Internationale Zeitschrift
für Psychoanalyse
Offizielles Organ
der '
Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung
Herausgegeben von
Prof. Dr. Sigm. Freud
I
Unter Mitwirkung- von Dr. Karl Abraham (Berlin), Dr. G. Bose (Calcutta),
Dr. Jan van Emden (Haag), Dr. S. Ferenczi (Budapest), Dr. H. W. Frink
(New York), Dr. Ernest Jones (London) und Dr. Emil Oberholzer (Züridi),
redigiert von
Dr. Otto Rank
Wien .
IX. Jahrgang 1923
Internationaler Psychoanalytischer Verlag
Leipzig—Wien—Züridi
Heft 4
Alle für die Redaktion der „Internationalen Zeitschrift für Psychoanalyse“ bestimmten
Zuschriften und Sendungen sind zu richten an
Dr. OTTO RANK, Wien, L, Grünangergasse 3—5.
Alle /Zuschriften und Sendungen in Referat-Angelegenheiten an die „Zentralstelle für
psychoanalytische Literatur" (Dr. Th. REIK), Wien, IX., Lackierergasse 1 A.
Manuskripte sind vollkommen druckfertig einzusenden.
Die Autoren der Originalarbeiten erhalten außer dem Honorar zehn Freiexemplare
des betreffenden Zeitschriftheftes. (Separatabzüge werden nicht angefertigt).
Gleichzeitig erscheint IMAGO IX. Jahrgang, Heft 3
als philosophisches Heft
mit folgendem Inhalt:
Egenolf Roeder: Das Ding an sich (Analytische Versuche an Aristoteles’ Analytik).
— Dr. S. Spielrein: Die Zeit im unterschwelligen Seelenleben. — Dr. Otto
F e n i c h e 1: Psychoanalyse und Metaphysik. — G. Berger: Zur Theorie der mensch¬
lichen Feindseligkeit. — Dr. Eduard Hitschmann: Telepathie und Psychoanalyse. —
Dr. I. Hermann: Wie die Evidenz wissenschaftlicher Thesen entsteht. —Bücher-Referate.
Demnächst erscheint IMAGO IX. Jahrgang, Heft 4
als kunstpsychologisch-ästhetisches Heft
mit folgendem Inhalt:
Alice B ä 1 i n t: Die mexikanische Kriegshieroglyphe Atl-Tlachinolli. — P. D. van der
Wolk (Batavia): Der Tanz des Qiwa. — A. van der Chijs: Infantilismus in der
Malerei. — Dr. Sigm. Pfeifer: Musikpsychologische Probleme. — Aurel Kolnai:
Gontscharows „Oblomow." — N. Ossipow: Uber Leo Tolstois Seelenleiden. —
Gustav Hans Gräber: Uber Regression und Dreizahl. — Dr. Eduard Hitsdimann:
Zum Tagträumen der Dichter. — Bücher-Referate.
Nachdruck sämtlicher Beiträge verboten.
Übersetzungsrecht in alle Sprachen Vorbehalten.
Copyright 1923 by „Internationaler Psychoanalytischer Verlag, Ges. m. b. H.“ Wien.
1
Zum Verständnis der Libidoentwickiung im Heiiungsvorgang
Von Dr. Otto Rank
L
Die psychische Potenz
Die psychoanalytische Behandlung jeder Neurose bringt ein
Stück Befreiung verdrängter, bezw. infantil fixierter Libido mit
sich, die teilweise dazu dient, das verkümmerte Sexualleben des
Patienten auf die Stufe des realen erwachsenen Genitalprimats zu
heben; andernteils soll die befreite Libido auf dem Wege der
Sublimierung in unschädiicher, womöglich sozialer Welse verarbeitet
und so neuerdings besser gebunden werden.
Der erste Vorgang wird sich gewiß bei der psychischen
oder wie man besser sagen sollte neurotischen Impotenz
am deutlichsten, sozusagen handgreiflich verfolgen lassen, da ja
hier mit der ersten Aufgabe, der Libidobefreiung, zugleich das
therapeutische Ziel der Analyse erreicht ist. Aber es bedarf
gerade nicht dieser gewissermaßen aktuellen Psychoneurose, deren
Symptombildung sich auf das eigentliche Exekutiv-und Befriedigungs¬
organ der Libido, das Genitale, beschränkt, um den Prozeß der
Libidobefreiung und -Verarbeitung, der das Wesen jeder Analyse
ausmacht, zu studieren. In jeder Psychoneimose handelt es sich ja
1 Erweiterung einer kurzen Mitteilung in der Wiener Psychoanalytischen
Vereinigung (16. März 1921).
Bei der Korrektur; Obwohl ich heute Verschiedenes, namentlich in
diesem I. Abschnitt, anders aufgefaßt und formuliert hätte, glaube ich doch,
daß auch die Ausführungen, so wie sie vor zirka ly^ Jahren niedergeschrieben’
wurden, im Ganzen ihren Wert behalten, namentlich wenn man die er¬
gänzenden Gesichtspunkte des später hinzugefügten II. Abschnittes sowie die
inzwischen im „Trauma der Geburt“ (s. bes. S. 7) dargelegten Grundanschauungen
hinzunimmt. (Der Verfasser)
Internat. Zeitschr. f, Psychoanalyse, IX/4.
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PSYCHOANALYTIC
UNIVERSITY
DIE PSYCHOANALYTISCHE HOCHSCHULE IN BERLIN
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Dr. Otto Rank
in gewissem Sinne um eine „psychische“ Impotenz, d. h, um ein
Verweilen der Libido auf infantiler Entwicklungsstufe, ob sich dies
nun im Regredieren zu einem Konversionssymptom, im Überbau von
zwanghaften Hemmungen oder in der Verschiebung auf perverse
Handlungen und Phantasien — einschließlich der Masturbation —
äußern mag.
Wenn ich also von einer psychischen Potenz spreche, so
meine ich damit weniger den Gegensatz zur sogenannten psychischen
Impotenz, was ja die Potenz schlechthin bedeutete, sondern möchte
versuchen, damit einen abgrenzbaren Tatbestand der Libido¬
entwicklung zu umschreiben, der uns nicht nur im Heilungsvorgang
jeder Psychoanalyse entgegentritt, sondern auch im normalen
Liebesieben eine entscheidende Rolle spielt. Unter diesem Gesichts¬
punkt betrachtet, scheint mir der Begriff der „psychischen Potenz“
für das Verständnis gewisser Züge des normalen Liebeslebens
ebenso brauchbar wie zur teilweisen Erhellung der vielfach noch
dunkeln Vorgänge beim Abschluß einer Psychoanalyse.
Ich möchte diese Auffassung an einzelnen ausgewählten
Beispielen verdeutlichen, wobei ich mich zunächst auf Material von
Männern beschränke und die entsprechenden Libidovorgänge beim
Weibe weiteren Untersuchungen Vorbehalte (siehe z. T. Abschnitt II
über Idealbildung und Objektwahl).
1 .
Aus der Analyse einer in dreieinhalb Monaten geheilten
Impotenz eines Mannes, bei dem die organische Therapie
versagt hatte. Als junger Mann hatte er, gegen den Willen
der Eltern, ein Mädchen von gutem Hause aus Liebe geheiratet;
dieser Ehe entstammte ein Kind. Bei dem unter tragischen
Umständen erfolgten Tod eines seiner besten Freunde erfährt
er, daß seine Frau ein Liebesverhältnis mit diesem . unter¬
halten hatte und läßt sich sofort scheiden. Es zeigt sich, daß er
an dem unglücklichen Ausgang dieser Ehe nicht so unschuldig
war, wie er selbst glauben mochte. Er hatte selbst, wie dies so
häufig vorkommt, den Freund in sein Eheleben hineingezogen und
das Verhältnis unbewußt begünstigt, um so ein Stück seiner
Libido „homosexuell“ zu befriedigen. In einer tieferen Schichte
der Identifizierung mit dem Freund und Verführer befriedigte
er aber eigentlich die seiner neurotischen Einstellung zugrunde
Zum Verständnis der Libidoentwicklung im Heilungsvorgang 437
r
I liegende verdrängte Odipusphantasie, indem er im Freund die
I infantile Wunschsituation des Eindringens in eine Ehe miterlebt,
I wobei der Umstand, daß dies seine eigene Ehe war, ihm endlich
i noch ermöglicht, in seiner Person auch die Vaterrolle des
„geschädigten Dritten“ (Freud) zu verkörpern. Patient repräsentiert
so einen der typischen Fälle, wo sich die npurotische Konstellation
(zwangsneurotischer Typus) unter Vermeidung von Symptomen
in einem unglücklichen Eheleben durchsetzt. Er weiß das infantile
Betrogensein vom Weibe (Mutterenttäuschung) in der Ehe zu
wiederholen, findet aber zunächst noch den normalen Ausweg,
seine (feminine) Libido vom Manne abzuziehen und in Nachahmung
der untreuen Frau (Mutter) nun seinerseits sein Liebesieben
nach dem Don Juan-Typus einzustellen. In den Jahren nach
Lösung seiner Ehe war sein Liebesieben der Herabsetzung und
Entwertung des Weibes gewidmet; er ließ die Frauen nur als
Sexualobjekte gelten, mit der Rationalisierung, daß sie doch
ohnehin alle untreu seien. So wurde er zum sexuellen Zyniker.
Dann lernt er ein Mädchen aus gut bürgerlicher Familie kennen,
die sich in ihn verliebt und die er auf Anraten seines intimen
Jugendfreundes, mit dem er seit frühester Kindheit untrennbar
zusammenlebt, wie er sagt „aus Sympathie“ heiratet.^ Aber nicht,
ohne sie vorher zu warnen, daß er „gefährlich“ sei; sie werde es
vielleicht bereuen.
Schon daraus ist ersichtlich, daß seine zweite Heirat der
neurotischen Rache am Weibe dienen soll, die er an der ersten
Frau nicht befriedigt hatte, und tatsächlich ist seine zweite Ehe
von Anfang an eigentlich unglücklich, besonders für die Frau, die
er auf jede Weise vernachlässigt, quält und entwertet. Er übt
coitus interruptus und versagt der Frau das gewünschte Kind.
Während auf diese Weise seine Rachetendenzen zum Teil befriedigt
werden, leidet die Frau offensichtlich darunter und macht auch
bald kein Hehl daraus. Dadurch wird sein Schuldgefühl geweckt
und verstärkt, das er nun immer deutlicher auf die Frau zu
projizieren versucht. Um sie so schuldig zu machen wie es die
erste und deren Urbild, die Mutter, war, ist er genötigt,
. unbewußterweise seine infantile Einstellung („Komplexe“) zu
^ Eigentlich heiratet er sie, wie sich herausstellt, eher als Ersatz für den
Freund, der ihn bis dahin „mütterlich“ betreut hatte, ihn aber nun verlassen will.
29»
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Dr. Otto Rank
mobilisieren, wobei wie gewöhnlich die Kastrationsangst im Vorder¬
gründe steht, die durch ein Kindheitserlebnis fixiert scheint.^
Das Weib ist böse, will ihn psychisch (Junggesellenwünsch)
und physisch binden, das heißt, versucht seinen Penis festzuhalten,
für sich zu behalten, ihn zu kastrieren (Vagina dentata). Daher
seine Angst vor dem vollen Sexualakt, die Übung des coitus
interruptus, das rasche Zurückziehen und seine komplexbetonte
Ablehnung des Kindes, das im Unbewußten mit dem in der Frau
zurückgehaltenen Penis identifiziert wird. Diese Angst vor dem
Weibe^ kompensiert er nun durch seine feminine Einstellung zum
Manne (Mutteridentifizierung), andererseits befriedigt er in der
sexuellen Enttäuschung der Frau seine Rachegelüste, straft sich
aber endlich in dem unvermeidlichen Ausgang dieses immer mehr
gesteigerten Konfliktes, in der Impotenz, mit dem Verlust der
eigenen sexuellen Genußfähigkeit (dem Penis).
Aus dem ganzen Ensemble dieses komplizierten unbewußten
Konfliktes möchte ich zur weiteren Orientierung einen Zug heraus-
1 Diese Fixierung wird durch ein Kastrationstrauma erleichtert.
Patient war, obwohl jüdischer Abstammung, nicht beschnitten worden, weil
sein älterer Bruder bei der Zirkumzision zu viel Blut verloren halte. Als die
Erinnerung daran in der Analyse auftaucht, will Patient seinen ganzen Kastrations¬
komplex auf die ständige infantile Angst zurückführen, daß er doch noch später
so wie der Bruder beschnitten werden könnte. Es ergibt sich aber, daß der
Zusammenhang nicht so einfach gewesen sein kann. Sein späteres Verhältnis
zum Bruder sowie andere infantile Erinnerungen weisen deutlich darauf hin,
daß er die Beschneidung (des Vaters und Bruders) als Vorzug der Älteren,
Erwachsenen betrachtete, von dem er ausgeschlossen war, und daß er infolge¬
dessen die Beschneidung gewünscht haben mußte.
Aus seinem dritten Lebensjahre pflegte seine Mutter eine Szene zu
erzählen, wo der kleine Knabe ausgelassen im Bett herumgesprungen war und
gelacht hatte. Auf die Frage des Vaters, warum er so lustig sei, habe er
geantwortet: „Ich freue mich, weil ich ein Jud binl“ Er erklärt das: „Ich
hatte gehört, der Vater sei ein Jude und dachte, daß muß was Besonderes sein!“
Bei Gelegenheit dieser Erzählungen aus seiner Kindheit fällt ihm plötzlich
ungeheuer plastisch eine Szene aus etwa dem sechsten Lebensjahr ein, wo ihm
das Glied des Vaters beim Bade (im Wasser!) zu klein erschienen war.
Die Tatsache, daß er unbeschnitten war, hinderte somit seine Identifi¬
zierung mit dem Vater und verstärkte sozusagen psychisch seine feminine
Einstellung, da dies körperlich unterblieben war. Andererseits fürchtet er
durch den Koitus (Vateridentifizierung) auch in puncto Kastration dem Vater
gleich zu werden (Strafe).
2 Siehe jetzt dazu des Verfassers: Das Trauma der Geburt, 1924.
Zum Verständnis der Libidöentwicklung im HeilungsVorgang 439
heben, den man vielleicht am besten als die männliche Parallele
zu dem von Freud beschriebenen „Tabu der Virginität“^
bezeichnen könnte. Die Frau, die den Penis in sich aufnimmt, ihn
also scheinbar desselben berauben will, muß bestraft werden. Dabei
zeigt Patient die von Freud erwähnte „Erstlingsangst“ deutlich
in der Form ausgeprägt, daß er, der eigentlich dem Typus des
Don Juan entsprach, schon lange vor seiner eigentlichen Impotenz,
meist den ersten Koitus mit einem neuen Liebesobjekt nicht aus*
führen konnte. Er kannte, wie er sich in der Analyse ausdrückte,
die neue Vagina — und wie zu ergänzen, ihre Gefahren — noch
nicht. Aus dieser Angst erklärt sich auch die Ausübung perverser
Akte, besonders des Cunnilingus, wobei er sich als den Beißenden
(nicht Gebissenen) fühlen konnte, was letzten Endes auf die orale
Befriedigung an der Mutter zurückgeht.
Der Ausbruch seiner eigentlichen Impotenz erfolgte nach
etwa zweijähriger Dauer der zweiten Ehe, in Nachwirkung von
Konflikten mit der Frau, die ihm schließlich offen erklärte, sie
fühle, daß er sie nicht möge und deshalb schlecht behandle. Er
mußte das zugeben, aber dieses Stückchen analytische Aufklärung
brachte sein Gebäude von Rationalisierungen ins Wanken und
von da an entwickelte sich, wie er selbst sagte, allmählich die
Impotenz; wie die Analyse bald zeigen konnte, als letztes, wirk¬
samstes Mittel der Rache, das einerseits die Frau vollständig
entwertet (selbst als Sexualobjekt), andererseits seinem mächtigen
Schuldgefühl in der Selbstbestrafung Ausdruck gibt. Jetzt ist er
selbst kastriert, Weib, und straft in sich selbst zugleich die schuldige
(erste) Frau (Mutter). Mit der Impotenz gibt er natürlich unbewußt
zu, daß er schuldig ist. an der schlechten Ehe und beginnt
infolgedessen in typischer Weise der Frau gegenüber rücksichtsvoll
und zärtlich zu werden. Er quält sie jetzt nur noch (unbewußt) durch
die Impotenz, durch die sie sich aber nicht gequält fühlt, offenbar,
weil sie sie mit richtigem Instinkt als das auffaßt, was sie ist; als
ein — wenn auch mißglückter —Versuch der inneren Lösung
des Angst-Schuldproblems. Die Analyse setzte dann diesen neuroti¬
schen Heilungsversuch konsequent und mit besserem Erfolg fort.
Aus der Endphase der Analyse ist der nachstehende Heilungs¬
vorgang zu rekonstruieren. Während Patient im Anfang der Analyse
1 Sammlung kleiner Schriften zur Neurosenlehre, IV. Folge, 1918, S. 229 ff.
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Dr. Otto Rank
die typischen Versagungsträume auf Grund der störenden Männer
(Vater-Übertragung) hatte („Störungsträume“), ist er jetzt im
Traum mit der Darstellung und Abwehr seiner feminin-passiven
Einstellung zum Analytiker (Vater) beschäftigt.
Nachdem er mich eines abends angerufen hatte, ob er nicht
sein Notizbuch bei mir vergessen habe (Selbstkastration, Geheimnis,
Libido, Geschenk, Kind), erzählt er am Morgen in der Stunde
von einer schlechten Nacht, in der er wieder einen seiner Magen-
Darmanfälle hatte, aber so intensiv wie noch nie. Die
genaue Schilderung dieses Anfalles erkennt er selbst schon während
seiner Erzählung als unzweideutige (anale) Entbindungsphantasie,
mit der er die feminin-passive Rolle im libidinösen Sinne zu
akzeptieren sucht (Kindschenken). Nach dem Anfall, in dem er
fortwährend auf den „erlösenden Flatus“ gewartet hatte, schläft
er ein und träumt, daß er mit jemand kämpft; sie
halten einander mit der rechten Hand fest und
suchen sich mit Dschiu-Dschidsu-Griffen unterzu¬
kriegen. Schließlich siegt er, zum erstenmal seit
er sich erinnern kann (wie er hinzufügt), während
er früher immer unterlegen war („Lähmung im
Traume“ gehabt hatte). Unmittelbar nach dem Traume
erwacht er mit.einer mächtigen Erektion, „so stark wie
noch nie“ und so plötzlich wie selten, die auch beim Gedanken
an den Sexualakt mit seiner Frau blieb. Dieser Traum zeigt also
den Weg zur Potenz, und zwar deutlich durch Einarbeitung
verdrängt gewesener femininer (Übertragungs-) Libido in die
heterosexuelle Abfuhrsphäre. In der Entbindungsphantasie ist er
das Weib (Mutter), das dem Vater ein Kind schenkt; im
Traum protestiert er gegen diese Einstellung und ist selbst der
starke Mann (Vater), der Potente (der das Kind zeugt).^
Vorläufig allerdings nur im Traume. In Wirklichkeit versucht
er den Koitus gar nicht, will ihn nicht versuchen, bis er nicht
ganz „gesund“ ist. Die Potenz, könnte man sagen, ist zu „psychisch“,
ist noch zu unmittelbar in der Übertragungs- und Widerstands-
Situation verankert. Mit der fortschreitenden Lösung der Über¬
tragung werden seine Erektionen (auch nachts) immer zahlreicher
und intensiver und halten auch stets dem Gedanken an den ehe-
1 Das weitere, analytische Verständnis des Traumes ergab sich erst aus
einem zweiten ähnlichen Traum, dessen Deutung weiter unten folgt (S. 442).
Zum Verständnis der Libidoentwicklung im Heilungsvorgang
liehen Sexualverkehr besser stand. Seine wirkliche Potenz erlangt er
endlich unter den gleichen psychischen Bedingungen, die wir vor¬
hin als den „Weg zur Potenz“ beschrieben haben. Für einen
bestimmten Abend, nach etwa dreimonatiger Analyse, nimmt er
sich Koitus vor, ist aber natürlich impotent, da dies ja eine Probe
für den Erfolg der Analyse darstellen sollte. Nachts hatte er wieder
den „femininen“ Anfall, einen „Wirbel von 60 Träumen“, wie er
sagt, und erwacht am Morgen mit einer Erektion. Ruft seine
Frau, die er auf sich legen läßt, mit der Motivierung, „die Erektion
durch den Transport nicht zu verlieren“, und ist glücklich, als es
geht. Nachher sagt er: „Na! kann der Doktor etwas!“
Hier zeigt sich vollkommen klar, was wir unter der
„psychischen“ Natur der Potenz verstehen. Denn körperlich war
er abends bereits ebenso potent wie am Morgen,^ er mußte sich
aber sozusagen erst potentia aus dem femininen Libido-Reservoir
schöpfen und in der Identifizierung mit dem Analytiker vermänn¬
lichen. Die Erledigung der Übertragung und damit zugleich die
Wandlung von der femininen in die maskuline Einstellung erfolgt
also durch Identifizierung mit dem Analytiker
(Vater), durch das psychische Vater werden, das ihn ein Kind
zeugen anstatt gebären läßt, wobei er im Sinne der sublimierten
Wiedergeburtsphantasie selbst das (vom Analytiker) gezeugte
(geistige) Kind ist. Den Koitus hat eigentlich der Analytiker
vollzogen, was auch erklärt, daß Patient erst am Morgen, bevor
er in die Analyse geht, und in der analytischen Stellung (feminine
Rückenlage) potent ist.
Nächsten Tag hatte er bereits in normaler Stellung, und
zwar abends, verkehrt. In der Nacht darauf wieder Anfall, aber
bedeutend leichter. Wird dann allmählich, wie er sagt, „herrisch“
(in der Sexualität) wie nie zuvor, rationalisiert seine Vorsichten
nicht mehr damit, der Frau beim Sexualakt weh zu tun, sondern
macht sich nichts daraus, was andererseits einem Rest seiner Rache
entspricht.
Mit Erlangung seiner vollen Potenz beginnt er die Über¬
tragung und im weiteren Verlauf die Analyse zu entwerten und
schließlich seine eigene Geschichte zu bagatellisieren, indem er sie
1 Den naheliegenden Gedanken an die morgendliche Wassersteife hat der
Patient später als Widerstand gebracht, der dartun sollte, daß die Erektionen
kein Erfolg der Analyse seien, da sie nicht kämen, wann er sie wollte.
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Dr. Otto Rank
ohne Scheu weiter erzählt. Etwa vierzehn Tage vor Abschluß der
Analyse hat er nach normalem Abendkoitus einen Traum, daß
sein verstorbener Freund, der ihn betrogen hatte,
im Duell oder durch einen Dritten oder im Felde
verletzt worden sei. Nur der Schlußakt dieses
Dramas sei ihm in Erinnerung: Ich komme in eine
Hütte, er lag in den letzten Zügen und ich stand
hoch aufgerichtet vor seinem Bett. Der Kontrast
zwischen ihm, dem Verwundeten, und mir, dem
Gesunden, ist mir besonders auf gefallen.“ Dieser Traum
stellt, wie der frühere (S. 440), wieder den Sieg über einen männ¬
lichen Partner dar und weist auf die Überwindung des trauma¬
tischen Anlasses hin, dessen Verdrängung letztlich den Anstoß
zur Impotenz gegeben hatte. Er befriedigt die Rache
und den Triumph über den Gegner an entsprechenderer
Stelle, nämlich am männlichen Konkurrenten (Ödipus¬
situation) anstatt an der Frau, indem er zugleich damit die
Übertragung erledigt (der Freund, der ihn wieder betrogen) und
sich gesund erklärt. „Ich stand hoch aufgerichtet“ heißt im
libidinösen Sinne: Ich bin potent, bin sozusagen ganz Penis, ganz
Libido, auf deren femininen Anteil der verwundete (kastrierte)
Mann im Bett hinweist, mit dem sich Patient auch als Unter¬
legener in der Analyse im Sinne der infantilen Wunscherfüllung
identifizieren kann.
Die gleichen „Komplexe“, die seine Impotenz verursacht
hatten, werden jetzt also psychisch in den Dienst der Potenz
gestellt. So macht der Patient erst eine Hyperpotenz durch, ehe
er zur normalen psychisphen Potenz gelangen kann.^ Diese wohl
noch „neurotisch“ zu wertende Hyperpotenz (siehe Fali 2) wird
im analytischen Heilungsmechanismus zunächst als Symptom
sozusagen neu produziert.
Der Heilungsmechanismus selbst beruht auf der Iden¬
tifizierung mit demAnalytiker, die dem Patienten durch
Befreiung vom (neurotischen) Schuldgefühl, das
heißt durch Auflösung der auf die Mutter bezüglichen Angst,
ermöglicht wird. Diese Verwandlung von Angst in Libido —
1 Patient ist seit der Analyse in der Ehe potent geblieben und hat
bereits Kinder von der zweiten Frau.
Zum Verständnis der Libidoentwicklung im HeilungsVorgang 443
r
I die auch die Symptome zum Verschwinden bringt — wird durch
I Abfuhr der fälschlich gegen das Weib gerichteten Rache am Manne
I (Übertragung) herbeigeführt. Diese Affektbefriedigung am unrich¬
tigen Objekt (zitiert von Freud: Das Ich und das Es, S. 56) ist für
die Verdrängungsarbeit im Dienste der Ichtendenzen charakteri¬
stisch; sie ist aber ein Resultat der Verschiebung, darf als solches
‘ nur als Symptom genommen werden und nicht als Movens, wie dies
Adler auf Grund seiner Leugnung der Libido als einer entscheidenden
Triebkraft getan hat. Denn, wie man sieht, handelt es sich im
Heilungsmechanismus darum, die sekundäre Ichrache (am Weibe)
auf die primäre Libidorache (am Manne) zurückzuführen. Die
primäre Rache heißen wir eine Libidorache, weil sie aus dem
Ödipuskomplex stammt, von dort her vollverständlich wird und
beide Seiten desselben (auch die feminine Einstellung zum Vater,
j nicht nur die Abwehr dagegen) umfaßt. Es fällt hier von der
Libidotheorie ein aufschlußreiches Licht auf den sogenannten
„Kampf der Geschlechter“, der sich als Erklärungsprinzip völlig
' unzureichend erweist, während er ein interessantes Symptom für
tiefreichende, vielleicht sogar biologisch zu begründende Ver¬
drängungsvorgänge darstellt. Die primäre Rache am Mann, die
' der Neurotiker regelmäßig an sich selbst statt am Vater vollzieht
(Straftendenz der Symptome), wird ihm in der Übertragungs¬
situation ermöglicht, somit das Schuldgefühl genommen, die
davon belastete (verdrängte) Libido frei, die sich nunmehr in
Identifizierung mit dem Vater als psychische Potenz, die an
Stelle der Symptome getreten ist, manifestiert. Unter der aus der
analytischen Übertragungslösung folgenden normalen Potenz ver¬
stehen wir dann die volle Libidobefriedigungsmöglichkeit ohne
Schuldgefühl und Angstentbindung auf Grund einer weder ver¬
drängten noch zu weitgehenden Identifizierung mit dem Vater.
2 .
Eine solche Hyperpotenz ist aber auch als wirkliches, nicht
bloß „passagöres“ Symptom möglich, wenn das Schuldgefühl des
Patienten anderwärts neurotisch verankert ist, wie z. B. bei einem
jungen Mann in den Zwanzigerjahren, der an schwerer Zwangs¬
neurose leidet und in Zusammenhang damit an einer neurotischen
Potenzsteigerung, (las heißt einer unbefriedigbaren Libido, die sich
in ständigem Verkehr mit Prostituierten und außerdem in
444
Dr. Otto Rank
gehäufter Masturbation äußert. Das Zwangsmäßige seiner Libido¬
ansprüche, unter denen er leidet, wird am besten durch einen Aus¬
spruch in der Analyse charakterisiert: „Es sollte so sein: den
ganzen Tag koitieren, bis zur Analyse und dann nachher wieder
den ganzen Tag!“ Analytisch äußert sich in dem Ausspruch seine
ungeheure Übertragungslibido und die heterosexuelle Abwehr
dagegen, dynamisch die „homosexuelle“ Motivierung der Unbefriedig-
barkeit, die in seinem Sexualleben darin zum Ausdruck kommt,
daß er mehrmals in der Woche Prostituierte aufsuchen muß, den
Sexualakt meist öfters wiederholt, und dann noch manchmal vor
dem Einschlafen, oft am Morgen danach, masturbieren muß.^
Der Koitus am entwerteten heterosexuellen Objekt fordert
bei ihm eine libidinöse Ergänzung in der Befriedigung am über¬
schätzten Objekt, dem narzißtisch betonten Ich, an dem er seine
bisexuelle Ödipuseinstellung gleichzeitig befriedigt.^
In seiner Analyse handelt es sich, im Gegensatz zum vorigen
Fall, darum, seine aus infantilen („perversen“) Quellen übermäßig
gespeiste und an das entwertete Mutterobjekt fixierte Libido
auf das Normalmaß zu reduzieren und den Überschuß auf dem
Wege der Sublimierung seinem gestörten Berufsleben zuzuführen.
Während Fall 1 den Weg zur Potenz aus der Erledigung der
Rache am Mann (statt am Weib) findet, versucht dieser Patient
das im aktuellen Sexualleben, indem er gegen seine unbewußte
feminine Einstellung mit Hyperpotenz reagiert. Charakteristisch
für das neurotische Mißlingen dieser Absicht ist folgendes Erlebnis
des Patienten. Einer Prostituierten, die den Wunsch hatte, oben
zu liegen, gibt er nach heftigem Sträuben nach. Beim Beginn des
Aktes hatte er einen Moment lang den „unsinnigen“ Gedanken:
Wie ist es möglich, daß ich sie per anum koitiere, da müßte sie
ja unten liegen! Obwohl der Koitus dann doch befriedigend war,
erwacht Patient nachts mit einer heftigen Erektion, die man
^ Die Masturbation als Symptom der „psychischen Potenz“, das
heißt einer unbefriedigbaren neurotischen Libidosteigerung, ist das für die
Frau typische Abfuhrzeichen für die teilweise Befreiung der an die Mutter
fixierten Libido in der Analyse.
2 Er liebt es, bei der Masturbation, die öfters auch auf dem Klosett
stattfindet (feminin-anal), seine „weiche, pofsterige Haut zu streicheln“, was
auf infantile Eindrücke an der Mutterbrust zurüekgeht, die bei Patienten eine
ganz besondere Bedeutung hatte, da er übermäßig lange gestillt worden war.
Zum Verständnis der Libidoentwicklung im Heilungsvorgang
als Auflehnung gegen die weibliche Rolle betrachten könnte.
Dann mußte er masturbieren, und zwar vor einem weiblichen
Bild mit der Vorstellung, recht männlich zu sein. Hinter diesem
manifesten „männlichen Protest^^ im Sinne Adlers steckt aber,
genau wie im vorigen Fall, ein gutes Stück femininer Libido¬
befriedigung, da er ja in der Masturbation auch das Weib
repräsentiert (das Anschauen des weiblichen Bildes unterstützt
seine Identifizierung mit dem Weib). Es zeigt sich übrigens auch
hier, wie bei der Analyse der Homosexualität, daß auch im
Masturbationsakt unbewußterweise nicht Mann und Weib, sondern
Mutter und Kind dargestellt wird.
Beweisend für diese Natur seines Libidokonfiiktes ist das
folgende Traumstück: ...Ich bin mit m einem Freunde
P. wie zu einem Bureau gegangen. Dort stand eine
hohe, große’Frau (ein Weib) wie eine allegorische
Figur, eine Göttin, die plötzlich einen Schnurr¬
bart bekam und aussah wie ein General. Dann habe
ich P. koitiert — er hatte eine Vagina — und zwar
zwei- bis dreimal, hatte aber keine Pollution (ich
weiß nicht ob deshalb, weil ich steril geworden
bin).^ Aus der Deutung sei nur hervorgehoben, daß es sich um
seinen bisexuellen Ödipuskomplex handelt (Göttin — mit Schnurr¬
bart — und General). Patient ist zugleich in der Vateridentifizierung
aktiv-männlich (koitiert), aber auch in der Identifizierung mit dem
kastrierten Freund passiv-feminin, dem Vater gegenüber. P. ist
eigentlich der Freund seines älteren Bruders, auf den Patient
seine Vaterrivalität transponiert hat (was übrigens der Traum
deutlich zeigt). Den Abend vor dem Traum hatte er mit P. ver¬
bracht und besuchte dann (wie er selbst bemerkt, als Reaktion
auf die homosexuelle Libido) eine Prostituierte, mit der er den
Sexualakt zweimal ausführte; ein drittesmal weigerte sie sich. Bei
der Traumerzählung bemerkt er: „Ich weiß nicht, ob ich noch ein
drittesmal wollte.^* Am Morgen nach dem Traume hat er jedenfalls
masturbiert, weil er, wie er sagte, abends vorher nur zweimal
1 Dieser Gedanke hängt bewußt mit seinem sexuellen Leichtsinn zusammen;
da er sich so bedenkenlos den Infektionsmöglichkeiten aussetzt, kann man an
der zugrundeliegenden Selbstbestrafungstendenz kaum zweifeln; unbewußt
entspricht die^ Sterilitätsphantasie einer Ablehnung der Vateridentifizierung
(aus Schuldgefühl).
446
Dr. Otto Rank
koitieren konnte. Er mußte es tun, denn — wie er hinzufügt —
„drei ist die Zahl meines älteren Bruders'V mit dem er sich also
(an Vaters Stelle) identifiziert. Und zwar deswegen, weil der Bruder
im Leben und in der Liebe erfolgreich ist, also für den Patienten
die Überwindung seiner infantilen Fixierungen, das „Ideal“ bedeutet.
Die zwei- bis dreimalige Wiederholung des Sexualaktes im Traume
entspricht also seiner Identifizierungstendenz mit dem Bruder
(Vater). Noch deutlicher wird die psychische Grundlage seiner
Potenz in der Identifizierung durch die weitere Bemerkung: „Wenn
ich mich zum erstenmal in ein Mädchen verlieben werde und sie
in mich, dann werde ich sie sechs mal koitieren!“ Diese Zahl
stammt daher, daß sein Bruder ihm vor längerer Zeit mitgeteilt
hatte, er habe sich in ein Mädchen verliebt und habe in der ersten
Nacht den Geschlechtsakt sechsmal ausgeführt. Die reale
Schwierigkeit dieser Identifizierung umgeht Patient, indem er
statt des Sexualaktes die Sexualobjekte (Prostituierte) verviel¬
facht, also die bestimmte Zahl der Sexualakte in eine unendliche
Reihe von Sexualobjekten auflöst.
Die zwangsmäßige (neurotische) Potenz des Patienten stammt
also aus dem zu kram.pfhaften Festhalten an der unbewußten
Identifizierung mit der Vaterfigur (Bruder), während Fall 1 an
der Hemmung der Vateridentifizierung aus dem Schuldgefühl
impotent geworden war. Ein einziges Mal im Verlaufe der Analyse
erwies sich dieser — allerdings an falscher Stelle — überpotente
junge Mann auch als impotent. Er war nach der analytischen
Aufklärung des Widerstandes gegen die (feminine) Akzeptierung
der Analyse zu seinem Freunde und von dort ins Bordell gegangen.
Vor dem Tore war er mit einem jungen Manne zusammengetroffen,
der gemeinsam mit ihm hinaufging, so daß die Mädchen den
Eindruck hatten, sie seien Freunde. Patient hatte bald ein Mädchen
gefunden, die ihm sagte, sein „Freund“ könne sich mit ihrer
Freundin unterhalten, was Patient dem anderen sogleich mitteilte,
wobei er sich in der stolzen Rolle eines Kupplers fühlte. Jedoch
^ Seit früher Kindheit hatte Patient als mittlerer von drei Brüdern die
Gewohnheit, seine Brüder mit Ziffern zu bezeichnen: als Nr. 2 und Nr. 3
(Patient selbst war Nr. 4), was mit abergläubischen Beseitigungs- und Geburts¬
wünschen zusammenhängt. (Man vergleiche dazu die Vorstellung bei den
Australiern, wo man die Zahl seiner Kinder nicht nennen darf, weil sie sonst
sterben. Nach Röheim: Das Selbst. Imago, 1921.) ,
Zum Verständnis der Libidoentwicklung im Heilungsvorgang 447
der andere erwiderte, er sei eigentlich auch nicht wegen der
Mädchen gekommen, sondern nur, um sich mal den „Betrieb“
anzusehen. Patient entgegnete, er sei ehrlich genug zu sagen, er
sei wegen der Mädchen gekommen, die er brauche. Zugleich
dachte er aber, in Erinnerung an einen Witz: Wenn er nicht
wegen der Mädchen gekommen ist, dann ist er wegen des
Mannes gekommen. Der Sexualakt verläuft genußlos, mit
ejaculatio praecox und bei allen weiteren Versuchen bleibt Patient
vollständig impotent. Er erzählt am nächsten Tage, er habe es
vergeblich mit allen (perversen) Reizungen versucht, nur an den
Coitus per anum habe er nicht gedacht (er gebraucht dabei ein
vulgäres Wort, das auch Homosexualität bedeutet). Patient spielte
also dem anderen Manne gegenüber die feminine Rolle, anderer¬
seits bestätigt er unbewußterweise in seinem Symptom, daß
auch er nicht wegen der Mädchen, sondern zur Befriedigung
der homosexuellen Libido gekommen sei, indem er sich mit
dem jungen Manne identifiziert.^ Die passiv-feminine Ein¬
stellung zur Vater- (beziehungsweise Bruder-) Imago bewirkt
aber hier ebenso seine psychische Impotenz wie die aktive
Identifizierung mit der Vaterimago (Bruder) sonst seine enorme
psychische Potenz bedingt.
Die Darstellung und Erledigung seiner femininen Einstellung
zeigt der vorletzte Traum seiner sich über viele Monate erstreckenden
Analyse: „Ich war nackt im Wasser und bin unter¬
getaucht, weil ich meine Hose nicht finden konnte.
Dann war ich als dicker Falstaff draußen und
jemand klagte mich an, daß ich meiner Schwester
etwas getan habe. Er drohte mit der Polizei und
ich flüchte in eine Art Zirkus oder Gefängnis, wo
ich dann als ich selbst bin und mir sage: Was wollen
die Leute von mir, ich habe ja gar nichts getan.
Trotzdem werde ich verhaftet und vor den Polizei¬
chef gebracht, den ich frage, was man denn von mir
will! Er sagt, er wird es schon machen (und mir
helfen). Dann sagt er, ich soll warten (und das war
an einem Teich mit Goldfischen).“
* Vergleiche dazu die Ausführungen von B o e h m über die homosexuelle
Komponente des Bordellbesuches. Zeitschrift, VII, 1921, S. 79 ff.
448
Dr. Otto Rank
Ohne im einzelnen auf die Deutung einzugehen, sei nur bemerkt,
daß es sich wieder um den typischen Geburtstraum in der analytischen
Endphase handelt, in dem Patient einerseits als Weib dem Vater
ein Kind, andererseits sich selbst als neuen (gesunden) Menschen
(wieder-) gebiert. Falstaff, der bramarbasierende Mann mit dem
dicken Bauch, ist Symbol für beide Strömungen. Im zweiten Teil
des Traumes hat Patient den Bauch schon verloren und ist
wieder er selbst (Geburt). Schwester hat er nie gehabt; doch ist
er selbst (von drei Geschwistern) „die Schwester“, der Feminine,
der als Weib aus dem Wasser kommt (geboren wird); andererseits
hat er mit der phantasierten Schwester (Mutterersatz, was ja
alle seine Frauen letzten Endes sind) das Kind gezeugt (ihr etwas
getan), was sein Schuldbewußtsein bedingt (Polizei-Analyse),
das er dem Vater (Analytiker) gegenüber hat und mit der Libido
beschwichtigen will („er wird mir helfen“).
3.
Während es sich im ersten Falle lediglich um eine psychische
Impotenz, im zweiten dagegen um eine ausgesprochene Zwangs¬
neurose mit neurotischer Überpotenz handelte, wähle ich als drittes
Beispiel wieder einen beruflich voll leistungsfähigen Mann von nor¬
maler, d. h. eher unterwertiger, aber doch subjektiv befriedigender
Potenz, den hartnäckige Schlaflosigkeit und Depressionszustände
in die Analyse geführt hatten. Aus dem sehr interessanten Verlauf
der kurzen, aber erfolgreichen Analyse hebe ich nur die unser
Thema betreffenden Einsichten hervor. Patient, der das gewöhn¬
liche heterosexuelle Liebesieben des unverheirateten jungen Mannes
führte, kompliziert durch einige homosexuelle Attentate von seiten
Erwachsener, die er in der Jugend über sich hatte ergehen lassen,
gibt während der Analyse von selbst den Sexualverkehr auf,
obwohl er dazu reichlich Gelegenheit hätte: offenbar im Zusammen-
halig mit seiner in der Übertragung mobilisierten femininen
Libido, die, seinem Ödipuskomplex vorgelagert, ihm teilweise als
„homosexuelle“ (bisexuelle) Gefühlsrichtung bewußt ist.
Nach mehr als zweimonatiger Analyse, in der hinter dem
Symptom der Homosexualität die infantiie Einstellung aus dem
Ödipuskomplex bloßgelegt worden war, beginnt Patient von
Morgenerektionen (mit Harndrang) zu erzählen, die ihn wecken.
Das erstemal im Zusammenhang mit einem Traum am Morgen,
Zum Verständnis der Libidoentwicklung im Heilungsvorgang 449
nachdem er uriniert hatte und nochmais eingeschlafen war. „Ich
gehe aufs Klosett. Ein alter Mann kommt hinein
und greift nach meinem Penis.“ Patient deutet den Traum
selbst auf (homosexuelle) Übertragung (Vaterimago). Bei weiterer
Analyse taucht Schuldgefühl auf, das auf den Ödipuskomplex
zurückgeht und sich in Kastrationsangst äußert. Das Greifen
nach dem Penis hat dann den Sinn der Versicherung seines
Vorhandenseins: Der Vater (Analytiker) gestattet ihm die Sexualität.^
Daß dieser Traum die Beruhigung seiner Kastrationsangst enthält,
zeigt sich nun darin, daß Patient nach dieser Aufklärung erzählt,
sein Vater, der oft lange Reisen unternommen batte, sei bei seiner
Beschneidung nicht zugegen gewesen.^ In der Analyse des Patienten
hat daher ein anderes Kastrationstrauma — man möchte im Hinblick
auf die beiden ersten Fälle sagen, als kompensatorische Deck¬
erinnerung — eine große Rolle gespielt. Im Alter von etwa drei
bis vier Jahren war er Zeuge der Beschneidung eines Knaben aus
der Verwandtschaft gewesen; der Mann, das Messer, das Blut waren
ihm als unauslöschliche Eindrücke geblieben. Als er später einmal im
Gymnasium das Glied eines unbeschnittenen Knaben sah, dachte er,
es sei so klein, weil es nicht beschnitten sei. Ein unlogischer
Gedanke, wie er jetzt sagt, der nur aus dem unbewußten Kastrations¬
wunsch der femininen Einstellung zum Vater verständlich wird und
zugleich die Kompensationsphantasie enthält (durch Beschneiden
wird der Penis größer).
Aus der Traumanalyse ergab sich, daß er auf die Morgen¬
erektion mit Schuldgefühi reagiert hatte, das aus dem Kastrations¬
komplex stammt, das heißt, daß die Erektion hier der
Verleugnung der Kastration dient, während in Fall 1
die Kastrationsangst die Erektion verhinderte. Beim Beginn
der Übertragungslösung träumt Patient von einer riesenhaften
Brücke, die sich wie ein Messer in der Mitte öffnet (Kastration
— Geburt) und erwacht auch aus diesem Traum mit Erektion.
^ Dies ist übrigens auch der unbewußte Sinn des Erduldens seiner
homosexuellen Attentate von seiten älterer Männer: der Vater gestattet, ja
fordert die (von ihm sonst verbotene) Libidobefriedigung.
2 Diese Zeit ohne den Vater ist auch die selige Urzeit seiner Ödipus¬
phantasie geblieben. Ihre Vorzeitigkeit (Rückprojektion) im Zusammenhang mit
der Abwesenheit des Vaters hat wohl die Intensität seiner Fixierung an die
Mutter verstärkt, sicher aber deren spätere neurotische Verdrängung bewirkt.
450
Dr. Otto Rank
Gegen Ende der Analyse, die im ganzen dreiundeinhalb Monate
gedauert hatte, stellen sich die Erektionen auch bei Tage ein. So
habe er, als ihn nachmittags im Badezimmer das Dienstmädchen
zufäiiig mit der Hand am Rücken berührte, sofort eine mächtige
Erektion bekommen, was früher nie so leicht vorgekommen sei.
Im Anschluß daran sei der Wunsch zu masturbieren aufgetaucht,
um die quälende Erektion wegzuschaffen. Dabei ist neben der Ver¬
knüpfung von Masturbation — Herunterreißen — und Kastration
wieder die Mutterlibido im Spiel. Als ihn am selben Abend in
Gesellschaft eine bekannte Dame scherzhaft am Ohr zupft, erregt
ihn dies wieder in ungewohnter Weise; er dachte dabei, die
benimmt sich wie ein Dienstmädchen. Das Verständnis eröffnen
uns früher erzählte Erinnerungen von den Liebkosungen der
Mutter, die bis ins erwachsene Alter hinein in Streicheln am
Rücken, am Ohr und über die Haare fortbestanden und der
Schlaflosigkeit eine infantile Dauerfixierung verliehen hatten,
indem Patient so jede Nacht die Mutter an sein Bett rufen und
ihn liebkosen (einschiäfern) lassen konnte. Wir erkennen also in
den Erektionen dieÄußerung der befreiten Mutter¬
libido am erniedrigten Sexualobj ekt^ Paraliel mit
dieser „regressiven“ Libidoentwicklung produziert Patient von seiner
starken Ideaibildung aus Koitusphantasien mit ichgerechten Ersatz-
(Mutter-)Objekten (verheirateten Frauen seines Bekanntenkreises
usw.), die schiießlich in einen bewußten Heiratswunsch auslaufen.
In den Phantasien identifiziert er sich einerseits mit dem
Anaiytiker (wie Fall 1), andererseits phantasiert er das weibliche
Sexualobjekt an seine Stelle, und zwar zuerst in meinem Behandlungs¬
zimmer auf meinem Sofa in flacher Rückenlage (siehe Fall 1) f
1 Dieser Zusammenhang ergibt sich auch aus einem (Impotenz-) Traum
(-Bruchstück), wo er in Begleitung der Schwester durch ein berüchtigtes
Stadtviertel geht, in dem zwei Männer daher kommen, in der Absicht, ihn zu
necken. Er dachte, sie hätten es auf die Schwester abgesehen, aber der eine
von ihnen macht des Patienten Hose auf, nimmt den Penis in die Hand
und steckt ihn in den Mund. „Et,sagte dabei zu mir, ich hätte keine
Erektion. — Ich sagte: Oh ja, ich habe eine! Ich hatte aber doch keine!“
(Orale Befriedigung: zwei Männer-Testikel-Brüste).
^ Früher hatte er, von seinem ersten Sexualakt her, den er in Identi¬
fizierung mit dem Bruder am gleichen Objekt ausübte, eine andere Stellung
der Frau bevorzugt und diese auch in seinen späteren Masturbationsphantasien
festgehalten.
