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Full text of "Internationale Zeitschrift für Psychoanalyse XII. Band 1926 Heft 2"

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XII. BAND 


1926 


HEFT 2 


Internationale Zeitschrift 
für Psychoanalyse 



Paul Federn 

Wie n 


Offizielles Organ der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung 

Herausgegeben von 

Sigm. Freud 


Girindrashekhar Bose 

Kalkutta 

Ernest Jones 

London 


Unter Mitwirkung von 

A. A. Brill Jan van Emden 

New York Haag 

Emil Oberholzer Ernst Simmel 

Zürich Berlin 


redigiert von 

M. Eitingon, S. Ferenczi, Sändor Radö 

Budapest 


Berlin 


IN MEMORIAM 
KARL ABRAHAM 

Karl Abraham: Psychoanalytische Bemerkungen zu 
Coues V erfahren der Selbstbemeisterung / Jones: 
Karl Abraham J Abraham-Bibliographie / Eitingon, 
Sachs, Rad6, Reik, Wulff: Gedenkreden über 
Karl Abraham / Korrespondenzblatt der Internationalen 
Psychoanalytischen Vereinigung 


Internationaler Psychoanalytischer Verlag 

Wien, VII. Andreasgasse 3 









Dr. KARL ABRAHAM 


Segantini. Ein psychoanalytischer Versuch (Schriften 


tjro vanni 

z. angewandten Seelenkunde, XL Heft). Zweite, revidierte u. ergänzte 
Aufl. Geheftet M. 2.<;o 


Klinische Bei träge zur Psychoanalyse aus den Jahren 1907 
bis 1920 (Internationale Psychoanalytische Bibliothek, Bd. X). Geheftet 
M. 8. 


Halbleinen 10.— 

Aus dem Inhalt: Über die Bedeutung sexueller Jugendtraumen für die Sympto¬ 
matologie der Dementia praecox — Die psychosexuellen Differenzen der Hysterie u. 
der Dementia praecox — Die psycholog. Beziehungen zwischen Sexualität u. Alkoholis¬ 
mus — Die Stellung der Verwandtenehe in der Psychologie der Neurosen —- Über 
hysterische Traumzustände — Bemerkungen zur Psychoanalyse eines Falles von Fuß- 
und Korsettfetischismus — Ansätze zur psychoanalyt. Erforschung und Behandlung 
des manisch-depressiven Irreseins u. verwandter Zustände — Über die determinierende 
Kraft des Namens — Über ein kompliziertes Zeremoniell neurotischer Frauen — 
Ohrmuschel u. Gehörgang als erogene Zone — Zur Psychogenese der Straßenangst 
im Kindesalter — Sollen wir die Patienten ihre Träume aufschreiben lassen? —■ 
Einige Bemerkungen über die Rolle der Großeltern in der Psychologie der Neurosen 
— Psychische Nachwirkungen der Beobachtung des elterlichen Geschlechtsverkehrs 
bei einem neunjährigen Kinde — Kritik zu C. G. Jung: Versuch einer Darstellung 
der psychoanalyt. Theorie — Über Einschränkungen und Umwandlungen der Schau¬ 
lust bei den Psychoneurotikern — Über neurotische Exogamie — Über ejaculatio 
praecox — Das Geldausgeben im Angstzustand — Über eine besondere Form des 
neurotischen Widerstandes gegen die psychoanalyt. Methodik — Bemerkungen zu 
Ferenczis Mitteilungen über Sonntagsneurosen — Zur Prognose psychoanalytischer 
Behandlung im vorgeschrittenen Lebensalter — usw. 


Versuch einer Entwicklungsgeschichte der Libido 
auf Grund der Psychoanalyse seelischer Störungen (Neue Arbeiten 
z. ärztl. Psychoanalyse, Nr. II). Geheftet M. 3.so, Pappbd. 4 .— 

Inhalt: I. Die manisch-depressiven Zustände und die prägenitalen Organisations- 
holie und Zwangsneurose. Zwei Stufen der sadistisch- 
Objektverlust und Introjektion in der normalen Trauer 


analen Entwicklungsphas« 
und in abnormen psychischen Zuständen. Zwei Stufen der oralen Phase. Das infantile 
Vorbild der melancholischen Depression. Die Manie. Die psychoanalytische Therapie). 
— II. Anfänge und Entwicklung der Objektliebe. 


Psychoanalytische Studien zur Charakterbildung 
(Internationale Psychoanalytische Bibliothek, Bd. XVI). Geheftet M. 2.;o, 
Pappbd. 3.20, Halbleinen 4 .— 

Inhalt: Ergänzungen zur Lehre vom Analcharakter. Beiträge der Oralerotik zur 
Charakterbildung. Die Charakterbildung auf der „genitalen“ Entwicklungsstufe. 



























Internationale Zeitschrift 
für Psychoanalyse 

Herausgegeben von Sigm. Freud 


XII. Band 


1926 


Heft 2 



IN 

MEMORIAM 

KARL 

ABRAHAM 


t 


Int. Zeitschr. f. Psychoanalyse, XII/ 2 . 


9 












INTERNATIONAL 

PSYCHOANALYTIC 

UNIVERSITY 


DIE PSYCHOANALYTISCHE HOCHSCHULE IN BERLIN 





















Psychoanalytische Bemerkungen zu Coues Verfahren 
der Selbstbemeisterung 1 

Von 

Karl Abrah am f 

Wir sind in den letzten Jahren Zeugen der enthusiastischen Aufnahme 
eines neuen Verfahrens gewesen,' mit dessen Hilfe jeder beliebige Mensch 
in den Stand gesetzt werden sollte, gesundheitliche Störungen oder ethische 
Mängel ebenso wie die Auswirkungen eines widrigen Schicksals aus seinem 
Leben durch eigene Kraft zu beseitigen. Eine solche Verheißung hätte 
wohl zu jeder Zeit eine große Schar von begeisterten Anhängern gefunden. 
Nach den verheerenden Einwirkungen des großen Krieges auf das Seelen¬ 
leben der Menschen steigerte sich aber die Neigung, eine neue Heilsbot¬ 
schaft gläubig und dankbar aufzunehmen. Die ungeheure Zahl derer, die 
in irgend einem Sinne zu leiden hatten, half die Versammlungsräume 
füllen, in welchen man Aufschluß über die „Selbstbemeisterung“ erhielt. 
Das Verfahren war so einfach, daß alle Menschen, ohne Unterschied des 
geistigen Niveaus, es sogleich nach der ersten Unterweisung anwenden 
konnten. Man las und hörte von erstaunlichen Erfolgen. Aufsehen erregten 
besonders die Berichte über Heilung organischer Krankheiten durch die 
neue Form der Autosuggestion. 

Andererseits wurden auch kritische und ablehnende Stimmen laut, ohne 
aber die Anhänger Couös in ihrer Überzeugung zu beeinflussen. Der 
Widerspruch kam, wie nicht anders zu erwarten, zum größten Teil aus 
dem Lager der medizinischen Schulwissenschaft. Drei Einwände waren es, 
die man Coue und seinen Anhängern hauptsächlich entgegenhielt. 

In erster Linie wurde betont, eine Heilung organischer Krankheiten auf 

i) Die Veröffentlichung dieser Arbeit erfolgt auf Grund eines Manuskriptes, das im 
Nachlaß von Dr. Karl Abraham vorgefunden wurde. Die Arbeit ist nicht vollständig 
abgeschlossen, der Autor plante an verschiedenen Stellen — insbesondere im Schlu߬ 
teil — Erweiterungen und Zusätze, die er jedoch nicht mehr ausführen konnte. 

Die Redaktion. 


9' 











132 


Karl Abraham j“ 


dem Wege der Selbstbemeisterung sei unmöglich. Die Berichte über Erfolge 
seien das Ergebnis mangelhafter Beobachtung und Kritik. Sodann verwarf 
man die Massenbehandlung, die ohne jede individualisierende Sorgfalt, 
ja, ohne voraufgegangene Untersuchung geschehe; auch sei es ein gröb¬ 
licher Mißbrauch, beispielsweise eine psychische Erkrankung, eine Lungen¬ 
tuberkulose, ein Augenleiden und eine Krebskrankheit unterschiedslos neben¬ 
einander zu behandeln. Menschen, in denen man die Hoffnung erwecke, 
sie würden auf diesem Wege geheilt, kämen geradezu in Gefahr, etwa den 
Zeitpunkt einer lebensrettenden Operation zu versäumen. Endlich erregte 
das hauptsächliche Mittel der Selbstbeeinflussung, die in bestimmter Weise 
auszusprechende und zu wiederholende Formel, heftigen Widerspruch. 
Es war nicht schwer, sie durch Gleichsetzung mit Zaubersprüchen und 
anderen Erzeugnissen eines überlebten Aberglaubens lächerlich zu machen. 

Wir Psychoanalytiker werden kaum in Versuchung geraten, uns einer 
der beiden Parteien rückhaltlos anzuschließen. 

Auf die Seite der C o u e enthusiasten können wir nicht wohl treten. 
Aus unserer täglichen Beschäftigung mit den Neurotikern — und diese 
stellen doch ein großes Kontingent zu C o u 6 s Anhängerschaft — haben 
wir stets den Eindruck empfangen, daß das Heilen der nervösen Krank¬ 
heitszustände eine überaus schwierige Aufgabe sei. Ihr Erfolg ist abhängig 
von der Größe der psychischen Widerstände, und wir vermögen uns schwer 
vorzustellen, daß die nämlichen Widerstände, die uns so viel zu schaffen 
machen, vor der suggestiven Formel dahinschmelzen sollten. Wenn die 
Formel besagt, es werde dem Patienten täglich in jeder Hinsicht besser 
gehen, so unterscheidet sie sich inhaltlich nicht von der üblichen Fremd- 
suggestion, die dem Neurotiker die Überwindung seiner Beschwerden ver¬ 
spricht. Wir wissen aber, daß dem Kranken damit nichts anderes geleistet 
wird als eine Verdrängungshilfe. Und so neigen wir zu der Meinung, 
auch durch eine Autosuggestion im gleichen Sinne werde nur Stückwerk 
geleistet, mit dessen Bestand man nicht rechnen könne. Immerhin werden 
wir zugehen, daß auch eine vorübergehende Befreiung von lästigen Be¬ 
schwerden dem Patienten willkommen und wertvoll sein kann. Und wenn 
sie sich ihm auf so überaus einfachem und schnellem Wege darbietet, so 
wird er kaum anders können als bereitwillig zugreifen. Was weiter vom 
Standpunkt der Psychoanalyse einem solchen Verfahren kritisch entgegen¬ 
gestellt werden kann, wird aus dieser analytischen Untersuchung selbst 
hervorgehen. 

Den Rufern im Streit gegen Coud, besonders den ärztlichen Kritikern 
zuzujubeln, haben wir aber gewiß keinen Anlaß. Ihre überlegen-kritische 
Geste, ihre Einwände a priori haben sie oft genug auch gegen uns gekehrt. 












Psydioanalytisdie Bemerkungen zu Coues Verfahren der Selbstbemeisterung . 133 


Wir haben aus unserer Arbeit an den Neurosen eine Überzeugung ge¬ 
wonnen, die ihnen fremd geblieben ist; ich meine die Überzeugung von 
dem großen Einfluß des Unbewußt-Psychischen auf Entstehung, Verlauf 
und Heilung organischer Krankheiten. Wir müssen solcher Einflüsse stets 
eingedenk bleiben, auch wenn wir unsere Anschauungen nicht ganz so 
zuspitzen wie Groddeck. Ein bestimmter Fall ist in diesem Zusammen¬ 
hang besonders instruktiv. Man hat die Besserung eines tuberkulösen 
Leidens durch Coues Verfahren als „undenkbar“ hingestellt, und dies 
war wohl ein Euphemismus der Kritiker, die derartige Berichte sicherlich 
lieber als Schwindel bezeichnet hätten. Nehmen wir einmal den Fall, ein 
Kranker mit einem solchen Leiden habe starke seelische Anlässe, der Ge¬ 
sundung zu widerstreben; sein Unbewußtes benutze die organische Krank¬ 
heit, um das Individuum dem Leben zu entfremden und allmählich dem 
Tode zuzuführen. Wird nun — auf dem Wege der Selbstbemeisterung 
oder sonstwie — diesem Treiben Einhalt getan, dann kann ermöglicht 
werden, was vorher ausbleiben mußte: eine Zusammenfassung aller körper¬ 
lichen und psychischen Kräfte mit dem Ziel der Besserung. Brächte also 
Couös Verfahren in einem solchen Falle das bisherige Wirken der Todes¬ 
triebe zum Stillstand, so könnte die Heilung eines organischen Leidens 
sehr wohl zustande kommen. Wir werden also den Einwänden der Schul¬ 
medizin mit der gehörigen Skepsis begegnen. 

Der erste der drei von der medizinischen Kritik erhobenen Einwände 
wird uns im weiteren nicht mehr zu beschäftigen brauchen. Uns Analytiker 
interessieren weit mehr die beiden anderen Einwände. Richtiger gesprochen, 
sind es die Fragen der Dynamik des Coue sehen Verfahrens, die uns 
beschäftigen müssen. Wir werden aber die besondere Richtung unseres 
Interesses am besten präzisieren können, wenn wir jene zwei anderen kri¬ 
tischen Einwände zum Ausgangspunkt nehmen. 

Der zweite der erwähnten Einsprüche von medizinischer Seite wendet 
sich gegen die Behandlung Leidender ln Versammlungen ohne Rücksicht 
auf ihre Zahl, ohne Ansehung der Verschiedenheit ihrer Gebrechen und 
Nöte. Inwieweit dieser Ein wand im Interesse der Hilfesuchenden berechtigt 
ist, braucht hier nicht erörtert zu werden; denn es handelt sich da nicht 
um eine psychoanalytische Frage, sondern um eine sozial-medizinische 
Angelegenheit. Die Psychoanalyse darf sich berufen fühlen, Coues System 
der Massenbehandlung von einem ganz anderen Gesichtspunkt aus zu unter¬ 
suchen. Ohne Zweifel sind die Erfolge der Methode oder — wenn man 
solche nicht gelten lassen will — die von ihr ausgehenden faszinierenden 
Wirkungen ein Phänomen der Massenpsychologie. Die Ein¬ 
sichten, welche uns Freud in seiner Schrift „Massenpsychologie und Ich- 








134 Karl Abraham f 

Analyse“ 1 gegeben hat, berechtigen uns zu der Erwartung, die Psychoanalyse 
könne aufklären, auf welchen Wegen die Coue-Methode eine unbestimmt 
große Menschenzahl zu beeinflussen vermag. Fassen wir im besonderen die 
Heilwirkungen ins Auge, so läge es der Psychoanalyse ob, die Pharmako¬ 
dynamik des so sehr gerühmten Heilmittels zu erforschen. Tun wir sogleich 
einen ersten Schritt auf diesem Wege, der keiner besonderen Vorbereitung 
bedarf, weil er unsere Untersuchung unmittelbar an Freuds Fest¬ 
stellungen anknüpfen läßt! Coue (oder Baudouin oder wer sonst ihn 
vertritt) ist ein Führer, um den sich eine Masse schart. Demnach ist 
es unsere Aufgabe, die Wirkungen der besonderen Beziehung zwischen 
diesem Führer und der ihm ergebenen Masse psychologisch zu ergründen. 

Der dritte Einwand bezog sich auf die Einkleidung der Suggestion oder 
Autosuggestion in eine Art von magischer Formel, die für alle gleich ist. 
Wir werden uns nicht des wissenschaftlichen Hochmuts schuldig machen, 
darin eine Lächerlichkeit zu sehen, sondern wir werden prüfen, ob unsere 
psychologischen Einsichten die Wirksamkeit eines solchen uniformen Mittels 
begreiflich machen können. 

Mit anderen Worten: Wir versuchen die Dynamik des Co ud sehen 
Verfahrens zu analysieren und machen es somit zum Gegenstand unserer 
Forschung. Unser Recht zu diesem Vorgehen steht außer Zweifel; sind 
wir doch nicht minder bereit, unser eigenes Arbeitsverfahren analytisch 
zu betrachten. Vor längerer Zeit hat beispielsweise in der „Berliner Psycho¬ 
analytischen Vereinigung“ Frau Dr. Horney über die Analyse des 
Analytikers gesprochen, und dieser Vortrag sowohl als die ihm folgende 
Diskussion waren bemüht, neben den bewußten rationellen Begründungen 
unseres Vorgehens die verborgenen Motive nachzuweisen. 

Das Fundament zu einer solchen Untersuchung des C o u e-Verfahrens 
ist in der psychoanalytischen Literatur hauptsächlich von drei Autoren 
gelegt worden. Es war Ferenczi 2 , der einen ersten psychoanalytischen 
Vorstoß in das dunkle Gebiet der Hypnose und Suggestion unternahm. 
Er legte besonderes Gewicht auf die affektive Bindung des Hypnotisierten 
an den Hypnotiseur und erkannte in ihr eine Ausdrucksform des Ödipus- 
Komplexes. Eines näheren Eingehens auf Ferenczis Ergebnisse bedarf 
es nicht, weil uns die Einzelhypnose und ihre Wirkung in diesem Zu¬ 
sammenhang nur indirekt interessieren; auch kann der Inhalt der zitierten 
Schrift als Gemeingut der psychoanalytischen Forschung und damit als 
jedem Analytiker bekannt betrachtet werden. 


1) Ges. Schriften, Bd. VI. 

2) ,,Introjektion und Übertragung“, Jahrbuch f. Psychoanalyse Bd. I. (190S.) 








Psychoanalytische Bemerkungen zu Coues Verfahren der Selbstbemeisterung 135 

Eine bedeutende Erweiterung unserer Einsichten brachte Freuds 
„Massenpsychologie“. Sie durchleuchtete die Beziehungen zwischen Führer 
und Geführten nicht nur innerhalb der Masse, wie wir sie im allgemeinen 
verstehen, sondern auch innerhalb der „Masse zu zweit 4 , d. h. das 
affektive (libidinöse) Verhältnis zwischen Hypnotiseur und Hypnotisiertem. 
Sie gab uns ferner grundlegende Aufklärungen über die Vorgänge im Ich 
des Hypnotisierten. Die Aufstellung des „Ich-ldeals“ (Über-Ich) ist uns 
zur vollständigen Erklärung vieler psychologischer Vorgänge unentbehrlich 
geworden. Auf diejenigen Resultate der Freud sehen Untersuchung, die 
für unseren Zweck von spezieller Bedeutung sind, wird sogleich zurück¬ 
zukommen sein. 

An dritter Stelle ist eine Arbeit zu erwähnen, die unser Thema un¬ 
mittelbar berührt. Auf den erwähnten Vorarbeiten fußend, hat Jones die 
wichtigsten Probleme der Autosuggestion 1 untersucht. Da er an 
mehreren Stellen auf die Veröffentlichungen von Coue und Baudouin 
eingeht, so werden wir zu wiederholten Malen auf seine Ausführungen 
zurückgreifen müssen. 

Erinnern wir uns nun zunächst an ein paar grundlegende Sätze aus 
Freuds „Massenpsychologie“. Die Suggestibilität ist ein Ausdruck libidi- 
nöser Bindung an eine Person, die dem Unbewußten Vater oder Mutter 
bedeutet. Die Einzelwesen einer Masse folgen und gehorchen dem Führer 
infolge einer derartigen Bindung an ihn. Jedes Individuum läßt den Führer 
die Stelle seines IchTdeals einnehmen. In gewissem Sinne haben die Mit¬ 
glieder einer Masse ein uniformes Über-Ich. Untereinander sind sie durch 
gegenseitige Identifizierung verbunden. Die vom Führer ausgehende Suggestion 
wird durch diese gegenseitige Identifikation der Individuen verstärkt. Als 
Angehöriger einer Masse ist jeder Mensch der Suggestion stärker zugänglich. 
Seine Affektivität ist gesteigert und von gewissen Fesseln befreit, seine 
intellektuellen Leistungen, namentlich aber seine Kritik sind herabgesetzt. 
Er fühlt in sich selbst die Stärke der gesamten Masse und neigt zur Über¬ 
schätzung der eigenen Kraft in der Form von Allmachtsphantasien. 

Wir gehen nun davon aus, daß die Anhänger eines Heilsbringers eine 
Masse bilden, ob sie nun — einander unbekannt — bloß gemeinsam einer 
Versammlung beiwohnen, oder ob sie eine organisierte Gefolgschaft bilden. 
Der uns beschäftigende Fall bietet aber in gewisser Hinsicht besondere 
Verhältnisse dar. In anderen Massen ist das Verhältnis des einzelnen zum 
Führer durch feste Bestimmungen geregelt. Dergleichen gibt es in unserem 


1) „The Nature of Auto-Suggestion“. The British Journal of Medical Psychology. 
Vol. III. Part. 5, 1923. 














136 


Karl Abraham f 


Falle nicht. Da sind Anhänger, die nur etwa eine Schrift des Führers 
gelesen haben und dennoch in dem gleichen Verhältnis der Bindung zu 
ihm und seiner Lehre stehen wie andere, die etwa regelmäßige Besucher 
der Versammlungen sind. Wie vermag ein so indirekter Kontakt mit dem 
Führer eine so mächtige Bindung herzustellen? Oder mit anderen Worten: 
Wie kann unter so verschiedenen Umständen das gleiche Verhältnis aller 
Anhänger zum Führer Zustandekommen, das wir mit Freud für ein wich¬ 


tiges Kriterium der Massenbildung halten? 

Ich glaube, wir können über die Antwort auf diese Frage nicht lange 
im Zweifel sein. Innerhalb der Massen besteht die Fiktion, daß dem Führer 
alle Individuen gleich lieb seien, so daß er also als ein gerechter Vater 
erscheint. Im Falle Coue trifft dies tatsächlich in einem besonderen Sinne 
zu. Er gibt allen — ohne Ansehung ihrer Person und ihrer besonderen 
Leiden — die unwandelbar gleiche Formel: „Mit jedem Tage geht es 
mir immer besser und besserl“ Er gibt wirklich allen gleich viel oder 
wenn man so will — gleich wenig. Aber er ist nicht nur allen seinen 
„Kindern ein gerechter Vater, sondern im Sinne der Primitiven auch 
ein Vater mit einem gewaltigen „Mana“, der mit einer Formel alle Übel 
zu bannen vermag, ein typischer Träger der „Allmacht der Gedanken“, 
ein Meister der Magie des Wortes. Und der Inhaber dieses Mana tut nun 
etwas völlig Unerwartetes, das ihn von anderen „Vätern“ unterscheidet. 

Der Heerführer, der Führer einer religiösen Gemeinschaft oder einer 
politischen Gruppe muß seine Autorität wahren. Zwischen ihm und der 
Masse stehen gewisse Bevorzugte, denen er einen Teil seiner Gewalt über¬ 
gibt ; sie sind aber nicht weniger zum Gehorsam verpflichtet als der letzte 
Mann. Der Hypnotiseur in der „Masse zu zweit“ muß nicht minder auf 
die Erhaltung seiner Autorität bedacht sein. Überall bleibt das Verhältnis 
irgendwie dasjenige eines Befehlenden zum Gehorchenden, eines Starken 
zum Schwachen. Anders in unserem Fall! Couö läßt jedermann ohne 

nterschied gleichen Anteil an seinem „Mana“ nehmen. Er gibt seine 
magische Formel jedem in die Hand und unterweist ihn in ihrer An¬ 
wendung. Drücken wir das in der Sprache der Psychoanalyse aus, so werden 
wir sagen: er gestattet jedem, so zu tun, als wäre er Couö selbst. Er ist 
ein Vater, der allen seinen Söhnen gestattet, sich restlos mit ihm zu identi¬ 
fizieren, u. zw. nicht etwa bloß in der Phantasie, sondern in praxi, in¬ 
dem er sie geradezu auffordert, sein Mana zu übernehmen und von ihm 
Gebrauch zu machen. 

VS er also zum ersten Male in eine Coud-Versammlung geht und die 
Bereitschaft in sich trägt, in der Masse der Anhänger aufzugehen und den 
Führer an die Stelle seines Über-Ich zu setzen, der empfängt eine Gabe, 







Psydioanalytisdie Bemerkungen zu Coues Verfahren der Selbstbemeisterung 137 


die besonders sein Unbewußtes befriedigen wird; denn sie ist im letzten 
Grunde eine Erfüllung infantiler Wünsche, die dem Ödipus-Komplex an¬ 
gehören. Er wird autorisiert, sich mit dem Vater gleichzusetzen. 

Was das bedeutet, wird uns am besten klar werden, wenn wir uns an 
Freuds Anschauung vom Verhältnis des Urvaters zu den Söhnen erinnern. 
Seine Ausführungen zur Massenpsychologie lehnen sich ja eng an die Ur- 
hordentheorie an. Was Couö tut, läßt sich auf die Verhältnisse der 
Urhorde etwa folgendermaßen übertragen. Der Urvater gestattet eines Tages 
seinen Söhnen, schon bei seinen Lebzeiten an seiner Macht und seinen 
Befugnissen teilzunehmen. Es handelt sich dabei nicht nur um seine Ge¬ 
walt über Leben und Tod oder um materiellen Besitz, sondern nach Freuds 
überzeugender Darstellung auch um seine sexuellen Vorrechte. Die Teil¬ 
nahme der Söhne an Macht und Rechten des Vaters bedeutet auch die 
Aufhebung der ihnen bis dahin gesetzten sexuellen Schranken, d. h. des 
Inzestverbots. 

Was Coue seinen Anhängern einräumt, ist praktisch, d. h. im Sinne 
seines Bewußtseins und des Bewußtseins seiner Anhänger, selbstverständlich 
von derartiger Freiheit weit entfernt. Wir aber, denen gerade die Berück¬ 
sichtigung des Unbewußten obliegt, werden wachsam bleiben müssen Der 
Augenschein verführt zu der Auffassung, als sei die Anhängerschaft an 
Coud und seine Lehre in keiner Weise libidinös bedingt. Nun werden 
wir zwar erwarten, daß die Bindung hier die gleiche sein werde, wie sie 
von Freud für die Massenbildung überhaupt verantwortlich gemacht wird. 
Aber wir müssen zugeben, daß der manifeste Eindruck ganz anders ist. 
Die Berührung zwischen Coue und dem einzelnen Anhänger ist völlig 
unpersönlich, ganz im Gegensatz zu jener zwischen dem Hypnotiseur und 
seinem Patienten. Und eben an dieser Stelle scheint sich uns die faszinierende 
Wirkung der Methode weiter aufklären zu lassen. Wir taten einen ersten 
Schritt, indem wir feststellten, daß jeder Anhänger beglückt werde durch 
den Anteil am Mana des Führers, der ihm zufällt. Alle Söhne preisen den 
guten und gerechten Vater. Aber — müssen wir nun hinzufügen — sie 
kämen nicht zum Genuß der Gabe, wenn ihnen der libidinöse Charakter 
der Bindung bewußt würde. Und nun dürfen wir feststellen, daß das Ver¬ 
fahren Coues die Unbewußtheit dieser Tatsachen in einer besonders voll¬ 
kommenen Weise schützt; weit vollkommener als es etwa in der Hypnose 
der Fall ist. Ich folge hier der gedankenreichen Arbeit von Jones. Das 
autosuggestive Verfahren läßt die Übertragung dem Patienten weit 
weniger zum Bewußtsein kommen, als dies bei der Fremdsuggestion der 
ball ist. In der Hypnose braucht freilich dem Patienten der erotische 
Charakter der Übertragung auf den Hypnotiseur durchaus nicht bewußt 











138 


Karl Abraham f 


zu werden, aber oft genug tritt dieser Fall dennoch ein. Auch wenn alle 
körperlichen Berührungen vermieden werden, stellt sich überaus leicht ein 
erotisches Fluidum her. Es äußert sich in körperlichen Sensationen ebenso 
wie in den Tagträumereien und in den nächtlichen Träumen. Wir wissen, 
daß die Situation der Hypnose auf die Phantasie des Patienten wie ein 
„Schlafen beim Hypnotiseur“, also unmittelbar als ein erotischer Akt wirkt. 
Wer sich hingegen Vorschriften zur suggestiven Selbstbehandlung 
geben läßt, entgeht dem Bewußtwerden derartiger seelischer Vorgänge 
vollkommen. Es kommt noch hinzu, daß mit ihm Hunderte die gleiche 
Unterweisung empfangen. Wie sollte da irgend eine Vorstellung von einer 
persönlich-erotischen Beziehung in ihm aufkommen? Jones fügt mit Recht 
hinzu, daß der Arzt in solchem Falle den gleichen Vorteil der Unlust- 
Ersparnis genieße wie seine Patienten. Er macht darauf aufmerksam, wie viele 
unter den namhaften Vertretern der Hypnose zur Wachsuggestion über¬ 
gegangen seien, weil sie sich durch die Phänomene der Übertragung in 
der Hypnose beunruhigt fühlten. 

Es wurde bereits erwähnt, daß jeder einzelne Leidende von Coue sozu¬ 
sagen eine Portion Allmacht geschenkt erhält. Sein Ich fühlt sich gehoben, 
denn es vermag ja allen bisherigen Übeln Einhalt zu tun. Im besonderen 
Falle des neurotischen Kranken ist die starke Lenkung der Aufmerk¬ 
samkeit auf die Macht des Ich gleichbedeutend mit einer Ablenkung von den 
sexuellen Kräften, die in der Neurose verborgen sind. Man kann sagen, 
daß das Coue sehe Verfahren in diesem Sinne eine Flucht vor dem schwerer 
verkennbaren erotischen Charakter der Hypnose darstellt, ähnlich dem Ver¬ 
such Adlers, die Libidotheorie Freuds im ichgerechten Sinn umzu¬ 
modeln, indem er die Machtgelüste des Ich in einseitiger Weise betont. 

Noch frappanter wird dieser psychologische Hergang, wenn wir Jones 
um einen weiteren Schritt folgen. Der Arzt, der den Massen den Weg zur 
Autosuggestion weist, genießt das Allmachtsgefühl des Hypnotiseurs 
in besonders ausgeprägter Form. Er nimmt seinen Einfluß auf eine un¬ 
begrenzte Zahl von Menschen wahr, während der Hypnotiseur seine Macht 
an einer relativ kleinen Zahl erprobt. Wir dürfen hinzufügen, dieses Macht¬ 
gefühl komme beim Hypnotiseur im Einzelfall mehr intensiv, bei Couö 
in der Massenbeeinflussung mehr extensiv zur Geltung. 

Noch einmal müssen wir auf das Machtgefühl zurückkommen, das dem 
Leidenden durch Coue verliehen wird; erst dann werden wir ganz ver¬ 
stehen, wie diese narzißtische Befriedigung ihm dazu verhilft, die verpönten 
Objektbeziehungen aus seinem Bewußtsein zu verbannen, die sich in seinen 
neurotischen Störungen hatten Ausdruck verschaffen wollen. Es sind zwei 
Gesichtspunkte, die mir dabei beachtenswert erscheinen. 







Psy dioanal y tisdie Bemerkungen zu Coues Verfahren der Selbstbemeisterung 139 


Wir wissen, wie sehr der Zustand des Krankseins geeignet ist, die Libido 
des Menschen zu narzißtischer Regression zu veranlassen. Überschätzung 
des eigenen Leidens ist eine unvermeidliche Folge dieses Vorganges. Der 
Leidende nun, der in Coues Methode sein Heil erblickt, gewinnt den 
Eindruck, daß sein Unglück nicht größer sei als das anderer Menschen; 
ist es doch auf gleichem Wege durch ein und dieselbe Autosuggestion zu 
beseitigen. Der Akzent wird also von der exzeptionellen Schwere des 
Leidens auf die Wunderkraft der Selbstbeeinflussung verschoben, was ja 
auch in der Bezeichnung der Methode als „Selbstbemeisterung“ zum Aus¬ 
druck kommt. Hiermit soll natürlich nichts über die tatsächliche Wirk¬ 
samkeit der Methode ausgesagt werden; hier, wie an anderen Stellen dieser 
Untersuchung, ist von manifesten und latenten Tendenzen die Rede, 
welche dem Verfahren innewohnen. Seinen tatsächlichen Erfolgen gegen¬ 
über wollen wir bis zum Schluß unserer Erörterung die bisherige Skepsis 
bewahren. Die soeben geschilderte Wirkung ist nichts anderes als eine 
Tröstung. Sie mag in einem Falle eintreten, im anderen ausbleiben, im 
einen dauerhaft, im anderen kurzlebig sein. 

Der zweite Punkt, der in diesem Zusammenhang der Erörterung wert 
ist, geht wiederum das Sondergebiet des neurotischen Krankseins an. Uns 
ist bekannt, daß viele unserer Patienten mit besonderem Nachdruck über 
ihre Minderwertigkeitsgefühle klagen, diese zum Fassadenschmuck des neu¬ 
rotischen Bauwerks machend. In Übereinstimmung mit J a n e t hat Adler 
den Minderwertigkeitsgefühlen die höchste Bedeutung für die Neurosen¬ 
psychologie beigelegt. Ihr Gegenspiel ist der von ihm sogenannte „männ¬ 
liche Protest“ ; die gesamten Triebkräfte der Neurose finden in ihm ihren 
ichgerechten Exponenten. Coues Methode wohnt die unverkennbare Ten¬ 
denz inne, jede Art der Minderwertigkeit, mag sie real oder nur in der 
Vorstellung des Individuums bestehen, durch eine optimistische Wegleugnung 
zu beseitigen. Und so ist Adlers „männlicher Protest“ in Coues auto- 
suggestiver Formel gewissermaßen zu einer stereotypen Wortfolge erstarrt. 

Jetzt ist es Zeit, daß wir uns des Ausgangspunktes erinnern, an welchen 
unsere Untersuchung anknüpfte. Es war der Einwand der medizinischen 
Kritik, die da kopfschüttelnd fragte: wie kann man eine Heilwirkung bei 
vollsinnigen, zur Kritik befähigten Menschen erzielen wollen, indem man 
ihnen, ohne jede Rücksicht auf die Art ihres Leidens, zugleich mit einer 
unbestimmten Anzahl anderer Hilfsbedürftiger eine so stereotype Form der 
Autosuggestion in die Hand gibt und sie dann sich selbst überläßt? Wir 
vermögen jetzt leicht zu erkennen, daß diese ganze Fragestellung falsch 
ist, weil sie unpsychologisch ist. 

Die Wirkung der Coue sehen Methode beruht eben darauf, daß der 







140 


Karl Abraham f 


Hilfsbedürftige aus einem Individuum in einen Massenbestandteil verwandelt 
wird. Er wird dadurch gläubig, suggestibel, d. h. er geht seiner Kritik 
verlustig, und er wird geneigt, sich psychisch uniformieren zu lassen. An 
dieser Stelle wird uns auch begreiflich, warum nicht etwa bloß die Armen 
im Geiste, sondern gerade die Intellektuellen in hellen Haufen den Ver¬ 
anstaltungen der Co u d-Schule zulaufen. Unter ihnen sind so viele, die ein 
gut Teil ihrer Libido in intellektuelle oder künstlerische Arbeit umsetzen 
müssen, wobei sie gegen schwere Widerstände anzukämpfen haben. Von 
diesem Frondienst finden sie zeitweise Befreiung, indem sie einmal Massen¬ 
bestandteil spielen. Mit anderen Worten können wir der medizinischen Kritik 
erwidern: Die Coud-Methode erzielt ihre Wirkungen nicht, „obgleich“ 
sie mit solch simpeln Mitteln arbeitet, sondern die Voraussetzung 
ihrer faszinierenden Wirkung und ihrer praktischen Erfolge, wofern sie 
solche erzielt, liegt eben darin, daß sie das Individuum zum Glied einer 
Masse macht, womit eine Herabsetzung des geistigen Niveaus ohneweiters 
verbunden ist. Ihre Wirkung erklärt sich aus der besonderen Art, in der 
sie dem Ödipus-Komplex begegnet. Sie gibt dem Individuum geradezu auf, 
sich mit dem „Vater“ zu identifizieren und sich sein Mana anzueignen, 
ohne daß ihm der libidinöse Charakter dieses Vorganges bewußt wird. 

Wenn wir die Umwandlung des Individuums in ein Massenteilchen als 
Voraussetzung für die Wirkung des Coue sehen Verfahrens bezeichnen, 
so bleiben wir in engster Fühlung mit Freuds Ausführungen, der in 
klarster Formulierung sagt: Die Massenbildung hebt zeitweise die Neurose 
auf („Massenpsychologie“). Wir können als beweiskräftige Erfahrungen 
beispielsweise diejenigen der Kriegszeit heranziehen. Im Gegensatz zu der 
vielfach gehegten Erwartung wurden nicht wenige Neurotiker durch den 
Eintritt ins Heer und besonders in die kämpfende Truppe symptom¬ 
frei. Die sonderbarste, ja groteske Erfahrung, die ich in dieser Hinsicht 
gemacht habe, möge hier mitgeteilt sein. Ein junger Mann litt an den 
schwersten Erscheinungen der Zweifelsucht und des Grübelzwangs. In 
seinem Beruf als Kaufmann wurden ihm die einfachsten Transaktionen, 
wie etwa der Kauf oder Verkauf einer Ware, zur Quelle endloser Zweifel 
und Selbstquälereien. Diese knüpften sich an jede notwendig werdende 
Entscheidung an. Mit dem Eintritt ins Heer fand all dieser Jammer ein 
Ende. Zu einem Rädchen in der riesigen Maschine des Heereskörpers 
geworden, hatte er keine Entscheidungen mehr zu treffen, sondern gehörte 
zur Masse derer, die nur zu gehorchen hatten. Jahrelang nahm er an den 
schwersten Kämpfen der französischen Front teil, dem heftigsten Feuer 
ausgesetzt, oftmals in einem Erdloch ganze Tage hindurch eingeschlossen. 
Während der letzten Kriegsmonate war er englischer Gefangener. Allen 






Psychoanalytische Bemerkungen zu Coues Verfahren der Selbstbemeisterung 141 


diesen Situationen war er psychisch gewachsen. Nach Kriegsschluß kam er 
heim und nahm seine berufliche Tätigkeit wieder auf. Sofort setzten die 
alten Symptome wieder ein. Als der Patient mich deshalb wieder auf¬ 
suchte, äußerte er: „Herr Doktor, Sie werden sehen, in kurzer Zeit ist 
die ganze Erholung von viereinhalb Jahren dahin . 11 Er hatte aufgehört, nur ein 
Massenteilchen zu sein und scheiterte daran, daß er wieder ein Einzelwesen 
mit eigener Verantwortlichkeit sein sollte. Ganz im Sinne der zitierten 
Formulierung F reuds hatte er ein zeitweises Zurücktreten seiner 
Neurose erlebt; als er auf hörte, nur ein Atom der Masse zu sein, unterlag 
er wieder den alten neurotischen Störungen. 

