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Full text of "Internationale Zeitschrift für Psychoanalyse VI 1920 Heft 2"

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INTERNATIONALE ZEITSCHRIFT 

FÜR 

PSYCHOANALYSE 

OFFIZIELLES ORGAN 

DER 

INTERNATIONALEN PSYCHOANALYTISCHEN VEREINIGUNG 

HEBAUSGEGEBEN VON 

PROF. DR. SIGM. FREUD 

WIEN 

UNTER MITWIRKUNG VON; 

DR. KARL ABRAHAM DR. JAN VAN EMDEN DR. S. FERENCZI 

BERLIN HAAG BUDAPEST 

DR. EDUARD HITSCHMANN DR. ERNEST JONES DR. EMIL OBERHOLZER 

WIEN LONDON ZÜRICH 

• REDIGIERT VON 

DR. OTTO RANK 


WIEN 



VI. JAHRGANG 1920 HEFT 2 




Die 


44 


,,Internationale Zeitschrift für Psychoanalyse 

erscheint 4 mal jährlich im Gesamtumfang von 24 bis 32 Druckbogen als 

Offizielles Organ 

der 

,,Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung^'. 
Neben den bisher bestehenden Auslieferungs- und Expeditionsstellen 
in Leipzig, bzw. Wien, von denen die Ortsgruppen Berlin, Budapest 
und Wien auch weiterhin beziehen, werden vom VI. Jahrgang 1920 
angefangen für unsere 

ausländischen Zweigvereinigungen 

neue Expeditionsstellen ausliefern, und zwar unter folgenden 

Bezugsbedingungen: 

Mitglieder bezahlen bei direktem Bezüge nachstehenden 
ermäßigten Jahrespreis: 

in der Schweiz und in Holland 20 Franken, bzw. 10 holl. Gulden, 
in England und Amerika 1 Pfund, bzw. 4 Dollar. 

Die Bezufjsstcllen fär unsere ausländischen Ziveigvereinigungen gelten 
auch für alle mißerhalh unserer Vereinigung stehenden Abnehmer^ 
für die sich der jährliche Bezugspreis wie folgt stellt: 

in der Schweiz und in Holland 25 Franken, bzw. 12 holl. Gulden, 
in England und Amerika 25 Schilling, bzw. 5 Dollar. 

Einzelhefte: 7 Franken, 0 Y 2 Gulden, 7 Schilling, I 72 Dollar. 
Bezugsstellen : für die Schweiz: Zürich, Neptunstraße 20; 
für Holland: S. G. van Doesburgh, Leiden, Breestraat 14; 
für England u. Amerika: London W 1, 45 New Cavendish Street. 

bas Präsidium der Die Leitung des 

Internationalen Psycho- Internationalen Psycho¬ 
analytischen Vereinigung analytischen Verlags 

in London. in Wien. 


Alle für die Redaktion der „Internationalen Zeitschrift für Psycho¬ 
analysebestimmten Zuschriften und Sendungen sind an 

Dr. Otto Rank, Wien, I. Grünangergasse 3-^5 

zu richten. 

Manuskripte sind vollkommeii druckfertig einzusenden. 

Von den „Originalarbeiten^ und „Mitteilungen“ erhalten die Mit¬ 
arbeiter je 25 Separatabzüge gratis geliefert. 


Copyright 1920 by „Internat. Psychoanalytischer Verlag G es. m. h. H. “ 








Originalarbeiten. 


Zur Prognose psychoanalytischer Behandlungen in 
vorgeschrittenem Lebensalter. 

Von Dr. Karl Abraham. 

Die Drage, imter welchen Bedingungen eine psychoanalytische^ 
Behandlung einen therapeutischen Erfolg verspricht, ist bisher im 
einzelnen fast unerörtert geblieben. In einem Aufsatz aus dem 
Jahre 1898, der dem ersten Bande der „Kleinen Schriften zur 
Neurosenlehre‘‘ eingefügt ist, hat Freud sich in allgemeiner Form 
zu dieser Krage geäußert^). In den seither verlaufenen Jahren 
hat sich die psychoanalytische Erfahrung vervielfacht, die Technik 
der Behandlung weiter entwickelt. Es ist daher wohl angebracht, 
eine praktisch so wichtige Frage einer genaueren Betrachtung zu 
würdigen. Die folgenden Zeilen sollen einen ersten Beitrag zu ihrer 
Lösung bringen. 

In dem zitierten Aufsatz hat Freud die Meinung vertreten, 
daß ein zu weit vorgeschrittenes Alter des Patienten die Wirk¬ 
samkeit der Psychoanalyse begrenze. An der allgemeinen Eichtigkeit 
dieser Auffassung kann wohl kein Zweifel aufkommen. Daß mit 
dem Beginn körperlicher und psychischer Involution das Individuum 
weniger Fereit sein werde, von einer Neurose zu lassen, die sein 
Leben bisher begleitet hat, war ja von vornherein wahrscheinlich. 
Die psychoanalytische Erfahrung jedes Tages legt uns aber nahe, 
an die seelischen Vorgänge nicht zu starre Normen anzulegen. Sie 
warnt davor, mit aprioristischen Erwartungen an die Erforschung 
oder an die Behandlung nervöser Zustände heranzutreten. Haben 
wir uns doch davon überzeugen müssen, daß gewisse Geisteskrank¬ 
heiten, deren Unbeeinflußbarkeit ein Dogma der Psychiatrie bildete, 
der psychoanalytischen Methode zugänglich sind! So scheint es 
denn lauch unrichtig, die therapeutische Beeinflußbarkeit der Neu- 
rosen: im Involutionsälter grundsätzlich zu leugnen. Die Psycho¬ 
analyse lals ErfahrungsWissenschaft hat vielmehr zU untersuchen, 

1) Seite 198. 

Intern. Zeitschr. f. Psychoanalyse. Yl/2. 8 

INTERNATIONAL 
PSYCHOANALYTIC 
UNIVERSITY 



DIE PSYCHOANALYTISCHE HOCHSCHULE IN BERLIN 




114 


Dr. Karl Abraham, 


ob lind unter welchen Bedingungen die Behandlungsmethode auch 
noch in späteren Lebensjahren Erfolge zeitigen kann. 

In den Kreisen der Kollegen wird Freuds oben zitierte An¬ 
sicht vielfach in dem Sinne auf gef aßt, daß Behandlungen im vierten 
Lebensjahr zehnt bereitsi zweifelhafte Aussichten bieten, daß aber 
das fünfte Jahrzehnt und besonders das klimakterische Alter die 
Prognose psychoanalytischer Behandlungen höchst nachteilig beein¬ 
flussen. Jenseits des fünfzigsten Lebensjahres wird unserer Therapie 
oft jede Wirkung abgesprochen. 

In meiner psychoanalytischen Praxis habe ich eine Beihe von 
Neurosen mit chronischer Verlaufsart bei Personen behandelt, die 
das Alter von vierzig, zum Teil das vonl'fünfzig Jahren überschritten 
hatten. Besonders die ersten Fälle dieser Art übernahm ich nur 
zögernd. Ich wurde aber mehrfach von den Patienten, die schon 
anderweitig erfolglos behandelt waren, zu einem Versuch gedi'ängt. 
Auch hatte ich die Zuversicht, den Patienten, falls ich ihnen keine 
Heilung verschaffen konnte, doch ein tiefer gehendes Verständnis 
ihrer Leiden entgegenbringen zu können, als der psychoanalytisch 
nicht gebildete Arzt. Zu meiner Überraschung reagierte ein erheb¬ 
licher Teil dieser Patienten sehr günstig auf die Psychoanalyse. 
Ich darf sagen, daß einige unter ihnen mir Heilerfolge gebracht 
haben, die zu den besten von mir überhaupt erzielten gehörein. 
Einige Belege dafür mögen hier folgen. 

Der erste Patient dieser Gruppe ließ am wenigsten Gutes er¬ 
hoffen: ein' Fall von melancholischer Depression im Eückbildungs- 
[äilter, der auf Behandlung in offener und geschlossener Anstalt 
durchaus refraktär geblieben war. Die Psychoanalyse hatte bei 
dem gehemmten Patienten, der im 50. Lebensjahre stand, schwere 
Arbeit 'zu bewältigen, aber es gelang ihr innerhalb fünf Monaten, 
ihn von seinen Selbstbeschuldigungen und seiner Lebensvemeinung 
zu befreien und ihn zu beruflicher Tätigkeit wieder tauglich zu 
machen. Das Leiden, dem ein jahrelanges nervöses Vorstadium vor¬ 
ausgegangen war, bestand in ausgeprägter Form bei Beginn der 
Behandlung 1^/^ Jahre. Lag in diesem Falle auch kein Erfolg 
bei einem langjährigen Krankheitszustand vor, so war doch 
die Neigung zum chronischen Verlauf nicht zu verkennen. Dazu 
kam die Schwere der Krankheitsform. Ich durfte daher die Be¬ 
handlung eigentlicher Neurosen im Involutionsalter nicht mehr für 
schlechtweg aussichtslos halten. 

Ich übernahm später die Psychoanalyse eines nahezu 50jährigen 
Zwangskranken. Die „Duplizität der Fälle“ führte mir bald noch 
einen Izweiten Kranken der gleichen Kategorie, 53 Jahre alt, zu. 
Beide Patienten gelangten zu einem vortrefflichen Heilerfolg. 


Zur Prognose psychoanalytisclier Behandlungen in vorgeschrittenem Lebensalter. 115 


Der Erste, von Jugend auf mit allen Zügen des sogenanntem 
Zwangscharakters behaftet, hatte bis etwa zu seinem 36. Lebens¬ 
jahre eigentliche Zwangssymptome nur in leichterem Grade dar¬ 
geboten, ijedenfalls aber unter ihnen nicht ernstlich gelitten. In 
seiner 'Ehe machte er sich vollkommen abhängig von seiner Frau, 
die dem Unentschlossenen alle ernsteren Entscheidungen abnahm. 
Eines Tages bemerkte er, daß sie einem Angehörigen eine Ver¬ 
traulichkeit gestattete. Dieser Vorfall, der die Eifersucht des Pa¬ 
tienten weckte, führte zum Ausbruch der Neurose in ihrer schweren 
Form. Seitdem die Frau, auf die er sein unbedingtes Vertrauen 
gesetzt hatte, sich als unzuverlässig erwiesen hatte, gab es für 
ihn nichts mehr, worauf er sich verlassen konnte. Er verfiel der 
denkbar schwersten Zweifelsucht. Unter anderem war er be¬ 
ständig im Zweifel darüber, ob er nicht soeben ein Verbrechen be¬ 
gangen habe. Verschwand vor seinen Augen auf der Straße ein 
Mensch in einem Hauseingang, so quälte der Patient sich mit dem 
Gedanken, ob er jenen etwa ermordet und die Leiche beseitigt habe. 
Hatte der Briefträger ihm eine Sendung gebracht und das Haus 
wieder verlassen, so suchte Patient in höchster Angst die Wohnung 
ab, um sich zu überzeugen, daß er den Briefträger nicht ermordet 
noch auch die Leichenteile in der Wohnung verborgen hatte. Dazu 
g-esellten sich die quälendsten Zweifel, ob er auf ein fortgeworfenes 
Stück Papier etwa seinen Namen geschrieben habe, so daß mit 
diesem ein Mißbrauch getrieben werden könnte. Ich erwähne nur 
diese wenigen Einzelheiten aus einer großen Menge, um einen Be¬ 
griff von der Schwere des' Falles zu geben. Der bei Beginn der 
Behandlung völlig verängstigte, hilflos unselbständige Mann er¬ 
langte eine weitgehende Wiederherstellung. Seither sind sechs Jahre 
verflossen, ohne daß ein Rückfall erheblicher Art emgetreten wäre. 
Gelegentliche Schwankungen des Befindens waren ohne größere 
Tragweite. 

Der gleichzeitig behandelte andei'e Zwangskranke litt an hef¬ 
tigsten Angst- und Depressionszuständen. Auch er war von jeher 
mit den Erscheinungen des Zwangscharakters behaftet, unter welchen 
besonders Ubergüte und Ubergewissenhaftigkeit hervortraten. Be- 
stiminte Konflikte, die mit der Fixierung des Patienten an seine 
Familie Zusammenhängen, riefen den Ausbruch der eigentlichen 
Neurose zwischen dem 30. un|d 35. Lebensjahre des Patienten her¬ 
vor. Der Psychoanalyse gelang es, die schweren neurotischen Sym¬ 
ptome, darunter auch die Angstanfälle, krankhaften Zweifel usw., 
zu beseitigen und den arbeitsunfähig gewordenen Mann wieder 
leistungs- und genußfähig zu machen. 

Ich erwähne sodann die Heilung einer im 41. Lebensjahre sie- 

8*» 


116 


Dr. Karl Abraham. 


hendei) Kranken mit ansig'eprägter Straßen- und Reiseangst. Von 
Kindheit auf mit mancherlei neurotischen Symptomen behaftet, litt 
sie seit mehr als sechs Jahren an den genannten ernsten Störungen. 
Sie wurde völlig hergestellt und ist seit nunmehr acht Jahren in 
ihrer Bewegungsfreiheit völlig ungehemmt. 

Andere Bälle ließen sich anreihen, so auch partielle Erfolge 
bei schwersten, eingewurzelten Angsthysterien, Depressionszustän¬ 
den usw. 

Neben diese erfreulichen Resultate stelle ich nun die Mi߬ 
erfolge, die ich erlebt habe. Nur kurz erwähne ich jene extrem 
ungünstigen Fälle, die uns sehr bald nötigen, den Versuch der Be¬ 
handlung einzustellen. Es sind Kranke, die auf jedes ihnen uner¬ 
wünschte Ergebnis der Analyse, ja schon auf die Notwendigkeit, 
von ihrem Tfiebleben zu sprechen, mit instinktiver Abwehr rea¬ 
gieren. Wichtiger für die vorliegende Betrachtung sind diejenigen 
Fälle, in welchen wir uns trotz fortgesetzter Behandlung mit un¬ 
vollkommenen palliativen Erfolgen zufrieden geben müssen. 

Überblickt man eine gewisise Anzahl erfolgreicher und erfolg¬ 
loser Kuren bei unserer Patientengruppe, so klärt sich das Rätsel 
eines so verschiedenartigen Ausganges in einfacher Weise auf. Pro¬ 
gnostisch günstig sind auch noch in vorgeschrittenem Alter die- 
jetoigen Fälle, in welchen die Neurose mit voller Schwer^ 
erst eJUgBsetzt hat, nachdem der Kranke sich schon längere Zeit 
jenseits der Pubertät befand und sich mindestens etliche Jahre hin¬ 
durch einer annähernd normalen sexuellen Einstellung und sozialen 
Brauchbarkeit erfreut hat. Ungünstige Objekte sind dagegen die¬ 
jenigen Kranken, welche bereits in der Kindheit ausgeprägte Zwangs¬ 
neurosen usw. produziert und in den erwähnten Hinsichten später 
niemals einen annähernd normalen Zustand erreicht haben. Pa¬ 
tienten dieser Art sind 'Cs aber auch, bei denen in jugendlihheim 
Alter Mißerfolg’e der psychoanalytischen Therapie Vorkommen. Mit 
anderen Worten: Das Lebensalter, in welchem die Neurose ausge¬ 
brochen ist, fällt für den Ausgang der Psychoanalyse mehr ins 
Gewicht als das Lebensalter zur Zeit der Behandlung. Man kann 
auch sagten, das Alter der Neurose sei belangreicher als. das¬ 
jenige des N e u i‘ 0 t i k e r s. 

Hier drängt sich der Vergleich mit der Prognose des Ablaufes 
geistiger Störungen auf. Unter den als Dementia praecox (Schizo¬ 
phrenie, Paraphrenie) zusammengefaßten Psychosen bieten die in 
der beginnenden Pubertät oder gar im Kindesalter ausgebrochenen 
Fälle die ungünstigste Prognose, während die in reiferem Alter 
einsetzenden mehr zu Remissionen neigen, die dann auch von grö- 


Zur Prognose psychoanalytischer Behandlungen in vorgeschrittenem Lebensalter. 117 


ßerer Dauer siad. Der Ablauf der Psychoineurosen folgt ähnliohen 
Gesetzen. 

Von piinzipieller Bedeutung ist die Frage, wieweit es der 
Psychoanalyse gelingt, bei Neurotikern in vorgeschrittenen Jahren 
der infantilen Sexualität nachzuforschen. Meine Erfahrungen haben 
mir gezeigt, daß ein Vordringen bis in die allerfrühesten Zeiten 
hiei' keineswegs ausgeschlossen ist. In einem neuerdings behandelten, 
noch nicht abgeschlossenen Palle von Zwangsneurose gelang diese 
Aufgabe so vollkommen, wie man es nur bei jugendlichen Personen 
erwartein möchte. 

Der äußere Verlauf der psychoanalytischen Behandlungen im 
Involutionsalter gestaltet sich in einem Teil der Fälle iiicht ganz 
gleichartig wie im jüngeren Alter. Während wir im allgemeinen 
dem Patienten die Führung der Analyse insoweit überlassen, daß 
er selbst in jeder Behandlungsstunde den Ausgangspunkt seiner 
freien Assoziationen wählt, bedürfen bestimmte, ältere Neurotiker 
jedesmal eines Anstoßes von Seite des Arztes. In ausgeprägter 
Form habe ich dieses Verhalten wiederholt bei Zwangsneurotikern 
älterer Ja^hrgänge beobachtet. Es handelte sich um Kranke mit 
allgemein herabgesetzter Initiative, die — von Jugend auf in be¬ 
stimmten Hinsichten abhängig und unselbständig — vom Arzt ge¬ 
führt werden wollen, der ihrem Unbewußten in besonderem Maße 
den überlegenen Vater bedeutet. Mit diesen Patienten erlebte ich 
am Anfang der Behandlungsstunde viele Male den gleichen Vor¬ 
gang. Sie fanden den Zugang zu dem bereitliegenden psychischen 
Material nicht selbständig. Sobald man ihnen aber eine kleine 
Anregung gab, etwa in Gestalt eines Hinweises auf bereits Be¬ 
sprochenes, so produzierten sie sogleich Einfälle. Das Verhalten 
ist als durchaus infantil zu bewerten. Ich bin ihm auch bei 
der Behandlung von Kindern begegnet, so noch kürzlich bei einem 
intelligenten elfjährigen Knaben, der sich stark positiv auf mich 
als Vaterersatz eingestellt hatte. Bezeichnenderweise hört bei Ju¬ 
gendlichen dieses Verhalten auf, wenn die Auflehnung gegen den 
Vater (oder Vaterersatz) in den Vordergrund tritt. 

Mit den vorstehenden Ausführungen hoffe ich die Auswalil 
der zur Psychoanalyse noch in späterem Lebensalter Geeignetefn 
erleichtert zu haben. Ich mache zum Schluß darauf aufmerksa*m, 
daß eingehende Untersuchungen daiüber am Platze wären, warum 
gewisse Fälle des jug'endlichen Alters der Psychoanalyse gegenüber 
refraktär bleiben. Gerade eine präzise Indikationsstellung wird uns 
Mißerfolge ersparen, die Wirksamkeit der psychoanalytischen The¬ 
rapie aber zur vollen Entfaltung bringen. 







Le Complexe de Jocaste. 

Raymond de Saussure, Geneve. 

Jocaste 6tait la mere d^Oedipe. Freud lorsqu^l a d6crit son »complexe 
d^Oedipe« a rnarqu^ avec une p6n6tration psychologique vraiment remar- 
quable le lien affectif, souvent incestueux, qui unit le fils ä la mere mais 
il n^a rien dit des sentiments de la mere pour son fils et pourtant ceux-ci, 
peuvent au meme titre que ceux du fils devenir incestueux. Combien 
de mere ne sont-elles pas amoureuses de leur fils ? Combien de peres ne 
sont-ils par amoureux de leur fille? 

Les occasions dans les quelles se font ces transferts de TafFect libidineux 
sur un fils ou une fille sont nombreux. Prenons ici Texemple de la mere 
amoureuse de son fils. 

Une veure encore jeune et qui ne se remarie pas tombe amoureuse 
de son fils unique. Une mere qui a plusieurs fils mais qui vit seule 
avec Tun d'eux, tombe amoureuse de celui ci. Enfin Ton peut avoir des 
femmes qui sans etre veuves dirigent toute leur libido sur leur fils plutot- 
que sur leur mari. Ce sont par exemple des femmes qui ne sont pas 
beureuses en manage. 

Ce sont encore, cas plus int^ressants, des femmes qui sont toujours 
rest6es homosexuelles, attach^es ä leur pere d^abord; le mariage ne les a pas 
d6tach6es de ce premier amour et plus tard lorsque leurs fils sont grands 
elles reportent sur eux toute leur libido. Ce complexe qui n^est qu^une 
d^rivation du complexe primaire d^ Electre est pai'ticulierement interessant. 

Enfin une mere dou^e au contraire dhine tres forte libido peut sö 
detacher de son mari qu^elle trouve trop ag^, qui lui rappelle trop T Image 
paternelle qu^elle fuit, pour se porter toute entiere vers Tamour de son fils. 

Teiles me paraissent etre les difförentes modalites de ce complexe que 
j^appelle le »complexe de Jocaste« et qui repr^sente rattachement de la 
mere pour son fils. 

Je ne puis ici faire une etude d6taill6e des difförences de Famour 
maternel normal et de Famour perverti d^une femme domin^e par le com¬ 
plexe de Jocaste. Je veux simplement souligner cette diff6rence que je 
crois essentielle: tandis que dans Famour maternel normal la mere 


Le Complexe de Jocaste. 


119 


protege son fils, dans ramour de Jocaste, eile cherche ä se placer sous 
sa protection, eile perd son sens de Tautorit^ ponr chercher ä etre domin^e. 

De plus Tamour de Jocaste a un exclusivisme que n'a pas le simple 
amour maternel. II pr^fere un fils a un autre. II place au dessus de 
tous les autres hommes le fils ador6. II est aveugle tout comme Tamour 
sexuel. 

Ce sera un des premiers devoirs des psychoanalystes qui voudront bien 
Studier ce complexe de dölimiter de plus en plus pr^cis^ment les diff6rences 
qui existent entre cet amour incestueux et T amour maternel, tout comme 
entre Tamour paternel et Tamour incestueux du pere pour sa fille. 

Je n'ai pu me livrer moi-meme ä cette etude n’ayant pu poursuivre 
de Psychoanalyse aupres des quelques personnes que j^ai pu rencontrer et 
qui m’out paru presenter cet amour incestueux. 

Dans d^autre cas que j'ai pu observer de plus pres, le patient ne 
m^a pas autoris6 a publier les r^sultats de mon analyse. 

Voici deux cas que je r4sume et que je n^ai du reste pu suivre que 
d'assez loin. Je les transcris ici pour illustrer le complexe que je viens 
de d6crire. Ils sont fragmentaires et incomplets, mais je me r^souds 
k les livrer au public ainsi, dans Tespoir d^attirer Fattention de certains 
psychanalystes sur ces faits. D'autre auront peut-etre la main plusheureuse 
que moi et pourront publier k ce sujet de longues et completes monographies. 

F. ag6e de 45 ans. Femme nerveuse, sujette aux n^vralgies — 
hyperesth^sie gen4ralis6e, particuli^rement marqu^e aux membres, insomnies 
frequentes, ayant präsente ä la suite de ses premieres couches un d^doublement 
hysterique de sa personnalite sur lequel je n^ai pu obtenir beaucoup de 
renseignements, se porte relativement bien aujourd'hui. Elle a eu 
trois enfants. Le premier ä Fage de 20 ans. A Fäge de 40 ans, eile 
perd son mari qui avait environ 12 ans de plus qu'elle. 

F. aimait beaucoup son mari avec qui eile parait avoir eu une vie 
conjugale parfaitement normale. La grande difference d^äge qui la 
s^parait de son mari pourrait faire penser qu' eile aurait retrouve en lui une 
image paternelle, mais le fait n’est pas prouy6. En tous cas F. ne präsente 
aucun cas d^homosexualit^. 

Au moment oü son mari est mort, ses deux fils cadets partirent pour 
Fetranger. F. resta seule avec son ain6 T. T. avait alors 20 ans. 
C’est lui qui s^occupa de toutes les affaires de succession de son pere, qui 
fut le soutien et le conseiller de sa mere. C^6tait un gar 9 on intelligent 
et affectueux et par ses qualit^s, il aida F. a passer ce moment difficile. 
Lui meme parut ä ce moment entrer dans une phase homo¬ 
sexuelle. II se retirait de la soci6t6 des jeunes filles et s^entourait de 
nombreux amis. 

Tandis qu^l devenait de plus en plus d^pendant du complexe 
d'Oedipe et se fixait toujours plus ä Fimago maternelle, sa m^re aussi 


120 


Raymond de Saussure. 


parut oublier ses autres fils et ne vivre plus qu^en fonction de T. Son 
chagrin diminuait, eile parlait moins de son mari et paraissait avoir retrouv6 
une nouvelle jeunesse dans son amour pour son ain6. Lorsque parfois 
eile comparait ses fils, la comparaison 6tait toujours en faveur de T. 
L^intelligence et Taffectivitö de Tain^ 6tait injustement placke au dessus 
de celle des cadets. 

Quatre ans plus tard T. du partir a son tour pour T^tranger. Sa 
mere en con 9 ut un grand chagrin. Elle resta seule ä la maison mais toujours 
encore attach^e ä son ain6, tandis que celui-ci paraissait sortir de sa 
crise homosexuelle pour entrer dans une phase normale d^heterosexualit^. 

En arrivant chez lui apres une ann6e d’absence T. se sentit embarrass6 
par ramour que lui tömoignait sa mfere. H n’avait en rien alt6r6 son 
affection pour eile, mais Texclusivisme de Tamour de sa mere lui 6tait 
penible. II ne pouvait plus supporter les. enfantillages de sa mere qui 
cherchait ä attirer son attention sur eile. 

D^autre part T. qui venait de se cr6er une Situation, chercha ä se 
marier. II se fian 9 a peu de temps apres son retour au pays avec une 
jeune fille fort dilförente de sa mere, au point de vue de son caract^re. 
Cet acte tout legitime fut le d^but d'une vraie n^vrose pour F. 

Par deux fois sa Situation affective avait M compl^tement boulvers^e. 
F. eut ä Tegard de la femme de son am6 une Jalousie digne dhme jeune 
femme. Malgr6 ses occupations nombreuses qui obligeaient T. ä travailler 
souvent le soir, il ne put aller une seule fois chez sa flauere le soir sans 
consacrer le lendemain une soiröe h sa mere. II dut 6tablir un vrai 
Systeme de compensation pour que sa mere puisse jouir de lui autant 
d'heures que sa flauere. Si par hasard le compte 6tait fait au d^triment 
de la mere, eile venait le soir pleurer dans la chambre de T. et restait 
aupres de lui jusque vers 1 h. du matin ä se lamenter de sa solitude. 

A la moindre contradiction que T. faisait subir a sa mere, eile partait 
en larmes, tremblant de tout son corps et se disant abandonn^e. Elle 
souhaitait ardemment la mort qu^elle entrevoyait comme son seul salut. 

Constament, cherchant ä se conqu^rir Taffection de son fils par la piti6, 
eile lui demandait de renoncer ä sa fiancee pour eile. Ainsi si T. 6tait 
invit^ ä diner avec sa fiancee, eile luidisait: »Tu pourrais bien t616phoner 
que tu ne peux pas aller et passer la soir^e avec moi.« 

Elle meme avait une certaine conscience de la cruautö de ses actes 
pendant les rares instants oü eile 4tait tout ä fait bien. 

Ordinairement eile n^arrivait pas ä se rendre compte de ce qu41 
pouvait y avoir de vexant pour son fils dans ses agissements. Et quand 
on lui faisait toucher du doigt la chose, eUe rationalisait ses actions et 
pr^tendait qu'on se trompait sur ses intentions. 

T. au moment oü il s^etait fianc6 avait eu Timprudence de promettre 
ä sa mere de ne pas se marier avant qu^elle le lui permit. On fixa donc 


Le Complexe de Jocaste. 


121 




le mariage ä plusieurs mois plus tard. Mais T. souffirait de plus en plus 
de r^tat de sa mere qui venait ä tout instant lui faire des scene s dans sa 
chambre. II en devint malade lui-meme. C^est ä cette occasion que je 
le vis et c^est ainsi qu’indirectement je pus döceler le complexe de sa mere. 

F. fut alors eloign^e, mise dans une maison de repos et on d^cida 
que le mariage serait avanc^, esp6rant que F. irait mieux une fois que 
le fait serait tout k fait accompli et qu'elle n^aurait plus fangoisse de la 
Separation devant eile. 

Ce fut avec peine et force larmes qu’on arriva ä d^cider F. ä cette 
maniere de voir. Par comble de jalousie F. proposa que T. vive loin 
d^elle jusqu^ä F^poque premierement fix^e pour son mariage et ceci 
sans que sa fiancee puisse le voir. ^ 

Ce trait est bien fait pour marquer le cote incestueux, exclusif, je 
dirai presque conjugal de Tamour de F. pour T. 

Nombre de discussions qui eurent lieu entre T. et F. marquerent 
nettement ce c6t6 incestueux de Famour de la mere. 

Le mariage de T. eut pour effet de calmer grandement F. Elle se 
plaignait cependant que T. ne Faimait plus, disait que les freres de T. 6taient 
plus gentils que lui et chose curieuse tandis que pendant la longue p6riode 
oü eile avait et6 si attach^e k T., eile n^avait jamais rev6 de son mari 
d^funt, depuis qu'elle s^^tait d^tach^e de T., eile reva constament de lui. 

Le second cas que je vais exposer plus brievement est moins net, 
parce qu^il s^agit d^une femme schizophrene, d6jä tres dissoci^e. Cependant 
les 616ments de son d^lire permettent de croire que F origine psychique de 
sa folie a aussi 4t6 le complexe de Jocaste. 

C^est une femme de 64 ans, malade d6jä depuis vingt ans et que 
j^appellerai M. — Elle avait deux fils et plusieurs filles. — Les mariages 
de ses filles ne la pr6occuperent pas beaucoup, mais ceux de ses fils 
F^murent profondement. Elle se mit ä d^tester leurs belles familles qui 
lui avaient pris ses fils. 

Dans son d61ire, eile ne parle jamais de ses filles, mais souvent de ses 
fils. Lhm est le meilleur docteur de la Suisse, Fautre le meilleur officier. 

Sa propre famille ayant aid6 ses fils a la mettre dans un asile lorsque 
a vie n’6tait plus tenable aupres d'elle, eile a rejet6 toute la faute sur 
sa famille. 

Jamais, dit-elle, ses fils n^auraient voulu Fenfermer, au contraire, ils 
n^ont qu^une id6e c^est de vivre avec eile ä Paris et de faire du bien 
autour d^eux. 

Si eile aime 6norm6ment ses deux fils, eile a pourtant une pr^dilection 
marqu^e pour le major. L^autre en effet est docteur, or ce sont les docteurs 
qui Font enferm^e et qui la retiennent k Fasile, donc tous les docteurs 
sont des manants. En effet unjour que le repas lui semblait empoisonnö 
(eile est tres sujet aux paresth^sie gustatives et auditives) eile partagea 






i 


122 Raymond de Sanssure. 

sa soupe en 5 parts, destinant chacurie d’eiles pour un des cinq m^decins 
qui^ Tavaient soign^e jusqu’ici. Elle voulait, disait-elle, le empoisonner 
puisqn’ils avaient empoisonn^ sa vie. 

Souvent eile voit dans ses d^lires qu'il arrive un accident k son fils le 
major et eile regelt une d^peche directement ä roreille par la töl^graphie 
Sans fil annongant que son fils Tappelle aupres de lui imm^diatement. II lui 
prend alors des impulsions dans les quelles, eile veut s'^vader ä tont prix. 

Dans ce second cas le complexe de Jocaste est ^videmment moins 
frappant que dans le premier, mais je crois cependant qu^il entre pour 
une part dans la genese psychologique du d^lire de M. 

Le complexe de Jocaste^ comme celui d^Oedipe präsente tous les degres 
d^intensit^, depuis la mere qui a un instinct maternel lögerement d6form6, 
jusqu'ä la mere qui cherclie nettement Fassouvissement de ses instincts 
sexuels, tant psychiquement que physiquement dans la personne d^un 
de ses fils. 

J’ai rencontr^ aussi une femme atteinte de m^lancolie, qui des 
mois durant avait coucli6 avec son gendre et si Fon en croit ses confessions, 
c^est eile qui a chercli^ la premiere ä avoir ces rapports. 

Le complexe inverse du pere pour sa fille doit exister, je n’en ai^ 
pour ma part, rencontr^ qu^in exemple, que je n^ai malheureusement pas 
pu Studier moi-meme. 

II s^agissait d^un pere, parfaitement Fortune, qui n^avait pas besoin 
de sa fille pour vivre et qui cependant Fempecha plusieurs ann6es durant 
de se marier parce qu^il ne pouvait se r^soudre ä la laisser partir loin 
de chez lui. Ce pere 4tait veuf depuis plusieurs ann6es et sa fille avait 
toujours vecu aupres de lui. Comme vous le voyez, il ne s^agit lä, peut- 
etre, que d’une exag^ration de Finstinct parternel. Quoi qu’il en soit, j’ai 
tenu ä soulever la question pour attirer Fattention des psychanalystes 
sur ce complexe. II serait des plus intöressants de pouvoir trouver quels 
sont les motifs profonds qui amenent le pere a cet attachement pour la fille. 

Tandis que chez la femme il parait simplement y avoir un refoulement 
de F instinct maternel qui est un instinct dominateur, protecteur, par 
F instinct sexuel qui revet chez la femme une tendance plutot masochiste^ 
chez Fhomme il parait plutot s^agir d^un attachement platonique, qui 
rappellerait en une certaine mesure le complexe d^Oedipe. Peut-etre 
n’est-il souvent quhin transfert de ce complexe? Je ne tranche pas la 
question, je voudrai seulement la poser, pour que tous ceux qui auront 
Foccasion d'6tudier des cas analogues puissent r6soudre ce probleme. 



Eine unbewußte Schwangerschaftsphantasie bei einem Manne 
unter dem Bilde einer traumatischen Hysterie. 

(Klinischer Beitrag zur Analerotik.) 

Von Dr. Michael Josef Eisler (Budapest). 

(Schluß*).) 

Ans der Kindheitsgeschiohte'des Patienten ist vor allem 
die Erinnerung an eine Szene hervorzuheben, die ein ungewöhnliches 
Erlebnis* darstellt und als solches auf sein Seelenleben nachhaltig g^e- 
wirkt hat. Diese Szene war niemals seinem Bewußtsein ganz ent¬ 
rückt und tauchte im Verlaufe der Behandlung’ frühzeitig auf. Was 
sie, abgesehen vom Inhaltlichen, so bemerkenswert macht, ist die 
ungemeine Klarheit und Schärfe, womit sie bis in alle Einzelheiten 
hinein aufbewahrt wurde, wiewohl der Patient zur Zeit, da sie sich 
ereignete, wenig mehr als drei Jahre alt war^). Im Gegensatz' zu 
anderen Erlebnissen, die während der psychoanalytischen Kur wie¬ 
derholt erinnert werden und erst durch die neuerlichen Eeproduk- 
tionen an Deutlichkeit gewinnen, wurde diese gleich beim ersten 
Anlaß ohne Lücke vorgebracht und machte eine nachträgliche bzw. 
allmähliche Erhellung und Ergänzung überflüssig. Ich glaube, allein 
schon dieser psychologische Umstand spricht für ihre eminente 
Wichtigkeit im Seelenleben unseres Patienten. 

Die Szene war die folgende. Eines Tages, nachdem der Vater 
das Haus verlassen hatte, spielte er im Küchenraum, wo sich auch 


*) Vgl. Heft 1, S. 50. 

1) Das Gedächtnis des Patienten reproduzierte übrigens alle Erinnerungen 
mit bemerkenswerter Erische; wahrscheinlich spielte dabei der ausgesprochene 
Wirklichkeitssinn des Analerotikers die Hauptrolle. Auf Grund eines sehr über¬ 
zeugenden Falles, doch unter Vorbehalt, möchte ich hiezu den Gegensatz ver¬ 
merken. Phantasien, die sich unter der Patronanz einer oralen Libidofixierung 
entwickelt haben, künden sich durch eine merkwürdige Verschleiertheit an. 
Vielleicht, weil auf der betreffenden Entwicklungsstufe das Psychische noch so 
wenig Spielraum findet. 



