immer fruchtbar 
bleibt, wie sie sich ja auch im großen und ganzen diagnostisch (im psychologischen 
und klinischen Sinn) glänzend bewährt hat. Nur die wissenschaftliche „Deutung“ 
des gesamten Versuches und seiner Ergebnisse harrt noch der Lösung. Bei 
dem Kapitel der „Kinästhesien“ ist sie um so dringender erwünscht, als gerade 
das, was Rorschach über die Bewegungsantworten und ihre Zusammen¬ 
hänge mit dem gesamten Ich, der gesamten Person, ferner mit der Intelligenz, 
der Affektivität, der Motilität usw. herausgearbeitet hat, zu dem Interessantesten 
und Reizvollsten seines ganzen Werkes gehört. Auch hier sieht man also, 
daß es sich beim „Deutenlassen der Zufallsformen“ nicht durchaus um ein 


^ Vgl. auch Hennings Bemerkung über „starre und bewegte VorstellungsbUder“ 
in Zeitschr. f. Ps^rchol. 92, S. 147. 

















r 


# 


Mitteilungen 


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»wahrnehmungs-diagaostisches* Experiment handelt. Neben der Prüfung der 
Empfindungsfähigkeit, wovon wir oben sprachen, könnte man hier von einer 
Prüfung der Einfühlungsfähigkeit und ihrer Typen sprechen. 

Wieder auf ganz andere „Gesetzmäßigkeiten“ stoßen wir, wenn wir uns 
überlegen, was eigentlich bei der Prüfung der Erfassungsmodi, der Erfassungs¬ 
typen und der Sukzession der Erfassungsmodi untersucht wird. Es handelt 
sich jetzt also im wesentlichen darum, zu beobachten und zu registrieren ob 
in welcher Folge und in welchem zahlenmäßigen Verhältnis die Versuchs¬ 
person die Bilder als Ganzes oder in Details oder in besonders kleinen Details 
deutet (Erfassungstypus), und ob sich dieser Erfassungstypus bei den einzelnen 
Bildern jeweils gleich bleibt oder verändert, und wie er sich verändert. Hier 
kommen wir auch mit der „Gestaltauffassung“ als solcher nicht mehr aus, 
vielmehr handelt essich jetzt um bestimmte individuelle Differenzen innerhalb der¬ 
selben, die, wieRorschach sehr schön gezeigt hat, sehr stark von intellektuellen 
und affektiven Einzelfunktionen und von der Gesamteinstellung der Versuchs¬ 
person gegenüber dem Versuch abhängen. Hier haben wir es mit sehr komplexen 
Verhältnissen zu tun, wobei die eigentliche Wahrnehmung den geringsten 
Anteil hat. Infolge dieser komplexen Natur der Erfassungstypen sind auch die 
praktischen Schlüsse, die sie auf die Struktur der Gesamtperson erlauben, 
sehr fruchtbar. Das gilt insbesondere auch von der Prüfung der Sukzession 
der Erfassungsmodi. Hier werden Strukturgesetzlichkeifen der Psyche unter¬ 
sucht, die meines Wissens in so komplexer Art experimentell noch nicht 
geprüft worden sind, „Gesetzlichkeiten“ um so eher, als sie sich dem Wissen 
und Willen der Versuchsperson, der ja nicht bekannt ist, was und wie geprüft 
und gerechnet wird, völlig entziehen. Die Straffheit, Ordnung, Lockerung und 
so weiter dieser Sukzession erlaubt tatsächlich wichtige Schlüsse auf die 
Intelligenz, auf die praktische und theoretische Rapport- und Anpassungs¬ 
fähigkeit der Versuchsperson, wie Rorschach insbesondere auch in seinem 
Vortrag (S. 253) gezeigt hat. 

Was die Farbantworten anlangt, so war ja auch schon vor 
Rorschach bekannt, daß Fähigkeit zur Farbenauffassung und -Verarbeitung 
und Affektivität enge Beziehungen haben. Durch die Art jedoch, wie er die 
Verhältnisse der Färb- und Formantworten analysierte, diese Verhältnisse 
praktisch verwertete und deutete, hat er ein ganz neues Feld psychologischer 
Tatsachen und Zusammenhänge entdeckt, die, ob sie im einzelnen der Nach¬ 
prüfung standhalten werden oder nicht, doch besonders deutlich das Haupt¬ 
ergebnis des ganzen Versuches veranschaulichen, nämlich die Tatsache, 
daß in der seelischen Gesamtstruktur der menschlichen' Person noch überaus 
viel subtilere und tiefergreifende strukturelle Zusammenhänge und Beziehungen 
existieren, als man es sich bisher in der Regel hat träumen lassen. 

Man ist versucht, zu glauben, den Psychoanalytiker Rorschach 
hätte es in erster Linie reizen müssen, den I n h a 11 der Klecksdentungen zu 
analysieren, wie es Szymon Hens in seinen „Phantasieprüfungen mit 
formlosen Klecksen bei Schulkindern, normalen Erwachsenen und Geistes¬ 
kranken“ (Zürich 1917) getan hat. Es zeugt aber von der Beweglichkeit und 
Weite seines Geistes, daß er sehr rasch erkannt hat, daß das rein „Formale“ 



S4“ 








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Mitteilungen 


des Versuches, wie er sich ausdrückt, zu viel bedeutungsvolleren Ergebnissen 
führen mußte. Wie bei allen seinen Untersuchungen, so hat er sich auch hier 
weniger von bestimmten Auffassungen und Methoden als von der dem ünter- 
suchungsmaterial immanenten Gesetzlichkeit leiten lassen. So wird der 
sachliche Inhalt der Deutungen überwiegend in ein formales oder 
funktionales „Symptom“ umgedeutet: das „gesehene“ Tier wird nicht in seiner 
inhaltlichen oder Komplexbedeutung (im Sinne Jungs) gewürdigt, sondern 
es fällt dem Forscher auf, daß die „Tierantwort“ einen „Stereotypieindikator“ 
darstellt und daß das „Tierprozent“ sehr eindeutige Schlüsse auf die Stimmung 
und auf die Produktivität der Intelligenz erlaubt. Desgleichen interessiert ihn 
an der „Vulgärantwort“ nicht der Inhalt, sondern die durch sie repräsentierte 
„Anteilnahme an der Auffassuugsweise der Kollektivität“; an der „Original¬ 
antwort“ die spezifische strukturelle Art der Originalität; an der „abstrakten“ 
Antwort in erster Linie ihr Symptomwert für Verdrängungserscheinungen und 
Ablehnung. Immerhin hat in dem genannten Vortrag der Inhalt der 
Antworten, wie es zu erwarten war, nun auch die ihm gebührende Berück¬ 
sichtigung gefunden, und zwar geschah dies gerade in der den Psychoanalytiker 
ganz besonders interessierenden inhaltlichen Verwertung der Abstracta (zur 
Auswertung, S. 268). Hier tritt der Psychoanalytiker Rorschach, der feine 
„einfühlende“ Kenner der menschlichen Person, dem psychologischen Funktions¬ 
theoretiker würdig zur Seite. 

Die Anwendung und Verarbeitung der Versuchsfaktoren. 

Auf der minutiösen psychologischen Zerlegung der „Antworten“ der 
Versuchsperson in ihre einzelnen „Faktoren“ beruht der eine Teil der 
wissenschaftlichen Verwertung des Versuches; so subtil und bahnbrechend 
auch die betreffenden Analysen Rorschachs sind, so bedürfen sie doch, 
wie wir sahen, der genauen begrifflichen und tatsächlichen Nachprüfung; der 
andere Teil nun beruht auf der Applikation der so gewonnenen „Versuchs¬ 
faktoren“ auf die seelische Wirklichkeit, auf die Welt der seelischen Individuen. 
Hier steht Rorschach ganz auf dem Boden der psychiatrischen Klinik und 
medizinischen Psychologie, wie sie durch die Namen Kraepelin, Bleuler, 
Freud, Breuer, Jung und Janet gekennzeichnet sind. Sie liefern ihm 
die klinischen und psychologischen Typen, an welche die Versuchsfaktoren 
angelegt werden. Auch wo es sich um „Normale“ handelt, sind Gesichtspunkte 
aus der Neurosen- und Psychosenpsychologie (wie Stereotypie, Rapportfähigkeit, 
Impulsivität, Verdrängung usw.) maßgebend. Die Zerlegung dieser Typen in 
einzelne „Eigenschaften“ und deren Kombination erfolgt gemäß den Lehren 
der genannten Autoren auf affektdynamischem, energetischem, assoziations¬ 
physikalischem Weg. Durch all dies erhält die wissenschaftliche Verwertung 
des Versuches durch Rorschach ein ganz bestimmtes Gepräge, nämlich das 
der medizinischen Psychologie. Jedoch bekommt dieselbe unter der Hand des 
Autors überall wieder eine individuelle selbständige Note, wie schon seine, 
dem wirklichen Leben viel näher als andere Auffassungen kommende Lehre 
von der Introversität und Extratensität beweist. 












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519 


Die Beziehungen zwischen den einzelnen Versuchsfaktoren und den 
einzelnen psychologischen und klinischen Typen sind nun zunächst rein 
zahlenmäßig-statistische. Darin liegt einer der großen Vorteile und Neuerungen 
der R o r s c h a c h sehen Lehre; denn wenn auch beide Reihen, zwischen 
welchen Beziehungen gesucht werden, keine objektiv feststehenden, sondern 
durch die medizinische Geistesrichtung und durch individuelle Anschauungen 
des Autors noch subjektiv „gefärbte“ und einigermaßen fließende Faktoren 
darstellen, und wenn außerdem dem Zahlenverhältnis, das zwischen beiden 
gefunden wird, nicht der Charakter einer mathematischen Notwendigkeit, 
sondern im besten Fall derjenige einer empirischen Regelmäßigkeit zukommt, 
so müssen wir doch froh sein, wenn wir auf diesem Gebiete durch Zahlen 
eine vorläufige Orientierung gewinnen können. Die „Zahlen“ bilden, wie 
Rorschach immer wieder erklärt, die Grundlage für die Interpretation der 
Versuchsergebnisse und er hält es für ganz ausgeschlossen, „daß es auch bei 
größter Übung und Erfahrung gelingen könnte, aus dem Versuchsprotokoll 
allein, ohne vorausgegangene Verrechnung, zu einer sicheren und verläßlichen 
Interpretation zu gelangen“. Andererseits zeigt gerade das Werk Rorschachs 
mit aller Deutlichkeit, daß Zahlen innerhalb der Psychologie etwas ganz 
anderes bedeuten als etwa in der Physik. Auch darin hat der Autor seinen 
psychologischen Scharfblick bewiesen, daß er die zahlenmäßigen Ergebnisse 
der Befundverrechnung niemals als absolute betrachtete; ja er warnt immer 
wieder vor diesem Fehler und empfiehlt eindringlich, „sich stets einen Über¬ 
blick über den Gesamtbefund vor Augen zu halten, um nicht an der Zahl 
eines Einzelfaktors wie an einer Klippe zu straucheln“. Man sieht daraus auch, 
wie schwer der Versuch zu lehren und zu lernen ist. Der bloße Techniker 
und Handwerker, auch der gewandteste Rechner etwa auf dem Gebiete der 
Wahrscheinlichkeitsrechnung, wird darin immer ein Stümper bleiben. Es 
bedarf der psychologischen Anschauungsfähigkeit und Erfahrung im Sinne 
der Menschenkenntnis und es bedarf zweitens jenes intuitiven „Überblickes 
über den Gesamtbefund“, welche den Autor selbst in so hohem Maße 
auszeichneten, um imstande zu sein, den Versuch als wissenschaftlich brauch¬ 
bares Instrument zu handhaben. Wer hier von einer „künstlerischen“ Intuition 
und einem künstlerischen Verfahren sprechen zu müssen glaubt, irrt; es sei 
denn, daß er aus der Wissenschaft überhaupt und der Psychologie im 
besondern die Intuition hinwegzudenken vermag, ihr den Lebensnerv durch¬ 
schneidend. 

An das statistische, die wesentlichen Ausgangspunkte liefernde Verfahren, 
schließt sich dann das „ätiologische“. Wurde dort durchaus nur festgestellt, 
daß eine Beziehung existiere, zum Beispiel zwischen Kinästhesien und 
produktiver Intelligenz, zwischen primären Farbantworten und Impulsivität 
zwischen Formfarbantworten und „anpassungsfähiger Affektivität“, so wird 
jetzt gleichsam deduktiv erschlossen, warum es so sein muß. Hier zeigt 
Rorschach die ganze Kunst seiner, mit den Mitteln der gesamten medizinischen 
Psychologie arbeitenden psychologischen Dialektik. Es besteht für mich kein 
Zweifel, daß hier neue und dauernde Beziehungen assoziations- und affekt¬ 
dynamischer Natur einerseits, charakterologischer Art andererseits, aufgedeckt 








520 


Mitteilungen 


worden sind. Das wichtigste Ergebnis ist und bleibt aber immer die Tatsache, 
daß es zum großen Teil relativ „periphere“, sinnenhafte und anschauungs¬ 
mäßige seelische Einzelfunktionen sind, durch die gewisse komplexe Charakter¬ 
eigentümlichkeiten, Talente und Anlagen (intellektueller, affektiver, volitiver 
Art) im Versuch repräsentiert werden, so daß sie daraus wieder erschlossen 
werden können. Andere Male freilich sind es nur scheinbar einfache Funktionen, 
wie wir an dem Beispiel der Beugerkinästhesien anzudeulen versuchten. 
Durch die Aufdeckung jener „Repräsentationen“, jener strukturellen Zusammen¬ 
gehörigkeiten treten Rorschachs Untersuchungen wiederum in Beziehung zu 
den Untersuchungen über die „eidetischen Bilder“, wie sie von E. Jaensch 
und seinen Schülern (vergleiche K r o h) in Angriff genommen worden sind. 

Als drittes schließt sich dann das diagnostische Verfahren 
an, wo die Probe aufs Exempel gemacht wird. Hiedurch wird der ganze 
Versuch dauernd rektifiziert und erweitert. Insbesondere war es das Verfahren 
der „Blinddiagnosen“, welche Rorschachs Versuche berühmt gemacht haben 
und aus denen er mit größtem Fleiß immer weiter lernte. 


Die Ergebnisse des Versuches. 

Zu den Ergebnissen des Versuches im einzelnen Stellung zu nehmen, 
ist nicht die Absicht dieser Bemerkungen. Hier muß die experimentelle 
Praxis entscheiden. Nur einige wenige Punkte seien hervorgehoben. Daß die 
Rorschach sehen Erlebnistypen eine wertvolle Bereicherung der Typen¬ 
psychologie darstellen, das scheint mir keinem Zweifel zu unterliegen. Gerade 
hier tritt insbesondere gegenüber der rein „idealtypischen“ Typenforschung 
der experimentelle Charakter seiner Ergebnisse recht ins Licht. Dabei darf 
immerhin nicht vergessen werden, daß die Aufstellung bestimmter „Ideal¬ 
typen“ (hier im medizinisch-psychologischen und klinischen Sinn) dem ganzen 
Versuch ja zugrunde liegt und ihm, wie wir gezeigt haben, vorausgeht. Aber 
dies einmal eingesehen, läßt sich nicht verkennen, daß Rorschachs 
Erlebnistypen mit all ihren äußerst interessanten Beziehungen zur Klinik, zu 
Geschlecht und Rasse, Alter und momentaner psychophysischer Konstellation, 
zu Talent und Vorstellungstypus neue Bahnen für die Typenforschung eröffnen 
und eine Erweiterung und Vertiefung unserer Kenntnis der morphologischen 
Struktur der „Seele“ darstellen. Für den Methodologen interessant ist 
dabei der Ausblick, wie die, sagen wir „geistes-psychologisehen“ Idealtypen (im 
Sinne Jaspers’ und Sprangers) und die naturwissenschaftlich-klinischen 
Typen in Beziehung zueinander zu treten berufen sind; denn je schärfer undL 
genauer die psychologischen Typen in ihrer Wesenheit phänomenologisch und 
im Sinne der geistigen Strukturgesetzlichkeit bestimmt und herausgearbeitet 
sind, zu desto eindeutigeren und klareren Ergebnissen wird auch ihre natur¬ 
wissenschaftliche Untersuchung führen. Bis vor kurzem waren es ja meist 
Typen im Sinne der Vulgärpsychologie oder einer medizinisch-psychologischen 
Einzelrichtung (vgl. auch Jungs Psychologische Typen), an welchen man sich 
mit der naturwissenschaftlich-funktionalen Zergliederung und Synthese ver¬ 
suchte. Was nun wieder Rorschachs Typenforschung besonders wertvoll 







Mitteilungen 


521 


macht, ist der Umstand, daß sie nicht, wie die meisten Typenlehren, das Indivi¬ 
duum erschlägt und das Allgemeine (den^Typus) auf den Thron hebt (wobei 
das Individuum bestenfalls nachträglich eine allgemeine Etikette umgehängt 
bekommt, wie z. B. in seiner Bestimmung als „ein Introvertierter“, „ein theo¬ 
retischer Mensch“ usw.), sondern daß sie, wie aus ihrer diagnostischen 
Brauchbarkeit ohne weiteres hervorgeht, letztlich immer wieder das Indivi¬ 
duum in seiner einmaligen, einzigartigen Individualität einzufangt n imstande 
ist. Natürlich dürfen wir uns dabei nicht verhehlen, daß es sich, wie bei aller 
„Naturwissenschaft der Seele“, auch hier, bei Rorschach, nicht um die 
Erfassung der individuellen seelischen Person, sondern um die der indivi¬ 
duellen seelischen Struktur handelt. Der Versuch zeigt ja nicht, wie 
Rorschach selber scharf hervorhebt, was die Person lebt (wer sie ist), 
sondern wie sie, wenn auch gerade nur sie, erlebt; und er zeigt dies bis in 
alle möglichen Einzelfunktionen und Komplexe solcher. Daß wir aber mit der 
seelischen Struktur, dem seelischen Apparat allein nicht auskommen, weiß der 
Autor sehr gut. Unbekannt mit der H u s s e r 1 sehen Phänomenologie, auf 
deren Boden allein hier völlige Klarheit zu gewinnen ist, sucht er das spezi¬ 
fisch Personenhafte noch im Trieb, in der Libidobesetzung der einzelnen 
Dispositionen oder Register des seelischen Apparates. „Erst der Trieb macht 
aus den dispositioneilen Momenten aktive Tendenzen.“ Mit dieser Unter¬ 
scheidung, die ja auch der Psychologie Freuds zugrunde liegt, und deren 
methodologische Bedeutung noch nirgends ins richtige Licht gestellt worden 
ist, ist die Grenze der naturwissenschaftlichen Betrachtung des Seelenlebens 
erreicht, und hier beginnt, richtig verstanden, ein neues Reich, das Reich der 
Psychologie der Person. Naturwissenschaftliche Darstellung ist hier dann nur 
noch Fiktion, nur noch Umschreibung oder Vergleich, ist dann nur noch eine, 
hier ganz besonders deutlich in die Augen springende „Resignationsstufe des 
Erkennens“ (im Sinne von Th. H a e r i n g). 