Zum Verständnis der Libidoentwicklung im Heilungsvorgang 451
später verlegt er dann diese phantasierten Szenen in sein eigenes
Zimmer. Im Zusammenhang damit verwandelten sich seine
(homosexuellen) Störungsträume in heterosexuelle, das heißt er
verweist jetzt den eintretenden Männern, ihn beim Sexualakt zu
stören, während er sie früher sozusagen herbeigerufen hatte (wie
Fall 1; in beiden Fällen geschah dies auch in Wirklichkeit). Auch
wird bald in den Phantasien der Sexualakt wiederholt ausgeführt,
was früher nie der Fall war und deutlich auf die Potenzsteigerung
hinweist, welche sowohl durch Befreiung der Mutterlibido als
auch durch Überleitung der sie neurotisch ersetzenden femininen
Libido („Homosexualität“) bewirkt wird. Bald danach träumt Patient,
der am Anfang der Analyse nur scheinbar homosexuelle Angst¬
träume hatte, daß er das Dienstmädchen koitiere: „mit Lustgefühl,
aber ohne Erektion“, wie ihm scheint. Abends vorher hatte
er ihr wirklich eine sexuelle Andeutung gemacht. Der Traum
bringt neben dieser libidinösen Bewertung des erniedrigten
Objektes in einer vorhergehenden Szene die Entwertung der
Mutter, die er alt und krank sieht. Nächsten Tag hat er wieder
(feminine) Kastrationsträume, aus denen er wieder mit Erektion
erwacht. Dem eben wirklich eintretenden Mädchen gegenüber
macht er einen sexuellen Annäherungsversuch, sie wehrt ihn aber
mit dem Hinweis auf ihre Menstruation ab. Er ist entsetzt, sofort
fällt ihm „Kastration“ ein und — seine Erektion wird stärker.
Hier wird deren Charakter als Verleugnung der Kastration (aus
der Identifizierung mit dem Weib) wieder deutlich.
Eine Woche endlich vor dem festgesetzten Ende der Analyse
versucht er am Nachmittag das Mädchen in seinem Zimmer zu
koitieren, ist aber nicht recht erfolgreich. Wie er sagt, einerseits
weil sie zu eng sei, andererseits weil sie fürchten mußten,
überrascht zu werden (Schuldgefühl-Situation). Abends im Bade¬
zimmer wurde der Versuch wiederholt, aber wieder nicht mit
Erfolg. In der Nacht schließlich, als das Mädchen zu ihm ins
Bett kam (siehe die analoge Muttersituation in Fall 1), ging es
ohneweiters. Nach dem Koitus konnte er lange nicht einschlafen
— seine „nervöse“ Schlaflosigkeit war bereits geschwunden, er
konnte jetzt nur gelegentlich nicht schlafen, und zwar aus
unverdrängter, unbefriedigter Libido. Er dachte an Homosexualität
und Perversionen und wunderte sich, daß es so etwas überhaupt
gebe. Obwohl dieser Akt nicht voll befriedigend sein konnte, war
Internat. Zeitscbr. f. Psychoanalyse, IX/4.
SO
452
Dr. Otto Rank
er sozusagen doch eigentlich der erste vollwertige Sexualakt des
bereits durch mehrere „Verhältnisse“ hindurchgegangenen Patienten.
Die Unbefriedigung aus der Hyperpotenz äußerte sich noch darin,
daß Patient nach dem Koitus noch Erektion hatte und auch am
Morgen — nach einem unbefriedigenden symbolischen Deflorations¬
traum, der sich auf die Mutter bezog (Geburtstraum) — wieder mit
Erektion erwachte. Aus dem manifesten Kastrationstraum der
nächsten Nacht — in dem er die infantile Beschneidungsszene
reproduziert — ergibt sich, daß er die Defloration mit der
Kastration, sich also mit dem Mädchen identifiziert (was schon
bei der Menstruation klar war). Auch aus diesem Traum erwacht
er wieder mit Erektion. Nach dem diesem Traum vorangegangenen
Koitus, der ihm jetzt zum Bedürfnis geworden ist, war die Erek¬
tion bereits schwach und verschwand bald post/coitum, während
sie ante kräftig blieb.
Nachstehend gebe ich den eben erwähnten Traum aus einer
der letzten Stunden wieder, weil er seine ganze Libido-Entwicklung
und -Situation deutlich zeigt: „Ich habe an einem Kinde
eine Operation am Unterleib vorgenommen. Beim
Vernähen der Wunde benahm sich mein Assistent
ungeschickt, ich schickte ihn weg, um es allein zu
machen. In einem unbemerkten Moment erhob sich
aber das Kind vom Tisch und stand auf, so daß die
ganze offene Wunde wieder klaffte. Ich legte es
mitMühe wieder nieder, um dieWunde zuvernähen.
Dann fragte ich, ob es sich an etwas (aus der
Narkose) erinnern könnte und sagte etwas vom
Wied er bewußtmachenkönnen.“
Aus den Assoziationen ergibt sich zunächst die aktuelle
Bedeutung der Defloration des Mädchens, mit dem er sich auf
Grund der femininen Einstellung identifiziert, und seiner Gedanken
an eventuelle Folgen (Vernähen, Kind). Der im Traum wiederholten
infantilen Kastrationssituation entspricht seine alte feminine
Wunschpbantasie, dem Vater ein Kind zu schenken (Geburts¬
darstellung). Analytisch stellt er in infantiler Symbolik seine
Identifizierung mit dem Vater (Analytiker, Operateur) dar: er
bekommt nicht mehr das Kind, er will es selbst machen; er ist
auch nicht mehr das neugeborene (operierte) Kind, sondern der
Vater (Arzt, Operateur).
Zum Verständnis der Libidoentwicklung im Heilungsvorgang 453
Auch hier also die gleiche libidinöse Endsituation, wobei
infolge der stärker narzißtischen Reaktion des Patienten allerdings
deutlicher wh’d, in welcher Weise die Identifizierungs¬
tendenz in den Dienst der Ichidealbildung gestellt
wird.^ Die Übertragung wird ersetzt durch eine den Analytiker
(Vater) introjizierende Phantasiebildung, wobei die Identifizierung
nur so weit zugelassen wird, als zur Ablösung bei gleichzeitiger
Neubildung des Ichideals notwendig ist. Eine weitergehende
Identifizierung, die ja wieder neurotisch wäre, verhindert der
Narzißmus als Grenzwächter des Individuellen, das nichts Fremdes
annehmen will, und als Differenzierungsfaktor (im Sinne Freuds).
Ehe wir zum Abschluß noch einen flüchtigen Blick auf die
Äußerungen der „psychischen Potenz“ im normalen Liebesieben
werfen, wollen wir das Gemeinsame dieser Fälle zusammenfassen,
von denen jeder eine besondere Seite des zu umschreibenden Tat¬
bestandes beleuchtet. Es handelt sich dabei um eine im Ödipus¬
komplex manifestierte Entwicklung der infantilen Libido, die statt
des geforderten Endausganges im normalen heterosexuellen Ehe¬
leben zu individuell und sozial verschiedenwertigen Störungen führt,
welche von ausgesprochen neurotischer bis zu sozialer Symptom¬
bildung (Perversion, Homosexualität, Dissozialität) schwanken. In
der Analyse erfolgt die Korrektur dieser Abweichungen durch
die bekannte Wiederaufrollung des in erster Instanz verlorenen
Entwicklungsprozesses, wobei die neurotische Identität von
Kläger imd Angeklagten durch ökonomischere Rollenverteilung
auf die zwei ursprünglichen Partner bewußterweise aufgelöst und
damit an Stelle der mißglückten Verdrängung aus Schuldgefühl
(Angst) die Verurteilung im Sinne Freuds gesetzt werden kann.
Zur weiteren Freisprechung vom Schuldbewußtsein folgt dann
die Entwertung des ganzen Verfahrens selbst, die mit einer ent¬
sprechenden Bewertung des eigenen Ich abschließt.
Die seelischen Kosten dieser Revision trägt die Libido des
Patienten, in dem Sinne, daß er auf einen Teil ihrer Befriedigung
in der alten Form verzichten lernen muß. Der Patient holt die in
^ Über die IdealbildungsVorgänge im Heilungsprozeß siehe die folgenden
Ausführungen (11).
30*
454
Dr. Otto Rank
der Kindheit versäumte Einordnung seiner im sozialen Leben
unbrauchbaren Triebkomponenten nach, indem er seine (feminine)
Einstellung zum Vater (Homosexualität, Kastrationskomplex,
Geburtsphantasie) im normalen Sinne erledigt und aus der
analytischen Situation (Übertragung) die Fähigkeit zur vollen
Vateridentifizierung gewinnt, die zur Ausfüllung seiner männlichen
Rolle notwendig ist. Bei der ähnlich entwicklungsgehemmten Frau
(Neurose, Perversion) handelt es sich in der gleichen Libidoschichto
um einen ihrer Pubertätsentwicklung analogen Verzicht auf ein
Stück Männlichkeit, also psychologisch um die volle Identifizierung
mit der Mutter (auch als Geschlechtswesen), der die volle
Akzeptierung der „Kastration“ parallel gehen muß. Es ist dann in
der Analyse das Stück versäumte Entwicklung nachzuholen, das
Freud als infantile Wendung des kleinen Mädchens vom
Penis wünsch zum Kinderwunsch beschrieben hat.^ Wünscht sich
da das Mädchen statt des Penis das Kind, so besteht der entsprechende
Entwicklungsschub beim Manne darin, daß er statt des Kindes
den Penis wünscht (bejaht). Darin ist, wie unsere Fälle zeigen
sollten, auch das beschlossen, was mit dem Begriff der „psychischen
Potenz“ umschrieben worden ist.
Eine Frage von allgemeinerem Interesse wäre dann die
Aufarbeitung dieser in Neurose und Perversion mißglückten
Entwicklungsaufgaben im normalen Liebes- und Sexualleben. Nach
den analytischen Erfahrungen ist zu erwarten, daß dies auch dort
auf dem Wege der Identifizierung erfolgen wird, und zwar der
gegenseitigen Identifizierung, als welche wir ja den Zustand der
Verliebtheit nach Freud auffassen müssen.^ Die Frau befriedigt
so ihren infantilen Wunsch nach dem Penis im Koitus, ebenso der
Mann seinen Wunsch nach dem Kind, und in dieser gegenseitigen
^ »Das Tabu der Virginität“. Sammlung kleiner Schriften zur Neurosen¬
lehre, IV. Folge, 1918, S. 246. Dortselbst findet sich auch der Hinweis auf die
tiefere theoretische Fundierung dieser Auffassung im Triebleben sowie ihrer
Abgrenzung gegen den „männlichen Protest“ Adlers, der hier — wie leicht
ersichtlich — nicht als Erklärungsprinzip, sondern als Symptom der verdrängten
Infantillibido betrachtet und demgemäß als „neurotische Rachetendenz“ oder
als „Männlichkeitskomplex“ des Mannes analysiert wird. Der Unterschied läßt
sich am kürzesten so formulieren, daß fürs Unbewußte, mit dem sich die
Analyse beschäftigt, Femininität—Mutteridentifizierung und Männ¬
lichkeit-Vateridentifizierung heißt.
2 Siehe: Massenpsychologie und Ichanalyse, 1921,
Zum Verständnis der Libidoentwicklung im Heilungsvorgang 455
Identifizierung allein ist die volle gegenseitige Libidobefriedigung
gewährleistet, die über die bloß körperliche Sexualbefriedigung
hinausgeht, in der übrigens auch das Zusammentreffen des
Orgasmus im Sinne der gegenseitigen Identifizierung bedeutsam ist.
Zugleich erkennen wir aber auch, wie in den abstrus scheinenden
unbewußten Motiven der neurotischen Symptombildung ein guter
Sinn steckt, der nur aus einer sozusagen irregeleiteten oder
besser gesagt zu weit getriebenen Identifizierung
verkannt wird. Die die Impotenz begründende Angst unseres
ersten Patienten vor dem Weib entspricht einem ähnlich intuitiven
Erraten eines richtigen psychischen Sachverhalts, wie dies Freud
für das Tabu der Virginität dargelegt hat. Auf Grund der zu
weit getriebenen Identifizierung mit der Mutter nimmt Patient
diesen normalen Wunsch der Frau, den Penis als Kind in sich
einzubeziehen, gleichsam unbewußt wahr; was wir ihm in seinem
Symptom, der Impotenz, analytisch zeigen, ist die Tatsache,
daß dies durch Projektion seiner eigenen femininen Libido¬
einstellung erfolgt.^ Die neurotische Frau gelangt auf demselben
Weg der zu weitgehenden Identifizierung mit dem Mann^ entweder
schon im Verlaufe der infantilen Entwicklung zu hysterischen
Symptomen, welche die libidinöse Funktion der Genitalien verleugnen
und auf andere — sozusagen bisexuelle — Organe verschieben;
oder sie produziert später auf der Stufe des erwachsenen Sexual¬
lebens bei sozial geforderter Genitalfunktion (Heirat usw.) Anästhesie,
Vaginismus und ähnliche als aktualneurotisch zu wertende
Symptome, die der Rache am Manne zu entsprechen scheinen, wie
die psychische Impotenz der Rache am Weibe (Fall 1). Diese Rache
erweist sich aber auch bei der Frau als eine verschobene, sie gilt
iffsprünglich auch dem gleichgeschlechtlichen Konkurrenten aus
der Ödipussituation, der Mutter, wie der Verlauf der Psychoanalyse
solcher Fälle unzweideutig lehrt. Fall 1 beschließt seine Erledigung
der Analyse mit der Rache am Manne, während sein Symptom der
unzweckmäßigen Rache am Weibe dienen sollte, aber die neurotische
Rache an sich selbst bewirkte; Fall 2 führt konstant im Leben
^ Im Falle 1 ist es besonders deutlich zu beobachten gewesen, wie auch
die Frau seine unbewußte Einstellung ihr gegenüber intuitiv erraten und ihm
teilweise direkt bewußt gemacht hatte. Darauf hatte er ja mit der Impotenz
reagiert (siehe S. 439.)
2 Über das Motiv vergleiche jetzt; Das Trauma der Geburt (Sexualität).
456
Dr. Otto Rank
einen neurotischen Kampf gegen Vater und Bruder, entwertet
aber das Weib statt des gehaßten Mannes, an den er libidinös
fixiert bleibt; Fall 3 endlich, dessen jahrelange Angstträume vom
Tode der Mutter sich im Laufe der Analyse in solche vom Tode
des Vaters verwandelten, ist ein treffendes Beispiel für diesen
umgewerteten Ödipuskomplex und die Triebfeder dafür: das
verdrängte mütterliche Angst- und Schuldgefühl,^
4.
Ich möchte hier ein viertes, allerdings nicht analysiertes Beispiel
von ausgesprochener Hyperpotenz ohne neurotische oder soziale
Selbstschädigung einschalten, das die Ausführungen vom Stand¬
punkt des sogenannten normalen Liebeslebens illustrieren soll.
Es handelt sich um einen mir persönlich bekannt gewordenen
typischen Don Juan, dessen abnorme Potenz sich schon bei näherem
Zusehen als stark komplex-bedingt im Sinne unserer Ausführungen
erwies. Von einer Analyse war bei dem im Leben und in der
Liebe erfolgreichen Menschen keine Rede. Er war in der Wahl
seiner Sexualobjekte zwar nicht sehr, aber immerhin so wählerisch,
daß von einem rein organischen Bedürfnis nach täglicher — oft
mehrmaliger — Sexualbefriedigung abgesehen werden konnte.
Auch gehörte für ihn die Erorberung unbedingt dazu, nicht so
der geschädigte Dritte, den er im Gegenteil nur als unvermeidlich
hinnahm, wo er ihm nicht ausweichen konnte. Je schwerer eine
Frau zugänglich schien, desto eher schien sie ihm auch das Fehlen
dieses Dritten, des Konkurrenten, zu gewährleisten und ihn damit
von dem Gefühl der „Schädigung“ zu entlasten. Prostituierte verab¬
scheute er daher, machte aber eigentlich jede Frau gewissermaßen
selbst zur Dirne, 'indem er sie zum bloßen Sexualobjekt erniedrigte
und menschlich entwertete. Dieser Entwertungsprozeß selbst
machte, ganz im Stile des echten Don Juan, einen Teil seiner Libido¬
befriedigung aus. Dazu brauchte er immer, womöglich täglich,
neue Sexualobjekte, die er nach der Verführung (in irgendeiner
Form) bald fallen ließ und wechselte. , Sein ganzes intellektuelles
* Ähnlich verhält es sich mit der Psychologie der am Vater fixierten
Prostituierten, dieser weiblichen .Don Juan-Typen“, welche sich in Betrug
und Schädigung des Mannes nicht genug tun können, sich aber dabei eigentlich
an den Frauen rächen, denen diese Männer gehören. Letzten Endes entwerten
sie, wie der Neurotiker, in ihrem Tun sich selbst und ihr glücklicheres Vor¬
bild, die Mutter.
Zum Verständnis der Libidoentwicklnng im Heilungsvorgang 457
Leben spielte sich sozusagen daneben in intensiven Freundschaften
mit etwa Gleichaltrigen (Kameraden) ab, von denen er stets
Freundschaftsbeweise forderte und die er teilweise in seine
zahlreichen, oft tragisch endenden Liebesgeschichten einweihte. So
kam auch ich zur näheren Kenntnis seines Sexuallebens und als
er mein analytisches Interesse daran bemerkte, stellte er mir drei
für ihn typische, perennierende Träume zur Verfügung, die auch
ohne eigentliche Analyse tief in sein unterwühltes Triebleben
hineinleuchten und zeigen, daß seine enorme Potenz und Libido¬
bedürftigkeit auf dem uns bekannten Boden ruhen..
Erster Traum: „Sehr häufig verrichte ich im Traume
Ekelhaftes, und zwar meistens im Halbdunkel auf einer
Bank sitzend, neben mir viele Bekannte. Unter meinem
Sitz befindet sich ein Loch. Während der ganzen Zeit des
Gespräches, sowohl mit den Nebensitzenden als auch,
wie es sehr häufig vorkommt, mit Vorübergehenden,
verrichte ich in einem fort (meine Notdurft) und habe
folgendes Gefühl dabei: 1. Ekel, daß man es überhaupt
tun muß (auch im Leben); 2. das Gefühl der Zufriedenheit,
daß meine Nachbarsleute und die Vorübergehenden es
nicht sehen, weil meine Kleider vorne so kunstvoll
geordnet sind; 3. nicht immer, aber sehr oft das Gefühl
der Erhabenheit über alle: keiner könnte mir das nach¬
tun. (Im Gegensatz zu dieser Empfindung machen es in
einer Reihe von Träumen alle meine Nachbarn in unab¬
sehbarer Reihenfolge.) Immer aber bin ich derjenige, der
durch einen äußeren Umstand gezwungen wird, sich zu
erheben. Gewöhnlich geschieht das in der Aufforderung
eines der Vorübergehenden, mitzukommen oder ein
interessantes Dokument zu zeigen. Ich erhebe mich vor¬
wärtsgebeugt, um Papiere aus der Tasche zu nehmen
und beginne mit großer Feierlichkeit oder Umständ¬
lichkeit mich mit dem Papier abzuwischen. Ich spreche
noch einige Worte, habe aber das Gefühl, daß in diesem
Pall fast mein Hinterteil gesehen wird, ln diesem Moment
überkommt mich direkt eine Verzweiflung, daß meine
ganze Freude, die Täuschung meiner Erhabenheit durch¬
schaut ist. Ich sehe verdutzte Gesichter, schäme mich
riesig und erwache. Diesen Traum habe ich seit Jahren, aber
458
Dr. Otto Rank
er ist jetzt quälend geworden, seit mich ein Weib dadurch vom
Koitus abgestoßen hat (Impotenz?), daß sie vorher in meiner
Gegenwart urinierte.“
In Anbetracht der Tatsache, daß der Träumer selbst in
Gegenwart anderer nie urinieren konnte, was er besonders hervor¬
hebt, erhält sein exhibitionistischer Defäkationstraum besondere
Bedeutung. Offenbar identifizierte er sich selbst mit der in Gegen¬
wart anderer urinierenden Frau und versagte in dieser femininen
Einstellung (Kastration). Das Nicht-urinieren-können in Gegenwart
anderer zeigte auch Fall 3, und zwar ganz unzweideutig mit der
Kastrationsangst verbunden.^ (Siehe seinen Traum, wo er in Gegen¬
wart des Vaters urinierte.) Charakteristisch genug bemerkt unser
Träumer, es habe ihn zur Mitteilung des Traumes die Tatsache
veranlaßt, daß ihm zuletzt die Schwester im Traum
zugeschaut habe und er von der Aufzeichnung die Befreiung
der peinlichen Wiederholung des Traumes erhoffe.^
Aber auch der stark verdrängte Exhibitionismus hängt, wie
oben erwähnt, innig mit dem Kastrationskomplex zusammen und
der Träumer ist daher stolz darauf, daß seine Kleider vorne so
kunstvoll geordnet sind, daß man nichts sehen kann, während
zugleich hinten alles zu sehen ist, das heißt, daß nichts da ist
(Femininität). Er selbst erklärt natürlich seine Exhibitionsscheu
aus einem angeborenen Schamgefühl, dessen er sich schon aus
der frühen Kinderzeit erinnere, wo er als kleiner Knabe mit dem
Vater baden sollte.® Auf Grund dieser frühinfantilen Verdrängung,
die er zum Charakterzug entwickelt hat, entspricht seiner
heterosexuell-schamlosen Reihenbildung im Leben die feminin-anale
Exhibitionsscham im Traum, die zu einer überlegenen Konkurrenz
des eigenen Ich im Sinne der Heroenbildung (Ablehnung der
Identifizierung) ausgewertet ist (das macht ihm keiner nach!).*
^ Ähnlich stehen die Urethralstörungen der Frau mit dem Penisneid in
Verbindung.
® Das heißt, der mit der Aufdeckung dieser inzestuösen Wurzel verbundene
Unlustcharakter ist offenbar stärker als der Lustgewinn des Traumes geworden.
Nun kann er den Traum selbst auch „zeigen“ und ihn vielleicht so los
werden; ob dies auch tatsächlich der Fall war, kann ich mangels späterer Nach¬
richten von ihm nicht sagen.
® Auch hier wieder die gleiche „traumatische“ Deckerinnerung.
* Siehe dazu meine Abhandlung: Die Doa Juan-Gestalt. IrUago
VIII, 1922.
Zum Verständnis der Libidoentwicklung im Heilungsvorgang 459
Diese Einstellung verrät deutlich ein zweiter, gleichfalls
perennierender, exhibitionistisch eingekleideter Flugtraum, in
dem der Träumer deutlich mit seiner „psychischen“ Potenz protzt:
„Oft fliege ich im Traume vor zahlreichen Zuschauern
und bin sehr stolz darauf, daß mir das niemand nach¬
machen kann. Ich befinde mich dabei meist im Zimmer
und gehe gleichsam, nur wenige Schritte über dem
Boden, durch die Luft. Immer sind meine Freunde
auch dabei. Einer von den Zuschauern macht dann
gewöhnlich eine abfällige Bemerkung über meine
Leistung, etwa: ja, ein-, zweimal im Zimmer auf und
ab zu fliegen ist keine Kunst. Ich mache darauf eine
verächtliche Handbewegung und sage: Lächerlich!
Ich kann es auch sieben- bis achtmal machen und
mache es ihnen vor. Darauf allgemeines Beifalls¬
klatschen und ich erwache mit Lustgefühl.“
Auch hier kommt der unterdrückte Exhibitionismus deutlich
zum Durchbruch; in Wirklichkeit kann er nicht nur vor anderen
nicht koitieren, sondern eigentlich nur im Dunkeln (siehe das Halb¬
dunkel des ersten Traumes), so daß ihn nicht einmal die
Frau sieht. Beweisend für den reaktiven Charakter seiner starken
Potenz ist deren Steigerung auf Grund der Selbstkritik (Ichideal),
wie sie im manifesten Inhalt des Traumes direkt zum Ausdruck
kommt.
Einen dritten, sozusagen jüngeren typischen Traum hat er
erst seit dem einige Jahre vor der Erzählung dieser beiden, schon
lange wiederkehrenden Träume erfolgten Tod seines besten
Freundes. In diesem Traumtypus, dessen Text er nicht wörtlich
fixiert hatte, erscheint ihm regelmäßig sein (verstorbener) Freund
wieder, um ihn zu trösten. Hinter der manifesten „Homosexualität“
dieser Träume steckt sein tiefes Schuldgefühl aus dem
Ödipuskomplex (siehe den Traum von der Schwester). Erst nach
dem Tode des Freundes nahm sein vorher schon wenig gehemmtes
Sexualleben die geschilderten Züge des donjuanesken Zwangs-
eharakters an. Der Tod des Freundes hatte offenbar bei ihm die
bisher ängstlich gemiedenen Schädigungsabsichten gegen den
Dritten (Vater—Bruder) belebt und er ließ sich im Traum regel¬
mäßig durch die Wiederkehr des Freundes versichern, daß er ihn
nicht beseitigt habe (Trosttraum).
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Dr. Otto Rank
ben diese drei typischen Träume des Normalen, ja in
manchen Punkten Übernormalen, den Grundriß seiner libidlnösen
Struktur, aus der sein Charakter und sein Sexualleben sich nach
den analytisch erforschten Gesetzmäßigkeiten entwickelt.
* *
*
In den weitgespannten Rahmen der „normalen“ Erledigung
der Libidoentwicklung gehört auch ein ganzer Teil der ars
amandi, ja sogar die Übung antikonzeptioneller Praktiken erweist
sich in solchen Fällen davon mitbestimmt, wo die rationellen
Momente unzureichend sind, wie beispielsweise in unserem ersten
Palle, der dies selbst einsieht. Das Präservativ wird in der unbe¬
wußten Phantasie zu dem zweiten geopferten (Ersatz-)Penis, der
zwar in die Mutter eindringt, aber die Befruchtung und damit
die Geburt verhindert; der coitus interruptus schützt vor der
gefürchteten Rückkehr zur Mutter (Kind); die Versagung des
gewünschten Kindes ist komplexbedingt im Sinne unserer Aus¬
führungen über die feminine Einstellung, die Mutteridentiflzierung
und die Geburtsphantasie. Aber auch eine Anzahl mehr minder
aktueller Störungen der Sexualfunktion, wie der (psychische)
Aspermatismus, der nach Beobachtungen von Blum (Wien) oft
mit gehäuften nächtlichen Pollutionen einhergeht, vielleicht auch
der Priapismus sowie sonstige, analytisch bereits verständliche
Sexualstörungen gehören hierher; ähnlich determiniert erweist
sich aber, wie in Fall 2, die konsequent leichtsinnige Ignorierung
aller Schutzmittel, wo sie rationell am Platze wären.
So entsprechen die neurotischen Störungen der Genital¬
funktion bei beiden Geschlechtern Libidoentwicklungen, welche die
infantile Neurosenbildung mehr oder weniger erfolgreich ver¬
mieden haben. Es sind Neurosen, deren Symptombildung sich nach
der Aufrichtung des Genitalprimates an diesem erwachsenen
Libidozentrum etabliert. Natürlich spielen in ihnen neben den
aktuellen Einflüssen (Aktualneurosen) die infantilen Komplexe —
wie überall — mit, und es ist nicht zu verwundern, wenn man
als psychischen Kern der aktualneurotischen Angst infantile Angst
findet,^ die zum mißbräuchlichen Sexualverkehr veranlaßt hatte.
Aber bei diesen Menschen hat sich eben die infantile Angst in
diesem Stück ihres aktuellen Sexuallebens erhalten und hätte
> Siehe gleichfalls: Das Trauma der Geburt („Die infantile Angst“).
Zum Verständnis der Libidoentwicklung im Heilungsvorgang 461
ohne diesen aktuellen Mißbrauch nie zu Störungen geführt. Denn
innerhalb der weiten Grenzen des Normalen können all die
disparaten Strebungen, die wir in der Neurose isoliert auf Befrie¬
digung ausgehen sehen, unter teilweisem Verzicht auf ihre volle
Dimchsetzung befriedigt werden.
Nur kurz sei schließlich darauf hingewiesen, daß die zur
normalen Erledigung der Libidokonflikte notwendige Einstellung
zum Liebesobjekt auch jeweils ganz bestimmte Eigenschaften
desselben voraussetzt, die Freud in einzelnen Typen von „Liebes-
bedingungen“ scharf umschrieben hat. Unsere Fälle haben gezeigt,
daß diese Bedingungen ebenso potent wie impotent machen können,
je nach dem Grade der Identifizierung oder der Stärke ihrer
Ablehnung in der Idealbildung (siehe diese). Jedenfalls aber bilden
sie einen integrierenden Bestandteil des Sexuallebens der Kultur-
raenschheit, das ja auf einem rein psychischen Faktor, der Liebe,
aufgebaut ist, deren Sonderbarkeiten und Rätsel uns die Psycho¬
analyse als Niederschlag der vorzeitlichen Elternbindung („Ödipus¬
komplex“) mit all ihren seelischen Verdrängungsfolgen verstehen
lehrte.
II.
Idealbildung und Objektwahl
Um die für den Heilungsvorgang ebenso wichtigen Vor¬
gänge im Ich zu verstehen, gehen wir am besten von dem
bereits aufgezeigten und verständiich gemachten Mechanismus der
Identifizierung mit dem Analytiker aus. Von diesem Gesichts¬
punkte können wir den analytischen Prozeß beschreiben als
Wiederholung der alten infantilen Objektwahl (in der Über¬
tragung), die infolge Versagung wieder in eine neurotische
Identifizierung auszugehen droht, aber nunmehr durch Zuhilfenahme
bewußter Ichstrebungen von einer neuen, zweckmäßigeren Ideäl-
bildung und einer daraus resultierenden Objektwahl abgelöst wird.
Dazu muß der Neurotiker auf seine mitgebrachten Idealisierungen,
die entweder zu hochgespannt oder unzureichend sind, verzichten
und wieder auf die ursprüngliche Ur-Objektwahl regredieren, um
zu einer neuen, nicht bloß ichgerechten, sondern auch libidinös
realisierbaren Befriedigungsmöglichkeit zu gelangen. Dabei kann
man sowohl an der Auflösung der alten, wie in der Bildung der
neuen Ichideale den Prozeß der Idealbildung, beziehungsweise
462
Dr. Otto Rank
Sublimierung, in seinem wesentlichen Verhältnis zur Objektwahl
und zur Identifizierung studieren;^ das heißt aber den Mecha¬
nismus der Idealbildung aus der aufgegebenen Objektwahl
und der daraus folgenden Identifizierung verstehen.
Das günstigste Material zum Studium dieser Verhältnisse, beson¬
ders der Objektwahl, scheint mir die gleichzeitige Analyse von Ehe¬
paaren durch denselben Analytiker, weil man da Gelegenheit hat,
die Objektwahl auch in ihrer unmittelbaren Auswirkung zu über¬
blicken, während das Übertragungsverhältnis allein doch nur Ein¬
blick in die Mechanismen gestattet. Der glückliche Zufall hat mir
in den letzten Jahren einige solcher Doppelanalysen ermöglicht,
die ich übrigens in Fällen von Eheschwierigkeiten und -Konflikten
für die einzig richtige, wenn auch nicht gerade bequemste Art
der Behandlung halte.
Beispiel: Herr X. heiratet seine Frau in folgender Situation :
Er hat eine starke Neigung aus der Kindheit für eine Freundin
seiner Schwester mitgebracht, als offenkundigen libidinösen Ersatz
derselben. Diese Jugendliebe, die später durch das Interesse für
andere gleichnamige junge Mädchen teilweise abgelöst wurde,
ist von X. im Sinne der inzestuösen Abwehr „idealisiert^^ worden,
so daß er schließlich immer die Gelegenheit zur Eroberung dieser
„unerreichbaren^‘ Liebesobjekte versäumte und sie anderen über¬
lassen mußte. Dieser Verzicht ist deutlich auf einer starken Vater¬
angst aufgebaut, die X. durch unbewußte feminine Unterwerfung,
also Identifizierung mit der Mutter, libidinös zu kompensieren
suchte. Seine spätere Frau gehörte ursprünglich auch der Reihe
idealisierter, das heißt unerreichbar gemachter Inzestobjekte an;
nicht nur weil er sie seit vielen Jahren kannte, ohne einen deut¬
lichen Schritt der Annäherung gemacht zu haben, sondern auch
weil die äußere Situation dies begünstigte, indem seine zukünftige
Frau, seit einer Reihe von Jahren vaterlos,^ der Pflege ihrer
^ Inzwischen sind diese Verhältnisse in Freuds: Das Ich und das Es
(1923) theoretisch geklärt worden. Die folgenden Ausführungen, deren Material
vorwiegend aus dem Winter 1922 stammt, wollen die Mechanismen vom
praktischen Standpunkt des Heilungsvorganges betrachten und verständlich
machen. Wir sehen dabei natürlich auch von der metapsychologischen
Bedeutung des Ichideals (Über-Ich), das Freud zuletzt im Sinne eines
psychischen Systems gebraucht, ab.
^ Charakteristischerweise hatte die erste intimere Annäherung von seiner
Seite auch erst nach dem Tode ihres Vaters begonnen.
Zum Verstäadnis der Libidoentwicklung im Heilungsvorgang 463
kranken Mutter lebte, was für ihn das „ideale“ Verhältnis im
Elternhause — Zusammenleben mit der Mutter bei Ausschluß des
Vaters — bedeutete. Da treten Umstände ein, welche die Situation so
verändern, daß sie die libidinöse Objektwahl von beiden Seiten
ermöglichen, während bis dahin sie für ihn nur eine „ideale“
Tochter (Schwester), er für sie das Ideal des keuschen jungen
Mannes gewesen war, der ihren um einige Jahre älteren Lieblings¬
bruder vertrat, den sie selbst als ihr „Ideal“ bezeichnete, da er
so „mütterlich“ gewesen sei. Er verfällt in eine rätselhafte
Krankheit, die sich nachträglich in der Analyse als Versuch dar¬
stellte, die Sympathien und das Interesse seines strengen, ver¬
schlossenen Vaters zu gewinnen, was aber nicht gelang. Um dieselbe
Zeit stirbt ihre Mutter nach jahrelangem Leiden und kurze Zeit darauf
schreibt sie dem nach Teilnahme hungernden Mann einen freund¬
lich tröstenden Brief, der sie schließlich dauernd zusammenführt.
^ Der Mechanismus dieser Objektwahl ist analytisch leicht
verständlich; Sie wendet sich ihm als direktem Ersatz des eben
verlorenen Mutterobjektes zu^ und pflegt ihn weiter, wie sie es
bisher mit der Mutter getan hatte, bis er tatsächlich genesen ist
(womit sie allerdings gleichzeitig im Sinne ihres Ideals eine alte
Schuld am Vater gutmacht, den sie viele Jahre früher nicht hatte
pflegen und retten können). Er ist imstande, die ideale Schwester
(Tochter) jetzt doch zum Liebesobjekt zu nehmen, weil sie frei
geworden ist; die Analyse seiner ganzen Libidoentwicklung zeigt
aber, in welch merkwürdigem Sinne dies zu verstehen ist, denn
sie läßt keinen Zweifel, daß die Frau für ihn unbewußt einen
Vaterersatz darstellt, in ähnlich unbewußter Motivierung wie er
für sie einen Mutterersatz. Er heiratet sie nämlich nach dem
1 Auch in einem anderen Falie erinnerte eine Frau in der Analyse,
daß sowohl ihr Mann, an den sie auch nach der Trennung noch stark fixiert
geblieben war, wie auch sein Nachfolger, genau die Augen der Mutter und
ihre Gesichtszüge hatten. Auch sie hatte also im geliebten Manne ein Mutter-
objekt gefunden, dem sie als Kamerad („männlich“) zur Seite stand, während
sie die Mutteridentifizierung mittels neurotischer Symptombildung heftigst
ablehnte. — Lbrigens zeigen alle Frauen, die pathologisch an den Mann fixiert
sind und darum die Analyse aufsuchen, ausnahmslos die starke Mutterfixierung,
die in ihrer Verschiebung auf den Mann der im vorigen Abschnitt behandelten
Verschiebung der Rache auf das andersgeschlechtliche Objekt entspricht.
Die allgemeine Bedeutung dieser sonderbaren Züge des Sexuallebens ver¬
suchte ich in meiner Arbeit: Das Trauma der Geburt, verständlich zu machen.
464
Dr. Otto Rank
Tode ihrer Mutter, was im Sinne seines verdrängten Ödipus¬
komplexes dem Freiwerden des Vaters entspricht.
Diese Auffassung ergab sich unzweifelhaft aus der Analyse
dieser sonderbaren Objektwahl und den daraus folgenden Ehe¬
schwierigkeiten, die dabei durch einen weitgehenden Ausgleich
der Konflikte zwischen Objekt und Ichideal sowohl im einzelnen
Ehepartner als auch gegeneinander beseitigt wurden. Das Kern¬
problem bildete wie gewöhnlich das Kind, nach dessen Geburt die
Frau frigid wird, beim Manne die in der Pubertät hervorgetretenen
homosexuellen Anwandlungen wieder stärker werden. Das Kind
spielt deswegen psychisch diese bedeutsame Rolle, weil es die
Frau, deren ganzes Leben seit dem Tod des Vaters in der Identi¬
fizierung mit diesem verlorenen Objekt aufgegangen war (sie
vertrat auch äußerlich den Vater in der Führung des Hauses), zur
realen Identifizierung mit der Mutter drängt, welche vom Schuld¬
bewußtsein abgelehnt wird. Für den Mann bedeutet das Kind die
volle Vateridentifizierung, der er sich durch die feminin-passive
Identifizierung mit der Mutter gerade entzogen hatte, und zu der
er ebenso aus der Situation des realen Vaterseins mächtig gedrängt
wird. Bei einer solchen unbewußt gleichgeschlechtlichen Objekt¬
wahl des Ehepartners, die namentlich für die Frau typisch zu
sein scheint, muß es natürlich früher oder später, sozusagen bei
Entdeckung des wirklichen Geschlechts (im infantilen Sinne) zu
Schwierigkeiten oder Konflikten im Eheleben kommen. Charakte¬
ristisch dafür ist das bekannte fortwährende Kritisieren oder
Erziehenwollen im Sinne eines mitgebrachten oder angestrebten
Ideals.^ Die Frau schildert dies, indem sie in der Analyse erklärt:
„Er nimmt mich nicht sowie ich bin; er will mich so haben wie
er sich denkt, daß ich sein soll. Er hat eine Art Idealbild von
seiner Frau. Sein Ideal ist aber keineswegs das seiner Mutter
oder Schwester!“ Der Mann selbst verrät durch seine Recht¬
fertigung das Vorbild seines Ideals, wenn er erklärend meint,
er kritisiere sie so, weil er gewohnt war, den Vater
immer zu kritisieren! Diese Einstellung, die zu fortwährenden
Konflikten führt, ist aber ohne Analyse nicht korrigierbar,
weil dieses Kritisieren und Idealisieren für den Mann ein Stück
* Der Hauptwiderstand in der Analyse solcher Fälle ergibt sich ans der
getäuschten Hoffnung, der Partner werde durch die Analyse im Sinne des
gewünschten Ideals verändert (erzogen) werden.
Zum Verständnis der Libidoentwicklung im HeilungsVorgang 465
infantile Wiederholung des Vaterverhältnisses und also ein
Stück libidinöser Befriedigung bedeutet. So erwiderte er auf ihren
gelegentlich gereizten Vorschlag, eine seinem Ideal entsprechende
Frau zu nehmen, daß er keine andere als sie wolle. Sie selbst beklagt
an sich, daß sie ihrem Manne die Gefühle, die sie für ihn habe,
nie recht zeigen könne offenbar weil es einem anderen Objekt
— der hilflosen Mutter oder dem hilflosen Baby — gilt, die Vater-
flgur aber mit von der Mutter her verschobenem Angst-, bezw.
sexuellem Schuldgefühl besetzt ist (Frigidität).
Ihre Objektlibido hat sich folgendermaßen entwickelt: Als Kind
erinnert sie den Wunsch „Doktor“ zu sein, wenn sie ein Mann wäre,
de# sich in den Wunsch, wenigstens einen Arzt zu heiraten, ver¬
wandelte. Hier zeigt sich die Objektwahl vom Ichideal bestimmt, was
uns noch beschäftigen wird; andererseits zeigt sich dieses Ichideal
aus libidinösen Tendenzen (Sexualneugierde — Kinderproblem)
entwickelt. Sie erzählt, daß sie, wie jedes Mädchen, ihr männliches
Ideal hatte, dem aber ihr Gatte gar nicht entsprochen habe. Denn
ihr Ideal sei ein sehr männlicher Typus gewesen (der raucht,
trinkt, viel außer Haus geht etc.),^ während ihr Mann das Gegenteil
davon war. Sie habe ihn aber geheiratet, weil sie fühlte, daß sie
mit einem „häuslichen“ Manne glücklicher sein würde als mit
ihrem Ideal, das sie jetzt haßt; trotzdem kann sie es auch nicht
leiden, wenn ihr Mann seine häuslichen Tugenden allzu deutlich
zeigt Diese Divergenz zwischen Liebesideal und tatsächlicher
Wahl ist geradezu typisch; da sie so oft bedauert wird, wollen
wir nicht versäumen, hervorzuheben, daß sie das Wesen der nor¬
malen, realisierbaren Objektwahl auszumachen scheint, die zwischen
primitivem Objekt und Ideal die Mitte hält, das heißt ein Kom¬
promiß schließt, nämlich die Objektwahl. Im Falle der Neurose wird der
Konflikt zwischen Libidoobjekt und Ichideal manifest. Der „häus¬
liche“ Mann, mit dem allein sie glücklich sein kann, repräsentiert
1 Brieflich sei es möglich; offenbar weil da die Phantasie nicht von der
Wahrnehmung des realen Objektes gestört wird. — So hatte sie ihm den
eingangs erwähnten Trostbrief offenbar auch aus ihrer eigenen verzweifelten
und trostbedfirftigen Stimmung nach dem Tod der Mutter geschrieben.
* Dieser habe aber nicht ihrem Vater entsprochen, der. nie ihr „Ideal* *
war; im Gegenteil hätte sie sich immer gewundert, wie die Mutter ihn hatte
heiraten können. Natürlich beweist diese eifersüchtige Ödipusphantasie erst
recht ihre Idealbildung nach dem Vater, der die Mutter nicht geheiratet bat
(Bruder).
466
Dr. Otto Rank
ihr einerseits das geliebte Mutterobjekt, erinnert sie aber
andererseits daran, daß sich ihre eigene Ödipuslibido in der
Identifizierung mit der „häuslichen“ Mutter, die zum „Ideal“ der
braven Tochter führte, begnügen muß. Im frühen Ideal des robusten
Mannes lebte die infantile Vaterimago fort, gleichzeitig aber auch
ein Stück ihres alten Ichideals aus dem Wunsch, ein Bub zu sein.
Gerade dieses auf der Identifizierung mit dem Knaben (Bruder)
beruhende männliche (väterliche) Ichideal des Mädchens beeinflußt
späterhin die Objektwahl des Weibes im Sinne der ursprünglichen
Mutterbindung (Eindringenwollen als Mann-Bub:Vaterbindung).
Der Frigidität liegen in diesem, wie in allen anderen Fällen,
stark verdrängte Vergewaltigungsphantasien zugrunde, deren
Analyse zeigt, daß dieselben den Niederschlag einer Identifizierung
mit dem aktiv (in die Mutter) eindringenden Mann (Vater) dar-
stollen, welche Identifizierung den manifesten Charakter dieser
meist irgendwie „männlichen“ Frauen ausmacht. So erklärt sich
die Divergenz zwischen dem Ideal und dem gewählten Objekt bei
diesen Frauen aus der beinahe physiologischen Spaltung ihres
Ich, dessen manifester, aktiver (libidinöser) Teil den schwachen
„mütterlichen“ Mann als Objekt wählt, während ihre feminine
Geschlechtsrolle in der Mutteridentiflzierung den starken „Vater“
ersehnt, mit dem sie sich teilweise libidinös identifizieren kann.^
Aus dem feineren Studium der Objektwahl können wir also
versuchen, die Ausgänge in die Idealbildung zu verstehen. Die
ursprüngliche Objektliebe gilt bei Knaben wie Mädchen dem
ersten Objekt, das die libidinösen und Ichinteressen in gleicher
Weise befriedigt, der Mutter. Für den Mann bleibt bekanntlich
auch späterhin die definitive Objektwahl normalerweise an einen
Mutterersatz gebunden, während seine Idealbildung aus gleich¬
geschlechtlichen Quellen gespeist wird, die letzten Endes der Vater-
identiflzierung entstammen. Wesentlich komplizierter liegen die
Verhältnisse bei der Frau, die das erste Objekt, die Mutter, in
der Regel nur aufzugeben und zugunsten des Mannes zu ver¬
tauschen imstande ist, um den Preis einer mehr oder weniger
^ Die Härte und Grausamkeit des Über-Ich, von der Freud spricht
(Das Ich und das Es), wird letzten Endes aus dieser Libidoentwicklung
verständlich, die bei der Frau besonders durchsichtig ist. In dieser engen
Verknüpfung der höchsten Idealbildungstendenzen mit den tiefsten bio¬
logischen Vorgängen liegen alle Probleme der Neurosenlehre beschlossen.
Zum Verständnis der Libidoentwicklung im HeilungsVorgang 467
weitgehenden Identifizierung mit dem Manne (Vater), die in patho¬
logischen Fälien die Symptome des sogenannten „Männlichkeits¬
komplexes“ schafft. Normalerweise wird diese Identifizierung —
ähnlich wie beim Manne — vom Ich in Form einer Idealbildung
aufgearbeitet, die also bei der Frau meist das andere Geschiecht
— nicht wie beim Mann das gieiche — betrifft. Ein weiterer
Unterschied von der Entwicklung des Mannes besteht dann darin,
daÄ dieses andersgeschlechtliche Ichideal der Frau nicht als solches
bestehen bleiben kann, sondern späterhin zum Zwecke der normalen
Sexualbefriedigung, und zwar mittels Identifizierung, in libidinöse
Objektbesetzung rückverwandelt werden muß.
An dieser Entwicklung der weiblichen Libidoeinstellung
wird klar, daß die spätere definitive Objektwahl schon nicht
mehr als direkter Ersatz des ursprünglichen Libidoobjektes
erfolgt, sondern vermittels der inzwischen eingesetzten Ideaibiidung,
die sich in die reine Objektwahl einmengt, und eigentlich
wahrscheinlich überhaupt erst das ermöglicht, was wir nor-
maie Objektwahl beim Erwachsenen nennen. Es ist dies eine
Objektwahi, welche imstande ist, sowohl auf die ursprünglichen
Objekte selbst, wie auf den direkten (eventuell entwerteten) Ersatz
derselben zu verzichten und die Libido auf solche vom Ich nicht
nur gutgeheißene, sondern dasselbe auch weitgehend (narzißtisch)
befriedigende Objekte zu verschieben. Während also die definitive
sexuelle Objektwahl beim Manne im Einklang mit seiner frühesten
infantilen Libidobindung erfolgt, erfährt bei der Frau diese
Entwicklungslinie eine mehrfache Knickung und Brechung, die
wesentlich durch das Aufgeben des ersten Libidoobjektes, der
Mutter, und der Hinwendung zum Manne als definitivem Sexual¬
objekt, bedingt ist. Bei diesem Wechsel des Objektes, der, wie
geschildert, mittels der Identifizierung und Idealbildung vor sich
geht, bleibt dem Weib ein gutes Stück narzißtischer Libido am
eigenen Ich haften; dies erklärt zum Teil auch ihre passive Rolle in
der Objektwahl: denn sie sucht den Mann ^nicht so sehr (aktiv)
als Objekt.ihrer infantilen Libido, wie sie ihn als Erfüllung ihres
infantilen (männlichen) Ichideals akzeptiert, mit dem sie sich nun
wieder wie in der Kindheit mit Vater und Bruder — identi¬
fizieren kann. Durch diese nach dem infantilen Ichideal
erfolgende Objektwahl wird die Frau aber gleichzeitig sexuell
auf die Mutteridentifizierung zurückgeworfen, die sie in der
Internat. Zeitschr. f. Peychoanalyge, lX/ 4 . 81
468
Dr. Otto Bank
Abwehr der Ödipuslibido auf dem Wege der Vateridentiflzierung
verleugnet hatte. Diese Mutteridentiflzierung wird bei der Frau in
der Regel erst durch das physiologische Mutterwerden hergestellt,
das dann über das Kind zu einer neuen Objektwahl, Identifizierung
(Namengebung I) und (narzißtischen) Idealbildung führt, die alle
vom neuen Objekt, dem Kinde, ausgehen.