124 


Dr. Michael Josef Eisler. 


die Muttei' befand. Diese saß mit dem jüngsten, damals etwa neun 
Monate alten, Bruder an der Brust neben dem Tisohe, auf welohem 
noch da^ Gesohirr mit den Besten des Frühstücks herumstand. In¬ 
mitten des Spieles bemerkte er ein Brotstückchen, das der Vater 
übrig geladen hatte. Er langte danach, wobei er sich am Tischrande 
festhielt und durfte hiebei die in Gedanken versunkene Mutter ge¬ 
stört haben. Sie Schrie ihn zornig an und wahrscheinlich, weil er 
von seinem Vorhaben nicht abließ, ergriff sie ein neben sich befind¬ 
liches Brotmesser und schleuderte es gegen ihn. Der unbeabsich¬ 
tigte Wurf war gut gezielt gewesen'. Die Klinge drang mit der 
Spitze durch sein kleines krempenloses Filzhütchen, das er anhatte 
(die übliche Kopfbedeckung des ungarischen Bauemkindes), und blieb 
oberhalb der rechten' Stirn in der Haut stecken. Er schrie laut auf, 
aber auch die Mutter entsetzte sich vor der unwillkürlichen Hand¬ 
lung und eilte auf ihn zu. Sie riß das Messer aus der Wtmde,, wusch 
sie rasch und trug dann den weinenden Knaben ins Wohnzimmer, 
wo sie ihn’ — daran erinnert er sich sehr genau — quer übers 
Fußende ihres Bettes hinlegte i). Während er sich allmählich be¬ 
ruhigte, nahm sie sein Hütchen auf, das vom Messer einen Defekt 
zeigte, luid nähte, wie er es noch heute weiß, die schadhafte Stelle 
mit rotem Zwirn zusammen. Auf Bitten der Mutter verschwieg er 
den ganzen Vorfall dem Vater, der darüber niemals etwas erfuhr. 
Das geflickte Hütchen hat er noch lange hernach getragen. 

Die Wirkung dieser Szene ließ sich nach vielen Eiohtungen 
hin verfolgen und hat im Laufe der Analyse oftmals als eminentes 
Kindheitserlebnis zur wichtigsten Orientierung gedient. So hat sie 
vor allem die Annahme zugelassen, daß sie der kurzen infantilen 
Onaniebetätigung ein Ziel setzte 2), und ist später als Motiv im Ka¬ 
strationserlebnis zur weiteren Geltung gekommen. Wir haben be¬ 
reits früher erfahren, daß die erste Kastrationsdrohung seitens der 
Großmutter erfolgt war, welcher er auch die Einbuße seiner oralen 
Libido zuschrieb. Hier trat nun das Weib zum zweitenmal als 
Luststörerin auf. Vielleicht noch tiefer und nachhaltiger war der^ 
psychische Einfluß der Szene auf einem anderen Gebiete. Es steht 
außer Zweifel, daß durch die Kopfverletzung die narzißtische 
Männlichkeit des Patienten frühzeitig aktiviert wurde. Wir 
haben diese nicht als angeborene Anlage zu betrachten, wie etwa 
den Analerotismus, was sich bald ergeben soll, sondern müssen in 
ihr ein akzidentelles Motiv erblicken, das aber trotzdem berufen war, 
die erste Libidofixierung m der Entwicklung des Patienten 


1) Der Platz für neugeborene Kinder am Dorfe. 

-) Vgl. Freud, Kl. Schriften usw., Bd. III, S. 164, Fußnote. 



Eine unbewußte Schwangerschaftsphantasie bei einem Manne etc. 


125 


zu konstituieren^). Daß dem so ist, konnte durch eine Anzahl di¬ 
verser erotischer und Charaktergebilde aus dem gegenwärtigen Zu¬ 
stand des Patienten erschlossen werden. Der Übersichtlichkeit zu¬ 
liebe lasse ich diese hier folgen. Der Patient, ein energischer und 
zielbewußter Mensch von fortschrittlichen G-esinnungen und Inter¬ 
essen, bekämpft in nachdrücklichster Weise jede emanzipatorisohe 
Bestrebung des Weibes, dessen Tätigkeit er streng auf das Häus¬ 
liche beschränkt wissen will. Er spricht der Frau jeden Gerechtig¬ 
keitssinn (den er als Kind an Vater und Großvater so hoch hielt) 
und die Fähigkeit, erzieherisch zu wirken, energisch ab. Den Gegen¬ 
beweis zum letzteren Punkte ist er selber übrigens schuldig ge¬ 
blieben, denn er hatte sich erfolglos bemüht, die uneheliche Tochter 
seiner Frau, sowie seine jüngste Schwester, deren Geburt mit seiner 
ersten neurotischen Erkrankung zusammenfiel (s. o.), zu erziehen. 
Den Mißerfolg seines Bemühens schrieb er nicht seiner Ungeduld 
jedem weiblichen Wesen gegenüber, sondern der angeblichen Minder¬ 
wertigkeit desselben zu. Beschäftigtsein mit einer Idee oder Krank¬ 
heit waren ihm stets ein willkommener Anlaß, seine Frau von sich 
femzuhalten. Auch machte er sie niemals zur Mitwisserin seiner 
unablässig geschmiedeten Projekte und Pläne. Daß der Wunsch 
nach einem männlichen Erben ebenfalls narzißtisch bedingt war, ist 
schon früher gesagt worden. — Andere Reste eines überbetonten 
infantilen Narzißmus traten in gewissen paranoiden Vorstellungen 
auf, die aber nur flüchtig angedeutet waren und sich als sehr wand¬ 
lungsfähig erwiesen. Ich habe von diesen die Eifersucht bereits 
erwähnt. Sie bezog sich aber nicht allein auf die frühere Liebschaft 
seiner Frau, sondern erging sich in wahnhaft gefärbten Phantasien 
einer möglichen Untreue derselben, die er mit dem Morde des neuer¬ 
lichen Liebhabers sühnen wollte. Sicherlich sind diese Phantasien 
als Neuauflagen solcher aus der Kindheit aufzüfassen, deren han¬ 
delnde Personen Vater und Mutter waren. Als Zwischenglied haben 
wir hier sein eifersüchtiges Verhalten gegenüber der ältesten Schwe¬ 
ster einzufügen. Auch die Erwähnung seiner Streitlust — die in 
den Träumen wiederholt als Debattiergeschicklichkeit dargestellt 
wurde — gehört in diesen Zusammenhang. Eine merkwürdige Szene 
mag dies erhärten. Als Schaffner der Straßenbahn glaubte er ein¬ 
mal bemerkt zu haben, daß ein alter Mann von vornehmem Aus¬ 
sehen, der täglich mit ihm reiste und bei Lösung des Billetts stets 
ein kleines Trinkgeld in seinen Händen zurückließ, hiefür ein de¬ 
votes Benehmen von ihm erwartete. Sowie dieser Gedanke zum 

1) Die Möglichkeit einer solchen Fixierung durch „rein zufällige Erlebnisse 
der Kindheit“ hat Freud bereits betont (Vorlesungen zur Einführungen in die 
Psychoanalyse, 1917, Seite 418). 



126 


Dt, Michael Josef Eisler. 


erstenmal in ihm aiiftauchte, schob er das überzählige Geld unwillig 
zurück und gab dem Eeisenden zü verstehen, daß er von ihm nichts 
zu fordern habe. Interessanterweise kam es einige Tage später zwi¬ 
schen ihnen zu einer Art von Aussprache und Versöhnung, die einen 
freundschaftlichen Verkehr einleitete'. Auch an diesem "Wandel war 
er mitbeteiligt, ja es machte ihm nachher ein Vergnügen, sich dem 
alten Manne angenehm zu erweisen. Der Narzißmus des Patienten 
ließ demnach eine gewisse Modulationsfähigkeit erkennen, die zur 
vorläufigen Annahme nötigt, daß ein anderer vorherrschender Ihrieb 
seinen Abbau gefördert hat. Übrigens; ergaben sich noch so manche 
W^ege zur Äußerung', bzw. Eegulierung seines verstärkten Narziß- 
, mus. Als solche habe ich im Anschluß anj einen wichtigen Traum 
gewisse ,3ettungsphantasien“ gefunden, die sich aüf verehrte Per- 
sonjen bezogen. Der Traum enthielt eine Vision, in welcher eine Stadt 
in Plammen aufging; inmitten des gewaltigen Aufruhrs trug er 
einen] Vorgesetzten aus einem brennenden Hause ins Freie, und als 
Dank für die Bettung hörte er von diesem die Eesignation auf ein 
zweckloses Leben i). Es läßt sich leicht denken, daß ein anderer 
als unser Patient bei ähnlicher Naturanlage, doch von höherem In¬ 
tellekt und in einflußreicher Stellung, draußen im Leben sehr be- 
merkeniswerte und ersprießliche Leistungen hervorgebracht hätte. 
Solche Heldenphantasien, die, von der Wirklichkeit abgesichnitten, 
gleichsam ein imaginäres Dasein führten, konnten jedesmal auf das 
erste Liebesobjekt, den Großvater, zurückgeleitet werden, der den 
Knaben einmal vor einem wildgewordenen Stier gerettet hatte. Im 
Spiegel seines Narzißmus erfuhr dieses Erlebnis eine Umwandlung 
in^ Gegenteil. — Eine andere Gruppe von Phantasien beschäftigte 
sich mit der Ablehnung der weiblichen Bolle im Schöpfungsakte, 
worin er analog den Autoren des Alten Testaments! verfuhr. Er 
konnte sich niemals' recht mit dem Gedanken abfinden, daß die Natur 
dieses wichtige Geschäft, nämlich das leibliche Bilden' und Gebären 
eines menschlichen Geschöpfes, ganz dem Weibe überlassen hat. Wie 
wir schien, befindet er sich damit so recht in der Nähe des Haupt¬ 
komplexes sieinier Neurose. Ein weiterer Schritt von solchen Phan¬ 
tasien führt zum Glauben an die Selbsterschaffung, der bei dem 
Patienten andeutungsweise vorhanden war. 

Ich habe diesen summarischen Bericht über seinen Narzißmus 


1) Der Traum erinnert lebhaft an jene dichterisch ergreifende Szene der 
„Aeneis“, in welcher besungen wird, wie der Held Aeneas aus dem brennenden 
Troja seinen Vater Anchises fortträgt. In anderen Träumen ließen sich 
gleichfalls sagenhafte Züge aufweisen. — Der Patient nannte diesen Traum 
einen prophetischen und brachte ihn mit politischen Ereignissen in Be¬ 
ziehung. Über seine Neigung zu prophezeien wird noch später die Hede sein. 



Eine unbewußte Schwangerschaftspbantasie bei einem Manne etc. 127 


nicht gradlüxiger gestalten können, weil die Analyse es hierin mehr 
zu vereinzelten und Unverbundenen Anregungen, als' zu klaren und 
letzteu Einsichten gebracht hat, sodann weil die psychischen Verhält¬ 
nisse beim Patienten selbst keinen endgültigen Durchbruch dieser 
Entwicklungsstufe ermöglicht haben. Insbesondere, was die zuletzt 
erörterten Rettungs- und Selbsterschaffungsphantasien betrifft, sind 
diese in! der Regel nicht dem Grebilde einer Hysterie zugesellt, son¬ 
dern; gehören in den Komplex der Psychosen. So ungewöhnlich uns 
der hier behandelte Pall in Hinblick auf die in ihm zur Geltung 
gelangten Gefühlskreise anmutet, kann er durch einen Vergleich mit 
Fällen, die der Psyohiatrie anigehören, dem Verständnis angenähert 
werden. Gerade die psychoanalytische Literatur besitzt in der Be¬ 
schreibung eines' typischen Falles ein Beispiel, das vergleichend her- 
angezogen werden kann. Ich meine den für die Ätiologie der Paranoia 
so bestimmenden Fall des Senatspräsidenten S c h r e b e r ^). Hier 
sind jene anstößigen und dem Bewußtsein so fremden Phantasien, 
die bei unserem Patienten die Neurose hervorgerufen haben und nur 
mit Mühe aufgedeckt werden konnten, gewissermaßen ohne innere 
Hemmung ausgesprochen und bei ihrem Namen genannt: die Ver¬ 
wandlung in ein Weib Und die Befruchtung durch göttliche Strahlen. 
Ich möchte mit Freud betonen, daß die Analyse an diesen Phan¬ 
tasien, die wir als psychische Gebilde sui generis hinnehmen müssen, 
durchaus unbeteiligt war und sie in der Krankengeschichte Schre- 
bers mitenthalten sind. Der Unterscheid liegt in dem Mechanismus 
der Kra3ikheitsformen; während die Hysterie ihre Symptome unter 
Ausschluß des Bewußtseins bildet, läßt die Paranoia, wie wir sehen, 
das Eindringen der krankhaften Vorstellungen als Wahngebilde ins 
Bewußtsein zu. Im Falle Sohreber hat eine starke Gefühlsbindung 
an den Vater und die Kinderlosigkeit seiner Ehe die psychotische 
Vorstellung von der Verwandlung des eigenen Geschlechtes wach¬ 
gerufen: die Inhalte des Unbewußten decken sich also hier wie dort 
in den wichtigsten Teileai. Ich weise noch kurz darauf hin, daß 
auch in den infantilen Verhältnissen beider Fälle (insbesondere Anal¬ 
erotik) eine weitgehende Analogie besteht, die aber hier nicht ver¬ 
folgt werden kann. Immerhin ist damit das Ungewöhnliche des vor¬ 
liegenden Palles auf ein richtiges Maß gebracht, wogegen seine 
Glaubwürdigkeit dadurch sicherlich nur gewachsen ist 2). 

1) Freud, Psychoanalytische Bemerkungen über einen autobiographisch 
beschriebenen Fall von Paranoia (Dementia paranoides). Kl. Schriften usw., 
III. Bd., 1913. 

2) Auch Zwangsneurotiker scheinen sich zuweilen solcher Phantasien be¬ 
wußt zu sein. Vgl. Jones, Einige Fälle von Zwangsneurose. Jahrbuch für 
psychoanalytische Forschungen, IV. Bd., S. 574. 



128 


Dr. Michael Josef Eisler. 


Eine besondiere Rolle fiel dem Narzißmus des Patienten bei der 
Gestaltung seiner Träume zu, die ein dauerndes Besohäftigtsein mit 
der eigenten Person und mit gewissen inneren Vorgängen verrieten 
Schließlich sind seine hypochondrischen Befürchtungen auch hieher 
zu zählen. Ich muß jedoch betonen, daß es sich bei allen angeführten 
narzißtischen Zügen nicht um dominierende Erscheinungen handelte, 
wenn auch die Beobachtung eine verstärkte Grundlage nachweisen 
konnte. Es wird sich noch ergeben, warum diese — sUpponierten — 
Ansätze eine spätere Abbiegung erfahren mußten. 

Ich wende mich nun jenem disponierenden Moment dieser 
vielschichtigen Neurose zu, das ihr Zustandekommen in eigentlichem 
Sinne verbürgt hat, dem analerotischen Partialtrieb, dessen 
enorme Entwicklung durch die Analyse stufenweise auf gedeckt wurde. 
Dieser war es, bis zü welchem die vom Objekt abgehaltene Libido 
zurückging und den uns bekannten hysterischen Symptomkomplex 
bildete. In sehr frühen Zeiten, vielleicht schon nach dem brüsken 
Abschluß der oralen Libido, die sich aber, wie wir sehen werden, 
nachträglich üiren Tribut holte, setzte die Analerotik unter dem 
Bilde einer ausgesprochenen Exkretionslust ein. Wiewohl die Er¬ 
innerung an diesem Punkte versagte, ist die Annahme, daß der 
Trieb fürs erste am DefäkationsVorgang eine Befriedigung suchte, 
mehrfach sichergestellt, vor allem durch jene spontan abgelaufene 
Darmerkrankung vor sieben Jahren. Indirekte Beweise hiefür konnten 
auf Grund verschiedener Charaktereigenschaften, die ich zUm größten 
Teile schon angeführt habe, ermittelt werden. Ich lasse hier zwei 
weitere folgen, deren Beschreibung in der psychoanalytischen Lite¬ 
ratur ich nicht auf finden konnte, und bitte sie an entspreohender 
Stelle in' den schönen Aufsatz von J o n e s i) einzufügen. Der Patient 
zeigte ein besonderes, das rationelle Maß leicht überschreitendes Ver¬ 
hältnis in bezug auf die Zeit. Er war nicht nur genau und pünkt¬ 
lich, wobei er jeden' freien Moment ausnützte, sondern liebte es, gleich¬ 
zeitig zwei Dinge zu verrichten, etwa beim Essen oder Stuhllassen 
zu lesen, beim Grchen nachzudenken, usw. Dieser typische Zug, den 
man nach der historisch gewordenen Eigentümlichkeit C ä s a r s be¬ 
nennen könnte, läßt sich ohne weiteres auf die lustbetonte Tendenz 
beim Kinde zurückführen, das Große und das Kleine auf 
einmal zu machen. Und tatsächlich war bei ihm eine beträcht¬ 
liche Urethralerotik in Anlehnung an den Analerotismus nachweisbar. 
Ich werde nachher bei der Analyse seiner Todesphantasien auf diesen 
Zug noch einmal kurz hin weisen. Die Eigenschaft, zwei Dinge zu¬ 
gleich zu machen, verband er mit dem impulsiven Drang, alles, was 

1) über analero tische Charakterzüge. Internat. Zeitschrift für ärztl. Psycho¬ 
analyse, V. Jahrg., 2. Heft, 1919. 



Eine unbewußte Schwangerschaftsphantasie bei einem Manne etc. 


129 


er iinteriiahm, „ganz zti machen“, woraus eine durchaus männliche 
und erfolgreiche Haltung im Leben resliltierte. Dieser letzte Zug 
erklärt zugleich seine Vorliebe für ,,ganze“, d. i. ungebrauchte Sa¬ 
chen, z. B. Bekleidungsistücke. Leute solchen Kalibers schämen sich 
etwa, geflickte Kleider zu tragen. — Das lustvolle Interesse am 
Defäkationsakt ist später energischer auf gezehrt und zu Charakter¬ 
eigentümlichkeiten verarbeitet worden, als jenes an den Entleerungs¬ 
produkten, das mehr ein libidinöses Beharrungsvermögen gezeigt hat. 
In diesem Belang waren auch zahlreiche Reminiszenzen vorhanden. 
Vor allem wurde der Stuhl ein exquisites Schauobjekt, dem die Hoch¬ 
schätzung eines Körperteiles zufiel. Es ist das autoerotische Stadium 
in' der Entwicklung dieses Partialtriebes, in welchem nur geringe 
AssoziationsVorgänge dazu in Wirksamkeit traten. Man hat die 
Empfindung, daß nach der beschriebenen Kopfverletzung die Anal¬ 
erotik eine bedeutende Verstärkung erhielt, die teils drirch die Ab¬ 
wendung von der Mutter, teils durch das bald einsetzende Sexual- 
forschen bedinigt war. Alle kindlichen Vorstellungen und Erlebnisse 
sind auf diesen Trieb zentriert, der wie ein Magnet alle Partikelchen 
der psychischen Tätigkeit in seinen Bannkreis zog. Das Sexual- 
forschen betraf in' erster Reihe die häufigen Schwangerschaften und 
Entbindungen der Mutter und schuf auf Grund der enormen dis¬ 
positionellen Anlage die infantile Vorstellung von der Gleichheit des 
Kotes und Kindes. In der Erinnerung des Patienten ist diese Vor¬ 
stellung noch heute eng mit dem Pruchtbarkeitsbegriff des Kotes 
verbunden i), und zwar in einer Form, die ich den „Fruchtkern-Kom¬ 
plex“ nennen möchte^). Es war seine Lieblingsbeschäftigung, den 
eigenen, wie auch den Stuhl der Erwachsenen danach zu beschauen, 
ob nicht etwa Fruchtkerne darin staken. Er merkte sich die Stellen, 
wo er einen Stuhl zurückgelassen hatte, und sah einmal im nächsten 
Frühjahr mit großer Verwunderung, daß aus einem Kirschenkern 
ein lebendiges Reis hervorgeschossen war. Es überraschte ihn, daß 
ein solcher Kern seine Treibkräfte in der großen Darmhitze, die er 
sich vorstellte, nicht verlieren konnte ^). Im übrigen wurde es nun 
seine Gewohnheit, das Kernobst ganz zu verschlucken, bis ihm mit 
16 Jahren ein schmerzhaftes Malheur passierte, indem ein spitziger 
Pflaumenkern beim Stuhllassen seinen After verletzte. Der Fall 
mit dem ausgetriebenen Kirschenkem war nicht der einzige; im 

1) Vgl. Jones, Einige Eälle von Zwangsneurose. Jahrbuch für psycho¬ 
analytische Eorschungen, V. Bd., S. 98. 

2) Ganz so, wie im Dichten und Denken des Orients der Granatapfel infolge 
seines Kernreichtums als Eruchtbarkeitssymbol gilt. 

3) Es sind dies offenbar Pubertätsphantasien mit Eückschluß auf die In¬ 
fantilität. 


Intern. Zeitachr, f. Psychoanalyse. Vl/2. 


9 



130 


Dr. Michael Josef Eisler. 


Hofe des elterlichen Gutes stand ein Baum, der einem ähnliolien Zu¬ 
fall sein Blühen verdankte und deshalb vom Vater scherzhaft „drek- 
kiger Zwetschkenhaum“ genannt wurde. Noch vor einigen Jaliren 
erhielt er von zü Hause einen Brief mit der Nachricht, daß man 
diesen sonderbaren Baum fällen mußte. Die Bedeutung des „Frucht- 
kemkomplexes“ ist noch in anderen Liebhabereien nachweisbar. So 
z'. B. läßt er beim Zubereiten von Pflaumenmus („Powidel“) die Kerne 
mit verkochen Und delektiert sich nachher am versüßten Inhalt. Dann 
sammelt er Aprikosenkerne, trocknet und enthäutet sie nach dem 
Aufschlagen in heißem Wasser, um sie nachher im Winter andächtig 
zu genießen. Er hat auch sionst manches Küchenrezept im Kopf 
und spielt gern den Kochkünstlor (Analerotik und Identifizierung 
mit der Mutter^). — Durch einen eigenartigen Zufall erfuhr ich, 
wie wirksam dieser Komplex noch heute in seineim Seelenleben ist. 
Er begleitete mich einmal ein' Stück Weges (es war gerade die Kir¬ 
schensaison) und da bemerkte ich, daß er beim Sprechen oder Zu¬ 
hören — wir sprachen über eine ihn interessierende Sache — unab¬ 
lässig nach rechtsi und links abschwenkte, um die weggeworfenen 
Kirschenkerne zu zertreten. Ich machte ihn auf diese symbolische 
Handlung aufmerksam, worauf er erzählte, dies sei ihm von jeher 
zur Gewohnheit geworden, und rühmte sich, daß seinen aufmerksamen 
Blicken ein Kern nicht so leicht entgehe. Dieses Tun störe ihn nicht, 
sich gleichzeitig mit anderen Dingen zu beschäftigen (vgl. das mit 
dem früher Gesagten über die sogenannte Cäsar sehe Fertigkeit). 
Als Grund gab er an, er wäre einmal über einem solchen Kern aus¬ 
geglitten und möchte nun einen ähnlichen Unfall verhüten. Diese 
Rationalisierung verdeckt jene infantilen Todeswünsche gegen die 
Geschwister ^), die sich in der symbolischen; Handlung verraten haben, 
da in seinem Unbewußten Denken Kerne immer kleine Kinder bedeu¬ 
teten. Ganz offen trat diese Feindseligkeit im sechsten Lebensjahr 
auf, als die erste Schwester geboren’ wurde. Unser Patient weiß 
sich genau zu erinnern, daß man ihrem Kommen mit großer Erwar¬ 
tung entgegensah. Die Vorstellung von toten Kindern gelangt noch 
als Kotsymbol in seinen Träumen zur Geltung^). 

In diesen Zusammenhang gehört auch der „Platuskomplex“ beim 
Patienten, der neben den koprophilen Regungen bestand. Sein Um¬ 
fang entspricht zwar nicht den Dimensionen, welche Jones bei 

1) Vgl. Jones, Einige Fälle usw. Jahrbuch für ps 3 xhoanalytische For¬ 
schungen, IV. Bd., S. 568. 

2) Das beliebte „Versteckenspiel“ der Kinder, die einander suchen und 
beim Auffinden eine lebhafte Freude an den Tag legen, ist gleichsam eine in¬ 
direkte und lestvolle motorische Abfuhr solcher Todesphantaeien. 

3) Ich werde nachher ein Beispiel hiefür bringen. 




Eine unbewußte Scbwangerschaftsphantasie bei einem Manne etc. 


131 


Zwangsneurotikern nachwies ^), doch war er immerhin ausgesprochen 
da. Er ließ sich auf den Großvater znrückführen, der sich hierin 
ohne Gene gab und in dem Knaben die respektvolle Meinung er¬ 
weckte, solches wäre ein Vorrecht jedes' Familienoberhauptes. So 
oft der Großvater einen Flatus herausließ, schimpfte er scherzend 
und sagte: „Na, scher dich zum Teufel.“ Ganz ähnlich apostrophierte 
er zärtlich schimpfend den kleinen Knaben, wenn er ihm unbequem 
war. Der Komplex war noch in einzelnen Eigenheiten aus der 
späteren Zeit zu erkennen. Als Schulknabe sammelte er eifrig Geld, 
um sich eine Dampfmaschine (Spielzeug) zu kaufen. Als Abwehr 
erscheint der Komplex in der Furcht vor Donner- und Blitzschlag 
(Brontophobie). Später gab es sich im Interesse für das Wetter und 
den Witterungswechsel kund. Ich habe bei Erwähnung seiner „Retter¬ 
phantasien“ (Feuersbrunsttraum) bemerkt, daß er sich gern eine ge¬ 
wisse prophetische Gabe beilegte, die nun leicht mit. dem Flatus- 
komplex vereint wei'den kann. Als sichersten Beleg hiefür nannte 
er jedesmal, er wisse immer ganz genau, wann ein Gast komme 
(Kind = Kot = Flatus). 

Mii; dem Analerotismus hielt eine gleich hohe Riechlust Schritt. 
Geg'en ihre starke infantile Ausbildung hat sich bis heute nicht 
eine entsprechende Reaktion in der Form von ausgesprochener Ge- 
ruchsempfindlichkeit entwickelt. Exkremente haben niemals einen 
Ekel in ihm erweckt, wohl aber Aasgeruch, gegen welchen er mit 
Appetitlosigkeit reagiert. Wie sehr die kindlichen Todesphantasien 
mit diesem Sinn verknüpft sind, beweisen zwei Momente. Er fühlt 
den Leichengeruch auch außerhalb des Hauses, sowie ilin der Zufall 
in der Nähe eines solchen Ortes bringt. Einmal besuchte er durch 
Vermittlung eines Freundes eine Leichenkammer, wo er die begon¬ 
nene Sektion an einem Frauenkadaver sah. Die fette Bauch wand 
war bereits in der Mitte geteilt. Zwei Jahre lang konnte er nachher 
kein fettes Rindfleisch genießen. Schaffleisch meidet er überhaupt 
wegen seines scharfen Geruches. — Der Übersichtlichkeit halber 
lasse ich an dieser Stelle und in Ergänzung der einzelnen schon an¬ 
geführten Beispiele die analytische Erhellung seiner sadistischen 
Strebungen folgen. Sie waren so stark entwickelt, daß zU ihrem 
Abbau zwei Wege eingeschlagen wurden. Ein Teil wurde in Maso¬ 
chismus Umgewandelt — das Ich als Objekt der sadistischen Regmigen 
gewählt — und verband sich, wie wir mehrfach sahen, mit den 
enormen analerotischen Komplexen, wodurch er pasteiv wurde. Ein 
nicht minder beträchtlicher Anteil konnte aber diesem Wandlungs- 

1) Jones, 1. c. Die Weitschichtigkeit dieses Komplexes hat Jones dar¬ 
getan im Aufsatz „Die Empfängnis der Jungfrau Maria durch das Ohr“. Jahrb. 
für psychoanalytische Eorschungen, VI. Bd., 1914. 


9* 








132 


Dr. Michael Josef Eisler. 


prozeß nicht entsprechen und erhielt sich unter der Form „einer 
Reaktionsbildung g'C^n den Trieb‘‘ als Mitleid leistungsfähig. 
Dieses wirkte bei der ersten neurotischen Erkrankung vor sieben 
Jahren als Anlaß mit; damals konnte er den Anblick von über¬ 
fahrenen Menschen nicht ertragen. Auch sonst ist ihm das Bild 
von sterbenden Tieren, besonders ihr gebrochener Blick, und von 
Menschen, die sich unte^ Schmerzen quälen, unerträglich. (Die Er¬ 
innerung an die gesehene Entbindung als Kind.) 

Ich habe mit dem Gesagten den Umkreis der analerotischen Stre¬ 
bungen bei unserem Patienten noch nicht ganz abgesteekt. Es war 
ihnen Vorbehalten, überdies ansehnliche Zuschüsse an ein Organ ab¬ 
zugeben, das ihnen ein dispositionelles Entgegenkommen zeigen 
lionnte: die Mundzone. Die auf eine orale Libidofixierung hinwei¬ 
senden Phantasien bei ihm ließen nicht nur einen überraschenden 
Umfang ahnen, sondern erwiesen sich dazu als mehrdeutige Gebilde, 
deren kritische Einfügung in das Gesamtbild der Neurose nicht un¬ 
erhebliche Mühe kostete. Als: Wegweiser diente die Schwangerschafts¬ 
phantasie. — Bei dem kaum über fünf Jahre alten Kinde stellte sich 
eine eigenartige Einschränkung des Appetits in bezug auf stark 
riechende Speisten ein, die sich z. B. gegenüber dem Genuß von 
Zwiebeln zu echter Idiosynkrasie steigerte, welche noch heute be¬ 
steht. In keiner Form verträgt er diese und wenn durch Zufall nur 
ein Stück eines dünnen Zwiebelhäutchens seinen Gaumen berührt, 
reagierl^ er mit heftigem mehrmaligen Erbrechen darauf. Ich ver¬ 
stand diese unüberwindliche Abneigung erst, als ich auf die Beto¬ 
nung, mit welcher der Patient die Sache benannte, hinhorchte. Im 
Ungarischen heißt die Pflanze wörtlich übersetzt: Zwiebel keim 
(hagymacsir). Offenbar hat der im Begriff miteinbesohlossene Sinn 
von etwas Lebendigem das Zustandekommen der Idiosynkrasie mächtig 
gefördert. Als ihre unbewußte Grundlage erwies sich die infantile 
Vorstellung von der oralen Befruchtung, die stets in Ergänzung der 
analen Geburtstheorien auftritt. Es gehört also in diesen Zusammen¬ 
hang, wenn der Kranke das Entstehen seines Leidens vermeintlich 
darauf zurückführt, er müsse irgend etwas Ungenießbares oder Schäd-. 
liebes (Emailsplitter vom Kochgeschirr) verschluckt haben. Auch 
fürchtet er sich vor Vergiftung. (Ein geläufiges Traumsymbol der 
Schwangerschaft. In einem seiner Träume kam als Penissymbol ein 
Pilz vor.) — Ein Jahr nach dem Einsetzen der Zwiebelidiosynkrasie 
entdeckte unser Patient eine besondere Kunstfertigkeit des Magens 
an sich, die man in gewissem Sinne als ein Wiederkäuen bezeichnen 
darf. Er konnte mit Leichtigkeit Knöpfe oder kleine Marmorkugeln, 


1) Freud, Triebe und Triebschioksale. Kl. Sebrift/en usw., IV. Bd., S. 2G5. 









Eine unbewußte Schwangerschaftsphantasie bei einem Manne etc. 133 

wie sie Kindern als Spielzeug dienen, verschlucken und dann wieder 
in den Mund zurückbefördern. Er konnte sogar nach der genosseneai 
Mahlzeit die ganz verschlungenen Fleischstücke gesondert zurück- 
holen, um sie nachträglich gemach zu verzehren. Das getrunkene 
Wasser sprudelte er im Strahl zurück. Diese infantilen Liebhabe¬ 
reien verdeckten teils koprophagische Neigungen — Knöpfe und 
Kugeln sind exquisite Kotsymbole —, teils aber beweisen sie, daß 
durch einen geradezu generellen Analerotismus die Mundzone zu 
einer sekundären Kloake umgewandelt wurdet). Erst nach 
Klärung all dieser Tatsachen gelangte ich zum letzten Verständnis 
einer vom Patienten lange'vorher gemachten Angabe. Er hatte 
erzählt, daß er sich in den ersten Monaten der rezenten Erkrankung 
ohne viel Überlegung dazu entschloß, seine oberen Sohneidezähne, 
deren faulen Geruch er nicht mehr ertragen konnte, der ßeihe nach 
ziehen zu lassen. Dabei war er vor Schmerzen in Ohnmacht gefallen. 
Ich ahnte dunkel, daß diese Ohnmächten wohl mit dem wiederholten 
Bewußtseinsverlust infolge des Lendenschmerzes kausal zusammen¬ 
hingen, doch fand ich mich fürs erste in dem Durcheinander von 
Klagen, Erinnerungen, Symbolbedeutungen usw. nicht zurecht. Den 
Ausschlag gab auch hier die dominierende Schwangerschaftsphantasie. 
Das Zahnreißen, das in den Träumen von Frauen als bekanntes Sym¬ 
bol für Entbindung gilt, mußte auch hier den gleichen Sinn haben, 
wobei die als Kind beobachtete Zangengeburt als vermittelnde Vor¬ 
stellung mit wirkte 2). Der Patient versuchte sich also zu Beginn 
seiner Hysterie der krankhaften Phantasien gleichsam durch ein 
Opfer auf oralem Wege zü erwehren. Auch sollte das Zahnreißen 
bei ihm die während der Köntgenszene vergeblich erwartete Opera¬ 
tion ersetzen und die Abfuhr der damals erfolgten Libidostauung er¬ 
wirken. Die Neurose war jedoch stärker und gewann hier ein Motiv 
mehr, sich end^ltig zu verfestigen. Interessant ist dabei der In¬ 
stanzenweg, den sie einhielt, indem sie sich zuerst vorübergehend 
in der urtümlicheren Form äußerte. Die archaisiche Vorstellung 
einer oralen Geburt ist übrigens in der biblischen Jonassage, deren 
Held vom Walfisch ausgespien wird, bildlich sehr eindrucksvoll 
dargestellt. 

Im Bericht über die Einleitungsphase der Behandlung habe ich 
einen Charakterzug des Patienten erwähnt, dessen Erklärung 
ich nicht gleich geben konnte. Ich lasse diese nun an jener Stelle 
folgen, woselbst der Zug sich meinem Verständnis erschlossen hat. 
Der Widerstand, den man in jeder Psychoanalyse früher oder später, 

1) Vgl. Jones, 1. c., S. 596. 

2) Dazu noch die Zahnsammlung der Großmutter und die Beschädigung des 
kleinen Mädchens duroh den geschleuderten Stein. 