Für den Psychoanalytiker ist Rorschachs Versuch einmal 
im Hinblick auf die Möglichkeit der analytischen Verwertung der „inhaltlichen“ 
Reaktionen oder Antworten wichtig. Auf die überraschend zutreffende Deutung 
der abstrakten Antworten in dem Vortrag in der Schweizer Psychoanalytischen 
Vereinigung wurde oben schon hingewiesen. (Die Einzelheiten müssen im 
Original [S. 208 ff.] nachgelesen werden). Der Rorschach sehe Versuch tritt 
damit an die Seite des Jung sehen Assoziationsexperimentes. Wie dieses ver¬ 
mag es dem Analytiker unter Umständen eine rasche vorläufige Orientierung 
oder eine nachträgliche experimentelle Bestätigung seines Befundes zu liefern. 
Noch wichtiger scheint mir aber ein anderer Umstand zu sein: Rorschach 
ißt es zum erstenmal gelungen, die affektive und Cha¬ 
rakterumwandlung, wie sie durch die Analyse bewirkt 
werden kann, experimentell nachzuweisen. Hier ist der Fall 12 
(Zwangsneurose) der „Psychodiagnostik* mit seinen beiden Befunden vor und 
nach der Analyse von größtem Interesse. Nach fünfmonatiger Analyse ist 
der Erlebnistypus deutlich verändert. „Die introversiven Momente sind freier 
und kräftiger, die Affektivität ist anpassungsfähiger, weniger egozentrisch. 
Die Affektgeladenheit ist weg. Anpassungsfähigkeit, Einfühlungsfähigkeit, 








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Mitteilungen 


Stetigkeit des Rapports haben gewonnen. Introversive und extratensive Momente 
sind freier; die im ersten Befund deutlich sichtbaren Anzeichen von Koartation 
(Verdränguag introversiver und extratensiver Momente) sind viel spärlicher. 
Die Erlebnisfähigkeit ist wieder ungestörter.“ „Die Versuchsperson hat sich 
infolge der Analyse dem Befunde entsprechend verändert. Der Reflexions¬ 
krampf, die zwanghafte bewußte Überwachung jedes Gedankens und Erlebnisses 
von innen und außen, die jede Erlebnisfähigkeit erdrosselte, ist gewichen.“ 
Sicherlich hat der Psychoanalytiker genug andere Kriterien, um jene Befreiung 
und Erweiterung der Erlebnisfähigkeit seines Kranken zu erkennen und richtig 
zu bewerten. Wem aber an einem über das Gebiet der psychoanalytischen 
Feststellungen hinausgehenden wissenschaftlichen Ausbau und Beweis der ana¬ 
lytischen Heiliechnik gelegen ist, der darf an diesem Befund nicht vorüber¬ 
gehen. Sicherlich wird nicht jede Analyse eine so deutliche Differenz der 
Versuchsergebnisse vor und nach ihrer Durchführung aufweisen; kennen wir 
doch alle jene vielen gleichsam „leerlaufenden“ Analysen, wo, sei es durch 
unsere Schuld, sei es infolge konstitutioneller und klinischer Schranken, das 
analytische Zahnrad „leerläuft“, ohne in tieferliegende Verkuppelungen ein¬ 
zuhaken. Aber auch das negative Resultat, das hier zu erwarten wäre, wäre 
interessant. 

Für den psychiatrischen Kliniker ist, abgesehen von den vielen 
wertvollen diagnostischen Einzelergebnissen (insbesondere hinsichtlich des 
manisch-depressiven Irreseins, der Schizophrenie, Epilepsie, der Psychopathien 
und der Zwangsneurose) am wichtigsten die Tatsache, daß auch in diesem 
Versuch die von vielen modernen Autoren (Birnbaum, Jaspers, Kret¬ 
schmer u. a.) auf dem Wege klinischer Analyse gewonnene Unterscheidung 
von individueller seelischer Konstitution und Krankheitsprozeß sehr scharf 
heraustritt (vgl. den Abschnitt 19 der „Psychodiagnostik“ über Erlebnistypen 
und Krankheit). Alle die Möglichkeiten, die wir von der Klinik her kennen, 
alle jene Wechselbeziehungen zwischen präformierenden, pathogenetischen und 
pathoplastischen Faktoren (Birnbaum) und vieles andere tritt auch hier in 
Erscheinung. Wichtig in bezug auf die Lehre von der Schizoidie (Bleuler, 
Kretschmer) ist die Tatsache, daß durch den Versuch oft nicht entschieden 
werden kann, ob es sich um eine manifeste oder latente Schizophrenie handelt, 
oder ob nur Schizophrene in der Familie Vorkommen: „praktisch ganz geheilte 
Katatoniker können einen schwereren Befund aufweisen als manifeste und 
mehrere Male deutete der Befund bestimmt auf Schizophrenie bei Leuten, die 
im Leben nicht eine Spur von Schizophrenieverdacht aufweisen, die aber 
schizophrene Eltern oder Geschwister haben“ (Psychodiagnostik, S. 113). Wenn 
sich die Befunde bestätigen, können sie der klinisch-biologischen Typenlehre 
wichtige Dienste leisten. Hinsichtlich der „Wahl der Psychosenform“ innerhalb 
der Gruppe der Schizophrenien ist folgendes Ergebnis interessant: „Ursprünglich 
introversive Menschen erkranken, wenn die schizophrene Noxe, das unbekannte 
Etwas, das die Schizophrenie verursacht, in die Psyche eindringt, an Paranoid, 
extratensive an Hebephrenie, der Mitte nahekommende oder ganz ambiäquale 
an Katatonie'" (a. a. 0., S. 108); hinsichtlich der Beziehungen zwischen Rasse 
und Psychosenform folgendes: „Mehr introversive Rassen geben typischere 







Mitteilungen 


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Katatonien und produktivere Paranoide und halluzinieren mehr kinästhetisch 
als die extratensiveren, die viel mehr hebephrenoide Katatonien und wenig 
produktive Paranoide hervorbringen und überwiegend akustisch halluzinieren“ 
(ebenda). 

Das psychodiagnostische Werk Rorschachs ist ein wissenschaftlicher 
Mikrokosmos, gleichsam eine wissenschaftliche »Monade“, die immer und 
überall den Makrokosmos, das wissenschaftliche Universum widerspiegelt, dem 
sie entstammt, nämlich die medizinisch-, speziell psychiatrisch-psychologische 
Denkrichtung. Deswegen gibt es kaum ein lehrreicheres Mittel, die praktische 
Leistungsfähigkeit jenes Makro-„kosmos* zu veranschaulichen, aber auch das 
wissenschaftlich Problematische und Fragwürdige an ihm aufzudecken, als die 
nähere Zergliederung dieses Versuches und seiner Grundlagen. 









Kritiken und Referate. 


E. Bleuler: Naturgeschichte der Seele und ihres Bewußt¬ 
werdens. (Berlin, Julius Springer, 1921.) 

Die anregenden Darstellungen, die wir immer wieder aus der Feder des 
Züricher Psychiaters erhalten, sind wohl berechtigt, auch bei seiner neuesten 
Publikation unser Interesse zu wecken. Das Buch, das sich eine Elementar¬ 
psychologie nennt, will nicht nur eine zusammenfassende Beschreibung 
psychischer Dinge geben, sondern eine Naturgeschichte der Seele. Naturwissen¬ 
schaft soll auch hier das Fundament der Arbeit sein. 

Nach kurzer Besprechung der Mittel, womit wir unsere Psyche kennen 
lernen, sucht er das Bewußtsein aus der Funktion des Zentralnervensystems ab¬ 
zuleiten. Auf dem Satze: Die Psyche ist eine Gehirnfunktion, baut er seine Arbeit 
auf und oft genug greift er im Verlaufe der Darstellung auf die organische Grund¬ 
lage zurück. Das Bewußtsein wird als Funktion des Gedächtnisses beschrieben: 
»Es fehlt deshalb jeder Grund, noch andere Bedingungen des Bewußtseins zu 
suchen, als die oft genannten des Gedächtnisses und der funktionellen Einheit.* 
(S. 44.) Es scheint ihm nun darauf anzukommen, darzulegen: »Wie die bekannten 
physischen Funktionen des Zentralnervensystems, unter denen natürlich dem 
Gedächtnis wieder die wichtigste Rolle zukommt, von selbst und notwendig 
eine Person gestalten, die zur bewußten werden muß!“ (S. 47.) 

Der »psychische Apparat* wird nun unter Heranziehung der Semonschen 
Engrammlehre nach allen Richtungen hin entwickelt (das Gedächtnis, das Denken, 
die Affektivität), vermeidet es nicht auf philosophische Fragen einzugehen 
^Kant, Deussen), die Religiosität und die Religionen kommen zur Sprache, 
um endlich ins Meer der Lebens-Weltanschauungen zu münden. 

Es werden eine Menge von Fragen behandelt, aber noch mehr gestellt. 
Was mir am Herzen liegt, ist klarzulegen^ wieweit psychologische Fragen in 
engerem Sinne zur Darstellung kommen, Fragen, die ausschließlich in die 
Erfahrungsebene des Seelenlebens fallen, in der zu verharren wir in der 
Psychoanalyse gewohnt sind, um überhaupt vergleichbare Grüßen zu gewinnen. 
Ich hatte stets den Eindruck, daß die Psychologie da zu beginnen habe, wo 
die »Logik* (kausal-mathematisches und reales Denken) aufhört, da wo der 
Gedankenablauf unter die Herrschaft unkontrollierter Affekte gerät. Da setzt ja 
die Psychoanalyse ein. 








Kritiken und Referate 


625 


Diesem Denken, das aus inneren Motiven fließt, ist ein Kapitel gewidmet 
unter dem Namen: „Das dereierende Denken“, worüber in einer Fußnote 
folgendes verlautet (S. 191. Anm. 3): „Ich habe es (das dereierende Denken) 
bis jetzt »autistisches“ Denken genannt, weil es im Autismus der Schizophrenie 
zuerst gesehen wurde und dort am ausgesprochensten in die Erscheinung tritt. 
Der Name wurde aber mißverstanden ... So war ich gezwungen, einen 
anderen vorzuschlagen: Dereieren kommt von reor, ratus sum (ratiOj res, real) 
logisch, der Wirklichkeit entsprechend denken. Dereieren wäre also wörtlich: 
Denken, das von der Wirklichkeit absieht oder abweicht.“ 

„Das dereierende Denken,“ so lesen wir S. 192, „verwirklicht unsere Wünsche, 
aber auch unsere Befürchtungen; es macht den spielenden Knaben zum General, 
das Mädchen mit seiner Puppe zur glücklichen Mutter; , . . dem Träumenden 
dient es zur Darstellung seiner geheimsten Wünsche und Befürchtungen.“ 
„Trotzdem das dereierende Denken (S. 193) die gewöhnlichen Erfahrungs- 
Zusammenhänge im Prinzip nicht ausschließt, ja oft (z. B. in der Dichtung) in 
Einzelheiten selten von denselben abweicht, kann man doch sagen, daß es 
seine eigenen Gesetze hat, die genauer zu erforschen eine dankbare 
Aufgabe wäre.“ 

Dieser Ausspruch klingt nun doch etwas wunderlich, denn die wichtigsten 
Entdeckungen auf dem Gebiete des „dereierenden Denkens“ stammen aus 
einem Kreise von Forschern, die sich zur Aufgabe gesetzt haben, dieses Phantasie¬ 
denken zu ergründen: Freud und seine Schüler. Man würde dann mehr über 
die Motive dieses abweichenden Denkens erfahren: Haß, Liebe, Angst, Eifersucht, 
seelische Größen, die doch so recht eigentlich zur „Elementarpsychologie“ gehören. 

Bleuler macht vielleicht mit Recht darauf aufmerksam, daß die „fonction 
du röel“ das Primäre ist „und erst auf den höchsten Stufen kommt mit der 
Intelligenz die Möglichkeit zu dereieren hinzu“ (S. 194). Die Phantasie wächst 
aus der Versagung realer Objekte heraus und Wünsche nähren dieses unreale 
Denken. 

Etwas eigentümlich erscheint mir der folgende Passus, der kategorisch 
ausgesprochen wird: S. 243. „Eine Art Rassenselbstmord ist auch die Rassen¬ 
vermischung, in der die Rassen zugrunde gehen, wenn auch unter (seltenen) 
Umständen neue daraus erstehen . . . Der natürliche Instinkt sagt jeder Rasse, 
daß sie die höchste sei und die Verbindung mit einer anderen eine Mesalliance 
und vor dem Forum der Wissenschaft hat der Instinkt recht.“ 

Gewiß, es ist in den heutigen Tagen des Rassenhasses nicht ohne Gefahr, 
dem Rasseninstinkt psychologisch auf den Leib zu rücken. Bleuler bestreitet 
aber augenscheinlich dem Forscher das Recht, diese Frage überhaupt zu unter¬ 
suchen und wandelt den Lehrstuhl der Naturwissenschaft zum Tribunal. 

Es ist nämlich gar nicht unwahrscheinlich, daß diese Rasseninstinkte 
aus Niederschlägen uralter Traditionen herauswachsen, also psychologischen 
Größen, vor denen allerdings das wissenschaftliche Denken nicht halt¬ 
machen sollte. 

Freud wird nun im Verlaufe der Darstellung mehrmals zitiert. Ich 
kann aber nicht den Eindruck loswerden, als ob immer nur der Autor der 
„Studien über Hysterie“ gemeint sei und nicht der Schöpfer der 







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Kritiken und Referate 


Traumdeutung. Dadurch ist natürlich die Stellung des Buches zur Psychoanalyse 
eindeutig festgelegt. 

Über das Unbewußte wird viel gesagt, aber ohne auf die entscheidenden 
Unterschiede von unbewußt und vorbewußt Rücksicht zu nehme i. Es könnten 
viel Mißverständnisse und Unklarheiten vermieden werden. S. 301 tut Bleuler 
dem Entdecker des Unbewußten entschieden unrecht, wenn er sagt: „Freud 
meinte deshalb, das Unbewußte sei zeitlos und amoralisch: Das ist nicht richtig. 
Im Unbewußten können sogar oft viel genauere Zeitbestimmungen verkommen, 
als es dem bewußten Ich zu vollziehen möglich wäre. . . .“ Freud bestritt nie 
der menschlichen Seele die Fähigkeit, hochzusammengesetzte geistige Leistungen 
zu vollziehen, ohne daß das „Ich“ davon Kenntnis erhält. Das Unbewußte im 
engeren Sinne besteht aber tatsächlich aus scharfumschriebenen Wünschen, 
die sich andauernd der bewußten Moral des Ichs widersetzen. 

Die Frage, ob Freud zu seinem Unbewußten auch die latenten Engramme 
rechnet (S. 100), ist insofern belanglos, als sich die Psychoanalyse der Semon- 
sehen Terminologie gar nicht bedient Bleuler äußert sich darüber nochmals 
in der Fußnote, S, 300: „Dann vor allem alle die Arbeiten der Freudschen 
Schule, wobei aber darauf aufmerksam zu machen ist, daß sie die latenten 
Engramme auch dazu zählt“ 

Übrigens scheinen tiefgehende Differenzen zwischen dem Sprachgebrauch 
Bleulers und dem Freuds zu bestehen (in der Bedeutung des Wortes 
Sexualität, Perversion usw.), was auf die sehr verschiedene Erfahrungswelt 
der beiden Forscher zurückgehen muß und auf die verschiedenen Arbeits¬ 
methoden. Es ist etwas anderes, ob die wissenschaftlichen Begriffe aus klinischem 
Material herauswachsen, das heißt aus unzählig vielen anamnestischen Beobach¬ 
tungen, die sich mosaikartig aneinanderreihen — wovon Bleuler einen erstaun¬ 
lichen Reichtum besitzen muß — oder aus sorgfältigen Analysen relativ weniger 
Patienten, die aber jahrelang tagtäglich ihr assoziatives Denken vor dem Forscher 
ausbreiten, wodurch sich das amnestische Dunkel über der Kindheit erhellt 
und das ganze Tun und Lassen des Kranken, sein Charakter im Zusammen¬ 
hänge verständlich wird. 