Wir haben bisher die Einwirkung Coues auf seine Klientel zu ver¬ 
stehen versucht, müssen nun aber an ein zweites Problem herantreten. Es 
ist die Frage nach dem Zustandekommen der autosuggestiven Wir¬ 
kungen. Wohl haben wir bereits eingesehen, daß jeder Leidende ausdrücklich 
autorisiert wird, sich mit dem Meister zu identifizieren, und daß in jedem 
eine Bereitschaft wohnt, dies zu tun, weil starke unbewußte Gründe eine 
solche Reaktion begünstigen. Aber damit ist gewiß nicht alles erklärt. Es 
bleibt doch auffällig, warum eine große Anzahl von Menschen so bereit¬ 
willig auf das verzichtet, was sonst dem Kranken unter rationellen Gesichts¬ 
punkten wichtig erscheint und überdies einen leicht erkennbaren Lustgewinn 
in sich schließt. Der Verzicht bezieht sich auf das individuelle Verhältnis 
zum Behandelnden, dessen ärzlliche Fürsorge und persönliche Anteilnahme 
dem Leidenden im allgemeinen unentbehrlich erscheint. Wir begegnen 
hier dem merkwürdigen Phänomen, daß ungezählte Menschen auf alles 
dies verzichten und sich statt dessen in ihr Kämmerlein zurückziehen, um 
die autosuggestive Formel aufzusagen, so oft wie es ihnen vorgeschrieben 
ist. Hier muß es uns deutlich werden, daß wir die Einstellung des Leidenden 
in einer Massenbehandlung noch nicht von allen Seiten erfaßt haben. 
Unsere Aufmerksamkeit wird jetzt naturgemäß in eine bestimmte Richtung 
gelenkt. Wenn dasÜber-Ich jedes Patienten sich mit dem Meister identifiziert, 
so muß ihm offenbar jener Anteil der Libido zufließen, der eigentlich 
jenem sich zugewandt hatte. Mit anderen Worten: wir haben es mit einem 
narzißtischen Vorgang zu tun. Hier nehmen wir wiederum den Kontakt 
mit Jones’ Ausführungen zur Frage der Autosuggestion auf. 

Fassen wir das Verhalten der Neurotiker ins Auge, das uns ja besonders 
angeht, so lehrt uns die Erfahrung, daß in jedem Falle Störungen der 
libidinösen Beziehungen zur Außenwelt — der Objektliebe — vor¬ 
liegen. Die Psychoanalyse weist bei diesen Personen Bindungen an Objekte 
der Kindheit nach, die aber durch das Inzestverbot von der realen Objekt¬ 
wahl ausgeschlossen sind. Den erlaubten Objekten gegenüber ist die Libido 








142 Karl Abraham f 

gehemmt. Die Sexualität der Neurotiker findet daher ihren Ausdruck 
großenteils in Phantasien (Tagträumen usw.) und in den Krankheitssymptomen, 
in welchen wir Abkömmlinge solcher Phantasien erkannt haben. Die Ent¬ 
fremdung von der Objektwelt ist in verschiedenen neurotischen Zuständen 
dem Grad nach sehr verschieden, stets aber können wir eine rückläufige 
Tendenz feststellen, welche die Libido von den Objekten entfernen und 
sie der infantilen, narzißtischen Bindung an das Ich wieder zuführen 
möchte. Eben dieser regressiven Tendenz leistet das autosuggestive Verfahren 
Vorschub. In der Hypnose greift eine infantile Bindung an den Hypnotiseur 
Platz, der die Rolle des Vaters (oder der Mutter) übernimmt. Die Coudsche 
autosuggestive Methode gestattet dem Patienten eine weitergehende Regression 
ins Infantile, indem sie —* wie bereits ausgeführt — die einem frühen 
Kindheitsstadium entsprechende Gleichsetzung des Ich mit dem Vater be- 
fördert. An die Stelle einer infantilen Form der Objektliebe tritt hier also 
eine narzißtische Einstellung zum Ich. 

Eine solche Einstellung der Libido läßt primitive Vorstellungen wie 
diejenige von der Allmacht der Gedanken wieder auf leben. In der Hypnose 
wird diese Allmacht dem Vater-Vertreter zugeschrieben, ganz so, wie in 
einer gewissen Periode der Kindheit. Wenn das Kind durch die Entwick¬ 
lung seiner Libido, durch die Zunahme seiner intellektuellen Kraft und 
durch die Erfahrung kritischer gegen sich selbst geworden ist, gibt es die 
Vorstellung der eigenen Allmacht auf, verschiebt sie aber auf die Eltern. 
Dies bedeutet natürlich einen noch unvollkommenen Verzicht, da die im 
Besitz der Eltern befindliche Allmacht dem Kinde die Hoffnung läßt, später 
einmal zu gewinnen, was ihm jetzt noch fehlt. In der Hypnose verhält 
sich das Individuum wie ein Kind in dem soeben geschilderten Stadium. 
Die anbefohlene Autosuggestion bringt dagegen einen Rückschlag zur Vor¬ 
stellung von der eigenen Allmacht mit sich. Wir vermögen sogar noch 
Bestimmteres auszusagen, wenn wir uns der Untersuchung Ferenczis 
über die ^Entwicklungsstufen des Wirklichkeitssinnes u 1 erinnern. Wie 
der Autor nachweist, finden die narzißtische Einstellung des Kindes zur 
Außenwelt und seine Vorstellung von der Allmacht seiner Wünsche typi¬ 
schen Ausdruck im Verhalten und Benehmen des Kindes. Durch alle ihm 
verfügbaren Mittel des Ausdrucks versucht es, der Objektwelt seine Weisungen 
zu erteilen; es bedient sich der Worte, der Gebärden und der besonders 
primitiven „Organsprachedie alle in seinen Augen mit magischen Kräften 
ausgestattet sind. Coud gestattet, ja befiehlt seinen Anhängern, ihr Macht¬ 
gefühl in einer Formel von unzweifelhaft magischem Charakter kundzu- 


1) Int. Ztschr. f. PsA. Bd, I. (1915.) 









Psychoanalytische Bemerkungen zu Coues Verfahren der Selbstbemeisterung 143 


geben. Der Einwand, das Kind wende sich doch mit solchen magischen 
Mitteln an die Objekte, Couös Anhänger mit ihrer Formel dagegen an 
die eigene Person, läßt sich leicht zurück weisen. Denn das Über-Ich, mit 
C o u 6 identifiziert, wendet sich gegen das übrige Ich ganz wie gegen eine 
andere Person. Und weiter handelt es sich, wie bei allen Akten der Be¬ 
schwörung, so auch hier um das Bannen oder Überwinden von Kräften, 
die als dem Ich fremd, von außen eingedrungen empfunden werden. 

Wie die Erfahrung der letzten Jahre zeigt, greifen zahllose Menschen 
gierig zu, wenn ihnen solche Regression zu niederer Entwicklungsstufe in 
autoritativer Weise angeraten wird. Auch hier gibt es ein schuldfreies 
Genießen einer Freiheit im infantilen Sinne. Hinzu kommt, daß die 
anderen Anhänger, denen sich der einzelne zur Massenbildung angeschlossen 
hat, ein Gleiches tun. Was aber die Gesamtheit in übereinstimmender 
Weise tut, das geschieht unter gemeinsamer Verantwortung und entlastet 
das Individuum wenigstens teilweise von einem Schuldgefühl, das es allein 
nicht hätte tragen können. Freud zeigte uns dies zuerst am Beispiel der 
Totemmahlzeit, bezw. der gemeinsamen Tötung und Verspeisung des Urvaters 
durch die aufrührerischen Söhne. Vollends aber muß das Schuldgefühl 
des einzelnen schwinden, wenn das gleiche Handeln aller Individuen 
geradezu unter der Autorität eines Idealvaters geschieht, dem die ganze 
Verantwortung zufällt, und wenn das Ziel der Handlung — Gesundwerden 
und Ähnliches — der Seelenpolizei, d. h. der kritischen Instanz des Ge¬ 
wissens, keinen Grund zum Einschreiten gibt. 

An dieser Stelle sei eingeschaltet, daß es einer recht erheblichen Zahl 
von JMenschen nicht verstattet ist, sich der C o ue-Bewegung anzuschließen, 
und dies aus Gewissensbedenken. Dem Religiös-Gläubigen erscheint das 
C ouö-Verfahren wie ein revolutionäres Abschütteln der demütigen Ein¬ 
stellung zu Gott. Vom religiösen Standpunkt betrachtet, ist die Aneignung 
der Allmacht in dem vorhin besprochenen Sinne ein blasphemisches Vor¬ 
gehen. Es ist nur konsequent, wenn die Christian Science, die sich zu Heil¬ 
zwecken des Gebetes bedient, den „Couöismus“ als unchristlich verwirft. 

Ohne uns länger bei dieser Betrachtungsweise aufzuhalten, wenden wir 
uns lieber den psychologischen Problemen wieder zu. Wir haben erfahren, 
daß jeder Angehörige einer Masse den Führer an die Stelle seines Über- 

Ichs treten läßt. Wir sehen aber auch, wie in unserem besonderen Falle 

das Individuum sich fernerhin — auf Grund einer besonderen Befugnis 

— mit dem Führer identifiziert. Der Erfolg dieses gesamten Vorganges 

läßt sich psychologisch einfach erfassen; wir lehnen uns wieder an die 
Ausführungen von Freud und Jones an. Die Spannung zwischen dem 
Über-Ich mit seinen Forderungen und dem Ich, das zu gehorchen hatte, 






144 


Karl Abraham f 


wird in einem gewissen Umfange aufgehoben. Indem das Individuum ein 
gewisses Maß seinei infantilen „Allmacht“ zurückerhält, kommt es zu 
einer partiellen, in ihrem Umfang noch zu erfassenden „Einziehung des 
Ich-Ideals“, wie Fr eud sie uns in der „Massenpsychologie“ beschrieben 
hat. Seine Ausführungen beziehen sich insbesondere auf die Psychologie 
der Manie. In der Melancholie findet im Anschluß an einen Objekt¬ 
verlust die Introjektion des verlorenen Objekts ins Ich statt. Die richtende 
Funktion des Über-Ichs wendet sich nun scheinbar gegen das Ich, während 
in Wirklichkeit alle Härte dem verlorenen und introjizierten Objekt gilt. 
In der Manie hingegen wird das Über-Ich für eine Zeit suspendiert, das 
Ich erfreut sich einer ersehnten Freiheit und wird in seinem Selbstgefühl 
gehoben. Dieser Vorgang spielt sich nun in einem beschränkten Umfang 
auch unter der Einwirkung des Coue-Verfahrens ab, und eine Hebung 
des Selbstgefühls im Sinne von Gesundheit, Leistungs- und Genußfähigkeit 
geht mit ihm Hand in Hand. Doch lassen sich natürlich auch wesentliche 
Unterschiede gegenüber dem manischen Befreiungsrausch feststellen, u. zw. 
keineswegs nur solche im Grad der Erscheinungen. Es fehlt in unserem 
Falle das revolutionäre Element, geschieht doch alles unter väterlichem 
Protektorat. Und was geschieht, ist ja nur das Aufsagen einer unschuldigen 
Formel, also weit entfernt von den vielfältigen Ausschreitungen der Manie, 
und ihre Wirkungen erstrecken sich auch im günstigsten Falle nur auf 
ein beschränktes Lebensgebiet. Sie benimmt sich, wie wir sahen, so. als 

ob das Sexuelle gar nicht ins menschliche Wunschbereich gehöre. So 

feiert denn der Anhänger der „Selbstbemeisterung“ auch ein Fest der Be¬ 
freiung; wir werden aber noch sehen, daß die Befreiung in beiden Fällen 
nicht ganz den gleichen Sinn hat. 

Diese Ausführungen gehen um Einiges über Jones’ Anschauungen 
hinaus. Halten wir aber mit ihm fest an seiner Auffassung, daß die 

Autosuggestion auf einer Aussöhnung zwischen Ich und Über-Ich beruht. 
Der in der Autosuggestion gelegene Verzicht auf Lust aus den Quellen 
der Objektliebe wird wettgemacht durch eine narzißtisch-autoerotische Lust¬ 
prämie. Diesen Vorgang haben wir soeben psychologisch greifbarer zu 

machen gesucht. 

Wir glauben nun, einen gewissen Einblick in das Wesen und die W irkungs weise 
der Autosuggestion erhalten zu haben, stehen aber noch einem ungelösten 
Problem gegenüber, und diesesmal sind w r ir nicht in der glücklichen Lage, 
uns auf ähnlich bewährte Vorarbeiten stützen zu können. Wir erwähnten 
eingangs, daß der dritte Punkt der üblichen Kritik sich auf die unter¬ 
schiedslose Verwendung einer einheitlichen Formel beziehe, und daß gerade 
in dieser Hinsicht die Kritiker zu billigen Spöttereien geneigt seien. Konnten 







Psydioanalytisdie Bemerkungen zu Coues Verfahren der Selbstbemeisterung 145 


wir uns schon zu Anfang nicht auf solch bequemen Standpunkt stellen, 
so werden wir dazu jetzt noch weniger bereit sein. Denn inzwischen haben 
wir uns davon überzeugt, daß der Erfinder der Methode mit sicherem 
psychologischen Blick erkannt hat, was die Schar der Leidenden von einer 
seelischen Einwirkung im letzten, unbewußten Grunde erwartet. Ein jeder 
verzichtet auf bestimmte Lustquellen, deren Benutzung allzusehr mit 
Schuldgefühlen beschwert ist, läßt sich die Erlaubnis gewisser infantiler 
Wunscherfüllungen gern gefallen, zumal, da ihm eine Hebung seines 
Selbstgefühls gewährt wird, und zahlt dafür den Preis, daß er sich vom 
Führer aus einem relativ selbständigen Einzelwesen zum bloßen Bestand¬ 
teil einer Masse umformen läßt. Wenn aber Coue dieses relativ so un¬ 
lustarme und lustreiche Verfahren auf Grund seiner Intuition erfinden 
konnte, so wird das autosuggestive Instrument, das er jedermann in die 
Hand gibt, wohl auch nicht gar so schlecht beschaffen, nicht gar so dumm 
gewählt sein. Ich meine, es spräche wiederum für ein richtiges intuitives 
Erfassen, wenn Coue, der sich an die Massen wendet, einen Weg geht, 
der beispielsweise dem von Dubois eingeschlagenen der „Persuasion“ 
entgegengesetzt ist. Mit Logik und Vernunft gegen die Masse oder gegen 
das Unbewußte, was ja dasselbe bedeutet, vorzugehen, würde eine arge 
Verkennung der seelischen Konstitution des Menschen bedeuten. Die 
Methode von Dubois, von der es übrigens recht still geworden ist, beruht 
im Grunde auf einer ähnlichen narzißtischen Einstellung des Therapeuten. 
In einem Falle wird die Macht der bewußten Funktionen der Vernunft 
und Logik überschätzt, im anderen die infantile „Allmacht der Gedanken“ 
wieder aufgerichtet. Wenn Coud seinen Weg zum Unbewußten abseits 
von Logik und Vernunft sucht, indem er ein Vehikel wählt, das den 
Bahnen des Unbewußten besser entspricht, so liegt darin eine Stärke seiner 
Methode. Wir werden noch erfahren, woher ihm vermutlich solche Ein¬ 
sicht zuteil geworden ist. Das soeben Gesagte schließt natürlich nicht aus, 
daß die von Coue gegebene psychologische Begründung seiner Methode 
lückenhaft und anfechtbar ist. Wir werden noch weiter Gelegenheit haben, 
uns zu überzeugen, daß er ein intuitiver Heilkünstler ist, aber kein psy- 
chologischer Forscher. 

Die Formel lautet in deutscher Fassung bekanntlich: „Jeden Tag geht 
es mir in jeder Beziehung immer besser und besser.“ Sie ist so allgemein 
gehalten, daß jeder einzelne Mensch ihr den s e i n e n Leiden entsprechenden 
Sinn ohneweiteres unterlegen kann. Die Worte „in jeder Beziehung“ 
entbinden den Leidenden davon, beim Aussprechen der Formel an seine 
verschiedenen Klagen zu denken. Die Formel ist dreimal am Tage je 
zwanzigmal aufzusagen. C o u ö rät, daß der Kranke sich zuvor gedanklich 


Int. Zeitschr. f. Psychoanalyse, XII/2. 


10 








146 


Karl Abraham f 


in die Nähe des Meisters versetzen und dann die Formel sprechen soll; 
daß der Leidende sich mit ihm identifiziert, wird hier noch einmal be¬ 
sonders deutlich» Die Sprechweise und besonders das Tempo sollen nicht 
etwa feierlich, getragen, sondern rasch sein. Es kommt nicht auf ein¬ 
dringliche, sinnvolle Betonung an, sondern es handelt sich um ein gleich¬ 
förmiges Herunterbeten des einfachen Textes. Unerläßlich ist ein Stück 
Bindfaden mit zwanzig Knoten darin; während der autosuggestiven Ver¬ 
richtung greift die Hand von einem Knoten zum anderen, bis die vorge¬ 
schriebene Zahl abgebetet ist. 

Wir werden uns allein an diese Formel halten, obwohl sie nicht die 
einzige ist. Eine zweite, kurze, existiert für besondere Vorkommnisse, wie 
z. B. anfallsweise auftretende Beschwerden aller Art, besonders auch für 
Schmerzen. Hier lautet die Vorschrift, der Leidende solle im schnellsten 
ihm möglichen Tempo und ohne zu zählen die Worte sprechen: „Es geht 
vorüber, es geht vorüber“ usw. Er hat dies fortzusetzen, bis — angeblich 
nach ein bis zwei Minuten — die Wirkung eintritt. 

Die Hauptformel ähnelt vollkommen den magischen Wortfolgen, wie 
wir sie bei primitiven wie bei zivilisierten Völkern in Anwendung finden. 
Auch bei uns gehört das „Besprechen“ von Wunden und Krankheiten noch 
keineswegs ganz der Vergangenheit an. Die dreimal tägliche Ausübung der 
Autosuggestion erinnert uns an die kultischen Einrichtungen vieler Völker, 
daneben auch an den Gebrauch von Medikamenten. Daß in dem Bind¬ 
faden der Rosenkranz der katholischen Kirche eine moderne Neuauflage 
gefunden hat, ist leicht zu ersehen. Wir wissen, wie sehr derartige Vor¬ 
richtungen dazu führen, daß das Gebet nur noch einer automatisch ge¬ 
wordenen Formel gleicht. Einrichtungen ähnlicher Art sind bei den ver¬ 
schiedensten Völkern zu finden; es sei nur an die „Gebetsmühlen“ der 
Tibetaner erinnert. Warum Couö gerade die Zahl 20 gewählt hat, vermag 
ich nicht zu erklären. Ich vermute, daß er den Grund auch selbst nicht 
würde angeben können. Derartige zahlenmäßige Festsetzungen finden wir 
häufig bei Zwangsneurotikern, die aber in der Regel die Motive zur Wahl 
einer Zwangszahl nicht spontan angeben können; es bedarf hier der psycho- 
analytischen Untersuchung. Die Vermutung aber, daß die ganze Methode 
das Werk eines Mannes mit einer latent gewordenen Zwangsneurose sei* 
wird uns hernach noch beschäftigen. Hier sei erwähnt, daß Zwangskranke 
nicht nur dazu neigen, vielerlei Dinge gemäß einer obsedierenden Zahl 
zu wiederholen, sondern daß sie auch häufig Formeln bilden, die oft den 
Charakter der Selbsthilfe gegenüber einer Obsession tragen. Die von Coud 
vorgeschriebene Art, in welcher die Formel in rascher Wiederholung auszu¬ 
sprechen ist, muß uns an die „Verbigeration“ der Geisteskranken erinnern. 








Psydioanalytisdie Bemerkungen zu Coues Verfallen der Selbstbemeisterung 147 


Die übliche Kritik bemängelt dieses automatisierte Plappern einer ein¬ 
gelernten Formel und findet es unbegreiflich, daß heutzutage jemand ein 
Heilverfahren auf ein so kümmerliches geistiges Niveau stellen kann. Unsere 
Vermutung bewegt sich in gerade entgegengesetzter Richtung. 

Die allgemeine Wirkung des CouAschen Verfahrens war uns daraus 
verständlich geworden, daß das Individuum zum Massenbestandteil wird. 
Es geht seiner Kritik verlustig, der psychische Überbau löst sich mehr 
oder weniger auf, und die unbewußten seelischen Prozesse von impulsivem 
Charakter gewinnen die Oberhand. Auch die Neigung, sich die autosug¬ 
gestive Formel zu eigen zu machen, setzt eine Herabminderung der Kritik 
und eine entsprechende Steigerung der Gläubigkeit voraus. Das Schwinden 
der Kritik aber ist es, das den Zugang zum Unbewußten eröffnet. Ich 
brauche nur daran zu erinnern, daß wir in der Psychoanalyse dem 
Patienten zu Anfang erklären, er möge beim freien Assoziieren, das uns 
doch den Zugang zu seinem Unbewußten erschließen soll, die Kritik aus- 
schalten. 

Die Formel ist ohne Zweifel dazu bestimmt, auf das Unbewußte des 
Kranken zu wirken; Couö selbst sagt wörtlich so, wenngleich seine 
Vorstellungen vom Unbewußten zu manchem Bedenken Anlaß geben. 

Nach unserer Anschauung hat sich das Unbewußte in der Krankheit _ 

ich habe hier speziell die Neurosen im Auge — ein Ausdrucksmittel für 
bestimmte verdrängte Tendenzen gebildet. Es ist also am Fortbestand der 
Krankheit interessiert; ihre Auflösung würde für das Unbewußte einen 
Verlust bedeuten, und wir Analytiker kennen das Sträuben gegen eine 
solche Veränderung gut genug. Soll nun auf suggestivem Wege erreicht 
werden, daß das Unbewußte — sagen wir — sich bereden läßt, so wird 
der Erfolg von der zweckmäßigen Wahl der Mittel abhängen. Im Falle 
der Fremdsuggestion ist das wichtigste Agens eine libidinöse Bindung, die 
Übertragung auf den Hypnotiseur. Dazu kommen die besonderen Mittel, 
welche einen bestimmten suggestiven Effekt erzielen sollen. Im Falle der 
Autosuggestion bedarf es, wie wir sahen, eines guten Einvernehmens 
zwischen Über-Ich und Ich, und daneben eines bestimmten Vehikels der 
Suggestion. 

Wollen wir verstehen, warum Couös Formel, bezw. überhaupt eine 
magische Formel, in dieser Hinsicht anwendbar und in gewissen Grenzen 
erfolgreich ist, so werden wir am besten wieder an eine Feststellung 
F r e u ds anknüpfen und weiterhin gewisse Parallelerscheinungen aus 
benachbarten Gebieten ins Auge fassen. 

In seiner kritischen Übersicht über Le Bons „Psychologie der Massen“ 
sagt F reud: „Wer auf sie (die Masse) wirken will, bedarf keiner logischen 









148 Karl Abraham f 

Abmessung seiner Argumente» er muß in den kräftigsten Bildern malen» 
übertreiben und immer das Gleiche wiederholen.“ 1 Die Wieder¬ 
holung des Gleichen, zumal in formelhaftem Ausdruck — so dürfen wir 
ergänzen — bahnt sich offenbar in besonderer Weise den Weg ins Un¬ 
bewußte. Es muß sozusagen eine Sprache sein, auf die das Unbewußte 
reagiert. Nun versteht man doch am besten die Sprache, welche man 
selber spricht. Und da dürfen wir sogleich hinzufügen: Die Wiederholung 
ist eine häufige und uns bekannte Ausdrucksform unbewußter Impulse. 
Auf das, was Freud unter dem Namen des „Wiederholungszwanges“ 
beschrieben hat, soll hier nicht eingegangen werden. Von diesem mächtigen 
Zwang, der das Individuum nötigt, in gewissen Zeitabständen die gleiche 
Handlung wiederum zu begehen, führen fliessende Übergänge zu den 
Erscheinungen, welche uns hier interessieren. 

Die Völkerpsychologie bietet uns bemerkenswerte Erscheinungen, die wir 
zum Vergleich heranziehen dürfen. Ich las vor langer Zeit eine Schilderung 
des Afrikaforschers Stanley, wie er mit seiner Expedition einen Kampf 
gegen feindselige Eingeborene aufnehmen mußte. Er teilte nun seine Leute 
in ein paar Trupps und gab jedem einen Anführer. Als es zum Kampfe 
ging, produzierte jeder Trupp eine Art von Schlachtgesang oder Feld¬ 
geschrei. Der Trupp, beispielsweise, welcher einem Manne namens Uledi 
unterstellt war, sang in endloser Wiederholung: Uledi-ledi-ledi . . . Der 
Sinn dieses Gebrauches ist klar. Er betont die Bindung jedes Mannes 
an den Führer, die zugleich die Kampfgenossen auch untereinander ver¬ 
bindet. 

Bei einer Gruppe von Geistesstörungen, die mit tiefreichender Regression 
der Libido zu ihren frühesten Entwicklungsstufen einhergehen, den 
katatonischen Zuständen, gelegentlich aber auch bei anderen Psychosen, 
finden wir das Symptom der Verbigeration. Ein oder mehrere Worte 
werden in triebhafter Weise viele Male nacheinander hervorgestoßen. Die 
Psychoanalyse erkennt in diesen Wortfolgen den oft nur wenig entstellten 
Ersatz bestimmter, vom Unbewußten angestrebter Handlungen. Frühere Mord¬ 
impulse sind etwa zu einem stereotypen Abbeten einer Formel geworden, in 
der Hinweise auf den Tod enthalten sind. Sexuelle Antriebe fanden ihren ab¬ 
geschwächten Ausdruck in stereotyp wiederholten obszönen Reden. Die gleichen 
Personen pflegen übrigens auch „Bewegungs-Stereotypien“ darzubieten, in 
welchen eine Intention von ursprünglich hohem Affektwert zu einer bizarren 
Ausdrucksbewegung erstarrt ist. Unter den chronisch Geisteskranken kann 


1) „Massenpsychologie^ Ges. Schriften Bd, VL S. 271* Die letzten Worte sind im 
Druck von mir hervorgehoben. 









Psychoanalytische Bemerkungen zu Coues Verfahren der Selbstbemeisterung 149 


man derartiges vielfach beobachten. Für diejenigen Leser, denen es an 
eigener psychiatrischer Erfahrung fehlt, will ich ein paar Beispiele an¬ 
fügen. 

Zu meiner Schulzeit begegnete man in den Straßen meiner Heimatstadt 
einem Manne mit närrischem Benehmen, in welchem jeder Irrenarzt ohne- 
weiters die Residuen einer kataton-hebephrenischen Geistesstörung zu 
erkennen vermochte. Wenn er durch die Straßen hinkte, war stets ein 
Schwarm von Schuljugend hinter ihm. Er lief dann weiter, so schnell er 
konnte. In dieser Situation, aber auch sonst, sprach er laut vor sich hin, 
immer die gleichen Worte im gleichen Tonfall wiederholend. Eine dieser 
Formeln lautete: „Zehntausend Sarge, zehntausend Särge* 6 usw. Eine andere: 
„Der Tod ist nah, die Zeit ist um, die Zeit ist um, der Tod ist nah“ usw. 
in infinitum. Die feindseligen Impulse fanden in diesen Worten des hilf¬ 
losen Narren einen letzten erstarrten Ausdruck. Wir erkennen in ihnen 
eine Art von Bannformeln gegen die Verfolger. Zu erwähnen ist, daß 
nach dem Ergebnis der Psychoanalysen derartige Formeln, auch unter der 
Decke aggressiver Regungen, stets sexuelle Impulse zum Ausdruck bringen, 
und daß dies nicht bloß durch ihren Wortlaut und Inhalt, sondern wesentlich 
auch durch ihren Rhythmus geschieht. Besonders leicht überzeugt man 
sich davon bei den Bewegungsstereotypien, deren erotische Bedeutung oft¬ 
mals ganz unverkennbar ist. 

Zur Bildung von Wortformeln kommt es sodann sehr oft in der Zwangs¬ 
neurose. Freilich sind sie von den Formeln der Katatoniker schon äußerlich 
recht verschieden. Sie dienen ganz bewußt zur Bannung eigener Antriebe 
des Kranken; ihre Form ist zwar oft verschroben, jedoch immer leicht als 
sinnvoll zu erkennen. Einer meiner Patienten bannte bestimmte Impulse 
mit der Formel: „Das geht mich nichts an, Fußtritt, weg!“ Bemerkt sei, 
daß diese gegen einen gefürchteten Zwang angewandten Formeln stets bald 
selbst obsedierend werden. Was uns aber besonders interessieren muß, ist 
die Ambivalenz der Triebregungen, die selbst in diesen kleinsten psychischen 
Produktionen der Zwangskranken zu Tage tritt. In dem, was ein Zwangs¬ 
kranker tut oder spricht, äußern sich zugleich Trieb und Verbot, eine 
Lusttendenz und eine Straftendenz. Ein sehr instruktives Beispiel gab mir 
ein Patient aus seiner Kindheit. Sein Verhalten war schon damals durch¬ 
setzt von feindlich-quälerischen Antrieben, selbst da, wo er von Schuld¬ 
gefühl und Reue erfüllt zu sein schien. Diese Gefühle bezogen sich ins¬ 
geheim besonders auf die Masturbation, während sie sich äußerlich meist 
an die sonstigen kleinen Untaten der Kinderstube anschlossen. War der¬ 
artiges geschehen, so trug sich hernach jedesmal das Gleiche zu. Der 
Knabe klammerte sich an seine Mutter und sagte in unendlicher Wieder- 









150 


Karl Abraham f 


holung: »forgive me , mother, forgive me, mother! u Dieses Verfahren 
brachte zwar reuige Zerknirschung, weit stärker aber zwei andere Tendenzen 
zum Ausdruck, Einmal setzte er in ihm die Quälerei gegenüber seiner Mutter 
fort, während er Abbitte tat. Sodann aber erwies sich bei ihm damals, wie 
in reiferen Jahren, daß er, anstatt sich zu bessern, es stets vorzog, sich 
seine Verfehlungen verzeihen zu lassen, was sich auch während seiner 
psychoanalytischen Behandlung störend äußerte. Wir ermittelten aber noch 
weiter, daß das schnelle Herunterhaspeln jener Bußformel dem Rhythmus 
der Onanie nachgebildet war. Also wußte sich die verbotene sexuelle 
Tendenz auch in dieser Form heimlich durchzusetzen. Ich berichte hiervon 
so ausführlich, weil dieser Patient später — einige Zeit, bevor er in die 
Ps}^choanalyse trat — es mit der Coue-Formel versucht hatte. Da konnte 
man mit dreimal zwanzig gemurmelten Sätzen alles wieder gut machen 
und brauchte sich keiner sonstigen Willensanstrengung zu unterziehen 1 

Wir beginnen zu verstehen, daß es für manche Personen eine bequeme 
und billige Art der Selbstbestrafung bedeutet, der sie sich unterziehen, 
wenn sie das C oue-Verfahren einschlagen, weit bequemer, als wenn sie 
ihre bisherigen Fehler vermeiden würden. Ja, das Verfahren kommt ihnen 
darin noch entgegen! Für alle Menschen ist die Vorstellung der Strafe 
eng verknüpft mit Zahlenvorstellungen. Man erhält 25 Stockschläge, 6 Monate 
Gefängnis, 100 Mark Geldstrafe. Und erinnern wir uns nun wieder der 
Verwandtschaft der Methode mit dem Abbeten des Rosenkranzes, so können 
wir hervorheben, daß dem gläubigen Katholiken oftmals vom Geistlichen 
befohlen wird, eine bestimmte Zahl von Rosenkränzen abzubeten, als 
Sühne für seine Verfehlungen. Und gleich wie der Rosenkranz, so eignet 
sich auch Coues Methode dazu, dem allgemein menschlichen Schuld¬ 
gefühl und Strafbedürfnis Ausdruck zu verleihen. Zwischen Sünde und 
Krankheit bestehen uralte, feste Assoziationen. Die verbreitetste mensch¬ 
liche „Verfehlung“, die Onanie, zieht Schuldgefühle nach sich, zugleich 
aber mit großer Häufigkeit die Furcht vor Erkrankungen. In dieser Furcht 
prägt sich die Erwartung der Strafe aus, und diese bezieht sich auf alle 
„bösen“, unerlaubten Wünsche der Kindheit, die in der Onanie ihren 
kollektiven, handelnden Ausdruck finden. 

Wir vermögen nun zu präzisieren, in welcher Weise die Methode Couös 
auf das Individuum wirkt, wenn sie erfolgreich ist. Indem der Patient ein 
Gehaben annimmt, das uns an jenes der Zwangskranken erinnert, vertauscht 
er seine bisherige Krankheit gegen eine milde Form von Zwangsneurose, 
ohne sich dessen bewußt zu werden. Das Gefühl der Allmacht, das mit 
der „Seibstbemeisterung“ verbunden ist, ist lustvoll genug, um seinen 
Blick für etwaige Nachteile der Methode zu trüben. Man hat früher 







Psydioanalytisdie Bemerkungen zu Coues Verfahren der Selbstbemeisterung 151 

gesagt, die Hypnose rufe eine künstliche Hysterie hervor. Neuerdings ist 
von Radö 1 eine ähnliche Anschauung bezüglich des kathartischen Ver¬ 
fahrens geäußert worden. Die therapeutische Wirkung des C o u d-Verfahrens 
wäre demnach an eine stärkere Regression gebunden. Diese Annahme steht 
in bester Übereinstimmung mit dem, was wir über Regressionserscheinungen 
in der Richtung zum Narzißmus bereits festgestellt haben. Wir dürfen 
hinzufügen, daß die Vorstellungen von der eigenen „Allmacht“ am stärksten 
in der Zwangsneurose hervortreten; der erste Krankheitsfall, an welchem 
Freud diese Erscheinung beschrieb, war eine Zwangsneurose. Wir kennen 
auch gut den Kampf des Zwangskranken gegen sein Leiden, den er zu 
einem Teil, wie erwähnt, mit Hilfe von Formeln führt. 

Da sich nun ganz Entsprechendes in dem Vorgang der „Selbstbemeisterung“ 
abspielt, so spricht Vieles für die Vermutung, daß ihr Erfinder mit einer 
Zwangsneurose behaftet sei, die sich vielleicht nicht mehr im Stadium der 
Symptombildung befindet, ihn aber offenbar nötigt, an der Menge der Hilfe¬ 
suchenden immer wieder die Allmacht der Gedanken zu erproben. Ganz 
auffällig ist die Scheu vor jedem Wissen um den Ursprung einer Krankheit; 
wir werden hier unmittelbar an die Verbote des Fragens und Wissens 
erinnert, denen wir in den Analysen Zwangskranker begegnen. 

Die ökonomische Bedeutung der Coue-Formel im Bewußtsein und im 
Unbewußten des Patienten erweist sich uns somit als ebenso vielfältig wie 
die Bedeutung eines Zwangssymptoms für den Neurotiker. Da ist zunächst 
die manifeste Bedeutung der Formel als Trost und Selbstaufmunterung, die 
in der Wiederholung noch besonders bekräftigt wird. Das Nachsprechen der 
vom Meister empfangenen Formel ermöglicht es dem Jünger, sich in be¬ 
sonders betonter Weise mit jenem gleichzusetzen. Des weiteren dient die 
Formel der Selbstbestrafung: Litt das Individuum an einer Krankheit, 
die seinem Unbewußten Strafe bedeutete, so würde hier eine Sühne 
durch eine andere, dem Ich weit genehmere, ersetzt. Endlich kehrt in der 
Formel das Verdrängte wieder, das Verbotene, dessen Genuß die Strafe 
galt; Rhythmus und Tempo sind an dieser unbewußten Darstellung des 
Verbotenen besonders beteiligt, die mit Zustimmung des „Vaters“ geschieht. 

In tiefster unbewußter Schicht bedeutet der Gebrauch der Formel also 
einen larvierten, vom Vater approbierten Onanie-Ersatz. Die vorgeschriebene 
Schnur gibt uns auch zu denken. Man könnte ja auch an den Fingern 
abzählen, aber Coue macht den Gebrauch der Schnur obligatorisch. Das 
Hantieren mit ihr ist wie das Wiedererscheinen der verpönten Manipulation 


l) Radö, Das ökonomische Prinzip der Technik I. Hypnose und Katharsis. (Heft 1 
dieses Jahrganges.) 










152 Karl Abraham f 

in Gestalt einer Handlung, die dem Augenschein nach der Verdrängung 
dient. Und so vereinigen sich unerlaubte sexuelle Tendenz, Strafe, Besserungs¬ 
streben und Trost in dieser einen Formel. 

Im Laufe unserer Untersuchung ist uns verständlich geworden, aus welchen 
psychologischen Ursachen sich ungezählte Menschen in allen Ländern so 
bereitwillig dem Couö’schen Verfahren in die Arme geworfen haben, und 
wie alle diese Menschen willig und ohne Kritik zu Sprechmaschinen wurden, 
welche die Heilsformel in der vorgeschriebenen Weise reproduzieren. Neben¬ 
bei gelang es uns, das psychologische Verhältnis der „Selbstbemeisterung^ 
zu anderen Wegen der Psychotherapie zu erfassen. Wir dürfen eine 
Stufung der therapeutischen Verfahren annehmen, ähnlich wie sie sich 
uns für die hauptsächlichsten Objekte dieser Heilmethoden, die Neurosen, 
ergeben hat. 

Bezeichnen wir Cou^s Methode als ein Heilverfahren auf der zwangs¬ 
neurotischen Stufe, so bedeutet das nicht nur, daß es sich der nämlichen 
archaischen Denkakte bedient, wie wir sie aus der Psychologie der Zwangs¬ 
neurose kennen. Es bedeutet auch, daß Couds Methode im psychologischen 
Sinne die Antipodin der Psychoanalyse darstellt. Zwar findet in Couös 
Schriften das Unbewußte Berücksichtigung, aber das psychologische 
Fundament ist überaus schwach und an inneren Widersprüchen reich. Der 
volle Gegensatz der beiden Richtungen wird deutlich, wenn wir vergleichen, 
wie sie sich zu einer entscheidenden Frage stellen, nämlich zum Wissen des 
Kranken um Herkunft und Aufbau des Leidens. Für den Psychoanalytiker 
ist die Bewußtmachung des Verdrängten, welche den eben erwähnten 
Vorgang zum guten Teile in sich begreift, ein unentbehrliches Mittel 
zur Erreichung des Heilzwecks, Anders Coud! Hören wir, wie er sich 
äußert: 

„Es ist besser, nicht zu wissen, von wannen ein Übel kommt, es aber 
dennoch zu vertreiben, als es zu wissen und es dabei nicht los zu werden. <c 1 

Die Psychoanalyse ist, mit diesem Verfahren verglichen, die Methode, 
welche den Menschen am stärksten zur Anerkennung des Realitätsprinzips 
nötigt und zugleich, der aufsteigenden Entwicklung gemäß, dem Bewußt¬ 
sein eine wachsende Bedeutung einräumt. Sie verlangt vom Individuum die 
Bewältigung psychischer Widerstände und soll, nach Freuds Wort, in der 
„Abstinenz durchgeführt werden. Couös Lehre, die zwar die unbewußte 
Herkunft der Symptome betont, aber jedes nähere Wissen um diese Her¬ 
kunft abweist und in weitem Umfang dem Lustprinzip nachgibt, kommt 
somit ein ebenso regressiver Charakter zu, wie derjenige der Psycho- 


1) Coue, Die Selbstbemeisterung durch bewußte Autosuggestion, Basel 1925. S. 102* 










Psychoanalytische Bemerkungen zu Coues Verfahren der Selbstbemeisterung 153 


analyse als progressiv zu bezeichnen ist. Die Annäherung der Methode 
C o u d s an die Heilverfahren primitiver V ölker ist unverkennbar; die 
magische Gedankenrichtung ist hier wie dort vorherrschend und erspart 
dem Patienten jede mühevolle Anpassung an die Realität. 