Es ist klar, daß dieser komplizierte Bntwicklungs- und
Angleichungsprozeß in den verschiedensten Stadien Störungen
ausgesetzt ist, die je nach ihrem Grad und ihrer Lokalisierung zu
Schwierigkeiten im Sexualleben oder zu ausgesprochen neuro¬
tischen Symptomen führen können. Die Analyse zeigt uns dann,
daß es auch in der relativ geradlinigen männlichen Objektwahl
ähnliche Schwierigkeiten wie bei der Frau geben kann. Sei es
daß, wie bei den Sexualstörungen (Impotenz = Frigidität), die
Objektwahl zu stark unter dem Einfluß des Ichideals erfolgt,
sei es, wie bei der neurotischen Sexualablehnung, daß das Ich sich
im Sinne der Idealbildung nicht genügend von der ursprüng¬
lichen Objektflxierung an die Mutter losgelöst hatte und so über¬
haupt keiner richtigen Objektwahl im Leben fähig wird. Im ersten
Falle muß das Ich in der Analyse die allzuhoch gespannte Ideali¬
sierung des Urobjekts soweit entwerten lernen, um es als Sexual¬
objekt nehmen zu können; im zweiten Falle muß der in der
infantilen Libidofixierung stecken gebliebene Prozeß der Ideal¬
bildung analytisch im Sinne der Anpassung soweit fortgeführt
werden, daß es dem Ich möglich wird, an Stelle der alten verdrängten,
nunmehr ichgerechte Ersatzobjekte zu wählen.
In der Analyse wird also mittels der Übertragung bei beiden
Geschlechtern und jeder Art von Störung die alte auf die Mutter
gerichtete Urlibido befreit, um teilweise der Aufrichtung eines
neuen Ichideals (aus der Übertragung) zu dienen, mittels dessen
dann die normale Objektwahl (über das Symptom der „psychischen
Potenz“) des anderen Geschlechtes erfolgen kann. Die Befreiung
der Urlibido erfolgt je nach Art der Störung entweder durch
Aufdeckung des verdrängten Schuldgefühls hinter der manifesten
Angst, wie bei der Hysterie und den Angstneurosen oder, wie bei
den Neurosen vom narzißtischen Typus (Zwangsneurose, Melan¬
cholie), durch Rückverwandlung des manifesten Schuldbewußt¬
seins in die verdrängte Angst und die Lösung der dadurch
„geschützten“ Libido.
Zum Verständnis der Libidoentwicklung im Heilungsvorgang 469
Haben wir so als Material der Idealbildung mit Freud
die infantilen Elternobjekte erkannt, die mit dem Ich als dem
anderen primären Objekt zum „Ideal“ verschmolzen werden, so
ergibt sich als Form der Idealbildung, wie wir sie in der Analyse
studieren können, die Phantasie oder der Tagtraum. Die Analyse
der typischen Ph»ntasiebiidungen (Familienroman, Rettungs¬
idee usw.) zeigt deutlich, inwieferne sie als ein Niederschlag des
Idealbildungsprozesses aufgefaßt werden können. Die reine Wunsch¬
phantasie macht das ursprüngliche Libidoobjekt sogar noch in
stark idealisierterGestalterreichbar (Kaiser, Kaiserin, Held), was in
zahllosen Übergängen zur Heroenbildung und dichterischen Schöpfung
führt, während die reine Idealbildung gerade von der Unerreich¬
barkeit des Objektes und der daraus folgenden Identifizierung
ihren Ausgang nimmt. Die Wunschphantasie hat das Fest¬
halten des Objektes um jeden Preis zum Zwecke, die Idealbildung
setzt den Verzicht darauf und die Verdrängung voraus. Die
Wunschphantasie ermöglicht so eigentlich die reine Idealbildung,
indem sie deren asketischen Charakter korrigiert und kompensiert:
das unerreichbare Objekt wird doch erreichbar, sei es in der
Erhöhung selbst oder indem das erhöhte Objekt in der Phantasie
erniedrigt wird (Masturbationsphantasie). Die Phantasie stellt so
die ursprüngliche Identität zwischen dem verdrängten (verworfenen)
und idealisierten Objekt im Ich wieder her.
Der günstige Pall, daß sich diese libidinösen Anteile an der
definitiven Objektwahl, statt in Phantasien auszuleben, reali¬
sieren können, tritt normalerweise in den von Freud geschil¬
derten „Liebesbedingungen“ in Erscheinung. Diese betreffen je
nachdem körperliche oder seelische Merkmale oder Eigenschaften
des Objektes, ebenso häufig aber die Wiederherstellung alter
Situationen (Dreieck usw.). Charakteristischerweise sind sie zunächst
für den Mann festgestellt worden und betreffen, wie zu erwarten,
sein Verhältnis zur Mutter als Libidoobjekt, ob es sich nun um
die Eroberung der Unfreien, die Rettung der Gefallenen, die Hoch¬
schätzung (bezw. Vermeidung) der Unberührten und ähnliches
handelt.! Die jeweilige „Bedingung“, die — wahrscheinlich in allen
Fällen — die Liebeswahl bestimmt und ermöglicht, entspricht dem
! Siehe Freud: Beiträge zur Psychologie des Liebeslebens. (Kleine
Schriften IV, S. 200 ff.)
81 *
470
Dr. Otto Rank
alten libidinösen Zuschuß, ohne den die Wahl auf Grund des
Ichideals allein unschmackhaft würde. Wie also die Idealbildung
aus der Libidoentziehung des Objektes folgt, so wird die Objekt¬
wahl wieder nur durch Hinzufügung eines Teiles des ursprünglich
entzogenen Libidobeitrages ermöglicht.
Der eigentliche Mechanismus der Idealbildung, die vom
Ich ausgeht, entspricht einer Partialverdrängung mit kompen¬
satorischer Ersatzbildung, wie Freud ihn vor vielen Jahren
für den Fetischismus bereits festgestellt hatte. Es kann im
Sinne seiner späteren Ausführungen („Das Ich und das Es“)
hinzugefügt werden, daß an Stelle der verdrängten Objekt¬
besetzung ein entsprechendes Stück Ichbesetzung tritt, und zwar
auf dem Wege der Identifizierung, wobei das narzißtische Ideal,
das besonders bei der Frau eine große Rolle spielt, sich teilweise
an Stelle des aufgegebenen Objektes setzt. Die Idealbildiing macht
so, im Sinne Freuds, den Verzicht auf das Objekt — ebet so aber
auch die unbefriedigende Identifizierung damit — von Seite des
Ich möglich; die an das alte Objekt erinnernde „Llebesbedingung“
macht das Idealobjekt wieder libidinös akzeptabel. Die Idealbildung
ist also eine Form der Libidoabwehr (Verzicht), bezw. der ichgerechten
Befriedigungsanpassung, die in der normalen Objektwabl aus dem
Ödipuskomplex eine entscheidende Rolle spielt und im Falle von
neurotischen oder sexuellen Störungen nach der einen oder anderen
Seite extrem entwickelt ist (hypertrophiert oder atrophiert). Die
Analyse hat die in der Übertragung reproduzierte infantile Objekt¬
wahl und Identifizierung aus der Versagung mittels Bewußt-
macbung in eine neue zweckentsprechende Idealbildung über¬
zuführen, welche imstande ist, die aus der Verdrängung befreite
Libido an erreichbaren Ersatzobjekten Befriedigung finden zu lassen.
Diese im Laufe der Analyse in der Übertragung wiederholte
narzißtische Idealbildung muß schließlich, neben dem Urphänomen
der Mutterlibido, in der Endphase der Kur vom Analytiker gelöst
und für die Realübertragung verfügbar gemacht werden. So ist
die Objektwahl auf Grund der neuen Idealbildung
das zweite Stück Therapie, das sich an die
Befreiung der verdrängten Urlibido anscbließen
muß. In dem der Objektwahl vorausgehenden Prozeß der
Idealbildung, die oft als Widerstand gegen die psychische
Potenz auftritt, erfolgt eine teilweise Sublimierung der Libido,
Zum Verständnis der Libidoentwicklung im Heilungsvorgang
471
die darin besteht, daß auf die infantilen Objekte zugunsten der
ichgerechten und realisierbaren verzichtet wird.
Die so häufig aufgeworfene Frage nach dem Unterschied
zwischen „Übertragung“ und „Liebe“ läßt sich vom Standpunkt der
Libidotheorie nur so beantworten, daß die Übertragung eigentlich
eine reinere s. z. s. konzentrierte Form der Liebe darstellt, während
das, was wir „Lieb8“ im gewöhnlichen Sinne des Wortes nennen,
eine von Seiten des Ich durch die Idealbildung verdünnte Form
der ürlibido ist, die wir rein nur in der Übertragung und der
sogenannten „echten Liebe“ zu sehen bekommen. Daher sind diese
lediglich auf der Mutterbindung beruhenden Äußerungsformen der
Liebe auch monogam, während die Ansprüche des Ichideals meist
nur auf polygamem Wege befriedigt werden können (Don Juan).
Im alltäglichen Geschlechts- und Liebesieben findet, ent¬
sprechend diesen analytisch erkannten Mechanismen, eine wieder¬
holte und ständig fortgesetzte gegenseitige Anpassungsleistung
statt. Dem physiologischen „Kampf der Geschlechter“ vor und
im Sexualakt entspricht auf psychischem Gebiet — der Liebe — ein
ständiger gegenseitiger Ausgleich der Interferenz von Libido¬
objekt und Ichideal, welche letzten Endes darauf zurückgeht, daß
nicht nur in allen Formen „perverser“ Libidobefriedigung, sondern
ebenso in der normalen Geschlechtsliebe, die Partner nur bewußt
Mann und Frau darstellen, unbewußt aber eigentlich immer Mutter
und Kind spielen. Die biologische Ergänzung der beiden Geschlechter
muß ihr psychologisches Gegenstück in einem Zusampaentreffen
der beiden Libidoideale oder in der gegenseitigen Anpassung
an diese finden, welche der Aufgabe der Anpassung des Ich an
die Realität in nichts an Schwierigkeit und Bedeutung nachsteht.
Zur Genese und Dynamik des Erfinderwahns.^
Von Dr. A, Klelholz, Königsfelden, Schweiz.
Im Mittelpunkt des paranoiden Systems des Görlitzer Schusters
Jakob Böhme steht das centrum naturae oder Naturrad, aus sieben
Quell- oder Saftgeistern sich zusammensetzend und im ganzen
Kosmos sich auswirkend, eine Projektion des psychischen Prozesses
des Autors in die Schöpfung mit unverkennbarer sexueller Symbolik.
Von drei dieser Saftgeister, Mercurius, Sal und Sulphur, die der
Mystiker aus des Paracelsus Naturphilosophie übernommen, haben
wir seinerzeit'“^ den ersten, den Mercurius (gleich Quecksilber) als
ein Bild der beweglichen, lebendigen Natur gedeutet, die durch
den harten Stachel erzeugt wird, den zweiten, Sal, als die scharfe
sexuelle Begierde und den dritten, Sulphur, als die Angst des
Weibes vor dem Wüten und Brechen des Stachels.
Beiden Erklärungen eines in Königsfelden versorgten paranoiden
Erfinders, namens König, wurden wir neuerdings auf diese Bedeutung
des Quecksilbers aufmerksam. Alle seine Konstruktionen, die er
als selbsttätige Kraftentwicklungs- und Gewichtsregulierungs¬
apparate, Perpetueno mobilletes bezeichnete und die meist aus
zwei gleichartigen, mit einander verkuppelten Teilen bestanden,
zeichneten sich dadurch aus, daß die treibende Kraft durch kugel¬
förmige, paarige Gewichte geliefert wurde. Diese Gewichte enthielten
Hohlräume oder standen mit solchen röhrenförmiger Art in Verbin¬
dung. Darin fand sich das leichtflüssige Blei oder Quecksilber. Die
naheliegende Deutung, daß es sich dabei um eine symbolische
Darstellung der Testes und des daraus fließenden Spermas, der
* Vortrag, gehalten am VII. Internationalen psychoanalytischen Kongreß
zu Berlin, 27. September 1922.
^ Kielholz. Jakob Böhme. Ein pathographischer Beitrag zur
Psychologie der Mystik. Schriften zur angewandten Seelenkunde, XVII. H., S. 23.
Zur Genese und Dynamik des Erfinderwahns
473
Natur, wie er es bezeichnete, handelte, konnte aber bei diesem
Manne nieht genügei^ um die Entstehung seiner Maschinen völlig
zu klären. Als seine erste und wichtigste Erfindung bezeichnete
er ein Velo, das lediglich durch das Gewicht des Fahrers ohne
Tretapparat bewegt werde. Nun hat der Kranke von seiner
Knabenzeit her ein durch Unfall verkürztes, atrophisches Bein.
Seine Verkrüppelung erweckte den Wunsch, die erschwerte
Lokomotion durch wunderbare Apparate zu kompensieren, sie
verhinderte auch die natürliche Annäherung ans andere Geschlecht
und verstärkte so die homosexuelle Komponente seiner Libido.
Die Eindrücke einer Seefahrt nach Amerika, wohin er als junger
Mensch spediert wurde und während welcher offenbar die erste
stärkere Introversion statthatte, wahnhafte Erlebnisse in lange¬
dauernder Strafhaft, wo die Wärter mit einem Lichtapparat bei
ihm Geblütsaufwallungen erzeugt haben sollten, damit ihm die
Natur auslaufe, kamen in einzelnen Teilen seiner Erfindungen
deutlich zum Ausdrucke. Kurz, in diesen spiegelte sich seine ganze
Lebensgeschlchte. Er wollte Maschinen machen, die seine Krüppel¬
haftigkeit überwinden, in denen er sicher über Land und Wasser
und diurch die Luft fahren konnte und durch welche seine
verkümmerte sexuelle Potenz vertausendfacht würde und ewig in
Tätigkeit bliebe. Bei einem zweiten Kranken, Birkler, wurden
wir auf eine weitere wichtige Komponente des Erfinderwahns, die
kaum jemals gänzlich fehlt, aufmerksam, die analerotische. Der
Mann war mit achtundvierzig Jahren wegen Diebstahls von Gerüst¬
brettern, von denen er einen großen Haufen in seiner Stube auf¬
gespeichert hatte, um einen von ihm konstruierten Laufkran zu
errichten, inhaftiert worden. Das gleiche Delikt führte Zwölf Jahre
später zu seiner dauernden Internierung. Er erwies sich mit seinem
Eigensinn, seiner Sammelwut, die sich auf Abfälle und Gerümpel
konzentrierte,' und seinem Geiz, seiner pedantischen Nörgelei und
Hypochondrie als Musterbeispiel eines Analerotikers, der infolge
starker Belastung von beiden Eltern her und durch ungünstige
Einflüsse während der Kindheit stark introvertiert und schließlich
schizophren geworden war. Dem ersten Begutachter fielen an
seinen Erfindungen vorwiegend die Züge des Schwachsinns auf,
die ihn an infantile Produktionen erinnerten, während wir heute
diese Betätigungen direkt als eine Regression zu solch infantilen
Spielereien auffassen. Alle seine Apparate, die er patentieren und
474
Dr. A. Kielholz
zum Wohle der Menschheit verwirklichen wollte, gewinnen einen
organischen Zusammenhang als Symbole und Projektionen seiner
Analerotik. So der Laufkran, mit dem er, ohne sich von seinem
Platze zu rühren, gefüllte Säcke voll Lederabfälle mit einem Zuge
entleeren wollte. Es wird unnötig sein, genauer auszuführen,
warum er sein weiteres Interesse einem Briefordner mit nicht
durchlochtem Papier weihte, an welchem Ort die Boden- und
Wändeputzmaschine, welche die Größe eines Stuhles haben sollte
und der Schuhputzapparat, der mit einem Hebel von Hand bedient
werden konnte, mit großer Wahrscheinlichkeit die Stätte ihrer
Entstehung hatten. Die Beobachtung seiner Hausleute, daß er stets
halbe Stunden lang auf dem Abort zubrachte, sollte auch einem
Skeptiker die Augen öffnen und ebenso ein Traum, an den er
sich aus der Kindheit her lebhaft erinnerte und in dem ihm der
verstorbene Vater auf dem Wege zum Klosett drohend entgegen¬
trat. Und schließlich fügte sich seine epochemachende Erfindung,
ein Jahrzehnt vor dem Weltkriege entstanden, durch welche er
das Vaterland vermittelst Bomben mit einem giftigen Gas vor
seinen Feinden schützen wollte, trefflich in die Kette seiner
Produktionen.
Eine dritte Kranke, die Modistin Luise B., eröffnete den
Reigen ihrer Erfindungen, die sie alie auf kleine, unscheinbare
Papierfetzchen zeichnete, ebenfalls mit Modellen, die sich auf die
Defäkation beziehen. So betraf ihre erste Erfindung, in schlaflosen
Nächten ersonnen, einen geruchlosen Nachtstuhl mit Klappe. Dann
konstruierte sie eine Reformhose für unreinliche Patienten mit
einer Klappe über den Damm. Im übrigen regredierte die Kranke
die sich bis zur Zeit der Klimax die Erfüllung realer erotischer
Wünsche versagt gesehen hatte, in ihrer Psychose zu infantilen
Phantasien und Spielereien, die zuerst in Träumen, dann in Form
von scheinbar harmlosen Verbesserungen und Erfindungen von
Gebrauchsgegenständen Gestalt annahmen und die zum Hauptobjekt
in vielfachen Variationen das membrum virile hatten, das sehn¬
süchtig vermißte Glied, an welches Erinnerungen aus frühester
Jugend mit Neid und Furcht beladen anknüpften. Ausgelöst wurde
diese Phallussymbolik durch den Tod eines geliebten älteren
Bruders, der während ihrer Internierung als verblödeter Katatoniker
in derselben Anstalt starb. Sie, die fromme Katholikin, verlangte
von den Ärzten, daß dessen Leiche exhumiert und nach besonderer
Zur Genese und Dynamik des Erfinderwahns
475
Methode konserviert werde durch Anstreichen vermittelst eines
Malerpinsels mit einer stark ätzenden Flüssigkeit, einer Art Chlor¬
kalk, Eisenvitriol, Salzsäure, die ein Chemiker zusammensetzen
müßte. Diesen Prozeß, den sie Karbonisation benannte, beschrieb
sie mit eigentümlich lüsternem Lächeln. Daneben sollte auch dem
Leichnam mit der gleichen Flüssigkeit ein Klistier appliziert
werden, um die Verwesung von innen zu verhindern. Einmal
zeichnete sie einen vorn zugespitzten Sporn, der, in Mannesgröße,
in der Mitte gewöibt, vorn zugespitzt, aus rötlich-rosa Zement in
einem Bachbett angebracht werden sollte, um bei Hochwasser
herunterkommende Baumstämme und ähnliche Gegenstände abzu¬
leiten, um eine Zerstörung des Bachbettes zu verhüten. Sie hatte
davon geträumt, daß sie über einen solchen Sporn in gefährlicher
unangenehm-angenehmer Weise hinuntergerutscht sei, so daß sie
nachher zerzauste Haare hatte und sie ein Schauer überkam. Unten
sei eine artige, einfach gekleidete Frau in einer Schürze gestanden,
die sie mit den Worten empfing: „Wie kommen Sie da hinunter,
das ist nicht ein praktikabler Weg.“ Wir versuchten nachträglich
von der Kranken Assoziationen zu besserer Deutung des Traumes
zu erhalten, die eintretenden, schizophrenen Sperrungen verhinderten
aber jede Produktion weiteren Materials. Der im Traum dargestelite
Vorgang dürfte wohl außer dem Inzest mit dem Vater eine
Wiedergeburtsphantasie verhüilen, wobei die Schürzenträgerin als
Hebamme ihre kritischen Bemerkungen macht.
Bei einer vierten Erfinderin, Lina Maier, sind die hier nur
vermuteten Zusammenhänge zur drastischen Wirklichkeit geworden }
Eine erblich beiastete, in schwül-sektiererischem Milieu aufgewachsene
Tochter war neurotisch erkrankt, als sie sich eine lange dauernde
Liebschaft plötzlich versagt hatte. Die Regression zur Inzestliebe
führte sie darauf zum sexuellen Verkehr mit einem Bruder, dem
ein Kind entsproß, und zum Bau eines religiösen Wahnsystems,
um sich im Konflikt mit der bestehenden Moral zu rechtfertigen.
Ihre Erfindung, die sie später im Modell hatte ausführen lassen,
bestand in einem Gestell von der Form einer Granate, aus Bambus¬
rohren, mit Vorhä^gen bekleidet und bestimmt, Kinderwagen, Lauf¬
stuhl und Wiege zu ersetzen. Durch Schnüre, die an der Spitze der
^ Der Fall ist ausführlich dargestellt in der Publikation: Dr. A. Wedekind,
Kasuistik der psychischen Infektionen. Journal für Psychologie und Neurologie,
Bd. 22 und 23, 1917.
476
Dr. A. Kielhoiz
Gestelle zusammenlaufen und dort durch drei Ringe angezogen
werden können, kann die Lagerstätte des Kindes, die Sich sonst
in der Mitte befindet, in die Höhe bewegt werden und dadurch wird
der in der unteren Hälfta des Korbes befindliche, aus Netzwerk
gefiochtene Laufstuhl frei, an dessen Boden ein Geläß zum Auf¬
fangen von Urin und Stuhl angebracht ist Der Laufstuhl soll die
Kinder vor dem Herausfallen schützen. Die Idee zu der Erfindung
hatte sie bekommen, als sie zur Erholung von ihrem Nervenleiden
sich bei einer verheirateten Schwester aufhielt und deren Kinder
überwachen mußte. Die einzelnen Teile seien ihr jeweilen im
Traume offenbart worden, also von Gott.
Ihre Erfindung war nun für sie vor allem der symbolische
Ausdruck ihres religiösen Wahnsystems und man würde sich deren
Deutung allzu einfach und zu leicht machen, wenn man das Ganze
lediglich als Phallus betrachten wollte. Unzweifelhaft lieferte ja
dieser mit seinen Punktionen das Grundschema. Aber wie sie bei
ihren Erklärungen vom männlichen Glied auf den Satan, den Ver¬
sucher, kam, dann auf ihren Bruder Jakob, der ihr gegenüber den
Versucher machte und damit auf ihre von den Menschen verab¬
scheute und doch gottgewollte Ehe, so bedeutete ibr auch ihre
Erfindung die Arche Noah, welche die ganze Schöpfung enthält,
oben den dritten Himmel und darunter die drei Weltreiche; sie
bedeutet ferner die Ehe zwischen dem harten Männlichen (den
Bambusstäben) und dem weichen Weiblichen (der Lagerstätte des
Kindes). Die Spitze mit den drei Ringen erinnerte sie an den
Prokuristen, der an der Spitze des Geschäftes stand, in dem sie
früher arbeitete und der ihre Liebe zuerst hervorlockte, dann sie
verleugnete, wie König Juda die Thamar. Und weil der Apparat
für sie ihre Haupterlebnisse verdichtet enthielt, konzentrierte sich
darauf so viel Affekt, daß sie glaubte, damit imstande zu sein, den
Satan zu erlösen, so den Konflikt zwischen diesem und Gott aus
der Welt zu schaffen und den gänzlichen Frieden zu erzeugen.
An diesen Apparat, den die Erfinderin Kinderballon benannte,
erinnerte mich ein scherzhaftes Geschenk, das mir von einer Patientin
namens Bauer gemacht wurde, kurz, bevor sie unsere Anstalt
gebessert verließ, und das sie selbst aus einer defekten Glühbirne
angefertigt hatte. Sie wandelte dieselbe durch Strickarbeit in einen
Ballon um, den sie mit Wimpeln und Wappen schmückte und mit
einem zierlichen, bebarteten Männchen bemannte,, das unter jedem
Zur Genese und Dynamik des Erfinderwabns
477
Arm ein Qeldsäcklein trug. Am Boden des Ballons befanden sich
zudem mehrere Säcklein Sandballast. Über die Bedeutung ihres
Baiiongeschenkes berichtete sie^ es sei das ihre Idee und Erfindung.
Der Luftschiffer sollte ihren lieben Mann seiig darstelien, wie sie ihn
seit ihrem letzten Zusammenleben in Erinnerung batte mit seinen
schwarzen Schnurr- und Bockbärtchen, welch letzteres er ihr
zuliebe trug, weil sie es an ihm so gern gesehen habe als Familien¬
vater und wie es auch ihr lieber Vater selig getragen habe. Bei
der Luftschifferarbeit habe sie einmal den Gedanken gehabt, wenn
es nur in Wirklichkeit ihr lieber Mann selig wäre, der sie in einem
richtigen Ballon in ein anderes Land führen würde und nicht
mehr zurück zu der verhaßten Schwiegermutter, in deren ver¬
hexte Hütte. Die beiden Geldsäcke habe sie ihm unter dem Arm
geschoben, weil sie sich sagte, daß solche Luftschiffer wohl nicht
ohne Geld herumfliegen, damit sie, wenn sie landen, damit ver¬
sehen seien.
Sie hat also die Bedeutung ihres Geschenkes klar und hübsch
ausgedrückt als symbolische Erfüllung des Wunsches, mit dem
Mann der rauhen Wirklichkeit zu entfliehen und ein neues, schönes
Leben zu beginnen. Wenn wir dabei der Bedeutung der Flugträume
gedenken, so brauchen wir die sexuelle Symbolik des Spielzeuges
nicht näher zu beleuchten. Die Hochzeitsreisen im Flugzeug sind
wohl nicht ohne Grund so rasch Mode geworden!
Groddeck hat in seiner neuesten Abhandlung über den
Symbolisierungszwang^ die Glühbirne als Phallusgleichnis erwähnt.
Nun denkt sie sich selbst in dem aus der Glühbirne hergestellten
Ballon aufsteigend hinein. Die beiden Geldbeutel, die ihr lieber
Mann selig unter den Armen trägt und mit denen sie beide in
in einem fremden Lande doch versehen sein müßten, sind als
symbolische Darstellung des männlichen Samens mit seinem zwei¬
teiligen Behälter zu deuten. Die Erinnerung an die im Turm ein¬
gesperrte Danaö, die vom Göttervater Zeus vermittelst eines
Goldregens ergötzt wurde, ist naheliegend, besonders wenn man
sich vergegenwärtigt, daß das Männchen mit seinem Bärtchen von
seiner Schöpferin ausdrücklich als Reminiszenz 9 .n ihren Vater
bezeichnet wird. Wir haben erfahren, daß sie von ihrem Mann die
gleiche Barttracht forderte, die jener trug, und erkennen daraus
J Imago, J. VII., H. 1., S. 76.
478
Dr. A, Kielholz
unschwer, daß sie ein Vaterimago geheiratet hat und daß bei ihr
eine starke Bindung an ihren Erzeuger bestanden haben muß.
Frau Bauer hat ferner darauf hingewiesen, daß die übrigen Säcke
im Baiion als Sandballast aufzufassen seien. Kommt darin vielleicht
die analerotische Komponente zum Vorschein, die ja auch sonst im
Charakter der Hausfrau nicht fehlt? Sie wurde als sehr exakt
geschildert und ihre Psychose wurde erstmals ausgelöst durch die
physische und moralische Unsauberkeit von betrunkenen Schorn¬
steinfegern, die ihre Wohnung beschmutzten. Während der Krank¬
heit war sie gegen den Mann, der als Lokomotivführer ebenfalls
ein rußiges Handwerk betrieb, beständig sehr feindselig eingestellt,
und erst unmittelbar nach seinem Tod hatte ihr Leiden sich zu
bessern angefangen.
Bei dem Erfinder Messer geht die Vorliebe für Maschinen
auf die ersten Kinderjahre zurück, wo er sich damit vergnügte,
das Räderwerk alter Schwarzwälderuhren auseinanderzunehmen.
Wir wissen aus der Analyse von ähnlichen Kinderspielen, daß
dahinter die sexuelle Neugier nach dem Bau des menschlichen
Körpers, besonders des Mutterleibes steckt. Seine früheste
Erinnerung ist die lustbetonte an warme Bäder, in die er von
der Mutter gesteckt wurde, wenn er sich mit seinen Exkrementen
beschmutzt hatte; seine erste und einzig patentierte Erfindung,
ein hydraulischer Widder, dessen Prinzip ein im Wasser schräg
auf und ab bewegter Trichter, durch den die Flüssigkeit im
Strahl emporsteigt. Wahrscheinlich hat ihm seine Mutter im Bad
zum Zeitvertreib einen solchen Trichter zugesteckt. Dazu kommt
das Spiel mit dem eigenen, Strahlen erzeugenden Genitale. Daran
knüpfen später Projekte von gigantischen, das Meer überbrückenden
Schiffen und Eisenbahnen. Sicher ist auch die Pilgerfahrt übers
Meer zum heiligen Grab, die der Mann später unternommen hat,
von diesen Reminiszenzen mit determiniert. Seine Liebschaften,
die meist junge Mädchen betrafen, blieben auffallend platonisch.
Eine von ihrem Mann geschiedene Geliebte mit mehreren unehe¬
lichen Knaben, bei der er den früheren Gatten durch seine Potenz
zu überbieten versprach, und an die er das sonderbare Ansinnen
stellte, an ihren Brüsten saugen zu dürfen, wie er das bei seiner
Mutter getan zu haben sich mit Vergnügen erinnerte, ist sicher
als Mutterimago anzusprechen. Sie solite nach seiner Behauptung
das einzige Weib sein, mit dem er sexuell verkehrte. Das Ver-
)
Zar Genese und Dynamik des Erfinderwahns
479
hältnis erwies sich somit als Inzest und die eigenartige Todesart,
mit der er sich bedachte und seine Umgebung in Schrecken ver¬
setzte, indem er eine Dynamitpatrone in seinem Munde explodieren
lassen wollte, könnte als Selbstbestrafung dafür, d. h. als eine
nach oben verlegte Kastration erklärt werden. Aus dem Ödipus¬
komplex läßt sich auch der von ihm begangene Mordversuch an
einem Fabriksnachtwächter, dem er den Schlüssel zum Kassen¬
schrank raubte, deuten. Während der zwölfjährigen Haftstrafe,
die ihm dies Verbrechen eingetragen hatte, war sein Erflnderwahn
ausgebrochen. Indem er sich durchs Zellenfenster in ein in der
Nähe beobachtetes Bauernmädchen verliebte, fühlte er einen
warmen Strom vom Herzen zum Kopfe fließen, eine himm¬
lische Stimme sprach ihm das weichste Herz der Welt zu, weich
wie ein Milchfluß, und er erfand darauf Apparate mit feuerloser
Dampfheizung, mit besonderen elektrischen Strömen, die sowohl
Licht als Wärme spendeten, bei denen durch den elektrischen
Strom das Quecksilber in den Röhren erwärmt und ausgedehnt
und durch den Luftstrom eines Ventilators wieder abgekühlt
und zum Fallen gebracht, also ein Perpetuum mobile in Gang
gesetzt wurde. Sie sehen auch hier, wie eng die Erflndungs-
phantasie mit dem ganzen Wahnsystem im Zusammenhang steht
und ihre Wurzel im Sexuellen hat. Eine Sonderstellung nimmt
bei Messer die Erfindung eines kugelförmigen Einradvelos mit
einem darin sitzenden Knaben oder Manne, der es durch seine
Rumpfbewegungen und sein Gewicht in Bewegung setzen kann^
insofern ein, als hier nicht das väterliche Genitale, sondern die
Gebärmutter mit ihrem beweglichen Inhalt wohl den Ausgangs¬
punkt der Idee geliefert hat. Der Knabe, der die Herkunft seiner
ihm zahlreich nachfolgenden Geschwister und glücklichen Kon¬
kurrenten an der beneideten mütterlichen Milchquelle sicher
erriet, wünschte sich als Häftling an diesen Ort wunschlosen
Glückes zurück.
Der letzte Erfinder endlich, Moor, zeichnete ein Perpetuum
mobile von Zylinderform, bestehend aus sechs zu zwei Paaren
angeordneten Walzen, die durch Stahlfedern aneinandergepreßt
und in Rotation gesetzt werden sollten. Für große Kraft befinde
sich zudem an der Basis eine aus zwei kugelförmigen
Bomben bestehende Luftpreß Vorrichtung. Aus der recht konfusen
Beschreibung ist hervorzuheben, daß der Apparat an jedem Rad,
480
Dr. A. Kielholz
auch an jedem Velo angebracht} werden könne, daß er in jeder
Lage wirksam sei, daß der Mechanismus aus sogenannten kreis¬
laufend zusammenhängenden Kraftpolypen bestehe. Außer Rolle,
Wellrad und Schraube komme bei dem System auch endloser
Keil, Hebelarm und schiefe Ebene zur Anwendung, was man bei
den bisher konstruierten Maschinen unterlassen habe. Bei dem
Hebelsystem sei der Weg der Kraftübertragung eine Schlangen¬
linie. Jeder Kraftempfänger sei auch ein Kraftabgeber. Alle diese
Linien verlaufen auch in entgegengesetzter Richtung, weil selbst¬
verständlich zwei benachbarte, ineinander wirkende Bestandteile
wie Ruder sich drehen. Die Grundidee, den Überwindungspunkt
für den Kreislauf zu Anden, liege in der von ihm gefundenen
Quadratur des Kreises, welches Problem man bisher vergeblich
zu lösen versucht habe usw. Er erklärte, er habe in Gedanken
ein Wagenrad auf dem steif ausgestreckten Arm hängen gesehen
und dabei die Idee bekommen, es müßte auf jeden Punkt des
Rades ein solcher Hebel wie sein steifer Arm wirken, damit es
dauernd im Gang bleibe. Es ist wohl kaum zweifelhaft, daß wir
in dem steif ausgestreckten Arm, dem Grundgedanken der
Eründung, eine Verlegung nach oben vor uns haben.
Dem in Exzessen aller Art, nicht zum wenigsten in Venere,
vorzeitig gealterten und impotent gewordenen Manne sollte das
beständig kraftabgebende, aus sechs Walzen zusammengekuppelte
zylindrische Perpetuum mobile die geschwundene Potenz ersetzen.
Die beiden Bomben mit komprimierter Luft an der Basis des
Apparates erinnern uns einerseits an die kraftspendenden, kugel¬
förmigen Gewichte des ErAnders König, andererseits an die Gift¬
gasbomben Birklers. Es fehlt somit auch hier der analerotische
Zusatz nicht. Darauf, daß das Interesse für geometrische Probleme,
wie die Quadratur des Zirkels, aus sexuellen Quellen gespeist
wird, ist in der psychoanalytischen Literatur schon mehrfach
hingewiesen worden.
Wenn wir die kurz skizzierten sieben Fälle unserer ErAnder
vergleichend zusammenstellen, so nimmt der zweite, Birkler, mit
seinem stark ausgesprochenen analerotischen Charakter, der uns
auch die Erklärung für seine ErAndungen liefert, eine gewisse
Sonderstellung ein. Aber auch bei anderen fehlt ein starkes Interesse
für die Exkremente nicht: Luise B. beginnt den Reigen ihrer
Verbesserungsvorschläge mit einem geruchlosen Nachtstuhl und
Zur Genese und Dynamik des Erfinderwahns 481
einer Reformhose für unreinliche Kranke; Lina Maler erklärt das
Gefäß zum Aufsaugen für Urin und Stuhl für eine Hauptsache
und den wichtigsten Punkt an ihrem Kinderballon; Frau Bauer
sondert ihre Ballastsäcke in solche mit Geld und solche mit
Sand; Moor hat an der Basis seines Apparates Bomben mit kom¬
primierter Luft,
Nur in einem Fall, beim Einradvelo Messers, führt uns die
Deutung auf den mütterlichen Uterus als Ausgangspunkt der
Konstruktion zurück.
Sonst werden uns vorwiegend Maschinen vorgeführt, die in
erster Linie als Darstellungen des männlichen Genitales äuf-
zufassen sind. Sind es bei König hauptsächlich die Testes, die in
den überall vertretenen Gewichten seinen Maschinen Kraft ver¬
leihen, so haben wir es bei dem Quecksilberröhrenperpetuum
Messers und dem aus Walzen zusammengekuppelten Zylinder
Moors wohl ebenso sicher mit einer symbolischen Darstellung
des membrum virile zu tun wie bei dem Sporn im Bachbett der
Luise B., dem übermannsgroßen Kinderballon Lina Malers und
dem Glühbirnenballon Frau Bauers. Wenn wir aus der Größe
dieser Bildungen den Schluß ziehen, daß er der Penis des Vaters
,ist, der die Phantasie erregt und beschäftigt hat, so sind wir
auch dazu durch die sicher nachgewiesenen inzestuösen Bindungen
der betreffenden Kranken vollauf berechtigt. Halten wir ferner
zusammen, daß sich Luise B, mit der Verbesserung von Auf¬
zögen beschäftigt hat, daß sich im Kinderballon der Lina Maler
eine Art Aufzug für die Kinder befindet, daß König von einem
elektrischen Aufzug im Hohlraum der Strafanstaltsmauer fabuliert
und daß Frau Bauer sieh selbst zu dem Männchen in dem Ballon
aufsteigend hineinphantasiert, so erinnert dieser gemeinsame
Mechanismus an die sogenannten Spermatozoenträume, über
welche Silberer^ berichtet hat, die in Parallele zu setzen seien
mit den Vorstellungen primitiver Zeitalter von der Beschaffenheit
des Samens, der aus kleinen Menschlein bestehen soll, die im
erigierten Glied emporsteigen. Er schreibt diesen Vaterleibs¬
phantasien als Hauptbedeutung den Wunsch zu, das gegenwärtige
Leben los zu sein, d. h. noch in jener Zeit sich befinden, wo das
Leben in dieser Form noch nicht vorhanden war.
1 Jahrbuch für psychoanalytische Forschungen, Bd. IV, S. 141.
482
Dr, A. Kielholz
Alle Erfindertätigkeit, auch die sogenannte normale, tendiert
nun zur sei es auch noch so partiellen Verbesserung und Erneue¬
rung der bestehenden Lebensverhältnisse. Die an unseren Wahn¬
kranken festgestellten Mechanismen haben unzweifelhaft auch für
die erfolgreichen, nicht paranoiden Erfinder Geltung. Wir erinnern
beispielsweise an die Form von Zeppelins starrem und Parsevals
halbstarrem Lenkballon. Diese glücklicheren Genossen unserer
Schizophrenen unterscheiden sich von diesen vor altem dadurch,
daß es ihnen gelang, ihre Ideen mit rastloser Energie zu verwirklichen.
Wie beim ausgewachsenen Fötus der Zusammenhang mit der
Mutter nur noch durch die Nabelschnur besteht und auch dieser
schließlich überflüssig wird, wenn die völlige Reife erreicht ist, so
läßt sich bei diesen gelungenen Erfindungen die innige Ver¬
bindung mit dem übrigen Ideenkomplex ihrer Schöpfer am Ende
nicht mehr nachweisen, während das bei den halb ausgereiften
Früchten unserer kranken, paranoiden Gehirne noch leicht möglich
ist. In diesen Föten spiegelt sich oft die ganze Vergangenheit mit
ihren Haupterlebnissen deutlich wieder.
Es ist sicher kein Zufall, daß die zwei einzigen unserer
Erfinder, die ihre Phantasien zu verwirklichen vermochten, Lina
Maler und Rosa Bauer, auch den vollen Anschluß an die Realität
des Lebens wieder gewonnen haben. In anderer Weise versuchte
ihn Messer zu erlangen, indem er resolut alle seine Erfindungen
als „Bruch“ erklärte, d. h. zu dem reduzierte, was sie ursprünglich
waren, zu Hirngespinnsten.
V/ir dürfen daraus unseres Erachtens auch für gesunde und
neurotische Projektenmacher einen therapeutischen Wink folgern,
nämlich den, daß es auch für diese zwei Wege zweckmäßiger
Erledigung gibt: den aktiven, stärkenden der Verwirklichung und
den passiven, aber oft einzig möglichen des Verzichtes. Sache des
Psychagogen wird es sein, aus Veranlagung und Kräftezustand
die Chancen des einen oder anderen zu ermessen.
Sie haben gehört, daß die Mehrzahl unserer Erfinder mit dem
Strafgesetz in Konflikt gekommen ist und kürzere oder längere
Haftstrafen erlitten hat. Bei den einen ist während dieser der
Erfinderwahn ausgebrochen, bei den andern hat der Drang, die
Erfindungen zu verwirklichen, zu betrügerischen oder diebischen
Delikten und damit zur Inhaftierung geführt. Jene hat die Ein¬
samkeit und das Schweigegebot gezwungen, hinabzusteigen in die
Zur Genese und Dynamik des Erfinderwahns 483
Tiefen des eigenen Ichs und da scheinbar längst begrabene
Jugendträume zu neuem Leben zu erwecken, bei diesen haben
sich solchen Träumen soviele Erlebnisse von frühester Kindheit
an assimiliert und hat sich darauf soviel Affekt konzentriert, daß
überwertige Wahngebilde entstanden, neben denen die Realität mit
ihren Forderungen verblaßte und vernachlässigt wurde.
Und diese Ähnlichkeit unserer Erfinder mit anderen Verächtern
der Wirklichkeit, mit den Mystikern, führt uns wieder zum
Ausgangspunkt unseres Themas zurück, zum centrum naturae
oder Naturrad Jakob Böhmes, das sich in Ewigkeit dreht im
beständigen Inqualieren der sieben Saftgeister und so den ganzen
Kosmos in Bewegung hält. Ist das nicht auch ein Perpetuum
mobile, wie diejenigen unserer sieben Paranoiden auf sexueller
Symbolik basierend? Und wenn wir einen Unterschied zwischen
den beiden Typen statuieren wollen, so ist es der, daß der vor¬
wiegend aktive Erfinder das schaffen möchte, was der mehr
passive Mystiker nur zu schauen begehrt: Die Genitalien seiner
Erzeuger in allmächtiger Tätigkeit begriffen!
Wi^ resümieren:
Die Produkte der schizophrenen Erfinder erweisen sich als
Teile ihres Wahnsystems, wie dieses auf unerledigten psycho-
sexuellen Konflikten basierend. Sie lassen sich als Regressionen auf
infantile Zeugungs- und Geburtstheorien analysieren, die nach
Freud^ zu einer Zeit gebildet werden, wo das Kernproblem noch
unverdrängt ist. (Über Psychoanalyse. Fünf Vorlesungen. 4. Auf¬
lage, S. 52.) Dementsprechend sind inzestuöse Bindungen oft
ausgesprochen. Die Gestalt und Funktion des väterlichen Genitales
sind bevorzugtes Objekt. Gewisse Einzelheiten verraten verstärkte
analerotische Interessen.
Die Erfindungen stehen in symbolischer Beziehung zu affekt¬
betonten Erlebnissen aus dem ganzen Leben des Erfinders. Daher
rührt ihre überwertige Bedeutung für diesen und der starke
Drang zu ihrer Verwirklichung, der selbst vor kriminellen Hand¬
lungen nicht zurückschreckt.
Internat. Zeitschr. f. Psychoanalyse, IX/4.
32
Experimentelle Studien zur Psychoanalyse.^
Von Dozent Dr. Felix Deutsch (Wien).
Meine Herren! An einer Stelle seiner Vorlesungen über
Psychoanalyse hebt Freud hervor, die Psychoanalyse sei eine
Wissenschaft, deren Bestimmung es ist, einst auf ihr organisches
Fundament gestellt zu werden. Unternimmt man den Versuch,
diese Aufgabe auf Grund der bekannten Tatsachen zu lösen, so
stößt man auf unübersteigbare Schwierigkeiten, die nur durch
Spekulation überwunden werden können. Man merkt bald, daß
auf beiden Seiten der Boden noch nicht reif ist, um diese Ver¬
bindung herzustellen und muß sich bescheiden, erst Stück um
Stück mühselig herbeizuschäffen, die das Fundament bilden sollen.
Wir sehen nun drei Möglichkeiten vor uns, diesem Endziel
experimentell näherzukommen und ihm gewissermaßen vor¬
zubauen. Zum ersten, indem man organische Veränderungen in
den innersekretorischen Drüsen setzt, vor allem in den Generations¬
organen, und die Folgeerscheinungen auf die Gesamtpersönlichkeit
studiert, die vorher nach analytischen Grundsätzen festgestellt
worden war. Die ersten Ansätze und Gelegenheiten dazu haben
sich durch die von Steinach inaugurierten Verjüngungsversuche
und die Hodenimplantationsversuche Lichtensterns ergeben.
Bei diesen Eingriffen in den Sexualstoffwechsel könnten die
resultierenden Veränderungen im Libidohaushalt mit den übrigen
veränderten Einstellungen zu den Sexualobjekten mit Recht mit
den gesetzten organischen Veränderungen in Einklang gebracht
werden. Dieser aussichtsreiche Weg ist, wie wir am letzten
Kongreß gehört haben, von Dr. Federn beschritten worden. Wie
^ Vorgetragen in der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung am
31. Jänner 1923.
Experimentelle Studien zur Psychoanalyse
485
weit dieser Weg psychoanalytischen Erkenntnissen förderlich sein
wird, kann erst die Zukunft lehren. Die zweite Möglichkeit,
dem zukünftigen Ziel näherzukommen, liegt in der Richtung, die
durch die Arbeit Ferenczis und Hollös’ über die Psycho¬
analyse der paralytischen Geistesstörung gewiesen wurde.^ Hier
können die bekannten Veränderungen im Zentralnervensystem
mit den körperlichen Begleitsymptomen und die psychoanalytisch
aufgeklärten psychischen und geistigen Störungen in einen kausalen
Zusammenhang gebracht werden. Auch dieser Weg bringt uns
dem früher erwähnten Ziele näher. Ein Seitenweg führt zu einem
Arbeitsfelde, auf dem indirekt derselbe Endzweck erreicht werden
wird. Das ist die Analyse organischer Krankheiten. Die dritte
Möglichkeit, um experimentell das Problem zu fördern, scheint nun
darin gelegen, nicht organische, sondern psychische Veränderungen
zu setzen und die organischen und psychischen Folge¬
erscheinungen festzustellen. Wieso ich zur Ansicht komme, daß
dieser Weg überhaupt Aussicht auf Erfolg verspricht, soll später
ausgeführt werden. Im folgenden soll jedoch nur ein kleiner
Ausschnitt aus den Ergebnissen derartiger Versuche mitgeteilt
und dabei weniger Gewicht auf die Darlegung der Veränderungen
im organischen gelegt werden. Vielmehr sollen einige bekannte
psychische Mechanismen illustriert werden.