Der Grundsatz der Analyse ist aber multum und nicht multa. 

Dr. Ph. Sarasin. 

Ludwig Binswanger: Einführung in die Probleme der allgemeinen 

Psychologie. (Berlin, Julius Springer, 1922.) 

Das vorliegende Buch, das von großer Literaturkenntnis zeugt, will den 
Leser in das „Grundproblem“ der wissenschaftlichen Psychologie einführen, in 
das der „Subjektivität als solche“ oder in das des Bewußtseins. 

So umfassend die Aufgabe erscheint, so eindeutig ist doch die Richtung 
und das Ziel der Untersuchung: das Subjektive. 

Das Fundament, woraus die Arbeit emporwächst, bilden die philo¬ 
sophischen und psychologischen Werke eines Stumpf, Brentano, 
Husserl, Lipps, Natorp, Leibnitz, Kant, um nur einige Autoren zu 
nennen, die teils persönlich zu Worte kommen, teils in die Untersuchungen 
verwoben sind. 









Kritiken und Referate 


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Es braucht kaum erwähnt zu werden, daß das Buch nur von psychologisch¬ 
philosophischer Seite gewürdigt werden kann; seine Lektüre setzt eine 
entsprechende Literaturkenntnis und die nämliche Interessenrichtung voraus. 

Der Psychoanalytiker und Arzt, der bei seinen Forschungen das Subjektive 
jeglicher Art ganz auszuschalten pflegt, kühl und sachlich seine Beobachtungen 
anstellt, fühlt aber seine Aufmerksamkeit auf das Buch gelenkt, da die Widmung 
zwei Forschern gilt, die philosophischen Bemühungen fernstehen: Bleuler 
und Freud. Beide Namen werden auch im Texte genannt. Ich habe darum 
das Buch gelesen und zu verstehen gesucht. 

Das Werk zerfällt in zwei große Abschnitte. Im ersten wird das Problem 
der Subjektivität am eigenen Ich erörtert, im zweiten Teile wird die Anwendung 
aufs fremde Ich gemacht. 

Dem Begriff und seiner Bedeutung wird besondere Sorgfalt zugewandt. 
Betrachten wir das Buch nun genauer. Zuerst wendet sich der Autor der 
Definition des Psychischen zu und verbreitet sich über dessen „sachliche 
Eigentümlichkeiten“. Wir hören von den „inhaltlichen Wirklichkeiten des Seelen¬ 
lebens“ (D i 11h e y), vom „Freien und Schöpferischen“ darin (B e r g s o n, 
James, H. L o t z e), vom Zusammenhang und der inneren Einheit des Psychi¬ 
schen ; vor allem, daß es Eigenschaften, die wir an wirklichen Objekten wahr¬ 
nehmen, nicht besitzt; das Psychische ist nicht identifizierbar, nicht quanti¬ 
fizierbar, nicht objektivierbar. 

Dann eröffnet sich uns die eigentliche Welt des Seelenlebens: „Die 
Bewußtseinstatsache im Sinne der Subjektivität als solcher.“ 

Die Funktionspsychologie Stumpfs bildet die Ouvertüre; die Lehre 
Brentanos von den psychischen Akten und vom inneren Bewußtsein, 
H u s s e r 1 s Phänomenologie und seine Lehre von den intentionalen Erleb¬ 
nissen, und Untersuchungen Natörps grenzen den Gegenstand schärfer ab 
und erläutern die Wissenschaft vom „Unmittelbaren“. 

Die Untersuchungen werden immer subtiler, die Materie ätherischer, 
bis wir in die verfängliche Nähe Kants geraten. Da geht ein leises Beben 
durch die Darstellung. 

Der Königsberger Philosoph scheint das Subjektive als Erkenntnisobjekt 
zu bestreiten, wodurch die Ergebnisse des ersten Teiles in Frage gestellt 
würden. Der Autor glaubt aber den Begriff des einheitlichen Bewußtseins¬ 
stromes gegenüber Kant „retten“ zu können, um den Begriff des empirischen 
Ichs, der sich bei Kant in die Identität einer bloßen Funktion aufzulösen 
drohte, wieder in seine Rechte treten zu lassen (S. 223). Und schließt damit 
den ersten Teil. 

Der zweite Teil, der bedeutend kürzer ausfällt, wendet das voran¬ 
gegangene auf ein fremdes Ich an. Ich möchte sagen, er enthält die Projektion 
eigener Erlebnisse auf eine andere Person. Es wird von der Assoziations¬ 
und Einfühlungstheorie gesprochen; zu breiter Darstellung gelangt eine Unter¬ 
suchung über das unmittelbare „Verstehen“ des anderen Menschen auf Grund 
der Sprache und der äußeren Gebärden, bis die fremde Person vor, uns steht, 
die weiterhin mit Metaphysik, Ethik, Geschichte usw. konfrontiert und solcher¬ 
maßen erläutert wird. 








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Kritiken und Referate 


„Dabei haben wir uns noch ganz auf allgemein-psychologischem Gebiet 
bewegt, und wir brechen die Untersuchung gerade an dem Punkte ab, wo sie 
in das Gebiet des tatsächlichen Betriebes empirischer Personwissenschaft 
einmündet.« (S. 357.) 

Nun ist diese Arbeit in einer gewissen harmonischen Stimmung gehalten 
und zeugt vom Geiste Bergsons. Es ist darum nicht zu verwundernj daß B. 
in einer beiläufigen Fußnote Behauptungen aufstellt, die den Reirultaten der 
psychoanalytischen Forschung stracks zuwiderlaufen. Auf S. 46 sagt er in der 
Fußnote folgendes: 

„Wir können hier darauf aufmerksam machen, daß im Grunde genommen 
die ,Verdichtung‘ gar keine aktive und sekundäre Verbindung getrennter 
Vorstellungen ist, sondern den primären normalen Zustand in den tieferen 
Bewußtseinslagen darstellt, und daß die begriffliche ,Dissoziation‘, die 
Trennung des ursprünglich dicht Vereinigten, einer Arbeit des Geistes 
zu verdanken ist. Wenn wir von Verdichtung reden, denken wir an die Ver¬ 
einigung oder Konzentrierung des vorher Geschiedenen, während es sich im 
Traumleben um ein Zusammensein des nachher, d. h. durch Analysis zu 
Trennenden handelt. Durch die assoziations-psychologische Auffassung des 
Bewußtseinslebens wird, wie B e r g s o n einmal mit Recht sagt, alles auf den 
Kopf gestellt.« (S. 46.) 

Wer glaubt, daß mit der Assoziationspsychologie die wirklichen Zusammen¬ 
hänge der Seele entstellt werden, schließt sich Goethe an, der die Optik 
Newtons verwirft, die das zarte Licht mit unnatürlichen Experimenten quäle. 
Das Licht als poetisches Erlebnis ist eben etwas anderes, denn als physikalisches 
Objekt und ganz gleich steht es mit der Psychologie. Die Seele verliert im 
Krist;illspiegel des Geistes alles Poetische und Dämmerhaft-Intuitive und wird 
zum wissenschaftlichen Objekt. Der Menschenfreund mag davor zurückschrecken, 
der Forscher niemals. 

Mehrmals wird versucht, Freud in die historische Darstellung ein¬ 
zuflechten, aber immer nur unter Begleitung eines anerkannten Denkers, zum 
Beispiel B e r g s o n (S. 46), Schleiermacher (S. 268), N ietzsch e (S. 267). 

Es fehlt nicht an Anerkennung des Wiener Forschers (S. 303 und S. 352), 
aber seine Resultate werden ignoriert. 

Das Werk soll nun eine Einführung in eine Psychologie sein, die auch 
die Freudschen Resultate umfaßt, scheint aber nicht mehr zu leisten, als jedes 
philosophische System, das auch stets die ganze Welt umspannt. Diese 
Betrachtungsweise ist aber von der Freuds toto coelo verschieden. 

Es ist offenbar ein Verhängnis jeder Psychologie, immer wieder 
philosophisch zu werden, als könnte der menschliche Geist die empirische 
Nacktheit auf die Dauer nicht ertragen. Die Tendenz, die Psychoanalyse 
philosophisch zu neutralisieren, ist unverkennbar. 

Der Weltkrieg hat aber mit seiner unsinnigen Zerstörungswut zu deutlich 
gezeigt, daß die menschliche Seele nicht nur aus himmlischem Dufte besteht. 
Mit der Intuition kommt man aber diesen gefährlichen Triebkomponenten 
des Menschen nicht bei. Dr. Ph. S a r a s i n. 








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C. 0. Jung : PsychologischeTypen. (Rascher & Cie., Zürich, 1921, 708 S.) 

Die inhaltliche Zusammenfassung dieses dickleibigen 
Buches kann im folgenden gegeben werden: Es seien typische, charakteristische 
Unterschiede im psychischen Gesamlhabitus der Menschen auffindbar; die 
größten zwei Gruppen werden von den habituellen Einstellungstypen 
des Introvertierten und Extravertierten gebildet. Dabei soll 
Introversion ein Hineinströmenlassen der „Energie“ vom Objekt ins Subjekt 
und Loslösung der „Energie“, des .Interesses“ vom Objekte zugunsten des 
Subjekies bedeuten, Extraversion hingegen soll das Herausgehen an ein 
Objekt, das Sichanklammern an das Objektive, eine Strömung der „Libido“ 
vom Subjekt zum Objekt bezeichnen, wobei unter Objekt auch die Mitmenschen, 
die eingepflanzten Gewohnheiten, die Wahrheiten, die Normen der CJmgebungs- 
welt zu verstehen seien. Innerhalb dieser beiden Einstellungstypen sollen noch 
je vier Typen den vier Grundfunktionen gemäß (Denken, Fühlen, Empfinden, 
Intuieren) unterscheidbar sein. Infolge der kompensierenden Funktion 
des Unbewußten sollen die nicht im Vordergründe stehenden, vom 
Bewußtsein „verdrängten“ Grundfunktionen und Einstellungen im Unbewußten 
zur stärkeren Entfaltung gelangen. Solche im Unbewußten wirkende Funktionen 
reißen nach Jung archaische Bilder aus dem Inventar des „kollektiven Unbe¬ 
wußten“ an sich und bedrohen, falls sie größere Energien an sich ziehen, das 
Netz der bewußten Funktionen mit Durchbruch. — Eine Versöhnung 
beider Einstellungstypen müsse in einem mittleren Zustand gelingen, 
welcher Folge einer mit Symbolbildung einhergehenden „transzendenten 
Funktion“ sei; in diesen mittleren Zustand progrediere man mittels der 
(religiösen) Andacht. — Alle diese Behauptungen werden mit 
Beispielen aus der antiken und mittelalterlichen Geistesgeschichte, aus Werken 
von Schiller (naive und sentimentalische Dichtung, ästhetische Stimmung 
als mittlerer Zustand), von Spitteier (Prometheus und Epimetheus), von 
O s t w a 1 d (romantischer und klassischer Gelehrter), usw. erläutert, natürlich 
bleibt auch die heute wieder zur Mode gewordene Berufung auf die 
brahmanische, buddhistische Lehre nicht aus. 

Die Tendenz des Werkes, gut umschriebene Typen auszuarbeiten, ist 
^ine Zeitströmung, mit dieser Arbeit möchte die Psychologie zur praktischen 
Wissenschaft, zur Menschenkenntnis werden. Die viele Forscher beschäftigende 
Frage heißt: wie soll nun diese Typengliederung stattfinden? Merkwürdigerweise 
finden wir bei Jung das Typenproblem in der Philosophie, Psychiatrie 
Ästhetik, Biographie wenigstens stichprobenweise besprochen, doch liest man 
hein Wort über das Typenproblem in der Typenlehre l W. Sterns grund¬ 
legendes Buch (Die differentielle Psychologie, 1911) sagt schon, daß alle Ein¬ 
teilungen der Typen (er bespricht besonders die „Darstellungstypen“) zwei 
Einteilungsprinzipien miteinander verquicken: „Einerseits nämlich liegt eine 
tjliederung vor nach der gesamten Art, wie das Subjekt zur Welt und zu den 
Objekten Stellung nimmt; hier stehen sich ein ,objektiver‘ und ein 
,subjektiver* Darstellungstyp gegenüber. Andererseits existiert eine Typik 
nach der Art, wie das Material des Erlebnisses intellektuell bewältigt 
worden ist“ 








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Kritiken und Referate 


Jung handelte also nach allem dem im Geiste von W. Stern, des 
Philosophen der „Person und Sache“, als er seine Typengliederung aufstellte, 
nur ist zu bemerken, daß das Erscheinen gerade der generell-psychologischen 
Systematik in der Typenlehre nicht mit dem Streben Sterns zusammenfällt, 
sondern eher diejenigen altmodischen Bücher über die Kinderfehler in den 
Sinn ruft, welche die Systematik der Kinderfehler mit der Einteilung in 
Fehler des Empfindens, Denkens, Wollens, Fühlens abgetan wissen wollten. 
Der neuere Bearbeiter der psychologischen Typenlehre, Jaspers (Psycho¬ 
logie der Weltanschauungen, 1919), fällt auch nicht mehr in diesen Fehler. 
Jaspers’ Haupteinteilung gründet sich auch auf die Einstellungen, welche 
das Subjekt-Objektverhältnis bezeichnen wollen (gegenständliche, 
selbstreflektierende und, beiden übergeordnet, ihren Gegensatz mehr 
oder weniger aufhebend,die enthusiastische — man denke an Jungs 
religiöse Andacht! —Einstellung), aber innerhalb der gegenständlichen Ein¬ 
stellung z. B. nimmt er eine aktive, eine kontemplative, eine mystische Ein¬ 
stellung an, verläßt also die allgemein-psychologische Systematik. 

Sind wir so im Begriffe auszusprechen, daß Jung eigentlich als ein Schüler 
Sterns das Problem bearbeitet — wenn auch ohne den elan vital von Jaspers 
— so könnte uns entgegengehalten werden, daß Jung vom Unbewußten, von 
Libido spreche, er verkünde also eine psychoanalytische Lehre. Nun 
aber, gerade in der Art, wie er diese Begriffe verwendet, zeigt sich 
seine Abhängigkeit von Stern und nicht von Freud. Stern 
lehrt auch („Die menschliche Persönlichkeit“, 1918), daß die Grundlage der 
Person vom Unbewußten gebildet wird und „daß der Mensch die schwachen 
Stellen seiner Persönlichkeit sich selbst preisgegeben im Unbewußten bestehen 
lasse“, und sie dann ins Bewußtsein als Hieroglyphen hineinbrechen. Stern sieht 
auch alles, was die Persönlichkeit angeht, im Lichte der Teleologie, des ziel¬ 
strebigen Geschehens, wie Jung; für die einheitliche zielstrebige Kausalität 
nimmt er als Erklärungsgrund eine psychophysisch-neutrale „Entelechie“, 
einen der Libido ähnlichen Begriff (in Jung schem Sinne!). 

Was würde demgegenüber eine psychoanalytische Typenlehre verlangen? 
Man denke hier an das Musterbild der Ausarbeitung des analerotischen 
Charakters — wovon wir bei Jung nichts erfahren —, dann an die 
Prinzipien der psychoanalytischen Einteilung der Neurosen: die psychoana¬ 
lytische Typenlehre muß stets die Triebentwicklung vor Augen halten, 
sie muß sich auf die Kenntnis der Sexualkonstitution stützen, andererseits aber 
muß sie die einzelnen psychischen Systeme in ihrer Ausgestaltung, in ihren 
inhaltlichen Bezügen und in ihrer gegenseitigen Kommunikation veranschau¬ 
lichen, wobei auf die Entwicklung des Ichsystems, der Idealbildung, des 
Ichinteresses ein besonderer Wert gelegt werden soll. Eine sehr geringe 
Annäherung wenigstens zur Forderung der Kenntnis der biologischen Eigen¬ 
schaften zeigt ein dritter Typen-Forscher, Kretschmerbei Jung bleibt 
aber Stern, Jaspers, Kretschmer unerwähnt, erwähnt wird Freud, 


' Auch Kretschmers Haupteinteilung (Zyklothymiker, Schizothymiker) deckt sich 
mit dem Objekt-Subjekt-Gegensatze. 