Jones weist, wie schon geschildert, mit Schärfe darauf hin, daß ein 
solches Verfahren scheinbar billige Erfolge erziele, die aber erkauft seien 
durch eine Hemmung der Entwicklung an irgend einer wichtigen Stelle. 
Das sagt ungefähr das Gleiche wie unsere Schlußfolgerung, daß der Kranke 
im Falle der gelungenen „Selbstbemeisterung“ sein bisheriges Leiden gegen 
einen psychischen Zwangszustand eintausche. 

Einer der Kritiker Coues, Decsi, wendet gegen das Verfahren ein, daß, 
wenn der Kranke vor der Behandlung an einer „autosuggerierten Krank* 
heit“ gelitten habe, er sich nunmehr einer suggerierten Gesundheit 
erfreue. Offenbar meint der Autor damit den gleichen psychischen Vorgang, 
den wir als zwangsneurotisches Gefühl der Allmacht gedeutet haben. 

Die Erfolge also, welche auf solchem Wege erzielt werden, sind trügerisch. 
Ihre Dauerhaftigkeit zu prüfen, ist nicht leicht, weil die rückfälligen 
Kranken, ebenso wie die von vornherein mißglückten, nicht von sich reden 
machen. Nach der begrenzten Zahl der mir begegneten, nach C o u 6 be¬ 
handelten Patienten drängt sich mir der Eindruck auf, daß die suggestive 
Wirkung höchst oberflächlich und vergänglich sei. Und das wäre leicht 
genug verständlich. Die Heilerfolge der Hypnose sind in ihrer Dauer davon 
abhängig, ob die „Übertragung“ der Libido auf den Hypnotiseur anhält, 
und auch hier zeigt die Erfahrung, daß wir mit labilen seelischen Zu¬ 
ständen zu tun haben. Um wieviel labiler muß der autosuggestive Erfolg 
sein! Der Patient ist doch der Wirklichkeit nicht gänzlich entrückt. Die 
Tatsachen des Lebens vermögen die Richtigkeit der Formel von der immer 
fortschreitenden Besserung gar so leicht zu erschüttern und zu widerlegen! 
Und dann fehlt es an der stark gefühlsmäßigen, individuellen Bindung, 
wie das Individuum sie dem Hypnotiseur gegenüber entwickelt. Dann muß 
es sich zeigen, ob etwas mehr vorliegt, als eine flüchtige Faszination des 
zum Massenbestandteil herabgesunkenen Individuums, ob die Gefahr der 
Desertion auf genügend starke Hemmungen stößt. 

Die Zukunft wird überhaupt zeigen müssen, ob die um C o u 6 gebildeten 
Massen eine genügende innere Bindung aufweisen, um die erzielten Erfolge 
beim einzelnen längere Zeit fortdauern zu lassen. Die Faszination der 
Massen, wie sie am ausgeprägtesten in Amerika zu beobachten war, hat dem 
„Coudismus“ in hohem Maße den Charakter einer Mode verliehen, und 
mit einer solchen dürfte sie auch die Lebensdauer mehr oder weniger teilen. 
Eben hier aber ist der Unterschied gegenüber der Psychoanalyse am äugen- 









154 Karl Abraham f 

fälligsten. Als Heilmethode auf streng individuelle Gestaltung, auf gründliche 
Arbeitsleistung und erheblichen Zeitaufwand eingestellt, vermag sie allerdings 
nicht in die Breite der Massen zu wirken, wie es die Verbreitung der Neurosen 
erwünschen ließe. Sie bleibt anderseits vor einem geschäftig-modemaßigen Be¬ 
trieb bewahrt und bringt die Menschen nicht in die Gefahr, nach einer kurzen 
Zeit der Faszination ihren früheren Leiden wieder ausgeliefert zu werden* 






Karl Abraham 

1877—1925 



Es kann kein Zweifel sein, daß der Tod Karl Abrahams der härteste 
Schlag ist, der bisher die Psychoanalyse getroffen hat. Wir haben eine 
ganze Anzahl anderer wertvoller Mitarbeiter verloren, auch einen Gruppen¬ 
präsidenten, deren Namen unsere Erinnerung immer festhalten wird. Die 
psychoanalytische Bewegung hat Schicksalsschläge von anderer Art erfahren, 
bei einem derselben auch einen Präsidenten eingebüßt. Aber bei aller Ein¬ 
schätzung dieser Verluste dürfen wir doch sagen, keiner von ihnen bedeutete 
für die Psychoanalyse dasselbe wie der jetzt von uns Betrauerte. Denn 
Karl Abraham war zugleich ein Meister der Theorie und der Praxis 
unserer Wissenschaft, einer der ersten Eroberer auf unserem Forschungs¬ 
gebiet, ein Führer und Organisator höchster Ordnung, ein treuer Freund, 
Mitarbeiter und Helfer für alle. Die nachfolgende Darstellung seines Lebens 
und seiner Tätigkeit soll zeigen, welche Gründe wir haben, seinen Verlust 
so schwer zu empfinden. 

* 

Sein Lebenslauf gestaltete sich in folgender Weise: Er wurde am 5. Mai 
1877 in Bremen geboren, war also erst 48 Jahre alt, als er starb. Er 
stammte aus einer alten jüdischen Familie, die durch lange Zeiten in ver¬ 
schiedenen Städten Norddeutschlands geblüht hatte. Er hatte einen älteren 
Bruder, aber keine Schwester. Den Schulunterricht genoß er in seiner 
Heimatstadt bis zum Jahre 1896 und wandte sich dann der Medizin zu. 

In seinen späteren Schuljahren entwickelte Abraham eine besondere 
Neigung zur Philologie und vergleichenden Sprachkunde. Wenn es die 
Umstände gestattet hätten, hätte er sich wahrscheinlich diesen Studien 
ausschließlich gewidmet, sein Interesse für sie hielt durch sein ganzes 
Leben an, und sicherlich verfügte er über eine ungewöhnliche Begabung 
in dieser Richtung. Er beherrschte außer seiner Muttersprache Englisch, 















156 


Emest Jones 


Spanisch, Italienisch und Raeto-Romanisch, er führte Analysen in den 
ersten beiden dieser Sprachen durch und konnte seinen Vortrag auf dem 
Internationalen Psychologischen Kongreß zu Oxford frei in Englisch halten» 
Er besaß aber auch eine ziemliche Kenntnis des Dänischen, Holländischen 
und Französischen, die er in seiner Kindheit sprechen gehört hatte. Er 
war durchaus vertraut mit der altklassischen Literatur und während der 
Gymnasialstudien seiner Kinder benützte er die Gelegenheit, seine Bezie¬ 
hungen zu ihr wieder zu beleben. Jeder, der den Kongreß im Haag, 1920, 
mitgemacht hat, wird sich der Überraschung erinnern, als Abraham die 
Gäste in einer wohlgesetzten lateinischen Rede begrüßte. 

Er verfolgte seine medizinischen Studien an den Universitäten Würzburg, 
Berlin und Freiburg i. Br. Die erste dieser Städte scheint er sehr lieb¬ 
gewonnen zu haben, wählte sie vielleicht darum zum Versammlungsort 
des ersten rein deutschen psychoanalytischen Kongresses. Sein Doktordiplom 
erhielt er 1901 an der letztgenannten Universität. Während der Studienzeit 
fesselte die Biologie sein Interesse, was für seine spätere Arbeit und für 
seine ganze wissenschaftliche Einstellung entscheidend wurde. Von Freiburg 
aus machte er seine erste Bekanntschaft mit der Schweiz, welches Land er 
später vor allen anderen lieben lernte. Die Leute in der Schweiz und ihre 
Lebensweise erregten sein Wohlgefallen, aber wahrscheinlich zogen ihn 
in erster Linie die hohen Berge an als ausgesprochener Gegensatz zu den 
Niederungen seiner Heimat. Er wurde, sobald sich ihm die Gelegenheit 
dazu bot, ein leidenschaftlicher Alpinist und unternahm eine ganze Anzahl 
von erstklassigen Bergbesteigungen. Ganz wie Segantini, der kurz vor 
Abrahams erster Reise nach der Schweiz gestorben war, und dessen 
Persönlichkeit ihn so mächtig gefesselt hat, zog er das Oberengadin allen 
anderen Örtlichkeiten vor, und er kehrte immer wieder und wieder dorthin 
zurück. Noch seine letzten Ferien im Sommer 1925, von denen wir alle so 
viel Erholung für ihn erhofften, verbrachte er dort und konnte um diese 
Zeit noch mehrere ziemlich anstrengende Touren durchführen. Es war ein 
langgehegter Wunsch von ihm, sich dort oben — in der Nähe von Sils 
Maria — ein Häuschen zu bauen, und der letzte Brief, den er geschrieben, 
beschäftigte sich noch mit dieser Absicht. 

Noch während er in Freiburg war, bemühte er sich um eine Anstellung 
im Burghölzli bei Zürich, einerseits um so in die von ihm geliebte Schweiz 
zu kommen, anderseits aber weil er mit Bleulers psychiatrischen Arbeiten 
bekanntgeworden war und sie besonders hoch einschätzte. Er mußte indes 
einige Jahre warten, bevor dieser Wunsch in Erfüllung gehen konnte und 
nahm zunächst im April 1901 den Posten eines Assistenzarztes in der Ber¬ 
liner Irrenanstalt Dalldorf an. Er arbeitete dort durch nahezu vier Jahre und 









Karl Abraham 


157 


erwarb sich ein gründliches Wissen in der klinischen Psychiatrie. Seinem 
dortigen Chef, Prof. Liepmann, bewahrte er auch später große Achtung. 
Zwei wissenschaftliche Arbeiten aus jener Zeit beziehen sich auf Liep- 
manns eigenstes Gebiet, das der Aphasie und Apraxie. Im Dezember 1904 
erhielt er zu seiner großen Befriedigung eine Stellung am Burghölzli mit 
dem Titel eines Assistenten der Züricher Psychiatrischen Klinik. Dort erfuhr 
sein Interesse die endgültige Richtung auf die Psychologie und dort wurde 
er durch Bleuler und Jung mit den Veröffentlichungen von Freud 
bekannt. Aus dieser Zeit rührt auch sein erster Beitrag zur Psychoanalyse, 
ein Vortrag auf der Jahresversammlung der Deutschen Psychiatrischen 
Gesellschaft in Frankfurt [9]. Der Zufall wollte, daß er achtzehn Jahre 
später in der nächsten Nähe derselben Stadt zum letztenmal vor der 
Öffentlichkeit erscheinen sollte, als Präsident des IX. Internationalen Psy¬ 
choanalytischen Kongresses. 

In die gleiche Zeit fällt auch ein anderes Ereignis, welches zur Haupt¬ 
quelle seiner für ihn so charakteristischen Lebensbejahung wurde und dem 
er zum großen Teile die Energie und ungeteilte Freudigkeit zu danken 
hatte, mit der er sich seiner Arbeit widmen konnte. Seine Anstellung in 
Zürich traf mit seiner Verlobung zusammen; nachdem seine Stellung dort 
sich immer mehr gefestigt hatte, konnte er im Januar 1906 an Heirat 
denken. Die Wahl seiner Lebensgefährtin erwies sich als eine außer¬ 
ordentlich glückliche; er fand in ihr eine Kameradin, die sein Leben bis 
ins Letzte mit ihm teilte und ihm an Frohsinn nicht nachstand. Ende 
des Jahres 1906 wurde ihnen in Zürich eine Tochter, wenige Jahre später 
in Berlin ein Sohn geboren. 

Abraham hatte gehofft» sich für ständig in der Schweiz niederlassen zu 
können, mußte aber bald einsehen, daß ein Ausländer dort wenig Aussicht 
auf eine regelrechte psychiatrische Karriere hatte. Er mußte sich also um 
eine andere Niederlassung umsehen. Sein Entschluß fortzugehen wurde 
sicher noch durch die unbehagliche Atmosphäre beschleunigt, die sich aus 
der Spannung zwischen Bleuler und Jung ergab. Er gab also im Novem¬ 
ber 1907 seine Stellung auf. In den gleichen Monat fiel auch sein erstes 
Zusammentreffen mit Professor Freud, den er in Wien aufsuchte; das 
letzte Zusammentreffen beider fand im August 1924 auf dem Semmering 
statt. Die Unterredungen, die damals zwischen ihnen stattfanden, zeitigten 
eine wichtige Arbeit [1 l7, auf die wir noch später zurückzukommen haben 
werden. Die damals angebahnten persönlichen Beziehungen entwickelten 
sich zu einer bis zum Ende ungetrübten Freundschaft. Abraham gehörte 
dem kleinen Kreise derjenigen an, die Professor Freud regelmäßig während 
seiner Sommerferien aufzusuchen pflegten. Bei einer dieser Gelegenheiten 














158 


Ernest Jones 


organisierte er eine gemeinsame Reise in den Harz, eine ihm wohl vertraute 
Gegend. 

Im Dezember 1907 ließ Abraham sich in Berlin nieder und eröffnete 
seine psychoanalytische Privatpraxis. In der ersten Zeit fand er einige Unter¬ 
stützung durch Professor Oppenheim, dessen Frau mit ihm verwandt 
war, und arbeitete auch eine Weile an Oppenheims neurologischer Poli- 
klinik; ihre verschiedene Einstellung zu der Freud sehen Lehre brachte 
aber in wissenschaftlicher Hinsicht bald eine Entfremdung der beiden Männer 
zustande. Eine dauerndere Unterstützung gewährte ihm dann Dr. Wilhelm 
Fließ, den Abraham einige Jahre später kennenlernte und sehr hoch 
einschätzte; Fließ hat sich auch in Abrahams letzter Krankheit an seiner 
Behandlung beteiligt. 

At>rah am war also der erste wirkliche Psychoanalytiker in Deutschland 
geworden; die wenigen, die, wie Muthmann, Warda u. a., nur ein kleines 
Stück Weges mit der Freudschen Lehre gegangen waren, haben ja auf 
diesen Namen kaum ein Anrecht. Er begann sofort in privaten Zusammen¬ 
künften und Vorträgen im eigenen Hause andere Ärzte für seine Arbeit 
zu interessieren. Von allen jenen, die er zu dieser Zeit an sich zog, blieb 
aber nur ein einziger, Koerber, der Psychoanalyse bis zum heutigen 
Tage erhalten. Er versuchte auch einige Jahre hindurch, den Gegenstand 
in den Sitzungen der verschiedenen medizinischen Vereinigungen zu ver¬ 
treten, wobei er als Einzelner einer starken und feindseligen Opposition 
mit großem Mute und besonderer Standhaftigkeit Trotz bot. Trotz dieser 
Eigenschaften aber und trotz seines charakteristischen Optimismus mußte 
schließlich sogar Abraham die Aussichtslosigkeit eines solchen Unternehmens 
einsehen. Schon aber begannen bessere Zeiten anzubrechen. Im Herbst des 
Jahres 1909 stieß Eitingon, der ebenfalls im ßurghölzli gearbeitet hatte, 
in Berlin zu ihm; von da an hatte Abraham einen Mitarbeiter nach 
seinem eigenen Herzen. 

Im März des Jahres 1910 wurde die „Internationale Psychoanalytische 
Vereinigung“ formell gegründet und im gleichen Monat die „Berliner 
Psychoanalytische Vereinigung“ gebildet. Sie war die erste der Zweig¬ 
vereinigungen, der dann im April und Juni die Wiener und Züricher 
Gruppe folgten; allerdings hatten in den beiden letztgenannten Orten 
zwanglose Gruppen schon lange vor der Berliner bestanden. Von den neun 
ursprünglichen Mitgliedern (unter ihnen Warda, der erste Arzt, der selb¬ 
ständig für die Freud sehe Lehre eingetreten war) gehören heute nur 
mehr zwei, Eitingon und Koerber, der Gesellschaft an. Wir werden 
später noch Gelegenheit haben, auf die Bedeutung Abrahams für die 
Berliner Gruppe einzugehen, hier sollen nur einige einfache Tatsachen 









Karl Abraham 


159 


erwähnt werden. Er führte den Vorsitz in dieser Gesellschaft von ihrer 
Gründung an bis zu seinem Tode. Er widmete ihr seine beste Arbeitskraft 
und ihre Interessen standen jederzeit bei ihm obenan. Er war unermüdlich 
in seinem Zeitaufwand für sie, in seiner Tätigkeit als Führer und Kritiker. 
Fast alle seine wichtigen Arbeiten legte er zuerst der Vereinigung vor. 
Alles in allem hielt er in den 15 Jahren seiner Präsidentschaft, von denen 
er einige infolge des Krieges und seiner Krankheit ferngehalten war, nicht 
weniger als 46 Vorträge; in einem Jahr allein (1923) zwölf. Seine Fähig¬ 
keiten als Lehrer und Heranbilder von Analytikern konnten sich auch 
außerhalb der Gesellschaft betätigen. Er führte eine ganze Reihe Lehr¬ 
analysen durch; zu seinen hervorragendsten Schülern zählen, außer einigen 
ältern Mitgliedern der Berliner Gruppe, Helene Deutsch, Edward Glover, 
James Glover, Melanie Klein, Sändor Radö und Theodor Reik. Als sich 
später zeigte, daß es gewisse Nachteile mit sich brachte, wenn die Mitglieder 
der Gruppe von ihrem Vorsitzenden analysiert werden, wurde diese Schwierig¬ 
keit in glänzender Weise dadurch gelöst, daß im Jahre 1920 Hanns 
Sachs nach Berlin übersiedelte und zum offiziellen Lehranalytiker bestimmt 
wurde, was für Abraham eine große Erleichterung bedeutete. Überdies 
pflegte Abraham in hingebender Weise die Vortragstätigkeit und erwarb 
sich auch in dieser Hinsicht große Verdienste in Berlin. Sein erster vier¬ 
wöchiger, im Rahmen der Vereinigung gehaltener Kurs wurde im März 1911 
abgehalten; von da an hatte er einen hervorragenden Anteil an allen von 
der Vereinigung, später vom Lehrinstitut veranstalteten Unterrichtskursen. 
Abraham beteiligte sich auch, wenn auch bei weitem nicht in dem 
Maße wie Eitingon, an der Gründung und Erhaltung der Berliner 
Poliklinik. Er beteiligte sich eifrig an der Auswahl der geeigneten Kandi¬ 
daten, der Ausbildung der Zugelassenen, insbesondere der Ausländer, und 
war in organisatorischen Angelegenheiten immer zur Hilfe bereit. Seine 
Zeit war natürlich zu sehr in Anspruch genommen, als daß er auch eine 
tägliche Arbeitsleistung am poliklinischen Institut hätte auf sich nehmen 
können. 

Ebenso intim waren auch Abrahams Beziehungen zur „Internationalen 
Vereinigung“. Er war einer von den fünf oder sechs Personen, die an 
allen bisher abgehaltenen Kongressen teilgenommen haben. Der erste 
Kongreß, im April 1908, wurde zwar von Jung einberufen, umfaßte aber 
vorwiegend österreichisch-ungarische Mitglieder. Abraham war einer der 
drei „Ausländer“, die dort das Wort ergriffen (die anderen waren Jung 
und der Schreiber dieser Zeilen). Auf jedem Kongreß hielt er einen Vortrag, 
mit Ausnahme des letzten, auf dem er durch seine Krankheit behindert 
und die Pflichten seiner Präsidentschaft zu sehr in Anspruch genommen 










Ernest Jones 


l6o 

war. Dies ist eine Höchstleistung, in der ihm nur Professor Freud und 
Ferenczi gleichkamen. Diese acht Kongreß vorträge gehören zu seinen 
wertvollsten Beiträgen zur Psychoanalyse, wir werden sie bald alle zu be¬ 
sprechen haben, wenn wir an die Würdigung seiner wissenschaftlichen 
Arbeit gehen. Auf und nach dem Münchner Kongreß, 1913, führte er 
die Opposition gegen Jung und wurde nach dessen Rücktritt von den 
Beiräten der Internationalen Vereinigung bis zur Abhaltung des nächsten 
Kongresses zum provisorischen Präsidenten ernannt. Er hatte bereits alle 
Vorbereitungen zu einem Kongreß getroffen, der im September 1914 in 
Dresden stattfinden sollte; dann aber kam die große Störung durch den 
Krieg und er blieb interimistischer Präsident, bis der nächste Kongreß 1918 
in Budapest abgehalten werden konnte. Auf dem VII. Kongreß, 1922, 
wurde Abraham Sekretär der Internationalen Vereinigung, und 1924 auf 
dem VIII. Kongreß wählte man ihn unter allgemeiner Zustimmung zum 
Präsidenten, in welcher Würde er ein Jahr später auf dem IX. Kongreß 
einstimmig bestätigt wurde. 

Abraham gehörte auch zu den ständigen Mitarbeitern des „Zentral¬ 
blattes“ und der „Zeitschrift“ und von 1919 an auch zur Redaktion der 
letzteren. Seine Tätigkeit beschränkte sich aber auf eine allgemeine Anteil¬ 
nahme an der Leitung und auf die Beistellung von Kritiken und Original- 
arbeiten. Nachdem Jung die Redaktion des Jahrbuches niedergelegt hatte, 
wurden Abraham und Hitschmann seine Nachfolger, die im Jahre 1914 
den VI. Band des Jahrbuches herausbrachten. Die Einstellung des Jahr¬ 
buches mit Kriegsausbruch machte dieser Tätigkeit ein Ende. 

Fast durch die ganze Dauer des Krieges diente Abraham in Allenstein 
in Ostpreußen als Chefarzt der Psychiatrischen Station des XX. Armeekorps. 
Die Erfahrungen, die er dort sammelte, verwertete er für seinen Beitrag 
zur Psychologie der Kriegsneurosen [jj] und auch zwei andere sehr wichtige 
Arbeiten [j 2, J4] stammen aus dieser Zeit. Der Krieg brachte ihm eine 
Schädigung seiner Gesundheit, die möglicherweise die letzte Ursache seines 
Todes wurde. Zu Ende seiner Dienstzeit zog er sich eine schwere Dysenterie 
zu, von der er sich nur langsam wieder erholte. Es stellten sich später immer 
noch Rezidive ein, das letzte im Frühling 1924. Aber dann schien seine 
Gesundheit endlich wieder hergestellt. Im Mai des letzten Jahres aspirierte 
er zufällig einen kleinen Fremdkörper, der vielleicht infiziert war. Denn 
etwa zwei Wochen später bekam er einen Anfall von septischer Broncho¬ 
pneumonie, der beinahe zum tödlichen Ausgang geführt hätte. Davon blieb 
ihm eine begrenzte Bronchiektasie, die sich nicht mehr zurückbildete. 
Nach einer mehrwöchentlichen Erholung im Engadin nahm er die Aufgabe 
auf sich, den Kongreß in Homburg zu leiten, aber dies ging offenbar über 








Karl Abraham 


l6l 


seine Kräfte. Er schien sich zwar im Herbst besser zu befinden, machte 
sogar Versuche, seine Berufsarbeit wieder aufzunehmen. Aber sein Zustand 
verschlechterte sich, es traten Komplikationen hinzu, die sich nicht auf¬ 
klären ließen, im November mußte er eine Klinik aufsuchen. Vierzehn 
Tage später wurde eine schwere Operation bei ihm unternommen, die nicht 
den gehofften Erfolg brachte. Seine Kräfte ließen allmählich nach, bis er 
am Weihnachtstag 1925 seinem Leiden erlag. Während seiner langen und 
schmerzlichen Krankheit scheint er niemals am günstigen Ausgang gezweifelt 
zu haben und machte optimistische Pläne bis zu seinem Ende. Seine Lebens¬ 
zähigkeit, die Stärke seines Willens und seine körperliche Elastizität waren 
ganz außerordentlich und setzten seine Ärzte in Erstaunen. Mehr als einmal 
schien es im Verlaufe seiner Krankheit unmöglich, daß eine menschliche 
Konstitution dem Ansturm des Leidens standhalten könnte. Aber sein Mut 
und sein Lebenswille hielten aus, bis er seinen letzten Atemzug getan hatte. 

* 

Um mir einen frischen und einheitlichen Eindruck von Abrahams 
wissenschaftlicher Leistung zu verschaffen, habe ich alle seine Arbeiten 
von neuem durchgelesen und versuche nun, Rechenschaft über sie zu geben. 
Bei einer solchen Überschau kommt es natürlich nicht darauf an, die ein¬ 
zelnen Aufsätze im Detail zu referieren. Meine Bemerkungen sollen sich 
sowohl auf die Quantität als auf die Qualität und den Inhalt derselben 
beziehen. 

Abraham war kein Vielschreiber und der Gesamtumfang seiner Ver¬ 
öffentlichungen ist weit geringer als man, wenn man ihre Bedeutsamkeit 
kennt, erwarten sollte. Seine gedruckten Publikationen (wobei seine nur 
mündlichen Mitteilungen außer acht gelassen werden) bestehen in vier 
kleinen Büchern mit zusammen weniger als 500 Seiten und 49 anderen 
Aufsätzen, die ungefähr 400 Seiten füllen. Hiezu kommt noch wenigstens 
eine nachgelassene Arbeit. Mehrere dieser Aufsätze sind nur ein oder zwei 
Seiten lang, nur fünf überschreiten die Anzahl von 20 Seiten. Diese Tat¬ 
sache hängt offenbar mit dem Charakter von Abrahams Schriften zusammen, 
der uns vielleicht am auffälligsten entgegentritt, mit der bemerkenswerten 
Knappheit und Präzision seines Stils. Abraham gebrauchte nie ein Wort 
zu viel, wenn er etwas zu sagen hatte, jeder Satz war voll von Sinn und 
dieser Sinn hatte seinen Ausdruck mit unzweideutiger Klarheit gefunden. 
Er hatte ein starkes Gefühl für das Greifbare, hielt sich strenge an die 
klinischen Tatsachen und ließ sich niemals in vage Spekulationen ein. 
Diese Eigenschaften im Verein mit einem ungewöhnlichen Maß von Ob¬ 
jektivität dienten ihm auch, wenn er die Arbeiten anderer kritisierte. Die 

Int. Zeitschr. f. Psychoanalyse, XII/2. 


li 






1Ö2 


Ernest Jones 


Sammelreferate, die von ihm herrühren [if, 16, fl, 73], waren direkt 
Vorbilder ihrer Gattung und sind unschätzbar für den, der eine rasche 
Orientierung in der Psychoanalyse sucht. Dieselben Eigenschaften zeigte 
er auch in den Referaten für das Zentralblatt und für die Zeitschrift, 
welche keine Aufnahme in der Bibliographie gefunden haben. Abraham 
war ein Meister der Darstellung und ragte besonders hervor in der schwie¬ 
rigen Leistung der Mitteilung von Krankengeschichten. Wir wissen alle, 
wie mühselig es ist, sich in einen Fall hineinzufinden, über den ein 
anderer berichtet. Ein solcher Bericht fällt leicht so unvollständig aus, 
daß man nichts von ihm hat oder er ist so ausführlich und verwirrend, 
daß unsere Aufmerksamkeit erlahmt. Abrahams klarer und glatter Stil und 
sein Gefühl für das Wesentliche machten es ihm möglich, den Leser auf 
ein oder zwei Seiten in das Wesen eines Falles einzuführen und die 
klinischen Tatsachen, auf welche er seine Schlüsse stützte, waren immer 
ebenso interessant wie lehrreich. In der Gabe, etwas klar und anziehend 
darzustellen, fand er nur wenige unter den psychoanalytischen Autoren, 
die sich mit ihm messen konnten. Diese Vorzüge sind natürlich um so 
wertvoller, wo es sich um so verwickelte Sachverhalte handelt. 

Wenn wir uns nun zum Inhalt seiner Arbeiten wenden, so müssen wir 
bei der Schätzung ihrer Bedeutsamkeit immer den Zeitpunkt ihrer Ent¬ 
stehung in Betracht ziehen. Sehr vieles von dem, was er gelehrt hat, ist 
heute so sehr Gemeingut geworden, daß es uns schwer fällt, seine Origi¬ 
nalität zu erkennen. Aber das ist nur ein neuer Beweis für die durch - 
gängige Richtigkeit seiner Befunde. Man kann seine Schriften im allge¬ 
meinen in vier Gruppen teilen. Da sind zuerst jene bahnbrechenden 
Arbeiten, die ich eben angedeutet habe, z. B. „Die psychosexueilen 
Differenzen der Hysterie und der Dementia praecox“ [llj, „Die psycho¬ 
logischen Beziehungen zwischen Sexualität und Alkoholismus“ [12], „Die 
Stellung der Verwandtenehen in der Psychologie der Neurosen“ [13] und 
sein Buch „Traum und Mythus“ [14], Daran reihen sich eine Anzahl von 
schönen und formvollendeten Studien, klassische Arbeiten, die man immer 
wieder mit Vergnügen und Gewinn lesen wird, wie der Aufsatz „Über 
hysterische Traumzustände“ [ij], „Giovanni Segantini“ [}0], „AmenhotepIV.“ 
[ 34 h „Über Einschränkungen und Umwandlungen der Schaulust“ [43h 
„Über Ejaculatio praecox“ [$4 ], „Zur Psychoanalyse der Kriegsneurosen“ 
// 7 -A „Äußerungsformen des weiblichen Kastrationskomplexes“ [67]. An 
dritter Stelle seien angeführt jene seine originellsten Arbeiten, die wert¬ 
volle und dauernde Bereicherungen unseres Wissens bedeuten, wie die 
„Untersuchungen über die früheste praegenitale Entwicklungsstufe der Libido“ 
[j2] und seine zwei Bücher „Versuch einer Entwicklungsgeschichte der 













Karl Abraham 


163 


Libido auf Grund der Psychoanalyse seelischer Störungen“ [lOjJ und 
„Psjxhoanalytische Studien zur Charakterbildung“ [106]. Als vierte und 
letzte Gruppe fasse ich eine große Anzahl von kürzeren Artikeln zusammen, 
die alle unsere Kenntnis der psychoanalytischen Theorie und Praxis er- 
läutern, bestätigen oder erweitern. 

Wenn wir Abrahams Schriften als Ganzes überschauen, fällt uns vor 
allem deren außerordentliche Vielseitigkeit auf. Sie erstrecken sich über 
das ganze Gebiet der Psychoanalyse und lassen nur wenige Stellen des¬ 
selben unbeleuchtet. Selbst solche Themen, die er am seltensten behandelt 
hat, wie Homosexualität, Traumdeutung, Erziehung, werden in seinen 
Schriften über andere Dinge so häufig gestreift, daß man die Überzeugung 
gewinnen kann, auch hierin sei keines der in Betracht kommenden Probleme 
seinem Interesse entgangen. 

Die Reichhaltigkeit seiner Schriften läßt es zweckmäßig erscheinen, sie 
in verschiedene Gruppen einzuteilen. Unserer Absicht wird es genügen, 
fünf solcher Gruppen aufzustellen. 

I) Zur Psychologie der Kindheit mit Einschluß der kindlichen Sexua¬ 
lität. Die ersten zwei psychoanalytischen Arbeiten [9, 10] Abrahams 
beschäftigten sich mit den infantilen Traumen. Er bemühte sich von allem 
Anfang an zu zeigen, daß nicht das Trauma an sich, sondern die Reaktion 
des Kindes gegen dasselbe das Entscheidende sei. Er wies nach, daß das 
wiederholte Erleben sexueller Traumen für manche Kinder geradezu eine 
Art ihrer Sexualbetätigung darstelle, eine Einsicht, die bis dahin den Psy¬ 
chologen ebenso wie den Kriminalisten entgangen war. In demselben 
Zusammenhang behandelte er unter besonderem Bezug auf die traumatischen 
Neurosen die unbewußten zur Selbstbeschädigung oder zur Tötung führenden 
Impulse gegen die eigene Person, ein Gegenstand, auf den er in der Folge 
wiederholt zurückkam. Diese Impulse würden wir heute vielleicht eher 
einer Feindseligkeit gegen das eigene Ich oder gegen ein aufgegebenes 
Objekt, das dem Ich einverleibt wurde, zuschreiben. Er führte sie auf 
unbewußten Masochismus zurück. 

Von diesen seinen ersten Schriften gehen wir direkt zu einigen seiner letzten 
und vielleicht bedeutsamsten analytischen Beiträgen über. Ich meine seine Ar¬ 
beiten über die praegenitalen Phasen der Libido. Schon im Jahre 1915 verrät 
uns der Titel einer Mitteilung an die Berliner PsA. Vereinigung [41], daß die 
Beziehungen zwischen Nahrungstrieb und Sexualtrieb seine Aufmerksamkeit 
erweckt hatten; im Jahre 1916 folgte dann in derselben Richtung die 
Arbeit, die als eine seiner beiden glänzendsten Leistungen bezeichnet 
werden kann [42]. Auf Grund eines erstaunlich reichen Beobachtungs- 


11' 








164 


Ernest Jones 


materials, an dem er zeigen konnte, wie infantile orale Gewohnheiten 
sich bis in das späte Alter erhalten, in dem ihre erotische Natur durch 
direkte Selbstwahrnehmung bestätigt werden kann, gelang es ihm, Freuds 
Annahme einer oralen Phase der Libido vollauf zu bestätigen. Er ging 
von den Freudschen Begriffen „praegenital “und „kannibalistisch“ aus und 
bereicherte unsere Kenntnis dieser Entwicklungsphasen außerordentlich, 
insbesondere in Bezug auf die Erscheinungen, die sich im späteren Leben 
davon ableiten. Die wichtigen Beziehungen, die er zwischen Oralerotik 
einerseits und Schlaf und Sprache anderseits aufzeigte, sind in dieser Ver¬ 
bindung bemerkenswert. Viele Eßstörungen werden auf eine ähnliche 
Quelle zurückgeführt. Er unterschied zwischen den Fällen, in denen eine 
Trennung der zwei Formen der Mundbetätigung (Nahrungsaufnahme und 
Sexualität), die zuerst so eng verbunden sind, zustande gekommen war und 
jenen, in denen diese Verbindung bestehen blieb; er zeigte, daß die er¬ 
wachsenen Lutscher usw. zu der ersteren Gruppe gehören, d. h. sich in 
einem vorgeschritteneren Entwicklungsstadium befinden als die Personen, 
welche an neurotischen Störungen der Eßfunktion erkrankt sind, Die 
klinischen Teile dieser Abhandlung über manisch-depressives Irresein werden 
in einem anderen Zusammenhang später behandelt werden. 

Die Fortsetzung dieser Arbeit, welche, erst vor einem Jahre erschienen, 
die Form eines Buches [lOj] annahm, bietet einen solchen Reichtum 
an Gedanken und Forschungsresultaten, daß ihr eine Inhaltsangabe nicht 
gerecht werden kann. Sie ist Abrahams bedeutungsvollster Beitrag zur 
Psychoanalyse. Er teilt darin die drei Hauptstadien der Libidoentwicklung in 
je zwei Unterstufen: oral (1. Saugen, 2. Beißen); anal-sadistisch (1. Zerstören 
und Ausstößen, 2. Beherrschen und Zurückhalten); genital (1. Partialbesetzung 
oder phallisch, 2. Objektbesetzung). Keine dieser Unterabteilungen ist ganz 
von Abraham gefunden worden; aber die eingehende, ausführliche Art, in 
der er sie analysierte und ihre genauen Verbindungen untereinander zeigte, 
bildet ein Meisterstück, für immer von hohem Rang in der psychoanalyti¬ 
schen Literatur. Mit van Ophuijsen gemeinsam klärte er die Probleme 
der Objektbeziehungen des Kindes auf der Saugstufe (Einverleibung, Aus¬ 
stoßung usw.) auf und warf überhaupt ein helles Licht auf die dunkeln 
Probleme des praegenitalen Sexuallebens. 

Unter den anderen Beiträgen zum Studium der Kindheit mögen erwähnt 
werden: sein Artikel „Einige Bemerkungen über die Rolle der Großeltern 
in der Psychologie der Neurosen“ [40], „Psychische Nachwirkungen der 
Beobachtung des elterlichen Geschlechtsverkehrs bei einem neunjährigen 
Kinde“ [.'42 , vgl. auch 43, II, Teil/, „Zur narzißtischen Bewertung der 
ExkretionsVorgänge in Traum und Neurose“ [6]], und eine Reihe hübscher 
















Karl Abraham 


165 


Beobachtungen über infantile Sexualtheorien [83, 94, 110, auch 38, 83 
und 93] gehören zu dieser Gruppe. 

II) Zur Sexualität. Abrahams Interesse für die praegenitale Entwick¬ 
lung umfaßte auch das Studium der Partialtriebe, aus denen sich die Sexu¬ 
alität des Erwachsenen entwickelt. In einem frühen Artikel „Bemerkungen 
zur Analyse eines Falles von Fuß- und Korsettfetischismus“ [18] zeigte er, 
wie die Riech- und Schaulust, sowie sadistische Tendenzen einen komplizierten 
Verschränkungs- und Verschiebungsprozeß durchlaufen, bis sie zur Produk¬ 
tion einer manifesten Perversion führen. 