134 


Dr. Michael Josef Eisler. 


aber als luivermeidliche Pol^e der Kur selbst kommein sieht, hat 
natürlich von Pall zu Pall verschiedene Quellen und muß daher 
stets in selbständiger Weise aufgelöst werden. Der Anteil des 
Widerstandes, der im Wesen der Krankheit liegt, wird bei Patienten, 
die den Emst und die Unerträglichkeit ihres Leidens ganz erfassen, 
oft allein schon durch iliren guten Willen ausgeglichen; sind aktuelle 
Anlässe da., so ist es wichtig, diese am Zeitpunkt ihres Entstehens 
zu erkennen und mit Aufmerksamkeit zu verfolgen. Es gibt aber 
eine besondere Art von Widerstand, die nicht anders, als konstitu¬ 
tionell auf gef aßt werden kami und trotz inniger Beziehung zum 
jeweiligen Krankheitsfall ein gewisses selbständiges Interesse be¬ 
ansprucht. Sie ist früher da, als die Krankheit, und spielt auch im 
Leben jedes Gesunden eine bedeutende Rolle. Es ist die V e r s c h 1 o s- 
senheit, die bei unserem Patienten sehr bemerkbar in den Vorder¬ 
grund trat und der Analyse so manche harte Aufgabe söhuf. Es 
lag immer nahe, sie mit den analerotischcn Tendenzen in Beziehung 
zu bringen, bis sich zuletzt das Verhältnis als ein sehr inniges er¬ 
wies. Man bedenke, welch große Leistung bei jedem Kinde gerade 
in der Erziehung des Sphincter ani vollbracht werden muß, und man 
wird zügeben, daß aus dem lustvollen Betätigungsakt dieses Schlie߬ 
muskels mit dem Schwinden der Infantilität leicht ein reaktives 
psychisches Gebilde hervorgeheu kann, dessen Stärke eben vom Aus¬ 
gangsmoment dependieren wird. Jones' hat in einer sehr eindring- 
lichejr Studie^) die Pähigkeit des Hassens mit der frühzeitigen not- 
gedrung’enen Beheri'schung der Sphinktertätigkeit in Beziehung ge¬ 
setzt; ich glaube — ohne im übrigen diese bedeutungsvolle Re¬ 
lation, die jedoch mehr zum Pathologischen führt, anzutasten —, 
es liegt näher, an die Verschlossenheit zu denken, deren Begriff ja 
selbst eine solche Beziehung wörtlich aufdeckt. Das Beispiel des 
Patienten ist hiefür um so mehr ausschlaggebend, als bei ihm, wie 
wir gesehen haben, gerade die mechanischen Vorgänge der Defäkation 
energischer zu Charaktereigenschaften umgebildet wurden. Ich will 
hier der Verlockung nicht folgen und unterlasse es daher, das psycho¬ 
logische Problem der Verschlossenheit anzugehen. Bemerken möchte 
ich jedoch, daß diese Eigenschaft vielen analerotischen Gebilden an 
Bedeutung und Umfang voranzustellen ist: sie erscheint wandlungs¬ 
fähiger und läßt im späteren' normalen Leben mannigfaltigere Bil¬ 
dungen als die anderen zu. Sie schließt nicht nur, gleich allen, 
ihren Gegensiatz, und damit die Vielheit der Zwischenstufen ein, 
sondern steht auch zu Aviöhtigen seelischen Eigenschaften in innigem 


1) Haß und Analerotik in der Zwangsneurose. Internat. Zeitschrift für 
ärztl. Psychoanalyse, I. Jahrgang, 5. Heft, 1913. 




Eine unbewußte Schwangerschaftspbantasie bei einem Manne etc. 


135 


Bezuge. Wir keimen etwa eine stolze, besclieidene, selbstbewußte, 
hämische Verschlossenheit u. dgl., zu welchen sich leicht je ein Typ 
mit der entbrechenden Psychologie denken läßt^). In der Dissimula¬ 
tion der Paranoiker haben wir wahrscheinlich einen pathologisichen 
Abkömmling der Verschlossenheit vor uns. 

Ich komme noch einmal auf die eminente Polle zurück, welche 
die Analerotili in diesem Falle spielt, da ihr Verhalten zu den anderen 
Partial trieben wegen eines besonderen Umstandes sehr beachtungswert 
ist. Es hat sich nämlich gezeigt, daß sie diese gewissermaßen zur 
Mitarbeit nötigen Und den libidinösen Beitrag, den sie leisten, be¬ 
stimmen konnte. Ich summiere hier das früher Gesagte in einigen 
Sätzen. Die orale Lust ließ sich, wie wir sahen, auf eine Stufe 
herabdrücken, die uns ihren libidinösen Anteil nur mehr im Spiegel 
der phylogenetischen Betrachtung faßbar macht. Die Schaulust ist 
ganz an das analerotische Objekt fixiert, ebenso die Exhibitionslust, 
deren' Vorhandensein eine Pubertätserinnerung bezeugt (Scheu vor 
Ausführung des Defäkationsaktes im Freien). Vom Eiechtrieb braucht 
man in diesem Zusammenhang nicht zü sprechen, weil ja die Ver¬ 
knüpfung eine fast regelmäßige ist. Auch die ürethralerotik steht 
als die eine Hälfte der Exkretionslust der anderen nahe. Schließlich 
erwies sich vom Sadismus, daß seine Äußerungen den analerotischen 
angepaßt waren, und zwar teils nach einer Umwandlung in den 
masochistischen' Trieb, teils in der Eeaktionsform des Mitleids. Der 
analerotische Trieb hat also infolge seiner überragenden Stellung die 
anderen gleichsam imperativ durchdrungen. Die Penetration 
der einzelnen Triebe durch den führenden Partial¬ 
trieb, die wohl bei jeder Neurose vorhanden ist und das Bild der 
Infantilität formt, erweist sich hier als Paradigma. — Dieser dyna¬ 
mische Vorrang ist aber auch inl einem anderen Belange wichtig, 
und zwar durch seine Beziehung zum narzißtischen Stadium der 
Libidoentwicklung. Auf dieser Stufe sind nach Freud alle Partial¬ 
triebe bereits zur Objektwahl zusammengefaßt, doch fällt dieses 
Objekt noch mit dem eigenen Ich zusammen 2). Wenn nun, wie bei 
unserem Patienten, die analerotische Triebkomponente ihre t)ber- 
betontheit durchwegs beibehält, so kann es, selbst bei entsprechender 
Veranlagung, die hier durch die Kopfverletzung gewährleistet war, 
nicht zum gleichmäßigen Durchbruch des Nai'zißmus kommen. Sol¬ 
ches haben wir auch gesehen. Der ganze Vorgang ist übrigens^ nicht 

1) Eine minder ausgesprochene Abart der Verschlossenheit gehört zur Ure¬ 
thralerotik (sphincter vesicae), die sich wahrscheinlich in mehr geistigeren Ge¬ 
bilden äußert, wie alles, was diesem Partial trieb sein Bestehen im Psychischen 
verdankt. 

2) Die Disposition zur Zwangsneurose. Kl. Schriften usw., IV. Teil, 5, S. 118. 



136 


Dr. Michael Josef Eisler. 


ein speziell für diesen Fall bezeichnender, sondern scheint ein typi¬ 
scher zu sein, da wir ja zwischen Narzißmus und genitaler Organisa¬ 
tion als vorletzte Entwicklungsstufe noch eine sadistisch-analerotische 
Phase annehmen.^). Aus allem wird die Bedeutung der Analerotik 
für die Gesamtentwicklung der Psyche evident. 

Wenn wir jede Neurose — bzw. Hysterie — in gewissem Sinne 
als die autoerotische Bewältigung bewußtseinsunfähig gewordener, 
weil von der Eealität abgehaltener Vorstellungen betrachten 2), die 
bei unserem Patienten in gleichgeschlechtlichen Wunschphantasien 
bestanden, so wissen wir aus dem Erfolg, nämlich dem Symptomen- 
komplex der Krankheit, daß auch darin der analerotische Partial¬ 
trieb dem Narzißmus überleg’en* blieb, der wohl zur Abwehr solcher 
Wünsche geschritten wäre. Ihre Auseinandersetzung, die im Grunde 
eine Ausemandersetzung zwischen Libido und Ich ist, hat auf einem 
anderen Gebiete, dem Kastrationskomplex, ein Resultat schaf¬ 
fen müssen. Man kann a priori annehmen, daß ein passiv-homo¬ 
sexueller Wunsch in einer Neurose sich nur dann realisiert, wenn 
sich der Narzißmus des Individuums damit abgefunden hat. Auf 
welche Weise erfolgt nun der Verzicht auf Betätigung des eigenen 
Penis und der eigenen Männlichkeit? Der Schluß auf eine konstitu¬ 
tionell festgelegte Analerotik, bzw. deren Mitwirkung, war uns von 
jeher naheliegend. In einer sehr bedeutsamen Arbeit hat Freud3) 
die Grundlinien des Vorganges hiebei • angedeutet. Es ist vor allem 
das Kotinteresse (Kot = „das erste Stück Leiblichkeit, auf das man 
verzichten mußte‘‘)> das sich später auf den Penis überträgt. War 
das erstere sehr stark vorhanden, so kann es schon allein, durch 
Verarbeitung diverser Eindrücke, darunter eben die Kastrations¬ 
drohung, zu dem Gedanken führen, der Penis sei ebenso etwas-vom- 
Körper-Ablösbares. Dieser Gedanke wird dann zur Sicherheit, sowie 
„die Sexualforschung des Kindes das Fehlen des Penis beim Weibe 
in Erfahrung gebracht hat‘‘. Unser Patient konnte eine solche Er¬ 
fahrung machen, als er sechs Jahre alt war (Geburt der ältesten 
Schwester). Wenn wir sein damaliges: Beschäftigtsein mit anal- 
erotischen Phantasien in Betracht ziehen, so dürfen wir ohne wei¬ 
teres annehmen, daß die oben angeführten — geradezu typischen — 
Gedanken iseinen Geist beschäftigt haben. Ich möchte hier die Auf¬ 
merksamkeit auf zwei Tatsachen lenken, die mir in der analytischen 
Behandlung dieser Frage aufgefallen sind. Es ist sicherlich kein Zu¬ 
fall, daß die meisten Kotsymbole gleichzeitig Kastrationssymbole 

1) Ereud, 1. c. 

2) Ereud, Yorlestingen zur Einfülirung In die Psychoanalyse. 1917, S. 424. 

3) Über Triebumsetzungen insbesondere der Analerotik. Kl. Schriften usw., 
IV. Teil, 1918. 



Eine unbewußte Schwangerschaftsphantasie bei einem Manne etc. 


137 


sind, nämlich Nägel, Haare, Zähne usw., welcher Umstand allein 
schon darauf hinweist, daß hier starke Wechseleinflüsse im Spiele 
sind. Noch wichtiger ist mir die zweite Tatsache, die man wohl in 
allen Fällen mit unbewußter passiver Homosexualität heohachten 
kann. Es fehlen hei so leben in der Hegel die Anzeichen irgend einer 
psj'chischen Abwehr gegen die angedrohte Kastration und man hat 
die Empfindung, als oh sie sich bald mit der Möglichkeit eines 
Penisverlustes ahgefunden hätten. Her Erfolg ist wiederum nur der 
Übermacht der analerotischen Tendenz zuzusehreibeLn, die auf solche 
Weise berufen scheint, ein traumatisch wirkendes Erlebnis der in¬ 
fantilen Psyche zu verarbeiten. Es ergibt sieh daraus im allge¬ 
meinen, daß die autoerotischen Betätigungen der Kindheit nicht nur 
eine vorbereitende, sondern im weitesten Sinne eine organisierende 
Arbeit zu leisten haben. 

Ich möchte die Würdigung des analerotischen Symptomenkom- 
plexes nicht ohne Hinweis auf die typischen Träume des Patienten 
beschließen, die der analytischen Bemühung eine oft beschwerliche, 
doch stets wertvolle Grundlage geboten haben. Sie präsentierten 
sich, wie die übrigen Symptome, als Gebilde einer fast unzugäng- 
liclien Schicht des Unbewußten, deren Übersetzung, wo sie zunächst 
gelang, auf heftigen Widerstand und Unglauben stieß. Dabei waren 
sie von einer merkwürdigen Abg’erundetheit, ja Forms'chönheit, die 
ich mii’ nur durch einen angeborenen Sinn für Phantasieprodukte 
erklären konnte. Der Großvater und der Vater des Patienten waren 
gute Märchenerzähler gewesen, die das schöne ungarische Sagengut 
mit Liebe bewalirteii und an die nächste Generation Weitergaben. 
Dies mag auch erklären, warum manche Symbole nicht nur in den 
Träumen, sondern in anderen unbewußten Produkten dieser Neurose 
eine aktive Holle spielten (das Kern- und Zahnsymbol usw.). Am 
Ende gelang es doch, gerade mit Hilfe dieser Träume die Wider¬ 
stände zu umgehen und zu den eigentlichen pathologischen Phanta¬ 
sien der Neurose vorzudrüigen. Ich habe aber heute noch die leb¬ 
hafte Empfindung, daß mehr die zusammenhängende Kette der tat¬ 
sächlichen Erlebnisse, als die Macht der Symbolsprache in den Träu¬ 
men, den Patienten schließlich zur Einsicht und zum Auflassen der 
unzweckmäßigen infantilen Libidopositionen genötigt haben. Man 
wird dies vielleicht am besten an den Beispielen begreifen, deren 
Erklärung in der ganzen Krankengeschichte besöhlossen ist. Ich 
beschränke mich hier auf die Heproduktion zweier sehr siohöner 
Traumbeispiele. 

Traum I. „Er geht einen Hügel hinauf, wo eine Euine steht. 
Oben legt er sich im Schatten nieder und schaut ins weite Land hinein, 
bigä er vor Müdigkeit einschläft. Später erwacht er davon, daß ihn ein 


138 


Dr. Michael Josef Eisler. 


barhäuptiger alter Mann, der sich auf einen Stab stützt, anblickt. Er 
hat das Gefühl, als ob ihn der alte Mann durch Berührung mit dem 
Stabe oder der Hand geweckt hätte. Dieser fragt ihn, warum er denn 
auf so unnütze Weise den Tag verbringe, wo er doch etwas Kichtiges 
tun könne. Da er tatsächlich nichts vorhat, bittet er den Alten um 
einen Bat. Dieser zeigt mit dem Stabe auf die Kuine und l>emerkt, 
dort drinnen sei ein Brunnen, in den er nur hinunterst eigen und seine 
Wände abklopfen möge. Finde er eine hohle Stelle, so öffne er sie, 
dann werde er den Lohn seiner Arbeit haben. Während er über die 
Worte des alten Mannes nachsirmt, war dieser verschwunden. Er be¬ 
folgt den Bat, steigt in den Brunnen und entdeckt dort einen geheimen 
Schacht, der mit Krügen, altem Geschmeide und Geldstücken angefüllt 
ist. Alle Gegenstände sind mit Schimmel hoch bedeckt.“ 

Traum II. ,,Ein unbekannter Freund 1-) ladet ihn auf sein Gut. 
Er zeigt ihm !dla zuerst die Stallungen, wo die Zuchttiere in schönster 
Ordnung gesondert, nach Abstammung und Namen bezeichnet, zu sehen 
sind. Links befindet sich ein abgeschlossener Baum, den er betritt, 
als der Freund nicht mehr an seiner Seite ist. In kleinen, abgeteilten 
Nischen sieht er eine große Menge von Hühnereiern, die mit Stroh be¬ 
deckt sind. Er nimmt ein auffallend großes, bohnenförmiges Exemplar 
in die Hand und betrachtet es mit großer Verwunderung, da darauf ein¬ 
zelne Buchstaben stehen, die immer deutlicher hervortreten. Bei der 
Bückkehr des Freundes steckt er das Ei schnell auf seinen Platz zurück. 
Sie gehen dann in den Hof hinaus, wo in einem hürdenartigen Baume 
Tiere, die an Batten erinnern, gezüchtet werden. Sie verbreiten einen 
unerträglichen Gestank. Die ganze Wirtschaft liegt auf einem Hügel¬ 
gelände. Tiefer unten befindet sich ein verlassener Friedhof, mit einer 
Weide in der Mitte. Unter dem Baume sieht er ein eingefallenes Grab 
tmd in der Nähe eine Grabkapelle. In Gesellschaft des Freundes be¬ 
tritt er diese; im Gang sind rechts und links Kindersärge untergebracht, 
auf deren Deckel modellierte und farbig bemalte Figuren zu sehen sind, 
welche die Toten darstellen. Durch eine Glastür betritt er den Innen¬ 
raum, wo die Särge der Erwachsenen stehen. Als er sich zufällig um¬ 
wendet und durch die Glastür zurückschaut, bemerkt er, daß die toten 
Kinder tanzen, sie legen sich aber sofort, wie sie ihn erblicken, äuf 
ihren Platz zurück. Er wird stutzig und will seinen Augen nicht glauben, 
weshalb er den Versuch wiederholt. Jedesmal tanzen die Kinder und 
legen sich ebenso schnell, sowie er auf sie schaut, nieder. Inzwischen 
ist auch der Freund verschwunden und ihn befällt nun eine große Angst, 
da er nur durch den Gang ins Freie gelangen kann.“ 

An solchen Träumen, in denen ich zuletzt geradezu typische 
Projektionen seiner analerotischen Phantasien erkennen mußte, war 
die Analyse reich. Allein schon diese ließen eine gewisse diagno¬ 
stische Stellungnahme zu, die sich immer mehr verfestigte, um am 
tatsächlichen Erinnerungsmaterial eine volle Stütze zu finden. 

In der Übersicht der Krankengeschichte darf ich mich nunmehr 
kurz fassen. Zu Beginn der analytischen Behandlung präsentierte 

1) Der Traum führt die Phase des ersten Verständnisses für die eigene 
Krankheit ein. Der Unbekannte ist wohl der Arzt. 



Eine unbewußte Schwangerschaftsphantasie bei einem Manne etc. 


139 


sich der Fall als Unfallshysterie. Nach und nach stellte es sich 
heraus, daß nicht der eigentliche Unfall, sondern ein nebensächliches, 
aber durch bedeutsame Erlebnisse aus der Kindheit und Pubertät 
gestütztes Moment der Spitalspflege (Eöntgenszene) als unmittelbar 
auslösendes Motiv der Erkrankung zu gelten hat. Das hieraus ent¬ 
standene Symptom hatte die Aufgabe, eine passiv-homosexuelle 
Wunschphantasie abzuwehren, gleichzeitig damit mobilisierte die 
Neurose einen reichen analerotischen Erinnerungskomplex, der im 
Symptom als stoffbildendes Element die Führung übernahm. Im 
Anfall ist, wie wir gesehen haben, die Erinnerung an eine in der 
Kindheit beobachtete Entbindungsszene wirksam geworden, die schon 
seinerzeit*als sehr betontes Erlebnis zu starken Verdrängungen ähn¬ 
licher Erinnerungsspuren (häufige Entbindungen der eigenen Mut¬ 
ter) aus noch früheren Jahren geführt hat. Diese eigentlichen in¬ 
fantilen Erlebnisse,. sind eng mit der dominierenden Tätigkeit eines 
Partialtriebes verknüpft. Wir deckten eine enorme Beteiligung der 
Analerotik an der Sexualkonstitution des Patienten auf, und indem 
wir Stück für Stück ihre einstigen und jetzigen Äußerungen, die 
libidinösen Fixierungen und die Umsetzungen in Charaktergebilde 
verfolgten, gelangten wir einerseits^ zu den Elementen, aus welchen 
die Neurose ihre Kraft zog, anderseits dazu, die pathologisch wirk- 
aamen Verdrängungen allmählich rückgängig zu machen. Wiewohl 
beim Patienten der disponible Anteil seiner Libido groß genug ge¬ 
blieben war, um ein normales' Sexualleben zU bestreiten, waren ander¬ 
seits die krankhaften Symptome doch so unerträglich geworden, daß 
sie ilin verhielten, in der psychoanalytischen Kur bis ans Ende die 
nötige Geduld und Ausdauer zu zeigen, die dann ein zufriedenstel¬ 
lendes Eesultat ermöglichten. Die ei^ntümlichen psychischen Ma¬ 
terialien, die dabei zu Tage kamen, mögen die Ausführlichkeit recht¬ 
fertigen, womit ich den Fall behandelt habe. 



über Prüfungsangst und Prüfungsträume. 

Von Dr. J. Sadger, Wien. • 

Wilhelm Stehe 1 behauptete zuerst, daß PrüfuiDgsträume nichts 
anderes bedeuteten als Prüfungen des geschlechtlichen Könnens. 
Nie träume man von einem Examen, in welchem man durchfiel, 
stets nur von solchen, die längst und glücklich überwunden seien. 
Drum wäre der Prüfungs- in Wahrheit ein Trosttraum. Er besage 
etwa: so wie du dich damals in maßloser Sorge unnütz verzehrtest 
und dann doch mit Ehren abgeschnitten hast, so entbehrt auch 
deine jetzige Angst vor Impotenz der realen Begründung, du wirst 
im Sexuellen nicht versagen! Freud schloß sich dann Stekels 
Ausführungen an, die er aus seiner reichen Erfahrung bestätigte. 
Tatsächlich kann man an Prüfungsträumen von Nervösen wie Ge¬ 
sunden Stekels Erklärung als richtig aufzeigen. Immerhin schien 
mir bei vielen Kranken diese Deutung zwar nicht unzutreffend, 
doch nicht ersichöpfend, nicht weit g’enug in die Tiefe führend. Es 
sah so aus, als lägen da tiefere Probleme verborgen. 

Was sich mir mählich herauszukristallisieren schien, ward 
endlich zur Gewißheit durch einen Patienten mit Dementia para¬ 
noides im Anfangsstadium, der just infolge der Psychose sein Un¬ 
bewußtes weit besser durchschaute als der Gesunde. Ein jetzt 25- 
jähriger Privatbeamter hatte eine höhere Gewerbeschule mit gutem 
Eeifezeugnis beendet, um wenig später mit 20, 21 Jahren in seinem 
Beimfe urplötzlich zu versagen. Er litt an verschiedenen Verfolgungs¬ 
ideen, ward menschenscheu und sah sich unter anderem auch oft 
von Geistern und Gespenstern bedroht. Seiner späteren Psycho¬ 
analyse entnehme ich, daß er von kleinauf mit besonderer Innigkeit 
an der Mutter hing und, was besonders zu unterstreichen ist, zeit¬ 
lebens stark unter der Herrschaft des Kastrationskomplexes stand. 
Nach einer weitverbreiteten Unsitte teilte er bis in die Pubertät 
hinein den Schlaf raum mit den Eltern und ward so ungezählte 
Male zum Zeugen ihrer Intimitäten, ein Umstand, der verhängnisr 
voll nachwirkte. Von guter Intelligenz und mit eisernem Fleiß 



über PrüfuTigsangst und Prüfungsträume. 


141 


an seiner Gnenesiing arbeitend, lernte er in 14nionatiger Kur die 
Technik der Psychoanalyse beherrschen. G-egen Ende derselben 
brachte er über das Prüfungsproblem eine Reihe von Aufklärungen, 
die so bezeichnend und grundlegend sind, daß ich sie in aller 
Breite hersetze, wie ich sie stenographisch gleich während der Be¬ 
handlung fixierte. 

„In ider Volksschule war ich einer der besten Schüler. Das 
änderte sich in der vierten Bürgerschulklasse, da ich 14, 15 Jahre 
zählte, mit einem Schlage. Es ging da etwas: in meinem Kopfe 
vor, das habe ich gespürt, und seit dieser Zeit fiel mir manches 
sehr schwer, was vordem für mich ein Kinderspiel war. Haben 
sich da, die ganzen sexuellen Gedanken entwickelt oder .so etwas 
ähnliches, kurz, ich habe mich zwar immer noch ganz gut er¬ 
halten, allein das Lernen kam mir zuweilen sehr schwer an und 
ich hatte die Empfindung, der Kopf sei ganz voll. Andere Male 
wieder beschlich mich, wenn ich schlecht entsprochen, das Gefühl, 
ich könnte es doch leisten und mit den besten der Schüler kon¬ 
kurrieren. Dann begann ich fleißig zu studieren, vermochte aber 
trotzdem nicht besser zu entsprechen als ein schwacher oder mittel¬ 
mäßiger Schüler. Vor jeder Prüfung fürchtete ich mich entsetz¬ 
lich. Was ich da ausstand, läßt sich nicht schildern. Ich habe 
alles im Kopfe behalten, solang ich in der Bank saß. Mußte ich 
aber auf das Podium hinaustreten, sah die Blicke der Kameraden 
und des Lehrers auf mich gerichtet und vernahm dann die Prü¬ 
fungsfragen selber, da war ich wie auf den Kopf geschlagen. Was 
ich gewußt hatte, war mit einem Schlage verschwunden, ich hatte 
rein alles vergessen. Kaum saß ich aber wieder in der Bank, so 
war mir alles gegenwärtig. 

AVas mit 14, 15 Jahren in meinem Kopfe vorgegangen ist, 
weiß ich nicht. Aber hinterdrein war ich auch immer so erregt, 
bekam unmotivierte Schweißausbrüche, abwechselnd Hitze- und 
Kältegefühl, Zittern usw. Das mit den Prüfungsfragen habe ich 
noch heute. Wenn mich jetzt jemand etwas fragt und ich weiß 
es auch ganz genau, befällt mich gleichwohl eine Angst. Denn in 
dem Augenblicke, da er mich fragt, werde ich es doch nicht wissen 
und die Antwort s,chuldig bleiben. Vorher und nachher ist sie mir 
geläufig. Und nun komme ich zur Kastrationsfurcht, von der wir 
schon so oft gesprochen haben. Ich glaube, diese ungeheure Angst, 
die ich empfinde, welche mich zum Nachdenken unfähig macht, 
die mir verwehrt, jene Frage meinem Wissen entsprechend zu be¬ 
antworten, ist meine ungeheure Kastrationsfurcht. Die Vorstellung 
nämlich: wenn ich das nicht beantworten kann, so geschieht mir 
etwas. Diese ungeheure Kastrationsangst bedeutet aber im Grunde 


142 


Dr. J. Sadger. 


Wollust, und deshalb, meine Ich, vermag" ich nicht zti reden. Bleibt 
meine Antwort aus, so schwebe ich in Grefahr, kastriert zli werden. 
Das ist aber im Unbewußten auch eine ungeheure Lust. Also 
Kastrationslangst und Kastrationslust zu gleicher Zeit. Ich habe 
das Gefühl, das kann ich nicht auflösen, da besteht eine voll¬ 
ständige Leere, genau so wie wenn der Penis weggeschnitten wäre, 
nur auf Kopf und Gehirn übertragen. Es ist nichts da, ich habe 
überhaupt nichts im Kopfe. Jetzt kann ich Ihnen auch sagen, 
^warum ich es unter Leuten überhaupt nicht aushalte und so gern 
allein bin. Im letzteren Ealle laufe ich wenigstens keine Gefahr, 
befragt zu werden. Bin ich jedoch mit einem anderen beisammen, 
so kann dies schon geschehen, und natürlich noch eher, wenn viele 
Menschen irgendwo sind. Ich glaube, das ist die tiefste Wurzel 
meiner Menschenscheu. 

Ich muß noch einmal auf den Anfang zurückkommen. Da¬ 
mals," mit 14, 15 Jahren, hatte ich das: Gefühl: ich mag lernen, 
soviel ich will, so werde ich doch nichts wissen. Und so geschah 
esi auch stets bei jeglicher Prüfung. Ich hatte nämlich die Emp¬ 
findung, der Lehrer fragt um etwas, was ich gar nicht lernen 
kann, was in keinem Vortrag und in keinem Buche steht. Das 
vermag ich dann natürlich auch nicht zu beantworten, und das 
hat mich so unfähig gemacht. Von dieser Idee war ich so ge¬ 
bannt, daß ich die wirklich gestellte Präge zu beantworten außer 
stände war. Erwiderte ich dem Prüfenden nichts, so hielt ich ihm 
damit im Grunde stetst jene Idee entgegen. 

Was ist dies mm aber, daß nirgends geschrieben steht, was 
mir niemand sagt und ich doch beantworten soll? Ich spüre, wie 
dies mein ganzes Denken durchsetzt, mich zu allem anderen un¬ 
fähig macht und den Grübelzwang verursacht. Es muß etwas so 
Gewaltiges sein, daß ich es einfach nicht fassen kann. Ich fühle 
nur die Leere im Kopfe, es: ist gar nichts vorhanden, ich kann 
absolut nicht denken. Was fürchte ich denn eigentlich, gefragt 
zu werden? Etwas, das ich weiß, ist es offenbar nicht. Dann 
muß es also etwas sein, das gar nicht dem w;irklichen Leben ent¬ 
spricht. Vielleicht ist es die Frage, was ich im Kopfe trage, wo¬ 
von ich diesen so voll habe, womit ich mich beschäftige. Eines 
weiß ich, daß ich mit 14, 15 Jahren besorgte, der Lehrer könnte 
mich interpellieren, ob ich onanierte. Das wäre schon etwasi, be¬ 
rührte wenigstens das Sexuelle. Und möglicherweise geht der Lehrer 
noch weiter und will erfahren, wasi ich sonst noch mache. Viel¬ 
leicht wird er fragen, ob ich mich mit der Mutter beschäftige, 
was ich wirklich nicht beantworten kann. Eines weiß ich bestimmt: 
ich schickte meine Mutter sehr ungern zu den Lehrern, auch wenn 


über Prüfungsangst und Prüfungsträume. 


143 


ich ganz gut stand. Das hängt offenbar mit dem Geschlechtlichen 
zusammen. Ich fürchtete nämlich, der Lehrer könnte die Mutter 
ausforschen, was ich sonst zu Hause treibe. Noch eine Vorstellung! 
quält mich: gebe ich dem Lehrer die Antwort, so springt er auf 
mich los, packt mich und mir geschieht etwas, natürlich die Ka¬ 
stration. Antworte ich aber nicht, so komme ich ewig nicht vom 
Pieck. Es gibt also keinen Ausweg'. Daher die tiefe Depression. 
Aber wenn ich schweige, habe ich wenigstens den Vorteil davon, 
meinen Penis zu retten, mit welchem ich Vater und Matter 
trenne.“ 

Und jetzt erfolgte ein' merkwürdiger Ausbruch unter Stöhnen 
und Wimmern meines Patienten: „Ich habe die Vorstellung, als 
hätte ich die Mutter bereits koitiert. Ich habe sie wirklich schon 
beschlafen', in der Phantasie nämlich. Aber was will ich flann 
eigentlich? In der Phantasie kann es' mir der Vater nicht verwehren, 
weil er es ja gar nicht weiß. Ich werde ihm das' nie sagen! (Lacht.) 
Ha, ha! Ich habe die Mutter in' der Phantasie koitiert, er wird 
nie erfahren, welche Preude und Wonne ich da ausgekostet habe. 
Ich brauche sie in Wirklichkeit gar nicht mehr, ich will die Mutter 
gar nicht beschlafen, ich brauche sie nicht mehr und will auch 
kein anderes Weib koitiereni Das; weiß kein Mensch und ich werde 
es nie verraten! Ich habe sie doch koitiert und wie ich sie 
koitiert. habe! Nach allen möglichen Richtungen. Und welche Wol¬ 
lust ich empfunden habe! Auch das war herrlich!“ (Mit kindischer 
Preude:) „Das war herrlich!“ Pährt auf einmal brüllend los: 
„Ha!“ Dann: „Ich bin fertig! Ich habe es Ihnen gesagt. Wenn 
Sie es verstanden haben, werde ich es wissen!“ Er stürzt hinaus, 
um draußen auf dem Gange zu jubeln, er habe seinen Vater er¬ 
schlagen. 

Am nächsten Tage klärte er sein Verhalten auf: „loh spürte) 
gestern, ich kann das Ganze nicht so sagen, daß es auf der Stelle 
klar ist. Ich sah in Ihnen den Vater und würde tatsächlich auf 
Sie losgesprungen sein oder Sie geschlagen haben, hätte ich Ihnen 
direkt die Antwort ins Gresicht geschleudert, auf die Frage, die 
der Vater stellt. Es hat sich dann doch ein Ausweg gefunden, 
indem ich es leise zu mir selber sprach, als wenn niemand zuhörte. 
Die Lösung ist nämlich, daß ich zugebe, die Mutter koitiert zu 
haben, in der Einbildung nämlich. Dasi ist aber für mich so, als 
wäre es Wirklichkeit gewesen. Die große Präge, die ich 
vom Vater fürchte, die Prüfungsfrage, lautet: ob 
ich die Mutter koitiert habe oder nicht? ünd das 
dürfte der Prüfungsangst überhaupt zu Grunde liegen, was mir 


144 


Dr. J. Sadger. 


auch zwei Kameraden bestätigten, die an der gleichen Angst leiden. 
Ich glaube, es ist aber auch die tiefste Wurzel der Kasträtion,s- 
furcht. In dem Augenblick, da ich dem Vater die Frage beant¬ 
worten müßte, würde er auf mich losspringen und mich kastrieren. 
Und ich glaube, hiemit sind auch meine Todeswünsche auf den 
Vater gefallen, die aus derselben Quelle stammen. Die Frage: hast 
du die Mutter koitiert oder nicht? ist ungeheuer wichtig. Daraus 
enispringen auch meine Halluzinationen, Geisteiworstellungen und 
Verfolgungsideen. Der Vater verfolgt mich, um diese Frage an 
mich zu stellen und meine Antwort zti erzwingen. Gestern nach 
der Auflösung war es mir zum erstenmal möglich, mich im Klosett 
so hinzustellen, wie es sich gehört, mit dem Kücken gegen die 
Tür. Sonst stand ich immer seitlich aus Furcht, es könnte jemand 
von rückwärts kommen. Gestern hatte ich nicht die geringste 
Furcht. Mit jener Auflösung sind die wichtigsten Dinge eben mit¬ 
gefallen.“ 

Zwei entscheidende Ergebnisse hat mein Patient zu Tage ge¬ 
fördert. Zunächst, daß die Angst vor den Prüfungsfragen eine 
durchaus wohlbegründete ist, wenn man nur die heimlichen, ver¬ 
drängten Phantasien zur Deutung heranzieht. Diese Fragen zielen 
nämlich in der Vorstellung der Kranken auf den Ödipuskomplex 
und heißen, auf die Grundformel zurückgebracht: hast du die 
Mutter beschlafen oder nicht ? Eine Vorstufe scheint die Frage 
zu sein? ob man schon überhaupt koitieren könne, was dann zur 
bisherige^ Erklärung führt. Kaum minder wichtig dünkt mich 
sodann die zweite Erkenntnis, daß jede Prüfungsangst Kastrations¬ 
angst bedeute, verursacht durch jene verpönten Wünsche. Beson¬ 
ders zu unterstreichen ist noch, was auch der Kranke ausdrücklich 
hervorhebt, daß die Kastrationsangst im Grunde Lust sei, ja eine 
ungeheuer große Lust, weit größer als die des normalen Beischlafes. 
Ich bemerke nochmals, daß mein Patient just infolge seiner Geistes¬ 
krankheit ausnehmend geschickt war, Zusammenhänge seherisch 
selber zu durchschauen und mit aller Deutlichkeit klarzulegen, ohne 
jede Nachhilfe von meiner Seite. Doch habe ich ganz die gleichen 
Erkenntnisse vor ihm und nach ihm bei unterschiedlichen Neuro- 
■ tikem gewonnen, wenn diese auch nie ohne ärztliche Führung zu 
so vollem Verstehen gekommen wären wie der Geisteskranke. In 
sämtlichen Fällen bestätigte schließlich der Heilerfolg die Rich¬ 
tigkeit der Lösung. 

Nun weiter zu den Prüfung’sträumen, von welchen gerade mein 
Paranoider eine überreiche Fülle produzierte. Gewöhnlich war der 
Prüfer ein ma.gerer Professor der höheren Schule, welcher ihm 
persönlich recht übel gesinnt war, für ihn also typisch ein Ver- 










über Prüfungsangst und Prüfungsträume. 


145 


treter des Vaters, wie er selbst gleich durchschaut i). „Eins fällt 
mir auf: ich werde immer sehr undeutlich gefragt, von jedem Prü¬ 
fenden, oder verstehe ich die Frage nicht. Ich weiß nur, im Augen¬ 
blick, da ich gefragt werde, befällt mich eine ungeheure Furcht, 
so daß alles in meinem Kopf wie ausgelöscht scheint. Merkwürdig 
ist auch, daß in all meinen Prüfungsträumen der Inhalt mir stets 
im Unklaren blieb. Bis heute weiß ich von keinem einzigen Traum, 
in was ich eigentlich geprüft wurde. Das beweist mir deutlich, 
daß hinter der ganzen Prüferei etwas Sexuelles stecken muß.‘' 
Man sieht, die Prüfungsangst im Traume deckt sich in Syniptoüien 
und Begründung mit jener im Wachen. 