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doch mit welchen Begriffen verkettet! Libido ist bei Jung Intensität 
des psychischenGeschehens, der Begriff entbehrt also nicht nur des 
sexuellen Charakters, sondern ist auch von der — sogar durch die Phäno- 
menologen zuerkannten - Qualität der Liebe gereinigt: Jung scheint 
überhaupt keine T r i e b e n t w i ckl u n g im Sexuelien zu 
kennen. Und sein Unbewußtes? Er kennt kein vor be wußtes, kein 
unbewußtes System; bei ihm liegen Funktionen „unbewußt“ bereit 
(wieso und wieso Funktionen „verdrängt“ werden können, wird nicht 
angegeben). Jung kennt, kurz gesagt, die psychoanalytischen Begriffe nicht: 
der Freudsche Narzißmus wird z. B. definiert als ein relativ unange- 
paßter Zustand, wo das „Seelenbild“ nicht projiziert wird (dabei bedeutet 
das Seelenbild die Darstellung der inneren Einstellung durch bestimmte 
Personen, vom Unbewußten produziert). Wie kann Narzißmus ohne den 
F reudschen Libidobegriff definiert werden? — Die Freudsche Deutung soll 
die Phantasie auf die kausalen elementaren Triebprozesse reduzieren; Jung 
weiß scheinbar nicht, daß die Psychoanalyse Deutungen aus verschiedenen 
Schichten des Ubw. zuläßt, daß auch die gegenwärtigen, bewußten 
Wunsche, Befürchtungen, Ahnungen als Traummaterial aufgefunden werden 
können. Die Psychoanalyse soll nach Jung eine extrem extravertierte Wissen¬ 
schaft sein: er bemerkt nicht, daß Freud, in dem auch die Gegner die 
kunstvolle Einfühlung in fremdes Seelenleben schätzen, stets lehrt, der Arzt 
soll bei der Analyse sein eigenes Unbewußtes frei wirken lassen: das ist 
extreme Extraversion? 

Nur nebenbei sei bemerkt: auch philosophische Termini sind falsch 
gewählt (Verwechslung von transzendent und transzendental). „Metaphysik“ 
hat für ihn die psychologische Bedeutung von „unbewußt“. Daß die Wörter 
„Gott“ (eigentlich nur höchster Wertl, „Erlösung“ so oft von Jung verwendet 
werden, zeigt von einem geringen Grad der wissenschaftlichen Bescheidenheit 

Und daß gegenüber der reduktiven (Freudschen) Methode die 
eigene konstruktive gesetzt sei, soll nicht ein Versprechen sein? - will 
Jung nicht destruktiv statt reduktiv sagen? Ist die eigene Methode 
die in diesem Buche dargestellte, so kann man sie getrost der reduktiven 
gegenüber als regressive Methode bezeichnen. Dr. Imre Hermann 

Paul Schilder: DasUnbewußte. (Zeitschr. f. d. ges. Neur. u. Psych. 1922,80. Bd.) 

Es wird das Unbewußt-Psychische gesucht in der Funktion der Sinnes¬ 
organe, in der „Gegenstandsfunktion“, im Wirkungswert der Erlebnisse, in 
„dem körperliche Form gewordenen Automatismus“. Hier liege überall nur 
Körperliches, Nichtpsychisches vor. Ferner in einer Reihe psychischer Erlebnisse: 
im Akterleben, in den Erlebnissen auf niedrigerer Bewußtseinsstufe, im F r e u d- 
schen Unbewußten, in der vergessenen Vergangenheit. Aber auch alle diese 
psychischen Erlebnisse seien bewußt, wenn auch „in einer besonderen 
Gegebenheitsweise“, die Schilder „sphärisch“ nennt. „Ich vertrete also die 
nach Freud unhaltbare Anmaßung, daß alles Psychische bewußt sei.“ 

Die Einzeltatsachen, aus welchen der psychoanalytische Begriff des 
Unbewußten (=Verdrängten) hervorgegangen ist, werden nicht geleugnet, viel¬ 
mehr: „die Sphäre fällt mit dem System Ubw. Freuds zusammen.“ 

Internat. Zeitschr. f. Psychoanalyse, IX/ 4 . 35 







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Kritiken und Referate 


Wenn einer theoretischen Anschauung, unter Anerkennung der sie 
konstituierenden Einzeltatsachen, von anderer Betrachtungsweise eines Phäno¬ 
mens her eine andere Formulierung des Betrachteten entgegengehalten wird, 
wie hier, so ist zu fordern, daß die neue Anschauung ihre Existenzberechtigung 
erweise. Als Nachweis würde das Aufzeigen neuer heuristischer Möglichkeiten 
oder praktischer Konsequenzen genügen. 

Schilders Erörterungen über das Unbewußte fußen zum größten 
Teile, soweit es sich überhaupt um psychoanalytisch Unbewußtes handelt, auf 
Untersuchungen über die Gedankenentwicklung. Jeder Gedanke ist nach 
S c h i 1 d e r das Resultat einer biologischen Einstellung, also eines Triebes 
Rein phänomenologisch wird nun die Gegebenheitsweise alles Gegenständlichen 
beschrieben: „Jedes Bild, alles Gegenständliche liegt in einer Sphäre, die alles 
umschließt, was dem Gegenstände sachlich ähnlich ist, oder sich teilweise mit 
ihm deckt, aber auch alles, was durch unser individuelles Erleben diesem 
Gegenstände jemals räumlich oder zeitlich näher rückte. Wir könnten das 
einem Bilde oder Begriffe Zugehörige als seine Sphäre bezeichnen. Jedes 
Erlebnis wird zunächst die Sphäre als Ganzes anklingen lassen .... Jeder 
auf tauchende Gedanke, jedes auftauchende Bild liegt in der Richtung einer 
Intention, einer biologischen Einstellung. Die Sphäre zeigt die Einstellungs¬ 
richtung im Groben an, der fertige Begriff entspricht einem endgültigen bio¬ 
logischen Ziel.. . Stellen sich der Erreichung biologischer Ziele Hindernisse in 
den Weg, so verbleibt die Intention in der Sphäre und sie gelangt nicht zu 
dem eigentlichen Ziel, sondern nur zu einem assoziativ verwandten.“ Es ist 
die richtige phänomenologische Umschreibung der Verdrängung und Ver¬ 
schiebung. 

Die Verdrängung Freuds hätte demnach auch die Funktion, die 
Gedankenentwicklung zu hemmen, der Gedanke bliebe auf primitivster Stufe, 
id est in der Sphäre stecken. Ein verdrängtei: Name könnte somit z. B. durch 
das Gefühl des „Etwas-auf-der-Zunge-habens“ doch bewußt repräsentiert sein. 
Der Analytiker sagt in diesem Falle, der Name ist systematisch verdrängt, 
das heißt unbewußt Dagegen wäre nichts einzuwenden. Es ist ja auch nichts 
gegen die Annahme einzuwenden, daß ein Gedanke, der erst nach vielen 
Analysenstunden zur vollen Entfaltung kommt, schon sehr früh in Spuren 
vorhanden war. Wir können auch annehmen, daß in der Selbstbeobachtung 
geschultere Patienten uns von ihrem jeweiligen Bewußtseinsinhalt viel mehr 
mitteilen könnten. Man hat es in der eigenen Analyse deutlich erfahren, wie 
voll das Blickfeld des Bewußtseins in Momenten scheinbarer Gedankenlosigkeit 
von Fetzen, Schemen, Ansätzen von Gedanken ist, deren Bemächtigung nur 
selten gelingt. Es sei also zugegeben, daß das Bewußtsein weiter reicht, als 
oberflächliche Selbstbeobachtung denken läßt. Schilder unternimmt aber 
einen sehr gewagten Schritt, wenn er von hier aus per analogiam die Bewußt¬ 
heit alles Seelischen im Längsschnitt, nicht nur im Querschnitt, des Erlebens 
postuliert. Wie denkt sich Schilder die gleichzeitige, bewußte 
Gegebenheit alles vergangenen Erlebens? Diese Frage ist es gerade, die wir in 
der Schrift gerne beantwortet gesehen hätten. War es doch das Problem der 
latenten psychischen Inhalte, das zur Aufstellung der Begriffe unterbewußt. 








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nebenbewußt etc. in der nichtanalytischen, zur Postulierung eines Vorbewußten 
und Unbewußten in der Psychoanalyse geführt hat. 

Was der Autor in dieser Frage selbst vorbringt, ist höchst unklar: „Ist 
die Vergangenheit denn überhaupt im Bewußtsein und wie ist sie denn dort 
vertreten? Ich weiß, daß die Annahme, alles Vergangene sei im Erlebnis¬ 
hintergrund, in den Fringes gegeben, gewaltsam zu sein scheint, doch halte 
ich sie aus Gründen, die ich im einzelnen hier nicht angeben kann, für die 
beste. Auch das bewußte Erlebnis ist unzerstörbar, es kann, wie das auch die 
Psychoanalyse zeigt, in unveränderter Form wieder auf volle Bewußtseinshöhe 
kommen. Es wäre demnach anzunehmen, daß die Vergangenheit auf tiefster 
Bewußtseinsstufe da ist und nicht in sphärischer Gegebenheitsweise (?). Gleich¬ 
wohl sendet die Vergangenheit fortwährend Abkömmlinge in die Sphäre hinein, 
so daß jedes Erlebnis gleichsam doppelt repräsentiert ist, sphärisch (im 
Unbewußten) und auf geringerer Bewußtseinsstufe im Vbw.“ 

Wo liegt das heuristisch Wertvolle dieser Annahme? Im Gegenteil: daß 
durch den Versuch, das psychoanalytisch Unbewußte phänomenologisch als 
bewußt zu erfassen, zu jener Verwirrung führen muß, die die Psychoanalyse 
durch die Aufstellung des „Unbewußten“ beseitigt hat, betonte Freud in der 
Diskussion über die mündlich referierte Arbeit. 

Das Unbewußte als solches ist nicht faßbar, alle Beweise Freuds 
für die Existenz eines Unbewußt-Psychischen sind indirekte (posthypnotischer 
Auftrag, Diskontinuität des Bewußtseins, Nichtwissen um „Woher“ und „Wozu" 
der Symptome, infantile Amnesie etc.). Die Annahme eines Unbewußt- 
Psychischen ist nach Freud „durchaus legitim und notwendig“. Der Versuch 
Schilders, das Unbewußte Freuds den Klauen erkenntniskritischer 
Einwände dadurch zu entreißen, daß ihm eine eigenartige bewußte 
Gegebenheitsweise zugeschrieben wird, ist hier mißlungen und überdies 
undurchführbar. Schilder unterschätzt sicherlich nicht sonst, aber 
bestimmt in dieser Arbeit im Interesse dieses Versuches die Reichweite 
des psychoanalytisch Unbewußten; das Problem der Symbolbildung wird 
nur gestreift, die Frage nach Wesen und Wirkung der' Urszene, eine der 
wichtigsten in der analytischen Theorie des Unbewußten überhaupt, wird 
nicht erwähnt. 

Die Tatsache des im Interesse der Ökonomie des Denkens notwendigen 
physiologischen Vergessens steht im diametralen Gegensatz zur S c h i 1 d e rschen 
Annahme. 

Schilder bezweifelt sicher nicht die Tatsache, daß unbewußte Wünsche 
und Befürchtungen durch Konversionssymptome zum Ausdruck kommen können. 
Wir können aber nicht annehmen, daß der psychische Gehalt der „Organ- 
sprache“ dem Kranken in einer wie immer gearteten Form bewußt sei. 

Die psychoanalytische Forschung und Auffassung zeigt gerade in neuester 
Zeit die Tendenz, das Bereich des Unbewußten noch weiter zu umgreifen, es 
verwischen sich die Grenzen zwischen Somatischem und Unbewußt-Psychischem 
und Konsequenz dieser tiefgehenden Erkenntnisse und Vermutungen ist der 
Glaube, daß ,das organische Geschehen mit den Triebmechanismen als wesens¬ 
gleich“ angesehen werden müsse; aber auch diese Anschauung Schilders, 

35 » 









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Kritiken und Referate 


die wir teilen möchten, steht im Widerspruch zum Ausspruch: „Alles Seelische 
sei auch bewußt.“ 

Auch für den Psychoanalytiker interessant ist die Erörterung der 
Gedankenentwicklung. Ihren Vorläufer bildet eine frühere Arbeit des Autors 
(Über Gedankenentwicklung. Zeitschr. f. d. ges. Neur. u. Psych. 1921). Hier ist ein 
Stück wertvoller formaler Psychologie entstanden auf Grund analytischer 
Triebpsychologie und phänomenologischer Betrachtungsweise. Gefährlich 
scheint aber der Versuch, phänomenologische, psychoanalytische und bio¬ 
logische Standpunkte zu vereinigen, wenn er mit Preisgabe wertvoller theoretischer 
Formulierungen erkauft wird. Wir hätten es als eine Bereicherung unserer 
theoretischen Anschauungen gewertet, wenn Schilder nicht mehr hätte 
aufzeigen wollen, als daß mittels feinerer, sozusagen histologischer Betrachtungen, 
ein Stück unbewußten Materials, als bewußt gegeben, nachgewiesen werden 
kann. Dr. Wilhelm Reich. 

Gaston Roffensiein : Zum Problem des Unbewußten. (Zeitschr. f. d. 

ges. Neur. u. Psych., 80. Bd,, 1922.) 

Ablehnung des Versuches, den Begriff des Bewußtseins soweit zu strecken, 
daß er auch die niedrigsten Bewußtseinsstufen in sich faßt. Es gibt ein 
Unbewußt-Psychisches. Methodologisch: wie soll „das Nichtbewußte den 
Gegebenheitscharakter des Psychischen erlangen?“ 

Ablehnung der Annahme einer ununterbrochenen psychischen Kausal¬ 
reihe. Die Psychoanalyse biete aus sich heraus kein Kriterium für die Richtig¬ 
keit ihrer Behauptungen. Deutung sei nicht wissenschaftlich. Freud selbst 
gebe zu, daß das Urverdrängte rekonstruiert werden müsse. Es gibt kein 
Kriterium für die Richtigkeit der Konstruktion. 

Jede andere Deutung könnte ebenso richtig oder falsch sein. — Die 
Dynamik der psychoanalytischen Heilung sei nicht klar. Freuds völker¬ 
psychologische Untersuchungen hätten keine Bestätigung der Neurosenlehre 
gebracht, „von einer wirklich unabhängig festgesteilten Parallelität der Vor¬ 
gänge“ kann keine Rede sein. Es handle sich lediglich um eine Umdeutung 
der Völkerpsychologie, die von anderen Ethnologen und Massenpsychologen 
geliefert wurde. Das „Unbewußte“ Freuds ist, insoweit es nicht vom 
Bewußtsein nach Aufhebung der Widerstände agnosziert wird, .nicht Gegen¬ 
stand einer gesicherten wissenschaftlichen Erkenntnis“. Immerhin gehe aber 
„aus der Unfähigkeit einer Methode, aus sich heraus Kriterien für die Richtig¬ 
keit ihrer Ergebnisse zu liefern“, noch nicht deren Unbrauchbarkeit hervor. 
„Und aus der Unbeweisbarkeit oder Unanerkennbarkeit eines folgt noch 
nicht dessen Nichtexistenz.“ „Logisch ist nur an der unbedingten Unterscheidung 
zwischen Wissenschaftlichkeit und Deutungsmöglichkeit, methodologisch auf 
die gewaltige kritische Unbekümmertheit hinzuweisen, ich möchte sagen auf 
die Selbstgenügsamkeit der psychoanalytischen Methode, die im ewigen Zirkel 
immer Neues durch gewagte Kombinatorik aus sich gebiert, ohne nach ander¬ 
weitigen, wirklich selbständigen Bestätigungen auszuschauen.“ 

Es wäre sehr zu wünschen, wenn jene Forscher, die erkenntniskritisch 
und methodologisch soviel gegen die psychoanalytischen Forschungsergebnisse 









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einzuwenden haben, sich einmal die Mühe nehmen wollten, einige Jahre 
psychoanalytische Tatsachen sehen zu wollen. Die Psychoanalyse hat gegen 
eine Auseinandersetzung mit erkenntniskritischen Einwänden sicher nichts 
einzuwenden —, sie darf aber vorerst fordern, daß der Erkenntniskritiker 
analytisch durchgebildet und erfahren sei. Vielleicht kommt er dann, staunend 
über diesen Widerspruch mit seinen methodologischen Bedenken, zu dem 
Schlüsse: und sie bewegt sich doch.“ — Die psychoanalytische Methode 

aber muß alle methodologischen Bedenken theoretischer Natur, ohne sie zu 
übersehen, schon angesichts der einen Tatsache an zweite Stelle rücken, daß 
bei richtiger, langdauernder Analyse nicht allzu selten die erfolgte Rekonstruktion 
eines wichtigen, verdrängten Erlebnisses aus frühester Kindheit durch nach¬ 
folgende Außenanamnese ihre Bestätigung erfährt. — Das vom Autor in 
bezug auf Wissenschaftlichkeit bezweifelte „Konvergieren“ des analytischen 
Materials in eine bestimmte Richtung, die sich' ergebende Notwendigkeit 
einer bestimmten Deutung sind analytische Tatsachen. Das Ausbleiben 
eines deutlichen Erinnerungsgefühls ist ein noch ungelöstes psychoanalytisches 
Problem. Dr. Wilhelm Reich. 

J. Sadger : Die Lehrevon denGeschlechtsverirruagen(Psycho- 
pathiasexualis) auf psychoanalytischer Grundlage. 

(Leipzig und Wien, Franz Deuticke, 1921.) 