Sein längster Einzelaufsatz handelte „Über Einschränkungen und Um¬ 
wandlungen der Schaulust bei den Psychoneurotikern nebst Bemerkungen 
über analoge Erscheinungen in der Völkerpsychologie“ [43]. Auf Grund 
eines reichen Beobachtungsmaterials, auf welches er seine Folgerungen 
aufbaute, behandelt er hier die verschiedenen Formen der Angst und andere 
Störungen in Bezug auf die Sehfunktion, sowie die neurotischen Erkran¬ 
kungen des Sehorgans selbst. Er führte die neurotische Lichtscheu auf 
Verschiebungsvorgänge zurück, die von einer ambivalenten Einstellung zu 
den elterlichen Genitalien, besonders denen des Vaters, ausgehen; ein Fall 
von Hysterie und zwei Fälle von Dementia praecox werden in Verbindung 
damit beschrieben und die therapeutischen Resultate dargestellt. Weitere 
Themen in demselben Artikel sind: Augenschmerzen und andere neurotische 
Symptome, die symbolische Bedeutung der Dunkelheit, Geister- und Sonnen¬ 
phobie und eine Anzahl von Problemen, die der angewandten Psycho¬ 
analyse angehören und die an geeigneter Stelle in diesem Zusammenhang 
Erwähnung finden werden. 

Ein Aufsatz, der mitten im Kriege geschrieben wurde, „Über Ejacu- 
latio praecox“ [34] löste viele Probleme, die sich auf diesen Gegen¬ 
stand beziehen. Er zeigte hier, indem er seine Ansichten wieder durch 
Beispiele aus seiner reichen klinischen Erfahrung illustrierte, wie dieses 
Symptom von einer Fehlentwicklung der Urethralerotik ausgeht. Keinesfalls 
stellt es aber einfach eine Fixierung an diese Form der Sexualität dar, da 
es in der Onanie nicht vorkommt, sondern hängt mit einigen Zügen der 
Objektbeziehung zusammen. Die Feigheit, welche für dieses Zustandsbild 
charakteristisch ist, und die Angst, das Weib zu schädigen, weisen auf 
verdrängten Sadismus hin. Diese Patienten haben eine narzißtische Über¬ 
schätzung des Penis als Harnorgan, wünschen in Gegenwart der Frauen 
zu urinieren und reagieren auf die Geringschätzung, welche diese dem 
Vorgang gegenüber zu zeigen scheinen, in feindlicher Art mit dem Impuls, 
auf sie zu urinieren. Enttäuschte Liebe zur Mutter und infolgedessen 










166 


Ernest Jones 


Feindseligkeit ihr gegenüber liefern den Schlüssel zum Verständnis der 
Situation, wie so oft bei den Problemen, die Abraham studierte. 

Ein anderer außerordentlich wertvoller Aufsatz beschäftigt sich mit der 
entgegengesetzten Seite dieser Einstellung, d. h, mit der Feindseligkeit der 
Frau dem Manne gegenüber, wie sie im weiblichen Kastrationskomplex, 
nach Abrahams Bezeichnung, zum Ausdruck kommt [67]. Dieser Beitrag, 
der besonders reichhaltig und gedankenvoll ist, ist die Grundlage unseres 
Wissens von diesem dunkeln Gegenstand und hat bereits den Weg zu 
späteren wichtigen Untersuchungen eröffnet. Abraham diskutiert zuerst 
die verschiedenen Arten, wie das Mädchen auf die Anschauung, daß es 
kastriert worden ist, reagiert, den Ersatz des Peniswunsches durch den 
Wunsch nach einem Kinde (Freuds letzter Beitrag auf dem Homburger 
Kongreß liefert hier die Bestätigung) usw.; dann unterscheidet er zwei 
neurotische Typen, die sich indessen nicht scharf trennen lassen. Sie ent¬ 
stammen einerseits der Verdrängung des Wunsches, in positivem Sinne die 
Rolle des Mannes zu übernehmen, anderseits der Verdrängung des Wunsches, 
sich durch die Kastration des Mannes zu rächen; er nannte sie die Wunsch- 
erfüllungs- und die Rachetypen. Diese Neurosenformen stellte er den mehr 
positiven Erscheinungen in der Charakterbildung gegenüber, wobei die 
erstere der weiblichen Homosexualität entspricht, die zweite einer archai¬ 
schen sadistischen Reaktion. Der Triebimpuls beim zweiten Typus ist der, 
den Penis des Mannes abzubeißen oder zumindestens seine Potenz zu ver¬ 
ringern, indem er den Mann durch Frigidität und in anderer komplizierter 
feindseliger Art enttäuscht, was ihn in eine verächtliche Situation bringen 
soll. Diese Einstellung gipfelt logischer weise in einer starken Gering¬ 
schätzung des Penis und des Mannes überhaupt. Abraham zeigte die Ver¬ 
bindung dieses Komplexes mit verschiedenen neurotischen Symptomen, wie 
Vaginismus, Enuresis, neurotische Konjunktivitis usw. und wies auch auf 
die mannigfachen Wege hin, wie er die Objektwahl der Frauen beein¬ 
flussen kann. Schließlich stellte er dar, wie solche Frauen ihre komplex¬ 
bedingten Reaktionen auf ihre Kinder übertragen. 

Abrah ams Beiträge zur analytischen Aufklärung der Liebesbeziehungen im 
gewöhnlichen Sinne des Wortes sind weniger eingehend. In einer seiner ersten 
Arbeiten [iß] zeigt er, wie Verwandtenehen oft Ausdruck einer Inzestfixie¬ 
rung sind, eine Tatsache, die für die erbliche Übertragung neurotischer 
Dispositionen von Bedeutung ist. In Verbindung damit wies er auch (zu 
gleicher Zeit wie Ferenczi) auf die Rolle hin, die solche Fixierungen in 
der Ätiologie der psychischen Impotenz und Frigidität spielen. Einen anderen 
Ausdruck der Fixierung glaubte er in der übertriebenen Tendenz zur Mono¬ 
gamie zu sehen. Einige Jahre später publizierte er ein Gegenstück zu dieser 










Karl Abraham 


167 


Studie, in welchem er die entgegengesetzte Erscheinung der neurotischen 
Exogamie behandelte [45]. Verschiedene andere Artikel [20> 22 > 2 ^, /jj, 
97 9 98, IO 1 /, II2] beschäftigen sich auch mit dem Thema der Inzestfixie- 
rung, das natürlich in allen seinen analytischen Arbeiten ausführlich be¬ 
rücksichtigt wurde. Andere Arbeiten über rein sexuelle Gegenstände sind: 
„Über sadistische Phantasien im Kindes alter“ [21 „Eine besondere Form- 
sadistischer Träume“ [)]], „Über Ohrmuschel und Gehörgang als erogene 
Zone [46]\ »Zur Bedeutung der Analerotik“ [48]\ „Ergänzung zur Lehre 
vom Analcharakter“ [jo] die später erwähnt werden und eine Anzahl 
kürzerer Arbeiten [66, 86, 88, 8p, lOj]. 

III) Klinische Themen. Wie bei einem Kliniker vom Range 
Abrahams zu erwarten, waren seine Beiträge auf diesem Gebiete von 
besonderer Wichtigkeit. Der erste kennzeichnet einen Wendepunkt in un¬ 
serer Erkenntnis der Psychologie der Dementia praecox [ilj und die Diffe¬ 
renzierung zwischen Neurosen und Psychosen im allgemeinen. Man muß 
sich darüber wundern, daß ein Psychiater von Beruf, wie er es war, 
später niemals wieder zu diesem Gegenstände zurückkehrte; wahrscheinlich 
war es deshalb, weil sein Interesse auf diesem Gebiete auf den Versuch 
konzentriert war, eine andere Psychose zu enträtseln. Eifersüchtige Züricher 
Kollegen beschuldigten ihn zu Unrecht, in dieser Abhandlung seine Dankes¬ 
schuld Jung gegenüber nicht genügend anerkannt zu haben, aber die 
Ereignisse haben klar gezeigt, daß Jung die Hauptidee des Aufsatzes, die 
nach Abrahams eigener Erklärung aus einem Gespräche mit Freud (seinem 
ersten) stammte, niemals annahm. Diese Idee war, daß Störungen der 
Ichfunktionen rein sekundär gegenüber Störungen auf libidinösem Gebiete 
sein können. Eine Einsicht, die es ermöglicht hat, Freuds Libidotheorie 
zur Erklärung der Dementia praecox heranzuziehen. Nachdem er die Beziehung 
zwischen Sublimierung und Übertragung erörtert hatte, wies er darauf hin, 
daß die Dementia praecox die Fähigkeit für beide verringert und daß die 
sogenannte Demenz einfach das Resultat dieser Umstände ist. Die Libido ist 
dabei von den Objekten abgezogen — im Gegensatz zur Hysterie, wo eine 
übertriebene Objektbesetzung stattfindet — und auf das Ich übertragen. 
Er führte auch den Verfolgungs- und Größenwahn darauf zurück; letzterer 
sei der Ausdruck der autoerotischen Selbstüberschätzung (später Narzißmus 
genannt). Im Gegensatz zur Hysterie ist die psychosexueile Eigentümlich¬ 
keit der Dementia praecox eine Entwicklungshemmung in der Phase des 
Autoerotismus und eine daraus folgende Tendenz zur Regression auf dieselbe. 

Abrahams wichtigster Beitrag zur Psychopathologie sind vielleicht 
seine drei systematischen Arbeiten über manisch-depressives Irresein. Der 








168 


Ernest Jones 


glänzende Artikel Freuds auf demselben Gebiete und die überraschende Art, 
in der er den Schlüssel zum ganzen Problem fand, haben zweifellos die 
Anerkennung, die Abraham verdiente, etwas geschmälert, wie immer, 
wenn ein Genie neben ein Talent gestellt wird. Ein rein zufälliger Um¬ 
stand kam hinzu: „Trauer und Melancholie^ wurde nämlich zu einer Zeit 
geschrieben, da Freud sich darin noch nicht auf einige wertvolle Funde 
berufen konnte, die Abraham kurz vorher gemacht hatte, obwohl Freuds 
Arbeit infolge der Kriegsverhältnisse tatsächlich erst ein Jahr später als 
diese veröffentlicht wurde. Keine Arbeit Abrahams spiegelte seine wissen¬ 
schaftlichen Charakterzüge, sowohl seine Fähigkeiten als auch seine Be¬ 
grenzungen besser als diese über das manisch-depressive Irresein. Es war auch 
dieses Studium, das ihn offenbar stärker anzog als irgend ein anderes, 
obwohl es wahrscheinlich ist, wie der Titel von zweien (dieser drei Ar¬ 
beiten andeutet, daß er sich mehr für die Aufklärung interessierte, welche 
man aus dieser Krankheit für gewisse frühe Stadien der Libidoentwicklung 
gewinnen kann, als für die klinischen Fragen selbst. 

In seiner ersten Arbeit (Ansätze etc., 26), die am Weimarer Kongreß 
im Jahre 1911 vorgetragen wurde, ging Abraham von der Annahme aus, 
daß Depression in einer ähnlichen Beziehung zur Trauer stehe wie die 
Angst zur Furcht, und kommt zum Schlüsse, daß die Lebens Verneinung 
das Resultat eines Verzichtes auf das sexuelle Ziel darstellt. Er berichtet 
sechs Fälle, in welchen er immer klinische und psychologische Züge fand, 
welche denen der Zwangsneurose sehr verwandt sind. So zeigten die 
Patienten viele charakteristische Symptome dieses Zustandes im sogenannten 
freien Intervall und in beiden Krankheiten besteht eine gegenseitige 
Lähmung von Liebes- und Haßtendenzen. Im manisch-depressiven Irresein 
zeigt die Libido eine überwiegende Haßeinstellung. Es ist, wie wenn der 
Patient sagte: „Ich kann die Menschen wegen meines Hasses nicht lieben; 
das Ergebnis ist, daß ich gehaßt werde ; deshalb bin ich deprimiert und 
hasse wieder . u (Wiederkehr des verdrängten Sadismus.) Das Schuldgefühl 
sowie das Gefühl der Versündigung entsprechen verdrängtem Hasse. Die 
Verarmungsidee ist ein Ausdruck derselben Tatsache. (Geld-Liebe.) In der 
Manie bewältigen die Komplexe die Hemmungen und der Patient kehrt 
zu dem unbekümmerten Zustand der Kinderzeit zurück. Abraham 
berichtet über die guten Wirkungen seiner therapeutischen Bemühungen 
und meint, sie ließen die Hoffnung rechtfertigen, daß es der Psychoanalyse 
Vorbehalten sein werde, die Psychiatrie von dem Alp des therapeutischen 
Nihilismus zu befreien. 

Seine Behandlung dieser klinischen Fragen ist in dem zweiten Beitrag 
(„Untersuchungen über die früheste praegenitale Entwicklungsstufe der 








Karl Abraham 


169 


Libido“ 52), mehr beiläufig, aber um nichts weniger wichtig. Er erkannte 
hier die orale Fixierung in der Melancholie klar und konnte eine Anzahl 
klinischer Züge auf dieser Grundlage aufklären. Die Nahrungsverweigerung 
ist z. B. durch die Regression zu der alten Verbindung von Essen und 
Oralerotik verursacht; ebenso die Angst zu verhungern. Ebenso konnte er 
die Unterschiede zwischen manisch-depressivem Irresein und der nahe 
verwandten Zwangsneurose in den Ausdrücken der praegenitalen Libido¬ 
organisation formulieren. In diesem Zustand mit seiner anal-sadistischen 
Fixierung ist die Einstellung gegenüber dem Objekt die des Beherrschern, 
dagegen in jenem die der Vernichtung durch Verschlingen (spätes orales 
Stadium). Der überraschendste Zug der Melancholie, die starken Selbst¬ 
vorwürfe und Selbstherabsetzungen betrachtet Abraham als Selbstbestrafung, 
verursacht durch die Zurückweisung der verdrängten kannibalistischen 
Strebungen. Er hatte darin teilweise recht, denn eine bestimmte Anzahl 
dieser Symptome entstammt einem solchen Schuldbewußtsein, aber es 
gelang ihm nicht, eine weit wichtigere Beobachtung zu machen, die nach 
Freud „nicht einmal schwer anzustellen ist“ : diese Anklagen sind haupt¬ 
sächlich gegen das Urbild des verlorenen Liebesobjekts gerichtet, das im 
Ich aufgerichtet worden war. In einem späteren Aufsatze schildert er, wie 
schwierig es ihm fiel, diesen Punkt zu verstehen, als er ihn zuerst in 
Freuds Artikel las, und gab eine persönliche Erklärung für seine 
Hemmung; es ist kaum anzunehmen, daß die Erklärung eine vollständige 
war. Für einen Mann von einem starren ethischen Maßstab wie dem 
seinem war es sicherlich leichter, die Tatsache zu erfassen, daß eine Per¬ 
son sich selbst schweres Leid als Bestrafung für feindliche Wünsche gegen 
ein Liebesobjekt zufügt, als zu glauben, daß sie eigentlich das Abbild dieses 
Liebesobjektes weiter quält. 

Seine dritte und vollständigste Studie über das Problem [löj] trug Freuds 
epochemachendem Artikel voll Rechnung und Abraham konnte alle Resul¬ 
tate Freuds in den Einzelheiten bestätigen und sogar einige davon ergänzen. 
Er stellte die Objekteinverleibung, auf die Freud aufmerksam gemacht 
hatte, mit dem Impuls zu verschlingen, der aus dem Oralstadium stammt, 
zusammen, und entwickelte in Verbindung damit einige interessante An¬ 
sichten über den Introjektionsprozeß überhaupt. Die Tatsachen, daß der 
Melancholische im freien Intervall zum Niveau der Zwangsneurose (d. h. 
zum anal-sadististischen Stadium) vorrücken kann, ferner daß —- ein wesent¬ 
licher Unterschied zwischen den beiden Erkrankungen — der Melancho¬ 
liker seine Objektbesetzung aufgibt, während der Zwangskranke sie bei¬ 
behält (Freud), brachte ihn zu der Folgerung, daß die anal-sadistische 
Phase zwei Phasen umfassen muß (vgl. oben). Er meinte, daß die Unter- 






170 


Ernest Jones 


scheidungslinie zwischen diesen beiden Phasen von großer praktischer Be- 
deutung für die Psychiatrie sein könnte, da sie den Punkt angibt, wo die 
wirkliche Objektbeziehung einsetzt und so auf eine der hauptsächlichsten 
Unterschiede zwischen Neurose und Psychose hinweist. Er suchte die Ätio¬ 
logie des manisch-depressiven Irreseins in einer starken konstitutionellen 
Oralerotik, mit einer speziellen Fixierung an diese Phase, durch schwere 
Enttäuschungen in der Beziehung zur Mutter verursacht; er unterschied 
zwischen Täuschungen dieser Art, soweit sie sich vor, während und nach 
der Ödipusphase ereignen. Der Haß des Melancholikers ist hauptsächlich 
gegen die Mutter gerichtet, aber an einer späteren Stelle bemerkt Abra¬ 
ham, daß ein Stück davon sich ursprünglich auf den Vater bezog, 
da in dieser Störung eine ungewöhnliche Tendenz zur Inversion des 
Ödipuskomplexes vorhanden ist. Dieser Zug und die Ambivalenz in Bezug 
auf beide Eltern führt zu komplizierten Introjektionsformen; er konnte 
zwischen Anklagen, die von einem dieser Liebesobjekte gegen das Ich aus¬ 
gehen und solchen, welche vom Ich gegen das Objekt gerichtet werden, 
unterscheiden; die letzteren sind natürlich die wichtigen und charak¬ 
teristischeren. 

Abraham zog eine interessante Parallele zwischen Melancholie und 
den Vorgängen der archaischen Trauer, wie sie von Röheim beleuchtet 
wurden. Er warf ferner ein klares Licht auf den dunkeln Gegenstand des 
merkwürdigen Ablaufes im manisch-depressiven Irresein. 

Er betrachtete die Objekteinverleibung in der oralen Phase als teilweise 
bestimmt durch die Bemühung, es vor Vernichtung zu bewahren und 
meinte, daß dann, wenn sich die sadistische Rachsucht ausgetobt hat, das 
Liebesobjekt auf analem Wege wieder ausgestoßen wird. Er zeichnete ein 
Bild dessen, was er die „Urverstimmung“ der Kinderzeit, den Vorläufer 
der späteren Melancholie, nannte, und meinte, daß Kranke, die eine Manie 
ohne vorangehende Melancholie zeigen, noch damit beschäftigt sind, die 
Urverstimmung und das gesteigerte sexuelles Begehren, das — wie es besonders 
die primitiven Trauerriten zeigen — der Trauerarbeit folgen kann, abzu¬ 
schütteln. 

In einer frühen Arbeit „Über hysterische Traumzustände“ [ij] brachte 
Abraham dieses von Löwenfeld beschriebene Syndrom mit Freuds 
Arbeit über hysterische Anfälle in Beziehung und führte seinen Ursprung 
auf verdrängte Onaniephantasien zurück. Solche Patienten verweilen im 
Stadium der Vorlust, weil die Endlust mit Angst verbunden ist. Er be¬ 
richtet sechs Fälle dieser Art. In einem von diesen konnte er das Symptom 
der Makropsie auf eine Regression zur Kindheit zurückführen. Sein Stu¬ 
dium dieser Zustände zeigte eine Verbindung zwischen Auto- und Hetero- 








Karl Abraham 


171 


Suggestion auf, da er nachweisen konnte, daß die Anfälle entweder ganz 
spontan oder in Gegenwart von Personen, von denen sich die Patienten 
hypnotisch beeinflußt fühlen, auftreten. Mehrere von Abrahams kurzen 
Artikeln galten dem Thema des Phantasielebens und seine hübsche Analyse 
»Vaterrettung und Vatermord in den neurotischen Phantasiegebilden“ [~]6] 
ist hier besonders erinnernswert. 

Abraham publizierte zwei Artikel über lokomotorische Angst [)9 und 44 ]; 
er hatte selbst in seiner Jugend unter leichten Symptomen dieses Zustandes 
gelitten. Er zeigte, daß der sexuelle Ursprung der Angst dadurch bewiesen 
werden kann, daß man sie therapeutisch zurückverwandelt, wo dann dieselben 
Patienten einen ungewöhnlichen Genuß in der (aktiven und passiven) Be¬ 
wegung finden. In demselben Artikel beleuchtete er das bekannte Symptom 
der „Angst vor der Angst“, indem er es mit der Verdrängung der Vorlust 
in Zusammenhang brachte. 

Seine Kriegserfahrungen ermöglichten es ihm, die Anschauung vom 
narzißtischen Ursprung der Kriegsneurosen, wie sie der Autor dieses Artikels 
ausgesprochen hatte, unabhängig zu bestätigen // 77 , wie dies Ferenczi 
kurze Zeit nachher gleichfalls tat. Man hat der psychoanalytischen Arbeit oft 
den Vorwurf der Subjektivität gemacht; deshalb möge dieser Fall als Be¬ 
weis des Gegenteils angeführt werden. Beobachter, die sich völlig neuen 
Problemen gegenübersahen, in verschiedenen Ländern, durch die Kriegs¬ 
verhältnisse voneinander abgeschnitten, untersuchten dieselben Fragen und 
kamen zu denselben wesentlichen Ergebnissen. In einer Diskussion über 
Ferenczis Arbeit über den Tic sprach Abraham die interessante An¬ 
sicht aus, daß diese Krankheitsform ein Konversionssymptom auf der anal¬ 
sadistischen Phase darstellt, das den Symptomen der Konversionshysterie 
auf phallischer Phase entgegengestellt werden kann. 

Abrahams Beiträge zu therapeutischen Themen waren wenige, aber 
wichtige. Der hauptsächlichste war sicher seine Studie „Über eine besondere 
Form des neurotischen Widerstandes gegen die psychoanalytische Methode“ 
[j8J. Es sind meistens Zwangsneurotiker, die einen hohen Grad narzi߬ 
tischen Trotzes zeigen; sie versuchen, der Übertragung dadurch auszuweichen, 
daß sie sich mit dem Analytiker identifizieren. Sie bestehen darauf, ihre Analyse 
selbst zu leiten, welche Tendenz Abraham mit anal-sadistischen Reaktionen 
in Zusammenhang bringt. Das Onanieverbot spielt in der Ätiologie solcher Fälle 
eine wichtige Rolle. Abraham erörtert in lehrreicher Art die spezielle thera¬ 
peutische Technik, die bei diesem schwierigen Typus angebracht erscheint. 
Sein Artikel „Zur Prognose psychoanalytischer Behandlungen in vorge¬ 
schrittenem Lebensalter“ [62] darf in dem Satze zusammengefaßt werden, 
daß die Prognose mehr vom Alter der Neurose (d. h. dem Alter des 






172 


Emest Jones 


Patienten, in dem die Neurose schwer wurde), als vom aktuellen Alter des 
Patienten abhängt. Immerhin sind spezielle Maßregeln in diesen Fällen in 
vorgeschrittenem Lebensalter notwendig; so z. B. ein aktiveres Verhalten 
und Nachhilfe von seiten des Analytikers. In diesem Zusammenhänge mag 
auch die klare Art erwähnt werden, mit der er den Wert von Freuds Rat, 
die Patienten nicht zu ermuntern, ihre Träume vor der Analyse aufzu¬ 
schreiben, dargetan hat [)j]* Abrahams Arbeit über die Behandlung 
psychotisch Erkrankter ist die beste, die wir bisher besitzen und er muß 
sicherlich als ein Pionier auf diesem schwierigen Gebiete betrachtet werden. 
Er zeigte einen seltenen Skeptizismus und kritische Ehrlichkeit im Bericht 
seiner Resultate [26, I0$], und wies auf aufschlußreiche Kriterien (z. B.passa- 
gere Symptome) hin, die bestimmen ließen, im welchem Ausmaß eine wirk¬ 
liche Veränderung im geistigen Zustande der aktuellen, therapeutischen 
Bemühung des Arztes zuzuschreiben ist. Er zeigte, daß manisch-depressives 
Irresein in günstigen Fällen durch Analyse entscheidend beeinflußt werden 
kann und erwartete weitere Fortschritte in dieser Richtung. 

Für die Probleme des Alkoholismus und der Süchtigkeiten hatte Abraham 
ein besonderes Interesse. Die Arbeiten, die er in seiner präanalytischen Zeit, 
abgesehen von denen, die ihm offenbar durch die Interessen seines Lehrers 
nahegelegt wurden, schrieb, handelten fast nur über Giftwirkungen [) und 4], 
Sein früher Artikel über „Die psychologischen Beziehungen zwischen Se¬ 
xualität und Alkoholismus“ [12] 'zeigte die wesentliche Natur der Verbindung 
zwischen den beiden und begründete unser ganzes späteres Wissen über 
diesen Gegenstand. Der einzige wirklich wichtige spätere Beitrag, der zu 
dem Thema geliefert wurde, betraf die innere Beziehung zwischen Alko¬ 
holismus und Homosexualität, auf welche Beziehung Abraham — seltsam 
genug — nur mit Bezug auf die Frauen verwiesen hatte. Er erkannte 
auch die homosexuelle Basis des alkoholischen Eifersuchtswahnes nicht, 
den er nur als Verschiebung der Schuld auf den Partner auffaßte. Er 
zeigte aber, daß es das Motiv zum Trinken war, durch Aufhebung der 
Verdrängungen und Sublimierungen zeitweilig die Potenz zu erhöhen und 
daß der Alkohol ferner den Trinker durch Verringerung seiner Potenz 
betrügt. Er enthüllte auch die unbewußte Gleichsetzung des Alkohols mit 
dem Samen und der Spritze mit dem Penis. Die Verbindung zwischen 
Morphinismus und verdrängter Sexualität wurde in demselben Beitrage 
ebenso betont wie an späteren Stellen [ 17, S. 14; J2, S. 847, wo die orale 
Grundlage des Rauchens und des Morphinismus dargestellt wurde. 

Die zahlreichen Mitteilungen über klinische Themen [24, }I, }2, }6, 
49 > Jf> 68, 71, 90, 91, 104, 111] enthalten meistens wichtige Beobach¬ 
tungen und Anregungen. Man kann bemerken, daß Abrahams Interesse 










Karl Abraham 


173 


für Zwangsneurosen größer gewesen zu sein scheint, als das für Hysterie. 
Ein klinischer Artikel über die Lehren Coues [l Ij], der mir gegenwärtig 
nicht vorliegt, soll aus dem Nachlaß Abrahams zu gleicher Zeit wie 
dieser Artikel veröffentlicht werden. 

IV. Allgemeine Themen. — Seine Charakterforschung war weitaus die 
wichtigste Arbeit allgemeiner Natur, die Abraham zur Psychoanalyse 
beitrug. Zwei von den drei Studien wurden einzeln veröffentlicht und 
dann alle drei in einem Band publiziert [106]. In seinem Artikel über den 
Analcharakter förderte Abraham die ausgiebige Arbeit, die bereits über 
diesen Gegenstand geleistet wurde, weiter und fügte eine Reihe frischer 
Beobachtungen von beträchtlichem klinischen und charakterologisehen Werte 
bei. Wir wollen besonders auf die zwei Typen von außerordentlicher Ge¬ 
fügigkeit und ebensolchem Trotz, die beide in derselben Person vorhanden 
sein können, hinweisen, die er unterschied. Er zeigte auch, wie die beiden 
Typen auf die analytische Situation reagieren: der zweite produziert einen 
Widerstand, der jenem in anderer Verbindung beschriebenen [j8, siehe 
oben7, charakteristischen sehr ähnlich ist, während der erste darauf besteht, 
daß der Analytiker die ganze Arbeit selbst leiste; in beiden Fällen ist das 
Resultat der Versuch der Ablehnung, auf freie Assoziationen einzugehen. 
Auch die Einzelheiten der Regression von der genitalen zur Analstufe 
werden in klarer Art behandelt. 

Die zweite Arbeit „Beiträge der Oralerotik zur Charakterbildung“ war 
eine der originellsten Beiträge Abrahams zur Psychoanalyse. Die indirekten 
Wirkungen der Oralerotik im späteren Leben werden zum großen Teil 
durch ihre Verbindung mit der Analerotik hervorgerufen und Abraham 
zeigte hier, wie ursprünglich die dreifache Beziehung zwischen den Tätig¬ 
keiten des Erlangens, Behaltens und Ausgebens ist, deren Ökonomie bei 
verschiedenen Personen variiert. Direkte Befriedigung der Oralerotik ist 
natürlich dem Erwachsenen in einem beträchtlichen Ausmaße erlaubt, so 
daß die Sublimierung geringer ist als bei anderen erogenen Zonen. 
Die typischeste Form der Sublimierung scheint der Charakterzug des 
Optimismus zu sein, den Abraham selbst in einem hohen Grade besaß; 
diesem steht die Ernsthaftigkeit und der Pessimismus gewisser analer 
Typen, besonders derjenigen, die mit einer frühen Enttäuschung der Oral¬ 
erotik verknüpft sind, gegenüber. Wenn diese Enttäuschung während der 
zweiten Beißphase des Oralstadiums vorfällt, wird das spätere Liebesieben 
durch starke Ambivalenz infolge der hartnäckigen kannibalistischen und 
feindlichen Haltung gegenüber der Mutter charakterisiert sein. Abraham 
warf auch ein helles Licht auf die Genese und gegenseitige Beziehung 






174 


lirnest Jones 



anderer Züge der oralerotischen Verschiebungsprozesse, besonders Habsucht, 
Neid, Sparsamkeit, Geiz und Ungeduld. 

Der dritte Aufsatz dieser Reihe behandelte die Charakterentwicklung 
auf der genitalen Stufe und beschäftigt sich so mit den Problemen der 
Normalität. Abraham entsagt jedem Versuch, absolute Normen in dieser 
Richtung aufzustellen und setzt die Unmöglichkeit eines solchen Versuches 
ausführlich auseinander: nichtsdestoweniger gab er uns einen sehr wich¬ 
tigen Gesichtspunkt durch die Untersuchung, welche von den praegenitalen 
Zügen am spätesten aufgegeben werden. Er fand, daß der strengste Weg, 
die genitale Normalität festzustellen, der sei, das Ausmaß genau zu be¬ 
stimmen, in dem der einzelne seinen Narzißmus und seine Ambivalenz- 
emstellung, die sich durch die meisten früheren Stadien erhält, überwunden 
hat. In der Erörterung der Wichtigkeit der zielgehemmten Gefühle von 
genitaler Abkunft für eine befriedigende soziale Beziehung zur Außenwelt 
verweilt Abraham mit Nachdruck auf der Notwendigkeit der Liebe in 
der Kindheit und den schädlichen Wirkungen, die entstehen können, wenn 
das Kind zu wenig von dieser wichtigen Nahrung erhält. 

In Verbindung damit mag vielleicht Abrahams Versuch, das Problem 
der Trauer zu lösen, erwähnt werden [l0$]. Auch diese hat seiner Meinung 
nach eine wichtige Beziehung zu oralen Einstellungen. Während Freud 
die allmähliche, schmerzvolle Zurückziehung des Ichs vom Liebesobjekt 
unter den Anforderungen der Realität betont, schenkte Abraham der 
Einverleibung dieses Objektes mehr Aufmerksamkeit und meinte, diese 
gehe durch orale Mechanismen vor sich. (Es ist aber jedenfalls zweifel¬ 
haft, ob dies ein regelmäßiger Prozeß innerhalb der Trauerarbeit ist.) 

Als allgemeiner Beitrag zur Psychoanalyse müssen auch die zahlreichen sozia¬ 
len Beziehungen, die zu Abrahams Arbeit über den weiblichen Kastrations¬ 
komplex gehören, erwähnt werden [6j siehe oben/. Diese werden in Zu¬ 
kunft soziologisch von großer Wichtigkeit sein und in ihrer Weiterent¬ 
wicklung wird der Anteil Abrahams an ihrer Aufspürung nicht ver¬ 
gessen werden. 

Abrahams Beiträge zu unserer Kenntnis der individuellen Symbolik 
sind ziemlich zahlreich und sind größtenteils bereits in den allgemeinen 
gesicherten Besitz der Wissenschaft übergegangen. Es seien von ihnen 
hervorgehoben: Haus und Garten als Symbole der Mutter, neues Haus 
als das für eine fremde Frau oder für kleines Kind [25 und 96], Schlange 
als Symbol des Penis des Vaters, mit Todesangst als Ausdruck der väter¬ 
lichen Drohung [)2j ; Spinne als Symbol der gefürchteten Mutter [80J; 
seine schöne Analyse des „Dreiweges“ in Verbindung mit der ödipussage 
ebenso wie die der Nummer drei [j6 und 82]; Dunkelheit (oder alle 
















Karl Abraham 


175 


Mysteriöse und Dunkle) als ein Symbol für den Mutterleib (mit Einschluß 
der Eingeweide) [47]. Abraham bestätigte Stekels Beobachtungen über 
die determinierende Kraft des Namens [28], ohne hier viel Neues hinzu¬ 
zufügen. Er brachte auch mehrere Beiträge zur Psychopathologie des All- 
tagslebens, sowohl in seinen klinischen Arbeiten zerstreut, als auch in 
besonderen kleinen Veröffentlichungen (z. B. 78 und 7^). 

V. Angewandte Psychoanalyse. — Abrahams erste Arbeit auf 
diesem Gebiete war von historischer Bedeutung [14], denn sie erÖffnete den 
Weg für viele spätere Forschungen, die in Anwendung der Psychoanalyse 
auf die Mythologie von Otto Rank, Theodor Reik und anderen aus¬ 
geführt wurden. Sie war natürlich hauptsächlich durch die Ödipusanalyse 
in der „Traumdeutung“ angeregt worden. Indem er den Versuch, Träume 
und Mythen, die ja beide Produkte der menschlichen Phantasie sind, zu 
vergleichen, rechtfertigte, zeigte er die weitgehenden Verbindungen zwischen 
den beiden. Bei beiden ist das Wesentliche der Phantasie eine Wunsch¬ 
erfüllung und die Wünsche in beiden sind unbewußt und infantil. Die 
Egozentrizität des Einzelnen in dem einen entspricht der Egozentrizität 
des Volkes im anderen Phänomen. Die Erscheinungen der Zensur, Ver¬ 
drängung und der Wortneubildungen sind beiden gemeinsam, ebenso die 
Mechanismen der Verdichtung, Verschiebung und sekundären Bearbeitung. 
Er erläuterte diese Ergebnisse durch eine Nebeneinanderstellung einiger 
Traumanalysen mit einer sehr interessanten Studie über Prometheus und 
den Mythus vom Göttergetränk; dabei wurde die sexuelle Natur dieses, 
Nektar, Soma und Ambrosia, klar dargestellt. Abraham, der seine 
philologischen Kenntnisse gut zu verwerten wußte, wies auf die Ähnlich¬ 
keit zwischen den ethymologischen und psychoanalytischen Gesichtspunkten 
hin und zeigte, wie unsere Kenntnis der Symbolik von der Forschung 
auf dem einen ebensowohl als von der auf dem anderen Gebiete abgeleitet 
werden könnte. Seine Schlußfolgerung war: „Mythen sind Überbleibsel aus 
dem infantilen Seelenleben des Volkes und Träume stellen die Mythen 
des Einzelnen dar.“ Die allgemeine Gültigkeit des Determinismus im 
Seelenleben wurde mit Nachdruck behauptet. Das Buch ist mit außerordent¬ 
licher Geschicklichkeit geschrieben und zeigt Abrahams Klarheit und Ein¬ 
fachheit im besten Lichte; obwohl sein Inhalt jetzt in psychoanalytischen 
Kreisen zur Gänze bekannt ist, ist es doch noch ein Vergnügen, es wieder 
zu lesen und die Fähigkeit Probleme klarzustellen, die Abraham in hohem 
Maße besaß, zu genießen. 

Abrahams nächste Arbeit auf diesem Felde, ebenfalls in Buchform, 
war seine interessante Studie über Segantini fßOj. 












176 


Ernest Jones 


Es war das erstemal, (nach Freuds „Leonardo“)* daß ein Versuch 
gemacht wurde, die Persönlichkeit eines Malers zu analysieren und in den 
Einzelheiten die unbewußten Neigungen des Malers mit seiner Themen¬ 
wahl, Komposition und Darstellungsart zu verknüpfen. Er zeigte den 
enormen Einfluß, den die Mutter des Malers auf dessen Leben und Werk 
ausübte, und konnte in den Einzelheiten die ambivalente Einstellung 
von Haß und Liebe, die der Maler ihr gegenüber hatte, nachweisen. Wir 
haben hier wiederum eine Studie der „bösen Mutter“. Die Schlußseiten 
dieses Buches enthalten eine bemerkenswerte Vorahnung der Freud sehen 
Konzeption des Todestriebes in seiner Erforschung der unbewußten Motive, 
die zur Selbstzerstörung führen. Abrahams Interesse in dieser Studie 
galt offenbar eher der Psychologie des Künstlers als der Psychologie der 
Kunst selbst, aber in einer späteren Arbeit [lOO], die leider nie publiziert 
wurde, behandelte er die Frage der Tendenzen in der modernen Kunst 
vom psychoanalytischen Gesichtspunkte aus. 

Abrahams Analyse Amenhoteps IV. (Echnaton) [)4] ist nicht nur an 
sich interessant, sondern als die erste Gelegenheit bemerkenswert, bei der 
gezeigt wurde, wie eine Kenntnis der Psychoanalyse zur Klärung rein 
historischer Probleme beitragen konnte. Es mag als verzweifeltes Unter¬ 
nehmen erschienen sein, die Psychoanalyse von jemanden unternehmen zu 
wollen, der vor etwa dreiundzwanzig Jahrhunderten starb, aber Abrahams 
sorgfältige Studie hatte nichts Hypothetisches an sich und die Ergebnisse, 
die er fand, werden kaum anfechtbar sein. Echnaton, „der erste Große 
im Reiche des Geistes, von dem die Geschichte der Menschheit meldet“, 
war ein Vorläufer der christlichen Verkünder der Lehre der Liebe und 
ein Revolutionär der Moral, der seinen Haß nur für seinen Vater reser¬ 
vierte. Abraham konnte zeigen, wie alle Neueinführungen, Bilderstürme 
und Reformen Echnatons direkt auf die Wirkungen des Ödipuskomplexes 
zurückgeführt werden konnten, 

Abrahams umfassende Erziehung und allgemeine Bildung werden in 
vielen seiner psychoanalytischen Studien gut verwertet. In seiner bis in 
Einzelheiten gehenden Erforschung der Schaulust [43, siehe oben 7 erläuterte 
er seine allgemeinen Ergebnisse mit Hilfe einer Menge von mythologischem 
und folkloristischem Material. Sein Vergleich von Glaubens- und Furcht- 
erscheinungen in Bezug auf die Sonne und die Geister in diesem Aufsatz 
war geradezu vollendet und darin war auch klar die Ambivalenz der Motive 
nachgewiesen, welche die Menschheit dazu führte, den Vater auf den 
Himmel zu verpflanzen. (Erhöhung und Verbannung in eine Entfernung.) 
In demselben Artikel lieferte er einen lehrreichen Beitrag zu unserer 
Kenntnis der Sublimierung in Wissenschaft, Philosophie und Religion, 












Karl Abraham 


177 


indem er zeigte, wie die beständige Beschäftigung mit Lösungsversuchen 
von Fragen, die nicht beantwortet werden können, wie die, welche mit 
dem Ziel des Lebens, der Länge des Lebens und des Zustandes nach dem 
Tode zu tun haben, größtenteils das Ergebnis unbewußter Verschiebung 
von Fragen sind, die nicht beantwortet werden dürfen oder die man zu 
beantworten nicht wagt. 