Gregen Ende der Behandlung kam schließlich ein Traum, der 
zum Tiefsten führte: „Wieder einmal eine Prüfung. Nur ist jetzt 
schon der magere Professor verschwunden. An seine Stelle trat 
ein' ehemaliger Bürgerschullehrer, der das strenge Gegenteil von 
jenem ist, nämlich groß und dick. Auch stand ich mit diesem 
Lehrer auf gutem Fuße. Während ferner meine bisherigen Prü¬ 
fungsträume sämtlich aus der Zeit der Matura stammten, geht 
dieser in die Bürgerschulzeit zurück. Ich habe das Gefühl, dann 
käme ein Volksschullehrer daran und die Volksschulzeit und schlie߬ 
lich die Kinderjahre mit dem Vater als Prüfenden. 

Nun zurück zum gegenwärtigen Traum. Die Prüfung mußte 
nicht unbedingt abgelegt werden. Es war überhaupt so, als hätten 
wir schon alle eine Prüfung glücklich bestanden, doch konnte man 
sich im neuerlichen Examen bessere Noten holen. Zu diesem mel¬ 
deten sich nun einige. Auch iöh hatte das Bedürfnis es zu tun, 
doch gebrach es mir an Mut. Ich hatte die Empfindung, die Prü¬ 
fung nicht bestehen zu können. Der erste angetretene Prüfling 
wurde sehr streng geprüft. Dann fragte der Lehrer, ob sich noch 
jemand melde. Ich traute mich jetzt noch weniger als früher, 
doch einige andere traten zum Examen an. Jetzt war der Lehrer 
wie umgewandelt. Er fragte fast nicht, sondern plauderte mit den 
Kandidaten] und gab ihnen allen gute Noten. 

Nun fällt mir ein, daß gerade mein Vater auf die Noten der 
Zeugnisse, überhaupt auf das- Lernen und die Fortschritte in der 
Schule sehr großen Wert legte. Dies würde das Festhalten an der 
Schule in den Träumen erklären. Weitersi habe ich das Gefühl, 
ich brauchte es zu den folgenden Träumen (Volksschul- und end¬ 
lich Kinderzeit) gar nicht kommen zu lassen. All diesen läge wieder 

1) „Ich konnte diesen Professor auch in Wirklichkeit nicht vertragen,“ 
erzählte er einmal. „Aber manche Tage hatte ich ihn wieder sehr gern, so 
daß ich fast verliebt war in ihn.“ Auch hier ist die Analogie zum Vater ga.nz 
unverkennbar. 


Internat. Zeltschr. f. Psychoanalyse, VI/2. 


10 





146 


Dr, J. Sadger. 


ein' Einziges zu Grunde. Ich glaube, aus den Lehrern wurde schlie߬ 
lich der Vater unid die Prüfung sei ursprünglich eine Frage des¬ 
selben! an mich in der Kinderzeit. Ich erinnere daran, daß mir 
in: den Prüfungsträumen das Thema immer unklar blieb. Ob ich 
in' der Kinderzeit die Frage des Vaters auch nicht verstand oder 
nicht verstehen durfte? Und welcher Art war diese Fragte? Das 
sind die zwei wichtigsten Punkte. 

Ich kann die Frage des Vaters nicht finden. Das zeugt für 
die starke Verdrängung, daher auch noch immer die Prüfungs¬ 
träume. Eine Frage des Vaters bezüglich der Mutter? Ich Iiabe 
das Gefühl, die Frage des Vaters darf ich nicht beantworten! Ob 
ich die Eltern in der Nacht beobachtet habe? Mir scheint, das 
war die Frage des Vaters und was ich gemacht habe. Ich glaube, 
ich hatte den elterlichen Verkehr beobachtet und mich dabei an¬ 
geschifft oder in das Bett gepißt. Und der Vater frug, warum 
ich genäßt habe. Natürlich kann ich diese Frage desi Vaters nie¬ 
mals beantworten, weil ich sbnst meine Koitusbeobachtung zugeben 
müßte. Dies aber wäre gleichbedeutend mit endgültiger Entman¬ 
nung. Nun macht mir die durchgeführte Kastration kein 
Vergnügen, sondern nur das Schweben in Kastrationsgefahr, die 
Angst, man könnte hinter die Ursache meines Schiffens kommen. 
In dieser Angst schwebe ich noch heute. Immer in Kastrations¬ 
gefahr schweben, das erregt eine ungeheure Wollust. Darum ver¬ 
rate ich nicht, daß der Koitus mein' Schiffen und später die Samen¬ 
ergüsse hervorrief. Daher auch die Fortdauer der Pollutionsträume. 
Diese ungeheuer wichtige Auflösung muß das Ende der Pollutionen bringen. 

Mit dieser Auflösung verzichte ich auf die am längsten an¬ 
dauernde und daher für mich wohl allerbedeutsamste Kastrations¬ 
wollust und fühle, dies kommt den zu erstrebenden normalen Ge¬ 
fühlen ebenfalls zu gute.“ 

Wenn ich diesen Prüfungsträum zu der großen Zahl der 
anderen schlage, die ich aufzulösen Gelegenheit hatte, so bietet 
er nach der Deutung der Prüfungsangst grundsätzlich kaum Neues. 
Es sind wiederum die gleichen Umstände: Ödipuskomplex, ver¬ 
drängte Wünsche auf die Mutter, sowie mächtige Angst, um ihret¬ 
willen kastriert zu werden, und zwar vom Vater oder einem Prüfer 
als dessen Vertreter. Bloß zwei Gesichtspunkte möchte ich noch 
weiter ausführen, die freilich auch für die Prüfungsangst über¬ 
haupt Greltung haben. Es scheint, daß jene, die zu häufigen Piii- 
fungsträumen neigen mit ihrer entsetzlichen Prüfungsangst, stets 
Menschen sind, die aus der Drohung der Entmannung eine ganz 

D Auf weitere Einzelheiten des obigen Traumes gehe ich nicht ein, da 
sie nicht zu unserem Problem gehören. 




über Prüfungsangst und Prüfungsträume. 


147 


besondere Wollust saugen. Die neurotische Angst ist ja zum großen 
Teil Kastrationsangst. Bei der Prüfungsangst vollends ist diese 
Beziehung geradezu Regel ohne Ausnahme. Wer konstitutionell 
jene Angst ganz übermäßig empfindet, weil er die besondere Eig¬ 
nung besitzt, diese Angst in höchste Wollust zu verwandeln, ist 
prädestiniert zur Prüfungsangst und Prüfungsträumen. Ein weiterer 
Umstand, dem ich zumindest ausnehmend förderlichen Einfluß zu¬ 
schreibe, ist das häufige Belauschen des elterlichen GeschleohivS- 
verkehrs. Das gilt besonders für jene Knaben, die Neigung zur 
Angstentbindung zeigen. Jenes öftere Belauschen schürt nicht nur 
aufs heftigste den kindlichen Drang, mit der Mutter dasselbe zu 
tun wie der Vater — nebenbei bemerkt eine häufige Ursache der 
Enuresis nocturna wie der späteren Pollutionen —, sondern auch 
die Furcht vor der Kastrationsstrafe durch den Erzeuger. 

Vor diesem Endtraum hatte mein Kranker noch eine Reihe 
andei’er Prüfungsträume, aus denen ich einen als besonders be¬ 
zeichnend herausheben will. „Es ist,“ begann jener, „als hätte ich 
schon läng-st die Anstalt verlassen und wäre beim Militär; auf 
einmal bekomme ich die Aufforderung, wieder zur Reifeprüfung 
in der Anstalt zu erscheinen. Wir waren in einem Saale, ich ging 
an die Tafel hinaus Und begann eine Rechnung aufzusehreibeiii. 
Dabei setze ich planlos, ohne zu denken, Ziffern und Zahlen hin 
und wollte damit den Professor täuschen. Dieser ist sichtlich un¬ 
angenehm berührt, die Tafel so vollgeschmiert zu sehen. Ich be¬ 
mühe mich nun, das Geschriebene auszulöschen, was mir aber sehr 
schwer gelingt. Es war nicht wegzubringen, immer blieben noch 
einige Ziffernreste stehen. Mit Mühe und Not kann ich endlich 
die Tafel so weit reinigen, daß der Professor darauf schreiben kann. 
Im Augenblick aber, da er dies tut, habe ich die Em^pfindung, ich 
brauche dies gar nicht, weil ich die Aufgabe ohnehin nicht lösen 
kann, und gehe zu einem Kameraden. Wenn er sie ausigerechnet 
habe, solle er mir die Lösung zum Abschreiben geben. Dabei hatte 
ich aber Furcht, weil ich nicht wußte, ob er rechtzeitig fertig 
werden und dann noch Zeit bleiben wird, sie abzuschreiben. Damit 
endet der Traum, und nach dem Erwachen nehme ich wahr, daß 
ich eine Pollution gehabt habe. 

Als Volksschüler habe ich öfters bei Schularbeiten (dn furcht¬ 
bares Angstgefühl und gleichzeitig ein wollüstiges Kitzeln im 
Glied g^ehabt. Später hatte ich in der Anstalt bei ähnlichen An¬ 
lässen auch diese Wollustempfindung und außerdem den Gedanken, 
es könnte ein Samenerguß eintreten. Sobald mir das bewußt wurde, 
packte mich direkt ein Entsetzen und das Gefühl, wenn es dazu 
kommt, bin ich gänzlich unfähig, die Aufgabe zu lösen, dann bin 

10* 



148 


Dr. J. Sadger. 


ich. vollständig fertig. Heute uaoht war es ähnlich. Warum bringe 
ich den entsetzlichen Gredanken an die Matura in den Träumen 
nicht weg? Diese Art von Träumen ist die entsetzlichste für mich. 
Jetzt fällt mir ein, ich habe schon in frühester Kindheit gegrübelt 
und studiert über Sexuelles, und weiter ist es, als hätte ich mir 
damals schon ein abschließendes Urteil gebildet, also gewissermaßen 
eine Prüfung abgelegt. Die ganzen sexuellen Wünsche und Ge¬ 
danken, die mir damals auf tauchten, und was ich wissen wollte 
über den Geschlechtsverkehr, das habe ich abgeschlossen durch einen 
Gedanken, und der kann nichts anderes gewesen sein, als daß ich 
in der Phantasie die Mutter koitierte. Jetzt, nach einer größeren 
Spanne Zeit, kommt die neuerliche Aufforderung und, trotzdem 
ich die Empfindung habe, die Reifeprüfung schon abgelegt zu 
haben, muß ich nochmals hin, weil auch die anderen kommen. Das 
bezieht sich wohl auf mein weiteres Leben und die Gegenwart. 
Ich weiß, daß ich schon koitiert habe, und zwar in der Phantasie 
die Mutter. Nun muß ich aber wieder verkehren, die Prüfung 
von neuem machen, und diese erst ist von Gültigkeit. Die Aufgabe 
aber, die mir jetzt gestellt wird, ist derart schwer, daß ich sie 
nicht lösen kann wie im Traume die mathematische Aufgabe. 

Jeder Koitus erscheint mir demnach als Prüfung. Zwar habe 
ich schon verkehrt, und zwar mit der Mutter, doch bloß in der 
Phantasie der Kinderzeit. In meiner Vorstellung aber besteht 
immer die Furcht vor einer neuerlichen Prüfung, daC heißt jeder 
Koitus, den ich in der Welt durchführe, ist eine Prüfung aus 
dem Unbewußten heraus, und diese Aufgabe bin ich niemals zu 
lösen im stände. Deshalb suche ich den Professor zu täuschen durch 
planloses Aufschreiben von Ziffern. Ähnlich suche ich auch im 
Geschlechtsverkehr jetzt das Weib zu täuschen, indem ich eine 
Leidenschaftlichkeit vorgebe, die ich gar nicht empfinde. Im Traum 
gelingt mir diese Täuschung aber nicht und ich muß dem Pro¬ 
fessor Platz machen, das heißt dem Vater, der mit der Kreide, 
das ist der Penis, jetzt das Richtige an die Tafel schreibt. Im 
Moment, wo es nicht geht, steige ich sehr gern vom Weib herunter. 
Im Traume klettere ich vom Katheder herunter und der Professor 
hinauf und löst die Aufgabe. Mit anderen Worten, er steigt auf 
das Weib hinauf, vollzieht den Koitus (das Aufschreiben auf die 
Tafel) und stellt mir damit gleichzeitig die Aufgabe, das auch 
zu lösen. Das heißt, was geschieht beim Koitus, wie verkehrt 
man? Das ist mir jetzt vollständig klar. Im selben Augenblick, 
da der Vater zu schreiben anhebt, will sagen zu koitieren, beginnt 
die Prüfungsfrage und ich weiß von vornherein, ich bin nicht 
im stände, sie zu lösen. Da kann ich nicht weiter. 


über Prüfungsangst und Prüfungsträume. 


149 


Ich habe das Gefühl, die Pollutian am Schlüsse des Traumes 
ist hervorgerufen ^ureh meine Angst, die gestellte Aufgabe nicht 
lösen zu können. Das entspräche im Unbewußten der Drage, wie 
koitiert der Vater mit der Mutter, was macht er da? Wenn die 
Angst sich steigert, wirkt sie auch auf den Penis und hat dies 
wohl auch schon in der Kinderzeit getan, nur daß es da nicht 
zu Pollutionen kam, sondern bloß zum Bettnässen. Das Nämliche 
spielte sich dann bei Schularbeiten ab, die mir unangenehm waren, 
speziell bei mathematischen, zumal bei Gleichungen, wo es sich 
darum handelt, die Unbekannte zu finden. Das unbekannte x war 
nichts anderes als die Frage: was geht beim Geschlechtsverkcihr 
der Eltern' vor? Dies x zu finden, kam mir immer sehr schwer 
an und gelang, wenn überhaupt, nur unter großer Angst, ich 
werde die Aufgabe nicht lösen können. Und durch diese Angst 
bekam ich an der Wurzel des Penisi ein Kitzeln, das fast immetr 
zum Samenergüsse führte. Nur mit Gewalt konnte ich dies unter¬ 
drücken aus der Empfindung heraus: mit dem erfolgten Samen¬ 
erguß wäre ich verloren! 

Jetzt kann ich nicht weiter, alles ist wie abgerissen. Und 
das kommt mir vor wie Kastration, wie wenn jetzt auch meine 
Gedanken iwie abgeschnitten wären. Ich fürchte offenbar, diese 
Unbekannte zu finden, das heißt es bringt mir Gefahr, wenn ich 
mir bewußt mache, was die Eltern zusammen treiben. Als Kind 
war bei mir der Wunjsch ungeheuer groß, das zu wissen, anderseits 
aber hatte ich die Empfindung: wenn ich das entdecke, so erfolgt 
als Strafe die Kastration. Halt! Jetzt schwebt mir ganz deutlich 
vor, ich hätte den Vater in dem Moment gesehen, wie er sich 
auf die Mutter drauf legt. Das rief in mir den Wunsch hervor, 

auch so ein steifes Glied zu bekommen und mit der Mutter das¬ 
selbe zu tun wie der Vater. Ich begann zu spielen, wurde dabei 

von den Eltern erwischt und vom Vater mit dem Abschneiden he- 

droht. Die Kastrationsdrohung geschah also damals, als ich zu 
entdecken versuchte, wasi der Vater mit der Mutter macht. Und 
später wurde die Kastrationisfurcht am größten, wenn ich der Lösung 
der Aufgabe am nächsten kam. Ganz zu lösen vermochte ich sie 
niemals, und bis heute habe ich mir weiß Gott was unter dem 
Koitus vorgestellt. Die Angst vor dem Samenerguß jedoch ist 
nichts anderes als die Durchführung der Kastration, das Weg¬ 
schneiden des Gliedes. In dem Moment nämlich, wo ich tatsächlich 
die Aufgabe löse und in das Greheimnis eindringe, das zwischen 
den Eltern besteht, droht mir endgültig die Entmannung. 

Jetzt fällt mir noch eine Lösung ein: das Unbekannte ist die 
Scheide der Mutter, die ich nicht finden kann, weil der Vater 


150 


Dr. J. Sadger. 


draufliegt, und dieses ist die Hemmung. Es ist übrigens ganz 
merkwürdig und doeh durchsichtig, daß ich dazu eine mathema¬ 
tische Gleichung heranziehe. Die Unbekannte ist die Scheide der 
Mutter, die mir tatsächlich unbekannt ist, welche ich aber finden 
soll. Diese.' Aufgabe hat mir der Vater gestellt, weil ich bei 
Beobachtung des elterlichen Verkehres sah, daß er mit seinem 
Glied irgendwo in den Körper der Mutter hineinsticht, und das 
soll ich finden. Weil der Vater in der Scheide der Mutter ist, 
bei dieser Unbekannten, deshalb kann ich nicht dazu, das ist die 
Hemmung. In dem Augenblick, da mir das bewußt wurde, muß 
ich Urin gelassen haben, das fühle ich. Das rief in mir eine so 
tödliche Angst hervor, daß ich Urin ließ, so wie im Prüfungs¬ 
traum, wo ich die Unbekannte nicht finden kann und dadurch zur 
Pollution gelange.“ 

Passen wir nunmehr die Ergebnisse dieses Palles zusammen, 
die, wie ich nochmals betonen will, durchaus übereinstimmen mit 
denen zahlreicher anderer Pälle von Prüfungsangst und Prüfungs¬ 
träumen, so kommen wir zu folgenden Schlüssen: Die Prüfungs¬ 
angst in Träumen wie in der Wirklichkeit ist Ka¬ 
strationsangst. Leute, bei welchen die Neigung zu dieser 
konstitutionell verstärkt ist, werden jener x4.ngst und jenen Träu¬ 
men am stärksten unterworfen sein. Ein weiterer, mindestens för¬ 
dernder Umstand ist die häufige und sehr frühe Beobachtung des 
elterlichen Geschlechtsverkehres. Der Sinn der Prüfungsfragen, die 
in Träumen unklar zu bleiben pflegen, würde etwa lauten: wie 
hat der Vater mit der Mutter verkehrt, wie vollzieht man den 
Koitus, wie sieht die Vagina der Mutter aus, wie kommt man 
da hinein? Dies sind jene Prägen, welche sich in der Seele des 
Kindes drängen, wenn es in frühen Lebensjahren zum Zeugen der 
elterlichen Umarmungen wurde. Daß man in späteren schrecklichen 
Träumen eine Prüfung stets nochmals ablegen muß, die schon ein¬ 
mal glücklich üherstanden zu haben man die sichere Empfindung 
besitzt, rührt einfach daher, daß man den Geschlechtsakt schon 
sehr früh mit Erfolg ausübte, und zwar mit der Mutter, doch 
nur in der Phantasie der Kinderjahre und mit nachfolgender schwerer 
Kastrationsangst. Soll man sich nun bei einem späteren Weibe, 
das ja doch im Grunde nur Vertreterin der Mutter ist, auch in 
Wirklichkeit leistungsfähig erweisen, dann melden sich wiederum 
die Zweifel der Kindheit und deren schreckliche Angst. Aber auch 
der Wollustkitzel im Gliede und die Neigung zu nächtlichen 
Samenergüssen fehlt oft so wenig, wie infantil die Neigung zum 
Nässen. Beides bedeutet ja ein und dasselbe: den Sexualakt näm¬ 
lich mit seiner Mutter. 



Mitteilungen. 


Aus dem infantilen Seelenleben. 

1 . 

Der Familienroman in statu nascendi. 

Von Melanie Klein (Budapest). 

Da die kleine Begebenheit, über die ich in der Folge berichten 
will, nur durch den Zusammenhang mit der Vorgeschichte ihren Sinn 
erhält, muß ich in Kürze zuerst über die vorhergehende Entwicklung 
Mitteilung machen. 

Mein nun fünfjähriger Sohn Erich, ein gesundes, kräftiges Kind, hat 
sich auch geistig normal, aber etwas langsam entwickelt. Er hatte erst 
mit zwei Jahren zu sprechen begonnen, und war schon über dreieinhalb 
Jahre alt, als er sich zusammenhängend ausdrücken konnte. Besonders 
bemerkenswerte Aussprüche, wie man sie mitunter bei veranlagten Kin- 
deni schon sehr zeitlich hört, waren aber auch dann nicht zu ver¬ 
zeichnen. Trotzdem aber rief er doch, sowohl in seinem Aussehen wie 
in seinem Wesen den Eindruck eines geweckten und gescheiten Kindes 
hervor. Sehr langsam machte er sich einzelne Begriffe zu eigen. Er 
war schon über vier Jahre alt, als er erlernt hatte, die Farben zu unter¬ 
scheiden, und fast viereinhalb, als ihm die Begriffe „gestern, heute, 
morgen“ klar geworden waren. In praktischen Dingen, also was die 
Entwicklung seines Wirklichkeitssinnes betrifft, war er entschieden hinter 
anderen Kindern seines Alters zurück. Auffallend war dagegen sein Ge¬ 
dächtnis — er erinnerte und erinnert sich verhältnismäßig sehr weit 
zurückliegender Dinge mit allen Einzelheiten —, und Begriffe oder Tat¬ 
sachen, die ihm einnial klar geworden, hat er sich gründlich zu eigen 
gemacht. Gefragt hat er im allgemeinen nicht weniger aber auch nicht 
mehr als normal. Im Alter von ungefähr viereinhalb Jahren setzte eine 
etwas schnellere geistige Entwicklung und auch stärkere Fragelust ein. 

Es war vor Ostern und 6r hatte viel Schönes vom Osterhasen ge¬ 
hört. Das schien ihm sehr zu gefallen, und als er mich fragte, ob es 
wiirklich einen Osterhasen gibt — und ich es verneinte —, nahm er 
das sichtlich nur ungern zur Kenntnis. Er kam noch einigemal auf 
diese Frage zurück, und bei einer solchen Gelegenheit wollte er mir 
die Existenz des Osterhasen damit beweisen, daß die S.-Kinder (die 
Kinder der Hausfrau, die seine Spielgefährten sind) einen wirklichen 
Osterhasen besitzen. Nach meiner Erklärung, daß das ein wirklicher 
Hase, aber kein wirklicher Osterhase sei, schwieg er und begann dann 



152 


Mitteilungen. 


gleich von etwas anderem zu sprechen. Um dieselbe Zeit erzählte er 
mir einmal sehr lebhaft vom .Teufel: Man habe seine Spur im Garten 
gesehen lind die S.-Kinder hätten eine tiefe Stimme sagen gehört: „Ich 
bin der Teufel.“ Als ich ihm erwiderte, daß das alles unwahr und nur 
eine „Geschichte“ sei, berief er sich darauf, daß er selbst soeben den 
Teufel von weitem auf der Wiese gesehen habe. „Er ist ganz braun 
und sehr groß.“ Es war leicht, ihm sogleich durch Augenschein zu be¬ 
weisen, daß der große braune Teufel — e*in Füllen sei! Aber trotzdem 
schien er nur halb überzeugt, es war ihm eben nicht leicht, auch diesen 
Glauben aufzugeben. 

Um diese Zeit war es auch, daß er einmal abends sich weigerte, 
aus dem Garten heraufzukommen. Den nächsten Morgen begründete er 
mir spontan diese Unfolgsamkeit damit, daß er sich gerne unten ver¬ 
steckt hätte, um im Garten zu übernachten. Diesen Wunsch wiederholte 
er nachher noch einigemal, wobei er hinzufügte, daß er mit den S.-Kin¬ 
dern unten übernachten wolle. Als ich einwendete, daß das Gras feucht 
sei und er sich erkälten würde, meinte er, sie hätten unten ihr Häuschen 
(einen kleinen, durch einen Hausvorspmng gebildeten, geschützten Eaum), 
in dem würden sie dann zusammen schlafen. Manchmal sagte er auch, 
daß er mit den S.-Kindern Bruder ist — aber auch mit seinen Ge¬ 
schwistern. Allerdings, wenn er auf seinen älteren Bruder böse war, 
erklärte er ihm gelegentlich, „daß er nicht mehr mit ihm Bruder ist“. 

Kurz nach diesen Fragen und Gesprächen war die sexuelle Neu¬ 
gierde des Kleinen manifest geworden, und zwar aus folgender äußerer 
Ursache: die älteren Geschwister hatten wiederholt von Ereignissen ge¬ 
sprochen, die noch vor Erichs Geburt stattgefunden hatten, und auf 
seine Frage, ob er denn auch dabei war, wurde ihm die Antwort ge¬ 
geben: „Da warst du noch nicht auf der Welt.“ Diese Erklärung hatte 
ihn sichtlich peinlich berührt, und er revanchierte sich auch einmal, 
indem er der älteren Schwester von einem seiner Erlebnisse berichtete 
und hinzufügte: „Das war damals, wie du noch nicht auf der AVelt 
warst.“ — Einige Tage nachher aber war er unvermittelt mit der 
Frage an mich herangetreten: ,,Wo war ich, wie ich noch nicht auf 
der Welt war?“ Als er die Aufklärung erhielt, daß er damals noch bei 
mir war, weil das Kind in der Mutter wächst, bis es stark und groß 
genug ist, auch außer ihr zu leben, daß es dann herauskommt und daß 
man das „auf die Welt kommen“ nennt, zeigte er für die Sache an 
sich wenig Interesse, er zog nur mit großer Befriedigung die Folgerung: 
„Da war ich doch auch auf der Welt, wenn ich bei dir war.“ Nachher 
stellte er bei einigen Gelegenheiten fest, als wieder von weiter zurück¬ 
liegenden Dingen die Kede war: „Ich war auch dabei, da war ich in 
der Mama drinnen.“ Daß aber sein der Sache selbst geltendes Interesse 
nur scheinbar gering war, zeigte sich bald. Nachdem diese Sorge, daß 
er einmal nicht dagewesen sei, zu seiner Zufriedenheit erledigt war, kam 
er mit der nun anders formulierten Frage: „Wie wird ein Mensch?“ Ich 
gab ihm nun eine detailliertere und grundlegendere Erklärung und er¬ 
zählte ihm, daß in der Mutter vierzig kleine Eier seien, daß aus so 
einem Ei sich das Embryo entwickle usw. Er schien mich zu ver¬ 
stehen, stellte auch keine weiteren Fragen, verhielt sich aber eigentüm¬ 
lich. Er zeigte sich, kaum daß ich mit der näheren Erklärung begonnen 
hatte, zerstreut und etwas befangen, begann gleich von etwas anderem 


Melanie Klein; Der Familienroman in statu nascendi. 


153 


zu sprechen; er war Sichtlich bestrebt, von dem durch ihn selbst her¬ 
beigeführten Thema wieder abzukommen. Nichtsdestoweniger stellte er 
von diesem Zeitpunkt angefangen, stets in der gleichen Formulierung, 
diese Frage beinahe täglich. Er stellte sie stets spontan (da immer ver¬ 
mieden vdrd, ihn zu Fragen zu veranlassen oder sie auch nur künstlich 
anzuregen), zeigte aber immer, sowie ich mit der Erklärung begann, 
wieder das eigentümliche, zerstreute, befangene Verhalten und das Be¬ 
streben, das Thema zu wechseln. Unverkennbar war — ebenso wie in 
der Osterhasen- und Teufelsfrage — sein Wahrheitsdrang im Kampfe 
mit seinem Wunsche, den nicht wahren, aber ihm vielleicht zusagenderen 
phantastischeren Glauben behalten zu kömien. Trotzdem kam er immer 
wieder mit dieser Frage. 

Einmal fragte er dabei auch: „Und im Papa wächst kein Kind?“^) 

Dann setzte er eine kurze Zeit mit der Stellung dieser Frage an 
mich aus, wandte sich aber damit an seine (übrigens kurz nachher ent¬ 
lassene) Bonne, die ihm entgegen der Weisung antwortete, daß der Storch 
die Kinder bringe. Er wiederholte dann die Frage beim älteren Bruder, 
der ihm zur Antwort gab, daß Gott den Menschen erschaffe. Diese Ant¬ 
worten scheinen ihn nicht befriedigt zu haben, da er schließlich mit 
der Frage: „Wie wird ein Mensch?“ wieder bei mir anlangte. Ich wie¬ 
derholte ihm nun wieder die öfter gegebene Aufklärung, wonach er 
diesmal gesprächiger wurde und mir erzählte, das Fräulein habe ihm 
gesagt (das schien er übrigens auch vorher schon von jemandem gehört 
zu haben), daß der Storch die Kinder bringt. „Das ist nur eine Ge¬ 
schichte“, erwiderte ich. ,,Die S.-Kinder haben mir gesagt, daß nicht 
der Osterhase zu Ostern da war, aber das Fräulein die Sachen im 
Garten versteckt hat.“ 2 ) „Sie haben vollkommen recht gehabt,“ er¬ 
widerte ich. „Nicht wahr, es gibt keinen Osterhasen, das ist nur eine 
Geschichte.“ — „Gewiß.“ — „Und gibt es auch keinen Weihnachts¬ 
mann?“ — „Nein, den gibt es auch nicht.“ — „Und wer bringt und 
richtet den Baum?“ — „.Die Eltern.“ — „Und Engel gibt es auch nicht, 
das ist auch eine Geschichte?“ — „Nein, es gibt keine Engel, das ist 
auch eine Geschichte.“ — Nun hielt er ein bißchen im Fragen inne, 
atmete auf und sagte nach einer Pause: „Aber nicht wahr, Schlosser, 
die gibt es, die sind wirklich? Wer würde denn sonst den Kasten 
machen?“ — 

Zwei Tage nach diesem Gespräch teilte er mir beim Mittagessen 
mit, daß er gleich nach Tisch zur Hausfrau übersiedeln werde. „Ich 
werde mit den S.-Kindern Bruder und auch der Sohn von der Frau S. 
sein.“ Er nennt sich auch schon Erich S. Auf meine Frage, wen aber 
ich dann haben werde, meint er: „J. und R.“ (seine Geschwister). Ich 
wende ein, daß die schon größer sind, ich aber unbedingt noch ein 
kleineres Kind haben will, — ob ich seine Freundin Grete als Kind 
statt seiner annehmen soll? Nach kurzem Kampfe sagt er „ja“. Gleich 

1) Es scheint auch, als ob die Frage nach dem Anteil des. Vaters unbewußt 
in ihm wirksam wäre; direkt hat er sie noch nicht gestellt. 

2) Anscheinend war er in der Osterhasenfrage erst durch die Erklärung der 
S.-Kinder (die ihm sonst gerade alle möglichen „Geschichten“ Vorreden) voll¬ 
kommen überzeugt worden. Das hatte ihn vielleicht auch veranlaßt, auf die 
so oft von ihm geforderte und doch nicht beachtete Beantwortung der Frage: 
„Wie wird ein Mensch?“ endlich auch ein wenig näher einzugehen. 



154 


Mitteilungen. 


nachher fragt er mich aber doch, ob ich auch ihn dami noch lieben 
werde? Meine Antwort, daß ich dann doch statt seiner die G-rete lieben 
müsse, berührt ihn sichtlich unangenehm — aber er faßt sich und schweigt, 
was um so auffallender ist, als auf das außerordentlich zärtliche und 
liebevolle Kind sonst die bloße Drohung, daß er weniger geliebt werden 
wird, tiefen Eindruck macht. 

Als man ihn fragt, worauf denn die Frau S. schlafen wird, sagt 
er: „Man soll mir mein Bett hinaufbringen, Mundglas und Zahnbürste 
werde ich mir selbst mitnehmen.“ Ich frage ihn, was mit den Hemden 
sein wird, die man für ihn näht und auf die er sich sehr freut? „Die 
wirst du mir hinauf schicken, wenn sie fertig sind.“ Ich wende ein, was 
denn sein wird, wenn ich es nicht erlauben und ihn nicht Weggehen 
lassen werde. „Dann gehe ich durch,“ sagt er sehr entschlossen.^) Ich 
erwidere ihm sogleich, daß ich ihn nicht daran verhindern werde, von 
xms wegzugehen, daß er aber doch zuerst Frau S. fragen müsse, ob sie 
ihn annimmt. Gleich nach Tisch erklärt er: „Ich gehe jetzt Frau S. 
fragen.“ Noch einmal mache ich einen Versuch: „Ob es ihm denn nicht 
leid sei, uns dazulassen, und wer ihn denn so lieben wird wie ich?“ 
Darauf sagt er: „Frau S. wird mich noch viel lieber haben als du.“ 

Später jaust er im Garten mit den S.-Kindern zusammen und ruft 
mir zu: ,,Man hat es mir erlaubt und ich wohne schon mit ihnen.“ Wie 
konsequent er diese neue Familienwahl durchführt, ging daraus her¬ 
vor, daß er mir den Gehorsam aufgesagt hat. Als ich ihn Vorabends 
sich aus dem Fenster beugen sehe und ihm zuinife, zurückzutreten, tut 
er es erst dann, als die bei ihm befindlichen Kinder es ihm schaffen; 
auch spricht er von mir als ,,J’s Mama“. Dem Mädchen, das er zärtlich 
liebt imd das schon jahrelang im Hause ist, sagt er, als sie eine Ein¬ 
wendung dagegen macht, daß er seine Spielsachen übersiedelt (wozu er 
auch Anstalten trifft): ,,Mit solchen Leuten, wie Ihr seid, rede ich nicht“ 
(eine Art zu sprechen, die bei ihm ganz ungewohnt ist). 

Wir lassen der Sache ihren Lauf, ersuchen aber dann doch bei 
S.’s, man möge ihm dort bedeuten, daß man ihn nicht annehmen könne, 
weil so etwas unmöglich ist. Zum Nachtmahl findet er sich wieder im 
Kinderzimmer ein. Ich frage ihn (anscheinend sehr erstaunt), warum 
er denn hier und nicht bei S.’s nachtmahle? ,,Ich will doch nur hier 
wohnen,“ sagt er. „Ob man ihm denn bei S.’s etwas gesagt habe?“ 
„Die Kinder haben gesagt, daß es nur Spaß war,“ erwiderte Erich. Ich 
will ihm aber die Sache nicht so leicht machen und sage unbarmherzig, 
daß ich selbst mit Frau S. sprechen will, — vielleicht, daß sie ihn 
dann doch behalten wird. Er hat große Tränen in den Augen und sagt: 
„Auch wenn sie es erlaubt, will ich nicht dort wohnen.“ — „Warum?“ 
frage ich. — „Weil ich dich so sehr lieb habe, Mama.“ 

Da ich ihn daraufhin wieder küsse und umarme, ist er sehr glück¬ 
lich und sagt nachher zum Mädchen: ,,Die Mama war so zuckerlieb. 
Sie haben nicht gesehen, wir haben uns ausgesöhnt und abgeküßt.“ Da¬ 
mit war anscheinend die Angelegenheit für ihn erledigt. Er spricht 
nicht mehr darüber, und als trotz meiner, der ganzen Umgebung er- 

1) Mit zweidrei viertel Jahren war er tatsächlich einmal aus der Wohnung 
durchgebrannt. Eine Zeitlang nachher zeigte er noch große Abenteuerlust und 
den Wunsch, wegzulaufen. An diese Begebenheit erinnert er sich auch jetzt 
noch sehr gut. 




Dr. S. Spielrein: Renatchens Menschenentstehungstlieorie. 


155 


teilten A¥eisung, ihm über die Sache keine Vorhaltungen zu machen, sein 
Bruder ein Gespräch* darüber mit ihm beginnt — geht der Kleine darauf 
nicht ein. 

Auf mich hatte die Sache den Eindruck gemacht, als ob der Junge, 
den besonders mit einem der S.-Mädchen eine zärtliche Liebe verbindet, 
das getan hätte, was so viele junge Männer (allerdings weniger auf¬ 
richtig eingestanden) tun, daß sie nämlich mit der Wahl der Gattin 
zugleich auch eine Neuwahl der Eltern vollziehen, was sich in dem 
so häufig beobachteten Vorgang zeigt, daß die Frau den Mann zu ihrer 
Familie hinüberzieht. 

Worin diese Exogamie ihren tieferen Grund hat, wissen wir aus 
Freuds ,,Totem und Tabu“. 

Außer dieser Tendenz zur Exogamie schien mir an äußeren Gründen 
noch mitgewirkt zu haben, daß die S.-Kinder Erich mit besonderer Liebe 
umgaben, seine Idee gewiß auch genährt haben, Frau S. ihm manch¬ 
mal Näschereien gab, besonders aber, daß sie die Hausfrau war, die 
über Obst und Garten bestimmte und im Hause eine führende Rolle 
ausübte. 