Der bekannte Autor, dem wir eine Reihe wertvoller Beiträge zur psycho¬ 
analytischen Erforschung der Perversionen verdanken,^ tritt mit dieser Arbeit 
in einem größeren Werke vor die breitere Öffentlichkeit, um für die psycho¬ 
analytische Auffassung der Perversionen in leidenschaftlicher Weise zu werben; 
er fußt im wesentlichen auf Freuds Anschauungen, geht aber auch ver¬ 
schiedentlich seine eigenen Wege, wobei für Uneingeweihte leider nicht 
deutlich ersichtlich ist, was heute Allgemeingut der Analytiker ist, was 
S a d g e r s eigene Anschauungen sind. Der Titel, der an das bekannte Werk 
von Krafft-Ebing denken läßt, verspricht mehr, als das Werk hält: es 
bespricht nicht alle Perversionen, sondern nur die Homosexualität, den sado¬ 
masochistischen Komplex,2 den Fetischismus und den Exhibitionismus. Ehe 
die eben genannten Perversionen besprochen werden, führt der Autor den 
Leser in einem „Allgemeinen Teil“ in die psychoanalytische Auffassung der 
Entwicklung der Sexualität von der frühesten Jugend an ein — unter besonderer 
Betonung des Ödipus- und des Kastrationskomplexes — und widmet der 
psychischen Impotenz, der vaginalen Unempfindlichkeit der Frauen und der 
Onanie ein besonderes Kapitel. Eine ungeheure Menge von Wissen, eine schier 
erdrückende Fülle von Einzelbeobachtungen aus der psychoanalytischen 
Praxis und aus dem täglichen Leben — in vielen arbeitsreichen Jahren 
gesammelt — ist in diesem Werke niedergelegt. Eine umfangreiche und gründ¬ 
liche Kenntnis der Literatur, sowohl der nichtanalytischen als auch der 
neuesten psychoanalytischen, welche der erfahrene Wiener Forscher sich ganz 

* Siehe meine Würdigung eines kleines Teiles von Sadgers wissenschaftlichen 
Verdiensten im „Bericht über die Fortschritte der Psychoanalyse in den Jahren 1914—1919, 
S. 74—77. 

2 Gemeint sind die beiden verwandten Perversionen, kein „Komplex“. 








536 


Kritiken und Referate 


zu eigen gemacht hat, zeigt sich auf Schritt und Tritt; das Wesen des Narzißmus, 
der prägenitalen Organisationsstufe, des weiblichen Kastrationskomplexes, 
von Starkes Kastrationskomplex — um nur einige neuere psychoanalytische 
Arbeiten herauszugreifen — sind dem Autor gut vertraute Dinge. 

Mit hervorragender Gründlichkeit und auf ein umfangreiches Material 
gestützt, wird immer wieder gezeigt, welche entscheidende Rolle Kastrations¬ 
und Ödipuskomplex bei der allmählichen Entwicklung der vom Autor 
besprochenen Perversionen spielen — in vollster Übereinstimmung mit Freuds 
„Ein Kind wird geschlagen“ — sicher ein großer Fortschritt in unserem 
Verständnis der Perversionen; was Freud dort in Bezug auf eine Perversion, 
den Masochismus, gelehrt hat, wird dem Leser auch in Bezug auf andere 
Perversionen in so einleuchtender Weise dargestellt, daß es sich als Mittelpunkt 
für das Verständnis der Perversionen einprägt. Am klarsten und übersicht¬ 
lichsten (zugleich auch am kürzesten) sind die Kapitel über den Exhibitionismus 
und den Fetischismus geraten; letzteres in Anlehnung an Stenogramme des 
Autors von zwei nicht publizierten Vorträgen von Freud, welche der Leser 
auf diesem Umwege kennen lernt. In Bezug auf die Vielseitigkeit der zu 
berücksichtigenden Gesichtspunkte bei der Erforschung der Homosexualität 
erfährt diese eine schlechterdings vollkommene Darstellung; die Lektüre der 
Kapitel: „Weitere Erkenntnisse“ (S. 131), „Neueste Forschungen“ (S. 141) und 
„Ergänzungen“ (S. 161) kann jedem Analytiker wärmstens empfohlen werden. Bei 
der Darstellung des Masochismus wird den von Freud eine wesentliche Rolle 
zugeschriebenen Schuldgefühlen sicher eine zu geringe Würdigung zuteil. 

Ich komme damit zu den Schattenseiten des umfangreichen Werkes: 
Sadger verteidigt die Psychoanalyse mit außerordentlicher Leidenschaftlichkeit; 
wir jüngeren Schüler von Freud fürchten aber die Angreifer nicht mehr. 
Unseres Erachtens hat sich das Lebenswerk unseres Lehrers in dem Maße in 
der Welt durchgesetzt, daß wir es getrost erwarten können, wie die allmählich 
seltener werdenden Gegner sich verlieren. Der gereizte Ton veranlaßt den 
Autor, wissenschaftlich andersdenkende Forscher, wie z. B. den bereits ver¬ 
storbenen V. Krafft-Ebing oder Moll und insbesondere Magnus Hirsch¬ 
feld, in einer Weise anzugreifen, wie sie sonst in wissenschaftlichen Werken 
nicht üblich ist; auch Bleuler wird mit einer burschikosen Redewendung 
gekennzeichnet; selbst eine gehässige Bemerkung über einen früheren Patienten, 
einen von ihm behandelten deutschen Psychiater, kann der Autor nicht unter¬ 
drücken. (S. 235 und 257.) Infolgedessen wirkt das Werk mehr wie eine 
Streitschrift als wie ein Lehrbuch, welches gesichertes Wissen vermittelt. Ein 
anderer wunder Punkt des Werkes ist folgender: der Autor verteidigt in der 
Einleitung seinen Gebrauch deutscher Ausdrücke im Gegensatz zu den sonst 
gebräuchlichen lateinischen: „Es läßt sich ja doch jeder Ladenschwengel diese 
Stellen unschwer ins Deutsche übersetzen,“ aber er verfällt in einen anderen 
Fehler: er gebraucht immer wieder, nicht bloß in Assoziationen von Patienten, 
vulgäre deutsche Ausdrücke, für die es überall auch weniger anstößige 
deutsche Bezeichnungen gibt. Die vom Autor gepriesene Unbefangenheit 
(S. 5) den Erscheinungen des Geschlechtslebens gegenüber („man muß den 
Mut haben, dieser Tatsache ins Gesicht zu sehen, darf sich nicht entsetzen ob 








Kritiken und Referate 


537 


dieser naturgewollten Einrichtung“) fehlt ihm immer wieder; Ausdrücke wie: 
»recht arge Ausschweifung“ (S. 153), »Rädelsführer“ (S. 137), »zu maßlosem 
Masturbieren und später zu einem zuchtlosen Leben verleitete“ (S. 306), 
»andere Untaten werde ich später erzählen“ (S. 306), »der verbohrteste 
Masochist“ (S. 239), »de Sade .,. dieser Lüstling der Grausamkeit* und »die 
ungeheuerliche Antimoral der schweren Sadisten“ (S. 223) zeigen eine Ver¬ 
urteilung dessen, was unserem Verständnis näher gebracht werden soll. 

Erschwert wird die Lektüre ferner dadurch, daß die Gruppierung des 
unendlich reichhaltigen Materials nicht genügend erkennen läßt, was wesentlich, 
was weniger wichtig ist, was tiefste, unbewußte Schicht des Seelenlebens ist, 
was mehr aus dem Vorbewußten stammt. Gerade das Kapitel über die Homo¬ 
sexualität, welches die meisten Anregungen gibt, zeigt diesen Fehler der 
Darstellungsweise am deutlichsten. 

Die Leidenschaftlichkeit der Darstellung führt den Autor leider zu Ein¬ 
seitigkeiten, Übertreibungen, Widersprüchen und zum Vertreten von Ansichten, 
welche sicher falsch sind, wie z. B. diese: »Alle Perversionen sind neurologisch 
als Zwangsantriebe, zwangsmäßige Handlungen zu bezeichnen, für deren 
Bildung einzig die Gesetze der Zwangsneurose gelten“ (S. 87). Daß die Lust 
am Kinderkriegen bei einer Mutter nur so zu erklären ist, daß sie »das Glück 
der infantilen Perversitäten genießen will mit ihrer Uro- und Koprophilie, der 
Befriedigung ihrer Schaulust und Hauterotik“ (S. 79—81), ist eine durch nichts 
zu rechtfertigende Einseitigkeit. 

Der ständige Hinweis auf die konstitutionelle Verstärkung der »Haut-, 
Schleimhaut- und Muskelerotik“, die »natürlich“ immer wieder vorhanden ist, 
wirkt nirgends überzeugend. Ich habe vielmehr den Eindruck, daß überall 
dort, wo der Autor keine psychologische Erklärung findet, die eben erwähnte 
»konstitutionelle Verstärkung“ sich wie ein Deus ex machina einstellt (zum 
Beispiel S. 305, Ende des ersten Absatzes). Nur ein einziges Mal wird durch 
entsprechendes Material der Nachweis von der »enormen“, »mächtigen“ Haut-, 
Schleimhaut- und Muskelerotik zu erbringen versucht (S. 305—307); doch gerade 
dieser Nachweis mißlingt: manche der Züge, wie z. B. daß die Patientin sich 
schon als ganz kleines Kind gern an den nackten, molligen Leib der Mutter 
anschmiegte, finden sich bei sehr vielen Kindern; an anderen Stellen ist die 
psychologische Begründung, wie z. B. »und Vater konnte sich nicht satt sehen“ 
(das heißt an der Geschicklichkeit des vierjährigen Mädchens) übersehen 
worden; müssen wir hier noch nach einer konstitutionellen Verstärkung suchen? 
Ein Widerspruch ist es, wenn der Autor Magnus Hirschfeld wegen der 
von ihm vertretenen Adaptionstherapie leidenschaftlich bekämpft, aber selbst 
für dieselbe eintritt (S. 88). 

Mit Entschiedenheit tritt der Autor für die prinzipielle Heilbarkeit der 
Perversionen durch eine psychoanalytische Behandlung ein, welche ich auf 
Grund zahlreicher Erfahrungen nur bestätigen kann; doch der so ungemein 
wichtige Beweis ist leider nur in ganz ungenügender Weise erbracht worden. 
Alle Patienten S a d g e r s sind nur wenige Wochen oder Monate in seiner 
Behandlung gewesen, so daß sich über die Dauer der erzielten Erfolge, auf 
die es ankommt, nichts sagen läßt; auch in der Therapie der Neurosen 











538 


Kritiken und Referate 


erzielen wir häufig zu Beginn der Behandlung einen überraschenden Erfolg 
— doch das dicke Ende kommt nach. Wenn der Autor behauptet, daß er in 
einem Falle von psychischer Impotenz „bereits nach vier Sitzungen eine 
Dauerheilung durch Auflösung der Mutterbindung“ (S. 96) erzielt hat, so wird 
das in den Kreisen von Freuds Schülern Zweifel erregen. Wenn diese 
einzig dastehende Leistung aber nicht anzuzweifeln sein sollte, so weist das 
Werk eine wesentliche Lücke auf: die Darstellung der Technik, durch welche 
die Auflösung der Mutterbindung in vier Sitzungen erzielt worden ist, müßte 
die ganze bisherige psychoanalytische Therapie revolutionieren 

In Bezug auf den Inhalt befriedigt der Teil des Buches, welcher den 
Schaden und den Nutzen der Onanie bespricht, wohl am wenigsten; die hier 
geschilderten Beziehungen zwischen Masturbation und Autoerotismus streifen 
nur die Oberfläche des Problems. Ausdrücke, wie: „da ist als Grundlage der 
Moral die Schwachheit der Hoden (gemeint ist eine Folgeerscheinung der 
Masturbation) nicht ganz zu verachten“ (S. 118) können der Psychoanalyse 
weder in Kreisen von Fachleuten noch von Laien Freunde werben. 

Ich muß offen bekennen, daß ich zur Besprechung des bereits 1921 
erschienenen Werkes mehrere Monate gebraucht habe, weil ich über einen 
Punkt keine Klarheit bekommen konnte: wie sind die ganz rätselhaft wirken¬ 
den, auf Grund von stenographischen Aufzeichnungen geschriebenen Kranken¬ 
geschichten zustande gekommen?! Eine Krankengeschichte eines Falles von 
Masochismus beginnt folgendermaßen: »Fall 1: Neunundzwanzigjährige 
Hysterica, die seit ihrer Kindheit schwer unter dem Zwist ihrer Eltern 
leidet. ,Seit meinem achten Lebensjahr sah ich, wie der Haß zwischen den 
Eltern immer mehr anwuchs, und betete zu Gott, er möge ihnen Frieden 
schenken und alles wieder so werden wie früher. Zur selben Zeit hatte ich 
auch öfter Gelegenheit, in der Nacht den Geschlechtsverkehr meiner Eltern 
zu belauschen. Am nächsten Tage jedoch standen die Eltern einander genau 
so feindselig gegenüber wie vorher, was bei mir tief nach wirktet“ Soll ein 
der Psychoanalyse unkundiger Leser den Eindruck erhalten, daß die Patientin 
schon in der ersten Stunde, ehe sie überhaupt irgendeine Angabe über ihr 
Leiden gemacht hat, von der Beobachtung des Geschlechtsverkehrs der 
Eltern zu erzählen beginnt? Und fast könnte man auf Grund der anderen 
Krankengeschichten zu dem Schluß kommen, daß S a d g e r s sämtliche 
Patienten nach ganz kurzer Analyse mühelos erzählen, was wir nach unendlich 
mühevollen, langwierigen Bemühungen manchmal zutage fördern! Mit 
welcher uns unbekannten Technik erreicht Sadger das? Wie weit sie von 
der üblichen der freien Assoziationen abweicht, lehrt am besten die Lektüre 
der Seite 290: immer wieder unterbricht Sadger hier die Patientin. Die 
Krankengeschichten lesen sich wie Aufsätze oder wie Romane, welche 
Patienten, die einen Teil der psychoanalytischen Literatur gelesen und mangel¬ 
haft verstanden haben, über die Entstehung ihres Leidens schreiben könnten 
Alle kommen ununterbrochen mit Erklärungsversuchen, Deutungen, Fragen, 
wobei sie sich jetzt darbietende Erscheinungen einfach auf bewußte Kindheits¬ 
eindrücke „zurückführen“, sie als Wiederholungen, als einfache Gewöhnungen 
schildern: „Vielleicht könnte das darauf zurückzuführen sein,“ ist eine Stereo- 









Kritiken und Referate 


539 


type Phrase bei allen — und die Aufdeckung der durch die Kindheits¬ 
eindrücke entstandenen unbewußten Vorgänge durch den Analytiker unterbleibt; 
auch wird den offenbar aus dem Vorbewußten stammenden Erklärungsversuchen 
ohne weitere Deutungsarbeit eine Beweiskraft zugeschrieben; dabei gliedern 
die Patienten ihre Erkiärungsversuche wie in einem Schulaufsatz in: erstens, 
zweitens, drittens usw. Sind das freie Assoziationen? Aufgefallen ist mir, 
daß Sadgers Patienten dieselben Ausdrücke, dasselbe Deutsch verwenden, 
wie S a d g e r selbst in seinem Text. Je länger ich mich in diese Kranken¬ 
geschichten vertieft habe, desto mehr hat sich in mir die Überzeugung 
verstärkt, daß alle Patienten von S a d g e r während der kurzen Behandlungen 
unter einer starken, ihm wahrscheinlich unbewußt bleibenden Suggestion des 
Autors, ihm zuliebe, ohne Widerstände das „assoziieren“, wovon sie auf Grund 
von Lektüre und suggestiven Fragen annehmen müssen, daß ihre Erklärungs¬ 
versuche dem Arzte gefallen könnten. Infolgedessen kommt den, wie gesagt, 
nach Stenogrammen veröffentlichten Krankengeschichten leider keine Beweis¬ 
kraft zu; außerdem geben sie Uneingeweihten kein zutreffendes Bild von 
einer psychoanalytischen Behandlung. 

Zusammenfassend muß ich zu meinem großen Bedauern sagen, daß 
die Schattenseiten des umfangreichen und ersten Werkes über die Perversionen 
auf psychoanalytischer Grundlage die Vorzüge desselben fast aufwiegen. Es 
wäre sehr zu wünschen, daß das Werk bei einer Neuauflage vom Autor 
wesentlich im Umfange verringert würde, besonders durch Fortlassung oder 
starkes Verkürzen der Krankheitsgeschichten, und in wesentlich anderem 
Gewände erscheinen möge; dann werden die unzähligen, wertvollen An¬ 
regungen auf weit fruchtbareren Boden fallen und dem Autor und der 
Psychoanalyse mehr Freunde werben! Dr F R n p ti m 


Berichtigung 

zum Artikel: Selektlonstheorie und Lustprinzip von Dr. R. Brun (ZUrloh) Im laufenden 
Jahrgang dieser Zeitschrift, Heft 2, S. 183 usf. 


1. Der Hinweis zur Anmerkung Nr. 1, Seite 183, gehört nicht zum 
Untertitei der Arbeit („Betrachtungen ... usw.“), sondern an den Schluß des 
ersten Absatzes der gleichen Seite: ... „... müssen sich zum mindesten . .. 
Einschränkungen ihres Geltungsbereiches gefallen lassen“. 