Bevor ich auf diese nicht gleich verständliche Wahl der
Methode eingehe, soll von vornherein festgestellt werden, daß die
folgenden Ausführungen scheinbar von dem klaren, erprobten Weg
der klassischen Psychoanalyse abweichen. Das kommt aber daher
daß die Untersuchungen, die hier mitgeteilt werden sollen, einer
Arbeit über psychophysische Kreislaufmechanismen® entnommen
sind und daher ursprünglich nicht für diesen Kreis bestimmt
waren, daß aber die Art der Ergebnisse mich verleitet hat, einen
Teil derselben hier auf gut Glück als analytische Kunstprodukte
vorzubringen.
Die Rekonstruktion des psychischen Aufbaues organischer
Störungen, gleichgültig, ob es sich um organische Krankheiten
» Beiheft V dieser Zeitschrift. (Internat. Psychoanalytischer Verlag, 1922.)
^Deutsch und Kauf: Psychophysische Kreislaufstudien, ü. Mit¬
teilung. Über die Ursachen der Kreislaufstörungen bei Herzneurosen. Zeitschrift
für experimentelle Pathologie, 1923.
32»
486
Dr. Felix Deutsch
oder „Organneurosen“ bandelt — denn jede organische Krankheit
ist doch schließlich eine Neurose im kleinen — zeigt immer
wieder, daß die Entstehung der organischen Symptome wie auch
der Sinn und die Absicht dieser Symptome denselben psychischen
Quellen entspricht, wie die psychischen Symptome einer Neurose,
und daß jene letzten Endes ebenso auf eine Libidostörung zurück¬
zuführen sind wie die letzteren. „Die Darstellung des
Beweises für die Absicht der Symptome kann nun,“ wie von
Freud an einer Stelle seiner Vorlesungen über Psychoanalyse
beklagt wird, „nicht leicht erbracht werden; da müsse die eigene
Erfahrung dafür eintreten oder der Glaube, der sich in diesem
Punkte auf die übereinstimmenden Angaben aller Psychoanalytiker
berufen könne.“ Dazu will sich nun die Mehrzahl der zu Belehrenden
nicht gerne bequemen. Wie man aber immer, wenn man nach¬
giebig ist, vom eigenen Weg ab weichen muß, so führt der Ver¬
such, eine solche Belehrung anschaulich vorzunehmen, auf Abwege
— zur Hypnose. Die eigentliche Psychoanalyse hat zwar erst mit
dem Verzicht auf die Hilfe der Hypnose eingesetzt und dadurch
so klare Erkenntnisse erzielt; dennoch war zu erwarten, daß auf
diesem Wege vielleicht Neues für die Psychoanalyse sich
ergeben wird.
Bei dem Vorsatz nun, den Sinn der organischen Sym¬
ptome, „die Eindrücke und Erlebnisse, von denen sie ausgehen
und die Absichten, denen sie dienen,“ zu veranschaulichen, erschien
es mir am leichtesten, das „Woher“ der Symptome ad oculos zu
demonstrieren.
Das „Woher“ eines Symptoms läßt sich nun in Eindrücke
auflösen, die notwendigerweise einmal bewußt waren und seither
durch Vergessen unbewußt geworden sind. Es war also notwendig,
Eindrücke einwirken und wieder vergessen zu lassen. Dazu gab
es nun keine andere Methode als die Hypnose. Die Symptom¬
bildung konnte man dabei ruhig der Versuchsperson überlassen;
denn bei jedem Erlebnis, das nicht bewältigt werden kann, wird
ein Teil ins Organische konvertiert. Welches Organ sich zu Worte
melden wird, war ja durch die vorhandene Organbereitschaft von
selbst vorher bestimmt.
Ich suggerierte also der Versuchsperson ein eindrucksvolles
Erlebnis in der Hypnose, z. B. einem Mediziner, der kurz vorher
bei der Histologieprüfung durchgefallen war, er sei wieder beim
Experimentell^ Studien zur Psychoanalyse
487
Rigorosum, er solle den histologischen Bau des Haares schildern,
er habe jedoch keine Ahnung, bitte den Prüfer um eine zweite
Frage, die ihm dieser verweigere, worauf er unbarmherzig wieder
durchgefallen sei. Darauf wird vollkommenes Vergessen des
Ereignisses suggeriert, jedoch der posthypnotische Auftrag gegeben,
auf ein bestimmtes Zeichen das zu empfinden, was das Medium,
natürlich ohne mein Wissen, während der Prüfung in der Hypnose
empfunden habe. Die Empfindung, die reproduziert werden sollte,
entsprach also keiner Suggestion, sondern ist als das Resultat
eines endopsychischen Prozesses zu werten, für den das Erlebnis
den Anlaß bildete. Das suggerierte Erlebnis ist, anders ausge¬
drückt, etwa einem psychischen Implantate zu vergleichen, dessen
Einheilung, Einwirkung auf die Umgebung, Veränderung oder
Ausstoßung beobachtet wird. Wurde nun im Wachen das verab¬
redete Zeichen gegeben, z. B. die scheinbar unabsichtliche Benützung
eines Taschentuches, so wurde der Pseudoprüfungskandidat
unruhig, griff sich an den Kopf und klagte über heftige Kopf¬
schmerzen. Jedesmal, wenn das Zeichen erschien, traten die Kopf¬
schmerzen auf und verschwanden wieder mit der Entfernung des
Zeichens. Dabei konnte die Versuchsperson keine Auskunft geben,
warum er die Beschwerden empfinde. Ein anderes Medium ließ
ich z. B. in der Hypnose erleben, wie sie sich frisch und fröhlich
auf einem Ausflug befinde; plötzlich breche ein Gewitter aus,
Stockfinsternis trete ein, Regen überrasche sie, Donner, Blitz
rings um sie. Sie suche sich vergeblich zurechtzufinden und ver¬
irre sich im Walde. Schließlich geht natürlich alles wieder gut
aus. Im Wachen war nun folgende Reaktion: Das Zeichen. Darauf
greift die Patientin zum Herzen. Auf Befragen gibt sie an,
einen Schmerz in der Herzgegend zu verspüren. Diese Empfindung
müsse sie schon einmal gehabt haben, aber sie könne sich nicht
erinnern bei welcher Gelegenheit. Ein solches döjä senti, wie
man es nennen könnte, ein Ausbleiben der Erinnerung bei gleich¬
zeitiger Organempfindung, kann auch sonst zuweilen beobachtet
werden. Es ist ohne Zweifel ein Analogon zum d ö j ä v u. Nur
handelt es sich beim döjä vu eigentlich dicht um eine Empfindung,
sondern, wie Freud bemerkt, eher um ein Urteil, und zwar ein
Erkennungsurteil. Solche körperliche Empfindungen wecken nun
oft ein Erinnerungsgefühl, das der eintretenden Erinnerung vor¬
ausgehen kann, das sogar geradezu zum Auftreten gewisser
488
Dr. Felix Deatsch
Erinnerungen notwendig ist. Es gibt Menschen, bei denen, wenn
sie sich gegen auftauchende Erinnerungen wehren, wenn sie ver¬
drängen, wenn sie das Bewußtwerden einer unbewußten Phantasie
verhindern, organische Sensationen auftreten, die dann als Dauer¬
symptome festgehalten werden können. Ein großer Teil von
lirankheitssymptomen ist imsprünglich dieser Natur. Aber nicht
auf diese soll hier angespielt werden. Gewiß haben die meisten
Erinnerungen visuellen Charakter, doch gibt es ebenso Auditifs und
Moteurs. Ich kenne einige Menschen, deren Erinnerungen oft von
Geruchssensationen begleitet, ja durch diese erleichtert werden.
Bei dieser Patientin, bei der die Herzempfindung an Stelle
der Erinnerung auftrat, war nun nicht nachzuweisen, ob sie
wirklich während des suggerierten Erlebnisses irgendwelche
Sensationen in der Herzgegend gehabt hatte, da sie darüber in
der Hypnose keine Auskunft gegeben batte. Das dejä senti
hielt jedoch nicht lange an. Aber nicht weil die Erinnerung an
das Erlebnis auftauchte, sondern es wurden von dem Medium ver¬
schiedene andere Ereignisse angegeben, in denen sie solche
Empfindungen gehabt haben will. Wie weit solchen Angaben im
allgemeinen überhaupt Glauben beizumessen ist, wie weit es sich
dabei um einen Verschiebungs- und Entstellungsprozeß handelt,
wie schnell dieser Prozeß vor sich geht, darauf soll noch später
eingegangen werden.
Nun war an diesen Empfindungen noch etwas anderes Auf¬
fälliges. Sie äußerten sich wohl zeitweilig nur im Körperlichen,
sei es in Kopfschmerzen oder Herzsensationen oder Leibschmerzen
mit deutlichem Darmkollern. Sie waren jedoch fast immer von
einer sichtbaren Unruhe und Erregung begleitet. Steigerten
sich diese psychischen Sensationen bis zur Angst oder Unheim¬
lichkeit, so blieben dann die Angaben über körperliche Sym¬
ptome aus.
Wie war es nun mit dieser Angst bestellt? Der Auftrag
hatte z. B. gelautet: „Wenn, ich mein Taschentuch herausziehe,
werden Sie dasselbe empfinden, wie Während des Erlebnisses,
werden aber vom Erlebnis nichts erinnern können.“ Ich habe also
das nachgeahmt, was im wirklichen Leben mit affektvollen Erleb¬
nissen vor sich geht. Die Erlebnisse, die nicht oder nicht genügend
abreagiert werden, werden vergessen, unterliegen der Verdrängung
und der zu ihnen gehörige Affekt wird in Angst umgewandelt.
Experimentelle Studien zur Psychoanalyse
489
Wenn das Erlebnis nicht erinnern, jedoch die dabei vor¬
handenen Empfindungen bewußt werden ließ, so nahm ich selbst
die Abspaltung des Affektes vor. Nun könnte man meinen, daß
die bei dem gegebenen Zeichen auftretende Angst das Maß des
bei dem Erlebnis gebildeten Affektes wiedergeben würde. Beob¬
achtete man nun das Medium während des Angsterlebnisses in
Hypnose, wobei die Veränderungen an den Gefäßen und am Herz
registriert wurden, so mußte man erstaunt sein, um wie viel
größer die Angst — nicht in der Hypnose — sondern im Wachen
bei der Exposition des Taschentuches war. Die Angst, die sich
hier entwickelte und die sich mit der Dauer der Einwirkung des
erblickten Taschentuches immer mehr steigerte, war nicht mehr
die Angst, die das Individuum bei dem angstvollen Erlebnisse
erlebt hatte, sondern diese Angst hatte die gesamte Angstbereit¬
schaft mobilisiert, die je nach der psychischen Konstitution sich
manchmal bis zum Angstanfall steigerte. Über das Motiv der
Angst konnten die Untersuchungspersonen natürlich keine Auskunft
geben. Es war nur erstaunlich, wie selbst die schwerste Angst
mit einem Schlag verschwand, wenn das Taschentuch wieder ein¬
gesteckt wurde.
Nur nebenbei möchte ich hinzufügen, daß die Medien auch
darüber sich keine Rechenschaft geben konnten, daß es jedesmal
das Taschentuch war, — dem sie übrigens keine besondere Auf¬
merksamkeitschenkten, — das ihre Angst initiierte. Wahrscheinlicher
ist jedoch, daß der Zusammenhang zwischen dem Anblick des
Taschentuches und der vorhandenen Angst den Untersuchungs¬
personen bewußt war. Nur lehnten sie es bewußt ab, eine Ver¬
bindung mit einem so nebensächlichen Umstand anzunehmen.
Genau so wie im Leben die Patienten mit nervösen Organ¬
störungen gewöhnlich angeben, es seien die nebensächlichsten
Umstände, die ihre Beschwerden auslösen: ein an einem unrichtigen
Ort liegender Gegenstand, ein hingeworfenes Wort, kurz alles, was
an die verdrängte Erinnerung rührt, ob es nun ursprünglich im
Zusammenhang mit dem Erlebnis war oder auch nicht. Ebenso
erwies es sich im Experiment als irrelevant, ob ein Taschentuch,
das später die Empfindungen ekphorierte, im Erlebnis eine Rolle
gespielt batte.
Im Intervall nun benahmen sich die Versuchspersonen nicht
nur nicht ängstlich, sondern vollkommen ruhig, ich möchte sagen
490
Dr. Felix Deutsch
ganz unneurotisch. Man könnte sich nur wundern, wieviel Rest¬
angst im scheinbar unneurotischesten Menschen vorhanden ist.
Einem solchen Angstdurchbruch, wie er in diesen Versuchen
durch den Anblick des Taschentuches ermöglicht und demonstriert
werden kann, verdanken eine Unmenge von Krankheitssymptomen
ihre Entstehung, nur werden von den Patienten Ursache und
Wirkung meist verwechselt. Sie^ meinen, sie hätten den angst¬
vollen Zustand infolge der Krankheit, inzwischen haben sie die
Krankheit infolge der Angst, natürlich cum grano salis. Daß es
gelingen kann, so mächtige Angstentwicklungen, die keineswegs
dem Erlebnis äquivalent sind, im hypnotischen Experiment hervor¬
zurufen, dürfte dadurch erklärlich sein, daß man durch die
infantile Einstellung zum Hypnotiseur, die ja die Voraussetzung
des Gelingens der Hypnose ist, eher den Quellen der Angst näher
kommt und ihre Mobilisierung erleichtert.
Weniger analytisch wie rein medizinisch ist es nun inter¬
essant, daß in gewissen Fällen der posthypnotische Auftrag
scheinbar nicht angenommen worden war. Jedoch, wie sich bald
herausstellte, nur scheinbar. Denn in diesen Fällen stellten sich
die Veränderungen in der Herztätigkeit genau so prompt für den
objektiven Nachweis ein, wie während des Erlebnisses, wenn
auch die Patienten selbst auf Befragen angaben, keine Angst zu
empfinden. Sie wurde gewissermaßen unterdrückt, wobei auch
scheinbar die Veränderungen am Herzen nicht empfunden wurden.
Ich möchte mich nun einem anderen Punkte zuwenden. Es
ist allgemein analytische Ansicht, daß, wenn ein verdrängtes und
vergessenes Erlebnis richtig und vollkommen erinnert und ent¬
sprechend abreagiert werden kann, kein Anlaß zur Symptombildung
aus dem Verdrängten im Unbewußten mehr vorhanden ist, daß
also damit das Symptom verschwinden müßte. Daraus ergibt sich
ja auch als therapeutische Notwendigkeit, die Erinnerung der ver¬
drängten Erlebnisse möglichst zu fördern.
Bevor ich nun die Versuche einer Nachahmung eines solchen
Erinnerungsprozesses anführe, glaube ich vorher einem Einwand
begegnen zu müssen, der sich von selbst aufdrängt, daß nämlich
das Erlebnis in der Hypnose eigentlich nicht wörtlich als vergessen
gilt, da es ja jederzeit mit Erlaubnis des Hypnotiseurs erinnert
werden kann, daß es sich also nicht im Unbewußten befinde, sondern
daß nur die Assoziationskette, die zur Erinnerung führt, durch die
Experimentelle Studien zur Psychoanalyse
491
suggerierte Vorstellung des Nichterinnernkönnens unterbrochen ist,
daß also das Erlebnis die Bewußtseinsfäbigkeit vollkommen bei¬
behalten habe, es sich also höchstens im Vorbewußten befinde.
Nun konnte schon Bern heim zeigen, daß die Erinnerung
eines Ereignisses in der Hypnose meist nur stückweise vor sich
geht, was darauf hinweist, daß die Anteile des suggerierten
Erlebnisses einer Bearbeitung unterliegen, die unabhängig vom
Einfiuß des Hypnotiseurs vor sich geht. Es läßt sich nun nach-
weisen, daß an dem Erlebnis ebenso der Prozeß der Entstellung,
Verdichtung und Verschiebung vor sich geht, wie im wachen
Zustande, ja daß dieser Prozeß mit einer Schnelligkeit vor sich
geht, den man an den Erlebnissen des Wachzustandes kaum ver¬
folgen kann. Ja, man kann das implantierte Erlebnis gar nicht
rasch genug dem Vorstellungsleben des Individuums entreißen,
ohne den Zersetzungsprozeß an den affektwirksamen Gebilden
verhindern zu können. Man muß geradezu besondere Maßregeln
ergreifen, um das unveränderte Substrat des Erlebnisses wieder¬
zugewinnen, man muß das Erlebnis förmlich mit Schutzsuggestionen
umgeben, um es gegen die psychischen Abwehrkräfte zu schützen,
die die nicht ichgerechten Anteile des Erlebnisses ins Unbewußte
verschleppen wollen. Es ist also der vorerwähnte Einwand nur
zum geringen Teile stichhältig, denn der Prozeß, der im hypno¬
tischen Zustande zum Vergessen führt, ist mit allen seinen Folge¬
erscheinungen fast identisch mit dem im wachen Zustande.
Kehren wir nun zum Ausgangspunkt zurück. Es wurde also der
Versuchsperson der posthypnotische Auftrag gegeben, vorerst beim
Anblick des Taschentuches wieder nur erinnerungslose Empfindungen
des Erlebnisses zu reproduzieren, dann aber beim Falienlassen des
Tuches volle Erinnerungsfähigkeit für das Erlebnis zu besitzen.
Ich hatte also z. B. folgende Suggestion gegeben: Einen
Patienten, von dem ich wußte, daß in der Gefangenschaft an ihm
eine Operation seiner Hämorrhoiden vorgenommen worden war,
ließ ich in der Hypnose die ganze Operation, die ehemals ohne
Narkose vorgenommen worden war, wieder erleben: wie er am
Operationstisch liege, alle Vorbereitungen mit den Instrumenten
mitansehe, wie der Operateur den, glühenden Thermokauter anlege,
den Knoten entferne und die Nähte setze. Während des Erlebnisses
waren deutliche, wenn auch mäßige, objektive Zeichen der angst¬
vollen Erregung am Herzen nachzuweisen. Nach dem Erwachen trat
492
Dr. Felix Deutsch
auf das gegebene Zeichen geringe Unruhe mit Herzsymptomen auf.
Nun wurde das Taschentuch fallen gelassen. Sofort prompte
Erinnerung ohne besondere Angst, das heißt der Patient gibt auf
Befragen, was er jetzt denke, an, es falle ihm die Operation in
der Gefangenschaft ein, die er dann ruhig erzählt. Bei neuerlicher
Exposition des Tuches bleiben richtig die psychischen und
organischen Symptome aus. Das wäre der einfachste Fall Keines¬
wegs der gewöhnliche. Suggeriert man nämlich ein bereits einmal
wirklich erlebtes, wenn auch ursprünglich mit Angst einher¬
gegangenes Ereignis, das aber bereits vollkommen bewußt und
genügend abreagiert ist, so sind sowohl die posthypnotischen
Reaktionen unausgiebig, als auch keine besondere Notwendigkeit
einer Abwehr gegen die Erinnerung gegeben. Es erfolgt dieselbe
auch gewöhnlich fast affektlos.
Anders stellt sich die Sache dar, wenn einerseits das Erlebnis
neuartig ist, andererseits an gewisse Komplexe rührt. Besondere
Erfolge konnte man sich daher versprechen, wenn man aus
analytischer Überlegung die Erlebnisse möglichst unheimlich
gestaltete, also an infantile Komplexe, an den Kastrationskomplex
rührte, wenn man eventuell im Erleben Beziehungen zum Tode,
zur Allmacht der Gedanken anklingen ließ.
Schon bei der Patientin, der das Walderlebnis suggeriert
wurde, war eine Variante im Erinnern zu bemerken. Beim Fallen¬
lassen des Taschentuches meint sie lächelnd, sie erinnere sich an
einen Ausflug nach Krieglach, auf dem sie sich beim Erdbeeren¬
pflücken verirrt hatte und infolge eines Gewitters fast nicht nach
Hause gefunden hätte. Damals erkannte ich noch nicht die
Erinnerungstäuschung, sondern war überzeugt, ich hätte zufällig
ein wirkliches Erlebnis suggeriert, was ja bei der Alltäglichkeit
des Erlebnisses nicht unmöglich gewesen wäre. Erst später erkannte
ich, daß hier die ersten Spuren der Entstellung aufgetreten waren.
Auch in diesem Falle erfolgte übrigens die Erinnerung spielend
und nach der neuerlichen Exposition des Taschentuches blieben
psychische und organische Störungen aus.
Lehrreicher verlief schon der nächste Versuch. Von einer
Patientin wußte ich, daß sie eine besonders zärtliche Bindung an
die Mutter hatte, daß sie sich um sie immer ängstlich besorgt
zeigte, andererseits auch die Mutter die schon erwachsene Tochter
nicht aus den Augen ließ. Ich suggerierte also einen gemeinsamen
Experimentelle Studien zur Psychoanalyse 493
Ausflug. Sie, die Tochter sei vorausgeeilt. Plötzlich an einer Weg¬
kreuzung blicke sie zurück und sehe die Mutter nicht. Sie eile
zurück, finde sich jedoch nicht zurecht; sie glaube, die Mutter
ängstlich rufen zu hören; wieder bricht Gewitter, Finsternis, Blitz
und Donner herein, sie stolpere, falle, suche sich zu erheben, doch
habe sie sich am Fuß verletzt, so daß sie nur mit Mühe gehen
könne; im Dunkel glaube sie mit einem Male einen Schatten
neben sich zu bemerken, vor dem Sie zu entkommen trachte,
dabei verliere sie ihre Tasche und das Taschentuch, sie eile zurück,
um das Taschentuch zu suchen, da raschle es im Gebüsch, sie
wende sich nach einer anderen Richtung, gerate noch mehr vom
Wege ab, bis sie plötzlich eine Lichtung sehe, der sie zueile.
Inzwischen läßt das Gewitter nach, sie erreicht die Lichtung und
sieht mit Freuden auf der anderen Seite aus dem Walde die
Mutter kommen. Nach dem Erwachen beim Herausziehen des
Taschentuches, wie erwartet, heftigste Angstreaktion mit Herz¬
beklemmung — bedeutend heftiger als in der Hypnose — die
sich mit der Dauer der Exposition beträchtlich steigert. Nun wird
das Tuch fallen gelassen. Es tritt die Erinnerung an einen Ausflug
mit einer Gesellschaft ein, die sie auch namentlich nennen kann.
Weiter nichts. Das Taschentuch wird wieder fallen gelassen. Nun
erinnert sie sich, daß damals ein Gewitter gewesen sei, daß sie ein
Taschentuch verloren habe, auch schließlich, daß sie die Gesellschaft
verloren, aber später wieder gefunden habe. Alles dies fällt ihr
nur a ll mä hlich ein, stockend, zögernd, mit großer Unruhe. Mehr
erinnert sie sich auch vorläufig nicht trotz Wiederholung des
Zeichens. Nun trat folgende Merkwürdigkeit auf. Als nach dieser
partiellen Erinnerung das Taschentuch — ohne Fallenlassen
desselben — also das ursprüngliche Zeichen, gegeben wurde, trat
heftigstes Angstgefühl, Herzklopfen und Darmunruhe auf, für die
wieder keine Ursache angegeben werden konnte. Auch die bisherige
Erinnerung, die ich ihr neuerlich ins Gedächtnis rief, wurde nach¬
träglich doch nur als ein möglicher Zusammenhang mit der Angst
akzeptiert. Jedoch auch beim neuerlichen Versuch war wieder
nur das unbestimmte Angstgefühl vorhanden. Erst allmählich, bei
hartnäckiger Wiederholung des Erinnerungszeichens, belebte sich
die Erinnerungsspur. Zuerst meinte sie, sie müsse schon nach
Hause, die Mutter warte. Dann drückt sie ihre Verwunderung aus,
daß sie zu erzählen vergessen habe, daß die Mutter beim Ausflug
i
494
Dr. Felix Deutsch
mit gewesen sei und schließlich bricht die ganze Erinnerung durch
mit vielen Details, die sie dem Erlebnis hinzufügt. Der gewöhnliche
Taschentuchversuch löste hierauf keine Reaktion mehr aus.
Suchte ich nun dem Verdrängungsversuch bei einer anderen
Patientin mit ähnlichem Erlebnisinhalt vorzubeugen, indem ich
den strikten posthypnotischen Auftrag gab, es werde der Patientin
vollkommen unmöglich sein, auf das gegebene Zeichen nicht
zu erinnern, es werde die ganze Erinnerung, voll und ganz, sofort,
mit einem Male auftreten, sobald das Taschentuch zu Boden falle,
so erfolgte auch wirklich bei der ersten Anregung durch das
Experiment die unveränderte Erinnerung, aber sie wurde hastig,
wie automatisch, ohne Affekt, ich möchte sagen, unverdaut wieder¬
gegeben. Die Angstreaktionen auf den Anblick des Taschentuches
blieben aber auch nachträglich vollkommen in gleicher Intensität
aufrecht, als hätte sie nichts erinnert.
Es läßt sich das nur damit vergleichen, wenn man zum
Beispiel einer neurotischen Patientin mit starkem Ödipuskomplex
in der ersten Stunde sagen würde, sie habe ihre Symptome, weil
sie in den Vater verliebt sei oder der Mutter den Tod wünsche.
Die Symptome würden sich wahrscheinlich nicht um ein Haar
bessern. Aber auch bei einer Aktualneurose bringt die Mitteilung
des auslösenden aktuellen Erlebnisses für den Patienten nicht
den geringsten Vorteil, wenn die Erinnerung nicht auf geregelten
assoziativen Wegen vor sich geht. Solange nicht das verdrängte
Material aus dem Unbewußten mit auftaucht, solange muß die
Erinnerung ohne Einfluß auf die Symptome bleiben. Daher kann
man mit Gewißheit annebmen, daß wenn mit einer Erinnerung
das mit Sicherheit zugehörige Symptom nicht mitschwindet,
wichtige Anteile sich noch in der Verdrängung beflnden, natürlich
abgesehen von anderen Gründen, die nicht hieher gehören, wie
zum Beispiel das sogenannte „Leergehen“ der Symptome.
Welcher Mittel sich oft das Unbewußte bedient um die Ver¬
drängung zu schützen, respektive nicht preiszugeben, kann eine
Beobachtung beleuchten, die ich bei einem anderen Erinnerungs¬
versuch machen konnte, die ich ausführlicher schildern möchte.
Eine Patientin, die ich seit vielen Jahren kenne und die
wegen Basedow und Magenblutung auf nachgewiesen neurotischer
Grundlage in Behandlung gestanden war, die aber später außer
neurotischen Herzbeschwerden keine psychoneurotischen Symptome
Experimentelle Studien zur Psychoanalyse
495
gezeigt hatte, wurde ebenfalls zu den Versuchen herangezogen.
Ich wußte von der Patientin, die in prekären Wohnungsverhält¬
nissen lebte, daß ihre siebzig Jahre alte Mutter, die bisher in
Jugoslawien war, bei ihr seit kurzem wohne, weil die anderen
Kinder sie nicht behalten wollten, wodurch der Patientin noch
mehr räumliche Schwierigkeiten erwuchsen. Darob gab es oft
Streit mit dem Manne, mit dem sie ohnedies nicht glücklich lebte.
Die Suggestion lautete: „Es ist Abend, Sie sind ganz allein
zu Hause. Sie legen sich zu Bett. Es wird zehn Uhr, Sie löschen
das Licht aus. Da klopft es an die Türe. Sie rufen zur Türe. Es
antwortet eine unbekannte Männerstimme, er bringt eine Nach¬
richt von der Mutter. Sie öffnen ihm. Sie gehen zur Türe,
öffnen einen Spalt. Da zwängt sich der Mann bei der Türe herein.
Vor Ihnen steht ein schwarz gekleideter, schöner Mann. Er sagt:
„Ich komme aus Jugoslawien von der Mutter, die schwer erkrankt
ist. Sie müssen gleich mit mir fahren, sonst kommen Sie zu spät;
die Mutter könnte bis dahin schon gestorben sein. Ziehen Sie
sich rasch an!“ Sie ziehen sich zitternd an, fragen, was denn
eigentlich der Mutter fehle. Der Mann antwortet aber nicht darauf,
meint nur. Sie sollen sich beeilen. Sie nehmen noch das Täschchen,
wollen etwas Geld einstecken. Der Mann nimmt Sie aber bei der
Hand und zieht Sie zur Türe. Sie sagen. Sie möchten noch Ihr
Taschentuch nehmen. Er aber läßt nicht los, zerrt Sie noch weiter
zur Türe. Sie wehren sich; da will er Ihnen das Täschchen
entreißen. Sie rufen; Sie raufen um das Täschchen. Da, im letzten
Moment kommt Ihr Mann gerade zur Türe. Der fremde Mann ist
verschwunden. Sie sind froh und glücklich, gerettet zu sein, und
erzählen Ihrem Mann das Abenteuer.“
Darauf folgen dieselben posthypnotischen Suggestionen wie
in den früheren Fällen.
Ich brauche wohl nicht auf die Wunscherfüllungen hinzu¬
weisen, die teils eindeutig, teils symbolisch in dem Erlebnis ent¬
halten sind und die in den unbewußten Phantasien des Mediums
wohl zu vermuten waren. Es war vorauszusehen, daß die Erinnerung
nicht glatt vor sich gehen werde.
Auf die Exposition des Taschentuches erfolgen Klagen über
Schmerzen in der Herzgegend; bei Wiederholung sagt sie, es se
ihr unheimlich, sie habe Angst, Symptome, die beim Einstecken
des Tuches glatt verschwinden. Nun wird das Taschentuch fallen
496
Dr. Felix Deutsch
gelassen. Da erfolgt plötzlich eine Art hysterischer Anfall. Heftige
Zuckungen der Glieder und des Kopfes. Die Erinnerung aber geht
in Form einer Halluzination vor sich. Etwa folgendermaßen: Sie
blickt zur Türe. „Hat es nicht geklopft? Ja, komm’ schon! Bist
schon da. Ich will nicht 1 Geh’ weg. Die Mutter?“ Da die Erregung
heftig ist, stecke ich das Taschentuch ein. Patientin beruhigt
sich. Darauf fragt sie, was das jetzt war, es sei ihr wie im Traum
gewesen. Der Versuch wird dann fortgesetzt: Es tritt eine
neuerliche Halluzination auf, aus der man entnehmen kann, daß
sie glaubt, ihr Mann stehe neben ihr, der sie fragt, ob der andere
schon weg sei. Im übrigen äußert sich die Abwehr gegen die
auftauchende Erinnerung mehr in einer motorischen Entladung.
Nach mehrmaligem Fallenlassen des Taschentuches ist dann alles
vorüber und auch beim gewöhnlichen Reizversuch klingen rasch
die organischen Symptome und die Angstgefühle ab. Alles erschien
der Patientin nachher wie im Traum. An den Anfall konnte sie
sich nicht genau erinnern. Nur, es sei ihr gewesen, als ob jepiand
geklopft hätte und hätte ihr die Nachricht gebracht, daß die
Mutter krank sei, Sie fragt sogar nachträglich, ob nicht gerade
ihr Mann hier gewesen sei. Bevor dann die volle Erinnerung
auftritt, bringt sie Deckerinnerungen an zwei Todesfälle aus der
letzten Zeit von ihr nahestehenden Personen, über die sie sich
seinerzeit sehr aufgeregt hätte.
Ich glaubte diesen Fall hier ausführlicher anführen zu müssen,
weil er eine experimentelle Illustration zur Genese des hysterischen
Anfalles und der Halluzination liefert.
Damit bin ich am Schlüsse angelangt. Ich möchte bemerken,
daß es nur Illustrationen zur Psychoanalyse sind, die hier vorge¬
tragen wurden. Die Untersuchungen sollten ursprünglich auch
nur dem Zwecke dienen, einer nicht vorgebildeten Hörerschaft
die Mechanismen zu demonstrieren, die bei der Entwicklung der
Organneurosen mitspielen und gleichzeitig den Hörern, respektive
Lesern einen Fingerzeig geben, welche ausschlaggebende Rolle
das Unbewußte bei der Entstehung dieser Erkrankungen bildet.
Ob die hier mitgeteilten Experimente die Möglichkeit bieten, das
in der Einleitung erwähnte Problem irgendwie zu fördern, muß
dagegen dahingestellt bleiben.
Mitteilungen.
Bemerkungen über Transvestitismus.^
Von Dr. med. Felix Boehm, Berlin.
Bei der Gründung der Poliklinik der Berliner Psychoanalytischen
Vereinigung hegte ich lebhafte Zweifel, ob es möglich sein würde, Patienten
durch eine psychoanalytische Behandlung zu heilen, wenn .man sie nicht
täglich und zudem jedesmal weniger als eine Stunde sprechen würde, da
doch Analysen unserer Patienten, welche wir täglich eine Stunde bei uns
sehen, eine so überaus lange Zeit bis zu ihrer Beendigung brauchen. Es freut
mich nun von einem polikliuisch behandelten Patienten berichten zu können,
welcher nach 102 Sitzungen, welche im Durchschnitt weniger als dreiviertel
Stunden gedauert und nur jeden zweiten Tag stattgefunden hatten, auf seinen
Wunsch mit meinem Einverständnis geheilt entlassen worden ist. Sein Leiden
hat der 33jährige Patient aiif meinen Wunsch in einem ausführlichen schrift¬
lichen Bericht geschildert, welchen ich ohne jede Abänderung bringe:
„Schon im frühesten Kindesalter wendeten sich meine Blicke dem weib¬
lichen Geschlecht zu. Es reizte mich, wenn junge Damen die Röcke rafften,
wie überhaupt jeder Griff nach der Hinterpartie. Ganz besonderen Eindruck
machte bei mir das Züchtigen mittels eines Rohrstockes auf das Gesäß. Diese
Züchtigungsmethode wurde in meiner Schule in ausgiebigstem Maße ange¬
wendet Auch ich mußte diese Strafe des öfteren erleiden. Wenn andere
Knaben darüber anscheinend stillschweigend hinweggingen, so überkam mich
ein Gefühl von Scham, Neid und Haß. Ich schämte mich vor dem weiblichen
Geschlecht, ärgerte mich, daß die Mädchen nicht aufs Gesäß gezüchtigt wurden.
Ich haßte das Lehrpersonal, insbesondere das weibliche, weil dieses auch
uns Knaben auf das Gesäß schlug. Später dann machte ich die Wahrneh¬
mung, daß die Mädchen eine stärkere Hiuterpartie hatten, und es ärgerte mich
um so mehr, daß dieselben nicht diese Züchtigungsmethode über sich ergehen
lassen brauchten. Der Ärger hierüber fand insofern dauernde Nahrung, weil
meine Erziehung ganz in den Händen meiner Mutter und meiner um fünf
Jahre älteren Schwester lag. Letztere schien sich in der Rolle einer Erzieherin
i Nach einem am 30. Juni 1921 in der Berliner Psychoanalytischen Vereinigung*
gehaltenen Vortrag.
498
Mitteilungen
sehr wohl zu fühlen. Sie übte solchen Einfluß auf mich aus, daß ich ihr
willenlos parierte. Wenn ich nun schon in der Schule das Gefühl hatte, daß
Mädchen den Jungens viel voraus hatten, beziehungsweise in vieler Hinsicht
Vorteile, so bestätigte sich das nach meiner Schulentlassung. Auch hier
wieder ärgerte es mich, daß junge Mädchen gleich nach der Konfirmation in
einer ganz anderen Atmosphäre leben und ihnen in bezug auf Kleidung, Umgang
eine ganz andere Behandlung zuteil wurde, als gleichaltrigen Knaben. Ich
war dann auch zufrieden, daß meine Eltern davon Abstand nahmen, mich
ins Bureau zu schicken. Der Gedanke, daß ich hier einige Jahre ältere
Mädchen oder schließlich sogar Gleichaltrige bedienen müßte, machte mich
innerlich rasend. Ich mied somit das weibliche Geschlecht, sogar später,
da andere junge Leute schon eine Braut hatten. Obwohl ich nun einen
ge wißen Haß auf junge Damen hatte, sah ich doch nach ihnen. Ich
freute mich über ein hübsches Mädelgesicht, schön frisierten Kopf, gute
Manieren, Koketterie und hätte so ein Weib an mich drücken und küssen
mögen. Aber leider mußte ich empfinden, daß mich alles dieses nicht reizt,
wenn nicht derartige junge Damen gute moderne Kleidung, insbesondere enge
Röcke trugen. Es bildeten sich nun Phantasien, in denen solche junge
Mädchen, mit einem Rohrstock bewaffnet, Knaben und Jünglinge auf das
Gesäß schlugen. Durch diese Phantasien stellten sich zuerst Erektionen, dann
Pollutionen ein. Später, als ich durch „Belehrung“ die Onanie kennen lernte,
frönte ich derselben fast täglich. Ich suchte die Einsamkeit, benutzte jede
Gelegenheit des Alleinseins. Dann bekleidete ich mich mit den Röcken meiner
Schwester, raffte die Kleider, sah mir Modenblätter an, kasteite mich selbst
auf das Gesäß und onanierte. Die furchtbaren seelischen Erregungen, die Angst,
bei dieser Prozedur von meinen Angehörigen einmal überrascht zu werden,
steigerte meine Nervosität fast bis zum Wahnsinn. So mußte ich damit brechen;
nur ungern, jedoch ich tröstete mich in der Phantasie es billiger zu haben.
Wenige Versuche, mich sexuell natürlich zu betätigen, scheiterten. In diesen
Phantasien zeigte sich das Weib nur als Herrscherin. Der Krieg tat hierin
auch sein übriges, indem die Frau an Stelle des Mannes trat und es fügte sich
oft, daß die Frau, beziehungsweise das Mädchen, Vorgesetzte der hier¬
gebliebenen Männer wurde. Es brachte mich jedoch nichts mehr in Erregung,
wie ein Zeitungsbericht vor ungefähr einem Jahrzehnt. Darin wurden die
skandalösen Zustände in der Zwangserziehungsanstalt Mielczin geschildert. Hier
wurden die Zöglinge bei den geringsten Vergehen von Aufsehern, ja sogar von
den Anstaltsgeistlichen bestialisch geschlagen. Über 50 Hiebe mit einem Male,
bis zu 200 Hieben an einem Tage. So lauteten die fettgedruckten Über¬
schriften der einzelnen Abschnitte. Und dies alles oft in Gegenwart
der Anstaltsschwestern. Es herrschte am Erscheinungstage dieses Berichtes
großes Hallo in Berlin. Ich selbst nahm mit gemischten Gefühlen hiervon
Notiz. Einesteils weidete ich mich, andernteils empörte ich mich an diesen
Vorgängen. Was in meinem Seelenleben vorging, daß auch dieser Artikel von
dem weiblichen Geschlecht gelesen wurde, wie ich dies in der Straßenbahn
wahrnahm, vermögen Worte nicht zu schildern. An diesen Begebenheiten
fanden meine Phantasien reichliche Nahrung. Im Geiste befand ich mich in
Mitteilungen
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dieser Anstalt. Die männlichen ,Erzieher‘ sehe ich durch weibliche ersetzt.
Sehe Klassenzimmer mit Zöglingen von 12 bis 18 Jahren, unterrichtet von
jungen Damen im Alter von 16 bis 25 Jahren in eleganter, raffinierter, enger
Kleidung, insbesondere der Röcke, schön frisiertem Kopf, hohen Stiefelabsätzen,
üppigem Busen, echt weiblichen Bewegungen, kokett, ironisch, höhnisch. Diese
Weiber üben einen nicht zu bekämpfenden Terror auf die Zöglinge aus.
Insbesondere wenden sie die im Eingänge meiner Ausführungen erwähnten
Züchtigungsmethode an. Während die Zöglinge mit ihrem behiebten Gesäß
schmerzerfüllt sich auf die harte Bank niedersefzen, nehmen die Lehrerinnen
mit ihrem wohlgenährten, gepflegten Körper auf einem Kissen Platz. Die Zöglinge
sind unterernährt. Mitunter dürfen letztere ihren Platz nicht einnehmen,
sondern müssen nach erlittener Strafe frei stehend mit nach vorn zusammen¬
gefaßten Händen die Schmerzen ertragen, um zu verhindern, daß sie durch
Bewegung oder Reiben des betreffenden Körperteils sich Linderung verschaffen.
Größere Vergehen, wie Desertation, Aufreizung und dergleichen werden mit
Disziplinarstrafen geahndet — 25 Hiebe — vom Anstaltsdirektor zu genehmigen.
Diese Strafen werden im Beisein des gesamten weiblichen Lehrpersonals in
hierzu besonders eingerichteten Räumen vollstreckt.“ Soweit der Bericht des
Patienten.
In bezug auf seine Perversion habe ich hinzuzufügen, daß er die Ver¬
kleidung Jahre hindurch sehr häufig vorgenommen hatte; über sein Sexual¬
leben ist noch folgendes nachzutragen: er hatte nie den Koitus ausgeführt,
niemals, außer beim masturbatorischen Akt, eine sexuelle Erregung in der
Form einer Erektion verspürt, auch nicht in den Armen seiner Braut, mit
welcher er seit fünf Jahren verlobt war und mit welcher er vor ungefähr
zwei Jahren mehrere Nächte zusammen geschlafen hatte. Die Zahl seiner
Damenbekannischaften war eine auffallend geringe; doch zeigte die Analyse
daß er, ohne es zu wissen, in den letzten Jahren neben seiner Braut mehrmals
in stattliche Frauen heftig verliebt gewesen war, ohne gewagt zu haben, sich
ihnen zu nähern. Im allgemeinen hat er aber fast ausschließlich mit Männern
verkehrt. Eine Zeitlang war er sogenannter „dienender Bruder“ einer Frau¬
maurerloge. In bezug auf seinen Körper bot er einen auffallend engen Brust¬
korb und ein ungewöhnlich kleines Herz, ausgesprochene Schweißhände, einen
spärlichen Haarwuchs und eine etwas hohe Stimme, auch war er ungewöhn¬
lich schlecht ernährt.
Der fast ausschließliche Verkehr mit Männern ließ an latente homo¬
sexuelle Empfindungen denken; in der Analyse spielte die Homosexualität
eine große Rolle; der Patient bestürmte mich gleich in den ersten Stunden
mit heftigen Bitten, ihm doch immer wieder zu versichern, daß er nicht
homosexuell sei, was er immer befürchtet habe; nichts sei ihm so eklig als
der Gedankt an Homosexualität, auch aus Büchern habe er sich mit großer
Befriedigung darüber vergewissert, daß er nicht homosexuell sei; dabei war
er unter anderem auch an eine Streitschrift einer Frau, einer Laiin, gegen
die Homosexuellen geraten; in derselben waren schwer glaubliche, angebliche
Bedenken der Wortführer der Homosexuellen gegen den Umgang mit Frauen
aufgezählt und zu zerstreuen gesucht, z. B. daß sie aus den Achselhöhlen
Internat. Zeitschr. f. Psychoanalyse, IX/4.
38
500
Mitteilungen
röchen, daß ihre Brüste stänken, ganz zu schweigen von dem Abscheu vor
dem Genitale, — Bedenken, welche mein Patient sich charakteristischerweise
ganz zu eigen gemacht hatte. Für die stark entwickelte homosexuelle Kom¬
ponente seines Wesens spricht es auch, daß in seinen Träumen größtenteils,
und im Beginn der Analyse fast nur Männer eine Rolle spielten.
Wenn wir uns den von dem Patienten selbst beschriebenen Geschlechtsakt
betrachten, so finden wir außer der Verkleidung das masochistische und das
autoerotische Moment stark betont; zu seinem Autoerotismus möchte ich
bemerken, daß Patient sich stets nur selbst befriedigt hatte, weder zu Männern
noch zu Frauen sexuelle Beziehungen gehabt hatte, auch sonst ziemlich isoliert
dagestanden und nie eine engere Freundschaft, mit Ausnahme seiner Braut,
gehabt hatte. Aufs engste im Zusammenhang mit dieser Erscheinung standen
seine analerotischen Charakterzüge: er hatte es z. B. stets auf Grund bewußter
Überlegungen und Berechnungen vorgezogen, sich für dasselbe Geld, welches
Kollegen von ihm mit einem Mädchen im Cafe ausgaben, eine bestimmte
Anzahl von Zigarren zu kaufen.
Selbstverständlich hatte er auch Schundschriften gegen die Onanie
gelesen und dauernd vergeblich einen schweren seelischen Kampf gegen die¬
selbe geführt, war daher ständig deprimiert; ich glaube seine Unterernährung
mit Recht mit dieser Depression in Zusammenhang bringen zu dürfen.
Ich komme nun auf das masochistische Moment des vom Patienten
beschriebenen Sexualaktes zu sprechen. Aus Freuds Arbeit: „Ein Kind
wird geschlagen“ ^ wissen wir, daß der Masochismus als Umbildung aus einem
ursprünglichen Sadismus entsteht.
Es nimmt uns daher nicht wunder, daß unser Patient sadistische
Neigungen hatte; sehr bald zeigte es sich nämlich, daß er von anderen
Phantasien nicht berichtet hatte, nämlich von den Phantasien, kokett
angezogene Frauen mit einem Rohrstock auf das Gesäß zu schlagen, daß aber
diese Phantasien ebenso häufig waren wie die masochistischen, natürlich auch
in der Form, daß andere Männer Frauen schlügen, daß Mädchen in Instituten
von Erziehern gezüchtigt würden.
Hinter diesen Frauen, welche ihn schlugen, beziehungsweise welche er
schlug, verbargen sich die beiden Tyranninen seines Lebens: seine Mutter
und seine ungefähr fünf Jahre äjtere Schwester (andere Geschwister hat
Patient nicht gehabt).
Die Mutter war eine ausgesprochen virile Frau, welche* den nachgiebigen
Mann vollkommen unterjocht hatte, so daß er eine Reihe von weiblichen
Beschäftigungen ausführen mußte. Der Vater war Jahre hindurch „dienender
Bruder“ einer Freimaurerloge gewesen. Zu ähnlichen Beschäftigungen hatte
die Mutter den Patienten erzogen: er mußte bis jetzt am Morgen die Milch
holen, die Fußböden waschen, was er, wie er voller Stolz berichtete, viel
besser konnte als eine bezahlte Zugehfrau; er mußte Vorhänge anmachen.
Staub wischen, Kaffee mahlen und kochen usf. Auf der anderen Seite
verbot ihm die Mutter alle Spiele mit Knaben im Hof und auf der Straße;
* Intern. Zeitschr. f. Psa., V, 8.
Mitteilungen
501
dabei sekundierte ihr die Schwester, welcher die Mutter einen Teil der
Erziehung übertragen hatte, so daß er geradezu aufatmete, als die Schwester
nach ihrer Konfirmation in ein Geschäft eintrat; eine Erinnerung, auf welche
er erst im Laufe der Behandlung kam, während er zu Beginn derselben der
Schwester dankbar war für alle Liebe und Mühe; es hatte sich aber sehr bald
gezeigt, in welch gespannten Beziehungen er zu seiner Schwester stand, welche
in unverhüllter Eifersucht seine Braut überall zu schädigen versuchte. Dasselbe
läßt sich über seine Beziehungen zu seiner Mutter sagen, welche die Braut
auf Schritt und Tritt verfolgte; die Mutter hatte es veranlaßt, daß er seit dem
vor wenigen Jahren erfolgten Tode des Vaters mit ihr in einem Zimmer
schlief; auch hatte ihn die Mutter gelobt, weil er sich nicht mit Mädchen
abgab; ihn oft vor den Folgen des außerehelichen Verkehrs gewarnt und oft
über seine Verliebtheit geschimpft, wenn er den Versuch gemacht hatte, mit
seiner Braut allein zu sein. Noch während der Behandlung machte ihm die
Mutter jedesmal Vorwürfe und unterwarf ihn einem genauen Verhör, wenn er
vom Dienst einige Minuten später nach Hause kam, als sie erwartet hatte.