Dr. F e r e n c z i, dem ich diese kleine Geschichte und meine daran 
anknüpfenden Schlußfolgerungen mitteilte und der auch schon vorher 
von den Fragen des Kindes Kenntnis hatte, verwies mich auch auf 
einen anderen, viel tiefer liegenden Zusammenhang. Seine Meinung ging 
Idahin, daß die erhaltenen Aufklärungen, so sehr sie einerseits seinen 
Forschungsdrang befriedigten, anderseits ihn doch in einen gewissen 
Konflikt mit der vorhandenen Verdrängungsneigung gebracht hätten. 
Daß es Engel und Storch gibt — so sehr sein Wahrheitsdrang sich da¬ 
gegen auflehnte —, wahrscheinlich hatte es ihm doch besser gefallen 
als die realistischen und nackten Tatsachen, die er nun dafür erfahren 
hatte. Zu dem Wunsche, eine andere, vornehmere Familie zu suchen 
(als die ihm die Hausfrau unbedingt erscheinen mußte), hätte dann das 
unbewußte Bedürfnis den Impuls gegeben, sich feinere Leute, also solche 
zu suchen, wo nicht auf eine so gewöhnliche Art geboi^n wurde, wozu 
vielleicht auch beitrug, daß ihm die Geschichten vom Teufel, Engel usw. 
meistens gerade von den S.-Kindern erzählt wurden. 

Für die Richtigkeit der Ansicht Dr. Ferenczis brachte der 
nächste Morgen einen eklatanten Beweis. Unvermittelt, gleich nach dem 
Gutenmorgengruß, wandte sich Erich an mich mit der Frage: „Mama, 
bitte sag’, und wie bist du auf die Welt gekommen?“ 

2 . 

Renatchens Menschenentstehuiigstheorie. 

Die erste von mir notierte Menschenentstehungstheorie Renat¬ 
chens stammt aus dem Alter von viereinhalb Jahren. Damit will ich 
nicht sagen, daß die Kleine nicht bereits vorher andere Theorien hatte, 
jedenfalls aber verrät sie nichts davon. Während des langen Vor¬ 
stadiums ließ da,s Kind vieles merken, was dem Kundigen eine inten¬ 
sive Bearbeitung des Problems verraten könnte. Die Kleine zeigte ein 
lebhaftes Interesse für Löcher und Gruben; wenn wir ihr eine sie fes¬ 
selnde Geschichte erzählen wollten, mußte darin unbedingt von Böcheni 
oder Gruben die Rede sein; die von ihr selber erfundenen Geschichten 


156 


Mitteilungen. 


behaaidelten ebenfalls diesen Gegenstand; auch ihre Spiele waren von 
diesem Interesse beseelt. Ihr bereitete es viel Vergnügen, in der Erde 
zu graben, sie wollte unbedingt ein Brett von unserem Parkettboden 
herausheben, damit ein Loch entsteht, durch welches man zu den Nach¬ 
barn hineinfallen könnte; wahrscheinlich gehört dazu auch die große 
Vorliebe für das Ausschneiden. Kaum erwacht, wollte das Kind Schere 
und Papier haben, worauf sie stundenlang ruhig, das heißt für sich 
plappernd, blieb und bloß dadurch meine Mißbilligung erregte, daß sie 
auch in ihrer Kleidung und Bettzeug Löcher machte, bzw. gerne alles 
zerriß. Als weitere Unart gewöhnte sich das über vier Jahre alte Kind 
das Hinauswerfen und Zerbrechen von Gegenständen an. Eines Tages 
entwickelte sich zwischen uns folgendes Grespräch: 

Renatchen: ,,Mama, wenn Renatchen hier fallen würde — was 
würde dann entstehen (Qu’est ce que cela aurait donne?^) 

Ich: „Du könntest dir sehr wehe tun.'* 

Renatchen: ,,Nein, was könnte dann entstehen?“ 

Ich: ,,Renatchen könnte zerschlagen werden.“ 

Renatchen (lebhaft, ungeduldig): „Nein, nein! Dann würden 
zwei Renatchen entstehen. Und was, wenn jedes dieser zwei Renatchen 
fallen würde? Was würde dann entstehen?“ 

Ich: „Dann würden aus jedem dieser zwei Renatchen wiederum 
zwei Renatchen entstehen.“ 

Renatchen: „Und was würde entstehen, wenn jedes dieser zwei 
Renatchen wieder fallen würde?“ 

Ich: „Dann würden aus jedem Renatchen noch zwei Renatchen 
entstehen.“ 

Renatchen: „So würden dann viele, viele Renatchen entstehen!“ 
Nun werden uns die Interessen und Unarten des Kindes verständ¬ 
lich. Es suchte, lange bevor es sich darüber äußerte, sich die Entstehung 
des Kindes zu erklären. Instinktiv vollbrachte es die alte Symbolik des 
Gruben(Loch)grabens; gleichzeitig zerriß (zerschnitt) es alles, da es 
viele „Renatchen“ haben wollte; den gleichen Sinn hatte auch das Hin¬ 
unterwerfen und sonstiges absichtliches Zerschlagen von Gegenständen. 
„Instinktiv“ hatte sich das Kind eine Entstehungstheorie gebildet, welche 
der bei niederen Wesen tatsächlich existierenden Fortpflanzungstheorie 
entspricht. Wie es zu erwarten war, begnügte sich das Kind bald nicht 
mehr damit; es folgten eine Unmenge immer deutlicher formulierter 
Fragen, so daß ich um die fünf Jahre herum Renatchen erklärte, es 
entstehe das Kind in der Mutter aus einem Eichen, wobei der Vater 
sein „Körnchen“ hinzugebe. Auf weitere Details wollte ich nicht ein- 
gehen. Daraufhin bildete sich auch Renatchen eine „kannibalische“ 
Theorie der Befruchtung und Kindererzeugung. Einmal sagte sie zu mir: 
„Mama, verschlucke mich, ohne mich zu kauen; dann wirst du getötet 
und ich komme aus dir heraus.“ Diese Phantasie enthält zugleich die 
natürlichen Racherregungen (Töten der Mutter), als Negativ der Liebe 
zur Mutter, mit der die Kleine beständig rivalisiert und deren Stelle 
sie, auch in Abwesenheit des Vaters, vertreten möchte. Die Kleine 
fragte mich mehrmals, warum ein kleines Mädchen in der Mutter ent¬ 
stehe und nicht umgekehrt die Mutter im kleinen Mädchen. Diese Tage 
meinte sie: „Ich möchte, daß die Mutter (von wem?) stirbt, nein — 


1) Wir reden, da die Kleine in Lausanne aufgewachsen, französisch. 







Dr. S. Spielrein: Das Schamgefühl bei Kindern. 


157 


daß sie weder lebt' noch stirbt, ich möchte, daß sie wieder ein kleines 
MMchen wird.“ Das Kind denkt sich stets, so weit meine Beobachtungen 
reichen, den Tod als Kückkehr zum Ursprung, Wiedergeburt, schlecht¬ 
hin = Befruchtungsakt. Noch ein Beweis dafür, daß wir uns im Grunde 
der Seele das Entstehen qualitativ gleich dem Vergehen denken. Was 
uns heute unlustbetont ist — wird morgen lustbetont, und zwar nach 
dem Bleuler sehen Ambivalenzgesetz i). Dr. S. S p i e 1 r e i n. 

3. 

Gedankenassoziation eines vierjährigen Kindes. 

Aus dem Brief einer amerikanischen Mutter: ,,Ich muß Dir er¬ 
zählen, was die Kleine gestern gesagt hat. Ich kami mich noch gar 
nicht fassen darüber. Kousine Emily sprach davon, daß sie sich eine 
Wohnung nehmen wird. Da sagte das Kind: AVenn Emily heiratet, wird 
sie ein Baby bekommen. Ich war sehr übeiTascht und fragte sie: Ja, 
woher weißt du denn das? Und sie darauf: Ja, wenn jemand heiratet, 
dann kommt immer ein Baby. Ich wiederholte: Aber wie kannst du 
das wissen? Und die Kleine: Oh, ich weiß noch sehr viel, ich weiß 
auch, daß die Bäume in der Erde wachsen (in the ground). Denke 
Dir die sonderbare Gedankenverbindung! Das ist ja gerade das, was 
ich ihr eines Tages zur Aufklärung sagen will. Und dann setzt sie noch 
fort: Ich weiß auch, daß der liebe Gott die Welt schafft (makes the 
World). Wenn sie solche Beden führt, kann ich mir’s kaum glauben, 
daß sie noch nicht einmal vier Jahre alt ist.“ 

Es scheint, daß die Mutter den Übei'gang von der ersten Äußerung 
des Kindes zur zweiten selbst verstanden hat. Das Kind will sagen: 
ich weiß, daß die Kinder in der Mutter wachsen, und drückt dies AVissen 
nicht direkt, sondern symbolisch aus, indem es die Mutter durch die 
Mutter Erde ersetzt. Wir haben bereits aus vielen unzweifelhaften Be¬ 
obachtungen erfahren, wie frühzeitig sich die Kinder der Symbole zu 
bedienen wissen. Aber auch die dritte Äußemng der Kleinen verläßt 
den Zusammenhang nicht. Wir können nur annehmen, daß das Kind 
als ein weiteres Stück seines Wissens über die Herkunft der Kinder 
mitteilen wollte: Ich weiß auch, das ist alles das AV'erk des Vaters. 
Aber diesmal ersetzt sie den direkten Gedanken durch die dazugehörige 
Sublimierung, daß der liebe Gott die Welt schafft. Freud. 

4. 

Das Schamgefühl bei Kindern. 

Ich besuche Frau F., welche mich in die Kinderstube bittet, da 
sie ihren ö^/gjährigen Klaude ins Bettchen bringen will. Der Knabe 
will sich für keinen Fall von mir auskleiden lassen. „Sei doch ver¬ 
nünftig, Kind,“ sagt Frau F., ,,Frau S. hat ja selber ein Kind und 

1) Vgl. Bleuler, „Dementia Praecux“, Handbuch der Psychiatrie, Jahr 1911, 
Herausgeber Aschaffenburg. — Spielrein, „Destruktion als Ursache des AVer- 
dens“, Jahrb. für Psychoanalyse. — Spielrein, „Beitrag zur Kenntnis der 
kindlichen Seele“, Zentralblatt, dritter Jahrgang, Heft 2, Knabenanalyse. — 
Jung, „Die Analyse der kleinen Anna, welche sich die verstorbene Großmutter 
in ein Engelchen und kleines Kind verwandelt denkt“. 



158 


Mitteilungen. 


weiß, was ein Kind ist.“ — „Nein,“ antwortet der Junge, „Frau S. 
hat ein Mädchen, und da kann sie nicht wissen, was ein Knabe ist.“ 

Diese Antwort überraschte mich, da ich vor kurzem die gleichen 
Worte von meinem gleichalterigen Eenatchen hörte. Ich wollte meine 
Kleine eine Zeitlang bei Frau F. lassen. Da meinte Eenatchen: ,,Frau 
F. hat einen Knaben, und da weiß sie doch nicht, was ein Mädchen 
ist.“ Während der kleine Klaude das richtige Schamgefühl kennt, was 
auf eine mehr lokalisierte sexuelle Entwicklung hindeutet — kennt Ee¬ 
natchen noch kein Schamgefühl, wohl aber, im Gegensatz zu Klaude 
,,geniert“ sie sich leicht. Sie würde z. B. nicht in einer unbekannten 
G-esellschaft wagen, was Klaude ohne weiteres tat. 

Es ist eine bekannte Tatsache, daß kleine Mädchen sich viel mehr 
„genieren“ als gleichalterige Knaben. Dies wird wohl daran liegen, daß 
die weibliche Verdrängung der Sexualität in der Eegel diffuser ist: es 
werden mehr sekundäre, dem Sexualtriebe dienende Tendenzen verdrängt, 
wie z. B. Eitelkeit 1). Die Knaben haben in diesem Alter entweder noch 
gar kein Schamgefühl oder das Schamgefühl ist bereits richtig loka¬ 
lisiert; das „Genieren“ ist viel seltener und verrät mädchenhafte Naturen. 

Dr. S. S p i e 1 r e i n. 

5 . 

Das schwache Weib. 

Der kleine Klaude Jahre) ist sehr männlich, herrschsüchtig 

und, obgleich er gerne mit Eenatchen spielt — verachtet er die Mäd¬ 
chen „mit Schleifen in den Haaren“; er möchte um nichts auf der 
Welt Mädchen sein. 

Im Gegensatz dazu äußerte Eenatchen mehrmals den Wunsch, Knabe 
zu sein. Als ich nach den Gründen fragte, erhielt ich die Antwort, 
sie möchte gerne Papa werden, es sei so schön, Frau und Kinder zu 
haben. 

Ist es allgemeine Erscheinung, daß kleine Mädchen gerne Knaben 
sein möchten, während die Knaben an ihrer männlichen Priorität fest- 
halten? Dr. S. Spielrein. 


6 . 

Der kindliche Familienkonflikt. 

Auf einer Bank an einem Kinderspielplatz. Eine Wärterin mit 
einem fünfjährigen Knaben, einem dreijährigen Mädchen und einem 
Baby im Wägelchen. Das Kleinste schreit und die Wärterin entschuldigt 
sich bei mir wegen der Störung. Ich beschwichtige sie, worauf der in 
einiger Entfernung spielende Junge ruft: ,,Aber mich stört es, ich will 
das häßliche Geschrei nicht hören. Das Schwesterchen soll still sein!“ 
Darauf ich: ,,Du hast wohl das Schwesterchen nicht lieb?“ 

Zornig läuft er mit drohend erhobenem Arm auf mich zu und 
schreit: ,,Ich hab’ mein Schwesterchen wohl lieb, aber dich hab’ ich 
nicht lieb 1“ 

1) Dieses soll nicht heißen, daß Knaben weniger eitel sind, sondern daß die 
Eitelkeit bei Knaben weniger verdrängt ist. 



Der kindliche Familienkonflikt. 


159 


„Warum bfst du aber zornig, wenn es schreit? Das tun doch alle 
kleinen Schwesterchen?“ 

,,Ich hab’ mein Schwesterchen lieb; wie willst du denn wissen, 
daß ich es nicht lieb habe, du weißt ja nicht einmal meinen Namen, 
rate ihn mall“ Und die also in die Enge G-edrängte sagt ihn dem 
schon über mehrfaches Falschraten Frohlockenden mit heimlicher Hilfe 
der Kinderfrau. 

„So, nun sage mir, wie meine Schwester heißt.“ Auch diesmal ge¬ 
lingt die Lösung, ebenso bei den Namen des Babys und der Mutter. 
Dann stellt er die Aufgabe, sein und der Geschwister Alter zu raten 
und zuletzt muß er auch meinen Namen wissen. 

Darauf sagt er trotzig: ,,Aber lieb hab’ ich dich doch nicht.“ 

„Das glaube ich, du hast nur deine Mama lieb.“ 

Ernsthaft: „Ja, die Mutter hab’ ich lieb.“ Und leise, wie nur zu 
sich selber: jjAber den Vater hab’ ich nicht lieb.“ 

„Wie, den Vater nicht? Warum denn nicht?“ 

,,Weil er mich immer haut. Der Vater soll in die Hölle kommen, 
er soll in der Hölle braten.“ 

Inzwischen war die kleine Dreijährige herangetreten und fügt 
hinzu: „Ja, wenn er einmal tot ist. Der Vater ist ein Grandeihuber.“ 
Diesen Titel wiederholen beide Kinder nochmals mit sichtlichem Ver¬ 
gnügen. Ich lasse mir erklären, daß das ein Mann ist, der von mor¬ 
gens bis abends schimpft. 

Und nun fährt der Junge heraus: ,,Die Teufel in der Hölle sollen 
den Vater auf spießen und am Feuer braten.“ 

„Der Vater hat dich aber ganz gewiß lieb und du ihn auch. Denke 
nur an Weihnachten, an deinen G-eburtstag oder wenn er mit dir spielt.“ 
Darauf "erfolgt zögernd die Antwort: ,,Ja, dann schon manchmal.“ 
„Und du willst auch werden wie der Vater, groß und stark.“ 

„Nein, das will ich nicht, ich will immer klein bleiben.“ 

Das Schwesterchen wiederholt diese Versicherung. 

„Du möchtest klein bleiben, um immer der Mutter zu gehören und 
bei ihr bleiben zu können.“ 

„Ja.“ Und nach einigem Besinnen: „Mein kleines Schwesterchen 
hab’ ich lieb, aber die Lili nicht.“ (Lili ist die ältere Schwester.) 

„Lili magst du nicht, weil du die Mutter ganz allein für dich 
haben willst.“ Darauf sagt er sehr entschieden: ,,Die Lili soll fort sein.“ 
Eine Dame mit ihren zwei Knaben hat sich mittlerweile auch auf 
unserer Bank niedergelassen und wiederholt ihrer Entrüstung über die 
Unart der Kleinen Ausdruck gegeben. Ich halte es darum für geraten, 
meinen jungen Freunden ein Versteckspiel unter den Bäumen vorzu¬ 
schlagen, zu dem sie gerne bereit sind. Plötzlich schmiegt sich der 
Junge in großer Angst an mich, auf einen Hund weisend, der sich un¬ 
fern umhertreibt. Schon einmal vor unserer Unterredung war er vor 
einem ganz kleinen Hunde zur Kinderfrau geflüchtet, unter dem Rufe, 
der Hund wolle ihn beißen. 

Auf meine Frage, ob der Vater wirklich sehr streng sei, antwortete 
die Wärterin, das sei keineswegs der Fall, er habe den Jungen ganz 
selten geschlagen, aber die Mutter sei immer auf seiten des Kleinen 
mit dem Versprechen, ihm ,,gegen den Vater zu helfen“. 


P. H. 


160 


Mitteilungen. 


7, 

Zura „Hinauswerfen von Gegenständen aus dem Fenster 
durch kleine Kinder“. 

Ein Beitrag von Dr. J. Härnik (Budapest). 

Im letzten Kriegsjahr treffe ich eines Tages sämtliche Mitglieder 
einer befreundeten Familie in großer Aufregung, die dadurch verursacht 
war, daß Paulchen, der kleine Enkel des Hausherrn, ein dreijähriger, 
munterer, doch hie und da jähzorniger Knabe, am Vormittag die gol¬ 
dene Armbanduhr einer zu Besuch weilenden Verwandten vom 
zweiten Stock durchs offene Fenster auf die Straße hinausgeworfen hatte. 

Der kleine Knirps ist während des Krieges zur Welt gekommen 
und wohnt, mit der jungen Mama zusammen, im Hause ihrer Eltern, 
wo — außer dem stillen, gütigen Großvater — sonst nur weibliche Mit¬ 
glieder hausen, und wird dementsprechend ziemlich verzärtelt. Daß er 
auf die Liebe der teuren Mama sehr eifersüchtig ist, braucht kaum 
bemerkt zu werden. Sein Vater ist seit Kriegsbeginn eingerückt und 
kommt nur selten, gelegentlich längerer oder kürzerer Urlaube, in die 
Heimat. Bei solchen Gelegenheiten wohnt das junge Ehepaar wegen 
Platzmangel nicht im Hause, sondern außerhalb, doch ist es natürlich 
tagsüber mit der Familie und dem Kleinen zusammen. Nun war in 
den letzten Tagen wieder einmal der Vater gekommen, die einzige 
Respektperson (wie die Mutter selbst bemerkte), die auf den kleinen 
Hätschelhans einigen autoritativen Einfluß auszuüben scheint. Die An¬ 
nahme war unabweisbar, daß der Vorfall mit der Armbanduhr mit dem 
Wieder erscheinen des Vaters im Familienkreis eng verknüpft, ja durch 
dieses verursacht war. Freuds feine Aufklärungi) verwertend, gab ich 
der jungen Mutter — die mit den Grundprinzipien der Psychoanalyse 
wohl vertraut, wenn auch von deren Richtigkeit nicht völlig überzeugt 
ist — einige Andeutungen über die möglichen tiefliegenden Motive einer 
solchen magischen Kinderhandlung. Da bekam ich die so oft gehörte 
Antwort, daß wir Psychoanalytiker auch dort nach unbewußten Grün¬ 
den fahnden, wo solche überhaupt nicht existieren, usw’. Auch in diesem 
Falle wäre es, in offenbarem Widerspruch mit meinen Erwartungen, eine 
Tatsache, daß der Junge schon sehr oft alle möglichen Gregenstände 
durchs Fenster hinausgeworfen hat — auch während der Abwesenheit 
des Vaters. Doch gab sie auf meine direkte Frage hin zu, daß er zu 
diesen Handlungen immer fremdes Eigentum mißbraucht hatte und nie 
Sachen, welche als ihm gehörig betrachtet werden können (z. B. Spiel¬ 
zeug). Meine Meinung aber, die ich nun unverhohlen mitteilte, war die, 
daß der Kleine mit dem Hinauswerfen eines so offenbar wertvollen Ge¬ 
genstandes 2 ) dem geheimen Wunsche magischen Ausdmck geben wollte, 
daß der „strenge“ Vater — welcher ihn in dem alleinigen Besitz der 
geliebten Mutter so unerwünscht stört, ja sie ihm sozusagen' allabend¬ 
lich entführt — wieder, und zwar sogleich verschwinden möge. Zu 
meiner großen Befriedigung gab mir hierauf die Dame noch die wichtige 
Auskunft, daß der Junge schon am Tage vorher ihre eigene g o 1- 

1) Eine Kindheitserinnening aus „Dichtung und Wahrheit“, Imago, V. Heft. 

2) Es dürfte auch in Betracht gezogen werden, daß die Uhr als bisexuelles 
Genitalsymbol auf gefaßt werden kamn. Es wäre also — nach dem Prinzip: 
pars pro toto — der Penis des Vaters, an dem der Junge die Exekution vollzieht. 



Dr. J. Harnik: Zum „Hinauswerfen von Gegenständen aus dem Fenster etc.“. 161 

de ne Armbanduhr mit der offenkundigen Absicht aufgegrif fen hatte, 
sie durchs Fenster hinauszubefordern, doch noch im letzten Augenblick 
durch die Mutter in der Ausführung verhindert werden konnte, worauf 
er sichtlich „wütend“ die Uhr mit voller Kraft unter den Tisch warf. 
Nach dieser Aufklärung konnte ich nicht umhin, meine Vermutung als 
fast vollkommen bestätigt gelten zu lassen, um so eher, da ich bei 
dem Jungen zur selben Zeit verschiedene Zeichen der gegen den Vater 
gerichteten Feindseligkeit beobachten konnte. 

Monate vergingen nach dieser kleinen Begebenheit, der große Krieg 
ging zu Ende und der Vater kehrte endgültig in die Heimat zurück. 
Da geschah einmal, daß Paulchen wegen irgend einer Unart von jeman¬ 
dem gescholten wurde. Als Erwiderung sagte er hierauf vollkommen 
unerwartet folgendes: 

„Ich werde den Papa in den Schnee hinausschmeißeni).“ 

Der anwesende Vater horchte auf und fragte ihn, was er eigentlich 
gesagt hätte? Da wiederholte er, wenn auch etwas zögernd, obiges. 
Hierauf der Vater: 

,,Wo wirst du denn den Papa hinausschmeißen?“ Der Kleine ant¬ 
wortete: ,,Durchs Fenster.“ 

Wie man sieht, machte der Junge in der verflossenen Zeit den 
Übergang von der Allmachtsperiode der magischen Gebärden zur Phase 
*der magischen Gedanken und Worte 2 ). 

* * 

* 

In der Diskussion, die der Mitteilung ,,des Falles“ in der unga¬ 
rischen psychoanalytischen Vereinigung folgte, sind weitere interessante 
Beiträge zu diesem Thema erbracht worden,, die sich merkwürdigerweise 
auf das Hinausweirfen lebender Tiere durchs Fenster beziehen. 

Herr Dr. B. von Felszeghy teilte mit: 

Als junger Gymnasiast besuchte er in der ungarischen Provinz eine 
Schule, mit der ein Internat verbunden war. In den halboffenen Korri¬ 
doren dieses Internats sah man gelegentlich herumtreibende Hunde, die 
von der Gasse herauf kamen, um Speisenabfällen aufzulauern. Da er¬ 
eignete sich einmal der die ganze Schuljugend aufregende Vorfall — 
dessen Einwirkung auf die Gemüter ihm selbst nie mehr aus der Er¬ 
innerung kam —, daß einige ältere Pensionisten einen solchen Hund 
plötzlich gepackt und mit großem Hallo aus einem Fenster des hohen 
Stockwerkes auf den Schulhof hinuntergeworfen hatten. Dies geschah 
an dem Nachmittag, der den Beginn der freudeversprechenden Schul¬ 
ferien bedeutete, unter den aufgeregten Vorbereitungen für die Heim¬ 
reise der meisten Internats jungen. Herr v. Felszeghy stellt sich, 
wie mir scheint mit Kecht, vor, daß sich da mühselig unterdrückte, 
gegen die Lehrer (d. h. ^Vater-Imagines) gerichtete feindselige Regungen 
mittels einer infantilen Ausdrucksweise Luft machen konnten, in einem 
Moment, der eine zeitweilige Befreiung von dem Drucke dieser 
Autoritäten verhieß. Auch machte er bei dieser Gelegenheit darauf auf¬ 
merksam, wie häufig es vorkommt, daß Kinder von hochgelegenen Stellen 
— z, B., nach feiner eigenen Erinnerung, vom Kirchturm — Katzen 

1) Im Ungarischen benützte er ein Wort, welches wörtlich „hinausfliegen 
lassen“ bedeutet. Ähnliche Redensarten sind auch im Deutschen gebräuchlich. 

2) Vgl. S. Ferenczi: „Entwicklungsstufen des Wirklichkeitssinnes.“ 

11 


Internat. Zeitsohr. f. Paychoanalyse. VI/2. 



162 


Mitteilungen. 


hinunter werfen, mit der rationalistischen Begründung, man wolle sehen, 
ob sie auf die Pfoten fallen. 

Herr Dr. J. M, Eisler konnte, ebenfalls aus eigener Erinnerung, 
folgendes erzählen: Er war 14 Jahre alt, da sich an einem Tage in 
der kleinen Stadt die „sensationelle“ Nachricht verbreitete, daß ein 
kleiner, vierjähriger Kuzin ein Hündchen zum Fenster des oberen Stock¬ 
werkes hinausgeworfen habe. Er erinnert sich noch deutlich der Auf¬ 
regung, mit der die ganze weitverzweigte Familie zum Schauplatz dieser 
Heldentat zusammengelaufen war, wie sich dann alle den Vorfall aus¬ 
führlich erklären ließen und das Pflaster wie das Fenster besichtigten. 
Zur Motivierung dieser Handlung des Kindes könne er heute nichts 
Sicheres mehr eruieren; jedoch sei es wahrscheinlich, daß dies unge¬ 
fähr in der Zeit geschah, da sich die Familie des Jungen um ein 
Schwesterchen bereichert hatte. 

* 

In etwas loserem Zusammenhang möge hier die — analytisch nicht 
untersuchte — Kindheitserinnerung eines jungen Mannes angereiht wer¬ 
den, der als kleiner Knabe, mit dem jüngeren Bruder spielend, ein 
Spielhündchen zum Fenster hinausgeworfen hatte. Er leidet unter 
anderem zeitweise an der Angst, er werde sich einmal von einem höheren 
Stockwerk hinunterwerfen müssen, und vermeidet darum möglichst den 
Besuch hochgelegener Wohnungen. Er meint, die Versuchung zu dieser 
Art des Selbstmordes sei besonders groß, da die Ausführung auf keine 
Schwierigkeiten stoße. Sich aus dem Fenster stürzen, sei „ein Leichtes“ 

— dagegen z. B. Totschießen mit dem Eevolver viel zu „umständlich“. 
Es dürfte nicht sehr unwahrscheinlich sein, daß hier eine Eeminiszenz 
an die „Leichtigkeit“ mitspielt, mit der ein aus dem Fenster geworfener 
Gegenstand „hinausfliegt“ und zur Erde fällt. Und so wäre vielleicht 
anzunehmen, daß bei der in Eede stehenden Art des Selbstmordes — 
als Selbstbestrafung für seinerzeit gegen andere gehegte Todeswünsche —, 
die kindlich-magische Ausdrucksweise dieser Eegungen am eigenen 
Leib angewendet wird. 

Erinnern wir aber auch daran, daß bei leidenschaftlichen Ausbrüchen 
Erwachsener die gegen gehaßte Personen gerichtete Wut sich manchmal 

— auch bei historisch beglaubigten Gelegenheiten — in ähnlicher Weise 
eine Abfuhr geschaffen hat, wie beispielsweise bei den berühmten „Prager 
Fensterstürzen“ (im Jahre 1419 und 1618). 

Zum Schlüsse sei auf eine hübsche Erzählung des großen Seelen¬ 
kenners Anatole France hingewiesen, die uns auf Grund feinsin¬ 
niger Einfühlung, in lebenswahrer dichterischer Darstellung vor Augen 
führt, wie sich unterdrückte feindselige Eegungen beim hochkultivierten 
Menschen der modernen Zeit mittels einer magisch-symbolischen Hand¬ 
lung äußern könneni). In seinem Buch „Le mannequin d’osier“ erzählt 
uns der Dichter, wie Herr Professor Bergeret seine Frau im zärt¬ 
lichen Beisammensein mit einem Herrn „in flagranti“ ertappt; wie er 
sie beide im ersten, aufwallenden Zorn töten möchte; wie er aber sich 
doch beherrscht und damit begnügt, seinem Ärger durch eine symbolische 
Exekutive Luft zu schaffen: er wirft nämlich die Probierpuppe 


1) Den Hinweis darauf verdanke ich einem Vortrag des Herrn Dr. S. F e- 
r e n c z i. 



Reik: Infantile Wortbehandlung. 


163 


seiner Frau zum Fenster hinaus. Nach diesem Ausbruch beruhigt 
er sich nun immer mehr in besonnenem Nachdenken und gelangt schlie߬ 
lich zur weisen Überlegung, es wäre eigentlich nur so viel geschehen, 
daß er, Gott sei Dank, endlich seiner Frau ledig geworden ist. 

8 . 

Infantile Wortbehandlung. 

Die besondere Bedeutung der infantilen Wortbehandlung für die 
Traumdeutung ist von Freud oft hervorgehoben worden; das Wörtlich¬ 
nehmen einer metaphorischen Redensart, Wortneubildungen, Zurück¬ 
greifen auf die ursprüngliche Bedeutung eines Ausdruckes und andere 
Eigenarten der Traumarbeit kehren in der Symptombildung der Psycho- 
neurosen wieder. Es ist in diesem Zusammenhang verwunderlich, daß 
in psychoanalytischen Kreisen der Kindersprache relativ so wenig Auf¬ 
merksamkeit geschenkt wird. Eine aufmerksame Beobachtung und syste¬ 
matische Sammlung von Beispielen der Kindersprache würde manche 
Aufklärungen zu liefern geeignet sein. Dabei würden besondere Merk¬ 
male der Wortbildung* und der infantilen Auffassung von Worten hervor¬ 
gehoben werden müssen. 

Einige Beispiele mögen folgen: 

Zum Gegensinn der Urworte: Das Wort jjAba“, eines der frühesten, 
das ein Knabe sprach, bedeutete sowohl hinauf als hinunter, was daraus 
geschlossen werden konnte, daß das Kind es sagte, wenn es von der 
Mutter auf den Schoß genommen werden, als auch, wenn es von seinem 
Sitze auf den Boden gestellt sein wollte. Derselbe Knabe bezeichnete 
Höhe, Breite und Länge mit dem Worte „Langmeterhoch“, das er sich 
selbst zusammengesetzt Jtiatte, als er Installateuren bei ihrer Arbeit zu¬ 
sah und ihrem Gespräche zuhÖrte. (Im Alter von drei Jahren.) Noch 
jetzt mit 33/4 Jahren weiß er zwischen „spät“ und „früh“, „morgen“, 
,,heute“ und „gestern“ nicht zu unterscheiden und gebraucht diese Worte 
ohne Unterschied. 

Infantile Wortbehandlung: Der kleine Artur wird einem Herrn vor¬ 
gestellt, der den Namen Paul Kohn führt. Als er den Herrn das nächste 
Mal sah, sagte er: „Dich kenn’ ich schon, du bist der Herr Balkon.“ 
Vizepräsident bedeutet ihm so viel wie ein Mann, der „Witze“ macht, 
,,Wachinspektor“ ist jemand, der mit Speck zu tun hat, es verschafft 
usw. Es ist natürlich, daß sich die Gefühle des Kindes gegenüber diesen 
Personen sowie seine Erwartungen nach diesem Wortsinn richten: der 
Wachinspektor erweckt bei ihm freundliche Empfindungen. Ganz im 
Gegenteil der Feuerwehrmann. Er war nämlich einmal Zeuge gewesen, 
wie Feuerwehrleute eine versperrte Wohnung, in der ein Küchenbrand 
ausgebrochen war, aufsprengten. Seither ist mit dem Begriff des Feuer¬ 
wehrmannes die Vorstellung des Türaufbrechens und des Feuermachens 
verknüpft. (Auf die unbewußte Determinierung sei hier nicht einge¬ 
gangen.) Ein Herr, der mit dem Dienstmädchen sprach, ist ein „Dienst¬ 
mann“. Artur hört das Wort „Donaudampfschiffahrtsgesellschaft“ und 
zeigt einige Tage darauf seiner Mutter das Bild eines Schiffes in einem 
Buche mit den Worten: ,,Schau, Mama, das Donaudampfschiff fahrt in 
Gesellschaft.“ (Vgl. die Wortzerteilung im Traume, die orientalischen 
Wortspiele usw.) Eines Tages sagt das Kind zum Vater: „Du bist ein 

11 * 


164 


Mitteilungen. 


Bücher.“ Der sonst unverständliche Ausdruck ist nach einer naheliegenden 
Analogie gebildet: Artur hatte gehört, daß sein Vater ein starker Raucher 
sei, und seiner Mißbilligung, daß der Vater, statt mit ihm zu spielen, immer 
Bücher lese, in Anlehnung an diese Bemerkung, Ausdruck gegeben. 

Th. Reik. 


9. 

Zur sexuellen Natur des Lutschens. 

Im „Neurologischen Zentralblatt“ 1919, Nr. 20, veröffentlicht Dr. S. 
Galant eine Niederschrift eines völlig gesunden Mädchens über seinen 
Genuß beim Lutschen, die wir hier abdrucken: 

„Das Lutscherli). 

Es ist viel zu schön, um das 
wiedergeben zu können. 

Wie verschieden das Gefühl der Erwachsenen und der Kinder ist, 
sehe ich am besten ein, wenn ich an meine Kinderzeit, wo ich noch 
den Lutscher gelutscht habe, zurück denke. 

Manch Erwachsener denkt: Was gibt’s denn eigentlich an einem 
Lutscher 2 )? Wieso kommt es, daß die meisten Kinder so einen Lutscher 
so gern haben? Ich weiß warum, ich weiß, was so ein Lutscherl alles 
vermag. Ich glaube, daß ein Lutscher das feinste und seligste Gefühl, 
das man haben kann, zu verschaffen im stände sei. Vielleicht nicht 
viele Kinder haben so lange wie ich gelutscht, und weil ich selbst, 
wenn ich schon in die Schule gegangen bin, den Lutscher nicht ent¬ 
behren konnte, weiß ich jetzt noch so gut, wie herrlich so ein Lutscherl 
ist. Man hat mir zuletzt den Lutscher weggenommen, ich habe noch 
gleichwohl im Versteckten gelutscht. Manchmal hatte ich ^och einen 
kleinen Stumpf von einem Lutscher in der Tasche gehabt. Wenn aber 
meine Eltern und Geschwister dahinter gekommen sind, haben sie ihn 
weit, weit weggeschmissen, damit ich ihn nicht mehr finde. Oh, wie 
manches Mal habe ich bitter geweint und meine Mutter um einen 
Lutscher angefleht, denn die Mutter hat am meisten Erbarmen mit mir 
gehabt. Als ich anfing, in die Schule zu gehen, habe ich noch sehr 
oft gelutscht, aber so, daß es niemand gesehen hat. Man hätte mich 
ja nur ausgelacht, sie wissen ja nicht, wie gut ein Lutscherl sei. Ich 
habe immer gemeint, es gebe nichts so Ähnliches wie einen Lutscher. 
Und doch gibt es etwas, das ihm gleicht: das ist ein Kuß von dem¬ 
jenigen, den man so recht und herzig liebt. 