2. Dementsprechend gehört die Fußnote 2 natürlich nicht zi 
diesem Abschnitt, sondern zum Schlüsse des zweite: 
A.bsatzes auf Seite 185: „. .., daß sogar noch beim Kulturmenschen., 
für das triebhafte Handeln Nützlichkeitsgründe niemals ausschlaggebend sind“ 
— also an die Stelle der dort stehenden Fußnote 1, die somit zu streichei 
wäre (sie kehrt auf Seite 187 an richtiger Stelle wieder). 

3. Am Schlüsse der Fußnote 2 auf Seite 190 soll es heißen: „Cfr. übe: 
die sexuellen Wurzeln der Staatenbildung auch Freud“, — (nicht: und Freud) 


\ 













Zur psychoanalytischen Bewegung. 


VII. Internationaler Kongreß für Psychologie in Oxford. 

25. Juli bis 1. August 1923. 

Der letzte Internationale Kongreß für Psychologie hatte 1909 in Genf statt¬ 
gefunden. Es gab viele Anzeichen dafür, daß sich die Einstellung zur Psycho¬ 
analyse in diesem Zeitraum wesentlich geändert hat. Im Vorstand des Kongresses 
war die Psychoanalyse durch den Präsidenten der Internationalen Vereinigung 
vertreten und der Sekretär der Vereinigung war als Vertreter der deutschen 
Psychologie zum Kongreß eingeladen (der einzige Psychiater in dieser Stellung). 
Der Ton der während des Kongresses von seiten der verschiedenen Vorsitzenden 
und Redner gemachten zahlreichen Hinweise auf die Psychoanalyse und die 
den Vorträgen und Diskussionen der Psychoanalytiker gewährte Aufnahme 
zeigte klar, daß der Gegenstand allgemein als ergänzender und wichtiger Zweig 
der wissenschaftlichen Psychologie betrachtet wurde. Unter den sich auf 
Psychoanalyse beziehenden Vorträgen seien folgende erwähnt: 

ln seinem Vortrag über das Vorstellungsleben der Kinder verglich 
Dr. Karl Abraham die Gedanken der Kinder mit denen der Erwachsenen, 
wies auf seltsame, den ersteren eigene Merkmale hin, und darauf, daß diese 
sich wiederum im Unbewußten des Erwachsenen vorfinden. Er betonte beispiels¬ 
weise die Tatsache, daß das, was dem Erwachsenen als Ähnlichkeit erscheint, 
vom Kinde oft als buchstäbliche und absolute Identität angesehen wird; diese 
bildet oft die Grundlage für spätere Symbolik. ^ 

Bei einem Diskussionsthema über die „Einteilung der menschlichen 
Instinkte" waren die Referenten Dr. J. D r e v e r und Dr. Ernest Jones. 
Dr. Drever kritisierte Freuds dualistische Auffassung auf Grund ihres vermeintlich 
geringen empirischen Wertes. Der zweite Redner verteidigte diese Auffassung 
gerade wegen ihres großen empirischen Wertes und äußerte sich skeptisch Über 
die von akademischen Psychologen aufgestellten Listen unanalysierter „Instinkte". 
Es folgte eine lebhafte Debatte. 

Dr. Mac Curdy hielt einen Vortrag über bildliche Vorstellungen Inder 
Phantasie, der von J. C. Flügel vom psychoanalytischen Standpunkte aus 
kritisiert wurde. 

F. C. B a r 11 e 11, Professor der Psychologie in Cambridge, hielt einen 
Vortrag über Symbolik, dem ein ganzer Abend gewidmet war. Die angeführten 
Erwägungen waren oberflächlich, da sie nur die mehr bewußten Gebiete der 









Zur psychoanalytischen Bewegung 


541 


Seele berührten und das Verhältnis zwischen Symbolik und dem eigentlichen 
Unbewußten unbeachtet ließen, worauf Dr. Ernest Jones in .seiner Kritik 
besonders hinwies. 

Die Vorträge des Pfarrers Streeter und des Herrn Thouless 
behandelten das Verhältnis der Psychologie, besonders der Psychoanalyse, zur 
Religion. Der erstere verhielt sich weniger ablehnend als der letztere. Es folgte 
gute Gegenkritik von seiten der Psychoanalytiker. Zwei weitere Gegner, deren 
Vorträge debattenlos verliefen, waren Dr. William Brown aus Oxford und 
Dr. Alfred Adler aus Wien. Der letztere sprach über Fortschritte in der 
Individualpsychologie, aber die Fortschrittsbeweise waren nicht sehr einleuchtend. 
Morton P r i n c e und Pierre J a n e t hielten auch Vorträge, die jedoch nur 
in entfernter Beziehung zur Psychoanalyse standen. E. J. 

lY. Italienischer Psychologen-KongreB, Florenz, 

22. bis 25. Oktober 1923. 

Am ersten Kongreßtage erwähnte Prof. L u g a r o (Prof, der Psychiatrie 
in Turin), der erbittertste Gegner der Psychoanalyse in Italien, in der Dis¬ 
kussion über De Sarlos Vortrag: „Psychologischer Unterricht an den Uni¬ 
versitäten“, Freuds Psychoanalyse. Wahrscheinlich wollte er eine Gelegenheit 
benützen, seine Meinung über die Psychoanalyse zu äußern, weil er am 
nächsten Tage abreisen mußte und so beim Vortrage über Psychoanalyse 
nicht zugegen sein konnte. Die Psychoanalyse hätte nur in einem recht, und 
zwar in der Berücksichtigung der Tatsache, daß das, was uns durch die 
Introspektion gegeben ist, mangel- und lückenhaft sei. Es wäre deshalb aber 
grundfalsch, ein Psychisch-Unbewußtes anzunehmen. Das Bewußtsein (das 
offenbar mit Psychisch identifiziert wurde) sei ein aufflackerndes und wieder 
erlöschendes Licht. Nur durch die genaue Erforschung des uns tatsächlich 
objektiv gegebenen somatischen Substrates, welches die Fähigkeit habe, das 
Bewußtsein (idest: Psychisches) auf flackern zu lassen, könne die psychische Tätig¬ 
keit erforsbht werden. Die Psychoanalytiker gehen aber so weit, in uns eine 
zweite Persönlichkeit anzunehmen, die dazu da wäre, um uns zu schädigen. 

Ihm widersprachen mehrere Redner, darunter namentlich Prof. Alliotta 
(Neapel), indem er in sehr folgerichtiger Weise darlegte, daß der jähe Sprung 
vom Psychischen ins Physische nicht legitim sei und daß man nicht das 
Recht habe, das Psychische mit dem Bewußtsein glatt aufhören zu lassen. Es 
wurde auch von mancher Seite gesagt, daß man jeder Methode, auch der 
psychoanalytischen, zulassen müsse, zur Kenntnis des Seelenlebens beizutragen. 

Es ist erwähnenswert, daß in mehreren Vorträgen über Themen gesprochen 
wurde, die die größten Berührungspunkte mit der Psychoanalyse hatten, ohne 
daß dabei die Psychoanalyse erwähnt worden wäre. Prof. K i e s o w (Professor 
der Experimentalpsychologie in Turin) sprach über Individual- und Völker¬ 
psychologie, behandelte auch den Totemismus, merkwürdigerweise ohne 
Freuds Arbeit darüber, noch überhaupt die Psychoanalyse zu erwähnen. 

Prof. Ferrari (Psychiatrie, Bologna) sprach über Psychologie und 
Psychopathologie und wußte über die Psychoanalyse bloß zu sagen, daß die 
Versuche von Breuer und Freud, wie fruchtbar sie auch hätten sein 
können, leider in einen Pansexualismus ausgeartet seien. Bezeichnend sind 
Prof. T a n z i s (Professor der Psychiatrie, Florenz) Worte, der in der Dis- 










542 


Zur psychoanalytischen Bewegung 


kussion über Ferraris Vortrag das Wort ergriff. Er sagte, daß die öffent¬ 
liche Meinung dem Psychiater irrigerweise ein größeres Verständnis für die 
menschliche Seele zu schriebe. Die Psychiater seien aber • ganz einfache 
Menschen, da sie doch mit Kranken mit reduzierten psychischen Funktionen 
zu tun hätten. Und diese eigneten sich ganz und gar nicht zur Erforschung 
des normalen Seelenlebens. 

Dr. Assagioli (Florenz) sprach über eine neue Individualpsychologie, 
breitete sich über Jungs Intra- und Extrovertierten aus und bedauerte, daß 
Jung den Vorgang der Verdrängung vernachlässigt habe. 

Unter dem Vorsitze Prof. Ferraris hielt Dr. Weiß (Trieste) einen 
Vortrag über Psychoanalyse, zu dem er vom Kongreßausschuß eingeladen 
worden war, der mit lebhaftem Interesse angehört wurde (wird in extenso 
veröffentlicht). Prof. Ferrari sprach sich als Vorsitzender anerkennend über 
den Vortrag aus, Redner sei sehr gemäßigt gewesen, er freue sich, daß mit 
dem Pansexualismus aufgeräumt wurde, und eröffnete die Diskussion. 

Prof. Tanzi erklärte sich in der Beurteilung des Vortrages mit dem Vor¬ 
redner einig; auch er freue sich sehr, daß Freud den Pansexualismus über Bord 
geworfen hätte. Ferner sprach Tanzi von einem kühnen Flug der Psycho¬ 
analyse in das Reich der Philosophie und Metaphysik. „Welch Unterschied 
zu der Mäßigkeit, Ernst und Bescheidenheit, die in diesem Kongresse zutage 
getreten sind!“ Dr. Weiß hätte jedoch in allen Punkten Mäßigkeit gezeigt. 
Seine Patienten hätten sich seiner Ansicht nach in einem subhypnoiden 
Zustande befunden.^ Er fragt sich aber, warum die Psychoanalytiker nicht die 
Hypnose der langwierigen, für Arzt und Patienten aufreibenden und mühseligen 
psychoanalytischen Methode, vorzögen. Die Hypnose versetze doch das Subjekt 
in einen willen- und kritiklosen Zustand, in welchem es doch für jede 
Suggestion zugänglicher wäre. Vielleicht könne er sich (Redner) selbst die 
Antwort darauf geben: Nicht jeder Mensch sei hypnotisierbar. Er breitete sich 
hierauf über Fälle seiner eigenen Erfahrung aus, bei welchen er mit der 
Hypnose prompte Wirkung erzielt hatte. Die Hypnose sei aber keine Kunst, 
wiewohl sie dem Laien ungemein imponiere. Der Arzt trägt für ihre Wirkungen 
gar kein Verdienst. Da aber seiner Erfahrung nach die Erfolge mittels der 
Hypnose nie dauerhaft waren, habe er diese bald ganz aufgegeben. Er kenne 
zwar die psychoanalytische Methode nicht und hätte sie auch nie ausgeübt, 
aber er frage sich: Wenn sogar mit der Hypnose die Erfolge so kurze Dauer 
aufweisen, um wie viel flüchtiger müssen erst die psychoanalytischen Erfolge 
sein, da der Patient während der Behandlung bei Bewußtsein bleibt? 

Dr. Weiß erwiderte Prof. Tanzi, daß bei seinen Schilderungen seiner 
Erfahrungen mit der Hypnose, es ihm schien, als wohne er einer Vorlesung 
von Prof. Freud bei, welche Vorlesung auch veröffentlicht worden ist 
(„Vorlesungen“, Kap. XXVIII.). Auch Freud habe dieselben Erfahrungen 
gemacht wie Tanzi — vor mehr als dreißig Jahren; auch er sei zur selben 
Beurteilung über die Dauerhaftigkeit der Hypnoseerfolge gelangt und, von der 
Hypnose enttäuscht, habe er diese ebenfalls aufgegeben, jedoch mit einem 
Unterschiede: Daß er sich nämlich anschickte, eine neue Methode auszuarbeiten, 
um Dauererfolge zu erzielen. Und dies wurde ihm erst ermöglicht durch die 
Erforschung des Wesens und Mechanismus der Neurosen selbst. Diese 
Erforschung hat auch ein Licht sowohl auf das Wesen der Suggestion und 

^ Interessant ist, daß die psychische Einstelltingf infolg^e Agierens (Ühertragnng) den 
Eindruck eines hypnoiden Zustandes erweckt hat (Anm. d. Ref.). 








Zur psychoanalytischen Bewegung 


543 


Hypnose selbst geworfen, als auch auf so manche normale psychische Vorgänge. 
Die Erfolge haben Freud recht gegeben. Die Hypnose ist bloß als Palliativ¬ 
mittel erkannt worden. Der psychoanalytische Eingriff richtet sich hingegen 
gegen die Verursachung der Neurose. Es könnte die Hypnose wohl in Frage 
kommen, aber nicht als Palliativum, wohl aber eher als Hilfsmittel für die 
Erforschungs- und Befreiungsarbeit des Psychoanalytikers. Jedoch hat die 
Erfahrung gelehrt, daß wenn auch in der Hypnose anfangs einige Widerstände 
leicht nachlassen, sich diese schließlich zu einer unüberwindlichen Schranke 
gestalten. Deshalb habe man die Hypnose ganz verlassen. Da sich Professor 
T a n z i über Dauererfolge erkundigte, sei es Redner erlaubt, kurz über seine 
eigenen Erfahrungen zu berichten: Von 25 schweren Neurotikern, die in 
psychoanalytische Behandlung aufgenommen worden sind, wurden 4 nach 
kurzer Zeit aus der Kur aus verschiedenen Gründen entlassen und von den 
übrigen sind 18 praktisch dauernd geheilt. Für einen von diesen sind 
bereits zv^Ölf Jahre vergangen, ohne daß sich seine früheren Symptome wieder ein¬ 
gestellt hätten. Es handelte sich um Hysterien, Zwangsneurosen, Depressionen 
und zwei sexuellen Perversionen. Was den Pansexualismus anlange, konnte 
ihn Freud nie über Bord werfen, da er ihn doch nie bekannt hatte und 
der Freudsche Pansexualismus nichts anderes als eine pure Erfindung seiner 
Gegner oder derjenigen, die ihn mißverstanden haben, sei. Dieser Ausdruck 
stammte seinerzeit von Bleuler, der inzwischen sicher seine Meinung 
darüber geändert haben wird. Wahr ist jedoch, daß Freud uns gezeigt hat, 
daß die Bedeutung der Sexualität stark unterschätzt worden sei. 


Sitzungsbericht der Kasaner Psychoanaiytischen Vereinigung. 

Im Herbst 1923 hat die Kasaner Psychoanalytische Vereinigung folgende 
Sitzungen gehalten: 

16. Sitzung, den 28. August 1923. 

Dr. B. D. Friedmann: „Rudin* im Lichte der Psychoanalyse. 

Rudin — die Hauptperson des bekannten Werkes Turgenjews — bietet 
für die Psychoanalyse ein interessantes Material. Sein narzißtischer Charakter 
spiegelt sich in seinem Verhäitnis zu Natalie wie auch in seinem sozialen Verhalten. 

Diskussion: M. W. Netschkina, Dr. E. M. Penkowskaja, Al. R. Luria. 

17. Sitzung, den 4. September 1923. 

Al. R. Luria: Psychoanalyse und Marxismus. 

Der Verfasser findet in der analytischen Theorie und dem Marxismus 
eine Reihe verwandter methodologischer Standpunkte. Die Psychoanalyse kann 
dem Marxismus in seinen soziologischen Spekulationen sehr zu Hilfe kommen 
und ihnen einen konkreten psychologischen Inhait geben. Die methodoiogische 
Einheit von Psychoanalyse und Marxismus glaubt der Verfasser in folgendem 
zu finden: 1. Beide Richtungen sind durchaus analytisch; 2. beide haben 
mit dem menschlichen Unbewußten zu tun; 3. ihr Gegenstand ist die sozial- 
und genetisch determinierte Persöniichkeit; 4. sie studieren die Persönlichkeits¬ 
dynamik (Triebe-Sublimation usw.). 


J 








544 


Zur psychoanalytischen Bewegung 


Diskussion: M. W. Netschkina, M. G. Heffter. 

Gesch äf tliches: 

1. Um die Psychoanalytische Bewegung in Rußland zu konzentrieren, 
wird der Eintritt einiger Mitglieder der Kasaner Psychoanalytischen Vereini¬ 
gung in den Allrussischen Psychoanalytischen Verein mit dem Sitz in Moskau 
für wünschenswert gehalten. Zurzeit ist die Übersiedlung von Al. R. Luria, 
Dr. B. D. Friedmann und Dr. R. A. Averbuch nach Moskau bewilligt. 

2. An die Stelle der Austretenden wird Dr. E. M. Penkowskaja zum 
Schriftführer und M. W. Netschkina zum Mitglied des Bureaus gewählt. 

3. Das Thema „Marxismus und Psychoanalyse*^ wird als kollektives 

Diskussionsthema der Vereinigung angezeigt und die Hauptprobleme den Mit¬ 
gliedern: Dr. Averbuch, A. R. Luria, Dr. B. D. Friedmann und M. W. Netschkina 
zur Ausarbeitung übergeben. Al. Luria, Schriftführer. 

Frau Dr. S. Spielrein, bisher Mitglied der Schweizerischen Gesell¬ 
schaft für Psychoanalyse, ist nach Moskau übersiedelt und der dortigen Psycho¬ 
analytischen. Vereinigung beigetreten. 