Sein frühestes bemerkenswertes Erlebnis, an welches er sich selbst
nicht zu erinnern vermocht hatte, sondern welches ihm erzählt worden war,
das er aber mit so viel Affekt erzählte, wie wenn er es noch ganz frisch in
der Erinnerung hätte, war folgendes: Da er mit eineinhalb Jahren noch in die
Hosen defäcierle, gab eine Freundin der Mutter dieser den Rat, ihn derartig
zu verhauen, daß er diese Züchtigung sein Leben lang nicht vergessen würde,
was dann auch mit seltener Brutalität von der Mutter vorgenommen worden
sein soll; ein Vorfall, welcher für die Entwicklung seiner späteren Anal¬
erotik und seiner Schlagephantasien von Bedeutung gewesen sein kann.
Während zu Beginn der Behandlung sein unterdrückter Haß gegen seine
Mutter und Schwester und seine Liebe zum Vater eine große Rolle spielten
— was wohl ein allgemeiner Zug der Homosexuellen sein dürfte — begann
sich nach kurzer Zeit in einer großen Anzahl von Träumen, in denen verhaßte
Vorgesetzte eine Rolle spielten, sein Haß gegen mich und seinen Vater zu
zeigen, d. h. sein normaler Ödipuskomplex, welcher aber hauptsächlich aus seiner
Einstellung mir und seinen Vorgesetzten gegenüber erschlossen wurde, ohne daß
die entsprechenden frühen Kindheitserinnerungen aufgedeckt worden wären.
Nach einiger Zeit der Behandlung veränderten sich die Phantasien des
Patienten beim onanistischen Akt in der Richtung, daß er nicht mehr von
ewig wechselnden Frauen gestalten auf das Gesäß geschlagen wurde, sondern
zu seinem großen Erstaunen von seiner Braut, einem sanften, ihm ergebenen,
jüngeren Mädchen aus im Vergleich zu ihm untergeordneten sozialen Kreisen,
von sympathischem Äußern; dieses Mädchen hatte er allmählich zu bestimmen
vermocht, ihr Äußeres so zu verändern, daß sie dem Typus der ihn prügelnden
Frauen ähnlich geworden war; auch tyrannisierte und beherrschte er sie voll¬
kommen. Sein ganzes Verhalten ihr gegenüber war also ein direkt entgegen¬
gesetztes zu dem, wie es in seinen onanistischen Phantasien zum Ausdruck
kam: also in Wirklichkeit sadistische Betätigung seiner¬
seits einem Mädchen gegenüber, in sexuellen Phantasien
masochistisches Erleben durch dasselbe Mädchen.
33*
502
Mitteilungen
Ich hatte dem Patienten zu Beginn der Behandlung durchaus keine
schnelle Heilung in Aussicht gestellt, ihm von einer baldigen Heirat abgeraten;
trotzdem beharrte er auf seinem Plan, bald heiraten zu wollen, da er es seiner
Braut versprochen hatte und die Bekannten und Verwandten von diesem
Plan wußten. Trotz meines Abratens überraschte er mich nach einiger Zeit
mit der Mitteilung, daß er nach wenigen Monaten heiraten wolle; er begann
mit großem Eifer alle Hochzeitsvorbereitungen zu treffen, wobei er unter
Überwindung großer Schwierigkeiten ein neues Schlafzimmer anschaffte (also
von den Betten der Eltern absah). Ich machte ihn darauf aufmerksam, daß
er wohl längere Zeit hindurch ohne eheliche Vereinigung würde leben
müssen. Zu meinem Erstaunen teilte er mir mehrere Tage nach der Hochzeit
in der 101. Sitzung freudestrahlend folgendes mit: in der Hochzeitsnacht
bekam er zu seiner Überraschung eine starke, langandauernde Erektion, so
daß ihm sein Glied zu groß für ein Eindringen in die Scheide vorkam; trotz¬
dem versuchte er in der folgenden Nacht eine Entjungferung, welche ihm
ohne Schwierigkeiten gelang; ebenso der folgende Koitus, welcher ihm viel
Freude machte; in der folgenden Woche verlebte er die denkbar glücklichsten
Flittertage, wobei er die größte Freude nicht bloß im normalen Koitus ohne
jede Perversion, sondern auch im Austausch von gegenseitigen Zärtlichkeiten
empfand. Alle Bedenken gegen das weibliche Geschlecht, wie z. B., daß die
Brüste stinken würden, hatten sich zu seinem großen Erstaunen als unwahr
herausgestellt. Ebenso waren seine seelischen Relationen zu seiner Frau für
ihn sehr beglückende; die Mutter hatte er stark in den Hintergrund gedrängt.
Nach der zweiten Sitzung nach der Hochzeit entließ ich ihn glückstrahlend
mit außerordentlich gehobenem Selbstgefühl; letzteres schon deshalb, weil
er nun im Kreise der Kameraden nicht mehr zu heucheln brauchte, daß er
den Koitus kenne. Die früheren von ihm zur Probe hervorgerufenen Phan¬
tasien wirkten zu seinem großen Erstaunen absolut nicht mehr erregend.
Eine eingehende Analyse seines Charakters hatte nicht stattgefunden;
nur einmal machte ich ihn auf seine drei analen Charakterzüge aufmerksam,
welche er mit süßsaurer Miene zugab. Ich habe von einer eingehenden
Analyse seines Charakters abgesehen, weil eine solche ganz sicher außer¬
ordentlich lange gedauert hätte und er ja auch nichts anderes verlangt hatte,
als von seiner Perversion geheilt zu werden. Die tiefen Schichten seines
Unbewußten, wie z. B. infantile Geburtstheorien, blieben unberührt.
Soweit ich sehe, handelt es sich um einen Fall von latenter passiver
Homosexualität mit ausgesprochener masochistischer Tendenz; hinter letzterer
war ein starker, auf das schwesterliche, im Grunde genommen auf das mütter¬
liche Gesäß gerichteter Sadismus versteckt: weil er die Mutter und Schwester
nicht schlagen konnte, schlug er sich selbst im Kleide der Schwester.
Aus der Literatur über Transvestitismus ist mir nur das Werk von
Magnus Hirschfeld: „Die Transvestiten (Eine Untersuchung über den
erotischen Verkleidungstrieb)“ ^ bekannt. Während der von mir geschilderte
Fall deutliche Züge von passiver Homosexualität zeigte, betont Hirschfeld,
^ Erschienen bei Alfred Pulvermacher, Berlin, 1910.
Mitteilungen
503
daß es sich meist um Individuen handelt, welche homosexuelle Empfindungen
vollkommen leugnen. Zwischen dem Verkleidungstrieb und der Homosexualität
bestünden nur , . , Beziehungen. Aber dieser Trieb sei ein Symptom einer
selbständigen Varietät des Geschlechtslebens. Jedoch sagt St ekel in seiner
Besprechung! des Hirschfeldschen Werkes mit Recht: „...Ich glaube
aus dieser flüchtigen Umschau ergibt sich schon ein Material, das für Homo¬
sexualität spricht und zur genauen psychoanalytischen Durchforschung der
Fälle auffordert.“ Als Beleg für diese Ansicht bringe ich einen Auszug noch
aus einer Krankengeschichte aus Hirschfelds Buch:
„Von Haus aus vermögend, war er nach Paris gegangen, wo er alsbald als
jComtesse de Paradeda^ die Rolle einer sehr eleganten jungen Dame spielte. Er
gründete sich einen vornehmen Hausstand, hielt sich Dienerschaft, Equipage,
sah viele Gäste bei sich, ohne daß jemand sein wahres Geschlecht ahnte.
Da ereilte ihn sein Schicksal, indem er sich leidenschaftlich in einen schlichten
deutschen Lehrer verliebte. Dieser war von der gewinnenden, geistsprühenden
Art, vielleicht auch von dem Reichtum und der Liebe der Komtesse angezogen und
verlobte sich schließlich mit ihr. Als er nach seiner Heimatstadt zurückkehrte,
folgte sie (d. h. die angebliche ,Comtesse de P.‘) ihm .. . Ihre Leidenschaft
zu dem Lehrer nahm immer heftigere Formen an, sie ließ ihn nicht aus den
Augen, verfolgte ihn mit grenzenloser Eifersucht und drohte, sie würde ihn
töten, falls er das Verlöbnis lösen würde. Als er sich tatsächlich zurückzog,
versuchte sie mit Gewalt in seine Wohnung einzudringen.“ So viel über die
homosexuelle Triebkomponente der Transvestiten,
Der Sexualakt meines Patienten aus der Poliklinik bestand in einer
Verkleidung und in einem masochistischen Akt. Wenn ich die von Hirsch¬
feld beschriebenen siebzehn Fälle auf Masochismus hin ansehe, so findet sich
zunächst wenig, was ja nicht verwunderlich ist, da es sich fast ausschließlich
um oberflächliche Berichte von Patienten handelt, welche nur vom Gesichts¬
punkte der Verkleidungsneigung verfaßt worden sind. Immerhin findet sich
bei sorgfältiger Lektüre eine überraschend große Menge von masochistischen
Zügen bei den Fällen: I, II, III, IV, V, VI, XI, XII und XVII. Als Beispiel
bringe ich einen kurzen Auszug aus der Krankengeschichte des Falles II:
„Ich fand öfters Gelegenheit, heimlich Damenkleider anzulegen und
versuchte, mir die Ohrläppchen zu durchstechen. In meiner Einfalt ließ ich
aber den frischgestochenen Wundkanal immer wieder zuheilen; ich schärfte
mir daher die Haken der Ohrringe an und stieß mir solchergestalt die Ohr¬
läppchen immer wieder von neuem durch, was ich wohl einige hundertmal
getan haben muß. Weit entfernt, dies als Schmerz zu empfinden, verspürte
ich stets ein derartiges Wohlgefühl dabei, daß ich mir einzig deswegen die
Ohrläppchen durchstach, auch wenn ich keine Ohrringe zur Hand hatte“ . . .
„wobei es mir schmeichelte, wenn sie, d. h. die Mädchen, meine Ohrlöcher
bemerkten und mir manchmal ihre Ohrringe hineinhängten. Dies ist für mich
einer der höchsten Wollustmomente.“
1 „Zentralblatt“, I, 1/2. Diese Besprechung S t e k e 1 s ist, soweit mir bekannt, bis
jetzt die einzige Arbeit über diese Perrersion in der psychoanalytischen Literatur geblieben.
504
MitteiluDgen
Diese Zahl von masochistischen Zügen der nicht auf diesen Zug hin
befragten Patienten läßt mich zu der Annahme kommen, daß der Masochismus
ein sehr häufiger Zug der Transvestiten ist. Dafür spricht auch die ungemein
starke Schnürung der von Hirschfeld abgebildeten Transvestiten.
Was bedeutet nun Masochismus im Zusammenhang mit dieser Perversion?
Ich glaube, ich kann das am deutlichsten machen, wenn ich einige Masochisten
aus meiner Praxis schildere, bei welchen der Verkleidungstrieb nur wenig
oder gar nicht aüsgebildet ist:
Ein vierundzwanzigjähriger Patient war ausgesprochener Masochist, dem
Leben gegenüber vollkommen passiv, fühlte sich ununterbrochen durch alle
Menschen und Zustände „vergewaltigt“. Mehrere Versuche zu koitiefen bewiesen
ihm seina vollkommene Impotenz. Wenn er onanierte, stellte er sich vor einen
großen Spiegel und betrachtete seine rechte Wange mit verschiedenen Phantasien,
in denen er sich als Mädchen fühlte; von diesen gebe ich folgende an:
„Ich bin ein hübsches junges Mädchen und werde von einem jungen
Leutnant in Uniform mit den Knien festgehalten und mit den Armen um¬
schlungen, so daß ich mich nicht rühren kann und in Intervallen auf die Wange
geküßt.“
Er bedurfte also des komplizierten Verkleidungsapparates’ nicht, um sich
in die Rolle eines Mädchens, das von einem Manne vergewaltigt wird, hinein¬
zuträumen. Zu Beginn der Analyse war seine „früheste“ Kindheitserinnerung
aus dem Alter von ungefähr sechs Jahren: er betritt am Morgen das Schlaf¬
zimmer der Eltern in der Weise, daß sein Vater zuerst seine rechte Wange
erblicken kann; der Vater lächelt und sagte, „der Max hat heute aber
frische Wangen!“ Patient fühlte sich furchtbar beschämt und faßte den
Ausspruch des Vaters in der Erinnerung als „Vergewaltigung“ auf. Die Analyse
ergab, daß er seine Wangen unbewußt mit einem weiblichen Genitale verglichen
und das Lächeln des Vaters als begehrlich und lüstern aufgefaßt hatte; weiter¬
hin, daß er ursprünglich die Mutter zärtlich geliebt, den Vater stark gehaßt
hatte. Weil er später den Kampf mit dem Vater um die Mutter nicht mehr aufrecht¬
erhalten konnte, hatte er sich in eine passiv-homosexuelle und zugleich feminine
Einstellung dem Vater gegenüber zurückgezogen, in welcher Vergewaltigungs¬
phantasien eine große Rolle spielten. Eines Tages erzählte er mir folgendes:
„Wenn ich ein hübsches Mädchen in Begleitung eines anderen Mannes sehe,
begehre ich es besonders intensiv; da ich nicht imstande bin, es dem Manne
abspenstig es zu machen, tritt in solchen Fällen bei mir der starke Wunsch
auf, mit der Phantasie zu onanieren, daß ich dieses Mädchen bin, welches von
dem Begleiter vergewaltigt wird.“ Es ist wahrscheinlich, daß die Phantasie,
vom Vater vergewaltigt zu werden, auf dieselbe Weise zustande gekommen ist.
Ein anderer, ausgesprochen passiv-homosexuell empfindender Patient
schildert mir seine jahrelang ausgeübte masochistische Betätigung folgender¬
maßen: „Ich lege mich auf das Bett (gewöhnlich das Bett der Mutter), entblöße
das Gesäß bis auf das Hemd und schlage mit der flachen Hand oder einem
Gegenstände, z. B. einer Bürste darauf, — immer spielen neue Eindrücke eine
Rolle, ich fühle an meinen Gesäßteilen die Gesäßteile eines polnischen Mädchens
(die Mutter stammte aus Polen), dann hebe ich das Hemd, etwa wie einen
Mitteilungen
505
*
Frauenrock, hoch; — schlage wieder, bemühe mich, auf das Gesäß zurück¬
zuschauen, ob es rot ist, berühre es mit den Händen; besonders gefällt es mir
wenn meine Haut glatt ist; zuweilen legte ich mich über einen Stuhl oder
vor einen Spiegel, um die rote Färbung (welche ihn in späteren Einfällen an
das weibliche Genitale erinnerte) besser zu sehen; bemühe mich, diesen Akt
zu verlängern; schließlich schlage ich noch einigemal stärker. Ich empfinde
Vergnügen und Schmerz zugleich; es erfolgt ein Samenausfluß.“
Nach einer mehrtägigen Pause in der Analyse teilte er mir mit, daß er
sich schriftlich zu analysieren versucht hatte; aus dem mitgebrachten Schrift¬
stück teile ich folgende Bruchstücke mit:
„Teufel, ich will, daß man mich peitscht, die S . . » (eine Polin; ich
erwähnte schon, daß die Mutter aus Polen stammt) peitscht mich, sie befiehlt
unbarmherzig; ,Lege dich hin, laß die Hosen herunterI‘ und peitscht mich; ich
habe eine Erektion, aber ich hatte noch etwas anderes; jenes Weib schlagen?
Die Schwarze? so daß mir das Gesäß zu schmerzen anfange und ich jeden
Hieb so spüre, daß mein Gesäß mir schmerzte, die S . . . will ich auch
peitschen, aber nicht so, Mutter. . . Über die S . . . will ich nicht grübeln,
sie hatte im Traum (von der vergangenen Nacht) eine Bluse an, in tiefem
Dekollete, mit breiter, etwas rötlicher Brust, es schien eine Mannesbrust zu
sein, etwa die eines Matrosen (Erinnerungen an Bordelle seiner Vaterstadt
besuchende Matrosen spielten eine große Rolle bei ihm, hier erscheint die
Mutter als Mann); auf den Schultern eine kleine Warze, wie bei meiner
Mutter. Der Kleidung nach zu urteilen, eine Hure: ihr Gesicht ähnelt dem
meiner Mutter; ich will sie küssen, sie gefällt mir uiid doch will ich nicht,
heiraten, küssen, peitschen, sie mich, ich sie, die Photographie der Mutter hat
auch diese zerwühlten Haare. . . Sie auf die Knie legen und daß sie so stehen
und bitten soll, daß das Vergnügen länger dauert, — ich habe eine Erektion;
eins, ein roter Striemen, zwei, sie schreit, ich schlage, — ein roter Strich
noch, noch, das drittemal (die Erektion steigert sich) mit der Peitsche stärker,
das Gesäß ist rot, sie windet sich, will herunter (eine Polin), ich halte sie,
peitsche, schlage mit den Fäusten, den Stiefeln, küsse die Schultern, peitsche
ad Infinitum auch die Seitenpartien, sie umdrehen und koitieren, wo ist die
Vagina? Diese Frau bin ich. Ich habe weibliche Züge.“
Aus diesen Phantasien geht deutlich hervor, daß der Patient neben
seinem Masochismus sehr starke sadistische Tendenzen hatte, daß diese
sadistischen Tendenzen sich gegen die Mutter richteten, und daß die Mutter
dazwischen in den Phantasien männliche Züge trug. Diese Phantasie ergänzte
er nach einiger Zeit durch folgenden Einfall: „Zuweilen taucht in mir der
Wunsch auf, das Gesäß einer Frau mit beiden Händen fest anzupacken; da
ich mir diesen Wunsch nicht erfüllen kann, packe ich mich mit beiden Händen
am eigenen Gesäß.“ Die weitere Analyse zeigte, daß es ihm unmöglich gewesen
war, an die Existenz einer Vagina zu glauben, daß er sich infolgedessen einen
Verkehr nur als coitus per anum vorgestellt hatte, daß das Schlagen auf das
Gesäß den Koitus in der Phantasie ersetzen mußte; weiter, daß er ursprünglich
die Tendenz gehabt hatte, die Mutter auf das Gesäß zu schlagen;-in seiner zu
Beginn der Analyse bewußten „frühesten“ Kindheitserinnerung steht er
506
Mitteilungen
zusammen mit seiner Mutter nackt im Bade und versetzt ihr einen leichten
Schlag auf das Gesäß,-daß dieser Wunsch sich in den Wunsch verwandelt
hatte, sich von der Mutter oder einer Ersatzperson derselben auf das eigene
Gesäß schlagen zu lassen und daß er, da dieser letztere Wunsch von niemandem
wie früher von den Mägden in seiner Kindheit, ausgeführt werden konnte,
begonnen hatte, sich selbst auf das Gesäß zu schlagen, wobei er schlagende
und geschlagene Person vereinigte.
Ich will versuchen, das Problem des Masochismus an einem weiblichen
Fall zu beleuchten: eine ausgesprochen homosexuelle Frau kneift sich beim
masturbatorischen Akt mit den Fingernägeln in die Schamlippen oder kratzt
sich dieselben wund, und durchlebt dabei die Erinnerung an zwei Szenen, in
denen sie als acht bis zehnjähriges Mädchen von ihrer Mutter mit einem Stock
auf das entblößte Gesäß geschlagen worden ist. Bis zur Analyse und nach längerer
Zeit derselben ging sie jeden Morgen in das Schlafzimmer, in dem die Mutter
mit einem erwachsenen Bruder schlief, legte sich zur Mutter ins Bett und
begann sie zu liebkosen. In der Analyse erkannte sie in dem Stock den im
Unbewußten mit außerordentlicher Zähigkeit festgehaltenen Penis der Mutter,
in der Züchtigung einen homosexuellen Akt, Hinter dem Interesse für die
Mutter verbarg sich das Interesse für den verachteten Vater. Mit der fort¬
schreitenden Analyse verwandelten sich ihre Masturbationsphantasien auf dem
Umwege über andere Phantasien allmählich in die Phantasie von mir (dem
Vaterersatz), koitiert zu werden, d. h. ihre Phantasie zu Beginn der Analyse
war von einer Phantasie ausgegangen, welche den inzestuösen Verkehr mit
dem andersgeschlechtlichen Elternteil zum Inhalt gehabt hatte.
Nach dieser Abschweifung auf das Gebiet des bei den Transvestiten eine
große Rolle spielenden Masochismus kehre ich zu meinem Ausgangspunkt
zurück und schildere noch einen Patienten mit ausgesprochener, jahrelang
betätigter Verkleidungsneigung.
Derselbe hatte im Alter von fast vierzig Jahren noch nie den Koitus aus¬
geübt. Er schildert mir den mit einer Erektion begleiteten, vor einem Spiegel vor¬
genommenen Akt seiner Verkleidung in der Weise, daß das Anlegen des Korsetts,
das Schließen aller Haken desselben, das Anlegen der engen Strumpfbänder,
das Schließen aller Druckknöpfe, Haken und Knöpfe ihn besonders interessierten
und erregten.
Zu Beginn der Analyse war seine frühere bewußte Erinnerung folgende:
„Eines Abends, als die Eltern weggegangen waren, bat ich das Dienstmädchen,
mir eines ihrer Kleider anzuziehen. Sie ging darauf ein und steckte mich in
ein Kleid aus dunkelblauem bedruckten Kattun; das Kleid hatte eine lange
Reihe Perlmutterknöpfe. Ich hatte ein wohliges Gefühl darin, wenn ich nicht irre,
cum erectione. Dann bat ich sie, mich doch als unartiges Mädchen zu behandeln
und in podicem mit der flachen Hand schlagen zu wollen. Auch das löste
wollüstige Gefühle aus.“
Wir sehen: hier ist die erste bewußt erinnerte Verkleidung schon mit
einem masochistischen Akt verbunden gewesen. (Seine Mutter hatte ihm später
von sadistischen Akten gegen andere Kinder erzählt, welche sich viel früher
als jene Verkleidungsszene abgespielt haben sollen.) Auch er hatte eine große
Mitteilungen
507
Reihe von Phantasien gehabt, in denen er von Frauen schlecht behandelt,
vergewaltigt wurde, von denen ich eine bringe:
„Ich selbst muß dauernd als Magd verkleidet auf einem Gut niedere
Dienste leisten, in einem schlechten Zimmer wohnen, werde von den anderen
Mägden und insbesondere von der Gutsherrin dauernd gedemütigt und schlecht
behandelt.“ Andererseits zeigte er ausgesprochene sadistische Züge in seinen
Phantasien.
Eine interessante Einzelheit aus seinem Leben ist wohl die Tatsache,
daß er die erste gute Verkleidung in reiferem Alter mit der Erlaubnis und
mit der Hilfe seiner Frau (also eines Mutterersatzes) vorgenommen hatte, daß
ihm seine Frau zu den Garderobe- und Schmuckstücken hatte verhelfen müssen.
Nach mehrmonatiger Analyse berichtete er mir von folgendem Erlebnis:
Vor einiger Zeit war ich mit meiner Frau in einem Hutladen, wobei mir ein
bestimmter Hut auffiel; einige Tage später sah ich auf der Straße ein junges
Mädchen, das meines Erachtens in dem Hut gut ausgesehen hätte; dazu suchte ich
mir eine bestimmte Handbewegung vorzustellen; nachdem ich einige Zeitlang
versucht hatte, mir die Vereinigung von Mädchen und Hut und Geste vor¬
zustellen, sagte ich mir: „Diese Vereinigung findest du ja in Wirklichkeit doch
nicht“ und empfand den Wunsch, selbst dieses Mädchen mit der Geste und
dem Hut darzustellen. Da ihm das von ihm begehrte weibliche Wesen in der
Realität unerreichbar zu sein schien, entstand in ihm der Wunsch, selbst dieses
Mädchen darzustellen. Wir wissen ja aus zahlreichen Analysen, daß die eigene
Mutter die ewig unerreichbare Frau ist.
Aus seiner Analyse teile ich folgenden Traum mit: „Auf einer hölzernen
Brücke, die über einen dunklen Abgrund von erheblicher Tiefe führt, sitze
oder kauere ich. Die Kleidung besteht aus einem weiten weiblichen Gewand
von unbestimmtem Schnitt. Die Farbe ist hell, die Bekleidung des Ober¬
körpers ist etwa aus einem weißen, hellvioletten gestreiften Stoff, wie er vor
Jahren für die Hemdblusen der Damen viel verwendet wurde. Von mir
ausgehend, strömt ein heller, ziemlich breiter durchsichtiger Strahl einer
Flüssigkeit in die Tiefe der Schlucht hinab: ein starkes Wohlgefühl ist
spürbar.* Dazu hatte er folgende Assoziation: „Der Stoff des Gewandes,
namentlich des Oberteiles erinnert mich an einen Stoff, den meine Mutter
vor einer Reihe von Jahren zu einer Bluse verwendet hatte.“ Es scheint also
klar zu sein, daß mein Patient in diesem Traume die eigene Mutter darstellt,
welche nach Art der Männer in einem weiten Bogen uriniert.
Zum Schluß noch folgende Mitteilung eines latent passiv-homosexuellen
(und impotenten) jüngeren Mannes: „Seit meinem zwölften Jahr, vielleicht
auch schon erheblich früher, interessierte mich das Korsett meiner Mutter;
es bereitete mir ein Vergnügen zuzusehen, wie sie sich einschnürte. Zu dieser
Zeit nahm mich meine Mutter noch in ihr Bett. Ich beschäftigte mich, während
ich bei ihr lag, mit ihrem Körper, den ich in der Hüftgegend drückte, wobei
ich mich heftig erregte, während ich ihre Brüste nicht berühren durfte.
Später, als ich zu meinem Bedauern nicht mehr von meiner Mutter in ihr
Bett genommen wurde, machte ich das gleiche Experiment bei mir selbst,
d. h* ich schnürte mich mit einem Gürtel ein und drückte meinen Leib
508
Mitteilungen
möglichst mit gefüllter Blase und hatte dabei ähnliche Lustempfindungen
wie bei der Mutter, wobei ich das Glied zwischen den Oberschenkeln preßte.“
— Wir sehen hier deutlich, wie infolge des Verbotes der sadistischen Betätigung
am Körper der Mutter ein masturbatorischer Akt entstanden ist, welcher aus
einer Mutterdarstellung (Gürtel-Korsett) und einer masochistischen Betätigung
am eigenen Körper, bezw. sadistischen an der Mutterdarstellung besteht. —
Auf dem Wege über die Verkleidung findet der unbewußte Wunsch nach dem
inzestuösen Verkehr mit der Mutter seine Erfüllung.
Wenn ich nun das ganze, etwas weitläufige Material überblicke, so
komme ich zu folgenden Schlußfolgerungen.
Es handelt sich bei den Transvestiten, soweit ich diese Erscheinung bei
Männern studieren konnte, vorzugsweise um passiv-homosexuelB empfindende
Männer mit starkem masochistischen Einschlag. Sie identifizieren sich bei den
Verkleidungen mit den Frauen, bezw. der Frau, auf welche sich in ihrem
Leben die ersten Wünsche gerichtet haben, d. h. mit der Mutter; in ihrem
Leben hat die analsadistische Entwicklungsstufe eine große Rolle gespielt;
ihre Wünsche in bezug auf die Mutter scheinen sich in sadistischer Weise auf
das Gesäß derselben gerichtet zu haben; eine genitale Organisationsstufe
haben sie fast gar nicht oder nur in geringem Maße erreicht; in ihren
sexuellen, auf die Mutter gerichteten Forschungen, haben sie in bezug auf
den Bau des Genitales derselben keine Klarheit erreicht, bezw. sind über die
kindliche Annahme, daß die Mutter auch einen Penis habe, nicht hinaus¬
gekommen; infolgedessen stellen sie in ihren Verkleidungen die Mutter mit
einem Penis versehen dar. Da sie die sadistischen, auf die Mutter gerichteten
Triebe nicht haben ausleben können, ist bei ihnen der Wunsch entstanden,
von Seite der Mutter, natürlich von Seite der Mutter mit einem Penis
oder von einem Ersatz derselben, ausgehende Quälereien über sich ergehen
zu lassen. Es scheint, wie wenn es dem Transvestiten erst in seiner Verkleidung
möglich wäre, den masochistischen Akt über sich ergehen zu lassen.
Bestimmend für diese Erscheinung könnte die Tatsache sein, daß der Knabe
die ersten Züchtigungen der Mutter in einem Mädchenkleide erhält. Aber
wesentlicher scheint mir folgender Vorgang zu sein.
Die erste Lust- und schmerzvolle Züchtigung erhält das Kind in frühestem
Alter anläßlich seiner Erziehung zur Sauberkeit bei seiner analen Betätigung;
in diesem frühen Alter überwiegt das anale Empfindungsleben. Die Züchtigung
auf das Gesäß, meist durch die Mutter oder einen Mutterersatz, ist somit das
erste sexuelle Erlebnis mit der Mutter. Die Fixierung an dieses erste Sexual¬
erlebnis begünstigt später eine Umkehrung vom Erdulden sadistischer
Züchtigung von Seite der Mutter in masochistisches Selbstzüchtigen in
Mutterverkleidung. Der erste bewußte Wunsch, die Mutter auch züchtigen zu
dürfen (Züchtigung-Sexualakt), ist dem Transvestiten in Erfüllung gegangen;
in seiner Verkleidung ist er Mutter und Ich zugleich; schlägt die Mutter und
wird zugleich von der Mutter geschlagen; folglich durchbricht er
1 Ich spreche hier von latenter Homosexualität; wie sich das Problem bei bewußter
Homosexualität darstellt, will ich in diesem Aufsatz nicht untersuchen.
Mitteilungen
509
immer wieder die Inzestschranke, indem er durch das Züchtigen
der Mutter das erste sexuelle Erlebnis der Kindheit wiederholt.
Daß bei dem Verweilen auf der anal-sadistischen Stufe der Ödipus¬
komplex und der Kastrationskomplex eine große Rolle spielen, ist selbst¬
verständlich; von einer Darstellung dieser Zusammenhänge habe ich absichtlich
abgesehen; auch habe ich andere Erscheinungen, welche selbstverständlich
bei den Transvestiten eine große Bedeutung haben, wie Narzißmus, aktiver
und passiver Schautrieb und Fetischismus, absichtlich vollkommen vernach¬
lässigt um das, was ich sagen wollte, nicht zu komplizieren und um eine
Teilerscheinung des Transvestitismus dafür um so deutlicher herausarbeiten
zu können.
Zur Lehre vom PersBnlichkeitsbewußtsein.
Von Paul Schilder.
Der etwa 24jährige Patient steht wegen Schlaflosigkeit und wegen der
Unfähigkeit zu regelrechter Tätigkeit in psychoanalytischer Behandlung. Er
berichtet, daß er zur Zeit, als er die ersten Volksschulklassen besuchte, zwischen
den nebeneinanderstehenden Betten der Eltern schlief. Der Vater kam zur Mutter
und küßte sie. Der Patient hat auch den Geschlechtsverkehr der Eltern, von dem
er allerdings keinen klaren Begriff hatte, beobachtet. Er kam sich hiebei wie
unwirklich vor, als wenn er gar nicht er selbst wäre. Vater und Mutter erschienen
ihm in einem anderen Lichte. Auch später hat er das „Ichbewußtsein“^ zeit¬
weise verloren. Er erinnert sich, daß er noch in der Volksschule die Vorstellung
entwickelte, alle Menschen bildeten einen Körper. Dies drängte sich ihm auf
wenn er sein „Ichbewußtsein“ verlor. Gleichzeitig kam aber der Gedanke, es
mache gar nichts, wenn er auf den Kopf geschlagen werde, da er ja gar nicht
er selbst sei.
Dieser Bericht des Patienten erfolgt an einem Tage, an dem er sich heftig
über den Vater beklagte und Angst vor einer Kopfverletzung äußerte, welche
ihn geisteskrank machen könne. Gleichzeitig waren Gedanken aufgestiegen, der
Analytiker sei gegen ihn zu ablehnend. Er möchte dessen Frau verführen und
der Analytiker könne ihn (Götz von Berlichingen).
Man muß annehmen, daß der Patient die Störung des Persönlichkeits¬
bewußtseins deshalb erlitt, weil er lebhaft gegen die Zuschauerrolle, welche ihm
die Eltern aufnötigten, protestierte. Bemerkenswert ist aber, daß er, das »Ich¬
bewußtsein“ verlierend, an dem Erleben der Eltern teilhat. Alle Menschen bilden
ja einen Körper. Er identifiziert sich mit dem Vater — die Identifizierungstendenz
mit dem Vater trat im Laufe der Behandlung eindringlich hervor — und wir
dürfen den Gedanken, er wolle die Frau des Analytikers verführen, als unmittel¬
baren Abkömmling dieser Tendenz betrachten. Durch diese Identifizierung
entgeht er gleichzeitig der Kastrationsgefahr. Denn hinter der Furcht, durch
einen Schlag auf den Kopf den Verstand zu verlieren, war leicht Furcht vor
der Kastration nachzuweisen, welche sich übrigens ganz unverhohlen in einer
1 So der Ausdruck des Patienten.
510
Mitteilungen
Reihe von Träumen äußerte und sich auch in einer durch nichts begründeten
Angst vor dem Erblinden darstellte.
Wahrscheinlich ist aber in jenem Momente eine passiv feminine Ein¬
stellung wach gewesen, welche sich ja gut verträgt mit der Kastrationsangst.
Der Patient beklagte sich ja auch, der Analytiker sei ihm gegenüber zu
ablehnend. Er benahm sich diesem gegenüber wie eine verschämte Frau und
zeigte auch sonst Anzeichen einer Identifizierung mit der Mutter. So gewinnt
der Patient durch den Verlust seines Persönlichkeitsbewußtseins die Möglichkeit,
sich mit Vater und Mutter zu identifizieren und der Kastration zu entgehen.
So findet die sexuelle Erregung eine Ersatzbefriedigung, die sexuelle Erregung,
die der Gesamtpersönlichkeit widerstreitet und ein volles Persönlichkeitserleben
unmöglich macht.
Der Patient war ständig mit sich unzufrieden, er beobachtet sich fort¬
während, ob er auch etwas leiste. Er schwankte zwischen herber Selbstkritik
und maßloser Selbstüberschätzung. Er verlangte vom Analytiker immer wieder
Urteile über seine Fähigkeiten. Er führte seine Krankheit zum Teil darauf
zurück, daß sein Vater von ihm wenig gehalten hätte. Er habe ihm seine
Überlegenheit ständig zu fühlen gegeben. Er vergleicht sich ständig mit seinem
Vater und mißt sich an ihm und am Analytiker. Wenn der Patient schläft, hat
er nun ständig das Gefühl, daß er sich selber anstarre und sein Gesicht vor
sich habe. Dieses Gefühl hat er manchmal auch tagsüber, er sieht dann geradezu
sein verzerrtes Gesicht vor sich. Er lokalisiert hiebei sein Ich bald in das
anstarrende, bald in das angestarrte Gesicht. Von diesem Erlebnis hat er
im Anschluß an einem Traum berichtet, der den Kampf zweier Könige zum
Inhalt hatte. Er selbst war im Gefolge des einen.
Die scheinbare Ichverdoppelung im Schlafe beruht also auf der Selbst¬
beobachtung eines Menschen, welcher von sich selbst nicht befriedigt ist. Daß
die selbstbeobachtende Instanz Abbild des Vaters ist, ist in diesem Falle ebenso
unmittelbar feststellbar, wie daß sie Abbild des Analytikers ist. Der Kampf der
zwei Könige ist sein Kampf gegen den Vater und gegen den Analytiker, mit
denen er sich ständig mißt, mit denen er sich andernteils identifiziert. Die
Schlaflosigkeit, die ihn, wie er glaubt, verdummt, unfähig macht, erscheint
wiederum als das Resultat des Kampfes zwischen ihm und dem Vater, sie
hängt andernteils auf das engste zusammen mit einer sexuellen Abstinenz,
welche sich der Patient zum Teil deswegen auferlegt, weil er sein Genitale
für zu klein hält.
Hier steht jene häufige Erscheinung, man beobachte sich selber im Halb¬
schlafe und stehe vor sich im Zusammenhänge mit einer Selbstbeobachtungs¬
tendenz, welche sich auf das Verhältnis zum Vater zurückführen läßt und letzten
Endes das Ichideal, des Überich vertritt.
Vermerken wir, daß der Patient darüber klagt, seine Vorstellungen hätten
an Farbigkeit und sinnlicher Lebhaftigkeit verloren; hierin ist er den Depersonali-
sierten ähnlich. Auch in diesem Symptom verneinte er sein Erleben und es ist
erwähnenswert, daß er selbst der Onanie und der Schlaflosigkeit an dieser
Veränderung schuld gibt. Wir erkennen, daß die Ersatzbefriedigung im
Kastrationskomplex ihm die volle Zuwendung zu der Außenwelt verwehrt.
Mitteilungen
511
Experimentelle Wiederholung der infantilen Schlafsituation zur
Förderung analytischer Traumdeutung.
Beitrag zur aktiven Therapie.
Von Dr. E. Hitschmann.
Vor vielen Jahren fiel mir an einem eigenen Traume auf, daß derselbe
auf infantiles Material, den Bruder betreffend, regredierte, als wir, aufs Land
gezogen, seit langen Jahren wieder zum erstenmal in einem Zimmer schliefen.
Analoges konstatierte ich bei einer verheirateten Hysterika, die mit ihrer
Mutter in einem Erholungsheim wieder wie einst das Schlaf¬
zimmer teilend, zum erstenmal in der Kur einen Traum träumte, der
infantiles Material — orale Erotik im Zusammenhang mit der Mutter — bestätigte.
Die Kranke litt an hysterischen Übelkeiten und Angst vor Erbrechen, wenn sie
mit geliebten Männern zusammenkam. Als Mädchen hatte sie erfahren, daß der
frühere Liebhaber der Mutter sich von seiner neuen Geliebten Fellatio machen
lasse. Aus ihrer eigenen Kleinkinderzeit wurde erzählt, sie hätte einmal ihre
Mutter so leidenschaftlich und andauernd auf den Mund geküßt, daß man sie
gewaltsam abwehren mußte.
Der Traum lautet: „Ich liege zu Bett, die Mutter leckt mein Hemd innen
unten ab. Ich bin verwundert und frage mich befremdet, wieso man so etwas
tue. Die Mutter erklärt, so etwas könne schon Vorkommen, ich sei nur eine
schwache Frau. Ich sah dann einen bekannten jungen Mann, der dem seiner-
zeitigen Freund der Mutter ähnlich ist und der zugesehen hatte, schmatzend
ein Butterbrot essen; ich wußte auch, daß die Mutter mit Appetit mitesse
und war erstaunt, daß die beiden nach ,so etwas‘ mit solchem Appetit essen
konnten.“
In einem weiteren Falle, bei einem impotenten Manne, erschien die
homosexuelle (in der Kindheit wenigstens mit einem Kollegen effektive)
Beziehung zum jüngeren Bruder, in Träumen, die geträumt wurden, als die
beiden Brüder — durch geänderte Wohnungseinteilung nach dem Tode der
Großmutter durch kurze Zeit ausnahmsweise wieder in einem
Zimmer schliefen. Ein besonders charakteristischer, die Homosexualität durch
„Umkehrung“ anzeigender Traum lautet: '
„Ich lag mit meinem 25 jährigen Bruder, der aber im Traum als kleiner
Knabe erschien, Bett an Bett. Auf einmal war sein Bett fort, er hing kopf-
abwärts an meinem. Ich fuhr auf dem Boden knieend, mit meinem Gliede an
seinem Mund hin und her. Er verwies mich, ich würde ihn aufkratzen.“
Sollten sich ähnliche Beobachtungen mehren, so könnte die Technik
der psychoanalytischen Therapie das experimentelle Zusammen¬
schlafenlassen als aktiven Eingriff aufnehmen, der ein erleichtertes
Regredieren auf Infantiles bedingen soll.
Daß ein im selben Zimmer oder Bett an Bett Schlafen zu sexuellen
Betätigungen, Versuchungen oder doch Phantasien Anlaß gibt, ist genugsam
bekannt. Es handelt sich also hier um „Träume von oben“ (Freud), in denen
es durch Reminiszenzen verdichteten Tageseindrücken gelingt, Verdrängtes
aus der gleichen Vorzeit zu mobilisieren. '
512
Mitteilungen
Bemerkungen zu Hermann Rorschachs „Psychodiagnostik“.
Von Ludwig Binswanger.
Mit dem im vergangenen Jahr allzufrüh verstorbenen Hermann R o rschach
hat die jüngere Schweizer Psychiatergeneration ihren schöpferischsten
Kopf verloren. Nach mehrfachen Versuchen auf psychoanalytischem Gebiet
(vgl. Zentralblatt f. Psa. II—IV) und ausgezeichneten Untersuchungen über
die Psychologie, Ethnographie und Geschichte der religiösen Sektenbildung in
der Schweiz (vgl. Schweiz. Archiv f. Neurol. und Psych. und 56. Protokoll
des Vereines Schweiz. Irrenärzte) hat er in seinem zu einer selbständigen
Psychodiagnostik ausgebildeten „Formdeutversuch“ (1921) das eigentliche Feld
gefunden, auf welchem er seine ausgesprochene naturwissenschaftliche
Experimentierkunst, sein geniales Menschenverständnis, seine glänzende psycho¬
logische Dialektik und seinen scharfen logischen Verstand gleichermaßen
betätigen konnte. Obwohl in dieser Zeitschrift bereits ein kurzes Referat über
seine „Psychodiagnostik“ erschienen ist (VIII, 1922, S. 362), erscheint es der
Bedeutung dieser Arbeit angemessen, noch einmal auf sie und ihren Autor
zurückzukommen. Zugleich sei auf zwei weitere Arbeiten zum selben Thema
hingewiesen, nämlich auf die unter Rorschachs Leitung entstandene
Dissertation von Behn-Eschenburg (Psychische Schüler Untersuchungen
mit dem Formdeutversuch, Zürich, 1921), worin die früheren Ergebnisse
glänzend bestätigt und erweitert werden, und auf das kürzlich von Ober¬
holzer in der Bleuler-Festschrift (Zeitschr. f. d. ges. Neurol. u.Psychiatr., 82,
S. 240) veröffentlichte Manuskript eines Vortrages, welchen Rorschach
wenige Wochen vor seinem Tode in der Schweizerischen Gesellschaft für
Psychoanalyse gehalten hat. Der Vortrag, betitelt „zur Auswertung des Form¬
deutversuches für die Psychoanalyse“, enthält die eingehenden Protokolle und
deren Auswertung in einem von Oberholzer analysierten, Rorschach
selbst völlig unbekannten Fall von schwerer Neurose. Die von Rorschach
auf Grund des Psychogrammes gestellte „Blinddiagnose“ hat die Persönlichkeit
des Patienten nach Oberholzers eigenem Eingeständnis so treffend
charakterisiert, wie es dem Analysator nach mehrmonatiger Analyse nicht
besser hätte gelingen können \ Dieser Vortrag bildet eine sehr wichtige
praktische Ergänzung und Illustrierung der „Psychodiagnostik“ und läßt
Rorschachs Kunst, aus dem zahlenmäßigen Verhältnis der mannigfachen
Faktoren des Versuches ein bis ins kleinste Detail ausgefülltes Bild der
Versuchsperson zu gestalten, im hellsten Licht erscheinen.
Es ist ein hoher wissenschaftlicher Genuß, an Hand der „Psycho¬
diagnostik“ und des erwähnten Vortrages Schritt für Schritt zu verfolgen, wie
sich unter dem geistigen Auge Rorschachs ein zunächst rein spielerisch
anmutendes Experiment — das Deutenlassen von zufällig entstandenen,
symmetrischen, teils mehrfarbigen Tintenklecksfiguren — zu einem äußerst
subtilen wissenschaftlichen Instrument herausbildet, das die geheimsten Seiten
der menschlichen Persönlichkeit ans Licht zu fördern und Problem über
Problem aufzuwerfen und näher zu beleuchten vermag. Die experimentelle
Psychologie, insbesondere die Psychologie der Gestaltwahrnehmung, die psycho-
Mitteilungen
513
logische Typenforschung und Konstitutionspsychologie, die Psychoanalyse und
Psychiatrie, die allgemeine Psychologie und Methodologie, vor allem auch die
„Psychologie der Person“, sie alle sind irgendwie an diesem Experiment
interessiert.
Nichts verr«ät die schöpferische Natur eines Forschers mehr, als Wenn
es ihm gelingt, mit einfachen Mitteln komplizierte Zusammenhänge auf¬
zudecken und neue Probleme zu erschließen. Rorschach war eine solche
Natur. Nicht nur einfach, geradezu primitiv ist das Rüstzeug, mit dem er
experimentiert und mit dem er die Resultate denkend verarbeitet. Ein paar
grobe assoziationspsychologische und mechanistisch-materialistische Begriffe
und Schemata dienen ihm zur Grundlage für sein ganzes Gebäude. Keine
Anregung und Anleitung von außen, keine Literaturkenntnis steht ihm zur
Verfügung. Dafür ist aber sein ganzes Werk gekennzeichnet durch eine eiserne
Konsequenz im Festhalten und Weiter verarbeiten des einmal Erreichten und
durch eine dauernde strenge Rückbeziehung desselben auf die durch das
Experiment sowohl als durch das Leben gewonnene Erfahrung. Rorschach
verliert sich nie in den Wolken, er bleibt der anschaulichen Wirklichkeit
immer auf den Fersen. Diese Wirklichkeit aber, das ist die menschliche
Person, deren Kenntnis ihm wie wenigen zur Verfügung stand, und in
deren Wesen sich einfühlen zu können, ihm wie wenigen vergönnt war.
Wo andere nur Zahlen und „Symptome“ sehen, da standen ihm sofort
innere seelische Beziehungen und Zusammenhänge vor Augen. Schopen¬
hauer hat einmal gesagt, „wo das Rechnen anfängt, hört das Verstehen
auf; Rorschach hat immer noch verstanden, wo andere nur zu rechnen
vermögen.