Nicht alle Küsse gleichen einem Lutscherl: nein, nein, lange nicht 
alle! Man kann nicht schreiben, wie wohlig es einem durch den ganzen 
Köoper beim Lutschen geht; man ist einfach weg von dieser Welt, man 
ist ganz zufrieden und wunschlos glücklich. Es ist ein wunderbares 
Gefühl; man verlangt nichts als Ruhe, Ruhe, die gar nicht unterbrochen 
werden soll. Es ist einfach unsagbar schön: man spürt keinen Schmerz, 
kein Weh und, ach, man ist entrückt in eine andere Welt. 


1) Im Original „Lutscherli“. 

2 ) Im Original „Nuggeli“. 



Dr. E. H.: Zur sexuellen Natur des Lutschens. 


165 


Wer die verschiedenen Küsse unterscheiden kann, der kann sich 
auch das Gefühl, das man beim Lutschen hat, ausmalen. Wenn aber 
alle Küsse gleich sind, so nützt alles Schreiben nichts.“ 

* 

Dieses Dokument, das offenbar von einem Mädchen mit stark ero¬ 
tisch betonter Mundzone stammt, das auch eine Kußfeinschmeckerin ge¬ 
worden ist, könnte man als ein lyrisches Gedicht in Prosa „An den 
Geliebten“ bezeichnen. Die Unbefangenheit des Eingestehens ist das 
Ungewöhnliche, besonders bemerkenswert aber — wie Dr. Galant her¬ 
vorhebt — die Tatsache, daß die Befriedigung durch das Lut¬ 
schen einer sexuellen Befriedigung analog geschil¬ 
dert wird. Man sollte erwarten, Dr. Galant gebe durch dieses 
Dokument belehrt zu, die Psychoanalyse könnte auch sonst recht behalten, 
wo sie die perverse Kindersexualität behauptet. Aber weit gefehlt! Der 
Autor glaubt sich wieder rechtfertigen und der Psychoanalyse phantastische 
Theorien und Abirrungen nachsag^n zu müssen. Daß Kinder am After 
sexuell empfinden könnten, erklärt er mit Lewandowsky noch immer 
für eine lächerliche Behauptung! Und er könnte sich doch so leicht über¬ 
zeugen, wenn er z. B. eine schwere Zwangsneurose auf ihre Analerotik 
analysieren würde. Dr. E. H. 



Kritiken und Referate. 


Julius Pikier, Sinnesphysiologische Untersuchuiigen. (Leip¬ 
zig 1917, Johann Ambrosius Barth, VIII., 515 Seiten, mit 44 Figuren 
im Text.) 

Die Wichtigkeit eines wissenschaftlichen Werkes hängt nicht nur 
vom Tatsachenmaterial ab, worauf es neues Licht wirft, oder von der 
Neuheit der Auffassung, die es verkündet, sondern auch von der allge¬ 
meinen Tendenz, die sich hinter dem Inhalt offenbart. P i k 1 e r s Buch 
birgt eine Tendenz, die nicht nur vom allgemein menschlichen, sondern 
insbesondere vom psychoanalytischen Standpunkte anziehend erscheinen 
muß. Diese Tendenz will die Lebenserscheinungen, besonders die psy¬ 
chische Beschaffenheit des menschlichen Organismus von innen aus, 
ohne Einmischung fremder, außerhalb des Organismus stehender Kräfte, 
verständlich machen. Die Quelle dieser Tendenz dürfen wir nur teil¬ 
weise in den allgemein menschlichen narzißtischen Regungen suclien. 
Es hat auch einen hohen logisch-wissenschaftlichen Wert, eine in ge¬ 
wisser Beziehung sicher richtige Anschauung auf breiter Grundlage kon¬ 
sequent durchzuführen. 

Will Pikier unsere psychische Beschaffenheit von der Wirkung 
äußerer Reize befreit sehen, so muß er eine Psychologie aufbauen, welche 
sich anknüpfend an die Ideen von Plato, L e i b n i t z, Kant, K ul p e, 
B ergs Oll entfaltete. Pikier hat sich aber auch das wichtige Ziel 
gesetzt, die Freiheit der psychischen Beschaffenheit im Gegensätze zu 
den eben erwähnten metaphysisch-erkenntnistheoietischen Richtungen 
mit exakter Methode zu beweisen. 

Im folgenden werde ich P i k 1 e r s Gedanken kurz zusammenfassen, 
daran unter Klarstellung der Begriffe eine Kritik anschließen, endlich 
die psychoanalytischen Berührungspunkte nachweisen. 

Pikier beginnt die Darstellung seiner Theorie mit der Kritik der 
bekannten Strümpell sehen Schlaf-Wachseins-Theorie. Pikier be¬ 
weist — und dieser Teil ist der bestgelungene der ganzen Arbeit —, 
daß die Strümpell sehe Lehre, wonach das Ausbleiben der äußeren 
Reize den Schlafzustand hervorrufe und der Wachzustand die Folge der 
unaufhörlichen Weckreize sei, grundfalsch ist. Die S t r ü mp e 11 sehe 
Theorie ist eine falsche Deutung nicht genügend beobachteter Tatsachen. 
„In bezug auf den Schlaf gibt es einen Bewußtseinszustand des Be¬ 
gehrens“; dieser Zustand wird Schläfrigkeit genannt. Die Schläfrigkeit 
ist der psychische Ausdruck einer zielstrebigen Triebfähigkeit, welche 
Triebfähigkeit übrigens neuerdings auch von Claparede angenommen 
wird. Den hier genannten Begriffen analog soll es nun nach Pikier 
auch ein Begehren nach Wachsein geben, welches sich im Zustande der 


Kritiken und Referate. 


167 


„Wachsigkeit“ kundgibt; die Wachsigkeit weist auf das Vorhandensein 
eines — spontanen — Wachtriebes hin. In gewissen Zuständen der Lange¬ 
weile kann die auf ein Wachsein zielende Aktivität durch die innere 
Wahrnehmung unmittelbar beobachtet werden. Schläfrigkeit und Wach¬ 
sigkeit sind ebensolche Begierden, wie Hunger, Durst und Brunst. Die 
Wachsigkeit, diese Begierde nach Wachsein, nach Entfaltung von Tätig¬ 
keit, bewirkt, daß die äußeren Reize keinen passiven, sondern einen 
schon von vornherein aktiven, tätigen Organismus antreffen. Das „ge¬ 
reizte Auftreten“ der Begierde ist nur ein beschleunigtes, aber keines¬ 
falls verändertes, also ein autochthones Auftreten. Was man Wecken 
nennt und „was man Erregung nennt, ist eine zielstrebige Anpassung 
des spontanen, autochthonen, sonst periodischen Lebensgeschehens an 
inzidentales, nicht periodisches Geschehen in der Außenwelt“. Die Wach¬ 
sigkeit hält an den Reizpforteii Wache, isf an diesen Stellen „angespannt“. 

Die Empfindung ist^ demnach kein ,,Eindruck“ des äußeren Reizes. 
Bei Einwirkung der Reize sind wir aktiv, teilweise wegen des früher 
erwähnten Verhaltens der Wachsigkeit, teilweise deshalb, weil wir alle 
unsere psychischen Beziehungen schon vorher anspannen, in Kraft setzen. 
Beim Fehlen von Reizen verursacht die Aktivität des Wachzustandes die 
„sinnliche Negation“, das heißt das Sinnesurteil, daß hier Stille herrscht 
usw.; wenn nach Fehlen von vorangehenden Reizen ein gewisser Reiz, 
oder nach einem gewissen Reize ein anderer Reiz sich geltend macht, 
so wendet sich die Tätigkeit des Wachzustandes, die innere Aktivität 
von dem früheren Zustande zum neueren. Die Empfindung selbst geht 
aus dieser inneren Wendung hervor und nicht aus der unmittelbaren 
Reizwirkung. In der Anspannung der Wachsigkeit an den Reizpforten 
ist eine ursprüngliche Einheit vorhanden, die spontan, ihrer Natur ge¬ 
mäß jedem Reize gegenüber eine seiner Art entsprechende Empfindung 
hervorruft; das ist aber nur dann zu verstehen, wenn angenommen wird, 
daß bei der Entstehung der Empfindung „die Wachsigkeit die physische 
Wirkung des Reizes im Organismus verhindert, indem sie dieser ein 
genaues Gegengewicht schafft. Der EmpfindungsVorgang ist eine aus- 
gleichende, anpassende Erhaltung der Organisation“. 

Durch die Empfindung wird dem Wesen der Wachsigkeit Genüge 
geleistet, welches Wesen ein „Drang zur Anstrengung, Selbstumbildung, 
Umschaltung Bedrohungen gegenüber ist“. Mit dieser Anstrengung usw. 
wird es zugleich zu stände gebmcht, daß das Ich erkennt. Das 
Ursprünglichste des. psychischen Lebens ist nicht die Empfindung, son¬ 
dern das Verallgemeinern und Abstrahiei'en, was aber nichts anderes 
als Selbsterhalten und Anpassen ist. Auf dem Bewußtsein vom Allge¬ 
meinen und Abstrakten beruht das Vergleichen; mit jeder Empfindung 
ist gleichzeitig ein Vergleichen mitgegeben. 

Den Leser dieser Zeitschrift wird es kaum interessieren, zu er¬ 
fahren, wie Pikier seine Theorie durch „experimentelle Sichtbarmachung 
des EmpfindungsVorganges 1)“, durch eine neuartige Auffassung des bino- 

1) Es soll nur kurz bemerkt werden, daß ein Empfindungs v o r g a n g nie¬ 
mals beobachtet werden kann. Was beobachtet wird, sind Wahrnehmungen. 
P. nimmt aber den Begriff der „inneren Wahrnehmung“ etwas zu locker; es 
heißt z. B. auf Seite 103: „Die innere Wahrnehmung zeigt ,Erfüllung* einer 
Bereitschaft, die Erfüllung der Bereitschaft ist nach der inneren Wahrnehmung 
zugleich die Empfindung.“ P.s innere W^ahrnehmung ist keine Beobach¬ 
tung eines Experimentators, sondern sie ist eine Schlußfolgerung. 



168 


Kritiken und Referate. 


kulareii Sehens, der stroboskopischen Erscheinungen, der geometrisch’ 
optischen Täuschungen und des Ranschburgsehen Phänomens zu be¬ 
weisen trachtet. 

Um auf die Theorie selbst ein helleres Licht werfen zu können, 
seien als ihre Knotenpunkte folgende Behauptungen hervorgehoben: 

1. Die Grundlage für die Bewußtseinstatsache wird durch den Wach¬ 
trieb gebildet, welcher Trieb sich psychisch in der „Wachsigkeit“ kundgibt. 

2. Der Schlaf ist kein Lähmungszustand, sondern ein energiebesetzter 
Zustand, dessen Grundlage der Schlaftrieb bildet, welcher Trieb sich 
psychisch in der Schläfrigkeit bemerkbar macht. 

3. Die Empfindung ist kein Eindruck des Reizes, sondern eine spon¬ 
tane, autochthone, innere Tätigkeit. 

4. Der Reiz bestimmt die Empfindung nicht eindeutig, die letztere 
hängt im Gegenteil vielmehr vom Zustande des Organismus ab. 

5. Der Empfindungsvorgang ist eine Gleichgewicht schaffende, an¬ 
passende Erhaltung der Organisation. 

6 . Das Verallgemeinern und Abstrahieren bildet die Grundtatsache 
des psychischen Geschehens. 

Es mögen hier einige historische Notizen um so eher gestattet sein, 
als diese auch für die Psychoanalyse einen gewissen Wert besitzen. 

E. R. Jaensch^) — in einem anderen Zusammenhänge auch von 
Pikier zitiert2) — beruft sich bei Besprechung der Willenstheorien 
der Wahrnehmung auf folgende Zeilen Siltheys^): „Die Grundform 
des Vorganges, in welchem die Objektivierung der Gesichts Wahrnehmung 
sich vollzieht, würde hiernach analog dem der Befriedigung des Hunger¬ 
triebes zu denken sein. Die Unruhe der Triebe wird gestillt durch 
den Genuß, und dieser ist sich dann der Objektivität seines Gegen¬ 
standes gewiß .... Aber indem wir die Annahme solcher Triebe oder 
Energien, insbesondere im Gesichtssinn, mit Beneke, Rokitansky, 
Göring, Riehl verfolgen, bleiben wir uns doch bewußt, daß für diese 
Ansicht die festere Begiündung aussteht.“ 

Die nicht eindeutige Zuordnung von Reizempfindung ist eine Lieb¬ 
lingsbehauptung vieler moderner Psychologen (z. B. J e c k s o n: im Jahre 
1887; E. Krueger: im Jahre 1907). 

Was den Begriff der Anpassung anbelangt, sollen H. Spencer, 
R. Avenarius, M. Verworn genannt werden, die jeden Erkenntnis¬ 
vorgang mit der Anpassung des Organismus ans Neue erklären wollen. 

Nach den modernen Logikern soll auch — logisch betrachtet — 
die allgemeine Idee ursprünglicher sein, als die besondere (z. B. nach 
C as s irer). 

Diese historischen Bemerkungen können aber keineswegs an der 
vorliegenden Arbeit rütteln. Was ich am meisten an P i k 1 e r s Ge¬ 
danken auszusetzen habe, ist Mehrdeutigkeit, die unscharfe 
Abgrenzung seiner Begriffe. Der Begriff der Empfindung 
deckt z. B. denjenigen des isolierten, abstrahierten Wahrnehmungs- 
elements, ganz bis hinauf zum realsten und kompliziertesten Erkenntnis- 


1) „Über die Wahrnehmung des Raumes“, Ergänzungsband Nr. 6 der Zeit¬ 
schrift für Psychologie, 1911, Seite 468. 

2 ) Auf Seite 249 der „Sinnesphys. Unters.“ 

3) Zitiert aus: „Beiträge zur Präge vom Ursprung unseres Glaubens an die 
Realität der Außenwelt.“ Sitzungsbericht der k. Preuß. Akademie der Wissensch., 
Jahrg. 1890. 



Kritiken und Referate. 


169 


komplex. (Daß aber die letzteren die Produkte einer inneren Aktivität 
sind und eine Anpassung nachweisen lassen, wird wohl heute kaum 
jemand mehr bestreiten.) Es mischen sich bei Pikier unter die rein 
psychologischen Begriffe sorglos solche von physiologischer und biolo¬ 
gischer Herkunft. Das Verallgemeinern und Abstrahieren dieser eminent 
logisch-psychologischen Begriffe wird gleichbedeutend mit gewissen 
physiologischen Prozessen aufgefaßt; dann ist es aber nicht schwer, in 
weiteren physiologischen Prozessen psychische Begriffe wiederzufinden. 

Was den Begriff des „Gleichgewichtszustandes“ betrifft, 
ist dieser mehr als dunkel; soll selbst die Wachsigkeit dem Reize gegen¬ 
über Gleichgewicht halten, so ist auf einer Seite ein psychisches, auf 
der anderen ein andersgeartetes Etwas zu denken, die in Wechselwirkung 
stehen; soll die Wachsigkeit den Gleich^wichtszustand mit dem Reize 
nur irgendwie unterhalten, so muß der Reiz doch früher schon auf 
die Wachsigkeit eingewirkt haben. Denn warum hält die Wachsigkeit 
gerade jetzt ihr Gleichgewicht aufrecht, woher dies nun? Oder, vielleicht 
stört der Reiz den schon bestehenden Gleichgewichtszustand irgendwie? 
Warum ist dann nicht dieses Stören, sondern die Wendung die Grund¬ 
lage des Empfindens ? Ohne Reizwirkung anzunehmen, möchte Pikier 
dort halten, wo die heute berüchtigten Idealisten sich befunden haben, 
nach denen das Erkennen ein Phantasievorgang sei, der die Gegenstände 
der Welt aus sich selbst schafft. Reizwirkungen anzuerkennen, sie aber 
beim Entstehen der Empfindung nicht zur Rede kommen zu lassen, ist 
auch ein äußerst spontaner, autochthoner Vorgang. Die Annahme eines 
Gleichgewichtszustandes fordert die Stellungnahme gegenüber den 
Wechselwirkungs- oder Parallelismus-Theorien, was aber von Pikier 
einfach umgangen wird. 

Der Begriff der Anpassung ist für die naturwissenschaftlich Ge¬ 
bildeten besonders bestechend. Leider entspricht dieser Begriff in P i k- 
1 e r s Theorie nicht den an ihn geknüpften Erwartungen. Erstens wird 
der Begriff der Anpassung zur Erklärung von formell verschiedenen 
Tatsachen angewendet. Es zeigen nämlich, nach dem Sinne der P i kle r- 
schen Theorie, eine Anpassung: 

a) Die periodisch auftretende Begierde — an die Gelegenheit 
des Reizes; 

li) der Bewußtseinszustand — an die Anforderung eines neuen 
Reizes; 

c) der EmpfinduiigsVorgang (seine qualitative Seite iDetrachtet) — 
an die Art des Reizes; 

d) der Empfindungsvorgang (seine objektivierende Seite betrachtet) 
— an den Sinn der psychischen Residuen; 

e) die Organisation — an die physiologische Störung durch den Reiz; 

/) das Abstrahieren, das heißt jener Vorgang (eben das Anpassen), 

durch welchen das Selbsterhalten, Selbstwiederholen möglich wird — an 
das Wesen der Reizstörung. 

Die eine Art dieser Anpassungen muß als momentane Funktion er¬ 
klärt werden, die andere Art kann aber auch als Resultat der Entwicklung 
aufgefaßt werden. 

Zweitens: In den Natui^wisSeilschaften wird der Begriff der Anpassung 
als Realbegriff genommen; zur Tatsache der Anpassung werden theore¬ 
tische Erklärungen gesucht und der Begriff der Anpassung nur zur Be¬ 
schreibung der Tatsachen verwendet. Pikier benützt aber den 


170 


Kritiken und Referate. 


Begriff, um unerklärte Funktionen begreiflich zu machen, so z. B. beim 
Erklären des binokularen Einfächsehens. Das sollte a]>er nicht erlaubt 
sein! Der Begriff der Anpassung kann nämlich den jetzt erreichten 
Zustand bezeichnen (s. beim obigen Beispiel als Beschreibung 
der Tatsachen, was — als Beschreibung — unbedingt richtig und erlaubt 
ist); kann aber auch den V o r g a n g meinen, mit welchem der jetzt 
erreichte Zustand onto- oder phylogenetisch erzielt wurde. Pikier 
nimmt die bereits im Sinne der Beschreibung angepaßte Tatsache (als 
Zustand) und behauptet, sie wird angepaßt (als Vorgang); und man 
staune: er hat recht; das Resultat seiner Gedankengänge trifft die Wahr¬ 
heit, die Welt ist ja uns angepaßt (oder wir der Welt), nur ist diese 
Anpassung nicht momentan erwirkt, sondern onto- und phylo¬ 
genetisch erarbeitet worden^). Piklers Beweisführung »eigt das fol¬ 
gende Schema: er paßt, als verlqappte Nothypothese — um beim obigen 
Beispiel zu bleiben — die inneren Vorgänge den äußeren an, nimmt also 
einen inneren Sehr au m, innere Entfernungen — natür¬ 
lich geradlinige Strecken! — an und liest dann aus dieser 
Introjektion die angepaßte Resultante ab: das binokulare Einfachsehen, 
ja sogar das Tiefsehen ist scheinbar erklärt, bleibt aber tatsächlich ebenso 
unerklärt wie vordem. 

Drittens, frage ich, was soll denn di^ Anpassung sein? Ist sie nach 
Darwin, nach Lamarck, oder gar nach den Neu-Lamarckisten und Vita- 
listen gedacht? Im letzten Falle hat sie, wie allbekannt, schon seelische 
Vorgänge zur Voraussetzung, kann aber unmöglich als Grundlage der 
letzteren dienen. Wäre die Anpassung als physiologische Funktion mit 
der Anpassung als seelische Funktion wesensgleich, dann verliert 
tatsächlich die separierte Behandlung der Bewußtseinstatsachen ihre 
Existenzberechtigung, aber was wäre das anderes, als die verpönte Meta¬ 
physik treiben? Und Piklers Darstellung ist Metaphysik! Wir 
müßten unbedingt Piklers Stellungnahme bezüglich der biologischen 
Anpassungstheorien kennen; wäre aber diese Stellungnahme nicht die 
Einführung einer neuen Unbekannten in die Psychologie, also eine Ver¬ 
schiebung der Schwierigkeiten der Probleme auf ein anderes Gebiet, 
ohne die alten gelöst zu haben? 

Mehrere der Pikier sehen Gedanken sind dem Psychoanalytiker 
nicht fremd. Die Psychoanalyse steht auch auf dem Standpunkte der 
äußeren Unabhängigkeit, der Spontanität der seelischen Beschaffenheit. 
Die psychoanalytische Forschung führt aber diese Idee der Spontanität 
bis zur Grenze der Möglichkeit konsequent, ohne Einmischung biolo¬ 
gischer Faktoren durch. Die Anerkennung der Existenz des Systems 
Unbewußt und Vorbewußt, die Tendenz der psychischen Motivierung sind 
Anzeichen dieses Standpunktes. 

Der Schlafzustand wird auch in der Psychoanalyse als die Folge 
eines Wunsches beschrieben; der Inhalt dieses Wunsches selbst besitzt 

1) Interessant für das hier behandelte Thema ist, was S. Flemming in 
dem Werkchen: „Willensleben als Erkenntnisweg,“ 1917 — erschienen in der 
von Ludwig Stein herausgegebenen „Bibi, für Philosophie“ — sagt: „...durch 
die sinnlichen Werkzeuge des Leibes wird sie“ (die sinnJiche Welt) „künstlich 
erzeugt als ein Komplex von Sinnesempfindungen, die durch die ,kategoriale‘ 
Tätigkeit des Verstandes konstruktiv verknüpft werden. Ganz gebrechlich ist 
der Einwand aus der Anpassungsfähigkeit der Sinnesorgane an die Bedingungen 
der Realität; hatte doch der Mensch nötig, zu seiner Anpassung Mikroskop und 
Teleskop zu erfinden.“ (Seite 17.) 



Kritiken und Referate. 


171 


ein Doppelantlitz: er enthält eine positive Seite (Wunsch des Vorbe¬ 
wußten, zu schlafen; nach S. Ferenczi, Wunsch nach dem intrau¬ 
terinen Seelenzustandeund eine negative (Wunsch, sich der Realität 
zu entziehen). Der Schlafzustand selbst ist auch hier kein Zustand mit 
Lahmlegung der seelischen Kräfte, er besteht nicht oder nicht nur aus 
Hemmung-en: der Seelenzustand des Schlafenden ist der des primitiven 
Narzißmus und der halluzinatorischen Wunschbefriedigung 2 ). 

Das psychische Leben wird nach der re ud sehen Theorie von Be¬ 
setzungen begleitet. Als „Regulator“ dieser Besetzungen können auch 
Wahrnehmungen dienen s). Das klingt wie Piklers Anpassung an die 
Gelegenheit des Reizes nach unserer obigen Ausdrucks weise. Es 
soll die Mahnung: ,,gerade für das Wahrnehmungssystem werden wir 
eine Anzahl von Erregungsbedingungen annehmen müssen, die von denen 
anderer Systeme abweichend)“, auch darauf hinweisen, daß die Psycho¬ 
analyse, obzwar sie Spontanität und psychische Besetzung anerkennt, 
doch die Wendung Piklers gegen die psychische Wirkung äußerer 
Reize vermeiden konnte. 

Das Wesen der Besetzung selbst, deren Wirkung mit der Pikler- 
schen „Anspannung der Wachsigkeit“ vergleichbar ist, wird psychisch 
gedacht. Die Besetzung wird durch das Paar Libido-Interesse bewirkt, 
erhält demnach die Besetzungsenergie von den Ich- und Libidotrieben. 
Pikier läßt die Reizpforten und die psychischen Residuen besetzen, was 
als ziemlich nahe zur heutigen psychoanalytischen Theorie stehend auf¬ 
gefaßt werden kann. Nach der letzteren wird nämlich erstens das Funk¬ 
tionieren eines gewissen Sinnesapparates selbst, zweitens werden die 
Objekte, das heißt die Wahrnehmungsinhalte und die sich daran knüpfen¬ 
den Komplexe libidinös resp. durch Interesse betont, drittens werden 
die ein^zelnen Systeme Bewußt, Vorbewußt, Unbewußt durch Besetzung 
wirkungsfähig. 

In diesen Vergleichungen ist die psychoanalytische Auffassung dar¬ 
gestellt worden, wie sie sich in der letzten Zeit, allerdings noch vor 
dem Erscheinen des Pikier sehen Buches, kundgibt. Es kann und soll 
aber nicht verschwiegen werden, daß bereits die „Studien über Hysterie“, 
dieser Grundpfeiler unseres analytischen Wissens, die Keime der P i k- 
1er sehen Auffassung enthält 0 ). Nach der hier niedergelegten Theorie 
— von Breuer — besteht während des Wachens eine ,,tonische intra¬ 
zerebrale Erregung“, welche die Leistungsfähigkeit des Gehirns bedingt 
und deren ,,Absinken vmd Schwinden eben den Zustand des Schlafes her¬ 
stellt“. Auch während funktioneller Ruhe besteht im ganzen Leitungs¬ 
netz eine bestimmte Spannung. „Für diese Vorstellung spricht, daß das 
Wachen an sich, auch ohne Arbeitsleistung, ermüdet und Schlafbedürfnis 
erzeugt.“ Es heißt weiter: ,,Doch beweist das spontane Erwachen, welches 
ja auch in voller Ruhe und Finsternis ohne äußere Reize eintritt, daß 

1) S. Ferenczi, „Entwicklungsstufen des Wirklichkeitssinnes“, Intern. 
Zeitschrift für ärztl. Psychoanalyse, 1913; nach Ferenczi ist der erste Schlaf 
des Neugeborenen die halluzinatorische Reproduktion des intrauterinen Zustandes 
mit biologischer Nebenfunktion. 

2) S. Freud: Metapsycholog. Ergänzung zur Traumlehre. Internat. Zeitsclir. 
für ärztliche Psychoanalyse, 1916/18, und Samml. kl. Schiüften, 1918, S. 310. 

3) S. Freud, „Traumdeutung“, 4. Auflage, 1914, S. 477. 

^) S. Freud, sub (2) zitierte Arbeit, S. 354—355, Anmerkung. 

5) Breuer-Freud, „Studien über Hysterie“, 1895. Die zitierten Stellen 
sind auf den Seiten 168—171 aufzufinden. 



172 


Kritiken und Referate. 


die Entwicklung von Energie im Lebensprozesse der Hirnelemente selbst 
begründet ist.“ 

Es ist leicht, in diesen Gedanken den spontanen Wachtrieb wieder¬ 
zufinden, besonders, weim wir der Worte Breuers gedenken, daß die 
physiologischen Begriffe in diesem Zusammenhang nur dann einen Sinn 
haben, wenn wir sie ins Psychologische übersetzen. Der Drang nach Be¬ 
tätigung ist in den „Studien“ Breuer und besonders Ereud, der die 
„Tendenz zur Konstanterhaltung der intrazerebralen Erregung“ bemerkte, 
ebenfalls nicht fremd: „Wenn das wache Gehirn längere Zeit in Ruhe 
verbleibt, ohne durch Funktion Spannkraft in lebendige Energie zu ver¬ 
wandeln, so tritt das Bedürfnis und der Drang nach Betätigung ein.“ 
Dieser Drang bedeutet aber nach Pikier das Wesen der Wachsigkeit. 
Die Anspannung der Wachsigkeit und die Aktivität der Empfindung 
findet ihr Analogon in der folgenden Auffassung: „Wir denken uns 
gewöhnlich die sensiblen und sensorischen Nervenzellen als passive 
Aufnahmsapparate; mit Unrecht .... Sind alle Nervenzellen in einem 
Zustande mittlerer Erregung und erregen ihre nervösen Fortsätze, so 
bildet das ganze ungeheure Netz ein einheitliches Reservoir von ,Nerven¬ 
spannung*.“ 

Neben den behandelten Ähnlichkeiten zwischen der Pikier sehen 
und der psychoanalytischen Auffassung dürfen wir aber die wichtigste 
Verschiedenheit nicht aus dem Auge verlieren: diese ist die Rolle der 
nicht bewußten psychischen Erscheinungen. Pikier kennt kein Un¬ 
bewußtes; er hat, das psychische Leben als Äußerung einer tatsächlichen 
Einheit auffassend, keinen Raum für die Anerkennung und Beschreibung 
unbewußter psychischer Geschehnisse. Es darf die Auffassung des Un¬ 
bewußten in P i k 1 e r s Theorie auch nicht hineingedeutet werden. Die 
Vernachlässigung des Problems des Unbewußten verursacht, daß Pikier 
mit dem einzigen „Wachtriebe** auszukommen glaubt, wo die Psycho¬ 
analyse Wirkungen der Ichtriebe und Libido triebe annehmen muß und 
diese noch dazu sich in mehreren Systemen abspielen läßt. Die Ver¬ 
nachlässigung des Problems des Unbewußten unterscheidet P i k 1 e r s 
Theorie auch von derjenigen des ihm sonst ziemlich nahe stehenden 
W. Stern, der auf dem Grunde jeder „Person** die zielstrebige Selbst¬ 
entfaltung und Selbsterhaltung sieht. 

Dr. Imre Hermann, Budapest. 

Isaak Spielrein, Über schwer zu merkende Zahlen und 

Rechenaufgaben. Ein Beitrag zur angewandten Gedächtnis¬ 
lehre. (Zeitschrift für angewandte Psychologie, Band XIV, 1918, 

Heft 3/4.) 

Die Arbeit von I. Spielrein bietet manches Interessante für den 
Psychoanalytiker. Auf Grund zahlreicher Versuche über das Behalten 
von Zahlen in sechsstelligen Reihen kommt Verfasser zum Schluß, daß 
beim Erinnern von Zahlen ein wesentlicher Unterschied besteht, inso¬ 
fern als rechnerisch schwierigere Zahlen, wie 3, 7, 9 usw., die meisten 
Fehlerinnerungen aufweisen. Das gleiche ergibt sich aus dem von Isaak 
und Jean Spielrein angestellten Assoziationsexperimente. LehiTeich 
ist es, daß die fürs Memorieren schwierigeren Zahlen gleichzeitig mytho¬ 
logisch bedeutsame Zahlen sind. I. S p i e 1 r e i n erwähnt es und hebt 
hervor, daß die Alten den Komplexzahlen (den ,,spröden** Zahlen) eine 
viel größere Bedeutung beigemessen haben als wir; Fischer („Der Ur- 


Kritiken und Referate. 


173 


Sprung des Judentums im Lichte alttestamentarischer Zahlensymbolik“) 
entlehnt er, daß „die jüdischen Gotteenamen und die Namen historischer 
Persönlichkeiten, sofern sie nicht fremden Ursprunges sind, fast immer 
als Zahlen gelesen, die vielfach eine Komplexzahl 7, 13, 17 oder 19 (alles 
affektuell gehemmte Primzahlen) bilden. Es ist Jehova 26 = 2 X13, 
David 14 = 2x7 usw.“ Mit der Vervollkommnung unserer Eechen- 
methoden soll der Unterschied der Schwierigkeit der Zahlen kaum mehr 
empfunden werden und mit Verminderung des Unlusttones soll auch 
die Bedeutsamkeit dieser Zahlen viel geringer erscheinen. „Die Schwie¬ 
rigkeit der Aufgaben und besonders der einzelnen Zahlen ist nichts 
Immanentes, a priori Postuliertes, sondern entwickelt sich im Laufe des 
Rechenunterrichts. Daraus entsteht nämlich für den Rechenlehrer die 
Aufgabe, so zu unterrichten, daß die Hemmungen nicht zur Geltung 
kommen können, oder dort durch Hilfen aufgehoben werden, wo der 
heutige Unterricht keine Hilfen gibt.“ 

Im Original gelesen könnte die Arbeit den irrtümlichen Eindruck 
erwecken, als stünde Verfasser im Gegensatz zu unserer Ansicht: nach 
psychoanalytischen Erfahrungen könnte man zum Schluß gelangen, daß 
manche Zahlen eben infolge ihres stärkeren Gefühlstones, resp. ihrer 
„KomplexWirkung“ rechnerische Schwierigkeiten verursachen, wie z. B. 
die Zahlen 3, 7, 9, 13 usw. Der Gegensatz ist aber nur ein schein¬ 
barer, denn: eine Zahl, welche „infolge unserer Rechenformel“ für bewußte 
Operationen relative Schwierigkeiten bietet — wird deswegen besonders gern 
zu unbewußten Operationen verwendet. Wir kennen es genügend aus dem 
Studium der Dementia praecox und von Mythus und Traumpsychologie, wie 
gern die schwerfaßlichen und verschwommenen Begriffe zu Symbolen für 
unbewußte „Wünsche“ werden. Einmal der Kontrolle des Bewußtseins 
entzogen, werden diese Zahlen, außer daß sie für „unbewußte Zerebration“ 
Verwendung finden, der Bearbeitung nach Freuds Lust-Unlustgesetzen 
unterliegen; es werden durch Verbindungen mit gefühlsbetonten Inhalten 
„Komplexzahlen“ gebildet. Ist diese Zahl einmal „Komplexzahl gewor¬ 
den“, dann übt sie wiederum Wirkungen aus, wie wir sie von „Kom¬ 
plexvorstellungen“ aus kennen: sie wird, leichter vergessen oder gibt 
Anlaß zu Fehlerinnerungen, sie verkürzt oder verlängert die Reaktions¬ 
zeit (im Assoziationsexperiment), resp, ruft eine kleine Stockung im Denk¬ 
akte hervor; wenn sie, umgekehrt, die Reaktionszeit verkürzt, ' so zeigt 
sie Störungen der nachfolgenden Reaktionen resp. des folgenden Denk¬ 
aktes. Die Assoziationsexperimente, welche Jean und Isaak Spiel rein 
ausführten, um die Zahlen auf ihren Gefühlswert zu prüfen, berück¬ 
sichtigen bloß die verlängerte Reaktionszeit und Reproduktion. Die Ex¬ 
perimente sind daher ungeeignet, über den Komplexwert der Zahl zu 
entscheiden. Die rechnerisch schwierige Zahl 7 führt zu noch größerer 
Reaktionszeitverlängerung wie die Zahlen 3 und 9, denen einige Hilfen 
zur Verfügung stehen (I. Spie Ire in); dies schließt nicht aus, daß 
die Zahlen 3 und 9 noch durch andere Störungen (event. Störungen 
der nachfolgenden Reaktion) * ihre Komplexwirkung verraten. Das der 
„kritischen Reaktion“ (Jung) vorausgehende und folgende Reizwort 
bleibt uns gänzlich unbekannt. 

Über die schwierigeren Stellen der Arbeit haben wir uns mit 
I. Spielrein brieflich auseinandergesetzt und sind übereinstimmend 
zum folgenden Ergebnis gekommen: Wesentlich infolge der rechnerischen 
Schwierigkeiten, nicht infolge des a priori anhaftenden Gefühlstones, 



174 


Kritiken und Referate. 


werden einzelne Zahlen zu Symbolen für unsere unbewußte Denk- und 
Fühl weit, sie werden unter anderem zu „gefühlsbetonten Komplexen“, 
welche, wenn wir nach Freud analytisch vergehen, in letzter Linie 
auf ,,infantile Wünsche“ zurückzuführen sind. Diese ,,Komplexqualität“ 
ist es, welche das Memorieren der Zahlen und verschiedene rechnerische 
Aufgaben nachträglich erschwert. Zahlen, welche rechnerischen Ope¬ 
rationen zugänglicher sind (2, 4), kömien auch „komplexanregend“ wir¬ 
ken, aber lange nicht in dem Maße und der Ausdehnung, wie die rechne¬ 
risch schwierigeren Zahlen, welche infolge dieser Eigenschaft mehr der un¬ 
bewußten Verarbeitung anheimfallen. 

S. S p i e 1 r e i n. 

W. Stern, Die Psychologie und der Personalismus. (Zeit¬ 
schrift für PsychoL, 1917, Bd. 78, Heft 1—2, S. 1—54.) 

W. Stern ist einer der führenden modernen Psychologen Deutsch¬ 
lands. Sein Arbeitsfeld bilden ganz besonders die Kinderpsychologie und 
die angewandte Seelenlehre, also Gebiete, welche mit der Psychoanalyse 
zahlreiche Berührungspunkte aufweisen. 