Auf dem 27. Kongreß der französischen Nervenärzte (20. August 1923) in 
Besannen hielt Prof. H e s n a r d aus Bordeaux einen Vortrag über die Psycho¬ 
analyse, auf dessen Inhalt wir noch zurückkommen. 

Die Sozioioglsche Gaseiischaft in London veranstaltete im Herbst einen 
Kurs von sechs Vorträgen über den Einfluß der Psychoanalyse auf 
soziologische Probleme, die von den Mitgliedern der englischen 
Ortsgruppe gehalten wurden, und zwar von Dr. Ernest Jones (Einführung), 
Dr. James Glover (Das Individuum), Mr. J. C. Flügel (Die Familie), 
Dr. M. J. Eder (Politik), Miß Barbara Low (Erziehung) und Miß E. Sharp 
(Berufswahl). Das Interesse war so stark, daß eine große Zahl von Hörern 
keinen Platz finden konnte. 

Prof. N. E. Ossipow, der in Prag ansässige russische Psychiater, hielt im 
Seminar von Prof. P, B. Struve im Oktober zwei Vorträge über Totem und 
Tabu, um die russischen Soziologen mit der Freudschen Theorie und ihrer 
Anwendung auf die Soziologie bekannt zu machen. Später beabsichtigt 
Dr. Ossipow in der rechtswissenschaftlichen Gesellschaft einen allgemein 
gehaltenen Vortrag über „Freuds Theorie und die Soziologie“ zu halten. (Nach 
einem Bericht der in Berlin erscheinenden russischen Zeitung „Rul“ vom 
2. November 1923: „Ein russischer Anhänger Freuds“.) 

f Hugo Heller, der bekannte Wiener Buch- und Kunsthändler, starb in 
Wien am 29. November im 52, Jahre eines überaus arbeitsreichen Lebens. 
Die Wiener Psychoanalytische Vereinigung verliert eines ihrer ältesten Mit¬ 
glieder. Wie erinnerlich, war Heller der Verleger der ersten Jahrgänge der 
„Imago“ und der „Internationalen Zeitschrift für Psychoanalyse“, sowie — vor 
Gründung des Internationalen Psychoanalytischen Verlages — einiger Schriften 
von Prof. Freud; so konnte seine buchhändlerische Rührigkeit sich auch 
um die psychoanalytische Bewegung Verdienste erwerben. 







Korrespondenzblatt 

der 

Internationalen Psychoanal3d:ischen Vereinigung. 

Redigiert vom Zentralsekretär Dr. K. Abraham. 


Mitteilungen des Vorstandes. 

Wie den Gruppen bereits durch Zirkular mitgeteilt wurde, erscheint 
das Korrespondenzblatt zum erstenmal in veränderter Gestalt. Die gegen¬ 
wärtigen Verhältnisse nötigten zu einer Einschränkung seines Umfanges. Eine 
solche war aber nur durch eine redaktionelle Bearbeitung der Gruppenberichte 
möglich. Auf diese Weise wird zugleich eine größere Gleichmäßigkeit der 
einzelnen Berichte erzielt. Die redaktionellen Änderungen werden auf das 
Nötigste beschränkt. 

Die Herren Sekretäre werden auch an dieser Stelle gebeten, die Referate 
über Vorträge auf eine kurze Skizzierung des Inhaltes zu beschränken, die 
einige Zeilen nicht überschreiten soll. Die Angabe der Teilnehmer an einer 
Sitzung oder an einer Diskussion möge künftig unterbleiben. 

Der letzte Kongreß hat den Vorstand ermächtigt, den Ort des im Früh¬ 
jahr 1924 abzuhaltenden achten Internationalen Psychoanalytischen Kongresses 
sowie die genaue Zeit festzusetzen. Mit Rücksicht auf die gegenwärtigen 
Verhältnisse in Deutschland erschien es richtiger, den Kongreß auf öster¬ 
reichischem Boden abzuhalten. Der Vorstand beruft daher den Kongreß nach 
Salzburg ein, und zwar auf Ostermontag, den 21. April. Die Dauer des 
Kongresses ist auf drei Tage vorgesehen. Näheres wird den Gruppen so bald 
wie möglich durch Rundschreiben mitgeteilt. 


American Psycho-analytical Association. 

Die Jahresversammlung fand am 3. Juni 1923 in Boston statt. An Stelle 
des verhinderten Präsidenten Dr. W h o 1 e y präsidierte Dr. C1 a r k in den 
wissenschaftlichen, Dr. 0 b e r n d o r f in den geschäftlichen Sitzungen. 

Für das neue Jahr wurden gewählt: Dr. Oberndorf (New York) als 
Präsident, Dr. Stern (New York) als Sekretär, Dr. Clark (New York), 
Dr. Coriat (Boston) und Dr. Emerson (Boston) als Beisitzer. 











546 Korrespondenzblatt der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung 

Dr. G. Stanley Hall wurde zum Ehrenmitglied erwählt. Als Mitglieder 
wurden Dr. A. Kardiner und Dr. M. Meyer in New York aufgenommen. 

Die neuen Statuten schließen sich denjenigen der New York Psycho- 
Analytical Society an. Zur ordentlichen Mitgliedschaft berechtigt nur der 
Grad als „M. D.“, dagegen ist die durchgemachte Psychoanalyse nicht 
obligatorisch. 

Vorträge wurden folgende gehalten: 

Dr. Jelliffe: Psychoanalyse und Knochenpathologie. 
Die Arbeit gehört zu einer Reihe von Untersuchungen des Autors über den 
psychischen Faktor bei der Entstehung innerer Krankheiten (Tuberkulose, 
Diabetes, Psoriasis usw.). In dem vorgetragenen Falle lag bei einer jungen 
Frau ein Sarkom des Schienbeines vor. Jelliffe führt die Entstehung des 
Tumors auf einen besonderen Zug der Bänder und Muskeln zurück, durch 
welchen der Stoffwechsel des Knochens beeinflußt wurde. Die besondere, der 
Patientin eigentümliche Haltung des Beines, die seit Kindheit bestand, wird 
auf psychosexueile Ursachen (Masturbation durch Schenkeldruck, Abwehr 
gegen den normalen Gebrauch des Genitales usw.) zurückgeführt. Begleitender 
nervöser Zustand. Nach zweijähriger Psychotherapie und Bestrahlung sind im 
Röntgenbild Zeichen beginnender Besserung des Prozesses nachweisbar. 

Dr. Clark: Der psychische Inhalt der Epilepsie. Der Vor¬ 
tragende stellte in epileptischen Delirien Beobachtungen an über die besondere 
Tiefe der Libidoregression und über die Versuche zur Lösung der seelischen 
Konflikte, welche dem Epileptiker eigentümlich sind. 

Dr. Arnes: Fatalismus. Der Autor weist nach, daß der Fatalismus 
den sublimierten Ausdruck dessen darstellt, was wir in der Psychoanalyse 
eine Fixierung nennen. Die Stelle der Person, an welche man fixiert ist, 
nimmt im Fatalismus das Schicksal ein. 

Dr. Emerson: Psychische Organisation. Gibt einige allge¬ 
meine Gesichtspunkte über die psychische Organisation des Individuums und 
der Gesellschaft. 

Dr. Coriat: E inige Bemerkungen über aktive Therapie 
in der Psychoanalyse. Besprechung des Wesens der aktiven psycho¬ 
analytischen Therapie. Der Vortragende gibt eine Reihe von Indikationen zu 
aktivem Eingreifen, das aber immer auf Ausnahme- und Notfälle beschränkt 
bleiben sollte. Solche Anlässe sind: Stagnation der Analyse, die Unfähigkeit 
des Patienten zur Überwindung einer Angst, außergewöhnlich schwere Wider¬ 
stände, homosexuelle Übertragung, Rückfälle des Patienten mit der unbewußten 
Tendenz zur Verlängerung der Lust an der Übertragung. 

Dr. Stern: Die Gegenübertragung in der Psycho¬ 
analyse. Stern schildert die Schwierigkeiten, welche in der Person des 
Analytikers entstehen können, wenn er seine Reaktionen auf das Verhalten 
des Patienten, besonders auch seinen Narzißmus, nicht zu kontrollieren 
vermag. 









Korrespondenzblatt der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung 547 


Berliner Psychoanalytische Vereinigung. 

10. April 1923. Kleine Mitteilungen: 

Dr. K o e r b e r : Zur Phallussymbolik. 

Frau Dr. H o r n e y: Zur Aufdeckung der Kindheitstraumen in der Psa. 

Frau Klein: Das „Doktor^^piel“ der Kinder. 

Dr. Simmel: Ein Bilderrätsel im Traum. 

Dr. Sachs: Beiträge zum Ödipuskomplex. 

Dr. Alexander: Bisexuelle Organisation und Sublimierung. 

24. April 1923. Kleine Mitteilungen: 

Debatte zu Dr. Alexanders Mitteilung vom 10. April. 

Dr. H ä r n i k: Symbolik des photographischen Apparates im Traum. 

8. Mai 1923. Kleine Mitteilungen: 

Dr. Simmel: Über das funktionale Element in einer passageren 
Symptombildung. 

Dr. Abraham: Zum Introjektionsvorgang bei Homosexualität. (Wird 
publiziert) 

Kleine Mitteilungen über Einzelbeobachtungen an Neurotikern und 
Kindern wurden gemacht von Dr. Bälint, Dr. Liebermann, Dr. Simmel, 
Fräulein S e a r 1, Dr. Sachs, Dr. K o e r b e r und Frau Klein. 

15. Mai 1924. 

Dr. Simmel: Über die intestinale Bewältigung der Libido. 

29. M a i 1923. 

Fortsetzung der Diskussion zu Dr. Simmels Vortrag vom 15. Mai. 

5. Juni 1923. Kleine Mitteilungen: 

Dr. Simmel: Schlußwort zur Diskussion vom 29. Mai. 

Frau Dr. Deutsch (als Gast): Über Phantasien der Kastration durch 
Beißen. 

Dr. Abraham: Korreferat zu der Mitteilung von Frau Dr. Deutsch. 

Dr. Radö (als Gast): Ein Traum, zugleich ein Beitrag zur Psychologie 
des revolutionären Führers. (Erscheint in der Zeitschrift.) 

12. Juni 1923. Kleine Mitteilungen: 

Fortsetzung der Diskussion zu Dr. R a d d s Mitteilung vom 5. Juni. 

Dr. Müller: Zum Entwicklungsmechanismus eines Falles von Homo¬ 
sexualität. 

Fräulein Schott: Mitteilungen aus Kinderanalysen. 

22. Juni 1923. Geschäftliche Sitzung. 

1. Die auf Simmels Antrag von einer sechsgliedrigen Kommission 
ausgearbeiteten „Richtlinien für die Unterrichts- und Ausbildungstätigkeit“ an 
der Poliklinik werden von der Versammlung genehmigt und sollen gedruckt 
werden. 

2. Auf Abrahams Antrag werden die bisherigen Aufnahmsbedingungen 
der Ortsgruppe durch folgende ersetzt: 

Internat. Zeitschr. f. Psychoanalyse, IX/4. 8« 










548 Korrespondefizblatt der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung 

§ 5. Der Verein hat ordentliche, außerordentliche und Ehrenmitglieder. 
Die außerordentlichen Mitglieder nehmen an allen wissenschaftlichen Ver¬ 
anstaltungen der Vereinigung teil, sind aber von den geschäftlichen Sitzungen, 
beziehungsweise vom Stimmrecht ausgeschlossen. 

§ 6. Für die Aufnahme in die Vereinigung gelten im allgemeinen 
folgende Bedingungen: 

1. Die Absolvierung einer psychoanalytischen Ausbildung, die den von 
der Vereinigung hiefür aufgestellten Richtlinien nach Möglichkeit entspricht. 

2. Vorausgehende Teilnahme an den wissenschaftlichen Sitzungen der 
Vereinigung als Hospitant durch längere Zeit, sowie Lieferung eines selb¬ 
ständigen wissenschaftlichen Beitrages (Vortrag oder Aufsatz). Die Aufgenom¬ 
menen werden im allgemeinen zunächst als außerordentliche Mitglieder geführt. 
Sobald ihre Mitarbeit der Vereinigung als hiezu genügend erscheint, kann eine 
Generalversammlung die Übernahme zur ordentlichen Mitgliedschaft beschließen. 
Die Vereinigung behält sich vor, in besonderen Fällen die vorstehenden 
Bedingungen zu ermäßigen, z. B. wenn besondere Verdienste der Aufzunehmenden 
um die Psychoanalyse vorliegen. 

Der Wahlvorgang ist geheim. Er erfolgt in einer geschäftlichen Sitzung, 
respektive Generalversammlung, nachdem ihn der Vorsitzende in der vorher¬ 
gehenden Sitzung den Mitgliedern anj^ekündigt hat. Die Wahl ist an eine 
Zweidrittelmehrheit gebunden. Der gleiche Wahlmodus gilt auch für die Über¬ 
nahme eines außerordentlichen Mitgliedes zum ordentlichen. 

3. Das Kuratorium zur Verwaltung des Ausbaufonds der Poliklinik erstattet 
den Bericht über die bisherigen Einnahmen; es wird beschlossen, die Selbst¬ 
besteuerung der Mitglieder in der bisherigen Weise fortzusetzen, außerdem 
für Schenkungen zu diesem Zwecke zu werben. 

30. Juni 1923. Kleine Mitteilungen: 

Frau Dr. B e n e d e k (Leipzig, als Gast): Zur Spinnensymbolik. 

Dr. Foerster: Ein kasuistischer Beitrag (Magen-Darm-Neurose). 

Dr. H ä r n i k: Atmungstyp und Bisexualität. 

Dr. Abraham: Aus der Analyse eines Asthmatikers. 

Dr. Alexander: Über ein Buchstabenrätsel im Traum. 

Dr. Schiiltz-Hencke: Zahlensymbolik im Traume und Kastrationsangst. 

Dr. Abraham: Ein Beitrag zur Psychologie der Melancholie. (Wird 
publiziert.) 

Dr. Abraham: Ein Beitrag zur Prüfungssituation im Traume. (Des¬ 
gleichen.) 

Im II. Quartal wurden die in Heft 1, IX., der „Zeitschrift“ angektindigten 
Unterrichtskurse abgehalten. Für das nächste Quartal kündigt die Berliner 
Ortsgruppe eine neue Reihe von Unterrichtskursen an. 












Korrespondenzblatt der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung 549 


British Psycho-Analyticai Society. 

II. Quartal. 

18. Ap ril 1923. 

Miß Ella S h a r p e: Psychoanalytische Würdigung des Lebens und der 
Werke von Francis Thompson. Die Analyse berücksichtigte die wichtigsten 
persönlichen Beziehungen des Dichters und ihren Zusammenhang mit seiner 
Einstellung zu seiner Familie, ferner seine Neigung zum Opium, seine Ver¬ 
lassenheit und seinen Selbstmordversuch. Die Analyse der Gedichte läßt die 
feminine Einstellung, seine Bindung an zwei entgegengesetzte Frauentypen 
und vor allem seine orale Fixierung erkennen (Entwöhnung als Trauma, 
Gleichsetzuug von Brust und Penis; Kastrationsangst und Allmachtvorstellungen). 
Die Gedichte werden von der Phantasie des Dichters als Kastrationssymbole, 
als Kinder und zugleich als Produkte göttlicher Schöpfung betrachtet. 

2. Mai 1923. 

Dr. W. J. Jago: Boehms Schriften über Homosexualität. Kritik der 
Ansichten Boehms von der polygamen Neigung der Homosexuellen, von 
ihrer Neigung, durch Vermittlung einer dritten Person mit dem Liebesobjekt 
zu verkehren und von ihren unbewußten Phantasien betreffend den ange¬ 
nommenen Penis des Weibes. Die Diskussion stellte sich ablehnend zu den 
Aufstellungen Boehms. 

25. J u 1 i 1923. 

Die Sitzung war besonders einberufen, um Dr. Karl Abraham zu 
begrüßen, der zum Ehrenmitglied der Vereinigung gewählt worden war. Nach 
einer Begrüßungsansprache des Vorsitzenden Dr. Jones, auf welche Doktor 
Abraham antwortete, hielt ersterer einen Vortrag über „Kälte, Krankheit 
und Geburt“. (Der Vortrag ist inzwischen in der Festschrift für Ferenczi 
erschienen.) In der Diskussion teilte u. a. Abraham einige Erfahrungen 
.mit, die Jones’ Ansichten bestätigen. 

Adreßänderung: Major C. Mc. Watters, J. M. S., c/o Grindlay’s, 
Parliament Street, London. 

Indian Psycho-Analytical Society. 

I. Quartal 1923. 

6. Jänner. Major 0. B e r k e 1 e y - H i 11, M. Dr.: Die Gandhi-Bewegung 
vom psychoanalytischen Standpunkt. 

27. Jä n n er. Jahresversammlung. Es wurden gewählt: Dr. Girindra- 
Shekhar Bose D. Sc. M. B. als Präsident; Mr. Manmatha Nath Banerji M. Sc. 
als Sekretär; Dr. Narendra Nath Sen Gupta M. A. Ph. D., Mr. Gobin Chand 
Bora BA. als Beisitzer. 