Derselbe weite Umfang seiner Bildung kam in einer Anzahl kurzer 
Artikel auf dem Gebiete angewandter Psychoanalyse zum Ausdruck, wie 
etwa in dem Aufsatze über die Bedeutung der „Versöhnungstag“riten [64], 
den Bemerkungen über die russische Sekte der Joniverehrer [24], der klugen 
Analyse der Einzelheiten in der Ödipusmythe [76 und 82] und vielen 
anderen [29, 56, 4% 64, 69, 84]. Die letzte von Abraham publizierte 
Arbeit [95], eine sehr interessante Studie über einen Hochstapler, dem er 
begegnet war, war ein gedankenreicher Beitrag zu einem der Hauptprobleme 
der Kriminologie. 

Zusammenfassung. — Versucht man in einigen Worten die wesent¬ 
lichen Charakteristika in Abrahams Schriften zusammenzufassen, wird 
man von dem Merkmal der Vielseitigkeit, das in der vorliegenden Über¬ 
sicht für sich selbst spricht und der allgemeinen Vorzüglichkeit, die in 
seinen Schriften im Durchschnitt hervortritt, ausgehen; kaum etwas von 
dem, was er schrieb, war von nur ephemerem Werte und seine Arbeit 
war durchaus gekennzeichnet durch die wertvollen Eigenschaften der 
Nüchternheit, des vorsichtigen Skeptizismus und des klaren Urteils. 

Diese Gleichmäßigkeit in der Art darf vielleicht mit einem wichtigen 
Zug in Abrahams Denkweise, nämlich seiner beständigen biologischen 
Orientierung in Beziehung gebracht werden. Diese gab ihm einen gefestig¬ 
ten Hintergrund für seine ganze Arbeit und lieferte ein Kriterium, an 
dem die innere Wahrscheinlichkeit oder Gültigkeit jedes allgemeinen Er¬ 
gebnisses gemessen werden konnte. Man darf den Gedanken aussprechen: 
in mannigfacher Art wird Abraham in der Psychoanalyse vermißt 
werden; die aber, welche die schwerwiegendsten Konsequenzen für die 
Zukunft haben mag, wird mit diesem Zuge in Verbindung stehen. Die 
Psychoanalyse ist noch nicht zu dem entscheidendsten Wendepunkt ihrer 
Entwicklung gelangt, obwohl sie andere, vorläufige, glücklich hinter sich 
hat. Doch der wird kommen; wahrscheinlich innerhalb der nächsten 
zwanzig Jahre, wenn sich die Frage der Eingliederung der Psychoanalyse 
in das allgemeine Gefüge der Wissenschaft ernsthaft erheben wird. Da 
wird die schwerste Probe an die junge Wissenschaft herantreten, denn 
viel wird von der Entscheidung abhängen, ob sie durch einen Prozeß 
partieller Annahme und beständiger Verdünnung absorbiert werden wird 

Int. Zeitschr. f. Psychoanalyse, XII/2. 


12 







178 


Ernest Jones 


oder ob sie genügende Lebenskraft zeigen wird, ihre wesentlichen Eigen¬ 
schaften beizubehalten und sie den anderen Wissenszweigen zu verleihen, 
mit denen sie in Berührung kommt. Gerade in dieser Aufgabe, die vor 
uns liegt, wären Abrahams charakteristische Eigenschaften unzweifelhaft 
von besonderem Werte gewesen, denn er besaß einen weiten und gesunden 
Überblick über Wissenschaft und Leben als ein Ganzes, der in einem 
seltenen Grade mit einer besonderen Erkenntnis gerade der Tiefen der 
psychoanalytischen Wahrheiten verbunden war. 

Wenn man seine originellen Beiträge studiert, wird man überrascht das 
Übergewicht von Themen konstatieren, die sich auf die praegenitalen Ent¬ 
wicklungsstufen, mit Einschluß der Autoerotik und der Partialtriebe und 
auf das Element des verdrängten Hasses, besonders der Mutter gegenüber, 
beziehen. Das letztere erscheint immer wieder in seinen Arbeiten und 
überwiegt bei weitem seine Beiträge auf dem Gebiete der Liebe, der Über¬ 
tragung und verwandter Probleme. Es ist in gleicher Art bemerkenswert, 
daß ein Kliniker von erstem Rang wie er, ein Mann, dem der klinische 
Gesichtspunkt immer als der vorherrschende galt, weniger zu unserer 
Kenntnis rein klinischer Probleme, wie etwa der Fragen der Übertragungs¬ 
neurosen oder selbst der Psychosen (trotz seiner Arbeit über das manisch- 
depressive Irresein, welche die hervorragendste auf diesem Gebiete war), 
beitrug, als zu den genetischen Problemen der Libidoentwicklung. Es ist 
wahrscheinlich, daß man ihn länger wegen seiner genetischen Arbeiten, als 
wegen seiner Schriften auf klinischem Gebiete, in Erinnerung behalten wird. 

Wollte man Abrahams wichtigstes Einzelwerk auswählen, trotzdem 
man nie die Mannigfaltigkeit seiner Beiträge zu allen Richtungen der 
Psychoanalyse vergessen wird, so wäre es wahrscheinlich das über Oralerotik. 
Hier sind ihre mannigfaltigen Äußerungsformen vollständig beschrieben, 
ihre innere Entwicklung ebenso wie ihre Auswirkung bis in die folgenden 
libidinösen Phasen dargestellt, ihre Verbindung sowohl zur Liebe als auch 
zum Haß gezeigt; ihre klinische Bedeutsamkeit mit Bezug auf Alkoholis¬ 
mus, Gifte und besonders auf das manisch-depressive Irresein wird uns 
vor Augen geführt; schließlich wird vor uns ein aufschlußreiches Bild der 
wesentlichen Rolle, welche sie in der Charakterbildung spielt, aufgerollt. 
Vielleicht die hervorragendste Lehre, die wir Abraham verdanken, ist die 
der großen Wichtigkeit der Saugperiode und der schwerwiegenden Folgen, 
die Haß gegenüber der Mutter während dieser Phase für das spätere Leben 
haben kann. 

* 

Es erübrigt uns, etwas über Karl Abrahams Persönlichkeit, über seine 
persönliche Bedeutung für die Psychoanalyse zu sagen. Wir haben versucht, 





















Karl Abraham 


179 


eine objektive Schätzung dafür zu gewinnen, was Abrahams wissenschaft¬ 
liche Arbeit für die Entwicklung unserer Kenntnis geleistet habe. Aber 
Abrahams Wert geht noch weit darüber hinaus. Eine einzige Erwägung 
mag uns hier den Weg zur richtigen Einsicht führen. Nicht nur daß seine 
Tätigkeit für den Fortschritt der Psychoanalyse in Berlin und in Deutsch¬ 
land überhaupt verantwortlich war, sondern ihr Einfluß brachte es auch 
allmählich dahin, daß Berlin in vielen Hinsichten der Mittelpunkt der 
ganzen internationalen psychoanalytischen Bewegung wurde. Das Geheimnis 
dieses Ergebnisses zu kennen, heißt Abraham verstehen. Denn die über¬ 
ragende Stellung, die er in der Psychoanalyse gewann, war nicht zum 
allergeringsten Teil das Ergebnis seines persönlichen ehrgeizigen Strebens, 
sie stellte sich vielmehr automatisch als die Folge seines inneren Wertes 
her und darin lag die Größe des Mannes. 

Es gibt Menschen, die zur Führerschaft geboren sind. Es liegt in ihrer 
Natur, andere zu beherrschen und zu leiten. Abraham zählte nicht zu diesen. 
Noch ganz zuletzt erschien es ihm, wie ich aus einer Bemerkung auf dem 
Homburger Kongreß schließen muß, befremdend, daß er eine so hervor¬ 
ragende Stellung einnehmen sollte; er meinte, das liege nicht in seiner 
Natur und es wurde ihm nicht leicht, diese unleugbare Tatsache gelten zu 
lassen und sich mit ihr zu befreunden. Sein großer Einfluß über seine 
Arbeitsgenossen und die Rolle, die er unter ihnen spielte, stammten nicht 
von seinem eigenen Bestreben, sich vor anderen auszuzeichnen, sondern 
ruhten auf einem weit festeren Grunde: sie waren die Folge einer Über¬ 
legenheit, die sich Anerkennung erzwingen mußte. Auf welchen Eigen¬ 
schaften beruhte diese Überlegenheit? 

Die Antwort auf diese Frage läßt sich nur durch die Lösung einer Anti¬ 
nomie geben. Die auffälligsten von Abrahams Charakterzügen waren eine 
erfrischende Jugendlichkeit und ein unverwüstlicher Optimismus. Nun sind 
das nicht gerade die Eigenschaften, die geeignet sind, anderen unbedingtes 
Zutrauen einzuflößen; auch ist es nicht gewöhnlich, daß sie mit skeptischer 
Vorsicht und ruhiger, nüchterner Urteilskraft gepaart sind, gerade jenen 
Charakteren, die uns an Abrahams wissenschaftlicher Arbeit in die 
Augen springen mußten. Und doch treffen beide Beschreibungen auf 
Abrahams Persönlichkeit zu. Wenn man dieses Paradoxon verstehen kann, 
hat man sich den Weg zum Verständnis von Abrahams Wesen erschlossen. 

Selbst hinter den Zügen, die den großen persönlichen und sozialen Reiz 
Abrahams ausmachten, verbargen sich andere, ernstere, die den wirk¬ 
lichen Kern seines Charakters bildeten. Er war ungewöhnlich jugendlich 
in seinem Wesen und konnte sich unter Umständen sogar knabenhaft ge¬ 
bärden; unzweifelhaft witzig zu Zeiten, war doch ein gewisser ruhiger, trok- 


12* 















l8o 


Ernest Jones 


kener, oft sehr überlegener Humor eher charakteristisch für ihn. Seine 
Persönlichkeit wirkte gleichmäßig anziehend auf Frauen, wie einnehmend 
auf Männer, ein Ausdruck von Frische und Kraft machte ihn zum liebens¬ 
würdigsten Kameraden und Gesellschafter. Sein Benehmen war immer 
gleichmäßig heiter, höflich und freundlich. Aber diese Eigenschaften durfte 
man nicht mißbrauchen. Hinter ihnen verbarg sich eine Festigkeit, die ge- 
gen die Verlockungen von Mann und Weib gleich undurchdringlich war. 
Er konnte es sich leisten, freundlich und gefügig im Umgang mit anderen 
zu sein, gerade weil er sich völlig in der Hand hatte; da er sicher war, 
daß er keinem Einfluß von innen oder außen in ungebührlicher Weise 
verfallen würde, blieb er zuversichtlich in jeder Lage. Die letzte Wurzel 
dieser Zuversicht war seine vollendete Selbstbeherrschung. 

Dasselbe gilt auch für seinen auffälligsten Charakterzug, für das, was 
seine Freunde seinen unheilbaren Optimismus zu nennen pflegten. Er 
blieb immer voll guter Hoffnung, so düster und unheilvoll die Lage auch 
zu sein schien und diese gute Stimmung brachte es im Verein mit der 
Zuversichtlichkeit, die sie beförderte, wirklich oft dahin, daß ein besserer 
Ausgang erreicht wurde, als man zunächst für möglich gehalten hätte. 
Ein starker Wirklichkeitssinn hielt in der Regel seinem Optimismus die 
Wage, so daß dieser nur seine auffrischenden Wirkungen äußern konnte. 
Doch ereignete es sich ein- oder zweimal in seinem Leben, daß ihm sein 
Optimismus einen Streich spielte und seine sonst vollkommene Stabilität 
beeinflußte. 

Hinter Abrahams kühler und höflicher Korrektheit ließ sich bald eine 
ungewöhnlich große Reserve entdecken. Aber vielleicht wußten selbst von 
seinen Freunden nur wenige, wie stark diese war. Sie fühlten nur, daß 
es bei ihm irgendwo eine Schranke gab, über die man nicht hinausgelangte. 
Für alle praktischen Zwecke des Lebens hatte sich Abraham eine besonders 
feste und widerstandsfähige seelische Verfassung geschaffen, deren Tiefen 
aber nicht zu ergründen waren, vielleicht nicht einmal für ihn selbst. 

Niemand, der ihn kannte, entging dem Eindruck, daß er zu den Menschen 
gehörte, denen eine ganz außergewöhnliche Fähigkeit zur Sublimierung 
eigen ist und daß sein Trieb- und Gefühlsleben eine ungewöhnlich hohe 
Entwicklungsstufe erreicht hatte. Es ist kein Zufall, daß wir gerade ihm 
die Lehre verdanken, das beste Merkmal für die Höhe der seelischen 
Entwicklung sei die Überwindung des Narzißmus und der Ambivalenz. 
Wenige Menschen würden die Probe so bestanden haben wie er, wenn 
man diesen hohen Maßstab an sie anlegte. 

Es war Abraham gelungen, seine egozentrischen Regungen in ganz 
ungewöhnlichem Ausmaße zu beherrschen und zu verarbeiten, so daß er sich 




























Karl Abraham 


l8l 


dem einen Ziel seines Lebens, der Förderung der Psychoanalyse, ganz 
ungeteilt widmen konnte. Es war unmöglich, bei ihm die Spur irgend 
eines persönlichen Ehrgeizes zu finden, von einer Ausnahme abgesehen, 
die gerade geeignet ist, die Regel zu bestätigen. Denn diese etwas befremdende 
Ausnahme war der Wunsch, eine Dozentur an der Berliner Universität 
zu erwerben, der ja offenbar wiederum der Psychoanalyse zugute kommen 
sollte. Seine Berliner Kollegen wissen am besten, wie vollkommen er sich 
mit den Interessen der Berliner Psychoanalytischen Vereinigung identifizierte, 
von dem Augenblick an, da er sie gründete, im März 1910, bis zum 
Zeitpunkt seines letzten Erscheinens daselbst, am g. Mai des vorigen 
Jahres. Wie seine seltenen Gaben als Lehrer, Forscher und Vortragender 
sich als unentbehrlich für die Entwicklung der Gesellschaft erwiesen, so 
fiel noch eine größere Bedeutung auf seine Befähigung zum Führer, von 
der wir noch zu sprechen haben. 

Die Ausschaltung seiner rein persönlichen Interessen im Verein mit der 
ihm natürlichen Klugheit verlieh ihm eine ungewöhnliche Fähigkeit, 
Probleme, Personen und Ereignisse in objektiver und überlegener Weise 
zu betrachten. Daher stammte die bemerkenswerte Nüchternheit seines 
Urteils, aber auch noch ein anderer Vorteil. Er gewann auf diese Weise 
eine Leichtigkeit und Sicherheit des Umganges, die es ihm möglich 
machten, mit seinen Nebenmenschen in ungewöhnlicher Offenheit zu ver¬ 
kehren, so daß ihm niemand übel nehmen konnte, was er von ihm zu 
hören hatte. Alle Zurechtweisungen und Einwendungen, die von ihm aus¬ 
gingen, erschienen so von einer rein persönlichen Grundlage auf den 
Boden der Objektivität gehoben, und diese seine Einstellung verfehlte 
selten ihre Wirkung, Erregungen zu unterdrücken und eine vernünftige 
Auffassung der Sachlage herbeizuführen. Er war bei aller Höflichkeit fest, 
und wenn er einmal seinen Entschluß gefaßt hatte, unbeugsam, aber 
dabei nie im geringsten anmaßend; seine ruhige Entschiedenheit wirkte 
an und für sich als Autorität. Er war der angenehmste Mitarbeiter, wie ich 
reichlich zu erfahren Gelegenheit hatte, wenn wir in der Leitung der Inter¬ 
nationalen Vereinigung oder in anderen Beziehungen gemeinsam zu wirken 
hatten; wenn man ihm einen Vorschlag machte, zeigte er sich immer zugäng¬ 
lich und man durfte sicher sein, nicht auf subjektive Widerstände bei ihm 
zu stoßen. Jede seiner Erwiderungen oder Einwendungen war klar, knapp 
und bestimmt. Diese Eigenschaften machten ihn natürlich auch zu einem 
bewundernswerten Schiedsrichter in allen Gegenständen persönlicher oder 
wissenschaftlicher Meinungsverschiedenheit. Mit einem Wort, seine Fähig¬ 
keit zu voller Objektivität war die Begründung für die Tüchtigkeit seines 
Urteils wie auch für die Klugheit in allen seinen menschlichen Beziehungen. 
















182 


Ernest Jones 


Ambivalenz war seiner Natur in jedem Sinne fremd. “Es schien, daß 
er nicht hassen konnte. Es kam vor, daß er gewisse Personen nicht 
mochte, zumeist mit der unpersönlichen Begründung, daß er ihre Tätigkeit 
als schädlich für die Analyse ansah. Aber auch in solchen Fällen war von 
Haß keine Rede. Er schien sich sogar zuzeiten in merkwürdiger Weise 
über die Stärke feindseliger Regungen bei anderen Personen hinwegzu¬ 
setzen. Ich erinnere mich, wie er manchmal eine friedliche Diskussion mit 
einem anderen führte, der vor Wut und Rachsucht vergehen wollte, offenbar 
völlig unbekümmert um dessen Aufregung und von der Hoffnung erfüllt, 
daß ein besonnener Gedankenaustausch die Lage verändern würde. Selbst 
in ernsthaften Streitigkeiten blieb er zwar unerschüttert, verlor aber nie 
seine Selbstbeherrschung. Er konnte in liebenswürdigster Weise gefällig 
sein, bereitwillig Hilfe leisten, aufopfernd Liebe schenken; er konnte auch 
hartnäckigen Widerstand bieten, sich energisch zur Wehre setzen; aber er 
konnte nicht hassen. Demzufolge konnte er auch keinen Haß bei anderen 
hervorrufen, obwohl er gelegentlich Kritik und Widerstand erregte. Er 
hatte seine Gegner, es fehlte ihm nicht an eifersüchtigen Rivalen, aber 
er hatte eigentlich keine Feinde. 

Abrahams tiefes Selbstvertrauen war so auf der Solidität seines eigenen 
Seelenlebens begründet. Bei der vollen Ausgeglichenheit seines Trieblebens 
und der Sicherheit seiner Selbstbeherrschung — bei leichter Neigung zur 
Strenge — konnte er ohne weiteres seinen angeborenen Neigungen freien 
Lauf lassen, denn er wußte, sie würden ihn nicht auf Wege führen, mit 
denen er nicht voll einverstanden war. Wenn wir von ihm sagen, daß er 
ein normaler Mensch war, so gebrauchen wir Worte, die dem Uneinge¬ 
weihten kühl klingen mögen, aber für den Psychoanalytiker umso viel 
mehr bedeuten. 

Wir können nun verstehen, wie es unausweichlich wurde, daß Abraham 
zur Rolle eines Führers in der Psychoanalyse gelangte, und warum ihm in 
dieser Stellung so großer Erfolg beschieden war. Seine unermüdliche 
Energie, seine Unerschrockenheit, sein tapferes und unerschütterliches 
Selbstvertrauen spornten alle anderen an und schenkten ihnen das Zutrauen, 
das für die Durchführung schwerer Aufgaben unerläßlich ist. Sein unge¬ 
wöhnlicher Scharfsinn befähigte ihn, Inkorrektheiten oder Übergriffe in 
einer eindrucksvollen, kühlen Weise bloßzustellen und phantastische Aus¬ 
schreitungen bei anderen niederzuhalten. Die gleichmäßig wohlwollende 
und dabei unpersönliche Einstellung, die ihm eigen war, machte es ihm 
möglich, solche Kritik zu üben, ohne die betreffende Person zu verletzen 
oder zu entmutigen. Wenn er zu der Leistung eines Kollegen Stellung 
nahm, so hatten seine gütige und heitere Auffassung im Verein mit seiner 














Kaii Abraham 


183 


optimistischen Stimmung immer die Folge, die beste Seite der Leistung 
zu betonen. Während er die Arbeit kritisierte, pflegte er ihre Schwächen 
unmerklich zu modifizieren und das Ganze in das günstigste Licht zu 
stellen. Die Folge war, daß er imstande war, aus seinen Kollegen und 
Schülern immer das Beste herauszuholen. Und für diese wurde es immer 
klar, daß sie an Abraham eine Stütze hatten, an die sie sich lehnen 
konnten, eine objektive Instanz, an die sie sich fast niemals vergebens zu 
wenden brauchten. 

Wir kommen so zu den beiden so wertvollen Eigenschaften in Abrahams 
Charakter, die nach meinem Urteil am bezeichnendsten für ihn waren, seine 
Furchtlosigkeit und seine Ehrlichkeit. Es ist ja allgemein bekannt, wie viel 
Mut und Zähigkeit er entfaltete, als er, ein einsamer Pionier sich überall 
von Feindseligkeit umringt fand; nur der, der sich in einer ähnlichen Lage 
befunden hat, kann die richtige Schätzung dafür haben. Aber wenige 
wissen, daß er in die Lage gekommen ist, noch weit entscheidendere 
Beweise für seine Unerschrockenheit angesichts unliebsamer Folgen seiner 
Handlungsweise abzugeben. Ich weiß, daß er mehr als einmal in seinem 
Leben sich der Gefahr aussetzte, die Freundschaft ihm nahestehender 
Personen zu verscherzen, dadurch, daß er unerschüttert bei seinen Ent¬ 
schließungen blieb, auch wenn er sich dadurch Mißverständnissen aussetzte. 

Die Rechtlichkeit ging Abraham über alles. Wahrhaftigkeit und Recht¬ 
schaffenheit waren so eng mit seiner Natur verwachsen, daß er ohne 
Zaudern und Bedenken immer nur tat, was er als das Richtige empfand 
und sich durch nichts von seinem Wege abbringen ließ. Diese seine außer¬ 
ordentliche Korrektheit rief bei allen, die ihn kannten, ein solches Gefühl 
von Zutrauen hervor, daß sie wie auf einen Fels auf ihn zu bauen 
pflegten. Im Gewirre menschlicher Leidenschaften und dem Getümmel 
aufeinanderprallender Gegensätze rings um ihn, bewahrte er immer un¬ 
erschüttert seine Festigkeit. Und das war vielleicht sein größter Wert für 
die Psychoanalyse. Karl Abraham war in Wahrheit ein Held in der 
Wissenschaft, ein Ritter ohne Furcht und Tadel. 


Ernest Jones 













Verzeichnis 

der wissenschaftlichen Veröffentlichungen 
von Dr. Karl Abraham 1 

CblNP 
ZblPsA 
IZPsA 
JbPsA 

UPsA 
BPsAV 


= Cmtralblait für Nervenheilkunde und Psychiatrie. 

= Zentralblatt für Psychoanalyse. 

= Internationale Zeitschrift für (ärztliche) Psychoanalyse. 

— Jahrbuch der Psychoanalyse (Jahrbuch für psychoanalytische und psychopatholo gische 
Forschungen). 

= International Journal of Psycho-Analysis. 

= Berliner Psychoanalytische Vereinigung. 


1900 

l) Normentafel zur Entwicklungsgeschichte des Huhnes (mit Prof. Keibel). 

Normentafeln zur Entwicklungsgeschichte der Wirbeltiere , H. 2, Jena. 


ipoi 

2 ) Beiträge zur Entwicklungsgeschichte des Wellensittichs (Inauguraldisser¬ 
tation). Anatomische Blätter (des Anatomischen Instituts Freiburg), H. LVI/LVIL (Wies¬ 
baden, I. F. Bergmann.) 

1902 

3) Beiträge zur Kenntnis des Delirium tremens der Morphinisten. 

CblNP, Jg. XXV. Juni-Heft, S. 569—380. 

1904 

4 ) Über Versuche mit „Veronal u bei Erregungszuständen der Paralytiker. 
CblNP , Jg. XXVII, März, S. 176-180. 

5) Cytodiagnostische Untersuchungen bei Dementia paralytica (mit 
Dr. Ziegenhagen). Psychiatrischer Verein zu Berlin, 10. März. Autoreferat im CblNP , 
Jg. XXVII, Mai, S. 323—324. 


1) Die wichtigsten Arbeiten sind mit einem Stern (*) bezeichnet. (E. J.) 










Verzeichnis der wissenschaftlichen Veröffentlichungen von Dr. Karl Ahraham 185 


6) Über einige seltene Zustandsbilder bei progressiver Paralyse: Apraxie, 
transkortikale sensorische Aphasie, subkortikale sensorische Aphasie, sen- 

sorisch-motorisehe Asymbolie. Allg. Zeitschr. f. Psychiatrie, Bd. LXI, H. 4, Juni, 
S. 502—523. 

j) Vorstellung eines Kranken mit Hemianopsie und Rotgrünblindheit 

im erhaltenen Gesichtsfeld. Psychiatrischer Verein zu Berlin, 18. Juni. Auto¬ 
referat im CblNP, Jg. XXVII, Sept., S. 578—579. 

1907 

8) Beiträge zur Kenntnis der motorischen Apraxie auf Grund eines 
Falles von einseitiger Apraxie. CblNP, N. F., Bd. XVIII, März, S. 161—176. 

9 -) Über die Bedeutung sexueller Jugendtraumen für die Symptomatologie 

der Dementia praecox. Jahresversammlung des deutschen Vereins für Psychiatrie 
in Frankfurt, 27. April. CblNP, N. F„ Bd. XVIII, Juni, S. 409—415. 

*I0) Das Erleiden sexueller Traumen als Form infantiler Sexualbetätigung 
CblNP, N. F., Bd. XVIII, Nov., S. 854—865. 

1908 

*Il) Die psychosexueilen Differenzen der Hysterie und der Dementia 

praecox. Erster internationaler Psychoanalytischer Kongreß, Salzburg, 26 April. CblNP 
N. F., Bd. XIX, Juli. S. 521—533. ’ 

*12) Die psychologischen Beziehungen zwischen Sexualität und Alkoho¬ 
lismus. Zeitschrift f. Sexualwissenschaft, Nr. 8, August, S. 449—458. ( IJPsA, Vol. VII, 

pp. 2—IO.) 

13) D ie Stellung der Verwandtenehen in der Psychologie der Neurosen. 
Berliner Gesellschaft für Psychiatrie mul Nervenkrankheiten, 9. Nov. (Autoreferat 
und Diskussion, Neurolog. Centralbl., Jg. XXVII, S. 1150—1152). JbPsA, Bd. 1, 1909, 
S. 110—118. 


1909 

*14) Traum und Mythus. Eine Studie zur Völkerpsychologie. Schriften zur 
angewandten Seelenkunde, H. 4, pp. 73 (Wien, Deuticke). — Englische Übersetzung, 1913 
(New York, Nervous & Mental Disease Monograph Series, No. 15). — Holländische Über- 
Setzung, 1914 (Leiden, S. C. van Doesburgh). 

Ij) Freuds Schriften aus den Jahren 1895—1909 (Sammelreferat). JbPsA , 
Bd. I, S. 546—574. 

16) Bericht über die österreichische und deutsche psychoanalytische 
Literatur bis zum Jahre 1909 (Sammelreferat). JbPsA, Bd. I, S. 575—594. 


IpIO 

*17) Über hysterische Traumzustände. JbPsA , Bd, II, S. 1—52. 

18) Bemerkungen zur Analyse eines Falles von Fuß- und Korsettfeti¬ 
schismus- Zweiter Internationaler Psychoanalytischer Kongreß, Nürnberg, 50. März 
(Referat, ZblPsA, Jg. I, H. 2, Nov., S. 129). JbPsA, Bd. II I, 1912, S. 557—567. 







186 


Verzeichnis der wissenschaftlichen 


iy) Historisches Referat über die Psychoanalyse. BPsAV , 29. April. 

20) Psychoanalyse eines Falles von Hysterie mit ungewöhnlichem Her¬ 
vortreten der Inzestfixierung. BPsAV, j. Juni. 

21) Über sadistische Phantasien im Kindesalter. (Kasuistische Beiträge.) 
BPsAV, 51. August. 

22) Inzest und Inzestphantasien in neurotischen Familien. Kasuistische 
Mitteilungen über wirkliche Sexualbeziehungen innerhalb neurotischer Familien und 
über Krankheitssymptome auf der Basis der Inzestphantasien. BPsAV , 12. Nov. 

23) Mitteilung zweier Ödipus-Träume. BPsAV, 8. Dez. 


1911 

24) Psychoanalyse einer Zwangsneurose. BPsAV, 9. Febr. 

2f) Einige Bemerkungen über den Mutterkultus und seine Symbolik in 
der Individual- und Völkerpsychologie. Z blPsA, Jg. I, H. 12, Sept. S. 549 — 550. 

*26) Die psychosexuelle Grundlage der Depressions- und Exaltationszu¬ 
stände. Dritter Internationaler Psychoanalytischer Kongreß, Weimar, 21. Sept. (Referat, 
ZblPsA, Jg. II, H. 2, Nov., S. 101 —102). Veröffentlicht in extenso unter dem Titel: 

Ansätze zur psychoanalytischen Erforschung und Behandlung des manisch- 
depressiven Irreseins und verwandter Zustände. ZblPsA, Jg. II, H. 6 , März 1912, 
5 02 — 5 l 5' 

2j) Über die Beziehungen zwischen Perversion und Neurose. (Referat über 
die erste von Freuds „Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie.“) BPsAV , 50. Okt. 

28) Über die determinierende Kraft des Namens. ZblPsA , Jg. II, H. 5, Dez., 
s - 2 55 x 34 * 

2y) Eine Traumanalyse bei Ovid. ZblPsA , Jg. II, H. 5, Dez., S. 159—160. 

*J 0 ) Giovanni Segantini. Ein psychoanalytischer Versuch. Schriften zur ange¬ 
wandten Seelenkunde . H. 11, pp. 65. (Wien, Deuticke.) — Neue erweiterte Auflage, 1925. 
Russische Übersetzung, 1913 (Odessa). — Italienische Übersetzung, 1926. 


I$I 2 

31) Aus der Analyse eines Falles von Grübelzwang. BPsAV, 14. März. 

32) Über ein kompliziertes Zeremoniell neurotischer Frauen. ZblPsA, Jg. 
II, H. 8, Mai. S. 421—425. 

$3) Eine besondere Form sadistischer Träume. (Massenmord-Träume). BPsAV, 
18. Mai. 

*34) Amenhotep IV. (Echnaton). Psychoanalytische Beiträge zum Verständnis 
seiner Persönlichkeit und des monotheistischen Aton-Kultes. BPsAV, Juli. — ltnago 
Bd. I, H. 4, S. 334— 5 6 °- 

3j) Über neurotische Lichtscheu. BPsAV, Oktober, 






Veröffentlichungen von Dr. Karl Abraham 


187 


* 9*3 

36) Psychosexuelle Wurzeln des neurotischen Kopfschmerzes. BPsAV, Februar 
und März. 

}j) Sollen wir die Patienten ihre Träume aufschreiben lassen? IZPsA, 
Bd. I, H. 2, März. S. 194—196. 

38) Eine Deckerinnerung, betreffend ein Kindheitserlebnis von scheinbar 
ätiologischer Bedeutung. IZPsA , Bd. I, H. 5, Mai. S. 247—251. 

j <?) Zur Psychogenese der Straßenangst im Kindesalter. IZPsA , Bd. I, H. 5 
Mai. S. 256—257. 

40) Einige Bemerkungen über die Rolle der Großeltern in der Psycho** 
logie der Neurosen. IZPsA, Bd. I, H. 5, Mai. S. 224—227. 

41) Beobachtungen über die Beziehungen zwischen Nahrungstrieb und 
Sexualtrieb. BPsAV , Juni. 

42) Psychische Nachwirkungen der Beobachtung des elterlichen Ge¬ 
schlechtsverkehrs bei einem neunjährigen Kinde. IZPsA , Bd. I, H. 4., Juli. 
S. 364—366. 

*43) Über Einschränkungen und Umwandlungen der Schaulust bei den 
Psychoneurotikem nebst Bemerkungen über analoge Erscheinungen in der 
Völkerpsychologie. IV. Internationaler Psychoanalytischer Kongreß, München, 7. Sept. 
— JbPsA, Bd. VI, 1914. S. 25 — 88. 

44) Über eine konstitutionelle Grundlage der lokomotorischen Angst. 
BPsAV, Oktober. — IZPsA, Bd. II, H. 2, März 1914. S. 143—150. 

4 $) Über neurotische Exogamie. Ein Beitrag zu den Übereinstimmungen im 
Seelenleben der Neurotiker und der Wilden. BPsAV, 8. Nov. Imago, Bd. III, H. 6. 

s. 499—501. 

46) Ohrmuschel und Gehörgang als erogene Zone. BPsAV,, Dez. — IZPsA, 
Bd. II, H. x, März 1914. S. 27 —29. 

* 9*4 

47) Kritik zu C. G. Jung, Versuch einer Darstellung der psychoanaly¬ 
tischen Theorie. BPsAV, Januar. — IZPsA, Bd. II, H. 1, Januar. S. 72—82. 

48) Zur Bedeutung der Analerotik. BPsAV, Februar. 

49) Zum Verständnis „suggestiver“ Arzneiwirkungen bei neurotischen 
Zuständen. IZPsA, Bd. II, H. 4, Juli. $. 377—378. 

30) Eigentümliche Formen der Gattenwahl, besonders Inzucht und 
Exogamie. Ärztl. Ges. f. Sexualwissenschaft, Berlin, 3. Juli. 

31 ) Spezielle Pathologie und Therapie der nervösen Zustände und der 
Geistesstörungen. (Sammelreferat). JbPsA , Bd. VI, 1914. S. 343—363. 

1916 

* 3 2 ) Untersuchungen über die früheste prägenitale Entwicklungsstufe der 
Libido. IZPsA, Bd. IV, H. 2. S- 71—97. 







188 


Verzeichnis der wissenschaftlichen 


* 9*7 

Einige Belege zur Gefühlseinstellung weiblicher Kinder gegenüber 
den Eltern. IZPsA, Bd. IV, H. 5. S. 154—155. , 

Über Ejaculatio praecox. IZPsA, Bd. IV, H. 4. S. 171 — 186. 
jf) Das Geldausgeben im Angstzustand. IZPsA, Bd. IV, H. 5. S. 252—255. 


1918 

j6) „Dreikäsehoch . u Zur Psychoanalyse des Wortwitzes. Imago. Bd. V, H. 4. 
S. 294—295. 

57) Zur Psychoanalyse der Kriegsneurosen. Korreferat zur Diskussion der 
Kriegsneurosen auf dem V. Internationalen Psychoanalytischen Kongreß, Budapest, 
28, Sept. Veröffentlicht mit Beiträgen von Prof. Dr. Sigm. Freud, Dr. S. Ferenczi, 
Dr. Ernst Simmel und Dr. Emest Jones als Nr. I der Internationalen Psychoanalytischen 
Bibliothek, S. 51—41 (Internationaler Psychoanalytischer Verlag, 1919* — Englische 
Übersetzung, International Psycho-Analytical Press, 1921). 


* 9*9 

8 ) Über eine besondere Form des neurotischen Widerstandes gegen die 
psychoanalytische Methodik. BPsAF, 6. Februar. IZPsA, Bd. V, H. 5, Okt. S. 175—180. 
79 ) Tiertotemismus. BPsAF, 16. März. 

60) Über den weiblichen Kastrationskomplex. BPsAF, 17. April. 

61) Bemerkungen zu Ferenczis Mitteilung über „Sonntagsneurosen“. 
IZPsA , Bd. V, H, 5, Okt., S* 205—204. 

62) Zur Prognose psychoanalytischer Behandlungen in vorgeschrittenem 
Lebensalter. BPsAF, 6. Nov., IZPsA, Bd. VI, H. 2, Juni 1920, S. 115—117. 

6 )) Zur narzißtischen Bewertung der Exkretionsvorgänge in Traum und 
Neurose. BPsA t 18. Dez„ IZPsA, Bd, VI, H. I, März 1920, S. 64—67. 


1920 

64 ) Der Versöhnungstag. Bemerkungen zu Reiks „Probleme der Religions¬ 
psychologie“. Imago, Bd. VI, H. 1, S. 80—90. 

6 j) Vortrag. Gehalten vor der Inneren Klinik (Prof. Grote), Halle, 10. Juli. 

66 ) Über die Sexualität des Kindes. Ärztliche Gesellschaft für Sexualwissenschaft, 
Berlin, 21. Mai. Archiv für Frauenkunde (Sexualwissenschaftliches Beiheft), Bd. VI, 
H. 5/4, S. 278 ff. 

*67) Äußerungsformen des weiblichen Kastrationskomplexes. Sechster Inter¬ 
nationaler Psychoanalytischer Kongreß, Haag, 8. Sept. (Referat IZjPsA, Bd, VI, S.591—592). 
Veröffentlicht in extenso: IZPsA,. Bd. VII, H. 4, Dez. 1921, S. 422—452. {IJPsA, Vol. III. 
pp. 1—29). * 

68 ) Technisches zur Traumdeutung. BPsAF, 24. Sept. 

69) Die Psychoanalyse als Erkenntnisquelle für die Geistes Wissenschaften. 
Die neue Rundschau, Jahrg. 51 der Freien Bühne, Okt., H. 10, S. 1154— 11 74 * 





Veröffentlichungen von Dr. Karl Abraham 


189 


1921 

70) Ergänzung zur Lehre vom Analcharakter. BPsAV, 20. Jan., IZPsA, B&.IX, 
H. 1, März 1925, S. 27—-47 ( IJPsA , Vol. IV, pp. 400—418). 

71) Zwei Fehlhandlungen einer Hebephrenen. IZPsA , Bd. VII, H. 2, Juni, 
S. 208. 

72) Beitrag zur „Tic-Diskussion“. BPsA, 2. Juni, IZPsA, Bd. VII, H. 3, Okt., 
S. 393 — 595 - 

13 ) Spezielle Pathologie und Therapie der Neurosen und Psychosen 
(Sammelreferat mit Dr. J. Hdrnik). „Bericht über die Fortschritte der Psychoanalyse 
in den Jahren 1914—1919“, S. 141 —165. (Internationaler Psychoanalytischer Verlag, 
1921.) ( IJPsA, Vol. I, pp. 280—285.) 

74 ) Literatur in spanischer Sprache. „Bericht über die Fortschritte der Psycho¬ 
analyse in den Jahren 1914—1919“* S. 366—567. (Internationaler Psychoanalytischer 
Verlag, 1921.) (IJPsA, VoL I, pp. 457—458.) 