Stern entwickelt in dieser Abhandlung die psychologischen Folgen 
seines philosophischen Standpunktes, des sogenannten „kritischen Perso¬ 
nalismus“. Das Gebiet des Psychischen sowie des Physischen soll in je 
vier Unterabteilungen gegliedert werden. Dort heißen diese Unterabtei¬ 
lungen 1. psychische Phänomene, 2. unbewußte, richtiger über bewußte 
Akte, 3. ebensolche Dispositionen, endlich 4. das Ich; im Gebiete des 
Physischen kennt er 1. physische Phänomene, 2. zielstrebige Tendenzen, 
3. Dispositionen und 4. den Organismus. Organismus und Ich treffen sich 
als psychologisch-neutrale Realitäten im einheitlichen Begriffe der realen 
Person. „Person ist ein solches Existierendes, das trotz der Vielheit der 
Teile eine reale eigenartige und eigenwertige Einheit bildet und trotz der 
Vielheit der Teilfunktionen eine einheitliche zielstrebige Selbsttätigkeit 
vollbringt.“ 

Was das Bewußtsein anbelangt, soll nicht nur gefragt werden, was 
es ist (durch Selbstbeobachtung zu beantworten), sondern auch, was es 
bedeutet, d. h. was dem Bewußtsein zu Grunde liegt. Diese letztere Frage 
wird aber nur mit Hilfe eines außerpsychologischen Telos, eben mit dem 
Begriffe der Person, beantwortbar. Die Bewußtseinserlebnisse müssen, 
um verständlich zu werden, „in ihnen symbolischen Beziehungen 
zu den Zwecken der Persönlichkeit“ erfaßt werden. Bei dieser Fest¬ 
stellung wird in einer Anmerkung auf die Psychoanalyse hingewiesen; 
sie wird aber oberflächlich und einseitig genannt, da ihr keine philoso¬ 
phische Besinnung vorausging und aus der gesamten Struktur der Person 
nur das Sexualgebiet herausgegriffen wurde. 

Nun können wir beruhigt entgegnen, daß die Psychoanalyse, nament¬ 
lich in der Trieblehre, auch ohne philosophische Besinnung zur Würdigung 
des Telos gelangt ist; die zweite Einwendung Sterns gegen die Psycho¬ 
analyse ist eine ständig wiederkehrende, beruhend auf einer ständig wie¬ 
derkehrenden Mißdeutung der Freud sehen Lehren. 

Dr. Hermann. 

Dr. Fr. Pick, Über Sexualstörungen im Kriege. Vortrag, ge¬ 
halten in der Vereinigung Prager Arzte. (D. M. W. 1917.) 

Man wird auf diesen Vortrag aufmerksam, da Dr. Picks Unter¬ 
suchungsergebnisse eine wertvolle Bestätigung der psychoanalytischen Be- 


Kritiken und Referate. 


175 


hauptung über die Hauptrolle der Libidostörung bei den Neurosen und 
speziell auch bei den trauniiatischen liefern. Pick hat durch Befragen 
der Pfleglinge seiner Abteilung — und zwar wie aus dem Bericht zu ent¬ 
nehmen ist, einer gemischten — erfahren, daß unter 100 Kranken 13 über 
hochgradige Störungen der Sexualfunktion — mehrweniger vollständige 
Impotenz, ejaculatio praecox — klagten. Bei der Mehrzahl derselben lag 
Granaterschütterung oder Lawinenverschüttung vor [sechs Kommetions- 
neurosen, eine Rückenmarkserschütterung i), fünf Fälle boten das Bild 
schwerer Neurasthenie ohne Trauma, ein Fall ist hochgradige Anämie 
bei colitis ulcerosa 2)]. 

Die Koinzidenz von Geschlechtsstörung und Neurose ist für den 
Analytiker sehr lehrreich, obwohl Pick nicht mitteilt, ob die oben er¬ 
wähnten 13 Fälle der Gesamtzahl der auf seiner Abteilung befindlichen 
Neurotiker entsprechen; doch können wir es bei einer gemischten Abtei¬ 
lung mit großer Wahrscheinlichkeit annehmen. Jedenfalls beweisen Picks 
Daten, wie es auch Beobachtungen von Abraham, F e r e n c z i Und 
anderen bestätigen, daß die Kriegsneurosen, besonders die traumatischen 
Neurosen, in fast allen Fällen mit Störungen der libido sexualis ein¬ 
hergehen. Hinsichtlich der ,,Neurosen ohne Trauma“ wissen wir, daß im 
Kriege viele Neurosen ohne gröberes mechanisches Trauma entstanden 
sind, die in jeder Richtung das Bild der traumatischen Neurose boten, 
bei welchen die eingehendere Untersuchung wohl immer, wie bei jenen 
essentiellen, eine Verletzung der narzißtischen Ichlibido durch äußere Er¬ 
lebnisse und Umstände als ätiologisch wirksames Moment auffindet, auch 
für die gleichzeitige Stöimng der Sexualfunktion. 

Dagegen macht Pick für die Genese der genannten Störungen ganz 
allgemeine Momente verantwortlich, wie Abschwächung der Sexualität 
überhaupt durch den Krieg, besonders bei Frontsoldaten (wie? Ref.), 
die Abstinenz und das Fehlen der Gelegenheit, Verschlechterung des 
Kräfte- und Ernährungszustandes. Vom letzteren Moment gibt Pick 
selbst an, daß es nicht sehr in Betracht kommt, da die übrigen 87 Kranken 
seiner Abteilung, auch Leute mit sehr i-eduziertem Allgemeinzustaad, 
nach Zehrkrankheiten seien. Abstinenz und Fehlen der Gelegenlieit zur 
Betä-tigung eines Triebes können normalerweise nur zur Verstärkung des¬ 
selben und nicht zum Gegenteil führen. An der Lösung dieses Wider- 
spmehes arbeitet die Psychoanalyse mit erfi’eulich mehr Erfolg, als die 
herkömmliche Neurologie, für welche auch Pick sich genötigt fühlt, 
seinen Opferpfennig abzugeben, indem er behauptet, man könnte noch 
an kleine Herde im Lumbosakralmark mit Läsion des centrum genito- 
spinale denken. Der Psychoanalytiker muß ihm doch mit Anerkennung 
bestätigen, daß er ein wichtiges, für die psychoanalytische Theorie der 
Kriegsneurosen so bedeutendes Symptom nicht außer acht gelassen, viel¬ 
mehr auf dessen Häufigkeit hingewiesen hat. Dr. Pfeifer. 

J. H. Schultz, Die seelische Krankenbehandlung. (Psycho¬ 
therapie.) Ein Grundriß für Fach- und Allgemeinpraxis. (G. Fischer, 

Jena 1919.) 

Das Buch stellt alle Arten der Psychotherapie dar und will den 
Weg zu derselben für die jüngeren Fachkollegen und namentlich für 

1) Nach der gebräuchlichen Terminologie steckt ebenfalls eine traumatische 
Neurose unter diesem Namen. 

2) Nicht angegeben welcher Art. 



176 


Kritiken und Referate. 


die Allgemeinpraxis und die Nachbarfachärzte erleichtern. Die Psycho¬ 
analyse kommt dabei recht schlecht weg, denn der Autor behandelt sie 
mit einer Art verdrossener Ambivalenz. Er nennt Freud „den eigen¬ 
sten und reichsten Geist unter den modernen Psychotherapeuten“; spricht 
von „der genialen einfühlerischen Intuition des Künstlers Freu d“. An¬ 
derseits läßt der Autor aber tieferes Eindringen in da^ Verständnis, 
des Traumes z. B., vermissen, vergreift sich auch an der Symbolik, die 
längst nicht nur mythologisch gestützt ist! Der Kotau vor Jungs 
verwässertem Libidobegriff bringt der Psychoanalyse den Schimpfnamen 
„Sexualpsychoanalyse“. Ihre ,,abstruse Irrfahrt“ führe auch zur Station 
Analerotik. Mangel eigener Erfahrung an tiefergehender Analyse ver¬ 
rät der Autor allenthalben, u. a., da er angibt: „Die schulgerechte 
Psychoanalyse wird in festen Tagesstunden durch Wochen geübt.“ 
Wir wissen sehr genau, daß eine Analyse durch wenige Wochen niemand 
über die möglichen Resultate oder Erfolge aiifklären kann. Es ist klar, 
daß einem so ungeduldigen kurzfristigen „Psychoanalytiker“ wie Schultz 
die Psychokatharsis lieber sein muß, obwohl er zugibt, daß man Kausal¬ 
analysen nur mit großer Vorsicht aus ihr ableiten dürfte. 

Dr. E. H i t s c h m a n n. 

Engelen und Rangette, Neue Forschungswege bei trauma¬ 
tischen Neurosen. (R. Schoetz, Berlin 1919.) 

Die Arbeit ist ein Produkt des Krieges, empfiehlt die Anwendung 
des Assoziationsversuches auf Unfalls neuros en und glaubt Simulation 
und Rentenbegehrung dadurch erweisen zu können. Sie gipfelt in der 
Forderung nach Speziallaboratorien zur Erforschung der traumatischen 
Neurosen. Dr. E. H. 

Dr. med. Placzek, Das Geschlechtsleben der Hysterischen. 

(Marcus und Weber, Bonn 1919.) 

Der gewandte und belesene Autor liefert hier eine medizinische, 
soziologische und forensische Studie, in der er die in der Literatur 
niedergelegten Schilderungen des Geschlechtslebens der Hysterischen, ins¬ 
besondere an bekannten, sensationellen Straffällen wiedergibt. Dr. P1 a- 
c z e k nimmt auch zur psychoanalytischen Neurosenlehre Stellung, die 
er aus den „Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse“ kennt. 
Obwohl seine Kritik noch unter dem autoritativen Einfluß Hellpachs, 
A s c h a f f e n b u r g s, ,K r ä p e 1 i u s u. a. steht, bemüht er sich doch, 
den imposanten Ergebnissen der Freud sehen Untersuchungen Rech¬ 
nung zu tragen und den sexuellen Zusammenhängen der Hysterie Kon¬ 
zessionen zu machen. Wer sich nur erst mit der Psychoanalyse beschäf¬ 
tigt, und mag er anfangs noch so temiDeramentvoll ablehnen, der Ehr¬ 
liche muß sich den empirischen Tatsachen fügen. Allerdings zeigt sich 
beim Autor nirgends die Absicht, selbst zu analysieren. Würde 
er über histologische Befunde sich ein Urteil nur aus der Literatur 
bilden wollen und des Mikroskopes entraten! ? 

Das Hauptinteresse der Darstellung wendet sich nicht der Patho¬ 
genese der Hysterie, den Mechanismen der Symptombildung zu, son¬ 
dern umkreist die sexuellen Antriebe: wie sie sich denn auch für die 
Pseudologia phantastica, den Stehl- und Brandstiftungstrieb Hysterischer, 
den Hexenwahn sowie die Angsthysterie aus der Kasuistik nachweisen 
lassen. Zur ,,geschlechtlichen Unempfindlichkeit“ der Hysterischen fin- 


Kritiken und Referate. 


177 


det der Autor keine richtige Einstellung, zumal ihm die tiefere Kenntnis 
der „Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie“ zu fehlen scheint. Im ganzen 
genommen eine sich um den eigenen und den allgemeinen Fortschritt 
bemühende, fleißige Arbeit, die hoffentlich viele anregen wird, die Psycho¬ 
analyse zu lernen und auszuüben. Dr. E. Hitschmann. 

L. Moll, D ie Maternitätsneurose. 

In der Wiener Gesellschaft der Ärzte (Protokoll vom 23. Jänner 
1920) beschrieb der Vortragende eine Art von Zwangsbefürchtun¬ 
gen von Wöchnerinnen und jungen Müttern um das 
Wohl ihres Neugeborenen. Sie sind ängstlich erregt und un¬ 
sicher bei allen Pflegemaßnahmen und Handgriffen und fürchten un¬ 
nötigerweise, dem Kinde zu schaden. Moll konstatiert, daß die Mutter¬ 
liebe sich erst im Laufe des Wochenbettes, insbesondere im Laufe der 
Laktation entwickelt und alle entgegenstehenden Regungen 
überwindet, die insbesondere bei der ledigen Mutter, aber auch bei Ver¬ 
heirateten aufzuaeigen sind. „Aus dem Vorhandensein der unmotivierten 
Ängstlichkeit, der zwanghaften Charakter tragenden Besorgtheit um das 
kindliche Leben kann man per analogiam mit den neurosenhaften 
Zwangsvorstellungen anderer Art den Schluß ziehen, ob auch hier dem 
Kinde ungünstige Regungen vorhanden waren oder nicht. Die Therapie 
der Maternitätsneurose kann nur in einer fachgemäßen psychotherapeu¬ 
tischen Behandlung bestehen, die von Geduld und vor allem von Ver¬ 
ständnis für die Wurzeln dieser Erscheinungen getragen sein muß. In 
schweren Fällen mag selbst eine suggestive und eine psychoanaly¬ 
tische Behandlung erforderlich sein. Der Kinderarzt, der zum 
Verständnis des Seelenlebens des Kindes ohnehin das erforderliche Maß 
der psychotherapeutischen und psychoanalytischen Keaintnisse sich an¬ 
zueignen bestrebt sein muß, muß ebenso, soll er Erfolge haben, jauch 
die geschilderten, physiologischen und pathologischen Erscheinungen im 
Seelenleben der Mütter zu analysieren und zu behandeln verstehen.“ 

Dr. E. Hitschmann. 

Ulrich Vollrath, Polikliniken für Psychotherapie an den 

Irrenanstalten. (Psychiatr.-neurolog. Wochenschrift, 1919/20, 

Nr. 25/26.) 

Von der Psychogenität ünd psychotherapeutischen Heilbarkeit neu¬ 
rotischer Beschwerden überzeugt, schlägt Vollrath vor, an den Iiren- 
anstalten Polikliniken für ,,Nervenkranke“ zu errichten, in denen das 
Hauptaugenmerk auf die Psychotherapie zu legen wäre. Außer Neuro¬ 
tikern würden sich leichte Psychosen und auch organisch Nervenkranke 
einfinden; auch bei den Letztgenannten sind manche Erscheinungen als 
Überlagerungen psychisch beeinflußbar. Das reichhaltige Material würde 
durch seine belebende Wirkung die Psychiater weniger skeptisch und 
nihilistisch in der Behandlung machen, als sie es bisher sind. Zur 
Schulung dieser Ärzte des Ambulatoriums empfiehlt der Autor insbe¬ 
sondere die Beschäftigung mit der Psychoanalyse. „Die Kriegserfah¬ 
rungen haben der psychoanalytischen Gedankenrichtung in der Neurosen¬ 
psychologie verhältnismäßig schnell Eingang in die Schulneurologie ver¬ 
schafft, immer mehr Begriffe der Psychoanalyse gehen in die Gedanken¬ 
welt auch der sich bisher ablehnend Verhaltenden über, und dieser Pro¬ 
zeß wird sich, da die Erfahningen immer mehr dazu drängen, weiter 

12 


Internat. Zeitsohr. f. Psychoanalyse. VI/2. 


178 


Kritiken und Referate. 


fortsetzen und durchsetzen. Vor allem ist es die jüngere, aufnahme¬ 
fähigere Generation der Psychiater, die hier vorangeht und in den neuen 
Gedankengängen Befriedigung findet.“ Die Ausbildung der Ärzte für die 
poliklinische Neurosenbehandlung soll nach dem Vorschlag V ollraths 
in der ,,Poliklinik für seelische Behandlung nervöser Leiden“ in Berlin 
vor sich gehen, dem ersten psychoanalytischen, eben errichteten In¬ 
stitut. Freud hat ja Modifikationen der Technik der Psychoanalyse 
vorgeschlagen, damit diese Behandlung in weitere Schichten getragen 
werden könne. Die neue psychoanalytische Poliklinik wird den Problemen 
der Neurosen des Volkes besondere Aufmerksamkeit schenken. Es wäre 
sehr zu wünschen, daß die medizinischen Unterrichtsbehörden sich dafür 
interessieren und ähnliche Ambulatorien anderwärts errichten würden. 

Dr. E. Hitschmann. 

C. Baudouin, La psychoanalyse freudienne. L’eco 1 e de Zü¬ 
rich. (La feuille. 26 oct. et 9 nov. 1919.) 

Der. Autor bemüht sich, im ersten Artikel die Freud sehe Lehre 
in großen Zügen darzustellen und seinen französischen Lesern verständ¬ 
lich zu machen. Es geht dabei freilich nicht ohne Vereinfachungen, 
die oft Verfälschungen des Tatbestandes bedeuten, ab. Es geht nicht 
an, die psychoanalytische Methode als „tres simple“ zu bezeichnen. 
Baudouin erklärt das Betonen des sexuellen Moments in der Psycho¬ 
analyse als die paradoxe Seite der Lehre; seine Verteidigung der auf 
die Sexualität bezüglichen Annahmen der Psychoanalyse können wir 
nicht akzeptieren: das Paradoxe liegt seiner Meinung nach in der Aus¬ 
drucksweise Freuds; die Bezeichnung Sexualität nehme in dessen 
Lehre einen so weiten Umfang an, daß sie endlich mit dem der 
„energie instinctive, d’intlret ou d’elan vital“ Zusammenfalle. Die wie¬ 
derholten und entschiedenen Äußerungen Freuds über Geltung und 
Begrenzung seines Sexualitätsbegriffes zeigen, daß diese Auffassung nicht 
die der Psychoanalyse genannt werden darf. Der zweite Artikel geht 
von dem Punkt aus, der vom Autor als „le plus contestable et conteste“ 
der Lehre bezeichnet wird. Die Adler sehe Lehre scheint ihm von der 
Freud sehen Libidotheorie nicht radikal verschieden zu sein: es handle 
sich um zwei Interpretationen derselben Tatsachen. Mit der J u n g- 
schen Lehre sei eine neue Periode der Psychoanalyse zu verzeichnen. 
Nachdem. Baudouin die Hauptzüge, durch welche sich die Ju ng- 
sche Theorie von der Freuds unterscheidet — „unser Unbewußtes ist 
intelligent, manchmal intelligenter als wir“, behauptet er in Verfolgung 
der finalen Lehre —, breit dargestellt hat, kann er doch nicht umhin, 
zu bemerken, daß in der von der Züricher Schule angeblich errungenen 
Erweiterung des Horizontes auch eine Gefalir liege. Die Gefahr be¬ 
stehe nämlich darin, daß die neuen Hypothesen wie etwa die von der 
Klugheit des Unbewußten zu den extravagantesten mystischen Romanen 
führen können. R e i k. 

Dr. med. A. Kielholz, Jakob Böhme, Ein pathographischer Beitrag 

zur Psychologie der Mystik. (Schriften zur angewandten Seelenkunde, 

Heft 17, Deuticke 1919.) 

Der 1575 in der Nähe von Görlitz geborene Schuhmacher Jakob 
Böhme erweckt zunächst das psychologische Interesse durch das un¬ 
gewöhnliche Auftreten von tiefsinnigen philosophischen Spekulationen bei 


Kritiken und Referate. 


179 


einem wenig gebildeten Handwerker. Die Wandlung des fleißigen Meisters 
und Damilienvaters in einen tbeosophisch-mystischen Schriftsteller, der 
Haus und Handwerk auffällig vernachlässigt, so daß er von seinen Mit¬ 
bürgern als verwirrter Enthusiast und Phantast beurteilt wird, der sich 
als von Gott inspirierter Prophet berufen fühlt, die verschiedenen Kirchen 
als Reformator zu einigen und den nahen Weltuntergang zu verkündigen, 
gibt wohl das Recht, bei ihm einen pathologischen Prozeß zu vermuten. 

An diesem öfters als selbst erlebt beschriebenen Prozeß lassen sich 
drei Phasen unterscheiden: eine depressive, durch Selbst vor würfe vor¬ 
wiegend sexueller Natur, durch Todesängste, Traurigkeit und Furcht cha¬ 
rakterisierte; eine Übergangsphase, die sich durch gänzliche Abwendung 
von der Außenwelt und durch Versenkung in die Tiefen der eigenen Per¬ 
sönlichkeit kennzeichnet, und durch eine euphorische Phase mit abnormen 
visuellen Sensationen und einem ausgesprochenen Glücksgefühl, das meist 
mit erotischen Symbolen geschildert wird. Als eigentlich mystisches Er¬ 
lebnis tritt in den Mittelpunkt des Prozesses die göttliche Beschaulichkeit, 
der Blick ins Zentrum der Natur. 

Den drei Phasen entsprechend hat der Mystiker das ganze Welt¬ 
geschehen auf drei Prinzipien zurückgeführt. 

Die Schilderung des Centrum naturae -selbst mit seinen sieben Quell¬ 
geistern läßt eine dreifache Deutung zu: 

1. Das Centrum naturae bildet eine Zusammenfassung und Projektion 
seiner psychischen Erlebnisse in die Schöpfung. 

2 . Es stellt die ganze Schöpfung im Bilde des Geschlechtsaktes dar. 

3. Es weist durch seine Häufung visionärer Elemente auf den Ursprung 
von Böhmes Werk hin, das als eine Sublimation infantilen Schautriebes 
aufzufassen ist. 

Das psychoanalytische Verständnis des Centrum naturae erleichtert 
auch die Auffassung anderer für Böhme eigentümlicher Personifikationen 
und Modifikationen biblischer und legendärer Vorgänge: 

Die Jungfrau Sophia bildet den mütterlichen Teil der Gottheit, der 
notwendig ist, um die Schöpfung als sexuellen Akt begreiflich zu machen. 

Sowohl die Unio mystica des Sehers, die mit einer Hochzeit ver¬ 
glichen wird, als der Abfall Luzifers, d. h. die Entstehung des Bösen, 
als auch der Sündenfall Adams erscheinen gleichmäßig als herbeige¬ 
wünschter Inzest mit der Mutter, der in ambivalenter Weise einmal passiv 
erlebt als höchstes Gut, dann aber aktiv begelirt als größtes Übel ge¬ 
wertet wird. 

Der Wiedererweckung der infantilen Inzestwünsche entspricht eine 
Ablehnung der natürlichen Sexualität überhaupt und der- Ehe im be¬ 
sonderen, die nicht nur in der Lehre, sondern auch im Leben des Mystikers 
zum Ausdruck gelangt. 

Die Idealgestalt des androgynen Adams vor dem Falle mit seinen 
übernatürlichen Kräften erweist sich als Produkt einer Rückkehr zu Phan¬ 
tasien der Kindheit, die sich über die Rolle der Geschlechter noch keine 
Klarheit verschaffen konnte. 

Zur Identifikation mit Christus gelangt der Seher in dem Bewußt¬ 
sein, wie dieser über seine sexuellen Begierden Herr geworden zu sein, 
wie dieser und seine prophetischen Vorgänger und Jünger niedriger Ab¬ 
kunft der ,,Schafhirtenlinie“ anzugehören und Verfolgung und Schmach 
erlitten zu haben. 



180 


Kritiken und Referate. 


Aus dieser Identifikation leitet er seine seherischen und prophe¬ 
tischen Fähigkeiten ab und hält sich für den berufenen Verkünder des 
jüngsten Tages. 

Zu diesen Fähigkeiten gehört auch das Verständnis der Natursprache, 
welche als Ausdruck einer besonderen lebenserhaltenden und schöpferi¬ 
schen Kraft unverkennbar sexuelle Bedeutung hat und mit ihren sonder¬ 
baren Wort Zerlegungen auf den Ursprung aus Spielereien der Kinder-^ 
spräche hinweist. 

Es sind zur Analyse gerade die Bestandteile des mystischen Systems 
herangez^ogen worden, deren Spezifität und Wichtigkeit zwar von den 
früheren Auslegern Böhmes anerkannt, deren Deutung aber versäumt 
wurde. Um diese zu gewinnen, haben pathologische Prozesse ähnlicher 
Natur, deren Erklärung die moderne Psychiatrie versuchte, Parallelen 
geboten. 

Der Einfluß Böhmes auf den Kreis seiner persönlichen Anhänger, 
seine Stellung in der Kirchengeschichte und in der Philosophie besonders 
des romantischen Zeitalters beweisen, daß seine Mystik neben unzweifel¬ 
haft lebenshemmenden und auf gefährliche Abwege führenden Bestand¬ 
teilen auch positive, beachtenswerte Züge enthält. 

Den Hauptfaktor in dem Werke Böhmes wie in der Mystik über¬ 
haupt bildet der aus dem infantilen Schautrieb stammende sublimierte 
Drang nach Einsicht und Erkenntnis, und seine Ergebnisse verdienen als 
die wertvollsten am meisten Beachtung und rechtfertigen vor allem jene 
bekannte Behauptung, daß die deutsche Mystik zu den größten originalen 
Taten unseres Volkes gehört. Autoreferat. 

Hans Blüh er, Die Kolle der Erotik in der männlichen Ge¬ 
sellschaft. (Verlag Eugen Diederichs, Jena 1917/19. 1. Band 

248 Seiten. II. Band 224 Seiten.) 

Dies-es umfangreiche und von einem polemischen Geist getragene 
Werk des Verfassers über die „Wandervogelbewegung“ in Deutschland (den 
Lesern dieser Zeitschrift nicht unbekaaxnt) dürfte der erste Ijemerkens- 
werte Versuch sein, die Anschauungen Freuds zur Grundlage einer 
neuen Gesiellschaftslehre zu machen. Und sollte die zunftmäßige Soziologie 
vorläufig auch keine Kenntnis von der Arbeit B 1 ü h e r s nehmen wollen, 
so ist es dem Psychoanalytiker um so mehr ein willkommener Anlaß, die 
ihm vertraut gewordene Denkweise in der vorliegenden Schrift wieder¬ 
zuerkennen und in ihrer prinzipiellen Anwendung auf ein neues For¬ 
schungsgebiet zu überprüfen. 

Derselbe fiüsche, ja draufgängerische Ton, in welchem die kleine 
Arbeit über ,:Die deutsche Wandervogelbewegung als erotisches Phäno¬ 
men“ gehalten ist, durchzieht auch die neueste Studie Blühers. Hier 
wie dort ist der Kern eine in ihrer Bedeutung richtig erkannte und 
bündig ausgesprochene Tatsache: daß die Homosexualität als treibende 
Kraft diverser gesellschaftlicher Erscheinungen aufgefaßt werden muß. 
Im großen und ganzen hat sich der Verfasser diesmal nur wiederholt und 
wahrscheinlich unter dem Stachel des Widerspruchs, den seine erste Ar¬ 
beit erweckt hat, seine T]iese mit einem reichlicheren Material zu stützen 
gesucht. Die Kritik hat sich mit diesen Materialien und den daran ge¬ 
knüpften theoretischen Erwägungen zu befassen. Gewisse Eigenheiten 
des Werkes erklären sich ohne weiteres durch den Umstand, daß es wie 

die Schrift über die Wandervogelbewegung gleichsam als Aktualität ver- 

* 


Kritiken und Referate. 


181 


faßt wurde, — übrigens zum Schaxien seines wissenschaftliclien Wertes. 
Es ist, wie wir schon bemerkt haben, mehr Streitschrift als objektive Er¬ 
kenntnis. , 

Der Grundgedanke bei Blüher ist also, daß die Psychologie der 
Masse mit dem Problem der Homosexualität gelöst werden muß. Er 
nimmt zwei Urprinzipien an, <iie das Zustandekommen jeder Gemeinschaft, 
der primitiven ebenso wie der kultivierten, gewg,hrleisten: die Familie 
und die sogenannte männliche Gesellschaft. Der letzteren, die 
er ein „vollkommen verschwiegenes Gebilde“ nennt, möchte er Jiun Richter 
und Anwalt zugleich sein. Es leuchtet jedem geschulten Psychoanalytiker 
ohne weiteres ein, daß in den Massenbewegungen tatsächlich die einge¬ 
dämmte und verdrängte Homosexualität der Menschheit zur Lösung beson¬ 
derer Aufgaben frei wird, — auf welche Art, das natürlich ist bislang des 
näheren nicht zur Diskussion gestellt worden. Wenn wir die klassisch 
vorsichtige und am Tatsächlichen haftende Arbeitsweise von Freud in 
Betracht ziehen, ist dies leicht erklärlich. Wer die Analyse als klinische 
Wissenschaft betreibt, wird sich bei solchen Fragen mit einem scharf 
umgrenzten Hinweis, einer Notiz, begnügen. Blüh er hat nun versucht, 
der ganzen Frage eine breitere Basis zu geben, indem er eine bestimmte 
Art von Menschen annahm, die berufen wäre, die männliche Gesellschaft 
zu konstituieren. Er nennt diese Männerart den Typus inversus, und 
indem er dessen Psychologie (Analyse läßt sich nicht gut sagen) zum 
Mittelpunkt seiner Untersuchungen im ersten Bande macht, muß er 
weit ausholend auch zu allgemeineren Vorfragen, wie wissenschaftliche 
Sexuologie, sexuelle Charaktere u. dgl. m. Stellung nehmen. In diesen 
Ausführungen, die sehr viel kluge und treffende Bemerkungen eines ge¬ 
borenen Psychologen enthalten, und hier nur summarisch erwähnt werden 
können, sind die Anschauungen Freuds oft treffend, oft aber willkürlich 
zur Anwendung gebracht. Um gerecht zu werden, müßte man im einzelnen 
den Versuch des Nachweises anstellen und sehen, wo Blüher richtig 
und wo er in die Irre gegangen ist. Wichtig scheint es uns, die zentrale 
Behauptung des Werkes, das Hinstellen des Typus inversus, genauer 
ins Auge zu fassen. Hier zeigt sich der trennende Unterschied zwischen 
Blüher, dem von Freud angeregten Sozialpsychologen, und den eigent¬ 
lichen‘Schülern Freuds, die in ihm vor allem den klinischen Lehrer er¬ 
blicken. Für die letzteren ist das Problem der Homosexualität keineswegs 
so weit gelöst, wie es Blüher zur Unterstützung seiner Gedankengänge 
haben möchte. Auch hat man beim Lesen seiner Arbeit nicht die Empfin¬ 
dung, daß er alle Teilergebnisse der Psychoanalyse, die sich auf die Frage 
der Homosexualität beziehen, „durchaus studiert“ hätte. In vielem sind 
unsere Erkenntnisse über die seinen hinaus, in anderem geht er, ohne 
Bezug auf eindringliche Einzelerfahrung, zu Verallgemeinerungen 
über, die wohl erst nachgeprüft werden müßten. Heute fassen wir die 
in Symptomen sich äußernde Homosexualität, die latente wie die manifeste, 
als Neurose auf, nehmen jed,och reine Fälle von Effemination 
an, bei deren Beurteilung wir jedoch mehr biologische, als psychologi¬ 
sche Gesichtspunkte ins Treffen führen (Funktionsänderung der endo¬ 
krinen Drüsen etc.). In jeder klinisch durchgeführten Psychoanalyse wird 
man das feinere Gleichgewichtsspiel der homo- und heterosexuellen Trieb¬ 
regungen der Einzelseele genau verfolgen können, doch sind imsere Erfah¬ 
rungen hierüber keineswegs so weit gediehen, daß wir über Allgemeinheiten 
hinaus näheres zur Frage aussagen könnten. Immerhin hat man die 


182 


Kritiken und Referate. 


Empfindung, daß die homosexuellen Triebregungen sehr variabler Natur 
sind und jenen Teil der Sexualvorgänge ausmachen, die zunächst einer 
Sublimierung zugänglich sind. Indem sie starke Zuschüsse an die narzi߬ 
tischen Triebe abgeben, können sie weitgehende Veränderungen im in¬ 
dividuellen Ich hervorrufen. Ihi’e Bewältigung ist abhängig von den jewei¬ 
ligen Erlebnissen des Individuums (das „ökonomische Prinzip“ Freuds) 
und aus dem Verhältnis ^er sublimierten und verdrängten Homosexualität 
ergibt sich das Motiv des eventuellen Krankheitsanlasses. 

Die generelle Bedeutung der Homosexualität aber, die wir erkannt 
haben, läßt die Amiahme eines Typus in versus im Sinne von Blüh er 
nicht zu. Sie ist eine Kons<truktion oder Abstraktion, die der Verfasser 
eher vermeiden hätte sollen, allein schon in Hinblick auf die Gegner, 
die seinem Werke notgedrungen erstehen werden. 

Viel überzeugender wirkt Blüh er im zweiten Bande seines Werkes, 
der zur einen Hälfte in ausführlicher Weise das Problem der Frau und 
der Familie belrandelt Und anschließend daran eine sehr anschauliche Dar¬ 
stellung der Männerbünde gibt, in welchen sich das geschichtliche Wesen 
seiner ,,männlichen Gesellschaft“ manifestiert. Die erste Hälfte ist eine 
soziologische Studie für sich, in welcher auch allgemeinere Fragen, wie 
die Frauenbewegung und Prostitution, erörtert werden. Der Psychoanaly¬ 
tiker wird diese mit Nutzen lesen können. In dem Abschnitt über die 
„Männerbünde“ haben wir dann die eigentliche Leistung des B1 ü h e r- 
schen Werkes zu erkennen. Auch hier ist seine Darstellungsweise nicht 
einheitlich genug; ethnologische und geschichtliche Kapitel wechseln mit 
der Beschreibung zeitgemäßer Erscheinungen in Deutschland ab. Der 
führende Gesichtspunkt ist wohl in der Deskription eingehalten, doch 
fehlt auch hier die objektiv wissenschaftliche Durchdringung des Stoffes. 
Nichtsdestoweniger halten wir die ins Detail gehenden Hinweise auf solche 
Gruppenerscheinungen, in welchen die Homosexualität eine führende Rolle 
spielt, für sehr verdienstvoll (Freimaurertum, militärische Kameraderien, 
Parallelen aus dem primitiven Völkerleben usw,). Über die feinere Rollen¬ 
verteilung der Homosexualität im sozialen Leben gibt B 1 ü h e r außerdem 
noch lesenswerte Aufschlüsse in den Erörterungen über die Heldenver¬ 
ehrung, das Wesen der tragischen Dichtung und überhaupt bei Erörterung 
allgemeiner ästhetischer und kultureller Probleme. Er macht die Uneben¬ 
heiten im Aufbau seines Werkes wett, durch die zahlreichen Anregungen, 
die er dem aufmerksamen Leser im einzelnen zu geben versteht. 

Dr. M. J. Eisler. 

Prof. E. Landau, Naturwissenschaft und Lebensauffas¬ 
sung. Sozial-anthropologische Betrachtungen. (Ernst Birchers Ver¬ 
lag, Bern 1919. 106 Seiten.) 

Eine naturwissenschaftlich orientierte Ethik, mit besonderer Rück¬ 
sicht auf die Eugenik, „die Lehre vom Wohlgeborenen“. Einzelne Stellen 
des Büchleins nehmen auch auf die Psychoanalyse Bezug; allerdings kennt 
sie der Verfasser nur aus einer Publikation Jungs, dem er auch einige 
Freud sehe Thesen zuschreibt. (So u. a. die Anschauung, wonach der 
Mensch im Unbewußten immer noch primitiv ist, die übrigens von Jung 
unseres Wissens nicht mehr anerkannt wird.) Hervorzuheben ist eine 
sicher fruchtbare Anregung des Autors: ,,Es wäre hochinteressant,“ — 
schreibt er auf Seite 22 — ,,im Lichte rein biologischer und nicht ten¬ 
denziöser Forschung eine vergleichende Psychoanalyse der 


Kritiken und Referate. 