3. März. R. C. Mc. Watters F. M. S.: „Der moderne Prometheus.“ 

Diskussion über Prüfungstiäume, eingeleitet vom Präsidenten. 

II. Quartal 1923. 

22. Mai. H. B h a 11 a c h a r y y a M. A.: Über den Vollständigkeitszwang 
als Charakterzug. 

36 * 








550 Korrespondenzblatt der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung 

Diskussion über Flournoys „Siva Androgyne“, eingeleitet von Capt. 
N. C. Mitra M.B., der die Schrift ins Englische übersetzt hat. 

9. Juni. Major 0. B e r k e 1 e y - H i 11, M. D.: „Die Färbenfrage. 

Dr. Sarasi Lai Sarkar: »Swapna Tatva" (über Träume, in bengalischer 
Sprache). 

Das Interesse an der Psychoanalyse ist in Indien im beständigen 
Wachsen. Einige Mitglieder der Vereinigung haben in der Tagespresse populäre 
Artikel veröffentlicht. In Zeitungen und Zeitschriften ist beständig von der 
Psychoanalyse die Rede; ausländische Artikel über Psychoanalyse werden 
referiert. Die Nachfrage nach psychoanalytischen Behandlungen steigt. Auf 
Wunsch der „Detective Training School“ hielt der Präsident einen Kursus für 
Polizeibeamte über die psychoanalytische Auffassung des Verbrechens. Beamte 
aus ganz Bengalen nahmen mit lebhaftem Interesse daran Anteil. Andere 
(pädagogische usw.) Vereinigungen bitten um aufklärende Schriften. 


Magyarorszägi Pszichoanalitikai EgyesOlat (Freud Tärsasdg). 

II. Quartal 1923. 

T.^April. Dr. J. Hollös: Psychoanalytische Klärung zu einem mit¬ 
geteilten Falle. 

21. April. Frau Dr. Bä 11 nt (als Gast); Wiederholung des in der 
Berliner Vereinigung gehaltenen Vortrages über mexikanische Hieroglyphen. 

5. Mai. Dr. S. Fer enczi: Breitere Ausführungen zum Thema „Versuch 
einer Genitaltheorie“. 

26. Mai. Dr. S. Ferenczi: 1. Ein Fall zur Bestätigung der psycho¬ 
analytischen Theorie der Hypnose. 2. Nachtrag zur Geschichte des „Kleinen 
Hahnemanns“. 3. Neuer Beitrag zur aktiven Technik. 

9. Juni. Dr. J. Hermann : „Psychoanalytisch erklärbare Fälle der 
(persönlichen) Evidenz.* Vortragender anatysiert Beispiele subjektiv bedingter 
Evidenz im philosophischen Denken, im Verhalten der Neurotiker usw. 

III. Quartal 1923; Keine Sitzungen. 


Nederlandsche Vereeniging voor Psycho-Analyse. 

Sitzung am 21. Apriri923 im Haag. 

Dr. Adolph F. M e i j e r: Noch einmal Homosexualität. Vortragender 
betont gegenüber anderen Auffassungen den psychoanalytischen Standpunkt, 
d. h. die Entstehung der Homosexualität im Verlauf der individuellen 
Entwicklung. Er nimmt zu den Ausführungen Ranks Stellung und vertritt 
die Auffassung, daß die Unterschiede zwischen Perversion und Neurose mehr 
auf der Art der jeweils verdrängten Wünsche als auf einer Wesens¬ 
verschiedenheit der beiden Zustände beruhen. Insbesondere sei die Homo¬ 
sexualität immer ein neurotisches Symptom. 








Korrespondenzblatt der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung 551 

Sitzung vom 16. Juni 1923 in Leiden. 

Dr. F. P. Müller: Die Analyse einer Angstneurose. (Ausführliche 
Darstellung. Die Diskussion wird vertagt.) 

Am 28. Juni promovierte Dr. J. Varendonck (Gent), Mitglied der 
Vereinigung, in Leiden mit einer Dissertation über „Ästhetische Symbolik“; 
die Arbeit ist ganz im Geiste der Psychoanalyse gehalten, ebenso wie die 
von Dr. Varendonck vertretenen Thesen zumeist psychoanalytischen Inhalt 
hatten. 

Vom Juli bis September fanden keine Sitzungen statt. 


New York Psycho-analytical Society. 

27. März 1923. 

Dr. M. Meyer: „Eine ungewöhnliche Methode der Darstellung im 
Tranm.“ (Erscheint in der Zeitschrift!) 

Dr. A. Kardiner: „Psychoanalytische Beobachtungen bei Kriegs¬ 
neurosen.* Vortrag und Diskussion bezogen sich auf die Übereinstimmungen 
im Aufbau der Friedens- und Kriegsneurosen und die Beteiligung des Selbst¬ 
erhaltungstriebes am Aufbau der letzteren, ferner auf die von Freud im 
„Jenseits des Lustprinzips“ gegebenen Gesichtspunkte hinsichtlich der Wieder¬ 
holung des traumatischen Erlebnisses in Neurose und Traum. 

24. April 1923. 

Dr. M. Meyer: „Analyse einer Phantasie von der Dauer der Behand¬ 
lung.“ (Wird im Internat. Journal of Psycho-Analysis veröffentlicht.) 

Kleine Mitteilungen: 

Dr. P o 1 o n : Sexuelles Trauma und Disposition zur Dementia praecox. 

Dr. Frin k: 1. Ein Schreibfehler. 2. Die Symbolik des Baseballspieles. 
(Beide Mitteilungen erscheinen im Journal.) 3. Die Symbolik des Reitens. 
M. fand in zwei Fällen eine von der gewöhnlichen abweichende Bedeutung 
des Reitens im Traum. Der Reiter (der Träumer selbst) identifizierte sich mit 
dem Weib. Das Pferd hatte Penisbedeutung; es befand sich zwischen den 
Schenkeln des Träumers wie das Bein des Vaters bei kindlichen Reitspielen. 
4. Zwei Deckerinnerungen. Bei zwei Patienten fand M. in einer Deck¬ 
erinnerung aus ihrer Kindheit die Spuren einer Beobachtung des elterlichen 
Koitus. 

29. Mai 1923. 

Dr. Ph. Lehrmann: „Versuch der Psychoanalyse einer Konversions¬ 
hysterie bei einem Kinde.“ Bericht über eine fragmentarische Analyse bei 
einem neunjährigen Mädchen. Spastische Lähmung der Beine und Schmerzen 
im Rumpf erwiesen sich zum Teil als Darstellung einer Entbindung, zum Teil 
als Ausdruck anderer sexueller Phantasien. 


Schweizerische Geseilschaft fOr Psychoanalyse» 

Im zweiten und dritten Quartal 1923 fanden keine Sitzungen statt. 











552 Korrespondenzblatt der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung 

Wiener Psychoanalytische Vereinigung. 

April—J^li 1923. 

Neue Mitglieder: Frau Beate Rank, Wien, L, Grünangergasse 3. 
Sitzung vom 18. April: 

Dozent Dr. Paul Schilder: Psychoanalyse und Encephalitis. 

Dr. Paul Federn: 1. Ein Fall von Sexualstörung 2. Ein kurzer Traum. 
3. Bemerkungen zur Narkophobie. 

Dozent Dr. Paul Schilder: Zur Frage des Persönlichkeitsbewußtseins. 
Sitzung vom 16. Mai: 

Vortrag von Frau Dr. Salomea K e m p n e r : Der orale Sadismus. 
Sitzung vom 30. Mai: 

Gastvortrag von Frau Beate Rank: Die Rolle der Frau in der Ent¬ 
wicklung der menschlichen Gesellschaft. 

Sitzung vom 13. Juni: 

Vortrag von Dozenten Dr, Paul Schilder: Über Quellgebiete der 
psychhchen Energie. 


Kurz vor Abschluß dieses Berichtes, im Monat Oktober, gelang nach 
langen vergeblichen Bemühungen die Aufnahme der Beziehungen zur 

Moskauer Psychoanalytischen Vereinigung, 

deren Gründung schon vor einem Jahre auf dem Internationalen 
Psychoanalytischen Kongreß in Berlin bekanntgegeben worden war. Ein 
Mitglied der Vereinigung, Herr C. Schmidt, suchte kürzlich in Berlin den 
Sekretär der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung auf, um mit ihm 
über die Aufnahme der Moskauer Vereinigung direkt zu verhandeln. Da die 
Moskauer Vereinigung den vom Kongreß gestellten Anforderungen in genügender 
Weise entspricht, so hat der Präsident, Dr. Jones, ihre provisorische Auf¬ 
nahme verfügt. Sie ist der Moskauer Gesellschaft bereits mitgeteilt worden, 
bedarf aber noch der endgültigen Bestätigung durch den nächsten Kongreß. 

Wir begrüßen auch an dieser Stelle die neue Gruppe im Verband der 
Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung uf»d hoffen, bereits im nächsten 
Quartal einen ausführlichen Bericht von ihr bringen zu können. 











Mitteilungen 

des Internationalen Psychoanalytischen Verlages. 


Im Dezember 1923 erscheinen: 

Dr. Otto Rank: Das Trauma der Geburt und seine Bedeutung für die 
Psychoanalyse. (Internationale Psychoanalytische Bibliothek, Band 14.) 

Dr. S. Ferenczi: Versuch einer Genitaltheorie. (Internationale Psycho¬ 
analytische Bibliothek, Band 15.) 

Vera Schmidt (Moskau): Psychoanalytische Erziehung in Sowjet- 
Rußland, Bericht über das Kinderheim-Laboratorium in Moskau. 

Prof. Sigm. Freud: Zur Geschichte der psychoanalytischen Bewegung. 
(Buchausgabe der in der Vierten Folge der „Sammlung kleiner Schriften zur 
Neurosenlehre“ enthaltenen Arbeit.) 

Eine neue Serien-Publikation unter dem Namen „Neue Arbeiten 
zur ärztlichen Psychoanalyse“ (herausgegeben von Prof. Sigm. 
Freud) wird durch folgende zwei Hefte eröffnet: 

I. Dr. S. Ferenczi und Dr. Otto Rank: Entwicklungsziele der 
Psy(?hoanalyse. Zur Wechselbeziehung von Theorie und Praxis. 

II. Dr. Karl Abraham: Versuch einer Entwicklungstheorie der 
Libido auf Grund der Psychoanalyse seelischer Störungen. 
















f:. 






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-5 


J' 






















über die Ergebnisse der psychoanalytischen Forschung unterrichten fort¬ 
laufend unsere beiden Zeitschriften: 

INTERNATIONALE ZEITSCHRIFT 
FÜR PSYCHOANALYSE 

Herausgegeben von 

Prof. Dr. Sigm. Freud 


Unter Mitwirkung von 

Dr. Karl Abraham Dr. G. Bose Dr. Jan van Emden Prof. Dr. N. Ermakow 

Berlin Calcutta Haag 


Dr. H. W. Frink 

New York 


Dr. Ernest Jones 

London 


Moskau 

Dr. E. Oberholzer 

Zürich 


redigiert von 

Dr. S. Ferenczi und Dr. Otto Rank 

Budapest Wien 

und 

IMAGO 

ZEITSCHRIFT FÜR ANWENDUNG DER PSYCHOANALYSE 
AUF DIE GEISTESWISSENSCHAFTEN 

Herausgegeben von 

Prof. Dr. Sigm. Freud 


Im Jahre ig2^ werden tn den beiden Zeitschriften unter anderem folgende Beiträge 

erscheinen: 


Mary Chadwick (London): Zur Genese des Wissens¬ 
triebes. 

Dr. A. van der C h i j s (Amsterdam) : Versuch der An¬ 
wendung der objektiven Psychoanalyse -auf die 
musikalische Komposition. 

Doz. Dr. Felix Deutsch (Wien): Über die Bildung 
des Konversionssymptoms. 

Dr. S. Ferenczi (Budapest): Über forcierte Phan¬ 
tasien. (Ein Beitrag zur aktiven Therapie.) 

Dr. H. W. Frink (New York): Die amerikanische 
psychoanalytische Literatur in den Jahren 1920 — 1922. 

Dorothy G a r 1 e y (London) : Über den Schock des Ge¬ 
borenwerdens und seine möglichen Nachwirkungen. 

Dr. Fritz Giese (Halle a. S.): P.s3’choanaIyse und Wirt- 
. schaftsleben. 

Psychologische Eignungsprüfung und Psj’choanalj'se. 

Dr. H. V. H attingberg (München): Zur Analyse der 
psychoanalj'tischen Situation. 

ri Her ma n n (Budapest) : Kleine Beitrüge zur 
Begabungs- und Sublimierungstheorie. 


Dr. Ernest Jones (London): Das Wesen der Auto¬ 
suggestion. 

Dr. Salomea Ke mp n er: Beitrag zur Oralerotik. 

Dr. F. Lowtzky (Berlin): Eine okkultistische Bestäti¬ 
gung der Psychoanalyse. 

Dr. H. Nunberg (Wien): Über Depersonalisations¬ 
zustände im Lichte der Libidotheorie. 

Beate Rank (Wien): Zur Rolle der Frau in der Ent¬ 
wicklung der menschlichen Gesellschaft 

Dr. W. Reich (Wien): Über Genitalität. 

Egenolf Roeder (Baden-Baden): Qualität und Quantität. 

Dr. Emst S i m nLe 1 (Berlin): Eine Deckerinnerung in 
statu nascendi. 

Dr. Alice Sperber (Wien): Die seelischen Ursachen 
des Alterns und der Jugendlichkeit 

Dr. Edoardo W e i s s (Trieste): Die psj^chologischen 
Ergebnisse der Psychoanalyse. 


INTERNATIONALER PSYCHOANALYTISCHER VERLAG 

WIEN, VII., ANDREASGASSE 3 






Inhalt: 

Seite 

Originalarbeiten. ■ ■ , 

Dr Otto Rank: Zum Verständnis der Libidoentwicklung im Heilungsvorgang . . . . 43 ;» 
Dr A Kielholz (Königsfelden): Zur Genese und Dynamik des Erfinderwahns . . . 472 
Dozent Dr. Felix Deutsch (Wien): Experimentelle Studien zur Psychoanalyse. ... 484 

Mitteilungen. 

Dr. Felix Boehm (Berlin): Bemerkungen über Transvestitismus. 497 

Paul S c h i 1 d e r: Zur Lehre vom Persönlichkeitsbewußtsein . ... 509 

Dr. E. HitschmannJ Experimentelle Wiederholung der infantilen Schlafsituation zur 

Förderung analytischer Traumdeutung ..‘ 

Ludwig Binswanger: Bemerkungen zu Hermann Rorschachs „Psychodiagnostik^* . 512 

Kritiken und Referate. 

E Bleuler : Natur<?eschichte der Seele und ihres Bewußtwerdens..(Sarasin) .524 

Ludwig Binswanger: Einführung in die Probleme der allgemeinen Psychologie .... (Sarasin) o 26 

C.G.Jung: Psychologische Typen ... • '} 

Paul Schilder: Das Unbewußte.. . . m 

Gaston Roffenstein: Zum Problem des Unbewußten.. h 'v ^4 

J. S a d g e r : Die Lehre von den Geschlechtsverirrungen.(Boehm; i». b 

Zur psychoanalytischen Bewegung. . ^ 

Korrespondenzblatt der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung .... 545 

Mitteilungen des Internationalen Psychoanalytischen Verlages .. 553 


Internationaler Psychoanalytischer Verlag 


Neuer scheinungen: 

Neue Arbeiten zur ärztlichen Psychoanalyse, 
Heft I 

Dr. S» Ferenczi und Dr. Otto Rank 
Entwiddungsziele der Psychoanalyse 

Zur Wechselbeziehung von Theorie und Praxis 

, Heft II 

Dr. Karl Abraham 

Versuch einer 

Entwicklungsgeschichte der Libido 

auf Grund der Psychoanalyse seelischer Storungen 
Internationale Psychoanalytische Bibliothek, 

Bd. XIV 

Dr. Otto Rank 
Das Trauma der Geburt 

und seine Bedeutung für die Psydioanalyse 

Bd. XV 

Dr. S. Ferenczi 
Versuch einer Genitaltheorie 

Vera Schmidt 

Psychoanalytische Erziehung 
in Sowjetrußland 

Bericht über das Moskauer Kinderheim-Laboratorium 


AMBULATORIUM 

DER WIENER 
PSYCHOANALYTISCHEN 
VEREINIGUNG 

WIEN, IX., PELIKANGASSE NR. 18 

Ausbildung in der Psychoanalyse für 
Ärzte, Pädagogen, Psydiologen 

Lehrkurse für Anfänger und Vor¬ 
geschrittene 

Unterridits-Analysen. Seminarübun¬ 
gen. Erziehungs-Beratungsstelle 


Anfragen und Anmeldungen an den 
Leiter: Dr. E. Hitschmann, 
Wien, IX., Währingerstraße Nr. 24 


EiffentOincr und Verleger: Internationaler Psychoanalytischer Verlag Ges. m. 

Herausireber* Prof. Dr. Sigm. Freud, Wien. — Verantwortlich für die Redaktion: Dr. Otto Rank, Wien, l., Lrunangerr 
"asse 3 - 5 . - Druck der Gesellschaft für Graphische Industrie A.-G., Wien, 111., Rüdengasse 11.,- VerantworUicber 
" Druckereileiter: Karl Wrba, Wien.