77) Klinische Beiträge zur Psychoanalyse aus den Jahren 1907-—1920, 
(Enthält die oben angeführten Nummern 9, 10, 11, 12, 14, 17, 18, 26, 28, 52, 57, 58, 

59» 4°» 4 2 » 43» 44» 45 » 4 6 » 47 » 5 2 » 55 » 54 » 55 » 5 $» 61, 62, 65.) Internationale Psychoana¬ 
lytische Bibliothek , No. 10. (Internationaler Psychoanalytischer Verlag, 1921.) Englische 
Übersetzung in Vorbereitung. 


1922 

*76) Vaterrettung und Vatermord in den neurotischen Phantasiengebilden. 
IZPsA, Bd. VIII, H. 1, März, S. 71—77. (IJPsA, Vol. III, p. 467—474.) 

77) Vortrag. Gehalten vor einem psychoanalytischen Kreise in Leipzig, 27. Mai. 

78) Über Fehlleistung mit überkompensierender Tendenz. IZPsA, Bd. VIII, 
H. 5, Okt., S. 345—348. ( IJPsA , Vol. V, pp. 197—200.) 

79) Fehlleistung eines Achtzigjährigen. IZPsA, Bd. VIII, H. 3, Okt., S. 350. 
(IJPsA, Vol, IV, pp. 479.) 

So) Die Spinne als Traumsymbol. IZPsA, Bd. VIII, H. 4, Dez., S. 470—475. 
(IJPsA, Vol. IV, pp. 313—317.) 

81) Neue Untersuchungen zur Psychologie der manisch-depressiven Zu¬ 
stände. Siebenter Internationaler Psychoanalytischer Kongreß, Berlin, 27. Sept. (Re- 
ferat: IZPsA , Bd. VIII, S. 492—493 ) 

192 ) 

82) Zwei Beiträge zur Symbolforschung: Zur symbolischen Bedeutung der 
Dreizahl; Der „Dreiweg“ in der Ödipussage. Imago, Bd. IX, H. x, S. 122—126. 

83) Eine infantile Theorie von der Entstehung des weiblichen Geschlechtes. 
IZPsA , Bd. IX, H. 1, März, S. 75—76. 

84) Die Wiederkehr primitiver religiöser Vorstellungen im Phantasie¬ 
lehen des Kindes. Orientalisches Seminar der Universität, Hamburg, 3. März. 

8 j) Kastrationsphantasien hei zwei kleinen Knaben. BPsAV , 15. März. 

86 ) Der Kastrationskomplex in der Analyse eines Bisexuellen. BPsAV , 15. März. 





190 


Verzeichnis der wissenschaftlichen 


8y) Anfänge und Entwicklung der Objektliebe. BPsA , 27. März. 

88) Zum Introjektionsvorgang bei Homosexualität. BPsA , 8. Mai. 

8p) Über Phantasien der Kastration durch Beißen. (Mit Frau Dr. Deutsch), 
BPsAV, 5. Juni. 

pö) Aus der Analyse eines Asthmatikers. BPsAV, 50. Juni. 
pl) Ein Beitrag zur Psychologie der Melancholie. 'BPsAV, 50. Juni. 
p2) Ein Beitrag zur Prüfungssituation im Traume. BPsAV , 30. Juni. 
pf) Psycho-Analytic Views on some Gharacteristics of Early Infantile 
Thinking. Siebenter Internationaler Kongreß für Psychologie, Oxford, 51. Juli. 
Proceedings and Papers of the Congress , pp. 263 — 267 (deutsche, (Cambridge University 
Press, 1924). British Journal of Medical Psychologe, VoL III, Part. 4, 1923, pp. 283 — 287 
(englisch). 

p4) Zwei neue kindliche Sexualtheorien. BPsAV , 6. Nov. 
pf) Die Geschichte eines Hochstaplers im Lichte psychoanalytischer Er¬ 
kenntnis. BPsAV , 13. Nov. Imago , Bd. XI, 1925, H. 4, S. 555 — 370. 

p6) Zur Symbolik des Hauses, besonders des Neubaues. BPsAV , 4. Dez. 
(Referat: IZPsA , Bd. X, H. 1, März 1924, S. 107.) 

ip2 4 

py) Über unbewußte Strömungen im Verhältnis der Eltern zum Kinde. 
Vortrag in Hamburg, 5, Januar. 

p8) UmwandlungsVorgänge am Ödipuskomplex im Laufe einer Psycho¬ 
analyse. BPsAV , 29. März. 

pp) Beiträge der Oralerotik zur Charakterbildung. Achter Internationaler 
Psychoanalytischer Kongreß, Salzburg, 21. April, (Referat: IZPsA , Bd. X, S. 214.) 
(. UPsAy Vol. VI, pp. 247—258.) 

100) Über die Psychologie der modernen Kunstrichtungen. Vortrag, ge¬ 
halten vor einem Künstlerkreise, Berlin. 

101) Zur Charakterbildung auf der „genitalen“ Entwicklungsstufe. BPsAV, 
23. Sept. 

102 ) Analyse einer Zwangsneurose. Erste Deutsche Zusammenkunft für Psycho¬ 
analyse, Würzburg. 12. Okt. 

IOf) Über eine weitere Determinante der Vorstellung des zu kleinen 
Penis. BPsAV, 21. Okt, 

104) Phantasien der Patienten über den Abschluß der Analyse. BPsAV, 
11. Nov. 

ip2f 

*10 j) Versuch einer Entwicklungsgeschichte der Libido auf Grund der 
Psychoanalyse seelischer Störungen. (L Teil: Die manisch-depressiven Zustände 
und die prägenitale Organisationsstufe der Libido. Einleitung. 1. Melancholie imd 
Zwangsneurose. Zwei Stufen der sadistisch-analen Entwicklungsphase der Libido. 
2. Objektverlust und Introjektion in der normalen Trauer und in abnormen psychischen 






Veröffentlidiungen von Dr. Karl Abraham 


191 


Zuständen, g. Der IntrojektionsVorgang- in der Melancholie. Zwei Stufen der oralen 
Entwicklungsphase der Libido. 4. Beiträge zur Psychogenese der Melancholie. 5. Das 
infantile Vorbild der melancholischen Depression. 5. Die Manie. 6* Die psychoana¬ 
lytische Therapie der manisch-melancholischen Zustände. [Schließt No. 81 und 91 
ein.] — IL Teil: Anfänge und Entwicklung der Objektliebe [entspricht No. 87]). 
Neue Arbeiten zur ärztlichen Psychoanalyse . H. II, pp. 96. (Internationaler Psychoana¬ 
lytischer Verlag.) 

* 106) Psychoanalytische Studien zur Charakterbildung. (Enthält die oben an¬ 
geführten Nm. 70 und 99; ferner: Zur Charakterbildung auf der „genitalen“ Ent¬ 
wicklungsstufe [IJPsA, Vol. VII, Part. 2]). Internationale Psychoanalytische Bibliothek, 
No. XVI, pp. 64. (Internationaler Psychoanalytischer Verlag.) 

IOj) Zur Verdräjigung des Ödipuskomplexes. BPsAV 20. Jan. 

Iö 8 ) Vortrag. Gehalten vor einem psychoanalytischen Kreise in Leipzig. 21. Febr, 

109) Die Bedeutung von Wortbrücken für die neurotische Symptombildung. 
BPsAV, 26. Febr. 

IXO) Eine unbeachtete kindliche Sexualtheorie. IZPsA, Bd. XI, H. 1, März, 
S, 85—87. ( IJPsA , Vol. VI, pp. 444—446.) 

111) Psychoanalyse und Gynäkologie. Berliner Gesellschaft für Gynäkologie 
und Geburtshilfe, 15. März. (Referat: IZPsA , Bd. XI, S. 126.) Z eitschr. f. Geburtshilfe 
u. Gynäkologie , Bd. LXXXIX, S. 451—458. 

112) Koinzidierende Phantasien bei Mutter und Sohn. IZPsA, Bd. XI, H. 2, 
Juni, S. 222. (IJPsA, Vol. VII, p. 79). 

113) Die Psychoanalyse schizophrener Zustände. Leidsche Vereeniging voor 
Psychopathologie en Psychoanalyse, Leiden, 27. und 29. Mai. 

114) Das hysterische Symptom. Nederlandsche Maatschappy ter Bevordering 
der Geneeskunst, Haag, 28. Mai. 


1426 

II4) Psychoanalytische Bemerkungen zu Coues Verfahren der Selbst- 
meisterung. IZPsA , Bd. XII, H. 2. (IJPsA, Vol. VII, Part. 2.) 






















GEDENKREDEN ÜBER 
KARL ABRAHAM 


Int. Zeitschr. f. Psychoanalyse, XII/ 2 . 


13 


















. 


*• • ■ 








Gedenkreden über Karl Abraham 


195 



Max Eitingon: 

(ln der Trauerfeier der „Berliner Psychoanalytischen Vereinigungam 12. Januar 1926) 

Als die Nachricht vom Ableben Karl Abrahams mich erreichte, trennte 
mich räumlich eine große Entfernung von Berlin, nachdem aus der Ferne 
meine Gedanken wochenlang zusammen mit Ihrer aller bang um sein 
Krankenlager gekreist hatten; und in den Nachmittagsstunden jenes unver¬ 
geßlichen Montags, den 28. Dezember, fuhr der Zug wie schmerzlich 
stöhnend über den tief beschneiten Alpenpaß. 

Der brennende Blick suchte in der Ferne den eben von uns gehenden 
Freund und Gefährten zwanzigjähriger Waffengenossenschaft, ich dachte an 
ihn. Aber an Karl Abraham denken, heißt an die bewegten letzten 
zwei Jahrzehnte der Psychoanalyse denken, in denen sie zur Bewegung 
geworden ist, und mit deren Entwicklung sein Name an so vielen und so 
wesentlichen Stellen so bleibend verknüpft ist, wie kaum eines anderen 
Name. Er ist nicht nur einer der namhaftesten, grundlegendsten Autoren 
unserer Literatur, sondern auch, ich möchte sagen, ich finde keinen besseren 
Ausdruck, ihr glücklichster Autor. Von den Anhängern der Psychoanalyse 
geliebt, geschätzt und sehr früh schon als Klassiker verehrt, ist auch der 
Gegner Spott vor ihm verstummt. Das früher besonders beliebte Spiel 
unserer Gegner, statt sachlicher Kritik und vorurteilsloser Überprüfung des 
von der Psychoanalyse in bis dahin neuer Weise gesehenen und bloßge¬ 
legten Materials, einzelne aus dem Zusammenhänge gerissene Sätze aus 
den Arbeiten unserer Autoren der allzu billigen Lächerlichkeit preiszugeben, 
versagte vor dem festen Gefüge Abraham scher Gedankengänge. Ein 
einziges Mal nur, soweit mir erinnerlich ist, erlebte er etwas Ähnliches. 
Das war am Anfang seines hiesigen Wirkens, bei seinem ersten Auftreten 
in einer medizinischen Gesellschaft in Berlin, in jener denkwürdigen Sitzung 
der Berliner neurologisch-psychiatrischen Gesellschaft, in welcher der Ge¬ 
heimrat Ziehen mit einer drastischen Bemerkung die Diskussion über 
Abrahams Vortrag hintertrieb. Vergleichen Sie damit den großen, wirklich 
glänzenden Erfolg, den er bei seinem letzten Auftreten in der Berliner 
ärztlichen Öffentlichkeit, in der Gynäkologischen Gesellschaft im Früh- 


13* 




igö 


Max Eitiiigon 


jahr 1924 hatte. Diesen Umschwung herbeigeführt zu haben, war, besonders 
in Deutschland, zum allerwesentlichsten Teil sein eigenes Verdienst. 

Der methodische Gang der Entwicklung der Psychoanalyse zur Wissen¬ 
schaft verkörperte sich nach Freud selbst in keinem psychoanalytischen 
Autor so repräsentativ wie in Abraham. 

Als die alte wissenschaftliche Welt des ärztlichen Denkens durch das 
heroische Werk Freuds in ihren Grundfesten erschüttert und zur Revi¬ 
sion und zum Neubau ihrer Fundamente herausgefordert worden war, 
ging Abraham, ein guter Sproß der deutschen wissenschaftlichen Kultur, 
nicht ohne Respekt vor dieser bedrohten wissenschaftlichen Welt, aber ganz 
ohne Furcht vor ihrem Tadel, ruhig und unerschrocken seinen Weg. An 
den aufklaffenden Abgründen vorbei und über sie hinweg baute er Brücken, 
kritisch, vorsichtig, Zoll für Zoll, das feste und fruchtbare Erdreich der 
Erfahrung nie aus dem Auge lassend; überall war es sicherer Boden, auf 
den er getreten hatte, die ihm Nachfolgenden vor der „Reiter über den 
Bodensee-Stimmung“ schützend, die ja den Psychoanalytiker nur zu leicht 
befallt. So wurde Abraham zum unvergleichlich guten Lehrer so vieler, 
fast aller, von allen gekannt, wie außer Freud nicht viele. 

Der vierte Präsident der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung, 
— vor ihm Jung, Ferenczi und Jones — schien er der berufenste, 
und nur ein unbegreifliches Geschick hat dieses Berufensein zeitlich so 
tragisch verkürzen können. 

Unser Berliner Verein ist im wesentlichen fast sein Werk. Als er im 
Herbst 1907 aus Zürich nach Berlin zurückkehrte, war er der erste Psy¬ 
choanalytiker auf deutschem Boden. Vereinzelte für die Psychoanalyse 
Interessierte sammelten sich lose um ihn, es waren keine ganz auf ihrem 
Boden Stehende oder sie gar Ausübende, bis Sprecher dieses im Herbst 1909 
zu ihm stieß. Bald aber wurden aus Rat und Hilfe bei ihm Suchenden 
Schüler und Mitarbeiter, es erweiterte sich und vertiefte sich unser Kreis, 
sich fester um Abraham kristallisierend; die loser Interessierten verloren 
sich, je dichter unsere Arbeitsgemeinschaft wurde. 

Uns Älteren werden sie unvergeßlich bleiben, jene ersten Zeiten der 
Berliner Vereinigung, ohne Statuten, ohne Funktionäre und ohne festes 
Heim wie jetzt, aber mit dem Magnet Abraham in der Mitte. Die 
Sitzungen fanden abwechselnd in den Wohnungen einer Reihe von Mit¬ 
gliedern unseres Kreises statt; schon im Jahre 1911 war es, wo Frau Lou 
Andreas- Salome in unserer Mitte auftanchte, um seither der Analyse 
immer fester anzuhängen, und eines Abends bald darauf war auch, damals 
ein Unikum, ein junger Professor der Charite mit zwei Assistenten bei 
uns erschienen, von Bergmann, der seither und besonders ganz vor 









Gedenkreden über Karl Abraham 


197 


kurzem durch seine tapfere Betonung des Psychischen bei der Entstehung 
der organischen Magendarmkrankheiten das Problem der Psychogenese der 
organischen Krankheiten im Lager der Organiker selbst in entscheidendster 
Weise gefördert hat. 

Und als der Krieg kam, sprengte er schon einen ansehnlichen Kreis, 
eine der drei Gruppen der auf dem Nürnberger Kongreß 1910 gegründeten 
Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung. 

Während unserer Abwesenheit durch all die schweren Kriegs] ahre hin¬ 
durch waren aus den fruchtbaren Spuren unserer, besonders Abrahams 
Wirksamkeit, weitere Saaten aufgegangen; als wir zurückkamen, waren 
wir mehr geworden, da anderswo aufgegangene verheißungsvolle Keime 
sich zu uns gesellten; Kollegen aus anderen Ländern, besonders aus dem 
an Begabungen so reichen Ungarn, zogen hierher und mehrten der Ver¬ 
einigung Gewicht und Relief. Eine große Anzahl jüngerer Assistenten 
psychiatrischer Kliniken, deren Chefs uns noch immer mehr oder weniger 
total ablehnten, kamen zu uns, um zu lernen, unser Institut entstand, der 
Kreis und Grund um Abraham wuchs und festigte sich, er aber ward 
und wurde immer mehr unser hochragender Leuchtturm, der dem all¬ 
mählich zum psychoanalytischen Vorort gewordenen Berlin auch die inter¬ 
nationale Bedeutung gab. Von weither kamen die Patienten zu ihm und 
sein Wirken zog immer weitere Kreise. 

Auch für die Kollegen, die sich in Berlin und außerhalb Berlins in 
steigendem Maße um Rat und Auskunft und Hilfe an ihn wandten, hatte 
er ein stets freundlich offenes Ohr, nahm sie hilfreich auf. Und sie 
konnten auf seine treue Zuverlässigkeit rechnen. Darum fühlen sich so 
viele verwaist. 

Lassen Sie mich mit den letzten Worten einer nicht gehaltenen Grabrede 
schließen, die sich mir leise auf die Lippen drängten, als der Zug an 
jenem Nachmittage, die Paßhöhe überschritten habend, sich rascher hinunter 
bewegte: 

Karl Abraham, manche wandeln noch, die unseren Reihen längst 
verloren gegangen, unserer Bewegung gestorben sind. Mit Dir aber sank 
einer ihrer allerlebendigsten ins Grab, der über den Tod hinaus noch für 
sie wirken wird. Wir alle, die wir Dich als alten, unerschütterlich treuen 
Gefährten, als persönlichen Lehrer, als väterlich helfenden Freund gekannt, 
tief geschätzt und hoch verehrt haben, werden Dich nie vergessen. Aber 
auch den Späteren wirst Du nicht fremd sein. 





198 


Hanns Sachs 


Hanns Sachs: 

(In der Trauerfeier der „Berliner Psychoanalytischen Vereinigung“, am 12. Januar 1926) 

Auch die Erfüllung der traurigen Pflicht, für den P'ührer und Freund, 
der von uns geschieden ist, einige Worte der Trauer und des Gedenkens 
zu sprechen, kann ich nur im Sinne unserer Wissenschaft vollziehen, das 
heißt als Psychologe; statt der inhaltsleeren Lobsprüche, die sonst in 
Nekrologen Sitte sind, will ich mich bemühen, das geistige Antlitz des 
Dahingeschiedenen, wie es mir deutlich vor Augen steht, so gut ich eben 
kann, nachzuzeichnen; handelt es sich doch um einen Menschen, dessen 
Bild nur gewinnen kann, je vollständiger und getreuer es ausgeführt wird. 

Ich kann meine Charakteristik nicht besser einleiten als mit dem Bericht 
einer Episode, die, so unbedeutend sie ist, mir den wesentlichsten Zug 
Abrahams wiederzugeben scheint. — Vor einigen Jahren sprach ich mit 
einem philologisch streng geschulten Freund, der, dem psychoanalytischen 
Verlage nahestehend, die Stileigentümlichkeiten der psychoanalytischen 
Autoren genau verfolgt hatte. Dieser Freund sagte mir: „Unter allen psycho¬ 
analytischen^ Schriftstellern ist Abraham der einzige, dessen Stil absolut 
tadellos ist.“ Dieses Urteil erinnerte mich damals sogleich an ein Ge¬ 
spräch, bei dem mir breud viele Jahre früher, als die Anzahl der aus¬ 
übenden Analytiker noch leicht übersehbar war, gesagt hatte: „Unter 
meinen Schülern sind nur zwei, bei denen ich mich auf die Korrektheit 
ihrer iechnik voll verlassen kann , und von den beiden Namen, die er 
nannte, war der eine der Abrahams. Wir alle wissen, in welchem Maße 
Abrahams Stil seine Persönlichkeit widerspiegelte. Nur einem Menschen 
von vollkommener Wahrhaftigkeit und rücksichtsloser Ehrlichkeit gegen sich 
gelbst, der gewohnt war, seine Gedanken alle folgerichtig zu Ende zu denken 
und weder vor sich, noch vor seinen Lesern etwas zu verheimlichen suchte, 
konnte ein Stil von so durchsichtiger und gleichmäßiger Klarheit gelingen, 
wie es der seinige war. Und diese Eigenschaft seines Stils, die nichts 
anderes ist wie vollkommenste Vorbildlichkeit, strengste Sachlichkeit und 









Gedenkreden über Karl Abraham 


199 


schlackenlose Reinheit der Absicht* kehrte nicht nur in seiner wissen¬ 
schaftlichen und therapeutischen Arbeitsweise, sondern überall wieder; wo 
sein Wesen zur Geltung kam. Er war vorbildlich als Forscher in der Ver¬ 
läßlichkeit und Exaktheit, mit der die Tatsachen von ihm aufgenommen 
und wiedergegeben wurden» Er war vorbildlich als Begründer und Vor¬ 
sitzender unseres Vereins durch den Takt und die Unparteilichkeit, mit 
denen er sein schwieriges Amt verwaltete und die rücksichtsvolle Güte, 
die er bei jedem Anlaß bewies. Ich kann mir nicht denken, daß es irgend 
eine Lebensaufgabe gab, mochte sie nun groß oder klein sein, die er nicht 
still und ohne Aufsehen zu erregen, aber gleichzeitig in vollkommener 
und vorbildlicher Weise gelöst hätte. Ich bin ganz überzeugt, in das Lob 
seines Lehrers Freud hätten ärztliche Kollegen — Patienten, Geschäfts¬ 
leute — Hausangestellte, kurz jedermann, der mit ihm in Berührung kam, 
rückhaltlos eingestimmt. 

In einer Eigenschaft haben die meisten unter den hier Anwesenden ihn 
ganz besonders würdigen gelernt, nämlich als Lehrer. Die Gründlichkeit 
seiner Kenntnisse, der logische Aufbau seines Vortrages und die Fähigkeit, 
sich auf das Verständnis seiner Hörer einstellen zu können, haben ihn zu 
einem musterhaften wissenschaftlichen Lehrer gemacht, der jeder akade¬ 
mischen Lehrkanzel zur Zierde gereicht hätte. Ich möchte ihn aber hier lieber 
von einer Seite schildern, von der Sie weniger Gelegenheit hatten, ihn 
kennenzulernen, die aber mir, als seinem Mitarbeiter, der fast so lange 
wie er selbst der psychoanalytischen Bewegung angehört, besonders deutlich 
geworden ist. 

Die Jüngeren unter Ihnen haben unsere Generation gewiß um die 
Möglichkeit beneidet, mit dem Schöpfer der Psychoanalyse unmittelbar 
zusammenzuwirken und die ersten Schritte auf dem damals noch nach 
allen Richtungen unermessenen Felde unserer Wissenschaft tun zu dürfen. 
Daß darin ein beneidenswertes Glück liegt, ist nicht zu leugnen, doch 
dürfen Sie nicht vergessen, welche besondere Schwierigkeiten diese Situation 
enthielt. 

Vor allem war die Stellung der Öffentlichkeit zu dem Psychoanalytiker 
damals eine ganz andere wie jetzt. Auch heute noch können wir ja 
keineswegs überall auf freundliche Aufnahme und Verständnis rechnen, 
aber wir haben einerseits gelernt, diese Reaktion als Widerstand voraus¬ 
zusehen und uns darauf vorzubereiten, anderseits hat sich die Heftigkeit 
der feindseligen Affekte inzwischen doch im ganzen gemildert, besonders 
seitdem die Bedeutung der Psychoanalyse für das gesamte Geistesleben von 
einer Reihe führender und anerkannter Männer betont wurde. Damals 
aber war ein Psychoanalytiker für das Publikum noch identisch mit einem 





200 


Hanns Sachs 


Menschen, bei dem sich intellektuelle Kritiklosigkeit mit der Lust, unauf¬ 
hörlich in den schmutzigsten Stellen der Sexualität herumzuwühlen, ver¬ 
bindet. 

Für einige von uns hat diese Situation, so peinlich sie im ganzen war, 
doch auch ihre Reize gehabt. Man hatte das Gefühl, als ein Bekenner 
einer neuen Wahrheit der Menge gegenüberzustehen, und konnte sich der 
eigenen Originalität und der Möglichkeit, ringsherum Affekte auszulösen, 
gehaßt, angefeindet, verfolgt, auch gelegentlich bewundert zu werden, jeden¬ 
falls aber eine Ausnahme-Existenz zu führen, erfreuen. Bei Abraham 
hat dieses Gegengewicht vollkommen gefehlt. In ihm war keine Spur von 
Abenteurerlust oder Originalitätssucht vorhanden. Was ihn zur Psycho - 
analyse geführt hat, war nichts anderes als die sachliche Erkenntnis ihrer 
Wahrheit. Um dieser Erkenntnis willen wurde er ihr Anhänger, opferte 
für sie die Aussicht auf die akademische Karriere, die dem gewissenhaften 
und begabten Forscher offengestanden hätte und nahm die ganze Ablehnung 
und Verurteilung durch seine Zeitgenossen willig auf sich. Es wird nur 
Wenige geben, die ein so großes Opfer so ruhig und selbstverständlich ihrer 
Wissenschaft dargebracht haben wie er. 

Dabei muß ich auch der persönlichen Stellungnahme Abrahams zu 
seinem Lehrer gedenken, in welche kaum ein anderer einen Einblick tun 
durfte. So vorbildlich wie als Lehrer war Abraham auch als Schüler. 
Immer bereit, sein Wissen zu bereichern, an seinen Auffassungen zu korri¬ 
gieren, ohne jemals der Suggestion der Autorität zu verfallen, oder gar aus 
Liebedienerei seine Ansicht zu wechseln. Der absoluten Verläßlichkeit und 
Treue, mit der er an der Person Freuds und an der psychoanalytischen 
Bewegung hing, entsprach auf der anderen Seite die Wahrung der Selb¬ 
ständigkeit, die sich niemals scheute, Zweifeln und Bedenken Ausdruck 
zu geben, wenn sachliche Gründe vorzuliegen schienen. Auch dort, wo 
sich den wissenschaftlichen Fragen persönliche beimengten, wie das bei 
der Organisierung einer Bewegung unvermeidlich ist, war Abraham in 
seiner Einstellung konsequent. Er ist öfter, als Sie es vermuten konnten, 
als Warner vor Freud hingetreten und hat, ohne ihn zu verletzen oder 
herauszufordern, den Kampf für seine Meinung mit Festigkeit durch- 
gefochten. Dort, wo die Ereignisse ihm später recht gegeben haben, hat 
er nie daran gedacht, darauf irgend welche Ansprüche zu gründen. Er war 
immer derjenige, der sich, nach Goethes Worte, „auf eine würdige Weise 
zu subordinieren “ wußte. 

Ich habe so viel von der Tadellosigkeit und Vorbildlichkeit in Abrahams 
Wesen gesprochen und könnte noch zahlreiche Punkte heranziehen, aber ich 
fürchte fast, daß das den Eindruck machen würde, als wäre er das trockene 






Gedenkreden über Karl Abraham 


201 


Exemplar eines Pflichtmenschen, eine Art von herangewachsenem Muster¬ 
knaben gewesen. Daß dies nicht im entferntesten der Fall war, wurde 
durch eine Dreiheit von Eigenschaften bewirkt, ohne deren Erwähnung 
sein geistiges Porträt unvollständig wäre. Ich meine die Vielgestaltigkeit 
seiner geistigen Interessen, seinen Humor und seine Güte. 

In seinem Fach gründlichst geschult, alle Voraussetzungen, die sich an 
strengste Fachwissenschaftlichkeit knüpfen, erfüllend, war Abraham doch 
alles eher als der Typus des Fachgelehrten. Dazu war sein Blick zu weit 
und seine Anteilnahme an allem Geistigen zu stark. Die ausgezeichneten 
Arbeiten, die er außerhalb seines eigentlichen Fachgebietes geleistet hat, 
legen davon Zeugnis ab, aber noch stärker der Eindruck, den seine Per¬ 
sönlichkeit machte. Hierin ganz seinem Lehrer Freud ähnlich, ver¬ 
schmolz er sein Spezialwissen immer aufs neue mit den verschiedensten 
großen Menschheitsproblemen und nahm an fremden Wissensgebieten, aber 
auch an künstlerischen Bestrebungen einen Anteil, der weitab von allem 
Dilettantismus lag. Seine älteste Liebe galt der Sprachforschung und er 
ist ihr trotz seines außerordentlich anstrengenden Lebenswerkes immer 
treu geblieben. So kam es, daß er Patienten der verschiedensten Länder 
in ihrer Muttersprache analysieren konnte, aber auch, daß der viel¬ 
beschäftigte Arzt und Gelehrte in seinen Freistunden und zu seiner Er¬ 
holung den Aristophanes in der Ursprache las. 

Ein besonders reizvoller Zug seines Wesens war sein stiller Humor, der 
sein Wesen durchleuchtete und an die Oberfläche trat, sowie er sich im 
Kreise der Seinigen oder vertrauter Freunde befand. Von den kleinen 
Schwächen und Mängeln seiner Mitmenschen, mit denen das Leben ihn 
in nähere Berührung brachte, war er nahezu vollständig frei, aber anstatt 
sich dadurch über sie erhaben zu fühlen oder sie bissig zu bespötteln, 
liebte er es, diese Schwächen mit den Strahlen seines Humors zu be¬ 
leuchten. 

Wenn ich von seiner Güte spreche, so meine ich damit nicht die auf¬ 
opfernde Hilfsbereitschaft, die er als Arzt unermüdlich für alle seine 
Patienten, ob alt oder jung, arm oder reich, gezeigt hat, auch nicht den 
immer tätigen guten Willen, seinen Kollegen und Freunden behilflich zu 
sein, dem mancher unter uns nichts weniger als die Gründung seiner Existenz 
verdankte; was ich meine, ist vielmehr ein Grundzug seines Wesens, von 
dem alles das nur ein schwacher Abglanz war, eine Güte des tiefsten Wesens, 
die er beinahe schamhaft in sich verschlossen trug und nur denjenigen 
verriet, die das Glück hatten, ihm besonders nahezustehen, seiner Frau, 
seinen Kindern und seinen nächsten Freunden, zu denen ich gehören 
durfte. Es war ihm ein unmittelbares und inniges Bedürfnis, sich für 






202 


Hanns Sachs 


diese Menschen einzusetzen, an ihrem Lebensglück zu arbeiten und für 
sie zu wirken. Diese Grundlage seines Wesens war es, die sein Familien¬ 
leben so außerordentlich harmonisch gestaltet hat, die ihn mit seiner 
Gattin verband und ihm die Liebe und das Vertrauen seiner Kinder in 
vollem und uneingeschränktem Maße besitzen ließ. Ich glaube, ich kann 
sein Wesen am besten durch einen Vergleich charakterisieren: er war wie 
das Wasser, dessen Eigenschaften und Tugenden uns selbstverständlicher 
Besitz zu sein scheinen, ohne daß wir daran denken, daß wir seinem Vor¬ 
handensein alles verdanken. Und klar und durchsichtig, rein und erquickend, 
wie das Wasser der Engadiner Berge, die er so sehr liebte, so ist er für 
uns gewesen. 





Gedenkreden über Karl Abraham 


203 


Sändor Radö: 

(In der Trauerfeier der „Berliner Psychoanalytischen Vereinigungam 12. Januar 1926) 

Der Versuch, heute in diesem Kreise von der wissenschaftlichen Lebens¬ 
arbeit Karl Abrahams ein Bild zu geben, kann seiner Aufgabe nur 
sehr unvollkommen gerecht werden. Es fehlt uns die Distanz, die Kühle 
des Urteils und die Unparteilichkeit der Einstellung, die zur objektiven 
Würdigung seiner Leistungen erforderlich wären. Es ist also wohl nur ein 
Stück unserer Trauerarbeit, wenn wir uns jetzt ins Gedächtnis rufen, was 
wir und die Psychoanalyse Karl Abraham verdanken, was unser Kreis 
und unsere Wissenschaft an ihm verloren hat. 

Abrahams Liebe zur Forschung, die seine Stellung in der Welt be¬ 
stimmen sollte, hat früh ihre Erstlingsfrüchte gebracht. Er veröffentlicht 
schon als Student eine embryologische Untersuchung, die er unter Leitung 
seines Lehrers Keibel ausgeführt hatte. Ein.Jahr später (1901) erlangt er 
mit einer Dissertation aus demselben Gebiet — den „Beiträgen zur Ent¬ 
wicklungsgeschichte des Wellensittichs“ — die medizinische Doktorwürde. 
Diese Zeit mit ihrer Vertiefung in die Probleme der Morphogenese, mit 
ihren Arbeiten am Präpariertisch und am Mikroskop, hat im wissen¬ 
schaftlichen Charakter des jungen Forschers unzerstörbare Spuren hinter¬ 
lassen. Doch nötigt ihn sein Beruf, nach dem Examen die Laboratoriums¬ 
tätigkeit aufzugeben. Er tritt in den Spitaldienst ein und arbeitet zunächst 
drei Jahre unter der Leitung Liepmanns an der Irrenanstalt zu Dalldorf 
bei Berlin, dann weitere drei Jahre als Assistent Bleulers an der Psychia¬ 
trischen Universitätsklinik in Zürich. Während dieser Jahre anstaltsärzt¬ 
licher Praxis publiziert er eine Anzahl kleinerer und größerer Beiträge zur 
klinischen Psychiatrie und Neurologie. Aber Burghölzli gab Abraham 
weit mehr als solide klinische Schulung und ein ansehnliches akademisches 
Wissen. Bleulers reges Interesse hatte damals — unter der Mitwirkung 
Jungs — die Züricher Klinik zur Pflegestätte psychoanalytischer Forschung 
erhoben. So lernt Abraham in Burghölzli die Lehren Freuds kennen 




204 


Sdndor Radö 


und wird dort, was vielleicht nicht ganz ohne Bedeutung ist, von seinem 
Universitätslehrer in die Methoden der Psychoanalyse eingeführt. Ihm selbst 
ist dann einige Jahre später von einer anderen Universität der Wunsch 
versagt worden, sich für Psychoanalyse zu habilitieren. 

Abraham tritt 1907 mit seiner ersten psychoanalytischen Arbeit vor 
die Öffentlichkeit und läßt sich noch im selben Jahre als erster Psycho¬ 
analytiker Deutschlands in Berlin nieder. Seine ärztliche Tätigkeit führt 
ihm reichlich das Material zum analytischen Studium der Neurosen zu 
und er läßt in rascher Folge die Arbeiten erscheinen, die über die wissen¬ 
schaftlichen Ergebnisse seiner fortschreitenden Erfahrung berichten* Schon 
diese ersten psychoanalytischen Beiträge Abrahams fallen durch eine 
Reihe von Zügen auf, die, einer fest umrissenen Persönlichkeit entsprungen, 
seine ganze psychologische Einstellung und seine stets gleichbleibende 
Arbeitsweise kennzeichnen. Er wendet sich an die Probleme, die ihm die 
tägliche Beobachtung entgegenbringt, und sieht sich, ganz nach dem 
Winke des großen Klinikers Charcot, die Dinge immer wieder von neuem 
an, bis es ihm gelingt, in die scheinbar unentwirrbaren psychologischen 
Sachverhalte Klarheit und Ordnung zu bringen. Er deckt mit feinem psycho¬ 
logischen Verständnis fürs erste die nächsten Zusammenhänge auf, dann 
die ferneren, verborgenen, über die entlegensten Details der Einzelfälle 
hindurch, erhärtet so die Richtigkeit der grundlegenden psychoanalytischen 
Gesichtspunkte, erweitert ihren Inhalt und erhöht ihren Wert. Seine Dar¬ 
stellung ist anziehend einfach und — trotz aller Zurückhaltung — von 
einer geradezu bestechenden Sicherheit durchdrungen, deren Stärke auf 
dem unbedingten Zutrauen zum eigenen, mit aller kritischen Vorsicht ge¬ 
wonnenen Urteil beruht. 

Was sich ihm so an neuen Funden und Einsichten ergeben hatte, ist 
auch im Lichte späterer Erkenntnis im Grunde bedeutsam geblieben und 
gehört zum gesicherten Bestand unseres Wissens. Denken Sie an seinen 
ersten, grundlegenden Ansatz zum Verständnis der Dementia praecox, an 
die uns heute so geläufige Vorstellung von der Rückwendung der Libido 
von den Objekten auf das eigene Ich. Oder an seine frühe und für die 
damalige Traumatheorie der Neurosen wie für unsere heutigen Auf¬ 
fassungen gleich wichtige Einsicht, daß das Kind dem Erleiden sexueller 
Traumata durch seine konstitutionelle Eigenart entgegenkommt. Oder an 
seinen frühen Nachweis der Beziehungen zwischen Trauer und Melancholie 
als an den ersten Einblick in ein dunkles Gebiet, das er dann später so 
eingehend erforscht. Selbst wo sich Abraham, wie zur Erholung nach 
den Bemühungen um die Nervösen, auf das sublimere Arbeitsfeld der 
Geisteswissenschaften begibt, verläßt er niemals den empirischen Boden. 





Gedenkreden über Karl Abraham 


205 


Seine für die Anwendungen der Psychoanalyse wegweisende Abhandlung 
„Traum und Mythos“, seine einzig schöne Echnaton-Studie und sein 
„Segantini“ sind durchaus von klinischem Geiste erfüllt. 

Ich möchte hier, so lückenhaft auch eine solche Aufzählung ausfallen 
muß, wenigstens noch einige seiner wichtigeren Arbeiten aus diesen Jahren 
anführen. Ich erinnere Sie an seine Untersuchung der hysterischen Däm¬ 
merzustände, an die Arbeit über Fuß- und Korsettfetischismus, an die 
umfassende Abhandlung über die Schaulust und ihre Umwandlungen, an 
die Studie über die lokomotorische Angst, an seine erste eingehende ana¬ 
lytische Darstellung der Ejaculatio praecox und schließlich an seine „Unter¬ 
suchungen über die früheste prägenitale Entwicklungsstufe der Libido“, 
an dieses mit Recht berühmt gewordene Kabinettstück, das dann die Haupt¬ 
richtung seines analytischen Forschungsinteresses für die ganze spätere Zeit 
festlegt. 

Nach der Unterbrechung der Kriegszeit, die Abraham in anstrengender 
militärischer Dienstleistung verbringt, setzt er mit unverminderter Arbeits¬ 
freude und ungebrochener Kraft seine analytische Tätigkeit fort. Gleich 
zu Beginn dieser zweiten Arbeitsperiode gibt er die Sammlung seiner klini¬ 
schen Arbeiten zur Psychoanalyse heraus, die ihn als klassischen Vertreter 
unserer Wissenschaft auch in der weiteren ärztlichen Mitwelt bekannt 
machen, ihm überall, selbst bei den Gegnern, Achtung und Anerkennung 
verschaffen. Dieser Publikation folgen in kontinuierlichem Strom kleinere 
und umfassendere Untersuchungen aus fast allen Gebieten der Psychoana¬ 
lyse und mit ihnen erweitert sich immer mehr Abrahams wissenschaft¬ 
licher Einfluß auf die analytischen Mitarbeiter, bis er, von allen geehrt 
und geschätzt, auf dem Salzburger Kongreß (1924) die Führung unserer 
internationalen Organisation übernimmt. 