Rorschach hat uns sein Experiment hinsichtlich seiner wissen¬
schaftlichen Darstellung und Durcharbeitung in einer Form hinterlassen, die
nicht zum wenigsten er selbst als unbefriedigend empfunden hat. Er gab die
Unvollkommenheiten und Einseitigkeiten insbesondere seiner theoretischen
Auffassungen gerne zu; denn auch das nötige Maß von Selbstkritik, das den
echten Forscher auszeichnet, besaß er in hohem Grade. Nicht einmal darüber
besteht Klarheit: o b es sich bei dem Versuch tatsächlich um
ein „wahrnehmungsdiagnostisches“ Experiment handelt,
wie Rorschach glaubt, insbesondere dann, wenn man seinen eigenen
Wahrnehmungsbegriff („Angleichung vorhandener Engramme an rezente
Empfindungskomplexe“) zugrunde legt. Ganz abgesehen davon, daß es sich
hier vielmehr um eine (materialistische) Theorie der Wahrnehmung, statt
um ihren Begriff handelt, weist schon die zur Versuchsanordnung
gehörende Frage: Was könnte das sein? darauf hin, daß es sich vielmehr
um die Prüfung der (optischen und kinästhetischen) Phantasie oder Imagination
handelt, als um diejenige der Wahrnehmung. Und hier müßte wieder unter¬
schieden werden, was Rorschach, der sich mit der modernen Psychologie
zu seinem Leidwesen noch nicht hatte vertraut machen können, nicht tat,
zwischen der Prüfung der sinnlichen (das heißt der Empfindungs-und
Vorstellungs-) Inhalte oder Bilder einerseits, und der Prüfung der (wahr¬
nehmenden, auffassenden, apperizipierenden und vergleichenden) seelischen
514
Mitteilungen
Akte andererseits. Indem er von Anfang an auch die Deutung der Klecks¬
figuren mit in Betracht zieht, hatRorschach zwar anerkannt, daß hier auch
ein über die schlichte Wahrnehmung hinausweisendes Moment vorkommt;
aber auf Grund einer kaum haltbaren Definition, welche zugleich phänomeno¬
logische, psychogenetische und hirnphysiologische Merkmale enthält, stellt er
Deutung und Wahrnehmung völlig auf eine Stufe (Deutung der Zufalls¬
figuren = Wahrnehmung, bei der die Angleichungsarbeit zwischen Empfindungs¬
komplex und Engramm so groß ist, daß sie intrapsychisch eben als
Angleichungsarbeit wahrgenommen wird). Dadurch wird sowohl der Unter¬
schied zwischen wirklich gesehenen und bloß vorgestellten Inhalten
einerseits und zwischen wahrnehmenden und imaginativen Akten andererseits
verwischt. Desgleichen werden in dem Begriff der „Angleichungsarbeit**
sowohl die Weisen des Beziehens und Vergleichens, also einer Gattung
seelischer Akte, als auch die durch den Vollzug dieser Akte aufgewendete
psychische Energie, als auch die durch diesen Energie Verlust empfundene
Anstrengung miteinander vermengt. Eine dem heutigen Stand der Psychologie
entsprechende wissenschaftliche Darstellung des Experiments müßte alle
diese Unterscheidungen und Äquivokationen berücksichtigen. Erst dann könnte
die „Theorie des Versuches“, wie Rorschach sich ausdrückt, in Angriff
genommen werden. Es muß jedoch schon hier betont werden, daß die
praktisch-diagnostischen Resultate Rorschachs von den
bisherigen Aussetzungen nicht betroffen werden. Daß die meisten Organischen,
Manischen usw. die Bilder einfach „bestimmen“, d. h., daß sie das, was sie
in der Wahrnehmung meinen, auch wirklich sehen, während die Depressiven
unter anderen sich bewußt sind, daß sie sie nur deuten, nur im Als-ob-Sinne
meinen, diese und viele andere praktische Resultate werden davon nicht
berührt. Wir haben hier dieselben Verhältnisse vor uns, wie beim Jung-
R i k 1 i n sehen Assoziationsexperiment, dessen praktisch-diagnostische Ergebnisse
nicht davon berührt werden, ob man es assoziationspsychologisch oder akt¬
psychologisch darzustellen vorzieht, ob man es mit der Konstellations¬
oder Komplextheorie (im Sinne Jungs) zu „erklären“ 'unternimmt usw,
Rorschach war nun aber nicht nur Praktiker und Techniker, sondern auch
Wissenschaftler, und der theoretisch-wissenschaftliche Ausbau seines Versuches
hätte sein Denken ebenso beschäftigt wie der praktische. So war er von
Henning -Danzig noch (brieflich) darauf aufmerksam gemacht worden, daß
das Gebiet der sogenannten eidetischen An s c h a u u n g s b i 1 d e r
(vgl. Zeitschr. f. Psychol. von Bd. 85 an) sehr wahrscheinlich bei dem Versuch
eine große Rolle spielt. Diese Frage kann aber nur entschieden werden, wenn
nicht nur zwischen auffassenden Akten und Empfindungs- und Vorstellungs-
inhalten scharf unterschieden wird, sondern wenn auch noch innerhalb
der Sinnesinhalte, d. h. zwischen Empfindungsdaten und Vorstellungs¬
bildern eine besondere Gruppe von „Bildern“ anerkannt wird, was dann, wie
die bisherige Literatur zeigt, immerhin auch zu sehr wichtigen praktischen
Konsequenzen auf dem Gebiete der „Psychologie der Typen“ führt, sowohl
hinsichtlich der Typen der sinnlichen Wahrnehmung, als der Intelligenz, als
der künstlerischen Veranlagung u. a. m. Die Lehre von den eidetischen Bildern
Mitteilungen
515
und ihre praktische Auswertung zeigt die engsten Beziehungen zuRorschachs
Versuchsergebnissen. Eine wissenschaftliche Darstellung und Vertiefung seines
Versuches müßte diese Beziehungen aufdecken und verwerten.
Die einzelnen „Faktoren des Versuches“.
Ähnlich wie mit der Frage der Wahrnehmung überhaupt steht es mit
der Beteiligung der einzelnen „Empfindungszuflüsse“ zur Wahrnehmung, also
dem, was Rorscha ch als das Verhalten der „Form-, kinästhetischen und
Farbmomente beim Wahrnehmungsvorgang“ beschreibt. Hier stößt man zunächst
auf Faktoren, welche wieder mit der eigentlichen Wahrnehmung unmittelbar
nichts zu tun haben, vielmehr Empfindungsdaten betreffen, welche also die
die Wahrnehmung erst ermöglichenden stofflichen Anhalts- oder Ansatz¬
punkte darstellen. Man müßte hier von einem „empfindungsdiagnostischen“
Versuch sprechen. Hiezu kommt aber noch, daß es sich bei den „Form¬
zuflüssen“ sicherlich nicht um Empfindungsdaten handelt, sondern um den
Empfindungen gegenüber ganz selbständige neue Faktoren, die man in der
empirischen Psychologie unter dem Problem der „Gestaltqualitäten“ und ihrer
Auffassung zusammenfaßt. Auch dieses Problem hatte Henning noch
berührt, indem er den Autor darauf hinwies, daß die Form Wahrnehmung
eigentlich keine Wahrnehmung, sondern eine Gestaltauffassung sei. Diese
Frage betrifft wieder gleicherweise die allgemeine wie die experimentelle
Psychologie. Um zu ihr Stellung nehmen zu können, müßten neue Bearbeiter
des Versuches auf die Lehre von der Raumanschauung (Ebbinghaus), von
den Komplexionen, Relationen, Gestaltqualitäten im Sinne Meinungs,
Witaseks, v. Ehrenfels* und vieler anderer näher eingehen. Auch sei
im Vorbeigehen noch darauf hingewiesen, daß die eigentliche „Formvisualität“
(vgl. z. B. Blumenfeld, Zeitschr. f. Psychol. 91) etwas ganz anderes ist
als die Gestaltauffassung, und daß daher auch die Prüfung beider Fähigkeiten
zu ganz verschiedenen Resultaten führen kann. Was Rorschach Form¬
zuflüsse, Formantworten usw. nennt, betrifft sicherlich nicht das, was man in
der Psychologie unter „Form“ versteht, sondern einen Teil dessen, was man
unter dem Ausdruck „Gestalten“ zusammenfaßt.
Auch hinsichtlich der Bewegungszuflüsse bestehen noch große Unklar¬
heiten. Bekanntlich ist das Gebiet der kinästhetischen Empfindungen und
Vorstellungen trotz mancher sehr guter Untersuchungen auch heute noch eines
der umstrittensten der experimentellen Psychologie, sowohl hinsichtlich seines
Umfanges als seiner Bedeutung. Jedenfalls haben wir von den Bewegungen
einmal auf optischem Wege, sodann durch den Tastsinn Kenntnis; daneben
spricht man aber in der Regel noch von eigentlichen Bewegungsempfindungen,
denen sich die Empfindungen der Lage, Spannung, Schwere und Kraft anreihen
und die man alle mit dem Namen der kinästhetischen Empfindungen belegt.
Worum handelt es sich nun beiRorschachs Kinästhesien? „Kinästhetische
Engramme“ spielen da eine Rolle, wo „das gesehene Objekt als in Bewegung
begriffen vorgestellt wird“. Die Bewegung darf nicht nachgemacht werden,
sie muß, wie Rorschach ausdrücklich erklärt, erfühlt (oder kinästhetisch
Internat. Zeitschr. f, Psychoanalyse, IX/4.
34
516
Mitteilungen
nachgefühlt) werden. Es handelt sich also bei der obigen Definition nicht um
ein reproduktives Vorstellen, um motorische Reproduktionen, sondern um ein
primäres „anschauliches“ Erleben der Bewegung, wenn man will um ein
Aufgehen in unmittelbaren Bewegungserlebnissen. Rorschach sagt nun
aber nirgends ausdrücklich, welcher Art diese Erlebnisse sind. Um Spannungs-,
Schwere-, Lageempfindungen usw. handelt es sich in der Regel nicht; denn
das gesehene Objekt kann ja auch ohne sie (nämlich nur durch optische
Eindrücke) „als in Bewegung begriffen vorgestellt“ werden. Andererseits scheinen
Rorschachs Hinweise auf den Traum und das Erwachen aus demselben
(Psychiadiagnostik, S. 63) auch auf jene Empfindungen hinzudeuten. Fernerhin
scheinen gerade hier — und hierin gehe ich wieder mit Henning einig
eidetische Zustände mit im Spiele zu sein.^ Aber auch die Einfühlung
(Lipps), sowohl im Sinne der ästhetischen Einfühlung als der Selbst-
objektivation, spielt hier eine große Rolle. Es sei nur auf die von
Rorschach mehrfach erwähnten Deutungen der Tafel V der Testfiguren
(Schmalkante) hingewiesen: „Eine Tänzerin, die sich in leidenschaftlicher
Bewegung hochreckt“ und „ein gebücktes altes Weib, das zwei Regenschirme
unter dem Arm trägt.“ Wenn Rorschach hier einfach von Streck- und
Beugerkinästhesien spricht, so deutet er den Sachverhalt offenbar in viel zu
primitiver Weise. Das führt dann auch zu angreifbaren Resultaten und falschen
Problemstellungen. Es wäre doch sehr merkwürdig, wenn die Bewegungs-
kinästhesien „dem tiefsten Unbewußten angehören“ sollten(Zur Auswertung usw.,
S. 266). Man fragt sich, was denn diese isolierte spezifische Empfindungsgruppe
gerade mit „dem Unbewußten“ zu tun haben kann und sieht sich vor eine ganz
neue unerklärliche psychologische „Gesetzmäßigkeit“ gestellt. Wenn wir aber
bedenken, daß es sich hier gar nicht um eine einzelne Empfindungsgruppe,
sondern um individuelle, spezifisch-gefärbte Einfühlungen oder Objektivationen
des ganzen Selbst handelt, so wundern wir uns nicht mehr, daß daraus
weitgehende Schlüsse auf die innerste Natur der Versuchsperson gezogen werden
können, also z. B. aus dem Überwiegen der Beugerkinästhesien Schlüsse auf die
vorwiegend passive Natur der Versuchsperson, und im Verein mit anderen
Versuchsergebnissen auf ihre Insuffizienzgefühle, ihr Mißtrauen gegen die eigene
produktive Leistungsfähigkeit usw. Man sieht also auch hier wieder, daß die
praktische Deutung der Versuchsergebnisse durch Rorschach immer fruchtbar
bleibt, wie sie sich ja auch im großen und ganzen diagnostisch (im psychologischen
und klinischen Sinn) glänzend bewährt hat. Nur die wissenschaftliche „Deutung“
des gesamten Versuches und seiner Ergebnisse harrt noch der Lösung. Bei
dem Kapitel der „Kinästhesien“ ist sie um so dringender erwünscht, als gerade
das, was Rorschach über die Bewegungsantworten und ihre Zusammen¬
hänge mit dem gesamten Ich, der gesamten Person, ferner mit der Intelligenz,
der Affektivität, der Motilität usw. herausgearbeitet hat, zu dem Interessantesten
und Reizvollsten seines ganzen Werkes gehört. Auch hier sieht man also,
daß es sich beim „Deutenlassen der Zufallsformen“ nicht durchaus um ein
^ Vgl. auch Hennings Bemerkung über „starre und bewegte VorstellungsbUder“
in Zeitschr. f. Ps^rchol. 92, S. 147.
r
#
Mitteilungen
517
»wahrnehmungs-diagaostisches* Experiment handelt. Neben der Prüfung der
Empfindungsfähigkeit, wovon wir oben sprachen, könnte man hier von einer
Prüfung der Einfühlungsfähigkeit und ihrer Typen sprechen.
Wieder auf ganz andere „Gesetzmäßigkeiten“ stoßen wir, wenn wir uns
überlegen, was eigentlich bei der Prüfung der Erfassungsmodi, der Erfassungs¬
typen und der Sukzession der Erfassungsmodi untersucht wird. Es handelt
sich jetzt also im wesentlichen darum, zu beobachten und zu registrieren ob
in welcher Folge und in welchem zahlenmäßigen Verhältnis die Versuchs¬
person die Bilder als Ganzes oder in Details oder in besonders kleinen Details
deutet (Erfassungstypus), und ob sich dieser Erfassungstypus bei den einzelnen
Bildern jeweils gleich bleibt oder verändert, und wie er sich verändert. Hier
kommen wir auch mit der „Gestaltauffassung“ als solcher nicht mehr aus,
vielmehr handelt essich jetzt um bestimmte individuelle Differenzen innerhalb der¬
selben, die, wieRorschach sehr schön gezeigt hat, sehr stark von intellektuellen
und affektiven Einzelfunktionen und von der Gesamteinstellung der Versuchs¬
person gegenüber dem Versuch abhängen. Hier haben wir es mit sehr komplexen
Verhältnissen zu tun, wobei die eigentliche Wahrnehmung den geringsten
Anteil hat. Infolge dieser komplexen Natur der Erfassungstypen sind auch die
praktischen Schlüsse, die sie auf die Struktur der Gesamtperson erlauben,
sehr fruchtbar. Das gilt insbesondere auch von der Prüfung der Sukzession
der Erfassungsmodi. Hier werden Strukturgesetzlichkeifen der Psyche unter¬
sucht, die meines Wissens in so komplexer Art experimentell noch nicht
geprüft worden sind, „Gesetzlichkeiten“ um so eher, als sie sich dem Wissen
und Willen der Versuchsperson, der ja nicht bekannt ist, was und wie geprüft
und gerechnet wird, völlig entziehen. Die Straffheit, Ordnung, Lockerung und
so weiter dieser Sukzession erlaubt tatsächlich wichtige Schlüsse auf die
Intelligenz, auf die praktische und theoretische Rapport- und Anpassungs¬
fähigkeit der Versuchsperson, wie Rorschach insbesondere auch in seinem
Vortrag (S. 253) gezeigt hat.
Was die Farbantworten anlangt, so war ja auch schon vor
Rorschach bekannt, daß Fähigkeit zur Farbenauffassung und -Verarbeitung
und Affektivität enge Beziehungen haben. Durch die Art jedoch, wie er die
Verhältnisse der Färb- und Formantworten analysierte, diese Verhältnisse
praktisch verwertete und deutete, hat er ein ganz neues Feld psychologischer
Tatsachen und Zusammenhänge entdeckt, die, ob sie im einzelnen der Nach¬
prüfung standhalten werden oder nicht, doch besonders deutlich das Haupt¬
ergebnis des ganzen Versuches veranschaulichen, nämlich die Tatsache,
daß in der seelischen Gesamtstruktur der menschlichen' Person noch überaus
viel subtilere und tiefergreifende strukturelle Zusammenhänge und Beziehungen
existieren, als man es sich bisher in der Regel hat träumen lassen.
Man ist versucht, zu glauben, den Psychoanalytiker Rorschach
hätte es in erster Linie reizen müssen, den I n h a 11 der Klecksdentungen zu
analysieren, wie es Szymon Hens in seinen „Phantasieprüfungen mit
formlosen Klecksen bei Schulkindern, normalen Erwachsenen und Geistes¬
kranken“ (Zürich 1917) getan hat. Es zeugt aber von der Beweglichkeit und
Weite seines Geistes, daß er sehr rasch erkannt hat, daß das rein „Formale“
S4“
518
Mitteilungen
des Versuches, wie er sich ausdrückt, zu viel bedeutungsvolleren Ergebnissen
führen mußte. Wie bei allen seinen Untersuchungen, so hat er sich auch hier
weniger von bestimmten Auffassungen und Methoden als von der dem ünter-
suchungsmaterial immanenten Gesetzlichkeit leiten lassen. So wird der
sachliche Inhalt der Deutungen überwiegend in ein formales oder
funktionales „Symptom“ umgedeutet: das „gesehene“ Tier wird nicht in seiner
inhaltlichen oder Komplexbedeutung (im Sinne Jungs) gewürdigt, sondern
es fällt dem Forscher auf, daß die „Tierantwort“ einen „Stereotypieindikator“
darstellt und daß das „Tierprozent“ sehr eindeutige Schlüsse auf die Stimmung
und auf die Produktivität der Intelligenz erlaubt. Desgleichen interessiert ihn
an der „Vulgärantwort“ nicht der Inhalt, sondern die durch sie repräsentierte
„Anteilnahme an der Auffassuugsweise der Kollektivität“; an der „Original¬
antwort“ die spezifische strukturelle Art der Originalität; an der „abstrakten“
Antwort in erster Linie ihr Symptomwert für Verdrängungserscheinungen und
Ablehnung. Immerhin hat in dem genannten Vortrag der Inhalt der
Antworten, wie es zu erwarten war, nun auch die ihm gebührende Berück¬
sichtigung gefunden, und zwar geschah dies gerade in der den Psychoanalytiker
ganz besonders interessierenden inhaltlichen Verwertung der Abstracta (zur
Auswertung, S. 268). Hier tritt der Psychoanalytiker Rorschach, der feine
„einfühlende“ Kenner der menschlichen Person, dem psychologischen Funktions¬
theoretiker würdig zur Seite.
Die Anwendung und Verarbeitung der Versuchsfaktoren.
Auf der minutiösen psychologischen Zerlegung der „Antworten“ der
Versuchsperson in ihre einzelnen „Faktoren“ beruht der eine Teil der
wissenschaftlichen Verwertung des Versuches; so subtil und bahnbrechend
auch die betreffenden Analysen Rorschachs sind, so bedürfen sie doch,
wie wir sahen, der genauen begrifflichen und tatsächlichen Nachprüfung; der
andere Teil nun beruht auf der Applikation der so gewonnenen „Versuchs¬
faktoren“ auf die seelische Wirklichkeit, auf die Welt der seelischen Individuen.
Hier steht Rorschach ganz auf dem Boden der psychiatrischen Klinik und
medizinischen Psychologie, wie sie durch die Namen Kraepelin, Bleuler,
Freud, Breuer, Jung und Janet gekennzeichnet sind. Sie liefern ihm
die klinischen und psychologischen Typen, an welche die Versuchsfaktoren
angelegt werden. Auch wo es sich um „Normale“ handelt, sind Gesichtspunkte
aus der Neurosen- und Psychosenpsychologie (wie Stereotypie, Rapportfähigkeit,
Impulsivität, Verdrängung usw.) maßgebend. Die Zerlegung dieser Typen in
einzelne „Eigenschaften“ und deren Kombination erfolgt gemäß den Lehren
der genannten Autoren auf affektdynamischem, energetischem, assoziations¬
physikalischem Weg. Durch all dies erhält die wissenschaftliche Verwertung
des Versuches durch Rorschach ein ganz bestimmtes Gepräge, nämlich das
der medizinischen Psychologie. Jedoch bekommt dieselbe unter der Hand des
Autors überall wieder eine individuelle selbständige Note, wie schon seine,
dem wirklichen Leben viel näher als andere Auffassungen kommende Lehre
von der Introversität und Extratensität beweist.
Mitteilungen
519
Die Beziehungen zwischen den einzelnen Versuchsfaktoren und den
einzelnen psychologischen und klinischen Typen sind nun zunächst rein
zahlenmäßig-statistische. Darin liegt einer der großen Vorteile und Neuerungen
der R o r s c h a c h sehen Lehre; denn wenn auch beide Reihen, zwischen
welchen Beziehungen gesucht werden, keine objektiv feststehenden, sondern
durch die medizinische Geistesrichtung und durch individuelle Anschauungen
des Autors noch subjektiv „gefärbte“ und einigermaßen fließende Faktoren
darstellen, und wenn außerdem dem Zahlenverhältnis, das zwischen beiden
gefunden wird, nicht der Charakter einer mathematischen Notwendigkeit,
sondern im besten Fall derjenige einer empirischen Regelmäßigkeit zukommt,
so müssen wir doch froh sein, wenn wir auf diesem Gebiete durch Zahlen
eine vorläufige Orientierung gewinnen können. Die „Zahlen“ bilden, wie
Rorschach immer wieder erklärt, die Grundlage für die Interpretation der
Versuchsergebnisse und er hält es für ganz ausgeschlossen, „daß es auch bei
größter Übung und Erfahrung gelingen könnte, aus dem Versuchsprotokoll
allein, ohne vorausgegangene Verrechnung, zu einer sicheren und verläßlichen
Interpretation zu gelangen“. Andererseits zeigt gerade das Werk Rorschachs
mit aller Deutlichkeit, daß Zahlen innerhalb der Psychologie etwas ganz
anderes bedeuten als etwa in der Physik. Auch darin hat der Autor seinen
psychologischen Scharfblick bewiesen, daß er die zahlenmäßigen Ergebnisse
der Befundverrechnung niemals als absolute betrachtete; ja er warnt immer
wieder vor diesem Fehler und empfiehlt eindringlich, „sich stets einen Über¬
blick über den Gesamtbefund vor Augen zu halten, um nicht an der Zahl
eines Einzelfaktors wie an einer Klippe zu straucheln“. Man sieht daraus auch,
wie schwer der Versuch zu lehren und zu lernen ist. Der bloße Techniker
und Handwerker, auch der gewandteste Rechner etwa auf dem Gebiete der
Wahrscheinlichkeitsrechnung, wird darin immer ein Stümper bleiben. Es
bedarf der psychologischen Anschauungsfähigkeit und Erfahrung im Sinne
der Menschenkenntnis und es bedarf zweitens jenes intuitiven „Überblickes
über den Gesamtbefund“, welche den Autor selbst in so hohem Maße
auszeichneten, um imstande zu sein, den Versuch als wissenschaftlich brauch¬
bares Instrument zu handhaben. Wer hier von einer „künstlerischen“ Intuition
und einem künstlerischen Verfahren sprechen zu müssen glaubt, irrt; es sei
denn, daß er aus der Wissenschaft überhaupt und der Psychologie im
besondern die Intuition hinwegzudenken vermag, ihr den Lebensnerv durch¬
schneidend.
An das statistische, die wesentlichen Ausgangspunkte liefernde Verfahren,
schließt sich dann das „ätiologische“. Wurde dort durchaus nur festgestellt,
daß eine Beziehung existiere, zum Beispiel zwischen Kinästhesien und
produktiver Intelligenz, zwischen primären Farbantworten und Impulsivität
zwischen Formfarbantworten und „anpassungsfähiger Affektivität“, so wird
jetzt gleichsam deduktiv erschlossen, warum es so sein muß. Hier zeigt
Rorschach die ganze Kunst seiner, mit den Mitteln der gesamten medizinischen
Psychologie arbeitenden psychologischen Dialektik. Es besteht für mich kein
Zweifel, daß hier neue und dauernde Beziehungen assoziations- und affekt¬
dynamischer Natur einerseits, charakterologischer Art andererseits, aufgedeckt
520
Mitteilungen
worden sind. Das wichtigste Ergebnis ist und bleibt aber immer die Tatsache,
daß es zum großen Teil relativ „periphere“, sinnenhafte und anschauungs¬
mäßige seelische Einzelfunktionen sind, durch die gewisse komplexe Charakter¬
eigentümlichkeiten, Talente und Anlagen (intellektueller, affektiver, volitiver
Art) im Versuch repräsentiert werden, so daß sie daraus wieder erschlossen
werden können. Andere Male freilich sind es nur scheinbar einfache Funktionen,
wie wir an dem Beispiel der Beugerkinästhesien anzudeulen versuchten.
Durch die Aufdeckung jener „Repräsentationen“, jener strukturellen Zusammen¬
gehörigkeiten treten Rorschachs Untersuchungen wiederum in Beziehung zu
den Untersuchungen über die „eidetischen Bilder“, wie sie von E. Jaensch
und seinen Schülern (vergleiche K r o h) in Angriff genommen worden sind.
Als drittes schließt sich dann das diagnostische Verfahren
an, wo die Probe aufs Exempel gemacht wird. Hiedurch wird der ganze
Versuch dauernd rektifiziert und erweitert. Insbesondere war es das Verfahren
der „Blinddiagnosen“, welche Rorschachs Versuche berühmt gemacht haben
und aus denen er mit größtem Fleiß immer weiter lernte.
Die Ergebnisse des Versuches.
Zu den Ergebnissen des Versuches im einzelnen Stellung zu nehmen,
ist nicht die Absicht dieser Bemerkungen. Hier muß die experimentelle
Praxis entscheiden. Nur einige wenige Punkte seien hervorgehoben. Daß die
Rorschach sehen Erlebnistypen eine wertvolle Bereicherung der Typen¬
psychologie darstellen, das scheint mir keinem Zweifel zu unterliegen. Gerade
hier tritt insbesondere gegenüber der rein „idealtypischen“ Typenforschung
der experimentelle Charakter seiner Ergebnisse recht ins Licht. Dabei darf
immerhin nicht vergessen werden, daß die Aufstellung bestimmter „Ideal¬
typen“ (hier im medizinisch-psychologischen und klinischen Sinn) dem ganzen
Versuch ja zugrunde liegt und ihm, wie wir gezeigt haben, vorausgeht. Aber
dies einmal eingesehen, läßt sich nicht verkennen, daß Rorschachs
Erlebnistypen mit all ihren äußerst interessanten Beziehungen zur Klinik, zu
Geschlecht und Rasse, Alter und momentaner psychophysischer Konstellation,
zu Talent und Vorstellungstypus neue Bahnen für die Typenforschung eröffnen
und eine Erweiterung und Vertiefung unserer Kenntnis der morphologischen
Struktur der „Seele“ darstellen. Für den Methodologen interessant ist
dabei der Ausblick, wie die, sagen wir „geistes-psychologisehen“ Idealtypen (im
Sinne Jaspers’ und Sprangers) und die naturwissenschaftlich-klinischen
Typen in Beziehung zueinander zu treten berufen sind; denn je schärfer undL
genauer die psychologischen Typen in ihrer Wesenheit phänomenologisch und
im Sinne der geistigen Strukturgesetzlichkeit bestimmt und herausgearbeitet
sind, zu desto eindeutigeren und klareren Ergebnissen wird auch ihre natur¬
wissenschaftliche Untersuchung führen. Bis vor kurzem waren es ja meist
Typen im Sinne der Vulgärpsychologie oder einer medizinisch-psychologischen
Einzelrichtung (vgl. auch Jungs Psychologische Typen), an welchen man sich
mit der naturwissenschaftlich-funktionalen Zergliederung und Synthese ver¬
suchte. Was nun wieder Rorschachs Typenforschung besonders wertvoll
Mitteilungen
521
macht, ist der Umstand, daß sie nicht, wie die meisten Typenlehren, das Indivi¬
duum erschlägt und das Allgemeine (den^Typus) auf den Thron hebt (wobei
das Individuum bestenfalls nachträglich eine allgemeine Etikette umgehängt
bekommt, wie z. B. in seiner Bestimmung als „ein Introvertierter“, „ein theo¬
retischer Mensch“ usw.), sondern daß sie, wie aus ihrer diagnostischen
Brauchbarkeit ohne weiteres hervorgeht, letztlich immer wieder das Indivi¬
duum in seiner einmaligen, einzigartigen Individualität einzufangt n imstande
ist. Natürlich dürfen wir uns dabei nicht verhehlen, daß es sich, wie bei aller
„Naturwissenschaft der Seele“, auch hier, bei Rorschach, nicht um die
Erfassung der individuellen seelischen Person, sondern um die der indivi¬
duellen seelischen Struktur handelt. Der Versuch zeigt ja nicht, wie
Rorschach selber scharf hervorhebt, was die Person lebt (wer sie ist),
sondern wie sie, wenn auch gerade nur sie, erlebt; und er zeigt dies bis in
alle möglichen Einzelfunktionen und Komplexe solcher. Daß wir aber mit der
seelischen Struktur, dem seelischen Apparat allein nicht auskommen, weiß der
Autor sehr gut. Unbekannt mit der H u s s e r 1 sehen Phänomenologie, auf
deren Boden allein hier völlige Klarheit zu gewinnen ist, sucht er das spezi¬
fisch Personenhafte noch im Trieb, in der Libidobesetzung der einzelnen
Dispositionen oder Register des seelischen Apparates. „Erst der Trieb macht
aus den dispositioneilen Momenten aktive Tendenzen.“ Mit dieser Unter¬
scheidung, die ja auch der Psychologie Freuds zugrunde liegt, und deren
methodologische Bedeutung noch nirgends ins richtige Licht gestellt worden
ist, ist die Grenze der naturwissenschaftlichen Betrachtung des Seelenlebens
erreicht, und hier beginnt, richtig verstanden, ein neues Reich, das Reich der
Psychologie der Person. Naturwissenschaftliche Darstellung ist hier dann nur
noch Fiktion, nur noch Umschreibung oder Vergleich, ist dann nur noch eine,
hier ganz besonders deutlich in die Augen springende „Resignationsstufe des
Erkennens“ (im Sinne von Th. H a e r i n g).
Für den Psychoanalytiker ist Rorschachs Versuch einmal
im Hinblick auf die Möglichkeit der analytischen Verwertung der „inhaltlichen“
Reaktionen oder Antworten wichtig. Auf die überraschend zutreffende Deutung
der abstrakten Antworten in dem Vortrag in der Schweizer Psychoanalytischen
Vereinigung wurde oben schon hingewiesen. (Die Einzelheiten müssen im
Original [S. 208 ff.] nachgelesen werden). Der Rorschach sehe Versuch tritt
damit an die Seite des Jung sehen Assoziationsexperimentes. Wie dieses ver¬
mag es dem Analytiker unter Umständen eine rasche vorläufige Orientierung
oder eine nachträgliche experimentelle Bestätigung seines Befundes zu liefern.
Noch wichtiger scheint mir aber ein anderer Umstand zu sein: Rorschach
ißt es zum erstenmal gelungen, die affektive und Cha¬
rakterumwandlung, wie sie durch die Analyse bewirkt
werden kann, experimentell nachzuweisen. Hier ist der Fall 12
(Zwangsneurose) der „Psychodiagnostik* mit seinen beiden Befunden vor und
nach der Analyse von größtem Interesse. Nach fünfmonatiger Analyse ist
der Erlebnistypus deutlich verändert. „Die introversiven Momente sind freier
und kräftiger, die Affektivität ist anpassungsfähiger, weniger egozentrisch.
Die Affektgeladenheit ist weg. Anpassungsfähigkeit, Einfühlungsfähigkeit,
522
Mitteilungen
Stetigkeit des Rapports haben gewonnen. Introversive und extratensive Momente
sind freier; die im ersten Befund deutlich sichtbaren Anzeichen von Koartation
(Verdränguag introversiver und extratensiver Momente) sind viel spärlicher.
Die Erlebnisfähigkeit ist wieder ungestörter.“ „Die Versuchsperson hat sich
infolge der Analyse dem Befunde entsprechend verändert. Der Reflexions¬
krampf, die zwanghafte bewußte Überwachung jedes Gedankens und Erlebnisses
von innen und außen, die jede Erlebnisfähigkeit erdrosselte, ist gewichen.“
Sicherlich hat der Psychoanalytiker genug andere Kriterien, um jene Befreiung
und Erweiterung der Erlebnisfähigkeit seines Kranken zu erkennen und richtig
zu bewerten. Wem aber an einem über das Gebiet der psychoanalytischen
Feststellungen hinausgehenden wissenschaftlichen Ausbau und Beweis der ana¬
lytischen Heiliechnik gelegen ist, der darf an diesem Befund nicht vorüber¬
gehen. Sicherlich wird nicht jede Analyse eine so deutliche Differenz der
Versuchsergebnisse vor und nach ihrer Durchführung aufweisen; kennen wir
doch alle jene vielen gleichsam „leerlaufenden“ Analysen, wo, sei es durch
unsere Schuld, sei es infolge konstitutioneller und klinischer Schranken, das
analytische Zahnrad „leerläuft“, ohne in tieferliegende Verkuppelungen ein¬
zuhaken. Aber auch das negative Resultat, das hier zu erwarten wäre, wäre
interessant.
Für den psychiatrischen Kliniker ist, abgesehen von den vielen
wertvollen diagnostischen Einzelergebnissen (insbesondere hinsichtlich des
manisch-depressiven Irreseins, der Schizophrenie, Epilepsie, der Psychopathien
und der Zwangsneurose) am wichtigsten die Tatsache, daß auch in diesem
Versuch die von vielen modernen Autoren (Birnbaum, Jaspers, Kret¬
schmer u. a.) auf dem Wege klinischer Analyse gewonnene Unterscheidung
von individueller seelischer Konstitution und Krankheitsprozeß sehr scharf
heraustritt (vgl. den Abschnitt 19 der „Psychodiagnostik“ über Erlebnistypen
und Krankheit). Alle die Möglichkeiten, die wir von der Klinik her kennen,
alle jene Wechselbeziehungen zwischen präformierenden, pathogenetischen und
pathoplastischen Faktoren (Birnbaum) und vieles andere tritt auch hier in
Erscheinung. Wichtig in bezug auf die Lehre von der Schizoidie (Bleuler,
Kretschmer) ist die Tatsache, daß durch den Versuch oft nicht entschieden
werden kann, ob es sich um eine manifeste oder latente Schizophrenie handelt,
oder ob nur Schizophrene in der Familie Vorkommen: „praktisch ganz geheilte
Katatoniker können einen schwereren Befund aufweisen als manifeste und
mehrere Male deutete der Befund bestimmt auf Schizophrenie bei Leuten, die
im Leben nicht eine Spur von Schizophrenieverdacht aufweisen, die aber
schizophrene Eltern oder Geschwister haben“ (Psychodiagnostik, S. 113). Wenn
sich die Befunde bestätigen, können sie der klinisch-biologischen Typenlehre
wichtige Dienste leisten. Hinsichtlich der „Wahl der Psychosenform“ innerhalb
der Gruppe der Schizophrenien ist folgendes Ergebnis interessant: „Ursprünglich
introversive Menschen erkranken, wenn die schizophrene Noxe, das unbekannte
Etwas, das die Schizophrenie verursacht, in die Psyche eindringt, an Paranoid,
extratensive an Hebephrenie, der Mitte nahekommende oder ganz ambiäquale
an Katatonie'" (a. a. 0., S. 108); hinsichtlich der Beziehungen zwischen Rasse
und Psychosenform folgendes: „Mehr introversive Rassen geben typischere
Mitteilungen
523
Katatonien und produktivere Paranoide und halluzinieren mehr kinästhetisch
als die extratensiveren, die viel mehr hebephrenoide Katatonien und wenig
produktive Paranoide hervorbringen und überwiegend akustisch halluzinieren“
(ebenda).
Das psychodiagnostische Werk Rorschachs ist ein wissenschaftlicher
Mikrokosmos, gleichsam eine wissenschaftliche »Monade“, die immer und
überall den Makrokosmos, das wissenschaftliche Universum widerspiegelt, dem
sie entstammt, nämlich die medizinisch-, speziell psychiatrisch-psychologische
Denkrichtung. Deswegen gibt es kaum ein lehrreicheres Mittel, die praktische
Leistungsfähigkeit jenes Makro-„kosmos* zu veranschaulichen, aber auch das
wissenschaftlich Problematische und Fragwürdige an ihm aufzudecken, als die
nähere Zergliederung dieses Versuches und seiner Grundlagen.
Kritiken und Referate.
E. Bleuler: Naturgeschichte der Seele und ihres Bewußt¬
werdens. (Berlin, Julius Springer, 1921.)
Die anregenden Darstellungen, die wir immer wieder aus der Feder des
Züricher Psychiaters erhalten, sind wohl berechtigt, auch bei seiner neuesten
Publikation unser Interesse zu wecken. Das Buch, das sich eine Elementar¬
psychologie nennt, will nicht nur eine zusammenfassende Beschreibung
psychischer Dinge geben, sondern eine Naturgeschichte der Seele. Naturwissen¬
schaft soll auch hier das Fundament der Arbeit sein.
Nach kurzer Besprechung der Mittel, womit wir unsere Psyche kennen
lernen, sucht er das Bewußtsein aus der Funktion des Zentralnervensystems ab¬
zuleiten. Auf dem Satze: Die Psyche ist eine Gehirnfunktion, baut er seine Arbeit
auf und oft genug greift er im Verlaufe der Darstellung auf die organische Grund¬
lage zurück. Das Bewußtsein wird als Funktion des Gedächtnisses beschrieben:
»Es fehlt deshalb jeder Grund, noch andere Bedingungen des Bewußtseins zu
suchen, als die oft genannten des Gedächtnisses und der funktionellen Einheit.*
(S. 44.) Es scheint ihm nun darauf anzukommen, darzulegen: »Wie die bekannten
physischen Funktionen des Zentralnervensystems, unter denen natürlich dem
Gedächtnis wieder die wichtigste Rolle zukommt, von selbst und notwendig
eine Person gestalten, die zur bewußten werden muß!“ (S. 47.)
Der »psychische Apparat* wird nun unter Heranziehung der Semonschen
Engrammlehre nach allen Richtungen hin entwickelt (das Gedächtnis, das Denken,
die Affektivität), vermeidet es nicht auf philosophische Fragen einzugehen
^Kant, Deussen), die Religiosität und die Religionen kommen zur Sprache,
um endlich ins Meer der Lebens-Weltanschauungen zu münden.
Es werden eine Menge von Fragen behandelt, aber noch mehr gestellt.
Was mir am Herzen liegt, ist klarzulegen^ wieweit psychologische Fragen in
engerem Sinne zur Darstellung kommen, Fragen, die ausschließlich in die
Erfahrungsebene des Seelenlebens fallen, in der zu verharren wir in der
Psychoanalyse gewohnt sind, um überhaupt vergleichbare Grüßen zu gewinnen.
Ich hatte stets den Eindruck, daß die Psychologie da zu beginnen habe, wo
die »Logik* (kausal-mathematisches und reales Denken) aufhört, da wo der
Gedankenablauf unter die Herrschaft unkontrollierter Affekte gerät. Da setzt ja
die Psychoanalyse ein.
Kritiken und Referate
625
Diesem Denken, das aus inneren Motiven fließt, ist ein Kapitel gewidmet
unter dem Namen: „Das dereierende Denken“, worüber in einer Fußnote
folgendes verlautet (S. 191. Anm. 3): „Ich habe es (das dereierende Denken)
bis jetzt »autistisches“ Denken genannt, weil es im Autismus der Schizophrenie
zuerst gesehen wurde und dort am ausgesprochensten in die Erscheinung tritt.
Der Name wurde aber mißverstanden ... So war ich gezwungen, einen
anderen vorzuschlagen: Dereieren kommt von reor, ratus sum (ratiOj res, real)
logisch, der Wirklichkeit entsprechend denken. Dereieren wäre also wörtlich:
Denken, das von der Wirklichkeit absieht oder abweicht.“
„Das dereierende Denken,“ so lesen wir S. 192, „verwirklicht unsere Wünsche,
aber auch unsere Befürchtungen; es macht den spielenden Knaben zum General,
das Mädchen mit seiner Puppe zur glücklichen Mutter; , . . dem Träumenden
dient es zur Darstellung seiner geheimsten Wünsche und Befürchtungen.“
„Trotzdem das dereierende Denken (S. 193) die gewöhnlichen Erfahrungs-
Zusammenhänge im Prinzip nicht ausschließt, ja oft (z. B. in der Dichtung) in
Einzelheiten selten von denselben abweicht, kann man doch sagen, daß es
seine eigenen Gesetze hat, die genauer zu erforschen eine dankbare
Aufgabe wäre.“
Dieser Ausspruch klingt nun doch etwas wunderlich, denn die wichtigsten
Entdeckungen auf dem Gebiete des „dereierenden Denkens“ stammen aus
einem Kreise von Forschern, die sich zur Aufgabe gesetzt haben, dieses Phantasie¬
denken zu ergründen: Freud und seine Schüler. Man würde dann mehr über
die Motive dieses abweichenden Denkens erfahren: Haß, Liebe, Angst, Eifersucht,
seelische Größen, die doch so recht eigentlich zur „Elementarpsychologie“ gehören.
Bleuler macht vielleicht mit Recht darauf aufmerksam, daß die „fonction
du röel“ das Primäre ist „und erst auf den höchsten Stufen kommt mit der
Intelligenz die Möglichkeit zu dereieren hinzu“ (S. 194). Die Phantasie wächst
aus der Versagung realer Objekte heraus und Wünsche nähren dieses unreale
Denken.
Etwas eigentümlich erscheint mir der folgende Passus, der kategorisch
ausgesprochen wird: S. 243. „Eine Art Rassenselbstmord ist auch die Rassen¬
vermischung, in der die Rassen zugrunde gehen, wenn auch unter (seltenen)
Umständen neue daraus erstehen . . . Der natürliche Instinkt sagt jeder Rasse,
daß sie die höchste sei und die Verbindung mit einer anderen eine Mesalliance
und vor dem Forum der Wissenschaft hat der Instinkt recht.“
Gewiß, es ist in den heutigen Tagen des Rassenhasses nicht ohne Gefahr,
dem Rasseninstinkt psychologisch auf den Leib zu rücken. Bleuler bestreitet
aber augenscheinlich dem Forscher das Recht, diese Frage überhaupt zu unter¬
suchen und wandelt den Lehrstuhl der Naturwissenschaft zum Tribunal.
Es ist nämlich gar nicht unwahrscheinlich, daß diese Rasseninstinkte
aus Niederschlägen uralter Traditionen herauswachsen, also psychologischen
Größen, vor denen allerdings das wissenschaftliche Denken nicht halt¬
machen sollte.
Freud wird nun im Verlaufe der Darstellung mehrmals zitiert. Ich
kann aber nicht den Eindruck loswerden, als ob immer nur der Autor der
„Studien über Hysterie“ gemeint sei und nicht der Schöpfer der
526
Kritiken und Referate
Traumdeutung. Dadurch ist natürlich die Stellung des Buches zur Psychoanalyse
eindeutig festgelegt.
Über das Unbewußte wird viel gesagt, aber ohne auf die entscheidenden
Unterschiede von unbewußt und vorbewußt Rücksicht zu nehme i. Es könnten
viel Mißverständnisse und Unklarheiten vermieden werden. S. 301 tut Bleuler
dem Entdecker des Unbewußten entschieden unrecht, wenn er sagt: „Freud
meinte deshalb, das Unbewußte sei zeitlos und amoralisch: Das ist nicht richtig.
Im Unbewußten können sogar oft viel genauere Zeitbestimmungen verkommen,
als es dem bewußten Ich zu vollziehen möglich wäre. . . .“ Freud bestritt nie
der menschlichen Seele die Fähigkeit, hochzusammengesetzte geistige Leistungen
zu vollziehen, ohne daß das „Ich“ davon Kenntnis erhält. Das Unbewußte im
engeren Sinne besteht aber tatsächlich aus scharfumschriebenen Wünschen,
die sich andauernd der bewußten Moral des Ichs widersetzen.
Die Frage, ob Freud zu seinem Unbewußten auch die latenten Engramme
rechnet (S. 100), ist insofern belanglos, als sich die Psychoanalyse der Semon-
sehen Terminologie gar nicht bedient Bleuler äußert sich darüber nochmals
in der Fußnote, S, 300: „Dann vor allem alle die Arbeiten der Freudschen
Schule, wobei aber darauf aufmerksam zu machen ist, daß sie die latenten
Engramme auch dazu zählt“
Übrigens scheinen tiefgehende Differenzen zwischen dem Sprachgebrauch
Bleulers und dem Freuds zu bestehen (in der Bedeutung des Wortes
Sexualität, Perversion usw.), was auf die sehr verschiedene Erfahrungswelt
der beiden Forscher zurückgehen muß und auf die verschiedenen Arbeits¬
methoden. Es ist etwas anderes, ob die wissenschaftlichen Begriffe aus klinischem
Material herauswachsen, das heißt aus unzählig vielen anamnestischen Beobach¬
tungen, die sich mosaikartig aneinanderreihen — wovon Bleuler einen erstaun¬
lichen Reichtum besitzen muß — oder aus sorgfältigen Analysen relativ weniger
Patienten, die aber jahrelang tagtäglich ihr assoziatives Denken vor dem Forscher
ausbreiten, wodurch sich das amnestische Dunkel über der Kindheit erhellt
und das ganze Tun und Lassen des Kranken, sein Charakter im Zusammen¬
hänge verständlich wird.
Der Grundsatz der Analyse ist aber multum und nicht multa.
Dr. Ph. Sarasin.
Ludwig Binswanger: Einführung in die Probleme der allgemeinen
Psychologie. (Berlin, Julius Springer, 1922.)
Das vorliegende Buch, das von großer Literaturkenntnis zeugt, will den
Leser in das „Grundproblem“ der wissenschaftlichen Psychologie einführen, in
das der „Subjektivität als solche“ oder in das des Bewußtseins.
So umfassend die Aufgabe erscheint, so eindeutig ist doch die Richtung
und das Ziel der Untersuchung: das Subjektive.
Das Fundament, woraus die Arbeit emporwächst, bilden die philo¬
sophischen und psychologischen Werke eines Stumpf, Brentano,
Husserl, Lipps, Natorp, Leibnitz, Kant, um nur einige Autoren zu
nennen, die teils persönlich zu Worte kommen, teils in die Untersuchungen
verwoben sind.
Kritiken und Referate
527
Es braucht kaum erwähnt zu werden, daß das Buch nur von psychologisch¬
philosophischer Seite gewürdigt werden kann; seine Lektüre setzt eine
entsprechende Literaturkenntnis und die nämliche Interessenrichtung voraus.
Der Psychoanalytiker und Arzt, der bei seinen Forschungen das Subjektive
jeglicher Art ganz auszuschalten pflegt, kühl und sachlich seine Beobachtungen
anstellt, fühlt aber seine Aufmerksamkeit auf das Buch gelenkt, da die Widmung
zwei Forschern gilt, die philosophischen Bemühungen fernstehen: Bleuler
und Freud. Beide Namen werden auch im Texte genannt. Ich habe darum
das Buch gelesen und zu verstehen gesucht.
Das Werk zerfällt in zwei große Abschnitte. Im ersten wird das Problem
der Subjektivität am eigenen Ich erörtert, im zweiten Teile wird die Anwendung
aufs fremde Ich gemacht.
Dem Begriff und seiner Bedeutung wird besondere Sorgfalt zugewandt.
Betrachten wir das Buch nun genauer. Zuerst wendet sich der Autor der
Definition des Psychischen zu und verbreitet sich über dessen „sachliche
Eigentümlichkeiten“. Wir hören von den „inhaltlichen Wirklichkeiten des Seelen¬
lebens“ (D i 11h e y), vom „Freien und Schöpferischen“ darin (B e r g s o n,
James, H. L o t z e), vom Zusammenhang und der inneren Einheit des Psychi¬
schen ; vor allem, daß es Eigenschaften, die wir an wirklichen Objekten wahr¬
nehmen, nicht besitzt; das Psychische ist nicht identifizierbar, nicht quanti¬
fizierbar, nicht objektivierbar.
Dann eröffnet sich uns die eigentliche Welt des Seelenlebens: „Die
Bewußtseinstatsache im Sinne der Subjektivität als solcher.“
Die Funktionspsychologie Stumpfs bildet die Ouvertüre; die Lehre
Brentanos von den psychischen Akten und vom inneren Bewußtsein,
H u s s e r 1 s Phänomenologie und seine Lehre von den intentionalen Erleb¬
nissen, und Untersuchungen Natörps grenzen den Gegenstand schärfer ab
und erläutern die Wissenschaft vom „Unmittelbaren“.