183 


primitiven Rassen einerseits und der modernen ,Kultur- 
völker‘ anderseits anzus teilen.“ Wenig Erfolg verspricht hin¬ 
gegen sein Plan ,,den Sinn und den Wert des menschlichen Daseins rein 
biologisch zu bestimmen“. (S. 31.) Die kurze Skizze wenigstens, in der 
er dies Unmögliche versucht, zeigt nur für den Optimismus und die 
ethische Denkart des Verfassers selbst, der im Gegensatz zum Kampf 
aller gegen alle, in der Natur mit Vorlieibe bei den Vorgängen verweilt, 
die von „gegenseitiger Hilfe“ der Lebewesen Zeugenschaft ablegen sollen 
(die aber in Wirklichkeit meist nur wohlorganisierte Egoismen, Symbiosen, 
Parasitismen usw. sind — Ref.). Der Verfasser ist übrigens einer der 
wenigen Soziologen, die nicht nur den Egoismus, sondern den anderen 
großen Trieb, die Liebe (Libido) als Faktor in der menschlichen Ge¬ 
meinschaftsentwicklung in Betracht ziehen; nur ist sein soziales Zu¬ 
kunftsprogramm unserer Ansicht nach etwas utopistisch. Schade, daß 
der Verfasser die sozialgeschichtlich bahnbreehenden Sätze aus Freuds 
,,Totem und Tabu“ nicht berücksichtigt, obzwar er sonst gern zitiert. 
Alles in allem ist es die Arbeit eines Menschenfreundes, der sich vor 
keiner Erkenntnisquelle verschließt, die „die Lehre vom Wohlgeborenen“ 
fördern könnte. S. Ferenczi (Budapest). 

Dr. Hans Straßer, o. ö. Professor der Anatomie an der Universität Bern. 

Fragen der Entwicklungsmechanik. Die Vererbung er¬ 
worbener Eigenschaften. (Emst Birchers Verlag, Bern 1920. 158 S.) 

Seitdem die Psychoanalyse Anspmch darauf macht, daß ihre Er- 
fahmngssätze auch von der Entwicklungslehre berücksichtigt werden, hat 
sie die Pflicht, ihr Interesse auch den großen Problemen der Evolution 
zuzuwenden. Im großen Kampfe zwischen Darwinismus (Auslese) und 
Lamarckismus (Anpassung) mußte sich die Psychoanalyse für letztere 
entscheiden; immerhin wird der Analytiker die scharfsinnigen Beweis¬ 
führungen dieses eifrigen Gegners des Lamarckismus mit viel Nutzen 
lesen, weil er, trotz seiner ausgesprochenen Sympathie für W eismann, 
objektiv genug ist, die Möglichkeit der Vererbung erworbener Eigenschaf¬ 
ten, ja für gewisse, wenn auch seltenere Fälle, auch die der adaptativen 
Transformation zuzugeben. S. Ferenczi (Budapest). 



Zur psychoanalytischen Bewegung. 

Prof. Dr. Frost liest an der Universität Bonn im Sommersemester 
über ,,Kritische Darstellung der Psychologie der Psychoanalytiker^*. 

Am 27. April 1920 hielt Prof. M. Maurice N e e s e r seine theologische 
Antrittsvorlesung an der Universität Neuchätel über: jjDie Prinzipien 
der Religionspsychologie und die Psychoanalyse.** 

Dr. Oskar Pfister sprach am 5. Juni im Lehrerkapitel Winter¬ 
thur über 5 ,Die Psychoanalyse im Dienste der pädagogischen Beratung 
und Heilung**. 

In der Generalversammlung der Societe Alfred Binet sprach (am 
18. Dezember 1919) Dr. Jean Piaget über „La psychanalyse dans ses 
rapports avec la psychologie de Penfant.** (Abgedr. in Bulletin Kr. 131—133, 
Librairie Alcan, Paris.) 

Am 22. November 1919 verteidigte an der Universität Berlin Herr 
Pfarrer Ernst Jahn zur Erlangung der theologischen Lizentiaten würde 
die Thesen: (XII) „Die Kenntnis der Psychanalyse ist eine unentbehrliche 
Voraussetzung der Irren- und Krankenseelsorge**; (XIII) „Die Psych¬ 
analyse vermag nur die individuell-psychische Schale, nicht aber den 
ethisch-metaphysischen Gehalt des religiösen Erlebens zu verdeutlichen**. 

Honorio F. Delgado bringt in der von ihm redigierten ,,Revista 
de Psiquiatra** (Nr. 3 des II. Jahrganges, Enero 1920) an erster Stelle 
einen Artikel ,,Sigmund Freud y el movimiento psicoanalitico** mit dem 
neuesten Bilde von Professor Freud. Ferner einen Artikel: Significado 
genetico-prospectivo de la esperiencia infantil. 

Vom selben Autor erschien das Buch: El Psicoanalisis (Lima, 
Libreria Sanmarti & Co.) mit nachstehendem Inhalt: Einleitung; I. Da,s 
Unbewußte; II. Mechanismus der funktionellen Neurosen und Psychosen; 
III, Technik der psa. Behandlung; IV. Kritiken und Modifikationen der 
psa. Lehren; V. Deutung und Psychodynamik; Schluß. 

Ferner: La psicologia de la Locura. Madrid 1919. 

A. Austregesilo: A sesualita e as psyconeurosis (Archivos 
Brasileiros de Medicina, X, 2). 

„The Dream Problem** von dem indischen Forscher Ramnarayan 
nimmt Bezug auf Freuds Traumdeutung (Delhi 1920). 

Die bisher einzige Erwähnung der Psychoanalyse in der neugriechi¬ 
schen Literatur bringt ein Separatabdruck aus einer pädagogischen Zeit¬ 
schrift (1915) über den Ursprung der Sprache und die Freud- 
sche Psychologie (Athen 1916) von Triantaphyllidios. 



Korrespondenzblatt 

der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung. 

Nr. 2. 1920. 


1 . 

Berichte der anglo-amerihanischen Zweigvereinigungen. 

1. British Psycho-Analytical Society. 

Gründung. 

Die British Psycho-Analytical Society wurde am 20. Pebmar 1919 
in' einer Zusammenkunft hei Dr. Emest Jones, 69 Portland Court, 
London' W 1, gegründet, zu weicherer Dr. Douglas Bryan, Dr. De- 
vine» Mr. J. C. Flügel, Dr. D. Forsyth, Mr. Eric Hiller, 
Miß Barbara Low, Dr. Stanford Read und Dr. W, H. B. Stod- 
dart einigeladen hatte. Alle Geladenen, mit Ausnahme von Mr. 
Flügel, waren' erschienen. 

Dr. Jones setzte den Anwesenden die Zwecke der Zusammen¬ 
kunft ausieinander. Er führte alis, daß sich vor etwa zwei Jahren 
unter seiner Präsidentschaft eine Vereinigung, die „London Psyeho- 
Analytioal-Society“, gebildet hatte. Dadurch aber, daß einige von 
ihren Mitgliedern Ansichten angenommen hätten, die in direktem 
,"Widerspruch mit den Grundlehren der Psychoanalyse stünden, wären 
die 'Absichten dieser Vereinigung zu nichte gemacht worden. Da sich 
nun' ünter den Anwesenden eine Reihe von Mitgliedern der „London 
Psycho-Analytidal Society“ befanden, beschloß man, dem Sekretär 
dieser Vereinigung folgende Resolution zugehen zu lassen: „Eine An¬ 
zahl von Mitgliedern der ,London Psycho-Analytical Society* schlägt 
— das Einverständnis der übrigen Mitglieder vorausgesetzt — die 
Auflösung dieser Vereinigung vor.** 

Daraufhin' wurde die Gründung einer „British Psycho-Analytical 
Society** als Zweigvereinigung der Internationalen Psychoanalyti¬ 
schen Vereinigung beschlossen und ein Ausschuß gewählt. 




Igß Korrespondenzblatt der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung. 


Es wurde beschlossen, daß die Anzahl der Mitglieder beschränkt 
sein' und vorläufig aus den Anwesenden mit Mr. Flügel bestehen 
sollte. Doch Sollte es der Plenarversammlung jederzeit Vorbehalten 
bleiben, die Mitgliederzahl zu erhöhen. Neue Mitglieder sollten 
künftig vom Komitee vorgeschlagen und von der Plenarversammlung 
in geheimer Abstimmung gewählt werden. 

Es wurde ferner beschlossen, außerordentliche Mitglieder der 
Vereinigung auf Vorschlag des Komitees für die Dauer eines Jahres 
zuzulassten. Diese sollten alle Bechte von Mitgliedern genießen, mit 
Ausnahme des Stimmrechtes in den geschäftlichen Angelegenheiten 
der Vereinigung. 

Der jährliche Mitgliedsbeitrag wurde mit zwei Guineas festge¬ 
setzt. In diesem Betrage sind das Abonnement auf die offizielle Zeit¬ 
schrift und der Beitrag für die' Internationale Psychoanalytische 
Vereinigung inbegriffen. 

In späteren Zusammenkünften wurde noch die Gründung einer 
Vereinsbibliothek beschlossen und das Ehrenamt eines Bibliothekars 
Mr. Eric Hiller übertragen. 

Wissenschaftliche Vorträge. 

Die Vereinigung ist bisher zu zehn Sitzungen zusammengetreten. 

In der Sitzung vom 10. April 1919 teilte Mr. Flügel eine psycho¬ 
analytische Studie über Heinrich VIII. mit. 

Am 15. Mai 1919 hielt Dr. Forsyth einen Vortrag über ,,Die Psycho¬ 
logie des neugeborenen Kindes“. Die Diskussion über diese interessante Arbeit 
dehnte sich auch auf die nächste Zusammenkunft 

am 12. Juni 1919 aus. In dieser Sitzung eröffnete Miß Barbara Low eine 
Diskussion über die Art der Notierung und Berichterstattung von psychoanaly¬ 
tischen Fällen. 

In der Sitzung am 10. Juli 1919 verlas Dr. Douglas Bryän eine Übersetzung 
der Arbeit von Dr. Karl Abraham über ,,Ejaculatio Praecox“; daran schloß 
sich eine Diskussion über dieses Thema. 

Am 6. November 1919 eröffnete Dr. Bryan eine Diskussion über „Platz¬ 
angst“ und verlas eine Übersetzung der Mitteilungen Dr. Karl Abrahams zu 
diesem Thema. 

Am 11. Dezember 1919 konnte die Vereinigung Dr. Otto Bank aus Wien 
als Gast in ihrer Sitzung begrüßen. 

Die letzten vier Sitzungen, am 11. Dezember 1919 und am 15. Jänner, 
11. Februar und 11. März 1920, wurden von allgemeinen Diskussionen über ver¬ 
schiedene von Mitgliedern vorgebrachte' Themen ausgefüllt. Darunter: 

Prinzipielle Bemerkungen über die Verdrängung von Gefühlserregungen 
während der Analyse; 

Einige Bemerkungen über einen Fall von Masochismus und Homosexualität; 

Über ärztliche Diskretion und einige ethische Gesichtspunkte der Psycho¬ 
analyse ; 

Etwaige Unterschiede zwischen Zwangsbefürchtungen und Phobien; 

Soll man Künstler analysieren? 

Außerdem wurden eine Keihe von kasuistischen Mitteilungen gemacht und 
technische Fragen erörtert. 

Geschäftliche Besprechungen. 

In den Sitzungen am 10. April und 10. Juli 1919 legte Dr. Ernest Jones 
der Vereinigung verschiedene Vorschläge für die Gründung einer psychoanalyti¬ 
schen Zeitschrift in englischer Sprache vor. Er berichtete, daß der Internatio- 


Korrespondenzblatt der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung. 187 


nale Psyclioanalytische Verlag nicht abgeneigt sei, an die Veröffentlichung einer 
solchen Zeitschrift in Verbindung mit der offiziellen Zeitschrift heranzutreten, 
vorausgesetzt, daß ihm von England und Amerika aus genügende finanzielle 
Unterstützung geleistet würde. Ein von den Doktoren Buyan, Forsyth, Ernest 
Jones, Stoddart und Vaughan Sawyer unterzeichnetes Kundschreiben, das zu 
solcher Unterstützung aufforderte, wurde der Vereinigung vorgelegt und die 
Äußerungen der Mitglieder angehört. — In der Sitzung am 6. November berich¬ 
tete Dr. Jones über seinen Besuch in der Schweiz und in Wien. Die Funktio¬ 
näre der Internationalen Vereinigung, Dr. Ferenczi und von Freund, hatten 
nach einer Beratung mit den Präsidenten der Zweigvereinigungen den Beschluß 
gefaßt, ein offizielles Organ der Vereinigung in englischer Sprache herauszu¬ 
geben und die Leiter des Internationalen Verlages hatten sich bereit erkläi't, 
es in derselben Weise wie die Zeitschrift unter Herausgeberschaft Professor 
Freuds zu publizieren. Dr. Ernest Jones war ersucht worden, die Redaktion 
der neuen Zeitschrift provisorisch bis zum Zusammentritt des nächsten Kon¬ 
gresses (im September 1920) zu übernehmen. 

Mitglieder. 

Major Owen Berkeley-Hi 11, I. M. S., European Hospital, Ranchi, India. 

Dr. Douglas Bryan (Schriftführer), 72, Wimpole Street, London, W. 1. 

Mr. Cyrilein Burt, 1, Park Villas, Highgate, London, N. 6. 

Dr. H. Devin e, Corporation Mental Hospital, Portsmouth. 

Mr. J. C. Flügel, 11, Albert Road, RegenPs Park, London, N. W. 1. 

Dr. D. Forsyth, 74, Wimpole Street, London, W. 1. 

Mr. Eric H i 11 e r, 7, Mecklenburgh Street, London, W. C. 1. 

Dr. Ernest Jones (Präsident), 111, Harley Street, London, W. 1. 

Miß Barbara Low, 13, Guilford Street, Russell Square, London, W. C. 1. 

Dr. William Mackenzie, Piazza Meridiana, Genoa. 

Dr. Stanford Read, Fisher ton House, Salisbury. 

Dr. R. M. Riggall, Wimpole Street, London, W. 1. 

Mrs. Ri viere, 10, Nottingham Terrace, London, N. W. 1. 

Dr. Vaughan Sawyer: 131, Harley Street, London, W. 1. 

Colonel Sutherland, I. M. S., United Service Club, Calcutta. 

Dr. W. H. B. Stoddart (Kassier), Harcourt House, Cavendish Square, Lon¬ 
don, W. 1. 


Außerordentliche IMitglieder. 

Mr. P. B. Ballard, M. A., Divisional Office, Peckham Road, London, S. E. 
Dr. B r e n d, 14, Bolinbroke Grove, Wandsworth Common, London, S. W. 

Dr. Estelle Maud Cole, 30 New Cavendish St., London, W. 1. 

Dr. Davis on, Special Medical Board, 78, Lancaster Gate, London, W. 2. 
Dr. Bernard Hart, 81, Wimpole Street, London, W. 1. 

Dr. W. J. Jago, 63, Park Hill, Clapham, London, S. W. 

Dr. Norman Lavers, Bailbrook House, Bath. 

Dr. T. W. Mitchell, Hadlow, near Tonbridge, Kent. 

Professor Percy N u n n, D. Sc., Training College, Southampton Row, London. 
Mrs. Porter, 28, Ashburn Place, London, S. W. 7. 

Dr. W. H. R. Rivers, St. Johns College, Cambridge. 

Major R. B. Ryan, 4, Milverton Street, Moonee Ponds, Melbourne, Australia 
Dr. Maurice W right, 118. Harley Street, London, W. 1. 


2. New York Psyclioanalytic Society. 

Mitgliederliste. 

Dr. A. A. Brill (Sekretär), 1 West 70 th St., New York. 

Dr. Sänger Brown, 37 West 54th St., N. Y. 

Dr. Leonard Blumgart, 57 West 58 th St., N. Y. 

Dr. H. W. Frink, 17 East 38 th St., N. Y. 

Dr. F. J. Farne 11, 59 Blackstone Boulevard, Providence, R. I. 
Dr. Bernard G1 u e c k, 44 East 60 th St., N. Y. 




138 Korrespondenzblatt der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung. 


Dr. Mary K. I s h a m, 135 West 79 th St., N. Y. 

Dr. Josephine Jackson, 1971 Morton Ave., Pasadena, Cal. 

Dr. M. A. Meyer, 53 East 95th St., N. Y. 

Dr. C, P. Oberndorf (Präsident), 249 West 74th St., N. Y. 

Dr. B. 0 n u f, 208 Montrose Ave., Eutherford, N. J. 

Dr. Adolph Stern (korresp. Sekretär), 40 West 84 th St., N. Y. 

Dr. Joseph S m i t h, 697 Eastem Parkway, Brooklyn, N. Y. 

Dr. Skevirsky, 640 Madison Ave., N. Y. 

Dr. Walter M. Kraus, 141 West 75 th St., N. Y. 

Dr. Edith Spaulding, 418 West 20th St., N. Y. 

Dr. Frankwood Williams, c/o Mental Hygiene, 50 Union Square, N. Y. 
Dr. I. S. Wechsler, 1291 Madison Ave., N. Y. 

Dr. Marion K e n w o r t h y, Adresse unbekannt. 

Dr, Thomas K. Davis, 20 West 50th St., N. Y. 

In der Vereinigung wurden in der Zeit vom Oktober 1914 bis Dezember 1919 
folgende Vorträge gehalten: 

29. Oktober 1914: Dr. Morris Karpas „Sokrates im Lichte der modernen 
Psychopathologie.“ 

24. November 1914: Dr. A. A. Brill: „Abnorme künstlerische Produktionen.“ 

22. Dezember 1914: Dr. F. M. Hallock: „Umrisse eines antiken Systems der 
Psychologie.“ 

26. Jänner 1915: Dr. H. W. Frink: ,,Analyse eines schweren Falles von 
Zwangsneurose.“ 

22. Oktober 1915: Dr. A. A. Brill: „Psychoanalyse und Prophylaxe der Geistes¬ 

krankheiten.“ 

23. November 1915: Dr. J. J. Putnam, auf Einladung der Vereinigung: „Die 

Adlerschen Theorien.“ 

28. März 1916: Dr. O. P. Oberndorf: „Symptomanalyse.“ 

26. April 1916: Dr. A. A. Brill: „Die Psychopathologie des Lärmes.“ 

24. Oktober 1916: Dr. H. W. Frink: ,,Ein Fall von Angsthysterie.“ 

28. November 1916: Diskussion über den „Widerstand“, eröffnet von Dr. 0. P. 

Oberndorf, unter Teilnahme der Mitglieder der Vereinigung. 

23. Jänner 1917: Dr. F. M. Hallock: „Ein Fall von gemischter Neurose.“ 

27. März 1917: Dr. Adolph Stern: „Gegenübertragung.“ 

29. April 1917: Dr. A. A. Brill: „Die Psychopathologie der Berufswahl.“ 

29. Mai 1917: Dr. Bernard Glueck, auf Einladung der Vereinigung: „Adlers 
Beiträge zur psychoanalytischen Literatur.“ 

17. Dezember 1917: Dr. Mary K. Isham: „Ein Fall von Hysterie.“ 

29. Jänner 1918: Diskussion über „Übertragung“, unter Teilnahme der Mitglieder 
der Vereini gung. 

25. März 1919: Dr. A. A. Brill: „Der Einfühlungsindex.“ 

26. April 1919: Dr. Adolph Stern: „Auszüge aus der Analyse eines achtjährigen 

Knaben.“ 

29. Oktober 1919: Dr. C. P. Oberndorf: „Das Verhalten gegen Eigennamen.“ 

25. November 1919: Dr. A. A. Brill: „Geschlecht und Geschlechts Verküm¬ 
merung." 

23. Dezember 1919: Dr. A. Stern: „Einige Faktoren der Charakterentwicklung.“ 


1920. 

27. Jänner: Dr. Bernard Glueck und Frau Dr. Mary Isham: 
Studien über Paranoia. 

Dr. Glueck beschreibt in seinem Vortrag einen Fall von paranoider 
Demenz. An dem Patienten, einem Neger im Alter von 28 Jahren, waren 
durch mehr als zwei Jahre vor seiner Aufnahme in eine Irrenanstalt 
(im April 1920) deutliche Krankheitssymptome zu beobachten. Eine 
Durchforschung der Kindheitsgeschichte des Patienten ergab große sexuelle 
Fiühreife mit homo- und heterosexuellen Betätigungen und sexueller Betä¬ 
tigung an Tieren. Nach einem unzweifelhaft sexuellen Angriff auf seine 
Mutter im Alter von sieben Jahren, für den er empfindlich bestraft wurde, 
wendete er sich der Homosexualität zu. Wählend seiner Studienjahre 


Korrespondenzblatt der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung. 189 

und später befriedigte er sich in Wirklichkeit wie auch in seiner Phantasie 
sowohl auf homosexuellem als auch auf heterosexuellem Wege. Eine volle 
heterosexuelle Befriedigung konnte aber nur erreicht werden, wenn er sich 
in der Phantasie das Sexualobjekt durch Mutter oder Schwester ersetzte. 
Wahnideen traten nur dann auf, wenn sich der Patient aus irgend welchen 
Gründen die Befriedigung seiner bewußten homosexuellen Wünsche ver¬ 
sagen mußte. — Der Vortragende legt auf diesen Punkt besonderen Nach¬ 
druck und erklärt die Entstehung des paranoiden Zustands des Patienten 
aus seinem Konflikt mit den bewußten homosexuellen Wünschen und der 
Versagung ihrer Befriedigung. 

Die Diskussion ergibt bei mehreren Mitgliedern der Vereinigung 
in Übereinstimmung mit dem Vortragenden die Ansicht, daß bewußte 
homosexuelle Wünsche zur Bildung von paranoiden Zuständen beitragen 
können. Die Doktoren Earne 11 und Skevirsky erläutern diese Ansicht 
an einzelnen Fällen. Die Doktoren Frink, Brill, Isham und Stern 
weisen besonders darauf hin, daß, nach Freud die unbewußte homo¬ 
sexuelle Komponente bei bewußt heterosexuellen Personen eine Bolle bei 
der Bildung von paranoiden Wahnvorstellungen spielt. 

Frau Dr. Isham berichtet über einen Fall von langjährigen 
paranoiden Wahnvorstellungen bei einer Frau. Die Patientin versuchte 
in ihrem Wahn ihre Abstammung von einem königlichen Geschlecht blon¬ 
der Frauen zu beweisen und ferner den Nachweis zu führen, daß die 
Purkinjezellen des Bückenmarks eine sexuelle Funktion haben. Wirklicher 
Größenwahn oder hervorstechende Züge von Eifersucht waren bei der 
Patientin nicht als Symptom zu finden. — Die Vortragende führt den 
paranoiden Mechanismus auf eine der frühesten Kindheit angehörende 
Identifizierung der Patientin mit ihrer Mutter zurück und ferner auf die 
Vorstellung, daß man sie im Mutterleibe verflucht habe, so daß sie, zum 
Unterschied von den anderen — blonden — Frauen der Familie, schwarz¬ 
haarig geworden sei. Um das dieser Vorstellung entstammende Inferiori- 
tätsgefühl wettzumachen, entwickelte die Patientin die beiden oben ange¬ 
führten Wahnvorstellungen. 

In der Kritik des Vortrags wird hauptsächlich hervorgehoben, daß 
die Patientin keine ausgesprochen homosexuellen Wunschphantasien (un¬ 
bewußte) ausgebildet hat. 

24. Februar: Vorträge von Dr. F a r n e 11 und Dr, B1 u m g a r t. 

Dr. Farne 11 berichtet über das ganz unwissenschaftliche und 
unmedizinische, strafweise Verfahren, das in einer amerikanischen Marine¬ 
station unter dem Verdacht der Homosexualität stehenden Eingerückten 
gegenüber in Anwendung gebracht wurde. Er entwirft im Gegensatz dazu 
ein sehr befriedigendes Bild von der Arbeit in vielen Feldspitälern, wo alle 
derartigen Fälle von der ,,Psychiatrical Division“ wissenschaftlich be¬ 
handelt wurden. 

Dr. Leonhard Blumgart beschreibt einen Fall von Hysterie 
mit Gehörs halluzinationen, fünftägige Dauer, mit spontaner Hei¬ 
lung. Der Ablauf wurde noch beschleunigt durch die etwa einmonatige 
Anwendung von ,,Ouija Board“ und des automatischen Nachschreibens. Es 
war mit Hilfe der freien Assoziationen des Patienten ein Leichtes, die 
Geisterbotschaften des „Ouija Board“, die automatische Nachschrift und 
seine Äußerungen während des akuten Zustandes als einen Durchbruch 
seiner verdrängten unbewußten Wünsche und Impulse zu erkennen. Das 




190 Korrespondenzblatt der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung. 

Bewußtmaclien der ursprüngiicli verdrängten Wünsche und Impulse und 
das Abreagieren der an sie gebundenen Affekte brachten die volle Her¬ 
stellung des Patienten zu stände. 

Dieser Pall liefert einen neuen Beweis für die Eichtigkeit der An¬ 
nahme, daß die im Spiritismus so häufigen „Botschaften“ aus dem Un¬ 
bewußten stammen und ähnliche Entstehungsmechanismen haben wie die 
Träume und die Symptome. Der Patient erlitt in den seither vergangenen 
zwei Jahren keinen Eückfall. 

30. März: Frau Dr. Isham: Studien über Paraphrenie; 
Dr. Oberndorf: Ein Fall von Amnesie. 

Frau Dr. Isham teilt einige, in vielen Hinsichten verschiedenartige 
Fälle mit, die aber alle die gleiche — durch mancherlei Ursachen be¬ 
dingte — Unzugänglichkeit auf weisen. Einem ihrer Patienten fehlte die 
Fähigkeit zu identifizieren; er war auf der animistischen Stufe stehen 
geblieben und zeigte bei jedem Versuch zur Identifikation Angst. Ein 
zweiter Patient komite zwar identifizieren, war aber keiner Objektwahl 
fähig. Ein dritter vermochte beides, brachte aber nur eine teilweise Über¬ 
tragung zu Stande. Bei einem vierten Patienten förderte erst eingehende 
Vertiefung eine Introversion in bestimmter Hinsicht zu Tage und erwies 
so die Unzugänglichkeit des Falles. Bei den Psychosen dieser Patienten 
spielte im allgemeinen die narzißtische Komponente eine große Rolle. 
Exhibitionismus als Komponente des Narzißmus erhöhte noch die Schwie¬ 
rigkeit. Diese Patienten fühlten sich in heterosexueller Umgebung stark 
gehemmt. 

In der Diskussion wird besonders die Wichtigkeit der richtigen 
Diagnose, von der die Behandlungsfähigkeit abhängt, hervorgehoben. Den 
Erfahrungen der Mitglieder nach ist der therapeutische Erfolg in solchen 
Fällen ein geringer. Die Psychoanalyse leistet bei dem Studium der 
Krankheitsfälle wertvolle Dienste. 

Dr. Oberndorf berichtet über einen Fall von Amnesie. Der Pa¬ 
tient, ein 29jähriger Mann von psychopathischem Äußeren, verlebte eine 
unglückliche Kindheit durch häusliche Zerwürfnisse zwischen seinen Eltern, 
die schließlich zu ihrer Scheidung führten. Um den drückenden Zuständen 
im Elternhause zu entfliehen, pflegte er lange einsame Spaziergänge über 
Land zu unternehmen. In seinen Jünglingsjahren begann er unmäßig zu 
trinken und zu spielen. Er heiratete im Alter von 25 Jahren und wurde 
zwei Jahre später von einer Amnesie befallen, in der er alle Personen und 
Umstände seines Vorlebens vollkommen vergaß. Es gelang Dr. Obern¬ 
dorf nach wiederholter Hypnose, das Erinnerungsvermögen des Patienten 
wiederherzustellen. 

Nach einem Jahr erlitt der Patient einen Rückfall, während dessen' 
er von New York nach Baltimore wanderte. Seine Erinnerung kehrte für 
die Dauer einiger Stunden zurück, dami überfiel ihn wieder die Amnesie, 
verbunden mit Taubheit und Stummheit. Die Taubheit verschwand später 
spontan, aber Amnesie und Stummheit hielten stand und konnten erst 
durch Hypnose beseitigt werden. — Dr. Oberndorf deutet die Symptome 
als unbewußte Wunscherfüllungen, da sie dem Patienten gestatteten, vor 
quälenden Lebensumständen die Flucht zu ergreifen. (Autoreferat.) 

In der Diskussion wird die Vermutung aufgeworfen, daß der 
Patient in seinen „fugues“ das psychische Äquivalent eines epileptischen 


Korrespondenzblatt der Internationalen Psychoanalytischen Vereinignng. 191 


Anfalls produziere. Ferner wird bemerkt, daß die vollständige Veränderung 
der Persönlichkeit in Verbindung mit der Amnesie dem von Prince be¬ 
schriebenen „co-conscious state“ ähnelt und daß dieser Zustand nicht mit 
Hysterie identisch ist. 


II. 

Notizen. 

Dr. Adolf F. Meyer, der Schriftführer der Holländischen Gruppe, 
hat seine Adresse geändert, die jetzt lautet: Haag, Valeriusstraat 55. 

Dr. Ulrich Vollrath (der Berliner Gruppe) hat jetzt die Adresse: 
Landesirremanstalt Teupitz, Kreis Teltow. 

Aus der Schweizerischen Gesellschaft für Psychoanalyse 
sind ausgetreten: Frl. Brüstlein, Zürich, und Frau Dr. Huber, 
Eorschach. 


Nach Eedaktionssohluß eingelangt: 

Am 21. Mai 1920 fand in der Berliner „Ärztlichen Gesellschaft für Sexual¬ 
wissenschaft“ ein Vortragsabend über die „Sexualität des Kindes“ statt. Nach 
dem Kinderarzt Dr. Nie mann und dem Nervenarzt Dr. Placzek, die sich 
hauptsächlich mit einer abfälligen Kritik Freuds befaßten, vertrat Dr. Abra¬ 
ham als Korreferent den psychoanalytischen Standpunkt. Anders als bei 
früheren derartigen Veranstaltungen zeigte die Zuhörerschaft sich unserem Stand¬ 
punkt eher zugeneigt als dem ablehnenden. Die Diskussion wurde auf eine 
spätere Sitzung verschoben. 

In Berlin findet im Mai und Juni d. J. ein ärztlicher Fortbildungskurs 
statt, der die Bedeutung der Psychologie für den Arzt behandelt. Einer der 
von verschiedenen Beferenten zu haltenden Vorträge soll die Psychoanalyse 
betreffen. Als Vortragender wurde Prof. Schultz-Dresden bestellt, also ein 
der praktischen Ausübung der Psychoanalyse in unserem Sinne Fernstehender. 






INTERNATIONALER PSYCHOANALYTISCHER VERLAG, G. M. B. H. 
LEIPZIG WIEN ZÜRICH 


Unter der Presse: 

Internationale Psychoanalytische Bibliothek 

Nr. 8 

Im 

Kampf um die Psychoanalyse 

Von 

Dp. Oskar Pfister, 

Pfarrer in Zürich. 


Inhalt: 

I. Einleitung. 

II. Die Psychoanalyse als psychologische Methode. 

III. Die Entstehung der künstlerischen Inspiration. 

IV. Zur Psychologie des Krieges und des Friedens. 

V. Zur Psychologie des hysterischen Madonnenkultus. 

VI. Hysterie und Mystik bei Margareta Ebner. 

VII. Psychoanalyse und Weltanschauung. 

VIII. Grefährdete Kinder und ihre psychoanalytische Behandlung. 

IX. Wahnvorstellung und Schülerselbstmord. 

X. Das Kinderspiel als Frühsymptom krankhafter Entwicklung, zu¬ 
gleich ein Beitrag zur Wissenschaftspsychologie. 


29 Bogen Groß-Oktav. 
(463 Seiten.) 




INTERNATIONALER PSYCHOANALYTISCHER VERLAG 

LEIPZIG — WIEN — ZÜRICH — LONDON — NEW-YORK. 


Wir eröffnen- hiemit für die 

Mitglieder der „Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung“ 
ein Abonnement auf die bisher zum 7. Bande gediehene 

Internationale Psychoanalytische Bibliothek 

Nr. 1 

Zur Psychoanalyse der Kriegsneurosen 

Diskassion mit Beiträgen von Prof. Freud (Wien), Dr. Abraham (Berlin;, 
Dr. Ferenczi (Budapest), Dr. Jones (London), Dr. Simmel (Berlin). 

B Bogen Groß-Oktav. 

Nr. 2 

Di*. S. Fereiiczi 

Hysterie und Pathoneurosen 

6 Bogen Groß-Oktav. 

Nr. 6 

Prof. Dr. Sigm. Freud 

Zur Psychopathologie des Alltagslebens 

B. verm. Auflage. — 20 Bogen Groß-Oktav. 

Nr. 4 

Dr. Otto Rank 

Psychoanalytische Beiträge zur Mythenforschung 

27 Bogen Groß-Oktav. 

Nr. 5 

Dr. Theodor Reik 

Probleme der Religionspsychologie 

20 Bogen Groß-Oktav. 

Nr. 6 

Dr. Geza ROlieini 

Spiegelzauber 

IG Bogen Groß-Oktav. 

Nr. 7 

Dr. Eduard Hitsclimauii 

Gottfried Keller 

Psychoanalyse des Dichters, seiner Gestalten und Motive 
8^ Bogen Klein-Oktav. 

Bei Bezug der ganzen Serie auf einmal direkt vom Verlag 
gewähren wir unseren Mitgliedern eine Ermäßigung von 10*/o 

des Ladenpreises. 








Inhalt. 

- • ■ ' ■ Seife 

Originalarbeitea. 

Dr. Karl Abraham: Zur Prognose psychoanalytischer Behandlungen in 


, vorgeschrittenem Lebensalter . . . , . , . * . . . . . . . . . . . . 113 

Raymond Saus SU re: Le Complexe de Jocaste . . . . . ..... .118 

Dr. Michael Josef Eialer: Eine unbewußte Schwangerschaftsphantasie bei 
einem Manne unter dem Bilde einer traumatischen Hysterie . . . . . .123 
Dr. j. Sa dg er: Über Prüfungsangst und Prüfungsträume . . ... . . . 14C 

Mitteilungen. 

Melanie Klein: Der Familienroman in statu nascendi . . . . . . . . ; 151 

Dr. S. Spielrein: Renatchens . Menschenentstehungstheorie . ..155 

Freud: Gedankenassoziation eines vierjährigen Kindes • . . . . . . . . 157 

Dr. S. Spielrein: Das Schamgefühl bei Kindern . . ... . . . . . . 157 

Dr. S, Spielrein: Das schwache Weib , . . . . . . . . . . . . . . 158 

P. IL: Der kindliche Familienkonflikt . . . . . . . . . . . . . . , . .158 

Dr. J. Harnik: Zum „Hinauswerfen von Gegenständen aus dem Fenster 
durch kleine Kinder“ . . , . . . . . .... . . ... . . . . . .160 

Th. Reik: Infantile Wortbehandlung ...163 

Dr. E. H. : Zur sexuellen Natur des Lutschens , ...164 


Kritiken und Referate. 

Julius Pikier: Sinnesphysiologische Untersuchungen (Dr. Imre Hermann) . 166 
Isaak Spielrein: Über schwer zu merkende Zahlen und Rechenaufgaben 


(S. Spielrein) ..... . . . / . . . . . 172 

W. Stern: Die Psychologie und der Personalismus (Dr. Hermann) . . .174 
Dr. Fr. Fick: Über Söxualstörungen im Kriege (Dr. Pfeifer) ...... 174 

J. H. Schultz: Die seelische Krankenbehandlung (Dr. E. Hitschmänn) . . 175 
Engelen und Ran geltet Neue Forschungswege bei traumatischen Neuro¬ 
sen (Dr. E. H.) . ..... 176 

Dr. ined, Placzek: Das Geschlechtsleben der Hysterischen (Dr. E. H.) .176 

L. Moll: Die Maternitätsneurose (Dr. E. Hitschmänn) ........ .177 

Ulrich Vollrath: Polikliniken für Psychotherapie au den Irrenanstalten 

(Dr. E. Hitschmänn) ... . . ... . . . . . ... , . . 177 

C. Baudouin: La psychoanalyse freudienne. L’ecole de Zürich (Reik) . . 178 
Dr. med. A. Kielhölz: Jakob BöÄme (Autorreferat) .......... 178 

Hans Blüher: Die Rolle der Erotik in der männlichen Gesellschaft (Dr. 

M.E. Eisler).. 180 

PrOf. E. Landau: Naturwissenschaft und Lebensauffassung (S. Ferenczi) 182 
Dr. Hans Straß er: Fragen der Entwicklungsmechanik (S. Ferenczi) . . .183 

Zur psychoanalytischen Bewegung.. . . . . . 184 

Korrespondenzblatt der „Internationalen Psychoanalytischen 
Vereinigung"^.. ..185 


Druck- und Teriagsliaus Karl Prochaska, TeacUen.