Lassen Sie mich aus dem reichen Ertrag dieser Jahre die Arbeiten her¬ 
vorheben, die er den Vorzugsobjekten seiner Forschung, der Förderung der 
Libidolehre und dem Studium der Melancholie gewidmet hat. Sie wissen, 
es war ihm eine Erfüllung seiner eigensten wissenschaftlichen Bestre¬ 
bungen, als er die Resultate langjähriger Untersuchungen in seiner „Ent¬ 
wicklungsgeschichte der Libido auf Grund der Psychoanalyse seelischer 
Störungen niederlegen konnte. Sie wissen auch, in welchem Ausmaße er 
unsere positiven Kenntnisse auf diesem Gebiete erweitert hat. Mit einzig¬ 
artigem Verständnis für das Archaische spürte er die frühesten Äußerungen 
und Schicksale der einzelnen Triebkomponenten auf, löste sie aus ihren 
Verwicklungen in der Reifung und erkannte ihre späten und entstellten 
Abkömmlinge als Umbildungsprodukte der primären Regungen. Wir ver¬ 
danken ihm die ersten sicheren Umrisse einer auf die Libidotheorie ge- 






206 


Sdndor RadcS 



gründeten Charakterlehre und ebenso die tiefsten Einblicke in die primitiv 
libidinösen Vorgänge bei der Melancholie. Es war ein Triumph seiner 
exakten klinischen Arbeitsweise, als am Berliner Kongreß (1922) der 
Ethnologe R 6 h eim aus dem psychoanalytischen Studium primitivster Völker 
Ergebnisse dargestellt hat, die mit seinen gleichzeitig bekanntgegebenen 
Erhebungen an pathologischem Material bis ins Einzelne übereinstimmen. 

Während seiner mehrjährigen Beschäftigung mit diesem Problemkreis 
setzt Abraham zugleich seine Untersuchungen auf allen anderen Ge¬ 
bieten unserer Wissenschaft fort. Er veröffentlicht Beiträge zur Diskussion 
der Kriegsneurosen, zur Tic-Diskussion, zur Technik der analytischen The¬ 
rapie, eine aufsehenerregende Monographie über den weiblichen Kastrations¬ 
komplex, eine religionspsychologische Studie über den Versöhnungstag und 
viele kleinere Beobachtungen und klinische Funde. In seiner eben er¬ 
schienenen „Geschichte eines Hochstaplers im Lichte psychoanalytischer 
Erkenntnis macht er einen glücklichen Versuch, die Psychoanalyse auf 
praktische Probleme der Kriminalpsychologie anzuwenden. Seine letzte, 
noch unveröffentlichte Arbeit gibt die analytische Untersuchung des Heil¬ 
verfahrens von Coud. Aus seinen Kursvorträgen und Mitteilungen in 
unserer Vereinigung ist es uns allen bekannt, wie viele andere Fragen ihn 
darüber hinaus andauernd beschäftigt haben. Ich erinnere Sie nur an seine 
fortgesetzten Bemühungen um die Klärung der Nosologie der Neurosen 
oder z. B. an seinen uns hier mitgeteilten ersten Versuch, die frühkind¬ 
lichen Bedingungen für das spätere asoziale Verhalten eines Individuums 
zu ermitteln. Während seiner langwierigen Krankheit faßte er noch neue 
Arbeitspläne und Vorsätze. Sie konnten nicht mehr zur Ausführung 
gelangen. 

Abraham glänzt in all seinen Arbeiten als Meister der feinen Beobach¬ 
tung und der klinischen Darstellungskunst. Er beschreibt das Psychische 
so anschaulich, als wäre es etwas Somatisches, ein sichtbares und greifbares 
Präparat. Er hat für die analytische Deskription bleibende Vorbilder geliefert 
und in unserer Literatur den Typus der knappen, in ihrer Sachlichkeit voll¬ 
endeten und doch so lebendigen Krankenberichte geschaffen. Es ist für ihn 
bezeichnend, daß er, trotz des ungewöhnlichen Reichtums der von ihm bekannt¬ 
gegebenen und theoretisch verarbeiteten Funde kaum einen abstrakten Ter¬ 
minus geprägt hat. Sein Denken wandelt niemals den Begriffen entlang ; seine 
Theorienbildung hebt immer bei den Tatsachen an und kehrt — auf dem 
Wege der genetischen Zusammenhänge — stets zu den Tatsachen zurück. 

Man hat die Empfindung, als hätte der Embryologe in ihm seine Arbeit 
an psychischem Material fortgesetzt. 

Bedenken wir, wie viel Spielraum die wissenschaftliche Forschung dem 

' * • ' * ' 







Gedenkreden über Karl Abraham 


207 


von ihr beiseite geschobenen Lustprinzip immer noch übrig läßt und 
lassen muß, dann ist in der wissenschaftlichen Eigenart Abrahams ein 
asketischer Zug nicht zu verkennen, seine entschiedene Absage an die 
narzißtisch so beglückende Spekulation. Was ihm so gelegentlich als 
Mangel nachgesagt wurde, scheint uns, als Produkt der absichtlichen Selbst¬ 
beschränkung, vielmehr der treueste Wächter seiner Stärke gewesen zu sein. 
Abraham, dieser große Realist, war in seiner Forschungsarbeit restlos 
durch die Eindrücke des Ichs, durch die Wahrnehmung beherrscht. Un- 
unerbittlich in der Stellungnahme nach Innen, stand er als Forscher zu 
den Dingen der Welt in einer eindeutig fröhlichen, man möchte fast sagen, 
zärtlichen Beziehung. Vielleicht ist dies die Quelle des eigenartigen Zaubers, 
den seine dem Streben nach ästhetischer Wirkung stets entsagenden Schriften 
auf den Leser ausüben. Man spürt die „postambivalente“ Einstellung heraus 
und wird dadurch in die gleiche Gefühlslage versetzt. 

Wenn wir die Bedeutung Abrahams für die Entwicklung der Psycho¬ 
analyse richtig erfassen wollen, so müssen wir uns in die Zeit zurückver¬ 
setzen, in der er sich als einer der ersten Schüler Freuds ihm ange¬ 
schlossen hatte. Sein Blick wurde weniger durch die großen und allgemeinen 
Fragen gefesselt, die sich aus den Forschungen Freuds ergeben haben; 
ihn verlockte mehr die Aussicht, eine Fülle neuer klinischer Tatsachen 
und Zusammenhänge kennenzulernen und dann ihre weitere Bedeutung für 
unser Geistesleben zu verfolgen. Er wandte sich mit seinem vielseitigen 
wissenschaftlichen Interesse ganz der Empirie zu und erachtete es als seine 
vornehmste Aufgabe, das Instrument, das ihm die Psychoanalyse in die Hand 
gab, vollends in den Dienst der mühsamen, aber um so verläßlicheren 
klinischen Detailforschung zu stellen. Den Umfang unseres tatsächlichen 
Wissens zu erweitern, die Sicherheit unserer Funde zu erhöhen, dies waren 
die Ziele, die ihn geleitet haben. 

Abrahams Wirken hat daran keinen geringen Anteil, daß uns diese 
Orientierung heute so selbstverständlich erscheint. Freud hat eine neue 
Wissenschaft ins Leben gerufen und die seit jeher spekulativ betriebene 
und in allem Wesentlichen notgedrungen auf die bloße Spekulation an¬ 
gewiesene Psychologie für die empirische Forschung erobert. Seine Ent¬ 
deckungen sind ein Wendepunkt in den geistigen Bestrebungen des Menschen¬ 
geschlechts, und unübersehbar vielgestaltig sind die Impulse, die ihnen der Ein¬ 
zelne entnimmt. Abraham hat es mit dem sicheren Urteil des nüchternen 
Naturwissenschaftlers erkannt, daß dieses großartige Gebäude auf dem 
hundament des methodischen Fortschritts ruht, durch den es Freud 
überhaupt erst ermöglicht hat, die Phänomene des Seelenlebens in aus¬ 
gedehntem Umfange in Erfahrung zu bringen. Er wußte nur zu gut, wie 

















208 


Sändor Rad6 


sehr die philosophische Spekulation stets geneigt sein wird, sich der empi¬ 
rischen Funde und theoretischen Einsichten der Psychoanalyse zu be¬ 
mächtigen und wie sehr es in dieser jungen Erfahrungswissenschaft darauf 
ankommt, daß die neuen Kräfte, die sie an sich zieht, vor allem den 
fortgesetzten Ausbau der empirischen Grundlagen in Angriff nehmen. 
Er hat seinen ganzen erzieherischen Einfluß in dieser Richtung geltend 
gemacht und übte auf die analytische Schule eine nachhaltige Wirkung 
aus. Bei den anleitungsbedürftigen Jüngern stärkte er das für die eigene 
Leistung unerläßliche Selbstgefühl durch die Mahnung, daß in einer 
empirischen Disziplin der Tätigkeit und den Resultaten jedes Einzelnen 
Bedeutung zukommt und daß die vielfach verschmähte „Kleinarbeit“ der 
Weg ist, den jeder ehrlich Strebende mit Erfolg gehen kann. Allen aber 
zeigte er durch sein eigenes Beispiel, was die empirisch orientierte For¬ 
schung zur Förderung der Psychoanalyse beitragen kann. Wir sind geneigt, 
die Bedeutung der klinischen Arbeitsrichtung in unserer das ganze 
Geistesleben umfassenden Wissenschaft, die so vielen andersartigen und 
schätzenswerten Bestrebungen zugänglich ist, hoch anzuschlagen, und 
glauben, daß die zielbewußte Hervorhebung und Stärkung der Empirie 
das große Verdienst ist, das Abrahams Stellung in der Geschichte der 
Psychoanalyse bestimmt. So wird denn die klinische Forschung in der 
Psychoanalyse mit dem Geiste Karl Abrahams eng verknüpft bleiben 
und seinem Namen auch bei späteren Generationen ein ehrenvolles An¬ 
denken bewahren. 





Gedenkreden über Karl Abraham 


209 


Theodor Reik: 

(In der Trauerfeier der „Wiener Psychoanalytischen Vereinigungam 6. Januar 1926) 

Es sind kaum einige Tage, seit uns die Nachricht vom Tode Karl 
Abrahams erreichte, und es erscheint verfrüht, eine eingehende Würdigung 
seiner einzelnen wissenschaftlichen Arbeiten und seines Wirkens geben zu 
wollen. Wir begnügen uns vielmehr damit, den Weg unseres Freundes in 
großen Zügen zu verfolgen, und müssen es einer späteren Zeit Vorbehalten, 
auf die Bedeutung seiner einzelnen Leistungen einzugehen. 

Abraham hatte als Assistent Bleulers bereits wissenschaftliche Bei¬ 
träge zur klinischen Deskription der Geistes- und Gehirnkrankheiten ver¬ 
öffentlicht, als er mit den Freudschen Lehren bekannt wurde. Damals, 
1904, waren erst einige der grundlegenden Werke Freuds erschienen. Es 
galt, größtenteils durch eigene Forschung, vieles, was im Dunkel geblieben 
war, aufzuhellen, sich befremdende Widersprüche zu erklären, Verbindungen 
zwischen einzelnen Tatsachengruppen herzustellen, ein großes Stück des 
abnormen Seelenlebens unter den Gesichtspunkten der Psychoanalyse ver¬ 
ständlich zu machen. Das lebendige Interesse, die Arbeitslust und der 
Forschungsdrang des 27jährigen Arztes wandten sich der neuen Wissen¬ 
schaft zu. Die noch wenig untersuchte Psychologie geistiger Störungen zog 
ihn am stärksten an; mit ihr beschäftigten sich seine ersten analytischen 
Arbeiten. Nachdem er die Anstaltstätigkeit mit der freien psychothera¬ 
peutischen Praxis vertauscht hatte, erweiterte sich der Umkreis seiner Auf¬ 
gaben und mit ihm der der Probleme, die seine wissenschaftliche Neugierde 
erregten. Schon die ersten Beiträge, die Abraham lieferte, zeigten, daß 
es ihm nicht genug war, die analytischen Theorien zu überprüfen, sondern, 
daß er die neuen Einsichten selbständig verarbeitete und durch sorgfältige 
und modifizierende Beobachtungen bereicherte. Bereits 1907 hatte er eine 
wichtige Ergänzung der Neurosentheorie geliefert, indem er das Erleiden 
sexueller Traumen als Form infantiler Sexual betätigung erkannte und die 
Richtigkeit dieser Anschauung durch gute Beispiele nachwies. Jeder seiner 
folgenden kleinen Beiträge bedeutete einen Zuwachs neuer Einsichten; schon 

Int. Zeitschr. f. Psychoanalyse, XII/2. 


14 





210 


Theodor Reik 


in diesen frühen Arbeiten trat einer seiner Vorzüge entschieden ans Licht, 
die Gabe der Differenzierung, welche die eigentlich wichtigste Fähigkeit 
des Forschers, der klinisch arbeitet, ausmacht. Der größte Teil seiner 
Schriften ist klinischen Untersuchungen ■ gewidmet. Vertiefte Studien, die 
sich auf reiche Erfahrungen gründeten, ließen ihn den geglückten Versuch 
machen, eine Entwicklungsgeschichte der Libido auf Grund der Analyse 
seelischer Störungen zu geben. Ich brauche Ihnen nicht in Erinnerung zu 
rufen, welche Bedeutung dieser Arbeit zukommt. Sie knüpft an einen zehn 
Jahre zurückliegenden Versuch an, die manisch-depressiven Krankheitszustände 
auf psychoanalytischem Wege zu erklären, und stellt das Verhältnis der ver¬ 
schiedenen Formen psychoneurotischer Erkrankung zu den Stufen der Libido¬ 
entwicklung dar. Hier werden, den Spuren Freuds folgend, die Krank¬ 
heitszustände der Melancholie und der manisch-depressiven Erscheinungen 
auf ihre tiefliegende psychosexuelle Wurzel zurückgeführt, ihre Entwicklung 
aus analytischen Voraussetzungen verständlich gemacht. Die künftige psychia¬ 
trische und neurologische Forschung wird an diese Arbeiten Abrahams, 
welche uns die bisher besten analytischen Einsichten in die Genese und 
Struktur dieser Krankheiten geben, anknüpfen müssen. Immer auf den 
Boden der induktiven Forschung beharrend, hat er seine Studien den 
primitivsten Phasen der Libidoentwicklung zugewendet und liier die beste 
Fortführung und Ergänzung der Freudschen „Drei Abhandlungen zur 
Sexualtheorie“ gegeben. Erst die Zukunft wird lehren, von welcher Be¬ 
deutung seine Untersuchungen der prägenitalen Libidoentwicklung und deren 
Auswirkungen auf den Charakter sind. Daneben floß ununterbrochen in 
bedächtiger Schnelle jener Strom kleinerer Arbeiten, deren jede, ein Muster 
analytischer Beobachtungsgabe und analytischen Scharfsinns, Erweiterungen 
unseres Wissens um Genese und Sinn der Neurosensymptomatologie brachte, 
komplizierte Erscheinungen aufklärte, auf bisher Unbeachtetes hinwies, auf 
neue Quellen der Charakter- und Symptombildung aus Partialtrieben und 
erogenen Zonen aufmerksam machte, die ersten Einsichten in analytisch 
so schwer zu erfassende psychosexuelle Phänomene, wie es die Ejaculatio 
praecox ist, lieferte und entscheidende technische Fragen aufwarf und der 
Lösung näher führte. Berücksichtigt man, daß er daneben wertvolle Arbeiten 
zur Kunstgeschichte, Religionswissenschaft und Mythologie veröffentlicht hat, 
daß er sich — wovon seine vorletzte schöne Arbeit zeugt — anschickte, 
die analytischen Gesichtspunkte auch auf dem Gebiete der Kriminalistik zu 
verwerten, so wird man eine Ahnung — und kaum mehr als eine Ahnung — 
bekommen, wie weit er den Umkreis seiner Forschungsinteressen ausdehnte, 
ohne der Schärfe des Blickes und der Eindringlichkeit des Erkennens ver¬ 
lustig zu gehen. 





Gedenkreden über Karl Abraham 


211 


Will man die Arbeitsweise Abrahams charakterisieren, so muß man 
davon ausgehen, daß er in erster Linie Kliniker war und blieb; ja, man 
muß sagen, daß mit ihm der beste klinische Beobachter aus der Schüler¬ 
gruppe Freuds ausgeschieden ist. Als er später seine Aufsätze sammelte, 
konnte er auch seine früheren Arbeiten unverändert publizieren, obwohl 
in der Zwischenzeit manche Korrekturen und Ergänzungen hinzuzufügen 
waren, wie er selbst hervorhob. Die wesentlichen Ergebnisse seiner Unter¬ 
suchungen konnten bestehen bleiben; keine war als prinzipiell irrig zu 
verwerfen, weil sie sich auf lange dauernde, sorgfältige Beobachtungen 
gründeten. Die rein empirische Gewinnung der Resultate seiner Unter¬ 
suchungen muß besonders betont werden; es handelte sich immer um 
konsequente und geduldige analytische Arbeit, die dazu geführt hatte. 
„Ich glaube,“ schreibt er einmal, „jeder spekulativen Überschreitung des 
empirischen Bodens entsagt zu haben.“ Niemals hat er versucht, eine 
abgerundete Theorie zu geben, er hat im Gegenteil immer wieder auf 
Lücken und Mängel des Gebotenen selbst aufmerksam gemacht. Mit seiner 
Beobachtungsgabe aber verband sich Scharfsinn und eine seltene Fähigkeit 
zur Einfühlung. Man sah seinen Arbeiten an, wie sorgfältig sie vorbereitet 
waren, wie sich ihre Resultate langsam aus der Erfahrung destilliert hatten. 
Fast alle gehen auf eine größere Anzahl durchgeführter Analysen zurück. 
Was er dort gefunden hatte, brachte er in eine knappe, durchsichtige 
Form, die fast zu nüchtern, fast zu wortarm anmutete. Man wird ver¬ 
gebens überraschende Schönheiten der Diktion, vergebens tiefsinnig Klingendes 
in seinen Schriften suchen, aber es findet sich auch nichts Verwirrendes 
und Verworrenes. Hier herrscht eine Klarheit, die gerade den vielfältigen 
und komplizierten Sachverhalten des Seelischen, der Mannigfaltigkeit und 
Sprödigkeit des beobachteten Materials gegenüber in hohem Maße erstaunlich 
ist. Es werden Verbindungsfäden durch den vielgestaltigsten Stoff verfolgt bis 
in die feinsten Auswirkungen, bis in die verborgensten Falten. Die Art der 
Problemdarstellung, die Auseinandersetzung der Schwierigkeiten, die ersten 
Ansätze zur Lösung, die Berücksichtigung der Vielartigkeit der Erscheinungen, 
das Fortschreiten von ersten Eindrücken zu erneuter Erfahrung und schließlich 
zu Theorien, die dem Beobachtungsmaterial immer nahe bleiben und an ihm 
verifiziert werden — wir haben diese Züge oft bei Abraham bewundert. 
Gewiß, seine analytische Begabung hatte bestimmte Grenzen, aber er kannte 
sie, hat sie gelegentlich in privatem Gespräch selbst hervorgehoben und ist 
nie über sie hinausgegangen. Er hat es nie vermocht, in einem gewaltigen 
Al-Fresco-Entwurf, unbekümmert um einzelne Widersprüche der Wirklich¬ 
keit, ein großes Problem zu umfassen. Er ging immer von einem eng¬ 
begrenzten, speziellen Thema aus, aber es bleibt unvergessen und unver- 


14* 





212 


Theodor Rcik 


geßbar, wie er dies ausführte und wie sich der enge Rahmen erweiterte 
und den Ausblick in die Weite gestattete. Niemals hat er dem Leser oder 
Hörer durch die Größe der Konzeption imponieren können, aber er hat, 
von einer Partialfrage ausgehend, immer gezeigt, zu wie wichtigen Fol¬ 
gerungen man von dort aus gelangen kann. Es war am Ende immer, wie 
wenn die Wände eines engen Raumes allmählich zurücktreten. Immer hat 
er uns den Eindruck hinterlassen, daß unser Verständnis und unser Wissen 
durch das Gebotene vertieft wurden und daß, was er sagte, nur ein Bruch¬ 
teil dessen war, was er hätte sagen können und was auszusprechen Vor¬ 
sicht und wissenschaftliche Zurückhaltung ihm noch verwehrten. Eine 
Vorsicht, die nicht der Tapferkeit besseres Teil war, sondern ihre not¬ 
wendigste Ergänzung im Dienste der Forschung. Er war — als wissen¬ 
schaftlicher Arbeiter — nie verwegen, aber immer tapfer, nie bestrebt, 
die großen Fragen des Seelenlebens aus leichtem Handgelenk zu lösen, 
aber ernsthaft, mit unermüdlicher Geduld und Zähigkeit bemüht, Licht 
in einzelne verborgene Zusammenhänge zu bringen, nicht genial, aber 
vortrefflich, nie hinreißend, aber immer überzeugend. 

Seine Tapferkeit hatte den Charakter des Unbeirrbaren, die sich auf das 
Ganze des eigenen wissenschaftlichen Strebens bezog und doch bescheiden 
die Möglichkeit des einzelnen Irrtums einräumte. Er hörte aufmerksam, 
was ihm andere zu sagen hatten, immer willig, fremdes Verdienst anzu¬ 
erkennen; aber er fand die strengsten Maße für die eigene Leistung in 
sich selbst. 

Abraham war auch als Arzt von ungewöhnlicher Gleichmäßigkeit. Er 
gehörte nicht zu jenen Ärzten, welche über die Unzulänglichkeit ihrer 
Wissenschaft durch allzu selbstsicheres Auftreten hinwegtäuschen; zu sehr 
hatte er erkannt, wie weit die Medizin noch von einer idealen Therapie 
entfernt ist. Aber das Gefühl ruhiger Sicherheit, das er zeigte, teilte sich 
allmählich seinen Kranken mit. Gleich weit* von Überschätzung wie Unter¬ 
schätzung der Wirksamkeit der analytischen Therapie entfernt, konnte er in 
ihnen die Überzeugung erwecken, daß sie in bester Obhut seien und daß 
sie seiner unbedingten Ehrlichkeit vertrauen durften. Er sprach selten, aber 
sein Schweigen war beredt und in besonderer Art drängend und auf¬ 
munternd; seine Stimme klang in ihrem dunklen Timbre ruhig und be¬ 
ruhigend. Kühl und auf Distanz bedacht; wenn es galt, doch menschlich 
nahe, war er des Vertrauens seiner Schüler und Patienten sicher. Es war 
nicht Zufall, daß er den Begriff der Postambivalenz geprägt hat; er schien 
in der Analyse selbst wie eine Verkörperung postambivalenten Interesses. 
Ein Patient, der bis spät in die Krankheitszeit Abrahams in seiner Ana¬ 
lyse blieb und ein oder das andere Mal Zeuge der Hustenanfälle und der 






Gedenkreden über Karl Abraham 


213 


Atemnot seines Arztes war, gab unlängst die treffendste Charakteristik: 
Dr. Abraham sei ihm wie Horatio erschienen, als „ein Mann, der Stoß’ 
und Gaben vom Geschick mit gleichem Dank genommen*. 

In der Analyse sowie im privaten Gespräch brach bei ihm gelegentlich 
ein Stück eigenartig trockenen Humors durch, das seinen Schriften fern¬ 
geblieben war. Ein einziges Mal konnte ich darin eine pessimistische Note 
hören: als ich ihn in diesem Sommer nach der ersten schweren Erkrankung 
in der von ihm so geliebten Schweiz besuchte, bemerkte er, daß er am 
Gehen bergauf noch durch Atemnot gehindert sei. Lächelnd und mit selt¬ 
samer Selbstironie fügte er hinzu: „Aber bergab geht’s gut mit mir.“ 

Beruf wie Neigung drängte ihn gleichermaßen dazu, auch Lehrer der 
jungen Generation der Analytiker zu werden: auch in dieser Eigenschaft 
war er ruhig, geduldig und gleichmäßig. Seine Erklärungen, sparsam und 
sachlich gegeben, klärten den Schüler wirklich auf; sie waren von grauer 
Theorie möglichst entfernt und suchten das Erklärungsbedürftige möglichst 
aus dem Leben des Schülers selbst, aus gesammelten Beobachtungen von 
dessen Charakterzügen, Gewohnheiten und Eigenschaften verständlich zu 
machen. 

Warum es leugnen? Manche Analytiker meinten, ihre frühe Unab¬ 
hängigkeit von ihrem Lehrer sowie ihre Selbständigkeit zu beweisen, in¬ 
dem sie sich rasch von seinen Einwirkungen emanzipierten und in be¬ 
tontem Gegensatz zu ihm traten. Man hat sich gelegentlich auf das 
Wort Nietzsches berufen: „Man vergilt einem Lehrer schlecht, wenn man 
immer nur sein Schüler bleibt.“ Allein, was in jenem Auspruch berechtigt 
ist, hat nichts mit der — wir können es nicht anders nennen — unan¬ 
ständigen Eile zu tun, mit der heute die sogenannte „Überwindung“ des 
Lehrers vor sich geht. Wir hoffen, daß die Schüler Abrahams gerade 
durch die analytische Einsicht, die sie durch ihn gewonnen haben, davor 
geschützt sind, die seelischen Relationen zwischen Lehrer und Schüler in 
ihrer tiefen und dauernden Wirksamkeit zu unterschätzen, daß sie, auch 
wenn sie längst eigene Wege zu gehen gewohnt sind, sich dessen bewußt 
sind: was ihnen ihr Lehrer war, bleibt er ihnen doch. 

Unbeirrbarkeit und Verläßlichkeit, denen sich Züge norddeutscher Reserve 
und Nüchternheit beimengten, bewies er auch in der Gründung und 
Führung der Berliner Psychoanalytischen Vereinigung, sowie in der Arbeit 
für die Poliklinik, die er in Gemeinschaft mit Dr. Eitingon leistete. 
Man muß sich gegenwärtig halten, was es einmal bedeutete, auf dem spröden 
Boden Berlin, im Deutschen Reiche Wilhelms II., für die Psychoanalyse 
um die ernste Aufmerksamkeit der wissenschaftlichen Kreise zu werben, 
was es in einer Zeit des flachsten gesunden Menschenverstandes, in dessen 















214 


Theodor Reik 


Namen die größten Dummheiten behauptet wurden, bedeutete, für die 
Theorien des Unbewußten als geachteter Arzt einzutreten und die 
analytische Bewegung trotz dem dumpfen Widerstand der Umwelt zu jener 
Bedeutung zu führen, die sie heute auf deutschem Boden besitzt. Als 
Führer einer sich steigernden Anzahl mutiger Pioniere, nicht durch äußere 
Zeichen, aber durch alle inneren, eroberte er mühsam jeden Fußbreit 
Boden, blieb gefestigt und gefaßt allen Wechselfällen draußen und im 
eigenen Lager gegenüber, blieb bedachtsam, ohne im kleinlichen Sinne 
Bedenken zu haben. Hilfsbereit jedem gegenüber, der es ehrlich meinte, 
war er bei aller Liebenswürdigkeit doch meistens zurückhaltend und beob¬ 
achtend, als bliebe er des Rates des Polonius „Give every man thy ear y 
hut few thy voice“ eingedenk. 

Es kann schwer vermieden werden, daß uns jedes ernste und wichtige 
Ereignis, das in unser Leben tritt, nach einiger Zeit langsam wieder zu 
analytischen Gedankenzügen zurückführt. Die Psychoanalyse hat uns gezeigt, 
daß alle Trauer mit unbewußten Selbstvorwürfen verbunden ist, die sich 
auf bestimmte Gefühlseinstellungen dem Verstorbenen gegenüber zurück- 
führen lassen. Diese Selbstvorwürfe, so typisch sie auch sind, erscheinen 
doch je nach den Beziehungen des Einzelnen zu dem Verstorbenen indi¬ 
viduell verschieden; einer ist indessen, wie ich glaube, allgemeiner Natur, 
Er wurde mir unlängst durch den Ausspruch eines kleinen Jungen, den 
ich hörte, wieder zum Bewußtsein gebracht. Der vierjährige Sohn einer 
Patientin sah auf der Straße einen Leichenzug und fragte, was das sei. 
Die Mutter erklärte ihm, was der Tod und das Begräbnis bedeuten; das 
Kind horte aufmerksam zu und fragte dann mit großen Augen: „Aber 
wozu ist denn die Musik? Er ist ja tot und hört es nicht mehr.“ Es liegt 
ein ernster und tiefer Sinn in der Einfalt dieses kindlichen Ausspruches, 
Er läßt uns beschämt die Unzulänglichkeit, ja Ohnmacht unserer Worte 
gegenüber dem großen Schweigen erkennen; er führt uns aber auch zu 
der beschämenderen Frage: Müssen solche Ereignisse eintreten, daß wir 
sagen, ausdrücken können, wie wir unsere Freunde schätzen und lieben? 

Dennoch heißt uns, bevor wir die uns allen vorgezeichnete Straße weiter¬ 
ziehen, inneres Bedürfnis gebieterischer als Ziemlichkeit, Karl Abraham 
zum letzten Male grüßen als einen der wertvollsten und erfolgreichsten 
Pioniere unserer jungen Wissenschaft. Seine Lebensarbeit, unvollkommen 
wie jede wissenschaftliche Bemühung, war doch vollkommen in ihrer Art; 
Stückwerk wie jede Forschung, war sie doch ein Ganzes. In der Frucht¬ 
barkeit seiner wissenschaftlichen Leistung sowie in der Nachwirkung im 
Leben und in der Arbeit seiner Schüler wird das Werk den Meister loben, 
der allzufrüh unsere Reihen verlassen hat. 









Gedenkreden über Karl Abraham 


215 


M. W. Wulff: 

(In der Trauerfeier der „Russischen Psychoanalytischen Vereinigung u in Moskau, am IJ . Februar 1926) 

Am 25. Dezember 1925 starb in Berlin nach langer, schwerer Krankheit 
Dr. Karl Abraham, der Vorsitzende der Internationalen Psychoanalyti¬ 
schen Vereinigung. Der vorzeitige Tod dieses hochbegabten Forschers und 
tiefen Denkers auf der Höhe seiner wissenschaftlichen Leistungsfähigkeit 
ist ein unersetzlicher Verlust für die Psychoanalyse. 

Abraham trat wissenschaftlich zuerst im Jahre 1907 hervor. Er war 
damals Assistent an der Züricher Klinik und seine erste psychoanalytische 
Arbeit „Über die Bedeutung sexueller Jugendtraumen für die Symptomato¬ 
logie der Dementia praecox“ ging aus dieser Klinik hervor. Im gleichen 
Jahr übersiedelte er nach Berlin, wo er von da ab seine fruchtbare wissen¬ 
schaftliche und ärztliche Tätigkeit entfaltete. Die gründliche klinische 
Schulung prägte ihren unauslöschlichen Stempel seiner ganzen späteren 
wissenschaftlichen Tätigkeit auf. Abraham blieb während seines ganzen 
Lebens in erster Linie Kliniker. 

Im Jahre 1921 gab er eine fast vollständige Sammlung seiner bis dahin 
erschienenen Arbeiten unter dem Titel „Klinische Beiträge zur Psycho¬ 
analyse“ heraus. Als fein beobachtender Empiriker, vorsichtiger und tief¬ 
schürfender Forscher wurde er zu einem der ersten Kliniker auf dem 
Gebiete der Psychopathologie. 

Es würde zu weit führen, die Arbeiten Abrahams im einzelnen aus¬ 
führlich zu besprechen. Ich werde mir erlauben, mich auf die wichtigsten 
zu beschränken, die eine besondere Rolle in der Entwicklung der psycho¬ 
analytischen Wissenschaft gespielt haben. Manche seiner Arbeiten haben 
auch auf die Entwicklung der modernen Psychiatrie einen gewissen Einfluß 
ausgeübt. Ich erwähne zunächst seinen im Jahre 1908 erschienenen Aufsatz 
„Die psychosexuellen Differenzen der Hysterie und der Dementia praecox . 
Erwägen wir, daß diese Arbeit vor 18 Jahren erschienen ist, so genügt 
es, einige grundlegende Ideengänge aus ihr anzuführen, um zu zeigen. 












216 


M. W. Wulff 


daß diese zuerst von Abraham geäußerten Gedanken, die damals außer¬ 
ordentlich neu und kühn erschienen, heute zu den allgemein anerkannten 
Wahrheiten der Psychoanalyse gehören. So z. B. die Ansicht, daß die 
grundlegende Störung beim Jugendirresein auf affektivem Gebiet liege, 
daß die Dementia praecox die „Übertragungsfähigkeit“, „die Fähigkeit 
zur Objektliebe“ vernichte. Nach Beobachtung einer weiteren Zahl klinischer 
Fälle kommt Abraham zum Schluß, daß das Jugendirresein sowohl die 
Objektliebe, als auch die „Sublimierungsfähigkeit“ zerstöre; er betrachtet 
diesen Zustand als eine Regression der Libido auf die kindliche Stufe der 
„Autoerotik“ und erklärt von diesem Standpunkt aus auch die übrigen 
Grundsymptome der Dementia praecox. Dabei äußert er eine Reihe von 
Hypothesen, die durch spätere Forschungen vollinhaltlich bestätigt wurden. 
So z. B., wenn er vom Verfolgungswahnsinn des an Dementia praecox 
Leidenden sagt: „Es scheint, als ob die Verfolgungsideen sich besonders 
gegen diejenigen Personen richten, auf welche der Patient einstmals seine 
Libido in besonderem Grade übertragen hatte, ln vielen Fällen wäre also 
der Verfolger ursprünglich Sexualobjekt gewesen,“ In Bezug auf den Größen¬ 
wahn Schizophrener schreibt Abraham: „Die auf das Ich zurückgewandte 
reflexive oder autoerotische Sexualüberschätzung ist die Quelle des Größen¬ 
wahnes bei der Dementia praecox.“ Indem er den Vergleich zwischen 
Dementia praecox und Hysterie weiterführt, sagt er: „Im Autoerotismus 
liegt der Gegensatz der Dementia praecox auch gegenüber der Hysterie. 
Hier Abkehr der Libido, dort übermäßige Objektbesetzung, hier Verlust 
der Sublimierungsfähigkeit, dort gesteigerte Sublimierung.“ 

Wenn man bedenkt, daß diese Arbeit einige Jahre vor dem bekannten 
Werk Bleulers über die Schizophrenie erschienen ist, in dem Bleuler 
feststellt, daß das Haupt- und Grundsymptom dieser Krankheit, das er 
Autismus nennt, in einer Zurückziehung der Affekte des Kranken von der 
umgebenden Realität und ihren Objekten besteht, und daß nicht nur dieser 
Begriff, sondern der Terminus „Autismus“ selbst dem Begriff und dem 
Terminus des „Autoerotismus“ in etwas veränderter Form entnommen ist, 
so wird man wohl kaum mehr daran zweifeln, daß die anfangs geäußerte 
Ansicht über die Wirkung mancher Gedankengänge Abrahams auf die 
Entwicklung der modernen Psychiatrie zu Recht besteht. Aus dieser Zeit 
stammt sein eingehender kritischer Aufsatz, in dem er Jungs „Versuch 
einer Darstellung der psychoanalytischen Theorie“ entgegentrat. 

Es ist bekannt, daß die psychoanalytische Lehre von Anfang an ihr 
Forschungsbereich erweiterte und die verschiedenartigsten Äußerungen der 
menschlichen Psyche in ihrer phylo- und ontogenetischen Entwicklung 
erfaßte. Sie machte in weitgehendem Maße Gebrauch von den Methoden 





Gedenkreden über Karl Abraham 


217 


der vergleichenden Psychologie, indem sie die Erfahrungen der individuellen 
Psychologie mit den auf dem Boden der Psychopathologie gewonnenen 
verglich, die Beobachtungen aus dem Reich des Unbewußten mit den 
Ergebnissen der Mythologie, der Folklore, der Philologie und der Beobach¬ 
tung der kindlichen Psyche in Beziehung setzte. Die Trieblehre der Psycho¬ 
analyse versuchte das Verständnis der psychischen Tatsachen zu vertiefen 
und sie mit den biologischen Tatsachen in Einklang zu bringen u. v. m. 
An keinem dieser Wissenszweige und Grenzgebiete ging Abraham vor¬ 
über. Schon im Beginn seiner wissenschaftlichen Tätigkeit publizierte er 
eine Arbeit über die Übereinstimmung psychischer Vorgänge in Traum 
und Mythos. Bald darauf gab er eine glänzende Schilderung der Persön¬ 
lichkeit und des künstlerischen Schaffens von Segantini und bewies 
damit, wie die psychoanalytische Forschung unser Verständnis für Künstler 
und Kunst bereichert und vertieft. 

Eine vollständige Sammlung der wissenschaftlichen Arbeiten Abrahams 
zeigt, wie umfassend und vielseitig seine wissenschaftlichen Bestrebungen 
waren. Von besonderem Interesse für den Sexualforscher sind seine Schriften 
über „Die psychologischen Beziehungen zwischen Sexualität und Alkoholis- 
xnus“, „Bemerkungen zur Psychoanalyse eines Falles von Fuß- und Korsett¬ 
fetischismus“, „Ohrmuschel und Gehörgang als erogene Zone“ u. a. m. 
Dem Eugeniker werden die Arbeiten: „Die Stellung der Verwandtenehe 
in der Psychologie der Neurosen“ und „Über neurotische Exogamie“ Wissens¬ 
wertes bieten. Den Psychologen werden die Aufsätze „Über die determinierende 
Kraft des Namens“, „Zur narzißtischen Bewertung der Exkretionsvorgänge 
in Traum und Neurose“ und manche andere interessieren. Aber das 
Hauptinteresse Abrahams galt der Psychologie der Neurosen und Psychosen. 
Diesen Problemen ist der Hauptanteil seiner wissenschaftlichen Tätig¬ 
keit gewidmet. Ich erinnere an seine, man darf wohl sagen, klassische 
Arbeit „Über hysterische Traumzustände“. Sehr interessant für das Ver¬ 
ständnis der schwierigen und komplizierten Struktur der Zwangsneurose 
ist sein Aufsatz „Über ein kompliziertes Zeremoniell neurotischer Frauen“. 
Diese Arbeit gewinnt an Interesse und Bedeutung noch dadurch, daß 
manche Einzelheiten des darin behandelten Zeremoniells weit verbreitet 
sind und auch bei solchen Personen vorzukommen pflegen, die von sich 
und anderen als völlig gesund angesehen werden. Ein kleiner Beitrag 
Abrahams „Zur Psychogenese der Straßenangst im Kindesalter“ wirft 
Licht auf diese Erscheinung, die durch ihr häufiges Vorkommen bei Kindern 
kaum als pathologisch angesprochen werden darf. Die Frage der patho¬ 
logischen Angst beschäftigt Abraham des öfteren und hier verdient sein 
kleiner Aufsatz „Über eine konstitutionelle Grundlage der lokomotorischen 









218 


M. W. Wulff 


Angst“ besondere Beachtung. Hier weist Abraham auf ein angeborenes, 
konstitutionelles Moment hin, das einen Faktor für die Entstehung der 
pathologischen Bewegungsangst abgibt. 