Die Untersuchungen werden immer subtiler, die Materie ätherischer,
bis wir in die verfängliche Nähe Kants geraten. Da geht ein leises Beben
durch die Darstellung.
Der Königsberger Philosoph scheint das Subjektive als Erkenntnisobjekt
zu bestreiten, wodurch die Ergebnisse des ersten Teiles in Frage gestellt
würden. Der Autor glaubt aber den Begriff des einheitlichen Bewußtseins¬
stromes gegenüber Kant „retten“ zu können, um den Begriff des empirischen
Ichs, der sich bei Kant in die Identität einer bloßen Funktion aufzulösen
drohte, wieder in seine Rechte treten zu lassen (S. 223). Und schließt damit
den ersten Teil.
Der zweite Teil, der bedeutend kürzer ausfällt, wendet das voran¬
gegangene auf ein fremdes Ich an. Ich möchte sagen, er enthält die Projektion
eigener Erlebnisse auf eine andere Person. Es wird von der Assoziations¬
und Einfühlungstheorie gesprochen; zu breiter Darstellung gelangt eine Unter¬
suchung über das unmittelbare „Verstehen“ des anderen Menschen auf Grund
der Sprache und der äußeren Gebärden, bis die fremde Person vor, uns steht,
die weiterhin mit Metaphysik, Ethik, Geschichte usw. konfrontiert und solcher¬
maßen erläutert wird.
528
Kritiken und Referate
„Dabei haben wir uns noch ganz auf allgemein-psychologischem Gebiet
bewegt, und wir brechen die Untersuchung gerade an dem Punkte ab, wo sie
in das Gebiet des tatsächlichen Betriebes empirischer Personwissenschaft
einmündet.« (S. 357.)
Nun ist diese Arbeit in einer gewissen harmonischen Stimmung gehalten
und zeugt vom Geiste Bergsons. Es ist darum nicht zu verwundernj daß B.
in einer beiläufigen Fußnote Behauptungen aufstellt, die den Reirultaten der
psychoanalytischen Forschung stracks zuwiderlaufen. Auf S. 46 sagt er in der
Fußnote folgendes:
„Wir können hier darauf aufmerksam machen, daß im Grunde genommen
die ,Verdichtung‘ gar keine aktive und sekundäre Verbindung getrennter
Vorstellungen ist, sondern den primären normalen Zustand in den tieferen
Bewußtseinslagen darstellt, und daß die begriffliche ,Dissoziation‘, die
Trennung des ursprünglich dicht Vereinigten, einer Arbeit des Geistes
zu verdanken ist. Wenn wir von Verdichtung reden, denken wir an die Ver¬
einigung oder Konzentrierung des vorher Geschiedenen, während es sich im
Traumleben um ein Zusammensein des nachher, d. h. durch Analysis zu
Trennenden handelt. Durch die assoziations-psychologische Auffassung des
Bewußtseinslebens wird, wie B e r g s o n einmal mit Recht sagt, alles auf den
Kopf gestellt.« (S. 46.)
Wer glaubt, daß mit der Assoziationspsychologie die wirklichen Zusammen¬
hänge der Seele entstellt werden, schließt sich Goethe an, der die Optik
Newtons verwirft, die das zarte Licht mit unnatürlichen Experimenten quäle.
Das Licht als poetisches Erlebnis ist eben etwas anderes, denn als physikalisches
Objekt und ganz gleich steht es mit der Psychologie. Die Seele verliert im
Krist;illspiegel des Geistes alles Poetische und Dämmerhaft-Intuitive und wird
zum wissenschaftlichen Objekt. Der Menschenfreund mag davor zurückschrecken,
der Forscher niemals.
Mehrmals wird versucht, Freud in die historische Darstellung ein¬
zuflechten, aber immer nur unter Begleitung eines anerkannten Denkers, zum
Beispiel B e r g s o n (S. 46), Schleiermacher (S. 268), N ietzsch e (S. 267).
Es fehlt nicht an Anerkennung des Wiener Forschers (S. 303 und S. 352),
aber seine Resultate werden ignoriert.
Das Werk soll nun eine Einführung in eine Psychologie sein, die auch
die Freudschen Resultate umfaßt, scheint aber nicht mehr zu leisten, als jedes
philosophische System, das auch stets die ganze Welt umspannt. Diese
Betrachtungsweise ist aber von der Freuds toto coelo verschieden.
Es ist offenbar ein Verhängnis jeder Psychologie, immer wieder
philosophisch zu werden, als könnte der menschliche Geist die empirische
Nacktheit auf die Dauer nicht ertragen. Die Tendenz, die Psychoanalyse
philosophisch zu neutralisieren, ist unverkennbar.
Der Weltkrieg hat aber mit seiner unsinnigen Zerstörungswut zu deutlich
gezeigt, daß die menschliche Seele nicht nur aus himmlischem Dufte besteht.
Mit der Intuition kommt man aber diesen gefährlichen Triebkomponenten
des Menschen nicht bei. Dr. Ph. S a r a s i n.
Kritiken und Referate
529
C. 0. Jung : PsychologischeTypen. (Rascher & Cie., Zürich, 1921, 708 S.)
Die inhaltliche Zusammenfassung dieses dickleibigen
Buches kann im folgenden gegeben werden: Es seien typische, charakteristische
Unterschiede im psychischen Gesamlhabitus der Menschen auffindbar; die
größten zwei Gruppen werden von den habituellen Einstellungstypen
des Introvertierten und Extravertierten gebildet. Dabei soll
Introversion ein Hineinströmenlassen der „Energie“ vom Objekt ins Subjekt
und Loslösung der „Energie“, des .Interesses“ vom Objekte zugunsten des
Subjekies bedeuten, Extraversion hingegen soll das Herausgehen an ein
Objekt, das Sichanklammern an das Objektive, eine Strömung der „Libido“
vom Subjekt zum Objekt bezeichnen, wobei unter Objekt auch die Mitmenschen,
die eingepflanzten Gewohnheiten, die Wahrheiten, die Normen der CJmgebungs-
welt zu verstehen seien. Innerhalb dieser beiden Einstellungstypen sollen noch
je vier Typen den vier Grundfunktionen gemäß (Denken, Fühlen, Empfinden,
Intuieren) unterscheidbar sein. Infolge der kompensierenden Funktion
des Unbewußten sollen die nicht im Vordergründe stehenden, vom
Bewußtsein „verdrängten“ Grundfunktionen und Einstellungen im Unbewußten
zur stärkeren Entfaltung gelangen. Solche im Unbewußten wirkende Funktionen
reißen nach Jung archaische Bilder aus dem Inventar des „kollektiven Unbe¬
wußten“ an sich und bedrohen, falls sie größere Energien an sich ziehen, das
Netz der bewußten Funktionen mit Durchbruch. — Eine Versöhnung
beider Einstellungstypen müsse in einem mittleren Zustand gelingen,
welcher Folge einer mit Symbolbildung einhergehenden „transzendenten
Funktion“ sei; in diesen mittleren Zustand progrediere man mittels der
(religiösen) Andacht. — Alle diese Behauptungen werden mit
Beispielen aus der antiken und mittelalterlichen Geistesgeschichte, aus Werken
von Schiller (naive und sentimentalische Dichtung, ästhetische Stimmung
als mittlerer Zustand), von Spitteier (Prometheus und Epimetheus), von
O s t w a 1 d (romantischer und klassischer Gelehrter), usw. erläutert, natürlich
bleibt auch die heute wieder zur Mode gewordene Berufung auf die
brahmanische, buddhistische Lehre nicht aus.
Die Tendenz des Werkes, gut umschriebene Typen auszuarbeiten, ist
^ine Zeitströmung, mit dieser Arbeit möchte die Psychologie zur praktischen
Wissenschaft, zur Menschenkenntnis werden. Die viele Forscher beschäftigende
Frage heißt: wie soll nun diese Typengliederung stattfinden? Merkwürdigerweise
finden wir bei Jung das Typenproblem in der Philosophie, Psychiatrie
Ästhetik, Biographie wenigstens stichprobenweise besprochen, doch liest man
hein Wort über das Typenproblem in der Typenlehre l W. Sterns grund¬
legendes Buch (Die differentielle Psychologie, 1911) sagt schon, daß alle Ein¬
teilungen der Typen (er bespricht besonders die „Darstellungstypen“) zwei
Einteilungsprinzipien miteinander verquicken: „Einerseits nämlich liegt eine
tjliederung vor nach der gesamten Art, wie das Subjekt zur Welt und zu den
Objekten Stellung nimmt; hier stehen sich ein ,objektiver‘ und ein
,subjektiver* Darstellungstyp gegenüber. Andererseits existiert eine Typik
nach der Art, wie das Material des Erlebnisses intellektuell bewältigt
worden ist“
530
Kritiken und Referate
Jung handelte also nach allem dem im Geiste von W. Stern, des
Philosophen der „Person und Sache“, als er seine Typengliederung aufstellte,
nur ist zu bemerken, daß das Erscheinen gerade der generell-psychologischen
Systematik in der Typenlehre nicht mit dem Streben Sterns zusammenfällt,
sondern eher diejenigen altmodischen Bücher über die Kinderfehler in den
Sinn ruft, welche die Systematik der Kinderfehler mit der Einteilung in
Fehler des Empfindens, Denkens, Wollens, Fühlens abgetan wissen wollten.
Der neuere Bearbeiter der psychologischen Typenlehre, Jaspers (Psycho¬
logie der Weltanschauungen, 1919), fällt auch nicht mehr in diesen Fehler.
Jaspers’ Haupteinteilung gründet sich auch auf die Einstellungen, welche
das Subjekt-Objektverhältnis bezeichnen wollen (gegenständliche,
selbstreflektierende und, beiden übergeordnet, ihren Gegensatz mehr
oder weniger aufhebend,die enthusiastische — man denke an Jungs
religiöse Andacht! —Einstellung), aber innerhalb der gegenständlichen Ein¬
stellung z. B. nimmt er eine aktive, eine kontemplative, eine mystische Ein¬
stellung an, verläßt also die allgemein-psychologische Systematik.
Sind wir so im Begriffe auszusprechen, daß Jung eigentlich als ein Schüler
Sterns das Problem bearbeitet — wenn auch ohne den elan vital von Jaspers
— so könnte uns entgegengehalten werden, daß Jung vom Unbewußten, von
Libido spreche, er verkünde also eine psychoanalytische Lehre. Nun
aber, gerade in der Art, wie er diese Begriffe verwendet, zeigt sich
seine Abhängigkeit von Stern und nicht von Freud. Stern
lehrt auch („Die menschliche Persönlichkeit“, 1918), daß die Grundlage der
Person vom Unbewußten gebildet wird und „daß der Mensch die schwachen
Stellen seiner Persönlichkeit sich selbst preisgegeben im Unbewußten bestehen
lasse“, und sie dann ins Bewußtsein als Hieroglyphen hineinbrechen. Stern sieht
auch alles, was die Persönlichkeit angeht, im Lichte der Teleologie, des ziel¬
strebigen Geschehens, wie Jung; für die einheitliche zielstrebige Kausalität
nimmt er als Erklärungsgrund eine psychophysisch-neutrale „Entelechie“,
einen der Libido ähnlichen Begriff (in Jung schem Sinne!).
Was würde demgegenüber eine psychoanalytische Typenlehre verlangen?
Man denke hier an das Musterbild der Ausarbeitung des analerotischen
Charakters — wovon wir bei Jung nichts erfahren —, dann an die
Prinzipien der psychoanalytischen Einteilung der Neurosen: die psychoana¬
lytische Typenlehre muß stets die Triebentwicklung vor Augen halten,
sie muß sich auf die Kenntnis der Sexualkonstitution stützen, andererseits aber
muß sie die einzelnen psychischen Systeme in ihrer Ausgestaltung, in ihren
inhaltlichen Bezügen und in ihrer gegenseitigen Kommunikation veranschau¬
lichen, wobei auf die Entwicklung des Ichsystems, der Idealbildung, des
Ichinteresses ein besonderer Wert gelegt werden soll. Eine sehr geringe
Annäherung wenigstens zur Forderung der Kenntnis der biologischen Eigen¬
schaften zeigt ein dritter Typen-Forscher, Kretschmerbei Jung bleibt
aber Stern, Jaspers, Kretschmer unerwähnt, erwähnt wird Freud,
' Auch Kretschmers Haupteinteilung (Zyklothymiker, Schizothymiker) deckt sich
mit dem Objekt-Subjekt-Gegensatze.
Kritiken und Referate
531
doch mit welchen Begriffen verkettet! Libido ist bei Jung Intensität
des psychischenGeschehens, der Begriff entbehrt also nicht nur des
sexuellen Charakters, sondern ist auch von der — sogar durch die Phäno-
menologen zuerkannten - Qualität der Liebe gereinigt: Jung scheint
überhaupt keine T r i e b e n t w i ckl u n g im Sexuelien zu
kennen. Und sein Unbewußtes? Er kennt kein vor be wußtes, kein
unbewußtes System; bei ihm liegen Funktionen „unbewußt“ bereit
(wieso und wieso Funktionen „verdrängt“ werden können, wird nicht
angegeben). Jung kennt, kurz gesagt, die psychoanalytischen Begriffe nicht:
der Freudsche Narzißmus wird z. B. definiert als ein relativ unange-
paßter Zustand, wo das „Seelenbild“ nicht projiziert wird (dabei bedeutet
das Seelenbild die Darstellung der inneren Einstellung durch bestimmte
Personen, vom Unbewußten produziert). Wie kann Narzißmus ohne den
F reudschen Libidobegriff definiert werden? — Die Freudsche Deutung soll
die Phantasie auf die kausalen elementaren Triebprozesse reduzieren; Jung
weiß scheinbar nicht, daß die Psychoanalyse Deutungen aus verschiedenen
Schichten des Ubw. zuläßt, daß auch die gegenwärtigen, bewußten
Wunsche, Befürchtungen, Ahnungen als Traummaterial aufgefunden werden
können. Die Psychoanalyse soll nach Jung eine extrem extravertierte Wissen¬
schaft sein: er bemerkt nicht, daß Freud, in dem auch die Gegner die
kunstvolle Einfühlung in fremdes Seelenleben schätzen, stets lehrt, der Arzt
soll bei der Analyse sein eigenes Unbewußtes frei wirken lassen: das ist
extreme Extraversion?
Nur nebenbei sei bemerkt: auch philosophische Termini sind falsch
gewählt (Verwechslung von transzendent und transzendental). „Metaphysik“
hat für ihn die psychologische Bedeutung von „unbewußt“. Daß die Wörter
„Gott“ (eigentlich nur höchster Wertl, „Erlösung“ so oft von Jung verwendet
werden, zeigt von einem geringen Grad der wissenschaftlichen Bescheidenheit
Und daß gegenüber der reduktiven (Freudschen) Methode die
eigene konstruktive gesetzt sei, soll nicht ein Versprechen sein? - will
Jung nicht destruktiv statt reduktiv sagen? Ist die eigene Methode
die in diesem Buche dargestellte, so kann man sie getrost der reduktiven
gegenüber als regressive Methode bezeichnen. Dr. Imre Hermann
Paul Schilder: DasUnbewußte. (Zeitschr. f. d. ges. Neur. u. Psych. 1922,80. Bd.)
Es wird das Unbewußt-Psychische gesucht in der Funktion der Sinnes¬
organe, in der „Gegenstandsfunktion“, im Wirkungswert der Erlebnisse, in
„dem körperliche Form gewordenen Automatismus“. Hier liege überall nur
Körperliches, Nichtpsychisches vor. Ferner in einer Reihe psychischer Erlebnisse:
im Akterleben, in den Erlebnissen auf niedrigerer Bewußtseinsstufe, im F r e u d-
schen Unbewußten, in der vergessenen Vergangenheit. Aber auch alle diese
psychischen Erlebnisse seien bewußt, wenn auch „in einer besonderen
Gegebenheitsweise“, die Schilder „sphärisch“ nennt. „Ich vertrete also die
nach Freud unhaltbare Anmaßung, daß alles Psychische bewußt sei.“
Die Einzeltatsachen, aus welchen der psychoanalytische Begriff des
Unbewußten (=Verdrängten) hervorgegangen ist, werden nicht geleugnet, viel¬
mehr: „die Sphäre fällt mit dem System Ubw. Freuds zusammen.“
Internat. Zeitschr. f. Psychoanalyse, IX/ 4 . 35
532
Kritiken und Referate
Wenn einer theoretischen Anschauung, unter Anerkennung der sie
konstituierenden Einzeltatsachen, von anderer Betrachtungsweise eines Phäno¬
mens her eine andere Formulierung des Betrachteten entgegengehalten wird,
wie hier, so ist zu fordern, daß die neue Anschauung ihre Existenzberechtigung
erweise. Als Nachweis würde das Aufzeigen neuer heuristischer Möglichkeiten
oder praktischer Konsequenzen genügen.
Schilders Erörterungen über das Unbewußte fußen zum größten
Teile, soweit es sich überhaupt um psychoanalytisch Unbewußtes handelt, auf
Untersuchungen über die Gedankenentwicklung. Jeder Gedanke ist nach
S c h i 1 d e r das Resultat einer biologischen Einstellung, also eines Triebes
Rein phänomenologisch wird nun die Gegebenheitsweise alles Gegenständlichen
beschrieben: „Jedes Bild, alles Gegenständliche liegt in einer Sphäre, die alles
umschließt, was dem Gegenstände sachlich ähnlich ist, oder sich teilweise mit
ihm deckt, aber auch alles, was durch unser individuelles Erleben diesem
Gegenstände jemals räumlich oder zeitlich näher rückte. Wir könnten das
einem Bilde oder Begriffe Zugehörige als seine Sphäre bezeichnen. Jedes
Erlebnis wird zunächst die Sphäre als Ganzes anklingen lassen .... Jeder
auf tauchende Gedanke, jedes auftauchende Bild liegt in der Richtung einer
Intention, einer biologischen Einstellung. Die Sphäre zeigt die Einstellungs¬
richtung im Groben an, der fertige Begriff entspricht einem endgültigen bio¬
logischen Ziel.. . Stellen sich der Erreichung biologischer Ziele Hindernisse in
den Weg, so verbleibt die Intention in der Sphäre und sie gelangt nicht zu
dem eigentlichen Ziel, sondern nur zu einem assoziativ verwandten.“ Es ist
die richtige phänomenologische Umschreibung der Verdrängung und Ver¬
schiebung.
Die Verdrängung Freuds hätte demnach auch die Funktion, die
Gedankenentwicklung zu hemmen, der Gedanke bliebe auf primitivster Stufe,
id est in der Sphäre stecken. Ein verdrängtei: Name könnte somit z. B. durch
das Gefühl des „Etwas-auf-der-Zunge-habens“ doch bewußt repräsentiert sein.
Der Analytiker sagt in diesem Falle, der Name ist systematisch verdrängt,
das heißt unbewußt Dagegen wäre nichts einzuwenden. Es ist ja auch nichts
gegen die Annahme einzuwenden, daß ein Gedanke, der erst nach vielen
Analysenstunden zur vollen Entfaltung kommt, schon sehr früh in Spuren
vorhanden war. Wir können auch annehmen, daß in der Selbstbeobachtung
geschultere Patienten uns von ihrem jeweiligen Bewußtseinsinhalt viel mehr
mitteilen könnten. Man hat es in der eigenen Analyse deutlich erfahren, wie
voll das Blickfeld des Bewußtseins in Momenten scheinbarer Gedankenlosigkeit
von Fetzen, Schemen, Ansätzen von Gedanken ist, deren Bemächtigung nur
selten gelingt. Es sei also zugegeben, daß das Bewußtsein weiter reicht, als
oberflächliche Selbstbeobachtung denken läßt. Schilder unternimmt aber
einen sehr gewagten Schritt, wenn er von hier aus per analogiam die Bewußt¬
heit alles Seelischen im Längsschnitt, nicht nur im Querschnitt, des Erlebens
postuliert. Wie denkt sich Schilder die gleichzeitige, bewußte
Gegebenheit alles vergangenen Erlebens? Diese Frage ist es gerade, die wir in
der Schrift gerne beantwortet gesehen hätten. War es doch das Problem der
latenten psychischen Inhalte, das zur Aufstellung der Begriffe unterbewußt.
Kritiken und Referate
533
nebenbewußt etc. in der nichtanalytischen, zur Postulierung eines Vorbewußten
und Unbewußten in der Psychoanalyse geführt hat.
Was der Autor in dieser Frage selbst vorbringt, ist höchst unklar: „Ist
die Vergangenheit denn überhaupt im Bewußtsein und wie ist sie denn dort
vertreten? Ich weiß, daß die Annahme, alles Vergangene sei im Erlebnis¬
hintergrund, in den Fringes gegeben, gewaltsam zu sein scheint, doch halte
ich sie aus Gründen, die ich im einzelnen hier nicht angeben kann, für die
beste. Auch das bewußte Erlebnis ist unzerstörbar, es kann, wie das auch die
Psychoanalyse zeigt, in unveränderter Form wieder auf volle Bewußtseinshöhe
kommen. Es wäre demnach anzunehmen, daß die Vergangenheit auf tiefster
Bewußtseinsstufe da ist und nicht in sphärischer Gegebenheitsweise (?). Gleich¬
wohl sendet die Vergangenheit fortwährend Abkömmlinge in die Sphäre hinein,
so daß jedes Erlebnis gleichsam doppelt repräsentiert ist, sphärisch (im
Unbewußten) und auf geringerer Bewußtseinsstufe im Vbw.“
Wo liegt das heuristisch Wertvolle dieser Annahme? Im Gegenteil: daß
durch den Versuch, das psychoanalytisch Unbewußte phänomenologisch als
bewußt zu erfassen, zu jener Verwirrung führen muß, die die Psychoanalyse
durch die Aufstellung des „Unbewußten“ beseitigt hat, betonte Freud in der
Diskussion über die mündlich referierte Arbeit.
Das Unbewußte als solches ist nicht faßbar, alle Beweise Freuds
für die Existenz eines Unbewußt-Psychischen sind indirekte (posthypnotischer
Auftrag, Diskontinuität des Bewußtseins, Nichtwissen um „Woher“ und „Wozu"
der Symptome, infantile Amnesie etc.). Die Annahme eines Unbewußt-
Psychischen ist nach Freud „durchaus legitim und notwendig“. Der Versuch
Schilders, das Unbewußte Freuds den Klauen erkenntniskritischer
Einwände dadurch zu entreißen, daß ihm eine eigenartige bewußte
Gegebenheitsweise zugeschrieben wird, ist hier mißlungen und überdies
undurchführbar. Schilder unterschätzt sicherlich nicht sonst, aber
bestimmt in dieser Arbeit im Interesse dieses Versuches die Reichweite
des psychoanalytisch Unbewußten; das Problem der Symbolbildung wird
nur gestreift, die Frage nach Wesen und Wirkung der' Urszene, eine der
wichtigsten in der analytischen Theorie des Unbewußten überhaupt, wird
nicht erwähnt.
Die Tatsache des im Interesse der Ökonomie des Denkens notwendigen
physiologischen Vergessens steht im diametralen Gegensatz zur S c h i 1 d e rschen
Annahme.
Schilder bezweifelt sicher nicht die Tatsache, daß unbewußte Wünsche
und Befürchtungen durch Konversionssymptome zum Ausdruck kommen können.
Wir können aber nicht annehmen, daß der psychische Gehalt der „Organ-
sprache“ dem Kranken in einer wie immer gearteten Form bewußt sei.
Die psychoanalytische Forschung und Auffassung zeigt gerade in neuester
Zeit die Tendenz, das Bereich des Unbewußten noch weiter zu umgreifen, es
verwischen sich die Grenzen zwischen Somatischem und Unbewußt-Psychischem
und Konsequenz dieser tiefgehenden Erkenntnisse und Vermutungen ist der
Glaube, daß ,das organische Geschehen mit den Triebmechanismen als wesens¬
gleich“ angesehen werden müsse; aber auch diese Anschauung Schilders,
35 »
534
Kritiken und Referate
die wir teilen möchten, steht im Widerspruch zum Ausspruch: „Alles Seelische
sei auch bewußt.“
Auch für den Psychoanalytiker interessant ist die Erörterung der
Gedankenentwicklung. Ihren Vorläufer bildet eine frühere Arbeit des Autors
(Über Gedankenentwicklung. Zeitschr. f. d. ges. Neur. u. Psych. 1921). Hier ist ein
Stück wertvoller formaler Psychologie entstanden auf Grund analytischer
Triebpsychologie und phänomenologischer Betrachtungsweise. Gefährlich
scheint aber der Versuch, phänomenologische, psychoanalytische und bio¬
logische Standpunkte zu vereinigen, wenn er mit Preisgabe wertvoller theoretischer
Formulierungen erkauft wird. Wir hätten es als eine Bereicherung unserer
theoretischen Anschauungen gewertet, wenn Schilder nicht mehr hätte
aufzeigen wollen, als daß mittels feinerer, sozusagen histologischer Betrachtungen,
ein Stück unbewußten Materials, als bewußt gegeben, nachgewiesen werden
kann. Dr. Wilhelm Reich.
Gaston Roffensiein : Zum Problem des Unbewußten. (Zeitschr. f. d.
ges. Neur. u. Psych., 80. Bd,, 1922.)
Ablehnung des Versuches, den Begriff des Bewußtseins soweit zu strecken,
daß er auch die niedrigsten Bewußtseinsstufen in sich faßt. Es gibt ein
Unbewußt-Psychisches. Methodologisch: wie soll „das Nichtbewußte den
Gegebenheitscharakter des Psychischen erlangen?“
Ablehnung der Annahme einer ununterbrochenen psychischen Kausal¬
reihe. Die Psychoanalyse biete aus sich heraus kein Kriterium für die Richtig¬
keit ihrer Behauptungen. Deutung sei nicht wissenschaftlich. Freud selbst
gebe zu, daß das Urverdrängte rekonstruiert werden müsse. Es gibt kein
Kriterium für die Richtigkeit der Konstruktion.
Jede andere Deutung könnte ebenso richtig oder falsch sein. — Die
Dynamik der psychoanalytischen Heilung sei nicht klar. Freuds völker¬
psychologische Untersuchungen hätten keine Bestätigung der Neurosenlehre
gebracht, „von einer wirklich unabhängig festgesteilten Parallelität der Vor¬
gänge“ kann keine Rede sein. Es handle sich lediglich um eine Umdeutung
der Völkerpsychologie, die von anderen Ethnologen und Massenpsychologen
geliefert wurde. Das „Unbewußte“ Freuds ist, insoweit es nicht vom
Bewußtsein nach Aufhebung der Widerstände agnosziert wird, .nicht Gegen¬
stand einer gesicherten wissenschaftlichen Erkenntnis“. Immerhin gehe aber
„aus der Unfähigkeit einer Methode, aus sich heraus Kriterien für die Richtig¬
keit ihrer Ergebnisse zu liefern“, noch nicht deren Unbrauchbarkeit hervor.
„Und aus der Unbeweisbarkeit oder Unanerkennbarkeit eines folgt noch
nicht dessen Nichtexistenz.“ „Logisch ist nur an der unbedingten Unterscheidung
zwischen Wissenschaftlichkeit und Deutungsmöglichkeit, methodologisch auf
die gewaltige kritische Unbekümmertheit hinzuweisen, ich möchte sagen auf
die Selbstgenügsamkeit der psychoanalytischen Methode, die im ewigen Zirkel
immer Neues durch gewagte Kombinatorik aus sich gebiert, ohne nach ander¬
weitigen, wirklich selbständigen Bestätigungen auszuschauen.“
Es wäre sehr zu wünschen, wenn jene Forscher, die erkenntniskritisch
und methodologisch soviel gegen die psychoanalytischen Forschungsergebnisse
Kritiken und Referate
635
einzuwenden haben, sich einmal die Mühe nehmen wollten, einige Jahre
psychoanalytische Tatsachen sehen zu wollen. Die Psychoanalyse hat gegen
eine Auseinandersetzung mit erkenntniskritischen Einwänden sicher nichts
einzuwenden —, sie darf aber vorerst fordern, daß der Erkenntniskritiker
analytisch durchgebildet und erfahren sei. Vielleicht kommt er dann, staunend
über diesen Widerspruch mit seinen methodologischen Bedenken, zu dem
Schlüsse: und sie bewegt sich doch.“ — Die psychoanalytische Methode
aber muß alle methodologischen Bedenken theoretischer Natur, ohne sie zu
übersehen, schon angesichts der einen Tatsache an zweite Stelle rücken, daß
bei richtiger, langdauernder Analyse nicht allzu selten die erfolgte Rekonstruktion
eines wichtigen, verdrängten Erlebnisses aus frühester Kindheit durch nach¬
folgende Außenanamnese ihre Bestätigung erfährt. — Das vom Autor in
bezug auf Wissenschaftlichkeit bezweifelte „Konvergieren“ des analytischen
Materials in eine bestimmte Richtung, die sich' ergebende Notwendigkeit
einer bestimmten Deutung sind analytische Tatsachen. Das Ausbleiben
eines deutlichen Erinnerungsgefühls ist ein noch ungelöstes psychoanalytisches
Problem. Dr. Wilhelm Reich.
J. Sadger : Die Lehrevon denGeschlechtsverirruagen(Psycho-
pathiasexualis) auf psychoanalytischer Grundlage.
(Leipzig und Wien, Franz Deuticke, 1921.)
Der bekannte Autor, dem wir eine Reihe wertvoller Beiträge zur psycho¬
analytischen Erforschung der Perversionen verdanken,^ tritt mit dieser Arbeit
in einem größeren Werke vor die breitere Öffentlichkeit, um für die psycho¬
analytische Auffassung der Perversionen in leidenschaftlicher Weise zu werben;
er fußt im wesentlichen auf Freuds Anschauungen, geht aber auch ver¬
schiedentlich seine eigenen Wege, wobei für Uneingeweihte leider nicht
deutlich ersichtlich ist, was heute Allgemeingut der Analytiker ist, was
S a d g e r s eigene Anschauungen sind. Der Titel, der an das bekannte Werk
von Krafft-Ebing denken läßt, verspricht mehr, als das Werk hält: es
bespricht nicht alle Perversionen, sondern nur die Homosexualität, den sado¬
masochistischen Komplex,2 den Fetischismus und den Exhibitionismus. Ehe
die eben genannten Perversionen besprochen werden, führt der Autor den
Leser in einem „Allgemeinen Teil“ in die psychoanalytische Auffassung der
Entwicklung der Sexualität von der frühesten Jugend an ein — unter besonderer
Betonung des Ödipus- und des Kastrationskomplexes — und widmet der
psychischen Impotenz, der vaginalen Unempfindlichkeit der Frauen und der
Onanie ein besonderes Kapitel. Eine ungeheure Menge von Wissen, eine schier
erdrückende Fülle von Einzelbeobachtungen aus der psychoanalytischen
Praxis und aus dem täglichen Leben — in vielen arbeitsreichen Jahren
gesammelt — ist in diesem Werke niedergelegt. Eine umfangreiche und gründ¬
liche Kenntnis der Literatur, sowohl der nichtanalytischen als auch der
neuesten psychoanalytischen, welche der erfahrene Wiener Forscher sich ganz
* Siehe meine Würdigung eines kleines Teiles von Sadgers wissenschaftlichen
Verdiensten im „Bericht über die Fortschritte der Psychoanalyse in den Jahren 1914—1919,
S. 74—77.
2 Gemeint sind die beiden verwandten Perversionen, kein „Komplex“.
536
Kritiken und Referate
zu eigen gemacht hat, zeigt sich auf Schritt und Tritt; das Wesen des Narzißmus,
der prägenitalen Organisationsstufe, des weiblichen Kastrationskomplexes,
von Starkes Kastrationskomplex — um nur einige neuere psychoanalytische
Arbeiten herauszugreifen — sind dem Autor gut vertraute Dinge.
Mit hervorragender Gründlichkeit und auf ein umfangreiches Material
gestützt, wird immer wieder gezeigt, welche entscheidende Rolle Kastrations¬
und Ödipuskomplex bei der allmählichen Entwicklung der vom Autor
besprochenen Perversionen spielen — in vollster Übereinstimmung mit Freuds
„Ein Kind wird geschlagen“ — sicher ein großer Fortschritt in unserem
Verständnis der Perversionen; was Freud dort in Bezug auf eine Perversion,
den Masochismus, gelehrt hat, wird dem Leser auch in Bezug auf andere
Perversionen in so einleuchtender Weise dargestellt, daß es sich als Mittelpunkt
für das Verständnis der Perversionen einprägt. Am klarsten und übersicht¬
lichsten (zugleich auch am kürzesten) sind die Kapitel über den Exhibitionismus
und den Fetischismus geraten; letzteres in Anlehnung an Stenogramme des
Autors von zwei nicht publizierten Vorträgen von Freud, welche der Leser
auf diesem Umwege kennen lernt. In Bezug auf die Vielseitigkeit der zu
berücksichtigenden Gesichtspunkte bei der Erforschung der Homosexualität
erfährt diese eine schlechterdings vollkommene Darstellung; die Lektüre der
Kapitel: „Weitere Erkenntnisse“ (S. 131), „Neueste Forschungen“ (S. 141) und
„Ergänzungen“ (S. 161) kann jedem Analytiker wärmstens empfohlen werden. Bei
der Darstellung des Masochismus wird den von Freud eine wesentliche Rolle
zugeschriebenen Schuldgefühlen sicher eine zu geringe Würdigung zuteil.
Ich komme damit zu den Schattenseiten des umfangreichen Werkes:
Sadger verteidigt die Psychoanalyse mit außerordentlicher Leidenschaftlichkeit;
wir jüngeren Schüler von Freud fürchten aber die Angreifer nicht mehr.
Unseres Erachtens hat sich das Lebenswerk unseres Lehrers in dem Maße in
der Welt durchgesetzt, daß wir es getrost erwarten können, wie die allmählich
seltener werdenden Gegner sich verlieren. Der gereizte Ton veranlaßt den
Autor, wissenschaftlich andersdenkende Forscher, wie z. B. den bereits ver¬
storbenen V. Krafft-Ebing oder Moll und insbesondere Magnus Hirsch¬
feld, in einer Weise anzugreifen, wie sie sonst in wissenschaftlichen Werken
nicht üblich ist; auch Bleuler wird mit einer burschikosen Redewendung
gekennzeichnet; selbst eine gehässige Bemerkung über einen früheren Patienten,
einen von ihm behandelten deutschen Psychiater, kann der Autor nicht unter¬
drücken. (S. 235 und 257.) Infolgedessen wirkt das Werk mehr wie eine
Streitschrift als wie ein Lehrbuch, welches gesichertes Wissen vermittelt. Ein
anderer wunder Punkt des Werkes ist folgender: der Autor verteidigt in der
Einleitung seinen Gebrauch deutscher Ausdrücke im Gegensatz zu den sonst
gebräuchlichen lateinischen: „Es läßt sich ja doch jeder Ladenschwengel diese
Stellen unschwer ins Deutsche übersetzen,“ aber er verfällt in einen anderen
Fehler: er gebraucht immer wieder, nicht bloß in Assoziationen von Patienten,
vulgäre deutsche Ausdrücke, für die es überall auch weniger anstößige
deutsche Bezeichnungen gibt. Die vom Autor gepriesene Unbefangenheit
(S. 5) den Erscheinungen des Geschlechtslebens gegenüber („man muß den
Mut haben, dieser Tatsache ins Gesicht zu sehen, darf sich nicht entsetzen ob
Kritiken und Referate
537
dieser naturgewollten Einrichtung“) fehlt ihm immer wieder; Ausdrücke wie:
»recht arge Ausschweifung“ (S. 153), »Rädelsführer“ (S. 137), »zu maßlosem
Masturbieren und später zu einem zuchtlosen Leben verleitete“ (S. 306),
»andere Untaten werde ich später erzählen“ (S. 306), »der verbohrteste
Masochist“ (S. 239), »de Sade .,. dieser Lüstling der Grausamkeit* und »die
ungeheuerliche Antimoral der schweren Sadisten“ (S. 223) zeigen eine Ver¬
urteilung dessen, was unserem Verständnis näher gebracht werden soll.
Erschwert wird die Lektüre ferner dadurch, daß die Gruppierung des
unendlich reichhaltigen Materials nicht genügend erkennen läßt, was wesentlich,
was weniger wichtig ist, was tiefste, unbewußte Schicht des Seelenlebens ist,
was mehr aus dem Vorbewußten stammt. Gerade das Kapitel über die Homo¬
sexualität, welches die meisten Anregungen gibt, zeigt diesen Fehler der
Darstellungsweise am deutlichsten.
Die Leidenschaftlichkeit der Darstellung führt den Autor leider zu Ein¬
seitigkeiten, Übertreibungen, Widersprüchen und zum Vertreten von Ansichten,
welche sicher falsch sind, wie z. B. diese: »Alle Perversionen sind neurologisch
als Zwangsantriebe, zwangsmäßige Handlungen zu bezeichnen, für deren
Bildung einzig die Gesetze der Zwangsneurose gelten“ (S. 87). Daß die Lust
am Kinderkriegen bei einer Mutter nur so zu erklären ist, daß sie »das Glück
der infantilen Perversitäten genießen will mit ihrer Uro- und Koprophilie, der
Befriedigung ihrer Schaulust und Hauterotik“ (S. 79—81), ist eine durch nichts
zu rechtfertigende Einseitigkeit.
Der ständige Hinweis auf die konstitutionelle Verstärkung der »Haut-,
Schleimhaut- und Muskelerotik“, die »natürlich“ immer wieder vorhanden ist,
wirkt nirgends überzeugend. Ich habe vielmehr den Eindruck, daß überall
dort, wo der Autor keine psychologische Erklärung findet, die eben erwähnte
»konstitutionelle Verstärkung“ sich wie ein Deus ex machina einstellt (zum
Beispiel S. 305, Ende des ersten Absatzes). Nur ein einziges Mal wird durch
entsprechendes Material der Nachweis von der »enormen“, »mächtigen“ Haut-,
Schleimhaut- und Muskelerotik zu erbringen versucht (S. 305—307); doch gerade
dieser Nachweis mißlingt: manche der Züge, wie z. B. daß die Patientin sich
schon als ganz kleines Kind gern an den nackten, molligen Leib der Mutter
anschmiegte, finden sich bei sehr vielen Kindern; an anderen Stellen ist die
psychologische Begründung, wie z. B. »und Vater konnte sich nicht satt sehen“
(das heißt an der Geschicklichkeit des vierjährigen Mädchens) übersehen
worden; müssen wir hier noch nach einer konstitutionellen Verstärkung suchen?
Ein Widerspruch ist es, wenn der Autor Magnus Hirschfeld wegen der
von ihm vertretenen Adaptionstherapie leidenschaftlich bekämpft, aber selbst
für dieselbe eintritt (S. 88).
Mit Entschiedenheit tritt der Autor für die prinzipielle Heilbarkeit der
Perversionen durch eine psychoanalytische Behandlung ein, welche ich auf
Grund zahlreicher Erfahrungen nur bestätigen kann; doch der so ungemein
wichtige Beweis ist leider nur in ganz ungenügender Weise erbracht worden.
Alle Patienten S a d g e r s sind nur wenige Wochen oder Monate in seiner
Behandlung gewesen, so daß sich über die Dauer der erzielten Erfolge, auf
die es ankommt, nichts sagen läßt; auch in der Therapie der Neurosen
538
Kritiken und Referate
erzielen wir häufig zu Beginn der Behandlung einen überraschenden Erfolg
— doch das dicke Ende kommt nach. Wenn der Autor behauptet, daß er in
einem Falle von psychischer Impotenz „bereits nach vier Sitzungen eine
Dauerheilung durch Auflösung der Mutterbindung“ (S. 96) erzielt hat, so wird
das in den Kreisen von Freuds Schülern Zweifel erregen. Wenn diese
einzig dastehende Leistung aber nicht anzuzweifeln sein sollte, so weist das
Werk eine wesentliche Lücke auf: die Darstellung der Technik, durch welche
die Auflösung der Mutterbindung in vier Sitzungen erzielt worden ist, müßte
die ganze bisherige psychoanalytische Therapie revolutionieren
In Bezug auf den Inhalt befriedigt der Teil des Buches, welcher den
Schaden und den Nutzen der Onanie bespricht, wohl am wenigsten; die hier
geschilderten Beziehungen zwischen Masturbation und Autoerotismus streifen
nur die Oberfläche des Problems. Ausdrücke, wie: „da ist als Grundlage der
Moral die Schwachheit der Hoden (gemeint ist eine Folgeerscheinung der
Masturbation) nicht ganz zu verachten“ (S. 118) können der Psychoanalyse
weder in Kreisen von Fachleuten noch von Laien Freunde werben.
Ich muß offen bekennen, daß ich zur Besprechung des bereits 1921
erschienenen Werkes mehrere Monate gebraucht habe, weil ich über einen
Punkt keine Klarheit bekommen konnte: wie sind die ganz rätselhaft wirken¬
den, auf Grund von stenographischen Aufzeichnungen geschriebenen Kranken¬
geschichten zustande gekommen?! Eine Krankengeschichte eines Falles von
Masochismus beginnt folgendermaßen: »Fall 1: Neunundzwanzigjährige
Hysterica, die seit ihrer Kindheit schwer unter dem Zwist ihrer Eltern
leidet. ,Seit meinem achten Lebensjahr sah ich, wie der Haß zwischen den
Eltern immer mehr anwuchs, und betete zu Gott, er möge ihnen Frieden
schenken und alles wieder so werden wie früher. Zur selben Zeit hatte ich
auch öfter Gelegenheit, in der Nacht den Geschlechtsverkehr meiner Eltern
zu belauschen. Am nächsten Tage jedoch standen die Eltern einander genau
so feindselig gegenüber wie vorher, was bei mir tief nach wirktet“ Soll ein
der Psychoanalyse unkundiger Leser den Eindruck erhalten, daß die Patientin
schon in der ersten Stunde, ehe sie überhaupt irgendeine Angabe über ihr
Leiden gemacht hat, von der Beobachtung des Geschlechtsverkehrs der
Eltern zu erzählen beginnt? Und fast könnte man auf Grund der anderen
Krankengeschichten zu dem Schluß kommen, daß S a d g e r s sämtliche
Patienten nach ganz kurzer Analyse mühelos erzählen, was wir nach unendlich
mühevollen, langwierigen Bemühungen manchmal zutage fördern! Mit
welcher uns unbekannten Technik erreicht Sadger das? Wie weit sie von
der üblichen der freien Assoziationen abweicht, lehrt am besten die Lektüre
der Seite 290: immer wieder unterbricht Sadger hier die Patientin. Die
Krankengeschichten lesen sich wie Aufsätze oder wie Romane, welche
Patienten, die einen Teil der psychoanalytischen Literatur gelesen und mangel¬
haft verstanden haben, über die Entstehung ihres Leidens schreiben könnten
Alle kommen ununterbrochen mit Erklärungsversuchen, Deutungen, Fragen,
wobei sie sich jetzt darbietende Erscheinungen einfach auf bewußte Kindheits¬
eindrücke „zurückführen“, sie als Wiederholungen, als einfache Gewöhnungen
schildern: „Vielleicht könnte das darauf zurückzuführen sein,“ ist eine Stereo-
Kritiken und Referate
539
type Phrase bei allen — und die Aufdeckung der durch die Kindheits¬
eindrücke entstandenen unbewußten Vorgänge durch den Analytiker unterbleibt;
auch wird den offenbar aus dem Vorbewußten stammenden Erklärungsversuchen
ohne weitere Deutungsarbeit eine Beweiskraft zugeschrieben; dabei gliedern
die Patienten ihre Erkiärungsversuche wie in einem Schulaufsatz in: erstens,
zweitens, drittens usw. Sind das freie Assoziationen? Aufgefallen ist mir,
daß Sadgers Patienten dieselben Ausdrücke, dasselbe Deutsch verwenden,
wie S a d g e r selbst in seinem Text. Je länger ich mich in diese Kranken¬
geschichten vertieft habe, desto mehr hat sich in mir die Überzeugung
verstärkt, daß alle Patienten von S a d g e r während der kurzen Behandlungen
unter einer starken, ihm wahrscheinlich unbewußt bleibenden Suggestion des
Autors, ihm zuliebe, ohne Widerstände das „assoziieren“, wovon sie auf Grund
von Lektüre und suggestiven Fragen annehmen müssen, daß ihre Erklärungs¬
versuche dem Arzte gefallen könnten. Infolgedessen kommt den, wie gesagt,
nach Stenogrammen veröffentlichten Krankengeschichten leider keine Beweis¬
kraft zu; außerdem geben sie Uneingeweihten kein zutreffendes Bild von
einer psychoanalytischen Behandlung.
Zusammenfassend muß ich zu meinem großen Bedauern sagen, daß
die Schattenseiten des umfangreichen und ersten Werkes über die Perversionen
auf psychoanalytischer Grundlage die Vorzüge desselben fast aufwiegen. Es
wäre sehr zu wünschen, daß das Werk bei einer Neuauflage vom Autor
wesentlich im Umfange verringert würde, besonders durch Fortlassung oder
starkes Verkürzen der Krankheitsgeschichten, und in wesentlich anderem
Gewände erscheinen möge; dann werden die unzähligen, wertvollen An¬
regungen auf weit fruchtbareren Boden fallen und dem Autor und der
Psychoanalyse mehr Freunde werben! Dr F R n p ti m
Berichtigung
zum Artikel: Selektlonstheorie und Lustprinzip von Dr. R. Brun (ZUrloh) Im laufenden
Jahrgang dieser Zeitschrift, Heft 2, S. 183 usf.
1. Der Hinweis zur Anmerkung Nr. 1, Seite 183, gehört nicht zum
Untertitei der Arbeit („Betrachtungen ... usw.“), sondern an den Schluß des
ersten Absatzes der gleichen Seite: ... „... müssen sich zum mindesten . ..
Einschränkungen ihres Geltungsbereiches gefallen lassen“.
2. Dementsprechend gehört die Fußnote 2 natürlich nicht zi
diesem Abschnitt, sondern zum Schlüsse des zweite:
A.bsatzes auf Seite 185: „. .., daß sogar noch beim Kulturmenschen.,
für das triebhafte Handeln Nützlichkeitsgründe niemals ausschlaggebend sind“
— also an die Stelle der dort stehenden Fußnote 1, die somit zu streichei
wäre (sie kehrt auf Seite 187 an richtiger Stelle wieder).
3. Am Schlüsse der Fußnote 2 auf Seite 190 soll es heißen: „Cfr. übe:
die sexuellen Wurzeln der Staatenbildung auch Freud“, — (nicht: und Freud)
\
Zur psychoanalytischen Bewegung.
VII. Internationaler Kongreß für Psychologie in Oxford.
25. Juli bis 1. August 1923.
Der letzte Internationale Kongreß für Psychologie hatte 1909 in Genf statt¬
gefunden. Es gab viele Anzeichen dafür, daß sich die Einstellung zur Psycho¬
analyse in diesem Zeitraum wesentlich geändert hat. Im Vorstand des Kongresses
war die Psychoanalyse durch den Präsidenten der Internationalen Vereinigung
vertreten und der Sekretär der Vereinigung war als Vertreter der deutschen
Psychologie zum Kongreß eingeladen (der einzige Psychiater in dieser Stellung).