Abraham, der eine ausgedehnte Praxis zu bewältigen hatte, hatte großes 
Interesse auch für die therapeutische Technik der Psychoanalyse und wid¬ 
mete diesem Thema mehrere Schriften, so z. B. „Über eine besondere 
Form des neurotischen Widerstandes gegen die psychoanalytische Methodik“ 
und „Zur Prognose psychoanalytischer Behandlungen- in vorgeschrittenem 
Lebensalter“. Seine größten Arbeiten widmete Abraham der Förderung der 
Libidotheorie, zu ihr kehrt er immer wieder zurück, auch bei Bearbeitung 
spezieller Fragen der Psychopathologie. Hier muß man in erster Linie 
seine wichtige Arbeit „Untersuchungen über die früheste prägenitale Ent¬ 
wicklungsstufe der Libido“ und sein Buch: „Versuch einer Entwicklungs¬ 
geschichte der Libido auf Grund der Psychoanalyse seelischer Störungen“ 
nennen. 

Ich möchte nur noch an die’ Arbeiten Abrahams erinnern, die cha- 
rakterologische Fragen und die Bedeutung des weiblichen Kastrationskom¬ 
plexes behandeln: „Psychoanalytische Studien zur Charakterbildung“ und 
„Äußerungsformen des weiblichen Kastrationskomplexes“. 

In all diesen Arbeiten bleibt Abraham Empiriker, der von klinischen 
Beobachtungen und Tatsachen ausgeht, und sein Gedankengang ist immer 
streng induktiv und analytisch. 

Dieser kurze Überblick über die fast zwanzigjährige wissenschaftliche 
Wirksamkeit Abrahams konnte dem Reichtum seiner Leistungen lange 
nicht gerecht werden. Seine Tätigkeit wurde allzufrüh und grausam von 
einem unerwarteten Tode unterbrochen. Mit ihm starb ein feiner und tiefer 
Forscher, ein vorsichtiger Beobachter und ein Gelehrter, der die Wissenschaft 
leidenschaftlich geliebt hat. Als einer der ersten und bedeutendsten Schüler 
Freuds hat er, seinem Meister gleich, seine wissenschaftlichen Ansichten 
offen verkündet, unbekümmert um die herrschenden Meinungen und das 
Verhalten der Schulwissenschaft. 






KORRESPONDENZBLATT 

DER 

INTERNATIONALEN PSYCHOANALYTISCHEN 

VEREINIGUNG 


Redigiert von Dr. M. Eitingon, Zentralsekretär 

















. '• 














Korrespondenzblatt 


221 


Berichte der Zweigvereinigungen 

Berliner Psydioanalytisdie Vereinigung 

I. Quartal 1926 

12. Januar. Trauerfeier für Karl Abraham (kurzer Bericht darüber 
bereits im vorigen Heft erschienen; die dort gehaltenen Gedenkreden sind in 
diesem Heft veröffentlicht). 

23. Januar. Generalversammlung. Die Berichte des Vorstandes, des 
Direktors der Poliklinik, des Unterrichtsausschusses, des Kassenwartes und des 
Kuratoriums zur Verwaltung des Stipendienfonds “ werden genehmigt. — Der 
Mitgliedsbeitrag wird unter Einbeziehung des Abonnements für „Zeitschrift“ 
und „Imago“ auf M. 60.— pro Jahr festgesetzt. 

Die außerordentlichen Mitglieder Dr. med. Hans Lampl, Dr. med. Heinrich 
Meng (Stuttgart) und Frau Ada Müller-Braunschweig werden zu 
ordentlichen Mitgliedern gewählt. — Dr. med, Otto Fenichel wird aus der 
Wiener Gruppe als ordentliches Mitglied übernommen. — Dr. med. Alfred 
Groß (Rerlin-Halensee, Küstrinerstr. 4) wird zum außerordentlichen Mitglied 
gewählt. — Frau Alice Bai int scheidet durch Übertritt in die Budapester 
Gruppe aus der Vereinigung aus. 

Das Dahinscheiden ihres Gründers und bisherigen Oberhauptes Dr. Karl 
Abraham hat die Vereinigung vor die Aufgabe gestellt, einen neuen Präsi¬ 
denten zu wählen. In den Vorberatungen wurde der verdienstvolle Direktor 
der Poliklinik und bisherige Schriftführer der Vereinigung Dr. Max Eitingon 
allgemein zum Vorsitzenden vorgeschlagen. Nachdem es nicht gelungen ist, 
ihn für diese Funktion zu gewinnen, wird einstimmig folgender Vorstand 
gewählt: Dr. Simmel (Vorsitzender ), Dr. Radd (Schriftführer ), Frau 
Dr. Horney (Kassenwart). — In den Unterrichtsausschuß werden gewählt: 
Drs. Eitingon (Vorsitzender), Karen Horney, Carl Müller-Braunschweig 
(Schriftführer) y Radö, Sachs und Simmel. — In das „Kuratorium zur 
Verwaltung des Stipendienfonds“ werden gewählt: Drs. Boehm, Härnik 
und Liebermann. 

26. Januar. Rechtsanwalt Dr. Hugo Staub (a. G.): Psychoanalyse und 

Strafrecht. 







222 


Korrespondenzblatt 


9. Februar. Fortsetzung der Diskussion über „Psychoanalyse und Strafrecht“. 
— In der Geschäftssitzung wird Frau Dr. ined. Elisabeth Naef (Berlin W 62, 
Lutherstr. 6) zum außerordentlichen Mitglied gewählt. 

20. Februar. Dr. Erwin Cohn (a, G.): Lass alle als Führer. 

2, März. Kleine Mitteilungen. Dr. Walter Cohn (a. G,): Referat über 
Freuds neue Ergänzungen zur Traumdeutung. — Frau Klein: a) Zwei 
korrespondierende Fehler in einer Schularbeit; h) Welche Vorstellungen ein 
fünfjähriger Knabe mit Erziehungsmaßnahmen verband. — Dr. C. Müller- 
Braunschweig: a) Vom frühen Sexualwissen der Kinder; b) Negative 
Halluzination und Kastrationskomplex. — Dr. F e n i c h e 1 : Einige noch nicht 
beschriebene infantile Sexualphantasien. 

13. März. Dr. Simmel: Doktorspiel, Wiederholungszwang und Arztberuf. 

Dr. Walter Cohn (a. G.): Referat über Freuds „Nachträge zum Ganzen 
der Traumdeutung“. — In der Geschäftssitzung wird Dr. phil. Erwin Cohn 
(Berlin W 50, Pragerstr. 35) zum außerordentlichen Mitglied gewählt. 

27. März. Diskussionsabend über „Psychoanalyse und Öffentlichkeit“. Ein¬ 
leitende Referate: Dr. Alexander und Dr. Bernfeld. Diskussion: Drs. 
Simmel, Härnik, Liebermann, Sachs, Radd, Korber, Eitingon, Horney, C. Müller- 
Braunschweig. 

* 

Die Vereinigung veranstaltete in ihrem Institut (Berlin W 35, Pots- 
damerstr. 29) im 1. Quartal 1926 folgende Fach- und Ausbildungskurse: 

1) Dr. Sändor Radd: Einführung in die Psychoanalyse. II. Teil (Klinik 
und Theorie der Neurosen), 6 ständig. (Hörerzahl: 32.) 

2) Dr. Carl M üller-Braunschweig: System der Psychoanalyse. I. Teil 
(Begriff der Libido, Trieblehre, Struktur des seelischen Organismus, Verdrängung, 
das Unbewußte). 2. Hälfte. 5stündig. (Hörerzahl: 11.) 

3 ) Dr. Siegfried Bernfeld (Wien, a. G.): Pädagogische Psychologie auf 
psychoanalytischer Grundlage. 5ständig. (Hörerzahl 75.) 

4) Dr. Franz Alexander: Neurose und Gesamtpersönlichkeit. (Die neuere 
Entwicklung der psychoanalytischen Theorie in ihrer Verwendung auf die 
Praxis.) 4stündig. (Hörerzahl: 20.) 

j) Dr. Hanns Sachs: Die psychoanalytische Technik, II. (besonderer) Teil: 
Die Anwendung. (Nur für Fortgeschrittene.) 7stündig. (Hörerzahl: 17.) 

6) Dr. Felix Boehm: Seminaristische Übungen über ausgewählte Kapitel 
aus Freuds Schriften. (Für Fortgeschrittene.) Sstündig. (Hörerzahl: 20.) 

7 ) Dr. Sändor Radd: Technisch-therapeutisches Kolloquium. (Nur für aus¬ 
übende Analytiker, insbesondere Ausbildungskandidaten, Persönliche Anmeldung.) 
3stündig. (Hörerzahl: 14.) 

8) Dr. Eitingon, Dr. Simmel, Dr. Radd: Praktische Übungen zur 
Einführung in die psychoanalytische Therapie. (Nur für Ausbildungskandidaten.) 
(11 Kandidaten.) ■* 

Dr. Sändor Radd 

SckrctÄr 





Korrespondenzblatt 


223 


British Psycho-Analytical Society 

I. Quartal 1926 

6. Januar. Trauerfeier für Karl Abraham. Dr. Ernest Jones wies in 
seinem Nachruf besonders auf Dr. Abrahams Bedeutung als Pionier der 
Forschung hin, auf die hohe Wertschätzung, derer er sich bei allen erfreute 
und auf das Ansehen, das er als Führer genoß. Er erinnerte die Mitglieder 
auch daran, daß Dr. Abraham Ehrenmitglied der britischen Vereinigung ge¬ 
wesen sei. 

Im Anschluß an diese Sitzung fand eine Diskussion über eine vor kurzem 
erfolgte Preßkampagne gegen die Psychoanalyse statt. 

20. Januar. Dr. James Glover hielt einen kurzen Vortrag zur Eröffnung 
einer Diskussion über das „Ich“, 

5. Februar. Mr. L. S. Penrose : Psychoanalytische Bemerkungen über die 
Verneinung. — Freud hat festgestellt, daß Verneinung eines Gedankens sein 
Vorhandensein im Ubiu beweist. Daraus ergibt sich, daß überbetonte Be¬ 
jahung einer Ubw -Verneinung äquivalent ist. Es gibt drei Arten von über¬ 
betonter Bejahung: 1. Emphase, 2. Wiederholung, 3. Tautologie oder verhüllte 
Wiederholung. Vorschläge, wie man den Kritiken von Psychoanalytikern, die 
das Gesetz der Kritik nicht beachten, begegnen soll. Analyse des Symbols für 
Verneinung und Bejahung. Die intellektuelle Akzeptierung des Ubiu. Das Ver¬ 
hältnis dieser Tatsache zur mathematischen Beweisführung, die ausschließlich 
deduktiv ist. Induktive Schlußfolgerung ist das Charakteristikum der Genital¬ 
libido. Sie ist nicht streng logisch und bringt Gefahren mit sich, die bei der 
strengen Logik nicht vorhanden sind. 

Die Gesetze der Logik sind nicht (wie Alexander behauptet) introjizierte 
Realität, sondern projizierte fundamentale psychologische Mechanismen. Die Reali¬ 
tät gibt uns den Glauben an die Induktion, das, was war, wird wieder sein, aber 
wir müssen das Risiko in Kauf nehmen, daß es auch nicht so sein wird. Im nor¬ 
malen Denken ist das Schlußfolgern ein Diener aber kein Herr und dient zur 
raschen und wirksamen Handhabung von Schlußfolgerungen, wenn zum Bei¬ 
spiel ein Reiz wahrgenommen wird, um zu wissen, wie man früher darauf 
reagierte und was der Effekt war. 

17. Februar. Das Thema der Diskussion war „Besetzung“. Die Mitglieder 
waren schon früher gebeten worden, eine präzise Definition des Begriffes zu 
bringen, oder in Ermangelung einer solchen eine Darlegung, für was für ein 
Phänomen die Besetzung gehalten werde, und ihre Ansichten über die Be¬ 
deutung dieses Begriffes für die Psa-Theorie mitzuteilen. 

Mr. L. S. Penrose, 7 Caroline Place, Mecklenburg!! Square, London WC 1, 
wurde zum Associate member gewählt. 

g. März. Mr. A. G. Tansley hielt einen kurzen Vortrag über einen be¬ 
stimmten Typus einer Masturbationsphantasie. Er schildert den Inhalt dieser 
Phantasie, der darin besteht, daß dem Masturbanten auf verschiedene Art und 
Weise ein virginales Sexualobjekt durch eine ältere Frau beschafft wird. Er 
meinte, daß diese Phantasie durch die frühe Spaltung der Subjektlibido zwischen 
Mutter und Schwester determiniert wurde. — Dr. James Glover und Dr. Ernest 





224 


Korrespondenzblatt 


Jones waren vielmehr der Ansicht, daß es sicli bei den zwei weiblichen 
Personen der Phantasie um eine Spaltung der Mutterimago handle. 

Dr. Douglas Bryan gab einen Bericht über einen schweren Anfall von 
Schlucken bei einem Patienten, der während der Behandlungsstunde als vor* 
übergehendes Symptom auftrat. Das Symptom verschwand sofort, als sich der 
Patient erinnerte, daß ihn ein Dienstmädchen, als er drei Jahre alt war, dazu 
gebracht hatte, sein Gesicht ganz nahe an ihren Geschlechtsteil zu pressen 
und daß er dabei sowohl Anziehung als Abstoßung empfunden hatte. 

Dr. Ernest Jones berichtete über ein Kastrationssymbol bei einem kleinen 
Kind. — Dr. John Ri ckm an gab einen kurzen Bericht über „E.R.A.“. 
Der elektrische Apparat, der bei der „elektroionischen Reaktion“ verwendet 
wird, ist bekanntermaßen lächerlich, es sind bis jetzt auch noch keine Unter¬ 
suchungen der psychischen Reaktionen derjenigen, die die Methode ange¬ 
wendet haben, publiziert worden. Es wurde über eine diesbezügliche Unter¬ 
suchung berichtet und daraus Folgerungen gezogen. — Dr. Edward Glover 
berichtete über eine „technische“ Form eines Widerstandes. Die Verwendung 
technischer Ausdrücke während des Assoziierens, um das Unbewußte auszu¬ 
drücken. Ein Patient sieht das Über-Ich als ein phallisches Symbol an und sieht 
voll Angst jede analytische Modifizierung oder jede Einmischung in diese Ieh- 
Institution. Analyse dieser Einstellung zeigt starken Widerstand. Ähnliche 
Mechanismen bei anderen Fällen werden beschrieben. 

17. März. Kurze Mitteilungen, hauptsächlich im Zusammenhang mit Geburts¬ 
träumen. 

Dr. Douglas Bryan 

Sekretär 


Indian Psyclio-Analytical Society 

I.—IV. Quartal 1Q25 

25. Januar. Jahresversammlung, bei der der Jahresbericht der Vereinigung 
für 1924 angenommen und der Vorstand für 1925 gewählt wurde. In den 
Vorstand wurden gewählt: Dr. Girindrashekhar Bose D. Sc., M. B. (Präsi¬ 
dent) \ Mr. Manmath Nath Banerjee M. Sc. (Sekretär ); Dr. Narendra Nath 
Sen Gupta M. A., Ph. D.; Mr. Gobin Chand Bora B. A. 

29. März, Dr. G. Bose: Über die Natur des Wunsches. — Dr. Sarasilal 
Sarkar: Mitteilung über die Psychologie eines „Sakhivabini“. 

20. August. Dr. Sarasilal Sarkar: Psychologie eines Mörders, 

5. September. Dr. G. Bose: Die homosexuellen Strebungen der Psycho- 
neurotiker. 

7. September. Fortsetzung des Vortrages von Dr. Bose. 

13, September. Fortsetzung des Vortrages von Dr. Bose. 

Informative Zusammenkünfte über verschiedene psychoanalytische Themen 
wurden wie in den vorhergehenden Jahren fast jeden Samstag im Hause des 
Präsidenten abgehalten, an denen auch Gäste und Freunde von Mitgliedern 
teilnahmen. 

M, N. Banerjee M. Sc. 

Sekretär 





Korrespondenzblatt 


225 


Magyarorszägi Pszidioanalitikai Egyesület 

I. Quartal 1926 

Die erste Sitzung des Jahres, am g. Januar, begann mit einer Trauerkund' 
gebung für den dahingeschiedenen Zentralpräsidenten Dr. Karl Abraham. 
Der Präsident der ungarischen Vereinigung, Dr. S. Ferenczi, würdigte die 
wissenschaftlichen Verdienste und die hervorragenden persönlichen Eigen* 
schäften des Verstorbenen, der die Internationale Vereinigung mit so viel Takt 
und Festigkeit leitete. Er teilte mit, daß er an den Trauerfeierlichkeiten in 
Berlin teilnahm und auch im Aufträge Prof. Freuds einige Worte des Ab¬ 
schieds sagte. Die ungarische Vereinigung drückte ihr Beileid der Familie 
A b r a h a m aus und legte einen Kranz auf die Bahre des allgeehrten Führers 
nieder. 

Dr. W. Reich (Wien): Die psychischen Störungen des Orgasmus. 

23, Januar, Geschäftliche Sitzung. Die von der Regierung geforderte 
Revision der Geschäftsordnung wird durchgeführt, Dr. S. Pfeifer als drittes 
Vorstandsmitglied zum Kassenwart gewählt. Die Studienkommission nahm ihre 
Tätigkeit auf. 

6. Februar. Dr. jur. G. Dukes (als Gast): Eine neue Strafrechtstheorie. 
(Referat und Kritik der Theorie von Th. Reik.) 

20. Februar. Kasuistische Mitteilungen: Dr. Michael Bälint: a) Eine 
agoraphobische Kranke mit Extrasystole, b) Analytische Deutung von Magen- 
symptomen. c) Baldigste Identifizierung mit dem Verstorbenen nach dem 
Todesfall. — Dr. S. Pfeifer: Anal-orale Zusammenhänge in einem Falle 
von Sprachstörung. Dr. I. Hermann: Aus der Analyse eines Stotterers. 

13. März. Dr. S. Ferenczi: Über das Problem der Unlustbejahung. 

27. März. Dr. M. J. Eisler: Der biologische Sinn der Reflexe und ihre 
Störung bei Tabes dorsalis. 

* 

Geschäftliches: Frau Alice Bälint, bisher außerordentliches Mitglied 
in Berlin, wird als ordentliches Mitglied in die Budapester Gruppe übernommen. 
— Dr. Michael Bälint wurde zum ordentlichen, Dr. Geza Dukes zum 
außerordentlichen Mitglied gewählt. 

Dr. Imre Hermann 
Sekretär 


Nederlandsdie Vereeniging voor Psychoanalyse 

I. Quartal 1926 

Am go. Januar wurde in Amsterdam die Jahresversammlung abge¬ 
halten. 

Der erste Teil der Sitzung war dem Gedenken an den dahingeschiedenen 
Präsidenten der J. P. V., Dr. Karl Abraham, gewidmet. Der Vorsitzende, 

Int, Zeitschr. f. Psychoanalyse, XII/2. 


15 








226 


Korrespondenzblatt 


Dr. van Emden, würdigte die außerordentlichen Verdienste, die sich Dr. Abraham 
um die Psychoanalyse erworben hat und gab einen kurzen Überblick über sein 
Leben und Wirken als Arzt, Forscher und Organisator. Den Redner und einige 
andere Mitglieder der Gruppe verknüpfte eine langjährige und warme Freund¬ 
schaft mit Dr. Abraham. Anläßlich seines Besuches in Holland lernte ihn vor 
kurzem die ganze Vereinigung kennen und alle Mitglieder trugen von seiner 
anziehenden Persönlichkeit einen tiefen und nachhaltigen Eindruck davon, 

Dr. F. P. Müller erstattete den Bericht des Unterrichtsausschusses. — Der 
Vorstand wurde wiedergewählt. 

Dr. Westerman-Holstijn hielt einen Vortrag über einen Fall von 
Pseudoparanoia. Patient begann iin Militärdienst zu simulieren und konnte 
später das Simulierte und die sich ihm ungewollt aufdrängenden homosexuellen 
Verfolgungsideen nicht auseinanderhalten. Er wurde von seiner Krankheit, welche 
Vortragender als eine hysterische Reaktion aufgefaßt hat, geheilt. 

Dr. A. Endtz 

Sekretär 


New York Psycho-Analytic Society 

II.—IV. Quartal 1925 

28. April. Dr. Jelliffe: Die Psychopathologie der epidemischen Enze- 
phalitis. — Der Vortrag befaßte sich mit einer Annäherung der Psychoanalyse an 
die Psychopathologie der epidemischen Enzephalitis unter spezieller Bezugnahme 
auf die Relation von Soma und Psyche. Der Autor hat schon seit langem für 
dieses Gebiet besonderes Interesse bekundet und auch seit vielen Jahren auf 
demselben gearbeitet. 

26. Mai. Dr. Lehr man: Klinische Mitteilung über eine Phantasie „Ein 
Kind wird geschlagen“. Diese Mitteilung brachte das Material eines neunzehn¬ 
jährigen schizophrenen Mädchens, das infolge ihres psychopathischen Zustandes 
bereitwillig Elemente und Taten dieser Phantasie in äußerst durchsichtiger 
Form mitteilte. — Dr. Feigenbaum: Klinische Mitteilung: „Bemerkungen 
über eine Angsthysterie.“ Es handelte sich um die Phobie einer dreiund- 
dreißigjährigen verheirateten Frau, die sich nicht traute, die Wohnung ihrer 
Mutter zu verlassen. Die bloße Erwähnung der Übersiedlung in ihre eigenes 
Heim löste sofort Weinkrämpfe, Ohnmachtsgefühle, Zittern usw. aus. Auf die 
normale Entwicklung des Ödipuskomplexes hatte ein psychopathischer Vater 
in früher Kindheit störend eingewirkt. Identifizierung mit dem Vater und 
Todeswünsche gegen die Mutter fanden sich im Zentrum der Neurose. 

Dr. Max D. Mayer wurde zum Associate member gewählt. 

27. Oktober. Dr. Oberndorf: — Neueste Eindrücke über den Stand der 
Psychoanalyse in Europa. Der Vortrag behandelte im wesentlichen die Fort¬ 
schritte der Berliner und Wiener Poliklinik und enthielt eine Schilderung 
ihrer Organisation, Finanzierung, Verwaltung und ihres Wirkens. Der enge 
Kontakt der Berliner Poliklinik mit dein Lehrinstitut, das der Ausbildung in 
der Psychoanalyse dient, wurde besonders hervorgehoben. 






Korrespondenzblatt 


227 


24. November. Dr. Feigenbaum: Analyse eines Falles von hysterischer 
Depression. — Vortragender behandelte in deutlicher und verständlicher Form 
das Material aus der Analyse eines Mädchens, das in die Behandlung kam, 
nachdem es fast achtzehn Monate an einer schweren Depression gelitten hatte. 
Das ungeheure Material, das sich überhaupt nur schwer und unter Einbuße 
seines Wertes zu einer gekürzten Wiedergabe eignet, wurde in einer syste¬ 
matischen Form gebracht, die für alle Anwesenden instruktiv und befriedigend 
war, und rief eine lebhafte Diskussion hervor, speziell bei der Erörterung von 
praktischen klinischen Aussichten. 

Dr. Oswald Bolte wurde zum Associate member gewählt. 

Dezember. Die Sitzung entfiel, weil die American Psycho-Analytic Associa¬ 
tion am 27. Dezember 1925 in New York City zusammenkam. 

Dr. Monroe A. Meyer 

Sekretär 


Russische Psychoanalytische Vereinigung 

IV. Quartal 1925 

7. Oktober. Geschäftliche Sitzung. 

14. Oktober. Dr. M. W. Wulff: Bericht über den IX. Internationalen 
Kongreß in Homburg. — Geschäftliche Sitzung mit den Vertretern der rus¬ 
sischen Ortsverbände (Odessa, Kiew u. a.). 

Dr. Kogan sprach über die analytische Arbeit in Odessa. Die Gruppe in 
Odessa hat zwei Mitglieder: Dr. Kogan und Dr. C h a 1 e t z k i, die beide an der 
Psychiatrischen Klinik arbeiten. Es wurden in Odessa einige öffentliche Vor¬ 
träge gehalten und auch einige Bücher in russischer Sprache herausgegeben. 
(U. A. Ferenczi: Introjektion und Übertragung.) 

Dr. Winogradow sprach über die analytische Arbeit in Kiew. Die 
Gruppe besteht aus einigen Ärzten, darunter Dr. Winogradow, Dr. Sal¬ 
kin d und Dr. Goldowsky. Im I. Semester 1925/26 wurden analytische 
Vorlesungen an dem staatlichen klinischen Institut gehalten und außerdem 
fanden zwei Seminare für Studierende statt. 

Die Sitzung bestätigte die psychoanalytischen Gruppen in Odessa und Kiew 
unter der Leitung der Russischen Psychoanalytischen Vereinigung in Moskau. 

In derselben Sitzung faßte die Vereinigung ferner den Beschluß, dem 
Internationalen Psychoanalytischen Verlag die Einrichtung einer russischen 
Abteilung vorzuschlagen. Die Vereinigung selber hofft in Kürze mit der 
Herausgabe einer russischen Psychoanalytischen Zeitschrift beginnen zu können. 

22. Oktober. Geschäftliche Sitzung. 

28. Oktober, Vera Schmidt: Über die praktische Anwendung der 
Psychoanalyse in der Pädagogik. (Wird in Hoffers Sammelbuch veröffentlicht). 

12. November. Al. Luria: Über die Möglichkeit der Anwendung des 
Experiments für psychoanalytische Ziele. — Dr. R. Averbuch: Über einen 
Fall von Homosexualität. 

18. November. Kleine Mitteilungen: Dr. M, W. Wulff, Dr. B. Fried¬ 
mann, J. Schaffir. 

15" 








228 


Korrespondenzblatt 


26. November. Dr. M. W. Wulff: Referat über Freuds „Jenseits des 
Lustprinzips w . 

5. Dezember. Dr. M. W. Wulff: Über die kulturelle Bedeutung der 
Psychoanalyse. 

12. Dezember. Dr. M. W. Wulff: Referat über Freuds „Jenseits des 
Lustprinzips u . (Fortsetzung.) 

19. Dezember. Prof. M. Reissner: Parasitismus und Sexualität. — Dr. 
M. W. Wulff: Über die Genese der psychischen Impotenz. 

I. Quartal 1926 

16. Januar. Dr. M. Wulff: Über einen Fall von Zwangsneurose. — Dis¬ 
kussion: Dr. B. Friedmann, Dr. Liosner. 

25. Januar Dr. N. Bernstein: Schizoidie und Syntonie in der Musik. — 

Sämtliche Tonkünstler können in Bezug auf ihre affektive Leiter in zwei 
selbständige Gruppen geteilt werden. Für die erste sind erotische und heroi¬ 
sche Affektäußerungen besonders typisch, für die zweite Äußerungen von 
Lust und Unlust. Die erste Gruppe darf man als psychasthetische oder schizo- 
thyrne, die zweite als diasthetische oder syntone bezeichnen. Zur schizothymen 
Gruppe scheinen z. B. R. Schumann, R. Wagner, A. Skrjabin, H. Berlioz, 
Händel, Chopin, F. Debussy — zur syntonen J. S. Bach, der frühe Beethoven, 
P. Tschaikowsky, G. Rossini, Saint-Saens, S. Rachmaninow u. a. zu gehören. 

Da das musikalische Schaffen jedenfalls auf den archaischen (schizo-) Mecha¬ 
nismen der Psyche beruht, so müssen die psychischen Organisationen in den 
beiden Gruppen als ähnlich (und zwar als schizothym) betrachtet werden. 
Der Unterschied beider Gruppen scheint folglich nicht in dem Aufbau des 
Bewußten oder Unbewußten, sondern in der Art des Abreagierens zu bestehen. 
Die Schizo-Gruppe reagiert die Triebe intraversiv ab, indem sie sie in die 
Schizo-Schicht der Psyche projiziert; die Synton-Gruppe reagiert sie extraversir 
ab. Die Affekte der ersten Gruppe hängen also von den Inhaltskonflikten ab, 
die zwischen den unbewußten Seeleninhalten und den primitiven Trieben 
entstehen können. Die Plus-Minus-Affekte der zweiten Gruppe verdanken ihr 
Dasein den rein quantitativen Disproportionen zwischen Trieben und den Ab- 
reagierüngsmöglichkeiten. (Autoreferat.) 

6. Februar. Geschäftliche Sitzung. 

13. Februar. Trauerfeier für Dr. Karl Abrahain. 

W. Rohr schilderte auf Grund seiner persönlichen Erinnerungen die Per¬ 
sönlichkeit Karl Abrahams und würdigte die hervorragenden Verdienste, 
die sich Abraham um die Psychoanalyse erworben hat. Der Vorsitzende 
Dr. M. Wulff gab einen Überblick über die wissenschaftlichen Forschungen 
von Abraham. Prof. J. Kan nab ich hielt im Anschluß an das Buch 
Abrahams „Versuch einer Entwicklungsgeschichte der Libido auf Grund 
der Psychoanalyse seelischer Störungen“ einen Vortrag über „Das manisch- 
depressive Irresein im Lichte der Psychoanalyse“. 

24. Februar. A. Rohr: Über eine Hysterieanalyse. —Diskussion: Dr. Wulff, 
Frau Dr. Kann ab ich,' W. Rohr. 

4. März. Dr. M. W. Wulff: Erwiderung auf Prof. Hackebuschs Kritik 
der Psychoanalyse (publiziert in Kiew. Zeitschr. f. Psychoanalyse). 






Korrespondenzblatt 


229 


25. März, Kleine Mitteilungen; W. Rohr: Zur Symbolik der Negation 
in der chinesischen Sprache. —M. Wulff: Mitteilungen aus der Praxis. — 
M. Wulff: Über die Phobie eines 1 jäiirigen Kindes* 

Al. Luria 

Sekretär 

Schweizerische Gesellschaft für Psychoanalyse 

IV. Quartal 1925 

51. Oktober 1925. A. Furrer: Analyse eines 12jährigen Knaben mit 
hysterischen Anfällen. 

14. November. A. Kielholz: Analyseversuch bei Delirium tremens. 

28. November. M. Müller: Die Bedeutung der Persönlichkeit des Arztes 
in der psychoanalytischen Behandlung (Diskussionsthema). 

12. Dezember. H. Zull ige r: Aus der Volksschulpraxis für die Praxis. 

I. Quartal 1926 

16. Januar 1926. M. Müller: Indikationen und Kontraindikationen zur 
Analyse (Diskussionsthema). 

30. Januar. H. Pfenninger: Aus der seelsorgerliehen Praxis. 

ig, Februar. Ph. Sara sin: Aus der Analyse einer Impotentia ejaculan di. 

ig. März. R. Brun: Biologische Beiträge zur psychoanalytischen Trieb¬ 
lehre. 

Dr. E. Oberholzer 
Vorsitzender 


Wiener Psychoanalytische Vereinigung 

I. Quartal 1926 

6. Januar. Trauerfeier für Karl Abraham. (Kurzer Bericht 
darüber bereits im vorigen Heft erschienen; Prof. Freuds Nachruf ist an der 
Spitze des vorigen Heftes veröffentlicht worden, die Gedenkrede Dr. Reiks 
erscheint in diesem Heft.) 

15. Januar, 1. Diskussionsabend: Analyse der Epilepsie. — Einleitendes Referat: 
Dr. Wittels (a. G.). Diskussion: Deutsch, Federn, Hitschmann, Jokl, Nunberg, 
Reich, Reik, Sadger. 

27. Januar. Vortrag Dr. Reich: Über psychische Störungen des Orgasmus. 
10. Februar. Kleine Mitteilungen: I. Dr. Jokl: Eine symbolische Bild¬ 
darstellung. — Ein symptomatisches Vergessen des Vaternamens. — 2. Dr. Reich: 
Über Onanieangst. — J. Dr. Nunberg; Ein Traumthema. — Bewußte Symbolik 
einer Schizophrenen. — 4. Doz. Dr. Deutsch: Eine Krankheit zu zweit. — 
/. Dr. Hoffer: Ein Fall von Operationssucht. — 6 . Prof. Dr. Schilder: 
Über optische Anschauungsbilder. 

24. Februar. 2. Diskussionsabend: Zur Epilepsiefrage. Einleitendes Referat: 
Dr. Wittels (a. G.). Diskussion: Federn, Jokl, Reich, Reik, Sadger, Wälder. 

10. Marz. Dr. Hitschmann: Bericht über das Referat von Doz, 
Dr. Kogerer über das psychotherapeutische Ambulatorium der Klinik Prof. 







230 


Korrespondenzblatt 


Wagner-Jauregg in der „Gesellschaft der Ärzte“. — Prof. Dr. Schilder: 
Bericht über die Verhandlungen mit der Wirtschaftlichen Organisation der 
Ärzte Wiens bezüglich einer Psychoanalytischen Fachgruppe. — Vortrag 
Dr. Nunberg: Die Ätiologie des Schuldgefühls. 

24. März. Geschäftssitzung. 

Geschäftliches: Während der Abwesenheit von Dr. Bernfeld hat 
Dr. N u n b e r g die Agenden des Bibliothekars übernommen; er wurde auch 
zum Vorsitzenden-Stellvcrtreter des Lehrinstitutes bestimmt. 

Adreßänderung. Die neue Adresse von Dr. Theodor Reik: Wien, 
XVIII., Sternwartestraße 35. 

Dr. R. H. Jokl 

Schriftführer 






Schriften von Karl Abraham 

Zu beziehen durch den 

Internationalen Psychoanalytischen Verlag 

Wien, VII., Andreasgasse 5 


Giovanni Segantini. Ein psychoanalytischer Versuch 
(Schriften zur angewandten Seelenkunde, XI. Heft). 
2. revid. u. ergänzte Auflage. Geheftet M. 2'jo. 

Klinische Beiträge zur Psychoanalyse aus den 
Jahren 1907—1920 (Internationale Psychoanalytische 
Bibliothek, Bd. X). Geheftet M8 r — ? Halbleinen M, 10 *—. 

Versuch einer Entwicklungsgeschichte der 
Libido auf Grund der Psychoanalyse seelischer 
Störungen (Neue Arbeiten zur ärztlichen Psychoana¬ 
lyse, Nr. II). Geheftet M, 5*50, Pappbd. M. 4 *—. 

Psychoanalytische Studien zur Charakterbil¬ 
dung (Internationale Psychoanalytische Bibliothek, 
Bd. XVI). Geheftet M, 2yo, Pappbd , M. yio 7 Halb¬ 
leinen M . 4 *—. 






Druck der Waldheim-Ebcrle A. G., Wien VII 






HANDWÖRTERBUCH DER 
SEXUALWISSENSCHAFT 

Enzyklopädie der natur- und kulturwissen«- 
schaftlichen Sexualkunde des Menschen 

herausgegeben von 

MAX MARCUSE / BERLIN 

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1926. XII und 822 Seiten. 4°. 

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deutschen Forschern dargestellt. Die Enzyklopädie ist für jeden auch nicht 
medizinischen Forscher auf diesem Gebiete unentbehrlich und orientiert 
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Eine neue Auflage nach Jahresfrist trotz denkbarster Ungunst der Zeitverhältnisse 
ist ein ungewöhnlicher Erfolg und der beste Beweis, daß hier ein treffliches Werk 
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gestaltung des Werkes sorgsam weiter arbeitet, / durch Mehrung des Stoffes, durch 
Erweiterung des Mitarbeiterstabes und durch Beigabe von Illustrationen eine höchst¬ 
mögliche Vollendung anstrebt, so ist das mit Freude zu begrüßen. Schon die Auswahl 
der Schlagworte ist wesentlich verändert . . . Deutsche Med. Wochenschrift. 

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MARCUS & WEBER’S VERLAG / BONN 






Internationale Zeitschrift für Psychoanalyse, Band XII, Heft i 

(Ausgegeben im April 1926) Seite 

In memoriam Karl Abraham 

Karl Abraham : Psychoanalytische Bemerkungen zu Coues Verfahren der Selbst- 

bemeisterung.. ^ 1 

Ernest Jones: Karl Abraham. 155 

Verzeichnis der wissenschaftlichen Arbeiten von Karl Abraham.184 

GEDENKREDEN ÜBER KARL ABRAHAM. 193 

Max Eitingon (in der Berliner Psychoanalytischen Vereinigung).ig^ 

Hanns Sachs („ „ „ „ „ ).198 

Sändor Radö ( „ „ „ „ ).203 

Theodor Reih („ „ Wiener „ „ ).209 

M. W. Wulff („ „ Russischen „ Gesellschaft).215 

KORRESPONDENZBLATT DER INTERNATIONALEN PSYCHOANALYTISCHEN VER¬ 
EINIGUNG . 21g 

Berliner Psychoanalytische Vereinigung. .221 

British Psycho-Analytical Society. 22 ^ 

Indian Psycho-Analytical Society. 22 ^ 

Magyarorszdgi Pszichoanalitikai Egyesület. 22 ^ 

Nederlandsche Vereeniging voor Psychoanalyse. 22 g 

New York Psycho-Analytic Society. 22 g 

Russische Psychoanalytische Gesellschaft . 22 ^ 

Schweizerische Gesellschaft für Psychoanalyse. 22 g 

Wiener Psychoanalytische Vereinigung. 2 ^ Q 

Abraham-Bildnis. am Anfang des Heftes 

Diesem Heft ist ein Vorlesungsverzeichnis der Berliner Psychoanalytischen 

Vereinigung beigelegt. 


Preis dieses Heftes NI. j.jo 

Abonnement 1926 (Bd. XII, ungefähr 600 Seiten) M. 24. 

Das nächste Heft erscheint am 6. Mai. 


Alle diese Zeitschrift betreffenden redaktionellen Zuschriften und Sendungen bitte zu richten an: 

Dr. Sandor Bado, Berlin-Schöneberg, Hauptstraße 41, 

alle geschäftlichen Zuschriften und Sendungen an: 

Internationaler Psychoanalytischer Verlag, Wien, VII. Andreasgasse 3. 
Copyright 1926 by „Internationaler Psychoanalytischer Verlag, Ges. m. b. H.”, Wien. 


Eigentümer und Verleger: Internationaler Psychoanalytischer Verlag, Ges', m. b. H., Wien, VII., Andreasgasse 3 . - Herausgeb, 
Prof. Dr. Sigm. Freud, Wien. — Verantwortlich für die Redaktion: Dr. Paul Federn, Wien, I., Riemergasse 1. — Druck: 


Waldheim-Eberle-A.-G.