Der Ton der während des Kongresses von seiten der verschiedenen Vorsitzenden
und Redner gemachten zahlreichen Hinweise auf die Psychoanalyse und die
den Vorträgen und Diskussionen der Psychoanalytiker gewährte Aufnahme
zeigte klar, daß der Gegenstand allgemein als ergänzender und wichtiger Zweig
der wissenschaftlichen Psychologie betrachtet wurde. Unter den sich auf
Psychoanalyse beziehenden Vorträgen seien folgende erwähnt:
ln seinem Vortrag über das Vorstellungsleben der Kinder verglich
Dr. Karl Abraham die Gedanken der Kinder mit denen der Erwachsenen,
wies auf seltsame, den ersteren eigene Merkmale hin, und darauf, daß diese
sich wiederum im Unbewußten des Erwachsenen vorfinden. Er betonte beispiels¬
weise die Tatsache, daß das, was dem Erwachsenen als Ähnlichkeit erscheint,
vom Kinde oft als buchstäbliche und absolute Identität angesehen wird; diese
bildet oft die Grundlage für spätere Symbolik. ^
Bei einem Diskussionsthema über die „Einteilung der menschlichen
Instinkte" waren die Referenten Dr. J. D r e v e r und Dr. Ernest Jones.
Dr. Drever kritisierte Freuds dualistische Auffassung auf Grund ihres vermeintlich
geringen empirischen Wertes. Der zweite Redner verteidigte diese Auffassung
gerade wegen ihres großen empirischen Wertes und äußerte sich skeptisch Über
die von akademischen Psychologen aufgestellten Listen unanalysierter „Instinkte".
Es folgte eine lebhafte Debatte.
Dr. Mac Curdy hielt einen Vortrag über bildliche Vorstellungen Inder
Phantasie, der von J. C. Flügel vom psychoanalytischen Standpunkte aus
kritisiert wurde.
F. C. B a r 11 e 11, Professor der Psychologie in Cambridge, hielt einen
Vortrag über Symbolik, dem ein ganzer Abend gewidmet war. Die angeführten
Erwägungen waren oberflächlich, da sie nur die mehr bewußten Gebiete der
Zur psychoanalytischen Bewegung
541
Seele berührten und das Verhältnis zwischen Symbolik und dem eigentlichen
Unbewußten unbeachtet ließen, worauf Dr. Ernest Jones in .seiner Kritik
besonders hinwies.
Die Vorträge des Pfarrers Streeter und des Herrn Thouless
behandelten das Verhältnis der Psychologie, besonders der Psychoanalyse, zur
Religion. Der erstere verhielt sich weniger ablehnend als der letztere. Es folgte
gute Gegenkritik von seiten der Psychoanalytiker. Zwei weitere Gegner, deren
Vorträge debattenlos verliefen, waren Dr. William Brown aus Oxford und
Dr. Alfred Adler aus Wien. Der letztere sprach über Fortschritte in der
Individualpsychologie, aber die Fortschrittsbeweise waren nicht sehr einleuchtend.
Morton P r i n c e und Pierre J a n e t hielten auch Vorträge, die jedoch nur
in entfernter Beziehung zur Psychoanalyse standen. E. J.
lY. Italienischer Psychologen-KongreB, Florenz,
22. bis 25. Oktober 1923.
Am ersten Kongreßtage erwähnte Prof. L u g a r o (Prof, der Psychiatrie
in Turin), der erbittertste Gegner der Psychoanalyse in Italien, in der Dis¬
kussion über De Sarlos Vortrag: „Psychologischer Unterricht an den Uni¬
versitäten“, Freuds Psychoanalyse. Wahrscheinlich wollte er eine Gelegenheit
benützen, seine Meinung über die Psychoanalyse zu äußern, weil er am
nächsten Tage abreisen mußte und so beim Vortrage über Psychoanalyse
nicht zugegen sein konnte. Die Psychoanalyse hätte nur in einem recht, und
zwar in der Berücksichtigung der Tatsache, daß das, was uns durch die
Introspektion gegeben ist, mangel- und lückenhaft sei. Es wäre deshalb aber
grundfalsch, ein Psychisch-Unbewußtes anzunehmen. Das Bewußtsein (das
offenbar mit Psychisch identifiziert wurde) sei ein aufflackerndes und wieder
erlöschendes Licht. Nur durch die genaue Erforschung des uns tatsächlich
objektiv gegebenen somatischen Substrates, welches die Fähigkeit habe, das
Bewußtsein (idest: Psychisches) auf flackern zu lassen, könne die psychische Tätig¬
keit erforsbht werden. Die Psychoanalytiker gehen aber so weit, in uns eine
zweite Persönlichkeit anzunehmen, die dazu da wäre, um uns zu schädigen.
Ihm widersprachen mehrere Redner, darunter namentlich Prof. Alliotta
(Neapel), indem er in sehr folgerichtiger Weise darlegte, daß der jähe Sprung
vom Psychischen ins Physische nicht legitim sei und daß man nicht das
Recht habe, das Psychische mit dem Bewußtsein glatt aufhören zu lassen. Es
wurde auch von mancher Seite gesagt, daß man jeder Methode, auch der
psychoanalytischen, zulassen müsse, zur Kenntnis des Seelenlebens beizutragen.
Es ist erwähnenswert, daß in mehreren Vorträgen über Themen gesprochen
wurde, die die größten Berührungspunkte mit der Psychoanalyse hatten, ohne
daß dabei die Psychoanalyse erwähnt worden wäre. Prof. K i e s o w (Professor
der Experimentalpsychologie in Turin) sprach über Individual- und Völker¬
psychologie, behandelte auch den Totemismus, merkwürdigerweise ohne
Freuds Arbeit darüber, noch überhaupt die Psychoanalyse zu erwähnen.
Prof. Ferrari (Psychiatrie, Bologna) sprach über Psychologie und
Psychopathologie und wußte über die Psychoanalyse bloß zu sagen, daß die
Versuche von Breuer und Freud, wie fruchtbar sie auch hätten sein
können, leider in einen Pansexualismus ausgeartet seien. Bezeichnend sind
Prof. T a n z i s (Professor der Psychiatrie, Florenz) Worte, der in der Dis-
542
Zur psychoanalytischen Bewegung
kussion über Ferraris Vortrag das Wort ergriff. Er sagte, daß die öffent¬
liche Meinung dem Psychiater irrigerweise ein größeres Verständnis für die
menschliche Seele zu schriebe. Die Psychiater seien aber • ganz einfache
Menschen, da sie doch mit Kranken mit reduzierten psychischen Funktionen
zu tun hätten. Und diese eigneten sich ganz und gar nicht zur Erforschung
des normalen Seelenlebens.
Dr. Assagioli (Florenz) sprach über eine neue Individualpsychologie,
breitete sich über Jungs Intra- und Extrovertierten aus und bedauerte, daß
Jung den Vorgang der Verdrängung vernachlässigt habe.
Unter dem Vorsitze Prof. Ferraris hielt Dr. Weiß (Trieste) einen
Vortrag über Psychoanalyse, zu dem er vom Kongreßausschuß eingeladen
worden war, der mit lebhaftem Interesse angehört wurde (wird in extenso
veröffentlicht). Prof. Ferrari sprach sich als Vorsitzender anerkennend über
den Vortrag aus, Redner sei sehr gemäßigt gewesen, er freue sich, daß mit
dem Pansexualismus aufgeräumt wurde, und eröffnete die Diskussion.
Prof. Tanzi erklärte sich in der Beurteilung des Vortrages mit dem Vor¬
redner einig; auch er freue sich sehr, daß Freud den Pansexualismus über Bord
geworfen hätte. Ferner sprach Tanzi von einem kühnen Flug der Psycho¬
analyse in das Reich der Philosophie und Metaphysik. „Welch Unterschied
zu der Mäßigkeit, Ernst und Bescheidenheit, die in diesem Kongresse zutage
getreten sind!“ Dr. Weiß hätte jedoch in allen Punkten Mäßigkeit gezeigt.
Seine Patienten hätten sich seiner Ansicht nach in einem subhypnoiden
Zustande befunden.^ Er fragt sich aber, warum die Psychoanalytiker nicht die
Hypnose der langwierigen, für Arzt und Patienten aufreibenden und mühseligen
psychoanalytischen Methode, vorzögen. Die Hypnose versetze doch das Subjekt
in einen willen- und kritiklosen Zustand, in welchem es doch für jede
Suggestion zugänglicher wäre. Vielleicht könne er sich (Redner) selbst die
Antwort darauf geben: Nicht jeder Mensch sei hypnotisierbar. Er breitete sich
hierauf über Fälle seiner eigenen Erfahrung aus, bei welchen er mit der
Hypnose prompte Wirkung erzielt hatte. Die Hypnose sei aber keine Kunst,
wiewohl sie dem Laien ungemein imponiere. Der Arzt trägt für ihre Wirkungen
gar kein Verdienst. Da aber seiner Erfahrung nach die Erfolge mittels der
Hypnose nie dauerhaft waren, habe er diese bald ganz aufgegeben. Er kenne
zwar die psychoanalytische Methode nicht und hätte sie auch nie ausgeübt,
aber er frage sich: Wenn sogar mit der Hypnose die Erfolge so kurze Dauer
aufweisen, um wie viel flüchtiger müssen erst die psychoanalytischen Erfolge
sein, da der Patient während der Behandlung bei Bewußtsein bleibt?
Dr. Weiß erwiderte Prof. Tanzi, daß bei seinen Schilderungen seiner
Erfahrungen mit der Hypnose, es ihm schien, als wohne er einer Vorlesung
von Prof. Freud bei, welche Vorlesung auch veröffentlicht worden ist
(„Vorlesungen“, Kap. XXVIII.). Auch Freud habe dieselben Erfahrungen
gemacht wie Tanzi — vor mehr als dreißig Jahren; auch er sei zur selben
Beurteilung über die Dauerhaftigkeit der Hypnoseerfolge gelangt und, von der
Hypnose enttäuscht, habe er diese ebenfalls aufgegeben, jedoch mit einem
Unterschiede: Daß er sich nämlich anschickte, eine neue Methode auszuarbeiten,
um Dauererfolge zu erzielen. Und dies wurde ihm erst ermöglicht durch die
Erforschung des Wesens und Mechanismus der Neurosen selbst. Diese
Erforschung hat auch ein Licht sowohl auf das Wesen der Suggestion und
^ Interessant ist, daß die psychische Einstelltingf infolg^e Agierens (Ühertragnng) den
Eindruck eines hypnoiden Zustandes erweckt hat (Anm. d. Ref.).
Zur psychoanalytischen Bewegung
543
Hypnose selbst geworfen, als auch auf so manche normale psychische Vorgänge.
Die Erfolge haben Freud recht gegeben. Die Hypnose ist bloß als Palliativ¬
mittel erkannt worden. Der psychoanalytische Eingriff richtet sich hingegen
gegen die Verursachung der Neurose. Es könnte die Hypnose wohl in Frage
kommen, aber nicht als Palliativum, wohl aber eher als Hilfsmittel für die
Erforschungs- und Befreiungsarbeit des Psychoanalytikers. Jedoch hat die
Erfahrung gelehrt, daß wenn auch in der Hypnose anfangs einige Widerstände
leicht nachlassen, sich diese schließlich zu einer unüberwindlichen Schranke
gestalten. Deshalb habe man die Hypnose ganz verlassen. Da sich Professor
T a n z i über Dauererfolge erkundigte, sei es Redner erlaubt, kurz über seine
eigenen Erfahrungen zu berichten: Von 25 schweren Neurotikern, die in
psychoanalytische Behandlung aufgenommen worden sind, wurden 4 nach
kurzer Zeit aus der Kur aus verschiedenen Gründen entlassen und von den
übrigen sind 18 praktisch dauernd geheilt. Für einen von diesen sind
bereits zv^Ölf Jahre vergangen, ohne daß sich seine früheren Symptome wieder ein¬
gestellt hätten. Es handelte sich um Hysterien, Zwangsneurosen, Depressionen
und zwei sexuellen Perversionen. Was den Pansexualismus anlange, konnte
ihn Freud nie über Bord werfen, da er ihn doch nie bekannt hatte und
der Freudsche Pansexualismus nichts anderes als eine pure Erfindung seiner
Gegner oder derjenigen, die ihn mißverstanden haben, sei. Dieser Ausdruck
stammte seinerzeit von Bleuler, der inzwischen sicher seine Meinung
darüber geändert haben wird. Wahr ist jedoch, daß Freud uns gezeigt hat,
daß die Bedeutung der Sexualität stark unterschätzt worden sei.
Sitzungsbericht der Kasaner Psychoanaiytischen Vereinigung.
Im Herbst 1923 hat die Kasaner Psychoanalytische Vereinigung folgende
Sitzungen gehalten:
16. Sitzung, den 28. August 1923.
Dr. B. D. Friedmann: „Rudin* im Lichte der Psychoanalyse.
Rudin — die Hauptperson des bekannten Werkes Turgenjews — bietet
für die Psychoanalyse ein interessantes Material. Sein narzißtischer Charakter
spiegelt sich in seinem Verhäitnis zu Natalie wie auch in seinem sozialen Verhalten.
Diskussion: M. W. Netschkina, Dr. E. M. Penkowskaja, Al. R. Luria.
17. Sitzung, den 4. September 1923.
Al. R. Luria: Psychoanalyse und Marxismus.
Der Verfasser findet in der analytischen Theorie und dem Marxismus
eine Reihe verwandter methodologischer Standpunkte. Die Psychoanalyse kann
dem Marxismus in seinen soziologischen Spekulationen sehr zu Hilfe kommen
und ihnen einen konkreten psychologischen Inhait geben. Die methodoiogische
Einheit von Psychoanalyse und Marxismus glaubt der Verfasser in folgendem
zu finden: 1. Beide Richtungen sind durchaus analytisch; 2. beide haben
mit dem menschlichen Unbewußten zu tun; 3. ihr Gegenstand ist die sozial-
und genetisch determinierte Persöniichkeit; 4. sie studieren die Persönlichkeits¬
dynamik (Triebe-Sublimation usw.).
J
544
Zur psychoanalytischen Bewegung
Diskussion: M. W. Netschkina, M. G. Heffter.
Gesch äf tliches:
1. Um die Psychoanalytische Bewegung in Rußland zu konzentrieren,
wird der Eintritt einiger Mitglieder der Kasaner Psychoanalytischen Vereini¬
gung in den Allrussischen Psychoanalytischen Verein mit dem Sitz in Moskau
für wünschenswert gehalten. Zurzeit ist die Übersiedlung von Al. R. Luria,
Dr. B. D. Friedmann und Dr. R. A. Averbuch nach Moskau bewilligt.
2. An die Stelle der Austretenden wird Dr. E. M. Penkowskaja zum
Schriftführer und M. W. Netschkina zum Mitglied des Bureaus gewählt.
3. Das Thema „Marxismus und Psychoanalyse*^ wird als kollektives
Diskussionsthema der Vereinigung angezeigt und die Hauptprobleme den Mit¬
gliedern: Dr. Averbuch, A. R. Luria, Dr. B. D. Friedmann und M. W. Netschkina
zur Ausarbeitung übergeben. Al. Luria, Schriftführer.
Frau Dr. S. Spielrein, bisher Mitglied der Schweizerischen Gesell¬
schaft für Psychoanalyse, ist nach Moskau übersiedelt und der dortigen Psycho¬
analytischen. Vereinigung beigetreten.
Auf dem 27. Kongreß der französischen Nervenärzte (20. August 1923) in
Besannen hielt Prof. H e s n a r d aus Bordeaux einen Vortrag über die Psycho¬
analyse, auf dessen Inhalt wir noch zurückkommen.
Die Sozioioglsche Gaseiischaft in London veranstaltete im Herbst einen
Kurs von sechs Vorträgen über den Einfluß der Psychoanalyse auf
soziologische Probleme, die von den Mitgliedern der englischen
Ortsgruppe gehalten wurden, und zwar von Dr. Ernest Jones (Einführung),
Dr. James Glover (Das Individuum), Mr. J. C. Flügel (Die Familie),
Dr. M. J. Eder (Politik), Miß Barbara Low (Erziehung) und Miß E. Sharp
(Berufswahl). Das Interesse war so stark, daß eine große Zahl von Hörern
keinen Platz finden konnte.
Prof. N. E. Ossipow, der in Prag ansässige russische Psychiater, hielt im
Seminar von Prof. P, B. Struve im Oktober zwei Vorträge über Totem und
Tabu, um die russischen Soziologen mit der Freudschen Theorie und ihrer
Anwendung auf die Soziologie bekannt zu machen. Später beabsichtigt
Dr. Ossipow in der rechtswissenschaftlichen Gesellschaft einen allgemein
gehaltenen Vortrag über „Freuds Theorie und die Soziologie“ zu halten. (Nach
einem Bericht der in Berlin erscheinenden russischen Zeitung „Rul“ vom
2. November 1923: „Ein russischer Anhänger Freuds“.)
f Hugo Heller, der bekannte Wiener Buch- und Kunsthändler, starb in
Wien am 29. November im 52, Jahre eines überaus arbeitsreichen Lebens.
Die Wiener Psychoanalytische Vereinigung verliert eines ihrer ältesten Mit¬
glieder. Wie erinnerlich, war Heller der Verleger der ersten Jahrgänge der
„Imago“ und der „Internationalen Zeitschrift für Psychoanalyse“, sowie — vor
Gründung des Internationalen Psychoanalytischen Verlages — einiger Schriften
von Prof. Freud; so konnte seine buchhändlerische Rührigkeit sich auch
um die psychoanalytische Bewegung Verdienste erwerben.
Korrespondenzblatt
der
Internationalen Psychoanal3d:ischen Vereinigung.
Redigiert vom Zentralsekretär Dr. K. Abraham.
Mitteilungen des Vorstandes.
Wie den Gruppen bereits durch Zirkular mitgeteilt wurde, erscheint
das Korrespondenzblatt zum erstenmal in veränderter Gestalt. Die gegen¬
wärtigen Verhältnisse nötigten zu einer Einschränkung seines Umfanges. Eine
solche war aber nur durch eine redaktionelle Bearbeitung der Gruppenberichte
möglich. Auf diese Weise wird zugleich eine größere Gleichmäßigkeit der
einzelnen Berichte erzielt. Die redaktionellen Änderungen werden auf das
Nötigste beschränkt.
Die Herren Sekretäre werden auch an dieser Stelle gebeten, die Referate
über Vorträge auf eine kurze Skizzierung des Inhaltes zu beschränken, die
einige Zeilen nicht überschreiten soll. Die Angabe der Teilnehmer an einer
Sitzung oder an einer Diskussion möge künftig unterbleiben.
Der letzte Kongreß hat den Vorstand ermächtigt, den Ort des im Früh¬
jahr 1924 abzuhaltenden achten Internationalen Psychoanalytischen Kongresses
sowie die genaue Zeit festzusetzen. Mit Rücksicht auf die gegenwärtigen
Verhältnisse in Deutschland erschien es richtiger, den Kongreß auf öster¬
reichischem Boden abzuhalten. Der Vorstand beruft daher den Kongreß nach
Salzburg ein, und zwar auf Ostermontag, den 21. April. Die Dauer des
Kongresses ist auf drei Tage vorgesehen. Näheres wird den Gruppen so bald
wie möglich durch Rundschreiben mitgeteilt.
American Psycho-analytical Association.
Die Jahresversammlung fand am 3. Juni 1923 in Boston statt. An Stelle
des verhinderten Präsidenten Dr. W h o 1 e y präsidierte Dr. C1 a r k in den
wissenschaftlichen, Dr. 0 b e r n d o r f in den geschäftlichen Sitzungen.
Für das neue Jahr wurden gewählt: Dr. Oberndorf (New York) als
Präsident, Dr. Stern (New York) als Sekretär, Dr. Clark (New York),
Dr. Coriat (Boston) und Dr. Emerson (Boston) als Beisitzer.
546 Korrespondenzblatt der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung
Dr. G. Stanley Hall wurde zum Ehrenmitglied erwählt. Als Mitglieder
wurden Dr. A. Kardiner und Dr. M. Meyer in New York aufgenommen.
Die neuen Statuten schließen sich denjenigen der New York Psycho-
Analytical Society an. Zur ordentlichen Mitgliedschaft berechtigt nur der
Grad als „M. D.“, dagegen ist die durchgemachte Psychoanalyse nicht
obligatorisch.
Vorträge wurden folgende gehalten:
Dr. Jelliffe: Psychoanalyse und Knochenpathologie.
Die Arbeit gehört zu einer Reihe von Untersuchungen des Autors über den
psychischen Faktor bei der Entstehung innerer Krankheiten (Tuberkulose,
Diabetes, Psoriasis usw.). In dem vorgetragenen Falle lag bei einer jungen
Frau ein Sarkom des Schienbeines vor. Jelliffe führt die Entstehung des
Tumors auf einen besonderen Zug der Bänder und Muskeln zurück, durch
welchen der Stoffwechsel des Knochens beeinflußt wurde. Die besondere, der
Patientin eigentümliche Haltung des Beines, die seit Kindheit bestand, wird
auf psychosexueile Ursachen (Masturbation durch Schenkeldruck, Abwehr
gegen den normalen Gebrauch des Genitales usw.) zurückgeführt. Begleitender
nervöser Zustand. Nach zweijähriger Psychotherapie und Bestrahlung sind im
Röntgenbild Zeichen beginnender Besserung des Prozesses nachweisbar.
Dr. Clark: Der psychische Inhalt der Epilepsie. Der Vor¬
tragende stellte in epileptischen Delirien Beobachtungen an über die besondere
Tiefe der Libidoregression und über die Versuche zur Lösung der seelischen
Konflikte, welche dem Epileptiker eigentümlich sind.
Dr. Arnes: Fatalismus. Der Autor weist nach, daß der Fatalismus
den sublimierten Ausdruck dessen darstellt, was wir in der Psychoanalyse
eine Fixierung nennen. Die Stelle der Person, an welche man fixiert ist,
nimmt im Fatalismus das Schicksal ein.
Dr. Emerson: Psychische Organisation. Gibt einige allge¬
meine Gesichtspunkte über die psychische Organisation des Individuums und
der Gesellschaft.
Dr. Coriat: E inige Bemerkungen über aktive Therapie
in der Psychoanalyse. Besprechung des Wesens der aktiven psycho¬
analytischen Therapie. Der Vortragende gibt eine Reihe von Indikationen zu
aktivem Eingreifen, das aber immer auf Ausnahme- und Notfälle beschränkt
bleiben sollte. Solche Anlässe sind: Stagnation der Analyse, die Unfähigkeit
des Patienten zur Überwindung einer Angst, außergewöhnlich schwere Wider¬
stände, homosexuelle Übertragung, Rückfälle des Patienten mit der unbewußten
Tendenz zur Verlängerung der Lust an der Übertragung.
Dr. Stern: Die Gegenübertragung in der Psycho¬
analyse. Stern schildert die Schwierigkeiten, welche in der Person des
Analytikers entstehen können, wenn er seine Reaktionen auf das Verhalten
des Patienten, besonders auch seinen Narzißmus, nicht zu kontrollieren
vermag.
Korrespondenzblatt der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung 547
Berliner Psychoanalytische Vereinigung.
10. April 1923. Kleine Mitteilungen:
Dr. K o e r b e r : Zur Phallussymbolik.
Frau Dr. H o r n e y: Zur Aufdeckung der Kindheitstraumen in der Psa.
Frau Klein: Das „Doktor^^piel“ der Kinder.
Dr. Simmel: Ein Bilderrätsel im Traum.
Dr. Sachs: Beiträge zum Ödipuskomplex.
Dr. Alexander: Bisexuelle Organisation und Sublimierung.
24. April 1923. Kleine Mitteilungen:
Debatte zu Dr. Alexanders Mitteilung vom 10. April.
Dr. H ä r n i k: Symbolik des photographischen Apparates im Traum.
8. Mai 1923. Kleine Mitteilungen:
Dr. Simmel: Über das funktionale Element in einer passageren
Symptombildung.
Dr. Abraham: Zum Introjektionsvorgang bei Homosexualität. (Wird
publiziert)
Kleine Mitteilungen über Einzelbeobachtungen an Neurotikern und
Kindern wurden gemacht von Dr. Bälint, Dr. Liebermann, Dr. Simmel,
Fräulein S e a r 1, Dr. Sachs, Dr. K o e r b e r und Frau Klein.
15. Mai 1924.
Dr. Simmel: Über die intestinale Bewältigung der Libido.
29. M a i 1923.
Fortsetzung der Diskussion zu Dr. Simmels Vortrag vom 15. Mai.
5. Juni 1923. Kleine Mitteilungen:
Dr. Simmel: Schlußwort zur Diskussion vom 29. Mai.
Frau Dr. Deutsch (als Gast): Über Phantasien der Kastration durch
Beißen.
Dr. Abraham: Korreferat zu der Mitteilung von Frau Dr. Deutsch.
Dr. Radö (als Gast): Ein Traum, zugleich ein Beitrag zur Psychologie
des revolutionären Führers. (Erscheint in der Zeitschrift.)
12. Juni 1923. Kleine Mitteilungen:
Fortsetzung der Diskussion zu Dr. R a d d s Mitteilung vom 5. Juni.
Dr. Müller: Zum Entwicklungsmechanismus eines Falles von Homo¬
sexualität.
Fräulein Schott: Mitteilungen aus Kinderanalysen.
22. Juni 1923. Geschäftliche Sitzung.
1. Die auf Simmels Antrag von einer sechsgliedrigen Kommission
ausgearbeiteten „Richtlinien für die Unterrichts- und Ausbildungstätigkeit“ an
der Poliklinik werden von der Versammlung genehmigt und sollen gedruckt
werden.
2. Auf Abrahams Antrag werden die bisherigen Aufnahmsbedingungen
der Ortsgruppe durch folgende ersetzt:
Internat. Zeitschr. f. Psychoanalyse, IX/4. 8«
548 Korrespondefizblatt der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung
§ 5. Der Verein hat ordentliche, außerordentliche und Ehrenmitglieder.
Die außerordentlichen Mitglieder nehmen an allen wissenschaftlichen Ver¬
anstaltungen der Vereinigung teil, sind aber von den geschäftlichen Sitzungen,
beziehungsweise vom Stimmrecht ausgeschlossen.
§ 6. Für die Aufnahme in die Vereinigung gelten im allgemeinen
folgende Bedingungen:
1. Die Absolvierung einer psychoanalytischen Ausbildung, die den von
der Vereinigung hiefür aufgestellten Richtlinien nach Möglichkeit entspricht.
2. Vorausgehende Teilnahme an den wissenschaftlichen Sitzungen der
Vereinigung als Hospitant durch längere Zeit, sowie Lieferung eines selb¬
ständigen wissenschaftlichen Beitrages (Vortrag oder Aufsatz). Die Aufgenom¬
menen werden im allgemeinen zunächst als außerordentliche Mitglieder geführt.
Sobald ihre Mitarbeit der Vereinigung als hiezu genügend erscheint, kann eine
Generalversammlung die Übernahme zur ordentlichen Mitgliedschaft beschließen.
Die Vereinigung behält sich vor, in besonderen Fällen die vorstehenden
Bedingungen zu ermäßigen, z. B. wenn besondere Verdienste der Aufzunehmenden
um die Psychoanalyse vorliegen.
Der Wahlvorgang ist geheim. Er erfolgt in einer geschäftlichen Sitzung,
respektive Generalversammlung, nachdem ihn der Vorsitzende in der vorher¬
gehenden Sitzung den Mitgliedern anj^ekündigt hat. Die Wahl ist an eine
Zweidrittelmehrheit gebunden. Der gleiche Wahlmodus gilt auch für die Über¬
nahme eines außerordentlichen Mitgliedes zum ordentlichen.
3. Das Kuratorium zur Verwaltung des Ausbaufonds der Poliklinik erstattet
den Bericht über die bisherigen Einnahmen; es wird beschlossen, die Selbst¬
besteuerung der Mitglieder in der bisherigen Weise fortzusetzen, außerdem
für Schenkungen zu diesem Zwecke zu werben.
30. Juni 1923. Kleine Mitteilungen:
Frau Dr. B e n e d e k (Leipzig, als Gast): Zur Spinnensymbolik.
Dr. Foerster: Ein kasuistischer Beitrag (Magen-Darm-Neurose).
Dr. H ä r n i k: Atmungstyp und Bisexualität.
Dr. Abraham: Aus der Analyse eines Asthmatikers.
Dr. Alexander: Über ein Buchstabenrätsel im Traum.
Dr. Schiiltz-Hencke: Zahlensymbolik im Traume und Kastrationsangst.
Dr. Abraham: Ein Beitrag zur Psychologie der Melancholie. (Wird
publiziert.)
Dr. Abraham: Ein Beitrag zur Prüfungssituation im Traume. (Des¬
gleichen.)
Im II. Quartal wurden die in Heft 1, IX., der „Zeitschrift“ angektindigten
Unterrichtskurse abgehalten. Für das nächste Quartal kündigt die Berliner
Ortsgruppe eine neue Reihe von Unterrichtskursen an.
Korrespondenzblatt der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung 549
British Psycho-Analyticai Society.
II. Quartal.
18. Ap ril 1923.
Miß Ella S h a r p e: Psychoanalytische Würdigung des Lebens und der
Werke von Francis Thompson. Die Analyse berücksichtigte die wichtigsten
persönlichen Beziehungen des Dichters und ihren Zusammenhang mit seiner
Einstellung zu seiner Familie, ferner seine Neigung zum Opium, seine Ver¬
lassenheit und seinen Selbstmordversuch. Die Analyse der Gedichte läßt die
feminine Einstellung, seine Bindung an zwei entgegengesetzte Frauentypen
und vor allem seine orale Fixierung erkennen (Entwöhnung als Trauma,
Gleichsetzuug von Brust und Penis; Kastrationsangst und Allmachtvorstellungen).
Die Gedichte werden von der Phantasie des Dichters als Kastrationssymbole,
als Kinder und zugleich als Produkte göttlicher Schöpfung betrachtet.
2. Mai 1923.
Dr. W. J. Jago: Boehms Schriften über Homosexualität. Kritik der
Ansichten Boehms von der polygamen Neigung der Homosexuellen, von
ihrer Neigung, durch Vermittlung einer dritten Person mit dem Liebesobjekt
zu verkehren und von ihren unbewußten Phantasien betreffend den ange¬
nommenen Penis des Weibes. Die Diskussion stellte sich ablehnend zu den
Aufstellungen Boehms.
25. J u 1 i 1923.
Die Sitzung war besonders einberufen, um Dr. Karl Abraham zu
begrüßen, der zum Ehrenmitglied der Vereinigung gewählt worden war. Nach
einer Begrüßungsansprache des Vorsitzenden Dr. Jones, auf welche Doktor
Abraham antwortete, hielt ersterer einen Vortrag über „Kälte, Krankheit
und Geburt“. (Der Vortrag ist inzwischen in der Festschrift für Ferenczi
erschienen.) In der Diskussion teilte u. a. Abraham einige Erfahrungen
.mit, die Jones’ Ansichten bestätigen.
Adreßänderung: Major C. Mc. Watters, J. M. S., c/o Grindlay’s,
Parliament Street, London.
Indian Psycho-Analytical Society.
I. Quartal 1923.
6. Jänner. Major 0. B e r k e 1 e y - H i 11, M. Dr.: Die Gandhi-Bewegung
vom psychoanalytischen Standpunkt.
27. Jä n n er. Jahresversammlung. Es wurden gewählt: Dr. Girindra-
Shekhar Bose D. Sc. M. B. als Präsident; Mr. Manmatha Nath Banerji M. Sc.
als Sekretär; Dr. Narendra Nath Sen Gupta M. A. Ph. D., Mr. Gobin Chand
Bora BA. als Beisitzer.
3. März. R. C. Mc. Watters F. M. S.: „Der moderne Prometheus.“
Diskussion über Prüfungstiäume, eingeleitet vom Präsidenten.
II. Quartal 1923.
22. Mai. H. B h a 11 a c h a r y y a M. A.: Über den Vollständigkeitszwang
als Charakterzug.
36 *
550 Korrespondenzblatt der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung
Diskussion über Flournoys „Siva Androgyne“, eingeleitet von Capt.
N. C. Mitra M.B., der die Schrift ins Englische übersetzt hat.
9. Juni. Major 0. B e r k e 1 e y - H i 11, M. D.: „Die Färbenfrage.
Dr. Sarasi Lai Sarkar: »Swapna Tatva" (über Träume, in bengalischer
Sprache).
Das Interesse an der Psychoanalyse ist in Indien im beständigen
Wachsen. Einige Mitglieder der Vereinigung haben in der Tagespresse populäre
Artikel veröffentlicht. In Zeitungen und Zeitschriften ist beständig von der
Psychoanalyse die Rede; ausländische Artikel über Psychoanalyse werden
referiert. Die Nachfrage nach psychoanalytischen Behandlungen steigt. Auf
Wunsch der „Detective Training School“ hielt der Präsident einen Kursus für
Polizeibeamte über die psychoanalytische Auffassung des Verbrechens. Beamte
aus ganz Bengalen nahmen mit lebhaftem Interesse daran Anteil. Andere
(pädagogische usw.) Vereinigungen bitten um aufklärende Schriften.
Magyarorszägi Pszichoanalitikai EgyesOlat (Freud Tärsasdg).
II. Quartal 1923.
T.^April. Dr. J. Hollös: Psychoanalytische Klärung zu einem mit¬
geteilten Falle.
21. April. Frau Dr. Bä 11 nt (als Gast); Wiederholung des in der
Berliner Vereinigung gehaltenen Vortrages über mexikanische Hieroglyphen.
5. Mai. Dr. S. Fer enczi: Breitere Ausführungen zum Thema „Versuch
einer Genitaltheorie“.
26. Mai. Dr. S. Ferenczi: 1. Ein Fall zur Bestätigung der psycho¬
analytischen Theorie der Hypnose. 2. Nachtrag zur Geschichte des „Kleinen
Hahnemanns“. 3. Neuer Beitrag zur aktiven Technik.
9. Juni. Dr. J. Hermann : „Psychoanalytisch erklärbare Fälle der
(persönlichen) Evidenz.* Vortragender anatysiert Beispiele subjektiv bedingter
Evidenz im philosophischen Denken, im Verhalten der Neurotiker usw.
III. Quartal 1923; Keine Sitzungen.
Nederlandsche Vereeniging voor Psycho-Analyse.
Sitzung am 21. Apriri923 im Haag.
Dr. Adolph F. M e i j e r: Noch einmal Homosexualität. Vortragender
betont gegenüber anderen Auffassungen den psychoanalytischen Standpunkt,
d. h. die Entstehung der Homosexualität im Verlauf der individuellen
Entwicklung. Er nimmt zu den Ausführungen Ranks Stellung und vertritt
die Auffassung, daß die Unterschiede zwischen Perversion und Neurose mehr
auf der Art der jeweils verdrängten Wünsche als auf einer Wesens¬
verschiedenheit der beiden Zustände beruhen. Insbesondere sei die Homo¬
sexualität immer ein neurotisches Symptom.
Korrespondenzblatt der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung 551
Sitzung vom 16. Juni 1923 in Leiden.
Dr. F. P. Müller: Die Analyse einer Angstneurose. (Ausführliche
Darstellung. Die Diskussion wird vertagt.)
Am 28. Juni promovierte Dr. J. Varendonck (Gent), Mitglied der
Vereinigung, in Leiden mit einer Dissertation über „Ästhetische Symbolik“;
die Arbeit ist ganz im Geiste der Psychoanalyse gehalten, ebenso wie die
von Dr. Varendonck vertretenen Thesen zumeist psychoanalytischen Inhalt
hatten.
Vom Juli bis September fanden keine Sitzungen statt.
New York Psycho-analytical Society.
27. März 1923.
Dr. M. Meyer: „Eine ungewöhnliche Methode der Darstellung im
Tranm.“ (Erscheint in der Zeitschrift!)
Dr. A. Kardiner: „Psychoanalytische Beobachtungen bei Kriegs¬
neurosen.* Vortrag und Diskussion bezogen sich auf die Übereinstimmungen
im Aufbau der Friedens- und Kriegsneurosen und die Beteiligung des Selbst¬
erhaltungstriebes am Aufbau der letzteren, ferner auf die von Freud im
„Jenseits des Lustprinzips“ gegebenen Gesichtspunkte hinsichtlich der Wieder¬
holung des traumatischen Erlebnisses in Neurose und Traum.
24. April 1923.
Dr. M. Meyer: „Analyse einer Phantasie von der Dauer der Behand¬
lung.“ (Wird im Internat. Journal of Psycho-Analysis veröffentlicht.)
Kleine Mitteilungen:
Dr. P o 1 o n : Sexuelles Trauma und Disposition zur Dementia praecox.
Dr. Frin k: 1. Ein Schreibfehler. 2. Die Symbolik des Baseballspieles.
(Beide Mitteilungen erscheinen im Journal.) 3. Die Symbolik des Reitens.
M. fand in zwei Fällen eine von der gewöhnlichen abweichende Bedeutung
des Reitens im Traum. Der Reiter (der Träumer selbst) identifizierte sich mit
dem Weib. Das Pferd hatte Penisbedeutung; es befand sich zwischen den
Schenkeln des Träumers wie das Bein des Vaters bei kindlichen Reitspielen.
4. Zwei Deckerinnerungen. Bei zwei Patienten fand M. in einer Deck¬
erinnerung aus ihrer Kindheit die Spuren einer Beobachtung des elterlichen
Koitus.
29. Mai 1923.
Dr. Ph. Lehrmann: „Versuch der Psychoanalyse einer Konversions¬
hysterie bei einem Kinde.“ Bericht über eine fragmentarische Analyse bei
einem neunjährigen Mädchen. Spastische Lähmung der Beine und Schmerzen
im Rumpf erwiesen sich zum Teil als Darstellung einer Entbindung, zum Teil
als Ausdruck anderer sexueller Phantasien.
Schweizerische Geseilschaft fOr Psychoanalyse»
Im zweiten und dritten Quartal 1923 fanden keine Sitzungen statt.
552 Korrespondenzblatt der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung
Wiener Psychoanalytische Vereinigung.
April—J^li 1923.
Neue Mitglieder: Frau Beate Rank, Wien, L, Grünangergasse 3.
Sitzung vom 18. April:
Dozent Dr. Paul Schilder: Psychoanalyse und Encephalitis.
Dr. Paul Federn: 1. Ein Fall von Sexualstörung 2. Ein kurzer Traum.
3. Bemerkungen zur Narkophobie.
Dozent Dr. Paul Schilder: Zur Frage des Persönlichkeitsbewußtseins.
Sitzung vom 16. Mai:
Vortrag von Frau Dr. Salomea K e m p n e r : Der orale Sadismus.
Sitzung vom 30. Mai:
Gastvortrag von Frau Beate Rank: Die Rolle der Frau in der Ent¬
wicklung der menschlichen Gesellschaft.
Sitzung vom 13. Juni:
Vortrag von Dozenten Dr, Paul Schilder: Über Quellgebiete der
psychhchen Energie.
Kurz vor Abschluß dieses Berichtes, im Monat Oktober, gelang nach
langen vergeblichen Bemühungen die Aufnahme der Beziehungen zur
Moskauer Psychoanalytischen Vereinigung,
deren Gründung schon vor einem Jahre auf dem Internationalen
Psychoanalytischen Kongreß in Berlin bekanntgegeben worden war. Ein
Mitglied der Vereinigung, Herr C. Schmidt, suchte kürzlich in Berlin den
Sekretär der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung auf, um mit ihm
über die Aufnahme der Moskauer Vereinigung direkt zu verhandeln. Da die
Moskauer Vereinigung den vom Kongreß gestellten Anforderungen in genügender
Weise entspricht, so hat der Präsident, Dr. Jones, ihre provisorische Auf¬
nahme verfügt. Sie ist der Moskauer Gesellschaft bereits mitgeteilt worden,
bedarf aber noch der endgültigen Bestätigung durch den nächsten Kongreß.
Wir begrüßen auch an dieser Stelle die neue Gruppe im Verband der
Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung uf»d hoffen, bereits im nächsten
Quartal einen ausführlichen Bericht von ihr bringen zu können.
Mitteilungen
des Internationalen Psychoanalytischen Verlages.
Im Dezember 1923 erscheinen:
Dr. Otto Rank: Das Trauma der Geburt und seine Bedeutung für die
Psychoanalyse. (Internationale Psychoanalytische Bibliothek, Band 14.)
Dr. S. Ferenczi: Versuch einer Genitaltheorie. (Internationale Psycho¬
analytische Bibliothek, Band 15.)
Vera Schmidt (Moskau): Psychoanalytische Erziehung in Sowjet-
Rußland, Bericht über das Kinderheim-Laboratorium in Moskau.
Prof. Sigm. Freud: Zur Geschichte der psychoanalytischen Bewegung.
(Buchausgabe der in der Vierten Folge der „Sammlung kleiner Schriften zur
Neurosenlehre“ enthaltenen Arbeit.)
Eine neue Serien-Publikation unter dem Namen „Neue Arbeiten
zur ärztlichen Psychoanalyse“ (herausgegeben von Prof. Sigm.
Freud) wird durch folgende zwei Hefte eröffnet:
I. Dr. S. Ferenczi und Dr. Otto Rank: Entwicklungsziele der
Psy(?hoanalyse. Zur Wechselbeziehung von Theorie und Praxis.
II. Dr. Karl Abraham: Versuch einer Entwicklungstheorie der
Libido auf Grund der Psychoanalyse seelischer Störungen.
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über die Ergebnisse der psychoanalytischen Forschung unterrichten fort¬
laufend unsere beiden Zeitschriften:
INTERNATIONALE ZEITSCHRIFT
FÜR PSYCHOANALYSE
Herausgegeben von
Prof. Dr. Sigm. Freud
Unter Mitwirkung von
Dr. Karl Abraham Dr. G. Bose Dr. Jan van Emden Prof. Dr. N. Ermakow
Berlin Calcutta Haag
Dr. H. W. Frink
New York
Dr. Ernest Jones
London
Moskau
Dr. E. Oberholzer
Zürich
redigiert von
Dr. S. Ferenczi und Dr. Otto Rank
Budapest Wien
und
IMAGO
ZEITSCHRIFT FÜR ANWENDUNG DER PSYCHOANALYSE
AUF DIE GEISTESWISSENSCHAFTEN
Herausgegeben von
Prof. Dr. Sigm. Freud
Im Jahre ig2^ werden tn den beiden Zeitschriften unter anderem folgende Beiträge
erscheinen:
Mary Chadwick (London): Zur Genese des Wissens¬
triebes.
Dr. A. van der C h i j s (Amsterdam) : Versuch der An¬
wendung der objektiven Psychoanalyse -auf die
musikalische Komposition.
Doz. Dr. Felix Deutsch (Wien): Über die Bildung
des Konversionssymptoms.
Dr. S. Ferenczi (Budapest): Über forcierte Phan¬
tasien. (Ein Beitrag zur aktiven Therapie.)
Dr. H. W. Frink (New York): Die amerikanische
psychoanalytische Literatur in den Jahren 1920 — 1922.
Dorothy G a r 1 e y (London) : Über den Schock des Ge¬
borenwerdens und seine möglichen Nachwirkungen.
Dr. Fritz Giese (Halle a. S.): P.s3’choanaIyse und Wirt-
. schaftsleben.
Psychologische Eignungsprüfung und Psj’choanalj'se.
Dr. H. V. H attingberg (München): Zur Analyse der
psychoanalj'tischen Situation.
ri Her ma n n (Budapest) : Kleine Beitrüge zur
Begabungs- und Sublimierungstheorie.
Dr. Ernest Jones (London): Das Wesen der Auto¬
suggestion.
Dr. Salomea Ke mp n er: Beitrag zur Oralerotik.
Dr. F. Lowtzky (Berlin): Eine okkultistische Bestäti¬
gung der Psychoanalyse.
Dr. H. Nunberg (Wien): Über Depersonalisations¬
zustände im Lichte der Libidotheorie.
Beate Rank (Wien): Zur Rolle der Frau in der Ent¬
wicklung der menschlichen Gesellschaft
Dr. W. Reich (Wien): Über Genitalität.
Egenolf Roeder (Baden-Baden): Qualität und Quantität.
Dr. Emst S i m nLe 1 (Berlin): Eine Deckerinnerung in
statu nascendi.
Dr. Alice Sperber (Wien): Die seelischen Ursachen
des Alterns und der Jugendlichkeit
Dr. Edoardo W e i s s (Trieste): Die psj^chologischen
Ergebnisse der Psychoanalyse.
INTERNATIONALER PSYCHOANALYTISCHER VERLAG
WIEN, VII., ANDREASGASSE 3
Inhalt:
Seite
Originalarbeiten. ■ ■ ,
Dr Otto Rank: Zum Verständnis der Libidoentwicklung im Heilungsvorgang . . . . 43 ;»
Dr A Kielholz (Königsfelden): Zur Genese und Dynamik des Erfinderwahns . . . 472
Dozent Dr. Felix Deutsch (Wien): Experimentelle Studien zur Psychoanalyse. ... 484
Mitteilungen.
Dr. Felix Boehm (Berlin): Bemerkungen über Transvestitismus. 497
Paul S c h i 1 d e r: Zur Lehre vom Persönlichkeitsbewußtsein . ... 509
Dr. E. HitschmannJ Experimentelle Wiederholung der infantilen Schlafsituation zur
Förderung analytischer Traumdeutung ..‘
Ludwig Binswanger: Bemerkungen zu Hermann Rorschachs „Psychodiagnostik^* . 512
Kritiken und Referate.
E Bleuler : Natur<?eschichte der Seele und ihres Bewußtwerdens..(Sarasin) .524
Ludwig Binswanger: Einführung in die Probleme der allgemeinen Psychologie .... (Sarasin) o 26
C.G.Jung: Psychologische Typen ... • '}
Paul Schilder: Das Unbewußte.. . . m
Gaston Roffenstein: Zum Problem des Unbewußten.. h 'v ^4
J. S a d g e r : Die Lehre von den Geschlechtsverirrungen.(Boehm; i». b
Zur psychoanalytischen Bewegung. . ^
Korrespondenzblatt der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung .... 545
Mitteilungen des Internationalen Psychoanalytischen Verlages .. 553
Internationaler Psychoanalytischer Verlag
Neuer scheinungen:
Neue Arbeiten zur ärztlichen Psychoanalyse,
Heft I
Dr. S» Ferenczi und Dr. Otto Rank
Entwiddungsziele der Psychoanalyse
Zur Wechselbeziehung von Theorie und Praxis
, Heft II
Dr. Karl Abraham
Versuch einer
Entwicklungsgeschichte der Libido
auf Grund der Psychoanalyse seelischer Storungen
Internationale Psychoanalytische Bibliothek,
Bd. XIV
Dr. Otto Rank
Das Trauma der Geburt
und seine Bedeutung für die Psydioanalyse
Bd. XV
Dr. S. Ferenczi
Versuch einer Genitaltheorie
Vera Schmidt
Psychoanalytische Erziehung
in Sowjetrußland
Bericht über das Moskauer Kinderheim-Laboratorium
AMBULATORIUM
DER WIENER
PSYCHOANALYTISCHEN
VEREINIGUNG
WIEN, IX., PELIKANGASSE NR. 18
Ausbildung in der Psychoanalyse für
Ärzte, Pädagogen, Psydiologen
Lehrkurse für Anfänger und Vor¬
geschrittene
Unterridits-Analysen. Seminarübun¬
gen. Erziehungs-Beratungsstelle
Anfragen und Anmeldungen an den
Leiter: Dr. E. Hitschmann,
Wien, IX., Währingerstraße Nr. 24
EiffentOincr und Verleger: Internationaler Psychoanalytischer Verlag Ges. m.
Herausireber* Prof. Dr. Sigm. Freud, Wien. — Verantwortlich für die Redaktion: Dr. Otto Rank, Wien, l., Lrunangerr
"asse 3 - 5 . - Druck der Gesellschaft für Graphische Industrie A.-G., Wien, 111., Rüdengasse 11.,- VerantworUicber
" Druckereileiter: Karl Wrba, Wien.